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ROBERT KRAFT

WIR SEEZIGEUNER

ERLEBNISSE DES STEUERMANNS
RICHARD JANSEN AUS DANZIG

BAND 2

Cover Image

RGL e-Book Cover
Based on an image created with Microsoft Bing software


Ex Libris

Neuausgabe in neuer deutscher Rechtschreibung

Herausgegeben von Dieter von Reeken, Lüneburg

1. Auflage 2023

Diese E-Buchausgabe: Roy Glashan's Library, 2025
Fassung vom: 2025-05-26

Erstellt von Matthias Kaether und Roy Glashan

Textquelle: Verlag Dieter von Reeken
(Mit freundlicher Genehmigung des Verlegers)

Abbildungsnachweis
Braatz, Thomas (Archiv): sämtliche Abbildungen
Verlag H. G. Münchmeyer, Dresden-Niedersedlitz:
Einbandvorderseite, S. 2 und sämtliche
Illustrationen im Text: Adolf Wald

Einbandvorderseite:
Illustration auf dem Umschlag
der Lieferung 1 von Robert Kraft:
Wir Seezigeuner. Illustrierte Ausgabe.
Lieferungsroman (52 Lieferungen).
Dresden-Niedersedlitz:
H.G. Münchmeyer o.J. [1907];

Frontispiz auf Seite 2:
vorderer Einbanddeckel der Buchausgabe
(blaues Leinen) o.J. [1907]

Texterfassung und -aufbereitung: Helmut Prodinger

Korrektur: Ellen Radszat und Mike Neider

Herausgeber und Verlag der DvR-Buchreihe:

Dieter von Reeken, Brüder-Grimm-Straße 10, 21337 Lüneburg
www.dieter-von-reeken.de

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Link zu weiteren Werken dieses Autors


Illustration

"Wir Seezigeuner," Band 2, Verlag Dieter von Reeken, 2023


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"Wir Seezigeuner," Lieferung 1.


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"Wir Seezigeuner," Cover der Ausgabe von 1920


INHALTSVERZEICHNIS


— • —

44. Kapitel
Die Expedition ins Innere

Originalseiten II.233 — 284

Ich überspringe die Zeit, welche wir noch auf der Felseninsel verbrachten, emsig damit beschäftigt, weitere solche Flussfahrzeuge herzustellen. Die Bretter dazu waren also in Monrovia nach Karlemanns Angaben gefertigt worden, sie waren schon gefalzt, brauchten nur noch zusammengefügt zu werden, aber mit der vorgeschriebenen Nummerierung haperte es, und so ging es bei uns so zu, als wenn in einem großen Hause für die Winterszeit die schlecht nummerierten Doppelfenster angebracht werden, oder aber, besser noch konnte man unsere Arbeit mit so einem Geduldspiel vergleichen, wenn Kinder ein aus lauter einzelnen Stücken bestehendes Bauwerk zusammensetzen, und es will nicht passen — und dieser Vergleich ist auch insofern besser, weil wir uns nichts verdrießen ließen, stets herrschte fröhlicher Mut, und an humoristischen Zwischenfällen fehlte es ja auch nicht.

Erwähnen will ich nur noch, ohne sonst eine ausführliche Beschreibung zu geben, dass diese Häuser auf hohlen oder vielmehr durchbohrten Baumstämmen ruhten, welche an den Enden zugepfropft waren und so eine außerordentliche Tragkraft hatten, und Karlemann hatte weder geteerte Dachpappe noch die innere Einrichtung noch sonst irgend etwas vergessen. Er musste dies alles vor schon langer Zeit gar sorgfältig durchdacht haben, dass alles so klappte — bis auf die unregelmäßige Nummerierung der einzelnen Planken.

Nach etwa zwei Wochen waren die Jahrmarktsbuden fertig, nicht nur vier, sondern deren fünf.

Doch nur zwei davon glichen wirklich solchen Zigeunerwagen mit Fensterchen und Schornsteinen, und Karlemann hatte es nicht einmal an dem grünen Anstrich fehlen lassen. In dem ersten würden wir wohnen, die Leiter der Expedition, mein erster Steuermann und andere, die eben zur Elite gehörten. Das zweite schwimmende Haus diente der Begleitmannschaft als Aufenthalt, und zwar bestand diese jetzt fast ausschließlich aus Leuten meines Schiffes, Matrosen und Heizern.

Nur wenige Schwarze kamen noch hinzu, die aber mehr zur Bedienung des ›Herrenhauses‹ verwendet wurden. Oder sie waren in den anderen drei Archen untergebracht, welche später als Ställe dienen sollten, jetzt noch mit Material aller Art vollgepfropft waren, die letzte mit Kohlen.

Wäre ich nicht rechtzeitig gekommen, so hätte Karlemann von Erwachsenen nur Neger mitnehmen können. Meine Matrosen waren ihm lieber, und so beschränkte er sich auf wenige Neger, denen er unbeschränktes Vertrauen schenken zu dürfen glaubte.

Auch auf der Seeburg selbst trat eine große Umwälzung ein. Karlemann hatte von den ursprünglichen sechshundert Negern zuletzt überhaupt nur noch zweihundert mit Bohrarbeiten beschäftigt, die anderen hatte er schon deshalb entlassen müssen, weil er gar kein Anrecht mehr auf ihre Frondienste besaß, es waren doch Sklaven von Häuptlingen gewesen, die sie dem Tierdresseur nur geliehen hatten, und Karlemann hatte fast alle Tiere, die man ihm zur Dressur übergeben, schon abgeliefert, der Kontrakt war eben erloschen gewesen.

Es waren also nur noch etwa zweihundert, welche er zur Zeit meiner Ankunft beschäftigte, teils weil der Kontrakt noch weiterlief, teils weil die Frondienste der Sklaven als Entgelt für die Erziehung der Häuptlingssöhne gezahlt wurde. (Doch das wohl nur zum kleinsten Teil, sonst nahm Karlemann sicher bares, wenn auch ungemünztes Gold dafür; das waren eben solche Sachen, in die ich nicht eingeweiht wurde, ich hatte ja überhaupt keine Zeit, auch kein Interesse, mich um so etwas zu kümmern.)

Jetzt also wurde auch noch unter diesen zweihundert Sklaven tüchtig aufgeräumt, die kleinen Dampfer und der ›Knipperdolling‹ brachten sie massenhaft nach Legala zurück. Es mochten vielleicht nur noch fünfzig Neger sein, welche auf der Felsenburg zurückblieben, um unter des Ingenieurs und des Baumeisters Anleitung weiter zu bohren und zu meißeln.

Und dann gewahrte ich verschiedene Anordnungen, welche mich stutzig machten. So z. B. wurde ich zufällig einmal Zeuge, wie ein Dutzend solcher halbwüchsigen Bengels unter Karlemanns Aufsicht in einer Felsenkammer Bomben und Granaten auftürmten.

»Sie setzen Ihre Seeburg wohl in Kriegsbereitschaft?«, fragte ich.

»Allerdings«, entgegnete er ernst. »Und Sie denken wohl, diese kleinen Jungen spielen nur so zum Spaß mit den Granaten? Sie sollten nur sehen, wie die mit den Kanonen dort umgehen können! Die habe ich während der Reise von Deutschland bis hierher unter einem alten Artilleristen von der Marine nicht schlecht am Geschütz exerzieren lassen.«

»Ja, aber fürchten Sie denn hier etwas?«

Karlemann blieb mir die Antwort schuldig, er zuckte in seiner Weise nur die Schultern und stellte seine Jungen weiter an.

Es war Anfang Februar, hier nach einer langen Regenzeit wieder einmal Frühling, als alles zum Aufbruch fertig war.

Auf der untersten Galerie standen alle Mitglieder der Expedition angetreten. Außer Karlemann und mir kamen mein erster Steuermann und mein erster Maschinist in Betracht, welch letzterer den kräftigen Schleppdampfer führen sollte, der auch von meinen eigenen Heizern bedient wurde.

Unter der übrigen Besatzung der ›Sturmbraut‹ hatte ich genau die Hälfte ausgewählt. Die tüchtigsten kann ich nicht sagen, denn es waren überhaupt lauter tüchtige Burschen. Weil der Segelmacher zugleich auch gelernter Zimmermann war, nahm ich aus leicht begreiflichen Gründen auch diesen mit, ferner den Koch, während dessen Gehilfe, der sogenannte Kochsmaat, an Bord zurückblieb; als unsere spezielle Aufwartung kam der Steward mit, und da ich jetzt zwei Bootsleute besaß, begleitete uns natürlich Goliath.

Von Karlemanns Leuten kamen noch vierzehn mit, lauter Schwarze, welche aus jenen Gegenden, die wir durchreisen wollten, stammten, zum größten Teil früher auch Jäger gewesen waren, und ferner Jim, der Cowboy, wie auch Hatschigagok, der Fischmensch, welch letzterer hier einmal ausgehalten hatte. Dass uns diese beiden recht nützlich sein würden, konnte ich mir schon vorstellen.

Womit wir sonst ausgerüstet waren, wusste ich nicht. Das hatte Karlemann schon alles vor meiner Ankunft mit langer Hand vorbereitet, es war alles wohlverpackt, und es waren eine Unmasse von Kisten und Fässern und Segelpacken, die in den hinteren Fahrzeugen verfrachtet wurden. Jedenfalls hatte dieser intelligente Junge nichts vergessen!

An einem der letzten Tage aber hatte Karlemann an mich noch ein Verlangen gestellt, welches mich zuerst etwas irritiert hatte.

Von seinen kleinen Untertanen kam kein einziger mit, und ich hatte schon gemerkt, oder das war ja auch allbekannt, dass nach Karlemann auf der Seeburg der Höchstkommandierende Fritz Neumann war, früher genannt der kleine Igel, der jüngste von jenen Berliner Pflanzen, zehn oder elf Jahre alt.

Weshalb Karlemann gerade dieses kindliche Bürschchen zu seiner rechten Hand auserwählt, war mir, wenn ich so beobachtete, eigentlich immer unverständlich. An diesem Dreikäsehoch war auch gar nichts, was imponieren konnte.

»Ich weiß es besser, der hat am wenigsten Gewissen«, hatte mir Karlemann einmal gesagt, nicht recht verständlich.

Und nun verlangte Karlemann, dass sich auch meine zurückbleibenden Leute unter das Kommando dieses zehn- oder elfjährigen Knirpses, der noch in die fünfte Klasse gehörte, wo man noch nicht einmal mit Tinte schreibt, stellen sollten.

Ich erhob Widerspruch. Nein, das ließen sich meine Leute nicht gefallen. Doch es ging besser, als ich gedacht. Meinen alten Seebären machte es eben Spaß, sich von diesem Dreikäsehoch kommandieren zu lassen, das war so ein Jux.

Es war ein herrlicher Morgen, die See glatt wie ein Spiegel, als uns der Dampfer, der schon früher bei schönem Wetter hierher gekommen war, hinausschleppte. Die See hätte auch nicht den leichtesten Wogenschlag haben dürfen, darauf waren unsere Zigeunerhäuschen nicht eingerichtet, sie wären gekentert, und auch der ganz flache Dampfer vertrug keinen starken Puff von der Seite.

Nun waren wir im offenen Meere. Ich erstieg die Treppe, welche auf das flache Dach hinaufführte, das auch mit einem Zelte überspannt werden konnte.

Ach, war das ein Anblick! Er ist mir unvergesslich. Es ist ja immer nur der erste Anblick, der so fesselt, bald wird einem alles zur Gewohnheit.

Unser Herrenzigeunerschiff bildete die Spitze, d. h., hinter dem Dampfer, und nun die anderen schwimmenden Karren, wie sie in regelmäßigem Abstand hinter uns herschwammen auf der spiegelglatten Fläche — diese grünen Häuschen mit den Fensterchen und den Essen, aus denen schon Rauch aufwirbelte — es war einfach reizend!

Dieser deutsche Zigeunerknabe war doch nicht nur so auf den Erwerb erpicht, er hatte noch wirkliche Romantik im Leibe!

Wie ich schon sagte, hatten nur die ersten beiden Häuschen, weil zum Wohnen bestimmt, richtige Fenster, aber Karlemann hatte auch an die anderen, als Proviant- und Gepäckfahrzeuge dienend, später als Ställe, wenigstens Fenster und hier und da eine Tür malen lassen, auch einen Schornstein darauf markiert, nur so als Spielerei, als Zierde.

Ich weiß nicht, was mich bei diesem Anblick packte — die holdesten Träume meiner Kinderzeit verwirklichten sich — und ich war ja noch immer so jung, so jung — ich war noch immer bereit, jede Robinsonade mitzumachen, mitzuspielen... ach, es war herrlich!

Und dann blickte ich unter mich. Wieder dasselbe! Auf der vorderen Plattform stand Karlemann. Wir alle waren jagdmäßig gekleidet und ausgerüstet, mit hohen Stiefeln und Sombrero, die Lodenanzüge sollten jeder Strapaze gewachsen sein, ich hatte solche Jagdkostüme für mich und wenigstens für die Offiziere von vornherein an Bord gehabt, die besten Jagdflinten und alles, was dazu gehört — Karlemann hatte sich ein derartiges Jagdkostüm jetzt, wie er mir erzählte, aus Deutschland mitgebracht, hatte es sich wohl erst anfertigen lassen müssen — natürlich, für solch einen Wichtelmann gab es so etwas doch nicht fertig zu kaufen — und wie dieses Kerlchen nun aussah!!

Die enganliegenden Stiefel, die ihn etwas xbeinig machten, gingen ihm bis an den Bauch — und nun der Oberkörper ein ganzes Waffenarsenal von Dolchen, Pistolen und Patronen — und nun ein Schlapphut — ein Hut, wie ich noch gar keinen gesehen hatte — mit solch einer ungeheuer breiten Krempe! Das Kerlchen sah einfach aus wie ein Pilz, wie ein riesiger Champignon.

Und dieser possierliche Champignon nun stützte sich, die Beine gekreuzt, auf eine mächtige Donnerbüchse, und in dieser imponierenden Positur stand Karlemännchen unbeweglich auf der Plattform.

Was hatte der eigentlich? Wollte der immer so als lebendiges Waffenarsenal einher wandeln, sich etwa auch so ins Bett legen? Das sieht ja einem Sonntagsjäger ähnlich, auch einem afrikanischen, aber dieser Junge war doch eigentlich über solches Larifari erhaben, da kannte ich ihn doch schon zu gut.

Auch wir anderen Blassgesichter trugen ja unsere Jagdkostüme, aber wir dachten doch nicht daran, immer mit unseren Schießprügeln zu paradieren, machten es uns sonst vielmehr so bequem wie möglich.

»Oder so?«, sagte Karlemann jetzt, spreizte die Beine, stützte sich nur mit der einen Hand auf die Donnerbüchse und legte die andere beschattend über die Augen, spähte in die Ferne.

»Oder lieber so?«

Und er wechselte abermals die Positur, hob die Elefantenbüchse, legte sie an, kniete auch einmal nieder.

Aha, ich begann etwas zu merken! Karlemann stand nicht umsonst so auf der Plattform, ich hatte nur die Vorbereitungen nicht beobachtet, befand mich schon längere Zeit auf dem Dache.

Aber hatte denn Karlemann auch einen Fotografen mitgenommen? Das konnte dann doch nur ein Schwarzer sein. Und die Fotografie war damals eine noch sehr schwierige Kunst, da gab es noch keine solche Knipser.

Ich begab mich hinab. Es war tatsächlich ein Neger, der im Innern der Kajüte am Fenster saß und Karlemanns Stellungen studierte; aber nicht um ihn zu fotografieren, sondern um ihn zu malen.

Faktisch, ein nackter Neger, der zwischen seinen kulbigen Fingern den Bleistift hielt und mit kecken Strichen skizzierte, und zwar, so viel ich davon verstand, ganz ausgezeichnet, ganz naturgetreu, und da hatte er auch schon einen reichhaltigen Farbkasten vor sich, um die Skizze dann zu kolorieren.

Ja, der eine kann's, und der andere lernt's nie und dann noch mangelhaft. Dieser schwarze Sklave, bisher als Erdarbeiter beschäftigt, der erst auf der Seeburg einen Bleistift zu sehen bekommen hatte, konnte nach der Natur skizzieren, hatte sofort, als er zum ersten Male die Materialien dazu bekommen, in Wasserfarben und Öl gemalt!

Karlemann hatte ihn ›entdeckt‹. Das wurde dann unser Kunstmaler, der so die Jahrmarkts- und Reklamebilder fertigte. Freilich, ich muss es gestehen, sie waren auch danach. Von Perspektive und dergleichen gar keine Ahnung. Nur immer so bunt wie möglich, das war die Hauptsache. Immerhin, das muss ich ebenfalls sagen, die Kunstleistungen dieses Negers übertrafen doch noch die schrecklichen Gebilde, welche in Deutschland meist die Wände der reisenden Menagerien und anderer Schaubuden schmücken. Etwas mehr Natur wusste dieser Neger doch noch hineinzulegen.

Wie er aber jetzt mit flüchtigen Strichen die verschiedenen Posen des lebendigen Waffenarsenals festhielt — ich war grenzenlos erstaunt. Da hatte der schwarze Kerl wirklich etwas los! Und von Feinheiten verstand ich ja nichts, nicht einmal von den gröbsten.

»Ich lasse mich verewigen«, rief mir Karlemann zu, als er sah, dass ich dazugekommen war. »Die bei mir zu Hause müssen doch wissen, was für ein gewaltiger Kerl ich bin. Oder so?«

Der Champignonpilz stemmte das rechte Bein zurück, hob die Elefantenbüchse, und — ich glaube gar nicht, dass er es mit Absicht tat — ein Knall, aber schon mehr ein Kanonenschuss, ein Feuerstrom, und... der Champignonpilz war samt den hohen Reitstiefeln und sämtlichen Dolchen und Pistolen von der Plattform verschwunden! Nur die rauchende Donnerbüchse lag noch da.

Ich wusste eigentlich gar nicht recht, was da vor sich gegangen war. Mir kam das wie eine Vision vor, wie so ein Kunststück in der Zauberbude.

Passen Sie auf, meine geehrten Herrschaften, jetzt lasse ich einen lebendigen Menschen verschwinden, ich brauche nur mit dieser Pistole zu schießen... puff!!! und weg ist der Kerl.

Aber mir kam die Erkenntnis, was hier geschehen war, schnell genug. Ich hörte noch nachträglich in meinem Ohr den klatschenden Fall ins Wasser, dort zogen sich noch Kreise, und die ganze Arche war durch den Rückstoß der gewaltigen Donnerbüchse ins Schwanken gekommen.

»Um Gottes willen, der ist ins Wasser geschleudert worden!!!«

Jawohl, anders war es auch nicht! Diese Plattform besaß keine Barriere, Karlemann hatte den Rückstoß nicht aushalten können, war ins Wasser gepurzelt.

Wohl stoppte der Dampfer, auf dem dies ebenfalls bemerkt worden war, sofort, da aber hatten wir die Unglücksstelle schon weit hinter uns, das vorletzte Fahrzeug mochte sich gerade dort befinden.

Man kann ja so etwas nicht beschreiben, wie da jede Sekunde ihre Bedeutung hat.

Wir blickten zurück nach jener Stelle.

Jetzt hätte er schon wieder auftauchen können.

Wie lange blieb er denn unter Wasser? Er konnte doch sonst so gut schwimmen.

Himmel, wenn der unter das flache Fahrzeug kam!

Und die schweren Stiefel — vor allen Dingen aber das viele Eisen, das er am Körper trug...

Wie wir noch so dastehen und grübeln, freilich mit Gedankenschnelle, es handelte sich ja nur um Sekunden, springt aus dem Fenster des zweiten Fahrzeugs eine braune Gestalt, verschwindet im Wasser, jetzt werden wir lebendig — stopp, stopp, Stangen her, Seile her — Ruhe, es war der Fischmensch, der wird ihn schon kriegen! — da taucht auch schon wieder Hatschigagoks rotbraunes Gesicht auf, gleich daneben erscheint das Ungetüm von Hut, wie ein Pilz aus dem Wasser wachsend, und dann erscheint auch Karlemanns spuckender Mund.

In der nächsten Minute war er wieder bei uns auf der Plattform. »Du, das malst du aber nicht mit«, war sein erstes Wort, als er sich ausgespuckt hatte.

Das ist hier viel harmloser erzählt worden, als es in Wirklichkeit war. Eine halbe Minute war Karlemann mindestens unter Wasser gewesen, und da half ihm seine Schwimmkunst nichts, die Last der Waffen war zu groß, er war tatsächlich immer tiefer getrudelt, und wäre Hatschigagok nicht gewesen, hätte er es nicht bemerkt, wäre nicht sofort nachgesprungen — die Laufbahn dieses deutschen Zigeunerknaben hätte hier ein Ende gehabt, da hätten wir mit Stangen und Angelhaken nichts mehr ausrichten können.

Unvergesslich dabei aber ist mir nur das, wie die ungesicherte Donnerbüchse losging und Karlemännchen mit seinen langen Stiefeln und mit dem ungeheuren Schlapphut plötzlich wie durch Zauberei von der Plattform verschwunden war.

Schon in einer Stunde erreichten wir Legala oder fuhren vielmehr in die Mündung des breiten Stromes ein, auf dessen rechter Seite die ansehnliche Hüttenstadt liegt.

Über die Einzelheiten unserer Expedition hatte ich mit Karlemann eigentlich noch gar nicht gesprochen. Wir wollten wilde Tiere fangen und auch einmal dem König in seiner Residenz Kumasi einen Besuch abstatten — mehr wusste ich nicht, und mir war es ganz recht, dass mich Karlemann nicht mehr einweihte, mich nicht zu Rate zog, so hatte ich auch keine Verantwortung.

In der Hüttenstadt brach beim Anblick der fünf schwimmenden Häuser ein großes Hallo aus, alles rannte und schrie und winkte, Karlemann aber rief dem Dampfer zu, sich möglichst in der Mitte des Stromes zu halten, sonst diente ein hier geborener Neger als Lotse, und bald hatten wir Legala hinter uns.

Jetzt wurde Karlemann doch mitteilsam.

»Meine Reise ist sorgfältig vorbereitet«, wandte er sich an mich, nachdem er auf einem Tische eine Karte von Westafrika ausgebreitet hatte, die freilich an den meisten Stellen nur weiße Flecke zeigte. »Ich habe vom König Aquassi Aquatuh die Erlaubnis, sein Land zu bereisen, wie und wo ich will, kann jagen oder sonst etwas tun, und jeder Häuptling ist verpflichtet, mir Beistand zu leisten. Wie der freilich jeden Einzelnen benachrichtigt haben will, das ist mir selber nicht klar. Jedenfalls kann ich ganz als Herrscher auftreten, und so habe ich auch Kididimos Einladung, ihn erst einmal in seiner Residenz aufzusuchen, ausgeschlagen. Das würde doch immer ein paar Tage dauern, und so viel Zeit habe ich nicht zu verlieren. Mir ganz egal, ob er das übel nimmt oder nicht. Ich brauche ihm ja auch nur eine Groschentrompete zu schenken, dann ist alles wieder gut.

»Sie sehen hier die Grenzen des Aschantireiches angegeben. Nur an der Küste sind Dörfer und Negerstädte eingetragen, die Flussmündungen, nicht weit hinter der Küste werden sie punktiert, bis sie ganz aufhören — das ist eben alles noch unbekannt.

Doch ich habe bei hier geborenen Negern genaue Erkundigungen eingezogen, habe selber welche mit, die Bescheid wissen — von denen kann man schon etwas mehr erfahren.

Hier sehen Sie die Hauptstadt Kumasi liegen, bis hierher ist auch noch der Lamote, auch Dah genannt, an dem es liegt, eingetragen. Dieser Strom aber hat zahllose Nebenflüsse; ohne sicheren Führer, wie der alte Sulumo einer ist, könnte man sich da gar nicht zurechtfinden.

Kumasi ist von der Küste in direkter Linie zwanzig deutsche Meilen entfernt, die wir bei den vielen Krümmungen, welche der Fluss macht, bei täglich vierzehnstündiger Fahrt in drei Tagen zurücklegen werden. Dann fünfzehn Meilen weiter hinter Kumasi sehen Sie hier Strichelchen eingezeichnet. Das stimmt, hier ist ein Gebirge, von den Aschantis Gaban genannt. Und die Aschantis wissen natürlich noch mehr davon zu erzählen als der Kerl, der diese Karte gemacht hat.

Es ist nur ein ganz niedriges Gebirge, nur ein Hügelzug, von vielen Flüssen durchbrochen, bis auf einen sehr hohen Berg, der aber wohl selbst ein Gebirge für sich bildet, von den Aschantis Gabanbetel genannt.

Dieser Gabanbetel ist unser Ziel. Dort gibt es noch Gorillas die schwere Menge. Oder ich darf nicht ›noch‹ sagen, dort ist eben ihre Heimat. Denn dass der Gorilla nur in Gebirgswäldern haust, in den flachen Gegenden gar nicht vorkommt, das wissen Sie doch, nicht wahr?«

Nein, das wusste ich noch nicht, und ich glaube, Karlemännchen war auch noch nicht lange im Besitze solcher Weisheiten. Der Gorilla war ja damals überhaupt noch ein ganz fabelhaftes Wesen, lebendig war noch keiner nach Europa gekommen, es existierten nur in Museen einige wenige ausgestopfte Exemplare, und es gab noch immer Leute genug, Gelehrte, welche diesen Waldmenschen in das Reich der Fabel verwiesen, die ausgestopften Tiere für künstliche Erzeugnisse erklärten.

»Kann man denn so weit auf dem Lamote fahren?«, fragte ich.

»Ja, zu Wasser kann man hinkommen, um den ganzen Berg herum, aber ob das noch der Lamote ist, das weiß kein Aschanti mehr zu sagen. Diese ganze Gegend hierherum ist überhaupt unbekannt, auch für die Aschantis.«

»Warum denn?«

»Nu, eben wegen der Gorillas. Das sind für diese Neger doch nicht nur besonders große Affen, sondern schreckliche Ungeheuer, verwilderte Menschen, wenn nicht gar böse Zauberer, die da ihr Wesen treiben. Sie müssen nur die Verhältnisse bedenken. Das Aschantireich ist größer als Deutschland und hat kaum drei Millionen Einwohner, und hier wird doch nicht mit der Postkutsche herumgereist — kurz, von den drei Millionen Negerlein haben vielleicht nur zehn, oder meinetwegen hundert, einmal einen Gorilla gesehen, jeder hat nun noch einige Zoll an der Größe hinzugemacht, und so sind ganz fürchterliche Ungeheuer daraus entstanden, man erzählt sich Sagen von ihnen, unter anderem auch, dass sich diese Waldmenschen auf Bäumen ganz richtige Wohnungen mit Stuben bauen, auf dem Gabanbetel sogar steinerne Häuser aus übereinandergetürmten Felsblöcken, die sie erst vierkantig beißen — jawohl, nur mit ihren Zähnen.

Kurz, hier ist die engere Heimat des Gorillas, auf den ich es speziell abgesehen habe. So ein paar Kerle muss ich lebendig haben, die sollen mir ein schönes Stück Geld einbringen. Und dass es dort auch von Getier aller anderen Art wimmelt, das ist doch ganz selbstverständlich.

Nun soll, wie Sulumo versichert, dort am Fuße dieses Berges auch ein großer See sein, mit Inseln drin, und wenn das alles stimmt, dann sind die günstigsten Bedingungen gegeben, dann lassen wir uns auf solch einer Insel häuslich nieder — durch die Nähe des hohen Berges muss es dort auch ziemlich gesund sein, und von dort aus betreiben wir unser Jagdgeschäft, bis wir genügend Tiere gefangen haben.«

»War Sulumo schon selbst dort?«

»Nee.«

»Woher weiß er da das alles?«

»Nur vom Hörensagen.«

»Und wenn an alledem nichts Wahres ist?«

»Dann schneide ich dem Kerl den Kopf ab«, sagte Karlemann, als er die Karte zusammenfaltete. »Aber es stimmt schon, die Gerüchte darüber sind gar zu übereinstimmend.«

»Und der Besuch in Kumasi?«

»Den machen wir auf dem Rückwege. Erst's Geschäft, dann's Vergnügen.« —

Links und rechts flache Ufer, bebaut mit Baumwolle, Durra und Kürbissen, welche eine Hauptnahrung der Aschantis bilden, dazwischen ab und zu ein Hüttendorf — die Fahrt war langweilig.

Abwechslung brachte nur hin und wieder ein Kahn oder eine ganze Flottille von Kähnen, welche Bodenerzeugnisse, Elfenbein, Häute und wohl auch Sklaven stromabwärts nach Legala brachten.

Dabei hatte es von der Felseninsel ausgesehen, als ob der Urwald bis dicht an die Küste reiche, wenigstens gleich hinter Legala begänne.

Nun, die angebaute Küstenstrecke sollte auch schmal genug sein. Früh gegen acht Uhr waren wir in die Mündung eingedrungen, und um elf kamen wir in die Region des Urwaldes.

Ich habe über die fünf Tage währende Fahrt fast gar nichts zu sagen. Bäume, nichts als riesenhafte Bäume, welche zu beiden Seiten noch im Wasser standen, sodass man von Flussufern gar nicht sprechen konnte. Es war gegenwärtig, nach der Regenzeit, eben alles versumpft. In den beiden heißesten Zeiten — in dieser Gegend am Äquator gibt es zwei Sommer und zwei Winter — fällt das Wasser ganz bedeutend, doch versicherten die hier geborenen Neger, dass der Strom für solche flachgehende Fahrzeuge schwer schiffbar sei.

Affen, Papageien und andere Vögel massenhaft, aber von vierfüßigem Wilde gar keine Spur. Einmal erblickten wir ein Krokodil, das bei unserem Anblick floh, nichts weiter.

Anders, als wir bei Sonnenuntergang mitten im Flusse die hölzernen, nur beschwerten Anker ausgeworfen hatten und die Nacht anbrach.

Da wurde es im Walde lebendig, Tierstimmen aller Art wurden laut, das Heulen des Leoparden, hier Tiger genannt, ließ sie verstummen, und dessen Heulen brach wieder wie erschrocken ab, als sich der König der Tiere, der Löwe, donnernd anmeldete.

Am zweiten Tage passierten wir die Region einer Steppe; hier war der etwa dreihundert Meter breite Fluss besser eingedämmt, und oftmals erblickten wir an den Ufern Antilopen der verschiedensten Art, in weiter Ferne sahen wir sogar eine Herde Zebras, und zwischen ihnen, wie gewöhnlich, Strauße. Denn Zebras und Strauße halten mit Vorliebe zusammen, man sagt, die langhalsigen Vögel seien die Wächter, wofür die Zebras sie mit Hufen und Zähnen gegen Schakale und Hyänen verteidigen, obgleich diese Zusammengehörigkeit durchaus nicht immer zu treffen ist.

Und so ging es weiter. Abwechselnd Urwald und Steppe, der Übergang von Buschholz gebildet. In den Steppen mehrte sich der Wildreichtum, wir erblickten große Herden von Elefanten, im Strome tauchten gleich Inseln die Rücken von Flusspferden auf.

Doch Karlemann wollte nichts von Jagd wissen. Es sei denn, ein Flusspferd habe ein Junges bei sich, darauf sollten wir achten. Aber wir erblickten keine Familie.

Auch von Ansiedlungen war nichts mehr zu bemerken. Das machte, dass wir den Lomate bereits verlassen hatten, dessen Ufer allein bebaut sind. Sonst drängt sich die ganze Bevölkerung im nördlichen, gebirgigen Teile des Landes zusammen.

Wir befanden uns schon seit dem zweiten Tage auf einem Nebenflusse, der wohl mit dem Hauptstrom ziemlich parallel lief. Die fünf oder sechs Neger, deren Führung in dem Wasserlabyrinth — denn mindestens alle Stunden kam wieder die Mündung eines Nebenflusses — unentbehrlich war, hielten oft große Beratungen ab, bei denen es sehr stürmisch zuging, aber die Hauptsache war, dass sie sich in ihrem Kauderwelsch, welches wir nicht verstanden, stets einigten.

Wir legten täglich in vierzehn Stunden mindestens sechzehn geografische Meilen zurück. Der Dampfer selbst war für sechs Tage mit Steinkohlen versehen — etwas anderes hatte er ja nicht zu tragen, und bei dieser langsamen Fahrt ohne besondere Strömung war der Verbrauch an Kohlen nur ein geringer — das gleiche Quantum Kohlen führten wir außerdem in dem fünften Fahrzeug mit.

Karlemann hatte für den inneren Menschen aufs beste gesorgt, und die Einrichtung der Kajüte ließ nichts an Bequemlichkeit zu wünschen übrig. So vertrieben wir uns, nachdem uns Wald und Steppe nichts Neues mehr boten, die Zeit zwischen den Mahlzeiten rauchend und plaudernd; nur des Nachts hatten wir unter der feuchten Hitze zu leiden, und waren die offenen Fenster auch mit Gaze verhüllt, jede Öffnung noch so sorgfältig verstopft, einige der draußen in Myriaden herumschwärmenden Moskitos wussten doch den Zugang zu finden, und dann war die Qual groß.

Kein einziger erkrankte, keine Spur von Fieber zeigte sich. Zu regelmäßigen Zeiten ward jedem eine Dosis Chinin verabreicht.

Dennoch muss ich meine Behauptung aufrecht halten, dass es einer europäischen Armee unmöglich ist, in feindlicher Absicht ins Innere dieses Landes vorzudringen. Auch die Engländer haben es einmal auf dem Wasserwege versucht. Bei vielen Menschen kann aber doch nicht so für Bequemlichkeit und Reinlichkeit gesorgt werden. Das Fieber bricht immer aus. Die Malaria steckt epidemisch andere an, und dann würden die Eingeborenen den Fluss mit Ketten sperren oder sonstige Hindernisse anbringen. Jeder Baum bietet den günstigsten Hinterhalt, dabei können die Angegriffenen wegen der sumpfigen Ufer nicht einmal landen — kurz, sie befinden sich vollkommen in den Händen der Feinde, denen sich die Malaria als furchtbarer Verbündeter beigesellt.

Am dritten Tage verkündeten uns die Führer, dass wir uns östlich von Kumasi befänden, eine Tagereise davon entfernt, noch an demselben Tage entstand zwischen den Lotsen an einer Spaltung des Stromes ein heftiger Streit, welcher Wasserweg einzuschlagen sei, bis sie sich schließlich doch einigten, und am nächsten Tage, dem vierten der Reise, standen sie gar vor drei Flussmündungen, welche fast an einer Stelle zusammentrafen, und diesmal gerieten sich die cholerischen Neger fast in die Haare.

Es blieb nichts anderes übrig, der Dampfer musste stoppen. »Was gibt es?«, fragte Karlemann.

Es war ja einfach genug. Zwischen den sechs Negern hatten sich drei Parteien gebildet, die jeden der drei Wasserwege als denjenigen bezeichneten, welcher nach dem isolierten Berge führe.

Jeder brachte seine Gründe dafür, dass seine Angabe die richtige sei, und das war nun freilich schwer zu verstehen. Karlemann beherrschte noch nicht die Sprache der Aschantis, abgesehen davon, dass alle in ihrer lebhaften Weise gleichzeitig sprachen.

Und sie konnten durchaus nicht einig werden. Sulumo, dessen Rat bisher ausschlaggebend gewesen, hatte diesmal fünf andere Meinungen gegen sich, er bezeichnete ganz allein den schmalsten Fluss als denjenigen, den wir verfolgen müssten.

Karlemann wog sinnend eine Nilpferdpeitsche in der Hand, und ich ahnte schon, zu was für einem Mittel er greifen würde.

Doch es sollte anders kommen, etwas ganz Überraschendes. Wenn sich die Lotsen so stritten, war stets mein Goliath ein aufmerksamer Zuhörer, und nachdem wir zufällig herausbekommen hatten, dass er auch die Sprache der Aschantis verstand — freiwillig gesagt hatte es dieser seltsame Kauz nicht — diente er auch als Dolmetscher; denn mit dem Englisch aller anderen war es sehr schlecht bestellt.

»Gut«, sagte Karlemann, »ich höre auf die Mehrzahl, auf euch drei. Aber habt ihr euch geirrt, müssen wir umkehren — betrachtet euch diese Nilpferdpeitsche. Ihr kennt mich. Volldampf voraus!«

»Halt, Massa!«, ließ sich da Goliath vernehmen.

»Was ist es?«

»Dieser linke Nebenfluss ist es, den wir einschlagen müssen.«

Unser Staunen lässt sich denken — wenigstens das meine. Dieser deutsche Zigeunerknabe schien über Staunen und andere Gemütsbewegungen erhaben zu sein.

»Woher willst du denn das wissen?«, fragte aber natürlich auch er.

»Ich bin selbst schon am Gabanbetel und an jenem See gewesen.«

»Und hast als Weg auch hier diese Flüsse benutzt?«

»Ja, von Legala aus.«

»Und das sagst du erst jetzt?«

»Bisher haben die Lotsen ja immer richtig geführt. Was sollte ich mich da einmischen?«

Diese Auskunft schien Karlemann vollkommen zu befriedigen.

»Also diesen Fluss hier müssen wir einschlagen?«

»Ja.«

»Weißt du das auch ganz bestimmt?«

»Ganz bestimmt.«

»Und er führt direkt nach dem Berge und nach jenem See?«

»Ganz direkt. Er kommt aus dem See, hat bis dahin auch keinen einzigen weiteren Zufluss.«

»Na, wenn du es so genau weißt, dann ist es ja gut. Also vorwärts! Und ihr«, er drohte mit der Peitsche den drei Negern, die einen anderen Fluss hatten einschlagen wollen, »wir sprechen uns noch, und dasselbe gilt auch von dir, Sulumo. Doch erst steht abzuwarten, ob Goliath wirklich recht hat.«

Für Karlemann war die Sache vorläufig erledigt, nicht für mich.

»Du bist schon an jenem See gewesen, Goliath?«

»Ja, Massa.«

»Weshalb? Wie kamst du hin? Mensch, sei doch etwas mitteilsamer, dir muss man ja jedes Wort aus dem Halse ziehen!«

Goliath erzählte. Vor drei Jahren wollte er mit einem Engländer dort gewesen sein, der ganz allein, oder eben nur mit Goliath, in einem Boote hinaufgerudert war, ebenfalls aus dem Grunde, um den Gorilla in seiner Freiheit kennen zu lernen.

Ich musste immer noch fragen, aus diesem Menschen war durchaus nichts herauszubringen.

»Wie hieß denn der Engländer?«

»Mr. Clary Davids.«

»Und wie kamst du in seine Gesellschaft?«

»Er hatte mich als seinen Diener engagiert.«

»Hattest du diesen Weg denn schon einmal gemacht?«

»Nein.«

»Na, wie denn sonst? Wie habt ihr denn den See gefunden?«

»Wir haben ihn gesucht. Mr. Davids hatte von den Erzählungen gehört, dass der Gabanbetel, das ist der Berg des Wahnsinns, die engere Heimat des Gorillas sein soll, und da ein Hinkommen zu Fuß doch unmöglich ist, benutzten wir ein Boot und haben so lange gesucht, bis wir unser Ziel erreichten, mussten freilich zahllose Male umkehren, weil wir uns verfahren hatten.«

Zunächst hatte ich nur eines gehört.

»Wie? Gabanbetel heißt der Berg des Wahnsinns?«

»Jawohl. Gaban heißt Berg, betel ist in der Sprache der Aschantis der Wahnsinn, wahnsinnig.«

»Und weshalb heißt dieser Berg so?«

»Weil die Gorillas für verwilderte, in der Einsamkeit wahnsinnig gewordene Menschen gehalten werden, oder auch für wahnsinnige Dämonen.«

»Aha! Habt ihr denn Gorillas gesehen?«

»Genug.«

»Auch welche erlegt?«

»Gleich die erste Herde, die wir erblickten, griff uns an. Mr. Davids wurde von ihnen getötet, ich entkam mit genauer Not.«

Goliath, geistig aufgespornt, erzählte uns — auch Karlemann hörte zu — diese Jagdgeschichte genauer. Ich brauche sie hier nicht wiederzugeben. Auch sonst konnte er uns über das Leben des Gorillas erzählen, soweit er hatte beobachten können, berichtigte viele Fabeln, welche man sich damals über diesen noch so gut wie unbekannten, größten aller Menschenaffen machte, bestätigte aber gerade das als Tatsache, was man damals am meisten für Fabel hielt, dass sich der Gorilla nämlich wirklich zwischen den hohen Zweigen eines Baumes aus Ästen und Laub ein regelrechtes Nest zum Schlafen baut.

»Und wie sieht es dort sonst aus?«, übernahm jetzt Karlemann das Examen.

»Ein sehr hohes Gebirge; am Fuße desselben liegt ein See, vielleicht eine Quadratmeile groß, aus dem dieser Fluss kommt.«

Heute kann man diesen Berg und See auf der Karte finden, damals fehlte er noch.

»Sind Inseln darin?«

»Mehrere.«

»Große?«

»Wohl ganz verschiedene. Wir waren nur auf einer, nahe dem Ufer...«

»Wie weit vom Ufer entfernt?«, wollte Karlemann das aber genauer wissen.

»Vielleicht tausend Meter.«

»Und wie groß war diese Insel?«

»Sie war langgestreckt, vielleicht hundert Meter breit und tausend lang. Da kann man sich aber sehr irren.«

»Diese Schätzung genügt mir. War sie mit etwas bewachsen?«

»Sie war äußerst fruchtbar. Es herrschte auf ihr dieselbe üppige Vegetation, wie an den Seeufern, von Bäumen war vor allen Dingen der Affenbrotbaum in riesigen Exemplaren vorhanden.«

»Und Tiere?«

»Wir sahen auf dieser Insel einige Schlangen, darunter eine Riesenschlange von wenigstens fünfundzwanzig Fuß Länge. Antilopen flüchteten sich vor uns ins Wasser, schwammen dem Ufer zu. Affen, welche ja nur in der äußersten Not ins Wasser gehen, waren nicht auf dieser Insel.«

»Und drüben auf dem Festlande gab es viele Gorillas?«

»Wie gesagt, wir erblickten nur einen einzigen Trupp; wir hatten kaum das Land betreten, und Mr. Davids fiel den wütenden Tieren zum Opfer.«

»Ist dort alles waldig?«

»Nur die Westseite des Sees, wo sich das Gebirge erhebt.«

»Und die anderen Ufer?«

»Waren flach und mit Gras bedeckt, bis auf die Südseite, wo sich ebenfalls noch Wald erhob.«

»War viel Jagdwild vorhanden?«

»Wir erblickten Zebras, Elefanten und Rhinozerosse und alle Tiere, auf deren Fang Sie es abgesehen haben.«

»Und Strauße?«

»Auch solche sahen wir durch das Fernrohr auf der Steppe äsen.«

»Und Flusspferde?«

»Der See scheint von ihnen zahlreich belebt zu sein.«

Karlemann war befriedigt. Und meine romantische Phantasie war durch diese Schilderung mächtig angeregt worden. Das musste ja das reine Dorado eines Jägers sein!

»Und wie bist du zurückgekommen?«

»Ich bin gleich am anderen Tage wieder aufgebrochen im Boot.

Die Leiche des unglücklichen Engländers konnte ich den Riesenaffen nicht entreißen, und wäre das Wasser nicht in der Nähe gewesen, auch mich hätte ihre Wut erreicht.«

»Hast du über den Tod dieses Engländers jemandem berichtet?«

»Ja, dem englischen Konsul in Georgetown.«

Ich konnte diesem Neger nichts widerlegen. Merkwürdig war nur sein Verhalten, wie er niemals von selbst anfing, es sei denn in der letzten Sekunde, wenn Not am Mann war. Eigentlich aber handelte er da ja ganz korrekt; jedenfalls war er so angenehmer, als ein Mensch, der sich immer hervordrängen will. Dann aber war auch der Zufall merkwürdig, dass gerade Goliath schon dort gewesen war, ebenso wie er die Einfahrt von Monrovia gekannt hatte.

Doch es blieb mir nichts anderes, als eben einen Zufall gelten zu lassen.

Und Goliath hatte recht. Noch am Abend desselben Tages, als der Urwald wieder von buschiger Prärie unterbrochen wurde, tauchte vor uns aus den Wolken ein mächtiger Gebirgszug auf, er rückte näher, und am nächsten Tage, nachdem es wieder durch Urwald gegangen war, dessen Bäume aber schon seitwärts auf schrägem Grund emporstiegen, lag vor uns der Spiegel eines großen Sees.

Es war ein herrlicher Anblick. Als wir etwas weiter hineingedampft waren, konnten wir auch alles übersehen. Im Westen stieg, dicht am Ufer des Sees beginnend, das Gebirge empor, die Gipfel sich in den Wolken verlierend, alles mit dunklem Urwald bedeckt, dort oben aber lag sicher ewiger Schnee, es schimmerte so weiß; die anderen Seiten des Sees, außer hinter uns, mit Steppe umsäumt, welche jetzt im buntesten Blumenschmuck prangte, und nun gleich vor uns eine kleine Insel, die sich wie ein Paradies aus dem Wasser erhob, und solcher Inseln tauchten im Hintergrunde noch mehrere auf, einige jedenfalls von beträchtlicher Größe.

»Sind diese Inseln von Menschen bewohnt, Goliath?«, fragte Karlemann.

»Schwerlich. Diese Gegend wird von den Aschantis wie die Hölle gemieden — es ist ja das Gebiet der wahnsinnigen Dämonen, die auch jeden Menschen, der sich hierher wagt, irrsinnig machen.«

»Aber du und der Engländer, ihr seid nicht verrückt geworden, was?«

Karlemann konnte manchmal überaus naiv fragen. Manchmal war er überhaupt doch noch ein richtiges Kind. Und dann, glaube ich, huldigte er auch verschiedenem Aberglauben. Ja, ich irrte mich wohl nicht, — er fürchtete sich sogar etwas vor Gespenstern. Eben ein richtiger Zigeunerjunge!

»Nein, wir wurden nicht wahnsinnig«, entgegnete Goliath ernsthaft.

»Wie lange wart ihr hier?«

»Nur drei Tage, dann fand Mister Davids seinen Tod, und ich fuhr am anderen Tage ab.«

»Hm, das ist allerdings nicht lange«, meinte Karlemann sinnend, »da hat man noch nicht viel Erfahrung. Ist das dort oben Schnee?«

»Wir waren nicht oben, aber ich vermute es.«

»Nicht wahr, Jansen«, wandte sich Karlemann an mich, »es wäre doch möglich, dass das dort oben Schnee ist, obgleich wir unterm Äquator sind?«

»O ja, das ist sehr wohl möglich. Auch der Chimborasso ist mit ewigem Eis und Schnee bedeckt, und er liegt ganz direkt auf dem Äquator. Der ewige Schnee beginnt hier wohl in einer Höhe von 18 000 Fuß.«

»Donner und Doria, da möchte ich hier wohnen bleiben!!«, rief da Karlemann mit ungewöhnlicher Begeisterung. »Jansen, dahinauf eine Drahtseilbahn bauen — wenn's einem hier unten im Paradiese zu heiß wird, fährt man dorthinauf in den Winter — und dazwischen ist der Frühling und Herbst — was?!«

O ja, das konnte ich mir lebhaft vorstellen, so etwas wäre mein Fall auch gewesen. Nur das mit der Drahtseilbahn war wohl leichter gedacht als ausgeführt. Doch warum nicht?

»Weiß Gott, wenn ich mit dem König Quasselkopp gut übereinkomme, mich vielleicht mit ihm verschwägere, dann mache ich hier...«

Karlemann brach ab und stürzte in die Kajüte, um mit seiner Elefantenbüchse wieder herauszukommen, sie schon entsichernd. Ich dachte erst, er hätte das Krokodil auf dem Kieker, das uns da aus dem Wasser verwundert anglotzte, und zum Krokodilschießen hätten wir doch schon Gelegenheit genug gehabt — da, als ich der Richtung seiner Augen folgte, und jetzt auch von anderen darauf aufmerksam gemacht, sah auch ich das gewaltige Flusspferd, welches seitwärts von der dritten Arche schwamm, und neben ihm plätscherte munter ein Junges.

Aber weder Karlemann noch ein anderer sollte zum Schuss kommen. Ich bekam etwas zu sehen, wovon ich zwar schon gelesen, was ich aber immer für eine Fabel gehalten hatte.

Die Mutter schien schon Bekanntschaft mit Menschen gemacht zu haben, jedenfalls witterte sie Gefahr, und da sperrte das riesige Tier den Rachen auf, nahm das Junge, mindestens von der Größe eines vierwöchigen Kalbes, dabei aber kugelrund, einfach in den Rachen, tauchte damit unter und ward nicht mehr gesehen.

Ich hatte schon öfters gelesen und gehört, dass Nilpferde ihre Jungen auf diese Weise in Sicherheit bringen, sie in den Rachen nehmend. Aber man muss selbst solch ein Ungeheuer haben gähnen sehen, um so etwas glauben zu können. Diese Flusspferde können ihren weitaufgeschlitzten Rachen fabelhaft aufreißen.

»Na, wenn das nicht, dann ein anderes«, sagte Karlemann, die Donnerbüchse wieder absetzend, nachdem er noch einige Zeit gewartet hatte, ohne dass das Tier wieder aufgetaucht wäre.

Mich wunderte nur, dass dieser Junge den Mut hatte, nochmals diese mächtige, Sprengkugeln schießende Elefantenbüchse abdrücken zu wollen. Aber er war sich der Gefahr oder der Lektion auch wohl bewusst gewesen, er hatte sich diesmal mit dem Fuße gegen die Kabinenwand gestemmt.

Dann hob er die schwere Büchse wieder.

»Ich muss sie doch einmal probieren«, murmelte er, auf den Kopf des Krokodils zielend, welches uns noch immer anglotzte. Oder es mochte ein anderes sein, wir befanden uns ja noch in Fahrt.

Der Schuss donnerte unter einem mächtigen Feuerstrom — vorbei geschossen! — ich hatte die kleine Granate weit hinter dem Krokodil auf die Wasserfläche schlagen sehen, das Reptil blieb ruhig liegen — Karlemann jedoch war zum zweiten Male von der Plattform verschwunden! Es war nämlich die Tür gewesen, gegen die er sich gestemmt hatte, und obgleich diese zugeklinkt gewesen — Karlemann war einfach durchgebrochen, d. h., der Klinkenriegel war durch das Holz gebrochen, und Karlemännchen, mit Vehemenz durch die aufknallende Tür fliegend, lag drinnen in der Kajüte auf dem Sofa, diesmal das rauchende Donnerrohr noch in der Hand.

Dass wir lachten, war selbstverständlich. Am komischsten aber war das dumme Gesicht, mit dem er uns anblickte und dann um sich sah.

»Wie komme ich denn hier herein aufs gute Sofa?«

Des Lachens war kein Ende.

Die nächste Insel war unser Ziel, dieselbe, auf welcher auch der Engländer mit Goliath damals kampiert hatte. Gepeilt brauchte nicht zu werden, wir bedurften ja nur eines Meters Fahrwasser, und so weit war das klare Wasser durchsichtig.

Als wir näher herankamen, floh ein Rudel Antilopen davon, die wir später auch durchs Wasser dem Festland zuschwimmen sahen, wobei eine vor unseren Augen verschwand, sicher von einem Krokodil erfasst. Die sonst so furchtsamen Tiere mussten an das Zahlen dieses Tributs schon gewöhnt sein, dass sie doch immer wieder nach den Inseln schwammen.

Uns war es sehr leid, dass die Antilopen vor uns die Flucht ergriffen. Wir hatten unterwegs Fleisch genug gehabt, aber ausschließlich konserviertes, Karlemann hatte sich durchaus nicht durch eine Jagd wollen aufhalten lassen, immer auf das Ziel vertröstet, und frisches Fleisch ist doch etwas anderes.

Nun, wir sollten auch noch in dieser Nacht Wildbret im Überfluss bekommen.

Die Sonne neigte sich dem Horizonte zu, als wir den Dampfer an einem riesigen Baobab befestigten, um hier die Nacht zu verbringen, vielleicht ganz hier liegen zu bleiben.

Wegen wilder Tiere konnten wir ganz sorglos sein. Selbst der feigste Neger versicherte uns, dass wir nichts zu fürchten brauchten. Für die Raubtiere, deren Gebrüll wir bald hören sollten, gab es hier ja massenhaft Wild, und der Mensch ist die allerletzte Beute, auf die der Tiger oder Löwe seine begehrlichen Blicke richtet, wenn er seinen Hunger durch irgend etwas anderes stillen kann. Etwas anderes ist es, wenn der Jaguar, Panther oder Tiger einmal Menschenblut geleckt hat — beim Löwen ist das schon viel weniger der Fall, und dann wird hier auch nicht von Notwehr und Mutterliebe gesprochen — aber das sind doch nur Ausnahmen, da kommt auch nur der einzelne Mensch in Betracht, wie in Indien der durch den Dschungel eilende Briefbote — sonst aus der Mitte des Lagers heraus einen Menschen zu holen, das fällt keinem einzigen Raubtiere ein.

Aber eine große Überraschung sollten wir doch noch erleben, das erste Jagdabenteuer, das uns die erste, eine überaus kostbare Beute brachte.

»Na, da wollen wir mal ans Land gehen«, sagte Karlemann.

Ich merkte gleich, dass er ein bisschen Angst hatte, er wollte einem anderen den Vorrang lassen.

»Na, bitte«, wandte er sich denn auch an mich mit einer einladenden Handbewegung, obgleich solche Höflichkeit doch sonst gar nicht sein Fall war.

»Aber wollen Sie diesen jungfräulichen Boden nicht zuerst betreten?«, wehrte auch ich ab.

»Jung... wat? Hören Sie, Sie fürchten sich wohl gar vor Schlangen? Goliath, gibt es hier denn überhaupt Schlangen?«

»O ja, ich habe damals mehrere gesehen!«

»Giftige?«

»Ja, es waren lauter giftige, mit Ausnahme von der...«

Da hob Goliath plötzlich den Kopf, ich sah, wie er die Luft in die Nase zog, und da fiel auch mir etwas auf.

Wir hatten den Wind bisher im Rücken gehabt, jetzt kam ein Luftstoß von der Seite, und gleichzeitig wurde die Atmosphäre von einem widerwärtigen Geruch erfüllt.

Und auch die anderen Neger, soweit sie Kinder der Wildnis waren, merkten es sofort, zeigten den größten Schreck.

»Aliganga, Aliganga!!«, schrien sie.

»Ja, hier in der Nähe ist eine Boa Constriktor, eine Riesenschlange!«, erklärte Goliath.

Ich hatte jetzt natürlich keine Zeit, mich über die lateinischen Kenntnisse meines schwarzen Dieners zu wundern.

»Was, eine Riesenschlange? Wo?«, flüsterte Karlemann, gleich ganz jagdeifrig werdend, trat aber auch gleich so merkwürdig mit den Beinen herum, zog seinen heruntergerutschten Schaftstiefel in die Höhe. »Kann so ein Luder durch einen Schaftstiefel beißen?«

Weiß der Deibel, was für einen Begriff sich Karlemann von einer Riesenschlange machte!

»Ja, das ist eine Riesenschlange«, sagte Goliath, noch immer schnüffelnd.

»Die haschen wir«, echote Karlemann.

»Sie muss hier ganz in der Nähe sein.«

»Dann haschen wir sie!«, flüsterte Karlemann mit feuerroten Backen. »Der Käfig ist da, der ist schnell zusammengebaut. Wie tut man denn so eine Riesenschlange fangen?«

Darüber schien sich der kleine Schlangenhascher also doch noch nicht im klaren zu sein. Er hätte den indianischen Schlangenbändiger mitnehmen sollen, ich hatte schon mehrmals daran gedacht.

Und Goliath schnüffelte noch immer.

»Sie liegt in der Verdauung.«

»In was liegt sie?«

»Sie hat gefressen, ist satt, verdaut — es riecht schon verwest — aber nur im ersten Stadium.«

»Wenn sie satt ist, dann beißt sie wohl nicht?«

Der Knirps war immer humoristisch, ohne es sein zu wollen.

»Dann ist sie ganz apathisch — ganz hilflos — die verschluckte Beute braucht gar nicht so groß gewesen zu sein. Wenn die Boa verdaut, vermag sie sich kaum zu rühren.«

Und Goliath, nur eine Hakenstange mit Spitze ergreifend, sprang ans Ufer, drang ins Gebüsch, und Karlemann, einen kürzeren Stock nehmend, ihm sofort nach.

Ich hatte dem Dreikäsehoch also unrecht getan, er fürchtete sich nicht vor Schlangen. Oder doch? Jedenfalls spazierte er mit seinen hohen Stiefeln wie ein Storch im Salat durch das Gras, und den Stock benutzte er dazu, immer vor sich auf den Boden zu schlagen, eben um Schlangen aufzuscheuchen.

Ich ihnen nach, und nun schlossen sich auch noch andere an.

Und da sahen wir sie auch schon liegen! Ein riesiges Tier, mindestens sechs Meter lang, soweit man das bei ihrer halbzusammengerollten Lage beurteilen konnte, so stark wie ein Mannesschenkel — oder, da es auch sehr dünne Männerschenkel gibt, wenigstens einen Fuß im Durchmesser, und die Mitte des Leibes ganz unförmlich aufgeschwollen, wie ein Sack. Sie hatte erst vor kurzem ein größeres Tier verschlungen, wahrscheinlich eine Antilope. Man konnte ganz deutlich die Stelle sehen, wo sich die Hörner befanden, welche förmlich aus dem Leibe der Schlange hervortraten. Allerdings nur kurze Hörner. Wie die afrikanischen und indischen Riesenschlangen mit gehörnten Tieren fertig werden, mit Hirschen, Säbelantilopen und dergleichen, ob sie solche Tiere eben wegen des Geweihs vielleicht verschmähen, das weiß man heute noch nicht. Denn dass sie dieses Geweih etwa erst entfernen, abbrechen, davon ist keine Rede. Das Gehörn geht unverdaut, aber durch die enorm kräftige Magensäure stark angegriffen, wieder ab, und es ist doch leicht möglich, dass diese Würgschlangen auch das größte und spitzeste Geweih ungestraft in den Magen befördern, nachdem sie es durch Umwindungen gehörig zusammengeknickt haben, denn gebrochen muss alles sein.

Regungslos lag das riesige Reptil da. Die ganze Umgebung war mit jenem Schleim bedeckt, mit dem die Schlange erst die Beute überzieht, ehe sie diese verschluckt, oder hinunterwürgt, wozu sie manchmal Tage braucht, wie Wochen zu der Verdauung. Und hat jede Schlange schon einen unangenehmen Geruch, so entströmt ihrem Rachen dann ein pestilenzartiger Gestank.

Mit starrem Blicke betrachtete sie uns. Ab und zu kam die gespaltene Zunge zum Vorschein. Sonst verriet nur eine leichte Bewegung, ein leises Zittern der Schwanzspitze ihre Erregung bei unserem Anblick. Der übrige Körper war keiner Bewegung fähig, die ganze Lebenskraft hatte sich auf die Arbeit der Verdauung geworfen.

Ich für mein Teil hätte nicht gleich gewusst, wie man sich dieses Ungeheuers bemächtigen solle. Karlemann war es, der sofort kaltblütig die Anordnungen traf, die Ausführung dann allerdings einem Neger überlassend.

Stricke wurden besorgt, und mit einem solchen zunächst der Kopf vielfach umwunden, um den Rachen zu fesseln.


Illustration

Obgleich weder die indische Python, noch die afrikanische Boa, noch die amerikanische Riesenschlange Giftzähne besitzen, werden sie doch immer von den Eingeborenen als giftig bezeichnet, und das auch gar nicht so ohne Grund. Sie sprechen sogar von einem giftigen, tödlichen Atem, und ich glaube recht gern, dass es schon genügt, wenn solch ein Reptil, das der Verdauung obliegt, einen anhaucht, um gleich die Besinnung zu verlieren, und jeder Fleischriss, den ihre Zähne verursachen, wird eine tödliche Blutvergiftung nach sich ziehen. Das ist es ja auch, was die von Raubtierpranken geschlagenen Wunden so furchtbar macht, dass sie so schwer heilen, immer wieder aufbrechen — Blutvergiftung, erzeugt durch die Zersetzungsprodukte, die an den Krallen immer haften.

Es sah fürchterlich aus, wie der Neger hinten auf dem Nacken des Ungeheuers kniete und immer den Strick unter dem Kopf durchschob. Da wäre mir ein offener Zweikampf mit einem Löwen lieber gewesen.

Doch es gelang, und der Schwarze verstand Knoten zu schürzen. Dann wurden an verschiedenen Teilen des Körpers andere Seile angebracht, mit sogenannten Zugschlingen, welche nicht gleiten können, weil sie sich beim Gleiten nur immer fester zusammenziehen, und Karlemanns schwarze Gehilfen spannten sich vor.

Unterdessen hatten andere Neger, die schon alles kannten, die vierte Arche etwas ausgeräumt und darin aus engen Eisenstäben einen Käfig von etwa vier Meter Länge, zwei Meter Breite und einem Meter Höhe zusammengeschraubt, schon bestimmt zur Aufnahme solcher Reptilien.

Die Überführung gelang, wenn auch mit großen Schwierigkeiten. Nach einer Stunde, als mit jäher Plötzlichkeit die finstere Nacht anbrach, lag die Boa sicher in dem Käfig, etwas zusammengekrümmt, wie ja stets ihre natürliche Lage ist.

Es war ein gar kostbares Objekt, das wir da als erste Beute gefangen hatten! Ich habe gesagt, dass Karlemann schon auf seiner Seeburg zwei Riesenschlangen gehabt hatte — gewiss, Häuptlinge hatten sie ihm gebracht, mit dem Verlangen, der kleine Hexenmeister sollte auch diesen Reptilien Kunststückchen beibringen. Inwieweit ihm das gelungen war, weiß ich nicht. Er hatte ja behauptet, wenn er sie auf den Bauch trete, sperrten sie den Rachen auf, und bei einem Tritt auf den Schwanz klappten sie ihn wieder zu. Das war wohl nur ein Witz gewesen.

Die eine Riesenschlange hatte er wieder zurückgeben müssen, die andere hatte er behalten — aber was für Zwerge waren das gegen diese hier gewesen! Erst hier in dem engen Käfig, in der engen Umgebung der Arche erkannten wir, was für ein mächtiges Ungeheuer das war, mit sechs Metern hatten wir sie noch bei Weitem unterschätzt. Goliath und andere Neger, welche mit Riesenschlangen Erfahrung haben wollten, versicherten, noch nie solch ein Monstrum gesehen zu haben — von mir gar nicht zu sprechen. Die größte Riesenschlange hatte ich in einer Jahrmarktsbude gesehen, und die hatte sich so eine geschminkte Dame um den Leib wickeln können. Das hätte man einmal mit dieser versuchen sollen! Unter deren Last brach der stärkste Ochse zusammen!

Und Goliath, als Repräsentant aller schwarzen Sachverständigen, konnte uns noch eine andere, aufregende Erklärung abgeben.

Nach der schillernden Zeichnung war es ein Tier männlichen Geschlechts. Nun geht die afrikanische Boa allerdings sehr gern ins Wasser, sie brauchte also nur einmal einen Jagdausflug nach dieser Insel gemacht zu haben; aber Goliath behauptete, dass die Riesenschlange, welche er vor drei Jahren hier gesehen hatte, ein Weibchen gewesen war, und daraus konnte man schließen, dass hier die engere Heimat eines Riesenschlangenpaares war, denn die Boa kehrt, wie wohl jede Schlange, immer wieder in denselben Schlupfwinkel zurück, und so durften wir damit rechnen, hier auch noch das Weibchen zu finden.

In den Archen brannten die Lampen, im Ofen kochte das Essen, nach Karlemanns Anordnung wiederum aus Präserven bereitet.

Die gefräßigen Neger hockten nicht wie sonst vor dem Ofen, auf die dampfenden Terrinen lauernd — sie verlangten nach frischem Fleisch, griffen nach den Gewehren.

Ich wollte mich der nächtlichen Jagdexpedition anschließen, desgleichen Mahlsdorf, mehrere Matrosen baten mich darum — da aber erbot sich Goliath, uns zu führen, ohne Gesellschaft der anderen Schwarzen.

Ich will mich nicht bei Einzelheiten aufhalten, waren wir doch während der ganzen Zeit, die wir hier lagen, Tag und Nacht auf der Jagd.

Wir gingen. Karlemann verzichtete. Auch er hat dann ja ständig der Jagd obgelegen, aber ich glaube, ohne jedes Interesse. Es war eben ein ganz eigentümlicher Junge. Scheinbar durch und durch abenteuerlich veranlagt, im Grunde genommen aber doch bar jeder Romantik. Wie ich das meine, habe ich schon früher einmal ausführlich gesagt. Diese Neger hier gingen doch auch nicht aus Abenteuerlust auf den nächtlichen Anstand, sondern um frisches Fleisch zu bekommen, und Karlemann wiederum sagte: Wenn ihr geht, dann kann ich ja hier bleiben; bringt nur recht viel Beute mit.

Im Dickicht verborgen, beobachteten wir bei Mondlicht das Ufer, wo es mit Schilf bewachsen war, welche Stelle Goliath als einen geeigneten Tränkplatz bezeichnet hatte. Und sie kamen, Antilopen aller Art, mächtige und zwerghaft kleine, ohne Hörner und mit mächtigen Säbeln auf der Stirn.

Wir acht Mann schossen alle gleichzeitig, auf Verabredung jeder auf ein anderes Tier, ich auf ein Gnu, welches im Feuer zusammenbrach, wie auch noch vier andere auf der Strecke blieben.

Es war schade, wir konnten nicht einmal alles nach der Arche schleifen, und das Dutzend Neger hatte erst recht gewildert.

Mir hatte es keine Freude gemacht. Nur die erste Erwartung war spannend gewesen. Ich habe mich niemals wieder an einer derartigen Jagd beteiligt, oder vielmehr an ›Herbeischaffung von Fleisch‹. In solch einer überaus wildreichen Gegend, wo die Tiere den Menschen und seine Feuerwaffe noch gar nicht kennen, gibt es eben keine Jagd, kein edles Waidwerk, sondern nur ein Abschießen, nur ein Abschlachten.

Auch sonst habe ich nicht viel über die ganze Zeit zu erzählen, in der wir ausschließlich dem Fange der verschiedensten Tiere oblagen. Wohl waren wir rastlos damit beschäftigt, aber eben deswegen kann ich doch nicht jeden einzelnen Fall erzählen. Nur absonderliche Ausnahmen.

Wir blieben an dieser Insel, deren Größe Goliath mit seiner Angabe bedeutend unterschätzt hatte, liegen, ohne sie selbst viel zu betreten. Nur einige Neger mussten immer Holz fällen und spalten, um bei der Zubereitung der Speisen Kohlen zu sparen.

Alle Zeit war dem Fang von Tieren gewidmet, und zwei der Neger waren gar geschickte Fallensteller, welche nur von Goliath übertroffen wurden, während Karlemann immer neue, originelle Ideen dazu heraussteckte, und was dazu gebraucht wurde, war alles in dem Gepäck vorhanden.

Wir begannen in der Steppe, wohin uns der Dampfer brachte, dessen Kessel jetzt nur noch mit Holz geheizt wurde.

Einem der schwarzen Schützen gelang es, sich an eine Zebraherde heranzuschleichen, und es war eine rossige Stute, welche er durch einen Schenkelschuss fluchtunfähig machte.

Wir hatten mit dem sonst noch lebenskräftigen Tiere einen schweren Kampf zu bestehen, dann wurde es angepflockt, ringsherum eine Fallgrube gegraben, sodass die Stute wie auf einer Säule stand, wir hörten sie die ganze Nacht ängstlich wiehern, und schon am anderen Tage fanden wir in der Grube nicht weniger als fünf junge Hengste.

Mit dem Zureiten des einen probierte Jim der Cowboy vergebens seine Kunst, so außerordentlich diese auch sein mochte. Heute gibt es gezähmte Zebras, zugefahren und sogar zugeritten, damals war das ein Problem, welches als unlösbar galt. Es gibt eben solche Ansichten, die sich manchmal ändern. Ich erinnere nur daran, dass bis vor wenigen Jahren auch Tiger und Eisbären als unzähmbar galten, und man kann sich wohl denken, was für Mühe schon früher Tierbändiger sich gegeben haben, auch Königstiger und Eisbären dem Publikum im Käfig mit Kunststücken vorzuführen, sie hätten doch dafür Berge Goldes geerntet. Vergebens, Tiger und Eisbären spotteten aller Bemühungen, ihre Wildheit ließ sich nicht beseitigen.

So ist es aber nun einmal in der Welt. Immer das Ei des Kolumbus. Da kommt ein bisher ganz unbekannter Dompteur und führt dressierte Tiger und Eisbären vor. Man hat seine Kniffe und Mittel bald heraus, und dann ist es eine alte Sache.

Karlemann hatte des Cowboys todesgefährliche Kämpfe mit dem beißenden und sich wälzenden Zebra aufmerksam beobachtet, bis eben der Pferdebändiger mit zwei abgebissenen Zehen seine Bemühungen als aussichtslos aufgab.

»In vier Wochen will ich das Zebra wie ein Lamm reiten«, sagte Karlemann.

»Können Sie reiten?«, fragte ich.

»Ich? Nee.«

Er hatte überhaupt noch auf gar keinem Pferde gesessen, auch noch auf keinem Lamm. Und er wollte so ein Zebra gefügig machen!

Nun, ich sollte es erleben.

Vorläufig aber ging er noch nicht daran, die Zebras wurden in ihrem schwimmenden Stalle untergebracht.

Wir fingen in Gruben und Schlingen Löwen, Leoparden und anderes Raubzeug, auch Strauße. Wie wir diese Fallen aufbauten und die Schlingen anlegten, will ich hier gar nicht schildern. Ich will keine ausführliche Jagderzählung schreiben, dafür gibt es andere Bücher. Erwähnen will ich nur, dass über die großen Raubtiere stets große Netze geworfen wurden, in welche sie sich von selbst verstrickten; dann kam noch Segeltuch darüber, bis so ein Löwe wie ein Sack herausgezogen und an Stangen davongetragen wurde. Erst im Käfig wurde er davon befreit, und machte dann so ein majestätischer König der Tiere immer ein recht dummes Gesicht.

Dies alles ging immer ohne jede Gefahr ab, nur eine Ungeschicklichkeit hätte uns verderblich werden können, was aber eben nicht geschah.

Dann wurde auf der Insel die weibliche, etwas kleinere Boa aufgestöbert. Ein Neger, über ihren Anblick erschrocken, schoss nach ihr, der Schrotschuss traf den Kopf, und nur kurz sollten die freilich fürchterlichen Windungen gewesen sein, dann war sie tot.

Karlemann, nachdem er dem voreiligen Schützen genug Grobheiten gesagt hatte, wollte wenigstens ihre Haut mitnehmen, und die Neger lechzten nach einem Schlangenbraten, den auch ich dann ganz vortrefflich fand.

Beim Öffnen des Leibes kamen zu unserer Überraschung nicht weniger als neunzehn kleine Schlangen zum Vorschein, etwa dreißig Zentimeter lang.

Daher die Behauptung der Neger und Indianer, wie auch der Eingeborenen Indiens, dass die Riesenschlangen, aber auch noch viele andere Schlangenarten, lebendige Junge zur Welt brächten. Davon ist natürlich keine Rede. Die Jungen entwickeln sich aus Eiern, die Riesenschlange legt diese Eier auch ab, lässt sie durch die Sonne ausbrüten — doch ist dies nicht immer und wohl sogar selten der Fall. Meistenteils kriechen die Jungen im Innern des Leibes aus den Eiern. Das ist eben eine Natureigentümlichkeit vieler Schlangen, die auch bei unseren einheimischen vorkommt, auch bei Eidechsen.

Die Jungen wurden in warme Decken gepackt, gingen aber bald sämtlich zugrunde.

Und dann ging es in den Urwald hinüber, um Gorillas habhaft zu werden, tot oder lieber lebendig.

Schon oft hatten wir, besonders des Morgens, ein trommelähnliches Getön gehört, drüben aus dem Walde kommend, und wir glaubten den Versicherungen der Eingeborenen, dass dies von Gorillas herrührte. Denn jeder Reisende, der mit solchen in Berührung gekommen, hatte schon von diesem Trommeln erzählt.

Der Gorilla schlägt sich, wenn er zornig ist, mit den Fäusten gegen die Brust, aber es ist kaum glaubhaft, dass allein der Brustkasten wie eine Trommel wirkt, es ist gar zu weit vernehmbar, vielmehr wird er auch gleichzeitig einen dumpfen, aber lauten Ton ausstoßen, und nur durch das trommelartige Schlagen auf die Brust dabei wird er so abgerissen, ebenso etwa wie wenn wir singen und schlagen zugleich immer gegen die Kehle.

Eines Morgens befestigten wir unseren Dampfer an dem waldigen Ufer des Sees unter den überhängenden Zweigen eines mächtigen Baobabs.

Wir wussten, was uns bevorstand. Die ganze Atmosphäre, die uns entgegenschlug, sagte es uns.

Urwald, jungfräulicher Urwald — es klingt so schön, es reizt die Phantasie so an, nicht nur die des abenteuerlustigen Knaben.

Ja, kommt nur hin! Ich habe die Urwälder aller Erdteile besucht — und ich habe sie alle fürchten, hassen gelernt.

Unter den riesigen Bäumen eine ewige Dämmerung, dem schwarzen, feuchten Boden entsteigt eine modrige, schwüle Luft, kein grünes Blatt, kein Unterholz, nichts als ungeheure Wurzeln, über die man mit Lebensgefahr klettern muss, überzogen mit feuchten, klebrigen Pilzen und anderen schmierigen Schleimen, außer zahllosen Moskitos und anderen giftigen Fliegen kein lebendiges Tier — das ist der Urwald Afrikas und Amerikas in der äquatorialen Zone!

Oben in den Zweigen, ja, da treiben die Schlingpflanzen die prächtigsten Blüten, auf denen sich riesige Falter, in herrlichster Farbenpracht prangend, schaukeln, da wimmelt es von schnatternden Affen und Papageien und hundert Arten anderer Tiere — aber unten am Boden ist die Region des leibhaftigen, düsteren Todes.

Nur der indische Urwald ist etwas heiterer, er hat mehr Unterholz, das freilich auch Raubgesindel aller Art und Schlangen zum Versteck dient. Besonders der Urwald auf den malaiischen Inseln ist auch am Boden grün und farbenprächtig. Und dann die nordischen Urwälder Amerikas und Asiens, Kanadas und Sibiriens, die sind allerdings herrlich, im Sommer wie im eisigsten Winter. Dort könnte auch ich als Jäger leben.

Aber in solch einem afrikanischen Urwalde oder im heißen Amerika, in Brasilien — allein, würde ich gleich am ersten Tage vor Melancholie wahnsinnig werden, und in der ersten Nacht hätte sich überhaupt jeder Europäer das tödlichste Fieber geholt.

Nein, geht mir weg mit euren tropischen Urwäldern — sie mögen noch so jungfräulich sein! Ich lobe mir einen großmütterlichen Eichenwald und Nadelforst mit Kind und Kindeskindern. —

Ich mache es ganz kurz.

Drei Stunden turnten wir über die Wurzeln, dabei immer bergauf steigend, ohne die Spur eines Gorillas zu entdecken.

Aber ihr Trommeln hörten wir mehrmals. Dort oben, so hundert Meter über dem Boden, waren welche.

Sollte der Gorilla nicht auch ungereizt jeden Menschen, den er erblickt, angreifen?

Nun, es sollte nur einer herunterkommen! Ich war gerade in der richtigen Laune, mit einem anzubändeln. Diese Kletterei, dieses Stolpern, diese verdammten Moskitos — ich weiß nicht, ich war schrecklich erregt. Ich hatte auch solchen Blutandrang nach dem Kopfe. Ohne Zweifel, diese feuchte, schwüle Atmosphäre des Urwaldes macht auch den gesündesten Menschen nervös, wenige Stunden genügen.

Wir schossen mehrmals hinauf. Affengekreisch, es trommelte — aber kein Gorilla wollte herunterkommen.

»Wo habt ihr denn damals die Gorillas gesehen?«, fragte ich Goliath.

»Auf einer Waldblöße, zwischen gestürzten Baumriesen. Die Stelle befindet sich aber noch viel weiter bergauf...«

Goliath brach plötzlich ab und lauschte.

»Das war ein Schuss!«

Wir lauschten.

»Da noch ein Schuss — noch einer!«

Jetzt wollten es auch unsere schwarzen Jäger vernehmen — wir Weißen hörten noch nichts. Aber wir feuerten unsere Gewehre ab, und bald hörten auch wir zwei Schüsse fallen.

Von einer Ahnung erfüllt, dass den Zurückgebliebenen etwas zugestoßen war, jedenfalls mit Sicherheit annehmen könnend, dass einer vom Boote uns suchte und durch Schüsse signalisierte, kehrten wir im Eilmarsch zurück, soweit das diese verdammten Wurzeln gestatteten.

Ich bemerke, dass Mahlsdorf und Beyer mich begleitet hatten, eine Jagd auf Gorillas hatten sich die beiden doch nicht entgehen lassen wollen, dann hatten noch drei Matrosen und ein Heizer die Expedition mitgemacht, ferner sechs Neger.

Auf dem Dampfer waren zwei Matrosen und ein Heizer, sowie vier Eingeborene zurückgeblieben; der Rest hatte die fünf Archen bewachen müssen. Dies hier hatte ja nur erst einmal eine Kundschaftstour sein sollen.

Da sahen wir ihn gelaufen und geklettert kommen, einen Neger, keuchend, triefend vor Schweiß.

»Massa, die Kabetels haben uns überfallen!«, schrie er schon von weitem.

Kabetels ist ein Name der Aschantis für die Gorillas — wahnsinnige Dämonen.

Unser Schreck lässt sich denken. Als der Schwarze etwas zu Atem gekommen war, erzählte er.

Wir waren kaum eine Stunde fort gewesen; die Mannschaft war mit verschiedenen Arbeiten beschäftigt oder hatte rauchend herumgelungert, als plötzlich über ihnen in den Zweigen des Baobabs ein Trommeln erscholl, und gleichzeitig kam es von oben herabgesaust, riesige, haarige Gestalten — Gorillas!

Der eine Neger war schon gepackt, erwürgt, an der Bordwand zerschmettert, ehe die anderen nur wussten, um was es sich handelte — es war eben lähmendes Entsetzen — dann freilich kam ihnen die Erkenntnis — jeder suchte sich zu retten, und ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass hier ein Widerstand nichts genützt hätte; wahrscheinlich hatten sie nicht einmal irgendwelche Waffe zur Hand gehabt.

Seine beiden noch lebenden schwarzen Genossen hatte Palamo, hier unser Gewährsmann, über Bord springen sehen; denn ins Wasser folgt kein Gorilla und kein anderer Affe nach — aber er hatte auch gesehen, wie der eine Springer sofort von einem Krokodil in Empfang genommen worden war, und da lugten noch mehrere aus dem Wasser — hier und dort der Tod — so zog Palamo vor, sein Heil am Lande zu suchen, obgleich er sicher erwartete, von den Gorillas verfolgt zu werden, die ihn auch sicher eingeholt hätten.

Das geschah aber eben nicht, und der gewandte Fährtensucher hatte uns zu finden gewusst.

»Und meine Matrosen?«, schrie ich.

Über deren Schicksal konnte Palamo nichts sagen; er war eben Hals über Kopf davongestürzt, ohne noch einmal zurückzublicken. Auch die Zahl der Gorillas vermochte er nicht anzugeben. Vielleicht ein halbes Dutzend.

Zwei Stunden waren wir unterwegs gewesen, ohne uns einmal aufgehalten zu haben — nach noch nicht einer Stunde sahen wir zwischen den Baumriesen wieder den Spiegel des Sees schimmern.

Der neben mir hertrabende Goliath begann von einem Kriegsplan, mit welchen Vorsichtsmaßregeln wir uns dem Dampfer zu nähern hätten, falls die Gorillas noch drauf wären — ich wollte von nichts wissen. An meinem ganzen Körper war kein trockener Faden; jeder Nerv in mir zitterte.

»Meine Jungen! Meine Jungen!«, heulte ich.

»Massa, ich muss Euch aber doch warnen — so ein Gorilla fällt niemals auf den ersten Schuss — und einmal an den Menschen herangekommen, ist dieser rettungslos verloren — nur ein Biss, nur ein Griff...

Ich hörte nichts.

»Meine Jungen! Meine Jungen!«

Da lag der Dampfer vor mir. Und wahrhaftig, da trieben sich auch noch unförmigmenschliche, schwarze Gestalten darauf herum. Es war mir, als wenn zwei damit beschäftigt wären, die Tür der etwas tiefer liegenden Kajüte zu öffnen. Sie rissen und drückten und hämmerten mit den Fäusten —

Da hatten sie uns erblickt, und fünf Stück waren es, die auf uns losstürmten.

Es waren die ersten Gorillas, die ich erblickte. Ja, ihr Anblick war entsetzlich!

Schon mancher Leser mag einen gefangenen Gorilla gesehen haben — aber was ist das gegen einen in wilder Freiheit, im Bewusstsein seiner unbändigen Kraft befindlichen! Eine melancholische Ruine, ein Häufchen Unglück, man lacht über seine traurige Komik.

Nun aber hier! Sie waren nicht allzu groß. Die spätere Messung ergab im Durchschnitt fünf und einen halben Fuß. Das ist die mittlere Größe des Menschen.

Nun aber diese Schultern! Von Achsel zu Achsel gemessen mindestens drei Fuß und sogar einen Meter. Und dann diese Arme! Wie Männerschenkel — und nun überhaupt die schwarzbraunen, haarigen Ungeheuer, wie sie auf uns losgestürmt kamen!

Ihr rascher Lauf war ein ganz eigentümlicher. Sie rannten auf allen vieren, dann richteten sie sich auf, liefen wie ein Mensch, sich dabei mit den Fäusten dröhnend gegen die Brust schlagend, fielen wieder auf die Hände, richteten sich dann wieder auf, und so kamen sie äußerst rasch vorwärts.

Hinter mir fiel nur ein einziger Schuss. Goliath hatte ihn abgefeuert. Und ich konnte dann begreifen, warum sonst niemand das Gewehr angelegt hatte, weder Mahlsdorf noch Beyer, noch einer meiner Matrosen, von den Negern gar nicht zu sprechen.

Der Gorilla ist wohl das einzige Tier, das überhaupt keinen Feind hat. Er braucht niemanden zu fürchten. Wenn der Löwe einen Gorilla sieht, klemmt er den Schwanz zwischen die Beine und verduftet schnell.

Löwen, Tiger, Krokodile — alle anderen Raubtiere werden immer seltener, der Mensch mit seiner Feuerwaffe räumt unter ihnen auf. Aber welcher Sportsmann kann sich denn rühmen, schon einen Gorilla erlegt zu haben? Und man bedenke, was für ein Ereignis das ist, wenn ein zoologischer Garten einmal einen gefangenen Gorilla ausstellen kann!

Ein Glück ist es nur, dass sich diese ungeheuren Menschenaffen so spärlich vermehren, auch so vielen Krankheiten ausgesetzt sind. Nicht der Mensch, sondern die Natur hat sie auf den Aussterbeetat gestellt.

Kurz, der Anblick dieser auf uns losstürmenden Ungeheuer lässt sich gar nicht beschreiben. Und wenn mein treuester Freund mich im Stiche gelassen — ich hätte ihm verziehen.

Auf Goliaths Schuss hin stürzte einer — doch gleich war er wieder auf den Füßen, ein Wutgebrüll — und dann war überhaupt keine Zeit mehr zum Schießen. Der erste stand aufgerichtet vor mir, streckte die riesig langen Arme nach mir aus; ich hatte die zolllangen Nägel schon vor der Nase.

Aber ich ließ es nicht so weit kommen.

»Himmelhund!!!«

Ich glaube, das war es wohl, was ich gerufen hatte. Weshalb ich plötzlich in so furchtbare Wut geriet, weiß ich selbst nicht. Es war eben um meine Jungen.

Und dann hatte das Luder von meinem Seestiefel einen Tritt in den Bauch weg — einen Tritt, der sich gewaschen hatte — jeder Mensch wäre davon auf der Stelle tot gewesen — und auch dieser Gorilla fiel wie ein Sack um, wälzte sich auf dem Rücken und hielt sich wimmernd wie ein Mensch den Bauch.


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Dann war ein zweiter vor mir, der hatte schon meinen Arm gepackt; seine Nägel gruben sich schon ins Fleisch — da schlug ich ihm mit der Faust in die schwarze, haarige Visage, auf die Stulpnase, dass das Blut nur so herumspritzte, und auch dieser Gorilla sackte zusammen — und nun war ich einmal im Hauen drin — mein Gewehr hatte ich überhaupt schon längst fallen lassen — und ich schlug auf alles los, was schwarz und haarig war — und ein dritter Gorilla spie unter meinem Faustschlag Backenzähne, dass es nur so eine Lust war — und dem vierten schlug ich zur Abwechslung sämtliche Vorderzähne ein — der fünfte bekam wieder einen Tritt, der ihn wimmernd zu Boden legte — und den sechsten...

Nein, da war keiner mehr da. Ich hätte beinahe meinem Goliath einen in die Visage gegeben, weil die auch so schwarz war. Ich war nun einmal ins Hauen gekommen.

Fünf Gorillas lagen am Boden, teils auf dem Bauche, teils auf dem Rücken, blutend, wimmernd und spuckend.

Da raffte sich der eine unter einem Wutgebrüll wieder auf, blutüberströmt — es war der, dem ich die Vorderzähne eingetrieben — ich glaube, er hatte es gar nicht mehr auf uns abgesehen, wollte lieber in den Wald — aber ich ließ ihn keinen Schritt weit kommen, und weil er die riesigen Hände vor das Gesicht gelegt hatte, schlug ich ihn seitwärts gegen die Schläfe, es klang, als ob ein irdener Topf zerspränge, der Gorilla lag wie ein geprellter Frosch am Boden, sagte keinen Mucks mehr, und ich wusste gleich, dass er tot war. Wie sich dann herausstellte, hatte ich ihm das Schläfenbein eingeschmettert, die Splitter waren ihm ins Gehirn gedrungen, ich hatte die weiche Masse sogar an der Faust, und so etwas hält auch kein Gorilla aus.

Noch ein anderer war von seinem Tode überzeugt.

»Nicht tothaun, nicht gleich alles tothaun!!«, schrie Karlemann, und es klang fast weinerlich.

In diesem Augenblicke sah ich, der ich ja nur an das Schicksal meiner braven Jungen dachte, noch etwas, ehe ich meinen unterbrochenen Lauf fortsetzte. Denn dies alles hatte ja nur fünf Sekunden gedauert — zwei Fußtritte und drei Faustschläge.

Der eine Gorilla, entweder der, dem ich die Nase eingetrieben, oder der, dessen Backenzähne ich hatte aus dem Maule exerzieren lassen, wollte sich ebenfalls wieder aufraffen, war auch schon wieder auf den Beinen — da packte Karlemännchen blitzschnell von hinten die haarigen Füße, ein Ruck, und der Gorilla lag schon wieder auf dem Bauche, und gleichzeitig stürzten sich Goliath und Mahlsdorf auf seinen Rücken, schon Stricke und Lederriemen in Bereitschaft haltend.

Die ganze Situation war eigentlich gar nicht so lächerlich, und ich hatte nur immer die zerfleischten Leichen meiner Jungen vor den Augen — aber wie dieser Dreikäsehoch sich bückte und dem haarigen Ungeheuer so blitzschnell die Beine unterm Leibe wegzog — ich musste beim Weiterrennen einmal aus vollem Halse lachen!

Dem Himmel sei Dank, da standen sie alle drei an Deck, Pieplack, Fritz und Gustav — und auch noch ein Neger — doch nein, schwarz war wohl der Kerl, aber sonst...

Da erkannte ich es. Es war ein junger Gorilla, ein Knäblein, etwa ein Meter groß, aber schon mit den Armen und Muskeln eines Athleten und mit einem fürchterlichen Gebiss. Nur weil er auf einer Kiste hockte, war er mir zuerst wie ein erwachsener Neger vorgekommen. Die drei Matrosen hatten ihn schon an Händen und Füßen gebunden, und weil er noch beißen wollte, applizierte ihm Meister Pieplack soeben eine Maulschelle.

Von dem Überfall selbst konnten die drei nichts weiter erzählen als Palamo. Auch sie hatten den einen Neger im Rachen des Krokodils verschwinden sehen, und so hatten sie es vorgezogen, in die Kajüte zu flüchten und die Tür hinter sich zuzuschmettern und zu verriegeln.

Ein Glück, dass Tür und Schloss so fest waren, die Ungeheuer hatten ihr möglichstes getan, sie aufzusprengen — ein Glück auch, dass sie dabei die Klinke abgewürgt hatten, so fanden sie keine Handhabe mehr, und dass sie die Tür nicht eindrücken konnten, dafür sorgten die Matrosen, die sich nicht schlecht verbarrikadiert hatten. Ein Glück ferner, dass die Gorillas kein Stemmeisen oder Handspeiche oder dergleichen angewandt hatten.

Der Gorilla soll sich manchmal, wenn er auf den Menschen oder gegen einen sonstigen Feind losgeht, eines Knüttels, eines Astes bedienen, ihn als Keule benutzend. So wird erzählt. Ob dies wahr ist, kann ich nicht sagen. Als sie auf uns loskamen, hatten sie nichts dergleichen.

Ein Unglück aber war es, dass die Matrosen keine Schusswaffe bei sich hatten und eine solche auch nicht in der Kajüte vorhanden war. Diese eigentliche Kajüte war nämlich immer etwas feucht, so wurde alles, was gegen Feuchtigkeit zu schützen war, in einem kleinen Raume neben dem Kessel aufbewahrt. Sonst hätten die Matrosen durch die Tür mit dem Messer ein Loch gebohrt — was sie übrigens auch getan, um beobachten zu können, nur ein kleineres — und dann hätten auch sie ein Wort mitgesprochen.

Doch schließlich ganz gut, dass es nicht dazu gekommen. Von Karlemann hätten sie dafür sicher keinen Dank geerntet.

Dann hörten sie uns kommen, es war ja auch ein Schuss gefallen, sie sahen durch das Guckloch, wie die Gorillas zum Angriff übergingen, und nun ließ es sie nicht mehr in ihrer Festung, sie kamen hervor, auf die Gefahr hin, dass doch ein Gorilla zurückgeblieben wäre, gegen den sie es dann mit den Messern aufgenommen hätten.

Doch nur noch das Junge war vorhanden, welches sich mit einer Matratze amüsierte, sie emsiglich kleinzupfte.

Seine Überwältigung war nicht allzu schwierig. Der halbwüchsige Bengel war sich seiner Kraft noch nicht recht bewusst, es hatte nur einen Biss in die Hand gegeben, sonst reagierte er noch auf Maulschellen, und den Matrosenfäusten hatte er eben nicht widerstehen können.

Ich will gleich noch hinzufügen, dass der zweite Neger glücklich unsere Insel schwimmend erreicht hatte. In einem Gewässer, welches Krokodile beherbergt, wenn auch massenhaft, braucht eben nicht jeder Schwimmer diesen durchaus zum Opfer zu fallen.

So hatte der ganze Konflikt nur zweien unserer schwarzen Diener das Leben gekostet. Die Gorillas hatten an Deck des Dampfers bös gehaust, besonders den Schlafraum der Matrosen und Neger hatten sie ausgeräumt und alles kurz und klein gerissen, was nur zu zerreißen ging, im ganzen genommen aber war der Schaden doch nicht groß. Den Proviant hatten sie nicht zu finden gewusst.

Und dann lag da die schrecklich zerrissene Leiche des Negers, an der die Gorillas ihren ersten Unmut ausgelassen hatten. Als ich mich um sie bekümmern wollte, waren die einzelnen Gliedmaßen wie der ganze Körper schon verschwunden — schon im Magen der Krokodile. Karlemann, dieser Gemütsmensch, hatte alles einfach über Bord werfen lassen.

Der eine Gorilla war schon tot, ein anderer, den ich mit einem Fußtritt beehrt, verschied bald. Ich glaubte einen Menschen sterben zu sehen. Mehr überhaupt als der Körperbau war das Gesicht dieser Ungeheuer menschenähnlich, besonders die Augen.

Ein Neger holte von Bord noch mehr Stricke, und als ich hinkam, sah ich nur noch unförmige Taubündel, und meine Matrosen verstanden Knoten zu schürzen. Um den einen, dem ich die Nase eingetrieben — das Nasenbein war wirklich zerschmettert — hatten sie noch einen Kampf zu bestehen gehabt, doch um seine Füße war schon eine Schlinge gelegt gewesen, sie hatten ihn immer wieder zum Sturz bringen können, und schließlich hatten sie ihn doch überwältigen können. Aber ohne diese Schlinge wäre es abermals zum mörderischen Kampfe gekommen, und ich möchte fast nicht zweifeln, denn alle behaupteten es, insbesondere auch Goliath, dass dieser halbblinde Gorilla doch noch Sieger geblieben wäre.

So muss ich auch noch etwas anderes erwähnen, so schwer es mir auch wird; denn der Leser wird wohl schon gemerkt haben, dass ich sonst nicht gern meine Person hervorhebe.

Aber wie mich diese Neger anstaunten, das kann ich gar nicht schildern! Sie zollten mir fernerhin wahrhaft göttliche Ehren. Und nicht nur die, die dabei gewesen, wie ich die fünf Gorillas vertobakte, sondern mein Ruf hat sich mit Schnelligkeit über das ganze Aschantireich verbreitet.

Sala lu kabetel — der Herr der Dämonen — das war fernerhin mein Name. Dann aber Sala lu Himmelhunde.

Tatsächlich, ich habe den Gorillas für jene Gegend einen neuen Namen gegeben.

Ich hatte doch ›Himmelhund!‹ gebrüllt, ich gebrauchte noch mehrmals dieses Wort, es war mir überhaupt geläufig, wenn ich zornig wurde — du Himmelhund! — die Aschantis sprachen fernerhin nur noch von Himmelhunden, wenn sie die Gorillas meinten.

Ma assi alu — er selbst hat es gesagt — nämlich ich. Mein Wort hatte eben Bedeutung gewonnen.

»Massa, Ihr wisst nicht, was Ihr getan habt«, sagte Goliath dann zu mir.

Doch genug davon. Ich war ja nur froh, dass ich meine braven Jungen noch am Leben fand.

Die drei Gorillas wurden an Bord geschleppt, um erst in einer Arche wieder aus ihrer Umhüllung ausgepackt zu werden, dann sich schon in Käfigen befindend, bei deren Konstruktion Karlemann mit der Achtmännerkraft solch eines Ungeheuers gerechnet hatte. Diese Eisenstäbe vermochte auch kein Gorilla auseinander zu biegen.

Als wir zurückkamen, erwartete uns eine freudige Überraschung.

Jim, der Cowboy, hatte unterdessen ein Flusspferd geschossen, es durch eine Kugel ins Auge augenblicklich getötet, und die säugende Mutter hatte ein Kalb bei sich gehabt, welches sich schon wohlverwahrt in einer der Archen befand.

— • —

45. Kapitel
Was ich in Kumasi erfahre

Originalseiten II.285 — 301

Nach dreiwöchigem Aufenthalt am Gabanbetel traten wir die Rückreise an. Unsere Jagdbeute an lebendigen Tieren bestand aus drei Löwen, zwei Leoparden, fünf Zebras, vier Gorillas, zwei Straußen, einem kleinen Flusspferd, einer Riesenschlange, die ihre Antilope nun glücklich verdaut hatte, aus einem Gnu, das ist eine riesenhafte Antilope, und ich weiß nicht, was für kleineres Getier wir sonst noch alles an Bord hatten.

Mein Interesse war überhaupt schon längst erlahmt. Ich bereute seit dem dritten Tage, an dieser Expedition teilgenommen zu haben. Ich bin nicht fürs Land geschaffen.

An Bord träume ich oft von grünen Triften und schattigen Bäumen — aber eine Stunde, nicht länger, dann sehne ich mich wieder nach der weiten See, und je mehr sie tobt und brüllt, mir desto lieber.

Ja, auch hier war ich noch immer der Seezigeuner, der ich nun einmal geworden. Wir lagen ja den ganzen Tag auf dem Wasser. Aber das war ein männlicher See, ein süßer, und ich schmachtete nach der See, die trotz aller Weiblichkeit gewöhnlich sehr herb ist, wie auch ihr Wasser bitter schmeckt.

Und da wir nun einmal bei der Weiblichkeit sind — ich dachte auch an Blodwen. Was machte sie jetzt wohl?

Ja, jetzt erst merkte ich, dass sie mir doch nicht so gleichgültig geworden war.

Und merkwürdig, der junge Gorilla war es, der mich immer an mein Kind denken ließ, jetzt erst sehnsüchtige Vaterliebe in mir erweckte!

Es ist zu dumm, das zu sagen, und doch — so war es, und ich bin eine zu offene Natur, um etwas zu verheimlichen.

Dieser junge Gorilla war ein reizender Kobold, so zutraulich, so neckisch — trotz seiner ansehnlichen Zähne musste er doch noch sehr jung sein, nur wenig über das Säuglingsalter hinaus, die scheinbar kraftstrotzenden Glieder waren mehr die dicken eines menschlichen Babys, so Wurstbeine und Wurstarme — er war auch noch hilfsbedürftig wie ein Kind, und wenn sich dieses Affenbaby nun so grunzend an mich schmiegte, meine Taschen untersuchte, mir ins Ohr schnatterte — nochmals: es ist zu dumm, und doch war es so — dieser Affe weckte in mir den sehnsüchtigen, schwermütigen Gedanken, dass ›unser Kindchen‹ ja das meine war, dessen Aufenthalt ich jetzt nicht einmal kannte.

Und ich glaube, auch meine Jungen hatten ähnliche Gedanken. Ich hörte manchmal von ›unserem Kindchen‹ flüstern. Doch das verstummte stets in meiner Gegenwart.

Die Rückreise dauerte deshalb viel länger, weil wir für unsere Gefangenen Fleisch zu beschaffen und Futter zu schneiden hatten. Wohl suchten wir möglichst des Abends, wenn die Archen ankerten, auf die Jagd zu gehen; aber das war nicht immer zu machen, wenn wir uns gerade im Urwald befanden. Wir mussten es immer so einrichten, des Abends am Ufer Steppe zu haben, und dann war da nicht immer gerade ein Tränkplatz, und das gab lange Verzögerungen.

Auf der Rückfahrt erblickten wir auch einmal ein Rhinozeros, ein Nashorn, sogar ein doppelt genashorntes, aber es war in dem Sumpf, in dem es alsbald verschwand, für uns nicht erreichbar.

So mussten wir auf ein Rhinozeros, auf das es Karlemann hauptsächlich mit abgesehen, da durch die Eingeborenen keines zu bekommen war, ganz verzichten. Um Elefanten dagegen hatten wir uns gar nicht gekümmert, Elefanten sind an den Küsten Afrikas immer zu haben, der Preis eines stattlichen Männchens, wenn man da überhaupt nach Gelde rechnen darf, schwankt zwischen fünfzig und hundert Talern, die Stoßzähne freilich, wenn sie nicht abgesägt werden sollen, müssen extra nach Taxe bezahlt werden.

»Ich hätte das Nashorn so gern zugeritten, gerade weil es zwei Hörner auf der Nase hat«, hörte ich Karlemann dem im Sumpfe verschwindenden Ungeheuer nachmurmeln. »Na, so ein Rhinozeros! Geht das Vieh in den dreckigen Sumpf und frisst Schlamm! Bei mir hätte es das Tierchen doch viel besser gehabt.«

Aber nicht direkt nach der Küste ging es, sondern unser nächstes Ziel sollte Kumasi sein, um dem König unsere versprochene Aufwartung zu machen.

Na, das musste nun auch noch überstanden werden. Ich konnte mit meinen Jungen doch nicht zu Fuß durch den Urwald marschieren, musste mich fügen. Und schließlich war ich ja auch etwas gespannt, ich kam auf andere Gedanken.

Statt am zweiten Tage erreichten wir wegen der Jagdverzögerungen den Kreuzungspunkt, wo ein Fluss nach der Hauptstadt führte, erst am vierten Tage.

Bald hörte der Urwald auf, wir sahen in der Steppe schon schwarze Jäger, dann kam bebautes Land, durch welches wir stundenlang fuhren, wenn von einer allgemeinen Kultur auch keine Rede war. Immer wieder ein großes Stück Wildnis dazwischen, um kleine Dörfer hohe Palisaden, nur wegen der wilden Tiere errichtet.

Dann aber kamen ununterbrochen Felder, immer wieder am meisten Durra und mehr noch Kürbisse, an denen ich nie Geschmack finden konnte, und am Nachmittage sahen wir vor uns auf der Ebene zwei hohe Gebäude aufsteigen, auch die vielen Kähne verrieten, dass wir uns der Stadt näherten.

Überall, wo wir erblickt wurden, war großes Hallo, man wünschte uns zu sprechen, wollte uns besuchen. Doch wir ließen uns auf nichts ein.

Mit einem Male aber hörte diese Zudringlichkeit auf. Jedenfalls hatten Läufer unsere Ankunft gemeldet, wir waren diejenigen, welche — Gäste des Königs, die vom ganzen Volke danach behandelt werden mussten.

Dann kam ein großes Boot, von wenigstens vierzig Schwarzen gerudert, so ein afrikanisches Kriegsschiff, und darin denn auch einige Häuptlinge oder Würdenträger, welche sogar in Panzern steckten und unter dem Eisen nicht schlecht braten mochten.

Die konnten wir nicht zurückweisen. Es waren Abgesandte des Königs, die uns schon willkommen hießen, auch bei uns an Bord blieben.

Aber als sie die Gorillas erblickten, da lagen die gepanzerten Helden gleich auf dem Rücken. Faktisch, der eine wenigstens sackte vor Schreck gleich zusammen, und die anderen waren auch nicht weit entfernt vom Umfallen.

