Roy Glashan's Library
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"Wir Seezigeuner," Band 3, Verlag Dieter von Reeken, 2023
"Wir Seezigeuner," Lieferung 1.
"Wir Seezigeuner," Cover der Ausgabe von 1920
Was nun? Ich wagte mir die Zukunft gar nicht recht auszumalen. Meine soliden Passagierschiffskapitänspläne konnte ich mir jedenfalls für einige Zeit an den Hut stecken.
Die Erstürmung des amerikanischen Forts war ein böser Streich von mir gewesen, der böseste in meinem bisherigen Leben.
Auch meine Offiziere fragte ich einmal, ob ich wohl deswegen zur Verantwortung gezogen werden könnte, aber die waren ebenso ratlos wie ich, alle kratzten sich erst schweigend hinter den Ohren, und dann ergingen sie sich in vagen Vermutungen.
»Wenn ich noch einmal davon anfangen darf«, sagte zuletzt Mahlsdorf, »auf die Gefahr hin, sofort entlassen zu werden — Kapitän, dann tretet in den Dienst der Konföderation.«
Ja, Mahlsdorf hatte recht. Die Südstaaten würden mich jetzt natürlich erst recht mit offenen Armen aufnehmen, und dann war ich gewissermaßen rehabilitiert, dann würde ich ein ehrlicher Soldat sein und bleiben.
Aber auf Seite der Sklaventreiber kämpfen? Nie, niemals!
Für die schachernden Nordstaaten hatte ich zwar auch nicht viel mehr Sympathie, aber wenn ich nun einmal zur Wahl gezwungen wäre, dann hätte ich mich wenigstens zur Union geschlagen.
Jetzt natürlich war damit nichts mehr. Na, die hätten mich wohl in New York nicht schlecht empfangen! Ich konnte die Unionsflagge nur gleich abreißen und als Schnupftuch benutzen.
Trat ich aber nicht als Kämpe auf Seite der Konföderation, dann... konnte ich unter Umständen schon jetzt vogelfrei sein. Vielleicht — allerdings vielleicht auch nicht. Sollte ich mich dem internationalen Seegericht unterwerfen? Au, dazu müsste ich erst nach London gehen! Nein, lieber nicht! Dort hatte ich ja auch noch etwas auf dem Kerbholz.
Ich hätte gern Tischkoff darüber gesprochen, aber der war eben wieder einmal nicht zu haben.
Na, wir würden ja allein sehen, wie der Hase lief. Vorläufig hatten wir ja noch den ganzen Schiffsbauch voll Kohlen und Proviant und Trinkwasser, ich hatte mich nämlich in Charleston mit allem tüchtig versorgt — Herz, was brauchst du denn da mehr?!
Vor allen Dingen aber musste ich jetzt wieder einmal die Flagge wechseln. Und da dachte ich lebhaft an Karlemanns Rat, an Liberia.
Freilich widerstand es mir sehr, die Flagge einer Negerrepublik zu führen, aber in der Not macht der Teufel bekanntlich noch etwas ganz anderes.
Überhaupt war es sehr die Frage, ob Liberia, von Nordamerika aus gegründet, dieselbe Flagge führend, nur mit einem einzigen Stern, mich jetzt noch annehmen würde.
Hier handelte es doch auch gerade um die Sklavenfrage... Doch fort jetzt mit solchen Erwägungen, die zu keinem Resultat führten!
Aber der Gedanke an Karlemann war nun einmal vorhanden gewesen, und ich hatte damals meinem kleinen Freunde mit einem bei mir sonst gar nicht vorhandenen Starrsinn die Bitte abgeschlagen, einmal auf seiner Seeburg nach dem Rechten zu sehen — jetzt war ich keine hundert Seemeilen mehr davon entfernt, da wurde die Leuchtturminsel natürlich mitgenommen!
Also Kurs bestimmt und Segel gesetzt! Der Wind war gerade recht günstig für diese Fahrt.
Und am anderen Tage um dieselbe Zeit tauchte die große Kiste wieder aus dem Meere auf.
Es dauerte nicht lange, so war auch meine ›Sturmbraut‹ erkannt, auf dem Leuchtturm wurden Flaggenreihen gehisst, uns zum Herankommen auffordernd.
Wahrhaftig, war ich doch gespannt — nein, ich freute mich herzlich darauf, die fünf kleinen, wackeren Burschen wiederzusehen, die sich dieser unvergleichliche Karlemann so famos dressiert hatte!
Unterdessen waren nun bald zwei Jahre vergangen.
Ob der kleine Igel — Fritz Neumann war wohl sein eigentlicher Name — den Karlemann trotz seiner zehn Jahre zum Festungskommandanten ernannt hatte, noch immer so ein winziger Knirps war?
Sicherlich, Karlemann liebte ja alles Zwerghafte, und dass er wirklich ein Mittel besaß, um jedes Wachstum zu verhindern, das hatte ich schon längst als Tatsache anerkennen müssen, so unfassbar mir das auch sonst noch immer war.
Ich berechnete, dass ich mit Hilfe des Windes direkt in die Tunneleinfahrt hineinsegeln konnte. Nur musste ich dazu erst einen Umweg machen, um dann den Wind abfangen zu können.
So änderte ich nach einer Weile den Kurs, ging über Stag und direkt nach Norden hinauf.
Das Manöver war natürlich auf der Seeburg beobachtet worden, sie mochten es sich nicht richtig erklären können, sie hatten Angst, ich wolle die Insel überhaupt nicht anlaufen.
Die Flaggen wurden herabgeholt, neue gehisst.
»Was für ein Schiff?«
Aha, die dachten an einen Irrtum. Das könnte vielleicht doch nicht die ›Sturmbraut‹ sein.
Nun, ich beruhigte sie, ließ erst jetzt den Schiffsnamen melden, was ich vorher nicht für nötig befunden hatte.
Jetzt wurden drüben nochmals die vorigen Flaggen gehisst, also die Aufforderung, die Insel anzulaufen — aber da, was war das? Noch eine Flagge ging hoch, oder vielmehr ein Wimpel — mit einem Knoten darin, was zusammen sagte: Eilt, wir sind in Not!
Hallo, was sollte das bedeuten? Die befanden sich in Not? In was für Not?
Nun, ich konnte mich nicht mehr beeilen als ich tat, konnte ja dem Winde nicht kommandieren, aber ich meldete durch Flaggen, was für ein Manöver ich vorhabe — ein Zeitunterschied von einer Viertelstunde.
Oder es gab noch einen anderen Ausweg.
»Schickt mir einen Schleppdampfer!«, ließ ich signalisieren. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
»Haben keinen.«
Was, die hatten keinen kleinen Dampfer, der die ›Sturmbraut‹ schleppen konnte? Dass Karlemann für alles gesorgt hatte, war doch selbstverständlich, und die Inselbewohner hatten ja oft genug selbst Fahrzeuge zu schleppen. Dann mussten wohl alle gerade unterwegs sein.
Nun, ich würde ja sehen. Dann mussten die aber auch noch etwas warten, und warum die Notflagge gehisst worden war, darauf war ich auch gespannt.
So verging noch eine halbe Stunde, ehe ich auf die Einfahrt zuhalten konnte.
Schon von Weitem bemerkte ich, dass es ausschließlich halbwüchsige Jungen, oder sagen wir gleich Kinder, waren, welche zum Einholen bereit standen. Wenn hier etwa als Erwachsene nur Neger in Betracht kamen, so war doch kein einziger zu sehen.
Wir hatten die Einfahrt erreicht, warfen Taue aus, und die Jungen benahmen sich äußerst geschickt.
Wirklich war es Fritz Neumann, genannt der kleine Igel, der als erster zu mir an Bord kam, mich als Stellvertreter Karlemanns begrüßte.
Der Junge war jetzt zwölf Jahre, war aber bei dem Wachstum mit zehn Jahren stehen geblieben, und er war schon damals ein für sein zehnjähriges Alter sehr kleiner Knirps gewesen.
Doch ich war durch Karlemann nun schon so an solche fremde Verhältnisse gewöhnt, dass ich mich durch Größe oder Kleinheit nicht mehr beeinflussen ließ. Ja, ich hatte schon längst erkannt, dass es beim Menschen nicht die Größe ausmacht. Sonst wäre ich selbst ja das gottbegnadetste Genie gewesen. Aber nicht nur Karlemann, sondern auch diese seine Zöglinge hatten mir bereits allen Respekt eingeflößt.
Nun kam auch noch etwas anderes hinzu. Bereits an Karlemann hatte ich bei jedem Wiedersehen bemerkt — was ich aber nie erwähnte — dass der jetzt fünfzehn- oder gar erst vierzehnjährige Junge für seine Jugend und trotz seiner Kleinheit doch eigentlich schon ein recht altes Gesicht hatte, und bei jedem neuen Wiedersehen fand ich das immer mehr.
Hier nun beim Anblick dieses Knirpses erschrak ich förmlich. Der jetzt zwölfjährige Junge, der mir zwischen den Beinen durchlaufen konnte, hatte, was früher durchaus nicht der Fall gewesen, schon ein faltiges Gesicht, wirklich die Züge eines alten Mannes.
Und als ich mich umschaute, gewahrte ich bei den halbwüchsigen Bengels, bei denen ich früher solche blühende, vor Gesundheit strotzende Wangen gesehen, überall dasselbe: überall dieselben alten, faltigen Gesichter, wahrhaft erschreckend kontrastierend mit den kleinen Körpern, die allerdings in die Breite zu gehen schienen, besonders in den Schultern.
Sie sahen alle aus wie die alten Zwerge — aber nicht wie jene kleingebliebenen Missgeburten, die in Schaubuden gezeigt werden — sondern wie jene sagenhaften Zwerge, wie die Wichtelmänner mit grauen Bärten, manchmal mit Riesenkräften ausgestattet, wie zum Beispiel der Zwerg Alberich, gegen den selbst Siegfried bald im Kampfe unterlegen wäre.
Und da kam mir eine Erkenntnis: Die Natur lässt sich nicht verspotten, lässt sich nicht in ihre heiligsten Rechte greifen! Man nahm jene grüne Flüssigkeit, welche das Wachstum verhinderte, ganz aufhob, nicht ungestraft ein!
All diesen künstlichen Zwergen, mochten sie sonst auch noch so kräftig und gesund sein, stand ein früher Tod auf der Stirn geschrieben!
»Wie geht's, Herr Neumann?«, fragte ich, bei der Titulation ›Herr‹ schon gar nichts mehr findend. Das waren ja eigentlich auch gar keine Kinder mehr, dieses grüne Gift schien noch eine andere Wirkung auszuüben, eine psychologische, eine seelische.
»Schlecht!«, war die lakonische Antwort.
Ja, es kam mir vor, als ob der kleine Igel nicht nur alt, sondern auch recht sorgenvoll aussähe.
»Sie kommen mir wie gerufen«, setzte er dann noch hinzu, »hoffentlich können Sie uns auch Hilfe bringen.«
Und während die ›Sturmbraut‹ langsam einbugsiert wurde, erfuhr ich schon alles.
Was Karlemann geahnt oder bereits andeutungsweise erfahren, hatte sich schon in Wirklichkeit umgesetzt. Wenigstens war die Sache schon eingeleitet.
England hatte mit dem Aschantikönig verhandelt, wollte den mit dem unreifen Knaben abgeschlossenen Vertrag wegen der Leuchtturminsel nicht anerkennen.
Die Ursache hierzu war gewesen, dass das Leuchtfeuer eine Nacht nicht gebrannt hatte. Der Wächter, immer noch jener Neger, hatte seine Pflicht vernachlässigt gehabt. Das war ja nun allerdings unverzeihlich — aber wenn das nicht gewesen wäre, so hätte England doch ganz einfach einen anderen Grund gefunden, um jenen Vertrag null und nichtig zu machen.
»Das schlimmste aber ist, dass wir seit vierzehn Tagen schon ohne Lebensmittel sind.«
»Ohne Lebensmittel? Wie kommt das?«
»Die Aschantis haben mit uns einfach abgebrochen. Ich habe eine Deputation hingeschickt. Für uns kommt nur der Häuptling Kididimo in Betracht, er empfing sie, verweigerte ihnen aber alle Nahrungsmittel, und innerhalb dreier Stunden mussten sie sein Land, das heißt, die Küste wieder verlassen haben.«
»Ja, wie ernähren Sie sich denn da?«
»Seit vierzehn Tagen von den wilden und dressierten Tieren, welche Kapitän Algots zurückgelassen hat. Nauke, der Dompteur, sollte sie nach Kapitän Algots' Anleitung weiter ausbilden. Jetzt sind nur noch ein kleiner Elefant, eine Kuh und zwei Antilopen vorhanden. Wenn die alle sind, müssen die Raubtiere und die Schlangen drankommen.
Eigentlich hätten wir die zuerst aufessen sollen, denn die brauchen doch selber Fleisch. Ich lasse jetzt auch schon zwei Löwen schlachten. Mehl und dergleichen ist schon längst alle. Auch keine Kohlen haben wir mehr.«
»Wie stark ist denn die Besatzung?«
»Siebenunddreißig Mann.«
Ich hatte eine weit höhere Zahl zu hören erwartet.
»Wo sind denn die Neger?«
»Algots hatte fünfzig zurückgelassen als Arbeiter. Als die aber erfuhren, wie die Aschantis uns abgesagt haben, sind sie desertiert. Haben uns zwei große Segelboote entführt. Schließlich immer noch besser, als wenn sie gemeutert hätten.«
»Es waren damals doch zweiundvierzig Jungen, welche Algots mit aus Deutschland brachte.«
»Es sind nur noch zweiunddreißig.«
»Wo sind die zehn anderen?«
»Gestorben!«, war wiederum die lakonische Antwort.
»Woran?«
»Weiß nicht. Eine ganz merkwürdige Krankheit. Halb Wahnsinn. Sie glaubten alle, fast gleichzeitig, die Knochen schrumpften ihnen im Leibe zusammen. Da sind sie innerhalb dreier Tage eingegangen.«
Aha! Da war schon, was ich geahnt! Die Natur rächte sich.
»Haben die anderen und Sie selbst nicht etwas Ähnliches durchgemacht?«
»Nicht das Geringste.«
Dann wurde also nicht jeder von dieser Rache getroffen. Immerhin, Karlemann war es, der diese armen Kerle auf dem Gewissen hatte.
Doch ich fühlte mich am wenigsten geeignet, hier den Richter zu spielen.
»Weiß denn Algots schon von ihrem Tode?«
»Nein. Es geschah erst nach seiner Abreise. Und ich hatte faktisch noch keine Gelegenheit, ihm irgendwelche Nachricht zukommen zu lassen. Wenn ich überhaupt seine Adresse wüsste!«
»Und wo sind denn die Negerkinder geblieben, die Söhne der Häuptlinge? Waren die nicht ebenfalls zurückgeblieben?«
»Ja. Ich sollte sie als Geiseln betrachten und behandeln. Hatte sich was! Die sind mit den schwarzen Arbeitern desertiert. Ich konnte sie nicht halten. Sonst habe ich meine Pflicht getan.«
»Ist Baumeister Arndt noch da?«
»Tot!«
»Tot?!«
»Gestorben!«
»Woran?«
»An Blutvergiftung. Er hatte sich nur in den Finger geschnitten, aber er meinte selbst, als der Arm anschwoll, dass er verloren sei, wollte gar nicht erst an Land gebracht werden.«
»Und Ingenieur Schimmel?«
»Der ist vorgestern nach der Küste gesegelt.«
»Wozu?«
»Um noch einmal dem Kididimo und womöglich auch dem König Vorstellungen zu machen. Er war ja der einzige Erwachsene. Halbwüchsige lehnen die Engländer doch ab — oder jetzt die Aschantis, was ganz dasselbe ist.«
»Er ist von Ihrer kleinen Mannschaft hinübergebracht worden?«
»Nein. Schimmel ist in einem Segelboot allein hinübergefahren. Wind und Wetter waren günstig. Und ich mag sonst keinen einzigen entbehren — ich bin auf alles gefasst — und Munition für die Kanonen haben wir noch genügend — Gott sei Dank, wenigstens genug Pulver und Blei!«
Wie das klang aus diesem Kindermunde! Fürchterlich!
War ich schon immer sehr ernst gestimmt gewesen, so wurde ich es jetzt erst recht.
Wir waren in den Hafen eingelaufen. Es lagen noch zwei kleine Dampfer da, der ›Knipperdolling‹, ein anderes größeres Segelfahrzeug, ziemlich viel kleine Boote, und dann jene Archen, die wir zur Flussfahrt benutzt hatten.
»Ich hoffe, Sie selbst haben noch genügend Kohlen«, sagte Neumann, noch ehe wir uns an Land begaben. »Dieser Ostwind wird nämlich einige Wochen stehen bleiben, das kenne ich nun schon, und da kann man eben auch nicht die Insel mit einem Segelschiff verlassen.«
»Das ganze Schiff voll Kohlen«, entgegnete ich, »und außerdem Proviant massenhaft. Natürlich steht Ihren Leuten alles zur Verfügung. Bei uns gibt's heute für die Mannschaft gerade Stockfisch...«
Ich vollendete den Satz nicht. Mir war etwas anderes eingefallen.
»Ja, können Sie sich denn nicht mit Fischen ernähren?«
»Hin und wieder geht ein Fisch an die Angel — der Fischfang ist indes hier sehr wenig ergiebig.«
Ich hatte damals, als ich mich hier aufgehalten, anderes gesehen. Da hatte Karlemann bei einem Fischzuge bei jedem Durchholen das Netz voll gehabt, und wenn er an einer bestimmten Stelle vom Felsen hundert Angelhaken auswarf, so hatte er hundert große Fische daran gehabt. Ich sprach hiervon zu Neumann. Der Junge schaute mich schwermütig an.
»Ja, wissen Sie denn nicht, dass unser Kapitän ein Mittel besaß, um Fische anzulocken — so eine Fischwitterung?«
»Gewiss weiß ich das. Besitzen Sie selbst denn dieses Mittel nicht? Hat Algots es Ihnen nicht zurückgelassen?«
»Sogar einen ganzen Sack voll, wir könnten uns jahrelang mit Fischen ernähren, wenn wir sie auch roh essen müssten, aber...«
Der Junge stampfte plötzlich mit dem Fuße auf und stieß einen gotteslästerlichen Fluch aus — und doch klang es mir durchaus nicht unkindlich.
»Das ist es eben!«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Die Neger hatten darum gewusst, und sie haben uns den ganzen Sack gestohlen, deshalb sitzen wir nun auf dem Trockenen. Ehrich war schuld daran, der Proviantverwalter — ohne seine Nachlässigkeit wären sie nicht zu dem Sack gekommen — und was nützt es uns, dass sich Ehrich eine Kugel vor den Kopf schoss? Er hätte lieber vorher besser aufpassen sollen.«
Ich starrte den kleinen Sprecher an.
»Ehrich?«, flüsterte ich. »War das nicht einer Ihrer ersten Kameraden?«
»Jawohl, bei unserer Kinderspielerei nannten wir ihn den schleichenden Tod, hahaha.«
»Und der hat deswegen Selbstmord begangen?«
»Ja. Er hat sich deswegen erschossen. War sofort tot.«
»Und wie alt war dieser Ehrich?«
»Nun — noch nicht ganz dreizehn Jahre.«
Noch immer starrte ich den kleinen, erst zwölfjährigen Sprecher in das faltige Gesicht, und nicht umsonst hatte ich zuletzt nur noch flüstern können.
Wenn mir noch etwas dazu gefehlt, so begriff ich jetzt voll und ganz, was für Menschen ich in diesen kleinen Personen vor mir hatte, welche dem Alter nach noch zu den Kindern zu zählen gewesen wären.
Wegen einer Pflichtversäumnis hatte sich der dreizehnjährige Knabe sofort eine Kugel durch den Kopf geschossen!!
Dann saß ich mit Neumann in jener Steinkammer, die Karlemann sein Arbeits- oder gar Studierzimmer genannt hatte, in dem auch jedes Möbel aus Stein war, beim Ausmeißeln vom Felsen stehen gelassen, so auch der Schreibtisch, und ich will gleich bemerken, dass ich diesen jetzt mit ganz besonderen Augen betrachtete — aus einem Grunde, den ich später erklären werde.
»Nun sagen Sie, wie es hier eigentlich mit dieser Leuchtturmspitze steht«, eröffnete ich das Gespräch.
Ja, aber Neumann hatte mir nichts weiter zu sagen, was er nicht schon gesagt hätte.
Mangel an Nahrungsmitteln — höchstens noch vierzehn Tage aushalten können — ohne Nachricht von Karlemann — ohne Verbindung mit der Außenwelt.
»Sind die Aschantis schon feindselig gegen Sie vorgegangen?«
»Nein.«
»Die Engländer?«
»Wir selbst haben noch gar keinen Engländer zu sehen bekommen.«
»Glauben Sie, dass die Engländer diese Insel in Besitz nehmen, Sie von hier vertreiben werden?«
Neumann blieb lange die Antwort schuldig, blickte finster brütend vor sich hin.
»Ich kann nur sagen: Ich glaube es!«, war dann seine Antwort.
Noch einmal möchte ich wiederholen: Mir fehlte vollkommen das Bewusstsein, mit einem nur dreizehnjährigen Knaben zu sprechen.
Nein, das war ein alter Zwerg, und Zwerge sind bekanntlich oftmals gar kluge Köpfe!
»Hat Algots Ihnen Instruktionen gegeben, was Sie in diesem Falle tun sollen?«
»Nein.«
»Gar keine?«, musste ich verwundert nochmals fragen.
»Nicht wegen eines Angriffs durch Engländer. Nur wegen der Aschantis, falls die uns einmal angreifen sollten, etwa um ihr Gold uns wieder abzunehmen. Da hätten wir zunächst die schwarzen Prinzen als Geiseln gehabt. Mit deren Entfernung hat Kapitän Algots aber doch schon gerechnet. In diesem Falle sollte ich alle schwarzen Arbeiter sofort von der Insel jagen — jetzt sind sie von allein gegangen — und dann die Seeburg eben verteidigen. Das hätte ja auch gar nichts auf sich gehabt, wir haben ja Kanonen und andere Waffen genug.«
»Und wegen des Proviants, den die Aschantis Ihnen dann doch nicht mehr geliefert hätten, was jetzt auch alles eingetroffen ist?«
»Da hätten wir uns einstweilen, bis sich die Sache ändert, durch Fischfang versorgt — eben durch jenes Mittel.«
»Das ist nun auch hinfällig geworden.«
»Verdammt, dass es so gekommen ist!«
»Ja, wenn nun aber jetzt englische Kriegsschiffe kämen. Sie und alle ihre Leute zum Verlassen der Insel aufforderten — was würden Sie tun?«
Der kleine Mann nagte finster an seiner Unterlippe.
»Ich könnte nicht gehen«, sagte er dann.
»Sie würden einen Kampf aufnehmen?«
»Sicher!«
»Sie würden unterliegen — eben schon aus Mangel an Lebensmitteln. Man würde sie einfach aushungern.«
»So weit würde ich es nicht kommen lassen.«
»Was würden Sie sonst tun?«
Der Junge blickte mich mit seinen finsteren Augen fest an.
»Ich würde scheinbar nachgeben — die Feinde müssten hier herauf kommen — so viele wie möglich — und dann... würde ich die ganze Seeburg in die Luft sprengen.«
Ich war nicht bestürzt — ich hatte es vielmehr zu hören erwartet.
»Hat Kapitän Algots Ihnen dies befohlen?«
»Nein. Aber er hält es für ganz selbstverständlich, dass ich seine Seeburg nicht in die Hände von Feinden fallen lasse.«
»Er hätte Ihnen aber doch den Auftrag geben können, lieber alles in Sicherheit zu bringen, anstatt alles in die Luft zu sprengen, wonach kaum etwas wiedergefunden werden könnte.«
»Was alles? Wovon sprechen Sie?«
»Gehen wir doch nicht um den heißen Brei herum wie die Katzen«, sagte ich jetzt offen. »Algots muss hier doch immense Gelder und besondere Schätze an Gold und Schmucksachen angehäuft haben.«
Erst traf mich ein äußerst misstrauischer Blick, der sich aber schnell verwandelte.
»Ja, das ist selbstverständlich. Aber...«
»Aber Sie selbst wissen nicht, wo er diese Schätze aufbewahrt,« kam ich ihm zu Hilfe, als er eine Pause machte.
Er brauchte es gar nicht erst zu bestätigen, Karlemann selbst hatte mir ja gesagt, dass niemand die von ihm angesammelten Schätze auffinden könne.
Das sah doch diesem deutschen Zigeunerknaben auch ganz ähnlich. Er allein wollte diese Schätze besitzen, sich an ihrem Anblick ergötzen, und fand er einmal seinen Tod, so sollten auch diese Schätze und Raritäten für die anderen Menschen verloren gehen. Für seine Eltern und Geschwister hatte er reichlich gesorgt.
Etwas ganz Ähnliches hatte ja auch bei mir und Blodwen vorgelegen, als wir unsere Millionen auf den Meeresboden versenkt hatten, noch mehr aber trifft das bei allen den reichen Leuten zu, wie man sie besonders in England und Amerika findet, welche die kostbarsten Raritäten und Kunstschätze zusammenschleppen und sie ängstlich vor den Augen der ganzen Welt verschließen, anstatt sie einer öffentlichen Sammlung einzuverleiben, wo sie sich doch auch täglich an ihren Anblick erfreuen könnten.
Aber dann machte ihnen das eben keine Freude mehr. Allein, ganz allein wollen sie alles haben — das ist erst der wahre Genuss.
Karlemann hatte damals seinem Stellvertreter nur eine kleine Summe zur Deckung von Unkosten hinterlassen. Es musste ja fast täglich neues Geld oder Geldeswert einlaufen, die Inselbewohner bekamen doch auch sonst von den Aschantis alles geliefert.
Überhaupt, ich habe es schon mehrmals gesagt: Während Karlemann manchmal das Geld mit vollen Händen hinauswarf, war er in anderer Beziehung ein richtiger Pfennigfuchser.
»Diese Schätze«, nahm Neumann wieder das Wort, »kommen hierbei auch gar nicht in Betracht.«
»Weshalb nicht?«
»Kapitän Algots hat alles, was ihm die Aschantis an Gold und Schmucksachen und dergleichen lieferten, immer ins Meer versenkt, an nur ihm bekannten Stellen, deren Lage er dann bestimmte.«
»Und ich versichere Ihnen, dass sich all diese Schätze noch auf dieser Leuchtturminsel hier befinden.«
Erstaunt blickte mich der Junge an.
»Woher wollen Sie das wissen? Nun ja, Sie waren immer ein guter Freund von unserem Kapitän und machten mit ihm wohl auch Geschäfte. Aber wir haben doch selbst zahllose Male gesehen, wie Algots allein in einem Boote davonfuhr, bei Nacht, womöglich bei mondloser, aber doch bei klarem Sternenhimmel, sodass noch eine geografische Ortsbestimmung möglich war, und das immer, wenn die Aschantis wieder Gold und dergleichen gebracht hatten. Er selbst sagte es ja, dass er jetzt im Boote davonfahre, um dieses Gold ins Meer zu versenken.«
»So hat er einfach Sie und alle anderen auf eine falsche Spur lenken wollen, mit Wort und scheinbarer Tat.«
Hierbei erinnere ich, wie damals das Geld, welches mir Karlemann aufgezählt hatte, ebenfalls nass gewesen war, wenigstens zum Teil, und als ich ihn direkt gefragt, ob auch er sein Vermögen auf dem Meeresgrunde aufhebe, hatte er dies durch seine spöttische Bemerkung zugegeben: ›ja, aber auf eine andere Weise als Sie, mir soll das nicht gestohlen werden.‹
Also auch mich hatte er irreführen wollen. Denn bei unserem letzten Zusammensein, als Karlemann vollständig halbpart mit mir hatte machen wollen, hatte er mir reinen Wein eingeschenkt, und da hatte ich eben anderes zu erfahren bekommen.
»Ich glaube sicher, dass Kapitän Algots alles ins Meer versenkt hat«, wiederholte Neumann.
»Und ich weiß bestimmt das Gegenteil. Ich habe es von Algots selbst erst vor vierzehn Tagen erfahren.«
»Wie? Sie haben ihn gesehen, ihn gesprochen?«, fuhr Neumann freudig empor.
Ich erzählte ihm von unserem Zusammentreffen in Charleston, allerdings nicht mehr, als nötig war.
»Algots ahnte schon, wie es hier noch kommen würde, und er beauftragte oder bat mich, hierher zu fahren, um seine Interessen zu wahren. Anfangs wollte ich mich nicht darauf einlassen — jetzt bin ich hier, und ich werde zu retten versuchen, was noch zu retten ist.«
Wieder traf mich ein misstrauischer Blick.
»So sind Sie hier als Stellvertreter unseres Kapitäns?«
»Ja.«
»Hat er Ihnen das schriftlich gegeben?«
»Sie wissen doch selbst, dass Algots niemals einen schriftlichen Kontrakt macht, überhaupt die Schreiberei nicht liebt.«
»Allerdings, aber wie soll ich Ihnen da Glauben schenken?«
»Dass mir der vorsichtige und schlaue Algots einen genügenden Ausweis in die Hände gegeben hat, können Sie sich wohl denken.«
»Nun?«
»Kennen Sie das Geheimnis dieses Schreibtisches?«
Der Junge blickte verwundert auf den steinernen Tisch, neben dem wir saßen.
»Ein Geheimnis? Nein!«
»So will ich es Ihnen offenbaren, und Sie können wohl glauben, dass Algots dies keinem anderen als seinem Bevollmächtigten anvertraut hätte.«
Ja, Karlemann hatte es mir anvertraut, in der Hoffnung eben, dass ich dann mich mit ihm verbünden würde, und erst recht, wenn ich selbst das erblicken würde, was er mir damals nur mit trockenen Worten schildern konnte.
Dass ich auf alles das nicht eingegangen war, das kam eben von meiner bekannten Verachtung des schnöden Mammons — mir konnte man eine Million und noch mehr versprechen, wenn ich das Geld nicht gerade direkt brauchte, so waren mir ein Beefsteak und eine gute Zigarre lieber — doch das ist ja schon bekannt genug — und mit alledem hatte eben auch der schlaue Karlemann gerechnet, doch sicher ein ausgezeichneter Menschenkenner, dass er mich so in seine tiefsten Geheimnisse eingeweiht hatte, ohne noch bestimmt zu wissen, ob ich überhaupt darauf eingehen würde.
»Vielleicht kommen Sie doch noch einmal wieder nach meiner Seeburg«, hatte er damals gesagt, und... es war tatsächlich eingetroffen.
Es war ein sogenannter Diplomatenschreibtisch, den man von dem Felsen hatte stehen lassen. Die Höhlungen waren jetzt mit hölzernen Kästen ausgefüllt worden.
Sie waren verschlossen, aber nun wusste ich schon die Mechanik, Karlemann hatte mir alles mitgeteilt, und die Sache war auch einfach genug. Man brauchte nur eine obere, unverschlossene Schublade vollständig herauszuziehen, ein ganz kleines Ding, so ließen sich sämtliche andere öffnen.
Dies und alles Fernere war das Werk des Baumeisters Arndt gewesen, mit dem Karlemann wohl besondere Freundschaft gepflegt hatte, dieser mochte alles in seinen Freistunden mit eigener Hand gemacht haben.
Da nun Neumann nichts davon wusste, so hatte Arndt das Geheimnis auch mit in den Tod genommen.
Jetzt zog ich zwei besondere Schubladen von den zwölf vorhandenen auf, bis zur Hälfte, bückte mich, kroch etwas in die Höhlung des Schreibtisches, in welche man für gewöhnlich beim Sitzen seine Beine stellt.
Die Hinterwand war eben wieder von Stein. Selbst noch bezweifelnd, dass die Sache auch wirklich funktionieren würde, stemmte ich die Hand gegen diese Steinwand. — Wahrhaftig, sie ging ganz leicht zurück! Es war eine eiserne Tür, außen nur mit Zement belegt.
Dass ich dies alles hinter verschlossener Tür vornahm, ist selbstverständlich, und ich hatte auch schon vorher eine an der Wand hängende Lampe erspäht gehabt, mit Petroleum gefüllt.
Ich setzte sie in Brand, dann hatte ich noch einmal Mühe, meinen langen und breitschultrigen Leichnam durch die Höhlung des Schreibtisches zu zwängen — dabei wurde mir ordentlich lächerlich zumute, solch ein Eingang, das war so echt karlemännisch, überhaupt nur für einen Zwerg berechnet, doch nicht für einen normalen Menschen — und überhaupt durch die Höhlung eines Schreibtisches kriechen zu müssen! — sodann konnte ich mich wieder aufrichten.
Es war ein weiter Raum, ein kleiner Saal, den meine Lampe erleuchtete.
Karlemann hatte mir nur angedeutet, dass Baumeister Arndt beim Bohren zufällig eine natürliche Höhle gefunden habe, und wie dann durch Änderung des Planes vermieden worden sei, dass man etwa noch einmal auf diese Höhle stoße. So hatte Karlemann sie dann zu seiner geheimen Schatzkammer gemacht, den Eingang durch seinen Schreibtisch legend.
Um die Luftventilation kümmerte ich mich wenig. Ich sah nur, was hier alles aufgestapelt war! Ich will es einfach machen: Gold aller Sorten, in Stücken daliegend, darunter förmliche Klumpen, in Körnern, wie die Getreidehaufen, als Goldstaub in Kisten und ledernen Säcken, dann gleißender Schmuck aller Art, wie Karlemann schon dem Häuptling Kididimo abgenommen hatte, nur damals ihn verkaufend, um zu Gelde zu kommen — und was ich hier sah, stand jenem an Pracht durchaus nicht nach, waren bei der Feilscherei doch auch hauptsächlich nur Häuptlinge, andere schwarze Fürsten des Aschantireiches und selbst der König in Betracht gekommen, und dann hauptsächlich auch Elefantenzähne und Elfenbein in anderer Form die schwere Menge.
Wie alles angeordnet war, damit will ich mich gar nicht aufhalten. Es war ein kleines Museum — oder eine große Schatzkammer.
Wenn ich näher darauf eingehen wollte, so würde ich ja gar nicht fertig. Man denke nur an die goldenen Geräte, Töpfe, Teller und anderen Hausgegenstände, welche der Gewerbefleiß des goldenen Aschantireiches erzeugt, immer doch nur in den Besitz des Königs, der anderen Häuptlinge und der sonstigen reichen Neger übergehend, denen Karlemann dafür mechanische Mäuse, Tschintschinmännchen und anderen Klimbim gegeben, wofür er die Häuptlingssöhne in turnerische Erziehung genommen, wilde Tiere und Hunde und Katzen dressiert hatte und dergleichen mehr!
Den ungefähren Wert dieser aufgehäuften Schätze konnte ich nicht taxieren. Da hatte mir auch Karlemann keine Angaben machen können. Er hatte eben nur von ganzen Kisten und Säcken voll Gold, Schmuck und dergleichen gesprochen.
Im Übrigen verblüffte mich nur der erste Anblick, dann sah ich mich, meiner Natur entsprechend, ganz ruhig in der Schatzkammer um, mit ganz anderen Gedanken beschäftigt.
Ebenso schien es Neumann zu gehen, der mir gefolgt war.
»Hm. Das hätte ich allerdings nicht vermutet. Wer hat denn diese Kammer angelegt?«
Ich teilte ihm das mit, was ich vorhin von dem Baumeister gesagt habe.
»Und gerade hier darunter befindet sich die Pulverkammer.«
»Hat Algots Ihnen gesagt, dass Sie diese im höchsten Notfalle zur Explosion bringen sollen?«
»Nicht direkt. Aber es ist selbstverständlich, dass dies geschehen müsste, ehe ich die Seeburg in andere Hände fallen ließe, und selbst, wenn ich schon von diesen Schätzen wüsste.«
Der Junge hatte recht.
»Nun will ich Ihnen meine Ansicht mitteilen«, nahm ich dann wieder das Wort. »Wir wollen lieber nicht abwarten, bis die Engländer...«
Eine Bewegung Neumanns unterbrach mich; er hatte mit gespannten Zügen die Hand erhoben.
»Da wird an der Tür des Arbeitszimmers gepocht, man sucht mich!«
Auch ich hatte solche Töne vernommen, nur dass sie hier ganz anders klangen.
Schnell verließen wir die Kammer wieder, und nachdem ich mich unter dem Schreibtisch durchgezwängt und die Öffnung wie die Schubfächer wieder geschlossen hatte, öffnete Neumann die verriegelt gewesene Tür.
Es war Gottfried Klingelmann, genannt die züngelnde Schlange, welcher Einlass begehrte. Die Jungen waren mir ja schon früher vorgestellt worden, und für so etwas habe ich ein gutes Gedächtnis.
Der jetzt fünfzehnjährige, aber klein gebliebene Junge sah ganz verstört aus.
»Drei englische Kriegsschiffe dampfen auf unsere Insel zu!«, stieß er hervor.
In diesem Moment musste ich auf Neumann blicken, was für eine Wirkung nämlich auf diesen die Meldung hervorbrächte — und wahrhaftig, der winzige Knirps steckte zunächst die Hände in die Hosentaschen, und dann sagte er ganz gelassen:
»So?«
Karlemann hatte wohl den richtigen ›Mann‹ gewählt, wenn er gerade auf den Jüngsten und Kleinsten sein Kommando übertragen.
Dann freilich eilte er wie ich schleunigst auf die Plattform des Felsens.
Zwei Korvetten, die eine gepanzert, mit Geschützturm, und ein großes Kanonenboot, vielleicht noch 2000 Meter von der Leuchtturminsel entfernt, von der Küste her direkt auf diese zuhaltend, mit Kriegswimpel und englischer Flagge.
Das war es, was wir sahen. Sonst konnten wir noch nichts sagen.
Erwähnen will ich nur noch, dass mir die Panzerkorvette bekannt war, wenigstens durch Abbildung.
Der oder richtiger die ›Prince Albert‹ war das jüngste Erzeugnis und der Triumph der englischen Schiffsbaukunst, es war das erste Schiff mit Geschützturm, überhaupt ein ganz neuer Typ, die schnelle Korvette sollte zugleich als Schlachtschiff dienen, mit ihren 10 000 Tonnen für damalige Verhältnisse ein kolossales Ding, und auch heute wäre sie nicht zu verachten — damals galt sie als ein Wunder, und auch ich konnte diese schwimmende Festung mit ihrem von Geschützen aller Art starrenden Panzerturm nur ehrfürchtig anstaunen. Denn das sah in Wirklichkeit doch ganz anders aus, als auf einer Abbildung.
»Wehe, gegen wen diese Feuerschlünde speien!«, musste ich unwillkürlich flüstern, nicht gerade ein gutes Deutsch gebrauchend.
»Gegen wen?«, meinte da Neumann an meiner Seite. »Nun, natürlich gegen uns.«
Ich blieb ihm die Antwort schuldig.
In einer Entfernung von etwa 1000 Metern stoppten die in einer Reihe stehenden Schiffe, blieben liegen, ohne Anker auszuwerfen, die wohl auch keinen Grund gefunden hätten. Signale wurden nicht gewechselt, auch der Insel wurde nichts zusignalisiert.
Es dauerte nicht lange, als vom ›Prince Albert‹, der die Admirals- oder richtiger Kommodoreflagge führte, ein Boot ausgesetzt wurde, und ich erkannte schon durch das Fernrohr, dass der einsteigende Offizier die Adjutantenschärpe trug.
Der zehnriemige Kutter stieß ab, strebte der Insel zu. Die von der Küste kommenden Schiffe lagen sowieso der Einfahrt gegenüber.
Also wir hatten einen Abgesandten und Stellvertreter Englands zu erwarten, und es war nicht mehr viel Zeit, zu seinem Empfang Vorbereitungen zu treffen.
»Ich möchte Sie bitten, Herr Neumann, mir zu überlassen, diesen Herrn zu empfangen und mich mit ihm auseinander zu setzen.«
»Selbstverständlich. Sie sind ja auch der Stellvertreter unseres Kapitäns.«
Diese Antwort freute mich. Ich hatte fast erwartet, dieser Wichtelmann würde den Gernegroß spielen wollen, obgleich ich gar nicht zweifelte, dass er diesen Offizier abgefertigt hätte, sprechen konnte er ja wie ein Alter.
Dann aber hätte ich nicht dabei sein dürfen, oder ich hätte eine jämmerliche Rolle gespielt.
»Welchen Bescheid Sie ihm geben würden, weiß ich ja.«
»Dann ist es gut! Tun Sie überhaupt, was Sie für gut finden, ich stelle mich unter Sie. Natürlich tragen Sie unserem Kapitän gegenüber dann auch die Verantwortung.«
In dieser Ablehnung einer Verantwortung konnte ich nur eine Klugheit, keine feige Schlauheit erblicken. Überhaupt war mir das Verhalten des Jungen viel lieber, als wenn er eben protzig als Machthaber aufgetreten wäre.
»Sie haben ja auch viel mehr Erfahrung in so etwas, da bin ich doch noch ein dummer Junge«, setzte da diese Perle von einem kleinen Igel noch hinzu.
Jetzt begaben wir uns eiligst hinab. Die Treppenanlage habe ich schon früher geschildert. Viel mehr war in letzter Zeit nicht hinzugekommen.
Wir traten eben aus dem Innern des Felsens heraus auf die unterste Galerie, als wir den Kutter schon durch die schmale Hafeneinfahrt steuern sahen.
Außer dem Adjutanten befanden sich in dem Boote, wie ich jetzt bemerkte, noch zwei andere Offiziere. Ersterer trug in der Hand eine an einer Stange befestigte englische Handelsflagge — also eine Fahne — und das Mitnehmen dieser englischen Fahne konnte ich mir schon erklären.
Ich hatte gerade noch so viel Zeit, um den halbwüchsigen Jungen, die sich hier unten befanden, einige Instruktionen zu geben, vor allen Dingen, sich ruhig zu verhalten, ich hätte hier das Kommando übernommen — aber so viel Zeit hatte ich nicht mehr, um noch einmal auf mein Schiff zu springen.
Nun, meine Offiziere und meine erwachsenen Jungen waren an Deck, und die brauchten nicht erst Instruktionen, die wussten schon, was sie zu tun hatten, wenn es drauf ankam, mochten sie sich jetzt auch behaglich an der Bordwand räkeln.
Der Kutter steuerte in den Kesselhafen ein. Und in diesem Augenblick gewahrte ich ganz deutlich, was für erstaunte, bestürzte, wenn nicht erschrockene Gesichter die drei Offiziere machten, als sie plötzlich meine große, dreimastige ›Sturmbraut‹ erblickten, die ihren Namen groß und deutlich auf ihrem Hinterteil jenen gerade entgegenreckte.
Die drei Offiziere schienen einige schnelle Bemerkungen auszutauschen, dann ein Ruderkommando, das Boot machte eine unvermutete Schwenkung, legte in prachtvoll ausgeführtem Manöver bei, sofort sprangen die drei Offiziere heraus, standen auf der untersten Galerie, gute zwanzig Schritt von mir und uns allen entfernt.
»Im Namen der Königin von Großbritannien und Irland ergreife ich Besitz von dieser Insel für England!!«, rief der mit der Adjutantenschärpe mit schallender Stimme und stieß gleichzeitig seine Fahne in einen zufällig dort liegenden Sandhaufen — Ballastsand.
Zu den uns trennenden zwanzig Schritten gebrauchte ich zehn, dann befand auch ich mich dort.
»Nanu, was ist denn hier los? Wer sind Sie denn? Was soll denn hier die Fahne bedeuten?«
Drei Paar Augen starrten mich erschrocken an.
Das heißt — alles, was recht ist — diese drei englischen Seeoffiziere mit ihren sonnenverbrannten und trotz aller Jugend schon mehr verwitterten als verwetterten Gesichtern mochten sonst nicht so leicht erschrecken, die wussten überhaupt nicht, was Furcht und dergleichen ist, die gingen einer feuerspeienden Batterie ebenso kaltblütig entgegen, wie dem fliegenden Holländer oder einem sonstigen Spuk zu Leibe — ich war ihnen nur etwas gar zu plötzlich gekommen.
Der erste, der sich wiederfand, war der Adjutant, in seiner Bartlosigkeit noch einem Jünglinge gleichend und trotzdem schon durch die vielen Goldstreifen als Kapitän zur See gekennzeichnet.
»Wer sind Sie?«
»Das habe ich schon Sie gefragt, und Sie haben mir zunächst zu antworten!«
In den energischen Zügen des Jünglings zuckte es verdächtig, die kalten, klugen Augen blitzten wie zweischneidiger Stahl auf — aber er beherrschte sich. England oder dessen Stellvertreter weiß, wem es seine Vollmacht gibt, für sich sprechen und handeln lässt — das darf nicht so ein degenerierter Edelmann sein, der sich durch Tollheiten in seiner Heimat unmöglich gemacht hat.
»Das brauchten Sie eigentlich nicht zu wissen — well, Lord Leicester, Kapitän zur See, erster Wachoffizier an Bord Ihrer Majestät Panzerkorvette ›Prince Albert‹ — und im Namen meiner Königin ergreife ich für England Besitz von dieser Insel!«
Imponieren ließ ich mir nun freilich nicht.
»Ja, wie so denn nur? Diese Leuchtturminsel hat doch schon ihren Besitzer.«
»Wen?«
»Tun Sie doch nicht so, als wenn Sie das nicht wüssten.«
»Ein gewisser Karl Algots hat...«
»Na also, Sie wissen es ja recht gut. Was fragen Sie denn da erst!«
»... mit dem AschantiHäuptling Kididimo einen Vertrag abgeschlossen, wonach dem Karl Algots diese Insel gehören soll. Aber einmal ist dieser Karl Algots noch ein unmündiger Knabe, zweitens ist dieser nur mündlich abgeschlossene Vertrag von dem König Aquassi Aquatuh niemals anerkannt worden...«
Ah, so wollten die Engländer wieder einmal die Sache drechseln!
»Lassen wir doch das ganze Gerede«, fiel ich jenem ins Wort. »Wollen Sie jetzt diese Fahne hier wegnehmen?«
»Diese Fahne repräsentiert die englische...«
»Nicht? Na, dann tue ich's! Weg!«
Mit diesen Worten hatte ich die Fahne mit den englischen Farben, dem sogenannten Union Jack, aus dem Sandhaufen gezogen und... warf sie einfach ins Wasser.
Leider! Ich hätte es nicht tun sollen. Solch eine maßlose Beleidigung wäre nicht nötig gewesen.
Aber ich befand mich wieder einmal in jener Stimmung, da ich nicht weiß, was ich tue. Ich war ganz blind. Das heißt, nicht betreffs der Augen. Auf mich hätte jetzt jemand ruhig einschlagen können, ich hätte jeden Hieb pariert, ganz kaltblütig, obgleich in mir alles kochte und mein Kopf wie Feuer glühte.
Das sonst so gesunde Antlitz des jungen Lords wurde plötzlich aschgrau, er fuhr zurück, seine Hand an dem Degengriff.
Ich blieb trotz meiner inneren Hitze ganz ruhig. Nur die Sprungmuskeln meiner Beine spannten sich. Zum Stechen wäre der nicht gekommen.
Hinter mir polterte, trampelte es. Meine Jungen waren unisono über die Bordwand gejumpt.
Das war aber auch die einzige prompte, hastige Bewegung wie auf militärisches Kommando gewesen. Dann empfand ich eine starke Komik, die fast meine Lachlust anregte.
Fast alle hatten nämlich schnell beide Hände in den Hosentaschen versenkt, Mahlsdorf und der zweite nicht ausgeschlossen, und so schlenderten sie heran, ganz langsam, so halb von der Seite, über die große Zehe, mit
ganz harmlosen Gesichtern, als ginge ihnen dies alles durchaus nichts an, als wollten sie nur so hinbummeln, um einmal zu sehen, was da eigentlich los wäre.
Wahrhaftig, in diesem Augenblicke amüsierte ich mich am meisten über das Verhalten meiner Jungen!
Ein Glück war, dass der Offizier seinen Degen stecken ließ und die englischen Matrosen ruhig auf ihren Duchten sitzen blieben. Sonst hätten die ganz eklige Haue bekommen, und daran war mir nichts gelegen.
Wieder beherrschte sich der Adjutant, sprang sofort ins Boot, die anderen ihm nach, die Fahne wurde aus dem Wasser gezogen — »Setzt ab! Lass fallen die Riemen! Ruder an!!!«, — und fort ging es, ohne noch ein Wort wie »Das werden Sie noch bereuen!« oder dergleichen gesagt zu haben, und das gefiel mir nun wieder von diesen Engländern.
Jetzt, da ich es einmal getan hatte, bereute ich auch nichts. Und Vorstellungen zu machen hatte mir niemand. Höchstens Tischkoff als mein Kommodore, aber der hatte sich zwischen seinen Büchern vergraben und wusste vielleicht noch nicht einmal, dass wir uns nicht mehr in Amerika, sondern an der Küste Afrikas befanden. Denn mit meinem Kommodore war in letzter Zeit gar nichts mehr anzufangen. Er musste sich gerade bei einer sehr schwierigen Stelle der Übersetzung befinden.
Nur einer war mit meiner Handlungsweise nicht ganz zufrieden: Fritze Neumann.
»Ich hätte ihm die Fahne doch lieber gleich um die Ohren gehauen«, meinte dieser kleine Igel.
Ehe ich mit ihm und vielleicht mit anderen beriet, was nun weiter zu geschehen habe, wollten wir doch lieber erst beobachten, wie das zurückkommende Boot empfangen wurde, ob man uns nicht etwa durch Flaggen etwas zu sagen habe.
Als wir oben waren, hatte das Boot auch den ›Prince Albert‹ wieder erreicht, wir sahen sogar, wie der Adjutant dem Kommandanten Rapport erstattete, gleich an Deck.
Mochten so auch noch andere hören, welche Schmach der englischen Flagge widerfahren war — eine allgemeine Aufregung gibt es an Bord eines Kriegsschiffes natürlich nicht.
Wirklich, es dauerte gar nicht lange, als am Signalmast Flaggen hoch gingen, eine Reihe nach der anderen.
Im Leuchtturm war ein internationales Flaggenbuch vorhanden, und ich übersetzte.
Innerhalb einer Stunde haben sämtliche Bewohner der Insel diese zu verlassen
und sich an Bord dieses Admiralschiffes zu begeben. Auf Befehl! Lord Renington,
Kommodore und Kommandant I. M. S. ›Prince Albert‹.
Hierzu waren fünf Flaggenreihen nötig gewesen — und doch ließ der Befehl nichts an Kürze zu wünschen übrig.
Nun waren wir kaltgestellt. Ja, wir konnten noch immer die Schatzkammer ausräumen und alles an Bord meines Schiffes verstauen, aber davonkommen konnte meine ›Sturmbraut‹ nicht mehr.
Dass ich mit meiner ganzen Mannschaft doch eigentlich nicht zu den ›Bewohnern‹ der Insel gehörte, auf solche Wortklaubereien wollten wir uns gar nicht erst einlassen. Kriegsschiffe sind manchmal eigensinnig, besonders wenn sie mit Kanonen gespickt sind.
»Ob sie uns wohl freien Abzug gewähren?«, fragte nur der kleine Igel noch einmal.
»Das wohl sicher«, entgegnete ich, »wenigstens Ihnen und Ihrer kleinen Bande — mir und meinen ausgewachsenen Jungen wohl weniger. Aber auch Ihnen würde man erst die Taschen visitieren — also von wegen mitnehmen ist nichts.«
»Und dann würde man uns per Kriegsschiff in eine Korrektionsanstalt für verwahrloste Kinder bringen, was?«
O, du ahnungsvoller Engel du!
Drüben wurde das Fragezeichen gehisst, ob wir auch verstanden hatten, und ich gab das Verstandenzeichen, aber nicht etwa durch die JaFlagge ausgedrückt, was zu Verwechslungen führen würde, so in meinem Falle.
Vielmehr setzte ich, ohne erst meinen kleinen Mitberater deshalb befragt zu haben, unter das Verstandenzeichen gleich die NeinFlagge.
»Sie wollen die Insel nicht verlassen?«, versicherte man sich drüben noch einmal.
»Nein!«
»Eine Stunde Bedenkzeit.«
Wohl, die würde vergehen — unterdessen aber mussten wir handeln.
Die vier kleinen Vertrauten Karlemanns traten zur Beratung zusammen, ich zog meine Offiziere ins Vertrauen, ferner aber auch zwei Matrosen, auf deren Rat ich schon manchmal etwas gegeben hatte.
So und so — ich erzählte ihnen von den hier angehäuften Schätzen, welche zu retten waren.
Ja, was war da zu tun? Vor allen Dingen mussten diese Sachen an Bord meiner ›Sturmbraut‹ gebracht werden.
Denn nehmen würden die Engländer die Insel ja doch, wenn nicht heute, dann über ein Jahr — wahrscheinlich aber schon eher.
Höchstens konnten die Schätze noch ins Meer versenkt werden. Aber nur dicht am Rande des Felsens, man musste sie einfach hinabwerfen. Denn ein Boot ließen die Kriegsschiffe jetzt doch nicht mehr hinaus.
Also lieber an Bord meines Schiffes.
Aber würden die Engländer meine ›Sturmbraut‹ durchlassen?
Sie stand ja unter dem Schutze des Sternenbanners.
Na, davon wollten wir lieber gar nicht sprechen. Unter solchen Verhältnissen würden sich diese Engländer im Bewusstsein ihrer Allmacht verdammt wenig aus der Heiligkeit des Sternenbanners machen.
Es gab überhaupt nur eins, wollten wir hier nicht wie die Maus in der Falle sitzen bleiben und Hungers sterben: Jetzt musste ich den mir aufgedrungenen Titel eines Blockadebrechers rechtfertigen! Nur nicht zum blockierten Hafen hinein, wie es gewöhnlich der Fall ist, sondern hinaus, und das ist ja auch oft genug die Aufgabe des Blockadebrechers.
Über die psychologische Bedeutung des Wortes ›Blockadebrecher‹ werde ich übrigens später noch ein Wort zu sagen haben.
Also, ich musste eben versuchen, während der Nacht mit meiner ›Sturmbraut‹ hinaus und davon zu kommen, Karlemanns Schätze an Bord und sämtliche siebenunddreißig Jungen. Anderes blieb uns nichts übrig.
Die Nacht würde auch günstig dazu sein. Der Mond ging erst des Morgens auf, jedenfalls würde es auch einen bedeckten Himmel geben.
Wie das Hinausschleichen sonst ausfallen würde, das... blieb diesem Himmel überlassen, ob er bedeckt war oder nicht.
»Sie wollen signalisieren!«, erklang der Ruf.
Die aufmerksam machende Flagge war am Signalmast der Panzerkorvette hochgegangen, und da ich gleich die betreffende Gegenflagge hisste, war ein anderes Zeichen, das sich bis zum Kanonenschuss steigern kann, nicht nötig.
Ich war bereit, die Depesche zu empfangen.
»Ist das dort im Hafen liegende Schiff die ›Sturmbraut‹ von New York?«, wurde angefragt.
Aha, jetzt kam ich an die Reihe!
Ich bejahte.
»Früher in London beheimatet?«, vergewisserte man sich noch einmal.
»Ja.«
»Wie heißt der Kapitän?«
»Richard Jansen«, buchstabierte ich prompt meinen Namen. Ein Schlusszeichen kam nicht, die Fortsetzung ließ sehr lange auf sich warten, und dann meldeten die bunten Lappen:
Die ›Sturmbraut‹ hat innerhalb einer halben Stunde den Hafen der englischen
Insel zu verlassen! Auf Befehl! Lord Renington, Kommodore.
Aha, konnte ich jetzt abermals sagen.
Dann packte mich der Übermut, ich wählte drei Flaggen, knüpfte sie selbst an, zog sie hoch — und diese drei Flaggen sprachen aus:
»Nicht in die Hand!«
Diese Redensart war schon damals in Berlin beliebt und hatte sich von dort aus durch ganz Deutschland verbreitet, und als die vier Berliner Pflanzen den Sinn dieser drei Flaggen herausfanden, lachten sie denn auch aus vollem Halse.
Schade nur, dass ich den Berliner Dialekt so nicht wiedergeben konnte. Es mussten ja überhaupt englische Worte sein.
Dass aber auch die Engländer diesen Ausdruck richtig deuteten, das verriet, dass sie die Flaggen niederholten und keine weitere Frage stellten.
Jetzt gingen wir daran, die Schatzkammer auszuräumen. Alles wurde in Säcke verpackt und mittels der Winde herabgelassen, direkt an Deck meines Schiffes.
Meine Jungen machten keine schlechten Augen, als sie das gleißende und flimmernde Zeug erblickten. Aber auch die Karlemanns staunten nicht wenig. Sie hatten all das Gold und Geschmeide immer nur einzeln kommen sehen, doch niemals zusammen, und sie hatten doch auch keine Ahnung gehabt, auf solchen immensen Schätzen herumzulaufen, wenn sie auf der Plattform des Felsenberges spazieren gegangen waren.
»Sie setzen wieder ein Boot aus, es kommt zu uns!«, wurde da gemeldet.
Es war derselbe zehnriemige Kutter, ich erkannte in ihm Lord Leicester mit der Adjutantenschärpe.
Was wollten die? Nun, abermals nach der Insel, um mit uns zu unterhandeln.
Dazu gehörte ein außerordentlicher Mut. Das Flaggschiff hätte erst anfragen müssen, ob wir einen Abgesandten als unantastbaren Parlamentär anerkennen wollten, oder das Boot hätte gleich die weiße Parlamentärflagge mit roten Streifen führen sollen.
Nichts von alledem. Und das hieß für jeden Sachverständigen: Da ihr die Insel nicht auf unseren Befehl räumen wollt, so seid ihr für uns Rebellen, mit denen überhaupt nicht parlamentarisch verhandelt wird!
Dennoch wagten sie sich zu uns!
Nun, allzu hoch darf man diesen Mut nicht anschlagen. Der Kommandant hatte befohlen, und die Soldaten gehorchten einfach. Und Mut ist bei einem Soldaten das Allerselbstverständlichste.
Wenn wir die nun als Geiseln hier behielten? Hätte nichts zu sagen, dann würden wir das später zu büßen haben. So sagten sich wenigstens die Nürnberger dort drüben, und das auch ganz mit Recht, wenn sie uns auch noch nicht hatten.
Doch ich wollte sie mit aller Höflichkeit empfangen — — vorausgesetzt, dass sie selbst höflich waren.
Das Boot legte wieder neben dem Sandhaufen bei, nur dass dieser jetzt von der englischen Flagge verschont blieb.
»Wer hat hier im Namen aller zu sprechen?«, begann der mit der Adjutantenschärpe ganz höflich.
»Ich!«, ließ ich meine Bruststimme erklingen.
Ich musste mir erst eine scharfe Musterung gefallen lassen.
»Sind Sie nicht Kapitän Richard Jansen von der ›Sturmbraut‹?«
»Bin ich!«
»Ja, inwiefern können Sie den Sprecher für alle machen?«
Ich drehte mich einmal um.
»Jungens, stehe und spreche ich hier nicht im Namen Algots'?«
Die Bestätigung meiner eigenen Leute wäre nicht nötig gewesen, nur die der kleinen Bengels, und diese geizten mit ihren Beifallsbezeugungen nicht.
»Wer ist denn dieser Kapitän Algots?«, fragte da der Adjutant noch.
Das hätte er nicht fragen sollen, denn ich fühlte gleich den heimlichen Gedanken heraus, und da stieg mir auch gleich wieder das Blut zu Kopfe.
Doch ich blieb noch höflich.
»Kapitän Karl Algots, von dem wir doch immer gesprochen haben, dem Sie eben diese Insel streitig machen wollen.«
»Ach so, der unmündige Knabe Karl Algots!«
»Jawohl, ein Knabe ist er dem Alter nach noch, kann daher gesetzlich auch noch nicht mündig sein, hat aber schon drei Frauen.«
»Wer hat denn den zum Kapitän befördert?«
»Er sich selbst, und das von Gottes Gnaden.«
Bei mir erwachte schon wieder mein gewöhnlicher Humor, und das war gut, er dämpfte den aufsteigenden Zorn. Doch der englische Offizier blieb unerschütterlich.
»Sie machen wohl mit diesem Karl Algots gemeinsame Sache?«
»Jawohl, wir machen zusammen Kumpe.«
»Sie machen was zusammen?«
»Kumpe — Kompanie.«
Meine Jungen, diese verfluchten Bengels, fingen zu kichern an, nur der Engländer ließ sich nicht irritieren.
»Gut, dann sind Sie ja wirklich der richtige Mann, mit dem ich zu verhandeln habe. Alle diese Männer und Kinder haben Ihnen also zu gehorchen?«
»Alle!«
»Sie werden Ihnen auch gehorchen?«
»Unbedingt!«
»So befehlen Sie ihnen, dass sie sofort diese Insel verlassen.«
»Ja, mein bester Herr, da muss ich aber doch erst selbst die Absicht haben, diese Insel zu verlassen.«
»Das wollen Sie nicht tun?«
»Nee!«
»Weshalb nicht?«
Das war wieder so eine dumme Frage, wie ich sie nicht leiden kann.
»Weil diese Insel Kapitän Karl Algots' Eigentum ist, den ich hier vertrete«, entgegnete ich noch einmal gefügig.
»Hören Sie, Herr Kapitän Jansen«, begann da der Lord in ganz besonders mildem, sozusagen väterlichem Tone, »die Regierung von England hat mit dem König des Aschantireiches ein Bündnis geschlossen...«
»Nein, ich will nichts hören«, unterbrach ich ihn, »ich weiß ja doch alles, was Sie sagen wollen. Sie betrachten diese Leuchtturminsel als Englands Eigentum — aber ich bin eben gegenteiliger Meinung, diese Insel ist meines kleinen Freundes Algots Eigentum, und da ich sein Kompagnon bin, auch das meine.«
»Also, Sie wollen die Insel nicht verlassen?«
»Zum Teufel — nein!!«
»Dann müssen wir Gewalt anwenden.«
»Probieren Sie's nur!«
»Denken Sie denn wirklich, Sie können uns Widerstand leisten?«
»Das werden Sie ja sehen.«
»Ja, Widerstand leisten können Sie uns wohl — aber was meinen Sie, auf wie lange?«
»Das wird sich ja finden.«
»Wir haben keinen einzigen Schuss nötig.«
»O, bitte, genieren Sie sich nicht, immer schießen Sie los.«
»Wir wissen, wie knapp Sie an Lebensmitteln sind, und wenn auch Ihr Schiff ganz mit Proviant gefüllt wäre — wir hungern die Insel einfach aus, wir haben Zeit.«
»Wir auch. Nun, sonst noch etwas?«, murrte ich jetzt ungeduldig.
Aber der phlegmatische Engländer ließ sich nicht stören.
»Bitte, Herr Kapitän — wir wollen beide doch ganz vernünftig zusammen sprechen — Sie tragen doch auch die Verantwortung für die anderen Menschen — für diese jungen Menschenleben — glauben Sie denn nicht, dass eine Belagerung der Insel für Sie und für alle ein böses Ende nehmen wird?«
Ja, der junge Lord sprach vernünftig — so wollte auch ich's sein — und dann tat von meiner Seite etwas Diplomatie Not.
»Wenn wir nun die Insel verlassen, was dann?«
»So werden Sie und alle zunächst erst an Bord eines der englischen Kriegsschiffe genommen.«
»Als Gefangene?«
»Hm. Wie man's nimmt. Eigentlich nicht«, war die zögernd gegebene Antwort.
»Jetzt wollen Sie mir etwas verheimlichen! Sprechen Sie doch offen.«
»Gut denn! Ich will auch gleich zur Hauptsache kommen, Ihnen die Bedingungen nennen, zu welchen alle, die sich hier befinden, vollständig freien Abzug haben.«
»Nun?«
»Auf dieser Insel befinden sich große Schätze an Gold, Elfenbein und Geschmeide.«
Aha! Ja, jetzt kam für diese Engländer wirklich die Hauptsache! Na, dieser junge Mann war wenigstens offen. Das gefiel mir.
»So?«, sagte ich zunächst, um erst noch mehr zu erfahren.
»Jawohl! Dieses Gold und Geschmeide, meist Aschantihäuptlingen gehörend, ist ihnen von jenem Karl Algots abgenommen worden.«
»Abgenommen? Wie soll ich das verstehen? Dieses Wort hat einen eigentümlichen Klang.«
»Allerdings. Jener Knabe hat verstanden, den harmlosen Negern Gold und Goldeswert, am meisten Leibesschmuck, an dem sie eigentlich pietätvoll hingen, abzulocken, indem er den unwissenden Negern dafür wertloses Spielzeug anbot...«
»So?«, fiel ich jenem spöttisch ins Wort. »Haben Ihnen diese harmlosen, pietätvollen Neger nicht auch erzählt, dass jener Knabe ihnen auf ihr Verlangen wilde Tiere zähmte und dressierte, ihre Söhne erzog, wofür er ein Honorar zu verlangen hatte, und unter solchen Verhältnissen kein geringes?«
»Ganz gewiss. Und Karl Algots soll auch für seine Bemühungen den Verhältnissen entsprechend hoch bezahlt werden. Aber alles, was recht ist. Und dass er für elendes Spielzeug, das regelmäßig schon am anderen Tage zerbrochen war, den tausendfachen, den millionenfachen Wert annahm oder gar forderte, das war ein Unrecht. Kurz und gut: Jetzt hat England diese Sache in die Hand genommen, und England hat nie ein Unrecht geduldet. Kurz und gut: Sie haben sämtliche Schätze, wie ich das alles zusammen nennen will, auszuliefern, sie werden nach England gebracht, und dann wird durch eine Kommission entschieden werden, wahrscheinlich sogar im Parlament, was den betrogenen Aschantis zurückzuerstatten und was jenem Knaben für seine Bemühungen davon einzuhändigen ist.«
Ich wäre doch bald herausgeplatzt, dem Sprecher ins Gesicht. Doch ich dachte, noch einen diplomatischen Schachzug zu machen.
Ach, hätte ich es doch nicht getan! Wäre ich doch lieber gleich bei der Wahrheit geblieben.
»Ja, das stimmt wohl alles, aber diese Schätze befinden sich nicht auf der Insel.«
»Wo denn sonst?«
»Karl Algots hat alles ins Meer versenkt, in einzelnen Portionen, an nur ihm bekannten Stellen. Auf dieser Insel ist absolut kein Geld oder Geschmeide oder...«
Da prasselte es mit Wucht herab, und zwischen uns, die wir drei Schritte auseinander standen, lag ein geplatzter Ledersack mit Zepter und Krone und Stern und anderem Plunder, alles Gold und Diamanten und Elfenbein und Gott weiß was.
Oben am Schwebebaum, der noch nicht ganz herumgedreht gewesen, hatte noch solch ein Sack gehangen, der Strick mochte gerissen sein, der Sack war gerade zwischen uns gestürzt, seinen kostbaren Inhalt wohlgefällig zeigend, und da brauchte man gar nicht nur an einen Teil zu denken — was man da zu sehen bekam, das genügte gerade, um schon von einem großen Schatze zu sprechen.
Na, ich war maßlos beschämt! Ich hatte doch gerade von ›absolut kein Gold und Geschmeide‹ gesprochen. Da muss mich der Himmel so Lügen strafen! Mir wäre tausendmal lieber gewesen, der Goldsack hätte mich doch gleich totgeschlagen.
Im Leben werden ja noch ganz andere Notlügen gemacht — und nicht nur aus Not — im Kriege sind sie erlaubt, in der Diplomatie wird wahrscheinlich noch ganz anders geflunkert — — aber ich war damals nun eben so ein eigentümlicher Kauz. Erschrocken war ich durchaus nicht, hatte mit keiner Wimper gezuckt — aber vor Scham mag ich rot wie ein gekochter Krebs geworden sein.
Da geschah etwas, was die Scham schnell von einem anderen Gefühl verdrängen ließ.
Der Lord und seine Begleiter waren natürlich erschrocken zurückgeprallt — dann standen sie da und starrten staunend diese glitzernden Kostbarkeiten an — und dann trat der Lord wieder einen Schritt heran, bückte sich, streckte die Hand aus, um das zuoberst liegende Stück, so ein diamantbesetztes Zepter, wie Karlemann schon dem Kididimo eines abgenommen hatte, aufzuheben.
Als ich diese Bewegung sah, da also erfassten mich andere Gedanken.
Schnell setzte ich meinen Fuß auf dieses Zepter, beinahe hätte ich dem Lord, hätte er sie nicht rechtzeitig zurückgezogen, dabei auf die Hand getreten, und dass ich mir daraus nichts gemacht hätte, das sagte ich ihm auch.
»Hand weg!!«, sagte ich also, oder ich mag mit meiner Bärenstimme auch ein bisschen gedonnert haben. »Jawohl, alle diese Schätze befinden sich hier auf der Insel. Noch zehnmal so viel. Und die gehören uns! Und ihr Engländer kriegt 'nen Dreck!«
Das war gut deutsch gesagt — wenn auch in englischer Übersetzung.
Der Lord starrte mich wie geistesabwesend an, bis er sich wieder aufrichtete.
»Mister Richard Jansen, Kapitän von der ›Sturmbraut‹?«
Was wollte der Kerl, dass er noch einmal so fragte?
»Jawohl, das stimmt, das bin ich!«
Jetzt langte der in die Rocktasche, brachte ein Band zum Vorschein, legte es umständlich um seinen linken Oberarm.
»Wissen Sie, Herr Kapitän, was das bedeutet?«
»Nee!«
Es war eine blaue Binde, in der Mitte ein weißer Klecks und da drin wieder etwas Schwarzes.
»Das ist das Abzeichen, welches mir als englischem Offizier im Auslande das Recht gibt, Verhaftungen vorzunehmen. Jetzt bin ich englischer Kriminalbeamter.«
Ach so, ja! So etwas hatten wir auch einmal auf der Steuermannsschule zu hören bekommen, auch so eine Binde hatte man uns gezeigt, sie war von Hand zu Hand gegangen. Aber man kann doch nicht alles im Kopfe behalten Doch jetzt erinnerte ich mich wieder.
»Na und?«
»Sind Sie nicht aus dem Zuchthaus von Portland entsprungen?«
»Jawohl!«, sagte ich, ganz fröhlich, oder ganz erstaunt.
Was wollte der Mann nur eigentlich von mir? Der hatte wohl plötzlich den Verstand verloren?
Mit einem Male fing ich zu lachen an.
»Ach Gott, jetzt geht mir ein Seifensieder auf — Männicken, Sie wollen mich wohl hier verhaften?!«
»Allerdings! Sie stehen hier auf englischem Boden und...«
»Na, nun lassen Sie sich aber nicht auslachen!!«
Er war auf mich zugetreten.
»Ich verhafte Sie im Namen der englischen...«
Bei diesem letzten Worte wollte er mir die Hand auf die Schulter legen. Das hätte der Unglücksvogel nun freilich nicht tun sollen.
Plötzlich war der junge Mann von der Galerie verschwunden, lag im Wasser, machte da Schwimmbewegungen.
Und ich konnte wahrhaftig nichts dafür. Das hatte ich wenigstens nicht gewollt! Ich hatte doch nur seine Hand beiseite geschoben — na ja, ich mag ein bisschen derb dabei gewesen sein — aber ihn gleich ins Wasser werfen, nein, das hatte ich wirklich nicht beabsichtigt. Der arme junge Mann hatte heute entschieden seinen Unglückstag.
Na, nun war nichts mehr daran zu ändern. Er schwamm nach dem Boote hin, wurde von den Matrosen hineingezogen, und dann... ›Setzt ab! Lass fallen die Riemen! Ruder an!!!‹ — fort ging es wieder.
Der pudelnasse Adjutant tat mir aufrichtig leid! Der musste das nun doch alles seinen Vorgesetzten berichten, seine Kameraden, alle erfuhren es, diese Blamage...
Da machte der junge Lord leider noch eine eigene Dummheit dazu.
Als das Boot eben in die Wasserstraße einsteuern wollte, wandte sich der Lord noch einmal um, schüttelte die geballte Faust zurück.
»Wehe!! Noch heute wird diese Insel in Grund und Boden geschossen!«
Seht, das hätte der junge Mann nicht noch rufen sollen. Er hätte lieber den Mund halten sollen.
Nun blieb ich ihm aber auch nicht die Antwort schuldig.
»Na, da schießen Sie mal«, rief ich ihm also nach, »schießen Sie nur nicht daneben!«
Und der Felsenkessel hallte wider von dem brüllenden Gelächter aus mehr denn sechzig Kehlen.
Es waren sicher nicht meine Worte, die so belacht wurden; das war doch gar kein Witz gewesen.
Indem ich den jungen Mann ins Wasser geworfen, hatte ich ihn blamiert, und ich wäre jederzeit bereit gewesen, ihn deswegen um Entschuldigung zu bitten. Jetzt zuletzt aber hatte er sich selbst blamiert, das war seine eigene Schuld.
Denn es war doch lächerlich, diese ganz aus einem einzigen Felsen bestehende Insel in Grund und Boden schießen zu wollen.
Nachdem das Boot wieder aufgenommen worden war, trennten sich die drei Schiffe. Das Kanonenboot — aber ein solches mit zwei Schornsteinen und hundertfünfzig Mann an Bord! — fuhr näher heran und legte sich dann quer vor den Ausgang der Riffstraße, während die beiden Korvetten in entgegengesetzter Richtung langsam um die Insel herum zu dampfen begannen, immer fleißig das Lot gebrauchend.
Ich betrachte mir eben, auf der Plattform in der Nähe der Leuchtturminsel stehend, nach gehaltenem Mittagessen behaglich meinen silbernen Zahnstocher gebrauchend, das kolossale Panzerturmschiff, dieses Wunder der damaligen Zeit, dessen Bild und Beschreibung alle illustrierten Zeitungen füllten — da sehe ich von dem Turm aus ein Rauchwölkchen aufsteigen, und ehe ich noch den Knall höre, sehe ich schon den großen Vogel geflogen kommen.
Der weit entfernte Kanonendonner vermischte sich mit einem höllischen Prasseln und Knattern und Puffen in meiner dichten Nähe.
Aha, sie machten also Ernst! Richtig, die uns gegebene Frist von einer Stunde war ja auch gerade verstrichen. Sie wollten also wirklich die ganze Insel in Grund und Boden schießen!
Nun, damit hatte es noch gute Weile. Die Granate war an der Felswand zur Explosion gekommen, dicht unter mir, aber ich hatte nicht gemerkt, dass der Felsen auch nur im Geringsten gewackelt hätte.
Nein, so ein von Gotteshand geschaffener Felsen ist doch etwas anderes als ein von Menschen zusammengekleistertes Mauerwerk! Wenn sie keine Verschwender waren, so sparten sie ihre Munition.
Aber sie taten es eben nicht. Der ›Prince Albert‹ knallte weiter, und jetzt fing auch die andere Korvette, die ›Lady of Fyfe‹, welche unterdessen die andere Seite der Insel erreicht hatte, zu böllern an.
Ja, dann freilich mussten doch einige Vorsichtsmaßregeln getroffen werden. Niemand durfte sich mehr auf dem Plateau aufhalten, und dann war in Erwägung zu ziehen, dass eine Granate doch einmal ihren Weg durch eine Fensteröffnung finden konnte. Das wäre freilich nur Zufall gewesen, so genau schießt nicht einmal ein Chinese aus seiner ledernen Kanone, aber... die Möglichkeit war eben doch vorhanden.
Ein Glück oder eine Gunst der Natur war es übrigens, dass die Wasserstraße zwischen den Riffen und Barrieren eine kleine Krümmung machte, welche genügte, um den Blick von draußen in den Hafen zu versperren, und konnte man nicht hineinblicken, so konnte man doch auch nicht hineinschießen, denn die um die Ecke schießende Kanone war damals noch nicht erfunden.
Freilich konnten sie auch über die Steinwände oder über das ganze Felsplateau hinweg Granaten in den Hafen werfen, Mörser waren dazu gar nicht nötig, jedes andere Geschütz konnte nach und nach für einen Bogenschuss eingestellt werden.
Dann allerdings wäre vor allen Dingen meine ›Sturmbraut‹ gefährdet gewesen. Nun, da konnte man nichts ändern, das musste man mit Ruhe abwarten.
So ein blindlings abgegebener Bogenschuss aber, wenn er treffen soll, will doch etwas heißen. Und außerdem schienen die Belagerer gar keine solche Absicht zu haben, sie betrachteten meine ›Sturmbraut‹ wohl schon als ihr Eigentum, das sie nicht beschädigen wollten, auf dem Plateau selbst war noch keine einzige Granate krepiert, sie böllerten nur immer gegen die Felswände, da vielleicht einen Fleck im Gestein als Ziel wählend, schossen nur einmal ihre Geschütze ein, und das Kanonenboot sagte überhaupt nichts.
Aber ein Schuss durch eine der Fensteröffnungen konnte eben doch einmal möglich sein, und dort oben standen nicht nur die Geschütze, sondern dicht daneben befand sich auch die reichliche Munition, Pulverkartuschen und Granaten, und ich traute Neumanns Versicherung doch nicht recht, dass die explosionssicher untergebracht seien, dicht bei jedem einzelnen Geschütz, oder ich verstand seine Beschreibung nicht. Und wenn einmal so ein ganzes Munitionslager explodierte, dann freilich konnte das bös werden, dann konnte ein Teil der obersten Felsendecke in die Luft fliegen, abgesehen von den Stickgasen, die sich dann im Innern des ausgehöhlten Felsens entwickeln mussten.
Kurz, ich wollte das einmal besichtigen. Außer Neumann und einigen seiner Getreuen begleitete mich mein zweiter Ingenieur, der als ehemaliger Artillerieoffizier am meisten von der ganzen Kanoniererei verstand.
Nun, Neumann hatte recht. Karlemann oder seine Baumeister hatten die Munitionskammern in einer Weise angelegt, mehr ins Innere des Felsens hinein, dass eine Explosionsgefahr ganz ausgeschlossen war.
Da ich nun einmal hier oben war, wollte ich mir auch gleich die Geschütze ansehen, Karlemann hatte deren sechzehn, rund um den Felsen montiert, lauter mächtige Dinger — mit Kleinigkeiten ließ sich Karlemännchen ja niemals ein.
Das hier, bei dem ich gerade stand, war ein Fünfzehnzöller, welcher Zweiunddreißigpfünder schoss. Meine waren bedeutend kleiner — Zwölf- und Vierundzwanzigpfünder.
Und da durch die Geschützpforte war gerade so hübsch der ›Prince Albert‹ zu erblicken, wie hinten und vorn und aus dem Panzerturm immer der Pulverrauch emporstieg.
Das mächtige Schiff sah von hier oben wie ein niedliches Spielzeug aus, das da unten auf dem blauen, spiegelglatten Wasser schwamm. Trotzdem bewegte es sich tüchtig, immer von einer Seite auf die andere, trotz der totenstillen See. Das machte der Rückstoß der Geschütze.
Als ich mir das so betrachte, da juckt es mich doch plötzlich im Herzen und juckt es mich in den Fingerspitzen.
»Wir könnten den Engländern doch einmal zeigen, dass auch wir Geschütze haben«, sage ich.
»O ja, das können wir.«
»Na, da wollen wir das Ding doch einmal laden.«
Gut! Neumanns Gesellen bringen auf einer kleinen Schubkarre Kartusche und Granate angefahren, sie exerzieren wie die ausgebildeten Artilleristen, die Abreißschnur wird in den Zünder gehakt, alles ist fix und fertig zum Abfeuern, nur auf die Entfernung muss das Geschütz noch eingestellt werden, ehe das Zielen losgeht, wovon bekanntlich bei der ganzen Schießerei das Treffen abhängt, und was daher die Hauptsache sein soll.
»Na, Kienock, wie weit schätzen Sie denn die Entfernung?«, fragte ich meinen zweiten Ingenieur. »Tausend Meter, was?«
»Es dürfte näher sein. Haben Sie nicht ein Biometer hier, Herr Neumann?«
Der kleine Igel wusste gar nicht, was ein Biometer ist — ich aber auch nicht.
Es ist ein Instrument, ein Fernrohr, welches, wenn es in einer gewissen Weise eingestellt wird, die Entfernung des betreffenden Gegenstandes bis auf einen Meter angibt. Da es aber ganz fest stehen muss, kommt es nur bei der Festungs- und Feldartillerie in Betracht, auf dem Schiffe ist es ganz unbrauchbar, dieses ist doch immer etwas unruhig, und so hatte auch ich kein Biometer an Bord gehabt.
»Sie meinen, es sind keine tausend Meter?«
»Sicher nicht. Höchstens neunhundert. Stellen Sie das Visier darauf ein. Dann können Sie ja bei jedem Schuss, wenn die Kugel aufs Wasser schlägt, die Entfernung verbessern.«
Ich aber dachte anders, wie wir gleich sehen werden; ich selbst schätzte die Entfernung auf weniger als tausend Meter, und dennoch stellte ich das Visier auf die Tausend ein — aus einem Grunde, den wir gleich sehen werden.
Kienock schien das nicht bemerkt zu haben, sonst hätte er mich doch gleich auf meinen vermeintlichen Irrtum aufmerksam gemacht.
»Diesem Panzerschiffe ist nun freilich nichts anzuhaben«, sagte er statt dessen, während ich in gebückter Stellung visierte. »Wenigstens nicht mit diesem Kaliber. Das sind die allermodernsten Panzerplatten, ungeheuer dick, auf ganz besondere Weise gehärtet — die haben ganz andere Proben bestanden als nur mit einem Zweiunddreißigpfünder.«
»Meinen Sie?«, fragte ich, nur so, um etwas zu sagen, immer noch visierend, mit der Hand winkend, wodurch ich von den Jungen das Geschütz tiefer und höher schrauben ließ. Auch ich verstand ja schon etwas vom edlen Geschützexerzieren.
»Sicher. Und selbst wenn die Granate trifft und ein Loch unter Wasser reißt, hätte das nicht viel zu bedeuten.«
»Wieso nicht?«
»Das ganze Schiff ist in wasserdichte Kammern eingeteilt.«
»Also wie die ›Great Eastern‹.«
»Ja, aber gleich in zweiunddreißig Kammern. Und ein einziger Druck auf einen Knopf, der sich auf der Kommandobrücke befindet, genügt, um sämtliche Schotten gleichzeitig zu schließen. Elektrisch!«
»So so. Na — na«, — jetzt hatte ich das Schiffchen schon im Visier! »Höher, noch ein bisschen höher — so — so...«
»Halten Sie auf das Hinterteil — die Maschine ist ganz hinten angebracht — das ist auch die empfindlichste Stelle«, rief Kienock.
»I wo, ich werde doch nicht das schöne Schiffchen...«
»Ja, Herr Kapitän«, rief da Kienock erstaunt, »Sie haben ja doch auf tausend Meter eingestellt! So weit ist das keineswegs!«
»Na ja, was denken Sie denn von mir«, entgegnete ich gutmütig, »ich werde doch das schöne Schiffchen, das an die zehn Millionen Taler gekostet hat, nicht kaputt machen.«
Erstaunt blickte mich Kienock an. Doch sein Staunen verging schnell. Er kannte meinen Charakter ja zur Genüge.
»Aber einen tüchtigen Puff könnten Sie ihm doch wenigstens beibringen, damit die merken, dass auch wir scharf schießen können.«
»Nun, da genügt ja schon, wenn ich ihnen eine Granate über den Kopf schicke, dann werden sie sich bald weiter zurückziehen, dass sie einem nicht so die Ohren vollböllern. Aber dieses schöne Turmschiffchen anschießen — nee, Kienock, nee, is nich bei mir zu machen. Und es hätte ja gar keinen Zweck, Sie sagen es doch selbst.«
So sprach ich — und ich brauche wohl nicht erst zu versichern, dass es aus ehrlichstem Herzen kam. Ich war damals eben eine Seele von einem Menschen, die personifizierte Gutmütigkeit selbst.
»Halt, brrrr!«, kommandierte ich dann, nicht gerade reglementmäßig. Das Schließen der winkenden Hand zur Faust zeigt der Bedienungsmannschaft an, dass das Ziel gefunden ist.
Und nun ein Ruck an der Reißleine, ich sprang vor dem zurücksausenden Geschütz zur Seite und... Herrgott im Himmel, war das ein Krachen in dem engen Felsengewölbe! Und dieser Pulverqualm!
Die beiden Ingenieure hatten schon etwas von der Artilleriekunst verstanden, als sie diese Gänge als Batterie anlegten, für Abzugskanäle war genügend gesorgt, und trotzdem mussten wir schnell an die runden Fenster springen und den Kopf hinausstecken, wollten wir nicht ersticken.
Übrigens hat auch die in den Felsen gehauene Festung von Gibraltar, mit mehr als tausend Geschützen armiert, die zum größten Teil in Ketten hängen, Batterien, welche ganz unverwendbar sind, die Bedienungsmannschaft würde in den Pulvergasen ersticken, zumal bei Südwestwind.
Also auch ich steckte meinen Kopf schnell durch ein Abzugsfenster.
»Da — da — da — da!!«, schrie Kienock aus dem benachbarten Fenster. »Was ist denn das?!«
»Nicht möglich!«, hauchte ich, und ich fühlte, wie eine eiskalte Todesfaust an mein Herz griff.
Ich hatte das, was ich nicht glauben wollte, doch selbst gesehen! Denn solch ein aus der Kanone geblasener Vogel durcheilt gar schnell die Luft, weit, weit schneller als der Schall, der doch schon 380 Meter in der Sekunde macht — und so hatte ich noch beobachten können, ganz deutlich, wie die Granate dicht vor dem ›Prince Albert‹ aufgeschlagen war, ganz dicht, das Wasser hatte eben noch etwas aufspritzen können — vorn in der Nähe des Mittelmastes — ein Unterwasserschuss — und da begann auch schon das Vorderteil des Panzerkolosses hinabzugehen, schneller und immer schneller!
Was soll ich sagen? Wie soll ich es schildern?
Die Augen genügten, um alles bis ins Kleinste beobachten zu können, und sie schauten Schreckliches!
Das Vorderteil ging hinab, hinten hob sich das Schiff. Und plötzlich wimmelte das ganze Deck von Menschen in wirrem Durcheinander, alles stürzte nach dem Hinterteil, das sich jetzt mehr hob.
Auf der Kommandobrücke etwas wie ein wilder Kampf um irgendeinen Gegenstand.
Und dann ein Brüllen des Entsetzens.
»Die Schottendichtung versagt!!! Das Schiff sinkt!!! Heizer an Deck!!! Klaaar bei allen Booten!!!«
Bis hierher hörte ich es. Oder gaukelten es mir meine Ohren nur vor, weil ich ahnte, schon wusste, was dort passiert war? Sprachrohre konnten es in der klaren Luft auch wirklich bis hierher tragen.
O, wie soll ich schildern, was meine vor Schreck und Entsetzen weit aufgerissenen Augen erblickten?
Die Nase des Schiffes war schon im Wasser verschwunden, und jetzt begann auch der ganze übrige Rumpf sich zu senken, schneller und schneller und immer schneller.
In fieberhafter Hast wurden die Boote ausgeschwungen, die Matrosen sprangen hinein, gar nicht mehr an ein Hinablassen denkend, sie nur von allem Tauwerk befreiend und dann zum muskelsprengenden Ruderschlag bereit, um noch rechtzeitig aus dem furchtbaren Strudel herauszukommen.
Und dann aus Luken hervorstürzende rußige Gestalten, ebenfalls in die Boote springend.
Und dazwischen durch das Sprachrohr gedonnerte Kommandos, gellende Bootsmannspfeifen.
Denn das muss man den Engländern lassen — Seeleute Klasse Eins A. Sollen sie auch nicht, diese Inselsöhne, die schon seit Jahrhunderten alle Meere beherrscht haben!
Ich bekam es hier zu sehen. Die Verwirrung war nur eine scheinbare — oder war sie vorhanden gewesen, so hatten Kommando und Bootsmannspfeife sofort wieder Ordnung hineingebracht.
Jeder Mann in das ihm zugewiesene Boot! Keine Ausnahme! Es ging alles glatt wie am Schnürchen.
Wäre nicht gerade ich es gewesen, der dies alles verschuldet — dieses Rettungsmanöver wäre für mich ein erhebender Anblick gewesen.
Aber so!
Und da ging der ›Prince Albert‹ mit seinen 10 000 Tonnen hinab — nun lugte noch der Turm hervor, dann war auch dieser weg — und dann verschwanden die Mastspitzen...
Das Wunder der modernsten Schiffbaukunst war nicht mehr! Ein einziger Schuss hatte es vernichtet!
Und ich war es gewesen, der diesen Schuss abgegeben hatte! — —
Und ich sollte etwas vielleicht noch Furchtbareres zu schauen bekommen, durch meine Schuld hervorgerufen — furchtbar in nur ganz anderer Weise.
Was ist furchtbarer: wenn man sieht, wie ein spielendes Kind totgefahren wird, oder wenn man dabei sein muss, wie der Tod des Kindes der Mutter gemeldet, ihr das tote Kind gebracht wird? Ich glaube wohl, das letztere.
Gegen zwanzig Boote waren es, welche auf der jetzt schäumenden Wasserfläche schwammen, und wenn die ganze Besatzung glücklich hineingekommen und kein Boot mit hinabgezogen worden war, so mussten es etwa neunhundert Mann sein, die plötzlich ihr Schiff verloren hatten, innerhalb von fünf, von drei Minuten!
Der ›Prince Albert‹ hatte sich nördlich von der Insel befunden, die ›Lady of Fyfe‹ lag südlich, das Kanonenboot östlich vor der Hafeneinfahrt.
Keines dieser beiden anderen Schiffe ahnte etwas von dem, was unterdessen auf der Nordseite passiert war.
»Die ›Lady of Fyfe‹ schoss nach wie vor Granaten an unsere Felswand, auf dem Kanonenboot, dem ›Lizzard‹, wusch die Mannschaft an Deck gerade ihre Essschüsseln aus, auf der Kommandobrücke spazierten die Offiziere hin und her, manchmal durch Fernrohr und Krimstecher nach der Insel blickend.
Alles sorgloser Friede, wenn auch zum Kampfe gerüstet.
Da kommt hinter der Felsenecke ein Boot hervorgerudert, fünfzig Mann darin.
Die Offiziere auf der Kommandobrücke stutzen.
Ja, was ist denn das?! Sind das nicht englische Kriegsschiffsmatrosen? Wie kommen denn die hierher?
Und da kommt ein zweites Boot hervor, ein drittes, ein viertes...
Und da sehe ich, wie auf der Kommandobrücke des Kanonenbootes der eine Offizier, der mit den meisten Streifen, also wohl der Kommandant, langsam die Arme hebt, immer höher — und wie er sie hebt, so sinkt er langsam zusammen — immer tiefer — bis er auf den Knien liegt, die Arme zum Himmel erhoben — und meine geistigen Ohren vernehmen sein flüsterndes Stöhnen bis hierher:
»Gerechter Gott — die ganze Mannschaft des ›Prince Albert‹ — in den Booten! — der Stolz Englands ist gesunken!!!«
Und dann sehe ich weiter, wie der erste Kutter das Kanonenboot erreicht hat, ein Offizier, die Ärmel ganz mit Goldstreifen bedeckt, klettert die wenigen Sprossen des Fallreeps empor — wohl hatte er schon graue Haare, aber als ich ihn vorhin auf der Kommandobrücke der Panzerkorvette beobachtet habe, da war er noch ein rüstiger Mann gewesen, elastisch in jeder Bewegung — und jetzt plötzlich ist er ein gebrochener Greis, der kaum noch die wenigen Sprossen hinauf kann — taumelnd wankt er über Deck — der Kapitän eilt von der Kommandobrücke herab, fängt ihn auf — sie liegen einander an der Brust, die beiden befreundeten Waffengefährten — ich höre ihr leises Weinen bis hierher...
»Die mir anvertraute Panzerkorvette, der Stolz Englands, der ›Prince Albert‹ ist gesunken! In den Grund geschossen! Von dem dort oben — von Richard Jansen, von dem Kapitän der ›Sturmbraut‹!«
Sagt das der gebrochene Greis, Lord Renington, wirklich?
Die Entfernung ist so groß, und doch gellt es mir ganz deutlich in die Ohren. Noch heute! — —
Dass ich mich schon oben auf der Plattform befand, wusste ich gar nicht. Sonst hätte ich ja aber auch nicht nach der anderen Seite hin beobachten können.
Und da sah ich Tischkoff stehen, mit einem Fernrohr nach dem Kanonenboote blickend.
»Bei Gott, Tischkoff, das habe ich nicht gewollt!«, stöhnte ich. Er schob das Fernrohr gelassen zusammen und blickte mich ebenso an.
»Was wollen Sie denn? Sie machen sich wohl gar Vorwürfe? Nonsens! Sie sind doch manchmal wirklich ein kurioser Kauz. Haben die uns nicht auch beschossen? Und im Übrigen ist Ihnen England großen Dank schuldig. Ich habe ja gleich gesagt, dass der ›Prince Albert‹ nichts taugt. Die unteren Panzerplatten sind viel zu schwach gewesen und sind überhaupt gar nicht geprüft worden. Und die Kommission, die dieses Kriegsschiff abgenommen hat, war einfach bestochen. Das aber ist der Fluch, wenn man für den Bau solch eines Kriegsschiffes zwischen Privatwerften ein Konkurrenzausschreiben macht und es dann womöglich der billigsten übergibt. Dass so etwas nicht wiederkommt, daran sind Sie schuld, mit einem einzigen Schusse. Faktisch, Kapitän Jansen, Sie haben den Stein endlich ins Rollen gebracht, England ist Ihnen nur Dank schuldig. Und die ganze Schottenvorrichtung versagt! Es ist ja ein unerhörter Skandal! Nun denken Sie bloß mal an, wenn so etwas während einer richtigen Seeschlacht passierte, das Admiralsschiff sackt durch einen einzigen Schuss innerhalb dreier Minuten weg! Die Schlacht ist verloren, die Zukunft des ganzen Landes kann bedroht sein. Ein Glück für England, dass dieser verhängnisvolle Schuss einmal so hier nebenbei im Frieden gefallen ist, wo es weiter keine bösen Folgen hat. Was ist denn weiter dabei? Ein paar Panzerplatten und einige Geschütze sind weg. Ein paar Menschenleben. Bah! Dafür sind wir Seeleute. John Bull stampft auf die Erde und hat ein Dutzend anderer solcher Panzerschiffe, aber gebrauchsfähiger als dieses jämmerliche Kinderspielzeug.«
So sprach Tischkoff.
Ja, dieser Mann wusste zu sprechen. Gerade in seiner ruhigen, freundlichen Weise wirkte es doppelt mächtig.
Statt des bisherigen Entsetzens bemächtigte sich meiner plötzlich eine wilde Lustigkeit.
»Na, bedanken wird sich England wohl nicht bei mir!«, lachte ich.
»Nein, das allerdings nicht. Ich sprach auch nur von Dank schuldig sein. Nicht jede Schuld wird ja beglichen.«
»Und jetzt bin ich vogelfrei.«
»Ja, das sind Sie. Jetzt ruht England nicht eher, als bis es Sie beim Schlafittchen hat. Sprechen Sie Malaiisch, Herr Kapitän?«
Ich verneinte verwundert. Was hatte das mit meiner Sicherheit zu tun, dass ich Malaiisch können sollte? Fand ich vor dem allmächtigen England etwa Schutz in HolländischIndien?
»Hm. Schade! Hm«, brummte da mein Kommodore nachdenklich. »Mit Goliath habe ich schon gesprochen. Der kennt es auch nicht. Es handelt sich nämlich um einen Ausdruck in der malaiischen Sprache — na, ich lasse es einstweilen aus, werde schon noch darauf kommen, muss es einmal beschlafen.«
Und Tischkoff ging davon, stieg hinab, vergrub sich wieder zwischen seinen Schweinslederbänden.
Ich musste ihm nachlachen. Ich balge mich hier mit meinen Gefühlsempfindungen herum, und der hat mich wohl nur aufgesucht, um mich zu fragen, ob ich ihm ein malaiisches Wort übersetzen könnte!
Und meine Leute?
Ach, ich Narr, dass ich von mir selbst immer auf andere schloss! Meine Jungen waren ganz außer dem Häuschen.
»Unser Käpt'n hat den ›Prince Albert‹ in den Grund geschossen — mit einem einzigen Schusse — so was kann doch nur unser Käpt'n — hip hip hip hurra für unsern Käpt'n!«
So wurde ich empfangen, und Madam Hullogan wollte durchaus mit mir Irisch Jig tanzen, trat mir schon ein paar Mal mit ihren Seestiefeln gegen die Schienbeine.
Zum ersten Male verweigerten mir meine Jungen den Gehorsam — sie wollten nicht aufhören zu jubeln. Endlich hatte ich sie doch zur Ruhe gebracht.
»Hört, Jungens — zunächst sitzen wir hier in der Falle...«
»Wir segeln die beiden anderen heute Nacht einfach auch noch über den Haufen«, wurde geschrien.
»Und dann sind wir vogelfrei.«
»Käpten, das sind wir doch schon lange!«
»Na, endlich vogelfrei!«, setzte noch Mahlsdorf mit einem Seufzer der Erleichterung hinzu.
»Ja, aber wir werden kein Plätzchen mehr auf der Erde finden, wo man uns nicht verfolgen wird, und nicht nur von England aus.«
»Auf der Erde? Na, dann bleiben wir einfach auf'm Wasser. Wir haben doch auch unsern Klabautermann an Bord«, war die vergnügte Antwort.
Na, wenn freilich die Sache so stand, da konnte ich mir eine lange Rede ersparen.
Und meine nächsten Worte, die ich sprach, die Augen zum Himmel gerichtet, die waren:
»Am Fockmast schwabbelt wieder ein Zeising, ihr Himmelhunde!! Stürmann, seid Ihr hier an Bord eines klargetakelten Schiffes oder wähnt Ihr Euch in einem Schweinetrog?« — —
Auch die ›Lady of Fyfe‹ war von dem Unglück ihres gepanzerten Schwesterschiffes benachrichtigt worden.
Neue Szenen des Jammers! Schrecklich, wenn solch stahlharte Männer jammern. Das ist noch etwas ganz anderes als der Ausdruck des Schmerzes eines Weibes.
Auch dies beobachtete ich — doch jetzt war ich schon gefeit. Dann dampfte die Korvette mit dem Kanonenboote, die gerettete Mannschaft zwischen sich verteilt habend, nach der Küste zu ab. Kein einziger Schuss wurde mehr abgegeben. Aber wir sahen geballte Fäuste schütteln.
Und verlassen wollten sie uns auch nicht. Die Entfernung von der Insel wurde nur auf eine Seemeile vergrößert, dort blieben sie wieder liegen, die Hafeneinfahrt im Auge behaltend.
Ja, mein einziger Schuss hatte ihnen Respekt eingeflößt. Er war ja auch danach angetan gewesen.
Dann sahen wir ein Boot, wohl eine Dampfpinasse, abgehen, wirklich nach der Küste. Dort mochten noch andere Kriegsschiffe liegen, vielleicht auch suchte sie einen englischen Hafen auf. Was die Engländer sonst vorhatten, wie sie gegen uns vorgehen wollten, wussten wir natürlich nicht. Die beiden Schiffe blieben ruhig dort liegen, gaben keinen Schuss mehr ab, wenn er uns wohl auch noch erreicht hätte. Sie lagen da wie die Katze vor dem Mauseloche. Und dass die uns nicht locker ließen, das war nun sicher!
Der Nachmittag verging.
Wir hatten absolut nichts mehr zu tun. Volle Dampfspannung, auch die siebenunddreißig Jungen waren schon an Bord der ›Sturmbraut‹ untergebracht. Essen und schlafen. Natürlich mit Ausnahme der Wachen.
So brach die Nacht an. Plötzlich, wie immer in diesen Breiten. Innerhalb von fünf Minuten war aus klarer Tageshelligkeit die schwärzeste Finsternis geworden. Da darf man wohl schon von ›plötzlich‹ sprechen.
Und dort, wo wir vor fünf Minuten noch die beiden Schiffe hatten liegen sehen, sollten jetzt die weißen Toplaternen, die farbigen Seitenlichter und die vielen Bullaugen leuchten.
Aber von alledem nichts! Was jedem Handelsschiff bei schwerster Strafe verboten, nämlich bei Nacht die Lichter und Feuer zu löschen oder nur zu verdecken, kann sich ein Kriegsschiff leisten. Zumal wenn es sich wirklich auf dem Kriegspfade befindet.
Und wer vogelfrei ist, der Desperado zur See, kann es sich ebenfalls leisten!
Weshalb hatten die beiden Kriegsschiffe die Lichter gelöscht? Weil sie etwas gegen uns vorhatten.
Da hieß es schnellstens handeln! Gerade jetzt war die günstigste Zeit, jetzt, da der Gegner noch weit entfernt war.
Ehe die Kriegsschiffe die Seemeile zurückgelegt haben konnten, mussten wir schon draußen sein, und dann mit Volldampf... ahoi, auf das weite Meer hinaus, in die weite Welt hinein — freie Seezigeuner wie vorher — nur nicht mehr so gemütlich — gehetzte Seewölfe, Hyänen des Meeres.
Alles war bis ins kleinste vorbreitet. Und Karlemanns kleine Bande war auch für die finsterste Nacht einexerziert. Alles klappte, stets war der Korkfender am richtigen Platze, die Taue gingen von Hand zu Hand.
Wie ein gespenstisches Ungetüm einer phantastischen Einbildung schwebte die ›Sturmbraut‹ durch die von Riffen begrenzte Wasserstraße. Kein Knirschen, kein Plätschern, kein Laut.
Da ein Knall, gar nicht so stark, keine hundert Meter zu hören — nur in dieser Todesstille wie ein Kanonenschuss wirkend.
Eine zu straff gespannte Trosse war gebrochen — oder gerissen, wie man auf dem Lande sagt, ein Tau. Es wurde durch ein neues ersetzt.
Wie lange dauerte es? Noch so gedeckt, wagte ich doch kein Streichholz anzuzünden, um nach der Uhr zu sehen. Für mich eine Ewigkeit, in Wirklichkeit vielleicht drei Minuten.
Und dann ging es weiter. Und dann waren wir draußen, hatten die Barrieren hinter uns.
Tief aufatmend stand ich auf der Kommandobrücke. Gottlob, es war geglückt! Vor uns lag für uns Vogelfreie das freie Meer!
Ich zischte in das Sprachrohr hinein. Das einmalige Zischen war für den ersten Ingenieur, welcher unten schon lange mit dem Ohre am Sprachrohr stand, das ausgemachte Zeichen für sofortigen Volldampf, für volle Kraft.
Der Maschinist zischte zurück und drehte den Hebel.
Leise begannen die eisernen Planken zu zittern, leise hörte man die Maschine fauchen.
Man kann sofort vollen Dampf geben, aber natürlich nicht sofort volle Fahrt oder volle Kraft erreichen. Das muss nach und nach gesteigert werden.
Viertel Kraft — halbe Kraft — dreiviertel Kraft — volle Kraft mit voller Fahrt und...
Und da ein Krach, ein Schmettern, Prasseln und Splittern... Und dann ein gellendes Heulen und Brüllen von Hunderten von Menschen...
Und dann ein blendendes Licht, von einem Scheinwerfer ausgehend, Magnesiumlicht oder gar schon elektrisch.
Dieser Scheinwerfer befand sich an Bord der ›Lady of Fyfe‹, und was er beleuchtete, das waren die zwei Hälften eines Schiffes, die im nächsten Augenblick im Wasser verschwanden — und dann Holztrümmer und dazwischen schwimmende Menschen.
»Der ›Lizzard‹ ist gerammt worden!!!«, gellte der Schrei. Ja, wir hatten das englische Kanonenboot übersegelt.
Freundlich lag mit goldenem Scheine die Morgensonne auf Deck der ›Sturmbraut‹, und Tischkoff betrat es zu seinem gewöhnlichen Spaziergang.
»Mr. Tischkoff, jetzt muss ich Sie einmal sprechen!«
Ich war eisern — und er lächelte mich gutmütig und überlegen wie immer an.
»Aber, mein lieber Kapitän, ich bin für Sie doch immer zu sprechen!«
Na, das hatte ich bisher nun weniger gemerkt.
»Was gibt es denn? Eine schlechte Nacht gehabt? Sie sehen ja recht verdrießlich aus.«
Verdrießlich! Hahaha! Da mussten ja alle Teufel der Hölle mitlachen!
»Wissen Sie eigentlich, Mr. Tischkoff, was heute Nacht passiert ist?«
»Nein, was denn?«
Himmelbombenelement noch einmal!!
»Wir haben das Kanonenboot gerammt, übersegelt, glatt durchgeschnitten.«
»Ach so, ja, das weiß ich. Wenigstens dass wir ein Schiff rammten. Der Stoß war ja tüchtig genug, und dann hörte ich auch das Schreien. Ja, das habe ich gemerkt.«
O, dass doch jeder gute Mensch solch eine Seelenruhe haben möchte!
»Welches von den beiden Schiffen haben Sie denn gerammt?«
Also auch das wusste er noch nicht, hatte sich noch gar nicht darum gekümmert!
»Den ›Lizzard‹, das Kanonenboot.«
»So so. Nicht wahr, es war gleich, nachdem Sie aus der Wasserstraße heraus waren?«
Ich schilderte kurz.
»So so. Also glatt durchgeschnitten?«
»Glatt in zwei Hälften.«
»Und Ihre ›Sturmbraut‹? Bedeutende Havarie gehabt? Dass sie noch seetüchtig ist, merke ich ja.«
»Ja, Mr. Tischkoff, es geschehen noch immer Zeichen und Wunder.«
»Das weiß ich. Vielleicht mehr, als die aufgeklärte Menschheit denkt. Aber wieso ein Wunder in Ihrem Falle?«
»Die ›Sturmbraut‹ hat auch nicht den geringsten Schaden erlitten!«
»Bah«, schnalzte mein Kommodore verächtlich mit den Fingern, »Ihre ›Sturmbraut‹ ist bester Stahl, und dieses sogenannte Kanonenboot mit Panzerung war nur morsches Holz mit etwas Stahlblech daraufgenagelt. Wiederum sollte Ihnen England dafür dankbar sein, dass Sie dieses elende Fahrzeug endlich aus der Welt geschafft haben. England sollte überhaupt einmal tüchtig mustern und ausrangieren, sonst könnte sein Stolz einmal gedemütigt werden. Also gar keine Havarie gehabt?«
»Gar nichts. Oder wenn ich ganz pedantisch sein will: In der Pantry sind zwei Teller zerbrochen.«
Tischkoff betrachtete seinen Ärmel und schnipste von dem feinen, blauen Tuche ein Stäubchen weg.
»In der Pantry? So. Apropos, da fällt mir ein — auch kein Mann zu Schaden gekommen?«
»Kein einziger Finger gequetscht.«
»Dann ist also auch noch der Steward zu haben. Ich dachte nämlich, weil ich vorhin mehrmals vergeblich klingelte...«
»O, ich bitte um Entschuldigung — ich selbst habe den Steward mit einem Auftrage in die Proviantkammer geschickt, ich werde ihn sofort holen lassen.«
»Dann sagen Sie ihm doch gleich, bitte, er möchte meine Segeltuchschuhe gipsen, ich will sie dann anziehen.«
Sprach's und wandte sich, um seinen Spaziergang fortzusetzen. Also dass seine Schuhe tadellos weiß waren, das war ihm jetzt die Hauptsache!
Aber ich vertrat ihm zum zweiten Male den Weg.
»Nein, Mr. Tischkoff, ich muss Sie doch noch Verschiedenes fragen!«
»Aber bitte, Herr Kapitän, ich stehe doch immer zu Ihrer Verfügung«, antwortete er lächelnd ebenso zum zweiten Male, nur mit einem Nachsatze: »Mit Ausnahme, wenn ich... nun, Sie wissen schon. Mit was kann ich denn dienen?«
»Ja, Mr. Tischkoff, was soll nun aus uns werden?«
»Ja, Herr Kapitän, das müssen doch Sie wissen.«
»Wir sind vogelfrei.«
»Das glaube ich wohl.«
»Bald wird nicht nur jedes englische Kriegsschiff, sondern auch jedes andere, sobald es die ›Sturmbraut‹ erblickt, auf uns Jagd machen.
»Daran ist nicht zu zweifeln.«
»Auf meine Festnahme oder meine Vernichtung wird England eine Prämie setzen.«
»Ohne Zweifel.«
»Und ist diese Prämie hoch genug, dass es sich lohnt, so dürfte es bald Abenteurer zur See genug geben, aber auch sonst ganz friedliche Handelskapitäne, die sich ganz darauf legen, auf mich Jagd zu machen, um sich diese Prämie zu verdienen.«
»Das ist sehr wohl möglich.«
»Und, Mr. Tischkoff, unter solchen Verhältnissen wollen Sie noch bei mir an Bord bleiben?
Es musste ein ehrliches Staunen sein, mit dem mich dieser seltsame Kauz anblickte.
»Ja, warum denn nicht?! Oder wollen Sie mich gern los sein?«
»Ganz im Gegenteil; aber, wie gesagt, wir werden bald wie die wilden Tiere von allen Seiten gehetzt werden.«
»O, das wäre zu Lande etwas ganz anderes, aber an Bord empfindet man ja so etwas gar nicht, da sitzt man bequem in seiner Kabine und geht an Deck spazieren.«
»Und doch dürften wir es bald empfinden. Ich darf ja keinen Hafen mehr anlaufen. Woher soll ich Proviant bekommen?«
»Ja, mein lieber Herr Kapitän, das freilich ist Ihre Sache! Sie werden schon etwas zu essen bekommen, und ich bin mit allem zufrieden. Wenn ich nur meine Ruhe habe, und ich habe mich hier nun so hübsch eingewöhnt...«
»Zum Teufel noch einmal!«, wurde ich jetzt aber doch etwas ungeduldig, obgleich ich dabei lachen musste. »Wissen Sie denn nur wirklich gar nicht, wo ich hinaus will?«
»Nein.«
»Nun, Sie haben doch gesagt, Sie wollen mein Kommodore sein, ich soll mich Ihrer Führung anvertrauen, ich würde nicht schlecht dabei fahren, ich könnte Sie jederzeit um Rat fragen. Also nun einmal heraus damit!«
So hatte ich zu Mr. Tischkoff noch nie gesprochen. Ich hatte ihn ja förmlich angeschnauzt.
Und es half! Vorläufig genügte mir, dass er ein ›Hm‹ brummte und die Hand sinnend ans Kinn legte. Er dachte nach. Doch schon etwas erreicht! Und es sollte denn auch kommen — wiederum etwas völlig Unerwartetes. Er war und blieb eben der Mann der Überraschungen.
»Hm. Auf Seiten der Konföderierten gegen die Union zu kämpfen, dazu haben Sie wohl keine Lust? Denn dort werden Sie jetzt doch mit offenen Armen aufgenommen.«
Jetzt wurde er kurz und bündig. Wie er in alles schon eingeweiht war, darüber mich zu wundern, hatte ich jetzt keine Zeit.
»Nein, ich möchte nicht zu den Sklaventreibern gehalten haben, es würde später meine Erinnerung an frühere Zeiten für immer trüben.«
»Ganz meine Ansicht. Übrigens haben Sie sich da sehr gut ausgedrückt. Hm. Und auf Seiten der Union?«
»Kennen Sie denn nicht den Fall von Charleston?«
»Ich weiß alles.«
Noch immer wunderte ich mich nicht. Schließlich konnte er es ja auch nachträglich erfahren haben, nur nicht von mir.
»Na, die Union würde mich nicht schlecht empfangen!«, musste ich lachen.
»Ja, da haben Sie recht, das ist auch nichts. Und trotzdem können Sie für die Union gegen die Sklaventreiber kämpfen.«
»Ohne Kaperbrief — gesetzt überhaupt den Fall, dass die Union einen solchen ausstellt?«
»Ohne Kaperbrief.«
»Das ist dann offene Seeräuberei. Da würde ich sogar von der Union gehangen werden. Dann könnte ich ebenso gut irgendein anderes Handelsschiff angreifen.«
»Ganz und gar nicht. Sie fahren eben unter nordamerikanischer Flagge — oder unter englischer — lassen sich von einem konföderierten Kaper angreifen — und Sie kapern wieder den Kaper. Ist das nicht ganz einfach? Notwehr ist doch natürlich erlaubt, und dann kann es Ihnen doch auch nie an Proviant fehlen.«
Sprach's und ging davon.
Und ich starrte ihm nach.
Weiß Gott, das war eine Idee!! So einfach, und ich war nicht selbst darauf gekommen! Aber so ist es ja immer mit den allereinfachsten Ideen!
Dass ich später doch noch von allein darauf gekommen wäre, davon will ich lieber nicht sprechen, sonst würde ich zu jenen gehören, welche ebenfalls ein Ei stehen lassen können — wenn sie es einmal gesehen haben.
Vor allen Dingen hatte ich jetzt ein bestimmtes Ziel. Das war an sich schon viel wert. Es ging nordwestlich auf die Küste von Nordamerika zu. Erst musste ich doch wissen, wie es dort oben stand.
Im Laufe des Tages kamen mir zwei Schiffe in Sicht, die mir aber nichts erzählen konnten. Ein drittes dagegen meldete mir auf Anfrage:
»Union hat Konföderation Krieg erklärt. Kalifornien zur Union übergetreten. Kriegsflotte hält zur Union. Dampft nach Süden. Unionistischer General Jackson von General Santa Palo bei Rio Pino vollständig geschlagen. Linienschiff ›Tennessee‹ von konföderierten Kapern genommen.«
Na, da war es ja schon losgegangen. Und das sah ja für die Nordstaaten nett aus. Auf See ein Linienschiff und zu Lande eine Schlacht verloren.
Den Rio Pino konnte ich auf der Karte nicht finden. Doch was ging mich überhaupt die Landwirtschaft an? Und die Lage zur See auch nur insoweit, als ich selbst dabei in Betracht kam. In so etwas bin ich nun wieder Egoist bis zur Fingerspitze.
Jedenfalls aber würde mich die Union ganz gut brauchen können, mit oder ohne Kaperbrief. Wenn ich nur recht viele konföderierte Kaper unschädlich machte. Ich wurde sozusagen KontraKaper.
Im Laufe der Tage erhielt ich noch mehrmals von Schiffen Mitteilungen vom Kriegsschauplatze, immer trauriger für die Union lautend, doch will ich den Leser durchaus nicht mit Kriegsnachrichten langweilen. — — —
Es war kurz vor dem 20. Breitengrade.
Nach einer finsteren Nacht graute der Morgen und ging schnell in hellen Tag über.
Ich stand auf der Kommandobrücke. War seit fünf Tagen nicht mehr aus den Stiefeln gekommen, in keine Koje — immer auf dem Sofa im Kartenhause geschlafen.
Schon im letzten Viertel der Nacht hatten wir östlich von uns immer die Topplaterne eines Dampfers gesehen — jetzt stand er da, unverkennbar ein Kriegsschiff, war doch durch das Fernrohr auch schon der Wimpel zu unterscheiden.
Aber am Wimpel, das ist eine sehr lange, streifenartige Flagge, die an der Mastspitze weht, ist noch nicht die Nationalität zu erkennen.
Soeben wurde Flaggenparade abgehalten, unter Trommelwirbel wurde am Heck die Flagge gehisst, alle an Deck befindlichen Matrosen nahmen stramme Haltung an, die Posten präsentierten, die Offiziere salutierten. Und diese Flagge war die englische!
Dann, nachdem die heilige Flagge so als persönliche Stellvertreterin Ihrer Majestät der englischen Königin geehrt worden war und die Trommler ihren dreimaligen Gang um den Hauptmast beendet hatten, diente sie als Begrüßungszeichen, indem sie etwas gesenkt und wieder hochgezogen wurde, und da kein weiteres Schiff in Sicht war, so konnte nur das meine in Betracht kommen.
Ich ließ das Sternenbanner hissen und erwiderte den Gruß. Jetzt wurde die Kriegsflagge noch höher gehisst, was bedeutete: melde uns deinen Namen und Heimathafen.
Gut, ich tat es. War doch gespannt, was für eine Wirkung das erzielen würde. Doch es war ja kaum zu erwarten, dass dieses Kriegsschiff schon von meinen letzten Streichen etwas wissen konnte.
Also ich hisste die betreffenden Flaggen — ›Sturmbraut‹ New York — dabei gab ich auch schon den Befehl, die Maschine anzustellen. Auf vollen Dampf hatte ich während dieser Tage immer gehalten.
Und siehe da — diese Erregung an Deck, auf der Kommandobrücke! — und dann der signalisierte Befehl: Streicht die Segel!!
Da gab es nun freilich nichts. Vielmehr floh ich schon mit geschwellten Segeln dem Norden zu, unterstützt von der mächtig arbeitenden Schraube.
Da blitzte es drüben auf. Ein Warnungsschuss? Nein, gleich der erste ein scharfer! Ich sah die Granate über das Wasser hüpfen — freilich ganz wo anders, als wo wir uns befanden.
Nun aber war es auch klar; dieses Kriegsschiff wusste schon mehr, als dass dies nur die ›Sturmbraut‹ von New York sei.
Sofort ein scharfer Schuss — dann waren wir auch bereits für vogelfrei erklärt, und dieses Kriegsschiff wusste schon darum.
Jetzt hieß es möglichst schnell außer Schussweite kommen. Denn das Kriegsschiff sandte uns Granate auf Granate zu, gab ganze Breitseiten ab. Aber mit dem Treffen ist es auf dem Schiffe eine verfluchte Geschichte. Man stelle sich die Sache nur vor. Wie selten ist die See einmal so ruhig, dass wirklich Korn visiert werden kann, und schon der Rückstoß des ersten Schusses genügt ja, um das Schiff in Schwankungen zu bringen, und zwar in ganz tüchtige, eine halbe Stunde würde es dauern, ehe sich das Schiff wieder beruhigt hat — vorausgesetzt natürlich, dass nicht nochmals gefeuert würde, und doch auch nur bei todesstiller See — wie da nun das Geschütz immer auf und ab geht, mehr noch natürlich die Mündung — einmal blickt diese unter sich ins Wasser hinein, dann wieder zum Himmel empor — nur die zehntel, hundertstel Sekunde muss wahrgenommen werden, da das Ziel durchs Visier geht — ach, wie selten trifft da ein Schuss — ach, was für Munition wird nicht bei so einer Seeschlacht verplatzt, ehe einmal ein feindliches Schiff zum Sinken gebracht werden kann, nur einmal getroffen wird!!
Kurz — immer vorbei! Hauptsächlich immer zu kurze oder zu weite Schüsse.
Und meine schlanke Jacht machte wohl noch einmal so viel Knoten wie der schwere Kriegskasten dort — nach einer Viertelstunde erreichten uns die Granaten nicht mehr.
Ich hatte keine donnernde Antwort gegeben, hatte die Munition gespart. Hinterher bereute ich es.
Hätte lieber zeigen sollen, dass ich ein wirklicher Desperado war und mit mir nicht spaßen ließ.
Im Übrigen will ich nicht zu weitschweifig werden.
Es ging nach Norden hinauf — da tauchte ein anderes englisches Kriegsschiff auf, welches ganz offenbar mir den Weg abschneiden wollte.
Und da zeigte sich auch im Süden eins. Drei oder vielleicht noch mehr englische Kriegsschiffe suchten mich einzukreisen.
Ob die sich erst verständigt hatten, oder wie sonst, weiß ich nicht. Was ging das auch mich an? Es galt Haut und Schiff zu retten.
Ich begrüßte das nördliche Schiff mit einigen Granaten, freilich ohne zu treffen, nicht immer war ich von solch fabelhaftem Glücke begünstigt, dann wandte ich mich westwärts.
Dass mir auf dieser Seite kein Kriegsschiff den Weg versperren konnte, wusste ich. Denn kaum eine Stunde westwärts begann die große Fucusbank, und zwar gerade die undurchdringliche Region, der grüne Tod mit seinen alles umschlingenden Armen.
Und eine Stunde später hatte ich die grüne, so friedlich aussehende Wiese vor mir, sich unübersehbar nach drei Himmelsrichtungen erstreckend.
Mächtig regte sich in mir die Erinnerung.
Was machte wohl die ›Indianarwa‹, die Freiheit von Indien mit ihrer exotischen Gesellschaft?
War das Riesenschiff flott gemacht worden?
Wenn sich dieses in der Welt herumtrieb, hätte man doch etwas davon hören müssen.
Ja, die ›Great Eastern‹ machte schon als Passagierdampfer viel von sich reden, nicht gerade im besten Sinne, sie war schon einmal auf einer Sandbank aufgelaufen, nur mit schwerster Mühe wieder flottgemacht worden — aber von einem Doppelgänger hatte man nichts erfahren.
Und da fiel mir etwas ein, was eigentlich sehr nahe gelegen hatte: solch eine Fucusinsel, das wäre so ein Versteck für mich, für einen Desperado zur See!
Die große Fucusbank galt außerhalb der bekannten Fahrstraßen als unpassierbar. Und niemand hatte ein Interesse daran, sie zu untersuchen. Denn es war ja überall derselbe wuchernde Fucus. Botaniker und Zoologen konnten ihre Untersuchungen gleich an den Grenzen anstellen. Dass sie Inseln barg, davon ahnte niemand etwas.
Ich hatte dem Maharadscha oder dessen Stellvertreter versprochen, niemals wieder eine der Inseln zu besuchen. Eigentlich aber doch nur wegen der Ambra, überhaupt handelte es sich nur um Wahrung des Geheimnisses.
Warum sollte ich dem Maharadscha, wenn er sich noch dort befand, nicht einmal einen Besuch abstatten? Ich hatte überhaupt nun bald wieder meine Leibrente von 10 000 Pfund Sterling zu beanspruchen.
Hatte ich ihm nicht auch versprochen, ihm Hilfe zu leisten, sobald er es begehrte? Dies war allerdings noch nicht eingetreten, aber konnte ich da nicht auch seinen Schutz beanspruchen?
Kurz, mein Entschluss war gefasst — und außerdem blieb mir jetzt gar nichts anderes übrig, als in die Fucusbank einzusteuern, wollte ich nicht den englischen Kriegsschiffen in die Hände laufen.
Also eines der wohlerhaltenen Messer wurde eingesetzt, die ›Sturmbraut‹ begann das grüne Gewinde zu durchsäbeln.
Der Tod wird als Knochengerippe mit einer Sense abgebildet — hier drehte sich die Sache herum, jetzt war es meine ›Sturmbraut‹, die dem grünen Tode mit der Sense zu Leibe ging.
Für uns alte Mannschaft bot diese Fahrt ja nichts Neues. Wir amüsierten uns mehr über das Staunen der siebenunddreißig halbwüchsigen Bengels.
Ich nahm sie einmal vor.
»Das ist unser Geheimnis, verstanden?«
Selbstverständlich! Um unser aller Hals lag ja ein und derselbe Strick, dessen Schlinge wir mit gemeinsamen Kräften offen halten mussten.
Nach drei Tagen Fahrt bekamen wir den Berg der eigentlichen Ambrainsel in Sicht, auf der wir als Schiffbrüchige gelebt hatten.
War mir damals nicht gesagt worden, der Maharadscha besäße die Mittel, diese Insel verschwinden zu lassen, und er würde dies auch tun?
Richtig, der Berg war noch vorhanden, aber von der viele Quadratmeilen umfassenden Insel selbst war nichts mehr zu sehen!
Wie der Maharadscha oder seine Leute das zustande gebracht hatten, war mir ein Rätsel. Nun, Kapitän Simmer hatte mir ja gesagt, dass das Ganze nur schwimmendes oder auf Fucusgewächsen ruhendes Land sei, da musste man mit Pulver viel machen können.
Von Ambra war nichts mehr zu bemerken.
Schon dieser isolierte Berg hatte uns Desperados ein vortreffliches Asyl geboten. Er besaß ja auch eine ergiebige Quelle.
Ich beschloss, zu landen. Doch bald gewahrte ich die Unmöglichkeit.
Damals hatte sich um die ganze Insel ein freier Wasserstreifen gezogen. Um diesen stehen gebliebenen Berg fehlte er. Überall wucherte der Fucus in üppigster Fülle, kletterte hoch die Felsen hinauf. So wären auch wir eingesponnen worden, und das vielleicht rettungslos in kürzester Zeit. Hier durfte man ja nirgends still liegen, musste immer in Bewegung bleiben. Ich hätte den Versuch in Booten machen können, wie damals bei dem eingesponnenen Wrack, aber ich verzichtete. Denn als Anlegeplatz für ein Schiff kam dieser Berg nun nicht mehr in Betracht.
Weiter ging es westwärts. Und noch an demselben Tage in früher Nachmittagsstunde tauchte ein anderer Berg auf, der nach der geografischen Berechnung der gesuchte war.
Zwei Stunden später konnten wir alles mit bloßen Augen unterscheiden. Hier war die von einem freien Fahrwasser umgebene Insel noch vorhanden, allerdings viel kleiner als jene, nur eine geografische Quadratmeile.
Und dort lag auch noch das ungeheuere Schiff von 35 000 Tonnen, die ›Freiheit von Indien‹!
Aber wenn ich nicht irrte — Mahlsdorf und alle anderen bestätigten übrigens meine Ansicht — so lag sie jetzt an einer anderen Stelle, war etwas mehr nach Osten verholt worden.
Auf der Insel, wo für gewöhnlich ein so reges Leben herrschte, musste Kaffee- oder Teepause gehalten werden. Kein Mensch war auf den Feldern zu erblicken, auch zwischen den Hütten alles wie ausgestorben.
Wir fuhren auf den Riesendampfer zu, kamen in die freie Wasserstraße.
Das Deck war von hier unten aus ja nicht zu erblicken.
Ich beobachtete zunächst Karlemanns Pygmäen, amüsierte mich über ihr Staunen beim Anblick dieses Riesendampfers.
»So phlegmatisch die Inder auch sein mögen«, meinte da Mahlsdorf, »der eine oder der andere könnte doch einmal über die Brüstung schauen.«
Ja, jetzt wurde auch ich stutzig. Wo blieb das frühere Schwatzen und Summen, welches die tausend Menschen verursacht hatten? Todesstille. Auch die früheren Fahrzeuge fehlten, nur noch eine einzige jener Galeerenjachten lag da. Und die Messinggeländer ungeputzt. Es machte überhaupt alles so einen verwahrlosten Eindruck.
Die Treppe hing herab — nicht nur ein Fallreep, sondern eine richtige Treppe.
Wir fuhren langsam heran, ich stieg hinauf.
Kein Mensch!
Die ›Indianarwa‹, die ganze Insel war verlassen worden! Weshalb?
Wohin mochte sich der Maharadscha mit seiner ganzen Gesellschaft begeben haben?
Eine offene Frage.
Ich rollte zwei daliegende Taubündel auf, warf die Enden hinab, half mit, die ›Sturmbraut‹ zu befestigen.
Dann rief ich die ganze Freiwache und die Jungen herauf. In der Koje lag jetzt natürlich niemand.
Nicht gerade, dass ich mich gefürchtet hätte, das Schiff allein zu durchsuchen — aber dieses war groß, und ich dachte immer an meine Leute, deren Neugierde oder Wissbegierde doch ebenso groß war, wie die meine.
Das Schiff war geräumt worden. Das heißt, man hatte es in gesäubertem Zustande verlassen. Nicht in hastiger Flucht. Damals, als ich die ›Indianarwa‹ zuerst betreten, hatte es hier ganz anders ausgesehen. Nein, alles war vor dem Verlassen erst geordnet worden. Nur ein wenig Staub, den die feuchte Seeluft auf dem Lande aufkommen ließ.
»Ja, Mahlsdorf, was soll das bedeuten?«
»Der edle Maharadscha hat uns in seiner Allwissenheit die ›Freiheit von Indien‹ als Räuberversteck hinterlassen«, war die etwas spöttische Antwort.
»Jedenfalls könnten wir keine bessere Zufluchtsstätte finden als dieses Schiff hier«, entgegnete ich. »Ja, Mahlsdorf, das wäre so etwas für uns, hier brauchten wir uns nicht erst Hütten zu bauen.«
»Warum sollen wir nicht hierbleiben und uns häuslich einrichten?«
»Wenn aber der Maharadscha nun mit seiner Gesellschaft zurückkommt?«
»Ja, wo mag der jetzt sein?«
»Herr Kapitän!«, rief es da von unten.
Es war die Stimme des zweiten Steuermanns gewesen, ich beugte mich über die Bordwand. Er hatte die Lotleine in der Hand.
»Was gibt es?«
»Der Dampfer sitzt tief im Schlamm, auch unsere ›Sturmbraut‹ berührt ihn schon, hier ist kaum vier Meter Tiefe.«
O, dann saß dieser Koloss allerdings dicke drin! — Dann war der vielleicht überhaupt nie wieder freizubekommen.
Wie war der aber nur hierher geraten?
Ich öffnete im Vorbeigehen eine Kammer, welche früher die hölzernen Eimer enthalten hatte — alles war in tadelloser Ordnung, ebenso daneben die Kammer mit den Lampen.
Dann begab ich mich mit Mahlsdorf auf die Kommandobrücke. Das ist für den Kapitän doch immer das erste.
Instrumente, Karten — alles vorhanden, alles geordnet. Auch verrostet war noch nichts. Doch man durfte deshalb nicht auf eine Zeitdauer des Verlassenseins schließen. Diese Instrumente sind mit einem besonderen Lack überzogen, die Messinggeländer und Klinken hingegen waren sehr blind, einige Gewehre in der Waffenkammer zeigten auch schon etwas Rost, während früher alles und jedes immer sorgfältig geputzt worden war — in welcher Weise, das habe ich schon früher geschildert. Es hatte hier eine Arbeitsverteilung wie auf einem Kriegsschiff geherrscht, nur mehr freiwillig.
»Kapitän, hier liegt ein Brief für Sie!«, rief da Mahlsdorf.
Wahrhaftig, auf dem Tische im Kartenhaus lag auffällig ein Brief, oder zunächst ein weißes Kuvert.
»An Mr. Richard Jansen, Kapitän der ›Sturmbraut‹«, stand mit geschnörkelten Buchstaben darauf. Ich schlitzte es mit dem Messer auf — der Inhalt bestand in hundert Hundertpfundnoten und in einem Ringe.
Da hatte ich ja meine Leibrente wiederum pünktlich erhalten! Das erste Mal hatte ich sie in meinem Geldschrank gefunden, auf rätselhafte Weise da hineingekommen — jetzt lag die Summe schon hier auf dem verlassenen Schiffe für mich bereit.
Geheimnisvolle Menschen! Aber mir ganz gleichgültig.
Und der Ring? Schon der Goldreifen war von außergewöhnlichen Dimensionen, gerade recht gut an meinen Zeigefinger gehend, dabei außerordentlich stark, und obendrauf ein grüner Stein — ein grüner Pflasterstein — das ganze zusammen ein richtiger Totschläger.
In den grünen Stein war etwas graviert — oder eingeschnitten, wie es bei Edelsteinen wohl heißt, und das nennt man dann eine Gemme.
Es war ein Schiff. Und bei näherem Hinsehen erkannte ich auch ohne Lupe, dass es nur dieses Schiff hier sein konnte, die ›Indianarwa‹. Alles bis in die kleinsten Teile war ausgeprägt, was man freilich erst unter der Lupe erkennen konnte. Ein wunderbar feiner Schnitt! Doch in so etwas hat ja der Inder etwas los, der fummelt sein ganzes Leben lang an so etwas herum.
Was sollte das bedeuten?
»Das heißt einfach«, sagte Mahlsdorf, nachdem ich es ihm gezeigt hatte, »dass der Maharadscha Ihnen dieses verlassene Schiff zum Geschenk gemacht hat.«
Ja, das war so einfach, dass man gar nicht nötig gefunden hatte, mir deswegen noch etwas Schriftliches zu hinterlassen.
Das Kuvert war an mich adressiert, und in ihm befand sich der Siegelring, an dem gewissermaßen die ›Freiheit von Indien‹ hing.
Well, in diesem Falle nahm ich das Geschenk dankbar an.
Ja, ich war grenzenlos erfreut. Hier hatte ich eine Zufluchtsstätte gefunden, wie ich sie mir versteckter und bequemer gar nicht wünschen konnte.
Nun mussten wir uns weiter umsehen.
Trinkwasser! Das war die nächste Hauptfrage.
Wie schon damals erwähnt, hatte ich mich bei meinem ersten Aufenthalt hier um die internen Angelegenheiten wie auch um die Proviantfrage gar nicht zu kümmern brauchen.
Frisches Wasser war in Hülle und Fülle vorhanden gewesen. An Deck war ein Hahn, und wenn man den drehte, so kam gutes Wasser heraus, und solcher Hähne hatte es noch mehrere gegeben. Sogar das ganze Schwimmbassin war ja mit Frischwasser gespeist worden.
Das wusste ich, und dann hatte ich auch erfahren dass das Wasser dort von dem Berge käme, durch eine steinerne Röhrenleitung hergeführt.
Ich begab mich an Deck, drehte den Hahn — das Wasser floss nach wie vor. Dann war es ja gut.
Die Leitung würden wir später aufzusuchen haben, falls einmal eine Reparatur nötig war, obgleich ja die Inder ihre steinernen Wasserleitungen wie ihre Tempel und andere Bauwerke für die Ewigkeiten bauen.
Zur weiteren Untersuchung des Riesenschiffes mussten wir uns trennen. Jeder spionierte auf eigene Faust, um mir dann Bericht zu erstatten. Besonders den vorwitzigen Jungen gab ich den Rat, zusammenzuhalten, dass sie sich nicht in dem Labyrinth von Etagen, Korridoren und Kammern verirrten, und wussten sie doch einmal weder aus noch ein — dann natürlich immer jede Treppe nach oben benutzen.
Was wir fanden, fasse ich kurz zusammen.
Womit wir Europäer unsere Schiffe verproviantieren, davon war wenig vorhanden. Fleisch gar nicht, Hülsenfrüchte spärlich, dagegen Reis, getrocknete Frucht des Brotbaumes, Sago und dergleichen indische Vegetabilien in kolossaler Menge, ebenso Salz, Zucker, Kaffee und Tee.
Tabak, sowohl fein geschnitten als in großen, gelben Blättern, wie er aus der Wasserpfeife geraucht wird, in ganzen Ballen.
Dann besonders viel Decken und Teppiche, einige Posten neuer Kleidungsstücke, aber nur indische.
Alles andere waren nur Kleinigkeiten, wohl nur zufällig zurückgelassen. Auch die Küchen und Geschirrschränke waren ausgeräumt worden. Sonst war das ganze, ungeheuere Schiff außerhalb der bewohnbaren Räume, die sich freilich ohne einen Plan gar nicht zählen ließen, ganz mit Steinkohlen angefüllt.
Ein überraschender Anblick erwartete mich im Maschinenraum.
Die kolossalen Maschinen waren total verrostet. Wenigstens zum Teil. Und eben das war auffällig. Andere Teile waren wiederum noch ganz blank.
Kein Zweifel, hier war eine Säure ausgegossen worden. Schon Essig genügt, um solchen Rost zu erzeugen. Man hatte den Dampfer hier auffahren lassen, dann die Maschinen unbrauchbar gemacht.
Denn hier konnte nichts wieder geputzt werden. Alles fest eingerostet. Auch fehlten viele unersetzbare Teile.
Die ›Freiheit von Indien‹ saß hier fest, bis die Elemente ihr Zerstörungswerk vollendet hatten, was aber unter Umständen noch einige Jahrhunderte währen konnte — und das war unverkennbar auch die berechnete Absicht gewesen.
Nun, ich war trotz alledem zufrieden. Dieser Maharadscha war ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle.
Von den juwelenfunkelnden Kostbarkeiten, die ich einst hier erblickt, war nichts mehr zu sehen. Da hatten sie auch kein Stückchen vergessen.
Na, daraus machte ich mir verdammt wenig. Ich hatte ja selbst einen ganzen Haufen solchen Kram an Bord und wusste jetzt nicht, was ich damit anfangen sollte.
Um zu diesem Resultat zu gelangen, hatten wir den Rest des ersten Tages und dann noch einen zweiten gebraucht — und da waren noch längst nicht alle Räume untersucht worden.
Am dritten Tage begaben wir uns an Land, das ich ja auch früher noch nicht betreten hatte — höchstens einmal, wenn ich so das ganze Schiff außenbords abgegangen war, etwa um die Reinigungsarbeiten zu kontrollieren.
Dort, wo einst Reis und anderes Gemüse angebaut worden, war schon alles verwildert. Manneshoch stand das grüne Reisstroh, das aber schon keine Ähren mehr trug. Der Reis ist eine Kulturpflanze, und die Kultur war bereits wieder abgeschüttelt worden. Und dann Gras und Unkraut in üppigster Fülle.
Ich überlegte mir, was man in diesen Breiten wohl anpflanzen könne, unserem Geschmacke mehr zusagend.
Da sprang vor mir ein Büffel auf, der in dem hohen Grase versteckt gelegen hatte. Nein, kein Büffel, kein Stier oder Bulle, sondern ein regelrechter, für die Mast berechneter Ochse, aber schon verwildert.
Und da änderten sich meine Gedanken sofort.
Was zum Teufel, wollten wir freien Seezigeuner etwa Bauern werden? Das wurde hier einfach alles wild gelassen, das gab ein Jagdgebiet, auf dem wir uns nach der Heimkehr mit dem Gewehr amüsieren konnten! Ja, das war eher etwas für Seezigeuner. Proviant wollten wir schon auf andere Weise bekommen, als dass wir unser Brot selbst bauten.
Jagdwild war sogar schon in schwerer Menge vorhanden. Vorläufig nur etwas einseitig, ohne große Auswahl.
Es blieb nicht bei dem einen Ochsen, wir stöberten noch ganze Herden auf, aus Kühen bestehend, die schon unter der Obhut eines Stieres standen, der sie jetzt zur Flucht vor uns anführte. Und besonders auf dem Berge wimmelte es von Schafen, die sich gar nicht mehr so dumm benahmen, schon Wachen ausgestellt hatten. Dann auch ziemlich viel Geflügel, Hühner, Gänse, Enten und dergleichen, von den Indern zurückgelassen, alles bereits vollkommen verwildert.
Wenn wir da noch etwas anderes Wild einführten, wie Antilopen und dergleichen, so hatten wir ein Jagdgebiet von einer geografischen Quadratmeile, wie man es sich nur im wilden Nordamerika bei Sommerzeit wünschen kann, ohne die dort dazugehörigen Unannehmlichkeiten wie Klapperschlangen und dergleichen Tierchen, selbst Stechmücken fehlten hier gänzlich — kurz alles, wie ich es mir immer in meinen Jugendträumen gewünscht hatte.
Zunächst suchten wir die Wasserleitung und fanden sie, verfolgten die steinernen Röhren bis zur idyllisch gelegenen Quelle.
Und dann suchte ich auch gleich noch die Steinkohlengruben! Mir war früher nicht etwa davon gesagt worden, dass hier Steinkohlen gegraben würden. Wir hatten bei unserem früheren Aufenthalt hier nie Kohlen gebraucht, keine zu sehen bekommen, hatten uns nicht darum gekümmert, woher die ›Indianarwa‹ ihre Kohlen bezog.
Woher ich da jetzt auf die Vermutung kam, dass hier Kohlen gegraben wurden?
Weil ich vorhin die Kohlen gesehen hatte. Und das war eine ganz eigentümliche Kohle, sofort ins Auge fallend. Felsenhart wie Anthrazit und von ganz merkwürdiger Struktur. Die Entstehung aus Fucus, der versteinert war — oder wie die Kohlen nun überhaupt entstanden sein mögen — war unverkennbar.
Dann hatten wir die Kohlengruben auch offenbar auf einer Fucusinsel zu suchen, und doch wohl auf dieser hier.
Wir fanden dann auch eine schwarze Spur, und sie führte uns richtig in ein regelrechtes Kohlenbergwerk.
So, nun brauchten wir die andere Welt nicht mehr! Einen besseren Zufluchtsort wenigstens konnten sich See... räuber, hätte ich beinahe gesagt — vogelfreie Seezigeuner nicht wünschen. — — —
Wieder war eine Nacht vergangen. Heute musste ich entscheiden, wie wir uns hier einrichten wollten.
Ich gedachte, die ganze kleine Bande der Jungen hier zu lassen, unter Aufsicht eines Matrosen, der sie zu beschäftigen hatte. Arbeit würde es ja zunächst noch geben.
Die Jungen würden ganz gern hier bleiben. Es konnte ja auch Gemüse, Salat und dergleichen gepflanzt werden, wie es hin und wieder noch in gutem Zustande zwischen dem Unkraute zu finden war.
Die Bengels — wie ich sie jetzt zum Unterschied von meinen eigenen Jungen nennen will, welchen Ausdruck ich nun einmal nicht lassen kann, und das Wort ›Knabe‹ liegt mir nicht, da muss ich immer an so einen geputzten Zieraffen denken — die Bengels hatten schon während der Nacht in dem Riesenschiffe geschlafen. Sich in den unzähligen Kabinen zu verkriechen, sich auf den Teppichen herumzuwälzen, das war ja nun so etwas für sie — und viele meiner Matrosen und Heizer, denen ich einmal völlige Freiheit gegeben, hatten da ebenfalls mitgemacht. Es wurde ja auch immer Neues aufgestöbert, worunter z. B. das Auffinden einer ganzen Kollektion von Pflanzensamen nicht das unwichtigste war.
Als ich an Deck kam — d. h. an Bord meiner ›Sturmbraut‹ — trat mir Mahlsdorf entgegen, hinter sich einen Matrosen.
»Herr Kapitän, hier Sambo hat mir eine eigentümliche Meldung gemacht.«
Ich hatte ja nicht etwa ausschließlich deutsche Leute an Bord. Sambo war ein spanischamerikanischer Kreole, der früher als Matrose auf englischen Schiffen gefahren war. Ein tüchtiger, intelligenter Kerl. Seinen eigentlichen Namen weiß ich nicht mehr. Wir nannten ihn Sambo. Wenn zwei Matrosen ein und denselben Namen haben, so wird der eine stets umgetauft, den richtigen erfährt man gar nicht oder vergisst ihn, zuletzt er selber. Und Vatersnamen gibt es an Bord überhaupt nicht, die stehen nur in der Schiffsliste, in der sogenannten Musterrolle, und meine kam sehr bald abhanden, um nie wieder ersetzt zu werden.
»Was für eine eigentümliche Mitteilung?«
»Sambo behauptet, er sei heute früh in eine Kabine gekommen — drüben auf der ›Indianarwa‹, wo er geschlafen hat — und da hätte es stark nach Zigaretten gerochen.«
»Keine Kabine, es war eine Kammer, halb mit Teppichen gefüllt«, verbesserte Sambo, »und als ich die Tür aufmachte, schlug mir ein Zigarettendunst entgegen.«
»Na«, entgegnete ich, »hier sind früher so viele Zigaretten geraucht worden, da ist schon möglich, dass es noch nach dem Zeuge riecht. Besonders in Teppiche sackt sich der Tabaksqualm hinein.«
»Nein, das war ganz frischer Zigarettenrauch, den ich roch.«
Wenn Sambo das behauptete, so hatte das etwas auf sich. Der Südamerikaner war hierin Sachverständiger.
Damals war das Zigarettenrauchen noch nicht so üblich wie heutzutage, wenigstens nicht in Deutschland, überhaupt nicht im nördlichen Europa. Wohl hatte sich die gestopfte Papierrolle schon den Orient, Spanien, Italien, zum Teil auch Frankreich erobert; im südlichen Amerika wurde sie gequalmt — aber wer damals etwa in Deutschland mit solch einem weißen Papierzigärrchen auf der Straße gesehen wurde, der galt von vornherein als ein Stutzer, als ein Fatzke.
Kurz und gut, es war tatsächlich ganz ausgeschlossen, dass bei mir an Bord jemand eine Zigarette geraucht hätte. Höchstens Sambo selbst hätte in Betracht kommen können, da hätte er aber erst solchen feingeschnittenen Tabak und brauchbares Papier haben müssen — und dann hätte ich ihm auch jedenfalls diese Zigarette, wenn er sich an Deck blicken ließ, aus dem Munde geschlagen — aus jenem oben erwähnten Grunde. So sind nun einmal in der Welt die sich immer ändernden Moden.
Nun aber war an Bord der ›Indianarwa‹ wirklich solch feingeschnittener Tabak gefunden worden, auch dazu geeignetes Papier in ganzen Kisten, von den Indern waren ja hier auch fortwährend Zigaretten geraucht worden.
»Da hat eben doch jemand eine Zigarette da drin geraucht.«
»Herr Kapitän«, nahm wieder Mahlsdorf das Wort, »ehe Sambo zu mir kam, hat er selbst seine Kameraden und auch die Jungen gefragt, ob jemand während der Nacht in jener Kammer geschlafen und eine Zigarette geraucht habe, und erst als alle verneint hatten, ist er mit seiner Behauptung zu mir gekommen.«
Ja, ich hatte Sambos Mitteilung überhaupt von vornherein nicht gleichgültig aufgefasst. Dieser Kreole war ein tüchtiger Kerl, bei dem alles, was er sprach und tat, Hand und Fuß hatte.
»Mit was für einer Behauptung?«, fragte ich nochmals, natürlich nicht ohne Grund. Denn dass da eine Zigarette geraucht worden sein sollte, das wusste ich ja nun schon, und schließlich hatte das doch gar nichts weiter auf sich.
»Dass in jener Kammer ein Fremder gewesen sein soll, noch heute Nacht.«
Das war es, was ich nur hatte hören wollen! Ich hielt es nicht für möglich — und doch, ich hatte diese Behauptung jetzt erwartet.
»Nicht möglich!!«, rief ich trotz alledem.
»Sambo behauptet es.«
»Hast du denn wirklich schon sämtliche Leute und Jungen gefragt, Sambo?«
»Ja.«
»Wann?«
»Vorhin beim Frühstück, als doch alle zusammen waren.«
»Hast du auch gesagt, weshalb du so fragtest?«
»Nein.«
»Ich meine, hast du deinen Argwohn ausgesprochen, hier konnte noch ein Inder zurückgeblieben sein?«
»Nein. Ich wollte erst den Herrn Kapitän oder doch den Steuermann deswegen sprechen.«
Sambo schilderte, wie er beim Frühstück so vom Zigarettenrauchen angefangen hätte, bis er sich auf ganz harmlose und ebenso geschickte Weise davon überzeugt hatte, dass heute Nacht niemand eine Zigarette geraucht habe.
Nur ob jemand in jener Kammer geschlafen habe, das hatte er nicht fragen können, solche Teppichkammern gab es noch mehrere, da hätte er alle erst nach der betreffenden hinführen müssen, denn deren Lage war in dem Riesenschiffe nicht so einfach zu beschreiben.
»Brav so, Sambo!«, lobte ich. »Nun, Mahlsdorf, lasst noch einmal alle Leute zusammentreten — im Zwischendeck.«
Da sich jetzt noch alle Mann auf der ›Sturmbraut‹ befinden mussten, um auf die Arbeitsverteilung zu warten, war das bald geschehen. Keiner fehlte.
»So und so«, sagte ich, »wer von euch hat heute Nacht in einer Kammer der ›Indianarwa‹ zugebracht, im zweiten Deck gelegen, die halb mit Teppichen gefüllt war, und hat darin Zigaretten geraucht?«
Ich sah lauter verwunderte oder schon bestürzte Gesichter. Und das war begreiflich. Denn jetzt wurde gemerkt, dass ihr Kamerad Sambo vorhin doch nicht nur so harmlos gefragt hatte.
Niemand wollte sich schuldig fühlen.
»Von einer Schuld ist da gar keine Rede«, fuhr ich fort, als eine ähnliche Äußerung gefallen war, »es handelt sich um etwas ganz anderes. In jener Kammer ist heute Nacht eine Zigarette geraucht worden, oder mehrere, und da liegt die Vermutung nahe, wenn's nicht einer von euch gewesen ist, dass sich an Bord der ›Indianarwa‹... ein Fremder befindet, dass da ein Inder zurückgeblieben ist!«
Hei, das gab eine Überraschung! Jetzt versicherte jeder in ganz anderer Weise, von meinen Leuten sowohl wie von den Bengels, dass er keine Zigarette geraucht habe.
Geraucht war wohl genug worden, aber keine jener Papierröllchen, und nun vergewisserte ich mich noch, dass außer Sambo kein einziger imstande war, sich solch eine Zigarette selbst zu drehen, und fertige waren noch gar nicht gefunden worden.
»Es kann aber doch auch solcher türkischer Tabak in einer Pfeife geraucht worden sein, Sambo«, begann ich wiederum zu zweifeln; »denn genommen haben sich doch die Leute von dem gefundenen Tabak, das gestehen sie ja, und da ist ja auch gar nichts weiter dabei — und dann ist das doch gar nicht von so einer Zigarette zu unterscheiden, der Tabak riecht eben, wie er riecht.«
»O nein, Herr Kapitän«, entgegnete Sambo, »das unterscheide ich und jeder andere Zigarettenraucher oder der sonst damit Bescheid weiß sofort — es ist das Papier, welches so eigentümlich riecht.«
Um eine Probe zu machen, hätte ich mir erst von jenem Schiffe solche Papierblättchen besorgen lassen müssen. Ich hielt es nicht für nötig.
Ich instruierte die Mannschaft, zu der jetzt auch die siebenunddreißig Bengels gehörten, sie sollten noch einmal das ganze Schiff untersuchen, natürlich unauffällig wie zuvor, Papier und Bleistift in der Hand, um den Inventarbestand aufzunehmen — diesmal aber das Augenmerk mehr darauf zu richten, ob Spuren vorhanden seien, von denen man auf die Anwesenheit eines heimlichen Bewohners des Dampfers schließen könne. Eigene Spuren müssten deswegen von jetzt an sorgsamst vermieden werden.
Was bemerkt würde, sei sofort dem Steuermann zu berichten, hier an Bord der ›Sturmbraut‹. Dass ein Fremder festzunehmen sei, war selbstverständlich.
Die erwachsenen und unerwachsenen Jungen zerstreuten sich, ich selbst begab mich mit Sambo hinüber, um erst einmal jene Kammer aufzusuchen, deren Lage sich der Kreole gemerkt haben wollte.
Was ich von alledem denken sollte, wusste ich selbst noch nicht recht. Mein Zweifel war stark. Eine Nachlässigkeit aber wäre gewesen, diesem Verdachte gar keinen Raum zu geben. Jedenfalls wollte ich noch diesen ganzen Tag daransetzen, um Nachforschungen zu halten. Länger freilich würde ich hier nicht verweilen, morgen früh ging es bestimmt fort — es sei denn, es trat noch etwas ganz Besonderes dazwischen.
Und dieses ganz Besondere sollte denn auch sehr bald kommen.
Im zweiten Deck, noch unter dem sogenannten Zwischendeck liegend, bezeichnete Sambo eine Tür als die betreffende.
Ich öffnete sie, sah richtig den engen Raum halb mit orientalischen Teppichen gefüllt — aber obgleich das Bullauge mit der Glasscheibe geschlossen war, und obgleich ich eine ziemlich gute Nase besaß, konnte ich nichts von einem Tabaksduft bemerken.
»Der hat sich schon versackt«, meinte Sambo, »das geht gerade bei Teppichen sehr schnell, wie der Herr Kapitän ja selbst sagte.«
»Hast du dich denn nicht nach Zigarettenstummeln umgesehen?«
»Das wohl.«
»Und keinen gefunden?«
»Nein.«
Ich kletterte einmal hinauf auf den Stoß — nichts zu sehen — schlug ganz zufällig eine herumgeklappte Ecke zurück — und wahrhaftig, da lag unter dem Teppich ein Zigarettenstummel! Ich kann gar nicht sagen, wie mich der Anblick dieses abgekauten, jetzt vertrockneten Papierstummels berührte!
»Der ist allerdings schon lange vertrocknet«, meinte Sambo, das Corpus Delicti mit Kennerblicken untersuchend. »Aber das braucht ja auch nicht gerade der zu sein, den der Mann heute Nacht weggeworfen hat. Seit wir hier sind, ist der Mann eben sehr vorsichtig, beseitigt immer alle Spuren.«
Da hatte Sambo in allem recht. Übrigens hatte ich schon bei einem früheren Falle bemerkt — — doch ich brauche ihn wegen seiner Geringfügigkeit gar nicht zu schildern — dass dieser Kreole große Anlagen zum Detektiv besaß, er hatte überhaupt so etwas Schleichendes, Spionierendes an sich, musste jeden fremden Gegenstand mit ganz besonderen Fingern vorsichtig aufheben und ihn mit ganz besonderen Augen betrachten, obgleich er sonst ein durchaus aufrichtiger Charakter war.
»Aber seine Zigarette hat er heute Nacht doch wieder geraucht!«, setzte Sambo noch hinzu, und ich widersprach ihm nicht mehr.
Doch was nun? Razzia zu veranstalten, wobei es kein Durchschlüpfen gab, war in diesem Riesenschiffe mit seinen zahllosen Korridoren, Treppen und Kabinen, wenn einem dazu nur siebzig Mann zur Verfügung standen, ganz ausgeschlossen, oder doch ganz aussichtslos.
Auf gut Glück suchen, immer suchen, anderes blieb uns nicht übrig.
Es war bald schon wieder Mittagsstunde, ich wollte mich an Bord der ›Sturmbraut‹ zurückbegeben, nach fruchtloser Wanderung durch dumpfe, finstere Gänge und Winkel, in denen ich stundenlang herumgekrochen war, als ich von einem der kleinen Bengels angerannt wurde, der da auch mit einer Laterne herumgekrochen war, jetzt es aber sehr eilig gehabt hatte.
»Kapitän, Kapitän«, flüsterte er hastig, als er mich erkannte, »wir haben was gefunden!«
»Ihn selbst?«
»Nein, aber wo er wohnt!«
Ich folgte dem Jungen — noch tiefer ging es in das Reich der Nacht hinab. So schien es wenigstens. In Wirklichkeit aber befanden wir uns noch immer hoch über der Wasserlinie. Der Irrtum, dem selbst ein Seemann wie ich unterworfen war, kam daher, weil das Vorbild der ›Great Eastern‹ über dem eigentlichen Deck nicht weniger als noch fünf andere Aufbaue hatte, deren jeder wieder ein Zwischendeck für sich bildete, mit Korridoren und Kabinen und allem.
Heute sind ja alle die großen Passagierdampfer so gebaut und eingerichtet, mit ungeheueren Aufbauen — erstes Promenadendeck, zweites, drittes Promenadendeck, erstes, zweites Sonnendeck — damals aber gab's so etwas noch nicht, eben nur bei der ›Great Eastern‹ war das schon einmal probiert worden, und die kannte ja auch ich noch nicht. Hatte wohl schon viel davon gehört, Abbildungen gesehen, aber eine Vorstellung von der Wirklichkeit hatte ich mir nicht machen können, und wenn ich den Ausblick durch ein Fenster verlor, nicht ganz genau die Treppen zählte, die Schritte nicht maß, dann wusste auch ich alter Seebär noch immer weder aus noch ein in diesem Riesenkasten, so viel ich auch schon darin herumgekrochen war.
»Ist es denn weit von hier?«
»Ja, ziemlich weit — zwei Treppen tiefer — und dann nach hinten — oder 's mag auch vorn im Schiff sein, das weiß man hier ja niemals.«
»Ja, findest du dich denn aber da auch wieder zurück?«
»Nu, ich habe mir doch hier Zeichen gemacht.«
Wahrhaftig! Erst jetzt bemerkte ich, dass der Knirps seinen Wegweiser hatte.
Ist es nicht das Märchen von Hänsel und Gretel, wo der Junge beim Gang in den Wald immer Steinchen hinter sich fallen lässt, um dann den Rückweg finden zu können?
Dieser schlaue Dreikäsehoch hier hatte es ganz ähnlich gemacht. Nahe jener Stelle waren Kohlen gewesen, er hatte kleine Stückchen davon mitgenommen, solche alle paar Schritte hinter sich fallen lassen, um dann von Deck aus den Weg wieder nach dort finden zu können, und nach diesen Stücken suchte er nun immer eifrig mit seiner Laterne, fand sie auch ohne Schwierigkeit.
Übrigens waren sie zu dritt gewesen, die beiden anderen Jungen waren dort zurückgeblieben.
Ich fragte jetzt noch nicht weiter, was dort eigentlich als ›Wohnraum‹ gefunden worden sei. Wenige Minuten später sah ich es ja selbst.
Es war eine Kabine im unteren Deck, deren Bullauge wenig über dem Wasserspiegel lag.
Ja, hier wohnte jemand oder hatte jemand gewohnt, sich häuslich eingerichtet gehabt, und zwar kein Inder!
Eine Lagerstätte aus Teppichen und Decken, Kochtöpfe, ein großer Spiritusapparat, Konservenbüchsen, kleine Kisten mit Reis und Hülsenfrüchten, Seife, Handtuch, ein Rasieretui... möge das genügen, was wir erblickten.
Es sah alles höchst unordentlich aus, wie in einer Zigeunerhütte.
Woher ich nun sofort zu dem Schlusse kam, es könne kein Inder sein, das kann ich gar nicht so erklären. Es lag wie in der Luft. Jedenfalls, so glaubte ich wenigstens, hätte alles ganz anders ausgesehen, wenn hier ein Inder gehaust hätte.
Ich dachte lebhaft an einen jener früheren europäischen Matrosen, die nach und nach zum Inder geworden waren, wenigstens dem Äußeren nach, oder, sagen wir: der Faulheit nach. Aber doch nicht so ganz in ihren Gewohnheiten.
Wie dem aber auch sei — vor allen Dingen galt es, Einzelheiten näher ins Auge zu fassen, um womöglich eine Zeit zu bestimmen, seit wann diese Behausung verlassen sein konnte.
Wieder war es Sambo, der sich als scharfsichtiger Detektiv bewies.
Diesmal aber widmete er seine Aufmerksamkeit nicht den Zigarettenstummeln, welche zahlreich herumlagen wie die abgebrannten Streichhölzer, sondern er griff gleich nach dem Rasierpinsel.
»Der ist noch feucht — hier ist noch Seife daran — der Mann hat sich erst heute rasiert!«
Dem war nicht mehr zu widersprechen. Ja, nun war es ganz klar: Hier befand sich wirklich noch ein Mann von der früheren Besatzung der ›Indianarwa‹!
Auf mich machte die nun unwiderlegbare Tatsache einen höchst niederschlagenden Eindruck!
Nun durfte ich dieses Schiff auch nicht eher verlassen, als bis ich diesen geheimnisvollen Einsiedler näher kennen gelernt, sagen wir gleich: ihn gepackt hatte.
Mindestens durfte ich nun nicht bloß diese halbwüchsigen Bengels darauf zurücklassen. Und wenn auch noch so viele von meinen handfesten Leuten zurückgeblieben waren — ich selbst hätte dann doch an Bord meines Schiffes, nachdem sich dieses entfernt, keine ruhige Stunde mehr gehabt.
Denn der Betreffende musste doch unbedingt von dem Hiersein so vieler Menschen wissen. Und dann musste er doch auch schon bemerkt haben, dass wir keine barbarischen Unholde waren. Weshalb versteckte er sich da? Weil er eben einen Grund dazu hatte, und das konnte nur ein böser sein. Jedenfalls ein Mann, der mit Absicht nicht den allgemeinen Auszug der Kinder Israels mitgemacht hatte. Wahrscheinlich, um alleiniger Besitzer der zurückgelassenen Schätze oder sonstiger Sachen zu werden, und sei es auch nur, um ein faules Leben bis zu seinem Ende zu führen und sich an den Spirituosen delektieren zu können, von denen wir einen großen Vorrat gefunden hatten.
Und das alles stimmte umso mehr, wenn ich an einen jener europäischen Matrosen dachte.
Und wenn ich nun Leute zurückließ, konnte der Kerl nicht den Plan fassen, diese einmal bei Gelegenheit zu beseitigen? Dazu war nicht nötig, dass er das ganze Schiff in die Luft sprengte. Man brauchte nur an Gift zu denken.
Kurz und gut, jetzt musste der Kerl unbedingt erwischt werden, sonst hätte ich doch niemals Ruhe gehabt.
Aber wie ihn nun hier in diesem Labyrinthe finden, wenn er nicht gefunden werden wollte?
Unter solchen höchst unangenehmen Gedanken war ich noch einmal auf den Gang hinausgetreten. Dieser war durch einige offenstehende Kabinen, die hier unten alle leer waren, noch etwas erleuchtet.
Da sah ich dort hinten, wo dieser Gang von einem anderen gekreuzt wurde, eine Gestalt vorbeihuschen.
Im ersten Augenblick dachte ich, dass es einer meiner Leute sei, ich wollte ihn schon mit einem ›hallo!‹ anrufen, aber mit jener Schnelligkeit, mit der sich nur Gedanken folgen können, erinnerte ich mich, doch eigentlich keinen behosten Mann gesehen zu haben, das war eher eine Frauengestalt gewesen, in einen langen Rock gehüllt, wie ihn auch männliche Türken und Inder tragen... und da schoss ich auch schon, nicht gerade mit Gedankenschnelle, aber doch mit menschenmöglichster Eile, den Korridor entlang.
Und wahrhaftig, dort huschte die Kittelgestalt weiter, war gerade jetzt in das Licht eines Bullauges gekommen.
»Steh oder ich schieße!!«, schrie ich, eben den beliebtesten Warnungsruf gebrauchend, obgleich ich gar nicht an meinen Revolver dachte.
Die Gestalt verschwand wiederum in einem Seitengange — ich ihr nach — da war es plötzlich finster — und ich keine Laterne bei mir — aber ich stürzte im Finstern weiter, denn die vermummte Gestalt war keine zehn Schritte von mir entfernt gewesen — plötzlich verlor ich den Boden unter den Füßen, polterte eine Treppe hinunter — und wie ich wieder ebenen Boden unter den Füßen hatte, da hatte ich auch gleichzeitig Fleisch und Knochen zwischen den Fäusten, die von einem Gewande umhüllt waren.
Ich war am Ende der Treppe direkt auf sie gestürzt, wahrscheinlich zu meinem Glücke, wenn diese fleischigen Knochen auch durchaus nicht weich waren, im Gegenteil, sie fühlten sich recht hart an, recht kräftige Muskeln, und sie bewegten sich, wollten sich frei machen, was es bei mir nun freilich nicht gab.
»Licht her, ich habe ihn!!!«, donnerte ich mit allem Aufgebot meiner nicht eben schwächlichen Lunge.
Der Ruf ward gehört, ein Lichtlein kam, schwebte die Treppe herab, ich nahm dem Jungen die Laterne ab.
»Nun wollen wir doch mal sehen, wen wir da eigentlich erwischt haben«, sagte ich, schon wieder in der besten Stimmung.
Da ich zunächst nur das Hinterteil sah, drehte ich ihn fein säuberlich herum, bis ich das Gesicht vor mir hatte — und wie ward mir beim Anblick dieses jüdischen Gesichtes mit dem schwarzen Stutzbarte...
»Bei allem was lebt — mein durchgebrannter Schiffsarzt — Doktor Selo!!!«
Er bestätigte es nicht, hatte es auch gar nicht nötig — er war es! Ich erkannte doch meinen ehemaligen Schiffsarzt wieder!
Ergebungsvoll hatte er die Augen geschlossen.
»Na, freuen Sie sich denn gar nicht ein bisschen, mich endlich einmal wiederzusehen? Sie haben doch von mir auch noch drei Monate Heuer zu bekommen.«
Nur ein Stöhnen antwortete meinen spöttischen Worten.
Dann sackte ich ihn auf und trug ihn nach oben, gleich bis in meine Kajüte hinüber, und als Doktor Selo so wieder vor mir auf dem Sofa saß, im hellen Sonnenlichte, noch ganz derselbe, nur in einem indischen Talare, da erst kam das Staunen über mich, wie das Schicksal es doch seltsam gefügt hatte, dass ich diesen Halunken gerade hier auf der verlassenen ›Freiheit von Indien‹ mitten in der Fucusbank wiederfinden musste!
Aber lange dauerte dieses Staunen nicht bei mir.
»Na, wollen Sie mir nun nicht Auskunft geben, wie Sie eigentlich hierher kommen?«
Nein, er wollte nicht, er stierte mich nur an und kniff die schmalen Lippen zusammen.
»Fühlen Sie sich schwach? Wollen Sie etwas genießen? Eine Tasse Kaffee? Ein Glas Wein?«
Es ist merkwürdig, was ein wohlmeinendes Wort alles bewirken kann! Umsonst wird ja auch nicht der blutigste Verbrecher während der Untersuchungshaft ganz freundlich behandelt — bis er sein Geständnis abgelegt hat.
Mit einem Male veränderte sich der Ausdruck der Augen.
»O, Herr Kapitän Jansen, ich habe schwer gelitten!«, kam es stöhnend hervor.
Wollte er mich bei meiner schwachen Seite packen? Natürlich, er musste ja mein gutes Herz kennen gelernt haben.
Gut, ich wollte ihn bei diesem Glauben lassen. Freilich konnte er sich in diesem Falle auch etwas täuschen.
»Wie kommen Sie denn nur hierher? Erst muss ich das wissen.«
Ich hatte im Klange meiner Stimme dafür gesorgt, dass er nicht den Mut verlor.
»O, Herr Kapitän — ich habe furchtbar gegen Sie gesündigt«, stöhnte er von Neuem.
»Lassen wir das alles — erst muss ich durchaus wissen, wie Sie hierher gekommen sind.«
»Sie wissen — damals die Geheimschrift, die wir bei dem Klabautermann fanden!«
»Ja, die Sie mir stahlen«, musste ich jetzt doch sagen, denn eine allzu große Verstellung wäre nur schädlich gewesen.
»Und die 10 000 Pfund Sterling — und die Anweisung auf eine Million...«, ergänzte der Schuft ganz sachgemäß.
»Ist mir jetzt alles ganz gleichgültig — Sie wissen doch selber, wie verächtlich ich von jeher über den schnöden Mammon gedacht habe, und ich brauche ihn jetzt weniger denn je — ich will nur wissen, wie Sie hierher gekommen sind, aber nun ein bisschen rasch, sonst verliere ich doch noch die Geduld.«
»O, ich bin schmählich geprellt worden!«, erklang es von Neuem jammernd.
»Geprellt, wieso?«
»Ich hatte die Geheimschrift entziffert...«
»Ach was!«, stellte ich mich unwissend, denn dass ich das Konzept seiner Übersetzung gefunden, wenigstens soweit es geografische Ortsbestimmungen betraf, davon wusste jener wahrscheinlich noch gar nichts. »Nun, was war es denn?«
»Es war eine Aufzeichnung, wo auf dem Meeresgrunde gesunkene Wracks mit wertvoller Ladung, mit großen Schätzen liegen sollten, bis zurück aus dem 17. Jahrhundert stammend.«
Also hatte die Geheimschrift noch viel nähere Angaben enthalten. Natürlich, das war ja auch ein ganzes Buch gewesen, Selo hatte daraus nur die geografischen Ortsbestimmungen gezogen, welches Konzept er verloren hatte, wahrscheinlich, wie gesagt, ohne dass ihm bewusst war, dass er dies an Bord der ›Sturmbraut‹ zurückgelassen hatte, dass wir dies gefunden haben könnten.
»Nun, und?«
»Ein Jahr lang, länger noch habe ich all diese verzeichneten Stellen aufgesucht, über die ganze Erde verteilt, und immer bin ich betrogen worden.«
»Wieso betrogen?«
»Stets fand ich an der betreffenden Stelle eine Meerestiefe, bei der es kein Hinabtauchen gab — und auf diese Weise habe ich all' die 10 000 Pfund und was ich sonst noch besaß, verbraucht — alles ganz unnötig verpulvert!«
Etwas wie Lachlust wandelte mich an. Nämlich wie der das so jämmerlich hervorbrachte. Faktisch, dieser Schuft war so egoistisch, dass er glaubte, er wäre wirklich bedauernswert, man hätte ihn wirklich betrogen.
Freilich gehört wohl ein besonderer Charakter dazu, um so etwas begreifen zu können.
»Nun, und wie sind Sie dann hierher gekommen?«
»Es war auch eine geografische Bestimmung vorhanden, welche für die Mitte der großen Fucusbank galt.«
Stimmte! Ich habe ja schon damals erwähnt, dass mir Karlemann gar kein so ganz neues Geheimnis anvertraute.
»Nun, und?«
»Ich habe sie aufgesucht, ganz zuletzt.«
»Weshalb ganz zuletzt?«
»Es sollte hier nur Ambra zu finden sein...«
»Nur Ambra, sagen Sie?«
»In den Wracks lag anderes verborgen, bares Geld und Goldbarren, wenigstens zum größten Teil, Juwelen — und das war mir doch lieber als Ambra.«
»Hm, da haben Sie allerdings recht. Nun und weiter?«
»Und dann wusste ich auch gar nicht, wie man in die Fucusbank hätte eindringen sollen.«
»Zuletzt aber fanden Sie doch das Rezept dazu?«
»Ja.«
»Wie?«
»Ich erfand für einen Dampfer, den ich charterte, dieselbe Messervorrichtung, wie ich sie schon an Ihrer ›Sturmbraut‹ erblickt habe.«
Darüber brauchte ich mich nicht besonders zu wundern. Wer ernsthaft mit dem Gedanken umging, die Fucusbank außerhalb der bekannten Wasserwege zu durchqueren, würde immer auf solch eine Messervorrichtung kommen. Das lag viel näher als jene Gleitvorrichtung, mit der sich meine Vorgänger hier geholfen hatten, mochte letztere vielleicht auch praktischer sein.
»Sie charterten also einen Dampfer?«
»Ja, mit meinem letzten Gelde.«
»Und drangen hier ein?«
»Von Osten her.«
»Wann war das?«
»Vor sechs Wochen.«
»Erzählen Sie ausführlicher!«
»Es war ein elender Kasten, der kaum sechs Knoten machte, in diesen Schlinggewächsen trotz der scharfen Messer keine drei. Wie eine Schnecke kamen wir vorwärts. Dabei immer die furchtbare Angst, dass die Maschine versagte, also stecken zu bleiben, denn dieser Fucus umschlingt alles, was...«
»Ich weiß, ich weiß. Sie brauchen mir keinen wissenschaftlichen Vortrag über Ihre Expedition zu halten. Bleiben Sie bei der Hauptsache.«
»Statt einer viele Quadratmeilen großen Insel, wie in dem Manuskript angegeben, fanden wir nur einen Berg, der auch nicht anzulaufen war, sonst wären wir umschlungen worden, und außerdem von Ambra keine Spur zu erblicken.«
Stimmte alles.
»Nun weiter?«
»Enttäuscht segelte ich westwärts, um den günstigen Wind auszunutzen. Am anderen Tage erblickten wir wieder einen Berg — diesen hier. Und da, angesichts dieses Berges, aber noch weit, weit von ihm entfernt, brach etwas an der Maschine, rettungslos — und Windstille...«
Das Grausen schien ehrlich zu sein, von dem der Arzt befallen wurde.
»Und da ist das Schiff wohl eingesponnen worden?«, kam ich ihm zu Hilfe.
»Ja. Und innerhalb von vierzehn Tagen war es gesunken. O, es war schrecklich, wie es so Zoll für Zoll in die Tiefe hinabgezogen wurde!«
Selo schüttelte sich, und ich konnte es begreifen.
»Aber Sie sind doch gerettet worden.«
»Nur ich.«
»Nur Sie? Wie kam das?«, fragte ich mit berechtigtem Misstrauen, denn ich musste doch gleich wieder an einen Schurkenstreich denken, den dieser Mann verübt hatte.
»Ach, was haben wir nicht alles versucht, uns aus der grünen Umklammerung wieder zu befreien! Alles vergeblich. Natürlich setzten wir Boote aus — auch sie waren schon in den nächsten Minuten umklammert, jedes Boot wurde innerhalb einer Viertelstunde hinabgezogen. Und am vierzehnten oder fünfzehnten Tage verloren wir die Deckplanken unter den Füßen, sofort rankte der Fucus an unseren Beinen empor.«
»Nun, und Sie selbst?«
»Ja, an mir ist ein Wunder geschehen. Ich stand zufällig auf einem sehr großen Lukendeckel, der nicht befestigt war. Tiefer und tiefer sank der Dampfer — ich aber stand — auf dem Lukendeckel. Dieser schwamm. Die Überwucherung war hier auch gar nicht so bedeutend. Der Fucus fand an den glatten Rändern eben keinen Halt. Und da kam mir ein rettender Gedanke. Ich konnte eben noch eine lange Hakenstange auffischen — und ich fand Grund! — und wahrhaftig, der Lukendeckel schusselte als Floß über das grüne Zeug hin...«
»Und die anderen?«
»Die mussten zurückbleiben, die waren dem Tode geweiht.«
»Konnten Sie denn keinen einzigen mitnehmen?«
»Das Floß hätte nicht zwei Männer getragen. Außerdem waren alle anderen schon eingeklammert, und wie sie auch winkten und schrien, ich konnte ihnen nicht helfen.«
Er mochte recht haben — jedenfalls wollte ich hierüber kein Richter sein.
»Und so kamen Sie bis hierher?«
»Ja. Noch am Abend desselben Tages erreichte ich diesen Berg, hatte auch schon diesen Riesendampfer gesehen. Aber ich landete dort mehr östlich an dem Inselberge.«
»Sie fanden mit der Stange fortwährend Grund, dass Sie das Floß immer fortschieben konnten?«
»Immer. Das eben war ein Glück. Sonst wäre ich doch noch verloren gewesen.«
Dass das Wasser hier überall ziemlich seicht war, hatte auch ich schon bemerkt. Mit einer etwa acht Meter langen Stange musste man da überall Grund finden, während diese Tiefe schon wieder für solch einen Riesendampfer genügte.
»Nun, und was weiter?«
»Ja, dann befand ich mich eben hier auf diesem Dampfer, in dem ich zu meinem Staunen das erste Vorbild der ›Great Eastern‹ erkannte.«
»Wie lange befinden Sie sich nun schon hier?«
»Seit fünf Tagen.«
»Also am zweiten oder dritten Tage, an dem Sie sich hier befanden, sind wir gekommen?«
»Das war an meinem dritten Tage.«
Nun, da hatte Selo ja nicht sehr lange zu warten brauchen.
Freilich, er hatte doch auch immer noch auf seine Bartfrisur gehalten.
Da fiel mir etwas ein, was ich bald vergessen hätte.
»Sind Sie denn nicht einmal auf die Kommandobrücke gekommen?«
»Doch.«
»Und haben da nicht auf dem Tisch im Kartenhause einen Brief liegen sehen?«
»Einen Brief? Nein.«
Dann hatte er den an mich adressierten Brief eben übersehen.
Ein weiteres Wunder erblickte ich nicht hierin.
So, das war das eine gewesen, nun kam etwas anderes daran, und dabei würde es unter Umständen weniger gemütlich zugehen.
»Also Ihr ganzes Geld haben Sie bei diesen Goldgräberexpeditionen zur See verpulvert?«
»Alles!«
»Die ganzen fünf Millionen?«
»Die ganzen fünf Millionen?«, wiederholte Selo mit ausgezeichnet erkünsteltem Staunen, ich konnte auch nicht den geringsten Schreck oder sonst etwas anderes bemerken. »O nein, so reich bin ich nie gewesen. Ich erzählte Ihnen doch einmal, dass ich enterbt worden bin. Alles, was ich in langen Seereisen als Schiffsarzt gespart habe, betrug keine fünfhundert Pfund Sterling, und dann kamen noch die zehntausend Pfund hinzu, die ich Ihnen in meiner Verblendung...«
»Lassen wir doch diese Lappalie«, unterbrach ich ihn. »Sie haben doch all das Geld gestohlen, welches ich damals, als noch Lady Blodwen bei mir war, während der Fahrt von London nach Kapstadt nach und nach auf dem Meeresgrunde versenkt habe.«
Jetzt riss dieser Halunke vor Staunen sogar seine runden Augen weit auf.
»Welches Sie — versenkt haben?! Davon weiß ich doch gar nichts!«
»Na, nun stellen Sie sich mal nicht so!«, wurde ich jetzt ungeduldig. »Es waren an die fünf Millionen — und dann der Schmuck, den damals Lady Blodwen von dem kleinen Algots erstanden, den Sie selbst taxierten, das Zepter und das Brustgehänge...«
»Ich weiß, ich weiß — den Karlemann dem Häuptling Kididimo abgenommen hatte«, war er mir auch noch behilflich.
»Na, wohin haben Sie dieses Geld und diesen Schmuck gebracht? Oder das ist doch nicht etwa auch schon alle geworden?«
»Ich? Hingebracht?«, wiederholte er in immer größerem Staunen. »Ja, wie soll ich denn das nur verstehen?!«
Meine Geduld hatte ihre letzte Grenze erreicht.
»Na, nun verstellen Sie sich mal nicht. Ich will Sie sofort überführen, Ihnen ist nämlich dabei etwas höchst Unangenehmes passiert.«
»Mir? Etwas Unangenehmes? Ja, Herr Kapitän, was meinen Sie denn nur eigentlich?!«
»Wo ist denn der grüne Saphirring, den Sie früher immer trugen?«
Selo betrachtete seine linken Finger, an denen nur noch ein kleiner Diamantring funkelte.
»Den Saphirring? Den — den — — habe ich in Alexandrien einer Dame verehrt — ein kleines Abenteuer... ja, Herr Kapitän, woher können Sie denn davon wissen?!«
Diese zuletzt schnell gesprochenen Worte waren mit einem erstaunten Augenaufschlag gegen mich von solcher Natürlichkeit begleitet gewesen, dass man weiß Gott an diesem Spitzbuben bald irre werden konnte.
So weit ging es nun freilich bei mir nicht.
»Ja ja, der ist in meinen Besitz gekommen.«
»Ist nicht möglich!! Haben Sie die Mademoiselle Blanche kennen gelernt? Doch nicht gar in Alexandrien? Oder wie sonst?«
Ich hatte bereits geklingelt, der Steward kam, und dieser genügte, denn wenn Bernhard auch ein tadelloser Schiffskellner war, früher sogar wohl ein richtiger Hotelkellner, so ließen seine Knochen und Muskeln doch nichts zu wünschen übrig — also ich deutete ihm an, dass dieser Herr, unser ehemaliger Schiffsarzt, hier ruhig sitzen zu bleiben habe, während ich schnell einmal in meine Kabine ging und den Geldschrank aufschloss.
In einer halben Minute war ich zurück, der Steward konnte wieder gehen.
»Erkennen Sie diesen Ring als den Ihrigen?«
Selo nahm ihn, drehte ihn hin und her.
»Nein, das ist nicht meiner. Nur etwas ähnlich. Mein Stein war viel größer, und dann vor allen Dingen waren hier um die Fassung solche Schnörkel...«
Er beschrieb noch weiter den Unterschied.
Ich hatte schon geahnt, dass all dies nichts helfen würde, wenn sich der Kerl aufs Leugnen legte. Ja, wenn der Ring graviert gewesen wäre, etwa gar mit seinem Namen! Das war aber eben nicht der Fall.
Trotzdem zweifelte ich natürlich nicht einen Augenblick an seiner Schuld.
»Es ist Ihr Ring!!«, sagte ich mit starkem Nachdruck. »Und — diesen — Ihren — Ring — habe ich auf dem Meeresgrunde gefunden, dort, wo meine Kassetten mit Goldstücken hätten liegen sollen — und wo Sie nur den Abdruck der Sohle Ihres Taucheranzugs zurückließen — und wo Sie diesen Ring von Ihrem Finger verloren!!«
Wenn diese Worte einen Eindruck auf ihn machten, so war es nur der der Verblüfftheit.