Dann wurden mit unseren schwarzen Dienern lange Gespräche geführt, und die mochten nicht schlecht aufschneiden, und wie die nun erzählten, was wir Blassgesichter freilich nicht verstanden, wie der eine Erzähler immer in der Kajüte herumhopste und mit den Füßen ausschlug und in die Luft boxte, sich wie ein Quirl im Kreise drehend — jedenfalls war ich es, auf den sich schnell die allgemeine Ehrfurcht lenkte.

Der eine wollte dann immer etwas von mir, ich verstand den Kerl nicht, bis Goliath es mir erklärte: ein Haarbüschel wünsche er von mir, als Talisman — oder poetischer ausgedrückt: eine Locke von mir, eine Heldenlocke — ich ließ ihn abschneiden nach Belieben, dann schnitten sich auch die anderen ab, ich hatte es auch gerade sehr nötig, und meine Heldenlocken wurden feierlichst unter den Panzern geborgen.

Kurz darauf kam Karlemann angestürzt, der dieser Szene nicht beigewohnt hatte.

»Mensch, Mensch, Mensch!!!«, brüllte der Knirps mich an.

»Na, was denn?«

»Sie haben sich von den Häuptlingen Haare als Talismane abschneiden lassen?!«

»Jawohl, ich habe einige Haare lassen müssen.«

»Und das umsonst?«

»Sollte ich sie etwa verschachern?«

»Mensch, Sie sind ja dümmer als damals das doppelt genashornte Rhinozeros!!«

»Nun lassen Sie diese Schimpfereien, oder auch ich kann einmal ungemütlich werden.«

»Sie? Sie? Sie ungemütlich? Und Sie fragen auch noch? Sie hätten diesen Häuptlingen für Ihre Haare doch den ganzen Goldschmuck aus Ohren und Nasen klauben müssen, hätten sich selbst mit Gold aufwiegen lassen müssen. Ich will sehen, was sich noch machen lässt...«

Ich hielt ihn mit Gewalt zurück, machte ihm begreiflich, dass solch ein nachträgliches Geschäft nicht seine Sache sei, dass ich mir so eine Einmischung ein für allemal verbäte, bis er schließlich nachgeben musste. Aber ich musste mir gefallen lassen, dass der Dreikäsehoch mich noch einmal ein gutes, dummes Luder nannte.

Ja, ich war ein gutes, dummes Luder und sollte es immer bleiben. Wenigstens in allen Geschäftssachen. Sonst sollte meine fernere Laufbahn ja bald genug eine blutige werden.

Nicht lange darauf, wir näherten uns schon den engeren Stadtmauern, erschien Karlemann wieder, und zwar — ich traute meinen Augen nicht — im schwarzen Frackanzug mit Zylinder und Lackschuhen, alles saß wirklich tadellos, im Knopfloch so eine rote Blume, wie sie manchmal auf dem Wasser schwamm, und soeben knöpfte er seine weißen Glacéhandschuhe zu.


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»O du Knollonje haben Sie wohl nicht zufällig bei sich? Ich stinke nämlich so unverschämt nach Raubtier.«

Ich blieb die Antwort schuldig, musste das Frackmännchen nur immer anstaunen.

»Nun sagen Sie mal bloß...«

»Na, was denn?«

»Im Frack und Zylinder wollen Sie sich dem König präsentieren?«

»Na, dachten Sie etwa im roten Jagdhemd mit Jagdstiefeln? Das können Sie machen, aber Karl Algots nicht. Haben Sie etwa Frack und Lackstiefel mit? Nee. Sehen Sie, da wird Herr Kapitän Algots wieder einmal ganz alleine glänzen, wird alle anderen ausstechen, und er wird diesem schwarzen König beibringen, was europäische Kultur heißt.«

Nur eine kleine Ahnung ging mir auf, was Karlemann hiermit meinte. Wahrhaftig, dieser Junge mochte wiederum recht haben!

»Außerdem«, fuhr er fort, immer noch mit seinen Handschuhen beschäftigt, »Sie wissen doch, dass ich des Königs älteste Tochter heiraten will — es soll zwar ein alter Fettsack mit einem Hängebauche sein, aber das gilt ja gerade als Schönheit bei diesen Schwarzen, und eine Schönheit will ich natürlich haben — wenn nicht die Tochter, dann die Schwester, die auch so ein fettes Mastschwein sein soll — oder vielleicht gleich alle beide — sehen Sie, das habe ich mir alles schon in Deutschland überlegt gehabt, d. h., als ich jetzt zuletzt dort war und während ich im Gottesasyl Schnee schippte, wurde für mich dieser Frackanzug gefertigt, nach Maß, hat mich dreizehn Taler elf Silbergroschen gekostet, neunzehn Silbergroschen habe ich nämlich abgehandelt — und der eine Taler war auch falsch — und der Zylinder musste auch erst gemacht werden, so einen kleinen gab es nicht — wenigstens nicht zum Zusammenklappen — das ist nämlich ein sogenannter Chapeau klapp — so etwas haben Sie jedenfalls auch noch nicht gesehen — passen Sie auf — schrumm, da ist's nur noch eine schwarze Platte, auf die man sich getrost setzen kann — und nun puffe ich nur hinein — knacks — nun ist es wieder eine richtige Angströhre...«

Wie ich mich über das Kerlchen amüsierte, brauche ich wohl nicht erst zu sagen.

»Na, was feixen Sie denn?«

»Hören Sie, Sie wollen wirklich so eine Schwarze heiraten?!«

»Na, warum denn nicht? Aber nicht nur so 'ne Schwarze, eine Prinzessin muss es mindestens sein — jawohl, ich will auch einmal eine Prinzessin haben — und da ich eine weiße aus Europa doch nicht bekommen kann, nehme ich eine schwarze aus Afrika — ich kann sie ja weiß anpinseln — und wenn sie mir dann doch nicht passen sollte, dann verkoof ich se eefach...«

Unser Gespräch wurde leider dadurch unterbrochen, dass wir soeben das Stadttor passierten.

Kumasi hat 80 000 bis 100 000 Einwohner. Volkszählungen gibt es ja dort nicht. Über eine geografische Meile im Umfang. Es sind nur Lehmhütten, bloß die Vornehmeren haben stattlichere Wohnungen, aber auch nur aus Lehm mit Stroh und Bambus zusammengekleistert.

Anders die eigentliche Residenz des Königs.

In der Mitte der Stadt umfließt der Lomate, der hier noch immer sehr breit ist, ein gewaltiges Plateau aus Granit, und aus Granitquadern sind die beiden umfangreichen, dreistöckigen Gebäude aufgeführt, welche sich auf diesem Plateau erheben.

Die großen Granitblöcke von fast einem Meter im Durchmesser sind ohne Kitt übereinandergesetzt, aber auch ohne jede Fuge, und ich vermute fast, dass dies noch das Werk eines früheren, ausgestorbenen Volkes ist, welches auf einer ganz anderen Kulturstufe gestanden hat, denn die heutigen Aschantis sind ja zu so etwas gar nicht imstande, wie es zum Beispiel auch in Abessinien der Fall ist, und sprechen die Aschantis auch von sagenhaften Königen, ebenso wie die Abessinier, welche diese mächtigen Bauwerke ausgeführt haben.

In dem einen Palaste — denn Paläste sind es wirklich, wenn auch jede architektonische Schönheit fehlt — wohnt der König mit seinen ersten Würdenträgern, Weibern und der Dienerschaft. Wie es darin zugeht, hat noch niemand erzählen können, und auch ich sollte es nicht erfahren. Nur von den Goldschätzen wissen alle Besucher zu berichten, das einfachste Hausgerät ist von purem Golde, und wie der König und die übrigen Häuptlinge zu diesem kommen, habe ich ja schon erzählt, und der König ist immer Erbe der Häuptlinge.

Der zweite Palast, der mehr als tausend Räume enthalten soll, ist ausschließlich zur Aufnahme von Gästen bestimmt, von fremden Gesandtschaften und dergleichen.

Anmutend auf Gäste muss es wirken, dass diese beiden Paläste mit Palisaden umgeben sind, aus einzelnen spitzen Brettern bestehend, und von jeder Spitze grinst ein Menschenschädel herab. Überhaupt überall Menschenschädel, wohin man auch blickte, und auch draußen die Stadtmauern waren damit gepflastert, und dahinter eine meilenlange Palisade wiederum mit Totenschädeln gespickt. Hunderttausende von solchen Schädeln!

Doch die Aschantis sind keine Menschenfresser. Das sind einfach Siegestrophäen, die Köpfe der im Kriege getöteten Feinde, welche mitgebracht und ausgehangen werden, und da kann sich in ein paar hundert Jahren schon eine gute Portion ansammeln.

Weniger harmlos ist es, dass bei einer Feierlichkeit, wie zum Geburtstag des Königs, noch mehr bei seinem Regierungsantritt, gleich einmal so zehntausend Sklaven geschlachtet werden, und so bei jeder anderen Gelegenheit — also niemals des Fleisches wegen, es ist eigentlich auch kein religiöser Akt — sondern der schönen Köpfe wegen, aus Prunksucht.

Ich sollte nicht einmal in dem Fremdenpalast Umschau halten können.

Auf die Anweisung des führenden Häuptlings hatte unser Dampfer mit den nachschleppenden Archen an der Granitmauer beigelegt, zu welcher roh behauene Stufen der ganzen Breite nach hinaufführten.

Es lagen noch eine Masse Kähne daran, kleine und sehr große, zum Teil vorn mit geschnitzten Figuren, mit Gold ausgelegt, aber im Allgemeinen alles recht plump und roh.

Ferner aber lag da noch eine Dampfpinasse, schon mehr eine kleine Jacht, auch mit Beibooten, und wenn auch keine europäische Mannschaft darauf war, nur einige mit Waffen bespickte Schwarze stolzierten darauf herum, so herrschte darauf doch eine Ordnung, dass wir nur einen Europäer vermuten konnten, der mit seiner Jacht hierher gekommen war.

Zum Überfluss blähte jetzt auch noch ein Windstoß die schlaff herabhängende Flagge, welche die französischen Farben zeigte.

In diesem Augenblick, als uns zum Bewusstsein kam, dass wir nicht die einzigen weißen Gäste sein konnten, trat aus dem gewaltigen Portal ein Mann heraus, in ein weißes Tropenkostüm gekleidet, und gleich an dem zugestutzten Barte erkannte ich den Franzosen.

Er hatte ein Schlüsselbund in der Hand, einen Schlüssel schon so steckfertig — wir lagen nämlich ganz dicht vor diesem Portale — da erblickte er den Dampfer und die Archen, und sein Schritt, nach der Jacht gelenkt, stockte.

»Verflucht und zugenäht«, knurrte Karlemann, »ist schon so ein Lausewenzel da — hat es vielleicht gar auf meine Braut abgesehen! Na, warte, du sollst mich kennen lernen!«

Der Herr änderte seine Richtung, stieg zu uns herab. Höflich zog er den Hut vor uns, die wir auf der Plattform der ersten Arche standen.

»Pardon — Monsieur Kapitän Algots?«

»Ja, so heiße ich.«

»Verzeihen Sie, dass ich mir gleich die Freiheit nehme — Sie sind angemeldet worden, werden erwartet — aber es berührt so überaus wohltuend, wieder einmal ein weißes Gesicht sehen zu können.«

Es war ein feiner Mann, dessen Liebenswürdigkeit nicht nur in Worten bestand, und auch Karlemann ließ sich gefangen nehmen, dass er wenigstens nicht gleich grob wurde. Dann war er ja auch Diplomat genug, um jenen erst aushorchen zu wollen.

»Bitte, treten Sie näher.«

»Alfons de Lamanque.«

»Kapitän Jansen«, stellte auch ich mich vor.

Des Franzosen Stutzen war auffallend.

»Doch nicht Kapitän Richard Jansen?«

»Jawohl.«

»Von der ›Sturmbraut‹?«

»Auch das.«

Jetzt schien der Franzose etwas verlegen zu werden.

»Pardon — ich dachte nämlich... doch ich muss mein Staunen wohl rechtfertigen. Sie hatten doch früher Ihre Herrlichkeit die Lady von Leytenstone an Bord Ihres Schiffes als Gast.«

»Allerdings.«

Ich weiß nicht — — mein Herzschlag setzte plötzlich mehrmals aus, obgleich doch gar kein Grund dazu vorhanden war. Es war eben eine Ahnung, welche es in gewissen Fällen sicher gibt.

»Nun, was ist mit Blodwen — mit der Lady?«, fragte ich, als jener nicht weiter wollte.

»O, ich dachte nur...«

»Was dachten Sie? Bitte, sprechen Sie!«

»Sie wissen doch sicher...«

»Ich weiß gar nichts, ich stecke seit vier Wochen im Innern von Afrika.«

»Auch nicht, dass sich Lady Leytenstone seit vier Wochen in London befindet?«

»In London? Ich dachte in New York.«

»Sie hat Schiffbruch erlitten.«

»Schiffbruch?«, wiederholte ich mechanisch.

»Jawohl, sie ist gerettet worden, von dem englischen Schiffe, welches das Boot auffischte, nach London gebracht worden, und — und...«

»Mann, sprechen Sie, Sie verheimlichen mir etwas!«, rief ich jetzt.

»Sie befindet sich in einem Irrenhause.«

Was waren mir jetzt die Häuptlinge und Würdenträger, die uns einluden, ihnen zu folgen! Ich hörte sie nicht, sah sie nicht, und als der eine meinen Arm berührte, flog er gegen die Wand.

In der Kajüte erzählte mir Monsieur Lamanque, was er erst vor acht Tagen in den Zeitungen gelesen hatte. Nähere Daten konnte er nicht angeben.

Eine englische Lustjacht hatte auf offenem Meere, in der Nähe der Azoren, ein Boot mit Schiffbrüchigen aufgefischt, darunter auch ein Weib — die Lady Leytenstone, mit ihrem Kinde.

Was für ein Schiff es gewesen, das untergegangen war, auf dem sie sich befunden, konnte der Franzose nicht angeben. Es seien auch mehrere Inder darin gewesen.

Das genügte mir, ich wusste Bescheid. Die Galeerenjacht oder ein sonstiges Schiff, mit welchem Blodwen von der ›Indianarwa‹ aus nach New York gebracht werden sollte.

»Ja, sie wollte nach New York, sie beschwor den Besitzer der Jacht, sie nach New York zu bringen, oder sonst wohin, nur nicht nach London, nicht nach England... nicht wahr, die Lady stand unter einer Anklage?«

»Wegen einer Körperverletzung, nicht der Rede wert. Nun, und?«

»Aber... kennen Sie einen englischen Baronet Ralph?«

Ich habe schon früher gesagt, dass ich meine Gründe habe, die Namen derjenigen, welche damals mit Blodwen den Erbschaftsprozess führten, zu verschweigen. — So will ich nur Lord Ralph sagen, auch die anderen nur bei ihren Vornamen nennen, selbst wenn dies später bei einer Konversation nicht passen sollte.

Und ich fuhr von meinem Sitze empor.

»Was? Der Besitzer dieser Jacht war doch nicht etwa Lord Ralph?!«

»Jawohl, es soll ja der Lady größter Feind sein, und außerdem befand sich an Bord noch die Geliebte des Baronets — die zeitweilige — eine bekannte Tänzerin...«

»Doch nicht etwa Mercedes Coliani?!«

»Jawohl, eben die, und die soll noch ganz besonders darauf bestanden haben, dass die Jacht nach London ginge.«

Da hob ich die Hände zum Himmel empor.

»Auch die noch — auch noch die Coliani — o, unglückseliger Zufall!!«

»Nun, Lady Blodwen wird nicht lange gebeten haben, und wohl nur des Kindes wegen... ja, wohl wegen ihres Kindes...«

»Jawohl, es war mein Kind, und nur wegen dieses Kindes ist die Mutter nicht über Bord gesprungen, ich verstehe schon. Und da hat sich die Lady eben mit Stolz in ihr Schicksal gefügt.«

»So wird es gewesen sein. In London wurde sie sofort verhaftet, aber zur Anklage kam es gar nicht — verschiedene Psychiater erklärten sie für geisteskrank — für unheilbar irrsinnig — — sie ist in der bekannten Klinik des Doktor Sullivan untergebracht worden.«

Eine eiserne Ruhe war plötzlich über mich gekommen.

»Für immer?«

»Sie ist für unheilbar erklärt worden — natürlich«, zuckte der Franzose mit den Achseln, mich dabei von unten auf beobachtend, und da brauchte von keinem falschen Blicke die Rede zu sein. Der wusste doch schon, dass es nur mein Kind sein konnte, und so hätte mich auch jeder andere beobachtet.

»Und das Kind?«

»Das ist ihr natürlich genommen worden.«

»Wohin ist es gekommen?«

»Das kann ich wirklich nicht sagen.«

»Und wo befindet sich diese ›berühmte‹ Irrenanstalt? Bei London?«

»Bei London.«

»Das genügt. Eine Privatanstalt, nicht wahr?«

»Jawohl. Wo nur Unglückliche aus den besten Familien untergebracht werden.«

»So so. Das genügt mir noch mehr.«

In diesem Augenblick trat Karlemann ein.

»Na, endlich fertig? Wir werden...«

»Erst muss ich Sie sprechen.«

Ich zog ihn trotz seines Widerstrebens in einen Nebenraum.

»Lady Blodwen befindet sich in einer Londoner Irrenanstalt.«

»Ach nee! Sie ist von selber neingegangen? Freiwillig?«

Ich weiß nicht — ich musste dem Kerlchen ins Gesicht lachen — soweit das bei unserer Körperverschiedenheit möglich war. Überhaupt hatte sich meiner plötzlich wirklich etwas wie eine wilde Lustigkeit bemächtigt.

»Wie sie das indische Schiff ohne Abschied verlassen hat, um sich nach New York zu begeben, das wissen Sie doch.«

»Das haben Sie mir ja selber erzählt. Wie viel wollte ihr denn der indische Dingsda jährlich zahlen?«

Immer derselbe, immer derselbe! Ich reagierte nicht darauf.

»Sie hat Schiffbruch erlitten.«

»Ach nee! War das Schiff versichert?«

»Sie wurde von einer englischen Jacht aufgefischt, die sie nach London gebracht hat, dort ist sie für wahnsinnig erklärt worden, man hat sie als unheilbar in einem Irrenhause untergebracht.«

»Das geht natürlich von den hübschen Verwandten aus, die ihr Geld haben wollen«, zeigte jetzt der Junge aber doch seinen hellen Verstand.

»Natürlich. Und wissen Sie, was ich nun tue?«

»Na? Aber machen Sie fix, ich hab's eilig, meine zukünftige Frau wartet schon auf mich. Nee, faktisch, wir müssen vor'n König.«

»Ich fahre sofort zurück und mit der ›Sturmbraut‹ nach London.«

»Nu nee, das machen Sie mal nicht!!«, stellte sich Karlemann erschrocken, oder er war's wirklich.

»Sie zweifeln? Denken Sie, ich lasse Blodwen lange im Irrenhaus?«

»Hm!« Karlemann drehte dort, wo er in sechs bis zehn Jahren einen Schnurrbart erwarten konnte, wenn das grüne Gift nicht auch dessen Wachstum verhinderte. »Hm, ich kann Sie begreifen — schließlich würde ich's auch so machen, wenn meine Frau so eingespunnt wäre — oder ich müsste einen guten Feng Geld dabei verdienen. Na, da wünsche ich Ihnen glückliche Reise. Wie steht's denn eigentlich mit meinen achtzigtausend Dollar, die Sie doch noch an Bord haben müssen?«

Wir hatten darüber faktisch noch nicht gesprochen.

»Die stehen Ihnen zur Verfügung — nur eine Kleinigkeit mag daran fehlen.«

»Hat Ihnen der Maha—Maha—Maharadscha—dingsda deswegen nichts gesagt?«

»Kein Wort.«

»Na, da will ich's Ihnen nur sagen. Da sehen Sie, dass ich gar nicht so bin. Denn ich könnte Sie doch jetzt mächtig übers Ohr hauen. Alles, was ich Ihnen gegeben, was Sie mir eigentlich schulden, ist schon beglichen.«

Ja, es war ein edelmütiger Gauner, dieser deutsche Zigeunerknabe. Man erinnere sich nur, wie er erzählte, dass unter dem Gelde, mit dem er seinen Frackanzug bezahlte, ein falscher Taler gewesen war.

Doch ich dachte jetzt an alles andere als an so etwas.

»Meine Leute begleiten mich natürlich.«

»Weshalb?«, fragte er unmutig.

»Das können Sie sich doch denken.«

»Na ja — ich weiß schon — so im Guten wird das nicht gehen — aber wir haben doch eigentlich einen Kontrakt gemacht, ich könnte Sie verklagen — na ja, meinetwegen, Sie kommen doch wieder. Nur den Goliath könnten Sie mir lassen.«

»Alle kommen mit.«

»Meinetwegen auch das.«

»Geben Sie mir Ihren Dampfer, dass ich so schnell wie möglich nach der Küste komme.«

»Meinen Dampfer?«

Karlemann steckte die Hände in die Hosentaschen und begann auf und ab zu wandern.

»Nee, heernse — heernse, meinen Dampfer, nee, das geht nicht...«

Da kam der Franzose herein. Die Tür war noch halb offen gewesen.

»Verzeihen Sie — ich habe alles gehört, ohne Willen, Sie sprachen sehr laut — kann ich Ihnen mit einem großen Ruderboot dienen? Mein Kutter, den ich schleppte, steht Ihnen zur Verfügung.«

Das war ein Wort gewesen!! Jedes moderne Ruderboot war schneller als dieser Flussdampfer.

»Ich nehme es an!«, rief ich, jenem die Hand schüttelnd, und ich sah durch das Kajütenfenster den großen Kutter neben der Jacht liegen. »Sind die Riemen darin?«

»Sechzehn Riemen.«

»Sonst alles in Ordnung?«

»Vollkommen seefähig ausgerüstet.«

»Dann leben Sie wohl, Algots. Wir sehen uns doch noch einmal wieder.«

»Was? Sie wollen schon fort?!«

»Auf der Stelle.«

»Und der König...«

»Mag König bleiben. Grüßen Sie Ihre Frau von mir — oder alle beide.«

— • —

46. Kapitel
Im Verdachte des Mordes

Originalseiten II.301 — 323

Dreiundzwanzig Tage später ließ ich mich in der Privatnervenklinik des Doktor Sullivan, bei Woodford gelegen, anmelden. Ja, ich hatte die einzelnen Tage gezählt! Die lange Fahrt, zu welcher der Dampfer, wenn er während der Nacht still lag, drei Tage brauchte, hatten meine Jungen in sechsundzwanzig Stunden zurückgelegt, und dann hatten wir auf der ›Sturmbraut‹ die Sicherheitsventile belastet.

»Ihre Karte?«, fragte der Portier.

Was Karte! Ich kannte so was nicht wie Visitenkarten. Vielleicht ein altes Briefkuvert, ja.

Ich nannte meinen Namen.

Aha, der Portier kannte mich!! Der machte gleich ein so bestürztes Gesicht!

»Haben Sie hier einen Verwandten in Pension, den Sie zu sehen wünschen?«

Nervenklinik, Pension — wie zart das alles ausgedrückt war!

»Ich möchte Herrn Doktor Sullivan sprechen, bitte.«

Es war Empfangszeit, und ein Diener geleitete mich in dem hochvornehmen Hause eine Treppe hinauf und in ein Zimmer.

Hier saß ich eine gute Viertelstunde, hatte Zeit zum Grübeln. Aber ich habe nicht viel vorauszuschicken. Blodwen war eben für verrückt erklärt und hier eingesperrt worden. An dem Gutachten einer ganzen Masse bekannter Psychiater, wie solche Kerle genannt werden, war nicht mehr zu rütteln. Und das Kind war in so ein Stift gebracht worden, wo man uneheliche Kinder abgibt, aber etwas Pikfeines, nur für hochgeborene uneheliche Kinder, und nicht etwa für Kirchturmwärterskinder, das kostete dort schweres Geld. Dafür war aber auch absolute Diskretion Ehrensache.

Nun, ich dachte, dass das Mädel dort doch eigentlich ganz gut aufgehoben wäre. Ich hatte Erkundigungen eingezogen — die barmherzigen Schwestern dort hatten den besten Ruf. Also nichts von wegen so Engelmacherei.

Ich wollte dann hingehen. Jetzt aber hatte ich es zunächst mit diesem Irrenarzt zu tun.

Und dann war noch etwas anderes, was ich erst jetzt nachträglich erwähne, weil ich die Hauptsituation, die mich doch am meisten beschäftigte, zum Handeln anspornte, nicht unterbrechen wollte.

Ich hatte den Tod eines Matrosen zu beklagen, und gerade desjenigen, den ich vielleicht am allermeisten in mein Herz geschlossen hatte.

Der arme Hans war nicht mehr! Das war das erste gewesen, was man mir mitgeteilt, als ich wieder die ›Sturmbraut‹ betreten hatte, um sie klar zum Manöver zu machen.

Ich war erst zwei Tage mit Karlemann fort gewesen, als Hans am Morgen fehlte. Und er war und blieb verschwunden. Er hatte in der Nacht angeln wollen, von der Barriere aus — und kein Zweifel, er musste abgeglitten sein — Seegang war nicht gewesen — war die Beute eines Haifisches geworden.

Oder... Selbstmord? Der zurückgebliebene zweite Steuermann sprach mir gegenüber diesen Verdacht offen aus, und viele der Leute dachten ähnlich, und... ich konnte diesen Verdacht nicht so ohne Weiteres zurückweisen.

Ja, der Page war in letzter Zeit, etwa seitdem wir die Fucusbank wieder verlassen, ein recht anderer geworden. Zwar immer noch fix und adrett, aber man sah ihm die Schwermut gleich am Gesicht, noch mehr in den Augen an.

Die Kameraden hatten ihn oft damit gehänselt, er habe wohl an Bord der ›Indianarwa‹ eine schokoladenfarbene Liebe zurückgelassen, nach der er sich nun in Sehnsucht verzehre. Und der Junge magerte auch wirklich ganz bedenklich ab.

Jetzt sollte er nach der ›Indianarwa‹ zurückgeschwommen sein. So witzelten die Matrosen, trotz aller Trauer für den Kameraden, den sie alle so liebgehabt. Es waren eben Matrosen.

Ich verbot ihnen derartige Redensarten energisch, trug den abgegangenen Matrosen ins Logbuch, natürlich als ›verunglückt‹, ein. Seine Kleiderkiste und den Zeugsack, beides verschlossen, nahm ich in meine Kabine, um in einem geeigneten Hafen Recherchen anzustellen, an wen ich sie auszuliefern hätte, was erst noch zu geschehen hatte.

Erst heute früh war ich im WestindiaDock, dem größten Hafen Londons, eingelaufen, hatte mit der Seebehörde zu tun gehabt, dann Erkundigungen über Blodwen und Kind, und nun war ich hier in der Irren... nein, in der Privatnervenklinik des Herrn Doktor Allen Sullivan.

Endlich ging eine Tür auf, und der schwarzbärtige Herr mit der goldenen Brille, hinter der die Augen wie Dolche stachen, war gewiss er selber, der sah gleich so aus wie ein Verbrech... wie so ein Privatnervenklinikbesitzer, wollte ich sagen.

Außerdem hatte ich sofort das Bewusstsein, dass ein fremder Besuch sonst hier nicht so empfangen würde, der musste zum Herrn Doktor kommen, dieser kam doch nicht zu ihm, aber mit mir wurde eine Ausnahme gemacht, eben weil ich derjenige war, welcher.

»Mr. Jansen?«

»Kapitän Richard Jansen von der ›Sturmbraut‹.«

»Sehr angenehm. Doktor Sullivan. Was verschafft mir die Ehre Ihres werten Besuches? Bitte, behalten Sie doch Platz.«

Ich hatte ihm wirklich die Ehre gegeben, mich zu erheben. Er war so äußerst höflich, förmlich, um mich dann um so leichter hinausschmeißen zu können, und diesen Spaß wollte ich ihm nicht verderben.

Er hatte mir gegenüber Platz genommen.

»Womit kann ich dienen? Haben Sie einen Verwandten in Behandlung zu geben?«

Eigentlich hätte der Kerl gleich eine Ohrfeige verdient — ›Ohrpfeifen und Nackfeigen‹, wie mein zweiter Steuermann mit Vorliebe sagte.

»Nein, aber Sie haben doch schon jemanden, der mir nahe steht, in Pension.«

»Wie?«, stellte sich der Kerl erstaunt.

»Lady Blodwen von Leytenstone.«

Jetzt gab er die Verstellung auf.

»Ach, richtig!«, schnalzte er mit den Fingern. »Mr. Richard Jansen, Kapitän von der ›Sturmbraut‹. Hm hm hm hm hm!«

Und die Dolchblicke durchbohrten mich.

»Wie befindet sich die Lady?«

»Hm hm hm hm hm! Ein sehr schlimmer Fall!«

Und er hielt mir einen langen Vortrag über temporären und permanenten Irrsinn. Das sind die beiden einzigen Fremdwörter, die ich davon behalten habe. Sonst war es eine solche Unmenge von gelehrtem Kram mit lateinischen Namen, dass man ein Schiff von 500 Tonnen hätte damit befrachten können. Etwas Lateinisch konnte ich ja, aber ich hatte Pastor werden sollen und kein Narrenarzt.

»Das alles fehlt der armen Lady?«, fragte ich dann, als er damit fertig war.

»Es ist...«

Es war ein meterlanges Wort und endete auf licta.

»Wie äußert sich denn ihr Wahnsinn?«

Schwermut, Halluzinationen, Tobsucht und Gott weiß was.

»Da sitzt sie also in einer Gummizelle?«

O nein, so schlimm wäre es nicht.

»Da kann ich sie wohl einmal sehen?«

»Das ist unmöglich, Herr Kapitän!«

»Weshalb?«

»Die Lady ist menschenscheu, der Anblick jedes Menschen regt sie hochgradig auf, sie wird durch ein Kabinett bedient, und... gerade Sie dürfte sie am allerwenigsten erblicken.«

»Weshalb gerade mich am allerwenigsten?«

»Nun — nun... es ist wohl ganz gut, wenn wir gleich einmal darüber sprechen, ganz offen... die Lady hat doch ein natürliches Kind... von Ihnen.«

»Ein natürliches Kind?«, wiederholte ich erstaunt; denn ich hörte diesen Ausdruck wirklich zum ersten Male.

»Ein — ein — außerhalb der Ehe geborenes Kind.«

»Ein uneheliches Kind — ja, natürlich ist dieses Kind von mir.«

Der Arzt schien überlegen lächeln zu wollen, wusste es aber zu verbergen.

Kurz und gut, unser ganzes Verhältnis und besonders dieses Kind sollte schuld sein an Blodwens ganzem... licta. Jetzt also wollte man mir die Schuld in die Schuhe schieben.

Ich hätte gleich wieder gehen können, hatte mir ja nur einmal diesen Privatnervenklinikbesitzer ansehen wollen, von dem ich heute früh nur das Beste hatte erzählen hören, kein Verdacht daran, dass der einen Geistesnormalen aufgenommen hätte — und dann hatte ich mir auch so ein bisschen das Haus ansehen wollen.

Er wusste mich noch etwas zurückzuhalten, forschte mich, den er jedenfalls für sehr dämlich hielt, aus, aus welchen Gründen ich mit der ›Sturmbraut‹ hierher gekommen sei — nun, einfach um Ladung zu nehmen, schon bestellte — wie ich mit der Lady zusammen gelebt habe, das zu wissen, sei für ihre Behandlung höchst wertvoll, und so weiter.

»Ach, kann ich sie denn nicht einmal sehen?«, legte ich mich dann aufs Bitten.

»Wirklich, geehrter Herr, es geht nicht, so leid es mir tut.«

»Nur einmal durchs Guckloch. Wenn Sie wüssten, Herr Doktor, wie wir beide...«

Ich wischte mir die Augenwinkel aus, und er ließ sich erweichen.

Ich war furchtbar erregt, als ich eine zweite Treppe emporstieg. Ich sollte sie wiedersehen — im Irrenhause!

Vor etwa einem Jahre... o, Blodwen, Blodwen!

Es war ein behaglich, sogar luxuriös eingerichtetes Zimmer, in das ich blickte.

Und da saß sie, in einem eleganten Morgenrock, den Arm auf den Tisch gestützt und den Kopf in die Hand — so blickte sie vor sich hin. Sie sah mager und bleich aus.

Einen Augenblick hatte ich Lust, die Tür einzudrücken, um Blodwen auf meinen Arm zu nehmen und mit ihr davonzugehen. Es wäre natürlich eine Narrheit gewesen, die mir schlecht bekommen musste. Und doch, ach, hätte ich es getan! Schlimmer wäre es auch nicht gekommen.

Erschrocken trat ich zurück — sie hatte den Kopf gehoben und nach der Tür geblickt. Doch es war nur Einbildung von mir gewesen, dass sie mich gesehen haben könnte.

Jetzt verabschiedete ich mich schnell.

Was ich beabsichtigte, ist wohl klar: Blodwen aus dem Irrenhause zu befreien. Dass ich da nichts im Guten erreichen könnte, wenn ich auch Himmel und Hölle in Bewegung setzte, Millionen geopfert hätte — vorausgesetzt, dass ich solche besessen — das war mir ebenso klar. So viel Lebenserfahrung hatte ich doch schon, um an der Gerechtigkeit dieser Welt zu zweifeln. Macht geht vor Recht; hier handelte es sich um hundert Millionen, und ich hatte diesen Doktor Sullivan gesehen, und ich hielt ihn für fähig, einen Menschen so langsam unter die Erde zu bringen.

Beyer, dieser Mann mit grauen Haaren, hatte gemeint, ich solle wegen Blodwens Geistesbeschaffenheit andere Sachverständige zu Rate ziehen, ausländische. Ich hatte ihn einfach ausgelacht. Nein, da wusste ich das besser. Und wenn dieser Irrenarzt seiner Pflegebefohlenen nun schnell noch ein Mittelchen beibrachte, um sie wirklich wahnsinnig zu machen? Ich hatte solche Geschichten gelesen, und ich zweifelte nicht, dass es so etwas gebe.

Nun glaube der Leser aber nicht, dass ich eine gewaltsame Entführung vorgehabt hätte, in das Irrenhaus einzubrechen, Blodwen auf den Arm zu nehmen und sie auf mein Schiff zu bringen, und wenn es auch über Leichen gegangen wäre.

Das wäre ja ritterlich, sehr romantisch gewesen, aber... ich will hier keine phantastischen Räubergeschichten erzählen.

Hätte ich so etwas vorgehabt, so wäre es doch sehr unklug von mir gewesen, mit meinem Schiffe gleich direkt nach London zu gehen, dann hätte ich dies alles ganz anders vorbereiten müssen.

Nein, damals war ich trotz aller Abenteuerlust immer noch ein durchaus solider Charakter, und ich wollte meinen ehrlichen Namen wahren.

Eine Entführung musste freilich stattfinden, nur wollte ich jeden Verdacht möglichst von mir ablenken, mindestens sollte man mir dann nichts nachweisen können.

Mein nächster Weg war in das Kinderasyl. Die alte Dame mit dem weißen Häubchen war sehr freundlich, aber verweigerte mir auch nur den Anblick meines Kindes.

»Da müssen Sie erst den behördlich beglaubigten Beweis bringen, dass es wirklich Ihr Kind ist, dann müssen wir Ihnen dasselbe sogar ausliefern.«

Einen behördlich beglaubigten Beweis? Wie sollte ich den erbringen?

Ich sah gleich ein, dass hier nichts zu machen war, so gern ich auch Mutter und Kind an Bord meines Schiffes gleich wieder vereint hätte.

Dann schickte ich den Segelmacher aus, Hugo Hasse, ein noch junger, sehr intelligenter Mensch, ein Rheinländer, der jetzt seines Vaters Fabrik hätte haben können, der aber das lustige Leben zur See vorgezogen hatte und sich nicht wieder davon trennen konnte. Warum er es nicht weiter gebracht hatte, wusste ich nicht — vielleicht ganz klug, dass er die bequeme Stellung eines Segelmachers der verantwortlichen eines Steuermanns vorzog. Er hatte auch einige Zeit in Amerika auf einer Schiffswerft gearbeitet, war zugleich ein perfekter Schiffszimmermann.

Ein lustiger Bruder, der jeden unter den Tisch trank, ohne selbst die Besinnung zu verlieren, mit allen Hunden gehetzt — ich hielt ihn für den geeignetsten Mann. Ihn schickte ich ab. Wie er Blodwens Befreiung in Szene setzen oder doch vorbereiten sollte, wird gleich erzählt werden.

Inzwischen sah ich mich nach einer Fracht um. Es wäre ja gar nicht nötig gewesen, ich hätte Ballast nehmen können, aber ich wollte nicht nur als solider Handelskapitän erscheinen, sondern es auch wirklich sein. Mit der ernsten Arbeit sollte endlich einmal Anfang gemacht werden.

Ich entschied mich für Kohlen. Kohlen wird man überall sofort los, Kohlen sind in England am billigsten, und mit dem Kohlengeschäft hat noch jedes Schiff eine anständige Existenz gefristet.

300 Tonnen hatte ich überhaupt noch an Bord, ich nahm für eigene Rechnung nochmals 300 Tonnen ein, versicherte Schiff und Ladung auf unbestimmtes Ziel für sechs Wochen, ohne dass mir jetzt die geringste Schwierigkeit in den Weg gelegt worden wäre, selbst im ungünstigsten Falle würde ich in diesen sechs Wochen an den Kohlen 200 Pfund Sterling verdienen, nach Abzug sämtlicher Kosten, es konnte aber auch das doppelte sein, und dann hatte ich noch immer bare 20 000 Pfund in Händen.

Meine einzige Vorsicht war die, dass ich diese nicht bei einer Bank deponierte, sondern nach wie vor an Bord behielt.

Die Kohlen polterten aus den Kippwagen in den Laderaum, am Abend war das Schiff schon wieder gesäubert.

Die Nacht brach an. Rastlos schritt ich in der Kajüte auf und ab. Jetzt kam es darauf an, ob dem Segelmacher seine Mission geglückt war oder nicht!

Doch warum schon jetzt, schon heute? Ach, ich konnte mich auf einige Tage bangen Wartens gefasst machen, und Blodwen musste unterdessen...

»Sie kommen«, meldete da der Steward flüsternd.

»Er bringt ihn mit?«

»Er hat einen fremden Mann bei sich.«

Zunächst nahm ich Hasse allein vor. Es war ihm geglückt. Er hatte in einer Kneipe von Woodford die Bekanntschaft eines Mannes gemacht, der schon seit langen Jahren in Sullivans Irrenanstalt als Wärter angestellt war.

Hasse hatte sich herangemacht, war langsam mit Andeutungen herausgerückt, und der sonst ganz solide Mann hatte der Versuchung nicht widerstehen können, irgendeine Summe zu nennen, gegen welche er einem Pensionär zur Freiheit verhelfen wolle.

»Wie viel fordert er?«

»Tausend Pfund.«

»Nicht mehr?«

»Das bedeutet für diesen Mann ein großes Vermögen.«

»Und er hält es für möglich?«

»Ganz leicht.«

»Wann kann es ausgeführt werden?«

»Schon morgen Nacht.«

»Und die Garantie?«

»Er selbst will die Lady hier abliefern.«

»Du hast ihm schon gesagt, dass es sich um die Lady handelt?«

»Ja, ich traute ihm.«

»Habt ihr zusammen gezecht? Ist er betrunken?«

»Durchaus nicht, er ist ein ganz solider Mann, der selbst empört ist, dass dieser Schuft von Irrenarzt ganz normale Menschen als Verrückte behandelt und sich dafür bezahlen lässt.«

Eine Idee zuckte mir durch den Kopf. Doch zunächst ließ ich den Mann eintreten. Er machte auf mich einen sehr guten, bescheidenen Eindruck.

Er wiederholte, was mir der Segelmacher schon gesagt hatte. Meine Idee war die gewesen, ob ich diesen Mann nicht als Zeugen benutzen könne, um gegen den Irrenarzt auf gesetzmäßige Weise vorzugehen, doch der Wärter, deswegen befragt, hatte für Doktor Sullivans Handlungsweise viel mildere Ausdrücke als Hasse, und da sei auch nichts zu beweisen, dieser Mann sei viel zu schlau, stände mit den Behörden auf viel zu gutem Fuße, habe den ganzen Adel hinter sich, auch sonst die öffentliche Meinung — kurz, da sei gar nichts zu machen, und solche Andeutungen habe er, der Wärter, wohl dem Manne gegenüber gemacht, der ihm solch ein heimliches Geschäft angeboten, aber in der Öffentlichkeit so etwas zu sagen, würde er sich hüten.

Also dann eine Entführung!

»Und es wird Ihnen gelingen?«

»Ohne jede Schwierigkeit.«

»Ist es denn wirklich so leicht, aus der Irrenanstalt jemanden zu entführen? Sollte Doktor Sullivan nicht jegliche Vorsichtsmaßregeln getroffen haben, eben weil er ein böses Gewissen hat?«

»Ja, das ist es gerade. Sehen Sie, Herr Kapitän, einem Fremden würde es niemals gelingen, einen Pensionär herauszubringen; denn des Nachts sind im Parke wachsame, bissige Hunde, und dann sind elektrische Läutewerke da und alles mögliche andere, und auch für einen innen Angestellten scheint es unmöglich, jemandem zur Freiheit zu verhelfen. Aber so ist es eben in der Welt — jedes Register hat ein Loch — es ist ein nur ganz kleiner Kniff nötig, um die ganzen Vorsichtsmaßregeln nutzlos zu machen.«

Er schilderte mir den Kniff — es klang so kompliziert, wie es in Wirklichkeit einfach sein mochte — vor allen Dingen handelte es sich um eine Abstellung sämtlicher Läutewerke, wozu nur eine Tapetenwand durchbrochen zu werden brauche, und dann ein Nagel zwischen die Kupferdrähte — was ich alles wegen Mangel an Ortskenntnis natürlich nicht verstehen konnte.

»Dann kann ich jede Tür geräuschlos öffnen, der Portier bekommt einen Schlaftrunk, die Hunde kennen mich, und so wird die Entführung erst am anderen Morgen in der sechsten Stunde bemerkt werden.«

Der Mann schien seiner Sache ganz sicher zu sein. Mir kam es vor, als habe er sich schon längst mit dem Gedanken getragen, einen Pensionär zu entführen, oder doch mit dem Plane, wie man das könnte, ohne es wirklich zu beabsichtigen. Es gibt ja solche Fälle. Ein Kassierer kommt zufällig darauf, wie man die Bank um eine große Summe betrügen kann, ohne dabei gefasst zu werden, er spinnt den Plan weiter aus, ohne daran zu denken, ihn wirklich auszuführen — bis einmal die Versuchung kommt.

In England und Amerika werden sogar solche Ideen honoriert, aufgekauft, gewissermaßen patentiert, um sich gegen späteren Schaden zu schützen, und es gibt ehemalige Verbrecher und Spitzbuben genug, aber auch ehrliche Menschen, die sich auf dieses seltsame Geschäft, solche Gaunertricks auszugrübeln, ganz gelegt haben, um sie dann gegen Honorar mitzuteilen.

»Ihr bringt die Lady selbst an Bord?«

»Ja.«

»Wann?«

»Spätestens um Mitternacht. Nun aber etwas anderes: Ist die Lady schon eingeweiht?«

»Nein.«

»Und wenn sie nun gar nicht entfliehen will?«

Das war eine heikle Frage. Wirklich, bei Blodwen konnte auch das in Betracht kommen!

»Ist sie denn tatsächlich irrsinnig?«, fragte ich zunächst.

»Ich halte sie nicht dafür. Doch Irrsinn ist ja ein ganz unbestimmter Begriff. Wir haben viele in Pension, welche Sie für ganz normal halten würden, und dennoch leiden sie an einer fixen Idee, sind unheilbar wahnsinnig. Soweit ich die Lady beobachtet habe, ist sie sehr schwermütig. Nun, ich werde sie im Laufe des morgigen Tages fragen, ob sie mit ihrer Entführung einverstanden ist.«

Da war ich schon einer Antwort enthoben.

»Und wenn sie nun nicht will?«

»Ja, dann kann ich natürlich nichts machen«, entgegnete der Wärter — sein Name war Elyson — achselzuckend. »Doch sie wird schon wollen. Ich glaube sogar, sie hat schon mehrere Befreiungsversuche gemacht. Wie wollen Sie die Dame dann von hier fortbringen?«

Ich weihte den vernünftigen Mann in meine Pläne ein. Sie waren einfach genug.

Ich hätte schon vorher absegeln können, mich gleich ins offene Wasser, vielleicht auch gleich außerhalb der englischen Gewässer legend, wo ich unter amerikanischer Flagge absolut geschützt war. Dann hätte ich aber doch ein Boot zurücklassen müssen, entweder von meinen eigenen Leuten bemannt, welche Blodwen stromabwärts brachten — ich selbst brauchte ja dann gar nicht dabei zu sein — oder ich hätte noch andere ins Vertrauen ziehen müssen, etwa Fischer.

Kein Zweifel, ich hätte solche gefunden. Aber besser nicht! Das Einfache ist gewöhnlich das Sicherste. Einmal ungesehen an Bord gebracht, wollte ich Blodwen verstecken, dass auch keine Hundespürnase sie auffand. Denn ich hatte während dieses Tages an alles und jedes gedacht.

Die Kohlen waren nicht nur so in den Raum gepoltert, die Trimmer hatten da unten aus Kohlen ein Versteck aufgebaut, einen förmlichen Dachsbau, dessen offene Zugänge ebenso leicht wieder verschüttet werden konnten, ohne den Hohlraum selbst zu gefährden, es brauchte nur eine einzige Kohle gelöst zu werden, und man musste nur etwas Branntwein sprengen, dann versagte auch die beste Hundenase; dieses Mittel kannte ich, auch ohne Karlemann, und sollte sie dennoch im Schiffe vermutet werden, sollte man gerichtlicherseits sämtliche Kohlen ausladen, so konnte Blodwen inzwischen mit Leichtigkeit wieder herausgeschmuggelt werden. Kurz, mein Plan war absolut sicher, Elyson sprach seinen Beifall aus.

»Wohin segeln Sie?«

Ich hatte Rio de Janeiro im Auge, wo nach den letzten Depeschen die Kohlen sehr hoch standen.

»Das passt vortrefflich, ich wollte sowieso immer gern nach Brasilien auswandern.«

»Sie selbst kommen mit?«

»Gewiss. Ich habe mich dann hier unmöglich gemacht; denn dass ich der Entführer gewesen bin, das wird man sofort heraus haben, und Sie haben hiermit auch die beste Garantie für meine Ehrlichkeit.«

Der Mann sprach wie ein Buch!

»Also tausend Pfund?«

»Sofort, wenn Sie die Lady hier an Bord ausliefern, zahle ich sie Ihnen aus.«

»Wann können Sie abfahren?«

»Vier Minuten nach Mitternacht setzt auf der Themse die Flut ein.«

»So erwarten Sie mich zwischen elf und halb zwölf Uhr.«

»Sie werden die Dame auch ungesehen an Bord bringen können?«

»Herr Kapitän, für mich handelt es sich um tausend Pfund und um mehr noch. Ich kenne auch genau hier die Hafenverhältnisse — es wird mir ganz bestimmt gelingen.«

Wir hatten nichts mehr zu besprechen, der Mann, der nur bis Mitternacht Urlaub hatte, ging. —

O, das war ein qualvoller Tag! Wie entsetzlich langsam die Stunden hinschlichen!

Und wie würde meine Begegnung mit Blodwen ausfallen? Hatte sie mich nicht ohne Abschied verlassen? Ach, dieses Grübeln, dieses Ausmalen!

Wenn ich nur wenigstens das Kind an Bord gehabt hätte! Doch das war schließlich das wenigste! Einmal wieder in Freiheit, etwa in Amerika, sollte man ihr das Kind nicht lange vorenthalten können, und dann, von ihrem Zeugnis unterstützt, welches durch amerikanische Ärzte wieder gültig gemacht wurde, hatte auch ich ein Wörtchen mitzusprechen.

Ich ließ Kesselstein klopfen, es gab noch andere Arbeiten, und ein vollbefrachtetes Schiff kann ja noch tagelang im Hafen liegen, ohne Argwohn zu erregen, jede Reise muss sorgfältig vorbereitet werden. Auch einen Anker hatte ich in die Schmiede gegeben.

Endlich, endlich brach der Abend an, und zum nächtlichen Himmel sprühte der Schornstein, gegen zehn Uhr hatten wir volle Dampfspannung. Einen Lotsen brauchte ich nicht, auf der Themse konnte ich meine eigene Fahrt machen.

Elf Uhr. Jetzt hatte auch ich volle Dampfspannung, und das Gleiche galt von meinen Jungen, die in alles eingeweiht waren.

Gott, wie schlich doch der Zeiger der Uhr so entsetzlich langsam!

Halb zwölf! Nun hätte sie schon da sein müssen!

Dreiviertel zwölf! Jetzt hätte ich bald selbst ins Irrenhaus gehen können.

Ein Uhr, zwei Uhr — ich war wie niedergeschmettert; ich gab immer noch eine Stunde zu — vergebens!

Missglückt! Nun war erst abzuwarten, ob Elyson überhaupt etwas ausgeführt hatte und dabei erwischt worden war. Oder war er ein Schuft, der mich verraten hatte?

Unter solchen Grübeleien fand mich der Morgen, wie ich rastlos auf Deck auf und ab wanderte.

»He, Herr Kapitän!«, rief mir da der Kapitän des benachbarten Schiffes zu, der seine Morgenpfeife rauchte und dazu in der Zeitung las. »Haben Sie schon gelesen, das Allerneuste?«

»Was?«

»Heute Nacht haben sie...«

Ich hörte nichts mehr, ich sah dort nur die Uniformen kommen, direkt auf mein Schiff zu.

Sie betraten das Laufbrett, befanden sich an Deck.

»Mr. Richard Jansen?«

»Ja.«

»Kapitän dieses Schiffes?«

»Ja.«

»Auch Eigentümer desselben?«

»Ja. Herr, was wollen Sie von mir?!«

Da brachte der Mann — seine Uniform war mir fremd — aus dem Rockärmel ein schwarzes Stäbchen zum Vorschein — mit dem er meine Schulter berührte.

»Im Namen der Königin, Sie sind verhaftet!«

Ein furchtbarer Schreck durchzuckte mich — dort wehte doch das amerikanische Sternenbanner. Wie konnte mich der englische Beamte so ohne Weiteres verhaften? Nur eine Ausnahme gibt es, das wusste ich, deshalb mein furchtbarer Schreck: Vor meinen Augen sah ich rauchendes, rotes Blut.

Aber äußerlich blieb ich ruhig.

»Das ist wohl ein Irrtum. Sie befinden sich hier auf durch Flagge geschützten Boden der Vereinigten Staaten von Nordamerika.«

»Ich verhafte Sie als des Mordes verdächtig!«


Illustration

Es war ausgesprochen. Nun, ich konnte ruhig bleiben, mein Gewissen war frei.

»Es ist ein Irrtum.«

»Die Verhaftung ist gültig!«, sagte ein Herr in Zivil und faltete ein Papier auseinander, es mir hinhaltend.

Ich warf nur einen Blick darauf. Meine Verhaftung war schon bei der amerikanischen Gesandtschaft ausgewirkt worden. Da war nichts mehr zu machen.

»Wen soll ich denn ermordet haben?«

»Das ist nicht meine Sache, das wird die Anklage ergeben.«

»Ich füge mich.«

»Hol nieder die Flagge!!«, kommandierte jetzt ein anderer. »Dieses Schiff ist mit Beschlag belegt. Niemand darf es verlassen! Herr Kapitän, reden Sie Ihren Leuten zu!«

Meine Jungen hatten sich herbeigedrängt, schon die Hand am Messergriff. Es waren eben Matrosen.

Ich befahl ihnen, sich zu fügen, alles andere wäre doch heller Wahnsinn, und dass ich nichts verbrochen hätte, am allerwenigsten einen Mord, das wüssten sie doch selbst, hier liege einfach ein Irrtum vor — und ich stieg mit zwei Kriminalbeamten in einen geschlossenen Wagen, am allerbesten wissend, dass hier kein Irrtum vorlag, wenn ich auch niemals an einen Mord gedacht hätte.

Wie ich meinen Kopf zermartert habe, in diesem Wagen und dann in der Haftzelle, darüber will ich hier schweigen.

Noch an demselben Tage kam ich, wie es auch sein muss, vor den Untersuchungsrichter. Immer noch ganz ahnungslos.

Meine Personalien waren festgestellt.

»Kennen Sie eine Lady Blodwen von Leytenstone?«

»Ja.«

»In welchem Verhältnis standen Sie zu ihr?«

»Sie befand sich als Passagier an Bord meines Schiffes.«

»Sind Sie verheiratet mit ihr?«

»Nein.«

»Haben Sie intimen Umgang mit ihr gehabt?«

»Ja.«

»Ist diesem Verhältnis ein Kind entsprungen?«

»Ja.«

»Wo sind Sie in dieser Nacht gewesen?«

»Immer an Bord meines Schiffes.«

»Auch zwischen elf und zwölf Uhr?«

»Ja.«

»Können Sie das beweisen?«

»Ja.«

»Womit?«

»Die ganze Besatzung wird es bezeugen.«

»Können Sie dafür sonst noch einen anderweitigen Zeugen bringen, der nicht unter Ihrem Kommando steht?«

Nein, das konnte ich allerdings nicht.

»Kennen Sie einen Mann namens Fred Elyson?«

O weh! Jetzt ging die Geschichte los. Aber Mord, Mord?!

»Ja, den kenne ich.«

»Er ist Wärter in der Privatnervenklinik des Doktors Sullivan bei Woodford.«

»So sagte er mir wenigstens.«

»Gestehen Sie, diesen Fred Elyson durch Versprechen von Geld angestiftet zu haben, dass er die Lady von Leytenstone, welche sich als Irrsinnige in der genannten Anstalt befindet, entführen soll?«

»Ja, ich gestehe es.«

Denn nun war doch alles egal. Nur der rote Blutschein wollte nicht von meinen Augen weichen.

»Entführen mit List oder mit Gewalt?«

»Halt! Nur durch List! Nicht mit Gewalt! Gegen letzteres protestiere ich entschieden.«

»Wie sollte die Entführung geschehen?«

Ich erzählte offen, soweit ich das konnte, da mir Elysons ganzer Plan ja selbst unklar gewesen war. Aber der Untersuchungsrichter schien zu verstehen.

»Wissen Sie, was sich heute Nacht in der genannten Irrenanstalt zugetragen hat?«

»Nein.«

»Sie haben noch nichts darüber gelesen, nichts gehört?«

»Absolut noch gar nichts.«

»So hören Sie!«

Er las mir ein polizeiliches Protokoll vor. Ich mache es ganz kurz.

Heute morgen um sechs Uhr, als das eigentliche Leben in der Anstalt erwachte, hatte der Portier die drei Hunde, welche sich sonst um diese Zeit immer meldeten, vermisst, hatte sie gesucht, alle drei tot im Parke aufgefunden. Die sofortige Untersuchung hatte im Magen Fleischreste ergeben, vergiftet mit Strychnin.

Und da sah der Portier auch alles weitere. Die Gitterstäbe eines Fensters in der zweiten Etage, welches zu den beiden Zimmern der Lady von Leytenstone gehörte, waren zum Teil entfernt worden, eine nähere Untersuchung ergab, dass man sie durchsägt hatte.

Die Lady war verschwunden. Dafür aber lag in ihrem Zimmer ihr Wärter, der ein Zimmer weiter immer zu ihrer Verfügung stand — tot. Er musste einen furchtbaren Schlag über den Kopf bekommen haben, wahrscheinlich mit einem Gummischlauch, der den Schädel zwar nicht zertrümmert, trotzdem aber den sofortigen Tod herbeigeführt hatte. Gehirnerschütterung der schwersten Art, der Schädel war auseinandergesprengt. Das ist ja eben die Wirkung des sich anschmiegenden Gummischlauches.

Die Lady hatte sich nicht selbst befreit. Unter dem Fenster, an dem auch noch eine Strickleiter hing, waren außer den Abdrücken von Damenstiefeletten die eines mittelgroßen Männerfußes. Die Spur führte nach der Mauer, ging aber bald verloren und konnte, da es geregnet hatte, auch nicht von Hunden verfolgt werden.

Der Verdacht der Täterschaft richtete sich gegen den Wärter Elyson. Sein verstörtes Wesen fiel noch vor Entdeckung der Tat seinen Kameraden auf, und als ihn die Kriminalbeamten ins Gebet nahmen, war er geständig.

Mit der Entführung, die mit einem Morde geendet, hatte er allerdings nichts zu tun. Aber auch er hatte beabsichtigt, die Lady zu befreien, so, wie er mir geschildert, wurde nun also auch an mir zum Verräter — was ich ihm allerdings nicht sehr verübeln konnte, der Mann hatte jetzt um seinen Kopf zu kämpfen.

Er hatte also an jenem Abend zunächst dem Portier in die Kaffeekanne, die immer auf dem Ofen stand, einen Schlaftrunk geschüttet, dann, nachdem schon alles schlafen gegangen, hatte er die Drähte der Läutewerke durchschnitten, und hierauf war er nach dem Zimmer der Lady geschlichen. Mit ihr vorher sprechen hatte er nicht können, er selbst hielt auch für ausgeschlossen, dass sie sich weigern könne, die Irrenanstalt zu verlassen.

Es war nachts gegen elf Uhr gewesen, als er mittels eines Nachschlüssels behutsam das Zimmer öffnete. Und da war die Lady schon durch das zersägte Fenster geflohen gewesen, da hatte der Wärter schon entseelt am Boden gelegen.

Was sollte der entsetzte Elyson tun? Ein anderer war ihm zuvorgekommen. Aber würde sich der Verdacht nun nicht auf ihn lenken? Wenn er jetzt Lärm schlug — was hatte er hier zu suchen gehabt? Konnte man ihn nicht überführen, den Portier betäubt zu haben?

Kurz, es war gar nicht so dumm gewesen, dass sich Elyson wieder zurückgeschlichen und ins Bett gelegt hatte. Dass der Portier die Kaffeekanne umgeworfen hatte, ohne einen Schluck zu trinken, konnte er nicht wissen.

Elyson war aber doch nicht der Mann danach, so etwas zu verheimlichen, am anderen Morgen verriet er sich gleich durch sein verstörtes Benehmen.

Nun war aber erst zu beweisen, dass dem wirklich alles so war. Vorläufig stand Elyson unter dem Verdachte des Mordes, mindestens der Mittäterschaft, der Begünstigung, und dasselbe galt von mir.

Ja, wer aber war der eigentliche Befreier, der den tödlichen Hieb geführt, dem die Stiefelspur im Garten angehörte?

»Können Sie darüber eine Angabe machen?«

»Nein.«

»Haben Sie einen Verdacht? Bedenken Sie, es handelt sich um Sie selbst!«

»Ich weiß von nichts.«

»Der Mörder hat in dem Zimmer der Lady etwas verloren. Kennen Sie diese Tabakspfeife?«

Der Untersuchungsrichter hielt sie mir vor — und wie ward mir da zumute, als ich diese silberbeschlagene Tabakspfeife sah, der Kopf aus Meerschaum, ein Negerschädel, dem das rechte Ohr abgeschlagen war, auch die Nase etwas lädiert — wie ward mir da zumute!!

»Kennen Sie diese Pfeife?«

»Nein.«

Ich dachte, ich wäre abwechselnd rot und blass geworden, hätte den Mohrenschädel wie ein Gespenst angestiert, aber ich muss mich, unbewusst, wunderbar beherrscht haben, denn der Untersuchungsrichter glaubte mir. Dass er dies wirklich tat, war ganz offenbar, diese Pfeife wurde mir auch nie wieder vorgelegt.

— • —

47. Kapitel
In Freiheit

Originalseiten II.323 — 331

Ich saß wieder in der Haftzelle. O, wie war mir noch immer zumute! Hans! Hans, der Totgeglaubte!

Denn ihm und keinem anderen gehörte diese Pfeife, oder ich ließ mich doch sofort hängen!

Der patente Junge musste immer etwas Besonderes haben, wie oft hatte ich ihn aus diesem Mohrenschädel rauchen sehen, und ich war dabeigewesen, wie er sich mit einem anderen Matrosen geboxt hatte, weil dieser dem Leichtmatrosen die Pfeife aus den Zähnen geschlagen, wobei das rechte Ohr flöten gegangen und auch die Nase lädiert worden war, ich selbst hatte den Schiedsrichter gespielt, hatte den Übeltäter zu einem Taler Schadenersatz verurteilt, was Hans aber nicht annahm, und dann hatte ich ihn weiter aus derselben Pfeife rauchen sehen.

Hans der Entführer Blodwens, Hans zum Mörder geworden! Doch konnte nicht unterdessen ein anderer Besitzer der Pfeife geworden sein?

Nein, ganz ausgeschlossen! Weshalb, das kann ich gar nicht sagen.

Ja aber, wie kam Hans hierher?

Schließlich sehr leicht zu beantworten. Er hatte damals von der Seeburg aus in der Nacht die Lichter eines vorübersegelnden Schiffes gesehen, war hingeschwommen, er sollte in der letzten Zeit ja immer so ein sonderbares Wesen gezeigt haben, dass die meisten sogar an Selbstmord glaubten.

Ja aber, wie...

Doch dieses Grübeln war ja ganz zwecklos.

Hans, der Befreier Blodwens, dabei zum Mörder geworden!! Das stand bei mir fest, und damit basta!

Ich hatte zunächst um meine eigene Freiheit zu kämpfen, vielleicht um mein Leben.

Um mein Leben? Ich dachte nur an die Freiheit. Lieber tot, als nur acht Tage in diesem engen Raume sitzen! Es war mir eine fürchterliche Qual. Und hier konnte ich nicht so durch Tür und Mauer brechen, wie damals in Colombo.

Am nächsten Tage ward ich mit Elyson konfrontiert. Es kam nichts Neues hinzu.

Doch das merkte ich ganz deutlich, dass der Untersuchungsrichter von meiner Unschuld überzeugt war. Aber wenn ich gehofft, gleich freizukommen, hatte ich mich natürlich grimmig geirrt. Ich war trostlos, als ich zurückgeführt werden sollte in diese schreckliche Zelle, die ich mit meinen langen Beinen immer mit drei Schritten durchmessen hatte, in die die Sonne nicht hineinschien, wo ich nicht atmen konnte. Tatsächlich, es war immer, als wenn ich ersticken müsste!

»Kann ich nicht gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt werden?«

»Reichen Sie ein Gesuch ein mit Angabe dessen, was Sie sonst versäumen.«

Ich tat es. Als selbstständiger Kapitän, dessen Schiff vollbefrachtet tot dalag, erwuchs mir ja Schaden genug.

Noch an demselben Tage kamen zwei Herren zu mir.

Ob ich zehntausend Pfund Sterling Bürgschaft stellen könne. Gewiss!

Gut, dann würde ich auf freien Fuß gesetzt werden, unter der Bedingung, mich in London aufzuhalten, immer unter angegebener Adresse, sodass ich jede Stunde zu belangen sei, und das ein Vierteljahr lang, vorausgesetzt, dass ich nicht schon früher abgeurteilt resp. freigesprochen würde. Doch diese Bedingungen würden mir erst morgen gestellt werden, von Amts wegen, ich könne nur schon heute dafür sorgen, dass das Geld morgen gleich zur Stelle sei.

Wer war froher als ich! Endlich aus dieser fürchterlichen Zelle heraus wieder ins Sonnenlicht, wo jetzt gerade der herrlichste Frühling war!

Da erfuhr ich erst jetzt, dass auch mein Segelmacher Hasse wegen Mordverdachtes verhaftet sei. Das hatte ja überhaupt sehr nahe gelegen, ich war nur nicht mit ihm konfrontiert worden, hatte gar nichts davon zu erfahren bekommen.

Ob ich auch für diesen zehntausend Pfund Sterling Kaution stellen könne.

Zwanzigtausend Pfund zusammen? So viel hatte ich gerade noch in meiner Kasse. Höchstens noch ein paar Dreier Überschuss.

Aber bei mir ja ganz selbstverständlich, dass ich sofort zusagte! Ich konnte den armen Kerl doch meinetwegen nicht sitzen lassen! Zehn Millionen — wenn ich sie gehabt hätte.

»An wen soll ich schreiben?«

»Ja, das müssen Sie doch wissen.«

»Das Geld befindet sich in meiner Kabine im Panzerschrank, aber die Schlüssel sind mir abgenommen worden.«

»Weisen Sie an, wem die Schüssel ausgehändigt werden sollen.«

»Meinem ersten Steuermann.«

»So schreiben Sie das. Die Form ist dabei ganz gleichgültig.«

»Kann er denn überhaupt noch auf dem Schiffe verfügen?«

»Ihr Schiff ist wieder freigegeben worden.«

»Was Sie sagen!«, fuhr ich freudig empor, und gleich blitzte ein Gedanke in mir auf. »Und meine Jungen — die Mannschaft?«

»Die befinden sich auf freiem Fuße.«

Ich wollte nach dem ›Warum‹ fragen, da aber gab mir der eine der Herren zu verstehen, dass sie hier streng bei der Sache zu bleiben hätten, derentwegen sie mich aufgesucht hätten.

»Die Justizbehörde hält sich wegen des Mordfalles nur an Sie und an Ihren Segelmacher, mehr kann ich Ihnen jetzt nicht sagen.«

Ich schrieb für Mahlsdorf die Vollmacht aus, mich schon wieder auf hoher See sehend. Die 20 000 Pfund? Bah, ich war mit Wonne bereit, die zu opfern, wenn ich nur erst wieder heraus war aus diesem verfluchten Loche. Ich hatte das Geld ja auch erst geschenkt bekommen, mochte es fliegen. Nur frei, frei!!!

Am anderen Tage wurde ich wieder vorgeführt, die Bedingungen wurden mir vorgelesen, unter welchen ich auf freien Fuß gesetzt würde, dann kam auch Hasse daran, dem ich lustig zublinzelte, wir mussten unterschreiben, und da war auch schon Mahlsdorf, welcher die 20 000 Pfund hinzählte. Das amerikanische Geld hatte er umgewechselt.

»Kann ich denn auch auf mein Schiff?«

»Ja, Sie dürfen auch darauf wohnen, solange es in einem Londoner Hafen liegt, müssen aber gewärtig sein, jede Minute von Bord geholt zu werden.«

»Aber sonst kann ich darüber verfügen?«

»Gewiss, es ist doch Ihr freies Eigentum.«

»Es auf Reise schicken?«

»Warum nicht? Nur Sie selbst dürfen natürlich nicht an Bord sein. Sie dürfen ja nicht die Weichgrenzen Londons überschreiten, und dasselbe gilt von Ihrem Komplizen.«

Ich war entlassen, desgleichen Hasse.

Gott, wie habe ich die Luft dieses sonnigen Frühlingsmorgens eingeschlürft! War das eine Wollust!! Und dann die drei handgroßen Beefsteaks und die nachfolgenden beiden Hammelkoteletts waren auch nicht schlecht. Ich hätte mich im Untersuchungsgefängnis selbst beköstigen können, aber ich hatte jeglichen Appetit verloren gehabt.

Dann begab ich mich an Bord der ›Sturmbraut‹, von meinen Jungen enthusiastisch begrüßt. Das erste war, dass ich Mahlsdorf vornahm.

»Haben Sie von der Tabakspfeife gehört, welche der Mörder in Blodwens Zimmer zurückgelassen hat?«

»Nein.«

Ich erzählte. Der Steuermann war einfach sprachlos. Dann zweifelte er, ich müsse mich unbedingt geirrt haben.

Ich ließ den Segelmacher kommen.

»Ist dir eine Tabakspfeife vorgelegt...«

Es genügte, ich sah es dem Manne gleich an.

»Auch Ihnen?«

»Ja. Hast du sie erkannt?«

Hasse warf einen scheuen Blick nach dem Steuermann, doch ich forderte ihn auf, zu sprechen. Er hatte nur ein Wort.

»Hans!«

Mahlsdorf aber wollte es immer noch nicht glauben.

Da gab mir eine Einflüsterung ein, doch einmal den Kleidersack und die Kiste zu öffnen.

Und was wurde gefunden, als ich darin herumstöberte? Zunächst eine Fotografie Blodwens. Und dann Papiere mit Gedichten — Gedichte, wie nur ein verliebter Jüngling sie macht — und alle waren an Blodwen gerichtet.

Übrigens ganz nett gemacht. Doch ich kann jetzt kein einziges mehr wiedergeben.

Das allerdings hätte auch ich nicht unter des Pagen Sachen zu finden erwartet! Ich war baff.

Nur das muss ich auch gleich sagen, dass in mir nicht die geringste Eifersucht aufstieg. Viel eher das tiefste Mitleid mit dem braven Jungen.

Liebe — mein Gott, wer kann dafür! Ich fühlte mit. Jetzt aber fiel mir auch ein, wie er damals bei Blodwen als Vogelfütterer die wirkliche Rolle eines Pagen übernommen hatte, wie er errötete, wie er gestammelt, andere kleine Züge fielen mir ein — — und anstatt Eifersucht stiegen mir nur Tränen auf.

»So ein infamer Schlingel!«, sagte Mahlsdorf entrüstet.

Da hörte er mich leise schluchzen, und er war still, und auch er tippte sich mit den Fingerspitzen in die Augenwinkel,

»Hast du gesagt, wem die Pfeife gehört, als sie dir vorgelegt wurde?«, wandte ich mich an den Segelmacher, der mit anwesend war.

»Nein.«

»Hast du dich nicht sonst verraten?«

»Mein Schreck war groß, aber ich wusste mich zu beherrschen, und ich glaube nicht, dass der Untersuchungsrichter etwas gemerkt hat, er legte die Pfeife gleich weg.«

»Und hast du schon zu den anderen davon gesprochen?«

»Zu keinem einzigen. Ich wollte erst Sie einmal darüber fragen.«

»Brav so! Und es wird auch nicht darüber gesprochen, die Sache bleibt unter uns, auch das hier mit der Fotografie und den Gedichten.«

Ich packte die Sachen wieder zusammen.

»Ja, aber wie ist Hans nur hierher gekommen?«, fing dann der Steuermann wieder an.

Eine Erklärung war ja leicht zu finden, und sie konnte recht wohl den Tatsachen entsprechen.

Hans hatte also in der Nacht die Lichter eines vorübersegelnden Schiffes gesehen, und seine Sehnsucht nach der heimlichen Liebe war zu groß gewesen, er hatte sich ins Meer gestürzt, und es war ihm geglückt, das Schiff zu erreichen.

Von Blodwens Schiffbruch und Überführung nach London konnte er nichts wissen, nach der Seeburg war keine Zeitung, kein Fremder gekommen. Wohl aber hatte Hans auf diesem Schiffe von alledem erfahren können, oder aber, das Schiff war eben nach England gegangen.

Er hatte, wahrscheinlich ohne von unserem Hiersein zu wissen, Blodwen befreit. Freilich, das Wie und ob er sich schon vorher mit Blodwen verständigt hatte, das konnten wir nicht wissen. Jedenfalls war er darüber zum Mörder geworden.

Na, wir hier nahmen diese Sache gar nicht so tragisch.

Dann besprach ich gleich in Gegenwart des Segelmachers mit Mahlsdorf weiter, was nun werden sollte.

Die zwanzigtausend Pfund fahren lassen. Ich hatte keine Lust, mich hier noch ein Vierteljahr aufzuhalten und mich am Ende gar noch einmal einstecken zu lassen. Denn etwas würde man mir schon anhängen, das war ganz sicher.

Hasse erschrak über die Höhe der Summe, wenigstens er wollte hierbleiben, durch eine eventuelle Gefängnis- oder seinetwegen auch Zuchthausstrafe zehntausend Pfund verdienen helfen, aber da gab es natürlich nichts bei mir. Der robuste Mensch wäre ja hinter Kerkermauern ebenso schnell wie ich eingegangen.

Ich rief alle Leute im Zwischendeck zusammen und hielt ihnen eine kleine Rede, schilderte, worauf es ankam. Ich müsste einen anderen Kapitän besorgen, würde die rechte Wahl schon treffen, welcher mein Schiff mit seiner Fracht nach Rio de Janeiro führen sollte. Das musste öffentlich verkündet werden.

Unterdessen hielten wir, ich und der Segelmacher — hier muss sich der Kapitän zuerst nennen — uns vorschriftsmäßig in London auf — natürlich nur so lange, bis sich die ›Sturmbraut‹ außerhalb der englischen Gewässer befand.

Wie wir dann an Bord kamen, das war noch auszumachen. Erst einen geeigneten Kapitän gefunden.

»Einverstanden?«

Na und ob! Ich glaube sogar, das machte den Jungen Spaß. Mir nämlich auch.

Und wegen der Moneten? Nun, ich hatte in meinem diebessicheren Panzerschrank und in meiner feuerfesten Hosentasche genau noch zwei Pfund sechs Schilling und sieben Pence. Rund sechzehn Taler.

Aber ich hatte der Mannschaft bei unserer Ankunft in London erst ihre dreimonatliche Heuer ausgezahlt, und als ob sie geahnt hätten, dass ihr Kapitän sie wieder einmal anpumpen würde, hatten meine Jungen sehr sparsam gelebt.

Ja, wir wurden diese Pumperei nun so langsam gewohnt.

Als wir zusammengeschossen hatten, da zeigte sich, dass wir noch immer bare zweihundertachtundsechzig Pfund und einige Schilling besaßen, das reichte übermäßig fürs Ankergeld, und als wir dann noch einige andere Ausgaben bestritten, auch noch einigen Proviant und vor allen Dingen Tabak angeschafft hatten, da waren, umgerechnet in deutsches Geld, in der Schiffskasse immer noch bare zwei Taler und acht Silbergroschen! Und das war richtiges, bares Geld, nicht nur solche schmutzige Papierlappen, aus denen die zwanzigtausend Pfund Sterling bestanden hatten!!

Menschenherz, was verlangst du denn mehr?

Sind etwa zwei Taler acht Silbergroschen noch nicht genug?

»Go ahead!«

Na, wir waren schon richtige Zigeuner geworden!

— • —

48. Kapitel
Schon wieder 'rin

Originalseiten II.331 — 338

Außerdem aber war da noch das schuldenfreie Schiff, jetzt hoch versichert, sodass ich sofort eine Hypothek hätte aufnehmen können, wonach ich es dann selbstverständlich immer wieder versichern musste, und dann war ja da auch noch die ebenfalls gutversicherte Kohlenladung, an der ich innerhalb von vier Wochen mindestens zweihundert Pfund verdient haben würde.

Dafür freilich hatte ich vor, zwanzigtausend Pfund flöten gehen zu lassen, aber... Zigeuner haben eben ihre besondere Rechnungsart, Land- und Seezigeuner, und bei mir stimmte die Rechnung, und wer das nicht versteht, der eignet sich eben weder zum Land- noch zum Seezigeuner.

Zunächst galt es also, einen geeigneten Kapitän zu finden. Ich brauchte nicht lange zu suchen, er lief mir zwischen die Beine.

Siegfried Mops. Eigentlich hieß er allerdings Siegfried Schulze. Aber er hatte ein Mopsgesicht, einen kurzen, untersetzten Mopsleib, die dazu gehörigen Mopsbeine, und außerdem war er ein fideler Mops. Dass seine Eltern diesen Knaben Siegfried getauft hatten, war eigentlich unverantwortlich von ihnen.

Ich war unter ihm als Matrose gefahren, damals war er noch erster Steuermann gewesen, ich wusste aber, dass er bereits ein Schiff als Kapitän geführt hatte.

Ich stolperte also über ihn weg.

»Hallo, Mops! Was krauchst du mir hier zwischen den Beinen herum?«

»Hallo, Richard! Na, dass du hier bist, weiß ich schon, habe dich gesucht — du bist ja unterdessen ein netter Racker geworden, sogar schon totgeschlagen hast du einen.«

Ja, ich war eine Berühmtheit geworden. Auf der Straße blieb immer gleich alles stehen, um mir nachzusehen, und kaum war bekannt, dass ich mich auf freiem Fuße befand, als ich auch schon Einladungen die schwere Menge erhielt, meistenteils auf solchem nach Moschus stinkenden Papier, von Damenhand geschrieben. Aber ich reagierte nicht, hatte anderes im Kopfe.

Mops war erst vor zwei Tagen abgemustert worden.

»So und so — willst du die Führung meines Schiffes übernehmen?«

Na und ob Mops da mitmachte! Ich hatte ihn gleich in alles eingeweiht, und er war zu allem bereit.

Das war im Hinterzimmer einer besseren Kneipe ausgemacht worden, die Zeche machte vier Schilling, und ich hatte nur drei bei mir, Mops überhaupt keinen Penny! Alles wieder verjuxt. Und ich hatte den Kerl erst anpumpen wollen! Verjuxt dieser Himmelhund mit solchen geschminkten Frauenzimmern innerhalb zweier Tage sechzig Pfund Sterling, wo er doch ganz gut hätte wissen können, dass ich ihn anpumpen wollte!

Doch jetzt hatte das alles nichts zu sagen. Jetzt war in London für uns fette Zeit, jeden Tag, jede Stunde wurde abgemustert und ausgezahlt, man musste nur aufpassen, dass man nicht eine halbe Stunde zu spät kam.

Mops, der Bescheid wusste, ging, mich als Pfand zurücklassend, und als er zurückkam, brachte er nicht nur den fehlenden Schilling mit — was übrigens auch gar nicht gelangt hätte; denn ich hatte unterdessen schon wieder etliche Buttels BassAle und Schnäpse vertilgt — sondern gleich eine Zehnpfundnote, und die hatte ich auch sehr nötig; denn ich musste doch während der nächsten Tage in London leben, der Segelmacher ebenfalls, und die Schiffskasse durfte nicht mehr allzu sehr angegriffen werden.

An Bord meines Schiffes wurde das Übrige mit den Steuerleuten verabredet.

Also erst einmal nach Amsterdam, nicht in den Hafen, sondern, um das Ankergeld zu sparen, nur auf Reede, und sobald wie möglich kamen wir Zuchthauskandidaten nach, natürlich nicht als Passagiere. Wohl vielleicht auf einem Passagierdampfer, aber vornehm in den Kohlen mittenmang. Denn meine Länge von zwei Metern war durch keine Maske zu verkleinern, ich wäre bei der Kontrollierung durch die Polizei bei der Abfahrt doch sofort erkannt und festgenommen worden.

Solch ein baldigst nach Amsterdam gehendes Schiff war erst noch zu suchen, wir hatten uns mit der Mannschaft zu verständigen, dass wir in den Kohlen verstaut wurden. Aber das war ja Kleinigkeit. Ich glaube, es gibt gar keinen christlichen Seemann, dem es nicht ein Teufelsvergnügen macht, der Polizei ein Opfer aus den Klauen zu rücken.

Nur auf meinem eigenen Schiffe wollte ich das nicht probieren. Ich konnte doch scharf beobachtet werden, und... lieber nicht. Das ganze Schiff hätte wiederum auf dem Spiele gestanden.

Die ›Sturmbraut‹ dampfte ab, die Themse hinunter. Vergnügt blickte ich nach. Auf Wiedersehen auf freier See!

So, nun noch etwas durch die City promeniert, um mich in meiner ganzen Größe bewundern zu lassen, dass die nicht etwa dachten, ich wäre so einer, der einfach zwanzigtausend Pfund oder für meine Person doch wenigstens zehntausend so pfeifen lässt.

Unterdessen war der viel weniger auffällige Hasse unten am Hafen, hielt schon Umschau nach dem elegantesten Kasten mit den weichsten Kohlen, die am wenigsten abfärbten, und wenn alles gut ging, rutschten wir schon heute Nacht der ›Sturmbraut‹ nach.

Ach, wie sollte ich mich irren! Was für einen Streich sollte mir mein grenzenloser Leichtsinn, oder wie man es nun sonst nennen mag, noch spielen!

Schließlich ganz gut, dass alles so kam, das wird der Leser noch später erfahren — aber erst sollte ich doch noch eine böse Leidenszeit durchzumachen haben.

Als ich so durch die Regent Street schlendere, behaglich meinen silbernen Zahnstocher im Munde, sehe ich da vor einem großen Schaufenster mit Möbeln einen Herrn und eine Dame stehen — die beiden gehörten offenbar zusammen, und... ich erkenne die mexikanische Tänzerin, die Coliani!

Ich bin schon dicht hinter ihnen.

»Sieh nur, Ralph, diese herrliche Garnitur«, sagt in diesem Augenblick die Tänzerin zu ihrem Galan, einem schmächtigen Herrn mit blondem Stutzbart, blass, wenn auch etwas von der Sonne gebräunt.

Ich weiß nicht, was mir da plötzlich durch den Kopf schoss. Ich habe manchmal ein so eigentümliches Gefühl. Ich werde wie besinnungslos, wie chloroformiert. Ich weiß nicht, was ich tue. Es sind Impulshandlungen, für die ich gar nicht verantwortlich zu machen wäre. Dabei ist merkwürdig, dass ich dann äußerlich immer ganz bedachtsam werde, ganz ruhig, während in mir alles siedet.

Und da schoss mir alles blitzschnell durch den Kopf, eine ganze Reihe von Gedankenbildern, ich sah Blodwen im offenen Boote, wie sie von der Jacht aufgefischt wird, wie sie mit ihrem Kinde im Arm vor dem Jachtbesitzer und vor der mexikanischen Tänzerin auf den Knien liegt — und die Stereoskopbilder schlossen damit, wie der Wärter ermordet auf dem Boden liegt. Von mir selbst, wie ich in der Zelle sitze, gar nicht zu sprechen.

Also ich nehme bedachtsam meinen Zahnstocher aus dem Munde, klappe ihn zusammen, stecke ihn bedachtsam in die Westentasche, und so trete ich ganz gelassen seitwärts vor den Herrn hin, ziehe höflich den Hut.

»Habe ich die Ehre, mit Herrn Baronet Ralph von — — zu sprechen?«

Der Gefragte sieht mich groß an, dann lüftet er seinen Zylinder.

»Jawohl, das ist mein Name — und mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Sie haben das Vergnügen, den Kapitän Richard Jansen von der ›Sturmbraut‹ kennen zu lernen, und ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie ein großer Schuft sind — da... und da... und nehmen Sie das noch... und das... und das...«

Und ich tachtelte ihn ab, links und rechts, damit er nicht aus der Balance kam.

Die Coliani hatte erst wie erstarrt dagestanden, mich wie ein Gespenst anstierend, dann stieß sie einen gellenden Schrei aus und schlug mit ihrem Sonnenschirmchen auf mich ein.


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Das ließ ich mir natürlich nicht gefallen, jetzt nahm ich mir auch die vor, sie hatte es ja auch reichlich verdient, aber die Tänzerin konnte ich trotz ihrer Ballerinenbeine nicht in der Balance halten, ich maulschellte sie seitwärts, und mit Vehemenz fuhr sie durch die große Glasscheibe und kam zwischen Scherben gerade auf den Damenstuhl der bewunderten Garnitur zu sitzen.

Wie es weiter zuging, wusste ich nicht recht. Ich war plötzlich von einer großen Menschenmenge umringt, ein paar hingen sich an meine Arme, die ich wie die jungen Hunde abschüttelte, dann knallte ein Schuss, dann sah ich, dass es merkwürdigerweise der Baronet war, den das Publikum verhaute, weil er nämlich mit dem Revolver geschossen hatte, glücklicherweise war der Schuss über die Dächer gegangen, und dann erkannte ich, dass es zwei oder drei Konstabler waren, die sich mit mir beschäftigten, und da gab ich gutmütig das Schütteln auf.

Aber richtig kam ich erst wieder zur Besinnung, als ich in einer mit weißen Kacheln verkleideten Zelle saß. Die Londoner Polizei hat nämlich höchst feine Arrestzellen. Die Kacheln sollen auch wegen der Wanzen und anderen Tierchen höchst praktisch sein.

Zuerst war es mir ganz behaglich zumute, ich atmete trotz der Enge der Zelle erleichtert auf.

Bald aber schlug meine Stimmung um.

Himmelherrgott noch einmal, Richard, was hast du getan?! Du hast in England auf offener Straße ein Frauenzimmer geschlagen, sogar eine sogenannte Dame — in dem Lande, über welches eine Königin gebietet!!

Ja, jetzt erkannte ich, dass ich ein rechter Esel gewesen war! Aber soll man da nicht aus der Menschenhaut und in die eines Esels fahren, wenn man die Halunken endlich sieht, die man zu sehen sich schon lange gewünscht hat?

Ich will es kurz machen. Es ging auch äußerst schnell.

Ein halbes Jahr ›hard labour‹. Und ›hard labour‹ ist Zuchthaus.

Wenn auch nicht ganz gleichbedeutend mit dem unsrigen. In England gibt es überhaupt keine im Prinzip entehrende Strafe. Aber die härteste ist es doch — es ist Zuchthaus.

Jawohl, in England gibt es Zuchthaus, wenn man auf der Straße eine Dame backpfeift. Schon wenn man sie küsst, sogar halb und halb mit ihrem Einverständnis, und sie zeigt einen hinterher an — schon dafür kann's unter Umständen einige Wochen Zuchthaus geben!

Aber nun gar hauen — sie sogar durch ein Schaufenster expedieren — ein halbes Jahr Zuchthaus!

Ein Glück nur, dass sie sich dabei nicht den geringsten Schnitt weggeholt hatte. Diese Tänzerin schien das zu verstehen, so durch eine Glasscheibe zu fahren. Sonst hätte ich mich gleich auf einige Jahre gefasst machen können.

Ein Glück? Nun für mich genügte das halbe Jahr gerade.

— • —

49. Kapitel
In der Tretmühle und einige Todesbetrachtungen

Originalseiten II.338 — 345

»Second part — turn to!!!« Wer von uns zehn Sträflingen sich nicht schnell genug von der Pritsche erhob, bekam die Peitsche zu schmecken.

Denn damals gab es, wie zum Teil heute noch, in den englischen Strafanstalten schmähliche Wichse. In deutschen soll es nicht viel besser sein, aber diese kennen zu lernen habe ich nicht das Vergnügen gehabt.

Es war ein großes, hölzernes Rad, sechs Meter im Durchmesser und ebenso breit, aus welchem zehn Männer sprangen, ihre graue Arbeitskleidung mit blauen Pfeilspitzen gemustert, dabei von Schweiß triefend nass.

Statt ihrer sprangen wir in das noch drehende Rad hinein, dessen Innenseite mit hohen Querleisten wie mit Stufen benagelt war, und wie auf solchen begannen wir auch aufwärts zu steigen, ohne vom Fleck zu kommen, weil sich das Rad unter uns fortdrehte, und dieses setzte wieder ein im Nebenraume befindliches Stampfwerk in Bewegung, das Kalkstein zerkleinerte.

Es war die Tretmühle von Portland, in die ich gekommen, unser Schweiß lieferte den Kitt für den Portlandzement.

Ja, in wenigen Minuten rann auch uns der Schweiß in Strömen vom Leibe, keuchend rang die Lunge nach Atem, manchmal wischte sich einer den Mund, in der Hoffnung, an seiner Hand Blut zu sehen, denn dann konnte er sich wenigstens im Lazarett bis zu seinem Tode ausruhen, später weiter draußen auf dem Friedhof.

Von früh um sechs bis Abend sechs abwechselnd dreißig Minuten treten und dreißig Minuten Ruhe. Diese lange Zwischenpause nach kurzer Arbeitsfrist zeigt vielleicht am deutlichsten, was die Tretmühle zu bedeuten hat. Es gab auch solche, welche noch eine schwere Eisenkugel nachpoltern mussten, sehr angenehm für den Nachbar. Besser schienen die daran zu sein, welche mit den Händen an eine Eisenstange angeschlossen waren, welche quer durch das Rad lief, die konnten sich etwas stützen. Aber dieser Vorteil war nicht so groß, dafür hatten die ein viel schwereres Rad zu treten.


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Und wenn man nun einmal nicht trat, alle zusammen nicht, dann blieb die Karre stehen? O nein, in Schwung blieb das Rad ja doch, und hob man die Füße nicht schnell genug, so schlugen die Querleisten immer gegen die Schienbeine, danach waren die Stufen gleich eingerichtet, und sackte man vor Schmerz zusammen, so kam man unter die eisenbeschlagenen Sohlen der anderen. Nein, lieber nicht!

Doch so humoristisch war mir damals nicht zumute, wie ich dies jetzt schreibe.

Zwei Wochen waren seit der zerbrochenen Fensterscheibe vergangen. Acht Tage wieder in Untersuchungshaft, und heute war mein siebenter Tag in der Tretmühle. Von diesen war ich den ersten Tag ein mechanischer Automat gewesen, der überhaupt gar nichts dachte, zwei Tage lang ein gelähmter Krüppel, der aufgepeitscht werden musste — jetzt die letzten Tage ging es wieder ganz gut, die Gelenkschmerzen waren überstanden.

»Mensch, der du hier eintrittst, lass alle Hoffnung draußen!« — So soll wohl über einigen russischen Gefängnissen stehen, welche für Lebenszeit eingerichtet sind.

Das galt auch für mich. Auch ich hatte schon alle Hoffnung draußen gelassen. Ein halbes Jahr lang hier so treten, in dieser dunstigen, mit feinem Sandstaub geschwängerten Atmosphäre? Aushalten würde ich es wohl, daran zweifelte ich nicht, meine Konstitution war danach — aber ich hatte keine Lust dazu, kein Gedanke daran.

Dass ich noch nicht wieder vor dem Richter stand, um wegen Mordes diesmal zum Tode verurteilt zu werden, daran war nur der Umstand schuld, dass dieser Wächter, der uns zwanzig unter sich hatte, mir zu leid tat. Ich hatte ein wertvolleres Leben auf den Kieker.

Gleich am ersten Tage war ein Herr zu uns in die Bude gekommen, hatte uns zwanzig Mann besichtigt. Der Sklaventreiber hatte ihn mit Herr Direktor angeredet.

Ich hatte gerade Pause, lag wie zerschlagen auf der Pritsche.

»Auf, auf!!«

Wir mussten uns in Parade stellen.

Der Direktor sah erst den Tretern zu, nahm dem Wächter die Peitsche aus der Hand und schlug unter die Keuchenden, nur so zum Zeitvertreib, übte sich, den hintersten Mann zu treffen, wobei er durch das ganze Rad schlagen musste, handhabte auch wirklich die Peitsche mit Virtuosität.

Dann musterte er uns.

»Wo ist der neue?«

»Nummer 122.«

Diese Zahl prangte bei mir an Brust und Rücken.

»So, das ist der Halunke — pftsch.«

Der Herr Direktor spuckte mir ins Gesicht, schlug mich mehrmals ins Gesicht, spuckte noch einmal recht kräftig hinein — und dann ging der Herr Direktor wieder.

Ich war an diesem ersten Tage noch viel zu sehr niedergeschmettert, um mir bei alledem etwas denken zu können. Ich hatte mich, steif dastehend, ruhig schlagen und anspucken lassen.

Aber in der Nacht wurde es mir schrecklich klar. Warte, komm du nur wieder!

So streng das Sprechen auch verboten war — die beiden Sprecher wurden sofort zusammengekettet, was die Qual verdreifachte — wurde doch ab und zu geflüstert, und ich hörte zufällig, dass der Herr Direktor alle acht Tage seine Visite abstattete, regelmäßig jeden Sonnabend früh.

Jut! Sechs Tage konnte ich noch warten. Denn der Wächter war mir zu schade. Das war überhaupt gar kein so fürchterlicher Unhold. Er gebrauchte die Peitsche nur mäßig.

Aber viel länger als sechs Tage durfte es auch nicht dauern, bis ich mich zum Mörder machte.

Denn ich hatte schon etwas erkannt. Es war doch eigentlich merkwürdig, dass sich zwanzig kräftige Männer so von einem einzigen Menschen schlagen ließen, und wir waren ganz allein zusammen in dem abgeschlossenen Raume. An ein Ausbrechen war hier freilich nicht zu denken, aber die Wut, die Wut!! Die musste doch einmal bei einem hervorbrechen!

Nein, eben nicht! Die waren schon sämtlich geistig und seelisch gebrochen, es waren Tiere, mehr noch, blödsinnige Menschen, die überhaupt keinen eigenen Willen mehr hatten, sich deshalb ruhig prügeln ließen, als müsste das so sein.

Und ich wusste bestimmt, dass ich in wenigen Tagen ebenso sein würde. Körperlich rüstig, aber innerlich vollständig gebrochen, so wie diese dort.

Nun, vorläufig war das noch nicht der Fall. Kaltblütig erwog ich alles. Ich war sogar noch edelmütig dabei.

Dieser Wächter war also gar nicht so sehr brutal, das verriet schon sein Gesicht. Dieses sah vielmehr recht vergrämt aus. Der arme Mann hatte gewiss einen Haufen Kinder zu Hause. Es ist ja nicht gerade hübsch, sich als Sklaventreiber herzugeben, aber schließlich muss auch ein Henker sein, und... der Herr Direktor war mir eben lieber.

Denn der hatte so ein recht abgelebtes Gesicht, dem sah die viehische Brutalität aus den Augen — in der Gesellschaft, in welcher dieser hochgestellte Beamte verkehrte, hatte das vielleicht nichts zu sagen, ich habe sogar gehört, auch selbst genug davon erfahren, dass es gewisse und manchmal gerade zartbesaitete Damen gibt, welche viehische Brutalität an Männern lieben — und zweitens bekam die Familie dieses hohen Beamten nach seinem Tode doch eine gute Pension, für die war gesorgt.

Also mache dich bereit, mein Direktorchen, morgen früh klebt dein Gehirn dort an der Wand!

Nein, ich hatte keine Lust, mich hier zum Automaten machen zu lassen.

Endlich läutete die Abendglocke. So, das war das letzte Mal gewesen. Als Mörder musste ich in Untersuchungshaft kommen. Vorher würde es freilich noch einmal die Karbatsche setzen, aber das musste eben mitgenommen werden. Dann hatte ich alles Leiden hinter mir, man hat es in der Untersuchungshaft gar nicht so schlecht, und dann stieg ich gemütlich das Treppchen hinauf, bekam eine Schlinge um den Hals, das Fallbrett klappte herunter, und weg war ich.

Gewaschen wurde noch gemeinsam. Dann kam jeder in sein Zellchen, wo schon sein Abendbrot bereitstand, wie immer aus Hafergrütze mit Sirup und aus einem Topf mit Kakao bestehend.

Man sieht, man lebt im englischen Zuchthause gar nicht so schlecht. Fleisch gibt es jeden Mittag, Sonntags sogar hinterher Pudding. Auch die Seegrasmatratze ist gar nicht schlecht. Wenn nur die verdammte Tretmühle nicht wäre! Dann hielte man es schon aus. Und für meine Person noch etwas mehr frische Luft und Sonnenschein!

Für diejenigen, die es interessiert, sei noch bemerkt, dass in den englischen Strafanstalten der Kakao zusammen mit großen Rindsknochen gekocht wird, es schwimmt immer obendrauf fettes Mark, das man erst verrühren muss, und wer nicht glaubt, dass das schmeckt, mag es nur probieren. Es schmeckt sogar köstlich, und obgleich ich sonst kein Freund von Fett bin, habe ich mir später den Kakao immer so mit Rinderknochen kochen lassen.

Jetzt aber konnte mich dieser Kakao mit Rindermark nicht länger in der Tretmühle halten. Ich schmachtete nach des Herrn Direktors Gehirn.

Ich aß mit Appetit, dann streckte ich mich auf der Seegrasmatratze aus, dachte an dies und jenes, an Blodwen, an meine Jungen, an Karlemann — dachte auch etwas an die Unsterblichkeit der Maikäfer und insbesondere auch an meinen eigenen Tod.

Und wie ich so grübelte, mir so vorstellte, wie das sein muss, wenn man mit einem Male tot ist, da begann ich mich etwas vor dem Tode zu fürchten.

Das gestehe ich ganz offen. Aber ich hatte Furcht vor etwas ganz Besonderem.

Der Tod des Hängens tritt wohl niemals durch Ersticken ein, sondern immer durch Bruch der Wirbelsäule am Halse. Die Halswirbel tragen die Last des Körpers nicht. Deshalb zur Erleichterung des Todes das Fallbrett.

Aber wenn die Halswirbel nun nicht brechen wollen? Der Fall soll vorgekommen sein. Ein englischer Fischer ist ganz gewiss einmal die vier oder fünf Meter heruntergestürzt, und als er unten hing, zappelte er noch lustig.

Was war zu machen? Sich an die Beine hängen durfte man hier nicht, das ließ die Zeremonie nicht zu; also der Delinquent musste noch einmal das Treppchen hinauf, nochmals klappte das Fallbrett herab, und nun war er glücklich mausetot.

So etwas muss doch höchst fatal sein, für den Henker, für das Publikum, und am allermeisten wohl für den Delinquenten. Und ich besaß einen sogenannten Stiernacken. Ich konnte mit den Zähnen einen respektablen Tisch hochheben, und wenn ich so gebückt dastand, da konnte man dranhängen, was man wollte, das blieb hängen und rührte mich nicht. Es hatte niemals ausgelangt, um meinen Kopf herunterzubekommen, und wenn's auch ein kleiner Möbelwagen war.

Ja, und wenn ich nun also von dem Fallbrett...

Unter solchen Gedanken schlief ich ein. Und die Hängerei ging im Traume immer weiter. Ich war nicht tot zu kriegen. Zuletzt kamen meine Jungen, banden an jeden meiner Füße ein Tau und fingen taktmäßig an zu ziehen — ›höhh jubb!! höhhhh jubb!!‹ — und der Bootsmann pfiff den Takt dazu.

Aber mein Genick wollte nicht brechen.

»Pullt, Jungens, pullt!!«, schrie ich, ohne dass mich die Schlinge im mindesten genierte. »Höhh jubb!! höhh jubb!!«

Und weil es so immer noch nicht ging, brachten sie eine Winde angeschleppt, die wurde erst eingeschmiert, und als Fetttopf diente ein Totenschädel, der noch die Physiognomie des Herrn Direktors trug...

— • —

50. Kapitel
Der Kommodore

Originalseiten II.346 — 368

Da wachte ich auf. In meinen Traum hatte sich ein Lichtschein gemengt, der nicht hineingehörte. Es hätte denn das ewige Himmelslicht sein müssen — aber es war eine ganz einfache Laterne, in die ich blinzelte. Und die gehörte doch wieder nicht in meine Zelle.

Dann sah ich einen Mann, der diese Laterne in der Hand trug, und da richtete ich mich auf.

»Ich bin bereit«, sagte ich und tastete nach meinen Stiefeln.

»Wozu bereit?«, fragte eine sonore Stimme.

»Fragen Sie nicht so dumm. Zu meinem letzten Gang. Hauptsache ist, dass der Herr Direktor tot ist. Und dann bitte ich, mich recht kräftig fallen zu...«

»Sie träumen wohl noch?!«, erklang es in heiterem Tone.

Ja, da kam mir zum Bewusstsein, dass ich nur vorausgeträumt hatte. Der Herr Direktor hatte vorläufig sein Gehirn noch. Aber ich erschrak nicht, weil ich mich etwa verplappert hatte — das war alles gleich wieder vergessen.

Jedenfalls wusste ich jetzt, dass ich mich noch in meiner bisherigen Zelle befand und morgen wieder in die Tretmühle musste, morgen aber war auch der große Tag — wenn er nicht schon heute war.

Nun einmal auf der Pritsche sitzend, einen der gefundenen Nagelschuhe in der Hand, betrachtete ich mir den Laternenträger. Zum ersten Male kam des Nachts jemand in meine Zelle, bisher hatte noch keine Revision stattgefunden.

Es war ein schon älterer Mann mit leichtergrauten Haaren, das glattrasierte Gesicht über und über von Runzeln durchzogen, mit tausend Fältchen übersät, und trotzdem war dieses Gesicht noch das eines Jünglings, und das machten die hellblauen Augen, welche noch von Lebensfeuer sprühten.

Anders kann ich es nicht beschreiben. Jedenfalls ein Gesicht, welches man nie wieder vergisst, wenn man es einmal gesehen, ein unter Hunderttausenden auffallendes Gesicht.

Auffallend war auch die Hand, welche die Laterne trug. Überaus fein und zart, und dennoch wie aus Stein gemeißelt, ebenso wieder gar nicht zu dem Gesicht mit den tausend Fältchen des vorgerückten Alters passend.

Wenn man in einer Zelle der Portländer Tretmühlenanstalt sitzt, man grübelt einen Mord aus und bereitet sich auf sein letztes Stündlein vor, und man kann all dies noch beobachten, macht sich Gedanken darüber, dann muss wohl wirklich etwas Besonderes daran sein.

Dabei übersah ich auch ganz, dass er keine Uniform, sondern einen modernen, dunklen Straßenanzug trug, neu, aus feinem Stoff. Das konstatierte ich erst hinterher.

Als ich fertig mit meinen Betrachtungen war — was ja nur wenige Sekunden gedauert hatte — erwartete ich, dass der Besucher meine Zelle revidieren würde, wie es auch im Untersuchungsgefängnis manchmal geschehen war.

Aber der Mann blieb stehen, ließ das Licht in mein Gesicht fallen.

»Herr Kapitän Richard Jansen!«

Ich zuckte nicht schlecht zusammen. Zum ersten Male hörte ich hier meinen Namen! Sonst gab es hier doch nur Nummern. Und nun auch noch ein ›Mister‹ vorgesetzt!

Eine Ahnung überkam mich gleich. Der besuchte mich zu einem ganz besonderen Zwecke! Und nun diese Stimme! Kräftig und voll und tief, schmeichelte sie sich doch wie süße Musik ins Herz hinein.

»Um Sie ist es schade!«

Da verließ mich die Ahnung. Die Erkenntnis kam.

»Ach, der Anstaltsgeistliche!«, sagte ich unmutig.

Ja, aber, kommt der denn so mitten in der Nacht? Denn die Sonne ging schon um fünf auf, und das konnte ich auch durch das hochangebrachte, schwervergitterte Fenster immer bemerken.

Da zuckte es in den tausend Falten und Fältchen wie verhaltenes Lachen.

»Nein, ich bin eher alles andere als ein Geistlicher.«

»Wer sind Sie sonst?«

»Ein Seezigeuner wie Sie.«

Ich starrte den Sprecher verständnislos an.

»Oder«, fuhr er fort »wenn Sie das lieber hören: ich bin ein Mann, der die Macht hat, Sie aus dieser Zelle hinaus in die Freiheit zu führen.«

Ja, das hörte ich nun allerdings lieber, ich sprang auf, und ich hatte nur noch die Besinnung, meine Stimme vorsichtig zu dämpfen.

»Sie können mir zur Freiheit verhelfen?!«

»Wenn Sie wollen, ja.«

»Und ob ich will!«

»Unter Bedingungen.«

Ach, erst Bedingungen! Aber was konnte das Schlimmes sein?

Jetzt war ich überhaupt zu so manchem bereit.

»Sprechen Sie«, flüsterte ich.

»Sie brauchen nicht so leise zu reden«, entgegnete der Fremde, der seine volle Stimme auch durchaus nicht dämpfte.

Ich kannte die Vorsichtsmaßregeln dieser Anstalt nicht, aber dieser Mann musste sich doch sehr sicher fühlen, dass er hier so gemütlich sprach.

»Nennen Sie die Bedingungen!«

Er antwortete nicht gleich, er betrachtete mich, und wieder zuckte es so merkwürdig in den tausend Fältchen, als kämpfe er mit einem Lachen, und die Augen sprühten im Jugendfeuer des Übermuts.

»Um Sie ist es doch wirklich schade«, wiederholte er dann wie zuerst. »Da wollen Sie nun durchaus immer mit Baumwolle und Kohlen handeln, und alles verwandelt sich in Ihrer Hand in Zunder und Pech. Haben Sie denn noch nicht endlich bemerkt, dass Sie sich zu solcher Schacherei gar nicht eignen? Sie werden doch allüberall von jedem Kinde übers Ohr gehauen. Ist Ihnen denn das noch gar nicht zum Bewusstsein gekommen?«

Da soll nun ein Mensch etwas dazu sagen!

»Nun, was soll ich denn sonst tun?«

»Dorthin gehen, wohin Sie gehören.«

»Und wohin gehöre ich?«

»Dorthin, wo die Kanonen brüllen oder doch mindestens Kugeln pfeifen — wo Mann gegen Mann losschlägt — dorthin gehören Sie.«

Ach, das war ebenfalls Musik, die da in mein Ohr klang!

»So bringen Sie mich dorthin — ja, dort werde ich meinen Mann stellen. Ich weiß, was Sie meinen. Bringen Sie mich dorthin — nur fort von hier!«

»Unter Bedingungen.«

»Sind Sie der Teufel? Setzen Sie den Kontrakt auf, geben Sie eine Feder her — ich will ihn ungelesen mit meinem Blute unterschreiben.«

Und schon hielt ich meinen Arm hin, um mir eine Ader ritzen zu lassen, schob den Hemdärmel zurück. Ich war wirklich in eine märchenhafte Stimmung versetzt worden, und das ist begreiflich.

Der Fremde trat näher, betastete mit seiner feinen und doch so kräftigen Hand meinen Arm.

»Was für einen Arm haben Sie?! Und Sie schachern mit Baumwolle und Kohlen!«

Ich war mit einem Male wie beschämt. Ja, ich schämte mich plötzlich, bisher immer ein solider Handelskapitän gewesen zu sein.

»Geben Sie meinem Leben eine andere Bahn!«

»Unter Bedingungen!«, wiederholte er zum dritten Male.

»Zum Teufel — wenn Sie der nicht selbst sind — so nennen Sie doch die Bedingungen!«

»Dass Sie mich an Bord Ihres Schiffes nehmen, für ständig.«

An Bord meines Schiffes — wie lieblich das in meinen Ohren klang!

»Warum nicht?«

»Dass Sie mich niemals fragen, wer ich bin.«

»Sie sind mein rettender Engel, das genügt mir.«

»Und drittens, oder das sollte das erste sein, denn das schließt alles andere ein: dass Sie mir fernerhin gehorchen.«

Ein klein wenig stutzte ich doch. Aber was soll man tun, wenn man die Wahl zwischen der Freiheit und der Tretmühle hat, in deren Hintergrunde man schon den Galgen sieht? Und mehr als ein Mörder kann man doch nicht werden.

Aber ich blickte den Mann an — nein, der war keiner Schurkerei fähig — ich kann gar nicht sagen, was für eine Sympathie von diesem Manne auf mich ausströmte.

»Ich werde Ihnen gehorchen.«

»Unbedingt gehorchen?«

»Unbedingt!«

»Und wenn ich zu Ihnen sage: Sieh diesen Menschen, töte ihn — Sie werden ihn ermorden?«

»Ich werde ihn mit Vergnügen totschlagen — denn dann ist das ein Schuft, von dem die Welt befreit sein muss.«

»Und dieser bedingungslose Gehorsam gilt für Ihr ganzes Leben!«

»Solange ich lebe.«

»Abgemacht!«

»Abgemacht!«

Und wie ich in die dargebotene Hand einschlug!

In diesem Augenblick zuckte mir ein Gedanke durch den Kopf.

»Ah, ich weiß — ich ahne es — Sie sind von dem indischen Maharadscha abgesandt...«

Schnell einen Schritt zurücktretend, machte er plötzlich ein so abweisendes Gesicht, dass ich erschrocken verstummte.

»Sie haben ja Ihr Wort schon gebrochen — Sie fragen ja, wer ich bin!«

»Verzeihung, es wird nicht wieder vorkommen«, konnte ich nur sagen.

Gleich war es wieder das alte Gesicht, erfüllt von überlegenem, aber gutmütigem Spott, die Augen sprühend von Geist.

»Sie sollen mir unbedingt gehorchen.«

»Ich bin bereit, es zu tun.«

»So befehle ich Ihnen als erstes, mich nie zu fragen, wer ich bin, was ich tue, wohin ich gehe.«

»Das habe ich Ihnen ja schon gelobt.«

»Gut. Aber es wird Ihnen schwer fallen, denn Sie werden unter meiner Führung Rätselhaftes genug erleben.«

»Meine Zunge wird gebunden sein.«

»Und ich will es Ihnen leicht machen, indem ich unser Verhältnis fortsetze, zwischen uns eine Schranke errichte. Sind Sie Soldat gewesen?«

»Nein.«

»Sonst würde ich mich eine Charge über Sie stellen. Doch auch wenn Sie Kapitän sind, kann ich Ihr Vorgesetzter sein. Wissen Sie, was ein Kommodore ist?«

Und ob ich als Seemann das wusste!

Heute hat das Wort Kommodore einen speziellen Begriff bekommen. Das Kommando über eine Kriegsflotte, über ein Geschwader oder überhaupt über mehrere zusammensegelnde Schiffe führt doch ein Admiral, welcher auch im Range desselben steht, als kommandierender Admiral, Vizeadmiral oder Konteradmiral.

Es kann aber vorkommen, dass kein rangmäßiger Admiral vorhanden ist oder er findet in der Schlacht oder auch im Frieden durch Krankheit seinen Tod, während das Geschwader unterwegs ist. Dann muss ein anderer das Gesamtkommando übernehmen, ein Kapitän zur See, also im Range eines Obersten stehend, oder ein Kapitänleutnant, oder nur ein Leutnant — ja, man kann sich den Fall vorstellen, dass einmal ein einfacher Unteroffizier der letzte ist, dessen Befehl das ganze Geschwader zusammenhalten muss.

Ein Admiral wird er dadurch nicht, er führt den Namen Kommodore, hat seine besondere Flagge.

Damals hatte man das auch schon, verstand unter einem Kommodore aber noch etwas anderes.

Man kann sich denken, dass auch dem Kapitän eines einzelnen Schiffes einmal ein Vorgesetzter beigegeben wird, vielleicht von der Landarmee, oder ein Berater, oder etwa ein Botschafter, oder auch nur ein Kurier mit geheimen Depeschen. In die eigentliche Führung des Schiffes hat er nicht mit hineinzusprechen; aber er kann befehlen: das Schiff soll da und dorthin gehen, von diesem Hafen nach jenem, er kann mitten in der Fahrt den Kurs ändern, da muss ihm der Kapitän gehorchen.

So etwas ist auch heute noch möglich, aber für ein einzelnes Schiff gibt es bei solch einem Manne nicht mehr den Namen Kommodore. Damals jedoch maßten sich sogar Charterkapitäne diesen Titel an, das Schiff begleitende Agenten von der Reederei, welche nur die Fracht unter sich haben, weil diese ja auch wirklich über das Schiff bestimmen können, ohne mit der Führung etwas zu tun zu haben, sie können das Schiff unterwegs verkaufen, und der eigentliche Kapitän ist doch noch zur Weiterfahrt verpflichtet, also der Name Kommodore wurde so verdreht, wie wir jetzt doch auch GeneralAgenten haben, Leutnants und Generale von der Heilsarmee und dergleichen.

Aber bei kaufmännischen Sachen war schon damals das Wort Kommodore eine lächerliche Anmaßung, lächerliche Titelsucht. Der Kommodore war ein militärischer Vorgesetzter des Kapitäns, von diesem durch eine unüberbrückbare Schranke getrennt, wie der Kapitän von seinen Offizieren und diese von der übrigen Mannschaft. Wenn der Kommodore den Kapitän anspricht, hat dieser stramm zu stehen.

»Well, Sie sollen mein Kommodore sein.«

»Abgemacht! So ziehen Sie jetzt diese Sachen hier an.«

Er schob mir mit dem Fuße ein Bündel zu, das ich noch gar nicht bemerkt hatte.

Da erst kam mir wieder zum Bewusstsein, dass ich mich ja in einer Sträflingszelle von Portland befand. Wir hatten uns hier so gemütlich unterhalten, mit lauter Stimme, dass mir dies zuletzt wirklich ganz aus dem Gedächtnis entschwunden war.

Wer war dieser Mann, dass er so etwas wagen durfte? Wie gelangte er hier herein? Wie konnte er mich befreien? An einen hohen Beamten, der meinetwegen fahnenflüchtig werden wollte, konnte ich schwer glauben. Aber sollte denn der indische...

Halt! Ich hatte ihm versprochen, nicht über seine Person zu fragen, er war mein Kommodore, und kann der Soldat etwa seinen Vorgesetzten fragen: ›Hören Sie, mein Gutester, wer sind Sie denn eigentlich?‹ — Und wie ich mein Herz immer auf der Zunge hatte, so hatte ich auch meine Gedanken in der Gewalt.

Ich riss die Sträflingskleider, die ich beim Schlafengehen nie ausgezogen, vom Leibe, packte das schwarze Bündel aus, fand einen dunkelblauen Seemannsanzug darin und... erkannte in ihm meinen eigenen! Den besten, den ich für gewöhnlich an Land trug, ohne Abzeichen, mit einem weichen Filzhut, auch meine Stiefeletten, mein Unterzeug — alles aus meinem Garderobenschrank!

Ja, da freilich war es schwer, die Zunge zu beherrschen, noch mehr seine Gedanken!

Der Fremde beleuchtete unterdessen die Mauer aus Quadersteinen. Es war hier und da etwas drangeschrieben, eingeritzt — ich hatte den Verewigungen früherer Insassen meiner Zelle noch keine Beachtung geschenkt, hatte zu viel mit mir selbst zu tun gehabt.

Auch der Fremde schien nichts Besonderes zu finden, er richtete das Wort dabei wieder an mich.

»Sie werden einen sehr gütigen Vorgesetzten an mir haben«, sagte er, während er den Lichtstrahl an der Wand hin und her fahren ließ. »Nehmen Sie das mit dem Vorgesetzten überhaupt nicht wörtlich. Sie sollen ein freier Mann sein und bleiben, besonders auf Ihrem Schiffe unbeschränkt schalten und walten dürfen. Das ist es ja eben, was ich will. Ihre Freiheit will ich Ihnen sichern. Sie sollen ein freier Seezigeuner sein, dem die ganze Welt gehört. Aber Sie dürfen nicht viel Geld in die Finger bekommen. Das wird immer Ihr Unglück sein. Sie sind eben ein Zigeuner. Hängen Sie sich die Goldstücke doch an die Ohren. Oder lassen Sie sich aus ihnen eine Uhrkette machen. Ja, eine Kette — mit der Sie Ihr ganzes Schiff umspannen. Lassen Sie Ihr ganzes Schiff inwendig mit Gold auspflastern. Aber es nur nicht in der Tasche tragen — verstehen Sie, wie ich das meine?«

Ach, wie gut dieser Mann meinen Charakter erkannt hatte!

»Zu Befehl, Herr Kommodore!«

»Ja, lassen Sie mich Ihren Kommodore bleiben, wenn ich im Grunde genommen auch nur Ihr Berater sein will, um Ihre fernere Unabhängigkeit zu wahren. Unser eigentliches Verhältnis werden Sie schnell genug erkennen, wenn wir zusammen an Bord leben — zusammen, und dennoch jeder für sich selbst, als existiere einer für den anderen gar nicht.«

Der Mann sprach wie ein Buch! Wer war er nur, warum nahm er solch wohlwollenden Anteil an mir?

Wieder wusste ich meinen Gedanken Daumschrauben anzulegen.

Nur als ich jetzt in meine Hose schlüpfte, für die ich sonst nicht so leicht einen Ersatz bekommen hätte, die Kleidung jedes anderen normalen Menschen war für mich ja nur ein Badekostüm, da entschlüpfte mir ein Ausruf.

»Meine eigenen Sachen! Aus meinem Garderobenschrank!«

»Ich bin schon an Bord Ihres Schiffes gewesen, längere Zeit — habe sie von dort mitgebracht.«

Ich schwieg. Kapitän und Steuermann! So hatte ich mir doch früher immer gesagt, als ich anfangs zu Blodwen in ein abhängiges Verhältnis getreten war. Jetzt hieß es: Kapitän und Kommodore! Maul gehalten und Hände an die Hosennaht!

»Sie können mich ruhig fragen«, sagte da dieser einzige Mensch; »denn Ihnen brennen doch gewiss viele Fragen auf der Zunge. So ist das ja gar nicht gemeint. Nur über meine eigenen Verhältnisse nicht, auch nicht, weshalb ich mich Ihnen nähere, wie ich selbst Ihr Schiff gefunden habe, wie ich hierher komme — alles nicht, was mich selbst betrifft. Aber sonst können Sie ruhig fragen.«

»Wie geht es meinen Jungen?«

Der Lichtstrahl traf wieder mein Gesicht, und ich sah wieder die tausend Fältchen, und diese Augen, wie sie so warm strahlten.

»Herr Kapitän, diese Ihre erste Frage gereicht Ihnen zur Ehre.«

»Wieso?«

»Fragen Sie nicht so! Oder Sie wissen es wirklich nicht? Dann gereicht das Ihnen um so mehr zur Ehre. Dann kann ich es Ihnen aber auch nicht erklären. Sie würden es gar nicht verstehen. Meine Jungen — wie Sie das sagen können! So würde die Löwin sprechen, wenn sie es könnte. Es ist alles wohl an Bord.«

Na, dann war mir auch alles andere schnuppe. Nur eins musste ich noch wissen:

»Ich hatte doch auch den Segelmacher...«

»Ich weiß alles. Ich selbst habe ihn von London nach Amsterdam an Bord Ihres Schiffes gebracht.«

»Ich bin fertig.«

Der Unbekannte, der er mir ja noch immer war und auch bleiben sollte, zog seine Taschenuhr — eine silberne, sehr starke, der man den kostbaren Chronometer gleich ansah, statt an einer Kette an einem Lederriemen befestigt.

»Und es ist gerade Zeit. Ein Uhr. Haben Sie alles?«

»Ich habe nichts zurückzulassen als die Erinnerung, hier meinen Wohltäter kennen gelernt zu haben, dem ich ewig dankbar sein werde, für den ich durchs Feuer gehen werde — doch auch diese Erinnerung nehme ich ja mit.«

Wieder zuckte es in den tausend Fältchen so eigentümlich.

»Sie haben eine gewähltere Ausdrucksweise, als man sonst bei Seeleuten findet.«

»Ja, ich hatte eigentlich auch Pastor werden sollen.«

Da merkte ich, dass er auch wirklich lachen konnte, er lachte herzlich und ganz ungeniert, als wären wir irgendwo, nur nicht in einer Zuchthauszelle, aus der ich befreit werden sollte.

»Und die Sträflingskleidung?«

»Die bleibt hier.«

»Ich hätte sie gern mitgenommen — als Andenken — schon wegen der schönen blauen Pfeile, die draufgemalt sind.«

»So nehmen Sie sie mit«, lachte er wiederum.

Es klang wie das fröhliche Lachen eines Kindes, wieder so sehr kontrastierend mit diesem faltigen Gesicht.

»Nun kommen Sie!«

Er blies die Laterne aus, es herrschte Stockfinsternis, meine Hand wurde ergriffen, die schwere Tür meiner Zelle öffnete sich.

Draußen der Korridor war durch Öllampen erleuchtet. Wir schritten ihn entlang, er meine Hand in der seinen haltend. Da er seinen Schritt gar nicht dämpfte, hatte auch ich es nicht nötig.

Da hörte ich ein lautes Schnarchen, und als wir um eine Ecke bogen, sah ich einen Mann auf dem nackten Boden liegen, einen Wärter, das Schlüsselbund noch in der Hand, fest schlafend.

Also ich wurde wirklich mit Gewalt befreit! Mindestens war denen, die uns hinderlich sein konnten, ein Schlafmittel beigebracht worden. Das sagte mir schon die unnatürliche Lage des Schläfers, der sonst aber ganz gesund schnarchte.

Ich hätte an einen höheren Beamten dieser Strafanstalt geglaubt, der seine Macht zu meiner Befreiung gebrauchte. Das konnte ja noch immer sein, aber... nein, jetzt glaubte ich es nicht mehr. Und hatte er nicht gesagt, er selbst sei so ein Seezigeuner?

Wir kamen in einen anderen Teil des großen Hauses, passierten noch einen anderen schlafenden Wächter, dann hörten die Lampen auf, es wurde finster, ich ließ mich von der Hand meines Führers leiten, und sein Schritt stockte niemals.

Dann eine Treppe hinab, eine quietschende Tür, noch eine Treppe, immer tiefer ging es, und dann ohne Unterbrechung geradeaus.

»So, nun sind wir in Sicherheit. Ich hätte noch andere Sträflinge mitnehmen können, aber ich kenne keinen einzigen, der dessen wert wäre. Mag jeder Baumfrevler in der Tretmühle darüber nachdenken, was es bedeutet, jungen Bäumchen das Leben zu nehmen — und anderen Menschen ihre Freude oder die Frucht ihrer Mühen.«

Es waren die einzigen Worte, welche der Unbekannte während unseres unterirdischen Marsches, der eine halbe Stunde währte, sprach.

Ja, wie war das nur möglich, aus dieser Strafanstalt so einfach durch einen unterirdischen Gang zu entkommen?

Portland ist eine Insel im Kanal La Manche, zur Grafschaft Dorset gehörend, eine geografische Meile lang und eine halbe breit. Die dreitausend Bewohner sind ausschließlich mit der Herstellung des berühmten Zementes beschäftigt, brechen den Kalkstein und brennen ihn. Die Zuchthaussträflinge der in der Mitte der Insel stehenden Anstalt liefern in der Tretmühle die maschinelle Arbeitskraft — unpraktisch, Kohlen wären viel billiger — aber Zuchthaus muss nun einmal sein, die Tretmühle war in England von jeher die schwerste Strafe, hier ist eben solch ein Zuchthaus errichtet worden.

Man kann aber Portland auch als eine Halbinsel bezeichnen, denn es hängt mit dem Festlande durch einen vier Stunden langen Dünenstreifen zusammen, der sich im Laufe der Jahrhunderte gebildet hat, aus festem Kies bestehend, nur ausnahmsweise bei einer Hochflut überschwemmt werdend.

Auf ihm führen Schienen entlang, auf denen der Zement in Wagen fortgeschafft wird, welche damals aber noch von Pferden gezogen wurden.

Auch ich war vor acht Tagen mit noch einem anderen Leidensgefährten in einem Wagen, der zugleich Lebensmittel mitbrachte, hierher geschafft worden, in einer geschlossenen Zelle, von der aus ich gar nichts hatte sehen können. Hätte ich dann nicht von meinen Kameraden in der Tretmühle erfahren, dass ich mich auf Portland befand, ich würde es gar nicht gewusst haben. Höchstens der feine Kalkstaub, der immer die Luft erfüllte, konnte es mir verraten.

Und hier von Portland, das zugleich stark befestigt ist, war die Entführung eines Sträflings möglich?! Vorgekommen war so etwas jedenfalls noch nicht. Auch dieser unterirdische Tunnel konnte dann doch gar nicht bekannt sein. Denn unter der Erde befanden wir uns sicher.

Da, diese frische Luft, etwas salzig — Seeluft! Ach, mit welchem Entzücken sog ich sie ein!

Und da, auch ein Lichtschimmer, wenigstens etwas mehr Helligkeit, Sternenlicht, und jetzt hörte ich auch die Brandung rollen!

Wir hatten den Ausgang des Tunnels erreicht. Unter uns brandete das Meer. Doch wenn ich vorhin von einem Lichtschein gesprochen, so hatten wir uns eben in Stockfinsternis befunden, aber einmal im Freien, war auch da nichts zu sehen. Es war eine sehr finstere Nacht, ohne Mond, nur wenige Sterne kamen manchmal hinter den Wolken hervor.

Aber es war das Meer! Und ich war wieder ein freier Mann! Nochmals kostete ich das ganze Entzücken aus.

Da sollte ich zufällig noch eine merkwürdige Entdeckung machen.

Ich konnte nicht einmal sehen, wo ich stand, wie weit ich vom Meere entfernt war.

»Bleiben Sie einen Augenblick hier stehen, der Felsgrat ist sehr schmal, Sie könnten stürzen«, sagte mein Führer, dicht an mir vorübergehend, und um ihm Platz zu machen, trat ich wenigstens einen Schritt zurück und... stieß mit dem Rücken gegen die Felswand!

Was daran merkwürdig ist? Weil ich soeben aus dieser Felswand herausgekommen war! Das wusste ich ganz bestimmt! Ich hatte die Richtung nicht verändert, hatte zuletzt noch mit der Hand die Ecke gefühlt, wo der Tunnel mündete, hatte nur einen halben Schritt hinausgemacht — und nun war hinter mir plötzlich eine raue Felswand.

Kein Zweifel, hier war eine geheime Tür! Doch mir war der Mund verschlossen; denn das hatte mit den Geheimnissen des Fremden zu tun, mit dem ich ja noch Rätselhaftes genug erleben sollte, wie er selbst gesagt hatte.

Übrigens war meine Neugier gar nicht so groß, jetzt nicht und niemals. Dass vor mir die offene See lag, das war mir die Hauptsache.

Der Kommodore, als den ich ihn wirklich betrachtete, war nur wenig vor mir vorausgetreten, er beugte sich herab, ein leiser Pfiff, der unten erwidert wurde.

»All right. Hier, Herr Kapitän, ist eine Strickleiter, wir müssen einige Meter hinabklettern, seien Sie vorsichtig. Lassen Sie mich vor.«

Er kniete nieder, drehte sich um und verschwand von dem Grate, und auch diese Bewegungen schon hatten von noch jugendlicher Rüstigkeit gezeugt. Denn es sieht doch ganz anders aus, wenn ein junger Mann oder ein Greis niederkniet und sich so über einen Grat hinablässt.

»So, jetzt können Sie kommen!«, erklang es dann herauf.

In der nächsten Minute war auch ich unten, befand mich in einem Boote, mit sechs Ruderern bemannt, deren Äußeres ich in der Dunkelheit nicht weiter unterscheiden konnte; dagegen gewahrte ich noch, wie mein Retter die Strickleiter herabfallen ließ, wobei sie sich also oben von selbst ablösen musste, was ja leicht möglich ist, wenn ein Zugseil mit besonderer Vorrichtung vorhanden ist.

Wir hatten große Schwierigkeiten, aus dem stillen Wasser, das durch Riffe geschützt wurde, über diese herauszukommen, denn die See war ziemlich grob, die Brandung vor den Riffen stark.

Aber es gelang, obgleich ich fast gar nichts sehen konnte. Der Kommodore saß am Steuer und befahl, wo wir mit Hakenstangen abzusetzen hatten, und entweder musste er diese Rifformation wie seine Hosentasche kennen oder er musste im Finstern sehen können; denn immer fand die Stange dort einen festen Halt, wo er hindeutete.

Dann noch ein gewaltiger Kampf mit der rollenden Brandung selbst, und wir waren frei. Die Ruderer holten durch, wir tanzten über die Wogen, jetzt außerhalb jeder Gefahr.

Schweigend wurde gerudert. Ich saß seitwärts von dem Unbekannten. Der englische Kanal war wie immer von zahlreichen Lichtern belebt, ist es doch die befahrenste Wasserstraße der Welt, und jetzt wurden hinter uns auch die Lichter des Forts sichtbar.

Hätte man schon etwas von meiner Flucht geahnt, dann wäre es dort ganz anders zugegangen, da hätten schon die Kanonen signalisiert.

»Wissen Sie, was für Ruderer das sind?«, brach da endlich der Unbekannte das Schweigen.

»Nein.«

»Sie werden es auch niemals erfahren.«

Aha, ich hatte einmal eine kleine Lektion bekommen, oder doch eine Erinnerung, dass hier keine Frage gestattet war. Es wäre bei mir wirklich nicht nötig gewesen.

Eine Viertelstunde mochten wir gerudert sein, schon manchmal segelnden und dampfenden Schiffen ausweichen müssend, als ich zwei farbige Feuer beobachtete, die mich in Unruhe versetzten.

Der Seemann spricht nicht von Lichtern, sondern von Feuern. Lichter sind aus Talg oder Stearin oder sonst etwas, oder auch eine Petroleumlampe gibt Licht, aber der Schein, den man als Beobachter sieht, heißt in der Seemannssprache Feuer. Man brennt Lichter und sieht Feuer.

Jedes Schiff führt an der Backbordseite ein rotes, an Steuerbord ein grünes Licht, der Dampfer noch am vordersten Mast in der Höhe der Bram ein weißes, die Toplaterne. Wenn wir dampften, musste auch die ›Sturmbraut‹ die letztere führen.

Wie will man aus der Ferne nach den Feuern beurteilen, was für ein Schiff das ist, welches diese farbigen Lichter führt? Links rot, rechts grün — es ist doch immer dasselbe. Höchstens die Breite könnte man beurteilen.

Und doch, wenn man ein ganzes Jahr lang auf der Kommandobrücke gestanden und die Lichter des Nachts als Feuer betrachtet, sie auch oft genug aus weiterer Entfernung gesehen hat — man macht doch einen Unterschied dabei! Oder war es nur eine Ahnung, dass dies meine ›Sturmbraut‹ sein müsse?

Und die Ahnung oder wohl richtiger mein Unterscheidungsvermögen hatte mich nicht betrogen, auf diese Feuer hielten wir zu, während wir den anderen bisher immer möglichst ausgewichen waren.

»Ihre ›Sturmbraut‹!«, sagte der Fremde.

O, dieses Gefühl!! Ich streckte die Arme aus, als wolle ich sie umarmen.

Die Schiffsglocke glaste mit vier Schlägen die Hälfte der ersten Nachtwache aus, zwei Uhr, als ich mich an Deck schwang.

»Der Käpten — der Käpten ist wieder da!!«

Ich glaube, ich habe geweint, als ich denen, die mich umdrängten, die Hand schüttelte, und ich glaube sogar, da war jemand, der von hinten heimlich meinen Rock küsste. Ich will annehmen, dass es die beiden Hunde waren, obgleich die mich viel lebhafter begrüßten, mich bald über den Haufen warfen.

Dann sah ich den Fremden.

»Ich erwarte Sie in Ihrer Kajüte«, sagte er, und es war mir, als ob er das ›Ihre‹ betont habe.

Ich wollte ihm sofort nachfolgen. Doch wo war das Boot? Schon verschwunden.

»Wo ist Kapitän Schulze?«

»Schon in Amsterdam von Bord gegangen«, wurde mir erwidert.

Hier war kein Ort zur Erklärung.

»Wer ist nur dieser Fremde?«, fragte mich da Mahlsdorf.

»Was fällt Ihnen ein, diese Frage an mich zu stellen?«, fuhr ich den an, der sich mir schon als so treuer Freund erwiesen.

Doch da war keine Spur von Übelnehmen, so was gibt's ja gar nicht an Bord des Schiffes. Der erste Offizier hatte sich gerade ein Stück Kautabak abschneiden wollen und ließ sich dadurch nicht unterbrechen.

»Na, Gottlob, dass er wieder da ist!«, hörte ich ihn dann sagen, als ich schon der Kajüte zuschritt.

In dieser saß bereits mein Retter. Im hellen Schein der großen Lampe machte er mir keinen anderen Eindruck als bei seiner kleinen Laterne. Es blieb das faltige Gesicht mit den jugendlichen Augen, so überaus sympathisch. Höchstens habe ich noch hinzuzufügen, dass er eine mittelgroße, schlanke, elegante Gestalt war, ebensolch einen jugendlichen Eindruck machte, wie er sich auch kleidete, jetzt und immer, alles mit ausgesuchter Sorgfalt, wie auch seine Hände gepflegt waren, ohne stutzerhaft zu werden, und dass er beim Sprechen die prachtvollsten Zähne zeigte.

»Herr Kapitän.«

»Herr Kommodore?«

»Tischkoff ist mein Name.«

Also wohl ein Russe oder Pole. Am Akzent war nichts zu merken. Er sprach das beste Englisch vollkommen dialektfrei.

»Bitte, setzen Sie sich.«

»Es ziemt sich nicht, in Gegenwart eines Vorgesetzten...«

Ein Wink nötigte mich, meine Haltung aufzugeben. Ich setzte mich.

»Sie übertreiben es. Mit kurzen Worten will ich Ihnen unsere Stellung zueinander schildern. Ich habe mir bereits eine Kabine eingerichtet, die vierte auf Backbordseite. Mehr beanspruche ich von Ihrem Schiffe nicht. Verstehen Sie? Absolut nichts weiter! Höchstens, dass ich auf Deck promeniere. Der Steward bringt mir das Essen auf meine Kabine, säubert sie jeden Morgen — absolut nichts weiter. Ich bin ganz bedürfnislos. Mein Bedürfnis ist nur, nicht gestört zu werden. Und wenn das Schiff untergeht, und ich komme nicht von selbst aus meiner Kabine — dass niemand an meine Türe klopft. Nicht wahr, Herr Kapitän?«

»Wie Sie wünschen, Herr Tischkoff.«

»Ich glaube sogar, Sie sind der Mann, der mich versteht, Herr Kapitän. Wenn ich schlafe, und das Schiff geht unter, so würde ich schon rechtzeitig erwachen, durch einen Stoß, durch Lärmen, nicht wahr? Ist mein Schlaf aber so tief, dass ich nichts davon merke, dann... will ich gern in den Tod hinüberschlummern. Verstehen Sie mich?«

Ja, ich verstand. Er sprach aus meiner Seele. So hätte auch ich dereinst mit meinem Schiffe auf den Meeresgrund hinabschaukeln mögen.

»Mein einziges Bedürfnis ist«, fuhr er wiederholend fort, »dass sich niemand um mich kümmert. An Bord gibt es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht. So gibt es auch keine Morgenbegrüßung, wir wünschen uns nicht Gute Nacht. Wir gehen aneinander vorüber, als sähen wir uns nicht. Und wenn ich tagelang nicht zum Vorschein komme — niemand wird sich um mich kümmern.

Ist meine Tür innen verschlossen, kann mir auch der Steward kein Essen bringen. Nicht wahr, Herr Kapitän?«

»Und wenn Sie nun krank geworden sind?«, fragte ich, noch ohne an ein Geheimnis zu denken.

»Ich werde nicht krank.«

Oho!! Das klang doch etwas vermessen.

»Brauchen Sie aber Rat, dann werde ich immer zur Stelle sein«, fuhr er schnell fort. »Beabsichtigen Sie immer noch, nach Rio de Janeiro zu gehen?«

»Wenn Sie nicht anders befehlen...«

»Ich habe Ihnen nichts zu befehlen. Sie sollen frei sein. Das ›unbedingt gehorchen‹ war anders gemeint. Sie werden es noch verstehen lernen. Sie wollten in Rio Ihre Kohlen verkaufen. Segeln Sie hin. Die Kohlenpreise sind noch immer hoch. Und Sie müssen wohl auch bald ins Trockendock.«

Ja, die ›Sturmbraut‹ hatte ein Abklopfen sehr nötig. Die angesetzten Muscheln beeinträchtigten die Schnelligkeit schon ganz bemerkbar.

»So gehen Sie nach Rio. Bedürfen Sie Geld — ich stehe zu Ihrer Verfügung. In Rio aber wird sich Ihnen ein lukratives Geschäft bieten, das auch mehr nach Ihrem Geschmacke ist.«

»Was für eins?«

»Herr!«

Er hatte es freundlich wie immer gesagt — aber ich war gewarnt, an mein Wort zu denken. Kapitän und Kommodore!

Ja, aber — woher wollte der wissen, dass sich mir in Rio de Janeiro ein lukratives Geschäft biete, das mehr nach meinem Geschmacke war?

Nun, dort konnte ja etwas los sein. Ich hatte seit langer Zeit nichts mehr von der Welt zu hören bekommen.

»Verstehen Sie jetzt, wie ich unser Verhältnis wünsche?« — »Ja.«

»Vollkommen?« — »Ich glaube.«

»Also gesetzt den Fall, Sie wünschen einmal Gesellschaft an Bord zu nehmen, im Hafen oder für eine ganze Reise, Herren oder Damen — wenn Sie sich meinetwegen genieren, so würden Sie mich in meiner Ruhe stören, eben dadurch, dass Sie Rücksicht auf mich nehmen. Nur das kann ich nicht vertragen. Sonst vermag ich Ohr und Auge gegen alles zu verschließen. Im Übrigen bin auch ich einmal Kapitän gewesen, und ich habe das freie Leben zu genießen gewusst.«

Lächelnd hatte er es gesagt, aber keine Spur von frechem Zynismus oder dergleichen. Er hatte etwas von der Heiterkeit und Unbefangenheit eines Kindes an sich.

»Und schließlich noch eins. Es handelt sich um Fred Elyson.«

Ja, an den armen Kerl hatte ich oft genug gedacht. Den hatte ich ja auf dem Gewissen. Aber bei der Erschöpfung meiner Kasse hatte ich ihm nicht helfen können, falls dies möglich gewesen wäre.

»Was ist mit ihm?«, fragte ich leise.

»Von seiner Unschuld an dem Morde war man von vornherein überzeugt. Wie die Sache einmal lag, musste er dennoch in Untersuchungshaft bleiben, bis der Fall geklärt ist. Um auf freien Fuß gesetzt zu werden, wurden dreitausend Pfund Bürgschaft verlangt. Bei dem armen Teufel war man billiger als bei dem Besitzer eines kostbaren Schiffes und dem, der mit ihm direkt verbündet war. Nun, ich habe diese Kaution für Elyson hinterlegt, habe ihn dann auch mit einigen Geldmitteln ausgerüstet, zur weiteren Flucht verholfen. Er befindet sich bereits in New York. Darüber brauchen Sie sich also keinen Kummer mehr zu machen.«

Tischkoff erhob sich.

»Gute Nacht, Herr Kapitän. Es ist dies das einzige Mal, dass ich dies zu Ihnen gesagt haben werde.«

Eine leichte Verbeugung, und er wandte sich der Türe zu. Auch ich war aufgestanden.

»Mister Tischkoff — mein Kommodore!!«

Er wandte sich noch einmal um. Und er musste mir die furchtbare Bewegung ansehen, die plötzlich bei mir ausbrach.

»Bitte?«, erklang es freundlich.

»Nicht wissen darf ich, wer der Mann ist, der auf mein Haupt feurige Kohlen sammelt, der Edelmut auf Edelmut...«

»Edelmut?«, wurde ich unterbrochen, und es hatte unsäglich bitter geklungen.

Und plötzlich erschrak ich furchtbar. Wohl war sein Gesicht immer ein altes, und doch kein altes — aber jetzt welkte dieses Gesicht wirklich ab, ich glaubte plötzlich die fahlen Züge eines Toten zu sehen, und ebenso schien die ganze Gestalt zusammenzusinken.

»Sie wollen wissen, wer ich bin?«, erklang es mit hohler Stimme, die gar keine Ähnlichkeit mit der sonstigen mehr hatte. »Nun denn: Ich hatte Ihnen schon gesagt, dass auch ich ein Seezigeuner sei. Dies trifft nicht ganz zu, ich habe mich auch genug zu Land in allen Weltteilen herumgetrieben, bin rastlos gewandert — immer gewandert. Und wer ist der vollendetste aller heimatlosen Zigeuner gewesen?«

Ich blieb die Antwort schuldig. Ich starrte nur immer dieses fahle Leichenantlitz mit den erloschenen Augen an.

»Wenn auch die Zigeuner semitischen Ursprungs sind«, nahm dann die hohle Grabesstimme wieder das Wort, »so ist es wohl der ewige Jude gewesen. Der ewige Jude ist nur die Figur eines Märchens. Ich war am Anfange dieses Jahrhunderts noch ein unschuldiges Kind. Ich blieb es nicht — und — es gibt dennoch Menschen, welche nicht leben und nicht sterben können — ein Fluch lastet auf ihnen, den sie abbüßen müssen — ich gehöre zu ihnen — rastlos wie der ewige Jude muss ich wandern, wandern, immer wandern, immer wandern, wandern, wan...«

Das letzte ›wandern‹ verklang mir ungehört. Vielleicht sagte er es noch mehrmals, vielleicht die ganze Nacht hindurch. Er hatte sich zuletzt umgedreht und war zur Tür hinausgewandert.

— • —

51. Kapitel
Was mir Mahlsdorf erzählt

Originalseiten II.368 — 378

Ich war viel zu gesund, um etwas lange nachzuempfinden. Nur über sein Aussehen zuletzt war ich etwas erschrocken gewesen. Aber er wollte ja gar nicht krank werden können. Wie ich sonst darüber dachte oder wie ich auffasste, was mir da offenbart worden war, habe ich schon mit der Schilderung seines Abtretens anzudeuten versucht.

»Also der ewige Jude! Oder doch so etwas Ähnliches in anderer Ausgabe. Na, wenn man so einen alten, ewigen Juden zum Berater hat, da muss man doch fein heraus sein; denn der hat doch genügende Lebenserfahrungen, der weiß etwas mehr als andere Menschen.«

Schrumm, meine Betrachtungen darüber waren zu Ende.

»Steward!!«

»Herr Kapitän?«

»Ich möchte essen — nein, speisen. Ich hoffe, der Koch ist noch auf.«

»Ach, Herr Kapitän — von uns ist doch niemand zur Koje gekommen! Und Schmutje wartet schon in der Pantry, was der Herr Kapitän befiehlt.«

Jeder Schiffskoch heißt Schmutje, als Name ausgesprochen. Nicht der Schmutje, sondern unter Umständen Herr Schmutje. Woher dieser Name kommt, ist nicht mehr zu ergründen. Die Pantry ist der Raum des Stewards, sein Königreich, wo er allein herrscht, wo in seefesten Reihen das Porzellan steht, wo der Steward anrichtet, wo er mit dem Koch wichtige Beratungen abzuhalten pflegt — und wo die beiden heimlich aus der Buttel trinken.

Schmutje erschien mit weißer Schürze und weißer Ballonmütze, durch seine Leibesfülle für unsere Schiffskost Reklame machend. Wenn der Kerl an Land ging, vorn über den Schmerbauch die blankgeputzte Messingkette gespannt, sah er wie ein doppelter Millionär aus.

»Schmutje, weißt du, wo dein Kapitän gewesen ist?«

»Ach, Herr Kapitaaaiiin!«, erklang es bedauernd.

»In der Tretmühle. Und da habe ich Hunger bekommen. Ich möchte essen — nein, speisen. Was gibt es zu speisen?«

»Ich habe noch ein ganzes Viertel Ochsen da hängen, ganz frisch, zart wie Butter, mit Lende«, schmunzelte Schmutje, den man nur anzublicken brauchte, um Appetit zu bekommen.

»Sind Knochen dabei?«

»Knochen?«

»Knochen, Knochen, dicke Knochen!«

»Ja, das Bein steckt doch noch drin.«

»Dann wirst du diesen Knochen herausschälen, wirst diesen Knochen in Stücke hacken, sodass das Mark drin bleibt, und dann wirst du aus diesem Markknochen Kakao kochen — das heißt nicht aus diesem Markknochen allein, sondern mit Kakao zusammen. Ich werde von jetzt an jeden Abend Kakao trinken, mit Markknochen gekocht, meine gewöhnliche Kanne voll. Woher du die Markknochen immer bekommst, ist deine Sache. Schneide sie dir aus den Rippen. Das flüssige Mark muss oben auf dem Kakao schwimmen. Verstanden?«

Schmutje sperrte sein Maul auf.

»Na, was gibt's da den Rachen aufzuklappen?«

»Herr Kapitän machen wohl nur Spaß. Schokolade mit Rindsmark?«

»Mensch, was wagst du?! Ich Spaß machen?! Ich bin nicht umsonst in der Tretmühle gewesen. Ich werde dich einmal hinschicken, damit du etwas lernst. Wiege die Knochen ab, damit ich dann über die Menge mein Gutachten abgeben kann. Zunächst aber von dieser Lende etliche Steaks. Sind Eier da?«

»Jawohl, Herr Kapitän.«

»Dann etliche Spiegeleier dazu. Und, Steward, etliche Buttels Château Lafite. Und jetzt zuerst die lange Zigarrenkiste her.«

Ach, schmeckte so eine Zigarre wieder köstlich! Und dieses Rotweinchen! Und nun der Gedanke an das noch Kommende! Es ist doch gar nicht so ohne, wenn man einmal eine Woche in der Tretmühle trampelt. Außerdem gesund! Ich hatte kurz vorher immer an Verstopfung gelitten. Keine Spur mehr davon.

»Steward, kennst du den Namen des Fremden, mit dem ich an Bord kam?«

»Mr. Tischkoff.«

»Ist er schon vorher an Bord gewesen?«

»Ach, Herr Kapitän...«

»Na, heraus mit der Sprache! Antworte mir! Ja oder nein!« — »Ja.«

»Ich will von dir nur wissen, ob er dir schon gesagt hat, wie er von dir bedient sein will, wegen des Essens — nichts weiter. Alles andere erfahre ich von anderer Seite.«

»Früh um sechs Tee mit Biskuit, um acht zwei weichgekochte Eier oder was sonst zu haben ist, punkt zwölf Mittag, was es gibt, um vier Kaffee mit Biskuit, um sieben kaltes Abendbrot. Wir sollen nicht die geringsten Umstände machen, und klopfen dürfen wir erst recht nicht, und wenn auch das Schiff unterginge. Seine Kabine soll ich aufräumen, wenn er einmal an Deck spazieren geht.«

Also solche Instruktionen hatte Tischkoff schon gegeben. Dann war ich dessen enthoben. Sonst hatte ich über den geheimnisvollen Gast einen anderen zu befragen als diesen Steward.

»Was geht Wache?«

»Backbord.«

»Der erste Steuermann!«

Mahlsdorf kam. Da er von der Freiwache war, durfte ich ihm in der Kajüte ein Glas Wein anbieten. Dann durfte er auch zusehen, wie ich mir die Lendenbeefsteaks und alle die anderen schönen Sachen zu Gemüte zog. Faktisch, das durfte er. Denn sonst muss der Kapitän allein in der Kajüte oder in seiner Kabine essen, wie der japanische Mikado, kein profanes Auge darf ihn dabei beobachten. Das ist unumstößliche Schiffsroutine. Nur angesagte Gesellschaft mit Gästen kann auch die Offiziere an des Kapitäns Tafel bringen. Die Kriegsmarine hat das erst von der Handelsflotte übernommen. Das Schiff ist von jeher ein Staat für sich mit absoluter Monarchie gewesen, und schon die alten Phönizier haben gewusst, dass dies so sein muss.

Und von der Gepflogenheit der Flibustier und Bukanier, unter welchen Seeräubern für gewöhnlich der weitestgehende Anarchimus herrschte, werde ich noch später zu erzählen Gelegenheit haben — da ich bald selbst ein Flibustier werden sollte.

Mahlsdorf erzählte.

Die ›Sturmbraut‹ lag auf der Reede von Amsterdam, einen Tag, zwei Tage, drei Tage — und ich kam nicht nach. Dann lasen sie es in der Zeitung. Der Schreck lässt sich denken.

»Ein Frauenzimmer geschlagen? Eine Dame? Das gibt hard labour!«

»Wir befreien den Käpten, und wenn wir ganz London in die Luft sprengen müssten!!«

Mahlsdorf gestand, dass Wagner, der zweite Steuermann, vernünftiger gewesen war als er. Auch Mops hatte Pulver und Dolch vorgeschlagen.

So ging das nicht. Irgend etwas musste freilich geschehen. Aber wie und was?

Als die ganze Mannschaft noch beriet, sich aber immer in unmöglichen Plänen zu meiner Befreiung ergehend, war in einem Boote ein Fremder an Bord gekommen, Mr. Tischkoff.

Zuerst eine lange Besprechung mit dem Kapitän.

»Vertraut dem Herrn, er wird's wohl machen«, hatte dann Mops zu der versammelten Mannschaft gesagt, den Herrn Tischkoff meinend. »Mahlsdorf, übernehmen Sie das Kommando für mich, ich habe die Cholera bekommen. Adjüs.«

Sprach's, packte seine Sachen, ging mit ihnen in das Boot, welches den Fremden gebracht, und ward nicht mehr gesehen.

»Nanu«, unterbrach ich den Erzähler, »hat er Euch denn sonst nichts gesagt?«

»Er hat mir Logbuch und alles ordnungsmäßig übergeben; er ist wegen plötzlicher Erkrankung von Bord gegangen. Es steht eingetragen.«

»Hat er von dem Fremden einen Auftrag erhalten?«

»Ich weiß nicht. Er schied sehr vergnügt.«

»Ist Kapitän Schulze an meiner Befreiung beteiligt gewesen?«

»Ich weiß nicht.«

Wenn jemand nicht ganz genaue Auskunft geben kann, dann liebe ich die knappe Antwort: ›Ich weiß nicht.‹ Die Sache war für mich erledigt.

»Nun, und weiter?«

»Mr. Tischkoff hielt uns eine kleine Ansprache. Wir sollten ihm vertrauen, er würde unseren Kapitän befreien, ihn wieder an Bord bringen. Mehr sagte er nicht. Kurz und bündig! Aber wie dieser Mann mit wenigen Worten sprechen kann — wunderbar! Schon diese Stimme! Überhaupt ein ganz außergewöhnlicher Mensch! Wenn der...«

»Bleiben Sie bei der Sache!«

»Wir versprachen ihm Vertrauen. Er ließ sich von uns an Land setzen, ließ das Boot warten, ging in die Stadt, Lastträger brachten eine Menge Gepäck mit, und in Tischkoffs Begleitung war... der Segelmacher!«

»Was erzählt der?«

»Noch an demselben Tage, da Sie wieder ins Kittchen kamen, war er, wie er so verzweifelt am Hafen herumirrte, weil er alles schon erfahren hatte, von einem fremden Manne angesprochen worden. Aber das war nicht Tischkoff — ein anderer. War wie ein Arbeiter gekleidet. Segelmacher Hasse von der ›Sturmbraut‹? — Ja. — Ihr Kapitän, sitzt wieder im Kittchen, hat eine Frau geschlagen, wird hard labour kriegen. — Ich weiß es. — Er wird so bald wie möglich befreit, Sie müssen sofort nach Amsterdam auf Ihr Schiff.

Hasse vertraute. Der Mann war Kohlenzieher auf einem kleinen Passagierdampfer, hatte wohl erst als solcher angemustert, verstaute Hasse zwischen den Kohlen.

In Amsterdam wurde er zuerst zu einem Heuerbaas geführt; hier blieb er drei Tage, alles war bezahlt, dann holte Tischkoff ihn ab, nahm ihn mit sich; so kam er wieder an Bord.«

Ich erfuhr den Namen und die Adresse dieses Heuerbaases, doch er spielt weiter keine Rolle, habe auch nie über diesen Mann weitere Erkundigungen eingezogen. Das durfte ich gar nicht, er stand mit meinem Kommodore in Verbindung.

Dass ich wissen wollte, wie sonst alles zugegangen war, das war etwas anderes.

»Und weiter?«

»Jetzt blieb auch Tischkoff an Bord, besah sich die Kabinen, suchte sich eine aus und richtete sich darin ein. Er scheint ein Gelehrter zu sein, er hat eine Unmenge von Büchern...«

»Ich will jetzt nichts über die Person dieses Mannes wissen.«

»Zwei Tage blieben wir noch auf der Amsterdamer Reede liegen. Aber das muss ich doch sagen, dass sich der Fremde immer eingeschlossen hielt, gar nicht aus seiner Kabine zum Vorschein kam. Denn wir wurden doch misstrauisch. Wir kannten den Mann doch gar nicht. Schließlich verlor ich die Geduld, pochte an der Tür, trotz seines strengen Verbotes, und als er nicht antwortete, drohte ich, die Tür zu sprengen. Endlich machte er auf. Er sah fürchterlich blass aus, war aber ganz freundlich. Ob wir ihm denn nicht vertrauen wollten? Ob wir denn glaubten, der Kapitän, den Sie angestellt, hätte uns sonst verlassen, wenn nicht alles Hand und Fuß hätte?

Da hatte er ja nun recht. Und nun überhaupt, wie der Mann spricht. Ich muss doch immer wieder davon anfangen. Ich war beschämt, bat um Entschuldigung. So etwas würde nie wieder vorkommen.

Dann gingen wir in den Hafen, blieben hier immer noch zwei Tage liegen. Tischkoff fuhr mehrmals an Land. Da lasen wir's in der Zeitung, dass Sie richtig in die Tretmühle gekommen. Von Portland. Nun sei's aber auch Zeit, sagte Tischkoff.

Er bezahlte das Ankergeld, hat auch sonst immer für uns gesorgt. Täglich kam der Fleischer. Alles immer schon bezahlt.

Wir lichteten die Anker. Er ist ganz sicher ein Seemann, man sieht's gleich, wenn er nur ins Boot steigt — und dann ist der doch sicher Kapitän gewesen. Aber er sprach mir nie ins Kommando.

Als Kurs gab er Portland Bill an. Aber wir waren noch keine Stunde unterwegs, als ich wieder umkehren musste, nach Amsterdam zurück. Er wollte an Land gebracht werden, wollte mit einem anderen Dampfer nach England übersetzen, ich solle ganz langsam auf Portland Bill zuhalten, er gab mir die Stelle an, wo ich heute Nacht liegen solle, wo er Sie an Bord bringen würde.«

»Welche Stelle?«, fragte ich.

Mahlsdorf gab die geografische Ortsbestimmung — eben die, wo heute Nacht die ›Sturmbraut‹ auf mich gewartet hatte. So ganz genau käme es dabei nicht darauf an, Tischkoff wisse das Schiff schon zu finden.

»Welche Zeit wollte er mit mir kommen?«

»So gegen zwei — wie Sie auch richtig kamen.«

Ich konnte nur den Kopf schütteln.

»Ja, ich schüttelte damals auch den Kopf«, fuhr der Steuermann fort. »Immer diese Einschließerei — nur er selbst ist unentschlossen — bestimmt ein Ziel und dreht gleich wieder um — so ein Schiff ist kein Kinderwagen — — aber in anderer Hinsicht doch wieder so bestimmt — — kurz, ich gehorchte. Nun, und wahrhaftig, vorhin, zur bestimmten Stunde, kam er und brachte Sie mit. Mehr habe ich nicht zu erzählen.«

Jetzt wäre es an mir gewesen, etwas über mich zu erzählen, über die Tretmühle, und wie ich befreit wurde, der Steuermann, die ganze Mannschaft brannte doch auch darauf, etwas zu erfahren, wie ihr Käpten im Sträflingskittel gestrampelt hatte — aber das hatte noch Zeit, jetzt wollte ich doch erst über den geheimnisvollen Fremden etwas mehr wissen, und das brauchte keine verbotene Neugier zu sein, er war auch mein Gast, dessen Eigentümlichkeiten ich wissen musste, um ihn danach zu behandeln.

»Er hat die vierte Kabine auf Backbordseite genommen, die er ganz mit Büchern vollgepfropft. Da sitzt er Tag und Nacht drin. Der Steward darf, wenn er das Essen bringt, nicht anklopfen, sondern muss gleich die Tür aufklinken und zurückzuziehen versuchen, und geht das nicht, ist die Tür verschlossen, so muss er eben wieder umkehren. Darüber hat Mr. Tischkoff genaue Instruktion gegeben. Einmal hat er, als er bei uns noch an Bord war, zwei Tage lang sich eingeschlossen gehabt, also auch nichts gegessen, und dann aß er zum Frühstück doch nur ein einziges Ei. Der scheint gar nichts zu brauchen, und dennoch ist er kräftig und sieht ganz gesund aus.«

»Benutzt er die Kajüte?«

»Ist niemals hineingekommen. Er geht nur manchmal an Deck spazieren. Und dann nimmt er hin und wieder ein Bad.«

Ich bemerkte, dass ich nichts anderes erfahren würde, als was mir Tischkoff nicht selbst schon gesagt hatte.

»Ist sonst alles in Ordnung?«, sprang ich auf ein anderes Thema über.

»Ja, Kapitän, das wollte ich schon sagen — wir sind etwas luvgierig geworden.«

Bei diesem oft vorkommenden Fehler, dass sich das Schiff immer dem Winde zudrehen will, musste der Bootsmann zu Rate gezogen werden, das hängt gewöhnlich mit einem Verschieben der Ladung zusammen.

Enoch wurde zitiert. Vorher aber erschien der Koch, um mir den Kakao zu bringen. Schmutje hielt das Präsentierbrett gleich mit einem Gesicht von sich ab, als wolle er sagen: Sauf du das Zeug, mich verschone damit.

Ich nahm von der bauchigen Kanne den Deckel ab und fand richtig die mir wohlbekannte Fettschicht. Der Steward musste mir einen Quirl bringen, ich verrührte das Fett mit dem Kakao, schenkte mir in die Tasse ein, kostete.

»Ah, köstlich! Steuermann, das habe ich in der Tretmühle gelernt — oder vielmehr im Zuchthaus — Kakao mit Rindermark zusammen gekocht. Du hast's auch gerade gut getroffen, Schmutje, also nicht mehr und nicht weniger. Na, was machst du denn für ein Gesicht?«

»Schokolade und Rindermark!«, sagte Schmutje verächtlich.

»Du glaubst nicht, dass das schmeckt? Hier, koste mal!«

Ich goss etwas in die Untertasse und hielt sie ihm hin. Das hatte Schmutje nicht erwartet. Er machte ein wahrhaft entsetztes Gesicht. Aber seinem Kapitän den Trank abzuschlagen, das wagte er nicht.

Er nahm also die Untertasse, näherte sie seinen gespitzten Lippen.

»Nee nee, einen tüchtigen Schluck musst du mindestens nehmen!«

Auch hierin war der Koch gehorsam, er nahm also einen tüchtigen Schluck, setzte mit aufgeblähten Backen die Untertasse schnell wieder hin, drehte sich um und rannte zur Tür hinaus, was ihn seine Bratwurstbeinchen trugen.

Im nächsten Augenblick kam der Bootsmann mit seinen krummen Beinen hereinmarschiert.

»Mensch, wie siehst du denn aus?!«

Der Bootsmann hatte nämlich im Gesicht eine braune Sauce, die ihm aus dem Bart tropfte, und erst jetzt legte er die Hände vors Gesicht und begann die braune Sauce noch weiter zu verschmieren.

»Schmutje hadd mi in de Frät spien«, sagte er mit weinerlicher Stimme, »aber — aber — aber...«; er hörte auf zu reiben, seine Zunge kam zum Vorschein, er leckte sich über den Schnauzbart, dann wischte er mit der Hand und leckte die Finger ab, »... aber dat Tüg smeckt ganz got.«

Na, hatte ich nicht gesagt, dass Kakao mit Rindermark etwas Delikates ist?

— • —

52. Kapitel
Ein rätselhafter Vorfall

Originalseiten II.378 — 399

Wir hatten Kurs auf Rio de Janeiro genommen. Mir war äußerst behaglich zumute. Wenn ich es nicht bestimmt wusste, so fühlte ich doch, dass mein Leben als selbstständiger Kapitän jetzt gesichert war.

War vielleicht dieser geheimnisvolle Unbekannte derjenige, der mir die von dem Maharadscha zugesicherte Leibrente von 10 000 Pfund immer so langsam zufließen lassen sollte? Möglich, aber ich zerbrach mir nicht weiter den Kopf darüber.

Ich ließ meine Jungen nach getaner Arbeit, die während der Fahrt unter normalen Verhältnissen ja gar nicht so schlimm ist, besonders nicht bei einem neuen Schiff, wo noch nicht viel zu flicken ist, wie früher an Deck und im Zwischendeck, das ich freigehalten, exerzieren und turnen, es wurde gesprungen und geschwungen, geschossen und gefochten, Bootsmanöver und Wetturnen, ich setzte Prämien aus, freilich erst à conto, und es war eitel Freude und Lust.

Ja, es war wirklich anders, als da Blodwen noch an Bord gewesen. Ich hatte mich über ihren Verlust schon wieder getröstet, zum zweiten Male.

Eine Frau passt eben nicht zwischen das Schiffsvolk. Wenigstens darf sie nicht mitmachen. Meine Jungen hatten sich in Blodwens Gegenwart doch stets etwas beengt gefühlt. Nicht etwa, dass es jetzt roher zugegangen wäre — dass ich weder im Gebaren noch in Worten zynische Gemeinheiten duldete, habe ich schon wiederholt gesagt, da war ich empfindlich wie ein junges Mädchen, und auf so etwas verfallen ja auch nur degenerierte, überfressene Müßiggänger — aber... eine Frau passt eben nicht zwischen Schiffsvolk, ich kann es nur wiederholen. Und wenn ich selbst mitgemacht hatte, wenn ich dann meinen Jungen zuschaute, dann fühlte ich mich so überaus glücklich.

Jetzt glaubte ich mein Ideal erreicht zu haben. Vor mir lag die Zukunft im sonnigsten Lichte.

Tischkoff hatte mir da etwas angedeutet, was ich von selbst getan, schon früher, wenn ich hätte so handeln können, wie ich wollte, als unbeschränkter Kapitän.

Ich liebe gebildete, geistvolle Gesellschaft. Ich lasse mich gern belehren. Mir kann ein Physiker, ein Astronom, ein sonstiger Philosoph von den entferntesten Dingen stundenlang erzählen, von den Urweltnebeln, von Protoplasmakörperchen, von dem letzten Ende aller Dinge — oder von der Entwicklung des Welthandels — oder wie ein Seestiefel entsteht, vom argentinischen Büffel bis zum deutschen Schuster — — ich werde nicht müde, zuzuhören. Und dann bewirte ich auch so gern Gäste, suche ihnen so gern freudige Überraschungen zu machen. Es ist meine eigene Freude.

Was aber kann sich da so ein freier Kapitän nicht alles leisten! Ich brauchte nicht zu annoncieren, solche Gäste finden sich von allein ein, der Zufall lässt sie einem auf der Straße zwischen die Beine laufen. Und was für eine Freude kann man da etwa einem armen, jungen Studenten, der sich auf sein Examen einfuchst, bereiten!

Komm mit mir, mach eine Reise mit, deine Bücher nimmst du mit an Bord. Du hast alles, was dein Herz begehrt. Natürlich kostet es dich nichts. Nur ab und zu ein Plauderstündchen. Und im fremden Hafen bezahle ich ebenfalls alles.

Das kommt ja an Bord eines Schiffes alles gar nicht drauf an! Oder ein Schauspieler, ein Sänger! Eine Erholungsreise! Diese Ruhe, diese Luft — wie der seine Stimme ausbilden kann! So eine Segelpartie von nur drei Monaten wird auf viele Jahre hinaus Wunder wirken, da müssen auch die schwächsten Nerven stählerne Drähte werden.

Ich hatte Sinn für Poesie und Kunst. Ich hatte mir auch als Matrose für jede Reise immer einige gute Bücher mitgenommen. Ich konnte noch mit Vergnügen im Ovid lesen — in der deutschen Übersetzung, für die Ursprache reichten meine Kenntnisse nicht mehr aus — damit ich nicht etwa für einen Gelehrten gehalten werde — ich ging noch immer so gern mit Odysseus auf Irrfahrten, machte in Walhalla die Zechgelage der germanischen Helden mit, und ich wusste aus Erfahrung, dass ein Schauspieler so etwas ganz anders vorlesen kann als unsereiner, es braucht gar kein berühmter von der Hofbühne zu sein.

Und dann Maler! Auch die träumende und die rollende See und die darüber lagernden Wolkengebilde bieten unerschöpflichen Stoff für den Künstler, zumal in fremden Landen! Und ich hätte die Gemälde gern gekauft, mindestens Kopien. Ich hätte für den Künstler Reklame gemacht, hätte auch einem bisher ganz unbekannten Maler schnell einen Namen geschaffen. Faktisch, das verstand ich, auch ohne Karlemann. Eine Gemäldeausstellung auf dem Schiff, auf meinem Zigeunerschiffe! Und da kamen die Kunstliebhaber aller Weltteile in Betracht!

Mit solchen Gedanken hatte ich mich schon früher getragen, wenn ich von meinem eigenen Schiffe geträumt. Solange Blodwen an Bord war, wäre damit natürlich nichts gewesen. Ja, vielleicht acht Tage lang, dann war es vorbei. Blodwen hatte für so etwas kein Interesse. Auch viel zu herrisch. Und dann vor allen Dingen viel zu eifersüchtig. Selbst auf solche Gesellschaft aus meinem eigenen Geschlecht. Sie hatte mich eben immer ganz allein haben wollen. Das hatte ich schon bei Doktor Selo gemerkt. Keine zehn Minuten hatte ich mich mit diesem gebildeten Schufte unterhalten können, da hatte sie uns auseinanderzubringen gewusst. Außerdem war er mein Schiffsarzt gewesen, mein Untergebener — das war etwas anderes.

Weiter, um nichts zu vergessen: das ewig Weibliche! Ja, auch Damen hätte ich gern an Bord meines Schiffes als Gäste gehabt. Immer mal eine andere oder auch gleich ein paar; wenn sie langweilig wurden, wurden sie wieder abgesetzt.

Dabei ist von grober Sinnlichkeit keine Rede. Irgendein Frauenzimmer hätte ich niemals mitgenommen, nur weil es eine hübsche Larve besaß. Auch nicht so eine wie die Coliani, die nichts weiter als schwadronieren und kokettieren und auf dem Seile die Beine heben konnte. Nein, für so etwas war ich nicht zu haben.

Aber sonst eine gediegene weibliche Gesellschaft. Es brauchten gar keine Künstlerinnen zu sein. Triefaugen durften sie natürlich nicht haben.

Ja, ich sehnte mich oft nach weiblicher Gesellschaft.

Frauen hatten einen großen Einfluss auf mich, ganz ideal gemeint. Ich fühlte ihre Nähe, ich plauderte so gern mit ihnen.

An Land hatte ich niemals Gelegenheit dazu gehabt. Da war ich regelmäßig versumpft — und überhaupt, ich war doch nur Matrose gewesen, meine Region war der Tanzsaal gewesen, dreimal rum einen Groschen, das Tingeltangel — wie sollte ich denn in andere Kreise kommen? Auch als Steuermann war ich so, ich wäre noch als abhängiger Kapitän so geblieben. An Land war ich ja überhaupt ein ganz anderer. An Bord meines eigenen Schiffes musste ich die Gesellschaft haben, da kam mein richtiger Charakter zum Durchbruch.

Nur einmal hatte ich Gelegenheit gehabt, mit gebildeten Damen so angenehm zu verkehren. Vor fünf Jahren. Wir hatten ein neues Schiff nach Christiania gebracht, erhielten das Geld zur Rückreise. Ich benutzte es wirklich dazu, legte zu, fuhr nach Bremerhaven vornehm erster Kajüte.

Da war eine deutsche Operngesellschaft mit Kapelle darauf gewesen, viele Schauspielerinnen und Sängerinnen, und ich bald mittenmang. Und an Bord war ich zu Hause, auf den Deckplanken fühlte ich mich sicher. Sie wollten mir nicht glauben, dass ich nur Matrose sei, trotz meiner schwieligen Pfoten — meine Papiere musste ich zeigen.

Ach, taten mir diese wenigen Tage wohl! Musiziert, gesungen, geplaudert, dazu eine kleine Liebschaft — es war die schönste Zeit meines Lebens gewesen.

Das konnte ich jetzt immer haben. Auch die kleine Liebschaft. Denn was mitzunehmen war, wurde natürlich mitgenommen. Daraus braucht man doch gar kein Hehl zu machen, das kann alles noch in allen Ehren geschehen. So eine wie die Coliani aber nicht. Und nur nicht binden!

So malte ich mir die Zukunft im rosigsten Lichte aus. Gleich in Rio de Janeiro sollte es losgehen.

Ja, der Mensch denkt und... der Kommodore lenkt. — — Störend konnte der Unbekannte, der er ja trotz Nennung seines Namens immer noch war, nicht in meine Ideale eingreifen. Unser Verhältnis war genau dasjenige, wie er es im voraus geschildert.

Wir existierten nicht füreinander. Wenn schönes Wetter war und die See nicht zu sehr überdammte, promenierte er früh zwischen sieben und acht und noch einmal abends zu derselben Stunde an Deck, sonst bekam ich ihn gar nicht zu sehen.

Die Arme über der Brust verschränkt, den Kopf etwas geneigt, so wandelte er zwischen Fock- und Besanmast mit regelmäßigen Seemannsschritten hin und her, um beim achten Glockenschlag wieder zu verschwinden.

Kein Gruß, kein einziges Wort, für nichts Interesse, empfindungslos. Wir köderten in seiner Anwesenheit auf Deck einen Haifisch, wir machten eine Bootsjagd auf Schweinsfische — nicht einen einzigen Blick dafür.

Einmal prasselte eine gebrochene Rahstenge von oben herab, schlug mit Donnergepolter auf Deck, dicht hinter dem spazieren gehenden Tischkoff.

Ich hatte es kommen sehen, schrie laut auf vor Schreck, sah ihn schon zerschmettert daliegen.

Nein, dicht hinter ihm ging die Gefahr vorüber, und Tischkoff, den ich also im Auge gehabt, dicht neben ihm stehend, hatte auch nicht mit einer Wimper gezuckt, von einem Wenden des Kopfes, was da hinter ihm so gedonnert habe, gar nicht zu sprechen.

Ruhig setzte er seinen Weg fort, dann nur auf die andere Seite gehend, um nicht über die Trümmer steigen zu müssen.

Wenn das Schiff nicht allzu sehr schlingerte, nahm er nach dem Morgenspaziergang ein Wannenbad. Neben dem Badezimmer war die Toilette, und das waren die einzigen Räume, welche er vom Schiffe sonst noch benutzte.

Manchmal begegnete ich ihm auf diesem Wege — kein Wort, kein Blick. Ich war wie jeder andere Luft für ihn. Und ich instruierte Offiziere und Leute, dass auch für sie Mr. Tischkoff Luft sein müsse. Wen ich dabei ertappte, dass er nur nach ihm blickte, der bekam Strafwache. Doch meine Jungen waren vernünftig.

Dabei keine Spur von finsterer Schweigsamkeit. Es mussten heitere Gedanken sein, in die er immer so tief versunken war. Er lächelte stets so vor sich hin, so überlegen spöttisch, aber doch gutmütig, und dann zuckte es manchmal in den tausend Fältchen, als wolle er in ein herzliches Lachen ausbrechen, was allerdings niemals geschah.

Ich blickte zufällig einmal in seine Kabine, als der Steward gerade die Tür aufschob, um ihm das Essen hineinzubringen.

Wie schon Mahlsdorf gesagt, war die ganze Kabine mit Büchern vollgepfropft, auf Bretter, die er sich gleich am Anfang von Matrosen hatte anbringen lassen, sicher aufgebaut. Es waren lauter recht große, alt aussehende Bände, wohl in Schweinsleder gebunden. Mehr sah ich nicht, auch ihn selbst nicht. Und den Steward fragte ich nicht.

Er hatte viel Garderobe mit. Ich konstatierte wenigstens zehn Anzüge, die er abwechselnd trug, und jeden musste der Steward nach dem Ablegen sofort ausklopfen und bürsten. Und nur moderne, elegante Anzüge, die feinste Wäsche, welche zu waschen und zu plätten Fritzens Lust war, und das halbe Dutzend eleganter Stiefeletten musste immer spiegelblank dastehen.

Nein, ich fragte den Steward nicht, was denn der rätselhafte Gast sonst immer in seiner Kabine triebe, aber dass sonst immer aufs gewissenhafteste für ihn gesorgt wurde, das war meine Sache, und als ich einmal bemerkte, dass sich in meines Kommodores Stiefeln die Sonne weniger deutlich spiegelte, musste der Steward zur Strafe die beiden Bulldoggen flöhen und durfte nicht eher ruhen, als bis er mir in einer Pappschachtel fünfzig totgeknickte Flöhe abgeliefert hatte.

Wenn das Wetter schlecht war, ein Spazierengehen an Deck nicht gut möglich, kam er gar nicht zum Vorschein, tagelang nicht, nahm dann auch kein Bad.

Einmal hatten wir prächtiges Wetter, und Tischkoff blieb dennoch in seiner Kabine. Und das diesmal gleich vier Tage lang! Er hatte seine Periode. Unverrichteter Sache musste der Steward mit dem Essen wieder umkehren, die Tür war verschlossen.

Mir wurde himmelangst, so wie damals dem verantwortlichen Steuermanne. Vier Tage ohne Essen! Ich verhungerte schon an demselben Tage!

Oftmals lauschte ich an der Tür. Nichts zu hören. Im Schlüsselloch steckte innen der Schlüssel.

Endlich am Abend des vierten Tages, als der Steward wie gewöhnlich mit dem Abendbrot kam und die Tür zu öffnen versuchte — und ich hielt strengstens darauf, dass dies regelmäßig geschah, ein Einschlafen gab es deshalb nicht bei mir — ließ sich die Tür auch öffnen.

Diesmal musste ich den Steward, als er wieder herauskam, doch vornehmen. Von Neugierde brauchte deshalb keine Rede zu sein.

»Was tat er?«

»Er saß wie gewöhnlich da und las. Herr Kapitän, das sind aber keine gewöhnlichen Buchstaben, die in den Büchern stehen, das sind ganz kuriose Krakelfüße, überhaupt nicht gedruckt, sondern geschrieben...«

»Das will ich gar nicht wissen!«, herrschte ich den vorlauten Kellnerfritzen an. »Antworte, was du gefragt wirst! Wie sah er aus?«

»Geradeso wie sonst.«

»Nicht abgemagert?«

»Gar nicht.«

»Nicht blass, nicht elend?«

»Der sieht ganz gesund aus, so wie sonst.«

Als die Teller dann wieder herausgeholt wurden, zeigte sich, dass er von den kalten Sachen wie immer nur etwa den vierten Teil gegessen hatte. Er war überhaupt sehr mäßig, Wein und Spirituosen trank er gar nicht, und das lange Fasten hatte seinen Appetit nicht verstärkt.

Kann ein Mensch so lange schlafen? Kann er so lange alle tierischen Körperfunktionen unterdrücken? Hierüber unterhielt ich mich doch einmal mit Mahlsdorf, auch der zweite Ingenieur, ein sehr gebildeter Mann, war dabei.


Illustration

Denn hier lag auch noch ein anderes, sehr großes Rätsel vor. Es ist schon angedeutet worden. Der alte Herr war vier Tage lang eingeschlossen gewesen und hatte in seiner Kabine keine Gelegenheit, und dann hatte er es durchaus nicht eilig, machte erst ruhig seinen Spaziergang.

So gingen wieder acht Tage hin. Ich hätte ihn so gern einmal angesprochen. Ob er, der sogar für Elyson gesorgt hatte, weil dieser in einer Beziehung zu mir gestanden, nicht auch wusste, wo sich Blodwen befand, wie überhaupt die ganze Befreiung aus dem Irrenhause vor sich gegangen war?

Ob Blodwen, dieses maßlos herrschsüchtige Weib, wohl ihr Kind so einfach unter fremder Obhut gelassen hatte?

Ich glaubte bestimmt, dass Tischkoff hierüber etwas wusste. Aber ich beherrschte mich, ließ ihn für mich nicht existieren.

Da sollte sich ein ganz rätselhafter Fall ereignen.

Tischkoff hatte nach einem Morgenspaziergang wieder ein Bad genommen. Das dauerte immer höchstens eine halbe Stunde.

Der Steward hatte diesmal ganz recht, wenn er es für seine Pflicht hielt, mich darauf aufmerksam zu machen, dass sich Mr. Tischkoff schon seit einer Stunde im Bade befände.

Er war trotz seiner Rüstigkeit dennoch ein alter Herr, und an das Ewigleben und Nichtkrankwerdenkönnen glaubte ich nicht.

Ich lauschte. Kein Plätschern, nichts. Ich klopfte leise, stärker — keine Antwort.

Noch eine Viertelstunde wartete ich, dann ließ ich von einem Heizer, der gelernter Schlosser war, die Tür mit einem Dietrich öffnen.

Tischkoff hatte gesagt, er wolle in seiner Kabine absolut ungestört bleiben, aber von der Badestube hatte er nichts gesagt, die Badestube war auch Gemeingut — kurz, ich hielt es für meine Pflicht, hätte mich schon entschuldigen wollen.

Tischkoff lag, in den Bademantel gehüllt, auf dem Sofa, und... ich erschrak mächtig! Das waren wieder die fahlen Züge einer Leiche! Ich hatte ja sein Gesicht schon einmal so gesehen, aber damals war er wenigstens noch gewandert, während er jetzt regungslos dalag.

»Mr. Tischkoff!«

Keine Antwort, keine Bewegung.

Ich trat leise näher. Da sah ich die Augen — weit geöffnet, aber erloschen! Ich fasste ihn an, wollte seine Hand heben — kalt und starr! Die Todesstarre!

Jetzt rief ich Mahlsdorf, auch den zweiten Ingenieur, dachte auch gleich an Goliaths ärztliche Kenntnisse.

Die konnten nichts daran ändern. Der alte Mann war einfach tot.

Zur weiteren Untersuchung schlugen wir den Bademantel zurück. Und da sahen wir es!

Der weiße Körper war der eines kräftigen Jünglings, auf den man den Kopf eines alten Mannes gesetzt hatte, sich nur durch die Augen verratend — und dieser weiße Körper war über und über, vom Hals an bis zu den Fußsohlen und Handgelenken, mit blauen Tätowierungen bedeckt.

Wollte ich alle die Bilder beschreiben, die wir da erblickten, so müsste ich ein dickes Buch anlegen, und wer weiß, ob ich jemals in meinem Leben fertig geworden wäre. Denn man brauchte nur zu suchen, so fand man immer und immer wieder eine neue Zeichnung, und ganz offenbar waren hier auch sogenannte Vexierbilder angebracht, die Linien einer Person oder sonst eines Gegenstandes dienten teilweise auch als Umriss für eine andere Figur.

Ich hatte schon wiederholt Personen gesehen, die am ganzen Körper mit allen möglichen und unmöglichen Tätowierungen bedeckt waren, unter anderen auch eine Dame, in einer Schaubude ausgestellt, von der die Reklame sagte, in chinesischer Gefangenschaft hätten Priester zehn Jahre lang ihren Körper mit Stichnadeln bearbeitet.

Das war höchst kunstvoll gewesen, ja — aber so etwas wie hier hatte ich denn doch noch nicht gesehen, nicht für möglich gehalten!

Ich weiß gar nicht recht, wo ich mit einer nur ungefähren Beschreibung beginnen soll. Auch hier schienen Chinesen oder Inder den Stichel geführt zu haben. Jedenfalls Buddhisten. Auf der Brust präsentierte sich in etwa Spannengröße ein Priester, der auf einem Altar ein Feuer entfachte, während ein anderer segnend die Hände darüberhielt. Schon das Kostüm dieser Priester, dieser Faltenwurf war eine bewunderungswürdige Kunstleistung, und nun jeder Finger, jeder Gesichtszug mit natürlicher Treue gezeichnet.

Stellte man sich aber auf die Seite, betrachtete das Bild so, dann gehörte der Rock des einen Priesters zu einer Kuh, deren Euter zwei kleine Menschenkinder als Milchflasche benutzten — jedenfalls ein indisches Symbol, denn die Kuh ist den Indern ein heiliges Tier, nur deshalb wird kein Rindfleisch gegessen, und nicht, wie man oft sagen hört, aus Abscheu — und von der linken Seite aus betrachtet, verwandelte sich die Kuh wieder in ein Schiff, das Altarfeuer gab als Galionsfigur ein Weib ab, die Arabesken auf den Priesterröcken bildeten die Köpfe der Ruderer und die Ruderstangen.

Und so war es allüberall, vom Hals an bis noch auf die Fußsohlen.

Aber das sollte alles noch in den Schatten gestellt werden von dem, was wir weiter entdeckten.

Die Striche der größeren Figuren waren ziemlich stark, schienen aus lauter Punkten zu bestehen, was wohl daher kam, dass die Linien doch durch die Hautporen unterbrochen wurden.

Da beugte sich Goliath herab, brachte sein Auge näher an die Figuren.

»Seht, Massa«, sagte er, auf solch eine Linie deutend, »auch das sind wieder Figuren, ganze Bilder sogar.«

Ich wusste erst gar nicht, was er meinte. Dann wunderte ich mich etwas, wie Goliath dazu kam, immer eine Lupe in seiner Tasche zu tragen.

Wie groß aber ward mein Staunen, als ich durch die Lupe solch eine starke Linie betrachtete. Ja, jetzt, da ich es einmal wusste, konnte ich es auch schon mit bloßen Augen erkennen, durch die Lupe war es aber doch viel deutlicher, ich benutzte sie.

Auch jeder dieser Punkte, an manchen Stellen fünf Millimeter im Durchmesser, war eine Tätowierung für sich, Menschen- und Tierköpfe darstellend, ganze Menschen und Tiere, ja sogar ganze Szenen.

Und als ich dann die dünneren Linien mit der Lupe untersuchte, da fand ich, dass sogar diese in den einzelnen Punkten aus lauter solchen einzelnen, für sich selbstständigen Tätowierungen bestanden!!

Wie war solch eine mikroskopische Tätowierung auf der weichen, dehnbaren, nachgiebigen Haut nur möglich?!

Es war und blieb für uns ein Rätsel. Chinesische Geduld, chinesisches Geheimnis!

Da winkte mir Goliath und deutete auf den Kopf, wo er die Haare zur Seite geteilt hatte.

Schon von einer Ahnung erfüllt, trat ich hin — richtig, durch die graumelierten Haare war auf der Kopfhaut wieder jene Tätowierung zu erblicken, der gezackte Kreis, dieser hier nur mit drei Strichen durchzogen, in der Mitte der Klecks, in diesem wieder ein roter Punkt.

»Nummer eins«, flüsterte Goliath.

Ich brauchte nicht die Lupe zu Hilfe zu nehmen, um in dem roten Zeichen eine Eins zu erkennen.

Hatten wir hier jenen geheimnisvollen Kapitän vor uns, den jener aufgefischte Matrose seinen Meister genannt, dem wir einstweilen den Namen ›der Herr des Vogelbergs‹ gegeben hatten?

Es war schon genug, zu wissen, dass auch dieser jener geheimnisvollen Sekte angehörte, die meist aus Seeleuten bestand und sich über die ganze Erde erstrecken sollte. Und er führte die Nummer eins!

Nun war aber auch klar, dass er wirklich zu dem indischen Fürsten in Beziehung stand!

Da hatte Mahlsdorf einen Gedanken, auf den wir auch schon hätten kommen können.

»Diese Tätowierung unter den Haaren ist ja sehr geschickt verborgen und kann dennoch von einem Eingeweihten immer kontrolliert werden, wenn man aber eine Glatze bekommt?«

»Dann wird die Tätowierung wieder ausgestochen«, entgegnete Goliath. »Die Inder verstehen das, eine Tätowierung wieder absolut verschwinden zu lassen, das weiß ich bestimmt; auch jener Mann, den wir am Vogelberge auffischten, war ein Kahlkopf, und er hatte auch diese Tätowierung auf dem Rücken.«

Dadurch wurden wir veranlasst, ihn einmal herumzudrehen. Der Körper war steif wie ein Brett, die Todesstarre eine perfekte.

Und eine neue Bestürzung erfasste uns. Auch auf der Rückseite waren der Körper wie die Gliedmaßen über und über mit solchen Figuren und ganzen Szenen bedeckt, aber auf dem Rücken waren sie nicht mehr erkenntlich. Hier reihte sich Narbe an Narbe, blutrote Streifen, welche über den ganzen Rücken liefen, so tief, dass man den Finger hineinlegen konnte.

»Der ist mit der Knute karbatscht worden«, flüsterte der zweite Ingenieur scheu.

Er schloss aus dem Namen Tischkoff auf russische Verhältnisse. Nahe lag ja diese Vermutung, aber als Behauptung war sie voreilig. Es gibt Menschen, die sich freiwillig peitschen lassen, sich selbst kasteien, Mönche, ich dachte auch gleich an indische Fakire.

Der asketische Togluk mit seinem Totenschädel — Graf Axel als Astrolog und Alchimist — dieser Mann hier — das passte so alles in einen Topf.

Jedenfalls musste der Rücken einst auf schreckliche Weise zerfleischt worden sein.

Und jetzt war der Mann tot! Über all dem, was wir zu schauen bekommen, hätten wir bald die Hauptsache vergessen.

Tot? Ja, kein Herzschlag mehr. Der vor den Mund gehaltene Spiegel trübte sich nicht, die Glieder kalt und starr, das Auge gebrochen. Bei den vielen Tätowierungen hätte man nicht auf die blauen Totenflecke prüfen können.

Doch es gehörte nicht viel Scharfsinn dazu, um hier an etwas anderes zu denken. Mahlsdorf fing zuerst davon an, sprach die Gedanken aller aus.

»Das ist nur Starrkrampf oder Scheintod, und wenn er sich so lange in seiner Kabine einschließt, dann befindet er sich immer in diesem Zustande, daher auch das Aufhören aller Körperfunktionen, der Körper verbraucht nichts und scheidet nichts aus.«

Gewiss, so war es!

Ich verpflichtete die Anwesenden zum Stillschweigen, auch den Steward, falls dieser etwas gemerkt hatte, wickelte den Körper wieder in den Mantel ein, ließ die Tür verschließen, begab mich in die Kajüte.

Ich war doch mächtig ergriffen. Scheintot! Ich hatte schon viel darüber gelesen und gehört, hatte es aber fast nicht glauben können, hätte es lieber leugnen mögen. Aus Egoismus! So wie tot daliegen, vielleicht alles hören und sogar sehen könnend, aber unfähig, sich zu regen — es muss doch entsetzlich sein! Und wenn das nun tagelang andauert, und man wird begraben, erwacht im Sarge unter der Erde? Pfui Deiwel!

Wenn wir nun nicht gewusst hätten, dass der Unbekannte wahrscheinlich auch in seiner Kabine manchmal solche Anfälle hatte, aus welcher Ursache er eben unsichtbar blieb?

Morgen, vielleicht schon heute, hätten wir ihn in Segeltuch genäht, auf ein Brett genagelt, ein Säckchen Kohlen darangehängt und ihn so dem Meere überliefert.

Na, wenn man dann wieder zu sich kommt, braucht man wenigstens nicht lange noch nach Luft zu ringen, im Wasser geht's schnell, in einer halben Minute ist es vorbei.

Wasser, Feuer, Erde, ich halte es mit den beiden ersten Elementen.

So grübelte ich, während ich die Kajüte durchmaß. Es hatte mich angegriffen.

Ja, und solch ein scheintoter Zustand kam bei diesem Manne öfters...

»Auf ein Wort, Herr Kapitän!«

Diese Stimme... dass ich furchtbar erschrocken war, wie ich herumfuhr, kann man mir nicht verübeln.

Höchstens fünf Minuten bin ich wieder in der Kajüte — vor fünf Minuten habe ich ihn als Toten verlassen — und jetzt steht mein Kommodore vor mir, frisch und munter wie ein Fisch, in dem faltigen, aber sonst ganz gesunden Gesicht wie immer das gutmütige Lächeln, im eleganten Anzuge mit hohem Stehkragen und Krawatte, gestiefelt, das Haar schon wieder sorgfältig gekämmt und gebürstet...

Er musste sich sofort, nachdem wir die Badezelle verlassen, erhoben haben. Die Schnelligkeit des Anziehens war bei einem Seemanne nicht überraschend.

»Sie haben mich in einem Zustande gesehen, in den ich öfters falle«, fuhr er schnell fort, ohne die geringste Verlegenheit, freundlich wie immer. »Er hat mich einmal im Bade überrascht, es war meine eigene Schuld. Sie werden nicht darüber sprechen, nicht wahr?«

Na, der schien ja so einen zeitweiligen Scheintod durchaus nicht als Unglück zu empfinden. Dann konnte auch ich mich beruhigen.

»Nur der erste Steuermann, der zweite Ingenieur und mein schwarzer Bootsmann waren zugegen, ich instruierte sie bereits, und die sind absolut zuverlässig.«

»Ja, ich hörte es, ich danke Ihnen. Und ich weiß dass dies auch von Ihrer ganzen übrigen Mannschaft gilt. So ist die Sache erledigt. Was können Sie mir über den alten Holländer mitteilen, den Ihre Leute den Klabautermann nennen?«

Findet der Mensch Worte! So ein plötzlicher Übergang! Ist tot gewesen, wird wieder lebendig, sagt vergnügt, dass so etwas öfters bei ihm vorkommt — und dann fängt er sofort von dem Klabautermann an, dem er bisher noch keinen einzigen Blick geschenkt hat!

Ich wollte damit beginnen, wie wir zu dem alten Holländer gekommen, wurde aber gleich unterbrochen.

»Pardon, dies alles ist mir bekannt. Ich meine, wie er sich hier an Bord benimmt.«

»Er schläft des Nachts in einer Koje der Foxel, und den ganzen Tag über sitzt er unter der Back auf einer angelaschten Kleiderkiste, auf der er schon an Bord des holländischen Wracks gesessen hat, und raucht aus einer langen Kalkpfeife.«

Mehr glaubte ich beim besten Willen von dem Klabautermann nicht sagen zu können. Tischkoff musste mir durch einige Fragen zu Hilfe kommen.

»Spricht er?«

»Nein. Oder doch — nur ein einziges Wort: Minajorka. Das seufzt er bei jeder Gelegenheit, wenn er mit seinem Feuersteine Funken schlägt, und wenn man ihn irgend etwas fragt.«

»Minajorka!«, wiederholte Tischkoff, dabei wohlgefällig nickend.

Aha, der wusste etwas mehr davon, was dieser Name zu bedeuten hatte!

»Sonst spricht er nichts weiter?«

»Gar nichts.«

»Ist schon einmal versucht worden, Ihnen diesen Mann zu entführen?«

»Niemals.«

»Halten Sie ihn für irrsinnig?«

»Nur für geistesschwach — eine Folge des hohen Alters.«

»Kann er allein essen?«

»Ja, wenn man ihm das Essen in die Hand gibt.«

»Bedarf er sonst der Pflege?«

»Gar nicht.«

»Gestatten Sie, dass ich den Mann mit in meine Kabine nehme, um ihn Tag und Nacht beobachten zu können?«

Es kam mir überraschend — aber natürlich sagte ich sofort zu.

»Ich danke Ihnen. In meiner Kabine sind ja zwei Kojen, ich habe nichts weiter nötig, nur muss der Steward mir jetzt auch des Mijnheers Essen bringen. Ihre Leute, die so an dem Klabautermann hängen, können beruhigt sein, ich werde ihn wie mein Kind behandeln — oder mit aller Ehrfurcht, die man diesem guten Seegeiste, der sich ja auch schon bei Ihrem Schiffe bewährt hat, schuldig ist.«

Eine leichte Verbeugung, und er wollte die Kajüte verlassen. Schon während dieses kurzen Gespräches hatte ich meinen Entschluss gefasst — das Eis war einmal aufgebrochen, das musste benutzt werden.

»Herr Kommodore!«

»Bitte?«, wandte er sich wieder um.

»Gestatten Sie mir eine Frage — nur eine einzige!«, sagte ich mit etwas flehender Stimme.

»Aber warum denn nicht? Ich stehe immer zu Ihrer Verfügung, wenn wir uns begegnen oder sonst sehen. Nur in meiner Kabine bitte ich mich nicht zu stören.«

»Wissen Sie etwas von Blodwen — von der Lady Leytenstone?«

»Sie ist in Begleitung von Hans Schomburg, Ihres desertierten Matrosen, glücklich nach New York entkommen, nachdem die beiden auch noch versucht haben, das Kind zu entführen, was aber missglückt ist.«

Eine furchtbare Spannung bemächtigte sich meiner.

»Und?«, hauchte ich atemlos.

»In New York ist sie von Kapazitäten für geistig normal erklärt worden.«

»Und?«, konnte ich nur wiederholen.

»Sie fordert ihr Kind und ihr Vermögen zurück.«

»Und?«

»Mehr weiß ich nicht.«

Ich hatte kein ›Und?‹ mehr. Ich war in Träume versunken.

»Wünschen Sie sonst noch etwas zu wissen?«

»Das genügt — vorläufig«, murmelte ich.

Da verließ er die Kajüte.

Ich blieb noch lange in Träume versunken zurück. Was ich zu hören bekommen hatte, war eigentlich alles ganz logisch. Aber Hans, Hans! Ich hatte es ja gewusst, und doch fand ich es jetzt wieder unfassbar.

Darüber vergaß ich ganz, woher denn Tischkoff dies alles schon wissen könne. Denn damals war nach New York noch kein transatlantisches Kabel gelegt, und hätte ich mir die Zeitdauer ausgerechnet, wie lange ein Brief hin und her braucht, hätte ich mir alles andere ausgerechnet, so hätte ich erkennen müssen, dass hier ein Rätsel der Zeit vorlag. Doch daran dachte ich jetzt nicht, auch später nicht.

Dann raffte ich mich auf, nahm meine Leute vor, sagte ihnen, Mr. Tischkoff wünsche den Klabautermann in seine Kabine zu nehmen, wolle ihn wahrscheinlich zum Sprechen zu bringen suchen — niemand habe einen Grund, deshalb ein saures Gesicht zu machen.

Ich hätte gar nicht nötig gehabt, so zu sprechen. Aber ich bin ein Mensch, der nicht nur jede andere Religion achtet, und sei es auch Fetischismus, sondern der in gewisser Hinsicht auch nicht über Aberglauben spottet. Der Glaube an den Klabautermann hat noch keinen Schaden gebracht. Und wenn ein Kranker, dem alle Ärzte nicht helfen können, es einmal mit Sympathie versucht, so habe ich ebenfalls nichts dagegen.

Meine Jungen waren noch vernünftiger, als ich geglaubt. Es war ja mein Retter, der den Wunsch geäußert, den Klabautermann immer in seiner Nähe zu haben. Und auch sonst hatten meine Jungen die größte Hochachtung vor Mr. Tischkoff, er hätte gar nicht mein Retter zu sein brauchen, alles Vorangegangene wäre nicht nötig gewesen.

Das machte schon seine Schweigsamkeit, die Regelmäßigkeit seiner Handlungen. Man stelle sich an Bord des Schiffes einen Kajütengast vor, der mit jedem Matrosen ein Gespräch anzuknüpfen sucht, neugierig fragt, schwadroniert, hin und her hopst. Man wird seiner bald überdrüssig, bald will kein Matrose mehr etwas von ihm wissen.

Jede schweigsame Regelmäßigkeit imponiert stets, selbst wenn finsterer Stolz dabei wäre. Majestätisch sind alle Sonnen und Fixsterne, deren scheinbaren Lauf am Firmament man auf Jahrtausende hinaus mit absoluter Gewissheit berechnen kann. Kometen sind schon unsichere Kantonisten, man weiß doch nicht so bestimmt, ob sie wirklich wiederkommen — von den Meteoriten gar nicht zu sprechen. Und was von ewigen Sternen gilt, gilt auch von Menschen. Schon der einsame Spaziergänger, der täglich zur bestimmten Minute an einem alleinstehenden Hause vorübergeht, ruft alles an die Fenster, man kennt ihn nicht, aber man erwartet ihn, man vermisst ihn, man spricht über sein Wohlergehen, man richtet nach ihm die Uhren.

In feierlicher Prozession ward der Klabautermann auf seiner Kleiderkiste nach Tischkoffs Kajüte getragen und... ward nicht mehr gesehen.

Der Steward brachte jetzt auch für ihn das Essen und konnte nur erzählen, dass der Klabautermann nach wie vor rauchend auf seiner Kleiderkiste säße. Bewegung und mehr frische Luft, als das offene Bullauge lieferte, brauchte der alte Mann nicht. Was Tischkoff sonst mit ihm trieb, wussten wir nicht.

Die Bruchstelle in dem Eis, das bisher zwischen mir und meinem Kommodore gestanden, war wieder zugefroren. Er machte seine gewöhnlichen Spaziergänge an Deck, und wir waren wieder Luft füreinander. Aber es war ein warmes Eis. Wir befanden uns ja nahe dem Äquator.

— • —

53. Kapitel
Der Krieg im Frieden

Originalseiten II.399 — 408

Wenige Tage nach diesem Vorfall mussten wir uns direkt auf dem Ä quator befinden. Nach der letzten Bestimmung, die ich kurz vor Mitternacht nach den Sternen gemacht, waren wir von ihm nur noch vierzehn Seemeilen entfernt gewesen, dann umzog sich der Himmel; ohne Gestirne ist keine geografische Ortsbestimmung möglich, und auch ein Loggen gab es nicht, weil wir von einer Strömung getragen wurden, deren Schnelligkeit ich nicht kannte.

Der Wind flaute immer mehr ab, dann begann die See zu dampfen; ein undurchdringlicher Nebel entstand, der in dieser Zone wohl selten ist, aber doch hin und wieder auftritt, und zur Zeit des Sonnenaufgangs herrschte eine sonst hier ganz unbekannte Dämmerung, bei völliger Windstille.

Die Chancen waren gut. Ich wusste bestimmt, dass, sobald die Sonne ihre Wärmekraft entwickelte, ein Nordostwind einsetzen würde, während wir seit einigen Tagen immer Südwest gehabt hatten, dem ich entgegengedampft war.

Das kann man sich nach den Windtabellen berechnen — wunderbarerweise für diese Äquatorialzone der Passate und Monsune von Immanuel Kant aufgestellt, der nie aus den Mauern seiner Heimatstadt Königsberg herausgekommen ist, alles Hinzugekommene ist nur Verbesserung — das hat der erfahrene Seemann auch schon in der Nase, wie der Delfin, der immer dorthin schwimmt, von wo der nächste Wind kommen wird, und setzt dieser ein, dann ändert er seine Richtung abermals dorthin, von wo er den nächsten Wind erwartet, mit untrüglicher Sicherheit — und so hatten mir schon gestern Delfine dasselbe erzählt.

Richtig, achtzehn Minuten nach sechs, da rollte der Nebel wie eine Wolke dem Südwesten zu, der Wind, der ihn treibt, versucht noch rasch aus der gefügigen Nebelmasse möglichst viele phantastische Figuren zu bilden, unter anderen sehe ich auch ganz deutlich einen zweimastigen Schoner...

Doch nein, das ist kein Nebelgebilde, das ist wirklich ein Schiff. Aber man hat seine Mühe, es von einem Nebelgebilde zu unterscheiden — und wie ich noch so hinblicke und simuliere, dass das nach den schlanken Formen eine Jacht sein kann, als zweimastiger Schoner getakelt, da steigt dort drüben in dem grauen Nebel, der dieses Schiff noch immer wie ein Flor umgibt, während wir schon im hellen Sonnenschein liegen, eine blaue, dunklere Rauchwolke auf — und da sehe ich von dort einen Vogel geflogen kommen, aber ganz unheimlich schnell — und da trifft mich, der ich auf der Kommandobrücke stehe, nach einem vorausgehenden Sausen ein Luftdruck, dann dröhnt in meinen Ohren ein brüllender Knall, und gleichzeitig ist hinter mir die Schornsteinkette gerissen, nur so weit von mir entfernt, dass ich sie mit der Hand erreichen kann.

Hallo!! Die beschießen uns mit Kanonen!! Die erste Kugel oder Granate hatte unsere Schornsteinkette durchschnitten — einen Meter voraus, und sie hätte meinen Kopf mitgenommen.

Sie hatte das letztere auch wirklich. Ich hatte meinen Kopf verloren.

Ja, du lieber Gott, wenn man so mit seinem Schiffe im tiefsten Frieden daliegt, man freut sich, dass man lebt — und da schickt einem ein anderes Schiff in dem Augenblick, da man es sieht, als Morgengruß eine Kanonenkugel zu — was soll man denn davon denken? Da muss man ja ganz kopfscheu werden!

Entweder träume ich, oder das sind Räuber, dachte ich, und dann brüllte ich:

»Hiss die Flagge!!!«

Alle an Deck befindlichen Leute hatten es gemerkt, der Kanonenschuss war doch auch nicht zu überhören gewesen, jetzt nach der ersten Lähmung schrien sie und zeigten nach dem Schornstein — und dann stürzten die Flaggengäste davon.

Gleichzeitig mit unserem Sternenbanner ging auch drüben genau dasselbe hoch, also ebenfalls ein Nordamerikaner — dann wurden weiter am Besanmast die bunten Lappen gehisst — ›Sturmbraut, New York‹, sagte mein Schiff — ›Yankee III., New York‹, wurde drüben gemeldet.

Auch noch ein Landsmann von mir! Sogar aus derselben Heimatstadt! Nur dass mein Schiff nicht direkt in New York geboren war. Aber deshalb brauchte der mich doch nicht gleich mit Granaten zu bombardieren, dafür konnte ich doch nichts.

Ich kam nicht dazu, auch meinen Namen als den des Kapitäns zu melden, wie es sich gehört, denn schon vorher kletterten drüben wieder die bunten Lappen in die Höhe, die aber auch nicht den Namen des Schiffsführers sagten.

»Verzeihung, Verwechslung«, übersetzte ich, ohne viel das internationale Flaggenbuch befragen zu müssen.

Eine nette Verwechslung! Ja, auf wen hatte es denn der Schoner sonst abgesehen? Jetzt war doch gar kein Krieg? Überdies zeigte der Schoner auch nur die einfache Handelsflagge.

Drüben ging die Flaggenreihe herunter und eine neue hoch.

»Schaden angerichtet?«

»Schornsteinkette zerschossen«, ließ ich zurücksignalisieren.

»Wie viel Schadenersatz?«

Oho, mit den drei Talern, welche diese Kette kostete, sollte das nicht abgetan sein, auch nicht mit tausend Pfund Reugeld! Die sollten mir erst hier an Bord meines Schiffes Rede und Antwort stehen, unter Umständen mich kniefällig um Verzeihung bitten!

Aber es sollte nicht dazu kommen — oder doch in ganz anderer Weise.

Jetzt ließ ich erst meinen Namen melden, zur Einleitung des Weiteren — da aber sahen wir aus der Nebelwand, die noch im Süden stand, vom streichenden Winde scharf begrenzt, ein zweites Schiff auftauchen, eine Brigg, aber auch mit schlanken Jachtformen, und auch die vom Schoner hatten sie sofort erblickt, und da gab es kein Signalisieren mehr, die letzten Flaggen wurden heruntergerissen, und die Matrosen flogen die Wanten hinauf, die Segel entrollten sich — und ebenso ging es auf der Brigg zu, die eben in den Wind kam — und jetzt zeigte sie die englische Handelsflagge, nichts weiter — und nun die beiden Jachten aufeinander los — als sie eine Entfernung von etwa tausend Metern zwischen sich hatten, gingen beide über Stag, wendeten elegant wie die Ballerinen — so segelten sie in diesem Abstand aneinander vorüber, und nun...

Bruch!!! sagte zuerst die zuletzt gekommene Brigg, legte sich auf die Seite, als wolle sie kentern, und es waren wenigstens sechs Feuerschlünde, die gegen den Schoner losspien.

Aber das ließ sich dieser nicht gefallen — der sagte noch etwas ganz anderes — bruch bruch bruch!!! — und das waren mindestens zehn Kanonen, mit denen er antwortete — und nun wieder schnell gewendet oder vielmehr gehalst, mit dem Winde, wodurch sie sich näher kamen, und im Vorbeisegeln wieder eine volle Breitseite abgegeben, beide gleichzeitig!

Ich zweifelte einfach an meinem Verstand. Das ging nämlich so fix. Eins, zwei, drei, war die regelrechte Seeschlacht fertig, die erste, die ich in meinem Leben zu sehen bekam. Immer fröhlich mit der Handelsflagge.

Wieder gewendet, wieder gehalst, Pulverdampf und donnernde Breitseiten und einzelne Kanonenschüsse, dazwischen ab und zu ein gellendes hip hip hip hurra!!! — und die zerfetzten Segel flatterten davon, und die Stengen knickten, und die Masten brachen. Sonst lässt sich so etwas nicht weiter schildern. Ich starrte mit weit aufgerissenen Augen hin.

»Die dudlieren sich«, hörte ich den dämlichen Fritz sagen. Ja, da hatte er wohl einmal das Richtige getroffen.

»Hip hip hip hurra!!!«, heulte es da abermals gellend, »hip hip hip... hurra for Old England!!«

Sie hatten recht, um den Amerikaner war es geschehen. Ich hatte es schon vorher bemerkt. Die ganze Takelage weggeschossen, nur noch einen einzigen halben Mast habend, hatte der Schoner schon seit einiger Zeit bedenklich geschaukelt, dann wurde sein Sinken sichtbar, die Mannschaft hatte das Feuern bereits eingestellt, die schon ausgeschwungenen Boote, in die sie sprangen, brauchten gar nicht mehr herabgelassen zu werden, sie befanden sich schon ganz nahe der Wasserfläche.