Dann tat er, als müsse er sich erst aufraffen.
»Herr Kapitän, wir wollen doch ruhig zusammen sprechen«, sagte er dann.
»Ich spreche ganz ruhig«, entgegnete ich, unwillkürlich lächeln müssend. Jetzt schien der auch noch den Spieß herumdrehen zu wollen, so ungefähr, wie damals der edle Franzose mit seiner Tante.
»Sie haben damals Geld ins Meer versenkt?«
»Ja.«
»Und auch jenes Geschmeide des Häuptlings Kididimo?«
»Ja.«
»Und das alles ist Ihnen gestohlen worden?«
»Ja.«
»Und Sie glauben, dass ich der Dieb sei?«
»Ja.«
Da hob Selo die rechte Hand mit zwei gespreizten Fingern empor.
»Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen, dass ich gar nicht gewusst...«
Er wurde durch einen Knall unterbrochen. Dieser Knall rührte daher, dass ich ihm eine knallende Ohrfeige verabreicht hatte. Ich hatte ihn nicht falsch schwören lassen wollen. Denn der schwor doch für drei gute Groschen sechs falsche Eide.
Selo war halb aufs Sofa gefallen, richtete sich wieder auf und tat, als wolle er seinen ehemaligen unvermeidlichen Klemmer wieder fest auf die Nase drücken, den er jetzt freilich nicht mehr trug. Im Übrigen benahm er sich äußerst gelassen.
»Ja, Herr Kapitän, wenn Sie allerdings zu dergleichen Brutalitäten greifen wollen — unter der Folter würde ich wahrscheinlich sogar ein Geständnis in dem von Ihnen gewünschten Sinne ablegen — natürlich ein falsches — nur um vorübergehend von den Schmerzen erlöst zu werden. Ich würde Ihnen vielleicht eine Stelle angeben, wohin ich diese Schätze gebracht hätte — und wenn Sie hinkämen, wäre nichts da — und so würde ich unter Tortur immer wieder wissentlich falsche Angaben machen, obgleich ich von alledem gar nichts weiß. Ich bin unschuldig.«
Der Mann sprach da eine Wahrheit aus, die ich mir hinter die Ohren schreiben konnte. Ähnliches hatte ich mir überhaupt schon selbst gesagt.
Nein, zu einer Tortur wollte ich nicht greifen. Ich bin überhaupt kein Freund von so etwas. Einmal eine Maulschelle, einmal ein bisschen an den Haaren reißen und dergleichen, auch einmal die Knute, ja — — aber auf glühende Kohlen stellen und so — nein.
»Trotzdem sind Sie der Dieb.«
»Sie irren.«
»Sie sagen: ich irre — und ich sage: ich irre mich nicht — und wenn wir so dabei bleiben, können wir bis an unser Lebensende hin und her zerren. Nein, dazu habe ich keine Lust. Wissen Sie was? Liefern Sie mir das Geld und den Schmuck wieder aus, Sie sollen den vierten Teil davon abhaben. Auf mein Ehrenwort! Ich geb's Ihnen auch schriftlich.«
Das war gesprochen wie... es einem Richard Jansen aus Danzig ganz ähnlich sah.
Vielleicht sogar hätte ich auch noch etwas mit mir handeln lassen.
»Sie irren, ich weiß von diesem Diebstahle gar nichts!«, entgegnete er aber.
»Ich sichere Ihnen absolute Straffreiheit zu.«
»Ich bin unschuldig.«
»Gut! Nun hat's bei mir geschnappt. Sie bleiben natürlich mein Gefangener, ich werde Sie etwas knapp halten — vielleicht überlegen Sie sich die Sache noch.«
Selo wurde in eine Kabine gesperrt, Goliath bekam seine Aufwartung und Bewachung, dann rief ich alle Mann zusammen, Karlemanns kleine Garde erklärte sich mit Freuden bereit, hier bleiben zu wollen, um Robinsons zu spielen; bei der Aufforderung wegen eines erwachsenen Mannes meldete sich der Matrose Paul, den ich auch für den geeignetsten hielt, um die Rolle des Oberhauptes zu spielen; ich unterhielt mich mit ihm noch eine Stunde, ihm Instruktionen erteilend — dann dampfte die ›Sturmbraut‹ westwärts davon.
Wir wollen Kapitän Jansen und seine ›Sturmbraut‹, während des langen Waffenganges gegen die Kaper der Konföderation nicht Schritt für Schritt begleiten. Das würde bald zu eintönig werden. Denn die Art, die Listen und offenen Kämpfe, wie er einen Kaper nach dem anderen nahm, ähnelten sich im Grunde genommen doch immer.
Aber eins fehlt uns noch: unseren Helden einmal mit anderen Augen zu betrachten, als mit seinen eigenen, wie es eine Selbstbiografie doch immer tut.
Denn zuletzt bekommt man da ein ganz anderes Bild. Richard Jansen war eine ausgesprochen humoristische Natur, und als er als alter Mann seine Erlebnisse in dem Leuchtturm niederschrieb, da hatte sich offenbar seine Frohnatur noch immer nicht geändert — ja, da betrachtete er alles schon von einem ganz anderen Standpunkte, da war sein Charakter geläutert, von seiner Erhabenheit blickte er lächelnd auf seine früheren Torheiten herab; was ihm früher bitteren Schmerz und Seelenpein verursacht, das war jetzt für ihn ein Nichts geworden, und es ist ja bekannt genug, wie man sich in späteren Zeiten, wenn alles vorbei ist, viel mehr des Angenehmen erinnert, die Unannehmlichkeiten vergisst der Mensch viel schneller.
Das ist ja auch der Grund, weshalb uns immer unsere Kinderzeit so lieblich dünkt. Vielleicht ist das durchaus falsch. Wer in der selbsterkennenden Lebensweisheit schon weit vorgeschritten ist, der kann zu dem Urteil kommen, dass er als zehnjähriges Kind, nämlich wenn er einmal seine Schularbeiten nicht gemacht oder irgendeinen an sich ganz harmlosen Streich begangen hat, ganz genau dieselben schweren Sorgen gehabt hat, wie dreißig Jahre später als gereifter Mann, wenn er sich etwa vor einer Geschäftskrisis sieht, deren schlechter Ausgang seinen Ruin bedeuten kann.
Im Grunde genommen ganz, ganz genau dieselben Sorgen! Denn wieder nach dreißig Jahren, als siebzigjähriger Greis, wird er, wenn er wirklich in der Erkenntnis des Lebens gewachsen ist, ebenso wieder über jene Lappalien lächeln, die ihm damals vor dreißig Jahren solche Sorgen gemacht haben, und vielleicht wird er jetzt schwermütig seufzen: Ach, war das damals eine glückliche Zeit, als ich noch alle Zähne im Munde hatte! Was hat gegen einen kranken Magen doch solch eine Kleinigkeit wie ein Bankrott zu bedeuten?!
So wollen wir aus der im Leuchtturm gefundenen Kiste einmal ein anderes Manuskript herausnehmen.
Es ist die ebenfalls persönlich gehaltene Erzählung eines Steuermanns namens Emanuel Martin, jedenfalls eines Deutschen, welcher auf dem Segler ›Arizona‹, ein Schiff von 1200 Tonnen, unter Kapitän Kipling als konföderierter Kaper den Seekrieg gegen die Union mitmachte — bis er zu Kapitän Jansen übertrat, dessen Freund wurde.
Wir haben nur noch zu erwähnen, dass Martin wohl schon viel von der ›Sturmbraut‹ und dessen Kapitän gehört, diesen aber noch nie selbst gesehen hatte, denn die ›Arizona‹ hatte damals auch nicht in Charleston gelegen.
Und nun beginnen wir ohne Weiteres mit der Erzählung dieses Mannes, ohne uns auf sein früheres Leben einzulassen.
Am Morgen des 22. Mai, auf der Höhe von Kap Hatteras und etwa auf dem 70. Längengrade, sichteten wir eine Bark, welche mit dem steifen Südwinde von Osten nach Westen ging.
Die Erregung unter uns war sofort eine gewaltige. Denn diese Bark konnte als Ziel doch nur einen unionistischen Hafen haben, und wir gedachten den Schaden gutzumachen, den wir durch das Entgehen der deutschen ›Hortense‹, die uns im letzten Augenblick noch aus den Zähnen gekommen war, gehabt hatten.
Auch ging unser Trinkwasser bedenklich zur Neige.
Kapitän Kipling rief die Offiziere und Maate zusammen.
Ja, diese Bark konnte unserer vollgetakelten ›Arizona‹ nicht entgehen. Durch den Südwind, der so stehen bleiben würde, hatten wir sie vollkommen in der Gewalt, konnten ihr den Weg abschneiden, wo und wie wir wollten, und die nur mäßig bewegte See ließ ein gefahrloses Entern zu.
Erst aber mussten wir wissen, wen wir vor uns hatten, freilich schon darauf gefasst, eine falsche Auskunft zu bekommen.
Denn damals war ja auf dem Atlantischen Ozean alles eine einzige Lüge — oder sagen wir gemäßigter: eine Maskerade.
Wir selbst machten es ja ebenso. Kapitän Kipling ließ das unionistische Sternenbanner hissen, grüßte und meldete: ›Kentucky‹ — Boston — Kapitän Frank.
Jetzt würden die drüben in dem internationalen Schiffsregister vergebens nach einem ›Kentucky‹ suchen, in Boston beheimatet, von einem Kapitän Frank geführt.
Es wäre ja ein wunderbarer Zufall gewesen, wenn wirklich solch ein Schiff mit einem Kapitän dieses Namens existiert hätte, und Kapitän Kipling wählte die falschen Namen immer gleich aus dem Stegreife.
Hinwiederum brauchte man dort drüben nicht gleich an eine Mystifikation zu denken. Damals schossen ja die neuen Schiffe aus dem Meere empor, wie die Pilze aus der Erde.
Die Bark zeigte die englische Flagge, grüßte und meldete: ›Malabar‹ — Cardiff — Kapitän Castle!
Well, nun waren wir unserer Sache sicher. Denn ein englisches Schiff, welches damals nach einem nordamerikanischen Hafen steuerte, zeigte nicht seine Flagge, wenn es diese nicht wirklich führte.
Andererseits konnte man dann denken, dass es eben keine Kriegskonterbande an Bord hätte. Aber was sonst, wenn es nach einem nordamerikanischen Hafen ging?
Doch darüber konnte man sich ja leicht Klarheit verschaffen. Wir brauchten nur die Maske fallen zu lassen, uns als konzessionierter Kriegskaper erkennen zu geben.
Also herunter die falsche Flagge, dafür die blaue der Konföderation gezeigt, mit dem Kriegswimpel, und dann den Befehl gegeben:
»Streicht die Segel!!!«
Hei, gab das eine Verwirrung an Deck der Bark! Wir konnten es durch das Fernrohr deutlich unterscheiden. Wie eine Herde aufgescheuchter Gänse stoben sie durcheinander.
Dann kam eine Antwort:
»Spirituslack nach Cuba!«
Aber während sie so ihre neutrale Friedlichkeit versicherten, schwenkten sie schon nach Norden herum, die Matrosen flogen die Wanten hinauf, um den letzten Fetzen Leinwand zu setzen, der noch anzubringen war.
Und wir taten dasselbe. Denn nun war es ja erwiesen: ein Engländer, der einem unionistischen Hafen Kriegskonterbande bringen wollte, jedenfalls Getreide. Denn sonst hätten sie doch nicht zu fliehen brauchen.
Aber wenn die Bark auch wirklich Spirituslack geladen hätte — dieses Wort genügte schon, um die Augen unserer Matrosen in wilder Glut aufleuchten zu lassen, jede Muskel gespannt zu machen. Denn wir hatten eine gar verwegene Bande an Bord, noch schlimmer als verwegen, viele Novascotiamen, welche hinter dem Schnaps her waren, wie der Teufel hinter den Seelen, und unser Branntwein war schon längst zu Ende, die versprochene Tagesration konnte nicht mehr ausgegeben werden — und so hätten die jetzt sogar den Spirituslack gesoffen.
Wir also hinter der Bark her! Dass wir ihr an Schnelligkeit ganz bedeutend überlegen waren, konnten wir in den ersten zehn Minuten erkennen.
Und eine halbe Stunde später waren wir in Rufweite.
»Streicht die Segel!!«
Keine Antwort, nur abermals ein wirres Durcheinander.
Im Westen tauchte eine Takelage auf. Wir beteten, mehr zum Teufel als zu Gott, dass es kein englisches oder amerikanisches Kriegsschiff sein möge, welches uns den Spaß wieder so versalzen könnte, wie damals bei der ›Hortense‹.
Doch die Takelage verschwand bald wieder, kein einziges anderes Fahrzeug war in Sicht.
Wir lösten einen Schuss, nach dem Mittelmast gerichtet. Er ging fehl, wäre überhaupt gar nicht nötig gewesen, wir hätten nur unseren eigenen Schaden angerichtet; denn bereits ging die weiße Flagge hoch, die Segel wurden gestrichen.
Weitere zehn Minuten später hatten wir die Bark am Enterhaken.
Die Mannschaft erwartete uns ruhig, die Kommandobrücke war verlassen.
Wie es weiter geschah, kann ich nicht erzählen.
Ich gehörte diesmal mit zur Entermannschaft, Kapitän Kipling beteiligte sich nie persönlich am Kampf — was ihm oft genug verdacht wurde — also ich als erster hinüber, nicht an Kampf denkend, den Entersäbel nur so am Handgelenk hängen habend.
Da taucht vor mir ein krummbeiniger Kerl auf, grinsend, hat in beiden Händen etwas wie das Mundstück eines Schlauches — jawohl, ein kurios gekleidetes Weibsbild, unter dessen buntem Rock große Seestiefel hervorsehen, schleift ihm den Schlauch nach — und wie ich das noch anstarre, nur die Bedeutung des Schlauches nicht erklären kann — »Los doch, Enoch, ist sich die Luderbande schon...«, schreit da das Weib mit grölender Mannesstimme, wie es auch einen Schnauzbart hatte — was es sonst noch schreit, höre ich nicht, da sehe ich nur noch, wie aus dem Schlauchmundstück ein milchweißer Strahl hervorbricht, alles gleich in eine Dampfwolke hüllend — ich fühle einen brennenden Schmerz am Halse...
»Kochendes Wasser!«, schreit es in meinem Innern. »Die empfangen uns mit kochendem Wasser!!«
Und da habe ich auch schon meinen Entersäbel fest in der Faust, schwinge ihn auf den krummbeinigen Spritzer — in demselben Augenblick springt ein anderer auf mich ein, ein junger Mann, will mir eins mit einem Gummiknüppel abgeben — mein Entersäbel ändert mitten im Hieb seine Richtung, ich komme dem Gummiknüppel zuvor, mein Säbel saust jenem auf den Kopf...
Da erhalte ich selbst von anderer Seite über den Schädel einen Schlag, dass mir das Feuer aus den Augen spritzt...
»Verdammt, hier sind wir an die Unrechten gekommen!«, denke ich noch, dann verlässt mich das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir kam, war ich an Händen und Füßen gefesselt. Aber lange konnte ich nicht bewusstlos gewesen sein, denn der Kampf war noch im besten Gange. Das heißt, wenn man da überhaupt von einem Kampfe sprechen durfte.
Wir hatten eben einmal unsere Meister gefunden. Mit kochendem Wasser hatten sie uns empfangen, und jetzt waren die drüben auf unserer ›Arizona‹.
Obgleich ich später erfuhr — und schon jetzt merkte ich es mit eigenen Augen — dass die Pumpe mit ihrem heißen Wasser gar nicht so arg gehaust hatte, wie sie es hätte tun können — anders geführt, wären wir samt und sonders im Augenblick in rote Krebse verwandelt worden — hatte es doch gerade genügt. Nur einige Tröpfchen des kochenden Wassers auf die nackte Haut, und niemand dachte noch an einen Kampf, jeder hatte sich hinter irgendeinen Gegenstand geworfen, nur um diesem kochenden Tode zu entgehen.
Aus diesen Verstecken wurden jetzt unsere Matrosen wie die Kinder hervorgezogen, um gebunden zu werden, höchst selten dachte einer noch an Widerstand, nur ein einziges Mal musste noch der kurze Gummischlauch gebraucht werden, kein einziger Schuss fiel mehr.
Ja, doch noch einer, und diese Szene fesselte auch meine Hauptaufmerksamkeit und gab mir die Überzeugung, dass ich keine halbe Minute bewusstlos gelegen haben konnte.
Kapitän Kipling hatte wie gewöhnlich auf der Kommandobrücke gestanden, um das Ganze übersehen zu können, nur, im Notfalle oder auch aus blutigem Übermute mit seiner langen Entenflinte ein Wort mitzusprechen. Die Kommandobrücke mit der starken Holzwand zu umkleiden, dass er selbst geschützt stand, hatte er diesmal nicht für nötig befunden. Aber dass es so kommen würde, hatte er natürlich so wenig wie ein anderer von uns erwartet — und nun stand er da, die lange Büchse in der erstarrten Hand, mit entsetzten Augen auf das Deck seines Schiffes stierend...
Da kam eine lange Gestalt die Treppe hinaufgesetzt, ein wahrer Riese, mit zwei Sätzen war er die zwölf Stufen oben, stand unserem Kapitän gegenüber — da kam Leben in diesen, mit einem Wutschrei ließ er die Entenflinte fallen, sein blanker Revolver blitzte in seiner Hand, ein Knall, ein Feuerstrom...
»Schade um den langen Burschen«, dachte ich, »unser Kapitän verfehlt sein Ziel nicht. Wer soll denn überhaupt bei solcher Nähe danebenschießen?«
Wenn der Riese aber auch tödlich getroffen sein mochte, so viel Kraft hatte er doch noch, um dem Kapitän die Faust zwischen die Augen zu setzen, mit einer Wucht, dass ich den schmetternden Krach bis hierher hörte, es klang, als ob ein irdener Topf berste, und Kipling stürzte denn auch hin wie ein Stier.
Dann aber wunderte ich mich doch bass, wie der lange Kerl auch noch die Kraft besaß, sich über den Gefallenen zu beugen — denn das sah gar nicht danach aus, als wolle er selbst tot über sein Opfer stürzen — und dann richtete er sich wieder auf, strich sich die Haare aus der Stirn — ja, und dann sprang er sogar leichtfüßig die Treppe wieder herunter!
Kann denn das ein Mensch, der eine Revolverkugel in die Stirn oder ins Herz oder sonst in einen empfindlichen Körperteil bekommen hat? Denn von einem Vorbeischießen konnte da doch eigentlich keine Rede sein, und mit Platzpatronen befasste sich Kapitän Kipling auch nicht.
»Alles klar?«, wandte sich der Lange, der durchaus nicht tot gehen wollte und in dem ich nun wohl den Kapitän der Bark erkennen musste, an einen anderen Mann, auch von recht stattlicher Größe, der aber neben jenem wie ein Zwerg aussah.
»Alles klar, Käpt'n!«
»Ist schon berichtet worden?«
»Vom zweiten Kapitän, der dort liegt.«
»Wie viele Köpfe?«
»Neununddreißig.«
Stimmte. So stark war unsere ganze Besatzung, den Kapitän mit eingeschlossen.
»Alle unschädlich gemacht?«
»Alle. Nur der eine liegt drüben bei uns. Ich selbst gab ihm eins über den Schädel.«
»Tot?«
»Weiß noch nicht, Käpt'n.«
»Wie sieht's sonst aus?«
»Ganz gut, Käpt'n!«, war die gemütliche Antwort. »Wohl nur zweien ist das Fell total abgebrüht worden.«
»Schon tot?«
»Nee, wohl noch nicht ganz. Ich habe sie gleich über Bord werfen lassen.«
So sprach der, den ich später als Mahlsdorf, als den ersten Steuermann kennen lernte, der mein nächster Vorgesetzter werden sollte.
Jetzt sah ich auch deutlich das Gesicht des riesenhaften Kapitäns — von der Sonne kupferrot gebrannt, mit einem weißblonden Schnurrbart — und in diesem Augenblick musste ich mir verwundert die Frage vorlegen, ob dieses Gesicht mit den regelmäßigem Zügen eigentlich gutmütig, grenzenlos gutmütig zu nennen sei, oder ob sich darin eine furchtbare Wildheit auspräge.
Es war eben in diesem Gesicht ein Widerspruch, der sich gar nicht mit Worten ausdrücken lässt.
In demselben Augenblick aber sah ich, wie durch dieses gutmütige und doch so wilde Antlitz ein seltsames Zucken ging — es sah fast aus, als wolle der Mann in ein krampfhaftes Weinen ausbrechen.
Im nächsten Moment war das freilich wieder vorbei, und dann wurden die Züge, abermals etwas ganz Neues, plötzlich eisern.
»Ihr habt's ja selbst so gewollt, Kapitän«, meinte der Steuermann noch, dabei die Achseln zuckend. »Wem nun einmal nicht mehr zu helfen ist — über Bord damit, 's ist doch auch das beste. Erstens muss die Empfindung eine ganz angenehme sein, mit den schmerzenden Brandwunden gleich ins kalte Wasser — und dann ist's doch in einer halben Minute vorbei. Ans Schwimmen denkt so einer nicht mehr.«
»Und meine Jungen?«
»Gemeldet ist noch nichts. Tot oder gefährlich verwundet ist jedenfalls keiner.«
Da wusste ich anders zu erzählen, sah es mit eigenen Augen. Dicht neben mir lag der, den mein Entersäbel getroffen, tot, mit klaffendem Schädel, in einer Blutlache.
Es war ein junger Mann mit hübschen, offenen Zügen, und merkwürdig war, dass der schnelle Tod diese Züge fast gar nicht verändert hatte. Auch keine Wunde war zu sehen.
Ich hatte eine Prim geführt, mit hoch herab ausgestrecktem Arm, und diese hatte mehr den Hinterkopf gespalten. An der Stirn selbst war noch gar nichts von der klaffenden Wunde zu sehen.
So hatten wir beide bisher immer nebeneinander gelegen, ohne beachtet zu werden. Der Schauplatz des Kampfes war sofort hinüber an Deck der ›Arizona‹ verlegt worden.
Doch jetzt kamen sie zurück, als erster der krummbeinige Bootsmann, noch vor ihm das schnauzbärtige Weib.
Da, ein Blick — ein Stutzen — unbeschreiblich ist es, wie sich das Weib auf den Spitzen der Seestiefel näher schlich, wie es diese dabei hob — dann hatte es den Toten erreicht, beugte sich über ihn, betastete ihn...
»Stürmann — Stürmann Wagner!«
So flüsterte sie erst, und dann ein gellender Schrei.
»Ist sich tot, ist sich mausetot!!!«
Sie hatte sich über den Toten geworfen, wurde aber gleich von einem Matrosen zurückgerissen — nur von einem einzigen, die anderen, die unterdessen herangekommen waren, standen wie erstarrt da.
»Wagner tot — unser Stürmann tot«, ging es mit atemlosem Flüstern durch die Reihen. Und ich sehe noch diese Gesichter!
Und dann weiter, mit seltsam scheuen Blicken um sich sehend:
»Weiß es schon der Käpt'n?«
Da kam er bereits. Es war ihm gleich anzusehen, dass er noch nichts wusste. Er blickte gerade so harmlos nach seiner Taschenuhr.
»Kapitän, der zweite Stürmann ist tot.«
Unvergesslich wird mir dieser Wechsel des Gesichtsausdruckes sein, wie alles an dem riesenhaften Manne erstarrte, wie seine Augen auf den Toten stierten — erst glaubte ich, auch er wolle sich über die Leiche stürzen, aber nur seine Arme waren einer Bewegung fähig, langsam hob er sie, langsam legte er die Hände vor die Augen — und dann ein Zittern am ganzen Körper — und dann ein Stöhnen, oder mehr ein Schrei — ein Schrei, wie ich noch keinen gehört hatte, keine menschliche Brust solch eines Tones für fähig gehalten hatte — und dann stürzte er davon.
Die anderen umstanden nach wie vor die Leiche des Steuermannes. Keiner wagte zu sprechen, kaum sich zu rühren. Wie lange das währte, weiß ich nicht. Es gibt Zeitperioden, für die man kein Maß hat.
Ein vorübergehender Mann, wahrscheinlich ein Steward, wurde vom ersten Steuermann angehalten.
»Wo ist der Kapitän?«
»In der Kajüte.«
»Was macht er da?«
»Er flennt.«
Ich kann gar nicht sagen, was für einen Eindruck diese zwei Worte auf mich machten. ›Er flennt.‹ Dieser riesenhafte Mann sollte flennen, weinen wie ein Kind, wie ein Weib — ich konnte es mir gar nicht vorstellen.
»Der ist's gewesen«, flüsterte dann ein Matrose, auf mich deutend.
Mir ward ganz unheimlich zumute, als sich jetzt alle diese ernsten Augen auf mich richteten, es wirkte atemhemmend, ich dachte, ich hätte das jüngste Gericht zu erwarten.
Und dieses schien sich mir auch in der Gestalt jenes bärtigen Weibes zu nahen.
Was sie sagte, als sie den Seestiefel hob, um mir Tritte zu versetzen, wie sie schimpfte, will ich hier nicht wiedergeben, denn es würde humoristisch wirken, und danach war die ganze Situation nicht angetan.
Ich bekam einen Tritt auf den Leib, ein zweiter war für mein Gesicht bestimmt — da sauste eine Faust in den Nacken des Weibes, dass es, sich wälzend, zur Seite kollerte.
Es war der Kapitän.
»Wehe dem, der ihn anrührt! Pfui!!«
Dann ruhten seine blauen, tiefernsten Augen lange Zeit auf mir, und ich glaube, sie lasen mir im Herzen.
»Ihr seid der erste Steuermann von der ›Arizona‹?«, fragte er nach langer Pause.
Ich bejahte.
»Wie heißt Ihr?«
»Emanuel Martin.«
»Deutscher?«
»Der Geburt nach. Bin immer auf Engländern und Novascotiamen gefahren.«
Wieder brannten sich die blauen Augen bis in mein Herz hinein.
»Habt Ihr Lust, bei mir als zweiter Steuermann anzumustern?«
»O ja, warum nicht«, entgegnete ich kurzerhand.
»Wir müssen noch darüber sprechen. Seid Ihr verwundet?«
Ich fühlte nur noch ein Brennen am Halse. Eine an sich ganz geringfügige Brandwunde.
»Wisst Ihr, wer ich bin? Was für ein Schiff das ist?«
»Kapitän Castle von der ›Malabar‹.«
»Das waren falsche Namen, um Euch irrezuführen.«
Dann wusste ich es nicht. Ich hatte faktisch noch keine Ahnung, auf welchem Schiffe ich mich befand, wen ich vor mir hatte.
Der Kapitän zog sein Dolchmesser und durchschnitt meine Bande.
»Bernhard, führe ihn in die Kajüte! Gib ihm Salbe, dass er sich den Hals einreibt! Mehr ist nicht nötig. Wartet in der Kajüte auf mich, Steuermann, bis ich die Prise aufgenommen habe.«
Während ich dem Steward über Deck folgte, suchte ich nach Namen, wie sie sonst doch an fast jedem beweglichen Gegenstand angemalt sind, an Eimern, Rettungsringen und dergleichen, sah aber keinen einzigen.
»Was für ein Schiff ist das eigentlich?«, ließ ich mich verleiten, den Steward, als er mir dann eine Schachtel Brandsalbe brachte, zu fragen.
»Ihr wisst es wirklich nicht?«
»Keine Ahnung.«
»Der Kapitän wird es Euch sagen.«
Ich war wieder allein, sah mich in der höchst komfortabel, fast luxuriös ausgestatteten Kajüte um, untersuchte einen silbernen Teller, ein Messer und anderes — nirgends etwas von einem Schiffsnamen, der sonst auf solchen Gegenständen doch selten fehlt.
Was draußen vorging, wusste ich nicht, wollte mich auch nicht mehr in der Tür zeigen. Nun, jetzt wurde eben die Prise aufgenommen, das heißt, das erbeutete Schiff ausgenommen.
Ja aber, die Union hatte doch keinen einzigen Kaper angestellt?! Und ein regelrechtes Kriegsschiff war das sicher nicht, ein solches hätte niemals eine falsche Flagge gezeigt, das geht gegen die internationalen Kriegsgesetze, auf deren Wahrung die bedrohten Nordstaaten gar sehr halten mussten.
Ich musste geradezu an einen Freibeuter, an einen Seeräuber denken.
Nach einer Viertelstunde betrat der Kapitän die Kajüte. Erst hier in dem niedrigen Raume gewahrte ich ganz, was für ein Hüne das doch war! Und diese Schultern, diese Knochen! Besonders diese Handgelenke! Manchen Mannes Oberarme haben nicht solch einen Umfang. Für dessen Titanenkraft musste es gar kein Hindernis geben, soweit nur irgendein Mensch es besiegen kann.
Jetzt zeigte das kupferbraune Gesicht wieder die gutmütigsten Züge.
»Habt Ihr wirklich nur so wenig Trinkwasser, Steuermann?«
Ja, daran waren wir, wie gesagt, selbst sehr knapp gewesen.
»Schade. Auf Trinkwasser kommt es mir hauptsächlich immer an. Nun, ich habe mich an den reichlich vorhandenen Proviant gehalten, und dann zwei Geschütze und alle Munition habe ich noch annektiert. Wisst Ihr, wie groß die Schiffskasse war?«
Ich konnte vorrechnen, dass der Kapitän in seinem Geldschrank mindestens 100 000 Dollar haben müsste, denn so viel hatte die Beute betragen, die wir in den beiden Schiffen gefunden, die wir bisher genommen hatten, und da wir noch keinen Hafen angelaufen, waren die Beute und das Prisengeld auch noch nicht verteilt worden.
»Es sind 248 300 Dollar — in runder Summe — die ich im Geldschranke gefunden habe.«
Das konnte sein. Was der Kapitän sonst noch besaß, wussten wir ja nicht.
»Welchen Anspruch auf die Beute habt Ihr selbst zu machen?«
Ich blickte den Frager verständnislos an.
»Nun, Ihr versteht doch. Das Schiff ist frei, frei ist die ganze Mannschaft — soweit sie noch lebt — sie kann hinsegeln, wohin sie will...«
»Was? Ihr verzichtet auf das Schiff, auf die ganze Prise?!«, rief ich in grenzenloser Überraschung.
»Ja. Ich habe mit diesem ganzen amerikanischen Bürgerkriege gar nichts zu tun, will damit nichts zu tun haben. Aber wenn mich ein Schiff angreift, dann wehre ich mich natürlich, und wenn ich siege, so habe ich eigentlich auch das Recht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Doch ich nehme immer nur Proviant, Trinkwasser und eventuell Kohlen, alles übrige gebe ich mit dem ganzen Schiffe wieder frei, lasse der Mannschaft auch stets noch so viel Proviant und Wasser, dass sie bequem den nächsten Hafen erreichen kann. Am allerwenigsten vergreife ich mich an Geld und Wertsachen. Ich habe selbst genug von solchem Zeug.«
Immer fassungsloser starrte ich den hünenhaften Sprecher an.
»Herr, wer sind Sie eigentlich?«, konnte ich dann nur rufen.
»Kein Seeräuber — der würde anders handeln — aber ein Desperado.«
»Ein — Desperado?«
»Habt Ihr noch nichts von Kapitän Jansen und von seiner ›Sturmbraut‹ gehört?«
Wie elektrisiert schnellte ich auf.
»Ihr wäret — dieser Kapitän Richard Jansen?«
»Ich bin es.«
»Und dies wäre die ›Sturmbraut‹?«
»Sie ist es.«
»Das glaube ich nicht!«
»Weshalb nicht?«
»Ich habe die ›Sturmbraut‹ noch nicht gesehen, aber — die ›Sturmbraut‹ ist ein vollgetakelter Dreimaster, und dies ist eine Bark!«
»Ich habe vom Kreuzmast einfach die Rahen abnehmen lassen, daraus einen Besanmast gemacht.«
»Die ›Sturmbraut‹ hat eine viel niedrigere Back!«
»Ich habe sie einfach durch ein Brettergerüst erhöhen lassen, ebenso das Achterteil. Weshalb soll ich mein Schiff nicht maskieren oder ausstaffieren, wie ich will? Eigentlich haben die ›Sturmbraut‹ und Kapitän Richard Jansen aufgehört zu existieren. Mein Schiff ist aus der internationalen Registerrolle gestrichen. Ich bin vogelfrei. Richtig frei wie der Vogel in der Luft. Wenn sich ein Habicht auf mich stürzt, wehre ich mich natürlich meiner Haut. Manchmal fresse ich ihn auch auf. Ich bin selber ein Raubvogel. — Nun, Herr Steuermann Martin, wollen Sie unter solchen Umständen bei mir bleiben?«
Ich konnte nicht mehr daran zweifeln. Ich hatte ihn vor mir, von dem zurzeit alle Welt sprach, mit dessen Namen jetzt in England die unartigen Kinder geschreckt wurden!! Den simplen Handelskapitän, der den Stolz Englands, den ›Prince Albert‹, in den Grund geschossen, ein anderes englisches Kriegsschiff mit Absicht in den Grund gerammt hatte — auf dessen Festnahme Prämien gesetzt waren, deren Höhe sich noch gar nicht ermessen ließen, weil in England, aber auch anderswo, noch ständig dafür gezeichnet wurde, besonders aber von englischen Seeoffizieren, die ja gewöhnlich Geld im Überflusse haben, von der Prämie der Regierung gar nicht zu sprechen...
»Ja ja«, nickte mein Gegenüber, mit seinem gutmütigsten Gesicht, »ich bin dieser Kapitän Jansen, auf den jetzt ein halbes Dutzend Abenteurer mit ihren Schiffen Jagd machen. Denn das dürfte sich noch mehr verlohnen als die Kaperei in diesem amerikanischen Kriege. Wer mich lebendig in einem englischen Hafen einliefert, bekommt bare dreimalhunderttausend Pfund Sterling ausgezahlt, das sind nach unserem deutschen Gelde zwei Millionen Taler, und wenn Sie ein Messer bei sich haben, und Sie stoßen es mir jetzt ins Herz, und Sie können den Beweis erbringen, dass Sie mich wirklich getötet haben, so erhalten Sie in London die immer noch ganz annehmbare Summe von vierzigtausend Pfund Sterling ausgezahlt. So standen die Aktien wenigstens vor vier Wochen, als ich zuletzt den Kurszettel las. Unterdessen ist mein Aktienwert sicher noch gestiegen. — Nun, Monsieur Emanuel Martin, wollen Sie mir als mein zweiter Steuermann behilflich sein, diesen Prämienjägern, die auf mich pirschen, ein Schnippchen zu schlagen?«
»Topp!«, sagte ich nur noch, in die Hand, die er schon hinhielt, einschlagend.
Auf die Frage, wie er mir denn solches Vertrauen schenken könne, kam ich gar nicht. Dieser Mann konnte ja mit seinen harmlosen, treuherzigen Augen jedem Menschen bis in Herz sehen. — — —
Ich blieb an Bord der ›Sturmbraut‹.
Ich wurde der Freund dieses seltsamen Mannes.
Ich ersetzte den ersten Mann, den er aus seiner Mitte durch den Tod verlor, gerade ich, sein Mörder — und jetzt, da ich dies schreibe, erst wenige Jahre später, bin ich sein letzter Maat.
Ja, ich habe sie alle, einen nach dem anderen, die einst die Planken der ›Sturmbraut‹ begangen, fallen, sterben sehen, im offenen Kampfe, durch feigen Verrat, am Galgen — — ja, ich habe eine Heldenschar Mann für Mann zugrunde gehen sehen, und man könnte auf sie ein Lied der Treue dichten, wie nur je eines gesungen worden ist!
Ja, ich lernte ihn kennen.
Aber welche Rätsel hat mir dieser Mann nicht aufgegeben — anfangs!
Der harmloseste Charakter, der keinem Tierchen etwas zuleide tun konnte, ein Käferchen mit der Fußspitze vorsichtig zur Seite schob — — und je toller es zuging, je mehr wir zu leiden hatten, desto zündender wurde sein trockener Witz, übersprudelnd vor Lebenslust — — und dann wieder Tage der tiefsten Melancholie, wo er weinen konnte wie ein Kind — und dann wieder ein vor Wut blinder Stier, eine blutgierige Bestie...
Er hatte ein Weib bei sich an Bord, das schönste, das je mein Auge geschaut.
Er glaubte, er liebe dieses Weib. Er glaubte es. Er bildete es sich ein. Er redete es sich vor. Er sagte es ihr und sagte es jedem anderen und... er war in dem Wahn befangen, dass dies die ehrlichste Tatsache sei. Denn eines wirklichen Betruges war dieser Mann ja gar nicht fähig, keines falschen, keines unlauteren Wortes.
Wir aber, die wir ihn still beobachteten, wussten es besser. Einer anderen galt seine Sehnsucht, an der er in der Erinnerung mit allen Fasern seines, ach, so empfindsamen Herzens hing! Aber gerade dieser anderen begegnete er stets kalt und hart, was sich bis zur Grausamkeit steigern konnte. — — Weshalb? Aus einem Grunde, den nur der zu verstehen vermag, der selbst schon etwas Ähnliches durchgemacht hat — — eine Art Wollust, sich ins eigene Fleisch zu schneiden — — wahrscheinlich hätte er auch gar nicht anders handeln können, ohne vor sich selbst Abscheu zu empfinden — — aber das war die Ursache seiner Stunden und Tage der tiefsten Schwermut, die sich bis zur furchtbarsten Verzweiflung steigern konnte, da wir ihn in einer Kabine weinen und jammern hörten.
Mehr brauchen wir von diesem zweiten Berichterstatter nicht zu hören.
Das aber war es, was wir einmal hören mussten.
Denn man kann sich wohl schlecht vorstellen, dass ein Mann wie Richard Jansen einmal über eine unglückliche Liebe, über Verzweiflung, über seine Tränen gesprochen hatte — wenigstens nicht über Tränen, die er über sein eigenes Unglück geweint.
Nun, da das Bild dieses Mannes für den Leser etwas korrigiert worden ist, wollen wir ihn mit seinen eigenen Worten weiter erzählen lassen.
Am 4. Juni machte ich das halbe Dutzend voll — — da nahm ich den sechsten Kaper aus, der sich an meiner ›Sturmbraut‹ die Finger verbrannt hatte.
Ausnehmen! Meine Jungen sagten nicht mehr Kaper, sondern Kapaun.
Wahrhaftig, ich hatte die Geschichte nun satt, mich ekelte diese Art von Schlächterei und Ausnehmerei nun schon an.
Dieser Kaper hier war ein Spaniole, und was wir drin fanden war nichts weiter als Hartbrot, Oliven, Stockfisch, Ratten und Wanzen. Den Geldschrank vertrat des Kapitäns Hosentasche, und in derselben befanden sich ein Rosenkranz und etwa anderthalb Taler in Geldsorten aller Länder.
Und ein Kampf war das gewesen! Als diese braunen Heiducken merkten, dass wir sie nicht so ohne weiteres an unser Deck kommen lassen wollten, hatten sie schnell Messer und Pistolen hingeworfen und hatten dafür den Rosenkranz hervorgezogen, fingen an auf den Knien Litaneien herzuplappern. Enoch hatte auch nicht das geringste Tröpfchen seines Kaffeewassers zu verspritzen brauchen.
»Nee, Mahlsdorf, nee«, sagte ich, »jetzt habe ich die Geschichte satt. Dieser Spaniole geht nicht mehr in meinen Magen. Herunter mit dem ganzen Maskenkostüm! Hoch unsere eigene Flagge!«
»Welche Flagge? Herr Kapitän?«, fragte Mahlsdorf so recht heimtückisch — allerdings in ganz harmlosem Sinne gemeint.
Ich stutzte nicht lange.
»Freilich, Mahlsdorf, das Sternenbanner hat keinen Zweck mehr. Da muss ich mir erst meine eigene zusammenflicken und mit bunten Farben bemalen. Well, ›Sturmbraut‹, Kapitän Jansen — — diese drei Flaggen sollen von jetzt an ständig am Großtopp wehen! Wenn dieses registrierte Signalement auch aus der Schiffsrolle gestrichen ist — kennen wird es doch noch jede Wasserratte. Dann geht mir keiner dieser Kapaune mehr zu Leibe.«
»Und woher nehmen wir Proviant?«
»Bah! Sorge nicht für den morgigen Tag! Tun das etwa die Vögel? Wir sind welche. Wir sind doch überhaupt auf ein halbes Jahr versehen — und dann hier so ein Fiasko — ich hatte wenigstens auf Büchsenbutter gehofft — und die tunken ihre Würmer, aus dem der ganze Schiffszwieback besteht, in ranziges Olivenöl — nee, Mahlsdorf, nee, das hat mir den Rest gegeben. Wird nicht mehr gemacht.«
Mit einem Male machte mein Mahlsdorf so eine Bewegung wie ein Hampelmann, den man unten zwischen den Beinen an einer Schnur zieht — so klappartig richtete sich auch Mahlsdorf auf.
»Herr Kapitän!«
»Na?«
»Darf ich einmal ein offenes Wort mit Ihnen sprechen?«
Ich weiß nicht... mir wurde mit einem Male recht unangenehm zumute. Es war mir, als ob ich ein böses Gewissen hätte, obgleich das doch gar nicht der Fall war. Wie früher als Schuljunge — verbrochen hatte ich nichts direkt, aber Prügel glaubte ich doch immer verdient zu haben.
»Ein offenes Wort? Hm. Eigentlich nicht. Bin gerade nicht in der Laune dazu.«
»Ich würde im Namen aller sprechen.«
»Im Namen der ganzen Besatzung?«
Jetzt wurde ich wirklich stutzig. Und das böse Gewissen trotz aller Unschuld machte sich noch stärker bemerkbar.
»So sprecht — sprechen Sie«, verbesserte ich mich, denn dann hatte ich es nicht nur mit meinem Steuermann zu tun, der unter Umständen auch einmal einen Backs hinnehmen musste.
»Ganz offen darf ich sprechen?«
»Wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist. Los damit! Ich will die vereinte Stimme meiner Jungen hören.«
»Herr Kapitän, die ganze Mannschaft ist unzufrieden mit Ihnen!«
Alle Wetter, das war ein starkes Wort gewesen! Ich fuhr nicht schlecht empor, ich glaube, ich bin ganz blass geworden.
»Unzufrieden — — mit mir — — mit ihrem Kapitän?«
»Ja.«
»Weswegen?«
»Die Leute wissen gar nicht, was für eine Rolle wir eigentlich spielen. Wir kennen Ihre Abneigung gegen die Sklaventreiber — aber das, wie wir gegen die Kaper vorgehen, ist doch kein Krieg zu nennen — und ebenso wenig sind wir Seeräuber.«
Da war es! Mahlsdorf, meine Jungen hatten recht. Ich hatte in diesem Kriege neutral bleiben wollen und war es nicht. Ich fing die Mäuse, biss ihnen nur den Schwanz ab und ließ sie wieder laufen. Das Recht meiner Leute lag im Gefühl. Weder heiß noch kalt — lau! — ein schlimmes Wort, schon in der Bibel geächtet.
Nur meine verdammte Gutmütigkeit war an alledem schuld. Ich, der ich zwei englische Kriegsschiffe vernichtet hatte, brachte es nicht übers Herz, einem Kapitän so ein Fahrzeug wegzunehmen — ich musste mich immer in seine Lage versetzen. Nein, Schwachheit war das von mir!
»Na, wenn sie sonst keine Sorge haben«, sagte ich mit erkünsteltem Gleichmut, »das wird ja nun anders. Wie gesagt, ich werde keinen Kaper mehr auf mich durch fremde Flaggen locken, und unter meiner echten wird mich keiner angreifen.«
»Aber da sind noch die anderen, die es speziell auf uns abgesehen haben, die Prämienjäger, die lassen sich durch nichts zurückschrecken, wenn es zwei Millionen Taler zu verdienen gibt, das werden auch ganz andere Schiffe sein, womöglich gepanzerte Kriegsschiffe.«
»Freilich, und bin ich diesen bisher entgangen, so werde ich die jetzt bald auf meiner Spur haben, eben wenn ich offenes Visier zeige.
»Und wieso soll es denn anders werden?«
»Nun, die werde ich ganz anders empfangen. Da gibt es natürlich keine Schonung.«
»Wieso ganz anders empfangen?«, fragte Mahlsdorf abermals. »Mit der Feuerspritze?«
Das war in einem Tone gesagt worden, dass ich wiederum betroffen empor fuhr.
»Mahlsdorf, was soll das heißen?!«
Und auch Mahlsdorf richtete sich wiederum empor — mit jenem Ruck einer Gelenkpuppe. Ich glaubte es förmlich klappern zu hören. Seine Stimme freilich klang dann ganz anders.
»Kapitän! All unsere Jungen bis zum letzten Heizer hinab sind unzufrieden mit Euch, dass Ihr sie wie die kleinen Kinder behandelt, die noch vor dem Feuer behütet werden müssen. Das kochende Wasser war gut genug für stinkige Chinesen — für jenen Amerikaner, der uns hinterlistig überfallen wollte — damals war Frieden, da schadete solch eine Lektion nichts — — aber jetzt ist Krieg!! — — unsere Leute wollen kämpfen, Mann gegen Mann, oder im Feuer — — jedenfalls wie Männer wollen sie gegen den Feind kämpfen und nicht wie die Waschweiber mit heißem Wasser...«
Da war das zweite, was ich gefürchtet! Denn ich hatte es geahnt! Hatte es aber nicht wissen wollen. Und daher mein böses Gewissen!
O, meine verdammte Gutmütigkeit! Und doch, es gab mir einen schmerzenden Stich durchs Herz, als ich meinen Steuermann als Vertreter aller meiner Jungen so reden hörte.
»Mahlsdorf, ahnt Ihr denn nicht, weshalb ich bisher nur immer mit der Feuerspritze arbeitete?«, fragte ich leise.
»Nein!«
»Nun, denkt Ihr denn etwa, auch ich würde meinem Feinde nicht lieber mit Entersäbel, und Pistole und Fausten zu Leibe gehen?«
»Ja, warum tut Ihr es denn da nicht?«
»Ihr fragt immer noch? Weil ich möglichst Leben und Haut meiner braven Jungen schonen will!«
Ach, wie schwer war es mir geworden, das zu sagen! Mahlsdorf hatte gewusst, was ich sagen wollte, der unverschämte Kerl hatte es nur aus mir herausholen wollen.
Es hatte schon immer so verdächtig in seiner Visage gezuckt! Und als ich das gesagt habe, da fängt doch mit einem Male dieser lange Lümmel zu flennen an!
Wahrhaftig — wenigstens hat er an jedem Auge einen großen Tropfen hängen.
Jedoch plötzlich schüttelt er den Kopf, dass ich denke, er will seinen Schädel in die Ecke schmeißen, aber nur die beiden großen Tropfen fliegen mir direkt ins Gesicht — und dann fängt dieser Vagabund doch hier, in meiner Kajüte, vor seinem Kapitän! zu fluchen und zu dammigen an, beginnt mit Katzenschwänzen und hört mit des Teufels Höllenquaste auf, und wie er damit fertig ist, bricht er in die denkwürdigen Worte aus:
»Nu, denkt Ihr denn etwa, dass die Jungen nicht ebenso denken, wie Ihr denkt?! Denkt Ihr so? Dann habt Ihr falsch gedenkt!«
Was sollte ich dazu sagen? Nun, jetzt fing auch ich mit einem Gottver... an, es ging noch einige Meter weiter, und ich fluchte mit einer Seligkeit, wie ich sie seit längerer Zeit nicht mehr empfunden hatte, um dann von dieser Ouvertüre zum Hauptthema überzugehen:
»Na, da also in die Rumpelkammer mit der Feuerspritze, und los mit Säbel und Pistole!!«
Wir wurden wieder ernster; denn eine wilde Lustigkeit war es gewesen.
»Also keine Kapaune mehr ausnehmen — Kaper kapern, wollte ich sagen?«, meinte Mahlsdorf.
»O ja, wenn mich einer angreift!«, musste ich doch schon wieder lachen. »Aber von jetzt an wird offen Farbe bekannt, Maskerade gibt's nicht mehr. Hier ›Sturmbraut‹, hier Kapitän Jansen — basta!«
»Dann wird uns wohl keiner mehr angreifen!«
»Na, dann gehen wir einmal zum Angriff über, 's sind ja nur Menschenschinder, diese Konföderierten.«
»Käpten, Ihr werdet immer besser, habt heute Euren glücklichen Tag!«, schmunzelte Mahlsdorf. »Und was machen wir dann mit der Prise?«
»Von jetzt an werden die Kapaune total ausgenommen — bis zur letzten Kaldaune.«
»Und die Geldkasse?«
»Das ist der Inhalt des Magens, wird auch behalten — wie der Eskimo das Moos frisst, das er im Magen des erlegten Rentiers findet. Jetzt ist mir alles egal.«
»Und das Schiff selbst?«
»Hm«, brummte ich nachdenklich. »Damit können wir nichts anfangen.«
»Weshalb nicht?«
»Nun, weil wir doch keinen Hafen anlaufen dürfen, wo wir es verschachern können. Wollen wir der Sklaventreiberei wirklich schaden, dass dieser Seeräuberkrieg gegen die Union eingeschränkt wird, so müssen wir das Schiff einfach immer versenken.«
»Da gäbe es einen Ausweg.«
»Welchen?«
»Denkt Ihr denn gar nicht mehr an unsere Fucusinsel, Kapitän? Sie soll doch sowieso unser Diebesversteck sein, wenn ich mich so ausdrücken darf, dahin können wir doch auch die erbeuteten Schiffe schleppen, brauchen sie auch nicht erst auszunehmen, was doch stets eine große Arbeit verursacht, und das Schleppen durch den Fucus bietet keine Schwierigkeiten, wenn die Schlingpflanzen durch das vorangehende Schiff einmal aufgeschnitten sind...«
Mahlsdorf wollte mit der Miene eines Schulmeisters wohl noch mehr erklären, kam aber nicht dazu.
Plötzlich wirbelte er im Kreise herum. Eigentlich hatte ich ihn umarmen wollen, dazu aber hätte ich doch gar zu sehr in die Kniebeuge gehen müssen, und so begnügte ich mich, ihn bei den Armen zu fassen und ein paarmal herumzuschwenken.
Ich befand mich eben wirklich einmal bei ganz besonders vergnügter Laune.
»Mensch, Mann, Lümmel infamer, und das sagst du mir erst jetzt?! Und du hast geduldet, dass ich nicht von ganz allein auf diesen so furchtbar einfachen Gedanken gekommen bin, den ja sogar ein Blinder greifen kann?! du bist ja Kolumbus Nummer drei, jetzt darf Karlemann nicht mehr Anspruch darauf machen, dass er allein seine Eier selber legen kann!!!«
Und dabei schwenkte ich meinen Steuermann immer noch im Kreise herum.
»Käpt'n, was ist denn mit Euch los?«, lachte Mahlsdorf, aber mit recht schmerzhaft verzogenem Gesicht. »Und wollt Ihr denn, dass ich meine Arme in Schienen legen soll?«
Ich setzte ihn wieder fein säuberlich hin. Es war eine Szene gewesen, wie sie sich selten in meiner Kajüte ereignet hat. Ich glaube, nur der Umstand war daran schuld, dass die Feuerspritze in die Rumpelkammer sollte.
»Boot ahoi!!!«, wurde da draußen gesungen, und die elektrische Glocke schrillte, die mich an Deck rief.
Wir eilten hinaus. Wohin Martins, des zweiten Steuermanns, Fernrohr gerichtet war, erkannte man mit bloßem Auge auf dem Wasser zwei Punkte, die sich im Fernglas in zwei mäßig besetzte Boote verwandelten, und das eine hatte die Notflagge gehisst.
Sollten das die Schiffbrüchigen auch nicht tun? Die See war anständig bewegt, ein Boot tanzte schon ganz gehörig — die nächste Küste war gute dreihundert Seemeilen entfernt und wir wahrscheinlich das einzige Schiff, welches sie erblickten.
Den Spaniolen hatte ich vor etwa zwei Stunden wieder entlassen, er war nach Süden abgesegelt, auch für uns schon wieder außer Sicht, und diese Boote kamen von Norden.
Ich ließ die ›Sturmbraut‹ ihnen entgegendampfen. Eine Viertelstunde später waren die Insassen zu unterscheiden.
In jedem Boote sechs Mann, und in dem einen noch... eine Dame!
Der geneigte Leser dürfte wohl schon gemerkt haben, dass ich sonst nicht gerade sehr für elegante Ausdrücke bin. Meistenteils sage ich lieber Frauenzimmer oder Weibsbild anstatt Dame, das ist mir geläufiger.
Aber in besonderen Fällen muss man eben unterscheiden können, auch gleich durch den Ausdruck. Hätte ich hier ›Frauenzimmer‹ gesagt, dann hätte der Leser sich gleich ein Fischerweib oder eine aus dem Leim gegangene Kapitänsfrau vorstellen können, und solch ein erster Eindruck bleibt dann lange haften.
Nein, wer in der Mitte des Leibes viel dünner ist als an den Schultern und an den Hüften — also so einen Einschnitt im Leibe hat, wozu dann gewöhnlich noch vorne ein Buckel kommt, Busen genannt, durch einen Panzer festgehalten — das ist bei mir allemal eine Dame... wenigstens im offenen Boote auf hoher See.
In Rufweite gekommen, fing der eine Steurer zu brüllen an.
»Was für ein Schiff ist das?!«
Mein Gott, wie sollte ich jetzt daran denken, Antwort zu geben, mich vorzustellen, vielleicht dabei gar die Mütze zu ziehen — und wie kam der überhaupt jetzt auf diese Frage!
In jedem Boote konnten nur zwei rudern, die anderen drei mussten fortwährend Wasser schöpfen, und ich dampfte noch mit halber Fahrt, also mit sechs Knoten.
»Wahrschau, stoppt, stoppt, setzt ab!!«, donnerte ich hinab. Obgleich sie viel zu weit herangekommen waren, will ich doch die Schuld auf mich nehmen. Ich hatte zu spät Gegendampf gegeben, hätte diese ihre Unvorsichtigkeit schon eher bemerken und mich danach richten sollen.
Das Boot, in dem sich die Dame befand, wurde gerammt, zerschellte an der eisernen Bordwand, die ganze Gesellschaft lag im Wasser. Und im nächsten Moment folgte das zweite Boot mit seinen Insassen nach.
Übrigens hätten sie sowieso durchs Wasser gehen müssen, und die Boote wären sowieso verloren gewesen. Die See ging doch zu stark, um die gebrechliche Nussschale an Deck zu hieven, während ihre scharfen Kanten gerade genügten, um einem das Fallreep empor Kletternden die Beine wegzuschlagen.
Doch schon waren Taue und Schwimmgürtel zur Stelle, einer nach dem anderen wurde heil und gesund heraufbefördert, und mit der Dämlichkeit gingen meine Jungen, wie es sich für gebildete Matrosen schickt, noch ganz besonders vorsichtig um. Es ist ja auch ein vertracktes Ding. Unsereiner denkt immer, so eine Frau mit so einer dünnen Einschnürung im Leibe, gerade dort, wo jeder ältere Kapitän einen Fettwanst haben muss, könnte da einmal auseinanderbrechen.
Übrigens war es ein ganz annehmbares Mädel, diese Dame. Jung und hübsch — ›ibsch‹, sagte der Heizer Georg, dem das H Schwierigkeiten machte.
Unverkennbar war es etwas ›Besseres‹; feine Gesichtszüge, feine Hände, an den Fingern eine Menge kostbarer Ringe...
Doch lange konnte ich mich nicht ihrer Betrachtung widmen. Außerdem konnte ich dies nur so nebenbei tun, denn ich hatte gerade einen Mann am Angelhaken, und kaum hatte ich diesen an Deck geleiert, als er auch schon auf mich losfuhr.
»Sind Sie der Kapitän? Sie haben mich gerammt. Sie haben bodenlos unvorsichtig gehandelt, ich werde Sie den Seegerichten anzeigen. Wie heißen Sie? Was für ein Schiff ist das?«
So brüllte er mich an.
Na, ich betrachtete mir doch das Kerlchen, einen noch ganz jungen Menschen, wie ein Wunder aus dem Jenseits.
»Was sagen Sie da?«
Er wiederholte seine Beschuldigungen in maßloser Weise. Vorhin hatte ich die Schuld auf mich genommen. Bei rechtem Lichte besehen trug aber doch der Bootssteurer die eigentliche Schuld, und wenn man dies durchaus wissen wollte, dann konnte man es auch von mir zu hören bekommen — und dieser Mann bekam es, in einer Weise, der er nicht widersprechen konnte.
»Und was meinen Sie denn überhaupt, wen Sie vor sich haben, Sie Greenhorn?«, setzte ich meinem Sermon noch hinzu.
Der junge Mensch, übrigens mit recht energischen Gesichtszügen ausgestattet, war denn auch sehr schnell mäuschenstill geworden.
»Pardon«, sagte er jetzt ganz bescheiden, »ich befand mich in großer Erregung — die Sache ist nämlich die, dass ich nicht an Bord jedes beliebigen Schiffes gegangen wäre, die Not war noch nicht so groß — O'Connor — Abbott O'Connor — Kapitän der ›Semiramis‹ von Halifax, die vorgestern gesunken ist — darf ich nun erfahren, wem wir unsere Rettung zu verdanken haben?«
Der junge Kapitän war wie umgewandelt, und so etwas wie Nachtragen kenne ich nicht.
Meinen Schiffsnamen? Da passierte mir etwas.
Ich hatte gesagt: ›Was meinen Sie denn, wen Sie vor sich haben?‹ — und da hatte ich doch eben daran gedacht, dass ich derjenige Richard Jansen sei, welcher — und nichts ist mir verhasster als Renommisterei — bei so etwas ertappt, würde ich mich zu Tode schämen — und dann war ich diese Lügerei mit den falschen Namen nun schon gewohnt worden... kurz, ich entgegnete ohne Zögern:
»Johann Richter — — oder auch Jan Richter — Kapitän dieses Schiffes, der ›City of Venice‹ von Northshields.«
So hatte ich mich nämlich vorhin dem spanischen Kaper gegenüber ausgegeben, einmal das Schiffsregister zu Rate ziehend, wirklich existierende Namen nennend.
Im nächsten Augenblick bereute ich diese falsche Angabe unter solchen Verhältnissen. Hier war das ja gar nicht nötig, und ich hatte doch überhaupt von jetzt an Farbe bekennen wollen.
Da aber, als es mir noch durchs Hirn schoss, wie ich das jetzt noch in anständiger Weise umändern könnte, stürzte plötzlich die Dame auf mich zu, dass ich erst dachte, sie wolle mir um den Hals fallen.
»Unter englischer Flagge!! Gelobt sei Gott, gelobt sei Gott — Herr Kapitän Richter, schützen Sie mich vor diesem Mann...«
Und jetzt sprang Kapitän O'Connor dazwischen, wiederum mit einer Bewegung, dass ich erst dachte, er wolle der eins aufs Maul geben.
»Sie haben zu schweigen!!!«
»Ich bin englische Staatsangehörige!!«
»Seien Sie still!!!«
»Ich stelle mich unter den Schutz der englischen Flagge!!!«
»Sie stehen unter meinem Schutze!!!«
»Herr Kapitän, dieser Mann hat mich entführt!!!«
»Herr Kapitän, diese Dame steht außerhalb aller Staatsangehörigkeit!!!«
»Dieser Mann ist ein Schurke!!!«
»Dieses Weib ist wahnsinnig!!!«
»Retten Sie mich, retten Sie mich!!!«
»Glauben Sie kein Wort, was sie sagt, sie ist wahnsinnig!!!«
So klang es durcheinander, und zwar immer auf mich losgeschrien.
Ich muss gestehen, dass ich zuerst ganz baff war.
Als sie aber auch noch die Hände ausstreckten, um mich zu packen, weil jeder mich haben wollte, da wusste ich wieder, wer ich war.
»Hand vom Leibe!«, kommandierte ich, erst gemütlich, dann aber doch in etwas anderem Tone: »Ruhe an Bord!!! Hier bin ich Kapitän!! Was ist denn hier nur eigentlich...«
»Eben als englischer Kapitän sind Sie verpflichtet«, fiel mir der junge Mann wieder schreiend ins Wort, »diese Dame nicht...«
»Ruhe an Bord!!!«, donnerte ich jetzt. »Ein Wort noch und Sie fliegen wieder über Bord, aber nicht als freier Mann, sondern an einem Seil, das über den Mast geschoren ist! Ich lasse sie kielholen! Wenn sie jetzt noch ein einziges Wort ohne meine Erlaubnis sprechen! Und die englische Flagge? Zum Teufel mit der englischen Flagge! Ich führe meine eigene Flagge!«
Es hatte gewirkt. Dass der junge Kapitän trotzdem noch einmal ohne meine Erlaubnis das Wort nahm, war nicht so streng zu nehmen.
»Sie führen — Ihre eigene — Flagge?«, brachte er stutzend heraus.
»Jawohl! Ich hatte mich nur gerade unter Maske befunden, wie es jetzt doch allgemein üblich ist — das hier ist die Ihnen wohlbekannte ›Sturmbraut‹ — und ich bin ihr Kapitän Richard Jansen.«
Bums! Die Dame hatte einen leisen Juchzer ausgestoßen, und dann fiel sie in die Ohnmacht. Einer meiner Matrosen hatte sie aufgefangen, spuckte gleich in seine Hand und rieb ihr mit der Spucke das Gesicht ein, was nämlich nach internationaler Ansicht der Matrosen das beste Mittel gegen Hitzschlag und dergleichen sein soll. Dass der menschliche Speichel mit braunem Tabakssaft vermischt ist, wie in diesem Falle, ist dabei nicht unbedingt nötig. Aber auch auf den jungen Kapitän machte meine Vorstellung einen ganz gewaltigen Eindruck.
»Sie sind — sind — der berühmte Richard...«
»Na, von Berühmtheit wollen wir lieber nicht sprechen, höchstens berüchtigt habe ich mich gemacht.«
Da aber ging es wie Sonnenschein über das im Übrigen ganz sympathische Gesicht des jungen Kapitäns.
»Na, wenn Sie Kapitän Richard Jansen sind, dann ist ja alles gut!«, rief er selig. »Ein besseres Schiff hätte ich mir ja gar nicht aussuchen können! Sie sind doch der vertrauteste Freund der Lady von Leytenstone!«
Hallo! Dieser Name wirkte doch auf mich, als wenn man mir mit einer Kratzbürste übers Gesicht gefahren wäre.
Dann aber empfand ich, etwas ganz Besonderes gehört zu haben.
»Ihr vertrautester Freund? Hm. Vielleicht gewesen. Das ist schon lange her.«
»Was, jetzt nicht mehr?! Sie hat es mir doch selbst gesagt!«
»Was hat Ihnen die Lady gesagt?«
»Dass Sie ihr bester Freund seien.«
»Wann hat sie Ihnen denn das gesagt? Vor anderthalb Jahren?«
»Vor anderthalb Wochen. Noch nicht einmal! Vor acht Tagen.«
»Hm. Da hat sie geflunkert«, brummte ich in meiner Weise.
»Na ja«, fing jetzt der junge Kapitän zu lächeln an, »man weiß ja, dass sich das Verhältnis etwas gelockert hat — es wollte jeder sein eigenes Schiff haben — selbstständige Naturen — ich kann das am allerbesten begreifen, ich kann da nämlich auch etwas erzählen — aber im Grunde genommen haben Sie beide doch gemeinsame Interessen.«
»Was für gemeinsame Interessen?«
»Nun, die Lie... das alte Verhältnis besteht, im Grunde genommen, doch noch fort.«
»Die Lie...« hatte für mich genügt, und ich wusste nicht, weshalb ich dieses Wort nicht hätte aussprechen sollen.
»Lady Blodwen hat gesagt, dass wir uns noch liebten?«
»Ja.«
»Vor acht Tagen hat sie das gesagt?«
»Vor acht Tagen.«
»Sie hat gesagt, dass wir sozusagen noch zusammengehörten?«
»Gewiss. Das Verhältnis wäre noch ganz dasselbe, nur dass jeder jetzt sein eigenes Schiff fahre, aber sie kämen ab und zu mit ihr zusammen, falls sich die beiden Schiffe verlören, wie das jüngst geschehen sei.«
»Das hat sie gesagt? Dann hat sie geflunkert. Ja, Mister O'Connor, in welcher Beziehung stehen Sie eigentlich zur Lady Blodwen, und wer ist diese...«
Ich blickte nach der Dame, die noch immer mit Spucke und Tabakssauce behandelt wurde, jetzt lieferten gleich drei Matrosen diese Medizin — und da bemerkte ich, dass noch viele andere Leute um uns herumstanden.
»Ruft Goliath, er soll die Dame in Behandlung nehmen, Atlanta wird ihm dabei helfen. — Herr Kapitän, hier ist wohl nicht der Ort, um über dergleichen Dinge zu sprechen. Ihre nassen Leute werden von meinen Matrosen versorgt, Ihnen werden die Sachen meines ersten Steuermannes passen, dann sprechen wir in der Kajüte weiter.«
Zehn Minuten später konnte das geschehen, bei reichlich gedecktem Kajütentisch.
Ich fasse zusammen, was ich erfuhr.
Blodwen hatte sich eine andere Jacht angeschafft, ebenfalls mit Propellerschraube ausgestattet, noch 400 Tonnen größer als mein Schiff — hatte sie abermals ›Seebraut‹ getauft. Auf diesen Namen, als Gegenstück zur ›Sturmbraut‹, mochte sie nun einmal erpicht sein.
Mit dieser Jacht, tüchtig bemannt und armiert, war sie gleich bei Ausbruch des amerikanischen Bürgerkrieges auf Seiten der Union gegangen. Diese ihre Jacht ist der einzige Kaper gewesen, den die Union in Dienst genommen hat. Wie sie das fertiggebracht hat, weiß ich nicht. Übrigens leicht zu begreifen. Sie hatte an Bord als Kapitän und Steuerleute unionistische aktive Seeoffiziere. Die ›Seebraut‹ war einfach als regelrechtes Kriegsschiff mit allen Rechten und Pflichten eingestellt worden.
Aber die Sache war anders gekommen. Blodwen hatte sie geschoben. Diese Offiziere mussten mehr zu der eigentlichen Besitzerin der Jacht als zu ihrer Regierung gehalten haben.
Denn Blodwen hatte sich verflucht wenig um die konföderierten Kaper gekümmert — mit Ausnahme von vieren.
Wir kennen schon die Namen: Lord Hektor, Lord James, Baronet Ralph und Lady Marion — die nächsten Verwandten von Archibald von Leytenstone — früher hatte ich ihre Familiennamen aus einem besonderen Grunde nicht nennen wollen, das Bedenken ist mir inzwischen gewichen — es waren ganz einfach die Geschwister von Blodwens edlem Gatten, der sich brav und ehrlich zu Tode gesoffen hatte.
Dieser ganzen Familie musste die Abenteuerlichkeit im Blute liegen. Die Erben hatten es jetzt ja nicht mehr nötig, aber sie alle hatten ein Schiff als Kaper ausgerüstet, waren nach Amerika zum Kampfe gegen die Union gezogen.
Außerdem habe ich ja schon erwähnt, was für einen Dienst sie dadurch England leisteten, wenn die Nordstaaten ruiniert wurden. Es war damals geradezu Pflicht eines jeden braven englischen Patrioten, das Seinige hierzu beizutragen, und deshalb wurden so viele englische Aristokraten konzessionierte Seeräuber, auch wenn sie das Prisengeld durchaus nicht nötig hatten.
Das heißt, jedes dieser Geschwister, die sonst wohl, wenn es nicht um Erbeuten der Erbschaft ging, nicht sonderlich zusammenhielten, hatte seinen eigenen Kaper ausgerüstet.
Auf diese vier Schiffe hatte es nun Blodwen ausschließlich abgesehen gehabt. Und es war ihr tatsächlich geglückt, alle diese vier Schiffe eines nach dem anderen aufzuspüren und durch List oder im offenen Kampfe zu nehmen.
Ich hatte zuerst das ›Aufspüren‹ erwähnt. Denn das ist beim Seekriege auch schließlich die Hauptsache. Ein Schiff ist auf dem weiten Meere nicht so leicht zu finden wie eine Armee auf dem Lande. Zu diesem Zwecke hatte Blodwen in allen Häfen nicht nur Spione, sondern eine ganze Anzahl von schnellen Hilfskreuzern unterhalten.
Die eigentliche Hauptsache ist dann freilich der Kampf. Nun, wie mir Kapitän O'Connor, auch so ein beurlaubter amerikanischer Seeoffizier und außerdem, wie ich schnell bemerkte, ein ganz gediegener Seemann, jetzt mitteilte, hatte Blodwen für ihre ›Seebraut‹ die tüchtigste Mannschaft angeworben gehabt. Fast nur Novascotiamen, aber solche, die sämtlich schon im Feuer gewesen, kriegserprobt waren, im Seekampf die weitesten Erfahrungen hatten.
(Es handelte sich da um die abgemusterte Mannhaft eines amerikanischen Abenteurers, worauf ich hier nicht weiter einzugehen brauche.)
Mit Hilfe dieser exquisiten, mit allen Hunden gehetzten Mannschaft, von amerikanischen Seeoffizieren befehligt, die alle schon Pulver gerochen, die Planken des besten und schnellsten Schiffes unter den Füßen, nur mit Armstronggeschützen montiert — so also war es ihr gelungen, alle vier Kaper zu nehmen, auf die sie es abgesehen hatte, einen nach dem anderen, innerhalb sechs Wochen.
Besonders beim Entern des Kapers, welcher dem Lord Hektor gehörte, sollte es einen hahnebüchenen Kampf Mann gegen Mann gegeben haben.
Wie mir dieser junge Offizier das alles zu erzählen wusste — wahrhaftig, da hätte ich dabei sein mögen!
»Lady Blodwen hat natürlich immer feste mit gekämpft?«
»Nein, durchaus nicht. Sie hat sich sogar immer im sicheren Schutze vor Kugeln gehalten.«
Was?! Das sah einer Blodwen eigentlich gar nicht ähnlich. Nun, ich sollte den Grund dieser ängstlichen Zurückhaltung schon noch erfahren. Jetzt suchte ich gar nicht nach solch einem Grunde.
Nur ein Kaper war in den Grund geschossen worden, bei den anderen war es niemals zum Fernkampf gekommen, alle mit bewaffneter Hand genommen. Allerdings der eine durch eine etwas heimtückische List. Never mind.
»Was tat sie mit den genommenen Schiffen?«
»Die hat sie samt der gefangenen Mannschaft stets dem nächsten ihr begegnenden Kriegsschiff übergeben, einfach als Geschenk. Sie hatte es stets nur auf den Besitzer abgesehen, also — Sie wissen — auf Lord Hektor, Lord James...«
»Ja ja, ich weiß schon. Nun, und?«
»Nun, die hat sie eben bei sich an Bord behalten, als ihre Gefangenen.«
Mir ward plötzlich ganz unheimlich zumute.
»Als ihre Gefangenen?«
»Jawohl, dazu hatte sie doch auch ein Recht — Kriegsgefangene.«
»Nun, und?«
O'Connor sah mich fragend an.
»Wie meinen?«
»Wie behandelte Lady Blodwen ihre Kriegsgefangenen?«
Ich hatte wahrhaftig diese Frage kaum zu stellen gewagt.
Und dieser junge Mann wollte mich noch immer nicht verstehen!
»Ja, wie soll die Lady von Leydenstone ihre im Kampfe gemachten Gefangenen behandeln?«
»Man kann jemanden doch ganz verschieden behandeln.«
»Aber keine Kriegsgefangenen! Selbstverständlich wurden und werden sie ganz gentlemanlike oder vielmehr ladylike behandelt. Es ist doch die Lady Blodwen von Leytenstone, von der wir sprechen!«
Oho! Na, ich kannte ja diese Engländer. Aber da konnte ich ihm doch einen Gegenhieb versetzen.
»Sie wissen doch, dass Lady Blodwen gar keine Engländerin ist. Sie ist eine Nordamerikanerin mit etwas deutschem Blute in ihren Adern.«
»Und mit noch viel mehr altenglischem — doch ihr Großvater war ja ein echter Engländer, ihre Großmutter sogar eine echte Aristokratin Altenglands«, wusste der nun freilich wieder zu parieren. »Doch ich verstehe, was Sie meinen«, fuhr er dann in anderem Tone fort, »ich bin Ihnen auch noch Aufklärung schuldig.«
»Das sind Sie mir allerdings.«
»Wegen der Äußerungen, welche Lady Marion vorhin getan, als sie Sie um Rettung, um Schutz vor mir anflehte.«
»Das ist es.«
»Nun, ich kenne den ganzen Erbschaftsstreit zwischen Lady Blodwen und ihren Schwägern und ihrer Schwägerin. Sie hat den Prozess verloren...«
»Hat freiwillig auf ihr Vermögen verzichtet«, verbesserte ich.
»Wohl, auch das weiß ich. Kurz und gut, es ist oder wäre vielmehr begreiflich, wenn Lady Blodwen gegen diese Verwandten einen großen Hass trüge. Dass dem so ist, hat sie ja auch bewiesen, indem sie es nur auf die Gefangennahme dieser Verwandten abgesehen hatte. Was sie jetzt freilich beabsichtigt, weiß ich nicht — aber das weiß ich, denn ich habe es selbst gesehen, dass sie diese ihre gefangenen Verwandten durchaus höflich behandelt.«
»Waren Sie selbst an Bord der ›Seebraut‹?«
»Ja, als dritter Wachoffizier.«
»Dann dürfte sich das Verhältnis geändert haben, seit Sie das Schiff verlassen hatten.«
»Weshalb? Da sind doch noch andere Offiziere an Bord, dieselben Leute.«
»Ja, weshalb hat sie denn da diese Verwandten überhaupt erst gefangen genommen?«
»Das weiß ich eben nicht. Allerdings — diese Vermutung liegt ja sehr nahe — vielleicht um ihren lieben Verwandten etwas die Daumen aufs Auge zu setzen.«
»Ja, und an die Daumen jener selbst Schrauben, die man immer enger machen kann«, ergänzte ich, »bis die Knochen zerbrechen — und da gibt es noch eine ganze Menge solcher hübscher Mittelchen, um eine Unterschrift zu erpressen.«
Langsam erhob sich der junge Kapitän.
»Herr, ich halte die Lady Blodwen von Leytenstone keiner unwürdigen Handlung für fähig!!«
Es waren nicht gerade viele Worte gewesen — desto mehr wollte er mich mit seinen dunklen Augen anblitzen.
Damit ließ ich mir nun freilich nicht sehr imponieren.
»Na na, mein lieber junger Mann, deshalb brauchen Sie doch nicht gleich aufzustehen, das können Sie mir doch auch im Sitzen sagen. Was war denn das also nun vorhin mit der Lady Marion?«
Es hatte gewirkt — O'Connor wurde etwas rot, als er wieder Platz nahm.
»Sie teilt Ihre Ansicht. Ganz grundlos! Heute vor sechs Tagen erfolgte der Kampf zwischen der ›Seebraut‹ und dem ›Ottokar‹, dem konföderierten Kaper, den Lady Marion ausgerüstet hatte. Sie selbst befand sich an Bord. Die ›Seebraut‹ erhielt durch Rammen eine ziemliche Havarie, musste den nächsten Hafen aufsuchen. Das heißt, sie wollte ihn aufsuchen. Da habe ich die ›Seebraut‹ schon verlassen. Aber diesen Kampf habe ich noch mitgemacht. Als sich Lady Marion gefangen in den Händen ihrer Schwägerin sah, gebärdete sie sich wie außer sich. Mich wundert nur, dass sie nicht Selbstmord begangen hat. Denn sie hatte gar nicht gewusst, dass die ›Seebraut‹ von der Lady Blodwen geführt wurde. Wir hatten uns ja immer auf See befunden.«
Der Erzähler steckte sich eine Zigarre an, und ich benutze die Gelegenheit, um zu sagen, dass auch ich nicht wusste, welch gefürchteten Namen sich schon die ›Seebraut‹ als der einzige Kaper auf unionistischer Seite gemacht hatte, und hätte ich es erfahren, so hätte ich doch eher geglaubt, dass dieses Schiff jenem französischen Fatzken gehöre. An Blodwen hätte ich nicht gedacht.
Ja, dieser Verkauf ihrer ursprünglichen ›Seebraut‹ war vielleicht nur eben deswegen so ein Manöver von Blodwen gewesen, was sie mir dann später selber bestätigte.
»Ich bin verloren, jetzt bin ich rettungslos verloren«, fing O'Connor zu schreien an, als seine Giftnudel brannte, mir im ersten Augenblick ganz unverständlich, weshalb er mit seiner Zigarre verloren sei, bis er erläuternd hinzusetzte: »So schrie Lady Marion in einem fort, als sie erkannte, dass es ihre Schwägerin sei, von der sie besiegt worden war. Warum denn? wurde sie gefragt. Die foltert mich, die martert, die quält mich zu Tode, ich kenne dieses Weib! — So also schrie Lady Marion in einem fort und so schreit sie noch jetzt. Ihre eigenen Brüder suchten sie zu beruhigen... ja, Herr Kapitän Jansen, genügt Ihnen das nicht, dass ihre eigenen Brüder sie zu beruhigen suchten?«
»Wieso soll mir das genügen?«
»Als Beweis, dass die Verwandten von Lady Blodwen durchaus nichts zu fürchten hätten? Lord Hektor, Lord James, Baron Ralph — sie alle sagten, Marion solle sich doch nicht lächerlich machen, die ganze Angelegenheit sei doch längst vergessen, Blodwen sei die allerliebste Schwägerin, sie alle hätten sich vollkommen in ihr getäuscht...«
»Waren Sie selber mit dabei, als das die zärtlichen Verwandten sagten?«
»Ich habe es selbst gehört, auf Ehre.«
»So so.«
»Nun, genügt Ihnen das nicht als Beweis, dass Lady Blodwen tatsächlich nichts gegen ihre Gefangenen im Schilde führt, wenn die Schwäger selbst die Schwester auslachen und beruhigen? Genügt Ihnen das nicht?«
»Nee!«
Der Offizier lächelte.
»Dann sind Sie allerdings unüberführbar.«
»Da muss mir erst einmal erklärt werden, weshalb Lady Blodwen die Schiffe ihrer lieben Verwandten kaputt schießt und sie selbst gefangen nimmt.«
»Nun, da ließe sich schon ein plausibler Grund finden.«
»Bitte, finden Sie!«
»Lady Blodwen hat einfach erst einmal zeigen wollen, wie sie die Macht, wenn auch ungerechtfertigte Macht, bekommen könnte, ihre Erbnachfolger noch zu einem anderen Vergleiche zu zwingen. Dann, als sie so weit war, zeigte sie sich von ihrer besseren Seite. Einen gewaltigen Eindruck macht das doch.«
»Hm, das lässt sich hören«, musste ich zugeben, im Herzen freilich noch etwas anders denkend. »Doch bleiben wir erst einmal bei der Lady Marion. Warum ging die von Bord?«
»Weil sie eben nicht aufhörte zu jammern. Wir alle fürchteten einen Selbstmord, am allermeisten Lady Blodwen. Die Schwäger werden sie nämlich nach der Osterinsel begleiten...«
»Freiwillig?«
»Sicher! Lady Blodwen hat sie eingeladen, ihr neues Besitztum, ein wahres Königreich, dessen Selbstständigkeit ihr England für alle Zeiten garantiert, zu besichtigen. Dort soll gleich ein Familienrat stattfinden. Denn allerdings hofft Blodwen, sich mit ihren Verwandten zu einigen. Das heißt, wegen einiger Landsitze und anderer Sachen, welche Lady Blodwen gern zurückhaben möchte, die aber nicht zu kaufen sind. Da müssen eben alle rechtmäßigen Erben einig sein. Also eine Familiensitzung in aller Gemütlichkeit...«
»In aller Gemütlichkeit, hm«, musste ich einmal brummend einfügen.
»Jawohl. Aber mit der Lady Marion war ja nicht zu sprechen. ›Ihr geht in euren Tod, in euer Verderben, dieses teuflische Weib wird fürchterliche Rache an euch nehmen!‹ — So und anders jammerte sie in einem fort. Es war mit ihr einfach nichts zu machen. Aber mit teilnehmen muss sie an der Familiensitzung, ohne ihre Zustimmung hätte alles, was die anderen beschließen, keine Gültigkeit. Und die Herren freuten sich, die Osterinsel zu besuchen.
Na, der Entschluss wurde gefasst. Dann musste Marion eben mit Gewalt hingebracht werden, oder durch List. Gut, sagte Lady Blodwen, freundlich wie immer — gut, meine liebe Marion, wenn du willst, so bist du natürlich sofort frei.
Zufällig war gerade einer jener kleinen Hilfskreuzer in der Nähe, von denen ich Ihnen vorhin erzählte. Er hatte die ›Seebraut‹ zufällig gesichtet, dampfte heran — es war ein kleiner Schraubendampfer, Hilfsmaschine — um zu melden, dass der Kapitän tödlich verunglückt sei.
So erhielt ich den Auftrag, das Kommando zu übernehmen und die Lady Marion auf diesem Dampfer, ihrem Wunsche gemäß, nach England zu bringen. Allerdings nur vorgeblich. In Wirklichkeit war mein Ziel die Osterinsel. Obgleich das nun ganz geheim ausgemacht worden war, Lady Marion davon keine Ahnung haben konnte, ihr auch an Bord des Dampfers seitens der Leute nicht das Geringste verraten worden ist, war sie doch ständig in der Meinung, dass sie nach der Osterinsel gebracht werden sollte...«
»Natürlich, natürlich!«, musste ich wieder einmal einschalten.
»Was, natürlich?«
»Sie wundern sich, dass sie wusste, sie solle nach der Osterinsel gebracht werden?«
»Wie gesagt, mir ist unbegreiflich, wie sie etwas davon erfahren hat.«
»Aber sie wusste doch schon, dass auch ihre Brüder dorthin wollten, freiwillig.«
»Das wusste sie selbstverständlich.«
»Und dass sie unbedingt dieser gemütlichen Familiensitzung beiwohnen müsse.«
»Das auch.«
»Und da wundern Sie sich noch? Junger Mann — nehmen Sie's mir nicht übel, Sie brauchen auch nicht wieder aufzustehen, können ruhig sitzen bleiben — aber, junger Mann, Sie sind wirklich sehr naiv.«
Na, diesmal nahm er's nicht so genau. Er sah mich nur recht groß an.
»Wieso? Ich versichere Ihnen auf Ehre...«
»Haben Sie der Dame auch auf Ehre versichert, sie nicht nach der Osterinsel, sondern nach einem englischen Hafen zu bringen?«
Wieder nur große Augen, und dann zuckte O'Connor die Achseln, um gleich fortzufahren.
Ich bin überzeugt, dass dieser junge Mensch im Grunde genommen ein ganz ehrlicher Mensch war, aber... 's sind doch merkwürdige Menschen, diese Engländer! Die haben sich eben ihre eigene Moral zurechtgeschustert, und daran ist nicht zu tippen.
»Vorgestern Nacht rammte ich in der Nähe der HalySandbänke im Nebel auf einen unterseeischen Felsen«, fuhr er also ganz gelassen fort, »wir mussten in die Boote gehen. Die Fahrt ließ sich ertragen. Nur das Trinkwasser ward knapp. Ich musste vorsichtig sein mit der Wahl des Schiffes, das uns aufnahm...«
»Weshalb vorsichtig?«
»Nun, ich konnte doch sehr leicht die Macht über die mir Anbefohlene verlieren.«
»Ach so, ja.«
»Ein englisches Schiff z. B. hätte ich nur um Proviant und Trinkwasser gebeten. Jetzt bin ich hier, und es freut mich ungemein, gerade den Kapitän Richard Jansen getroffen zu haben, welcher ja der intimste Freund der Lady Blodwen ist.«
Ich hatte schon gefragt, ob er das so genau wisse.
Doch ich konnte mir alles lebhaft vorstellen. Blodwen mochte mit mir, dem ›berühmten‹ Seehelden, nicht schlecht renommiert haben. Und nach ihrer Ansicht gehörte ich noch immer zu ihr — sie wollte mich doch zurückerobern.
Never mind, das wollte ich jetzt nicht erörtern.
»Was gedenken Sie nun...«
Der Eintritt des Stewards unterbrach mich.
»Die Lady bittet, den Herrn Kapitän sprechen zu dürfen«, meldete dieser in einer guten Dressur gewesene Tellerjongleur.
»Wie geht es ihr?«
»Sie sieht ganz rosig aus.«
»Rosig? So? Jawohl, ich erwarte sie.«
»Die Lady sprach von vier Augenpaaren, unter denen sie den Herrn Kapitän sprechen möchte,«
»Wahrscheinlich nur unter vier einzelnen Augen«, korrigierte ich.
»So will ich mich als drittes Augenpaar entfernen«, sagte O'Connor und verließ die Kajüte, ging einstweilen an Deck.
Sie kam herein, stürzte herein, mir zu Füßen... dachte ich wenigstens erst. Aber sie blieb stehen. Doch die Hände hielt sie so gefaltet, dass sie gleich gerungen werden konnten, wie man's immer im Theater sieht.
Das hier aber war keine Theaterspielerei, und sie fing auch gleich wieder an:
»Retten Sie mich, Herr Kapitän! Ich weiß, Sie sind ein edler Mann — retten Sie mich vor diesem O'Connor — er will mich der Lady Blodwen ausliefern!«
Ich will den Leser nicht langweilen — — ich musste den ganzen Quark noch einmal mit anhören.
»Was würde denn Lady Blodwen mit Ihnen tun?«
»Mich lebendig schinden, mich langsam rösten, mich...«
Ich weiß nicht, was sie alles vorbrachte, jedenfalls bekam man schon beim Zuhören eine Gänsehaut.
»Und Ihre Brüder auch?«
Die hatte sie bisher stets vergessen, sie dachte nur immer an ihre eigene Haut, die schnurplich gebraten werden sollte.
»Sicher, sicher — sie alle rennen mit blinden Augen in ihr Verderben.«
»Sie allein, die Schwester, können nicht daran glauben, dass es sich nur um eine gemütliche Familienunterhaltung auf der Osterinsel handelt?«
»Nie, niemals!! Diese Blodwen ist ein...«
Ich weiß nicht mehr, was Blodwen, die zu ihr ›meine liebe Marion‹ gesagt hatte, gewesen sein soll.
Aber die Hauptsache war: Sie hatte recht. Und mein Entschluss war gefasst. Hier galt es offenbar, drei Menschen zu retten, die, mochten sie sonst auch nicht ganz reine Hände haben, doch nicht verdient hatten, dass man ihnen die Haut abzog und sie dann auch noch am langsamen Feuer briet.
Ich gebe nur wieder, was ich zuletzt noch sagte:
»Mylady«, sagte ich sehr höflich, »mein Vater war ein leidenschaftlicher Jäger — und ein geschickter Jäger — und der hat immer behauptet, dass Hündinnen eine viel feinere Nase hätten als Rüden. Und ich habe auch schon etwas von einem sogenannten weiblichen Instinkt gehört. Das heißt in Bezug auf Menschen. Auch menschliche Frauen sollen einen viel feineren Instinkt haben als die Männer, sozusagen ein Ahnungsvermögen. Ich kann da nicht aus eigener Erfahrung mitsprechen, aber ich glaube es — besonders weil ich's von den Hündinnen bestimmt weiß, wie's wenigstens mein Vater sagte, und der log prinzipiell niemals. Mit Ausnahme, wenn er Jägerlatein sprach. Ja, Mylady, was ich eigentlich sagen wollte... jetzt fahre ich selber nach der Osterinsel — Ihrer Brüder wegen — denn Sie könnten mit Ihrer Ahnung vielleicht recht haben — — und Sie brauchen keine Sorge zu haben, für Ihre Sicherheit garantiere ich — ich, Kapitän Richard Jansen.«
Es war eine böse Fahrt gewesen, um Kap Hoorn herum, wo jetzt der strengste Winter herrschte, der jeden Tag den fürchterlichsten Schneesturm brachte.
Ich hatte keine Kohlen gespart. Immer Volldampf voraus! Um die Heizer nicht gar zu sehr zu erschöpfen, hatten die Matrosen mit vor die Feuer gehen müssen.
Was mich zu dieser Eile trieb? Der Wunsch, noch eher als Blodwen die Osterinsel zu erreichen!
Aber den eigentlichen Grund kann ich gar nicht angeben. Auch über mich war eine Ahnung gekommen. Doch zu definieren wusste ich sie nicht.
Bei völliger Windstille, wenn die Luft so drückend wird, dann fühlen Menschen und Tiere unwillkürlich, dass sich in der Atmosphäre irgend etwas Fürchterliches vorbereitet.
So ein Gefühl hatte ich auch jetzt. Aber das Fürchterliche sollte sich nicht in der Atmosphäre, sondern in der Weltgeschichte abspielen. Freilich war die Weltgeschichte nur eine beschränkte.
Die eigene Unkenntnis über dieses Gefühl hatte ich hinter jenen, zum Teil sinnlosen Worten zu verbergen gesucht, die ich zuletzt an Lady Marion gerichtet.
Noch einmal hatte ich einen förmlichen Kampf mit ihr zu bestehen gehabt.
O'Connors Mission war beendet, sein Musterkontrakt, den er mit Blodwen abgeschlossen, war auch amtlich abgelaufen.
Gleich am zweiten Tage hatte er die ›Sturmbraut‹ verlassen, um sich an Bord eines englischen Dampfers zu begeben, der uns begegnet war. Mit ihm waren die anderen elf Schiffbrüchigen gegangen. Sie wollten zurück zum Kriegsschauplatze.
Auch Marion zog, trotz meiner Garantie, England der Osterinsel vor. Da also war es zwischen uns zum förmlichen Kampfe gekommen. Freilich nur ein Kampf mit Worten. Aber heiß genug.
Ich hatte gesiegt — durch eine Kraft der Rede, von deren Besitz ich früher gar keine Ahnung gehabt hatte.
Was war es nur eigentlich, dass ich die Lady durchaus nach der Osterinsel bringen, sie der Schwägerin selbst zuführen wollten wie diese, Blodwen, es gewünscht hatte?
Ein wilder Trotz war es, der sich meiner bemächtigt hatte, und der auch während der langen, langen Fahrt durch Sturm und Schnee und Eis gar nicht wieder von mir weichen wollte.
Der wilde Trotz, mich mit diesem Weibe zu messen, in dem ich mein Schicksal personifiziert sah. Mit diesem meinem Schicksale zu ringen — zu siegen oder zu unterliegen — — — ich lechzte förmlich danach. —
Kap Hoorn lag hinter uns. Immer weicher wurde der Schnee, die Flocken blieben nicht mehr an Deck liegen, immer wärmer wurden die Winde, obgleich auf dieser Hälfte der Erdkugel noch immer Winter herrschte. Aber je mehr man sich dem Äquator nähert, desto mehr verliert er natürlich von seinem Charakter, wie wir Nordländer, wie die Bewohner des südlichen Teils der Erde ihn kennen.
Dann traute ich erst meinem Fernrohre, hierauf meinen gesunden Augen nicht. Die Insel des ewigen Frühlings hatte ihr frisches Grün gewahrt, nur ihr sonstiges Aussehen nicht.
Dort in der Bucht, wo mir vor etwa dreiviertel Jahren degenerierte Eingeborene in elenden Kähnen entgegengefahren waren, um mir gegen ein Glas Whisky und eine Handvoll Tabak ihre Weiber und Töchter anzubieten, lagen jetzt stolze Schiffe, und dahinter am Strande, früher nur mit Graswuchs bedeckt, baute sich eine ganze Villenstadt auf, überschattet von blühenden und Früchte tragenden Bäumen, umgeben von einem ganzen Wald.
»Das ist eine Fata Morgana!«, staunte ich.
»Sie hat die kurze Zeit recht hübsch auszunützen verstanden«, sagte Tischkoff neben mir.
»Das ist nicht möglich!
»Weshalb nicht?«
»Man kann die Bäume doch nicht aus dem Boden stampfen!«
»Nein, das nicht, aber hineinpflanzen kann man sie. Sie wird schon ihre richtigen Leute gefunden haben. Nach China muss man gehen, wenn man sehen will, was alles in der Kunstgärtnerei geleistet werden kann.«
(Hier möchte etwas eingeschaltet werden. Im Jahre 1888 wurde mit dem Bau der zwei Kilometer langen Karawanenbrücke über den Nil bei Fum el Bagger, vier Stunden südlich von Kairo, begonnen. Von einer englischen Baugesellschaft. Laut Kontrakt mit der ägyptischen Regierung musste die Brücke innerhalb vier Jahren fertig sein. Der Schreiber dieses war selbst ein Jahr lang dabei beschäftigt und hat staunend englischen Unternehmungsgeist und englische Tatkraft beobachten können. In diesen vier Jahren haben ununterbrochen 20 000 Menschen abwechselnd in Tag- und Nachtschicht gearbeitet: Erst musste der Nil abgeleitet werden, und um die hervorbrechenden Quellen zu bändigen, waren gegen 300 Lokomobile nötig, die während des ersten Jahres nicht mit Kohlen, sondern mit den Dauben der Fässer geheizt wurden, in denen man den nötigen Zement herbeigebracht hatte. Mögen diese kleinen Angaben genügen, um sich einen Begriff von dieser Riesenarbeit machen zu können. So etwas muss man übrigens gesehen haben, um es glauben zu können. — Ehe nun die englischen Ingenieure an die Arbeit gingen, schon ein Jahr zuvor, richteten sie sich am Schauplatze ihrer zukünftigen Tätigkeit erst häuslich ein. In jener Gegend wächst kein Baum, kein Strauch. Alles nur ebenes Feld, und da dieses nicht mehr bestellt, die Nilüberschwemmung künstlich verhindert wurde, verwandelte sich alles schnell in Wüste. Und ein Jahr später, als der erste Spatenstich getan wurde, hatte jeder englische Ingenieur, der seine Familie mitgebracht, in dieser Wüste seine hübsche steinerne Villa, inmitten eines kleinen Parkes gelegen, aber mit den stattlichsten Bäumen. Diese Bäume, außer Pinien hauptsächlich Akazien, darunter die größten Exemplare, aber auch Eichen, waren erst schiffsladungsweise aus Italien bezogen worden, mit der Erde, in der sie gestanden. Und noch vorher hatte man sich erst die Kunstgärtner aus China geholt. Der Zopfträger, der einige hundert Kulis kommandierte, welche die Bäume aushoben, während der Reise pflegten und dann wieder einsetzten, erhielt monatlich nur für seine eigene Person 2000 Pfund Sterling oder vierzigtausend Mark. Das bezahlte alles die Baufirma, eine Aktiengesellschaft. — So arbeiten Engländer im Auslande! Erst um sich herum allen Komfort verbreitet, den man in der Heimat, in England, gewohnt ist, nicht das Geringste darf vermisst werden, dann aber wird losgearbeitet, dass die Schwarte knackt!)
»Wenn sie genügend bezahlt, kann sie sich von Chinesen noch etwas ganz anderes schaffen lassen«, setzte Tischkoff noch hinzu, ehe er sich gelangweilt abwandte.
Ich musste es glauben. Auch ich hatte schon etwas von chinesischer Kunstgärtnerei gehört — mehr schon Hexenkunst. Durch jahrhundertelange Zucht, die in einer Familie fortgesetzt wird, machen sie aus einem normalen, großen Pflaumenbaum ein spannenhohes Bäumchen, das aber noch dieselben Früchte trägt. Doch solche Gartenhexenmeister und ganze Familien sind ebenso wie die Gaukler persönliches Eigentum des Kaisers oder der Mandarine, sie dürfen nicht über die chinesische Mauer.
Trotzdem, ich fand es wunderbar, hier plötzlich große Bäume, ganze Wälder zu erblicken.
Weniger staunte ich über die vielen Häuser, die aus dem Boden gewachsen waren. Mit dem weichen, schneidbaren Stein musste man ja viel machen können, und Geld hatte Blodwen doch wieder genug, die sorgte schon dafür, dass die dreißig Millionen Dollar möglichst schnell wieder alle würden.
Und die Schiffe, Segler wie Dampfer? Sie sämtlich zeigten am Heck die weiße Flagge mit der aufgehenden Sonne. Also ebenfalls alle Blodwens Eigentum. Na, für Blodwen, wenn sie Geld hatte, genügte eben nicht nur eine einzige Jacht.
Ob sie schon mit Lord Seymour in Verbindung gekommen war? War sie vielleicht auf Fanafute gewesen und hatte dort etwas gelernt?
Noch zögerte ich mit einer Anfrage, hätte gern erst Tischkoff zu Rate gezogen, der aber war schon wieder zu seinen Büchern zurückgekehrt, als dort auf einem Türmchen an der Fahnenstange einige Flaggen hochgingen.
»Sturmbraut willkommen! Lotsen?«
Dass man mein Schiff hier sofort erkannte, war nicht auffällig. Was für einen Stellvertreter aber mochte sich Blodwen erkoren haben, dass er mich gleich willkommen heißen durfte? Ob Blodwen selbst damit einverstanden war? Denn zum zweiten Male hätte ich mich nicht gern von dieser Insel fortjagen lassen.
Nun, ich dampfte ein. Deshalb war ich ja hergekommen.
Wir haben noch nicht beigelegt, da sehe ich an Land unter anderen eine Gestalt mit einem Schmerbauche stehen... sieht der nicht fast gerade wie Lord Seymour aus? Und dass er so lustig winkt, ist auch verdächtig — und da der Haarwasseronkel — und da der Puppenkleidermacher...
Jawohl, die sämtlichen Seezigeuner von Fanafute, die ich zuletzt in Charleston gesehen, wo sie doch beschlossen hatten, ebenfalls mit ihren Schiffen in den Krieg zu ziehen.
Wie kamen die hierher auf die Osterinsel?
Na, vor allen Dingen die Begrüßung.
»Hip hip hip«, machte der dicke Lord Seymour mit schriller Stimme, und »hurra!!«, stimmten sie alle ein, »hip hip hip hurra für Kapitän Jansen!!« — und dann drückte mich der Lord an seinen mit doppelter Menschenhaut umspannten Schmerbauch, während Mr. Rug schon eine Flasche Brandy entkorkte und nach Zucker schrie.
»Ja, meine Herren, was machen Sie denn hier?«
»Nu, wir amüsieren uns.«
»Ich denke, Sie nehmen Ihren eigenen Landsleuten die Schiffe weg?«
»Äh, da ist ja doch nichts weiter zu holen als Getreide und Geld.«
»Und Fingerstummel«, setzte Monsieur Chevalier hinzu, mir seine rechte Hand zeigend, an der zwei Finger fehlten.
Sie hatten sie ihm gekappt. Denn im Kampfe waren sie doch gewesen, hatten die Geschichte nur bald satt bekommen.
»Ja, aber wie kommen Sie gerade hierher nach der Osterinsel?«
»Die Lady Blodwen hat uns eingeladen. Die will uns einmal zeigen, wie man dreißig Millionen Dollar auf die schnellste Weise durchbringt, ohne das Geld direkt zu verschenken oder sonst wegzuwerfen, dass man also auch wirklich etwas davon hat.«
»Sie will uns etwas zeigen, was wir noch nie gesehen hätten«, wurde hinzugesetzt. »Na, ich bin wirklich gespannt. Denn ich habe doch wohl schon alles gesehen, was es auf der Erde gibt, und habe mich dabei gelangweilt.«
»Wo haben Sie Lady Blodwen zuletzt gesprochen?«, fragte ich.
»In Marktown.«
»Wo ist das?«
»Ein kleiner Hafen im Staate Georgia. Hat aber ein gutes Dock. Ihre ›Seebraut‹ musste hinein, sie hatte eine Granate in den Bauch bekommen.«
»Die Lady Blodwen?«, stutzte ich.
»Nee, ihr Schiff.«
»Ja ja — aber das kann noch gar nicht so lange her sein — ich bin doch mit vollem Dampf hierher gefahren...«
»Wir haben jedoch bis nach Mexiko die Eisenbahn benutzt und sind dann erst per Schiff weitergefahren, und zwar haben wir gleich einen Schnelldampfer gechartert, einen richtigen Passagierdampfer, der uns hierher brachte.«
»Und Ihre Schiffe?«
»Die haben wir einstweilen in Marktown gelassen.«
»Da sind Sie wohl gar mit Lady Blodwen zusammen gereist?«
»Gewiss doch.«
»Und da ist Lady Blodwen wohl auch schon hier?!«
»Natürlich! Wir sind schon seit vier Tagen hier. Mr. Rug ist schon sechsmal wieder nüchtern geworden.«
Wenn Blodwen zum Teil die Landtour benutzt hatte, konnte sie allerdings noch vor mir hier eingetroffen sein.
»Befanden sich in ihrer, in Lady Blodwens Begleitung auch drei Herren, ein Lord Hektor von...«
»Ah, Verzeihung... Mr. Richard Jansen, der berühmte Mann von der › Sturmbraut‹... Lord Hektor, Lord James — beide von, auf und zu Leytenstone — die Brüder ihres seligen Gatten.«
Die beiden Herren wurden mir vorgestellt. Die beiden, von denen nur der eine schon einige graue Haare zeigte, sahen ganz vergnügt aus — und ich wusste immer weniger, was ich von alledem denken sollte.
»Nun fehlt bloß noch der Baron Ralph — ah, da ist er ja — Herr Baron — he, Ralph, komm mal her!!«
Auch ich hatte ihn schon gesehen, im Hintergrunde, aber er wollte nicht kommen, drückte sich hinter ein Haus.
Er mochte an die Ohrfeige denken, und das fiel jetzt auch den anderen ein — bekannt genug war die Geschichte ja geworden — ich sah eine heimliche diesbezügliche Bewegung machen.
»Na, Sie werden sich schon wieder versöhnen«, hieß es dann ganz offen, »auf dieser heiligen Insel kennt man die Rache nicht. Nun sind wir nur noch in Sorge um die Lady Marion von Leytenstone, um Blodwens Schwägerin. Hier soll nämlich eine Familiensitzung stattfinden, und Lady Marion ist...«
»Bei mir an Bord«, ergänzte ich.
Ich erstattete mit kurzen Worten Bericht. Das Staunen war natürlich groß.
Dann begleiteten mich die beiden Brüder an Bord, um ihre Schwester zu sprechen.
Während der langen Reise hatte sich Marion ganz ruhig benommen. Freilich hatte ich auch vermieden, das Verhältnis zur Schwägerin mit nur einem Worte zu berühren.
Jetzt aber ging die Geschichte von Neuem los. Die beiden Brüder wollten die Schwester veranlassen, sich sofort zu Blodwen zu begeben.
»Sie hat euch in eine Falle gelockt«, war die Antwort, »ihr werdet noch furchtbar bereuen, hierher gekommen zu sein.«
Und die phantasiereiche Lady schwärmte den Brüdern noch etwas vor von glühenden Eisen, siedendem Pech und anderem Teufelshandwerkzeug, was alles sie hier erwarten sollte.
Vergebens suchte man sie zu beruhigen, ihr das Gegenteil zu versichern von Blodwens vortrefflichem Charakter, sie lachte sie aus.
»Habt ihr früher nicht Blodwens Charakter in einem ganz anderen Lichte kennen gelernt? Hat sie nicht auch eueren Stellvertreter mit Hunden aus ihrer römischen Villa hetzen lassen?«
»Das war krankhaft, sie war nervös — auf See in der gesunden Luft hat sich das alles gelegt. Jetzt ist sie die liebenswürdigste Schwägerin.«
Jetzt war es Marion, welche die Brüder auslachte — und ich hätte gern mitgelacht.
»Nun, du bist aber doch selbst hierher gekommen, und Kapitän Jansen wird dich doch nicht dazu gezwungen haben.«
»Nein, aber Herr Kapitän Jansen hat mir garantiert, dass ich diese Insel lebendig wieder verlassen werde!«
O, das war mir fatal! Ich hätte Marion vorher instruieren sollen, nicht solche Bemerkungen fallen zu lassen. Jetzt fing die vielleicht noch davon an, dass ich auch ihre Brüder retten wollte.
Ehe mich deren fragender Blick treffen konnte, hatte ich schnell die Kajüte verlassen.
Das Festmachen des Schiffes hatte noch die Anwesenheit des Kapitäns erfordert. Dann stand ich in einem prachtvoll ausgestatteten Salon meiner früheren Geliebten abermals gegenüber.
»Seien Sie mir in meinem Königreiche herzlich willkommen!«, wurde ich mit ausgestreckter Hand begrüßt.
Nun, die Hand nahm ich — aber so herzlich war mein Gegengruß nicht. Das heißt, ich konnte mich nicht so verstellen wie Blodwen.
Wohl drückte ihre glühend heiße Hand die meine mehr, als nötig war, wohl wollten mich ihre Augen verschlingen — aber ›herzlich‹ ist doch etwas ganz anderes.
Und wie unruhig ihre Augen flackerten! Es war überhaupt etwas in diesen Augen, was ich früher nie darin bemerkt. Äußerlich war sie sonst noch ganz dieselbe.
»Wie kommst du — kommen Sie... wie wollen wir uns zueinander verhalten?«
Diese Offenheit gefiel mir nun wieder an ihr.
»Bleiben wir bei Lady und Herr Kapitän«, entgegnete ich. »Well, das war ja auch schon früher der Fall, als wir uns... wie kommen Sie hierher, Herr Kapitän?«
... als wir uns schon liebten, und keiner hatte es dem anderen zu gestehen gewagt. Das hatte sie sagen wollen.
Ich erzählte, wie ich die Schiffbrüchigen aufgenommen hatte. Sie fuhr nicht schlecht empor
»Was, Lady Marion bei Ihnen an Bord?!!«
Sie sandte einen Blick zur Decke empor, als wolle sie dem Himmel für die freudigste Botschaft danken, die ihr je überbracht worden sei.
»Und sie ist bei Ihnen an Bord geblieben? Hat nicht auf ein anderes Schiff gewollt, das sie nach England brächte?«
»Nein.«
»Unbegreiflich! Für mich! Nämlich — hat Ihnen jener Leutnant O'Connor nichts erzählt?«
»Doch, alles!«
»Nun?«
»Sie glaubt meiner Versicherung, dass sie nichts zu fürchten hat.«
Das war eine diplomatische Spitzfindigkeit von mir gewesen, die ich ganz unbewusst erfunden hatte. Der Leser wird ohne Kommentar verstehen.
Nur schade, dass Blodwen mich zwang, mich näher zu erklären. Dies sollte aber erst später geschehen.
»Es ist doch auch lächerlich — glaubt dieses Weib, meine Schwägerin, ich könnte sie und ihre Brüder foltern, um das Vermögen wieder herauszubekommen. Halten Sie mich dessen für fähig?«
»Nein, ich wäre dessen niemals fähig«, entgegnete ich wiederum sehr klug. Ich war selber erstaunt, wie mir sonst so unbeholfenem Seebären plötzlich die diplomatischen Worte so von den Lippen trieften.
»Na also. Es handelt sich nämlich nur um einige Liegenschaften...«
Und sie setzte mir weiter auseinander, um was es sich handelte — eben um einige kleine Güter in England, die sie gern zurückkaufen wollte, was aber nicht so ohne Weiteres ging.
»Im Übrigen habe ich mich mit meinen Verwandten gänzlich wieder ausgesöhnt. Es wäre ja auch lächerlich, ihnen jetzt noch zu zürnen, da ich ihnen die Hinterlassenschaft meines seligen Gatten doch ganz freiwillig abgetreten habe. Nicht wahr?«
»Ja, das wäre lächerlich.«
Mit scharfen Augen blickte sie mich an, aber ich frisch vom Himmel gefallener Diplomat, der ich noch nie etwas von dieser meiner Gabe gewusst hatte, musste meine Sache gut gemacht haben.
»Allerdings hatte ich ja geglaubt, es nur mit der englischen Krone zu tun zu haben«, fuhr sie mit scheinbarer Gleichgültigkeit fort, nur um mein Gesicht studieren zu können.
»Ja, das sagten Sie schon.«
»Und als ich dann erfuhr, dass das Vermögen allein an die persönlichen Verwandten fiel, war ich furchtbar aufgebracht.«
»Ja, das waren Sie.«
»Aber ich habe bald genug eingesehen, wie unrecht ich da handelte.«
»Das ist ein sehr edler Zug von Ihnen.«
Das war ja sogar ein freudigdankbarer Blick, der mich jetzt traf! Ich musste meine Sache wirklich ausgezeichnet machen.
»Sie dürften sich aber wundern, dass ich dennoch gegen sie zu Felde zog, ihre Schiffe kaperte.«
Jetzt war es ein ängstlicher Blick, mit dem ich bei diesen Worten gemustert wurde.
»Nun, da hätte ich gleich eine Erklärung bei der Hand.«
Sie fuhr nicht gerade empor, aber sie schien doch sehr überrascht zu sein, und zwar sehr angenehm.
»Ah, Sie wissen es wirklich?«, fragte sie mit Spannung.
»Ich glaube es wenigstens.«
»Nun?«
»Sie werden Ihren Verwandten erst einmal haben zeigen wollen, wie Sie die Macht — wenn auch ungerechtfertigte Macht — bekommen könnten, Ihre Erbnachfolger noch zu einem anderen Vergleiche zu zwingen. Dann, als Sie so weit waren, zeigten Sie sich von Ihrer besseren Seite. Einen gewaltigen Eindruck macht das ja doch.«
So sprach ich. Es waren fremde Federn, mit denen ich junger Diplomat mich schmückte. Denn es waren genau die Worte, welche O'Connor damals zu mir gesagt hatte. In so etwas habe ich ausgezeichnetes Gedächtnis.
Das köstlichste dabei aber war vielleicht, dass ich diese Idee jetzt erst wieder Blodwen suggeriert hatte. Das war ganz unverkennbar, sie fiel etwas aus ihrer Rolle, ergriff aber nun auch gleich begierig diese Gelegenheit, für ihr Verhalten einen triftigen Entschuldigungsgrund gefunden zu haben, nach dem sie offenbar bisher vergeblich gesucht hatte.
»Recht so, so ist es, so ist es!«, rief sie freudig. »Ja, so ist es, ich habe ihnen nur einmal zeigen wollen...«
Und nun war es ihr ein leichtes, den ihr einmal suggerierten Gedanken auch weiter auszuspinnen.
»Wie geht es denn Ihrer schönen Freundin?«, fragte sie dann plötzlich.
»Danke, ganz gut.«
»Ist sie noch bei Ihnen an Bord?«
»Gewiss.«
»Atlanta heißt sie, nicht wahr?«
»Jawohl, Atlanta.«
»Haben Sie sie geheiratet?«
»Heiraten? Gibt's nicht bei mir!«
So unterhielten wir uns, scheinbar ganz gleichgültig, über die kitzligsten Dinge, und dann schieden wir wie die besten Freunde.
Selbstverständlich sei ich ihr Gast, ich müsse unbedingt längere Zeit hier bleiben, große Festlichkeiten, die wunderbarsten Überraschungen...
»Sie werden hier etwas zu sehen bekommen, was Sie niemals für möglich gehalten haben.«
Ich war gegangen, befand mich auf dem Wege nach meinem Schiffe zurück.
O, wie mir zumute war!!!
Schon immer!!!
Wie ich mich hatte beherrschen müssen!!!
Ich hätte so gern nach unserem Kinde gefragt, mich hatte es bald abgewürgt — aber ich hatte es nicht fertig gebracht.
Und was in aller Welt sollte nur aus dieser ganzen Geschichte werden?
Denn einmal musste es ja zum Klappen kommen. Marion würde sich doch nach wie vor weigern, das Land zu betreten, nur auf meinem Schiffe hielt sie sich, mir vertrauend, für sicher.
Blodwen aber musste doch sowieso durch ihre vertrauensseligen Schwäger erfahren, wie ich in Wirklichkeit über diese gemütliche Familienzusammenkunft dachte, wie ich ganz der Ansicht der Lady Marion beistimmte!
Jetzt verwünschte ich mein diplomatisches Geschick — ich hätte lieber sofort offen Farbe bekennen sollen, dann wäre die Sache gleich erledigt gewesen.
O, diese drückende Schwüle, die in der so harmlos, sogar lieblich erscheinenden Windstille lag! Sie verkündete das Herannahen eines fürchterlichen Unwetters.
Und hatte Blodwen dies nicht selbst angedeutet?
»Sie werden hier etwas zu sehen bekommen, was Sie niemals für möglich gehalten haben.«
Das konnte man doch sehr, sehr zweideutig auffassen! Für mich war es jetzt sogar ganz eindeutig.
Als ich an Bord kam, trat mir Tischkoff entgegen.
Sollte ich dem jetzt alles mitteilen? Ich hätte gar nicht gewusst, wo ich anfangen sollte. Und der interessierte sich ja auch gar nicht für so etwas. Aber wenn die Not wirklich da war, dann war er auch stets mit Rat und Tat zur Stelle.
»Herr Kapitän, haben Sie in Ihrer Bibliothek das Nibelungenlied?«, fragte er.
»Jawohl, das ist vorhanden.«
»Ich kann es nicht finden.«
»Es wird im Mannschaftslogis sein.«
Es ward ihm besorgt — und mir war es schon bei dem Worte ›Nibelungenlied‹ wie ein Feuerstrom durch den Kopf geschossen. Plötzlich erkannte ich ganz deutlich, welche Stelle ich hier einnahm, was ich zu tun hatte.
Sie ist wohl bekannt, die Nibelungensage im Allgemeinen. Hagen hat Siegfried ermordet, den Gatten von Kriemhilde. Diese heiratet dann den Hunnenkönig Etzel, in der Geschichte Attila genannt. Lange, lange Jahre hat Kriemhilde darüber nachgebrütet, wie sie den Mord an dem geliebten Mann rächen kann. Diese zweite Heirat mit dem hässlichen Hunnenkönig ist sie nur deswegen eingegangen. Sie ladet die Nibelungen zu sich in ihr Reich ein, die Fürsten ziehen mit ihrem Gefolge über den Rhein, freundlich empfängt Kriemhilde sie, sie küsst die Brüder, bittet die Helden, doch die Waffen abzulegen, alle kommen natürlich dieser Aufforderung sofort nach — nur einer nicht...
Auch der grimme Hagen von Tronje kommt zum fröhlichen Festmahl — aber, anstatt seine Rüstung abzulegen, schnallt er nur seinen Helm fester. — —
Ja, ich wusste, was ich zu tun hatte.
Ich rief meine Offiziere zusammen und gab ihnen Instruktionen.
»Wir sind hier Gäste, wir werden uns freundlich und bescheiden wie Gäste betragen, aber... alle Mann klar zum Gefecht!!!«
Der Tag schien ohne besonderen Vorfall verlaufen zu wollen. Blodwen kam nicht, um die Schwägerin selbst zu sprechen, auch die Herren waren unsichtbar.
Allerdings war gerade jetzt, am frühen Nachmittage, allgemeine Siestazeit. Zu der drückenden Schwüle meiner Stimmung hatte sich auch solche in der Atmosphäre gesellt, und obgleich wir uns auf der südlichen Hälfte der Erdkugel befanden, wo jetzt Winter herrschte, ließ die Sonnenglut nichts zu wünschen übrig.
Eine Einladung zum Mittagessen hatte ich, wie ich eigentlich erwartet, nicht erhalten, so hatte ich an Bord gegessen, dann mich zur Verdauung etwas hingelegt.
Bei solcher drückender Hitze wäre es in der Koje nicht auszuhalten gewesen. Und ich suchte auch an Deck kein schattiges Plätzchen auf. Ich konstruierte mir bei solchen Temperaturen zum Schlafen immer eine Lagerstelle, die ich mir als meine eigene Erfindung hätte patentieren lassen können.
Die Kajüte besaß wie gewöhnlich ein Oberlicht, unter welchem der festgeschraubte Tisch stand. Auf diesen ließ ich ein Sofa setzen, das bei Seegang auch befestigt werden konnte — doch war diese Manipulation ja nur im Hafen oder bei Windstille nötig, wenn ich zu sehr unter der Hitze zu leiden hatte — und so lag ich auf diesem Sofa, ganz dicht unter dem Oberlicht, also einer Öffnung im Deck, mit Glasscheiben versehen, welche wieder durch Metallstäbe geschützt waren.
Nun ließ ich diese Fenster entfernen, und dafür über die Lukenöffnung straff ein Stück Segeltuch spannen, das vorher einmal durch Wasser gezogen und, wenn es mit der Zeit trocknete, von den wachegehenden Matrosen immer wieder durch eine Brause angefeuchtet wurde — nur nicht so sehr, dass es auf mich herabtropfte.
Die Wirkung dieser einfachen Vorrichtung ist wunderbar. In meiner Kajüte hat oft eine Temperatur bis zu 40 Grad geherrscht, während sie hier unter dem angefeuchteten Tuche, wo ich also lag, bis auf 15 Grad herabsank. Daran ist nicht etwa allein die Nähe des feuchten Tuches schuld. Das Wasser wird ja selbst sofort warm, heiß — und trotzdem wird die Temperatur unter der Leinwand um so kühler, je mehr die Sonne darauf brennt.
Hier kommt ein physikalisches Gesetz in Betracht. Das Wasser verdunstet und bindet dabei Wärme, wie der physikalische Ausdruck lautet, es entzieht der umgebenden Luft eben Wärme, und am allermeisten geschieht das unter dem Tuche selbst, und das wieder um so mehr, je schneller die Verdunstung vor sich geht, also auch, je mehr die Sonne direkt darauf brennt. Hierauf beruht auch die Eiserzeugung durch die Äthermaschine. Durch die schnelle Verdunstung des Äthers kann auf diese Weise sogar Eis erzeugt werden.
Viele der Matrosen hatten mir das schon nachgeahmt. Sie legten sich an solchen faulen, heißen Tagen nicht mehr an Deck in den Schatten, sondern in die Sonne, über sich eine Leinwand ausgesteckt, die von dem wachehabenden Matrosen von Zeit zu Zeit wieder angefeuchtet ward, und der zweite Ingenieur hatte sich gleich einen ganzen Kasten gebaut — eine Stellage von Holzlatten, ringsherum mit dünner Leinwand bespannt, die feucht gehalten wurde — und er lag wie in einem Eiskeller darin.
Vielleicht erweise ich der Menschheit einen Dienst, wenn ich dieser Vorrichtung so viele Worte widme. Jeder von der Hitze geplagte Mensch kann sich für billiges Geld solch einen Kasten beschaffen, in dem er am heißesten Tage wie im kühlen Grabe liegt, dabei auch unbelästigt von den Mücken. Nur muss man jemanden haben, der den Stoff, wenn er ausgetrocknet ist, wieder mit einer Gießkanne anfeuchtet.
Für mich genügte, dass ich dicht unter der feuchten Decke der Kajüte lag.
Ich weiß nicht, wie es kam — meine Gedanken mussten sich mit Doktor Selo beschäftigen.
Sonst habe ich über meinen Gefangenen nichts zu sagen gehabt. Ich hatte ihn auch gar nicht mehr gesprochen, nicht einmal gesehen. Mit meiner Drohung, ihn knapp zu halten, hatte ich nicht Ernst gemacht. Selo erhielt die Kost der Offiziersmesse. Er bat um Bücher und erhielt sie, sogar Zigarren bekam er von mir, als Goliath diesen seinen Wunsch mir meldete.
Er begehrte mich nicht zu sprechen, Goliath hatte mir nichts über ihn zu berichten — so dachte ich an den Kerl eigentlich gar nicht mehr. Das hing eben alles mit meiner Gleichgültigkeit in bezug auf den schnöden Mammon zusammen.
Der Kerl hatte mich bestohlen — dass er dafür mit Entziehung der Freiheit bestraft wurde, hielt ich schon für genügend. Wenn er dadurch nicht kirre wurde, dann war dem eben nicht beizukommen. Denn ich für mein Teil hätte es in solch einer engen Kabine doch keinen Tag ausgehalten, ich hätte doch alle Schätze der Erde hingegeben, um da wieder heraus zu können.
Ich hatte Goliath auch einmal gesagt, der Gefangene könne ja jeden Tag einige Stunden an Deck promenieren — nein, der sonderbare Kauz verzichtete darauf, er fühlte sich ganz behaglich, aß und schlief und rauchte und las.
Na, dann war es ja gut. Was aus ihm sonst noch werden sollte, darüber machte ich mir keine Kopfschmerzen.
Schließlich war begreiflich, dass ich gerade jetzt so lebhaft an ihn dachte. Ich hatte Blodwen bei unserer ersten Begegnung nicht mitgeteilt, wie ich den diebischen Schiffsarzt wiedergefunden. Was würde sie sagen, wenn sie es erfuhr? Würde sie ihn nicht haben wollen, um ihn auf glühende Kohlen zu setzen?
Dadurch kam ich auch auf die Fucusbank, auf die ›Indianarwa‹, auch Blodwen wusste von diesem meinem Versteck, das war eigentlich höchst unangenehm, dadurch hatte sie mich gewissermaßen in der Hand...
Unter solchen Gedanken schlief ich ein.
Ein Rütteln an der Schulter weckte mich.
Ich blickte in Goliaths schwarzes Gesicht.
»Massa, Doktor Selo ist entflohen!«
Hallo, war ich schnell auf von meinem Sofa! Wäre beinahe vom Tisch gestürzt, zum Glück ward noch ein bewusster Sprung daraus.
»Ich wollte ihm den Kaffee bringen — da konnte ich seine Tür nicht aufschließen — nämlich, weil der Riegel eben schon zurückgeschoben war — und die Kabine war leer.«
Ich konnte nichts weiter tun, als eine Untersuchung anstellen. Ich hatte die Nachmittagsruhe bis um vier Uhr bestimmt, da Kaffee verabreicht wurde. Die meisten Matrosen hatten schlafend an Deck gelegen. Einige waren wohl wach gewesen, aber sie konnten so wenig wie der wachegehende Matrose etwas aussagen.
An dem Schlosse der Kabinentür war nichts zu sehen, aber da ich Goliaths Versicherung glaubte, dass er sie nicht etwa aus Versehen unverschlossen gelassen habe, so musste Selo sie mit einem Dietrich, mit einem gebogenen Drahte, geöffnet haben.
Es musste angenommen werden, dass er sich noch im Schiffe befände. Allerdings hätte er, um an Land zu kommen, auch eine Geschützpforte benutzen können, die groß genug war, um einen Menschen durchzulassen.
Aber dann hätte man ihn auch am Lande laufen sehen können. Jedenfalls hielt er sich jetzt versteckt, um erst während der Nacht das Land zu erreichen.
Doch warum hatte er da seinen Fluchtversuch nicht gleich bis zur Nacht verschoben?
Vergebliche Frage! Die Hauptsache war auch, den Flüchtling wieder zu fassen.
Das ganze Schiff ward durchsucht, was bei der ›Sturmbraut‹ leichter war als bei der ›Indianarwa‹, und besonders für den Bootsmann durfte es kein Winkelchen geben, das seiner Prüfung entgangen wäre, für meinen Enoch galt das auch, aber nach zwei Stunden hatte man den Schiffsarzt noch immer nicht aufgespürt.
So war es also sechs Uhr geworden, es begann zu dunkeln, als ein schwarzer Bote mit einem Briefchen kam.
Lady Blodwen lud den Kapitän wie die Offiziere und die ganze Besatzung der ›Sturmbraut‹ auf heute Abend acht Uhr zu einem kleinen Feste ein, das im roten Hause abgehalten würde.
Kam das Verhängnis schon? War das die Einladung der Kriemhilde?
Nun, ich würde gehen, auch die Freiwache würde ich mitnehmen, aber etwa das ganze Schiff allein lassen, daran war natürlich nicht zu denken.
Die Entweichung des Gefangenen war ein genügender Grund, Leute zurückzulassen, wenn ich das dann auch Blodwen mitteilen musste, wollte ich mich nicht wieder in Ausreden ergehen, welche, wie Lügen, kurze Beine haben.
Wir hatten noch Zeit, und die musste dazu benutzt werden, um ein Entweichen des Flüchtlings an Land unmöglich zu machen. Vielleicht hätte genügt, alle Luken und Pforten zu schließen, noch sicherer aber war es, wenn das ganze Schiff etwas mehr vom Lande abgesetzt wurde. Dann musste der Flüchtling, wollte er das Schiff verlassen, zuvor ins Wasser, und das ist doch etwas anderes, als wenn er gleich trockenen Fußes an Land springen konnte.
So geschah es. Die ›Sturmbraut‹ wurde freigemacht und nach der Mitte der Bucht verholt, dort verankert.
Ich leitete noch diese Manöver von Deck aus, als sich Lady Marion zeigte, auf mich zukam. Sie sah ganz verstört aus.
»Ich höre, dass Ihr Schiffsarzt, den Sie gefangen hielten, entflohen sein soll?«
Ich bejahte. Die Lady hatte bisher über den Gefangenen noch keine einzige Frage gestellt. Sie war ganz mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt gewesen. So kannte sie wohl auch nicht den Grund seiner Gefangenschaft. Es war eben mein früherer Schiffsarzt, der einst desertiert war, und den ich wieder erwischt hatte, ihn nun interniert hielt.
»O Gott, ich werde doch nicht etwa seine Flucht ermöglicht haben?!«
Sie erzählte. Gegen drei Uhr hatte sie einmal ihre Kabine verlassen und bei der Rückkehr die Tür zu ihrer Verwunderung verschlossen gefunden. Sie hatte den Schlüssel bei sich, schloss auf, öffnete die Tür, erblickte eine fremde Einrichtung und in der Kabine einen fremden Mann, doch sicher den gefangenen Schiffsarzt.
Sie hatte sich eben in der Tür geirrt, ihre Kabine lag neben der des Gefangenen; sie war ganz in Gedanken gewesen.
»Aber ich habe die Tür sofort wieder zugeschlossen, habe den Schlüssel zweimal herumgedreht.«
Ich ließ mir ihren Schlüssel geben. Dessen Bart war ganz anders beschaffen, als der zur Nachbarkabine, zu unserer eigenen Verwunderung entdeckten wir erst jetzt, nach mehr denn zwei Jahren, dass er wirklich auch die Tür zu jener schloss, jedoch nur auf, nicht wieder zu, dann wurde die Feder nicht richtig gefasst. Der Schlüssel drehte sich wohl, es schnappte zweimal, aber der Riegel kam dabei nicht recht heraus.
Nun war die Flucht erklärt. Selo hatte die Klinke einmal probiert, vielleicht nur zufällig, hatte die Tür offen gefunden. Nun konnten wir erst recht annehmen, dass er sich noch im Schiffe versteckt hielt und seine Flucht nach dem Lande erst bei Nacht zu ermöglichen suchen würde.
Wir saßen in einem verdunkelten Saale und harrten mit Spannung der Dinge, die da kommen sollten. Diese erwartungsvolle Spannung mochte eine sehr verschiedene sein.
Ich hatte mich ein Viertel vor acht mit der Hälfte meiner Mannschaft, nämlich mit der Freiwache, auf den Weg gemacht. Der diensttuende Offizier war zurzeit Mahlsdorf gewesen. Eigentlich hätte ich diesen lieber mitgenommen als Martin, dem die früheren Verhältnisse zum größten Teil noch unbekannt waren. Hinwiederum konnte vielleicht auch die zurückbleibende Mannschaft an Bord des Schiffes den tüchtigsten Offizier brauchen.
»Wir sind zu heute Abend eingeladen, Martin«, hatte ich zum zweiten Steuermann gesagt, als das Schiff verholt worden war.
»Well«, war die Antwort Martins gewesen, den ich als einen immer tüchtigeren Kerl kennen gelernt hatte.
»Der Anzug ist dunkle Uniform, in jeder Hosentasche einen geladenen Revolver, zwölf Ersatzpatronen.«
Da freilich riss mein Martin seine Augen nicht schlecht auf.
»Was?! Ich denke, die Lady ladet uns zu einer Festlichkeit ein?!«
»Ja, zu einer Festlichkeit, die vielleicht mit scharfen Freudenschüssen endet. Das heißt, ich weiß noch nichts — nur so eine kleine Mutmaßung — im Übrigen lassen Sie sich Näheres von Mahlsdorf erzählen.«
Nun, dieser würde ihm schon reinen Wein einschenken, falls er des noch bedurfte. Meine Jungen brauchten auch nicht erst lange Instruktionen.
Dann rückten wir ab, zum fröhlichen Feste, das vielleicht auch unseren Tod bedeutete.
Das rote Haus war nicht zu verkennen. Schon das Portal prachtvoll.
Ein Gentleman erwartete uns, fragte mich, ob wir schon gespeist hätten.
Eigentlich seltsame Frage! Nun, die selbstständige Blodwen hatte in ihrem eigenen Königreiche auch ihre eigenen Sitten. Ich hätte es schließlich geradeso gemacht, hätte mich verdammt wenig um die Zeremonien der übrigen Welt gekümmert.
Ja, eigentlich hatten wir das Abendbrot schon hinter uns.
»Wollen Sie wenigstens noch eine Erfrischung zu sich nehmen?«
Wir alle wären ja fähig gewesen, noch einmal ein ganzes Menü abzuessen, aber ich schlug es dankend ab. Am Ende wäre ich dadurch erst von meinen Jungen getrennt worden.
»Die Vorstellung dürfte zwei bis drei Stunden dauern, erst dann wird das Nachtessen eingenommen.«
»Was für eine Vorstellung?«
»Darüber darf ich freilich kein Wort verlieren. Bitte, wollen Sie mir folgen!«
Es ging eine Treppe hinauf, wir wurden in einen geräumigen, rot ausgeschlagenen Saal geführt, in dem lange Reihen von Stühlen standen, und im Hinter- oder vielmehr Vordergrunde ein Vorhang mit Wolkengebilden.
Die Seezigeuner von Fanafute waren schon anwesend, desgleichen die Verwandten Blodwens, sonst niemand weiter, auch Blodwen fehlte.
»Willkommen, Herr Kapitän!«
»Wo haben Sie denn den ganzen Tag gesteckt?«
»Was soll uns denn nur hier gezeigt werden?«
»Ich glaube, sie hat eine Künstlergesellschaft auf der Insel.«
»Etwas, was noch keiner von uns jemals gesehen hätte, hat sie gesagt.«
»Wo bleibt denn nur die Lady? Sie könnte uns doch erst einmal begrüßen.«
»Sie wird selber mitwirken.«
»Gibt's denn hier nischt zu trinken?«
So und anders klang es durcheinander, während der Hausmeister meine Leute auf den hinteren Stühlen unterbrachte.
»Bitte, Platz nehmen, Mylords und Gentlemen!«, rief er dann. »Das Licht wird sogleich verlöschen!«
Wir setzten uns. Ich konnte noch dafür sorgen, dass wenigstens Martin neben mich kam.
Als ich den Blick zum Kronleuchter richtete und mit einiger Verwunderung konstatierte, dass hier schon Gas gebrannt wurde, erloschen die Flammen plötzlich. Nur das Licht, welches von dem erleuchteten Vorhang ausging, verbreitete noch eine schwache Dämmerung.
Und jetzt war es, da alle von jener erwartungsvollen Spannung befallen wurden, die so ganz verschieden sein mochte.
Ich für mein Teil erwartete irgendeine fürchterliche Szene, welche der sich hebende Vorhang offenbaren würde, wobei auch unsere Revolver mitsprechen sollten.
Das Nibelungenlied war es, das mir diese Ahnung einflößte. In solch einem Saale waren damals auch die Nibelungen...
Da hob sich langsam der Vorhang. Einfach eine Theaterbühne mit Szenerie, eine Stube darstellend, recht einfach, mit Schenkbar — anscheinend eine englische Gastwirtschaft.
Mir kamen die Tische und Stühle anfangs recht klein vor, wie für Puppen berechnet. Doch dieser Eindruck verschwand schnell wieder. Nur die Perspektive schien zu täuschen.
Da kam eine Frau herein, die Wirtin, mit unbeholfenen Bewegungen — tatsächlich eine Puppe, kaum metergroß, an Fäden bewegt — eine Marionette.
Es war eben ein Puppenspiel, was wir zu sehen bekamen. Die Entführung einer Prinzessin, das Vorspiel hier in einer Dorfschenke, wo die Räuber zusammenkamen und vom bösen Prinzen geworben wurden — der zweite Akt im wilden Walde spielend, der dritte im Schlosse, wo der gute Prinz und Held endlich seine Prinzessin bekam, und die Hauptfigur immer Kaspar, der nur Sinn für Bratwürste und Bierkrüge hat.
»So ein Blödsinn!«, sagte neben mir Lord Seymour.
»Und so etwas sollen wir noch niemals gesehen haben?«, brummte ein anderer ärgerlich.
Ich dachte dasselbe.
Damals waren Puppenspiele viel beliebter als heute, auch in Deutschland. Jeder Jahrmarkt hatte seine Puppentheater, wandernde Marionettenspieler besuchten regelmäßig die großen und kleinen Städte.
So hatte ich als Kind häufig solche Marionettentheater gesehen. Und damals mochten sie mich entzückt haben. Dann später hätte ich mich geschämt, so ein Kasperltheater zu besuchen.
Was wir hier zu sehen bekamen, war durchaus nichts anderes, als man in jeder Jahrmarktsbude zu sehen bekommt. Die metergroßen Puppen so ungelenk wie möglich, ruckweise gingen die Arme in die Höhe, steif drehten sie sich herum, wobei die Beine immer nicht mitwollten, das Gehen war ein Schleifen, plump der Witz, und selbst an der Kostümierung und an der Szenerie fehlte es vollständig, und so waren auch Sprache und Handlung.
»Ha, du Bösewicht — was ist dein Schwert von Blut so rot, o, Eduard, o, Eduard...«
Kurz und gut, wir waren grenzenlos enttäuscht! Keiner der Zuschauer war so höflich, zu applaudieren oder Kaspars schauderhafte Possenreißerei zu belachen. Nur meine Jungen hinter mir hörte ich manchmal kichern — heimlich — sie waren so unhöflich, sich dieses nicht zu verbeißen.
Ich wusste nur eine einzige Erklärung, wie Blodwen wagen konnte, uns solch eine Farce vorzuführen und von etwas ›Nochniegesehenem‹ zu sprechen.
Die hinter Mauern erzogene Blodwen hatte eben selbst noch niemals ein Marionettentheater gesehen, auch später nicht. Da war sie doch immer in ihrer römischen Villa gewesen, in meiner Gesellschaft hatte sie ebenfalls keine Gelegenheit dazu gehabt.
Da, vielleicht vor ganz kurzer Zeit, war sie einmal in so ein Puppentheater geraten. Und das hatte ihr nun ganz mächtig imponiert. Wenn man so etwas noch nicht gesehen hat, wirkt das ja auch mindestens originell, man amüsiert sich wirklich, eben über die Unnatürlichkeit dieser mechanischen Schauspieler.
»Das muss ich haben, das ganze Theater!«, mochte sie sich gesagt haben, ganz ihrem Charakter entsprechend.
Nun mochte ihr der Theaterdirektor auch noch gesagt haben, renommistisch, wie diese Schausteller nun einmal sind, so etwas wie sein Unternehmen gäbe es sonst nirgends in der Welt, vielleicht hatte er sogar, die Unerfahrenheit der Dame gleich erkennend, behauptet, sein Puppentheater sei überhaupt das einzig existierende — kurz, Blodwen hatte das Theater gekauft oder doch den Direktor mit seinen eventuellen Hilfskräften engagiert, natürlich für die zehnfache Summe, die sonst nötig gewesen wäre, hatte ihn nach ihrer Insel geschickt — — und nun gedachte sie ihren Gästen etwas zu zeigen, was diese in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen hätten.
Ach je, ach je!! Ich schämte mich für die Gastgeberin — ich schämte mich wirklich im eigenen Herzen. Ich bin nun einmal so. Wenn sich jemand öffentlich produziert und ihm passiert ein Malheur, der Jongleur lässt den ganzen Porzellanaufbau, den er auf der Nase balanciert, fallen, oder der Schauspieler verspricht sich, macht unbeabsichtigt einen dummen Witz, dann lache ich nicht wie die anderen, sondern ich werde immer ganz rot vor Scham — ich schäme mich im eigenen Herzen für den Unfall des anderen, noch ehe ich ihn aufrichtig bemitleide.
Ich habe bei einem Philosophen gelesen — es ist wohl Schopenhauer — dass es nur die edelsten, hochentwickeltsten Menschen sind, welche solch eine Art von augenblicklicher Mitempfindung kennen; die anderen, die meisten, welche bei einem fremden Unglück, einem sogenannten Malheur, das wirklich einigen Witz enthalten mag, etwa wenn jemand anstatt des Streichholzes die eben angebrannte Zigarre zum Wagenfenster hinauswirft — welche also über so etwas lachten, anstatt etwa ein bedauerndes ›O!‹ hören zu lassen, ständen noch auf einer tieferen Stufe der moralischen Entwicklung, und wenn sie auch die Weisheit aller Universitäten in sich hätten.
Nun, dann gehöre ich zu diesen ersteren. Ich darf dies sagen, weil der Leser wohl schon weiß, dass ich sonst nicht gern rühmend von mir spreche.
Kurz, ich schämte mich aufrichtig — für Blodwen — vor mir selbst. Weshalb vor mir selbst, das kann ich nicht definieren. Das ist eben eine ganz wundersame Mitempfindung, wie sie am besten wohl der Schauspieler kennt, der die Person wirklich zu sein glaubt, deren Rolle er spielt, und kann er das nicht, dann ist er auch kein echter Künstler.
Und dann bemitleidete ich Blodwen.
Das arme Weib!
Sie hielt sich gewiss irgendwo verborgen, beobachtete hinter einem Vorhange ihre Gäste, wollte sich an deren Entzücken ergötzen.
Und nun rührte sich keine Hand, kein Lachen erscholl über Kasperles Witze, die vielleicht dieses Weib ganz großartig fand, höchstens hörte sie ein verhaltenes Kichern, sah sie spöttische Gesichter.
Ich hätte so gern einmal geklatscht, ein Lachen markiert, aber... ich brachte es nicht fertig. Das wäre mir erst recht wie blutiger Hohn vorgekommen.
Zum Glück war die Komödie nicht lang. Jeder Akt zehn Minuten, und im dritten also fiel Prinz Jaromir in die Arme seiner geretteten Braut, fiel so hinein, wie Puppen es tun müssen, während König und Königin und das ganze ›glänzende‹ Gefolge wie die Leichname im Kreise auf Stühlchen hingeflezt lagen.
»Na, Gott sei Dank, sie haben sich!«
»Die Lady muss verrückt sein, uns mit so etwas hier eine halbe Stunde zu langweilen.«
Das wurde ganz laut gesagt. Diese Sportsmen nahmen sich doch kein Blatt vor den Mund.
»Was, um Gottes willen, es ist wohl immer noch nicht zu Ende?!«, erklang es dann erschrocken und einstimmig aus aller Munde.
In der Tat, Kasperle wurde nochmals über die Bühne geschleift, blieb in der Mitte stehen, versuchte eine Verbeugung zu markieren.
»Hochgeehrtes Publikum, Mylords und Gentlemen — ich habe von Königlicher Hoheit Prinz Jaromir den Auftrag erhalten, die Verlobungsfeierlichkeiten zu arrangieren, infolgedessen habe ich einige Künstlerspezialitäten engagiert, und werde mir nun erlauben, diese dem hochverehrten Publikum vorzuführen...«
So und noch mehr meldete der Zappelmann mit quäkender, von der Decke kommender Stimme.
»Ach, du lieber Gott, immer noch nicht alle!!«, wurde im Zuschauerraum gestöhnt.
»Ich gehe fort, das halte ich nicht mehr aus.«
»Gute Nacht, ich schlafe einstweilen einen Schnitt.«
»Wenn man nur wenigstens etwas zu trinken bekäme!«, knurrte der Australier.
Ja, auch mir war es fürchterlich, noch weiter diese Blamagen erleben zu müssen.
Ein Diener kam auf die Bühne, ein richtiger Mensch, und jetzt sah man einmal, dass diese Puppen wirklich nur einen Meter groß sein konnten.
Der Diener — wenigstens war er so mit einem Frackanzug bekleidet — setzte ein winziges Tischchen in die Mitte der Bühne, legte ein weißes Plättchen daneben, auch noch etwas auf den Tisch, zog sich zurück, Kasperle klappte wieder auf seinem Stuhle zusammen — und plötzlich setzte eine gedämpfte, aber faszinierende Musik ein.
Ich muss gestehen, dass ich im Augenblick wirklich außerordentlich gespannt auf das Kommende war, und ebenso schien es auch allen anderen zu gehen, die eben noch gegähnt hatten.
Und da kam hinter der Kulisse eine kleine Gestalt hervorgesprungen, viel kleiner als jene anderen Puppen, nur den vierten Teil, also nur einen Viertelmeter groß, gekleidet wie ein Künstler in fleischfarbene Trikots mit goldenem Badehöschen.
Aber nun vor allen Dingen, wie dieses Püppchen hereinsprang! Eben wie ein richtiger, lebendiger Mensch, überhaupt gar nicht davon zu unterscheiden! Einen Fuß vor den anderen gesetzt, springend — kurz und gut, gar nicht von einem lebendigen Menschen, der sich mit Grazie zu bewegen weiß, zu unterscheiden! Mehr kann man ja nicht sagen.
Und nun stehen geblieben, einige zierliche Verbeugungen gemacht, Kusshändchen geworfen, dann trat er schnell an das Tischchen, rückte da das Ding zurecht, trat zurück, auf die weiße Platte, fummelte mit den Füßen darauf herum — jetzt wusste ich es: er kreidete sich die Sohlen ein — wieder an den Tisch, mit einem leichten Schwunge darauf, sich hingelegt, sodass der Kopf in die Höhlung des hölzernen Kissens zu liegen kam, sich noch etwas zurechtgerückt, immer noch etwas mehr — die Füße wurden zusammengeschlagen... so, der Fußequilibrist war fertig, seine Kunstleistungen zu zeigen.
Was soll ich sagen? Ich stierte wie ein Mondkalb. Und nicht anders ging es meinem Nachbar.
»I, das ist gar nicht möglich, das ist ein richtiger Mensch, ein Zwerg!«
»Nein, solche winzige Zwerge gibt es denn doch nicht, das ist eine Puppe!«
»I, das kann doch keine Puppe sein!«
»Jawohl, blicken Sie nur einmal durch mein Opernglas, da sehen Sie auch alle die Drähte, an denen die Figur hängt.«
Ich konnte diese dünnen Drähte schon mit bloßen Augen erkennen. Die Entfernung, die uns von der Bühne trennte, war ja auch gar nicht so groß.
Jawohl, diese Puppe wurde durch Drähte regiert, durch eine Unzahl von Drähten. Auch ich bekam das Opernglas, da aber konnte ich die Drähte erst recht nicht zählen.
Ja, aber wie war nur möglich, eine Puppe so durch Drähte bewegen zu können, dass man an einen lebendigen Menschen, an einen Artisten denken musste, der jede Muskel in seiner Gewalt hat?
Durch das Fernglas konnte man fast nur an den starren Gesichtszügen erkennen, dass es wirklich nur eine Puppe war.
Wir waren vor Staunen einfach außer uns!
Und das war doch erst die Einleitung gewesen!
Noch eine Gestalt hüpfte vor, ein Clown, so groß wie jener, ebenfalls durch keine Bewegung von einem richtigen Menschen zu unterscheiden.
Dieses Figürchen rollte eine Trommel vor sich her, hob sie, verlor die Balance, schlug erst einmal der Länge nach hin — es war ja ein Clown — raffte sich wieder auf — rieb sich die Knie — stolperte nochmals über seine große Zehe — dann hob er die Trommel, warf sie hoch, dem Jongleur auf die Füße.
Und dies alles auch nicht in der kleinsten Bewegung von einem lebendigen Menschen zu unterscheiden!
Man stelle es sich nur vor, diese winzigen Figürchen, tote Puppen, durch Drähte lebendig gemacht — um unser grenzenloses Erstaunen begreifen zu können.
Der auf dem Tisch Liegende hatte die Trommel, für seine winzigen Körperverhältnisse sehr groß, geschickt mit den Füßen gefangen. Das Spiel begann, von der Zirkusmusik begleitet. Gedreht, gerollt, mit beiden Füßen, mit einem, von einem Fuße auf den anderen geworfen — immer komplizierter wurden die Spielfiguren in der Luft.
Ich hatte schon manchen Fußequilibristen gesehen. Neues war es eigentlich nicht, was hier geboten wurde — es war fast schade, dass man nach und nach vergaß, nur kleine Puppen vor sich zu haben.
Denn die Entfernung schien mit der Zeit immer größer zu werden, so konnte man sich auch immer mehr in die perspektivische Täuschung hineinleben, es seien erwachsene Menschen, nur sehr, sehr weit entfernt.
»Aber wie in aller Welt ist es nur möglich, dass die quirlenden Beine der Puppen und auch die Trommel so von Drähten bewegt werden können, die eine menschliche Hand regiert?«
Solche sich oft wiederholende Zwischenrufe waren es, welche den Zuschauer dann wieder zur Wirklichkeit zurückriefen, um ihn von Neuem erstaunen zu lassen.
Dann war es auch eine recht gute Berechnung, dass manchmal der menschliche Diener auf der Bühne erschien, um den Kontrast zu zeigen, dass der Irrtum nicht gar zu sehr überhandnehme.
Er brachte nach und nach verschiedene Sachen herein, die ihm stets erst von dem Clown abgenommen und von diesem selbst auf die Füße des Jongleurs befördert wurden: ein großes Kreuz, eine Stange, eine brennende Lampe, ein Stuhl, ein Tisch.
War mir schon das Kreuz ein Rätsel gewesen, so noch mehr Stuhl und Tisch.
Wie war es nur möglich, dass der Stuhl nach allen Richtungen auf den Füßen herumquirlen konnte, ohne dass sich die zahllosen Drähte, an denen er dirigiert wurde, wie durch das Glas deutlich zu erkennen, verwirrten?
Einfach rätselhaft!
Und dann, wie der kleine Equilibrist ab und zu heruntersprang, sich verbeugte, sich Hände und Stirn mit einem Tüchelchen trocknete, wieder seine Füße auf der Platte einkreidete, wieder nach einem Kusshändchen auf den Tisch voltigierte, sich zurechtlegte...
»Das geht nicht mit natürlichen Dingen zu, das ist Hexerei!!«, hörte ich den Haarwasseronkel flüstern, und er sah tatsächlich vor Erregung ganz blass aus — dieser Mann, der sich noch eine Zigarre ansteckte, wenn er mit der Pulvermine in die Luft flog.
Wieder sprang der Equilibrist vom Tisch herab, mit mehr Kusshändchen als sonst, tänzelte hinaus, in komischer Weise von dem Clown gefolgt — da kam jener noch einmal herein, aber nicht so tänzelnd, sondern eine endlose Reihe von Rädern schlagend, mit einem gewaltigen Salto mortale, dem sich ein doppelter anschloss, endend — Kusshändchen zum Gehen gewendet — und nun erst brach der donnernde Applaus los, nach englischer Weise von gellendem Pfeifen begleitet.
Dann aber, während der menschliche Diener die niedlichen Möbel hinausräumte, trat abermals eine Totenstille ein.
Ich sah, wie sich der Puppenkleidermacher an die Nase fasste.
»Ja, habe ich das alles denn nicht nur geträumt? Waren das nicht richtige Menschen?«
Das war jetzt der Gedanke aller.
Da, als noch so geflüstert wurde, kam schon ein anderes Figürchen herein, ein Mädchen in phantastischem, kurzgeschürztem Kleidchen — einige Kusshändchen — auch der Clown kam wieder hereingestolpert, mit einem Korbe, dem er eine goldene Kugel entnahm, er warf diese dem Mädchen zu, eine zweite, eine dritte — sie begann mit den ziemlich großen Kugeln zu jonglieren.
»Fabelhaft! Wie ist das nur möglich? Die Kugeln scheinen doch gar nicht an Fäden zu hängen?«
Ach, das war doch nur erst der Anfang!
Eine vierte Kugel kam hinzu, eine fünfte, sechste, siebente... ich weiß nicht mehr, wie viele Kugeln es waren, welche die Jongleuse die wunderbarsten Figuren in der Luft beschreiben ließ.
Wie dies ermöglicht wurde, habe ich auch niemals in meinem Leben erfahren, obgleich ich ähnliche Marionetten mit denselben Tricks noch später einmal gesehen habe: im Marionettentheater des Fürsten von Monaco. Ebenfalls wunderbar, rätselhaft, jeder Erklärung spottend — und dieses Marionettentheater ist in Monaco heute noch zu sehen.
Mir wurde damals gesagt, dass zum Beispiel dieses Kugelspiel magnetisch betrieben würde, die Kugeln würden abgestoßen und wieder angezogen — aber eine Erklärung gibt mir das durchaus nicht, ich glaube es überhaupt nicht. Jener Mann, der mir das sagte, war so ein Alleswisser. Ein geistreicher und ebenso praktischer Ingenieur, den ich deswegen fragte, zuckte hingegen die Achseln und sagte:
»Ich weiß es nicht. Mir ist das alles ebenso rätselhaft und unmöglich erscheinend wie Ihnen. Wenn man es weiß, dürfte es ganz einfach sein — so einfach, dass der Direktor, der dies alles allein leitet, für keinen Preis hinter seine Kulissen blicken lässt. Wenigstens keinen gewöhnlichen Sterblichen. Ich möchte es auch gar nicht, die hübsche Illusion wäre wohl sofort zerstört.«
Hier aber war es das erstemal, dass ich so etwas zu sehen bekam. Und dasselbe galt für alle anderen dieser Weltreisenden, die sonst schon alle Wunder der Erde kennen gelernt hatten.
Fürwahr — Blodwen hatte recht — wir bekamen etwas zu sehen, was wir nicht einmal im Traum für möglich gehalten hätten!
Dann kamen vier Akrobaten daran, welche die tollsten gymnastischen Sachen ausführten. Dass sich bei diesem Durcheinander die deutlich erkennbaren Drähte nicht verwirrten, wie die überhaupt nur von menschlichen Händen regiert werden konnten — unbegreiflich!
Dann zeigte sich ein menschliches Skelett, größer als die vorigen Figuren, so groß, wie die noch im Kreise herumsitzenden Hochzeitsgäste, und ferner eine dementsprechende Riesenspinne.
Beide tanzten zusammen einen Pariser Cancan.
Zuerst verlor das menschliche Skelett einen Knochen nach dem anderen, jeder Knochen hüpfte für sich auf der Bühne herum, wobei wiederum einmal deutlich sichtbar war, wie jeder einzelne Knochen seinen eigenen Faden hatte, wenn nicht, deren mehrere — dann verlor auch die Riesenspinne ihre Beine — die Knochen fügten sich wieder zusammen, aber in falscher Anordnung, die Spinne bekam die menschlichen Gebeine, und der Totenschädel tanzte auf Spinnenbeinen herum, einfach grässlich anzusehen — dann wieder ein buntes Durcheinander sämtlicher Knochen und Spinnenfüße — und dann ein Krach, ein Schnappen, und als ob jeder Knochen an einem Gummibändchen hinge, so waren sie plötzlich alle wieder zusammengeschnellt, das Skelett und die Spinne zeigten sich wieder in voller Ordnung.
»Magnetisch!«, ward auch hier eine altkluge Stimme laut.
»Nein, mit Magnetismus allein ist da nichts anzufangen«, entgegnete aber mein zweiter Maschinist Kienock, ein ganz tüchtiger Ingenieur, der die Elektrotechnik zu seinem Privatstudium gemacht hatte.
»Na, wie denn sonst?«
»Ich weiß es nicht, es ist mir rätselhaft, unerklärlich«, war die offene Antwort.
Der Vorhang fiel, doch nur für eine Minute, dann ging er wieder hoch. Der König und die ganze Hochzeitsgesellschaft war samt ihren Stühlchen schnell weggeräumt worden, dafür saßen da drei weibliche Puppen in Lebensgröße, wie Chansonetten gekleidet, die starren, aus Holz geschnitzten Gesichter auch ebenso geschminkt.
Als Chansonetten sollten sie sich denn auch produzieren. Aber was war das? Weshalb anstatt dünner Drähte ziemlich starke Seile, und weshalb diese ungelenken Puppenbewegungen, nachdem die Direktion, die dort oben auf dem Schnürboden arbeitete, schon solche Proben ihrer unglaublichen Kunstfertigkeit gegeben?
Eine Dame stand nach der anderen auf, klappte zusammen und sang einen englischen oder französischen Gassenhauer, manchmal die Arme, die Hände hebend, ausbreitend, mit dem Kopfe nickend, wackelnd, einen Fuß vorsetzend — alles so ungelenk, so unnatürlich wie möglich. Auch die Kinnladen waren beweglich, wurden, an einer Schnur befestigt, ebenfalls manchmal auf und zu geklappt. Nur, dass dies sehr oft nicht stimmte. Sollte die Puppe gerade ein a singen, oder vielmehr wenn sie es wirklich sang, hatte sie den Mund gerade zu, und dann, bei einem langgedehnten iiii, oder wenn sie ganz schwieg, hatte sie das Maul wieder sperrangelweit aufgesperrt.
Was sollte diese Kunstlosigkeit bedeuten? Umsonst wurde dieser plötzliche Gegensatz doch nicht herbeigeführt.
Und in Erwartung dessen, was da noch kommen was dies erst vorbereiten sollte, vergaß man ganz, dass hier noch etwas anderes gezeigt wurde.
Diese lebensgroßen Puppen schienen nämlich wirklich selbstständig zu singen, wenn auch die Mundbewegungen nicht dazu stimmten. Oben in den Soffitten musste ein Bauchredner sein, der den Gesang nach unten dirigierte.
Gut, sehr hübsch gemacht, aber wozu dann diese Unnatürlichkeit der lebensgroßen Puppen? Das wäre nicht nötig gewesen, das hätte man anders arrangieren können und sollen.
Jede Puppe hatte ein Lied zum Besten gegeben, nun kam wieder die erste daran, dann wieder die zweite.
Das war abermals unnötig, die Sache wurde bald langweilig, denn nicht einmal die Lieder brachten besondere Abwechslung.
Während sich also die zweite Dame wieder ungelenk erhob, passierte der ersten, als sie sich setzen wollte, noch ein Malheur. Ihr Stuhl kippte um, und sich so niedrig zu setzen, darauf schienen die Schnüre nicht eingerichtet zu sein — kurz und gut, die Dame konnte sich nicht wieder ordentlich auf den doch überdies umgekippten Stuhl setzen, blieb halb in der Luft schweben und bot so ein unsagbar klägliches Bild.
Unterdessen war also die zweite aufgestanden, begann wieder ein französisches Lied zu singen, welches auf die ganze Marionettenspielerei einen Bezug hatte, wie sie aus dem Kasten genommen worden sei usw.
Diesmal aber blieb sie nicht nur so stehen, höchstens ab und zu einen Fuß hebend, sondern sie bewegte sich vorwärts, freilich mit unbeholfenem, schleppendem Gange, immer weiter, auch so mit den Armen und Händen zuckend und mit dem Kopfe nickend — bis an die vom Podium herabführenden Stufen — und was war das? — die menschengroße Puppe war imstande, diese auch hinabzusteigen — und dann war sie unten, bewegte sich unbehilflich, die starren Augen in dem angemalten Gesichte ins Leere gerichtet, auf uns zu, gerade auf mich...
Bin eine geschnitzte Marionette,
Trete auf als Chansonette...
Da stand die lebensgroße Puppe vor mir — streifte die Schnüre von den Handgelenken und vom Halse — dann hob sie die Hand und gab mir einen leichten Schlag auf die Schulter — und dann ein Lächeln in diesen sonst so starren, angemalten Zügen, lustig blitzten plötzlich die Augen auf — und dann eilte sie mit leichten Schritten wieder die Stufen zur Bühne hinauf, wo soeben die anderen beiden Puppen schlenkernd in die Höhe gezogen wurden.
Ich kann nur sagen, dass mir zumute gewesen war, als hätte ich wirklich einmal ein Gespenst gesehen, und so war es auch allen anderen zumute, als sich die vermeintliche Puppe plötzlich in einen richtigen Menschen, in eine wirkliche, lebenswarme Dame verwandelte.
Ich hoffe, der Leser versteht, worauf es hier ankommt. Niemand hatte doch auch nur eine Ahnung gehabt, dass hier ein richtiger Mensch nur eine Puppe markiert hatte. Ich selbst hätte doch gleich meinen Kopf dagegen gewettet. Die beiden anderen, das waren richtige Puppen — aber die mittelste, das war eine lebendige Dame gewesen, welche eine Puppe nur markiert hatte.
Aber nun wie!! Auch nicht der geringste Unterschied zwischen hier und dort. Und nun versuche einmal ein anderer, das nachzumachen! Man hatte uns einmal eine Probe geben wollen, dass sie in der Täuschung auch das Gegenteil erreichen konnten!
Während die beiden Puppen noch in der Luft herumschlenkerten, verbeugte sich das lebendig gewordene Pendant lächelnd — und die Dame hatte den jetzt tosend ausbrechenden Beifall reichlich verdient — dieser verstummte nur, als auf der Bühne auch noch jener Diener erschien, jetzt aber die ganze Brust mit funkelnden Orden bedeckt — und an der Hand wurde er geführt von Blodwen, die eine dekolletierte Gesellschaftstoilette trug.
Sie trat schnell in die Mitte, fasste auch noch die Hand der lebendig gewordenen Puppe und stellte vor:
»Mylords und Gentlemen — ich erlaube mir vorzustellen — Professor Giuseppe Maltorino und seine Tochter, Signorina Arabella, Hofmarionettenkünstler Seiner Majestät des Sultans der Türkei, welche uns...«
Blodwen sprach noch weiter, jetzt aber hielten es meine Jungen für nötig, die also Vorgestellten mit johlenden Beifallsrufen zu begrüßen.
Mein zweiter Steuermann ließ ungeniert seine Bootsmannspfeife gellend ertönen — ›Pfeifen und Lunten aus, Ruhe an Bord‹ — das gewohnte Signal wirkte sofort, plötzlich herrschte Todesstille, unterdessen schien aber Blodwen immer weiter gesprochen zu haben.
»... das ist aber auch der einzige Blick, den diese Künstlerfamilie hinter ihre geheimnisvollen Kulissen gestattet. Sie werden also, wie gesagt, fünfundzwanzig Figuren gleichzeitig tanzen lassen, wobei sie bei ihrer Direktion zu beobachten sind.«
Blodwen verneigte sich, desgleichen Vater und Tochter, der Vorhang fiel.
In dem Saal schwirrte das Gespräch durcheinander — doch nicht lange, so ging der obere Teil des Vorhanges in die Höhe — also jener Teil, der sonst die Soffitten verbarg.
Man sah in heller Beleuchtung den Professor und seine Tochter stehen, also hoch oben über der Bühne — wohl auf Balken, das war nicht deutlich zu unterscheiden — Stöcke in der Hand, die sie aber auch manchmal zwischen die Zähne nahmen, blitzschnell, dann warfen sie sich diese Stöcke wieder gegenseitig zu, und dann klabusterten sie mit den Fingern immer um sich in der Luft herum.
Ehe ich noch ahnte, was das eigentlich bedeuten sollte, ging auch der untere, große Vorhang in die Höhe, so, dass die beiden noch immer zu sehen waren, und unten auf der Bühne tanzten eine ganze Masse von allerliebsten kleinen Balletteusen herum, auch nur einen Viertelmeter groß, im flitterbesetzten Gazekleidchen.
Da sie manchmal Gruppen bildeten, hatte man schnell heraus, dass es fünfundzwanzig Stück waren.
Ja, aber wie war das nun möglich?!!
Es war ein vollständiges Ballett, was wir da zu sehen bekamen, nach der Musik getanzt. Und keine einzige Puppe stand auch nur eine Sekunde still. Mit Ausnahme, wenn es sein musste, wenn etwa die Vortänzerin sich produzierte.
Wie die fünfundzwanzig Püppchen nun die Tanzfiguren beschrieben, wie sie schwebten und sich neigten, mit ihren Schleiern Wolken bildend, die Röckchen hoben, wie sie auf den Zehenspitzen Beine werfend vormarschierten, manchmal in Gruppen, manchmal alle zusammen — und wenn dann die Primaballerina ankam, noch ganz anders die Beine schmeißen könnend als die da, wenn sie graziös hin und her schwebte, sich auf der Zehenspitze blitzschnell ein Dutzend Mal um sich selbst drehte — und als dann nun gar erst ein Ballettmeister hinzukam, was für Mätzchen der erst machte — Himmeldonnerwetter noch einmal...
Ja, und wer setzte alle diese fünfundzwanzig oder jetzt sogar sechsundzwanzig Figuren gleichzeitig in Bewegung?
Nur die beiden Personen dort oben, die sich immer die Stöcke zuwarfen, diese sogar mit den Zähnen auffingen, dabei mit den Händen in der Luft herumfuhren.
Nur mit diesen ihren beiden Händen, an denen je fünf Finger waren, beherrschten sie diese sechsundzwanzig Figuren, hatten sie an all diesen für uns zahllosen Drähten und Schnürchen zu ziehen und zu zupfen und zu schlagen!
Sie hatten nicht einmal nötig, ihre Figürchen im Auge zu behalten, siegesbewusst lächelten uns Vater und Tochter zu...
»Bitte, Mylord, machen Sie Ihren hochedlen Mund zu, Sie könnten sonst die Maulsperre kriegen«, hörte ich einen der Seezigeuner sagen.
Diese Ermahnung konnte für uns alle gelten.
Der Vorhang war gefallen. Ich war von meinen Jungen getrennt worden, ohne dass dies mir recht bewusst geworden — ich befand mich mit den übrigen Herren, aber auch mit beiden Offizieren, in einem anderen Saale, prächtig ausgestattet, durch Kronleuchter hell erleuchtet, und durch die offene Tür sah man im Nebensaale eine reichgedeckte Tafel.
Da tauchte vor meinen noch ganz traumverlorenen Augen Blodwens schlanke Gestalt auf, noch in jener dekolletierten Gesellschaftstoilette.
»Nun, Mylords und Gentlemen«, lächelte sie uns entgegen, »habe ich mein Versprechen eingelöst? Haben Sie so etwas schon jemals gesehen?«
»Mylady, wir sind einfach baff!«
Das heißt, diese Worte selbst sagte wohl niemand — sie sollen nur den Inhalt sämtlicher Ausrufe wiedergeben, die jetzt von allen Seiten fielen, wohl zehn Minuten lang.
Einer suchte den anderen immer an Ausdrücken des Staunens zu überbieten, und sogar ich machte da mit, obgleich so etwas sonst meinem Charakter ganz fremd ist.
Ja, sogar der hünenhafte Australier, Mr. Rug, sonst das Phlegma selbst, ließ sich zu staunenden Komplimenten hinreißen... bis er auf einem Seitentischchen eine Karaffe mit Kognak entdeckte, da widmete er dieser sein ferneres Interesse.
Dann wurde die Unterhaltung, die in dem Vorzimmer zum Speisesaale stattfand, doch etwas sachgemäßer.
»Woher haben Sie diese göttlichen Marionettenspieler nur?!«
»Wie gesagt, direkt vom Hofe des Sultans, wo sie bisher wie die Gefangenen gehalten wurden, um mit ihren Spielen die Haremsdamen zu ergötzen.«
»Ja, wie sind Sie aber dazu gekommen? Hat der Sultan sie Ihnen abgetreten?«
»O nein, da wäre nichts zu machen gewesen. Ja, meine Herren, das ist eine lange Geschichte. Ich kann nur Andeutungen machen. Außerdem ist auch meine Zunge in verschiedenen Sachen gebunden. Als mein Entschluss gefasst war, mich hier auf dieser Insel häuslich niederzulassen und darauf etwas zu schaffen, was die Welt noch nicht gesehen hat, sah ich mich zunächst nach so einem Manne um, der... na, Sie wissen schon, so ein Kerl, der alles arrangiert, alles weiß und alles kann...«
»Ein Entrepreneur, ein Impressario.«
»Jawohl, jawohl! Es war ein Zufall, dass mir ein solcher gerade in den Weg lief — der Vergnügungsrat des türkischen Sultans, der seinen Posten verlassen hatte, und mit ihm waren auch die beiden Marionettenspieler desertiert. Es ist ein Armenier namens Papapopulos, ein Mann, der...«
»Papawat?«, ließ sich Mr. Rug, die halbgeleerte Kognakflasche in der Hand, vernehmen.
»Papapopulos ist mein Name.«
»Papapoplewat?«
»Papapopulos.«
»Paplepoplewat?«, fing der Australier immer wieder an, jetzt auch noch die Hand vors Ohr legend. »Bitte, Mylady, sprechen Sie diesen Namen doch einmal recht deutlich aus, er interessiert mich sehr.«
»Pa—pa—po—pu—los«, buchstabierte Blodwen, schon mit lachendem Munde.
»Po—pu—pa«, machte Mr. Rug nach, »pollepullewat?«
»Um Gottes willen, Mister Rug!«, mischte sich jetzt Lord Seymour ein. »Lassen Sie doch endlich Ihre Popelei, bleiben Sie doch bei Ihrer Kognakflasche! Papapopulos, Papapopulos, Papapopulos — kapiert?«
»Paplaspoplos«, nickte der Australier zufrieden und schenkte sich sein Wasserglas wieder voll Kognak.
Also, dieser Papapopulos, der früher das Amt gehabt, aus dem Harem des türkischen Sultans die Langeweile zu vertreiben, stand jetzt in Blodwens Diensten.
Während Blodwen sich mit den konföderierten Kapern herumgeschlagen, auch schon vorher, hatte Papapopulos hier für ihre Bequemlichkeit und für ihr späteres Amüsement gesorgt.
Er ward uns vorgestellt, ein echter Armenier, anscheinend noch ein Knabe, dem der erste Flaum auf der Oberlippe spross, von kleiner Figur, mit etwas wehmütig geschweiften Beinen, runden Eulenaugen und sehr starker Nase.
Dieser Knabe — in dessen Alter man sich freilich auch sehr täuschen konnte — sollte vierzehn Sprachen beherrschen. Wolle sich der Leser nicht wundern. Dort hinunter ans Mittelmeer muss man gehen, will man Menschen kennen lernen, welche ein Dutzend Sprachen reden, ohne sie eigentlich gelernt zu haben. Am Londoner Hauptpostamt ist als Dolmetscher ein Neger angestellt, der in achtzehn Sprachen Auskunft gibt, und nicht etwa, dass er nur gewisse Redensarten kann, sondern er beherrscht diese achtzehn Sprachen vollkommen, mit allen Finessen. Durch den hat schon mancher Ungläubige seine Wette verloren.
Wie ich jetzt noch so nebenbei erfuhr, war Papapopulos nicht eigentlich im Harem des Sultans angestellt gewesen, sondern er hatte die Welt bereist, um bekannte Künstlerspezialitäten für den Harem zu engagieren, nur einmal für kurze Zeit... ein richtiger Entrepreneur, eben allein in Diensten des Sultans stehend, und dieser ist ja nach dem Zaren der reichste Monarch Europas, der kann es sich leisten. Staatsschulden haben bekanntlich mit dem persönlichen Vermögen nichts zu tun, sonst wäre der Schah von Persien der allerärmste, während er in Wirklichkeit der allerreichste Fürst auf dieser Erde ist.
Er war uns also vorgestellt worden.
Auf mich machte Monsieur Papapopulos von vornherein einen höchst unangenehmen Eindruck. Weshalb, konnte ich nicht recht definieren. Es war die Jugend, die sich mit dieser übergroßen Welterfahrung nicht zusammenreimen wollte. Es war etwas Unnatürliches an der ganzen Person.
Auf den Australier machte der junge Armenier einen anderen Eindruck, er vergaß wieder einmal die Beschäftigung mit der Kognakflasche.
»Papa... bitte, wie war Ihr werter Name?«
»Papapopulos.«
»Papapoplewat?«
»Pa—pa—po—pu—los.«
»Pa—po—puuuhhh... äh, wissen Sie was? Sagen wir einfach Papa Popelmann. Prost!«
Das nächste war, dass ich mich in einer Ecke durch Blodwens Vermittlung mit Baron Ralph versöhnte.
Es lag ja nicht an mir, sondern an ihm, und Blodwen war heute wirklich von einer unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit.
»Dann zu Tisch, wir wollen Versöhnung feiern!«, rief sie fröhlich wie ein Kind.
Ich saß nicht neben ihr, ihr nicht direkt gegenüber, aber ich hatte nur Augen für sie. Blodwen war nicht wiederzuerkennen.
Nur im Anfange waren Diener behilflich, dann waren wir zwanglos unter uns.
Zuerst drehte sich die Unterhaltung noch immer um die Marionettenkünstler.
»Weshalb haben sie denn den Hof des Sultans verlassen? Oder gar geflohen?«
Die Fragen und Antworten schwirrten so durcheinander, dass es niemals zu einer richtigen Erklärung kam.
Nur eines wurde festgesetzt. Warum die Marionettenspieler erst die plumpe Komödie aufgeführt hatten. Nun, einfach deshalb, damit die Überraschung durch den Kontrast dann um so größer sein musste. Ganz raffiniert ausgedacht.
Nur der Australier, dessen Zunge immer schwerer wurde, hatte wieder für etwas ganz Besonderes Interesse.
»Bitte, wie war Ihr werter Name?«, fragte er den gegenübersitzenden Armenier.
»Papapopulos.«
»Paplepaplewat?«
»Pa—pa—populos.«
»Kann mir diesen vertrackten Namen nicht merken. Auf Ihr Wohl, sehr geehrter Herr Popelmann.«
Fünf Minuten später ging dieselbe Geschichte schon wieder los, bat Mr. Rug den Armenier schon wieder um den Namen, und so ging das immer weiter. Der knabenhafte Weltmann aber war nicht aus dem Konzept zu bringen, zu beleidigen war der überhaupt nicht, es war ihm auch tatsächlich nichts anzuhaben, und der hünenhafte Australier, der die starken Getränke nur so hintergoss, näherte sich merklich seinem Ende, er verdrehte den für ihn so schwierigen Namen mit seiner Zunge immer mehr.
»Warum haben Sie Ihre schöne Freundin nicht mitgebracht, Herr Kapitän?«, wandte sich Blodwen einmal direkt an mich.
O, es war eine fatale Frage!
»Ich weiß schon, weiß schon«, fuhr Blodwen gleich mit ihrem liebenswürdigsten Lächeln fort. »Aber weshalb haben Sie eigentlich Ihr Schiff vom Lande verholt?«
Gegen diese Frage war ich eher gewappnet.
»Mir ist heute ein Gefangener entflohen!«
»Ein Gefangener?!«, rief Blodwen mit großen Augen. »Was für ein Gefangener?«
»Den ich schon seit langer Zeit an Bord gefangen halte.«
»Ja, aber wer ist es? Weshalb halten Sie ihn gefangen?«
»Mylady, wenn ich Sie später einmal darüber sprechen dürfte...«
»Selbstverständlich! Ich stehe immer zu Ihrer Verfügung. Nein, nein, nicht hier, wenn Sie es nicht wünschen. Es ist nur, wenn sich der Flüchtling in die Berge zurückgezogen hat, vielleicht bewaffnet, zu allem entschlossen...«
»Nein, er hält sich noch an Bord verborgen.«
»Bitte, wie war doch Ihr werter Nnnnname?«, fing jetzt der Australier wieder an, »Papapapapapopopo...«
»Pa—pa—po—pu—los«, buchstabierte sein Gegenüber ungerührt. »Paplepaplepapaapolle...«
Bums! Endlich hatte der Alkohol den Sieg davongetragen; Mister Rug war wie gewöhnlich mit seinem Stuhle umgefallen, fing sofort an zu schnarchen.
Diener wurden gerufen, und als sie ihn anfassten, um ihn hinauszutragen, hörte er einmal auf zu schnarchen, aber er schlief weiter, und langsam, klar und deutlich kam es über seine Lippen:
»Pa—pa—pe—pi—po—pu—polos... Jonny, Brandy mit Zucker.« — — —
Ich befand mich auf dem Nachhausewege, hinter mir meine lärmenden Jungen, die zum Teil auch stolperten.
Wie mir zumute war, kann ich gar nicht schildern.
Selig, und dabei dennoch von Scham zerknirscht!
»Käpt'n«, fing Kienock einmal an.
»Was?«
»Wenn ich einmal sprechen dürfte!«
»So sprecht doch.«
»Die Lady Blodwen —«
»Na?«
»Wir hätten sie doch nicht — doch nicht — von — von Bord — gehen lassen sollen... öööööhhhh.«
Und mein Kienock stellt sich hin und fängt an zu heulen wie ein Kettenhund. Er hatte das besoffene Elend. Ja, aber ich...
Blodwen war von einer bestrickenden, von einer einfach bezaubernden Liebenswürdigkeit gewesen. Nicht etwa gegen mich allein — gegen mich vielleicht am allerwenigsten — im Allgemeinen.
»Käpt'n, weshalb sollten wir denn nur die Revolver mitnehmen?«, fragte Martin.
»Um uns für unsere eigene Dummheit eine Kugel durch den Kopf zu schießen«, lautete meine sehr ungerechte Antwort.
So erreichten wir Boot und Bord nachts um zwei Uhr. Von Doktor Selo war nichts gesehen worden. Es war mir höchst gleichgültig.
Nachdem ich noch ein Meerbad genommen, ging ich zur Koje. Aber gar lange floh mich der Schlaf. O, diese Gedanken, die auf mich einstürmten!
Tränen habe ich geweint — Tränen der bittersten Reue!
Dann gaukelte mir der lose Traumgott reizende Bilder vor — Bilder von Versöhnung und von... von Gott weiß was.
Und als ich erwachte, nüchtern und mit klarem Kopfe, war meine Stimmung noch immer nicht umgeschlagen.
»Atlanta, geh doch einmal zu Lady Marion, ich möchte sie gern sprechen.«
»Aber es ist erst fünf Uhr, Richard.«
»Hast du nicht immer Zutritt zu ihrer Kabine?«
»Das wohl, wir plaudern ja oft genug zusammen, wenn sie noch in der Koje liegt, aber...«
»So gehe, wecke sie auf, bringe ihr so nach und nach bei, dass ich sie sprechen möchte, sei ihr beim Ankleiden behilflich. Es handelt sich um etwas ganz Wichtiges.«
Atlanta lag selbst noch in der offenen Koje. Traurig blickte sie mich an.
»Was hast du denn, Atlanta?«
»Sonst nennst du mich immer Darling«, war die leise Entgegnung.
»Nun, was ist dir denn, Darling?«, suchte ich zu lächeln.
»Nun hast du schon so viel mit mir gesprochen und hast mir noch keinen Kuss gegeben.«
Ich beugte mich herab und küsste das schöne Weib.
»Das war nicht so wie sonst.«
»Na da... und nun sei ein artiges Kind, Darling, stehe auf und gehe zur Lady.«
Etwas verstört, wenigstens von unangenehmen Empfindungen bewegt, verließ ich die Damenkabine.
Mit einem Male ertappte ich mich, wie ich mir die Frage vorlegte:
»Welchen Platz nimmt eigentlich dieses schöne Weib in deinem Herzen ein?«
Ich schüttelte diesen fragenden Gedanken von mir.
Atlanta war mir gegenüber ein gehorsames Kind, ohne eigenen Willen.
Ist es nicht vielleicht ganz gut, wenn eine geliebte Person manchmal ihren eigenen Willen hat? Ein Streit ist manchmal deshalb gut, weil die Versöhnung dann umso schöner ist.
Doch fort mit solchen Gedanken!
An Deck fragte ich wegen des Entflohenen, was meine erste Frage hatte sein sollen.
Nicht gesehen, nichts bemerkt.
Mir auch ganz gleichgültig.
Mehr als eine Stunde hatte ich so noch zu vertreiben, ehe die Lady Marion mit ihrer Kladderage und ihrer Pinselei so weit war, dass ich sie in der Kajüte sehen durfte.
So hatte ich auch Zeit gehabt, meinen Entschluss zu fassen. Offen heraus!
»Mylady, ich habe Ihre Frau Schwägerin gesprochen, meine Ansicht hat sich geändert. Blodwen führt gegen Sie und Ihre Brüder durchaus nichts Böses im Schilde, das war ein grauenvoller Irrtum von uns, ein Unrecht — Sie können sich ihr ganz anvertrauen.«
So sprach ich! Ich war eben gestern Abend zu einer anderen Kenntnis gekommen, hatte meine frühere bereut, hatte mich geschämt, und damit basta!
Menschen, Männer werden oftmals inkonsequent oder gar charakterlos genannt, wenn sie einmal ihre Ansicht ändern, mehrmals ändern, etwa in Sachen der Politik. Mit Unrecht, denke ich. Die Erkenntnis des Menschen wächst mit der Lebenserfahrung, manchmal auch in einem Augenblicke, und ich finde es viel männlicher, diesen begründeten Wechsel seiner Ansichten gleich offen zu bekennen, anstatt aus falscher Scham, inkonsequent genannt zu werden, bei seiner früheren Ansicht zu beharren. Das ist sogar jene Sünde gegen den heiligen Geist, von der es heißt, dass es die einzige Sünde ist, die niemals verziehen werden kann — das bewusste Verleugnen der Wahrheit.
Bei der Lady Marion kam ich da freilich zuerst schön an!
Sie fing wieder an mit Hautabziehen und Rösten und dergleichen.
»Papperlapapp«, unterbrach ich grober Seebär die so wunderschön angemalte Dame, denn anmalen tat sie sich auch, es war ja auch eine ganz Feine, »mit diesem Argwohn begehen wir gegen Lady Blodwen ein sehr großes, ein unverzeihliches Unrecht...«
Und ich sprach noch weiter, ganz energisch, und es gelang mir wirklich, die Ängstliche anderen Sinnes zu machen.
Zum Glück fragte sie mich nicht, ob dies alles mir Blodwen selbst gesagt habe. Zwar war es ja weit besser so, dass ich zu diesem Resultate durch eigenes Beobachten gelangt war, ohne Blodwens eigene Worte, aber das hätte ich der doch schwer beibringen können.
»Übrigens bleibt ja meine Garantie bestehen. Wenn Sie wünschen, will ich Sie wieder nach England zurückbringen, oder wenn nicht ich selbst, was seine Schwierigkeiten haben dürfte — Sie kennen ja meine Vogelfreiheit — so werde ich doch für Ihre Überführung nach England sorgen, und ich garantiere nach wie vor, dass Ihnen Lady Blodwen kein Haar auf Ihrem so schön frisierten Schädel krümmen wird.«
Na, endlich hatte sie auch gar nichts mehr einzuwenden.
»Sie wollen mich hinbringen zu ihr?«
»Vielleicht kann die Familienberatung ja auch bei mir an Bord stattfinden.«
»Ja, das wäre mir auch lieber, das schlagen Sie ihr vor.«
»Gut, ich gehe sofort hin zu ihr. Aber wenn Blodwen bittet, dass Sie sich zu ihr begeben möchten, werden Sie es auch tun?«
»Unter Ihrer Garantie, ja.«
Ich begab mich stehenden Fußes hin, obgleich es erst in der siebenten Stunde war.
An Land war es natürlich schon lebendig. Viele Arbeiter, die ihrer Beschäftigung nachgingen, besonders sich mit großen Steinblöcken herumbalgten, hackten und schaufelten.
Was hier eigentlich alles schon geschaffen worden war und noch vorgenommen werden sollte, darum hatte ich mich noch gar nicht gekümmert, und auch gestern Abend war darüber nicht gesprochen worden.
In einem mit Graben durchzogenen Gelände, das ich passieren musste, sah ich hoch zu Ross, und zwar auf einem prachtvollen Rosse, den Monsieur Pa—pa—pe—pi—po—pulos halten, und neben ihm stand ein englischer Ingenieur in Kniehosen mit seinem Messinstrument, der dem Reiter Pläne hinaufreichte, die von jenem geprüft wurden.
Also nicht nur um Marionettenspiele und dergleichen Allotria, sondern auch um ernste Arbeiten schien sich dieser knabenhafte Armenier zu kümmern — vorausgesetzt, dass hier überhaupt etwas ernst genommen werden durfte.
Jedenfalls aber zeigte das, wie hier alles in dieses Knaben Hand gegeben war, und das war sehr wohl zu beachten.
Noch ehe ich eine Bewegung nach der Mütze gemacht, grüßte er sehr höflich, und ebenso dankte ich auch.
»Wie ist Ihnen der Abend bekommen, Herr Kapitän?«
»Danke, gut, wie immer. Wissen Sie, ob wohl Lady Blodwen schon zu sprechen ist?«
Er sah nach seiner Uhr. »Ja, gerade jetzt ist die günstigste Zeit, wenn Sie einer solchen überhaupt bedürften. Sie sitzt jetzt täglich zwischen sieben und acht dem Mijnheer van Zyl.«
»Sie lässt sich wohl malen?«
»Jawohl.«
»Wo habe ich sie da zu suchen?«
»Im indischen Bungalow. Gehen Sie nur... oder — hier, Hassan, führe den Herrn nach dem indischen Bungalow!«
Das heißt, ich glaube, dass er dies einem Inder zurief, er bediente sich dabei einer mir unbekannten Sprache, jedenfalls des Hindustanischen.
Der halbnackte Kuli ließ seine Hacke fallen, ich folgte ihm. Es waren hier überhaupt sehr viele Inder und auch Chinesen beschäftigt, viel weniger Neger.
Da aber, als ich dem Inder schon eine Strecke gefolgt war, sah ich doch einen echten Afrikaner, einen pechschwarzen Kerl, dabei entsetzlich hässlich, besonders durch eine Hasenscharte entstellt, wie ich eine solche noch gar nicht gesehen...
Und doch, wo hatte ich denn dieses Bulldoggengesicht nur schon einmal gesehen?!
Ich blieb stehen, der Neger auch, grinste mich zähnefletschend an.
»Ja, wie ist mir denn — wir sollten uns doch schon kennen...«
»Nix verraten, Massa Käpt'n, nix verraten«, gurgelte die Hasenscharte.
»Bist du denn nicht... auf dem Zirkusschiff gewesen? — Auf dem ›Karbunkel von Liberia‹? — Bei Karlemann?«
»Weiß nix, Massa, weiß gar nix«, grinste der Neger weiter, blinzelte dabei aber auffallend mit den Augen.
Na, wenn er nichts verraten durfte, da wollte ich mich auch nicht weiter aufhalten.
Sollte Karlemann mit seinem ›Karbunkel‹ hier sein? Es wäre gar nicht so unmöglich, er konnte ja auf einer anderen Seite der Insel liegen.
Jedenfalls aber stand Blodwen mit Karlemann in irgendwelcher Verbindung.
Als dritten Bekannten sah ich Mister Rug. Er trat eben aus einem Hause, sah frisch und munter aus, hatte ein Paket in beiden Händen, anscheinend eine Flasche, in ein nasses Tuch gewickelt, die er aus Leibeskräften schüttelte.
Hatte dieser Mensch eine Natur! Gestern Abend sinnlos betrunken gewesen — und was dazugehört hatte, um diesen Hünen so weit zu bringen, ich glaube, da musste man mit Eimern rechnen, und zwar nur starke Spirituosen! — und jetzt, kaum fünf Stunden später, wieder frisch und munter auf den Beinen, kein aufgeschwommenes Gesicht, keine Röte, keine trüben Augen — ihm absolut nichts anzusehen, und das Ding mit einer Vehemenz schüttelnd, die mir Kopfschmerzen verursacht hätte.
»Was machen Sie denn da, Mister Rug?«
»Na, raten Sie mal.«
»Sie machen wohl Buttermilch?«
»Buttermilch? Nee, da ist was Besseres drin als Milch. Das ist Hahnenschwanz.«
»Was ist das?«
»Hahnenschwanz, Cocktail, Brandy, spanisch Bitter, Kümmel, Angostura... und was sonst noch dazu kommt, das verrate ich nicht. Das ist mein eigenes Rezept. Hat mir genug Mühe gekostet, die richtige Mischung herauszufinden.«
»Und das muss so geschüttelt werden?«
»Ja. Wegen des Zuckers. So einfach verrührt darf der nicht werden. Schütteln muss man, und das kräftig. Jaa«, setzte er seufzend hinzu, »man hat seine liebe Not, sich anständig durchs Leben zu schlagen.«
»Und wenn das Zeug fertig ist, wollen Sie wohl gleich davon trinken?«
»Nu natürlich!«, war die vergnügte Antwort. »Mit Cocktail spüle ich mir früh immer den Mund aus. Das heißt, ich schluck's hinter. So, wollen mal sehen, wie weit es ist. Will mal kosten.«
Er wickelte die Flasche aus dem feuchten Tuche, eine Literpulle, entkorkte sie, setzte sie an, um einmal zu kosten — gluck gluck gluck gluck — und als er sie absetzte, war die ziemlich voll gewesene Literpulle leer.
»So, nun ist ein solider Grund geschaffen. Käpt'n, ich habe in meinem Koffer einen famosen Stoff, einen dreißigjährigen Whisky...«
Ich machte, dass ich fortkam. Mir graute. Nein, mit dem konnte ich es bald nicht aufnehmen.
Bungalow heißt in Indien ursprünglich die primitive Hütte des Eingeborenen, aus Bambus errichtet, mit Palmblättern gedeckt. Wir Europäer, besonders die Engländer, haben daraus ein hölzernes Wohnhaus gemacht.
Was wir heutzutage ›schwedisches Blockhaus‹ nennen, heißt in England alles ›Bungalow‹, dem Indischen entnommen, gleichgültig, ob das Wohnhaus aus schweren Balken oder aus dünnen Brettern besteht.
Dies hier war ebenfalls eine echte indische ›Hütte‹, vielmehr ein recht stattliches Wohnhaus aus Holz, aber der indische Charakter war aufs treueste gewahrt. Mochte das Dach auch durch Schiefer geschützt sein, so war es doch immer noch mit Binsen und Palmblättern bedeckt, die Wände mit Bambusrohr verkleidet — und nun außerdem ringsherum natürliche Palmen von ansehnlicher Größe und andere exotische Gewächse, die hier schon gediehen, in einem kleinen Teiche fehlten die Lotosblumen nicht — eine echt indische Wildnis im Kleinen, in die sich ein reicher Sonderling ein bequemes Wohnhaus hatte bauen lassen.
Hier hätte ich recht gern für immer wohnen mögen — bis mich nach drei Tagen die unbändige Sehnsucht nach dem Meere gepackt hätte.
Ein halbnackter Inder mit mächtigem Turban, der auf der Veranda gehockt hatte, erhob sich bei meinem Anblick.
»Befindet sich die Lady hier?«
»Ja, Sahib.«
»Ist sie zu sprechen?«
»Nein, Sahib.«
»Aber ich will sie sprechen, melde mich an, den Kapitän von der ›Sturmbraut‹.«
Vorher noch redete mein Führer heftig auf seinen Landsmann ein, jetzt machte dieser lange Beine, um gleich wieder zurückzukehren.
»Ihre Herrlichkeit lässt bitten.«
Ich marschierte durch einige mit Teppichen und Bambusmöbeln und Kinkerlitzchen vollgepropfte Zimmer. Mehr als mein Auge interessierte sich meine Nase.
Schon draußen hatte ich es gerochen, hatte es aber nicht glauben wollen, hier drin ließ es sich nicht mehr ableugnen. Es roch überall nach — nach... nach Großvaters Tabakspfeife, nach so einer langen, aus der so grober Rippentabak geraucht wird, Kreller A B, das Pfund vier Groschen.
Und immer stärker ward dieser trotz allen Gestankes so anheimelnde Duft, die Luft ward blau, immer undurchsichtiger, und als der letzte Vorhang beiseite geschoben wurde, musste sich mein Auge erst an die Götterdämmerung gewöhnen.
Lange dauerte dies allerdings nicht. Dann war dieser Nebel kein Hindernis mehr für mein Auge.
Da war zunächst der Mann — der Gott, der diese Dämmerung schuf. Es war ein kleiner, unansehnlicher Mann, fast ärmlich gekleidet, Knie und Ellbogen durchgescheuert, ein sommersprossiger Strohkopf, Kinn und Backen voller Stoppeln, die er anscheinend manchmal nur mit der Schere abschnitt — und paffte mächtig hinter der Staffelei aus einer kurzen, neuen Kalkpfeife jenen groben A B, ein Kunststück, das ihm so leicht niemand nachmacht, dazu muss man nämlich statt einer Zunge ein Reibeisen im Munde haben — paffte dermaßen, dass die vier offenen Fenster nicht für den Abzug genügten.
Was ich aber nun auf der metergroßen Leinwand erblickte, das veranlasste mich, schnell mein Auge auf das Original zu richten.
Da lag auf einem Teppich ein mächtiger Tiger — kein nachgemachter, kein ausgestopfter, sondern ein lebendiger, denn er wackelte mit dem Schwanze — lag langausgestreckt auf dem Bauche, nicht auf der Seite — und auf dem Rücken dieses Tigers wiederum lag — hingegossen, wie man sagt — Blodwen, phantastisch als Inderin gekleidet, etwas dürftig, das heißt, etwas kurz und etwas durchsichtig, aber nicht gerade unanständig, man sah immer noch, dass sie etwas anhatte, Sandalen an den Füßen und um die Waden kreuzweise rote Riemen, und dann ein bisschen gar nichts, bis dann wieder die Gaze anfing — und an den nackten Armen und an dem nackten Halse eine Unmenge von Ringen und Ketten, Gold und Perlen und Edelsteine und anderen Klimbim, auch so durch das offene Haar geflochten, und auf dem Kopfe auch so eine niedliche Krone — und so lag sie auf dem Rücken des Tigers lang ausgegossen oder wohl richtiger hingegossen, den rechten Ellbogen dem Vieh in den Nacken gestemmt, und in dieser Hand den Kopf, in der anderen eine Lotosblume, und so himmelte sie.
»Schieben Sie die linke Pfote etwas mehr vor«, sagte in dem Augenblick, als ich eintrat, der menschliche, in voller Tätigkeit befindliche Vulkan.
Gehorsam hielt Blodwen ihre linke ›Pfote‹ mehr seitwärts.
»Die linke Vorderpfote meine ich.«
»Aber Mijnheer...«
»Die Vorderpfote des Tigers meine ich.«
Das hätte Blodwen doch eigentlich gleich von allein wissen müssen. Dass sie aber zuerst den Ausdruck ›Pfote‹ auf ihre eigene Hand bezog, das verriet, dass sie solche wenig höfliche Bezeichnungen von ihrem Maler schon gewohnt war.
Sie verbesserte die Lage des Tigers, der sich das ruhig gefallen ließ. Es schien überhaupt ein gemütliches Tier zu sein. Knurrte mich nicht an, fauchte nicht, zeigte keine Zähne — blinzelte mich nur vergnügt an und wackelte mit dem Schwanze.
»Ah, Herr Kapitän«, erklang es jetzt von diesem Tiger her mit Blodwens Stimme, »treten Sie nur näher. Sie brauchen sich nicht zu fürchten, der Tiger ist zahm.«
»Ja, das merke ich, und...
»... und es war ja auch nur Scherz von mir«, lachte Blodwen weiter. »Wird sich ein Richard Löwenherz vor solch einem armseligen Duodezfürsten des Dschungels fürchten! Können Sie mich überhaupt sehen?«
»So ziemlich.«
»Man muss sich nämlich erst an die Tabakswolken gewöhnen.
Denken Sie, raucht dieser holländische Unhold hier in meinem Heiligtume, welches von dem süßen Dufte exotischer Blumen erfüllt sein soll, seinen entsetzlichen Tabak! Aber was soll ich machen? Er sagt, er könne nicht malen, wenn er nicht rauche, und ich muss mich fügen. Mr. Richard Jansen, Kapitän der ›Sturmbraut‹, von dem ich Ihnen schon so viel erzählen musste — Mijnheer van Zyl, ein Künstler von Gottes Gnaden, aber ein Erzfaulenzer durch und durch.«
Die beiden schienen sich schon recht gut zu verstehen. Freilich — gesetzt den Fall, ich hätte noch Grund dazu gehabt — Eifersucht gegen diesen verstänkerten Strohkopf mit den Bartstoppeln konnte man nicht empfinden. Jedenfalls ein Original, das erkannte ich gleich.
Der Maler blickte einmal über seine Leinewand, knurrte etwas, schleuderte mir einige mächtige Wolken entgegen und pinselte weiter.
»Wie finden Sie meine Stellung oder vielmehr Lage?«, fragte Blodwen.
»Sehr nett.«
»Nett, nett«, wiederholte sie missbilligend. »Finden Sie da keinen anderen Ausdruck?«
»Nee«, entgegnete ich trocken, denn ich empfand, dass diese Art der Unterhaltung gefährlich werden konnte, obgleich sie mir sonst gerade gefiel.
Obgleich ich glaubte, sie hätte nun erwartet, von mir etwas wie ›pyramidal, gletscherhaft‹ und dergleichen zu hören, wie es ein geistloser Fatzke dem anderen immer nachplappert, brach sie trotz alledem in ein silbernes Lachen aus, zollte mir Beifall.
»Bravo, bravo!!«, rief sie also. »Da ist er ja wieder ganz, wie ich ihn kennen lernte, der trotzige Steuermann mit dem Kleidersack! So lobe ich ihn mir!«
Wie gesagt, ich wusste durchaus nicht, was ihr so an meinem einfachen ›Nee‹ imponiert hatte.
»Machen Sie den Mund zu«, knurrte es jetzt von der Staffelei her, »sonst setze ich Ihnen ein schwarzes Loch ins Gesichte.«
»Kapitän, diesen van Zyl müssen Sie kennen lernen«, lachte Blodwen trotz der fürchterlichen Drohung weiter, »der passt zu Ihnen an Bord. Ich glaube überhaupt, er hat starke Absichten, mit Ihnen in Verbindung zu treten, er hat sich so eingehend über Sie und über das Leben an Bord Ihres Schiffes erkundigt, obgleich Neugier sonst durchaus nicht die schwache Seite dieses ungeleckten Bären ist. — Nun, Herr Kapitän, was verschafft mir das Vergnügen zu so früher Morgenstunde? Aber, bitte, nehmen Sie doch Platz.«
»Ich sehe, dass ich störe...«
»Zu dieser Einsicht kamen Sie sehr spät, wenn das wirklich der Fall wäre. Keine Spur!«
»Aber — verzeihen Mijnheer — was ich zu sagen habe, möchte ich...«
»Sprechen Sie offen, was es auch sei, dieser Holländer ist der zweite Klabautermann, für den existiert nichts mehr auf der Welt, als seine Tabakspfeife — und die Kunst — und außerdem«, ihr Ton nahm jetzt einen stolzen Klang an, stolz richtete sie sich etwas auf, »und außerdem bin ich hier in meinem Königreiche, und wehe dem, der...«
»Halt, halt!!«, war ich es diesmal, der ins Wort fiel. »Nein, ganz im Gegenteil — es war nur eine Schwäche von mir — ganz im Gegenteil soll alle Welt hören, was ich Ihnen zu sagen habe.«
Es waren große, etwas ängstliche Augen, mit denen sie mich ansah.
»Was haben Sie mir zu sagen?«, erklang es auch so mit gepresster Stimme.
»Sie um Verzeihung zu bitten.«
»Um Verzeihung? Mich?«
»Ja.«
Und ich ging auf sie zu, trat vor sie hin — der Tiger knurrte mich plötzlich ganz grimmig an.
»Ja, Mylady, ich habe Sie um Verzeihung zu bitten. Ich habe geglaubt, Sie hätten Ihre Verwandten nur hierher gelockt, um ihnen wieder die Erbschaft abzupressen. Ich habe Lady Marions Glauben geteilt, Sie wären fähig, ihre Verwandten deshalb der Folter, der Tortur auszusetzen. Es war ein Irrtum von mir — nein, ein böser Gedanke von mir. Deshalb bitte ich Sie jetzt um Verzeihung. Wollen Sie mir diese gewähren?«
Das war offen und bündig gesprochen. Dabei hielt ich ihr die Hand hin.
Sie nahm sie nicht sofort. Lange blickte sie mich mit ihren blauen, unergründlich tiefen Augen an.
Es war wieder einmal eine jener Zeitperioden, deren Länge man nicht abschätzen kann.
Dazu knurrte der Tiger ununterbrochen — und ich glaube, der struppige Maler ebenfalls.
Dann plötzlich ergriff sie mit Hast meine Hand, nur einen Augenblick, ließ sie gleich wieder los.
»Ich verzeihe Ihnen, es ist erledigt«, erklang es dann recht gleichgültig.
Ich war etwas verdutzt. Hatte mir diese Szene, nachdem ich so ungeschminkt die Wahrheit gesagt, eigentlich anders vorgestellt.
Nun, desto besser so.
»Sagen Sie mal, Mylady«, ließ sich da des Mijnheers knurrige Stimme vernehmen, »wollen Sie eigentlich, dass ich Sie male, oder kommt es auf des Kapitäns Hinterseite an?«
»Bitte, nehmen Sie doch Platz«, sagte Blodwen.
Ich trat zurück, sofort hörte der Tiger mit seinem bisher ununterbrochenen Knurren auf, und da erst merkte ich, dass ich mit meinem ansehnlichen Körpergewicht immer auf seinem Schwanze gestanden hatte.
Dieser Tiger musste eine Seele von einem Vieh sein, dass er dafür immer nur ein unwilliges Knurren gehabt hatte.
Ja, dann wollte ich auch noch etwas bleiben. Ich erspähte einen großen Haufen Kissen, die zusammen gerade Stuhlhöhe ergaben, ließ mich darauf nieder, sank freilich auch gleich zu einem Minimum zusammen, blieb aber nun so nach Türkenart sitzen.
»Haben Sie schon mit Lady Marion darüber gesprochen?«, fragte Blodwen.
»Ja.«
»Haben ihr gesagt, dass Sie jetzt einer besseren Ansicht über mich geworden sind?«
»Ja.«
»Und was sagt nun meine Schwägerin?«
»Ich habe ihr meine eigene Ansicht beizubringen gewusst.«
»Das freut mich doppelt. Sie ist also bereit, der Familiensitzung beizuwohnen?«
»Sie hat es mir zugesichert, und zwar wie Sie bestimmen, an Bord meines Schiffes oder auch auf der Insel.«
Lange Zeit blieb Blodwen eine Entgegnung schuldig.
»Wie ist der Stimmungswechsel bei Ihnen gekommen?«, fing sie dann doch wieder an.
»Gestern Abend, als ich Sie beobachtete, wie Sie mit Ihren Schwägern verkehrten.«
»Wie das?«
»Nun, eben Ihre Liebenswürdigkeit bezwang mich. Denn ich halte Sie wohl einer schauspielerischen Verstellung für fähig, aber keiner hinterlistigen Heuchelei.«
War das nicht ein erstaunter Blick, der mich traf?
»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, und Sie haben mich ganz richtig beurteilt«, sagte sie dann kurz. »Leider kann ich mich heute noch nicht meinen Gästen widmen, ich habe sehr viel zu tun, eben wegen meiner Gäste — es gilt noch einige Überraschungen zu arrangieren — heute Abend stehe ich wieder zur Verfügung. Wollen Sie nicht auch die andere Hälfte Ihrer Mannschaft solch einem Marionettenspiel beiwohnen lassen?«
»Herzlich gern, diese Freude möchte ich meinen Jungen gönnen! Wenn die Künstler noch solch eine Vorstellung geben wollen?«
»Sie sind für längere Zeit zu täglich einer Vorstellung verpflichtet, nur bitten sie, lieber am Tage spielen zu dürfen, wo sie selbst oben auf dem Schnürboden das Tageslicht benutzen können, während unten alles nach wie vor verdunkelt bleibt, also nichts an Effekt einbüßt. Vielleicht heute Nachmittag um drei?«
»Um drei werde ich mit meinen anderen Jungen erscheinen.«
»Könnten Sie selbst noch einmal solch eine Vorstellung mit ansehen?«
»Ich glaubte sogar, ich könnte mich nicht satt daran sehen — allerdings spreche ich nur jetzt so.«
»Das Programm muss laut Bedingung stets ein anderes sein, ich selbst habe noch viel wunderbarere Sachen zu sehen bekommen, und dann fällt auch das den gewöhnlichen Puppentheatern nachgeahmte Ritterspiel fort, welche Idee überhaupt erst von mir war.«
»Nun, dann komme ich natürlich umso lieber!«, rief ich erfreut.
»Könnten Sie da nicht gleich auch Lady Marion mitbringen?«
»Gewiss, das wird sich machen lassen.«
»Und Ihre schöne Freundin?«
Es frappierte mich etwas, war aber schnell überwunden.
»Es freut mich sogar sehr, sie kennen zu lernen«, klang es kühl oder doch gleichgültig zurück, und mir gab es einen Stich durchs Herz, obgleich ich davon nichts wissen wollte.
»Haben Sie denn Ihren entflohenen Gefangenen wieder?«, nahm sie dann abermals das Wort.
»Nein, noch immer nicht. Er muss sich noch an Bord versteckt halten, auf eine Gelegenheit wartend, an Land zu entkommen.«
»Ja, darf man denn nicht erfahren, wer das eigentlich ist?«
Mir fiel in diesem Augenblicke auf, wie unruhig plötzlich ihre Augen flackerten — ebenso wie gestern, da ich sie wiedergesehen.
Aber ich achtete nicht weiter darauf, ich überlegte, ob es nicht das beste sei, ihr nun auch gleich vollends zu vertrauen.
»Sie kennen ihn sogar sehr gut.«
»Ich? Was? Einer Ihrer früheren Mannschaft sei einmal desertiert? Nun ja, jener Hans...«
»Doktor Selo.«
Da freilich fuhr Blodwen hastig von dem Tigerrücken empor.
Und doch, es kam mir fast vor, als ob diese Überraschung eine erkünstelte sei. Vor allen Dingen fehlten die großen Augen, die sie bei solchen Gelegenheiten sonst immer bekam.
»Unser Schiffsarzt?! Den haben Sie wieder erwischt?!«
Auch in diesem Tone lag noch nicht die richtige Überraschung, die ich eigentlich erwartet. Aber ich achtete nicht weiter darauf. Oder aber: Blodwen hatte sich überhaupt sehr verändert — sehr zu ihrem Vorteil.
»Wie? Wo?«
»Mylady, so sicher wir hier auch sein mögen...«
»Sie haben recht — Sie erzählen es mir ein andermal.«
Es waren gleichgültige Dinge über die wir weiter sprachen.
»Haben Sie unseren Karlemann einmal wiedergesehen?«, fragte ich dann. »Sein Schiff befindet sich doch nicht etwa hier?«
»Hier? Nein. Wie kommen Sie auf diese Vermutung?«
»Ich habe vorhin einen Neger gesehen, der früher in Karlemanns Diensten stand.
»Ja, ich habe mit unserem kleinen Freund einige Geschäfte gemacht«, war die ausweichende Erklärung.
»Wissen Sie, wo Karlemann sich gegenwärtig aufhält? Oder können Sie mir seine Adresse geben?«
»Nein, das kann ich leider nicht.«
Ich verabschiedete mich; huldvoll reichte sie mir die Hand, und ich ging mit der Empfindung, männiglich meine Pflicht getan zu haben, ohne sonst der ehemaligen Geliebten einen Schritt näher gekommen zu sein.
Die Schranke, die ich zwischen uns aufgerichtet, hielt ich noch für durchaus solid.
Ich armer Narr!!
Als ich unter den offenen Fenstern vorbeiging, hörte ich noch einmal die knurrende Stimme des Mijnheer van Zyl:
»Machen Sie ein etwas klassisches Gesicht und nicht so ein vergnügtes wie ein Fischweib auf dem heiligen Damm, wenn es einer Frau tote Aale angeschmiert hat!«
Zwei Stunden später, als ich mich in der Kajüte noch einmal mit Lady Marion unterhielt, ward mir gemeldet, ein Mann wünsche mich zu sprechen.
»Wer ist es? Wie heißt er?«
Der Matrose, der mir diese Meldung gebracht, kratzte sich erst einige Zeit in den Haaren.
»Gesagt hat er den Namen, aber ich habe ihn wieder vergessen«, brachte er dann langsam heraus.
»Ist es denn ein Herr oder ein Arbeiter oder ein Diener?«
»So halb und halb. Er hat das ganze Gesicht voll Sommersprossen und voll Bartstoppeln, und auf dem Buckel einen Kleidersack.«
»Mijnheer van Zyl!«, fiel mir gleich ein.
Der Maler sollte so viel Interesse für mich und mein Schiff gehabt haben. Aber er brachte gleich seinen Kleidersack mit?
Marion hatte soeben die Kajüte verlassen, der Steward brachte gerade mein zweites Frühstück, reichlich genug für zwei hungrige Personen, ich beorderte noch ein zweites Besteck, und da trat auch schon der Holländer herein.
Er machte mir ganz denselben Eindruck wie vorhin hinter seiner Staffelei. Nur dass ich jetzt noch mehr die Dürftigkeit und Zerrissenheit seines Anzuges bemerkte, wie zum Beispiel, dass aus jeder Stiefelecke eine Zehe guckte, der Kerl sah einfach aus wie ein Landstreicher, wie ein echter Landzigeuner, und jetzt gewahrte ich, dass sein wollenes Hemd mit Umlegekragen schon mehr als dreckig war. Es glänzte vor Fett und Schmiere.
Den qualmenden Kalkstummel hatte er auch schon wieder zwischen den Zähnen, welche an dem ganzen Kerl allein einen sauberen Eindruck machten, denn wie das Gesicht, so mochte er sich auch die sonst sehr feinen Hände längere Zeit nicht mehr gewaschen haben, und auf dem Rücken hatte er richtig einen Kleidersack aus wasserdicht geteertem Segeltuch.
Zunächst ließ er den ziemlich vollgepfropften und wohl auch schweren Sack bedächtig zu Boden gleiten, dann nahm er die Pfeife aus den Zähnen, lüftete die fettglänzende Kappe.
»Harry van Zyl. Das holländische van ist kein Adelsprädikat, sonst würde ich es weglassen.«
»Ich hatte ja schon das Vergnügen, Sie kennen zu lernen — wenigstens Ihnen vorgestellt zu werden«, musste ich lächeln.
Sollte man auch über solch einen Kauz nicht lächeln?
»Darf ich hier rauchen?«
»Gewiss doch.«
»Ich bin nämlich der Ansicht, dass der Mensch nichts weiter zu seinem Lebensunterhalt braucht als Mehl, Öl und Tabak — und wenn er auch noch das Mehl aufgibt, sich mit Früchten begnügt, wobei Nüsse das Eiweiß liefern, zugleich ja auch das nötige Fett, so hätten wir in einem Nu auf der Erde das ersehnte Paradies, in dem man nicht zu arbeiten brauchte.«
Aha, ich hatte einen Philosophen vor mir, einen Apostel der Entsagung oder doch Genügsamkeit, einen modernen Diogenes!
Nun, dann war das mein Mann. Ich liebe jeden Menschen, der sich von der großen Herde isoliert, ich unterhalte mich gern mit ihm, wenn er sich nur anständig beträgt, wobei zerrissene Stiefel und ein seit vier Wochen ungewaschenes Hemd für mich nichts zu sagen haben.
Wir saßen am Frühstückstisch, und obgleich Mijnheer van Zyl zur Unterhaltung des Lebens nur Mehl und Öl nötig hatte, verschmähte er doch das Brot, welches frisch aus dem Backofen gekommen war, hielt sich lieber an den Schinken, dabei auch noch immer die saftigsten Scheiben aussuchend.
»Könnten Sie nicht einen ständigen Maler an Bord Ihres Schiffes gebrauchen?«
»Jawohl, das könnte ich.«
Das war von mir aufrichtig gemeint. Der Leser entsinnt sich, was ich einmal über die Gesellschaft gesagt habe, die ich mir immer an Bord wünschte, und da hatte doch auch der Maler eine Hauptrolle gespielt.
»Nun, ich bin Maler.«
»Ich habe ja schon Proben Ihrer Kunst gesehen.«
»Wo denn?«
»Nun, doch vorhin, als Sie Lady Blodwen konterfeiten...«
»Aber sonst haben Sie wohl noch keine Bilder von mir gesehen, kennen den Namen Harry van Zyl als den eines Malers gar nicht?«
»Nein, das allerdings nicht«, gestand ich offen, »bin freilich auch in der Malerei sehr wenig bewandert, am wenigsten in der modernen.«
»Wohl Ihnen!«, erklang es trocken aus kauendem Munde. »Nun, ich kann die Leinwand genau so gut mit Farben vollklecksen wie ein Raphael Santi oder ein Rubens oder ein Rembrandt und wie sie alle heißen.«
Oho, das fuhr mir denn doch in die Nase! Selbstüberhebung ist mir schrecklich. Oder hatte ich nicht richtig verstanden?
»Sie stellen Ihre Kunstleistung auf eine gleiche Stufe mit der eines Raphael Santi und eines Rembrandt?«
»Ja«, war die unumwundene Antwort, »meine Kleckserei ist genau so viel oder vielmehr genau so wenig wert wie die jener berühmten Maler. Was wollen Sie? Man nimmt ein Stück Leinwand her und beschmiert sie mit Farben, ordnet nur die einzelnen Striche und die verschiedenen Farben, und dann sagt man zum Publikum: Seht her, Leute, das ist eine Mondscheinlandschaft, das ist ein Sonnenaufgang, das ist eine Waldpartie, das ist die heilige Jungfrau mit dem Christuskinde. Ist das wahr? Nein, das ist nicht wahr. Das ist eine Lüge. Das ist keine Mondscheinlandschaft, und das ist keine heilige Jungfrau, sondern das ist eine elende Farbenkleckserei, die in kläglicher Weise versucht, eines allmächtigen Gottes wunderbaren Schöpfungszauber nachzuäffen.«
Ich blickte den Mann an. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich lauschte wie ein Mäuschen.
Dieser Mann sprach etwas aus, was ich bisher immer dunkel geahnt hatte, wofür ich aber niemals Worte fand.
»Sie erkennen die Malerei gar nicht als Kunst an?«
»Nein! Musik und Poesie sind Künste. Auf den Händen laufen ist eine Kunst. Malerei und Skulptur sind unnütze, kindliche Spielereien, und wer sie ernst nimmt, betrügt entweder sich und andere, oder er ist wahnsinnig.«
Na, ich kann nur sagen, dass mir dieses originelle Kerlchen immer besser gefiel.
»Sie selbst sind Maler und sprechen so verächtlich über die Malerei?«
»Ja, weil ich ehrlich bin.«
»A la bonheur. Ich nehme an, dass Sie ein akademisch geschulter Maler sind.«
»Wenn Sie damit meinen, dass man in den Ateliers von sogenannten berühmten Meistern gearbeitet haben muss, so trifft das bei mir zu.«
Er nannte einige holländische und italienische Maler, zum großen Teile auch mir bekannt, bei denen er zur Schule gegangen.
»Ich halte Sie für einen talentvollen Maler.«
»Talentvoll — hm. Alle meine Lehrer nannten mich sogar genial, verkündeten mir die größte Zukunft.«
»Und das hat sich nicht erfüllt?«
»Erfüllt? Wie man's nimmt.«
»Sie finden für Ihre Bilder keine Käufer?«
»O doch, sofort!«
Mein Blick streifte an dem abgerissenen Anzuge herab.
»Geehrter Mijnheer, lassen Sie mich offen sprechen — Ihnen scheint es doch nicht besonders gut zu gehen.«
»O doch, mir geht es ganz gut. Aber ich weiß schon, was Sie meinen. Sie sind noch befangen vom Urteil der großen Massen. Sehen Sie, die Sache verhält sich so. Ich male niemals aus eigenem Antriebe. Werde mich hüten, zu versuchen, die Schöpfungen des lieben Gottes nachzuäffen. Aber Geld muss man ja doch zum Leben haben. Ich male nur auf Bestellung. Porträts, Jagdszenen, Landschaften... alles, was man verlangt. Und da habe ich einige, die mich weiter empfehlen an solche, die auch so schöne Bilder an der Wand hängen haben wollen, OriginalÖlgemälde. Da heißt es nun: Was kostet so ein Bild, wie der da eins von Ihnen hat. Und, sehen Sie, ich verlange für den Quadratzoll immer einen halben Gulden oder einen Franc oder acht Groschen. Jeder Quadratzoll acht Groschen, ganz gleichgültig, was für eine Farbe ich draufschmiere.«
Ich staunte nicht schlecht. Von solch einer quadratischen Bemalung nach Bezahlung hatte ich wenigstens noch nichts gehört.
»Ja, ist denn das aber nicht viel zu wenig?«, konnte ich vorläufig nur fragen.
»Für mich gerade genug. Ich habe mir ungefähr ausgerechnet, dass ich an dem Quadratzoll eine Stunde lang arbeite. Das kann man doch ungefähr bestimmen, wenn man das ganze Bild durch die Quadratzolle dividiert und dann die Arbeitszeit durch die Stunden. Dann habe ich mich erkundigt, was ein Handwerker pro Stunde bekommt. Ich nahm einen besseren an, einen Kunsthandwerker, einen Holzbildhauer. Der bekommt in Holland pro Stunde durchschnittlich einen halben Gulden. Well, sagte ich mir, dann nimmst auch du pro Stunde einen halben Gulden, und so viel fordere ich nun bei Bestellung für den Quadratzoll Leinwand, den ich beschmieren soll, weil's den Leuten Spaß macht.«
Das ward ja immer besser!
»Ist Ihnen denn Ihre Kunst — oder meinetwegen Ihre Arbeit — so wenig wert?«
»Darüber habe ich doch schon meine Ansicht gesagt. Alles nur elende Stümperei, kindliche Nachäffung.«
»Ich meine, könnten Sie Ihre Bilder denn nicht besser bezahlt bekommen?«
»O, gewiss! Wenn ich die Sache geschäftsmäßig betriebe, wie's die anderen machen, in die Reklametrompete bliese, ausstellte usw. — na, ich wollte für so eine beschmierte Leinwand von rund einer Quadratelle auch meine 50 000 Gulden bekommen. Sofort! Mit Kusshänden würden sie's mir abnehmen, mir noch nass aus den Fingern reißen. Denn das Zeug habe ich dazu, darauf können Sie sich verlassen.«
»Ja ja, das glaube ich Ihnen schon, eben weil Sie sonst ganz anders von sich sprechen. Warum fordern Sie denn da nicht solche Preise?«
»Nu, weil die ganze Schmiererei eben nischt taugt! Das heißt, so gut wird meine auch wie die von irgendeinem anderen modernen oder alten Meister, aber das wäre einfach Betrug, wenn ich mehr dafür forderte, als was ein ehrlicher Handwerker im Schweiße seines Angesichts verdient.«
Ich merkte, dieser Mann hatte Prinzipien, Weltanschauungen, gegen die nicht aufzukommen war. Und so verschroben sie auch für andere sein mochten — mir imponiert so etwas.
»Sehen Sie«, fuhr er fort, »ich halte die ganze Malerei für ein Unrecht gegen die Menschheit. Man soll aus der mühsam erzeugten Leinwand Hemden machen — meinetwegen auch Taschentücher, obgleich ich diesen unnötigen Luxus nicht kenne — Segel, um Schiffe fortzubewegen — aber man soll die gesponnene Leinwand nicht mit Farbe vollschmieren und sie dann an die Wand hängen, wo sie doch ganz nutzlos ist. In Anbetracht alles dessen, war ich schon oftmals entschlossen, meine ganze Malerei daneben zu hängen, Pinsel und Palette auf den Misthaufen zu werfen. Aber leben muss man doch. Was sollte ich nun anfangen? Der nützlichste Beruf ist doch ohne Zweifel der des Bauern. Gut, ich wollte Bauer werden, verdingte mich als Knecht. Erst lernte ich melken. Das war eine faule Sache. Erstens schlug mich der Ochse, den ich melken sollte, mit dem dreckigen Schwanze, an dem hinten so ein Pinsel war, den er vorher in seine eigene Ölfarbe tauchte, egal ins Gesicht, und zweitens kriegte ich überhaupt keine Milch heraus, und dann hatte ich immer Angst, dass ich dem armen Vieh das Euter abreißen könnte. Ja und dann überhaupt die Feldarbeit — 's ist so eine Sache. Im Sommer brennt einem die Sonne uff'n Buckel, und im Winter friert man egal an die Fingerspitzen. Und schließlich bin ich doch eine ganz andere Natur, ich bin eben Maler, habe die Finger danach — und da habe ich die ganze Bauernwirtschaft lieber sein lassen. Habe mich auch nicht weiter um einen anderen Beruf gekümmert. Es ist eben ein Fluch bei mir, dass ich Leinwand vollschmieren muss. Nur zu einem Berufe hatte ich noch besondere Lust: In einer Pulverfabrik möchte ich arbeiten.«
»In einer Pulverfabrik?«, staunte ich. »Wie kommen Sie denn gerade auf eine Pulverfabrik?«
»Ja, sehen Sie, man darf doch nicht nur wegen des Geldes arbeiten, sondern es muss doch auch ein freudiger Trieb dahinter sitzen. Und das halte ich nun für so ein angenehmes Gefühl, für so einen prickelnden Reiz, wenn man in so einer Pulverfabrik arbeitet, und man kann sich jeden Augenblick sagen: Im nächsten Augenblick fliegst du vielleicht in die Luft. Meinen Sie nicht, dass das angenehm ist?«
»Das ist Geschmackssache. Aber probiert haben Sie's noch nicht in einer Pulverfabrik?«
»Nun, angemeldet hatte ich mich schon einmal. In der Pulvermühle bei Amsterdam wurden Leute gesucht, ich meldete mich, wurde angenommen. Als Arbeiter, im Packraum, wo das schon fertige Schießpulver in kleine Pakete verpackt wurde. Gut, ich trat am Morgen an, die Handgriffe waren mir schon gezeigt worden — also ich stopfe mir erst gemütlich meine Pfeife, brenne sie mir an... Herrgott, da stürzen doch von allen Seiten die anderen Arbeiter auf mich los, schlagen mir die Pfeife aus der Hand... ›Was, hier darf nicht geraucht werden?‹ — Nee, dann war das auch nichts für mich. Rauchen muss ich!«
Ich lachte aus vollem Halse, während van Zyl, nun wohl gesättigt, den neben ihm stehenden Kleidersack aufschnürte, hineingriff und eine Handvoll Tabak zum Vorschein brachte, um sich seinen Kalkstummel zu stopfen. Das Paket mit dem groben Tabak musste in dem Kleidersack gleich obenauf liegen, immer schon geöffnet, obgleich ich diese Aufbewahrung für etwas umständlich hielt.
»Also da sind Sie doch lieber Maler geblieben?«
»Ja. Es ist mein Verhängnis.«
»Wie sind Sie denn nun eigentlich hierher gekommen?«
»Mein Ideal ist schon immer gewesen, Schiffsmaler zu werden. Ich sehnte mich in die weite Welt hinaus. Sorglos! Von so einem reichen Jachtsportsman fest engagiert zu werden, ich male die Bilder, die er bestimmt, und ich bin ein langsamer, aber fleißiger Arbeiter — auch nicht gerade langsam, sondern nur peinlich — und dafür Essen und Kleidung zu bekommen, das wäre so mein Fall. Geld brauche ich gar nicht. Wozu? Und dann natürlich Tabak.
»Ich hatte schon oft versucht, bei so einem Jachtsportsman anzukommen, aber immer vergebens. Gewöhnlich wurden mir Bedingungen gestellt, die mir nicht gefielen, oder meine sonstigen Bedingungen wurden nicht angenommen...«
»Was für Bedingungen?«
»Davon später! Da hörte ich von Ihnen. Donnerwetter, sagte ich mir, dass wäre dein Mann, der würde auch auf deine Bedingungen eingehen. Aber wo Sie finden?
So ein Jachtsportsman, mit dem ich schon in Unterhandlungen stand, hatte mich nach New York kommen lassen. Die Sache zerschlug sich. Aber da war gerade die Lady von Leytenstone mit ihrer ›Seebraut‹ in New York. Auch nicht schlecht, dachte ich. Ich wandte mich an sie. Allerdings glaubte ich, Sie wären noch bei der Dame oder die Lady vielmehr bei Ihnen. Dem war nun allerdings nicht mehr so, aber wir wurden doch einig.
Sehen Sie, so bin ich mit der Lady ein paar Monate herumgegondelt, wir haben ein paar Schiffe gekapert, ich habe gemalt, was sie wünschte, Kriegsbilder und dergleichen Krimskrams, habe die Lady in allen möglichen und unmöglichen Stellungen konterfeit... und nun habe ich diese Geschichte satt.«
»Weshalb?«
»Sie ist zu eitel. Sie hält auch nicht meine Bedingungen.«
»Was für Bedingungen sind das nun? Darf ich das jetzt erfahren?«
»Wollen wir gleich den Fall annehmen, dass ich als Maler in Ihre Dienste trete?«
»Ja.«
»Gut! Ich male Ihnen also alles, was Sie bestimmen: Szenerien des Landes und des Meeres, Personengruppen, Porträts usw. Mit ganzer Sorgfalt. Dafür erhalte ich volle Verpflegung, Kleidung, Tabak, die nötigen Utensilien...«
»Das ist doch alles ganz selbstverständlich. Kommen Sie zur Hauptsache!«
»Diese Bilder gehören Ihnen, aber Sie dürfen sie nicht verkaufen.«
»Weshalb nicht?«
»Weil ich nicht will, dass mit meiner Malerei Schacher getrieben wird, dass man mehr dafür bezahlt, als sie wert ist.«
Dieser Mann sprach mir ja ganz aus der Seele!
»Einverstanden!«
»Auch verschenkt dürfen die Bilder nicht werden.«
»Nein, auch nicht. Aber darf ich sie wenigstens jemandem zeigen?«
»Ja, das dürfen Sie. Aber nur hier an Bord. Etwa Ihren Gästen. Nicht wahr, wenn einmal Ihr Schiff hier, die ›Sturmbraut‹, untergeht. Sie werden sich kein neues kaufen?«
»Warum soll ich das nicht tun?«
»Nun, weil Sie wohl mit Ihrer ›Sturmbraut‹ untergehen werden, um neben ihr auf dem Meeresboden zu ruhen.«
Zwischen uns beiden war eigentlich kein weiteres Wort mehr nötig. In gewissem Sinne passten wir vortrefflich zusammen.
»Wissen Sie das so bestimmt von mir?«, musste ich trotzdem noch einmal fragen.
»Gewiss, Sie sind doch der Mann danach. Ich habe doch schon genug von Ihnen gehört.«
»Auch, dass ich ein vogelfreier Desperado bin, welche Bedeutung Sie wohl kennen?«
»Jawohl, und umso mehr Grund für Sie, mit Ihrem Schiffe auf dem Wasser oder unter das Wasser hinab zu segeln.«
»Und Sie möchten dereinst neben Ihren Gemälden auf dem Meeresgrunde ruhen, nicht wahr?«
»Das ist es, das ist es!!!«, rief der Strohkopf mit einem plötzlich ausbrechenden Jubel, der für manch anderen Menschen ganz unverständlich gewesen wäre.
Nicht für mich. Ich hatte bereits zwei gottbegnadete Künstler kennen gelernt, welche stets weinten, wenn sie ihre Schöpfungen verkauften — verkaufen mussten, eben aus Geldmangel, und diese Erfahrung wäre bei mir nicht einmal nötig gewesen, um diesen Mann gleich zu verstehen.
»Haben Sie noch eine Verpflichtung gegen die Lady Blodwen?«
»Nein. Das Tigerbild habe ich eben vorhin fertig abgeliefert.«
»Sie können gehen?«
»Ja.«
»So machen wir gar keine weiteren Worte — topp, Sie bleiben hier bei mir an Bord, als mein Hof- und Leibschiffsmaler — hier, schlagen Sie ein!«
Die Musterung war durch Handschlag besiegelt.
»Dann können Sie gleich an Bord kommen.«
»Ich bin ja schon da.«
»Aha, Sie haben auch gleich Ihre Garderobe mitgebracht.«
»Garderobe?«
»Na, Ihr Zeug, ich wollte mich nur recht fein wie die Landratten ausdrücken. Desto besser, wenn Sie das gar nicht verstehen.«
»Was für Zeug?«, fragte der Strohkopf trotzdem wieder.
»Ihre Kleider, Ihre Wäsche.«
»Kleider? Wäsche? Omnia mea mecum porto.«
»Das heißt wohl: alles, was ich habe, trage ich bei mir?«
»So ist es.«
»Na, was ist denn hier drin?«
Ich klopfte auf den Kleidersack.
»Tabak.«
»Aber doch nicht bloß Tabak?«
»Bloß Tabak.«
»Was? Da wäre nichts weiter als Tabak drin?«, staunte ich.
»Absolut nichts weiter. Sehen Sie, die Sache ist so: Ich bin gar nicht mehr so jung, wie ich aussehe — schon zweiundvierzig Jahre alt —, und ich habe immer sparsam gelebt — mehr als einen halben Gulden täglich habe ich nie verbraucht — und so hatte ich mir innerhalb von zehn und noch mehr Jahren ein kleines Vermögen zusammengespart...«
»Wie viel?«, musste ich fragen, die anderen Fragen im Augenblick vergessend. »Sie haben wirklich Vermögen?«
»Ich hatte welches.«
»Darf ich die Höhe desselben erfahren? Es interessiert mich wirklich sehr.«
»Warum nicht? Es waren gerade einunddreißig Gulden.«
Innerhalb von zehn und mehr Jahren ein Vermögen von etwa fünfzehn Talern zusammengespart!! Na, die Ansichten über Welt und Mammon sind eben verschieden — glücklicherweise.
»Aha, und da haben Sie dieses Vermögen in Tabak angelegt.«
»Jawohl, ich konnte gerade einen Zentner Tabak billig kaufen, und da dachte ich...«
»Schon gut, schon gut, ich verstehe vollkommen. Aber wie steht's denn mit Ihrer Wäsche?«
»Ja, darum wollte ich schon bitten... wenn vielleicht einer Ihrer Matrosen mir erst einmal mein Hemd auswaschen würde, ich kann mich ja einstweilen ins Bett legen...« — — —
Er brauchte sich deswegen nicht in die Koje zu legen, es ging auch so.
So hatte ich jetzt an Bord meinen eigenen Maler, dessen Gemälde nach und nach das ganze Schiff ausschmückten, wirklich ein gottbegnadeter Künstler, auch durchaus kein Erzfaulenzer, wie Blodwen gesagt, vielmehr ein ameisenartig fleißiger Arbeiter, denn jetzt arbeitete er ja zu seinem eigenen Vergnügen, brauchte seine Schöpfungen nicht wieder wegzugeben, ein ganz gediegner Mensch — aber auch ein Dreckschwein aller erster Güte!
Am Nachmittage führte ich die andere Hälfte meiner Jungen mit den entsprechenden Offizieren zur Marionettenvorstellung, auch Atlanta und Marion begleiteten mich, und ich selbst freute mich wie ein Kind auf die Wiederholung des Puppenspiels.
Aber es war keine Wiederholung. Lauter neue Sachen, auch in einem ganz anderen Genre. Doch da ich fürchte, wenn ich nur eine der Darbietungen schildern würde, gar nicht wieder aufhören zu können, will ich lieber gar nicht erst anfangen.
Und nicht minder amüsierte ich mich über Atlanta! Nein, dieses Staunen, das sich bei einer Teufelspantomime — diesmal spielte auch die Laterna magica eine Rolle — bis zum Entsetzen steigern konnte, und dann wieder dieses kindliche Lachen und Entzücken!
»Richard, wie machen sie das nur, wie machen sie das nur — ach bitte, bitte, lass mich doch einmal diese Männerchen ganz in der Nähe besehen!«
Nun, sie sprach meinen eigenen Wunsch aus.
Das musste sich doch machen lassen. Und es ließ sich machen.
Nach der Vorstellung sollten wir uns alle als Blodwens Gäste am Teetisch versammeln, aber dazu war noch Zeit, und ich wandte mich an Monsieur Pa—pa—pe—pi—po—pulos, den ich nach dem Fallen des Vorhangs in dem hellgewordenen Saale erblickte.
Ich wandte mich an ihn, sprach ihm meinen Wunsch aus, in der Erwartung, dass er selbst als Impressario bei der Truppe etwas zu sagen habe.
Dem schien auch so, indem er mit einer Zusage erst zögerte, nach einer Entschuldigung suchte — dann erklärte er sich bereit dazu.
Nun allerdings waren auch die Jachtsportsmen dabei, welche hinter die Kulissen drangen. Professor Maltarino und seine Tochter machten in liebenswürdiger Weise die Erklärer.
Aber ich kann nur sagen, dass ich so dumm blieb wie zuvor. Nicht einmal enttäuscht wurde ich. Die Puppendirigenten zeigten uns, wie sie die Fäden schlugen und zupften, dass die Figürchen zappeln mussten, bei der Laterna magica hielten sie sich länger auf, als nötig war — hingegen die Hauptsachen, wie das Kugelspiel und das Skelett, erklärten sie überhaupt nicht. Als es ihnen nicht gelang, sich darum zu schlängeln, sagten sie ganz offen, dass dies ihr Geheimnis sei, das sie nicht preisgeben dürften.
Nun, die Herren amüsierten sich mit der Zauberlaterne, andere bewunderten die zahllosen Püppchen, nahmen sie in die Hand, was ja auch recht niedlich war, so bildeten sich Gruppen, wobei ich Atlanta ganz aus den Augen verlor.
Ich schlenderte einstweilen herum. Es war ein regelrecht eingerichtetes Theater, und zwar ein ganz stattliches, mit den modernsten Hilfsmitteln der Bühnentechnik ausgestattet, die Bühne selbst konnte noch bedeutend vergrößert werden. Nur die Schauspieler selbst hatte Blodwen noch nicht.
Es war ja heller Tag, und ich bekam manches zu sehen, was mich interessierte, wenn ich mir das meiste auch nicht erklären konnte. Es war doch das erste Mal, dass ich so hinter den Kulissen einer Bühne spionierte, und da war z. B. ein Schiff, welches ich mit großem Vergnügen inspizierte, mich an der Pappe und an den Rädern ergötzend.
So verirrte ich mich etwas in diesem intimen Heiligtum, kam aus einen Raum in den anderen, ohne einen Menschen zu sehen.
Da aber hörte ich Stimmen.
»Er wird es nicht tun.«
»Er muss dich freilassen, ihr seid doch nicht zusammen verheiratet.«
»Dann dürfte ich immer bei dir bleiben und mit den Puppen spielen?«
»Gewiss, und was der plumpe Seebär dir bietet, kann ich dir auch geben.«
Alle Wetter! Atlantas Stimme! Und die andere gehörte dem armenischen Judenjungen an, dem Papapopulos! In so etwas habe ich ein feines Ohr.
Es konnte nicht weit entfernt sein, ich schlich mich näher, und durch ein Türfensterchen erblickte ich die beiden.
Soll ich ausführlich schildern, was ich hörte und dann noch mehr sah?
Ich will hier keine pikanten Geschichten schreiben.
Die Sache war einfach die, dass Atlanta von der Puppenspielerei so mächtig ergriffen worden war, dass sie selbst unter die Puppenkomödianten gehen wollte, und Monsieur Papapopulos redete als Kunstmäzen ihr ein, dass sie hierzu auch die größte Begabung hätte, dass sie ein Verbrechen an der ganzen Menschheit beginge, wenn sie dieser inneren Stimme keine Folge leiste.
Was ist da weiter dabei? Ich glaube, so etwas passiert auf der Erde, so weit sie kultiviert ist, jeden Tag.
Irgendein Mädchen kommt zum ersten Male ins Theater, und sofort weiß sie, dass auch sie zur Schauspielerin geboren ist. Und wenn ihr das Glück nur einigermaßen hold ist, so findet sie sehr bald, häufig noch an demselben Abend, ebenfalls ihren Mäzen, meist einen Schauspieler, der ihr genau dasselbe sagt, und wenn sie etwas opfert, weniger Geld als etwas anderes, dann steht ihr der Weg zur Bühne, auf der ihr goldene Lorbeeren winken, offen. So sagt wenigstens ihr Gönner — und sie glaubt es natürlich.
Hier handelte es sich nur einmal um die Puppenschauspielerei. Na ja, dafür war Atlanta auch noch ein Kind. Wenn ich ihr schon früher eine Puppe gegeben, hätte sie schon immer damit gespielt.
O, ich wunderte mich über gar nichts — auch darüber nicht, dass Papa Popelmann bereits den Arm um sie geschlungen hatte, und dass sie keinen Mucks dazu sagte, noch weniger von einer Abwehr zu sprechen.
»Nicht wahr, du bleibst bei mir, Schatz?«
»Ach, ich fürchte mich vor ihm!«
»In meinem starken Arme bist du sicher vor aller Gewalt der Erde.«
Nu da, sagte ich mir ganz kaltblütig, oder sogar mit Humor.
»Komm, gib mir einen Kuss!«
Sie gab ihm keinen, er nahm sich einen. Sie hatte auch keine Zeit dazu, hatte etwas anderes zu tun. Sie hatte nämlich, wie ich erst jetzt bemerkte, so einen Hampelmann in der Hand, und während der Judenbengel sie etwas auf einem Ballen nach hinten überbog, um zu ihrem Munde zu gelangen, denn er war bedeutend kleiner als Atlanta, und während er ihr den Mund ableckte, spielte die Unschuld dabei immer mit ihrem Hampelmann, ließ ihn zappeln.
»Ach, was soll daraus werden?!«, winselte sie dann wieder.
»Ich heirate dich natürlich.«
»Heiraten? Was ist das?«
Siehst du, Richard, dass sie dies noch nicht einmal wusste, das auf dem Schiffe geborene und groß gewordene Mädchen, das war noch mehr deine als ihres seligen Bruders Schuld!
»Du weißt gar nicht, was heiraten ist?«
»Nein.«
»Komm her, Schatz!«
Ja, was sollte ich tun?
Mit Blitz und Donner durch die Tür gehen und mit dem schwächlichen Judenbengel längs fahren? Aus ihm ein gehacktes Beefsteak machen?
O nein!
Ach, meine unglückliche Philosophie, meine Toleranz, meine Schwachheit!!!
»Richard, sei kalt — denke zurück — hast du es noch niemals mit einem Mädchen ebenso gemacht, das eigentlich schon einem anderen gehörte?«
Und ich schlich auf den Zehenspitzen zurück.
Aber ach, war mir jämmerlich zumute!
Und da kam mir etwas zum Bewusstsein. Ich hörte eine andere Stimme sprechen, Blodwens Stimme, und sie sagte etwas von einem kostbaren Renommierhund.
Ja, ich fühlte einen gewaltigen Schmerz in der Brust. Denn mein wertvoller Hund war mir untreu geworden, war zu einem anderen Herrn gelaufen.
Aber es war eben ein menschlicher Hund, der ist nicht so treu wie ein vierbeiniger.
Von jetzt an wollte ich mich doch lieber nur mit vierbeinigen befassen.
Ja, da kam mir mit furchtbarer Deutlichkeit etwas zum Bewusstsein. Eben weil es nicht so der echte Schmerz war, der mich beim Fortschleichen gepackt hatte.
Ich hätte mir tröstend sagen können: »Na, es gibt ja noch genug andere schöne Hunde, man muss nur etwas tief in den Beutel greifen, oder vielleicht habe ich wiederum das Glück, dass mir einer zuläuft, und ist er nicht ganz so schön wie dieser — schließlich gewinnt man auch den hässlichsten Köter lieb.«
So hätte ich tröstend zu mir sagen können.
Ich hatte es gar nicht nötig, ich empfand es.
Nur dass es gerade dieser armenische Judenjunge war, der mich ausgestochen, der mir den schönen Hund ausgespannt hatte, das wurmte mich.
Doch ihn deshalb züchtigen? Das wäre ungerecht von mir gewesen.
Die Teegesellschaft war versammelt. Auch Signor Maltarino und seine Tochter Arabella, die trotz ihres schönen Namens in der Nähe wie eine Vogelscheuche aussah, waren zugegen, desgleichen wieder Papapepipopulos, mein stiller Kompagnon.
Neben mir saß Atlanta. Ich war kühl bis ans Herz.
»Willst du etwas Rum in den Tee?«, konnte ich ganz liebenswürdig fragen.
Sie dankte, mich dabei ganz unbefangen ansehend und ebenso unbefangen konnte sie den ihr gegenübersitzenden Armenier anblicken.
So sind sie alle, alle, alle, alle! Auch wenn sie nicht zur Bühne gehen wollen, mit oder ohne Puppen.
Na, wenn die nur die heiße Brühe haben wollte, dann trank ich den Rum. Heute hielt ich's mit Mr. Rug. Wir beide hatten schon während der ersten Teekanne die sämtlichen Rum- und Kognakflaschen geleert, und je mehr ich trank, desto gleichmütiger oder auch lustiger wurde ich, und das war eigentlich gar nicht erkünstelt.
»Bitte, geehrter Herr, wie war eigentlich Ihr werter Name?«, fing jetzt der Australier wieder zu dem ihm schräg gegenübersitzenden Armenier an.
»Papapopulos.«
»Papa... puuuhh... sprechen Sie ihn doch einmal recht deutlich aus.«
Was sich dieser Australier eigentlich dabei dachte, ob er den kleinen Menschen dabei veralbern wollte oder was sonst, habe ich nie erfahren können.
»Mademoiselle Atlanta interessiert sich außerordentlich für die Kunst des Marionettenspielens«, wandte sich jetzt der italienischtürkische Professor der Puppenspielerei an mich.
»So?«, sagte ich zunächst, und im Augenblick wusste ich schon alles, wie es kommen würde.
Der Professor war von seinem Impressario bereits ins Vertrauen gezogen worden, und ich gedachte die Sache so kurz wie möglich zu machen.
Zunächst aber musste ich einen langen Vortrag über mich ergehen lassen, wie das Marionettenspiel eine wirkliche Kunst sei, nicht umsonst hätten Männer wie Goethe und andere große Dichter Puppenkomödien geschrieben, und so weiter und so weiter.
»Aber schade, jammerschade«, schloss er endlich seinen langen Sermon, »dass man so selten einmal jemanden findet, der eine Begabung zur praktischen Ausübung der Marionettenkunst besitzt! Da gehören nämlich ganz besondere Finger dazu. Mademoiselle z. B. besitzt solche Finger. Das habe ich vorhin auch gleich gesehen. Ich ließ sie nämlich einmal eine Marionette dirigieren, brauchte ihr nur einige geringe Anweisungen zu geben...«
»Na, da bilden Sie sie doch in dieser Kunst aus«, unterbrach ich ihn.
Am Tisch nur eine kleine Verwunderung, nichts weiter.
»O, dazu ist ein zeitraubendes Studium nötig, sind Jahre erforderlich.«
»Na, da nehmen Sie sich doch diese Zeit, bilden Sie meine Freundin aus, wenn diese Gabe so außerordentlich selten ist. Wie, Atlanta, hättest du Lust, Marionettenspielerin zu werden?«
Jetzt am Tisch schon ein allgemeines Stutzen. Atlanta hingegen machte eine Bewegung, als wolle sie vom Stuhle aufspringen, um mir zu Füßen zu fallen.
»Richard, das könntest du mir erlauben?!!«, erklang es jauchzend, wie nur ein Mädchen jauchzen kann, das später Puppen jauchzen lassen will.
»Warum denn nicht, wenn es dir so großen Spaß macht?«
»Aber dann müssen wir uns trennen, ich muss dich verlassen!«
»Ach, Quark!«, sagte ich, ein Stückchen Kuchen vom Teller nehmend. »Ach so, das ist Erdbeertorte. Ich dachte, es wäre Quarkkuchen. Ja, es ist geradezu meine Pflicht, dich gehen zu lassen, wenn du so große Begabung zur Puppenspielerei hast. Dann dürfen mich keine egoistischen Gründe abhalten, du darfst dieser göttlichen Kunst nicht entzogen werden. So schwer mir die Trennung auch wird.«
»Ich danke dir, mein Richard, ich danke dir tausendmal!«
Jetzt war sie mir wirklich um den Hals gefallen, und trotz aller Freudigkeit hatte doch auch ungekünstelte Wehmut hindurchgeklungen.
O, ich konnte diese Mädchenseele so gut beurteilen! Ein großes Kind!
Und ringsherum am Tisch war es stumm geworden. Alles saß wie versteinert da.
Ich hatte ja auch deutlich genug zu erkennen gegeben, wie ich dieses schöne Weib geradezu los sein wollte.
»Ich mag's noch gar nicht glauben«, fing der Professor wieder an.
»Was nicht?«
»Dass Sie mir Ihre Freundin zur Ausbildung überlassen wollen.«
»Wie gesagt.«
»Das erfordert aber Jahre, und dann möchte ich sie doch auch bei mir behalten, möchte Nutzen von ihr haben.«
»Gut, dann hoffe ich, dass Sie auch kein Lehrgeld von mir fordern.«
»O, davon ist doch keine Rede.«
»Na, dann ist die Sache ja abgemacht, ich werde Ihnen die Sachen der Dame dann zuschicken.«
»Papapopopupuuuhhh«, sagte Mister Rug und fiel vom Stuhle, während ich mich erhob, so anstatt der Hausfrau das Zeichen zur Aufhebung des Teetisches gebend. Sie hatten sich auch alle reichlich mit der warmen Brühe getränkt.
»Wenn ich Sie einmal allein sprechen darf, Mylady«, wandte ich mich an Blodwen.
Wieder ein allgemeines Aufhorchen mit staunendem Blick. Wie wir beide standen, wussten ja alle, und Blodwens blasses Antlitz nahm plötzlich die Farbe einer Klatschrose an, kaum konnte sie ihre Füße vorwärts setzen, und als sie sich in einem abgelegenen Zimmer mir zuwandte, war sie wieder weiß wie eine Kalkwand geworden, nur in ihren Augen, mit denen sie mich verschlingen wollte, loderte das helle Feuer.
»Ich möchte einmal wegen meiner Sicherheit mit Ihnen sprechen«, begann ich.
Sie schien einen ganz anderen Anfang erwartet zu haben.
»Wegen Ihrer Sicherheit?«
»Ja, Sie wissen, dass ich ein Desperado bin, der von aller Welt verfolgt wird.«
»In meinem Reiche sind Sie geschützt.«
»Sie glauben, wenn die Engländer mich hier ausspionieren, sie werden nicht meine Auslieferung verlangen?«
»Verlangen können sie sie wohl, aber ich werde sie ihnen verweigern.«
»Ein englisches Kriegsschiff würde nicht mit Gewalt vorgehen?«
»Wehe, wenn es das versuchen wollte! England hat mir absolute Neutralität zugesichert.«
Ich hielt es nicht für gut, ihr zu sagen, dass ich hierüber anders dachte. England versteht doch, jede Abmachung etwas umzuändern.
»Nun gut! Das ist es auch nicht, was ich jetzt meinte. Wollte man mich hier zu fangen suchen, so würde ich schon zu entkommen wissen. Aber wohin sollte ich mich wenden? Wo könnte ich Ruhe finden? Wohin mein Schiff in Sicherheit bringen, wenn es einmal reparaturbedürftig ist?«
Ein freudig überraschter Blick traf mich.
»Ich wüsste ein Versteck für Sie«, begann Blodwen zu flüstern.
»Nun?«
»Mich wundert nur, dass Sie nicht selbst daran denken.«
»Vielleicht ist es schon mein Zufluchtsort — vielleicht möchte ich es nur aus Ihrem Munde bestätigt hören.«
»Die Fucusbank.«
»Ja.«
»Die Freiheit von Indien.«
»Ich bin bereits dort gewesen.«
Und ich erzählte ausführlich, während wir uns gegenüber saßen.
»Dort bin ich sicher. Es handelt sich nur darum, wer mich verraten könnte, wer alles schon um diese Fucusinsel weiß.«
»Die ganze frühere Besatzung der ›Indianarwa‹, die sich jetzt wohl irgendwo anders aufhält.«
»Unter diesen Indern wird wohl kein Verräter sein.«
»Das glaube ich auch nicht, sonst würde der Maharadscha Ihnen das ganze Schiff durch den Ring wohl nicht zum Geschenk gemacht haben.«
»Dann käme noch Karlemann in Betracht, der wenigstens die geografische Ortslage der Insel kennt. Aber dem werde ich mich, sobald ich wieder mit ihm zusammentreffe, vollends anvertrauen.«
»Nun, wer könnte sonst noch darum wissen?«
»Vor allen Dingen Sie selbst, Mylady.«
»Nun, von mir haben Sie doch nichts zu fürchten.«
»Sie haben noch zu keinem Menschen davon gesprochen?«
»Herr, für wen halten Sie mich?!«, fuhr Blodwen empor.
»Dann ist es ja gut«, entgegnete ich gleichmütig. »Das zu hören, deshalb wollte ich Sie jetzt hauptsächlich sprechen. Durch irgendeinen Zufall hätten Sie ja einen Mitwisser bekommen können.«
Blodwen hatte sich schnell wieder beruhigt. Mit so etwas war bei mir eben nichts auszurichten, das musste sie wissen.
»Es ist nicht der Fall. Aber Doktor Selo? Haben Sie ihn noch immer nicht wieder?«
Und plötzlich begannen wieder ihre Augen so unruhig zu flackern, etwas, was ich früher nie an ihr beobachtet hatte.
Aber auch jetzt achtete ich nicht weiter darauf.
»Ja, das ist die zweite Hauptsache. Der weiß jetzt natürlich darum. Und jetzt weiß ich ebenso bestimmt, dass er sich nicht mehr an Bord der ›Sturmbraut‹ befindet. Wir haben das ganze Schiff umgekehrt. So muss es ihm dennoch gelungen sein, das Land zu erreichen. Denn dass er auf ein anderes Schiff gegangen ist, um sich dort zu verbergen, glaube ich nicht. Er müsste sich mit Nahrung versehen, diese stehlen, und dabei könnte er leicht erwischt werden. Nein, der ist schon hier auf der Insel. Und nun wollte ich Sie bitten, Vorkehrungen zu treffen, dass wir des Durchbrenners wieder habhaft werden.«
»Diese Bitte ist nicht nötig. Die ganze Insel, mein ganzes Volk, wie ich es gern nenne, ist bereits alarmiert, besonders die Berge werden schon seit gestern durchstrichen, mit Hilfe von Hunden. Die Beschreibung des Flüchtlings, wie ich sie gegeben, genügt wohl, und Fremde gibt es hier ja überhaupt nicht, einer kennt den anderen.«
»Dann ist es gut. Und noch keine Spur gefunden?«
»Nein!«
»Nun, mehr kann nicht getan werden. Wenn er aber erwischt wird?«
»Ja, was dann?«
Wieder dieses Flackern der Augen! Sie musste auf den ungetreuen Schiffsarzt doch einen großen Hass haben, und das war begreiflich.
»Sie werden ihn mir ausliefern?«
»Gewiss doch!«
»Ihn nicht für sich selbst behalten?«
»Wozu?«
»Nun, Sie sind es doch, welche dieser Halunke ganz besonders schwer geschädigt hat.«
»Bah, ich denke gar nicht mehr an diese Kleinigkeit«, erklang es verächtlich. »Ich bin nur froh, wenn ich diesen Schurken gar nicht mehr vor die Augen bekomme. Allerdings interessiere ich mich sonst für den Fall. Hat er denn überhaupt gestanden?«
Ich erzählte alles. Ruhig hatte mir Blodwen zugehört — nur immer mit jenen flackernden Augen. Es musste doch wohl ihre Natur sein, früher war mir das nur nicht aufgefallen.
»Was wollen denn aber nun Sie mit ihm beginnen?«, fragte sie, als ich meinen Bericht geschlossen hatte.
»Ihn wieder festnehmen und dafür sorgen, dass er mir nicht zum zweiten oder gar zum dritten Male entwischt. Ich werde ihn doch lieber auf jener Fucusinsel internieren, von dort ist ein Entkommen unmöglich.«
»Ja, aber auf diese Weise werden Sie niemals von ihm erfahren, wo er seinen Diebstahl verborgen hält.«
»Das ist auch nicht nötig. Sie wissen ja, wie ich über Geld und dergleichen denke — wohl genau so wie Sie. Nur der Freiheit und damit auch seiner Beute soll sich dieser Spitzbube nicht erfreuen.«
»Meinetwegen. Machen Sie das, wie Sie wollen. Sobald Selo festgenommen ist, wird er Ihnen ausgeliefert. Und Atlanta? War nicht auch sie mit auf jener Fucusinsel?«
»Gewiss; aber von der habe ich nichts zu fürchten. Die weiß nicht, wo sie gewesen ist, hat das Wort schon wieder vergessen. Die ist jetzt ganz von ihren Puppen eingenommen.«
Da plötzlich bekam Blodwen wieder einmal ihre großen Augen.
»Ja, ist es denn nur wahr, Sie wollen sie wirklich diesem Komödianten überlassen?«
»Wie ich vorhin sagte.«
»Sie können sie... von sich lassen?!«
»Ich tue es. Weshalb? Weil Sie recht behalten haben. Ja, man erkennt die Menschen erst hinterher — auch die, die man liebt — die man geliebt hat.«
Plötzlich hatte ich Blodwens Hand ergriffen und einen Kuss daraufgedrückt — und dann war ich hinaus. — — —
O, was hatte ich getan!
Ich wusste wahrhaftig nicht, wie es gekommen war.
Es war keine Absicht gewesen. Ich musste wahnsinnig gewesen sein.
Denn ich hatte für dieses Weib doch nicht mehr die geringste Sympathie.
So redete ich mir wenigstens ein, während ich auf dem Wege nach dem Schiffe war.
Jedenfalls war ich tief beschämt, unzufrieden mit mir, sogar unglücklich. Am liebsten wäre ich gleich wieder abgefahren.
Aber ich hatte zu Marion, die gleich bei Blodwen geblieben, etwas von Garantie gesagt, da musste ich erst warten, ob diese auch nicht mehr gebraucht würde.
An Bord wartete schon Atlanta auf mich.
»Du willst mich wirklich gehen lassen, Richard?«
Halb war es Angst, halb heller Jubel, halb Wehmut.
Ich machte es kurz, sprach zu ihr wie zu einem Kinde, brachte sogar fertig, sie noch einmal zu küssen.
Dies alles nur deshalb, um sie nichts wissen zu lassen. Ich schwatzte immer etwas von ihrem Berufe zur ›Kunst‹, während sich mir das Herz im Leibe umwandte.
Dann ging sie — ging wirklich — begleitet von zwei Matrosen, die jene Koffer trugen, die ich ihr in Charleston gekauft.
Und dann hatte ich eine schlaflose Nacht. Ich biss immer in das Kopfkissen hinein.
Ich glaube, wäre mir ein Hund davongelaufen, der wertvollste Hund, den ich für treu gehalten — so hätte ich doch nicht ins Kopfkissen gebissen.
So hörte ich die vierte Stunde nach Mitternacht glasen; die Wachen lösten sich ab.
Der eine Matrose trampelte mit schweren Stiefeln über meinem Kopfe.
»Leise, Georg, der Käpt'n schläft!«
Da schlief ich ein. Die schweren Tritte hatten mir gut getan.
Noch war ich ja nicht allein. Es war ja nur eine Kleinigkeit, was ich verloren.
Wieder war es ein Zirkus, in dem wir saßen, aber nicht auf hölzernen Bänken, sondern auf Felsentreppen. Es war der Krater, den ich einst mit Tischkoff untersucht hatte. Die natürlichen Galerien, nur von Stufenhöhe, sodass man sich bequem darauf setzen konnte, waren vom Meißel geebnet worden, auch sonst hatte sich manches geändert.
Man konnte nicht mehr bis auf den Grund hinabblicken, bis in den letzten Kanal. Schon weit vorher war der trichterartige Kessel zugedeckt worden. Die runde Fläche, die somit entstanden war, hatte einen Durchmesser von mindestens 100 Metern, und da konnte man sich noch sehr irren, denn es waren ganz gewaltige Dimensionen, welche das Auge allüberall erblickte. Die wenigen Menschlein verschwanden in dem Amphitheater, welches sich in der Größe mit jedem der alten klassischen Zeit, des alten Roms, messen konnte. Dass hier 20 000 Menschen bequem Platz gefunden hatten, war sicher.
Die Bahn, wie ich hier die Manege nennen will, war mit weißem Sand bestreut, nahm sich überhaupt ganz aus wie fester, eben nur sandiger Boden.
Das konnte natürlich nicht sein. Man konnte auch den unteren Teil des Trichters nicht mit Erde ausgefüllt haben, denn das wäre ja eine kolossale Arbeit gewesen, bei solchen Dimensionen.
Es musste eben eine künstliche Decke sein oder Diele, von unten durch Balken gestützt, da war ja die Anzahl unbeschränkt, und darüber hatte man Sand gefahren. Dies wurde dann später auch durch den hohlen Klang bestätigt.
Die Sitze liefen nicht direkt bis zur Bahn hinab, wie man es bei dem modernen Zirkus hat. Unten waren die Galerien in einer Höhe von etwa fünf Metern weggeschlagen worden, so hoch war also die glatte Mauer, über welcher die Sitze begannen. Auch die zu unterst Sitzenden blickten so noch in eine beträchtliche Tiefe.
»Hier könnte man ein Stiergefecht aufführen«, meinte einer der Seezigeuner, »das ist doch etwas anderes als in Spanien, wo einem eine Bretterwand immer die Aussicht versperrt, und wenn der Stier will, wirft er doch alles über den Haufen.«
»Ja, ob uns hier nicht ein Stierkampf geboten werden soll?«
»Weiß nicht. Das wäre aber nichts Neues, und sie will uns doch nur zeigen, was noch keiner von uns gesehen hat.«
Nun, um die Bahn lebendig zu machen, dazu war alles vorhanden. Hin und wieder wurde die glatte Mauer durch große Türen unterbrochen, wohl von Eisen, jetzt verschlossen.
Wie gesagt, die Menschen verschwanden in dem ungeheueren Amphitheater. Noch nicht einmal die beiden untersten Stufen waren voll besetzt.
Trotzdem sollten es fast achthundert Menschen sein, wir Gäste, auch meine sämtlichen Jungen, noch gar nicht gerechnet. Alle anderen waren ständige Inselbewohner, standen in Blodwens Diensten.
Wozu Blodwen diese vielen Menschen brauchte, womit sie dieselben beschäftigte, wusste ich nicht, hatte mich auch noch gar nicht darum gekümmert.
Nun, gearbeitet war ja hier schon genug worden.
Zunächst will ich erwähnen, dass ich meine ganze Mannschaft mitgenommen, die ›Sturmbraut‹ ganz allein zurückgelassen hatte — bis auf Goliath, Tischkoff und den Klabautermann, welch letztere beiden ja nicht mitzuzählen waren.
Ich hatte die schriftliche Einladung am Abend zuvor mit dem ausdrücklichen Vermerk erhalten, dass solch eine Vorstellung, wie sie heute im Amphitheater aufgeführt würde, sich nicht so bald wiederholen könnte, es sei nicht möglich; deshalb möchte ich meine ganze Mannschaft doch gleich auf einmal mitbringen.
Nun, ich sah keinen Grund ein, weshalb ich dies nicht tun sollte. Goliath bot sich sofort freiwillig als zurückbleibende Wache an, und das genügte ja.
Vor allen Dingen nun muss ich erwähnen, dass die Vorstellung schon früh um sechs Uhr begann, kurz nach Sonnenaufgang. Anders ließ sich das auch kaum machen. Schon um neun Uhr musste die Sonne in diesen Kessel, der mit keinem Schutzdach zu überziehen war, hineinscheinen, und am Nachmittag wäre es vor Hitze darin gar nicht auszuhalten gewesen, auch nicht am Abend, wenn der Stein die aufgesaugte Hitze wieder ausstrahlte, was vollständig nur des Nachts geschah.
Übrigens hat die Zeit gar nichts zu sagen, am allerwenigsten für Seeleute, und schließlich auch für die anderen nicht.
Sobald man einmal drin saß, konnte man sich ja vorstellen, es sei Nachmittag, und als die Sonne über den Kraterrand stieg, gewann alles erst recht ein freundliches Aussehen. Nur nicht zu hoch durfte sie steigen.
So waren wir mit dem ersten Sonnenstrahle abgerückt, hatten auf guter Chaussee in kurzem Marsche das Gebirge und den Krater erreicht, brauchten ihn aber nicht zu ersteigen, um von oben ins Innere zu gelangen.
Lebendig war es überall, von allen Seiten strömten die Inselbewohner herbei, mehr braune und gelbe, als weiße. Wir wurden in Empfang genommen und in einen Tunnel geleitet, und als wir auf der anderen Seite herauskamen, befanden wir uns im Innern des Amphitheaters.
Nun saßen wir da und harrten des Kommenden. Die Herren von Fanafute geizten nicht mit ihren Ansichten.
»Sie will die Zeiten des alten Roms wieder zurückrufen, sie schwärmt dafür, wie sie ja auch schon bei London eine römische Villa gehabt hat.«
Das war aber auch das einzige, worüber sich die Herren einig waren. Sonst wussten sie gerade so viel wie ich — gar nichts.
Noch nicht einmal von der Existenz dieses Amphitheaters hatte einer eine Ahnung gehabt. Mit vielem Geschick waren sie bisher immer von weiteren Spaziergängen abgehalten worden. So lange befanden sie sich ja auch noch nicht auf der Insel.
Und nicht einmal mit der Wahrung des altrömischen Charakters sollten sie recht behalten.
Aus den Öffnungen, welche sich noch im Bereiche der Stufen oder Sitze befanden, kamen Mädchen hervor, in spanischer Nationaltracht, und boten den Gästen, wenigstens uns, den fremden, die wir beisammen saßen, aber auch meinen Leuten, Früchte und andere Erfrischungen an.
Die Früchte waren köstlich, der Wein eisgekühlt, und die Mädchen, echte Spanierinnen, reizend.
Nun war es aber auch klar.
»Dann bekommen wir ein Stiergefecht zu sehen«, hieß es.
»Denn würden etwa olympische Spiele veranstaltet, so würden die Mädchen doch auch mit der römischen Tunika bekleidet sein. Ein anderer Geschmack ist der Lady Blodwen doch nicht zuzutrauen. In ihrer Villa zu Leytenstone soll ja auch alles römisch gegangen sein. Nicht wahr, Herr Kapitän?«
Ich bejahte kurz und widmete meine ganze Aufmerksamkeit dem Krimstecher, den ich mitgenommen.
Wie gesagt, saßen wir ›Herren Seezigeuner‹ alle beisammen auf der untersten Stufe, hinter uns meine Leute und dann einige Diener, welche die Jachtsportsmen mitgenommen hatten, wie zum Beispiel Mr. Rug seinen ›Jonny mit Brandy und Zucker‹.
Dann kamen, in großem Abstande von uns, wie es sich geziemte, die Inselbewohner, meist braune Inder und gelbe Chinesen, dazwischen wieder isolierte Gruppen von Europäern.
Uns direkt gegenüber war wieder solch eine Insel im Völkermeere, und die Entfernung von uns war eine so große, dass man auch wirklich einen guten Krimstecher brauchte.
Da erkannte ich dort drüben Blodwen, die beiden Puppenspieler, Monsieur Papapopulos und einige andere mehr oder minder weißhäutige Herren, welche wohl zu der Inselkönigin Generalstabe gehörten. Und ferner Atlanta! Und sie saß neben dem Armenier. Und der Poppelmann hatte, wie ich deutlich erkennen konnte, ihre Hand auf seinem Knie, hielt sie darauf mit seiner eigenen Pfote fest.
Ja, warum sollte sie oder er nicht? Was ging mich diese Sache überhaupt noch an?
Da öffnete sich dort unten eine der Türen, ein Mann trat in die Arena, ein Spanier, ein Stierkämpfer in goldgesticktem Kostüm, und verkündete mit schallender Stimme, dass das hochgeehrte Publikum das Vergnügen haben würde, den weltberühmten Toreador Señor Soundso auftreten zu sehen, im Kampfe gegen einen wilden Stier, der direkt aus den spanischen Pyrenäen bezogen worden wäre, usw. usw.
Na, ich kann nur sagen, dass wir alle zusammen äußerst enttäuscht waren.
Also wirklich ein Stiergefecht!
Unter diesen Weltbummlern war doch kein einziger, der nicht schon in Spanien wenigstens einem Stiergefecht beigewohnt hatte, und dasselbe galt von mir. Nur hatte ich es nicht in Spanien, sondern im portugiesischen Lissabon gesehen, aber auch in prachtvollster Ausführung, mit den blutigsten Zwischenfällen, von einem berühmten spanischen Toreador in elegantester Weise beendet.
Was ich früher über nervenaufregende Schaustellungen gesagt habe, über Turmseiltänzer und dergleichen, wobei das Publikum darauf wartet, dass der Auftretende den Hals bricht oder sonst wie verunglückt, gilt nicht für Schauspiele, wobei gegeneinander Kräfte gemessen werden, mag dabei auch noch so viel Blut fließen — gilt wenigstens nicht für mich. Da bin ich ganz und gar nicht einseitig.
Jeden Wettkampf verfolge ich mit atemloser Spannung, jeder Sieg versetzt mich in Enthusiasmus, da kann ich klatschen und johlen, und mag er auch noch so fürchterlich enden.
Dafür mag mich der Leser auch für einen Barbaren halten. Gut, ich nehme es hin. Trotzdem weiß ich genau, was ich will, bin darin durchaus nicht inkonsequent.
Wolle man doch bedenken: Gerade als sich das alte Griechenland in der Kunst zur herrlichsten Blüte entfaltet hatte, standen dort auch die olympischen Spiele im größten Ansehen, nicht beschickt von gekauften und dressierten Sklaven, sondern von freien Söhnen freier Bürger. Und diese alten Hellenen waren gewiss keine Barbaren. Wir überkultivierten Europäer können uns mit jenen Griechen vor zweitausend Jahren nicht etwa mehr messen, was Kunst, Ethik und dergleichen anbetrifft! O, wir sind mit unserer ganzen Wissenschaft und mit all unseren Erfindungen im Schönheitsgeschmack ganz erschrecklich zurückgegangen!
Nun, diese selben ethisch so hochentwickelten Hellenen haben denjenigen Athleten, welche die meisten Kinnladen zerschmetterten, Denkmäler gesetzt!
Genug! Wem das nicht genügt, dem ist nicht zu helfen. Der mag sich in einer faulen Operette an Klimbim und Trikots und Ehebruch ergötzen, oder er mag darauf lauern, bis der Radfahrer einmal aus der Schleife geschleudert wird und mit zerschmetterten Gliedern liegen bleibt.
Ich aber liebe das Kampfspiel, das Messen von Kraft und Gewandtheit, wenn auch dabei Blut fließt und Knochen brechen, und in diesem Falle weiß ich auch nichts von Tierquälerei. Wer sogar das Pferderennen so nennt und es polizeilich verboten haben will, weiß nichts vom Charakter des Tieres.
Kurz, das spanische Stiergefecht damals hatte mir ganz mächtig imponiert. Ich konnte jederzeit eine Wiederholung sehen... aber hier?
Auch ich hatte anderes erwartet, auch ich war enttäuscht. Und jener Stierkampf in Lissabon konnte an tollkühnen Szenen und sonstiger Großartigkeit wohl nicht überboten werden.
Der spanische Herold hatte sich zurückgezogen. Da ging, uns gegenüber, ein anderes Tor auf, riesenbreit, und donnernd kam es hereingestürmt — kein Stier, wie wir alle erwartet — sondern eine Reihe Pferde, zweirädrige Wagen hinter sich, olympische Rennwagen, darauf der Rosselenker in kurzer, römischer Tunika...
O, diese Enttäuschung! Nämlich angenehme, überrumpelnde, aller Beschreibung spottende!
Wir hatten einen Stier erwartet, phantastisch gekleidete Stierkämpfer zu Fuß und zu Pferd... und da donnern plötzlich durch die Arena fünf olympische Rennwagen, alles daran echt, einer mit fünf, drei mit vier, einer mit drei Rossen bespannt — und was für Rosse! — und auch an ihnen der klassische Charakter gewahrt — mit kurzem Schweif und ebenso ganz kurzer, künstlich gesträubter Mähne — und so sausten sie unter ohrenbetäubendem Donnergepolter, durch den hölzernen, unterhöhlten Boden erzeugt, und unter gellenden Anfeuerungsrufen und pistolenähnlichem Knallen der langen Peitschen am kurzen Stiel im Kreise durch die Arena.
O, diese Überraschung!! Erst die Vorbereitung auf ein Stiergefecht, das wir alle schon kannten, und nun plötzlich ein altklassisches Wagenrennen! Das war großartig arrangiert oder inszeniert gewesen!
Wer hat schon jemals solch ein olympisches Wagenrennen in aller Echtheit gesehen? Es wäre doch möglich.
Ich lese in einer Zeitung, dass ein amerikanischer Zirkus, gegründet und geleitet von einem gewissen Barnum, den man früher den König des Humbugs nannte, jetzt die Welt bereist und dem Publikum auch solch ein Schauspiel bietet, ein Wagenrennen nach altrömischer Art.
Aber nach der Beschreibung bezweifle ich, dass diese Vorführung dem Original vor zweitausend Jahren gleicht, das muss ganz bedeutend zahmer sein, denn selten hört man einmal von einem Unglücksfall, und dann kann es sich auch nicht mit dem Schauspiel vergleichen, das wir damals auf der einsamen Osterinsel zu sehen bekamen, arrangiert von einer emanzipierten Amerikanerin, einem halb oder auch ganz tollen Weibe, das entschlossen war, hundert Millionen in möglichst kurzer Zeit durchzubringen, um ihre Gäste zu unterhalten, um die Welt von sich sprechen zu machen.
Als Einleitung zum Folgenden, zum eigentlichen Wettkampf, muss ich vor allen Dingen bemerken, dass die griechischen und römischen Rennwagen nicht solch leichte Dinger waren, wie sie heute etwa beim Trabrennen verwendet werden. Ganz im Gegenteil, das waren massive Wagen von vielen Zentnern Gewicht, ganz aus Eisen und Bronze bestehend, besonders auch die für unsere Verhältnisse übermäßig breiten Räder.
Denn bei den olympischen Wagenrennen war alles erlaubt, um den Rivalen zu besiegen — zu besiegen, nicht nur ihn zu überholen.
Vor allen Dingen wurde auch immer versucht, den Wagen des Gegners anzurempeln, ihm in die Räder zu fahren, um ihm die Achsen zu brechen, ihn zu zertrümmern — und da konnte man natürlich nicht solch niedliche Wägelchen gebrauchen.
Und solch kolossal massive Wagen waren auch das hier, gar nicht so groß, sehr niedrig, aber diese hohen und mächtig breiten Räder! — und daher auch das donnernde Gepolter auf dem hölzernen Boden, obgleich es von der daraufliegenden, sicher sehr hohen Sand- oder Kiesschicht abgeschwächt wurde.
Erst hatten wir geglaubt, der Start sei schon draußen gewesen, die Wettfahrt habe schon begonnen.
Dem war aber nicht so. Sie hatten nur einige Runden gefahren, um sich zu präsentieren, vielleicht auch, um die Pferde erst zu gewöhnen.
Es war ja schon ein rasendes Tempo in voller Karriere gewesen, aber es sollte noch ganz, ganz anders kommen!
Drei Runden, dann zügelten die nervigen Fäuste die Rosse. Die Wagen blieben stehen, wo sie gerade standen.
Ein Mann in römischer Tunika betrat die Arena und verkündete mit schallender Stimme, dass dreißig Runden gefahren würden — nichts weiter.
Aber eben diese Kürze verriet, dass diese Rosselenker Ernst machten! Jeder wollte die Siegespalme erringen, das zuschauende Publikum wurde gewissermaßen nur geduldet. Und Blodwen hatte dem Sieger sicherlich auch eine ansehnliche Prämie ausgesetzt, die jede Schonung ausschloss.
Außerdem hatten die doch auch gewiss schon lange geübt und geprobt, das hatte man doch gleich den ersten Runden angesehen, und jetzt kam der Entscheidungskampf.
Der Schiedsrichter, wie wir ihn nennen wollen, ging von Wagen zu Wagen, jeder Rosselenker griff in eine dargebotene Urne und zog ein Zettelchen, sie losten die Reihenfolge aus, und nach dieser ordneten sie sich alsbald, ein Wagen hinter dem anderen.
Obgleich das Publikum die Bedingungen nicht erfuhr, waren diese doch gleich ersichtlich.
Die Wagen mussten sich immer dicht an der Umfassungsmauer halten. Mit Ausnahme, wenn einer den anderen zu überholen suchte, dann lenkte der andere mehr nach innen ein.
Dass er dadurch eine kürzere Strecke zurückzulegen brauchte, hatte nichts zu sagen, wie wir gleich sehen sollten, der einbiegende Wagen kam dabei doch stets etwas außer Fahrt, dann musste er doch auch wieder die Mauer gewinnen, und ebenso wenig hatte bei dreißig Runden der durch das Los gewonnene Vorsprung etwas zu bedeuten, zumal anfangs die Pferde zurückgehalten wurden, wenn auch nicht bemerkbar für das Publikum. Aber bei den letzten Runden und bei der allerletzten, da merkte man es!
Ferner schien auch die Anzahl der Pferde wenig für den Sieg zu bedeuten. Jedenfalls hoffte doch das Dreigespann den Sieg genau so gut zu erringen wie der Fünfspänner. Das mochte Geschmacksache sein, gewonnene Erfahrung, vielleicht auch war der von nur drei Pferden gezogene Wagen leichter als die anderen, obgleich ihm davon nichts anzumerken war.
Nur die drei Vierspänner brauchten eine Unterscheidung, und zwar waren in die Mähnen der Pferde verschiedenfarbige Bänder eingeflochten, von gleicher Farbe waren die Togen der Lenker.
Die Reihenfolge der Wagen war nun folgende: ein roter Vierspänner, der weiße Fünfspänner, ein blauer Vierspänner, ein gelber Vierspänner, der weiße Dreispänner.
Der Schiedsrichter trat in die Mitte, hob einfach ein weißes Tuch, senkte es schnell — und los ging die wilde Jagd!
Ja, da sahen wir erst, was für eine harmlose Spazierfahrt die Runden vorhin nur gewesen waren!
Nur ein kurzes Anziehen, nur wenige Galoppsprünge — und dann lagen die zwanzig Pferde vor den fünf Wagen wie die langgestreckten Hasen, mit dem Bauche fast den Boden berührend.
O, war das ein Bild unter Donnergepolter und Peitschenknall und Hussagebrüll!!
In der ersten Runde veränderte sich nichts. Dann aber blieb der letzte Wagen, der Dreispänner, schnell zurück, während der führende rote Vierspänner einen immer größeren Vorsprung gewann.
Da aber, in der dritten Runde, kam der Fünfspänner wieder vor, mit einer Schnelligkeit, welche deutlich zeigte, wie noch immer die Pferde geschont wurden, er bog ein, kam neben den roten Vierspänner, dieser wollte sich die Führung nicht nehmen lassen, Peitschenhiebe, und jetzt legte auch dieser Vierspänner noch ganz anders los.
Plötzlich lag auch der gelbe Vierspänner neben dem blauen, seinem Vorgänger; ein doppelter Zwischenkampf entspann sich!
Der rote Vierer ließ sich die Führung nicht nehmen, und da sah man, wie wenig es zu bedeuten hatte, dass mehr nach innen der Weg ein kürzerer war, der Fünfspänner konnte nicht überholen, blieb vielmehr zurück — und da waren inzwischen die beiden um einen Vorsprung kämpfenden Viergespanne aufgerückt, hier trat eine Änderung ein, der gelbe überholte den blauen, alle drei Vierspänner lagen dicht hintereinander, und ehe man sich versah, befand sich der Fünfspänner, der wohl nach strenger Vorschrift baldmöglichst wieder die Mauer zu gewinnen hatte, an vierter Stelle, während das Dreigespann, dessen Rosselenker sich fortwährend an den Zügeln zu schaffen machte, jetzt mehr als eine halbe Runde zurück war.
O, waren das Szenen!
Es war begreiflich, dass das vielhundertköpfige Publikum zu toben begann, dass auch der sonst phlegmatischste Chinese jubelte.
Nun aber erst diese Lords und die anderen Sportsmen! Es ist ja bekannt, dass der phlegmatische Engländer, wenn er sich einmal von etwas hinreißen lässt, jeden Südländer an Leidenschaft übertrifft. Daher ist der Engländer auch der wütendste Hasardspieler.
Bei denen also wäre das Wort ›Toben‹ noch ein schwacher Ausdruck für ihr Verhalten gewesen. Die wurden einfach wahnsinnig. Und nun diese Wetten, die sofort abgeschlossen wurden!
Am ruhigsten war noch Lord Seymour, der die einzelnen Wetten annahm und notierte.
Das Wetten hatte erst begonnen, als der Fünfspänner den führenden roten Vierer zu überholen schien, daher waren auf den Fünfer gleich große Summen gesetzt worden — sehr voreilig, denn schon in der nächsten Runde war er an die vorletzte Stelle gekommen, und das Geld konnte natürlich nicht zurückgezogen werden. Wohl aber konnte jeder verschiedene Wagen besetzen, alle — das wurde dann später verrechnet, es wurden Differenzwetten.
Dann hatte der gelbe Vierspänner die größte Sympathie, der ja tatsächlich schon seinen Vorgänger überholt hatte, durch Abfall des Fünfgespanns, also gleich zwei Stellen vorgerückt war, und ich selbst hätte auf ihn gewettet, alles machte bei diesem den schneidigsten Eindruck, die herrlichen Pferde, wie der Lenker Zügel und Peitsche führte — und doch war dieses Urteil jetzt, bei der vielleicht sechsten Runde, immer noch sehr voreilig.
Der Dreispänner blieb immer mehr zurück, musste von dem ersten Vierspänner gleich überrundet werden, der zählte schon nicht mehr mit.
Nur einer dachte anders.
»Tausend Pfund auf den ersten Sechsspänner!!«, fing jetzt der Australier wie ein Stier zu brüllen an. »Tausend Pfund auf den ersten Sechsspänner, tausend Pfund, zweitausend Pfund, dreitausend Pfund!!!«
Er brüllte noch weiter, bis Lord Seymour ihn darauf aufmerksam machte, dass es doch keinen einzigen Sechsspänner gab, geschweige denn zwei. Da kam er aber bei Mr. Rug schön an.
»Na, dort — dort — der erste Sechsspänner — der jetzt eben auf die Pferde haut, sein Bein auf den Rücken des mittelsten Pferdes stemmt!«
Da stellte sich heraus, dass der Australier den Dreispänner meinte! Er hatte nämlich schon heute früh schief geladen gehabt, hatte ein spanisches Kredenzmädchen leergetrunken, und infolgedessen sah er jetzt doppelt, aus dem Dreispänner wurde ein Sechser und zwar deren gleich zwei.
Mr. Rug blieb bei seinem Sechsspänner, bei dem ersten, den er erblickte, und mich wunderte nur, dass die anderen Herren diese Wette annahmen, was doch eigentlich nicht fair war, ganz abgesehen davon, dass der Australier wahrscheinlich glaubte, der Dreispänner läge an der Spitze, während er in Wirklichkeit doch gleich von dem roten Vierspänner überholt werden musste.
Und dies geschah jetzt, der führende Vierer bog ein, legte sich neben den Dreispänner, suchte ihn zu überrunden.
Da aber musste man doch seine Ansicht über den letzteren etwas ändern. Er war von dem roten Vierspänner doch nicht so leicht zu überholen, wie man zuerst vermutete.
Mit einem Male griffen die drei Rosse ganz anders aus. Überholen ließen sie sich von dem Viergespann wenigstens nicht. Und auch auf der anderen Seite des Amphitheaters, dort, wo jene saßen, welche doch schon etwas mehr von Ross und Lenker wissen mussten, schien man anderer Ansicht zu sein.
Auch dort drüben wurde getobt, Blodwen schien den Veitstanz bekommen zu haben, ununterbrochen wurde ein Name gerufen, gebrüllt, und wenn mir dieser auch keine Erklärung gab, so war doch ganz offenbar, dass die allgemeine Sympathie auf Seiten des Dreigespanns war, diesem galten die anfeuernden Zurufe.
Diese Sympathie schien auch einen guten Grund zu haben, sicher doch laut Erfahrung. Eine Runde legten so die beiden Wagen Seite an Seite zurück, dann aber ging der Dreispänner unaufhaltsam vor, das rote Viergespann musste hinter ihm einlenken, wollte es nicht dem Nachfolger eine Chance geben.
Drüben auf der anderen Seite lohnte ein nicht enden wollendes Triumphgeschrei den Sieg des Dreigespanns.
Aber sollte da nicht eine Täuschung vorliegen? Eigentlich war das doch gar kein Sieg gewesen. Vielmehr seitens des Dreigespanns nur das Verschieben eines noch größeren Verlustes! Denn dieses war jetzt doch nicht etwa der erste Wagen, sondern noch immer der letzte, noch weit über eine halbe Runde hinter dem vorletzten zurück, er hatte sich von dem ersten Wagen nur nicht überrunden lassen, hatte es noch einmal, vielleicht mit seiner letzten Kraft, zu verhindern gewusst.
Aber die dort drüben mussten doch wohl besser orientiert sein. Plötzlich ging das Dreigespann ganz mächtig vor, innerhalb einer halben Runde hatte es den Fünfspänner eingeholt...
Da plötzlich ein einstimmiger Schrei des Entsetzens! Das Einzelne hatte man gar nicht gesehen — plötzlich bildeten die fünf Rosse dieses Wagens einen wirren, zuckenden Haufen, der Wagen selbst war natürlich mit furchtbarer Gewalt in die gestürzten Pferde hineingefahren — um sich schlagende Beine, aufgerissene Pferdeleiber — und im nächsten Augenblick musste auch das Dreigespann hineinfahren, musste diesen Haufen von Trümmern, Gliedmaßen und blutigem Fleisch, noch vergrößern...
Doch nein, in diesem letzten Augenblick wurde das Dreigespann noch zur Seite gerissen, wohlbehalten sauste es vorbei.
Wie doch die Menschen sind! Erst ein Schrei des Entsetzens, dann atemlose Totenstille, das Unglück geht jedem doch furchtbar zu Herzen, und dann wieder im nächsten Moment ein brausender Beifallssturm, dem Bravourstück des Dreispänners geltend — und abermals im nächsten Moment wiederum Rufe des Entsetzens.
Dem roten Viergespann war der Trümmerhaufen zum Verhängnis geworden, es hatte nicht rechtzeitig beilenken können, war hineingefahren. Jetzt wälzten sich dort neun Rosse und zwei Menschen in Todeszuckungen, und keine Hand kam, sie unter den Trümmern der zerschmetterten Wagen hervorzuziehen, die Verwundeten und Toten fortzutragen, den entsetzlich schreienden Pferden den Gnadenstoß zu geben. Es war das erstemal, dass ich ein Pferd schreien hörte — grässlich; der Ton lässt sich mit gar nichts vergleichen.
Weiter ging die wilde Jagd. Es mussten schon die letzten Runden sein, immer toller wurde die Peitsche gebraucht.
Der Trümmerhaufen, der eine ziemliche Breite einnahm, musste umfahren werden. Machte nichts, dieses Hindernis hatte ein jeder zu überwinden.
Nach Verschwinden des roten Vierspänners war der gelbe der erste. Er wurde vom blauen überholt, doch der gelbe setzte sofort seine ganze Kraft ein, kam wieder an die Seite des blauen, eine Runde lang blieben sie nebeneinander liegen — und da kam auch das Dreigespann vor, lenkte ein, legte sich an die Seite des gelben Viergespanns.
So rasten die drei Wagen mit zusammen elf Rossen dicht nebeneinander einige Male durch die Arena, angefeuert von dem tobenden Publikum. Und zum Publikum gehörte auch ich. Nein, ich machte keine Ausnahme. Gewettet hatte ich nicht. Jetzt hätte ich es für das Dreigespann getan, ich wäre bereit gewesen, für den Sieg des Dreigespanns eine Hand zu opfern, und alle diese Hunderte von Menschen wären auf Seiten des Dreigespanns gewesen, hätten sie sich durch hohe Einsätze nicht für einen der Vierspänner interessieren müssen. Die allgemeine Gunst hat ja sonst stets der Schwächere, der sich wacker zu halten weiß.
Da ging der Gelbe vor — das Dreigespann folgte nach und gewann als zweiter Wagen wieder die Mauer — in diesem Augenblick donnerte ein Kanonenschuss, die dreißigste Runde war beendet, mit dieser Reihenfolge war der Sieg entschieden, die Rosse wurden gezügelt, die drei Wagen lenkten ein.
Was dann noch weiter geschah, dessen kann ich mich kaum noch entsinnen. Blodwen betrat wohl die Arena, überreichte dem Lenker des gelben Viergespanns einen großen, goldenen Kranz, der des Dreigespanns bekam als zweiter Sieger einen kleineren, auch das blaue Viergespann ging nicht leer aus — dann fuhren die drei Wagen hinaus, aber mit großen Hindernissen, noch nachträglich brachen einige der siegreichen Pferde zusammen — der blaue Rosselenker stürzte vom Wagen und blieb blutüberströmt liegen — ein Blutsturz hatte, wie ich später erfuhr, seinem Leben ein Ende gemacht — und an mein Ohr brauste der donnernde Beifallssturm des Publikums.
Jetzt aber gehörte ich nicht mehr zu diesem Publikum. Jetzt war ich aus der Allgemeinheit getreten, hatte mich isoliert. Vielleicht ja noch manch anderer mit mir.
Dass ich kein brutaler Mensch bin, dürfte der Leser wohl schon gemerkt haben. Und als ich vorhin von meiner Liebhaberei für Kampfspiele
sprach — ›mag auch noch so viel Blut fließen!‹ — da dürfte ich etwas übertrieben haben.
Ja, es war großartig gewesen, herrlich, auch ich hatte mitgejubelt, mitgerast — aber dann hinterher packte es mich ebenso furchtbar. Für meinen Seelenzustand weiß ich keinen anderen Ausdruck als: ›Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an‹.
Die zerschmetterten Pferde und ihre Lenker wurden schnell hinausgeschafft — und ich fühlte mich mit schuldig an ihrem Tode, an ihren Schmerzen.
Weshalb? Weil ich sie vorhin, als sie noch in voller Lebenskraft durch die Arena gerast waren, bejubelt hatte!
Meinetwegen waren sie in diesen frevelhaften Kampf gegangen, meinetwegen waren sie gestürzt, zermalmt worden. —
Genug! Wer nicht weiß, was ich hiermit sagen will, dem kann ich es auch nicht näher erklären. Ich war furchtbar erschüttert. Und trotzdem sage ich es noch einmal: es war ein herrliches Schauspiel gewesen! — — —
Während die blutigen Spuren des Kampfes schnell durch weißen Sand verwischt wurden, ordnete Lord Seymour die Wetten.
Sie alle, die sich bei ihm eingetragen, hatten viel gewonnen, aber auch viel verloren. Es hob sich bei fast jedem so ziemlich auf. Nur Mr. Rug hatte mit seinem Dreigespann, das zweiter Sieger geworden, tatsächlich eine erkleckliche Summe gewonnen. Kinder und Besoffene haben eben ihren Schutzengel, d. h. das meiste Glück. Wie Lord Seymour diese Differenzberechnung ausführte, weiß ich nicht.
Blodwen hatte, als sie in der Arena erschienen, ihren Teil abbekommen, und man geizte auch jetzt unter sich nicht mit ihrem Lobe.
»Ja, so etwas haben wir allerdings noch nicht gesehen und werden es auch nie wieder zu sehen bekommen. Was kommt nun?«
Ich bemerke, dass das ganze Wettrennen höchstens zehn Minuten gedauert hatte, in weiteren zehn war die Arena wieder gesäubert, während Erfrischungen herumgereicht wurden.
Ich weiß nicht — ich hatte ein Glas Rotwein genommen — ich konnte es nicht trinken. Der rote Wein schmeckte mir nach Blut.
Da erscholl ein schmetternder Tusch, hinter uns hatte sich eine Kapelle niedergelassen, zwei Tore öffneten sich, und unter den Klängen eines faszinierenden Marsches marschierten aus jedem Tore Männer in die Arena. »Gladiatoren!!«, erscholl sofort der Ruf des Staunens.
Es waren solche, Gladiatoren nach römischem Muster, wie das alte Griechenland sie niemals gekannt hat.
Es mochten wenigstens zweimal fünfzig sein, welche zunächst im Kreise herummarschierten, um sich zu präsentieren, lauter athletisch gewachsene Männer, deren Bekleidung außer einem kurzen Faltenrock, nicht ganz bis zum Knie reichend, nur aus Beinschienen und Brustpanzer bestand, der bei der einen Hälfte silbern, bei der anderen golden war, ebenso wie der phantastische Helm, und schließlich noch an den Füßen Sandalen.
Die Bewaffnung bestand ausschließlich aus Schwertern, nur einige trugen eine Art von Fischernetzen, deren Bedeutung ich schon kannte. Doch ich will nicht vorgreifen. Ferner hatte jeder am linken, sonst nackten Arm einen mit der übrigen Rüstung gleichfarbigen Schild.
Ja, es war ein herrlicher Anblick, wie diese hundert Gladiatoren, deren Rüstungen in der unterdessen hochgekommenen Sonne funkelten und gleißten, unter den Klängen der faszinierenden Musik durch die Arena marschierten, wie diese hundert Mann gleichzeitig an die Schilde schlugen und grüßend ihre breiten Schwerter senkten, — ja, es war herrlich, aber... mir drohte plötzlich das Herz stillzustehen. Eine fürchterliche Ahnung überkam mich.
Nein, nein, so etwas harmonierte nicht mit meinem Programm!!
Doch ich war jetzt Publikum — und ich ging nicht!
Ein kurzes Aufhören der Musik, ein Paukenschlag, ein neuer Marsch, die im Kreise gehenden Gladiatoren schwenkten ein, ordneten sich nach den verschiedenen Farben — ich will nicht von Silber und Gold, sondern immer von Weiß und Rot sprechen — einander gegenüber, schlugen an den Schild und begrüßten sich durch Neigen der Schwerter.
Und ich blieb.
Leiser wurde die Musik. Ein Roter trat leichten Schrittes hervor, Schild und Schwert in den Händen, ihm entgegen ging ein Weißer, der ausnahmsweise sein kurzes Schwert in einer Scheide trug und statt des Schildes in den Händen eines jener Netze hatte.
Der Netzkampf begann, eine der beliebtesten Kampfarten im altrömischen Zirkus, weil am reichsten an Abwechslung bietend.
Der Gang ist oder war kurz folgender: Der Netzträger sucht sein Netz über den Kopf des Gegners zu werfen, ihn überhaupt darein zu verstricken, der Gegner sucht auszuweichen und den anderen zu töten. Damit er mit dem Schwert das Netz nicht zerschneiden kann, was für ihn ja eine Leichtigkeit ist, muss das Schwert stumpf sein, d. h. an den Schneiden nicht geschliffen, wohl aber natürlich spitz.
So einfach das klingen mag, so interessant ist solch ein Kampf in Wirklichkeit. Wir bekamen es hier zu sehen.
Der Kampf währte mindestens eine Viertelstunde, und doch ward man seiner nicht überdrüssig. Die einzelnen Phasen lassen sich nicht beschreiben. Jedenfalls war die Gewandtheit der beiden unglaublich, wie sie dem Netz und den Stichen entgingen, wie sie sich drehten und wendeten, eben gar nicht zu beschreiben. Oftmals war der Rote schon von dem Netze eingehüllt, lag sogar schon am Boden, aber stets wusste sich der aalgleiche Mann wieder freizumachen, und dann hatte sich wieder der Weiße vor den kunstgerechten Hieben und Stichen des Gladiatoren zu schützen, allein mit dem Schilde oder durch affenartige Seitensprünge, während welcher er schon wieder das Netz durch die Luft sausen ließ.
Da stürzte der Rote, durch einen geschickten Wurf ins Netz gewickelt, abermals, und diesmal konnte er sich nicht wieder freimachen — im Nu war der Weiße über ihm, hatte sein kurzes Schwert aus der Scheide gerissen, es dem Wehrlosen zwischen Panzer und Helmband auf den Hals gesetzt.
Mir stockte das Herz, wie es nun kommen würde...
Da hob der Gestürzte den rechten Arm, den er noch frei hatte, hoch, ohne Schwert, den Daumen in die Höhe, und unter dem donnernden Applaus der Zuschauer ließ der Sieger von dem Besiegten ab, half ihm aus dem Netz.
Erleichtert konnte ich aufatmen. Es ging hier so ritterlich zu wie im Zirkus des alten Roms, die Besiegten waren sogar noch mehr geschützt.
Wurde ein Gladiator vom anderen besiegt, d. h. zunächst zu Boden gefällt, so hatte er vom Sieger den Todesstoß zu erwarten. Ehe dies aber geschah, hielt er — der Sieger, nicht wie hier der Besiegte, — die Hand mit dem Daumen hoch, es war eine Frage, ob oder ob nicht, und das Publikum entschied durch Zurufe über Tod oder Leben des Besiegten. Lautete der Zuruf bejahend, dann gab der Sieger dem Besiegten den Todesstoß.
Doch dies kam wohl niemals vor, die Zuschauer begnadigten stets den Besiegten, der ja gewöhnlich schon schlimm genug zugerichtet war, ja manchmal seine Seele bereits ausgehaucht hatte.
Das hier war nur eine plumpe Nachahmung gewesen, die besser hätte unterbleiben sollen. So weit war dieses Publikum ja gar nicht informiert.
Kurz, dieser Kampf war vollständig unblutig abgelaufen, ich konnte erleichtert aufatmen — Leben sollten hier also geschont werden.
Zwei andere Gladiatoren gingen gegeneinander vor, um sich nur mit dem Schwerte zu messen.
Es waren geübte Fechter, nicht etwa solche, wie man sie im Theater sieht, die nur so mit den Schilden zusammenprallen und vorsichtig mit den Schwertern herumfuchteln.
Ja, auch diese hier prallten mit den Schilden zusammen, aber wie! Und wie die fochten!
Und dann rötete sich der Sand von Blut — und dann ließ der Weiße sein Schwert fallen und brach zusammen — und ich hatte deutlich gesehen, wie sich des Roten Schwert tief in seine Brust gebohrt hatte, in der Gegend des Herzens, trotz des Panzers, der auch sicher nicht aus versilberter Pappe bestand.
Da sofort ein wütendes Gebrüll, fünfzig vergoldete Schwertträger stürmten vor, auf die silbernen zu, und diese erwarteten sie, kamen ihnen halbwegs entgegen, und der Kampf Mann gegen Mann begann — ein Schlachten — und die Musik spielte dazu — spielte, unmusikalisch wie der Engländer bekanntermaßen ist, ich erinnere nur an die englischen Kirchenlieder, die eigentlich ins Tingeltangel gehören — spielte dazu marschmäßig das schöne Lied ›Lott ist tot, Lott ist tot, Jule liegt im Steeerben‹ — was in diesem Falle allerdings auch recht gut passte.
Ich schaute der Schlacht, dem Schlachten zu, sah, wie einer nach dem anderen stürzte, sich röchelnd im Blute wälzte.
Was ich jetzt nachstehend sage, habe ich damals nicht so gedacht, obgleich mir ähnliche Gedanken doch durch den Kopf schossen — blitzartig.
Also ich bin gewiss kein gemütsroher Mensch.
Wenn ich Kampfspiele liebe, so hat das doch seine Grenzen wie alles in der Welt.
Eigentlich bin ich ein sehr gutmütiger Mensch. Ich kann keinen hungern sehen. Ach Gott, wie oft habe ich meinen letzten Penny in eine abgezehrte Hand gedrückt! Ich habe buchstäblich einmal mein Hemd vom Leibe verschenkt.
Aber alles, was ich verdiene, den Armen zu geben, um selbst von Kraut und Wurzeln zu leben, dazu fühle ich mich durchaus nicht verpflichtet, das fällt mir gar nicht im Traume ein.
Versteht der geneigte Leser? Sicher!
Alles mit Unterschied, alles hat seine Grenzen.
Ja, ich war ein Freund von Kampfspielen, selbst von blutigen, aber... das hier war etwas ganz anderes, weil damit das Publikum ›amüsiert‹ werden sollte.
Wieder prallten die beiden feindlichen Gladiatorenscharen zusammen, stampften auf den Leibern der schon gefallenen Kameraden herum, ein etwaiges Wimmern und Röcheln ward durch Schildeklirren und Schwerterklang, durch die Musik und vor allen Dingen durch den tosenden Jubel des Publikums übertönt — jetzt aber gehörte ich nicht mehr zu diesem Publikum, aus menschlichen Bestien bestehend — — plötzlich saß ich nicht mehr auf der Steinbank, plötzlich stand ich mitten unter den Kämpfenden, hatte zwei beim Griebse gepackt und schleuderte sie zurück, auf andere darauf.
»Auseinander, ihr Himmelhunde!!!«
Ich weiß nicht, ob meine Stimme oder mein Auftreten oder das plötzliche Verstummen der Musik wie des Gebrülls des Publikums daran schuld war, dass hier unten mit einem Male alles wie versteinert dastand. Nur zwei wollten noch nicht voneinander lassen, fochten weiter — ich riss den einen von hinten zurück — da wandte er sich gegen mich, wollte mich mit seinem Schwerte kiksen — aber ehe er dazu kam, hatte er von mir eine Maulschelle weg, dass gleich sein Helm abflog und er selbst in den Sand.
Da plötzlich stand Blodwen vor mir, kreideweiß im Gesicht, die Augen wie glühende Kohlen.
»Mann, was ficht Euch an?!«
Ich wusste, woran ich war, und ich deutete auf einige blutige, sich windende Menschenleiber, die zu meinen Füßen lagen.
»Weib, ist das dein Werk?!«
»Mann, was ficht dich an, dich hier störend einzumischen?! Bei Thor und Odin, ich...«
»Ja, Blodwen, du bist noch zu etwas anderem fähig, jetzt weiß ich es! Und so höre denn mein Urteil über dich! Du hast mir etwas zeigen wollen, was ich bisher noch nicht gesehen hätte — wohl, du hattest wahr gesprochen!! — — noch nie habe ich solch ein herzloses, grausames, blutgieriges Weib gesehen wie dich — — und mich wundert nur, dass zu unseren Zeiten die Erde noch solch ein Ungeheuer in Menschengestalt auf sich duldet — — ich schäme mich, dich jemals meine Freundin genannt zu haben! Pfui über dich!!!«
Ich wandte mich um und ging zurück.
»Richard!!«, erklang es noch einmal gellend hinter mir.
Ich ging weiter, der Mauer zu. Auch einige meiner Jungen waren unten, mir nachgesprungen. Wir mussten einander auf die Schulter steigen, um die fünf Meter hinaufzugelangen, mussten oben hochgezogen werden.
Wie der letzte hinaufkam, weiß ich nicht — weiß überhaupt von allem verdammt wenig.
Ich weiß nur, dass plötzlich Tischkoff vor mir stand.
»Haben Sie es gesehen?«, fragte ich ihn, und erst jetzt brach bei mir alles hervor, was ich bisher zurückgedrängt.
»Ich habe alles gesehen. Recht so, Kapitän! Kommen Sie!«
Wir hatten wohl einen jener Ausgänge benutzt, plötzlich befand ich mich in einem finsteren Tunnel, Tischkoff führte mich an der Hand — und dann sah ich mich wieder in meiner Kajüte.
Ja, ich weiß von alledem wenig zu erzählen. Ich hätte ebenso gut in bewusstlosem Zustand von dem Amphitheater bis an Bord meines Schiffes getragen werden können.
Mein ganzes Innere, jeder Nerv in mir war in Aufruhr. Tischkoff war bei mir, während ich in der Kajüte auf und ab raste.
»Als drittes wären wilde Tiere gegen Menschen losgelassen worden«, sagte er. »Es sind dazu eine Unmenge von Löwen und Tigern und anderen Raubtieren herbeigebracht worden, mit schwerem Gelde bezahlt.«
»Ich glaube es, ich glaube es!«, stöhnte ich.
»Dieser famose Papapopulos hat die kurze Zeit auszunutzen gewusst, um seine Arrangements zu treffen, für die Unterhaltung von Gästen zu sorgen.«
Mit einem Rucke blieb ich vor dem Sprecher stehen.
»Sie meinen, dass dies alles von dem Armenier ersonnen ist, nicht von jenem Weibe?!«, stieß ich fast drohend hervor.
»O nein, so war das nicht gemeint«, entgegnete Tischkoff kaltblütig. »Der eigentliche Urheber dieser Schauspiele ist Lady Blodwen, und wenn die Erfindung von Papapopulos stammte, so hat er doch eben den Charakter dieser Dame richtig zu taxieren verstanden.«
Starr blickte ich den Sprecher an.
»Soll das etwa heißen, dass Sie schon früher von dieses Weibes grausamem Charakter überzeugt gewesen sind?«
»So ist es.«
»Kannten Sie denn das ganze Verhältnis zu den Verwandten? Wie sich besonders Lady Marion weigerte, die Osterinsel zu besuchen, weil sie ihre Schwägerin jeder Grausamkeit für fähig hielt?«
»Ich wusste es.«
»Woher? Sie haben sich doch absolut nicht um die Dame gekümmert, sind während der ganzen Zeit kaum aus Ihrer Kabine gekommen.«
»Ich sehe und höre manchmal mit anderen Augen und Ohren als sonst irdische Menschen.«
Lächelnd hatte Tischkoff es gesagt — aber es war ein fast unheimliches Lächeln — zum allerersten Male machte mir Tischkoff gegenüber eine Andeutung von seinen übernatürlichen Fähigkeiten — aber jetzt war keine Zeit, auf so etwas einzugehen, ich dachte an etwas ganz anderes.
»Und Sie halten Blodwen für fähig, ihre Verwandten einer Tortur auszusetzen, um von ihnen eine Änderung in jener Erbschaftssache zu erpressen?«
»Ja.«
»Sie sind von jeher davon überzeugt gewesen?«
»Ja.«
»Und Sie haben mir diese Ihre Ansicht nicht gesagt?«
»Es hätte bei Ihnen wohl wenig Zweck gehabt. Sie selbst waren doch davon überzeugt — bis Sie Ihre Ansicht mit einem Male änderten — eigentlich ganz unmotiviert — und ich glaube schwerlich, dass Sie sich dann eines anderen hätten überzeugen lassen, dazu haben Sie doch einen viel zu harten Kopf.«
Ganz freundlich hatte Tischkoff es gesagt, ohne jeden Spott — und ich schlug mich vor die Stirn.
»Sie haben recht, tausendmal recht!! O, ich Narr, ich einfältiger Narr, der ich mich von diesem Weibe blenden ließ, weil es mir eine glatte Larve zeigte, weil es in meiner Gegenwart mit den Verwandten freundlich tat... !!«
Fast jammernd hatte ich es gerufen.
Dann aber raffte ich mich wieder empor.
»Also Sie glauben, dass Blodwen gegen ihre Verwandten dennoch mit Gewalt vorgehen wird?«
»Sicherlich.«
»Weshalb da zuvor diese scheinheilige Freundlichkeit?«
»Um sie erst zu ködern, um sie überhaupt erst hierher zu locken.
Die Sache ist doch ganz einfach. Ursprünglich hatte Blodwen vor, gegen ihre Verwandten ganz offen mit Gewalt vorzugehen. Deshalb kaperte sie ihre Schiffe, nahm sie gefangen. Es blieb ihr ja auch gar nichts anderes übrig, denn freiwillig wären die doch keiner Einladung gefolgt, wären wohl schwerlich in irgendwelche Falle gegangen. Nun aber, einmal gefangen, begegnete Blodwen ihnen mit der größten Freundlichkeit, tat, als hätte sie nur einmal ihre Macht zeigen wollen, jedoch gar nicht daran denkend, diese etwa zu gebrauchen.
Als zweites sah sie sich nach Gästen, nach Zeugen um. Da mögen ihr in jenem Hafen die Herren von Fanafute wie gerufen gekommen sein. Auch diese lud sie nach ihrer Insel ein. Dann kamen auch Sie noch, brachten sogar gleich noch die vierte Person mit, die Lady Marion.
»Jetzt benimmt sie sich also gegen ihre Verwandten mit der größten Freundlichkeit, alle diese angesehenen Männer der verschiedensten Nationen sind Zeuge davon, Sie selbst waren doch der festen Überzeugung, dass Blodwen keiner solchen ungerechten Handlung fähig sei, waren wenigstens noch zu dieser Ansicht gekommen, Blodwen hatte also ihr Ziel erreicht — — dann hätte sie einfach die anderen Gäste entlassen, auch Sie — und dann wäre sie gegen ihre Verwandten vorgegangen: Tod oder eure Unterschrift, wodurch ihr auf alles wieder verzichtet. O, das hätte doch dieses Weib schon zu arrangieren gewusst! Dann wären die Verwandten ganz einfach verschwunden, durch einen Schiffbruch oder sonst wie. Blodwen wäre jedenfalls ihr nächster Erbe gewesen, das eben hätte sie von jenen erpresst. Und dann hätte sie die angesehensten Männer Englands und anderer Länder als Zeugen gehabt, dass hier alles durchaus sauber zugegangen sei. Ist das nicht ganz einfach?«
Ja, plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen!
»Durch meine Einmischung, durch meine letzte Handlungsweise wird hieran eigentlich gar nichts geändert.«
»Nein, durchaus nichts. Blodwen hat nur einen Zeugen weniger. Doch Sie vogelfreier Desperado kommen ja überhaupt gar nicht in Betracht, Sie können ruhig absegeln, können gegen die Lady irgendwelche Beschuldigung erheben — das gilt alles nichts mehr.«
»Aber die anderen Gäste, die Sportsmen von Fanafute?«
»Nun, was ist mit denen?«
»Sollten denen die Augen jetzt nicht aufgegangen sein?«
»Worüber?«
»Über den eigentlichen Charakter dieses Weibes.«
»Wodurch?«
»Nun, eben durch diese Vorstellungen, welche doch die Grausamkeit dieses Weibes offenbaren.«
»Hätten Sie diese Herren so beobachtet wie ich, so würden Sie nicht so sprechen. Die haben nicht mit solch starren Augen dagesessen wie Sie. Die werden auch nicht von solchen Empfindungen gequält wie Sie. Nein, deren Verehrung gegen ihre Gastgeberin ist jetzt nur noch gewachsen.
»Aber jene Verwandten müssen gewarnt werden! Ihr Leben ist bedroht!«
»Warnen? Versuchen Sie ihnen die Augen zu öffnen. Es wird Ihnen nicht gelingen — gerade Ihnen am allerwenigsten, der Sie ja selbst zuletzt den Argwohn der Lady Marion zerstreut haben. Und womit wollen Sie denn überhaupt Ihren neu entstandenen Argwohn motivieren? Mit dieser Vorstellung im Zirkus? Weil da Gladiatoren kämpften, genau so, wie zu den Zeiten des alten Roms? Deshalb muss nun Lady Blodwen auch gleich fähig sein, ihre Gastfreunde zu martern?«
Tischkoff hatte recht, hatte hundertmal recht! Ich selbst hatte mir durch meine frühere, neu erwachte Vertrauensseligkeit meine Stimme verscherzt, mit der ich hätte warnen können.
»Aber ich habe für die Sicherheit der Lady Marion garantiert, ihr gegenüber auch für die Sicherheit ihrer Brüder!«, rief ich.
»Das wäre schließlich gar nicht nötig gewesen — ich meine, diesem Teufelsweibe müssen ihre Opfer überhaupt aus den Zähnen gerückt werden. Denn ein Teufelsweib ist es. Herr Kapitän Jansen, wollen Sie mir die ganze Sache überlassen?«
»Was haben Sie vor?«
»Erst müssen wir den Beweis haben, dass Lady Blodwen auch wirklich gegen ihre Verwandten so vorgehen will, überhaupt solch einer Handlung fähig ist.«
»Wie wollen Sie diesen Beweis erbringen, ehe es zu spät ist?«
»Indem wir sie heimlich beobachten.«
»Wie wäre das möglich?, muss ich immer wieder fragen.«
»Herr Kapitän, wollen Sie mir nicht vertrauen?«
»Ich vertraue Ihnen überhaupt immer.«
»Wollen wir nicht einmal das Verhältnis gelten lassen, dass ich Ihr vorgesetzter Kommodore bin, dem Sie unbedingt zu gehorchen haben?«
»Dieses Verhältnis besteht eigentlich immer, denn ich habe Ihnen daraufhin mein Wort gegeben. Sie machen von diesem Ihrem Vorgesetztenrang nur sehr selten Gebrauch.«
»Gut denn!«
Tischkoff richtete seine schlanke Gestalt auf, der gutmütige Ausdruck in seinem faltigen Gesicht trat zurück.
»Klar zum Manöver! Wir verlassen die Insel. Kurs Nordnordost, bis ich andere Instruktionen gebe.«
Im Kommandotone hatte er es gesagt, und ohne noch ein Wort zu verlieren, wandte sich der rätselhafte Mann und ging in seine Kabine, um sich dort zwischen seinen Büchern zu vergraben, kam wenigstens nicht wieder zum Vorschein.
Was sollte ich davon denken?
Ich hatte überhaupt nichts zu denken, sondern nur zu gehorchen.
Es herrschte Südwestwind, für den vorgeschriebenen Kurs der günstigste. Wir lagen noch immer in der Mitte der Bucht. Ich stand auf der Kommandobrücke, die Bootsmannspfeife übersetzte meine Befehle in Signale, in fünf Minuten waren die Anker gelichtet, und weitere fünf Minuten später befand sich die ›Sturmbraut‹ unter dem Drucke der ersten Segel in voller Fahrt, bis sie, einem weißen Schwane gleichend, dem Nordosten zuflog, dem unbekannten Ziele zu, das mein geheimnisvoller Kommodore bestimmt hatte.
Das war in der zehnten Morgenstunde gewesen.
In der elften verloren wir die Osterinsel außer Sicht, und als die Freiwache, bevor sie die andere ablöste, ein Viertel vor zwölf zum ›Schaffen‹ ging, d. h. zum Essen, erschien auch Tischkoff wieder an Deck, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit.
»Wo befinden wir uns, Herr Kapitän?«
Ich nannte die Zahlen der letzten geografischen Ortsbestimmung.
»Schön! Lassen Sie die Segel einziehen! Wir bleiben hier liegen. Um sechs Uhr wird Feuer unter die Kessel gemacht, dass um sieben voller Dampf ist.«
Sprach's und ging wieder davon.
Ich gehorchte einfach. Offenbar würden wir bei Dunkelheit nach der Insel zurückdampfen, und was Tischkoff sonst vorhatte, würde ich ja zu sehen bekommen.
So vergingen die Stunden untätig. Kein anderes Segel tauchte am Horizont auf.
Um sechs Uhr begann es zu dunkeln, und als die mondlose Nacht schon seit einer Stunde herrschte, zischten bereits die Ventile, und da kam Tischkoff auf die Kommandobrücke.
»Herr Kapitän, überlassen Sie mir die Führung!«
»Selbstverständlich!«
Tischkoff gab den Kurs an, mit voller Kraft ging es zurück nach der Osterinsel, nachdem die Lichter gelöscht worden waren.
Um neun Uhr tauchten die erleuchteten Fenster der Häuser auf. Einen Leuchtturm besaß die Insel noch nicht.
»Wissen Sie noch, wie ich damals zu Ihnen von der kleinen Felsenklippe gesprochen habe, die sich nahe der Osterinsel befindet?«
O, ich konnte mich noch recht gut entsinnen, wie der rätselhafte Mann damals immer wieder von dieser Klippe begonnen hatte, sich gar nicht wieder beruhigen konnte.
Aber während wir an der Osterinsel gelegen, hatte ich durchaus nicht bemerken können, dass sich Tischkoff sonst mit diesem Felseneiland beschäftigt hätte. Nur, als wir auf dem Berge gestanden, hatte er einmal gelegentlich durch das Fernrohr dorthin gespäht, nichts weiter, hatte niemals daran gedacht, sie etwa im Boote zu besuchen.
»Das ist unser Ziel.«
Nun, das hatte ich mir jetzt auch gedacht, aber ohne sonst das Geringste zu wissen. Und dann, muss ich gestehen, begann mir etwas bang das Herz zu klopfen.
Es war eine stockfinstere Nacht, die Lichter der Insel kamen für uns gar nicht in Betracht, konnten nicht zur Orientierung dienen, wir mussten uns schon ganz nahe der Küste befinden, und Tischkoff ließ die ›Sturmbraut‹ noch immer mit zwölf Knoten Fahrt vorwärts gehen.
Da beugte er sich zum Sprachrohr hinab.
»Stopp! Volldampf rückwärts! Recht so! Stopp!«
Die Schraube hatte gekämpft, die ›Sturmbraut‹ lag bewegungslos auf dem Wasser.
»Dort haben wir das Felseneiland vor uns«, sagte Tischkoff mit ausgestreckter Hand, »sehen Sie es?«
Ich musste verneinen, konnte kaum die Hand vor den Augen unterscheiden.
»Wir sind keine dreißig Meter davon entfernt.«
Ich erschrak fast. Und dann gab es hier nur eine Erklärung. Dieser geheimnisvolle Mann musste nicht nur im Finstern sehen können, obgleich seine Augen durchaus nicht wie die der Katzen leuchteten, sondern er musste auch schon einmal hier gewesen sein, die ganze Umgebung ausgepeilt haben — oder aber... es war eben ein Rätsel, zu groß, als dass ein irdischer Mensch es lösen könnte.
»Die Jolle klar! Sie begleiten mich, Herr Kapitän! Waffen sind nicht nötig. Höchstens stecken Sie sich etwas zu essen ein, nehmen Sie eine Korbflasche mit, falls unsere Exkursion längere Zeit dauern sollte.«
Ich befolgte die Anweisungen, vor Erwartung gespannt bis in jeden Nerv.
Die Jolle stieß mit vier Ruderern ab, Tischkoff steuerte, gab mit leiser Stimme Ruderkommandos, er allein auch konnte etwas unterscheiden, wir anderen hätten einfach im Dunkeln getappt.
Ein leises Ruderkommando, ein leises Knirschen, und die Jolle lag fest.
Dann ein Klirren von Eisen — hier musste unbedingt ein Ring sein, an dem Tischkoff das Boot befestigte.
»Ihr bleibt hier ruhig liegen, bis wir zurückkommen. Verstanden?«
»Yes, Sir.«
»So kommen Sie, Herr Kapitän, folgen Sie mir hinab in das dunkle Reich der Nacht!«
In diesem hatten wir uns schon immer befunden, und weiter folgte ich ihm in dieses Reich der Nacht, zunächst nicht hinab, sondern noch geradeaus, und sobald ich Steinboden unter den Füßen hatte, war es gut, dass er meine Hand ergriff, denn sonst hätte ich nur schlürfend zu gehen gewagt, und dann wäre damit auch nichts gewesen, der Boden ward bald zerrissen.
Doch nur wenige Schritte, dann blieb Tischkoff stehen, und es war mir, als ob er sich bücke. Nicht einmal das konnte ich unterscheiden.
»Bitte, fassen Sie mit an. Hier — hier — die Platte muss gehoben werden.«
Er hatte meine beiden Hände ergriffen, diese dirigiert, ich fühlte zwei Vorsprünge, Steine mit Höhlungen, in die man gerade recht bequem seine umgebogenen Finger legen konnte; schon wackelte der ganze Stein unter Tischkoffs Rütteln, jetzt hob auch ich mit — »hierher zu mir!«, — und der Stein oder die Platte hatte sich aus den Fugen gelöst, war nach Tischkoffs Seite hinübergeschoben worden.
»Hier ist eine Treppe. Steigen Sie sorglos hinab! Ich gehe voran.«
Ich fühlte die Stufen und folgte, nicht wissend, was ich von alledem denken sollte.
Es ging außerordentlich tief hinab, und wir mussten uns ja auch, als wir dann den Weg horizontal fortsetzten, schon unter dem Meeresboden befinden, der eine solide Decke zu bilden hatte.
»Ich habe eine Laterne bei mir«, sagte Tischkoff einmal, »aber besser ist, wir gewöhnen uns gar nicht erst an das Licht, denn dann müsste ich es doch wieder verlöschen.«
»Man gelangt von hier aus nach der Insel?«, konnte ich mich nicht enthalten zu fragen, nur erst als Einleitung.
»Ja.«
»Und den Inselbewohnern ist nichts bekannt von diesem unterirdischen Wege?«
»Nicht den jetzigen.«
»Aber den früheren?«
»Diese haben ihn doch erst angelegt.«
»Die Chinesen, welche vermutlich früher hier gehaust haben?«
»Ja.«
»Darf ich denn nicht erfahren, wie dann Sie zur Kenntnis dieses unterirdischen oder vielmehr unterseeischen Weges gekommen sind?«
»Das Geheimnis ist in einem alten Buche niedergelegt worden, mit Plänen, die in meinen Besitz gekommen sind.«
»Und Sie haben den Weg schon früher einmal untersucht?«
»Nein, noch nie.«
Dann blieb das Rätsel dennoch bestehen. Auch wenn dieser Mann im Finstern sehen konnte, gab mir das noch keine Erklärung, wie er sich hier so sicher zurechtfinden konnte.
»So, jetzt haben wir schon die eigentliche Insel über uns«, sagte Tischkoff, als er stehen blieb und meine Hand losließ.
Ich hörte ein Kratzen, dann ein Knarren — kein Zweifel, hier war eine Tür geöffnet worden, durch welche ich wieder an der Hand gezogen wurde, worauf sich das Knarren wiederholte.
»Wir befinden uns im feindlichen Reiche«, flüsterte mein Führer. »Jetzt ist Vorsicht geboten, wir könnten auf Menschen stoßen.«
»Bis hierher ist der unterirdische Weg also auch den jetzigen Inselbewohnern bekannt?«
»Ja. Es könnte wenigstens sein. Das ist schon ein Schacht, der mit jenem Labyrinthe in dem Krater zusammenhängt, den wir damals untersucht haben.«
»Und von dieser Tür ist von hier aus nichts zu bemerken?«
»Gar nichts. Eine äußerst kunstvolle Arbeit jener chinesischen Priester.«
Wir marschierten noch mindestens eine Viertelstunde, sowohl geradeaus, wie auch Treppen hinauf und hinab benutzend.
Immer unbegreiflicher ward mir, wie sich Tischkoff hier zurechtfinden konnte, in dieser Stockfinsternis, und oft belehrte mich meine tastende Hand, dass auch links und rechts zahlreiche Gänge abzweigten.
Wie konnte sich da Tischkoff zurechtfinden? Hatte er nicht damals, als wir jenes Felsenlabyrinth untersuchten, zu dem ja auch schon dieser Teil gehörte, an jeder Ecke ein Zeichen gemacht, um...
Halt, dass ich mich nicht irrte!! Ich hatte den Vorschlag gemacht, dies zu tun, ich war es gewesen, der dies auch ausgeführt hatte — Tischkoff hätte wahrscheinlich oder vielmehr ganz sicher schon damals diese Zeichen gar nicht nötig gehabt, um sich zurückzufinden.
Wieder blieb mein Führer stehen.
»Hören Sie nichts?«, flüsterte er.
Ja, jetzt vernahm auch ich es.
Ein leises Stöhnen und Wimmern.
Hand in Hand schlichen wir weiter, und für mich war es selbstverständlich geworden, dass dieser Mann, mein Führer, alles zu finden wusste. Das Wimmern ward denn auch immer deutlicher.
»Hier muss es sein«, flüsterte ich, die mir zunächst befindliche Wand meinend.
Da plötzlich drang mir von dieser Stelle ein heller Lichtschein entgegen, eine Tür war aufgemacht worden, erst war ich erschrocken, auf eine Begegnung mit Menschen gefasst, zum Kampfe bereit — doch dann musste ich annehmen, dass Tischkoff selbst sie geöffnet hatte.
Aber das war ja jetzt alles Nebensache, meine Gedanken waren nur mit dem beschäftigt, was ich erblickte.
Es war eine enge Felsenkammer, die sich vor uns aufgetan hatte, erleuchtet durch eine auf einem Stuhle stehende Lampe, dann war nur noch ein aus Decken bestehendes Bett vorhanden, und von diesem aus ging das Wimmern und Stöhnen.
Es lag wohl noch etwas darauf, aber faktisch, man konnte zuerst kaum glauben, dass dies ein Mensch sei. Eher glich es einem großen Haufen rohen Fleisches, von dem noch das Blut herunterrann.
Weiter vermag ich nicht zu beschreiben, was meine Augen erblickten. Ich kann nur sagen, dass sich mir das Haar vor Entsetzen auf dem Kopfe sträubte. Ich hatte schon manche schreckliche Verwundung gesehen, manchen aufgeschlitzten oder breitgequetschten Leib, aber so etwas denn doch noch nicht.
Übrigens zweifelte ich zuerst noch, dass dies ein Mensch sei. Ich dachte im Augenblick eher an ein Tier.
»Um Gott, was ist das?!«, flüsterte ich.
»Das ist ein Mensch.«
Ich bezwang mich, trat näher — ja, da konnte ich den Kopf unterscheiden, Arme und Beine — alles mit einer Schicht getrockneten Blutes bedeckt, unter der aber auch noch frisches hervorbrach.
Aber ich will auch gleich bemerken, dass der Anblick ein um so fürchterlicherer war, weil die Kleidung in langen Streifen abgerissen war und man diese nun für blutige Fleischfetzen hielt. Es ist ja auch bekannt, dass jede Wunde, besonders wenn durch Quetschung hervorgebracht, oder wenn man etwa mit der Hand in eine Maschine gerät, zuerst viel fürchterlicher aussieht als später, wenn sie erst sauber gewaschen ist.
»Um Gottes willen, was ist das?!«, flüsterte ich entsetzt.
»Ein Mensch, der wahrscheinlich im Sterben liegt«, entgegnete Tischkoff gelassen.
Ich schlich mich hin — der Wimmernde drehte den Kopf, wahrscheinlich wandte er mir das Gesicht zu — aber von einem Gesicht selbst war nichts zu sehen, nichts von Nase und Ohren, nur ein blutiger Klumpen.
»Erbarmen, macht meiner Qual ein Ende«, kam es da in unbeschreiblichem Tone aus einer Öffnung in dieser vertrockneten Blutschicht hervor, aus der an einigen Stellen aber noch immer rote Bächlein hervorquollen.
»Mann, seid Ihr verunglückt?!«
»Ich bin so geschlagen worden«, wimmerte es wieder in jenem unbeschreiblichen Tone, der gar keinem lebendigen Menschen anzugehören schien.
»So geschlagen!«, wiederholte ich, immer entsetzter werdend. »Wer hat Euch denn so geschlagen?«
»Die Lady Blodwen...«
Und da plötzlich ging mir die fürchterliche Ahnung auf.
»Mann, Ihr seid doch nicht etwa...«
Ich wagte es gar nicht auszusprechen.
Der blutige Schädel nickte.
»Ja, ich bin's — Ihr Schiffsarzt — Doktor Selo.«
»Doktor Selo«, konnte ich nur hauchen, während mir selbst der eiskalte Tod über den Rücken lief.
Mit Gewalt musste ich mich aufraffen.
»Ihr seid gefangen worden?«
»Ja.«
»Wo?«
»In den Bergen, wohin ich geflohen war.«
»Von der Lady Blodwen?«
»Von ihren ausgesandten Häschern.«
»Und die haben Euch gemartert?«
»Auf der Lady Befehl.«
»Gemartert?«
»Nur geschlagen — mit Knütteln — wohin es traf — auch als ich schon alles gestanden hatte.«
Ich sah im Geiste diese ganze Szene, und nur eine einzige Frage drängte sich mir sofort auf.
»War Lady Blodwen dabei, als man Euch so schlug? Sah sie zu?«
»Sie war dabei — sie schlug selbst mit zu.«
Da richtete ich mich auf, blickte zu der niedrigen Decke des Gewölbes empor, meine Zähne knirschten, und meine Fingernägel gruben sich in die Handballen, dass ich dann noch lange davon blutige Spuren hatte, die erst langsam vernarben mussten.
»O, du Teufelsweib, nur noch einmal möchte ich dir gegenübertreten...«
»Ich stehe sofort zur Verfügung!«
Eine andere Stimme hatte dies gerufen, eine helle Frauenstimme, die mir so gut bekannt war, und gleichzeitig erscholl ein schmetternder Krach.
Wie ein Wahnsinniger sprang ich gegen die Tür, welche wir hinter uns offengelassen hatten, und die jetzt geschlossen war, aber diese eiserne Tür spottete meinem Anprall und meinen weiteren Anstrengungen.
»Blodwen — sie hat uns eingeschlossen!!«, schrie ich.
Tischkoff antwortete nicht, trat nicht neben mich.
Es war mir auffallend, ich sah mich um — Tischkoff war nicht in der engen Zelle, die absolut kein Versteck bot, zu erblicken!
Konnte sich dieser geheimnisvolle Mann, der schon bei Lebzeiten manchmal dem Tode einen Tribut brachte, nicht nur durch natürlichen Schlaf, etwa auch unsichtbar machen?
Nein, an so etwas glaubte ich nicht. Vielmehr waren es recht logische Gedanken, die mir in diesem Augenblick durch den Kopf zuckten.
Ich hatte zu Blodwen noch nie von meinem Passagier, der in gewissem Sinne auch mein Vorgesetzter war, gesprochen. Hätte sie von anderer Seite von ihm erfahren, etwa durch jene beiden Sportsmen, die ich einige Zeit an Bord beherbergt, oder durch Lady Marion, so hätte sie mich gewiss bei der ersten Gelegenheit über ihn gefragt. Aber ich bezweifelte fast, dass diese meine Gäste den Russen jemals erblickt hatten.
Nein, Blodwen wusste von Tischkoff überhaupt noch gar nichts, und dieser Mann hatte es verstanden, sich auch jetzt den Augen dieses Weibes zu entziehen, nur auf ganz natürliche Weise — er mochte ihr Kommen gehört haben, hatte noch rechtzeitig das Freie gewonnen, ohne mich selbst noch warnen zu können.
Und in diesem Augenblick wusste ich, dass ich, was nun auch noch kommen mochte, einen mächtigen Schutzengel zur Seite hatte, der über meine Sicherheit wachen würde.
Ja, es war ein eigentümliches Gefühl der Sicherheit, das mich plötzlich überkam, als neben der Tür aus der Wand ein Stein wich und an der Öffnung Blodwens geisterhaftes Gesicht erschien.
Lange, lange Zeit blickten wir uns, starrten uns an, und es war mir, als ob ich das Haupt der Medusa vor mir habe.
Aber dieses schreckliche Haupt, welches niemand ungestraft anblicken durfte, konnte mich nicht in Stein verwandeln, denn ich war es, der zuerst das Schweigen brach.
»Weib, du hast meinen Schiffsarzt zu Tode gemartert!«
»Mann, wie kommst du auf die Insel?«
Wir gebrauchten mit einem Male wieder das vertrauliche ›du‹.
Natürlich ist dieses ›vertraulich‹ ironisch aufzufassen. Es gibt Situationen, zu denen eine zeremonielle Anrede nicht passt.
»Weib, du hast Doktor Selo zu Tode geprügelt!«, wiederholte ich.
»Mann, wie kommst du hierher?«, beharrte auch sie bei ihrer ersten Frage.
Da verschränkte ich, noch immer von jenem merkwürdigen Gefühl der überlegenen Sicherheit durchdrungen, trotzig die Arme über der Brust.
»Das erfährst du nie!«
»Du bist ganz einfach bei Nacht mit der ›Sturmbraut‹ zurückgekehrt.«
»Glaube, was du willst!«, entgegnete ich, während mich mit einem Male eine große Spannung erfasste.
Ja, es war ein Gebot der Klugheit, sie jetzt erst auszuhorchen, wie sie eigentlich mein Hiersein auffasste.
»Im Hafen liegt die ›Sturmbraut‹ nicht«, fuhr sie fort. »Du bist von einer anderen Seite an die Küste herangesegelt und hast dann ein Boot benutzt.«
Gott sei Dank, sie suchte sich alles auf ganz einfache Weise zu erklären.
»Nimm es so an!«
»Aber wie hast du den Eingang hier herein gefunden?«
»Ich habe ihn eben gefunden.«
»Ja, ich weiß, du bist schon früher einmal in dieses Labyrinth gedrungen. Aber wie konntest du jetzt die Torwache passieren?«
»Das ist meine Sache.«
»Die Säumigen sollen es zu büßen haben. Nun, Richard, jetzt bist auch du mein Gefangener.«
Wieder blickten wir uns einige Minuten schweigend an, während der Unglückliche hinter mir wimmerte, und das brachte meine alten Empfindungen zurück.
»Teufelsweib, du hast den Schiffsarzt zu Tode gemartert!«, stieß ich hervor.
»Ich tat es, um ihn zum Geständnis zu zwingen«, war die ruhige Antwort.
»Du hast ihn gefangen?«
»Ja.«
»Wann?«
»Schon vorgestern.«
»War er schon in deinen Händen, als ich dich damals aufsuchte und dir den ganzen Fall erzählte?«
»Ja. Die Arbeiter in den Bergen gewahrten einen Fremden, erwischten ihn dabei, wie er ihren mitgenommenen Proviant stehlen wollte, führten ihn mir vor, ich erkannte zu meinem Staunen und zu meinem größten Entzücken den Doktor Selo wieder! Wenigstens das gestand er mir sofort, wie du ihn auf der Fucusinsel gefunden habest. Als du dann zu mir kamst — du weißt, wie ich mich malen ließ — da wusste ich dies alles bereits.«
Einer augenblicklichen Empfindung folgend, wendete ich mich zunächst, zeigte diesem elenden Weibe den Rücken.
»Was willst du?«, fuhr sie deshalb unbeirrt fort. »Es war mein Geld, das Selo mir gestohlen hat. Ich fragte ihn, wohin er es gebracht habe. Er verweigerte mir die Auskunft, wollte überhaupt gar nichts davon wissen, wie ja auch dir gegenüber. Zunächst ließ ich ihn abführen, ich hatte anderes zu tun. Heute Nachmittag nahm ich ihn wieder vor. Er beharrte bei seiner Unschuld. Doch du selbst bist ja von seiner Schuld fest überzeugt, hast es mir gesagt. Und so tolerant wie du bin ich nun freilich nicht. Ich ließ ihn prügeln, wie dieser Mensch, der den allergemeinsten Vertrauensbruch begangen, es sowieso verdiente. Ich gestehe offen, dass ich mich hinreißen ließ, einmal selbst mit zuzuschlagen. Dabei biss er mich in die Hand, hier siehst du es...«
Sie hielt ihre Hand in die Maueröffnung, sie war verbunden, sie nahm das weiße Tuch ab, es wurde immer blutgetränkter, und dann sah ich tatsächlich eine bösartige Bisswunde.
Auf mich hatte es schon einen gewaltigen Eindruck gemacht, wie sie gesagt, ich selbst sei ja von seiner Schuld fest überzeugt gewesen. Ich fühlte mich im Augenblick etwas als Mitschuldiger.
Doch schnell hatte ich diese Schwäche wieder überwunden.
»Wohl hatte er Strafe verdient, und ich will auch nicht darüber rechten, ob du ihn bestrafen durftest, ich selbst hielt ihn ja gefangen — aber musstest du ihn so fürchterlich zerschlagen?«
»Höre mich an, Richard! Selo gestand unter der Knute endlich doch seine Schuld, gab den Ort an, wo er den Schatz versteckt hat. Da ließ ich von ihm ab, übergab ihn den zwei Männern, die mich begleitet hatten, welche sonst immer die Peitsche gehandhabt hatten — denn, wie gesagt, ich ließ mich nur einmal aus Wut hinreißen, dass ich selbst ihn schlug — sie sollten seine Wunden verbinden, ihn pflegen. Da aber, als ich gegangen war, haben die beiden Männer, zwei Neger, nochmals mit Knütteln auf ihn losgeschlagen, teils aus eigener, grausamer Lust, teils deshalb, weil er mich gebissen hatte; dafür wollten sie ihn nochmals strafen, und sie konnten sich nicht mäßigen — da erst haben sie ihn so zugerichtet, wie du ihn jetzt siehst — davon habe ich nichts gewusst, das hatte ich nicht gewollt.«
Nur schwach wirkte diese Entschuldigung auf mich ein. Und Blodwen selbst verdarb alles gleich wieder.
»Überhaupt ist ihm recht geschehen«, setzte sie noch hinzu. »Gleich totgeschlagen sollte dieser Hund werden.«
Schon längst hatte ich mich ihr wieder zugewendet, und von Neuem packte mich furchtbarer Grimm, gepaart mit Abscheu.
»Ja, Blodwen, du bist wirklich das grausamste Weib, das ich je gesehen! Entsetzen erfasst mich, wenn ich daran denke, dass ich dich einst geliebt habe, dass ich dich herzte und küsste!«
So hatte ich hervorgestoßen. Sie hatte dafür nur ein spöttisches Gesicht.
»Denke darüber, wie du willst! Und was meinst du, was ich jetzt mit meinen lieben Verwandten anfange?«
»Auch sie wirst du so martern — Lady Marions Ansicht, meine eigene war früher die richtige gewesen.«
»So ist es«, entgegnete sie, und mit Wohlbehagen setzte sie mir ihren Plan auseinander.
Ich habe dem gar nichts mehr hinzuzusetzen. Ich hatte es aus Tischkoffs Munde gehört, hatte es ja früher selbst geahnt.
Nachdem die Gäste die Insel verlassen hätten, wollte sie eben ihre Verwandten vornehmen. Sie wurden gezwungen, zu Blodwens Gunsten wiederum auf die Erbschaft zu verzichten, oder Blodwen sollte etwa als Erbin eingesetzt werden, falls einer oder der andere kinderlos stürbe...
»Und dann sorge ich dafür, dass das Schiff, auf dem sie die Heimreise antreten, von der Oberfläche verschwindet.«
»Teufelsweib!!«, musste ich immer wieder knirschen, einen anderen Ausdruck fand ich eben nicht für sie. »Solch einer Handlung wärest du fähig?!«
»Du hörst es. Diese Menschen haben es gar nicht anders verdient.«
»Zur Mörderin kannst du werden?!«
»Was willst du, Richard? Hast du nicht auch zwei Schiffe vernichtet, wobei viele Menschen den Tod fanden? Hast du nicht vielleicht auch Hunderte von Menschenleben auf dem Gewissen?«
»Weib, Weib!!«, schrie ich da auf. »Du wagst, mich deshalb mit dir zu vergleichen?! So wahr ich an einen gerechten Gott glaube, ich...«
Das Wort erstarb mir im Munde. Plötzlich nämlich verschwand Blodwens Kopf von der Maueröffnung, mit einer ganz eigentümlichen Bewegung, so ruckweise, und es war mir doch gewesen, als ob sich im letzten Augenblick ihre Züge wie vor Todesschreck verzerrt hätten, und zum Überfluss hatte ich auch noch eine Hand an ihrem Halse gesehen.
»Tischkoff — er hat sich ihrer bemächtigt!«, zuckte es durch mein Hirn.
Und richtig, gleich darauf öffnete sich die Tür, im Rahmen stand mein Kommodore, gelassen wie immer, daneben am Boden lag Blodwen, und die Lampe, die sie wohl selbst mitgebracht, beleuchtete die Züge einer Schlafenden.
»So war es das beste«, sagte Tischkoff ruhig, »ich hörte Schritte, und da ich mich erst orientieren wollte, wie viele es seien, machte ich mich rechtzeitig davon, und dann musste ich mich noch vergewissern, ob der Dame nicht noch andere folgten. Nein, sie ist allein gekommen. Trotzdem müssen wir uns beeilen. Wollen Sie die Dame oder den Arzt tragen?«
»Wohin?«, stutzte ich.
»Nun, wir müssen schleunigst an Bord des Schiffes zurück.«
»Und Blodwen soll wieder an Bord der ›Sturmbraut‹?«, fragte ich noch erschrockener.
»Gewiss! Dieses Weib muss von der Erde verschwinden. Dafür zu sorgen, ist geradezu unsere Pflicht. Sie hat gar zu viel Geld in den Händen, sie wird nicht ruhen, bis es durchgebracht ist, und sie hat schon Geschmack an grausamen Schauspielen gewonnen, immer blutiger werden dieselben werden müssen. Denn der Grausame ist mit dem Morphiumsüchtigen zu vergleichen. So retten wir doch auch zugleich auf ganz einfache Weise ihre Verwandten vor dem Schicksale, das Blodwen ihnen zugedacht hat. Und drittens könnte sie doch einmal zur Verräterin werden, aus Hass, aus Rache — Liebe und Hass sind eins — nämlich zur Verräterin Ihres Geheimnisses, der Fucusinsel, und das wird vermieden, wenn sie auf dieser Insel selbst interniert ist. Also fort mit diesem Weibe von der Erdoberfläche, so weit diese bekannt ist!«
Ich konnte meinem Kommodore nicht widersprechen. Ja, er hatte den besten Vorschlag gemacht. Nur ein Zweifel wurde in mir noch rege.
»Wenn aber Blodwen nun vermisst wird?«
»Ja, man wird sie suchen und nicht finden.«
»Und was dann?«
»Sie hat sich einfach in diesem Labyrinth verirrt, ist verschollen und verdorben.«
»Und Selo?«
»Was geht uns an, was die denken? Das Verschwinden der beiden ist eben ein unlösbares Rätsel.
Die Hauptsache ist, dass man uns nicht im Verdacht haben kann, und schließlich hätte ja auch das nichts zu sagen. Wir gehören eben nicht mehr dieser Erde an, und wir haben sie mitgenommen in unser unbekanntes Reich.«
Tischkoff ging an das Bett, fasste den Stöhnenden mit vorsichtigen Händen an und hob ihn mit Armen auf, denen ich solch eine gewaltige Kraft nimmermehr zugetraut hätte. Denn es gehört in der Tat eine ganz gewaltige Kraft dazu, einen erwachsenen Menschen aufzuheben, dessen Glieder schlaff sind, der sich nicht dabei anklammern kann, und eine Leiche sich auf den Rücken zu laden ist überhaupt ganz unmöglich, selbst für den herkulischsten Mann, wenn er sich dieses Kunststück nicht eingeübt hat. Ich habe hierbei manche Wette verlieren sehen.
»Nehmen Sie die Lady«, sagte Tischkoff dabei, als er den Stöhnenden schon in den Armen hatte, »dieser Schwerverletzte muss ganz besonders behutsam angegriffen werden, und ich habe in so etwas schon einige Erfahrung.«
So musste ich die Betäubte aufladen. O, wie war mir zumute, als ich sie in meinen Armen hatte, als ihr Kopf an meiner Brust ruhte!
Ich habe auf dem Rückweg durch den finsteren Tunnel blutige Tränen geweint.
Und eine Stunde später befanden wir uns schon wieder auf hoher See.
Wir verlassen abermals unseres Helden persönliche Erzählung. Drei Monate sind nach jenen Ereignissen auf der Osterinsel vergangen, da sehen wir ein kleines, gedecktes Dampfboot das grüne Gewirr des Fucus mittels der am Bug angebrachten Messervorrichtung durchschneiden.
Am ungeschützten Steuerrad steht ein herkulischer Neger, ein zweiter Neger ist einem Knaben behilflich, der soeben mit dem Sextanten nach der noch tief stehenden Sonne die geografische Lage berechnet.
Der Ausdruck ›Knabe‹ ist nicht ganz richtig. Wohl hat er nur die Größe eines kaum zwölfjährigen Jungen, aber die Gestalt ist außergewöhnlich gedrungen, mit breiten Schultern, alles verrät schon die Kraft eines erwachsenen, durch harte Arbeit stark gewordenen Mannes, und die Züge sind nun gar schon die eines alten Mannes, wenn auch in dem bartlosen Gesicht die direkten Runzeln fehlen. Falten und Furchen gibt es desto mehr.
Dazu kommen nun noch lange, pechschwarze Haare, in denen sich aber schon weiße Fäden zeigen — wir erkennen in dieser wunderbaren, unnatürlichen Mischung von Jugendkraft und Altersspuren unseren kleinen Freund Karlemann wieder.
»Wir können keine zehn Meilen mehr von unserem Ziele entfernt sein«, sagte er jetzt.
»Well, Massa«, ließ sich der schwarze Steuermann vernehmen, »was wir vorhin für eine Wolke hielten, ist in Wirklichkeit ein Gebirge oder doch ein Berg mit langem Kamm.«
So war es. Die vermeintliche Wolkenformation, die sie bei Sonnenaufgang am nordöstlichen Horizont gesehen hatten, bekam immer schärfere Konturen, es wurde ein solider Berg daraus.
Der zweite Neger begab sich in den Kesselraum hinab, in dem er nur gebückt stehen konnte, um einige Schaufeln Kohlen nachzuwerfen, während Karlemann in der noch engeren Proviantkammer das letzte Fässchen Trinkwasser anzapfte, welches der aus drei Mann bestehenden Besatzung der Dampfpinasse zur Verfügung stand.
Und zwei Stunden später konnten sie schon mit bloßen Augen die ungeheueren Formen des Schwesterschiffes der ›Great Eastern‹ unterscheiden.
Jetzt war auch dort die kleine Dampfpinasse gesichtet worden, an Deck sofort große Aufregung, alles spähte, und dann, als das Dampfboot an der Heckstange einige Flaggen hisste, welche zusammen nur den Namen ›Karl Algots‹ ausdrückten, wieder ein wirres Durcheinander. Hände und Tücher winkten, und die noch immer große Entfernung wurde schon von jauchzenden Jubelrufen durchmessen.
Dann legte die Dampfpinasse an dem eisernen Ungeheuer bei, Karlemann eilte die Falltreppe empor und lag an der Brust — — nein, am Bauche eines riesenhaften Mannes, der ganz in feingegerbtes Leder gekleidet war und zu dieser Begrüßung erst seine Doppelbüchse hatte fallen lassen, und dann griff er nach unten und hob den Jungen wie eine Puppe empor.
»Karlemännchen«, rief er mit glückstrahlendem Gesicht, »eine größere Freude hätten Sie mir nicht machen können an diesem Morgen, der so traurig für mich begann!!«
»Na, da setzen Sie mich erst wieder einmal hin. Haben Sie mein Gold und den anderen Kram hier?«
»Ja, alles vorhanden«, lachte Kapitän Jansen, »aber wissen Sie — Sie sind doch noch ganz derselbe — ich hätte bei diesem Wiedersehen doch nicht zuerst an den goldenen Plunder gedacht!«
»Ja, Sie! Nee, Jansen — es kann einem noch so dreckig gehen — aber auf Geld muss man halten — sonst ist man verratzt. Also alles, was Sie damals von der Seeburg mitgenommen haben, ist noch vorhanden?«
»Liegt alles hier in Sicherheit.«
»Na, dann ist's ja gut, da bin ich ja nicht umsonst hierher gefahren.«
Das war das erste gewesen, nun folgte erst die richtige Begrüßung, und Karlemann hatte gar viele Hände zu schütteln, denn siebenunddreißig Jungen waren es, die sich stürmisch um ihren kleinen Herrn drängten, und nicht minder groß war die Freude von Jansens erwachsenen Leuten, den kleinen Freund ihres baumlangen Kapitäns wieder begrüßen zu können.
Karlemann wusste die Begrüßungen möglichst abzukürzen, Erklärungen gab es jetzt überhaupt nicht, und dann saßen die beiden sich ergänzenden Abnormitäten des Menschengeschlechtes — sich auf wunderbare Weise körperlich wie geistig ergänzend, der eine ein riesenhaftes Kind, besonders, was das Gemüt anbetrifft, der andere tatsächlich noch ein Kind und doch schon mit der Erfahrung eines alten Mannes, schon mit allen Hunden gehetzt — saßen sich diese beiden in der Kajüte gegenüber, und Karlemann schnitt von dem ganzen Schinken fingerdicke Scheiben ab, schmierte eine ansehnliche Schicht Senf darauf, streute Salz und Pfeffer darüber, und biss von dieser so präparierten Scheibe wie von einem Butterbrot ab, mit Verachtung aller mehligen Zutat.
»Ach, Senf, Senf, endlich wieder Senf!!«, brachte Karlemann mühsam aus kauendem Munde hervor. »Machen Sie den selber?«
»Nein, bis zur Senfkultur und Senffabrikation habe ich es hier noch nicht gebracht«, lächelte Jansen, der noch immer ganz glückstrahlend aussah. »Den habe ich einem konföderierten Kaper abgenommen, der gegen hundert Fässchen Senf an Bord hatte, auch erst von einem englischen Schiffe erbeutet!«
»Der Schinken ist wirklich dela... dila... dilikat. Machen Sie den selber?«
»Ja, den mache ich selber. Freilich nicht so, wie Sie Ihre Eier.
Das sind wirklich Hinterteile von Schweinen, welche die Inder auf der Insel zurückgelassen haben und die verwildert sind, sich schon ungeheuer vermehrt haben. — Aber mein liebes Karlemännchen, wollen Sie mir nicht lieber sagen, wie Sie eigentlich hierher kommen?«
»Der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe«, wurde der Junge jetzt plötzlich klassisch, der dieses Zitat wohl einmal gehört und es sich gemerkt hatte.
»Was? Können Sie denn auch einmal Not leiden?«, scherzte Jansen.
»Habe kein Schiff mehr«, wurde der kauende Mund jetzt präziser.
»Kein Schiff mehr?«
»Der ›Karbunkel von Liberia‹ ist untergegangen.«
»Untergegangen?!«, fuhr da freilich Jansen erschrocken empor.
»Yes. Mit Mann und Maus und allem sonstigen Viehzeug, also auch mit meinen drei Frauen.«
Jansen war mächtig erschüttert.
»Wann?«
»Vor vier Wochen.«
»Wo?«
»An der Küste von Florida.«
»Wie geschah es?«
»Einfach ein hahnebüchener Sturm aus Osten, gegen den die Maschine nicht ankämpfen konnte — wir wurden zwischen die Riffe getrieben — eine schauderhafte Brandung — knacks, und der ganze ›Karbunkel‹ ging aus dem Leime. Alles ersoffen!«
»Aber Sie sind doch gerettet worden.«
»Ja, sonst säße ich nicht hier und könnte Schinken mit Senf essen. Ich hatte etwas auf den Kopf bekommen, und als ich wieder zu mir kam, lag ich sicher auf einem hohen Felsen. Auch der Jupiter und der Sam sind davongekommen — die beiden Neger, die mit auf der Pinasse sind. Wir mussten ein paar Tage auf dem Felsen bleiben, bis sich die See beruhigt hatte, dass wir an Land kommen konnten. Haben viel ausgestanden. Kein Wasser, nichts zu essen, und zwischen den Riffen, aber für uns unerreichbar, lauter eingeklemmtes Viehzeug und Menschen, die schnell verwesten und die Luft grässlich verstänkerten. Nur eine Leiche konnte ich mit der Hand greifen, die Emma, Sie wissen, die Schwester des Königs Aquassi, die mit den Elefantenzähnen und dem goldenen Ringe in der Nase, und das war eben das Verfluchte, worüber ich mich so furchtbar ärgerte.«
»Wieso? Über was?«
»Na, sie hatte keinen Kopp mehr. Der Kopf war ihr abgeschlagen oder weggequetscht worden. Ich erkannte sie nur an ihrer Dickichte und an der Kleidung. Aber bei der war doch der Kopf die Hauptsache — oder die Nase — Sie wissen doch, ich hatte sie mit dem Ringe angekettet. Da ist wahrscheinlich der Kopf an der Kette hängen geblieben.«
So sprach dieser Gemütsmensch!
»Wissen Sie denn nicht, dass Sie wohl schwerlich noch gegen den König des Aschantireiches Ansprüche erheben könnten, auch wenn Sie den Ring noch als Legitimation hätten?«, fragte Jansen.
»Ja, jetzt — aber damals wusste ich das noch nicht so bestimmt, ich hatte noch einige Hoffnung, und eben deswegen ärgerte ich mich so furchtbar, als ich da hungrig und durstig auf der Felsklippe saß. Aber das allerfatalste war, dass nun auch mein ganzes Geld auf dem Meeresboden lag, niemals wieder zu heben, und ich hatte zufällig keine zehntausend Dollar bei mir in der Tasche gehabt.«
»Sie hatten immer Ihr ganzes Geld bei sich an Bord?«
»Damals gerade. Ich hatte alles, was ich mit dem ›Karbunkel‹ verdient hatte, erhoben, wollte es in Sicherheit bringen. Da muss gerade mein Schiff untergehen. Und was meinen Sie, wie viel das gewesen ist?«
»Es handelte sich um Millionen?«
»Na, Millionen wollen in so kurzer Zeit durch Arbeit, nicht nur durch Schacherei, verdient sein! Ja, eine Million war es.«
»Und sonst hatten Sie nichts irgendwo beiseite gebracht?«
»Ich hatte es, hatte es aber eben gerade erhoben. Und bei einer Bank habe ich niemals Gelder gehabt. Sie wissen doch — ich bin nicht mündig, man würde mir immer Schwierigkeiten machen. Nun blieben mir nur Sie noch. Wie Sie meine Felsenburg verteidigt haben, das hat ja in allen Zeitungen gestanden, und dann auch, wie die Engländer auf der Leuchtturminsel nicht die erwarteten Schätze gefunden haben. Also mussten Sie diese doch mitgenommen haben. Das war ja auch ganz selbstverständlich, nachdem ich Ihnen das Geheimnis meiner Schatzkammer anvertraut hatte.
Nun galt es für mich, Ihren Aufenthaltsort auszuspionieren, mit Ihnen zusammenzutreffen. Sie waren doch vogelfrei. Ich vermutete gleich, dass Sie sich in der Fucusbank aufhalten würden. Dann freilich hörte ich, dass Sie gegen die konföderierten Kaper losgingen, und da war es schwer, Sie zu finden.
Da traf ich, als ich mich zu meiner neuen Expedition vorbereiten wollte, in einem kleinen Hafenneste mit Lord Seymour und den anderen Sportsmen zusammen, die Sie von Fanafute kennen — sie haben mir alles erzählt, nämlich wie Sie auf der Osterinsel gewesen sind, und was da alles passiert ist.
Seitdem gelten Sie als verschollen. Nun stand es aber auch für mich fest, dass Sie sich wirklich hierher gewendet haben mussten. Also ich kaufte für mein letztes Geld den kleinen Schraubendampfer, mit dem ich gekommen bin, rüstete ihn aus, die beiden Neger begleiteten mich — jetzt bin ich hier. Und das ganze Gold und der Schmuck ist da? Na, dann ist mir ja wieder geholfen.«
Die Unterhaltung währte noch mindestens eine Stunde, und das kann hier nicht alles wiedergegeben werden. Wir bleiben nur bei den Hauptsachen.
»So ist Ihnen auch bekannt«, fragte Jansen, »wie Lady Blodwen von ihrer Osterinsel verschwunden ist?«
»Na, wie die in dem durchlöcherten Krater gesucht worden ist! Also Sie sind es gewesen, der sie hat verschwinden lassen?«
Jansen erzählte den Hergang ganz offen, vor seinem kleinen Freunde wollte er kein Geheimnis haben.
»Hat man denn keinen Verdacht gehabt, dass ich die Lady entführt haben könnte?«
»Der Verdacht lag wohl sehr nahe, aber... einfach unerklärlich.«
Hiermit war diese Angelegenheit erledigt.
Einige Zeit saß Jansen schweigend da, den Kopf tief gesenkt, bis er ihn mit einer raschen Bewegung wieder hob.
»Wie? Habe ich denn vorhin recht gehört? In der kleinen Dampfpinasse sind Sie von der Küste Amerikas bis hierher gefahren?!«
»Natürlich! Warum denn nicht?«
Ja, so selbstverständlich konnte das nur der Junge finden, der von Hamburg in einem kleinen, offenen Ruderboote bis nach Afrika hatte fahren wollen, den größten Teil des Weges ja auch wirklich zurückgelegt hatte.
Allerdings war die Dampfpinasse ja stabil gebaut, konnte nicht kentern, aber was ist solch eine Nussschale auf der tobenden See!! Doch er hatte Glück gehabt, war immer vom besten Wetter begünstigt worden, sonst hätte er etwas ganz anderes erzählen können, als wie er jetzt tat.
»Und was haben Sie jetzt vor?«
»Nein, erzählen Sie mir erst, was Sie hier treiben, was Sie beabsichtigen — oder zu allererst, wie es hier überhaupt aussieht. Wo sind denn eigentlich die Inder, von denen Sie damals sprachen?«
Jansen erzählte ausführlich, wie er die ›Indianarwa‹ verlassen gefunden habe, wie er sie jetzt nebst der ganzen Berginsel als sein Eigentum betrachten dürfe.
»Sie haben sich von der Osterinsel direkt hierher gewandt?«, fragte Karlemann, als Jansen eine Pause machte und gar nicht fortfahren wollte, ganz in Gedanken versunken war.
»Ja, direkt hierher.«
»Wie lange sind Sie nun schon hier?«
»Zwei Monate.«
»Sind gar nicht wieder fortgekommen?«
»Nein.«
»Was treiben Sie nun eigentlich hier?«
»Wir kultivieren die Insel.«
»Was kultivieren — was meinen Sie damit?«
»Nun, wir bauen Getreide und Gemüse und sonst alles, was man zum Leben braucht, auf dem Berge sogar Flachs, damit wir später auch unsere eigene Leinwand spinnen können, und alles gedeiht vortrefflich.«
Karlemann betrachtete seinen riesenhaften Freund mit großen Augen.
»Wer macht denn das alles?«
»Nun, meine Leute — und Ihre Jungen.«
»Was, Sie haben aus diesen Seeleuten Ackerbauer und Viehzüchter gemacht?!«
»Jawohl.«
»Aber weshalb denn nur?!«
»Weil ich mich unabhängig von der Außenwelt machen will.«
»Sie wollen wohl für ewig hier bleiben?«
»Gewiss.«
»Als Robinson hier leben?«
»Jawohl.«
»Überhaupt niemals wieder diese Insel verlassen?«
»Niemals wieder!«
Immer aufmerksamer betrachtete Karlemann seinen großen Freund, dessen Niedergeschlagenheit unverkennbar war.
»Wie lange denken Sie denn das auszuhalten?«
»Für immer«, entgegnete Jansen mit einem festen Augenaufschlag.
Da aber sprang Karlemann plötzlich ganz erregt auf.
»Ja, alter Freund, was ist denn eigentlich mit Ihnen los?«
»Ich bin des Blutvergießens überdrüssig«, war die Antwort, »ich will mir hier meine eigene Welt schaffen.«
Und Jansen schilderte ausführlich, wie er dies zu machen gedenke.
Er war also zu seinem ersten Plane, den er damals so schnell wieder verworfen hatte, zurückgekehrt — er wollte die alte Bodenkultur der früheren indischen Inselbewohner wieder aufnehmen, die Rinder und anderen Tiere, die bereits verwildert, wieder unter die Gewalt des Menschen bringen, was ihm bei einem kleinen Teil auch schon gelungen war. Deshalb würden noch immer viele verwildert bleiben, besonders im Gebirge, also auch der Jagdlust würde man auf der meilengroßen Insel noch immer frönen können.
Jansen hatte sich bei der Ausführung seiner Zukunftspläne etwas begeistern können, aber der Alte war er dabei noch längst nicht geworden.
»Und Sie glauben, dass Sie das aushalten können?«, fragte Karlemann denn auch.
»Gewiss.«
»Zeit Ihres Lebens?«
»Ja.«
»Und dass Sie dabei glücklich sein werden? Immer glücklich?«
»Ja.«
»So glücklich wie jetzt?«
»Ja.«
»Sie sind schon jetzt wirklich glücklich?«
»Ich bin es, seitdem ich der Welt den Rücken gewandt habe.«
»Na, alter Freund, so sehr glücklich sehen Sie ganz und gar nicht aus. Was macht denn eigentlich die Blodwen?«
Karlemann war in gewissem Sinne mit der Tür ins Haus gefallen, das heißt, er hatte gleich den vermeintlichen Grund für seines Freundes Niedergeschlagenheit angegeben. Aber Jansen reagierte nicht darauf.
»Die bewohnt auf der ›Indianarwa‹ eine Reihe Kabinen.«
»Was treibt sie denn sonst?«
»Nun, sie liest, geht spazieren... weiß sich so die Zeit zu vertreiben.«
»So, hm. Und wie kommen denn nun Sie mit ihr aus? Alles wieder gut?«
»Wir sind füreinander Luft.«
»So, hm. Und dabei soll es nun für alle Zeiten bleiben?«
»Bis an unser Lebensende wenigstens. Es geht doch nicht anders, laufen lassen kann ich sie doch nicht. Das Geheimnis meines Versteckes muss gewahrt bleiben, und in dieser Hinsicht ist Blodwen nicht zu trauen.«
»Ihre Leute — meine Jungen — sind denn die mit alledem einverstanden?«
»Das ist es!«, sagte da Jansen mit einer schnellen Kopfbewegung. »Ja, Algots, mich plagt wirklich eine schwere Sorge.«
»Welche?«
»Ja, sie alle wären mit solch einem Inselleben einverstanden, freudig gehen sie der bisher ungewohnten Arbeit nach, diese ist ja auch interessant genug, bringt viel Abwechslung, ich sorge für Unterhaltung, aber...«
»Nun, was aber?«, fragte Karlemann, als jener stockte.
»Ich glaube, Algots, Sie sind schon alt genug«, fuhr Jansen mit einigem Zögern fort, »dass ich mich mit Ihnen darüber unterhalten kann, Sie selbst sind oder waren ja verheiratet, obgleich ich glaube, dass diese Heirat...«
»Es müssen noch Frauen her«, kam Karlemann dem Zögernden zu Hilfe.
»Das ist es!«
»Bah, Weiber!«, machte aber da Karlemann zuerst verächtlich, fuhr jedoch gleich in anderem Tone fort:
»Ja ja, ich weiß schon, Sie haben ganz recht, nicht jeder denkt so wie ich. Na, da schaffen Sie doch eben eine Schiffsladung her.«
»Ja, das werde ich auch tun, und deshalb werde ich die Insel auch noch einmal verlassen. Wie ich die siebzig Weiber bekomme — ich denke nämlich auch schon an ihre kleinen Jungen, die sind nur körperlich so zurückgeblieben, und es sind schon Sachen vorgekommen, die ich hier nicht erörtern möchte, und dabei muss ich immer entschuldigen, wenigstens habe ich da am allerwenigsten das Recht, darüber zu Gericht zu sitzen... kurz und gut, ich muss die Insel auch mit Mädeln oder Frauen bevölkern...«
»Nur nicht gar zu alt dürfen sie sein«, schalt Karlemann mit altkluger Miene ein.
»O nein«, musste Jansen lächeln, »ganz im Gegenteil, da ich mich nun einmal mit Viehzucht beschäftige, schon einige Erfahrung darin gesammelt habe, möchte ich auch in der Menschenzucht etwas Besonderes leisten. Es sollen ausgesucht schöne und natürlich besonders gesunde Weiber sein...«
»Und Zwerge, lieber Jansen, richten Sie Ihre Hauptaufmerksamkeit besonders auf die Zucht von Zwergen«, fiel Karlemann abermals ein, plötzlich ganz begeistert werdend. »Ich habe stets für Zwerge geschwärmt. Zwerge nehmen viel weniger Platz ein als richtige Menschen, die so in die Höhe schießen — Zwerge brauchen viel kleinere Betten, Zwerge können durch Löcher kriechen, wo sonst kein anderer Mensch durchkommt, Zwerge können...«
»Na, nun halten Sie erst mal die Luft an mit Ihren Zwergen«, lachte Jansen in seiner früheren Weise. »Zunächst habe ich es nur auf besonders bevorzugte Repräsentantinnen des Menschengeschlechtes abgesehen, und ob ich deren Nachkommen nun in die Länge oder in die Kürze ziehe, das bleibt der Zukunft über...«
»Halb und halb, halb und halb«, fiel ihm Karlemann eifrigst ins Wort, »die einen müssen lange Bandwürmer werden, noch länger als Sie, und die anderen Kinder dürfen mir nur bis ans Bauchknöppchen gehen, und wenn sie auch hundert Jahre alt werden. O, das überlassen Sie nur mir, das will ich schon kriegen!«
»Schön, diese Kindererziehung oder vielmehr Kinderziehung überlasse ich Ihnen«, lachte Jansen. »Nun aber ist die Hauptsache, erst die zukünftigen Mütter dazu zu bekommen...«
»Die hole ich, die besorge ich!!«, wurde Karlemann immer mehr Feuer und Flamme. »O, da will ich schon etwas Feines erwischen, nur die allerfeinste Sorte.«
Diesmal lachte Jansen nicht, sondern betrachtete seinen kleinen Freund mit etwas zweifelnden Blicken.
»Sie glauben nicht, dass ich das kann?«, fragte dieser. »Na, passen Sie mal auf, was ich da geschleppt bringe, nur die ausgesuchtesten Menschen. Ich verstehe nämlich auch etwas von Pferden, zuerst muss man immer ins Maul gucken...«
»Ja, aber wie diese Frauen erst auftreiben?«, lachte Jansen.
»Wird gemacht, wird alles gemacht! Natürlich muss man da eben auf die Suche gehen, von alleine kommen die nicht hierher.«
»Ja, das ist es eben. Wirklich, Karlemann, Sie kämen mir da entgegen. Ich selbst habe nämlich durchaus keine Lust, mich wieder in die Welt hinauszubegeben — ich würde es in diesem Falle nur tun, weil ich tatsächlich keinen Mann unter meinen Leuten wüsste, der mich in diesem Falle voll und ganz vertreten könnte — etwas von einem Luftikus steckt doch in jedem — ich habe mir eben solche Leute ausgesucht...«
»Nu, jetzt bin ich doch da, jetzt mache ich das.«
»Ganz richtig! Ich traue Ihnen zu, dass Sie dieses Problem geschickt lösen. Sie müssen dazu aber doch ein größeres Fahrzeug haben.«
»Natürlich! Mit meiner kleinen Pinasse kann ich nicht auf die Brautschau gehen. Oder schließlich doch — müsste mir erst dann, wenn ich die ganze Weiberbande zusammen habe, ein größeres Schiff kaufen, mit dem ich sie hierher transportiere.«
»Ich will Ihnen sagen, wie ich mir die Sache vorstelle. Haben Sie in letzter Zeit etwas gehört, dass ich noch immer verfolgt werde?«
»Aber feste! Alle Zeitungen stehen noch voll davon. Einige glauben zwar, dass Sie mit der ›Sturmbraut‹ untergegangen seien, weil Sie so gar nichts mehr von sich hören lassen, die meisten aber wollen davon nichts wissen. Sie sind ja so ein Teufelskerl geworden, dem niemand etwas anhaben kann, auch Sturm und Klippen nicht. Sie haben doch den Klabautermann an Bord. Das ist nämlich auch schon bekannt. Kurz, es sind noch immer genug Kapitäne dabei, Sie zu suchen, um sich die 400 000 Pfund Sterling zu verdienen.«
»Was? 400 000 Pfund Sterling sind es jetzt schon?«
»Jawohl, die Prämie ist noch fortwährend höher geschraubt worden, besonders von Privatpersonen. Und wer Sie tot abliefert oder einen sicheren Bericht von ihrem Tode bringt, erhält jetzt schon 50 000 Pfund.«
»Na, sehen Sie. Dass ich mich nicht fürchte, wissen Sie wohl. Aber meine Persönlichkeit ist durch keine Maske unkenntlich zu machen, und wenn da der lange Kapitän Jansen von der ›Sturmbraut‹ kommt — da würden sich wohl verdammt wenig anständige Mädel finden, die mit ihm...«
»So sehr anständig brauchen sie gar nicht zu sein.«
»Lassen Sie mich aussprechen. Sie wissen ganz genau, was ich meine. Ich müsste einen anderen als Brautwerber en gros aussenden, könnte ihn höchstens im unsichtbaren Hintergrunde begleiten. Da könnte ich aber schließlich auch gleich ganz hier bleiben, wenn ich nur den geeigneten Mann dazu gefunden habe, der mich vertreten kann. Angenommen nun, ich habe einen solchen gefunden. Er verlässt die Insel mit einem Schiffe — ich habe noch ein anderes als die ›Sturmbraut‹, davon spreche ich nachher — mit einigen Mann Besatzung. Nun geht mir folgendes schon lange im Kopfe herum. Ich möchte so sehr gern mit diesen meinen Leuten in ständiger Verbindung bleiben. Bei uns liegen doch eben ganz besondere Verhältnisse vor. Wir sind eben vogelfreie Desperados. Wie leicht kann da etwas passieren, meine Leute werden festgenommen, da wäre ich ja noch immer da, würde zu Hilfe kommen, wenn ich nur überhaupt davon erfahren würde...«
Jansen brach ab, weil Karlemann mit einer gar so nachdenklichen Bewegung den Finger an seine etwas schmutzige Nase legte.