Da noch einmal ein Schuss aus einem Deckgeschütz — ich sah ganz deutlich den Mann, der ihn abgefeuert, auch er sprang in das nächste Boot — und da sackte der Schoner in die Tiefe hinab, begleitet von dem Triumphgeheul der Engländer.

Ohne die Boote zu zählen, wandte ich meine Aufmerksamkeit der Brigg zu, die ich die letzte Zeit aus dem Auge gelassen hatte. Auch sie war arg mitgenommen. Wenigstens die Hälfte der Takelage...

Mehr konnte ich nicht konstatieren. Eine mächtige Rauchwolke, eine Feuergarbe, ein donnerndes Krachen, wir empfanden einen starken Luftdruck, aber einen ganz anderen, als da vorhin die Kugel an mir vorbeigesaust, einige in sorgloser Stellung dastehende Leute wurden gleich zu Boden geschleudert, ich drehte mich noch nachträglich nach der Seite, schützend die Hände vors Gesicht schlagend — und als ich im nächsten Moment wieder hinblickte, war von der englischen Brigg nichts mehr zu sehen.

Der letzte Schuss hatte auch ihr den Rest gegeben. Direkt in die Pulverkammer konnte die Kugel wohl nicht eingeschlagen sein, im Moment die Explosion erzeugend, denn eine halbe Minute war wenigstens noch vergangen. Aber schuld gewesen war diese letzte Kugel oder Granate, das war ganz offenbar. Da plautzte es noch einmal, in meiner dichten Nähe, und vor mir auf der Kommandobrücke lag ein menschliches Bein, am Knie abgerissen, bekleidet mit Strumpf und Schnürschuh. Die dazugehörige Hose hatte das Bein dort drüben zurückgelassen.

Dieses halbe Bein war der letzte Rest von der eleganten Brigg. Wenigstens für meine Augen. Wir waren zu weit entfernt, um mit den bloßen Augen Trümmer und Menschenköpfe zu entdecken, und ich hatte keine Zeit mehr, nach dem Fernrohr zu greifen.

Nur einen Blick auf das blutige Bein, und ich wusste, was ich zu tun hatte.

»Halbe Kraft voraus!!«, kommandierte ich durch das Sprachrohr, und in diesem Augenblick dachte ich, der ich früher gegen jeden Dampfer immer einen Widerwillen gehabt, an die armen Heizer und Kohlenzieher, welche auch in ihrem Revier ganz sicher die donnernden Kanonenschüsse gehört hatten und nun gar nicht wussten, was da oben eigentlich los war.

Denn dass sonst alle meine Jungen an der Bordwand standen, das ist doch selbstverständlich, und kein Heizer von der Freiwache dachte daran, nach unten zu gehen und seinen Kameraden etwas davon zu erzählen.

Und Tischkoff? Ich blickte mich doch einmal nach ihm um. Nein, der hatte für Kanonenschüsse und dergleichen kein Interesse. Oder der war vielleicht wieder einmal ein bisschen tot.

Sonst habe ich nachträglich nur noch zu erwähnen, dass sich die beiden Schiffe offenbar vorgesehen hatten, nicht uns in die Schusslinie zu bekommen. Sie hatten ausschließlich immer zwischen Süden und Norden geschossen, und wir kamen von Osten.

Der zuerst durch die Schüsse gesunkene amerikanische Schoner hatte, wie ich jetzt zählte, vier Boote ausgesetzt, alle ziemlich dicht mit Menschen gefüllt. Das eine Boot fischte noch auf, es mochten doch einige ins Wasser gestürzt sein, die anderen drei strebten schon der Stelle zu, wo die englische Brigg in die Luft gegangen war, und das war auch mein erstes Ziel, um zu retten, was noch zu retten war, und ich kam noch eher hin als die Boote.

Planken, Splitter und dazwischen schwimmende Menschen, von denen sehr viele das Wasser ihrer Umgebung mit Blut röteten, und manche sanken noch vor unseren Augen unter, um vorläufig nicht wieder aufzutauchen.

Kurz vor der Unglücksstelle ließ ich stoppen und vier Boote aussetzen. Denn da gab es sicher viele, die nicht mehr imstande waren, ein zugeworfenes Seil zu erfassen.

Ich selbst ging mit in eine Jolle, übergab aber, um das Ganze immer im Auge behalten und kommandieren zu können, das Steuer dem Bootsmann.

Wir fischten alles Lebendige auf, was wir packen konnten. O, das sah aber bös aus! Manche starben uns unter den Händen, und da gab es Menschen ohne Finger, Hände, Arme und Beine die schwere Menge. Doch viele waren auch ganz unverletzt, nur mit verbrannten Haaren und pulvergeschwärzten Gesichtern, einige aber schienen wieder gar nichts abbekommen zu haben.

Einen sehr starken Mann bekamen zwei Matrosen nicht gleich ins Boot, wie sie auch am Hosenbund zogen.

»Fass die Been, fass die Been!!«, schrie der Bootsmann.

Jawohl, der hatte gut kommandieren — der Mann hatte keine Beine mehr.

Wie er sich noch, so schrecklich verstümmelt, hatte auf dem Wasser halten können, war mir ein Rätsel.

Mir selbst war so etwas noch nicht passiert, ich hatte keine Erfahrung.

Dann erwischte ich einen Mann, vor dessen Gesicht auf dem Wasser zwei blonde Bartkoteletten schwammen und seitwärts ein Ohr, nur noch an einem Faden hängend. Als ich ihn heraus hatte, zeigte sich ein Sportkostüm mit Kniehosen.

»Thank you very much«, bedankte er sich, als er im Boote saß, und griff... nicht nach seinem herabhängenden Ohre, nicht nach der blutenden Stelle, wohin dieses Ohr eigentlich gehörte — sondern er griff in die Brusttasche, brachte ein Etui zum Vorschein, öffnete zwei Klappen, die wohl wasserdicht abschlossen, nahm eine Zigarre, knipste die Spitze bedachtsam mit den langen Fingernägeln ab und wandte sich an einen meiner Matrosen.

»Haben Sie etwas Feuer bei sich?«

Doch ich hatte keine Zeit, den kuriosen Kauz weiter zu beobachten.

Ich hatte gerade einen schnauzbärtigen Kerl im Auge, der sich an eine Planke geklammert, und jetzt verlor er die Besinnung, er ließ die Planke fahren...

»Dort, dort — streich steuerbord!«, schrie ich dem Bootsmann zu, auf den Mann deutend. Die Ruderer gehorchten nicht, das Kommando blieb aus. Ich blickte nach Enoch.

Was hatte der Kerl plötzlich? Das gesunde, etwas versoffene Gesicht des krummbeinigen Finnländers war plötzlich fahl geworden, bis in die sonst rote Nasenspitze hinein, mit weit hervorquellenden Augen stierte er nach dem schnauzbärtigen Manne, auf den ich deutete.

Da wurde ich durch ein anderes Boot von selbst dorthin gedrängt, kam in die dichte Nähe des Besinnungslosen, der aber durch eine Welle mit dem halben Oberleib auf die Planke gehoben worden war, ich bog mich über die Bootswand, packte zu...

»Halt, Käpt'n halt!!«, schrie da plötzlich Enoch, ganz außer sich. »Lat see swimmen, Käpt'n lat see swimmen!!«

Ich wusste nicht, was der Kerl wollte, er musste plötzlich verrückt geworden sein. Das war doch keine ›see‹, keine ›sie‹, das war doch ein Mann.

Ich hatte ihn halb im Boote.

»Smeet see wedder rin, Käpt'n, smeet see wedder rin!!«, heulte da Enoch abermals. »Dat is dr Düwel, dr Düwel — smeet see wedder rin!!!«

Ich hatte den Mann ins Boot geholt.

Nanu, was war denn das? Der trug ja einen Frauenrock. Und — und — auf dem Kopfe ein sogenannter Kauz, so einen zusammengerollten Haarzopf. Nicht gerade allzu üppig, vielmehr recht dürftig. Aber immerhin...

I natürlich, das war doch ein Weibsbild, wenn sie auch einen ganz stattlichen Schnauzbart hatte!!

»Smeet see wedder rin, Käpt'n, lat see versupen!!«, fing da mein Bootsmann abermals zu heulen an. »Dee hädd nich nur Haar unner de Näs, dee hädd'n Düwel in de Lief, dee verstinkert unse ganze Schipp — smeet see wedder rin, Käpt'n!!«

Ich hatte jetzt anderes zu tun, als auf so etwas zu achten, sprang gleich darauf auch in ein anderes Boot.

— • —

54. Kapitel
Old England II. und Yankee III.

Originalseiten II.408 — 439

Die Geretteten wurden an Deck der ›Sturmbraut‹ gebracht. Auch die vier Boote des amerikanischen Schoners hatten brav mitgeholfen. Aber auch sie hatten Verwundete genug, welche das Fallreep nicht benutzen konnten, sondern mit Schlingen unter den Armen emporgezogen werden mussten.

Das allgemeine Durcheinander kann nicht geschildert werden. Ich behielt, was ich an Verletzungen auch zu sehen bekam, einen kalten Kopf. Wenn ich vor etwas bangte, so war es nur das, dass ich dann wahrscheinlich als Chirurg auftreten musste.

Doch bald war ich meiner Sorge enthoben. Ich bemerkte einen Mann, der schon anordnete, wie die Matrosen den und jenen Verletzten beim Tragen anzufassen hätten.

»Schiffsarzt?«

»Yes.«

Mehr Worte wurden jetzt nicht gewechselt. Es galt, die Verletzten im Zwischendeck unterzubringen, das schnell als Lazarett eingerichtet wurde.

Sonst konstatierte ich noch, dass die meisten der geretteten Leute Novascotiamen waren, und zwar sowohl die englische Brigg wie der amerikanische Schoner musste mit solchen bemannt gewesen sein, wenn auch noch andere typische Gesichter wie deutsche und skandinavische darunter waren.

Das merkte ich gleich an dem englischen Dialekt, den sie samt und sonders sprachen, und nicht minder an ihrer unglaublichen Rohheit.

Denn die Schiffer von Nova Scotia — das ist die große Halbinsel von EnglischNordamerika, also Kanada, die Hauptstadt ist Halifax — sind das roheste Pack von der ganzen Welt. Es sind tüchtige Seeleute, verwegene Teufel, aber auch den harmlosesten ihre Flüche kann ich hier nicht einmal andeuten, diese Redensarten, mit denen sie alles belegen, sogar jedes Stück Brot, sind selbst für einen anderen Matrosen haarsträubend, und Mord und Totschlag sind auf jedem Novascotiaman an der Tagesordnung, und der deutsche oder englische oder skandinavische Matrose, der einmal auf solch einem Novascotiaman gefahren, ist diesem verfallen, kann nicht wieder davon lassen — es geht ihm wie dem Sünder, dem Spieler, dem Trunkenbold, er ist dem Teufel verfallen — jetzt nennt auch er sich mit Stolz einen Novascotiaman und wird als solcher von den anderen Seeleuten ebenso verachtet wie bewundert.

NovaScotiaSchiffe, fast ausschließlich Segler, darunter vier- und fünfmastige, fahren fast nur nach China, um Tee zu holen, und was die NovaScotiaMatrosen sonst noch unter den übrigen seefahrenden Nationen — denn Nova Scotia führt als englische Kolonie eine eigene Handelsflagge, auch schon ganz seltsam — für eine eigentümliche Rolle spielen, das werde ich noch später zu schildern haben.

Ich war fest überzeugt, dass die Rettungsmannschaft in den vier Booten des amerikanischen Schoners manchen nicht aufgenommen hatten, weil er schon zu sehr verstümmelt war — der stirbt ja sowieso, was sollen wir uns erst mit dem herumplacken, lasst ihn ersaufen — ihr Mitleid war höchstens so weit gegangen, dass sie dem Betreffenden noch eins mit der Ruderstange über den Kopf gegeben hatten.

Im Boote selbst hatte ich nichts davon bemerkt, es war mir entgangen, aber hier noch wurde ich es gewahr.

Mit zwei Schlingen wurde ein Mann heraufbefördert, dem beide Arme fehlten; jedenfalls waren sie abgequetscht worden, die Stumpfe bluteten gar nicht, und der Mann war bei Besinnung.

»Was willst du denn mit dem Krüppel, Ned?«, rief ein brutal aussehender Kerl. »Der macht's ja doch nicht lange mehr — über Bord mit ihm!«

Er packte den Armlosen, im nächsten Augenblick hätte dieser wieder im Wasser gelegen, wenn ich jenem nicht in die Arme gefallen wäre.

Der Kerl stierte mich wild an.

»Was willst du Hundesohn von mir?!«, brüllte er mich an. »Hand weg, oder...«

Der Hundesohn hatte schon genügt, meine Faust sauste ihm in den Nacken, er klappte zusammen.

Ringsherum ein Wutgebrüll, überall erhobene Fäuste, schon gezückte Messer, um die Züchtigung des Kameraden zu rächen.

Das war aber nun gerade so mein Fall. Ich erschrecke sehr leicht über etwas, was nicht gleich in meinen Kopf gehen will, weil ich es mir ganz anders vorgestellt habe, nur bei so etwas nicht.

»Hände nieder, ihr Himmelhunde!!!«, donnerte ich. »Ich bin der Kapitän des Schiffes!!!«

Bei diesen Worte aber ließ ich es nicht allein bleiben, gleichzeitig hatte ich mir den längsten Lümmel ausgesucht, einen herkulisch gebauten Kerl, der mit erhobenem Messer dastand, meine Faust fuhr ihm zwischen die Augen, er stürzte wie ein gefällter Stier zu Boden.


Illustration

Das hatte gewirkt. Die Hände sanken herab, überall scheue oder erschrockene Gesichter.

»Der Kapitän — warum hat er's nicht gleich gesagt?«, wurde scheu geflüstert.

Ja, allein die Erklärung, dass ich der Kapitän sei, hatte gewirkt, mehr noch als mein Faustschlag. Denn nirgends ist die Mannszucht so furchtbar streng, wie auf den NovaScotiaSchiffen, kein Seegericht verurteilt so furchtbar hart wie das von Halifax.

Aber schließlich war meine Kraftprobe dennoch nötig gewesen. Denn dem Kapitän, der nur immer drohende Worte hat, sonst sich aber als Waschlappen erweist, wird ja doch auf der Nase gespielt.

Dann ließ ich mir schnell meine Jacke mit den Rangabzeichen kommen, mit dem Revolver darin, diesen zeigte ich und erklärte, dass jeder ein toter Mann sei, der hier aus einem noch lebenden oder schon toten Menschen Haifischfutter mache oder sonst irgendwelche Ausschreitungen begehe.

Dass sie bereits im Boote verschiedene Kameraden und selbst noch lebende Krüppel hier über Bord geworfen hatten, erfuhr ich jetzt von meinen Leuten, das sagten mir auch selbst die sich immer mehr einstellenden Haifische, deren Umgebung von Blut gerötet war.

Ein Glück war gewesen, dass zur Zeit der Katastrophe keine Haifische die beiden Schiffe umschwärmt hatten, die Hyänen des Meeres hatten erst nachträglich die leckere Beute gewittert.

Mein Abzeichen und mein Auftreten taten ihre Schuldigkeit, es kamen keine weiteren Brutalitäten vor, und das gotteslästerliche, unbeschreibliche Fluchen — das ›unbeschreiblich‹ soll also noch eine Verstärkung des ›gotteslästerlich‹ sein, meine Feder würde sich sträuben, nur einen einzigen dieser Flüche wiederzugeben, obgleich ich selbst genug fluchte — das also überhörte ich, es waren eben Novascotiamen, und vom Teufel kann man nicht verlangen, dass er das Vaterunser betet.

Aus dem allgemeinen Durcheinander kann ich sonst nur einige Figuren und Szenen hervorheben.

Ich sah wieder den Mann mit den Bartkoteletten und den Kniehosen. Er hatte schon den Kopf verbunden, und so stand er da, die Zigarre im Munde, und betrachtete tiefsinnig ein menschliches Ohr, welches er in der Hand hielt, sein eigenes Ohr — eine ganz merkwürdige Stellung, die an sich schon etwas Humoristisches hatte, wie der so bedächtig sein eigenes Ohr betrachtete, dabei gemütlich seine Zigarre rauchend.

»Doktor!«

Der Mann, den ich schon als Schiffsarzt erkannt, blieb auf seinem hastigen Wege stehen.

»Mr. Brown?«

»Gibt es nicht ein Mittel, um so ein Ohr zu konservieren — für immer?«

»In Spiritus, ja.«

»In Spiritus? Hm. Nee. Anders. Ich möchte mir mein Ohr gern an die Uhrkette hängen...«

Mehr hörte ich nicht. Ich hatte anderes zu tun, musste überall sein.

Gedanken fuhren mir ja deshalb genug durch den Kopf.

Der mit Brown Angeredete war jedenfalls der Besitzer der englischen Brigg, und zwar wohl schwerlich gleichzeitig der Kapitän, sonst hätte ihn der Schiffsarzt doch wahrscheinlich auch so genannt.

Die Kapitäne und Offiziere waren nicht zu erkennen, alles ging ja in Hemdärmeln, wenn nicht die ganzen Sachen zerfetzt und verbrannt waren, und die Offiziere mochten wohl den Tod gefunden haben.

Dann sah ich einen anderen über Deck spazieren, bei dem war noch zu erkennen, dass er noch vor kurzem ein weißes, elegantes Tropenkostüm getragen, und auch den hielt ich für keinen Seemann, das glattrasierte Gesicht mit der etwas schiefen Nase war das eines englischen Jockeys.

Er trug den rechten Arm in der Binde, und jetzt bückte er sich, hob mit der linken Hand etwas auf.

Es war das halbe abgeschlagene Bein, welches mir auf der Kommandobrücke vor die Füße gefallen war. Auf irgendeine Weise war es von dort oben herunter auf Deck gekommen.

Er hob das Bein in die Höhe.

»Hört, Leute, wem gehört dieses Bein? Wer hat dieses Bein verloren?«

Ich kann gar nicht sagen, worin die überwältigende Komik lag, trotz allen Blutes. Aber es wird wohl verstanden werden. Ja, gerade dieses Blut gehörte dazu. Es gibt eben blutige Witze, und sie können wirklich gut sein. Obgleich der Mann jedenfalls gar keinen Witz machen wollte.

Er fragte also nach dem Besitzer dieses Beines, so etwa, als wenn man ein Portemonnaie gefunden hat und fragt, wer es verloren — so stand der Kerl da und hob das Bein hoch, sich dabei fragend umblickend — und außerdem nun, um die Komik noch zu verstärken, sprach der Kerl durch die schiefe Nase, wie ich noch keinen Menschen durch die Nase habe sprechen hören. Das lässt sich schriftlich nur leider nicht wiedergeben.

»Will's niemand haben?«, mauschelte er weiter durch die Nase. »Gehört's niemandem? Na...«

Er warf das Bein über Bord und schlenderte weiter. Vorstellungen gab es jetzt natürlich nicht. Jetzt hatten die Hände zu tun, und ich musste das Ganze leiten, wurde auch von niemandem gestört.

Dann aber passierte eine Szene, die ich doch länger beobachten musste, und sie war es auch wirklich wert.

Da war zunächst das Weibsbild, das ich aus dem Wasser gezogen. Es war auch noch bewusstlos an Deck gehievt worden, lag noch immer bewusstlos da, ich konnte es zur Genüge betrachten.

Ja, es war wirklich ein Bild, dieses Weib. Haare unter der Nase und auf der Nase und Haarbüschel überall im Gesicht, auf großen Leberflecken vegetierend. Es waren rote Borsten, an den Spitzen so etwas gräulich angehaucht, wie wenn der kalte Herbstwind über die gelben Stoppeln gegangen ist.

Und Knochen hat die im Leibe! Und diese Gelenke, diese Tatzen! Herr du mein Gott, wenn die einen vom stärkeren Geschlecht mit ihrer Liebe beglückte, und die haute einmal zu!

Der rot und blau gestreifte Rock hatte sich in die Höhe geschoben, und es zeigte sich, dass sie nicht nur mächtige Seestiefel trug, sondern auch richtige Männerhosen, in den Stiefeln steckend.

Ich hatte gerade eine Pause benutzt, um sie mir zu betrachten, als sie die Augen aufschlug.

»Herre Jasus!!«, schnarrte es aus ihrem schnurrbärtigen Munde heraus.

Schon diese zwei Worte sagten mir, dass es eine unverfälschte Irländerin sei, eine ganz waschechte Tochter des heiligen Patricks. Nun kann ich hier aber nicht Englisch schreiben, noch weniger jenes Englische wiedergeben, welches die Irländer sprechen, vermischt mit alten, irischen Ausdrücken. Es kann nur ein schwacher Versuch sein.

Sie sprang mit gleichen Füßen auf, griff sich schnell einmal an den Haarkauz, und dann schlug sie die knochigen Hände darüber zusammen.

»Herre Jasus, hat sich schon wieder kaput gegangen das scheene Schiff, ist sich in die Luft geflogen...«

Da erblickte sie einen Mann am Boden liegen, einen Neger, der schon seinen letzten Seufzer ausgehaucht hatte. Der Brustkasten war ihm eingedrückt.

Sie stieß einen wilden Schrei aus, raffte ihre Röcke bis zum Leib hoch und stürzte auf den Schwarzen zu, warf sich über ihn.

»Ist sich tot, ist sich wirklich tot!«, jammerte sie, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, aber in ihrer Weise, sie kitzelte den Neger am Halse und noch an anderen Körperteilen. »Kille kille kille — ist sich Kalolisle wirklich ratzentot — ui ui ui ui — kann sich Kalolisle keinen scheenen Whisky mehr trinken, muss sich arme Hullogan scheenen Whisky alleine trinken — muss sich arme Hullogan alleine besaufen...«

Ich kann gar nicht wiedergeben, was sie alles schwadronierte, noch weniger, wie sie das hervorbrachte und sich dabei benahm.

Sie hatte aus der Tasche ihrer Unterhose eine große Flasche zum Vorschein gebracht, halb gefüllt, setzte die Pulle dem Toten vor den Mund, und weil der Tote nicht schlucken wollte, machte sie ihm den Mund auf und trichterte ihm den Schnaps ein, ihm dabei die Nase zuhaltend, immer jammernd und schwadronierend, immer einmal ein ›Herre Jasus‹ dazwischen, dann trank sie selber, dann rieb sie dem Toten Brust und andere Körperteile mit Schnaps ein, dazwischen immer einmal schnell selbst einen Schluck nehmend.

Die umstehenden fremden Matrosen sahen zu, und denen schien das etwas Alltägliches zu sein, sie verzogen dabei keine Miene, machten keine Witze — und ich wusste nicht, ob ich mich davor entsetzen oder darüber lachen sollte. Meine Jungen taten das letztere, und ich konnte es ihnen auch nicht verübeln.

Doch es lässt sich eben gar nicht wiedergeben, wie sich diese haarige Megäre benahm und ausdrückte.

Ich wandte mich ab. Der Arzt verlangte leere, große Fässer. Wozu, wusste ich nicht. Er brauchte mehr Bahren, wie ich heraushörte, hielt dafür leere Fässer am geeignetsten, um darin gefährlich Verletzte, besonders solche mit aufgerissenen Leibern, zu transportieren, und jetzt verstand ich ungefähr, wie er das meinte.

Fässer herbeizuschaffen, das war Sache des Bootsmannes. Er hatte die Leute anzustellen.

Ich hatte ihn schon längst vermisst. Ich hatte ihn aus dem Boote an Deck klettern sehen, aber dann nicht mehr. Goliath, der ja auch der zweite Bootsmann war, vertrat seine Stelle, aber ich vermisste eben den ersten.

»Wo ist der Bootsmann? Wo ist Enoch?!«

Matrosen brachten leere Fässer angerollt. Der Arzt ließ einen Boden einschlagen, ein schrecklich Verstümmelter, dem die Eingeweide aus dem Leibe quollen, wurde in das Fass gepackt, sodass nur Kopf, Hände und Füße oben heraussahen, mit dem Leibe bildete er in dem Fasse einen ganz engen Winkel. So wurde er nach dem Lazarett getragen, auch später musste er noch in dem Fasse in dieser unnatürlichen Lage bleiben, nur wurde dann das Fass mehr ausgepolstert.

So hat jeder Arzt seine eigenen Kniffe, die ihn die Erfahrung gelehrt, und diese Praxis hier hat sich bewährt, die schreckliche Bauchwunde des Mannes, der sich nicht rühren konnte, heilte überraschend schnell, und da dann auch der untere Deckel ausgeschlagen wurde, konnte der Arzt seinen Patienten immer vorn und hinten besichtigen, ohne ihn aus seiner Lage bringen zu müssen.

Es war noch ein anderer mit solch aufgerissenem Leibe da, der Arzt hatte nur zwei Fässer haben wollen, oder vielleicht auch mehrere, um auswählen zu können, meine Jungen aber brachten natürlich alle Fässer angeschleppt, die sie im Proviantraum leer fanden, und da sie sahen, dass der Arzt den Deckel einschlug, präparierten sie hilfsbereit sämtliche Fässer so, auch das kleinste Senffässchen, in das nicht einmal ein Karnickel ging. Die wussten ja gar nicht, um was es sich handelte.

Ich aber vermisste noch immer den krummbeinigen Bootsmann.

»Zum Donner, wo ist denn Enoch nur?!«

Einige Matrosen, mich in so etwas kennend, hatten sich schon speziell auf die Suche nach den krummen Beinen gemacht. Der Bootsmann sei im ganzen Schiffe nicht zu finden, lautete dann ihr Bescheid.

Jetzt wurde ich wild, auch ich konnte fluchen, freilich kindlich harmlos gegen die Novascotiamen.

Hätte ich ihn nicht schon wieder an Deck gesehen, dann hätte ich geglaubt, er sei noch im Boote verunglückt. Aber davon hätte auch ein oder der andere Matrose etwas wissen müssen, und auch diese hatten ihn schon gesehen.

Da wurde wieder ein großes Fass herbeigerollt, der Deckel eingeschlagen, der Matrose blickte hinein und...

»Da steckt ja der Bootsmann drin?!«, erklang es in grenzenlosem Staunen.

Ich wollte es nicht glauben, es kam doch auch niemand zum Vorschein, ich blickte hinein — wahrhaftig, da kauert dort unten mein Bootsmann, die krummen Beine wie ein Türke in die Höhe gezogen.

»Nanu, was soll denn das bedeuten, Enoch?!«

Aber Enoch blieb zusammengekauert.

»Ach, Käpten, Käpten, is see tut?«, erklang es in kläglichstem Tone.

Auf mich war unterdessen so viel eingestürmt, dass ich die vorige Szene, wie der Bootsmann schon beim ersten Anblick des schnauzbärtigen Weibes solches Entsetzen gezeigt, ganz vergessen hatte, auch seine mir rätselhaften Worte, das Frauenzimmer schwimmen zu lassen oder dann wieder über Bord zu werfen.

»Nun aber mal heraus mit dir!! Bist du denn verrückt geworden? Dann an die frische Luft! Heraus aus dem Fasse!!«

Solchem Befehle, im dazu gehörigen Tone gesprochen, wagte der Bootsmann nicht mehr zu trotzen, er erhob sich, freilich mit einem unsäglich ängstlichen Gesicht, und als er aufrecht stand, konnte der kleine krummbeinige Mann mit dem Kopfe eben über den Rand des Fasses blicken. Er legte die Arme auf ihn, um herauszuklettern — es sollte nicht dazu kommen.

Das Weibsbild war unterdessen wie ein Flederwisch immer über Deck gefegt, hatte überall helfen wollen, hatte aber immer etwas Wichtigeres gesehen, und so kam sie niemals zur Ruhe.

Jetzt wollte sie auch die Fassdeckel mit einschlagen helfen, kam herangefledert — da sah sie den herausblickenden Kopf des Bootsmannes, und erstarrt stand sie da.

»Enoch Sture!!«

Doch die Erstarrung hielt nicht lange an. Dann fuhr sie auf das Fass los.

»Also hier bist du — hat sich die ganzen zwanzig Jahre im Fasse versteckt — i du Lausbub du, du Satansbraten — hat sich alles gemaust, was sich arme Hullogan ehrlich verdient hat sich — hundertvierzehn Pfund vier Schilling six Pence — schwer verdient sich in zwanzig Jahren — i du Lausbub, du Haderlump — will sich doch herauskriegen aus seinem Fasse...«

Und sie ging tatsächlich vor. Der Bootsmann wartete das natürlich nicht ab, er hatte sich wieder in seinem Fasse zusammengeduckt. Und Madam Hullogan — ein echt irischer Mädchenname — besaß wohl für eine Frau normale Größe, konnte aber doch nicht recht in das Fass blicken, noch weniger mit den Armen bis auf den Boden reichen — im Nu hatte sie eine Handspeiche von der Bordwand geholt, stieß damit immer in das Fass, immer schimpfend und schwadronierend, aber die Handspeiche reichte auch noch nicht.

Doch Madam Hullogan wusste Rat.

»I du krummbeiniges Teufelsvieh — wird sich Hullogan dich doch kriegen...«

Mit diesen Worten hatte sie schnell das Fass umgekippt und kroch sofort hinein, um des Mannes habhaft zu werden, der ihr, soweit das bisher herauszuhören gewesen war, eine Summe Geld entwendet hatte, mehr als hundert Pfund.

Aber sei es, dass Enoch das Fass in Vorahnung schon vorher präpariert hatte, oder dass ihm die Todesangst Riesenkräfte verlieh, und Bärenkräfte besaß dieser Finnländer überhaupt schon — kurz, auch der andere Deckel sprang von innen auf. Enoch schlüpfte heraus.

Einen angsterfüllten Blick um sich — eng im Kreise standen die lachenden Matrosen, da war so leicht kein Durchkommen — und jetzt erschien in der hinteren Öffnung auch schon wieder das schimpfende Weib — mein Enoch also schnell um das Fass herum und wieder zur anderen Seite hinein — das Weib blickte sich um, sah den Entwischten nicht — doch, schon wieder drin im Fasse — also Madam Hullogan, immer aus Leibeskräften schimpfend, ebenfalls schnell herum, wieder ins Fass und ihm nachgekrochen — und mein Bootsmann schnell wieder heraus und abermals von der anderen Seite ins Fass gekrochen, dabei wohl aufpassend, dass sie nicht etwa einmal von vorne kam, und so ging dieses Karussellspiel noch eine Zeit lang weiter, genau so, wie mich damals der Stier um den Baum herumgejagt hatte.


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Die Umstehenden brüllten vor Lachen. Und ich mit.

Es sah auch gar zu possierlich aus, wie die beiden immer durch das Fass krochen, und nun dieses haarige Weib, was für Ausdrücke das hatte, wenn es so beim Durchkriechen immer die Seestiefel und die grauen Männerhosen zeigte, die aber hinten ganz bedeutend aufgeplatzt waren — und erst der krummbeinige Bootsmann, mit was für einem Gesicht der immer hinter sich blickte, wie der aufpasste, dass sie nicht einmal von vorn kam — wie so ein Affe, der verfolgt wird — es war zum Totlachen!

Dann erspähte der Bootsmann in der Menschenwand eine Lücke; schnellstens verschwand er hindurch, und seine Kameraden schlossen die Lücke wieder.

Ich hatte keine Zeit, mich weiter darum zu kümmern, meine Jungen würden mit dem schimpfenden, fauchenden und kratzenden, wohl auch boxenden Weibe schon fertig werden.

Dagegen will ich hier gleich die Geschichte meines Bootmanns einfügen, wie ich sie dann, als wieder Ruhe im Schiff war, von ihm zu hören bekam.

Die Geschichte ist etwas pikant — ich werde mich so zart wie möglich ausdrücken. Aber auch sehr lehrreich ist sie, zumal für junge Eheleute, oder solche, die es werden wollen. Die Geschichte zeigt, wie jedes Ehepaar es zu einem Vermögen bringen kann, ohne Arbeit — oder diese Arbeit bereitet doch Vergnügen — nur darf es der Ehemann dann nicht so machen, wie mein Enoch.

Ich hatte gar nicht gewusst, dass mein Bootsmann schon verheiratet gewesen war, es eigentlich immer noch war. Der erste Offizier hatte mir den bereits ältlichen Herrn, sich den Fünfzigern nähernd, zugeführt, und Mahlsdorf hatte auch noch nichts von seinen früheren Lebensverhältnissen gewusst.

Also die Geschichte ist folgende:

Enoch Sture war in jungen Jahren als Matrose nach einem kleinen, irländischen Hafen gekommen, hatte sich in die Tochter eines Kapitäns verliebt, der so ein kleines Hafenfahrzeug fuhr — kein richtiger Kapitän, nur ein besserer Arbeiter — und der rote Flaum auf den Lippen der Geliebten hatte es ihm angetan, dass daraus eine Heirat wurde. Enoch kam auf den Kutter seines Schwiegervaters, hatte eine ganz hübsche Stelle, kam gemütlich jeden Abend nach Hause, sogar des Mittags.

Frau Hullogan musste schon als Mädchen sehr praktisch gewesen sein.

»Siehst du, Enoch«, hatte sie gesagt, als das verlobte Paar am Hochzeitstage noch einmal das mächtige Ehebett besichtigte, »hier an der Wand über dem Bett nagele ich einen Kasten an, oben mit einem Schlitz, das ist unsere Sparbüchse, und da steckst du jede Nacht einen Sixpence hinein, oder auch mehrere, damit unsere Kinder reiche Eltern kriegen oder damit wir doch in unseren alten Tagen einmal etwas zu leben haben.«

Gut, wurde gemacht. Also Meister Enoch steckte jedes Mal einen Sixpence in die Sparbüchse, ein Fünfgroschenstück, manche Nacht auch mehrere, zumal im Anfang. Da war das Hineinstecken leicht. Nach und nach aber ging das Stecken langsamer, das heißt, der Ehemann wollte nicht mehr jede Nacht ein Fünfgroschenstück in die über dem Bett hängende Sparbüchse stecken. Doch Frau Hullogan ließ nicht nach. Sie war überhaupt arbeitsam, sparsam, sogar geizig. Und dann war es doch auch wegen der Kinder, an denen es nicht fehlte. Allerdings starben diese immer gleich — dann ging es eben für das eigene Alter. Kurz, Frau Hullogan sorgte dafür, dass ihr Mann immer steckte — Fünfgroschenstücke in die Sparbüchse.

Und so ging das fast zwanzig Jahre lang fort. Meister Enoch musste immer in die Sparbüchse stecken, ob er wollte oder nicht. Frau Hullogan hatte unterdessen Bärenknochen bekommen und nicht nur Haare unter der Nase, sie setzte ihren Willen durch.

Zwanzig Jahre! Da kommt schon etwas zusammen, mit solchen Fünfgroschenstücken. Nun, sie hatte es ja selbst gesagt — hundertundvierzehn Pfund Sterling, vier Schilling und Sixpence waren es gewesen, die sie sich auf diese Weise zusammengespart hatten. Das sind 4560 Sixpencer. Also im Durchschnitt jährlich zweihundertzweiundzwanzig und ein halbes... Fünfgroschenstück.

Die Büchse wurde ab und zu geöffnet, aber nichts herausgenommen, nur das Silbergeld immer eingewechselt; denn Frau Hullogans Büchse wurde im Laufe jeden Jahres so voll, dass nichts mehr hineinging. Und die Sparbüchse wurde im Laufe der Jahre durch die vielen Goldstücke mächtig schwer, selbst ein größerer Nagel musste eingeschlagen werden, und Enoch steckte noch immer Fünfgroschenstücke hinein.

Eines Abends kam der treue Ehegatte nicht nach Hause, die ganze Nacht nicht. Niemals wieder.

Bei der Arbeit war er nicht verunglückt. »Der ist sich durchgebrannt«, sagte Frau Hullogan in prophetischer Ahnung.

Es vergingen Tage. Nun lag Frau Hullogan immer allein im Bett und äugelte nach ihrer Sparbüchse und rechnete sich aus, dass, wenn das so weitergegangen wäre, in hundert Jahren zweiundzwanzigtausendachthundertundfünfzig Fünfgroschenstücke hätten darin sein müssen.

Eigentlich schade!

So vergingen sogar acht Tage, ohne dass Enoch wiedergekommen wäre, als es Frau Hullogan einfiel, doch einmal die Sparkasse zu schütteln, um sich am Klange des Goldes zu erfreuen.


Himmelbombenelement noch einmal!!!
Will sich da gar nichts klingen!
Ist sich die Sparbüchse ganz leicht!
Ist sich gar nichts mehr drin!


Und nun war es ja ganz klar.

»Ist sich dieser Lausbub mit meinem sauer verdienten Gelde durchgebrannt!!«

Frau Hullogan rannte von Haus zu Haus und erzählte ihr Unglück, noch näher schildernd, auf welche Weise sie diese Fünfgroschenstücke so schwer verdient hatte.

Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. In diesem Falle brauchte es Frau Hullogan erst recht nicht. Sie hatte nur von einhundertvierzehn Pfund vier Schilling Sixpence gesprochen, die sie sich auf diese Weise verdient und zusammengespart — natürlich wurden in dem Fischernest alle Bleistifte in Bewegung gesetzt, um diese Summe in einzelne Sixpence umzurechnen, das Resultat wurde mit Kohle an Frau Hullogans Hauswand gemalt — und noch ganz andere Sachen dazu. — —

Ich greife also vor. Enoch erzählte mir dies erst später, und er schilderte, was für ein Geizteufel dieses haarige Weib gewesen sei, wie sie ihn schon vom ersten Jahre an tyrannisiert hätte, wie er schon immer und immer entschlossen gewesen wäre, ohne Abschied davonzugehen, was nur immer ihre Wachsamkeit verhindert hätte.

Ja, ich glaubte ihm. Ich hatte meine größte Mühe, ernst zu bleiben.

»Aber das war doch nicht nett von dir, Enoch, dass du auch ihr Geld mitnahmst.«

»Ehr Geld? Dat war mien Geld!«, verteidigte sich der kleine Krummbein entrüstet. »Ick häww dee größte Arbeet dabie ton, dat war mien suer verdeentes Geld!«

Ja, es war wirklich schwer, dabei ernst zu bleiben. Außerdem sei das ja nur eine besondere Sparkasse gewesen, sie musste noch vieles andere Geld gehabt haben; sie hatte dem armen Kerl ja jeden Penny abgenommen.

Enoch war dann wieder vier Jahre als Matrose und Bootsmann gefahren, bis er zu mir kam.

Frau Hullogan Sture hatte sich nicht viel auf die Polizei verlassen, sie hatte ihren Mann selber gesucht, nach ihrer Weise, es war doch nur so ein kleines Fischernest gewesen; auch sie war dann zur See gegangen, als Stewardess, oder wie man das nun sonst nennen mag, hatte auf einer Jacht so eine Stelle als Wirtschafterin bekommen, hatte die Wäsche und dergleichen unter sich gehabt — nicht immer auf demselben Schiffe, sie hatte es öfters wechseln müssen, aber immer unter ein und demselben Jachtbesitzer, wie wir gleich erfahren werden.

Die Verletzten waren geborgen, befanden sich unter den Händen des Arztes; die übrigen Matrosen wurden von meinen Jungen versorgt, die Steuerleute, soweit sie noch lebten oder noch gehen konnten, waren Gäste der Offiziersmesse, und an meiner Mittagstafel in der Kajüte nahmen drei Personen teil, Kapitän Sykomore von dem zusammengeschossenen amerikanischen Schoner, der ehemalige Besitzer desselben, Mr. Grant Fairfax, das war der mit der krummen Nase und dem geschienten Arme, und schließlich Mr. Ulysses Brown mit den Bartkoteletten und mit dem abgerissenen Ohre, das er sich gern an die Uhrkette hängen wollte.

Der Kapitän der englischen Brigg war bei der Explosion spurlos in der Luft verschwunden, so brauchen wir auch gar nicht seinen Namen zu wissen.

Ich war entschlossen, meinen Gästen die Würmer aus der Nase zu ziehen. Ließen sie sich das nicht gefallen, wozu ich sie freilich auch nicht zwingen konnte, so saßen sie hier bei mir zum ersten und zum letzten Male an der Kajütentafel, dann wurde jedem eine Kabine angewiesen, sie wurden als Fremde behandelt, wurden in Rio de Janeiro an Land gesetzt, aber nicht eher, als bis sie ihre Zeche bezahlt hatten, und das tüchtig.

Denn auch Schiffbrüchige werden nicht etwa umsonst an Bord genommen, das kostet sogar schweres Geld; Wohnung und Verpflegung werden zu teuren Schiffspreisen berechnet, beim Dampfer kommen die Kohlen hinzu — also schließlich wie bei der Eisenbahn, wie beim Passagierdampfer — dann wird jede Minute, die man sich bei der Bergung aufgehalten, auf die Rechnung gesetzt, und das muss alles die Reederei des gesunkenen oder im Stiche gelassenen Schiffes bezahlen. Wo natürlich nichts zu holen ist, da hat der Kaiser sein Recht verloren.

Doch meine drei Gäste waren mitteilsam — dann sollte es sie auch nichts kosten.

Da hatten sich die Richtigen zusammengefunden, und wenn sie auch einander Seeschlachten lieferten, nur zum Zeitvertreib — die passten zusammen.

Als ersten führe ich den siegreichen Engländer an, der erst nachträglich in die Luft geflogen war, den mit den Bartkoteletten und dem abgerissenen Ohre, Mr. Ulysses Brown.

Brown ist ein sehr gewöhnlicher Name, Ulysses schon weniger, und dieser passte auch für den Engländer, der von jeher ein auf der See herumirrender Odysseus — Ulysses ist Lateinisch, Odysseus Griechisch — gewesen war.

Also ein Jachtsportsman. Abenteuerte mit seinem Schiffe in der ganzen Welt herum, seit seinem achtzehnten Jahre, und jetzt war er vierunddreißig.

Woher nahm er dazu die Moneten? Der Mann hatte eine ganz merkwürdige Geldquelle, Goldquelle, Millionenquelle.

Kann man sich noch auf den Namen Professor Migargé entsinnen? So vom Anfang der siebziger Jahre an bis wieder Anfang der achtziger. Da war dieser Name in jeder deutschen illustrierten Zeitung zu lesen, nämlich hinten im Annoncenteile. Es war dabei immer ein Männerkopf abgebildet, mit mächtigem Schnurrbart und zeitweilig wohl auch mit großem Vollbart. Dann waren es manchmal auch zwei Köpfe, mit denselben Gesichtern, aber der eine Kopf hatte eine Glatze und der andere keine mehr. So sah ich früher aus, und jetzt gedeiht auf meinem Schädel dieser Schopf. Heil dem Professor Migargé!

Verstanden? Professor Migargé war in Deutschland der erste Haarkünstler — aber kein einfacher Friseur, auch kein Bürstenbinder — sondern er konnte nicht nur Gras, sondern auch Haare wachsen lassen, unter der Nase, auf dem Kopfe — überall, wo er wollte — das heißt, wo man mit seinem Haarwasser einschmierte.

Professor Migargé war der erste in Deutschland, der mit solchem Haarschwindel anfing, und er hat in etwa zehn Jahren viele Millionen verdient, zusammengesammelt von den Talern bartloser Jünglinge und mondscheinsüchtiger älterer oder auch jüngerer Herren, welche eben gern auf dem haarlosen Kopfe einen Schnurrbart haben wollten.

Heute hat Professor Migargé ungezählte Nachfolger, welche alle auf die reflektieren, die in der Welt niemals alle werden, und auch die sollen sich sehr gut dabei stehen.

Aber schon Professor Migargé war nur ein Nachahmer gewesen.

Da war schon lange vor ihm das BrowningWater. Ein wunderbares Elixier. Wenn man täglich einen alten Tisch damit einschmierte, wuchsen aus der Tischplatte Haare.

O, ich kannte dieses BrowningWater auch schon. Man konnte jede englische oder amerikanische oder spanische oder französische oder italienische Zeitung in die Hand nehmen, und nicht nur eine illustrierte — BrowningWater, BrowningWater, BrowningWater. Auch in Hansen seiner Kiste hatte ich einige solche leere Buttels gefunden, die Buttel drei Schilling.

Nur in Deutschland hat sich dieses welterlösende Mittel nicht recht eingeführt. Da ist ihm eben Professor Migargé zuvorgekommen.

Aber sonst beherrschte das BrowningHaarwasser und Bartwuchserzeugungsmittel die ganze unter Kultur stehende Erde und sämtliche benachbarte Dörfer.

Na, und mein Gast hier mit dem abgerissenen Ohre, Mr. Ulysses Brown, das war derjenige, welcher. Nicht gerade der direkte Beglücker der Menschheit — sein Vater hatte es schon erfunden.

Jetzt war es Aktiengesellschaft, aber wohl auch nur so dem Scheine nach, jedenfalls hatte Mr. Ulysses hier die meisten Aktien.

Er selbst wollte sich nicht mehr um das Geschäft kümmern, war nur noch stiller Teilhaber.

Wie viele Millionen er jährlich bezog... ich weiß es nicht. So weit ging die Dreistigkeit meiner Fragen nicht. Jedenfalls so viel, um sich in einem einzigen Jahre vier ansehnliche Schiffe kaufen zu können, welche er zusammenschießen ließ oder auf andere Weise zu verlieren suchte.

Dann erfuhr ich auch noch, dass diese Aktiengesellschaft jährlich die runde Summe von hunderttausend Pfund Sterling oder zwei Millionen Mark ausgab.

Ich wollte es nicht glauben, er rechnete es mir vor, und da sperrte ich, mit Respekt zu sagen. Maul und Nase auf.

Allein für englische Zeitungen wurden wöchentlich tausend Pfund zur Reklame ausgegeben. Ich rechnete alle die vielen englischen Zeitungen nach, ich sah eine, las den Zeilenpreis für die Annoncen, und da konnte ich nicht mehr zweifeln. Nun noch französische, spanische und italienische Zeitungen — ja, die Rechnung stimmte.

»Hilft denn dieses Wasser wirklich?«, fragte ich naiv.

Mr. Ulysses nahm bedachtsam mit der linken gesunden Hand die Zigarre aus dem Munde und blies den Rauch von sich.

»I wo! Keine Spur! Alles der pure Schwindel!«

Diese Offenheit war lobenswert.

»Was ist es denn eigentlich?«

»Na, Wasser, Wasser, reines Wasserleitungswasser. Es kommt noch ein bisschen Farbe und auch Odeur hinein — aber mehr als einen halben Penny darf so eine Pulle nicht kosten.«

»Und Sie verkaufen sie mit drei Schilling?«

»Die halbe. Die ganze kostet fünfe. Geehrter Herr, was wollen Sie? Abgesehen von unseren Kosten — wir bekommen das Wasserleitungswasser auch nicht umsonst, und dann die vielen Reklamen, die Unterhaltung der Filialen und so weiter und so weiter — ist das nicht ganz ehrlich verdient? Bedenken Sie doch, welche Freude wir solch einem Jüngling machen, wenn er sich unser BrowningWasser mit dem Pinsel unter die Nase schmieren darf — schon diese freudige Hoffnung, wenn er sich unser Wasser nur bestellt, wenn er es in seiner Verpackung zugeschickt erhält — bedenken Sie, wenn der Postmann kommt — wenn er es öffnet — wenn er die Buttel mit dem Leitungswasser in der Hand hält — stellen Sie sich den Jüngling vor, wie er schon an seinem zukünftigen Schnurrbarte dreht — oder stellen Sie sich den älteren Herrn vor, wenn er sich seine Glatze einsalbt — wie er sich schon den zu den späteren Haaren gehörenden Kamm kauft — immer Hoffnung, Hoffnung, Hoffnung — und mit ungebrochener, freudiger Hoffnung bestellen sie sich die zweite, die dritte, die vierte Flasche — und so immer weiter — wachsen tut natürlich nichts, aber die Hoffnung bleibt — ja, geehrter Herr Kapitän, wenn wir so vielen Menschen solch eine ewigbleibende Hoffnung einflößen, gepaart mit freudigem Entzücken über den späteren Erfolg — sollen wir uns das nicht bezahlen lassen?«

Ich konnte nicht widersprechen. Nur etwas baff war ich.

»Außerdem«, fuhr Mr. Ulysses in seiner phlegmatischen Weise fort, »bedenken Sie auch, welche Mühe es macht, dieses verdiente Geld wieder durchzubringen. Das ist nämlich gar nicht so einfach. Wenn man es nicht so ins Meer werfen will. Das tue ich aber nicht, sondern ich beschäftige jedes Jahr viele hundert Werftarbeiter, welche mir meine Schiffe bauen, ich beschäftige Kanonengießer und Tauspinner und hundert andere, sie alle hätten mit ihren Familien kein Brot, wenn da andererseits nicht Leute wären, welche gern einen Schnurrbart oder wieder Haare auf dem Kopfe hätten — und wie die mit Leitungswasser pinseln, so können andere, vielleicht jenseits des Ozeans, sich mit fleißiger Arbeit ernähren — o nein, diese Taler für das BrowningWasser sind durchaus nicht weggeworfen — Haare gibt's allerdings nicht dafür, hier aber freudige Hoffnung und dort Brot — ich bin nur der Vermittler, der Ausgleicher, der Zauberkünstler, welcher das runde Geld rollen lässt.«

So sprach Mr. Ulysses Brown, der Erfinder des Wasserleitungswassers, von dem die halbe Buttel einen Taler kostet. Ich habe einmal in einer schlaflosen Nacht ernstlich darüber nachgedacht. In der Tat, eigentlich ist es ganz gleichgültig, womit man Geld verdient, nur direkt geschädigt darf niemand werden, dass er davon nicht direkte Schmerzen empfindet — seelische oder körperliche — und dann darf man das Geld nicht im Kasten lassen, es muss rollen, wieder unter die Leute kommen.

So, das war Ulysses Brown gewesen. Nun kommt der andere daran, der Amerikaner mit dem gebrochenen Arme und mit der schiefen Nase, und wenn er in Eifer geriet, stotterte er auch etwas durch diese schiefe Nase, Mr. Grant Fairfax.

Der bezog seine Moneten aus einem viel solideren Geschäft, sogar aus einem sehr harmlosen. Der machte Puppenkleider. — Npupupupuppennnkleider. Faktisch, Puppenkleider. Die Bälge bezog er aus Deutschland, die Kleider dazu machte Mr. Grant Fairfax, der nebenbei zum Zeitvertreib mit Kanonen ein Schiff in den Grund schoss oder es in die Luft sprengte. Das heißt, die Puppenkleider machte er nicht selber, sondern er ließ sie machen, so von einem halben tausend Hände, oder Händepaare, in einer fünfstöckigen Fabrik, in New York stehend.

Die Puppenkleidermacherei ist gar kein so schlechtes Geschäft, wie ich mich dann belehren ließ. Und wenn eine Puppe oder nur das Puppenkostüm hundert Dollar kostet — und ich habe später in New York, als ich mich einmal darum kümmerte, solche wirklich ausgestellt gesehen! — es findet seinen Abnehmer. Wenn so ein junges Ehepaar mit einer Milliarde oder sogar nur mit einigen lumpigen Millionen ein Kindchen bekommt, da ist doch keine Wurst zu teuer, und was das Töchterchen der Mrs. Dingsda hat, das kann sich die Mrs. Dingskirchen natürlich auch leisten, und so geht das immer weiter — und Mr. Grant Fairfax kann dafür mit Kanonen schießen.

O, Fairfax Söhne, eine alte, solide Firma! Außerdem auch noch anderes Geld in schwerer Menge vorhanden! Der Alte war tot, der eine Sohn besorgte das Geschäft, der zweite, Mr. Grant hier, war nur stiller Teilhaber, war sonst von Beruf Jachtsportsman.

Mr. Ulysses Brown und Mr. Grant Fairfax waren schon seit langem Freunde gewesen. Gleiche Neigung. Hatten schon mehrmals zusammen die Welt umsegelt. Da war der Streit zwischen ihnen ausgebrochen, dessentwegen sie sich, wie Fritz gesagt, ›dubliert‹ hatten.

Aber doch eigentlich kein Duell. Das heißt kein Zweikampf wegen einer Beleidigung, wegen einer sonstigen Ehrensache. Oder doch, wie man's nimmt.

Mr. Fairfaxens Jacht hatte immer die Takelage eines zweimastigen Schoners gehabt, Mr. Brown bevorzugte die einer Brigg.

Die Brigg ist ein zweimastiges Fahrzeug; der erste Mast hat volle Rahentakelung, der letzte hat keine Rahen, führt nur ein einziges großes Segel, das Besan, das von Deck aus herumgeschwenkt wird, und das gilt bei dem Schoner von allen Masten, die also gar keine Rahentakelage haben.

Jeder rühmte natürlich seine Jacht. Doch welche den Vorzug hatte, das war schwer zu entscheiden. An Schnelligkeit gaben beide einander nichts nach, beim Wettsegeln gewann einmal die Brigg, einmal der Schoner.

»Ja, aber im Kreuzen ist der Schoner Ihrer Brigg weit überlegen, wir schwenken die Besane viel schneller herum«, sagte der Amerikaner.

»Ganz im Gegenteil, die Brigg kommt viel schneller in den Wind«, verteidigte der Engländer seinen Schiffstyp.

Es wurde nach der nötigen Wette ausprobiert.

Aber wer am schnellsten wenden oder halsen konnte, das war noch schwieriger zu ersehen, so oft man auch um Bojen oder um ganze Inseln herumsegelte.

»In der Seeschlacht, beim Rammen, da würde sich die Überlegenheit der Brigg zeigen«, hatte einmal ein Sachverständiger geäußert, der auf Seite des Engländers stand.

Seeschlacht! Das Wort war gefallen!

Die beiden Goldsöhne hatten ja das Leben schon so sehr genossen, dass ihre Nerven auch durch gar nichts mehr gekitzelt wurden.

Also einen Zweikampf zur See, Schiff gegen Schiff. Welches das andere durch Rammen zum Sinken brachte, das war das bessere.

Schnell ließ jeder noch eine neue Jacht bauen, mit gleicher Tonnenzahl, von gleicher Größe, nur dass der Engländer seine Jacht wie gewöhnlich als Brigg, der Amerikaner als Schoner takeln ließ.

Nachdem sie die Mannschaft genügend einexerziert hatten, begaben sie sich auf den RendezvousPlatz, damals weiter im Norden, und nun fuhren der Haarwuchsmittelfabrikant und der Puppenkleidermacher gegeneinander los.

Mehrschtenteels fuhren sie daneben. Beim fünften oder sechsten Male aber gab's doch einen Krach, der amerikanische Puppenkleiderschneider war dem englischen Haarwasseronkel ins Hinterteil gefahren. Doch dieser kam wieder frei, und ehe er sank, hatte er noch so viel Kraft, dem Puppenkleidermacher zwischen die Rippen zu rennen, dass dieser auf der Stelle sank, langsam gefolgt von dem Gegner.

Die Boote waren schon klar gemacht gewesen, nur einen Tag Fahrt, und sie hatten das Festland erreicht.

Wer hatte gesiegt? Keiner. Also denselben Vers noch mal! Jetzt hatten die beiden Goldsöhne schon Geschmack an dem gefährlichen Spielchen gefunden. Außerdem kam nun auch die nationale Ehre mit in Betracht.

Die englische Brigg hatte den Namen ›Old England‹ geführt, der amerikanische Schoner war auf den Namen ›Yankee‹ getauft gewesen, und nun also wurde in verbesserter Auflage die ›Old England II‹ und der ›Yankee II‹ gebaut.

Also zum zweiten Male wie die wilden Eber aufeinander los! Diesmal ging's besser. Nur wenige Hin- und Herfahrten, elegantes Begegnen und Ausweichen wie beim Konter, dann schnitt ›Old England II‹ den ›Yankee II‹ mitten durch, dass auch gleich ein Steuermann halbiert wurde, vier andere Matrosen ersoffen und der Puppenkleidermacher ein Bein brach.

»Mister Brown, Sie haben allerdings gesiegt«, sagte der Amerikaner, als er auf dem Streckbett im Gipsverbande lag, »aber in einer modernen Seeschlacht kommen ja zwei Schiffe gar nicht so nahe zusammen, dass sie die Entscheidung durch Rammen herbeiführen, da sprechen nur die Kanonen, und bei einem Artilleriekampf würde Ihre Brigg unbedingt den kürzeren ziehen, mein Schoner wendet schneller, er kann mehr Breitseiten abgeben.«

»Wetten, dass nicht?«

»Ich nehme die Wette an.«

Gut, wurde wieder gemacht. Während Mister Fairfax noch im Gipsverbande lag, ließ er schon den ›Yankee III‹ bauen.

Diesmal ging's also mit Kanonen los. Die beiden fanden immer mehr Geschmack an der Seekriegspielerei.

Ich hatte der Seeschlacht beigewohnt, hatte das Resultat gesehen.

›Yankee III‹ war hinuntergegangen, ›Old England II‹ hinauf. Mister Grant Fairfax hatte diesmal einen gebrochenen Arm, der Haarwasseronkel konnte sich sein linkes Ohr an die Uhrkette hängen.

Schon aber sprachen die beiden Kerle von ›Old England III‹ und von ›Yankee IV‹, und diesmal sollte es ein Schleichkampf werden, so immer zwischen Inseln hindurch, heimlich, bei Nacht, einer musste den anderen überraschen, vielleicht im australischen Archipel.

Wie lange das so fortgehen würde? Bis einer von den beiden einmal tot war. Und dann suchte sich der Überlebende einen anderen, der mit ihm weiterspielte.

Nun darf der Leser fragen: Ja, hatten denn die beiden gar keine Angst, dabei ihr Leben zu verlieren? Wenn man so viel Geld hat, da kann man sich das Leben doch wahrhaftig angenehmer machen!

Nein, mein geehrtes Publikum, das nennt man Sport! Wenn ein Herrenreiter beim Wettrennen sein eigenes Pferd steuert, so ist das ganz und gar nichts anderes. Der weiß doch auch genau, dass er dabei das Genick und noch sämtliche andere Gliedmaßen brechen kann, und den Preis hat er meistenteils auch gar nicht nötig, er tut's also nicht um Gewinn, vielleicht nicht einmal um die Ehre, er weiß schon, dass er nicht gewinnt, er will nur einmal sehen, wie sein Pferd läuft, er weiß schon, dass es nicht über die große Hecke kommen und dass es dort irgendeinen Bruch geben wird — und trotzdem steigt so ein Sportsman oder Kavallerieoffizier frisch und fröhlich in den Sattel.

Ist das nicht schließlich genau dasselbe?

Anders schon die Frage, ob sich da Menschen als Matrosen finden, welche bereit sind, sich totschießen zu lassen.

Doch wer die Verhältnisse kennt, der findet auch das ganz selbstverständlich. Menschen so viel, wie man haben will. Natürlich sind diese Matrosen etwas teurer als unter gewöhnlichen Verhältnissen.

Man bedenke doch nur: Die südamerikanischen Republiken führen ja fortwährend Krieg untereinander, und alle diese Soldaten sind wirkliche Söldlinge, und die gehen doch nicht für Gott und Vaterland in den Kampf, sondern eben für täglich fünf Groschen, dafür sind sie bereit, sich totschießen zu lassen, von den Strapazen gar nicht zu sprechen.

Was zu Lande, das gibt es natürlich auch zur See.

Wenn ich jetzt zu meinen Jungen sagte: Hört, so und so, wir wollen einen Einfall in Nicaragua machen, einen Krieg auf eigene Faust, ich habe Verbündete — meine Jungen wären doch auch sofort mit Feuer dabei gewesen!

Nur dass es nicht so viel Seeleute wie Landratten gibt. Eine ganze Schiffsbesatzung, von der kein einziger ein Spielverderber ist, ist nur schwer zusammenzutrommeln. Ich hatte mir meine Mannschaft doch auch erst mühsam zusammengelesen.

Aber es gibt ein Land, wo alles sofort zu haben ist. Wer irgendeinen politischen Putsch vorhat, wobei Schiffe die Hauptrolle spielen sollen, wer sich als Küstenschmuggler oder sogar als Seeräuber etablieren will, wer irgendein wagehalsiges Unternehmen beabsichtigt, welches außerhalb der breiten Wasserstraße liegt, wobei Blut fließt, aber auch Geld zu verdienen ist, der braucht nur nach Halifax zu gehen und dort die Werbetrommel rühren zu lassen. Die Novascotiamen sind die modernen Landsknechte zur See, und das ist, wie schon erwähnt, die eigentümliche Rolle, welche sie unter den anderen seefahrenden Nationen einnehmen.

Die englische Brigg, wie der amerikanische Schoner waren mit solchen bemannt gewesen, und wenn auch schwarze und andere Rassen darunter, sie gehörten doch alle zur Sippe der NovaScotiaFahrer, sie erhielten eine sehr hohe Heuer, für die siegende Mannschaft waren Prämien ausgesetzt, und dafür waren sie bereit, sich totschießen, zermalmen oder in die Luft sprengen zu lassen, und dass die noch lebenden Krüppel von den Kameraden über Bord geworfen wurden, das war vorherige, gegenseitige Abmachung, eigentlich hätte ich mich da gar nicht einmischen dürfen. Denn der Krüppel hatte nun sowieso die Gelegenheit verloren, die ihm ausgezahlte Heuer an Land in einem Tage zu verprassen, zu welchem Zwecke er überhaupt erst angemustert hatte — also lieber gleich tot!

Von der moralischen Seite dieser zwecklosen Opferung von Material und Menschen wollen wir gar nicht erst sprechen. Die meisten Kriege sind auch nur persönliche Auseinandersetzungen, Zweikämpfe der Oberhäupter der sich abschlachtenden Völker gewesen. Und es ist gefährlich, da noch weiter zu grübeln. Sonst müsste man ja bei jeder Tasse Kaffee und Tee, die man trinkt, und bei der man liest, dass wieder ein großes Schiff, welches mit Kaffee und Tee befrachtet war, mit Mann und Maus untergegangen ist, daran denken, dass man ebenfalls seinen Teil zu dem Tode vieler braver Seeleute beigetragen hat.

Nein, nur nicht schwächlich! Nur ein schwächlicher Träumer kann daran glauben, dass der Krieg einmal in der Welt, auf dieser Erde aufhören wird. Krieg muss sein, das ist ein eisernes Naturgesetz! Und ob sich zwei Männer boxen, im Streite oder um zu prüfen, wer der Stärkere und Gewandtere ist — oder ob sich zwei Schiffe mit Kanonen beschießen, um zu entscheiden, welches Schiff schneller wenden kann — oder ob sich aus Rauflust zwei Ritterburgen befehden — oder ob sich zwei germanische Völkerstämme, Sachsen und Preußen, Schlachten liefern — oder ob ganze Nationen gegeneinander zum Vernichtungskampfe losgehen — — es ist alles — im Grunde genommen!!! — ganz genau dasselbe!

Wir Menschlein lassen uns nur immer durch die Größe, durch die Dimensionen beeinflussen. Aber versetzen wir uns auf einen Stern, betrachten wir durch ein Riesenteleskop den Ameisenhaufen, Erde genannt. Die winzigen Ameisen balgen sich etwas herum.

— • —

55. Kapitel
Kohlenübernahme mit Musik, irisch Stepp, der
Karbunkel von Liberia und Jahrmarkt zur See

Originalseiten II.439 — 500

Sechs Tage verlief die Weiterfahrt ohne Zwischenfall. Wirklich, es war eine angenehme Gesellschaft, die ich mit den beiden Sportsmen da an Bord bekommen hatte. So ganz anders, als ich sie mir je gewünscht hätte.

Keine Gelehrten, keine Künstler — jeder andere hätte sie wahrscheinlich überaus langweilig gefunden. Nicht einmal von den fernen Ländern und von ihren zahllosen Abenteuern konnten die beiden Weltreisenden etwas erzählen. Das war ihnen ja alles schon zu fade geworden, gar nicht mehr der Rede wert. Sie rauchten gelangweilt ihre Zigarren.

Aber man musste sie nur zu nehmen wissen! Und ich verstand so etwas. Dann entpuppten sich die beiden als Philosophen ganz besonderer Art.

Ja, Völkerkriege und Ameisen, darüber unterhielten wir uns während der sechs Tage lang, und noch über tausend andere Dinge, von denen man aber nichts in Büchern zu lesen bekommt, oder es sind eben solche Bücher, welche der Vergessenheit anheim gefallen sind, wenn sie nicht schon früher auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden sind — heutzutage auf dem Scheiterhaufen der öffentlichen Meinung, entfacht und geschürt von der bezahlten Universitätsphilosophie.

Diese beiden langweiligen, verrückten Kerls hatten einen allumfassenden Blick in die Ferne — ich habe ihnen stundenlang auf einen Sitz zuhören können.

Eine ausführlichere Probe von der Philosophie des Engländers habe ich schon gegeben, wie er den Schwindel mit seinem Haarwasser verteidigte — alles verrückt, aber originell, versteckt geistreich, ironisch, sich selbst und alle Welt verspottend — und nun diese köstliche Vortragsweise, so faul mit der Zigarre im Munde hingesetzt — es waren köstliche Stunden und Tage!

Da hatte ich gleich wieder Kameraden gefunden: Seezigeuner. Ich hatte dieses Wort einmal gebraucht.

»Well, Seezigeuner«, sagten beide wie aus einem Munde. »Bilden wir eine Gemeinschaft von Seezigeunern, wie eine solche auch unter diesem Landgesindel besteht. Auch diese Zigeuner sollen ja einen König haben, der über ein unsichtbares, aber auf dieser Erde liegendes Reich herrscht, in dem das Pferdestehlen ein ehrenvoller Beruf ist. Machen wir uns unsere eigenen Gesetze, jeder soll auf seinem Schiffe unumschränkt freier Herr sein, mit freiem Willen, und dennoch können wir unter dem Befehl eines Königs stehen, der am besten Pferde stehlen...«

Leider wurde diese Unterhaltung unterbrochen. Oder auch nicht leider. Dafür sollte später meine Überraschung eine um so größere sein.

Es war dies am sechsten Tage nach jener Seeschlacht gewesen, nahe dem südlichen Wendekreis, nur noch dreihundert Seemeilen oder vierzig Stunden von Rio entfernt.

Es war gegen Mittag, das elektrische Klingelzeichen rief mich auf die Kommandobrücke.

Außer einigen anderen Fahrzeugen war auch ein brasilianisches Kriegsschiff in Sicht, welches uns, die wir gerade unter Dampf fuhren, anfragte, ob wir Kohlen abzugeben hätten.

»Ja.«

»Wie viel Tonnen?«

»Vierhundert«, ließ ich ohne Besinnen zurücksignalisieren.

»Preis?«

Na, ich selbst hatte in London nur neun Schilling für die Tonne bezahlt, die Versicherung schon inbegriffen — zuletzt hatten die Kohlen in Rio auf vierzehn gestanden, höher würden sie auch nicht kommen — wenn ich auf See sechzehn verlangte, von einem Kriegsschiff, das nötig Kohlen brauchte, so war das ein ganz außergewöhnlicher Verdienst.

Ich hatte mich schon hinab zum Signalmast begeben, wies die Signalgäste an, die Zahl 16 zu hissen.

»Dreißig«, sagte da hinter mir eine wohllautende Stimme.

Es war Mister Tischkoff. Über ihn habe ich sonst nichts weiter zu erwähnen gehabt. Hätte ich den beiden Sportsmen nicht von selbst gesagt, als der alte Herr seinen gewöhnlichen Spaziergang an Deck gemacht, er ginge als Passagier mit, die beiden hätten nicht gefragt, dazu waren sie viel zu faul.

»Dreißig Schilling pro Tonne soll ich fordern?«, staunte ich.

»Ja.«

»Das ist doch...«

»Hissen Sie! Wenn jetzt ein anderes Kohlenschiff oder nur ein Dampfer mit überschüssiger Kohle kommt, haben Sie das Geschäft verloren.«

Ich gehorchte. Er war mein Kommodore. Und ich hatte wohl schon etwas Schamröte auf den Wangen.

Drüben blieb man einige Zeit die Antwort schuldig, und ich frohlockte schon — zu meinem eigenen Nachteil.

Dann kletterten zwei Flaggen empor.

»Zu viel.«

Ich hatte es erwartet — ich möchte fast sagen: gehofft.

»Zeigen Sie nochmals die Dreißig, Sie bleiben bei Ihrer Forderung«, sagte Tischkoff.

Meinetwegen, ich wollte ihm den Willen tun — ich ließ die Flagge, welche die Zahl dreißig ausdrückte, etwas herabziehen und gleich wieder hissen.

Jetzt hatten die dort drüben es eilig.

»Angenommen. Dampfen Sie heran.«

Jetzt aber kam mir doch zum Bewusstsein, was für einen Fang ich da gemacht hatte! Dieser famose Kommodore!

»Ich hätte nur sechzehn Schilling gefordert«, gestand ich offen, nachdem ich die nötigen Kommandos gegeben hatte.

»Wissen Sie denn nicht, dass in Brasilien Revolution herrscht? Bürgerkrieg, auch zur See, die Kriegsflotte hat sich in zwei Parteien gespalten, und das Kriegsschiff dort braucht Kohlen, um den eigenen Kameraden zu entgehen.«

Ja, ich wusste es. Wann ist es in Brasilien oder in einem anderen dieser südamerikanischen Staaten überhaupt jemals ruhig gewesen?

Aber ich habe mich nie um Politik gekümmert, hatte kein Interesse dafür — ein politisch Lied, pfui, ein garstig Lied — mein Schiff war mein eigenes Königreich, und wer das angriff, war mein Feind — basta!

So sagte ich es auch dem Kommodore, erwartete einen Tadel.

»Ganz recht«, nickte dieser aber zustimmend, »bleiben Sie nur bei dieser Anschauung, und für das andere bin ja ich eben da.«

Famos! Solch einen Berater ließ ich mir erst recht gefallen!

»Hat er gefragt, wie viel Tonnen Sie abgeben können? Da war ich noch nicht an Deck.«

»Ja. Ich habe vierhundert geantwortet.«

»Weshalb nur vierhundert? Sie haben doch sechshundert.«

Allerdings. Dabei waren meine Bunker zum eigenen Verbrauch noch halb gefüllt, wir hatten viel gesegelt.

Weshalb ich nur vierhundert angegeben, konnte ich selbst nicht sagen. Ich hatte doch als Ausladeort Rio im Auge, das hatte mir im Kopfe gesteckt.

»Nun, darüber können Sie ja persönlich verhandeln. Aber natürlich Barzahlung, keine Anweisung, auch kein Papiergeld — nur gemünztes oder geeichtes Gold oder Silber.«

Und wenn die nun nicht so viel bares Geld an Bord haben?, hatte ich auf der Zunge. Doch wir waren schon zu nahe, um noch einmal zu signalisieren, das konnte nun gleich mündlich abgemacht werden. Übrigens spielen tausend Pfund, die ich noch nicht einmal zu fordern hatte, für ein Schiff, das in jedem Hafen so viele Ausgaben hat und alles bar bezahlen muss, gar keine Rolle. Tausend Pfund hat jeder hölzerne Kasten an Bord. Kann er einmal nicht bezahlen, braucht er Geld, so wird er beliehen — wenn er nicht schon zu sehr belastet ist, was man sofort aus dem Schiffsjournal, dem Heiligtume des Schiffes, ersieht. Und nun erst ein Kriegsschiff, welches nicht versichert und beliehen wird!

(Über die eigentümlichen Geldverhältnisse in Bezug auf Kriegsschiffe machte der Schreiber dieses eine Erfahrung. Ein kleines Kanonenboot, nur vierzig Mann Besatzung, bekam die Order, von Wilhelmshaven eine Übungsfahrt nach Husum zu machen, nur einen Tag Fahrt. Der Zahlmeister ging in Begleitung zweier Matrosen nach der Post, gab am Schalter ein versiegeltes Schreiben ab, erhielt dafür zwei Fässchen, Sardinenfässchen, aber die Schultern drückend. Jedes Fässchen enthielt zwanzigtausend Mark in Gold. Die beiden Matrosen trugen sie an Bord, nur vom Zahlmeister begleitet, fort ging es. In Husum wurde dem Kanonenboot zusignalisiert: Mit voller Kraft zurück nach Wilhelmshaven! Es war eben eine Probefahrt, die Leistungsfähigkeit wurde geprüft. In Wilhelmshaven wurden die beiden Fässchen mit den vierzigtausend Mark sofort wieder auf die Post gebracht, zurück nach Berlin. Das geht also alles anders zu, als wie sich der Laie das wohl sonst vorstellt. In den Kriegshäfen selbst scheint es gar kein Geld zu geben. Jede Löhnung, alles, kommt vom Marineschatzamt in Berlin, einfach durch die Post, an den Kapitän gerichtet wie an einen Privatmann. Das sind Verhältnisse, in welche das Publikum gar keinen Einblick bekommt. Und also schon für diese zwei Tage, wo es doch nur den Besuch eines deutschen Hafens galt, wurden von so einem kleinen Kanonenboote vierzigtausend Mark mitgenommen.) — — —

Es war ein für damalige Verhältnisse sehr großes Kriegsschiff, wenigstens fünftausend Tonnen, stark gepanzert, einen sehr adretten Eindruck machend. Aber ich erkannte gleich aus gewissen Anzeichen, dass es ein alter, hölzerner Kasten war, dem man nur die Panzerplatten aufgeklebt hatte. Die Geschütze waren gedeckt. Und dann natürlich noch Schaufelräder. Mein Schraubenschiff wurde überall noch als ein Wunder angestaunt, von sogenannten Sachverständigen mit überlegenem Spott — man hatte zu der Propellerschraube noch kein Zutrauen.

Die ›Santa Cruz‹ pfiff auf dem letzten Loche. Das heißt, es wurde schon mit dem letzten zusammengekratzten Kohlendreck gefeuert, das verriet der qualmende Schornstein. Und segeln konnte sie nicht, es herrschte absolute Windstille.

Dann lagen wir Seite an Seite. Ich glaube, der brasilianische Korvettenkapitän hatte seine prachtvolle Uniform erst meinetwegen angelegt, oder er legte sich auch so zur Koje, und trotz aller goldenen Troddeln und Klunkern wollte er noch handeln, obgleich er doch schon zugesagt hatte.

Doch es dauerte nicht lange, dann wollte er alle sechshundert Tonnen haben zum geforderten Preise.

Gut, du kannst sie haben, aber erst Geld her.

»Wir sind in Kriegsbereitschaft, können jeden Augenblick ein feindliches Schiff erwarten, und wenn nun inzwischen nicht alle Kohlen übernommen sind?«

»Ja, soll etwa jeder Kohlensack erst auf die Briefwaage gelegt werden, wofür Sie mir allemal dreißig Schilling in die Hand drücken?«, entgegnete ich meinerseits, und ich wurde mit dem Brasilianer ganz gut auf spanisch fertig.

Er merkte, dass mit mir nichts anzufangen war, vor jeder Insultation schützte mich ja das Sternenbanner, und ich merkte, wie eilig er es hatte. Dem saß eben jemand auf den Fersen, und dem Dampfer war die Puste ausgegangen.

Dann fing er richtig mit Papiergeld an, brachte ein paar ganz zerfetzte Lappen zum Vorschein, bis er mir schließlich auf den Kajütentisch viertausend und einige Milreis in Gold aufzählte, und mehr als zwei Drittel davon war reiner Verdienst.

Es machte mir ein Heidenvergnügen, als ich das Gold in meinem Panzerschranke verpackte, in dem sich meine letzten drei Taler langweilten. Mit solcher Wollust hatte ich noch nie in meine Hosentasche gegriffen, um das Schlüsselbund herauszuziehen. Ich rechnete nicht nur mit zwei Drittel Verdienst, sondern diese sechstausend Taler hatte ich jetzt eben ergattert, und da hatte ich ja auch ganz recht, und überhaupt, das war doch eigentlich das erste Geld, welches ich mit meinem Schiffe wirklich verdient hatte.

Und wie viel hatte ich schon verpulvert und verbuttert? Na, denken wir gar nicht daran. Übrigens ließen mich die entschwundenen Millionen auch ganz kalt. Das hier war mein redlich verdientes Geld, und ich freute mich dessen; was kümmerte mich der vergangene Reichtum?

So ist eben der Mensch... besonders, wenn dieser Mensch ein Zigeuner ist.

Ob ich dem Mr. Tischkoff Provision zahlen musste oder ihm etwas anbieten sollte?

Ach, Unsinn, der hatte ja... ja, richtig, ich sollte mir ja von meinen zukünftigen Goldstücken eine Uhrkette machen lassen. Hm, das gäbe eine lange Uhrkette. Aber vielleicht eine... na, ich würde schon sehen, wie ich diesen schnöden Mammon wieder glücklich an den Mann brachte — nein, zur Ausschmückung meines Schiffes verwenden konnte.

Nun aber los! Sechshundert Tonnen wollen von Bord zu Bord gebracht sein. Die Vorbereitungen wurden unterdessen dazu schon getroffen. Meine Jungen brauchten nicht zu helfen, das war gleich ausgemacht worden. Der Kriegsdampfer hatte zweihundertsechzig Mann Besatzung, das waren mehr Hände, als dabei beschäftigt werden konnten.

Wegen der Schaufelräder konnten wir nicht so ganz dicht zusammenliegen. Brücken wurden geschlagen, die Luken auf, und die Übernahme begann.

Ich hatte zwei Winden, der dort drüben fünf, jeder Kasten fasste zwei Zentner Kohlen — das förderte etwas zutage, und außerdem wurde auch noch gekarrt.

Und nun ging es los. Jetzt verwandelte sich mein Schiff wirklich in einen kribbelnden Ameisenhaufen. Drüben brauchten ja nur wenige Leute an den Dampfwinden zu stehen, welche die langen Arme, über beide Decks reichend, immer hin und her schwenken ließen, hinunter fielen die Kohlen von allein, aber das Einschaufeln, das war die Hauptarbeit, und die Kohlen mussten doch zugefahren werden, von immer weiter her, wenn da auch durch Veränderung der Schiffslage etwas nachgeholfen werden konnte, und dann waren noch neun Brücken vorhanden, auf denen gekarrt wurde.

Der erste Kasten polterte in den ausgenommenen Leib des Kriegsschiffes hinein, und fünf Minuten später war die ganze Atmosphäre ein einziger Kohlenstaub.

Ich hatte Anordnung gegeben, alle Türen zu verschließen, nur wenige Matrosen brauchten an Deck zu bleiben, natürlich auch der wachhabende Offizier, sonst konnten meine Jungen in der Foxel oder im abgeschlossenen Zwischendeck ihren Neigungen nachgehen oder ein Schläfchen machen, ich selbst wollte mich eben in die Kajüte zurückbegeben, als ich dort drüben in der schwarznebligen Atmosphäre bunte Uniformen auftauchen sah, also an Deck des Kriegsschiffes, und wie ich noch so denke, ob denn das lauter Offiziere sind, die sich da im Kreise aufstellen — alles, was sonst Hände hat, muss doch in grauer Leinewand an die Arbeit — da... tschin bum bum tschin tschin!! Ein schmetternder Marsch! Die Musikkapelle des Kriegsschiffes, anderthalb Dutzend Mann, mit Pfeifen und Trompeten, Flöten und Posaunen und allem, was dazu gehört, nicht zu vergessen die große Pauke mit Becken — oder wie das Tschintschinding heißt.

Dass Kriegsschiffe die Kohlen stets unter Musikbegleitung übernehmen, um den Leuten bei der schweren Arbeit wenigstens ein bisschen Vergnügen zu machen, überhaupt, um Leben in die Knochen zu bringen, das wusste auch ich schon. Ich hatte oft genug englische und andere Kriegsschiffe im Hafen Kohlen einnehmen sehen, fast immer in der Nacht, immer unter voller Musik, und wenn die Morgensonne das Schiff besichtigt, muss dieses schon wieder wie geleckt sein.

Aber dass auch dieses brasilianische Kriegsschiff hier, welches doch gewiss nach einem Feinde ausspähte, auf offener See die Kohlen unter voller Militärmusik übernehmen würde, hätte ich nicht erwartet.

Nun, der Erfolg oder die Wirkung war augenblicklich zu sehen. Es ist wunderbar, was so ein schmetternder Marsch macht! Alles kam sofort in Takt, die Karrenschieber marschierten im Tritt, die Winde wurde taktmäßig gedreht, unten wurden die Kohlen nach dem Takte eingeschippt, und alles hatte gleich eine ganz andere Haltung bekommen.

Die braunen Matrosen und Heizer von dem brasilianischen Kriegsschiff, meist Kreolen, hatten nichts zu lachen, sieben volle Stunden dauerte die Kohlenübernahme, und es schien die höchste Not am Mann zu sein, nur sehr spärliche Ruhepausen wurden den einzelnen Abteilungen gewährt, immer nur dem vierten Teil der ganzen Mannschaft, ab und zu wurde ein Trunk moussierender Pulque verabreicht, ich sah gar viele zusammenbrechen, denn es waren lauter schlanke, schmächtige, zartgebaute Gestalten, viele noch sehr jung, fast Kinder waren darunter, aber sie schafften wie die Männer. Ich hätte das diesen Kreolen wirklich nicht zugetraut.

Ich glaube, die Hauptsache machte die Musik. Denn musikalisch ist dieses braune Gesindel ja bis auf die Knochen. Vom Marschieren wollen sie nicht viel wissen, aber vierundzwanzig Stunden lang ununterbrochen tanzen, das können sie. Und bei der Abteilung braucht nur eine Querpfeife zu sein, dann können sie auch vierundzwanzig Stunden marschieren.

Hier sah ich es. Einer und der andere klappte zusammen — da ein neuer Marsch, ein Walzer oder nur ein Volkslied — — und wie elektrisiert erhob sich der Mann wieder, mit neuer Kraft wurde die Karre oder die Schippe in die Hand genommen.

Aber ich glaube — ich glaube: die härteste Arbeit bei dieser Kohlenübernahme hatten doch die Musikanten! Es war ein brennendheißer Tag, und sieben Stunden lang haben die geblasen und gedudelt! Sie hätten sich doch zur Hälfte immer ablösen können — nein, da hätten Instrumente gefehlt. Der brasilianische Korvettenkapitän mit den vielen Klunkern hielt doch auf Manneszucht! Das schien doch ein tüchtiger Kerl zu sein! Auch alle Offiziere mussten in voller Uniform immer an Deck sein, durften es sich nicht bequem machen, hatten immer etwas zu tun.

Nur wenn die allgemeine Ruhepause war, alle Stunden zehn Minuten, durften auch die achtzehn Musiker einmal aufhören, sich auch hinsetzen, sich den triefenden Schweiß abwischen. Und dann ging's von Neuem los: tschinterretätä!

Wirklich, diese Musikanten hatten es vielleicht schwerer als die Kohlenschipper und Karrer. Am meisten tat mir der Posaunenbläser leid, der etwas korpulente Mann war rot wie ein Krebs, wie ein gekochter, er dampfte auch wirklich, und was er manchmal aus der Posaune goss, konnte die Sonne trotz aller Glut nicht so schnell auftrocknen, und das war doch richtig sein eigenes Lebenswasser, man möchte es sein Blut nennen, und diese angesammelte Spucke floss mit der Schweißpfütze zusammen, die sich an seinen Plattfüßen bildete.

Aber ich muss jetzt beim Anfang bleiben, als die Geschichte losging.

Meine Jungen waren schon von Deck verschwunden, hatten die Türen hinter sich zugemacht, da... tschin bum schneddredengdengdeng!!

Natürlich kamen meine Jungen gleich alle wieder zum Vorschein.

Eine Weile gaben sie sich dem allgemeinen Eindruck der Musik hin.

»Du, August, da können wir tanzen«, hörte ich sagen.

Ich wusste noch nicht recht, ob ich ein Tanzen nicht sofort verbieten sollte. Jene Kreolen die furchtbar schwere Arbeit, meine Jungen dazu tanzen — es passte mir nicht recht.

Wie ich noch so denke, kommt Madam Hullogan über Deck gefledert, immer noch mit blau und rot gestreiftem Wollrock und mit Seestiefeln.

Ich hatte sie in der letzten Zeit aus den Augen verloren. Der Bootsmann hatte mir seine Geschichte erzählt, am Abend desselben Tages, hatte mich darauf, als ich dann in meiner Koje lag, dem Tode nahe gebracht, nämlich vor Lachen — dann hatte ich von dem Verhältnis des Ehepaares gar nichts weiter bemerkt. Höchstens sah ich Madam Hullogan mit hochgerafftem Rocke einmal über Deck fledern, der Bootsmann ging nach wie vor seiner Arbeit nach — die beiden schienen sich wieder geeinigt zu haben.

Möglich, oder sehr wahrscheinlich, dass sie mit in seiner Kabine schlief. Vielleicht hatten sie schon wieder eine Sparbüchse angebracht.

Doch einmal hat sich der Kapitän überhaupt nicht darum zu kümmern, was die Leute in der Foxel treiben, das geht gegen die Schiffsroutine — General und Mannschaftsstube — dann widmete ich die ganze freie Zeit meinen Gästen, mit neuen Klagen, mich etwa um Hilfe anflehend, kam mir der Bootsmann nicht — — ich hatte mich also gar nicht mehr um die beiden gekümmert.

Nun, nach den ersten Klängen des faszinierenden Marsches, der aber auch einige Ähnlichkeit mit einem Galopp hatte, sah ich Madam Hullogan wieder über Deck gefledert kommen — dort stand ihr Herzallerliebster, der Bootsmann — auf den zu, ihm mit beiden Händen auf die Schultern geschlagen, dann die Hände in die Hüften gestemmt — — wie eine angestochene Sau gequiekt: ui ui ui — — und nun ging es los, irisch Stepp.

Es ist der Nationaltanz der Irländer, oder doch der beliebteste. Er hat einige Ähnlichkeit mit unserem Konter, es geht so immer hin und her, oder noch viel mehr mit dem französischen Cancan, wer die Beine am höchsten schmeißen kann, ist der beste Tänzer — und dann drehen sich Herr und Dame herum und schmeißen sich wieder gegenseitig mit den Beinen — und dann kloppen sie einander auf die Schulter — — ui ui ui, wird gejauchzt, und die Beine werden von der anderen Seite in die Luft geworfen — — und so geht das immer weiter, immer gekloppt und mit den Händen in den Hüften die Beine so hoch wie möglich geworfen und gedreht und gequiekt.

Na, ich habe gelacht, dass mir die Tränen über die Backen liefen. Ich hatte schon viel irisch Stepp tanzen sehen, meist auf der Straße, nach der Drehorgel, von Dutzenden von besoffenen Frauenzimmern — aber so doch noch nicht, wie ihn hier Madam Hullogan aufführte.

Wie die die Hände mit dem aufgerafften Rock in die Hüften stemmte — so kokett Kopf und Oberkörper zurückgeneigt — und wie sie nun die Beine warf und hin und her balancierte — mit den großen Seestiefeln — und schnell den Partner auf die Schultern geklopft — — ui ui ui — — und dann herumgeschwenkt und dann schnell den Rock wieder hoch und wieder die Seestiefel mächtig geschlenkert — und dann diese haarige Visage mit der nach dem Himmel visierenden Nase... es war ein Bild, wert, dass man sich totlachte.

Aber auch mein Bootsmann war nicht übel.

Der hatte, bei den ersten Klängen des faszinierenden Marsches früherer Zeiten gedenkend, da seine Tänzerin noch ein zartes Mägdlein gewesen, sich selbst wieder jung fühlend, anfangs mitgemacht, hatte seine krummen Beine geschlenkert, hatte sich gedreht, gekloppt und gequiekt, oder wie ein Eber gegrunzt.

Das heißt, anfangs hatte er freiwillig mitgemacht. Dann aber mochte er gewahr werden, dass dieses gestiefelte Ungeheuer mit der haariggefleckten Visage und dem Dragonerschnauzbart doch nicht mehr jenes zarte Mägdlein war, die Jahre waren unterdessen vergangen, und er hatte seine Hopserei eingestellt.

Nun ist das aber bei dem irischen Stepp gar nicht so leicht, das Einstellen des Tanzes, wenn es die Partnerin nicht will. Einmal wird der Tänzer von ihr immer bei dem Klopfen an den Schultern gefasst und blitzschnell herumgedreht, und dann hat dieser irische Tanz die Unannehmlichkeit, dass einem die Tänzerin gegen die Schienbeine tritt, wenn man nicht schnell genug die eigenen Beine zur Seite wirft. Das ist nämlich die Hauptkunst bei diesem schönen Tanze, die Dame versucht den Herrn gegen die Schienbeine zu treten, und dem muss man ausweichen. Also entweder hopsen, oder es gibt Fußtritte gegen die Schienbeine. Und Madam Hullogan hatte schwere Stiefel an.

Mein Bootsmann hatte also keine Lust mehr, mit seinen Säbelbeinen in der Luft herumzuquirlen.

Bruch, hatte das säumige Bein seinen Fußtritt weg.

»Aber meine liebste Hullo... autsch!!«

Tschinteretätä, spielte die Musik, und Madam Hullogan jauchzte ui ui ui, und mein Bootsmann schrie autsch autsch autsch — und wollte er keine Fußtritte haben, musste er hopsen.

Der erste Marsch war zu Ende; die nächste Melodie kam mir recht bekannt vor, das musste doch etwas Deutsches sein... ach ja: August lass den Affen los, lass ihn los, lass ihn los... und mein Bootsmann hopste auch den noch herunter.

Na, ich will es kurz machen. Sieben volle Stunden währte die Kohlenübernahme, sieben volle Stunden hat die Musik dazu gespielt, und sieben volle Stunden hat mein armer Bootsmann hopsen müssen.

Doch nein, nicht volle Stunden. Jede Stunde wurden ja zehn Minuten Pause gehalten. Bei der ersten war ich zugegen. Da sank Enoch schweißtriefend auf einen Poller nieder. Aber sofort, als die ersten Klänge eines neuen Marsches erschollen, wurde er wieder aufgerüttelt, hochgezogen — — ›Aber meine beste Hullogan, wir können doch nicht schon wieder...‹ — — jawohl, Madam Hullogan konnte schon wieder, und mein armer Bootsmann musste seine Säbelbeine schwingen, sonst gab's Tritte vor die Schienbeine.

Wie die anderen Pausen verliefen, weiß ich nicht. Jedenfalls tanzten die beiden, als halb acht Uhr die letzten Kästen mit Kohlen gefüllt wurden, noch immer, die Irländerin war einfach nicht tot zu machen, sie warf die Seestiefel mit ungeschwächter Kraft, drehte sich um und quiekte und kokettierte — und auch mein Bootsmann hatte in seinen Türkenbeinen eine unverwüstliche Kraft, das musste man ihm lassen.


Illustration

Nur dieses Gesicht, welches er beim fröhlichen Tanzen machte! So verbissen, so verzweifelt!

Ich glaube, seine Säbelbeine sind in den sieben Stunden noch etwas geschweifter geworden. Er kam mir dann etwas kleiner vor. — — —

Die Offiziere des Kriegsschiffes hatten unausgesetzt mit Fernrohren die See abgespäht. Ich habe keinen gefragt, wen sie auf ihren Fersen fürchteten.

Gegen sieben Uhr begann es zu dunkeln, die Arbeiter im Raum erhielten Lampen, den an Deck Karrenden genügte das Sternenlicht, und bald musste der Mond kommen, und die Musikanten mussten weiterspielen.

Da, als sich im Kohlenraume der erste Grund zeigte, bemächtigte sich der auslugenden Offiziere eine große Erregung.

Auf dem dunklen Meere, aber vom Sternenlichte doch etwas erleuchtet, zeigten sich die bunten Feuer von verschiedenen Schiffen, welche uns hin und wieder passierten, auch ihre Umrisse waren noch zu erkennen, Und jetzt tauchten die eines großen Schiffes auf, welches die Toplaterne des Dampfers führte.

Auf der Kommandobrücke der ›Santa Cruz‹ also herrschte beim Anblick dieses Dampfers eine große Erregung, alle Nachtgläser waren dorthin gerichtet, eine flüsternde Beratung wurde abgehalten, dann schickte man einige Raketen zum Himmel empor, und sie wurden von dem näherkommenden Schiffe beantwortet.

Auch das war ein Kriegsschiff, das konnte ich jetzt schon aus der ganzen Bauart erkennen.

Die antwortenden Raketen hatten die fieberhafte Spannung der brasilianischen Offiziere in freudige Erleichterung umgewandelt, es war kein Feind, sondern ein Freund, der dort kam, sofort ward ein Boot ausgesetzt, in welches nach einigem Signalisieren mit farbigen Lichtern der Kapitän selbst stieg und sich davonrudern ließ, jenem Schiffe zu. Das kleine Boot selbst konnte ich bald nicht mehr sehen, dazu war es doch zu finster.

Immer näher kam das andere Kriegsschiff, auf dem sich jetzt wahrscheinlich schon der Kapitän von diesem hier befand, und eine Viertelstunde später lag der ›Fernando‹, ebenfalls eine stattliche, gepanzerte Korvette, auf der anderen Seite der ›Santa Cruz‹, Bord an Bord mit dieser.

Dass sich die beiden Kriegsschiffe hier auf offener See so küssten, musste etwas Besonderes zu bedeuten haben. Ja, das war auch der Fall. Der Kapitän der ›Santa Cruz‹ verkündete etwas, was ich nicht verstand, lauter Jubel brach aus; die Offiziere der beiden Schiffe fielen sich in die Arme und küssten sich ebenfalls.

Die Partei, der sie angehörten, hatte eben gesiegt — wieder einmal gesiegt, morgen schon war es vielleicht wieder anders — auch den Matrosen wurde es verkündet, ein General Larosa wurde als Sieger gefeiert, die Musik musste die brasilianische Nationalhymne spielen, die Offiziere stießen mit Champagner an, die Leute bekamen Branntwein und Pulque — dann aber wurde die Kohlenübernahme unter Musikbegleitung fortgesetzt, nur dass jetzt nicht mehr so getrieben wurde, man ließ sich Zeit, alles war viel sorgloser geworden.

Der ›Fernando‹ blieb neben der ›Santa Cruz‹ liegen, mit ihr fest verbunden, weil die letztere dem anderen Schiffe jetzt einige große Geschütze abgab, ebenfalls eine sehr schwere, zeitraubende Arbeit.

Der Mond war aufgegangen. Noch immer polterten die Kohlen, jetzt aber zu Ende gehend; noch immer spielte die Musik, noch immer tanzten Madam Hullogan und mein Bootsmann, und drüben klangen die Champagnergläser.

Die in Sicht kommenden Segler und Dampfer, sobald sie die zwei zusammenliegenden Kriegsschiffe erkannt hatten, die jetzt stolz Wimpel und Lichter zeigten, hielten sich sorgsam von dieser bewaffneten Macht entfernt.

Da machte mich Mahlsdorf auf ein Schiff aufmerksam, welches sich uns offenbar mit Absicht näherte. Es führte die Toplaterne des Dampfers, auch sahen wir manchmal Funken aufsprühen.

»Was für ein Paddeltrog ist das nur?«, meinte Mahlsdorf. »Ich habe ihn schon längere Zeit beobachtet, das Ding scheint ja ebenso breit wie lang zu sein.«

Auch mir war schon aufgefallen, wie außerordentlich weit die Bordlichter voneinander abstanden.

Das Schiff kam in den Mondschein, es näherte sich uns immer mehr, allerdings sehr langsam, hielt direkt auf uns zu; bald war alles deutlich zu erkennen.

»Ja, das ist auch wirklich der ›Paddeltrog‹!«, rief ich, nachdem ich nochmals durch das Nachtfernrohr geprüft hatte, und die Zurufe einiger Matrosen stimmten mir bei: »Der Paddelkasten! Der elektrische Funke!«

Der ›Paddeltrog‹ war einst eine Berühmtheit gewesen. Sein ursprünglicher Name war ›Electric‹, woraus man auch aus Spott ›Der elektrische Funke‹ gemacht hatte.

England hatte ihn zum Legen seiner ersten unterseeischen Kabel bauen lassen. Nicht für das transatlantische, das kam damals noch gar nicht in Betracht, dazu wurde später, wie schon erwähnt, die ›Great Eastern‹ verwendet, aber da gab es doch schon andere unterseeische Kabel. Von Dover nach Calais, von Karikal in Vorderindien nach Ceylon, längs der persischen Küste hatte man die Telegrafenverbindung unter Wasser hergestellt, desgleichen auch meist an der afrikanischen Küste.

Zu diesem Zwecke also war der ›Electric‹ gebaut worden, um so ein langes, zusammengerolltes, ungeheuer schweres Kabel aufnehmen und während der Fahrt abwickeln zu können, wozu wieder eine Menge ganz eigentümlicher Maschinerien nötig waren.

Auch die Ansichten waren eigentümlich, die man damals hatte, wie solch ein Schiff beschaffen sein müsse, um diese Arbeit bewerkstelligen zu können. Heute ist ein Kabelleger ein ganz gewöhnliches Schiff. Es fehlte damals eben noch jede Erfahrung.

So entstand ein wunderbares Monstrum von Schiff, ein riesenhafter Backtrog, etwa achtzig Meter lang und im Mittel nicht weniger als dreißig Meter breit, nach den Enden sich auch nur wenig verschmälernd, oval, wegen der Küsten mit nur ganz kurzem Kiel, durch seine Dimensionen an sich ja schon gar nicht tiefgehend — eben ein richtiger Backtrog.

Er bekam eine Maschine, Schaufelräder — und wenn er seine ganze Schnelligkeit entwickelte, so legte der ›elektrische Funke‹ in der Stunde drei Seemeilen zurück. Das ist die ›Schnelligkeit‹ eines gemütlichen Spaziergängers.

Auch segeln konnte er mit seinen zwei Masten — dann ging es aber selbst beim besten Winde noch langsamer.

Diejenigen, welche nicht wissen, was Ironie ist, sagten nicht der ›elektrische Funke‹, sondern nannten ihn einfach den ›Paddeltrog‹; dieser Name wurde bald allgemein, und wo das Schiff erschien, erregte es unter den Seeleuten ungeheuere Heiterkeit.

Doch sonst bewährte es sich ganz gut, bestand jeden Seegang, hatte ja auch die Fahrt nach Indien gemacht, eben um das Kabel vom Festland nach Ceylon zu legen — aber fragt mich nur nicht, wie viel hundert Tage es gebraucht hat, um dorthin zu gelangen.

Dann machte man mit dem Kabellegen mehr Erfahrung; solch ein unförmliches Ding war ja gar nicht nötig, der ›elektrische Funke‹ wurde ausrangiert. Wo er geblieben war, wusste ich nicht.

Na, da war er wieder! Kein Zweifel, das war er! Ich hatte ihn schon zweimal bewundert, im Hafen, als auch, wie er einmal über den Ozean troddelte, wie so ein dicker Rentier.

Jetzt hisste er am Heck die Flagge, im hellen Mondschein deutlich erkenntlich.

»Das Sternenbanner!«, riefen die Matrosen.

Ja, es schien so, die roten Streifen an der Ecke — aber als sich die Flagge in dem leichten Winde voll entfaltete, zeigte sich, dass im blauen Felde nur ein einziger Stern war.

»Die Flagge von Liberia!«, erklang es im Chore der flaggenkundigen Matrosen.

Richtig, von Liberia. Ja, hatte denn diese Negerrepublik, die bisher in der Seefahrt noch gar nichts von sich reden gemacht, auch schon solch große Kästen? Na ja, es war eben der berühmte ›Paddeltrog‹, den sie sich zugelegt.

Immer auf uns zusteuernd, gingen jetzt am Vordermaste, auch so ein unförmliches Ding, andere Flaggen hoch, welche die Namen des Schiffes und des Kapitäns melden würden.

Mahlsdorf hatte das Flaggenbuch.

»K — a — r — b«, buchstabierte er.

»Karbol heißt der Paddeltrog jetzt«, bemerkte ein Witzbold. Aber es sollte noch viel besser kommen.

» — u — n — k... Karbunkel von... Liberia — der Karbunkel von Liberia.«

»Was?«, staunte ich. »Karbunkel? Vielleicht Karfunkel, wenn auch das schon ein seltsamer Name ist. Doch richtig, in dem gebirgigen Teile Liberias sollen ja Rubine gefunden werden, früher auch Karfunkel genannt.«

»Nein, es ist ein b, kein f — Karbunkel«, verteidigte sich Mahlsdorf.

Dann war das eben ein Versehen der Flaggengäste, und es wurde dort drüben auch nicht bemerkt, der Name blieb stehen.

Der ›Karbunkel von Liberia‹ — meine Matrosen lachten wie die Besessenen.

»Kapitän«, buchstabierte Mahlsdorf weiter. »Al... Algots — Kapitän Algots — jawohl, er ist es!«

Ach, war das ein Jubel unter meinen Leuten! Karlemann kam — hatte sich den ehemaligen Paddeltrog zugelegt, den er jetzt den ›Karbunkel von Liberia‹ genannt hatte.

Denn bei diesem Namen würde es nun bleiben, da half nun alles nichts. Der ›Karbunkel von Liberia‹!

Und jetzt sah ich ihn auch auf der niedrigen Kommandobrücke stehen; er hatte die ›Sturmbraut‹ natürlich schon erkannt, winkte fröhlich.

Mir ging eine Ahnung auf...

Doch zunächst wünschte mich Kapitän Casas zu sprechen, der von der ›Santa Cruz‹. Er hatte noch keinen Fuß auf die Planken meines Schiffes gesetzt, was ich begreiflich fand. So ein Kommandant eines Kriegsschiffes ist ja erst recht ein Monarch. Es war ein Offizier, der mich aufgesucht, der Korvettenkapitän ließ mich sehr höflich bitten.

Auch ich brauchte mein Schiff nicht zu verlassen, er stand schon an der Bordwand.

»Darf ich fragen, was für ein Schiff das ist? Sie scheinen es doch zu kennen.«

»Es ist der ›Karfunkel von Liberia‹: der Kapitän ist mein Freund — ein sehr kleiner Freund.«

Ich sah dem Brasilianer gleich an, dass er sich nicht weiter dafür interessierte, dass ihm etwas anderes am Herzen lag.

»Er scheint hier beilegen zu wollen.«

»Jedenfalls.«

»Nun, wir bleiben hier die ganze Nacht zusammen liegen, die ›Santa Cruz‹ und der ›Fernando‹. Senhor Capitano, ich möchte Ihnen gern eine Eröffnung machen.«

»Bitte.«

»Es könnte aber auch sein, dass nichts daraus wird.«

»Wie Sie wollen.«

»Ich muss es erst mit dem Kommandanten des ›Fernando‹ besprechen — es kann sich überhaupt erst morgen früh entscheiden... Würden Sie so lange hier liegen bleiben?«

»Warum nicht?«

»Wie viel Wartegeld fordern Sie für die Stunde?«

»Nichts.«

»O, das können wir doch nicht verlangen...«

»Ich habe nichts zu versäumen.«

»Dann vorläufig tausend Dank. Hoffentlich kommen wir überein. Sie werden es nicht bereuen.«

Der Kapitän grüßte sehr höflich und ging.

Ich ahnte, dass man die ›Sturmbraut‹ als Kriegsschiff chartern wolle. Mit der brasilianischen Flotte sah es ja sehr faul aus, das Kaiserreich Brasilien lag sich wohl auch mit der Republik Argentinien in den Haaren, oder es sollte doch bald losgehen, und Argentinien hatte eine weit größere Kriegsflotte.

Nun, ich wäre wahrscheinlich dazu bereit gewesen. Doch was ich noch nicht habe, regt mich nicht auf, und vor allen Dingen interessierte ich mich für meinen Karlemann.

Mächtig pustend, war der ›Paddeltrog‹ herangekommen, die Schaufelräder befanden sich in Ausbuchtungen, so konnte er dicht neben der ›Sturmbraut‹ anlegen. So, nun war das vierblättrige Kleeblatt fertig; wir vier Schiffe bildeten ein festes Ganzes.

Es waren ausschließlich schwarze Matrosen, die auf mein Deck sprangen, um die Taue um die Poller zu legen, unterstützt von meinen Jungen.

Karlemann rief noch etwas ins Sprachrohr hinein, dann sprang er herab, mir entgegen, der ich mich schon drüben befand.

Wir schüttelten uns die Hände, wobei ich immer etwas in die Kniebeuge gehen musste.

»Na, Karlemännchen, was machen Sie denn? Wie kommen Sie zu diesem ›Paddeltrog‹ und überhaupt hierher?«

In diesem Augenblick verstummte drüben die Musik, die Kapelle konnte abtreten, die letzten Kohlen waren übergenommen.

»Was ist denn hier los?«, fragte Karlemann, ohne meine Fragen beantwortet zu haben.

»Kohlenübernahme mit Musik.«

»Das sind doch zwei brasilianische Kriegsschiffe?«

»Jawohl, und dem einen habe ich sechshundert Tonnen Kohlen verkauft.«

»Bleiben die hier noch länger liegen?«

»Die ganze Nacht, Seite an Seite, hier an dieser Stelle.«

»Wie viel Mann Besatzung?«

»Nun, jeder Kasten hat mindestens zweihundertfünfzig Mann.«

»Fünfhundert? das wäre ja famos, da lohnte sich eine Vorstellung. Wie heißt der Kapitän?«

»Sie sind jetzt so weit, um Vorstellungen geben zu können?«

»Das werden Sie schon sehen. Sie sind mir überhaupt ein netter Kumpan! Macht immer Kumpe mit mir, und dabei geht er seine eigenen Wege. Nun sollen Sie aber auch abwarten. Jetzt muss ich erst den Kapitän sprechen...«

»Hören Sie«, hielt ich ihn noch einmal zurück, als er schon hinüber wollte, »die ganze Mannschaft hat sieben Stunden lang Kohlen geschippt, wenigstens die von der ›Santa Cruz‹...«

»Und die andere nicht?«

»Das weiß ich nicht.«

Karlemann war schon hinüber, auf das erste Kriegsschiff, hatte auch gleich den Kapitän erwischt, der sich zu dem Jungen herabbeugte, und jetzt legte er ihm auch wohlmeinend die Hand auf den Kopf.

Ob sich das Kapitän Karl Algots lange gefallen ließ? Die beiden verschwanden. Jedenfalls würde der Brasilianer nicht schlecht staunen.

Ich besichtigte unterdessen den ›Paddeltrog‹. Abgesehen von der enormen Breite war nichts Interessantes daran. Wenigstens nicht an Deck. Lauter schwarze Matrosen.

Ich wollte eine Tür öffnen, die wahrscheinlich zur Kajüte führte. Da wurde ich hinten am Rocke festgehalten.

»Hö hö hö hö, Master, nix hier, nix hier«, sagte ein Schwarzer mit entsprechender Handbewegung.

Wenn der Eintritt verboten war, konnte ich nichts dagegen tun, diese Leute taten ihre Pflicht, wenn sie mich zurückhielten.

Da kam Karlemann schon wieder, in Begleitung beider Kapitäne. Ohne mich zu beachten, führte er sie dort hinein, wo ich die Kajüte vermutete.

Ich durfte nicht folgen, Karlemann war im Geschäft, und aufdringlich bin ich nicht.

Es gab noch anderes zu besichtigen, ich blickte in den oben offenen Maschinenraum hinab, sah mich weiter um — und da sah ich etwas, was mein höchstes Staunen erregte.

Rettungsgürtel, Eimer und andere Gegenstände trugen wie gewöhnlich den Schiffsnamen, und da war nicht Karfunkel zu lesen, sondern wirklich der ›Karbunkel von Liberia‹!

Es half alles nichts, ich konnte hinblicken, wohin ich wollte, überall Karbunkel, Karbunkel, Karbunkel.

»Was, ›Karbunkel‹ heißt dieses Schiff?«, wandte ich mich an einen Neger.

»Yes, Sir, der ›Karbunkel von Liberia‹«, war die ernste Antwort. Unterdessen mochten zehn Minuten vergangen sein, die beiden Kommandanten kamen schon wieder aus der Kajüte zurück.

»Das ist ja wirklich staunenswert!«, hörte ich den einen sagen. »Ja, so etwas habe ich nicht in New York und nicht in Paris zu sehen bekommen«, entgegnete der andere, »solch ein reichhaltiges Material!«

»Und wir haben kaum einen Einblick gewonnen, dazu braucht man Stunden.«

»Die Mannschaft soll es zu sehen bekommen, das hält sie auch wach.«

Die beiden Kapitäne waren an mir vorüber, ohne mich bemerkt zu haben.

»Na, was machen Sie denn, Sie alter Zuchthausbruder?«

Karlemann war wieder aufgetaucht. Ich nahm ihm diese Bezeichnung durchaus nicht übel.

»Sie wissen?«

»Alles. Es hat ja in allen Zeitungen gestanden. Im Zuchthaus — so so — na, Sie können es ja noch weit bringen.«

»Wenn Sie alles wissen, dann ist meine Person ja erledigt. Nun kommt die Ihre dran. Und vor allen Dingen: wie sind Sie zu diesem ›Paddeltrog‹ gekommen?«

»Gekauft!«, war seine lakonische Antwort.

»Das ist doch der frühere ›Electric‹, der Kabelleger.«

»Stimmt!«

»Wo hat der bisher immer gelegen?«

»In Newcastle. Ich habe ihn etwas ausflicken und mir kommen lassen. Ein famoses Schiff, ganz geeignet für meine Zwecke.«

»Und Sie haben ihn Karbunkel genannt?«

»Yes — ›Karbunkel von Liberia‹.«

»Wirklich Karbunkel?«, musste ich mich noch einmal vergewissern.

»Na ja doch — Sie sehen doch den Namen hier überall dran gemalt.«

»Warum haben Sie Ihr Schiff denn gerade Karbunkel getauft?«

»Na, irgendeinen Namen muss es doch haben — und ist ›Karbunkel von Liberia‹ kein schöner Name?«

»Wissen Sie denn gar nicht, was ein Karbunkel ist?«

»Ein Edelstein — ein schöner roter — wie man ihn am Ringe hat.«

»Nee, das ist ein Karfunkel — und Karbunkel ist ein Geschwür, das man am Halse oder sonst wo am Körper hat.«

Karlemann machte gleich ein furchtbar beleidigtes Gesicht.

»Was?«, fragte er zunächst noch ruhig. »Was sagten Sie?«

»Der Karbunkel ist ein ekelhaftes Geschwür, das man am Halse oder sonst wo am Körper hat«, wiederholte ich prompt.

Jetzt aber wurde Karlemännchen bös.

»Hören Sie«, brüllte er mich an, »wenn Sie mein Schiff noch einmal ein ekelhaftes Geschwür nennen, das man am Halse oder sonst wo am Körper hat, dann haue ich Ihnen eine runter!! Verstanden? Mein Schiff ist ein Edelstein, verstanden?!«

»Nee nee, Karlemännchen, das hilft Ihnen alles nichts, der Karbunkel ist ein Schwär.«

Jetzt holte Karlemännchen wirklich mit der Hand aus.

»Ich haue Ihnen eine hinein und auch eine wieder heraus!!«

»Sie? Sie?«, lachte ich von oben herunter. »Wie wollen Sie denn das machen? Sie Knirps langen doch gar nicht herauf.«

»Mir ganz egal — dann klettere ich auf einen Stuhl — oder hole mir eine Bockleiter!«

Mit einem Male aber fing er selber an zu lachen, und dann war er doch wieder etwas verdrießlich, als er sich hinter dem Ohre kratzte.

»Ich weiß schon, weiß schon. Sie haben ganz recht. Wissen Sie — in Liberia werden doch solche rote Edelsteine gefunden — Rubine oder Karfunkel heißen die Dinger — ich dachte aber immer, es hieße Karbunkel — nach solch einem roten Edelsteine wollte ich mein Schiff nennen — aber ich war eben im Irrtum — und da ist Karbunkel draus geworden — und niemand machte mich darauf aufmerksam — erst hinterher erfuhr ich's — aber da war's schon zu spät, das Schiff war schon auf den Namen registriert.

»Na«, fuhr er fort, sich aus seiner verdrießlichen Stellung emporrichtend, »jedenfalls ist der ›Karbunkel von Liberia‹ ein ganz auffallender Name, und das ist die Hauptsache — auffallen muss es! — und dann klingt's schließlich noch immer besser als das Geschwür von Liberia, was, ha?«

Karlemann war und blieb doch immer derselbe!

»Und unter der Flagge von Liberia segeln Sie?«

»Jawohl. Warum nicht? Da bin ich geschützt wie vielleicht unter keiner anderen Flagge. Und auffallend, auffallend, das ist die Hauptsache. Der ›Karbunkel von Liberia‹ — Donnerwetter, was ist denn das?! Und alles schwarz, lauter schwarze Matrosen, auch der Kapitän ist ein Schwarzer. Das gehört alles mit dazu.«

»Sie fahren das Schiff nicht selbst?«

»Nee, geht ja gar nicht, ich bin doch noch ein Lausejunge, bin noch nicht einmal konfirmiert. Und außerdem bin ich jetzt Zirkusdirektor. Und nun machen Sie, dass Sie von hier wegkommen, ich habe jetzt bannig viel fix zu tun. Es gibt gleich eine Vorstellung. Sie sollen auch ein Freibillett kriegen.«

Er ließ mich stehen, und ich begab mich wieder auf mein Schiff hinüber, von wo ich ja ebenfalls alles beobachten konnte.

Ich will auch gleich meine Vermutungen äußern. Ich glaubte, Karlemann hätte seine ganze vier- und zweibeinige Menagerie im Zwischendeck untergebracht, dort würde man auch alles besichtigen, so im Vorbeidefilieren, den chinesischen Riesen, das vierzentnerige Riesenweib, die Dame ohne Arme, das fünfbeinige Kalb und so weiter und so weiter. Dann ferner, dachte ich mir, würde sich Karlemann auch in einem Raubtierkäfig als Dompteur produzieren, alles im Zwischendeck. Denn an Deck selbst war ja gar keine Vorrichtung, gar keine Gelegenheit dazu.

Aber alle meine Erwartungen sollten bei weitem übertroffen werden. Doch ich will nicht vorgreifen.

Zunächst quollen aus einer Luke Neger hervor, welche sich, wie mir erst schien, mit langen Brettern prügelten oder sich mit diesen warfen, bis ich bemerkte, dass sie sich diese langen Bretter zuwarfen, immer Hand aus Hand, und aus den Brettern kamen Beine zum Vorschein, es waren Bänke, und im Nu entstand auf dem Deck des breiten Paddeltrogs ein hohes Gerüst, aus lauter Bänken bestehend, nur in der Mitte einen Kreis frei lassend.

Was, hier wurde doch ein Zirkus gebaut! Gewiss, das innen war die Manege. Und mit welch fabelhafter Geschwindigkeit das ging! Und wie ich dann gleich bemerkte, waren die Sitzbänke nicht nur so lose übereinandergesetzt, sondern überall Klammern und Ösen, und alles passte, das Ganze bekam einen festen Halt, das Schiff hätte schon tüchtig schlingern können.

Ein vollständiger Zirkus! Nur an Deck, im Freien. Aber ich zweifelte nicht, dass das Ganze auch überdacht werden konnte, so etwas ist ja auf einem Schiffe eine Kleinigkeit. Die Bänke hatten sogar Nummern, jeder Platz war nummeriert, die untersten Reihen hatten auch Lehnen.

Ein richtiges Amphitheater. Nur nicht rund, sondern oval, so wie das ganze Schiff gebaut war. Achthundert Sitzplätze schätzte ich mindestens, und das Ganze konnte nach hinten und vorn noch bedeutend vergrößert werden.

Also hier in diesem umringten Kreise sollten die Missgeburten und ausländischen Tiere vorgeführt werden! Ich begriff nur noch nicht recht, wie sie da immer hineingelangen sollten, die Sitzreihen waren alle dicht geschlossen, und eine Luke hatte ich vorhin dort nicht bemerkt, und etwa einen Elefanten konnte Karlemann doch überhaupt nicht so einfach durch eine Luke befördern.

Dann war es eigentlich auch noch keine Manege, wenn man darunter so einen eingefassten Kreis versteht, der Rand wie gewöhnlich mit rotem Tuch beschlagen, innen Sägespäne oder Lohe gestreut, zuerst hübsch geharkt — das Ganze sah überhaupt noch recht nüchtern aus. Ringsherum der Bankaufbau, in der Mitte das freie Deck, weiter nichts.

Ein Neger brachte mir Billetts, Freibilletts, gleich vierzig Stück, für alle meine Leute und was sonst noch dran baumele.

Karlemann war nobel gewesen. Sonst hätte ihn auch der Teufel holen sollen, hätte er von mir etwa Eintrittsgeld verlangt!

»Die grünen Billetts sind für die Herrschaften, die roten für die Mannschaft«, erklärte der Neger, der noch mehrere Pakete bei sich hatte.

Jedes Billett hatte eine Nummer, auch die Bezeichnung links oder rechts — oder vielmehr backbord oder steuerbord — alles schiffsmäßig.

»Druckt ihr die Billetts selbst?«

»Alles, alles selbst«, grinste der Neger.

»Habt ihr da nicht auch Programme?«

»Nix Programme, Massa.«

»Die bekommt man wohl noch nachher?«

»Nix Programme heute.«

»Ihr gebt heute wohl die erste Vorstellung?«

»Die allererste. Bisher nur immer Proben gehabt.«

»Und nicht einmal Programme? Und warum hast du als Billetteur denn nicht einmal eine Livree mit Silbertroddeln?«

Der Neger verstand mich gar nicht. Er hatte nämlich nichts weiter als eine schmutzige Leinwandhose an.

Das sah Karlemann doch eigentlich gar nicht ähnlich. Oder kehrte er mit Absicht das Zerlumpte, das Zigeunerhafte heraus?

O, ich sollte diesen gerissenen Jungen nochmals kennen lernen, wie das Fehlen von Programmen und Livree alles seine bestimmte Absicht hatte! Dieser deutsche Zigeunerknabe war ein Held der Überraschungen!

»Für wen sind die anderen Billetts?«

»Für die Matrosen von den Kriegsschiffen.«

»Wie viele?«

»O, mehr als fünfhundert.«

»Die dürfen alle der Vorstellung beiwohnen?«

»Alle. Nur ein paar nicht, die Wache halten müssen.«

Die Kommandanten waren plötzlich recht sorglos geworden.

»Und jeder bezahlt selbst?«, musste ich doch noch weiterforschen.

»Nein, Kapitän bezahlen für alle. Fünfhundert Schilling, jeder Platz einen Schilling. Nur Offiziere bezahlen mehr.«

»Geh, halte dich nicht weiter auf.«

Wenn der Kanonenschuss fallen würde, sollte man sich auf die Plätze begeben. So stand auf jedem Billett. Aber auch das heutige Datum war daraufgedruckt, also mussten sie doch soeben erst fertig geworden sein, und in meiner lebhaften Phantasie stellte ich mir gleich den Setzer vor, wie er vor dem Setzkasten stand, die Typen zusammenreihte und sich dabei mit den Zehen in der Nase... nein, wie er dazu mit dem Bauche bellte.

Alle weitere Angaben fehlten auf dem Billett. Ich hätte doch wenigstens etwas von Zigeunerschiff, große GalaVorstellung und dergleichen daraufgesetzt.

Der Kanonenschuss fiel. Ich hielt's eher für einen Feuerwerksböller.

Ein Offizier bat mich um die Erlaubnis, dass die brasilianischen Mannschaften das Deck meines Schiffes passieren dürften. Selbstverständlich! Anders konnten sie ja gar nicht hinüber. Oder sie hätten alle erst in die Boote gehen müssen.

Die fünfhundert Mann oder mehr noch marschierten in geschlossener Reihe hinüber, schon nach den Nummern geordnet, und so saß alsbald jeder auf seinem Platze, sauber und satt, und in Erwartung der Dinge war alle Müdigkeit der Kohlenschipper vergessen.

Dann begab auch ich mich mit meinen Jungen hinüber, nur einige Wachen zurücklassend, die aber von der hohen Kommandobrücke aus ebenfalls zusehen konnten. Auch Mr. Fairfax und Mr. Brown schlossen sich mir an, ihre Leute mitnehmend, soweit diese gesund waren, nur Tischkoff ließ sich nicht sehen. Wir nahmen, wie die fremden Offiziere, auf der untersten Reihe Platz.

Viele jener Blaselichter, die ich schon erwähnt, an Holzstangen angebracht, verbreiteten genügende Helligkeit, und auf der Kommandobrücke saß die Kapelle, aus wohl zehn Mann bestehend, lauter Neger, und ich erkannte Matrosen von vorhin wieder. Also musikalische Matrosen! Meine Missgeburten schien er nicht als Musikanten verwenden zu wollen, wie er ursprünglich geplant, es schien mir überhaupt alles viel größer und großartiger geworden zu sein, als Karlemann mir damals offenbart hatte.

So ist's eben: es wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken — und wenn Karlemann körperlich nicht mehr wuchs, so doch mit seinem Spekulationsgeiste.

Als ich mich so umschaute, schwand bei mir ganz das Bewusstsein, mich auf einem Schiffe zu befinden. Ich fühlte mich in einen richtigen Zirkus versetzt. Nur die einfachen, uneingefassten Deckplanken statt der Manege störten mich etwas in dieser Empfindung.

Da eine Pause in der Musik, ein neuer Marsch, und plötzlich entstand in der Mitte des freien Raumes ein großes Loch, ein Rundteil senkte sich hinab, etwa von zwei Meter Durchmesser — wieder ein jähes Abbrechen der Musik, ein schmetternder Tusch, die Versenkung hob sich wieder, und auf dem Rundteil stand Karlemann, als Bereiter, oder wie der Kerl heißt, eben als Zirkusdirektor, mit hohen, blankgewichsten Schaftstiefeln, daran fünf Zoll lange Silbersporen, mit roter Schnürenjacke, die lange, elegante Peitsche in der Hand.

Es sah allerliebst aus, das Kerlchen, wie es sich jetzt dem Publikum vorstellte, wie es sich verneigte — da konnte jeder erwachsene Zirkusdirektor etwas lernen.

Dass man da entweder einen halbwüchsigen Jungen oder einen Zwerg vor sich hatte, war sofort zu erkennen, auch ohne Hintergrund, und nun dieses Kostüm — das war so etwas für die brasilianischen Matrosen, von denen wohl die wenigsten schon in einem Zirkus gewesen waren; aber was das Händeklatschen zu bedeuten hatte, das wussten sie alle, und sie geizten nicht mit ihrem Applaus, der vorläufig nur diesem kleinen Männchen im Reitkostüm galt.

Da mit einem Male versank Karlemann abermals in der Tiefe, aber nicht nur mit dem in der Mitte befindlichen Rundteil, sondern diesmal senkte sich der freie Kreis von mindestens vierzehn Metern Durchmesser hinab, wir blickten dicht vor unsern Füßen direkt in die schwarze Tiefe.

Eine Ahnung überkam mich. Nicht umsonst hatte Karlemann sich dieses alte Kabelschiff als schwimmenden Zirkus angeschafft. Einmal die außergewöhnliche Breite, und dann hatte dieses Schiff die Vorrichtung besessen, das ganze zusammengerollte, mächtige Kabel heraufzubefördern, auf einem Aufzuge liegend...

Ich konnte nicht weiter darüber nachdenken.

Wieder ein faszinierender Galopp, und plötzlich liegt vor uns die richtige Zirkusmanege, die sich aus der Tiefe gehoben, die Barriere mit rotem Samt ausgeschlagen, innen mit Lohe bestreut — und da... jagt auch schon unter Hoppla und Peitschenknallen im Kreise ein prächtiger Schimmel, und auf seinem Rücken tanzt beinewerfend ein Frauenzimmer, so eine Kunstreiterin!

Na, ich war wieder einmal baff! Hatte der auch Pferde mit! Mit meiner letzten Besinnung musste ich nur noch sagen, dass ich mich wirklich auf hoher See, auf einem Schiffe befand!

Und nun diese Plötzlichkeit! Dieser Verwandlungszauber! Die ganze Manege hob sich aus der Tiefe, und da war auch schon der prächtig geschmückte Schimmel in voller Karriere, hopste schon das Frauenzimmer mit ihren Trikots und im goldenen Flitterröckchen darauf herum, knallte schon Karlemann als Bereiter mit der Peitsche, dem Pferde nachgehend, es beobachtend, und... machte auch schon der riesige Chinese als weißangeschmierter Clown seine Späße und Faxen!

Alles mit dem größten Raffinement ausgetüftelt! Jetzt erst sah man, wie winzig klein dieser Bereiter im roten Schnürenrock war, schon im Gegensatze zu dem starken, großen Rosse, nun aber erst neben dem Chinesen!! Nicht umsonst hatte Karlemann gerade diesen als Clown ausgebildet, ließ ihn gleich im Anfang immer hinter sich her marschieren.

Na, und alles übrige Publikum war erstarrt. Die Hände, welche zusammengeschlagen werden sollten, blieben in der Luft stehen, wie der Mund offen. So etwas hatten diese kreolischen Matrosen doch noch nicht gesehen! Und nun der Zwerg als Rittmeister, der endlos lange Chinese — die wussten doch gar nicht, wohin sie die Blicke lenken sollten!

»Großartig, das hätte ich nicht erwartet!«, sagte Mr. Brown an meiner Seite, Mr. Fairfax stimmte ihm bei, und wenn die das sagten, dann war es auch wirklich etwas. Auf einem Schiffe, auf offener See, muss man nur immer bedenken.

Aber auch sonst machte die Kunstreiterin ihre Sache ganz vorzüglich. Es war eine Weiße, hübsch, graziös bis in die Fingerspitzen.

Erst hatte ich geglaubt, es wäre die Coliani. Aber sie war es nicht. Das war nur eine Ideenverbindung zwischen Schiff, Trikots und Fleisch gewesen.

Wieder senkte sich das innere Rundteil hinab — dasjenige, in welchem im Zirkus immer die Diener marschierten, welches auch durch einen weißen Kreis markiert ist, der übrige, mit Lohe bestreute Teil blieb oben, also auch Pferd und Kunstreiterin wie Karlemann und der Chinese — und diesmal brachte es eine Menge livrierter und betresster Diener mit herauf, lauter Neger, welche sich sofort mit Barrieren in der Manege verteilten.

Auf diese Weise wurde alles herauf- und wieder hinabbefördert, es war eine doppelte Versenkung, eine kleine und eine große, und die letztere, durch welche die ganze Manege versenkt ward, wurde nur bei größeren Tieren und sonstigem ganzen Szenenwechsel in Anspruch angenommen.

Alles ungemein ingeniös ausgedacht, und war auch schon alles auf diesem alten Kabelschiffe dazu eingerichtet, so war es doch schon ingeniös genug, nur auf die Idee zu kommen, den alten Kabelleger zu so etwas zu benutzen.

Sprung über Tücher, wobei die die Tücher haltenden schwarzen Clowns es nicht an Witzen fehlen ließen, zum Teil auch Spanisch sprechend — dann sprang die Kunstreiterin durch Reifen, dann durch solche, welche mit Papier bespannt waren, zuletzt in Brand gesetzt wurden — das Staunen der brasilianischen Matrosen ist gar nicht zu beschreiben, sie vergaßen das Applaudieren.

Jetzt versank die ganze Manege, mit Pferd und Karlemann und allen übrigen Personen, dafür aber blieb das Rundteil stehen, wie eine Säule, auf dieser stand noch die Kunstreiterin, ihre graziösen Knickse machend, nach allen weiten Kusshändchen werfend — da kam die ganze Manege schon wieder herauf, aber ohne Pferd und anderen Personen, und plötzlich wirbelte das pompöse Frauenzimmer radschlagend durch die ganze Manege, um dann noch einmal mit Kusshändchen zu danken.

Und da war der Bann gelöst, da brach der Tumult los, ein Händeklatschen und ein Trampeln, dass ich für das Gerüst, für das ganze Schiff fürchtete.

Ich sah, wie einer der NovaScotiaLeute in die Hosentasche griff, er hatte die ganze Hand voll Silber und Gold, er wusste nicht recht, ob er sollte oder nicht, er schien sich zu genieren, das war doch ein so feines Frauenzimmer, nicht so eine gewöhnliche wie im Tingeltangel; zögernd steckte er das Geld wieder ein... aber hätte der Mann jetzt mit Geld zu werfen begonnen, wie es in Amerika unter solchen Leuten üblich ist — von allen den fünfhundert Matrosen hätte eine Minute später kein einziger mehr noch einen Milreis in der Tasche gehabt, und ich wusste, dass die brasilianischen Matrosen vorhin erst Löhnung gefasst hatten, auch für das Kohlenziehen hatte jeder noch einen halben Dollar extra erhalten. Denn Brasilien hat richtige Söldlinge, und sie werden gar nicht so schlecht bezahlt.

So kam es nicht zum Geldwerfen. Niemand wagte, den Anfang zu machen. Es lag noch immer nur an mir, ich hätte nur anzufangen brauchen, sofort wäre auf die Kunstreiterin von allen Seiten ein Silberregen herabgeprasselt, vermischt mit Kupfer, aber auch mit Goldstücken.

Ich tat es nicht. Mochten die Leute ihr Geld in der Tasche behalten. Denn ich ahnte schon, dass diese Kunstreiterin von dem Gelde verdammt wenig abbekommen hätte, das würde doch sicher alles Karlemann für sich in Anspruch nehmen.

Die Kunstreiterin verschwand durch die kleine Personenversenkung, jetzt begannen die Matrosen ihre Meinungen auszutauschen, natürlich herrschte nur eine einzige, und da... hörte ich denn nur recht?

»Biiiiier gefällig? Belegte Brötchen!«, sang es in dem allgemeinen Summen.

Das heißt, es wurde spanisch gerufen, aber ich beherrschte Spanisch schon so weit, dass ich darin auch denken konnte, also nicht zu übersetzen brauchte, und wenn man Sprachen vollständig beherrscht, kann es vorkommen, dass man nach einer Unterhaltung kurz hinterher nicht mehr weiß, ob man, wie in meinem Falle, mit dem anderen Deutsch oder Englisch oder Spanisch gesprochen hat.

Schwarze Diener gingen mit Brotschnitten, mit Schinken und harter Wurst belegt, mit Selterswasser, Limonade, Bier, Wein, Likören und Zigarren herum.

Nun war der Zirkus fertig, es fehlte auch gar nichts mehr! Bier? Damals hatte sich der Gerstentrank noch nicht so alle Welt erobert wie heute, da jedes Land seine eigene Brauerei hat, da deutsches Exportbier allüberall hin versandt wird.

Ich nahm ein Gläschen. Die trübe Tunke sah mir recht verdächtig aus. Pfui Deiwel, war das ein sauersüßer Suff! Und das Gläschen einen halben Dollar!

Dementsprechend waren auch die Preise aller übrigen Getränke. Das billigste war das Selterswasser, das kleine Fläschchen fünf Groschen, ebensoviel ein durchsichtiges Stückchen Brot mit einer kleinen Schinkenscheibe. Und die Zigarren wurden nur dreistückweise abgegeben, Kostenpunkt eine Mark. Karlemann nahm Seepreise.

Aber die brasilianischen Matrosen griffen freudig in die Tasche, in der doch die Löhnung brannte, alles kaute und trank, dann qualmte alles, und als ich einen Überschlag machte, waren in fünf Minuten allermindestens dreihundert Taler ausgegeben worden, und da waren die dreißig Novascotiamen noch gar nicht dabei, welche die Likörgläschen, Stück eine Mark, nur immer so hintergossen, und da verdiente Karlemann doch allermindestens das Zehnfache daran.

Der eine Novascotiaman fragte, ob er nicht gleich eine ganze Kiste Zigarren bekommen könne — jawohl, und mir schien fast, als ob der Mann mit seiner Frage nur anderen zuvorgekommen, jeder der dreißig Mann nahm eine Kiste, und en gros waren die Zigarren, ganz gewöhnliches Kraut, sogar noch teurer als im einzelnen, die Kiste zehn Dollar — das waren also schon wieder dreihundert Dollar oder vierhundert Taler, ganz nach unten abgerundet, welche allein diesen wenigen Novascotiamen aus der Tasche genommen wurden!!

Ja, solche Zirkusse und Schaubuden machen nicht umsonst die ungeheuer beschwerlichen Reisen per Achse in die wildesten Wildnisse Amerikas hinein! Nur ein einziger Abend mit einem Publikum, das aus Cowboys und Goldgräbern besteht, und so ein Unternehmer kann ein reicher Mann sein!

Alles, was diese Leute in monate, unter Umständen jahrelanger schwerer Arbeit unter Gefahr ihres Lebens verdient haben, werfen sie einer Tingeltangelsängerin an den Kopf, der Vaquero schneidet seine Goldknöpfe ab — immer weg damit, solche fünf Minuten kommen nicht wieder, es wird ja alles wieder verdient, und morgen sind wir vielleicht tot! Na, nun noch ein Kusshändchen — so ein blutigverdammtes Blitzmädel — da hast du meinen ganzen Sack mit Goldstaub!

So geht's im fernen Westen Amerikas zu. Seeleute sind schon etwas verwöhnter. Und dann ist ja im Hafen die Konkurrenz, da sind ja immer gleich Hunderte, wenn nicht Tausende, und jeder will dem armen Matrosen die so schwer verdiente Heuer aus der Tasche luchsen. Es kommt nur darauf an, wer ihn zuerst in seine Klauen bekommt.

Dieser schwimmende Zirkus hier, das war aber einmal etwas ganz Neues!! Da hatte Karlemann wieder einmal den Vogel abgeschossen. — —

Als zweite Nummer führte Karlemann einen riesigen Elefanten vor, denselben, den ich auf der Leuchtturminsel hatte exerzieren sehen.

Ich will mich nicht in Einzelheiten ergehen. Nach der Musik marschieren, auf einer großen Trommel balancieren, Harmonika blasen, den Leierkasten drehen und dergleichen.

Das bekam man schließlich in jedem anderen Zirkus, in jeder Menagerie zu sehen. Aber Karlemann gab diese Vorstellung nicht für uns, sondern für die brasilianischen Matrosen, und unter diesen waren vielleicht keine zehn, die einen Elefanten nur auf einem Bilde gesehen hatten.

Die Kerls waren beim Anblick des riesigen Dickhäuters mit den gewaltigen Stoßzähnen, der noch vorn einen langen Schwanz hatte, einfach starr! Sie entsetzten sich! Die zu unterst Sitzenden wollten die Flucht ergreifen!

Aber auch die Verwöhnteren bekamen doch verschiedenes Neues, Sensationelles zu sehen. So zum Beispiel schon, wie der Elefant seinen Dresseur mit dem Rüssel umschlang und ihn in die Höhe hob, das hatte ich noch nie gesehen, und zuletzt sogar schleuderte er ihn hoch in die Luft und fing ihn mit dem Rüssel wieder auf!! Ein ganz gefährliches Spiel!

Und nun vor allen Dingen der Unterschied zwischen dem ungeheuren Elefanten und dem winzigen Menschlein! Das war es ja eben, was so gewaltig wirkte!

Das Pendant dazu wären der chinesische Riese und der Zwergelefant gewesen. Aber den bekamen wir gar nicht zu sehen, wenigstens nicht vorgeführt. Karlemann zeigte diesen brasilianischen Matrosen ja nicht den zehnten Teil von dem, was er auf seinem Repertoire hatte. Das wäre überhaupt gar nicht möglich gewesen. Später, als der ›Karbunkel von Liberia‹ im Hafen lag, gab er ununterbrochen von früh acht bis Mitternacht Vorstellungen, jede währte zwei Stunden, aber man konnte gleich den ganzen Tag sitzen bleiben, keine einzige Nummer wiederholte sich.

Es war auch schon genug, was wir von diesem großen Elefanten zu sehen bekamen, besonders eben, wie er zuletzt mit seinem Herrn und Meister Fangball spielte, wobei sich Karlemann zugleich als Akrobat produzierte, indem er sich immer in der Luft überschlug.

»Großartig, großartig!!«, sagten auch meine beiden sonst so phlegmatischen Sportsmen in einem fort. »Der Junge sollte sich von Howards Zirkus engagieren lassen, tausend Dollar den Abend!«

Dieser Zirkusdirektor war für Amerika das, was damals der deutsche Renz und der holländische oder belgische Kuiper für den europäischen Kontinent waren.

Sich engagieren lassen? Ha, hatten die von meinem Karlemann, von diesem deutschen Zigeunerknaben eine Ahnung!

Als drittes kam eine Nummer, welche ich die afrikanische Post genannt hätte, welchen Namen sie später auf dem Programm auch wirklich führte.

Als die ganze Manege wieder in die Höhe ging, tauchte zunächst der lange Hals einer Giraffe auf, der ein Zebra folgte, gesattelt und gezäumt, geritten von Karlemann in schmucker Postillonuniform.


Illustration

Der Junge, der früher noch nie auf einem Pferde, noch auf keinem Ziegenbock gesessen, hatte es fertig gebracht, hatte den staunenswerten Pferdebändiger, dem Cowboy, als diesem alles missglückt, gezeigt, wie man auch Zebras zureiten kann!

Zuerst nur im Kreise herum, die afrikanische Post, dann die hohe Schule, das Zebra in allen Gangarten geritten, dabei immer die Giraffe im langen Zügel.

Von den Kreolen, welche noch keine Giraffe, noch kein Zebra gesehen hatten, will ich gar nicht sprechen. Aber auch Mr. Fairfax und Mr. Brown gerieten ganz aus dem Häuschen.

»Das ist nicht möglich, das ist ein angemaltes Pferd, ein Maultier, Zebras spotten jeder Zähmung, an ein Zureiten gar nicht zu denken!!

So riefen sie ein über das andere Mal. Aber sie mussten es wohl glauben, die Gestalt eines Zebras ist zu charakteristisch.

Dieser Junge hatte ein Problem gelöst, über welches besonders englische Tierzüchter schon seit langem grübeln, an dem sie in Zuchtanstalten experimentieren, für dessen Lösung England eine kolossale Summe als Prämie ausgesetzt hat. England wünscht Zebras für die afrikanische Kavallerie und Artillerie zu benutzen, weil Pferde und Maultiere immer bald zugrunde gehen, nicht nur am Stich der Tsetsefliege, gegen welche das Zebra wie das seltenere Quaqua gefeit ist.

Der kleine Herr Zirkusdirektor gab sich gar keine besondere Mühe. Er schonte Material und seine Kräfte, geizte mit seinen Künsten. Später, im Hafen, vor einem auserlesenen Publikum, das mit Goldstücken bezahlen konnte, machte er diese afrikanische Post mit sechs Zebras und zwei Giraffen, mit Rhinozeros, Nilpferd und anderen Tieren. Allerdings auch nicht sogleich von Anfang an, dazu war dieser Junge zu schlau, er behielt immer etwas in der Reserve, und immer und immer noch etwas, damit der, welcher die afrikanische Post mit einem Zebra gesehen hatte, sie nun auch noch mit drei, dann mit sechs sehen konnte, und dann mit einem Rhinozeros, und dann sogar mit einem Löwengespann, und so konnte das immer weiter gehen.

Doch davon später. Für diese Kreolen genügte das auch vollkommen.

Ein livrierter Neger verkündete, dass eine halbe Stunde Pause sei, das geehrte Publikum könne unterdessen im Zwischendeck die Tiere und alle übrigen Sehenswürdigkeiten besichtigen.

Ja, das konnte man. Aber der Eintritt kostete hundert Reis — fünf Groschen. Und das war erst der Anfang von der Geldschneiderei.

Das Zwischendeck des großen, ausgebauchten Schiffes glich einem richtigen Jahrmarkt. Schaubude reihte sich an Schaubude, und auch die charakteristische Form war mit Absicht gewählt worden, solche Zelthäuser mit schreienden Bildern bemalt, was man im Innern zu sehen bekäme, Verkaufsbuden aller Art — was da alles zu haben war, wusste ich gar nicht, die Menge des zu Sehenden war erdrückend, nicht minder ja die sich drängende Menschenmenge — eben ein richtiger deutscher Jahrmarkt, die Leipziger Messe! Auch die Ausschreier fehlten nicht.

Wenn ich etwas vermisste, so waren es nur die Würstchenbuden und die Luftballons.

Ich ging nur in eine einzige Bude — Eintritt natürlich wieder fünf Groschen.

Das Reklamebild zeigte meine vierzentnerige Laura, wie sie mit einem menschlichen Skelett Ballett tanzte, und der Ausschreier machte darauf aufmerksam, dass sowohl diese Riesendame — jetzt hatte sie fünf Zentner — als auch dieses Skelett nicht etwa nur Puppen seien, sondern wirklich lebten, wirklich vor dem geehrten Publikum so tanzen würden, und vor den hochgeschätzten Offizieren, Maaten und Mannschaften der ›S. M. Santa Cruz‹ und ›S. M. Fernando‹ würden sie noch ganz besonders ihre ganze Kunst zeigen...

Diese schwarzen Luder hatten das Ausrufen nämlich weg! Die hätten ebenfalls Pastoren werden können. Eben genau wie auf der Messe!

Also auch ich hatte meine fünf Groschen geopfert. Damit noch nicht genug. Ich wurde doch gleich als Kapitän erkannt und musste weiter vorrücken, aber nicht umsonst, das kostete zwei Fünfgroschenstücke extra, und der schwarze Kerl holte auch einfachen Matrosen noch genug Geld aus der Tasche.

Mir tat diese Geldschneiderei wegen der armen Matrosen fast leid; aber... Geschäft ist Geschäft, durchgebracht wurde die Löhnung doch sowieso, und man hatte auch gar keine Gelegenheit weiter, noch mehr Buden zu besichtigen.

Denn was man schon in dieser einen zu sehen bekam, genügte vollkommen. Karlemann hatte wirklich ein menschliches, lebendiges Skelett aufgetrieben. Ein kleiner Kerl, wohl ein Spanier, der faktisch nur aus Knochen zu bestehen schien. Vielleicht nur jener indische Fakir Thogluk hätte ihm noch Konkurrenz machen können.

Und es fand ein richtiges Theaterstück statt. Zuerst machte das Skelett meiner Laura eine Liebeserklärung, in spanischer Sprache, und wie das kleine, zierliche, dürre Männchen mit langen Dichterlocken nun dieses Riesenweib anhimmelte, wie er vor ihm auf den Knien lag, wie ihn dann das vierzentnerige Riesenweib auf den Schoß nahm, wie er auf ihr herumkletterte, ihr dann aus Versehen in den Busen rutschte und nicht wieder herauskonnte... das Ballett habe ich gar nicht mehr gesehen, ich musste plötzlich machen, dass ich fix hinauskam.

Da war die Dame ohne Arme als Stickerin und Geigenspielerin, da war mein fünfbeiniges Kalb, da mein zweizentneriger Junge, den Karlemann gewiss so klein bleiben ließ, ihn nur nach den Seiten hin wachsen lassend, da war meine Gans mit zwei Köpfen... ich bekam nichts mehr zu sehen.

Hier wurde nicht geklingelt, sondern ein brüllender Kanonenschuss, dass das ganze Schiff wackelte, lud das geehrte Publikum ein, wieder Platz zu nehmen.

Ich war überzeugt, dass keiner dieser brasilianischen Matrosen auch nur einen einzigen Reis mit hinausnahm. Was die Novascotiamen anbetrifft, so will ich nur erwähnen, dass zwei von ihnen vor einem Stand mit hartgekochten Eiern ein Wettessen oder richtiger Wettfressen veranstaltet hatten. Wie viel sie vertilgt, weiß ich nicht, ich sah dann nur die Berge von Eierschalen liegen, und jedes Ei hatte immer wieder fünf Groschen gekostet, und der eine musste dann gleich in ärztliche Behandlung genommen werden, zwei Tage lang rang er mit dem Tode.

Als ich wieder oben war, da starrte ich geistesabwesend die Schiffe mit den Takelagen an und ringsherum um mich die weite See. Wahrhaftig, ich befand mich ja auf einem Schiffe!! Und das da unten war nicht nur ein Traum gewesen!

Löwengebrüll und Tigergeheul, und als die Manege wieder aus der Tiefe auftauchte, war sie ringsherum ganz mit einem hohen Gitter umgeben, in dem es von Katzentieren aller Art und Bären und Affen wimmelte, und in der Mitte Karlemann.

Ich muss hier doch auch einmal eine Bemerkung einschalten. Ich für mich selbst war sehr humoristisch, immer fidel, suchte an jeder Sache die komische Seite herauszufinden — aber im Grunde genommen war ich doch eine sehr ernst veranlagte Natur. Für Klimbim hatte ich nie Interesse. Wenn ich abgemustert worden war, hatte ich mich allerdings auch in Tingeltangels herumgetrieben, den Frauenzimmern Champagner in den Hals gegossen — aber das war doch etwas ganz anderes. Totgeschlagen musste das Geld ja werden, jede andere Gelegenheit und Gesellschaft fehlte mir — das war eine Art von Galgenhumor gewesen. Ich belustigte mich über diese Weibsbilder, über meine eigene Dummheit.

Aber sonst, wenn ich die Wahl hatte, habe ich stets ein ernstes, klassisches Theaterstück einer seichten Posse oder Operette vorgezogen. Und am allerwenigsten Anziehungskraft übte auf mich etwa ein Seiltänzer aus, der sich auf dem Turmseil produziert. Ich habe so etwas immer als eine Spekulation auf die rohe Sinnlichkeit der großen Menge betrachtet. »Wenn der von dort oben herunterfällt!« Das Publikum wartet darauf, dass der Mann stürzt. Mindestens ist es ein grober Nervenkitzel. Ich habe gehört, dass es jetzt Radfahrer gibt, welche in einer großen Schleife herumfahren, durch die Zentrifugalkraft oben gehalten, mit dem Kopfe nach unten hängend. Im Londoner Aquarium soll solch ein Schleifenfahrer jeden Abend 200 Pfund oder 4000 Mark bekommen. Weicht er nur ein ganz klein wenig von der Richtung ab, so wird er herausgeschleudert, ist tot.

Ich möchte das nicht sehen. Ich würde mich für alle anderen Menschen schämen. Da lobe ich mir noch den Gladiatorenkampf der alten Römer. Mag Blut fließen, so viel da will — das ist immer noch etwas Männliches!

Vom Gladiatorenkampf kommt man leicht zu den im Altertum ebenfalls beliebten Kämpfen zwischen Menschen und wilden Tieren.

Heute werden wilde Tiere gezähmt vorgeführt, wobei der Tierbändiger noch immer sein Leben aufs Spiel setzt.

A la bonheur, das ist etwas, was mich interessiert! Aber ich gehe nicht hin, wie wohl die meisten anderen Zuschauer, um dabei zu sein, wenn dem tollkühnen Manne, der immer dem großen Löwen den Kopf in den Rachen steckt, dieser Kopf einmal zermalmt wird, ich gehe nicht hin, um mir sonst die Nerven kitzeln zu lassen — sondern ich bewundere den menschlichen Geist, der sich diese furchtbaren Tiere der Wildnis zu Willen gemacht hat! Ja, das ist es: dann sehe ich nicht nur einen Dompteur in Trikots, sondern ich sehe einen Menschen, und in diesem Menschen die ganze Menschheit, und ich erkenne mit Staunen und Ehrfurcht, dass der Mensch tatsächlich der Herr der Schöpfung ist, dass der Geist des Menschen eine furchtbarere Waffe ist als die Tatze des Löwen, und da kann ich stolz auf mich selber sein!

Schade nur, dass die Raubtiere, die man so in Menagerien zu sehen bekommt, in einem engen Käfig vorgeführt, immer so verhungert aussehen, schon so niedergeschlagen, gedemütigt, verprügelt, und diese letzte Glanznummer, wie der Bändiger seinen Kopf in den Rachen eines Löwen steckt, kann mich nur beleidigen. — — —

Und nun plötzlich hier!!! Die ganze Manege ein einziger Käfig! Gefüllt mit Löwen, Königstigern, Panthern, Jaguars, Leoparden und Bären der verschiedensten Art, darunter auch zwei riesige Eisbären, und jedes Tier ein Prachtexemplar! Und scheinbar in ungezähmtester Wildheit; denn zuerst herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander, ein Brüllen, Heulen und Knurren, ein Balgen, Fauchen, Tatzenschlagen, Beißen — und in der Mitte Karlemann, nicht im bunten Kostüm, sondern in einem einfachen, dunklen Straßenanzuge, und immer mit der Peitsche dazwischengehauen, manchmal auch mit einem biegsamen Stock, den er in der anderen Hand trug, bis sich das Gewirr löste, bis einer nach dem anderen brummend und knurrend davonschlich, immer noch einmal den Kopf wendend und zurückfauchend, bis jedes der Raubtiere artig auf seinem Stühlchen saß.

Ha, das war ein Anblick gewesen! Mir wurde plötzlich das Herz so weit, so weit!! Ich wurde von einem namenlosen Stolze erfüllt, nämlich, weil auch ich dem Geschlechte angehörte, welches dieser Dreikäsehoch hier repräsentierte!

Und nun das Publikum, diese wetterharten Seeleute!


Und Stille, wie des Todes Schweigen,
Liegt überm ganzen Hause schwer,
Als ob die Gottheit nahe wär'.


Und das Haus in diesem Gedicht von Schiller — die Kraniche des Ibykus — war auch solch ein Amphitheater gewesen, auch Zirkus genannt.

Ich blickte einmal die beiden Sportsmen an. Auch sie waren blass bis in die Lippen geworden.

Schnell wusste Karlemann den allgemeinen Bann zu lösen.

In gebrochenem Spanisch erklärte er, das Publikum brauche durchaus nicht ängstlich zu sein, dass ihm etwas passieren könne, er habe einen treuen Wächter, einen riesigen Hund, der es auch mit dem größten Löwen wie mit einem Wickelkinde aufnehme — er habe den Hund zu Hause vergessen, habe ihn sich aber gleich nachschicken lassen, er sei soeben mit einem Postschiff angekommen — und das mittelste Rundteil senkte sich etwas, als es wieder auftauchte, stand ein ungeheuerer Koffer mit zahllosen Poststempeln darauf, Karlemann schloss die drei Schlösser auf, schlug den Deckel zurück und heraus sprang fröhlich kläffend... mein Salto, das allerliebste Zwergpudelchen, ganz zu seinem kleinen Herrn passend.

Das löste natürlich eine ungeheuere Lachsalve aus. Man sollte vielleicht meinen, dass dieser Trick gar nicht angebracht gewesen wäre. Der Raubtierbändiger zeigte seine große Sorglosigkeit, er fürchtete keine Gefahr.

Und doch, er war schlau berechnet! Gerade diese Sorglosigkeit steigerte nur die Bewunderung, ebenso, dass der kleine Dompteur auch sonst alle Schutzmittel verschmähte, da gab's keine Sicherheitstür, durch die er schnell retirieren konnte, keine aufpassenden Gehilfen mit langen Gabeln und dem Spritzenschlauch, kein Revolverschuss fiel, man sah überhaupt gar keine Waffe.

Die Kunststückchen selbst will ich nicht schildern, so großartig sie auch waren. Pyramiden bauen, durch Reifen springen, auf einer Wage schaukeln und dergleichen.

Ja, staunenswert war es! Aber ich richtete mein Hauptaugenmerk auf anderes, auf Kleinigkeiten.

Karlemann wurde fortwährend angefaucht, hatte fortwährend Tatzenhieben auszuweichen, hielt sich immer den Rücken frei. Er hatte mir dereinst gesagt, dass auch dieses Fauchen und Tatzenschlagen nach dem Dompteur den Tieren künstlich beigebracht würde. Angenommen, dass dem wirklich so wäre, schwächte dies für mich gar nicht den allgemeinen Eindruck der Wildheit ab, des wagehalsigen Spieles um Leben und Tod.

Aber ich glaubte das gar nicht. Nein, diese heimtückischen Tatzenschläge waren ehrlich gemeint.

Ich bemerkte mehrmals, wenn sich ein Löwe oder besonders ein Königstiger oder Panther ungebärdig zeigte, wenn er den Gehorsam verweigerte, wie sich das Raubtier, kurz, ehe Karlemann es mit der Peitsche verkarbatschte oder in demselben Augenblick, laut aufheulend mit der Tatze über die Augen fuhr, und dann war der Widerstand sofort gebrochen, das Tier zog den Schwanz ein, suchte das Weite, seinen Schemel auf, oder es gehorchte.

Als ich schärfer beobachtete, bemerkte ich es ganz deutlich. Karlemann schwippte die widerspenstigen Tiere auf die Nase oder gar ins Auge. Das konnte von keinem ertragen werden. Die nachfolgenden knallenden Peitschenhiebe auf den Leib des Tieres waren gewissermaßen nur eine Zugabe für das Publikum.

Aber so mit einem Schwipp die Nase zu treffen, das ist leichter gesagt als getan. Der Junge schien überhaupt die Peitsche mit wunderbarer Virtuosität zu handhaben. Ich bemerkte, dass er manchmal den Knüppel in der rechten Hand hatte, die Peitsche in der linken, und eben, weil er auch mit der linken Hand ganz genau so knallte, peitschte und schwippte, fiel dieser Wechsel gar nicht auf. Dass Karlemann linkshändig war, oder vielmehr die linke Hand ebenso gut gebrauchen konnte wie die rechte, hatte ich noch gar nicht gewusst. Hier aber sah ich, welchen Vorteil das auch für den Raubtierbändiger hat.

Ohne Zweifel, er musste doch noch Gewaltmittel anwenden, um die Tiere in Schach zu halten — Nasenhiebe und dergleichen — und wären die Raubtiere sogar auf künstliche Tatzenhiebe abgerichtet, so wäre das doch eben gar nicht nötig gewesen.

Ferner bemerkte ich, dass sein eigentlicher Schutz einer der beiden Eisbären war, ein riesenhaftes Tier, das meist auf den Hinterfüßen aufgerichtet ging, wo man erst ganz seine kolossale Größe bewundern konnte, einen normalen Menschen reichlich um zwei Köpfe überragend, von Karlemännchen gar nicht zu sprechen.

Dieser Eisbär war immer um seinen Herrn herum, scheinbar nur, um sich mit Zuckerstückchen füttern zu lassen, aber ich bemerkte auch, wie er stets zwischen Karlemann und ein anderes Raubtier trat, das sich dem Dompteur in unlauterer Absicht nähern wollte, und einmal bekam ein fauchender Königstiger einen Tatzenhieb weg, der den König des Dschungels gleich über den Haufen warf. Denn der Eisbär ist unstreitig das stärkste aller Raubtiere.

Der zweite Wächter war der größte Löwe, ein riesiges Tier, der zugleich die Rolle des Harlekins spielte. Scheinbar war er der ungelehrigste und faulste Schüler. Er wollte immer nicht von seinem Schemel herunter, dann traktierte Karlemann ihn wohl mit Peitschenhieben, und da fauchte und knurrte und brüllte der König der Tiere wohl, zeigte dem Dompteur die furchtbaren Zähne, schlug mit der Tatze nach ihm — aber in diesem Falle mochte das Dressur sein, künstliche Wildheit, das glaubte ich wohl — denn nachdem Karlemann lange genug mit der Peitsche geknallt hatte, wandte er sich stets achselzuckend ab — »mit dem ist nichts anzufangen! Salto, bringe den ungezogenen Simson zur Räson!« — Und dann ging das winzige Zwergpudelchen kläffend auf den Riesen los, packte ihn hinten beim Schwanze, zog ihn so vom Schemel herunter — das heißt, es sah so aus, als ob sich der Löwe herunterziehen ließe, er kroch langsam nach rückwärts zum Boden — dann packte ihn Salto weiter beim Ohre und zog ihn nach der Stelle, die der Löwe beim Kunststück einnehmen musste, wenn etwa eine Pyramide gebaut werden sollte.

Wohl fauchte und knurrte Simson, wenn er sich von dem Zwergpudelchen am Ohre fortziehen ließ, aber das war natürlich Dressur. Übrigens außerordentlich komisch. Die Arena wurde stets von Lachsalven erschüttert.

Ja, das ging sogar so weit, dass dieser Löwe tätliche Angriffe auf seinen kleinen Herrn machte — aber immer war gleich das Zwergpudelchen als Retter da, wütend kläffend, biss den Riesen, packte ihn hinten beim Schwanze und zog ihn zurück, dann packte es ihn wieder beim Ohre und führte ihn so nach seinem Schemel. Wie dann der ungeheuere Löwe gedemütigt den bemähnten Kopf zur Seite hielt und sich von dem winzigen Hündchen fortführen, zur Ordnung bringen ließ — es sah unbeschreiblich aus.

Doch sonst verwandte dieser größte aller Löwen, ob er nun Kunststücke ausführte oder faul auf seinem Schemel hockte, keinen Blick von Karlemann und den Raubtieren, die diesem am nächsten waren, immer spannend, immer aufmerksam, manchmal sich zum Sprunge duckend. Gewiss, dieser Simson, jedenfalls derselbe, der mich damals in der Seeburg attackiert hatte, war ebenfalls ein Schutzwächter. — — —

Die Vorstellung war zu Ende, die Bänke leerten sich; mit glühenden Gesichtern und beim Sprechen lebhaft gestikulierend, ganz voll von dem Geschauten, aber mit geleerten Taschen, marschierten die brasilianischen Matrosen über mein Deck nach ihren Schiffen zurück.

Ich begab mich noch einmal in den Bauch des Kabellegers hinab, wurde diesmal nicht gehindert, war vielmehr erwartet worden. Ein Neger führte mich, ich fand Karlemann in einer kleinen Kabine, die zur Hälfte von einem Panzerschranke ausgefüllt wurde, wo er Silber- und Kupfergeld aufzählte, dazwischen aber auch reichlich Goldstücke.

»Na, Meister Tretmüller?«, begrüßte er mich, ohne sich in seiner angenehmen Beschäftigung stören zu lassen. »Was sagen Sie denn dazu?«

Auch ich stand noch ganz unter dem Banne des Gesehenen, nur dass ich es von einem etwas anderen Gesichtspunkte aus betrachtete als jene Matrosen.

Mir wurde plötzlich, als ich so auf den Knirps herabblickte, ganz feierlich zumute.

»Kapitän Algots — darf ich einmal vertraulich zu Ihnen sprechen?«

»Meinetwegen.«

»Sie nehmen es mir nicht übel?«

»I wo! Wir müssen uns doch überhaupt schon einmal irgendwo im Zuchthause gesehen haben.«

Ich achtete nicht des Spottes — ich legte ihm meine Hand aufs Haupt.

»Nun denn — es muss einmal heraus — du bist ein genialer, ein gottbegnadeter... Lausejunge.«

Nur ein überraschter Blick traf mich, dann fuhr Karlemann ruhig im Geldzählen fort. Aber er blieb mir die Antwort schuldig, jede schnoddrige Bemerkung, die er ja sonst immer bereit hatte. Meine so feierlich gesprochenen Worte mussten doch einen Eindruck auf ihn gemacht haben.

Wusste er, wer er war? Wusste er, wie das Schicksal einmal an ihm ein Beispiel konstatieren wolle, wie auch schon ein unreifer Knabe ein moderner Welteroberer sein könne? (Unter einem modernen Welteroberer verstehe ich zum Beispiel einen Großkaufmann, der sich alle anderen Geschäftskräfte, die sich seinem Bereiche nähern, dienstbar macht, kraft seines ingeniösen Geistes, den er in die Macht des Kapitals zu verwandeln gewusst hat, der durch diese Macht immer mehr Menschen und ganze Länder unterjocht, wie man solche Männer jetzt besonders in Amerika emporwachsen sieht — das nenne ich die modernen Welteroberer!)

Wusste dieser deutsche Zigeunerknabe, dass ihn das Schicksal zur Rolle solch eines Welteroberers bestimmt hatte?

Aber... wo ist der Welteroberer, ein Eroberer durch Waffen- oder Geldmacht, der nicht doch schließlich von dem Gipfel seiner Höhe herabgeschleudert wurde?

Die ganze Welt hat noch niemand erobert und wird niemand erobern!

Der liebe Gott sorgt dafür, dass keine Bäume in den Himmel wachsen!

Und auch diesen Knaben hier sollte ich noch dereinst zugrunde gehen sehen!

Das Schicksal hatte bestimmt, dass er nur in seinen jugendlichsten Jahren von Erfolg zu Erfolg schreiten sollte, nicht mehr als Mann!

Und vielleicht gut so. Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben. — —

»Na, wie gefällt Ihnen denn mein Jahrmarkt, den ich hier unten aufgebaut habe?«, fing Karlemann dann wohlgemut wieder an.

Auch bei mir war die feierliche Stimmung wieder verflogen.

»Einfach großartig! Nur eins vermisste ich.«

»Was denn?«

»Die Würstchenbude.«

»Geben Sie mir einen alten, kranken Droschkengaul, und in einer Viertelstunde sollen Sie die delikatesten, hufeisennagelfreiesten Brühwürstchen haben. Ich mache überhaupt alles, was zu machen ist, und alles selber. Ich backe Brot, ich räuchere Schinken, wickle Zigarren, ich bereite Limonade und Selterswasser — nur die Eier kann ich nicht selber legen.«

»Auch das Bier brauen Sie selbst?«

»Jawohl! Haben Sie ein Glas getrunken?«

»Leider.«

Es schmeckte Ihnen nicht?«

»Wie Essig mit Zucker.«

»Weiter ist's auch nichts. Warum sind Sie so dumm und geben für solch ein Gläschen einen halben Dollar aus? Doch es genügt ja, wenn jeder nur ein einziges Mal drauf reinfällt.«

Mit dem Kerlchen war nichts anzufangen.

»So«, sagte er, das aufgezählte Geld zusammenkratzend und in den Panzerschrank werfend, »fertig, ich stehe zu Ihrer Verfügung. Na, was meinen Sie wohl, was ich heute eingenommen habe?«

»Sie haben die armen Matrosen nicht schlecht geschröpft.«

»Arm? Bah! Die verwichsen ihre Löhnung doch sowieso. Bei mir haben sie wenigstens etwas dafür zu sehen bekommen.«

Er hatte recht. Ich habe es auch schon früher gesagt.

»Nun wollen Sie doch erst einmal meine Menagerie besichtigen«, fuhr er fort. »Es ist noch vieles hinzugekommen, alles für einen Zweck dressiert, aber alles kann ich in einer einzigen Vorstellung natürlich nicht vorführen. Und auch Ihre ehemaligen Pflegebefohlenen verlangen nach Ihnen, besonders die Laura. Wir machen dann ein Nächtchen.«

Wir durchschritten einen Korridor. Da stand in der Tür einer Kabine eine Frau, gebückt, kramte wohl in etwas, reckte nur ihr Hinterteil, mit einem dünnen Tuche bedeckt, durch die Tür zum Korridor heraus, und dieses Hinterteil war ein mächtiges Ding, versperrte gleich den ganzen Weg.

Karlemann spuckte in die Hand und schlug darauf, dass es nur so knallte.


Illustration

Das Weib drehte sich aufgerichtet herum, eine Negerin von schwärzester Couleur, die mir grinsend ihre einzigen beiden Vorderzähne zeigte.

Es war gar keine so alte Frau, eigentlich auch gar nicht so hässlich, aber ungemein dick, schwammig, mit so ein Paar Negerbrüsten, die dem Kinde gleich über die Schulter gereicht werden — und nun vor allen Dingen diese beiden entsetzlichen Zähne, welche von wenigstens einem Zoll Länge aus dem Munde hervorragten — richtige Elefantenstoßzähne. Auffallend war auch der große, goldene Ring, den sie in der Nase trug. Von solcher Größe und Dicke hatte ich selten einen derartigen Nasenring gesehen.

»Herr Kapitän Jansen«, stellte mich Karlemann der grinsenden Negerin vor, »und hier — Ihre Königliche Hoheit, Prinzess Tlamatla... taltinatzatla... ich weeß nich, wie se heeßt, ich kann den vertrackten Namen nicht aussprechen... meine Frau.«

»Ihre Frau?«, konnte ich nur wiederholen, die grinsende Negerin anstarrend.

»Yes. Sozusagen meine Gattin — meine Gemahlin. Ja, ja, mein lieber Jansen, unsereiner kann auch einmal eine Prinzessin haben, und das ist sogar eine ganz waschechte. Ich habe noch zwee andre.«

»Noch zwei andere Frauen wollen Sie doch nicht etwa sagen?«

»Yes. Ich hab's Ihnen doch gleich gesagt. Aus den zweien, die ich auf dem Kieker hatte, sind nur gleich drei geworden. Na ja, ich war doch einmal dabei beim Heiraten, und nur immer gleich so viel wie möglich auf einmal machen. Dieses dicke Miststicke hier ist die Schwester Seiner Majestät Aquassi Aquatuh, des Königs vom Aschantireiche, wiegt zwei Zentner und sechsundzwanzig ein halb Pfund — bei nüchternem Magen, bei vollem ist sie immer acht bis zehn Pfund schwerer — ist als die einzige Schwester des Königs nach den dortigen Landesgesetzen auch stark bei den Regierungsgeschäften beteiligt, genießt überhaupt bedeutende Privilegien. Diese ihre hohe Stellung erkennen Sie auch gleich an den beiden Zähnen. Sämtliche anderen Zähne hat man ihr schon im zartesten Kindesalter eingehauen oder rausgeruppt, nur diese beiden Vorderzähne wurden im Munde stehen gelassen, und die schwarzen Zauberer dort verstehen die geheimnisvolle Kunst, einzelne Zähne zu ganz bedeutender Länge heranzuziehen, was in Aschanti neben der allgemeinen Dickigte als die höchste Schönheit gilt, was sich aber nur die höchsten weiblichen Mitglieder des königlichen Hauses leisten dürfen.«

Karlemann war in den Erklärerton des Jahrmarktsausschreiers gefallen, klopfte mit der Reitpeitsche, die er trug, dem Weibe, seiner Gattin, manchmal auf die Brust, auf den Bauch, und zuletzt, bei Erklärung der Zähne, klopfte er mit dem Stöckchen auch gegen diese.

Das Weib nahm es durchaus nicht übel, grinste mich weiter freundlich an, und so fand auch ich es ganz in der Ordnung, dass ich stehen blieb und in ihrer Gegenwart ruhig weitere Fragen über sie stellte. In meinem Bewusstsein wurde sie jetzt wirklich ein Schauobjekt.

Im Übrigen kann man sich meine Verblüffung vorstellen. Sie war so groß, dass ich gar nicht die Komik dieser Vorstellung empfand.

»Und noch zwei andere Frauen haben Sie?«, musste ich noch einmal wiederholen.

»Yes. Die beiden Töchter vom König. Das heißt die von der richtigen Königin, was Aquassis richtige Hauptfrau war — sonst hat mein Schwiegervater noch eine Unmenge von Kindern, er konnte mir selbst nicht sagen wie viele, aber die kamen für mich natürlich nicht in Betracht. Meine beiden sind richtige Prinzessinnen, wenn sie auch nicht wie die Schwester hier mit in die Regierung neinzuschwatzen haben. Immerhin, auch sie haben ganz hübsche Privilegien — und dann eine feine Ausstattung — eine ganze Karawane mit Elefantenzähnen, so an die tausend Stück, goldene Nachttöppe und so weiter — ich habe gleich alle beide genommen. Die älteste, die Emma, ist schon ein bisschen schrumplig...«

»Emma heißt sie?«

»Eigentlich wohl Emalulolalimamumomumi... oder so ähnlich — es geht noch weiter — ich nenne sie einfach Emma. Wie die andre heeßt, weß 'ch gar nich.«

Na, da soll man nun ernst bleiben!

»Aber die hier«, Karlemann klopfte seiner ersten Ehegattin mit der Reitpeitsche wieder auf den Bauch, »das ist die Wertvollste. Die kriegt auch eine sogenannte Ap — Ap — Apfelnage...«

»Apanage«, korrigierte ich.

»Jawohl, ich sagte es ja schon — Appelnage. Die hat mir aber auch einen guten Feng Geld gekostet. Ei ja, die habe ich mir etwas kosten lassen. Sieben und einen halben Silbergroschen habe ich für dieses Miststicke bezahlt.«

»Wie viel?«

»Sieben und einen halben Silbergroschen. Ich hatte nämlich so ein Schiff mit, damals in meinem Gepäck in der Arche, so lang, wenigstens einen Fuß lang — ein ganz moderner Schraubendampfer — Sie wissen, aus Blech — mit Mechanik — wenn man mit einem Schlüssel aufzog, fing sich die Schraube an zu drehen, und dann fuhr das Schiffchen im Kreise herum, oder auch geradeaus, wie man das Steuer stellt. Ich hatte das Ding in einem Schaufenster gesehen, in Hamburg — Sie wissen, als ich zuletzt dort war, als ich mir den Frackanzug machen ließ — als ich dann im Gottesasyl Schnee schippte. Hm, dachte ich, das wäre vielleicht dort etwas für die Schwarzen — und nun erfuhr ich im Laden, dass es auch nur ein sogenanntes Muster war, eine ganz neue Erfindung von Spielzeug — die anderen wurden erst fabriziert. Na, da habe ich's schnell genommen. Sieben und einen halben Silbergroschen — und keinen Feng wollten sich die Halunken abhandeln lassen. Und nun kommen doch auch noch die Unkosten der weiten Reise dazu, ich habe ja das Ding ganz bis nach Afrika mitgeschleppt.

Und richtig! Die beiden anderen Frauenzimmer, was seine Töchter sind, die bekam ich gleich umsonst. Der König schätzte es sich doch zur Ehre, mich als seinen Schwiegersohn zu haben. Besonders wegen der Gorillas, wissen Sie, weil ich die gehascht hatte, solche wilde, verzauberte Teufel und böse Geister. Eigentlich haben Sie sie ja gehascht, aber das ist doch ganz egal, ich war's, der sie vorweisen konnte. Na also — die beiden Töchter, die bekam ich gleich — aber mit seiner Schwester wollte er gar nicht herausrücken. Nämlich wegen der schönen Stoßzähne, die sie im Maule hat — das heißt, weil die drei Prozent von allen... doch das brauchen Sie nicht zu wissen. Also mit der da hatte ich meine liebe Not. Der König wollte sie mir durchaus nicht zur Frau geben. Ganz ausgeschlossen, sagte er und blies sich ein halbes Pfund Schnupftabak in die Nase — ganz ausgeschlossen. Das heißt, das hat er natürlich auf aschantisch gesagt.

»Na, da brachte ich mein Schiffchen zum Vorschein und ließ es in so einer Badewanne schwimmen, aus der der König sein Milchbier trinkt. Hei, du meine Güte, da hätten Sie dabei sein sollen, was der für Augen machte, als das Schiffchen herumzufahren anfing — und es war doch gar nicht zu sehen, wodurch es eigentlich getrieben wurde!

»Der König hatte alles schon: Mäuse und Tschintschinmännchen und Krokodile am Gummibändchen und eine kleine Kegelbahn und ein Hottopferd, das mit dem Kopfe wackelte und wiehihihihihi machte — die Engländer hatten ihn einstweilen mit allem versorgt, alles war schon wieder kaputt, und wenn etwas kaputt gegangen war, waren allemal so ein paar Neger, die das Spielzeug unter sich gehabt hatten, hohe Würdenträger, einen Kopf kürzer gemacht worden.

»Mit solchem Spielzeug also war gar nichts mehr zu wollen. Sogar eine Trompete, die von ganz alleine ein Stück spielte, man brauchte nur immer hineinzupusten, ließ ihn ganz kalt. Aber nun dieses Schiffchen, ein Schraubendampfer, der ganz alleine im Kreise herumfuhr — hei, du meine Güte, hat der schwarze König gejuchzt und gehopst! Haben haben haben haben!! Jawohl, aber erst deine Schwester her mit den beiden Zähnen im Maule und was sonst noch alles dazu gehört. Na, da hast'se, hat er dann gesagt — natürlich auf aschantisch. Na, hier is se.«

Ich vermochte es, ernst zu bleiben.

»Sie nehmen Ihre Gattin mit auf die Kunstreisen?«

»Ei freilich, alle drei. Die werden ausgestellt. Echte Aschantiprinzessinnen, was meinen Sie wohl!«

»Sie haben in Kumasi richtige Hochzeit gefeiert?«

»Richtige? Na, was meinen Sie wohl! Eine dreifache. Acht Tage lang war das ganze Aschantireich besoffen, achttausend Sklaven sind geschlachtet worden.«

»Ge... schlachtet?! Menschen?! Achttausend?!«, stieß ich hervor.

»Jawoll. Zweitausend für jede Tochter, viertausend für die Schwester. Macht zusammen achttausend. Mehr waren nicht da, 's war gerade ein bisschen knapp mit den Sklaven, sonst wären noch mehr geschlachtet worden. Erst dachte ich, wir sollten sie auch fressen, aber da draus wurde nischt.«

O, du holde Unschuld!! Dies alles kam so harmlos heraus, dass man diesem Jungen nicht einmal eine Gemütsrohheit zuschreiben konnte.

Gemütsrohheit! Immer alles ins rechte Licht gezogen, alles von zwei Seiten betrachtet, die jedes Ding hat.

Mit überströmendem Herzen preist der Dichter die Herrlichkeit eines Frühlingsmorgens, er schildert das Vöglein, wie es ein Würmchen verspeist und dafür ein Lied zu Ehren seines Schöpfers singt.

Aber ob auch dieses Würmchen singt? Wenn man also ganz konsequent sein will, so steckt in der Hymne des Dichters eine Gemütsrohheit.

Übrigens konnte man sich bei Karlemann auch sehr irren. Er hatte nur eine so merkwürdige Ausdrucksweise.

»Die achttausend Menschenköpfe sollten eigentlich mir gehören«, fuhr er gleich fort, »ich hätte damit meine Seeburg drapieren können. Aber das gab's nun freilich nicht bei Karl Algots! Hätte ich überhaupt gewusst, dass deswegen so viele Menschen geschlachtet werden, ich hätte mich wahrscheinlich für die ganze Heiraterei bedankt. Und doch, vielleicht war es ganz gut, dass ich gerade kam. Wie gesagt, es war gerade knapp mit Sklaven, deswegen planen die Aschantis einen großen Kriegszug gegen ein Nachbarvolk, einmal wären die drei Weibsbilder doch geheiratet worden, und da hätte jede noch viel mehr Menschenköppe mitgekriegt. So blieb's wenigstens bei achttausend.«

Da — ich hatte es gewusst — Karlemann hatte sich doch noch gerechtfertigt — in seiner Weise.

»Na, nun will ich Ihnen noch meine beiden anderen Frauen und die übrigen Tiere zeigen. Dann machen wir ein Nächtchen. Na, komm her, Dicke, gib mir einen Kuss.«

Die letzten Worte waren an die Negerin gerichtet, an seine erste Lieblingsfrau, die noch immer grinsend dastand, und Karlemann räkelte sich auf den Zehenspitzen empor, packte den Nasenring, so zog er den Kopf der Negerin zu sich herab, um ihr einen Kuss auf die Lippen oder vielmehr auf die Elefantenzähne zu drücken.

»So ein Nasenring ist ganz hübsch«, sagte er im Weitergehen, »wenn's nach mir ginge, müssten überhaupt alle Frauen einen Ring durch die Nase bekommen, nicht nur die schwarzen — und gleich eine Kette dran.«

— • —

56. Kapitel
Wieder ein Geschäft!

Originalseiten II.500 — 511

Ich will nicht ausführlich schildern, was ich sonst noch alles im Zwischendeck des Kabellegers zu sehen bekam. Ja, die Emma war, wie Karlemann selbst gesagt, schon etwas schrumplig, aber seine dritte Frau, deren Namen er nicht wusste, war noch ein ganz junges, nettes Ding, wie aus Ebenholz zierlich geschnitzt.

Mir drängte sich eine Frage auf. Wie Karlemann mit seinen Frauen fertig wurde. Denn trotz aller geistigen Reife war dieser Junge doch noch ein Kind, ich wusste es bestimmt. Doch ich brachte es nicht fertig, auch nur eine andeutende Frage zu stellen. Was ging das auch mich an!

Am längsten hielt ich mich vor den Käfigen mit den Gorillas auf, hörte Karlemanns Auseinandersetzungen an, was der alles noch mit diesen Waldmenschen beabsichtigte — dann machten wir das Nächtchen, von dem er schon mehrmals gesprochen.

Ich war nämlich von meinen ehemaligen Bordgästen, normal oder missgeboren, mit stürmischem Jubel begrüßt worden, sie äußerten den Wunsch, noch einmal mein Schiff besichtigen zu dürfen, mindestens das Zwischendeck, in dem sie eine so köstliche Zeit verlebt hätten — ich selbst war mir gar nicht bewusst, dass es ihnen bei mir so gut gefallen habe, aber ich wusste schon, was sie wollten, von mir eingeladen werden, einmal eine vergnügte Nacht verleben — Karlemann hatte bereits von diesem ihrem Wunsche gewusst, und das war es, was er immer mit seinem ›Nächtchen‹ gemeint.

Nun, dem konnte gewillfahrt werden. Nur im Zwischendeck ging's nicht, da lagen die verwundeten Novascotiamen. Aber da gab's ja noch andere Räume genug, wo auch getobt werden konnte, soviel man wollte, ohne dass das Lärmen bis in das Zwischendeck drang.

Sie waren alle wieder zusammen, die ich an Bord gehabt, noch viele andere waren hinzugekommen — es wurde ein fröhliches Zechgelage, mehr will ich hiervon nicht sagen.

Es war gegen drei Uhr, als ein Matrose, der an Deck Wache ging, hereinkam, mir eine Meldung brachte.

Korvettenkapitän Casas, Kommandant der ›Santa Cruz‹, ließe fragen, ob ich zu sprechen sei, ließe in diesem Falle mich zu sich bitten.

Für den, der sich an die späte Nachtstunde stößt, sei bemerkt, dass es an Bord des Schiffes nicht den geringsten Unterschied gibt zwischen Tag und Nacht.

Der verantwortliche Kapitän, der keine Wache mitgeht, ist bei Nacht sogar noch mehr auf dem Posten als bei Tage.

Aha, jetzt sollte mir schon die Mitteilung gemacht werden! Jawohl, ich war zu sprechen. Ich war so gut wie nüchtern, zog nur meine Uniformjacke an, begab mich hinüber.

Ein Offizier mit der Schärpe nahm mich in Empfang, führte mich in die Kajüte, wo sich außer Casas noch der Kommandant des ›Fernando‹ befand.

Erst jetzt wurde er mir vorgestellt. — Fregattenkapitän Manuelo Donato.

Nachdem die köstlichen Zigarren brannten und die Portweingläser gefüllt waren, war es dieser letztere, welcher das Wort führte.

Ob ich geneigt sei, innerhalb acht bis zehn Tagen 10 000 Milreis zu verdienen.

Gewiss war ich gern bereit, 50 000 Mark einzustecken.

Zunächst schilderte mir der Kapitän die politischen Verhältnisse, welche jetzt in Brasilien und den Nachbarstaaten herrschten. Ich gebe davon nichts weiter wieder, als dass in Brasilien zwei Parteien waren, die sich fortwährend in den Haaren lagen, die Royalisten und die Republikaner, wieder einmal war so ein Operettenkrieg vorüber, die Kaisertreuen hatten in einer vorgestrigen Schlacht gesiegt, dies hatte der ›Fernando‹ der ›Santa Cruz‹ hinterbracht, daher die freudige Aufregung, denn beide Schiffe waren kaisertreu geblieben, zwei revolutionäre Schiffe waren vernichtet worden, nicht von feindlichen Schwesterschiffen, sondern von der argentinischen Kriegsflotte; denn Brasilien befand sich gleichzeitig auch mit Argentinien auf dem Kriegsfuße, und dieser Staat machte keinen Unterschied, ob er Royalisten oder Republikaner vor sich habe.

Nun aber versuchte das kaisertreue Brasilien, sich mit dem waffenmächtigen Uruguay zu verbinden, welches von Argentinien nur durch La Plata getrennt ist, und Uruguay war nicht abgeneigt, das Schutz- und Trutzbündnis einzugehen, seine Kriegsschiffe und Landtruppen gegen Argentinien loszulassen, vorausgesetzt, dass sich das etwas kapitalkräftigere Brasilien erst einmal tüchtig anpumpen ließ.

Diesem Wunsche nachzukommen, war bereits früher in Rio de Janeiro beschlossen worden, es handelte sich wohl um zehn Millionen Milreis, für einen ganzen Staat bei einer Pumperei nur eine ganz geringe Summe, die aber Uruguay nicht einmal von dem stets geldgefälligen England erhielt, sie sollte über Brasilien gehen, das ja weit kreditfähiger ist, und nun offenbarte mir der Fregattenkapitän, dass er an Bord seines Schiffes zwanzig Tonnen Silberbarren habe, im Werte von 400 000 Milreis oder zwei Millionen Mark, welche er nach Montevideo, der Hafenhauptstadt Uruguays, bringen solle.

Das war die erste Anzahlung auf den ausgemachten Pump, die Regierung von Uruguay brauchte zunächst einiges Silbergeld, um ihre Söldlinge zu bezahlen, sogar noch rückständigen Lohn, eher gingen die wackeren Truppen nicht ins Feuer, nahmen nicht einmal das Gewehr in die Hand, die Silberbarren sollten in der Münze von Montevideo zu Geld geprägt werden, wodurch das Silber ungefähr den doppelten Wert bekam. Denn auch unsere Taler haben doch nicht etwa den richtigen Silberwert.

»Aber Sie verstehen doch, wie es ganz unmöglich ist, dass ich selbst auf diesem Kriegsschiffe die zwanzig Tonnen nach Montevideo bringe.«

Ich verstand wenigstens so viel, dass dieser edle Fregattenkapitän Angst vor den argentinischen Kriegsschiffen hatte.

»Und Sie meinen, ich soll diese zwanzig Tonnen hinbringen?«

»Das ist es, und hierfür erhalten Sie 10 000 Milreis.«

»Herr, wie komme ich zu diesem Vertrauen?«

»Was für ein besonderes Vertrauen ist da notwendig?«

Er hatte schließlich recht. Wenn mein Schiff ganz mit Kaffee befrachtet war, steckte noch ein anderes Kapital darin, und das hätte mir doch auch jeder Reeder anvertraut. Dass ich aus dem englischen Zuchthause entsprungen war, beeinträchtigte mein Kapitänspatent nicht im geringsten, und ich habe schon früher betont, dass ›hard labour‹ nicht so ohne Weiteres entehrend ist.

»Kennen Sie mich denn?«, musste ich trotzdem fragen.

»Jawohl, ich habe die Ehre, Sie zu kennen, Senhor Capitano«, entgegnete der Fregattenkapitän mit einer Verbeugung, und auch der andere verneigte sich auf seinem Sitze.

»Woher?«

»O, wer kennt nicht den edlen Beschützer der Lady Leytenstone! Alle Zeitungen standen doch voll von Ihnen!«

Also aus Zeitungen!

»Wissen Sie auch, dass ich jetzt eigentlich noch in der Tretmühle von Portland trampeln müsste?«

»Wir wissen es... Wie sind Sie eigentlich daraus entsprungen?«

Ich gab weiter keine Rechenschaft — durch Freunde entführt — Karlemann hatte nicht einmal danach gefragt.

»Was hat das zu sagen? Wir bewundern Sie; gerade Sie sind eben der richtige Mann, der die Silberbarren nach Montevideo bringen kann.«

»Ist denn ein Durchschmuggeln nötig?«

Nicht einmal das. Ich fuhr unter nordamerikanischer Flagge, meine Schiffspapiere waren in Ordnung, und noch war Uruguay nicht der Bundesgenosse Brasiliens, stand also auch mit Argentinien nicht auf feindlichem Fuße.

Allerdings konnte mich ein argentinisches Kriegsschiff anhalten und die ›Sturmbraut‹ durchsuchen, aber nur auf den Verdacht hin, dass ich Sklaven an Bord habe, die ich in Amerika einschmuggeln wolle. Denn Argentinien gehörte mit zu dem internationalen Verbande gegen die Einfuhr weiterer Sklaven, wie alle diese südamerikanischen Republiken, obgleich die Sklaverei im Lande selbst noch geduldet wurde, und auch die von Sklavinnen geborenen Kinder waren noch Leibeigentum. Nur keine neuen Neger durften eingeführt werden.

Um da die Silberbarren zu sichern, falls wirklich die Kriegserklärung schon vorher erfolgen sollte, das war sehr einfach. Ich hatte die ›Sturmbraut‹ nach Löschung der Kohlen bereits voll Seewasser laufen lassen, denn Ballast muss doch sein, in diesem Wasser wurden die Silberbarren geborgen.

Hatte ich, also nur im Falle einer schon vorherigen Kriegserklärung, keine sonstige Kriegskonterbande an Bord, musste mich der Feind auch unbedingt nach Montevideo hineinlassen, und lebendige Menschen können doch nicht im Wasser verborgen werden.

Ich war bereit dazu. Sollte ich auch nicht!

»Also 10 000 Milreis.«

»10 000 Milreis.«

»Im Voraus?«

»Gewiss.«

»In barem Gelde?«

Da fingen die beiden plötzlich an zu drucksen. Sie hätten ihr ganzes bares Geld für Kohlen ausgegeben — — und was ich denn überhaupt wolle, erstens hätte ich doch den ganzen Silberschatz an Bord, und zweitens sei es doch eine Anweisung auf die brasilianische Staatskasse, die sie mir geben würden.

Ich konnte nicht umhin, ihnen im Stillen recht zu geben.

»Gut. Ich bitte mir nur eine Stunde, nur eine halbe Stunde Bedenkzeit aus.«

»Bitte sehr!«

»Und dann noch eins: Ich möchte mich erst doch einmal nach Rio de Janeiro begeben, von dem ich ja gar nicht weit entfernt bin.«

»Wozu das? Haben Sie selbst keine Kohlen mehr? Fehlt Ihnen Proviant?«

»Mir fehlt nichts. Wohin gehen Sie?«

»Wir dampfen nach Rio.«

»Dann nehmen Sie die Novascotiamen mit, die ich an Bord habe, auch die Verwundeten. Die möchte ich nicht so lange an Bord behalten.«

Um zu begründen, wie ich zu den fremden Leuten gekommen, unter denen sich so viel Verletzte befanden, erzählte ich nur von einer Schiffsexplosion, ohne mich weiter dabei aufzuhalten. —

Beide Kapitäne erklärten sich bereit, diese Passagiere aufzunehmen und nach Rio zu bringen, sogar unentgeltlich.

»Gut. So habe ich erst mit den beiden Herren zu sprechen. Aber immer noch eine halbe Stunde Bedenkzeit, ehe ich mich entscheide.«

Ich ging. Mir war es nicht darum zu tun, Mr. Fairfax und Mr. Brown zu sprechen — die mussten einfach mit ihren Leuten nach den Kriegsschiffen übersiedeln, wenn ich es bestimmte — sondern meinen Kommodore wollte ich erst zu Rate ziehen, dazu war ich sogar nach unserer Abmachung verpflichtet.

Aber wie ihn sprechen, wenn er in seiner Kabine absolut nicht gestört werden wollte? Nur auf seinem täglichen Spaziergange möchte ich ihn anreden, hatte er gesagt, oder wenn ich ihm sonst einmal im Korridore begegne, überhaupt außerhalb seiner Kabine, und diese verließ er während der Nacht niemals.

Da, als ich noch nachdachte, wie das zu machen sei, als ich gerade in den Kajüteneingang hinein wollte, trat mir aus diesem Tischkoff entgegen, vollständig angezogen, als wolle er an Deck spazieren gehen.

Ich dachte nicht weiter über diese Ausnahme nach, die seine ganze Ordnung über den Haufen warf.

»Mister Tischkoff!«

»Sie wünschen?«

»Darf ich Sie einmal in der Kajüte sprechen? Es handelt sich um etwas ganz Wichtiges, wozu ich Ihres Rates bedarf.«

»Bitte sehr!«

Ich setzte ihm in der Kajüte alles auseinander.

»Ja, natürlich, das müssen Sie mitnehmen! Und wegen der Bezahlung suchen Sie so viel wie möglich bares Geld zu erlangen, aber sonst geben Sie sich nur mit einer Anweisung zufrieden; von diesen verantwortlichen Kapitänen der brasilianischen Regierung ausgestellt, ist die doch ganz sicher.«

Mister Tischkoff schien für diese Sache sehr wenig Interesse zu haben, er ging gleich wieder, aber nicht an Deck, wie er doch ursprünglich geplant, sondern zog sich wieder in seine Kabine zurück.

Jetzt ließ ich die beiden Sportsmen wecken. Nein, sie hatten keine Lust, erst nach Montevideo zu gehen, waren ganz einverstanden, sich von einem der beiden Kriegschiffe nach Rio bringen zu lassen.

Nun wieder hinüber zu den beiden Kapitänen. Ich erklärte mich also definitiv bereit dazu, und nach einigem Hin und Her, zahlte mir Fregattenkapitän Donato wenigstens tausend Milreis in Gold aus, auf die übrigen 9000 Milreis bekam ich eine Anweisung, auszuzahlen bei Sicht von der uruguayschen Staatsbank zu Montevideo.

Beide Kapitäne unterschrieben im Namen der brasilianischen Regierung, deren rechtskräftigen Stempel das Formular bereits trug.

»Sie brauchen die Silberfässer ja auch nicht eher auszuliefern, als bis Ihnen diese Summe von der Staatsbank ausgezahlt worden ist«, sagte der eine Kapitän noch.

Die Fässchen waren in einem Raume verstaut, vierhundert Stück, jedes einen Zentner schwer, mit dem Staatssiegel plombiert.

Kapitän Donato zeigte mir seine Order, wonach er die zwanzig Tonnen Silber nach Montevideo zu bringen hatte — doch mit der Berechtigung, nach eigenem Gutdünken handeln zu dürfen, wie es die Sicherheit gebot — zeigte mir alle anderen Papiere, die zur Abnahme des Silbers nötig waren, einige musste ich selbst besitzen.

Gern hätte ich gehabt, dass Mr. Tischkoff dabei gewesen wäre, aber schließlich kam mir doch alles klar vor, auch daran dachte ich nicht, Mahlsdorf oder sonst jemanden dabei zu Rate zu ziehen.

Bevor ich über den Empfang quittierte, öffnete der Fregattenkapitän eins der Fässchen, die Plomben sprengend, was dann auf dem Lieferscheine mit Angabe des Grundes vermerkt wurde.

Ich sah kleine Silberstangen, so fest zusammengepresst, dass in dem Fässchen nichts wackelte. Dieses wurde wieder einfach zugenagelt, ich quittierte — so, die Übernahme konnte beginnen.

Nach einer halben Stunde waren die vierhundert Zentner an Bord meines Schiffes. Zunächst versenkte ich die Fässchen noch nicht, ließ sie erst verstauen, und in dieser halben Stunde hatten auch die Novascotiamen ihre verwundeten Kameraden nach der ›Santa Cruz‹ hinübergebracht.

Alles war fertig, es ging an ein Abschiednehmen. Doch damit halten sich Seeleute nicht lange auf.

»Was sind wir schuldig?«, fragten die beiden Sportsmen.

»Nichts.«

Der amerikanische Puppenkleidermacher gab meinem ersten Steuermann eine Tausenddollarnote, zum Verteilen an die Mannschaft — wenn ich eine Rechnung aufgesetzt hätte, würde ihm der Spaß auch nicht viel weniger gekostet haben, aber als Trinkgeld war es reichlich — und der englische Haarwasseronkel griff an seine Krawatte.

Die beiden Duellanten waren natürlich auf den Untergang ihrer Schiffe immer vorbereitet gewesen, trugen stets alles bei sich, Geld und sonstiges Wertvolles, und so war auch Mr. Brown gleich nach der Katastrophe mit einer prachtvollen Schlipsnadel, die er während seiner Fahrt gen Himmel in dem Pretiosennecessaire in seiner Tasche getragen hatte, an die Kajütentafel gekommen.

Es war eine wundervolle Nadel; um einen erbsengroßen Diamanten von reinstem Wasser reihten sich grüne Smaragde und rote Rubine — von Karlemann Karbunkel genannt — von welch letzteren ich wusste, dass sie gleichgroße Diamanten um das fünf- bis zehnfache an Wert übertreffen, und ich hatte mir oft überlegt, wie viele Jünglinge und Glatzköpfe da mit Londoner Wasserleitungswasser gepinselt haben mussten, um dem Haarzauberkünstler diese Nadel zu bezahlen.

»Aber dieses Andenken werden Sie von mir annehmen, Herr Kapitän.«

»O, Mr. Brown...«

»Ohne Widerrede! In Ihnen habe ich endlich einen Mann gefunden, der... ziemlich so verrückt ist, wie ich bin. Denn sonst hätten Sie meine verrückten Ansichten über diese Welt doch nicht so angehört. Wo werden wir uns wiedersehen?«

»Dort, wo die Sonne am schönsten scheint.«

»Recht so! Im Reiche der Seezigeuner, dessen Grenze die weitere Atmosphäre dieses Erdballs ist.«

»Werden Sie sich mit Mr. Fairfax nochmals duellieren?«

»Nein. Wir haben einen dreijährigen Waffenstillstand geschlossen. In dieser Zeit wollen wir eben dieses Seezigeunerreich gründen. So long!«

Die beiden begaben sich hinüber. Wie ich mir noch einmal die Nadel in meiner Hand betrachtete, trat Karlemann zu mir.

»Und wohin gehen Sie, Algots?«

»Nach Rio. Der Kerl hat Ihnen die Schlipsnadel geschenkt?«

»Jawohl!«

»Zeigen Sie mal her! Hm. Was wollen Sie dafür haben?«

»Wie viel würden Sie geben?«

»Dreihundert Dollar.«

»Adjüs, Karlemännchen. Grüßen Sie meine Gorillas und Ihre drei Frauen...«

»Fünfhundert Dollar.«

»... von mir, besonders die, deren Namen Sie nicht wissen.«

»Tausend Dollar.«

»Machen Sie keine Faxen.«

»Und ein Fass selbstgebrautes Bier noch extra dazu.«

Die Schiffe wurden schon auseinandergebracht.

»Und die kleene dicke Prinzessin noch als Gratiszugabe!!«, schrie mir Karlemann durch das Sprachrohr nach. —

Da, als wir uns schon in voller Fahrt befinden, sehe ich einen blau- und rotgestreiften Rock, unter dem große Seestiefel hervorgucken, über Deck fledern — Madam Hullogan!

»Ist die Dame nicht mit auf das Kriegsschiff gegangen?«, fragte ich den nächsten Matrosen.

»Sie wollte nicht, oder der Bootsmann hätte mitgehen müssen.«

So hatte ich einen neuen ›Mann‹ bekommen.

Madam Hullogan verdiente die Heuer, die ich ihr ausgesetzt; sie machte sich in Küche und Proviantraum und bei sonstigen Gelegenheiten nützlich.

Dieses Weib konnte unsere Eintracht keinesfalls stören.

— • —

57. Kapitel
Eisenfeilspäne, alte Nägel,
Fußtritte und ein Todessprung

Originalseiten II.511 — 527

Ohne von einem Kriegsschiff angehalten worden zu sein, was ja, wie schon erwähnt, auch nur deshalb geschehen konnte, weil man Sklavenschmuggel vermutet hätte, erreichte ich neun Tage später Montevideo. Meist hatte ich gesegelt, also fast gar keine Kohlen verbraucht.

Der Hafen Montevideo ist zugleich die Hauptstadt von Uruguay, welches unter spanischer Herrschaft den Namen Banda Oriental führte — östliche Vereinigung, nämlich von kleineren Kolonien, obgleich man auch von einer Vereinigung von Schmuggler, See- und Flussräuberbanden hätte sprechen können.

Montevideo liegt amphitheatralisch auf einer Halbinsel; die Stadt wird von dem vierhundertfünfzig Fuß hoch über dem Meeresspiegel auf dem Monte Cerro liegenden Fort San José überragt.

Dass Uruguay noch nicht mit Argentinien auf dem Kriegsfuße stand, hatte ich schon von mir begegnenden Schiffen erfahren — sonst wäre ich auch sicher wegen Konterbande angehalten worden — und der Lotse, den ich einige Meilen vor dem Hafen an Bord nahm, reagierte auch nicht auf zarte Andeutungen, ob sich Uruguay vielleicht auf ein Bündnis mit Brasilien einließe. Der Mann wusste nichts von so etwas, das war eben noch eine geheime Abmachung der Diplomaten, und auch mir war das natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut worden. Sobald aber die erste Anzahlung abgeliefert war, konnte ja die Sache losgehen, mindestens in die Öffentlichkeit kommen.

Wir konnten im Hafen dicht am Kai festmachen. Zunächst kamen die Hafenbeamten an Bord. Die Schiffspapiere waren in Ordnung. Weswegen wir nach Montevideo kämen? Um irgendwelche Fracht einzunehmen.

Gut, die ›Sturmbraut‹ von New York wurde vom Hafenmeister notiert. Ich wusste, wohin und an wen ich mich zu wenden hatte. So begab ich mich sofort, es war in der elften Morgenstunde, nach dem Finanzministerium, welches, wie alle anderen Regierungsgebäude, am Fuße des Monte Cerro liegt.

Ich bat an gehöriger Stelle um eine Audienz bei Seiner Exzellenz Don Felipe Aquada, dem Finanzminister.

So schnell ging das natürlich nicht, ich hatte ja nichts vorzuweisen. Doch der brasilianische Kapitän hatte mich instruiert, ich brauchte auf mein Kärtchen nur ein Wort zu schreiben, steckte dieses vor den Augen des Offiziers, welcher Adjutantendienste versah, in ein mitgebrachtes Kuvert, verschloss es.

»Bitte, geben Sie dieses Seiner Exzellenz dem Finanzminister, er erwartet mich sehnlichst.«

Jetzt eilte der Adjutant, und schon nach fünf Minuten stand ich im Arbeitszimmer vor Don Aquada. Er stammte aus einer altspanischen Edelmannsfamilie, und all diese südamerikanischen Republiken können nun einmal von Titeln nicht lassen, auch das ›Excellencia‹ haben sie noch.

»Sie kommen im Auftrage des Kapitäns Donato?«, flüsterte er mir aufgeregt entgegen.

»Ja.«

»Sie bringen...?«

»Zwanzig Tonnen Silberbarren.«

Der Minister klingelte, nannte dem erscheinenden Diener einige Namen. Das Arbeitszimmer füllte sich mit anderen Herren. Noch andere wurden erst aus ihren Wohnungen geholt.

Zwei Millionen Mark Silber, die sich durch Prägung in die doppelte Summe verwandelten, mussten für diese Republik ein ganz bedeutendes Kapital repräsentieren; diese armen Republikaner mussten es äußerst nötig haben. Alle diese Herren gerieten bei der Verkündigung, dass meine ›Sturmbraut‹ endlich die von Brasilien versprochenen zwanzig Tonnen Silberbarren gebracht habe, ganz aus dem Häuschen. Es waren eben Kreolen, die sich gar nicht beherrschen können.

Sofort kam die ganze Gesellschaft mit mir an Bord. Ich hatte die Fässchen wohl immer bereitgehalten, sie in dem Wasser des Schiffsraumes zu versenken, hatte es aber eben nicht zu tun brauchen.

Die Fässchen wurden von den Herren gestreichelt, wie man etwa seinen Hund liebkost, oder wie man den Kopf der Geliebten tätschelt. Aber hier geöffnet wurde noch keins.

Schon waren Wagen bestellt, und da es ungefähr zwanzig sein mussten, um diese Last von vierhundert Zentnern fortzuschaffen, wurde in aller Schnelligkeit jeder Karren aufgetrieben, der zu haben war; die Wagen fuhren am Kai vor, meine Jungen luden auf, die Fuhrknechte und andere Arbeiter halfen mit, dann kam noch eine Abteilung Soldaten, der Finanzminister selbst zählte mit, unterstützt von Sekretären und dergleichen.

Ich sprach von der Quittung.

»Das machen wir dann im Finanzministerium ab.«

»Fregattenkapitän Donato bot mir für die Überbringung des Silbers nach hier zehntausend Milreis.«

»Nur zehn...«

Ich glaube, es war dem Minister nur entschlüpft. Donato schien noch mehr dafür geboten bekommen zu haben. Doch das war mir gleichgültig.

»Tausend Milreis zahlte er bar, und dann gab er mir hier diese Anweisung auf die uruguayische Staatsbank.«

Der Minister warf nur einen flüchtigen Blick auf das hingehaltene Papier.

»Neuntausend Milreis?«

»Ja, zahlbar bei Sicht.«

»Selbstverständlich, selbstverständlich, das wird Ihnen dann sofort ausgezahlt.«

Gut, die Sache war für mich erledigt.

Ich hinterließ, dass die Kessel ausgeblasen würden — wir hatten zuletzt gedampft — dass sonst alle Vorbereitungen getroffen würden, um ins Trockendock gehen zu können; denn wir mussten von dem Kasten endlich einmal die immer mehr anwachsende Muschelschicht abkratzen — und ich schloss mich der Wagenreihe mit dem Silberschatze an.

*

Jetzt muss ich erst das schildern, was während meiner Abwesenheit an Bord der ›Sturmbraut‹ vor sich ging, wie ich es später erfuhr.

Der letzte Wagen war noch nicht lange um die nächste Ecke verschwunden, als Tischkoff an Deck erschien, zu ganz ungewöhnlicher Zeit.

»Steuermann der Wache!!«

Zum ersten Male kümmerte er sich um einen Offizier, überhaupt um einen von der Mannschaft — abgesehen von jener Zeit, da er erst an Bord gekommen, als ich in London und dann in Portland festgenagelt gewesen war.

»Mister Tischkoff?«, fragte Mahlsdorf zurück, der sich auf der Kommandobrücke befand und eben mit den Maschinisten durch das Sprachrohr hatte sprechen wollen wegen des Kesselausblasens.

Sofort begab sich Tischkoff hinauf.

»Alles klar zum Manöver! Wir verlassen den Hafen sofort wieder.«

Das Staunen meines Steuermannes lässt sich denken.

»Aber der Kapitän hat gerade erst gesagt, die Kessel sollen ausgeblasen werden.«

»Ganz im Gegenteil. Dampf aufgemacht!«

»Ja, aber...«

»Hat Ihnen Kapitän Jansen nicht gesagt, in welchem Verhältnis er zu mir steht?«

»Ja.«

»Nun?«

»Sie seien hier der Kommodore...«

»Well. Gehorchen Sie! Feuer unter die Kessel! Dampf auf! Klar zum Manöver! Wir verlassen den Hafen sofort wieder!«

Da halfen kein Staunen und kein Grübeln über diesen rätselhaften Befehl. Mahlsdorf und die ganze Mannschaft hatten diesen geheimnisvollen Fremden doch schon früher als Schiffskommandanten kennen gelernt, und sie waren nicht schlecht dabei gefahren. Und dann wurde dieser Unbekannte stets ein ganz anderer. Dann verschwand der gemütliche, spöttischhumorvolle Ausdruck in dem von tausend Fältchen durchzogenen Gesicht, dieses wurde plötzlich eisern, und die sonst nur in Jugendlust strahlenden Augen begannen in einer unbeugsamen Willenskraft zu blitzen.

Mahlsdorf gehorchte, ohne sich etwas zusammenreimen zu können. Wieder Feuer aufgemacht, bis volle Dampfspannung vorhanden war, unterdessen war die Vertauung gelöst.

Aber eine Viertelstunde war mit diesen Arbeiten doch vergangen, bis die ›Sturmbraut‹ frei war und durch den offenen Hafen fahren konnte.

Montevideo ist einer der besten Häfen an der Ostküste Amerikas. Es ist eine große halbmondförmige Bucht, weit genug, um die Kriegsflotten ganz Amerikas aufnehmen zu können, durch die enge Einfahrt ist er vor jedem Seegang geschützt.

Dieser schmalen Einfahrt, freilich immer noch breit genug, um eine ganze Reihe Schiffe nebeneinander einzulassen, strebte die ›Sturmbraut‹, von Tischkoff dirigiert, zu.

Da, als die ›Sturmbraut‹ gerade diese Hafeneinfahrt, von nicht allzu hohen Ufern begrenzt, passierte, donnerte ein Kanonenschuss.

Unwillkürlich blickte alles nach oben. Über ihren Häuptern thronte auf dem Felsen, die ganze Umgegend beherrschend, das Fort San José, nur dort oben konnte der Kanonenschuss gelöst worden sein, man sah noch den Pulverrauch zum Himmel emporschweben, und jetzt ward es dort oben auch in anderer Weise lebendig.