»Sie wissen schon, woran ich denke?«
»Ja. Wie wäre es da mit einer Verbindung durch Brieftauben?«
»Das ist es!«, rief Jansen. »Aber ich glaube nicht, dass sich Tauben auf solch weite Entfernungen, wie ein Schiff sie zurücklegt — denn wir haben die Weiber doch entweder von Amerika oder aus Europa zu holen — zurückfinden werden. Ich habe darin wenig Erfahrung, doch ich glaube eben nicht, dass eine Taube auch größere Flugreisen über das offene Meer macht. Ist Ihnen davon etwas bekannt?«
»Hm! Nee. Ich habe früher Tauben gehalten, um sie zu verkaufen, das Stück gewöhnlich so für fünf Groschen, ich verstand, sie von den Nachbarn in meinen Schlag zu locken, aber Briefe habe ich ihnen niemals um den Hals gehängt — und wie weit die gehen? — nee, das weiß ich faktisch nicht.«
Schon durch die Briefe, welche Karlemann den Tauben um den Hals hängen wollte, verriet er, dass er darin noch nicht die geringste Erfahrung hatte.
»Und zweitens«, fuhr Jansen fort, »müssten wir uns da erst Tauben besorgen. Die Inder haben sich nämlich hier keine Tauben gehalten, nur Hühner.«
»Hühner sind dazu nicht zu gebrauchen, die fliegen nicht so weit übers Meer.«
»Lassen Sie Ihre dummen Witze, ich...«
»Ich mache überhaupt niemals Witze. Wenn ein Huhn nicht fliegen kann, so bringt man es ihm eben bei. Aber ich bezweifle, dass man ein Huhn als Brieftaube benutzen kann, ich halte das Huhn für ein ganz dummes Vieh.«
»Sonst sind nur noch Gänse und Enten vorhanden...«
»Die halte ich ebenfalls nicht gut als Brieftauben verwendbar.«
»Sehr richtig, o, weiser Salomon, besonders da Gänse und Enten gleichfalls nicht fliegen können, und das ihnen erst beizubringen, dürfte doch einige Zeit in Anspruch nehmen.«
»Was können sie nicht?!«, rief aber Karlemann mit scheinbarem Staunen. »Ich habe genug Gänse und Enten fliegen sehen, im Herbst und Frühjahr strichen sie immer scharenweise über unser Dorf weg.«
»Ja, das waren wilde, die können allerdings fliegen.«
»Na, ich denke, Ihre Gänse und Enten hier sind auch schon wieder ganz wilde geworden?«
Man wusste nicht, ob der Junge, der doch sonst so tief in den Charakter der verschiedensten Tiere eingedrungen war, wirklich in gewisser Beziehung so naiv war, oder... ob er nicht wieder etwas im Hinterhalte hatte. Denn in seine Karten ließ sich dieser geriebene Junge ja niemals blicken.
»Sie sind nur verwildert, dadurch noch keine wilden Gänse und Enten geworden«, erklärte Jansen mit Geduld. »Ich zweifle ja nicht, dass sie, durch irgendeinen Zwang dazu genötigt, etwa durch Nahrungsmangel, ihr ursprünglich von der Natur verliehen bekommenes Flugvermögen zurückerhalten, aber, wie gesagt, das dürfte etwas lange dauern.«
»Nun, da kämen noch Möwen in Betracht die ich ja dort genug herumfliegen sehe.«
Jansen fuhr auf, um dann seinem kleinen Freunde auf die Schulter zu schlagen.
»Das ist's! Eine Möwenpost einrichten, mit diesem Problem habe ich mich in letzter Zeit schon immer beschäftigt. Aber alles, was ich bisher deswegen versucht habe, ist misslungen. Ich zog Ihren Dompteur zu Rate, den Balduin Nauke...«
»Bah, Nauke!«, sagte Karlemann verächtlich. »Was versteht denn der von so etwas!«
»Sie haben ihn doch auf der Leuchtturminsel als Ihren stellvertretenden Dompteur zurückgelassen, er musste die Zähmung und das Dressieren der Raubtiere fortsetzen...«
»Na ja, fortsetzen! Ich hatte ihn eben dazu angelernt, hatte ihm die Handgriffe beigebracht. Aber Nauke ist nicht der Mann, etwas selbstständig fertig zu bringen, von Erfinden erst recht gar keine Rede. Er kann wohl ein Ei ausbrüten, wenn er hübsch draufgesetzt wird, aber selber Eier legen, das kann Nauke nicht.«
»Na, das können Sie ja umso besser«, lachte Jansen. »Also halten Sie es für möglich, dass man Möwen zu so einer Flugpost gebrauchen kann?«
»Hm, das kommt darauf an! Das muss ausprobiert werden. Es handelt sich ja nur darum, ob eine Möwe, die man gefangen mitnimmt, wieder nach ihrem Neste zurückkehrt.«
»Jawohl, das ist die Hauptsache. Kennen Sie das Leben und die Gewohnheiten der Möwen?«
»Beobachtet habe ich sie ja schon genug. Sie fliegen doch immer hinter dem Schiffe her und schnappen alles weg, was über Bord fällt.«
»Auch des Nachts?«
»Nee, in der Nacht nicht, da sind sie weg.«
»Wo sind die Möwen da?«
»Das weiß ich nicht.«
»Na, was denken Sie sich, Algots?«
»Wenn's dunkel wird, fliegen sie wieder nach ihren Nestern, oder sonst nach dem nächsten Lande oder der nächsten Felsklippe, wo sie ausruhen.«
»Aber am anderen Morgen sind sie doch wieder da.«
»Ja, aber nicht dieselben. Über dem Meere streifen immer Möwen herum, um Fische zu jagen, und nur wenn sie ein Schiff erblicken, schließen sie sich diesem für einen Tag an, um am Abend wieder zu verschwinden, und dann am nächsten Tage finden sie wieder ein anderes Schiff. Es gibt ja genug von den Ludersch, und so wird jedes Schiff immer von Möwen begleitet.«
»Ich aber versichere Ihnen, dass es immer dieselben Möwen sind, welche ein Schiff begleiten, z. B. von Hamburg bis nach Sydney.«
»I, woher wollen Sie denn das wissen?! Eine Möwe sieht doch wie die andere aus.«
»Mich wundert nur, dass Sie so sprechen, der die Tiere sonst so zu beobachten versteht.«
»Na, wie wollen Sie denn das konstatieren, dass es immer dieselben Möwen sind? Das glaube ich überhaupt nicht, oder das wäre mir ein Rätsel.«
»Ich will Ihnen erzählen. Es war auf meiner zweiten Reise, die ich als Schiffsjunge und zurück als Leichtmatrose machte, von Hamburg nach Sydney, auf der ›Mozart‹. Der Kapitän — Emil Grohmann hieß er — war so ein halber Gelehrter oder doch ein Mann, der alles mit besonderen Augen ansah und jedem Dinge auf den Grund zu gehen versuchte. So hatte er auch schon immer über dieses Problem der Möwen nachgegrübelt, wo die sich wohl während der Nacht aufhalten. Grohmann war nämlich durch Beobachten zu der Meinung gekommen, dass es immer dieselben Möwen sind, welche am anderen Morgen wieder erscheinen. Um das nun zu prüfen, bediente er sich eines ganz einfachen Mittels. Noch in der Nordsee fing er einige der das Schiff begleitenden Möwen mit der nachschwimmenden Angelschnur, bespritzte die Männchen mit schwarzer, die Weibchen mit roter Ölfarbe, die nicht so leicht wieder von den Federn abgeht, und ließ die Vögel wieder fliegen. Am Abend verschwanden diese wie gewöhnlich — am anderen Morgen waren sie wieder da, unter der ganzen Schar dieselbe Anzahl von gezeichneten, zwei schwarze und zwei rote.«
»Ist nicht möglich!«, rief Karlemann in einem Tone, welcher zeigte, ein wie hohes Interesse er an so etwas hatte. »Da sind es also wirklich immer dieselben Möwen, welche ein und dasselbe Schiff begleiten?«
»Wie ich Ihnen sage. Und so ging es durch die ganze Nordsee und durch den Kanal in den Atlantischen Ozean hinein. Grohmann fing täglich Möwen; die noch unbefleckten wurden immer gezeichnet, und jedes Mal waren am Morgen alle vorhanden. Erst in der spanischen See fehlte am Morgen ein rotes Weibchen. Das war eben einem Raubvogel zum Opfer gefallen oder war sonst wie zugrunde gegangen, und so ging das weiter um Afrika herum bis nach Sydney. Das heißt, etwa tausend Meilen östlich von Kapstadt, mitten im Indischen Ozean, verschwanden sämtliche rotgesprenkelten Möwen, also die Weibchen, jedenfalls, um dem Brutgeschäft nachzugehen. Die Männchen aber begleiteten uns bis nach Sydney.«
Karlemann schüttelte den Kopf und kratzte sich in seinen langen Zigeunerhaaren.
»Und dann gingen sie auch wieder zurück nach Hamburg?«
»Nein. Dann waren es wieder andere Möwen, die sich uns anschlossen, aber wieder blieben es immer dieselben; diesmal hielten auch die Weibchen aus, weil es eben eine Jahreszeit war, da sie nicht für die zukünftige Nachkommenschaft zu sorgen, sich auch noch nicht dafür vorzubereiten hatten.«
»Ja, wo mögen sich aber da die Möwen während der Nacht aufhalten? Sollten sie imstande sein, jede Nacht tausend und wohl auch Tausende von Meilen zu fliegen, um sich für einige Stunden irgendwo auf festem Boden auszuruhen? Kaum glaublich!«
»Das fanden auch Kapitän Grohmann und der gebildete Offizier, mit dem er zusammen diese Experimente machte, unglaubhaft! Eher könnte man vermuten, dass sie sich während der Nacht auf dem Wasser zum Schlafen niederlassen...«
»Da würden sie doch bald von Raubfischen weggeschnappt werden.«
»Zu diesem Resultate kamen auch jene. Dann aber bleibt nichts weiter übrig, als dass sich die Möwen während der Nacht in hohen Luftschichten aufhalten, wo sie auch während des Schlafens fliegen können, indem nur ab und zu ein schwacher Flügelschlag, unbewusst ausgeführt, nötig ist, um sie schwebend zu erhalten. Dass z. B. der Adler und die anderen großen Raubvögel in der Luft schlafen, das ist erwiesen. Und am anderen Morgen ist das Schiff noch nicht zu weit entfernt, als dass es von den Möwen aus ihrer himmelhohen Höhe nicht erspäht werden könnte; denn das Auge dieser Möwen muss ja noch fabelhafter sein, als das anderer Raubvögel, man braucht sie ja nur zu beobachten, wie sie auf der schäumenden, sich fortwährend verändernden Wasserflut auch das kleinste Fischchen, den kleinsten Fleischbrocken erspähen und sich sofort darauf stürzen, und wenn sie dann auch ein zweites oder noch mehrere Schiffe sichten, so kehren sie doch immer zu dem zurück, das sie seit seiner Abfahrt begleitet haben. Im Übrigen ist das alles noch ganz rätselhaft.«
Das gilt noch heute. Die Möwen sind noch heute für den Naturforscher und für den beobachtenden Seemann in ein undurchdringliches Geheimnis gehüllt, und dieses wird sogar immer rätselhafter, je länger man sich mit den Möwen beschäftigt. Der vogelkundige Engländer Oskar Denyson hat im Laufe von zwanzig Jahren mehr als zehntausend Möwen gefangen, in den verschiedensten Erdgegenden, hat jede am Fuße mit einem Kupferringe versehen, mit entsprechenden Bemerkungen, und gegen Aussetzungen von Prämien zum Fangen und Schießen von Möwen aufgefordert. Anderthalb hundert solcher Ringe sind ihm denn auch zugegangen, mit Angabe von Zeit und Gegend des Fanges, wodurch aber nur abermals neue, unergründliche Rätsel über das Leben der Möwen entstanden.
Es war unser Held, der Kapitän Richard Jansen, welcher hierüber ein großes Wort aussprach, eben bei dieser Gelegenheit zu seinem kleinen Freunde, wie er es in seinem Tagebuche verzeichnet hat.
»Meiner Ansicht nach ist die Möwe der Hund unter den Vögeln. Kein anderes vierfüßiges Tier ist dem die Elemente besiegenden Menschen so allüberall auf der Erde nachgefolgt, wie der Hund. Von Ratten und Mäusen wollen wir hier nicht sprechen, und bei denen trifft dies auch tatsächlich nicht zu. Es gibt genug Gegenden, in denen man nichts von Ratten und Mäusen weiß. Aber den Hund findet man sowohl bei den Eskimos, wie bei den Patagoniern, wie bei den Australnegern, hier als gezähmten Dingo. Ich glaube, dass die Möwe einst ein Standvogel gewesen ist, wie man auch noch heute auf Sandbänken und Klippen Möwenkolonien sieht. Erst durch den Menschen ist sie ein heimatloser Vogel geworden. Vor Jahrhunderten, Jahrtausenden mag sie zunächst, eine schier unbegreifliche Vorliebe für den Menschen habend, die Fahrzeuge begleitet haben, welche sich längs der Küste halten mussten, so schon die alten Phönizier, welche von den nordischen Küsten Bernstein holten, die Römer, welche Britannien eroberten. Und als Kolumbus als erster Mensch den Atlantischen Ozean durchquerte, soweit wir von verbürgten Tatsachen sprechen können, da waren seine Schiffe ständig von Möwen begleitet, wie Kolumbus oft genug in seinen Tagebüchern berichtet — auch die Möwen machten die Entdeckung Amerikas mit. Ja, die Möwe ist der Hund unter den Seglern der Lüfte...«
»Nun kommt es darauf an«, fiel Karlemann ihm ins Wort, »diesen fliegenden Hund uns dienstbar zu machen.«
»Jawohl, das ist es. Die Hauptsache für uns ist, dass die Möwe an keinen bestimmten Ort gebunden ist, sondern unter Umständen die ganze Welt durchstreicht, die weitesten Entfernungen mit rasender Geschwindigkeit zurücklegt, selbst bei Nacht. Aber wie nun das nutzbar machen?«
»Was für Versuche haben Sie denn schon unternommen?«
Jansen schilderte sie.
Die Möwen schienen hier unausgesetzt zu brüten, respektive sich der Großziehung der noch nicht flüggen Jungen zu widmen. Das heißt, es waren fortwährend brütende Möwen oder solche mit Jungen, die noch gefüttert werden mussten, vorhanden, ganz unabhängig von der Jahreszeit.
Es gibt ja eine Unmenge Abarten von Möwen; die horsten nebeneinander auf ein und derselben Klippe, aber ihre Brutzeit ist eine ganz verschiedene, und eben deswegen findet man zu jeder Jahreszeit Nester mit Eiern. Oder das mag auch daher kommen, dass die verschiedenen Möwen teils der nördlichen, teils der südlichen Hälfte der Erde angehören, Jansen hatte nun Möwen gefangen, war weit in die grüne Wiese hineingefahren, bis außer Sicht der Insel, und hatte die mit verschiedener Farbe gezeichneten Tiere wieder fliegen lassen. Das Resultat war ein ganz verschiedenes. Einige kehrten ja nach der Insel zurück, mehr noch aber flogen nach einer ganz anderen Richtung davon, selbst solche, welche brüteten oder Junge zu versorgen hatten. Sie waren von den barbarischen Menschen in ihrer heiligsten Pflicht gestört worden, nun wollten sie nicht einmal mehr etwas von ihrer eigenen Nachkommenschaft wissen, der sie bisher all ihre Liebe gewidmet hatten.
So nimmt ja auch das säugende Reh sein kleines Kalb nicht mehr an, wenn dieses nur ein einziges Mal von einer menschlichen Hand berührt worden ist. Deshalb darf man niemals ein kleines Reh, dessen Mutter versprengt worden ist, anfassen, es etwa auf den Arm nehmen. Die Mutter weiß ihr Junges mit absoluter Sicherheit wiederzufinden, aber mancher Tierfreund mit mitleidigem Herzen weiß leider nicht, dass dieses kleine Reh dann zugrunde gehen muss, die Mutter kann die am Fell haftende Witterung der menschlichen Hand nicht verzeihen.
Hier war es allerdings anders, fast umgekehrt. Doch wie dem auch sei, die meisten Möwen kehrten dann eben nicht mehr nach ihren Nestern zurück.
Einige taten es allerdings. Aber einmal war es ungemein schwer, aus den Tausenden von Möwen, welche über dem Gebirge herumschwirrten, gerade die betreffende mit der Angel herauszufangen — selbst das Schießen hatte seine große Schwierigkeit, und dann überhaupt war die Geschichte doch ganz unsicher. Nahm das Schiff Möwen mit, ließ man sie mit einer Briefbotschaft fliegen, so wusste man ja niemals, ob auch nur eine einzige zurückkehren würde.
»Hm, das wird sich machen lassen«, meinte Karlemann nach diesen Schilderungen. »Ich muss nur erst das Leben der Möwen näher studieren.« — —
Nach dieser Unterhaltung lassen wir Richard Jansen selber wieder das Wort ergreifen.
Karlemann machte sich sofort auf den Weg nach dem Berge und ward zwei Tage nicht mehr gesehen. Erst am Morgen des dritten Tages, als ich mich schon um ihn zu sorgen begann — hatte er doch weder Proviant noch sonst etwas mitgenommen — kehrte er zurück, und er sah durchaus nicht magerer aus, nur noch etwas schmutziger, denn er hatte sich offenbar auch während dieser zwei Tage nicht gewaschen.
Er ging an mir vorüber, ohne mich eines Wortes zu würdigen, begab sich an Bord der ›Sturmbraut‹ und in die Werkstatt des Segelmachers, der, wie bekannt, zugleich auch der Schiffszimmermann war.
Hier schnitt und behobelte er Latten und Bretter, und am Nachmittage machte er sich wieder auf den Weg, nahm aber diesmal den Segelmacher mit, oder jetzt vielmehr den Zimmermann, der ihm die Bretter tragen musste, ferner wurden Nägel und Handwerkszeug mitgenommen, auch gebrannten Gips hatte sich Karlemann geben lassen, ebenso versorgte er sich diesmal mit einigem Proviant.
Am anderen Tage kehrte nur Hasse zurück.
»Was treibt er eigentlich?«, fragte ich ihn.
»Er hat in der Nähe der Quelle eine Art von Hühnerstall zusammengebaut.«
»Und da sperrt er Möwen ein?«
»Das weiß ich freilich nicht, habe es wenigstens nicht gesehen. Ich habe die ganze Nacht arbeiten müssen, bei einer Laterne, die wir mitgenommen hatten. Heute früh konnte ich wieder gehen.«
»Hat er denn Möwen gefangen?«
»Davon habe ich auch nichts gesehen. Algots hielt sich überhaupt immer woanders auf.«
So verstrichen abermals drei Tage, im ganzen also waren sechs vergangen, als Karlemann wieder erschien, unter dem Arme einen Kasten und auf seiner Schulter... eine Möwe, die sich artig das schneeweiße Gefieder putzte, und als sie einmal aufflatterte, um gleich wieder zur Schulter zurückzukehren, war nichts von einem Faden zu bemerken gewesen.
»Was? Es ist Ihnen schon gelungen, dieses Tier so zahm zu machen?!«, rief ich erstaunt.
»Wie Sie sehen! Der geflügelte Hund ist fertig. Es wird wohl noch ein anderes Tier, ein Säugetier mit flügelartigen Vorderbeinen, fliegender Hund genannt, das hier aber ist eine andere Art, die habe ich erst ganz >neu geschaffen.«
Ja, wenn dem wirklich so war, dann hatte dieser deutsche Zigeunerknabe wieder einmal dem lieben Gott ins Handwerk gepfuscht, oder er hatte doch etwas geleistet, wozu die Menschheit Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende gebraucht hat, nämlich als sie den wilden Wolf sich zum Jagdgenossen und Hausgefährten machte.
Eine Möwe sich zu zähmen, sie als Postboten zu benutzen — wer hätte jemals daran gedacht, oder wer hätte doch für möglich gehalten, dass dies in sechs Tagen zu erreichen sei!
»Diese Möwe wird, wenn Sie sie fliegen lassen, wieder nach ihrem Neste zurückkehren?«
»Nein, diese hier nicht. Das ist ganz im Gegenteil der Hund, der niemals das Haus verlässt. Die geht überhaupt nicht mehr von meiner Schulter herunter, wenn ich sie nicht in einen Käfig sperre, und sobald ich sie herauslasse, wird sie sich wieder auf meine Schulter setzen. Die habe ich nur so etwas für mich abgerichtet. Aber diese hier, das ist die erste Brieftaube.«
Er hielt den ziemlich umfangreichen Kasten hoch, dessen eine Seitenwand aus Stäben bestand, und hinter diesen sah ich wiederum eine weiße Möwe.
»Nun geben Sie erst mal Fleisch her, die fressen keine Fische mehr, und ich habe mir für den kurzen Weg nichts mitgenommen.«
»Die fressen keine Fische mehr?«
»Nein. Das ist das erste gewesen, was ich ihnen abgewöhnen musste, damit sie gar nicht wieder Gelüste nach der goldenen Freiheit bekommen. Denn da könnten sie ihren Hunger doch nur mit Fischen stillen, und ich habe eben dafür gesorgt, dass sie sich jetzt vor aller Fischnahrung ekeln.«
»Ja, wie haben Sie denn das gemacht?!«, staunte ich.
»Einfach genug«, entgegnete Karlemann, ohne jetzt eine nähere Erklärung zu geben. »Also Fleisch her! Die freie hier frisst nur rohes, die gefangene hier nur gekochtes frisches Fleisch. Mit Salz- und Pökelfleisch habe ich noch keinen Versuch gemacht, ich hatte keines oben. Das alles sind bisher ja nur Versuche gewesen, das kommt alles noch ganz anders.«
An frischem Fleisch war bei uns nie Mangel, und auch gekochtes war noch vorhanden. Ich ließ solches bringen, sowohl frisches wie gekochtes, Karlemann schnitt es in Stücke.
Zuerst hielt Karlemann der auf seiner Schulter sitzenden Möwe, die aber auch auf seine Hand ging, ein Stück gekochtes Fleisch hin. Sie beachtete es gar nicht, verschlang aber sofort mit Gier die Stückchen rohen Fleisches.
Bei der Möwe in dem Käfig war es gerade umgekehrt. Diese verschmähte das rohe Fleisch, nahm dagegen aus der Hand ihres Herrn das gekochte Fleisch.
»Wie haben Sie ihnen das nur beigebracht?«, musste ich immer wieder staunen.
»Da ist gar nichts beizubringen, das ist nur Gewohnheit, freilich auch mit etwas Prügel verbunden. Geben Sie einem Hunde von klein auf nur gekochte Sachen — prügeln Sie ihn, während Sie ihm ein Stück rohes Fleisch vorhalten — das brauchen Sie nur dreimal zu machen, und der Hund wird niemals wieder rohes Fleisch fressen, keinen ungekochten Knochen. Das wird dann eben Geschmackssache.«
»Ja, haben Sie diese Vögel denn auch geprügelt?«
»Na, mit der Hundepeitsche nicht. Schläge auf den Schnabel genügen da schon, und dann braucht man ja das Fleisch nur mit etwas einzureiben, was dem Vogel widerlich ist, oder man lässt sie in verborgene Stacheln beißen. Es lässt sich alles erreichen, wenn man nur verständig zu Werke geht.«
Karlemann nahm aus dem Kasten die Möwe, welche durchaus keinen zahmen Eindruck machte, sie sträubte sich zwischen den Händen ganz gewaltig, und es gehörte dieses Jungen geschickter Griff dazu, um das starke Tier überhaupt festhalten zu können, er band ihr schnell einen Faden um den Hals und ließ sie fliegen.
Sofort strebte sie dem Berge zu, ich sah sie zwischen einer Schar anderer Möwen verschwinden.
»So, nun wollen wir selbst nach dem Berge gehen und sie wieder aufsuchen. Ich habe sie ja durch den Faden gekennzeichnet, und Sie werden doch überhaupt nicht glauben, dass ich Ihnen nur etwas vormachen will.«
In einer halben Stunde hatten wir den Sattel des Berges erreicht, wo die starke Quelle unsere Wasserleitung speiste.
Ich sah einen hohen, aus Brettern und Stangen aufgeführten Verschlag, und zu meinem Staunen schlüpften durch die Löcher Möwen aus und ein, gerade wie die Tauben, nur dass sie sich nicht weiter wie Tauben außerhalb dieser Löcher oder Verschläge aufhielten, d. h. in deren Nähe. Sie schlüpften heraus, flogen schnell davon, andere kehrten zurück, dann stets einen Fisch im Schnabel.
Karlemann hatte sich also durchaus nicht nur mit jenen beiden Möwen beschäftigt, und es war schon ein Wunder der Dressur zu nennen, dass er freien Möwen beigebracht hatte, in einem von Menschenhänden gefertigten Verschlag zu nisten.
»Das sind die, welche ihre Jungen mit Fischen füttern, diesen habe ich die Fischnahrung noch nicht verekelt, ich probiere vorläufig ja noch hin und her — und hier drin muss jene Möwe mit dem Bändchen um den Hals auf meinen Eiern sitzen, oder sie hat zum ersten Male meiner Erziehung Schande gemacht, und dann schlage ich sie tot — und mich können Sie dazu totschlagen.«
Mit diesen Worten öffnete Karlemann eine Schiebetür, ich blickte in einen engen Verschlag, und in diesem saß auf einem natürlichen Neste, aus vertrocknetem Seetang gefertigt, wie solche Nester hier überall zwischen Spalten klemmten und an den Felswänden klebten, eine Möwe, um den Hals jenes Bändchen. Es musste dieselbe sein.
Als Karlemann die Hand ausstreckte, flog sie nicht davon, wohl aber suchte sie sich durch Schnabelhiebe zu wehren. Karlemann packte sie mit geschicktem Griffe und hob sie von dem Neste herunter, in welchem vier braune, weißgesprenkelte Eier lagen, die höchste Anzahl, welche wohl eine Möwe legt. Einige Arten legen nur ein einziges Ei.
»Na, da haben Sie's.«
Karlemann ging mit der Möwe eine Strecke zurück, ließ sie fliegen — das Tier kehrte sofort zu dem Neste zurück, setzte sich wieder über die Eier, welche Karlemann seltsamerweise seine eigenen genannt hatte.
»Wie lange brütet die Möwe?«
»Zweiunddreißig Tage«, entgegnete ich.
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe darüber nachgelesen.«
Hierbei bemerkte ich, dass Karlemann vorher kein Buch zu Rate gezogen hatte. Seine Abneigung gegen Bücher und alles, was nach Schulstube roch, war nur ja von früher bekannt.
»Hm«, brummte er jetzt. »Als ich diese Möwe vor fünf Tagen fing, saß sie, kalkuliere ich, am ersten Tage auf ihren vier Eiern. So hätte ich sie mindestens noch für sechsundzwanzig Tage hier fest.«
»Dann kriechen die Jungen aus.«
»Nee, die werden nicht auskriechen.«
»Warum nicht?«
»Weil das künstliche Eier sind, leergeblasene, mit Gips ausgefüllt. Dass die Möwe nun ihr ganzes Leben lang darauf sitzen wird, immer wieder zurückkehrt, um das Brutgeschäft wieder aufzunehmen, das glaube ich ja nun freilich auch nicht, aber ich bin doch gespannt, wie lange sie fruchtlos brüten wird.«
Wahrhaftig, was dieser Junge tat, hatte doch wirklich alles Hand und Fuß!
Was wir nun innerhalb der weiteren acht Tage alles taten, kann ich gar nicht schildern. Auch Karlemanns Experimente, die er mit den Möwen aufstellte, vermag ich nicht wiederzugeben, denn es waren deren zahllose, zu gleicher Zeit ausgeführt.
Jetzt siedelte auch ich mich hier oben an, ferner musste die Hälfte seiner Jungen herauf, unsere ganze Zeit war dem Fange von Möwen und deren Wartung gewidmet, wozu noch eine weitere Anzahl solcher Verschläge gebaut wurden.
Es waren mindestens hundert Möwen geworden, die wir so zu versorgen hatten, jeden Tag kamen noch neue hinzu, teils Männchen, teils Weibchen, mit und ohne Eier, mit und ohne Junge, sie wurden einzeln und in verschiedener Anzahl zusammen eingesperrt, sie wurden verschiedentlich mit Fischen oder mit rohem Fleisch, oder mit gekochtem oder mit gepökeltem respektive gesalzenem Fleische gefüttert, und unbegreiflich war mir, wie Karlemann, der dies alles leitete, alles im Kopfe hatte, denn nie machte er sich eine Notiz, während ich mich selbst auch nach einem aufgezeichneten Plane gar nicht mehr durch dieses Wirrsal gefunden hätte.
Auch die eigentlichen Dressierversuche Karlemanns konnte ich gar nicht verfolgen. Er ging von Kasten zu Kasten, streichelte die eine Möwe, der anderen hielt er ein Stück Fleisch hin und schlug sie beim Zuschnappen empfindlich auf den Schnabel, wozu er sich eine Art von Pritsche angefertigt hatte, dann präparierte er Fische, indem er ihren Körper mit Nadeln spickte, an denen sich die ewig heißhungrigen Vögel den Gaumen verletzten, und dann bin ich überzeugt, dass er Fische und Fleischstücke, überhaupt die ganze Nahrung auch mit einem besonderen Lockmittel behandelte.
Denn meistens mussten die geschnittenen Fleischstreifen erst in einen Eimer mit Wasser getaucht werden, und oftmals sah ich, wie Karlemann in diesen Eimer, den er auch stets selbst mit Wasser füllte, eine Flasche ausgoss, die eine rötliche Flüssigkeit enthielt.
Aber was das war, erfuhr ich niemals. Mein kleiner Freund war und blieb der Geheimniskrämer, als der er sich von jeher gezeigt hatte.
»Wenn Sie aber nun fort sind, wie soll ich denn nachher die Möwen behandeln?«, fragte ich einmal bei Gelegenheit.
»Da werde ich Ihnen schon Anweisung hinterlassen. Übrigens will ja auch ich hier bleiben.«
»Wie? Auch Sie wollen hier für immer bleiben?«, rief ich mit freudiger Überraschung.
»Höchst wahrscheinlich. Ich werde mir doch wieder ein neues Zirkusschiff einrichten, aber nicht wieder mit solchen Missgeburten, die mir nicht genug Geld eingebracht haben, sondern nur mit wilden Tieren, und das hier soll meine Hauptzentrale werden, und dass ich dafür sorge, dass Ihr Versteck unbekannt bleibt, werden Sie mir wohl zutrauen.«
Meine Freude, dies zu hören, war eine aufrichtige. Dieser Junge wuchs mir immer mehr ans Herz, so viel unangenehme Schrullen er manchmal auch zeigen mochte Kleinere Versuche waren schon gemacht worden, die eine Strecke mitgenommenen Möwen kehrten ohne Ausnahme in ihren Verschlag zurück, selbst wenn sie keine Eier oder Junge dort zu finden hatten, und dann kam der Tag, an welchem eine ganze Menge, wenigstens fünfzig Stück, an Bord der Galeerenjacht gebracht wurden, ein Dutzend meiner Leute setzte sich im Zwischendeck an den Ruderapparat, und wir schusselten über die grüne Wiese dahin.
Von Zeit zu Zeit ließ Karlemann eine Möwe fliegen, oder auch mehrere gleichzeitig. Jeder Vogel erhielt stets ein Zettelchen um den Hals gebunden, an dem die Zeit des Ausflugs genau bis zur Sekunde verzeichnet war.
Am Vogelplatz war als Hauptleiter Nauke zurückgeblieben, der aber noch einen großen Stab von Hilfskräften um sich hatte, dort wurden die ankommenden Vögel kontrolliert.
Schon aus der sofort angenommenen Richtung erkannten wir, dass diese Möwen stets wieder den Berg aufsuchen würden, was nämlich bei anderen Möwen, die man von dort mitnahm, ohne sie erst so präpariert zu haben, durchaus nicht der Fall war. Die vermieden im Gegenteil den Ort, wo sie schon einmal gefangen worden waren.
Vorläufig also behalfen wir uns mit Zettelchen, die den Tieren um den Hals gebunden wurden. Dass dies später anders gehandhabt werden musste, die Botschaften anders am Körper angebracht wurden, womöglich auch mit mikroskopischer Schrift versehen, ist selbstverständlich.
Wir waren, immer südwärts fahrend, schließlich außer Sicht der Insel gekommen. Noch eine Stunde lang ließ Karlemann denselben Kurs einhalten, dann befahl er zu stoppen.
In den Käfigen war noch die Hälfte der mitgenommenen Möwen vorhanden.
»So, jetzt kommt das große Experiment«, sagte er. »Bin selber gespannt, ob es glücken wird.«
»Was denn für ein besonderes Experiment?«
»Sie werden gleich sehen. Oder aber — wenn es gelingt — wenn Sie außer sich vor Staunen sind — was für eine Belohnung werden Sie mir dann geben?«
»Ja aber — um was handelt es sich denn nur?«
»Wenn Sie so etwas nicht für möglich gehalten hätten — werden Sie mir dann erlauben, dass auch ich hier auf dieser Insel bleibe?«
»Das ist doch sowieso selbstverständlich«, lachte ich.
»So beobachten Sie die Uhr, machen Sie das Zettelchen fertig.«
Ich schrieb auf: Nr. 24, 8 Uhr 20 Minuten — an welcher Zeit nur noch zwei Minuten fehlten, Karlemann holte unterdessen eine Möwe aus dem Käfig, das Papier ward ihr um den Hals gebunden, der mitgekommene Mahlsdorf machte nach der Sonne eine geografische Ortsbestimmung, und in der zwanzigsten Minute wurde die Möwe freigelassen.
Sie schlug sofort die Richtung nach dem nicht mehr sichtbaren Berge ein, verschwand mit der Schnelligkeit eines abgeschossenen Pfeiles in der Ferne.
Karlemann beschäftigte sich mit den anderen Möwen.
»Wollen wir hier liegen bleiben?«
»Ja, wir müssen hier warten.«
»Worauf?«
»Das werden Sie gleich sehen, oder doch hoffentlich in fünf Minuten. Halt, halt, das ist ja die Hauptsache!!«
Mahlsdorf hatte den Käfig, dem die letzte Möwe entnommen worden war, beiseite setzen wollen, Karlemann hinderte ihn daran, setzte diesen Kasten vielmehr noch etwas abseits von den anderen.
Erst jetzt fiel mir auf, dass dieser Käfig im Gegensatz zu den anderen rot angestrichen war: nur noch zwei solche rote Kästen waren vorhanden. Ich hatte mir bisher wirklich nichts dabei gedacht, jetzt aber stutzte ich, als Karlemann auch noch die Schiebetür dieses Käfigs so weit aufmachte.
»Hören Sie, Sie denken doch nicht etwa, dass die Möwe auch wieder hierher zurückkehrt?«
»Das denke ich allerdings, hoffe es wenigstens bestimmt.«
»Ja, wie soll denn aber das möglich sein?!«
»Nun, kehrt nicht auch die Biene immer nach ihrem Stock zurück, wohin man diesen auch setzt? Der Imker trägt den Bienenstock in die Heide, die Bienen fliegen aus, zum ersten Male kommen sie in ein ihnen ganz fremdes Terrain, stundenweit und stundenlang streifen sie darin umher, und keiner fällt es ein, zurück nach dem heimatlichen Hof zu fliegen, sondern mit untrüglicher Sicherheit kehrt sie zurück zu dem Korbe, der mitten in der einsamen Heide steht.«
»Ja, das stimmt wohl, aber eine Möwe ist doch keine Biene. Da fehlt vor allen Dingen der Trieb...«
Da kamen zwei Möwen angeschossen, kurz vor der Galeerenjacht ein kurzes Abstoppen, und dann waren sie in dem roten Käfig verschwunden, der noch geräumig genug war, dass sich die beiden darin das Gefieder putzen konnten.
Karlemann sah nach der Uhr und nahm die eine heraus, welche ein Zettelchen um den Hals trug, nahm dieses ab, und ich erkannte meine eigene Schrift, dieselbe Zeitangabe, die ich vorhin gemacht hatte — es war dieselbe Möwe, die vor fünf Minuten abgelassen worden war! Außerdem aber hatte auch Nauke sein Vermerk darauf geschrieben, wann sie auf der Station angekommen war.
»Na, sehen Sie, es hat geglückt. Wir können nicht nur von dem Schiffe Botschaften nach der Insel absenden, sondern dieses kann auch von der Insel empfangen, ganz gleichgültig, wo es sich befindet.«
Ich konnte den Jungen nur anstarren.
»Verstehen Sie nicht?«
»Nein, ich stehe vor einem unlösbaren Rätsel.«
»Die Sache ist doch ganz einfach. Wie bei der Biene ist's nun freilich nicht. Diese Möwe weiß, von wo sie abfliegt. Sie brennt danach, sich mit der Kameradin wieder zu vereinen, an die sie durch verschiedene Mittel gewöhnt worden ist. Eine kann ohne die andere nicht mehr leben. Sobald aber nun diese erste Möwe die zweite erreicht hat, will diese zweite wissen, wo jene gewesen ist, sie fliegt davon, nach jener Richtung, woher die Kameradin gekommen ist, diese schließt sich zunächst an, wird aber dann gleich zur Führerin, und so kommen beide dort wieder an, wo die mitgenommene Möwe abgelassen worden ist.«
So ungefähr sprach Karlemann, er gab mir auch eine nähere Erklärung, schilderte sogar, wie er nach und nach durch Dressur diese Gewohnheit den Tieren beigebracht hatte, erst mit ganz kleinen Entfernungen vom eigentlichen Futterplatz beginnend...
»Ist das nicht ganz einfach?«
Ja, ganz einfach für diesen Bengel vielleicht... ich aber verstand absolut nichts davon, habe es niemals verstanden, stehe noch heute vor einem unergründlichen Rätsel, wie dieser Junge das gemacht hat. Eben ein gottbegnadetes Genie, das von der übrigen Menschheit nicht verstanden wird oder dieser um einige Jahrhunderte voraus ist.
Ich musste es als Tatsache hinnehmen und konnte dann nur noch einige Fragen stellen.
»Sie meinen, die Möwe kommt stets wieder zurück, mit der Kameradin, wo sie auch abgelassen wird?«
»Ja, das Experiment ist ja geglückt. Es kann ja freilich auch einmal missglücken, dazu machen wir jetzt eben erst Versuche, dass so etwas später, wenn es darauf ankommt, ausgeschlossen ist.«
»Wenn wir mit solch einer Möwe nach Australien segeln, lassen sie dort fliegen...«
»Dann fliegt sie hierher und kommt mit ihrer Kameradin nach Australien zurück. Die Entfernung wird für so eine blitzschnelle Möwe verdammt wenig zu sagen haben.«
Ich glaube, ich habe vor Staunen den Mund aufgesperrt.
»Und das Schiff kann inzwischen den Ort wechseln, immer hin und her fahren?«
»Na, alles hat seine Grenzen. Gar zu viel dürfen Sie auch nicht gleich verlangen. Aber wenn wir uns in gewissen Grenzen halten, dann glaube ich allerdings, dass die Möwe uns immer wieder finden wird. Denn veranlagt ist sie dazu, das zeigt sie ja dadurch, dass sie am Morgen immer wieder zu demselben Schiffe zurückkehrt, ohne sich durch andere irre machen zu lassen, und unterdessen hat sich das Schiff, mit dem sie sich befreundete, doch auch schon ganz bedeutend entfernt.«
Ich sagte nichts mehr, ich beobachtete nur die weiteren Versuche, von denen, auch nicht ein einziger missglückte.
Wir fuhren den ganzen Tag hin und her, uns immer weiter von der Insel entfernend, ab und zu eine Möwe fliegen lassend, von der wir erst nach der Rückkehr erfahren würden, ob sie ihr Ziel erreicht hatte.
Dann aber kamen auch solche aus roten Käfigen daran, und wie schnell wir auch unseren Standpunkt veränderten, die abgelassene Möwe wusste uns mit ihrer Kameradin stets wiederzufinden.
»Das werde ich auch noch anders einrichten«, erklärte Karlemann einmal. »Auf diese Weise kann man nur zwischen einem einzigen Schiffe und unserer Insel korrespondieren. Es muss aber auch zwischen zwei Schiffen gehen. Wie das zu machen ist, weiß ich noch nicht ganz klar, aber gehen wird's.«
»Karlemann, ich möchte Sie fast als einen Gott anbeten!«, konnte ich nur sagen.
Auch die Nacht wurde zu den Versuchen benutzt. Willig flogen die Möwen auch bei der Stockfinsternis auf, ein Zeichen, dass sie auch Nachttiere sind, nur dass sie des Nachts nicht auf Beute jagen, und ebenso kehrten sie zurück.
Als ich gegen vier Uhr nach dem aufgehenden Monde eine geografische Ortsbestimmung machte, ergab es sich, dass wir schon 26 Meilen von der Insel entfernt waren, und die mit ihrer abgeholten Kameradin zurückgekehrte Möwe hatte nur wenige Minuten gebraucht, um diese doppelte Strecke zu durchmessen, wobei sie auf der Insel auch noch zu empfangen und mit einem anderen Zettelchen zu versehen war.
Früh um zehn erreichten wir die Insel wieder, begaben uns sofort auf den Berg, wo Nauke Bericht erstattete, uns einen Zettel nach dem anderen vorlegend.
Was sollte denn aber dieser hier bedeuten, den Nummer 35 am Halse hängen hatte?
Ja, wir beide, Karlemann und ich, starrten auch nicht schlecht auf den präsentierten Zettel.
Ich hatte nur immer auf den Zettel von festem Papier die Nummer, die Zeit und die geografische Bestimmung des Ortes geschrieben, wann und wo die betreffende Möwe abgelassen worden war, mit Bleistift, das dann auch noch besonders buchend, auf der einen Seite des Zettels war das auch noch zu lesen, aber auf der anderen Seite stand mit Tinte in schnörkliger Schrift geschrieben:
An Kapitän Richard Jansen! Segeln Sie sofort nach Hobarttown, Tasmania, Aus
tralien.
So war da zu lesen.
»Ja, wer hat denn das geschrieben?!«, fand zuerst Karlemann Worte.
»Na, hier niemand«, entgegnete Nauke.
»Jansen, haben Sie denn etwa so einen Witz...«
Ich aber stürzte plötzlich davon, nach der ›Sturmbraut‹, kam erst in einer halben Stunde wieder, und da brachte ich das Kuvert mit, welches die Hundertpfundnoten und den Siegelring enthalten hatte.
»Wo in aller Welt sind Sie denn so lange gewesen?«, empfing mich Karlemann.
»Haben Sie schon das Rätsel gelöst?«, fragte ich mit fliegendem Atem.
»Nein, wir streiten uns noch immer herum.«
»Hier — hier — dieselbe Handschrift, nur in kleinerem Maßstabe!«
So war es. Dieselbe schnörklige Handschrift!
»Ja, aber wer hat denn das geschrieben?«
»Der Maharadscha, oder Graf Axel, oder sonst einer, der früher zur Besatzung der ›Indianarwa‹ gehört hat.«
Das Rätsel ward durch diese Erkenntnis freilich nur noch größer.
Wir hatten die mit der Nummer 35 bezeichnete Möwe etwa 20 Meilen südsüdwestlich von der Insel entfernt liegen lassen, und zwar schon nach Anbruch der Nacht, oder genau 9 Uhr 15 Minuten.
»Und wann ist sie hier angekommen?«, war unsere nächste Frage.
Das konnte uns Nauke aus seinem Kontrollbuch genau angeben.
»9 Uhr 53 Minuten 10 Sekunden.«
Da war schon eine Außergewöhnlichkeit gefunden, die der vielbeschäftigte Nauke nur nicht gleich gemerkt hatte.
Die Möwen hatten alle zum Durchfliegen einer Seemeile im Durchschnitt eine Minute gebraucht, das konnte ja konstatiert werden. Bemerkt sei hierbei, dass ein moderner Schnelldampfer, der zwanzig Knoten in der Stunde macht, dennoch zur Seemeile drei Minuten gebraucht.
Also hätte die Möwe Nummer 35, die an Schnelligkeit doch sicher keine Ausnahme machte, spätestens schon 9 Uhr 45 Minuten hier sein sollen, während sie acht Minuten später angekommen war.
Wo war sie während dieser acht Minuten gewesen?
»Kapitän, gibt es hierherum denn noch mehr Inseln?«, fragte Karlemann.
»Außer jener, auf der ich die Ambra fand, die dann bis auf den Berg zerstört wurde, habe ich noch keine andere gefunden.«
»Haben Sie denn schon danach Umschau gehalten?«
»Wenigstens habe ich diese Insel schon wiederholt in weiten und immer weiteren Kreisen umfahren.«
»Und Sie haben nichts von einer kleinen Insel gemerkt, die südsüdwestlich von hier liegen könnte?«
»Keine Spur davon!«
»Dann muss einer von den Kerlen gerade mit so einer Galeerenjacht diese Richtung durchkreuzt haben«, brummte Karlemann, »die Möwe hat sich einmal auf dem Fahrzeug niedergelassen oder sie ist sonst wie geködert worden. Ja aber, werden wir denn im Geheimen beobachtet? Und was sollen wir denn in Tasmania?«
Ich war in tiefes Sinnen versunken gewesen, jetzt raffte ich mich auf.
»Algots, das sind alles, alles ganz vergebliche Fragen. Wir sind von einem Geheimnis umgeben, das ich schon öfters zu fühlen bekam, und das wir wohl niemals enthüllen werden, wenn es jenen rätselhaften Menschen nicht gefällt. Für uns kommt hier nur eins in Frage: wollen wir dieser Aufforderung nachkommen, also nach Hobarttown, dem Haupthafen der australischen Insel Tasmania, zu segeln, oder wollen wir nicht?«
»Nicht wahr, Tasmania ist die größte Insel südlich von Australien?«
»Ja, eine Insel fast so groß wie England.«
»Und Hobarttown ist ein Hafen?«
»Der größte von Tasmania.«
»Sind Sie schon dort gewesen?«
»Nein.«
»Ja, aber was sollen wir dort?«
»Wie kann ich das wissen! Wollen wir, oder wollen wir nicht?«
»Nu natürlich wollen wir! Wir haben hier ja auch gar nichts zu versäumen.«
»Dann sofort aufgebrochen, die geheimnisvolle Möwenpost treibt zur Eile!«, rief ich.
Die Vorbereitungen zur Abreise mit der ›Sturmbraut‹ wurden denn auch sofort getroffen, obschon es sich eigentlich nur um das Verteilen der Leute handelte, sonst war an der ›Sturmbraut‹ alles intakt, nur die Kessel brauchten geheizt zu werden.
Wir hatten in den zwei Monaten unseres Hierseins, oder jetzt sogar deren drei, tüchtig gearbeitet auf der Insel.
Wie ich schon erwähnt, hatte ich jetzt noch ein anderes Schiff zu meiner Verfügung. Wir waren nämlich auf der Fahrt von der Osterinsel nach hier in der Nähe von Kuba von einem konföderierten Kaper angegriffen worden. Obgleich ich der Brigg zusignalisierte, dass sie die berüchtigte ›Sturmbraut‹ vor sich hätte, war die Mannschaft zum Entern vorgegangen, jedenfalls in der Meinung, wir bedienten uns dieses gefürchteten Namens nur, um einen Feind abzuschrecken.
Wir hatten die Gegner erwartet, diesmal nicht mit der Feuerspritze, sondern nur mit Entersäbel und Revolver, und dennoch war es nicht zum Kampfe gekommen, kein einziger Schuss war gefallen.
Der Anblick meiner langen Gestalt, die ich allerdings absichtlich bis zuletzt verborgen gehalten, wirkte wie ein Schreckgespenst. Ich musste einigen der Mannschaft, aus allerhand zusammengewürfeltem Gesindel bestehend, schon bekannt sein, der Kapitän wollte sich schnell mit einer Entschuldigung wieder zurückziehen.
Da gab es nun freilich nichts. Die Enterhaken waren schon gefallen gewesen. Wenigstens ging ich erst an eine Visitation des Kapers, ohne dass dieses Gesindel irgendwelchen Widerstand zu leisten wagte, und da zeigte sich, dass diese Brigg erst ein genommenes Schiff war.
Wohl hatte der Kaper im Kampfe den Sieg davongetragen, war aber durch einen wohlgezielten Kanonenschuss zum Sinken gebracht worden.
Die konzessionierten Seeräuber hatten sich kämpfend auf die Brigg hinübergerettet, diese also trotzdem noch genommen, die unterliegende Mannschaft einfach als Fraß für die Haifische über Bord geworfen.
Nachdem ich dies letztere vernommen, war ich nicht gerade rücksichtsvoll gegen die feigen Hunde vorgegangen. Es war noch Schonung genug, dass ich ihnen dann Boote gab, in denen sie die nächste der westindischen Inseln erreichen konnten.
Die Brigg hatte ich ins Schlepptau genommen, und das um so lieber, als ihre Fracht aus vorjährigem Weizen und aus Ackergerätschaften der verschiedensten Art bestand. Das kam mir ja alles wie gerufen, denn mein Entschluss war schon damals gefasst gewesen, mich auf jener Fucusinsel von aller Welt zurückzuziehen.
Ohne weiteren Zwischenfall hatten wir die Fucusinsel wieder erreicht, und sofort war die Arbeit losgegangen: ackern und säen, wobei einige Matrosen, deren Väter an der Waterkant Bauernwirtschaft betrieben, unsere Lehrmeister gewesen waren, und schon war auf vielen Feldern die grüne Saat aufgegangen, in Ställen standen wieder eingefangene Kühe, wir machten schon unsere eigene Butter, und im Fabrizieren von Käse war ganz besonders ich groß.
Dies alles konnten wir nun doch nicht etwa in Stich lassen. Kurz und gut, mindestens musste die Hälfte der Mannschaft hier zurückbleiben, um die Arbeit fortzusetzen, und in einem Vierteljahre die Ernte einzuheimsen, und ich dachte, die Besatzung der ›Sturmbraut‹ aus der Hälfte meiner eigenen Leute und der Hälfte der halbwüchsigen Bengels zusammenzusetzen. Dann ging alles gerecht zu. Überhaupt, denen gefiel es ja ganz außerordentlich hier, bei der nächsten Gelegenheit sollte es ihnen ja auch nicht an holder Weiblichkeit fehlen, wie schon bekannt gegeben worden war.
Aber ich muss gestehen, dass mir doch etwas bänglich zumute war, als ich alle Leute, groß und klein, zusammenrief. Ich war meiner Sache, wie die Aufforderung ›Freiwillige vor!‹ ausfallen würde, doch eben nicht so ganz sicher.
Die Versammlung fand nicht mehr vor dem Großmast statt, sondern an Land. Wir waren ja keine Seeleute mehr, sondern friedliche Ackerbauer und Viehzüchter. Diese geplante Seefahrt nach Südaustralien war nur noch einmal eine Ausnahme, die sich hoffentlich niemals wiederholte.
Also ich schüttelte die unangenehme Empfindung der Unsicherheit ab und hielt meinen Speech.
So und so — ihr alle habt doch schon gehört, wie wir durch eine rätselhafte Möwenbotschaft aufgefordert werden, nach Tasmania zu segeln — uns ist ja während unseres nun bald dreijährigen Zusammenseins schon Rätselhaftes genug passiert — und wenn wir uns der unbekannten Macht, die uns zu leiten scheint, gefügt haben, so sind wir noch niemals schlecht dabei gefahren — also ich werde auch diesmal der Aufforderung nachkommen — wir holen uns von irgendwoher gleich Frauenzimmer — hoffentlich brauchen wir unsere schöne Insel dann niemals wieder zu verlassen — selbstverständlich müssen jetzt auch genügend Arbeiter auf der Insel zurückbleiben — nur die Hälfte der gesamten Mannschaft kann mich begleiten...
»Freiwillige vor!«
Und da passierte etwas, was ich nimmermehr erwartet hätte. Mit einem einzigen Schritte war die ganze Reihe wie auf Kommando vorgetreten, kein einziger war zurückgeblieben, ob er nun, um mit Karlemanns Worten zusprechen, lang wie ein Bandwurm war oder ihm nur bis ans Bauchknöppchen ging. Nein, solch eine Vorliebe für die bäuerischen Arbeiten auf der Insel hätte ich denn doch nicht erwartet.
»Ja, Leute«, sagte ich dann in bedauerndem Tone, »das geht aber nicht, alle könnt ihr nicht hier bleiben, die ›Sturmbraut‹ muss doch mit Matrosen und Heizern bemannt werden — zwanzig von euch muss ich mindestens mitnehm...«
Da fiel mir auf, wie sich plötzlich bei allen der Gesichtsausdruck änderte, wie jedes Gesicht förmlich ganz lang wurde.
»Wat?«, ließ sich da einer der Matrosen vernehmen. »Wer sollte einen Schritt vortreten?«
»Wer hier auf der Insel zurückbleiben will.«
»Ach so, nee — das ist was anderes...«, erklang es diesmal einstimmig, und einbeinig trat alles wieder einen Schritt zurück, kein einziger blieb stehen.
Jetzt war es mein Gesicht, das immer länger wurde.
Einen Kommentar dazu, wie man mich falsch verstanden hatte, brauchte ich ja nun nicht. Aber ich sollte ihn doch bekommen.
Plötzlich fängt doch dieser Satan von Karlemann zu lachen an — lacht, dass er sich nicht mehr auf den Beinen halten kann — er fällt in das grün aufgeschossene Saatfeld, neben dem die Versammlung gerade stattfindet, wälzt sich vor Lachen in dem grünen Gemüse herum — in meinem schönen Weizen, unter den ich mit eigener Hand im Schweiße meines Angesichtes den Kuhmist gestoppt habe — und dabei brüllt er immer vor Lachen.
»Die Seezigeuner als Kuhbauern, hohohohoho — Kapitän Jansen am Butterfass, huhuhuhu — Kapitän Jansen mit seinen Seezigeunern als Käsefabrikanten, hihihihi — hoch lebe Ackerbau und Viehzucht hohohoho!!!«
Ich weiß nicht, was der Lümmel alles sonst noch so vor Lachen gebrüllt hat.
Ich glaube, erst habe ich mich hinter den Ohren gekratzt, bis ich den Bengel lachen ließ und mich wieder meinen Leuten zuwandte.
»Ja, Jungens, verstehe ich denn nur recht — es will niemand hier bleiben?«
»Hohohoho, der fragt auch erst noch!!«, brüllte der sich noch immer in meinem schönen Weizen wälzende Karlemann.
»Antwort!«, kommandierte ich jetzt, als alles wie eine Mauer stand.
»Ach nee, Kapitaiiin, ach nöööö«, erklang es unisono im kläglichsten Tone, wie auch alle Gesichter waren.
»Ja, aber alle könnt ihr doch nicht mitkommen, wenigstens die Hälfte muss zurückbleiben, das Korn muss doch geerntet, die Kühe müssen gemolken werden...«
»Huhuhuhu!!«, brüllte Karlemann wieder, und jetzt blickte ich mit etwas unsicheren Augen nach ihm hin.
»Ach neee, Kapitaiiin, ach nöööö«, erklang es wiederum auf der anderen Seite.
»Ja, aber Jungens, gefällt es euch denn hier auf dieser schönen Insel bei der friedlichen Beschäftigung ganz nicht außerordentlich?«
Diesmal blieb auch das ›ach nee‹ und das verstärkte ›ach nööö‹ aus; nur dass die Gesichter immer jämmerlicher wurden.
»Ich bringe doch auch Weiber mit«, suchte ich Narr noch immer einmal zu locken wie weiland der Erlkönig, »schöne Mädels, da könnt ihr...«
»Wissen Sie, Herr Kapitän«, erklang da plötzlich eine andere Stimme, und neben mir stand Tischkoff, »dann muss eben das Los entscheiden — denn selbstverständlich müssen doch hier Leute zum Bestellen des Feldes zurückbleiben — und dann kann ich Ihnen auch noch einen anderen Vorschlag machen, der Ihnen angenehm sein wird. Sie selbst haben ja durchaus nicht nötig, sich von dieser schönen Insel zu trennen, an der Ihr ganzes Herz hängt — immer düngen Sie und melken Sie die Kühe und machen Sie Käse — ich werde das Kommando über die ›Sturmbraut‹ übernehmen — dass es bei mir in guten Händen ist, wissen Sie doch — ich bringe das Schiff sicher nach Tasmania und wieder zurück — werde mich auch gleich nach einer Fracht Weiber umsehen, ganz wie Sie... na, was haben Sie denn? Was für ein Gesicht machen Sie denn?«
Ja, ich wusste, dass ich irgendein besonderes Gesicht machte — ich starrte den Sprecher an, der gutmütig aber auch etwas spöttisch wie immer lächelte — in diesem Augenblicke aber bemerkte ich nur den Spott — und plötzlich ging in mir etwas vor sich, es gab in meinem Herzen förmlich einen Knacks — und dann überkam mich eine wilde Lustigkeit, aber dieser Jubel kam doch aus innerstem Herzen...
»Gottverd... hohohoho!!!«, fing auch ich plötzlich zu grölen an. »Jungens, wir sind ja alle zusammen verrückt gewesen! Was? Wir wollen hier Kuhmist unterackern und buttern und Käse machen?! Jungens, seid ihr denn nur wahnsinnig, auf so einen Gedanken zu kommen?! Ahoi in die weite, wilde See!!!«
Und da ich meinen umgestimmten Gefühlen auch noch in anderer Weise Luft machen musste, ergriff ich eine zufällig daliegende Kartoffelhacke und schleuderte sie in weitem Wurfe mit allem Aufgebote meiner Kraft davon, und das Ding schlenkerte wie ein australischer Bumerang davon, wenigstens hundert Meter weit, und da stand dort neben einem Schuppen ein Butterfass, und dieses harmlose Butterfass ging unter meiner Kartoffelhacke plötzlich in Trümmer.
Acht Tage später trennten mich von der Fucusinsel zweitausend Meilen Salzwasser. Ach, mit welchem Entzücken atmete ich diese köstliche Seeluft ein!
Auch auf der Fucusinsel hatten wir ja immer Seeluft gehabt, aber das war doch eine ganz andere gewesen, außerdem vermischt mit dem Geruche von faulendem Seetang und in letzter Zeit auch mit dem Dufte von Kuhmist, und dann vor allen Dingen... ich hatte wieder schwankende Planken unter den Füßen!
Faktisch, ich konnte nicht mehr schlafen, wenn ich nicht geschaukelt wurde. Ich hatte während der drei Monate auf der Insel keine einzige ruhige Nacht gehabt, so todmüde nach schwerster Arbeit während des ganzen Tages ich mich auch hingelegt hatte. Dazu kommt noch, dass der Seemann so ganz und gar keinen Unterschied kennt zwischen Tag und Nacht. Vier Stunden Dienst, vier Stunden Freizeit, von welcher doch kaum die Hälfte dem Schlafe geopfert wird, und das mag der Hauptgrund sein, weshalb der Seemann, wenn er sich an Land im weichen Federbett einmal auszuschlafen gedenkt, dies nicht fertig bringt, in der Nacht zu regelmäßigen Zeiten immer erwacht und nicht wieder einschlafen kann, so müde er sich auch sonst fühlt, da ihm nun der sonst am Tage gewohnte Schlaf fehlt, wovon auch noch die alten pensionierten Kapitäne gequält werden. Die Gewohnheit, die vierundzwanzig Stunden in kurze Zeitabschnitte zu teilen, ist ihnen eben während eines Lebens in Fleisch und Blut übergegangen.
Vielleicht aber mögen sie auch recht haben, wenn sie behaupten, dass nur das Schlingern und Stampfen des Schiffes und das Wasserplätschern an den Bordplanken ihnen fehlt, die feuchte Luft, der Teergeruch und alles andere, was nun einmal zur Schiffsatmosphäre gehört, zur Atmosphäre des Seemannes, wie der Stallduft zum Pferdejockey.
Kurz, ich war glücklich. Ach, war ich glücklich!!
Jedes Mal, wenn ich an Deck kam, bei Tag oder Nacht, jauchzte ich der Sonne oder den sturmgepeitschten Wolken entgegen, jauchzte ich in die Nacht hinein.
Acht Tage sind in dem eintönigen Seeleben doch schon eine lange Zeit, da kann manches zur abstumpfenden Gewohnheit werden. Aber mein Jauchzen wollte sich nicht abstumpfen, und alle meine Jungen jauchzten mit mir.
Und mein eigenes Jauchzen endete, was bei jenen nicht der Fall war, stets mit einem schallenden Gelächter.
Nach jenem Knacks, den es mir im Herzen gegeben, war es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen.
Wie konnte ich Narr nur auf den wahnsinnigen Gedanken gekommen sein, auf einer weltverlassenen Insel Ackerbauer und Viehzüchter werden zu wollen, den Kuhmist zu sammeln und das Butterfass zu schwenken und Käse zu kneten? Ich, der Kapitän Richard Jansen, der vogelfreie Mann? Vogelfrei noch in einem anderen Sinne, als den der Verfolgung gemeint.
O, Hohngelächter der Hölle!! Und ich lachte wirklich aus vollem Halse.
Und wie hatte ich das nur wirklich drei ganze Monate aushalten können?
Ja, jetzt wusste ich, wie unglücklich, wie tief, tief unglücklich ich dabei gewesen war, während ich mir das Gegenteil vorgetäuscht hatte.
Jetzt wusste ich, was mir immer in den Knochen gesteckt hatte — das Lied, das ich täglich, stündlich mit voller Brust auf das Meer hinaus, am liebsten dem Sturm entgegenbrüllte:
Weite See, wilde See,
Sturm und Schlacht auf wilder See,
Wo ich geh', und wo ich steh',
Seh' ich mich auf wilder See!
Was für eine wunderbare Bewandtnis hat es nur mit diesem Gedicht von dem unsterblichen Burns? Ist das nicht die denkbar einfachste Form eines Gedichtes? Dreimal reimt sich See auf steh, dreimal wird ›wild‹ wiederholt.
Und dennoch weiß kein anderes Gedicht, kein anderes Lied irgendeiner Nation die Sehnsucht eines an Land Verbannten nach der weiten, wilden See so stark, so gewaltig auszudrücken, wie diese einfachen Strophen.
Ja, es ist eben der gottbegnadete Burns, der diese Strophen gedichtet hat. Nicht umsonst hat hier Burns, der sonst Wort- und Reimkunst in unvergleichlichem Maße beherrscht, die allereinfachste Form mit immer wiederkehrenden Wiederholungen gewählt.
Und nun allerdings — von einem mir unbekannten Komponisten — eine gewaltige Melodie dazu!
Unten in der Kajüte lag das Klavier in Trümmern.
Ich hatte gewagt, meinen Gesang einmal begleiten zu wollen. Doch genug von meinen seelischen Empfindungen! — — —
Eine Stunde später, nachdem ich mit der Kartoffelhacke auf 100 Meter Entfernung das unschuldige Butterfass in seine einzelnen Bestandteile zerlegt hatte, war die ›Sturmbraut‹ mit vollen Segeln nach Südosten abgegangen. Dampf war bei diesem günstigen Winde nicht nötig gewesen, und um nach Australien zu kommen, mussten wir um das grüne Vorgebirge Afrikas herum.
Diese Stunde hatte Karlemann dazu benutzt, seine sämtlichen Möwen an Bord zu bringen, und wir anderen hatten die Rinder und Schweine an Bord genommen, soweit sie sich in gesalzenem und geräuchertem Zustande in Fässern befanden. Denn es waren jetzt rund siebzig Menschen mit Proviant zu versehen, weshalb auch die Wasserleitung noch einmal tüchtig hatte herhalten müssen.
Dann sei noch nachträglich erwähnt, dass Karlemann schon vorher, als ihm später die Beschäftigung mit den Möwen etwas mehr freie Zeit ließ, seine Schätze, die ich an Bord der ›Indianarwa‹ gelassen, an Land gebracht und sie mit Hilfe seiner Jungen im Gebirge vergraben hatte.
So ließen wir außer den Fässern mit Salzfleisch alles zurück, was unser dreimonatiger Fleiß geschaffen hatte. Die grüne Weizensaat und den ganzen anderen Salat — alles überließen wir dem Himmel und den Sandflöhen.
Ach, und mir war doch so leicht, so seelenvergnügt zumute, als wir die ›Sturmbraut‹ frei machten!
Doch davon will ich nicht wieder anfangen.
Wenn kein einziger Mensch als Hüter der Insel zurückblieb, dann natürlich auch Doktor Selo nicht.
Über diesen habe ich nichts weiter zu erwähnen, als dass er gänzlich wiederhergestellt war, sein kaputtgeschlagenes Bein war gut geheilt — nur, dass er niemals wieder einen Klemmer tragen konnte, weil er nämlich überhaupt keine Nase mehr besaß. Die Knüttelhiebe der Neger hatten ihm sein krummes Riechorgan eingetrieben.
Der arme Kerl tat mir leid, aber ich konnte ihm nicht helfen. Sonst hatte er sich mit seinem Schicksal ausgesöhnt, suchte sich schon, da ich ihm völlige Freiheit gewährte, nützlich zu machen, nicht nur als Arzt. Er hatte in letzter Zeit auch im Gemüsegarten brav mit geschippt. Nur in die Nähe meines Medizinschrankes und in die Küche durfte er mir nicht kommen. Meine Schiffsapotheke enthielt auch verschiedene Gifte, und ich traute dem Kunden doch nicht so ganz. Die Katze lässt vom Mausen nicht.
Seine Theorie mit den falschen Angaben, die er gezwungenerweise machen würde, wie er mir auseinandergesetzt, war unter den Knüttelhieben doch in die Brüche gegangen. Er hatte recht hübsch gestanden, wie er tatsächlich die fünf Millionen nach und nach durch Tauchen vom Meeresboden ans Tageslicht befördert und das Geld, nachdem er auch Kididimos Schmuck verkloppt hatte, in Konstantinopel auf der ottomanischen Bank deponiert habe. Das hielt der praktische und nüchterne Mann für sicherer als alles Versenken und Vergraben.
Da er nun mir gegenüber dasselbe wiederholte, auch angab, auf welch raffinierte Weise er dafür gesorgt habe, dass er das verzinslich angelegte Geld von der Bank abheben könne, ohne sich als Dieb zu kompromittieren, so zweifelte ich auch gar nicht daran, dass wir unser Geld wirklich auf der ottomanischen Bank in Konstantinopel hatten.
Aber ich dachte gar nicht daran, deswegen Schritte zu tun. Was machte ich mir aus lumpigen fünf Millionen! Ganz abgesehen davon, dass ja auch ich mich nur stark kompromittieren konnte, wenn ich mich etwa nach Konstantinopel begab — kompromittieren bis zum Galgen.
Vielmehr ging ich stark mit dem Gedanken um, den unglücklichen Schiffsarzt laufen zu lassen. Ich hätte dem armen Kerl gern die fünf Millionen als Ersatz für seine abhanden gekommene Nase geschenkt, wenn nur nicht das Geheimnis mit der Fucusinsel gewesen wäre. Das war der wunde Punkt bei der Sache. Denn in gewissem Sinne war diese Fucusinsel doch unersetzlich, zum Beispiel, wenn die ›Sturmbraut‹ einmal reparaturbedürftig sein sollte. Das Schwesterschiff der ›Great Eastern‹ besaß eine vollkommen eingerichtete Werkstätte, selbst solche Eisenplatten, aus denen die ›Sturmbraut‹ bestand, konnten darin gehobelt werden, und die riesigen Winden konnten sogar die ganze ›Sturmbraut‹ aus dem Wasser heben, dass sie also wie im Trockendock lag. Für ganz aufmerksame und kritische Leser bemerke ich hierbei, dass nur die großen Treibmaschinen so durch Säuren und auf andere Weise unbrauchbar gemacht worden waren, nicht aber die Hilfsmaschinen, an Bord Donkeys genannt, Esel, deren der ›Great Eastern‹ wie die ›Indianarwa‹ nicht weniger als sechzehn zählte, zum Betriebe der Winden, der Bootskräne, der Fahrstühle usw. usw. Ich wollte hierbei nur einmal zeigen, dass ich nichts vergesse; sonst aber will ich nicht immer so umständlich werden.
Da musste also wohl Doktor Selo bei mir an Bord bleiben, bis wir einmal alle zusammen auf den Meeresboden hinabschaukelten oder unisono gen Himmel flogen.
Und dasselbe galt von Blodwen.
Ja, Blodwen, Blodwen! Die machte mir viel Kopf- und leider auch Seelenschmerzen. Warum die letzteren, das will ich hier lieber nicht erörtern. Meine Feder sträubt sich vor Scham — vor Scham über meine Schwäche. Der Leser weiß... und genug davon!
Wir hatten seit dem Verlassen der Osterinsel kein Wort mehr gewechselt. Wie sie auf der Insel gelebt, oder vielmehr in ihren Kabinen an Bord der ›Indianarwa‹, habe ich schon oft gesagt, und ich hätte Karlemann auch wirklich nichts anderes erzählen können.
Wenn eine Verständigung wegen irgendeiner Sache doch einmal unbedingt nötig war, so machte Goliath den Vermittler, der sie auch sonst versorgte.
So hatte ich ihr als Aufenthaltsort ihre früheren Kabinen auf der ›Sturmbraut‹ angeboten. Sie hatte abgelehnt, bezog die, in welcher früher Atlanta — deren Abwesenheit mir viel weniger Seelenschmerzen bereitete — gehaust. Dann war Blodwen nach ihrem Wunsche auf die ›Indianarwa‹ übergesiedelt. Mir ganz recht. Und dann, als ich durch Goliath die Aufforderung an sie ergehen ließ, war sie diesem, schweigend wie immer, an Bord der zur Abfahrt bereitliegenden ›Sturmbraut‹ gefolgt, aber wiederum ihre früheren Kabinen, die ich ihr abermals anbieten ließ, zurückweisend.
Dachte sie, die jetzt einer büßenden Magdalena glich, etwa daran, dass sie diese Kabinen nur beziehen würde, wenn unser ehemaliges Verhältnis wieder eingetreten wäre?
Ha, da dachte sie nun freilich falsch! So denken konnte sie es sich ja, aber sie würde vergeblich hoffen. Meine Seelenschmerzen waren ganz anderer Art.
»Herr Kapitän, wenn ich Sie einmal in der Kajüte sprechen könnte!«
Ich fuhr aus meinen Träumen empor, die mich auf der Kommandobrücke beschäftigt hatten — eben mit all diesen Dingen.
Ich folgte meinem Kommodore in die Kajüte.
»Ich habe soeben mit Lady Blodwen ein langes Gespräch gehabt.«
Draußen war der heiterste Himmel, und hier drinnen schlug bei mir der Blitz ein.
»Mit Blodwen?! Ein Gespräch?!«
»Ja. Ich habe sie gefragt, wo sie ihr Geld angelegt hat.«
Ein rätselhafter Mensch! Außerhalb jeder Berechnung! Kümmert sich absolut um nichts weiter als um seine Bücher, und mit einem Male hat er Interesse für fremde Geldangelegenheiten.
»Aha!«, machte ich, schon etwas erleichtert, aber noch nicht ganz.
»Sie hat die dreißig Millionen Dollar, welche sie von dem Maharadscha oder wohl richtiger von dem Grafen Axel erhielt, gegen jenen Brief der Lady Stanhope, bei der New Yorker Bodenkreditgesellschaft niedergelegt.«
Dieser Mann, der nie eine Frage gestellt hatte, war doch über alles orientiert! Natürlich, sollte er auch nicht, der gehörte doch mit zu jener geheimnisvollen Gesellschaft, hatte ja sogar die Nummer eins auf seinem Kopfe!
»Aha!«, machte ich nochmals, und ich gedachte dabei zu bleiben.
»Kennen Sie die New Yorker Grundstücksverhältnisse?«
»Nein«, musste ich meinem gefassten Entschlusse zunächst doch untreu werden.
»Der Kurs ist ein sehr hoher, die eingezahlten Depositen werden zu fünf Prozent verzinst, und die New Yorker Bodenkreditgesellschaft ist gut, über jeden Zweifel erhaben.«
»Aha!«
»Die festgelegten Gelder werden gleich auf ein Jahr im Voraus verzinst, und so hat Lady Blodwen schon anderthalb Millonen Dollar bekommen, dann hatte sie sonst noch etwas, und mehr hat sie bisher auch nicht verbraucht.«
Ich begann mich doch etwas zu interessieren, blieb aber doch zunächst meinem ›Aha!‹ treu.
»Sie hat«, fuhr Tischkoff fort, »dieses Geld nur für ein Jahr eingezahlt, also gewissermaßen gleich wieder gekündigt. So werden die dreißig Millionen Dollar am ersten April nächstes Jahr wieder frei.«
»Aha!«
»Das ist in einem halben Jahre.«
»Jawohl, das stimmt.«
»Dann muss Lady Blodwen das Geld abheben oder sonst weiter darüber disponieren.«
»Und wenn sie es nicht tut?«, wurde ich jetzt doch aufmerksamer, so wenig ich mich auch sonst für Geld und dergleichen interessiere.
»Dann wird sie durch öffentliche Aufrufe dazu aufgefordert, sich zu melden.«
»Und wenn sie sich nicht meldet?«
»Dann gilt sie nach fünf Jahren als verschollen — aber unter gewissen Verhältnissen können die Erben schon vorher ihre Rechte geltend machen.«
Da zuckte ich doch etwas zusammen.
»Und wer sind diese Erben?«
»Selbstverständlich eben wieder jene vier: Lord Hektor, Lord James, Baron Ralph und Lady Marion.«
»Verflucht, das wäre eine nette Geschichte! Das möchte ich dem armen Weibe wirklich nicht antun«, brummte ich, ganz in Gedanken versunken, mir allerlei Möglichkeiten ausmalend, bis ich wieder Tischkoff mir gegenübersitzen sah. »Nun, darüber vergehen ja noch fünf Jahre, das ist eine lange Zeit, und wenn sich die dreißig Millionen unterdessen auch nicht verzinsen, was macht das?«
»Ja, so sprechen Sie. Aber, wie gesagt, die Erben brauchen gar nicht die fünf Jahre abzuwarten.«
»Wieso nicht?«
»Nun, sie bringen eben die Beweise, dass Lady Blodwen schon tot ist. Wenigstens einen indirekten Beweis. Lady Blodwen hat sich in das unterirdische Labyrinth der Osterinsel begeben und ist nicht wieder zum Vorschein gekommen, ist darin verschwunden. Das können doch viele Menschen bezeugen. Und wie soll sie denn die einsame Insel verlassen haben? Aus welchem Grunde? Sie muss unbedingt ihren Tod gefunden haben. Dem kann man ja auch noch etwas nachhelfen — besonders, wenn es sich um dreißig Millionen Dollar handelt, tun gewisse und gewissenlose Menschen so etwas gern. Auf der Insel sind wilde Raubtiere gehalten worden — wie leicht kann da eines entspringen — es kommt in jenes Labyrinth hinein — man kann ja auch noch ein bisschen mehr nachhelfen — ein Skelett wird gefunden — mit langen, goldblonden Haaren — ein blutbeflecktes Kleid, das unbedingt die Lady getragen haben muss — die meisten Menschen schwören nicht einmal einen Meineid, wenn sie das behaupten, sie unterliegen der fremden Suggestion. Nun, dann kann die Erbschaft doch gleich angetreten werden.«
»Ja, aber Blodwen lebt doch noch, sie befindet sich bei mir an Bord.«
»So?«, entgegnete Tischkoff mit leisem Spott. »Wie wollen Sie denn das beweisen, wie das überhaupt machen? Wollen Sie die Lady etwa persönlich den Gerichten vorführen? Oder wollen Sie weit draußen, noch außerhalb der Hafenkanonen, auf dem Meere liegen bleiben, dass man sich durch das Fernrohr davon überzeugt, wie Sie die Lady Blodwen noch lebendig an Bord haben? Sie denken wirklich daran, in dieser Hinsicht mit den vier englischen Aristokraten den Kampf aufnehmen zu wollen?«
Ich ließ den Kopf hängen. Tischkoff hatte recht. Und so wenig ich auch sonst vom Gelde hielt — diese dreißig Millionen auch noch in die Hände jener Subjekte fallen zu sehen — denn weiter waren sie nichts für mich, trotz alledem, wenn ich auch damals ihr Leben schützen wollte, man lässt ja doch auch kein Tier misshandeln — — nein, das hätte ich nimmermehr Blodwen antun mögen, so lange ich es verhindern konnte.
»Ja, wie aber ist das dann zu verhindern?«
»Da gestatten Sie mir zunächst eine andere Frage: Mit welchem Rechte halten Sie die Dame eigentlich gefangen?«
Ich war zuerst ganz baff.
»Mit welchem Rechte? Nun, weil — weil — weil sie das mit der Fucusinsel verknüpfte Geheimnis verraten könnte.«
»Das nennen Sie ein Recht? Können Sie das vor irgendeinem Richter verantworten? Vor Ihrem eigenen Gewissen?«
Erst starrte ich den Sprecher an, und dann fuhr ich empor.
»Nein, nein«, sagte ich hastig, »das ist auch der allergeringste Grund, so egoistisch bin ich gar nicht, und wenn ich die Fucusinsel nie wieder aufsuchen könnte, so mache ich mir daraus gar nichts. Aber haben Sie denn nicht selbst gesagt, dass dieses Weib, welches Neigung zu unnatürlichen Gelüsten zeigt, unschädlich gemacht werden, von der Erde verschwinden müsste? Ohne natürlich dabei an einen Mord zu denken.«
»Gewiss«, nickte Tischkoff zustimmend, »ich kann diese Gefangenhaltung vor meinem Gewissen verantworten, und für Sie ist das so selbstverständlich, dass Sie darüber gar keine Worte finden, obgleich Sie sich vor keinem irdischen Richter rechtfertigen könnten. Nun wohl, dann aber verliert sie ihr Vermögen.«
»Mag sie«, sagte ich jetzt entschieden, »es ist auch ganz gut so, sie würde es ja doch nur zu Torheiten gebrauchen, sogar zu noch viel schlimmeren Sachen missbrauchen, wie wir es auf der Osterinsel gesehen haben.«
»Aber bei ihren Verwandten ist es auch nicht in den rechten Händen, während doch mit dieser ungeheueren Summe so viel Gutes gestiftet werden könnte — Witwen- und Waisenhäuser und dergleichen.«
»Ich kann nichts dazu tun.«
»Doch, Sie können etwas dazu tun.«
»Was?«
»Ich wüsste ein Mittel, wie Sie selbst in den Besitz dieses Geldes gelangen könnten.«
»Ich?«
»Ja, Sie.«
»Nun?«
»So heiraten Sie Lady Blodwen doch.«
Vorhin war es nur ein Blitz gewesen, der mich hier in der Kajüte getroffen hatte — jetzt hörte ich auch den Donner in meinen Ohren widerhallen.
Und dann fuhr ich wie von einer Natter gestochen empor.
»Das hat Blodwen selbst Ihnen gesagt?!«
»O nein.«
»Hat sie Sie nicht beauftragt, dass Sie mir diesen Vorschlag machen sollen?«
»Mit keinem Worte. Wir haben ganz einfach nur von jenen Vermögensverhältnissen gesprochen, und nur ich war immer der Frager. Blodwen selbst denkt jedenfalls gar nicht an solch eine Möglichkeit. Das entspringt ganz meiner eigenen Initiative.«
Da war ich ebenso schnell wieder beruhigt. Was konnte Blodwen dafür, wenn dieser Mann solche Gedanken hegte?
»Niemals!«
»Überlegen Sie sich die Sache. Es braucht ja nur eine Scheinehe zu sein, wenn natürlich auch rechtskräftig abgeschlossen...«
»Niemals!«
»Dann können Sie am nächsten ersten April über diese ungeheuere Summe verfügen...«
»Ja, wie soll ich die denn erheben, in New York, ich, der steckbrieflich verfolgte Desperado!«
»Das ist Ihre Sache. Und Sie würden die Mittel dazu schon finden. Gerade, weil Sie sich im Grunde genommen doch ganz unschuldig fühlen — ich bin der festen Überzeugung, dass man Ihnen das Geld Ihrer Frau nicht lange vorenthalten könnte, und da stehe ich als ein Mensch, der sich auf Grund seiner freien Ansichten ebenfalls außerhalb der Gesetze dieser Welt gestellt hat, voll und ganz auf Ihrer Seite. Heiraten Sie die Lady, das ist das allereinfachste.«
»Niemals!«
»Ich will dies nicht als Ihr letztes Wort gelten lassen. Überlegen Sie sich die Sache.«
Tischkoff ging.
Und ich — ja, ich überlegte mir die Sache. Ich grübelte wenigstens darüber nach.
Grübelte darüber sechs Wochen lang nach, bis wir schon in der Nähe des australischen Kontinents waren.
Ich weiß nicht — und wenn ich von einem noch so scheußlichen Verbrechen höre, das in mir jeden Nerv vor Entrüstung zittern macht — hinterher suche ich für das menschliche Scheusal doch stets nach einer Entschuldigung.
Ist das eine Charakterschwäche? Ach, fast möchte ich wünschen, dass jeder Mensch wenigstens diese eine Schwäche mit mir teilen möchte! Sonst bezeichne ich mich ja immer selbst als ein langes Laster, an dem wenig Gutes ist.
Tatwam asi, das bist du selbst — sagt der buddhistische Inder, wenn er ein Tier martern oder nur schlachten sieht, wenn er von einem menschlichen Verbrechen hört.
Etwas Ähnliches haben wir ja auch in unserer Religion, und ich, der manchmal so gotteslästerlich flucht, lese hin und wieder auch noch gern in der Bibel.
Wir sind allzumal Sünder — richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.
Aber ich finde dieses ›Tatwam asi‹ des Inders noch bei Weitem schöner.
Wir alle haben ein und dasselbe Fleisch und Blut, wir alle haben ein und denselben göttlichen Atem, und die individuelle Separierung entspringt nur dem Egoismus, welcher aus dieser Erde, die ein Paradies sein könnte, ein Jammertal gemacht hat.
Der Tiger ist nur deshalb blutdürstig, weil wir hartherzig über die Leiber und über die Seelen unserer Mitmenschen dahinschreiten.
Wer das fühlt, versteht es. Anders als mit dem Herzen ist es nicht zu verstehen.
Ich habe dieses buddhistische ›Tatwam asi‹ schon verstanden, die herrliche und doch so furchtbare Wahrheit dieses Wortes schon kapiert, als ich noch ein Kind war. Mir ganz unbewusst.
Und wie oft habe ich darüber auf einsamer Nachtwache nachgedacht, und immer klarer ward mir diese Wahrheit.
Und auch bei Blodwen angewandt — was hatte sie denn so Ungeheuerliches verbrochen?
Sie hatte Menschen gegeneinander gehetzt, hatte einen Dieb, der ihr Eigentum gestohlen, zum Krüppel schlagen lassen. — Konnte sie denn etwas dafür? War sie denn dafür verantwortlich zu machen?
War das nicht vielmehr allein die Schuld ihrer Erzieher, die das zarte Mädchen hinter Mauern hatten aufwachsen lassen, jedem ihrer Wünsche willfahrend, ihr selbst die Peitsche zum Gebrauch gegen Sklaven in die Hand gebend?
Und hatte Blodwen nicht oft genug auch ein großes, edles, mitfühlendes Herz gezeigt?
Wie sie geweint hatte, als damals auf dem Sklavenschiff die Weiber von ihren ausgestandenen Qualen erzählten!
Und nun saß dieses arme Weib Tag und Nacht in ihrer engen Kabine, wahrscheinlich harrend, hoffend, nämlich auf das erlösende Wort von mir!
Ja, ich bemitleidete sie aufrichtig!
Nur eins war es, was ich ihr nicht verzeihen konnte.
Hätte sie nur ein einziges Mal Verlangen nach ihrem Kinde...
»Herr Kapitän, die Lady lässt fragen, ob Sie ihr eine Unterredung gestatten würden.«
Goliath war es, der mir diese Meldung brachte.
Zum allerersten Male!!
Wird der Leser glauben, dass ich Blodwen hier an Bord während dieser sechs Wochen noch mit keinem Blicke zu sehen bekommen hatte?
Auf der ›Indianarwa‹, so groß diese auch gewesen, waren wir uns oft begegnet, freilich nur, um wortlos und ohne uns anzusehen, aneinander vorüberzugehen, obgleich ich dennoch stets den unsagbar flehenden Blick gefühlt hatte — hier aber, an Bord dieses verhältnismäßig doch nur kleinen Schiffes, war Blodwen für mich einfach unsichtbar gewesen.
Sie hatte es darauf angelegt gehabt, hatte ängstlich vermieden, meinen Weg zu kreuzen.
Und nun eine Unterredung unter vier Augen! Meine Aufregung lässt sich denken. Ich musste sie mit aller Macht niederringen.
»Ich stehe in der Kajüte zu ihrer Verfügung«, sagte ich und begab mich hinab.
Sie kam — wir standen einander gegenüber. Es war ein ganz anderes Zusammentreffen, als damals in dem Hotel zu Charleston.
Wie bleich das arme Weib aussah! Sogar abgezehrt! Wie es das Taschentuch in den mager gewordenen Händen rang! Wie schuldbewusst es dastand!
Das arme, arme Weib!!
So sagte ich mir in meinem Herzen. Muss ich noch mehr andeuten, wie es in diesem meinem Herzen aussah? Es genügt wohl.
Ach, war ich, der ich schon so manchem den Lebensfaden mit kühler Überlegung abgeschnitten hatte, doch im Grunde genommen ein mitleidiger Mensch!!
»Herr Kapitän...«
Mit niedergeschlagenen Augen hatte sie es geflüstert.
Und ich konnte äußerlich so hart bleiben!
»Mylady?«
»Ich ertrage es nicht mehr!«
Jammernd hatte sie es plötzlich hervorgestoßen, aber sie war mir dabei nicht wieder zu Füßen gefallen, sondern sie hatte sich auf das Sofa geworfen und verhüllte weinend und schluchzend das Gesicht, und doch erkannte ich deutlich, wie sie sich gegen diesen Gefühlsausbruch zu wehren suchte. Aber die Füße hatten sie nicht mehr getragen, sie konnte ihrem Jammer nicht befehlen.
Und ich konnte äußerlich noch immer kalt und hart sein. Wie es in meinem Innern aussah, davon will ich nicht sprechen.
»Bitte, Mylady, nicht wieder solch eine Szene.«
Es gelang ihr, sich zu bezwingen, sich aufzurichten, sie stand wieder wie vorhin da, wie eine schuldbewusste Sünderin.
»Sie werden mich immer an Bord behalten? Wirklich für immer?«
Ich stutzte. Das hatte gar nicht danach geklungen, als wenn sie die Freiheit wünsche. Es gibt ja auch Gefangene genug, welche im Laufe der Jahre das Zuchthaus als ihr trauliches Heim lieben lernen, es gar nicht wieder verlassen wollen.
»Ja, Sie werden hier an Bord bleiben — so leid es mir auch tut, ich kann nicht anders handeln.«
»Ich danke dir — Ihnen.«
Von dem freudigsten Augenaufschlag waren diese Worte begleitet worden, jauchzend hatte es geklungen.
Ich wusste nicht mehr, was ich dazu sagen, davon denken sollte — obgleich es doch so nahe lag.
»Behandeln Sie mich wie die schwerste Zuchthäuslerin«, fuhr sie in demselben jauchzenden oder doch vor Freude zitternden Tone fort, »geben Sie mir nur Wasser und Brot, schlagen Sie mich — ja, schlagen Sie mich mit der Peitsche — täglich — dass mir das Blut...«
»Blodwen, was fällt dir ein!«, fiel ich jetzt aus der Rolle, während schon mein Herz zu bluten begann. »Was traust du mir zu?«
»Ich habe es verdient.«
»Nicht, dass ich wüsste!«
»Doch, ich habe es verdient. Ich bin wirklich ein ganz schlechtes Weib...«
»Nein, Blodwen, das bist du nicht.«
»Nicht?!«
»Nein, ich habe für dich eine Entschuldigung gefunden.«
Und ich begann davon zu sprechen, was ich während der sechs Wochen gedacht hatte, von ihrer falschen Erziehung usw. — kurz, ich suchte ihre Grausamkeiten zu entschuldigen.
Aufmerksam hatte sie mir zugehört, aber gerade jetzt war nichts mehr von Freude bei ihr zu bemerken, sie schien im Gegenteil nur traurig zu werden.
»Sie haben recht — ich habe Neigung zur Grausamkeit — sie ist mir von Jugend an eingeimpft worden — aber wenn Sie dies auch als Entschuldigung gelten lassen, so darf ich doch eben deswegen nicht wieder frei sein, darf kein Geld mehr haben...«
»Nein, Blodwen, das darfst du allerdings nicht.«
»Nun, so bleibe ich eben hier an Bord als Gefangene.«
»Du sollst den Verlust deiner Freiheit nicht empfinden.«
»Wenn ich nur die gleiche Luft mit Ihnen atmen kann!«, schlug sie jetzt schon einen anderen Ton an.
Ich antwortete nicht, wirr jagten mir die Gedanken durch den Kopf, während ich das so demütig dastehende Weib mit mitleidigen Blicken betrachtete.
Ja, warum sollte ich sie nicht glücklich machen, ohne die über sie erlangte Macht wieder aus den Händen zu geben?
»Wenn Sie mir nur noch eine einzige Bitte erfüllen würden«, nahm sie wieder das Wort, und ängstlicher als je blickten ihre blauen Augen auf mich.
»Was für eine Bitte?«
»Mein Kind ist in New York — ach, und ich sehne mich so nach...«
Erschrocken brach sie ab, denn mit einem großen Schritte war ich vor sie hingetreten.
»Du hast Sehnsucht nach deinem — nach unserem Kinde?«
»Ja.«
»Du möchtest es mit hier an Bord haben?«
»Ja, ach ja!!«, erklang es jetzt mit hellem Jauchzen, noch ganz anders als vorhin.
»Blodwen, soll ich dich heiraten?«
Ihr Auge erstarrte, während ein ungläubiges und doch schon seliges Lächeln sich in ihrem Antlitz ausprägte.
»Mich — heiraten?!«
»Ja, höre mich an, Blodwen! Wir werden...«
Ich wurde durch den Eintritt Mahlsdorfs unterbrochen.
»Herr Kapitän, eine wichtige Meldung, die keinen Aufschub duldet — ich beobachte schon seit längerer Zeit ein Segelschiff, einen Vollrigger, der mir steuerlos zu sein scheint — ich änderte etwas den Kurs, um mehr in die Nähe zu kommen — Flaggen werden nicht gezeigt, kein Mann ist an Deck zu sehen, aber eine Menge von Frauenspersonen, welche uns heftig winken, ihr Rufen ist noch unverständlich...«
Ich war bereits an Deck.
Ein Kilometer nördlich von uns entfernt trieb auf der nur sehr mäßig bewegten See ein stattlicher Dreimaster, und auf den ersten Blick erkannte ich, dass er steuerlos sein musste.
Sämtliche Segel standen, aber sie fingen den steifen Nordwestwind, der nach längerer Windstille seit einigen Stunden aufgekommen war, nicht ab, vielmehr fingen sie Fledermäuse, wie der Seemann sagt, wenn das Schiff aus dem Wind kommt und die Segel ohnmächtig gegen die Rahen und Taue klatschen. Wenn das Schiff über Stag oder durch den Wind geht, also beim Wenden oder Halsen, muss dieser Zustand stets einmal eintreten, sollen nicht erst alle Segel festgemacht werden, und man sucht diesen Zeitpunkt möglichst abzukürzen, denn es ist ein gefährlicher, und ein steuerloses Schiff, bei dem alle Segel stehen, kann sehr leicht kentern.
Wie Mahlsdorf gesagt, war kein einziger Mann zu sehen, dagegen standen an der Bordwand in dichter Reihe eine Menge Weiber, welche mit weißen Tüchern nach uns winkten, und schon mit bloßen Augen war zu erkennen, dass sie sämtlich die gleiche braune Kutte trugen, über dem Kopfe eine weiße Kapuze, und durch das Fernrohr konnte man auch die verzweifelten Gesichter erkennen.
Einige von ihnen waren um das Steuerrad bemüht, ohne Erfolg, sie schienen die Sache nur noch schlimmer zu machen.
»Das sind Nonnen!«
»Oder doch barmherzige Schwestern.«
»Wo mag denn nur die Mannschaft sein?«
Ich machte diesen Erwägungen dadurch ein Ende, dass ich Kommandos gab, um die ›Sturmbraut‹ aus dem Wind zu bringen, und gleichzeitig den größten Kutter aussetzen ließ.
Seit wir uns im Verfolgungs- oder auch im Kriegszustand befanden, hielt ich zwar stets auf volle Dampfspannung, auch wenn wir den günstigen Wind mit Segeln ausnutzten, aber einige Zeit wäre doch vergangen, ehe die ›Sturmbraut‹ dampfen konnte, unterdessen war schon längst ein Boot dort, und das größte Boot wählte ich, weil ich mir sofort sagte, dass dort drüben doch offenbar seetüchtige Männer gebraucht würden. Deshalb ließ ich auch gleich den auf Freiwache befindlichen Steuermann Martin aus der Koje holen, überhaupt die ganze Freiwache, und wer keine Zeit mehr hatte, in die Hosen zu kommen, der ging eben in Unterbuxen mit.
Mit acht Matrosen, Goliath und Martin, denen sich auch Karlemann zugesellte, welch letzteren drei ebenfalls mit rudern mussten, während ich das Steuer führte, ging es fort, und in fünf Minuten waren wir in Rufweite des in ganz gefährlicher Weise schlingernden Schiffes, Wasserschöpfen über die Bordwand tat es allerdings noch nicht, aber immerhin, bei diesem Seegang und diesem stetigen Winde durfte ein Schiff, wie es bei unsere ›Sturmbraut‹ der Fall war, nur ein klein wenig gleichmäßig nach beiden Seiten pendeln, und dieses hier schlug ganz mordsmäßig hin und her, die Nase nach allen Seiten richtend.
Jedenfalls hatten wir so keine Möglichkeit, vom Boot an Deck zu kommen, wir wären zersplittert, zumal uns alle Hilfe von oben fehlen würde.
»Ruder backbord, hart backbord!!!«, schrie ich, und dann übersetzte ich in der Sprache der Landratten: »Haltet das Steuerrad fest, dreht es nach links, immer mehr nach links!!«
Ich wurde verstanden, sie befolgten die Weisung, wie man gleich erkennen konnte, weil das Schiff stetiger wurde, und bei diesem Seegange mussten, wenn dort sonst alles in Ordnung war, auch schon zwei zarte Mädchen genügen, um das Ruder zu beherrschen.
Jetzt konnten wir dicht heranrudern. Über die Bordwand lugten die weißen Kapuzen auf uns herab.
»Der Kapitän und alle Matrosen liegen im Sterben!«, jammerten diese in englischer Sprache.
Zunächst aber hatte ich an anderes zu denken.
»Lasst das Fallreep herab — oder nur ein Tau, ein Seil — schlingt es um die Koffeynägel — um die eisernen oder hölzernen Nägel — um die Stöcke, die ihr in der Bordwand seht!«
Die weißen Kapuzen verschwanden und kamen wieder, und endlich erschien auch ein... Bindfaden, der langsam herabgelassen wurde.
Na, ich brachte ihnen doch noch bei, dass es ein etwas stärkerer Bindfaden sein müsse, und endlich hatte ich denn auch ein festeres Ende zwischen meinen Händen.
»Seht Euch vor, Käpt'n«, warnte Goliath, als ich mich gleich in die Höhe schwingen wollte — und richtig, ich stürzte auch sofort wieder herab, mir nach polterte das ganze Tau, das oben nicht genügend oder überhaupt gar nicht befestigt gewesen war.
Schließlich aber wurden die Frauenzimmer doch damit fertig, und als ich einmal oben war, verbesserte ich den Halt, und bis auf zwei Matrosen folgten mir alle wie die Katzen nach.
Einige Dutzend Nonnen oder barmherzige Schwestern, vielleicht auch hundert, die auf mich einschnatterten — ich ließ sie zunächst schnattern, sprang nach dem Steuerrad, an das sich krampfhaft ein halbes Dutzend Weiber klammerte, schob diese beiseite und gab von hier aus Kommandos, ließ die Brassen bedienen, und in zehn Minuten hatte ich das Schiff in der Gewalt, es gehorchte wieder dem menschlichen Willen.
Jetzt, nachdem ich einen Matrosen ans Rad gestellt hatte, konnte ich meine Aufmerksamkeit den Weiblein widmen.
Dunkelbraune Kutten und weiße Kapuzen, um die wenig eingeschnürten Hüften einen Strick, aber recht zierlich geflochten, an den Füßen Schuhe, und zwar durchaus keine plumpen, sondern ganz manierliche — alte Schachteln waren wohl dabei, aber ich sah auch recht annehmbare und sogar recht hübsche Gesichter in Menge, und vor allen Dingen war hier nichts zu bemerken von abgezehrten, blassen Mienen, die den Tod zu rufen schienen — wie man sie doch gewöhnlich bei Nonnen, barmherzigen und anderen Betschwestern findet — ganz im Gegenteil, die meisten zeigten blühende Gesichter und wohlgerundete Gestalten, selbst die älteren Nummern.
»Na, was ist denn hier eigentlich los? Wo ist die seemännische Besatzung?«
Eine Frau mittleren Alters, die über einen ganz stattlichen Schmerbauch verfügte — etwas anderes wollte ich unter der Kutte der Frömmigkeit und Weltentsagung nicht vermuten, sie hatte ja auch ebensolche aufgeblasene Pausbacken, gleichfalls von Gesundheit gerötet — machte sich bemerkbar, hatte aber Mühe, erst die anderen zu beruhigen, die alle gleichzeitig mir erzählen wollten.
»Was für ein Schiff ist das?«, begann ich mein Examen.
»Die ›Hekuba‹ von Cardiff.«
»Wo ist denn die Mannschaft?«
»Die Matrosen liegen unten — der Kapitän, die Steuerleute — im Sterben — alle, alle!«
»Was, im Sterben?!«, rief ich jetzt freilich erschrocken.
Die Priorin, wie ich sie gleich nennen will, war so vernünftig, mir mit kurzen Worten das Hauptsächlichste zu erzählen. Denn wenn jemand im Sterben liegt, und man will ihm helfen, dann hat man nicht lange Zeit.
Heute früh, vor etwa vier Stunden, hatte die Mannschaft einen großen Fisch harpuniert — einen Schweinsfisch, eine Abart des Delfins — die Beute war sofort zerlegt worden, in die Küche gewandert, die gesamte Besatzung hatte davon gegessen; eine halbe Stunde später hatte sich Erbrechen eingestellt, allgemeines Übelbefinden — jetzt wälzten sie sich alle in ihren Kojen, die sich hier im Zwischendeck befanden, in Todeskämpfen.
Von den Frauen hatte keine einzige von dem Fleische genossen, die Priorin hatte es ihnen verboten gehabt.
Dies erfuhr ich, als ich mich schon unten im Mannschaftslogis befand, auch die in der Kajüte untergebrachten Offiziere und den Kapitän besuchte. Ja, es sah bös mit ihnen aus. Der Schweinsfisch war giftig gewesen. Das Fleisch sehr vieler Seetiere zeigt manchmal giftige Eigenschaften, besonders das der Makrelen und Pricken. Noch bekannter ist, wie manchmal Austern und andere Seemuscheln giftig sind. Die Ursache dieser periodischen Giftigkeit ist noch nicht aufgeklärt. Erwähnt sei aber, dass es eine Fabel ist, Pfahlmuscheln seien kupferhaltig, weil sie sich an die kupfernen Kiele der Schiffe setzen. In solchen Muscheln, direkt von dem Kupfer abgelöst, hat der Chemiker noch nicht ein Atom von Kupfer nachweisen können. Bei Fischen und auch bei Austern trifft das übrigens ja gar nicht zu. Wahrscheinlicher hängt diese Ungenießbarkeit mit der Fortpflanzung zusammen, diese Tiere werden zur Zeit, da sie Eier tragen, giftig, und die anderen Raubtiere des Meeres wissen dies aus Instinkt, in dieser Periode verschonen sie also ihre sonstige Jagdbeute.
Die Frauen, von denen ich vorläufig noch gar nichts wusste, hatten ihr Möglichstes getan. Viel war da freilich nicht zu tun, auch jeder Arzt hätte hier ratlos dagestanden, und nicht einmal ein Brechmittel brauchte hier eingegeben zu werden, das ging alles von allein.
Goliath war es, der sich mit den Wimmernden und sich in Schmerzen Windenden beschäftigte, ihren Puls prüfte, und dann war er auch schon in der Küche gewesen und hatte nach den Resten des geschlachteten Tieres gesucht, aber nichts mehr gefunden, nur gekochtes Fleisch war noch vorhanden, welches Goliath aber gar nicht beachtete.
»Haben die Leute das übrige über Bord geworfen?«
Die Frage wurde bejaht. Einige der Frauen hatten dies beobachtet.
»Wissen Sie, ob der Delfin tragend gewesen ist?«
»Tragend?«, wiederholte die Priorin verwundert. »Was soll er denn getragen haben?«
»Hatte er ein Junges im Leibe?«
Das schon von Gesundheit gerötete Antlitz des dicken Frauenzimmers wurde noch röter, schamhaft schlug sie die Augen nieder, und diese Verlegenheit allüberall bei den herumstehenden Weiblein, und doch schien diese sittsame Scham gar nicht so allgemein echt zu sein, schon wurde ein unterdrücktes Kichern hörbar.
»Ja«, lautete dann der geflüsterte Bescheid der Priorin, »der Fisch hatte was drin, und eben deswegen ließ ich die Schwestern nicht davon essen. Die ewige Vorsehung, der wir dienen, gab es uns ein.«
»Ich dachte es mir«, sagte jetzt Goliath, »der tragende Delfin hat giftiges Fleisch — wie man so sagt. Aber schlimm ist die Sache nicht. Gestorben ist daran noch kein Mensch. In drei Tagen werden diese Kranken völlig wiederhergestellt sein, ohne jede ärztliche Kunst, die Natur hilft sich von ganz allein, aber vor zwei Tagen wird freilich auch keiner arbeitsfähig sein.«
»In zwei Tagen!«, klagte die Priorin. »Wie weit sind wir denn noch ab von Hobarttown?«
Dieser Name — mit einem Mal hatte ich eine Ideenverbindung — ganz betroffen fuhr ich empor.
Aber noch ein anderer kam mir zuvor.
»Sich mal an«, ließ sich da Karlemann in einem seiner Jargons vernehmen, von denen er eine ganze Menge sprach, »die wollten auch nach Hobarttown — da ham mir ja gleich, was wir brauchen — die hat die ewige Vorsehung uns zugeführt — die heiraten mir.«
Zum Glück schien die Priorin und auch keine der anderen diese vorlauten Bemerkungen verstanden zu haben. Karlemann hatte Deutsch gesprochen, für keinen Ausländer verständlich, wenn er sonst auch die deutsche Sprache recht gut sprechen mochte.
»Sie gehören der englischen Schwesterngesellschaft zur ewigen Vorsehung an?«, fragte ich in meiner ersten Verlegenheit.
Ein Zufall war nämlich, dass ich in diesen Verhältnissen einigen Bescheid wusste.
England ist durchaus protestantisch. Richtiger aber ist, wenn man sagt, dass England partout nichts vom Papste wissen will. Sonst nämlich hat der Ritus der englischen Hochkirche große Ähnlichkeit mit dem katholischen Zeremoniell. Nicht nur, dass die ersten Geistlichen Bischöfe heißen, sondern der Gottesdienst nähert sich wirklich in der äußeren Form sehr dem katholischen; in einigen Kirchen hat man sogar schon die Chorknaben mit den Räuchergefäßen eingeführt — nur dass noch die Ohrenbeichte fehlt.
Dann gibt es in England eine große Menge von Klöstern, allerdings nicht den Namen von solchen führend, und dann auch nur von Weibern bevölkert.
Sie nennen sich Schwestergemeinschaften oder so ähnlich, aber im Grunde genommen sind es doch richtige Klöster, abgeschlossen von aller Welt, unter einer Priorin stehend, und selbst bis zu den großen Gelübden hat man sich verstiegen — der freiwilligen Armut, der Keuschheit, des unbedingten Gehorsams gegen die Priorin und die weiteren Vorgesetzten, und das bis an sein Lebensende.
Aber diese evangelischen Nonnen Englands rekrutieren sich ausschließlich aus den höheren und höchsten Kreisen, und da kommt wiederum das eigentümliche englische Erbgesetz als Ursache in Betracht.
Was in Deutschland nur bei adligen Besitztümern in Sachen der Erbschaft gilt, hat in England allgemeine Geltung: Alle liegenden Güter und alles sonstige unbewegliche Eigentum erbt nach englischem Gesetz der erstgeborene oder vielmehr der älteste Sohn. Ist ein Haus vorhanden, vielleicht ein sehr wertvolles, das große Einkünfte bringt, aber sonst kein bares Geld, so erbt dieses Haus der älteste Sohn, der also bekommt alles, die anderen Kinder gar nichts, gehen vollständig leer aus! Eine Tochter kommt nur in Betracht, wenn sie überhaupt das einzige Kind ist.
Das mag uns seltsam vorkommen, ungerecht, sogar barbarisch — aber in England kennt man es nicht anders, man ist damit zufrieden, und der Vater muss seine Kinder eben noch bei seinen Lebzeiten versorgen.
So wird man wohl selten einmal von der großen Mitgift einer Engländerin hören. Und da sieht's also auch in den höchsten Adelskreisen faul aus. Die jungen Ladies müssen eben an einen reichen Mann gebracht werden. Aber gar so dick sind die reichen Lords und Barone doch nicht gesät, bekanntlich werden mehr Mädchen als Knaben geboren — es bleiben jedes Jahr ein paar übrig. Die können ja noch immer einen anderen reichen Mann bekommen, er braucht ja gerade keinen adligen Namen zu haben, außerdem führt die geborene Lady auch nach ihrer Heirat mit dem Minderwertigen diesen Titel und ihren Vatersnamen weiter — aber es gibt doch viele, die sich nicht so herabwürdigen wollen.
Die gehen dann mit Vorliebe, um immer in Gesellschaft von Leidensgenossinnen zu sein, in solch ein Kloster, Schwestergemeinschaft oder sonst wie genannt. Der Eintritt kostet viel Geld, da darf überhaupt nicht jede Sterbliche herein, das aber wird dann natürlich von den Verwandten bezahlt. Dann ist man das weibliche Anhängsel mit allem Anstand ein für allemal los.
Um den Eintritt und die ganze Sache noch schmackhafter zu machen, hat man diesen evangelischen Nonnenklöstern von Staats wegen große Privilegien gewährt, die Mitglieder genießen das höchste Ansehen — meistenteils ganz unverdient. Es gibt ja welche, die sich der Krankenpflege, der Kindererziehung oder dergleichen edlen Beschäftigungen widmen, mehr noch aber geben sie sich einfach der Faulenzerei hin, fertigen höchstens, um der Sache doch einen frommen Anstrich zu geben, Strümpfe und wollene Unterkleider für arme Missionskinder und plärren dazu Gebete.
Das war auch bei der Schwestergemeinschaft zur oder der ewigen Vorsehung der Fall, von der ich zufällig einmal gehört hatte. Es gab in England mehrere ihrer Klöster, die einem Bischof unterstellt waren und ebenso ganz unverdientermaßen das höchste Ansehen genossen.
Die kranke Mannschaft, aus Kapitän, zwei Steuerleuten, Bootsmann, Segelmacher, Zimmermann, Koch, Steward und elf Matrosen bestehend, befand sich unter Goliaths Aufsicht; ich hatte die Priorin nach der Kajüte gebeten, wo ich sie näher ausforschen wollte. Dass ihr noch zwei ältere Kuttenträgerinnen gefolgt waren, hatte ich nicht hindern können; auch Karlemann wollte dabei sein, während meine anderen Leute an Deck zu tun hatten.
»Wie darf ich Sie anreden?«, eröffnete ich das Gespräch.
»Ich bin die Priorin der Schwestergemeinschaft zur ewigen Vorsehung, welche ihren Sitz bei Manchester hat«, lautete der erste Bescheid.
Dann aber wurde sie doch persönlicher, und ich erfuhr, dass ich keine Geringere als die Schwester des Herzogs von Manchester vor mir hatte, und unter den vierundachtzig Schwestern, die sich hier an Bord befanden, waren nur zwei, welche im bürgerlichen Leben keinen Anspruch auf den Titel ›Lady‹ machen durften. Sonst lauter aristokratisches Blut, mehr oder minder blau.
Ich erfuhr weiter Folgendes:
Die Schwestergemeinschaften zur ewigen Vorsehung hatten auf einer Synode, oder wie man so eine kirchliche Versammlung nennt, beschlossen, ihre segensreiche Wirksamkeit fernerhin von der Heimat auch aufs Ausland, zunächst auf die englischen Kolonien, zu erstrecken.
Die ewige Vorsehung wurde befragt, d. h. Gott. Auf welche Weise? Durch das Los! Denn diese Schwestergemeinschaft entscheidet alles und jedes durch das Los, ebenso wie z. B. bei uns die Brüdergemeinde der Herrenhuter, vor welcher ich übrigens durch verschiedene Gelegenheiten die größte Hochachtung gewonnen habe.
Auf Zettelchen wurden die einzelnen englischen Kolonien geschrieben: Kanada, Ostindien, Australien, Südafrika — dann aber auch alle kleineren Inseln, wie Malta, Ascension — keine einzige wurde vergessen, und wenn es auch nur eine Felsenklippe gewesen wäre, auf die England Anspruch machte — und es waren mehr denn hundert zusammengefaltete Zettel geworden, welche in die Urne geworfen wurden, und nach einem vorangegangenen Gebet zur göttlichen Vorsehung zog der die Synode leitende Lordbischof einen Zettel heraus.
Dieser hatte das Wort ›Australien‹ enthalten.
So, das war das erste gewesen. Die Vorsehung hatte Australien bestimmt. Aber Australien ist groß. Es wurde eingeteilt in Süd, West- und Nordaustralien, in Alexanderland, Viktoria usw., wie man diese Einteilung in Gouvernements auf der Karte sieht, auch die größeren bewohnten Inseln wurden nicht vergessen — und nach dem vorangegangenen Gebet zur göttlichen Vorsehung zog der Lordbischof den Zettel mit Tasmania.
Ja, da war die Vorsehung mit den frommen Schwestern sehr gnädig gewesen! Sie hätte sie doch ebenso gut ins Innere von Australien schicken können, wo es nichts weiter gibt als wilde Eingeborene, Kängurus und Dingos, während Tasmania eine vollständig kultivierte Insel ist, die den doch immerhin verwöhnten Damen jegliche Bequemlichkeit bot.
Nun musste aber der zukünftige Wohnort immer noch näher spezialisiert werden; denn Tasmania ist eine sehr große Insel.
Also auch die einzelnen Städte wurden aufgeschrieben, der Lordbischof zog wieder das Los und — o Glück! — die ewige Vorsehung hatte für ihre Dienerinnen gerade die große Hafenstadt Hobarttown bestimmt, wo man überhaupt nichts zu vermissen braucht. —
So weit war die Priorin mit ihrer Erzählung gekommen, als sich der aufmerksam zuhörende Karlemann einmal einmischte.
»Ob der Lordbischof nicht schon immer wusste, welches Zettelchen er ziehen würde? Vielleicht hatte er sich ein fühlbares Zeichen drangemacht.«
Eigentlich hatte der Junge gleich eins auf sein schnoddriges Maul verdient! Ich hatte ja schon einen ähnlichen Gedanken gehabt, aber...
Nun, die drei frommen Schwestern achteten nicht dieser ungezogenen Bemerkung, die Priorin fuhr fort mit ihrer Erzählung, und ich bekam etwas zu hören, wonach ich meinen eigenen Verdacht zurückweisen musste.
Also Erdteil, Land und Stadt waren für das zukünftige Kloster von der Vorsehung bestimmt, wegen Straße und Hausnummer wollte man noch nicht anfragen, so penibel brauchte man nicht zu sein.
Nun aber existierten in England vier solcher Klöster. Welches sollte da auswandern?
Das bei Manchester stationierte.
Alle Schwestern dieses Klosters sollten nach Tasmania gehen oder nur ein Teil?
Alle, antwortete die ewige Vorsehung.
Diese Fragerei ging immer weiter, schließlich dennoch bis ins Kleinste.
Sollen wir einen Dampfer oder ein Segelschiff benutzen?
Ein Segelschiff, antwortete die ewige Vorsehung durch das gezogene Los.
Noch in diesem Jahre? Ja oder nein.
Ja.
Noch in dieser Woche?
Nein.
Noch in diesem Monat?
Nein.
Im nächsten Monat?
Ja.
In der ersten, zweiten, dritten, vierten Woche?
In der ersten Woche.
So wurde die Abfahrt bis zum Tage bestimmt. Die Stunde wollte man doch lieber dem Kapitän überlassen, wegen der Ebbe und Flut, womit die Vorsehung doch vielleicht nicht so genau Bescheid wusste. (Das heißt, ich möchte hier durchaus nicht spöttisch werden. Ich spotte überhaupt niemals über religiöse Ansichten, mögen diese auch noch so roh oder doch plump sein. Freilich rutscht einem die Feder ja doch manchmal aus — ich schiebe das frisch ebenfalls der ewigen Vorsehung in die Schuhe.)
Von wo soll die Abreise von England stattfinden? war die nächste Frage.
Aus allen größeren Häfen ließ die Vorsehung ›Cardiff‹ ziehen. So ging das weiter, bis das in Cardiff liegende Vollschiff ›Hekuba‹ als dasjenige bestimmt wurde, welches die vierundachtzig Insassen des Klosters von Manchester nach Tasmania zu bringen hatte.
Das passte auch alles ganz vortrefflich: Denn die ›Hekuba‹ lag in Cardiff, um Kohlen nach Kapstadt zu nehmen, und Südafrika musste doch sowieso umsegelt werden, und man brauchte das große Segelschiff auch von da aus nicht besonders als Passagierschiff zu chartern — was schweres Geld gekostet hätte, das allerdings nicht viel zu sagen gehabt hätte: Denn dieses Kloster verfügte über Millionen, größtenteils durch fromme Stiftungen zusammengebracht — in Kapstadt bekam der Segler leicht Fracht für Tasmania, direkt nach Hobarttown.
So war es denn auch alles geschehen. Vier Monate waren die frommen Schwestern bereits unterwegs, jetzt näherten sie sich ihrem Ziele, als die ganze Mannschaft so schwer erkrankte. Unser Schiff war das erste gewesen, welches die hilflosen Schwestern in Sicht bekommen hatten. — — —
Man mag nun über dieses Befragen der ewigen Vorsehung und über das Befolgen der Losentscheidung denken wie man will — gehorsam und treu ihren Prinzipien waren die evangelischen Nonnen jedenfalls gewesen, hatten sich deshalb zahllosen Unannehmlichkeiten willig unterzogen.
Man bedenke doch nur: Mit einem Dampfer hätten sie eine bei Weitem schnellere und bequemere Reise gehabt — nein, die Vorsehung hatte bestimmt, dass sie sich ganz allein, ohne jede männliche Begleitung — das heißt, eine solche, die ihnen schon bekannt war — einem Segelschiffe, einem ganz fremden Kapitän und seiner Mannschaft, rohen Matrosen, anvertrauen sollten, und ohne Zögern hatten die vierundachtzig schüchternen Jungfrauen gehorcht.
Wie gesagt — jeder mag hierüber denken, wie er will — ich für mein Teil achte so etwas in gewissem Sinne hoch. Es wird eben jeder nach seinem Geschmacke selig, ich habe nichts dagegen.
Diese Schilderung der Priorin hatte höchstens eine Viertelstunde gewährt, ich hatte während dieser Zeit nicht die Kajüte zu verlassen brauchen, meine Leute wurden an Deck ohne mich fertig.
»Und heute muss die ewige Vorsehung bestimmen, dass unsere ganze Mannschaft so erkrankt«, schloss die Priorin ihren Bericht, den ich nur selten durch eine Frage zu unterbrechen gewagt hatte.
»Wissen Sie denn auch schon«, mischte sich da wieder Karlemann ein, »dass die ewige Vorsehung bestimmt, dass alle die Nonnen hier heiraten werden?«
Wieder hätte ich diesem vorlauten Schnösel gleich eins aufs Maul geben mögen. Doch ehe ich mich einzumischen brauchte, wurde die Sache im Guten erledigt.
Die Priorin hatte den Knirps erst erstaunt angesehen, dann verweisend — dann aber legte sie ihm mit gütigem Lächeln die Hand auf den schwarzgelockten Zigeunerschädel.
»Mein liebes Kind«, erklang es aus dem lächelnden Munde in mildestem Tone, »du weißt wohl nicht, was du sprichst — kennst noch nicht die Bedeutung des Wortes Heiraten. Bleibe so unschuldig, wie du bist, mein lieber Knabe.«
Da freilich wäre ich bald laut herausgeplatzt. Denn unbeschreiblich war die Visage, welche Karlemann dabei zog. Ha, wenn die den Charakter dieses lieben Kindes und unschuldigen Knaben näher gekannt hätte! Wie dieser Knirps schon drei schwarze Frauen besessen!
Zum Glück fragte sie mich nicht, in welcher Beziehung ich zu diesem ›harmlosen Kinde‹ stände. Auch Karlemann sagte nichts weiter, und sie zog ihre Hand von seinem Haupte zurück.
»Wie weit sind wir denn nun noch ab von Hobarttown?«, wandte sie sich dann an mich.
»Wenn der Wind so bleibt, können wir es übermorgen Abend, spätestens in drei Tagen erreicht haben«, entgegnete ich.
»Ja, was soll denn aber nun aus unserem Schiffe ohne Mannschaft werden?«
»Selbstverständlich bleibt es unter unserer Bedienung, wie es bereits geschehen ist.«
»O, wie soll ich Ihnen danken!«
»Davon ist gar keine Rede. Wir tun dasselbe, was jeder brave Seemann tun würde.«
»Wir werden Sie und Ihre wackeren Matrosen in unser tägliches Gebet einschließen.«
»Das ist durchaus nicht not... Ich wollte sagen: ich danke Ihnen sehr, Madam.«
»Und ich kenne noch nicht einmal Ihren Namen! Wem haben wir denn unsere Rettung zu verdanken?«
»Richard Jansen ist mein Name.«
Plötzlich bekamen alle drei Schwestern oder Mütter den Starrkrampf. Wenigstens starrten sie mich so regungslos an.
»Richard — Richard — Jansen«, stammelte dann die Priorin. »Doch nicht etwa — etwa — der Kapitän von der ›Sturmbraut‹?!«
»Allerdings. Jenes Schiff dort, welches Sie durch das Bullauge erblicken, ist meine ›Sturmbraut‹. Aber die Damen haben von mir durchaus nichts zu fürchten, ich bin kein Frauen...«
Ich kam nicht weiter. Die beiden anderen Betschwestern stießen ein gellendes Zetergeschrei aus und stürzten aus der Kajüte. Leider ich ihnen nach, um sie beruhigen zu wollen, während ich mich gleich mit der Priorin hätte auseinandersetzen sollen.
Die beiden mussten die an Deck befindlichen Nonnen sehr schnell verständigt haben. Es war ja auch nur die Nennung meines Namens nötig.
»Iiiihhhh«, wurde ich oben an Deck quiekend empfangen, und die Nonnen flatterten durcheinander wie eine aufgescheuchte Herde weißbehaupteter Kapuzinergänse.
In allen Winkeln versteckten sie sich vor mir.
»Na na, ich bin doch kein Menschenfresser«, sagte ich, und einsehend, dass hier oben auf diese Weise nichts zu machen war, kehrte ich gleich wieder in die Kajüte zu der Priorin zurück, die noch auf demselben Platze stand.
Sie war viel vernünftiger als die anderen, wohl ängstlich, aber man konnte mit ihr sprechen.
»Sie sind der Kapitän, welcher den ›Prince Albert‹ und das Kanonenboot versenkt hat?«
»Ich bin's, ich tat's, und dennoch bin ich kein Unhold!«, entgegnete ich, sprach noch weiter, und es gelang mir, sie von meiner und meiner Leute Harmlosigkeit zu überzeugen. Nur englische Kriegsschiffe und sonstige durften nicht auf uns pirschen, dann wehrten wir uns unserer Haut.
Sie versprach, sofort ihre Untergebenen zu beruhigen, und ich hätte gehen können, allerdings nicht von diesem Schiffe, dessen Kommando ich selbst zu übernehmen dachte. Aber ich verließ auch die Kajüte noch nicht.
»Ich habe gehört, Hochwürden«, war mir jetzt eine bessere Anrede eingefallen, und ich hatte damit auch wirklich das Richtige getroffen, »dass eine Priorin der Schwestergemeinschaften zur ewigen Vorsehung von Rechts wegen auch das Privileg besitzt, Ehen zu schließen.
»Das besitze ich allerdings.«
»Dann müsste Ihr Recht auch hier an Bord dieses Schiffes gelten. Denn es fährt unter englischer Flagge, und die Flagge...«
»Jawohl, ich weiß«, fiel sie mir ins Wort. »Ehe ich England verließ, erhielt ich noch einmal besondere Instruktionen für das Ausland und für die Reise, und da ward auch betont, dass ein Schiff, über dem die englische Flagge wehe, England selbst bedeute.«
»Dürfte ich Hochwürden da bitten, eine rechtsgültige Trauung zu vollziehen?«
Sie zögerte doch etwas, wurde wieder ängstlich. Wir mussten in ihren Augen doch immerhin Mordbuben sein, hatten mindestens genug Blut an den Händen.
»Auch ich habe Vorschriften, die ich einhalten muss«, sagte sie zaghaft. »Nicht jedes Paar darf ich trauen, das zu mir kommt.«
»Aber wenn sonst alles in Ordnung ist?«
»Ja, wenn sonst alles in Ordnung ist?«
»Es handelt sich um mich selbst und um die Ihnen doch sicher bekannte Lady Blodwen von Leytenstone.«
Da bekam die dicke Dame ganz große Augen.
»Um die Lady von Leytenstone!«, rief sie. »Ja, lebt die denn noch? Ich denke, die hat auf der Osterinsel ihren Tod gefunden? Die soll sich doch in dem unterirdischen Labyrinthe des Kraters verlaufen haben. Und Sie selbst sollen doch mit Ihrer ›Sturmbraut‹ verschollen sein. Wo haben Sie sich denn während der langen Zeit immer verborgen gehalten?!«
Also auch zu den Ohren dieser frommen Priorin waren die Gerüchte dieser Welt, so weit sie meine eigene Person betrafen, gedrungen, auch in jenem Kloster hatte man sich mit mir beschäftigt.
Aber ich hatte jetzt keine Lust, der weiblichen Neugier, die auch einmal bei einer weltentsagenden Priorin hervorbrechen kann, wenn eben der alte Adam oder vielmehr die alte Eva rege wird, Vorschub zu leisten.
»Sie sehen, dass ich noch lebe. Oder zweifeln Sie, dass ich wirklich jener Kapitän Richard Jansen bin?«
»Nein.«
»Kennen Sie mein Verhältnis zu der Lady von Leytenstone?«
»Ich kenne es.«
»Sie ist schon seit einigen Jahren meine Geliebte«, wurde ich immer offener.
»Ja, ich weiß es«, wurde es die sonst ganz vernünftige Priorin ebenso. »Nicht wahr, diesem Verhältnis ist schon ein Kind entsprungen?«
»Ja; es befindet sich wohlaufgehoben in New York. Stände dieser Trauung sonst etwas im Wege?«
»Wo befindet sich die Lady?«
»Drüben an Bord meiner ›Sturmbraut‹.«
»Ist sie auch mit dieser Heirat einverstanden?«
Da durfte ich wohl ohne Zögern bejahen.
»Denn ohne beiderseitige freiwillige Zustimmung darf ich nicht trauen.«
»Blodwen ist ganz und gar damit einverstanden. Sollte nicht eine oder die andere Ihrer Schutzbefohlenen die Lady Blodwen kennen?«
»Das wird der Fall sein, und das ist sogar auch sehr nötig.«
»Warum ist das nötig?«
»Nun, damit nicht eine andere Ihnen unter dem Namen der Lady von Leytenstone angetraut wird.«
Diese Dienerin der ewigen Vorsehung war weit vorsichtiger als sonst die englischen Geistlichen, welche nur zwei Zeugen verlangen, die man einfach von der Straße holt, wofür sie dann einen Pott Bier bekommen.
Wenn es sich um solch eine vornehme Heirat handelte, da hatte ich freilich noch keine Erfahrung, da mochte es auch anders sein, und dann wahrscheinlich hatte die Priorin auch schon etwas von den dreißig Millionen Dollar gehört, über welche die zu Trauende wiederum verfügte.
Ich aber muss hierbei bemerken, dass ich an dieses Geld gar nicht dachte. Mein Grund, dass ich Blodwen jetzt, allen meinen früheren Ansichten über die Ehe entgegen, regelrecht heiraten wollte, war ein ganz anderer. Ich wollte diesem unerquicklichen Verhältnis ein Ende machen — ihr mehr Freiheit gewähren zu dürfen und sie dennoch fester in meine Macht zu bekommen — zu ihrem Segen, zu meinem eigenen Vorteil.
»Dann stände der Trauung ja nichts im Wege«, sagte die Priorin. »Die Zeremonie ist dieselbe wie bei der englischen Hochkirche, nur dass ich bloß zwei weibliche Zeugen brauche, die ich selbst aus meinen Schwestern wähle.
»Und wann kann die Trauung stattfinden?«
»Wann Sie wollen.«
»Sofort?«
»Gewiss. Es sind ja gar keine weiteren Vorbereitungen nötig.«
»Können Sie auch einen rechtsgültigen Trauschein ausstellen?«
»Auch das. Ich habe solche Formulare unter meinem Gepäck, wir sind ja mit allem ausgestattet, um in Australien unser...«
An Deck erscholl wieder ein vielstimmiges Quieken, die Priorin eilte hinaus, um zu sehen, was es da gebe, um zu beruhigen.
Ich selbst war ganz beruhigt. Dass sich einer meiner Leute eine Ungebührlichkeit erlaubt hätte, war ganz ausgeschlossen, und wenn etwas Ernstliches passiert wäre, hätten die ganz anders gequiekt. Vielleicht war eine Kapuze über Bord geflogen, oder eine Maus war über Deck gelaufen. Ich hatte nämlich in den Abstufungen des weiblichen Quiekens schon einige Erfahrung.
Ich wollte diese Gelegenheit benutzen, um mit Karlemann ein ernstes Wort zu reden, bei dem war es am allernötigsten, und er kam mir entgegen, indem er zuerst das Wort ergriff.
»Was? Sie wollen die Blodwen jetzt wirklich heiraten?!«, fragte er verblüfft.
»Wie Sie gehört haben.«
»Na, des Menschen Wille ist sein Himmelreich, und Sie werden schon Ihre Gründe dazu haben. Aber da können wir doch gleich Hochzeit en gros feiern.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na, die ewige Vorsehung hat uns da doch gleich die genügende Anzahl Weiber zugeführt, die sich Ihre Leute und zum Teil auch schon die meinigen wünschen. Nun kann die Fucusinsel bevölkert werden.«
»Ja, Algots, das ist es, weswegen ich Sie sprechen wollte. Sie haben schon vorhin einige dumme Witze gemacht...«
Und so sprach ich weiter, mir ganz energisch verbittend, dass diese Nonnen, oder was sie nun sonst sein mochten, belästigt würden.
»Wenn ich Frauen suche, die mit nach der Fucusinsel sollen, so müssen sie mir selbstverständlich freiwillig folgen«, schloss ich meinen längeren Sermon.
»Und warum sollen die denn Ihnen nicht freiwillig folgen?«
»Daran ist doch gar nicht zu denken — solche Nonnen, Damen aus der höchsten englischen Gesellschaft.«
»Na, deswegen — Frauenzimmer ist Frauenzimmer — ich kenne so etwas. Fragen Sie nur erst einmal.«
»Unsinn!«, knurrte ich, schon die Kajüte verlassend.
Ich ärgerte mich, mit dem Jungen mich überhaupt eingelassen zu haben.
Und doch, die Sache gab zu denken. Weshalb hatte uns die geheimnisvolle Möwenpost gerade nach Hobarttown auf Tasmania beordert? Wenn ich nicht an eine ewige Vorsehung und an sonstige Übernatürlichkeiten glauben wollte — konnte jene geheimnisvolle Person, die sich schon so oft in mein Leben eingemischt hatte, nicht schon von diesen evangelischen Nonnen gewusst haben, dass diese nach Tasmania wollten, und ebenso mein Vorhaben kennend, mich dorthin geschickt haben?
Ich schlug mir alle solche Grübeleien aus dem Kopfe, ließ ein kleineres Boot aussetzen und mich in diesem nach der ›Sturmbraut‹ zurückbringen, die in einiger Entfernung der ›Hekuba‹ folgte.
Gern hätte ich erst Tischkoff gesprochen, aber der hielt sich wieder einmal seit einigen Tagen in seiner Kabine eingeschlossen.
So begab ich mich gleich zu Blodwen, betrat nach einem Anklopfen und nach ihrem ›come in‹ in ihre Kabine, zum ersten Male — dieselbe Kabine, die einst Atlanta innegehabt, die ich so manches Mal mit dieser geteilt hatte.
»Bist du bereit, Blodwen, mit mir eine regelrechte Heirat einzugehen?«
»Wie Sie wünschen, Herr Kapitän.«
Sie war noch ganz dieselbe, wie ich sie vorhin verlassen hatte — ganz zerknirschtes Schuldbewusstsein, Demut, nicht etwa Teilnahmslosigkeit, und diese Demut war unverkennbar echt.
Ich erzählte ihr mit kurzen Worten, wie sich die Gelegenheit zu einer Trauung auf See soeben gefunden hätte.
Es machte alles nicht den geringsten Eindruck auf sie.
»Wie Sie wünschen, Herr Kapitän.«
»Wenn ich dir solch einen Vorschlag mache, kannst du mich wohl auch anders anreden, Blodwen«, sagte ich mit möglichster Milde, die ebenso von Herzen kam.
»Wie du willst, Richard.«
»Und fragst du denn gar nicht danach, wie dieser plötzliche Entschluss, mit dir eine regelrechte Ehe einzugehen, in mir entstanden ist?«
Dadurch, dass sie schwieg, gab sie auch eine Antwort. Nein, sie fragte nicht danach.
»Tischkoff erzählte mir, dass du dreißig Millionen Dollar auf einer New Yorker Bank habest, als dein Gatte hätte ich dann Anspruch darauf zu machen, aber du wirst, da du mich doch kennst, wohl kaum glauben, dass ich deshalb eine gesetzmäßige Ehe mit dir eingehen will.«
»Nein, das kann ich von dir nicht glauben.«
»So will ich dir sagen, weshalb ich dich heirate. Um ein noch größeres Recht zu bekommen, dich in meiner Gefangenschaft zu behalten. Oder anders ausgedrückt: Ich will eine Verpflichtung haben, dass ich für die Taten, welche du begehst, als dein rechtmäßiger Mann auch verantwortlich bin, sodass ich mich hüten werde, dich wieder freizugeben. Verstehst du, wie ich das meine?«
Ich weiß nicht, ob sie mich verstanden hatte. Auch mancher Leser dürfte mich nicht verstehen. Aber anders konnte und kann ich mich noch jetzt nicht ausdrücken. Ich war und bin eben ein seltsamer Kauz. Länger denn sechs Wochen hatte ich hierüber nachgegrübelt, um zu der Ansicht zu kommen, dass es das Beste sei, die Mutter meines Kindes zu heiraten, ohne es weiter definieren zu können.
Ja, die Mutter meines Kindes — das mochte es wohl sein!
»Dass ich für deine Vergehen eine Entschuldigung gefunden, habe ich dir schon gesagt, und was ich dir als dein Gatte schuldig bin, weiß ich ebenfalls. So komm, meine Blodwen!«
Und mit diesen Worten schlang ich meinen Arm um sie, zog sie an mich und küsste sie mehrmals auf die Lippen.
Da freilich zog es wie eitel Sonnenschein über ihr Gesicht.
»Richard, ist es möglich?!!«
»Ja, Blodwen, alles soll vergeben und vergessen sein!«
Die Matrosen ließen die Arbeit ruhen, wenn sie nicht gleich fallen ließen, was sie in den Händen hatten, als sie uns beide Arm in Arm über Deck gehen sahen, und Mahlsdorf machte erst recht ein unbeschreibliches Gesicht, behielt gleich den Mund offen.
»Sie behalten hier das Kommando«, sagte ich zu ihm im Vorbeigehen, »ich übernehme die Führung der ›Hekuba‹, deren gesamte Besatzung durch den Genuss des Fleisches eines giftigen Delfins schwer erkrankt ist. Folgen Sie mir im Kielwasser. Jetzt lasse ich mich mit Lady Blodwen trauen.«
Mahlsdorf blickte uns mit aufgerissenem Munde nach, als wir beide ins Boot stiegen und uns hinüberrudern ließen.
In der Kajüte fand die Trauung statt, über welche ich nichts weiter zu sagen habe. Es ging so einfach zu wie bei jeder englischen Trauung. Nicht einmal ein Ringwechsel ist nötig. In England trägt der Mann überhaupt keinen Trauring.
»Willst du dem von dir erwählten Manne ein liebendes, treues, gehorsames Weib sein?«
Die Priorin sprach den Segen, dann füllte sie das Trauformular nach unseren Angaben aus, wir beide unterschrieben.
So war ich verheiratet. Jetzt in diesem Augenblick, da ich die Feder wieder hob, wusste ich einmal klar, warum ich es getan.
Um dem armen Weibe, das kaum noch der Erde angehört hatte, eine große Freude zu machen, die größte, die für sie wohl möglich. Ich hatte sie schon immer bemitleidet, und Mitleid ist ja Liebe.
Und zweitens hatte ich ihr hierdurch die Möglichkeit geraubt, selbst wenn ich ihr die völlige Freiheit wiedergab, fernerhin noch einmal gegen ihre Verwandten wegen ihres väterlichen Vermögens vorzugehen.
Denn durch ihre Heirat hatte sie darauf freiwillig verzichtet, das musste sie wissen.
Dann mussten noch die beiden Nonnen unterschreiben, welche als Zeuginnen fungierten. Sonst befand sich niemand in der Kajüte.
Die Priorin hatte zu diesen beiden Zeugen die größten Gegensätze ausgesucht. Die eine war die älteste Schachtel, die einzige, die schon ausgetrocknet war, während die andere ein junges, blühendes Ding war, noch ein Backfisch, höchstens erst sechzehn Jahre, zu dem die Kutte und Kapuze durchaus nicht passen wollte.
Sie hatte mich während der ganzen Zeremonie mit ihren dunklen Augen, aus denen sonst gewiss immer der übermütigste Schelm hervorlugte, wozu auch das reizende Stumpfnäschen passte, angeblickt, während die alte Schachtel ihr ganzes Interesse der bleichen Braut gewidmet hatte.
Jetzt mussten sie beide unterschreiben.
Die Alte setzte mit eckigen Zügen ihren einfachen Namen darunter: Hermine Drake — und dann sah ich den Backfisch kritzeln, nachdem erst ein gehöriger Klecks gemacht worden war: Lady Maud Plantagenet, Princess of Suffolk.
Oho, dieser niedliche Backfisch mit dem reizenden Stumpfnäschen war eine Prinzessin?
Und wie war mir denn, hatte ich den Namen Plantagenet nicht als den einer historisch berühmten Adelsfamilie kennen lernen müssen?
Ich kam nicht darauf, dachte jetzt auch nicht weiter daran. Eine Hochzeitsfestlichkeit war hier nicht angebracht, auch nicht bei meinen Leuten.
Ich bedankte mich bei der Priorin und bei den Zeugen, wandte mich dann gleich meiner jungen Frau zu.
»Ich muss hier an Bord bleiben. Du gehst inzwischen wieder nach der ›Sturmbraut‹ hinüber, richtest einstweilen deine drei Kabinen wieder vor, die wir früher innehatten. Nur noch zwei Tage trennen uns von Hobarttown — das heißt, wenn ich mich überhaupt dorthin begebe. Nur dieses Schiff muss ich dort abliefern. Dann trennen wir uns nie wieder. Nicht wahr, Blodwen?«
Ob sie damit einverstanden war! Ich hatte einen Menschen überglücklich gemacht.
Wie sich unser neues Verhältnis weiter gestalten würde, sollte die Zukunft lehren.
Ja, während ich den ganzen Tag auf der Kommandobrücke stand, grübelte ich gar viel über meine, über unsere Zukunft nach. Ich grübelte über noch manch anderes. Doch ich will den Leser nicht langweilen.
Von der ›Sturmbraut‹ hatte ich noch einen anderen Matrosen und einige von Karlemanns Jungen kommen lassen, die schon früher in der Küche beschäftigt gewesen waren, denn von diesen vornehmen Nonnen verstand, wie ich auf Befragen von der Priorin erfahren, keine einzige etwas von der edlen Kochkunst.
Der Wind änderte sich mehrmals, es gab viel in der Takelage zu tun, die Leute mussten untergebracht werden — so verging der Tag.
Keine Nonne hatte sich mehr an Deck sehen lassen. Sie widmeten sich unter Goliaths Leitung der Pflege der Kranken, mit denen es vorläufig immer schlimmer ward, oder verkrochen sich eben unter Deck.
Nur eine hatte ich ständig oder doch häufig vor Augen, allerdings auch nur zum vierten Teil ihres Körpers.
Es war jener Backfisch, die Prinzessin von Plantagenet oder Suffolk, die meistenteils aus einer Luke, die zum Zwischendeck hinabführte, mit dem halben Oberkörper hervorblickte. Sie schien mit einer Handarbeit beschäftigt zu sein, strickte oder häkelte mit langen Stäben, doch widmete sie dieser nützlichen Beschäftigung sehr wenig Aufmerksamkeit, hatte vielmehr ihre dunklen Augen immer mit dem Ausdruck der Bewunderung und mit halb geöffnetem Munde auf mich gerichtet, der ich auf der Kommandobrücke stand.
Nun, wenn sie schon von mir gehört hatte, dann musste ich für solch ein junges Ding ja auch entweder ein Gegenstand des Abscheus oder, und das wahrscheinlicher, der Bewunderung sein.
So also verging der ganze Tag. Ich hatte schon die vorige Nacht wegen vieler Segelmanöver schlaflos verbracht, so suchte ich beizeiten den verschließbaren Raum auf, den ich mit einer Matratze hatte ausstatten lassen. Sonst war ja das ganze Schiff, so weit es nicht befrachtet, mit Menschen dicht besetzt.
Müde streckte ich mich aus, ohne mich der Kleider entledigt zu haben, dachte dies, dachte das, und schlief ein.
Ein leichtes Rütteln an der Schulter weckte mich. Um mich herum herrschte Stockfinsternis.
»Wer ist das?«
»Ich bin's, der Franz.«
»Was willst du?«
»Hier hat sich eine Nonne an mich herangemacht, die möchte den Kapitän sprechen, es handle sich um etwas ganz, ganz Wichtiges, aber sie müsse auch ganz, ganz vorsichtig sein, dass es die Alsche nicht merke.«
»Wo ist sie?«
»Sie ist schon hier.«
»Ja, ich bin schon hier«, sagte eine Stimme, die mir trotz des Flüsterns bekannt vorkam.
Ich wusste die Laterne im Finstern mit einem Handgriff zu finden, machte Licht und... sah den reizenden Backfisch vor mir stehen, die Prinzessin, in Nonnenkutte.
Ich erhob mich schnell, schickte den Matrosen hinaus und war mit ihr allein.
Sie sah sich nicht ängstlich, sondern nur vorsichtig um in dem engen Raume, in dem die Farbtöpfe aufbewahrt wurden, und dann haftete ihr dunkles Auge, das den Schelm niemals verleugnen konnte, auf mir.
Jetzt bemerkte ich auch, dass sie in bloßen Füßen war, und zwar waren es die niedlichsten Füßchen, die ich jemals erblickt.
»Womit kann ich dienen, Mylady?«
»Mylady — ach, wie nett das klingt!«, seufzte sie aus tiefstem Herzensgrunde mit himmelndem Blick zur Decke. »Sonst heiße ich wie die anderen nur Schwester, und dann gibt's manchmal noch eine dumme Gans.«
Diese einleitenden Worte sagten mir schon genug, wen ich vor mir hatte. Ich musste mein Lachen unterdrücken.
»Sind wir hier auch ganz ungestört?«, fuhr sie hastig fort.
»Ganz ungestört.«
»Können wir hier nicht gehört werden?«
»Nein, dieser Raum liegt ganz vorn im Schiff, wohin sich niemand verirrt. Sie haben sich aus dem Zwischendeck — aus dem Schlafsaale heimlich entfernt?«
»Ja, und wenn auch die Alte kontrolliert — ich habe oben unter meine Bettdecke einen Besen gelegt, dass es geradeso aussieht, als ob meine schwarzen Haare hervorguckten, und unten gucken meine Schuhe heraus, und meine Strümpfe auch, die ich natürlich ausgestopft habe — mit schmutzigen Taschentüchern, wissen Sie.«
Bei solch einem plaudernden Backfischmunde soll man nun ernst bleiben! Und wie sie das nun hervorbrachte, so naiv — leider nicht wiederzugeben.
»Müssen Sie sich denn mit Strümpfen und Stiefeln zu Bett legen?«
»Ei gewiss doch, das verlangt doch die ewige Vorsehung so... die ewige Vorsehung, puh!«
Ich hätte gern laut aufgelacht, wie das so verächtlich herauskam.
»Auch im Kloster?«
»Strümpfe und Schuhe? Immer! Die dürfen wir überhaupt niemals ausziehen. Das heißt natürlich, wenn wir uns baden, da müssen wir uns ausziehen. Na, da sollten sie mal dabei sein, wenn wir uns alle zusammen baden, wie's da zugeht...«
Sie steckte den Finger in den Mund, um ihr Lachen zu ersticken, wurde aber gleich wieder ernst, machte sogar ein erzürntes Gesicht.
»Und denken Sie nur, am Freitag gibt's kein Fleisch, nicht einmal Fisch, und jeden Dienstag Reis mit Rindfleisch, wovor ich mich schüttle — vor dem Reis nämlich... essen Sie gern Reis?«
»Nein, Reis ist gerade dasjenige, was ich am allerwenigsten mag, er schmeckt mir so weichlich, schon von Kind an«, entgegnete ich der Wahrheit gemäß.
Freudestrahlend hielt sie mir die Hand hin.
»Da passten wir beide ja zusammen!!«
Ich schüttelte ihr als Bestätigung wenigstens die Hand.
»Und stricken Sie gern Strümpfe und wollene Jäckchen?«
Einer Eingebung zufolge verschwieg ich ihr lieber, dass jeder Seemann seine eigenen Strümpfe stopft, sie sogar selbst stricken kann, wie weiland die alten Stadtsoldaten. Ich verneinte also.
»Und sehen Sie, wir müssen den ganzen Tag Strümpfe und Jäckchen stricken!«, erklang es im Tone der höchsten Erbitterung.
»Für wen denn?«
»Nu, für arme Heidenkinder. Denken Sie nur, für solche schwarze Negerkinder, die in Afrika herumlaufen, ganz nackt, weil's dort so heiß ist, müssen wir wollene Strümpfe und Jacken stricken, ganz dicke!«
Sie steckte zur Abwechslung wieder einmal einen oder auch mehrere Finger in den Mund, um ihr Lachen zu unterdrücken. Aber ich sah es auch gleich ihrem rosigen Daumen an, dass sie gern noch dran lutschte, obgleich sie sonst eine schon erblühte Jungfrau war.
»Machen Sie sonst gar nichts weiter, als Strümpfe und Jäckchen stricken?«
»Gar nichts weiter. Wer am meisten solche Sächelchen für die armen Kinderchen in Afrika strickt, kommt im Himmel am nächsten zu des Herrn Jesu Seite. Glauben Sie das?«
Ich wusste nicht recht, was ich dazu sagen sollte, und zum Glück hatte dieses Quecksilber auch nie lange Zeit, eine Antwort abzuwarten.
»Nu ja, und dann wird aus der Bibel vorgelesen, und Gesangbuchverse werden gesungen und dazwischen immer feste gebetet. Beten Sie viel?«
»Ob ich viel bete? Hm. Na, sehr viel gerade nicht. So hin und wieder.«
»Das ist nett von Ihnen, wirklich sehr nett!«, lobte sie mich zu meiner Freude, da ich wegen meines spärlichen Betens schon einen Tadel erwartet hatte. »Wissen Sie, ich glaube überhaupt, dem lieben Gott ist an der vielen Beterei gar nichts gelegen, wenn's nur ein so ewiges Geplärre ist wie bei uns. Aus dem Herzen muss es kommen — meinen Sie nicht?«
Ich empfand plötzlich die größte Lust, mich zu bücken und das herzige Kind an meine Brust zu ziehen. Aber es war eben kein Kind mehr, und in solchen Sachen bin ich sehr vorsichtig. Ich bereue nicht gern.
»Aber fluchen tun Sie auch, nicht wahr?«
O, das hätte sie nicht fragen sollen!
»Ja, manchmal«, musste ich mit meiner gewöhnlichen Offenheit zugeben.
»O, das ist aber nun wieder gar nicht nett von Ihnen!«, erklang es bedauernd und vorwurfsvoll. »Na ja, ich weiß schon«, fuhr sie aber gleich in ganz anderem Tone und mit anderem Gesichtsausdruck fort, »wie die Matrosen nun einmal sind. Und Sie meinen's auch gar nicht so, wenn Sie fluchen, nicht wahr, nicht?«
»Nein, gewiss nicht.«
»Denn fluchen ist doch eine Sünde.«
»Ja, das ist es.«
»Ist heiraten auch eine Sünde?«
Fluchen und heiraten — — wie reimt sich das zusammen!
»O nein, heiraten ist doch keine Sünde.«
»Aber die Alte sagt, es wäre eine Sünde — eine ganz schwere Sünde.«
»Wer ist denn das, die Alte?«, wollte ich mich doch einmal vergewissern.
»Na, wer denn sonst als unsere Priorin! Wir nennen sie nur die Alte — das heißt, nur so unter uns, sie darf's nicht hören, sonst wird sie wilde, und dann gibt's Arrest bei Wasser und Brot. Ich habe auch schon einmal dringesessen im Loch, weil ich einen Strumpf verkehrt angezogen hatte — puuuh!«
So kreuzfidel sie das auch alles hervorbrachte, war mir doch gar nicht lächerlich zumute. Ich konnte mir das Leben in solch einem Jungfernkloster lebhaft vorstellen — und mich schauderte.
»Und die anderen Schwestern sagen's auch«, fuhr das Plappermäulchen fort.
»Was sagen Sie?«
»Na, dass das Heiraten eine schreckliche Sünde wäre. Das heißt, nur die alten Schwestern sagen das, die schon so vierzig Jahre und gar noch älter sind.«
»Ja, ja, die alten«, musste ich jetzt doch wieder lächeln. »Und was sagen denn die jungen Schwestern übers Heiraten?«
»Na, die denken eben ganz anders. Wir sprechen nämlich sehr oft darüber — wenn die alten nicht dabei sind, oder wenn wir schon im Bette liegen, ganz leise, wissen Sie. 's ist doch überhaupt komisch, die Alte lehrt uns, dass das Heiraten eine unverzeihbare Sünde wäre, und dabei schließt sie doch selber Ehen, und wir Schwestern müssen dabei als Zeugen unterschreiben, dass die Sache auch seine Richtigkeit hat — so wie bei Ihnen vorhin.«
Ja, diesen Unterschied würde die Priorin den jüngeren Geschöpfen ihres Klosters wohl schwerlich erklären können, und ich hätte es so ohne Weiteres auch nicht gleich fertig gebracht. Aber eine andere Frage fiel mir jetzt ein.
»Dürfen Sie denn überhaupt heiraten?«
»Ich?«
»Überhaupt alle diese Dienerinnen der ewigen Vorsehung?«
»I Gott bewahre, nee, wir haben doch unsere Gelübde abgelegt!«
»Was, auf Lebenszeit?!«
»Jawohl, auf Lebenszeit, und noch länger, bis in den Himmel hinein.«
Ich weiß nicht — auf meiner Stirn begannen plötzlich die Adern zu schwellen.
»Sie dürfen das Kloster überhaupt niemals wieder verlassen?«
»Niemals wieder.«
»Sind Sie denn freiwillig hineingegangen?«
»Ich? Nein! Mich hat man vor zwei Jahren hineingesteckt, als ich vierzehn Jahre alt war. Aber ich wusste es schon, ich habe gar nichts anderes erwartet, denn das hat man mir schon eingeredet, als ich noch ein ganz kleines Kind war. Ich war eben für dieses Kloster bestimmt, dafür gleich geboren, die Vorsehung hatte es so gewollt, gleich bei meiner Geburt — und vielleicht noch früher.«
Immer heißer stieg es mir zum Herzen und zum Kopfe empor.
»Sehen Sie«, fuhr das Plappermäulchen gleich fort, und zwar ohne jede Betrübnis, »deshalb sehen wir auch alle so blass und elend aus.«
Ich hatte, noch mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, der Wortfolge nicht ordentlich geachtet.
»Ja, freilich«, entgegnete ich, »wenn die Schwestern den ganzen Tag in der Stube hocken und Handarbeiten machen müssen.«
»Das mag auch mit dran schuld sein, aber die anderen meinen, hauptsächlich käme unser bleiches Aussehen daher, weil wir nicht heiraten dürften.«
Oho!! Na ja, was in solch einem Kloster zwischen den alten und jungen Jungfern alles heimlich gesprochen werden mag! An der Unschuld dieses jungen Dinges hier prallte freilich alles noch ab, es schwatzte nur nach.
»Aber Sie und die anderen Nonnen, die ich bisher gesehen habe, sehen durchaus nicht blass und elend aus«, beeilte ich mich, diese gefährliche Klippe zu umschiffen.
»Ja, jetzt — aber Sie hätten uns vor vier Monaten sehen sollen, als wir abfuhren! Essen Sie gern weißen Käse?«
»Ja, wenn ich welchen habe«, musste ich ob solcher Sprünge wiederum lächeln.
»So sahen wir alle zusammen aus, gerade wie die weißen Käse.«
Ach so! Die Frage, ob ich gern weißen Käse esse, hatte also doch einen bestimmten Zweck gehabt!
»Ja ja, die frische Seeluft, die bewirkt Wunder«, meinte ich jetzt.
»Und überhaupt — ach, das Meer, das Meer, wie ich das liebe!!«, fing sie plötzlich mit ausgebreiteten Armen zu himmeln an. »Und ist das wahr, essen Sie wirklich Menschenfleisch?«
Findet der Mensch Worte!! Immer toller wurden die Bocksprünge, welche sich dieses junge Ding in der Konversation leistete. Und dann war ich natürlich auch nicht wenig verblüfft.
»Ob ich Menschenfleisch esse? Ja, wie kommen Sie denn auf diese Frage?!«
»Nicht wahr, das tun Sie nicht? Sie sehen auch gar nicht so böse aus. Und auch Menschenblut trinken Sie nicht, nicht wahr, nicht?«
»Ob ich Menschenblut trinke?«, konnte ich nur mit immer größerem Staunen wiederholen.
»Und Sie lecken den Säbel auch nicht ab, wenn Sie einem Menschen den Kopf abgeschlagen haben?«
»Den Säbel ablecken? Ja, Mylady, wie kommen Sie denn nur auf solche Vermutungen?!«
»Na hier — hier steht's doch drin.«
Und sie zog unter ihrer Kutte ein Buch hervor, ein Heft, dünn, aber von großem Format, und da las ich zu meinem grenzenlosen Staunen:
Die Abenteuer des Kapitäns Richard Jansen, genannt der Schrecken des Meeres,
seinen eigenen Berichten nacherzählt von Edward Nielson.
Das war aber nur der Gesamttitel der ganzen Serie, von der, wie oben angekündigt, jede Woche ein Heft erschien, von einer Verlagsbuchhandlung in New York und London herausgegeben, das hier war das siebente Heft, dessen Separattitel lautete: Das Menschenfresserschiff.
Die Hauptsache auf dem Umschlage war das große Bild, in schreienden Farben ausgeführt. Es zeigte das Deck eines Segelschiffes, eine Reihe Matrosen knieten darauf, mit auf dem Rücken gebundenen Händen, den Kopf vorgereckt, andere lagen schon langausgestreckt in einer Blutlache da, aber ohne Kopf, und ich war es, der ihnen den Kopf abgeschlagen hatte, mein Gesicht war ziemlich gut getroffen, noch besser meine Körperlänge, und soeben leckte ich mit lang herausgereckter Zunge von dem mächtigen Schwerte das Blut ab — von dem Schwerte, mit dem ich soeben, wie deutlich erkennbar, einem der Matrosen den Kopf abgeschlagen hatte, und die Knienden warteten noch darauf.
Ich war also bereits das aktuelle Sujet einer Sensationsliteratur geworden!!
Sollte ich darüber lachen?
Nein, zunächst beschlich mich eine ganz unheimliche Ahnung. Auf dem Umschlag war die Seite angegeben, auf welcher dieses Bild beschrieben wurde, ich schlug sie auf, überflog sie — was ich nicht hier las, konnte ich mir zusammenreimen — und ich las die Namen Atlanta, Kapitän Ralph Berseck, das Schiff, welches ich kommandierte, im Bündnis mit Kapitän Berseck, hieß ›Ozeana‹... und meine Ahnung hatte sich bestätigt!
Ich hatte ganz Atlanta vergessen gehabt! Während ich auf der Fucusinsel Weizen und Kohl baute, hatte sie gebeichtet, wohl dem Papapopulos, und dieser geriebene Armenier hatte daraus gleich Geld zu schlagen gewusst!
Ich bemerke hier gleich, dass der Inhalt dieser Hefte wohl einen reellen Hintergrund hatte, sonst aber auf Phantasie beruhte.
So zum Beispiel war ganz richtig geschildert, wie ich über Bord gewaschen worden und auf das Menschenfresserschiff gekommen war — das hatte ich doch Atlanta erzählt — wie ich durch das gemorste Signal meine ›Sturmbraut‹ gerettet hatte — dann aber sollte ich mich mit dem Kapitän Berseck verbündet, sollte selbst Geschmack am Menschenfleisch gefunden haben, sollte so ein blutdürstiger Wüterich geworden sein, dass ich immer das Blut von dem Schwerte ableckte, mit dem ich die Mannschaft der gekaperten Schiffe köpfte. Das hatte ich im Überfliegen gelesen, um das Sonstige kümmerte ich mich jetzt nicht.
O, das war fatal! So wenig ich mir aus dem Urteil der Welt machte — immerhin, jetzt lasen vielleicht hunderttausend Menschen, dass ich solch ein Bluthund sein sollte!
»Darf ich das Heft behalten? Ich möchte es später lesen.«
»Immer behalten Sie es, Sie können auch die anderen bekommen, wir haben sie uns immer zu verschaffen gewusst und sie heimlich gelesen. Ach, wenn Sie wüssten, wie wir für Sie geschwärmt haben — besonders bei Mondschein, wenn wir so dabei Schokolade lutschten.«
Diese Worte verfehlten jetzt bei mir ihre humoristische Wirkung.
»Sie können für einen Mann schwärmen, der Menschenfleisch isst?«
»Ach, das ist doch alles gar nicht wahr. Sie haben es doch jetzt auch selbst gesagt.«
»Nein, das ist allerdings nicht wahr.«
»Und sonst sind Sie doch so ein edler Seeräuber.«
»Edel, inwiefern?«
»Nun, Sie haben doch sonst so viel Gutes getan, haben sich immer der Armen und Verfolgten angenommen, haben doch auch die arme Engländerin aus dem Harem des Sultans von Marokko befreit.«
Ich brauche wohl kaum näher zu erklären, was hier vorlag. Man hatte mir eben alles Mögliche und Unmögliche angedichtet, nur einigermaßen auf reeller Basis aufbauend. Und edel muss der Held doch immer sein, selbst wenn er sonst noch so ein Bluthund ist, sogar Menschenfleisch frisst — Sympathie muss der Leser für ihn haben, das ist eben die Kunst des Schriftstellers, und es dürfte wohl bekannt sein — in schriftstellerischen Fachkreisen wenigstens ist es selbstverständlich — dass solche Sensationslektüre weit schwerer zu schreiben ist als irgendein harmloser Liebesroman, der vielleicht in der besten Zeitschrift erscheint, und dementsprechend wird gewöhnlich solche Sensationslektüre auch weit besser bezahlt.
»Ist aber wenigstens das wahr, dass Sie eine Insel haben?«
»Was für eine Insel?«, stutzte ich.
»Na, das ganze dritte Heft handelt doch davon.«
Ich hatte das Heft schon eingesteckt, zog es nicht erst wieder hervor, auch wenn vielleicht die Titel der einzelnen Erzählungen angegeben waren,
»Was steht denn in diesem dritten Hefte?«
»Dass Sie eine Insel hätten, auf der Sie sich eingerichtet haben, wohin Sie die genommenen Schiffe und Ihre sonstige Beute immer schleppen.«
»Wo soll denn diese Insel liegen?«, fragte ich mit stockendem Atem.
»Wahrscheinlich an der Küste von Zentralamerika. Der Mann, der dieses Abenteuer erzählt, war auf einem Schiffe, das sich in der Nähe von Honduras befand. Sie erbeuteten dieses Schiff, nur diesen Mann ließen Sie am Leben, er wurde einer der Ihrigen — dann sah er einen hohen Felsenberg, die Augen wurden ihm verbunden, und als man ihm die Binde wieder abnahm, sah er sich auf einer paradiesischen Insel, die aber von himmelhohen Felsenmauern umgeben war. Das war eben der Felsenberg — er ist inwendig hohl, nur Sie allein wissen den Zugang, können auch gleich Ihr ganzes Schiff und noch viele andere mit hineinnehmen.«
Erleichtert konnte ich aufatmen. Dass ein vogelfreier Seeräuber sein Versteck haben muss, seine geheimnisvolle Insel, ist bei solch einer sensationellen Erzählung doch selbstverständlich, und die Phantasie des Verfassers war nicht in Verlegenheit gekommen.
»Ach, wie das geschildert war«, fuhr das Plappermäulchen fort, »das muss ja herrlich auf dieser Insel sein! Das ist also wirklich wahr?«
»Ja, das ist wirklich wahr«, entgegnete ich ohne Zögern.
»Sie haben solch einen hohlen Felsenberg an der Küste von Zentralamerika?«
»Ja, den habe ich.«
»Mit lauter Apfelsinenbäumen und mit Lustgärten und mit Springbrunnen?«
»Alles ist vorhanden.«
»Und auch schon schöne Häuser haben Sie sich gebaut?«
»Auch schon.«
»Aber, nicht wahr, die Frauen — die sind's, die Ihnen noch fehlen?«
Hoho!! Sollte jener Schmierifax mit einem prophetischen Geiste ausgestattet sein?
Doch ich brauchte mich nicht zu wundern, das alles lag ja für einen gewandten Erzähler sehr nahe.
»Ja, die fehlen uns noch.«
»Sie haben für Ihre Mannschaft also noch immer keine Frauen?«
»Nein, noch immer nicht.«
»Aber Sie wollen sich solche besorgen?«
Die junge Dame bediente sich fast derselben Ausdrucksweise wie Karlemann. In gewissem Sinne waren eben alle beide noch Kinder.
»Ja, das will ich immer noch.«
»Woher wollen Sie denn da diese Frauen für Ihre Matrosen bekommen?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Müssen es ganz besondere sein?«
»Ganz besondere.«
»Aus irgendeinem Lande?«
»Nein, das ist gleichgültig.«
»Na, da hätten Sie doch jetzt die allerbeste Gelegenheit, solche Frauen zu bekommen.«
Mir ging eine Ahnung auf, die Sprecherin blickte mich jetzt mit so kecken, wenn auch noch immer unschuldigen Augen an — aber ich wollte es nicht glauben.
»Was für eine Gelegenheit?«
»Na, wir sind hier vierundachtzig Schwestern, da haben Sie doch die Auswahl.«
Ich hatte es gehört — und da wusste ich eine Erklärung.
»Wie, Mylady, Sie wären bereit, mit mir auf jene Insel zu kommen?«
»Jawohl, das ist ja sogar mein heißester Wunsch«, war die freudestrahlende Antwort.
»Ja, Sie — aber Sie dürfen doch nicht im Namen Ihrer Kolleginnen sprechen.«
»Allerdings spreche ich im Namen auch der anderen Schwestern.«
»Was? Sie stehen und sprechen hier tatsächlich im Auftrage der anderen Damen?«, rief ich jetzt in hellem Staunen.
»So ist es. Ich bin von ihnen abgesandt, um Sie zu bitten, dass Sie uns sämtlich mit nach Ihrer Insel nehmen.«
Da war es mit meiner Fassung vorbei.
»Das heißt«, fuhr die kleine Lady fort, während ich so noch nach Fassung rang, »im Einverständnis von allen gerade nicht. Es sind gerade einunddreißig. Da ist die Lady Marwell, die Lady Duncan... doch diese Namen brauchen Sie ja nicht alle zu wissen. Wissen Sie, wir einunddreißig haben so eine kleine Verschwörung gemacht, oder eine Meuterei, wie es auf dem Schiffe heißt. Jawohl, wir wollen meutern. Sehen Sie, man hat uns alle zusammen ins Kloster gesteckt, ohne uns zu fragen, ob wir wollen oder nicht, nur weil wir kein Geld haben, überhaupt sonst ganz überflüssig sind, aber weil wir, die wir alle aus den angesehensten Familien stammen, doch anständig versorgt sein müssen. Ist das nun gerecht, dass man uns da so einfach in ein Kloster steckt?«
»Nein, das ist nicht gerecht«, entgegnete ich jetzt ganz sachgemäß, »das ist vielmehr in unserem aufgeklärten Zeitalter eine unerhörte Barbarei.«
»Jawohl, eine Barbarei, das ist es! Da ist mir ein echter, edler Seeräuber doch noch viel lieber, als so ein Halunke, der seine Schwester oder gar seine Tochter in ein Kloster steckt, nur um sie mit Anstand los zu werden. Meinen Sie nicht?«
»Ja, das meine ich auch.«
»Wir sind alle mit vierzehn Jahren hineingekommen. Da werden wir Adligen nämlich schon mündig, da gilt also schon unsere Unterschrift. Aber da waren wir doch alle noch dumme Gänse, und in diesen Klöstern bleibt man auch eine dumme Gans, man mag noch so alt werden. Meinen Sie nicht?«
»Da können Sie recht haben.«
»Na, sehen Sie. Wir sind vom zartesten Kindesalter an in dem Gedanken erzogen worden, dass uns die ewige Vorsehung dazu bestimmt habe, unser ganzes Leben hinter Klostermauern zu verbringen, dafür werden wir ja auch im ganzen Lande, oder sogar in der ganzen Welt, wie man uns sagt, hoch geehrt, und dann sorgt man dafür, dass wir auch in diesem Wahne bleiben. Wie es sonst in der Welt aussieht und zugeht, das erfahren wir nur aus Büchern, die wir uns heimlich verschaffen und heimlich lesen, und schon in der Annahme, dass wir dies heimlich tun, versichert man uns unausgesetzt, dass alles, was in den Büchern stände, eitel Erfindung sei, ein Werk des blendenden Teufels. Da traf uns das Los, unser Kloster nach Australien zu verlegen, zum ersten Male verließen wir die Mauern, vier Monate lang haben wir die freie, die köstliche Seeluft geatmet, und da ward mir ums Herz so weit, so weit...«
Und so sprach die junge Nonne noch des Längeren. Und dieser Mund, den ich bisher nur als ein loses Plappermaul kennen gelernt hatte, verstand zu sprechen.
Mit einem Wort: Während dieser vier Monate, schon im ersten, hatte die frische Seeluft den ganzen Klosterstaub hinweggeweht, und diese frische Seeluft hatte noch etwas anderes bewirkt, ein wirkliches Wunder: Diese armen, geknechteten Nonnen waren plötzlich zur Erkenntnis gekommen, dass an ihnen ein großes Unrecht begangen worden war, als man sie hinter Klostermauern gesperrt hatte, nur scheinbar mit ihrem eigenen Willen — sie waren plötzlich zur Überzeugung gekommen, dass auch sie ein Anrecht auf diese Welt mit all ihren Schönheiten besäßen, ja, selbst auf die Leiden dieser Welt, welche nun einmal mit dazu gehörten — und sie waren entschlossen, diese von einer grausamen Hand auferlegten Ketten abzuschütteln.
So hatten erst zwei intime Freundinnen zusammen geflüstert, eine dritte hatte sich hinzugesellt, eine vierte wurde mit ins Vertrauen gezogen — und so waren es bis gestern einunddreißig geworden, die entschlossen waren, die Sklavenketten zu brechen, kraft des allgemeinen Menschenrechtes, an dem auch sie ihren Anteil hatten.
Freilich das Wie hatte für diese unerfahrenen Klosterzöglinge noch in weiter Ferne gelegen. An eine offene Empörung gegen die Priorin dachten sie gar nicht. Bis gestern hatten sie nur von ihren Freiheitsplänen geschwärmt, wie eben junge Mädchen schwärmen. Und dann hatten sie noch gebetet — nicht zu jenem Gott, der ihnen gelehrt worden war, zu dem sie auf Kommando beten mussten, sondern zu jenem ewigen Gott, den jede in ihrem eigenen Herzen trug — hatten zu ihm gebetet, dass er ihnen einen rettenden Engel schicken möge.
Und da war ich gekommen — ich, der blutrünstige Seeräuber! Wie diese Nonnen aus mir den rettenden Engel machen konnten, vermag ich nicht zu sagen, so wenig es diese junge Nonne vermochte.
Das liegt im Gefühl, mit Worten kann man so etwas ja auch nicht erklären.
Schon heute Nachmittag hatten die einunddreißig Verschworenen immer heimliche Versammlungen abgehalten, und heute Abend war definitiv beschlossen worden, mich um ihre Befreiung zu bitten.
»Und ich bin einstimmig dazu gewählt worden, Ihnen alles dies vorzutragen, Sie um unsere Rettung anzuflehen«, schloss die kleine Nonne ihren Bericht mit begeisterten Worten und blitzte mich mit ihren Heidelbeeraugen lustig an.
»Sind Sie nicht die jüngste unter den Nonnen?«, fragte ich zunächst.
»Ja, die allerjüngste.«
»Wie kommt es da, dass man gerade Sie dazu gewählt hat?«
»Na, weil ich mich eben am besten dazu eigne. Weil ich die tapferste bin. Die Alte sagt's ja immer selber, dass ich den größten Mund habe. Soll ich auch nicht tapfer sein — ich bin doch eine Plantagenet!«
Ihre kleine Persönlichkeit möglich hoch aufrichtend, hatte sie diese letzten Worte mit Stolz gesagt.
»Eine Plantagenet?«, wiederholte ich, noch immer über die Bedeutung dieses mir einst gelehrten Namens sinnend.
»Jawohl, die letzte Plantagenet, aber auch eine echte!«, sagte sie mit immer größerem Stolze. »In meinen Adern fließt das Blut von König Richard Löwenherz — ich bin seine Urenkelin!«
Ja, da kam mir die Erinnerung! König Richard Löwenherz stammte ja aus dem Geschlechte der Plantagenets. Und mit staunender Bewunderung blickte ich auf die junge, vor mir stehende Nonne! Denn obgleich ich, wie der Leser wohl schon gemerkt haben wird, sonst durch und durch Demokrat bin, der nichts von Rangunterschied wissen will, wenigstens nichts von solchem, der durch Geburt oder Menschengunst oder sonst durch einen Zufall geschaffen ist, so habe ich doch immer mit Ehrfurcht auf die Nachkommen von großen Männern geblickt. Und schon als Kind war Richard Löwenherz immer mein Held gewesen, mein Ideal, war es noch jetzt, für den ich wie für einen Gott geschwärmt — vielleicht gerade deshalb, weil dieser Mann bei allen seinen ritterlichen Tugenden so viel menschliche Schwächen gezeigt hat.
»Die letzte Plantagenet — eine Enkelin des Königs Richard Löwenherz!«, wiederholte ich also mit staunender Ehrfurcht, und für mich musste dieser Name ja auch noch einen ganz besonderen Klang haben.
In meinem Ohre hörte ich plötzlich die Stimme Blodwens singen: Du stolzes England freue dich...
Das Mädchen, welches durch ihre späteren Ahnen auch eine Prinzessin von Suffolk geworden war, streckte ihre kleine Hand aus.
»Mit dieser Hand ist eine Königskrone verbunden«, sagte sie hoheitsvoll. »Denn stürbe durch irgendeinen Zufall die jetzige Königsdynastie Englands gänzlich aus, so bin ich die nächste, die als Königin Anspruch auf Englands Thron zu machen hätte. Und deshalb«, setzte sie in anderem, aber sorglosem Tone hinzu, »hat man mich auch ins Kloster gesteckt.«
Wir unterhielten uns noch längere Zeit, besprachen das Zukünftige, was ich hier nicht wiedergeben will, da ich es schon am nächsten Tage in der Praxis ausführte.
Karlemanns Jungen hatten das Frühstück aufs Beste besorgt, welches die vierundachtzig Nonnen in dem wohnlich eingerichteten Zwischendeck einnahmen.
Nach Beendigung desselben fing ich die Priorin auf dem Wege nach ihrer Kabine ab.
»Darf ich Hochwürden einmal sprechen?«
»Bitte sehr.«
»Sie haben doch gewiss eine Liste der sämtlichen Schwestern.«
»Gewiss.«
»Darf ich dieselbe einmal einsehen?«
»Wozu?«, stutzte sie.
»Nun, ich bin jetzt verantwortlicher Kapitän dieses Schiffes, ich muss doch wissen, wen ich unter meinen Schutz genommen habe.«
Das sah die Priorin ein, hieß mich in der Kajüte warten, sie wollte mir die Liste gleich bringen.
Unterdessen blickte ich noch einmal in das Nonnenverzeichnis, welches mir Lady Maud in der Nacht eingehändigt hatte — die Liste der Verschworenen.
Lauter adlige Namen, darunter mir wohlbekannte, aus berühmten Geschlechtern. Auch eine Cromwell war darunter, bei der man ebenfalls politische Gründe gehabt haben mochte, sie in ein Kloster zu stecken, und das war sicher noch bei anderen der Fall.
Lady Maud hatte mir auch gesagt, dass diese einunddreißig Verschworenen durchaus nicht die jüngsten seien. Eine war schon über die vierzig, und die sollte gerade am erpichtesten darauf sein, durch mich dem Klosterzwange entrückt zu werden. Wegen des Heiratens freilich hatte ich zu dem jungen Dinge gar nicht mehr gesprochen, keine Andeutung darüber gemacht.
Die Priorin kam und brachte mir die Liste. Sie begann unter Nummer 1 mit der Priorin selbst und endete unter Nummer 84 mit Lady Maud Plantagenet, Princess von Suffolk. Bei dieser Liste schien nur das Alter entschieden zu haben.
»Also diese hier angeführten Damen...«
»Schwestern.«
»Also diese hier angefühlten vierundachtzig Schwestern sind vollzählig vorhanden?«
»Jawohl, sie sind vorhanden!«, belächelte die Priorin meine Ausdrucksweise.
»Da haben Sie wohl die Güte, diese vierundachtzig Schwestern einmal an Deck zusammenzurufen — vor dem Hauptmast.«
»Wozu das?!«, stutzte die Priorin mehr noch als vorhin.
»Ich habe ihnen etwas zu sagen.«
»Aber was denn?«
»Bitte, verständigen Sie Ihre Zöglinge, dass sie alle zusammen an Deck antreten sollen«, wurde ich jetzt kürzer.
»Ja, aber was...«
»Ich bin hier der Kapitän und habe zu befehlen — oder ich wünsche es doch, und meinem Wunsche ist Folge zu leisten!«
Ganz erschrocken blickte mich die Priorin an, und das war begreiflich.
»Kapitän Merewin hat uns ganz anders behandelt«, sagte sie kleinlaut.
»Ich bin nicht Kapitän Merewin. Also, bitte, benachrichtigen Sie die Damen — oder meinetwegen Schwestern.«
»Können Sie es ihnen nicht unten im Zwischendeck sagen?«
»Nein, was ich ihnen zu sagen habe, geschieht am besten unter dem sonnigen Himmel, der jetzt über dem freien Meere lächelt.«
Die Priorin warf mir noch einen misstrauischen Blick zu, aber sie ging.
Ich begab mich an Deck. War gespannt, ob man meiner Aufforderung sogleich Folge leisten würde. Und wirklich, da krochen sie schon hervor, mit sehr ängstlichen Gesichtern — doch ich sah auch sehr gespannte, erwartungsvolle, sah auch schon heimliche Freude.
Es gelang mir, sie in einer Reihe zu ordnen.
»Meine Damen«, begann ich, »Sie alle wissen, wer ich bin. Ich habe meine eigenen Ansichten. Wir befinden uns hier auf freiem Meere. Die englische Flagge, die dort für gewöhnlich am Heck weht, kümmert mich gar nicht. Ich bin ein freier Mann, und wenn es nach mir geht, soll jeder Mensch frei sein, ob Mann oder Weib. Und ich habe gehört, dass viele unter Ihnen sind, welche nicht mehr hinter Klostermauern ein trübseliges Dasein führen wollen. So frage ich denn jetzt: Wer von Ihnen ist des Klosterzwanges überdrüssig? Wer will mit mir in die Freiheit gehen?«
So ungefähr sprach ich.
Was wäre nun wohl geschehen, wenn ich ganz unvorbereitet so zu diesen Nonnen gesprochen hätte? Keiner einzigen wäre es eingefallen, den Klosterzwang, der ihnen schon in Fleisch und Blut übergegangen war, auf diese Weise plötzlich zu brechen, sie wären einfach entsetzt gewesen, wenn sie sonst auch noch so viel von Freiheitsplänen geschwärmt hätten.
So aber war es Lady Maud, welche als erste vortrat, mit einem Riesenschritte, der einem Gardegrenadier alle Ehre gemacht hätte.
»Ich!«
»Iiich!«, quiekten noch ein paar andere Stimmen; etwa noch zehn andere traten vor.
Das waren die Couragiertesten gewesen, dann folgte noch eine ganze Menge andere, und ich konstatierte mit Verwunderung, aber auch mit großem Vergnügen, dass es nicht nur einunddreißig, sondern mindestens fünfzig waren, die so nach und nach vortraten. Also auch solche waren genug dabei, mit denen die Verschworenen noch gar nicht in Verbindung gestanden, die von dieser Verschwörung überhaupt noch gar nichts gewusst hatten.
Die anderen, unter ihnen die Priorin, standen wie die Salzsäulen da, vorläufig noch keines Wortes fähig, wahrscheinlich den Einbruch des Himmels erwartend oder jedenfalls das Ganze überhaupt noch gar nicht verstehend.
Ich kümmerte mich nicht um sie.
»Sie wollen nicht in das Kloster zurückkehren, meine Damen?«
»Nein, nein!!«, erklang es unisono.
»Also auch gar nicht nach Hobarttown gebracht werden?«
»Nein, nein — nie, niemals!«
»Wohin wollen die Damen sonst?«
»Irgendwohin, nur nicht wieder in das Kloster zurück!«
»Haben Sie davon gehört, dass ich eine Insel besitze?«
»Ja, ja, wir wissen es!«
»Vertrauen die Damen mir?«
»Ja, ja, wir vertrauen Ihnen!«
»Wollen Sie mich nach dieser Insel begleiten?«
»Ja, Herr Kapitän, wir wollen auf diese Insel!!«, erklang es wieder im Chor, und dann wurden auch schon einige ›Juchhees!‹ und dergleichen Jauchzer laut.
Da kam in die versalzene Gestalt der Priorin wieder Leben.
»Das ist Hochverrat gegen unsere Gelübde!!«, fing die jetzt an zu zetern, und so zeterte sie weiter.
Als ich sie aber bat, mir wieder in die Kajüte zu folgen, nahm sie gleich Vernunft an, wurde ruhig, kam mir nach.
So und so sagte ich und schilderte ganz offen, wie Lady Maud in dieser Nacht zu mir gekommen war, wie sie es gewesen, die im Auftrage von dreißig Mitschwestern, deren Namen ich auch vorlegte, mich erst zu alledem aufgefordert habe.
Ich tat dies nicht, um mich weißzuwaschen, dass nicht ich der Verführer sei, sondern eben um der Wahrheit die Ehre zu geben.
Dann aber gestand ich ebenso offen, wie mir dieses Entgegenkommen sehr angenehm sei, da ich tatsächlich mit der Absicht umginge, meine Insel mit Frauen, mit zukünftigen Müttern zu bevölkern.
Da freilich, als sie dies hörte, erstarrte die würdige Priorin abermals zur Bildsäule, dann neues Zetern und Jammern, bis sie Trost im Gebet suchte.
Ich wartete, bis sie ausgebetet hatte.
»Sie werden an alledem nichts mehr ändern können«, sagte ich dann.
Das Gebet hatte doch gewirkt; sie zeigte wieder eine große Ruhe.
»Wissen Sie denn nur, was Sie tun?«
»Ich weiß es.«
»Es sind die Töchter aus den ersten Familien Englands.«
»So muss ich Sie erst darauf aufmerksam machen, dass es vor dem Gott, dem Sie dienen, keinen Unterschied der Person gibt!«, wurde auch ich jetzt religiös.
»Wie können Sie nur daran denken, solche in aller Unschuld erzogene Mädchen an rohe Matrosen verheiraten zu wollen?«, fing sie wieder zu jammern an. »Und wenn sie auch nicht roh sind — es sind doch Matrosen!«
Ja, das war es gewesen, worauf ich nur gewartet hatte! Und jetzt fing ich an zu sprechen, ich!!