Man sah die winzigen Männerchen auf den Galerien rennen, man hörte sie sogar schreien, und jetzt wurden Flaggen gehisst.

»Das gilt doch nicht etwa gar uns?«, fragte Mahlsdorf, schon von einer Ahnung erfüllt, und die plötzliche Abfahrt berechtigte ihn ja auch dazu.

Dann griff er nach dem internationalen Flaggenbuche.

»Fasst das den Hafen verlassende Schiff!«, lautete das Signal, und darüber wehte die Kriegsflagge.

Mit seiner Vernunft wollte es Mahlsdorf noch nicht glauben. Auf dem Fort wurde weiter mit Flaggen signalisiert, Tischkoff beobachtete sie durchs Fernrohr, doch Mahlsdorf sollte keine Zeit haben, sich weiter darum zu bekümmern.

»Montiert die Geschütze!«, kommandierte Tischkoff.

Wenn dieser Befehl die Leute auch kopfscheu machte — sie gehorchten.

Wie früher erwähnt, war die ›Sturmbraut‹ mit drei fünfzölligen Geschützen, modernen Hinterladern, ausgerüstet; denn an den einsamen orientalischen und chinesischen Küsten kann man immer einmal mit Piraten rechnen, besonders das Segelschiff bei Windstille.

Ich hatte sie noch nie gebraucht, nur bei Übernahme des Schiffes einmal provisorisch an Deck montiert, wozu Schienen und Schrauben und alle anderen Vorrichtungen vorhanden waren, und bei mir musste immer alles in tadelloser Ordnung sein.

Der Bootsmann hatte sie unter sich, auch die Montierung war seine Sache, und sein holdes Eheweib war die erste, welche etwas begriff.

Plötzlich fing die ein altes, englisches Seeräuberlied an zu brüllen — ›Wir sind die Wölfe der freien See, juchhe!‹ — welche Grölerei ihr von Tischkoff verboten wurde, aber nicht, dass auch sie mit Hand anlegte, die fünfzölligen Hartkugeln und Granaten heraufzubefördern.

Unterdessen war die Hafenausfahrt passiert worden, und da kamen von links, von Osten her, wo sich der La Plata ins offene Meer ergießt, vier Kriegsschiffe angedampft, zwei größere und zwei kleine Kanonenboote, dahinter noch einige mit Kanonen gespickte Segler, die ganze Kriegsflotte von Uruguay, in langer Reihe aufmarschiert, und die große Panzerkorvette, welche die Admiralsflagge führte, forderte durch Flaggensignal die entgegenkommende ›Sturmbraut‹ auf, die Segel zu streichen — auch für jeden Dampfer gilt dieser Ausdruck, wenn er sich ergeben soll, selbst wenn er, wie heute, überhaupt gar keinen Mast hat — aber die ›Sturmbraut‹ gehorchte nicht, unter Tischkoffs Kommando wendete sie vielmehr schnell, floh den La Plata hinauf, und hinter ihr her die ganze uruguayische Kriegsflotte.

*

Wir waren mit den Wagen wieder vor dem Finanzgebäude angelangt, die Silberfässer wurden abgeladen und in den Keller hinabgebracht. Ich ging immer mit.

Es war ein großes Kellergewölbe, das aufgeschlossen wurde. Licht empfing es vom Hofraum aus durch kolossal vergitterte Oberfenster, sonst war auch schon Gas vorhanden.

Die beiden Panzerschränke nahmen sich trotz ihrer Größe in dem weiten Raume recht einsam aus, besonders, wenn man schon die Geldinstitute zu sehen bekommen hat, wie ich damals auf der Bank von England, als ich mir meine oder Blodwens Millionen abholte. Doch es konnte hier ja noch andere Schatzkammern geben, das Silber fand in den beiden Geldschränken auch gar nicht Platz, nicht der vierte Teil davon.

Hier in diesem ersten Raume aber wurden die Fässchen zunächst aufgestapelt, von dem Minister selbst immer gezählt, mit dem Notizbuche in der Hand, und als die vierhundert voll waren, wurden die Arbeiter weggeschickt, nur das halbe Dutzend Herren blieb zurück, und dann noch eine ganze Anzahl von uniformierten Männern, die aber keine Soldaten zu sein schienen. Wahrscheinlich Sicherheitsbeamte.

Der Minister verlangte Hammer und Stemmeisen, welche Werkzeuge aus einem benachbarten Raume gebracht wurden.

»Das eine Fass ist schon geöffnet«, sagte ich.

»Schon geöffnet?«

»Wenigstens die Plomben sind zerrissen, es wurde dann wieder zugenagelt. Fregattenkapitän Donato öffnete es, um mir den Inhalt zu zeigen. Das hat er auch hier bescheinigt.«

Ich zeigte das betreffende Papier, der Minister warf nur einen Blick darauf, kümmerte sich nicht weiter darum. Er stand wie wohl alle anderen noch ganz unter der Empfindung, hier für 400 000 Milreis Silber vor sich zu haben, das sich baldigst als geprägtes Geld in die doppelte Summe verwandeln sollte, und über so viel bares Geld auf einem Haufen zusammen schien die Republik Uruguay selten verfügt zu haben, daher die Aufregung.

Der Minister suchte nicht erst nach dem Fässchen mit den verletzten Plomben, ich selbst hatte dieses weder beim Auf- noch beim Abladen wieder zu Gesicht bekommen, die Plomben waren ja auch nur klein.

Es war wohl der Schatzkämmerer, der höchst eigenhändig ein Fässchen erbrach.

Der Deckel war ab, ein darüber brennendes Gaslicht fiel hinein. Ich hatte wieder solche kleine Silberstangen zu sehen erwartet — hier aber zeigte sich das Silber als ein grobkörniges Pulver.

Nun, das Silber befand sich eben in den Fässchen nur zum Teil als Barren oder Stangen, auch Silberstaub war vorhanden. Allerdings hatte ich bisher nur von Goldstaub, noch nie von Silberstaub oder Silberpulver gehört. Doch ich wusste gar nicht, wie man das rohe Silber bergmännisch und aus den Erzen gewinnt.

Da aber fiel mir das misstrauische Gesicht des Schatzkämmerers auf, wie dieser jetzt in das glänzende Zeug griff, darin wühlte, wie er eine Probe in die Hand nahm und sie in das Licht brachte.

»Das ist gar kein Silber.«

»Was ist das nicht?!«, schrie der Minister sofort auf.

»Das ist — das ist — das sind Eisenfeilspäne.«

Er griff noch einmal in das Fass, bekam ein Stängelchen in die Hand, wühlte tiefer, fand noch mehr solcher Stängelchen, die aber nicht glänzten...

»Das sind alte Nägel und Eisenfeilspäne.«

Ja, dass das alte Nägel waren, das erkannte ich jetzt auch. Aber im Augenblick war ich unfähig, etwas Genaueres zu denken.

Der Minister hatte den Hammer ergriffen, schlug einem anderen Fässchen den Deckel ein — Eisenfeilspäne und alte Nägel — ein drittes Fass platzte auf — hier fehlten die Eisenfeilspäne gänzlich, die waren zur Füllung des Fasses schon zu kostbar gewesen, hier waren ausschließlich alte Nägel der gemeinsten Sorte vertreten.

Was in den nächsten Minuten vor sich ging, kann ich gar nicht schildern. Alles stürzte sich in wilder Wut auf die Fässchen, kein einziges blieb verschont, aber es wollte auch kein einziges Silberstängelchen zum Vorschein kommen — nur alte, mehr oder weniger verrostete Nägel, und dazwischen hin und wieder etwas Eisenfeilspäne.

Erst als das letzte Fässchen zertrümmert worden war, wurde auch meine Anwesenheit wieder bemerkt.

Der Minister stürzte auf mich zu, hielt mir eine Handvoll Nägel ziemlich dicht vor die Augen.

»Ist das Silber, ist das Silber?!«, schrie er mich wütend an.

Ich hatte meine Gemütsruhe wiedergefunden, und, wie immer, ich wusste gleich das Humoristische bei der Sache herauszufinden.

»Nee, das ist altes Eisen.«

»Und wo ist mein Silber, wo ist mein Silber?«, schrie oder heulte jener mich abermals an.

»Schreien Sie mich nicht so an, und nehmen Sie die Hufeisennägel von meiner Nase weg! Sie brauchen auch nicht jede Frage zweimal zu wiederholen, und die eine stellen Sie nur an den Kapitän Donato, der wird schon wissen, wo das Silber geblieben ist — jetzt geht mir ein Licht auf, warum er es nicht selber hierher gebracht hat.«

»Sie haben das Silber mit eisernen Nägeln vertauscht!!«

»Hören Sie — wenn Sie das noch einmal sagen, dann gibt's eine!«

»Sie haben das Silber gestohlen!!«

Da klatschte es, und Seine Exzellenz der Finanzminister flog zwischen das alte Eisen.


Illustration

Mit einem Wutschrei sprang er wieder auf — in seiner Hand funkelte ein Stilett, er wollte sich auf mich stürzen, ich erwartete ihn kaltblütig, aber wir sollten gar nicht zusammenkommen.

Ich hätte lieber die anderen im Auge behalten, meinen Rücken decken sollen, denn im Nu hatten sich alle auf mich geworfen, und am meisten kamen sie von hinten.

Mit einem Male hatte ich keine Jacke mehr an. Sie war mir von hinten herabgestreift worden. Offenbar wollte man sie mir nur von hinten über die Arme ziehen, der bekannte Polizeikniff, der jeden Widerspenstigen sofort wehrlos macht, man ist wie gebunden, aber der Betreffende war zu hastig gewesen, hatte mir die Jacke gleich ganz über den Rücken und über die Arme herabgestreift.

Desto besser, so, nun war ich freier, nur in Weste und Hose. Aber ich kam gar nicht zum Schlagen, auch Fußtritte konnten nicht mehr angebracht werden, wie Kletten hingen sich die Kerls von allen Seiten an meine Gliedmaßen.

Und ich bin kein Herkules. Und schließlich wäre doch auch Herkules, wenn sich einmal gar zu viel Pygmäen an ihn gehängt hätten, von diesen überwältigt worden.

Ich bekam meine Arme nicht wieder frei, dann wurde mir ein Bein gestellt, oder mir auch die Füße unterm Leibe fortgezogen — kurz, ich lag plötzlich am Boden, ein Haufen Menschen kniete auf mir, schlug auf mich ein, Hände und Füße wurden mir gebunden.

»Ihr gelbes Gesindel«, musste ich meiner Wut jetzt Luft machen, »ja, ihr seid die richtigen orientalischen Banditen...«

Es war der Herr Finanzminister selbst, von dessen höchsteigener Faust ich einen Schlag ins Auge erhielt, der mir fast die Besinnung raubte.

Doch so weit kam es nicht. Plötzlich verstummte und erstarrte alles.

»Es pocht!«

Jetzt hörte auch ich es. Gegen die eiserne Tür wurde gedonnert.

»Wer ist da?«

Die Antwort draußen war nicht verständlich, die doppelte Tür war zu dick. Sie wurde von innen geöffnet, ein Offizier kam herein, ohne Hast.

»Weshalb lichtet denn das Schiff... ja, was ist denn hier los?«

»Dieser Schurke hat das Silber gestohlen, hat es mit Eisen vertauscht!«, schrie der Minister, der eine ganz geschwollene Backe bekommen hatte, wie ich ein etwas geschwollenes Auge, dabei auf mich deutend.

»Was?!«, fing jetzt auch der neu hinzugekommene Offizier an zu schreien. »Deshalb verlässt sein Schiff gleich wieder den Hafen!«

»Was, es verlässt den Hafen?!«, wurde jetzt von allen Seiten geschrien.

»Mit Volldampf! Es ist schon bald draußen im offenen Wasser!«

»Haltet es auf, haltet es auf!!!«

Mit diesem Ruf stürmten die meisten hinaus, nur wenige blieben zurück.

Ich hatte nicht schlecht aufgehorcht. Es konnte doch nur von meinem Schiffe die Rede sein. Wie? Die ›Sturmbraut‹ wollte den Hafen verlassen?

Blitzschnell jagten mir die Gedanken durch den Kopf.

Ich hatte töricht gehandelt, dem Finanzminister gleich so eine zu verabreichen. Er hatte mich beleidigt, er hatte die Maulschelle verdient, ja — aber jener war genau so töricht gewesen, und ich hätte der Klügere sein sollen.

Die Unvernunft dieses Verdachtes, ich hätte das Silber gestohlen, lag doch klar zutage. Entweder wäre ich doch mit dem Silber einfach verschwunden, mindestens hätte ich mit den mit Eisen gefüllten Fässern doch einen anderen geschickt, wäre nicht selber mit hierher gekommen, um der Öffnung beizuwohnen.

Nein, der Schlaue war ohne jeden Zweifel jener Fregattenkapitän gewesen, der ursprünglich den Auftrag gehabt, die zwanzig Tonnen Silber hierher zu bringen.

Er hatte mit den Fässchen nicht direkt durchbrennen, hatte jedenfalls vor allen Dingen Zeit gewinnen wollen. So füllte er die Fässchen um, vertauschte das Silber mit wertlosem Eisen, schickte einen anderen damit nach Montevideo, und er konnte unterdessen ruhig noch einmal nach Rio de Janeiro fahren, konnte sein Haus bestellen, sich in Sicherheit bringen.

Denn da es damals dort noch keine telegrafische Verbindung gab, vergingen mindestens acht Tage, ehe die Kunde von hier nach Rio gelangte.

Wie geschickt dieser nette Fregattenkapitän gearbeitet und vorbereitet hatte, das zeigte, dass er sogar das mir schon geöffnet gezeigte Fässchen, in dem ich Silberstangen erblickt, mit einem anderen vertauscht hatte.

Möglich, dass auch der Korvettenkapitän von der ›Santa Cruz‹ mit im Spiele war.

Nur dass ich noch glücklich tausend Milreis herausgeluchst hatte, sonst war ich wieder einmal der Dumme.

Die Hauptsache aber war, dass ich meine Unschuld würde beweisen können. Sonst wäre ich doch nicht hierher gekommen. Der Herr Finanzminister hatte seine Maulschelle weg, für meine weitere Überwältigung würde man mich noch um Entschuldigung bitten müssen — — wir waren quitt.

Doch es sollte anders werden.

Der Minister konnte nicht weit gekommen sein, er war gleich wieder da, und das erste war, dass er mir einen Fußtritt versetzte.

»Hund verdammter!! Wo hast du das Silber?«

Der Fußtritt hatte genügt. Dass in diesem Augenblick die meine Hände fesselnden Stricke nicht rissen, wunderte mich.

Auf diese Weise konnte ich jedenfalls nicht zu einer ruhigen Aussprache kommen.

»Du hast's einfach noch an Bord deines Schiffes, deshalb ergreift es jetzt die Flucht, aber es soll uns nicht entwischen, alle unsere Kriegsschiffe sind schon hinter ihm her.«

Der Mann war viel zu sehr von Sinnen, um die Unlogik seiner Annahmen einzusehen, ich sollte erst hierher gekommen sein, um die mit Eisen gefüllten Fässer abzugeben, während ich das gestohlene Silber noch an Bord hatte.

Und ich dachte gar nichts. Ich wünschte nur, diesen Kerl, der mich getreten, zwischen meinen Fäusten zu haben.

»Auf, packt ihn, in die Kasematten mit ihm!!«, kommandierte jetzt der Minister.

Illustration

Soldatenfäuste packten mich, so unsanft wie möglich, man richtete mich auf. Da meine Füße kreuzweise gebunden waren, konnte ich nicht aufrecht stehen, die Kreolen waren zu bequem, mich langen Menschen zu tragen — auf eine diesbezügliche Frage gestattete der Minister, dass mir wenigstens die Füße zum Gehen befreit wurden.

»Aber wehe, wenn ihr ihn entwischen lasst! Das ist nämlich ein Mordbube, der schon aus dem englischen Zuchthaus entsprungen ist!«

O weh, das war also auch hier schon bekannt! Mich nach England oder einem englischen Kriegsschiff ausliefern, wie ein solches im Hafen lag, das war das Unangenehmste, was mir passieren konnte.

»Ich stehe unter dem Schutze der Flagge der Union!!«, rief ich.

»Wir wollen dir gleich zeigen, unter welchem Schutze du stehst!«

Ich ward vorwärts- und hinausgestoßen. Auch die mich führenden Soldaten sparten Fußtritte und Faustschläge nicht.

So stolperte ich die Treppe hinauf, kam in einen Gang, und als dieser zu Ende war, flutete plötzlich die Sonne auf mich herab — ich stand im Freien auf einer schmalen Galerie, die jedenfalls um den Berg herumlief — und unter mir erglänzte das Meer, nicht allzu tief, höchstens zwanzig Meter — da... da...

Da sah ich direkt unter mir mein Schiff, meine ›Sturmbraut‹, mit qualmendem Schornstein, wie sie soeben um die Felsenecke kreuzte — und ich sah auf der Kommandobrücke die beiden Steuerleute stehen, die Matrosen an Deck arbeiten, in der Takelage klettern — alles übergossen vom goldensten Sonnenschein — und mich selbst sah ich wieder in der Tretmühle, in der engen Zelle, wo ich nicht atmen konnte, wo ich schon in acht Tagen verwelkt war — und das Wort ›Kasematten‹ klang nochmals an mein Ohr... Und da stand ich plötzlich auf der niedrigen Brüstung, welche die Galerie einfasste, und im nächsten Moment sauste ich kopfüber in die Tiefe hinab!

— • —

58. Kapitel
Wie man mich zwingt,
Flusspirat zu werden

Originalseiten II.527 — 583

Ich war schon von klein auf immer ein ausgezeichneter Schwimmer und Springer gewesen, hatte jeden Sprung ins Wasser gewagt, den die Gelegenheit geboten, den mir ein anderer vorgemacht hatte. Ich war als Matrose zum Vergnügen von der Bramrahe ins Meer gejumpt.

Aber solch einen Sprung hätte ich unter normalen Verhältnissen denn doch nicht gewagt. Und ich will auch lieber gar nicht von meiner Schwimm- und Springkunst sprechen.

Ein gnädiger Gott war es, der mich mit dem Leben davonkommen ließ. Ein großes Glück auch, dass mir die Hände vorn gebunden worden waren. So konnte ich sie über den Kopf halten, was man wohl ganz instinktiv tut, wodurch das Wasser beim Aufschlagen mehr durchschnitten wird. Sonst kann unter Umständen auch einmal der Schädel platzen, zwanzig Meter Höhe oder Tiefe sind dazu gerade genügend.

Dabei hatte ich nicht einmal gewusst, ob der Felsen auch steil abfiel, direkt ins Wasser, dass nicht etwa Riffe vorgelagert waren, und dann war ich nicht solch ein Fischmensch wie jener Hatschigagok, der sein Ziel so genau berechnen konnte, die ›Sturmbraut‹ schien sich direkt unter mir zu befinden, daneben war noch ein kleineres Fahrzeug, ich hätte mit dem Kopf direkt auf Deck schlagen können.

Aber der Himmel war mir gnädig! Ein Schlag auf den Kopf, dass ich die Besinnung verlor — doch nur einen Moment, dann fühlte ich, dass ich noch lebte, wenn man so sagen darf, dass ich mich im Wasser befand — nun kräftig mit den Füßen Wasser getreten, und ich konnte wieder atmen, und kaum zehn Meter von mir entfernt rauschte die ›Sturmbraut‹ vorbei!

Ich kam gar nicht dazu, mich erst bemerkbar machen zu müssen.

»Der Käpten, der Käpten — bei Gott, er war es!«, hörte ich die mir so wohlbekannten Stimmen rufen, und sie klangen gar lieblich in meinen Ohren.

Das Rettungsboot war immer ausgeschwungen, die Jollengäste sprangen hinein, es schoss herab, bei nur wenig verminderter Fahrt des Schiffes.

Ein nur einigermaßen guter Schwimmer braucht kein Hände, um sich über Wasser zu halten, und auch das von dem Schraubendampfer aufgewirbelte Wasser bot keine besondere Gefahr.

Nach drei Minuten befand ich mich im Boot, und nach zwei weiteren an Bord meines Schiffes, welches einmal gestoppt hatte und jetzt unter Tischkoffs Kommando, den ich ebenfalls auf der Brücke stehen sah, die Fahrt mit vollem Dampf wieder aufnahm, nach Nordwesten, also nicht dem offenen Meere zu, sondern tiefer in die Bucht hinein, die vom Rio de La Plata gebildet wird.

»Willkommen, Herr Kapitän«, rief mir mein Kommodore entgegen, in seiner gemütlichfreundlichen Weise, wie auch sein Gesicht war, als ich die Kommandobrücke hinaufsprang, meine gefesselten Hände waren mir natürlich gleich im Boote befreit worden. »Hei, das war ein Sprung! Und mit gebundenen Händen! Meine Hochachtung! So etwas liebe ich.«

»Was ist geschehen?!«, stieß ich hervor.

»Erst teilen Sie mir einmal mit, was Sie erlebt haben.«

Ich tat es in möglichster Kürze.

»Ein netter Kriegsschiffskapitän, dieser Manuelo Donato! Der andere, der Korvettenkapitän, steckt jedenfalls mit ihm unter einer Decke, und mich sollte gar nicht wundern, wenn auch dieser uruguayische Finanzminister selbst mit im Bunde ist, dass er schon gewusst hat, wie die ihm gebrachten Fässer nur altes Eisen enthielten.

Tischkoff war es gewesen, der dies gesagt. Und ich sah die uruguayischen Kriegsschiffe, etwa dreihundert Meter hinter uns, wie sie sich zu einer immer weiteren Reihe ausdehnten.

»Was wollen denn diese uruguayischen Kriegsschiffe?«

»Natürlich uns fangen. Die vermuten doch, dass wir die zwanzig Tonnen Silber an Bord haben.«

»Das ist aber ganz sinnlos, sonst hätte ich die Fässchen doch nicht persönlich...«

»Natürlich ist dieser Verdacht sinnlos, wie sich nach Ihrer Erzählung schon der Minister ganz sinnlos betragen hat. Wie dem aber auch sei — diese Kriegsflotte, welche gerade nach Montevideo zurückkehrte, hat den Befehl erhalten, unser Schiff abzufangen.«

»Von wem?«

»Von dem, der dort oben auf dem Fort zu kommandieren hat. Jedenfalls aber auf Veranlassung des Finanzministers.«

»Wir stehen unter dem Schutze des Sternenbanners.«

»Bah, was machen die sich daraus! Wenigstens jetzt nichts. Die sind doch ganz blind vor Wut. Hinterher werden sie es schon bereuen. Aber die Kapitäne dieser Kriegsschiffe haben jetzt nur den ihnen gegebenen Befehl auszuführen, ohne irgendwelche Erwägung anstellen zu dürfen. Und wir müssen unsere Haut in Sicherheit zu bringen suchen.«

»Dann wundert mich nur, dass sie uns nicht gleich in den Grund schießen.«

»Beschießen, meinen Sie. Schießen und treffen ist zweierlei. Nein, sie haben sogar den direkten Befehl erhalten, keinen Gebrauch von den Geschützen zu machen, sondern unser Schiff zu nehmen und es wieder in den Hafen zurückzubringen. Der Herr Finanzminister in seinem blinden Eifer fürchtet wahrscheinlich, das Schiff könnte an einer Stelle sinken, wo den zwanzig Tonnen Silber nicht mehr beizukommen ist.«

»Sollten wir uns nicht verständigen?«

»Tun Sie es, aber es ist ganz zwecklos. Der führende Admiral hat seinen Befehl bekommen, und der müsste erst widerrufen werden. Sie werden nach Montevideo zurückgebracht, und dann können Sie sich auf einige Monate gefasst machen, die Sie wahrscheinlich in Untersuchungshaft zubringen müssen.«

Für so etwas bedankte ich mich natürlich. Ich hatte die Nase voll.

»Ja«, fuhr ich da plötzlich auf, »wie kamen Sie überhaupt dazu, schnellstens den Hafen wieder zu verlassen? Wussten Sie denn, was mir in dem Keller passiert war?«

»Nein.«

»Wurden Sie sonst gewarnt?«

»Auch nicht... oder doch«, setzte Tischkoff hinzu, während er durch das Fernrohr nach den Kriegsschiffen spähte.

Dann schob er das Fernrohr zusammen, wandte sich mir zu.

»Sie wollen eine Erklärung? Ich kann sie Ihnen nicht geben. Es war eine Eingebung, eine Ahnung, dass Ihr Schiff schnellstens den Hafen verlassen und das Weite suchen müsste. Und sie hat mich nicht betrogen. Ich habe sehr oft solche ahnungsvolle Eingebungen.«

Ich starrte den rätselhaften Sprecher an, und plötzlich nahm das faltige, aber sonst ganz frische Gesicht wieder die fahle Blässe einer Leiche an, alles schien zu erstarren, auch das Auge — jener Zustand meldete sich wieder an.

»Sie werden jetzt allein mit ihnen fertig«, sagte noch die plötzlich ganz gebrochene Stimme, »suchen Sie durchzukommen — sonst auf argentinisches Gebiet — den Paraná hinauf — auf keinen Fall sich ergeben — lieber schlagen Sie sich mit Gewalt durch — machen Sie Gebrauch von den Geschützen — von Pistole und Entermesser — das Recht ist auf Ihrer Seite — die Union wird Sie schützen, ein Seegericht Sie freisprechen — Sie handeln in Notwehr... ich gehe... stören Sie mich nicht...«

Und der rätselhafte Mann ging, noch aufrechten Ganges, erst im Kajüteneingange sah ich ihn zusammenklappen. Doch seine Kabine hatte er noch glücklich erreicht.

Geheimnisvolle, ahnungsvolle Eingebungen! Nun, wenn dieser mein Kommodore öfters solche ahnungsvolle Eingebungen hatte, mir immer zum Nutzen — das ließ ich mir schon gefallen!

Das war das einzige, was ich von alledem dachte. Ich eigne mich durchaus nicht zum Mystiker. Ich würde frisch und fröhlich jedes Gespenst für das nehmen, was es ist, als was es sich mir vorstellen würde. Wenn mir nur einmal ein Gespenst oder eine sonstige abgeschiedene Seele im ätherischen Gewande begegnen wollte, ich würde sie schon beim ätherischen Rockknopf festnehmen!

Mich beschäftigten jetzt lediglich die mir folgenden Schiffe.

Es waren also vier Dampfer, davon zwei große, der eine eine gepanzerte Korvette, der andere noch ein hölzerner Kasten, aber groß, 3000 Tonnen, dann noch zwei kleinere Kanonenboote, ebenfalls mit Schaufelrädern, und dann zählte ich dahinter noch weitere sieben Segler, große und kleine, alle stark armiert, und bei dem jetzt aufkommenden günstigen Ostwinde würden die Segler die vier Paddelkästen bald überholt haben.

Meine ›Sturmbraut‹ war dieser ganzen uruguayischen Kriegsflotte an Schnelligkeit bedeutend überlegen, sie dampfte jetzt zwölf Knoten, ihre Höchstleistung, bei diesem Winde würde sie sechzehn Knoten segeln, sie würde es auf achtzehn bringen, und die Dampfer dort machten höchstens acht, die besten Segler höchstens vierzehn. Die Entfernung zwischen mir und den Verfolgern ward also schnellstens immer größer, und es handelte sich nur darum, die Flotte zu umkreisen, um das offene Meer zu gewinnen.

Montevideo liegt am Rio de La Plata. Rio heißt Strom, Fluss. Ja, der Rio de La Plata wird auch als Strom bezeichnet. Aber im Grunde genommen ist es doch falsch. Der La Plata ist die kolossale Mündung des Paraná, ein ganzer Meerbusen, fünfundzwanzig geografische Meilen lang und überall, gleich wo der Paraná eintritt, acht Meilen breit.

Nur weil die ersten Entdecker hier süßes Wasser fanden, nämlich, weil der Paraná zur Zeit der Ebbe die ganze Bucht mit süßem Wasser füllt, das Meerwasser zurückdrängt oder doch herunterdrückt, erhielt dieses Gewässer damals den Namen eines Stromes, den es auch behalten hat.

Ich hatte also gar weiten Spielraum, um meine Verfolger zu umgehen. Diese meine Absicht aber merkten auch jene, sie begannen sich schon zu verteilen, eine weite Reihe bildend, immer mehr auseinandergehend, und nun allerdings, wenn es elf Schiffe sind, die sich so ausbreiten, die wollen freilich umgangen sein, besonders, wenn man dennoch damit rechnen muss, unter Kreuzfeuer genommen zu werden.

Da donnerte auch schon von der gepanzerten Korvette, welche die Admiralsflagge führte, ein Kanonenschuss. Eine Wirkung war nicht zu sehen.

»Bangemachen gilt nicht«, sagte ich, »der war blind.«

Es war auch nur die Ankündigung gewesen, dass ein Signal kommen würde, und die bunten Lappen kletterten empor.

»Kapitän Jansen, streichen Sie die Segel!«, wurde ich wiederum aufgefordert.

Jetzt wussten die auch schon, dass ich mich an Bord befand. Sie mussten meinen Todessprung, und wie ich aufgefischt worden war, ja auch beobachtet haben.

»Weshalb?«, ließ ich zurücksignalisieren.

Es war eine für einen Seemann naive Frage.

Jedes Handelsschiff hat vor jedem Kriegsschiffe irgendwelcher Nation die Segel zu streichen, hat sich eine Durchsuchung gefallen zu lassen. Wird dem Befehle, beizudrehen, nicht Folge geleistet, gibt es erst einen blinden Kanonenschuss zur Ermahnung, der zweite Schuss ist scharf, kann unter Umständen den Kauffahrer gleich auf den Meeresboden versenken. Auch der stolzeste englische Handelskapitän muss sich da einem elenden türkischen Kriegsschiffe fügen. Wie sich dann die Regierungen wegen so etwas verständigen, das freilich ist eine andere Sache, denn das stolze England lässt ohne triftigen Grund nicht so leicht ein unter seiner Flagge segelndes Schiff aufhalten und durchsuchen. Zuerst aber heißt es jedenfalls für den Handelskapitän: Gehorchen! Dann kann er Klage erheben.

»Streichen Sie die Segel!!«, wurde denn auch nun nochmals wiederholt, nur mit der Nachdrucksflagge.

Jetzt gab ich ein kurzes Nein zur Antwort.

»In fünf Minuten schieße ich Ihr Schiff in den Grund! Admiral Lenguan.«

Ich sah, wie der Mann auf der Kommandobrücke seine Taschenuhr zog. Aber ich ließ mir nicht imponieren.

»Bitte, schießen Sie!«, ließ ich trotzig zurücksignalisieren, und ich hatte auch einige Sicherheit im Hintergrunde.

Der zweite Steuermann, welcher die Signalgäste anstellte, hatte zuerst, als die Flagge noch unten war, das »Bitte!«, für überflüssig gehalten, aber ich ließ diese Flagge noch anbringen. Nur immer höflich.

In diesen fünf Minuten vergrößerte sich der Abstand ganz bedeutend.

Dann aber, richtig nach fünf Minuten, blitzte und wirbelte es dort drüben auf dem Admiralsschiff in dem Türmchen auf, und diesmal war es ein scharfer Schuss, ich sah den großen Vogel geflogen kommen — nur schade, dass man solch einer Granate nicht ausweichen kann, es geht doch ein bisschen gar zu fix. Wenn man eben zur Seite springen will, ist der Vogel schon da.

Na, der Vogel flog hoch über mein Schiff weg, auch auf einer ganz anderen Seite, ich sah die Granate dann ins Wasser patschen, und wäre sie noch etwas geflogen, so hätte sie gerade einen biederen Fischerkahn getroffen, der dort seine Netze auswarf.

Noch ein Schuss, noch ein Schuss — jetzt fingen auch die anderen Schiffe zu böllern an, und die Hartkugeln kamen mir immer näher.

Was sollte das heißen? Hatten die nicht den Befehl bekommen, mich lebendig zu fangen? Wie durften die wagen, auf mein Schiff zu schießen, das gleich mit dem ganzen Silberschatze auf den Meeresboden trudeln konnte?

Ja aber, konnten die nicht versuchen, wenn sie sich genügend eingeschossen hatten, mir wenigstens meine Takelage kaputt zu schießen, mich sonst manövrierunfähig zu machen?

Vorläufig schossen sie immer vorbei, aber ich wollte lieber doch nicht so stark auf jenen Befehl bauen, mich zu schonen. Auch diese uruguayischen Seeleute würden ein heißes Temperament haben. Es konnte ein Wettschießen daraus werden, wobei es um die Ehre ging — und so wollte ich auch vorläufig nicht an eine Umgehung denken, sondern lieber eine möglichst große Entfernung zwischen uns zu bringen suchen.

So ging es denn mit voller Kraft, von günstigem Winde unterstützt, immer direkt nach Westen, auf die Richtung von Buenos Aires zu, welches ziemlich dicht an der Mündung des Paraná in den La Plata liegt.

Bei Nacht musste der Umgehungsversuch natürlich gewagt werden, und sollten alle Stricke reißen — na, dann ging ich eben nach dem argentinischen Buenos Aires, dort war ich vor dem uruguayischen Kriegsschiffe geschützt, dort konnte ich alles Weitere in Ruhe abwarten.

Die Kriegsschiffe stellten denn auch bald ihre Schießerei ein, sie hatte überhaupt bald keinen Zweck mehr, ich war schon zu weit entfernt.

Als sich die Sonne dem Horizonte näherte, ergab die letzte Berechnung, dass ich mich nur noch zweiunddreißig Seemeilen von Buenos Aires entfernt befand. Von den Kriegsschiffen war schon seit drei Stunden keine Spur mehr zu sehen gewesen.

Und eine halbe Stunde später herrschte mondlose Nacht.

So, nun konnte der Rückweg angetreten werden. Der Wind hatte immer mehr abgeflaut, es herrschte völlige Windstille — desto besser, so kam mir der Wind nicht entgegen. Segeln hätte ich ja sowieso nicht mehr können. Und bei nur zwölf Knoten Fahrt war ich morgen früh im offenen Meere, hatte Montevideo schon weit hinter mir.

Also gewendet, mit voller Kraft zurück.

Ich habe diesen Befehl kaum durchs Sprachrohr gegeben, als das Zittern der Schiffsplanken plötzlich aufhört — die Schraube steht.

»Volldampf voraus!!«, kommandiere ich nochmals durchs Sprachrohr.

Es wird geklingelt, dass das Kommando ein menschliches Ohr erreicht hat, aber einen Erfolg hat es nicht, die Schraube fängt sich nicht wieder zu drehen an.

»Was ist denn da los?«, frage ich, schon von einer bösen Ahnung erfüllt.

Endlich bekomme ich eine Antwort.

»Die Maschine funktioniert nicht.«

Aber gebrochen sollte nichts sein — irgendein Fehler, der nicht zu finden war.

Also zum zweiten Male, dass die Maschine nicht funktionierte! Doch ich durfte über mein Schiff nicht klagen, durfte vielmehr stolz sein. Damals gab es Dampfer, die alle fünf Minuten einmal stehenblieben, man musste immer an der großen Kurbel mitleiern, nachschubsen. Die damalige Unsicherheit der Schiffsmaschinen, während die übrigen Dampfmaschinen doch sonst schon auf solcher Höhe standen, kam daher, weil die Schraube oder Radschaufel doch bei bewegter See manchmal aus dem Wasser schlägt, sie findet keinen Widerstand, deswegen fängt die erleichterte Maschine zu raddern an, und um dies, was die stärkste Maschine bald kaputt macht, zu verhindern, dazu ist eine besondere Steuerung oder Regulierung nötig, über die man damals aber noch vergeblich grübelte. Ein Mann musste immer am Dampfventil stehen, was aber den Zweck nur ganz unvollkommen erfüllt. Man kommt mit dem Abdrehen des Dampfes doch stets zu spät.

Nun, ich hatte über meine Schiffsmaschine nicht zu klagen. Nur einmal schon, damals in der Fucusbank, hatte sie versagt. Und jetzt zum zweiten Male. Und so etwas passiert natürlich stets, wenn es einem am unangenehmsten ist. Das scheint ein Naturgesetz zu sein.

Das Maschinenpersonal suchte die ganze Nacht nach dem Fehler — es konnte sich nur um eine Kleinigkeit handeln — ohne ihn zu finden, ich selber half mit suchen, ohne etwas von einer Maschine zu verstehen, half durch Flüche nach — nützte auch nichts, und dann zog ich es doch vor, lieber auf die Kommandobrücke zu gehen, um nach Feuern auszuspähen.

Wenn mich meine Verfolger jetzt hier aufspürten, das konnte bös werden!

Wir lagen die ganze Nacht, und der Defekt war noch nicht gefunden.

Da endlich, als der Morgen graute, klingelte der Apparat, und es wurde mir durchs Sprachrohr mitgeteilt, dass in einer halben Stunde die Maschine wieder arbeiten würde. Es sei nur eine Kleinigkeit zu reparieren.

Als ich aber diese freudige Mitteilung noch entgegennehme, sehe ich im Osten Masten auftauchen, gleich eine ganze Menge, so dicht zusammen, kommt mir verdächtig vor, dann Rauch, also lauter Dampfer — richtig, es waren die uruguayischen Kriegsschiffe, die vier Dampfer, die weiter nach Westen gesegelt waren und mich zufällig wieder aufgestöbert hatten.

Aber jetzt waren es nicht nur vier, sondern sogar sechs — bis ich an der Flagge erkannte, dass die beiden neu hinzugekommenen Kriegsschiffe argentinische waren.

Was, machte denn Argentinien mit Uruguay gemeinsame Sache? Ich dachte, Brasilien hatte sich mit Uruguay gegen Argentinien verbinden wollen? Hatten die Eisenfeilspäne und die Nägel diesen plötzlichen Gesinnungswechsel herbeigeführt?

Doch es war ganz zwecklos, hierüber nachzugrübeln. Dass die argentinischen Kriegsschiffe mit den uruguayischen in diesem Falle gemeinsame Sache machten, um den vermeintlichen Silberschatz von zwei Millionen zu erbeuten, das war doch ganz offenbar, und ich konnte durch das Fernrohr schon ganz deutlich erkennen, wie man sich dort diabolisch freute, die durchgegangene ›Sturmbraut‹ wiederzusehen, und auf den argentinischen Schiffen freute man sich nicht minder.

Und ich lag hier fest!

»Wie lange dauert es noch?«

»Noch eine kleine halbe Stunde.«

»Zum Teufel, es hat doch schon vor fünf Minuten nur eine halbe Stunde sein sollen!!«, donnerte ich durch das Sprachrohr hinab. Dass es sich da um eine ›große halbe Stunde‹ gehandelt hatte, wagte man mir nicht zu sagen.

Diese halbe Stunde aber, ob groß oder klein, würde gerade hinreichen, um die Kriegsschiffe dicht heranzubringen.

Zehn Minuten vergingen, eine Viertelstunde, die Leute dort drüben waren schon mit bloßen Augen zu erkennen, und jetzt sollte es immer noch zwanzig Minuten dauern!

Meine Verzweiflung lässt sich denken.

Etwas Ostwind kam auf, ein Hauch, ich fing ihn mit jedem Fetzen Leinwand auf — wir bewegten uns mit der Schnelligkeit einer Schnecke — einer galoppierenden Schnecke, will ich sagen.

Fluchen nützte doch nichts, ich fing an zu beten — nämlich, dass dort drüben bei sämtlichen Kriegsschiffen ebenfalls die Maschinenkarren stillstehen, dass sämtliche Kessel platzen möchten. Es war nicht gerade christlich, dieses Gebet, aber menschlich.

Nein, kein Kessel wollte platzen. Und meine Maschine wollte sich noch immer nicht bequemen.

Ich begab mich hinab, bot den Schlossern, welche flickten und schraubten, echte Havannas an, versprach ihnen sonst etwas, wenn das Ding nur endlich wieder zu leiern anfinge!

Der erste Maschinist wollte mir eine lange Rede halten, was der Bertram, ein ganz gemeiner Kohlenzieher, für ein schlauer Kopf sei, er ganz allein habe den Fehler gefunden — sehr uneigennützig von dem Ingenieur, dass er dem die Ehre ließ, dem sie gebührte — aber ich schnauzte den Herrn nicht schlecht an, ihn dahin drückend, wohin er jetzt seine Nase zu stecken habe.

Da endlich, als ich wieder auf der Kommandobrücke auf und ab rannte wie ein verhungerter Löwe, fingen die Schiffsplanken wieder zu zittern an, um gleich abermals zu erstarren.

Doch es war nur ein Probezittern gewesen.

»Alles in Ordnung«, meldete das Sprachrohr, und ich brüllte mein »Volldampf voraus!!!«, hinein, wie ich selten gebrüllt habe, und es wurde weitergezittert, und wie!!

Die sechs Kriegsschiffe waren unterdessen aber auch schon in eine beängstigende Nähe gekommen.

Da ein Kanonenschuss, von einem argentinischen Dampfer kommend, die Anmeldung eines Signals.

»Streich die Segel!!«

Ich blieb einfach die Antwort schuldig.

Wie kam der Argentinier dazu, jetzt diesen Befehl zu geben?

Weil wir uns schon in argentinischem Gewässer befanden! Nun war es aber auch ganz klar, dass die Argentinier mit den Uruguayern zusammenhielten, mit auf die vermeintlichen zwanzig Tonnen Silber pirschten.

Und da kam es auch schon.

»Geben Sie das Silber heraus!«, lautete das nächste Signal. Jetzt ließ ich mich zu einer Entgegnung herbei.

»Ich habe kein Silber.«

»Wenn Sie ein reines Gewissen haben, so geben Sie die Flucht auf«, wurde weiter ausführlich von dem argentinischen Kriegsschiff, welches gleichfalls eine Admiralsflagge führte, signalisiert.

Mein Zorn war wieder erwacht, ich ließ drei Flaggen hissen, welche zusammen ein einziges Wort ergaben:

»Banditen!«

Die Antwort darauf war ein scharfer Schuss, der aber weit über das Ziel hinausging.

Es blieb auch bei diesem einzigen, sie glaubten mich lebendig fangen, mein Schiff als Ersatz für das Silber nehmen zu können, das ich entwendet haben sollte. Was hätte mir da alle Verteidigung genützt?

Mit Banditen und Halunken kann man nicht rechten, da heißt es nur: drei Schritt vom Leibe!

Die Entfernung vermehrte sich wieder schnell.

Ja, wohin aber sollte ich mich wenden? Durchbrechen konnte ich jetzt am Tage nicht mehr; ehe die mich entkommen ließen, nahmen sie mich doch lieber unter Kreuzfeuer, und Buenos Aires war mir nun wie jeder andere Hafen und die ganze Küste Argentiniens verschlossen.

Als Fahrwasser blieb mir nur noch der Paraná offen, von dessen Mündung ich gar nicht so weit entfernt war, und der Paraná ist ein gar mächtiger Strom, nach dem Amazonenstrom und dem Mississippi der wasserreichste Amerikas, noch viel besser schiffbar als der letztere, die größten Kriegsschiffe können bis nach Corrientes hinaufgehen, welches von der Mündung, nur Luftlinie gerechnet, hundertdreißig geografische oder fünfhundertzwanzig englische Seemeilen entfernt liegt.

Da hatte ich noch gute drei Tage Fahrwasser vor mir.

Wenn mir aber nun ein anderes argentinisches Kriegsschiff begegnete?

Nun, dieses konnte wohl noch von nichts wissen, eine solches stromabwärts kommendes Kriegsschiff konnte auch nicht so leicht benachrichtigt werden, Telegrafen gab es hier nicht, und jetzt war gerade die große Überschwemmung gewesen, die niedrigen Pampas waren überschwemmt, da war also auch kein Meldereiter möglich.

Aber wenn ich nun bei Corrientes angekommen war, wo ein Wasserfall mir Halt gebot?

So weit würden meine Kohlen gar nicht reichen, sie gingen bedenklich zu Ende.

Und gerade wegen der Überschwemmung war die Stromfahrt doppelt gefährlich, man konnte ja in die flache Pampas hineindampfen, sitzen bleiben, und nach einigen Tagen lag der Kasten auf dem Trocknen. Woher den Lotsen nehmen, dem man auch unbedingt vertrauen konnte, dass er mich nicht mit Absicht festrennen ließ?

Als ich noch so überlegte, sah ich den Steward aus dem Kajüteneingange kommen, das Präsentierbrett tragend, auf dem er Mr. Tischkoff immer das Frühstück brachte.

An meinen Kommodore hatte ich soeben gedacht, hielt ihn aber wieder einmal im Scheintod liegend, und dann freilich war er nicht zu sprechen.

Doch das Präsentierbrett war leer, das sah fast aus, als habe der Steward einen Abnehmer für seinen Kaffee gefunden.

»Was macht Mr. Tischkoff?«

»Der sitzt wie immer in seiner Kabine und trinkt jetzt Kaffee.«

»Konntest du schon gestern Abend zu ihm hinein?«

»Ja freilich, da habe ich ihm und dem Klabautermann doch das Abendbrot gebracht.«

Richtig, an den Klabautermann hatte ich gar nicht gedacht. Was sollte denn aus dem werden, wenn Tischkoff tagelang im Starrkrampf lag? Passiert war dieser Fall allerdings nicht wieder.

Nun hätte mir der Weg offen gestanden. Aber Tischkoff wollte in seiner Kabine durchaus nicht gestört werden. Ich hätte ihn ja durch den Steward fragen lassen können, ob ich ihn einmal sprechen dürfe, aber der Steward kam erst um zehn Uhr wieder hinein, wenn er das zweite Frühstück brachte. Doch sollte ich in diesem Falle nicht...

Ich machte der Grübelei ein Ende, beschloss, ganz auf eigene Faust zu handeln.

Ich hatte die Kriegsschiffe wieder außer Sicht bekommen, eben weil ich viel schneller war. Und dort vor uns erhoben sich aus dem Wasser einige kleine Inseln. Das war offenbar schon die Mündung des Parana, aber hier gab es kein Ufer mehr, die grasigen Inseln waren nur etwas höhere Stellen der Pampas.

Sollte ich nicht doch lieber versuchen, die Verfolger zu umgehen, anstatt mich auf dieses gefährliche Gebiet treiben zu lassen, wo ich zuletzt doch wie eine Maus in der Falle saß?

Da aber tauchten schon wieder Mastspitzen empor — immer mehr — die sechs Kriegsschiffe saßen mir noch auf den Fersen! Und die hatten ja nichts zu versäumen, die machten einfach eine Übungsfahrt den Strom hinauf, und entweder bekamen die uruguayischen Kriegsschiffe die Erlaubnis, das argentinische Gebiet zu betreten, oder sie konnten ja auch zurückbleiben, die beiden Argentinier genügten vollkommen, um mir den Rückweg zu versperren.

Aber wie nun den Wasserweg finden? Ich hatte mir den Paraná von Fahrzeugen sehr belebt vorgestellt, besonders die Mündung in den La Plata, und nun war gerade hier kein einziges zu entdecken, so weit das Auge auch reichte. Also hatte ich auch keinen Führer, keinen freiwilligen oder unfreiwilligen.

»Massa.«

»Was willst du, Goliath?«

»Sie wollen den Paraná hinauffahren?«

»Ja.«

»Wir sind schon zu weit rechts, dort drüben ist der Strom, die eigentliche Mündung des Paraná.«

Ich folgte mit den Blicken der angedeuteten Richtung, und dann wandte ich mich erstaunt meinem schwarzen Bootsmann zu.

»Woher weißt du das?«

»Ich kenne das Fahrwasser des Paraná.«

»Woher?«, fragte ich mit immer steigendem Staunen, und dieses hatte seinen Höhegrad noch nicht erreicht.

»Ich habe den Paraná anderthalb Jahre befahren, auf einer Privatjacht, als Sklave des Besitzers derselben.«

»Mensch, was in der Welt kennst du eigentlich nicht?!!«

»Ja, ich bin allerdings ziemlich weit herumgekommen, und es ist Zufall, dass ich Ihnen immer gerade mit meinen Erfahrungen dienen kann.«

Es war keine Zeit mehr zum Staunen. Die Kriegsschiffe tauchten schon in ganz bedenklicher Weise über dem Horizonte auf, und nicht lange mehr, so würden auch ihre Kanonen wieder sprechen können.

»Wie weit kennst du den Stromlauf?«

»Bis nach Corrientes, bin aber in einem kleinen Boote noch viel weiter gekommen, fast bis zur Quelle.«

»Auch zur Zeit der Überschwemmung findest du das Fahrwasser?«

»Sogar in der finstersten Nacht. Ich kenne jeden Hügel, der sich aus den überschwemmten Pampas hervorhebt, das sind die Merkzeichen des Lotsen, und jeder Hügel ist noch in meiner Erinnerung, ich brauche nur die schwächsten Umrisse zu erkennen.«

»Dann vorwärts, vorwärts — in den Paraná hinein!!«

Goliath, dieser unvergleichliche Neger, kam mit auf die Kommandobrücke, und bald befand sich die ›Sturmbraut‹ mitten auf dem Paraná.

Zu bemerken, dass wir uns schon auf einem Flusse befanden, war freilich nichts. Der Paraná ist an seiner Mündung in den La Plata fast zwei deutsche Meilen breit, behält diese Breite auch noch lange Zeit bei, und nun kam hier noch die Überschwemmung hinzu, deren Ausdehnung sich gar nicht abschätzen lässt.

Nur dass also hin und wieder flache Inseln emporragen. Aber es ist nicht einmal gesagt, dass dies schon Hügel der Pampas sein müssen. Der Strom selbst besitzt zahllose Inseln, nicht nur an der Mündung, und diese, nur höchst selten mit einigen Bäumen bestanden, unterscheiden sich von den Pampashügeln durch gar nichts.

So lässt sich die Schwierigkeit einer Stromfahrt zur Zeit der Überschwemmung denken.

Für mein Schiff aber hatte diese Stromfahrt, wenn sonst alles gut ablief, noch einen ganz besonderen Vorteil. Drei Tage hier im süßen Wasser, und ich würde gar nicht mehr ins Dock zu gehen brauchen. Denn nichts reinigt einen Schiffsrumpf so gründlich von den anhaftenden kleinen Seemuscheln und vom Seetang, wie frisches Wasser. Die Tiere und Pflanzen des Meeres sterben in dem frischen Wasser und fallen ab. Nur dass diese Art von Reinigung viel zeitraubender ist.

Wir dampften stromauf. Doch eine Strömung war kaum zu bemerken, dafür sorgte eben die sich ausbreitende Überschwemmung. Dann konnten auch die Segel benutzt werden, und bald hatte ich die Kriegsschiffe wieder außer Sicht bekommen.

Nach einer Stunde begegnete uns das erste Fahrzeug, ein großer, rohgebauter Stromkahn, der sich mit der langsamen Strömung abwärts treiben ließ.

Unser mit voller Leinwand segelndes Schiff wurde nicht schlecht von den Kreolen angestaunt. Ich rief sie an, fragte nach Ladung und Ziel.

Von Bajada mit Mais nach Buenos Aires. Dort wurde der ganze Kahn, nur aus zusammengefügten Baumstämmen bestehend, oben in den Urwäldern gefällt, als Feuer- oder Bauholz verkauft.

Dann kam eine ganze Flottille solcher Stromkähne, alle mit Mais befrachtet.

Mir blitzte eine Idee durch den Kopf. Ich sah mich gerettet!

Aber die Ausführung meines kühnen Handstreiches wäre noch etwas verfrüht gewesen.

Und diese Maisschiffe hatte ich auch schon hinter mir. »Goliath, werden wir noch mehreren solcher Maisschiffe begegnen?«

»Sicher. Jetzt ist in den höheren Gebieten gerade die Maisernte gewesen, das können nur die ersten Maiskähne sein, sie werden sich bald massenhaft einstellen.«

»Wie viel fasst so ein Kahn, die ja alle von gleicher Größe zu sein scheinen?«

»Fünfzig bis hundert Tonnen.«

»Und was kostet hier der Mais ungefähr?«

»Der Zentner im Durchschnitt einen Milreis.«

Ich rechnete schnell nach — die Tonne hat zwanzig Zentner — das wären pro Kahn 5000 bis 10 000 Mark — hm, da gehörten allerdings viele solcher Kähne dazu, wenn ich meinen Zweck erreichen wollte.

»Wird sonst nichts von den oberen kultivierten Gegenden nach der Küste ausgeführt?«

»Früchte.«

»Kommen für mich nicht in Betracht.«

»Weizen, getrocknete und gesalzene Häute, Farbhölzer — aber dazu ist jetzt nicht die Zeit.«

Dann freilich musste ich meine Idee vorläufig wieder fallen lassen.

Nach etwa zwei Stunden tauchte ein größeres Schiff auf, und die Aufregung unter meinen Leuten war groß, als die argentinische Kriegsflagge erkannt wurde. Es war eine ganz stattliche Fregatte, die da sorglos mit vollem Dampfe stromabwärts kam.

Nur mir konnte sie keine Besorgnis einflößen, und ich verbot, irgendwelche Aufregung zu zeigen, sich etwa gar an den Geschützen schaffen zu machen, die ich schon vor Einfahren in die Mündung mit Leinwand unauffällig hatte verkleiden lassen.

Auch die Besorgten sahen bald die Grundlosigkeit dazu ein. Dieses Kriegsschiff konnte ja noch von gar nichts wissen.

Kurz ehe wir aneinander vorüberrauschten, hisste es seine Kriegsflagge nach einmaligem Herunterlassen — die Begrüßung und zugleich Aufforderung, unser Signalement abzugeben.

Ich nannte meinen und den Schiffsnamen. Auf der Kommandobrücke große Bewegung.

Unterdessen waren wir in Rufweite gekommen.

»Kapitän Richard Jansen doch nicht selbst dort?«, rief ein Offizier mit vier goldenen Ärmelstreifen.

»Jawohl, hier bin ich selbst!«, rief ich zurück.

»Ich gratuliere!«

»Wozu?«

»Dass Sie glücklich aus Portland entkommen sind.«

Wusste der das auch schon! Aber wenn der noch mehr gewusst hätte?!

»Wohin?«

»Nach Corrientes.«

»Geschäftlich?«

»Ja, habe Bestellung.«

»Haben Sie sicheren Lotsen?«

»Ja.«

»Die zweite Insel vor San Nicolás, die mit dem Kreuzbaum, hat sich etwas nach Osten verschoben, muss hundert Meter weiter umfahren werden!«

»Danke sehr! — Kennst du diese Insel, Goliath?«

»Ja. Sie verändert sich fortwährend.«

»Zwischen Bajada und Rosario treibt eine große schwimmende Insel«, fuhr der Fregattenkapitän in seiner liebenswürdigen Aufklärung über das Fahrwasser fort.

»Danke sehr!«

Da stieg mir der Übermut zu Kopf.

»Herr Kapitän, können Sie mir nicht einige Tonnen Kohlen abgeben?«

Diesmal entstand an Bord meines Schiffes eine Bewegung. Aber im Zaume wusste sich natürlich jeder zu halten.

»Tut mir wirklich leid, kann mich nicht aufhalten, habe Order, mache Parforcejagd. Sind Sie denn nicht mit genügend Kohlen versehen?«

»Ein großer Teil ist mir bei der Übernahme ersoffen.«

Wir mussten uns beeilen, wir sprachen schon rückwärts, kaum durch das Sprachrohr war noch etwas zu verstehen.

»Vor Rosario geht ein Schleppdampfer mit einem Dutzend Kohlenkähnen stromauf, Sie können sie noch vor Abend einholen!«

Ab! Noch ein Abschiedsgruß durch Senken der Flagge, und jedes Schiff war wieder allein.

Jetzt brach ein allgemeines Gelächter aus. Na, wenn die Fregatte mit den anderen Kriegsschiffen zusammentraf, wenn sich dieser Kapitän erzählen ließ! Schade nur, dass er mir nicht auch noch Kohlen abgegeben hatte!

Doch ich sollte noch etwas ganz anderes hier auf dem Paraná erleben!

Es war in der fünften Nachmittagsstunde, als wir uns Rosario näherten, welches durch eine sechzig Meilen lange Eisenbahn mit Córdoba verbunden ist.

Córdoba liegt mitten im Herzen Argentiniens in gebirgiger Gegend, mit seinen 15 000 Einwohnern im Innern Argentiniens die einzige Stadt von Bedeutung, außer in der Umgebung von Buenos Aires hatte Argentinien damals auch weiter keine Eisenbahn — jetzt mag es nicht viel besser sein — und zum Bau einer Eisenbahn durch die Pampas hatten sich die faulen Kreolen deshalb verstiegen, weil das Gebirge von Córdoba die einzige Gegend Argentiniens ist, welche Kohle und sogar Gold liefert.

Aber wenn es heißt, dort und dort wird Gold gefunden und gewonnen, so darf man das nicht gleich überschätzen.

So ist auch ganz Brasilien überreich an Gold. Gold überall, und an sehr vielen Stellen wird es auch gewonnen. Aber seine Verteilung ist so fein, die Gewinnung so schwer und zeitraubend, dass man sich z. B. in Deutschland gar nicht mit der Gewinnung des Goldes befassen würde. Man käme nicht auf seine Kosten. Es ist eben nicht immer so, wie damals in Kalifornien und in Australien und Klondyke, wo man die Goldklumpen nur aus der Erde zu hacken oder gar aufzulesen brauchte. Und wenn heute ein Aktionär von einer afrikanischen Goldmine eine fünfzehnprozentige Dividende bekommt, so ist er schon sehr zufrieden, dann gilt diese Goldmine schon für sehr reich.

In Brasilien ist eine vorteilhafte Goldgewinnung nur durch die spottbilligen Arbeitskräfte möglich, damals durch Sklaven, und dasselbe gilt für die argentinische Goldwäscherei bei Córdoba. Gewinnen Regierung oder Privatunternehmer nur sechs Prozent dabei, so sind sie zufrieden.

Es war also in der fünften Stunde, von Rosario selbst war noch nichts zu sehen, auch der Stromverkehr wurde durchaus nicht lebhafter, als wir in der weiten Wasserwüste eine große Insel erblickten, welche sich von den bisher gesehenen recht vorteilhaft unterschied.

Alles Wald! Und je näher wir kamen, desto undurchdringlicher wurde der Wald.

Wir waren uns nicht lange im unklaren darüber, dass wir die schwimmende Insel vor uns hatten, vor der uns der Kapitän der Fregatte gewarnt.

Die Entstehung solch einer schwimmenden Insel, wie man sie häufig genug in tropischen Zonen auch auf offenem Meere antrifft, ist ganz einfach zu erklären.

Gleich hinter Corrientes, wo der Paraná einen kolossalen Wassersturz macht, beginnt auf dem höher liegenden Gebiet die Region des Urwaldes.

Jeder Sturm entwurzelt Bäume, wirft sie in den Strom, die Zweige der einzelnen Bäume verschlingen sich, auch die kleineren Inseln vereinigen sich, bis ein festes Ganzes entsteht, welches stromabwärts treibt.

Das Wurzelwerk ist so dicht, dass man auf festem Boden zu stehen wähnt, und nun kommt auch noch wirkliches Erdreich hinzu, welches an den Wurzeln der Bäume gehaftet hat, mächtige Erdklumpen, und dann die Schlingpflanzen und das Buschwerk, alles saugt direkt das Wasser in überschüssiger Menge auf — die ungeheure Fruchtbarkeit dieser Zonen — viele Bäume haben von vornherein eine aufrechte Stellung — kurz, so ein schwimmender Baumbruch ist von einer wirklichen, bewaldeten Insel gar nicht zu unterscheiden. Wenn man freilich näher hinkommt, erkennt man das planlose Durcheinander, da gibt es kein Durchdringen, obschon auch Waldblößen vorhanden sein können.

Ja, auf solchen schwimmenden Inseln, mitten im Meere, trifft man häufig Tiere an, Panther, Affen, sehr zahlreich auch Schlangen, welche sich zur Zeit der Sturmkatastrophe auf Bäumen aufgehalten haben. Selbst Antilopen kommen darauf vor.

Im Meere werden diese Inseln vom nächsten Sturme wieder auseinandergerissen, die einzelnen Stämme gehen den Weg allen Treibholzes, bis nach Grönland und Island hinauf, und auch diese schwimmenden Strominseln müssen erst ins offene Meer hinaustreiben, ehe sie von den Elementen für die Schifffahrt unschädlich gemacht werden können, denn zu ihrer Vernichtung reicht keine menschliche Kraft aus.

Sie sind für die Pampasbewohner, welche so sehr an Holzmangel leiden, ganz nutzlos. Aus dieser Umstrickung bekommt man keinen Baumstamm frei.

Man hat versucht, solche schwimmende Inseln auf den Strömen festzuhalten, hat von einer Kultivierung geträumt. Das geht natürlich nicht. Die Gefahr wird durch Hinausschieben nur vergrößert. Wird solch eine Insel von einem mäßigen Winde gefasst, da hält kein Tau, es reißt, und sollten Stahltrossen trotzen, dann geht eben die ganze Insel aus dem Leime, jetzt bedrohen die einzelnen Teile die Schiffe.

Hinaus ins Meer und sie dem mächtigen Wogenschlag überlassen, der hat bald seine Arbeit verrichtet! — —

Und da an dieser Insel, deren Treiben gar nicht zu bemerken war, sahen wir eine kleine, elegante Jacht liegen, welche an den Baumstämmen festgemacht hatte.

An Deck waren außer Matrosen in schmucker Uniform einige Personen, welche den Titel ›Herrschaften‹ verdienten, Herren und auch einige Damen, andere kletterten auf den Baumstämmen und in den Zweigen herum, wir hörten ihr Lachen.

Jetzt verstummte dieses, die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich meinem großen Schiffe zu.

Ich zeigte die Unionsflagge, drüben rannten die Matrosen, und zu unserer Verwunderung ging die argentinische Kriegsflagge hoch.

Was, auch dieses kleine Dingelchen nannte sich ein Kriegsschiff? War jetzt also mein Feind? Na, es gibt ja auch solche Kriegsvergnügungsjachten.

Da ging eine zweite Flagge hoch, eine ganz pompöse, alles goldgestickt in Purpur.

»Die Flagge des argentinischen Präsidenten«, flüsterte Goliath. Dieser Rangflagge gesellte sich eine zweite bei, nicht minder pompös.

»Auch der Präsident von Uruguay befindet sich an Bord!«, flüsterte Goliath wiederum.

... befindet sich an Bord — und da plötzlich stieg es mir wieder einmal so siedendheiß zu Kopfe, so, wie z. B. als ich den Baronet Ralph und die Coliani geohrfeigt hatte, wo ich immer gar nicht weiß, was ich tue, wobei ich aber also gerade äußerlich immer ganz ruhig zu sein scheine.

»Du irrst dich nicht, Goliath?«, fragte ich ganz gemächlich, während sich in meinem Kopfe alles drehte.

»Nein. Das sind die Flaggen der Präsidenten von Uruguay und von Argentinien.«

»Ich brauche nicht erst die Handbücher zu befragen?«

»Nein, Massa.«

»Gut! Schön! Gut! Stopp die Maschine!! Klar den großen Kutter!! Alle Mann antreten vor dem Hauptmast!! — Bootsmann, setzt Revolver mit Munition und Entersäbel in Bereitschaft — ganz unauffällig.«

Wussten meine Jungen, was ich beabsichtigte, dass es plötzlich wie ein Blitz durch alle fuhr, dass aller Augen plötzlich so aufleuchteten?

Sie waren angetreten.

»Dort drüben auf der Jacht befinden sich der Präsident von Argentinien und der Präsident von Uruguay. Wir nehmen beide gefangen. Auch eventuelle Familienmitglieder. Die ganze Gesellschaft. Was sich wehrt, wird überwältigt. Blutvergießen ist natürlich zu vermeiden. Goliath, teile die Matrosen noch besonders ab!«

Mehr, glaube ich, habe ich nicht gesagt. Und wie ich dazu kam, den schwarzen Goliath als meinen nächsten Offizier für diesen Handstreich zu erwählen, weiß ich selbst nicht.

Ich ging noch einmal in meine Kabine, um eine andere Jacke anzuziehen und einen Revolver einzustecken — ganz gemütlich, leise einen Walzer pfeifend, obgleich ich ganz ohne Besinnung war. Doch das stimmt nicht. Im Grunde genommen wusste ich ganz genau, was ich tat. Es ist eben ein mir eigentümlicher Zustand, den ich gar nicht beschreiben kann.

Fertig! Acht Ruderer und noch vier andere Matrosen gingen ins Boot, der zweite Steuermann, der mich gebeten hatte, die Partie mitmachen zu dürfen, Goliath und ich. Die Entersäbel fand ich unter den Duchten wohlversteckt.

»Kann gesehen worden sein, wie sie ins Boot gebracht wurden?«

»Nein, man wird einen Postsack vermutet haben«, entgegnete Goliath, diese schwarze Perle Afrikas.

Fort ging es. Mit wenigen Ruderschlägen waren wir drüben. Die auf der Jacht machten nicht wenig verwunderte Gesichter, als sie uns so plötzlich im Boote ankommen sahen, aber von Misstrauen war nichts zu bemerken — nur verwunderte Neugier.

Beigelegt, Riemen ein, und ich stand auf dem niedrigen Deck, den Revolver in der Hand, hinter mir Goliath und sechs Matrosen mit Entersäbeln in den Fäusten. Diese blanken Waffen waren ja recht überflüssig, aber ich hatte eben mit theatralischem Effekt gerechnet, und ich sollte mich auch nicht geirrt haben.

»Meine Herren und Damen — ich muss Sie gefangen nehmen. Bitte, keinen Widerstand!«


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Na, wie die dastanden! Und diese köstlichen Gesichter!

Der eine, ein älterer Herr, der schwer hören mochte, drehte den Kopf zur Seite, legte die Hand ans Ohr und sagte: »Wua?!«

Dann wich die allgemeine Lähmung.

»Gefangen?!«, erklang es im Chore, gar nicht so erschrocken, mehr zweifelnd.

»Ja, bis ich meinen Zahnstocher wiederhabe.«

Wie ich in diesem Augenblick gerade an meinen silbernen Zahnstocher denken konnte, weiß ich auch nicht. Und doch, es war Grund vorhanden.

Man hatte mir doch bei jenem Handgemenge in dem Kellergewölbe die Jacke vom Leibe gerissen, und da ich keine Weste getragen, hatte ich den silbernen Zahnstocher, an den ich mich nun schon seit vielen Jahren gewöhnt hatte, mit dem ich immer, wenn ich über etwas nachdachte, spielen musste, den ich förmlich als einen Talisman betrachtete, in einem inneren Täschchen stecken gehabt, ebenso wie auch die mir von dem Haaronkel verehrte Schlipsnadel im Futter der Jacke gesteckt hatte.

Ich habe bisher von diesem Verluste noch gar nichts erwähnt. Wie sehr er mich aber schon immer gewurmt hatte, besonders der meines Zahnstochers, das zeigte, wie ich jetzt an diesen zuerst dachte. Mein schöner Zahnstocher, den ich von der schwarzen Küchenfee als Zeichen ihrer unwandelbaren Liebe geschenkt bekommen, den ich auch beim größten Dalles und Bierdurste niemals bei Isaak Cohn hatte versetzen können, obgleich er mir drei Pence dafür geboten — dieser Zahnstocher jetzt in den Händen dieser braunen Spitzbubenbande — weiter fehlte nichts!

Die Überrumpelten mochten dem Worte ›Zahnstocher‹ einen anderen Begriff unterschieben — vielleicht meinte ich ein Schiff, einen Menschen oder sonst etwas, nur nicht solch einen Zahnreinigungsapparat — dass sie gar nicht weiter darauf achteten.

»Herr«, sagte da der eine, sich eine möglichst imponierende Haltung geben wollend, »wissen Sie, wen Sie vor sich haben?«

»Hoffentlich den Präsidenten von Uruguay oder den von Argentinien, und auf diese beiden kommt es mir eben an. Ich werde von argentinischen und uruguayischen Kriegsschiffen verfolgt, man hat mich zum Desperado gemacht...«

Weiter kam ich nicht. Das Wort Desperado hatte genügt. Desperado — ein Verzweifelter — dieses Wort hat in ganz Amerika, nicht nur im spanischen, einen schrecklichen Klang.

Es hat jemand einen anderen getötet. Und auch in Amerika gibt es noch eine Blutrache. Alle Verwandten, alle Freunde schwören, an dem Mörder Wiedervergeltung zu üben. Dieser wird zum Desperado. Er stellt sich außerhalb der Gesetze, gibt durch ein äußeres Abzeichen zu erkennen, gewöhnlich durch eine rote Schleife am Hut, dass er gewillt ist, jeden Menschen sofort niederzuschießen, der in seiner Gegenwart in die Tasche greift, der nur hinter seinen Rücken zu treten versucht; er lässt den Revolver nicht mehr aus der Hand, betritt mit diesem den Laden, hält die Waffe dem Barbier vor, der ihn rasiert.

»Ein Desperado!!«, erklang es jetzt gellend mit schreckensbleichen Mienen.

Ein junger Stutzer ließ einen Revolver blitzen, plötzlich war dieser in meiner Hand, und das Bürschchen lag mit ausgekugeltem Arm am Boden.

Auch einige Matrosen mochten Miene zur Gegenwehr gemacht haben, meine Jungen stürzten sich auf sie, im Nu waren sie überwältigt, gebunden.

»Hände hoch!!!«, donnerte ich, den Revolver vorhaltend, und hinter mir stand Goliath in derselben Stellung.

Alle ohne Ausnahme gehorchten sofort. Auch kein einziger zeigte sich als Mann.

»Was wollen Sie von uns?«, stammelte jener, der mich schon vorhin angeredet hatte.

»Wie heißen Sie?«

»Silva de Borgia.«

»Was für einen Rang bekleiden Sie?«

»Die Präsidentschaft der Republik Uruguay.«

Ich wusste ja nicht einmal, wie die Präsidenten dieser Republiken hießen. Nur das hatte ich bestimmt gewusst, dass sich die beiden an Bord dieser Jacht befanden. Denn wenn derjenige, welcher eine eigene Rangflagge führt, nur mit einem Fuße das Land betritt, so muss auch diese Flagge niedergeholt werden, dann sind die Schiffsplanken nicht mehr durch seinen Fuß geweiht.

»Und wer ist der Präsident von Argentinien?«

Mit erhobenen Händen verriet sich ein anderer durch seine Körperbewegung. Es war hübsch, dass sie so offen waren.

»Ihr Name?«

»Andrada.«

»Well, ich nehme Sie und Ihre Begleiter als Geiseln gefangen, zur Sicherheit meines Schiffes und meiner eigenen Person. Um was es sich handelt, werden Sie in meiner Kajüte erfahren. Denn Sie begeben sich jetzt an Bord meines Schiffes. Bitte, keinen Widerstand, sonst muss ich auch Sie fesseln, so leid es mir täte. Sonst werde ich Sie mit aller gebührenden Hochachtung behandeln, als meine Gastfreunde.«

»Auch die Damen?«, musste der argentinische Präsident, ein schon älterer, sogar schon etwas zitternder Herr, einschalten.

»Wir kommen alle mit«, entschied sofort eine Dame energisch, auch nicht mehr ganz jung, aber mit Puder und Schminke recht hübsch angepinselt, und dann setzte sie noch hinzu: »Mit wem haben wir denn die Ehre?«

»Richard Jansen ist mein Name, Kapitän der ›Sturmbraut‹ von New York.«

Hei, das gab eine Überraschung! Also auch hier war ich schon ›berühmt‹.

»Richard Jansen, der die Lady von Leytenstone beschützte, an Bord seines Schiffes hatte?«, erklang es eifrig im Chore, aber meist waren es weibliche Stimmen, von denen vier zur Verfügung standen.

»Ganz richtig, meine Damen.«

»Der aus dem Zuchthaus von Portland entsprungen ist?«

»Auch das habe ich auf dem Gewissen.«

Zwei weibliche Hände fuhren schnell herunter — na, sogleich wollte ich doch nicht schießen, und Goliath war gegen das zartere Geschlecht glücklicherweise ebenso rücksichtsvoll wie ich — und es waren auch nur zwei Lorgnetten an ellenlangem Stiele, die schnell aus den Gürteln geholt wurden, um mich besser betrachten zu können.

»Hände hoch!!«, kommandierte ich trotzdem.

Nur die eine gehorchte, die andere, die ältere mit der vielen Schminke, nahm die Lorgnette nicht von den Augen.

Und dann nickte sie mir recht freundlich zu.

»Jawohl, wir kommen mit hinüber. Meine Herren, begeben Sie sich ins Boot. Und dass niemand eine Dummheit macht. Geh du voran, Silva.«

Der uruguayische Präsident war es, der als erster gehorsam mit dem linken Fuße antrat, und ich ahnte schon, dass ich in dieser geschminkten Schachtel, jedenfalls die Gattin des alten Herrn, gleich eine mächtige Bundesgenossin gewonnen hatte, welche die Abgabe von Waffen überflüssig machte.

Zugenickt hatte sie mir freundlich, aber ihren Eheherrn und auch die anderen hatte sie mit ihrer energischen Stimme ganz bannig angeschnauzt.

»Du brauchst keine Angst zu haben, Papa«, sagte da noch eine jüngere Dame, ein ganz nettes Mädel, zu dem argentinischen Präsidenten, der noch gar nicht so alt aussah, jetzt nur sehr blass, »dieser Kapitän tut uns nichts, der ist trotzdem ein Cavalleresco.«

Da hatte sie recht — wenn ich auch nicht reiten konnte.

Es waren fünf Herren und vier Damen, welche hinab in das große Boot kletterten, und Goliath, von mir eine Anweisung erhaltend, stieg nach, noch den Revolver in der Hand.

Ich begab mich erst noch einmal ins Innere der Jacht. Wenn ich diese klein genannt, so hatte ich dabei an ein Fahrzeug gedacht, auf welchem man über das hohe Meer fahren kann. Sonst war diese Jacht hier, auf den Namen ›Alhambra‹ getauft, z. B. bedeutend größer als der ›Knipperdolling‹, nur nicht mit solch hoher Takelage; aber neun Personen konnten darin recht gut in einzelnen Kabinen untergebracht werden.

Ich musterte die Kajüte, blickte in einige Kabinen — Donnerwetter, war das hier alles eine Pracht!! Die Einrichtung gab der Jacht der Coliani an nichts nach.

»Wem gehört diese Jacht?«, wandte ich mich an einen Steward, dessen sich einer meiner Jungen schon liebevoll angenommen hatte.

»Dem Herrn Präsidenten Silva de Borgia«, lautete die Antwort.

»Das ist der Präsident von Uruguay?«

»Sehr wohl, Señor.«

»Ja aber, auf der Jacht weht doch die Kriegsflagge von Argentinien.«

»Weil sich die Jacht auf argentinischem Gebiete befindet und der Präsident von Argentinien sie unter seinen persönlichen Schutz genommen hat.«

»Wie kommt es denn, dass sich die beiden Präsidenten zusammen hier befinden?«

»Der Präsident von Uruguay hat mit seiner Familie dem von Argentinien einen Besuch abgestattet.«

»Aus diplomatischen Gründen?«

»Das weiß ich nicht. Sie haben zusammen eine Vergnügungsfahrt auf dem Strome gemacht.«

Mehr konnte mir der Steward nicht sagen, mehr wollte ich von diesem Manne auch gar nicht wissen.

Nur so viel war mir schon klar, dass hier auch gegen Brasilien ein unlauteres Spiel getrieben wurde. Aber ich wollte mich prinzipiell nicht um Politik kümmern. Ich hatte die beiden Präsidenten und diese wertvolle Jacht in meinen Händen, das genügte mir.

Es waren vier Matrosen, ein Steuermann, ein Koch und zwei Stewards, welche ich nach einigen ermahnenden und beruhigenden Worten in die Segelkammer einsperren ließ.

Dann übernahmen einige meiner Jungen die Bedienung der Jacht, welche keine Maschine besaß: Ich wollte sie, wenn sie nicht allein segeln konnte, ins Schlepptau nehmen.

Hierauf begab ich mich selbst ins Boot, es ging meinem Schiffe zu, fünf Minuten später befanden wir uns in der Kajüte desselben.

»Darf ich zunächst um eine nähere Vorstellung bitten?«

Meinem Wunsche wurde gewillfahrt. Die beiden Präsidenten kannte ich nun schon. Der von Uruguay hieß also Borgia, der von Argentinien Andrada, was an den Vokalen leicht zu merken ist. Die drei anderen Herren waren ein argentinischer Admiral und zwei uruguayische Offiziere. Doch brauchen wir nur den Namen des einen zu wissen, die der anderen habe ich selbst nicht in meiner Erinnerung behalten.

Don Cesar Uglio, trotz seiner 24 Jahre schon Oberst in der uruguayischen Armee, war der Fant, der auf mich den Revolver angeschlagen hatte, wofür er jetzt einen verrenkten Arm bejammern musste. Die Hauptsache aber war, dass er mir gleich als der Verlobte der Tochter des argentinischen Präsidenten vorgestellt wurde, welche auf den lieblichen Namen Angelina hörte und auch wirklich ein recht nettes Mädel war, wenn auch wohl nicht gerade, wie ihr Name bedeutete, ein sanfter Engel.

Das galt noch weniger von der anderen weiblichen Hauptperson, von der mit der vielen Schminke, Doña Borgia, welche ganz unverkennbar die große Generalstabshose mit der roten Biese anhatte.

Die beiden anderen Damen waren Freundinnen dieser beiden und kommen nicht weiter in Betracht, wenn sie auch als Frauen oder Töchter angesehener Männer für mich als Sicherheitsgeiseln wertvoll genug waren.

Diese Vorstellung hatte viel weniger Zeit in Anspruch genommen, als ich hier zur schriftlichen Wiedergabe brauche.

Dann renkte ich zunächst dem Don Cesar den ausgekugelten Arm wieder ein. Er hatte schon immer viel mehr gejammert, als sich für einen uruguayischen Obersten geziemt, und ich merkte gleich, dass die Doña Angelina für ihren Bräutigam äußerst wenig Mitgefühl hatte, er schien ihr recht schnuppe zu sein, und das galt auch dann noch, als es einen Knacks gegeben hatte, worauf Don Cesar leichenblass und bewusstlos auf dem Sofa lag.

Ich hatte ihm vorher die Jacke ausgezogen, legte den weißen Mädchenarm des Mannes in eine Schlinge.

»Es hat nichts weiter zu bedeuten, in drei Tagen kann er den Arm wieder gebrauchen«, beruhigte ich die Umstehenden.

»Ach ja, warum denn nicht?«, meinte die liebevolle Braut — weiter nichts.

So niedergeschlagen die vier anderen Herren waren, so lebhaft die vier Damen, die sich mit größtem Interesse unter Zuhilfenahme der Lorgnetten in meiner Kajüte umsahen und mich schon mit Fragen zu bestürmen begannen, alle gleichzeitig. Der einen sollte ich Ausführliches über Lady Leytenstone erzählen, die zweite fragte mich, ob ich in Portland auch Sträflingskleider getragen habe, die dritte wollte wissen, ob diese Klingel wirklich elektrisch sei, und die vierte bat mich um meine Meinung, ob ihr zerbrochener Fächer noch reparierfähig sei.

Dann aber kam doch die Hauptsache zum Durchbruch: weshalb ich eigentlich die Herrschaften gefangengenommen hätte.

Als sie ruhig dasaßen, konnte ich endlich erzählen — von Fregattenkapitän Donato, von seinem Silber, das sich in Eisenfeilspäne und Nägel verwandelt hatte, und was ich sonst noch alles erlebt hatte.

»Unerhört, unerhört!!«, erklang es fortwährend, und mit tausend Worten versicherten sie alle, dass sie vor Schreck und Staunen sprachlos wären.

Darüber, dass dieser famose Fregattenkapitän das Silber habe verschwinden lassen, mich als Sündenbock vorgeschoben habe, waren sie sich ebenso alle sofort einig. Aber einen besonderen Eindruck auf den argentinischen Präsidenten machte die Mitteilung, dass Uruguay bei Brasilien einen Pump angeschlagen hatte, durchaus nicht, das musste er vielmehr schon gewusst haben.

Aber ob er auch schon wusste, dass Uruguay dieses Geld dazu benutzen wollte, um Söldlinge zum Kampfe gegen Argentinien anzuwerben?

Möglich, oder nicht. Ich selbst hatte nichts von dem verlauten lassen, was mir Donato darüber offenbart, und im Übrigen war mir dies alles höchst gleichgültig, ich hatte nur die Sicherheit meines Schiffes im Auge.

Was für Fragen nun alles auf mich einstürmten, kann ich ja gar nicht schildern.

»Wie sind Sie denn aus dem Fort entkommen?«

Ich erzählte von meinem Todessprung, und da wollten die Damen wissen, was ich unterwegs gedacht hätte, als ich so kopfüber in die Tiefe hinabgesaust war.

»Kein Zweifel«, sagte dann, als wieder etwas die Ruhe hergestellt war, Borgia, »Kapitän Donato hat das Silber beiseite gebracht, und zwar in einer Weise, dass er noch Zeit genug hat, um sich selbst gemächlich in Sicherheit bringen zu können. Und gerade Sie mussten das Opfer seiner intriganten Pläne werden.«

»Ich bin aber nicht gewillt«, entgegnete ich, »sein Opfer zu bleiben. Ich sollte für die Überbringung des Silbers 10 000 Milreis erhalten.«

»Von wem?«

»Von der uruguayischen Staatskasse.«

»Wer hat das gesagt?«

»Kapitän Donato. 1000 Milreis zahlte er mir bar aus, auf die anderen 9000 stellte er mir eine Anweisung auf die uruguayische Staatsbank aus.«

»Kein Gedanke...«

»Señor! Es ist so, wie ich sagte!«

»Aber wie kann Ihnen dieser Kapitän denn solch eine Anweisung ausstellen?«

»Das Wie weiß ich nicht — ich weiß nur, dass er es tat.«

»So müssen Sie sich an die Regierung von Brasilien halten.«

»Mitnichten! Sondern an Sie und an Ihre Begleiter werde ich mich halten! Und nun hören Sie meine Bedingungen: Ich verlange von Ihnen meine 9000 Milreis, die ich mir ehrlich verdient habe; zweitens meine Jacke, die mir abgerissen wurde, mit allem, was sich darin befand, unter anderem auch ein silberner Zahnstocher und eine kostbare Schlipsnadel; drittens vollkommene Amnestie, dass ich mit meinem Schiffe unbehelligt wieder aufs offene Meer hinauskomme und mir auch sonst hier nichts nachgetragen wird, und viertens wird der Finanzminister Don Felipe Aquada mich öffentlich um Entschuldigung bitten, dass er mich damals so behandelt hat. Verstanden?«

Es hatte nicht etwa humoristisch geklungen, was ich da gesagt, die Leutchen mochten bemerken, wie mir dabei die Adern auf der Stirn geschwollen waren, sie wurden plötzlich ganz kleinlaut.

»Und wenn nun auf diese Bedingungen nicht eingegangen wird?«, wagte der argentinische Präsident noch einzuschalten.

»Ehe ich mich vor aller Welt blamiere, dass ich mich von solch einem uruguayischen Kreolen so übers Ohr habe hauen lassen — sprenge ich lieber mein ganzes Schiff in die Luft — und Sie natürlich mit!«

Jetzt wurden Schreckensrufe laut.

»Das werden Sie nicht tun!«

»Ich werde es tun, verlassen Sie sich darauf! Sorgen Sie dafür, dass es nicht nötig wird!«

»Was kann denn ich dafür?«, sagte der argentinische Präsident.

»Auch die Kriegsschiffe des Landes, an dessen Spitze Sie stehen, sind hinter mir her. Gerade Sie sind es, der mir Amnestie gewähren muss. Und mir ist überhaupt alles egal, ich bin zum Desperado gemacht worden, und ich halte mich ohne Ansehen der Person an den, den ich gerade in meine Hände bekommen habe. Basta!«

Ratlos blickten sich die Anwesenden an.

»Wir liefern Ihnen als Sicherheit unsere Jacht aus«, sagte die Doña Borgia. »Sie ist wertvoll genug, um die neuntausend Milreis...«

»Diese Ihre Jacht ist jetzt sowieso in meinen Händen«, fiel ich ihr ins Wort. »Aber ich will die Jacht nicht verkaufen, um in Besitz der mir versprochenen neuntausend Milreis zu kommen, sondern ich verlange dieses Geld ordnungsgemäß ausgezahlt, wie die mir abgenommenen, sagen wir gleich geraubten Sachen zurück, sowie Abbitte des Finanzministers. Nun überlegen Sie sich, wie Sie das machen wollen.«

Nach diesen Worten verließ ich die Kajüte, denn ich merkte, dass an Deck etwas Besonderes vorging.

Die Jacht war unterdessen am Heck der ›Sturmbraut‹ angetaut worden, und Mahlsdorf hatte mich eben rufen lassen wollen, um mich auf eine Kahnreihe aufmerksam zu machen, welche stromabwärts kam, aber trotzdem von einem kleinen Dampfer geschleppt.

»Die sind mit Kohlen befrachtet, die wir sehr gut gebrauchen könnten«, meinte Mahlsdorf.

Ja, da hatte er nach beiden Hinsichten recht. Die Flottille war noch weit voraus, aber durch das Fernrohr ließ sich schon erkennen, dass die ersten beiden ungedeckten Kähne Kohlen geladen hatten, jedenfalls in Rosario eingenommen, eben aus jenem argentinischen Bergwerke stammend.

Die drei anderen Stromkähne waren verdeckt, und auf dem Dampfer sahen wir ziemlich viele Soldaten stehen.

Wieder war es Goliath, der uns gleich eine Erklärung für diese argentinischen Soldaten abgeben konnte, und zwar eine ganz überraschende.

»Dann ist dies auch der Dampfer, welcher alljährlich das in Córdoba gewonnene Gold nach Buenos Aires bringt.«

»Kapitän, wenn wir uns dessen bemächtigten!«, fuhr Mahlsdorf gleich auf.

Er war meinem Entschlusse, der sofort gefasst gewesen, nicht zuvorgekommen. Aber ich bin nicht so einer, der die Originalität seiner eigenen Ideen immer verteidigen muss. Ich hatte mir ja schon überlegt gehabt, ob ich mich nicht der Maisschiffe bemächtigen sollte. Gold war natürlich weit besser, und hoffentlich war dort auch genügend vorhanden.

Also ich ließ sofort die beiden Admiralsflaggen herüberbringen und sie am Topmast der ›Sturmbraut‹ hissen, dazu auch gleich die argentinische Kriegsflagge.

Drüben auf den Booten war allgemeine Aufregung. Die Soldaten brachten eiligst ihre Uniformen in Ordnung, was sie auch sehr nötig hatten, da sich die meisten noch in mehr als nur in Hemdärmeln befanden.

Dann suchte ich mir wieder zwölf meiner intelligentesten und entschlossensten Jungen aus, gab ihnen eine kurze Instruktion, und während schon dem Schleppdampfer ein befehlerisches »Stopp!«, zusignalisiert und unser größter Kutter ausgesetzt wurde, begab ich mich mit einigen anderen noch einmal in die Kajüte.

Die Bootsflottille hätte wohl schon von den Bullaugen auf Backbordseite aus gesehen werden können, aber ich bemerkte gleich, dass dies eben noch nicht geschehen war, man hätte auch ganz von der Seite auslugen müssen, und das nächste war, dass meine Matrosen diese Bullaugen mit den eisernen Deckeln verschlossen, die immer vorhanden sein müssen, falls bei schwerem Seegang einmal die starke Glasscheibe bricht und nicht gleich wieder ausgewechselt werden kann. Auf der anderen Seite konnten sie ruhig offen bleiben.

So, es war geschehen. Verständnislos hatten meine unfreiwilligen Passagiere den Matrosen zugeschaut.

»Sie wollen wohl diese Kajüte auch noch in ein finsteres Gefängnis umwandeln?«, fragte mich der eine Präsident.

»Nein, nur auf der einen Seite möchte ich Ihnen die Aussicht versperren. Es kommen uns Kohlenkähne entgegen, geschleppt von einem Dampfer, an dessen Bord sich argentinische Soldaten befinden, woraus wir schließen, dass dieser Dampfer auch das in Córdoba gewonnene Gold nach Buenos Aires bringt...«

Ich kam nicht weiter. Besonders meine männlichen Gefangenen fuhren gleich durcheinander.

»Sie wollen sich doch nicht etwa dieses Goldes bemächtigen?!!«

»Das beabsichtige ich allerdings.«

»Das ist offenbarer Seeraub!«

»Ich bin nur auf meine Sicherheit bedacht und werde das Gold wieder ausliefern, sobald ich meine neuntausend Milreis und meine anderen Sachen zurückerhalte.«

»Dieses in Córdoba gewonnene Gold gehört nicht der argentinischen Republik, sondern einem Privatmann in Uruguay, dem Señor Sylvestre.«

»Ah, was Sie mir nicht mitteilen können!«, rief ich erfreut. »Also Uruguay hätte den Schaden davon? Das ist ja vortrefflich! Eben Uruguay ist es, an das ich mich zu halten habe.«

Die Herren ließen die Köpfe hängen. Wie ich später erfuhr, hatte aber die argentinische Regierung die Sicherung dieses Goldtransportes bis in die uruguayischen Gewässer übernommen, daher auch die argentinischen Soldaten, was mir ja aber nur alles doppelt zustatten kam.

»Herr Kapitän!«, rief das argentinische Staatsoberhaupt dann. »Bedenken Sie, was Sie tun — Sie machen sich durch solch eine Handlung zum vogelfreien Strompiraten!!«

»Ich kann nicht noch vogelfreier werden, als man mich schon unschuldig gemacht hat, und ich werde es tun. Ich werde diesen Dampfer durch Ihre eigene Flagge anhalten und das Gold annektieren.«

»Bravo, das ist noch männlich gehandelt!«, rief da plötzlich die Doña Borgia ganz enthusiastisch, und die anderen Damen stimmten ihr bei, am meisten die argentinische Präsidententochter, die sich beeilte, die andere noch an schmeichelhaften Ausdrücken zu übertreffen.

Ja, ich glaube, wenn einmal die Frauen ganz gleichberechtigt mit den Männern werden, auch an das Ruder der Regierung gelangen können, dann wird für alle edlen Räuberhelden eine goldene Zeit anbrechen.

Doch ich machte mir nicht viel aus so etwas, ich verwarnte die Herren, an Deck zu kommen, zur Vorsicht würde ich sie lieber einmal einschließen, begab mich wieder hinauf und ins Boot.

Der Flaggenbefehl, dass der Dampfer halten sollte, war unterdessen schon gegeben worden. Man hatte gehorcht. In drei Minuten war ich drüben, wo mich acht Soldaten unter einem Leutnant in mehr krummer als strammer Haltung empfingen, das Gewehr bei Fuß, fertig zum Präsentieren.

Niemand von den armen Kerlen wusste ja, was das eigentlich alles bedeuten sollte. Ich hatte ebenfalls Goldstrippen an den Jackenärmeln, aber eine argentinische Kriegsuniform war das nicht.

Doch was sollten sie tun? Auf dem großen Schiffe wehte die argentinische Kriegsflagge, sogar die der beiden Präsidenten, und dann mochten sie auch schon diese Jacht kennen.

Es mit Strompiraten zu tun zu haben, die sich ganz neu etabliert hatten, auf diese Idee konnte jedenfalls niemand kommen. Auf diesem unteren Stromlaufe des Paraná hat auch schon früher die Piraterie niemals floriert. Es fehlt hier an Nebenflüssen und an allen anderen Verstecken, welcher Piraten unumgänglich zu ihrer Existenz bedürfen.

Ich stand vor ihnen, hinter mir acht meiner Jungen, diesmal nicht mit Entersäbeln bewaffnet, nicht einmal den Revolver offen tragend.

»Wer führt das Kommando?«

Der junge Offizier, fast ein Knabe noch, präsentierte den Säbel.

»Ihr Name?«

»Leutnant Raphaelo.«

»Im Namen der Regierung der argentinischen Republik: Sie sind verhaftet! Geben Sie mir Ihren Degen.«

Der uniformierte Jüngling erblasste bis in die Lippen. Der arme Kerl tat mir wirklich leid. Eigentlich wäre mir fast lieber gewesen, wenn er mit dem Säbel schnell einen Stoß nach mir geführt hätte, und ich war schon auf so etwas vorbereitet, mein Stiefel stand schon in Positur.

Aber es war nicht nötig, er gehorchte, hatte mit einem eleganten Schwung den Degen unten an der Klinge gefasst und überreichte mir den Griff.

»Weswegen... ?«, brachte er nur mühsam dabei heraus.

»Danach haben Sie gar nicht zu fragen, das werden Sie schon erfahren!«, musste ich den armen Jüngling noch anschnauzen, während ich den Degen nahm und ihn hinter mir weitergab.

»Setzt die Gewehre zusammen!!«, war mein nächstes Kommando.

Es war auf spanisch falsch gegeben worden, aber die Hauptsache war, dass die gänzlich düpierten Soldaten gehorchten, und es hätte ihnen auch gar nichts genützt, meine Jungen nahmen ihnen die Schießprügel noch aus den Händen weg.

»Sie führen einen Goldtransport?«, fragte ich den Leutnant weiter.

»Ja, Señor... Señor...«

Er wollte gern meinen Namen und Rang wissen, aber ich ließ mich nicht auf solche Kleinigkeiten ein.

»Wie viel?«

»Zweiunddreißig Säcke.«

»Wie viel wiegt ein Sack?«

»Immer einen Zentner.«

»Reines Gold?«

»Reiner Goldstaub.«

Zweiunddreißig Zentner — das entspricht einem Werte von drei Millionen zweimal hunderttausend Mark — na, das ließ sich hören, da lohnte sich der Fang. Für ein Goldbergwerk, in dem ein ganzes Jahr lang gepaddelt und gewaschen wird, hat das freilich nicht viel zu sagen. Und wie ich dann hörte, hatte Señor Sylvestre nach Abzug aller Unkosten auch kaum hunderttausend Mark daran verdient. Bei mir lag die Sache natürlich anders.

»Wo befinden sich diese Goldsäcke?«

»In einer Kabine des Zwischendecks.«

»Führen Sie mich hin!«

»Ich habe nicht den Schlüssel dazu.«

»Wer hat diesen sonst?«

In diesem Augenblick trat mir ein Hindernis entgegen in Gestalt eines besser gekleideten Mannes mit großem Strohhut, einer so blassgelb wie der andere.

»Herr, mit welchem Rechte fordern Sie dieses Gold, welches einem uruguayischen Privatmanne gehört?«

In diesem Augenblick ward mir auch klar, was jetzt auf dem Spiele stand. Wenn sich dieser Strohhutmann nicht biegen lassen wollte, dann... musste er brechen! Denn ich war nicht geneigt, jetzt wieder einen Schritt zurückzu treten oder gar kurz vor dem Ziele umzukehren. Dann würde wahrscheinlich Blut fließen — und ich war entschlossen zu allem.

»Wer sind Sie?«, fragte ich zunächst in genügend schroffem Tone.

»Der Bevollmächtigte von Señor Sylvestre, welcher das Bergwerk von...«

»Blicken Sie gefälligst dorthin.«

Der Strohhut folgte meiner ausgestreckten Hand.

»Was sehen Sie dort?«

»Die argentinische Kriegsflagge und die...«

»Na also! Sie haben einfach zu gehorchen, die Regierung von Argentinien wird sich schon zu verantworten wissen. Und nun heraus mit dem Schlüssel!«

»Der Präsident von Uruguay ist selbst an Bord dieses...«

»Heraus mit dem Schlüssel!!«, donnerte ich ihn an. »Oder Sie werden gleich erfahren, wen Sie eigentlich vor sich haben!!«

Bei Gott, der Strohhut ließ sich einschüchtern! Und wohl ihm, dass er es tat! Denn wie gesagt, jetzt hätte ich vor dem blutigsten Kampfe mit all diesen braunen Bootsleuten nicht mehr zurückgeschreckt, und da wäre es diesen Kreolen natürlich eklig gegangen.


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Aber der Strohhut griff mit der Hand gehorsam in seine hintere Hosentasche, wandte sich gehorsam dem Kajüteneingange zu, ich folgte ihm mit Goliath und zwei anderen Matrosen, und wir standen in einer kleinen Kabine vor den zweiunddreißig Säckchen, die wegen ihres bedeutenden Gewichtes gleichmäßig an den Seiten des Dampfers verteilt waren.

Die Ledersäckchen waren gar nicht so groß, dennoch wog jedes einen Zentner, und obgleich mir schon das eine Garantie bot, dass es nur Gold sein könne, traute ich dem Braten doch nicht, die Eisenfeilspäne steckten mir noch gar zu sehr in der Nase, und Quecksilber dürfte ungefähr das gleiche Gewicht wie Gold haben, fühlten sich die Säckchen doch auch so weich oder doch nachgiebig an.

Also ich erbrach ohne weiteres die Plomben, ein Ledersack nach dem anderen wurde geöffnet. Auch wieder so ein Pulver, nur ein gelbes.

»He, wenn dat all wedder Messingfeilspeeehn sünt«, meinte da der dämliche Fritze, den ich versehentlich mit in diese Kammer genommen hatte, in seinem schönsten ostfriesischen Platt, wofür er gleich eins ›up sien Snut‹ verdient hätte; denn der musste jetzt doch einen stolzen Spanier vorstellen.

Doch der Strohhut war ob meines resoluten Vorgehens, dass ich so einfach die geheiligten Plomben aufriss, dermaßen konsterniert, dass er gar nicht darauf achtete; er hatte dieses feine Deutsch ja auch gar nicht verstanden, und außerdem sprach ja ich selbst nur ein mangelhaftes Spanisch, mindestens mit ganz fremdem Akzent.

Die Lederbeutel wurden wieder zugeschnürt, in fünf Minuten waren sie drüben an Bord meines Schiffes.

Dann forderte ich Kohlen, fragte nach dem Preise — die Tonne vierzehn Schilling — und die Übernahme mittelst Winden erfolgte, was besonders deshalb sehr schnell vonstatten ging, weil sich die Steinkohlen schon in Doppelzentnern in Bastsäcken befanden, die nur eingehakt zu werden brauchten.

Als die fünfzigste Tonne übergenommen war, musste ich Halt gebieten. In der Ferne tauchten wieder die Mastspitzen und Rauchwolken der mir folgenden Kriegsschiffe auf.

Der Kapitän des Schleppdampfers war höchlichst erstaunt, als ich ihm diese fünfzig Tonnen Kohlen mit gutem brasilianischen Gelde bezahlte. Eigentlich hatte er ja gar keinen Grund zum Staunen. Ich war für ihn doch kein Seeräuber, wurde noch immer als irgendein Vertreter der argentinischen Regierung mit unumschränkter Vollmacht betrachtet. Aber diese Kreolen schienen schon an solche Furagierungen von Regierungsbeamten gewöhnt zu sein.

Und dann ging es wieder stromabwärts, keck den Kriegsschiffen entgegen. Denn mein Entschluss war gefasst, jetzt musste der Komödie ein Ende gemacht werden.

Den Schluss derselben, wenn er sich auch mehrere Tage hinausschob, fasse ich, da sich dabei keine bemerkenswerten Szenen ereigneten, kurz zusammen.

Die Sonne näherte sich dem Horizonte, als ich mich mitten zwischen der Kriegsflotte befand, jetzt bestehend aus vier Argentiniern und zwei Uruguayern.

Was für eine Aufregung auf diesen Schiffen herrschte, als sie die verfolgte ›Sturmbraut‹ erblickten, stolz mit der argentinischen Kriegsflagge und den Flaggen der beiden Präsidenten, kann ich gar nicht beschreiben.

Außerdem hatte ich mich nun auch mit meinen unfreiwilligen Gastfreunden viel gemütlicher auseinandergesetzt, hatte die fünf Herren und vier Damen, nachdem ich sie reichlich gefüttert, gebeten, an Deck zu kommen, und wir waren den Kriegsschiffen so nahe, dass jede Person mit bloßen Augen deutlich zu erkennen war, jeder Gesichtszug.

Ja, was sollten die Kriegsschiffe denn machen? Sie konnten doch nicht auf das Schiff schießen, auf dem sich ihre Landesoberhäupter mit Frauen und Kindern befanden?

Ich ließ mich auf eine Flaggenunterhaltung ein, meine Präsidenten selbst befahlen ihren gepanzerten Untertanen, mich ruhig durchzulassen, und der uruguayische Admiral war sogar behilflich, die bunten Lappen anzuknüpfen.

Dann hatten wir die Kriegsschiffe schon wieder weit hinter uns, mit Anbruch der Nacht war auch kein Licht mehr von ihnen zu sehen.

Die Nacht war hell genug, wenigstens für Goliaths Augen, um das Fahrwasser zu erkennen, am frühen Morgen steuerte ich in den La Plata ein, und am Nachmittage desselben Tages lag ich, ohne von einem Kriegsschiff behindert worden zu sein, auf der Reede von Montevideo, also noch außerhalb der Bucht, welche den Hafen bildet, und zwar hatte ich mir eine Stelle ausgemacht, wo die Anker noch Grund fanden, wo es aber gleich daneben grundlos tief hinabging.

Was man auf dem Fort und in ganz Montevideo dachte, als man die durchgebrannte ›Sturmbraut‹ wiedersah, stolz mit der Kriegsflagge und den Flaggen der Präsidenten der beiden Nachbarstaaten, hätte ich auch wissen mögen. Durch das Fernrohr ließ sich nur beobachten, dass es in der Stadt wie in einem Ameisenhaufen zuging.

Es sollte sofort ein Abgesandter abgehen; als solcher bot sich der junge Oberst an. Präsident Borgia setzte ein langes Schreiben auf, in dem er die ganze Affäre schilderte, den Finanzminister der größten Dummheit bezichtigte, mich für einen tadellosen Ehrenmann erklärte, usw.

Dieses Schreiben wurde von allen anderen Herren und Damen unterschrieben, desgleichen von einigen der Matrosen, die ich auf der Jacht, welche ich natürlich noch immer im Schlepptau führte, interniert hatte.

Dann folgten meine eigenen Bedingungen, unter welchen ich meine Gefangenen und die erbeuteten zweiunddreißig Zentner Gold wieder herausgeben wolle.