»Sehen Sie, Hochwürden, ich bin, ohne Ihnen nahe treten zu wollen, ein grundsätzlicher Gegner von aller Klosterwirtschaft, aber einen Vorzug hat diese Erziehung im Kloster dennoch! Alle diese Schwestern, so alt sie auch sein mögen, haben sich dadurch ihre völlige Unschuld gewahrt, sind keine Kinder der Welt, keine Kinder der Finsternis geworden, sondern Kinder des Lichtes geblieben — wahre Kinder, deren das Himmelreich ist — solche Kinder, wie unser Herr und Heiland sie zu sich rief — wahre Kinder, welche noch keinen Unterschied machen zwischen einer reichberingten Hand und einer schwieligen Arbeiterfaust, welche sich ebenso zutraulich an einen Matrosen schmiegen werden, wie an einen in goldener Wiege geborenen Edelmann, welche sich noch vor keinem Fluchen entsetzen, weil sie dessen Bedeutung noch gar nicht verstehen, wenn die schwielige Hand sie nur vorsichtig anfasst und sie zart streichelt...«
Das war das Hauptthema meiner Predigt, die wenigstens eine Viertelstunde währte, weshalb ich sie hier nicht ausführlich wiedergeben will.
Ja, ich zeigte einmal, dass ich eigentlich hätte Pastor werden sollen — und hier wurde bewiesen, dass ich kein schlechter Pastor geworden wäre.
Ich hielt diese Predigt aus dem Stegreife, ohne jede Vorbereitung, und diese geschulte Priorin wusste mir kein Wort zu erwidern, sank wie unter einer wuchtigen Last immer mehr zusammen.
»Und nun seien Sie versichert«, schloss ich meinen Sermon, »dass ich trotz alledem, was auch die Welt über mich spricht, und was ich auch wirklich schon Schreckliches getan haben mag, ein Ehrenmann bin, und das gilt von jedem einzelnen meiner Leute, vom ersten Offizier an bis zum letzten Matrosen und Heizer, und so können Sie auch versichert sein, dass kein einziger von uns eine dieser Namen zu irgend etwas zwingen wird, am allerwenigsten zu einer Heirat oder dergleichen, wenn es nicht ihr freier Wille ist.«
Langsam hatte sich die Priorin wieder aufgerichtet. Sie war eine ganz andere geworden, meine Worte hatten gewirkt.
»So weiß ich, was ich zu tun habe.«
»Tun Sie es.«
»Sie besitzen wirklich solch eine Insel?«
Auch diese Priorin schien jene Hefte gelesen zu haben, das verriet schon das Wort ›solch eine Insel‹. —
Ich bejahte.
»Wo liegt sie?«
»Das muss mein Geheimnis bleiben.«
»An der Ostküste Zentralamerikas?«
»Ich sage hierüber nichts.«
»Sie werden die Schwestern dorthin bringen?«
»Ja.«
»Und die doch an Komfort gewöhnten Damen werden dort aushalten können?«
»Sie werden auf dieser Insel sogar absolut nichts vermissen —«
»Und wenn die Abtrünnigen nun ihren Entschluss doch noch bereuen?«
»So sind sie sofort wieder frei, ich werde sie hinbringen, wohin sie bestimmen —«
Es musste eine frohe Botschaft sein, welche die Priorin zu hören bekam.
»Das werden Sie wirklich tun?«
»Ganz bestimmt!«
»Auf Ihr Ehrenwort?«
»Auf mein Ehrenwort!«
»Und Sie werden die Schwestern auch schonend behandeln?«
»Das ist doch selbstverständlich. Sonst hätten Sie mir nicht erst mein Ehrenwort abfordern dürfen, wenn Sie mich nicht für einen Ehrenmann halten, und, wie gesagt, ich garantiere für jeden einzelnen meiner Leute —«
»Sie werden sie auch zu keiner Heirat oder sonstigen ehelichen Verbindung zwingen?«
»Das ist doch ebenso selbstverständlich, davon habe ich auch schon gesprochen. Ich halte auf strengste Manneszucht, bei mir kommen keine Ausschreitungen vor, Trunkenheit und dergleichen ist bei uns ganz ausgeschlossen, und wer auch nur einen Finger gegen eine dieser Damen hebt, der soll auf der Stelle des Todes sein!!«
Mit furchtbarem Ernste hatte ich es gesprochen.
»Aber Sie beabsichtigen oder erhoffen eine allgemeine Heirat zwischen Ihren Matrosen und diesen Schwestern?«
»Ja, das erhoffe ich allerdings, darauf kommt ja alles an. Nur in aller Liebe muss es geschehen.«
»Dann weiß ich, was ich zu tun habe«, wiederholte die Priorin wie im Anfang.
»Nun?«
»Dann werde ich selbst mit nach Ihrer Insel kommen.«
»Das ist recht von Ihnen«, stimmte ich bei, musste aber dabei ein Lächeln unterdrücken.
»Natürlich nur«, beeilte sie sich hinzuzufügen, »um über das Seelenheil meiner Pflegebefohlenen zu wachen.«
»Da kann ich Ihnen wiederum nur beistimmen, und ich bewundere Ihren heroischen Mut.«
»Und dann werden Sie doch nichts dagegen haben, wenn ich durch Wort und Beispiel die Schwestern abzuhalten suche, mit Ihren Matrosen eine Ehe einzugehen?«
Wie hierbei das ›durch Beispiel‹ aufzufassen sei, war mir nicht recht verständlich, und in gewissem Sinne wirkte es fast humoristisch.
»Das steht Ihnen frei«, entgegnete ich aber höflich.
»Und ich darf doch auch jetzt noch einmal mit den Abtrünnigen Rücksprache nehmen, dass ich sie vielleicht noch von ihrem Entschlusse abbringe?«
»Auch das dürfen Sie; nur fürchte ich, dass es wenig Zweck haben wird.«
Es wurde an der Kajütentür geklopft, erst leise, dann immer stärker.
Ich öffnete die Tür, welche gar nicht verschlossen gewesen war. Draußen stand eine Schar Jungfrauen, und zwar ausschließlich solche vom älteren Kaliber. Ich erkannte gleich, dass es nur solche waren, die vorhin nicht den befreienden Schritt getan hatten.
Ob die Priorin nicht zu sprechen sei.
Ja, da stand sie schon vor ihnen.
»Diese Unglücklichen!«, fing die Sprecherin an, aber eifrigst unterstützt von ihren Mitschwestern bei der Jammerei. »Ich habe alles versucht — ich auch, ich auch, ich auch!!! — sie von ihrem wahnwitzigen Entschlusse abzubringen, ich habe ihnen die ganze Gottlosigkeit dieses Vorhabens vor Augen gehalten — ich auch, ich auch, ich auch!!! — aber der Teufel hat sie geblendet, sie wollen durchaus mit nach der Seeräuberinsel — und die Lady Juwenal ist auch noch übergetreten — und die Swersey auch — und sogar die Lady Diggelby, wer hätte das von der erwartet!!!«
Es waren noch mehr Namen genannt worden. So waren das die letzten, welche treu zur Fahne der Tugend und der ewigen Vorsehung hielten, und ich zählte ihrer nur neun.
Mit der Priorin waren es also zehn, und demnach standen mir bereits vierundsiebzig Jungfrauen zur Verfügung, das waren mehr, als ich brauchte, da hatte ich noch ein paar in Reserve, konnte sie einstweilen in die Räucherkammer hängen — — — um nämlich einmal mit Karlemanns Ausdrucksweise reden zu dürfen.
»Hochwürden«, fuhr die Sprecherin dann fort, »ich habe unterdessen einen Entschluss gefasst.«
»Ich auch, ich auch, ich auch!!!«, erklang es wiederum im Chore.
»Wir bitten um Ihre gütige Erlaubnis.«
»Ich auch, ich auch, ich auch!!!«
»Wir können unsere Mitschwestern nicht so schutzlos verlassen.«
»Nein, das können wir nicht, können wir nicht, können wir nicht!!!«
»Wir wollen sie wenigstens nach der Seeräuberinsel begleiten.«
»Ich auch, ich auch, ich auch!!!«, echote es achtmal im Chor. Und da neigte die Priorin ihr Haupt und sagte zur Abwechslung:
»Auch ich.«
Und ich suchte schnell nach meinem Schnupftuch, und zwar nicht etwa deshalb, um Tränen zu trocknen, und da ich kein solches fand, hätte auch ich gern wie Lady Maud den Finger in den Mund gesteckt, um mein Lachen zu unterdrücken. — — —
Dann war ich eine Minute allein.
Und da kam mir dies alles fast wie ein Traum vor. Vierundachtzig Weiber an Bord, Nonnen, alles Töchter der höchsten Aristokratie, willens, meine Matrosen und Karlemanns Zwerge zu heiraten, denn das musste doch schließlich das Endresultat sein, jetzt schon so gut wie mein Eigentum — — ja, war das denn wirklich nicht nur ein Traum?
Nein, es war keiner, es war Wirklichkeit.
Und da war mein Entschluss fertig.
Ich begab mich an Deck. Martin machte ich auf ein Segel aufmerksam, das denselben Kurs einzuhalten schien wie wir.
Die Nonnen hatten sich alle wieder unter Deck begeben.
Ich musterte unsere Takelage, an der nichts auszusetzen war.
»Alle Mann auf die Kommandobrücke!«
Sie kamen herauf, und auf der Kommandobrücke befand sich auch das Steuerrad, an dem ein Matrose stand.
Auch Karlemann kam angeschlendert.
»Na, Käpten, was ist nun eigentlich los? Nun erzählen Sie einmal.«
»Erzählen? Hier wird nicht erzählt, sondern nur instruiert.«
Einiges mussten meine Leute ja doch schon heraus haben, es war ja vorhin an Deck laut genug, zugegangen, und ich schilderte es meinen Leuten ausführlich.
Na, diese Gesichter!
Aber das dicke Ende kam nach, wie man sagt, und es fing damit an, dass ich meine Hand zur Faust ballte und sie hob.
»Nun wisst ihr, um was es sich handelt. Diese Nonnen — oder Damen, wie wir sie nur nennen werden, kommen mit uns — wohin, das werde ich noch bestimmen. Nun aber, wer diese Damen anders behandelt, als es sich für eine Dame geziemt, der macht mit dieser meiner Faust Bekanntschaft. Verstanden? Ihr kennt mich in so etwas. Doch ich kenne auch euch, und so wäre diese Warnung wohl gar nicht erst nötig gewesen.«
»Nein, Käpten, das war sie nicht«, erklang es etwas gekränkt im Chor.
»Und wohin wollt Ihr sie bringen?«, fragte Karlemann noch, dem ich solch eine Frage nicht verbieten konnte.
»Das werde ich später bestimmen«, konnte ich hingegen hierauf ebenso abweisend antworten. »Die Damen kommen auf die ›Sturmbraut‹ hinüber, erst aber will ich noch einmal allein zurück, und Ihr, Martin, versucht Euch inzwischen mit dem Segler dort in Verbindung zu setzen. Fragt an, ob er dieses Schiff, dessen Mannschaft schwer erkrankt ist, nach Hobarttown bugsieren will. Wenn Ihr abschlägige Antwort erhaltet, so fragt das nächste Schiff. Es müssen jetzt doch bald, da wir uns immer mehr der Küste Tasmanias nähern, noch mehr Fahrzeuge auftauchen.«
Ehe ich mich von zwei Matrosen nach der ›Sturmbraut‹ bringen ließ, nahm ich noch einmal Karlemann besonders vor.
»Algots, macht keinen Unsinn.«
»Unsinn, wieso?«
»Dass Ihr nicht etwa mit den Damen gleich von Euren Kinderprojekten anfangt.«
»I wo, das sind ja Nonnen, die wahrscheinlich noch nicht einmal einen Ochsen von einem Bullen unterscheiden können, und ich fasse doch jedes Tier mit einem besonderen Griffe an. Aber faktisch, Käpten, weil wir nun einmal davon sprechen — habt Ihr die Lange mit der Brille auf der Nase gesehen?«
»Ja, ich kenne sogar ihren Namen, das ist eine...«
»Wie se heeßt, is mir janz schnuppe, das hat mit den Kindern gar nischt zu tun. Aber Sie denken natierlich, von der will ich nun so lange Bandwürmer haben, wie Sie einer sind. Nee, janz im Gegenteil, die muss der Nauke heiraten — — oder vielleicht nehme ooch ich sie, aus der mache ich Zwerge, die hat nämlich so eingedrückte Weichen, und das ist ein Zeichen, dass sie...«
Ich ließ den unverbesserlichen Tierzüchter stehen. Meiner Sache, dass er so nicht zu den Damen selbst sprechen würde, war ich sicher.
»Halt, halt!«, rief Karlemann mir noch einmal nach, hielt mich auf.
»Na, was denn?«
»Hat Ihnen die kleine Nonne sonst nichts erzählt?«
»Erzählt, was?«
»Na, dass mir die Matrosen der ›Hekuba‹ nicht etwa schon ein bisschen ins Handwerk gepfuscht haben?«
Ich machte, dass ich ins Boot kam.
Karlemann hatte da wirklich eine Frage berührt, welche zu denken gab.
Aber wie ich dann später erfuhr, hatte der Kapitän, ein Ehrenmann, auf strengste Manneszucht gehalten, und die Priorin auf Weiberzucht. Niemand hatte nur einen Schritt allein tun dürfen.
Als ich wieder das Deck meiner ›Sturmbraut‹ betrat, waren mir alle Gesichter erwartungsvoll zugekehrt. Die armen Kerls taten nur fast leid. Wussten da drüben anderthalb Schock Nonnen und hatten keine Ahnung, was für Verhandlungen ich mit denen pflegte.
Nun, ich ließ sie antreten, natürlich auch Karlemanns Bengel, und als sie alle zusammen waren, gegen sechzig Mann, wenn so ein ›Mann‹ manchmal auch kaum auf den Tisch blicken konnte, hielt ich meinen Speech, einen ganz ähnlichen wie drüben auf der ›Hekuba‹.
Auch hier zeigte ich meine Faust, sprach auch etwas vom Revolver, von ›wie einen Hund über den Haufen schießen‹.
»Aber das werde ich bei euch nicht nötig haben. Ich kenne euch, wie ihr mich. Habt ihr mich sonst verstanden?«
»Jawohl, Herr Kapitän!!«
Und wie diese Gesichter listig schmunzelten, wenn sie nicht zu glühen begannen.
Wieder ward ich mich des ganzen seltsamen Verhältnisses bewusst.
Der größte Teil der Angetretenen bestand aus unreifen, noch dazu im Wachstum seit mehr denn zwei Jahren zurückgebliebenen Knaben, und auch an diese hatte ich solche Worte gerichtet, hatte ich von Heiraten und dergleichen gesprochen.
Ich sage: das Bewusstsein dieses seltsamen Verhältnisses erfasste mich. Von einer Anwandlung zur Lachlust war bei mir jetzt keine Rede.
Ein Wort konnte all diesen Widerspruch lösen.
Das Wort Zigeuner, Seezigeuner!
Man schlage in der Weltgeschichte nach, vom Altertum bis zum Mittelalter, bis zum Anfang der neueren Zeit — überall wird man von Heiraten lesen, geschlossen zwischen halbwüchsigen Knaben und gereiften, manchmal sogar schon alten Frauen, aus politischen Gründen, meist also zwischen Fürstenkindern.
Im Orient, besonders in Indien, ist das ja noch heute an der Tagesordnung, und nicht nur aus politischen Gründen. Und dann bei den orthodoxen Juden Südwesteuropas. Und dann bei den Zigeunern.
Hier bei mir war ein natürlicher Hinderungsgrund zu einer Heirat nicht einmal vorhanden. Erstens entscheidet an Bord des Schiffes, wie es in der ganzen Welt sein sollte, über die Männlichkeit nicht das Alter, sondern das Können, die kräftige, geschickte Faust verbunden mit aufgewecktem Geist.
Und da war wirklich jeder dieser Knirpse ein ganzer Mann, dank Karlemanns praktischer Erziehung.
Zweitens schien dieses Wunderdoktors Verkleinerungsmedizin noch eine ganz eigentümliche physiologische Wirkung auszuüben, selbst der jüngste dieser Zwerge, jetzt im elften Jahre stehend, hätte nach orientalischem Gesetze, das allerdings, wie oben angedeutet, auch Ausnahmen zulässt, heiraten können. Ich wusste es.
Doch immerhin — wenn ich mir im Geiste diese englischen Jungfrauen vorstellte, gerade durch die lange Seereise mit blühendem Antlitz und blühendem Leibe, selbst bei den älteren, die aber gar nicht so zahlreich vertreten waren — mir sträubten sich doch etwas die Haare auf dem Kopfe. Gerade ich war in so etwas ja so ein seltsamer, empfindlicher Kauz.
Doch genug hiervon! Wir waren eben Seezigeuner und sollten es bleiben — — die ewige Vorsehung hatte es bestimmt.
Der Versammlung vor dem Maste hatte auch Tischkoff beigewohnt, der eben seinen Morgenspaziergang gemacht, und auf meine Bitte folgte er mir in die Kajüte, wo ich ihm den ganzen Hergang näher schilderte.
»Recht so!«, sagte er, nichts weiter.
»Und die Priorin hat meine Trauung mit Blodwen vollzogen.«
»Recht so!«
Eigentlich hätte mein Kommodore doch etwas mehr sagen, mir mindestens gratulieren können.
»Aber ich gedenke die Nonnen nicht etwa nach der Fucusinsel zu bringen.«
»Wohin sonst?«
»Nach dem hohlen Felsenberge, den mir Lord Seymour vermacht hat.«
»Recht so!«
Mehr war aus Mr. Tischkoff heute doch nicht herauszubringen. Das vermeintliche Segelschiff hatte sich beim Näherkommen als ein Dampfer entpuppt, Martin hatte mit ihm Signale gewechselt, und der Zufall wollte, dass sein Ziel gleichfalls Hobarttown war.
Sofort hatte sich der führende Kapitän bereit erklärt, das mannschaftslose Schiff ins Schlepptau zu nehmen, natürlich gegen Bezahlung, ohne die es, wie schon einmal erwähnt, auf See überhaupt nichts gibt. Doch das war dann Sache der betreffenden Reederei.
Schon kam der Dampfer, ein englischer, heran, war aber doch noch so weit ab, dass ich genügend Zeit haben musste, die Nonnen vorher mit all ihrem Gepäck an Bord meiner ›Sturmbraut‹ zu bringen.
So geschah es alsbald, wobei alle Boote mitarbeiten mussten. In einer halben Stunde war es geschehen, und da war der Dampfer erst in Rufweite.
Der Kapitän des Dampfers kam selbst mit im Boote herüber, ich empfing ihn noch an Bord der ›Hekuba‹.
Es war ein Nevermindman erster Güte, der sich über nichts wunderte, mich kaum anblickte, als ich meinen Namen nannte.
»Kapitän Richard Jansen von der ›Sturmbraut‹? Very well, womit ist die ›Hekuba‹ befrachtet?«
Ich musste ihm alle Verhältnisse auseinandersetzen, weil er dies in sein eigenes Logbuch einzutragen hatte.
Der Mann zuckte mit keiner Wimper, als er hörte, dass es die höchstgeborenen Töchter seines Heimatlandes waren, die ich jetzt an Bord meines in Acht erklärten Schiffes genommen hatte.
»Wie viele sind's?«
»Vierundachtzig.«
»Very well. Haben Sie nicht eine namentliche Liste derselben?«
Ich gab sie ihm.
»Very well.«
Die Sache war erledigt. Ich sah noch einmal nach den Kranken, mit denen es jetzt schon bedeutend besser stand, und begab mich nach der ›Sturmbraut‹ zurück.
Der Tag verging mit der wohnlichen Unterbringung der Nonnen, die sofort erklärten, sich auf dieser eleganten Jacht weit wohler zu fühlen als auf dem hölzernen Trog, den sie verlassen.
Freilich hatten ich und meine Jungen gegen tausend neugierige Fragen anzukämpfen.
Und als die Nacht anbrach, betrat ich eine der drei Kabinen, welche Blodwen früher innegehabt und welche sie nun wieder bezogen hatte.
Also Blodwen hatte recht behalten mit ihrer Behauptung, dass sie mich doch noch wieder zurückerobern würde.
War ich inkonsequent gewesen? War ich ein Schwächling?
»Never mind.«
Die Liebe stammt von Zigeunern, wenn das damals auch noch nicht gesungen ward — aber schon damals kannte diese Liebe weder Recht, Gesetz noch Macht...
Zwei Wochen später näherte ich mich zum zweiten Male den Elliceinseln, aber von anderer Seite als damals, wir kamen ja nicht um Südamerika, sondern um Afrika und Australien herum.
Tischkoff hatte mir während der Fahrt durch die polynesischen Archipele vorzügliche Lotsendienste geleistet — wenn ein Kommodore dem ihm unterstellten Kapitän Dienste leisten darf — jedenfalls hatte er bewiesen, wie er hier zu Hause war.
Natürlich, der Mann, der die Nummer eins auf den Kopf tätowiert hatte, konnte doch auch sehr viel von jenem hohlen Felsenberge erzählen, kannte die ganzen Geheimnisse, und eben aus diesem Grunde hatte er damals mich gar nicht anhören wollen, fing auch jetzt mit keinem Worte davon an, und ich kam seiner Schweigsamkeit dieser Sache durch Vermeidung jeder Frage entgegen.
Es war eine mondhelle Nacht, als wir in einer Entfernung von etwa zehn Seemeilen Fanafute passierten. Nichts regte sich, nur am Bug plätscherte das Wasser, das wir mit halber Dampfkraft durchschnitten. Vor uns ragte schon in scharfen Konturen der große Vogelberg empor, unser Ziel.
»Ob sich die Herren wohl wieder auf Fanafute zusammengefunden haben?«, unterbrach ich einmal das Schweigen, mich an den neben mir auf der Kommandobrücke stehenden Tischkoff wendend.
»Was weiß ich«, war seine Antwort, aber durchaus nicht unfreundlich gegeben. »Also der hohle Vogelberg hat einen Hafen mit geheimer Einfahrt, groß genug, um auch die ›Sturmbraut‹ durchzulassen?«
Der Fuchs! Als ob der das nicht am besten selber wisse! Doch ich ging auf seine scheinbare Unkenntnis ein — ich bejahte.
»Werden Sie den geheimen Eingang wiederfinden?«
»Ich hoffe doch.«
»Das Steintor auch öffnen können?«
»Wenn der Mechanismus noch funktioniert, ja.«
»So machen Sie alles klar zur Einfahrt, ich behalte unterdessen das Kommando über das Schiff.«
Dadurch zeigte der seltsame Kauz wiederum, wie genau er das Fahrwasser und alles andere kannte, er bugsierte die ›Sturmbraut‹ dicht an den Felsen heran und um ihn herum, was ich trotz der hellen Mondnacht niemals gewagt hätte.
Sonst aber ließ er mich allein gewähren. Gegenüber der betreffenden Stelle, von Fanafute abgelegen, ließ ich ein Boot aussetzen, ging selbst mit hinein, wir legten am Felsen an.
Ja, meine tastende Hand fand noch die Vorrichtung, von der ich schon früher gesagt habe, dass sie wegen ihrer Einfachheit nicht näher zu beschreiben ist, und der Mechanismus funktionierte auch noch, unter einem leichten Drucke auf den vorspringenden Stein wich die ganze Wand zurück oder kam vielmehr uns entgegen.
Obgleich ich dies gehofft hatte, war mein Staunen dennoch nicht gering.
Wir hatten zurzeit nämlich gerade die erste Hälfte der Flut, für unser Vorhaben, mit dem ganzen Schiffe in den hohlen Felsen einzudringen, allerdings sehr günstig, die Flut musste uns hineintreiben. Aber ich hatte gefürchtet, dass das steinerne Tor, welches sich nur ganz langsam bewegte, eben diesen Druck der Flut nicht überwinden würde.
Nun ging das mächtige Tor dennoch der Flut ganz leicht entgegen, drückte das eindringende Wasser zur Seite.
Später erkannte ich, dass hier ein ebenso einfacher Mechanismus wirkte. Es war eine andere Wasserkraft, welche hier funktionierte: Aus dem Brunnen füllte sich ein Bassin selbsttätig mit Wasser, welches sich dann auf eine schiefe Fläche ergoss und somit das Tor vorschob, auch den Druck der Flut überwindend. Anders kann ich diesen Mechanismus wiederum nicht beschreiben, nur möchte ich hierbei erwähnen, dass ich lebhaft an maurische und indische Wasserkünste erinnert wurde; denn die alten Mauren und Inder haben durch Wasserkräfte Leistungen vollbracht, welche uns heute fast unbegreiflich erscheinen. Und noch heute besitzt der Maharadscha von Haiderabad einen kleinen Palast, der ganz aus Stahlschienen und Glas gebaut ist, und welcher, für gewöhnlich in einem paradiesischen Tale liegend, zur Zeit der Überschwemmung auf einen fast hundert Meter hohen Berg versetzt wird, ebenfalls durch Wasserkraft, wozu allerdings einige hundert Kulis das ganze Jahr pumpen müssen, um diese Arbeitsleistung ein einziges Mal im Jahre innerhalb weniger Minuten erzielen zu können.
Jetzt trieb die ›Sturmbraut‹ von ganz allein hinein, nur gesteuert von Tischkoffs kundiger Hand.
Wir brauchten nicht so im Finstern zu sein wie damals, eine Menge Lampen sorgten bald für das hellste Licht, wenn dieses auch nicht die weite Halle, einen ummauerten und überdachten Hafen, durchdrang.
Jetzt aber sah ich erst, was für eine Menge kleinerer und größerer Fahrzeuge hier lagen, selbst stattliche Schiffe, aber alle neuerer Bauart.
Und was für Augen nun meine Jungen machten!! Die glaubten doch natürlich zuerst, ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht zu träumen!
Sie staunten jedenfalls noch mehr als unsere weiblichen Gäste, die schon durch die phantastische Lektüre einigermaßen vorbereitet gewesen waren. Aber von meinen eigenen Leuten hatte außer Goliath ja auch niemand nur eine Ahnung von so etwas gehabt!
Da ich nun einmal von unseren weiblichen Passagieren gesprochen habe, so will ich gleich hier erwähnen, dass sich das Verhältnis der Nonnen zu uns während der zwei Wochen Beisammenseins zwischen engen Schiffsplanken noch nicht geändert hatte. Weder waren wir einander näher gekommen, noch hatten die Nonnen ihr Interesse für das Zukünftige, was ihrer wartete, verloren. Die Priorin hielt nach wie vor auf strenge Mannszucht, und ich ließ sie gewähren. Die Nonnen ordneten sich ihr ja noch immer freiwillig unter. Um intimere Freundschaft zu gewinnen, dazu mussten wir entweder längere Zeit beisammen sein, oder es musste irgendein besonderes Ereignis eintreten.
Im Übrigen befanden sich die Nonnen ja schon in einer ihnen neuen Welt, und ganz besonders fleißigen Gebrauch machten sie von unserer reichhaltigen Bibliothek, die ich damals in London bei der Ausrüstung von einem in so etwas bewanderten Buchhändler auch mit einer ganzen Kollektion der besten und interessantesten Romane hatte ausstatten lassen, und die Priorin hinderte ihre Schutzbefohlenen nicht am Lesen. Denn einmal ging so weit ihre Macht überhaupt nicht mehr, und dann war die Priorin selbst die eifrigste ›Schmökerin‹.
Schließlich will ich nur noch erwähnen, dass ich nicht für nötig befunden hatte, bei der Einfahrt den Nonnen die Augen zu verbinden, was einige Enttäuschung hervorzurufen schien, und dann hatte ich mich wieder gegen tausend Fragen zu wappnen, und spaßhaft war dabei nur, dass die sämtlichen vierundachtzig Frauenzimmer der festen Überzeugung waren, sich hier an der Ostküste von Zentralamerika zu befinden. —
Es war jetzt keine Zeit zu weiteren Erforschungen, die ich nicht schon damals gemacht hätte. Zur allgemeinen Besichtigung dieses eingemeißelten Hafens war auch eine ganz andere Lichtquelle nötig, wenn eine solche nicht schon vorhanden, aber erst zu finden war.
Jetzt musste das Tor wieder geschlossen und die ›Sturmbraut‹ befestigt werden, dann bewegten sich die hundertfünfzig Menschen, die wir zusammen zählten, ich an der Spitze, hinter mir Tischkoff, Goliath den Schluss bildend, in langer Reihe die an dem Hafen hinführende Galerie entlang.
Mit Leichtigkeit fand ich auch den zweiten Ausgang, die Steintür funktionierte, und ich betrat als erster wieder den engen Raum, welcher den eigentlichen Brunnenschacht und die Eingänge zum Kohlenbergwerk enthielt.
Wichtig war es für mich, hier in dem am Boden angesammelten Kohlenstaub noch die drei sehr verschiedenen Fußspuren zu erblicken, nämlich die einst Lord Seymour, Goliath und ich hinterlassen hatten, und neue waren nicht hinzugekommen.
So hatte also auch Lord Seymour das Innere des Felsens nicht wieder betreten, denn wenn er dies gewollt, so hätte er wohl schwerlich wieder einen Luftballon benutzt, sondern den bequemeren Wasserweg gewählt.
Dann ging es durch die mehr als siebzig Etagen die zahllosen Stufen hinauf. Mochten die Nonnen durch das, was sie im spärlichen Scheine der Laternen zu sehen bekamen, auch in noch so großes Staunen versetzt werden — die Anstrengung des Stufensteigens besiegte jedes andere Gefühl, und dasselbe galt von meinen Jungen. Seeleute sind eben keine Bergsteiger, das Erklettern der Wanten, von den Landratten hartnäckig Strickleitern genannt, ist doch etwas ganz anderes.
Als wir endlich jene der obersten Etagen erreicht hatten, in der einst die gesamte Mannschaft untergebracht gewesen, in der sich also noch jetzt die zahlreichen Lagerstätten befanden, waren wir alle zusammen, meine Person nicht ausgeschlossen, zu Tode erschöpft, die zarteren Nonnen mochten noch etwas toter sein, und meine großen und kleinen Jungen hatten trotz aller eigenen Müdigkeit schon längst die Galanterie gezeigt, die Kuttenträgerinnen — Not kennt kein Gebot — am Hinterteil die Stufen hinaufzuschieben, ich sah sogar, wie einige der kleinsten Bengels ihren Kopf in diesen fleischigsten Teil des menschlichen Körpers gestemmt oder vielmehr gebohrt hatten.
Auch zum großen Verteilen der Betten war jetzt keine Zeit mehr.
»Wo sind denn hier die Apfelsinenbäu — bäu — bäume?«, fragte neben mir Miss Maud, die letzte Plantagenet, die sich bei dieser Treppentour am wackersten gezeigt hatte, mit schwerer Zunge. »Und die Schoko — Schokola — la — la —«
Das ›lade‹ brachte sie nicht mehr heraus, die Schokolade musste ihr überhaupt wohl schon im Traume erscheinen — sie fiel einfach um, oder legte sich doch gleich, wo sie stand, auf den Boden hin und machte auch sofort so ein zartes Jungferngeschnarche.
Den anderen ging es nicht viel besser. Sie waren seit gestern früh auf, hatten den ganzen Tag in Anbetracht dessen, dass wir uns der geheimnisvollen Insel näherten, in fieberhafter Aufregung verbracht, ebenso die ganze Nacht, und nun zuletzt diese anstrengende Treppentour — es war einfach alle mit ihnen.
Ich machte es kurz.
»Die Schafe links, die Böcke rechts«, sagte ich und brauchte nicht erst zu kommandieren, dass die meistenteils schon im Gehen Schlafenden in ihre Nischen linkerhand getragen wurden, das besorgten meine galanten Jungen von ganz alleine — selbstverständlich in allen Ehren.
Ausgezogen brauchten sie ja auch nicht zu werden, die waren gewohnt, in Kutte und Stiefeln zu schlafen, obgleich noch in letzter Zeit eine Änderung eingetreten zu sein schien. Ich selbst warf mich auf das erste beste Bett und schlief noch in derselben Minute den Schlaf des Gerechten.
Das erste Tageslicht, welches durch die Fenster drang, weckte mich wie gewöhnlich.
Ein allgemeines Sägen, nichts weiter. Doch, da auch ein Wasserplätschern. Es war Goliath, der schon Toilette gemacht und auch für die anderen die Waschbassins mit Wasser füllte.
Ein Blick durch eines der runden Fenster belehrte mich, dass ich mich auf der Fanafute abgewendet gelegenen Seite befand, von hier aus warnichts weiter als das freie Meer zu sehen, nur hin und wieder ein winziges Inselchen, nicht der Rede wert, die eigentliche Inselwelt befand sich auf der anderen Seite — doch ehe ich diesen ganzen riesenhaften Saal durchmaß, konnte ich mich auf kürzerem Wege nach oben begeben.
Diese meine Absicht hatte ich Goliath mit leiser Stimme mitgeteilt, wir stiegen empor, kamen also zuerst durch die Etage, welche die Offizierswohnungen enthielt, passierten dann die Geschützbatterie, dann den Proviantraum und kamen so in den völlig nackten Saal, der jedenfalls den früheren, jetzt verschollenen Bewohnern dieses Felsenberges als Tummelplatz gedient hatte.
Wo aber befand sich hier nun die lose Platte, die wir damals über uns wieder geschlossen hatten? Jeder von uns hatte eine Laterne mitgenommen, aber ich bezweifle fast, dass ich die Stelle in dem zwei Quadratkilometer >großen Felde ohne Goliaths Spürsinn über meinem Haupte wiedergefunden hätte.
Doch dieser Neger, der trotz aller Bildung die Eigenschaften eines echten Wilden gewahrt zu haben schien, irrte sich nicht in der Richtung; wir fanden die steile, eiserne Leiter wieder, und von hier unten war es gar nicht so schwer, die Platte zu entfernen, es befand sich eine sinnreiche Hebelvorrichtung daran.
So stand ich wiederum auf dem himmelhohen Plateau und saugte mit Entzücken die köstliche Morgenluft ein.
Dann schritten wir hinüber nach der Westseite, und zu meinen Füßen lag im goldenen Sonnenschein die Inselwelt, welche nach den Angaben in den geografischen Handbüchern aus den zweihundertfünfzig Eilanden bestehen soll, während doch von hier oben aus der erste Blick sagte, dass es weit über tausend sein müssen, allerdings dann auch die ganz kleinen mitgezählt, welche das große, gebirgige Fanufute umgeben.
Die Häuser und Gärten auf dieser Hauptinsel waren von hier oben aus mit bloßem Auge zu erkennen — allerdings musste man schon wissen, dass diese weißen Punkte Häuser seien — und durch mein Taschenfernrohr sah ich auch bereits winzige Menschlein kribbeln.
»Ob sich wohl auch Lord Seymour und die anderen Seezigeuner wieder eingefunden haben, um ihre phantastischen Pläne zu verwirklichen?«, meinte ich, mehr zu mir selbst sprechend.
»Belebt ist Fanafute ja noch«, entgegnete Goliath, »nur ist daraus nicht auch auf die Anwesenheit der Herren zu schließen.«
Ich warf dem Sprecher einen Blick zu — nämlich ob auch er ein Fernrohr habe — um ihn dann erstaunt anzusehen.
»Du kannst faktisch die Menschen schon mit bloßen Augen erkennen?!«
»Ja, ich sehe kleine Punkte sich zwischen den Häusern und in den Feldern und Gärten bewegen, und das können doch nur Menschen sein.«
Es war mir kaum glaubhaft. Und doch, ich hatte ja schon manche Probe von dieses Negers fabelhaft scharfem Auge bekommen.
»Und dort«, fuhr Goliath mit ausgestrecktem Arm fort, »dort auf jener Insel sind ebenfalls Menschen — auf der zweiten, dritten Insel rechts — ja, und da ist ja auch eine Burg darauf — und dort auch — und auf jener ebenfalls — alle diese kleineren Inseln haben jetzt Häuser bekommen, die fast wie kleine Ritterburgen aussehen!«
Mein Fernrohr bestätigte Goliaths Angaben. Hin und wieder erhob sich auf einer der kleineren Inseln, aber nur, wenn diese ihren Ursprung nicht allein dem Korallenwachstum, sondern auch vulkanischer Kraft verdankte, auf diesem Kegelberge ein Gebäude, welches mit seinen Türmen und Zinnen ganz einer Ritterburg alten Stils glich.
Die Entfernung war ja eine sehr große, auch für ein besseres Fernrohr. Näheres konnte man nicht unterscheiden — — so viel aber war nun für mich gewiss, dass diese Seezigeuner besonderer Art, nämlich nach durchaus phantastischer Richtung, unterdessen ihr Vorhaben ausgeführt oder doch schon die Vorbereitungen zum künftigen Spiele getroffen hatten, die alten Ritterzeiten wieder aufleben zu lassen mit allem, was dazu gehört — dass jeder Ritter in seiner Burg als selbstständiger Fürst lebt, von seinen Vasallen umgeben als von seinem Volke, und bringen die Zechgelage, zu denen man sich gegenseitig einladet, keine Abwechslung mehr, dann geht es einmal zum Kampfe, Burg gegen Burg, so wie heute nach Jahrhunderten Nation gegen Nation zum Kriege rüstet, oftmals auch nur wegen einer geringen Differenz ihrer Oberhäupter. Und dabei muss ich Philosoph in Seestiefeln und Teerjacke immer wieder bemerken, dass damals diesen Rittern in ihren isolierten Burgen wie auch ihren paar Vasallen diese Kriegsspielerei genau so wichtig, von solch welthistorischer Bedeutung dünkte, wie es heute bei ganzen Nationen der Fall ist. Und im Grunde genommen, durch das Teleskop von einem anderen Planeten aus betrachtet, oder man braucht nur im Luftballon tausend Meter hoch zu gehen, ist dies alles doch nur Ameisenbalgerei, ohne welche der liebe Gott seine Sonne noch immer aufgehen lässt über Gerechte und Ungerechte.
»Das muss ich mir in der Nähe besehen!«, war mein nächster Gedanke, laut ausgesprochen.
Wir begaben uns wieder hinab in den Schlafsaal, wo noch immer eifrigst gesägt wurde. Einige Matrosen waren aber doch schon auf, vom Hunger geweckt, und widmeten ihren Forschergeist dem Aufsuchen von Lebensmitteln.
Wir konnten sie zurechtweisen, aus dem Proviantraum in die Riesenküche, und mein eigener Magen sprach schon längst eine deutliche Sprache, so wurde zunächst Smutje auf die Beine gebracht und in sein neues Reich eingeführt, dann, nach dem delikaten Mahle, an dem aber noch längst nicht alle Leute und keine einzige der Nonnen teilnahm, wählte ich sechs Matrosen aus, welche mich wieder die siebzig Etagen hinab nach dem Schiffe begleiten mussten.
Vorher hatte ich einige Instruktionen gegeben, was unterdessen alles zu machen sei, vor allen Dingen sollten die Ingenieure ihre ganze Aufmerksamkeit den Fahrstühlen widmen, dass bald diese schreckliche Kletterei aufhören würde.
Sonst konnten sich die Leute hier amüsieren, wie sie wollten; die brauchten doch einige Tage, um alles zu untersuchen, sie sollten sogar alles durchstöbern, womöglich mit Papier und Bleistift in der Hand, um mir dann später Bericht abzustatten, sie konnten auch vom Plateau aus nach Herzenslust Umschau halten — und ich war also mit Goliath und den sechs Matrosen als Bootsruderer nach unten abgerückt.
Unterdessen aber waren, zumal in Anbetracht der kolossalen Verhältnisse dieses Felsenberges, doch gute zwei Stunden vergangen, ehe ein ausgesetztes Boot der ›Sturmbraut‹ durch das von mir geöffnete Tor hinaussteuerte.
Ich schloss dieses wieder, die mitgekommenen Matrosen gleich in die dazu nötigen Handgriffe einweihend.
»Immer fragt, wenn ihr etwas wissen wollt!«, ermunterte ich die, welche vorläufig noch immer nur staunen konnten.
»Wer hat denn diesen Berg ausgehöhlt? Wer hat alle diese Schiffe und Vorräte hier angehäuft?«
Ja, das war gerade die einzige Frage, die ich nicht beantworten konnte.
»Werden wir jetzt hier bleiben?«
»Jawohl, Kinder, hier werden wir bleiben, und ich denke, hier wird es uns besser gefallen als auf der nach faulendem Seetang duftenden Fucusinsel.«
»Und was werden wir hier treiben?«, wagte der Vorwitzigste zu fragen.
»Ein Asyl für Seezigeuner gründen — für andere Menschen, welche so wie wir mit aller Welt zerfallen sind, von dieser unschuldig verfolgt werden«, entgegnete ich, eine leise Andeutung von meinen zukünftigen Plänen gebend, vorläufig aber auch nichts weiter.
So hatten wir den Felsenberg umsteuert, vor uns lagen die zahllosen Inseln, bald befanden wir uns zwischen ihnen.
Da hatten wir eine solche Ritterfestung vor uns, auf einem ganz ansehnlichen Kegelberge liegend. Auf dem Turme wehte eine Flagge, deren Farben wir noch nicht unterscheiden konnten, auch Menschen waren schon zu bemerken — vor allen Dingen aber wurde jetzt unsere Aufmerksamkeit durch ein seltsames Fahrzeug gefesselt, welches, von einer Insel zur anderen strebend, uns entgegenkam.
Es war ein Ruderboot oder vielmehr ein Ruderschiff, eine Galeere, von dreifach übereinander angebrachten, mächtig langen Riemen fortbewegt.
Die Ruderer selbst waren nicht zu sehen, dazu war die Bordwand zu hoch, aber wir hörten den taktmäßigen Paukenschlag, durch welchen schon zuzeiten der alten Phönizier die Galeerensklaven in Takt gehalten wurden.
Wahrhaftig, diese phantasiereichen Herren hatten es an nichts fehlen lassen, um sich in die alten Zeiten zurückzuversetzen!!
Jetzt stoppte die dreifache Backbordseite, während die andere weiter ruderte, so drehte das stattliche Fahrzeug, dessen Bug eine Galionsfigur zierte, anscheinend ein germanischer Gott, bei, um auf uns zuzuhalten.
Hierbei bemerkte ich gleich, dass die Ruderer noch nicht ganz eingeübt waren, dieses Manöver klappte nicht so, wie es wohl sollte, die langen Ruderstangen klapperten tüchtig zusammen, was bei dieser Art von Fortbewegung freilich Entschuldigung verdiente, denn so etwas will unter geübten Rudermeistern wohl eingeschult sein.
Da erschien auf der hohen Back eine Gestalt — und ich war fast enttäuscht, keine Figur aus grauem Altertume zu erblicken, etwa im Brustpanzer mit Beinschienen oder doch in weißer Toga — und dennoch freute ich mich, in dem dicken Männchen mit den gestickten Kniehosen Seine Herrlichkeit den Lord Archibald Seymour zu erkennen, der nun einmal meine ungeteilte Sympathie gewonnen hatte.
»I dr Deiwel, ist denn das nicht der Kapitän Richard Jansen?!«, rief er mir von seinem hohen Standpunkte entgegen.
»Jawohl, ich bin's!«, erwiderte ich mit eben solch lachendem Gesicht.
»Ich denke, Sie sind schon lange tot? Was machen Sie denn noch hier auf dieser schönen Erde? Na, da kommen Sie nur herauf!«
Die Galeere war vollständig gestoppt worden, mein Boot legte bei, ich schwang mich an einem ausgeworfenen Seile empor.
»Rudert dorthin nach der Burg«, rief Seymour meinen Leuten hinab, dabei nach der Insel deutend, die wir schon vorhin im Auge gehabt. »Wir gehen auch hin«, wandte er sich dann an mich, meine Hand schüttelnd, »ich will nur meine Ruderknechte noch etwas warm machen. Nu, woher kommen Sie denn eigentlich?«
Während ich schon erzählte, sah ich mich etwas um.
Aber wenn man noch kein Modell gesehen, sich in eine sachgemäße Beschreibung nicht hineingelebt hat, ist so eine Rudergaleere schwer zu schildern.
Die Hauptsache war, dass auf jeder Seite vierzig Ruderer saßen, und zwar auf Bänken übereinander. Denn auf jeder Seite befanden sich dreimal zehn Ruder oder Riemen, ebenfalls übereinander angebracht. An den unteren saß je ein Mann, desgleichen an den darüber befindlichen — doch waren schon diese Riemen in der zweiten Etage viel länger, um über die unteren zu greifen, so musste das bei denen in der dritten Etage noch mehr der Fall sein, und von diesen erforderte denn auch jede der wenigstens zwölf Meter langen Riemenstangen zwei nebeneinandersitzende Männer zur Bedienung.
Hier erwähne ich, dass in alten Zeiten bei den Galeeren, die bis zu fünf Reihen Ruder hatten, auch bis zu fünf Mann an einem Riemen saßen, und daher ergibt sich die große Anzahl der Leute, mit denen die alten Galeeren bemannt waren, sechshundert und noch mehr Menschen, denn nun kommt doch auch noch die andere Seite in Betracht, dann sind vor allen Dingen die Krieger zu bedenken: diese Ruderknechte nahmen am Kampfe ja gar nicht teil, sie waren ja gewöhnlich angekettet. Hingegen ist zu bedenken, dass solche Galeeren auch keine sehr weiten Reisen unternahmen, sich wenigstens immer nahe den Küsten hielten, wo sie den Proviant ergänzen konnten, und auch sonst sind diese alten Galeeren nicht etwa mit unseren Kriegsschiffen zu vergleichen, selbst wenn sie mächtige Katapulte und Ballisten an Bord hatten.
Hier waren es also achtzig Mann, welche die Ruder bedienten, lauter indische Kulis, kraftvolle Gestalten, und mich wunderte fast, dass Lord Seymour, um aller Natürlichkeit gerecht zu werden, sie nicht mit Ketten an die Bänke geschmiedet hatte.
Dann waren noch einige andere Männer vorhanden, Europäer, meist englische Gesichter zeigend, auch noch in ihrer gewöhnlichen Garderobe, mit verschiedenen Ämtern betraut. Die Hauptperson war wohl der Paukenschläger. Eigentlich heißt dieser Mann, den schon die alten Phönizier an Bord ihrer Galeeren hatten wie dann auch die Griechen und Römer, anders, aber ich kenne den klassischen Namen nicht mehr.
Er hatte eben ein paukenähnliches Instrument vor sich, auf dem er zum Rudern den Takt schlug.
Ich war dem Lord in die Kajüte gefolgt, trotz deren fürchterlichen Enge der größte Raum, den es hier gab.
»Sie sind wieder im Vogelberg?«
»Ja.«
»Mit der ›Sturmbraut‹?«
»Ja.«
»Wie sind Sie denn damals von der Osterinsel fortgekommen?«
Ich hatte meinen Entschluss bereits gefasst.
»Mylord, ich darf Ihrem Ehrenwort trauen.«
»Ja, bei dieser siegreichen Hose des seligen Nelsons, bei den Zähnen meiner Geliebten!«
Ich erzählte von der Entführung Blodwens.
Der edle Mylord war viel zu sehr Nevermindman, als dass er besonders staunen konnte.
»Ja, da freilich konnten wir tage- und wochenlang nach der Verschwundenen suchen!«, sagte er nur. »Lady Blodwen ist für tot erklärt worden.«
»Mit welchem Rechte? Nur deswegen, weil man sie in dem unterirdischen Labyrinthe nicht fand?«
»Nicht nur deswegen. Wissen Sie nicht, was bald nach Ihrer Abreise auf der Osterinsel passiert ist?«
»Ich weiß gar nichts, ich bin immer auf hoher See gewesen«, entgegnete ich, denn den Lord auch über die Fucusinsel einzuweihen, dazu hatte ich keinen Grund.
»Aber Sie wissen doch, dass die Lady eine Unmenge wilder Bestien auf der Insel hatte?«
»Ich ahnte es wenigstens. Sie wollte uns auch solche klassische Tierkämpfe zum besten geben.«
»So ist es. Diese Bestien, Löwen und Tiger und andere Raubtiere, waren in den Kammern jenes ausgehöhlten Kraters untergebracht. Sie waren erst einen Tag fort, da sind alle diese Käfige von irgendeiner schadenfrohen Hand geöffnet worden, die Bestien ergossen sich über die ganze Insel, alles Lebendige niederreißend. Daher der Name reißende Tiere. Aber viele fanden aus dem Labyrinthe auch nicht den Ausweg, die trieben sich darin herum.«
So sehr mich auch dieser Fall interessierte, musste ich doch erst bei der Hauptsache bleiben.
»Nun, und wie hängt das nun damit zusammen, dass man an Lady Blodwens Tod glaubt?«
»Man fand unten in einem Gange einen menschlichen Leichnam, das heißt, nur noch die gröbsten Knochen davon, auch die rotblonden Haare, wie die Lady sie hatte, und dann auch die Fetzen eines Kleides, wie sie es damals immer trug — na, da musste sie doch eben von den Bestien gefressen sein.«
Tischkoff hatte damals das Richtige prophezeit — wenigstens war da ein Eingriff jener Verwandten stark zu vermuten.
»Lady Blodwen befindet sich bei mir.«
»Ob sie's auch wirklich ist?«, meinte Seymour zweifelnd.
»Na, hören Sie mal, Mylord, machen Sie keine Geschichten! Sie können sie dann ja auch selbst sehen, mit ihr sprechen.«
»Na, dann kann sie auch nicht von den Bestien gefressen worden sein, dann haben die Verwandten ihre Erbschaftsansprüche auch zu zeitig eingeleitet.«
»Haben sie das schon?«
»Jawohl. Die Lady soll doch dreißig Millionen Dollar auf einer New Yorker Bank haben. Aber die sind erst zum 1. April nächsten Jahres gekündigt.«
Ich wusste genug — und ich hatte ja auch genug Zeit, die Sache anders zu schieben. Denn dass ich das tun würde, das stand bei mir nun bombenfest!
So war die Hauptsache für mich erledigt, nun konnte dasjenige daran kommen, wofür ich für meine Person mich noch mehr interessierte.
»Wie war denn das nun, als die Löwen und Tiger plötzlich die Freiheit gewannen?«
»Na, ich sage Ihnen — da hätten Sie dabei sein sollen! Wir befanden uns gerade alle oben auf dem Berge, hatten noch eine gute Stunde bis zur Küste, und plötzlich erschallt der Schreckensruf: Die Raubtiere sind los! Und wir keine Gewehre mit! Höchstens einen Revolver!«
»Aber der Rückzug zu den Schiffen gelang?«
»Er musste gewagt werden, und er gelang. Ein Glück nur, dass die Biester noch Tiere wie Kühe und auch andere Menschen genug zum Niederreißen hatten!«
Ja, auch dieser edle Lord war in gewissem Sinne ein Gemütsmensch!
»Sie haben Menschen angegriffen?«
»Ungefähr ein Dutzend hat man gezählt. Nur traurige Chinesen und Inder. Aber das ist nur schätzungsweise. Es mögen viel mehr gewesen sein. Alles stürzte ja in wilder Flucht den Schiffen zu, sie gingen drauf, wie sie kamen, und da war eben kein Zählen mehr möglich. Die ganze Geschichte löste sich ja dann in Wohlgefallen auf; jeder segelte davon, wohin es ihm beliebte. Von Europäern scheint kein einziger gefehlt zu haben.«
»Ist denn nicht Jagd gemacht worden? Das muss doch gerade ein Sport gewesen sein für diese Herren.«
»Wir haben's wohl probiert, aber, wissen Sie — wir sind Jachtsportsmen, keine Jäger. Wir sind in einem Hause drei Tage lang von einem Dutzend Tigern belagert worden, haben Hunger gelitten, und als wir glücklich wieder heraus waren, hatten wir die Geschichte satt, da haben auch wir uns davongemacht.«
»Wie viele Raubtiere sind es denn gewesen?«
»Na, mindestens sechs Dutzend, Löwen und Tiger allein, die der Papapopulos da zusammengebracht hatte. Auch Ihr kleiner Freund Algots hatte ja ein paar dazu geliefert, aber nur einige wenige zahme. Wie z. B. den Tiger, auf dem sich die Lady Blodwen malen ließ. Aber bestimmte Angaben über die Anzahl konnten wir nicht bekommen.«
»Ja, was ist denn nun sonst aus den Tieren geworden?«
»Das wird sich erst finden. Die Leytenstones hatten jetzt nur noch ihre Erbschaftsgedanken im Kopfe, dampften gleich ab. Und wir sind, nachdem wir so böse Erfahrungen mit den Ludersch gemacht haben, dann ebenfalls bald abgesegelt, um hier unsere Pläne, die wir unterdessen ausgeheckt hatten, in Wirklichkeit umzusetzen, haben aber dort einen vollbemannten Dampfer zurückgelassen, der die Insel ständig umkreuzen, alles im Auge behalten soll, dass kein unbefugter Nimrod, der von der Geschichte gehört hat, die Insel betritt, um seinen Jagdgelüsten zu frönen. Nach einem halben Jahre, haben wir beschlossen, wollen wir wieder einmal nachschauen, wie sich dann die Tierchen als Robinsons entwickelt haben, und so lange soll der Dampfer dort also warten, für so lange Zeit ist er auch verproviantiert. Höchstens Trinkwasser muss er sich von der Insel verschaffen.«
»Ja, wovon leben denn aber unterdessen die Raubtiere?«
»Nun, da ist ja anderes Viehzeug noch genug vorhanden. Die Lady Blodwen hatte doch großartige Kolonisationspläne mit ihrer Insel vor, Papapopulos hatte Hunderte von Rindern, Schafen und Schweinen und Gott weiß was hinbringen müssen. Denen ist ebenfalls die Freiheit gegeben worden, da können sich die Löwen und Tiger und Bären ja delektieren. Bären waren nämlich auch eine ganze Menge vorhanden.«
»Ja, aber dieses lebendige Schlachtvieh wird doch auch einmal alle, sogar sehr bald. Was meinen Sie denn wohl, was siebzig solcher großer Raubtiere, wie viele es doch mindestens gewesen sein sollen, täglich gebrauchen? Die gehen mit ihrem lebendigen Proviant doch nicht etwa ökonomisch um!«
»Well, das ist es ja gerade, was wir wissen wollen, was die Viecher anfangen, wenn sie nichts mehr zu fressen haben. Dann müssen sich die Raubtiere doch gegenseitig auffressen. Wie wird sich das nun entwickeln? Das ist eben die interessante Frage. Wir haben deshalb schon große Wetten abgeschlossen. Ich bin der festen Meinung, dass zuerst die Bären drankommen. Sogar die kleineren Katzenarten, wie Leoparden und Jaguare werden, vom wütenden Hunger geplagt, sich an die Bären machen, sogar an die stärksten Exemplare. Meinen Sie nicht auch, dass der geschmeidige Leopard selbst dem riesigsten Grizzlybären überlegen ist?«
»Hm, da wage ich wirklich kein Urteil, ich habe darin gar keine Erfahrung.«
»Wir ja auch nicht, deshalb wetten wir eben. Mr. Fairfax ist mit Monsieur Chevalier gerade der gegenteiligen Ansicht, die Bären wären es, die zuletzt die Alleinherrschaft behalten würden, selbst unter den Löwen würden sie mit der Zeit aufräumen. Andere geben dem Tiger vor dem Löwen den Vorzug, und ich gestehe, dass dies etwas für sich hat. Nun, wir werden ja sehen, wer recht behält. So hat jeder einzelne seine besondere Ansicht, und danach sind die Wetten formuliert worden. Mr. Rug hat zehntausend Pfund dafür gesetzt, dass sich alle diese Raubtiere zuletzt überhaupt nicht angreifen, sondern Fische fressen würden. Sie würden sich mit der Zeit zu Fischfängern heranbilden. Natürlich nicht im Boote, nicht mit der Angel — sondern schwimmend, oder vom Lande aus durch Tatzenschläge — Sie wissen, so wie es die Hauskatze am Goldfischglas macht. Nun, ich will vorläufig diese Idee nicht so ohne weiteres zurückweisen. Wir werden ja sehen.«
Na, da bekam ich ja wieder einmal etwas zu hören! Was die alles ausheckten — einfach tolle Kerls!
Übrigens begann ich mich jetzt auch für diese Sache zu interessieren.
»Ja, das sollten Sie aber alle zusammen selbst mit beobachten.«
»Wissen Sie, das dauerte doch etwas zu lange. Wir hatten dem Schlachtvieh nun einmal die Freiheit gegeben, dagegen war nichts mehr zu machen. Nun müssen wir geduldig das Endresultat abwarten. Und unter den Gästen der Lady damals war auch ein Gelehrter, ein Amerikaner, Mr. David — ein Zoologe — auch ein großer Statistiker — der Kerl kann gleich so im Handumdrehen berechnen, wie viele Hühner es in hundert Jahren auf der Erde geben würde, wenn man keine Eier mehr äße, sie alle ausbrüten ließe — und der hat auch ausgerechnet, dass die sechs Dutzend Raubtiere doch noch etwas länger als ein halbes Jahr brauchen, um das ganze vorhandene Schlachtvieh aufzufressen. Denn, wie gesagt, es war doch eine große Menge. Und nun kommen ja auch Geburten mit in Betracht, besonders von Schweinen. Ich habe seine Berechnung gesehen — mit Kubikwurzeln und Gleichungen. Fabelhaft! Sollte sich aber Mr. David geirrt oder sonst wie verrechnet haben, sollte es mit der Auffresserei doch fixer gehen — na, dann kommt der Dampfer eben hierher, es ist ja gar nicht weit, meldet es uns, dann fahren wir sofort hin. Und natürlich treffen wir genügende Vorbereitungen, um die gegenseitige Auffresserei der Raubtiere in aller Muße beobachten zu können, mitten unter ihnen mang, ohne selbst von ihnen gefressen zu werden. Ich arbeite schon an einer derartigen Erfindung.«
»Darf man nicht schon etwas von dieser Ihrer Erfindung erfahren?«, fragte ich, nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken könnend.
»Warum nicht? Schließlich ist's ja auch einfach genug. Wenigstens im Grundprinzip. Ein Wagen oder ein Käfig, der auf Rädern geht. Das ist doch ganz einfach. Aber wie nun den Käfig, in dem man steckt, fortbewegen, von innen heraus, sodass man gemütlich auf der Insel herumgondeln kann, das ist die Frage. Was meinen Sie, wie dieses Problem zu lösen ist?«
Im Augenblicke stand ich hier wirklich vor einem Problem, wozu ich bemerke, dass damals das Veloziped noch nicht erfunden war.
»Nun, mit der Stechstange fortschieben«, meinte ich dann, musste aber auch gleichzeitig einmal herzlich lachen.
Denn ich sah schon im Geiste den dicken Lord in solch einem Käfigwagen stecken, mit der Stechstange, wie er auf diese Weise auf der Osterinsel herumgondelte, umlagert und umsprungen von Löwen und Tigern, die immer mit den Tatzen hineinhakelten.
Der edle Lord beachtete mein Lachen nicht.
»Ja, auf die Stechstange sind auch alle anderen gleich gekommen. Nein, ich werde das Problem der Fortbewegung ganz anders lösen.«
»Nun?«
»Das verrate ich noch nicht. Passen Sie nur auf. Sie denken, ich kann so etwas nicht erfinden? O, ich habe auch noch eine andere Erfindung gemacht — eine Erfindung, ich sage Ihnen — eine Erfindung...«
Das dicke Männchen kniff die Augen zu und schnalzte mit den Fingern und leckte mit der fleischigen Zunge über die Lippen — gerade wie ein Kenner bei der Weinprobe.
»Auch auf dem Gebiete der Fortbewegung?«, lächelte ich.
»Nee, was ganz anderes — 's ist zum Schießen.«
»Eine neue Schusswaffe?«
»So was Ähnliches.«
»Eine Kanone?«
»Nee, 'nen kugelsicheren Panzer.«
Na, endlich war's heraus. Und mein Staunen war nicht gering.
»Einen kugelsicheren Panzer? Wozu brauchen Sie denn den?«
»Wozu? Na, damit ich nicht totgeschossen werde, wir alle nicht.«
Halt, jetzt ging mir eine Ahnung auf! In gewisser Hinsicht bin ich doch nicht schwer von Begriffen.
»Ach, Sie wollen hier gegeneinander Krieg führen?«
»Jawohl!«, nickte der edle Lord gravitätisch. »Und damit die Geschichte nicht gar zu gefährlich wird, habe ich extra dazu einen kugelsicheren Panzer erfunden. Faktisch, meine eigene Erfindung, habe so ein Ding bei einem Londoner Waffenschmied herstellen lassen, gleich fünfhundert Stück, und ein Muster ist heute früh angekommen, jetzt fahre ich nach Fairfaxens Burg, wo die Herren gestern Abend zusammengekommen sind, und wenn sie so weit nüchtern sind, dann kann die Probe gleich stattfinden. Es ist der Panzer, den ich selber tragen werde.«
»Sie wollen selbst dieses kriegerische Spiel mitmachen?«
»Ei gewiss, nu allemal doch!«
»Ich dachte, Sie wollten dies alles nur von Ihrer Insel aus beobachten.«
»Ja, das war ursprünglich meine Absicht. Da aber machte ich eben die Erfindung mit dem kugelfesten Panzer — nun spiele ich selber mit, nun kann ich ja nicht totgeschossen werden.«
Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste!
»Sie können aber doch immerhin noch ernstlich verwundet werden.«
»Wieso denn?«
»Nun, darf denn nur auf die Brust geschossen werden?«
Ȇberall hin. Sogar direkt ins Auge darf geschossen werden.
Nur nicht mit Kanonen, das ist streng verboten.«
»Ah so, da ist wohl auch ein Helm mit geschlossenem Visier da?«, lächelte ich.
»Selbstverständlich — alles, was zu einem Panzer gehört.«
Ich wollte Seine Herrlichkeit nicht darauf aufmerksam machen, dass zu einem Panzer nicht unbedingt ein Helm gehört.
»Wenn Sie nun einen Schuss in den Hals bekommen?«
»Geht nicht — Kugel prallt ab. Hals ebenfalls gepanzert.«
»In den Arm?«
»Arm ist gepanzert.«
»Ins Bein?«
»Bein gepanzert.«
»In den Fuß?«
»Eiserne Stiefel.«
»Hören Sie mal, das, was Sie einen Panzer nennen, ist wohl eine ganze Rüstung?«
»Selbstverständlich eine ganze Rüstung. Habe ich das nicht immer gesagt? Ach, Sie dachten wohl, es wäre nur so ein Brustharnisch? Nee, damit wäre doch nichts anzufangen. Wenn man sich nun gerade einmal umdreht, wenn einer gerade seine Flinte abdrückt? Nee, selbstverständlich eine ganze Rüstung.«
»Sie haben das Ding schon hier?«
»Hier an Bord. Nur die eine, meine, mir nach Maß zurechtgeschneidert.«
»Kann ich diese Rüstung nicht einmal sehen?«
»Bitte um Entschuldigung, sie ist unten eingepackt, kann jetzt nicht gut dazu. Sie werden ja dann der Schuss, Hieb- und Stichprobe beiwohnen, an meinem eigenen Leibe. Bin selber gespannt, ob eine Kugel durchgeht. Habe es nämlich noch gar nicht probiert, das Schiff ist vorhin erst angekommen, bin mit der Kiste gleich abgefahren. Ja, bin wirklich sehr gespannt.«
»Und gleich fünfhundert Stück solcher Rüstungen haben Sie bestellt?«
»Jawohl, können schon nächsten Monat hier sein, hoffentlich dann auch unsere fünfhundert Vasallen.«
»Ach, die beziehen Sie erst?«
»Gewiss. Aus Halifax. Novascotiamen. Mein Faktotum ist extra deshalb nach Halifax gereist, um dort die fünfhundert Kerls anzuwerben.«
»Und er wird wirklich solche Männer finden, die bereit sind, sich totschießen zu lassen?«
»Na warum denn nicht?«, fragte der Lord erstaunt. »Jeder bekommt pro Tag drei Dollar, pro Schlacht einen Dollar extra, und zwar nur für die Stunde, und die angefangene Stunde wird voll gezählt — was meinen Sie denn wohl, wie sich diese Novascotiamen herbeidrängen werden!«
Seymour hatte recht — ich hatte meine Frage auch sofort bereut.
»Ja«, fuhr der Lord fort, »Ende nächsten Monats kann's losgehen. Wir könnten ja jetzt schon katzbalgen, so mit den Rudergaleeren, uns kleine Seeschlachten liefern, ohne Schießerei, uns nur so im Vorbeifahren die Ruder wegknacken, uns in den Grund rammeln, aber — aber...«
Lord Seymour nahm erst einmal aus der Tasche seiner Weste aus Menschenhaut eine goldene Dose und aus dieser umständlich eine Prise für seine Gesichtsgurke.
»Aber was?«, fragte ich. »Warum können nicht schon jetzt solche Vorspielchen stattfinden?«
»Die Kerls sind ja egal besoffen.«
Da konnte ich mir nicht helfen, da musste ich einmal aus Herzensgrunde lachen.
»Ja«, seufzte der Lord dann, als ich mich wieder beruhigt hatte, »so ein halbes Jahr will ich mitmachen, dann besehe ich mir die Geschichte auf der Osterinsel, und dann will ich heiraten.«
Ich glaubte, nicht recht gehört zu haben. Das war nämlich so unvermutet herausgekommen.
»Dann wollen Sie was?«
»Heiraten.«
Also ich hatte doch recht gehört. Alle schienen ihre Prinzipien ändern zu wollen.
»Das freut mich, dass Mylord das edle Geschlecht der Seymours nicht aussterben lassen wollen«, sagte ich mit ungewöhnlicher Galanterie.
»Darf ich fragen, wer die Glückliche ist, der Sie Ihre Hand reichen werden?«
»Nu, irgendeine.«
Ich blickte den Lord an, der sich eingehend mit seiner Gesichtsgurke beschäftigte.
»Sie wissen noch nicht, wen Sie heiraten werden?«, fragte ich ungläubig.
»Nee, das weeß 'ch selber noch nich. Ich werde deswegen nach England gehen.«
»Ah, Mylord wollen erst unter den edelsten Töchtern Englands Umschau halten.«
»Nu, so sehr edel braucht se gerade nich zu ein. Auch auf die Schönheit geb 'ch nischt. Wenn se nur darnach beschaffen is, dass se von mir Kinder kriegen kann.«
Wir sprachen Englisch — aber auch die englische Sprache hat ihre Jargons.
»Sehen Sie«, fuhr der Lord fort, während ich noch ein etwas fassungsloses Gesicht machen mochte, »die Geschichte ist die: ich habe Verwandte, die natürlich auf mein Geld spekulieren, oder sagen wir gleich: auf meinen Tod. Denken Sie sich, die haben versucht, mich unter Kuratel zu bringen. Jetzt, seit einem halben Jahre geht die Geschichte. Als ob ich mir solche Späße wie hier mit den Inseln nicht leisten könnte! Und überhaupt, ich kann mit meinem Gelde doch machen, was ich will. Also mit der Kuratel wurde nun freilich nischt! Aber sie haben's doch probiert, und nun werde auch ich meine Rache nehmen.«
»Ach so, nun verstehe ich die Heirat.«
»Jawohl. Jetzt sollen diese guten Nichten und Vettern auch gänzlich das Nachsehen haben. Ich heirate und setze meine Frau als Universalerbin ein, suche mir ein recht leichtsinniges Frauenzimmer aus, das das Geld unter die Leute zu bringen weiß, etwa eine Schauspielerin, eine Balletteuse oder so was Ähnliches, und dann zur Vorsicht werde ich noch einen großen Haufen Kinder...«
Der Kiel des Fahrzeuges knirschte auf Sand, es gab einen Ruck.
»So, wir sind da — an Mr. Fairfaxens Insel.«
Ich folgte dem vorsichtigen Manne mit der kugelfesten Rüstung hinaus.
Diese war auch seine erste Sorge. Vom Boden des Fahrzeuges ward eine sargähnliche Kiste hervorgebracht, und ich empfand schon jetzt vor solch einem Eisengewand ein geheimes Grauen, als ich sah, dass vier kräftige Männer an dieser Kiste tüchtig zu schleppen hatten.
Der Leichenzug bewegte sich den Berg hinauf, auf dessen Gipfel die Ritterburg thronte. Auch eine Zugbrücke fehlte nicht. Leichenzug deshalb, weil uns die sargähnliche Kiste vorangetragen wurde.
Ich will diese Ritterburg nicht näher beschreiben. Es waren früher mehr Seezigeuner zusammen gewesen, aber mit der Schlachtenspielerei waren die wenigsten einverstanden gewesen — — sie mochten dem kugelsicheren Panzer doch nicht recht trauen, oder Lord Seymour hatte seine rettende Erfindung damals noch nicht gemacht gehabt.
Lord Seymour hatte inzwischen noch mehr solcher Burgen bauen lassen, aber nur vier waren jetzt bewohnt, nämlich von der alten Garde, die ihm treu geblieben: Mr. Brown, Mr. Fairfax, Mr. Rug und Monsieur Chevalier.
So lange das Kriegspielen noch nicht ordentlich losgehen konnte, vertrieb man sich die Zeit mit Frühstücken, die abends anfingen und morgens aufhörten. Gestern hatte das Zechgelage auf der Burg des Puppenkleiderfabrikanten stattgefunden. Lord Seymour hatte ausnahmsweise deshalb nicht mitgemacht, weil heute sein sehnlichst erwartetes Schiff fällig gewesen war, welches die erste Rüstung mitbringen sollte, für sein eigenes Maß angefertigt, wie sie denn auch eingetroffen war.
Nur das eine will ich bemerken, dass die Einrichtung des Zimmers, in dem ich die vier Herren zusammen fand, ausschließlich aus leeren Zigarrenkisten bestand. Tische, Stühle, ein Sofa, Schränke, ein wunderhübscher Schreibtisch — — alles aus leeren Zigarrenkisten zusammengenagelt.
Mag diese eine Angabe genügen, wie es sonst in solch einer ganzen Burg aussah. Denn jedes Zimmer war anders. Aber da würde man ja gar nicht mit Schildern fertig. Nur immer so verrückt wie möglich — — und dennoch: originell!
Alle Herren waren mehr oder weniger verkatert, mit Ausnahme des Australiers, dem gar nichts anzusehen war, obgleich er natürlich zuerst unter den Zigarrenkistentisch gefallen war.
»Meine Rüstung und Kapitän Jansen sind eingetroffen«, sagte Lord Seymour bei seinem Eintritt summarisch.
Diese Sportsmen waren, wie schon häufig erwähnt, viel zu sehr abgebrüht — abgekitzelt, möchte ich sagen, um bei meinem plötzlichen hier Erscheinen auch nur ein verwundertes Gesicht zu machen. Die Hauptsache war für sie jetzt auch die kugelfeste Rüstung, für diese zeigten sie wirkliches Interesse.
Der Sarg ward geöffnet, ich sah darin einen Ritter liegen. Denn dass in dem eisernen Leibe und in den Gliedmaßen kein Fleisch und Blut steckte, das konnte man ja gar nicht sagen.
Das war natürlich nicht der Fall. Es war eben eine vollständige Ritterrüstung, und zwar für Lord Seymours dicken Wanst berechnet — so eine Art von eisernem Fass, auf dicken Beinen stehend und mit Henkelarmen daran.
Freudestrahlend packte der Lord aus, wobei ihm wegen des Gewichtes noch andere helfen mussten, erklärte das Ganze näher.
Vorläufig hing alles noch zusammen, bildete ein festes Ganzes, erst mussten verschiedene Schrauben gelöst werden, wozu ein besonderer Schraubenschlüssel vorhanden war, und da sah ich, dass die Wandungen des Brustpanzers wie die der Hosen und Ärmel, wenn man sich so ausdrücken darf, mindestens einen halben Zoll stark waren, und dasselbe galt von dem Helm, der vorn ein aufklappbares Visier und oben eine Spitze hatte.
»Wie viel wiegt denn diese Rüstung?«
»So ungefähr anderthalb Zentner«, war die freudestrahlende Antwort.
Ich dachte mir hierzu mein Bestes.
Trotzdem musste auch ich dann den feinen Mechanismus der gelenkigen Teile bewundern, wie an den Knien und besonders auch an den eisernen Handschuhen. Trotz der kolossalen Stärke konnte man jeden einzelnen Finger ohne Anstrengung bewegen.
Zunächst zeigte Lord Seymour, wie eine Uhrfedersäge den Stahl nicht ritzen könne. Eben diese besondere Härtung sei seine Erfindung, und ich war wirklich etwas baff. Da konnte der Lord wirklich ein wichtiges Problem gelöst haben.
Dann wurden Gewehre, Lanzen und Äxte geholt, um die Widerstandsfähigkeit der Rüstung im Besonderen zu prüfen, aber noch nicht am Leibe des Lords, dazu war dieser doch zu vorsichtig, sondern der hohle Rittersmann ward zunächst in eine Ecke gelehnt.
Die Herren luden ihre Gewehre und schossen abwechselnd auf den Rittersmann, stachen und hieben auf ihn ein, und ich konnte tatsächlich nicht die geringste zurückgelassene Spur der Kugeln und Hiebe und Stiche an dem Stahl wahrnehmen. Aber etwas anderes fiel mir doch auf. Schon die Gewehrschüsse. Der Knall war gar nicht so sehr laut, wie er in diesem Zimmer hätte sein sollen. Ich untersuchte die Patronen.
Schon damals schoss man mit Spitzkugeln, hier aber sah ich in den Patronenhülsen runde Kugeln stecken, und dann weiter erklärte mir der Lord, dass laut Abmachung in dem zukünftigen Land- und Seekriege nur mit besonders präparierten Patronen geschossen werden dürfte, welche nur den vierten Teil der sonst üblichen Pulverladung hatten.
Aha, Vorsicht ist und bleibt die Mutter der Porzellankiste — auch die solch eines eisernen Rittersmannes!
»Ja freilich«, sagte der Lord, »mit Spitzkugeln darf man nicht gleich drauflos böllern, dann könnte's doch einmal ein Loch geben. Hö hö hö hö!!«, schrie er gleich darauf den hünenhaften Australier an, der eben mit einer Streitaxt zum wuchtigen Schlage auf den Rittersmann ausholte. »Nur man sachte, nur man sachte, dass Sie meine Rüstung nicht kaputt haun! Nee, so drauflos gehaun darf bei uns nicht werden, das haben wir doch gleich ausgemacht!«
Na, etwas beruhigt über das Schicksal der zukünftigen Kriegshelden war ich doch geworden.
Dann kam der große Zeitpunkt, da Lord Seymour selbst die Rüstung anlegen wollte, um die Kugel- und Hiebfestigkeit an seinem eigenen Leibe zu demonstrieren.
Zunächst musste entschieden werden, ob der Lord da erst seine Kleidung ausziehen oder diese anbehalten, mit dieser in das Eisengewand hineinrutschen sollte.
Eine Debatte entspann sich, wie das früher die alten Ritter gehandhabt hätten, und man kam zu dem Resultat, dass die Ritter früher zwar ihre Oberkleider abgelegt, aber die Unterkleider anbehalten hätten, ehe sie sich zum Kampfe panzern ließen.
»Mylord, ziehen Sie Ihre Hose und Jacke und Weste aus, Sie müssen in Unterkleidern hinein.«
Lord Seymour hatte sich nicht an dieser Debatte beteiligt, kalt lächelnd hatte er nur zugehört.
»Das ist alles recht schön und gut«, erklärte er jetzt, als ihm der Beschluss gemeldet wurde, »aber ich trage prinzipiell keine Unterhosen und kein Hemd; wenn ich hier die Hose des Admirals Nelson — Heil und Ehre seinem Angedenken — und Jacke und Weste ausziehe, so bin ich bis auf die Strümpfe splitterfasernackt, und die Herren werden doch nicht verlangen, dass ich mir in dieser kugelsicheren Eisenrüstung den unvermeidlichen Tod holen soll.«
Nein, das verlangten die Herren nicht, und so ward der Lord vom Ablegen der Kleidung entbunden. Er zog nur seine Schuhe aus, und er war fertig zum Hineinkrauchen, was nun freilich seine Schwierigkeiten hatte.
Denn, wie gesagt, die Rüstung konnte nicht in lauter einzelne Teile zerlegt werden, man musste eben so nach und nach hineinkrauchen.
Ich kann nur versuchen, dieses schwierige Experiment zu beschreiben.
Einzelne Teile konnten ja doch losgeschraubt werden. Zunächst also schlüpfte der dicke Lord unter halsbrecherischen Exerzitien mit dem linken Beine, dann mit dem rechten in die stählernen Hosen hinein, welche selbst aber ein festes und dennoch bewegliches Ganzes bildeten. Hierauf kam der Brustpanzer daran, dann wurde der Rückenteil angesetzt, und nun wurde hinten eine Schraube gedreht, und diese drei Teile waren wie zusammengenietet.
»Fest, immer recht fest anziehen«, kommandierte noch der Ritter, während Mr. Fairfax, der ja als Puppenkleidermacher in so etwas die größte Erfahrung hatte, mit dem großen Schraubenschlüssel an dem unverschämten Hinterteile des Eisenmannes herumleierte.
Dann ward der aufklappbare Helm um den Kopf gelegt, zusammengeklappt und gleichfalls zugeschraubt, wodurch er auch mit dem übrigen Panzer fest verbunden ward, und der kugel, hieb- und stichfeste Ritter war fertig.
Lord Seymour, das Visier herabgelassen, begann schwerfällig auf und ab zu gehen. Und wie das nun aussah, diese eiserne Tonne, wie die zwischen den Zigarrenkisten herumwatschelte, hinten mit dem Schraubenzapfen, der wie ein zu langer Kork aussah, der ein gewisses Loch verschließen musste — — einfach nicht zu beschreiben!
Ich konnte gar nicht begreifen, dass die anderen Herren nicht ebenfalls vor Lachen brüllten. Ein Glück nur, dass sie sich nicht an meinen Heiterkeitsausbrüchen stießen.
»O, wie stark fühlt man sich doch in solch einer Ritterrüstung!«, erklang es dumpf wie aus einem Grabe hinter dem geschlossenen Visier, »ich fühle eine Armee in meiner Faust.«
Langsam hob Lord Seymour den gewaltigen Eisenklumpen, den er seine Faust nannte, schlug auf den aus Zigarrenkisten bestehenden Tisch und schlug, wie zu erwarten gewesen, durch die dünnen Brettchen hindurch. Ganz konnte der Tisch ja nicht zusammenbrechen — wohl aber verlor der Ritter bei diesem Schlage die Balance, fiel vornüber auf den Tisch, und da freilich brach dieser unter der Eisenlast gänzlich zusammen, der edle Ritter lag zwischen lauter Zigarrenbrettchen.
Er wollte wieder aufstehen. Ja, hatte sich was! Lord Seymour lag wie eine ungeheuere Schildkröte da, langsam Arm und Beine hin und her bewegend, nur nicht wie eine Schildkröte hilflos auf dem Rücken, sondern hilflos auf dem Bauche.
»Aufrichten, aufrichten!«, kommandierte seine Grabesstimme. Ja, das war aber gar nicht so leicht. Vier Mann griffen zu, ich selbst mit, aber wir konnten ihn nur auf die andere Seite wälzen, ihn nicht wieder auf die eisernen Beine bringen. Man stelle sich nur solch einen eisernen Mann von mindestens drei und einem halben Zentner Gewicht vor, um das begreiflich zu finden.
»Da muss erst eine Winde angebracht werden«, wurde geäußert.
Ich löste das Problem in kürzerer Weise. Mittels zweier Hebestangen ward es doch möglich, den gefallenen Rittersmann wieder in die Höhe zu fuhrwerken.
»Aber nicht wieder umfallen, Mylord!«
»Nein, umfallen darf man nicht. Wer in der Rüstung umfällt, gilt überhaupt als toter Mann. Abgemacht?«
»Er soll für immer ausscheiden?«
»Nicht gerade für immer, aber doch aus dem Kampfe, in dem er gefallen ist. Im nächsten Kampfe ist er wieder lebendig.«
Solche Bemerkungen, das zukünftige Kriegsspiel betreffend, wurden von den Herren fortwährend ausgetauscht.
Lord Seymour wollte seine Gehversuche erneuern, fand aber einen Widerstand. Er hinkte, nur das rechte Bein war noch beweglich, das linke war steif. Bei dem Sturze musste an den Gelenken des Knies etwas in Unordnung gekommen sein.
Lord Seymour hielt das für Kleinigkeit, wollte jedenfalls deshalb nicht gleich wieder die Rüstung ausziehen — und wie nun der dicke Ritter mit dem steifen Beine herumhumpelte — — jetzt war ich es, der plötzlich zwischen eingedrückten Zigarrenkisten lag — ich hatte mich nämlich vor Lachen auf das Sofa geworfen.
Plötzlich blieb der Ritter stehen, bückte sich etwas, soweit die Rüstung es erlaubte, die eisernen Hände fingerten hinten an der Hauptschraube herum.
»Fix fix fix fix fix fix«, erklang es dumpf in dem Helm, »schraubt mir die Hose ab, fix fix fix fix!«
»Was ist denn los?«, wurde gefragt.
»Fix fix fix fix, eh's zu spät ist — ich habe heute früh Sauerkraut gegessen — fix fix fix fix, schraubt mir die Hose ab!«
Aha, jetzt ward's verstanden, was da los war! Dann allerdings war Eile geboten.
Also schnell den Schraubenschlüssel her, angesetzt und...
Knacks, ging es da.
»Der Schraubenkopf ist abgebrochen«, sagte Mr. Brown, der geleiert hatte.
»Fix fix fix fix fix, ich halt's keine halbe Minute mehr aus!«, jammerte es hinter dem geschlossenen Visier.
»Ja, aber die Mutter ist abgebrochen.«
»Was kümmert mich die abgebrochene Mutter, zieht mir die Hose ab, die Hose ab, die Hose ab — fix fix fix fix!«
Aber da war nichts mehr zu machen! Die Schraube war glatt abgebrochen. In dem Loche sah man nur noch den Zapfen, gar nicht mehr hervorstehend.
Und als sich Mr. Rug bückte, um ebenfalls diesen Unfall näher zu besichtigen, kam ihm eine Idee, oder vielleicht ganz unbewusst griff er in die Hosentasche und zog sein Taschenmesser, ein gewaltiges Ding, und er machte den ebenso gewaltigen Korkenzieher auf... aber er besann sich, dass dies doch kein Flaschenpfropfen sei, er steckte das Messer wieder ein.
»Ja, wie soll aber dem nun die Hose ausgezogen werden?«
Da erscholl innerhalb der eisernen Rüstung ein eigentümliches Getöne — so etwa wie knatterndes Kleingewehrfeuer aus weiter Entfernung — und Lord Seymour richtete sich wieder auf.
»Nicht mehr nötig — zu spät —«
Wir sahen uns an, die Größe des Unglücks noch gar nicht recht erfassend.
Nur der Australier behielt seine Besinnung. Bedächtig griff er in die Brusttasche, zog eine Zeitung hervor, faltete sie auseinander, hielt sie dem Lord hin.
»Brauchen Sie vielleicht Papier?«
»Danke sehr, nein — ich muss gleich in die Wäsche — hat schließlich wenig zu sagen, bin so etwas schon gewöhnt — aber — aber — — brrrr, hier drin stinkt's aber!«
Lord Seymour hob die knolligen Eisenfinger, um das Visier zu öffnen, wie er es anfangs wiederholt getan, und es hatte tadellos funktioniert. Jetzt aber wollte die Klappvorrichtung nicht in die Höhe gehen, um das edle Mopsgesicht mit der blauroten Gurke zu zeigen, für welche ebenfalls besonders Maß genommen worden war.
»Verflucht, was ist denn das? Macht mir doch einmal das Visier hoch!«
Aber vergebens bemühten wir uns alle einer nach dem anderen, die Scharniere wollten sich nicht mehr bewegen.
»Bringt mal die Schmierkanne her.«
Auch das Schmieren hatte keinen Erfolg.
»Ich halt's vor Gestank nicht mehr aus«, klagte der Lord in seinem eisernen Grabe, »ich kriege auch schon keine Luft mehr — und ich bin ja noch gar nicht richtig fertig.«
»Na, da muss eben der ganze Helm losgeschraubt werden.«
Jawohl, das war das Allereinfachste. Diesmal war es Mr. Fairfax, welcher den Schraubenschlüssel ansetzte — knacks, ging es wiederum, jetzt war auch noch dieser Schraubenkopf abgebrochen.
»Ei du griene Neine!«, seufzte der kugelsichere Ritter im Grabestone, als ihm dieses Resultat gemeldet wurde, und dann antwortete er mit gedämpftem Kleingewehrfeuer.
»Wir müssen die Rüstung aufsägen oder #####feilen.«
»Geht ja nicht, da fasst keine Feile.«
Wohl eine Viertelstunde mühten wir uns geistig und körperlich ab, den Ritter aus seinem kugelsicheren Eisenkleide herauszuschälen.
Mr. Rug kam bis aufs Aufknacken unter der hydraulischen Presse.
»Was soll denn nun daraus werden?«, jammerte der Lord. »Ich will doch in einem halben Jahre heiraten.«
»In einem halben Jahre?«, meinte Mr. Fairfax. »Na, da haben Sie ja noch lange Zeit bis dahin.«
»Ja, wie soll ich denn aber inzwischen etwas ins Maul kriegen? Da muss ich doch verhungern. Erst nicht heiraten können und dann schon vorher verhungert sein — Herrje! Herrje!!«
Ja, die Sache war wirklich kritisch. Meine Lachlust konnte das freilich nicht dämpfen.
Endlich kam einer auf die Idee, die Spitze des Helms zu untersuchen, und da zeigte sich, dass diese abgeschraubt werden konnte.
Das erste Loch war glücklich entstanden! Denn die kleinen Löcher für Nase und Augen kamen ja gar nicht in Betracht.
»Ist es möglich, ihm durch dieses Loch oben im Schädel Nahrung zuzuführen?«, wurde gefragt.
»Gießen Sie erst mal eine Flasche Eau de Cologne hinein«, meinte dagegen der Lord.
»Kriegen Sie denn jetzt genügend Luft?«
»O, daran hat's nur überhaupt nie gefehlt. Nur der Gestank. Aber schließlich gewöhnt sich der Mensch an alles.«
»Sie fühlen sich also so weit ganz behaglich?«
»O ja, das wohl. Was soll denn aber nun mit meiner Heirat werden? So kann ich doch nicht heiraten?«
»Nu, warum denn nicht?«
»Aber da kann ich doch keine Kinder kriegen, die ich unbedingt brauche.«
»Nee, das allerdings nicht, das wäre wenigstens mit Schwierigkeiten verknüpft.«
Auf diese Weise ging es noch eine gute Weile weiter. Jede Bemerkung war humoristisch, aber bei diesen verrückten Sportsmen wusste man niemals, ob sie Witze machen wollten oder im Ernst redeten.
Doch hier musste unbedingt etwas geschehen. Eben wollte ich einen diesbezüglichen Vorschlag machen, nämlich vor allen Dingen einmal kundige Schlosser herbeizuholen, als die Tür aufgerissen wurde und Goliath hastig hereintrat.
»Kapitän, ein englisches Kriegsschiff naht der Insel. Es ist sehr spät bemerkt worden, weil es hinter Fanafute aufdampfte, es ist schon ganz nahe.«
Wenn nicht bei den anderen Herren, so machte diese Meldung doch auf mich einen starken Eindruck. Ich hatte jede Begegnung mit einem Kriegsschiff zu meiden, zumal wenn es die englische Flagge führte.
Hierbei möchte ich aber einmal noch etwas anderes anführen. Der Leser dürfte sich vielleicht schon gewundert haben, dass Lord Seymour wie auch Mr. Brown, beides geborene Engländer, mit mir, der zwei englische Kriegsschiffe vernichtet hatte, noch immer freundlich verkehrten. Ja, damals, als wir uns auf der Osterinsel wiedersahen, nach jenen Katastrophen, hatten sie mir sogar Huldigungen dargebracht, und eben deswegen, weil mir so etwas zuwider ist, hatte ich gar nicht darüber gesprochen.
Woher dieser Mangel an Patriotismus? Es mag hauptsächlich in dem Worte ›Seezigeuner‹ liegen. Auch diese Sportsmen hatten bereits keinen Sinn mehr für Heimat, Vaterland und dergleichen, vielleicht ganz unbewusst waren ihnen diese Begriffe verlorengegangen.
Und bei Lord Seymour kam nun auch das noch dazu, dass er mit seinem Vaterlande überhaupt auf immer gespannteren Fuß geraten war.
»Was? Ein englisches Kriegsschiff?«, rief er sofort hinter seinem Visier. »I dr Deiwel, was hat denn das hier zu suchen?! Nun weiß ich auch, warum es hier so stinkt!!«
Aber ich hatte jetzt keine Zeit mehr, mich auf solche Witze einzulassen.
Von diesen Fenstern aus war von dem Kriegsschiff nichts zu sehen, es kam von der anderen Seite, und ich ging auch nicht erst hinaus, um Umschau zu halten.
»Wie weit ist es noch entfernt?«
»Vielleicht noch drei Seemeilen«, entgegnete Goliath.
»Meine Herren, dann muss ich schnell Abschied nehmen.«
»Ja, Kapitän, dann ist es wohl das beste, wenn Sie sich unsichtbar machen«, stimmten mir die Herren bei, »falls das Kriegsschiff uns doch einen Besuch abstattet; denn unseren Schuss dürfen Sie nicht gar zu hoch anschlagen, wenn Sie auch sonst natürlich auf uns rechnen können.«
»Das weiß ich, und ich danke Ihnen sehr, meine Herren. Wissen Sie schon, wohin ich mich begeben werde?«
»Ich werde Ihnen ein Versteck in meiner Burg zeigen, wo kein Mensch Sie finden soll, folgen Sie mir«, sagte Mister Fairfax, sich schon nach der Türe wendend.
Aber ich vertrat ihm den Weg.
»O nein, ein derartiges Verstecken gibt es bei mir nicht«, lachte ich. »Nur dorthin gehöre ich, wo meine Leute sind, und nachdem ich die instruiert habe, werde ich wohl wieder an der Öffentlichkeit erscheinen.«
»Ja, wo befindet sich eigentlich Ihre ›Sturmbraut‹?«
»Sie haben wirklich keine Ahnung?«
»Nein! Wo denn?«
»Sie wissen nichts von dem Vogelberge dort?«, fragte ich dagegen, nach dem Felsen deutend, der von hier aus sichtbar war.
»Was von dem Vogelberge?«, erklang es erstaunt zurück. So hatte der wackere Lord unser Geheimnis brav bewahrt.
»Ich überlasse es dem Lord, Sie einzuweihen, so weit er es für gut findet — und, Mylord, Sie können zu den Herren von dem hohlen Eie sprechen, denn es dürfte bald ans Tageslicht kommen, wo ich mich aufhalte. Auf Wiedersehen meine Herren — auf Wiedersehen in heiratsfähigem Zustande, Mylord!«
Ich begab mich schnell hinaus und schritt mit Goliath den Bergabhang hinab.
Ja, da konnte ich das Kriegsschiff mit der englischen Flagge schon sehen, eine Korvette, ein Schlachtschiff zweiten Ranges. Es dampfte mit halber Kraft zwischen den Inseln hindurch. Auf welche es zuhielt, war noch nicht zu beurteilen.
»Wo liegt das Boot?«
»Hier unten in der Bucht.«
Zehn Minuten später strebte ich wieder dem Vogelberge zu, den ich in zwanzig Minuten erreichte. Von dem Kriegsschiffe war von hier aus nichts zu sehen.
Das Tor öffnete und schloss sich wieder unter meiner Hand. Als ich mit meinen Jungen den Brunnenschacht betrat, von dem aus der eigentliche Aufstieg begann, sah ich in der Finsternis Lichter — Laternen, die von Kienock und einigen Heizern getragen wurden. Sie arbeiteten unterhalb eines nach oben fühlenden Schachtes herum.
»Kapitän«, sagte der Ingenieur, als er mich erkannte, »der Aufzug funktioniert bereits, ein regelrechter Fahrstuhl, der durch eine sinnreiche Wasserkraft getrieben wird. Das ist ja hier großartig! Hier ist nämlich nicht nur dieser Brunnen, sondern auch eine artesische Quelle, die noch gegen zehn Meter hoch über dem Meeresspiegel emporspringt, aber abgestellt werden kann, und diese zehn Meter genügen, um den Fahrstuhl und alle anderen Vorrichtungen in Betrieb zu setzen, sogar das Brunnenwasser kann bis zur ersten Etage hinaufgepumpt werden, allerdings mit großem Wasserverlust, was indes bei der artesischen Quelle nicht in Betracht kommt.«
Der Ingenieur war ganz in Eifer geraten. Mich interessierte dies alles jetzt nur insoweit, als ich die Möglichkeit sah, einen Fahrstuhl benutzen zu können.
»Der Fahrstuhl funktioniert schon?«
»Jawohl, bis nach oben. Aber erst von der nächsten Etage an, hier sind wir noch bei der Arbeit, es muss doch einiges repariert werden, vieles ist sehr eingerostet.«
Kienock begleitete uns bis zur nächsten Etage, um während der gefährlichen Fahrt als Führer auf dem Fahrstuhl zu dienen. Gefährlich nenne ich die Fahrt deshalb, weil ein Fahrstuhl ein mir damals noch gänzlich unbekanntes Ding war, und dann handelte es sich um eine Tiefe von mehr denn achthundert Metern, über der man zuletzt schweben würde, und wenn die Vorrichtung auch schon einmal geprobt war, so bot das doch nicht die geringste Garantie für die künftige Sicherheit. Aber wenn Kienock die Fahrt mitmachen wollte, gab es bei mir natürlich kein Zurücktreten.
»Ist hier schon das englische Kriegsschiff gesichtet worden?«, fragte ich, während wir uns noch auf der Treppe befanden.
»Ein englisches Kriegsschiff?«, wiederholte Kienock erstaunt. Er war schon seit zwei Stunden hier unten, konnte also noch nichts wissen.
Ich brauchte ihn jetzt nicht weiter einzuweihen.
»Aber — aber«, fuhr er zögernd fort, »aber etwas anderes ist hier passiert.«
»Etwas passiert?«, fragte ich erschrocken, gleich stehen bleibend.
»Ja — ich weiß nicht, ob ich den Herrn Kapitän schon vorbereiten darf — Kapitän Algots wird Sie darüber wohl selbst sprechen wollen...«
Ich sah im Scheine der Laterne Kienocks Gesicht — danach zu beurteilen, konnte es nicht ein direktes Unglück gewesen sein — es war nur ein sehr verlegenes Gesicht.
»Na, was gibt's denn?«
»Haben der Herr Kapitän denn heute früh nichts bemerkt?«
»Wann denn?«
»Nu, als Sie aufstanden. Sie waren doch früher auf als wir alle.«
»Nein, ich habe nichts bemerkt. Heraus mit der Sprache!«
»Der Matrose Hein hat die Nacht bei einer Nonne geschlafen«, platzte Kienock heraus.
›Ach du griene Neine!‹, hätte auch ich jetzt rufen mögen.
Ich bemerkte gar nicht, dass ich mich mit meinen Jungen schon auf einer eisernen Plattform befand, die in die Höhe ging — so griff mich das eben Gehörte doch an.
»Der Teufel soll den Hein holen!!«, stellte ich mich entrüsteter, als ich in Wirklichkeit war. »Wie ist denn das gekommen?«
»Ja, wie das nun eben so kommt«, entgegnete Kienock ganz richtig auf meine dumme Frage.
»Wie ist denn das herausgekommen, meine ich«, verbesserte ich mich.
»Nu, als wir alle schon auf waren, wie der Herr Kapitän die Ruderer aussuchte, da lagen die beiden immer noch im Bette, Hein getraute sich doch nicht, unter der Decke hervorzukriechen.«
Ich hatte schrecklich dagegen anzukämpfen, um nicht in ein lautes Lachen auszubrechen.
Also während wir zusammen gefrühstückt, während ich die Instruktionen gegeben und die sechs Ruderer ausgesucht, hatten die beiden immer zusammen unter einer Decke gelegen! Es war doch eigentlich köstlich!
Da habe ich aber wohl noch nachträglich zu erwähnen, dass unserem Frühstück keine einzige der Nonnen beigewohnt, die hatten alle noch geschnarcht. Und eine Musterung über meine Leute hatte ich nicht gehalten, das Fehlen eines Matrosen war mir nicht aufgefallen. Auch von diesen hatten ja noch viele geschlafen.
»Was für eine unglückliche oder vielleicht glückliche Nonne ist denn das gewesen?«
»Ich weiß nicht, wie sie heißt.«
In gewissem Sinne war das begreiflich. Es waren gar zu viele Namen.
»Was sagt denn nun die Priorin dazu?«
»Gar nichts.«
Aufmerksam blickte ich meinen zweiten Maschinisten an. Diese zwei Worte hatten gar so kläglich geklungen. Warum das?
»Die sagt gar nichts?«
»Nein.«
»Nun heraus mit der Sprache! Ihr verheimlicht mir etwas!!«
»Die darf doch gar nichts sagen.«
»Weshalb denn nicht?«, stutzte ich immer mehr, je höher ich mit dem Fahrstuhl kam.
»Bei der ist doch Kapitän Algots gewesen.«
»Er hat mit ihr darüber gesprochen?«, fragte ich Unschuldsvoller, dem durchaus keine Ahnung des wahren Sachverhalts aufgehen wollte.
»Nein — in der Nacht.«
»Wie? In der Nacht hat Karlemann schon mit der Priorin darüber gesprochen?«
»Ja — nein — ich weiß nicht, ob sie schon in der Nacht darüber gesprochen haben — — Kapitän Karlemann ist in der Nacht doch selber bei der Priorin gewesen.«
Der Fahrstuhl blieb stehen — und auch der Kreislauf meiner Gedanken.
»Ist — selber — bei der Priorin gewesen?! Die ganze Nacht?«
»Nu, ob gerade die ganze Nacht, weiß ich nicht. Wir anderen haben's ja nicht verschlafen, wie der Hein.«
»Ihr — anderen...«
»Na ja, ich will mich ja durchaus nicht herausreißen«, wurde mein Kienock immer kleinlauter und verlegener, »nur gerade der Hein hatte 's verschlafen — ich war ja selber bei einer...«
»Was? Du Himmelhund — bei einer Nonne?!«
»Ja.«
»Bei welcher?«
»Ich weiß ja nicht, wie sie heißt. Sehen Sie, Herr Kapitän, wie das nun eben so kam... wir hatten doch gestern Abend die Nonnen heraufbugsiert — die langen Treppen herauf — ich hatte die eine doch so halb getragen — und da sind wir uns einig geworden — und da konnte ich doch nicht schlafen — und wie ich dann leise aufgestanden bin, da wurde gebstet — und ich dachte doch, das wäre die — aber es wurde überall gebstet — die hatten alle dasselbe ausgemacht...«
Kienock kam nicht weiter, die Wände des Schachtes hallten wider von meinem dröhnenden Gelächter.
Und ich glaube, ich brauche diese delikate Angelegenheit nicht näher zu schildern, wie alles gekommen war.
Menschlich, allzu menschlich!
Es hatte ja überhaupt gar nicht anders kommen können, und ich hatte es ja selbst gar nicht anders gehofft.
Und hatte ich nicht gesagt, dass nur einmal eine besondere Gelegenheit zu kommen brauchte?
Ja, man schafft eine Nonne nicht ungestraft an die siebzig Treppen hinauf!
Während meine Jungen zum größten Teil ihren Kopf in den fleischigsten Teil gebohrt, um so beim Treppensteigen behilflich zu sein, hatte sich vorne Herz zum Herzen gefunden. Denn wie ich schon jetzt erfuhr, hatten sich Karlemanns kleine Bengel durchaus nicht ausgeschlossen. Vielleicht mochten die Nonnen auch zu sehr verschüchtert gewesen sein, als dass sie dem Liebesantrage zu widerstehen gewagt hätten.
Es war also in der Nacht, während ich Unschuldiger den Schlaf des Gerechten schlief, alle meine Schutzbefohlenen todmüde glaubte, überall ›gebstet‹ worden. Aber diese ›Bsterei‹ war eben eine allgemeine gewesen. Und da in der Nacht alle Katzen grau sind, wusste jetzt niemand mehr, wem er eigentlich seine Liebesbezeugungen zugewandt hatte.
Eine nette Geschichte! Ein Glück nur, dass Blodwen die Nacht an meiner Seite zugebracht hatte, sonst wäre die am Ende auch noch verwechselt worden.
Die Wohnetage war erreicht. Von meinen Jungen, zu denen ich jetzt auch Karlemanns Bengel zähle, waren nicht viele zu sehen, und die sich nicht noch rechtzeitig hatten zurückziehen können, waren krampfhaft mit irgend etwas beschäftigt, und von Nonnen war überhaupt nichts zu erblicken.
Karlemann empfing mich.
»Herr Kapitän, ich muss Ihnen was erzählen«, begann er, im ganzen Gesicht schmunzelnd.
»Ich weiß schon alles.«
»Faktisch?«
»Kienock hat mir schon alles erzählt.«
»Na, dann ist es ja gut.«
»Eine nette Geschichte.«
»Nicht wahr? Sehen Sie, die ewige Vorsehung hat es gewollt. Die Priorin sieht es jetzt selber ein. Die habe ich nämlich auf mich genommen, mit Absicht, damit sie dann das Maul halten muss.«
»Karlemann, Sie sind ein Teufelskerl.«
»Nicht wahr?«
»Und wie soll die Geschichte nun weiter werden?«
»Die Priorin ist fürs Heiraten, und hierin mag ich ihr nicht widersprechen. Nur ein paar alte Schachteln sind vorhanden, die keinen abgekriegt haben oder jetzt keinen abkriegen können. Oder einige von den Jungen müssen gleich zweie nehmen. Ich selber wäre ja dazu bereit, wenn ich...«
Ich glaube fast, der Junge wollte für sich auch noch eine Prämie beanspruchen!
»Nein, Karlemann, daraus wird nichts. Ich will ja gern zugeben, dass hier die ewige Vorsehung gewirkt hat...«
»Und ich!«
»Na ja, meinetwegen auch Sie — aber etwas auf Anstand wollen wir doch halten. Weibergemeinschaft wird hier bei mir jedenfalls nicht eingeführt.«
Karlemann schlug in komischer Weise die Hacken zusammen.
»Wie Herr Kapitän befehlen.«
»Ja, und wie soll ich denn dieses Verhältnis nun lösen, wenn niemand seinen Partner, respektive seine Partnerin mehr kennt?«
»Nu, da entscheidet einfach das Los.«
»Damit dürfte die Priorin aber wohl schwerlich einverstanden sein.«
»Was, die nicht?! Die hatte doch selber erst davon angefangen, da wird, wie gewöhnlich, die ewige Vorsehung befragt.«
»Ach so, richtig, daran hatte ich im Augenblick gar nicht gedacht.«
»Dass aber dabei die ewige Vorsehung die Passenden zusammenführt«, fuhr der unverbesserliche Zigeunerknabe mit listigem Augenblinzeln fort, »dafür werde ich sorgen, der Herr Kapitän Karl Algots. Einmal ist die ewige Vorsehung mir freilich ganz eigenmächtig schon zuvorgekommen, das lässt sich nun nicht wieder gutmachen. Na, dann bleibt's eben beim ersten Male...«
Karlemann sprach noch weiter, er schien seine Züchtungspläne noch weiter entwickeln zu wollen, aber ich hatte mich schon abgewandt, wollte nichts mehr hören.
Und faktisch, mir begann etwas zu grauen. Was daraus noch werden sollte, diese zur Hälfte noch unreifen Knaben — oder doch wenigstens winzigen Wichtelmänner — und diese zum Teil stattlichen Weiber — und wenn da Karlemann nach seinen Plänen die im Voraus bestimmten Lose zog, was er sicher einzurichten wusste... ich wollte lieber gar nicht mehr daran denken. Mochte die Sache gehen, wie es... wie es... wie es die ewige Vorsehung durch die Hand Karlemanns bestimmen würde.
Wissen Herr Kapitän schon, dass sich in der Nähe von Fanafute ein englisches Kriegsschiff befindet?« Mit dieser Frage war Mahlsdorf auf der Bildfläche erschienen. Er hatte einen ganz roten Kopf, auch er kämpfte mit Verlegenheit.
Und ich wusste, warum. Also auch Mahlsdorf hatte ein schuldbeflecktes Gewissen! Und das alles, während ich ruhig geschlafen! Auf diese Weise hatten meine sonst so biederen Leute mich einmal hintergangen!
Na, von mir hatte er keine Vorwürfe zu fürchten. Ich wollte auch gar nicht erst prüfen, wer mir eigentlich noch mit offenen Blicken ins Auge schauen konnte.
»Ja, ich weiß es«, entgegnete ich, »es hat mich erst von dort vertrieben. Was macht es?«
»Es ist in einiger Entfernung von Fanafute vor Anker gegangen.«
»Ist schon ein Boot an Land gegangen?«
»Bis vor einer halben Minute noch nicht. Ich sah Sie ja im Boote zurückkommen, hörte soeben, dass Sie schon oben seien, und da bin ich gleich hergeeilt.«
Na, trotz aller Liebesgedanken war der Steuermann ja immer auf seinem Posten gewesen, da verdiente er doppelte Verzeihung.
Ich ging diesmal nicht auf die Plattform des Felsens hinauf, sondern begab mich nur an die westliche Seite dieses Raumes, wo ich ja durch die Fenster ebenfalls die ganze Inselwelt überschauen konnte.
Karlemann hatte sich uns beigesellt, Mahlsdorf hatte schon ein großes Fernrohr bei sich, das noch etwas ganz anderes leistete als mein kleines Tascheninstrument.
Also es war eine stattliche Korvette, jedenfalls eine gepanzerte, die einige hundert Meter vor Fanafute ankerte.
Jetzt wurde doch ein Boot ausgesetzt, es strebte auf Fanafute zu. Der Offizier darin musste ein sehr hoher sein.
Was wollte dieses Kriegsschiff hier? Ich fürchtete Schlimmes für Lord Seymour, der schon davon gesprochen hatte, dass man ihn unter Kuratel zu stellen versucht, und dieser Lord war recht wohl eine Person, derentwegen man eigens ein Kriegsschiff ausschickte.
»Sehen Sie dort die Insel mit der Burg? — Der Berg, auf dem sie liegt, hat drei Zacken wie eine Krone«, wandte ich mich an Mahlsdorf, ihm genau die Richtung bezeichnend.
»Jawohl, und von diesem ist vorhin ein außerordentlich großes Ruderboot abgegangen, mit dreifachen Riemen, eine altertümliche Galeere.«
»Wohin ist es gegangen?«
»Nach Fanafute.«
»Haben Sie gesehen, ob vorher aus der Burg einige Herren — Männer, herausgekommen sind und diese Galeere benutzt haben?«
»Jawohl, und der eine schien wie in einer Ritterrüstung zu stecken, konnte kaum gehen«, lächelte Mahlsdorf.
Ich hatte es geahnt. Lord Seymour hatte sich mit den Herren nach Fanafute, nach seiner eigentlichen Residenz begeben, um von dort aus mit dem Kriegsschiffe zu verkehren.
Und mein Entschluss war schon gefasst gewesen.
»Bei dieser Unterredung möchte ich zugegen sein. Auch wenn ich etwas zu spät komme. Jedenfalls gehe ich sofort wieder zurück.«
Mahlsdorf wie Karlemann fuhren gleichzeitig erschrocken auf.
»Das dürfen Sie nicht, Kapitän!«
»Warum denn nicht?«
»Es ist ein englisches Kriegsschiff.«
Mehr Worte waren auch gar nicht nötig.
»Ich gehe dennoch hin, und ich bin nur noch einmal hierher gekommen, um eben wegen meiner Sicherheit Instruktionen zu geben. Ich hätte schließlich auch das Boot mit den Matrosen hierher schicken können, um gleich dort zu bleiben, aber ich hielt es doch für besser, erst selbst meine Instruktionen zu geben, selbst erst noch einmal nach den Kanonen zu sehen, ob hier alles intakt ist.«
Damit begab ich mich, ohne eine Erwiderung abzuwarten, nach der zweithöheren Etage hinauf, in der sich die Geschütze befanden, unterwegs Kienock, bekanntlich ein ehemaliger Artillerieoffizier, und einige meiner am Geschütz ausgebildeten Leute mitnehmend. Mahlsdorf und Karlemann folgten unaufgefordert.
»Sind diese Geschütze gebrauchsfähig, Kienock?«
Der Ingenieur ließ nur einmal eine der riesigen ArmstrongKanonen ausfahren, prüfte die Visiervorrichtung, öffnete den Verschlusskopf, blickte durchs Rohr und erklärte alles für gebrauchsfähig.
»Wissen Sie, wo die Munition liegt?«
»Ja, dort hinten. Das war das erste, was ich näher untersuchte.«
»Werden Sie das englische Kriegsschiff dort treffen können?«
»Beim dritten Schuss garantiere ich einen Decktreffer«, erklärte Kienock ohne weiteres.
Einen Decktreffer! Eine aufs Deck schlagende Granate, von hier oben aus geworfen, musste von furchtbarster Wirkung sein! Und selbst wenn auch das Deck gepanzert gewesen wäre — was aber sicher nicht der Fall war — eine Granate aus dieser Höhe musste alles durchschlagen, von der Vernichtung an Menschenleben gar nicht zu sprechen. Auf See ist solch ein Bogenschuss von Schiff zu Schiff nur nicht möglich.
»Also Sie wollen wirklich hin, Kapitän?«, nahm da Karlemann wieder das Wort.
»Unbedingt!«
»Wozu eigentlich?«
»Um zu erfahren, was dieses Kriegsschiff hier will.«
»Jeder Matrose ist berechtigt, Sie über den Haufen zu stechen, er geht straffrei aus und erhält auch noch eine Prämie von fünfzigtausend Pfund Sterling, und da nützt Ihre vorherige Drohung, das Kriegsschiff in den Grund schießen zu wollen, gar nichts, einer der Matrosen wird das schon riskieren, und kein Offizier kann ihn daran hindern.«
Ich wurde nachdenklich. Der Junge hatte recht. Dass mich kein Gefühl der Feigheit beschlich, brauche ich wohl nicht erst zu sagen. Aber mit einem vogelfreien Desperado ist es eben eine ganz eigentümliche Sache.
»So signalisieren Sie doch«, fuhr Karlemann fort, »befehlen Sie dem Kommandanten, sich hierher zu begeben, da werden Sie ja gleich erfahren, was er will — und will er nicht kommen, dann drohen Sie, das Kriegsschiff, sobald es nur Miene macht, die Anker zu lichten, in den Grund zu schießen.«
Ich fuhr empor. Bei Gott, dieser Junge hatte wieder einmal den besten Rat gegeben!
Und dann hatte dies noch einen besonderen Vorteil. Es war doch schwierig, der Geschützmannschaft Instruktionen zu geben, wie weit sie beim Scharfschießen gehen durfte. Denn ich hatte durchaus nicht die Absicht, nochmals ein Kriegsschiff zu vernichten, wodurch auch wieder viele Menschenleben draufgehen mussten. So aber war ich selbst bei den Geschützen.
»Ja, das machen wir! Sollten sie nicht auf Flaggen reagieren, kann auch noch ein Abgesandter hingeschickt werden.«
Drei Minuten später donnerte aus der Batterie des Vogelberges ein Signalschuss, nur mit einer Pulverkartusche abgefeuert, und ich selbst stand schon oben am westlichen Rande des Plateaus neben einer hohen Flaggenstange, die von zwei Mann gehalten wurde, alles war bereit zum Signalisieren.
Erst aber musste die Wirkung des Schusses abgewartet werden. Dass er gehört worden, war selbstverständlich, und auch das hatte man auf Fanafute wie auf dem Kriegsschiff sofort heraus, wo er abgefeuert worden war. Durch mein ausgezeichnetes Fernrohr, auf einem Stativ festgeschraubt, konnte ich erkennen, welche Verwirrung besonders auf dem Kriegsschiff entstand, wie alle Teleskope nach unserem Felsenberge gerichtet wurden.
Auch uns musste man ja erblicken, und so war durch ein gutes Fernrohr auch eine Unterscheidung der Flaggen möglich.
Jetzt gab es bei mir kein Überlegen mehr.
»Der Kommandant des englischen Kriegsschiffes sofort hierher!!«, ließ ich ohne Weiteres signalisieren.
Die Überraschung auf dem Kriegsschiffe musste groß sein. Man schien gar nicht gleich die Flagge finden zu können.
Dann aber kletterten doch einige zur kurzen Frage empor.
»Wer dort?«
»Richard Jansen, Kapitän der ›Sturmbraut‹«, ließ ich entgegnen.
Hei, das gab eine Bestürzung!! Wie die aufgestocherten Ameisen, rannten sie durcheinander, besonders auf der Kommandobrücke.
»Verstanden?«
»Ja.«
Dann ließ ich durch drei nacheinanderfolgenden Flaggenreihen ausdrücken:
»Sobald das Kriegsschiff die Anker lichtet, schieße ich es in den Grund! Kapitän Richard Jansen.«
Jetzt schien man dort drüben zu erstarren.
»Weshalb?«, wurde dann gefragt.
»Der Kommandant sofort hierher!«, ließ ich wiederholen.
»Wohin?«
»Nach diesem Felsenberge.«
»Wozu?«
»Unterredung mit mir.«
»Kommandant muss erst verständigt werden.«
»Gut. Halbe Stunde Frist. Dann beschieße ich das Schiff.«
Die Flaggenunterredung war beendet. Obgleich anzunehmen war, dass der an Land befindliche Kommandant von diesem Gespräch bereits Kenntnis genommen, ging doch vom Kriegsschiff ein Boot ab, darin einige Offiziere.
Diese begaben sich in ein Haus, in welchem für gewöhnlich Lord Seymour wohnte; sie kamen nach einiger Zeit wieder heraus, jetzt aber mit jenem hohen Offizier, den Mahlsdorf schon vorhin gesehen, er erkannte ihn gleich an dem langen, schwarzen Barte wieder, und fünf Minuten später war das Boot nach dem Felsenberge unterwegs.
O, was für ein beschämendes Gefühl musste das für diesen Mann sein, mir so bedingungslos gehorchen zu müssen! Aber was blieb ihm anderes übrig? Auf meinen Tod standen 50 000 Pfund, auf meine lebendige Ergreifung wohl 400 000; aber solch ein Kriegsschiff kostete viel, viel mehr, und der Kommandant war verantwortlich dafür, von seinen Leuten ganz abgesehen.
Und ehe er sich auf einen Kampf um Leben und Tod mit mir einlassen durfte, brauchte er wohl besondere Instruktionen, und... die Engländer hatten mich schon mehrmals kennen gelernt!
Es blieb dem Kommandanten nur zweierlei übrig: entweder meiner Aufforderung Folge zu leisten oder... Selbstmord zu begehen! Und dann hinterließ er einen schmachbedeckten Namen.
Für mich galt es jetzt zu überlegen, wo der Kommandant zu empfangen sei.
Doch wo anders, als hier in dem hohlen Felsen selbst? Das Geheimnis war ja nun sowieso verraten, mochten die Engländer jetzt auch erfahren, wie es darin aussah, damit sie wussten, wie wir uns wehren würden, falls sie uns einmal anzugreifen wagten.
In diesem Felsen waren wir einfach unüberwindlich, und es hätte Jahre bedurft, um uns auszuhungern, ganz abgesehen davon, dass wir mit unseren ArmstrongGeschützen das Meer in meilenweitem Umkreise beherrschten, wir schossen alles in den Grund, wir konnten gar nicht blockiert werden, der ungeschickteste Kapitän hätte uns mit Nahrungsmitteln in Hülle und Fülle versehen können.
Ja, das war hier etwas ganz anderes, als auf jener afrikanischen Leuchtturminsel, und... jetzt waren wir Desperados, die schon gezeigt hatten, dass sie keine Schonung übten!
Ich befahl Mahlsdorf, dem Boote entgegenzufahren, um es hierher zu geleiten. Dem Kommandanten wie dem mitkommenden zweiten Offizier sei natürlich der größte Respekt zu beweisen, und das umso mehr, als sie nicht erst gefragt hatten, ob ihre Person auch geschützt sei. Das hatte mich überhaupt etwas frappiert.
Mahlsdorf ging ab, ich selbst traf Vorbereitungen zum Empfang, der in der Offiziersmesse stattfinden sollte, die man schon früher hier gehabt hatte.
»Sie haben wohl nicht gern, wenn ich bei dieser Unterredung bin?«, meinte Karlemann noch.
»Nein«, konnte ich diesem vernünftigen Jungen ganz ruhig erwidern.
Ich befand mich in einiger Aufregung, zum ersten Male nach jenen Katastrophen sollte ich mit einem Repräsentanten Englands eine Auseinandersetzung haben — es war doch ein wichtiger Moment — aber ich hatte nicht vergessen, für Champagner zu sorgen, denn der Champagner ist bei Begegnungen zwischen höheren Schiffsleuten nun einmal etwas Unvermeidliches geworden — auch das Schiff selbst wird mit Champagner getauft — und ganz ruhig ward ich, als ich Schritte vernahm, von denen ich gleich ganz bestimmt wusste, dass sie dem Kommandanten angehören mussten.
Und er stand vor mir, der hochgewachsene Mann mit langem, schwarzem Vollbart, in der goldstrotzenden Uniform eines Kapitäns zur See.
Einige Sekunden, vielleicht auch einige Minuten blickten wir uns schweigend an, aber es waren durchaus keine feindseligen Blicke, mit denen ich gemustert wurde, eher bewundernde, hier muss ich es einmal sagen, und er war äußerlich so aufgeregt wie ich innerlich.
»Kapi — Kapitän Richard Jansen!!«, brachte er endlich hervor. Er hatte mehrmals ansetzen müssen, um es herauszubringen.
»Ich bin es.«
»Ich weiß es.«
»Und mit wem habe ich die Ehre?«
Er hatte sich wieder gefasst. Meine Höflichkeit mochte viel dazu beitragen.
»Lord Connaught, Kommandant der ›Princess Albert‹.«
Mir gab es wie einen Stich durch's Herz. Es war eine seltsame Fügung, dass es gerade das Schwesterschiff des von mir vernichteten sein musste, das jetzt unter meinen Kanonen lag.
»Ein Verwandter des bekannten Herzogs von Connaught?«, fragte ich dann mit Ruhe.
»Ein Bruder.«
»Bitte, Mylord, nehmen Sie Platz.«
Er setzte sich, ich mich ihm gegenüber. Auf mein Klingeln brachte mein Bernhard in tadelloser Aufmachung den Champagner.
»Auf Ihr Wohl, Mylord!«
Er nahm das Glas, aber zögerte.
»Ich dürfte nicht mit Ihnen anstoßen.«
»Weshalb nicht?«
»Wenn ich Sie nicht auch von einer anderen Seite als nur als Todfeind Englands, als den Vernichter seines Stolzes, seines besten Kriegsschiffes, kennen gelernt hätte. Auf Ihr Wohl, Herr Kapitän Jansen!«
Ich fragte nicht, inwiefern er mich von einer anderen, einer besseren Seite kennen gelernt habe — ich tat ihm Bescheid, und es waren offene, ehrliche Augen, denen ich begegnete.
»Ich bin außer mir«, sagte er, als er den Kelch absetzte.
»Weshalb?«
»Dieser ausgehöhlte Felsen!«
»Sind Sie mit dem Fahrstuhle heraufgekommen?«
»Ja.«
»Dann haben Sie noch sehr wenig gesehen.«
»In der unterirdischen Hafeneinfahrt schon genug.«
»Dort allerdings.«
»Ist dies Ihr Werk?«
»Nein.«
»Wessen Werk sonst?«
»Das weiß ich selbst nicht. Ein Zufall ließ mich die Eigenschaft dieses sogenannten Großen Vogelberges entdecken, bei Gelegenheit einer Ballonfahrt, und ich fand alles so, wie es jetzt noch ist, aber von Menschen verlassen, und ich weiß nicht, wer diese Menschen gewesen sind, es ist mir alles selbst ein Rätsel. Ich werde Sie dann herumführen. Nun aber zur Hauptsache, weswegen ich Sie hierher bat. Weshalb sind Sie nach Fanafute gekommen?«
»Um Lord Archibald Seymour zu verhaften.«
»Weshalb verhaften?
»Wegen Hochverrats.«
»Was? Hochverrat?!«, stieß ich noch bestürzter denn zuvor aus.
»Ja! Diese Inselgruppe ist zwar Lord Seymours persönliches Eigentum, aber er durfte die Inseln nicht armieren, er hat es getan, und das ist Hochverrat.«
Aha, also auf diese Weise hatte man schnell einen Grund gefunden, um der Person dieses Lords habhaft zu werden, um ihn dann später unter Kuratel stellen zu können. Denn offenbar ging dies alles doch von seinen Verwandten aus, die selbstverständlich ebenfalls hohe Adelspersonen waren.
Lord Connaught gab übrigens selbst gleich zu, dass dies nur ein Vorwand war, allerdings für etwas anderes.
»Außerdem«, fuhr er fort, »will Lord Seymour hier Dinge in Szene setzen, welche die Regierung von England, das hier doch die Oberhoheit hat, niemals dulden kann.«
»Was für Dinge?«
»Sollten Sie nicht wissen?«
»Die Kriegspielerei.«
»Ja. Da kann England unmöglich ruhig zusehen, dass einer seine Staatsangehörigen auf Englands Grund und Boden solche gefährliche Spielerei treibt.«
Der Lord hatte recht. Ich selbst hatte schon ganz ähnliche Gedanken gehabt.
Jeder geordnete Staat ist im Grunde genommen ein Gesellschaftsvertrag auf Gegenseitigkeit; auf diese Weise sind die Gesetze gemacht worden.
Niemand darf in seinem Hause zwischen den Nachbarn eine Pulverfabrik betreiben. Und was Lord Seymour hier vorhatte, das konnte eine politische Pulverfabrik werden.
»Und außerdem geht das, was Lord Seymour und seine Gesellschafter hier arrangieren wollen, gegen alle moralischen Gesetze der Menschlichkeit, und da diese Inseln unter Englands Oberhoheit stehen, ist es auch die Pflicht Englands, so etwas zu verhindern.«
Wiederum musste ich beistimmen.
Ja, ich liebe Kriegsspiele, das Messen Mann gegen Mann; mag dabei auch einmal Blut fließen, und mögen auch einmal Knochen brechen, aber... es hat, wie schon gesagt, alles seine Grenzen. Das hier konnte leicht zur Menschenschlächterei werden.
Ich selbst war schon entschlossen gewesen, hier beizeiten einzugreifen, mag dies auch von einem Manne, der schon halb und halb zum Seeräuber geworden, merkwürdig klingen.
Ich hätte es eben getan, nach meinem Gewissen handelnd, und damit basta!
»Also Sie sind hierher gekommen, um Lord Seymour zu verhaften?«
»Ja.«
»Auf wessen Befehl?«
»Auf Befehl der königlichen Regierung von England.«
»Sie sollen ihn nach England bringen?«
»Ja.«
»Haben Sie Lord Seymour schon deshalb gesprochen?«
»Eben vorhin.«
»Den Verhaftungsbefehl gegen ihn schon ausgesprochen?«
»Ja.«
»Und was sagte er dazu?«
»Er machte eine Szene.«
»Inwiefern?«
»Er verlachte mich, er drohte, mein Schiff zu beschießen, bedrohte auch meine eigene Person. Kurz, er will Gewalt entgegensetzen.«
Das hatte ich mir alles denken können.
»Und was werden Sie tun?«
»Da muss auch ich mit Gewalt vorgehen.«
»Was werden Sie tun? Bitte, erklären Sie sich näher.«
»Ich werde Fanafute bombardieren müssen.«
»Das werden Sie nicht tun.«
»Es ist meine Pflicht, so lautet mein Auftrag.«
Jetzt nahm die Unterhaltung einen ganz anderen Ton an, der Lord, sich auf seinen Degen stützend, blickte mich auch mit ganz anderen Augen an.
»Wenn ich selbst nun die Garantie übernehme, dass hier eine solche Kriegspielerei nicht stattfinden wird?«
»Ich habe den Auftrag, Lord Archibal Seymour gefangen nach England zu bringen.«
Das war das Kürzeste gewesen, was der Kommandant hätte sprechen können.
»Aber ich werde seine Gefangennahme nicht zulassen«, wurde ich jetzt ebenso kurz.
Der Lord kniff die Lippen zusammen und blickte finster vor sich hin.
»Ich weiß, dass Sie mir überlegen sind«, murmelte er.
»Wollen Sie meine Batterie, meine Geschütze besichtigen?«
»Ich glaube es auch so.«
»Well, dann sprechen wir doch ganz offen. Werden Sie nachgeben?«
»Ich muss es leider. Aber«, fuhr der Kommandant, sich zugleich erhebend, mit erhobener, wenn auch nicht drohender Stimme fort, »England wird mit bewaffneter Macht zurückkommen und dennoch seinen Willen durchsetzen!«
Auch ich war aufgestanden, achselzuckend. Mir war nichts daran gelegen, dass die Unterredung schon beendet sei.
»Das glaube ich wohl. Auf den Inseln werden die Kriegsschiffe wohl schwerlich noch etwas vorfinden, dafür werde ich sorgen...«
»Aber Sie selbst bleiben hier?«
»Ja, ich bleibe hier, und eben davon wollte ich sprechen.«
»Auch dieser Felsenberg ist englischer Besitz.«
»Ist Eigentum des Lords Seymour.«
»Dessen Vermögen jetzt natürlich kassiert wird, und überhaupt stehen alle diese Inseln unter englischer Oberhoheit, also auch dieser Felsenberg.«
»Sie meinen, England wird mich von hier vertreiben?«
»Sicher, und, Herr Kapitän, ich rate Ihnen gut...«
»Wollen Sie das Innere nicht erst einmal besichtigen«, fiel ich ihm ins Wort, »dass Sie dann Ihrer Regierung davon berichten und... vor einem Vorgehen gegen mich warnen können?«
Natürlich erklärte sich der Kommandant sofort bereit dazu. Wir durchwanderten die oberen, eingerichteten Etagen, und immer größer wurden die Augen des Kommandanten, die zuvor ja nur den Schacht des Fahrstuhles gesehen, und immer unverhohlener drückte er sein grenzenloses Staunen aus, als er die ungeheueren Vorräte an Proviant und Munition aufgespeichert sah, von den ArmstrongGeschützen gar nicht zu sprechen.
Wiederholt musste ich ihm erklären, dass ich selbst nicht wisse, woher dies alles stamme.
Wahrscheinlich aber dachte auch er an Seeraub, und ich selbst musste es nach seiner Vermutung wohl sein, der dies alles zusammengetragen hatte.
So waren wir in die letzte Etage gekommen, soweit diese in bewohnbarem Zustande war. Die anderen waren ja sonst gänzlich leer.
Hier drängte sich eine Schar Nonnen zusammen, die sich bisher vor uns ängstlich zurückgezogen hatten, hier aber hatten wir einem Teile von ihnen zufällig den Ausweg versperrt. Es war wirklich ganz ohne meinen Willen geschehen.
»Was ist denn das?«, stutzte der Lord schon beim Anblick der vermummten Gestalten, die vom hellen Tageslichte übergossen waren.
»Das sind unsere Frauen — oder doch unsere zukünftigen — nein, schon unsere jetzigen. Nur der Segen des Priesters fehlt noch, den sie sich aber gleich selbst erteilen können.«
»Das sind doch — doch — Nonnen?!«
»Allerdings, und eben deswegen können sie gleich selbst den Segen sprechen.«
Da, wie Lord Connaught immer noch ganz fassungslos auf die vermummte Nonnenschar starrte, als habe er doch schon eine Ahnung, wage es nur gar nicht zu glauben, trat die eine hervor, zugleich die Kapuze vom Gesicht ziehend.
»Na, was soll's?«, erklang es unverzagt mit heller Stimme.
»Jawohl, Lord Connaught, Sie irren sich nicht, wir sind es wirklich.«
Jetzt drohten die Augen des Lords die Höhlen zu verlassen.
»Die Princess von Plantagenet!!«, stieß er dann hervor.
»Jawohl, ich bin es, und wir sind es alle — alle vierundachtzig der Schwestergemeinschaft von Manchester, welche vor fünf Monaten von Cardiff aus mit der ›Hekuba‹ die Heimat verlassen haben, um uns nach Tasmania zu begeben.«
»Und Sie sind in die Gefangenschaft dieses Desperados gefallen?«, kam es ächzend aus dem Munde des Kommandanten.
»Gefallen? In die Gefangenschaft? O nein, ganz im Gegenteil! Wir sind ihm und seinen wackeren Leuten freiwillig gefolgt, um uns in das sogenannte Joch der Ehe zu begeben... Mutter«, wandte sich das Plappermäulchen zurück, »wollen Sie nicht lieber gleich das Wort ergreifen? Wir brauchen uns doch wahrhaftig nicht mehr zu genieren, und der Herzogin von Manchester als unserer Priorin glaubt er vielleicht mehr als mir, dass Kapitän Jansen nicht etwa in den Verdacht als Frauenräuber kommt.«
»Ganz und gar nicht«, ließ sich da die Priorin vernehmen, ebenfalls mit enthülltem Gesicht vortretend, denn nun war einmal der Stein ins Rollen gekommen. »Die ewige Vorsehung, der wir gedient haben und noch immer dienen, hatte beschlossen, dass wir diesen Männern, welche uns immer durchaus höflich behandelt haben, die ich direkt auch keine Seeräuber nennen kann, folgen, um über ihr Seelenheil zu wachen...«
Leider kam die Priorin in ihrem Sermon zu unserer Verteidigung nicht weiter.
»Die Nonnen der Vorsehung von Manchester!!«, schrie Lord Connaught plötzlich auf, als begriffe er es erst jetzt, habe bisher nur an eine Vision geglaubt. »Die höchste Aristokratie Englands!! In Gesellschaft dieses für vogelfrei erklärten Seeräubers und seiner Leute!! Und freiwillig sind sie ihm gefolgt!! Um ihre Frauen zu werden!! Sie sagen es selbst!! Himmel, stürze ein!! Kapitän, Sie müssen mit dem Teufel im Bunde sein!!!«
Mit diesem letzten Worte stürzte er davon, dem Fahrstuhle zu, und wäre dieser nicht gerade oben gewesen, von Kienocks kundiger Hand geführt, Connaught wäre in den Schacht hinabgepurzelt.
Ich sollte ihn auch nicht eher wieder erblicken, als bis er sich achthundert Meter tief unter meinen Füßen befand, als er in seinem Boote zurückruderte, an Bord seines Schiffes.
Dieses lichtete alsbald die Anker, ohne von uns daran durch Kanonenschüsse gehindert zu werden. Nur passten wir gut auf, dass nicht etwa Lord Seymour als Gefangener mitgenommen wurde. Doch nein, der ganz von Sinnen gekommene Kommandant dachte gar nicht mehr an so etwas.
Die Korvette verschwand in nördlicher Ferne hinter den Inseln, und eine halbe Stunde später stand ich auf Fanafute wieder dem Lord Seymour gegenüber, der noch immer der kugelfeste Rittersmann war, nur nach seinem Kopfe durfte man nicht mehr zielen, denn den Helm hatte man ihm schon abgelöst. Mit der Erfindung des Lords war es eben doch nicht so weit her, einer Feile in der Hand eines richtigen Schlossers trotzte diese Rüstung jedenfalls nicht, und bald war der edle Lord völlig aus dem Eisen herausgeschält, konnte ins Bad gehen und die siegreiche Hose des Admirals Nelson wie seine anderen Kleider in die Wäsche geben.
Ja, was nun, meine Herren?« Sie hatten mich alle nach dem Vogelberge hinüberbegleitet, um dessen Inneres erst einmal zu besichtigen, und da merkte ich, dass diese Sportsmen trotz aller Abgebrühtheit doch noch eines Staunens fähig waren, und das verstärkte sich noch, als sie den Nonnen vorgestellt wurden, deren Geschichte erfuhren.
Dann hatte ich sie in einem geschlossenen Raume zur Versammlung zusammengerufen, an welcher außer meinen Offizieren auch noch Karlemann teilnahm.
Die Kriegspielerei war beendet oder sollte überhaupt niemals einen Anfang nehmen. Das sahen alle sofort ein. England würde bald mit noch ganz anderer Macht zurückkehren, um seine Rechte zu wahren, um auch in den Besitz dieser natürlichen Seefestung zu kommen.
»Well, dann wird eben ein ernstlicher Krieg daraus«, sagte Lord Seymour, sich dabei vergnügt die Hände reibend. »Wir verteidigen diese Seefestung natürlich bis zum letzten Zwieback. O, das soll sogar herrlich werden!«
Ganz derselben Meinung waren die anderen vier Herren.
»Dann werden aber auch Sie zu vogelfreien Desperados. Haben Sie sich das auch schon richtig überlegt?«
Ja, Lord Seymour wenigstens war sich dessen schon bewusst, dass auch er, nachdem er sich seiner Verhaftung entzogen, das englische Kriegsschiff mit Beschießung bedroht hatte, nun ebenfalls ein vogelfreier, heimatloser Seezigeuner geworden sei, der auf dem Wege des Rechtes auch keinen Anspruch mehr auf sein Vermögen und seinen sonstigen Besitz in England zu machen habe.
Lord Seymour schien sich aus alledem verdammt wenig zu machen, und die anderen Herren schlossen sich ihm einfach an, waren also bereit, hier zu bleiben und dem zurückkehrenden England Widerstand zu bieten, ganz gleichgültig, welches Ende die Sache nehmen würde.
Das war ja gerade so etwas für diese Sportsmen, hier hatte sich ihr Ideal erst richtig verwirklicht, über die Köpfe aller anderen Nationen hinweg ein eigenes Seekönigreich gründen, jedem Einspruch bewaffneten Widerstand leisten.
»Sie machen da doch natürlich auch mit?«, ward ich in wahrhaft ängstlichem Tone gefragt.
»Mir bleibt wohl gar nichts anderes übrig.«
»Na, sehen Sie, da sind Sie doch noch unser Zigeunerkönig geworden!«, erklang es jetzt im fröhlichsten Tone.
»Ja, aber zunächst muss ich mein Königreich doch einmal verlassen.«
»Weshalb?«
Ich wurde diesen Herren gegenüber ganz offen. Wie mich Blodwens flehentliche Blicke unausgesetzt verfolgten! Ich hatte ihr ja auch versprochen, das Kind von New York abzuholen.
Wie war das nun zu machen? Das war jetzt die große Frage. Mein erster Plan war, mich allein nach New York zu begeben, das Kind mit List oder sogar mit Gewalt zu entführen.
Jetzt aber durch diese allgemeine Beratung wurde es anders. Blodwen sollte sich ganz einfach selbst nach New York begeben, und zwar in Begleitung von Mr. Fairfax, der ja selbst ein angesehener New Yorker Kaufmann war.
Wolle sich der Leser nicht wundern, wie wir zuletzt auf Mr. Fairfax als Blodwens Begleiter kamen.
Diese Unterredung währte nicht etwa nur eine Stunde oder etwas darüber, sondern um zu diesem Entschlusse zu kommen, dazu brauchten wir nicht weniger als vier Tage.
Das heißt, wir konnten uns während dieser vier Tage nicht einigen, die verschiedensten Pläne wurden gemacht, angenommen und immer wieder verworfen, weil ein noch besserer gefunden worden war, bis eben von Mr. Fairfax selbst dieser letzte gemacht worden war: Blodwen selbst sollte nach New York gehen, in Begleitung von Mr. Fairfax.
Es war auch wirklich das Beste, was wir hätten beschließen können. Meine lange Person hätte überall erkannt werden können, vielleicht mit unsäglichen Schwierigkeiten und Verfolgungen kämpfen müssen. Ich selbst hätte erst nach San Francisco oder gar nach der Ostküste Amerikas gebracht werden müssen, vom eigenen Schiffe, von eigenen Leuten, und was sollte da unterdessen aus dem Vogelberge werden?
Kurz und gut, unser Plan war jetzt folgender, womit sich auch Blodwen in größter Freude einverstanden erklärte:
Es wurde ein an den Elliceinseln vorübersegelndes Schiff abgewartet und abgefangen, dessen Ziel San Francisco war. Blodwen und Fairfax begaben sich an Bord, benutzten von San Francisco aus nach New York die erst vor kurzem eröffnete Pacificbahn. Dadurch wurde der Weg natürlich ganz bedeutend abgekürzt.
Man konnte Blodwen ja gar nichts anhaben. Ihr Kind hatte sie selbst in Pension gegeben, man musste und würde es ihr ohne weiteres wieder ausliefern. Dann würde sie auch gleich das falsche Gerücht von ihrem vermeintlichen Tode zerstören, sie würde ihr Kapital kündigen, es womöglich sofort erheben, gegen ein entsprechendes Reugeld. Und an ihrer Seite war als Beschützer Mr. Fairfax, den ich immer mehr als einen ganzen Mann kennen lernte, trotz aller seiner Schrullen.
Und dann schließlich noch eines: Karlemann hatte auf dem Vogelberge unterdessen schon wieder seine Möwenstation eingerichtet. Mr. Fairfax würde in Käfigen einige Möwen mitnehmen, welche, wo sie auch abgelassen wurden, nach diesem Vogelberge zurückkehrten, und nicht nur das, sondern sie würden auch wieder von hier dorthin zurückfliegen, von wo sie gekommen waren.
So behauptete Karlemann, und wir durften nicht mehr daran zweifeln, da Versuche im Kleinen, die im Laufe der Tage wiederholt von Insel zu Insel oder auch von diesem Vogelberge nach einem Schiffe, das seinen Standpunkt ganz bedeutend änderte, regelmäßig glückten.
Dann hatten Blodwen respektive Fairfax die Möglichkeit, sich mit uns immer in Verbindung zu setzen und auch wir konnten ihnen sofort Antwort geben, wenn wir ihre Botschaft einmal erhalten hatten.
Dann handelte es sich nur noch darum, die beiden an Bord eines Schiffes zu bringen, welches nach San Francisco ging.
Zu diesem Zwecke wurde aus dem gemauerten Hafen ein Schoner gewählt, welcher mit genügender Besatzung und den beiden an Bord ständig oder doch am Tage über in der Nähe des Vogelberges umherkreuzte. Es war zugleich gewissermaßen ein Wachtschiff, dessen Bemannung jeden Tag abwechselte.
Von dem achthundert Meter hohen Vogelberge aus konnte das Meer natürlich noch in ganz anderem Umkreise beobachtet werden. Wurde nun ein nach Norden gehender Dampfer gesichtet, so wurde alsbald durch Signale, die aus weiterer Entfernung nicht gesehen werden konnten, auch unser Wachtschiff davon benachrichtigt, es sollte dem Dampfer rechtzeitig den Weg verlegen, nannte irgendeinen angenommenen Namen und fragte nach dem Ziele des Dampfers.
Dieses brauchte ja nicht direkt San Francisco zu sein. Wenn es nur irgendein Hafen an der Westküste Nordamerikas oder meinetwegen auch der nördlichen Hälfte Südamerikas war. Von dort aus würden die beiden schon eine andere Fahrgelegenheit nach Frisco finden. Nur nicht gar zu weit südlich dürfte er liegen, sonst könnten wir selbst ja gleich um Kap Hoorn segeln, Blodwen gleich direkt noch New York bringen.
Aus demselben Grunde durften wir auch nicht gar zu lange auf solch ein Schiff warten. Acht Tage wurden als Frist angesetzt. War bis dahin kein solcher Dampfer aufgetrieben worden, dann sollte sich die ›Sturmbraut‹ oder irgendein anderes der vorhandenen Schiffe auf den direkten Weg nach Frisco machen. Nur musste sich dann das ganze Zigeunerlager einmal teilen, denn wir konnten die Nonnen doch nicht ohne männlichen Schutz zurücklassen. Wenigstens die Hälfte der ganzen Besatzung musste zurückbleiben, ich wahrscheinlich selbst, und dann würden wir wieder in schwerer Sorge um das Schiff mit unseren Kameraden sein.
Dies alles wurde also vermieden, wenn so ein ungefähr nach jener Richtung gehender Dampfer oder meinetwegen auch Segler aufgetrieben wurde. Nur hatten wir eher mit einem Dampfer zu rechnen, weil die Elliceinseln ziemlich in der Seeroute zwischen Neuseeland und den nordamerikanischen Häfen der Westseite liegen, während Segelschiffe um die ganzen Inselgruppen einen großen Umweg machen.
Blodwen und Fairfax sollten sich dann als Schiffbrüchige ausgeben, als Mann und Frau, welche von dem Schoner im offenen Boote aufgefischt worden seien. Fairfax hatte aus Liebhaberei an Bord des Schoners einige Möwen gefangen, wollte sie mitnehmen. — —
So, das war unser Plan. Nicht wahr, alles ganz fein ausgesponnen?
Ja, aber! Wenn ich zwischen meine Fäuste nur einmal den Mann bekommen könnte, der die Wenn und die Aber erdacht hat!
Die Hauptsache war schließlich, dass Blodwen mit allem einverstanden war und dann vor allen Dingen auch, dass ich ihr traute.
»Die dreißig Millionen Dollar lasse ich fahren, nur mein Kind will ich wiederhaben, dann kehre ich sofort zu dir zurück. Wenn ich nur bei dir sein kann, mein Richard!«
So sagte sie immer und immer wieder, und ich kann nur sagen, dass unser Verhältnis ein recht glückliches war — oder überhaupt ein derartiges, wie es so schön auch in der ersten Zeit unserer Liebe kaum gewesen.
Was wir sonst alles ausmachten, wie z. B. wegen der Rückkehr, wegen unserer Verheiratung usw. usw., das kann ich hier unmöglich alles schildern, oder ich müsste darüber ein dickes Buch schreiben.
Genug, wir hatten dabei auch nicht die kleinste Möglichkeit vergessen.
Es war am sechsten Tage, seitdem uns das englische Kriegsschiff verlassen, als in der Frühe ein nordwestlich gehender Dampfer gesichtet wurde. Unser Wachtschiff lag schon zur gewöhnlichen Ausfahrt bereit, Mr. Fairfax und Blodwen begaben sich schnell an Bord, in solchen Kostümen, wie man sie von Schiffbrüchigen verlangen kann, die nicht richtig mit anderen Kleidern versorgt werden konnten, Fairfax außerdem mit einem großen Holzbauer, der vier Möwen enthielt.
Erwähnen will ich noch, dass diese Tiere nur mit Salzfleisch gefüttert zu werden brauchten.
Ich will nicht die Gefühle zu schildern versuchen, die mein Herz erfüllten, als ich Blodwen noch einmal an meine Brust drückte. Sie war in letzter Zeit eine so ganz, ganz andere geworden. Und meiner aufrichtigen Zärtlichkeit mischte sich eine düstere Ahnung bei... im letzten Augenblick wollte ich noch den ganzen Plan aufgeben, lieber zu meinem ursprünglichen zurückkehren.
Aber ich überwand diese Schwäche. Ach, hätte ich sie doch nicht überwunden, hätte ich doch dieser inneren Stimme Gehör geschenkt! Was wäre mir alles erspart geblieben!!
So sah ich sie absegeln. Wenn ich noch eine Hoffnung gehabt hatte, so war es nur die, dass dieser Dampfer ein ganz anderes Ziel im Auge habe, dann nur noch zwei Tage, dann konnte ich sie wenigstens selbst direkt nach San Francisco bringen.
Aber auch daraus sollte nichts werden, das Schicksal hatte alles, alles ganz anders bestimmt.
Schnell hatte ich mich mit dem Fahrstuhl wieder hinaufbegeben, wir konnten durch die Felsenluken ungesehen alles beobachten.
In einer halben Stunde war unser Schoner in genügender Nähe des Dampfers, durch unsere Fernrohre konnten wir die Flaggensignale mitlesen.
Unser Schoner hisste die englische Flagge und grüßte, der Dampfer erwiderte mit dem Sternenbanner.
»Beowulf, New Castle, Kapitän Robinson«, meldete unser Schoner seine vorgeblichen Personalien.
Dass diese nicht stimmten, davon würde man sich auf dem Dampfer doch nicht gleich im Schiffsregister orientieren, und dann später würde Mr. Fairfax schon eine Ausrede wissen. Alles, alles war ja bis ins Kleinste ausgemacht worden.
»Admiral Helison, Philadelphia, Kapitän Sykman«, stellte auch der Dampfer sich vor.
»Wohin?«
»Acapulco, dann San Francisco.«
O weh, das Schicksal hatte es gewollt! Der Dampfer fuhr sogar nach Frisco, lief vorher nur noch einmal einen mexikanischen Hafen an.
»Wir haben zwei Schiffbrüchige an Bord. Wollt ihr sie mitnehmen?«
Ohne Zögern bejahte der Dampfer.
So, nun war es entschieden!
Wenn es irgendwie vermieden werden kann, so legen zwei Schiffe auch bei ruhigster See niemals Seite an Seite.
Die beiden Schiffe verständigten sich, dann beobachtete ich durch das Fernrohr, wie unser Schoner, noch in bedeutender Entfernung von dem Dampfer, ein Boot aussetzte, ich sah Blodwen und Fairfax einsteigen, letzterer durch seinen Vogelkasten ausgezeichnet, Martin übernahm die Steuerung, das Boot ging hinüber, die beiden an Bord des Dampfers, das Boot zurück... und nun sah ich Blodwen noch einmal mit dem Taschentuche winken, nach dem Schoner zurück, in Wirklichkeit aber doch nach dem Vogelberg — mir galt dieser letzte Abschiedsgruß — und eine Viertelstunde später war der Dampfer verschwunden.
Das war am 9. November gewesen.
In frühestens vierzehn Tagen konnte ich die erste Möwenpost aus San Francisco erwarten.
So, nun konnten wir unser Leben fortsetzen. Wir waren Inselzigeuner geworden, aber auf unserem Felsenberge doch viel mehr mit der See verknüpft als damals auf der Fucusinsel inmitten einer Wiese, auf der von Wasser gar nichts zu sehen gewesen.
Zunächst wurde alles Transportable, was die Sportsmen auf den Inseln besessen, nach dem Vogelberg übergeführt, darunter Kostbares genug.
Dann waren gegen tausend Menschen zu entlassen, welche auf den Inseln gearbeitet oder sonst wie beschäftigt gewesen waren. Schiffe standen genug zu ihrer Verfügung, mit voller Besatzung, auch Geld war überflüssig vorhanden, um sie zu entlohnen.
Sie alle wollten nach Sydney — aus einem Grunde, den ich hier nicht näher zu erwähnen brauche, es wurde dort gerade eine Eisenbahn gebaut — und als die vierzehn Schiffe eines Morgens die Anker lichteten, sah ich Lord Seymour weinen.
Was dann sonst noch auf den Inseln zurückblieb, wurde ebenfalls nach dem Vogelberge übergeführt, nicht zum Wenigsten die noch zahlreich vorhandenen Schiffe und Fahrzeuge, und doch hätte der eingemauerte Hafen noch immer die zehnfache Anzahl fassen können.
Der von gewisser Seite gemachte Vorschlag, auch alle Baulichkeiten in die Luft zu sprengen, wurde abgelehnt. Wenn das nötig werden sollte, weil sich Feinde darin verschanzten, so konnten das noch immer unsere Kanonen besorgen.
Eingeschossen wurden diese Kanonen allerdings schon jetzt, auch sonst wurde viel exerziert, und dann war es vor allen Dingen Karlemann, der gleich wieder dafür sorgte, dass in dem ausgestorbenen Felsenberge neues, frisches Leben einkehrte, denn darin hatte der Junge wie in noch manch anderem etwas los.
In dem oberen Saale wurden Recks und Barren gebaut, überhaupt ein richtiger Turnsaal daraus gemacht, da wurde von früh bis abends geschwungen und gesprungen und besonders auch Ballspiele arrangiert, an denen sich auch die Nonnen immer mehr mit Feuereifer beteiligten.
Ja, hier war doch ein ganz anderes Leben als auf der Fucusinsel, die von einer Wiese umgeben war, welche man nicht betreten durfte!
Wir blieben noch immer Seeleute. Ein Schiff war ständig draußen — Manövrieren, Schießen, Fischfang, Wettsegeln, Wettrudern, Wettschwimmen — fürwahr, wenn wir uns hier behaupten konnten, würden wir uns bald zu einem Seevolk entwickeln, wie die Welt es noch nicht gesehen hatte — zu einem Volke von Seeathleten möchte ich fast sagen.
Hatte ich schon immer die tüchtigste Mannschaft an Bord meiner ›Sturmbraut‹ gehabt, so verwandelte sich jetzt auch noch der plumpeste Matrose in kurzer Zeit in einen Akrobaten und Parterregymnastiker, der aber auch am Trapez sich hätte zeigen können, und kein Heizer gab wieder solch einem Matrosen etwas nach.
Karlemann hatte schon öfters darüber gemurrt, dass ich während seiner Abwesenheit die körperliche Ausbildung seiner zwerghaften Jungen vernachlässigt habe, was nun schnellstens nachgeholt wurde, und immer wusste Karlemann, der ja, wie bekannt, selbst ein Meister in allen akrobatischen Künsten war, für Abwechslung zu sorgen, dem Ganzen neue Spannkraft zu verleihen.
O, es war tatsächlich ein herrliches, kraftvolles Leben, das bei uns wieder eingekehrt war! Ich sehe noch heute den freudigen Stolz, mit welchem mein alter Beyer, der erste Ingenieur, am Reck die Kippe mit nachfolgendem Riesenschwung machte, sogar mit einem eleganten Salto mortale auf das Fangnetz abgehend, was er seinen schon eingerostet gewesenen Knochen niemals mehr zugetraut hätte.
Und Karlemann sorgte auch dafür, dass diese kraftvolle Generation eines SeeathletenGeschlechtes erhalten bliebe.
Der große Tag kam, an welchem die ewige Vorsehung entscheiden sollte, welches Weiblein und welches Männlein zusammengehöre, wie aller Welt Lauf.
Zuerst musste das Los entscheiden, wer dann die einzelnen Lose zu ziehen habe. So zog erst jeder sein Los, und gerade Karlemann zog dasjenige, welches ihn zum Stellvertreter der ewigen Vorsehung bestimmte.
Dieses war der erste Streich, und der zweite folgte gleich. Wenigstens war doch mit Sicherheit anzunehmen, dass er die Zettelchen, die er aus einer Urne zog, vorher markiert hatte, vielleicht durch Nadelstiche, wenn davon auch nichts zu merken war — dass er also die einzelnen Paare ganz nach eigenem Ermessen zusammenkuppelte.
Doch das war ein ›Geschäft‹, dessen ich mich höchst ungern erinnere, und so will ich auch keine einzige Andeutung machen, wie die einzelnen Paare von der ewigen Vorsehung bestimmt wurden.
Mir blutete nämlich das Herz dabei. Oder es mochte auch nur das höchste Schamgefühl sein. Ich war nun eben einmal solch ein seltsamer Kauz.
Höchstens will ich noch sagen, dass auch mir Karlemann eine der Nonnen noch anschmieren wollte — welche, will ich gar nicht sagen — doch wurde nichts daraus, ich widerstand der ewigen Vorsehung.
Doch was für mich gilt, galt nicht für die anderen. Ein solennes Hochzeitsfest wurde gefeiert, und alles war eitel Freude und Seligkeit.
»Hier bleiben wir — hier bleiben wir für immer!!«
Diesem allgemeinen Wahlspruche schien sich auch Karlemann anschließen zu wollen. Er offenbarte mir seine Absichten.
Seinen anfänglichen Plan, den er mir damals auf der Fucusinsel mitgeteilt, nämlich wieder solch ein Zirkusschiff zu schaffen, neu auszustaffieren, hatte er aufgegeben.
Einmal hatte er damals noch gar nicht recht gewusst, wie er sich mit der übrigen Welt stand. Wie ich von seiner afrikanischen Seeburg aus die beiden englischen Kriegsschiffe vernichtet, war ihm wohl schon bekannt gewesen, aber er hatte eben die Tragweite dieser Katastrophe noch gar nicht recht gewürdigt.
Jetzt sah er es ein. Wenn er wieder öffentlich auftrat, als Schiffseigentümer oder sonst wie, würde England ihm immer Schwierigkeiten in den Weg legen, handelte es sich doch auch noch immer um die Schätze, welche er den Aschantis abgenommen hatte.
Kurz, Karlemann konnte sich jetzt ebenso gut für einen vogelfreien Seezigeuner und sogar für einen mit allen Mitteln verfolgten Desperado halten wie wir anderen alle zusammen.
Außerdem aber war dem Leben des genialen Jungen auf der Fucusinsel ein ganz anderes Ziel vorgeschrieben worden. Nicht zum Geringsten hatte ich dies veranlasst. Karlemann wollte sich fernerhin ganz der Möwenzucht widmen, er gedachte für den Menschen aus der sonst so scheuen Möwe tatsächlich einen geflügelten Hund zu gewinnen.
So widmete er jede freie Minute, die er seiner sonst schon so in Anspruch genommenen Zeit abgewann, dieser Beschäftigung, der Dressur von Möwen. Wie er es machte, sahen wir nicht, ich selbst erfuhr es nie, wir gewahrten nur ab und zu ein Resultat, eines immer staunenswerter als das andere.
Ich will nur das erwähnen, dass es tatsächlich ein geflügelter Hund war, den er immer auf seiner Schulter sitzen hatte. Diese Möwe apportierte ganz regelrecht, brachte jedes fortgeschleuderte Stück Holz zu ihrem Herrn zurück — aber es war eben ein Vogel, ein Meeresvogel — selbst den von dem achthundert Meter hohen Felsen herabgeworfenen Stock wusste sie mit untrüglicher Sicherheit wiederzufinden, brachte ihn innerhalb drei Minuten zurück!
Kann man denn von einem gezähmten Vogel mehr verlangen? Dass Karlemann Möwen besaß, welche auf sein Geheiß davonflogen und mit Fischen im Schnabel zurückkehrten, die sie ihm ablieferten, war für uns schon ganz selbstverständlich.
Mögen diese Andeutungen dafür genügen, wozu er sonst noch diese Tiere abrichtete. Jeder Tag brachte eben neue Überraschungen, Wunder, für uns andere Sterbliche einfach unbegreiflich. — —
So verging uns die Zeit im Fluge, selbst mir, so häufig meine Gedanken auch mit Sorgen bei Blodwen und ihrem Begleiter weilen mochten.
Eines Abends kam Karlemann zu mir, ein Zettelchen in der Hand.
»Eine Möwenpost aus San Francisco! Glücklich dort angekommen!«
»Von Blodwen und Mr. Fairfax?«, fragte ich ganz stupid.
»Na, von wem denn sonst?«
»Ja, die können doch noch gar nicht dort sein.«
»Warum denn nicht? In sechzehn Tagen?«
»Was? Heute hätten wir schon...«
»Den 25. November.«
Ja, dann freilich!
Ich habe hiermit nur einmal zeigen wollen, wie mir die Zeit verstrich. Ich hatte höchstens an acht Tage gedacht, seitdem uns die beiden verlassen.
Dann aber lässt sich auch meine Erregung denken, als ich das Zettelchen ergriff, welches in geschickter Weise am Bauche des Vogels noch unter den Federn angebracht gewesen.
Solch eine Möwe hätte unterwegs gefangen, unter Umständen sogar abgebalgt werden können — vielleicht wäre sie ausgestopft in ein Museum gekommen, ohne dass jemand eine Ahnung davon gehabt, wie sie bei sich am Körper ein Briefchen hatte.
Es war wieder eine Erfindung von Karlemann gewesen, wie er diese Zettelchen am Leibe der Vögel anbrachte, so sinnreich und doch so einfach, dass man es gar nicht beschreiben kann.
Wir hatten auch eine Geheimschrift ausgemacht, kaum zu entziffern, aber die war hier nicht nötig.
Mr. Fairfax meldete die glückliche Ankunft in San Francisco, in vier Stunden schon ging der Pacific ab, Blodwen fügte ihren herzlichen Gruß hinzu.
Dann noch Angabe des Tages, der Stunde und Minute, da die Möwe aus ihrem Käfig gelassen worden war.
Sie hatte zu den fast tausend Meilen, die uns von San Francisco trennten, kaum sechs Stunden gebraucht. Da war es also nichts, wie wir uns früher bei den Versuchen in der Fucusbank ausgerechnet, dass sie die Meile in einer Minute zurücklege. Jetzt machte sie in derselben Zeit das Dreifache. Die Sache war einfach die — d. h., einfach für den, der überhaupt alles ›ganz einfach‹ findet — dass sie um so schneller flog, eine je größere Strecke sie zurückzulegen hatte, dann kam sie immer mehr ins ›Schießen‹, wenn man sich so ausdrücken darf, und mit einem Pfeile lässt sich ja solch eine Möwe auch nur vergleichen.
»Da können wir sie nun freilich nicht mit einem Gegengruß zurückschicken«, meinte Karlemann, während er die heißhungrige Möwe fütterte.
»Wäre das überhaupt möglich?«, fragte ich.
»Na, wissen Sie denn das immer noch nicht?«
»Indem Sie ihr eine andere Möwe mitgeben?«
»Nein, sie fliegt auf mein Geheiß auch wieder dorthin zurück, wo sie abgelassen worden ist.«
Das wollte ich nur noch einmal, hören, um... es niemals begreifen zu können.
Denn der Leser wird sich erinnern, dass wir das damals, als wir die ersten Versuche in der Fucusbank anstellten, ganz anders handhabten.
Jetzt aber wollte Karlemann seine geflügelten Hunde schon so weit haben, dass sie von ganz allein dorthin zurückkehrten, von wo sie nach weiter Reise abgelassen worden waren. Mir einfach unbegreiflich!
»Wenn die aber schon im Eisenbahnzuge sitzen«, fügte er noch hinzu, »dass die Möwe auch da ihren Bauer wieder aufsucht, hineinkriecht, wenn man ihn zum Coupéfenster hinaushält, das ist freilich ein bisschen zu viel verlangt. Einen festen Standpunkt muss der Käfig haben, oder er darf doch nicht gar zu sehr verändert werden, muss recht sichtbar aufgestellt werden.«
»Und dann würde sie sich zu jeder Zeit dorthin zurückfinden?«, musste ich noch immer staunen.
»Na, nach einem Jahre natürlich nicht mehr. Alles hat seine Zeit und seine Grenzen. Vorläufig garantiere ich nur für eine Woche. Wie lange das Erinnerungsvermögen einer Möwe sonst währt, das muss ich erst noch heraustüfteln. Sie verlangen immer auch gleich gar zu viel.«
Der Junge wusste ja gar nicht, wie bescheiden ich mit meinen Ansprüchen war!
Wieder vergingen die Tage, welche zu Wochen wurden. »Kommt ein Vogel geflogen!«, sang Karlemann eines Tages in aller Frühe, als er die Wolken musterte, und gleich darauf hatte sich im bereitgehaltenen Käfig eine zweite Briefmöwe eingefunden.
Es flatterten hier genug Möwen herum, schossen pfeilschnell durch die Lüfte — und wie nun der Junge diese eine schon aus weiter Entfernung als die betreffende errannt hatte, war mir ein Rätsel.
Doch was kümmerte mich das jetzt! Wieder eine Botschaft aus New York!
Seit zwei Tagen in New York. Darling ist bei mir. Groß und gesund. Hat mich
gleich wiedererkannt. Morgen zurück. Deine glückliche Blodwen.
Und dann noch darunter gekritzelt:
Habe gar keine Schwierigkeiten gehabt. Meine Kündigung auf der Bank angenom
men, aber Geld nicht erhalten können, erst 1. April.
Karlemann betrachtete diese Botschaft, die mich in Entzücken versetzte, mit rein praktischen Augen.
»Da können wir ihr wieder keine Botschaft zusenden. Das wäre nur möglich gewesen, wenn sie die Brieftaube gleich bei Ankunft in New York abgeschickt hätten.«
Nein, Blodwen war eben gefühlvoller gewesen. Erst, nachdem sie mir nur das beste hatte melden können, war die Möwe abgelassen worden.
Ich liebkoste das Tierchen, welches mir in acht Stunden von der anderen Hälfte der Erdkugel solch eine fröhliche Botschaft gebracht, und hätte ich nicht so genau Blodwens Handschrift gekannt, ich würde es noch immer nicht für möglich gehalten haben.
Nun konnte ich mich wieder auf vierzehn Tage gefasst machen, ehe die dritte Botschaft aus San Francisco zu erwarten war.
Blodwen hatte nichts von Mr. Fairfax erwähnt, aber eben deswegen war ganz selbstverständlich, dass dieser noch bei ihr war.
Mr. Fairfax war reich mit Geldmitteln ausgestattet, und es war ausgemacht worden, dass er in San Francisco gleich einen kleinen Dampfer charterte, welcher die beiden hierher zurückbrachte.
Jetzt zählte ich die Tage, und es war am zehnten nach jener zweiten Botschaft, als ich gerade neben der auf dem Plateau befindlichen Möwenstation stand und zusah, wie Karlemann seine Zöglinge fütterte.
Sie waren teils zusammen, teils einzeln in Käfigen untergebracht, aber sonst fast alle frei, flogen aus und ein, und wäre nicht schon an den hölzernen Käfigen von Menschenhand das Unnatürliche gewesen, man hatte sie für in völliger Freiheit befindliche Vögel halten können, und schließlich bedienen sich doch auch Stare und andere sonst ungezähmte Vögel künstlicher Nistkästen, die ihnen von Menschen geboten werden.
Plötzlich hielt Karlemann mitten in seiner Beschäftigung inne.
»Nanu, was ist denn das?!«, sagte er erstaunt. »Da ist ja die dritte Möwe gekommen! Aus Frisco kann die doch noch nicht sein, heute, erst am zehnten Tage!«
Ja, mir wäre es überhaupt gar nicht aufgefallen; weder der Käfig, noch die Möwe, welche darin saß, unterschied sich von den anderen.
Aber Karlemann irrte sich wohl nicht, und im nächsten Augenblick war ja auch der Beweis da.
Er nahm das sich putzende Tier heraus, drehte es auf den Rücken, nahm von hier einen Zettel ab. Und ich las zu meinem Schrecken:
Pacific zwischen Wheeling und Vandalia entgleist. Von Indianern überfallen. Ge
fangen. Sonst all right. Werden gut behandelt. Scheinen nordwärts entführt zu
werden. Habe noch eine Möwe, kann sie behalten. Also weitere Botschaft abwar
ten, wenigstens bis morgen, bis ich Ziel erfahren habe. Fairfax.
Von Indianer überfallen!! In den Händen von Rothäuten!!
»Vandalia und Wheeling liegen im Staate Utah«, ließ sich da Tischkoffs Stimme vernehmen, der plötzlich neben mir stand, wie immer, wenn er gebraucht wurde. »Es kann sich nur um einen Stamm der Sioux handeln, der dort haust.«
»Ein gefährlicher Menschenschlag?«, war meine nächste Frage.
Tischkoff zuckte die Achseln.
»Die Ansiedlung hat ihren Namen daher, weil dort einmal die Sioux bei einem Überfall wie die Vandalen gehaust haben. Aber Fairfax meldet ja, dass sie gut behandelt würden.«
Ein schlechter Trost! Und nun hieß es warten, immer warten — wenigstens bis zum nächsten Tage.
Und am nächsten Tage sollte auch die vierte und letzte Möwe mit der Botschaft kommen.
Werden als Gefangene nach dem Pitsee gebracht, wo der Stamm des schwarzen
Fuchses sein ständiges Lager hat. Werden anständig behandelt. Scheint auf Löse
geld anzukommen. Fairfax.
So, nun wussten wir ungefähr, wo wir die Gefangenen zu suchen hatten, wenn wir die Befreiung nicht der amerikanischen Miliz oder den Hinterwäldlern überlassen wollten.
Nein, das wollten wir allerdings nicht, und wir hatten jenen Tag nicht mit nutzlosem Warten verbracht.
Ach, was galt es da alles zu erwägen und zu besprechen!
Die Gegend, wo die Zugentgleisung stattgefunden hatte, zeigte auch auf der Spezialkarte nur einen weißen Fleck, größer als ganz Deutschland.
Unerforscht, alles noch ganz unbekannt, wie es heute, nach fast fünfzig Jahren, noch gar viele solcher weißen Flecken in Nordamerika gibt, welches sonst doch vom deutschen Schulmeister den Kindern als schon völlig kultiviert geschildert wird, sodass ein kleiner Durchbrenner dort keine Indianer und kein Wild zum Schießen mehr finden würde.
Jawohl, kommt mal hin!!
Nur die durchgehende Pacificbahn war eingetragen, auf meiner Karte, vor drei Jahren entworfen, allerdings erst projektiert, und die Ingenieure hatten doch kein weiteres Terrain nivelliert, als die Schienen eben brauchten, und wenn hüben und drüben vielleicht noch ein Kilometer hinzukam, so war dieser Streifen doch auch auf der größten Karte gar nicht zu sehen.
Einige Forschungen waren in dem weißen Fleck ja doch schon gemacht worden.
Zunächst war da das Wort ›Dakota‹ eingetragen. Die Sioux selbst nennen sich Dakotas. Eigentlich hatten diese früher viel nördlicher gehaust, tun es auch heute noch, soweit die rebellischen Stämme nicht nach dem Indianerterritorium überführt worden sind, wo sie unter Aufsicht stehen — das heißt, was man so Aufsicht nennt.
Bei dieser Überführung nach dem Indianerterritorium nun war solch ein Stamm Sioux seiner militärischen Begleitung entwichen, hatte sich hier im Süden des Staates Utah festgesetzt, und man ließ sie dort auch in Ruhe, einmal, weil sie selbst Frieden hielten, und zweitens wohl deshalb, weil ihnen dort überhaupt nicht beizukommen war, und die erst so kriegerischen Sioux waren wiederum deshalb hier so friedliebend geworden, weil sie eben keinen weißen Ansiedler fanden, dem sie die Kopfhaut hatten abziehen können.
Dies alles erzählten mir meine Handbücher, aber auch Tischkoff schien dort wie zu Hause zu sein.
»Sie sind wohl schon dort gewesen?«, fragte ich einmal.
»Nein, ich habe mich nur für dieses südliche Utah einmal aus einem besonderen Grunde sehr interessiert.«
Na, da war das wieder einmal so ein merkwürdiger Zufall! Vielleicht hatte Tischkoff früher einmal Mormone werden wollen. Denn dort oben in Utah hausen doch die Mormonen.
Dann weiter war auf einer farbigen Karte angedeutet, dass es hier neben Prärie auch viel Wald gäbe, dass sich durch die Mitte vielleicht auch ein Gebirge zöge — da, wo es von der Bahn durchquert wurde, war allerdings ein deutlicher Klecks, mit Strichelchen umgeben, die sich in unsicherer Weise fortsetzten, und ebenso unsicher punktiert war ein großer See, der nach seinem Entdecker, oder doch von dem, der seine Existenz zuerst der Welt verkündet hatte, Pitsee genannt worden war.
Deutlicher war das südliche Ende dieses Sees begrenzt, aus dem sich der Rio Colorado nach Süden ergießt.
»Ist der Rio Colorado schiffbar?«, war meine nächste Frage, nachdem ich dies alles in Erfahrung gebracht hatte.
»Jawohl, bis in den Pitsee hinein«, entgegnete der allwissende Tischkoff.
»Auch für ein größeres Boot?«
»Selbst für Fahrzeuge bis zu hundert Tonnen.«
»Ja, dann könnten wir ja gleich vom Golf von Kalifornien aus bis in jene Gegend fahren, in unserem eigenen Boote, oder mit einem kleinen Dampfer, dann brauchten wir nicht erst nach San Francisco zu gehen.«
»Sie vergessen wohl, dass dort oben jetzt Winter herrscht. Nur in seinem südlichen Teil ist der Strom noch offen, aber schon auf dem 55. Breitengrade mag er jetzt bereits zugefroren sein und wird erst im März wieder frei.«
Tischkoff hatte recht, ich hatte vergessen, dass wir ja in drei Tagen Weihnachten feiern konnten.
Es würde ein trübes Weihnachten werden, auch zusammen konnten wir es nicht feiern.
So wurde hin und her beraten, als aber dann am anderen Tage die letzte Botschaft eintraf, den Ort, wo wir die Gefangenen zu suchen hätten, doch schon etwas genauer angebend, da war bei uns alles auch bereits fertig.
Noch in derselben Stunde ging die ›Sturmbraut‹ mit vollem Dampfe ab, nach San Francisco, zur einen Hälfte mit meinen Matrosen, zur anderen mit Karlemanns Jungen bemannt, die auch voll und ganz ihren Mann standen.
Als Kommandanten der Seefestung hatte ich Mahlsdorf zurückgelassen, ich selbst würde an Deck mit Wache gehen, und die Hälfte unserer Leute unter Mahlsdorfs Kommando genügte ja, um die Festung gegen jeden Feind zu verteidigen, der sich innerhalb dieser sechs Wochen aber noch nicht gezeigt hatte.
Auch Tischkoff war mitgekommen, der sowieso die ›Sturmbraut‹ nur verlassen hatte, um sich zu einem Spaziergang mittels des Fahrstuhles oben auf das Plateau zu begeben. Sonst hatte er immer bei Lampenschein unten in seiner Kabine bei seinen geliebten Büchern gehockt, außer von Bordwänden noch von meterstarken Steinmauern umschlossen.
Und auch Karlemann wollte sich der Expedition anschließen.
»Da gehe ich mit, solche Indianersch in undressierter Freiheit muss ich mir einmal in der Nähe ansehen«, hatte er gesagt.
Wen ich sonst zu dieser Expedition mitnehmen würde, das konnte ich mir während der vierzehn Tage überlegen, die wir nach San Francisco hatten. Vielleicht war, wenn wir dort ankamen, der Fall schon erledigt, die Gefangenen waren schon von anderer Seite befreit worden.
Jedenfalls hatten wir alles an Bord, um zwanzig Mann zu solch einer Expedition durch die Wildnis vollständig ausrüsten zu können, denn wir hatten im Laufe der Zeit in der großen Seefestung, deren Magazin ganz dem modernsten Ausrüstungsgeschäft glich, sogar derartige Jagdanzüge gefunden, von denen einer auch mir passte, vorausgesetzt, dass ich die Lederhosen in lange Schaftstiefel steckte.
Das erste aber war, als wir den Hafen verließen, dass wir unser Schiff maskierten, das heißt, durch Holzverkleidungen sein Aussehen möglichst veränderten. Denn es hieß noch immer ›Sturmbraut‹, wir selbst waren vogelfreies Wild, und damit war auch bei unserer Ausschiffung zu rechnen. Wir durften doch nicht etwa sorglos in den Hafen von San Francisco segeln, uns so einfach auf die Pacificbahn setzen.
Nun, wir wussten, wie das zu machen war, und nach kurzer Zeit wurden wir Hauptpersonen uns einig, dass auch nur wir drei die Expedition, falls sie überhaupt nötig sei, unternehmen würden: Tischkoff, Karlemann und ich.
Waren wir an Land gesetzt, dann suchten wir zu Fuß oder auf sonstige Weise San Francisco zu gewinnen, dort erkundigten wir uns nach dem Schicksal der Gefangenen, mindestens musste deren Befreiung dort schon bekannt sein — — und wenn das nicht der Fall, so traten wir eben die Reise per Eisenbahn an.
Vorher aber wurde die draußen auf dem Meere liegende ›Sturmbraut‹ benachrichtigt, dass sie sich unverzüglich nach dem Vogelberg zurückzubegeben habe.
Auf welche Weise diese Benachrichtigung stattfinden sollte? Nun, Karlemann hatte einige seiner Möwen an Bord, er würde sie auch an Land mitnehmen, und er versicherte, dass es für solch eine Möwe eine Kleinigkeit sei, die nur einige Meilen von der Küste entfernt liegende ›Sturmbraut‹ wiederzufinden, da kamen noch ganz andere Streckenunterschiede in Betracht, ehe er auch so etwas für unmöglich erklären würde, und so ein Vogel ließe sich durch keine künstliche Verkleidung irre machen.
Wie wir uns sonst in der amerikanischen Wildnis zurechtfinden würden, das blieb unserer eigenen Geschicklichkeit überlassen, wir mussten uns nach einem geeigneten Führer umsehen.
So dachte ich, Tischkoff dachte noch etwas anders. »Überlassen Sie sich meiner Führung«, sagte er bei solch einer Gelegenheit, als ich dies erwähnte. »Ich bin zwar noch nicht direkt in jener Gegend gewesen, weiß aber sonst recht gut mit Rothäuten umzugehen. Können Sie reiten?«
Ich musste gestehen, noch nie ein Pferd zwischen meinen langen Beinen gehabt zu haben.
»Sie werden es lernen — nein, Sie werden es können, sobald es sein muss.«
Dann war noch meine lange Persönlichkeit zu bedenken, auf deren Ergreifung 400 000 Pfund Sterling standen, die sich wohl auch mancher Yankee zu verdienen wünschte, und es war doch ganz sicher, dass diese meine auffallende Persönlichkeit in den hinter mir erlassenen Steckbriefen, welche die von England ausgesetzte Prämie anboten, ganz genau beschrieben war. Ich hatte solch einen Steckbrief noch gar nicht gelesen, hatte ja seit langer, langer Zeit gar keine Zeitung mehr zu Gesicht bekommen.
Nun, etwas konnte ich mein Aussehen schon verändern. So spärlich mein Schnurrbärtchen auch war, um so üppiger wucherte mein Vollbart. Ich ließ ihn mir nur niemals stehen; ich kam mir mit dem Vollbart immer wie ein Schneidergeselle vor, war eben nicht daran gewöhnt.
Aber seit einem Monat hatte ich mir ihn doch einmal stehen lassen. Haar und Bart wurden schwarz gefärbt, und als ich mich im Spiegel betrachtete, einmal schon in voller Jagduniform à la Hinterwäldler, in langen Schaftstiefeln, den Sombrero verwegen aufs Haupt gedrückt — fürwahr, ich erkannte mich selbst nicht wieder.
»In Ihnen vermutet niemand den Kapitän Jansen«, versicherte auch Tischkoff. »Und gerade solche baumlange Hinterwäldlergestalten mit Revolver und Bowiemesser laufen in Nordamerika massenhaft herum. Sie werden nicht im Geringsten auffallen.«
»Und Sie selbst?«
»Ich?«
»Sind Sie in der Welt nicht sehr bekannt?«
»Ich bin schon seit langer Zeit verschollen, mich kennt kein einziger Mensch mehr«, war die Antwort, und plötzlich verdüsterte sich das sonst so gutmütige Gesicht mit den tausend Fältchen.
»Und Karlemann? Auch er ist doch eine sehr auffallende Figur, und mancher dürfte wissen, wie wir beide zusammengehören — Kumpe machen, wie Karlemann sagt, und der ehemalige Zirkusdirektor ist schon populär genug geworden.«
Ich hatte den letzten Satz noch nicht beendet, als in die Kajüte ein Junge gehüpft kam.
»Na, Papa, sind wir denn noch nicht bald da?!«, rief eine helle Kinderstimme.
Ich starrte den etwa zehnjährigen Knaben einige Augenblicke wie ein Phantom an. Unter den Jungen, die sich an Bord befanden, war doch kein einziger solcher, der...
Da freilich gingen mir die Augen auf. Es war Karlemann, in einem Matrosenanzug, wie ihn so kleine Knaben tragen, vor allen Dingen aber mit kurzgeschorenen, blondgefärbten Haaren, und ich kann gar nicht sagen, wie sehr diese Veränderung wirkte.
Wäre ich nicht zufällig darauf gekommen, dass auch Karlemann solch eine Veränderung vornehmen würde, ich hätte ihn überhaupt niemals erkannt.
Am fünfzehnten Tage veränderte ich den Kurs. Bald bekamen wir die kalifornische Küste in Sicht, die wir allerdings schon seit vielen Tagen zur rechten Hand gehabt hatten.
Sonst sei nur noch erwähnt, dass wir während dieser Zeit mit so manchem Schiffe Grüße gewechselt, ihnen einen fingierten Namen genannt hatten, so auch zwei amerikanischen Kriegsschiffen, ohne auf irgendwelches Misstrauen zu stoßen. Hierzu lag ja auch gar kein Grund vor.
Nun kam es darauf an, mit einem Boote irgendwo die Küste zu erreichen. Das klingt viel einfacher, als es in Wirklichkeit ist.
Die Küste jedes kultivierten Staates, der auf fremde Einfuhrartikel Zoll legt, wird doch durch Zollschiffe beobachtet, auf eine gewisse Entfernung darf kein Schiff, kein Fahrzeug, nicht das kleinste Boot herankommen, es wird angehalten und durchsucht.
Nun werden alle diejenigen, welche die ganzen Verhältnisse nicht kennen, meinen, es sei doch gar nicht möglich, die Küsten von ganz Amerika so durch Zollschiffe schützen zu lassen.
Ich kann aber nur erklären, dass dies dennoch der Fall ist. Ich kann nur versichern, dass es furchtbar schwierig ist, in einem Boote irgendwo an der Küste Amerikas ungesehen zu landen. Aber weshalb, das vermag ich nicht zu sagen. Da muss man eben die ganzen Verhältnisse kennen. Eine Küste sieht in natura eben ganz anders aus als auf der Landkarte.
Im Übrigen ist die Sache doch auch ganz einfach: wäre das so leicht, irgendwo ungesehen zu landen — na, dann brauchte Nordamerika doch überhaupt gar nicht erst eine Zollsteuer einzuführen. Da würden Tabak, Spirituosen, Bekleidungsartikel usw. usw., auf den in den Vereinigten Staaten ein ungeheuerer Einfuhrzoll gesetzt ist, doch von allen Seiten ins Land gepascht werden.
Nein, das geht eben nicht! Jawohl, es geht, es wird auf diese Weise gepascht, von Leuten, die das professionell betreiben, von Schmugglern — aber eben, weil diese Schmuggler eine Art von Volkshelden sind, denen man eine eigene Literatur gewidmet hat, daraus sieht man doch schon, mit welch unsäglichen Schwierigkeiten solch ein heimliches Betreten der Küste verbunden ist, wobei gar nicht in Betracht zu kommen braucht, dass die ausgeschifften Waren erst noch am Lande transportiert werden müssen.
Schmuggle von Bord an Land nur zwanzig Pfund Tabak, da hast du schon zwanzig Taler verdient, in einer Stunde — wenn das eben so ginge, wie sich das mancher vorstellt — oder es braucht ja nur ein Beutelchen mit Diamanten zu sein, in der Tasche — du könntest mit einem Male ein vermögender Mann sein! — — —
Ja, es ist schlimm, ein vogelfreier Desperado zu sein, der nicht mehr als Passagier fahren darf. Das Land, auf welchem die Flagge der Kultur und Zivilisation weht, ist ihm auf gesetzmäßigem Wege verschlossen, er darf sich nicht einmal der Küste nähern, ohne dass sofort auf ihn Jagd gemacht wird.
Nun, es musste gewagt werden. Und nun allerdings waren wir berufsmäßigen Seezigeuner auch ganz besondere Menschen, die sich auf so etwas schon verstanden — mit allen Hunden, mit allen Seehunden gehetzt.
»Hat jemand von euch schon einmal an der kalifornischen Küste Schmuggel getrieben?«, fragte ich meine Matrosen, hatte sie schon früher danach gefragt.
Ei gewiss, gleich zwei, der Matrose Emil und Paul, jener solide, ruhige Matrose, dem ich so etwas am allerwenigsten zugetraut hätte, den Staat um den Zoll zu betrügen.
Ja, ich hatte mir eben meine Mannschaft ausgesucht!
»Bei Barrysand ist die beste Gelegenheit, ein Boot an Land zu schmuggeln«, lautete beider Bescheid.
»Wie weit ist das von San Francisco entfernt?«, fragte ich.
»Keine drei Meilen.«
»Warum ist dort die Gelegenheit günstig?«
»Weil niemand für möglich hält, durch die Schären hindurchzukommen.«
»Ihr aber kennt den Weg?«
»Wie unsere Hosentaschen.«
»Ja, Barrysand ist gut«, mischte sich da Tischkoff ein, »aber Holdenrock ist besser.«
»Holdenrock!!«, riefen da die beiden ehemaligen Schmuggler erschrocken. »Ihr wollt bei Holdenrock landen?!«
»Ich halte es für das beste.«
»Bei Holdenrock kann kein Boot landen!«
»Ich bin schon öfters dort gelandet.«
»Diese Nacht gibt es einen Sturm!«
»Desto besser! Herr Kapitän, fügen Sie sich meinem Rate.«
Und ob ich dazu gewillt war! Nur die Frage lag mir auf der Zunge, ob mein Kommodore vielleicht früher hier auch Schmuggel getrieben habe. Ich unterdrückte sie. Außerdem hielt ich ihn lieber für allwissend — für den ewigen Juden, wie er sich ja selbst einmal genannt hatte, und der ewige Jude soll ja jedes Fleckchen auf der Erde kennen.
Die Nacht wurde für uns insofern günstig, als ein heftiger Schneesturm ausbrach. Aber ob für unser Vorhaben günstig? Nun, Schmuggler haben viel zu gewinnen — und Desperados nichts weiter mehr zu verlieren als ihr Leben.
Mit Anbruch der Dunkelheit übernahm Tischkoff das Kommando. Das erste war, dass er alle Lichter löschen ließ, und von da an weiß ich nichts mehr zu erzählen. Ich konnte nicht einmal die Hand vor den Augen unterscheiden.
Mit voller Kraft ließ Tischkoff die ›Sturmbraut‹ nördlich gehen, dann mit halber östlich, und nach einer Viertelstunde hörten wir eine Brandung tosen, mehr und mehr, dass sich uns allen das Haar auf dem Kopfe sträubte. So dicht ließ Tischkoff die ›Sturmbraut‹ herangehen.
Dann stoppte er, ließ ein Boot aussetzen. Alles war schon abgeteilt, alles fertig.
Tischkoff, schon in seinem Lederkostüm, die Doppelbüchse über dem Rücken, hüllte sich, wie wir beiden anderen, in eine wasserdichte Decke, die uns als Universalmittel begleiten würde, gab Martin wegen der Rückfahrt Instruktionen.
»Mr. Algots«, wandte er sich dann an Karlemann, der mit einem Käfig bewaffnet war, welcher drei Möwen enthielt, »haben Sie auch eine Möwe, welche sich von Bord aus zu uns zurückfinden wird, wenn wir sie mitnehmen, sie macht dann auch im Boot den Weg an Bord zurück?«
Ich hatte gar nicht verstanden, was Tischkoff eigentlich meinte, es war gar zu kompliziert, aber Karlemann hatte sofort verstanden, er machte schon einen Käfig fertig, in den aus einem besonderen Verschlag eine vierte Möwe hineinkam.
»Wird sie aber auch bei diesem Schneesturm fliegen, noch dazu in der Nacht?«, fragte Tischkoff zweifelnd.
»Na, sonst würde ich sie doch nicht erst mitnehmen!«, war Karlemanns grobe Antwort, während ich froh war, dass auch mein Kommodore einmal so etwas bezweifeln konnte.
»Dann ins Boot!!«
Wir waren bereit zur nächtlichen Todesfahrt, zu der uns die nahe Brandung die Musik lieferte. Nein, hier hatten wir keinen Zollkutter zu fürchten! Und ohne meines Kommodores Führung hätte auch ich niemals so etwas gewagt.
Ich drückte statt allen nur noch einmal meinem Martin die Hand, der jetzt die ›Sturmbraut‹ allein nach dem Vogelberge zu führen hatte, dorthin, wo jetzt der heißeste Sommer herrschte. Aber ich traute der Tüchtigkeit dieses zweiten Steuermanns vielleicht mehr als meinem Mahlsdorf; ich hatte damals einen glücklichen Griff getan, als ich, einer Eingabe zufolge, den Mörder meines Wagner zu dessen Nachfolger erwählt hatte, und sonst waren in der langen Zeit genug Matrosen dazu ausgebildet worden, provisorische Steuermannsdienste zu tun.
Fort ging's in der sechsriemigen Jolle, ins unbekannte Reich der Nacht hinein, von Tischkoffs feiner und doch so nerviger Hand gesteuert.
Wohin? Das wusste er allein. Gewiss! Wollte ich nicht an übernatürliche Dinge glauben, so musste er diesen Weg schon öfters gemacht haben, und dann durfte für sein Auge noch immer die schwärzeste Finsternis kein Hindernis sein, was ja auch nicht zu dem übernatürlichen gehört.
Finsternis, Gischt und Donnergeprall, in dem unser Boot tanzte — mehr weiß ich nicht zu sagen.
Mit einem Male aber ward es ganz still, das Toben der Brandung klang plötzlich wie aus weiter Entfernung, obgleich wir sie doch soeben erst verlassen hatten. Wir mussten uns in einer Höhle befinden, welche für die Brandung unerreichbar war, wenn ich mir das auch nicht erklären konnte.
Das Boot stoppte, stieß mit dem Bug an, wurde von Tischkoff mit einer Hakenstange abgesetzt.
»Wir sind am Ziel. Aussteigen!«
Ich hatte festen Boden unter den Füßen, konnte aber absolut nichts sehen.
»Wirst du dich nach der ›Sturmbraut‹ zurückfinden können, Enoch?«, wurde der mitgekommene Bootsmann von Tischkoff gefragt.
»Nee«, war die prompte Antwort.
»Siehst du dort nicht die lichte Öffnung?«
Ja, auch ich erblickte in der schwarzen Finsternis etwas Lichtes. »Dort steuerst du hinein, und dann immer durch die Brandung.
Hier, nimm diesen Käfig mit, und sobald du an Bord der ›Sturmbraut‹ bist, lässt du die Möwe fliegen. Verstanden?«
»Verstanden habe ich wohl, aber wenn ich nun niemals wieder an Bord der ›Sturmbraut‹ komme, was soll ich dann fliegen lassen?«
»Deine Seele! Nun vorwärts!«
Das Boot ging ab, ungesehen von mir. Wir standen in der Finsternis. Ach, es waren gar bange Minuten, die ich zu erdulden hatte! Sie wurden mir zur Ewigkeit.
Wie in aller Welt sollte denn bei dieser Stockfinsternis das Boot die ›Sturmbraut‹ wiederfinden? Das Schiff hatte alle Lichter gelöscht, durfte wegen der Zollwächter auch nicht durch die vorsichtigste Blendlaterne auf sich aufmerksam machen, und dasselbe galt doch auch von dem Boote.
Da plötzlich fühlte ich, während sonst hier absolute Windstille herrschte, einen ziemlich starken Luftzug im Gesicht, gleichzeitig ein Klatschen wie Vogelflügel...
»Die Möwe ist zurückgekehrt, sie sitzt auf meiner Schulter«, sagte in diesem Augenblicke Karlemann zu meinem grenzenlosen Staunen.
»Well, dann ist die Bootsbesatzung auch an Bord. Wir wollen jetzt schlafen!«
Ich schildere nicht, wie wir bei Anbruch der Morgendämmerung die Höhle verließen, eine Landstraße erreichten und auf dieser nach Passieren verschiedener Flecken und Vorstädte das eigentliche San Francisco.
Auch dabei will ich mich nicht aufhalten, wie wir nach und nach von dem Eisenbahnüberfall erfuhren, bekamen wir doch manches Falsche zu hören.
Die beste Quelle fanden wir in einem Herrn, welcher selbst diesen Zug mit benutzt hatte, ebenfalls schon in der Gewalt der Sioux gewesen, aber von den die Indianer verfolgenden Bahnbeamten, welche ja zugleich gewissermaßen eine militärische Bedeckung des Zuges bilden, wieder befreit worden war, ebenso wie alle anderen, welche die Sioux mit fortgeschleppt hatten, bis auf drei, die noch vermisst wurden.
Da die Namen der Passagiere der Pacific auf den Stationen registriert werden, konnten wir diese leicht erfahren: Mr. Fred Hudson mit Gattin und zweijähriger Tochter Hildegard.
Stimmte! Unter diesen Namen waren, wie ausgemacht, Mr. Fairfax und Blodwen gereist.
»Nur diese drei sind von den Sioux fortgeschleppt worden?«
»Nur diese drei.«
»Wie viele waren denn zuerst im Ganzen gefangengenommen worden?«
»Wir waren achtzehn oder neunzehn, die schon von den Rothäuten überwältigt worden waren.«
»Und wie viele Tote?«
»Kein einziger.«
»Und Verwundete?«
»Nur ein Gentleman hatte eine zerschmetterte Hand. Aber die hatte er sich schon vorher an der Coupétür zerquetscht.«
Je mehr ich erfuhr, desto verworrener wurde mir im Kopfe, und das hier war, wie schon gesagt, die sicherste Quelle. Denn, ach, was hatte ich von anderen erst zu erfahren bekommen! Auch Zeitungen hatten zuerst erzählt, die sämtlichen Passagiere seien von den Rothäuten unter dem berüchtigten Black Fox massakriert worden; dann wurde immer mehr dementiert — vorausgesetzt, wenn man es für nötig hielt — und zuletzt stellte sich die Sache als ganz harmlos heraus.
Nicht einmal richtig entgleist war der Zug, er hätte nur entgleisen können.
Der Lokomotivenführer hatte zwischen Vandalia und Wheeling, auf waldigem Terrain mitten in der Nacht, im Scheine des vorausgeschickten Blendlichtes noch rechtzeitig bemerken können, dass die Verbindung seiner Schienen gelöst und die Schienen zur Seite geschoben waren, hatte die Maschine auch noch rechtzeitig zum Stillstand bringen können.
Etwas freilich hatten sich ihre Räder schon in den Boden gegraben, einen gewaltigen Ruck muss das wohl gegeben haben.
Solch ein Zug durch die Wildnis führt natürlich an Werkzeug und Personal alles mit, was man zu Reparaturen braucht. Die Schienen mussten ausgebessert werden, die Lokomotive wurde mittels Winden emporgehoben und ein Stück zurückgesetzt.
Die erschrockenen Passagiere, viele Hundert, verließen den Zug, um zu sehen, was es gebe.
Plötzlich ein teuflisches Gebrüll.
»The red men, the red men!«
Ein Überfall durch Indianer!
Man schoss aus den Coupéfenstern zwischen die Bäume, ohne irgend etwas zu sehen.
Einige aber wollten wirklich rote Gestalten gesehen, sogar den Black Fox, den schwarzen Fuchs, der sich durch einen Angriff auf eine Ansiedlung früher einmal einen gefürchteten Namen gemacht hatte.
Einige besonders couragierte Passagiere, eben jene achtzehn oder neunzehn, drangen auch in den Wald ein.
Und diese sahen sich auch wirklich von Rothäuten umzingelt, welche wenigstens in dem Lichte der aufblitzenden Schüsse sichtbar wurden.
»Es hätte mit uns schlimm gestanden, wir waren tatsächlich umzingelt, der Rückweg uns abgeschnitten, wenn das Bahnpersonal uns nicht herausgehauen hätte.«
So weit glaubte ich meinem Gewährsmanne, der mit zu den wackeren achtzehn oder neunzehn gehört hatte, alles.
Nur dass von ihnen kein einziger auch nur eine Schramme davongetragen hatte.
»Schossen denn die Indianer nicht auf Sie und ihre Gefährten?«
»Na und wie!«
»Scharf?«
»Mit Platzpatronen werden die wohl nicht geschossen haben.«
»Merkwürdig dann, dass auch nicht die geringste Verwundung vorkam.«
»Es war eine stockfinstere Nacht, und was verstehen denn diese Rothäute vom Schießen.«
»Sind denn Indianer gefallen?«
»Weiß nicht, Sir.«
»Sind keine Toten gefunden worden?«
»Als die Lokomotive intakt war, fuhren wir weiter.«
»Wie lange dauerte dieser ganze Aufenthalt?«
»Höchstens eine dreiviertel Stunde.«
»Und dann fehlten jene drei Passagiere, das Ehepaar mit dem Kinde?«
»Well. Die Mitfahrenden machten darauf aufmerksam, dass jene sich nicht mehr in dem Coupé befanden.«
»Wie lange nachher wurde das bemerkt?«
»Zwei Stunden später.«
»Wie ist das möglich, erst zwei Stunden später!?«
»Mein Gott, man sitzt doch in solch einem Zuge nicht immer auf der Bank, es sind Durchgangswagen mit Restauration und allem. Nach zwei Stunden fiel das Fehlen des Ehepaares mit dem Kinde aber doch auf, es wurde gemeldet, die Schaffner kontrollierten — und eine Stunde später war konstatiert, dass die drei wirklich fehlten.«
»Und da?«
»Ja, was da?«
»Kehrte der Zug nicht zurück?«
Der Yankee sah mich verständnislos an, und selbst von Karlemann bekam ich einen mitleidvollen Blick.
Ja, mit solch einem Eisenbahnzuge muss es doch eine etwas andere Sache sein als mit einem Schiffe, und heutzutage soll es bei der Dividendenjägerei auch schon hin und wieder vorkommen, dass ein Dampfer gar nicht erst stoppt, wenn bei hoher See ein Mann über Bord gewaschen wird. Einfach unrettbar verloren!
Zu meiner Zeit damals hätte freilich solch ein Kapitän das Land nicht wieder betreten dürfen, er wäre sofort gelyncht worden, noch an Bord wäre gegen ihn gemeutert worden, und jedes Seegericht hätte die Meuterer freigesprochen. Die Zeiten haben sich eben geändert, meiner Ansicht nach nicht zum Besseren, trotz aller wunderbaren Erfindungen, welche die Neuzeit gemacht hat, ist der Mensch zurückgegangen.
»Ist nichts zur Befreiung der Unglücklichen getan worden?«
»Schon in Vandalia wurde es gemeldet.«
»Nun, und?«
»Weiß nicht, Sir.«
»Was wissen Sie nicht?«
»Ob sich in Vandalia Männer gefunden haben, die sich zur Verfolgung aufmachten. Vandalia ist eine sehr kleine Niederlassung. Und alles, was eine Waffe tragen kann oder will, befindet sich im Kriege.«
Ja, das war es eben! Über den letzten Kriegsnachrichten, auf die ich mich hier absolut nicht einlassen will, hatte man jenen Vorfall in San Francisco schon vollständig vergessen.
Nein, es war eben nichts zur Befreiung der Gefangenen oder Verschwundenen getan worden, hier nicht und da nicht.
Wer war denn eigentlich dieser Mister Hudson mit Gattin und Kind? Sie hätten erst reklamiert werden müssen, von Verwandten oder sonst wem, auch die Zeitungen hätten da ein gewichtiges Wort mitsprechen müssen, dann hätte sich die Regierung verpflichtet gesehen, sich mehr mit dieser Sache zu befassen — so aber kümmerte sich niemand um die Verschwundenen, und der Krieg, der im Westen tobte, schwemmte vollends jede Teilnahme hinweg. Das ist das freie Amerika, in dem sich jeder um sich selbst kümmern muss.
Jetzt fing auch unser Gewährsmann von den letzten Siegen der Union an, und da war mit ihm überhaupt nichts mehr zu reden, wir verabschiedeten uns schnell.
»Gerät man da nicht fast auf den Verdacht«, sagte ich draußen, »als ob es den Rothäuten bloß darauf angekommen sei, dieser drei Personen habhaft zu werden?«
»Wir wollen uns nicht auf solche Erwägungen einlassen, welche ganz zwecklos sind, sondern lieber machen, dass wir auf die Station kommen, der Zug geht in einer Viertelstunde ab«, entgegnete Tischkoff, und er hatte recht.
Nur fünf Stunden hatten wir in San Francisco Zeit gehabt und unterdessen auch unsere Ausrüstung ergänzt: Rucksäcke, in die einiges Kochgeschirr und Proviant kamen, und dann vor allen Dingen Pelzjacken.
Kalifornien hat bekanntlich ein äußerst mildes Winterklima. Es gibt ja manchmal Schnee, aber kalt war jener Schneesturm durchaus nicht gewesen, die Flocken waren gleich zu Wasser geworden. Das würde sich ändern, sobald wir das Felsengebirge überschritten hatten. Dort starrte jetzt alles in Eis und Schnee, da waren jetzt Pelzjacken, bis an die Knie gehend, und entsprechende Stiefel und Fausthandschuhe sehr angebracht.
Ich hatte mir eine Expedition ins Innere Amerikas immer im Sommer, im Frühjahr gewünscht — nun, wir würden auch im Winter fertig werden, und uns trieb die Pflicht, nicht das Vergnügen oder der Sport.
Belegt waren unsere Plätze im Zuge bereits, auch hatten wir schon gemeldet, dass wir ihn an jener Stelle zwischen Vandalia und Wheeling, wo das Unglück stattgefunden hatte, zu verlassen wünschten.
Man kann den PacificZug, der übrigens gar nicht so schnell fährt, wie sich mancher vorstellt — kaum so schnell wie ein deutscher Personenzug — überall verlassen und besteigen — letzteres voraussetzend, dass man ihn durch Signale zum Halten bringt — nur kostet das pro Person fast ebensoviel wie die ganze Fahrt durch den amerikanischen Kontinent, damals fünfundachtzig Dollar mit Zuschlag für Benutzung des Aussichtswagens usw.
Nachmittags um zwei fuhren wir fahrplanmäßig ab. Bald darauf sah ich, so lange es hell war, nach jenem gestrigen Schneesturme die herrlichste Frühlingslandschaft. Aber schon gegen Abend änderte sich die Gegend, hin und wieder zeigte sich Schnee, dann mussten die Wagen geheizt werden, und am anderen Morgen konnten die Fenster nicht mehr aufgetaut werden, wir befanden uns im vereisten Gebiete der Rocky Mountains.
Ich schildere die dreitägige Fahrt nicht. Wenn sich die wortkargen Passagiere überhaupt unterhielten, so drehte sich das Gespräch ausschließlich um die Szenen auf dem Kriegsschauplatze.
Erst als wir am Nachmittage Vandalia erreichten, wo die Lokomotive Wasser und Feuerung nahm, erinnerte man sich, dass wir uns bald der Stelle näherten, wo vor drei Wochen der Zug von Indianern überfallen worden war.
Wir bekamen wieder schauerliche Geschichten zu hören. Es war besser, gar nicht darauf zu achten.
Übrigens hatte es mit dem ›bald‹ noch eine gute Weile.
Die nächste Station, Wheeling, wurde erst in vierundzwanzig Stunden erreicht!
»Heute Nacht gegen elf hält der Zug an jener Stelle«, meldete uns der Schaffner.
Zum Glück hatte niemand es gehört, sonst wären die Yankees doch gesprächiger geworden, um uns mit Fragen zu bestürmen.
Die meisten der Passagiere waren ja phlegmatisch genug, auch diese Nacht wie die vorhergegangenen ruhig auf ihren Bankbetten zu verschlafen. Viele aber waren doch äußerst aufgeregt, quälten sich mit den fürchterlichsten Vermutungen ab.
Da ein allgemeines Kreischen, nicht nur aus weiblichen Kehlen kommend... der Zug hielt!
Nicht mit einem alles durcheinanderwerfenden Ruck war er stehen geblieben, ganz sanft hatte er gebremst, aber es genügte doch eben schon, dass er überhaupt auf freiem Felde, wie man sagt, hielt, und hierherum musste ja auch die Unglücksstelle sein, das hatte man sich längst ausgerechnet.
»Die Sioux!! Der schwarze Fuchs!! Wir sind entgleist!! Wir werden überfallen!!«
So und anders erklangen die zeternden Schreckensrufe.
Und nun sehe ich noch vor mir den dicken Herrn, der immer mir gegenüber auf dem Bankpolster gelegen hatte, friedlich schnarchend, wie der plötzlich mit gleichen Füßen aufspringt, einen Revolver aus der Hosentasche reißt und auch in demselben Augenblicke sechsmal durchs Coupéfenster schießt, gleich durch die Glasscheiben, dass alles nur so splittert. Und wie er mit der Schießerei fertig ist, reibt er sich die verschlafenen Augen und sieht sich verwundert um.
»Was ist denn eigentlich los?«
Es fielen noch andere Schüsse, es gab eben noch andere kampfbegierige Helden, die schon zu den Fenstern hinausböllerten, und ein Glück war nur, dass niemand draußen war, dem sie schaden konnten.
Dem Zugpersonal, an solche Szenen schon gewöhnt und dafür eingerichtet, gelang es schnell, die ängstlichen wie die mutigen Passagiere zu beruhigen — doch ehe es noch so weit war, hatte sich bereits ein Kondukteur auf uns drei gestürzt.
»Aussteigen, aussteigen!! Raus, raus, raus, raus, raus!!!«
Das heißt, er gebrauchte dementsprechende englische Worte. Zeit ist in Amerika Geld, ganz besonders auch auf der Pacific, und wir hatten nur für einige Sekunden Aufenthalt bezahlt.
Also die Coupétür aufgerissen, und wir wurden schon vom Kondukteur hinausgedrängt. Wir waren ja auch schon vorbereitet gewesen, hatten Rucksack und Büchse und alles umgehängt, waren auch in die Pelzjacke geschlüpft, und Karlemann erhaschte noch im letzten Augenblick seinen Vogelbauer.
Tischkoff war der erste, der vom Trittbrett herabsprang, Karlemann der zweite, ich der letzte.
O, wie war mir da zumute, als ich mit einem großen Schritte in die finstere Nacht hineintrat, tief hinab, und auch gleich bis fast zur Brust im Schnee versank, und auch das war nicht angenehm, wie mir, aus dem sehr warmen Coupé kommend, gleich ein grimmig kalter Wind um Nase und Ohren pfiff!
Und wie mir noch so durchs Gehirn zuckte, dass jetzt die Expedition gegen die Indianer erst richtig losging, dass ich mir das Betreten des Kriegspfades aber eigentlich ganz anders vorgestellt hatte, da hörte ich die Lokomotive schon wieder keuchen, schneller und schneller huschten die erleuchteten Wagenfenster an mir vorüber, und da ging auch die grüne Laterne hin, welche den letzten Wagen bezeichnete, und war im Nu in der Ferne oder hinter irgend etwas Dunklem verschwunden.
Stockfinsternis, Todesschweigen, und ich irgendwo in Amerika bis an die Brust im Schnee steckend.
»So, nun kann's losgehen«, sagte ich. »Seid ihr denn auch alle da?«
»Hilfe, Hilfe, ich ertrinke!!«, hörte ich da Karlemanns Stimme zetern.
Himmel, daran hatte ich gar nicht gedacht — der winzige Knirps musste ja in dem Schnee, der mir bis zur Brust ging, spurlos verschwunden sein, und schließlich kann man doch auch im Schnee ertrinken, mindestens ersticken.
Na, so schlimm konnte das ja noch nicht sein, die Stimme gab mir die Richtung an, ich patschte in dem Schnee herum und fand denn auch einen zappelnden Gegenstand.
»Höher, höher, immer noch ein bisschen höher!«, kommandierte Karlemann, als ich ihn am Kragen herauszog. »Setzen Sie mich doch gleich auf Ihre Schultern, wozu haben Sie die denn sonst?«
Es war wohl auch der richtige Vorschlag.
»Haben Sie Ihren Vogelbauer?«
»Ja, aber drei Schneeschipper wären mir jetzt lieber.«
Ich musste doch lachen, als ich den Wichtelmann mit seiner ganzen Ausrüstung auf meine Schultern hob.
»Verflucht und zugenäht und zugeschneit!«, ließ sich Karlemann von dieser seiner sicheren Höhe vernehmen. »Ich habe mir Amerika doch ganz anders vorgestellt.«
Er sprach vollkommen meine Ansicht aus, die ich schon vorhin erwähnte.
»Mister Tischkoff, sind Sie da?«
»Hier, hier — mir nur immer nach — ich stecke zwar auch bis zum Halse drin, der Grund scheint sich aber zu heben — mir nur immer nach!«
Ja, hatte sich was — nur nur immer nach! Ich konnte faktisch die dicht vor die Augen gehaltene Hand nicht sehen.
»Warten Sie, ich mache gleich Licht«, tröstete Karlemann auf meinen Schultern und ritzte ein Streichholz nach dem anderen an.
Es war ganz zwecklos. Der sturmähnliche Wind ließ es höchstens zu einem Aufblitzen kommen, und da sah ich wohl ab und zu einen Baum stehen, aber den bemerkte ich auch, wenn ich mit der Nase dagegen stieß.
Und so fuhrwerkten wir mindestens eine Stunde in dem Schnee herum, der einem normalen Menschen bis zum Halse ging. Dabei wehte ein grimmigkalter Wind, wie er mir so schneidend selten auf der Kommandobrücke um die Nase gepfiffen hatte, weder in der arktischen noch in der antarktischen Zone.
Wirklich an jene Stunde, da ich zum ersten Male in Amerika den Kriegspfad gegen die Indianer betrat, werde ich denken.
Karlemann auf meinen Schultern, der freilich konnte gut Witze reißen.
»Es gibt hier nur zweierlei«, sagte er. »Entweder wir pfeifen den PacificZug zurück und steigen wieder ein oder wir warten bis zum Frühjahr, bis der Schnee hier wegschmilzt.«
»Wenn Sie jetzt nicht Ihre dummen Witze lassen, werfe ich Sie rückwärts in den Schnee.«
»Probieren Sie's nur, ich sitze hier fest, und wenn Sie noch einmal so eine Drohung riskieren, schnüre ich Ihnen mit meinen Beinen einfach die Luft ab. Hü, hott, Schimmel!!«
Dann fasste Tischkoff meine Hand, und endlich, endlich tauchten wir immer mehr aus dem Schnee empor, bis wir nur noch bis an die Knie darin zu waten brauchten. Nun schien die Schneedecke aber auch nicht dünner zu werden, bei der Kniehöhe blieb's. Wir mochten nur beim Verlassen des Zuges gerade in einen Graben oder in ein Loch oder in eine Schneewehe oder in sonst etwas gesprungen sein, hätten aber ebenso gut auch in etwas springen können, wo es überhaupt kein Herauskommen mehr gab.
Bäume vor uns, Bäume hinter uns, Bäume seitwärts...
»Das nennt man einen Wald«, erklärte Karlemann, als ich ihn von meinen Schultern herabgleiten ließ, nachdem er zuvor geäußert hatte, dass er viel lieber da oben sitzen bleiben möchte, was es nun freilich nicht gab.
So, nun standen wir drei zusammen wiederum in der Stockfinsternis da, in einem immer stärker werdenden Sturme, der auch immer eisiger zu werden schien, und dass der Schnee uns jetzt nur bis an die Knie ging, war doch nur ein geringer Trost, und bei Karlemann traf das überhaupt gar nicht zu, der hatte noch immer mit seinem ›Bauchknöppchen‹ zu messen.
»Wir müssen hier die Nacht verbringen«, sagte Tischkoff, »wir wollen ein Lagerfeuer machen.«
Ich hatte solch eine kühne Idee noch gar nicht zu fassen gewagt, aber bald sollte ich merken, was für einen Führer in der Wildnis ich in Tischkoff hatte.
Zunächst merkte ich an gewissen Geräuschen und sonstigen Kennzeichen, dass er in dem Schnee herumkrebste, er suchte Holz zusammen. Es war gut, dass er uns nicht aufforderte, ein Gleiches zu tun, denn ich hätte ihn beim besten Willen nicht darin unterstützen können, Karlemann wohl auch nicht. Schnee genug, auch dicke Bäume, aber von losen Ästen war weder mit Händen noch Füßen etwas zu fühlen.
»Bitte, trampeln Sie hier den Schnee fest«, ließ sich Tischkoff dann vernehmen.
Ja, das konnten wir eher, und wir beide trampelten feste. Dann ein wiederholtes Knacken und am Boden ab und zu ein winziger Funke, und dann hörte ich ein Keuchen und Pusten.
Ich konnte es nicht sehen, aber ich vermutete, dass mein Kommodore jetzt kniete, den Kopf dicht am Boden, und emsig in den Zunder blies, der nicht glimmen wollte.
»Bitte, blasen Sie mit — hier, hier bin ich.«
Gut, blasen wollte ich wohl — aber ob's was nützte, das bezweifelte ich stark. Zunächst hatte ich überhaupt meine liebe Mühe, meinen Kommodore zu finden, bis ich ihm zufällig auf die große Zehe trat, dann tastete ich mich an seinem Körper weiter, bis ich ihm gegenüber kniete und lustig in den Boden oder vielmehr in den Schnee blies. Dann fing auch Karlemann dienstbereit zu blasen an, schien aber in eine ganz andere Richtung zu blasen.
Doch wahrhaftig, da plötzlich entstand dicht vor meinen Augen ein glühender Haufen... und noch plötzlicher zischte ein Feuermeer auf, das mir gleich meinen schönen, schwarzgefärbten Vollbart verbrannte.
Tischkoff hatte den Zunderlappen mit Pulver eingerieben, hatte mich auch gewarnt, war aber mit seinem ›Vorsicht!‹ doch etwas zu spät gekommen, da hatte ich nur noch die Hälfte von meinem Vollbart.
Karlemann war vorsichtiger gewesen, der hatte immer ganz anderswo geblasen, fingerte noch jetzt an meiner hinteren Körperseite herum.
Na, die Hauptsache war, dass wir jetzt einen glimmenden Lappen hatten, das ist zwar noch lange kein Lagerfeuer, an dem man sich wärmen kann, aber doch schon immer etwas.
Also es wurde weitergeblasen, Tischkoff fing mit Streichhölzchen an, die er vorsichtig über den glimmenden Zunder legte — erst wollten die Ludersch durchaus nicht brennen — blasen, immer blasen, meine Herrschaften!! — schließlich besann sich eins, fing an zu glimmen, bekam eine kleine Flamme, die aber gleich wieder ausging — dann kamen andere Ästchen daran, die dieser Hexenmeister von Tischkoff irgendwoher gezaubert hatte... und so ging das weiter, bis wir um ein hell loderndes, mächtiges Lagerfeuer saßen!
Aber wolle sich der geneigte Leser keinen Illusionen hingeben!!
Um elf hatten wir den PacificZug verlassen, ungefähr eine Stunde lang waren wir im Schnee herumgewatet, und die Uhr zeigte auf halb drei, als wir endlich rufen konnten, ›hurra, das Feuer brennt!‹
Ehe ich mich aber daransetzen konnte, musste ich erst meinen eigenen Leichnam durch Auftauen ablösen. Ich war nämlich bei dem langen Blasen mit den Knien angefroren. Und ich glaube, meine halbe Lunge lag auch mit in dem Feuer, abgesehen von meinem halben Backenbarte.
Ja, wir hatten sogar dermaßen geblasen, dass der Sturm die Konkurrenz aufgegeben hatte. Es war unterdessen völlig Windstille eingetreten.
Nun aber konnten wir uns auch voll und ganz dem Genusse des Lagerfeuers hingeben, wenn nicht seiner Wärme, so doch der Beleuchtung, die es verbreitete.
Es war tatsächlich ein herrlicher Anblick, den ich in kleinem Umkreise hatte. Ein amerikanischer Urwald, ohne besonders viel Unterholz, aus mächtigen Tannen und Fichten bestehend, wie ich solche noch nie gesehen, die Stämme bis zu vier Meter dick, ihre Höhe in diesem Lichtschein nicht zu ermessen, aber wo die Zweige weiter herabreichten, oder wo ein junges Stämmchen trieb, da war jede Nadel von weißem Kandiszucker überzogen — eben eine herrliche Winterlandschaft oder doch Winterbild, die Konturen waren ja äußerst eng begrenzt, und dieses Bild nun erleuchtet vom blutigroten Schein unseres Lagerfeuers!
Es wurde auch sonst gemütlich. Jetzt fanden wir überall mit Leichtigkeit Holz. Das Feuer fraß sich noch etwas tiefer in den Schnee hinein, fand aber bald festen Grund, und die nähere Umgebung vermochte die Wärme doch nicht aufzutauen, sodass wir auf unseren Decken ganz trocken saßen.
Die Rucksäcke wurden geöffnet, Kessel und Proviant, aus Zwieback und kaltem Fleisch bestehend, hervorgeholt.
Es wäre ja eigentlich nicht nötig gewesen, dass wir gleich früh um drei frühstückten, wir hatten kurz zuvor im Speisewagen noch einmal gut vorgelegt gehabt und zu mehr als zu einer anständigen Mahlzeit konnte dieser Proviant auch nicht reichen, wir hätten ihn lieber für den Fall der Not aufheben sollen — aber dieses Entkommen aus dem Schneeloche musste doch gefeiert werden, überhaupt dieser Anfang unserer amerikanischhinterwäldlerischen Expedition, und dann konnten wir diesen Proviant doch nicht ewig mit uns herumschleppen, einmal musste er ja so wie so gegessen werden, denn wir verhungerten ebenfalls sowieso, wenn wir nicht bald etwas schossen, und der Teufel soll ganz Amerika holen, wenn es darin nicht noch irgend etwas Essbares gibt. Dann hört die ganze amerikanische Romantik auf.
Hierüber waren wenigstens wir beide uns einig, Karlemann und ich, und Tischkoff stimmten insofern bei, als er schwieg, während wir den Proviant auspackten. Dagegen erhob er Einspruch, als wir beide, Karlemann und ich, den Vorschlag machten, das Teewasser, aus ehemaligem Schnee hergestellt, welches in dem Teekessel so schön sang, lieber nicht zu Tee, sondern zu einem solennen Grog zu verwenden.
»Wir haben den Rum eigentlich nur als Medizin mitgenommen«, lächelte Tischkoff, als Karlemann schon seine Korbflasche entkorkte.
Karlemann ließ sich dadurch nicht einschüchtern, ließ seine Rumflasche vielmehr schon gulkern.
»Einmal ist Rum keine Medizin«, entgegnete er, »und zweitens fühle ich mich überhaupt krank, also muss ich auch Medizin trinken. Prost — ah — noch etwas mehr Zucker!«
»Wir werden den Rum sehr gut gebrauchen, wenn wir mit den Rothäuten in Berührung kommen.«
»Sollte da eine Donnerbüchse nicht dieselbe erhitzende und sechs Zoll kaltes Eisen dieselbe beruhigende Wirkung ausüben? Übrigens haben wir ja noch zwei andere Rumflaschen. Ich bin nur immer der Opferfreudigste.«
Es musste auch an die Möwen gedacht werden, für welche Karlemann besondere Fleischabfälle mitgenommen hatte. Dass er die Tiere nicht dicht ans Feuer gestellt, hatte wohl seinen Grund.
Jetzt beschäftigte er sich mit den Tieren.
»Vielleicht dressierter Möwenbraten gefällig?«, fragte er nach einer Weile, seine Hand ausstreckend, auf der ganz still mit angezogenen Fängen eine Möwe auf dem Rücken lag.
Alle vier waren erfroren. Dass diese Vögel, die sich doch sonst in jedem Schneewetter und zwischen Eisschollen wohlfühlen, hier so schnell der Kälte erlegen waren, durfte uns wundernehmen. Es war eben die Gefangenschaft, die sie nicht ertrugen. Die Bewegung hatte ihnen gefehlt, da war ihnen das Blut erstarrt.
Nun, wir nahmen es uns nicht allzu sehr zu Herzen, dass uns nun das Mittel genommen worden war, uns mit den fernen Kameraden verständigen zu können.
Karlemann schlug vor, zur Trauerfeierlichkeit auch gleich noch die zweite Rumflasche zu leeren, und schließlich kam auch noch die dritte und letzte daran.
Die Mahlzeit war beendet, der Grog alle.
»Es ist vier Uhr«, sagte Tischkoff, »wir wollen noch die drei Stunden bis zum Tagesanbruch schlafen. Einer muss aber wachen.«
»Ich übernehme die erste Wachstunde!«, rief Karlemann sofort, bewies diesmal aber keine besondere Opferfreudigkeit, denn auch ich fühlte nichts von Müdigkeit, und Tischkoff jedenfalls auch nicht.
So saßen wir drei rauchend am Feuer, sprachen von diesem und jenem, natürlich vor allen Dingen von unserer nächsten Marschroute, die uns an den Pitsee bringen sollte.
Doch gebe ich nach wie vor nichts wieder von diesen unseren Plänen.
Plötzlich verstummte Tischkoff mitten im Worte, ließ die Pfeife sinken und saß vorgeneigt wie eine Statue da.
Wir beiden anderen lauschten, starrten aber wohl noch mehr unseren Führer an, der sich jedoch nicht rühren wollte.
Nur Karlemann meinte gleich etwas herauszufinden.
»Hier riecht es nach Hasenbraten, nicht wahr?«, flüsterte er. »Ich habe es schon lange gerochen, wollte es nur nicht sagen — wer soll denn hier Hasenbraten braten?«
»Still«, flüsterte jetzt auch Tischkoff, »hier schleicht etwas — ein Mensch.«
»Der hat Hasenbraten gegessen oder solchen noch einstecken«, beharrte Karlemann, mit der Nase wie ein Jagdhund schnüffelnd.
Ich selbst konnte weder etwas hören noch etwas riechen. Tischkoff erhob sich, spähte um sich, duckte sich wieder.
»Ja, hier ist ein Mensch in der Nähe«, hauchte er. »Wartet auf mich, bis ich zurückkomme!«
Und die Büchse ergreifend, nur seine Decke zurücklassend, schlich er geduckt davon, war sofort aus dem Bereiche des Feuerscheines verschwunden.
Mir kam erst jetzt richtig zum Bewusstsein, dass wir hier nicht nur so ein Picknick hielten, sondern dass wir uns auf dem Kriegspfade befanden. Alle Empfindungen, die ich als Kind beim Lesen von Indianergeschichten gehabt, lebten in mir mit einem Male wieder auf. Schnell meine Büchse schussfertig machend, lauschte ich mit angehaltenem Atem, ohne aber zu wagen, aufzustehen.
Karlemann dagegen fasste die Situation von einer anderen Seite auf.
»Hier riecht es nach Hasenbraten«, wiederholte er.
»Ich bitte Sie, lassen Sie nun endlich Ihre dummen Witze!«, herrschte ich ihn an, so vorsichtig ich auch sprechen musste.
»Dummen Witze? Nee, faktisch, hier hat's schon lange nach Hasenbraten gerochen, ich wollte's nur nicht sagen, ich glaubte's selber nicht, wir aßen doch Rossbäff, aber jetzt rieche ich's ganz deutlich, 's ist wirklich Hasenbraten.«
Ja, warum sollte der Junge nicht schließlich recht haben? Konnte sich hier nicht jemand irgendwo einen Hasen braten, ihn am Feuer rösten?
»Nee, er bratet ihn mit Speck«, versicherte Karlemann, immer wieder witternd.
Ich sah mich um, dabei aufstehend, konnte aber nichts von einem Feuerschein bemerken.
So verging eine Weile, ohne dass Tischkoff zurückkam. Karlemann gähnte, sah nach seiner Zwiebel.
»Fünf Uhr! Meine Nachtwache ist vorüber. Jetzt kommen Sie daran. Wenn ein Indianer oder sonst wer kommt, wecken Sie mich. Gute Nacht.«
Sprach's wickelte sich in seine Decke und war sofort sanft entschlafen.
Mir wurde die Zeit furchtbar lang, und diese verging, ohne Tischkoff zurückzubringen. Ich suchte manchmal Holz zusammen, es unterm Schnee vorschaufeln müssend, nährte das Feuer, wartete, lauschte und spähte. Kein Schuss, kein Tischkoff, gar nichts.
Gegen halb acht begann es zu dämmern. Karlemann erwachte.
»Ist Tischkoff noch nicht zurück?«, fragte er, nachdem er sich ausgegähnt hatte.
»Nein.«
»Wenn er nun gar nicht wiederkommt, wie lange sollen wir denn hier warten?«
»Wir wollen diese Möglichkeit lieber gar nicht erwägen.«
»Haben Sie wenigstens noch etwas zu essen?«
»Auch das nicht.«
»Und Möwen sind ganz ungenießbar. Hm.«
Trotz alledem zog Karlemann sein Jagdmesser hervor, ein unheimlich langes, dünnes Ding, und dann staunte ich nicht schlecht, als er aus seinem rechten Pelzstiefel auch noch einen Wetzstahl zum Vorschein brachte. Bedächtig begann er das Messer zu wetzen.
»Haben Sie noch etwas zu essen?«, fragte ich ihn nach einer Weile.
»Ich? Nee.«
»Ich dachte, weil Sie Ihr Messer wetzten. Das macht Appetit. Warum haben Sie denn den Wetzstahl mitgenommen?«
»Um mein Messer zu wetzen, wenn es stumpf wird.«
»Warum wetzen Sie es denn jetzt?«
»Nu, ich warte auf den Indianer, den ich skalpieren will. Haben Sie schon einmal jemanden skalpiert?«
»Ich hatte noch nicht das Vergnügen.«
»Ja, ein Vergnügen muss das wirklich machen, so ringsherum einen Kreis um den Schädel zu schneiden, und dann — — zuck! — — da ruppt man das ganze Haar heraus. Das soll nämlich gar nicht so leicht sein, das muss man erst lernen.«
»Sie würden einen Menschen skalpieren können?«
»Ob ich's kann, weiß ich nicht. Wie gesagt, es soll gar nicht so leicht sein.«
»Ich meine, Sie würden es fertig bringen, einem Menschen die Kopfhaut abzuziehen? Sie würden es versuchen?«
»Nu, weshalb bin ich denn sonst mitgekommen?«, war die erstaunte Gegenfrage. »Ei ja, so einen echten Indianerskalp, von mir selber abgezogen, den muss ich haben, darauf habe ich mich schon lange gefreut.«
Und Karlemann erging sich weiter in Worten über das Vergnügen des Skalpierens.
Es wurde heller. Ja, es war eine großartige Winterlandschaft, die wir erblickten, aber die Freude daran wollte nicht mehr recht aufkommen.
Vier Stunden war Tischkoff nun schon fort. Das war doch eine gar lange Zeit. Und konnte er nicht einen seiner Anfälle bekommen haben, irgendwo hilflos im Schnee liegen?
»Wir wollen seine Spur verfolgen«, schlug ich vor.
»Ja, und auch gleich etwas nach Jagdbeute ausspähen«, stimmte Karlemann bei.
Wir machten uns auf den Weg, nichts zurücklassend als unser noch glimmendes Lagerfeuer, also auch gleich Tischkoffs Decke mitnehmend. Kehrte er unterdessen zurück, so konnte er ja wiederum unseren Spuren folgen.
Schon nach einer Viertelstunde erreichten wir, immer den tiefen Fußstapfen nachgehend, wieder den erhöhten Bahndamm. Vor allen Dingen muss ich da erwähnen, dass ich mich in der Nacht in der Richtung vollkommen geirrt hatte; ich hätte die Bahn ganz wo anders vermutet, denn das Vorhandensein einer zweiten war hier ausgeschlossen.
Die durch ganz Amerika gehende Pacificbahn befasst sich natürlich möglichst wenig mit komplizierten Bauten. Hier war offenbar wegen häufiger Schneewehen ein Damm nötig gewesen, auf dem die Schienen entlang liefen.
»Das ist ja die Stelle, wo wir selber ausgestiegen sind!«, meinte Karlemann.
Im ersten Augenblick sah das auch so aus. Der tiefe Schnee war zerwühlt, dann gingen mehrere Spuren in nördlicher Richtung davon.
Aber in der nächsten Minute musste ich Karlemanns Ansicht widersprechen.
»Nein, das sind nicht unsere Spuren. Wo wir aus dem Zuge sprangen, da war der Schnee ganz bedeutend tiefer. Bedenken Sie doch nur, dass wir eine Stunde brauchten, um uns daraus hervorzuarbeiten, und dann ist das doch auch nur die Spur einer einzigen Person, welche hier herausgekommen ist.«
»Es sind zwei Spuren.«
»Bitte, die eine gehört Tischkoff an; aber bis dicht an den Bahndamm ist der gar nicht gekommen, der ist nur bis hierher gegangen, hat sich dann umgedreht und den Mann verfolgt, der sich hier herausgearbeitet hat.«
»Ja, sieht da das aber nicht fast gerade aus, als ob noch jemand anders den PacificZug mit uns verlassen hätte, nur von einem anderen Wagen aus?«
So war es. Karlemann sprach aus, was auch ich schon gefolgert hatte.
Gleichzeitig mit uns musste noch ein anderer Passagier den Zug hier verlassen haben, nur einige Wagen hinter uns.
Derselbe Zug musste es wohl gewesen sein, ein anderer konnte hier noch nicht passiert sein, das hätten wir doch wohl bemerkt. Die PacificZüge verkehren ja nur sehr spärlich. Damals wurde nicht einmal täglich einer von New York respektive von San Francisco abgelassen.
Wir wanderten den Bahndamm entlang und kamen nach wenigen Minuten wirklich an jene Stelle, wo ganz deutlich ersichtlich war, wie hier in dem viel tieferen Schnee drei Personen herumgekrebst hatten, und als wir die drei verschiedenen Spuren verfolgten, kamen wir denn auch wieder nach unserem Lagerfeuer zurück.
Wir gingen abermals Tischkoffs Spur nach, jetzt freilich zum zweiten Male auch unserer eigenen, und kamen wieder an jene Stelle, wo für uns immer deutlicher ersichtlich wurde, dass hier ein einzelner Passagier den PacificZug gleichzeitig mit uns verlassen hatte.
Wozu? Wer war dieser Mann?
Es waren natürlich ganz vergebliche, daher zwecklose Fragen. Tischkoff hatte sie praktisch zu lösen gesucht, indem er der Spur gefolgt war.
Wie er aber darauf gekommen, sich zuerst hierher zu begeben, wenn er die Anwesenheit eines Menschen irgendwie bemerkt hatte?
Nun, es konnte ja ein Zufall gewesen sein, dass er sich zuerst hierher begeben hatte.
Jedenfalls hatte Tischkoff von hier aus die nördlich führenden Spuren verfolgt, und wir wollten nun den beiden nachgehen, da wir so über lang oder kurz ihn doch noch einmal wieder erreichen mussten.
»Ja, wenn er nicht schneller ist als wir«, meinte Karlemann.
Nun, so schlimm würde es wohl nicht werden. Wir hätten lieber an eine andere Möglichkeit denken sollen, die uns einen Strich durch die Rechnung machen konnte, was wir eben nicht taten.
Die beiden Spuren, deren Verfolgung wir jetzt aufnahmen, waren sehr leicht voneinander zu unterscheiden.
Der andere ausgestiegene Passagier trug einen gewöhnlichen Stiefel, während sich Tischkoff, als wir uns in San Francisco ausrüsteten, einen hackenlosen Pelzstiefel ausgesucht hatte, anders als nach unserem Geschmack. Zudem war Tischkoffs Fuß bedeutend kleiner als der des Fremden.
Die Spur führte gegen einen Kilometer nordwärts. Dann änderte sich der Schritt des Unbekannten, wurde weiter, manchmal aber auch enger, ging hin und her.
»Hier ist er geschlichen«, lautete unser beider Urteil.
Weswegen war er geschlichen? Jedenfalls hatte er uns bemerkt, uns beobachtet. Dann hatte er sich auch in den Schnee gelegt, war auf Händen und Knien gekrochen, hatte Kreise beschrieben.
Und als wir ungefähr das Zentrum dieser Kreise konstatierten, fanden wir unser eigenes Lagerfeuer wieder!
»Der Kerl hat erst unsertwegen den PacificZug verlassen«, sagte Karlemann, und ich konnte ihm nur beistimmen, wobei mir etwas unheimlich zumute wurde.
Sollte mich jemand erkannt haben, der mir von San Francisco aus gefolgt war?
War dieser Mann vorausgeeilt, um die Sioux am Pitsee zu benachrichtigen, dass wir uns zur Befreiung der Gefangenen aufgemacht hatten?
Ich wollte mich solchen Vermutungen nicht weiter hingeben, so nahe sie auch lagen.
Dann weiter konstatierten wir, dass Tischkoffs erste Spur ziemlich parallel mit dieser zweiten lief. Also hatte Tischkoff diese Spur erst rückwärts verfolgt, bis dorthin, wo der Fremde den Zug verlassen hatte, was uns zuerst nur nicht aufgefallen war, weil sich die beiden Fährten doch ziemlich weit auseinander befanden.
Der Fremde hatte sich noch mehrmals hingelegt, den Kopf immer unserem Lagerfeuer zugekehrt. Aber wie lange er hier immer gelegen, das konnten wir natürlich nicht bestimmen, und es war sehr fraglich, ob das ein professioneller Fährtensucher hätte sagen können.
Aber etwas anderes war es, was Karlemann mit Recht behaupten durfte.
»Ein Lagerfeuer hat er sich nicht angebrannt.«
»Ganz gewiss nicht.«
»Dann hat er sich auch keinen Hasen braten können. Also muss noch ein zweiter Mensch in der Nähe gewesen sein.«
»Der sich einen Hasen gebraten haben soll?«
»Sicher. Ich hab's ganz bestimmt gerochen.«
Ich ließ meinen kleinen Freund bei seinem Hasenbraten.
Die Spuren gingen immer weiter nördlich, wir verfolgten sie.
Hingelegt hatte sich der Fremde nicht mehr. Wusste er, dass ihm ein anderer auf den Fersen war? War aus dem Nachschleichen schon eine richtige Verfolgung geworden?
So marschierten wir wohl eine Stunde hinter den beiden Fußstapfen her, immer im knietiefen Schnee, dabei auch noch nach etwas anderem ausspähend.
Unser Weg ward von zahlreichen Wildfährten gekreuzt, meist von kleineren und zum Teil sehr großen Huftieren herrührend; der darin schon etwas erfahrene Karlemann wollte die Abdrücke von Hirschen und sogar von Büffeln unterscheiden, aber was nützten uns diese hinterlassenen Spuren? Wir spähten nach einem lebendigen Wild, und ein solches war nicht zu erblicken.
Ab und zu ein kleiner Vogel, der an einer der Riesentannen hämmerte, wohl ein Specht, sonst war der Wald wie ausgestorben.
Da endlich sahen wir doch in einiger Entfernung einen großen Hirsch mit prachtvollem Geweih stehen, der nach uns äugte. Aber noch ehe wir das Gewehr in Anschlag bringen konnten, setzte er schon in mächtigen Sprüngen davon, und bei diesen dichtstehenden Bäumen war ein Schießen ganz ausgeschlossen, außerdem war er in der nächsten Minute verschwunden, um nicht wieder aufzutauchen.
Trotzdem machten wir uns sofort an eine Verfolgung, fanden auch die frische Spur, gingen ihr nach, wurden aber bald durch andere Spuren irregeführt, bekamen den Hirsch nicht wieder in Sicht.
»Können Sie nicht wie eine verliebte Hirschkuh blöken?«, fragte Karlemann.
»Ich nicht, aber mich wundert's, dass Sie das nicht können, da Sie doch früher die Wilddieberei betrieben haben.«
»Nein, so weit ging meine Jägerei nicht«, seufzte Karlemann.
Ja, wir kamen immer mehr zu der Ansicht, dass es in Amerika doch nicht genügt, mit einem Schießprügel herumzulaufen, mag die Gegend den Fährten nach auch noch so wildreich sein. Damals in Afrika war das etwas ganz anderes gewesen, da hatte man an den Flüssen die Tränkplätze, wo man sich des Abends nur in den Hinterhalt zu legen brauchte, um Fleisch in Hülle und Fülle zu bekommen. Bei diesem Schnee aber brauchte das Wild keine Tränkplätze, hier musste man das Terrain und die Gewohnheiten der Tiere ganz anders kennen, wollte man ihnen beikommen.
Wir verfolgten unsere eigenen Spuren zurück, um wieder auf die von Tischkoff zu kommen, in dessen Auffinden jetzt unsere einzige Hoffnung bestand. Konnten wir doch eventuell bald mit dem Hungertode rechnen.
»Ich gehe nach dem Eisenbahndamm zurück und springe in den nächsten Zug«, brummte Karlemann ärgerlich.
Er machte natürlich nur Spaß. Dieser Junge war wohl der letzte, der die Flinte so schnell ins Korn oder in den Schnee warf.
Unsere Lage sollte aber bald noch viel bedenklicher werden. Anstatt immer heller, wurde es wieder dunkler, und bald schüttelte Frau Holle ihre Betten. Es begann zu schneien, dass man wie durch einen dichten Gazeschleier keine drei Meter sehen konnte.
Immer verwischter wurden die Spuren, wir folgten nur noch flachen Vertiefungen in der ebenen Schneedecke, und dann kamen wir auf ein höher gelegenes Terrain, wo von ihnen überhaupt nichts mehr zu sehen war. Der gestrige Sturm mochte hier den früheren Schnee weggefegt haben, jetzt bildete er eine glatte Fläche.
»Karlemann, es hilft nichts, wir müssen zurück an unser Lagerfeuer und auf Tischkoff warten, wie er es uns gesagt hat.«
»Und wenn er nun nicht wiederkommt? Sollen wir dort bis in alle Ewigkeit sitzen?«
»Tischkoff wird wiederkommen.«
Karlemann musste den Charakter dieses rätselhaften Mannes nun wohl auch kennen gelernt haben, dass er gar nicht widersprach.
So traten wir den Rückweg an. Aber wir konnten kaum noch unsere eigenen, soeben gemachten Spuren wiederfinden; von denen jener beider Männer war überhaupt nichts mehr zu bemerken. Und dann kamen wir dort, wo wir auf den Hirsch gepirscht hatten, in einen Wortstreit, welche abzweigende Spur diejenige sei, die nach der Richtung des Bahndammes zu führte. Karlemann wollte die linke aufnehmen, und ich war der festen Ansicht, dass wir geradeaus müssten.
»Immer nach Süden«, sagte Karlemann.
»Jawohl, nach Süden, und Süden ist dort«, sagte ich, nachdem ich meinen Taschenkompass befragt hatte.
Auch Karlemann hatte einen solchen bei sich.
»Wo soll Süden sein?«
»Dort.«
»Nein, dort!«, entgegnete Karlemann, ziemlich in die entgegengesetzte Richtung deutend.
Die Nadeln unserer Kompasse zeigten den Nordpol fast in entgegengesetzter Richtung an.
»Mein Kompass zeigt richtig.«
»Meiner auch.«
Wir stritten uns nicht lange, wunderten uns nicht, sondern hatten bald herausgefunden, was hier nur vorliegen konnte.
Mit diesen kleinen Taschenkompassen ist es ja eine unsichere Geschichte. Man braucht nur einmal in die Nähe einer elektrischen Anlage zu kommen, braucht nur durch irgendeinen Zufall einen magnetisch gewordenen Schlüssel in der Tasche zu haben — schwubb, wird die so überaus empfindliche Magnetnadel polarisiert, beeinflusst, wird abgelenkt, und das für immer.
Und wir hatten kein Mittel, zu konstatieren, welcher von den beiden Kompassen nun die richtige und welcher die falsche Richtung anzeigte. Und bei umzogenem Himmel hört doch auch jede Bestimmung nach der Sonne auf, es hätte gar nicht so zu schneien brauchen, dass man keine drei Schritte weit sehen konnte. Und schließlich hatte nun auch noch ein starker Wind eingesetzt, der den körnigen Schnee vor sich hertrieb und im Nu auch unsere eigenen, zuletzt getretenen Spuren verwischte.
So standen wir jetzt völlig ratlos in dem verschneiten Urwalde da.
Eine nette Geschichte«, brach ich zuerst das Schweigen. »Jetzt finden wir uns nicht einmal mehr nach dem Lagerfeuer zurück, wo wir auf Tischkoff warten sollten.«
»Und der findet jetzt auch nicht mehr unsere Spuren«, ergänzte Karlemann.
»Tischkoff wird uns dennoch wiederzufinden wissen.«
»Hol der Teufel Ihre Vertrauensseligkeit! Mir wäre jetzt ein Rehbock oder auch nur ein Hase viel lieber...«
Schnell riss Karlemann die Büchse hoch, setzte sie aber gleich wieder ab.
»Halt, das war ein Mensch!«
Ich hatte schnell nach der Richtung gesehen, wohin er blickte, konnte aber nichts gewahren.
»Jawohl, dort zwischen den beiden Tannen hat ein Mann gestanden«, versicherte Karlemann, »eine lange Gestalt!«
»Haben Sie sich auch nicht getäuscht?«
»Ich habe ihn ganz deutlich stehen sehen.«
»Wohin verschwand er denn?«
»Es war mir, als wenn er hinter einen Baum gesprungen wäre.«
»Dann müssen wir doch wenigstens seine Spuren noch finden.«
Ich wollte schon hin, Karlemann hielt mich an meinem Pelzrock zurück.
»Aber Vorsicht! Und wenn es nun ein Feind ist, der uns niederknallt?«
»Ja, was bleibt uns aber sonst übrig? Und besser, einen schnellen Tod durch eine Kugel, als langsam Hungers sterben.«
Karlemann sah das ein und schloss sich mir an. Wir konnten, des Waldlebens ganz unkundig, auch tatsächlich gar keine besondere Vorsicht anwenden.
»War es ein Indianer oder ein Weißer?«, fragte ich noch.
»So genau freilich konnte ich nicht unterscheiden, durch diesen Schneeschleier. Es war eine lange Männergestalt, die kaum zehn Schritte von hier zwischen den Bäumen stand.«
Nur zehn Schritte? Dann wären wir ja sowieso in der Gewalt dieses Mannes gewesen, wenn er Böses gegen uns im Schilde geführt hätte.
Wir also hin. Und richtig, kaum zehn Schritte, so sahen wir in dem tiefen Schnee vor uns eine frische Spur von Männerstiefeln, und ohne Zweifel war er jetzt seiner eigenen Spur rückwärts gefolgt, ohne besondere Vorsicht. Die Fußstapfen gingen durcheinander, einmal aber die Spitze der Stiefel uns zugekehrt, dann wieder abgewendet.
»Holla, ist jemand hier?!«, rief ich mit allem Aufgebot meiner Lunge.
Keine Antwort. Wir der Spur nach, so schnell wir durch den tiefen Schnee fort konnten.
Die Spur lief fort und fort; der Mann, der uns doch offenbar erblickt, floh vor uns. Das konnte ja wieder eine nette Geschichte werden, und dann mussten wir somit erst recht einen Feind vermuten, oder doch einen Mann, welcher nicht wollte...
Da blieben wir beide wie angewurzelt stehen.
»Stopp, oder ich schieße!«, hatte uns eine Stimme aus dichtester Nähe entgegengedonnert.
Aber zu sehen war niemand, obgleich es jetzt zu schneien aufhörte.
Da deutete Karlemann mit der Hand, und richtig sah ich dort hinter einem Baume die Mündung eines Gewehres hervorlugen.
»Sobald ihr mir zu Gesicht kommt, schieße ich!«, fuhr die Stimme fort.
»Weshalb schießen? Wir haben gegen Euch nichts Feindliches im Sinne«, entgegnete ich.
»Weshalb verfolgt ihr meine Spur?«
»Weil wir uns freuen, einen Menschen zu finden. Wir haben uns verirrt.«
»Verirrt? Hahaha!«, lachte es rau. »Macht mir doch nichts weis! Wie kann sich denn ein Mann verirren?«
»Das mag Euch unbegreiflich erscheinen, weil Ihr wahrscheinlich im Walde zu Hause seid, wir aber sind keine Waldmenschen und wissen weder aus noch ein.«
»Wie kommt ihr hierher?«, klang es jetzt versöhnlicher.
»Wir haben in dieser Nacht den PacificZug verlassen und wissen nun weder aus noch ein.«
»Weshalb habt ihr denn den PacificZug verlassen?«
»Wollt Ihr nicht lieber hervortreten? Ihr habt wahrhaftig nichts von uns zu fürchten.«
»Fürchten? Hahaha! Und dass ihr keine Jäger seid, das merkt euch doch jedes Kind an, weil ihr gar so tölpelhaft im Schnee herumpatscht.«
»Na also! Weshalb tretet Ihr da nicht hervor?«
»Weil ich mit keinem Menschen mehr zu tun haben, ihn gar nicht mehr sehen mag. Habt ihr Kautabak?«
Das war eine seltsame Wortfolge. Aber Tabak ist eben ein gar merkwürdiger Stoff.
»Massenhaft!«, entgegnete ich, aus der Tasche eine ganze Platte hervorziehend.
Und der Tabak übte seine Anziehungskraft aus; der Mann trat hervor.
Ich starrte ihn im ersten Augenblicke wie eine Erscheinung aus dem Jenseits ein.
»Herrjeh, das sind Sie ja selber, Käpt'n!«, rief da auch Karlemann.
Ich hatte zuerst geglaubt, mein Spiegelbild zu sehen!
Dem Äußeren nach sah dieser Mann allerdings anders aus, d. h., in der Kleidung. Das Pelzkostüm, welches er trug, anscheinend selbstgefertigt, war sehr abgeschabt — aber vor allen Dingen überschritt auch dieser Mann bei weitem das menschliche Normalmaß, wir gaben wohl einander nichts nach, und dann genau dasselbe kupferbraune Gesicht, wie ich es bis vor Kurzem täglich im Spiegel hatte betrachten können, also auch mit solch einem weißblonden Bärtchen.
Ich glaube, sich selbst, seine eigene Physiognomie, kann man wohl am allerwenigsten beschreiben, und so will ich es auch hier nicht tun. Kurz und gut, mein völliges Spiegelbild, nur nicht gerade jetzt, weil ich gegenwärtig einen Vollbart trug, allerdings einen etwas ruinierten, den ich wie das Haupthaar schwarz gefärbt hatte.
Der Fremde schien gar keine Ähnlichkeit herauszufinden, oder der Farbunterschied der Haare genügte ihm — kurz, er ging, das Gewehr über die Schulter hängend, mit ausgestreckter Hand auf mich zu.
»Nur einen Biss, nur einen einzigen Biss!«, sagte er, als er mir die Platte aus der Hand nahm und, wie ein heißhungriger Wolf in ein Stück Fleisch, hineinbiss, nur dass dies eben Tabak war.
»Nun, mit einem einzigen Bissen braucht Ihr Euch nicht zu begnügen!«, lachte ich erleichtert. »Ihr könnt die ganze Platte behalten, kann Euch auch noch ein paar andere abgeben, habe ein ganzes Pfund bei mir, das sind zehn solcher Platten, ohne den Tabak, den ich sonst noch in der Tasche habe.«
»Ja, Tabak, Kautabak. — Was ist der Mensch, wenn er keinen zwischen den Zähnen hat? Hatte keine Zeit, mich damit zu versorgen. Wollte deswegen schon nach Vandalia. Ich nach Vandalia! Hahaha! Glaubt Ihr, Fremder, dass sich ein verfolgter Raubmörder in eine Ansiedlung wagen kann, nur um einen Bissen Kautabak zu bekommen?«
Ich starrte den Sprecher an. Wie gesagt, ich sah mich selbst im Spiegel wieder, so wie ich sonst mein Bild gewohnt war. Und der Leser darf mir glauben, dass ich weder wie ein Raubmörder noch sonst wie ein Halunke aussah.
»Raubmörder?!«
Der Mann lachte.
»Nein, nein, braucht keine Bange zu haben. Ich habe in meinem Leben noch nie ein Tier getötet, wenn ich nicht dessen Fleisch bedurfte, oder wenn es mir nicht gefährlich wurde. Werde wegen etwas ganz, ganz anderem verfolgt.«
»Weswegen sonst?«
»Das geht Euch nichts an, Fremder!«, wurde der andere plötzlich grob, lenkte aber gleich wieder ein. »Was wollt Ihr für so eine Platte? Wie viel könnt Ihr entbehren? Geld kann ich Euch freilich nicht geben.«
»O, was das anbetrifft, mir ist verdammt wenig um Geld...«
»Flucht nicht!!«, unterbrach er mich schroff.
Oho, das hätte ich von diesem Manne, doch offenbar ein Hinterwäldler, nicht erwartet, ich hatte von diesen Leuten bisher anderes erfahren. Nun, einen ungünstigen Eindruck machte das nicht auf mich.
»Aber ich kann Euch anderes dafür geben«, fuhr er fort, die Platte in seiner Hand zärtlich betrachtend, sich jedenfalls nicht wieder von ihr trennen könnend.
Ich dachte daran, dass ich hier einen Vorteil auf meiner Seite hatte.
»Ja, einen Gegendienst könnt Ihr uns allerdings tun.«
»Welchen?«
»Wir haben uns hier gründlich verirrt.«
»Wo ist der dritte Mann, mit dem Ihr in der Nacht den PacificZug verließt?«
Also auch schon davon wusste er. War das vielleicht der Mann, der uns umschlichen hatte?
»Ihr wisst, dass wir noch einen Begleiter hatten?«
»Ja, ich sah, wie drei Männer aus dem Pacific sprangen, dachte: was wollen die? Habe Euch etwas beobachtet.«
»Da seid Ihr wohl selbst mit dem Zuge gefahren?«
»Ich? Nein. Wie kommt Ihr darauf?«
»Weil wir annehmen, dass noch ein vierter Mann den Zug hier verlassen hat.«
»Stimmt auch. Aus einem Wagen weiter hinten stieg noch ein anderer Mann.«
»Seid Ihr ihm gefolgt?«
»Ich? Was kümmert das mich?«, war wieder die schroffe Antwort. »Ich sah Euer Lagerfeuer, ging gar nicht weit heran, drehte wieder um, machte mir dort unten in einer Versenkung ein Feuer.«
Zunächst wurden meine Gedanken durch Karlemanns Benehmen abgelenkt. Der Junge war näher an den Mann herangetreten und beschnoberte ihn wie ein Jagdhund.
»Hören Sie, Sie riechen nach Hasenbraten!«, fing Karlemann schon wieder an.
»Möglich, habe welchen in meinem Schnappsack.«
»Haben Sie sich gestern welchen gebraten?«
»Ja, hatte gestern Abend zwei Stück geschossen.«
»Na«, sagte Karlemann mit entsprechender Handbewegung zu mir, »hatte ich es nicht gesagt?«
»Ist das Euer Sohn?«, wandte sich jetzt der Fremde wieder an mich. Ich verneinte. »Seid Ihr verheiratet?«
»Ja.«
»Schade! Wie kann ein vernünftiger Mensch überhaupt heiraten!«
Oho, das ließ ja nun wiederum tief in den Charakter dieses Mannes blicken. Er war überhaupt menschenscheu, das hatte ich nun heraus.
»Wo ist jetzt also Euer anderer Gefährte?«
Ich erzählte, wie wir am Lagerfeuer umschlichen worden waren, wenn nicht von diesem Manne hier, dann eben von jenem anderen, der gleich uns den PacificZug verlassen hatte, aber ohne unser vorheriges Wissen; unser Gefährte hatte die Anwesenheit eines Menschen gemerkt, hatte sich entfernt, war den Spuren gefolgt, wir heute früh den Spuren der beiden, bis wir nicht mehr konnten, und so hatten wir uns gründlich verirrt, wussten weder aus noch ein, zumal wir auch nicht mehr unseren Kompassen trauen durften.
Aufmerksam hatte mir der Fremde zugehört.
»Weshalb habt Ihr überhaupt den Zug verlassen?«, fragte er dann.
»Wisst Ihr, wie vor drei Wochen hier in dieser Gegend der Pacific überfallen worden ist?«
Nein, der Mann hatte noch gar nichts davon gehört.
»Ihr seid ein Waldläufer?«
»Mann, was geht Euch an, was ich bin?«, war wieder die barsche Gegenfrage, von einem misstrauischen Seitenblicke begleitet.
Irgend etwas musste dieser Mann doch auf dem Gewissen haben.
»Kennt Ihr den schwarzen Fuchs?«, fragte ich dennoch unbeirrt weiter.
»Den Häuptling der hier hausenden Dakotas?«
»Ja.«
»Den kenne ich.«
»Dieser hat den PacificZug zum Entgleisen gebracht.«
»Das sieht dem schwarzen Fuchs ähnlich.«
»Er hat Gefangene gemacht und diese nach Norden entführt.«
»So?«, klang es gleichgültig zurück.
»Und unter diesen Gefangenen befinden sich meine Frau und mein Kind, die will ich jetzt befreien.«
»Hättet lieber nicht heiraten sollen!«, knurrte der andere, setzte aber in milderem Tone hinzu: »Ja, Fremder, da kann ich Euch wirklich nicht helfen.«
»Und ich dachte eben, Ihr könntet es.«
»Ich?«
»Wisst Ihr, wo der schwarze Fuchs sein ständiges Lager hat?«
»Am Pitsee.«
»Wart Ihr schon dort?«
»Früher oftmals.«
»So könnt Ihr uns doch den Weg dorthin zeigen.«
Wie erschrocken fuhr der Fremde zusammen, scheu nach Norden blickend.
»Nein, Fremder, da verlangt Ihr zu viel von mir, ich muss machen, dass ich über die Grenze komme, habe mich schon zu lange Euretwegen hier aufgehalten. Wollt Ihr mir noch ein paar Platten Tabak geben oder nicht?«
»Wenn Ihr uns als Führer nach dem Pitsee dient.«
»Gehabt Euch wohl«, sagte der andere sofort, warf mir die Platte Tabak, die er noch immer in der Hand hielt, vor die Füße schulterte seine Büchse und wandte sich zum Gehen.
Ich vertrat ihm schnell den Weg.
»Mann, lasst doch mit Euch sprechen! Ich will ja gar nicht wissen, weshalb es Euch aus dem Norden forttreibt, dass Ihr nicht wieder dorthin zurück wollt...«
»Erfahrt Ihr auch nicht.«
»Wisst Ihr, wo wir diese Nacht gelagert haben?«
»Ja.«
»Könnt Ihr Euch dorthin zurückfinden?«
»Warum nicht? Das ist keine dreihundert Schritte von hier.«
Ich blickte mich um, der Fremde streckte auch den Arm aus, um die Richtung zu bezeichnen, aber ich gestehe, dass ich nicht glaubte, die Stelle wiederzufinden, wo wir auf Tischkoffs Rückkunft warten sollten. Dreihundert Schritte haben in solch einem verschneiten Walde doch schon etwas zu bedeuten.
»So bringt uns wenigstens dorthin.«
»Das kann geschehen, den Gefallen will ich Euch tun.«
Ohne Weiteres schritt mein Doppelgänger voran, ohne sich um die zu Boden geworfene Platte Tabak zu kümmern, die ich selbst aufheben musste, da sich auch Karlemann nicht bücken wollte.
Wir hatten nach einem kurzen Marsche einen dichteren Bestand von Bäumen umschritten, als sich mir ein überraschender Anblick bot.
Auf einer Waldblöße flackerte ein helles Feuer, und der Mann, der daran saß, mit einem Bratspieß beschäftigt, war kein anderer als Tischkoff.
»Hallo!!«
Er wendete kaum den Kopf, drehte den Bratspieß weiter, und der Klumpen, der an diesem hing, war in diesem Augenblick auch für mich die Hauptsache.
Zunächst aber blieb unser Führer stehen.
»Ist das Euer Begleiter, der Euch verlassen hat?«
»Er ist es.«
»Dann hat er sein Wort gehalten, er sitzt auf derselben Stelle, wo Ihr heute Nacht gelagert habt.«
Ich hätte die Gegend gar nicht wiedererkannt. Sie sah bei Tagesbeleuchtung so ganz anders aus. Oder hier, zwischen den gleichförmigen Baumstämmen war überhaupt kein Unterschied zu machen.
»Wollt Ihr mir nun ein halbes Pfund Kautabak abgeben?«
»Ihr sollt es haben. Aber wollt Ihr nicht mit ans Feuer gehen und unser Gast sein?«
»Nein, ich muss weiter, und das schleunigst. Geld kann ich Euch aber nicht geben.«
Ich hatte schon meinen Rucksack geöffnet und fügte zu der angebissenen Platte noch vier weitere, was zusammen ein halbes Pfund ausmachte.
»Dank Euch. Dann nehmt dies hier, vielleicht habt Ihr Spaß daran, oder könnt es sonst einmal zu Gelde machen.«
Mit diesen Worten hatte der Fremde unter seinem Wamse ein kurzes, goldenes Kettchen hervorgezogen, an dem sechs kleine Herzen hingen, ebenfalls aus Gold. Er hielt mir den Schmuck hin.
»Was soll ich denn damit?!«, rief ich erstaunt.
»Wie gesagt, macht es einmal zu Gelde.«
»O nein, das behaltet nur...«
»Ich nehme nichts geschenkt an, und ich bin froh, wenn ich das Ding los bin.«
»Ja, was ist denn das aber?«
»Eine sehr unangenehme Erinnerung für mich. Gehabt Euch wohl.«
Dabei hatte er das wie ein Armband geschlossene Kettchen über den Lauf meines Gewehres gleiten lassen, hatte sich sofort gewandt und ging mit langen Schritten durch den Schnee davon.
Was sollte ich tun? Jetzt konnte ich ihm nicht mehr nachlaufen. Ich ließ ihn gehen, steckte den Schmuck ein, dachte lange Zeit gar nicht mehr daran.
So hatte ich nicht einmal den Namen meines Doppelgängers erfahren, welchem selbst aber unsere große Ähnlichkeit wohl gar nicht aufgefallen war, eben weil ich meinen Bart verändert und schwarz gefärbt hatte, und dieser Mann hatte wohl selten seine Züge im Spiegel studiert.
Es war eigentlich kein Abenteuer gewesen, das ich mit diesem meinen Doppelgänger erlebt hatte. Was für eine böse Suppe er mir aber später noch einbrockte, allerdings ohne seine böse Absicht, wird der Leser erfahren.
Jetzt eilten wir an das Feuer. »Tischkoff, Sie wieder hier?!«
»Schon seit zwei Stunden.«
»Was für einen Erfolg haben Sie gehabt?«
Gar keinen. Tischkoff erzählte. Es hatte uns tatsächlich ein Mann umschlichen, der gleich uns den PacificZug verlassen. Erst gegen Tagesanbruch hatte Tischkoff ihn in Sicht bekommen.
»Als er sah, dass ich ihn verfolgte, band er sich Schneeschuhe an die Füße, und da war er für mich nicht mehr zu erreichen, er flog wie ein Hirsch auf festem Boden davon.«
Fand ich hierbei etwas Unverständliches, so staunte ich noch mehr, als Tischkoff neben sich griff und mir eine ganze Menge... Lawntennisschläger zeigte, hätte ich beinahe gesagt.
Es waren aber keine Lawntennisschläger, sondern indianische Schneeschuhe, wie ich sie sowohl aus meiner Kinderzeit aus Abbildungen wie später aus ethnografischen Museen kannte.
Da heutzutage wohl das Aussehen eines Lawntennisschlägers allgemein bekannt sein dürfte, so ist hiermit auch die Form des indianischen Schneeschuhes beschrieben. Oder nicht? Dann ist so ein Ding allerdings schwer zu beschreiben. Vorn ein Halbkreis, etwa die Hälfte eines kleinen Fassreifens — einer von Mutters Gurkenfässchen — dieser halbe Bogen geht nach hinten spitz zu, und nun ist das ganze mit einem Flechtwerk aus irgendeinem Stoffe durchzogen, bei den besten Lawntennisschlägern aus Saiten, Schafsdärmen, bei denen für fünf Groschen aus Bindfaden. Nur ist der indianische Schneeschuh bedeutend größer und vor allen Dingen viel länger. Mit dem skandinavischen Schneeschuh, dem Ski, hat er aber gar keine Ähnlichkeit.
»Woher haben Sie denn diese Schneeschuhe?«
»Die habe ich mir erst unterwegs gemacht, auch gleich welche für Sie, nur leider zu spät.«
Ich begriff noch nicht recht.
»Ja, warum hat der Fremde nicht gleich seine Schneeschuhe benutzt? Warum ist er erst so lange mühsam durch den Schnee gewatet?«
»Weil auch er sich seine Schneeschuhe erst unterwegs fertigte.«
So erfuhr ich jetzt etwas ganz Neues. Ich, der ich mich früher stark für Indianerleben interessiert, hatte geglaubt, die Schneeschuhe gehörten zum Inventar des Wigwams eines nördlichen Indianers, im Winter würden sie hervorgeholt.
Das ist aber nicht der Fall. Sie werden stets erst bei Bedarf gefertigt. Solch eine Rothaut geht sogar in der Annahme, dass er Schneeschuhe brauchen wird, ohne diese auf die Jagd, fertigt sie aber erst, wenn der günstige Schneefall eintritt. Er wählt Zweige aus, am liebsten Birke oder Weide, oder aber Nadelholz, biegt sie, flicht Bast hinein — eins zwei drei, ist ein solider Schneeschuh fertig.
Na, nicht gerade eins zwei drei — aber länger als eine Viertelstunde braucht er nicht, um solch ein Paar Schneeschuhe herzustellen, auf denen er tagelang über den Schnee rast, an Steine und Baumwurzeln stößt, ohne dass diese leichten Schneeschuhe aus dem Leime gehen.
Das muss man gesehen haben, nämlich diese Geschicklichkeit der nordischen Rothäute bei Herstellung solcher Schneeschuhe, um es glauben zu können. Denn wenn man so ein Ding betrachtet, glaubt man, ein geschickter Arbeiter müsse mindestens ein paar Tage mit all seinem Handwerkszeug daran gearbeitet haben. Und so ein Indianer fertigt sie im Dauerlauf, nur mit Hilfe von Fingern, Messer und Zähnen, da biegt er und knüpft er und flicht er, innerhalb einer Viertelstunde sind alle beide fertig, er bindet sie an seine Füße, auch wieder in einer Weise, dass die leichten Dinger fester sitzen, als unsere modernsten Schlittschuhe durch den kompliziertesten Mechanismus und Riemenschnallen, und haben sie ihren Zweck erfüllt, so wirft er sie wieder weg.
Das ist so ein Merkmal, an welchem man in der Ausstellung einen echten Indianer, einen echten roten Jäger der Wildnis erkennt. Er soll nur einmal Schneeschuhe machen.
Ebenso ist es auch mit dem Pfeil, der noch heute für den modernsten Sohn des großen Geistes bei der Büffeljagd unerlässlich ist. Einen Büffel mit dem Feuergewehr zu jagen, würde für einen Indianer dasselbe sein, als wenn ein weidgerechter Jäger auf ein edles Wild mit Sprenggeschossen schießen wollte. Das ist Tradition, hängt sogar mit Religion zusammen.
Nun, auch wir Kinder haben uns Pfeil und Bogen gemacht, und wir wollten auch eiserne Spitzen haben, dass der Pfeil in der hölzernen Scheibe wirklich stecken blieb. Aber mit welcher Sorgfalt wir auch den Nagel oder die abgebrochene Klinge des Federmessers vorn in dem Schlitze des Schaftes befestigten, wie wir ihn auch mit Draht umwickelten — schon nach dem ersten Schusse hatte das Ganze doch seinen Halt verloren, und ein geschickter Schlossergeselle, der uns behilflich sein wollte, konnte das ebenfalls nicht ändern, was für Kniffe er auch anwendete, um Spitze und Schaft fest miteinander zu verbinden.
Wie macht es nun der Indianer, dass er seinen Pfeil immer wieder verwenden kann, weil dieser nicht im Geringsten gelitten hat, auch wenn er auf einen steinharten Büffelknochen stößt, wenn er so tief in einen Baumstamm gedrungen ist, dass man ihn nur unter Anwendung aller Kraft wieder herausreißen kann?
Ja freilich, wenn man solch einen indianischen Pfeil auch betrachtet, wie der angefertigt ist, wie da die Verbindungsstelle mit dünnen Sehnen umwunden ist!
Wie lange Zeit gebraucht ein Indianer zur Herstellung solch eines unverwüstlichen Pfeiles? Man denkt an einige Tage.
Mitnichten, er stellt solch einen Pfeil in wenigen Minuten her. Der berühmte Alexander von Humboldt hat hierüber Versuche angestellt, mit der Uhr in der Hand, allerdings bei südamerikanischen Indianern, aber dasselbe gilt doch auch für die nordamerikanischen, überhaupt für alle unzivilisierten Jägervölker der Erde, die noch Pfeil und Bogen gebrauchen, und er hat einen Indianer beobachtet, der solch einen gediegenen Pfeil aus einem Baumzweig mit Federn und Stahlspitze mittels Sehnen in noch nicht ganz drei Minuten zusammenbaute, und welcher Indianer dazu länger als zehn Minuten braucht, der ist überhaupt ein Stümper, der sein Kriegerexamen nicht bestanden hat.
Das ist auch so ein Merkmal, an dem man einen echten Indianer, der noch von der Jagd lebt, erkennen kann. Wenn man so eine Ausstellung besucht, soll man nur dem indianischen Schauobjekt die Materialien zur Anfertigung eines Pfeiles geben, und wie lange er dazu braucht, das ist der Prüfstein für seine Echtheit.
Ich glaube, es ist wert gewesen, dass ich mich hierbei so lange aufgehalten habe. In Jugendschriften bekommt man so etwas jedenfalls nicht zu lesen. —
»Ich selbst«, fuhr Tischkoff fort, »hatte leider zu spät daran gedacht, mir Schneeschuhe zu fertigen. Diese hier habe ich auf dem Rückweg gemacht, und auf meinem Paare habe ich einen Hirsch ereilt, von dem ich diese Keule mitgebracht habe.«
Das war für uns beide auch die Hauptsache. Das Fleisch war schon gar, mit Heißhunger machten wir uns darüber her. Deshalb konnte die Unterhaltung ja fortgesetzt werden.
»Was für ein Mann mag das nun gewesen sein?«
»Einer, der uns schon in San Francisco erwartet hat, der mit uns gefahren ist und nun vorauseilt, um unsere baldige Ankunft am Pitsee zu melden.«
Ich wunderte mich nicht ob dieser Erklärung, ich hatte ganz Ähnliches gedacht.
War es nicht schon auffallend, dass nur Mister Fairfax, Blodwen und das Kind entführt worden waren? Konnte der ganze Anschlag nicht von einem ›Blassgesicht‹ ausgehen, welcher die Lady von Leytenstone in New York beobachtet hatte, dem hier solch ein Plan gekommen war, um mich, auf dessen Ergreifung vierhunderttausend Pfund standen, ins Innere Amerikas zu locken, um mich mit Hilfe von Indianern leicht überwältigen zu können?
Mögen diese Andeutungen genügen dafür, worüber wir uns des Längeren unterhielten. Wir alle waren der selben Ansicht.
Wegen des Fremden, der uns bis hierher begleitet hatte, stellte Tischkoff nur eine kurze Frage und begnügte sich mit meiner ebenso kurzen Erklärung.
»Was dachten Sie denn, als Sie uns nicht mehr hier fanden?«, fragte ich.
»Ich hatte doch gesagt, dass ich hierher zurückkehren würden, da würden auch Sie schon wieder hierher kommen«, entgegnete er einfach.
»Ja, wie wollen wir nun eigentlich die Befreiung der drei in Szene setzen?«, fragte ich nach einer Weile weiter.
Wir hatten hierüber während der langen Reise tatsächlich noch kein einziges Wort verloren.
Was mich anbetrifft, so mag diese Gleichgültigkeit mit meinem ganzen Charakter zusammenhängen. Ich selbst stellte mir die ganze Sache eben äußerst einfach vor. Ich fürchtete mich doch nicht etwa vor solch einer Bande Rothäute. Wir gingen einfach hin — »heraus mit den Gefangenen!!«, — und wollte man uns Widerstand entgegensetzen, so gab's einfach Backpfeifen.
Faktisch, so hatte ich mir die ganze Sache vorgestellt, rechnete noch nicht einmal mit blauen Bohnen und kaltem Eisen — ich hatte überhaupt der Zukunft noch gar keine Beachtung geschenkt. Das war eben so meine sorglose Natur; der große Überschuss von Kraft, den ich damals in meinem zwei Meter langen Leichnam fühlte, ließ gar keinen sorgenvollen Gedanken aufkommen.
Jetzt aber dachte ich doch einmal daran. Und da sollte ich erkennen, dass meine beiden Gefährten, der alte wie der junge, ganz genau solche Charaktere waren.
»Nu«, sagte Karlemann mit kauendem Munde, »wir gehen eben hin und holen die drei wieder ab, und wenn die Indianer noch etwas von uns wollen, dann ziehen wir ihnen eben die Haut über die Ohren. Darauf freue ich mich ja gerade.«
»Ja«, nahm jetzt auch Tischkoff das Wort, »zunächst lassen wir uns gefangen nehmen.«
»Was? Gefangen nehmen?«, fuhren Karlemann und ich gleichzeitig empor.
»Jawohl!«, entgegnete Tischkoff mit unerschütterlicher Miene. »Natürlich nur pro forma. Wir müssen doch erst einmal wissen, was die eigentlich wollen, von wem das alles ausgeht. Und das erfahren wir doch am besten als Gefangene, da geben sie sich uns offen zu erkennen. Natürlich bleiben wir nur so lange Gefangene, wie uns beliebt. Dann schütteln wir die eventuellen Fesseln ab, dann drehen wir den Spieß herum, dann wollen wir diesen roten Leutchen einmal zeigen, was solche Seezigeuner zu bedeuten haben, die sich von Kindheit an alle Winde der Erde um die Nase haben pfeifen lassen. O, wir wollen denen etwas vormachen, dass ihnen die Augen übergehen.«
Tischkoff sprach ganz aus meinem Herzen und sicher auch aus Karlemanns. Aber inwiefern, das kann ich hier nicht näher definieren. Es war einfach ein überlegenes Kraftbewusstsein, welches uns verbot, hierüber noch mehr Worte zu verlieren. Ein Kriegsplan brauchte erst gefasst zu werden, wenn es so weit war, wahrscheinlich aber war überhaupt keiner nötig.
Es war Mittag, als Tischkoff uns Sachunkundigen die Schneeschuhe an die Füße band. Das Schneeschuhlaufen will gelernt sein, obgleich der indianische Ski nicht mit dem langen, schmalen des Skandinaviers zu vergleichen ist. Dieser ist mehr ein Schneeschlittschuh, man will auf ihm möglichst schnell über den Schnee hinweggleiten, jener soll nur durch das breite Flechtwerk das Einsinken in den weichen Schnee verhindern, und will man schneller vorwärts kommen, so muss man eben rennen. Einiges Schusseln kommt ja dann auch noch hinzu.
Immerhin, es will gelernt sein, man muss sich daran erst gewöhnen. Nun, nach einer halben Stunde schon war dies geschehen.
Es ging in nordöstlicher Richtung davon. Die Gegend wurde hügeliger, immer noch dicht mit Kiefern und Fichten bestanden, dann aber hörten diese auf, fingen erst in einiger Entfernung wieder an, dazwischen zog sich ein sehr breiter Schneestreifen hin, im Gegensatz zur Umgebung völlig eben.
»Wissen Sie, was das ist?«, fragte Tischkoff.
»Offenbar ein zugefrorener Fluss, ein Strom.«
»Ja, der Colorado. Wir werden ihn als Weg benutzen.«
Und so taten wir, zwei Tage lang. Es war ein höchst bequemer Marsch. Auch an Wild war kein Mangel mehr, Tischkoff verstand die Jägerei ganz anders als wir. Sonst will ich hierüber nichts weiter erwähnen.
Es war am Morgen des dritten Tages. Wir mussten uns nach Tischkoffs Versicherung in der dichten Nähe des Pitsees befinden. Bisher hatten wir noch nicht eine einzige menschliche Spur gefunden.
Wir hatten den Flusslauf verlassen, um die ganz frische Fährte eines Hirsches zu verfolgen, der bei jedem Schritte bis zum Leibe in den Schnee eingebrochen war.
Solche Fährten waren sehr häufig, aber nicht jede durfte in der Absicht oder in der Hoffnung verfolgt werden, das betreffende Wild noch einholen zu können. Denn es hatte inzwischen nicht wieder geschneit, und wer wusste denn, wann diese Fährte entstanden war, wie weit sich das Wild unterdessen entfernt hatte?
Ja, einer wusste es: Tischkoff. Er erwies sich immer mehr als der erfahrenste Jäger. Mein Kommodore konnte eben sagen: Diese Fährte ist alt, diese ist ganz frisch. Er machte nur klar, wodurch er das unterscheiden konnte, aber ich verstand seine Erklärungen nicht. Hierin schien Karlemann ein intelligenterer Schüler zu sein als ich.
So schnell wir konnten, eilten wir über den Schnee dahin, den tiefen Löchern nach, welche die gespaltenen Hufe zurückgelassen hatten. Mit Instinkt hatte das Tier, nach Tischkoffs Versicherung ein großer Hirsch, immer die am wenigsten tiefen Stellen zu wählen gewusst, hatte aber doch nicht vermeiden können, oft bis zum Rücken im Schnee zu versinken, hatte dann stets böse würgen müssen.
Jetzt kamen wir wieder an Stellen, wo die Hufe nur wenige Zoll eingebrochen waren, und der Schnee schien zwischen diesen Hügeln merkwürdigerweise überall nur ganz flach zu sein, und dann mussten wir uns auf eine lange Verfolgung gefasst machen, wenn wir sie lieber nicht gleich ganz aufgaben.
Da, als wir so nebeneinander über die Schneedecke eilen, kommt plötzlich hinter einem Hügel eine in Pelze gehüllte Gestalt hervor, ebenfalls auf Schneeschuhen, ein Beil in der Hand, einen Tomahawk, und wie mir noch zur Besinnung kommt, dass dieses dunkle Gesicht doch sicher einem Indianer angehören muss, der uns hier mit seinem Fleischerbeil angreifen will, und wie ich so noch überlege, wie ich den Kerl empfangen will, da saust er schon wie ein Phantom an mir vorüber — und im nächsten Moment pralle ich, der ich sowieso schon ganz kopfscheu geworden, mit einem haarigen, zottigen Etwas zusammen, das gleichfalls hinter dem steilen Hügel hervorgekommen war.
Ich komme bei dem hahnebüchenen Zusammenstoß nicht zu Falle, bin aber doch ein Stück zurückgeschleudert worden — und da steht unter einem donnerähnlichen Gebrüll das zottige Etwas aufgerichtet vor mir, ich sehe zwei haarige Arme, die mich umschlingen wollen, sehe ein weitaufgesperrtes Maul mit furchtbaren Zähnen...
»Ein Grizzly, ein Grizzlybär!!«, höre ich da Tischkoff schreien.
Ja, dass ich mit einem grauen Bären ein Renkontre gehabt, hatte ich mir nun auch schon gedacht, vorläufig aber hielt ich mich nicht mit zoologischen Studien auf.
»Was? Du Himmelhund willst mich beißen?!«
Und da ich gerade meine rechte Hand frei hatte, gab ich dem Vieh eins an den Kopf, dass es gleich die Balance auf seinen dicken Beinen verlor und sich im Schnee herumkollerte.
Doch im nächsten Moment war der Bär wieder auf den Füßen, abermals aufrecht stehend, und jetzt kam ich zu spät, er hatte mich schon zwischen seinen Armen — freilich nicht lange, da hatte ich ihn hinten beim kurzen Schwanzstummel angesackt, so gewissermaßen beim Hosenbunde — und ehe er mich beißen konnte, wirbelte er schon durch die Luft und schmetterte zu Boden, dass da keine weiche Schneeschicht etwas half, ich hörte alle Knochen knacken — aber da war er schon wieder auf den Beinen, wieder an mir in die Höhe — nun hatte ich aber diese Spielerei satt, nun verabreichte ich ihm erst eins von unten, dass der Rachen, wie von einer Mechanik getrieben, zuklappte, und dann hing der zerschmetterte Unterkiefer herunter — aber ehe ich mir das richtig besehen konnte, gab ich ihm erst noch mit der Faust eins auf den Oberschädel, und dann folgte ein Tritt in den Bauch nach, wobei ich konstatierte, dass ich keinen Schneeschuh mehr am Stiefel hatte — und da sagte der Grizzlybär noch einmal höööhhh, legte sich in den Schnee und blieb so liegen, ohne sich noch zu rühren.
»Wah!!!«, erklang es da.
Ich blickte mich verwundert um. Wie lange die ganze Geschichte gedauert hatte, weiß ich nicht, Lange jedenfalls nicht, und da sehe ich mich mit einem Male von lauter Indianern umringt, alle auf Schneeschuhen, mit Gewehr und Tomahawk und hauptsächlich auch mit langen Lanzen bewaffnet, und sie alle blicken auf mich und blicken auf den Bären, der keinen Mucks mehr sagt, und Tischkoff steht da mit über der Brust verschränkten Armen, und Karlemann bricht plötzlich in ein krampfhaftes Gelächter aus.
Außerdem steht noch am nächsten Baumstamm ein Indianer, den Tomahawk wie zum Wurfe erhoben, keuchend, und ich will gleich erwähnen, dass es derselbe war, der von dem Grizzlybär verfolgt worden. Er hatte ein viel dunkleres Gesicht als seine Kollegen, eine fast schwarze Haut.
»Wah!«, erklingt es da noch einmal, erst von einem hervorgestoßen, und »wah!!!«, schreien alle anderen nach.
»Ja, wah«, wiederholte Karlemann, sich die Augen trocknend, denn er hatte vor Lachen Tränen geweint. »Käpten, das haben Sie fein gemacht, das war sogar noch besser als damals bei den Gorillas.«
»Howgh!«, fängt jetzt der eine Indianer zu bellen an.
»Howgh hau hau!!!«, bellen alle anderen nach.
Na, von Hunden, welche viel bellen, hat man bekanntlich nichts zu fürchten. Ich ging erst einmal hin zu dem Bären, um ihm an den Puls zu fühlen.
Nein, der schlug nicht mehr. Mit dem ganzen Bären war es vorbei. Ich hatte ihm die Schädeldecke vollständig eingetrieben, und das hält auch kein Grizzlybär aus, der es sonst mit einigen Gewehrkugeln und Lanzenstichen nicht so genau nimmt.
Und jetzt erst merkte ich, was für ein respektabler Bursche das war! Wir schätzten ihn dann später auf mindestens acht Zentner, und aufrecht stehend überragte er mich noch ein klein wenig.
Auch Tischkoff war hinzugetreten, ebenso die Indianer, rund ein Dutzend.
Sie betasteten den Kopf des Bären, der plötzlich ganz weich geworden war, wenigstens wackelte unter dem Schädelfell alles, wie auch der Unterkiefer nur noch aus Knochensplittern bestand, und dann lenkten sie wieder ihre Augen respektvoll auf mich.
Endlich, nachdem er mich lange genug so angestarrt hatte, richtete der schwarzhäutige Indianer das Wort an mich.
»Der Bärenschmetterer ist ein starker Mann, der schwarze Fuchs möchte sein Freund sein«, sagte er mit tiefen Gutturaltönen in gebrochenem Englisch.
Aha, der schwarze Fuchs! Also die wollten mich fangen? Na, da konnte der Tanz ja gleich noch einmal beginnen. Und das wollte ich ihm auch gleich sagen.
»Du bist der schwarze Fuchs?«
»Howgh.«
»Nicht wahr, du hast vor drei Wochen den PacificZug überfallen?«
Nicht nur auf diesem schwarzen, auch auf allen kupferroten Gesichtern machte sich eine Verlegenheit bemerkbar, so sehr man auch versuchte, diese zu unterdrücken.
»Howgh!«, wurde dann zögernd meine Frage bejaht.
»Hast du einen Mann, eine Frau und ein Kind zu Gefangenen gemacht?«
»Howgh«, musste noch zögernder zugegeben werden.
»Es ist mein Freund, mein Weib und mein Kind, und ich komme, um sie wieder abzuholen.«
»Sie sind meine Gäste gewesen, und der schwarze Fuchs freut sich, sie dem Bärenschmetterer wieder zuführen zu können.«
Aha, auch dieser schwarze Fuchs wusste etwas von Trauben, welche sauer sind, weil sie ihm zu hoch hängen.
Die anderen Indianer begannen unterdessen den Bären zu zerwirken, und ich machte sie nicht darauf aufmerksam, dass sie dazu eigentlich erst meine Erlaubnis einzuholen hätten, ich behielt mir den Häuptling vor.
»In wessen Auftrag hast du eigentlich den Zug überfallen und die Gefangenen fortgeführt?«
»Das gelbe Wiesel ist ein Lügner, es wird die Hand des schwarzen Fuchses zu fühlen bekommen«, stieß jetzt der Häuptling grimmig hervor, dabei als Zeichen seiner Verachtung ausspuckend.
»Wer ist dieses gelbe Wiesel?«
»Halt«, mischte sich da Tischkoff ein. »Herr Kapitän, Sie verstehen diesen Häuptling nicht richtig zu behandeln, lassen Sie mich einmal mit ihm sprechen.«
Und zu meiner Verwunderung begann Tischkoff eine Sprache zu reden, die ich nicht verstand, da der Häuptling aber so schnell antworten konnte, musste es wohl seine eigene sein.
Wohl eine Viertelstunde unterhielten sich die beiden, während die anderen immer fleißig an dem Bären herumfleischerten, auch schon ein großes Feuer anzündeten. Es sollte also sofort versucht werden, möglichst viel von dem delikaten Bären im Magen verschwinden zu lassen.
Die Unterhaltung der beiden schien beendet zu sein, der schwarze Fuchs hatte würdevoll am Feuer, über dem bereits ein Rückenstück schmorte, Platz genommen, mich durch eine würdevolle Handbewegung auffordernd, ein Gleiches zu tun.
»Die Sache ist folgende«, wandte sich jetzt Tischkoff an mich, und ich schicke voraus, dass die Rothäute während seiner Erzählung oftmals ein zustimmendes Howgh bellten. »Vor etwa zwei Monaten sind in das Lager dieser Sioux drei Männer gekommen, welche den Häuptling überredeten, er solle mit seinen Kriegern einen PacificZug, der in einigen Tagen kommen würde, überfallen. Aber alles Blutvergießen solle vermieden werden. Es handele sich einzig und allein um die Gefangennahme zweier Personen, die auch ein Kind mit sich hatten. Diese drei sollten von den Sioux nach ihrem Lager am Pitsee gebracht und, falls eine Befreiung eingeleitet würde, vor den Verfolgern auch weiter entführt werden. Hierfür wurden den Sioux, etwa achtzig Kriegern, hundert Gewehre mit genügender Munition und andere Geschenke versprochen.
»Aber dieses war erst das eine. Nun kommen Sie selbst in Betracht. Der Wortführer jener drei Intriganten rechnete ganz bestimmt darauf, dass Sie selbst hierher kommen würden, um die Lady und das Kind zu befreien. Und als zweites sollten nun Sie gefangen werden, das heißt, in die Gewalt jener drei kommen, wofür die Sioux dann hundert Pferde erhielten.
»Gut, der schwarze Fuchs ging auf alles ein. Das eine Blassgesicht verließ den Stamm wieder, begab sich zur nächsten Station, fuhr jedenfalls nach New York zurück, um der Lady Abfahrt abzuwarten. Oder wie das sonst arrangiert worden ist, das freilich vermag mir dieser Indianer nicht anzugeben. Aber wie Mister Fairfax die beiden Möwen hat fliegen lassen, davon weiß er mir zu berichten.
»Kurz und gut, die Spitzbuben wussten, in welchem Zuge sich die drei befanden, dieser wurde zur Entgleisung gebracht. Der Putsch gelang. Gestern ist nun ein viertes Blassgesicht in dem Indianerlager angekommen, um unsere oder hauptsächlich Ihre Ankunft zu melden, und diese Bande hier war schon bereit, uns in Empfang zu nehmen. Da wurden die Indianer von einem Grizzlybären überrascht, der hat die ganze Situation geändert. Mehr brauche ich wohl nicht zu sagen.«
»Und wer sind nun die drei, welche es auf uns und hauptsächlich auf mich abgesehen haben?«, fragte ich.
»Das kann ich leider nicht erfahren. Die Blassgesichter scheinen sich zu hüten, sich mit ihren Namen anzureden, und die Indianer haben ihnen nach ihrer Sitte gleich neue Namen gegeben. Die Hauptperson ist das gelbe Wiesel, nach seiner gelben Hautfarbe und nach seiner Zierlichkeit so genannt, mag vielleicht auch etwas Schleichendes an sich haben. Der zweite heißt wegen seines langen Halses Langhals, und der dritte hat einen Namen bekommen, der sich nicht anders übersetzen lässt als mit Großmaul.«
»Und der vierte?«, lachte ich. »Der heute erst angekommen ist?«
»Der hat noch keinen Namen bekommen, der ist noch zu neu.«
»Ja, wer mögen diese drei Personen wohl sein?«
»Irgendwelche Menschen, die sich eben durch diesen Putsch ein schönes Stück Geld verdienen wollen. Lady Blodwen ist in New York gesehen worden, die ganze Geschichte ist doch auch sonst bekannt genug — well, da ist in deren Hirnen eben dieser geniale Plan entstanden.«
Ja, die Sache war einfach genug. Trotzdem rieb ich mir die Stirn.
»Da fällt mir etwas ein.«
»Nun?«
»Wie wäre es denn, wenn... oder da muss ich erst fragen, wie wir uns jetzt zu diesen Indianern stehen?«
»Wie gesagt, dieser Bär hat die ganze Situation geändert. Zu unseren Gunsten. Oder vielmehr Sie haben alles herumgedreht.«
»Sie meinen, diese Sioux werden nicht mehr feindlich gegen uns vorgehen?«
»Herr Kapitän, wissen Sie, was das bedeutet, einen grauen Bären getötet zu haben?«
O ja, ich wusste schon etwas davon, aus Büchern, und nicht nur aus erfundenen Jugenderzählungen.
Der graue Bär ist das furchtbarste Raubtier Amerikas, wenn nicht der ganzen Welt, denn nicht umsonst hatte Lord Seymour darauf gewettet, dass die grauen Bären auf der Osterinsel unter allen anderen Raubtieren aufräumen würden, auch unter den Tigern und Löwen.
Kurz und gut, wer einen Grizzlybären erlegt hat, ist in ganz Amerika der Held, und ich...
»Und Sie haben dem Ungeheuer den Kopf nur mit der Faust zertrümmert«, fuhr Tischkoff fort, »Sie sind jetzt für diese Indianer ein unantastbarer Heiliger, der nur zu befehlen braucht.«
»Wie wäre es denn da«, nahm ich meine vorhin unterbrochene Rede wieder auf, »wenn ich den Indianern befehle, uns dennoch als Gefangene zu behandeln? Da könnten wir doch erst jene drei Männer...«
»Ist alles bereits besorgt«, fiel mir Tischkoff ins Wort.
»Was besorgt?«
»Nun eben, wie Sie sagen. Dieselbe Idee habe ich bereits gehabt, mich mit dem schwarzen Fuchs darüber verständigt.«
»Wir werden scheinbar als Gefangene behandelt?«
»Jawohl. Wir wollen uns nur noch an diesem Bärenrippenstück delektieren, dann werden wir gebunden in Triumph nach dem Lager gebracht, und wenn Sie wünschen, können Sie auch einen Knebel in den Mund bekommen.«
»Danke sehr. Ist diesen Sioux dabei aber auch zu trauen?«
»Dass diese Gefangenschaft nicht nur eine scheinbare ist? Ich versichere Ihnen nochmals, dass Sie von jetzt an...«
»Nein, das meine ich nicht, das glaube ich schon. Aber ob diese Rothäute auch ihre Rolle gut spielen werden?«
»O, was das anbetrifft — in solcher Verstellungskunst nimmt es so eine Rothaut auch mit dem gewieftesten Yankee auf.«
»Dann ist das ja famos!«, rief ich erfreut. »Aber wenn nun einer der drei Blassgesichter hierher kommt und uns beim fröhlichen Schmause als Freunde der Indianer findet?«
»Sehen Sie nicht, dass bereits Wachen vorgeschoben sind? Außerdem befinden wir uns noch gute zwei Stunden von dem Lager entfernt.«
In der Tat, ich hatte schon vorhin bemerkt, dass sich drei der Sioux entfernt hatten.
»Sollte sich einer von jenen nähern, so werden wir rechtzeitig benachrichtigt, und er wird uns gebunden finden.«
Ich hatte nichts mehr zu sagen, ich machte mich über die Bärenrippen her, die unterdessen gar geworden, und fand das Köstlichste was ich je gegessen, und die Rothäute suchten mir auch noch immer die saftigsten Stücke aus, welche sie mir respektvoll auf der Spitze ihrer Skalpiermesser präsentierten.
»Wissen Sie, dass Sie mir mit Ihrer Hauerei den Spaß gründlich verdorben haben?«, fragte Karlemann einmal mit fetttriefendem Munde. »Was fällt Ihnen denn ein, dem Bären so mir nichts dir nichts den Schädel einzuschlagen?«
»Was für einen Spaß habe ich Ihnen denn verdorben?«
»Nun, ich hatte eben den Respekt dieser roten Schufte, wenn sie uns gefangen hatten, auf eine ganz andere Weise erwerben wollen.«
»Auf welche Weise?«
»Nun ist's zu spät, nun brauche ich's auch gar nicht mehr zu sagen. Oder meinetwegen — sollte dieser Stamm nicht auch so einen Hexenmeister haben, so einen Medizinmann?«
»Da müssen Sie Mister Tischkoff fragen, der weiß das besser als ich.«
»Nun, Mister Tischkoff?«
Mein Kommodore schien wie betroffen zu sein, er vergaß, den Bissen zum Munde zu führen, hielt mitten in der Bewegung inne.
»Wie kommen Sie auf diese Frage?«
»Na, was ist denn bei dieser Frage dabei? Ob wohl auch dieser Indianerstamm seinen Medizinmann hat?«
»Ganz sicher. Ohne einen solchen ist ein Indianerlager undenkbar.
»Na, sehen Sie — diesem Zaubermeister wollte ich etwas vormachen, dass ihm seine Skalplocke zu Berge stand, und allen anderen Indianern auch.«
Tischkoff begann plötzlich ganz eigentümlich zu lächeln.
»Na, was haben Sie denn da zu feixen?!«, schnauzte ihn Karlemann, der nicht einmal vor einem Großmogul mit dem Elefantenorden Respekt gehabt hätte, in seiner Weise an, die man aber niemals übel nehmen konnte.
»Weil auch ich beabsichtigt hatte, mit dem Medizinmanne meine Experimente zu machen.«
»Was für Experimente?«
»Das möchte ich vorläufig mein Geheimnis bleiben lassen.«
»Dann erfahren Sie auch von mir nichts. Oder haben Sie etwas in der Tasche?«
»Ja«, lächelte Tischkoff.
»Ich auch.«
Diese Zwischenunterhaltung, welche auf Deutsch geführt worden, war beendet.
So hatte also jeder der beiden sein Geheimnis, seinen Plan, wie er den Rothäuten hatte mächtig imponieren wollen, um gleich wieder die Freiheit zu gewinnen und dann als Gebieter auftreten zu können.
Nur schade, meine Kraftleistung hatte alle diese schönen Pläne vernichtet.
Nun, ich sollte später doch noch erfahren, was die beiden vorgehabt hatten, sie konnten es schließlich noch anwenden.
Die Mahlzeit war beendet, obgleich wir noch einen langen Weg vor uns hatten, beschlossen wir, schon jetzt die Rolle als Gefangene zu spielen.
So wurden uns die Waffen abgenommen, uns selbst die Hände auf dem Rücken mit Riemen gebunden, ganz sachgemäß. Ich hätte meine liebe Not gehabt, diese Lederriemen zu sprengen.
Nur in Karlemanns Kopf stieg noch einmal ein Zweifel auf.
»Und wenn die Kerls nun doch wirklich Ernst machen und uns...«
Ein warnendes Zischen Tischkoffs ließ ihn verstummen.
»Vorsicht, lassen Sie diesen Verdacht nicht dem Häuptling hören, er enthält für ihn wie für jeden anderen dieser Krieger eine furchtbare Beleidigung. Übrigens können Sie ganz ohne Sorge sein...«
»O, von Sorge ist bei mir überhaupt gar keine Rede — im Gegenteil, mir wäre höchst angenehm, wenn die Sioux uns jetzt im Ernste gebunden hätten, da hätte ich noch immer Gelegenheit, ihnen zu zeigen, wie schnell ein Seezigeuner, wie ich einer bin, die Fesseln abstreifen und den Spieß herumdrehen kann. Schade, wirklich schade, dass mir dieser Schlagtot den ganzen Spaß verdorben hat!«
Ich erhielt neue Schneeschuhe, weil meine bei dem Ringkampfe in die Brüche gegangen waren, die Krieger bepackten sich mit Fell und Fleisch des ausgeweideten Bären, und die Karawane setzte sich in Bewegung.
Wir hatten unterwegs noch viel zu sprechen. Besonders war ich es, der an Tischkoff noch manche Frage zu stellen hatte, weil ich verschiedenes nicht recht glauben wollte.
Würden sich die Rothäute nicht dadurch verraten, dass sie mir solchen Respekt entgegenbrachten, auch jetzt noch unterwegs?
Und wenn sie dieses ihr Benehmen zuletzt auch noch änderten, würden sie nicht ihren Kameraden im Lager von dem ›Bärenschmetterer‹ erzählen, ohne imstande zu sein, sie auch auf die Rolle vorzubereiten, welche allgemein gespielt werden musste?
So hatte ich noch mehr Bedenken. Allein Tischkoff wusste sie alle zu zerstreuen.
»Lernen Sie diese Rothäute nur erst richtig kennen. In gewissem Sinne ist jeder Indianer ein geborener Schauspieler, nämlich dadurch, dass bei ihm als Tugend gilt, jeden Schmerz und besonders auch jede seelische Affektion zu verbergen. Und sie brauchen nicht einmal Worte, um sich zu verständigen, nur einige geheime Zeichen sind nötig, und jeder weiß, welche Rolle er zu spielen hat. Und dieser Häuptling führt gar keinen Namen, der ihn besonders auszeichnet, höchstens seine dunkle Hautfarbe wird betont. Die einzelnen Dakotastämme haben doch noch ihre besonderen Namen, und dieser hier, der damals den transportierenden Soldaten auf Nimmerwiedersehen entwischt ist, führt als Totem einen Fuchs, auf der Brust eintätowiert, und umsonst werden sie dieses Wappen wohl nicht bekommen haben.«
So sprach Tischkoff, und ich war beruhigt. Meine Ängstlichkeit beruhte ja auch nur darauf, dass die geplante Komödie missglücken könnte.
Zwei Stunden später lag vor uns eine völlig ebene, unübersehbare Schneefläche — der zugefrorene Pitsee — und am östlichen Ufer, dort, wo wir den dunklen Wald verließen, erhob sich ein umfangreiches Zeltdorf, aus buntbemalten Wigwams bestehend.
Sicher hatten wir schon vorgeschobene Wachposten passiert, aber nichts von diesen bemerkt, als wir zunächst von kläffenden Hunden begrüßt wurden. Dann kamen uns Kinder entgegen, welche noch neugierig sein durften, ebenfalls in Pelze gehüllt, starrend vor Schmutz und Fettschmiere.
So zogen wir in das Zeltdorf ein. Vor den Wigwams brannten Feuer, an denen Indianer hockten, rauchend, faulenzend, selten mit irgend etwas beschäftigt, und für mich in Indianerschmökern Belesenen war es ganz selbstverständlich, dass sie uns nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkten.
Anders die Frauen, die Squaws. Sie ließen einmal die Arme, welche diese gequälten Geschöpfe sonst nie ruhen lassen dürfen, sinken, setzten die Holzlast ab, um uns neugierig zu betrachten und untereinander Bemerkungen auszutauschen, deuteten sogar mit Fingern auf uns.
»Das sind sie, das sind sie!«, hörte ich sie sagen, wenn ich auch ihre Gutturalsprache nicht verstand.
Aber wie ganz anders wären wir von diesen Frauen empfangen worden, wenn wir als Gefangene eingebracht worden wären, die mit ihren Männern und Brüdern und Söhnen im Kampfe gelegen, etwa gar solche getötet hätten! Dann wären uns diese Weiber entgegengeeilt, hätten uns unter Schimpfworten angespien und ins Gesicht gekratzt, und die Krieger hätten ihnen zunächst nicht gewehrt, weil sie ihren Frauen doch auch einmal ein Vergnügen machen wollten.
Wir aber waren eben ganz besondere Gefangene. Zwar würde man sich nicht an unseren Schmerzen am Marterpfahl ergötzen können, es gab also in dem ewigen Einerlei kein großes Fest, dafür aber würden wir durch Lösegeld dem Stamme eine ganze Menge schöner Dinge einbringen, den Stamm mit einem Schlage zu einem reichen Volke machen.
Aus diesem unseren Empfang konnte ich schon schließen, dass auch die anderen Gefangenen hier gut behandelt wurden, und ich fand dies überhaupt so selbstverständlich, dass ich deswegen gar nicht erst gefragt hatte.
»Hallo, da sind sie!!«, erklang da der Ruf freudigsten Erstaunens.
Hinter einem Wigwam waren zwei Männer vorgetreten, zwei ganz bemerkenswerte Gestalten.
Den einen, unverkennbar ein unvermischter Europäer, so dunkel sein Gesicht und so indianisch sein Äußeres auch sonst sein mochte, kann ich nur als einen Riesen bezeichnen, und zwar als einen ungeschlachten.
Er mochte noch etwas größer sein als ich, nun aber eine ganz andere Figur! — zu dem unförmlichen Büffelschädel passten auch der Leib und die Gliedmaßen, mächtige Schultern, mit denen sich die meinen trotz deren ansehnlicher Breite noch nicht messen konnten, mit wahren Elefantenbeinen, die noch dazu in dicken Pelzhosen steckten.
Die größten, dicksten und stärksten Männer in Gesellschaft habe ich unter den englischen Brauknechten oder vielmehr Bierfahrern gefunden. Es ist nicht allein, dass diese Leute schwer zu tragen haben, sondern die Londoner Brauherren setzen eben ihren Stolz darein, nur solche ungeschlachte Riesen zum Ausfahren ihrer Bierfässer zu haben, es ist eine Art von Reklame.
Nun das hier war solch ein Londoner Bierfahrer.
Ganz das Gegenteil von diesem war der andere, offenbar ein Mestize, auch nicht gerade klein, aber vor allen Dingen mit einem abnorm langen Halse, den er ungeschützt wie eine Schildkröte aus dem Pelzpanzer herausreckte, und diesem unmenschlich langen Halse entsprachen auch die Schultern, die eigentlich gar nicht vorhanden waren, die Arme gingen gleich vom Halse ab, und auf diesem Halse saß ein ebenso länglicher Kopf.
Dass dieser merkwürdige Mensch von den Indianern den Namen ›Langhals‹ bekommen hatte, war ganz selbstverständlich.
Wer war dann der andere? Das gelbe, zierliche Wieselchen sicherlich nicht. Dann musste ich die Ehre haben, Herrn ›Großmaul‹ kennen zu lernen.
Dass dieser ungeschlachte Riese Goliath, der doch über eine unbändige Kraft verfügen musste, keinen anderen Namen bekommen hatte, der seine besonderen Eigenschaften bezeichnete, das warf ein ganz verdächtiges Licht auf ihn.
Die beiden wollten gleich auf uns zu, aber der den Zug führende Häuptling machte nur eine energische Handbewegung, und sie traten sofort zurück. Das waren also nur dem eigentlichen Menschenräuber untergebene Subjekte, das hatte ich mir gleich gedacht, war der eine doch auch ein Mestize.
Der schwarze Fuchs ging auf einen Wigwam zu, schlug die Decke zurück, wir traten ein, hinter uns noch einige rote Krieger.
Dann wandte sich der Häuptling an mich, zog sein Skalpiermesser, machte an seinem Handgelenk einige schneidende Bewegungen, setzte mir die Spitze des Messers auf die Brust, zog es zurück, schaute mich mit einem raschen Senken des Kopfes fragend an.
Ich kann diese Pantomime nicht so wiedergeben, wie sie mir vorgemacht wurde. Jedenfalls war sie außerordentlich ausdrucksvoll vorgebracht, wäre für jedes Kind verständlich gewesen.
»Nein, ich denke an keine Flucht, die Fesseln können uns ruhig zerschnitten werden.«
Dann wurde noch mit der Hand ein horizontaler Kreis beschrieben.
»Nein, wir werden auch diesen Wigwam nicht verlassen«, konnte ich wiederum sofort antworten.
Die Italiener leisten viel in der ausdrucksvollen Gebärdensprache, aber so leicht verständlich wie diesen Häuptling oder überhaupt wie diese nordischen Indianer habe ich noch niemanden mimen sehen.
Die Lederriemen wurden nicht zerschnitten, sondern aufgeknüpft, wir drei waren allein in dem Zelt.
Worüber wir, diese Gelegenheit des Alleinseins benutzend, uns flüsternd unterhielten, ist nicht von Belang. Dagegen will ich bemerken, dass man uns nur die Waffen, nicht die Rucksäcke abgenommen hatte, und wer eine Waffe in der Tasche trug, oder wie Karlemann, im Stiefelschaft, der hatte auch diese noch. Im Übrigen aber hatten wir die großen Revolver im Futteral am Gürtel hängen gehabt, und die hatten wir wie die Jagdmesser selbstverständlich abgeben müssen, hatten es freiwillig getan.
Nicht lange währte es, so kamen einige Weiber herein, mit Feuerbrand und genügend Holz; der Rauch fand durch das oben etwas offene Zelt genügenden Abzug, und dann folgte von zarten, allerdings auch sehr schmutzigen Händen ein Kessel nach, in dem sich ein dampfendes Ragout aus verschiedenem Fleische befand, dessen Ursprung sich nicht mehr erkennen noch herausschmecken ließ. Von unserem Bären war jedenfalls nichts dabei, der hätte in dieser Schnelligkeit noch nicht gargekocht sein können.
Nun, wir hatten schon wieder zwei Stunden Marsch hinter uns: wir ließen uns zum Mahle nieder, und wie meine Gefährten, so dachte auch ich nicht daran, mein Taschenmesser zum Vorschein zu bringen, oder ich dachte vielmehr daran, dies nicht zu tun — wir behalfen uns mit Holzspänen, mit denen wir in dem Kessel fischten, und wenn wir Begehr nach der Bouillon hatten, die übrigens ebenso delikat wie das ganze Ragout schmeckte, so konnten wir etwas in einen der mit dem Messer geschnitzten Holzteller gießen, welche, wie noch anderer Hausrat, in dem Wigwam herumlagen.
»Uff!«
Es war ein eintretender Indianer, der dies gesagt hatte, ein junger Krieger, mit einem ideal stolzen Gesicht, und so stolz war auch die ganze Haltung, wie er, die lange, federgeschmückte Tabakspfeife, das Kalumet, im Arm, nachlässig eintrat, und nun noch dazu ein gefälligeres, dünneres Pelzkostüm, mit roten Sehnen genäht, auch sonst verziert, die Mokassins prachtvoll gestickt, in der ölgetränkten Skalplocke einige kleine Federn — eine Erscheinung, die gleich meine ganze Sympathie hatte.
»Uff!«, wiederholte Karlemann, einen Fleischlappen, wahrscheinlich das Ohr irgendeines Tieres, auf seinem Holzspan balancierend, während er den Besuch musterte.
Die regelmäßigen, wahrhaft klassischschönen Züge unbeweglich, wie aus Kupfer getrieben, ließ sich der junge Krieger an unserem Feuer mit untergeschlagenen Beinen nieder, führte die noch qualmende Pfeife langsam zum Munde, rauchte, mit seinen glänzenden Augen starr ins Feuer blickend.
Das war also nicht die berühmte Friedenspfeife, die man uns anbieten wollte, sonst hätte der doch nicht weitergeraucht, während wir aßen.
Wir sollten uns wahrscheinlich nicht im Essen stören lassen. Nun, das taten wir auch nicht, und ich hielt es so wie Tischkoff, ich beachtete den Indianer gar nicht.
Karlemann dachte dagegen anders.
»Was will denn der?«, fragte er in seiner Weise, immer noch das Ohr am Holzspan vor sich balancierend.
Karlemann hatte Deutsch gesprochen, und der junge Krieger rauchte schweigend.
»Sprechen Sie Deutsch?«, fing jetzt Karlemann an. »Parlezvous français? Ooch nich? Parla italiano? Russisch? Spanisch? Hindustanisch?«
Jetzt hielt ihm Karlemann, der wieder einmal etwas in den Kopf bekam, seinen Holzstock mit dem großen Ohre hin.
»Bitte sehr — darf ich Ihnen etwas anbieten?«
Da huschte über das kupferrote, stolze Gesicht ein flüchtiges Lächeln, und dann neigte er sich etwas vor, als er, die Pfeife sinken lassend, in bestem Deutsch sagte:
»Danke sehr. Wünsche gesegnete Mahlzeit allerseits. Mein Name ist Doktor Howgh.«
Na, ich kann nur sagen, dass ich den Mund offen behielt, in den ich soeben einen großen Bissen hatte stecken wollen.
Denn das war nicht etwa ein angemalter Indianer, der so sprach, das war ein ganz waschechter, so echt, wie die furchtbare Narbe, die sich von der rechten Schläfe an dem muskulösen Hals hinabzog.
Hätte mir aber ein alter, zittriger, bebrillter Professor versichert, er wäre zurzeit noch Indianerhäuptling, ich wäre ob solcher Dreistigkeit nicht minder verblüfft gewesen, und jetzt sperrte auch Karlemann seinen Rachen auf.
Nur Tischkoff blieb ganz ruhig.
»Doktor Howgh?«, fragte er, die Betonung auf das erste Wort legend.
»Zu dienen! Doktor juris und der Philosophie.«
»Wo haben Sie studiert, wenn ich fragen darf?«
»Auf dem MarylandCollege in New York die Rechtswissenschaft, Philosophie auf verschiedenen Universitäten Deutschlands, den Doktortitel erhielt ich in Heidelberg.«
»Es — ist — nicht — möglich!!«, brachte ich jetzt hervor.
»Und weshalb nicht?«, fragte Tischkoff.
»Wissen Sie, wer in Amerika der berühmteste Operateur ist?«
Ganz zufällig hatte ich einmal davon gehört.
»Professor Tobias Hulkan.«
»Und wissen Sie, welcher Nation diese Kapazität der ärztlichen Wissenschaft und Kunst angehört?«
»Er ist offenbar ein Amerikaner.«
»Jawohl, und zwar ein ganz echter! Das ist ein Hurone!«
»Das mag schon möglich sein, die Huronen sind jetzt ein kultiviertes Volk...«
»Ja, jetzt — aber dieser Professor Hulkan hat noch als gereifter Knabe den Verzweiflungskampf gegen die Bleichgesichter mitgeführt, den blutigen Tomahawk in der Hand.«
Ich blickte den jungen Krieger fragend an.
»Und Sie?«
»Bei mir trifft ganz dasselbe zu, und wenn es Sie interessiert, will ich Ihnen meine Lebensgeschichte erzählen.«
Er brauchte dazu höchstens zehn Minuten.
Vor etwa zwanzig Jahren war der jetzt vierundzwanzigjährige Wiskonsun, das ist Taubenei, mit bei dem Siouxstamme gewesen, der unter militärischer Bedeckung nach dem Indianerterritorium übergeführt werden sollte.
Der Stamm entwich seinen Wächtern, nur das oder der kleine Taubenei ging dabei verloren, wurde von den Blassgesichtern wiedergefunden; ein Missionar nahm sich seiner an, brachte ihn in eine Erziehungsanstalt, wollte aus dem aufgeweckten Knaben gleichfalls einen Indianermissionar machen.
Weil das kleine Taubenei sich nicht gewöhnen konnte, ja oder nein zu sagen, immer bei seinem hau blieb, wurde er Howgh genannt, welchen Namen er später akzeptierte. Sonst hatte er nur noch eine ganze Menge biblische Vornamen bekommen.
Aus der Mission wurde nichts. Howgh kam in andere Hände, studieren sollte er, durfte aber wählen, was er wollte, und nachdem er eine unserem Gymnasium entsprechende amerikanische Schule besucht hatte, wählte er das Rechtsstudium, wollte Advokat oder etwas Ähnliches werden.
Aber auch dabei blieb es nicht. Nachdem er in der Rechtswissenschaft den Doktortitel erhalten, wandte er sich ganz der Philosophie zu, mit der er sich schon immer beschäftigt hatte, und bald genügte ihm da auch Amerika nicht mehr, er ging, durch Stipendien unterstützt, nach dem klassischen Lande der Denker, nach Deutschland, um hier von den größten Philosophen die Weisheit aller Zeitalter zu hören.
Was aber nun den jungen Doktor zweier Fakultäten veranlasst hatte, vor zwei Jahren wieder seinen Stamm aufzusuchen, um für immer als Jäger wieder unter seinen roten Kameraden zu leben, das kann ich nicht näher erklären, obgleich er selbst es mir damals sagte.
Seine philosophische Doktorwürde in Heidelberg hatte er durch eine Dissertation über die Rede Buddhas an die Licchavis erlangt, und diese Rede behandelt dasselbe Thema, welches der König aller Könige in den Worten zusammengefasst hat: ›Es ist alles eitel!‹
Mehr kann ich nicht sagen, und für den verständnisvollen Leser genügt das auch. Hierbei bemerke ich, dass auch ich mich stark mit indischer Philosophie befasst habe, und das hatte der junge Indianer erst durch einige Fragen herausgebracht, ehe er sich mir weiter offenbarte — aber alles innerhalb von zehn Minuten.
Und er hatte jene Abhandlung nicht nur mit der Feder, sondern mit dem Herzen geschrieben.
»Da habe ich meinen Doktorhut abgelegt, bin wieder zu meinen roten Stammesgenossen an den Pitsee gegangen, um von dem Fleische des Wildes zu leben, welches ich mit eigener Hand erlege, nicht durch Pulver und Blei, sondern mit Pfeil und Bogen, den ich selbst schnitze, und in das Fell des Wildes kleide ich mich.«
Ja, ich verstand diesen jungen Krieger — wie eine wehmütige Stimmung überkam es mich — Sehnsucht nach Nirwana nennt es der Inder — und doch drängte sich mir gleichzeitig eine spitzfindige Frage auf.
»Bauen Sie auch den Tabak selbst, den Sie rauchen?«
Der junge Indianer lächelte unbeleidigt.
»Nein, den bekomme ich durch Tausch, und mein Pfeil hat auch keine Knochenspitze, sondern eine stählerne, in einer englischen Fabrik hergestellt, vielleicht auch Made in Germany. Sie hatten recht mit Ihrer Frage — und dennoch — cka ven dami, es ist alles eitel — und ich weiß, wie weit ich da zu gehen habe.«
Wenn er das wusste, dann war es ja gut, dann ging das keinen anderen Menschen etwas an.
»Haben Sie nicht Hang zur Einsamkeit?«, musste ich nur noch einmal fragen. »Wollten Sie nicht lieber Einsiedler werden?«
»Nein, ich eigne mich nicht dazu, ich muss unter Menschen sein — aber unter Menschen, die mich nicht verstehen, die mich nicht fragen.«
Auch das verstand ich; dieser junge Indianer mit dem doppelten Doktorhut wollte also seine roten Brüder durchaus nicht belehren — er hatte entsagt, vollkommen entsagt.
»Ich teilte Ihnen dies nur mit, damit Sie wissen, wie Sie zu mir sprechen können.«
Auch das hatte ich verstanden, was er hiermit hatte sagen wollen.
»Sie waren doch nicht mit unter der Truppe, welche uns hierher brachte?«
»Nein.«
»Sie kommen als Abgesandter des Häuptlings, mit dem ich mich verständigen soll?«
»Ja.«
»Hat er Ihnen schon alles mitgeteilt?«
»Alles, so weit er konnte und selbst wusste.«
»Sie sind in die Komödie eingeweiht, welche wir hier aufführen wollen?«
»Ja, und eben deswegen komme ich zu Ihnen; denn mit einem meiner roten Brüder würden Sie sich wohl schwer auseinandersetzen können.«
»Sind auch alle übrigen eingeweiht?«
»Alle Krieger.«
»Und die Frauen und Kinder?«
»Kommen bei uns nicht in Betracht, sie dürfen den Mund nicht auftun, sollte das gelbe Wiesel eine Frage stellen, und dieser Befehl genügt.«
»Wie wird die Erlegung des Bären motiviert? Soll ihn ein Indianer, etwa der Häuptling erlegt haben?«
»O nein, kein Sioux wird sich mit fremden Federn schmücken«, war die stolze Antwort.
»Was wird da sonst vorgegeben?«
»Wenn eine Erklärung nötig ist, so wird es vorläufig heißen, man hätte ihn tot aufgefunden. So ist auch bereits zu Langhals und zu dem Großmaul gesagt worden.«
»Wer ist denn nun eigentlich dieses gelbe Wiesel, von dem der ganze Anschlag ausgeht?«
»Ich halte ihn für einen Spanier.«
»Wie ist sein eigentlicher Name?«
»Seine Leute reden ihn einfach Señor an. Dann habe ich auch einmal den Namen Rodrigo gehört.«
»Und wer ist dieser Langhals, den ich vorhin schon gesehen habe?«
»Ein Mestize, den er als Dolmetscher mitgebracht hat. Er muss sich schon früher unter den Sioux aufgehalten haben, beherrscht unsere Sprache vollkommen, ist mit allen unseren Sitten vertraut, ist auch sonst ein tüchtiger Jäger. Außerdem weiß er dadurch zu imponieren, dass er mancherlei Heilkünste und anderen Hokuspokus versteht, sodass unser Medizinmann schon ganz eifersüchtig geworden ist. Es war sehr schlau, dass der Leiter des Ganzen sich gerade diesen Mann zu seinem Sekretär ausgesucht hat.
»Und wer ist das sogenannte Großmaul?«
»Mit diesem ist der Señor Rodrigo in seiner Wahl weniger glücklich gewesen. Die Sache ist doch die: der Señor, der sich mit uns in Verbindung setzen wollte, kannte unsere Sprache und unsere Sitten nicht, ist wohl noch nie unter Indianern, vielleicht noch nie im wilden Westen gewesen. In Langhals, wahrscheinlich ein heimatloser Wald- und Prärieläufer, hatte er den richtigen Mann gefunden, dieser führte die ganzen Geschäfte, d. h. die Unterhandlungen mit unserem Häuptling, und zwar äußerst geschickt. Nun sah sich der vorsichtige Señor auch noch nach einem persönlichen Schutze zur Reise in den wilden Westen um. Seine Wahl ist auf einen ungemein großen, starken Mann gefallen. Von seinen Genossen und vom Herrn selbst wird er Grant genannt. Es mag ebenfalls ein Waldläufer oder ein Indianeragent sein. Auch er spricht mehrere Indianerdialekte, den unsrigen aber nur ganz mangelhaft. Sein Herr, der Señor, kann sich mit uns viel besser unterhalten. Es ist nämlich ganz erstaunlich, wie schnell dieser Spanier unsere Sprache lernt, ich möchte fast gar nicht glauben, dass er vor wenigen Wochen noch kein Wort der Siouxsprache gekannt hat. Doch das nur nebenbei. Insofern hat sich der Señor ja auch nicht in jenem riesenhaften Grant geirrt, als dieser tatsächlich eine fast fabelhafte Körperkraft besitzt, aber...«
Wir wurden durch den Eintritt eines Indianers unterbrochen, und so viel ich auch diesen Vertrauensmann noch zu fragen hatte, so sollte eine Fortsetzung jetzt doch nicht mehr stattfinden.
Der zweite Indianer sprach einige kurze Sätze zu Taubenei, wie ich ihn doch lieber nennen will, da mir der Name Doktor Howgh noch heute schwer zu schreiben fällt, wenn ich mir diese ideale Gestalt eines roten Kriegers vor die geistigen Augen zurückzaubere.
»Der Señor ist mit seinem Begleiter ins Lager zurückgekommen«, wandte sich Taubenei an mich, »er ist ganz aufgeregt vor Freude, dass Sie sich schon hier als Gefangener befinden, aber er ist auch außer sich über unsere Unvorsichtigkeit, dass wir Ihnen und Ihren Begleitern die Fesseln abgenommen haben.«
»Das heißt mit anderen Worten: Er hat einfach Angst.«
»Nichts anderes ist es.«
»Na, dann binden Sie uns doch wieder!«
»Das verlangt er auch. Eher will er nicht zu Ihnen.«
»Well, befreien Sie diesen Furchthasen von seiner Angst.«
Die beiden Indianer banden uns wieder, diesmal sogar an den Füßen.
»Wir schlingen die Knoten so, dass Sie sich durch einen kleinen Ruck sofort befreien können«, sagte Taubenei.
Nun, das war mir ganz recht. Aber ich verwarnte besonders Karlemann, keine voreilige Handlung zu begehen.
»Halten Sie mich doch nicht für so dumm«, war seine Entgegnung.
»Sie haben sich nicht eher zu befreien, als bis ich es tue.«
»Ich füge mich überhaupt ganz meinem Schicksale«, wusste sich Karlemann wieder elegant auszudrücken.
Die Hauptsache aber war, dass ich ihm traute. Einen Strich durch meine Rechnungen hatte mir Karlemann noch niemals gezogen.
»Können wir nicht belauscht werden?«, fragte ich Taubenei, der sich noch mit meinen Füßen beschäftigte.
»Es stehen Wachen im ganzen Umkreise des Wigwams, und dieser Feigling wagt sich ja gar nicht so nahe heran an den Ort, wo er Sie vorläufig noch in Freiheit weiß.«
»Ich glaube, Doktor, Sie haben von vornherein auf meiner Seite gestanden.«
»Das habe ich allerdings. Doch davon sprechen wir später, wir dürfen die beiden nicht so lange warten lassen.«
»Wer ist eigentlich der andere?«
»Ich weiß noch nicht. Er kam gestern zum ersten Male hierher, der Señor verkehrt ganz kameradschaftlich mit ihm. Diese beiden sind die eigentlichen Macher des ganzen Geschäftes, die anderen sind nur die Diener. Der Señor hat hier operiert, während der andere das auswärtige Geschäft leitete.«
»Wissen Sie eigentlich, wer ich bin? Was diese ganze Sache überhaupt zu bedeuten hat?«
»Einiges habe ich aus den Zwiegesprächen der beiden Diener belauscht. Sie erzählen es mir später einmal, das interessiert mich, obgleich ich sonst gar nicht neugierig bin. Sie scheinen aber einmal ein ganz besonderer Mensch zu sein, und, wie gesagt, ich stand schon immer auf Ihrer Seite, ich hätte dem Häuptling doch noch einen Strich durch die Rechnung gemacht, wenn auch zum Schaden meiner eigenen Brüder. Dieser Señor ist ein Halunke.«
Wir waren gebunden, lagen wie die Mehlsäcke da, und die beiden Indianer verließen den Wigwam.
Bald näherten sich draußen Stimmen. »Ist er auch fest gebunden?«, wurde auf Englisch gefragt. »Als wären die Riemen aus Eisen«, entgegnete die Stimme Taubeneis, der jedenfalls den Dolmetscher machte.
»Ich kann ja mit hineinkommen«, sagte ein gewaltiger Bass, der nur dem Riesen Goliath oder, wie ich lieber sagen will, dem Londoner Brauknecht angehören konnte. »Wenn er sich befreien sollte, da brauche ich doch nur einmal ganz sachte zuzufassen, dann...«
»Nein, nein«, wurde der Mann unterbrochen, dessen Namen Großmaul ich nun schon eher begriff, »mein Revolver genügt mir, mit dem will ich ihn schon in Schach halten, schließlich ist auch er doch nur ein sterblicher Mensch. Mister Medwell, Sie kommen natürlich mit, machen auch Sie Ihren Revolver bereit. Aber selbstverständlich wird nur in höchster Notwehr geschossen, und dann auch nicht gleich in Kopf oder Brust, sonst könnten uns viermalhunderttausend Pfund verloren gehen.«
»Ich werde mich schön hüten!«, lachte eine andere Stimme. Die Decke am Eingang ward zurückgeschlagen.
Die Hauptsache aber ist, dass ich schon beim Klange der Stimme jenes vorsichtigen Mannes förmlich erschrocken zusammengefahren war.
Himmel, diese Stimme, wo hatte ich denn die schon einmal gehört?!
Und Karlemann dachte ganz dasselbe.
»Das ist doch — das ist — das ist...«
»Still!!«, zischte ich, denn schon traten die beiden Männer ein. Den einen sah ich gar nicht, meine Augen hingen nur starr an dem anderen, an dem mit dem gelbbraunen Gesicht, eine kleine, zierliche Gestalt im eleganten Pelzkostüm, wenn dieses auch schon etwas mitgenommen war.
Ja, nun war es erklärt, woher dieser Señor Rodrigo so außerordentlich schnell die Sprache der Sioux gelernt hatte!
»Papa — Papa...«, konnte ich in meinem Staunen aber vorläufig nur hervorbringen.
»... Popelmann«, ergänzte mich da Algots. »I dr Deiwel, Sie schulden mir doch noch zweitausend Dollar für meine beiden dressierten Löwen, die ich Ihnen damals verkaufte!«
»Papapopulos!«, konnte auch ich jetzt geläufig sagen.
»Ja, Herr Kapitän, ich bin es«, entgegnete der Armenier, in gewissem Sinne mein Schwager, sehr höflich, hielt aber weniger höflich die Mündung seines Revolvers auf mich gerichtet.
Ich hatte mich von meinem Staunen erholt. Das Geschäft konnte beginnen.
»Na, was soll's?«
»Sie wissen doch ganz genau, um was es sich handelt.«
»Nicht so ganz genau.«
»Wenn ich jetzt losdrücke, habe ich mir fünfzigtausend Pfund Sterling verdient.«
»Ja, wenn Sie mich töten.«
»Ich werde mich schön hüten.«
»Dann drücken Sie also nicht los.«
»Nein, ich werde Sie lieber lebendig an England ausliefern.«
»Und wie viel bekommen Sie in diesem Falle?«
»Viermalhunderttausend Pfund.«
»So standen die Aktien schon vor einem halben Jahre. Ist die für meine Ergreifung ausgesetzte Prämie noch nicht höher gestiegen?«
»Ich glaube nicht«, entgegnete dieser patente Geschäftsmann ganz sachgemäß, und nun wollte ich auch so sein, ich hatte überhaupt erst damit angefangen.
»Immer noch nicht höher? Ich dachte, dass ich viel mehr wert sei.«
»Das sind Sie auch, Herr Kapitän.«
»Wieso?«
»Ich schätze Sie höher ein.«
»Auf wie viel?«
»Nun, so auf zehn Millionen Pfund.«
»Kartoffeln?«
»Pfund Sterling.«
»Mann, Sie sind wohl wahnsinnig!«, sagte ich, aber dabei ward mir etwas unbehaglich zumute.
»Die Schätze, die Sie besitzen, lassen sich ja überhaupt gar nicht taxieren.«
»Sie haben wohl etwas von den Schmucksachen der Aschantis gehört?«
»Jawohl.«
»Na, da irren Sie sich aber gründlich, wenn Sie die auf zehn Millionen Pfund schätzen. Nicht den hundertsten Teil ist dieser Tand wert.«
»Mag sein, aber ich habe auch noch etwas anderes gehört.«
»Was denn?«
»Von einer Perlenbank im Chinesischen Meere, die Sie jederzeit ausbeuten können.«
O weh, Atlanta hatte geplaudert! Denn der hatte ich von jener Perlenbank erzählt. Von der geografischen Lage hatte sie allerdings keine Ahnung.
»Was wollen Sie nun eigentlich von mir?«
»Ein Lösegeld.«
»Wie viel?«
»Sagen wir rund eine Million Pfund Sterling.«
»Sie sind bescheiden.«
»Bin ich auch.«
»Wenn Sie mich nämlich für den Besitzer von untaxierbaren Schätzen halten.«
»Ja ja, ich bin bescheiden.«
»Und wenn ich Ihnen nun dieses Lösegeld verweigere?«
»Dann begnüge ich mich mit viermalhunderttausend Pfund.«
»Das heißt, dann liefern Sie mich an England aus.«
»Selbstverständlich.«
»Hm, das will überlegt sein«, brummte ich mit scheinbarer Nachdenklichkeit.
»Da will gar nichts überlegt sein. Was Ihrer in England wartet, wissen Sie doch.«
»Nun, was denn?«
»Hier, lesen Sie...«
Papapopulos griff unter seine Pelzjacke, brachte aber die Hand leer wieder zum Vorschein.,
»Ach so... bitte, Mr. Medwell, gehen Sie doch einmal in mein Zelt, in der Kiste gleich oben auf liegt die betreffende Zeitung.«
Der andere, der bisher ruhig seitwärts gestanden hatte, und über den ich nichts weiter zu sagen habe, als dass er einen sogenannten ›besseren‹ Eindruck machte, begab sich hinaus.
Und darauf hatte ich nur gewartet. Denn so ohne Weiteres tot- oder anschießen lassen wollte ich mich doch nicht.
»Hm, ich kann Ihnen aber doch nicht die zehn Millionen Pfund Sterling so in aller Schnelligkeit auszahlen«, sagte ich, nur um irgend etwas zu sagen, während meine Hände hinter dem Rücken arbeiteten.
»O, es wird Ihnen ein Leichtes...«
»Verzeihen Sie, wenn ich Sie unterbreche, vergessen Sie Ihre Rede nicht, aber vielleicht machen Sie es doch etwas billiger, wie?«
Und bei diesen Worten war ich aufgesprungen und hatte den armenischen Jüngling auch schon zwischen meinen Händen. Ob er noch den Revolver auf mich angeschlagen gehabt hatte, weiß ich nicht zu sagen. Jedenfalls war er nicht zum Schießen gekommen.
Hingegen kam er noch zum Schreien, da hatte sich meine Hand zu spät auf seinen Mund gelegt.
»Zu Hilfe, Med...«
Weiter kam er nicht. Und er hatte auch laut genug gekreischt.
Na, es schadete nichts, da gab es nur noch schnell einige Anordnungen zu treffen — Dispositionen, wie der Geschäftsmann sagt.
»Schnell, Tischkoff, befreien Sie sich von Ihren Fesseln, halten Sie diesen Knaben, damit ich den anderen in Empfang nehme...«
Zu spät, der andere hatte sich noch nicht weit genug entfernt gehabt, ich war etwas gar zu fix gewesen, Medwell hatte den Ruf noch gehört, er kam schon wieder hereingestürzt.
O, das konnte bös für mich werden, er schlug schon den Revolver auf mich an, und ein Loch in die Haut wollte ich mir bei diesen Abenteuerchen doch nicht gern holen.
Aber war ich zu fix gewesen, so war ein anderer noch fixer als ich, und zwar sollte das nicht Tischkoff sein.
Plötzlich, oder in demselben Moment, da Medwell wieder in dem offenen Zelteingang erschien, schien er sich — wenigstens machte das so auf mich diesen merkwürdigen Eindruck — eines anderen zu besinnen, er setzte sich plötzlich hin, ruckförmig, dass er auch gleich mit beiden Beinen etwas nach oben fuhr... und erst hinterher bemerkte ich, dass dieses Hinsetzen kein freiwilliges gewesen war, die Beine waren ihm unter dem Leibe weggezogen worden, und zwar von keinem anderen, als von Karlemann, den ich nur bei seiner Kleinheit übersehen hatte.
»Na, da helfen Sie mir doch, Tischkoff!!«, schrie Karlemännchen, während er auf dem Manne kniete und sich mit dessen Revolver beschäftigte, den jener nicht gleich hergeben wollte. »Helfen Sie mir, oder ich mache den Kerl kalt!«
»Na na, nur nicht gleich so heftig, nur immer Ruhe«, sagte ich, während ich selbst den armenischen Jüngling entwaffnete.
Das heißt, der Leser darf nicht glauben, dass dies gar so gemütlich vor sich ging. Oder doch nur mit Worten, nicht in den Handlungen. Das alles dauerte ja nur den zehnten Teil der Zeit, die ich gebrauche, es zu erzählen, und ich kann nicht gerade sagen, dass Tischkoff langsam gewesen wäre, er war schnell genug an Karlemanns Seite und half den anderen mit entwaffnen. Aber im Übrigen ging es doch eigentlich ganz gemütlich zu — so, wie ich es liebe.
»Sollen wir ihn binden?«, fragte Karlemann.
»Ach, das ist nicht gerade nötig, macht euch nicht so viel Umstände«, entgegnete ich, und ließ selbst meinen Armenier wieder los, baute mich vor ihm auf und verschränkte die Arme über der Brust, betrachtete ihn so gutmütig von oben herab.
»Na, Herr Pa—pe—pi—po—pulos, was sagen Sie denn nun dazu? Wollen Sie es nicht etwas billiger machen? Eine Million Pfund ist mir wirklich zu viel, die habe ich ja gar nicht, oder da müsste ich gar lange unten auf dem Meeresgrund nach den Perlmuscheln herumkrebsen.«
Na, dieses Gesicht!! Unbeschreiblich! Dem kam doch erst jetzt zur Besinnung, wie es hier eigentlich stand, dass sich das Blättchen gewendet hatte. Und meine humoristischen Worte mochten für ihn erst recht unbegreiflich sein.
Dann fing er wieder an um Hilfe zu schreien, erst auf Englisch, dann auf Russisch, dann auf Arabisch — bis er sich besann, dass er sich ja in Amerika unter Indianern befand, und er übersetzte seine Hilferufe in Siouxsch — oder wie deren Sprache nun heißt.
Merkwürdig war für mich, dass er dabei gar nicht daran dachte, das Weite zu suchen, denn ich hielt ihn nicht etwa fest, und ich habe doch auch keine Schlangenaugen, welche ein Karnickel auf die Stelle bannen.
Wirklich kamen auch einige Indianer hereinspaziert, ganz gemächlich, die lange Pfeife in der Hand, darunter auch der Häuptling.
»Uff!!«, sagte dieser letztere, und die anderen stimmten dieser Äußerung mit einem allgemeinen »Howgh!!«, bei.
Jetzt mochte Monsieur Papapepipopulos merken, dass hier doch etwas nicht in Ordnung war, er machte ein unbeschreiblich dummes Gesicht, und Mr. Medwell, den meine beiden Gefährten sich hatten aufrichten lassen, stand wie ein begossener Pudel da.
Da fuhr der Armenier mit etwas intelligenterem Gesicht endlich empor.
»Das ist schnöder Verrat!!!«, schrie er aus Leibeskräften.
»Warum denn gerade schnöder?«, meinte ich. »Verrat ist Verrat.«
»Ihr habt mich betrogen, ihr steht auf Seiten dieser Gefangenen!!«, zeterte der Armenier weiter.
»Der Bärenschmetterer ist mein Freund!«, ließ sich jetzt der schwarze Fuchs vernehmen, nachdem er eine mächtige Dampfwolke vor sich hingeblasen hatte. »Uff!«
»Howgh, howgh!!«, bellten die anderen.
»Du bist ein Verräter, du bist ein Feigling!!«, schrie ihn Papapopulos, der jetzt aufzutauen begann, wütend an.
Da senkte der schwarze Fuchs seine Hand mit der Pfeife, dafür hob er seinen Fuß — — ich wusste erst gar nicht, was er eigentlich wollte, diese Bewegung war so automatisch ausgeführt — — plötzlich aber hatte Monsieur Papapopulos seinen Tritt weg, der ihn gleich zum Wigwam hinausbeförderte.
An dieser schnellen Entfernung war mir gerade nichts gelegen, ich hatte ihn mit zwei großen Schritten draußen eingeholt, vertrat ihm den Weg.
Und da standen auch gerade Herr Langhals und Herr Großmaul da, der eine reckte seine Schildkrötengurgel noch weiter zum Pelzpanzer heraus und der Londoner Bierfahrer bekam tellergroße Glotzaugen, und wir standen noch nahe genug am Zelt, dass auch Medwell alles hören konnte.
»Hört«, fing ich an, und mich packte der Übermut immer mehr, »ihr habt nun wohl schon gemerkt, dass aus diesem Geschäft nichts wird. Eine Million Pfund Sterling habe ich nicht, und auch die 400 000 Pfund könnt ihr euch nicht verdienen, denn lebendig fangen und ausliefern lasse ich mich nicht. Es tut mir leid, aber ich mag nicht, ich kann nicht, ich ich ich ich... das ist eben nicht nach meinem Geschmack. So bleiben nur noch 50 000 Pfund Sterling übrig, die euch von England prompt ausgezahlt werden, wenn mich einer niederknallt. Ja, das dürft ihr, das erlaube ich euch, dagegen habe ich nichts. Hier, mein lieber Papapopulos«, ich hielt ihm seinen Revolver hin, ganz automatisch nahm er ihn, »hier haben Sie ihren Revolver wieder, damit Sie mich totschießen können. Ja, totschießen dürfen Sie mich — aber das sage ich euch,« und ich hob mit gutmütiger Warnung den Finger, »wer auf mich schießt — scharf, nicht nur mit Platzpatronen — der kann sich auf was gefasst machen — da werde ich eklig — da gibt's Backpfeifen links und rechts. Verstanden?«
Na, wie diese Kerlchen dastanden!! Ich muss immer bei dem Gleichnis von dem begossenen Pudel bleiben.
»Und dann möchte ich euch noch eins sagen«, fuhr ich gemütlich fort, »nicht wahr, ihr seid doch alle zusammen Zigeuner?«
Ich wurde wohl nicht verstanden, man glotzte mich an.
»Bist du nicht ein Zigeuner?«, wandte ich mich jetzt direkt an den Londoner Bierkutscher.
»Yes, Sir«, entgegnete dieser, vielleicht ganz unbewusst.
»Und du bist doch auch ein Zigeuner, nicht wahr?«, fragte ich weiter den Langhalsigen.
Auch dieser bejahte gehorsam.
»Na, und Sie sind doch erst recht ein Zigeuner«, wandte ich mich an den Armenier.
Dieser hatte gleich gar nicht den Mut zu einer Verneinung.
»Ganz gewiss, sehr richtig.«
So, das genügte mir, den Mr. Medwell, der entfernter stand, brauchte ich nicht erst zu fragen.
»Also ihr seid alle zusammen Zigeuner. Ich bin auch einer, meine beiden Gefährten ebenfalls. So sind wir alle zusammen Zigeuner. Nur ist zwischen uns ein kleiner Unterschied, oder vielmehr ein sehr großer. Wer von euch weiß denn, in welchem Verhältnis das auf der Erde befindliche Wasser, also alle Meere zusammen, zu dem über das Wasser hervorragenden Festlande steht? Wer weiß das?«
Da hob der riesenhafte Bierkutscher, sich vielleicht in die Schule zurückversetzt fühlend, wie ein kleiner Junge die Finger in die Höhe.
»Ich.«
Er hätte eigentlich sagen sollen: ich, Herr Lehrer. Dieser riesenhafte Kerl, wie er so zimperlich den Finger hob und so zimperlich ›ich‹ sagte — es war eine urkomische Figur.
»Nun, mein Sohn?«
»Ein Drittel der Erde ist mit Land bedeckt, zwei Drittel mit Wasser.«
»Gut, sehr gut! Du kannst einen Platz heraufrücken. Also die Erde ist gerade mit noch einmal so viel Wasser bedeckt wie mit Land. Oder man könnte auch sagen, obgleich das nicht ganz stimmt: es gibt noch einmal so viel Wasser wie Festland. In Wahrheit fällt dieses Verhältnis noch sehr zu Ungunsten des Festlandes aus. Aber lassen wir das. Kurz und gut — das Wasser, die See ist dem Lande ganz, ganz bedeutend überlegen. Und nun ist der Unterschied zwischen uns folgender: ihr seid Landzigeuner, wir aber sind Seezigeuner. Und wie nun das Meer, die See doppelt, vielleicht aber auch zehnfach an Menge dem Lande überlegen ist, so sind wir Seezigeuner auch euch Landzigeunern mindestens doppelt überlegen. Verstanden? So, Kinder, nun geht nach Hause und merkt euch diese Parabel!«
Nach diesen Worten wandte ich mich und ging in den Wigwam zurück.
Karlemann wurde nachträglich von Lachkrämpfen befallen, und auch meinen Kommodore sah ich einmal herzlich lachen. »Kapitän, meine ungeteilte Hochachtung, das haben Sie einfach großartig gemacht!«, zollte er mir dann Beifall. »Bei Gott, es gibt doch noch eine ganz andere Waffe, als die, welche die Menschen mit all ihrer Technik erfunden haben!«
»Was machen die Kerls nun eigentlich?«, meinte Karlemann, als er sich ausgelacht hatte, und spähte durch einen Riss der Decke zum Wigwam hinaus. »Sie sind verschwunden.«
»Mögen sie machen, was sie wollen«, entgegnete ich, »die werden sich jetzt wohl erst mit dem Häuptling auseinandersetzen. Mir auch ganz egal, für mich sind sie jetzt Luft. Wir wollen lieber fragen, was wir jetzt anfangen. Wollen wir hier nicht erst etwas mit den Indianern amerikanische Jagdfreuden genießen?«
»Oder«, sagte Tischkoff, dabei ein recht listiges Gesicht machend, »wollen Sie nicht erst einmal Ihre Gattin und Ihr Kind aufsuchen?«
Weiß Gott, das hätte ich über all diesen Geschehnissen beinahe vergessen! Oder vielmehr nicht nur ›beinahe‹, sondern ich hatte es wirklich ganz und gar vergessen. Ich muss mich doch nicht recht zum Familienleben eignen. Na ja, was kann man denn auch von einem Zigeuner in dieser Hinsicht verlangen!
Doch ich brauchte sie nicht erst aufzusuchen.
»Richard, mein Richard!!«
Blodwen, in Pelz eingemummelt, hing an meinem Halse. »Und du hast wirklich nur mit einem Faustschlage solch einem furchtbaren Bären den Kopf zerschmettert?!«
Es war tatsächlich ihr zweites Wort gewesen. Dann gingen wir in einen anderen Wigwam, zu unserm Kinde.
Es war ein sehr hübsches, niedliches Mädchen, es konnte laufen, es konnte schon ein bisschen plappern, ich nahm es auf den Schoß, nannte es mein liebes Kind und dergleichen, ich freute mich tatsächlich ungemein, aber... ich wusste nicht recht, was ich mit dem kleinen Geschöpf anfangen sollte. Wie gesagt, ich eigne mich eben nicht recht zum Familienleben. Das heißt, ich kann mit einem kleinen Kinde sehr hübsch spielen, tue es auch sehr gern, es ist faktisch mein größtes Vergnügen, mich mit so einem Wurm auf dem Boden herumzukollern — aber ich muss allein mit ihm sein. Jede erwachsene Person stört mich dabei, und wenn es meine eigene Frau ist. Ich weiß nicht — dann komme ich mir solch einem Baby gegenüber furchtbar hilflos vor. Und ich glaube, es gibt noch genug andere Menschen, Männer, denen es ebenso geht. Und vielleicht sind das nicht die schlechtesten Menschen.
»Wie heißt denn eigentlich unser Kindchen?!«
»Ja, das hat noch immer keinen Namen. Es ist ja noch gar nicht getauft.«
»Ach, was das anbetrifft — das ist ja nicht so eilig, das besorgen wir später einmal. Aber einen Namen muss unser Kindchen doch haben.«
Nein, es bekam eben keinen Namen, es war und und blieb eben ›Unserkindchen‹, und das ist schließlich doch auch ein Name. Blodwen nannte es höchstens noch ›Darling‹, Liebling, und auch ich gebrauchte diesen Kosenamen häufiger.
»Guten Tag auch, Herr Kapitän.«
Erst jetzt bemerkte ich Mr. Fairfax, der wie ein Schneider mit gekreuzten Beinen in einer Ecke saß. Türken und Indianer sitzen zwar auch so da, aber Fairfax saß so als Schneider da, denn er schneiderte wirklich, flickte bunte Lappen zusammen.
»Was machen Sie denn da?«
»Nnnnnpuppuppuppenkleider«, stotterte Mr. Fairfax durch seine krumme Nase.
Faktisch, da lagen eine ganze Menge Bälge, aus den verschiedensten Materialien zusammengestellt, zum Teil auch schon bekleidet, Harlekine und Schäfermädchen und Hofdamen und andere Kreaturen, und wirklich reizend kostümiert. Und diese Puppen waren nicht etwa nur für Unserkindchen bestimmt, sondern Mr. Fairfax hatte in den drei Wochen alle Indianerkinder mit Puppen versorgt und war noch immer bei der Arbeit, und wenn jedes Indianerkind seine Puppe hatte, da gab's doch immer wieder Reparaturen.
Na, die beiden hatten sich ja die Zeit zu vertreiben gewusst, obgleich mir Blodwen gleich erklärte, dass sie dabei nur ganz minimal tätig gewesen, mit Mr. Fairfax könne sie sich in dieser Kunst nicht messen, was mir nun gleich wieder eine Frage eingab.
»Was, Mr. Fairfax, können Sie denn das auch, Puppenkleider schneidern?«
»Nu freilich, ich habe doch in New York eine Nnnnnnpuppuppuppuppenkleiderffffabrik.«
»Das weiß ich wohl, aber dass Sie so etwas mit eigener Hand fertigen können!«
Ei gewiss doch! Dieser Yankee hatte im Geschäft seines Vaters von der Pike auf gedient, hatte alle Werkstätten durchlaufen müssen. Als er mit ins Geschäft eintrat, da war das natürlich vorbei gewesen, da war er als Seezigeuner hinaus in die Welt gegangen, um das verdiente Geld wieder zu verpulvern.
Und eigentlich doch merkwürdig! Auf See schießt der Kerl Schiffe zusammen, und hier an Land sitzt er da und macht für Indianerkinder Puppenbälge und Kleidchen dazu. Zigeuner!
Nun, wir hatten uns gar viel zu erzählen. Die Gefangenen hatten sich über nichts zu beklagen gehabt, mehr brauche ich nicht zu erwähnen.
»Du kannst dir denken, wie erstaunt ich war, als ich in unserem eigentlichen Entführer meinen früheren Sekretär, den Papapopulos erkannte. Ich bekam ihn erst zu sehen, als wir hier...«
Blodwen wurde durch Taubeneis Eintritt unterbrochen.
»Ich störe doch nicht?«
»Durchaus nicht.«
Zunächst sprang der Puppenkleideronkel auf seine Schneiderbeine.
»Was sagt der Indianer da?«, schrie er.
»Er fragt, ob er nicht stört.«
»Was?! Was fragt die Rothaut? Die ist wohl ganz und gar verrückt geworden?!«
Ich wusste gleich, was Mr. Fairfax eigentlich wollte. Der indianische Krieger mit dem doppelten Doktorhut hatte sich diesem hier noch nicht so wie mir zu erkennen gegeben.
»Beruhigen Sie sich nur, Mr. Fairfax, dieser junge Mann hat eine höhere Dorfschule absolviert, sollte Missionar werden, hat es aber vorgezogen, lieber beim Skalpiermesser zu bleiben. — Nun, Mr. Taubenei, was steht zu Diensten?«
»Erst jetzt kommt dem Señor ganz zum Bewusstsein, was er verloren hat.«
»Das glaube ich.«
»Aber dem schwarzen Fuchs Vorwürfe zu machen, das wagt er nicht.«
»Das glaube ich ebenfalls.«
»Er hat ihm noch mehr geboten, wenn er Sie wiederergreift, aber der schwarze Fuchs verschließt seine Ohren.«
»Das freut mich, und ich werde mich dafür erkenntlich zeigen.«
»Nach Ihren Anschauungen dürfte unser Häuptling einen Treubruch begangen haben.
»Das lässt mich ganz kalt.«
»Aber es ist für uns unmöglich, einen Mann, der einen grauen Bären erlegt hat, in Fesseln zu halten, und nun gar, wenn das Töten des Bären auf solch eine noch nie da gewesene Weise geschehen ist.«
Diesmal blieb ich eine Entgegnung schuldig.
»Nur eines gäbe es noch, wodurch Ihr Ansehen wieder schwinden könnte, und damit rechnet diese Sippschaft.«
»Nun?«
»Wenn Sie von einem anderen Manne besiegt würden, so würde dieser wieder das größte Ansehen genießen, er würde selbst unsere Krieger veranlassen können, Sie wieder gefangen zu nehmen.«
»Wie besiegt?«
»Durch einen Zweikampf.«
»Durch einen Zweikampf?!«, fuhr ich betroffen empor.
Denn — ich weiß nicht, wie ich gerade auf diesen Gedanken kam — ich dachte im Augenblick an ein amerikanisches Duell, wobei Leben und Tod mit Würfeln ausgeknobelt wird. Ich musste so eine Geschichte vor Kurzem gelesen haben, vielleicht während der Eisenbahnfahrt. So etwas sah auch diesem Armenier am ähnlichsten, wenn ich mir sein verschmitztes Gaunergesicht vorstellte.
»Was für ein Zweikampf?«
»Mit keinen Waffen.«
»Sie meinen ein amerikanisches Duell?«
»Ganz richtig, das nennt man wohl so.«
Also ich hatte doch richtig geahnt.
»Nein, da muss ich bedauern, mein Leben knobele ich nicht aus — ich knobele überhaupt nie.«
»Was tun Sie nie?«
»Knobeln.«
»Knobeln — was ist das?«
»Nun, mit Würfeln spielen.«
»Würfeln?«, wiederholte Taubenei mit einigem Staunen, soweit ein Indianer staunen darf, ob nun mit oder ohne Doktorhut. »Solch einen Zweikampf kenne ich nicht. Nein, nur ohne Waffen — allein durch körperliche Kraft und Gewandtheit — ringen oder boxen.«
Ach so, das war etwas anderes! Wenn ich schon schwer geatmet hätte, so hätte ich jetzt erleichtert aufatmen können.
»Da ziehe ich das Boxen dem Ringen vor. Also mit dem Papapopulos, genannt das gelbe Wieselchen? Ach nein, das arme Kerlchen täte mir aber leid.«
»Nein, der Große, Grant, fordert Sie zum Zweikampfe heraus.«
»Ach so«, sagte ich nochmals, und diesmal mit wirklicher Erleichterung. »Na ja, wann soll's denn losgehen?«
»Sobald wie möglich.«
»Gut, ich brauche bloß meine Pelzjacke auszuziehen, ich boxe lieber in Hemdärmeln.«
»Der Riese bestimmt aber Ringen.«
Ich muss gestehen, dass mir ein Boxgang lieber gewesen wäre.
Im Boxen hatte ich wirklich etwas los. Ich war einmal als Matrose von einigen englischen Passagieren, die mich hatten boxen sehen, in Folge einer Wette mit einem berühmten, wenn nicht dem berühmtesten englischen Championboxer zusammengebracht worden. Einige Backse hatte ich von dem allerdings abbekommen — aber das war auch so ein Kerl, der von früh bis abends nichts weiter tat als boxen — und der brauchte von mir nur einen einzigen Schlag zu bekommen, da hatte er genug gehabt. Im Ringen war ich weit weniger bewandert, das hatte ich in der Jungenzeit geübt, hielt es noch immer für eine Kinderspielerei, obgleich ich wusste, dass es Athleten gibt, die sich professionell aufs Ringen legen. Übrigens wird das Ringen auch von allen nordamerikanischen Indianern leidenschaftlich betrieben.
Aber von dieser meiner Abneigung gegen das Ringen sagte ich natürlich nichts, so etwas gab es bei mir nicht.
»Hat denn hier der Herausforderer zu bestimmen, auf welche Weise der Zweikampf stattfinden soll?«, fragte ich nur noch.
»Ja, das hat der Herausforderer zu bestimmen.«
»Gut, dann werde ich mit ihm ringen. Wie sind die Regeln?«
»Es ist alles erlaubt.«
»Jeder Handgriff?«
»Ja.«
»Auch Beine stellen?«
»Alles. Nur nicht schlagen.«
»Auch Beine stellen, hm. Und wann gilt man als besiegt?«
»Wenn man auf dem Rücken liegt.«
»Und wenn ich nun auf den Rücken zu liegen komme?«
»Dann sind Sie der Gefangene des Siegers, der mit Ihnen machen kann, was er will.«
»Mich auch binden?«
»Jawohl!«
»Und wenn ich mir das nun nicht gefallen lasse?«
»Das müssen Sie sich gefallen lassen. Sonst wird der Häuptling, der als Schiedsrichter fungiert, Sie mit Gewalt überwältigen lassen. Sie müssen überhaupt auf diese Bedingungen eingehen, sonst sind Sie in den Augen dieser indianischen Krieger kein Ehrenmann.«
»Gut, ich unterwerfe mich allen Bedingungen. Und gesetzt nun den Fall, ich bin's, der dieses Groß... diesen großen Herrn auf den Buckel legt, was dann?«
»Dann können natürlich Sie mit ihm machen, was Sie wollen.«
»Was machen?«
»Er wird Ihnen gebunden ausgeliefert, Sie können ihn sogar töten, ihn am Marterpfahl sterben lassen, und dasselbe gilt natürlich auch für seinen Herrn.«
»Was? Auch seinen Herrn, den Papapopulos könnte ich dann töten?«, rief ich erstaunt.
»Selbstverständlich. Eigentlich ist es doch dieser Señor, der Sie zum Zweikampf herausfordert, aber er stellt einen Stellvertreter, für den er natürlich auch voll und ganz verantwortlich ist. Wird sein Stellvertreter besiegt, dann hat der Señor auch alle Verantwortung zu tragen.«
Ich wusste nicht recht, wie sich das die Indianer vorstellten, die dies alles so selbstverständlich fanden. Na, schließlich war mir das ja ganz egal...
»Ja, kann da nicht hier auch der Kapitän einen anderen für sich stellen?«, mischte sich da plötzlich Karlemann ein, der bisher nur aufmerksam zugehört hatte.
»Dazu hat er natürlich auch das Recht«, lautete Taubeneis Entgegnung.
»Well, dann sagen Sie dem Papapopulos, dass ich für den Bärenschmetterer mit dem Großmaul ringen werde.«
Obgleich der rote Advokat und Philosoph wieder ein echter Indianer geworden war, blickte er doch mit maßlosem Staunen auf den Knirps herab.
»Was? Du willst mit dem Riesen ringen?«, lächelte er dann.
»Jawohl, ich werde ihn auf den Rücken legen.«
Ich will nicht weiter des Längeren schildern, wie Taubenei durchaus nicht glauben wollte, dass dieser Wichtelmann Ernst mache, bis ich es war, der ihm diese Versicherung gab.
Mir selbst zwar kam die Absicht Karlemanns etwas ungeheuerlich vor, aber ich kannte diesen deutschen Zigeunerknaben doch schon zur Genüge und wusste, dass der manches fertig brachte, was anderen Menschen unmöglich erschien.
Taubenei verließ das Zelt, um unseren Entschluss zu melden.
»Glauben Sie wirklich, diesen ungeschlachten Riesen auf den Rücken legen zu können?«, wandte ich mich dann an Karlemann.
»Na, denken Sie denn, ich würde sonst für Sie eintreten?«, lautete Karlemanns Antwort, und eine nähere Erklärung sollte ich von dem Gernegroß auch nicht bekommen, ich musste mich ganz auf ihn verlassen. — — —
Eine halbe Stunde später standen wir inmitten des Lagers auf einem freien Platze, wo der Schnee schon längst festgetreten und mit Fellen und Decken belegt war, umringt von dem ganzen roten Volke der Fuchsindianer.
Der Londoner Bierkutscher hatte sich schon seiner Pelzkleidung entledigt, auch der Jacke und Weste, er stand nur in Hosen und Hemd da, und ich muss sagen, dass er in diesen enganliegenden Sachen mir gar keinen so ungeschlachten Eindruck mehr machte, zwar alles noch kolossal, jetzt vielleicht erst recht, der mächtige Körper mit schwellenden Muskeln ausgestattet, aber ich erkannte sofort, aus jeder Bewegung, dass dieser gewaltige Leib auch eine große Geschmeidigkeit besaß.
Ganz offenbar hatte ich es mit einem professionellen Athleten zu tun, der sich systematisch zum Ringkämpfer ausgebildet hatte, und gerade in jetziger Zeit kann man ja oft genug im Zirkus und in anderen öffentlichen Schaustellungen beobachten, was für eine katzenartige Geschmeidigkeit diese riesenhaften Ringkämpfer besitzen, von denen wohl keiner unter zwei Zentnern wiegt.
Es mochte ihm wie dem Armenier schon vor unserer Ankunft auf dem Kampfplatze klargemacht worden sein, dass nicht ich, sondern mein kleiner Begleiter mit dem Riesen ringen wolle, und es war begreiflich, dass man noch immer an einen Scherz glaubte.
Ich will nicht schildern, wie dieser Unglaube zerstreut werden musste, und dann brach der Riese in ein Gelächter aus, dass die Wigwams umgefallen wären, wenn sie statt aus Lederhäuten aus Steinmauern errichtet gewesen wären.
Nun, schließlich war der Riese bereit, auf den Scherz einzugehen.
Auch Karlemann hatte sich seiner Pelzkleidung entledigt. Unter dem Zeug, das er noch anhatte, war nichts von der außerordentlichen Muskulatur dieses Wichtelmannes zu bemerken, die ungewöhnliche Körperkraft des kleinen Mannes konnte man höchstens an den breiten Schultern erraten. An einen würdigen Gegner des Riesen war deshalb natürlich nicht im Geringsten zu denken. Eben ein besonders kräftig entwickelter Knabe, weiter nichts, mit dem der Riese Fangball spielen würde, auch wenn er doppelt so breite Schultern gehabt hätte.
Weitere Vorbereitungen gab es hier nicht, nicht erst ein Händeschütteln oder dergleichen.
Während ich eine ziemlich lange Einleitung zu diesem Ringkampfe gebraucht habe, dauerte dieser selbst keine zwei Minuten.
»Na, da komm mal her, mein liebes Kindchen«, sagte der Riese gutmütig, ging mit ausgestreckten Händen auf den schon in der Mitte des Platzes stehenden Karlemann zu und... lag plötzlich platt auf dem Rücken, die Beine in die Luft reckend, während Karlemann, die Arme über der Brust verschränkt, die Stulpnase hochreckend, seinen rechten Fuß auf die Brust des Gefällten setzte.
»Gesiegt! Regelrecht, was?«
Ich kann gar nicht schildern, mit welch blitzartiger Geschwindigkeit sich Karlemann gebückt und dem Riesen die Beine unter dem Leibe weggezogen hatte, und ebenso wenig vermag ich den Eindruck zu schildern, wie das aussah, als dieser Knirps jetzt so mit hochgereckter Nase dastand, den Fuß auf die Brust des besiegten Gegners gesetzt. Es war einfach ein unbeschreibliches Bild!
Die Rothäute waren erst als phlegmatische Zuschauer gekommen, mit der Absicht, ihre Würde zu wahren, aber ich merkte schon, wie aufgeregt sie im Laufe des Kampfes werden würden, falls ein solcher wirklich zustande kam — — aber die Krieger kamen so wenig wie die Frauen und Kinder dazu, ihrem Jubel Luft zu machen, es ging alles viel zu schnell.
Einige Sekunden hatte der Riese bewegungslos dagelegen, wahrscheinlich glaubend, der Himmel sei über ihm zusammengebrochen, dann aber schnellte er mit einem Wutschrei in die Höhe, und zwar mit einer Leichtigkeit, welche allein schon verriet, was für eine Gewandtheit doch in diesem schweren Körper steckte — und sofort sah er sich vor, gebückt lief er gegen den etwas zurückgesprungenen Karlemann an — und dann sprang dieser vor den Händen, die ihn packen wollten, seitwärts, aber in einer Weise, die ich wiederum nicht beschreiben kann, Karlemann beschrieb während dieses Luftsprunges förmlich einen Haken, einen Winkel, stand plötzlich im Rücken des Riesen, ein Griff nach den Beinen, und diesmal lag der Londoner Bierkutscher platt auf dem Bauche und so musste Karlemann diesmal seinen Fuß auch auf den Rücken des gefällten Gegners setzen, wieder mit verschränkten Armen, wieder die Stulpnase in die Luft gereckt, ein Bild unnachahmlicher Würde.
»Besiegt! Regelrecht, was?«
Dann blickte er nach unten und machte ein verwundertes Gesicht.
»Ach so, der liegt auf dem Bauche, da muss ich ihn erst...«
Er kam nicht weiter. Nicht mit einem Wutschrei, sondern mit einem Wutgebrüll war der Riese diesmal aufgesprungen, wieder auf Karlemann zu... und nun passierte etwas, Karlemann führte ein Manöver aus, das ich gar nicht mit den Augen verfolgen konnte.
Es kam mir vor, als ob Karlemann dem Riesen von vorn zwischen den Beinen hindurchgehuscht sei, denn er stand plötzlich hinter ihm, hatte dann aber seinen Kopf schon wieder zwischen dessen Beinen, und plötzlich überschlug sich der Riese nach rückwärts, stürzte nieder und kam abermals auf den Rücken zu liegen.
Karlemann hatte ihn einfach mit dem Kopfe ausgehoben — aber wie er das fertiggebracht, das war mir eben ein Rätsel. Mit dem Momentfotografenapparat wäre es vielleicht zu beobachten gewesen, nicht mit den Augen.
»Nummer drei! Genügt das nun endlich?«, fragte Karlemann in seiner gewöhnlichen Siegerpose.
Ja, für die Rothäute genügte es, deren starres Staunen wich plötzlich, sie begannen zu toben, auch der würdigste Krieger, der sonst erhaben über jede Gefühlsempfindung war.
»Alla, alla, alla!!!«, schrien und jubelten sie in einem fort, sodass ich mich einen Augenblick unter Arabern wähnte, welche ihren Allah anriefen. Dieses ›Alla‹ hatte aber wohl etwas anderes zu bedeuten, und dann wurde ganz energisch gebellt, als ob eine Meute Köter losgelassen worden wäre.
Aber für den Londoner Bierkutscher war es noch immer nicht genügend. Wieder brüllend vor Wut auf, wieder auf seinen zwerghaften Gegner los!
Ich hatte dieses Spiel nun satt, und wenn sich hier niemand als Schiedsrichter einmischte, so wollte ich es tun.
Also ich sprang zwischen die beiden, und als ob der Riese nur darauf gewartet hatte, so hatte er mich plötzlich gepackt.
Wie lange wir uns herumgebalgt haben, und was für Kunstgriffe der Kerl alles angewendet hat, weiß ich nicht mehr, wusste es auch damals nicht. Er versuchte mich wohl auszuheben, hatte den einen Arm um meine Hüften geschlungen und die andere Hand auf meinen Oberarm gelegt, und eine Riesenkraft hatte dieser menschliche Elefant wirklich, hätte ich nicht noch meinen Pelzrock angehabt, seine Fingerkuppen hätten wohl blutige Spuren in meinem Arme zurückgelassen, mir das Fleisch abgerissen.
Mit dem Ausheben war es bei mir freilich nichts, er hob mich wohl einige Male in die Höhe und setzte mich unsanft wieder hin, aber umfallen tat ich bei diesem Experiment nicht — und so wandte er noch andere Kunstgriffe ohne Erfolg an — dann legte er beide Hände hinten in meinen Rücken und drückte, drückte immer mehr, und ich kann nur sagen, dass das ganz abscheulich weh tat, ich hätte vor Schmerz gleich laut aufbrüllen mögen.
Mit diesem Schmerze kam mir aber erst richtig zum Bewusstsein, was der Kerl eigentlich von mir wollte — und da erfasste mich plötzlich die Berserkerwut — ›du Himmelhund verfluchter!‹ — und da hatte ich ihn hinten bei den Hosen gepackt, schlenkerte ihn im Kreise herum, und dann schmetterte ich ihn auf den Boden nieder, dass alle Knochen krachten.
»Nun — hast — du — wohl — endlich — genug!!«, schrie ich, ihn bei jedem Worte von neuem aufhebend und ihn gegen den Boden stauchend.
Aber nein, der Kerl hatte eben immer noch nicht genug; sofort, als ich ihn losließ, schnellte er wieder empor, wieder mit einem Gebrüll, das gar nichts Menschliches mehr an sich hatte, auf mich los, aber diesmal nicht, um mich zum Ringkampf zu packen, er führte einen Faustschlag gegen mich, der mir die Kinnlade zerschmettert hätte, wenn er meinen Kopf getroffen hätte — aber er traf eben nur meine Faust, mit der ich pariert, und dann schlug ich nach, und weil er meine rechte Faust parierte, sagte ich ›na da!‹ und gab ihm eins von der anderen Seite, was er nicht parieren konnte, und da stürzte er hin, und sprang nicht wieder auf. Das Blut floss ihm aus Nase und Mund, sich mit dem Geifer vermischend, den er schon immer vorm Maule gehabt.
»Alla, alla, alla!!«, tobten jubelnd die Rothäute.
Jawohl, nun war's ›alla‹, der Riese wurde davongetragen und in die Kaltwasserkur genommen. Sonst hatte es ihm nichts weiter geschadet, nur dass er auf der rechten Seite nicht mehr kauen konnte. Da hatte er keine Backzähne mehr. — — —
Ich will nicht schildern, was man mit Karlemann und mir alles anstellte, um uns zu ehren. Es waren unter dem Eise viele Fische gefangen worden — wir bekamen als Delikatesse nur die Köpfe davon. Mag diese Andeutung genügen, wie man uns entgegenkam. Ganze Fische wären mir freilich lieber gewesen.
Dagegen will ich ausführlich bei einer Szene verweilen, die sich noch am Abend desselben Tages abspielte, und die ein blutiges, grässliches Ende nehmen sollte.
Den Medizinmann hatten wir schon zu sehen bekommen. Es war durchaus nichts Besonderes an ihm.
Ein ältlicher Indianer wie alle anderen. Respekt ward ihm nicht entgegengebracht.
Anders wurde das, als er am Abend in voller Ordenstracht seine Zeremonien vornahm, um aus einem kranken Kinde den bösen Geist auszutreiben.
Er erschien in einem phantastischen Kostüm, mit getrockneten Eidechsen und Fröschen und anderem Gewürm behängen. Ehrfürchtig wurde ihm Platz gemacht, als er sich nach dem Feuer begab. Das an Fieber erkrankte Kind war nicht zur Stelle, das war auch ganz Nebensache — Hauptsache war, dass der Medizinmann unter einem monotonen Gesang um das große Feuer herumhopste und dann verschiedenen Hokuspokus ausführte.
Ich bekam tatsächlich Seltsames, Unerklärliches zu sehen. So nahm der rote Zauberer wiederholt glühende Holzkohlen aus dem Feuer, mit den bloßen Fingern, ließ sie flach in seiner Hand liegen, legte sie auf die nackten Arme und auf andere Körperteile, und er zeigte nicht nur keine Äußerung von Schmerz, sondern es war auch wirklich nichts davon zu merken, dass die glühenden Kohlen das Fleisch oder auch nur die Haut versengt hätten.
Ich weiß hierfür keine Erklärung, suche sie auch nicht. Ich habe dasselbe Experiment der Unverbrennlichkeit in Indien, in Ägypten und Marokko ausführen sehen, von Fakiren und von Derwischen. Ich habe in Kalkutta gesehen, wie ein Fakir die in früheren Zeiten auch bei uns angewandte Feuerprobe bestand, indem er über weißglühende Eisenplatten schritt, wozu er wenigstens zehn Schritte nötig hatte, ganz langsam, ohne sich im mindesten die nackten Sohlen zu verbrennen.
Die Tatsächlichkeit dieser Feuerbeständigkeit werden zahllose Menschen bezeugen können, die im Orient gewesen sind, und keiner hat ein Recht, an deren Aussagen zu zweifeln, so lange er nicht selbst dort gewesen ist.
Die einzige natürliche Erklärung dieses scheinbaren Wunders wäre für mich die, dass es sich hierbei ähnlich verhält, wie mit dem Leidenfrost'schen Tropfen.
Wer nun freilich nicht weiß, was das ist, der sogenannte ›Leidenfrost'sche Tropfen‹, der muss sich von einem Physiker darüber belehren lassen, ich fühle mich hierzu nicht verpflichtet. Ehe man den Inhalt eines Buches beurteilen will, muss man erst das ABC lernen.