Als erstes Auszahlung der 9000 Milreis in barem Gelde (ob ich diese von Brasilien oder von sonst wem zu fordern hätte, sei mir ganz gleichgültig, ich hielte mich jetzt an die Regierung von Uruguay). Zweitens Wiederherausgabe meiner Jacke mit allem, was darin gewesen, hauptsächlich dem silbernen Zahnstocher und der Brillantnadel. Auf eine Abbitte des Finanzministers wolle ich verzichten, an der sei mir gar nichts gelegen, desgleichen verlange ich keinen Schadenersatz für die bisher verwendete Zeit, dagegen fordere ich für jede Stunde, die ich hier nach Absendung dieser Bedingungen noch untätig liegen müsse, zwanzig Milreis. Also beeilen!! Und viertens seitens der Regierung von Uruguay sowohl wie von Argentinien eine Erteilung der vollkommenen Amnestie für mich und meine ganze Mannschaft, das heißt, eine schriftliche, unanfechtbare Erklärung der beiden Regierungen, dass wir nicht jetzt noch jemals für diese unsere Handlungen bestraft oder irgendwie zur Rechenschaft gezogen werden können.

Drei Tage wollte ich hier auf die Entscheidung warten. Nach Ablauf dieser Frist würde ich die Anker lichten und ins offene Meer segeln, mit Gefangenen und Goldschatz. Ich ließe es auf jeden Kampf ankommen. Aber ehe ich mich und mein Schiff auslieferte, würde ich es in die Luft sprengen, samt allen darauf Befindlichen, und natürlich würde ich dafür sorgen, dass dies an einer Stelle geschehe, wo dem mitgesunkenen Golde nicht mehr beizukommen wäre. Ebenso würde ich schon jetzt über jedes Fahrzeug schießen, welches sich mit mehr als vier Mann Besatzung meinem Schiffe über hundert Meter zu nähern versuche. Also Vorsicht!!

»Man hat mich, der ich ganz unschuldig bin, durch Unvernunft zum Desperado gemacht, und so bin ich auch gewillt, wenn es sein muss, als solcher zugrunde zu gehen. Alles Blut komme über die, welche dies verschuldet haben. Richard Jansen, Kapitän und Eigentümer der ›Sturmbraut‹.«

Der Oberst, der seinen Arm schon wieder gebrauchen konnte, ging mit den beiden Schreiben ab. Um nicht erst meine Jungen in Gefahr zu bringen, dass jene etwa Gegengeiseln bekamen, hatte ich ein Fischerboot herbeigerufen.

So, nun mussten wir erst einmal auf die Antwort warten. Und wenn diese nun nicht in Gestalt eines Schreibens, sondern in einer Granate kam, dort oben vom Fort oder von einem Kriegsschiffe?

Mir war das eigentlich höchst gleichgültig, ebenso dachten meine Leute — das war ein lustiger, frischer, fröhlicher Krieg, nichts weiter — und von meinen Gefangenen nahmen die Damen die Sache viel leichter als die Herren.

»Sie müssen, sie müssen darauf eingehen!!«, konnten diese letzteren zum Selbsttrost nicht oft genug wiederholen. »Das Lösegeld wird einfach aus meiner Privatschatulle bezahlt, das ist doch eine Kleinigkeit!«

Ja, so dachte auch ich. Diese südamerikanischen Republiken sind wohl alle arm wie die Kirchenmäuse, das heißt, es sind keine Staatsgelder vorhanden, desto mehr Staatsschulden; aber schwerreiche Leute gibt es dort unten massenhaft, auch direkte Bürger dieser armen Republiken. So ist bekannt, dass in Mexiko ein Minenbesitzer lebt, der, wenn er seine ausgeliehenen Hypothekengelder kündigt, den ganzen Staat Mexiko pleite macht, und solche Krösusse gibt es dort unten noch in Menge. Wer dort Präsident werden will, muss überhaupt schweres Geld haben.

Wenn ich noch nicht an dieser Jacht erkannt hatte, was für ein reicher Knopp der Präsident von Uruguay war, so hörte ich es jetzt; der konnte ein paar Millionen mit der linken Hand zahlen, und dasselbe galt für das argentinische Landesoberhaupt.

Also das mit den 9000 Milreis war eine lächerliche Kleinigkeit. Ungewisser schon stand es mit meiner Schlipsnadel und mit meinem Zahnstocher, die konnten vielleicht schon einen Liebhaber gefunden haben, abhanden gekommen sein.

Aber wie es mit der Amnestieerteilung wurde, das wusste ich selbst nicht recht. Das war doch eigentlich für die beiden Republiken, deren Bürger lauter Nachkommen von edlen Hidalgos waren, eine fürchterliche Blamage! Kommt da so ein Seezigeuner hergelaufen, nimmt zwei Landesoberhäupter gefangen, raubt das in einem ganzen Jahre mühsam gewonnene Gold, und dann soll man ihn auch noch um Entschuldigung bitten!

Nun, es würde sich ja zeigen, wie es kam. Ich war jedenfalls auf alles gefasst.

Wie gesagt, die vier Damen zweifelten viel weniger, sie hielten es eben gar nicht für möglich, dass man sie so schmählich in Stich lassen, sie etwa gar dem Tode überliefern könnte, und deshalb waren sie auch immer ganz fideler Laune. Das war einmal ein Abenteuerchen nach ihrem Geschmack.

Sie klapperten mit den Fächern und klapperten mit den Augen und stellten bei jeder Gelegenheit tausend Fragen an mich über Lady Leytenstone und anderes; ich hätte Tag und Nacht erzählen können.

Was sie sonst mit mir vor hatten, das war ja klar genug. Na, ich will nur sagen, dass ich mich während dieser Tage ganz gut amüsiert habe. Nur dass die Doña Borgia, was die Gattin von dem uruguayischen Präsidenten war, schon etwas reichlich Jahre auf dem Buckel hatte. Aber es ging noch gerade so, und wenn sie sich angepinselt und angeschmiert hatte — die Damen hatten an Bord der Jacht reichlich Toilette mitgenommen, ich selbst schmauste mit von dem delikaten Proviant, soweit er konserviert war — dann sah sie auch noch ganz gut aus.

Und was die Tochter des argentinischen Präsidenten anbetrifft, die Donna Angelina Andrada, so scherte die sich den Teufel um ihren Bräutigam, und der hatte es ja auch eilig genug gehabt, als Vermittler von meinem Schiffe herunterzukommen, sollte auch gar nicht wieder erscheinen.

Dabei war hier von einer Verletzung der heiligen Gastfreundschaft gar keine Rede; ich missbrauchte meine Macht durchaus nicht, war in diesem Falle kein Räuber; denn was einem freiwillig angeboten und geschenkt wird, kann man doch nicht rauben. Und dass keine Eifersuchtsszenen stattfanden, dafür wusste ich zu sorgen.

Also der junge Oberst mit dem verrenkten Arm, Angelinas Bräutigam, den sie dann auch später glücklich heiratete, kam nicht wieder. Dafür wurde uns alsbald vom Fort aus zusignalisiert, wegen der schon anbrechenden Nacht mit farbigen Lichtern, dass bereits ein Boot mit einem Parlamentär unterwegs sei, ob wir ihm und seinen Begleitern Sicherheit gewähren würden.

Na selbstverständlich! Dass die überhaupt nicht nur gleich einen Parlamentär schickten, an mich, den Räuber und Desperado, sondern auch diesen Namen durch die Signalsprache ausdrückten, das freute mich sehr.

Das Boot kam, brachte drei Herren mit. Der eine davon, wohl so ein Regierungssekretär, machte den Sprecher. Die Unterhaltung fand in der Kajüte statt, in Gegenwart meiner Gefangenen.

Ich solle doch um Gottes willen bedenken, was ich da täte.

Ich hätte schon alles reichlich erwogen, lautete meine Entgegnung.

Gut, die neuntausend Milreis solle ich ja sofort erhalten, Zahnstocher, Schlipsnadel und Jacke zurück, natürlich müsse ich auch das Gold wieder abliefern, dann solle mich der Finanzminister auch kniefällig um Verzeihung bitten, ich solle auch vollkommene Amnestie erhalten, aber... aber...

Der Sekretär fing an zu stocken.

»Was aber?«

»Aber von der Republik Argentinien können Sie solch eine Amnestie nicht verlangen.«

»Und darauf bestehe ich gerade.«

»Argentinien wird sich nicht darauf einlassen.«

»Dann bekommt es seinen Landesvater nicht wieder.«

»Das ist ein Präsident, und bedenken Sie, dass dessen Präsidentschaft noch dieses Jahr abläuft.«

»Aber nicht die Anwartschaft auf sein Vermögen. In dieser Beziehung wird er mir als Geisel dienen.«

»Nun gut«, lenkte der Sekretär abermals ein, und ich merkte schon, dass er noch etwas ganz Besonderes auf dem Rohre hatte. »Aber dann müssen Sie uns wenigstens die Garantie geben, dass die Vereinigten Staaten sich nicht wieder mit diesem unangenehmen Falle beschäftigen werden.«

Aha, jetzt kam es! Ich hatte schon immer daran gedacht.

Ich selbst war ja allerdings auch mit der schuldige Teil, ich hatte weit über meine Kapitänsvollmacht zur Selbsthilfe gegriffen, das internationale Seegericht würde auch mich verurteilen — das Kapitänspatent konnte man mir deswegen freilich noch lange nicht nehmen — aber die Hauptschuld würde doch der verantwortlichen Regierung von Uruguay zugemessen werden, und solch eine Verletzung des Sternenbanners ließ sich die nordamerikanische Union nicht gefallen, am allerwenigsten damals, als die Union gerade mit der sogenannten Monroedoktrin anfing, Amerika den Amerikanern, d. h., ganz Amerika den Nordamerikanern, den Yankees, das Sternenbanner müsse auf der westlichen Hälfte der Erdkugel vom Nord- bis zum Südkap wehen.

Ferner waren es auch argentinische Kriegsschiffe gewesen, die mich verfolgt, mich zum Strompiraten gemacht hatten.

»Ich kann Ihnen nur die Versicherung geben, dass ich nicht klagbar werden will — weiter nichts.«

»Nun gut«, druckste der Sprecher wieder. »Aber da müssen wir erst mit Argentinien unterhandeln, und darüber vergehen noch einige Tage.«

»Ich will ja noch drei Tage hier liegen bleiben.«

»Und wenn bis dahin die Sache nicht erledigt sein kann?«

»Dann werden wir uns schon weiter einigen. Nur dass jede Stunde zwanzig Milreis Wartegeld kostet.«

Die Parlamentäre rückten wieder ab; ich durfte mich schon als Sieger fühlen.

Solche Parlamentäre kamen täglich, aber es war nichts weiter, als dass sie immer noch um etwas Aufschub baten. Am fünften Tage erhielt ich richtig meine neuntausend Milreis, meinen silbernen Zahnstocher, die Schlipsnadel und zwei prachtvoll ausgestattete Urkunden, in denen mich sowohl die Regierung von Uruguay wie die von Argentinien in aller Förmlichkeit um Entschuldigung baten, hiermit sei alles vergeben und vergessen, und außerdem erhielt ich rund 2400 Milreis Wartegeld.

Kann der Mensch mehr verlangen? Ich konnte sogar triumphieren.

Natürlich lieferte ich sofort die zweiunddreißig Goldsäcke aus, und nachdem ich von meinen unfreiwilligen Gästen den herzlichsten Abschied genommen, lichtete ich die Anker und erreichte unbehelligt das offene Meer.

Ich ging nicht so bald wieder an Land, bekam keine Zeitung zu sehen, und so erfuhr ich auch erst weit später, was für einen allgemeinen Eindruck dieses mein Abenteuer in Montevideo und auf dem La Plata in der Welt erzeugt hat.

Nun, die ganze Welt hat über diesen Putsch eines deutschen Handelskapitäns gelacht, und am meisten tat man es in Nordamerika. Uruguay und Argentinien waren für lange Zeit die Blamierten, die für den Spott nicht zu sorgen brauchten, und ich selbst war der Held des Tages.

Schon vierzehn Tage später wurde diese ganze Geschichte auf einer New Yorker Theaterbühne dem Publikum anschaulich vorgeführt, mit Schiffen und allem, was dazu gehörte, wie ich die beiden Präsidenten gefangen nahm, wie ich dann die Goldsäcke annektierte und so weiter, und natürlich nicht zu vergessen die Kampfesszene im Kellergewölbe des Finanzministers, und dann hauptsächlich mein Todessprung von dem hohen Felsen ins Meer hinab, der große Clou in diesem Theaterstück.

Ja, der Direktor dieses großen Theaters hatte sogar emsiglich nach mir geforscht, um mich für dieses Stück zu engagieren, ich sollte in höchsteigener Person mitwirken, natürlich die Hauptrolle spielen, gegen ein ganz erkleckliches Honorar. Schon allein für den Jump, den ich von einem hölzerner Felsen in einen Wasserbottich machte, sollte ich pro Abend hundert Dollar bekommen, und für den Fall, dass ich mir in dem Bottich, welcher das Wasser repräsentierte, eine Rippe oder sonst etwas brach, hätte ich zehntausend Dollar erhalten, und mein zerschmetterter Kopf war das dreifache wert.

Doch, wie gesagt, dies alles erfuhr ich erst ein halbes Jahr später, als es schon nichts Neues mehr war. So hörte ich auch erst später, dass man zuerst den jungen Leutnant und seine Soldaten, wie auch den Schlepperkapitän und noch andere, wie natürlich auch den Finanzminister, für den Schaden oder vielmehr für die Blamage verantwortlich machen wollte, doch man war klug genug, es lieber nicht zu tun, sondern die Sache möglichst schnell für alle Ewigkeit zu begraben.

Was nun der Austausch des Silbers mit Eisenfeilspänen betrifft, so war tatsächlich Fregattenkapitän Donato der alleinige Sünder.

Er wurde dafür von Brasilien aus verfolgt; man erwischte ihn, als er sich von einem nordamerikanischen Hafen nach Frankreich einschiffen wollte, sämtliches Silber wurde ihm wieder abgenommen.

Alle übrigen Einzelheiten, auch wie sich dann noch Brasilien mit Uruguay geeinigt hat, erfuhr ich nicht, habe mich niemals wieder darum gekümmert, ich hatte ganz anderes im Kopfe.

— • —

59. Kapitel
Dinge, die ich nicht begreife

Originalseiten II.583 — 615

Ich blickte im Morgensonnenscheine zurück, sah die Küste des südamerikanischen Festlandes verschwinden, und ich fühlte mich ebenso stolz wie behaglich — stolz, weil diesmal ich es gewesen war, der sogar gleich zwei anerkannte Republiken übers Ohr gehauen hatte, und behaglich, weil ich in meinem Panzerschranke etwa 23 000 Taler liegen hatte, ehrlich verdient, und das ist ein Kapital, mit dem ein selbstständiger Kapitän schon etwas ganz Tüchtiges anfangen kann.

Was für eine Ladung sollte ich nun...

Ja, war mir nicht gesagt worden, ich sollte mich nicht mehr mit Baumwolle und Kohle...

»Herr Kapitän!«

Ich blickte den vor mir Stehenden zuerst ganz fassungslos an. Es war Mr. Tischkoff — ich hatte in den acht Tagen, solange die ganze Geschichte gewährt hatte, von dem Augenblicke an, da er mir gesagt, nun solle ich mich allein herausfitzen — wo er plötzlich wieder so blass und starr geworden und von mir gegangen war — in diesen acht Tagen hatte ich meinen Passagier, oder vielmehr meinen Kommodore, rein vergessen gehabt!

Er war niemals zum Vorschein gekommen, ich war ihm sonst nie begegnet, ich hatte den Steward nicht mit dem Präsentierbrett gehen sehen, und dann war in diesen Tagen so vieles auf mich eingestürmt, endlich die fortwährende Bändelei mit den vier Frauenzimmern... kurz und gut, mein Kommodore war mir ganz aus dem Gedächtnis verschwunden gewesen.

Lange dauerte meine Bestürzung natürlich nicht. Gerade dieses Verhältnis wünschte er ja auch — einer für den anderen Luft — bis einmal eine Gelegenheit kam, aus der Versenkung aufzutauchen.

»Wie geht es Ihnen, Mr. Tischkoff?«

»Wie soll es mir gehen?«, lautete die Gegenfrage ganz freundlich. »Mir geht es immer gut, ich werde nie krank.«

Na, dann war es ja gut. Er sah auch trotz seiner tausend Fältchen so frisch wie immer aus — wenn er nicht seinen Anfall bekam.

»Ich hoffe, Mr. Tischkoff, Sie haben sich nicht über eine Nachlässigkeit des Stewards zu beklagen.«

»Ganz im Gegenteil, ich selbst habe als Kapitän an Bord meines Schiffes niemals einen aufmerksameren Steward gehabt. Wohin segeln Sie jetzt?«

Ob der sich denn gar nicht dafür interessierte, wie die Geschichte abgelaufen war? Oder ob er wusste, was unterdessen alles passiert war? Aber von wem? Dass er den Steward gefragt hatte, war ganz ausgeschlossen.

Never mind — erhaben über alles.

»Wie Sie befehlen.«

Eine kleine Wolke des Unmuts in dem faltigen Gesicht, die aber schnell wieder vorüberging.

»Sie wissen doch, ich habe Ihnen nichts zu befehlen«, erklang es dann ganz freundlich, »Sie sollen selbstständig sein, nur zur Hilfe kommen möchte ich Ihnen immer etwas. Sind Sie bisher zufrieden gewesen mit meiner allerdings ganz indirekten Leitung?«

»Und wie!«, rief ich begeistert.

»Nun also — haben Sie schon ein neues Ziel im Auge?«

»Nein.«

»Sie wissen noch gar nicht, wohin Sie jetzt segeln wollen?«

»Absolut nicht. Nur erst einmal die Küste Amerikas aus den Augen bekommen. Sonst ist mir der Nordpol ebenso lieb wie der Südpol.«

»Haben Sie inzwischen eine Ladung genommen?«

Er schien faktisch nichts zu wissen.

»Nein.«

»Immer noch Wasserballast?«

»Jawohl.«

»Haben Sie noch Proviant?«

»Proviant für drei Monate, Trinkwasser für einen.«

»Und Kohlen?«

»Noch sechzig Tonnen.«

»Hm«, meinte er nachdenklich, »das würde gerade genügen. Außerdem wird der Nordostwind jetzt sehr lange so stehen bleiben. Würden Sie mir zu Gefallen einmal an der Ostküste Amerikas entlang segeln?«

»Aber gewiss doch, wie Sie befehlen... oder wünschen.«

»Eventuell bis nach Kap Hoorn?«

»So weit Sie wollen.«

»Bitte!«

Sprach's, wandte sich und verschwand in seiner Kabine.

Ich ließ die Feuer ausgehen, Segel setzen und richtete den Schiffsschnabel nach Süden. Dann hatte ich einige Stunden mit meinen beiden Offizieren über Seekarten zu studieren, um die allgemeinen Wasserverhältnisse längs der Küste kennen zu lernen. Nähere Instruktionen, wohin er wollte, hatte Tischkoff noch zu geben. »An der Ostküste Amerikas entlang nach Süden«, hatte er vorläufig nur gesagt, und das genügte einstweilen.

Da erblickte ich den Steward, der mit dem Präsentierbrett über Deck ging. Er hatte das zweite Frühstück gebracht.

»Was macht eigentlich der Klabautermann?«, hielt ich ihn einmal auf.

»Genau noch dasselbe. Er sitzt auf seiner Kleiderkiste und raucht.«

»Beschäftigt sich denn Mister Tischkoff mit ihm?«

»Nun ja, er schneidet ihm das Essen vor, zieht ihn an und aus, wäscht ihn — der alte Holländer ist eben noch immer so ein hilfloses Kind wie...«

Dem Steward blieb das Wort im Halse stecken, und ich blickte auch nicht schlecht.

Denn da kam aus dem Kajütengange Mr. Tischkoff und an seiner Seite schritt... kein anderer als unser Klabautermann!

Man musste so lange schon mit diesem Männchen zusammen gelebt haben, um unser Staunen begreiflich zu finden.

Der alte Holländer war eben immer ein hilfloses, schwachsinniges Kind gewesen. Wohl konnte er sich auf den Beinen halten und auch gehen, aber freilich hatte er dies niemals getan, er hatte immer geschoben werden müssen, noch lieber ließ er sich tragen, immer froh, wenn er wieder auf seiner Kleiderkiste saß, für nichts anderes Interesse habend, als nur für seine Pfeife und seinen Tabaksbeutel... und nun mit einem Male schritt er ganz normal neben dem Russen her, und nicht nur das, sondern er sprach auch, wendete den Kopf, und jetzt hob er sogar die Hand und deutete in die Ferne.

»Und gerade hat er noch wie eine steife Puppe auf seiner Kleiderkiste gesessen, so wie immer früher!«, flüsterte der Steward, mit wahrhaft entsetzten Blicken nach den beiden stierend.

Ich hatte mich schnell aufgerafft.

»Geh an dein Geschäft!«, herrschte ich den Steward leise an. »Niemand hat sich um die beiden zu kümmern! Verstanden? Sage das auch den anderen.«

Der Steward war intelligent genug, gleich zu verstehen, was ich wollte, und ich selbst schärfte noch den Offizieren und den nächsten mir begegnenden Matrosen, als sie erstaunte Gesichter machten, ein, von dieser Umwandlung des Klabautermanns scheinbar gar nichts zu bemerken, die beiden nicht zu beobachten, und so sollte dies schnell durch das ganze Schiff gehen, einer es immer dem anderen sagen.

Dass die beiden trotzdem heimlich beobachtet wurden, war selbstverständlich, ich tat es ja nicht anders.

Sie gingen mehrmals an Deck auf und ab, Tischkoff wie immer elegant gekleidet, unser Klabautermann in seinen Pumphosen und Schnallenschuhen, blieben stehen, blickten und deuteten manchmal nach Westen, immer dabei sprechend.


Illustration

Es war noch ganz dasselbe alte, ausgetrocknete Männchen, aber sonst gar nicht mehr zu erkennen, schon allein dadurch, dass es selbstständig gehen konnte. Und nun gar sprechen, dabei gestikulieren!!

Wie hatte Tischkoff dieses Wunder bewirkt? Was hatte er dabei herausbekommen?

Einmal kamen sie, ohne mich wie irgend jemanden anderen zu beachten, so dicht an mir vorüber, dass ich sie sprechen hören konnte, immer abwechselnd. Es war eine mir unbekannte Sprache.

»Hast du sie gehört?«, wandte ich mich, nachdem sie sich genügend entfernt hatten, an Goliath, der zufällig neben mir stand.

»Ja, Massa.«

»Kanntest du diese Sprache?«

»Es war Malaiisch, von dem ich aber nur ganz wenige Brocken kann. Ich habe fast gar nichts verstehen können.«

Wenigstens einmal ein Beweis, dass auch dieser Neger nur ein Mensch war, der nicht alles wusste und konnte!

»Herr Kapitän!«, rief da Tischkoff, als ich mich wieder auf die Kommandobrücke begeben hatte, von unten.

»Mr. Tischkoff?«

»Bitte, eine Spezialkarte des Roten Meeres!«

Ich entnahm sie dem Kartenraume und brachte sie selbst hinab. Die Ostküste Südamerikas entlang fahren, dem Feuerlande zu, und dabei die Wasserstraße des Roten Meeres studieren, wie reimte sich das zusammen?

Nun, es war jedenfalls nicht merkwürdiger, als dass unser Klabautermann jetzt plötzlich wie ein ganz normaler Mensch gehen, sprechen und gestikulieren konnte, wenn er auch dabei immer noch der alte, phlegmatische Holländer blieb.

An dem letzten Maste, an welchem immer die Signalflaggen gehisst werden, war eine Tischplatte zum Herunterklappen angebracht, eben wegen dieses Signalisierens, um darauf das Flaggenbuch legen und schreiben zu können.

Auf dieser Platte lag bereits eine Karte ausgebreitet, ein vergilbtes Pergament, mit blauen Linien und Klecksen bedeckt. Es konnte ebenso gut die Darstellung des menschlichen Nervensystems sein wie eine Land- oder Seekarte.

Doch ich wunderte mich ja nur darüber, wie unser Klabautermann mit seinem zahnlosen Munde plötzlich reden konnte, wie lebhaft er auf diese Karte deutete und mit der Fingerspitze die blauen Linien verfolgte. Und dieser alte Mann hatte länger denn ein Jahr wie ein Ölgötze an Deck meines Schiffes gesessen, hatte wie ein Automat aufgezogen werden müssen!

Ja, und hatte der Steward nicht gesagt, er hätte ihn noch soeben so teilnahmslos in Tischkoffs Kabine sitzen sehen?

Ich grübelte nicht weiter über dieses Rätsel nach, ich habe auch niemals über Bilderrätsel und dergleichen nachgetüftelt, mit denen Zeitungen müßigen Menschen einen Zeitvertreib geben wollen, das kommt mir alles kindisch vor, was ich weiß und erfahre, ist gut, aber jedes Rätsel weiß ich mir sofort aus dem Kopf zu schlagen, worüber ich schon früher einmal gesprochen habe, und ein höchst geistreicher Mann hat mir einmal gesagt, dass ich dadurch ein beneidenswert glücklicher Mensch sei — also ich gab meine Karte ab und verschwand wieder.

Nach einer Weile wurde mir meine Seekarte durch einen Matrosen wieder heraufgebracht, ich sah Tischkoff und den Klabautermann, immer noch lebhaft zusammen sprechend, in den Kajüteneingang gehen.

»Er hat ihn galvanisiert«, hörte ich dann einen Matrosen zu seinem Kameraden sagen.

Damals war es nämlich noch nicht lange her, dass Galvani seine elektrischen Versuche an einem toten Frosche gemacht hatte, zeigend, wie die Nerven noch auf einen elektrischen Strom reagieren, immer noch lange zuckend, die Gliedmaßen dadurch in Bewegung setzend, während das Leben aus dem Frosche doch schon längst entflohen ist.

Es wurde damals über dieses Experiment viel gesprochen und geschrieben, man probierte es an anderen Tieren, auch an menschlichen Leichen, wunderbare Geschichten wurden berichtet, man möchte fast sagen, dass dadurch eine ganz neue, grausige Literatur entstand — z. B. Allan Poe hat eine Novelle geschrieben, der dieses Experiment zur Unterlage dient, wie ein Toter galvanisiert wird, eine schauerliche Erzählung — der Matrose mochte etwas davon gehört haben.

Als der Steward kurz nach dem Mittagessen an mir vorüberging, merkte ich ganz deutlich, dass er mir gern etwas berichtet hätte, es aber nicht wagte.

Nun, ich war doch etwas neugierig, und er musste eben aus Tischkoffs Kabine gekommen sein.

»Was willst du, Bernhard?«

»Ach, Herr Kapitän, der Klabautermann!«

»Nun, was ist mit ihm?«

»Vorhin konnte er doch an Deck herumlaufen und sprechen wie unsereiner, und jetzt sitzt er schon wieder auf seiner Kleiderkiste wie eine Puppe.«

»Weshalb soll er nicht auf seiner Kleiderkiste sitzen?«

»Nein, nein, Herr Kapitän, jetzt ist er wieder ein ganz anderer — oder so wie früher. Mr. Tischkoff klingelte noch einmal, als ich das Essen schon hereingebracht hatte, da zerschnitt er schon das Fleisch, und da musste er den Klabautermann wieder füttern wie früher, und wie auch wir es immer tun mussten.«

Ich fand keine Erklärung für diese abermalige Umwandlung und ließ es dabei bewenden.

Am Nachmittag suchte mich Tischkoff in der Kajüte auf, zum ersten Male, dass er dies tat, dass er überhaupt seine Kabine zur ungewöhnlichen Zeit verließ — mit Ausnahme jener Fälle, wenn es eben auf irgend etwas angekommen war.

»Ich habe jetzt mein Ziel bestimmt«, begann er. »Kennen Sie den Golf von San Jorge?«

»Wo liegt dieser Golf?«

»An der Küste von Patagonien.«

Nein, so genau war ich nicht bewandert. Aber eine Karte, welche die südliche Hälfte Südamerikas in großem Maßstabe wiedergab, war sofort zur Hand.

»Hier diese winzige Insel, nur als Punkt angegeben, aber schon benannt, TovaIsland — das ist mein Ziel. Wenigstens mein ungefähres. Wann könnten sie dort sein, wenn der Wind so anhält?«

Ich maß mit dem Zirkel nach — in drei bis vier Tagen.

»Und wenn der Wind nicht benutzt werden kann, würden Ihre Kohlen bis dahin reichen?«

»Ja, für vier Tage habe ich noch Kohlen.«

»Dann bitte ich darum, immer die schnellste Fahrt einzuhalten.«

»Es wird geschehen.«

»Ich werde mich jetzt in meine Kabine zurückziehen und drei Tage nicht wieder zum Vorschein kommen. Sie wissen, weshalb. Ich fühle es manchmal im Voraus. Der Steward braucht sich also gar nicht erst zu bemühen. Es handelt sich nur noch um den Mijnheer — den Klabautermann, wie Ihre Leute ihn mit Vorliebe nennen. Der kann unterdessen natürlich nicht bei mir bleiben, der hilflose Mann würde ja verhungern.«

Nun wieder ein hilfloser Mann? Ich unterdrückte alle diesbezüglichen Fragen.

»Er soll also herauskommen aus Ihrer Kabine?«

»Ja. Mögen ihn wieder Ihre Matrosen unter ihre Obhut nehmen, so wie früher. Also bitte, Herr Kapitän, orientieren Sie sich inzwischen theoretisch über jenes Fahrwasser, soweit das möglich ist, im Übrigen werde ich rechtzeitig wieder zum Vorschein kommen, spätestens, sobald der auf dem Festlande liegende SalamancaPik auftaucht, der Ihnen dann auch immer zur Richtschnur dienen kann, wenigstens am Tage. Nun wollen Sie erst den Klabautermann herausbringen lassen.«

Es geschah. Wie sie ihn einst hineingetragen, so trugen einige Matrosen den alten Holländer jetzt wieder auf seiner Kleiderkiste heraus — ein hilfloses, blödsinniges Kind, nur alt, und dass es schon Pfeife rauchen konnte.

So wurde er wieder auf seinen alten Platz unter der Back gesetzt, für die Nacht wurde wieder seine Koje im Mannschaftslogis vorgerichtet, und Tischkoff verschwand in seiner Kabine, um vor drei Tagen nicht wieder aufzutauchen.

War denn bei dem alten Männchen gar nichts mehr von dem Leben geblieben, das er noch vor einigen Stunden gezeigt?

Nein, absolut nichts mehr! Die Augen blödsinnig, der zahnlose Mund lutschte an der langen Kalkpfeife — ganz wieder der alte!

»Na, Klabautermann, freust du dich denn, dass du wieder bei uns bist?«, redete ihn ein Matrose an.

Die Pfeife wurde einmal aus dem Munde genommen.

»Minajorka!«, erklang es seufzend.

Da sollte der Teufel daraus klug werden — ich konnte es nicht.

Ich überließ das qualmende Rätsel meinen Jungen. Als Mahlsdorf einmal davon anfangen wollte, schnauzte ich ihn an, er solle sich lieber darum kümmern, dass die Seekarten nicht im verkehrten Fache lägen.

Von dem TovaIsland stand in meinen Handbüchern trotz aller Gewissenhaftigkeit herzlich wenig. Diese Felseninsel war vor fünfzig Jahren von einem nordamerikanischen Walfischjäger namens Thomas Tova entdeckt worden, d. h., er hatte das Eiland, an dem viel Treibholz angeschwemmt war, dazu benutzt, um darauf seinen Tran auszukochen, und so hatte er natürlich auch gleich ihre geografische Lage bestimmt.

Sonst ist die Küste des unwirtlichen Patagoniens ja noch so gut wie unbekannt, besonders die östliche, es ist ja dort absolut nichts zu holen, man findet keine einzige Ansiedlung. Die Grenzen dieser Küsten waren von englischen Kriegsschiffen nur durch grobe Umrisse bestimmt, das ganze Patagonien selbst war nur ein weißer Fleck, darin einige punktierte Linien und Strichelchen als vermutete Flüsse und Gebirge. (Ich spreche vom Jahre 1860, obgleich sich das bis jetzt noch nicht viel geändert hat.)

Dagegen waren an der Küste schon einige große Berge eingetragen, eben weil diese den nach der Küste verschlagenen Segelschiffen zur Richtschnur dienen mussten, und der diesem TovaIsland auf dem Festland gegenüberliegende, führte den Namen SalamancaPik.

Ich muss dies ganz besonders erwähnen. Auf jener Landkarte, in die wir vorhin eingesehen, war dieser Berg nämlich gar nicht angegeben gewesen, ich fand ihn erst hier auf der Seekarte. Aber Tischkoff hatte ihn doch schon genannt, also musste er auch schon früher dort gewesen, mindestens über diese Gegend orientiert sein.

Mein Kommodore, der wieder einmal in seiner Kabine ein bisschen tot war, hatte sich als ein recht schlechter Wetterprophet erwiesen. Der Nordnordostwind blieb durchaus nicht stehen, er drehte immer mehr nach Osten herum, immer weiter, bis er direkt von Süden kam.

Nun hieß es dampfen, wenn ich die versprochene Zeit einhalten wollte. Und fünfzig Tonnen Kohlen, die ich auf dem La Plata eingenommen, haben für einen Dampfer von tausend Tonnen nicht viel zu bedeuten, wenn man die Höchstleistung, acht Knoten in der Stunde, machen will.

Am Morgen des vierten Tages bekam ich das Vorgebirge des Pik Melo in Sicht, hinter welchem gleich die TovaInsel liegt. Aber ich vermutete auch stark, dass die Maschine in den letzten Zügen lag, und der Wind wollte sich immer noch nicht drehen, flaute vielmehr stark ab.

»Wie viel Kohlen sind denn noch in den Bunkern?«, fragte ich den zweiten Ingenieur, der gerade von der Wache kam.

»Höchstens noch eine Tonne.«

»Und das genügt, um das TovaIsland noch zu erreichen«, sagte nicht ich, sondern Mr. Tischkoff, der in seiner lautlosen Weise aufgetaucht war, frisch und munter wie immer. Na, in den drei Tagen konnte er ja auch ausgeschlafen haben.

Um das Vorgebirge herum, und da lag das Eiland vor uns. Eiland klingt so lieblich, man denkt dabei immer an Palmen und Apfelsinen und grüne Triften — wenigstens für mich gilt das — aber was wir da erblickten, das sah gar nicht so lieblich aus.

Eine wüste Felseninsel, alles starrend von Klippen und Riffen, zwischen denen die Brandung fürchterlich schäumte und spritzte. Und dabei war die See ziemlich ruhig, wie man sie hier an diesen unwirtlichen Küsten in der Nähe des Kap Hoorn selten findet — sonst wäre dort noch eine ganz andere Brandung gewesen.

Auch die Küste des Festlandes war schon zu erblicken, gerade gegenüber stieg steil ein Berg empor, der von und nach einem spanischen Salamanca getauft ist — übrigens ein ganzer Gebirgszug, von dem aber nichts weiter bekannt ist.

Eine Weile hielt ich noch darauf zu. Tischkoff hatte ebenfalls die Kommandobrücke betreten, was auch in meiner Gegenwart noch gar nicht vorgekommen war.

»Mr. Tischkoff«, sagte ich dann offen, »weiter wage ich, ohne das Wasser zu kennen, nicht zu dringen.«

»Bitte, übergeben Sie mir das Kommando!«

Tischkoff gab dem Steuernden einen anderen Kurs an, wodurch die Insel umsegelt wurde, und da erst fiel mir ein, wie er ja gesagt, dass dieses TovaIsland nicht sein direktes, nur ein ungefähres Ziel sein solle.

Jetzt hielt er direkt auf den SalamancaPik zu, immer deutlicher tauchte vor uns die zerrissene Küste auf.

Die Klingel am Sprachrohr ertönte.

»Was gibt es?«, fragte Tischkoff in den Maschinenraum hinab.

»Die Kohlen werden alle!«, hörte auch ich durch das Sprachrohr sagen.

»Wie viel sind es noch?«

»Keine zehn Schaufeln mehr.«

»Sie werden bis zum letzten Stück verfeuert.«

»Herr Kapitän«, wandte sich Tischkoff an mich, »haben Sie nicht sonst noch Feuerungsmaterial an Bord?«

»Die Kohlen für die Küche.«

»Wie viel sind das?«

»Nicht sehr viel, auch die werden alle. Vielleicht noch eine halbe Tonne.«

»Lassen Sie sie in den Heizraum bringen.«

Es geschah — und eine Stunde später wurde abermals aus dem Heizraum gemeldet, dass auch von dieser Kohle nur noch einige Schippen vorhanden wären.

»Haben Sie Holz an Bord?«

In Betracht konnten nur die Bretter kommen, welche ich damals in Liberia mitgenommen hatte, als ich nach der Fucusbank aufbrach, nämlich, falls wir auf einer Insel Blockhäuser aufschlagen mussten oder wollten.

Es war eine ganz bedeutende Anzahl, sie wurden von den Matrosen klein gemacht und verschwanden unter den Kesseln.

Weshalb nur wollte Tischkoff mit solcher Hartnäckigkeit die Küste zu erreichen suchen? Nun, ich würde es ja bald erfahren. Wir waren unterdessen in sozusagen handgreifliche Nähe der Küste gekommen, wir sahen die Höhlungen, in denen es kochte, sahen sogar auf einem Felsen einige nackte Menschen stehen.

Nur auf eines glaubte ich meinen Kommodore aufmerksam machen zu müssen.

»Wenn sich aber der Wind nicht dreht, können wir hier nicht wieder heraus, und dann fehlt es uns sogar an Kohlen, um das Essen zu kochen.«

»Wir werden bald Kohlen genug haben«, entgegnete Tischkoff.

»Gibt es denn hier in Patagonien Kohlen?«, fragte ich überrascht. »Und so nahe der Küste, ganz offen, dass man sie gleich einschaufeln kann?«

»Kohlen gibt es überall auf der Erde, besonders wo diese mit Wasser bedeckt ist. Man muss nur diese Kohlenlager zu finden wissen.«

»Ein Schiff, ein Wrack!!«, erklang es in diesem Augenblick aus Matrosenkehlen.

Da hatte auch ich es erspäht. Es war ein mastenloses Wrack, ziemlich groß, welches festgekeilt zwischen Felsenriffen lag, die ebenso hoch waren, sodass wir erst die Richtung hatten ändern müssen, ehe wir es zu sehen bekamen.

Es war direkt an der Küste, die Brandung an diesen freiliegenden Riffen daher nicht allzu stark, trotzdem hielt ich es für ein großes Risiko, dass Tischkoff dicht heransteuerte — oder aber, er musste schon einmal hier gewesen sein, dieses Wasser wie das in seinem Waschbecken kennen.

Puuuooohhh — sagte der Abstoßdampf, die Maschine hatte ihren letzten Seufzer getan, den Kesseln war die Puste ausgegangen — da aber lagen wir direkt an dem Wrack, die Matrosen sprangen hinüber und legten die Taue um die eisernen Poller — so ziemlich das einzige, was auf dem Deck noch stehen geblieben war.

Es war ein großer, hölzerner Kasten, mindestens tausend Tonnen. Aber nicht wieder so ein holländisches Wrack, das war noch in diesem Jahrhundert gebaut worden, das erkannte man sofort aus der Bauart. Es konnte nicht direkt hier festgerannt sein, sondern war von gewaltigen Wogen hier heraufgeschleudert worden, wahrscheinlich bei Nacht, gar nicht wissend, in welch unheimlicher Nähe der Küste es sich schon befand, und als die Mannschaft das Brausen der Brandung hörte, war es schon zu spät gewesen.

Wir selbst fanden rund um die ›Sturmbraut‹ herum noch tiefes Wasser — und doch war es unbegreiflich, wie der geheimnisvolle Unbekannte, der er ja für uns noch immer war, vielleicht immer mehr wurde, so direkt hierher zu fahren gewagt hatte, selbst wenn er diese Wasserverhältnisse schon früher einmal ausgekundschaftet hatte.

»Das Wrack enthält Kohlen?«

»Ich hoffe es.«

Er würde es wohl bestimmt wissen. Allerdings konnte uns ja jemand zuvorgekommen sein.

Die Luken waren verschlossen, doch die Schrauben so eingerostet, dass sie abgeschlagen werden mussten — richtig, bis an den Deckelrand gefüllt mit Kohlen!

»Was für ein Schiff ist das?«

Denn es lag mit dem Hinterteile der Landseite zu, so hatten wir noch nicht den Namen lesen können, und an Deck war ja alles weggeschlagen.

»Das weiß ich nicht«, entgegnete Tischkoff.

Ich starrte ihn einen Augenblick an.

Ja, wie konnte der da wissen, dass hier ein mit Kohlen befrachtetes Wrack lag?! War dieser Mann allwissend? Und wenn er es war, weshalb kannte er da nicht auch den Schiffsnamen?

»Ich habe nur erfahren, dass hier ein mit Kohlen befrachtetes Wrack liegt«, setzte er noch hinzu.

Es war eine Erklärung — und auch keine.

Doch ich schlug mir alle solche Gedanken aus dem Kopfe, hielt mich an die Tatsachen. Nun, wenn mein Kommodore noch mehr solcher Kohlenwracks in erreichbarer Lage wusste, das ließ ich mir gefallen. Wie schon gesagt, Kohle ist im Seehandel einer der lukrativsten Artikel, und selbst wenn aus einem gesunkenen Schiffe die Kohlen aus dreißig Meter Tiefe durch Taucher mit Säcken, die erst unten eingeschaufelt werden, geholt werden müssen, so lohnt sich dies noch immer reichlich, dafür geht ein englisches Taucherschiff bis nach der anderen Hälfte der Erdkugel.

Und solch ein verlassenes Wrack, ob nun gesunken oder festsitzend oder noch treibend, ist freies Seegut, wer es findet, dem gehören Fracht und alles, da gibt es nichts dagegen, die Reederei oder der Frachtherr kann es nur zum Marktpreise zurückkaufen.

Es blieb nicht bei Steinkohlen. Durch eine andere Luke gewahrten wir, dass ein zweiter Teil des Laderaums ganz mit gesalzenen Rinderhäuten gefüllt war, und darin steckt natürlich noch ein ganz anderer Wert!


Illustration

Schon begannen meine Jungen mit der Kohlenübernahme; alles musste antreten, während ich mich mit Tischkoff in die Kajüte begab, um weitere Nachforschungen zu halten.

Obwohl die Schiffspapiere mitgenommen worden waren, konnten wir jetzt doch leicht konstatieren, dass es die ›Juno‹ von NewcastleonTyne war, ein englischer Vollmaster. Sonst freilich war nichts zu bestimmen, weder Ziel noch der Name des Kapitäns. Wenn dieser etwas Schriftliches zurückgelassen hatte, ehe er mit der Mannschaft in die Rettungsboote gegangen, so war dies verschwunden.

Denn vor uns mussten schon andere Menschen hier gewesen sein, vor noch gar nicht so langer Zeit, sie hatten schmutzige Spuren hinterlassen, nicht nur Abdrücke von nackten Füßen, die mit Kohlenstaub behaftet gewesen — einfach patagonische Eingeborene, die hier schon geplündert hatten.

Doch die Plünderung war eine sehr mangelhafte. Sie hatte sich hauptsächlich wohl nur auf die Proviantkammer erstreckt. Wir fanden z. B. am Boden sehr viele Dochte von Talgkerzen, diese hatten die Eingeborenen einfach aufgefressen, nur den Docht wieder ausgespuckt, und alle Seeleute, welche mit Patagoniern und Feuerländern in Berührung gekommen sind, können von der eigentümlichen Vorliebe dieser nackten Kerls für Talglichter erzählen.

Die feste Tür der Bottlerei, in der Wein und Spirituosen aufbewahrt werden, hatten sie gar nicht geöffnet. Dagegen schienen sie alle Kleidungsstücke, Decken und dergleichen annektiert zu haben.

Die um den Mast, welcher durch die Kajüte ging, stehenden Gewehre hatten sie nicht beachtet, auch Revolver und Pistolen hingen noch da, dagegen fehlten alle blanken Waffen, Messer und Äxte.

Es war also sehr mäßig, was sich die Eingeborenen angeeignet hatten, auch hatten sie durchaus nicht wie die Vandalen gehaust, hatten nichts aus Übermut zertrümmert.

Die sehr nette Einrichtung der Kajüte war vollkommen gut erhalten, aus dem Rahmen eines großen Bildes lächelte freundlich eine junge Frau herab.

Es muss doch schön sein, wenn man eine volle Geldtasche findet, und niemand meldet sich als Besitzer, man kann es als sein ehrlich gefundenes Eigentum betrachten. Oder ein armer Landmann pflügt, und plötzlich kommt aus den Schollen ein Topf mit Goldstücken zum Vorschein, die Jahrhunderte lang in der Erde geschlafen haben.

Nun, an den Seemann tritt dieses Glück viel öfter heran. Jedes gefundene Wrack ist sein gutes Eigentum, das rangmäßig unter die ganze Mannschaft verteilt wird. Da denkt man natürlich auch einmal an diejenigen, welche jetzt von diesem Verluste betroffen sind, an die Leiden der Schiffbrüchigen, aber... das ist nun einmal Seemannslos! Ich glaube, ich habe mich solchen Gedanken immer ganz unnötigerweise hingegeben, viel mehr als irgendein anderer.

Sie waren auch jetzt schnell überwunden — kurz, ich freute mich ob des gefundenen Schatzes! Es war sogar etwas Kindliches in meiner Freude. Diese prachtvolle türkische Tabakspfeife, diese schöne Hängelampe, diese vortreffliche Doppelbüchse — das war jetzt alles mein! Von den Möbeln würde ich Verschiedenes zu mir hinübernehmen, der Waschtisch war recht praktisch eingerichtet... an die Kohlen und die Häute, in denen doch der eigentliche Wert steckte, und was für einer, dachte ich in diesem Augenblicke fast gar nicht.

»Kapitän, wir haben eine ganze Masse ArmstrongGeschütze gefunden«, meldete der Bootsmann, »Zwölf- und Vierundzwanzigpfünder.«

So war es. Auseinandergeschraubt, zum Teil in Kisten verpackt, waren sie wegen der Belastung in verschiedenen Räumen untergebracht. Dann aber wurden auch Hartgusskugeln, Granaten und Pulverkartuschen in reichlicher Menge gefunden.

Da steckte auch ein Wert drin! So ein großes, gezogenes Schiffsgeschütz kostete mindestens seine dreitausend Pfund Sterling. Wie viele es waren, konnten wir noch gar nicht bestimmen. Jedenfalls war alles vorhanden, und an Bord meines Schiffes ebenso, um die Geschütze aufzustellen, auch schon die Stückpforten im Zwischendeck, die bisher nur zugenietet gewesen waren, und der erste Ingenieur war früher preußischer Artillerieoffizier gewesen, sogar ein tüchtiger Offizier, der nur wegen Schulden und loser Streiche den Dienst hatte quittieren müssen, und zwei Matrosen hatten in der englischen und in der nordamerikanischen Marine gedient, waren auch am Geschütz ausgebildet worden, der eine als Instrukteur, die wussten Bescheid.

Ja — ich griff mir an den Kopf — wie kam ich plötzlich auf den Gedanken, die ›Sturmbraut‹ so als vollständiges Kriegsschiff armieren zu wollen? Hatte ich dazu nicht schon früher Gelegenheit gehabt, da ich noch Millionen besessen?

Das Erlebnis auf dem La Plata mochte schuld daran sein.

»Nun, Herr Kapitän«, redete mich da Tischkoff an, als wir wieder in der Kajüte des Wracks waren, »was gedenken Sie nun zu tun?«

»Unsere erste Pflicht muss wohl sein, uns etwas näher um das Schicksal der Schiffbrüchigen zu kümmern. Es könnte doch sein, dass sie den Landweg eingeschlagen haben, da sind die Eingeborenen, die Patagonier sind wilde, rohe...«

»Lassen wir das erst einmal«, unterbrach mich Tischkoff, der sich ganz außergewöhnlich gesprächig zeigte. »Sie betrachten dieses Wrack mit aller Fracht doch als gute Prise?«

»Es ist unbestreitbar das rechtmäßige Eigentum der Finder, natürlich kommen hauptsächlich Sie in Betracht...«

»Ich? Bah! Verschonen Sie mich mit solchen Lappalien. Was gedenken Sie mit der Fracht zu tun?«

»Nach und nach an Bord meines Schiffes überzunehmen.«

»Alles?«

»Warum nicht?«

»Sämtliche Kohlen?«

»Es sind auch gesalzene Häute vorhanden, da steckt ein kolossaler Wert...«

»Herr Kapitän«, unterbrach er mich abermals mit gütigem Lächeln. »Habe ich Ihnen denn nicht schon geraten, sich nicht mit Kohlen und Baumwolle herumzubalgen? Da ist natürlich auch anderes mit eingeschlossen. Was wollen Sie denn mit diesen Ochsenhäuten anfangen? Verschachern? Deshalb wollen Sie Ihre Jungen sich abquälen lassen, um ein paar Groschen zu verdienen?«

Ich war verdutzt, beschämt.

»Ich weiß, ich weiß«, fuhr er begütigend fort. »Eigentlich sind Sie ja ganz im Recht. Aber ich will Ihnen etwas anderes sagen: ich weiß noch eine ganze Menge solcher Wracks.«

»Wie? Sie wissen...«, fuhr ich mit berechtigtem Staunen empor.

»Zahllose Wracks sogar«, nickte Tischkoff, »von denen noch etwas ganz anderes zu holen ist als nur Kohlen und Salzhäute.«

»Woher ist Ihnen das bekannt?«

»Woher? Nun, ich kenne eben die Lage dieser gescheiterten Wracks und...«

Er brach plötzlich ab, und es war mir doch gewesen, als ob etwas wie ein leiser Spott in seiner Stimme gelegen hätte — und ich hätte darauf schwören mögen, dass er sagen wollte: ›und wenn ich Ihnen diese meine Kenntnis erklären wollte, Sie würden es ja doch nicht glauben‹ — und ich blickte ihn an, und da gewahrte ich, wie unergründlich tief diese blauen, klugen Augen waren — wie ein Geheimnis schlummerte es darin — und ich dachte daran, dass auch der alte Alchemist, der Graf Axel, mich so rätselhaft angeblickt, damals, als er die Sterne befragte...

Die Sterne befragt! Die Sterne erzählten es ihm! Und hatte das chiffrierte Dokument, dessen Übersetzung ich damals in Doktor Selos Kabine gefunden, nicht auch lauter solche Stellen im Meere bezeichnet, wo man gesunkene Wracks vermuten konnte?

Doch da hätte auch mein Kommodore recht gehabt, an solch eine Sterndeutekunst glaubte ich nun einmal nicht — und er selbst sorgte dafür, dass ich schnell auf andere Gedanken kam.

»Also nehmen Sie von den Kohlen nur über, was Sie brauchen, füllen Sie Ihre Bunker — vielleicht ja auch noch einigen Vorrat — und wenn Sie Matrosen haben, denen es Spaß macht, in ihrer Freizeit rohe Felle zu gerben und daraus sich Stiefel zu fertigen — gut, so nehmen Sie einige Felle mit hinüber — vielleicht auch einige Geschütze mit Munition — nehmen Sie alles mit, was Ihnen gefällt — — aber nur um Gottes willen quälen Sie Ihre Leute nicht damit ab, dass sie etwa die ganze Fracht herüberschleppen müssen. Nein, da will ich Ihnen später noch andere Wracks zeigen, wo man gleich direkt bares Geld in die Hände bekommt.«

»Topp, das lasse ich mir gefallen!«, lachte ich. »Ja, solch einen Kommodore kann man gut gebrauchen.«

»Nun, habe ich Ihnen nicht gleich gesagt, dass Sie unter meinem Kommando immer gut fahren werden?«, lächelte jetzt auch Tischkoff.

»Bitte, kommandieren Sie nur immer so weiter«, wurde unsere Unterhaltung jetzt humoristischer oder doch freier, wie sie noch nie gewesen.

»Sie sollen noch zufriedener mit mir werden, nur über meine eigene Persönlichkeit dürfen Sie mich niemals fragen.«

»Niemals.«

»Sie taten es aber schon vorhin.«

»Ich?«

»Indem Sie fragten, woher ich denn Kenntnis von so vielen Wracks hätte.«

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, es soll wirklich nicht wieder vorkommen.«

»Gut! Da wir aber nun einmal ins Gespräch gekommen sind, will ich Ihnen gleich noch eine andere Idee suggerieren. Haben Sie noch nie daran gedacht, sich auf einer unbewohnten Insel niederzulassen?«

»O doch. Nur erst solch eine unbewohnte Insel finden.«

»Nun, im australischen Archipel gibt es doch zahllose solcher Eilande.«

»Das wohl, man muss nur immer darauf gefasst sein, doch einmal entdeckt zu werden, und dann hat man sich schon hübsch darauf eingerichtet, hat eine kolossale Arbeit hineingesteckt, und dann kommt der Staat, der Anspruch auf die Insel erhebt, denn verteilt ist ja schon die Welt, und jagt einen wieder davon herunter, oder fordert große Abgaben — ein freier König bleibt man jedenfalls nicht.«

»Nun, da müsste man schon vorher ein Abkommen treffen. Wenn nur der Wille vorhanden ist, dann geht alles in der Welt. Stellen Sie sich jetzt nur einmal vor, Sie hätten schon solch eine Insel gefunden, sie wäre ihr unbeschränktes Eigentum — was würden Sie tun?«

»Das wäre herrlich! O, ich wollte mir solch eine Insel schon ausbauen, ich wollte schon ein kleines Königreich schaffen.«

»Und nun stellen Sie sich weiter vor, ich kundschafte für Sie Wracks aus, gesunkene Schiffe, die noch erreichbar sind. Wie würden Sie die verwerten?«

»Ich würde sie natürlich ausbeuten, und alles Kostbare auf meiner Insel zusammentragen...«

»Sehen Sie, das ist es, worauf ich Sie bringen wollte!«, fiel er mir ins Wort. »Vorläufig haben Sie noch keine Insel, aber doch ein Schiff, was für Sie auch schon ein Königreich bedeutet. Belasten Sie es nicht mit Kohlen, Baumwolle und Salzhäuten — denn, bedenken Sie, es könnte doch sehr leicht sein, dass Sie bald etwas Kostbareres fänden, worauf Sie jenes alles erst wieder ausladen, vielleicht gleich wieder über Bord werfen müssten — also hätten Sie nutzlose Arbeit gehabt — — nein, nehmen Sie nur alles mit, woran Sie Gefallen finden, oder was Sie unumgänglich brauchen, wie jetzt einige Tonnen Kohlen für die Maschine — — mit einem Wort: Seien Sie ein Zigeuner, der auch immer nur gerade das nimmt, was ihm der liebe Gott in die Hände wirft — und zu etwas anderem als zu einem Seezigeuner eignen Sie sich ja doch nicht. Das ist nun einmal Ihr Schicksal.«

Nach diesen Worten verließ Tischkoff die Kajüte. Ich glaube, es waren recht begeisterte Augen, mit denen ich ihm nachblickte.

O, was für eine herrliche Perspektive hatte mir dieser Mann da eröffnet! Wenn ich so...

Doch jetzt genug davon! Nicht träumen, sondern handeln, den Plan ausführen, und sei dieser auch noch so phantastisch. Auch die Luftschiffe haben einst ins Reich der Phantasie gehört, und sie würden es noch immer sein, wenn es nicht Männer gegeben hätte, welche diese Phantasie verwirklichen wollten — wollten!!! — und es wird noch die Zeit kommen, da selbst ein Luftschloss eine greifbare Wirklichkeit sein wird — es braucht nur jemand zu wollen! Der menschliche Wille ist die moderne Wünschelrute.

Mit den ersten Kohlen wurde das Pumpwerk in Betrieb gesetzt, um die mit Salzwasser angefüllten Bunker zu leeren, dann prasselten die Kohlen in diese hinab.

Ich ermahnte meine Jungen, sich nicht gar zu sehr mit Schippen und Karren anzustrengen, wir hatten ja genügend Zeit, und solch eine Verwarnung war auch wirklich nötig, denn die Kerls gingen mit einem Eifer daran, dass ihnen der Schweiß nur so vom Körper lief.

Weshalb diese Arbeitswut? Dann ein Gleichnis hierfür.

Eine ärmliche Familie nimmt für den Winter Kohlen ein, gleich einen ganzen Wagen, der Familienvater war vernünftig genug, schon im Sommer das Geld zu sparen, was ja im Winter doch einmal ausgegeben werden muss. Die Familie kann dabei dennoch arm sein, um keinen Arbeiter bezahlen zu können, oder auch das soll gespart werden — kurz, alle Kinder müssen mit heran. Auf dem Lande findet man so etwas viel häufiger, besser wäre noch das Gleichnis mit einer Holzfuhre.

Die Kinder werden sich gar nicht so beeilen, die Kohle oder das Holz hereinzubekommen, mancher schlaue Junge wird sich von der Arbeit möglichst zu drücken suchen.

Nun stelle man sich aber einmal vor, dort und dort gibt es freie Kohle, freies Holz — wie da jeder zugreifen und im Schweiße seines Angesichts keuchend schleppen wird! Selbst wenn man dabei genügend Zeit hätte.

Genau dasselbe gilt, wenn gestohlenes Gut geborgen werden soll, es gilt vom Goldgräber, vom Schatzgräber — da wird manchmal freudig eine Arbeit geleistet, die gar nicht im Verhältnis zum Gewinn steht. Es ist eben so ein eigentümliches Gefühl dabei, es gehört uns und kostet nichts!

Besonders der Zigeuner hat hierfür einen recht schönen Ausdruck, der ja auch für unsere Verhältnisse am besten passte: Gestohlenes Fleisch macht fett.

Also meine Jungen balgten sich mit Feuereifer um die Kohlen. Dass wir die Salzhäute im Stich lassen wollten, konnten sie gar nicht begreifen, das empfanden sie schmerzlich, bis sie hörten, dass es bald noch etwas Besseres geben würde, und dann jubelten sie wieder, als sie die Erlaubnis erhielten, dass jeder mitnehmen könne, was er wolle.

Plündern! Bei Gott, es muss in früheren Zeiten doch schön gewesen sein, wenn so eine eroberte Stadt zum Plündern freigegeben wurde!

Jeder keuchte unter der Last von einigen Ochsenfellen, und sie wussten doch gar nicht, was sie damit anfangen sollten. Denn an ein Verkaufen dachte nämlich niemand. Ich sah einen Matrosen, der eine alte, hölzerne Tabakspfeife fand, und der Kerl freute sich viel mehr über diesen herrenlosen Stummel, als wenn ich ihm zehn Taler geschenkt hätte, dass er sich im nächsten Hafen die prächtigste Meerschaumpfeife mit Bernstein kaufen konnte.

Auch alles andere wurde ausgeplündert, besonders hatte man es auf Gewehre und Revolver abgesehen, dann kamen aber auch Möbel daran, soweit diese abgeschraubt werden konnten — — bis auf das, was ich selbst mit Beschlag belegt hatte, so wie es der Feldherr tat, ehe er die eroberte Stadt der Plünderung preisgab.

Aber auch angenehme Überraschungen erwarteten uns noch. So wurden gegen tausend Pfundbüchsen Ölsardinen gefunden, tadellos erhalten, das Schiff konnte vor noch gar nicht so langer Zeit gescheitert sein, viele Körbe Champagner, die ich nach und nach auch meinen braven Jungen zugute kommen ließ, dann wurden noch andere Konserven und Spirituosen, als Fracht mitgenommen, entdeckt.

O ja, so ein Zigeunerleben ließ man sich schon gefallen. Nur immer her mit recht vielen solchen Wracks.

Hierbei bemerke ich, dass ich schon früher einmal, als Matrose noch, ein Wrack ausgenommen hatte, einen kleinen griechischen Segler, der an der marokkanischen Küste verlassen worden und ebenfalls ganz mit Sardinenbüchsen befrachtet gewesen war. Wir brachten die Sardinen, etwa zwanzig Tonnen, nach Marseille und bekamen dafür von einem Juden 4000 Francs, wenig genug, für das Pfund beste Ölsardinen zehn Centimes. Auf den Matrosen kamen hundertzwanzig Francs, und das ist für einen Matrosen, so nebenbei verdient, ein ganz hübscher Feng Geld — würde Karlemann sagen.

Am Lande wurden wieder Eingeborene bemerkt, die, hinter Felsen verborgen, uns beobachteten. Noch ehe ich einen Entschluss gefasst, wie wir sie herbeilocken sollten, sah ich schon Tischkoff über die zusammenhängenden Riffe balancieren, die uns noch vom festen Lande trennten, wirklich mit der Sicherheit eines Seiltänzers.

»Es solle ihm niemand folgen, hat er hinterlassen«, sagte Mahlsdorf.

»Hat er nichts von Sicherheitsmaßregeln gesagt, etwa dass er einen Schuss abgeben will, falls er in Gefahr kommt?«

»Gar nichts.«

Tischkoff verschwand ebenfalls hinter den Felsen, nach einer Viertelstunde kam er zurück.

»Das Schiff ist erst vor drei Wochen hier gescheitert, die Mannschaft ist in die Boote gegangen und nordwärts längs der Küste gerudert, wir brauchen nicht weiter zu suchen.«

Mir lag die Frage sehr nahe, wie er sich denn mit den Patagoniern verständigt habe, denn dass hier einer Englisch oder Spanisch sprach, bezweifelte ich sehr. Doch ich unterdrückte derartiges, was doch wieder einigermaßen mit der Person meines Kommodores zusammenhing.

Eine andere Frage dagegen war erlaubt.

»Wie empfingen die Eingeborenen Sie?«

»Ganz harmlos. Ich war es, der erst ihre Furcht besiegen musste. Gegen einen einsamen Fremden oder hilflose Schiffbrüchige dürften sie freilich anders vorgehen. Nicht gerade, dass sie sie gleich ermorden, aber sie machen sie zu Gefangenen, zwingen sie, ihresgleichen zu werden.«

Tischkoff konnte mir einiges sehr Interessante über die Politik der Patagonier erzählen, oder wie man das nun nennen mag, was ich hier schildere.

Die Patagonier, welche eine durch Physiognomie und Körperbau selbstständige Indianerrasse bilden, zerfallen in zahllose Stämme, die wegen der Ernährung durch Jagd rastlos umherziehen. Eine Klassifizierung oder gar Benennung der einzelnen Stämme, die unter Häuptlingen stehen, ist unmöglich, denn vielleicht täglich gehen solche Stämme zugrunde und entstehen neue.

Sobald nämlich ein Stamm mit einem anderen zusammentrifft, kommt es zum Kampf, und es ist nicht nötig, dass der eine vollständig aufgerieben wird, sondern sobald er sieht, dass er nicht gewinnen kann, erklärt er sich für besiegt, nur der Häuptling wird noch nachträglich getötet, falls er nicht schon gefallen ist, die übrigen reihen sich in den siegreichen Stamm ein, müssen also nicht etwa als Sklaven dienen, sondern sie werden als Familienmitglieder aufgenommen, das geht ganz stillschweigend vor sich, keine Rebellion und dergleichen, die Leute kennen das dort eben nicht anders. Der schwächere Stamm verschmilzt sich mit dem stärkeren, allerdings erst nach einer förmlichen Besiegung.

So kann ein Stamm immer stärker und zahlreicher werden — bis er mit einem noch stärkeren zusammentrifft, von dem wieder er besiegt und aufgenommen wird.

Dass so nicht zuletzt ein einziger Stamm von Patagoniern entsteht, dafür sorgen Ausstoßungen. Wer den Familienfrieden stört, wird hinausgeworfen, dabei kommt hauptsächlich die Liebe in Betracht, gerade wie beim lieben Vieh, wie bei den Hirschen, und so entstehen immer wieder neue Stämme.

Auch die weißen Schiffbrüchigen werden so behandelt, als Stammesmitglieder, und die Patagonier können nicht begreifen, wie jemand ihr freies Leben nicht als das herrlichste finden kann. Will dann freilich so einer entfliehen, dann wird er verfolgt und mit der Wurfkeule totgeschlagen, und lässt er sich nach einiger Zeit mit Absicht ausstoßen, so erreicht er, nicht selbst von Geburt ein Patagonier, nur selten wieder das nördliche, kultivierte Land, oder er kann von den fürchterlichsten Strapazen erzählen, und jeder andere jagende Stamm, der seine Spuren findet, macht ihn ja immer wieder zu seinem Stammesmitglied, schleppt ihn wieder mit ins Innere hinein.

»Da müsste es einem Europäer mit einigen Napoleonsgaben, mit modernen Waffen ausgerüstet, doch ein leichtes sein, sich zum Oberhaupt sämtlicher Patagonier aufzuwerfen, alle anderen Stämme um sich zu scharen.«

»Sicher«, entgegnete Tischkoff. »Wenigstens bis zu seinem Tode könnte er sich behaupten. Aber wir wollen lieber keine Landzigeuner werden, sondern Seezigeuner bleiben.«

Vier Tage blieben wir hier liegen. So lange hatten wir doch zu tun, besonders acht der schweren Geschütze herüberzubringen, und da nicht alle Hände dabei beschäftigt werden konnten, mussten die anderen nun allerdings immer Kohlen übernehmen. Denn was jetzt geschah, brauchte ja später nicht gemacht zu werden. Nur Kohlen verkaufen würde ich nie wieder — das stand bei mir fest. Besonders nach der köstlichen Perspektive mit den vielen Wracks, die mir mein Kommodore da eröffnet hatte.

Sonst habe ich über diese Zeit nichts weiter zu erwähnen, als dass Madam Hullogan während dieser vier Tage nicht mehr nüchtern wurde. Wir wussten gar nicht, woher sie die Getränke bekam. Champagner und alle anderen Spirituosen waren von mir unter Schloss und Riegel genommen worden, nur ab und zu wurde eingeschenkt, Madam Hullogan aber war regelmäßig schon am frühen Morgen bezecht oder sagen wir gleich besoffen, sie tanzte und flederte kreischend herum, bis sie zu Boden fiel — dann, wenn sie erwachte, verschwand sie spurlos, ohne dass ihr jemand folgen konnte, und wenn sie wieder zum Vorschein kam, war sie schon wieder besoffen.

Die hatte etwas von den Spirituosen beiseite gebracht. Aber wo, das war trotz alles Beobachtens nicht herauszubekommen.

Außerdem aß oder fraß sie immer auf einen Sitz zehn Pfund Sardinen auf, und das Öl kleisterte sie sich ins Haar, gleich mit den Schuppen und Köpfen und Schwänzen, welche so in der Büchse zurückblieben. Immer so hineingegriffen und sich die Sauce ins Haar und ins Gesicht geschmiert.

Das Trinken hörte auf, als wir das Wrack verlassen hatten, sie musste auf diesem ihr Versteck gehabt haben, aber sich mit Sardinenöl einschmieren tat sie noch lange, wohl bis sie alle die tausend Pfunddosen ausgefressen und ausgeschmiert hatte. — — —

»Ich möchte erst noch einmal auf TovaIsland landen«, sagte Tischkoff, der sich jetzt fast immer an Deck aufhielt, als wir am Morgen des fünften Tages die Taue von dem Wrack lösten.

In vier Stunden waren wir ziemlich nahe herangekommen, Tischkoff bestimmte die Ankerstelle, wir lagen fest.

»Ich habe von diesem Eiland etwas abzuholen. Wollen Sie den großen Kutter klarmachen lassen.«

Es geschah.

»Bitte, nehmen Sie als Ruderer die kräftigsten Matrosen mit, welche auch gute Fußgänger sind, und Handspeichen, es gibt etwas Schweres zu tragen.«

Auch dies war alles geschehen. Eine Frage gab es bei mir nicht mehr.

»Wollen Sie nicht mitkommen, Herr Kapitän?«

»Wie Sie wünschen.«

»Es ist deswegen, damit Sie dann nicht Ihre Leute zu fragen brauchen.«

Sehr rücksichtsvoll, aber... auch immer geheimnisvoller.

Ich ging also mit. Die See war in den letzten Tagen sehr ruhig gewesen, wir hätten fast überall landen können, wenn nicht Riffe zu fürchten waren. Tischkoff war unbedingt schon hier gewesen, er steuerte direkt in eine kleine Bucht, welche auch bei starker Brandung einigermaßen ruhiges Wasser haben musste.

Wir konnten dicht bis ans Land. Vier Matrosen kamen mit, jeder mit einer Handspeiche bewaffnet. Es war ein abscheulicher Weg über die spitzen Steine; aber unser Führer wusste den besten zu finden.

So waren wir eine Viertelstunde geklettert, als Tischkoff vor einem größeren Felsen Halt machte, der sich aber von anderen durch nichts unterschied.

»Räumt diese Steine weg«, befahl er.

Auch solche Haufen loser Steine gab es hier genug. Nach einer weiteren Viertelstunde war dies geschehen, es zeigte sich, dass dieser Felsen hohl war, die aufgetürmten Steine hatten den Zugang verdeckt, und in der Höhle stand... eine große Glocke!

Wahrhaftig, eine Glocke, wie sie im Kirchturm zum Läuten dient, und zwar eine von den riesigsten Dimensionen, noch etwas über zwei Meter hoch. Nur dass sie wohl nicht von Bronze war. Wenigstens glänzte sie mehr weiß. Es kann ja aber auch solche Glocken aus weißem Metall geben. Aber sonst eine richtige Glocke, oben eine ungeheuere Öse, um sie anzuhängen, und auch solche Haken, um Tragstangen einzuschieben, mögen ja andere Glocken haben.

In diese Haken mussten meine Leute ihre Handspeichen einschieben.

»Nun hebt das Ding auf und tragt es ins Boot, Ihr braucht nicht besonders vorsichtig zu gehen, nur dass ihr es nicht gerade hinwerft.«

Wie, kann denn solch eine ungeheuere Glocke von nur vier Männern getragen werden? Jawohl, ich bemerkte schon deutlich am Aufheben, dann auch am Schritt der Träger, dass sie gar nicht so sehr schwer sein konnte. Vielleicht vier Zentner, höchstens.

Dann konnte es aber auch keine richtige Glocke sein. Das Ding musste ganz dünne Wandungen haben. Beim Tragen sah ich manchmal den unteren Teil — er war verschlossen, was man doch ebenfalls nicht bei Glocken, die zum Läuten dienen, findet.

Das Ding ward ohne besondere Anstrengung ins Boot gehoben, mit einigen Stricken festgelascht; es ging nach dem Schiffe zurück, wo die Käseglocke, wie meine Jungen das Ding bald allgemein nannten, emporgewunden wurde.

»Können Sie mir nicht einen freien Raum zur Verfügung stellen, vielleicht mit Ringen an der Wand, um die Glocke festzulaschen?«

Ja, solche freie Kabinen gab es genug, und wenn Ringe fehlten, konnten diese in wenigen Minuten von den Schlossern eingeschraubt werden.

»So, ich danke Ihnen, Herr Kapitän«, sagte Tischkoff, als wir die Käseglocke festgelascht halten, und er schloss die Kammer ab und steckte den Schlüssel ein.

Wenn ich geglaubt, er würde noch eine Erklärung geben, so hatte ich mich geirrt. Kein Wort mehr darüber.

Ja, was sollte diese Glocke eigentlich? Wie kam sie hierher auf die einsame Felseninsel? Und woher wusste dieser rätselhafte Mann, dass vor drei Wochen, als wir uns noch auf dem Wege nach Rio de Janeiro befanden, hier ein Schiff gescheitert sein konnte?

Doch treu meinen Prinzipien, schlug ich mir alle derartigen Fragen aus dem Kopfe.

— • —

60. Kapitel
Etwas von der Osterinsel
und vom ewigen Juden

Originalseiten II.616 — 625

»Haben Sie ein bestimmtes Ziel im Auge, Herr Kapitän?«

»Nein.«

»Ich meine, ob Sie vielleicht schon beabsichtigten, da- oder dorthin zu segeln.«

»Auch nicht.«

»Sind Sie schon einmal um Kap Hoorn gesegelt?«

»Schon zweimal.«

»Aller guten Dinge sind drei — wollen Sie nicht noch einmal die Tour machen?«

»Wie Sie wünschen, Mr. Tischkoff.«

»Ich bitte sehr darum.«

Sprach's und verschwand in seiner Kabine, um fünf Tage nicht wieder zum Vorschein zu kommen, war wieder einmal ein bisschen tot — und unser Klabautermann saß auf seiner Kleiderkiste, stierte vor sich hin und paffte.

Nun sollte der Teufel aus diesen beiden Menschen klug werden — wenn es überhaupt Menschen waren!

Also losgesegelt und gedampft, um Kap Hoorn herum! Nach drei Tagen hatte ich die für die Schifffahrt gefährlichste Gegend der Welt hinter mir. Doch wir befanden uns auf dieser Hälfte der Erdkugel im besten Sommer, und ich hatte nun schon die Vorteile eines früher so verachteten Dampfers schätzen gelernt.

So, vor mir lag freies Fahrwasser. Und wohin nun?

Um Kap Hoorn herum, hatte mein Kommodore gesagt, der jetzt für einige Tage den Todesschlaf des Gerechten schlief — herum! — also nun wieder nach Norden hinauf.

Er würde sich schon einmal ausgeschlafen haben, und richtig, am Abend des fünften Tages fand der Steward, der regelmäßig mit dem Präsentierbrett klinken musste, die Tür offen.

Mr. Tischkoff aß zu Abend, schlief des Nachts hoffentlich einen natürlichen Schlaf, am anderen Morgen frühstückte er, dann ging er eine Stunde an Deck spazieren, ohne mich eines Blickes zu würdigen, dann nahm er ein Bad, und dann... ließ er mich durch den Steward fragen, ob ich in meiner Kajüte einmal für ihn zu sprechen sei.

So höflich und zeremoniell war er stets, auch betonte er stets das ›Ihre‹ Kajüte, und der Steward war von ihm besonders instruiert, seinen Auftrag auch so wörtlich zu wiederholen.

»Wo befinden wir uns, Herr Kapitän?«

Ich nannte die Zahlen, welche die letzte Berechnung ergeben — etwa der 56. Breitengrad und 80. Längengrad.

»Da sind wir schon um Kap Hoorn herum?«

»Jawohl, Mr. Tischkoff, schon vorgestern Nachmittag gegen fünf Uhr passierten wir HosteIsland.«

»So so, hm hm. Gute Fahrt gehabt?«

»Ausgezeichnete, wie man sie selten hier hat.«

»So so, hm hm. Und wohin gedenken Sie nun zu segeln?«

Ich konnte ein Lächeln beim besten Willen nicht unterdrücken.

»Sie hatten doch selbst erst...«

»Ja ja, immer lachen Sie mich aus, Sie brauchen sich nicht zu genieren«, fiel er mir gutmütig ins Wort, selbst dabei lächelnd, und ich merkte auch nichts von einem Seelenschmerz in seinen faltigen und doch so frischen Zügen. »So geht's, wenn man fünf Tage nicht mehr dieser Erde angehört. Ja, also — haben Sie Zeit?«

»Zeit bis zu meinem Tode«, musste ich noch immer lächeln.

»Bis zu Ihrem Tode? Dann hätten Sie noch einige Millionen Jahre Zeit.«

»Was, einige Millionen Jahre? So lange soll ich noch leben?!«, durfte ich jetzt lauter lachen. Dieser Mann gefiel mir immer besser.

»Jawohl, bis Sie sich nämlich selbst er... doch was schwatze ich da! Wir sprachen doch neulich von einer Insel.«

»Die erst noch zu suchen ist, auf der ich mich festsetzen kann.«

»Oder doch — da ein Zigeuner nun einmal keine Heimat haben darf und kann — wohin er seine Sachen bringt, die er nicht immer mit sich herumschleppen will — so eine Art von Diebeshöhle. Kennen Sie die Osterinsel?«

»Dort gewesen bin ich noch nicht.«

»Nein, das wäre ja auch der reine Zufall. Sie gehört England, dieses hat die Verpflichtung durch Parlamentsbeschluss, alle drei Jahre ein Kriegsschiff hinzuschicken, um einmal nach den Eingeborenen zu sehen, weil es die doch auch unter seinen Schutz genommen hat.«

»So? Davon weiß ich noch gar nichts.«

»Das heißt, es geht nicht etwa wegen der Osterinsel direkt ein Kriegsschiff hin, das wird nur einmal so im Vorbeifahren abgemacht. Möchten Sie diese Osterinsel nicht einmal besuchen?«

Na und ob! Für mich hat überhaupt das Wort Insel und Eiland so einen überaus reizvollen Klang, da schießen vor meinen Augen gleich kaleidoskopartig Bilder von Palmen und grünen Triften zusammen — doch davon habe ich schon des öfteren gesprochen — und nun gar die Osterinsel, ›verlassen und einsam im bläulichen Meere‹ — nicht weit davon entfernt das von einem Dichter verherrlichte Salas y Gómez. (Es ist das berühmte Gedicht von den drei Schiefertafeln, wie der Dichter heißt, weiß ich leider nicht mehr, aber ein ganz bekannter — wie die drei Schiefertafeln gefunden werden, auf denen ein Schiffbrüchiger sein ganzes Leben beschreibt, bis ihm der Tod den Griffel aus der Hand nimmt.)

»Meinen Sie denn, dass die Osterinsel etwas für unsere Zwecke wäre?«

»Weil sie englischer Besitz ist? Das lässt sich alles machen. Darüber werden wir später sprechen. Erst wollen wir sie einmal besichtigen. Haben Sie schon Näheres über diese Insel gehört?«

»Nicht einmal das.«

»Die Osterinsel ist... doch lesen Sie lieber darüber nach. Sie werden es ausführlicher behandelt finden, als ich es Ihnen geben kann.«

Ich änderte etwas den Kurs, dann versenkte ich mich in meine Bücher, und da bekam ich etwas zu lesen, was ich auch nicht von dieser kleinen, weltverlassenen Insel vermutet hätte, nämlich dass sie die Spuren einer längst verschwundenen Kulturwelt trägt und daher hochinteressant für den Altertumsforscher ist.

Die Osterinsel liegt im Stillen Ozean resp. in der Südsee, ungefähr auf dem 27. Breiten- und 110. Längengrade. Sie hat einen Flächenraum von etwas über eine Quadratmeile (geografische oder deutsche — 16 englische Quadratmeilen), gebirgig, vulkanischen Ursprungs, mit noch vorhandenen zahlreichen Kratern; doch ist von einem Erdbeben seit Menschengedenken nichts bekannt. Die Küsten sind steil und schwer zugänglich und bieten für größere Fahrzeuge nur einen einzigen Landungsplatz, Cookshaven.

Entdeckt wurde sie am 1. Osterfeiertag 1721 von dem englischen Kapitän Roggeween; doch sollen schon die Flibustier unter ihrem furchtbaren Anführer David eine Niederlassung darauf gehabt haben, ein Waffenarsenal und eine Proviantkammer, kurz ein Diebesversteck, was also in der Mitte des 17. Jahrhunderts gewesen wäre.

Die Eingeborenen sind Malaien. Ihre Anzahl wurde damals (mein Spezialbuch war im Jahre 1858 herausgegeben) auf 1500 Köpfe geschätzt. Da es auf der Osterinsel an allen vierfüßigen Tieren fehlt, sind sie hauptsächlich auf Pisang, Bataten, Zuckerrohr und Kürbisse angewiesen, welche sie zu bauen verstehen, dazu kommen noch die Eier der zahlreichen Seevögel und einiger Fischfang. Aber mit den anderen SüdseeInsulanern, welche mehr auf dem Wasser leben denn an Land, mit ihren gebrechlichen Fahrzeugen die weitesten Seereisen machen, sind diese ›Rapa Nui‹, wie sie sich selbst nennen, durchaus nicht zu vergleichen. Schon dieses Buch sagte, dass sie auf dem Aussterbeetat ständen, woran weniger die inneren Streitigkeiten als vielmehr ihre vollkommene Degeneration schuld wäre, erzeugt durch Heiraten unter Blutsverwandten, durch ihre allgemeine Unsittlichkeit (welches

1 Tatsächlich war es der 7. April 1722 (nicht 1721). 2 Der Kapitän hieß Roggeveen und war Niederländer. Wort aber in Bezug auf solche Naturvölker sehr vorsichtig angewendet werden muss).

Für die Forscher, welche diese Insel hin und wieder besucht haben, ist dieses isolierte Völkchen stets ein Rätsel gewesen, mehr noch die ganze Insel.

Diese Malaien können erst, das kann man aus Überlieferungen ungefähr bestimmen, vor 300 bis 400 Jahren nach dieser einsamen Insel gekommen sein, welche sie wie noch heute ›Tepitu Fenua‹ nannten, das ist ›das Land in der Mitte des Meeres‹.

Damals wollen sie diese Insel ganz menschenleer gefunden haben, aber schon damals waren die Spuren vorhanden, welche von einer längst verschwundenen Kultur erzählen, wie noch heute, nämlich in die Lavawände eingehauene Hieroglyphen, Statuen und Bauwerke, alles von kolossalen Dimensionen.

Die Hieroglyphen, welche Ähnlichkeit mit Tierfiguren haben, wie z. B. die der alten Ägypter, aber auch der Chinesen, sind noch nicht enträtselt worden. Die überall aufgestellten Statuen von Männern und Weibern, aus grauem Lavagestein gemeißelt — oder wahrscheinlicher einfach mit dem Messer geschnitten, worüber wir später sprechen werden — bestehen immer nur aus Kopf und Rumpf und sind trotzdem bis zu sieben Meter hoch, oben noch eine Krone aus rotem Gestein tragend.

Die noch stehenden Gebäude sind offenbar Priesterwohnungen, Tempel und Gräber gewesen, gewöhnlich dreißig Meter lang, zehn Meter breit und ebenso hoch, und als Dach dient immer eine einzige Steinplatte, welche dort oben hinaufzubringen auch noch für unsere heutigen Ingenieure ein Kunststück bedeuten würde.

Was für ein Volk ist das gewesen, das hier solch ungeheure Bauwerke ausgeführt hat? Malaien kommen nicht in Betracht. Man könnte an die alten Peruaner denken. Aber deren hinterlassene Bauwerke haben so gar keine Ähnlichkeit mit diesen hier.

Dagegen die größte Ähnlichkeit haben sie mit den gewaltigen Grabdenkmälern in China aus den uralten Zeiten der sogenannten MingDynastie, die schon seit Jahrtausenden durch die der Mandschus verdrängt worden ist.

Gar kein Zweifel, hier im Stillen Ozean, zwischen Südamerika und Australien, haben schon einmal Chinesen gehaust!!

Übrigens hat man ja auch in Nordamerika an Felswänden chinesische Inschriften gefunden, Chinesen müssen schon weit vor Kolumbus in Amerika gewesen sein, wie ja auch Isländer und Wikinger.

Aber sonstige Spuren von Chinesen, dass sie sich etwa schon einmal niedergelassen hätten, hat man in Amerika noch nicht gefunden. Nur eben hier auf dieser kleinen, weltverlassenen Osterinsel! — — —

Na, mich hatte dies alles mächtig gespannt. So interessant hätte ich mir die Osterinsel gar nicht vorgestellt.

Ja, es ist doch etwas anderes, wenn man so frei in der Welt herumgondeln kann, als wenn man Kohle und Baumwolle nach einem bestimmten Hafen bringen und den Kurszettel studieren muss. Und wenn man dazu noch so einen Kommodore hat!

Bis nach der Osterinsel hatte ich mit zehn Tagen zu rechnen. Ich kannte niemals etwas von Langeweile, wusste mich mit meinen Jungen und mit meinen Büchern zu amüsieren. Und dann sorgte diesmal auch der Kommodore einige Tage für Unterhaltung.

Der kam während dieser Fahrt einmal ins Wandern. Fünf Tage hatte er sich ausgeschlafen, nun wollte er sich Bewegung verschaffen, nach dem Grundsatze: wandern, wandern, immer wandern, wandern, wandern... und so in infinitum.

Am Montag früh hatte es angefangen. Er war wie gewöhnlich bei schönem Wetter zur Morgenpromenade an Deck gekommen, marschierte wie immer zwischen Fock- und Besanmast auf und ab, tadellos angezogen, mit blankgewichsten Stiefeln, immer so leise spöttisch und doch gutmütig vor sich hin lächelnd — so recht in sich selbst vergnügt.

Da passierte es zum allerersten Male während solch eines Morgenspazierganges, dass er einmal vor mir stehen blieb.

»Nun, Herr Kapitän?«

»Mr. Tischkoff?«

»Haben Sie über die Osterinsel nachgelesen?«

»Jawohl, einen sehr gründlichen Artikel.«

»Von wem sollen die alten Bauwerke sein?«

»Wahrscheinlich von Chinesen aus der MingDynastie.«

»Hm. Haben Sie auch von der Felsenklippe gelesen, die westlich von der Osterinsel liegt?«

»Jawohl, drei Kilometer davon entfernt.«

»Was sagen Ihre Bücher darüber?«

»Nichts weiter. Eine flache Felsenklippe ohne jede Vegetation.«

»Wie groß?«

»Das steht nicht einmal angegeben.«

»Auch sonst nichts weiter?«

»Gar nichts.«

»Wie tief das Wasser zwischen der Insel und der Klippe?«

»Nein. Jedenfalls also tief genug, um das größte Schiff durchzulassen.«

»Hm.«

Und mit diesem Hm ließ er mich stehen und nahm seinen Spaziergang wieder auf.

Die Schiffsglocke glaste die achte Stunde, Mr. Tischkoff marschierte richtig nach achtern und... alle Wetter, er benutzte nicht den Kajüteneingang, sondern drehte davor um, ging nach dem Fockmast zurück.

Was war denn mit dem heute los? Hatte der denn nicht das Glasen gehört? Und der musste die Zeit doch schon in den Knochen haben!

Eine Stunde verging, und mein Kommodore marschierte nun schon die zweite zwischen Fock- und Besanmast hin und her!

Das ganze Schiff geriet in Aufregung. Ich musste eine Verwarnung von Mund zu Mund gehen lassen, dass man den alten Herrn nicht immer so verwundert anstarre.

Der Steward kam mit Tischkoffs zweitem Frühstück. Hilflos blickte er mich an.

Ja, was sollte ich da raten? Mr. Tischkoff promenierte noch immer hin und her, mit militärischem Schritt und Gang, nur den Kopf etwas geneigt, die Arme über der Brust verschränkt, vergnügt vor sich hin lächelnd.

»Trag es in seine Kabine, er wird schon kommen«, befahl ich. Aber der seltsame Alte kam nicht. Am Mittage wanderte er noch immer auf und ab, und am Abend desgleichen. Ich musste für einige Stunden die Koje aufsuchen, und als ich gegen Mitternacht an Deck kam, promenierte er noch immer zwischen Fock und Besan hin und her.

Und so ist er noch bis zum Mittwoch Nachmittag gewandert, also im Ganzen mehr als sechzig Stunden lang, rastlos, aber gemächlich, auf den ganz bestimmten Stellen wieder umkehrend, ganz in Gedanken versunken, manchmal ein ›Hm hm‹ brummend — mehr als sechzig Stunden lang!

Am Dienstag Abend prasselte ein tüchtiger Regenguss herab — hatte für den Spaziergänger gar nichts zu sagen, der ließ sich nicht stören.

Was sollte ich tun?, muss ich noch manchmal fragen.

»Wir wollen ihm sagen, dass es so fürchterlich regnet«, meinte Mahlsdorf, und er wollte keinen Witz machen.

Aber ich wehrte ab. Am anderen Morgen war er noch immer nicht trocken, begann aber dann in der heißen Sonne zu dampfen. Mit seiner Eleganz war es freilich vorbei. Kragen und alles war ja total aufgeweicht gewesen, und durch das Trocknen wurde die alte Steifheit nicht wieder hergestellt.

Wusste der denn gar nichts von Müdigkeit, nichts von Hunger und Durst? Nein, erhaben über alles! Er konnte sich ja dann wieder ein paar Tage ausschlafen, aber ohne alles Essen, der Hunger, der Hunger! — das war es besonders, was ich bei meinem gesunden Appetit nicht begreifen konnte.

Also immer noch eine ganze Nacht durchgewandert, dann noch ziemlich einen ganzen Tag, bis er endlich in der fünften Stunde die Armverschränkung löste, den Kopf etwas hob und seine bisherige Richtung ändernd, vor mich hintrat.

»Hm. Also Sie haben über diese Felsenklippe gar nichts Besonderes gefunden?«

Himmelbombenelement noch einmal! Aber es sollte vielleicht noch besser kommen.

Ich verneinte.

»So so, hm hm. Bitte, lassen Sie doch wieder den Klabautermann in meine Kabine bringen.«

Ich wusste nicht mehr, was ich davon denken sollte. Wollte er diesen menschlichen Automaten wieder ›galvanisieren‹? Konnte der Klabautermann ihm in diesem Zustande etwas von dem Felsenriff erzählen, das für ihn ein so rätselhaftes Interesse hatte?

Da ich mir keine Frage beantworten konnte, dachte ich auch nicht weiter darüber nach — der Klabautermann ward auf seiner Kleiderkiste hineingebracht.

Tischkoff aß erst wieder zu Abend, so mäßig wie sonst, erst gegen zehn Uhr verlosch wie gewöhnlich in seiner Kabine das Licht, was man beobachten konnte, wenn man sich etwas über die Bordwand beugte, am anderen Morgen nahm er den Kaffee ein und promenierte dann wieder an Deck, aber diesmal nur seine festgesetzte Stunde.

Erhaben über Zeit und Raum! Aber so sechzig Stunden lang ununterbrochen hin und her wandern zu können — na ja, der ewige Jude!

— • —

61. Kapitel
Auf der Osterinsel

Originalseiten II.625 — 647

Am zehnten Tage tauchte das einsame Eiland auf. Gebirgig genug, aber ohne jenen steil sich erhebenden, alles überragenden Berg, der sonst immer solche kleine Inseln charakterisiert, welche durch Feuerskraft vom Meeresboden emporgehoben worden sind.

Cookshaven liegt auf der Südseite, eine geräumige Bucht, in die ich direkt hineinsteuerte, nur wenig zur Vorsicht peilend.

Die Umgebung dieser Bucht war flach, grün, aber ohne Bäume. Also nicht das liebliche Bild mit nickenden Palmen, wie es die eigentlichen Südseeinseln sonst immer bieten.

Die eigentliche Palme jener Inseln, die Kokos, käme hier auch gar nicht fort, sie überschreitet nicht den 20. Breitengrad. Dagegen würde außer anderen Baumarten die Dattelpalme hier ganz vorzüglich gedeihen.

Weshalb England diese Osterinsel so außer Acht gelassen hat, weiß ich nicht. Schließlich kann England doch auch nicht jede Insel, die es als sein Eigentum betrachtet, in eine Festung verwandeln.

Ja, wenn hier Kohlen gefunden würden! Dann würde die Insel natürlich gleich zur selbstständigen Kohlenstation gemacht werden. Aber auch das Hafenverhältnis ist gar kein so günstiges. Für mein Schiff langte das Wasser noch eben, und die ›Sturmbraut‹ mit ihren tausend Tonnen konnte sich doch nicht mit einem modernen Kriegsschiff vergleichen.

Am Strande erblickten wir einige Hütten, aus dürrem Zuckerrohr zusammengebaut, mit getrockneten Krautblättern gedeckt. Ganz dicht am Wasser standen wohl hundert Eingeborene, höchstens mit einem Binsengeflecht bekleidet, auf den Köpfen hohe Binsenhüte, bewaffnet mit Lanzen und Keulen. Doch alsbald, als ich in die Bucht langsam einsteuerte, wurden die Waffen niedergelegt, heftiges Winken, wobei jeder immer auf andere deutete, die sich schon mit bloßen Augen als Weiber erwiesen.

Ich wusste, dass ich bis dicht an ein höherliegendes Plateau fahren, an diesem festmachen konnte — dies alles berichten ja die nautischen Bücher — aber ich war noch nicht so weit, als sich schon die Hälfte der Gesellschaft ins Meer stürzte und mir entgegenschwamm.

Die andere Hälfte bestieg Kähne und handhabte eifrig die Ruder, und in diesen Fahrzeugen befanden sich meist Weiber.

»Darf ich jetzt einmal fragen?«, wandte ich mich an meinen Kommodore.

»Aber ich bitte sehr!«

»Woher haben die Eingeborenen diese Boote, da doch auf der Osterinsel Bäume fast ganz fehlen sollen?«

»Auf der nördlichen Seite schwimmt viel Treibholz an. Aus geeigneten Stücken fertigen sich die Rapus Lanzen und Keulen, aus Brettern und Stämmen Boote, ganz elende Fahrzeuge, wie sie gleich sehen werden, lediglich dazu benutzt, dass sie nicht nur direkt vom Ufer aus angeln müssen — und für Hüttenbau wissen sie aus diesem Treibholz gar keinen Nutzen zu ziehen, dazu sind diese Burschen auch viel zu faul.«

»Ist ihnen zu trauen?«

»Ja, solange man ihnen immer die Waffe vorhält. Doch selbst ein Einzelner hat nichts zu fürchten, er kann die ganze Insel durchforschen — vorausgesetzt natürlich, dass seine Kameraden in der Nähe sind, oder dass eben ein Schiff hier liegt. Es sind feige Burschen, die vor unseren Waffen, aber auch schon vor unseren Körperkräften einen großen Respekt haben.«

»Was für eine Religion haben sie?«

»Einen Anklang noch an den Mohammedanismus ihrer Vorfahren.«

»Sind noch keine christlichen Bekehrungsversuche gemacht worden?«

»Die sind alle gescheitert, und noch jeder Missionar hat es bald aufgegeben, aus diesen Leuten, welche vielleicht noch in diesem Jahrhundert ausgestorben sein werden, Christen zu machen.«

Die ersten Schwimmer hatten unterdessen das Schiff erreicht, schrien und hielten die Hände hoch.

»Soll ich sie an Bord lassen?«

»Machen Sie ihnen das Vergnügen, dass die lange Schwimmtour nicht umsonst war. Zu fürchten haben wir nichts. Aber instruieren Sie Ihre Leute. Ganz energisch vorgehen! Wer irgendwie aufdringlich ist, wird sofort über Bord geworfen. Und wenn wir an Land liegen, muss alles wieder herunter, keiner darf mehr das Deck betreten.«

Ich ließ Taue auswerfen, die Schwimmer kletterten herauf, schüttelten sich wie die Hunde.

Es waren gelbbraune, kleine, schwächliche Gestalten mit dicken Schädeln und Plattnasen, viele auf dem Kopfe mit Grind bedeckt — elende Gesellen, schon jetzt dem Tode verfallen.

»Talu, talu!«, schrien sie zur Begrüßung, und dann streckten sie die Hände aus, aber dies weniger zur Begrüßung. »Tobacco, Whisky!«

Das waren die beiden einzigen Worte, die sie von englischen Matrosen gelernt hatten.

Doch, der eine konnte ganz perfekt Englisch, der Widerlichste aller Widerlichen. Wie ich später erfuhr, war der hier Geborene in England zum Missionar ausgebildet worden, hatte es aber, hierher zurückgeschickt, vorgezogen, wieder ein echter Rapa Nui zu werden und seine Mutter und später seine Töchter zu heiraten.

Mag diese Andeutung genügen, wie dieses Völkchen lebte. Und doch, noch etwas anderes muss hinzugefügt werden.

Unter den Schwimmern, die jetzt an Bord geklettert, waren doch auch einige jüngere Weiber, die sich aber keineswegs durch Schönheit auszeichneten.

»Tobacco, Whisky«, sagten die Männer und deuteten dabei eifrig auf die Weiber, die sich für die Schwimmtour auch noch ihrer Bastschürze entledigt hatten, und der ehemalige Missionar machte es noch deutlicher.

»Ein Pfund Tabak für meine Frau, eine Buttel Whisky für meine schönste Tochter«, sagte er und schob ein Weib und ein jüngeres Mädchen mit pockenzerfressenem Gesicht vor, »ein halbes Pfund Tabak, ein viertel Pfund...«

Er ging herunter bis zu einer Handvoll Tabak und einen Schluck Whisky, und die Weiber grinsten uns an, verstanden sogar schon das Kokettieren.

Na, guten Appetit!

Das war die ganze ›Kultur‹, die englische Seeleute diesem Naturvölkchen beigebracht hatten — dass sie ihre Frauen und Töchter und vielleicht auch Großmütter verschacherten für eine Handvoll Tabak und für einen Schluck Whisky.

Doch das findet man auf allen diesen Südseeinseln, gleich in Batavia ist es ganz genau dasselbe. Die englischen und holländischen Seeleute sind nicht einmal dafür verantwortlich zu machen, diese malaiischen Eingeborenen und SüdseeInsulaner sind wirklich naive Kinder, die den Fremden eine Freude bereiten wollen, und wenn sie ein Gegengeschenk bekommen, so nehmen sie das natürlich gern an.

Doch auf den malaiischen und anderen Südseeinseln bekommt man indes wenigstens hübsche Weiber angeboten, manchmal sogar Schönheiten, aber hier — — guten Appetit!

Das hier waren nur die ersten Weiber, die von den Ehegatten, Brüdern und wohl auch Söhnen gezwungen worden waren, gleich nach dem Schiffe zu schwimmen; denn wer zuerst kommt, mahlt bekanntlich zuerst, und auch hier war schon starke Konkurrenz.

Dann kam noch der große Haupttrupp von Weibern in Kähnen, jetzt ging es erst recht los.

Ich ließ kleine Pakete Tabak verteilen, auch einige Flaschen Rum — mochten sich diese nackten Kerle darum balgen, wie sie wollten. Als einmal eine Flasche zerbrach, krachten einige Köpfe zusammen, so schnell hatten sich nämlich die Nächststehenden zu Boden geworfen, um das kostbare Feuerwasser von den Deckplanken aufzulecken.

Unterdessen hatten wir das Plateau erreicht, einige Felsen waren vorhanden, an denen schon so manches Schiff festgemacht haben mochte, und als auch wir dies getan, musste das ganze Gesindel von Bord, und wer zu lange zögerte, der flog, darin brauchten meine Jungen gar nicht erst instruiert zu werden, nur waren sie so rücksichtsvoll, immer nur nach der Wasserseite über Bord zu befördern, auf dem felsigen Boden hätten sich die Expedierten doch zerschlagene Knochen holen können.

Wir waren nachmittags in der vierten Stunde angekommen, heute war doch nichts mehr zu machen, morgen sollte beizeiten aufgebrochen werden.

Schon unterwegs hatte Tischkoff gefragt — alle Einzelheiten kann ich ja nicht immer anführen — ob ich dünne Strickleitern an Bord hätte, es waren während der Fahrt drei Stück vorhanden, desgleichen die gewünschten Spitzhacken und Spaten. Denn so ein Schiff ist für weite Reise ja mit allem ausgerüstet, was man bei einem Schiffbruch an einer einsamen Insel brauchen könnte. Dieser Fall wird auf der Seemannsschule tatsächlich immer im Auge behalten, wenn die Schüler eine ganze Schiffsausrüstung zusammensetzen müssen, da vergisst man wohl auch am leichtesten nichts — man soll sich immer in die Lage eines Robinsons versetzen, was der vom frühen Morgen bis zum Abend braucht, um sich das Leben so bequem wie möglich zu machen, und da dürfen natürlich auch nicht die Stecknadeln vergessen werden, so wenig wie Stahl und Zunder, falls die Streichhölzer einmal versagen. Übrigens ist es sehr interessant, einmal ein modernes Ausrüstungsgeschäft für Expeditionen und Jäger zu besichtigen, wie ich in London eins besucht habe, diese tragbaren Betten, Kessel und dergleichen, Spaten als Spazierstöcke, deren Rohr ein wahres Magazin für kleine Gebrauchsgegenstände ist, unterschiedlich für den Nordpolreisenden, wie für den Afrikaforscher oder den Australiendurchquerer, und da sieht man erst, was für eine Rolle Feuerstein, Stahl und Zunder noch heute spielen.

Inzwischen hatte sich Tischkoff mit den Malaien unterhalten, wovon wir anderen kein Wort verstanden, und er hatte einen Mann ausgewählt, welcher versicherte, auf der ganzen Insel jede Quelle zu kennen. Dieser würde uns führen.

»Und aus wie viel Leuten soll die Expedition sonst bestehen?«, fragte ich dann.

»Wir nehmen nur drei Matrosen mit, welche unser Gepäck tragen — Strickleitern, Spaten, Hacken und einigen Proviant. Womöglich die besten Fußgänger, wenn Sie die kennen.«

Ich hatte meinem Kommodore noch kein Wort von meinem Erlebnis in der Fucusbank gesagt, wo ich die besten Fußgänger ja kennen gelernt. Er hatte mich niemals gefragt, obgleich ich bestimmt wusste, dass er darüber orientiert war. Der gehörte doch auch mit zu jener geheimen Verbindung.

»Soll keiner meiner Offiziere mit?«

»Bitte, ich möchte mit Ihnen allein sein.«

Schade! Ich hätte einem oder dem anderen Wissbegierigen und Abenteuerlustigen gern die Freude gemacht. Nun, dazu war ja noch später Zeit, Tischkoff, der überhaupt oftmals die Gedanken erraten konnte, sagte das gleich selbst.

»Die Herren können ja noch später eine Expedition machen, nur bei dieser ersten Kundschaftstour möchte ich mit Ihnen allein sein. Und dann nehmen wir noch Goliath mit, Ihren zweiten Bootsmann, und zwar soll ihm nichts weiter aufgebürdet werden, als was wir selbst tragen müssen.«

Es war das erstemal, dass Tischkoff für den Neger, der ja auch so halb und halb für mich ein Rätsel war, Interesse zeigte.

Am anderen Morgen beim ersten Sonnenstrahl brachen wir auf, also Tischkoff und ich, Goliath, wie wir, nur Gewehr und Feldflasche tragend, die drei bepackten Matrosen, und Soliman, der Führer.

Es war ein köstlicher Morgen, und die Landschaft machte mir einen ganz anderen Eindruck als gestern, da ich sie wegen des Fehlens von nickenden Palmen, die ich bei einer Südseeinsel bestimmt erwartet, öde gefunden hatte.