Kurz, dieser rote Hexenmeister zeigte sich gegen Feuer unempfindlich. Das heißt, ins Feuer selbst griff er nie, oder er beeilte sich, die Holzkohlen da heraus zu bekommen, und da zog er wohl auch einmal die Hand unter Zeichen des Schmerzes zurück. Aber die hellglühenden Kohlen selbst konnten ihm nichts anhaben. Er legte sie auf die herausgereckte Zunge; es zischte — aber keine Spur von Versengung war dann zu merken.
So oft die Indianer dies auch schon gesehen haben mochten, schauten sie doch immer wieder mit ehrfürchtigem Staunen zu. Der Medizinmann wandte sich hauptsächlich an mich, ließ mich seine Haut und seine Zunge untersuchen, er wollte mir offenbar imponieren — du kannst wohl einem Bären den Schädel einschmettern, aber feuerbeständig bist du doch nicht, oder mach's mir doch einmal nach! — bis ich mich endlich gelangweilt abwandte.
Ich suchte Tischkoff auf, der sich in einem Wigwam bei dem kranken Kinde befand und sich hier als viel besserer Medizinmann erwies, indem er dem fiebernden Baby Chinin einflößte, das er bei sich hatte. Den Erfolg davon freilich würde wohl jener rote Hexenmeister für sich beanspruchen.
Ich erzählte Tischkoff von dem, was ich gesehen, fragte diesen weitgereisten, so manches wissenden und könnenden Mann, selbst ein menschliches Geheimnis, ob er mir für diese Feuerbeständigkeit eine Erklärung geben könnte.
»Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen lässt.«
Das hatte ich freilich auch schon gewusst.
Das Gemurmel der ihren Medizinmann bewundernden Rothäute drang bis hierher, und jetzt wurden daraus laute Rufe des Staunens, der Hexenmeister musste ihnen etwas ganz Besonderes vormachen.
Da kam Karlemann angestürzt.
»Dieser Langhals begräbt unsere ganze Autirätot!«, rief er.
»Begräbt was?«, lachte ich.
»Unsere Au — Au — Aueräritätot, oder wie das Ding heißt.«
»Unsere Autorität, meinen Sie wohl.«
»Jawohl, die vergräbt er.«
»Vergraben tut er sie?«, lachte ich noch immer. »Wie macht er denn das?«
»Nu, indem er sich Stecknadeln in den Bauch sticht.«
Ich dachte zuerst, auch Karlemann hätte das Fieber und spräche im Delirium.
»Ich komme sofort«, sagte aber Tischkoff ganz ernst, der eben das Kind in nasse Tücher einwickelte.
Ich selbst ging gleich mit Karlemann zurück. Am Lagerfeuer hatte sich unterdessen die Situation verändert, jetzt, war es Langhals, welcher den Indianern etwas vorzauberte, und wieder bekam ich Dinge zu sehen, die ich zwar schon an anderen Orten beobachtet hatte, die mir aber bis heute ebenso unerklärlich sind.
Zunächst holte der Mestize mit der langen Gurgel ebenfalls glühende Holzkohlen aus dem Feuer, zeigte seine Unverletzlichkeit, wie ihm die Glut nichts anhaben könne.
Ich vermutete, dass er dieses Experiment nur meinetwegen wiederholte. Das war jedenfalls schon die Einleitung zu noch anderen Kunststücken gewesen, er wollte nur auch mir noch einmal zeigen, wie er dasselbe wie der Medizinmann könne, was für ihn nur Kleinigkeit sei.
Jetzt war auch Papapopulos zur Stelle, und er hatte von Anfang an seine Augen mit höhnischem Ausdruck auf mich gerichtet, während der Medizinmann finster auf den neuerstandenen Rivalen blickte.
Es blieb nicht dabei, dass der Mestize die glühenden Kohlen nur auf die Zunge legte, sondern er verschluckte sie auch. Faktisch, er nahm direkt aus dem Feuer eine weißglühende Kohle, legte sie auf die Zunge, zog diese zurück, schluckte, und ganz deutlich war zu sehen, wie die Kohle die lange Gurgel hinabglitt.
Auch dieses Experiment des Feuerfressens habe ich in Indien von Fakiren ausführen sehen. Dabei ist dieses Feuerfressen nicht mit dem zu vergleichen, welches man manchmal auf deutschen Jahrmärkten von Schwarzen sehen kann. Die brennende Substanz, welche diese Hokuspokusmacher unter rauchender Flamme in den Mund stecken und unter Zischen kauen und verschlingen, ist Kolophonium, und wer den Mut hat, kann dieses Experiment sofort nachmachen, das brennende Kolophonium in den Mund stecken, und wer Geschmack daran findet, kann es auch hinterschlucken, ohne den geringsten Schmerz dabei zu empfinden.
Dasselbe gilt auch vom Kork. Darauf beruht das Kunststückchen vom Verspeisen eines brennenden Salats. Man schneidet von einem Kork dünne Scheibchen ab, tut, als ob man Gurkensalat anrühre, spießt so ein Scheibchen mit der Gabel an, brennt es an einem Lichte an und kann nun diese brennende Scheibe getrost in den Mund stecken, es brennt durchaus nicht am Gaumen.
Woher das kommt, dass Kolophonium, Kork und andere Substanzen keine heiße Flamme geben, weiß ich nicht. Der Ausdruck ›kalte Flamme‹ dürfte aber ein ganz falscher sein. Wahrscheinlich kommt es daher, dass Kolophonium und Kork außerordentlich schlechte Wärmeleiter sind, und in dem Augenblick, da man das brennende Zeug in den Mund steckt, erlischt die Flamme, und die brennbare Substanz hat sich dabei nicht im mindesten erhitzt.
Von den glühenden Holzkohlen aber konnte dies nicht gelten. Wenn ich eine anfassen wollte, verbrannte ich mir die Finger, während der Medizinmann sie ruhig auf seiner Hand liegen ließ, dieser langhalsige Mestize sie sogar verschluckte, was nun wieder der rote Hexenmeister nicht nachzumachen wagte.
Hierauf zeigte der Mestize einige lange, starke Stecknadeln, bohrte sie auf seinem Oberschenkel in die Lederhose, sodass sie zunächst aufrecht stehen blieben, nahm ein flaches Stück Holz und trieb mit einem Schlage die Stecknadeln in seine Lederhose hinein, und da diese nicht sehr stark sein konnte, mussten die Nadeln wohl auch ins Fleisch dringen.
Dass dem wirklich so war, zeigte er an anderen nackten Körperteilen. Er stach sich eine, dann mehrere Stecknadeln in den entblößten Oberarm, in die Hand, in die Nacken, bis an die Kuppe, zuletzt durchstach er sich auch die Nase und sogar die Zunge, sodass man die Nadeln zur anderen Seite wieder herauskommen sah, zog sie hin und her, und weder floss Blut noch war sonst eine Wunde oder irgendwelche hinterlassene Spur zu sehen.
Ich habe das gleiche Experiment nicht nur in Indien, sondern auch in deutschen Jahrmarktsbuden ausführen sehen. ›Der unverwundbare Fakir‹ — wenn es auch ein angemaltes Blassgesicht war. Mir ebenfalls unerklärlich. Gelehrte Theorien von dehnbaren Zellengeweben und dergleichen sind eben nur Theorien, keine richtigen Erklärungen. Wenn ein einziges der zahllosen Äderchen durchstochen wird, müsste Blut fließen, und warum dies nicht geschieht, ist mir eben unbegreiflich; ich zerbreche mir aber auch nicht den Kopf darüber.
Auf diese Indianer jedoch machte das noch nie Gesehene, diese scheinbare Unverwundbarkeit, einen kolossalen Eindruck, auch der würdevollste Krieger verlor seine Fassung, stimmte mit ein in die allgemeinen Rufe des Staunens, und das steigerte sich bis zum Entsetzen, als der Mestize zuletzt dieselben Experimente mit einer Art langer Hutnadel fast ausführte, auch ein Stilett mit besonders dünner Klinge zu nennen, welche schon ganz gefährliche Waffe er sich ebenfalls in die verschiedensten Körperteile stieß, sogar direkt in den Leib, dann das Stilett dem Medizinmann hinhaltend, er sollte ihm das nachmachen, welches Verlangen der rote Zauberkünstler mit Schrecken von sich wies. Hier hatte er eben seinen Meister gefunden.
Ich war mir damals gar nicht recht bewusst, was für uns hierdurch alles auf dem Spiele stand. Ich kannte gar nicht die Macht, welche der Medizinmann oder überhaupt so ein Hexenmeister, der etwas mehr kann als andere Menschen, weil er vorgeblich mit Geistern in Verbindung steht, über die Indianer ausübt — ich war besonders dadurch getäuscht worden, dass ich anfangs bemerkt hatte, wie wenig Ehrfurcht man doch dem bezeugte, den man mir als den Medizinmann vorgestellt hatte. Damals hatte sich dieser eben nicht ›in Dienst‹ befunden, da war er noch ein gewöhnlicher Mensch gewesen.
Wenn mich jetzt etwas stutzig machte, so war es nur der überaus höhnische Ausdruck, mit dem mich der Armenier unausgesetzt anblickte, und dasselbe galt auch von dem Mestizen selbst, wenn er sich an mich wandte, mich aufforderte, ich solle ihm seine Kinkerlitzchen nachmachen, und ich konnte mich des dreisten Burschen nicht erwehren.
»O weh, wenn die Sache so steht, da heißt es beizeiten eingreifen«, flüsterte da Tischkoff, der neben mich getreten war.
Ich verstand ihn gar nicht — ein anderer wusste die Situation besser zu erkennen und zu beurteilen.
»Ja, und das sofort«, sagte Karlemann, mehr gegen das Feuer tretend.
Der Mestize hatte sich die lange Hutnadel wieder einmal in den Bauch gestoßen und wollte den Medizinmann überreden, das Gleiche zu tun.
»Das ist ja noch gar nichts«, sagte Karlemann, »sich so eine dünne Nadel in den Bauch stoßen — das kann jeder dumme Junge, wenn er weiß, wie's gemacht wird, aber hier, hier...«
Und Karlemann griff in seinen rechten Stiefelschaft und brachte das Ding zum Vorschein, welches er sein Skalpiermesser nannte. Es war, wie schon gesagt, ein ungewöhnliches Messer, die Klinge mindestens zwölf Zoll lang, dabei ganz schmal, also auch ähnlich wie ein Stilett aussehend, jedoch ein wirkliches Messer, indem es eine Schneide besaß. Solch ein Messer wird wohl auch in der Küche für besondere Zwecke verwendet, es hat einen bestimmten Namen, den ich aber nicht kenne.
»Hier, stich dir einmal diese Stecknadel in den Wanst!«
Plötzlich war es ganz still im Kreise, und verzagt blickte der Mestize erst das lange Messer und dann den kleinen Sprecher an.
»Dieses Messer?«
»Ja ja, stich dir das einmal in den Bauch oder sonst wohin, und wenn da kein Blut fließt, dann will ich Hans Mops heißen.«
»Mach mir das erst einmal vor.«
»Du denkst, das Messer schneidet nicht? Dringt nicht ins Fleisch? Hier...«
Dass das Messer sehr spitz war, konnte man so sehen, und Karlemann nahm ein Stück Holz her und schnipselte mit Leichtigkeit dicke Späne ab. Das Messer musste scharf wie ein Rasiermesser sein.
»Na, bitte, stich dir dieses Messerchen mal in den Leib oder sonst wohin.«
»Ja ja, mach es mir nur erst einmal vor«, war die unwirsche Antwort.
»Dann machst du's mir nach?«
»Ja.«
»Gut, da will ich mir das Messer in den Leib stoßen, aber noch ganz anders als wie du.«
Und Karlemann neigte den Oberkörper etwas zurück, öffnete den Mund, steckte die Spitze des Messers hinein und ließ die ganze Klinge in den Hals hinabgleiten, erst langsam, zog das Messer wieder heraus und stieß es noch mehrmals schnell bis an den Griff hinab.
Ich hatte schon viel von Schwertschluckern gehört, zufällig aber noch keinen gesehen. Außerdem hatte ich immer geglaubt, dass die Waffe unbedingt ganz stumpf sein müsse, welche in die Speiseröhre hinabgestoßen wird.
Kurz und gut, es sah schrecklich aus, wie sich Karlemann das lange Messer, von dessen Schärfe er uns vorher eine Probe gegeben, wiederholt in den Hals hinabstieß. Bis an die Lunge musste die Klinge mindestens gehen.
»So, nun mach du mir das mal nach!«
Mit diesen Worten hielt Karlemann dem Mestizen das Messer hin.
Die umstehenden roten Krieger waren vor Staunen keines Lautes fähig, sie standen wie die Statuen, viele den Mund geöffnet, als wünschten sie selbst, das Messer zu verschlingen.
Aber die Zeichen von Entsetzen waren allgemeine, und die dunkle Gesichtsfarbe des Mestizen war plötzlich eine aschgraue geworden, mit weithervorgequollenen Augen stierte er die vorgehaltene Waffe an, dabei halb wie zur Flucht gewandt.
Und da lenkte ein Zähneknirschen meine Aufmerksamkeit nach dem Armenier. Ja, Monsieur Papapopulos war es, der mit den Zähnen knirschte, und sein quittengelbes Gesicht war mehr olivengrün geworden.
Er rief dem Mestizen einige Worte in einer mir unverständlichen Sprache zu, aber instinktiv hörte ich deutlich das Wort ›Feigling‹ heraus. Er forderte den Mestizen auf, das Gleiche zu tun.
»Na, keine Lust?«, spottete Karlemann. »Da ist doch gar nichts weiter dabei, und wenn du unverwundbar bist, kann dir doch so ein Messerchen nichts anhaben, das ist doch sogar recht harmlos, man verschluckt doch auch manche spitze Gräte, die man sich nicht ins Fleisch bohren darf. Hier, das schmeckt sogar sehr gut, das kühlt innerlich...«
Und wieder ließ Karlemann das lange Messer bis zum Griff, noch diesen in den Mund nehmend, in seinem Halse verschwinden, stieß noch mehrmals schnell nach, hielt das Messer dann wieder mit spöttischen Worten dem aschgrauen Mestizen hin.
»Wah!!«, waren die roten Krieger jetzt imstande, ihrem Staunen Ausdruck zu geben.
»Poltroon, coward — Feigling, Memme!!«, schrie der Armenier, diesmal englische Worte gebrauchend.
Und da passierte etwas, wofür ich noch heute keine Erklärung weiß.
Aber es kommen schon solche Fälle vor, dass jemand in einer Aufwallung etwas unternimmt, wovon er schon vorher bestimmt weiß, dass es über seine Kräfte geht, dass er dabei unterliegt, es mit dem Leben büßt — und er tut es dennoch!
Plötzlich ergoss sich über das aschgraue Gesicht des Mestizen eine dunkle Blutwelle, hastig riss er dem Jungen das Messer aus der Hand, bog den Oberkörper zurück, den Mund aufgesperrt, die Klinge hineingesetzt — und mit einem Ruck stieß er sie bis an das Heft hinab.
Einen Moment stand er. Dann brach er zusammen. Und aus seinem Munde ergoss sich ein dunkler Blutstrom.
In drei Minuten hatte er seine Seele ausgehaucht. Das Messer hatte die Lunge dermaßen verletzt, dass sie nicht mehr funktionieren konnte, er hatte ersticken müssen. Oder vielleicht hatte der Stahl sogar das Herz getroffen.
Jetzt haben wir gewonnenes Spiel«, sagte Tischkoff, als wir wieder in unserem Wigwam waren, »jetzt können wir nicht mehr ausgestochen werden.«
Er erklärte mir näher, was auf dem Spiele gestanden hatte. Ich hörte gar nicht hin — ich war mächtig erschüttert.
»Was wollten Sie denn den Indianers vormachen?«, fragte Karlemann.
Auch die Antwort darauf vernahm ich nicht. Mir kam die blutige Szene nicht vor den Augen weg.
Erst Taubeneis Meldung, Papapopulos träfe mit seinen übriggebliebenen zwei Begleitern Vorbereitungen, das Lager zu verlassen, sie wollten wohl noch die Mondscheinnacht benutzen, brachte mich in die Wirklichkeit zurück.
Tischkoff brauchte mich nicht erst darauf aufmerksam zu machen, dass dies nicht geschehen dürfe. Erst mussten wir selbst mit Blodwen und Kind wieder den amerikanischen Kontinent verlassen haben.
Mir eine meiner mitgenommenen Zigarren ansteckend, begab ich mich mit meinen Begleitern hin.
Die drei hatten ihre Rucksäcke gepackt und schnallten sich schon ihre Schneeschuhe an.
»Monsieur Papapopulos, Sie sind mein Gefangener.«
»Ich?«
»Ich habe Ihren Stellvertreter doch im Ringkampfe besiegt — und überhaupt, Sie werden dieses Indianerlager nicht eher verlassen, als bis ich es für gut befinde.«
»Warum nicht?«
»Fragen Sie nicht so dumm! Sie sollen mir nicht noch einmal Fallen stellen.«
»Ich werde mich hüten, ich habe Sie kennen gelernt.«
Aber natürlich blieb ich bei meinem Entschluss, und der Armenier gab auch schnell genug nach.
»Wie lange müssen wir dann noch hier bleiben?«
»Das kommt darauf an, wann wir abreisen. Tischkoff, was meinen Sie?«
»Ganz wie Sie bestimmen.«
Ich war schon längst mit einer Idee umgegangen, die ich aber hier nicht aussprechen wollte. So führte ich Tischkoff noch einmal hinaus und abseits, auch Karlemann nahm an der Beratung teil, schließlich auch Blodwen und Mister Fairfax.
»Ich hätte die größte Lust, hier noch einige Zeit unter den Rothäuten zu verbringen«, eröffnete ich die Unterhandlung.
»Wie Sie wollen«, sagte Tischkoff wiederum.
Blodwen hingegen bat mich mit flehenden Worten, sie doch möglichst rasch von hier fortzubringen. Sie könne dieses eintönige Leben nicht mehr ertragen.
»Aber ich wüsste nicht, wohin ich dich anders bringen sollte, als wieder auf den Vogelberg zurück.«
»Dorthin will ich auch.«
»Ist es dort nicht ebenso eintönig?«
»Durchaus nicht, dort hat es mir wundervoll gefallen, in Gesellschaft der englischen Damen... aber ich weiß, Richard, du selbst möchtest gern hier bleiben — so bleib doch.«
Mir kam diese leichte Entschließung, sich wieder von mir trennen zu wollen, durchaus nicht merkwürdig vor. Dazu war ich schon viel zu sehr Zigeuner geworden. Ich freute mich vielmehr über dieses Entgegenkommen Blodwens.
»Ja, wie willst du aber hinkommen?«
Tischkoff erklärte sich bereit, ihr Begleiter zu sein.
Kurz und gut, es wurde beschlossen, dass Tischkoff, Fairfax und Blodwen mit dem Kinde allein nach dem Vogelberge aufbrechen sollten.
Das war auch eine Maßregel der Vorsicht. Ich war doch gar zu leicht zu erkennen, jetzt erst recht in Blodwens Gesellschaft.
Und konnte ich denn einem anderen Blodwen und Kind sorgloser anvertrauen als meinem Kommodore?
Welchen Weg er einschlagen wollte, ob über San Francisco oder sonst wie, wie er überhaupt den Vogelberg wieder zu erreichen beabsichtigte, das konnte erst bei jeder Gelegenheit entschieden werden.
»So werde ich also noch einige Zeit allein hier bleiben. Den Rückweg zu unserem Versteck werde ich dann schon zu finden wissen, darüber braucht ihr euch keine Sorge zu machen. Wann werden Sie da aufbrechen?«
»Dann sofort morgen in aller Frühe.«
»Und Sie, Algots? Finden Sie gut, dass Sie den ersten Trupp begleiten?«
»Nein, auch ich will die Indianersch erst noch näher kennen lernen.«
»Das ist ja vortrefflich, dann bleiben wir zusammen hier.«
»Nein, nicht hier — hier gibt's ja keine Skalpe abzuziehen — ich gehe erst einmal ein bisschen ins Indianerterritorium.«
Karlemann musste am besten wissen, was er tun wollte, und zu- oder abzureden war diesem überreifen Jungen doch überhaupt nicht.
Ich begab mich zu Papapopulos zurück und erklärte ihm, wie Tischkoff vorgeschlagen, dass er noch eine Woche mit seinen Begleitern hier zu bleiben habe.
Er jammerte etwas, dann beruhigte er sich bei dieser Entscheidung.
»Sie rauchen da eine wunderbare Zigarre. Ach, eine Zigarre! Auch ich hatte mir welche mitgenommen, aber sie sind ins Wasser gefallen. Würden Sie mir nicht einmal eine Zigarre verehren? Ich werde mich bei Gelegenheit revanchieren.«
Natürlich — ich präsentierte dem, den ich eigentlich jetzt am Marterpfahle langsam hätte rösten lassen können, mein gefülltes Zigarrenetui.
»O, Sie sind ja wohlversorgt«, schmunzelte der armenische Jüngling und... nahm gleich drei heraus.
Wo war es denn gewesen, wo ich schon einmal so eine edle Unverschämtheit kennengelernt hatte, gegen die ich einfach machtlos bin?
Ach so, als ich damals die Jacht verfolgte, die mir Atlanta entführt hatte, jener französische Kavalier mit seiner Tante!
Aber der war noch eine Unschuld gegen diesen Armenier hier gewesen.
»O, ich habe durch diese verfehlte Spekulation großen Schaden erlitten, großen Schaden«, fing er an, und er detaillierte weiter, wie ich doch eigentlich daran schuld sei, dass er gegen zweitausend Dollar umsonst geopfert habe, weil er mich nicht erwischt hätte.
»Ganz abgesehen von den vierhunderttausend Pfund Prämie, die ich schon ganz sicher in meiner Tasche wähnte, und da bin ich noch immer bescheiden, nicht wahr? Ich hatte ja sogar auf zehn Millionen spekuliert, und das alles, alles ist mir nun entgangen, und noch zweitausend Dollar extra zugeschustert, und an alledem sind nur Sie schuld. Könnten Sie mir nicht eine kleine Entschädigung gewähren?«
Na, ich starrte doch diesen armenischen Jüngling wie eine Erscheinung aus dem Jenseits an.
Was er weiter schwatzte und jammerte, weiß ich nicht, jedenfalls verstand dieser Kerl zu schwatzen und zu jammern... und ich? Ich gutes, dummes Luder überlegte mir schon, ob es da nicht wirklich angebracht sei, dem armen Kerl mit einer Entschädigung für seine verfehlte Spekulation, mich an England auszuliefern, helfend unter die Arme zu greifen.
»Was macht denn Atlanta?«, fragte ich zunächst.
»Die habe ich nicht mehr«, entgegnete der Armenier ohne Zögern.
»Wo ist sie denn?«
»In Paris.«
»Wie kommt sie denn dorthin?«
»Ich habe sie an einen französischen Edelmann verkauft, an den Vicomte, Vicomte — ich komme nicht gleich auf den Namen, er steht in meinen Geschäftsbüchern — o ja, die ist sehr glücklich.«
Mir begann zu grauen, ich entfloh. Aber um das Schicksal meiner einstigen Freundin bekümmerte ich mich sonst nicht weiter. Er hatte sie ja glücklich verkauft. —
Am anderen Morgen bei Tagesanbruch nahm Blodwen Abschied von mir. Ich küsste sie, nahm noch einmal unser Kindchen auf den Arm, schüttelte Tischkoff und Fairfax die Hand, und ich sah sie gehen, geleitet von einigen Indianern.
Ich sah ihnen mit sehr wenig schwermütigen Empfindungen nach. Zigeunerblut! Schon der Seemann kennt kaum ein Abschiednehmen. Wir wollten uns ja bald wiedersehen.
Ich gab mich den Jagdfreuden hin — für die Indianer kein Vergnügen, sondern eine Pflicht, um ihre hungrigen Frauen und Kinder mit Nahrung zu versehen.
Ja, ich bestand manche Abenteuer, aber sie sind nicht wert, erzählt zu werden.
Am ersten Tage war Karlemann mitgegangen, am zweiten blieb er im Lager, er wollte sich ausschlafen, und als ich zurückkam, fand ich mit Kohle auf die Lederwand des Wigwams geschrieben:
Adjöh, ich ge ins Indiahnerderodrum auf wihddrseen Gabtean Algots.
Er war wie ein Zigeuner davongegangen. Na, seinen Namen konnte er wenigstens schreiben.
So war ich ganz allein, wenn ich die Rothäute nicht als geeignete Gesellschaft im Wigwam anerkennen wollte.
Doch nein, ich hatte einen gediegenen Freund gefunden: Taubenei. Er hatte nicht renommiert, seine höfliche Sprechweise war keine leichte Tünche gewesen, sondern ich lernte immer mehr einen hochgebildeten Mann kennen, mit dem ich mich unterhalten konnte wie selten einmal mit einem Menschen.
Ja, ich habe merkwürdige Ideen über Welt und Menschheit, und hier hatte ich einen gefunden, der auf alles eingehen konnte, der fast ebenso dachte wie ich.
So gingen wir beide meistenteils allein auf die Jagd, und während wir im Schnee vergraben auf dem Anstand lagen, weit entfernt vom Zeltdorf die grimmig kalten Nächte am Lagerfeuer verbrachten, unterhielten wir uns über die größten Probleme, die es unter diesem Sternenzelt gibt — und dabei hatte dieser doppelte Doktor nichts von seinem indianischen Instinkt und den anderen Fertigkeiten eines wilden Jägers verlernt, oder sie waren ihm zurückgekehrt — er war der beste Fährtensucher des ganzen Stammes, auch in allen anderen Jägerkünsten seinen Brüdern überlegen, und was ich von ihm lernte, sollte mir bald sehr zustatten kommen.
Aber eins lernte ich nicht: reiten. Dieser Siouxstamm hatte Pferde, an sich schon magere, elende Tiere, und wenn ich auch den Versicherungen glaubte, dass sie in den warmen Jahreszeiten Strapazen aushielten, denen jedes andere im Stall gefütterte Pferd unterliegen würde, so konnten sie sich jetzt vor Schwäche doch kaum auf den Beinen halten, denn mühsam mussten sie sich die spärlichen Grashalme unter dem Schnee hervorscharren.
Damals empfand ich es als ein Glück, dass ich nicht hin und wieder gezwungen wurde, meine langen Beine über einen Pferderücken zu legen. Der Respekt, den man mir noch immer entgegenbrachte, der sich infolge meiner angeborene Schießfertigkeit auch immer erneuerte, wäre bald futsch gewesen. Denn wer nicht reiten kann, der ist bei diesen Indianern doch gar kein Mensch.
Besser aber wäre für mich gewesen, ich hätte es gelernt. Denn ich sollte durch diese meine Ungeschicklichkeit sehr bald in schlimme Lagen kommen.
Am achten Tage wurden Papapopulos und seine Begleiter entlassen, soweit sie noch lebten. Das heißt, nur Langhals fehlte. Der Armenier hatte von meinen Zigarren mehr als ich geraucht, aber seinem sehnsüchtigen Wunsche, ihn für seine missglückte Spekulation mit mir auch noch pekuniär zu entschädigen, hatte ich glücklicherweise mannhaft standhalten können. Ich hätte mich dann später ja selbst ohrfeigen müssen.
So vergingen wiederum zwei Wochen. Da erkannte ich die Wahrheit des Wortes: cka ven dami — es ist alles eitel. Das heißt, ich war dieser Jägerei überdrüssig.
Aber schon nach Hause, nach dem Vogelberg? Es war das erste Mal in meiner Zigeunerperiode, dass ich mich allein befand, der ich sonst ständig von vielen Menschen umringt war — Strohwitwer in mehrfacher Hinsicht — ich wollte meine Freiheit doch noch etwas länger genießen.
Einst waren wir, Taubenei und ich, bei unseren philosophischen Gesprächen, die sich auch viel um Religion drehten, auf die Mormonen zu sprechen gekommen.
Ich will hier gleich in Kürze einschieben, was über die Sekte der Mormonen zu sagen ist.
Ihr Stifter war Joe Smith, geboren am 25. Dezember 1805 zu Sharon im Staate Vermont, U.S. A. Nachdem er sich im Staate New York in den verschiedensten Berufsarten versucht, sich besonders auch mit Schatzgräberei befasst hatte — ob mit oder ohne Erfolg, weiß ich nicht — befahl ihm nach seiner Behauptung im September 1827 eine Engelserscheinung, an einem Hügel zwischen Palmyra und Canandaigua nach ›heiligen Messingplatten‹ zu graben. Er fand die bezeichneten Platten auch, sie waren aber mit einer Schrift bedeckt, die er nicht lesen konnte.
Da erschien ihm im Traume Moses und lehrte ihn mit Hilfe der wunderbaren Steine Urim und Thummin, die Geheimschrift zu übersetzen. (Was für wunderbare Steine das aber waren, darf man mich nicht fragen. Quien sabe.)
Smith übersetzte also die Schrift und gab sie unter dem Titel ›Book of the Mormons‹ heraus, jetzt das heilige Buch der ›Heiligen des jüngsten Tages‹, wie die Mormonen sich selbst gern nennen — was Mormon heißt, wird später erklärt — das Buch ist gegenwärtig so ziemlich in alle Kultursprachen übersetzt.
Diese heilige Schrift enthält fünfzehn Bücher und erzählt in einer der biblischen nachgebildeten Sprache, wie zur Zeit des Königs Zedekia von Jerusalem ein frommer Jude namens Lehi mit seiner Familie von Palästina nach Amerika auswanderte — wie er das gemacht hat, weiß ich nicht, ich bleibe bei der schlichten Mormonenwahrheit — und hier hat er nun seine wunderbaren Reiseabenteuer sowie die Offenbarungen, welche Gott ihm hinsichtlich der künftigen Schicksale seines Volkes und des ganzen menschlichen Geschlechtes mitteilte, auf Messingplatten verzeichnet.
Mehrere seiner Söhne gingen in die Wildnis und wurden Häuptlinge verschiedener Indianerstämme. Die Nachkommen seines Sohnes Nephi aber waren schon mehrere Jahrhunderte vor Christi Geburt gute Christen, die an dieselben Lehrsätze wie unsere neuesten Theologen glaubten, ihre Kinder tauften und andere christliche Gebräuche hatten.
Die Priesterwürde und die Messingplatten vererbten sichin Nephis Familie fort. Ihr erschien auch der auferstandene Christus, wählte aus ihr zwölf Apostel, die in Kurzem das ganze Land — also Nordamerika — zum Christentum bekehrten.
Als zu Anfang des vierten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung die Kirche in Amerika durch Spaltung und Kriege zerfallen war, erschien Mormon, ein gewaltiger Kriegsheld und gar frommer Heiliger, welcher die vom Fluche befallenen Lamaniten nach Südamerika vertrieb. Doch sie kehrten um 400 nach Nordamerika zurück, und die christlichen Nephiten erlagen ihrem Schwerte. Nur wenige von ihnen blieben übrig, darunter auch Mormons Sohn Moroni, welcher diese wahrheitsgetreue Historie auf Messingplatten aufschrieb, zugleich auch ausdrücklich Joe Smith aus Sharon im Staate Vermont als ihren Entdecker und als Mormons Nachfolger bezeichnete.
So viel über diese heilige Schrift.
Nachforschungen von unparteiischer Seite haben das wahrscheinliche Resultat ergeben, dass diese sogenannte Bibel der Mormonen ein vom Pfarrer M. Davison ums Jahr 1812 abgefasster phantastischer Roman ist, der ungedruckt blieb. Durch den Buchdrucker Sidney Ridgon, einen der eifrigsten Anhänger Joe Smiths, gelangte das Manuskript in dessen Hände, und der machte dann die Geschichte mit den Messingtafeln daraus.
Über die Religion der Mormonen und ihre Gebräuche werde ich an anderer Stelle sprechen, denn ich sollte dies alles noch gründlich kennen lernen.
Im Jahre 1830 organisierte Smith die neue Sekte, und diese siedelte sich, gleich im Anfang mehr als hundert Mitglieder zählend, im Staate Missouri an. Aber betont muss werden, dass damals von Vielweiberei noch keine Rede war. Davon steht überhaupt gar nichts im Buche Mormons, es wird darin auch nicht etwa die eventuelle Erlaubnis erteilt.
Die Mormonen verstanden Propaganda zu machen. Außerdem imponierte das, wie durch ihren Fleiß jede neue Kolonie, die sie gründeten, rasch in die Höhe kam.
Wegen ihrer Extravaganzen wurden sie aus Missouri verwiesen. Im Jahre 1840 siedelten sie nach Illinois über, bereits 2100 Köpfe stark.
Sechs Jahre später kam es zu einer offenen Schlacht zwischen den Mormonen und den anderen Ansiedlern, wobei Joe Smith seinen Tod fand.
Sein Nachfolger wurde Brigham Young, der mit den ›letzten Heiligen‹ über die Felsengebirge zog, wobei sie furchtbare Kämpfe mit den Indianern zu bestehen hatten.
So kamen sie auch nach Utah, gründeten hier am großen Salzsee die Stadt Great Salt Lake City, die wir fernerhin einfach Salzstadt nennen wollen.
Schon Joe Smith hatte in seinen letzten Lebensjahren die Vielweiberei eingeführt, mit der frommen Begründung, das sei ein ›Privilegium, welches die höchste Stufe menschlicher Vollkommenheit voraussetzt‹. Ob das stimmt, lasse ich dahingestellt sein, da bin ich nicht kompetent.
Jedenfalls aber brachte diese konzessionierte Vielweiberei Männlein und besonders Weiblein massenhaft herbei, und nicht nur alte Jungfern, die sonst keinen Herrn der Schöpfung mehr fanden. Die Mormonen begnügen sich nicht wie die Mohammedaner mit nur sechs Weibern. Brigham Young hatte gegenwärtig deren fünfzig, wovon er allerdings zwanzig von seinem Vorgänger mit übernommen hatte.
Bis zum Jahre 1857 hatte die Unionsregierung dieses Verhältnis wie überhaupt die ganze Sekte geduldet, Young war sogar zum Gouverneur des Staates Utah ernannt worden, den er in die Höhe gebracht hatte.
Dann kamen Bedenken. Die Mormonen sollten ihre Salzstadt und ganz Utah verlassen. Die Mormonen wollten nicht. Da schickte die Regierung 2500 Soldaten hin und... da bekamen diese 2500 Soldaten von den Mormonen die schmählichsten Hiebe.
Hierauf überlegte es sich die Regierung anders; den Mormonen wurde Amnestie erteilt, und so sitzen sie mit ihren Frauen heute noch am großen Salzsee. Zu meiner Zeit waren es in ganz Utah etwa 50 000 Seelen, und allüberall in der Welt suchten sie Proselyten zu gewinnen. Doch hatten die Bekehrten die Pflicht, nach Utah überzusiedeln. —
Bei Gott, dieses Leben dort musste ich einmal kennen lernen! Ich hatte es ja gar nicht mehr so weit — vierzig deutsche Meilen, die ich auf Schneeschuhen bequem in vier Tagen zurücklegen konnte. Auch die Witterung war günstig, der Winter war nicht so streng geworden, wie er sich angelassen, dabei aber gab's herrliche Schneeschuhbahn.
Taubenei schüttelte schwermütig den Kopf, als ich ihn zur Begleitung aufforderte. Nein, er verließ seinen Stamm niemals wieder. Er war noch nie am großen Salzsee gewesen, konnte mir also auch nicht den Weg angeben.
Nun, den wollte ich schon selber finden. Es war Karlemanns Kompass gewesen, der falsch gezeigt hatte, und der Himmel ist doch nicht immer umwölkt. Und wie man Wild beschleicht, das hatte ich unterdessen auch gelernt, ich konnte mir also helfen, falls mir der Proviant ausging.
Es galt nur noch, die braven Sioux zu entschädigen, weil denen doch nun auch die für meine Gefangennahme versprochene Prämie entgangen war.
Ich hatte fünfzigtausend Dollar in Papiergeld verschiedener Länder in meiner Brieftasche, und wenn es nach mir gegangen wäre, so hätte ich den Rothäuten, die mich gastlich bewirtet, gleich die Hälfte gegeben, ebenso vielleicht, wenn ich ein paar Millionen bei mir gehabt hätte. Denn der Zahlenbegriff, wenn es sich um Geld handelt, geht mir vollständig ab.
Taubenei aber erklärte mir, dass seine roten Brüder mit Papiergeld absolut nichts anfangen könnten. Nach einer Ansiedlung kam niemand, auch der im Jahre zweimal eintreffende Pedlar, der Indianeragent, der auf seinem Wagen Pulver, Tabak, Decken und dergleichen brachte, würde es nicht annehmen. Aus welchem Grunde, verstand ich nicht recht.
»Na, vielleicht dann das hier?«
Und ich zeigte einen Lederbeutel, welcher hundert englische Pfundstücke enthielt.
Jawohl, das wurde mit jubelnder Freude angenommen, um... die Goldstücke zu durchlöchern und damit die Weiber zu schmücken — soweit diese noch jung waren. Am meisten bekamen wohl die noch unverheirateten Mädchen davon ab, welche dadurch wieder im Werte stiegen, weil der Vater die Braut bezahlt bekommt, mit Pferden, Waffen, Pelzen und dergleichen.
So hatte ich mich als tadelloser Gast, dessen Wiederkunft man gern entgegensah, verabschiedet, und an einem herrlichen Februarmorgen machte ich mich auf die Strümpfe oder vielmehr die Schneeschuhe, ein Paar als Reserve noch auf dem Rücken tragend.
Ich übergehe die nächsten drei Tage. Rutschen, immer rutschen! Am Tage schwitzte ich wie ein Kohlentrimmer, und des Nachts am Feuer fror ich wie ein Schneider. Die einzige Abwechslung brachte mir ein Schneesturm, in dem ich beinahe mein Leben gelassen hätte, sonst aber war nichts des Erzählens wert. Verirren konnte ich mich nicht — das hier war doch etwas ganz anderes, als damals in der Nacht — denn ich hatte meinen Sextanten mit Taschenlogarithmen bei mir, und auf meiner Karte war schon die Umgebung der Mormonenstadt verzeichnet, also kannte ich auch genau ihre geografische Lage.
Als ich am dritten Tage eine geografische Bestimmung machen wollte und die Logarithmentafeln hervorzog, vermisste ich meine Brieftasche, welche die fünfzigtausend Dollar enthielt, nichts weiter. In Amerika braucht man ja keine Legitimationspapiere, und ich hätte mich doch gehütet, irgendwelche Papiere bei mir zu haben, die mich als den bekannten Richard Jansen kennzeichneten.
Fünfzigtausend Dollar verloren! Schrecklich, nicht wahr?
Nun, ich dachte anders. Wenn ich es mir recht überlegte, musste ich sie vor vier Stunden verloren haben, als ich zuletzt mein Logarithmenbuch aus der Tasche gezogen hatte.
Ich konnte meine Spur zurückverfolgen, aber sicher nicht weit, denn es wehte ein starker Wind, welcher den feinkörnigen Schnee auf der vorigen, hartgefrorenen Schicht vor sich hertrieb, und so mussten die schwachen Spuren, welche die Schneeschuhe hinterließen, bald verwischt sein.
Wie weit ich die Spuren zurückverfolgen könnte, davon überzeugte ich mich gar nicht erst. Ich drehte überhaupt nicht um, in der Annahme, dass sie eben sehr bald aufhören würden.
Jetzt hatte ich in Münzen gerade noch zwei Dollar und fünf Cent bei mir, das sind drei Taler. Recht so, oder eigentlich schon zu viel; ein Zigeuner, ob nun zu Lande oder zur See, darf überhaupt kein Geld haben, und wie ich mit meinen drei Talern in der Salzstadt mit den Mormonen fertig und dann nach dem Vogelberg zurückkommen würde, das blieb der Zukunft überlassen. Mein Appetit und meine sonstige Gesundheit litten darunter jedenfalls nicht.
Vom Abend des dritten Tages an konnte ich wegen umwölkten Himmels keine Ortsbestimmung mehr machen, musste mich ganz auf den Kompass verlassen, und das galt auch für den vierten Tag.
Weit ab von der Mormonenstadt konnte ich aber doch nicht mehr sein, mich wunderte schon, noch keine Ansiedlung zu finden. Das Gebiet, welches die Mormonen mit unsäglichem Fleiße kultiviert haben, muss sich doch meilenweit um die Stadt herum erstrecken, um fünfzigtausend Menschen ernähren zu können.
Aber ich sah nicht einmal eine Hütte, und einem Menschen war ich überhaupt noch nicht begegnet.
Es war gegen Mittag, als ich in weiter Ferne einen Wapitihirsch sah, der die Rinde einer jungen Tanne abschälte. Bisher hatte ich mich noch nicht mit Jagd aufgehalten, auch hatte ich im Rucksack noch immer getrocknetes Fleisch, aber ich schmachtete schon längst nach einem frischen Braten.
Also ich umging das Tier, bis ich den Wind gegen mich hatte, schlich mich auf Händen und Knien heran. Aber es bekam Witterung oder merkte meine Annäherung sonst, es floh davon. Entgehen konnte es mir trotzdem nicht, die harte Schneekruste war nur dünn, der schwere Hirsch brach mit seinen schmalen Hufen noch immer ein, ich musste ihn bald einholen können.
Ich richtete mich auf — in diesem Augenblick sauste etwas Schwarzes an meinen Augen vorbei, gleichzeitig schnürte mir eine unsichtbare Kraft meine Oberarme fest an den Leib, und ebenso schnell wurden mir die Füße nach hinten gerissen, dass ich vornüber stürzte, mich mit den Händen nur noch ein wenig abstützen könnend.
Noch hatte ich keinen Gedanken darüber gefasst, was eigentlich passiert war, höchstens schoss es mir durch das Gehirn: das ist ein Schlaganfall; aber du hast doch gar keine Anlage zu so etwas — da wurden meine schon festgeschnürten Oberarme von hinten gepackt, noch mehr zurückgezogen, und das waren menschliche Hände, welche mir die Handgelenke zusammenbanden, ehe ich nur an einen Widerstand hatte denken können.
»Fest?«
»All right!«
»Auf!!«
Meine Füße wurden befreit, man war mir behilflich, mich empor zu richten, was doch gar nicht so leicht ist, wenn man mit auf dem Rücken gebundenen Händen platt auf dem Bauche liegt.
Drei in Pelze gehüllte Männer standen vor mir, mit Gewehr, Revolver und Jagdmesser bewaffnet, zwei von ihnen rollten je ein Lasso zusammen.
Sie mussten die beiden Lassos gleichzeitig nach mir geschleudert haben, oder das eine um eine Hundertstel Sekunde früher als das andere. Dessen Schlinge war an meinem Leibe bis zu den Füßen herabgeglitten, die zweite Schlinge hatte sich um meine Arme legen müssen, dann erst waren mir die Füße weggerissen worden.
Das war eine Kunstleistung allerersten Ranges gewesen, zudem, wie ich später erfuhr, auf beträchtliche Entfernung ausgeführt, aber ich dachte jetzt an alles andere, als dieses Kunststück im Lassowerfen zu bewundern.
Unter die Räuber gefallen! Oder hatten die es nicht nur auf Geld und Wertsachen, worunter auch Waffen zu verstehen sind, abgesehen, sondern wussten die auch schon etwas von dem Kapitän Richard Jansen, an dem eine hübsche Summe zu verdienen war?
Wohl waren es verwitterte Gesichter, die ich erblickte, aber Banditenphysiognomien waren es eigentlich nicht. Vor allen Dingen fiel mir der tiefe, fast feierliche Ernst auf, der sich bei dem einen wie bei dem anderen gleichmäßig ausprägte.
»Was wollt ihr von mir?«
»Schweig!«, sagte der eine in bestimmtestem Tone zu mir, aber nicht, dass er mich anherrschte.
»Ihr seid Wegelagerer!«
»Schweig!«
»Nehmt mir ab, was ich habe, und...«
»Schweig!«, wurde zum dritten Male wiederholt.
Hierauf wechselten die drei einige Worte in einer Sprache, die ich nicht verstand. Aber nun schon an die Siouxsprache etwas gewöhnt, musste ich annehmen, dass es ein Indianerdialekt sei, es kamen darin so viel Gaumenlaute vor.
Das Resultat der kurzen Unterredung war, dass die Lassos wieder aufgerollt und mir an jeden Fuß eines geknüpft wurde; die beiden Lederschnüre wurden von je einem in die Hand genommen, welche dann etwas zurückblieben, sodass ich durch Wegreißen der Füße sofort zum Sturz gebracht werden konnte, der dritte eilte auf seinen Schneeschuhen voran, und so ging es davon, ich nolens volens mit.
»Aber so sagt mir doch nur...«
»Schweig!«
Und dabei blieb es. Vielleicht noch zweimal fing ich an, wurde aber stets durch ein ›Schweig‹ unterbrochen; da gab ich meine Bemühungen auf, ich schwieg, und auch meine Begleiter wechselten kein einziges Wort miteinander.
Was sollte das? In wessen Hände war ich gefallen? Was hatten die mit mir vor? Meine lebhafte Phantasie hatte den weitesten Spielraum, und diese Spiele will ich nicht schildern.
Hauptsache ist, dass ich zu der Überzeugung kommen musste, diese Lederriemen, die meine Hände umschlungen hielten, nicht sprengen zu können. Große Kraftanstrengung durfte ich allerdings nicht machen, ich hatte ja zwei hinter mir.
Wenn ich mich nicht irrte, so musste die Mormonenstadt direkt nördlich von mir liegen, und wir schlugen eine westliche Richtung ein, beschrieben wohl auch einen großen Bogen, sodass es dann südlich ging, also dorthin, woher ich gekommen war.
Freilich fehlte mir jeder Anhalt, woraus ich die Himmelsgegenden bestimmen konnte. Aber ich war eben der festen Überzeugung, dass wir eine Richtung nach Süden eingeschlagen hätten.
»Wohin bringt ihr mich?«
»Schweig!«
Ein rätselhaftes Verhalten! Meine Phantasie war bei der nüchternen Annahme stehen geblieben, dass das Kolonisten seien, Hinterwäldler, denen ein Pferd gestohlen worden war, man kannte den Pferdedieb nicht weiter, ich war von den Verfolgern als einziger Mensch in der Wildnis gefunden worden, jetzt musste ich dieser Pferdedieb sein. Oder ich konnte ja auch etwas anderes gestohlen, ein anderes Verbrechen begangen haben.
»Was soll ich denn begangen haben?«
»Schweig!«
Immer mehr fiel mir der feierliche Ernst in diesen Gesichtern auf, wozu auch die Schweigsamkeit passte.
Nach und nach machte ich aus mir einen Sünder, der noch etwas ganz anderes begangen hatte als nur einen Pferdediebstahl, etwa ein wichtiges Geheimnis verraten, und nun wurde ich vor das heilige Femgericht geführt. Daher diese hehre Feierlichkeit. Nur dass man in mir eben den Unrechten erwischt hatte, jetzt musste ich für den Frevler büßen, wurde gevierteilt oder langsam geröstet, oder lebendig vergraben, oder sonst wie vom Leben zum Tode befördert.
Jedenfalls war das hier eine ganz geheimnisvolle Geschichte. So konnte ich träumen, während ich auf meinen Lawntennisschlägern über den Schnee schusselte, was mit auf den Rücken gebundenen Händen etwas mehr Schwierigkeiten bereitete, auch wieder erst gelernt sein wollte — und was der Mensch gelernt hat, das kann er.
Der Leser merkt wohl: Ich machte mir verdammt wenig Kopfschmerzen über die Lage, in die ich da geraten war. Ich war nur gespannt, wie das enden würde, was da noch kam — faktisch, dieses Abenteuerchen machte mir das größte Vergnügen, das war so recht nach meinem Geschmack, und vorläufig hatte ich ja noch meine heile Haut.
Nur das bereitete mir einiges Unbehagen, dass ich seit...
Der Führer hielt, meine Füße wurden gebremst. Gefallenes Holz lag hier reichlich umher, in fünf Minuten flammte ein großes Feuer auf, und der eine packte ein großes Stück Fleisch aus, noch blutig.
Na, das ließ ich mir gefallen! Ich hatte eben ein bisschen lamentieren wollen. Dieses Fleisch war sogar weit besser, als dasjenige, welches ich mir vorhin erst hatte schießen wollen; denn dieses hier musste schon einige Tage alt sein, es war ganz zart, zerschmolz auf der Zunge, während frisches Hirschfleisch nicht gerade eine Delikatesse ist.
Fertig zum Feuern — d. h. zum Essen.
»Ihr könnt mir getrost die Hände freigeben, ich denke nicht...«
»Schweig!«
Ich wurde wie ein Baby gefüttert, jeder Bissen mir in den Mund geschoben. Na, mir auch ganz egal. Der Mann, der mich wartete, hatte freilich etwas zu tun. Ich hatte nur immer Angst, dass er zu zeitig aufhören würde. Aber er hatte ein so geduldiges Herz, wie ich einen geduldigen Magen.
Endlich war auch mein Appetit gestillt, eine Viertelstunde später, als der meiner Begleiter.
»Danke, kann nicht mehr«, sagte ich, als noch immer ein großes Stück Fleisch vor meinen kauenden Mund gehalten wurde.
»Schweig!«
Dieses Wort schien bei dem einen, welcher es stets zu mir gesagt hatte, stereotyp geworden zu sein, vielleicht hatte sein Sprachschatz gar kein anderes.
Weiter ging es, immer dem Süden zu — meiner Ansicht nach. Von der Sonne war nichts zu sehen, aber das hat man doch so im Gefühl. Freilich kann man sich da auch irren. Doch ich glaubte, mich nicht zu irren — es ging dem Süden zu.
Um fünf Uhr begann es zu dunkeln, und bald darauf belehrten mich außer bellenden Hunden auch erleuchtete Fenster, dass wir eine Ansiedlung passierten, die sich sehr lang erstreckte.
Hin und wieder begegneten wir auch einem Menschen, an dem meine Begleiter aber wortlos vorbeischusselten, ohne auch von dem anderen angeredet zu werden.
Daraus war doch eigentlich zu schließen, dass meine Begleiter hier zu Hause sein müssten. Sollten sie da aber nicht begrüßt werden? Denn die uns Begegnenden waren keine Indianer.
Doch wir eilten weiter. Die ganze Geschichte wurde mir immer rätselhafter.
In was für eine Weltgegend und unter was für Erdbewohner war ich denn nur hier geraten?!
Die erleuchteten Fenster blieben hinter uns, es kamen auch keine anderen, und dennoch hatte ich das Gefühl, als wenn links und rechts noch immer Häuser ständen, welches Gefühl noch dadurch verstärkt wurde, dass ab und zu ein Hund anschlug. Zu sehen war nichts mehr, es herrschte eine Stockfinsternis, durch welche meine Begleiter mit unverminderter Schnelligkeit weitereilten.
Ja — nochmals muss ich es sagen — ich hatte das ganz bestimmte Gefühl, dass ich mich durch eine Dorfgasse bewegte!
Warum soll ich nicht einmal etwas vorgreifen? Hätte ich mich umgeblickt, so würde ich zu meinem Staunen bemerkt haben, dass all die Lichter, welche ich soeben passiert hatte, plötzlich verlöscht waren.
Übrigens war mir doch gewesen, als ob auch noch vor mir erleuchtete Fenster seien, während jetzt nichts mehr davon zu sehen war.
Hier lag unbedingt ein Rätsel, ein Geheimnis vor. Mir ward faktisch ganz unheimlich zumute.
»Was ist denn hier...«
»Schweig!«
»Erlaubt mir wenigstens die Bemerkung, dass ich nicht...«
»Schweig!!«, erklang es diesmal etwas herrisch.
»... die Hand vor den Augen sehen kann, noch weniger meinen Führer.«
Das Ende eines Lassos ward mir in die Hand gedrückt, mein Führer zog, und so ging es weiter.
Der Wind ward stärker, die verschiedenen Gerüche, welche jedes Haus ausströmt, hörten auf — wir mussten uns wieder im Freien befinden, und zwar auf freiem Felde.
Mit unverminderter Schnelligkeit ging es weiter, wie lange, weiß ich nicht — jedenfalls stundenlang. Ich gestehe, dass ich der Erschöpfung nahe war.
Und dann hatte ich abermals das ganz bestimmte Gefühl, dass ich mich zwischen Hütten, zwischen Häusern befand, die hier noch viel näher als jene zusammenrückten. Aber kein einziges Licht in der undurchdringlichen Finsternis, kein Laut! Außerdem hatte es zu schneien begonnen.
»Halt!«
Ich bremste gehorsam, lief nur etwas gegen meinen Führer an. Quietschte da nicht eine Tür? Jawohl, ich ward von hinten geschoben und fühlte harten Boden unter meinen Füßen.
Hände tasteten an meinen Schneeschuhen, lösten die Riemen, dann ward ich wieder von hinten geschoben, stolperte über Stufen, stolperte eine Treppe hinauf.
Nun stelle man sich meine Lage vor, in dieser Stockfinsternis!
»Wo bin ich denn...«
»Schweig!!«
Die Hände geleiteten mich etwas sorgsamer, wieder hatte ich das Gefühl, als wenn vor mir eine Tür geöffnet würde; ich fühlte auch unter meinen Füßen eine Schwelle — da knüpften geschickte Finger die Knoten an den Banden meiner Hände auf, ich erhielt einen kräftigen Stoß, und hinter mir fiel eine Tür ins Schloss. Ich hörte den Schlüssel umdrehen.
So, nun stand ich da, zwar ein freier Mann, aber keine Ahnung vom ›Wo bin‹ im finsteren Weltall.
Ja, etwas unheimlich war mir zumute, aber eigentlich gefiel mir das gerade.
»Na, Richard, da hast du ja mal so ein Abenteuerchen, wie du es dir immer gewünscht hast!«
Dann entsann ich mich, dass ich ja ein Feuerzeug bei mir hatte, Feuerstein, Stahl und Zündschwamm. Die Waffen hatte man mir gleich am Anfang abgenommen gehabt, die drei hatten sich im Tragen geteilt, aber sonst war ich nicht untersucht worden, hatte z. B. auch noch mein Dolchmesser in der Tasche.
Ein Feuerzeug ist keine gefüllte Streichholzschachtel — ich brachte den Zunder wohl zum Glimmen, aber es fehlte mir jegliches Holz, um eine Flamme anzublasen.
Nun, wenn ich eine große Fläche des Zündschwammes zum Glimmen brachte, konnte ich doch schon etwas Umschau halten. Gedielter Fußboden, gemusterte Kalkwände, eine sehr solide Tür mit festem Schloss, ein stark vergittertes Fenster, ein Tischchen mit Decke, darauf Wasserflasche und Glas — und daneben ein Bett mit dicker Federdecke, blendend weiß überzogen.
»All right!«
Und ich zog mich aus, kroch unter die Federn und schlief herrlich.
Wie gewöhnlich weckte mich die erste Morgendämmerung. Als ich mich angezogen hatte, war es völlig hell geworden.
Zu dem, was ich gestern Nacht beim Scheine des glimmenden Zunders gesehen hatte, kam noch ein Regal an der Wand mit einigen Büchern hinzu, ferner ein Waschtisch mit allen nötigen Utensilien, welche von mir sofort der Benutzung unterzogen werden sollten.
Vorher trat ich natürlich erst einmal ans Fenster. Ein kleiner, verschneiter Hof, von hohen Mauern umringt, nichts weiter.
Jetzt wusch ich mich, zog den Rock wieder an, aber nicht die Pelzjacke.
Wäre ich dazu gekommen, nur ein einziges der Bücher vom Regal zu nehmen, so hätte ich wohl sofort gewusst, wo ich mich befand. Aber ich sollte eben nicht dazu kommen.
Eben konstatierte ich nach meiner Taschenuhr, die ich gestern Abend gewohnheitsmäßig aufgezogen hatte, dass es schon bald um neun war, wonach es ein sehr nebliger Tag sein musste, als es im Schlosse rasselte, die Tür ging auf, und... herein trat eine ältliche Frau, eine würdige Matrone, sehr einfach, aber sehr sauber gekleidet, ein weißes Häubchen auf dem ergrauten Haupte.
Sie guckte mich an, ich guckte sie an, und dann bemerkte ich, dass sich ihre guten, treuen Augen mit Tränen füllten, und richtig, jetzt wurde auch die Schürze zu Hilfe genommen.
»Ezechiel!«, schluchzte es hinter der schwarz und weiß karierten Schürze.
Na, mir war etwas dämlich zumute, etwas sehr dämlich.
»Ezechiel, mein lieber, guter Ezechiel!«, wurde noch einmal hinter der Schürze geschluchzt und gedruckst.
Ich fand faktisch gar keine Worte, kein einziges. Das ›Ezechiel‹ hatte einen sehr angenehmen Klang für mich, ich hatte schon seit drei Wochen keinen ehrlichen Schluck über meine Lippen bekommen — aber sonst wusste ich nicht im Geringsten, was die eigentlich mit ihrem ›Ezechiel‹ von mir wollte.
Die Schürze wurde von den Augen entfernt, ganz durchnässt, die gute Alte mit den faltigen Bäckchen, wie samtne Pfirsiche rötlich angehaucht, ging mit ausgestreckten Händen auf mich zu.
»Komm, mein lieber, guter Ezechiel — komm zurück — alles soll vergeben und vergessen sein!«
Na, nun fing bei mir doch eine kleine Ahnung zu dämmern an, ich wollte es nur nicht glauben. Ich war und blieb ganz perplex.
»Aber — aber — aber — aber...«
Mehr brachte ich nicht heraus. Und da hatte sie mich schon an den Händen gefasst, zog mich durch die offengebliebene Tür hinaus, auf einen Korridor, es ging auf eine andere offene Tür zu.
»Komm, mein einziger Ezechiel, deine Frau und Kinder...«
»Nee, Frau, nee!!«, schrie ich da auf. »Hier ist ein Irrtum, ich bin nicht...«
Zu spät! Ich war schon in das sehr geräumige Zimmer gezogen worden und...
»Papa, Papa, Papa, Papapapapapapapapa...«
Ich dachte doch, ich wäre in einen Ameisenhaufen getreten! Wie viele Kinder es waren, die von allen Seiten an mir empor zu klettern suchten, weiß ich nicht. Oder kann man Ameisen zählen? Denn die, die meine Beine umklammerten und mich als Kletterstange benutzen wollten, das waren noch die allerwenigsten, noch in weitem Umkreise wiebelte und kriebelte alles um mich herum, die äußersten suchten sich heranzudrängen, um mich ebenfalls zu umärmeln, da aber konnten sie lange warten, in meiner Nähe war schon alles besetzt.
Ich will gleich jetzt verraten, wie viele Kinder es waren, die mich ihren Papa nannten: 72 — geschrieben zweiundsiebzig — ganz akkurat geschrieben: zweiundsiebenzig.
Und das waren noch nicht alle Lebewesen, welche das große Gemach füllten.
In weitem Halbkreis an den Wanden standen einige Dutzend Frauen, junge und alte, allerdings nur die eine hatte schon etwas gräuliches Haar — und gar viele von ihnen hatten noch ein Baby auf dem Arm, welches nicht an meinen Beinen herumkrabbelte, weil es noch nicht laufen konnte, und deshalb eben saß es noch auf dem Arm, zum Teil auch lagen sie an der Brust und hielten ihr Frühstück — und welche Frau kein Kind zu stillen oder zu wiegen hatte, die stillte mit der Schürze ihre Tränen — oder sie stillte auch das Kind und die Tränen gleichzeitig.
»Papa — mein guter Papa — mein lieber Papa — nun bleibst du bei uns — nun gehst du nicht wieder von uns fort — Papa — mein guter, lieber Papa — Papapapapapapapapapapa...«
So winselte und quietschte es zu meinen Füßen von Kinderstimmen, und auch die Frauen an der Wand waren nicht still.
»Ezechiel! Ezechiel, wie konntest du das nochmals machen! Ezechiel, sind wir dir nicht immer gute Frauen gewesen? Ezechiel! Ezechiööööööl!!«
Glaubt man mir, dass ich dem Wahnsinn nahe war?
Jawohl, wenn ich nicht träumte, dann war ich wahnsinnig. Ich sollte aus dem Traume wie aus dem Wahnsinn gerissen werden.
Mein Blick, vorläufig noch der eines vom Wahnsinn Geplagten, irrte über die Kinderköpfe hinweg nach den Frauen, irrte weiter die Wände entlang, bis er auf einem Gemälde haften blieb — ein sehr buntes Bild — riesig bunt — es stellte einen Mann dar, der in seinem Kostüm die altägyptische Tracht, so etwa 6000 vor Christi, mit dem achtzehnten Jahrhundert, mit der Rokokozeit zu verbinden wusste, einen geflochtenen Bart, einen Brustharnisch, Samtpumphosen und Schnallenschuhe, bewaffnet mit einer Armbrust und mit einem Tomahawk, und darunter stand mit großen Buchstaben, wer dieser Mann war:
Mormon.
Und da wich der Traum und da wich der Wahnsinn von mir! Nicht unter die Räuber, sondern unter die Mormonen war ich gefallen!
Und da kam über mich, wie weiland über den Joe Smith, der Geist des Herrn und erleuchtete mich, auf dass ich mit einem Male voll und ganz die Wahrheit erkannte.
Mein schwarzgefärbtes Haar war schon längst wieder blond geworden, und vor meiner Abreise aus dem Indianerlager hatte ich mich noch einmal rasiert, jetzt hatte ich wieder solche Stoppeln wie damals mein Doppelgänger...
Der Fremde war einfach ein Mormone gewesen, ich wurde für ihn gehalten, hier begrüßten mich seine Frauen und Kinder!
Nun, dieser Irrtum musste sich ja bald aufklären lassen.
»Ich bin gar nicht Ezechiel!!«, überschrie ich den allgemeinen Tumult. »Ich habe...«
Ja, hatte sich was! Es blieb bei dem ›Papa‹ der Kinder und bei dem ›Ezechiel‹ der Weiber in unzähligen Wiederholungen — aber die Frauen blieben nicht an der Wand stehen, jetzt ergriffen auch sie die Offensive, rückten gegen mich vor, um mich ebenfalls in ihre Arme zu schließen, und diese erwachsenen Personen konnten doch etwas höher langen als die Kinder, ich war umschlungen wie von den Armen des Polypen, hier gab es keinen Widerstand — halb zog man ihn, halb sank er hin und... ich lag der Länge nach auf einem Sofa, und über mir lagen die Weiber und Kinder dutzendweise und wollten mich mit ihren Liebkosungen ersticken.
»Papa, mein lieber Papa, nun gehst du nicht wieder von uns fort — wir wollen auch immer ganz artig sein — Ezechiel, mein lieber Ezechiel, warum bist du schon wieder davongeflohen, wir sind dir doch stets gute Frauen gewesen.«
So und ähnlich erklang es immer wieder in zahllosen Wiederholungen.
Da endlich packte mich die Teutonenwut, die Weiber und Kinder flogen links und rechts davon, ich war aufgesprungen.
»Zum Teufel noch einmal, ich bin ja gar nicht Ezechiel, ich bin noch niemals hier gewesen, ich bin ja...«
Kreischend waren die Weiber und Kinder vor mir zurückgewichen.
Da bückte sich die eine, hob etwas vom Boden auf, hielt es zunächst in der Hand verborgen.
»Du willst gar nicht Ezechiel sein?«, fragte sie in triumphierendem Tone.
»Nein doch, nein, ich will erzählen, wie alles gekommen ist, dieser Ezechiel ist mein Doppelgänger, der mir wie ein Ei dem anderen gleicht, aber nehmt doch nur Vernunft an...«
»Wie kommst du denn da zu unseren Herzen?«
Und mit noch größerem Triumphe hielt das Weib, ein junges, recht hübsches Frauchen, ein goldenes Kettchen empor, an dem sechs kleine Herzen hingen.
Ganz automatisch griff ich in die Westentasche, in die ich den mir von dem Fremden eingehändigten Schmuck damals gesteckt hatte — er war daraus verschwunden, ich musste das Kettchen bei dem Handgemenge verloren haben, die an meinem Leibe herumkrabbelnden Finger hatten ihn mir aus der Tasche gerissen, und das war beobachtet worden.
Obgleich mich nun diese sechs goldenen Herzchen noch lange nicht zu dem echten Ezechiel stempelten, sah ich doch schon im Geiste die furchtbaren Verwicklungen, die sich für mich hieraus ergeben würden, denn alles, was ich nun der Wahrheit gemäß erzählen wollte, würde man mir jetzt erst recht nicht glauben — und wie gebrochen sank ich beim Anblick des goldenen Kettchens plötzlich auf das Sofa zurück.
»O, Ezechiel, o, Ezechiööööl!«, stöhnte ich. »Was für einen niederträchtigen Streich hast du mir da gespielt!«
Dann sprang ich von Neuem empor.
»Nein, hier liegt ein Irrtum vor, ich bin nicht Ezechiel...«
»Na, mein Sohn, nun lasse endlich deine Komödie«, erklang da eine tiefere Stimme, und in dem Kreise der Weiber tauchte plötzlich die Gestalt eines grauhaarigen Mannes auf, »du hast dich schon zweimal irrsinnig gestellt und hast zweimal zugegeben, dass du nur Komödie gespielt hast. Willst du es zum dritten Male versuchen?«
»Mich irrsinnig zu stellen? Nein, ich bin nicht wahnsinnig, aber ein Irrtum liegt hier vor, ich bin tatsächlich nicht jener Ezechiel...«
»Also du bleibst bei deiner Behauptung, dass du nicht Ezechiel O'Donald bist?«
»Nein, sondern ich bin — ich bin — heiße...«
Donnerwetter, ich wusste im Augenblick gar nicht recht, wie ich mich nennen sollte. Meinen richtigen Namen wollte ich doch lieber nicht angeben.
»Siehst du, du hast dich auf deine Komödie gar nicht recht vorbereitet. Ein sehr geschickter Komödiant bist du überhaupt nie gewesen. Erkennst du diese Frauen und diese Kinder als die deinen an?«
»Nein, nein!!«, schrie ich. »Und dieser Irrtum wird sich auch noch aufklären!«
»Höre, mein Sohn, du weißt doch, dass wir für dich eine besondere Tobzelle eingerichtet haben...«
»Meinetwegen steckt mich in die Tobzelle, aber der Mann dieser Frauen und der Vater dieser Kinder bin ich nicht!!«
»Wie du willst. Wir werden dir Zeit zum Besinnen geben.«
Und in demselben Augenblick wurden von hinten meine Handgelenke gepackt und mir auf den Rücken gepresst, gleichzeitig ward ich vorwärtsgestoßen.
Ich wusste, dass mich diese Hände nicht lange hätten halten sollen, aber ich dachte an keinen Widerstand. Für mich war nur die Hauptsache, erst einmal aus diesem Gedränge von Frauen und Kindern herauszukommen, was mir förmlich die Besinnung raubte.
»Papa, mein guter Papa — Papapapapapapa — Ezechiööööl!!«, erklang es noch einmal hinter mir, als ich schon über die Schwelle geschoben wurde, und mein für mich unsichtbarer Führer schob mich weiter, einen Korridor entlang. An seinem Ende war eine offene Tür, ich ging durch dieselbe, und sie fiel hinter mir ins Schloss.
Das war die sogenannte Tobzelle, in welche mein Doppelgänger schon wiederholt eingesperrt worden war?
Nun, eine ganz richtige Tobzelle war das nicht. Die Polsterung, damit sich der Irrsinnige nicht den Kopf einrennen kann an den Wänden, fehlte.
Aber behaglich sah es hier durchaus nicht aus. Nackte Wände, ein Stuhl und ein Tisch. Das hochangebrachte Fenster war ebenso stark vergittert, wie das jenes Zimmers, in dem ich die Nacht verbracht hatte, aber anstatt des weichen Bettes stand hier nur eine Holzpritsche.
So, nun hatte ich Zeit zum Überlegen. Was ich alles dachte, will ich hier nicht wiedergeben, könnte es auch gar nicht. Jedenfalls war es eine ganz verdammte Geschichte.
Aber den Mut brauchte ich noch nicht gleich sinken zu lassen. Das war hier nur die erste Vorstellung gewesen. Diese Mormonen mussten doch bald von ganz allein zu der Überzeugung kommen, dass ich nicht der echte Ezechiel oder Ezechiööööl sein konnte. Ich hatte doch — um zunächst rein Äußerliches zu erwähnen — eine andere Kleidung an, hatte verschiedene Sachen, Gegenstände bei mir, welche jener Mormone, der doch offenbar seiner großen Familie durch die Lappen gegangen war, nicht besessen hatte, und dann vor allen Dingen...
Ein Geräusch an der Tür unterbrach meine Erwägungen, die ich schon mit Ruhe anstellen konnte. Erst jetzt bemerkte ich, dass dort in Brusthöhe ein Schiebefensterchen angebracht war, dieses wurde geöffnet.
Es war der grauhaarige Kopf jenes Mannes, der an der Öffnung erschien.
»Nun, mein Sohn, hast du dich unterdessen besonnen?«
»Gestatten Sie zunächst eine andere Frage: Wenn ich Ezechiel O'Donald sein soll, so hätte ich das Vergnügen oder die Ehre, vor mir meinen Vater zu sehen?«
»Frage nicht so töricht, Ezechiel, es nützt dir gar nichts.«
»Bitte, lieber Vater, nimm doch einmal an, dass ich wirklich wahnsinnig bin, oder dass ich das Gedächtnis verloren hätte.«
»Nun, und?«
»Ich erkenne Sie nicht als meinen leiblichen Vater an.«
»Der bin ich auch nicht.«
»Was sind Sie sonst zu mir, da Sie mich doch immer Ihren Sohn nennen?«
»Ich bin dein Schwiegervater.«
»Ich soll Ihre Tochter geheiratet haben?«
»Sogar sechs Töchter von mir.«
Himmel noch einmal!!!
»Ich bin mir dessen wirklich nicht bewusst. Wer sind Sie eigentlich?«
»Stelle dich nur nicht so. Du bist Ezechiel O'Donald, der Schwiegersohn des Mormonenvaters und ersten Priesters Brigham Young.«
Oha!! Was für eine hohe Ehre hatte mein Doppelgänger genossen! Und nun war ich sein Nachfolger.
»Also«, fuhr der alte Mormonenhäuptling mit ziemlich milder Stimme fort, »gib deine Komödie auf, du hast sie schon zweimal vergeblich gespielt. Übrigens komme ich wegen etwas ganz anderen hierher. Woher hast du die Pelzsachen? Woher hast du das fremde Gewehr und die anderen Waffen, die du nicht von hier mitgenommen hast?«
»Sehen Sie, Mister Young — Hochwürden, oder wie ich Sie sonst nennen muss — sehen Sie, das sind tatsächlich meine Sachen, denn ich bin nicht Ihr Schwiegersohn, jener Ezechiel O'Donald...«
»Unglücklicher, willst du denn nicht dein hirnverbranntes Leugnen aufgeben?«
»Nein, denn ich bin weder hirnverbrannt, noch ein Lügner. Bitte, lassen Sie sich doch erzählen, wie ich...«
»Du weißt doch, was wir mit dir machen?«, wurde ich abermals unterbrochen.
»Nein.«
»Du bleibst hier, bis du dich wieder anders besonnen hast.«
»Dann müsste ich ewig hier bleiben.«
»Bei Wasser und Brot!«
»Meinetwegen.«
»Und dann kommst du in die Tütenfabrik.«
»In die Tütenfabrik? Sehr gut das! Aber mir ganz egal.«
»Gut, wie du willst!«
Und die Klappe ward wieder zugeschoben.
Nein, das hatte ich nicht gewollt, ich sprang schnell hin, klopfte, donnerte dagegen, vergebens, die Klappe ging nicht wieder auf, ich konnte sie mit meinen Fingernägeln nicht zurückschieben.
Verdammt und zugenäht!! Das war eine böse Geschichte!
Na, wenn das hier auch eine Tobzelle war — toben tat ich deshalb nicht. Im Gegenteil, jetzt empfand ich einmal den Humor der ganzen Sache, ich brach in ein herzliches Lachen aus.
Wenn nur nicht schon die Frühstückszeit vorbeigewesen wäre, ich hatte ganz beträchtlichen...
Da ging die Klappe wieder auf, ein anderer Kopf zeigte sich, eine Hand langte einen Krug herein, und als ich den genommen hatte, folgte ein Laib Brot nach, worauf sich die Klappe wieder schloss.
Also man machte Ernst mit dem Brot und Wasser. O weh! Ich bin gerade kein Gourmand, ich bin mit einer tüchtigen Portion Bohnen und Salzfleisch vollkommen zufrieden, sehe und rieche sogar darüber hinweg, wenn letzteres den normalen Zustand der Genießbarkeit etwas überschritten hat — dafür bin ich Seemann, sonst hätte ich doch lieber Pastor werden sollen — — aber Brot und Wasser? Nein, das ist nun weniger nach meinem Geschmack, besonders, wenn ich draußen in der Küche noch etwas anderes weiß.
Nun, ich spülte den Laib Brot hinunter.
Dann klopfte und donnerte ich so lange gegen die Tür, bis sich wieder die Klappe öffnete und der Kopf des Mannes erschien, den ich meinen Wärter nennen will.
»Was willst du?«
Ich gab ihm zu verstehen, dass Brot und Wasser noch nicht genügen, um die Bedürfnisse eines Menschen zu befriedigen, und... ich bin stubenrein erzogen worden.
»Du weißt doch, wo du es findest.«
»Nein, das weiß ich eben nicht.«
»Du bist doch schon mehrmals hier drin gewesen, Ezechiel.«
»Ich bin aber nicht Ezechiel.«
»Du bist unverbesserlich.«
»Sage mir lieber, wo ich es finde.«
»Dort an der Wand, du brauchst nur den Riegel zurückzuschieben.«
Er war so vernünftig, es mir näher zu beschreiben, ich suchte und fand den Riegel und in einer kleinen Wandnische den Eimer.
Der Leser verzeihe mir, aber ich kann es nicht leiden, ich finde es geradezu komisch, wenn in einer Erzählung bei der Einrichtung einer Gefangenzelle in der jemand einige Zeit, vielleicht gar Jahre lang verbringen muss, etwas derartiges vergessen wird, was durchaus nicht zu den Nebensachen gehört. Und für mich war jetzt die Hauptsache, dass die sofortige Untersuchung ergab, wie diese Wandnische auch von hinten eine kleine Tür haben musste, freilich von hier innen nicht zu öffnen. Denn ich trug mich schon stark mit Fluchtgedanken.
So verging der Vormittag. Wenn ich einmal nach meiner Uhr sah, so dachte ich stets daran, ob ich denn nicht durch diese Gegenstände jene überzeugen könnte, dass ich nicht der durchgegangene Ezechiel sei.
Ich musste den Alten oder sonst jemanden, der hier ausschlaggebend war, unbedingt noch einmal mit Ruhe sprechen. Aber diesmal blieb mein anhaltendes Klopfen und Donnern gegen die Tür unberücksichtigt — nicht ungehört, denn außer einem wütenden Hundegebell, von mehreren Kötern stammend, das mein Klopfen stets beantwortete, glaubte ich manchmal auch menschliche Stimmen zu vernehmen.
Da endlich, als ich schon mit Wehmut konstatierte, dass die Mormonen recht spät zu Mittag speisen müssten, erschien an der Klappe wieder der Kopf des Alten, der sich mir als Mormonenfürst, als Brigham Young vorgestellt hatte.
Erst betrachtete er mich lange schweigend, der ich in der Mitte des Raumes stand, und ich ließ mir diese Musterung gefallen.
»Ezechiel!«
»Mein Herr, wollen wir doch einmal in Ruhe verhandeln.«
»Mir sind Bedenken aufgestiegen, dass du vielleicht doch nicht mein Schwiegersohn bist.«
Na, endlich!
»Ich bin es auch nicht.«
Jetzt erwartete ich ganz bestimmt, dass Mr. Brigham Young fragen würde: wer sind Sie sonst? — Aber statt dessen fragte er:
»Haben Sie eine Kaffeebohne?«
Mein Staunen lässt sich denken ob dieser unvermuteten Frage.
»Ob ich was habe?«
»Eine Kaffeebohne.«
»Eine Kaffeebohne?«, konnte ich nur wiederholen. »Wo soll ich denn die haben?«
»Am linken Beine.«
Da plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den... vom Gehirn.
»Sie meinen, ob ich ein Muttermal am Körper habe?«
»Ja, alle deine Frauen wissen davon zu erzählen, dass du hinten am linken Beine einen Leberfleck hast, der gerade wie eine Kaffeebohne aussieht, auch so eine weiße Naht ist vorhanden, wie jede Kaffeebohne sie hat.«
Gerettet! Ja, jetzt sah ich meine Rettung aus dieser Kalamität.
»Nein!! Nein!!!«, jauchzte ich förmlich auf. »Ich habe am ganzen Körper keinen einzigen Leberfleck noch sonstiges Muttermal!!«
»Wir werden dich gleich untersuchen, das wird den Ausschlag geben, mach dich bereit dazu«, erklang es, und die Klappe schloss sich wieder.
Gerettet! Ich knöpfte schon meine Hose ab.
Wo sollte die Kaffeebohne sein? Am linken Beine?
Wie ich mein Bein auch betrachtete, oben und unten, vorn und hinten, ich konnte kein Fleckchen sehen. Ganz hinten konnte ich mich allerdings nicht besehen, was für Schlangenstellungen ich auch einnahm, aber ich wusste ganz bestimmt, dass ich dort hinten weder eine Kaffeebohne noch sonst etwas hatte, sonst hätte mir doch früher einmal meine Mutter oder ein Spielkamerad oder sonst jemand etwas gesagt, wenn man mich einmal in natura bewundern konnte.
So stand ich noch da, in einer sehr unästhetischen Stellung, mich wie ein Wurm krümmend, um meine Hinterteile betrachten zu können, als die Tür aufging, und herein marschierten einige Männer, alte und jüngere, an der Spitze Mr. Brigham Young.
Ihr Eintritt war sehr unvermutet erfolgt, ich genierte mich etwas, wollte schnell meine Hose wieder hochziehen.
»Nun zeige mal her!«
Na, hier handelte es sich um etwas, wobei man sich nicht genieren durfte, es stand gar zu viel auf dem Spiele.
Also ich ließ meine Hose wieder herunterrutschen. Mr. Brigham Young zog ein Futteral hervor, setzte eine mächtige Hornbrille auf die Nase, bückte sich...
»Nu natürlich, die schönste Kaffeebohne!«
Zuerst war ich viel zu erstarrt, um ein Wort hervorbringen zu können. Erst als ich das bestätigende Nicken der anderen gewahrte, fuhr ich empor.
»Was?!«, schrie ich. »Was soll ich da hinten haben?«
»Eine ganz deutliche Kaffeebohne.«
»Das ist nicht wahr!!!«, fing ich jetzt zu heulen an. »Ich habe keine Kaffeebohne!!«
»Aber mein lieber Ezechiel, willst du deinen eigenen Augen nicht trauen?«
Mit diesen Worten hatte er einen kleinen Taschenspiegel hervorgezogen, hielt ihn etwas seitwärts, hielt ihn so geschickt, dass ich gerade den Körperteil im Spiegel sah, worauf es hierbei ankam, ich brauchte mich nur ein klein wenig zur Seite zu wenden, und... da sah ich wahrhaftig auf meinem fleischigsten Körperteil einen dunkelbraunen Leberfleck, der akkurat das Aussehen einer Kaffeebohne hatte!
Es war zu viel für mich — ich brach auf der Pritsche zusammen — setzte mich auf meine Kaffeebohne.
»Nun, willst du jetzt noch leugnen, dass du mein Schwiegersohn bist?«
Nur ein Stöhnen entrang sich meiner Brust. Diese Kaffeebohne, die ich doch sicher seit meiner Geburt unbewusst an meinem Körper herumgeschleppt, hatte mich überwältigt.
»Ezechiel O'Donald, gibst du zu, dass du überführt bist?«
Noch einmal vermochte ich aufzuschreien.
»Nein, nein, und abermals nein!!! Ich bin nicht dieser Ezechiel, ich bin ein anderer!!«
»Die Frauen sollen hereinkommen und selbst ihre Erklärung abgeben.«
Und sie kamen herein, die jüngeren und zum Teil auch älteren Weiber, die meine Ehegesponste sein sollten. Achtundzwanzig Stück waren es, wie ich später erfuhr, mit denen ich im Laufe der Jahre zweiundsiebzig Kinder gezeugt haben sollte — die totgeborenen und verstorbenen noch gar nicht mitgerechnet.
»Entkleide dich noch einmal, Ezechiel, deine Frauen selbst sollen ihr Urteil abgeben.«
O, o, das hätte nicht kommen dürfen!
Ich wagte mich doch nicht in Gegenwart von Frauen zu entkleiden, mochte ich ihnen einzeln gegenüber sonst auch noch so intim sein. Da war ich nun ein sonderbarer Kauz! Ich wäre vor Scham doch gleich gestorben.
»Nein, nein, niemals!«, schrie ich also, krampfhaft meine Hose festhaltend.
»Gibst du zu, an deinem linken Schenkel eine Kaffeebohne zu haben?«
»Ja — ja — aber das ist meine Kaffeebohne — und nicht die von Ezechiel — der hat eine andere Kaffeebohne!«
»Du meinst, sie wäre nicht an der richtigen Stelle?«
»Das weiß ich nicht — nein, nein, ich habe meine Kaffeebohne an einer ganz anderen Stelle!!«
Ich schrie immer aus Leibeskräften, krampfhaft meine Hose festhaltend. Ich verging ja jetzt schon vor Scham.
»Wisst ihr ganz genau, wo sich die Kaffeebohne befindet?«, wandte sich mein Schwiegervater an meine Frauen.
»Ja!«, erklang es einstimmig.
»Habt ihr die Kaffeebohne alle gesehen?«
Auch diese Frage ward ohne Zögern allgemein bejaht.
»So entblöße deinen Körper, Ezechiel!«
»Nein — nein — ich geniere mich — ich geniere mich!!«, schrie ich aus Leibeskräften.
»Du genierst dich? Wohl, ich werde die Zelle verlassen, ebenso die Ältesten — vor deinen Frauen wirst du dich doch nicht genieren. Also untersucht ihn!«
Und ich sah, wie er sich mit den Männern zum Gehen wandte — und ich sah die achtundzwanzig Weiber, wie sie blieben, wie sie bereit waren, die Untersuchung eventuell mit Gewalt vorzunehmen — ich sah sie schon die Hände nach mir ausstrecken... und da war es mit meiner Kraft vorbei!
Noch einen Blick zum Himmel empor geschickt, und ergebungsvoll kam es aus meinem Munde:
»Es — ist — vollbracht!«
Doch nein, das sagte ich nicht — das war nur eine Ideenverbindung, die mir jetzt beim Schreiben einfällt — sondern ich sagte, aber in ganz demselben Tonfall:
»Ich — bin — Ezechiel!!«
Meine Besucher hatten mich wieder verlassen. Was sie sonst noch zu mir gesprochen hatten, weiß ich nicht. Die Hauptsache war für mich, dass sie gegangen waren, ohne mir die Hose heruntergezogen zu haben.
Wie ein geprellter Frosch lag ich auf meiner Pritsche — auf meiner Kaffeebohne.
Nach und nach aber beruhigte ich mich, beruhigte mich immer mehr.
Ich begann den Humor dieser ganzen Geschichte zu empfinden, und da stieg in mir eine Idee auf.
Wenn die mich durchaus für Ezechiel hielten, wenn ich dadurch, dass ich es zugab, eine ganze Menge Frauen und Kinder glücklich machen konnte — gut. Warum sollte ich da nicht wirklich die Rolle meines Doppelgängers spielen?
Da mussten dann allerdings knifflige Sachen in Betracht kommen. Da hatte ich nicht nur väterliche Pflichten, sondern auch eheliche zu erfüllen.
Gut, ich war dazu bereit. Über diesen meinen Entschluss ist der sittsame Leser hoffentlich nicht gar zu sehr entrüstet, eher begreiflich wäre für mich, wenn er sich darüber wunderte.
Aber habe ich bisher auf den Leser den Eindruck eines unmoralischen Menschen gemacht? Ich glaube: sicher nicht! Obgleich ich mich stets als einen Saufaus und einen Dammichbruder und einen Rowdy ausgegeben habe. Vielleicht habe ich mich sogar schlechter gemacht, als ich damals in Wirklichkeit gewesen bin. Das darf ich jetzt sagen, da ich dies als alter Mann schreibe.
Nein, ich war kein schlechter, kein unmoralischer Mensch. Aber auch ein Kopfhänger bin ich nie gewesen. Kurz und gut — ich will mich hier nicht auf moralische und ethische Reflexionen einlassen — kurz und gut, ich war bereit, die Rolle meines Doppelgängers zu spielen, mit allen Pflichten und Rechten, und mein Gewissen sollte dabei nicht im Geringsten belastet werden. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich — basta!
Aber da musste ich doch erst wissen, wer mein Doppelgänger eigentlich war. Bisher hatte ich nichts weiter von ihm erfahren, als dass er der Schwiegersohn des Mormonenpräsidenten war, dessen sechs Töchter geheiratet hatte, noch mehr Frauen, dass er schon mehrmals seiner großen Familie durchgebrannt war, sich dann irrsinnig gestellt hatte.
Sollte auch ich mich irrsinnig stellen?
Meine Erwägungen, die mir manches Lächeln abnötigten, wenn ich nicht ein lautes Auflachen ersticken musste, sollten bald unterbrochen werden, man sollte mich von anderer Seite in alles dies einweihen.
Der Nachmittag war vergangen, ich hatte einen zweiten Laib Brot erhalten, die Winternacht war angebrochen.
In der Zelle war es ganz behaglich warm, obgleich sich kein Ofen darin befand; es musste wohl ein Schornstein durchgehen. Schlummerlos lag ich auf der Pritsche, lauschte dem Hundegebell, welches hin und wieder erscholl, und hing meinen Gedanken nach, Fluchtpläne mit abenteuerlichen Komödienentwürfen verbindend.
Die Möglichkeit, nach meiner Taschenuhr zu sehen, besaß ich nicht mehr, denn das Feuerzeug hatte ich in dem Pelzkostüm stecken, und hier drin war es stockfinster.
Da knackerte es wieder an der Tür, ich hörte, wie die Klappe zurückgeschoben wurde, konnte aber, mich etwas aufrichtend, nichts sehen. War das Fensterchen schon geöffnet, dann konnte auch draußen kein Licht sein.
Einige Sekunden verstrichen. Ich glaubte, es habe sich jemand in anderer Weise an meiner Tür zu schaffen gemacht.
»Charly!«, wurde da geflüstert.
Aha, einmal ein anderer Name als Ezechiel! Das wirkte schon auf mich.
»Wer ist da?«
»Schläfst du, Charly?«
An Bord meines Schiffes hatte ich einen meiner Leute wegen solch einer dummen Frage angeschnauzt, wo anders hätte ich darüber gelacht — hier löste diese flüsternde Stimme in mir ganz andere Empfindungen aus
»Was gibt es?«, flüsterte ich ebenso zurück.
»Hier — ich bringe dir eine Schüssel mit Essen — lauter Reste vom Abendbrot — alles in einen Topf zusammengehauen — aber fein!«
Na, als mir nun auch noch ein delikater Duft in die Nase schlug, da war ich fix auf den Beinen, und nach einigem Tasten hatte ich auch den großen hölzernen Holznapf erwischt.
»Du musst aber gleich essen«, fuhr die flüsternde Männerstimme fort, »ich muss den Napf wieder mitnehmen. Das geht diesmal nicht so wie damals. Immerhin, ich habe eine Stunde Zeit, mit dir zu schwatzen. Sie sind alle im Tempel — ich habe Hausdienste. Was, das schmeckt anders als trocken Brot?«
Ja, das schmeckte anders. Was es eigentlich war, konnte man nicht recht bestimmen. Auch so ein Indianerragout. Ein Hühnerflügel, ein Kalbsschnitzel, Schinken, ein Stück Spiegelei — alles ›zusammengehauen‹, wie jener gesagt, in einer Sauce schwimmend, noch etwas warm.
Löffel und Gabel gab's nicht — brauchte ich auch nicht. Jedenfalls aber speisten diese ›letzten Heiligen‹ nicht schlecht zu Abend.
»Aber wirf nicht so wie damals einen Knochen weg, den man dann in deiner Zelle findet«, wurde ich gewarnt.
»Ohne Sorge«, brummte ich mit schmatzendem Munde.
So sehr ich mich aber auch diesem unerwarteten Genusse hingab, arbeitete doch dabei das Innere meines Hirnschädels aufs Angestrengteste.
Ich hatte in diesem Hause einen speziellen Freund. Mochte auch er mich für den Durchbrenner Ezechiel halten — immerhin, dieser meinte es ganz anders mit mir als alle Frauen und Kinder von jenem.
Wie sollte ich nun mit diesem fertig werden? Sollte ich mich ihm vertrauen?
Mein Entschluss war gefasst. Es musste riskiert werden.
»Wo hast du dich denn nur die drei Wochen herumgetrieben?«, erklang es da wieder an der Öffnung. »Du hättest doch schon längst über die Grenze sein können!«
»Du bist wohl ein guter Freund von Ezechiel?«, fragte ich entgegen.
Es verging eine ganze Weile, ehe eine Antwort kam.
»Na, nun hört aber doch alles auf!«, erklang es dann im Tone des höchsten Erstaunens.
»Was hört auf?«
»Auch mir gegenüber willst du den Verrückten spielen?!«
»Und ich versichere dir, dass ich wirklich nicht dieser Ezechiel O'Donald bin.«
»I, mach mir doch nichts vor! Keiner kennt dich doch so gut wie ich, wir haben doch zusammen auf der Schulbank gesessen...«
»Willst du mich einmal anhören?«
»Na?«
Und ich, nachdem ich schon den geleerten Napf zurückgegeben hatte, erzählte — erzählte, wie ich mich bei den Dakotas am Pitsee aufgehalten, wie ich im Walde einen Fremden getroffen hatte, der mir so ähnlich wie ein Ei dem anderen gesehen, der mir für ein halbes Pfund Kautabak die sechs goldenen Herzchen geschenkt hatte.
Zehn Minuten hatte ich dazu bedurft — der andere hatte mir andächtig zugehört, nur manchmal durch einen leisen Ruf des Staunens sich Luft machend, mir schon hierdurch verratend, dass ich endlich einen Menschen gefunden hatte, der meinen Worten glaubte.
Eigentlich kam es mir etwas merkwürdig vor, der Mann glaubte mir gar zu schnell, und ich sollte seinen Charakter oder seine Verstandsschärfe überhaupt nicht gerade günstig beurteilen lernen.
»Ist nicht möglich!«, sagte er, als ich geendet, zuletzt schildernd, wie mich die drei Männer gebunden hierher geschleppt hatten. »I, so etwas sollte man ja gar nicht glauben!!«
Aber es lag schon in seinem Tone, dass er es dennoch glaubte.
»Wie ich sagte.«
»Du bist also wirklich nicht der Charles O'Donald?«
»Nein.«
»Wie heißt du denn sonst?«
»Pieter Maritz«, entschied ich mich kurz, mich für einen Holländer ausgebend, dessen Sprache ich vollkommen beherrschte, und in Amsterdam war ich wie zu Hause.
»Du, das glaube ich noch gar nicht recht.«
Aber wieder in einem Tone gesagt, der das Gegenteil verriet.
»Und weshalb nicht?«
»Da muss ich dir erst ein bisschen auf die Zähne fühlen.«
»Nur zu.«
»Wie hieß denn unser Lehrer?«
»Wie soll ich denn das wissen, wenn ich gar nicht dein Jugendfreund bin?«
»Wie hieß denn das Schiff, mit dem wir nach Amerika fuhren — du weißt, wo wir uns zwischen die Kohlen versteckten?«
»Ja, ich bin doch gar nicht mit dir gefahren.«
»Wo haben wir denn damals das Paket vergraben?«
»Ich weiß nichts von einem Paket.«
»Was war denn da drin?«
»Wie soll ich denn das wissen?«
»Du weißt es wirklich nicht?«
»Nein.«
»Hm. Dann kannst du doch nicht der Charly O'Donald aus der Fleet Street sein.«
Der Leser versteht. Diesen Mann konnte ich nicht als beweiskräftigen Zeugen dafür gebrauchen, dass ich nicht der Ezechiel sei. Der Mann war einfach beschränkt, etwas sehr beschränkt. Aber nicht etwa blödsinnig, nicht einmal direkt dumm. Er gehörte zu denen, welchen das Himmelreich ist. Ein Kind des Lichtes, nicht so klug wie die Kinder der Finsternis, aber... war er nicht der einzige, der jetzt wirklich wusste, dass ich nicht der Ezechiel sei? Das Licht der geistigen Beschränkung hatte tatsächlich gesiegt.
»Also du bist nun überzeugt, dass ich nicht der durchgebrannte Ezechiel bin?«
»Ja, wenn du gar nichts davon weißt, was der wissen muss, dann kannst du's wohl nicht sein.«
»Wie heißt du?«
»Ben Smart. Hier bei den Mormonen aber bin ich der Habakuk.«
»Und wer ist denn nun dieser Ezechiel oder Charly O'Donald? Erzähle mir doch etwas von dem!«
Benjamin Smart, genannt Habakuk tat es. Ich füge gleich noch etwas mehr hinzu, was ich erst später im Laufe der Zeit erfuhr. Immerhin konnte mir sein Freund schon genügend von jenem mitteilen, ich verstand zwischen den Zeilen, zwischen seinen Worten zu lesen bzw. zu hören.
Sie waren beide aus einer Vorstadt Londons gebürtig. Die Eltern des einen hatten Fleet Street Nr. 18, die des anderen Fleet Street Nr. 19 gewohnt.
Die englischen Jungen sind nicht minder romantisch und abenteuerlustig veranlagt als die deutschen, in England spielt die Indianerliteratur sogar eine noch ganz andere Rolle als in Deutschland.
So verkrochen sich die beiden zwölfjährigen Bengels eines Tages in den Kohlenraum eines Schiffes und rutschten nach Amerika, um Indianerhäuptlinge zu werden.
Hinüber kamen sie auch, aber mit der Häuptlingswürde hatte es noch gute Weile. Es ging ihnen in New York recht schlecht, bis sie bei einer umherwandernden Theatertruppe ein Unterkommen fanden. Ben blieb beim Lampenputzen und dergleichen Beschäftigungen, der intelligentere Charles mimte feste mit — in Knabenrollen.
Übrigens wurde ihre Schauspielerei bald mit ihrem ursprünglichen Ziele verbunden, indem die Theaterschmiere weite Reisen von Stadt zu Stadt unternahm, wobei oft genug Wildnisse zu durchqueren waren, sie kamen auch mit Indianern in Berührung, und schließlich wurden aus den heranreifenden Jünglingen zwei tüchtige Trapper und Waldläufer.
So verlebten sie viele Jahre in allen Wildnissen Nordamerikas. Ab und zu stellte sich bei ihnen aber doch die Sehnsucht nach einem behaglicheren Leben ein. Charly wurde dann mit Vorliebe wieder Schauspieler, Ben putzte nach wie vor die Lampen. Und darauf ging es immer wieder einmal in die Urwälder und in die Prärien hinein.
Vor fünf Jahren, in Cincinnati, hatten die beiden einen Mormonenmissionar predigen hören, der Proselyten machte.
»Was, da kann man so viel Frauen heiraten, wie man will? Du, Ben, da gehen wir mit!«
Bei Charly hatte das ewige Weibliche nämlich schon immer eine große Rolle gespielt — deshalb hatte er es auch niemals auf die Dauer im jungfräulichen Urwalde ausgehalten — und Ben ließ selbstverständlich seinen Freund nicht im Stiche.
Gut, die beiden gingen mit nach der großen Salzstadt, wurden als Mormonen eingesegnet. Aber mit dem Heiraten geht es auch bei den Mormonen nicht so fix. Da muss man auch dort erst eine Frau ernähren können.
Die Mormonen beschäftigen in der wildreichen Umgebung viele Fallensteller und Pelzjäger, welche Wild besorgen müssen, es ist überhaupt ein einträgliches Geschäft. Auch die drei Männer, die mich mit ihren Lassos gefangen, waren solche gewesen.
Ben und Charly hatten erst einen Marsch von vielen Wochen durch die Wildnisse hinter sich, hatten diese Art von Erwerb wieder einmal satt — und dann fehlt dort eben die holde Weiblichkeit — kurz und gut, Charly entschied sich für eine Tütenfabrik, wo auch Frauen und Jungfrauen beschäftigt waren, klebte Tüten und Papiersäcke, und der biedere Ben klebte selbstverständlich mit.
Ben war ein kleiner, untersetzter Kerl und hatte mit dem Gesicht auf einem Rohrstuhl gesessen, hatte Pockennarben — Charly hingegen war ein stattlicher, hübscher Bursche — so wie ich. Da es sich um meinen Doppelgänger handelt, kann ich's ja doch nicht leugnen, und wie sehr ich auf meine ›Schönheit‹ eitel bin, weiß ja der Leser.
Die Oberaufsicht über die Tütenfabrik führte Salah Young, die zwölfte bis vierundzwanzigste Tochter des Mormonenpräsidenten.
Sie ging nicht nur in den Sälen hin und her, um nach dem Rechten zu sehen, sondern sie setzte sich manchmal auch hin, und wenn sie so dem neuen Tütenkleber gegenüber zu sitzen kam, dem großen und dem hübschen, dann kiekten sich die beiden an — und dann seufzte erst Charly — und dann seufzte Salah — und dann kiekten sie sich wieder an — und dann trampelte Charly mit seinem Latschen der Präsidententochter auf den Hühneraugen herum — und eines Tages, als niemand weiter es hören konnte, flüsterte der verwegene Charly: Salah, ick liebe dir.«
Ob nun die Mormonenpräsidententochter errötend flüsterte: »Sprechen Sie mit meinem Papa!«, — das weiß ich nicht, das konnte mir auch Ben nicht sagen, der übrigens gar nicht so umständlich erzählte.
Kurz und gut, der Papa gab nicht nur seinen Segen, sondern seiner Salah auch noch zwanzigtausend Dollar mit. Denn auch bei den Mormonen spielt das Geld die größte Rolle, und dort herrscht nicht etwa Gütergemeinschaft, wie man manchmal hört. Es gibt in der Salzstadt gar arme Schlucker.
Und mein Doppelgänger musste tatsächlich ein tüchtiger Kerl gewesen sein. Er kam aus der Tütenfabrik ins Sekretariat, wurde schnell die rechte Hand des Präsidenten — und mehr noch: Dieser kuppelte ihm im Laufe des ersten Jahres auch noch fünf weitere Töchter an, die Judith, die Suleikah, und wie sie alle mit ihren biblischen Namen hießen, und jede bekam ihre zwanzigtausend Dollar mit, und das hätte der schlaue Brigham Young doch sicher nicht getan, wenn er nicht gewusst, was für einen tüchtigen Kerl er vor sich gehabt. Der Präsident hatte doch noch einen ganzen Haufen anderer Schwiegersöhne. Ezechiel, wie er nun umgetauft hieß, war einer der letzten, und wenn Young schon unter den früheren seinen Nachfolger erwählt hatte, so wurde das rückgängig gemacht, jetzt war Ezechiel zum Nachfolger des Präsidenten bestimmt.
Ben, jetzt Habakuk, betonte auch ganz besonders, was für ein gescheiter Kerl sein Freund sei.
»Der kann schreiben und lügen wie ein Advokat.«
Und mehr kann man doch auch von dem zukünftigen Mormonenfürsten nicht verlangen.
Und der Mormonenkronprinz blieb nicht bei den sechs Präsidententöchtern, er heiratete weiter, Brigham Young selbst wollte es, sorgte dafür, kuppelte zusammen, immer nur die reichsten Witwen und Jungfrauen.
»Und so heiratete Charly immer noch eine, und immer noch eine — oder manchmal auch gleich drei und vier bis sechs — denn wenn einer bei uns stirbt, da gibt es doch allemal gleich einen ganzen Haufen Witwen — und er heiratete immer weiter, und immer weiter, und immer weiter...«
»Na, wie viele Frauen hat er denn zusammen?«, fiel ich dem Erzähler ins Wort, denn der schien bei dem ›und immer weiter‹ heute Nacht bleiben zu wollen.
»Na, so ein Sticker achtundzwanzig — oder es mögen auch neunundzwanzig sein — — ach so, und da ist ja zuletzt auch noch die Rebekka dazugekommen.«
Heiliger Popanz! Achtundzwanzig Frauen! Oder es konnten auch neunundzwanzig sein! Oder wahrscheinlicher dreißig!
Und die sollten jetzt alle mein sein! Dreißig Stück!
Wie ich aber später erfuhr, irrte sich Ben alias Habakuk. Er hatte den Abgang von zwei Frauen vergessen, es blieb doch nur bei achtundzwanzig.
Habakuk war ja zwar hier bei seinem Freunde Hausverwalter, da er aber über die Frauen und Kinder kein Buch führte, konnte so ein Irrtum schon unterlaufen.
»Und wie viel hat er denn Kinder?«
»Na, so ein Sticker siebzig bis achtzig. Ganz so genau kann man das nicht zählen, die Gören laufen ja immer durcheinander.«
»Alle von ihm?«
»Jawohl — nee — das heißt — ja — das weiß ich nicht so genau.«
»Haben denn die Witwen, die er geehelicht hat, keine Kinder mitgebracht?«
»Ei freilich, die schwere Masse — und die unverheirateten Mädels auch — aber immerhin, Charly muss doch ein Sticker siebzig bis achtzig haben — sehen Sie, das kann man doch nicht so genau zählen — es sterben doch immer welche, und andere werden wieder geboren — und das geht immer so weiter — i, wer soll denn daderbei aufpassen — da wird man doch ganz verrickt dabei.«
Der Erzähler seufzte tief auf, und dann fuhr er fort:
»Ja, und so heiratete Charly immer weiter — und immer weiter — und immer weiter...«
»Na ja, bis er bei der Rebekka angekommen war«, musste ich dem Habakuk abermals in die Zügel fallen. »Und wie steht er sich denn nun mit diesen dreißig Weibern?«
»O, ganz gut! Jede der sechs Präsidententöchter hat ihm 20 000 Dollar eingebracht — und was die nun später noch alles zu erwarten haben — und die vier oder fünf Witwen von dem Strumpfwirker Melchisedek hatten zusammen an die 100 000 Dollar — und da war ein englisches Mädchen, die Delila, die hatte allein 150 000 Dollar — und die Judith brachte ihm auch gegen 60 000 Dollar ein — wir sind doch hier keine armen Leute, wenn es auch genug gibt, die nischt haben, wie ich — und die drei oder vier Witwen vom Schuster Hesekiel — jawohl, es waren vier, die Hosenna, die Salah Nummer zwei, die Delila Nummer...«
»Da ist also Ihr Freund Ezechiel hier ein reicher Mann geworden?«, unterbrach ich den Erzähler, der mir wohl sämtliche dreißig Namen zum Besten geben wollte.
»Nu sicher!«
»Wie viel mag er denn im Vermögen haben?«, interessierte ich mich doch etwas.
»Nu, eine Million Dollar mindestens.«
»Aber darüber darf er nicht frei verfügen?«
»Nu, warum denn nicht?«
»Hier wird aber sonst wohl recht armselig gelebt?«
»Nu nee. Nur Schnaps gibt's hier nicht, sonst ist alles da.«
»Und mit den Frauen ist er auch immer gut ausgekommen?«
»Ganz gut. Ein gemütliches Familienleben gibt's hier überhaupt, ei ja!«
»Hat er keine Kratzbürste dazwischen?«
»Eine Kratzbürste?«
»Eine Teufelin, die ihm das Leben zur Hölle machte.«
»Nee, nicht im Geringsten.«
»Ja, weswegen ist er denn da schon zweimal durchgebrannt?«
»Nu, weil er's hier nicht mehr aushalten konnte.«
»Weswegen konnte er es denn hier nicht mehr aushalten?«
»Ja, weswegen, weswegen — haben Sie mal ein Sticker dreißig Frauen und ein Sticker siebzig bis achtzig Kinder!«
Der Mann hatte recht, ganz recht. Da mögen die Frauen noch so gut und die Kinder noch so brav sein — bei solcher Massenhaftigkeit kann doch einmal die Gemütlichkeit aufhören, was aber mit Worten gar nicht zu beschreiben ist.
»Also da ist Ezechiel durchgebrannt?«
»Zweimal schon, und allemal haben sie ihn wiedergekriegt.« Habakuk erzählte ausführlicher. Vor etwa einem Jahre war Ezechiel zum ersten Male durch die Lappen gegangen. Als man am nächsten Morgen sein Verschwinden bemerkte, erinnerte man sich, an dem Mormonenkronprinzen schon seit einiger Zeit verdächtige Symptome bemerkt zu haben, man dachte gleich an eine Flucht, und mit Hilfe von Waldläufern und ausgezeichneten Spürhunden hatte man schon am zweiten Tage den Flüchtling wieder eingeholt, obgleich er damals beritten gewesen war.
Dabei ist zu bedenken, dass es sich hier um ein Gebiet handelt, welches fast so groß wie Deutschland ist, aber außer den Mormonen kaum einen ständigen Einwohner hat.
Zurückgebracht, hatte Ezechiel den wilden Mann gespielt, hatte sich irrsinnig gestellt, wollte das Gedächtnis verloren haben, z. B. seine Frauen nicht mehr erkennen.
Aber bei Wasser und Brot war dem biederen Mormonen schnell genug die Erinnerung zurückgekehrt. Denn mein Doppelgänger war auch innerlich ganz so veranlagt wie ich — der Magen war die schwächste Seite an seinem langen Körper.
Sonst aber hörte ich immer mehr heraus, dass mein Spiegelbild doch etwas anders geartet war, als ich — Monsieur Ezechiel musste nämlich seinem Charakter nach ein rechter Waschlappen gewesen sein.
Kurz und gut, er gab seine Verstellung nicht nur auf, indem er doch hätte tun können, als kehre ihm nach und nach die Erinnerung zurück, sondern das Wasser und Brot hatten ihn so mürbe gemacht, dass er gleich offen gestand, er habe sich nur irrsinnig gestellt.
Dem Sünder wurde verziehen; Ezechiel kehrte reumütig in die Arme seiner ›Sticker‹ achtundzwanzig bis dreißig Frauen und ›Sticker‹ siebzig bis achtzig Kinder zurück, um... ein halbes Jahr später sich wieder dieser Umarmung zu entwinden, um abermals bei Nacht und Nebel zu verduften.
Er wurde wiederum eingeholt, und auf die geistigen Fähigkeiten meines Doppelgängers wirft es gerade kein besonders günstiges Licht, dass er nichts anderes wusste, als sich abermals irrsinnig zu stellen, mit Verlust der Erinnerung, genau wie zum ersten Male.
Und zum zweiten Male kurierten ihn Wasser und Brot, und zum zweiten Male war mein Ebenbild so dämlich, seine Simulation einzugestehen.
Diesmal verfuhr man etwas härter mit ihm, er wurde aller seiner Würden entkleidet, der degradierte Mormonenkronprinz musste wieder in die Tütenfabrik gehen, wo er vor vier Jahren seine Laufbahn begonnen hatte.
Aber es währte nicht lange, so rückte er wieder auf, bis ins Sekretariat, wurde wieder in alle Ämter und Würden eingesetzt. Es sollte eben ein äußerst liebenswürdiger Kerl sein, dem man nicht so leicht böse sein konnte — es war eben mein Doppelgänger — und dann hat man auch nicht umsonst die sechs Töchter vom Landesvater geehelicht.
So ist alles wieder schön und gut, da... reißt mein Urian zum dritten Male aus. Diesmal hatte er sich als Beförderungsmittel Schneeschuhe gewählt. Die Spur war verwischt worden, auch die besten Jagdhunde hatte nichts mehr machen können.
Das war nun schon drei, bald vier Wochen her. Diesmal musste es ihm gelungen sein. Da sehen ihn gestern früh drei Waldläufer, die auf dem Wege zur Heimat waren, also ebenfalls Mormonen, wie er auf einen Hirsch pirscht, nur wenige Meilen von der Salzstadt entfernt.
Na, da hatten sie den Kronprinzen gefangen und wieder nach Hause bugsiert.
»Weshalb wurde ich nicht gleich gestern ins Verhör genommen? Es konnte doch nicht gar so sehr spät gewesen sein, als ich eingeliefert wurde, und das muss doch hier gleich allbekannt geworden sein.«
»Weil gestern Sabbat war.«
Aha, das gab mir schon viele Erklärungen! Die Mormonen feierten den Sonnabend als heiligen Tag.
»Am Sabbat darf wohl auch nicht gesprochen werden?«
»Nur das Allernotwendigste.«
Daher also das fortwährende ›Schweig!‹
»Und am Abend darf wohl auch kein Licht gebrannt werden?«
»Im Winter nur bis sechs Uhr abends, dann muss alles ausgelöscht werden.«
Jetzt waren mir diese Rätsel erklärt.
»Nun, BenHabakuk, du bist doch wohl überzeugt, dass ich nicht jener Ezechiel bin?«
»Ja, jetzt muss ich's wohl glauben.«
»Nun wirst du doch als Zeuge der Wahrheit auftreten?«
Es erfolgte eine kleine Pause.
»Sagen kann ich's wohl, aber Zweck hat's nicht«, erklang es dann zögernd. »Ist es denn nur wahr, du hast wirklich eine Kaffeebohne am...«
»Ja, leider«, musste ich lachen, wenn auch mit möglichster Vorsicht.
»Genau an derselben Stelle, wo Charly sie auch hat?«
»Dessen Kaffeebohne habe ich nicht gesehen, kann auch meine eigene nur im Spiegel bewundern.«
»Ja, aber wenn du einmal die Kaffeebohne hast — da kann ich nichts machen, da könnte ich reden, was ich wollte.«
Für mich war diese Sache erledigt.
»Könntest du mir nicht zur Freiheit verhelfen?«
»Nee, wie denn? Ich habe keinen Schlüssel zu dieser Tür.«
Nun wusste ich, wes Geistes Kind ich vor mir hatte, hatte es schon aus seiner Erzählung herausgehört.
BenHabakuk war ein braver Kerl, der als treuer Freund mit seinem Kameraden durch dick und dünn gegangen war und auch mit ihm geflohen wäre, wenn jener es von ihm gewünscht hätte. Aber während der Gefangenschaft hatte er seinem Freunde so wenig helfen können, wie jetzt mir, dazu war er viel zu geistesschwach. Ja, ihm einmal einen guten Bissen zustecken — aber auch nichts weiter.
»Wie viele Frauen hast du denn hier?«
»Nu, ein Sticker...«
Er brach ab.
»Was hast du?«, fragte ich nach einer Weile, als er gar nicht wieder anfangen wollte.
»Du, ich muss jetzt gehen, ich höre Schritte, die kommen aus dem Tempel.«
Die Schüssel hatte er schon wieder, die Klappe wurde zugeschoben.
Willst du jetzt vernünftig sein, Ezechiel?« Das sagte am anderen Morgen Brigham Young zu mir durch die Klappe, durch welche ich kurz vorher schon mein Brot bekommen hatte.
»Ja, ich will vernünftig sein.«
»Weißt du jetzt, dass du Ezechiel O'Donald bist?«
»Selbstverständlich bin ich der.«
»Und wer bin ich?«
»Mein Schwiegervater.«
»Wie heiße ich?«
»Mister Brigham Young.«
»Was für einen Posten bekleide ich hier?«
»Na, du bist doch der Präsident der letzten Heiligen am großen Salzsee.«
»Wie hast du früher geheißen, ehe du Mormone wurdest?«
Ich hatte während der ganzen Nacht Zeit gehabt, meinen Entschluss zu fassen, und während ich bisher alle Fragen richtig beantwortet hatte, starrte ich jetzt den Frager erst wie geistesabwesend an, dann griff ich an meine Stirn, rieb daran.
»Da hieß ich — ich hieß — ich hieß — Himmel, ich weiß doch gar nicht mehr...«
Und ich rieb immer weiter an meiner Stirn, das Gesicht an der Öffnung dabei anstarrend.
Es waren gar kluge Augen, die mich lange Zeit aufmerksam musterten.
»Weißt du wirklich nicht mehr, wie du früher hießest?«
»Ich hieß — ich hieß...«
»Char — Char...« kam mir der Präsident zu Hilfe.
»Char — Char?«, wiederholte ich ganz geistesabwesend.
Das heißt, der Leser darf nicht etwa glauben, dass ich den Namen Charly aus der gestrigen Erzählung vergessen hätte! Nein, ich ging meinem ganz bestimmten Plane nach. Und siehe da, man kam mir entgegen, indem ich neben dem Kopfe meines alten Schwiegervaters eine weibliche Stimme flüstern hörte, nicht leise genug für mein gutes Ohr:
»Siehst du, Brigham, ich habe es doch gleich gesagt — ganz richtig im Kopfe ist er nicht. Irgend etwas fehlt ihm drin.«
»Charly«, sagte jetzt der Schwiegerpapa.
»Jawohl, richtig, richtig — Charles O'Donald hieß ich früher!«, jauchzte ich förmlich auf. »Wie kann man nur so schnell seinen eigenen Namen vergessen!«
»Wie fühlst du dich denn, Ezechiel?«
»O, ganz gut. Nur sehr großen Hunger habe ich.«
»Hast du nicht Kopfschmerzen?«
»Durchaus nicht.«
»Na na. Und wer ist denn das?«
Das Schiebefenster war groß genug, dass zur guten Hälfte noch ein anderer Kopf daran erscheinen konnte. Es war das Gesicht der guten, alten Frau, die mich zuerst bewillkommnet hatte.
»Na, wer ist das?«, wurde wiederholt, als ich die Pfirsichbäckchen einige Zeit verständnislos angestiert hatte.
»Ach, das ist ja meine Schwiegermutter!«
»Ja, aber welche?«
Ja, aber welche! — Was für eine Nummer, das war hier die große Frage. Denn Brighams sechs Töchter, die ich geheiratet hatte, konnten doch von sechs verschiedenen Frauen sein.
»Nun, das ist doch natürlich, natürlich...«
»Siehst du, Brigham, ich hatte doch recht«, stimmte mir die Alte wieder bei, als ich stockte. »Aber du selbst bist doch Ezechiel?«
»Freilich, wer denn sonst!«
»Siehst du, Brigham, das ist nur so halb und halb — der ist wirklich ein bisschen hä. Erkennst du denn deine Tante Rebekka nicht mehr?«
»Ach ja, natürlich, Tante Rebekka!!«
Aber eine meiner Schwiegermütter schien sie doch zu sein, die wurde hier nur Tante genannt. Übrigens würde ich mich bald nicht mehr zwischen diesen vielen Rebekkas hindurchfinden.
»Willst du jetzt brav sein, Ezechiel?«
»Ganz brav.«
»Niemals wieder entfliehen?«
»Niemals wieder. Aber nicht wahr, in die Tütenfabrik steckt ihr mich nicht wieder?«
»Nein, wir haben etwas anderes mit dir vor.«
Doch das war in einem Tone gesagt worden, dem ich nicht noch Schlimmeres als die Tütenfabrik entnehmen konnte.
Denn Papiersäcke zusammenzuleimen, dazu hatte ich durchaus keine Lust, ich vertrage die sitzende Lebensweise nicht, da ist mir die Tretmühle immer noch lieber — und in diesem Falle wäre ich lieber ins Sekretariat gekommen, wo ich sicher Einblicke in das interne Leben der Mormonen gewinnen konnte.
»Na, da komm!«
Die Tür ward geöffnet. Ja, mein Doppelgänger musste doch ein rechter Waschlappen gewesen sein, dass man ihn so mir nichts, dir nichts gleich aus der ›Tobzelle‹ herausließ, ohne besondere Vorsichtsmaßregeln zu treffen.
»Du willst wohl erst frühstücken?«
»Ach ja, Tante Mirja.«
»Tante Rebekka«, wurde ich verbessert, und dabei bemerkte ich, wie sie ihren Gatten heimlich anstieß, als wie: Siehst du, ich habe doch recht.
»Aber willst du nicht erst ein Bad nehmen?«
Na, zuerst wäre mir ein Frühstück eigentlich lieber gewesen.
Aber ich wollte mich fügen.
»So komm in dein Ankleidezimmer!«
Glücklicherweise schritt meine Schwiegermama, die ich Tante nennen musste, voraus. Es ging einen sehr dunklen Korridor entlang, der von diesem abzweigte — das Haus schien sehr groß zu sein — hier konnte ich nichts anderes merken, als dass ich einen weichen Teppich unter den Füßen hatte, der sich wie hohes Moos um den Stiefel schmiegte, dann strahlte mir durch eine geöffnete Tür helles Licht entgegen...
Donnerwetter, war das eine Pracht in dem geräumigen Zimmer!! Das heißt, kein Gold und Silber, aber wunderbar geschnitzte Möbel aus den seltensten Hölzern und dann vor allen Dingen auch prachtvoll gestickte Teppiche und Decken.
Und außer den vielen Kleiderschränken verriet besonders das Monstrum von Waschtisch, mit zwei marmornen Becken, über jedem zwei Hähne mit der Bezeichnung ›Kalt‹ und ›Warm‹, dass dies tatsächlich nur ein Ankleidezimmer sei.
Ich hatte geglaubt, mich in einem schlichten Bauernhause zu befinden. Ich hatte ja bisher noch nichts weiter gesehen als das erste, so überaus simple Schlafzimmer mit dem hochgetürmten Bauernbett, das große, nackte Zimmer, an dessen Wand nur Mormons Bild hing, die sogenannte Tobzelle und dann einige nackte Korridore.
Aber ich sollte bald erkennen, wo ich mich eigentlich befand, dass ich bisher nur Vorräume zu sehen bekommen hatte, in denen sich der Eintretende des Straßenschmutzes entledigen sollte — und ich sollte noch erkennen, was es heißt, der Kronprinz der Mormonen zu sein, der erste Schwiegersohn des so gut wie allmächtigen Präsidenten, welchem nur noch die Macht fehlt, alle diejenigen seiner Untertanen, deren Besitz und Vermögen er wünscht, einfach köpfen zu lassen. Heutzutage wird das eben einfacher durch Heirat und durch anderweitige Erbschaftsregulierung gemacht.
»So«, sagte meine Schwiegermama, eine zweite Tür öffnend, und was für eine geschnitzte Flügeltür, »nun wirst du hier erst ein Bad nehmen.«
Himmelbombenelement, so eine Badeeinrichtung!! Eine, zwei, drei, vier, fünf Wannen, groß genug, dass sich immer gleich drei Personen hineinsetzen konnten — aber keine aus Blech, sondern Marmorbassins mit eingelegtem Mosaik, mit Dusche und allem Komfort, und so auch außerhalb für alles gesorgt, wenn man das Bad verlassen hatte.
Tante Rebekka hatte über dem einen Bassin die Hähne aufgedreht und das große Thermometer hineingelegt.
»Wirst du allein fertig werden?«, fragte sie glücklicherweise, denn ich hatte meine Schwiegermama schon im Geiste als Badefrau gesehen, die mich abrumpeln wollte.
»Selbstverständlich, ich bade mich doch hier nicht zum ersten Male!«, entgegnete ich unverzagt.
Da ging sie, und mein erstes war, dass ich beide Türen abriegelte; dann konnte ich mich dem Genusse des Badens hingeben.
Als ich einmal zu plätschern aufhörte, vernahm ich gedämpfte Stimmen. Im Nebenzimmer erteilte meine Schwiegermama Instruktionen, jedenfalls meinen Frauen.
Alles hörte ich nicht; aber doch einiges, um mir ein Bild machen zu können.
Ich sei doch im Kopfe nicht ganz normal — etwas hä! — es sei doch nicht nur Verstellung, sondern hin und wieder könne ich mich doch auf verschiedenes nicht erinnern. Aber das würde sich schon wieder geben, ich müsse nur einmal auskuriert werden.
Also ich würde vorläufig nicht wieder ins Sekretariat kommen, sondern solle einige Zeit hier zu Hause bleiben, unter der sorgsamsten Pflege meiner Frauen.
Mit einem allgemeinen Geschnatter stimmten die Draußenstehenden alledem bei.
Jawohl, die waren jetzt endlich auf den richtigen Trichter gekommen! Wer Millionär ist, und wer solch ein Heim mit so viel guten Frauen und wohlerzogenen Kindern hat, und er geht immer wieder durch die Lappen, um draußen in Eis und Schnee oder zuzeiten auch im Sonnenbrande herumzustromern — der kann unbedingt nicht ganz geistig normal sein.
So simuliere ich noch, auch ganz genau das treffend, wie jetzt allgemein über mich geurteilt wurde, da... geht plötzlich die Tür auf, die ich für fest verriegelt halte, und hereinkommen die sämtlichen Frauen, die mich schon gestern auf dem Sofa abgebalgt hatten!
»Nun, mein lieber Ezechiel, soll ich dir ein bisschen helfen?«
Das sagte nicht nur die eine, sondern das sagten alle zusammen, aber jede mit etwas anderen Worten, sodass gleich wieder ein allgemeines Geschnatter entstand.
Ach du großer Schreck!! Ich hatte schon eine Heidenangst gehabt, meine Schwiegermama könnte die Bademeisterin spielen wollen, und jetzt kommen die alle herein, so ein ›Sticker‹ achtundzwanzig bis dreißig, um mich zu bedienen, der ich hier in der Badewanne sitze, wie man eben meistenteils in der Badewanne sitzt!!
Na, schließlich hatte ich Kauz es doch überwunden. Nach fünf Minuten war mir alles egal geworden. Es waren ja meine Frauen.
Ich hatte A gesagt, nun musste ich auch B sagen — mit diesem festen Vorsatze war auch meine Ruhe wiederhergestellt. Und ich ließ mich abseifen und dann mit Handtüchern abrumpeln und in einen Bademantel einwickeln und dann von geschäftigen Händen ankleiden, und zwar mit anderen Sachen, die mir wie angegossen passten.
»Da — ist die Kaffeebohne!«
Ja, meine Kaffeebohne spielte bei der ganzen Zeremonie eine große Rolle, jede wollte sie immer noch einmal bewundern.
Denn mir kam es fast vor, wenigstens anfangs, als ob doch nicht so alle ganz fest davon überzeugt seien, dass ich wirklich der Ezechiööööl wäre. Es mussten doch irgendwelche Bedenken aufgestiegen sein, auch Brigham Young hatte mir gegenüber davon ja schon eine Andeutung gemacht. Was für Bedenken das aber gewesen waren, das sollte ich niemals erfahren.
Jetzt gab die Kaffeebohne den Ausschlag, ohne dass direkt gesagt wurde, wie durch dieses Muttermal nun jeder Zweifel geschwunden sei. Es lag nur immer in dem freudigen Ausrufe:
»Da — da ist ja die Kaffeebohne!«
Vor allen Dingen tat sich bei dieser Untersuchung ein Weib hervor. Ich hatte es bei der ersten Vorstellung ganz übersehen, obgleich es sonst gar nicht so leicht zu übersehen war. Aber ich war ja damals ganz blind gewesen.
Es war ein äußerst langes Weib, mir an Größe nur sehr wenig nachgebend, und bei einem Weibe ist solch eine Körperlänge doch nun noch etwas ganz anderes, als bei einem Manne — einfach eine Riesin, aber keine Riesendame, wenn man sich darunter immer ein sehr korpulentes Frauenzimmer vorstellt, sondern dürr wie eine Hopfenstange, ohne Busen, aber mit wahren Pferdeknochen im Leibe und mit einer knarrenden Männerstimme.
Ausgezeichnet war sie durch ein mächtiges Schlüsselbund, das an ihrem Gürtel hing, und jetzt zeichnete sie sich noch dadurch aus, dass sie immer oder doch bei jeder günstigen Gelegenheit meine Kaffeebohne durch eine Lorgnette bewunderte, sich gar nicht daran sattsehen konnte.
Ich will gleich erwähnen, dass dieses Knochengerüst, welches den liebreizenden Namen Delila führte, jene Engländerin war, die dem Mormonenstaate und dann speziell dem Ezechiel oder meinetwegen auch jetzt mir, also dem Kronprinzen, einhundertfünfzigtausend Dollar eingebracht hatte und deshalb hier eine große Rolle spielte.
Denn sehr reiche Frauenzimmer, die vom Heiratsteufel sogar bis zu den Mormonen getrieben werden, kommen doch nicht hierher, Millionärinnen sind dünn gesät. Die Masse muss es eben bringen.
Hier im Hause übte Delila, deren ursprünglichen Namen ich nie erfahren habe, das Amt einer Wirtschafterin, der Beschließerin aus, welche die ganze Wäsche und dergleichen unter sich hatte. — —
So blieb ich in diesem Hause, blieb Ezechiel der Mormone mit der Kaffeebohne.
Zunächst muss ich das Haus schildern, welches ich mit keinem Schritte wieder verlassen sollte.
Es war das Rathaus, eigentümlicherweise ›beehive‹ genannt, Bienenstock, aber auch zu anderen Zwecken als zu Beratungen der Stadtväter dienend.
Vor allen Dingen war das Rathaus auch die Residenz des Mormonenpräsidenten — oder sagen wir gleich Mormonenfürsten — welcher mit seinen mehr denn fünfzig Frauen im ersten Stock wohnte, und der ihm zum Teil gewordene Name ›Beemaster‹, Bienenvater, war nicht nur ein Spott, sondern im Laufe der Zeit zum richtigen Titel geworden, wenn auch nur vertraulich gebraucht.
Mir selbst, dem Lieblingsschwiegersohne, war der zweite Stock eingeräumt, und mir standen nicht weniger als vierzig Zimmer zur Verfügung. Da nun noch viele andere Wohnungen hinzukamen, deren jede mehrere Frauen und zahlreiche Kinder zu beherbergen hatte, ferner das Sekretariat und andere Verwaltungsabteilungen, so lässt sich denken, was für ein Haus dieser ›Bienenstock‹ ist!
Eigentümlich bei der Bauart ist — eigentlich ganz praktisch, nur nicht gerade für meine Zwecke — dass jede Etage, wie überhaupt jede Familienwohnung ihren eigenen Treppenaufgang hat, sodass die einzelnen Familien gar nicht in Berührung miteinander zu kommen brauchen, sich auch nicht auf Korridoren begegnen, obgleich Verbindungstüren vorhanden sind.
Nun, ich hatte über meine Frauen tatsächlich nicht zu klagen. Es war mir so lange unbegreiflich, wie solch eine Masse Frauen, die nur einen einzigen Mann haben, sich miteinander vertragen können, bis ich mich mit eigenen Augen davon überzeugen musste. In andere Familien bekam ich zwar keinen Einblick, aber dort würde es wohl auch nicht anders sein.
Joe Smith, jedenfalls trotz aller Schrullen ein genialer Organisator, hatte, als er die unbeschränkte Vielweiberei eingeführt, eben dafür gesorgt, dass Eifersucht und Zank aus sonstigen Gründen gar nicht aufkommen konnte.
Da war wohl die Hauptsache, dass jede Frau ihr eigenes Schlafzimmer hatte, und der Mann verbrachte jede Nacht der Reihenfolge nach, wie er die Frauen nach und nach geheiratet hatte. Übrigens gilt das ja noch für heute, so müsste ich also eigentlich im Präsens sprechen.
Die zweite Hauptsache, und vielleicht die noch größere, war, dass jede Frau ein Amt, eine Beschäftigung hatte, alles musste arbeiten, wenn nicht im, dann außer dem Hause, in irgendeinem Büro der Stadtverwaltung, in einer Fabrik, ganz wie es der Präsident befahl oder die Stadtväter beschlossen hatten, und wenn die Arbeit auch auf Bitten der Betreffenden geändert werden konnte, so gab es da doch keinen Unterschied in der Person.
Die Kinder wurden von Lehrern und Lehrerinnen gemeinsam erzogen, ganz vortrefflich, und schliefen, wenn sie in einem gewissen Alter von der Mutter genommen wurden, sehr früh, gleich nach dem Stillen, auch in einem gemeinsamen Saale, und ich vermute fast, dass die Mütter ihre Kinder bald selbst nicht mehr erkannten, sie miteinander verwechselten, denn sonst wäre mir eine so unterschiedslose Liebe fast gar nicht erklärlich.
Nur die drei Hauptmahlzeiten versammelten alle Frauen und Kinder an der Tafel, ferner der Gottesdienst, der in der Hauskapelle für alle die stattfand, welche im ›Bienenstock‹ wohnten.
Ich hatte erst vor, mich über die Religion und Zeremonien der Mormonen etwas zu verbreiten, will es aber lieber ganz unterlassen, da es doch zu weit führen würde.
Bei mir nun aber war es doch etwas anderes, wenigstens gegenwärtig. Auch meine Frauen waren sonst am Tage wenig zu Hause oder in abgelegenen Räumen beschäftigt, aber ich war krank, geistig nicht ganz normal, die Frauen sollten mich pflegen, und so hatte ich sie alle den ganzen Tag um mich herum.
Wie gesagt, ich hatte über nichts zu klagen. Sie sahen mir den kleinsten Wunsch von den Augen ab, ich durfte rauchen, die vortrefflichsten Zigarren, so viel ich wollte, während sie mit Handarbeiten beschäftigt waren, und ich konnte nach keinem Streichholz greifen, ohne dass sich schon zehn Hände danach ausstreckten.
Kein Streit, kein Zank, alles sanft und liebevoll — aber dieses Geschnattere!! Kurz und gut — ich weiß nicht, ob auch mein Vor- oder Doppelgänger früher so gepflegt worden war, und ob das der Grund zu seinen wiederholten Fluchtversuchen gewesen — nach acht Tagen war ich, der ich sonst statt Nerven stählerne Klavierdrähte hatte, vollkommen nervös geworden.
Ja, acht Tage hatte ich ausgehalten, hatte mich baden und in den Haaren kraulen und füttern lassen — dann hielt ich es nicht mehr aus. Eine Empfindung überkam mich, die ich gar nicht beschreiben kann. Diese dreißig Frauen ständig um mich herum, diese siebzig Kinder täglich sehr oft, diese Liebkosungen, dieses Schnattern, dieses Papapapapapapapa, dieses Ezechiööööööl — faktisch, meine Nerven wurden ganz zerrüttet.
Und wenn sie auch einmal nicht schnatterten, wenn am Sabbat das Schweigen des Todes herrschte — die zahllosen Personen waren doch um mich herum, aller Augen auf mich gerichtet, um mir jeden Wunsch an den Augen abzulesen — — allein schon das Atmen dieser vielen Menschen, für die weiter nichts existierte als meine geheiligte Person, wurde für mich über alle Begriffe lästig, es klang mir zuletzt wie ein Donnergetöse in den Ohren.
Nach und nach hatte ich durch Aufpassen alle diese achtundzwanzig Weiber mit Namen zu unterscheiden gelernt, ich kannte die Schränke, wo ich meine Bedürfnisse zu suchen hatte — so schien ich geistig wieder gesund zu werden, meine Erinnerung kehrte zurück.
Da eines Morgens begann ich wieder die Namen zu verwechseln — und das war keine Verstellung, sondern das war der Anfang von Nervosität, jetzt wurde ich wirklich geisteskrank, wenn man dabei auch nicht gleich an Wahnsinn zu denken braucht. Aber jetzt verwirrte sich das Erinnerungsvermögen tatsächlich bei mir.
Ich hatte erlauscht, dass ich bald meine Beschäftigung im Sekretariat wieder aufnehmen sollte. Darauf hatte ich nur gewartet, und jetzt wurde daraus nichts mehr.
»Er ist immer noch krank, wir müssen ihn noch pflegen. Ezechiel, willst du — willst du — soll ich — willst du... mein lieber Ezechzechzechzechiööööl!«
Himmelgottver...
Ja, ich hatte nur darauf gewartet, wieder ins Sekretariat zu kommen, als freier Mensch — um entfliehen zu können.
Denn unter diesen Verhältnissen zu entfliehen, das war gar nicht so einfach.
Ein einziges Mal war es mir gelungen, mit meinem Freunde BenHabakuk, der also hier Hausverwalter war, allein zusammenzukommen.
Da hatte ich erfahren, wie ich hier bewacht wurde, oder wie schwer mir überhaupt eine Flucht geworden wäre — ganz unmöglich!
Ins Freie führte nur eine Treppe hinab, unten saß nicht nur eine, sondern saßen mehrere Portiers, welche große Hunde bei sich hatten, wie es in der Mormonenstadt überhaupt sehr viele Hunde gab.
An meiner ganzen Etage zog sich ein Balkon entlang, der mir den einzigen Spaziergang im Freien bot, allerdings auch für einen Menschen, der sich täglich auslaufen muss, vollkommen genügend. Und dann wurde das ganze Riesengebäude von einer hohen Mauer umgeben, über die ich wohl gekommen wäre, wenn da unten eben nicht des Nachts außer menschlichen Wächtern auch noch Hunde gewesen wären.
Was nützte mir, dass ich von meinen Fenstern im Süden freies Feld und auch Wald erblicken konnte? Ich sah durchaus keine Möglichkeit zur Flucht.
Und doch musste sie gewagt werden, und zwar bald, oder... ich wurde wirklich wahnsinnig.
Dabei muss man immer bedenken, dass ich doch ganz genau die Rolle meines Doppelgängers zu spielen hatte, und der war ein Waschlappen gewesen. Was für einen Grund sollte ich denn angeben, um einmal aus den Mauern des Bienenstockes herauszukommen?
Vergebens zermarterte ich mein Hirn. Es schien doch eigentlich alles so einfach zu sein, ich war doch weder gebunden, noch saß ich hinter einer verriegelten Tür — und dennoch unmöglich!
In meiner Phantasie wurde ich sogar zum Brandstifter. Feuer anlegen, die allgemeine Verwirrung zur Flucht benutzen!
Aber dergleichen Dinge, welche die schwersten Folgen nach sich ziehen können, sind durchaus nicht nach meinem Geschmack. Dass ich dann vielleicht hätte erfahren müssen, durch mich wäre die ganze Hauptstadt dieser fleißigen Menschen in Asche gelegt worden — nein, solch einer Eventualität wollte ich mein Gewissen doch nicht aussetzen.
Und eines Tages, als ich zur Andacht in der Kapelle saß, kam mir die höhere Erleuchtung.
Gewagt war mein Plan freilich, furchtbar gewagt — aber doch noch immer keine Brandstiftung.
Der Abendgottesdienst war beendet, in Gesellschaft meines Volkes Hühner schritt ich als Hahn zur Abendtafel, der also auch die zahllosen Küchlein beiwohnten.
Es war ein Zufall, dass meine Flucht noch heute Nacht ausgeführt werden musste, oder ich hätte noch vier Wochen warten müssen. Weshalb, inwiefern ein Zufall, das wird der Leser gleich merken, wenn er nicht schon aus den ›vier Wochen‹ etwas herausgehört hat, und ich kann gleich noch etwas deutlicher werden, indem ich sage: Noch genau achtundzwanzig Tage hätte ich warten, die Flucht aufschieben müssen.
Sonstige Vorbereitungen brauchte ich nicht. Ich hatte mich ja schon immer mit Fluchtgedanken getragen, wusste z. B., wo ich im Hause Waffen fand, und alles andere musste meinem guten Stern überlassen bleiben.
Die Abendmahlzeit war beendet, die Kinder wurden abgeführt, die achtundzwanzig Frauen schwatzten noch etwas, suchten besonders mich zu unterhalten, dann wurde noch aus Mormons heiligen Messingtafeln, jetzt allerdings aus Papier bestehend, vorgelesen, der Abendsegen gesungen, und die Tafel löste sich auf.
Jede der achtundzwanzig Frauen, nachdem sie noch einmal mich und sich gegenseitig abgeküsst hatten, zog sich auf ihr Zimmer zurück, nur die eine nicht, denn die nahm mich mit — und das war die Knochenstange Delila, die war heute an der Reihe, heute zum ersten Male. Denn ich war doch noch keine vier Wochen hier.
So ging ich mit in ihr Schlafzimmer. Ich hatte ja schon manches durchgemacht, die ganze Geschichte war mir schon zur Gewohnheit geworden, es war manches Frauenzimmer darunter, zu dem ich hätte sagen mögen: hebe dich von hinnen, du gefällst mir nicht — na, ich hatte noch nie ein Wort verloren, hätte mich auch schön gehütet. Aber freilich dieses Knochengerüst... mir graute! Mir hatte schon lange davor gegraut, und doch sollte diese jetzt mein rettender Engel werden. Verlange der Leser keine Intimitäten! Herrgott, die Knochen, die da nach und nach zum Vorschein kamen! Und es wurde immer knochiger und immer knochiger!
Zuvor hatte ich noch etwas anderes zu besorgen.
»Hast du nicht eine Schere, liebe Delila?«
»Wozu, lieber Ezechiel?«
»Mir ist ein Fußnagel ins Fleisch gewachsen, er macht mir rechte Schmerzen.«
»Schmerzen? O o o o! Zeige mir deinen Fuß, mein lieber Ezechiel!«
Verschnitten waren mir meine Zehennägel im Bade regelmäßig worden, da war nichts mehr zu schneiden — aber ich musste unbedingt wissen, ob meine heutige Frau in ihrem Zimmer eine Schere hatte und dann hauptsächlich, wohin sie die gewöhnlich legte.
Also ich bezeichnete die Stelle, wo es mir weh täte, es entspann sich eine lange Konversation, dass da doch eigentlich gar kein Nagel ins Fleisch gewachsen sei, aber Delila musste mir wohl glauben, dass dort etwas nicht in Ordnung sei, sie fummelte daran herum, und dann passte ich gut auf, wohin sie die Schere legte — einfach ins Schubfach des Nähtisches.
So, das war meine einzige List gewesen, die ich zur Vorbereitung der Flucht notwendig hatte.
Dann ging es ins Bett.
Ich hörte eine Uhr schlagen.
Um neun Uhr sagte Delila zu mir:
»Nun gute Nacht, mein einziger Ezechiel, schlafe recht wohl.«
Und um elf Uhr packte ich sie bei der Gurgel und drückte ihr die Luft ab.
Sie wachte sofort auf, röchelte und wollte sich wehren, aber ich hatte mit der anderen Hand bereits ihre Gelenke gepackt.
Einige Vorbereitungen hatte ich ja zuvor doch noch getroffen, z. B. mich, als noch das Licht brannte, nach dem Handtuch umgesehen, und so konnte ich das jetzt im Finstern finden, brauchte nur einen Griff zur Seite zu tun, hatte gleich zwei zur Hand, und mich mit meiner ganzer Schwere über ihren Körper werfend, dass sie die Arme nicht rühren konnte, pfropfte ich ihr erst ein gut Teil des einen Handtuches in den Mund, mit dem anderen band ich ihr die Hände zusammen, und mit dem zugedrehten Bettuch, das ich ihr unter dem Leibe wegzog, auch noch die Füße.
Es war ein schwieriges Kunststück gewesen, aber es war gelungen, nicht einen einzigen Laut hatte sie ausstoßen können.
So, jetzt konnte ich Licht machen. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen, so weit wie der Mund, aus dem das halbe Handtuch heraushing, stierte sie mich an, als ich Knebel und Binden noch einmal bei Lichte untersuchte und ihre Knoten verbesserte, das Handtuch noch etwas tiefer in den Mund hineinpfropfte.
»Tut mir leid, aber ich kann dir nicht helfen, jetzt muss ich einmal Egoist sein.«
Aber nun schnell!! Die schien noch gar nicht zu wissen, dass man auch mit einem Knebel im Munde noch röcheln und stöhnen kann.
Also vor allen Dingen die Schere her und mir vor dem Spiegel den Schnurrbart abgeschnitten, so kurz wie möglich.
Ich hatte ja ein Rasiermesser, aber das war in meinem Zimmer, und der Leser muss sich erinnern, dass ich diesen ganzen Plan erst während der Predigt in der Kapelle ausgeheckt hatte, dann war ich wie gewöhnlich nicht erst in mein Zimmer gekommen, und nur hier bei dieser einen Bettgenossin konnte ich meinen Plan ausführen. Wäre es nicht darauf angekommen, hätte ich noch einige Tage Zeit gehabt, ehe ich mit diesem Knochengerüst das Schlafzimmer teilte, so hätte ich mich ja ganz anders vorbereiten können, hätte mir etwa auch Opium oder sonst einen Schlaftrunk aus der Hausapotheke besorgt. Aber heute Abend war dies alles nicht mehr möglich gewesen, und jede argwohnerregende Handlung oder nur eine Frage hatte ich vermeiden müssen.
So, der Schnurrbart war gefallen, so weit das mit der Schere möglich gewesen. Nun schnell an den Kleiderschrank!
Große Auswahl hatte ich nicht — ich erwähne erst jetzt, dass alle Mormonen, Männer wie Frauen, das gleiche Kostüm tragen, die Männer den langschößigen Rock, aber keine Kniestrümpfe, wie die Quäker, die Frauen ein einfaches Kleid aus braunem Stoff.
Solch ein Kleid nahm ich, schlüpfte hinein — zuerst hineintretend, mit den Füßen anfangend, es mir nicht überwerfend, wie es Weibersitte ist — Gott sei Dank, die holde Delila hatte durchaus keine zartere Taille als ich, ich konnte zuknöpfen!
Dann eine Mormonenkapuze auf, das Gesicht sehr überschattend, als einzigen Schmuck ein blaues Bändchen drumgeschlungen, auch ein großes Taschentuch nicht vergessend, meine eigenen Stiefel angezogen, d. h., diejenigen, die ich ebenfalls erst meines Vorgängers Garderobe entliehen hatte — und als ich einen Blick in den Spiegel warf, konnte ich mit meinem Aussehen zufrieden sein.
Das unendlich lange Knochengerüst von Delila, wie es leibte und lebte! Nur das Gesicht war ein anderes, der Hals viel stärker. Das musste dann, wenn es darauf ankam, eben das Taschentuch verdecken.
Doch ich hatte nicht lange Zeit, mich im Spiegel zu bewundern — mir pochte das Herz nicht schlecht. Und jetzt fing die Geknebelte auch zu stöhnen und zu winseln an, da galt es, zu handeln.
Licht und Schlüsselbund genommen und hinaus. Dass im Hause, wenigstens hier in meiner Etage, während der Nacht niemand auf war, wusste ich bestimmt. Im Allgemeinen war mein Fluchtplan ja nicht von heute, über solche Sachen hatte ich mich schon orientiert. Die Mormonen hielten auf Nachtruhe, wie auf die Sabbatfeier, wo jedes unnötige Wort vermieden werden musste.
Die überall liegenden Teppiche machten meine Schritte unhörbar. Mein erstes Ziel war die Speise- oder richtiger Vorratskammer, wozu ich hauptsächlich der Proviantmeisterin Schlüssel mitgenommen hatte.
Auch das hatte ich schon ausspioniert; denn was ist der Mensch, wenn er vielleicht tagelang auf der Flucht sein muss, und er hat nichts zu essen?
Schinken und Brote in schwerer Menge! Mehr als Schinken und Brote brauchte ich nicht zu sehen.
Wohin die verstecken? O, mein Hirn hatte in den drei Stunden, während welcher ich neben meiner Dulzinea gelegen, fieberhaft gearbeitet!
Über einen bedeutenden Busen verfügte dieses weibliche Knochengerüst nicht, aber einen kleinen Ansatz dazu hatte sie doch, und in dem Oberkleide war Platz für noch mehr, und ich hatte gar nichts, um diese Hülle auszufüllen, das heißt, nichts von meinem eigenen Fleisch und Blut — so mussten es ein Schinken und ein Vierpfundbrot tun.
Ha, was stand da auf dem Sims? Flaschen!
Flaschen waren hier selten, Opodeldokflaschen, Rizinusölflaschen — aber keine Flaschen mit trinkbarem Inhalt. Rizinus und Lebertran rechne ich nicht direkt zu den trinkbaren Flüssigkeiten, sonst gehörte auch Petroleum hierzu. Es gab hier nur ein selbstgebrautes Bier, das aus Fässern verzapft wurde — ein Sauluderzeug!
Bei der einen Flasche war der Kork halb herausgezogen; ich entfernte ihn, roch hinein — Sprit, Schnaps!
Daher auch die etwas rötlich angehauchte Nase meiner Delila. Die Flasche wieder zugekorkt — rrrin in den keuschen Busen! So, verproviantiert war ich!
Das heißt, ich habe dies zu ausführlich geschildert. In Wirklichkeit brauchte ich nicht so lange dazu. Es waren nur drei Griffe gewesen.
Mein zweiter Gang war ins Speisezimmer, dessen Wände reichlich mit Waffen und was sonst noch zur Jagd und zum Kriege gehört, verziert waren. Die Mormonen haben ja, wie schon erwähnt, eine sehr bewegte Vergangenheit hinter sich, und sie sind stolz auf ihre Abenteuer in den Wildnissen, die sie als Märtyrer ihres einzig richtigen Glaubens durchwandern mussten.
Ich wählte einen kurzen Hirschfänger, ein Messer, einen Revolver und ein Paar Schneeschuhe, die einen sehr soliden Eindruck machten. Wohin mit dem Zeug? Am Körper konnte ich es nicht verbergen. Ich riss von der Wand eine Decke, irgendeine Trophäe, wickelte alles ein. Aber auf ein Gewehr musste ich verzichten, das wäre nicht so einzuwickeln gewesen, ohne sehr aufzufallen, und ebenso hatte ich auch zu dem Revolver keine Patronen, wusste nicht, wo ich solche finden sollte.
Nun wieder hinaus, unter dem Arm das Paket, in der Hand das Licht, welches ich aber hinsetzte, sobald mir unten von der Treppe herauf Licht entgegenschimmerte.
Die erste Treppe hinab. Auf dem Korridor standen zwei Wächter mit einem mächtigen Köter.
»Um Gott, Missis Delila!!«
»Lasst mich, lasst mich! Er liegt im Sterben!«, stieß ich mit möglichst knarrender Stimme hervor, meine etwas höher schraubend, und war schon an ihnen vorbei, die zweite Treppe hinab.
Jetzt kam's drauf an!
In dem hellerleuchteten Portal standen ebenfalls zwei Männer mit mehreren Hunden, und ein einziger Ausruf der Überraschung und ein Anschlagen der Hunde genügte, um noch mehr Wächter herbeizulocken.
»Missis Delila, was...«
»Ich muss ihn holen, ich muss ihn holen! Ezechiel liegt im Sterben — höööööö!!!«, schrie und schluchzte ich hinter meinem Taschentuche, dabei mit der Hand, unter deren zugehörigem Arm ich das Paket geklemmt hatte, krampfhaft an der Klinke des Tores rüttelnd.
Dabei bemerkte ich, dass schon die sämtlichen Hunde an mir herumschnüffelten, und wenn man in solchen Situationen überhaupt etwas konstatieren kann, so konstatierte ich das, dass die Hunde einen ihnen wohlbekannten Geruch witterten. Ich hatte nicht umsonst ein schon ältliches Kleid meiner Delila ausgewählt. Wenn die mich gewittert hätten, den sie gar nicht kannten, so hätten sich die wachsamen Tiere jedenfalls ganz anders gebärdet, hätten gleich Radau gemacht.
»Auf auf auf, ich muss ihn holen, ich muss ihn holen!!«, wimmerte ich.
»Was? Ezechiel im Sterben?!«
»Auf auf auf, ich muss ihn holen!!«
»Wen wollen Sie denn...«
»Auf auf auf, jede Sekunde ist kostbar, sonst ist mein Ezechiel unrettbar verloren!!!«, heulte ich hinter meinem Taschentuche, wie nur ein Weib heulen kann.
Und, weiß Gott, die Männer ließen sich düpieren!
Was sie dachten, weiß ich nicht — ich war eben Delila, die Schließerin, die hier mit am meisten zu sagen hatte — ich hatte doch auch das heilige Schlüsselbund am Gürtel hängen — oben war irgend etwas Schreckliches passiert, der Kronprinz sollte im Sterben liegen, Delila wollte irgend jemanden holen... kurz und gut, eilfertig sprang ein Mann mit einem großen Schlüssel herbei, schloss auf, riss das Tor auf — ich hinaus!
Ein schreckliches Schneegestöber! Erleuchtet war die schnurgerade Straße durch einzelne Petroleumlampen, welche an Pfählen hingen.
Links um die Ecke und geradeaus, durch den Schnee gerannt, der mir bis an die Knie ging.
Als ich den zweiten Laternenpfahl erreicht hatte, war von dem Lichte des ersten, den ich passiert, schon nichts mehr zu sehen, solch einen Schleier bildete der fallende Schnee.
Im Scheine dieser zweiten Laterne schnallte ich mir die Schneeschuhe an die Füße, und nun ging es auf dem breiten Flechtwerk, welches das Einsinken auch in den weichsten Schnee verhindert, was von dem skandinavischen Ski nicht gilt, in ganz anderer Weise weiter.
Noch wollte ich einem mir begegnenden Menschen immer als Missis Delila gelten, wollte mich also noch nicht des beim Rennen äußerst hinderlichen Damenkostüms entledigen, war aber schon bereit, jeden Menschen, der etwa Lunte witterte, mich mit Gewalt aufhalten wollte, niederzuschlagen, und auch mit jedem Hunde wäre ich fertig geworden.
Einen Plan der Mormonenstadt hatte ich gesehen. Auf diese Weise hatte ich mich ja doch schon auf eine eventuelle Flucht vorbereitet gehabt.
Die Hauptstraße führte direkt ins freie Feld, als Chaussee dann durch einige Dörfer. Schwenkte ich aber ab, so ließ ich diese eben links oder rechts liegen, und jetzt herrschte überall freie Schneebahn. Hielt ich mich links, so konnte ich den Wald schon in sechs Stunden erreichen, während sich mehr westlich die Wüste gegen hundert Meilen nach Süden erstreckte. Denn die Mormonenstadt lag ja ursprünglich in einer Salzwüste, die nur zum kleinen Teil unter unsäglichen Mühen fruchtbar gemacht worden ist. Der Wald, den ich von meinen Fenstern aus erblickt hatte, war nur eine künstlich angelegte Baumgruppe, so groß sie auch sein mochte.
Die Lampen hörten auf, die Häuser — jetzt wollte ich das Frauenkleid abstreifen, es mir über den Kopf ziehen.
Da ward mir so kalt an den Beinen, die Kälte ging immer höher an den Körper hinauf... der Wind blies mir den Schnee an den nackten Leib.
Und noch ehe ich das Kleid abgezogen hatte, war mir schon alles klar, und ich wusste nicht, ob ich furchtbar erschrecken oder ob ich in ein schallendes Gelächter ausbrechen sollte.
Ich hatte ganz einfach vergessen, vor Anlegen des Frauenrockes meinen eigenen Anzug anzuziehen, hatte unter diesem Damenkleide nichts weiter an als das Hemd, mit dem ich mich zu Bett gelegt. Dann, als ich die Stiefel anzog, hatte ich nur noch an die Strümpfe gedacht. Wie es möglich ist, so etwas zu vergessen? Wie es möglich ist, dass ich das erst jetzt merkte, da ich doch schon immer im Schnee gepatscht war? Musste ich nicht gleich von Anfang an die Empfindung gehabt haben, dass ich unter dem Frauenrock nichts weiter als ein Hemd auf dem nackten Körper trug?
Du lieber Gott! Man wolle nur meinen Zustand bedenken! Ich hatte ja vor kaum erst fünf Minuten das Weib im Schlafe überwältigt, dann mit fieberhafter Eile den Bart abgeschnitten, das Kleid aus dem Schranke gerissen, in Strümpfe und Stiefel gefahren, in die Speisekammer und in den Waffensaal hinein, dann die Treppe hinuntergejagt, mir den Ausgang erzwungen und dann weiter gerannt — schon jetzt troff der Schweiß mir vom ganzen Leibe herab... nein, ich hatte absolut nichts bemerkt — bis jetzt, da ich das Kleid emporhob.
Never mind. Ich hatte wirklich eher Lust, zu lachen. Waren das hinter mir nicht Stimmen? Weitergerannt.
Nein, es waren keine Verfolger. Oder sie konnten mich nicht einholen.
Nun aber war es vorbei mit dem Lichte. Undurchdringliche Finsternis umgab mich, oder vielmehr ein weißer Schleier, der mir nasskalt ins Gesicht peitschte.
Man wolle sich meine Lage vorstellen. In einem Schneesturm, der niemals warm ist, nur mit einem gar nicht so dicken Frauenrocke bekleidet, außer dem Hemde nichts darunter, kaum die Richtung wissend, die Hand vor den Augen nicht sehen könnend, viele Tage vor sich habend, ehe man auf einen Menschen hoffen darf, keine Möglichkeit, Wild erlegen und... Feuer machen zu können!
Fürwahr, die Situation, in die ich mich da tollkühn — oder sagen wir lieber mit unbegreiflichem Leichtsinn begeben hatte, war einfach verzweifelt. Ich musste rettungslos in meinen Tod gehen.
Und was für Empfindungen hatte ich? Laut jauchzte ich auf, dem Schneesturm entgegen.
»Frei, frei, endlich befreit von dieser Weiberbande!!«
Ja, das war die Empfindung, die mich jetzt beherrschte. Ein Gefühl, des grenzenlosesten Glücks!
Ob das so bleiben würde, das war freilich eine andere Frage. Auch ich bin ja ein Mensch, manchmal sogar ein sehr schwacher.
Vorläufig aber hielt diese Empfindung, die ein den Mauern entsprungener Sträfling besitzt, an. So schnell ich konnte, eilte ich vorwärts, und ich blieb warm dabei. So sehr kalt konnte es auch gar nicht sein.
Nach und nach begann ich aber besonders an den Knien zu frieren, während der Oberkörper noch von Schweiß triefte, und ich dachte an meine Schnapspulle.
»Will doch sehen, was sich meine Delila da in ihrer heiligen Speisekammer heimlich reserviert hat.«
Der Branntwein war äußerst stark, musste fast reiner Spiritus sein, und hatte einen ganz eigentümlichen Geschmack.
Außerdem bekam ich dabei etwas in den Mund, kleine Körner, und fast sofort wusste ich, was das war, die Zunge ist ja das allerempfindlichste Tastorgan, sie konnte die kleinen, etwas länglichen Körner unterscheiden, dazu kam noch die Erinnerung, auch Mutter hatte solchen Spiritus aufgesetzt... Ameisenspiritus!!
Da konnte ich mir nicht helfen, da brach ich in ein schallendes Gelächter aus, und was vielleicht der Branntwein, ob nun mit oder ohne Ameisen, nicht bewirkt hätte, das erzielte mein neu hervorbrechender Humor. Mit unverzagtem Mute ging es weiter, dem aus Süden blasenden Schneesturme entgegen, und ab und zu wurde noch immer ein Schluck Ameisenspiritus genommen.
Und mein guter Stern, auf den ich fest baute, sollte mich denn auch nicht verlassen, er sollte mir in dieser Nacht noch tatsächlich aufgehen.
Es hörte auf zu schneien, der Sturm ließ schnell nach, aber nicht eher, als bis er die Wolken davongejagt am Himmel funkelten die Sterne, und nicht nur nach dem Polarstern konnte ich Seemann kontrollieren, dass ich immer eine südöstliche Richtung eingehalten hatte, für mich die beste.
Auch eine Uhr waren für mich die Sterne, die ihre gegenseitige Stellung verändern.
Es war gegen sechs Uhr, in einer Stunde musste es zu dämmern beginnen.
Und da in der Ferne ein Feuer! Ein Nichtseemann hätte wahrscheinlich von einem Licht gesprochen. Aber das rote, etwas flackernde Lichtchen konnte nur ein richtiges, von Holz genährtes Feuer sein.
Mein Entschluss war sofort gefasst. Der Mensch oder die Menschen, welche dort, wahrscheinlich schon im Walde, ein Lagerfeuer unterhielten, in der Wildnis, waren doch unbedingt mit Schusswaffen und Munition versehen. Und wollte ich das Siouxlager oder gar den Bahndamm oder die nächste Ansiedlung lebendig erreichen, so musste ich unbedingt in den Besitz von Munition für meinen Revolver kommen, besser noch in den eines Gewehres.
Selbst auf die Gefahr hin, dass es mormonische Jäger waren, welche in mir gleich den zum vierten Male durchgebrannten Kronprinzen erkannten und mich wieder fangen würden, musste es gewagt werden, und dass ihnen diesmal das Fangen nicht gelang, dafür würde ich sorgen, nun war ich doch schon gewitzigt, kein Lasso sollte mich mehr umschlingen, und sonst war ich zu jedem Kampfe bereit.
So wickelte ich zum ersten Male mein Paket aus, warf die Scheide des Hirschfängers gleich fort, trug die entblößte Klinge schon jetzt in der Hand, während ich auf das Feuer zueilte.
Ich sollte mich in der Entfernung desselben sehr getäuscht haben. Die Nacht wich schon der Morgendämmerung, als ich das Feuer noch immer in beträchtlicher Entfernung von mir zum letzten Male erblickt hatte, dann schien es zu verlöschen, oder ich konnte auch die Richtung etwas geändert haben, sodass zwischen uns ein Baum gekommen war, denn dort begann der Wald, wie ich jetzt bereits unterscheiden konnte.
Da, als ich noch überlegte, ob es unter solchen Verhältnissen nicht besser sei, mich dem Lagerfeuer auf einem Umwege zu nähern, schon zwischen den Bäumen, was allerdings wenig Zweck hatte, wenn ich bereits beobachtet worden war — — da kam aus diesem Waldessaum ein Mann heraus, bewegte sich direkt auf mich zu, mit einer Schnelligkeit, welche verriet, dass er Schneeschuhe an den Füßen hatte.
Vielleicht noch hundert Schritte trennten uns voneinander. Ob ich selbst nun weitereilte, oder ob ich vor Staunen stehen blieb, weiß ich nicht, denn... ich erkannte doch gleich diese baumlange Gestalt wieder.
O, wunderbarer Zufall — mein Doppelgänger!!
Ich weiß wirklich nicht mehr, wie das Zusammentreffen stattfand. Es sollte ja alles auch noch viel überraschender kommen.
Ich stutzte, staunte noch immer — nicht nur über diesen wunderbaren Zufall, sondern auch darüber, wie jener so schnell auf mich zueilte — ich wusste ja noch gar nicht, wie ich ihn empfangen sollte, als Freund oder als Feind — da hat er mich schon erreicht, und plötzlich liegt der lange Kerl vor mir im Schnee auf den Knien.
»Verzeihe mir, Delila, ach, wenn du wüsstest, was ich alles erlitten habe!!«
So erklingt es zu meinen Füßen in allerkläglichstem Tone. Will der Leser mir glauben, dass ich erst an eine Vision dachte?
Aber im nächsten Augenblick zuckte auch die Erkenntnis durch mein Hirn, was hier vorlag, und ich hatte fast Lust, hellauf zu lachen.
Monsieur Ezechiel, der vor nun bald zwei Monaten seinen Frauen zum dritten Male durchgebrannt war, kehrte als reumütiger Sünder zurück — und jetzt hielt er mich für seine Delila, deren Energie er wohl am meisten fürchtete. Wie er sich freilich zusammenreimte, dass er hier mit ihr zusammentraf, früh um sieben nach einer stürmischen Winternacht, gute sechs Stunden auf Schneeschuhen von der Mormonenstadt entfernt, das sollte ich jetzt nicht und niemals erfahren. Seine Delila war ihm eben hier erschienen, und damit basta.
»Verzeihe mir, meine liebe Delila, ich will ja so etwas auch nie wieder tun!«, wimmerte es weiter zu meinen Füßen, und er wagte nicht einmal zu der Gefürchteten emporzublicken.
Was sollte ich tun? Mit sehr gemischten Empfindungen blickte ich auf den Knienden herab, wusste ich immer nicht, ob ich aus vollem Halse lachen oder diesem jämmerlichen Waschlappen einen Tritt geben sollte, den ich als solchen Charakter bei unserem ersten Zusammentreffen gar nicht erkannt hatte, da hatte er auf mich einen ganz anderen Eindruck gemacht.
Vor allen Dingen aber sah ich jetzt, dass mein Doppelgänger warme Pelzkleidung trug und am Riemen ein Gewehr hängen hatte, wie auch sein Gürtel mit Patronen gespickt war.
»Wo bist du die ganze Zeit gewesen?«, fragte ich erst, ehe ich zu handeln begann.
Ich hatte meine Stimme durchaus nicht verstellt, aber Ezechiel schien nichts zu merken, und das knochige Weib, dessen Rock ich trug, verfügte ja nun allerdings auch über eine polternde Männerstimme.
»Weit, weit unten im Süden«, wimmerte also der Kniende nach wie vor. »Ach, wenn du wüsstest, was ich alles durchgemacht habe, wie traurig es mir gegangen ist!«
»Kommst du allein?«
»Ja.«
»Hast du keinen Begleiter dort am Feuer?«
»Nein, wen denn?«
»Du hast die Nacht dort am Feuer verbracht?«
»Ja. Ach, meine einzige Delila, verzeihe mir doch nur, ich will ja auch von jetzt an immer zu Hause bleiben.«
Und bei diesen Worten umklam>merte er jetzt sogar meine Knie.
»Zieh mal deine Sachen aus!«
Dieser Befehl musste ihm doch etwas überraschend kommen.
»Was? Die Hose soll ich aus ziehen?«, fragte er in kläglichs,tem Tone.
Ganz bestimmt glaubte er, er solle sich der Hose entledigen, damit seine Delila ihn besse übers Knie legen könne — aber an iesem kalten Wintermorgen war das doch eigentlich ein gar zu barbarisches Verlangen. Und die Hauptsache war, dass er bei der ängstlichen Frage aufblickte — und da plötzlich veränderten sich seine zerknirschten Gesichtszüge — der Schreck wurde von Staunen abgelöst...
»Das ist ja — das ist ja... !«
Er hatte seinen Irrtum und mich erkannt, aber ich ließ ihm nicht lange Zeit, zur Besinnung zu kommen. Er wollte aufschnellen, aber so weit ließ ich ihn nicht kommen, hatte ihn schon bei den Schultern gepackt, warf ihn hintenüber und kniete auf ihm. In diesem Augenblick sah ich in jener Richtung, aus der ich gekommen war, dunkle Punkte sich auf der weißen Fläche bewegen, in weiter, weiter Entfernung. Es konnten Krähen, es konnten aber ebenso gut Menschen sein, die auf meine Verfolgung bedacht waren. Das gab bei mir den Ausschlag, wie ich hier zu handeln hatte. Obgleich mein Doppelgänger sonst ganz meine Statur hatte, auch solche Knochen, zweifelte ich doch nicht daran, dass ich ihm bedeutend überlegen war; man hat sich nicht sein ganzes Leben lang mit halsstarrigen Segeln herumgebalgt, andere schwere Arbeit verrichtet, das gibt anderes Mark in die Knochen, als wenn man auf der Theaterbühne als unbesiegbarer Held mit papiernen Drachen kämpft — aber es hätte doch einen ordentlichen Ringkampf geben können, und wenn ich ihn überwältigt und gebunden, wie sollte ich ihm denn dann die Sachen vom Leibe ziehen?
Also die dunklen, sich bewegenden Punkte, die ich für Verfolger halten konnte, gaben bei mir den Ausschlag — im buchstäblichen Sinne dieses Wortes gemeint — das heißt, ich gab ihm mit der Faust einen Schlag gegen die Schläfe, und da schloss er mit einem kleinen Seufzer die Augen und blieb still liegen.
Es konnte sein, dass ich ihn getötet hätte. Ich hätte mir faktisch nicht viel daraus gemacht. Der Selbsterhaltungstrieb war jetzt stärker als jedes andere Gefühl.
Aber schon als ich ihm den Pelzrock abstreifte, merkte ich, dass er doch nicht so ganz tot sein könnte, Herz und Puls schlugen noch. Dann kamen Pelzstiefel und Hosen daran, unter denen er noch wollenes Unterzeug trug, das freilich schon seit langer Zeit kein Wasser mehr gesehen hatte, und nachdem ich mein Damenkostüm ausgezogen, wobei ich einmal mitten in der Winterlandschaft in bloßem Hemde dagestanden, verwandelte ich mich selbst in einen bepelzten Eskimo.
Als ich ihm noch die Pelzkappe abnahm, dann Gewehr und Patronengürtel, schlug er die Augen auf.
»Ausgeschlafen? So, da habt Ihr Kleid und Hut Eurer Delila, meine Stiefel werden Euch auch passen. Umkommen werdet Ihr nicht, den Weg wisst Ihr doch — zu Mittag könnt Ihr zu Hause sein. Nun gehabt Euch wohl, grüßt mir Eure Frauen und meine Kinder — adjüs!«
Während dieser Worte hatte ich mir meine eigenen Schneeschuhe wieder angeschnallt, fort ging es, dem Walde zu und hinein. Noch einmal einen Blick zurückwerfend, sah ich meinen Doppelgänger dastehen, das Kleid seiner Delila in der Hand und es von allen Seiten betrachtend, und da endlich musste ich meiner Lachlust einmal Luft machen, und so brach ich während des ganzen Tages, wenn ich mir vorstellte, wie der echte Ezechiel nun empfangen würde, was für Aufklärungen und neue Verwicklungen das noch alles geben musste, in ein schallendes Gelächter aus.
Habe ich mich schon bisher nicht mit Kleinigkeiten aufgehalten, so zum Beispiel wie ich mich überzeugt, dass sich in einer der Pelztaschen auch ein Feuerzeug befand, so will ich auch nicht die sechs Tage beschreiben, während welcher ich nach Süden marschierte oder vielmehr schusselte.
Meine Absicht war gewesen, noch einmal das Siouxlager am Pitsee zu besuchen, aber da ich meinen Sextanten im ›Bienenstock‹ zurückgelassen hatte, konnte ich mich ja über nichts weiter als über die Himmelsrichtungen orientieren, und so verpasste ich den ganzen Pitsee.
Ich traf überhaupt keinen einzigen Menschen, dagegen sehr viel Wild, welches von Süden nach Norden zu wandern schien, eine wärmere Witterung ankündigend, sodass ich niemals Not litt.
Am Nachmittage des sechsten Tages, schon seit längerer Zeit gut aufpassend, dass ich nicht etwa den verschneiten Schienenstrang ahnungslos überschritt, denn auf diesen setzte ich meine ganze Hoffnung, ward mir ein »Stopp!«, entgegengerufen; zwischen den Bäumen trat eine hinterwäldlerische Gestalt hervor, die merkwürdigerweise als Kopfbedeckung eine Soldatenmütze trug.
»Wer seid Ihr?«
»Ein Reisender.«
»Wohin?«
»Nach der nächsten Ansiedlung!«
»Das ist Wheeling, wohin auch wir wollen.«
Was ich aber in Wheeling wollte, wie ich überhaupt aus Amerika wieder herauskommen sollte, das hatte ich mir noch nicht überlegt. Meinem Charakter gemäß überließ ich alles dem Zufall, und das ist manchmal auch weit besser, als wenn man immer Pläne spinnt, die niemals ausgeführt werden können.
»Kommt mit!«, sagte der Hinterwäldler mit der Soldatenmütze.
»Wohin?«
»In unser Lager. Es wird gerade abgekocht.«
»Was für ein Lager ist denn das?«
»Na, unser Lager.«
»Ihr seid Jäger?«
»Jawohl, wir sind fast alle Jäger.«
Ich folgte dem Manne, in der Erwartung, eine winterliche Jagdexpedition zu treffen, von Sportsmen ausgerüstet, die wahrscheinlich hier den PacificZug verlassen hatte.
Da kamen von hinten noch andere Männer, davon einige vollständig uniformiert. Ich erkannte darunter einen Offiziersmantel der nordamerikanischen Grenzmiliz.
»Bei allem, was lebt!«, schrie da der eine. »Da ist ja unser Deserteur wieder!!«
»Na, Charles O'Donald — Reue bekommen, he?«
Im Nu war ich umringt — und ebenso schnell war mir alles klar. Mein Doppelgänger hatte mir den zweiten Streich gespielt, wenn auch wiederum ohne böswillige Absicht. Er hatte sich ganz einfach von der Miliz anwerben lassen, war wieder desertiert — jetzt sollte ich zum zweiten Male für ihn ausbaden.
Was sollte ich tun? Blitzähnlich schoss es mir durch den Kopf, dass hier alles vergeblich war, jede Aufklärung, wenigstens vorläufig. Und Flucht? Das waren ehemalige Jäger, welche ihre Büchsen schussbereit im Arme hielten — ich wäre keine drei Schritte weit gekommen.
»Im Namen der Kriegsgesetze — Charles O'Donald, Ihr seid mein Gefangener!«, sagte der Offizier zu mir.
Ich gab jeden Widerstand auf, ließ mir die Hände auf den Rücken binden, wurde fortgeführt.
Nur eine kurze Strecke, so tauchte zwischen den Bäumen ein Biwak mit Feuern auf, an denen einige Dutzend Männer lagerten, nur zum kleinen Teil schon uniformiert. Auch ein aufgeschlagenes Zelt war vorhanden, und in diesem Augenblick brauste in dichter Nähe von Osten nach Westen ein PacificZug vorbei, der wenig beachtet wurde, weil sich die allgemeine Aufmerksamkeit mir zulenkte.
Während ich durch das Lager geführt wurde, rief man wiederholt erstaunt meinen Namen, das heißt den meines Doppelgängers, einige lachten, nannten mich einen Schafskopf und dergleichen, mehrere spien vor mir aus.
Ich ward an ein Feuer gebracht, wo niedergeschlagen ein anderer Gefangener saß, von zwei Posten bewacht.
»So, da hast du Gesellschaft, Michel. Der ist freilich weiter gekommen als du, der Schafskopf ist aber von allein zurückgekehrt.«
Ich konnte mich meinen Gedanken hingeben, will sie aber nicht schildern.
Die Mannschaft kochte ab. Nach einer halben Stunde wurde ich von zwei Soldaten nach dem Zelte gebracht.
In diesem befanden sich drei Offiziere, an einem Feldtischchen sitzend.
»Der desertierte Charles O'Donald«, meldete der eine Uniformierte, der mich mit hierher geleitet, wohl ein Sergeant.
Der eine Offizier, als Captain, das ist Hauptmann, gekennzeichnet, sah mich lange an und schüttelte dann den Kopf. Er machte mir mit seinem männlichen Gesicht und den ernsten Augen gleich einen sehr guten Eindruck.
»Desertiert! Mann, habt Ihr denn nicht überlegt, was Ihr tatet?«
Es hatte fast schwermütig geklungen.
Ich raffte mich empor.
»Darf ich den Herrn Captain allein sprechen?«
Ob dieses Wunsches erstaunte oder gleich unwillige Gesichter.
»Ihr seid wohl verrückt?«
»Ich habe eine sehr wichtige Meldung zu machen.«
»Wichtige Meldung? Denkt nicht, dass Ihr so durchkommt. Ihr habt Euer Leben verwirkt.«
»Darf ich den Herrn Captain allein sprechen?«, wiederholte ich.
»Unsinn! Wo habt Ihr Euch während der drei Wochen herumgetrieben? Könnt Ihr irgendwas zu Eurer Entschuldigung anführen?«
»Ja.«
»Nun?«
»Ich bin gar nicht jener Charles O'Donald, der sich wohl hat anwerben lassen und dann wieder desertiert ist.«
»Oho! Mann, wir kennen Euch doch alle!«
»Ich habe einen Doppelgänger.«
Die beiden anderen Offiziere lachten mich einfach aus, der Captain aber ließ mich erzählen.
Ich gab mich für einen Jäger aus, mich noch immer Pieter Maritz nennend, hatte mit zwei anderen Sportsmen den PacificZug verlassen, drei Wochen allein bei den Sioux am Pitsee verbracht — ich schilderte das Zusammentreffen mit meinem Doppelgänger, wie ich in der Mormonenstadt dessen Rolle gespielt hatte, und so weiter und so weiter, alles den Tatsachen entsprechend — mich nur nicht für Kapitän Richard Jansen ausgebend.
Die Offiziere amüsierten sich köstlich — ich verstand zu erzählen, hatte ja Pastor werden sollen — dann aber lachten mir die beiden Leutnants einfach ins Gesicht, für sie hatte ich vergeblich geredet.
»Bursche, erzählt uns doch keine Märchen! Na ja, Ihr seid ja auch früher Komödiant gewesen, da lernt sich so etwas.«
Auch der Hauptmann hatte ab und zu gelächelt, jetzt aber blieb er ernst.
»Nein, wenn Ihr das wirklich alles erfunden hättet, dann solltet Ihr lieber Dichter werden, dann wäret Ihr ein gottbegnadeter. Hm, ich kann die Sache nicht so ohne Weiteres entscheiden. Jedenfalls habt Ihr durch diese Erzählung Euer Leben gerettet — vorläufig — sonst wäret Ihr noch heute Abend erschossen worden. So werdet Ihr uns nach Springfield begleiten, nach unserer Hauptgarnison, wo man über Euch aburteilen wird. Ich mag nicht den Tod eines Mannes auf meinem Gewissen haben, der vielleicht doch unschuldig sein könnte.«
Der Captain hatte gesprochen, ich ward wieder hinausgebracht, an jenes Feuer zurück.
Na, etwas hatte meine, bis auf einen kleinen Punkt wahrheitsgetreue Erzählung also doch genützt, sonst wäre ich noch heute nacht ein toter Mann gewesen.
Aber nach Springfield transportiert werden? Man hätte auch gleich New York sagen können. Dazu hatte ich verdammt wenig Lust. San Francisco war für mich viel näher, auch viel näher dem Vogelberge.
Wenn ich nun während dieser langen Zeit, die ich da als Gefangener zu verbringen hatte, als Kapitän Richard Jansen erkannt wurde? Nach den hinter mir erlassenen Steckbriefen lag das sehr nahe. Schon jetzt konnte dieser Fall eintreten. Und ich war derjenige, welcher damals das unionistische Fort Charleston für die Konföderierten im Sturme genommen hatte.
Ich werde mich im Folgenden kürzer fassen, als der Leser vielleicht erwartet hat. Aber wozu braucht man da viele Worte zu machen?
Die Truppe biwakierte in dieser Nacht hier an Ort und Stelle. Woher sie kam, wie sie die Weiterreise ausführen wollte, konnte ich aus den einzelnen Gesprächen an den Lagerfeuern nicht heraus bekommen. Die meisten schienen neu angeworben zu sein. Es waren eben Werbeoffiziere, welche im Innern Amerikas, hauptsächlich unter Jägern und Ansiedlern, für den Bürgerkrieg, der im Osten des amerikanischen Kontinents noch immer tobte, jetzt erst recht, brauchbare Soldaten suchten.
Übrigens waren meine Gedanken mit etwas ganz anderem beschäftigt.
Mitternacht mochte nahe sein. Ich lag in meinen Pelzsachen, deren Taschen man alles entnommen hatte, zusammen mit dem anderen Deserteur auf einer Decke an einem Feuer, das von den beiden auf und ab gehenden Wachtposten manchmal mit frischem Holz genährt wurde. Meine Hände waren nur jetzt vorn gefesselt worden, und zwar nicht mehr mit Riemen, sondern mit einer Kette, welche durch Schellen an meinen Handgelenken saß. Die Kette war so kurz, dass ich sie, wenn ich meine Hände faltete und die Finger auseinander bog, straff spannen konnte, hatte so aber doch das Essen zum Munde führen können.
An demselben Feuer lagen noch andere Soldaten — alle schlafend.
Ich war bereit, beobachtete nur, mich selbst schlafend stellend, durch die vorsichtig geöffneten Lider die beiden Wachtposten. Ob draußen noch mehr aufgestellt waren, wusste ich nicht, es war mir auch ganz egal. Mir war überhaupt alles egal. Nur bis nach Springfield wollte ich mich nicht schleppen lassen, um dort ins Gefängnis zu kommen, langwierige Verhöre vor dem Kriegsgericht bestehen zu müssen.
»Da geht der Mond auf«, sagte der eine Posten.
Ja, den Mond hatte ich ebenfalls erwartet.
Der andere Wachtposten blickte nach derselben Richtung, und darauf hatte ich gleichfalls nur gewartet.
Ich faltete die Hände und ruckte — ein Knacks — und ich war aufgesprungen, hatte die beiden Soldaten hinten am Rockkragen gepackt, schmetterte sie mit der Brust zusammen — und ich floh mit weiten Sprüngen in den Wald hinein, dem Westen zu.
Erst Gebrüll, und dann Schüsse. Ich hörte die Kugeln an mir vorbeipfeifen, an die Bäume klatschen.
Ich floh unverletzt weiter. Doch wie soll man solch eine Flucht auf Tod und Leben beschreiben?
Einmal rannte ich gegen einen Baum, dass ich niederstürzte und fast die Besinnung verlor.
»Das bedeutet deinen Tod«, zuckte es mir in dem Augenblick, da mir das Feuer aus den Augen sprühte, durch den Kopf, und ich war wieder auf den Füßen, rannte wie ein gehetzter Hirsch weiter.
Nun, sie erreichten mich nicht, so wenig wie eine Kugel, die anfangs noch abgefeuert wurde.
Ein Glück war, dass hier nur sehr wenig Schnee lag, und bei meinen langen Beinen sollte mich auch keiner auf Schneeschuhen einholen können. Ein Pferd wäre hier gar nicht durchgekommen, dazu standen die Bäume zu dicht.
Ich floh die ganze Nacht hindurch. Als der Morgen zu grauen begann, war ich freilich fertig, ich brach zusammen.
Den Rest hatte mir eine steile Böschung gegeben, die ich noch überwunden hatte, und vor mir ging es immer steiler hinauf. Das Felsengebirge meldete sich an.
Da sah ich von Osten her einen PacificZug kommen. Die Lokomotive nahm die Steigung, begann zu keuchen. Fieberhaft arbeitete mein Hirn, und wie soll man solche Gedanken, solche Pläne beschreiben?
Die Lokomotive, vorn mit mächtigen Schneeschaufeln, ein Wagen nach dem anderen fuhr an mir vorüber. Es war ein Güterzug, und auch sonst war kein Mensch zu sehen.
Da raffte ich mich empor, der ich dicht neben dem Schienenstrang lag, ergriff eine langsam an mir vorübergleitende Eisenstange, und ich stand auf dem Trittbrett eines Güterwagens. Was nun? Hier konnte ich nicht stehen bleiben. Mich oben auf einen Wagen setzen, das würde ebenfalls wenig Zweck haben, da wäre ich doch bald von einem Beamten entdeckt worden.
Und ich kannte solche Geschichten — von Leuten, die selbst ›Tramps‹ in Amerika gewesen waren. Tramps heißen dort die Vagabunden, die Landstreicher. Es ist ganz selbstverständlich, dass diese mit Vorliebe versuchen, bei Durchquerung der ungeheuren Gebiete als blinde Passagiere die Eisenbahnzüge zu benutzen. Es wird wenig Federlesens mit ihnen gemacht. Jeder Beamte, jeder Schaffner oder Bremser, der einen Tramp in oder auf dem Zuge irgendwo entdeckt, schießt ihn sofort mit dem Revolver nieder, schießt ihn herunter.
Sitzt ein Tramp auf den Puffern und wird er nicht vom Zugpersonal entdeckt, so kann er sich doch beim Passieren einer Station nicht deren Personal verbergen, und wenn es von hier aus den Zugbeamten nicht mehr zu melden ist, so wird es nach der nächsten Station telegrafiert, dass sich auf dem Zuge ein Tramp befindet, und dieser muss sich rechtzeitig durch einen Sprung retten, will er sich nicht einer Kugel aussetzen. Aber auch dieser Sprung kann seinen Tod bedeuten.
Man muss diese amerikanischen Landstreicher kennen gelernt haben, um glauben zu können, was die alles wagen, um ein Stückchen mitzufahren.
Manchmal hört man auch, wie sie sich in Güterwagen verkriechen, wo sie natürlich viel sicherer aufgehoben sind. Aber das sind seltene Ausnahmen. Eben wegen solcher Tramps, abgesehen von Dieben, werden die Güterwagen beim Einladen scharf bewacht, sonst immer unter Verschluss gehalten.
Dies alles wusste ich. Dennoch gab es für mich kein anderes Mittel, wollte ich nicht die tausend Meilen bis nach San Francisco zu Fuß laufen, also auf die Puffer!
So tastete ich mich auf dem Trittbrett an der dazu dienenden Eisenstange entlang, wollte auch einmal einen Türgriff benutzen, da... gab die Schiebetür nach, öffnete sich.
Was war das? Ein unverschlossener Güterwagen? Sollten sich in diesem Wagen nicht Beamte befinden?
Mir alles ganz egal! Ich wollte schon fertig werden — wenn ich inzwischen nur immer ein Stückchen weitergekommen war. Meine Sorglosigkeit in so etwas kannte keine Grenzen. Dass meine Handgelenke noch von eisernen Manschetten umschlossen waren, an denen noch ein Stückchen Kette baumelte, daran dachte ich im Augenblick freilich nicht.
»Good morning, Gentlemen.«
Mit diesen Worten schwang ich mich durch den Spalt hinein. Keine Antwort, finster bis auf das wenige Licht, welches durch den mannesbreiten Spalt hereindrang — da machte ich die Tür schnell wieder hinter mir zu.
Es roch nach Korn, ich trat auf Körner. In Amerika wird das Korn größtenteils nicht in Säcken verladen, sondern gleich in den Wagen hineingeschaufelt. Dieser hier war nur halb voll; das Getreide auch mehr an der hinteren Seite aufgehäuft.
»Gerettet!«, seufzte ich auf, ein ›vorläufig‹ dabei vergessend. Da raschelte etwas.
»Tramp, he?«, fragte eine männliche Stimme.
»Yes.«
»Gottes Tod über Euch, war denn die Tür offen?«
»Sonst wäre ich doch nicht hereingekommen.«
»Hm, ich hatte sie doch ganz fest mit Draht zugemacht, da muss...«
An meinem Anzuge tasteten Hände, ein Mensch glitt an mir vorbei, machte sich an der Tür zu schaffen.
»So, diesmal geht der Draht nicht wieder ab«, sagte der andere, und ich will die furchtbaren Flüche nicht wiedergeben, die er hinter jedem zweiten Worte einschaltete.
»Wer seid Ihr?«
»Ich bin desertiert.«
»Aha. Sonst was auf dem Kerbholz?«
Wir unterhielten uns weiter. Ich gab mich ganz einfach für einen Landstreicher aus, der sich von der Miliz zum Kriege hatte anwerben lassen und wieder desertiert war. Mein Reisegefährte stellte sich mir dann als John Kelly vor, von Profession Einbrecher. Hatte zuletzt in Omaha City ›gearbeitet‹, ohne besonderes Glück, und als ihm der Boden dort zu heiß geworden, war es ihm gelungen, aller Mittel bar, in einem unbewachten Getreidewagen des PacificZuges zu verschwinden.
Geld hatte er also nicht, wohl aber sein ganzes Handwerkszeug bei sich, ferner hatte er sich auch mit einem großen Kruge Wasser verproviantiert. War schon zwei Tage unterwegs, wollte nach San Francisco, wo sein Handwerk besser blühen sollte, er auch gute Freunde hatte.
Es war ein braver Kerl, dieser professionelle Einbrecher, der auch schon ein paar Morde auf dem Gewissen hatte. Er gab mir zu trinken, gab mir Kautabak und feilte mir auch meine eisernen Manschetten ab.
Vier Tage verbrachten wir hier in dem Güterwagen, kauten Tabak, kauten Körner und erzählten uns; der blutige John mehr von seinen Abenteuern als ich.
Auch Wassermangel litten wir nicht, da es beständig schneite, und des Nachts machte John von dem erbrochenen Schlosse der Tür den Draht ab, schlich das Trittbrett entlang und sammelte hier den Schnee auf, mit dem wieder der Wasserkrug gefüllt wurde.
Ich war also ebenfalls ein Tramp, oder vielmehr nichts weiter als ein harmloser Tramp, ein Landstreicher, der sich bisher nur im Gebiete der Mormonen herumgetrieben hatte, und da John den ganzen Staat gar nicht kannte, ich aber doch schon manches von den Mormonen zu erzählen wusste, so konnte ich meine Rolle ganz vortrefflich spielen. Mischte ich einmal Seemannsausdrücke bei, so kam das einfach daher, weil ich früher zur See gefahren war, und nun konnte ich erst recht Abenteuer erzählen.
»Hört, Piet«, sagte da einmal John, wohl gleich am zweiten Tage unserer Reise, »kennt Ihr nicht zufällig auch den Richard Jansen, den Kapitän von der ›Sturmbraut‹?«
Aha, ich musste vorsichtig sein!
Nein, den kannte ich nicht, hatte noch nie etwas von mir selber gehört.
»Was soll denn mit dem sein?«
Der Einbrecher, der sich immer in Städten aufgehalten, wusste aus den Zeitungen gut Bescheid über mich, über die von England ausgesetzte Prämie und alles andere.
»Die möchtet Ihr Euch wohl gern verdienen, die 400 000 Pfund, was?«
»Na und ob! Aber wer weiß, wo der schwimmt, und das ist doch ein schwerreicher Kerl, das ist für unsereins nichts.«
Ha, wenn der gewusst hätte!
Und dann versuchte John, mich in seine Kreise zu ziehen, mich zum Einbrecher zu machen, ich sollte in San Francisco unter seinen Kameraden eine regelrechte Schule durchmachen.
»Ihr habt doch Knochen und Muskeln wie von Stahl, Ihr müsst Schmiere stehen.«
Es war gut, dass er mich nur befühlen, mich nicht sehen konnte. Rauchtabak hatte er nicht, wir hätten wohl auch kaum rauchen dürfen, falls doch einmal unser Wagen geöffnet würde, wahrscheinlich hatte jener überhaupt kein Streichholz bei sich.
Ich ging auf seinen Vorschlag nicht so ohne Weiteres ein, wollte es mir erst überlegen.
Sonst kann ich nicht alles, nicht den tausendsten Teil wiedergeben von alledem, was wir während der vier Tage geschwatzt haben. Jedenfalls bekam ich einen tiefen und auch sehr interessanten Einblick in das amerikanische Verbrecherleben.
Die Tage vergingen. Mir wurde nach und nach recht elend zumute. Nichts weiter als nur dieses Korn zu kauen — wenn es Hafer gewesen wäre, wäre ich zum Gaule geworden.
Es war ein schwacher Trost, dass mir John ausführlich erzählte, wie er schon einmal als Tramp von San Francisco nach New York gefahren war, vierzehn Tage lang, in einem Wagen, der nur rohe Kartoffeln enthalten hatte, sich von diesen nähren müssend, und es war auch gegangen.
Wie wir in San Francisco den Wagen verlassen würden, blieb ganz dem jeweiligen Zufall überlassen. Einfach, sobald wir in den Bahnhof einfuhren, aus dem Wagen herausspringen, im Menschengewühle verschwinden.
»Und wenn nun kein Menschengewühl da ist?«
»Geschossen wird dann nicht mehr auf uns«, tröstete John.
Es sollte anders kommen, besser. In der Nacht des vierten Tages ließ die Lokomotive häufig Pfiffe ertönen, der Zug fuhr immer langsamer, bis er gänzlich hielt.
John hatte in letzter Zeit schon wiederholt die Schiebetür etwas geöffnet und vorsichtig hinausgespäht. Er machte diese Fahrt ja nicht zum ersten Male, und man kann sich doch überhaupt berechnen, wann ungefähr der Zug sein Ziel erreichen muss, wenn die Ankunftszeit beim PacificZug auch nicht so genau zu bestimmen ist. Jedenfalls konnten wir nicht mehr weit entfernt von San Francisco sein, wir waren schon längst vorbereitet.
»Wir sind bei Paderbrock«, flüsterte John jetzt, »der Zug kann nicht einlaufen, hier müssen wir heraus.«
Also, eins zwei drei — den Draht abgerissen, John hinausgesprungen, ich ihm nach, einen Bahndamm hinab, hinein in das lehmige Feld; denn hier, jenseits des Felsengebirges, hatte schon der Frühling begonnen.
Hin und wieder an der Bahn ein Licht, in einiger Entfernung eine ganze Ansiedlung von Lichtern.
Ich stolperte nicht schlecht über den Sturzacker. Nicht nur, dass ich in den vier Tagen das Gehen verlernt hatte, sondern erst jetzt fühlte ich, wie mich dieses Kornfutter tatsächlich ganz geschwächt hatte.
»Was nun?«
»Jetzt müssen wir zunächst einbrechen«, meinte John ganz gemütlich, und ich erhob durchaus keinen Protest.
»Um uns mit Nahrung zu versehen?«
»Gewiss, erst müssen wir doch etwas Tüchtiges essen.«
»Bei einem Farmer?«
»Nein, das ist schwierig wegen der Hunde, Kommt nur mit!«
Und ich ging mit. Der blutige John schien in dieser Vorstadt, deren Grenze wir bald erreichten, sehr zu Hause zu sein.
Ich will nicht schildern, wie wir den Einbruch ausführten. Ich sollte auch nur insofern dabei tätig sein, als ich Schmiere stehen musste.
Gut, ich stand Schmiere, unter einem Baume, der an einem Garten stand, über dessen Zaun John geklettert war.
Auch wie mir dabei zumute war, will ich nicht schildern. Schrecklich! Noch ein ganz anderes Gefühl, als wenn ich von der Kommandobrücke aus in undurchdringlicher Finsternis die nahe Brandung donnern höre. Selbst meinen nagenden Hunger vergaß ich darüber.
Und da Hundegebell, menschliche Stimmen — ›Haltet den Dieb!‹ — und ich floh davon, meinen Gefährten seinem Schicksale überlassend, so wie es überhaupt abgemacht worden war.
Ei, waren das damals Augenblicke, Minuten, Stunden! Die werde ich nicht vergessen. Da ist mir der blutigste Kampf von Bordwand zu Bordwand doch lieber gewesen. Ich ein flüchtiger Einbrecher!!
Ich umging die Ansiedlung, umfloh sie, gewann wieder die Landstraße, lenkte meine Schritte dahin, wo ich in weiter Ferne einen langgestreckten Lichtschein am Horizont sah. Das konnte nur das erleuchtete San Francisco sein, in dem ich schon früher mehrmals gewesen war, ohne besonders darin Bescheid zu wissen.
Verfolgt wurde ich nicht. Aber was sollte nun aus mir werden? Ich fiel vor Schwäche bald um, und ich wusste, dass ich nur meinen Magen mit etwas Nahrhaftem zu füllen brauchte, um gleich wiederhergestellt zu sein.
Da kam mir ein Lichtchen entgegen. Ich trat zur Seite und wartete. Es war ein Mann, der einen Handwagen zog, auf dem verschiedene Säcke lagen.
Und da packte es mich plötzlich wie Wahnsinn. Oder was war es sonst, diese innere Stimme, die mir zuflüsterte: Falle diesen Mann an, beraube ihn, und du bist gerettet — und tust du es nicht, so bist du verloren, dann hat deine Laufbahn hier in San Francisco ein Ende!
Und ich folgte dieser seltsamen Stimme, mit drei großen Schritten stand ich vor dem Manne.
»Mann, habt Ihr etwas zu essen?«, stieß ich in heiserem Tone hervor, mich ganz unbewusst des Deutschen bedienend.
Der Mann, den ich bei dem schwachen Sternenscheine nicht weiter unterscheiden konnte, war gleich beim Anblick meiner riesenhaften Gestalt in die Knie gesunken.
»Herrjesens, Herrjesens, da ham se mich doch ooch mal angefallen!«, wimmerte er gleich in schönstem Sächsisch.
Aber ich war nicht in der Stimmung, einen Humor zu empfinden, erst jetzt merkte ich, wie rebellisch mein Magen war.
»Ob Ihr was zu essen habt!«, herrschte ich den Knienden an.
»Ja doch, ja, mei gutstes Herrchen, enne Butterbemme.«
»Her damit!«
Mit zitternden Händen zog das Bäuerlein aus dem Brustlatz ein Paket hervor, wickelte etwas aus — ich verschlang das dargereichte Brot, doch auch nur wieder aus Mehl bestehend, die daraufgestrichene Butter kam gar nicht in Betracht.
»Habt Ihr nicht sonst etwas Essbares bei Euch? Fleischwaren?«
»Ja doch, ja, mei gutstes Herrchen — enne Wurscht, zwee Würschte — wenn Se mir nur nich's Läm nähm.«
»Her die Würste!«
»Die muss'ch erscht ausbacken, geduldjen Se sich nur noch e Weilchen.«
Er erhob sich und kramte in seinem Wagen herum, brachte zwei Würste zum Vorschein, ich nahm sie beide, biss in die eine wie ein heißhungriger Wolf hinein. Es war eine nach deutscher Art zubereitete Blutwurst, von Deutschen auch erst in Amerika wie in England eingeführt oder hier angefertigt, auch nur wieder für Deutsche.
Ha, das schmeckte!! Nach jedem Bissen fühlte ich neue Lebenskraft durch meinen geschwächten Körper rieseln.
Und da fasste ich eine Idee. Nun war es einmal geschehen, warum auch nicht weiter?
»Habt Ihr Geld?«
Da sackte das in Amerika ansässig gewordene deutsche Bäuerlein gleich wieder in die Knie zusammen.
»Nee, ach nee, mei gutstes Herrchen.«
»Ihr habt Geld, ich weiß es!«
»Nu, wenn Ihr'sch wisst — ich habbe meine eenz'ge Kuh verkooft, fier fuffzehn Dollar, und wenn'ch die nich heeme bringe, kriege ich von meiner Frau Dresche, denn die gloobt doch nich, dass ich angefallen bin, die denkt doch natierlich, ich hab's wie gewöhnlich versoffen.«
»Hört, Mann, ich will Euch etwas sagen: ich bin kein Straßenräuber...«
»Ja ja, mei gutstes Herrchen, das gloob'ch schon, awwer, awwer, awwer...«
»Wie heißt Ihr?«
»Gustav Strohbach tu ich heeßen.«
»Wo wohnt Ihr?«
»Nu, in Paderbrock.«
»Wo da?«
»Nu in der OakCottage.«
»Gustav Strohdach, Paderbrock, OakCottage — gut, ich werde es mir merken. Hört, Mann, gebt mir die fünfzehn Dollar, ich werde sie euch zehn, hundertfältig zurückerstatten. Ja, ich werde Euch zweitausend Dollar durch die Post zuschicken. Glaubt Ihr mir das?«
»Nee!«
Da musste ich doch einmal lachen. Aber die Zeit drängte.
»Her mit dem Gelde!«
Und das Bäuerlein rückte einen ziemlich schweren Lederbeutel heraus, wahrscheinlich nur mit Silber gefüllt.
»Ihr werdet es hundertfach wiederbekommen, verlasst Euch darauf.«
Sein Jammern klang mir nach, es schnitt mir durchs Herz, aber ich konnte nicht helfen. Geld musste ich in San Francisco unbedingt haben.
So war ich zum Wegelagerer, zum Straßenräuber geworden. Dass es selbstverständlich mein Entschluss war, dem Beraubten das Geld so bald wie möglich wieder zuzuschicken, eine ganz andere Summe, das ändert daran nichts.
Aber während des halbstündigen Marsches, den ich noch bis zu dem Weichbilde der Stadt hatte, kam mir auch zur Erkenntnis, dass ich ohne diese brutale Handlung, die mir zwei große Würste eingebracht hatte, kraftlos liegen geblieben wäre.
So kehrte meine Lebensenergie noch immer mit jedem Bissen, der in den Magen hinab wanderte, zurück, das fühlte ich ganz deutlich. Ich war tatsächlich außerordentlich geschwächt gewesen, habe andererseits einen wahren Geiermagen, der alles sofort verdaut und dem Blute zuführt. Aber zum Vegetarier eigne ich mich nicht.
Es war etwas nach Mitternacht, als ich eine Hauptstraße der westlichen Zentrale Amerikas erreichte, alles noch in vollem Leben. Ich suchte die ruhigsten Seitenstraßen auf. Wohin ich mich zu wenden hatte, um nach dem Hafen zu kommen, wusste ich ungefähr, durfte nur nicht die Richtung verlieren.
Wie nun weiter? Alles dem Zufall überlassen, nur erst den Hafen erreichen, dorthin gehörte ich Seebär.
Als ich schnellen Schrittes an einer erleuchteten Schenke vorbei wollte, spie die Tür gerade eine Schar betrunkener Kerls aus, und ehe ich mich versah, hatten mich einige an den Arm gepackt.
»Käpt'n Jansen, Käpt'n Jansen!«, erklang es jubelnd im Chor. »Wir haben den Käpt'n von der ›Sturmbraut‹ erwischt, wir haben uns viermalhunderttausend Pfund verdient!«
Ich erschrak mächtig. Aber ich schüttelte die Betrunkenen nicht von mir ab; denn in demselben Augenblick sagte ich mir auch schon, dass es Matrosen waren, die mit mir langen Person sich nur einen Jux machten.
»Was zahlt Ihr Lösegeld? Sonst liefern wir Euch der Polizei aus.«
Ich griff in den Beutel unter meiner Jacke, warf einige Silberdollars aufs Pflaster, die eiligst aufgehoben wurden.
»Achtung, Jungens, das ist ein Gentleman, und der hätte nicht nötig, uns was zu geben, fühlt mal dem seine Knochen!«
»Lasst uns zurückgehen.«
»Nein, in die ›Drei Flammen‹!«
»Jungens, wir müssen an Bord, Mitternacht ist schon vorbei, um drei segelt die ›Tahiti‹ ab.«
Der Name ›Tahiti‹ wirkte auf mich wie ein Stichwort. Von Tahiti aus hätte ich es gar nicht mehr so weit bis nach der Ellicegruppe gehabt; im offenen Boote wollte ich dort von Insel zu Insel kommen.
Freilich war das nur ein Schiffsname gewesen, das war mir nur so durchs Gehirn geschossen.
Die Matrosen, die mich einmal gepackt, ließen mich los, jetzt sollte ich mit denen das spendierte Geld vertrinken. Wer ich sonst war, das war doch diesen Matrosen ganz egal.
»Wohin geht die ›Tahiti‹?«, fragte ich, nur um einmal etwas zu sagen.
»Eben nach Tahiti.«
»Was, nach Tahiti?!«
»Jawohl, geht regelmäßig hin und her, von Frisco nach Tahiti und zurück.«
Mich überkam es wie der heilige Geist.
»Jungens, braucht ihr nicht noch einen Mann an Bord?«
»Voll angemustert!«
»Dann verstaut mich!«
»Weshalb?«, wurde gefragt, aber ohne jedes Misstrauen.
»Bin von einem Engländer gelaufen, habe keine Papiere mehr.«
»Well, kommt mit!«
Mein Verlangen war etwas ganz Selbstverständliches, was in jedem großen Hafen täglich passiert. Ein Matrose desertiert, hat nun keine Papiere mehr, ohne welche er nicht regelrecht angemustert werden kann. So versteckt er sich auf einem Schiffe, kommt auf hoher See wieder zum Vorschein, und ist die Mannschaft auch schon vollzählig, seine Arbeitskraft wird doch noch immer gebraucht, und falls der Kapitän so knauserig ist, ihm dann seine Arbeit nicht zu bezahlen, so stellt er ihm bei guter Führung doch ein Zeugnis aus, und dieses eine Papier genügt dann für jede weitere Anmusterung — mit Ausnahme im soliden Deutschland. Die deutschen Seebehörden fordern unbedingt ein vollständiges Seefahrtsbuch, in welches die sämtlichen Reisen eingetragen sind, und geht dieses verloren, so muss es erst wieder zusammengestellt werden. Deshalb hat man auch nur in Deutschland Strafen wegen Desertion zu erwarten.
Mich in der Mitte, zog die Bande singend und johlend durch die Straßen, und ich wusste mich etwas ›klein‹ zu machen.
»Hast was ausgefressen, he?«, wurde ich nur ein einziges Mal gefragt.
»Ich erzähl's euch später«, entgegnete ich, und es genügte.
Die versoffenen Kerle, Engländer, Skandinavier und Deutsche, die ihre Heimatberechtigung verloren, hatten überhaupt nur noch Interesse für Schnaps, folgten aber der Warnung des Vernünftigsten, nicht mehr in eine Schenke zu gehen. Es wurden von meinem Gelde nur einige Flaschen Branntwein herausgeholt, um sie mit an Bord zu nehmen, und als ich noch einige Dollar dazugab, war ich erst recht ihr Mann.
So kamen wir an den Hafen, wo noch gar viele Schiffe unter Gas- und anderer Beleuchtung befrachtet und gelöscht wurden, und erst jetzt erfuhr ich, dass die ›Tahiti‹ ein Dampfer war, ein ganz stattlicher, der dicht am Kai lag und ebenfalls noch Säcke waggonweise einnahm.
Die zurückkehrende Mannschaft, welche zum Teil noch einmal beurlaubt worden war, wurde vom Steuermann mit fürchterlichen Flüchen in Empfang genommen. Es gingen und kamen noch so viel Fremde hin und her, Beamte, Makler und andere, zum Teil ganz phantastische Gestalten, wie man sie nun einmal in Amerika sieht, dass meine lange, in Pelz gekleidete Gestalt durchaus nicht auffiel.
»Hier hinein, schnell!«, sagte ein Matrose zu mir, und ich kletterte an der eisernen Leiter in eine offene Luke hinein und... hatte abermals Getreidekörner unter meinen Füßen. Diesmal aber war es kein Korn, sondern Mais.
Nun, ich krabbelte mehr nach hinten, kroch in den Mais bis an den Hals hinein, dafür sorgend, dass ich bei Gelegenheit auch den Kopf noch verschwinden lassen konnte, und wartete des Kommenden.
Aber es kam niemand. Dann ward die Luke geschlossen; das übliche Laufen an Deck entstand, welches am deutlichsten die baldige Abfahrt kennzeichnet, ich hörte auch Kommandos, und die Planken begannen zu zittern, der Dampfer hatte sich in Bewegung gesetzt.
In dem fröhlichen Bewusstsein, nach so vielen Widerwärtigkeiten nun bald mein Ziel erreichen zu können, das ich jetzt meine Heimat nennen musste, schlief ich endlich ein.
Diesmal war es nicht die Morgendämmerung, die mich zum Erwachen brachte, sondern... der Hunger und Durst.
Wie lange ich geschlafen hatte? Ich wusste es nicht. Da war mein Magen keine Uhr, auf die ich mich verlassen konnte.
Aber ich hatte keine Lust, den harten Mais zwischen den Backzähnen zu zerschroten. Gleichmäßig schlingerte das Schiff hin und her, keine Schritte mehr an Deck — wir mussten uns mindestens schon außerhalb des Hafens befinden, wahrscheinlich schon auf hoher See, denn eine halbe Stunde hatte ich doch nicht nur geschlafen.
So wühlte ich mich durch den nachgiebigen Mais, nach jener Richtung hin, wo ich die Leiter vermutete, fand sie, kletterte die wenigen Sprossen empor, die aus dem Getreide ragten.
Der Lukendeckel war fest geschlossen. Sollte ich warten, bis einer der Matrosen eine Gelegenheit suchte und fand, um den Deckel aufzuschrauben? Es war diesen Burschen nicht recht zu trauen, sie waren gestern Abend gar zu sehr bezecht gewesen, sie konnten mich vergessen haben.
Ich klopfte, immer stärker, bis ich gegen den Deckel donnerte. Das trieb ich wohl eine Viertelstunde, bis ich zu der Überzeugung kommen musste, nicht gehört zu werden.
Da stieg ich noch etwas höher, bis ich den Rücken gegen den Deckel stemmen konnte, presste — und da gab der Deckel nach, flog beiseite, die Luke war offen.
»Gottver... was für ein verfluchter Hund ist denn das?«
Ich hätte mich eigentlich nicht gleich so gewaltsam befreien sollen. Die eisernen Schrauben waren verbogen, abgeplatzt, und ich hatte vergessen, dass ich mich nicht auf meinem eigenen Schiffe befand.
Doch schon stand ich an Deck, einem kleinen, vierschrötigen Manne gegenüber und... ich kannte ihn!
Kapitän Helmer, unter dessen Kommando ich vor fünf Jahren eine Reise nach Mexiko gemacht hatte, ein Deutscher, aber zum Novascotiaman geworden, ein brutaler Kerl erster Klasse, dabei ein Geizhals durch und durch, der mich einmal bald an den Galgen gebracht hätte, nämlich als ich ihn niederschlagen wollte, was aber meine letzte Willenskraft noch verhindert hatte.
Wütend blickte er mich an — da plötzlich erstarrte sein Auge — nahm einen ganz anderen Ausdruck an — ein ungläubiges Staunen.
»Ja — den — den kenne ich doch... Richard!... Richard Jansen, der Kapitän von der ›Sturmbraut‹!!«, fing er dann zu brüllen an.
»Packt ihn, Leute, das ist der Kapitän Richard Jansen, packt ihn!!«
Matrosen kamen angerannt. Ich war viel zu sehr niedergeschmettert, um an eine Gegenwehr denken zu können, die mir ja auch gar nichts genützt hätte.
Eigentlich hätte ich, ein weitgereister Seebär, doch damit rechnen müssen, auf diesem Schiffe bekannte Gesichter zu finden, selbst erkannt zu werden. Ja, diese Möglichkeit war vorhanden gewesen. Andererseits aber gibt es auf der Erde doch so viele Schiffe, dass das nicht anders ist, als wenn man einmal das große Los zieht. Nein, ich hatte diese Möglichkeit verworfen, eben gar nicht damit gerechnet.
»Packt ihn!!«
Und ich wurde gepackt, von hinten und von vorn, von den Matrosen, die mir hatten helfen wollen. Aber es blieb ihnen ja gar nichts anderes übrig, als zu gehorchen, und, wie gesagt, auch von mir wäre es Narrheit gewesen, hier Widerstand zu leisten.
»In die Arrestzelle mit ihm! Legt den Stowaway in Eisen! Aber seht euch vor, das ist ein Wilder!«
Drei Minuten später saß ich, nachdem mir Kapitän Helmer noch die Pelzjacke vom Leibe gerissen, mir auch noch einmal in die Hosentaschen gegriffen hatte, in einer kleinen Zelle, deren Wände aus nackten Eisenplatten bestanden, erleuchtet von einem kleinen Bullauge, in Eisen gelegt.
Es war ein moderner Dampfer, daher auch die Vorrichtung, um in Eisen gelegt zu werden, bequemer, als man es sonst auf alten Schiffen und heute noch auf Seglern findet, wo man einfach mit Ketten an die Wand gefesselt wird, gewöhnlich auch in einem ganz finsteren Raume.
Wenn man hier von einer Bequemlichkeit sprechen darf! Von einer Wand zur anderen lief eine starke Eisenstange, an die ich mit jedem Handgelenk durch einen freilaufenden Ring durch eine kurze Kette gefesselt war, so saß ich auf einem Stuhl, natürlich mit dem Boden fest verbunden, vor mir stand ein kleiner Tisch, den ich mit den Händen erreichen konnte — wegen des Essens, wozu ich mich nur bei jedem Bissen bücken musste, und wenn ich den Stuhl verließ, mich zur Seite schob, so erreichte ich eine gepolsterte Bank, auf der ich mich ausstrecken konnte, nur dass meine Hände immer in einiger Höhe an der Eisenstange blieben.
Ich hatte weder Zeit, dieses Experiment zu probieren, noch mich Betrachtungen über meine Lage hinzugeben, denn schon rasselte es wieder an der verschlossenen Tür, Kapitän Helmer trat ein.
»Kapitän Richard Jansen von der ›Sturmbraut‹?«, fragte er, nachdem er mich einige Zeit mit recht vergnügtem Gesicht betrachtet hatte.
Hier half kein Leugnen mehr.
»Ich bin's!«
»Wie kommen Sie auf mein Schiff?«
»Ich habe mich vor der Abfahrt im Frachtraume verstaut.«
»Wie kommen Sie überhaupt nach San Francisco?«
»In Geschäftssache.«
»Hatten wohl Ihre Liebste abholen wollen, die Lady Dingsda, was?«
Der wusste schon Bescheid. Dass die Lady von Leytenstone in New York gewesen war, mochte ja auch durch Zeitungen allgemein bekannt geworden sein.
»Ja.«
»Wo ist die Lady jetzt?«
»Weiß nicht.«
»Verpasst?«
»Ja.«
»Wo ist Ihr Schiff?«
»Weiß selbst nicht.«
»Ist mir auch ganz schnuppe. Ich rufe das nächste mir begegnende englische Kriegsschiff an, liefere Sie aus, habe mir 400 000 Pfund Sterling verdient, hähähä.«
Ja, der hatte gut grinsen.
»Kapitän Helmer!«
»Na?«
»Sie sind doch ein vernünftiger Mann.«
»Was gibt's? Macht's kurz, ich muss auf die Kommandobrücke.«
»Ich kann Ihnen noch viel mehr geben, als nur 400 000 Pfund...«
»Ach Papperlapapp. Wenn Sie was hätten, dann würden Sie sich nicht hier verstauen.«
»Kann ein vogelfreier Desperado nicht einmal in solch eine Lage kommen? Vielleicht aber haben Sie doch schon von den Schätzen gehört, welche den Aschantis...«
»Ich will Ihnen etwas sagen«, fiel er mir abermals ins Wort. »Freilich nehme ich immer so viel wie ich kann, aber 400 000 Pfund Sterling sind schon eine ganz hübsche Summe, und die verdiene ich mir ehrlich, und darauf halte ich auch, denn mein Sohn ist in New York Advokat, und nächstens wird er zum Senator gewählt, und das ist auch etwas wert. Verstanden? Sie kommen auf das nächste englische Kriegsschiff, hähähä.«
»Schuft, Halunke!«, sagte ich, als sich jener wieder der Tür zuwandte, auf die Gefahr hin, sofort blutig geschlagen zu werden.
Aber er ging. Ich war ein gar zu kostbares Objekt, und Kapitän Helmer war über Beleidigungen erhaben — wenn es ihm etwas einbrachte. Ich hatte wieder Zeit, nachzudenken. Aber es hatte keinen Zweck. Ich saß eben hier in Eisen und würde an das nächste englische Kriegsschiff ausgeliefert werden.
Und dann? Es würde alles genau so kommen, wie das Schicksal es wollte. Und warum denn verzagen? War ich nicht schon einmal dem Zuchthaus entsprungen? Ich traute meinem Kommodore.
Mein Mut sank um so weniger, als ich ganz ausgezeichnet verpflegt wurde. Das Stillsitzen war allerdings nicht mein Fall, aber dagegen war nichts zu machen. Übrigens bemerke ich, dass diese Ketten hier allen meinen Kraftanstrengungen gespottet hätten.
So vergingen die Tage. Ich zählte sie nicht mehr, fragte niemals den Matrosen, der mir das Essen brachte, die Zelle reinigte, strafte ihn wie Kapitän Helmer, der ebenfalls täglich erschien, um sich wohlwollend nach meinem Befinden zu erkundigen, mit Verachtung.
Wenn ich auf etwas wartete, so war es nur das, dass man meine Schlösser öffnen würde, weil ich die ›Tahiti‹ verlassen sollte. Es dauerte recht lange, die englischen Kriegsschiffe sind doch sonst nicht so dünn gesät. Freilich führt der Große Ozean seinen Namen nicht umsonst.
Und da eines Tages, es mochte vielleicht der zehnte sein, erschien Kapitän Helmer nicht nur wie sonst höchstens in Begleitung eines einzigen Matrosen, sondern brachte gleich vier mit.
Ich wusste schon, was es geschlagen hatte — und richtig, die Ringe wurden von der Stange gelöst, freilich auch gleich wieder vereinigt, ich wurde gefesselt hinausgeführt.
»Na, nun adjüs«, feixte der Wiedehopf »ein englischer Man of War ist in Sicht, nun bekomme ich meine 400 000 Pfund Sterling.«
Ich überlegte mir kaltblütig, ob ich zum Mörder werden sollte oder nicht. Nein, zum Mörder doch lieber nicht. Aber eins auswischen wollte ich ihm noch, woran er sein Leben lang denken sollte. Nur jetzt noch nicht. Oben an Deck, angesichts der ganzen Mannschaft, beim Abschiednehmen.
So kam ich nach oben. Richtig, dort, in einer Entfernung von sechs Knoten, dampfte eine Fregatte, die englische Kriegsflagge zeigend.
Die beiden Schiffe wechselten schon Signale miteinander.
»Gottver..., was ist denn das?!«, schrie da Kapitän Helmer.
Ja, auch ich hatte die Signale schon mitgelesen, ohne ein Hilfsbuch dazu nötig zu haben.
»Können nicht stoppen«, signalisierte das Kriegsschiff zurück.
»Wir haben doch den Kapitän Richard Jansen an Bord, signalisiert das, signalisiert das!!«, brüllte Helmer und sprang selbst an den Signalmast.
Allein es half nichts.
»Können nicht stoppen«, gab das Kriegsschiff zurück und hetzte davon, dem Nordosten zu, dass die Funken nur so aus dem Schornstein stoben.
Wie ich später erfuhr, hatte die Fregatte ein Leck bekommen, musste mächtig pumpen, um noch den nächsten Hafen zu erreichen, durfte keine Minute Zeit verlieren.
Wenn ich dadurch auch nicht gerettet war, so freute ich mich doch ganz bannig, den Kapitän Helmer so wettern zu hören. Und noch mehr durfte ich mich freuen, das ›Auswischen‹ oder gar einen Mord verzögert zu haben.
Dagegen beunruhigte mich, was ich gleich von einem der Steuerleute zu hören bekam.
»Kapitän, folgt doch meinem Rate, übergebt den Strolch dem ersten besten englischen Kauffahrer, der uns in Sicht kommt.«
O weh, dann allerdings konnte ich schnell von Bord kommen.
»Fällt mir gar nicht ein«, entgegnete aber Helmer. »Und wenn diesem Schiffe nun etwas passiert?«
»Das kann jedem Kriegsschiffe auch so gehen.«
»Ja, aber dann habe ich die Quittung des Kapitäns in Händen, die ist schon gültig, um die Prämie zu bekommen. Amtlich bleibt amtlich.«
So konnte ich also wieder auf das nächste englische Kriegsschiff warten.
Ich ward wieder hinuntergebracht, angekettet.
Abermals vergingen einige Tage unter bester Verpflegung, und kein Kriegsschiff schien kommen zu wollen, um mich in Empfang zu nehmen.
Wir hatten immer sehr gute Fahrt gehabt. Da ich aber nicht einmal wusste, wie viel Knoten der Dampfer machte, konnte ich auch nicht wissen, wo ungefähr wir uns befanden, zumal ich ja auch die Zeit verloren hatte. Doch sehr weit von Tahiti konnten wir unmöglich mehr sein.
Eines Nachts wurde ich durch ein furchtbares Donnerwetter geweckt. Als ich mich hinlegte, war fast ganz stille See gewesen, das Schiff hatte kaum geschlingert, und jetzt tanzte es wie ein wahnsinniger Ziegenbock.
Das hatte mich nicht zum Erwachen bringen können, wohl aber der Skandal, den Petrus im Himmel machte. Vielleicht auch die plötzliche Helligkeit. Meine Zelle war beständig erleuchtet, ununterbrochen mussten die Blitze zucken, ein einziger Donner rollte.
Ich wurde gar nicht recht klug daraus, was für ein Unwetter das eigentlich war. Ich konnte gar nicht so lange geschlafen haben, und obgleich die dicke Glasscheibe meines Fensters geschlossen war, sodass mich kein Luftzug treffen konnte, glaubte ich doch bestimmt annehmen zu dürfen, dass auch draußen kein Sturm herrschte.
Was in aller Welt hatte das Meer plötzlich in so furchtbare Aufregung gebracht? Denn es war einfach toll. Hätte ich auf meiner Bank nicht so fest zwischen Tisch und Wand eingepresst gelegen, ganz abgesehen von den angeketteten Händen, so wäre ich schon längst herunter...
Da, als ich das noch so denke, bekomme ich einen Ruck, der mich gleich von der Bank hochhebt und quer über den Tisch legt, dass meine festgehaltenen Hände ganz verrenkt sind.
Wahrhaftig, jetzt erwartete ich selbst den Untergang der Erde, mindestens dieses Dampfers.
Und der furchtbare Ruck? Gerammt oder aufgelaufen!
Der Ruck wiederholte sich nicht, plötzlich lag das Schiff ganz ruhig, zitterte aber in anderer Weise — aufgelaufen! — ich räkelte mich auf die Bank zurück, auf meinen Schemel — da klirrten Schlüssel an der Tür, das konnte ich noch in dem allgemeinen Tumult hören, es stürzte jemand herein, den ich nicht sehen konnte, weil gerade jetzt einmal das Blitzen aufhörte...
»Kapitän, Kapitän, wir sind aufgelaufen, wir sind geborsten, geboooorsten!!!«
Und zwei Hände beschäftigten sich an den meinen, suchten mit Schlüsseln meine Ringe zu öffnen.
Und ich saß plötzlich ganz starr da.
Himmel, diese Stimme, welche dies geschrien hatte!! Wo hatte ich diese schon früher gehört? Woher war mir diese so gut bekannt?
Und da zucken wieder die Blitze auf, und da sehe ich vor mir ein braunes und doch ganz blasses Gesicht.
»Hans!«, schrie ich auf. »Hans!!«
»Tötet mich nachher, tötet mich nachher!«, ächzte er brüllend, um sich verständlich zu machen. »Ich muss Euch retten, ich muss Euch erst retten, tötet mich nachher!«
Es war Hans, der Leichtmatrose. Und als ich mir bewusst wurde, dass ich nicht nur träumte, ward ich wieder kalt.
»Aufgelaufen?«, fragte ich, während er mit den vielen Schlüsseln in den Schlössern probierte, jeden Blitz zum Aussuchen benutzend.
»Ja, ja!«
»Ein Taifun?«
»Nein, nein, gar kein Sturm. Wahrscheinlich ein Erdbeben — ein unterseeisches Erdbeben; Kapitän, Kapitän, ich finde den Schlüssel nicht!!«
»Nur ruhig Blut. Was macht die Mannschaft?«
»Die will das Schiff verlassen.«
»In den Booten?«
»Daran ist nicht zu denken. Wir sitzen auf festem Land, sie wollen sich hinüberseilen.«
»Wie sitzt das Schiff?«
»Weiß nicht, weiß nicht. Aber es kann jeden Augenblick auseinanderbrechen. Kapitän, Kapitän, ich bekomme Euch nicht los!!«
Es ist schade, dass man solch eine Szene schriftlich durchaus nicht wiedergeben kann. Hans zitterte an allen Gliedern, und dennoch arbeitete er mit den Schlüsseln ganz sachgemäß.
»Könnt Ihr Euch nicht lossprengen?«
Aber das darf man nicht einfach im fragenden Tone lesen, sondern das muss man mit allem Aufgebot seiner Lungenkraft brüllen.
Ich stemmte mich und presste und ruckte — alles vergebens, hier waren die Eisenketten stärker als ich.
»Wartet, wartet, ich hole eine Feile.«
Nach einigen Minuten kam er wieder hereingestürzt, außer einer Feile diesmal auch eine brennende Lampe mitbringend, in deren Scheine er es noch einmal mit den kleineren Schlüsseln versuchte, um dann in fieberhafter Eile mit feilen zu beginnen.
Ob es Zweck hatte? Jeden Augenblick konnte das Schiff mitten auseinanderbrechen. Eine nette Aussicht das.
»Was macht die Mannschaft?«
»Weiß nicht, war nicht oben.«
Hans feilte wie ein gelernter Schlosser oder Ein- und Ausbrecher, der blutige John hätte es nicht besser gemacht.
Nach fünf Minuten war meine linke Hand frei und das Schiff noch nicht geborsten, nach weiteren fünf Minuten auch meine rechte und die Planken hielten immer noch zusammen.
Wir hinauf. Als ich die Kajütentür öffnete, sah ich ein glattgewaschenes Deck — von Masten und Schornstein und dergleichen gar keine Spur mehr, alles fortgewaschen — und im nächsten Blitz sah ich eine Woge angerollt kommen, vor der ich schleunigst die Kajütentür zumachte.
»Die ganze Mannschaft hat sich an Deck befunden?«
»Ja.«
»Auch die Heizer?«
»Alle, alle!«
»Du, Hans, dann befindet sich auf diesem Schiffe auch kein Mensch mehr — außer uns. Da ist alles fortgeschwemmt worden.«
»Dann seid Ihr gerettet, Kapitän.«
»Ja, vor den Menschen — vorläufig. Welche Zeit ist es?«
In einer Stunde musste es hell werden. Und es wurde hell. Aber gesprochen haben wir während dieser Stunde nicht. Solch eine Stunde lässt sich gar nicht beschreiben, wenn man im Innern des Schiffes sitzt und immer nur darauf wartet, dass alles aus dem Leime geht und man plötzlich mitten drin im Wasser liegt, das von allen Seiten auf einen hereinbricht.
Also es war hell geworden, und ein wolkenbruchartiger Platzregen, der dann aber wieder plötzlich nachließ, hatte die furchtbare See schon wieder beruhigt, wenn auch noch nicht daran zu denken war, ein Boot auszusetzen, vorausgesetzt, dass wir eins gehabt hätten.
Wir durften uns an Deck wagen. Vor uns lag ein Koralleneiland, sicherlich noch vor Kurzem, bis gestern, mit Kokospalmen bestanden, vielleicht auch mit Hütten, in denen Insulaner gewohnt — eine Flutwoge war darüber hinweggegangen und hatte alles fortgewaschen.
Ja, das konnte nur ein Erdbeben gewesen sein, und ich will gleich bemerken, dass es dasjenige war, welches damals in der Südsee, auch auf den malaiischen Inseln noch, so furchtbares Unheil angerichtet hat. Auch viele neue Inseln sind damals entstanden, der Meeresboden hatte sich eben gehoben, wie wir selbst noch erkennen sollten.
Ich dachte auch an meinen Vogelberg — nein, diesen soliden Mauern konnte solch ein Erdbeben nichts anhaben.
Und unser Schiff? Das saß zwischen Klippen, war vorn geborsten, aber das Hinterteil ragte weit höher empor, sodass nach hinten nicht mehr Wasser eindringen konnte, als schon geschehen war, und wie ich glaubte, saß es jetzt ganz fest, konnte nicht vollends entzweibrechen.
Von Menschen war nichts mehr zu erblicken, keiner in den inneren Räumen zu finden, soweit wir diese untersuchen konnten.
Ob sie nun versucht hatten, sich an Land zu seilen oder sonst was — die ganze Mannschaft, die sich an Deck befunden, war auf Nimmerwiedersehen weggespült worden.
»Ja, Hans«, wandte ich mich an diesen, »so sind nur wir beide mit dem Leben davongekommen — ich, weil ich unten angeschmiedet saß, und du, weil du mich nicht im Stiche lassen wolltest.«
Nachdem ich diese Worte gesprochen, ereignete sich eine dramatische Szene.
Hans, der noch genau so aussah wie früher, nur dass er jetzt ein etwas geisterhaftes Gesicht hatte, zog sein Schiffsmesser, hielt es mir hin und entblößte mit der anderen Hand seine Brust.
Aber ich ging nicht auf die dramatische Szene ein, so gut ich auch wusste, was jener wollte, ich las ja gleich alles in seinen Augen.
»Na, was soll das?«, fragte ich gemütlich.
»Tötet mich, Kapitän!«
»Töten?«
»Stoßt mir das Messer in die Brust!«
»Du bist wohl verrückt? Weshalb denn nur?«
»Weil ich — weil ich...«
Mühsam rang seine Brust nach Atem.
»Weil du damals desertiert bist?«, kam ich ihm zu Hilfe.
»Nein — nein!!«, klang es wie ein Todesschrei. »Weil ich — weil ich — o Gott, o Gott, ich kann es gar nicht aussprechen!!«
»Doch nicht etwa deshalb, weil du dich in Blodwen verliebt hattest?«
Es wirkte wie ein Blitz, so brach der Junge in die Knie zusammen.
»Ihr wisst — Ihr wisst...«
»Na ja, ich hatte deine Kleiderkiste geöffnet, und da fand ich Blodwens Fotografie und Liebesgedichtchen und dergleichen.«
Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen stierte der Junge mich an.
»Ihr wisst — Ihr wisst — und Ihr könnt so zu mir sprechen, Kapitän?«
»Aber, närrischer Kauz, was ist denn da weiter dabei? Ich bin auch einmal ein in jedes hübsche Mädel verliebter Kauz gewesen...«
So sprach ich, und ich sprach noch weiter, nur um ihn zu beruhigen, und es gelang mir.
Was den Matrosen so furchtbar erregte?
Mancher wird es nicht verstehen. Ein unverdorbener Charakter, der noch die Richtigkeit jenes Bibelwortes fühlte: Wer ein Weib nur ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon usw. Ja, im Herzen liegt es!
»Steh auf, ich verzeihe dir, wenn ich dir überhaupt etwas zu verzeihen hätte.«
Als er meine Füße küssen wollte, nahm ich ihn beim Griebse und stellte ihn wieder auf die Beine. Damit war diese Angelegenheit aber auch zwischen uns Männern erledigt.
Einiges hatte ich allerdings noch zu fragen.
Ja, Hans war bei der Befreiung Blodwens aus dem Irrenhause zum Mörder geworden. Er hatte es nicht gewollt, es beunruhigte sein Gewissen sehr wenig, er hatte auch genug gebüßt.
Dann, als er sich von Blodwen verabschiedet hatte, mehr von ihr geflohen war, eben weil er seine Liebe für eine Unlauterkeit, für eine direkte Sünde hielt, war er wieder in die Welt gegangen, mit blutendem Herzen, hatte Schiffsdienste genommen, zuletzt auf der ›Tahiti‹.
»Wusstest du denn, dass sich hier überhaupt ein Fremder verstaut hatte?«
Nein. Die bezechten Matrosen hatten mich, wie ich geahnt, rein vergessen gehabt.
Und nun der Schreck von Hans, wie sein Kapitän aus der Luke auftaucht, gleich erkannt und festgenommen wird.
»Ich wollte Euch retten, das war ganz selbstverständlich — ja, aber wie, wie!! Als das englische Kriegsschiff angerufen wurde, habe ich gebetet, wie noch nie in meinem Leben.«
Es klang seltsam aus dem Munde eines Matrosen. Nun, sein Gebet war ja erhört worden — so wollen wir annehmen, zuletzt freilich auf eine schreckliche Weise für andere.
»Wo befinden wir uns?«
In der Nähe irgendeiner größeren Inselgruppe, gar nicht mehr so weit von ›Tahiti‹ entfernt, mehr wusste Hans nicht.
Er besorgte mir aus der Kajüte des Kapitäns Sextant und was ich sonst brauchte, um eine geografische Ortsbestimmung zu machen.
Keine zweihundert Seemeilen nordöstlich von Fanafute entfernt! Besser hätten wir es gar nicht treffen können. Es wäre gar nicht nötig gewesen, dass sich dazwischen noch ein Inselchen befand, welches auf der Spezialkarte als bewohnt und als Wasserstation bezeichnet war. Diese fünfzig deutsche Meilen konnten wir im Boot selbst nur mit Rudern in höchstens drei Tagen machen, und jetzt würde hier immer Westwind wehen.
Aber woher ein Boot nehmen?
»Wir bauen uns eins«, sagte ich.
»Der Schiffszimmermann hatte die kleine Jolle in seiner Reparaturwerkstelle, wenn das Boot nicht zerschmettert worden ist...«
Wir begaben uns hinab — nein, das Boot, in das eine neue Planke eingesetzt worden war, lag festgekeilt, brauchte nur noch heraufbefördert zu werden.
Das hatte einige Schwierigkeit, weil ja alles weggeschlagen war, also auch die Winden. So mussten wir uns erst eine solche bauen, und wir beeilten uns, das Boot heraufzubringen, wenn wir es bei diesem Seegang auch nicht benutzen konnten. Ging das ganze Schiff aber doch noch in Trümmer, dann mussten wir uns dennoch sofort der Jolle anvertrauen.
Zwei Tage vergingen, die See wurde wieder glatt wie ein Spiegel, als wenn sie niemals etwas Böses verbrochen hätte, und die ›Tahiti‹ hielt noch immer zusammen.
Ich hatte mich in dem Schiffe unterdessen umgesehen, den Geldschrank offen gefunden, aber es war nichts darin.
Am Morgen des dritten Tages ließen wir die Jolle ins Wasser, ausgerüstet mit allem, was man zu einer wochenlangen Reise nötig hat.
Mit dem günstigsten Winde ging es ab, und so sollte es auch bleiben.
Schon während unserer Arbeit auf dem Schiffe hatte ich Hans viel von dem hohlen Vogelberge erzählt, den er ja noch gar nicht kannte, der aber doch schon früher im Kreise unserer Interessen gelegen hatte, ich berichtete ihm auch sonst über unsere Schicksale, und so verging die Zeit schnell genug.
Dann machten wir während dieser Seefahrt wundersame Entdeckungen. Eine Flutwelle musste furchtbar gehaust haben. Jene Insel, die als bewohnt bezeichnet, fanden wir völlig kahl, und dann wieder stießen wir auf ein ziemlich umfangreiches Eiland, welches ganz neu aus den Fluten emporgestiegen sein musste, alles wies darauf hin, und es machte mir Vergnügen, dieses jungfräuliche Land als erster Mensch zu betreten.
Wir machten ausgezeichnete Fahrt. In der Nacht des zweiten Tages wurde ich von Hans, der Steuer und Segel bediente, geweckt. Am westlichen Himmels zeigte sich ein roter Schein. Ich machte nach den Sternen eine geografische Bestimmung und berechnete, dass dort schon die Elliceinseln liegen müssten.
Heller und heller ward der Schein, bis wir zuletzt eine Feuergarbe erkannten. Ein feuerspeiender Berg. Und wenn dort nicht eine vollständige Revolution vor sich gegangen war, so konnte nur die höchste Erhebung in Betracht kommen, Fanafute selbst.
»Der ganze Vogelberg ist durchaus hohl?«, fragte Hans.
Ich verstand, was er nicht direkt auszusprechen wagte, aber ich konnte nicht daran glauben, dass dieser ganze Felsen, mit dem Meeresgrunde fest verbunden, auch nur sehr erschüttert werden konnte.
Bei Tagesanbruch ward das Feuer des speienden Berges schwächer, wenigstens für unsere Augen, und dann, als wir immer näher kamen, hüllte uns eine Aschenwolke ein, sodass wir schließlich gar nichts mehr sehen konnten.
Mit einem Male aber drehte sich der Wind, es herrschte der schönste Sonnenschein.
Ja, wo waren wir den eigentlich? Der Berg dort gehörte zu Fanafute, wenn er jetzt auch Feuer spie, aber dann musste hier doch auch...
Schnell machte ich eine geografische Ortsbestimmung — ich stutzte, musste mich verrechnet haben — machte sie noch einmal — ja, sie stimmte bis auf die Zehntelsekunde — und dann hätte sich doch gerade hier auf dieser Stelle...
Ich beugte mich über den Bootsrand — und das Wasser war klar wie Kristall — aber ich brauchte gar nicht so tief zu sehen — da sah ich es wie einen ungeheuren Trümmerhaufen liegen, wie eine zusammengestürzte Pyramide...
Und da lehnte ich mich zurück und schlug stöhnend die Hände vor die Augen.
»Der Vogelberg ist zusammengestürzt!!«
So war es, es änderte sich nichts. Hier hatte er sich erhoben, hier lag er jetzt als ungeheurer Trümmerhaufen, die letzten Steine kaum zehn Meter unter der Wasseroberfläche.
Mein Schreck, meine Fassungslosigkeit lässt sich denken. Ich weinte wie ein Kind. Nein, noch ganz anders.
Aber ebenso schnell erholte ich mich wieder.
»Nein, sie haben sich noch rechtzeitig gerettet!!«, rief ich aus innerster Überzeugung.
Woher ich das so bestimmt wusste? Weil ich der festen Überzeugung war, dass Tischkoff mit seinen Begleitern schon längst den Vogelberg wieder erreicht hatte und — es war eben mein Glaube, mein Aberglaube an die schier übernatürlichen Fähigkeiten dieses rätselhaften Mannes, was mir jetzt wieder Hoffnung einflößte.
»Sie leben noch, Tischkoff hat sie alle noch rechtzeitig in Sicherheit gebracht!«
Ja, aber was nun? Sie hatten kein Zeichen hinterlassen, falls dies möglich gewesen wäre, keine Möwe war zu sehen, falls ich hoffen durfte, dass man mir durch einen von Karlemanns geflügelten Hunden eine Nachricht hätte zukommen lassen wollen.
Ja, Karlemann! Auch der war in Betracht zu ziehen. Denn hätte der das Indianerterritorium so bald schon wieder verlassen sollen?
»Wir müssen zunächst hier warten«, entschied ich, und Hans stimmte mir bei.
Zunächst fertigten wir aus einem leeren Wasserfässchen eine Boje, indem ein mehr als zehn Meter langes Seil daran befestigt wurde, unten ein kleiner Anker daran, von denen wir zwei im Boote hatten, dieser wurde versenkt, und auf die Oberseite des schwimmenden Fasses schrieb ich mit Teer, den wir wegen eines eventuellen Dichtmachens mitgenommen hatten, in großen Buchstaben: ›Fanafute R. J.‹ So, das genügte vollkommen.
»Wir wollen uns nach Fanafute begeben?«, fragte Hans.
»Ja, denn hier still liegen zu bleiben, das hat doch keinen Zweck. Ich will mich auf der Insel nur einmal umsehen, und es könnte doch sein, dass wir dabei diese Stelle für längere Zeit außer Sicht bekommen.«
»Und wenn inzwischen nun ein anderes Schiff hierher kommt, ein englisches Kriegsschiff, und es schließt aus dieser Inschrift dasselbe, was unsere Freunde schließen sollen?«
Hans hatte recht, aber... das lag alles in Gottes Hand.
Ich betone ausdrücklich, dass ich dabei an ›Gottes Hand‹ dachte. Seit einiger Zeit dachte ich recht oft über meine letzten Schicksale nach, wie alles doch so wunderbar gekommen war, und ich war nahe daran, ein recht gläubiger Christ zu werden.
So segelten wir nach Fanafute. O, das sah schrecklich aus! Die dem feuerspeienden Berge entquellende Lava hatte sich nach allen Seiten hin ergossen, nicht ständig, sondern sie hatte nur häufig ihre Richtung geändert, und was sie an Bäumen und anderem Pflanzenwuchse nicht erreicht, das war dennoch durch die ausströmende Hitze zugrunde gegangen. Vielleicht mochte ja zur Zeit der Katastrophe auch der ganze Boden glühend heiß gewesen sein. Hier und da reckte sich noch ein gespenstischer Baumstumpf empor, sonst nichts weiter, und von einem grünen Blatte oder Halme keine Spur mehr, auch die Gebäude waren sämtlich in Trümmer gelegt.
Nein, hier war nichts mehr zu wollen. Alles ein spitzes Lavafeld, alles Schutt und Asche.
Ob auch der Gelehrte, der Meteorologe, der oben auf dem Berge gehaust, und die Insel damals nicht verlassen hatte, seinen Tod gefunden oder sich noch rechtzeitig hatte retten können? Ich wusste es nicht.
Gegenwärtig ergoss sich die Lava nach Westen. Ich war noch niemals einem feuerspeienden Berge so nahe gewesen, nur deshalb suchte ich den glühenden, zähflüssigen Strom auf. Es war schaurigschön, besonders wie er sich zischend ins Meer ergoss, aber Derartiges ist schon so oft von gewandterer Feder beschrieben worden, dass ich es hier nicht tun will.
Auch den Berg selbst bestiegen wir von der anderen Seite, kamen durch Drehen des Windes in einen Aschenregen, der uns die Haut verbrannte — und dann war es hauptsächlich der Durst, der uns bald zur Rückkehr zwang.
Ja, Wasser, das war die große Frage, wenn wir länger hier bleiben wollten. Mit Proviant und Wasser war unser Boot noch immer für acht Tage ausgerüstet; den Proviant konnten wir einteilen, wahrscheinlich uns auch neuen verschaffen, besonders wenn wir an Fische dachten — aber Wasser, Wasser!
Wo hier auf Fanafute die Quelle war, wusste ich gar nicht, und ich war sicher, dass sie ausgetrocknet war.
Wir besuchten die benachbarten Inseln. Hier überall genau dasselbe. Die Burgen zusammengestürzt, die Vegetation verbrannt, obgleich hier kein Feuer aus der Erde gebrochen war. So hatte es eben im Innern seine Wirkung getan.
Auf einer dieser Inseln fanden wir eine Stelle, wo noch ganz genau zu erkennen war, dass hier einst eine Quelle gewesen. Vollständig ausgetrocknet!
»Dann, Hans, dürfen wir auch nicht mehr lange zögern.«
Der Tag war unterdessen vergangen, während der ganzen Nacht spähte ich nach einem Feuer aus, immer auf die ›Sturmbraut‹ hoffend — eine Hoffnung, die fast an Wahnsinn grenzte — und am anderen Morgen waren wir bereit, diese Gegend, wo sich ein gutes Stück meines Lebens abgespielt hatte, wieder zu verlassen.
Vorher aber vernichtete ich wieder meine Boje.
Glaubte ich so fest an meinen Kommodore, dass er noch rechtzeitig imstande gewesen war, alle meine Freunde und Freundinnen von der Vernichtung zu retten, dann musste ich auch daran glauben, dass er imstande war, mich auch ohne solch ein hinterlassenes Zeichen, das mir sehr gefährlich werden konnte, wiederzufinden.
»Wohin nun, Hans?«
»Ja, Kapitän, wenn Ihr's nicht wisst!«, war die niedergeschlagene Antwort.
»Ich möchte deine Ansicht hören.«
»Ich habe schon immer an die Fucusinsel gedacht.«
Ja, ich auch. Wenn die ›Sturmbraut‹ oder sonst ein Fahrzeug mit allen Bewohnern des Vogelberges der Katastrophe entgangen war, so hatten sie, wenn sie ein anderes Asyl suchen wollten, sich doch unbedingt nach der Fucusinsel begeben.
Aber das war ein gar weiter Weg, in diesem gebrechlichen Boote um Kap Hoorn herum. Und doch, es blieb uns nichts anderes übrig, wir mussten von Insel zu Insel zu kommen suchen, dann an der Küste von Südamerika entlang — und nachdem wir diesen Plan gefasst, blieb alles andere Gott überlassen.
Wir segelten und ruderten nach Süden. Ach, was haben wir während dreier Wochen alles durchgemacht! Wenn ich diese drei Wochen beschreiben wollte, so würde es allein ein dickes Buch wie dieses hier.
Wir passierten die verschiedenen InselArchipele. Hier war gar nichts von dem Erdbeben zu bemerken, die Kokospalmen nickten im Winde, aber ständig hatten wir Kämpfe mit Insulanern zu bestehen. Ob diese nun Menschenfresser waren oder nicht — es verging kein Tag, ohne dass wir mehrmals von Eingeborenen in ihren leichten Booten angegriffen wurden, weil sie es auf unsere Jolle, auf unsere Ausrüstung abgesehen hatten, und ehe wir uns wieder mit Trinkwasser und mit Kokosnüssen versehen hatten, unsere einzige Nahrung während dieser langen Zeit, mussten stets erst einige Eingeborene ihr Leben lassen. An einer Quelle wären wir bald gefangen worden, und wer weiß, wie es uns da ergangen wäre; denn gerade diese Wilden schienen nach den Abzeichen, die sie trugen, Menschenfresser zu sein.
Ich weiß nicht, wie viele Menschen ich in diesen drei Wochen vom Leben zum Tode befördert habe, nur wegen eines Fässchens Wasser, wegen einiger elender Kokosnüsse. Ein Glück nur, dass wir so reichlich mit Patronen versehen waren, dass diese Insulaner noch solch ungeheueren Respekt vor Feuergewehren hatten, und schließlich auch, dass die armselige Vegetation dieser Inseln so gar kein Versteck bietet, sodass wir niemals beim Landen und beim Wasserholen wie beim Auflesen der Kokosnüsse beschlichen werden konnten.
Und dann das große Glück nicht zu vergessen, dass der Himmel uns immer ein freundliches Gesicht zeigte und immer guten Wind schickte, niemals Sturm, und als wir doch einmal dem Verschmachtungstode nahe waren, da füllte er unser als Trog ausgespanntes Segel mit Regenwasser.
Dann mussten wir scharf nach Osten ausbiegen, und das letzte Eiland, das wir jetzt noch bis nach der Küste Amerikas hatten, war die Osterinsel. Die Osterinsel! Was würden wir dort finden? Sollten die Flüchtlinge nicht...
Doch ich wollte mich keinen Hoffnungen hingeben.
So kamen wieder sieben Tage auf offener See, während wir nur mit fünf gerechnet hatten; widrige Winde, ein Wasserfässchen lief aus, sodass wir die Rationen einteilen mussten, und als ich die untergehende Sonne dieses siebenten Tages aufnahm, standen wir wieder einmal dem Verschmachtungstode gegenüber, davon, dass wir auch schon Hunger litten, gar nicht zu sprechen.
Aber die Berechnung hatte auch ergeben, dass wir uns nur zwanzig Seemeilen von der Osterinsel entfernt befanden. Dafür drohte uns freilich ein Sturm, der aber wiederum glücklicherweise aus Westen kommen wollte. Bei einem nur einigermaßen starken Ostwind wären wir einfach rettungslos verloren gewesen, ebenso bei Windstille, denn wir befanden uns in einer aus Osten kommenden Meeresströmung, der wir auch bei aller Kraft nicht entgegenrudern konnten.
Und der Sturm brach los. Und nun Gott befohlen!
Hei, das war eine Nacht!
Ich kann nicht umhin, hier eine Betrachtung einzuschieben. Hat der literarisch bewanderte Leser schon bemerkt, wie jeder wahre, echte Abenteurer, der sich einen historischen Namen gemacht hat, wie ein Pizarro, ein Cortez, Kerls, die sich doch sonst vor keinem Teufel fürchteten, von Menschen gar nicht zu sprechen, immer aufs Geratewohl rin in die Gefahren — dass diese Abenteurer comme il faut zugleich auch immer tief religiöse Menschen gewesen, anscheinend allerdings nur äußerlich, eben als Katholiken früherer Zeiten, die niemals vergaßen, mit fromm gebeugten Knien das Abendmahl zu nehmen, ehe sie sich in die ihnen unbekannte Gefahr stürzten, die auch hinterher stets zur Kirche gingen, um Gott für die glückliche Rettung zu danken? Und dabei dennoch blutdürstige Wüteriche und Henker allererster Klasse!
Ist dieser Widerspruch im Charakter solcher Abenteurer noch niemandem aufgefallen? Und man wird auch bemerken, dass in wirklich guten Jugendschriften, wie es doch solche genug gibt, dieser eigenartige Charakterzug bei solchen Abenteurern stets betont wird, bei amerikanischen Goldsuchern, bei Helden der Wildnis, bei Seeräubern und dergleichen Männern. Die haben immer das Kreuz bei sich, welches sie vertrauensvoll küssen, vor, im und nach dem mörderischen Kampfe. Kurz und gut, wahre Teufel in Menschengestalt, und dabei bigott im höchsten Grade!
Schlechte Jugendschriftsteller, die nur hinter dem Ofen ihre Erzählungen zusammenphantasieren, denken freilich nicht an so etwas, die können ja so etwas gar nicht begreifen.
Und doch ist es so. Auch mit dem Protestantismus ist es so geblieben. Sogar der um sich greifende Atheismus hat daran nichts geändert. Glaubt man nicht mehr an Gott, so glaubt man ganz einfach an etwas anderes, an einen Götzen, an einen Fetisch, den man sich als Talisman um den Hals gehängt hat, an seinen guten Stern oder an so etwas.
Als einziges Beispiel sei nur der große Napoleon erwähnt, doch ein Abenteurer comme il faut. Ein ausgesprochener Atheist, war der von Aberglauben durch und durch verseucht. Der Donnerstag war sein Unglückstag, da wagte er kein Unternehmen — begegnete ihm früh ein altes Weib, so war der ganze Tag verpfuscht, aber war es ein Kind, womöglich ein schöner Knabe, dann riskierte Napoleon alles — und siegte stets. Außerdem soll er sich noch viel mit Talismanen herumgeplagt haben, so wie heutzutage fast alle Künstler, Schauspieler und dergleichen, welche öffentlich auftreten, die Erfolg haben müssen, und ich meine fast, dass so wohl jeder Mensch an seinen Talisman, an seinen guten Stern, an seinen Götzen glaubt — wenn er nicht den einzigen Gott vorzieht.
Nun, auch ich traute meinem guten Stern, der mich bisher immer so wundersam geführt, mir immer aus allen Nöten geholfen hatte. Oder ich will diesen meinen guten Stern doch gleich den lieben Gott nennen. Deshalb braucht man ja nicht immer auf den Knien zu rutschen, in gewissem Sinne nicht einmal ein frommer Mensch zu sein, der ich auch wirklich nie gewesen bin, vielmehr stets ein hartgesottener Sünder, der aber auch stets die Sünde von anderen verzeihen konnte.
Hei, das war eine Nacht!
»Na, da adjüs, Kapitän!«, brüllte mir Hans wohl ein Dutzend Mal zu.
Aber »Mut, Mut, noch haben wir Planken unter uns!«, entgegnete ich ihm dann stets, ebenso brüllend.
Und da ein Krach, ein Ruck, ein Schlag gegen die Stirn, und ich war tot.
Doch nein, ich war nur bewusstlos gewesen. Zuerst fühlte ich, wie man meine Schläfen mit etwas Feuchtem rieb, und dann schlug ich die Augen auf.
Es war Hans, der sich mit mir beschäftigte. Den beachtete ich zunächst nicht, sondern schaute mich mit verwunderten Augen um.
Lachender Sonnenschein, eine tobende See, und ich selbst in einiger Entfernung auf grünem Rasen gebettet.
»Du, Hans, wie kommen wir denn hierher?«
»Wir sind gescheitert.«
»Wo ist das Boot?«
»Spurlos verschwunden.«
»Hast du mich hierher getragen?«
»Nein. Ich verlor das Bewusstsein, mir war's zuletzt nur, als ob ich durch die Luft sauste, und als ich vorhin erwachte, lag ich dort, drei Schritte von Euch entfernt. Kapitän, an uns ist ein Wunder geschehen.«
Ich hatte es ja gesagt: man soll nur seinem Stern vertrauen, der verrichtet manches, was sich sonst kein Mensch erklären kann. Oder wenn man durchaus eine natürliche Erklärung haben will, so waren wir eben kameradschaftlich nebeneinander gegen dreißig Meter durch die Luft gesaust. Schließlich konnte uns auch eine Woge bis hierher getragen haben, obgleich nichts davon zu merken war, dass hier Wasser gestanden hatte. Aber solch eine Woge, die einen abschleudert, kann ja wie eine Kanone wirken.
»Habt Ihr etwas gebrochen, Kapitän?«
»Nein, ich nicht. Nur der Kopf tut mir ein bisschen weh. Und du, Hans?«
»Ich bin ebenfalls heil davongekommen. Und nun seht einmal dorthin, Kapitän, was für ein kurioses Ding das ist.«
Ich hatte mich schon erhoben, um meine Knochen zu befühlen, drehte mich um — ja, ich staunte auch nicht schlecht.
Da stand ein großer Käfig, aus Eisenstangen zusammengesetzt, darin außer einer Art von Maschine eine Kiste, und das Ganze auf vier Rädern ruhend.
»Wir sind auf der Osterinsel, Lord Seymour ist schon hier gewesen, hat hier schon seine Erfindung probiert, den fahrbaren Gitterwagen!«
»Das habe ich mir auch schon gedacht«, entgegnete Hans, dem ich während der langen Fahrt gar viel davon erzählt hatte.
Wir begaben uns hin. Der Käfig war drei Meter lang, zwei Meter breit und ebenso hoch, die sehr breiten Räder, ebenfalls aus Eisen, zeigten an ihrem äußeren Umfange kurze Stacheln. Übrigens ruhte der Käfig nicht auf diesen Rädern, sondern er stand dazwischen fest auf dem Boden.
Die Maschinerie kann ich nicht beschreiben, so einfach sie auch war. Wohl genau dieselbe, wie jeder Fahrstuhl sie hat, in dem sich Gelähmte durch Hin- und Herbewegen von Hebeln fortschieben können, und vier solcher Hebel, mit Handgriffen versehen, waren auch im Innern des Wagens zu sehen.
Aber er war nicht mehr zu benutzen, der Käfig war von seinen Achsen herabgebrochen, stand, wie schon gesagt, fest auf dem Boden, und deshalb mochte Lord Seymour ihn auch hier im Stiche gelassen haben.
Immerhin, dieser Käfig musste benutzt worden, Lord Seymour hier gewesen sein — — doch jetzt erwog ich dies alles nicht, jetzt konzentrierte ich meine ganze Aufmerksamkeit auf ein Fässchen, welches sich nebst vielen anderen Gegenständen im Innern des Käfigs befand, erwägend, ob da nicht Wasser drin sein könnte, denn ich sagte bereits, dass wir schon am gestrigen Tage Durst gelitten hatten, und durch meine Bewusstlosigkeit war dieser nicht gestillt worden. Der Hunger kam erst in zweiter Linie.
Eine Gittertür war vorhanden, auch ein Schloss, aber wie ich auch daran herumtastete, sie ging nicht zu öffnen, obgleich das Schloss nicht eigentlich verschließbar zu sein schien, da musste nur irgendein Mechanismus wirken.
»Kapitän, Kapitän!!«, schrie da Hans in einem Tone, der mich schnell seinen Blicken folgen ließ.
Himmelherrgott, da kommt ein buntgestreifter Königstiger angekrochen, ein mächtiges Vieh, direkt auf uns zu, nur dreißig Schritte von uns entfernt, schon zum Sprunge geduckt, will nur die Entfernung noch etwas durch Kriechen verkürzen.
Und wir kein Gewehr und gar nichts! Auch kein Baum in der Nähe!
»Hinter den Käfig, hinter den Käfig!«, schrie Hans.
Der dachte wohl nicht daran, dass dann der Tiger nur auf den Käfig zu springen brauchte, dann hatte er uns erst recht!
Nein, ich sah in dieser Tür unsere einzige Rettung, und ich schüttelte nicht schlecht an den Stäben, dass ich die ganze Last von einigen Zentnern fast aushob, und dann fingerte ich wieder an dem Schlosse herum.
»Kapitän, Kapitän, hinter den Käfig, er will springen!!«
Ein den Sprung ankündigendes Gebrüll — und da plötzlich wich die Gittertür unter meinem Drucke zurück — wir beide hineingestürzt, die Tür hinter uns zugeschmettert — — und fast in demselben Augenblick prallte auch der Tiger dagegen, dass ich dachte, der ganze Käfig müsste umkippen — und dann stand das riesenhafte Tier aufgerichtet am Gitter und häkelte mit der furchtbaren Pranke hindurch — und ich sofort mein Schiffsmesser heraus und ihm eins über die Pfote gegeben, dass er laut aufheulend einen Sprung rückwärts machte, dann aber nicht weiter fliehend, sondern sich hinlegend und die blutige Pranke leckend.
Aufatmend blickten wir beide uns an. Das war eine Rettung im letzten Moment gewesen. Und dann wandte ich mich, erst jetzt meinen furchtbaren Durst bemerkend, wieder dem Fässchen zu, so gegen fünfzig Liter fassend, welches auf einer Kiste lag, von zwei Hölzern festgehalten.
Im unteren Spundloch steckte ein Messinghahn. Um ja keinen Tropfen verloren gehen zu lassen, falls noch etwas Wasser darin war, nahm ich eins der beiden am Boden stehenden Gläser, richtige Bierseidel, hielt es unter, drehte vorsichtig den Hahn auf.
O weh, nichts weiter als eine gelbe Brühe lief heraus, welche auch noch dazu stark schäumte. Es war der letzte Rest Wasser, welcher schon längst vollkommen verdorben war, die Farbe des Eichenholzes angenommen hatte!
So dachte ich!
»Das sieht doch gerade aus, als ob es richtiges Bier wäre«, meinte hingegen Hans.
Hm. Gleich nach dem Einschenken wurde die gelbe, erst etwas trübe Sauce ganz klar, oben blieb eine Schaumkrone stehen.
Ich führte das volle Glas vorsichtig an den Mund, trank vorsichtig — trank weniger vorsichtig, das ganze Glas aus, schenkte noch einmal ein, trank das zweite Glas mit einem Zuge aus, ein drittes, ein viertes, und als ich mir den Schaum vom Mund gewischt hatte, sagte ich mit einem tiefen Seufzer:
»Das ist Bayrisch.«
Anderswo in Deutschland nennt man es Lagerbier, wir Norddeutschen sagen Bayrisch, wenn es Bayern auch nie gesehen hat.
»Ist denn das noch gut?!«, staunte Hans.
Ja, auch ich hatte Grund zum Staunen, vorläufig aber keine Zeit dazu.
Wir beide hielten hier drin im Raubtierkäfig einen solennen Kommers ab, während der Tiger draußen noch immer sein Blut ableckte.
Als ich aber noch einige Glas getrunken hatte, war mein Durst insoweit gestillt, dass ich erst einmal durch das obere Spundloch untersuchte, wie viel Bier überhaupt drin war, und da konstatierte ich, dass das Fass überhaupt nur zur Hälfte gefüllt gewesen sein konnte.
»Dann kann Lord Seymour auch erst vor ganz Kurzem die Insel verlassen haben, wenn er sich nicht noch hier befindet!«, sagten wir einstimmig.
Weshalb das so sein musste, liegt wohl klar auf der Hand. Das Bier war wohl etwas matt, aber sonst noch tadellos erhalten. Nun aber hält sich doch kein Fass Bier längere Zeit in solch einem warmen Klima, wie es hier herrscht, im Freien liegend, und das Bier ist schon am zweiten Tage völlig verdorben, wenn das Fass nun gar nur halb voll ist.
Woher Lord Seymour, mit dem wir wohl bloß rechnen konnten, das Fass Bier hatte, war Nebensache. Die Hauptsache war, dass er sich erst gestern hier in diesem Käfig befunden hatte, um eine Bierreise mit Jagdvergnügen zu machen, erst gestern konnte er die Insel verlassen haben — wenn er sich nicht noch darauf befand, und dann kamen noch jedenfalls alle unsere Freunde und Freundinnen vom Vogelberge in Betracht.
Auch aus anderen Kennzeichen konnten wir dasselbe schließen. Am Boden lagen ein Zigarren- und einige Zigarettenstummel. Lord Seymour rauchte niemals solche Papierzigärrchen, von denen er verächtlich sprach, hingegen kam da Monsieur Chevalier in Betracht. Und man kann einem Zigarrenstummel doch so ziemlich ansehen, ob er erst einen Tag oder schon viele Wochen alt ist, zumal wenn er im Freien liegt. Der hier war noch nicht älter als einen Tag.
Und dann war auch noch die Spur vorhanden, welche die Räder im Grase hinterlassen, als sich der Wagen bis hierher bewegt hatte, um hier zusammenzubrechen. Diese Spur war eine ganze neue, sonst hätte sich das Gras schon ganz anders aufgerichtet.
Aber vor allem das Bier, das Bier!! Ich hatte immer meinem guten Stern vertraut — jetzt flüsterte mir dieses Bier noch eine ganz andere Hoffnung als feste Gewissheit zu! Und zum Danke dafür wurde es vertilgt.
»He, Kapitän, eine richtige Speisekammer!«, rief da Hans.
Er meinte Speiseschrank. Er hatte die Kiste geöffnet, welche als Unterlage des Fasses diente, keine rohe Kiste, sondern ganz hübsch angefertigt, die vordere Seitenwand als Tür — Schinken, verschiedene Wurstarten, englische Käse, hartgekochte Eier, Sardinen, Anchovis und Gott weiß was — aber nichts, was ich nicht auch auf der ›Sturmbraut‹ gehabt hätte. Und diese in Silberpapier gewickelte Salamiwurst — na, das war doch meine eigene, die erkannte ich doch unter Tausenden heraus!
Und dann in einem unteren Fache nicht nur Hartbrot, feiner Zwieback, sondern sogar Frischbrot, und zwar wirklich noch frisch!
»Der hat das erst gestern zurückgelassen, wenn er und sie alle sich nicht noch hier befinden!!«
Doch zu dieser Erkenntnis waren wir ja bereits früher gelangt. Jetzt sahen wir all diese schönen Dinge mit anderen Augen, zogen sie zu uns Gemüte, und dann konnten wir wieder getrost in die Zukunft blicken, freilich wiederum mit etwas anderen Augen als mit normalen, denn wir hatten das ganze Fass geleert, und auf nüchternem Magen war auch mir das Bier zu Kopfe gestiegen, wenn auch von Bezechtheit keine Rede war. Wir befanden uns eben in rosigster Stimmung.
Ja, was nun? Darüber hatten wir nicht zu bestimmen. Der von mir gekennzeichnete Tiger, jedenfalls ein Männchen, bekam Gesellschaft. Ein Tigerweibchen kam angesprungen, kümmerte sich nicht viel um den verwundeten Herrn Gemahl, sondern ging unter einem donnernden Gebrüll gleich auf uns los, oder vielmehr auf die Gitterstäbe, häkelte durch sie nach uns, wurde dann auch durch den anderen Tiger unterstützt, dessen Wunde an sich geringfügig war.
Erreichen konnten sie uns nicht, wir brauchten gar nicht direkt in der Mitte des Käfigs zu stehen. Aber diese Hakelei wollten wir uns nicht lange gefallen lassen.
Inzwischen hatten wir weiter die verschiedenen Kisten untersucht, die für gewöhnlich Sitzplätze abgaben, und unter anderen nützlichen Gegenständen auch zwei ausgezeichnete Doppelbüchsen gefunden und hierzu außer einem angerissenen Paket Patronen Kugel wie Schrot, noch drei weitere mit je hundert Stück Patronen.
»Das sieht doch bald aus, als hätten die den Käfig recht eilig zwangsweise verlassen müssen, dass sie gar nichts mitgenommen haben«, meinte ich, während ich mein Gewehr lud.
Es war kein Kunstschuss, als ich den einen Tiger ins Auge traf, ich hatte ihm die Mündung fast direkt daransetzen können. Ohne jedes Röcheln brach er tot zusammen, während der andere, der etwas weiter abseits zusammengekauert gesessen hatte, es nochmals mit einem Sprunge probierte, dass der Käfig auf dieser Seite ganz bedeutend gehoben wurde, dann freilich gleich in seine alte Lage zurückfiel.
Hierauf zog es das Weibchen doch vor, das Weite zu suchen, und ich hinderte Hans daran, ihm eine Kugel nachzuschicken.
Mich hatte das Wackeln des Käfigs infolge des Sprunges nachdenklich gemacht. Hätte er noch auf Rädern gestanden, wäre er ohne Zweifel umgekippt.
Sollte Lord Seymour, der hier tatsächlich etwas Geniales geschaffen hatte, wenn ich auch die Beweglichkeit des Fuhrwerks nicht mehr prüfen konnte, nicht an so etwas gedacht haben?
Und dann sah auch das ganze Rädergestell so merkwürdig aus, so wohlerhalten, von einem Bruche war gar nichts zu bemerken.
Außer den vier Hebeln, die zum ruderartigen Fortbewegen dienten, zum Drehen der Räder, war noch ein anderer Hebel vorhanden, viel stärker als jene, und schon von einer Ahnung erfüllt, versuchte ich ihn nach den Seiten zu legen, presste stärker — und wahrhaftig, wie er herunterging, so hob sich der ganze Käfig, bis er nicht höher ging, und da ruhte er, da man den Hebel einstellen konnte, tatsächlich auf den Rädern.
»Heureka, ich hab's gefunden! Wenn sonst noch alles intakt ist, dann können wir ja losgondeln.«
Und es war alles noch intakt! Schon meine Kraft, an dem einen Paar Handhebeln ausgeübt, genügte vollkommen, um die Räder in Drehung zu versetzen, und als nun auch noch Hans die seine einsetzte, brachten wir den Käfigwagen trotz seiner Schwere mit Leichtigkeit vorwärts.
An den spielenden Mechanismus eines modernen Fahrrades freilich darf man nicht im Entferntesten denken. Aber jedenfalls erforderte es keine größere Kraftanstrengung, als ein mittleres Seeboot durch Rudern vorwärts zu bringen, und ich konnte schon jetzt berechnen, dass dieser Gitterwagen auch eine ziemliche Steigung nahm.
Zunächst probierten wir noch einmal den Mechanismus und fanden bald heraus, wie der Wagen sich durch Umlegen jenes Hebels nach der anderen Seite wieder auf den Boden setzte, fanden eine Bremse und anderes, was zur Sicherheit während der Fahrt diente.
Fürwahr, Lord Seymour hatte damals nicht mit seiner Erfindergabe renommiert, und die Zeit meiner Abwesenheit hatte er ebenfalls auszunutzen verstanden.
Also gondelten wir los. Es machte uns faktisch ein außerordentliches Vergnügen, so auf dem Trockenen herumzurudern. Und das würden doch nicht die beiden einzigen Tiger gewesen sein, die von der ganzen Menagerie übrig geblieben waren! Was wir da also alles noch erblicken und erleben würden, wenn wir nur erst einmal die Nähe der Küste verlassen hatten!
Dabei hatten wir auch unsere Zukunft im Auge. Unser nächstes musste sein, Wasser aufzusuchen.
Ich habe schon früher erwähnt, dass auf der Osterinsel wohl sehr viele Quellen dem Gestein entspringen, aber kein einziger Bach erreicht das Meer, sie verschwinden schon vorher in den Spalten. Doch ich konnte mich noch einer Stelle entsinnen, wo eine Quelle ganz unten am Fuße einer Felswand herausgekommen war, der Boden dort war eben gewesen, und ich wusste sie wiederzufinden.
Übrigens schien auch der Wagen zuletzt von dort gekommen zu sein, die Spuren liefen nach jener Richtung hin, wurden dann freilich von vielen anderen Radspuren gekreuzt, ein Zeichen, wie fleißig Lord Seymour und sein oder seine Begleiter hier schon mit dem Käfigwagen herumgekreuzt waren.
Wir hatten noch keine dreihundert Meter zurückgelegt, als ein röchelndes, abgestoßenes Gebrüll ertönte, und gar nicht weit vor uns erhob sich aus dem Grase ein mächtiger Löwe und zog sich vor uns grollend zurück, verschwand in einem Wäldchen, welches noch aus Blodwens Zeiten stammte, obgleich sonst auf dieser Seite nichts von Häusern und anderen Werken von Menschenhand zu sehen war.
Der Löwe hatte recht wohlgenährt ausgesehen, ebenso wie die beiden Tiger. Woher bezogen sie ihr Futter? Wie hatte sich die Geschichte nun entwickelt? Noch hatten wir nichts von Rindern, Schweinen und dergleichen erblickt.
»Ein Kaninchenbau!«, rief da Hans.
Ja, überall waren kleine Anhöhen, durch ihre Farbe von dem grünen Grase abstechend, aber oft auch schon wieder überwachsen, sodass man die Einfahrlöcher der harmlosen Nager gar nicht sah, und unserem Wagen boten die kleinen Erhöhungen nicht den geringsten Widerstand.
Da huschten welche — und da sauste ein gelber Streifen durch die Luft — eine Löwin — hatte ein Kaninchen zwischen den Pranken, und dann mit dem Bissen im Maule vor unserem Wagen auf und davon.
Und solche Kaninchenansiedlungen fanden wir im Laufe der Tage allüberall in der Ebene verstreut, es mussten Millionen von Kaninchen sein, aber eben in Kolonien gesondert, und jede Kolonie hatte ihren Tyrannen, einen Löwen, einen Tiger oder ein sonstiges Raubtier, welches Tag und Nacht vor den Löchern auf der Lauer saß, manchmal auch ein sich vertragendes Pärchen, niemals aber zwei männliche oder zwei weibliche, und noch weniger Raubtiere verschiedener Arten zusammen.
Wohl mochte es manchmal zu einem blutigen Kampfe zwischen zwei Rivalen kommen, wie wir es auch einmal beobachteten zwischen einem Panther und einem jungen Löwen, die sich gegenseitig solch ein Jagdgebiet, oder auch Weidegrund zu nennen, streitig machten, aber im Allgemeinen herrschte doch zwischen den großen Raubtieren selbst Frieden, sie hatten eben Nahrung genug, wenn solch ein Kaninchen für ein derartiges Ungeheuer auch nur einen Bissen bedeutete. Dafür waren die Kaninchen massenhaft vorhanden und ohne Mühe zu fangen.
So hatte sich alles ganz anders entwickelt, als jene Sportsmen gemeint, ihre verschiedenen Ansichten durch Wetten vertretend. Sie hatten wohl gar nicht gewusst, dass damals auch Kaninchen ausgesetzt worden waren, wahrscheinlich gleich massenhaft, und für Blodwens ideale Kolonie wäre das eine böse Geschichte geworden, die Karnickel schienen ihre an sich schon ungeheure Fruchtbarkeit in diesem Klima, welches keinen Winter kennt, aber auch keine alles verdorrende Hitze, noch gesteigert zu haben. Denn wenn die wilden Kaninchen nicht in einem strengen Winter massenhaft zugrunde gingen, ebenso bei anhaltender Dürre — das Kaninchen säuft überhaupt gar nicht, die Feuchtigkeit des frischen Pflanzenwuchses genügt ihm — so wären sie ja bald Herren der Erde.
Bären der verschiedensten Art beobachteten wir dann später mehrmals im Gebirge, d. h. von der Ebene aus, uns selbst sollte das Gebirge verschlossen bleiben, und die Bären mochten dort ebenfalls dem Fange von Kaninchen obliegen, welche steile Gelände der Ebene ja noch vorziehen. Von Rindern, Schafen, Schweinen und dergleichen zahmen Tieren oder Hausgeflügel dagegen war absolut nichts mehr zu bemerken, die waren den Raubtieren schon zum Opfer gefallen. Ob jenes Gelehrten trigonometrische Berechnung, wie sich Lord Seymour damals ausgedrückt, wegen der Zeit stimmte, konnten wir nicht beurteilen.
Ich habe vorgegriffen. Unser erstes Ziel war jene Quelle. Wir erreichten sie. Ja, diese leicht zugängliche Tränke war auch für die Raubtiere ein begehrenswertes Ziel geworden, das sah man an den zahllosen Spuren. Aber sie schien nur des Nachts aufgesucht zu werden, wir brauchten keinen vierbeinigen Rivalen zu verscheuchen.
Wie der ingeniöse Erfinder dieses Wagens mit allem gerechnet hatte, zeigte sich darin, dass auch eine Stange vorhanden war, aus mehreren Stöcken zusammensetzt, vorn mit einem kleinen Schöpfeimer, sodass Wasser eingenommen werden konnte, ohne den Käfig verlassen zu müssen.
Nachdem das Fass ausgespült und mit Wasser gefüllt war, galt es für uns die wichtigste Frage zu lösen: Befanden sich unsere Freunde noch hier oder nicht?
Am einfachsten war diese Frage zu lösen, indem wir einmal eine Fahrt längs der Küste rund um die Insel machten. Denn sie konnten doch nur per Schiff gekommen sein, dieses oder Spuren ihrer Abfahrt mussten wir dann erblicken.
Wir traten die Reise rund um die Insel sofort an. Aber auf zwei Tage konnten wir uns gefasst machen. Die Osterinsel hat einen Umfang von mehr als fünf geografischen Meilen, und ganz so schnell wie ein rüstiger Fußgänger kam unser Gefährt denn doch nicht vorwärts, und wenn wir vernünftig waren, mussten wir von vornherein mit verschiedenen Hindernissen und Stockungen rechnen, außerdem war es jetzt schon bald Mittag.
Also wieder nach der Küste, aber nach einer anderen Richtung, und diese entlanggefahren. Sandige Stellen zwangen uns zu großen Umwegen, denn da kam der Wagen nicht vorwärts. Doch herrschte im allgemeinen der feste Boden mit Graswuchs vor.
Hin und wieder eine Kaninchenkolonie, dann aber stets gleich riesig groß, stets beherrscht von irgendeinem Raubtier oder einem Pärchen.
Grollend zogen sie sich stets vor uns zurück. In der Nähe eines Wäldchens verließen wir einmal den Käfig, um Brennholz zu sammeln. Denn auch mit einem kleinen Ofen war der Wagen versehen, sowohl für Spiritus- als für Holz- oder Kohlenfeuerung eingerichtet. Wir wollten uns Tee kochen.
Wir hatten erst einiges Holz aufgelesen, als wir noch rechtzeitig zwischen den Bäumen einen Leoparden anschleichen sahen, in gar nicht so hohem Grase sich so geschickt verbergend, dass wir ihn nur durch einen Zufall entdeckt hatten.
Diesmal flüchteten wir nicht, ich erlegte ihn noch außerhalb des schützenden Käfigs. Aber das sollte uns eine Warnung sein.
Wir bekamen auch noch ein anderes Beispiel zu merken, wie es die Raubtiere dennoch auf uns abgesehen hatten.
Kurz vor dem Hafen, an welchem Blodwen eine ganze Stadt angelegt hatte, mussten wir einen waldähnlichen Park passieren. Als wir noch unser Staunen aussprachen, wie Blodwen oder ihr Sekretär nur solche Eichen und Platanen hatte hierher transportieren können, wie diese Bäume in ihrer Heimat mit allen Wurzeln ausgehoben worden waren, um hier wieder eingesetzt zu werden, vernahm ich einen schweren Fall, der den ganzen Wagen erschüttern machte, und in demselben Augenblick sah ich, wie etwas Schwarzes wie ein Schatten von oben herabschlug und Hans den Südwester, den er trug, vom Kopfe riss.
Es war ein schwarzer SundaPanther, der auf unserem Käfig saß. Er hatte auf einem Baumast gelegen, war auf uns herabgesprungen, und hätte er es nicht auf den viel kleineren Hans abgesehen gehabt, sondern auf mich, der ich mit dem Kopfe fast an die Decke stieß, so hätte ich jetzt mindestens einen zerfleischten Kopf gehabt.
Meine Kugel machte dem Raubritter schnell ein Ende, für uns aber war das wieder eine Warnung, alle größeren Bäume zu meiden.
Dann steuerten wir in die Häuserkolonie ein, welche man schon eine kleine Stadt nennen konnte.
Überall sprosste Gras, und überall empfing uns donnerndes Gebrüll, Fauchen und Zischen — überall hatten sich in den Wohnungen und Speichern Raubtiere einquartiert, wohl am meisten solche, welche Familie hatten, oft sah ich vor Türeingängen junge Löwen, Tiger, Panther und andere Raubtiere spielen, unter sich oder mit lebendigen Kaninchen, welche ihnen die das Spiel überwachende Mutter gebracht hatte, sie im Fangen unterrichtend — reizende Bilder, aber uns begann doch etwas zu grauen.
Zwar nahm die Mutter bei unserer Annäherung gewöhnlich eines der Jungen nach dem anderen ins Maul und verschwand schleunigst in der Tür eines Hauses, oder trieb schon größere durch sanfte Tatzenschläge vor sich her, einmal sah ich durch ein Parterrefenster solch eine kleine Löwenfamilie auf dem Sofa gebettet — aber nicht immer zeigten sich die Eltern so nachgiebig gegen uns.
Ein donnerndes Gebrüll, und wieder war es ein Königstiger, der aus einem Fenster heraus gegen unseren Käfig sauste, und hätten wir uns nicht zufällig dicht an der jenseitigen Häuserwand befunden, so wäre der Wagen umgestürzt, und wie wir ihn dann wieder hätten aufrichten sollen, wobei wir ihn doch verlassen mussten, das war in dieser Nachbarschaft ein Problem, dessen Lösung ich mir lieber gar nicht ausmalen wollte.
So machten wir schleunigst, dass wir dieses Raubnest hinter uns bekamen.
Im Hafen hatte kein Schiff gelegen, und jetzt bezweifelte auch ich, die ›Sturmbraut‹ noch wo anders zu erblicken.
Wir setzten zwar unsere Reise längs der Küste fort, hatten jetzt aber auch anderes zu beraten.
Wir hungrigen Gäste hatten den Speiseschrank bald leer gemacht, und nun hieß es, wie weitere Nahrung bekommen.
Hans hielt das zuerst für sehr einfach — Karnickel schießen — ich aber hatte darin doch schon so viel Erfahrung, um zu wissen, wie schwer Kaninchen zu schießen sind, und Hans kam nach einigen Fehlschüssen, die er auf hin und wieder vorbeihuschende Tiere abgegeben, zu derselben Ansicht. Da kann man fast ebenso gut auf den Blitz schießen. Es waren ja nur immer solche Tiere, welche, von uns aufgescheucht, nach ihren Löchern flohen, ein sitzendes bekamen wir niemals zu sehen, und als es mir doch einmal glückte, eines zu erlegen, hatte auch schon im Nu ein versteckt gelegener Jaguar es erwischt und war mit einem Sprunge verschwunden.
Nun, wir fanden doch noch ein ergiebiges Jagdgebiet, ehe wir unsere Zähne an dem völlig ungenießbaren Raubtierfleisch probieren mussten, welches selbst vom gefräßigsten Neger verschmäht wird.
Ziemlich nahe dem Strande erhob sich ein steiler Hügel, auf dem wir es von Kaninchen wimmeln sahen. Ich erkannte gleich, dass dies für Jagdzwecke ein weit günstigeres Gebiet war, als die Ebene. Auf der schiefen Fläche konnte man die Tiere immer in dem Grase umherhuschen sehen; Raubgesindel konnte sich aus diesem Grunde nicht so leicht anschleichen, das Gras war hier auch nur sehr kurz, dafür aber sehr frisch, saftig, und infolge des Fehlens der Raubtiere wiederum waren die Kaninchen gar nicht scheu, ließen uns ziemlich weit herankommen.
Ein Schrotschuss von mir ließ zwei von ihnen den Hügel herabrollen und unten liegen bleiben. Da freilich bemerkten wir, dass auch diese Kolonie ihren Herrn und Gebieter hatte. Sofort kam ein Löwe hervor, der einmal recht mager aussah, ein Zeichen, wie schwer ihm der Fang wurde, aber noch ehe er die kleine Beute im Maule hatte, blieb auch er liegen, von meiner Kugel durch die Schläfe geschossen.
Eine Löwin schien es hier nicht zu geben, jetzt waren wir Gebieter über diesen Weidegrund des Fleisches, und in kurzer Zeit hatte ich noch fünf weitere Kaninchen erlegt, die wir uns abholten.
Übrigens genügte ein einziges dieser gemästeten Karnickel vollkommen, um selbst einen Magen wie den meinen für einen halben Tag zu befriedigen, und der Erfolg der Jägerei schmälerte sich auch nicht, die Tierchen wurden nicht scheuer, oder sie mussten eben, vom Hunger geplagt, dem Futter nachgehen, und falls sie dies unsertwegen dann später nur während der Nacht tun würden, so hatten wir vorläufig Mondschein.
Nur ein Unangenehmes hatte dieses Jagdgebiet. Die einzige Stelle, wo wir Wasser schöpfen konnten, lag gerade auf der anderen Seite der Insel, bis dahin hatten wir gute zwei Stunden zu fuhrwerken.
Zunächst beendeten wir unsere Rundreise. Dazwischen hielten wir eine Nachtruhe in dem Käfig ab. Von Ruhe konnte man freilich nicht viel sprechen. Ein ununterbrochenes Konzert von Raubtierstimmen aller Art. Auch wagten wir uns nicht am Boden auszustrecken; denn jetzt wurden wir ganz anders umschlichen, als am Tage, und besonders mein langer Körper hätte an irgendeinem Ende von einer durchhakelnden Pranke erwischt werden können.
So schliefen wir auf den Kisten im Sitzen, in die vorgefundenen Decken gewickelt, außerdem musste einer immer wachen.
Wie würde sich das hier auf dieser Insel nun noch weiter entwickeln? Würde die Osterinsel ständig solch ein Park von Raubtieren bleiben?
Nun, da brauchten nur einmal einige englische Sportsmen davon zu hören, was für ein Jägerparadies es hier in der Südsee gab, vielleicht hatten sie schon davon gehört, waren schon unterwegs — in einigen Wochen würden die hier den letzten Schwanz weggeschossen haben.
Und was sollte denn aus uns werden? Sollte dieser Käfig zu unserem Sarge bestimmt sein?
Ja, wenn nicht irgend etwas anderes kam, das uns mitnahm, so mussten wir wohl auf jene englische Jagdgesellschaft warten, die uns aus diesem Käfig befreite.
Das ward uns am anderen Tage klar, als wir die ganze Insel abgerudert und nichts von der ›Sturmbraut‹, oder von einem sonstigen Schiffe bemerkt hatten.
So, dann konnte ja das Robinsonleben im Raubtierkäfig beginnen.
An jenem Hügel Kaninchen schießen, auf der anderen Seite der Insel uns mit Wasser versehen, unterwegs Holzauflesen — das war unsere Tages- und Hausordnung. Zu sonstigen Spazierfahrten blieb uns da gar nicht mehr so viel Zeit übrig.
So vergingen drei Tage. Mit den beiden vorigen, da wir uns erst ›häuslich‹ eingerichtet hatten, waren es zusammen fünf.
Mir hing das ewige Karnickelfleisch schon ellenlang zum Halse heraus, und wenn mich Hans ansah, so konnte ich darin die stumme Frage lesen: ›Was nun, Käpt'n? Wie soll das noch mit uns werden?‹
Nun, am sechsten Tage sollte eine Änderung eintreten — freilich nicht zu unserem Vorteil.
Wir hatten in der Vollmondnacht einige Rabbits geschossen — zu deutsch Karnickel — oder ganz genau sieben Stück, fuhrwerkten nun nach der Quelle, um dort nicht nur Wasser einzunehmen, sondern um auch einmal unsere Hemden zu waschen, allerdings ohne Seife.
Diese Mohrenwäsche fand innerhalb des Käfigs statt; denn wenn auch kein Raubgesindel zu erblicken war, diesen Ludersch — wie Karlemann gesagt hätte — war nie recht zu trauen, gerade hier boten Felsblöcke gute Verstecke. Als Waschwanne diente vorläufig unser Trinkwasserfass.
Hans rumpelte also unsere Hemden, die dadurch eine Schattierung heller wurden, während ich unterdessen von einem schon abgezogenen Karnickel erst das Fett ablöste, dies in der vorgefundenen Bratpfanne auf dem Ofenfeuer zerließ und dann das kleine Vieh in seinem eigenen Speck briet.
Es war ein Idyll, wir beide, nur noch mit der Hose bekleidet, wie wir so eingesperrt im raubtiersicheren Käfig unseren häuslichen Beschäftigungen nachgingen. Wenn ich mich nur nicht schon so vor dem Karnickelgeruch geekelt hätte — und dann war es auch bitter, dass wir keinen Tabak hatten.
So, unser Frühstück war fertig, wir spülten jeden Bissen mit mehreren Schlucken Wasser hinter — aber nicht etwa, dass Karnickelbraten schlecht schmecke, ganz im Gegenteil, es gleicht fast ganz dem Hühnerfleisch, nur nicht immer und immer muss man es essen — dann spülten wir das Waschfass tüchtig aus, füllten es und traten den Rückweg an.
Unterwegs mussten wir Holz auflesen, unser Vorrat ging zu Ende. Das geschah immer am besten in der Nähe jenes kleinen Waldes, an einer Stelle, wo nur niedrige Bäume standen, dass wir auch von oben herab vor Raubtieren gesichert waren.
Wir hielten an; zur Vorsicht ward der Käfig auf den Boden gelassen, falls doch einmal ein Vieh dagegen sprang, sicherten die Umgegend ab, verließen den Wagen und sammelten trockenes Holz auf.
»Ein Tiger, Käpt'n!«
Richtig, da kam einer angeschlichen! Ein Glück, dass all diese großen Raubtiere niemals in mehreren Sprüngen auf die erspähte Beute zustürzen, sondern die Entfernung muss stets eine solche sein, dass sie jene mit einem einzigen Satze erreichen können, vorher schleichen sie sich nur an, und verfehlen sie einmal das Opfer, dann verfolgen sie es niemals, sondern drehen sofort um, schleichen wieder davon, und zwar in ganz merkwürdiger Weise, mit eingezogenem Schweife, akkurat, als ob sie sich ihrer Ungeschicklichkeit schämten.
Nun, wegen eines anschleichenden Tigers ging ich nicht mehr in den Käfig zurück. Die Gewehre hatten wir stets bei uns, aber ich allein schoss, Hans war nur mein Büchsenhalter, das zweite Gewehr hatte ich aber noch nie gebraucht.
Die vorige Charakterschilderung muss aber doch in etwas eingeschränkt werden. Hat man einen anschleichenden Löwen oder Tiger nur verwundet, dann allerdings springt er mehrmals los, um den Jäger zu erreichen, und dann ist das ja auch etwas ganz anderes, dann will er Rache nehmen.
Wie ich eben anlegte, sah ich dicht hinter dem Tiger ein zweites Exemplar angeschlichen kommen, das Weibchen — nee, unter solchen Verhältnissen zog ich es doch vor, lieber in meine Häuslichkeit zurückzukehren, und so taten wir.
Aber kaum hob ich hinter dem sicheren Gitter das Gewehr — da war kein Luder mehr zu erblicken!
Wir hatten genügend Holz aufgehäuft, mussten nur die paar Schritte hinfahren, um es einnehmen zu können.
Hans drehte den Hebel, der den Käfig wieder auf die Räder hob.
Da sah ich im Grase eine schwarze Physiognomie auftauchen, den Kopf eines SundaPanthers, er zeigte mir etwas die Zähne, und das sah geradeso aus, als ob das Vieh feixte. Ehe ich das Gewehr in Anschlag bringen konnte, war es schon wieder verschwunden.
»Na, Hans, was wird's denn?«
»Ja, Herr Kapitän, der Hebel dreht sich wohl, aber, aber, aber...«
Ach du großer Schreck! Ich sah es schon! Der Hebel ließ sich ganz leicht von einer Seite nach der anderen drehen — eben viel zu leicht, er hob dabei den Käfig nicht.
Ich brauchte auch gar nicht lange nach dem Fehler zu suchen — ein Rad fiel um — da war etwas gebrochen.
Um da etwas reparieren zu können, mussten wir den Wagen verlassen. Die paar Bestien draußen waren schnell durch einige Schüsse verscheucht.
Drei gingen, und sechs kamen. Ich brauchte nur die Tür zu öffnen, so waren sie zur Stelle, und zwar schienen sie jetzt gemeinsame Sache zu machen, ohne Ansehen der Person und Rasse, mit einem Male hielten sich Tiger und Löwen und Panther und Jaguare ganz gemütlich nebeneinander auf, was ich bisher noch gar nicht bemerkt hatte, um uns grimmig anzufletschen.
Die schienen zu wissen, was uns passiert war, und dass Einigkeit stark macht.
Übrigens brauchte ich den Wagen gar nicht erst zu verlassen. Jetzt entdeckte ich die Bruchstelle an der vorderen Achse, und da war einfach nichts zu machen.
»Hans, jetzt sind wir gefangen.«
»Ja, Kapitän, was nun?«
»Einfach warten, bis eine englische Jagdexpedition oder etwas anderes kommt, was uns aus dieser fatalen Lage befreit.«
Ja, wir befanden uns in einer äußerst fatalen Lage. Was half's, dass ich im Laufe zweier Tage gegen ein Dutzend der verschiedensten Raubtiere wegschoss?
Wie gesagt, die schienen genau zu wissen, wie es mit uns stand, und obgleich sie uns doch gar nicht würden verzehren können, da wir ja in dem raubtiersicheren Käfig als Skelette enden würden, so ließen sie doch nicht locker, lungerten Tag und Nacht um uns herum.
Und das Allergemeinste dabei war, dass wir, ohne selbst mitspeisen zu können, zusehen mussten, wie sie ihre von mir erlegten Kameraden auffraßen.
Ich habe schon von zwei Tagen gesprochen. Ja, unsere Kaninchen waren schon längst alle, wir hatten das Fass noch halb voll Wasser, aber das hinderte nicht, dass ich mir alle zwei Stunden meinen Gürtel ein Loch enger schnallen konnte.
So brach der dritte Hungertag an.
»Hans, mit uns ist es aus.«
»Ach, Herr Kapitän!«
»Bis morgen Abend halte ich es nicht mehr aus.«
»Der Mensch soll doch sieben Tage hungern können, zumal, wenn er Wasser hat.«
»Ja, aber ich nicht, darin bin ich kein Mensch.«
Eine längere Pause trat ein. Ich schoss nach einem Panther, schoss aber drei Meter daneben. So zitterten vor Schwäche meine Arme.
»Kapitän!«, fing da Hans wieder an.
»Na?«
»Habt Ihr schon einmal von Schiffbrüchigen gehört?«
»Was soll diese unvollendete Frage?«
»Wenn Schiffbrüchige im offenen Boote nichts mehr zu essen haben, dann — dann — ziehen sie das Los, wer — wer zuerst von den anderen...«
Der brave Kerl kam nicht dazu, mir seinen abgemagerten Leichnam als Futter anzubieten.
Plötzlich erweiterten sich seine Augen, er sprang auf.
»Ein Segel, ein Segel!!«
Ja, da war ein Segel, eigentlich mehrere. Gut eine Seemeile von der Küste entfernt fuhr ein Boot, welches nicht allzu klein sein konnte; denn außer dem Hauptsegel hatte es noch zwei Klüver gesetzt.
Ein Glück, dass wir nicht direkt hinter dem Walde saßen, sonst hätten wir gar nicht die See und damit auch nicht dieses Boot erblicken können.
Aber ob wir uns bemerkbar machen konnten, das war eine andere Frage. Doch Schüsse mussten schon gehört werden.
Wir schossen einzeln, dann auf Kommando gleichzeitig unsere Doppelbüchsen ab, und dann befestigten wir die noch nicht ganz getrockneten Hemden an der Stange des Schöpfeimers und schwenkten sie.
O weh, da verschwand schon das Boot hinter dem Walde, ohne uns ein Gegenzeichen gegeben zu haben.
Aber da kam es auch schon wieder zum Vorschein, der Küste bedeutend näher, es hatte nur gewendet, und als wir wieder die Hemden flattern ließen, schwenkte ein Mann eine Flagge. Das Boot hielt jetzt direkt auf die Küste zu.
Aber waren wir deshalb schon gerettet? Konnte uns denn dieser Mann zu Hilfe kommen? Sollten wir ihn nicht lieber warnen?
Ich übergehe diese Fragen, die wir uns angstvoll stellten, und an solche Fragen, wie denn dieses einsame Boot hierher käme, denn ein Schiff zeigte sich nicht, dachten wir gar nicht — wir beobachteten mit atemloser Spannung.
Jetzt zeigten sich zwei Männer. Es musste ein gedecktes Boot sein, sie standen sehr hoch. Die Segel wurden gerefft, das Boot lief in voller Fahrt auf den Sand, ein Anker fiel, der eine Mann sprang heraus.
Dies geschah in einer Entfernung von etwa zweihundert Metern von uns.
Der Mann schritt schnurstracks, wenn auch gemächlich, auf uns zu. Ein Gewehr hatte er über der Schulter hängen und in der Hand etwas wie einen Stock, oder ich will gleich Hundepeitsche sagen.
»Um Gottes willen«, schrie ich da auf, »ein Tiger, ein Tiger, seht Ihr ihn denn nicht?!«
Ja, schon war ein Tiger unterwegs, schlich durch das Gras auf den Ankommenden zu, war ihm schon ganz nahe.
»Der Mann ist rettungslos ver...«
Da erstarb mir das Wort im Munde. Jetzt hatte ich die kleine, gedrungene Gestalt erkannt.
»Karlemann, Karlemann!!«, jauchzte ich auf.
Kein anderer war es. Aber sah er denn den Tiger gar nicht, dieser Junge, der immer mit Raubtieren...
Da duckte sich der Tiger zum Sprunge, und Karlemann blieb ganz ruhig stehen, hatte etwas in der Hand, aber etwas anderes als die Hundepeitsche, doch auch wie ein Stock aussehend, setzte diesen an den Mund — und plötzlich machte der Tiger kehrt, lief mit einem ganz eigentümlichen Kopfschütteln davon — und Karlemann ihm schnell nach, ihm ein paar mit der Peitsche übergezogen und ihm dann noch einen Tritt gegeben, worauf er seinen Weg ganz ruhig fortsetzte.
Was in aller Welt war das gewesen? Na, es war eben Karlemann!
Und wie das nun ausgesehen hatte, als der Knirps dem Ungeheuer ein paar überzogen und dann noch einen Tritt gegeben — — alles andere war vergessen, ich brach in ein schallendes Gelächter aus, und Hans stimmte mit ein.
»Karlemann, Karlemann, wir sind hier!«
»Ja, ja, ich merk's schon.«
»Vorsicht, Vorsicht, hier wimmelt es von wilden Tieren!!«
»Ä, die tun mir nischt. Dadervor komm ich ja äm her!«
So hatte er, langsam schlendernd, uns fast erreicht. Aber Karlemann nahm die Sache natürlich doch nicht so auf die leichte Achsel. Nur war er eben gewöhnt, mit wilden Tieren umzugehen, darin war er ein gottbegnadetes Genie.
Diesmal war es ein bemähnter Löwe, der ihn aufs Korn nahm. Er duckte sich zum Sprunge, und Karlemann ging ganz ruhig direkt auf ihn zu, nur den Oberkörper etwas vornüber geneigt.
War es sein Auge, das den Löwen in Schach hielt, ihn bewegungslos machte? Ganz gewiss! Der Löwe sprang nicht, knurrte nur, schlug mit dem Schweife den Boden, sonst aber blickte er starr auf den kleinen Mann, bis dieser kaum drei Schritte von ihm entfernt stand.
Und da steckte Karlemann etwas in den Stab, den er trug, führte ihn an den Mund, wir hörten ihn pusten, ein gelber Strahl schoss durch die Luft, auf den Kopf des Löwen zu, sich aber gleich zur Wolke verbreitend — und sofort sprang der Löwe auf, aber nach rückwärts, schüttelte den Kopf und nieste herzhaft dabei, trabte niesend davon — Karlemann ihm aber erst noch einmal nach und ihm mit dem Seestiefel einen derben Tritt aufs Hinterteil versetzt.
»Warte, Luder!!«
Es war eine unbeschreibliche Szene gewesen. Aber sie wiederholte sich nicht mehr. Die sämtlichen Raubtiere, die uns umlagert, waren plötzlich verschwunden, wie weggeblasen. Ja, Karlemann hatte sie wirklich mit dem Pusterohr weggeblasen. Ob ihnen dieses Beispiel genügte, oder ob sonst etwas an dem Jungen war, sein Blick, ein von ihm ausgehender Geruch — ich weiß es nicht.
Übrigens habe ich ja schon früher einmal erwähnt, welch kolossalen Einfluss dieser Junge auf jedes Tier ausübte — damals, als er zu uns an Bord kam, als Blodwens wütende Bullenbeißer ihn hatten anfallen wollen. Da hatte er die Biester auch nur anzusehen brauchen, nur ein gebieterisches Wort, und sie waren sofort furchtsam davongeschlichen.
»Wie kommen Sie denn hierher? Was machen Sie denn hier? Guten Morgen auch!«
»Karlemann, Sie sind mir wieder einmal als Retter erschienen!«
Dabei aber dachte ich im Augenblick wirklich nicht mehr an meinen Hunger.
»I, das ist doch der der der der Hans?! Das Hänschen?! Nu, was macht denn ihr beide hier drin im Käfig?«
»Das ist Lord Seymours Erfindung.«
»Das habe ich mir lebhaft gedacht. Na, da rutschen Sie mal los!«
Ich öffnete die Tür, ich erzählte auf der Stelle alle meine Schicksale, weder an die knurrenden Raubtiere noch an meinen knurrenden Magen denkend, wenn ich mich auch so kurz wie möglich fasste.
Dann schritten wir zusammen dem Boote zu, unsere Hemden ganz vergessend.
»Da ist es Ihnen ja fast genau so gegangen wie mir!«
»Wieso?«
»Na, ich war auch nicht schlecht erschrocken, wie ich anstatt des großen Vogelberges nur noch unter dem Wasser einen großen Scherbelhaufen sehe. Aha, sagte ich mir, da ist scharlikamuff.«
»Was sagten Sie?«
»Scharlikamuff!«
»Was ist denn das?«
»Das ist Pawneesch. Scharlikamuff — es ist alle, es ist vorbei, futsch, futschikado, futschikadissimo. Also die Kerls scheinen doch noch zu leben. So so, hm hm hm hm. Na, das freit mich — freit mich wirklich.«
Ich blieb einmal stehen, als promenierten wir auf der Hamburger Esplanade.
»Karlemann — ich weiß nicht«, schnüffelte ich, wie ich schon lange geschnüffelt hatte, »Sie riechen gerade wie — wie — wie'n alter Kuhkäse.«
Auch Karlemann war stehen geblieben, hob mit bösem Gesicht sein Blaserohr sich vor den Mund und mir vors Gesicht, wobei er es ziemlich vertikal halten musste.
»Wie ein alter Kuhkäse soll ich riechen?«, schrie er mich wütend an. »Wenn Sie das noch einmal sagen, puste ich Sie an, und Sie sind... scharlikamuff!!«
»Sie blasen wohl mit spanischem Pfeffer?«
»Jawoll! Das Pfund zu'n Dollar. Sie sind blind auf ewig und kriegen die Niese, bis Sie scharlikamuff sind.«
»Hm. Eigentlich ein ganz vortreffliches Mittel, um sich wilde Tiere vom Leibe zu halten. Das können Sie sich patentieren lassen. Man hält dem Vieh einfach das Blaserohr unter die Nase und pustet hinein — scharlikamuff.«
»Jawoll. Aber das Vieh darf nicht zuerst pusten.«
»Nee, faktisch«, lachte ich, »Sie riechen gerade wie verfaulter Quark. Gehört dieses Odeur vielleicht auch mit zur Raubtierbändigerei?«
Karlemann ließ das Pusterohr sinken, um sich dafür hinter den Ohren zu kratzen.
»Sie können recht haben. Sehen Sie, die Sache ist die — als ich mich in San Francisco verproviantierte... was ist wohl das konzerterierteste Nahrungsmittel?«
»Das konzentrierteste meinen Sie wohl, was am meisten Eiweißstoff enthält? Das dürfte die Nuss sein. Sie denken aber wohl an Käse?«
»Jawoll. Käse ist die nahrhafteste Nahrung. Fressen Sie nur mal 'n Pfund Käse, wie Ihnen der schwer im Magen liegt. Na, sehen Sie, und weil ich nun in meinem Boote nicht gar zu viel Platz hatte, musste ich so was wählen, und da nahm ich einige Zentner Käse mit. Aber nicht so alten, der auseinander läuft oder den man gleich zu Markte treiben kann, weil die Maden von ganz allein laufen. Nee, so dumm ist Karlemann nicht. Sie kennen doch englischen Käse?«
»Na und ob.«
»Läuft der auseinander?«
»Der ist ganz fest.«
»Stinkt der?«
»Eigentlich gar nicht.«
Karlemann kratzte sich wieder hinter den Ohren.
»Ja, eigentlich nicht. Aber unter den Äquator darf er doch nicht kommen. Unter der Linie wurde der harte Käse doch eine weiche Schmiere — — und und und — — da fing er an zu stinken — — und und und — — da kamen Maden hinein — — und und und und — — nu ist er ähm scharlikamuff.«
Wir hatten das Boot noch immer nicht erreicht, und ich dachte noch immer nicht an meinen Magen; der Käse, von dem ich kein großer Freund bin, erinnerte mich noch nicht.
»Sie waren im Indianerterritorium?«
»Ei gewiss doch.«
»Haben Sie auch Skalpe erbeutet?«
»Eine ganze Masse! Ich habe doch mit den Pawnees gegen die Schwarzfußindianer gekämpft. Ja, ich habe sozusagen den Tomahawk ausgegraben. Ei ja, ich habe immer feste Schkalpe abgeruppt.«
»Was haben Sie denn damit gemacht?«
»Nu, geräuchert, wie's alle Indianersch machen. Und dann habe ich sie mit der Post nach Hause geschickt, sechsundzwanzig Stück — feine Exemplare, sage ich Ihnen! — Nur der eene ist 'n bisschen kaputt, da hatte ich nicht richtig geschnitten, und da habe ich mit den Haaren ein paar Fleischlappen rausgeruppt. Ja, die hänge ich mal in meine gute Stube. Aber einmal bin ich grimmig hineingefallen. Denken Sie, was mir passiert ist, wie man mich angeschmiert hat...«
»Sie angeschmiert?«, fragte ich diesen holden Knaben.
»Na, hören Sie nur zu. Da war der Häuptling von den Schwarzfüßlern, schon ein alter Kerl, aber mit einer prachtvollen Skalplocke, viel länger als die anderen, und nun recht fein eingebuttert und mit bunten Federn gespickt — die musste ich haben. Na, es dauerte auch gar nicht lange, da konnte ich den Kerl durch den Kopf schießen. — Sie brauchen kein Gesicht zu machen, es war ein ehrlicher Kampf. Aber was denken Sie, was nun weiter kam? Also ich nehme den Kopf zwischen die Beine, packe die Skalplocke, will um die Kopfhaut mit dem Messer einen Kreis beschreiben — da ist das alles gar nicht nötig, die Skalplocke geht mit der ganzen Kopfhaut von ganz alleine los — aber ich kann sie auch wieder so zurückschnellen lassen — da ist das eine Perücke, mit einer Gummischnur befestigt — die Firma, die sie geliefert hat, stand auch inwendig drin — Israel Schleikel in New York — und dann noch darunter: Made in Germany.«
Trotz der grausigen Schilderung musste ich doch herzlich lachen. Karlemanns Vortragsweise war auch danach.
Wir hatten das Boot erreicht, ein gedecktes, schlankes Fahrzeug von sechs Meter Länge, welches man auf einem Binnengewässer schon eine Jacht nennen würde.
Zunächst wurde meine Aufmerksamkeit durch den zweiten ›Mann‹ gefesselt, der aber ebenfalls ein halbwüchsiger Junge war, und zwar erkannte ich in ihm gleich einen nordamerikanischen Indianer.
»Dschumdschamdschai oder so ähnlich«, stellte ihn mir Karlemann vor, »auf deutsch der kleine Waschbär — aber nicht etwa wegen seiner Reinlichkeitsliebe so benamst. Es ist ein Pawneejüngling, der kurz vor seinem Kriegerexamen stand. Ich habe ihm so viel von dem freien Seeleben vorgeschwatzt, bis er mit mir durchgebrannt ist. Warum sollen denn nur immer deutsche Jungen bei Nacht und Nebel durchbrennen, um nach Amerika zu den Indianersch zu gehen? Kann es nicht einmal auch umgekehrt sein?«
Der Indianerjüngling, noch keine vierzehn Jahre alt, benahm sich schon würdevoll wie ein erwachsener Krieger, war über Neugier und alles erhaben.
Dann aber kam die Hauptsache: das Essen. Karlemann war mit allem verproviantiert, nicht nur mit Käse, nach dem das ganze Fahrzeug schon von Weitem stank.
Die Mahlzeit musste an Deck eingenommen werden, wenigstens, wenn man dabei aufrecht sitzen wollte: denn innen war alles mit Proviant und Wasserfässchen vollgepfropft, nur so viel Raum lassend, dass sich ein Mensch zum Schlafen ausstrecken konnte, denn der zweite Mann musste ja immer an Deck sein, bei schlechtem Wetter am Steuerruder festgelascht.
So wenigstens war es anfangs gewesen, bei der Abfahrt; jetzt war durch Verringerung des Proviants schon mehr Platz geworden, auch wir beiden neuen Ankömmlinge fanden im Zwischendeck noch eine Schlafstelle.
Während des Essens, das jetzt erst recht noch mehr Raum schaffte, erzählte ich meine Abenteuer ausführlicher, besonders die bei den Mormonen. Karlemann hatte ja meinen Doppelgänger selbst gesehen.
Da aber machte ich wieder einmal eine eigentümliche Entdeckung. Dieser kleingebliebene Junge mit dem alten Gesicht konnte ununterbrochen Witze reißen, doch er selbst war für Humor durchaus nicht empfänglich. Wohl hatte ich ihn schon oft lachen hören, aber dann war die Ursache gewöhnlich nur Spott, er belachte etwa die Unbehilflichkeit oder Dummheit eines anderen.
Ich verstand gewiss zu erzählen, wie ich da plötzlich von den siebzig Kindern und dreißig Weibern attackiert worden war, deren Vater und Gatte ich sein sollte, aber in Karlemanns altem, schon faltig gewordenem Gesicht zuckte kein Muskel.
Immer mehr kam er mir wie ein greiser Wichtelmann vor, der schon die Erfahrung einiger Jahrhunderte hinter sich hat.
»Hatten die Weiber nicht Geld?«, war dann seine nächste Frage.
Ich berichtete, was mir Habakuk darüber mitgeteilt hatte, und dann konnte Karlemann wohl begreifen, dass ich meine Brieftasche mit allem Gelde verloren hatte, aber nicht, dass ich nicht meinen Gattinnen vor der Flucht etwas ›abzuknöppen‹ verstanden hatte.
So war und blieb er immer derselbe. In dieser Hinsicht, wenn es sich um Geldangelegenheiten handelte, konnte mit diesem deutschen Knaben kein Yankee antreten.
Aber fast unbegreiflich fand er, der selbst in einem elenden Boote die Reise von Hamburg nach Afrika angetreten hatte, dieses, damals doch auch schon fast erreicht hatte, wie ich in einem offenen Boote bis hierher gekommen war.
Freilich, ich habe ja auch schon erzählt, wenigstens angedeutet, was für ungeheuere Strapazen und Gefahren wir zu bestehen gehabt hatten, wir hatten uns nicht im Falle der Not an eine bewohnte Küste retirieren können, und dann waren wir eben von einer äußerst glücklichen Witterung begünstigt worden.
Bei Karlemanns Boot, das er sich in San Francisco gekauft, war das etwas ganz anderes, das war ein gedecktes, seefestes Fahrzeug, der mit Blei ausgefüllte Kiel machte ein Kentern auch im schwersten Seegange ganz unmöglich — immerhin, es hatte doch etwas auf sich, in solch einem winzigen Fahrzeug eine Fahrt von einigen tausend Meilen über die hohe See anzutreten; bei uns war das ja etwas ganz anderes gewesen, wir hatten einfach der Not gehorcht,
Karlemann hatte dieses primitive Beförderungsmittel aus freiem Antriebe gewählt, um direkt nach dem Vogelberge zu kommen, ohne andere Menschen in unser Geheimnis einweihen zu müssen — und dass er bei diesem ungeheuerlichen Vorhaben so gar nichts fand, das zeigte eben, dass er ein geborener Seezigeuner war.
Nun, schließlich konnten wir uns ja da die Hand reichen.
»Sie sind überzeugt, dass die vom Vogelberge vor Kurzem hier gewesen sind?«
Ich gab meine plausiblen Gründe dafür an. Zunächst interessierte sich Karlemann am meisten für das Fässchen Bier.
»Bier? Wirkliches bayrisches Bier?!«, fragte er immer wieder. Er kam einige Zeit gar nicht darüber hinweg, erwägend, woher die das wohl bekommen hatten. Wahrscheinlich von einem Postdampfer.
»Na, da scheinen die eben nicht scharlikamuff gegangen zu sein«, meinte er dann. »Aber warum die Grasaffen nur gar nichts hinterlassen haben, wo wir sie suchen müssen!«
»Weil sie es für selbstverständlich finden, dass wir sie auf der Fucusinsel zu suchen haben, und so eine hinterlassene Nachricht hätte doch von einem anderen gefunden werden können.«
»Nein, das wäre alles zu aschanrieren gewesen. Na, lassen wir das. Jetzt begeben wir uns also nach der Fucusinsel, natürlich nicht um Kap Hoorn herum, das wäre zu dieser Jahreszeit eine gar zu böse Fahrt, sondern wir gehen natürlich über die Landenge von Panama. Wir müssen ja auch ein ganz anderes Boot haben, ein Dampfboot, mit jener Schneidevorrichtung versehen, um in die Fucusbank eindringen zu können, und erst möchte ich noch ein bisschen hier bleiben.«
So blieben wir noch einige Tage verankert. Das erste war, dass wir den gebrochenen Käfigwagen wieder aufsuchten, und der Sohn des deutschen Schlossermeisters zeigte sich als vollendeter Schmied und Mechaniker; noch an demselben Tage war der Wagen wieder gebrauchsfähig.
War es eine geheimnisvolle Atmosphäre, die diesen deutschen Zigeunerknaben umgab, oder war es das Feuer, das Klingen des Hammers auf dem funkenspritzenden Eisen, welches die Raubtiere abhielt, uns so wie früher anzugreifen? Ich weiß es nicht.
Wir fuhren auf der Insel hin und her, Karlemann gab sich nicht dem Jagdvergnügen hin, sondern er erlegte die stattlichsten Exemplare der verschiedenen Raubtiere nur des Felles wegen, welches der Indianer immer sofort gerben, wenigstens abschaben und mit Fett einreiben musste.
Ich würde diese zweite Periode auf der Osterinsel ganz übergehen, wenn sich am Ende derselben nicht ein besonderes, zum Teil sehr humoristisches Ereignis zugetragen hätte.
Karlemann hatte, besonders in der verlassenen Stadt, mit unerhörter Kühnheit oder auch durch raffinierte Listen schon einige junge Raubtiere erbeutet, Löwen, Tiger, Panther und andere, die wir aber niemals länger als zwei Tage am Leben erhalten konnten, es fehlte ihnen an Milch, sie gingen zugrunde, obgleich Karlemann ihnen den flüssigen Käse ins Maul schmierte.
»Ich brauche ein paar milcherne Mütter.«
Als erste Falle wurde der Käfigwagen verwendet, es gingen auch einige erwachsene Exemplare hinein, aber niemals eine der gewünschten Mütter, welche Milch geben konnten.
Wie dann Karlemann überhaupt diese Menagerie einrichten wollte, war mir durchaus nicht klar. Doch das war seine Sache, der wusste sich schon zu helfen.
Eine Fallgrube war bei der erforderlichen Breite und Tiefe mit unseren unvollkommenen Werkzeugen doch schwer zu graben, sie hätte nichts anderes erzielen können als der Käfig — Karlemann wusste einen anderen Rat, den ihm wieder sein geniales Gehirn eingab.
Unter den künstlich angepflanzten Bäumen waren auch sehr viele Kastanien, welche zurzeit blühten, und es ist ja bekannt, dass die Kastanienknospe einen braunen, sehr klebrigen Saft, eine Art Harz ausschwitzt.
Karlemann machte eine Probe im kleinen, und als diese zur Zufriedenheit ausfiel, wurden im größten Kessel solche Kastanienknospen massenhaft ausgekocht, bis eine genügende Menge von Vogelleim zusammen war.
Ja, Karlemann wollte die Raubtiere wie die Vögel mit Leim fangen.
Zu diesem Zwecke spionierte er erst aus, wo sich des Nachts weibliche Exemplare, welche zu Hause Junge hatten, aufhielten, auf Beute lauerten, köderte diese Stelle noch mehrmals besonders an, bis er seiner Sache sicher war, hatte sich nur solche Stellen ausgesucht, wo unter einem Baume viel gefallenes Laub lag, und eines Nachmittags nun bekleckerte er dieses gefallene Laub mit Vogelleim.
Es ist dies eine Art von Fang, der besonders auch in Afrika von den Eingeborenen betrieben wird. Sie machen es ganz ebenso, dort, wo sie einen Löwen angeködert haben, oder auch wo das Raubtier nach einer nur angefressenen Beute des Nachts zurückkehrt. Auch sie gießen dort also über das gefallene Laub einen Klebestoff aus, der Löwe tritt hinein, und schon wenn er einige Blätter an den Fußballen hat, wird er gleich so unwillig, dass er sich zu wälzen anfängt — bis er zuletzt als ein einziger Klumpen von Blättern und Ästchen blind und hilflos dasteht, dass man ihn mit einem Netz, schon mit einem Strick fortführen kann.
Aber um in Besitz von lebendigen Tieren zu kommen, die man etwa an Europäer verkaufen kann, ist das keine gute Fangart. Die Eingeborenen verstehen nicht, diese angeklebte Schicht wieder zu entfernen, denn mit heißem Wasser und mit der SchrubbBürste zu scheuern, das geht natürlich nicht, das lässt sich der Löwe denn doch nicht gefallen, solange er noch ein Glied rühren kann — und so tötet man ihn eben, was jetzt ohne Gefahr geschehen kann, worauf es den Negern auch nur ankommt. Doch selbst das Fell ist dann nichts mehr wert, es kann doch nicht mehr so gut gesäubert werden, die Eingeborenen wenigstens verstehen es nicht.
Karlemann hatte von dieser Fangmethode, wie ich mich vergewissert, noch gar nichts gehört. So allumfassend waren die Kenntnisse dieses Jungen ja gar nicht. Deshalb aber war es nur um so anerkennenswerter, dass dies seinem eigenen Schädel entsprungen war, und da musste ich ihm wohl auch glauben, dass er schon ein Mittel wüsste, die verleimten Tiere innerhalb unseres Käfigs auch wieder von der Blätterschicht zu befreien.
Also Karlemann hatte den ganzen Boden unterhalb eines hohen Baumes vollgekleckert, und auf diesem Baume wollte er selbst die Nacht zubringen, um beobachten zu können, wobei ihm auch der kleine Waschbär Gesellschaft leisten sollte. Wir beiden anderen, Hans und ich, mussten währenddessen auf dem Boote bleiben, sollten nur auf einen Schuss warten.
So taten wir. Es war eine helle Mondnacht. Wir lauschten, aber kein Schuss wollte fallen.
Da, gegen Mitternacht, sahen wir — der Mond hatte sich hinter einer Wolke verborgen, es herrschte ein sehr schwaches Dämmerlicht — zwei Gestalten nach dem Strande gelaufen kommen, die wir nur für zwei Raubtiere halten konnten. Denn Karlemann und der Indianer waren das nicht, diese unförmlichen Gestalten.
»Zwei Bären!!«, schrien wir gleichzeitig.
Es war das allererste Mal, dass wir hier im Boote von Raubtieren angegriffen wurden, und Bären, die nur im Gebirge hausten, hätten wir am allerwenigsten erwartet. Hatten sie es übelgenommen, dass wir unter Karlemanns Führung auch einige Abstecher zu Fuß ins Gebirge gemacht und einige von ihnen erlegt hatten, um unser Fahrzeug mit geräucherten Bärenschinken zu verproviantieren?
Unsere Büchsen waren schussbereit angelegt, da ließ sich noch rechtzeitig eine menschliche Stimme vernehmen, die freilich wenig Menschliches an sich hatte.
»Nicht schießen, um Gottes willen nicht schießen, wir sind's doch!«
Ja, es war Karlemann mit seinem kupferroten Gefährten, freilich kaum noch als Menschen erkenntlich. Über und über in eine dicke Schicht von Blättern und Ästchen eingewickelt.
Zunächst galt es, ihr Gesicht freizumachen, denn nur mit Mühe hatten sie sich kleine Öffnungen zum Sehen und Atmen schaffen können, und dann verschmierten wir auf Karlemanns Anordnung ein ganzes Fässchen Butter, ehe nur die angeleimte Blattschicht abgelöst werden konnte, und dann musste noch einen ganzen Tag lang heißes Wasser gemacht werden.
Wer anderen eine Grube gräbt, fällt manchmal selbst hinein, und das gilt wohl auch von der Leimrute.
Der kleine Waschbär war doch noch nicht so ganz von der Überlegenheit seines noch kleineren Herrn überzeugt. Die beiden hatten, als sie oben auf dem Ast gesessen, wegen irgendeiner verschiedenen Meinung das Streiten bekommen, Karlemann war handgreiflich geworden, hatte seinem Gefährten eine gelangt, der Pawneejunge hatte sich das nicht gefallen lassen — die beiden hatten sich dort oben gepackt, waren heruntergepurzelt, mitten in die Schmiere hinein, hatten sich darin im Ringkampfe herumgewälzt, bis sie sich eben in dem Zustande befanden, in welchen sie eine Löwin oder Tigerin hatten bringen wollen. Dann, als sie völlig zugeklebt waren, hatten sie es doch für besser befunden, einträchtig nebeneinander nach dem Boote zurückzulaufen, um unsere Hilfe zu beanspruchen.
»Mir geht seit einiger Zeit alles schief«, sagte Karlemann, sobald er wieder sprechen konnte, »es ist alles scharlikamuff.«
Und er segelte ab, ohne solch einen Versuch zu erneuern.
Wir erreichten ohne Unfall die Hafenstadt Panama, verkauften hier aber unser Boot noch nicht, sondern nahmen es als Frachtgut mit auf die Eisenbahn, welche uns in wenig Stunden über die Landenge nach Colon brachte, von den Yankees Aspinwall genannt, und das war sehr gut, denn ein so kleines und dennoch für Seezwecke geeignetes Dampfboot war hier doch nicht gleich aufzutreiben, und so zog Karlemann vor, in unser eigenes Segelboot eine kleine Hilfsmaschine mit Propellerschraube einbauen zu lassen, was in dem Hafenstädtchen, welches einige Reparaturwerkstätten besitzt, keine Schwierigkeiten bot.
Wir brauchten uns in Aspinwall nur eine Woche aufzuhalten, so war dies alles geschehen, und außerdem war in einer anderen Schlosserwerkstelle schon solch eine Messervorrichtung nach Zeichnung angefertigt worden, die wir selbst später, wenn es nötig war, mit leichter Mühe an unser Fahrzeug schrauben konnten. Der kleine Karlemann wollte sich nicht zu sehr bemerkbar machen, ich war bei alledem sein Geschäftsträger gewesen, nur dass er mir niemals mehr Geld gab, als ich eben brauchte — er schien trotzdem reichlich damit versehen zu sein — und niemand war auf die Vermutung gekommen, in meiner langen Gestalt den vielgesuchten Kapitän Richard Jansen vor sich zu haben. Es gibt eben noch andere solche lange Kerls, die auf Abenteuer ausgehen.
Dass wir ein nur mit einer Hilfsmaschine ausgestattetes Segelboot benutzten, hatte seine Vor- wie auch Nachteile. Ein Dampfer ist immer ganz anders gebaut, als ein schlankes, auf hohem Kiel gehendes Segelboot, er kann unter allen Umständen viel mehr fassen als das letztere, und Kohlen mussten wir doch auch mitnehmen, sonst hätte die Hilfsmaschine ja gar keinen Zweck gehabt. Hingegen konnten wir so bei nur einigermaßen günstigem Winde immer die Segelkraft ausnützen, während bei einem regelrechten Dampfer, zumal bei einem Boote, eine Takelage nur sehr wenig Zweck hat, und dann brauchten wir bei Einnahme des Proviants eben nicht zu knausern, und es ist doch ein gewaltiger Unterschied, ob die Hauptnahrung aus Schiffszwieback oder Konservenfleisch bestehen soll. So verproviantierten wir uns nur mit den ausgiebigsten Nahrungsmitteln — allerdings nicht wieder mit Käse, und wo sonst nur noch ein Eckchen frei war, das wurde mit Wassergefäßen, hauptsächlich mit Schläuchen, ausgefüllt.
Als die erste Probefahrt mit der Hilfsmaschine zur völligen Zufriedenheit ausfiel, verwandelte sie sich sofort in die Abreise; wir kehrten nicht zurück, sondern es wurde sofort in das Karibische Meer gesteuert, und zwar mit gelöschtem Feuer, nur mit Segeln, und sollten wir die Hilfsmaschine auch gar nicht benutzen, bis wir in der Fucusbank waren. Als wir die westindischen Inseln hinter uns hatten, mussten wir einen Sturm überstehen, und da allerdings lernten wir noch einmal kennen, was es heißt, in solch einer winzigen Nussschale über den Ozean zu steuern.
Schrecklich! In meinem kleinen, offenen Boote wäre natürlich an so etwas gar nicht zu denken gewesen, hier hielten wir es aus, im Innern des Bootes geborgen, lieber auf dem Bauche als auf dem Rücken liegend, fest eingekeilt, über uns natürlich die Luke wasserdicht geschlossen. Ich weiß es nicht bestimmt, aber ich glaube doch, dass wir uns trotz des schweren Kieles mehrmals überschlagen haben. Dass dabei die Takelage niedergelegt und bombenfest gelascht war, ist selbstverständlich.
Länger als vierzig Stunden haben wir so eingesargt gelegen, ein Spielzeug der wütenden See, die mit uns Fußball spielte. An Essen und Trinken gar nicht zu denken.
Dann aber war auch dies überstanden, und mit dem besten Winde hatten wir in vier weiteren Tagen die Fucusbank erreicht, ohne eine Schaufel Kohle verbraucht zu haben, konnten auch immer noch mit dem Westwind in diese eindringen, vorn am Bug die Schneidevorrichtung.
Erst die letzten beiden Tage mussten wir wegen Windstille dampfen, und meine Besorgnis war nicht die, was geschehen sollte, wenn die doch nur ganz oberflächlich montierte Maschine einmal versagte, sondern, wenn wir jetzt die Insel in Sicht bekamen, und sie zeigte sich als menschenverlassen.
Aber meine Sorge sollte unnötig gewesen sein. Der Berg der Fucusinsel tauchte auf, der festsitzende Riesendampfer, jenes Kornschiff, welches ich einst genommen, und die ›Sturmbraut‹ selbst, nach der ich erst ängstlich ausgespäht, hing... in der Luft!
Sie war von den ungeheueren Winden der ›Indianarwa‹ emporgehoben worden, zur Reparatur, oder doch um abgeklopft zu werden, und ich hatte schon früher erwähnt, dass dies eben von dem riesigen Dampfer aus möglich war, gegen den meine ›Sturmbraut‹ nur einem Boote glich, sodass wir hier immer ein vorzügliches Trockendock hatten.
Und dann konnten wir auch durch das Fernrohr die vielen Menschlein unterscheiden, schließlich mit bloßen Augen, und dann legten wir bei.
Ich will nicht schildern, mit welchem Jubel ich empfangen wurde, wie ich selbst jubelte. Es waren gegen einhundertfünfzig Personen, denen ich allen die Hand zu schütteln hatte, mit jedem einzelnen noch einige Worte wechseln musste.
»All right, nichts ist passiert«, konnte Mahlsdorf endlich sachgemäß melden.
»Wo ist Mister Tischkoff?«
»Der studiert.«
»Was ist mit der ›Sturmbraut‹?«
»Nur einmal die Muscheln abklopfen.«
»Wie war es mit dem Erdbeben in dem Vogelberge?«
Tischkoff war mit Fairfax, Blodwen und Kind auf einem gecharterten Dampfer angekommen, der alsbald wieder entlassen wurde — ein Geheimnis war ja eigentlich gar nicht mehr zu hüten gewesen — so waren drei Wochen vergangen, als Tischkoff eines Tages seine Studierkabine verlassen und den Befehl gegeben hatte, alles, was man mitnehmen wollte, einzupacken, die ›Sturmbraut‹ klarzumachen, man müsse wegen eines baldigen Erdbebens, welches auch den Vogelberg bedrohe, diesen sofort verlassen.
Man hatte dem Befehle selbstverständlich gehorcht, und am anderen Tage war denn auch plötzlich ein Unwetter losgebrochen, dem man aus gewissen Erscheinungen anmerken konnte, dass ein unterseeisches Erdbeben stattfinden müsse.
»Woher hat denn das Tischkoff im Voraus gewusst?«
»Kapitän, da fragt Ihr mich zu viel. Mister Tischkoff hat darüber kein Wort verloren.«
Ich selbst konnte darüber denken, was ich wollte. Tischkoff selbst hat mir niemals Aufklärung gegeben.
»Aber deshalb gleich die Flucht zu ergreifen!«, fugte Mahlsdorf noch hinzu. »Diesem soliden Felsen kann solch ein Erdbeben doch nichts anhaben.«
»Ihr wisst noch gar nicht, was mit dem Vogelberg passiert ist?«
»Nein. Was denn?«
»Dieser solide Felsen ist jetzt ein Trümmerhaufen, dessen Kuppe nicht mehr über die Wasserfläche emporragt.«
Mahlsdorf behielt vor Staunen und Schreck den Mund offen. Sie hatten absolut noch nichts davon gewusst.
»Hat Tischkoff kein Zeichen wegen meiner Rückkehr hinterlassen?«
»Als ich ihn darauf aufmerksam machte, meinte er, es wäre doch ganz selbstverständlich, dass auch Sie sich nach dieser Fucusinsel, unserem letzten Versteck, wenden würden.«
»Was machen die Nonnen?«, hatte ich mich nun nur noch zu erkundigen.
»Bei denen hat es sich ausgenonnt«, lächelte Mahlsdorf.
»Das weiß ich!«, fuhr ich ihn etwas an. »Was machen sie sonst?«
»Nun, die haben sich auf der ›Indianarwa‹ häuslich eingerichtet und wissen sich zu beschäftigen.«
»Kein Streit?«
»Gar nicht.«
»So, hm, hätte so etwas unter so vielen Frauenzimmern gar nicht für möglich gehalten — und doch — habe darin nun schon etwas Erfahrung. Gefällt es ihnen denn hier?«
»Sehr gut!«
»Haben sie diese Lebensweise noch nicht überdrüssig bekommen?«
»Noch nichts gemerkt.«
»Sehnen sie sich denn nicht wieder nach ihren alten Verhältnissen zurück?«
»Nicht im Geringsten.«
Ich instruierte den ersten Steuermann noch für die ganze Mannschaft, dass der zurückkehrende Hans mit allen Fragen zu verschonen sei, und entließ ihn, um, wie es sich für einen Familienvater gehört — darin hatte ich nun schon einige Erfahrung — die erste Stunde meiner Frau und dem Kinde zu widmen.
Ich hatte viel zu erzählen — aber mein Abenteuer unter den Mormonen verschwieg ich, war gar nicht in der Mormonenstadt gewesen, immer unter den Sioux am Pitsee, und Karlemann war auf eben dieselbe Verschwiegenheit schon vorher vereidigt worden. Besser ist besser, und was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß — was doch auch wohl von anderen gilt. —
Wir klopften das Schiff ab, scheuerten es, malten es wunderschön an, splissten das ganze Tauwerk neu und gaben uns der Jagd hin.
Die freigelassenen Rinder, Schafe, Ziegen, Schweine und alle anderen Tiere hatten sich ungeheuer vermehrt, niemals würden wir Fleischmangel leiden, wir brauchten überhaupt nur von Fleisch zu leben, für jede Reise konnten wir uns auf Monate hinaus mit eingesalzenem Fleisch verproviantieren, und da der Zuwachs nach meiner Berechnung noch viel stärker sein musste, als was wir verbrauchten, so würde eine eine Quadratmeile große Insel nach einigen Jahren durch ihr Fleisch mindestens tausend Menschen ernähren können.
Für den, der da nachrechnen will, sei erwähnt, dass die geografische Quadratmeile fünfzig Quadratkilometer oder fünftausend Hektare hat, und dass auf solch einem Gebiet, wenn die Vegetation eine so üppige ist, wie hier, genügend Vieh weiden kann, um jahraus jahrein tausend Menschen zu ernähren, ist wohl begreiflich. In Deutschland steht jedem menschlichen Magen nur ein einziger Hektar zur Verfügung, wozu noch das unfruchtbare Land, Wald und Gott weiß was hinzugeteilt werden muss.
Ja, aber was nun? Da wir keine Landbauern werden wollten, sollten wir Bukanier werden, welche nur am Viehschlachten ihre Freude hatten?
Aus den spanischen Bukaniern gingen die Flibustier hervor — bei uns hatte das alles eine verdammte Ähnlichkeit, nur dass wir den Gang der Entwicklung nach rückwärts eingeschlagen hatten.
Nein, ich hatte keine Lust, zeit meines Lebens Büffel zu jagen und sie abzuhäuten, ihr Fleisch zu räuchern oder einzusalzen, und auch die Jagd auf Gänse, Enten und Hühner, welche in einem Sumpfe neben dem Bergabhang total verwildert waren, sich zu ungeheueren Scharen vermehrt hatten, machte bald keinen Spaß mehr.
»Sind Sie schon einmal auf Borneo gewesen?«
Es war mein Kommodore, der sich zum ersten Male wieder blicken ließ, um sich gleich mit dieser Frage an mich zu wenden, ohne an irgendwelches Begrüßungswort zu denken oder sonst eine andere Frage zu haben.
»Nein, nur auf Java, in Batavia.«
»Kennen Sie die Geschichte Borneos, überhaupt die geschichtliche Entwicklung der malaiischen Rasse?«
»So gut wie gar nicht.«
»Der ganze malaiische Archipel ist einmal von einem anderen, jetzt ausgestorbenen Volke beherrscht worden, das schon auf einer sehr hohen Kulturstufe stand.«
»Ah, das ist das Volk, für dessen Sprache Sie sich so interessieren!«
»Dieses Volk, Malusos genannt, hat viele Bauten, Denkmäler hinterlassen, besonders auf Borneo, allerdings schwer noch zu finden, weil alles überwuchert ist, im Sumpf und Urwald versteckt liegt.«
»Aha!«
»Ich hätte große Lust, mich einmal nach Borneo zu begeben, um diese Bauten, welche auch Inschriften tragen, zu studieren.«
Darauf hatte ich ja nur gewartet!
»Und ich darf Sie mit der ›Sturmbraut‹ hinbringen, nicht wahr?«
»Wenn Sie die Liebenswürdigkeit hätten?«
Na und ob! Ich hatte schon immer meine Bootsmannspfeife in der Hand gehabt, jetzt ließ ich sie ›klar zum Manöver!‹ schrillen. Enoch und Goliath pfiffen das Kommando mit, Madam Hullogan steckte drei Finger in den Mund und pfiff wie eine hundertpferdige Lokomotive, und bald fiel ein Kanonenschuss, welcher die am Lande Zerstreuten zurückrief.
Die Fässer waren schon längst voll von gesalzenen und gepökelten Rindern, Schöpsen, Schweinen, Gänsen, Enten, Hühnern und anderem Viehzeug, so vortrefflich ist wohl noch nie ein Schiff verproviantiert gewesen; auch die Tanks waren voll frisches Wasser, die Bunker voll bester Anthrazitkohle, schon wurde Feuer unter die Kessel gemacht, deren Dampf die tadellosen Maschinen treiben sollte — es galt nur noch, zu bestimmen, wer mitkommen und wer hier bleiben sollte. Denn sämtliche mitnehmen, alle die achtzig Nonnen, das ging diesmal nicht.
Mein Kommodore war deshalb schon nicht mehr zu sprechen. Ich ließ alles zusammentrommeln oder vielmehr #####pfeifen. In den wenigen Minuten, die mir noch blieben, hatte ich mich schnell auf eine Rede präpariert, die aber wieder einmal nicht nötig werden sollte.
Wenigstens kam ich nicht darüber hinaus, dass die ›Sturmbraut‹ eine Reise nach Borneo antreten würde. Ich sah gleich verschiedene erstaunte und noch mehr missmutige Gesichter, die mir schon genug sagten.
Es fand eine Beratung statt, und dann wurde mir mitgeteilt, dass sämtliche Frauen hier zu bleiben wünschten. Nichts war mir lieber, so brauchte ich nicht erst zu befehlen oder doch die göttliche Vorsehung zu befragen.
»Und du, Blodwen?«
»Ach, ich möchte auch lieber hier bleiben!«
Ich muss leider gestehen, dass dies zu hören mir ebenfalls äußerst angenehm war.
Dann waren nur noch die Jungen abzuteilen, die großen wie die kleinen.
Aber die zurückbleibenden Weiber mussten doch eine große Anziehungskraft ausüben — es sind eben nicht alle Menschen so wie ich — es meldeten sich genug große und kleine Männer, welche diesmal vorzogen, auf der Insel zu jagen, als auf See eventuell gejagt zu werden — und nun liegt es eigentlich auf der Hand, dass dies alles solche Charaktere waren, welche ich, wenn ich die Auswahl hatte, ganz gern entbehrte, und zuletzt blieben mir von meinen eigenen Leuten nur noch zweiundzwanzig und von Karlemanns Jungen fünfundzwanzig, was zusammen eine gar stattliche Besatzung ergab. Da war es gut, dass wir immer brav geschossen, gesalzen und geräuchert hatten.
Seit Tischkoffs letztem Worte waren noch nicht ganz zwei Stunden vergangen, als die ›Sturmbraut‹ schon ostwärts davondampfte, und wenn der Wind günstig gewesen wäre, dass wir hätten segeln können, so wäre es noch bei weitem schneller gegangen.
Aber unsere Abfahrt sollte eine Verzögerung erleiden, wir sollten noch einen Mann unfreiwillig zurücklassen müssen.
Die letzte Umarmung war schon erledigt, der letzte Kuss hatte geknallt, mancher Matrose hatte sich noch einmal beim Abschied von seiner Dulzinea die Augen gewischt, obgleich ich der festen Überzeugung war, dass seine Tränen gar nicht so ehrlich waren. Zum Abschiedwinken kamen wir noch nicht, da musste erst das Schiff abgesetzt werden.
Da bricht unter einem kanonenschussartigen Knalle eine Trosse — es reißt ein Tau, würde die Landratte sagen — die letzte, durch die wir mit der ›Indianarwa‹ verbunden sind, es ist niemandes Schuld gewesen — aber da liegt der Hans, der gerade daneben gestanden, das Bein ganz auf dem Rücken. Die abspringende Trosse hat ihm das Bein zerschmettert oder doch gebrochen.
Was tun? Ihn dennoch mitnehmen? Das wäre Torheit gewesen. Doktor Selo hatte an Land zu bleiben gewünscht, und ich hatte ihn gern gelassen. Mein Goliath verstand ebenso viel wie der.
Also noch einmal beigelegt, zu dem armen Hans, dessen erstes Wiederauftreten so unglücklich ablaufen musste, noch ein paar tröstende Worte gesprochen, und dann die Kommandos zum abermaligen Absetzen gegeben.
»Das ist ein böses Oweh«, hörte ich einen Matrosen sagen, das lateinische Wort ›Omen‹ sehr sinnreich mit ›Oweh‹ übersetzend.
Ich gab dem unglückkrächzenden Raben einen Backs ins Genick, und damit war die Sache erledigt.
Nur nicht abergläubisch! Wir hatten ja noch immer unseren Klabautermann an Bord, was konnte uns denn da Schlimmes geschehen? Der Leser versteht den Widerspruch, wenn ich dies sage. Einen Seemann, der nicht wenigstens etwas abergläubisch ist, gibt es nicht, oder es ist keine tüchtige Salzwasserratte.
Und deshalb fiel das Taschentücherzurückwinken — vorausgesetzt, dass man ein Taschentuch besaß, womit es verteufelt schwach bestellt war — auch nicht so enthusiastisch aus, wie es wohl sonst geschehen wäre.
»Schreibe mir recht oft, Richard, ich antworte immer gleich wieder!«, rief mir Blodwen noch einmal nach, und dann hob sie ihr Kind, mein Kind, unser Kindchen hoch.
Ja, ich konnte ihr wirklich jederzeit schreiben, sie konnte mir auch immer antworten.
Karlemann hatte sich während der letzten vierzehn Tage ausschließlich mit dem Fangen und Dressieren von Möwen beschäftigt, hatte einen ganzen Schwarm, in Käfige gesperrt, mit, und er versicherte, dass diese noch anders abgerichtet waren als die früheren, wir sollten Wunder erleben. Eine Korrespondenz hin und her sei nach wie vor eine Kleinigkeit.
Dass dem wirklich so war, konnten wir während der Reise fast täglich beobachten. Fast jeden Tag ließ Karlemann eine Möwe fliegen, der wir irgendeine Botschaft anheften konnten, einen Gruß, eine Erkundigung nach Hans, die Möwe flog davon, nach Westen, und zwar um so schneller, je mehr wir uns von der Fucusinsel entfernten, jenseits von Afrika, als dieses schon zwischen uns lag, mit der Schnelligkeit einer abgeschossenen Flintenkugel, und in angemessener Zeit, jedenfalls aber dann später Tag und Nacht mit ungeheuerer Geschwindigkeit fliegend, kehrte sie zurück, dieselbe, mit der Antwort von denen auf der Fucusinsel, wo Balduin Nauke der Möwenmeister war.
Wir wussten nicht, worüber wir mehr staunen sollten, über diese wunderbare Dressur, wie Karlemann das den Tieren nur überhaupt beigebracht haben konnte, oder über die ungeheuere Fluggeschwindigkeit dieser Möwen, und dann ganz besonders auch über ihre Findigkeit.
Wir waren vier Tage von der Insel entfernt, nahe der Grenze der Fucusbank, als wieder eine Möwe abgelassen wurde.
Während ihrer Abwesenheit maskierten wir die ›Sturmbraut‹, veränderten ihr Aussehen, verwandelten das Vollschiff in einen dreimastigen Schoner, der keine Takelage mehr hat, nur Besansegel führt, erhöhten Hinter- und Vorderteil durch Bretteraufbaue, die ganze Bordwand, wussten die Kommandobrücke zu verwandeln — kurz, die ›Sturmbraut‹ war unmöglich wiederzuerkennen, wenigstens von keinem Menschen, er hätte sich direkt an Deck begeben können. Ich selbst hätte mich täuschen lassen.
Da wir schon zu alledem Vorbereitungen getroffen hatten, war die völlige Verwandlung in sechs Stunden geschehen. Die letzten vier Stunden waren wir schon im freien Wasser gewesen, hatten immer vollen Dampf gegeben, hatten auch noch Segel benutzt, so hatten wir innerhalb dieser sechs Stunden mindestens neunzig Knoten oder zweiundzwanzig geografische Meilen zurückgelegt, so weit also auch unsere Stellung auf der Meeresfläche verändert.
Früh um sieben hatten wir die Möwe abgelassen, halb zwei kehrte sie zurück, schoss in ihren Kasten, brachte den Gegengruß zurück. Also die hatte sich durch keine Maskierung täuschen lassen.
Und das war noch gar nichts gegen später, als wir erst Afrika hinter uns hatten. Da blieb so eine Möwe zwei Tage lang aus, unterdessen hatten wir unsere Lage auf dem Wasser manchmal um mehr als fünfhundert bis sechshundert Knoten verändert, und dennoch wusste uns die Möwe mit untrüglicher Sicherheit wiederzufinden.
Fürwahr, für diese Möwen scheint der ganze Erdball ein übersichtliches Terrain zu sein. Merkwürdig auch war, dass uns keine einzige verloren ging, also niemals einem anderen Raubvogel oder einem Raubfisch zum Opfer fiel, obgleich sie unterwegs immer fischen musste, sonst wäre sie bei ihrer riesigen Verdauungskraft doch verhungert.
Bei anderen Schiffen konnte sie sich freilich nicht aufhalten. Dieser Hexenmeister von Karlemann, schon mehr ein kleiner Gott, hatte eben den Charakter dieser freien Seevögel ganz für seine Zwecke umzumodeln gewusst. — —
Es ging um das Kap der guten Hoffnung herum.
Ich fühlte mich äußerst glücklich als freier Kapitän, als wahrer König des Meeres.
Manchmal konnte ich laut auflachen. Dann dachte ich an meine EzechielPeriode, als Mormone mit der Kaffeebohne.
Nein, ich vermisste durchaus keine weibliche Gesellschaft. Ich war... überfüttert worden, hatte mir den Magen mit der holden Weiblichkeit verdorben. Wir hatten zwar ein Weib an Bord, aber das hatte einen Schnauzbart und trug noch immer mächtige Seestiefel.
Und nicht anders schien es all meinen Jungen zu gehen, den großen wie den kleinen, die dachten auch nicht viel an ›nach Hause‹. Deshalb waren sie mir ja eben gefolgt.
Ich wusste sie zu beschäftigen und bei guter Laune zu halten. Unsere ganze Reise war eine fröhliche Turnerfahrt zu nennen.
Mister Tischkoff war und blieb der seltsame Kauz, der rätselhafte, geheimnisvolle Geist in Menschengestalt.
Wenn das Wetter es erlaubte, machte er nach wie vor an Deck seine Morgenpromenade, sonst blieb er unsichtbar, ab und zu noch immer tagelang, woselbst der Steward dann auch seine Kabinentür verschlossen fand, sodass jener tagelang hungerte, und auch während seines Spazierganges hatte er noch kein einziges Wort wieder an mich gerichtet.
Jetzt kam die zweite Hälfte der Fahrt, durch den Indischen Ozean, ebenso lang wie die erste Hälfte.
Wir hatten zwar noch genug Trinkwasser, um Borneo zu erreichen, aber es konnte nichts schaden, wenn wir den bisherigen Verbrauch schon vorher ergänzten, ehe wir wieder ins offene Meer hineingingen. Hier an der Ostküste Afrikas musste doch eine Gelegenheit dazu sein, wir brauchten ja keinen Hafen anzulaufen, konnten uns mit Flusswasser begnügen.
So dachte ich eines Abends, als wir eben das eigentliche Kap hinter uns hatten, allerdings noch außer Sicht des Tafelberges — und als ich das eben dachte, kam Bernhard, mein mir treu gebliebener Steward.
»Mister Tischkoff lässt fragen, ob er den Herrn Kapitän einmal in der Kajüte sprechen darf«, meldete er so höflich, wie ihm gewiss auch aufgetragen worden war.
Aha, dieser Wundermann hatte wieder einmal meine Gedanken erraten! Aber ich sollte mich doch irren, nicht wegen der Wasserfrage hatte mich mein sonst allwissender Kommodore zu sprechen gewünscht.
Tischkoff saß in der schon erleuchteten Kajüte, hatte einige Karten vor sich aufgeschlagen, welche nicht alle aus meiner Bibliothek stammten, wie ich gleich erkannte.
»Haben Sie sich schon etwas über die Verhältnisse von Borneo orientiert?«
Ja. Aber es war nicht viel gewesen, was mir die Bücher hatten erzählen können.
Dreizehntausend geografische Quadratmeilen groß, die Küsten außerordentlich zerbuchtet, das Innere, soweit es bekannt ist, fast nur Urwald, dazwischen Sümpfe, welche die Region der Dschungel bilden, isolierte Gebirge, auch ganz jäh emporsteigende Berge, zum Teil noch tätige Vulkane.
An essbarem Wild Überfluss. (Ich mache es so wie Heinrich Heine, der die ganze Lebewelt in zwei große Kategorien teilt — genießbar und ungenießbar — auf welche Weise sich also auch die Menschen teilen lassen.) Mit Ausnahme eines kleinen Leoparden fehlen alle Raubtiere, welche die anderen Sundainseln sonst bevölkern und unheimlich machen, daher auch die starke Vermehrung der Hirsche, Büffel, Wildschweine, Vögel usw. Merkwürdigerweise fehlen auch alle Giftschlangen, aber ebenso Elefant und Rhinozeros. Eine Spezialität von Borneo ist bekanntlich der OrangUtang.
Mit Ausnahme einiger noch selbstständigen Reiche, unter Sultanen stehend, ist Borneo holländischer Besitz. Aber Holland hat mit dieser Insel, die nach der ersten Beschreibung so paradiesisch sein muss, bisher wenig Glück gehabt, sie hat ihm bisher noch immer weit mehr gekostet, als sie eingebracht hat.
Das kommt daher: die eingeborene Bevölkerung, der Hauptsache nach aus Malaien und Dajaks bestehend, welche wir noch später kennen lernen werden, ist fürchterlich faul. Die Malaien bauen nur gerade so viel, wie sie brauchen, und die Dajaks leben von der Jagd.
Obgleich nun Borneo durchaus kein ungesundes Klima hat, gehen doch keine europäischen Auswanderer hin. Einfach aus dem Grunde nicht, weil sie, wenn sie nun einmal nach einer der Sundainseln wollen, lieber nach Java gehen. Auf Java haben sie schon Eisenbahnen und noch vieles andere, dort werden sie ihre Erzeugnisse gleich los, und dabei steht Java noch längst nicht unter voller Kultur, und so lange man also auf dieser bequemeren Insel noch billiges Land genug bekommt, werden die anderen Sundainseln links liegen gelassen, ganz besonders Borneo, weil dort die Dajaks hausen, welche die ekelhafte Angewohnheit haben, den Fremden die Köpfe abzuschneiden, um sie als Trophäe auf die Palisaden ihrer Dörfer zu stecken.
Was mich aber bei der Lektüre über Borneo am allermeisten interessierte, das war, dass da unten auch schon einmal so ein Abenteurer gehaust hatte, auch so ein Seezigeuner, der mir hätte die Hand reichen können, nicht minder aber dem etwas anders gearteten Karlemann.
Im Jahre 1843 erschien an der Küste Borneos eine kleine Jacht, mit zehn Mann und einigen Kanonen besetzt, welche einem englischen Sportsman und Allerweltsabenteurer namens James Brooke gehörte.
Sein Hierherkommen hatte einen bestimmten Zweck.
Wenn man eine gute, große Karte von Borneo betrachtet, noch heute, so sieht man im Norden einen breiten Landstreifen, fast den vierten Teil der ganzen Insel einnehmend, der nicht mit den holländischen Farben angestrichen ist. Auf den deutschen Karten ist diese Gegend ›Reich Borneo‹ bezeichnet, auf englischen Karten ist sie ›Property Borneo‹ benannt, und sonst ist es das Gebiet des Sultans von Brunei, der sich noch heute von den Holländern unabhängig zu erhalten gewusst hat.
Damals nun wurde die ziemlich bevölkerte Gegend um die Residenz Brunei herum, der Insel Labuan gegenüber gelegen, von malaiischen Seeräubern sehr heimgesucht; der Sultan von Brunei, der sonst einen ganz hübschen Seehandel von Insel zu Insel betrieb, konnte sich ihrer nicht erwehren.
Da bot ihm James Brooke seine Hilfe an, sie wurde angenommen, und innerhalb zweier Jahre hatte dieser gewiefte Abenteurer mit seiner kleinen Jacht unter den malaiischen Seeräubern vollkommen aufgeräumt, und für die, welche noch übrig blieben, genügte sein schrecklicher Name, um sie in die Flucht zu treiben.
Zum Danke dafür beschenkte der Sultan ihn mit einer Landschaft in seinem Reiche, einem Küstenstriche von sechzehn Meilen Länge und zehn Meilen Breite, östlich von Kap Duti, dem westlichen Zipfel von Property Borneo.
Gut, Brooke setzte sich hier fest, zog noch andere Abenteurer herbei, proklamierte sich gleich als König, wurde als solcher auch von den dort lebenden Eingeborenen, da der Sultan ihn bestätigte, anerkannt.
Borneo ist äußerst reich an Kohlen, Gold und anderen Mineralien, auch an Edelsteinen. Aber das alles wird nur im Innern gefunden, in den isolierten Bergen, lohnt sich die Ausfahrt nicht, da lassen die Köpfe abschneidenden Dajaks auch niemanden herein.
Es gibt auch Küstengebirge, aber gerade hier wird von alledem nichts gefunden.
Auch Sarawak, Brookes kleines Königreich, ist gebirgig, er suchte nach Schätzen, fand weder Kohlen noch Gold noch Edelgestein, wohl aber... Antimon in schwerer Menge! Und Antimon ist ein gar begehrtes, wegen seiner Seltenheit kostbares Metall. Das Antimon wird hauptsächlich gebraucht zu feinen Legierungen, in der Feuerwerkerei, zu medizinischen Zwecken.
Und der Abenteurer, ein Ritter ohne Furcht und Tadel, der aber damals sonst nichts weiter besessen als seine kleine Jacht, wurde bald ein schwerreicher Mann. Allein im Jahre 1854 hatte er durch seine Antimonausbeute einen Reingewinn von hundertfünfzigtausend Talern — das ist zehnmal mehr, als was Holland jährlich von ganz Borneo hat, abgesehen davon, dass diese Insel ihm jährlich zweihunderttausend Taler kostet. —
Mit diesem letzten Bericht über die Jahreseinnahme schloss mein in der Historie des James Brooke am weitesten gehendes Buch.
Nur noch etwas anderes fand ich erwähnt.
Die Kunde von dem Glücke des englischen Abenteurers, der plötzlich ein kleiner König geworden war und durch seinen Antimonhandel schon eine Million verdient, hatte sich natürlich schnell verbreitet, und ebenso natürlich war es England, welches von allen Mächten zuerst auf der Bildfläche erschien, um seinen ätzenden Senf dazwischenzugeben.
Gut, sagte der Kommandant des abgeschickten Kriegsschiffs als Vertreter Englands zu dem Sultan von Brunei, wir wollen die Güte haben, diesen James Brooke als König anzuerkennen, aber dafür musst du uns die Insel Labuan geben, und wenn du das nicht willst, dann schießen wir deine Residenz in Grund und Boden.
Was sollte der arme Sultan tun? Er musste wohl ja sagen. Was der Holländer dazu sagte, weiß ich nicht. Er hatte eben versäumt, sich in den Besitz von Labuan zu setzen, obgleich diese Insel der Schlüssel zu ganz Borneo ist, so wie Sansibar zu ganz Afrika.
Kurzum, so setzten sich die Engländer auf Labuan fest, so wie sie sich in Gibraltar, auf Malta, auf Helgoland, in der Walfischbai und auf Sansibar festgesetzt haben, die Holländer auslachend, die Spanier, die Franzosen, die Italiener und die Deutschen wie alle übrigen Nationen auslachend, die in der Welt noch Kolonien suchen.
Es muss noch viel mehr rot angestrichen werden, hat Cecil Rhodes gesagt — und man sieht auch noch heute, während sonst ganz Borneo holländisch ist, den Namen der wichtigen Insel Labuan rot unterstrichen. Und so werden die Engländer noch viel mehr rot anstreichen, bis... ihnen ihre rote Farbe noch einmal als verzehrende Flamme über dem Kopfe zusammenschlagen wird. — — —
Das war es, was ich über Borneo wusste, brauchte es aber meinem Kommodore nicht zu sagen, meine einfache Bejahung seiner Frage genügte.
»Hier liegen die alten Bauten, die ich besuchen möchte«, fuhr Tischkoff fort, auf eine Karte von Borneo deutend, die der Schiffsbibliothek angehörte.
Wohin seine Fingerspitze deutete, zeigten sich einige Seen eingetragen, zwei davon mussten dem Maßstabe nach ziemlich groß sein.
Diese Seengegend befand sich gleich hinter jenem Gebiete Sarawak, das hier aber nicht besonders gekennzeichnet war, in der Provinz Sintang, die ziemlich gut erforscht zu sein schien.
Diese Provinz Sintang, unter holländischer Oberhoheit stehend, wird von dem größten Gewässer Borneos durchströmt, von dem Pontianak, der an der Westküste bei der gleichnamigen Hafenstadt mündet, auch sonst lagen viele Städte oder Ansiedlungen daran, durch kleine Kreise markiert, und obgleich der Pontianak nicht diesen Seen entspringt, war doch deutlich gezeigt, dass er mit ihnen durch kleinere Flüsse in Verbindung steht.
»Da könnte man wohl den Strom gleich hinauffahren?«, meinte ich.
»Allerdings.«
»Aber doch nicht gleich mit der ganzen ›Sturmbraut‹?«
»Doch. Was meinen Sie wohl, was für ein gewaltiger Strom das ist!«
Ja, ja, darin hatte ich schon einige Erfahrung, wie in der Wirklichkeit alles ganz anders aussieht, als auf solch einem Kärtchen.
»Aber dann doch nicht auf dem Flüsschen bis in den See hinein?«
»Auch das.«
»Das Flüsschen sieht aber äußerst dünn aus.«
Tischkoff lachte geräuschlos.
»Mein lieber Kapitän, das meiste was hier eingetragen, ist nur der Phantasie entsprungen. Man hat eine Ahnung, dass der Pontianak mit diesen Seen in Verbindung steht, die Eingeborenen behaupten es, es muss auch so sein, man erkennt es aus bestimmten Anzeichen — aber benutzt hat diesen Wasserweg wohl noch kein Europäer, und wenn er sich zufällig hingefunden, so hatte er doch in dem ewigen Dunkel des Urwaldes kein Mittel, die Richtung des Weges festzustellen, es ist nämlich ein unentwirrbares Labyrinth von einzelnen Wasserläufen, und so hat man sich eben begnügt, hier eine feine Linie zu ziehen, nur um anzudeuten, dass hier eine Wasserverbindung zwischen Strom und See existiert.«
»Kennen Sie den Weg?«
»Ich kenne ihn.«
»Woher?«, entfuhr es mir.
»Ich besitze eine Karte«, entgegnete mein Kommodore, der da doch manchmal sonderbar sein konnte, gleichmütig.
»Sie sind schon einmal dort gewesen?«, fragte ich nun auch weiter.
»Ja. Aber kurz vor meinem Ziele musste ich umkehren. Der Zugang zu den Seen wurde mir verwehrt. Diese alten Bauten, auf die ich es eben abgesehen habe, sind Heiligtümer.«
»Wer verwehrte Ihnen den Zutritt?«
»Dajaks, welche dort hausen.«
»Inwiefern gelten denen diese alten Bauten für heilig?«
»Die jetzt ausgestorbenen Malusos hatten ihre eigene Religion, eine sehr blutige, mit Menschenopfern verbundene. Es ist sehr wohl möglich, dass diese Religion in ganz Borneo noch jetzt zahlreiche Anhänger hat, natürlich ganz heimlich. Die Dajaks selbst sind Heiden, glauben eigentlich an gar nichts, aber wahrscheinlich werden sie von einer Priesterkaste, welche dort an jenen Seen haust, als Hüter ihres Geheimnisses benutzt.«
»Ah, Sie meinen, dort hält sich eine heimliche Priesterkaste verborgen?«
»Das weiß ich sogar bestimmt.«
»Das ist allerdings sehr interessant.«
»Deshalb eben will ich hin, um dieses Geheimnis zu enträtseln.«
»Das erstemal gelang es Ihnen also nicht?«
»Nein.«
»Sie wurden mit Gewalt daran gehindert?«
»Ja, ich wurde beschossen, mit vergifteten Pfeilen.«
»Was, mit vergifteten Pfeilen?!«
»Alle Dajaks bedienen sich vergifteter Pfeile, die kleinste Verwundung durch sie führt in derselben Minute noch den Tod herbei.«
»Das ist doch höchst unangenehm«, sagte ich mit entsprechender Empfindung.
Teufel noch einmal, ich fürchte mich so leicht vor keiner Waffe — aber vergiftete Pfeile? Das ist etwas Niederträchtiges.
»Unterdessen habe ich ein Mittel gefunden, um die Folgen der Vergiftung mit Sicherheit aufzuheben, der Betreffende ist gerettet.«
»Ah, das ist ja vortrefflich«, sagte ich mit Erleichterung.
»Es ist ein inneres Mittel, welches das ins Blut gehende Gift sofort neutralisiert, dann braucht die Wunde nur noch ausgebrannt zu werden, und es hat absolut keine Folgen.«
»Ausgebrannt?«, wiederholte ich misstrauisch.
»Die brennende Zigarre genügt. Es ist nur wegen des Eiterns.«
»Das ist weniger vortrefflich.«
»Wollen Sie lieber wegbleiben?«, lächelte Tischkoff.
»Gott bewahre, ich dachte nur so. Also wir können mit der ›Sturmbraut‹ wirklich bis dort in die Seen dringen?«
»Ja, ich benutzte damals ein offenes Boot mit nur wenigen Begleitern als Ruderer, aber ich habe mich eben überzeugt, dass dieser Wasserweg, den man freilich kennen muss, auch von einem großen Schiffe befahren werden kann. Ihre ›Sturmbraut‹ wird nirgends auf Schwierigkeiten stoßen. Höchstens, dass immer einige Matrosen auf den obersten Rahen sitzen und die den ganzen Fluss überspannenden Schlingpflanzen zerhauen müssen.«
Ich stellte mir in meiner lebhaften Phantasie solch eine Fahrt durch einen Urwald vor, auf meinem großen Schiffe, und immer mehr ward ich Feuer und Flamme für dieses abenteuerliche Unternehmen. An die vergifteten Pfeile dachte ich schon gar nicht mehr, auch nicht an den glühenden Zigarrenstummel.
»Und dann werden wir uns den Eintritt in dieses geheimnisvolle Priesterreich mit Gewalt erzwingen?«
»Das ist eben meine Absicht.«
»Well, ich bin dabei!«
Bei einem nochmaligen Blicke auf die Karte, wo sich der ganze Stromlauf, mit vielen kleinen Kreisen Städte und Ansiedlungen angebend, markiert zeigte, stieg mir noch ein Bedenken auf.
»Wird man uns da aber auch überall so ungehindert passieren lassen?«
»Warum nicht? Man kann uns ja gar nicht aufhalten. Es gilt nur, durch den Hafen von Pontianak zu kommen, der allerdings von den Holländern stark befestigt ist, aber eine Stromsperre gibt es doch nicht. Wir rutschen einfach bei Nacht durch...«
»Dann haben wir aber doch noch zahllose andere Städte oder Flecken zu passieren.«
»Nun, was macht das?«
»Wir können von dort aus beschossen oder sonst wie behindert werden.«
»Ja, wie sollen denn aber diese Flecken erfahren, dass wir kommen?«
»Sie werden vom Haupthafen aus benachrichtigt.«
»Auf welche Weise? Dort gibt es noch keine Telegrafen.«
»Durch Reiter, die uns am Ufer doch mit leichter Mühe überholen.«
»Ist ganz ausgeschlossen. Dort sind alle Ufer total versumpft. Es gibt keine anderen Wege als die Flüsse. Wir könnten höchstens durch ein Boot überholt werden, das werden wir aber eben zu verhindern wissen.«
»Gut, wir müssen aber doch auch zurückkehren, dann weiß man doch schon von uns, da hilft bei unseren großen Schiffe keine Maskerade mehr, und da braucht man auch nicht zu wissen, dass man die berüchtigte ›Sturmbraut‹ vor sich hat.«
»Wir werden einen anderen Rückweg einschlagen.«
»Welchen?«
»Hier den Palo werden wir benutzen.«
Tischkoff zeigte mir den Strom, jedenfalls viel kleiner als jener, der, aus dem Innern kommend, nicht wie der Pontianak nach der östlichen, sondern nach der nördlichen Küste ging, dabei das Gebiet Sarawak durchfließend.
»Ja, der kommt aber doch gar nicht aus diesen Seen.«
Er entsprang nämlich der Karte nach viel weiter östlich, schien aus mehreren Nebenflüssen zusammenzufließen.
»Das ist ein Irrtum. Der Palo kommt dennoch aus diesen Seen.«
»Was? Wie wäre denn solch ein Irrtum möglich?! Das ist doch ein Unterschied von wenigstens dreißig geografischen Meilen!«
»Ja, diese Zeichnung beruht eben auf Phantasie, auf Annahmen. Es ist ja auch möglich, dass er von dort oben Nebenflüsse erhält. Aber der Hauptstrom kommt aus dem Larsee, auf den wir es hauptsächlich abgesehen haben. Geehrter Herr Kapitän, bedenken Sie doch, was für Mühe man sich schon gegeben hat, die Quellen des Nils zu finden. Sollte man nicht meinen, dass dies ganz einfach ist? Zumal, da der Nil, so weit man ihn kennt, keinen einzigen Nebenfluss hat. Da geht man ganz einfach immer am Ufer entlang, oder fährt ihn im Boote hinauf — da muss man doch einmal an die Quelle kommen. Jawohl, das ist eben in Wirklichkeit alles ganz anders, als es auf der Karte aussieht! Da kommen vor allen Dingen Sümpfe in Betracht, unentwirrbare Labyrinthe von Wasserstraßen. Nun sehen Sie hier diese Karte an, die sieht etwas anders aus.«
Tischkoff breitete eine Karte aus, mit Farben auf Pergament gemalt.
Ja, das sah allerdings anders aus! Sie zeigte nur die Umgebung jener Seen, aber das war eine ungeheure Menge, und nun Wasserstraßen kreuz und quer, wogegen das Wasserstraßennetz von Venedig eine Kleinigkeit zu nennen war.
Und hier sah man auch, wie der nach Norden gehende Palo wirklich aus diesem See herauskommen sollte, aus einem Labyrinthe von Sümpfen.
Ich konstatierte noch, dass diese Pergamentkarte sehr alt sein musste, es waren auch Schriftzeichen eingetragen, doch in Hieroglyphen, die mit dem Arabischen Ähnlichkeit hatten — und ehe ich noch genauere Betrachtungen anstellen konnte, hatte Tischkoff die Karte schon wieder zusammengefaltet.
Gern hätte ich gefragt, wie mein Kommodore in den Besitz dieser Karte gekommen sei, doch so etwas war ja nicht erlaubt. Aber eine andere Frage war mir wohl gestattet.
»Haben Sie von dem Abenteurer James Brooke gehört?«
»Dem der Sultan von Brunei die Provinz Sarawak schenkte? Gewiss.«
»Was ist aus dem eigentlich geworden?«
»Der ist im Jahre 1858 im Kampfe mit Dajaks gefallen.«
»Erst vor vier Jahren? Ach was! Und was ist denn nun aus seinem Königreiche geworden?«
»Bis zu seinem Tode ging alles vortrefflich. Die Antimonbergwerke waren im besten Flor.«
»Und dann?«
»Dann kam England und hat die Provinz Sarawak als Eigentum annektiert.«
Dieses verflixte England!
»Das beutet jetzt die Antimonbergwerke aus?«
»Jawohl.«
»Hatte denn James Brooke keine Erben?«
»Doch. Einen Sohn und eine Tochter.«
»Haben die denn keinen Anspruch gemacht? Es war doch ihr gutes Eigentum.«
»James Brooke hatte eine Tochter des Sultans von Brunei geheiratet, nach mohammedanischem Ritus, und eben deshalb erkannte England die diesem Verhältnis entsprungenen Kinder nicht als rechtmäßige Erben an, und da keine sonstigen Verwandten da waren, so wurde der Besitz des Verstorbenen von England annektiert.«
Mir schwoll etwas ganz unheimlich in der Brust an, das mir siedend heiß zu Kopfe stieg.
»Was haben da die Kinder gemacht?«, fragte ich, mich beherrschend.
»Was sollten die machen? Es waren unmündige Kinder. Die sind verschollen.«
»Haben die nicht wenigstens eine Entschädigung bekommen?«
»Eine solche ist ihnen wohl angeboten worden, aber sie wurde von ihrem Vormunde, einem malaiischen Fürsten, verschmäht. Dann wollten sich die Engländer auch dieser Kinder bemächtigen, für spätere Fälle, aber da waren diese schon verschwunden, nicht mehr zu finden. Sie werden wohl am Hofe ihres noch lebenden Großvaters sein.«
»Und wie fassten die dortigen Eingeborenen diese Vergewaltigung auf?«
»Es gab wohl einen kleinen Aufstand, der aber bald in Güte wieder beigelegt wurde. Die englischen Unternehmer dort, denen die Regierung die Bergwerke verpachtet hat, verstehen diese Malaien zu behandeln. Mehr weiß ich sonst auch nicht. Wie ist es nun, sind Sie noch mit allem versehen, um Borneo erreichen zu können?«
So sprachen wir doch noch über die Wasserfrage und beschlossen, lieber weder Hafen noch Flussmündung aufzusuchen, es langte noch vollkommen, um den Pontianak zu erreichen, wo wir ja Wasser genug schöpfen konnten.
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