Im Gegenteil, diesen frischen, grünen Graswuchs, der hier überall den Boden bedeckt, findet man natürlich auf keiner jener Koralleninseln, eigentlich überhaupt nicht in den tropischen Zonen, selbst in Ägypten und noch in Italien und Griechenland kann man sich nirgends ins Gras legen, überall Dornen und Disteln, welche hier gänzlich zu fehlen schienen, und so bin ich überhaupt gar kein so großer Freund der tropischen Gegenden. Deutsche Triften und deutsche Eichen sind es, oder ich will germanische sagen, denn da kommt hauptsächlich auch die unsagbar reizvolle Landschaft Englands in Betracht, von der ich so oft sehnsuchtsvoll träume, wo man keine Schlangen und Skorpione zu fürchten braucht, kein Fieber und andere Krankheiten, auch im heißen Sommer nur wenig von Mücken belästigt wird, was alles, wie ich gelesen, auch von dieser einsamen Insel gilt, auf der wirklich wegen ihrer glücklichen Lage ein ewiger Frühling herrschen soll.

Nur dass hier aller Baumwuchs fehlt.

»Wie kommt das nur?«, fragte ich meinen Begleiter nach einer vorausgegangenen diesbezüglichen Bemerkung seinerseits.

»Es ist eben eine isolierte Insel, eine kleine Welt für sich, die ihre Eigentümlichkeiten hat, sogar ihr eigenes Tierreich. Denken Sie an die GalapagosInseln. Auf diesen kommen ebenfalls zahlreiche Pflanzen und Tiere, wie Vögel und sogar Insekten vor, welche sonst nirgends in der Welt zu finden sind.«

»Aber werden hier gepflanzte Bäume fortkommen?«

»Gewiss, alle, welche in diese Region passen, und das dürfte eine große Anzahl sein. Neben der Dattelpalme wird der Apfel gedeihen können, und dann vor allen Dingen der Weinstock, wie z. B. in Palästina.«

»Trotzdem muss ich mich noch immer wundern, dass gar keine solche Bäume hier vorkommen. Sollten Vögel mit unverdautem Samen nicht für die Verbreitung solcher Bäume sorgen?«

»Dann könnten doch nur Zugvögel in Betracht kommen, die sich bei ihren Wanderungen hier niederlassen. Hierher kommen aber eben keine Zugvögel. Weshalb nicht, das weiß ich freilich auch nicht. Die Osterinsel ist niemals eine Raststation für Wandervögel gewesen, und ich wüsste auch gar nicht, welche darüber hinstreichen sollten.«

»Dass aber nur England noch gar nicht auf den Gedanken gekommen ist, diese gesegnete Insel zu kultivieren, sie könnte doch Tausende von fleißigen Kolonisten ernähren, man braucht doch nicht immer gleich an eine Seefestung mit Kriegshafen zu denken.«

»Die Osterinsel wird wahrscheinlich Privatbesitz sein.«

»Privatbesitz?!«

»Sehr leicht möglich. Erinnern Sie sich, dass zur Zeit, als Australien entdeckt und von England annektiert wurde, dieses ganze Festland mit sämtlichen umliegenden Inseln den englischen Lords, der englischen Adelsgesellschaft zugesprochen wurde, welche die Verpflichtung übernahmen, das neue Land nach und nach unter Kultur zu bringen. Es war also damals so ein Verhältnis, wie es noch heute Belgien mit seinem afrikanischen Besitz, dem Kongostaat hat — gewissermaßen eine Aktiengesellschaft, nur unter dem Schutze der Heimatflagge stehend, dafür Abgaben zahlend. Australien war überschätzt worden, die englischen Lords traten nach und nach von ihren Verbindlichkeiten zurück, aus dem Privatbesitz wurde Regierungsland. Aber das ist nicht überall der Fall. Noch immer gehören in Australien ungeheuere Landstriche englischen Lords und Grafen, welche den Verkauf an Kolonisten Bankinstituten übergeben haben. Und dasselbe gilt auch von zahllosen Inseln oder ganzen Inselgruppen des australischen Archipels. Ich weiß es nicht bestimmt, aber ich bin fest überzeugt, dass auch diese Osterinsel englischer Privatbesitz ist.«

Ich dachte im Augenblick nicht daran, dass es doch seltsam sei, wie dieser Mann, der ja sonst so genau schon über die Osterinsel orientiert war, dann nicht auch ihren Besitzer genau kenne.

Mich beherrschte jetzt nur ein einziger Gedanke.

»Dann wäre diese Insel vielleicht noch käuflich zu erwerben!!«

»Daran möchte ich gar nicht zweifeln.«

»Aber«, wurde ich von allein gleich wieder kleinlaut, »das Hoheitsrecht würde sich England doch nicht nehmen lassen.«

»Nein, das freilich nicht. Was England einmal in Händen hat, das gibt es auch nicht wieder heraus. Die englische Flagge müsste hier immer wehen.«

»Ach, dann ist es nichts, dann ist es nichts!«, seufzte ich.

Da klopfte mir Tischkoff lächelnd auf die Schulter, eine Vertraulichkeit, deren ich ihn gar nicht für fähig gehalten hatte. Der herrliche Morgen musste daran schuld sein.

»Vertrauen Sie nur meiner Führung«, sagte er freundlich, »Sie werden nicht schlecht dabei fahren. Es kann doch einmal der Fall eintreten, dass auch England etwas aus den Zähnen lässt — vielleicht gegen einen Tausch, wobei es Vorteil hat.«

(Hierbei möchte ich an Helgoland erinnern, welches England an Deutschland gegen Sansibar vertauschte, muss aber leider auch die Frage aufwerfen: Wer hat hierbei den Vorteil gehabt? Was hatte der Engländer überhaupt auf Helgoland zu suchen?)

Zuerst waren wir über eine grasige Fläche marschiert. Am Strande hatten jene Eingeborenen, ein besonderer Fischerstamm, einige Bananen und Kürbisse gezogen, am Fuße des niedrigen Gebirges, noch im Hügelland, fanden wir eine Ansiedlung mit viel mehr bebautem Boden.

Die Eingeborenen hier, ebenso primitiv lebend, waren nur nach Tabak lüstern, nicht nach Schnaps, waren überhaupt gar nicht so aufdringlich, ja, sie zeigten sogar schon einen anderen Typus.

Es war sehr lehrreich, mit Tischkoff auf Expedition zu gehen, obschon ich mir wohl ein Urteil von allein gebildet hätte.

Je größer ein Gebiet mit günstigen Kommunikationsverhältnissen, desto mehr verallgemeinert sich auch die Bevölkerung, und umgekehrt.

In Amerika ist der Unterschied zwischen der Bevölkerung am Atlantischen und westlich am Stillen Ozean ja gar nicht so groß, Yankee bleibt immer Yankee. In dem politisch und auch natürlich begrenzten Deutschland findet man schon die verschiedensten Menschen dicht nebeneinander wohnen, von dem Unterschied zwischen einem Bayern und einem Friesen oder Pommern gar nicht zu sprechen.

Diese isolierte Insel hier konnte man als einen selbstständigen Erdteil betrachten — die Größe hat ja dabei eigentlich gar nichts zu sagen. Es hatten sich darauf verschiedene Stämme abgesondert, mit verschiedener Politik, ein Stamm durfte nicht das Land des anderen betreten, und mochte dieses ›Land‹ auch nur einen Quadratkilometer betragen, so hatten sie sich im Laufe der Zeit doch auch selbstständig entwickelt.

Denn mochte die Entfernung von diesem Stamme im Hügellande nach der Küste auch nur eine Viertelstunde betragen, dorthin durften diese Kürbisbauern nicht; das Privilegium, Schiffe anzubetteln, beanspruchten jene Fischer für sich allein, und wurden die Grenzen überschritten, dann kam es zum ›Krieg‹. Deshalb auch reiben sich diese Eingeborenen der Osterinsel so schnell auf, denn solche Übergriffe kommen ja häufig genug vor.

Wir wussten uns auch diese Eingeborenen vom Leibe zu halten, und bald begann der Aufstieg, der durch gangbare Pässe unterbrochen wurde. Doch die höchste Erhebung auf der Osterinsel beträgt kaum dreihundert Meter.

Da erblickten wir die ersten beiden Bildsäulen, welche den Eingang zu einem Passe zu bewachen schienen. Ich habe kaum noch etwas hinzuzufügen. Sechs Meter große Figuren, Männer darstellend, nur aus Rumpf und Kopf bestehend, aus einem grauen Steine gemeißelt, auf dem Kopfe eine Krone von rotem Stein tragend.

Doch von künstlerischer Gestaltung gar keine Spur, alles so plump wie möglich. Kaum das Gesicht war zu erkennen, nur durch einen Zinken und durch einige Einschnitte charakterisiert, Nase, Augen und Mund darstellend. Gerade als wenn ein Kind aus Semmelteig eine menschliche Figur machen will, da sind Arme und Beine das schwerste daran, sie brechen immer wieder ab, es bleibt bei Kopf und Rumpf, und die Nase wird durch ein Klümpchen markiert. Anders war es auch hier nicht, und es fand seine Erklärung, wenn man an Chinesen dachte. Diese haben in der Plastik und in der Malerei ja nie etwas geleistet.

Tischkoff kratzte lange mit dem Messer an der einen Figur herum.

»Für was für eine Gesteinsart halten Sie das?«, fragte er dann.

»Ich muss gestehen, dass ich in der Gesteinskunde durchaus unbewandert bin. Am sichersten erkenne ich nur buntscheckigen Granit.«

»Aber Lava haben Sie doch schon gesehen.«

»Ja, ganze Lavafelder, schmutziggrau bis schwarz, das ist aber keine... und doch, habe ich nicht gelesen, dass alle diese Figuren, wie die Bauten, aus Lava gefertigt sein sollen?«

»So ist es auch.«

»O nein, das ist doch keine Lava! Die kann man ja gar nicht mit dem Meißel bearbeiten, die ist doch viel zu hart und spröde.«

»Geehrter Herr Kapitän, was ist überhaupt Lava? Jede Gesteinsart, welche ein Vulkan in feuerflüssigem Zustand ausspeit oder abfließen lässt, heißt nach ihrer Erstarrung Lava, ganz gleichgültig, ob Granit oder Basalt oder Diorit oder sonst etwas. Nun allerdings verändert sich das betreffende Gestein durch das Schmelzen und dann durch die schnelle Erstarrung ganz bedeutend.«

Weiter sagte Tischkoff nichts, obgleich seine Erklärung doch eigentlich noch längst nicht zu Ende war.

Wir setzten unseren Marsch fort, nur selten klettern müssend. Ich fasse alles kurz zusammen. Wir sahen solcher Figuren genug, zum Teil mit Hieroglyphen bedeckt, wie sie auch in langen Zeilen an glatten Felswänden eingemeißelt waren; wir fanden große Gebäude, wie ich sie schon früher beschrieben, für mich aber ohne weiteres Interesse, einfach viereckige Steinkästen, innen ein leerer Raum — höchstens bewunderte ich, wie man diese mächtigen Quaderblöcke, auch so ein weißgrauer Stein, da oben hinaufgebracht hatte, und noch mehr staunte ich die riesigen Steintafeln an, von denen jede immer ein ganzes Dach bildete, wie man die überhaupt nur so ohne Fehler gebrochen haben konnte.

»Wie ist das bloß möglich?«

»Ich werde Ihnen die Erklärung hoffentlich noch heute geben können«, entgegnete Tischkoff, ohne sich nach seiner Weise vorläufig weiter darauf einzulassen.

Wir kamen nicht allzu schnell vorwärts, nämlich weil Tischkoff hin und wieder von den Matrosen ein Erdloch auswerfen ließ, zu welchem Zweck, teilte er uns nicht mit.

Er trieb eben geologische Studien, untersuchte die zum Vorschein kommende Erde — oder es war wohl Ton — rieb sie prüfend zwischen den Fingern, suchte sie zusammenzukneten, ließ aber auch ziemlich tiefe Löcher in den Steinboden hauen, und zwar sowohl vertikale als in Felswänden horizontale, bis er, wenn das Loch eine Tiefe von einem Viertelmeter erlangt hatte, Einhalt gebot, und sein Kopfschütteln sagte mir, dass er mit irgend etwas nicht zufrieden war.

Dann hatten wir einen Krater erstiegen, standen vor seiner Öffnung.

Wie solche Kratermündungen entstehen, habe ich schon früher einmal erwähnt, und so zeigte auch hier der Trichterkessel jene Galerien, sodass das Ganze ein vollkommenes Amphitheater mit rundherumlaufenden Sitzen bildete, das einige Tausend Zuschauer gefasst hätte. Nur ein Platz für die Szene hätte geschaffen werden müssen: Denn obgleich die Mittagssonne hier direkt hineinschien, war der Grund kaum zu erkennen.

»Wahrhaftig, solch einen Krater sollte man in ein Amphitheater verwandeln!«, rief ich.

»Und warum nicht?«, meinte Tischkoff.

»Da brauchten bloß in einer gewissen Höhe Bretter gelegt zu werden, dann ist die Bühne fertig.«

»Das könnte ja geschehen.«

»Ja, aber nun die Zugänge für die Schauspieler, dass die nicht immer über das Publikum hinwegsteigen müssen?«

»Da werden einfach Tunnel gebohrt, Räume im Innern des Berges geschaffen.«

Ich wollte erwidern, dass das doch eine Heidenarbeit sein müsse, dachte aber noch rechtzeitig an Karlemann, was der in dieser Hinsicht schon auf seiner Seeburg alles geleistet hatte.

Von hier oben aus konnte man auch die ganze Insel überschauen, nur nach Osten hin versperrte ein höherer Berg etwas die Aussicht.

Doch Bemerkenswertes bot diese Übersicht sonst nicht. Auch mein Schiff war deutlich zu sehen, ohne Fernrohr, scharf hob sich jede Rahe vom blauen Hintergrunde ab, und noch weiter dahinter lag die kleine Felsenklippe, die wir natürlich schon beim Einlaufen in die Bucht gesehen, fast passiert hatten. Sie befand sich, wie schon erwähnt, etwa drei Kilometer von der Insel entfernt.

Tischkoff schien sich nicht sattsehen zu können an dem Anblick meines Schiffes. Oder war es jene Felsenklippe, der er seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmete, auch durch das Fernrohr?

Ja, was für eine Bewandtnis hatte es mit dieser Felsenklippe eigentlich, dass er schon einmal davon begonnen, ihr seine Gedankenkraft drei volle Tage und Nächte gewidmet hatte, darüber Schlaf und Essen und alles vergessend? Doch dieser rätselhafte Mann hatte sich alles Fragen verbeten.

»Lassen Sie uns Mittagsrast halten«, sagte er.

Wir brauchten nur wenig zurückzusteigen, um zu einer Quelle zu gelangen, welche uns Soliman schon vorhin beim Aufstieg gezeigt hatte.

Solcher frischer Quellen, aus Felsspalten hervorsprudelnd, gab es zahlreiche, nach Solimans Behauptung sogar zahllose, aber keine einzige erreichte den Strand, sie alle verschwanden bald wieder in anderen Felsspalten.

Ebenso wuchs auf den Abhängen überall ein niedriges Buschwerk mit starken, trockenen Zweigen, es lieferte uns Feuerholz, und wie schon das Frühstück, verbesserten wir auch das Mittagessen durch Eier von Möwen, deren Nester überall an den Felsen klebten.

Dann pflegten wir unter einem schattigen Felsvorsprung etwas der Ruhe. Nur Tischkoff brauchte eine solche nicht. Wie schon manchmal, griff er auch jetzt selbst zur Spitzhacke, meißelte in einiger Entfernung von unserem Lager in dem schrägen Felsboden herum.

Da rief er meinen Namen. Ich eilte hin.

Er hatte ein ziemlich tiefes Loch gegraben oder gemeißelt, aber es sah mehr aus, als habe er eine Steindecke abgehoben, es lagen kleine Platten da, und darunter zeigte sich ein roter Ton, aus welchem er jetzt mit dem Messer große Stücke herausschnitt.

»Wissen Sie, was das ist?«, fragte er mit leuchtenden Augen, nur solch ein viereckig geschnittenes Stück hinhaltend.

Ich nahm es, wusste erst nicht, was ich damit sollte, befühlte es, betrachtete es von allen Seiten — dann fiel mir auf, dass sich diese Masse doch eigentlich gar nicht so weich anfühlte, um sie so einfach mit dem Messer schneiden zu können. Ich zog mein eigenes Dolchmesser — ja, die Masse war wohl zu ritzen, abzuschaben, wie etwa Speckstein, aber doch nicht zu schneiden, und ich sah, wie Tischkoff da mit seinem einfachen Taschenmesser noch immer große Würfel und Platten aus dem Loche schnitt, als wäre die Masse Butter oder doch der weichste Ton.

»Wie kommt denn das?«

»Legen Sie den Würfel auf den Boden und schlagen Sie ihn mit dem Messer durch.«

Ich befolgte die Anweisung. Mit Leichtigkeit konnte ich den Würfel mit dem Messer durchschlagen oder vielmehr durchschneiden, der Stahl fand nur an der äußeren Kruste einen Widerstand, sonst schnitt er leicht hindurch.

Das Innere des Würfels war also ganz weich — aber es dauerte gar nicht lange, nur eine Minute, so konnte ich die Masse nicht mehr schneiden, nur mit einiger Anstrengung abschälen, dann ging auch das nicht mehr, das Innere wurde merklich härter, bis wieder eine feste Kruste vorhanden war...

»Das ist australischer Seifenstein!«, rief ich.

»Sie sagen es.«

Gehört und gelesen hatte ich schon genug davon, aber noch keinen Seifenstein zu sehen bekommen. Er kommt sonst wohl nur in Australien vor, am meisten an der ganz unkultivierbaren Westküste, wo man gar keinen Nutzen davon hat, bildet dort meist Hügel.

Erst muss man die harte Decke bis zu einem Meter stark mit dem Meißel oder der Spitzhacke entfernen, darunter liegt der noch weiche Stein, weiß grau und auch rot, so weich, dass man ihn mit dem Messer schneiden kann, und je tiefer man dringt, desto weicher wird er, allerdings nur bis zu einem gewissen Grade, zerlassene Butter findet man nicht.

Diese weiche Masse erhärtet schnell unter dem Einflusse der atmosphärischen Luft, wird wohl oxidieren, aber nur die äußere Umhüllung; doch die Verhärtung dringt immer tiefer, je nach Umfang des geschnittenen Steines.

Der Kern kann noch weich sein, so hat man schon einen festen Baustein, der allen Witterungseinflüssen trotzt — nur nicht dem Feuer. In diesem zerbröckelt er zu einem losen Pulver.

Man hat viel experimentiert, diesem Seifensteine seine ursprüngliche Weichheit zu erhalten oder wiederzugeben, dann könnte er von Australien ausgeführt werden. Allein das ist noch nicht geglückt. Er erhärtet unter der Hand und ist vorläufig durch nichts wieder weich zu bringen. Daher hat ein Ausführen keinen Zweck, Bausteine braucht man nicht erst aus Australien zu holen, da stellen sich auch gepresste Steine viel billiger.

Etwas Ähnliches findet man übrigens in Nordamerika, den sogenannten Pfeifenton, aus dem die Indianer ihre Pfeifenköpfe schnitzen. Auch diese rote Masse lässt sich leichter schneiden als Speckstein und wird an der Luft bald glashart sowie feuerbeständig. Aber sein Vorkommen ist so selten, dass die Indianer die Stellen, wo man ihn findet, als Heiligtümer betrachten.

Aber hier an Ort und Stelle — welche Perspektive eröffnete sich vor meinen Augen! Ich schnitt mir schon einen ganzen Palast mit dem Taschenmesser zurecht!

»Mr. Tischkoff, wissen Sie denn nicht, wem diese Insel gehört?«

»Wir wollen sehen, was sich machen lässt«, war seine ausweichende Antwort, aber doch schon eine kleine Zusage enthaltend.

Jetzt war ich es, der keine Ruhe mehr kannte. Ich wurde nicht müde, aus dem Loche die weißgraue Masse auszustechen und Würfel zu schneiden und Kugeln zu drechseln, denn man konnte das Zeug wirklich kneten, und bald wurde ich dabei von den drei Matrosen unterstützt, und immer mehr bildeten wir uns zu Künstlern aus, auch wir formten Männer und Tierfiguren — aber sie waren danach. Ägyptische Götzenbilder sind immer noch kenntlicher in dem, was sie vorstellen sollen.

»Ja, da muss man sich doch mit dem Taschenmesser bis in den Krater hineinschneiden können!«, meinte ich dann.

»Wir wollen zuerst lieber die Öffnung benutzen, welche schon die Natur geschaffen hat«, lächelte Tischkoff.

Wir drangen von oben ein. Hilfsmittel waren nicht nötig, wir konnten wie von Bänken herabspringen, höher waren die einzelnen Galerien nicht, welche allerdings noch, um als Theatersitze dienen zu können, hätten bearbeitet werden müssen, denn da gab es noch manchen spitzen Stein.

An einer sowieso lädierten Stelle — denn ich hätte gar nicht gewagt, dieses Kunstwerk der Natur zu verstümmeln — trieben wir einmal mit Meißel und Spitzhacke ein Loch. Richtig, immer weicher wurde der erst stahlharte Stein, bis wir nach einem Viertelmeter ihn schon wie Speckstein herausholen konnten, dann sogar wie Butter.

Immer enger wurde der Trichter, aber sechzig Meter tief waren wir mindestens hinabgestiegen, ehe uns ein kaum zwei Meter breites Loch entgegengähnte. Aus diesem war einst die Lava hervorgequollen, mit Vehemenz herausgepustet worden, sodass der ganze übrige Krater von Schlacke gereinigt wurde. Seitliche Gänge, die man sonst oft bei Kratern findet, fehlten hier gänzlich.

Ein hinabgeworfener Stein, den wir losschlugen, fing bald an zu poltern, er schlug gegen die Seitenwände, so sorgsam wir ihn auch in der Mitte hatten hinabfallen lassen. Immer schwächer wurde das Poltern, bis es für unser Ohr verstummte. Also Grund konnte der Stein nicht so bald gefunden haben.

Tischkoff ließ die drei mitgenommenen Strickleitern zusammenbinden, jede zehn Meter lang, zu befestigen war hier kein Seil, wir mussten die Strickleiter halten, Tischkoff schickte sich an, hinabzuklettern.

»Ich habe eine kleine Taschenlaterne bei mir«, sagte ich. »Danke, ich habe sie nicht nötig.«

Er verschwand. Um die dreißig Meter hinab- und wieder heraufzuklettern, besonders wenn man unterwegs einmal Halt machte, war eine Viertelstunde nicht viel, uns oben aber wurde sie gar lang.

Endlich tauchte sein Kopf wieder auf.

»Ich habe noch keinen Grund gefunden.«

»Zweigen seitliche Gänge ab?«

»Gar nicht. Es ist auch nichts Interessantes dabei, Sie brauchen sich nicht erst hinab zu bemühen.«

Dass wir noch einmal da hinab müssten, das stand ja fest, nur jetzt nicht, wir hätten erst mehr Seile holen müssen.

Wir stiegen wieder hinauf und auf der äußeren Seite hinab, fanden im Tale auf der anderen Seite wieder eine Ansiedlung von Eingeborenen, die uns mit köstlichen Melonen bewirten konnten. Tischkoff unterhielt sich längere Zeit mit ihnen, dann war unser Ziel der Krater Teranuhau, die höchste Erhebung der Insel.

Am Fuße desselben mussten wir übernachten. Noch in der Morgendämmerung begannen wir den Aufstieg, und bald bemerkten wir an gewissen Zeichen, dass hier einst eine schiefe Fläche gewesen war, auf der man vom hochgelegenen Steinbruch die Blöcke hinabrutschen lässt.

Doch ganz so deutlich war das nicht mehr zu erkennen, es war ja schon längst alles wieder verwittert, mit Gras und Buschholz bewachsen.

Aber einem alten Steinbruche näherten wir uns gewiss, und dass ein solcher und der hauptsächlichste auch auf diesem Berge gewesen, hatten mir schon meine Bücher erzählt — unserem eingeborenen Führer war von alledem nicht das mindeste bekannt — in der neunten Stunde hatten wir den Zugang erreicht, eine Schlucht mit zahlreichen Löchern oder vielmehr Gängen, torartig weit. Wir drangen in die erste ein. Wie sich später zeigte, liefen sie schließlich alle zusammen.

Ich kann nicht beschreiben, was wir fanden. Eben ein ganzes Labyrinth von Gängen und Kammern, neben, über- und untereinander. Hier hatten die alten Chinesen ihre Bausteine herausgeschnitten, und manchmal mochten sie mit dem hier rötlichen Material nicht zufrieden gewesen sein, sie wollten weißes haben, und so hatten sie nur enge Gänge geschnitten, seitwärts und nach oben und nach unten, bis sie wieder weißen Seifenstein fanden, da entstanden wieder mächtige Kammern, nur Stützen ließ man stehen, und die Gänge waren so erweitert worden, dass man größere Blöcke hindurchschleifen konnte, alles an den Spuren deutlich zu bemerken, während man manchmal aus solchen schmalen Gängen auch unverrichteter Sache umgekehrt war, und so war aus dem ganzen Berge mit seinen vierhundert Metern Höhe ein richtiger, siebartig durchlöcherter Ameisenbau von riesenhaften Dimensionen geworden.

Ob die Gänge auch in das Innere des Kraters mündeten, wussten wir noch nicht, das Eindringen in dieses Labyrinth war ja gar nicht so gefahrlos, da mussten erst Vorkehrungen getroffen werden.

Vor allen Dingen brauchte man hier natürlich eine Lampe. Nur ich hatte eine solche bei mir, und da es nun auch zahllose Stufen und endlose Treppen und direkt nach unten führende Schächte gab, so musste man sich immer direkt vor die Füße leuchten, die anderen ohne Laterne bekamen gar nichts zu sehen, und so blieben Goliath und die Matrosen lieber draußen — Soliman war überhaupt mit keinem Schritte hineinzubringen — nur Tischkoff und ich traten die größere Forschungsreise ins Innere des Berges an.

Einen Faden der Ariadne, wie weiland Theseus im Labyrinth des Minotaurus, brauchten wir nicht mitzunehmen und abzuwickeln, wir richteten uns nach dem Kompass, und noch mehr genügte für uns, dass wir an jeder Ecke, die wir passierten, in bestimmter Höhe ein Stückchen losschlugen. Das wäre ja noch schöner, wenn man sich dann nicht wieder zurückfinden könnte, mag das Labyrinth auch noch so weitläufig und verzwickt sein.

Sonst habe ich dem, was ich schon gesagt, kaum noch etwas hinzuzufügen. Gänge, Kammern, mächtige Säle und Treppen auf und nieder.

An zwei Stellen meißelten wir in die Wand. Hier brauchten wir nur eine Schicht von wenigen Zentimetern zu durchbrechen, so kamen wir auf immer weicher werdenden Stein, bis wir ihn schneiden, gewissermaßen herauslöffeln konnten.

Das wäre etwas für Karlemann gewesen! Doch warum nur für ihn? Jetzt sollte das etwas für mich werden! Wenn ich nur erst die Insel als mein Eigentum betrachten konnte.

Doch wie kam ich armer Schlucker auf solch einen Gedanken? Nun, ich hatte ja meinen Kommodore. Der hatte mir doch schon einige Hoffnungen gemacht.

Nach etwa zwei Stunden beschlossen wir, lieber umzukehren. Einmal kamen wir schon an Stellen, die wir bereits markiert hatten, dann allerdings konnten wir uns leicht total verirren, um keinen Ausweg mehr zu finden, und außerdem reichte auch das Petroleum in meiner Lampe nur noch für eine Stunde. Wir hatten ja Zeit, wir würden diese unterirdischen Gänge noch einer viel eingehenderen Besichtigung unterziehen.

Nur eine halbe Stunde brauchten wir zum Rückmarsch, was aber doch schon etwas heißen will.

Dann schimmerte wieder vor uns das Tageslicht und... da hatte ich eine seltsame Vision!

— • —

62. Kapitel
Ein Wiedersehen und wie es endet

Originalseiten II.647 — 661

Ich sah in der hellen Öffnung ein Weib stehen — die Jungfrau von Orléans — nämlich deshalb glaubte ich diese zu sehen, weil sie einen Brustharnisch trug und vor allen Dingen in der Hand eine Fahne.

Mein Fuß stockte — ich starrte — und dann stürzte ich vorwärts...

»Blodwen!!«

Ja, sie war es! War noch ganz dieselbe!

Das, was ich für einen Brustharnisch gehalten, entpuppte sich in der Nähe als eine weißseidene Taille mit solchem Schuppenmuster — die Fahne blieb freilich bestehen, an langer Stange ein weißes Tuch, in welches mit Gold die sich über das Meer erhebende Sonne eingestickt war. Oder es konnte ja auch Sonnenuntergang vorstellen.

»Blodwen, ist es möglich!«, rief ich außer mir.

Aber sie sah mich gar nicht freundlich an, vielmehr recht feindselig.

»Herr, wie können Sie wagen, diese meine Insel ohne meine Erlaubnis zu betreten?«, fragte sie schroff.

Ich hatte nichts gehört, ich sah nur sie.

»Blodwen!«, konnte ich bloß wiederholen.

»Herr, wer sind Sie eigentlich?«, fuhr sie in demselben schroffen Tone fort. »Wie können Sie wagen, meine Insel...«

Es hatte schon immer in ihrem finsteren Gesicht gezuckt, und jetzt verwandelte sich dieses plötzlich, lachend hielt sie mir die Hand entgegen.

»Nein, ich tauge nicht zur Schauspielerin. Sei mir gegrüßt, mein edler Richard Löwenherz!«

Ich schlug ein in die Hand. Dann, als ich kaum bemerkt hatte, dass auch sie Begleiter bei sich hatte, wohl Matrosen, ältere Leute, wandelten wir allein in einer gangbaren Schlucht auf und ab, öfters stehen bleibend, wie das Gespräch es ergab. Wir erzählten unsere Schicksale abwechselnd, ein Wort gab das andere. So kann ich dies nur summarisch wiedergeben.

Mein Hauptinteresse drehte sich um Hans. Er war des Nachts durch ihr Fenster gestiegen, ohne dass vorher eine Verständigung erfolgt war, hatte sie gefragt, ob sie frei sein, mit ihm kommen wolle.

»Wie ist er denn nur von der Leuchtturminsel nach London gekommen?«, fragte jetzt Blodwen zunächst.

»Ja, weißt du denn das nicht? Hat er dir denn das nicht selbst erzählt?«

»Ach, das war ja so ein kurioser Kauz!«, war auf diese Frage ihre einzige Antwort, und dann fuhr sie gleich zu erzählen fort.

Hans hatte alles sorgfältig vorbereitet gehabt, auch für Kleider gesorgt.

Zunächst dachte Blodwen nur an ihr Kind, dessen Aufenthalt Hans ebenfalls kannte, auch dieses wollten sie entführen, aber das Eindringen in dieses Haus missglückte...

»Ja, weißt du denn gar nicht, dass in deinem Zimmer dein Wärter tot aufgefunden wurde?«, fiel ich ihr ins Wort.

»Gewiss doch, der Wärter wurde durch das Geräusch herbeigelockt, Hans schlug ihn mit einem Gummischlauch über den Schädel, wir ließen ihn als betäubt liegen, in der nächsten Minute waren wir ja schon durchs Fenster, erst in Liverpool, gerade als wir das Schiff besteigen wollten, hörten wir, dass der Mann tot aufgefunden sei.«

Recht gleichgültig hatte sie es gesagt.

»In Liverpool?«

»Ja, wir fuhren in derselben Nacht noch mit der Eisenbahn nach Liverpool, dort lag ein Passagierdampfer fertig zur Abfahrt nach New York.«

»Nun, und da erfuhrt ihr von dem Tode des Wärters?«

»Ja, da erst.«

»Und Hans?«

»Der wurde wie eine Kalkwand — nun müsse er sich von mir trennen — seine Begleitung könne meine Sicherheit gefährden — und er ging.«

»Das heißt, er blieb in England zurück?«

»Ja, ich konnte ihn nicht halten, und ich musste mich beeilen. Ein Glück nur, dass er mich mit etwas Geld versehen hatte.«

Ich weiß nicht — mir ward immer unbehaglicher zumute.

»Ja, hat er dir denn nicht seine Liebe gestanden?«, entfuhr es mir.

Blodwen blieb vor Erstaunen stehen.


Illustration

»Hans... mich lieben?! Na ja«, fuhr sie gleich wieder gleichgültig fort, »dass er mich riesig verehrte, hatte ich eigentlich schon immer gemerkt, er trug ja auch ein recht eigentümliches Wesen zur Schau, himmelte mich in der Eisenbahn immer so an — aber von Liebe sprach er kein Wort...«

Ich hörte nicht mehr, was sie alles sprach. Mir kam es vor, als wenn sich Blodwen recht verändert hätte. Und mehr noch, ein unsägliches Weh schnitt mir durchs Herz.

»Mein ursprüngliches Ziel«, hörte ich sie dann wieder erzählen, »war ja sowieso New York gewesen, und wie mir schon damals auf dem indischen Schiffe Graf Axel gesagt hatte — ach so, da müsste ich ja erst davon wieder beginnen, wie ich das indische Schiff verließ — aber lassen wir das erst, bleiben wir bei der Hauptsache — also ich hatte mich in das Haus meiner Großtante begeben sollen, du weißt, in der Lostreet.

»Ja, Richard«, fuhr sie mit leuchtenden Augen fort, »du weißt doch, wie ich dir damals von dem Testamente oder von dem Briefe der Lady Hamilton an ihre Schwester erzählte — ja, Richard, da war doch etwas daran, nämlich an den Geisterschätzen — auch jener geheimnisvolle Graf Axel wusste schon davon — kurz, ich hatte jenes Haus kaum betreten, als sich ein Herr meldete, der sich als Abgesandter jenes Grafen Axel oder des Maharadschas zu legitimieren wusste, er half mir mit suchen, wir fanden den Brief, er war in einer Geheimschrift geschrieben... und weißt du, was mir der Unbekannte im Namen des Maharadschas für Ablassung dieses Briefes bot?«

»Nun?«, fragte ich träumend, denn meine Gedanken waren mit etwas ganz anderem beschäftigt.

»Entweder jährlich bis an mein Lebensende eine Million Dollar oder als einmalige Abfindungssumme zwanzig Millionen Dollar!!«

»So so«, brummte ich. Diese Summe machte jetzt auf mich nicht den geringsten Eindruck.

»Ich nahm die einmalige Abfindungssumme.«

»So so.«

»Sie wurde mir sofort angewiesen, sie liegt sicher auf der Bank.«

»So so.«

»Richard, hörst du denn nur gar nicht? Jetzt bin ich wieder reich!!«

»Ich habe es gehört. Und wie wurde es nun weiter?«

»Ja, jetzt kam meine Flucht, der Mord in Betracht. Ich hatte in jenem Herrn, der vorläufig bei mir blieb, einen gar klugen Berater. Viel anhaben konnte man mir in Amerika ja nicht. Ich setzte mich durch die Gesandtschaft mit England in Verbindung, man glaubte meinen Angaben, dass ich ganz schuldlos an dem Morde sei, ich wurde wieder für geistig normal erklärt, ich erhielt mein Kind zurück... unter gewissen Bedingungen, die mir allerdings nur so unter der Hand beigebracht wurden.«

»Zu was für Bedingungen?«

»Ahnst du nichts, Richard?«

»Nein.«

»Ich habe verzichtet.«

Jetzt fuhr ich allerdings empor.

»Du hast verzichtet?«

»Ja.«

»Doch nicht — auf — alle deine Erbschaftsansprüche — auf das Vermögen deines Vaters?«

»Ich habe verzichtet.«

Ich blickte sie an — ich verstand dieses Weib gar nicht mehr — und da sah ich, wie sich Blodwen gegen Norden wendete — »Ja, ich — habe — verzichtet«, — wiederholte sie nochmals, ganz langsam, und da sah ich ihre Augen, diese funkelnden Augen mit dem furchtbaren Blick des Panthers — auch den schrecklichen Hohn in ihrer Stimme hatte ich gehört... und da wusste ich, dass dieses Weib niemals an ein wirkliches Verzichten dachte. Hatte sie es getan, so war dies nur eine Förmlichkeit, eine List gewesen.

Doch gleich war der wilde Blick wieder vorbei.

»Ja, ich habe verzichtet«, wiederholte sie zum dritten oder vierten Male, jetzt aber ganz gleichgültig, oder sogar freudig. »Außerdem forderte ich noch einiges Entgegenkommen. Ich suchte schon längst eine Insel. Als mein zukünftiges Königreich. Ich hatte schon viel von der Osterinsel gehört. Sie war Eigentum des Lords Hektor — du weißt, meines grimmigsten Gegners. Gut, sagte ich, alle diese Erbschaftsstreitigkeiten sollen beseitigt sein, ihr sollt alles schon jetzt haben — wenn ich diese Insel bekomme. Schön, Sie sollen sie haben. Aber England darf nichts mehr einzureden haben, es soll meine eigene Insel sein, mein eigenes Königreich, in dem ich unbeschränkt schalten und walten kann. Und da, Richard, da hat England meine Insel, hier die Osterinsel, als selbstständigen Staat anerkannt!!«

Triumphierend, jubelnd hatte Blodwen es gerufen.

Ich blickte sie fassungslos an. Was für phantastische Kindlichkeiten sprach die da? England eine von einer handvoll degenerierter Eingeborenen bewohnte Insel als selbstständiges Reich anerkennen, dieses Weib hier als Königin?!

»Du glaubst es nicht, Richard? Ich komme soeben von London; lange Verhandlungen haben im Parlament stattgefunden, alles ist rechtskräftig für alle Zeiten niedergelegt, die Königin hat unterschrieben — man hat mich als selbstständige Königin für ewige Zeiten anerkannt...«

Dieses Wort ›für ewige Zeiten‹ ließen sofort alle meine Zweifel schwinden. Und warum denn nicht? England hat doch schon ganz andere Kisten gebaut. Es lässt mitten in seiner Kolonie Südafrika, welches es wenigstens schon immer als Kolonie beansprucht hat, sich ganz ruhig zwei Republiken entwickeln, den OranjeFreistaat und Transvaal, lässt die Buren in dem Glauben, sie seien in ihrem guten Recht, bis sie das Land genügend kultiviert haben — dann geht England vor und ›beweist‹, dass diese Republiken dort ganz unberechtigt existieren, und da es die Buren nicht glauben wollen, sich auf die Hinterbeine setzen, schlägt England diese beiden Republiken einfach in Trümmer.

Und was sagt die Welt dazu? Nicht gerade Amen, aber alle anderen Großmächte sehen doch ruhig zu.

O, England, England!! Wer kann sich mit dir messen!

Und das war nur einmal ein großes Beispiel, so groß, dass es der übrigen Welt gar nicht entgehen konnte.

Aber in wie zahllosen anderen Fällen England ebenso gehandelt hat, besonders bei kleinen, eingeborenen Fürsten, wie in Indien, das entzieht sich ja der heutigen Weltgeschichte!

Und das fast komisch Wirkende dabei ist, dass England jeden Vertrag ›für ewige Zeiten‹ abschließt. Das ist eine eiserne Formel. Nur versteht England die Kunst, diese Ewigkeit immer sehr abzukürzen. Eine Inkorrektheit wird gefunden — schrumm, ist der ganze Vertrag ungültig. Und so hat das unvergleichliche England noch jeden übers Ohr gehauen.

Aber wer mit England geht — ja, Bauer, das ist etwas anderes! Man denke nur an den Raubritter Jameson, der auf eigene Faust in Transvaal einbrach. Damals hieß es, auch in England: So ein Skandal, hängt ihn, kreuziget ihn!! Aber mit einem Male ward's ganz still. Und heute? Heute ist dieser moderne Raubritter wohl Kolonialdirektor! —

Doch ich sagte nichts von alledem, was ich in diesem Augenblicke dachte. Damals machte Jameson zwar noch nicht von sich sprechen, aber Vorbilder hatte er schon genug gehabt, und ich kannte sie, darin war ich bewandert.

»Ich gratuliere«, sagte ich trocken. »Du hast wohl gleich die Fahne mitgebracht, um sie aufzupflanzen?«

»Das ist es, das ist es!«, frohlockte Blodwen, die Fahne schwenkend. »Die Ostersonne, die Sonne eines neuen Tages, einer neuen Zeit. Aber nicht ich will sie hier aufpflanzen, sondern...«

»Nun, wer sonst?«, fragte ich, als sie absichtlich stockte.

»Du kannst noch fragen?«

Wie ihre Augen leuchteten!

Ja, ich wusste es, aber ich wollte nichts wissen.

Sie warf einen Blick hinter sich — wir waren in der Schlucht allein — und da ließ sie die Fahne fallen, und plötzlich warf sie sich an meine Brust und umschlang meinen Nacken.

»Mein Richard Löwenherz!«, erklang es in zärtlichstem Tone, und dazwischen gab es immer einen Kuss. »Endlich, endlich habe ich dich wieder! Ach, wenn du wüsstest, wie ich mich nach dir gesehnt habe! Und du armer Kerl bist meinetwegen in der Tretmühle gewesen! Ach, warum musste dir dieser dumme Hans zuvorkommen! Wie herrlich wäre das gewesen, wenn du mich befreit hättest! Nun aber wollen wir uns nie, nie wieder trennen... Was hast du denn?!«

Ich hatte ihre Küsse nur geduldet, nicht erwidert — das ist gar nicht so leicht zu unterscheiden — jetzt aber musste sie merken, wie ich sie zurückdrängte.

Bestürzt blickte sie mich an.

»Sprich nicht so von dem armen Hans!!«, stieß ich hervor.

»Hans? Wie kommst du jetzt auf den, da wir unser Wiedersehen feiern?«, fragte sie verwundert.

»Der arme Junge hat dich ehrlich geliebt.«

»Mich geliebt? Dieser Junge? Das ist ja köstlich... ja aber,« sie verwandelte sich plötzlich, trat einen Schritt zurück, musterte mich aufmerksam. »Und das kannst du mir so ruhig sagen?«

»Wo ist Hans jetzt?«

»Ich weiß es nicht. Und das sagst du mir so ruhig, dass Hans mich geliebt hat?«

»Ich bin durchaus nicht ruhig. Wo ist Hans, was hast du von ihm gehört? Du willst ja erst von London kommen.«

»Er wird als Mörder steckbrieflich verfolgt, doch er ist noch nicht gefasst. Ich kann ihm beim besten Willen nicht helfen, er hält sich eben versteckt. Was ist denn aber nur mit dir los?!«

Ich hatte mich zusammengerafft.

»Lass uns einmal vernünftig zusammen sprechen, Blodwen!«

»Ich bin immer vernünftig.«

Ich hatte Lust, dies ganz energisch zu widerlegen, doch ich tat es nicht.

»Warum bist du damals auf dem indischen Schiffe ohne Abschied von mir gegangen?«

Sie machte eine unwillige Kopfbewegung.

»Ach, sprechen wir doch nicht mehr darüber!«

»Und doch, gerade dieses muss ich wissen!«

»Nun gut! Es freut mich sogar, dass du es wissen willst. Es zeigt, wie leid dir meine heimliche Entfernung tat. Weil ich eine Närrin war. Und doch nicht. Bedenke doch nur — wie ich auf der Fucusinsel unter den schrecklichsten Umständen dem Kinde das Leben schenkte — es war überhaupt eine seelische Umwandlung, die mit dem Kinde zusammenhing — wie das so ist — und ich hatte von jeher über Rache gebrütet — ich wollte mein Erbteil wiederhaben — tatsächlich, darüber erlahmte meine Neigung zu dir — das Kind war schuld... und dann kam ich auf das indische Schiff —

Graf Axel sprach zu mir von dem Testamente der Lady Hamilton — ob ich von so etwas nichts gehört hätte — jawohl — ich wusste von einem solchen und glaubte, es finden zu können — da wurde mir jene ungeheuere Summe versprochen — und da musste sich bei mir ja alles verwandeln — ich sah die Möglichkeit, in anderer Weise an England Rache nehmen zu können — indem ich scheinbar nachgebe — und dann, Richard, und dann, und dann...«

»Und dann«, kam ich der Stockenden zu Hilfe, »hattest du unterdessen auch erkannt, dass wir nicht zusammen passen, du wolltest einfach fort von mir.«

Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie mich an. Ich hatte das Richtige getroffen, ich sah es ihr gleich an, und darüber war sie erschrocken. Sie gab es dann selbst zu, wusste sich aber wieder gleichgültig zu stellen, sogar zärtlich, was letzteres ja auch keine Verstellung zu sein brauchte.

»Nun ja, ich gebe es zu. Ich wusste, dass ich an deiner Seite nicht am richtigen Platze war — nein, du nicht an meiner — oder wie man's nimmt. Doch lassen wir das! Richard, Richard, es war gut, dass wir uns einmal trennten; denn erst dadurch habe ich gemerkt, wie heiß ich dich liebe...«

Von Neuem wollte sie sich an meine Brust werfen; aber eine abwehrende Bewegung meinerseits genügte, um sie auf die Stelle zu bannen.

»Wollen wir uns auseinandersetzen, Blodwen?«

Jetzt war es ein wilder Blick, mit dem sie mich anstierte, als sie so bewegungslos dastand.

»Du liebst mich nicht mehr, Richard!!«, stieß sie dann mit heiserer Stimme hervor.

Mir ging es doch sehr zu Herzen — mir, dem so überaus gutmütigen Menschen. Aber ich wusste, was auf dem Spiele stand — meine Freiheit, und ich war entschlossen, mir diese unter allen Umständen zu wahren.

»Ja, Blodwen, ich habe dich geliebt —...«

»Du liebst eine andere!!«

»Davon ist gar keine Rede. Aber...«

»Du — liebst — eine andere!!!«

»Auf mein Ehrenwort — nein!«

»Du liebst eine andere!!!«, erklang es zum dritten Male, jetzt in kreischendem Tone, und blitzschnell hatte sie einen Revolver hervorgezogen und ihn auf mich angeschlagen.


Illustration

Ich verschränkte die Arme über der Brust und erwartete kaltblütig, dass sie mich über den Haufen schoss. Ich fürchtete den Tod nicht, kein ewiges Strafgericht — nur den abermaligen Verlust meiner Freiheit.

Ja, hätte ich nicht schon bei meinem Ehrenwort versichert, keine andere zu lieben, ich hätte es jetzt zugegeben, um sie zu reizen. Denn was ging das die an? Ich war Herr meines Willens.

»Schieß zu! Ich war glücklicher, bevor ich dich kennen lernte, und auch, seitdem du mich verlassen hast.«

Eine gute Fügung war es, die mir diese Worte eingegeben hatte. Sie ersparten viele andere, drückten alles, alles aus, wie es mit mir stand.

Meinen Tod hätten sie freilich nicht abwenden können, im Gegenteil. Aber sie schoss nicht. Vielmehr war es, als würde ihr der Revolver von einer unsichtbaren Faust plötzlich aus der Hand geschlagen. Sie selbst sank ganz zusammen.

»Ich weiß, ich weiß — glücklicher ohne mich — ja — ja — ach, meine unglücklichen Launen...«

Dann richtete sie sich wieder hoch auf, wild blitzten mich ihre Augen an, sie streckte gebieterisch die Hand aus.

»Wir sind fertig miteinander! Verlassen Sie diese meine Insel! Mir aus den Augen!«

O, das hatte ich nicht gewollt! Wenigstens im Guten auseinandergehen!

»Blodwen, so wollen wir doch nicht scheiden. Ich bitte dich...«

»Aus meinen Augen, Bettler!!!«

Da fühlte ich, wie ich langsam bis in die Lippen erblasste — da fühlte ich, wie das Zittern in den Fingerspitzen begann, bis es sich über alle Gliedmaßen erstreckte.

»Bettler? Bettler?«, konnte ich nur stammelnd wiederholen. »Einen Bettler nennst du mich?!«

»Nun ja«, fuhr sie mit furchtbarem Hohne fort. »Sie fingen doch Ihren letzten Satz mit einem ›Ich bitte‹ an. Und wirklich, wollen wir doch einmal prüfen! Sie fahren da mit einem Schiffe herum — wem gehört denn eigentlich die ›Sturmbraut‹, mein Herr? Wie viel haben Sie denn dazugegeben? Mit welchem Gelde haben Sie die goldene Kette bezahlt, die sich da so prachtvoll über Ihre Weste...«

Sie kam nicht weiter. Ich hatte die goldene Uhr samt der Kette von der Weste abgerissen, sie zerschmetterte an der Felsenwand, und ich stürzte dem Ausgange der Schlucht zu, wo ich meine Jungen stehen sah.

»Bettler sind wir alle zusammen!«, schrie ich. »Ja, sie hat recht, tausendmal recht — wir sind alle Bettler — kommt, mein Bettlervolk, folgt eurem Bettlerkönig nach!!!«

— • —

63. Kapitel
Wie sich Seezigeuner verabschieden

Originalseiten II.661 — 670

Wie ich an den Hafen zurückgekommen bin, weiß ich nicht. Ich muss meinen Jungen unterwegs alles erzählt haben — natürlich, wie! Immer von dem schmachvollen Gedanken beherrscht, ein Bettler genannt worden zu sein und mich nicht einmal verteidigen zu können — jedenfalls waren meine Jungen in alles eingeweiht und sorgten dann schnellstens dafür, dass auch alle anderen es erfuhren.

»Die Uhr habe ich zerschmettert, die auch ihr gehörte, aber sie soll alles ersetzt bekommen, alles, alles!«, heulte ich.

»Jawoll, Käpt'n!«, sagte Fritz, den ich wegen seiner wunderbaren Handfertigkeit gern auf solche Expeditionen mitnahm. »Ick hävv en fien silbern Ohr, hädd fieftein Schilling kost, dee kann see tjo irst krägen.«

»Alles, alles soll sie wiederbekommen!«, heulte ich weiter. »Alle die Millionen, die sie durch mich verloren hat, wenn auch ohne meine Schuld!«

»Jawoll, Käpt'n, gäbt ju nur tofräden. Wi schostern tosamm, ick hävv ok noch twee Toler in mien Tügkist.«

Dass ich diese kindlichen Trostworte nicht komisch empfand, ist selbstverständlich. Aber wenn ich es nicht hörte, so fühlte ich doch heraus, wie mir meine braven Jungen beistimmten, wie alles, alles auf meiner Seite stand.

Dann hatten wir den Hafen erreicht. Dicht neben der ›Sturmbraut‹ lag eine kleinere Jacht, welche jene Flagge mit der Ostersonne gehisst hatte.

Ja, diese aufgehende Sonne verkündete mir einen neuen Tag, den Anbruch einer neuen Periode!

Am Strande liefen grunzend einige Schweine herum, soeben flatterte vom Deck der Jacht eine Schar Hühner herab. Ich wusste, was das zu bedeuten hatte. Blodwen begann mit der Kolonisation ihrer Insel, und ich jubelte innerlich: Gottlob, Gottlob, dass ich da nicht mitzumachen brauche!!

Aber beruhigt wurde ich dadurch nicht im mindesten, ich befand mich noch in einem Zustande der Raserei.

»Wir sind Bettler, Bettler sind wir!!«, heulte ich nach wie vor. »Herunter mit den Lumpen, die uns nicht gehören!!«

Ich riss tatsächlich schon Jacke und Weste vom Leibe, dann kamen die Stiefel daran.

Die zurückgekommenen Matrosen mussten ihre Kameraden wie auch die Offiziere außerordentlich schnell von dem Vorgefallenen benachrichtigt haben. Rufe der Entrüstung wurden laut, Flüche, und dann sprang Mahlsdorf auf mich zu, der ich eben im Begriff war, auf dem Boden sitzend, mir auch noch meine Hosen auszuziehen.

»Herunter mit den Lumpen, die uns nicht gehören!«

»Nee nee, Kapitän, das machen Sie mal nicht! Auch wir haben uns manches verdient, mindestens Brot und Zeug!«, rief Mahlsdorf, mich mit starkem Arm an meinem Vorhaben hindern wollend.

»Herunter mit den Lumpen!«, schrie ich und schleuderte ihn zur Seite, er stürzte hart, raffte sich aber gleich wieder auf und warf sich abermals auf mich.

»Kapitän, handeln Sie nicht wie ein Wahnsinniger, wir brauchen uns nicht getroffen zu fühlen, wir sind keine Bettler!«

Ich sah sein blutiges Gesicht — er war bei dem Sturze auf die Nase gefallen, oder ich hatte ihn dagegen gepufft — wenigstens gab mir das die Besinnung so weit wieder, dass ich meine Hose anbehielt.

Aber sonst blieb ich meinem Entschlusse treu, und auch meine Aufregung war noch groß genug.

»Wir müssen die Insel und das Schiff sofort verlassen! Niemand nimmt auch nur eine Stecknadel mit — bei Gottes Tod!«

»Ja, Kapitän, wie sollen wir denn da aber von der Insel herunterkommen?«

Ich stutzte nicht lange über diesen gerechtfertigten Einwand. »Den großen Kutter klar! Den müssen wir haben, wir werden ihn dereinst bezahlen!«

»Und wohin denn im offenen Boot?!«

»Hinaus aufs freie Meer, wohin der Seezigeuner gehört — überall ist ja der bettelnde Zigeuner zu Hause — nur fort von hier, fort von hier!!«

»Aber mien Piep darf ich doch mitnehmen, Käpt'n?«, ließ sich da wieder ein Matrose vernehmen. »Ick hävv see mi in Hamborg ehrlich koopt...«

Ich befand mich schon an Bord der ›Sturmbraut‹, eilte noch einmal in meine Kabine, nur, um meine eigenen Papiere aus dem Geldschrank zu nehmen, ich steckte sie zwischen Brust und Hemd, die Schlüssel ließ ich im Panzerschrank stecken, eilte wieder nach oben.

Unterdessen war schon der Kutter, unser größtes Boot, welches bequem vierzig Menschen fasste, ausgeschwungen und herabgelassen worden. Da wir ganz dicht an Land lagen, konnten wir auch von Land aus ins Boot.

Da sah ich Blodwen gerannt kommen, wirklich gerannt, ihr entgegen sprangen laut aufheulend vor Freude die beiden Bulldoggen. Sie mochten die ehemalige Herrin schon vorher begrüßt haben, waren aber bei ihrer Expedition, als sie mich suchte, zurückgehalten worden.

»Richard, Richard!«, schrie sie schon von, Weitem. »Um Gottes willen — was willst du tun? — So war das ja gar nicht gemeint!!«

Ich hörte nicht, wollte nicht hören. Eine Ahnung sagte mir, dass mich dieses Weib doch vielleicht noch herumbekommen möchte, wenn noch einmal eine Auseinandersetzung erfolgte.

»Ins Boot, ins Boot!!«, schrie ich, und wir alle sprangen hinein, griffen sofort zu den Rudern.

Da sah ich auch Mr. Tischkoff mit eiligem Schritt herankommen.

»Sollen wir den nicht mitnehmen?«, meinte auch Mahlsdorf. »Nicht erst einmal mit ihm sprechen?«

Schnell war mein Zögern besiegt, wild fuhr ich auf. »Nein, nein, nein!!!«, schrie ich, oder heulte ich noch immer. »Ich will nichts mehr geschenkt haben, ich will nicht, und ich will nicht!! Fort, fort!!«

»Na, da mag he sich in sien Keeesglock uphäng«, meinte ein Matrose.

Diesmal empfand ich die Komik dieser Bemerkung, oder es musste etwas heraus aus mir — ich brach in ein schallendes Gelächter aus.

»Pullt, Jungens«, fing jetzt der Bootsmann an zu brüllen, »pullt pullt pullt pullt pullt pullt!!«


Illustration

»Aber dien Wief fehlt noch«, meinte ein Matrose.

»Jawohl, Madam Hullogan«, fügte Mahlsdorf hinzu, »die dürfen wir doch nicht im Stich lassen.«

»Pullt pullt pullt pullt pullt!!«, heulte wieder mein krummbeiniger Bootsmann. »Ruder, an Ruder an, Ruder an!! Wollt ihr stinkigen Mistkäfer glicks pullen! Pullt pullt pullt pullt!!«

Aber das schwere Boot war nicht sogleich abzubringen, hauptsächlich eben, weil Enoch, der seine treue Ehehälfte nicht mitnehmen wollte, den Kopf verloren hatte und keine sachgemäßen Kommandos gab.

»Man tau, man tau, man tau — — pullt pullt pullt pullt!!«

Blodwen hatte den Strand erreicht, nur noch zehn Schritte trennten sie von dem Boote, das nicht in Fahrt zu bringen war.

Da stellte sich ihr ein Hindernis entgegen — in Gestalt von einem Paar Seestiefeln, einem blau und rot gestreiften Rocke und was sonst noch zu Madam Hullogan gehörte.

Sie vertrat Blodwen direkt den Weg, stemmte die Fäuste in die Seiten und reckte den blau und rot gestreiften Bauch heraus — so stand sie da — aber es blieb nicht nur bei dieser Pose, es kam auch zu Worten.

»Also das ist sich das miseraaable Fraunsbildsticke, was hat sich genannt uns Bettler. I, du Lausmädel infamiges! Ist sich ja ein altes Rübenschwein, soll sich heiraten einen räudigen Hund, soll sich gebären kleine Stacheligel, alle vier Wochen sechse — tui tui tui!«

Und dann war sie mit einem Satze bei uns im Boot.

Die letzten drei Laute lassen sich nicht wiedergeben, es hatte dabei so geschnalzt, Blodwen fuhr sich mit den Händen gleich ins Gesicht, wischte sich die Augen aus.

Doch jetzt war die Hauptsache die Hullogan.

Wie eine Prophetin stand sie auf einer Ruderbank, jetzt hob sie die Arme mit geballten Fäusten, schlug sie taktmäßig...

»Pullt, Jungs, pullt!!«

Und dann fing sie mit ihrer knarrenden Stimme zu brüllen an:

»Uuuuuuuuuuuund... häst du dee...«

Und jauchzend und brüllend fielen die Ruderer und die ganze Bootsbesatzung mit ein:

... Lübecker Anna nich seeehn.

Sing vallera ho ho ho ho!

Deeeeeeee... hädd'n gewaltig Geschirr...

Es war ein sogenanntes Schandy, ein Matrosenlied, nach welchem gerudert und in der Takelage das Segel gerefft wird, ein sehr schönes Lied — — nur schade, dass ich auch den anständigsten Vers nicht ganz wiedergeben kann.

Doch die Hauptsache war, dass wir frei und in Takt kamen, die Ruderer holten durch, dass sie bei jedem Ruck unter den Duchten verschwanden, und der sechzehnriemige Kutter schoss wie ein Pfeil davon.

Ich nahm Enochs Platz am Steuer ein und warf keinen Blick mehr zurück. Vor mir war das blaue Meer, vor mir waren meine Jungen!

Doch was bekam ich da zu sehen? Denn erst jetzt gingen mir die Augen auf, dass ich wirklich etwas unterscheiden konnte.

Und das erste war, dass ich in ein schallendes, nicht enden wollendes Gelächter ausbrach, und dieses kam vom Herzen!

Die Jungen hatten zum Teil meinen Befehl wörtlich genommen — wie ich es anfangs ja auch gemeint — besonders die Matrosen — nicht weniger als neun von ihnen saßen splitterfasernackt auf den Ruderbänken, so wie sie der liebe Gott geschaffen hatte — nur dass sie nicht auch gleich den Tabaksbeutel mit zur Welt gebracht hatten, den jeder an einem Lederriemen um den Leib trug. Dieser Lederriemen, daran der Beutel mit Tabak, Pfeife und wohl auch Streichhölzer, war aber auch die einzige Bekleidung!

Andere waren nur bis aufs Unterzeug gekommen, nur ein einziger, ein Heizer, hatte seine vollständige Kleidung anbehalten, desgleichen die vier Offiziere; der erste Ingenieur hatte sich gerade in Hemdärmeln befunden und war auch so gegangen, und ich selbst trug ja ebenfalls nichts weiter als Hose, Hemd und Strümpfe.

Am seemännischsten war noch Madam Hullogan angezogen, die verfügte sogar über Seestiefel.

Und dann den Klabautermann nicht zu vergessen! Nein, den hatten meine Jungen nicht vergessen. Der saß mitten im Boot, als alter Holländer aus einem früheren Jahrhundert mit Pumphosen und Schnallenschuhen, auf seiner Kleiderkiste und rauchte nach wie vor mit blödsinnigem Blicke seine Kalkpfeife.

Was würde Tischkoff zu diesem schnellen Rückzug und zur Entführung seines Mijnheern sagen, den er nun nicht mehr galvanisieren konnte?

Never mind, fort mit solchen Gedanken!! Ich war ein freier Mann, jetzt absolut frei, das war die Hauptsache!

Und dann sah ich nur diese neun splitterfasernackten Gestalten, wie die jetzt auf den Duchten durchholten — ich konnte mich gar nicht wieder beruhigen!

»Jungens, was habt ihr denn alles mitgenommen?«

»Tabak, Piep und Rietstücken«, war die vergnügte Antwort.

»Nichts weiter?«

»Gor nix wieter.«

»Ick hävv noch mien Messer«, bemerkte nur noch ein einziger.

»Und eure Papiere?«

Nur zwei hatten ihre Seefahrtspapiere mit in den Tabaksbeutel gepfropft, die anderen hatten sie vergessen oder eben zurückgelassen. Hatte auch nichts zu sagen. Die Hauptsache war, dass ich mich als Kapitän überall legitimieren konnte dann erhielt jeder ein vollgültiges Notpapier wieder, von den anderen mussten sie sich so nach und nach Duplikate ausstellen lassen. Das kommt ja beim Seemann häufig genug vor, nicht aus jedem Schiffbruche können auch die Papiere gerettet werden, und wo ist der Matrose, der nicht schon einmal im fremden Hafen desertiert ist! Das kostet zehn Taler oder sechs Tage Haft, wenn er sich im Heimathafen des betreffenden Schiffes wieder meldet, er bekommt dafür aber auch seine Papiere zurück. Natürlich ist hier nur von der Kauffahrtei die Rede, bei der Kriegsmarine pfeift's für den Deserteur aus einem anderen Loche, und das wörtlich genommen — unter Umständen aus einigen Gewehrmündungen.

— • —

64. Kapitel
Eine Flaschenpost, die direkt an mich gerichtet ist

Originalseiten III.3 — 11

Wir hatten uns freiwillig in keine besonders schlimme Lage begeben — mit den Augen eines Seemannes betrachtet. Der große Kutter war das erste Rettungsboot und vorschriftsmäßig immer mit allem ausgerüstet gewesen, um vierzig Insassen — wir waren deren aber nur zweiunddreißig — für sieben Tage am Leben zu erhalten. Dazu gehören vor allen Dingen tausend Liter Wasser, in vier eisernen Tanks, gar nicht so groß, am Boden des Fahrzeuges verteilt, ein dementsprechender Vorrat von Schiffszwieback und Fleischkonserven, und ferner müssen im Bootskasten immer alle nautischen Instrumente, Logarithmentafeln und Seekarten sein, und zwar müssen diese von Zeit zu Zeit ausgewechselt werden, sodass immer die der Gegend vorhanden sind, in welcher man sich gerade befindet, die Auswechslung hat ungefähr alle Wochen zu erfolgen, doch setzt da z. B. ein Leuchtturm, ein Vorgebirge, welches man passiert, ein Ziel, und trotz aller sonstigen Zigeunerschaft herrschte bei mir in so etwas eine musterhafte Ordnung, und ich hatte meinen beiden Offizieren, wenn ich einmal inspizierte, deswegen nie einen Verweis zu erteilen gehabt. Denn das war gerade dasjenige, worin mit mir nicht zu spaßen war, da konnte ich grob werden, wohl auch einmal meinem besten Freunde Nackenschläge geben.

Der sechzehnriemige Kutter machte im stehenden Wasser sechs Knoten in der Stunde, ohne besondere Anstrengung der Ruderer, konnte auf acht Knoten forciert werden. Sechs Knoten genügte, um in fünf Tagen die nächste Insel zu erreichen: das Koralleneiland Ducie, die östlichste Insel des polynesischen Archipels. Ob diese bewohnt war, wusste ich nicht, aber die Seekarte sagte mir durch zwei farbige Zeichen, dass wir dort Trinkwasser und feste Nahrung finden würden.

Von dort aus konnten wir uns von Insel zu Insel arbeiten, und so ein Kutter besteht jeden Seegang. Wenn freilich der Himmel einstürzt, dann sind alle Spatzen tot.

Doch ich wollte nicht direkt auf diese westlich gelegene Insel zuhalten, sondern steuerte erst mehr nördlich, um zunächst in den nach Westen gehenden großen Südäquatorialstrom zu kommen.

Dieser wird von allen Schiffen benutzt, welche um Kap Hoorn nach Westen gehen, dort konnten wir am ehesten hoffen, von einem Schiffe aufgenommen zu werden, und wenn wir keines erblickten, so brachte uns die reißende Strömung die verlorene Zeit, die wir zu dem Umweg gebraucht, doch reichlich wieder ein.

Im Übrigen befanden wir uns in einer weit besseren Lage, als Schiffbrüchige für gewöhnlich sind, wenn sie ins Rettungsboot gehen müssen. Da haben die doch immer schon eine schwere Arbeit hinter sich, manchmal eine fürchterliche Leidenszeit, da gibt es gequetschte Glieder und zerbrochene Knochen — wir waren bei frischen Kräften — und vor allen Dingen erfüllt vom fröhlichsten Mute!

Denn die Trennung von unserer ›Sturmbraut‹ betrauerte wohl niemand, so wenig wie ich selbst. Mir kam erst jetzt zum ersten Male zum Bewusstsein, dass dieses Schiff mir ja gar nicht gehört hatte — nun aber auch fort damit! — und es wäre wohl gar nicht nötig gewesen, dass ich darüber zu den Offizieren und auch zu meinen Jungen gesprochen hätte, wohl sie alle fühlten genau dasselbe wie ich.

Nun war der Bann gebrochen, die Erkenntnis kam, was wir uns da angemaßt hatten, in wahrhaft kindlichnaiver Weise — und nun fort damit, fort damit, uns sollte niemand wieder Bettler nennen, wenigstens nicht in dieser Weise!

Wir waren bereit, jedes Schiff und alle Inselbewohner anzubetteln, aber uns von diesem Frauenzimmer Bettler nennen zu lassen...

Der Unterschied hierbei lässt sich wohl eher fühlen, denn durch Worte ausdrücken.

Und unsere Zukunft?

»So lang' der Himmel blau ist, geht der Deutsche nicht zu Grund'«, stimmten jetzt meine Jungen, und die meisten waren ja Deutsche, zum Rudertakte an.

Ja, wir alle fühlten uns, als wir so über die spiegelglatte, blaue See dahinschossen, recht glücklich, wie noch nie. Das sah ich doch gleich allen diesen Gesichtern an.

Ich hab' mein Sach' auf nichts gestellt, juchhe,

Und mir gehört die ganze Welt, juchhe!

Wir waren eben schon richtige Zigeuner geworden, Land- oder vielmehr Seestreicher, die sich am glücklichsten fühlen, wenn sie nichts haben — sorge nicht für den morgenden Morgen, denn der morgende Morgen wird für das Morgende sorgen; siehe die Lilie an auf dem Felde, sie weiß nicht, wohin sie ihr Haupt legen soll, und sie hat doch immer genügend Kautabak... und wer da nicht weiß, was für ein unaussprechliches Glück im ›Nischthaben‹ liegt, der eignet sich eben weder zum Land- noch zum Seezigeuner.

Die brennende Sonne zog auf der Haut der nackten Ruderer Blasen, aber fröhlich wurde zum Rudertakt weitergesungen und dazwischen immer einmal ein Mund voll Hartbrot mit Pökelfleisch und ein Schluck Wasser genommen.

Die Sonne verschwand unter dem Horizont, plötzlich herrschte finstere Nacht, bis sich unsere Augen an den schnellen Wechsel gewöhnt hatten, und da sahen wir die ewigen Sterne am Firmaments funkeln, und es wurde weitergesungen. Nur dass meine Jungen jetzt sentimental wurden. »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin.« Aber bekanntlich wird dieses schwermütige Lied von den Deutschen gesungen, wenn sie sich gerade in der allerlustigsten Stimmung befinden.

Dann legten sich die abgelösten Ruderer zum Schlafen auf den trockenen Boden des Fahrzeugs hin, die Nacht war in diesen Breiten noch warm genug, für die Nackten genügte, dass sie mit den Jacken und Hemden ihrer an den Riemen schwitzenden Kameraden zugedeckt wurden, und bald erklang ein allgemeines Schnarchen.

Am nächsten Morgen befanden wir uns nicht mehr weit entfernt von jener Strömung. Von einem Schiffe war freilich noch nichts zu sichten. Das Meer ist eben groß — viel größer, als es auf den Karten des Schulatlasses aussieht.

»Eine Flasche!!«, erscholl da der Ruf.

Auch ich hatte sie schon bemerkt. Beim Anblick einer schwimmenden Flasche gleich an eine sogenannte Flaschenpost zu denken, worin Schiffbrüchige über ihr Unglück berichten, wäre sehr voreilig. Da treiben im Meere noch gar viele Flaschen herum, welche nichts enthalten, nicht einmal den Rest irgendeiner trinkbaren Flüssigkeit.

Aufgefischt und untersucht wird natürlich jede erblickte Flasche, wenn dies nur irgendwie möglich ist. Denn nicht immer ist das der Fall, und bei sehr hoher See kann von Bord des Schiffes aus solch eine Flasche auch nicht immer aufgefischt werden, und beim Aussetzen eines Bootes deshalb einige Menschenleben zu gefährden, das ist zu viel verlangt.

Nun, wir hatten es bequemer, ich brauchte nur etwas zur Seite zu steuern, dann befand sich die weiße Bierflasche in meiner Hand — und wahrhaftig, es befand sich ein zusammengerolltes Papier darin!

Der wasserdichte Verschluss war sehr sorgfältig ausgeführt. Erst musste ich eine vielfache Umwicklung von Kautschukpapier lösen, unter dem Halse fest mit Draht umwunden. Der Kautschukpfropfen war dann leicht herauszuziehen.

Ich holte die Rolle, die sich etwas verbreitert hatte und so nicht mehr durch den Flaschenhals konnte, mit einem als Zange dienenden Zirkel heraus, beim Aufwickeln zeigten sich zwei Papiere, nicht beschrieben, sondern bedruckt, mit großen Buchstaben in englischer Sprache, und zu meinem größten Erstaunen las ich von dem ersten Papiere ab:

Alle professionellen Seezigeuner und solche, welche es gern werden möchten,

werden zu einer Zusammenkunft nach Fanafute gebeten, ElliceGruppe, 8 Grad

52 südliche Breite, 177 Grad 21 westlich von Greenwich. Lord Archibald Sey

mour. Das stand auf dem ersten Papier, und auf dem zweiten konnte ich ebenfalls gedruckt zu meinem vielleicht noch größeren Staunen lesen:

Es wird um die Adresse von Mr. Richard Jansen, Kapitän der ›Sturmbraut‹, gebe

ten oder um Zustellung dieser Aufforderung an ihn. Lord Archibald Seymour,

Fanafute oder London.

Mehr enthielt die Flaschenpost nicht. Und das genügte wohl auch. Sie war zum Teil direkt an mich gerichtet!

Ich hatte die beiden Mitteilungen laut vorgelesen, und die Sensation war groß.

»Lord Archibald Seymour — das ist der verrückte Präsident des Londoner Jachtklubs!«

»Nicht mehr, er hat schon vor zwei Jahren seinen Posten niederlegen müssen, eben wegen seiner Verrücktheit.«

»Ob da nicht auch die beiden Kerls dahinterstecken, der Mister Brown und der Mister Fairfax?!«

»Und die Ellicegruppe — das ist ja eben der Inselarchipel, zu dem auch der Vogelberg gehört, wo der rätselhafte Kapitän hausen soll, der uns das holländische Wrack entführte!«

»Am Ende ist das gar dieser Lord Seymour!«

»Wie weit sind wir denn noch davon entfernt?«

So und anders erscholl es durcheinander, bis ich Ruhe gebot, um alle Fragen klar erwägen zu können.

Zunächst Lord Archibald Seymour, der frühere Präsident des Londoner Jachtklubs! Gehört hatten wir schon alle von ihm, aber nur so vom Hörensagen her, aus Zeitungen. Sonst war keiner von uns auch nur mit jemandem in Berührung gekommen, der diesen englischen Sportsman persönlich kennengelernt hatte.

Der erste Londoner Jachtklub — es gibt deren noch mehrere, die aber nicht zusammenhängen — ist wohl der vornehmste Verein der Welt, zu den Mitgliedern gehören so ziemlich alle gekrönten Häupter der Erde, der Eintritt kostet wohl tausend Pfund Sterling, der jährliche Beitrag hundert Pfund, die Regatten werden in allen Weltteilen arrangiert, in London besitzt er ein Klubhaus, welches an Pracht alles Bestehende in den Schatten stellen soll, darunter ein Museum mit Schätzen und Seltenheiten, wie kein staatliches Institut es aufzuweisen hat.

Sonst ist über diesen Jachtklub nichts sagen.

Lord Archibald Seymour war, soweit wir wussten, einer von den 49 Lords und Peers, denen ganz England gehört, und diesem hier fiel ein großer Teil Londons zu. Dass es in England und speziell in London fast gar kein ›Freehold‹, d. h., keinen freien Grundbesitz mehr gibt, dass alles diesen Lords gehört, ist wohl bekannt. Allerdings kann man noch Grund und Boden kaufen, Häuser darauf bauen; aber immer nur für 99 Jahre. Im hundertsten Jahre fällt der Boden wieder dem Landlord zu, der das Wohn- oder Geschäftshaus einfach wieder abreißen lässt. Nur wenn ganz großartige Gebäude geplant werden, wird der Abtretungskontrakt auf 999 Jahre verlängert. Ein Blick in eine englische Zeitung mit Grundbesitzverkehr zeigt überall diese eigentümlichen Bestimmungen — eigentümlich für uns, nicht für den Engländer, der das ganz selbstverständlich findet, ebenso, wie in England nur der erstgeborene Sohn allen festen Besitz erbt, ohne Entschädigung an die übrigen Geschwister. Das ist für uns Deutsche nur eine alte Barbarei, in England kennt man das nicht anders.

Gerade in London aber kommt solch ein Verkauf fast gar nicht mehr vor. Die sieben Lords, denen ganz London gehört, vermieten nur, streichen die Miete ein. Das tun sie natürlich nicht persönlich, auch nicht durch Beamte — sie haben den ganzen Schwamm gegen eine fixe Summe an Unternehmer verpachtet.

Aber was für Summen das nun sind! Kurz, diese sieben Lords gehören zu denjenigen Menschen, welche wirklich nicht wissen, wie viel Geld sie eigentlich haben — und mit dem Einkommen solch eines Lords, dem die inneren Geschäftsstraßen gehören, lässt sich auch nicht das eines amerikanischen Milliardärs vergleichen. Solch ein amerikanischer Multimilliardär wie Gould oder Rockefeller mag allerdings mehr flüssiges Kapital in der Hand haben — aber mehr Geld ausgeben, ohne es zu empfinden, das kann unbedingt solch ein englischer Lord.

Was für besondere Verrücktheiten eigentlich dieser Lord Archibald Seymour als Präsident des Jachtklubs begangen hatte, das wusste niemand von uns zu sagen.

Ja, man hatte gelesen und erinnerte sich, wie Lord Seymour vor drei oder vier Jahren ein Feuerwerk abgebrannt hatte, welches einige hunderttausend Taler gekostet, wie er von London nach Liverpool mit einem Extrazuge gefahren war, der nur aus zwei Dutzend Lokomotiven bestanden hatte, und dergleichen mehr, die Folgen von unsinnigen Wetten — aber so etwas kann sich solch ein Lord doch alles leisten, der sein vieles Geld auf anständige Weise unter die Leute bringen will. Und dass er schon für seine späteren Jahre, wenn er selbst es nötig habe, bei Greenwich ein großes Irrenhaus hat bauen lassen, in dem er schon jetzt fünfhundert armen Geistesgestörten freie Pension gibt, das ist doch auch gar nicht so ohne.

»Ich weiß«, sagte da mein zweiter Steuermann, »es mag wohl gerade zwei Jahre her sein, als die Mitglieder des ersten Jachtklubs wieder einmal eine allgemeine Versammlung in London hatten; aus ganz Europa trafen Kaiser und Könige und andere Fürsten ein, z. B. auch der russische Zar — mit einem Male aber erschienen auch Schwarze, Braune und Gelbe, Lord Seymour hatte nicht nur indische Fürsten, sondern auch afrikanische Negerhäuptlinge eingeladen, ich erinnere mich nur eines Zulukönigs und eines Hottentottenhäuptlings — und nun verlangte Lord Seymour, auch diese schwarzen und braunen Majestäten sollten als Mitglieder des ersten Londoner Jachtklubs aufgenommen werden, auf dass diesem wirklich sämtliche gekrönten Häupter der Erde angehörten.

Dieses war nur der erste Streich, der zweite folgte sogleich. Lord Seymour verlangte oder schlug vor, dass der Jachtklub sein Domizil nach einigen Inseln des australischen Archipels verlegen sollte, für ständig, auch sämtliche Mitglieder sollten dorthin übersiedeln, also auch alle die europäischen Kaiser und Könige und anderen Fürsten, und dann sollte Europa und die ganze übrige Welt hier von den Fidschiinseln aus regiert werden, dieser erste Jachtklub sollte das Zentrum der ganzen Welt werden, dann könne es in der Welt doch auch gleich keinen Krieg mehr geben... na, und weil da die Fürsten dieser Erde nicht mitmachen wollten, da hat Lord Seymour eben sein Präsidium niedergelegt. Vielleicht haben sie ihn auch hinausgeschmissen. Denn er soll dem russischen Kaiser, weil dieser ihn mit seinem Plane auslachte, eine heruntergehauen haben.«

»Und wohin ist er dann gegangen?«, lachte ich.

»Das weiß ich allerdings nicht, nicht einmal, ob er dann vielleicht verschwunden gewesen ist.«

»Ist er denn der Besitzer dieser Inselgruppe?«

Auch hierüber konnte mir niemand Auskunft geben.

»Goliath, wann war es, als du damals in die Nähe des Vogelberges kamst, der ja auch noch zur Ellicegruppe gehört?«

»Das ist schon fünfzehn Jahre her.«

Nein, da konnte dieser Lord als jener rätselhafte Kapitän wohl nicht in Betracht kommen.

Alle übrigen Fragen traten übrigens jetzt vor dem großen Schiffe zurück, dessen vier Mastspitzen wir soeben über dem nördlichen Horizonte auftauchen sahen.

— • —

65. Kapitel
Die Mysterien der Kalliope

Originalseiten III.12 — 55

Dass wir diese Einladung annehmen würden, dass unser nächstes Ziel diese Insel sein müsse, das war bei uns allen selbstverständlich. Aber wie weit waren wir noch von ihr entfernt? Ganz bedeutend weit, das wussten wir auch ohne Karte, und diese sagte uns, dass es in gerader Linie noch rund 1200 geografische Meilen seien.

Die Möglichkeit hätte bestanden, auch diese ungeheuere Strecke im offenen Boote zurücklegen zu können, eben weil wir uns nahe an den zahllosen Inselarchipeln befanden, deren östlichstes Eiland Ducie ist, immer uns mit Trinkwasser und Proviant ausrüsten konnten, soweit uns die Eingeborenen solche zu geben vermochten — ja, es wäre vielleicht gelungen, uns so von Insel zu Insel durchzuschlagen.

Aber fragt mich nur nicht, wie lange wir dazu gebraucht hätten!

Allein schon, wenn wir uns nicht um Proviant zu sorgen brauchten, hätten wir zur Bezwingung dieser Strecke mindestens sechs Wochen Tag und Nacht rudern müssen, sonst dürfte die ganze Tour, so von Insel zu Insel, ein Vierteljahr dauern, und dabei hätten wir auch noch immer das beste Wetter haben müssen.

Nein, natürlich wurde die Hilfe jedes Schiffes in Anspruch genommen, und das, welches dort vor uns auftauchte, fuhr ungefähr denselben Kurs, den wir im Auge hatten, das verriet die Stellung seiner Segel, von denen wir die obersten schon erkennen konnten.

Im Liedertakt ging es aus Leibeskräften vorwärts, und schon nach einer Stunde konnten wir, als es einmal wendete, am Heck mittels des Fernrohres seinen Namen erkennen: ›Kalliope‹, Bristol.

»Hallo«, meinte da Mahlsdorf, »das sieht ja bald aus, als wenn dieser Englishman uns ignorieren wollte!«

Ja, so sah es auch wirklich bald aus. Gesehen worden musste unser Boot unbedingt schon sein, das erkannten wir gleich an den menschlichen Figürchen, wie sie nach dem Boote spähten, selbst unter Zuhilfenahme des Fernrohres, aber gar keine Aufregung, keine Vorbereitung, uns zu empfangen, vielmehr ging der große Viermaster noch mehr in den Südostwind, als wolle er uns entkommen.

Das gab's nun freilich nicht! Bei diesem schwachen Luftzuge konnte der Segler dort höchstens vier Knoten in der Stunde machen, wir ruderten die doppelte Anzahl Knoten, in einer Viertelstunde mussten wir ihn eingeholt haben.

Aber lässt man denn ein offenes Boot auf hoher See so im Stich, wendet man sich ohne Weiteres von ihm ab?

»Jungens, dieser Englishman hat ein böses Gewissen! Der will uns nicht an Bord haben! Aber Rede und Antwort soll er uns doch erst stehen! Pullt aus!«

Eine Viertelstunde später waren wir in bequemer Rufweite. Ich hatte diese Viertelstunde noch dazu benutzt, meine Jungen zu instruieren, dass wir uns dann nicht widersprachen. Denn in einer etwas seltsamen Lage befanden wir uns ja doch, und direkt lügen, etwa von einem Schiffbruche sprechen durften wir nicht. Lügen haben immer kurze Beine.

»Wir sagen einfach der Wahrheit gemäß, wir wären auf der Osterinsel von der rechtmäßigen Besitzerin unseres Schiffes, der ›Sturmbraut‹, so maßlos beleidigt worden, dass wir sofort Schiff und Insel im Boote verlassen hätten, so wie wir gingen und standen, alles übrige überlasst nur mir, ihr habt einfach meine Befehle befolgt. Verstanden?«

Es war leicht genug zu verstehen, und ich erhob mich, um zunächst ein lautes ›Hallo!!‹ zu rufen.

Ignorieren konnte man uns nicht mehr. Aller Augen waren auf uns gerichtet, und ein Mann auf der niedrigen Kommandobrücke ergriff das Sprachrohr, schon ganz unnötigerweise.

»Wer seid ihr?«

»Wir haben unser Schiff verloren!«, entgegnete ich, noch mit aller Lungenkraft, was ich aber in der nächsten Minute nicht mehr nötig hatte, denn die Entfernung verringerte sich sichtlich.

»Wir können euch nicht aufnehmen, uns fehlt selber Wasser!«, Mochte dies auch der Fall sein — dieses Betragen, uns ausweichen zu wollen, war einfach skandalös, und das konnte ich diesen egoistischen Kapitän sogar seegerichtlich büßen lassen.

»Wir selbst haben noch für fünf Tage Trinkwasser bei uns.«

»Uns geht auch der Proviant aus.«

»Wir haben selber genug.«

»Nein, wir können euch nicht aufnehmen«, erklang es jetzt in schroffstem Tone. »Östlich von uns kreuzt ein deutscher Segler, sucht den auf, der wird euch aufnehmen.«

Nun stand aber auch mein Entschluss felsenfest, an Bord dieses englischen Schiffes zu kommen, das uns durchaus nicht aufnehmen wollte. So etwas war ja unerhört!

»Wir können von diesem deutschen Segler nichts sehen, und dieses Schiff ist das nächste, an das wir uns zu halten haben. Seid Ihr der Kapitän?«

»Der bin ich.«

»Mann, betrachtet uns doch, wie dürftig wir nur bekleidet sind — und Ihr wagt wirklich, uns zurückzuweisen?!«

Die Antwort blieb aus, und zu sehen war jetzt auch niemand mehr an Deck, wenn er nicht gerade an der Bordwand stand, dazu waren wir schon zu nahe. Jetzt erfolgte offenbar eine Beratung zwischen dem Kapitän und seinen Steuerleuten, und sie mussten wissen, was auf dem Spiele stand. Denn so ganz ohne triftigen Grund Schiffbrüchige im offenen Boote auf hoher See zurückzuweisen, das geht auf keinen Fall, auch dafür gibt es internationale Seegesetze! Und dass überhaupt erst eine Beratung stattfand, schon das war auffallend genug.

Sie währte auch nicht lange, so zeigte sich wieder die Gestalt des Sprechers auf der Kommandobrücke, wo diese nach der Bordwand auslief.

»Zum Teufel, so kommt an Bord, aber wer nur noch einen Finger rühren kann, der muss arbeiten, und ihr sollt nichts zu lachen haben.«

Nach diesen Worten ward ein Fallreep herabgelassen. Ich erstieg es zuerst, einer folgte dem anderen, unser Kutter ward einstweilen hinten ins Schlepptau genommen.

Es war ein untersetzter Kerl mit nicht gerade sehr einnehmenden Zügen, der jetzt an Deck vor mir stand.

»Na, wer seid Ihr denn nun? Wie kommt Ihr ins offene Boot?«, brüllte er mich gleich an, und auch die Augen aller umstehenden Matrosen oder Offiziere, was man ja auf solchen Handelsschiffen kaum an der Kleidung unterscheiden kann, blickten uns recht feindselig an.

»Seid Ihr der Kapitän von diesem Schiffe?«, fragte ich zunächst.

»Was habt Ihr danach zu fragen, wer ich bin?«, wurde ich wiederum angefahren.

»Weswegen? Weil ich selbst das internationale Kapitänspatent für große Fahrt besitze!«, entgegnete ich kaltblütig, aber doch mit einigem Nachdruck, und es machte denn auch gleich auf diesen Grobian einen großen Eindruck — weshalb, werden wir gleich sehen.

»So! Ja, ich bin der Kapitän dieses Schiffes. Und wer seid Ihr?«

»Richard Jansen, bis gestern Kapitän der New Yorker ›Sturmbraut‹.«

Ich wusste, was ich tat, als ich dies sagte, ich, der entsprungene englische Zuchthäusler. Aber einmal blieb mir gar nichts anderes übrig, ich musste ja doch noch meine Papiere vorlegen, und dann konnte man mir ja überhaupt gar nichts wollen, man hätte denn gerade ein englisches Kriegsschiff anrufen müssen, und auch dann hätte ich mir noch immer zu helfen gewusst, ich trug das Sternenbanner unter dem Hemd um den Leib gewickelt.

Auf den Kapitän machte die Nennung dieses Namens nicht den geringsten Eindruck, er konnte also wohl schwerlich schon etwas von mir gehört haben, was in Beziehung zu Portland stand, wohl aber machte sich ein nebenstehender Mann, jedenfalls ein Offizier, gleich recht bemerkbar.

»He, Steuermann«, fuhr dieser auf, »dann ist ja das...«

Der so Angeredete, also hier der Kapitän, machte eine Bewegung, als wolle er den anderen mit der Faust aufs Maul schlagen, und dieser brach denn auch gleich erschrocken ab.

Aber es war zu spät, ich hatte schon etwas zu hören bekommen.

»Steuermann? Also Ihr seid gar nicht der Kapitän!«

Das bronzefarbene Gesicht des Mannes ward noch dunkler.

»Jawohl — wenigstens der stellvertretende Kapitän bin ich!!«, wollte er mich wiederum so barsch wie möglich anfahren, doch es klang schon recht unsicher.

»Nur der stellvertretende? Wo ist der Kapitän dieses Schiffes?«

»Der ist — der ist... zum Teufel noch einmal, henkt Euch!! Ich bin hier der Stellvertreter von Kapitän Tankow!«

Doch ich ließ mich nicht einschüchtern, mochte der Kerl auch noch so mit den Augen rollen, ich kannte die Bestimmungen. Das freie Meer ist international, und danach sind die internationalen Seegesetze gemacht worden! Findet ein Kapitän auf hoher See seinen Tod, oder erkrankt er so, dass er zum Kommando nicht mehr fähig ist, so geht dieses auf den ersten Steuermann über, von diesem auf den eventuellen zweiten, von diesem auf den Bootsmann, von diesem, im Falle der höchsten Not, auf den ältesten Matrosen.

Doch so weitläufig brauche ich ja gar nicht zu werden.

Der Steuermann übernimmt also das Kommando mit allen Pflichten und Rechten. Aber wenn nun durch Zufall ein anderer Kapitän an Bord dieses Schiffes kommt, eben vielleicht als Schiffbrüchiger, so hat dieser das Recht, nicht die Pflicht, das Kommando zu übernehmen. Besteht er darauf, so hat sich der Steuermann als bisheriger stellvertretender Kapitän mit der ganzen Mannschaft ihm unterzuordnen.

Dabei ist — auf hoher See, außerhalb der einheimischen Gewässer! — die Nationalität ganz gleichgültig. Der englische Steuermann hat sich dem türkischen Kapitän zu fügen. Freilich keinem chinesischen. Das kommt eben darauf an, ob die betreffende Nation als seefahrende anerkannt ist. Damals war das auch bei Japan noch nicht der Fall.

Anders aber wird es, wenn, wie es ja häufig der Fall ist, der Steuermann, der vorübergehend den Kapitän vertritt, schon sein Kapitänsexamen gemacht hat. Dann ist er natürlich von keinem anderen zu verdrängen.

Nun, ich glaubte bestimmt, dass dies bei dem hier nicht der Fall war. Er war mir gleich so unsicher aufgetreten.

»Sind Sie Kapitän?«

»Gewiss, ich stehe hier als Stellvertreter des Kapitäns!«, schrie er mich wieder ganz unmotiviert an.

»Ich frage Sie im Namen der internationalen Seegesetze, ob Sie wirklich zur selbstständigen Führung eines Schiffes berechtigt sind, ob Sie das Kapitänspatent für große Fahrt besitzen.«

Bei diesen Worten zog ich zwischen Brust und Hemd meine Brieftasche hervor und entnahm ihr mein eigenes Kapitänspatent, hielt es auseinandergefaltet jenem vor die Augen.

Das wirkte. Der Mann musste auch wissen, das mit so etwas nicht zu spaßen war.

»Nein, ich bin nur Steuermann«, gestand er jetzt, wenn auch mit schlecht verhehltem Ingrimm.

»Na also. So werden Sie mir jetzt etwas höflicher Rede und Antwort stehen. Wo ist Ihr Kapitän?«

»Der ist — der ist — krank!«

»Wo befindet er sich?«

»In seiner Kabine.«

»Ich möchte zu ihm geführt werden.«

»Das geht nicht.«

»Weshalb denn nicht?«

»Er ist krank — ich hab's doch schon gesagt«, knurrte jener.

»Was fehlt ihm denn?«

»Der hat — der hat... es ist eine ansteckende Krankheit.«

»Herr Steuermann, wollen Sie mir nun sagen, was dem Kapitän fehlt?«

»Den Aussatz hat er... und der steckt doch furchtbar an.«

»Ei, das ist ja vortrefflich, dass ich da gerade gekommen bin«, rief ich, »ich habe nämlich ein ganz vorzügliches Mittel gegen den Aussatz. Führen Sie mich zu ihm! Aber nun bitte: sofort!!«

Ich sah, wie sich der Steuermann sozusagen einen moralischen Ruck gab.

»Goddam, — folgen Sie mir!«

»Mahlsdorf, kommen Sie mit!«

Aber diese Begleitung schien dem Steuermann nicht zu gefallen.

»Herr Kapitän, ich muss Sie allein sprechen.«

»Nein, mein erster Steuermann wird mich begleiten — ohne Widerrede.«

Der Steuermann fügte sich, wir drei betraten die Kajüte. Der grobe Patron hatte sich plötzlich total verändert.

»Herr Kapitän, ich bitte tausendmal um Verzeihung«, begann er, so höflich, wie seine schroffen Seemannsmanieren es erlaubten.

»Weswegen?«

»Weil — weil... Kapitän Tankow ist schon vor Kap Hoorn gestorben und hat im Meere ein ehrliches Seemannsbegräbnis gefunden — es steht im Logbuch eingetragen.«

»So. Und warum sagen Sie da erst solche Unwahrheiten?«

»Weil — weil...«

»Na, seien Sie offen«, kam ich dem Stockenden zu Hilfe, und zwar in gutmütigem Tone. »Weil Sie in dem vollbesetzten Boote doch eine ganze Schiffsbesatzung vermuten mussten, darunter auch den Kapitän, und es wäre Ihnen sehr unangenehm gewesen, wenn Sie an diesen das Kommando abtreten müssten.«

»So ist es«, gestand der Steuermann mit niedergeschlagenen Augen.

Ich hatte das Richtige getroffen. Es lag ja auch ganz klar auf der Hand. Wenigstens für einen Seemann. In gewissem Sinne war jener auch entschuldbar.

Es kann ja für einen Steuermann nichts Vorteilhafteres geben — wenn der Wunsch dazu auch nicht gerade christlich ist — als wenn während der Reise sein Kapitän stirbt, er selbst das Kommando übernimmt, das Schiff glücklich in den Hafen bringt. Dann braucht er nur noch schnell sein Kapitänsexamen zu machen — eine reine Förmlichkeit — und er bekommt sofort von allen Seiten Anträge, dies und jenes Schiff unter seine Führung zu nehmen.

Denn es gibt eben in der Welt massenhaft Steuerleute, welche schon längst ihr Kapitänspatent besitzen, aber sie kommen nicht daran, es ist keine Stelle für sie offen, ebenso wie ja genug Steuerleute noch als Matrosen fahren müssen, wenn sie nicht verhungern wollen — aber nur eine einzige solche selbstständige Fahrt, durch Zufall dazu gekommen, und der Betreffende überspringt alle Vorgänger.

Dann aber muss es dem Betreffenden, dem das Glück einmal so gelächelt hat, natürlich höchst fatal sein, wenn da ein Anderer dazwischenkommt, der ihm dieses Glück wieder zunichte macht.

Kurz, ich konnte den Unmut dieses Mannes sehr wohl begreifen. Er wollte mir auseinandersetzen, was ihn in solch einen Zorn gebracht habe, aber ich sagte ihm gleich, dass dies bei mir nicht nötig sei, dass ich ihn verstände.

»Wie ist Ihr Name?«

»Samuel Haller.«

»Nun, Mr. Haller, ich werde Ihre Hoffnung nicht vernichten. Sie führen das Kommando natürlich weiter, ich betrachte mich mit meinen Leuten nur als Ihre Gäste, das wird auch im Logbuch vermerkt werden.«

»Tausend Dank, Herr Kapitän, tausend Dank!«, murmelte der Steuermann.

Ich weiß nicht, der robuste, erst so grobe Mann machte auf mich einen recht unseemännischen Eindruck, so scheinheilig, und es war nicht nötig, dass mir Mahlsdorf unterm Tisch einmal auf den Fuß trat — ich wollte diesem Kerl sowieso erst noch etwas auf den Zahn fühlen.

»Sie haben wirklich Proviant- und Wassermangel?«

»O nein, das nicht gerade...«

Was? Dann war das allerdings unerhört. Schiffbrüchige im offenen Boote so einfach abzuweisen, ohne sie wenigstens erst zu fragen, ob sie etwas brauchten.

»Aber das Wasser ist schon sehr verdorben«, setzte er zu seiner Entschuldigung mit geröteten Wangen schnell hinzu.

»Verdorben, wieso?«

»Nun, wir sind von London doch schon fast drei Monate unterwegs...«

Er wagte gar nicht weiter zu sprechen. Denn das war wirklich keine Entschuldigung. Ganz frisch bleibt das Trinkwasser bei solch langer Fahrt natürlich niemals, mögen die Fässer innen auch noch so gut verkohlt sein.

»Und der Proviant?«

»Der Speck ist blau, das Salzfleisch riecht schon etwas, das Hartbrot ist wurmzerfressen.«

Alles keine Entschuldigung, alles bei so langer Reise ganz selbstverständlich. Nach vier Wochen muss man aus jedem Schiffszwieback die Würmer ausklopfen, anders kennt es der Matrose gar nicht, wenn die sparsame Reederei ihm nicht gleich von vornherein altes, wurmzerfressenes Hartbrot und blau angelaufenes Salzfleisch mitgibt. Denn was für eine Schweinerei da bei den Reedereien herrscht, davon macht sich der Nichtseemann gar keinen Begriff. Also alles keine Entschuldigung, Schiffbrüchigen keinen Proviant angeboten zu haben. Doch hierüber sagte ich nichts mehr.

»Von wo kommen Sie?«

»Direkt von London.«

»Wohin gehen Sie?«

»Nach Nanking.«

Um Kap Hoorn herum ist ein weiterer Weg als um das Kap der guten Hoffnung, aber für ein Segelschiff kommen hauptsächlich die Windverhältnisse in Betracht, und zur gegenwärtigen Jahreszeit war der westliche Weg tatsächlich der bessere.

»Was haben Sie geladen?«

»Stückgut.«

Er erklärte mir näher: Handwerkszeug der verschiedensten Art, Chemikalien, Sohlenleder, Leinen- und Wollstoffe — also eine durchaus gemischte Fracht, die man allgemein als Stückgut bezeichnet. Ein Transportschiff, für das die verschiedensten Firmen und Privatleute etwas mitgeben.

»Woran ist der Kapitän gestorben?«

»Er hat sich selbst getötet.«

»Was, Selbstmord?!«, rief ich, und auch Mahlsdorf fuhr nicht schlecht empor.

»Jawohl — das heißt — er hat zwei Flaschen Rum ausgetrunken, und als er die zweite noch nicht zur Hälfte leer hatte, da fiel er um und war tot — ein Herzschlag.«

Unter den Kapitänen gibt es starke Alkoholiker, der Schnaps ist ihnen, zumal wenn es ihnen an sonstiger Bildung fehlt, der einzige Genuss, den sie sich bei ihrem langweiligen Leben zu verschaffen suchen, dann wieder kommt es bei ihrer sonst gesunden Lebensweise dahin, dass ihnen der Alkohol gar nichts mehr anhaben kann, bis der Faden einmal reißt. Ich selbst hatte einen Kapitän gekannt, der einen Liter des stärksten Branntweins ohne abzusetzen trank, ohne dass ihm hinterher etwas anzumerken war, aber... gerade weil der Sprecher mich so offen anblicken wollte, wurde mein Misstrauen gegen ihn immer stärker. Er blickte mich eben so herausfordernd an, und doch war es nicht richtig in seinen grauen Augen.

»Der Kapitän war ein starker Trinker?«

»Ja, er trank regelmäßig seinen Rum und Whisky und Brandy.«

»Ich meine, er war ein notorischer Trunkenbold?«

»Das nicht gerade, aber dass er reichlich trank, das können alle meine Leute bezeugen. Er hat sich vielleicht auch mit Absicht tottrinken wollen, weil seine Frau über Bord gewaschen worden war.«

»Was, auch seine Frau hatte er mit an Bord?«

»Na ja, warum soll er sie denn nicht haben?«, lautete die trotzige Gegenfrage.

Da hatte der Mann allerdings recht. Es haben genug Kapitäne ihre Frauen mit an Bord, zumal wenn keine Kinder vorhanden sind, oder diese schon erwachsen sind, es kommt aber auch vor, dass Kapitäne ihre ganze Familie mitnehmen, ihre Kinder selbst unterrichten, und ein idealeres Familienleben, vereint in Sturm und Sonnenschein, in Not und Tod, lässt sich ja eigentlich auch gar nicht denken. Allerdings Geschmackssache.

»Mann, nun erzählen Sie ausführlich!«

Der Steuermann tat es. Die Sache war einfach genug.

Es war am vierten Oktober gewesen, noch vor Kap Hoorn. Kein besonderer Sturm, aber sehr hoher Seegang. Da war Mrs. Tankow über Bord gewaschen worden, auf Nimmerwiedersehen. Und der unglückliche Kapitän war in die Kajüte gegangen, und als man ihn aufsuchte, weil er sich gar so lange nicht wieder sehen ließ, da hatte er entseelt auf dem Boden gelegen, neben sich eine geleerte Rumflasche, und eine noch halbvolle auf dem Tische stehend.

»Da hat er gelegen«, sagte der Steuermann, mit der Hand seitwärts deutend, »und so steht's auch im Logbuch eingetragen.«

Der Mann hatte mich während der Erzählung immer so herausfordernd angesehen, als wolle er fragen: Glaubst du's etwa nicht?

Nein, ich glaubte... doch ich wollte nicht glauben, sondern wissen!

»Wie hieß die Frau Kapitän mit Vornamen?«

»Bessy.«

»Elisabeth also.«

»Na ja, Elisabeth — Bessy — das ist doch ganz dasselbe — und er nannte sie nur Bessy.«

»Wie alt war der Kapitän?«

»So Mitte der vierziger und fünfziger.«

»Und die Frau?«

»O, die war viel jünger.«

Was hatte der Kerl so widerlich zu grinsen, als er dies sagte?

»Wie alt war sie denn?«

»Na, vielleicht noch keine zwanzig.«

»Wie lange waren die beiden schon verheiratet?«

»Wohl schon seit zwei Jahren.«

»Kinder?«

»Nee, was sollen wir denn hier an Bord mit kleinen Kindern?«, grinste der Kerl wieder.

»Ich meine, ob überhaupt Kinder da waren, zu Hause oder gestorben.«

»Ich glaube nicht, dazu war Kapitän Tankow ja schon viel zu alt«, feixte der Mensch abermals. Es war eben ein roher Seemann, ich konnte es ihm gar nicht besonders übel nehmen.

»Es könnte nicht vielleicht irgendein Mord vorliegen?«

Ich hatte es nur so in Gedanken gesprochen, weil ich überhaupt an so eine ungleiche Ehe gedacht.

Hei, wie da aber dieser Steuermann auffuhr! Plötzlich käseweiß im Gesicht!

»Herr, was sprecht Ihr da?! Ein Mord?! Von wem denn?«

»Nun, ich dachte an einen Selbstmord, an einen doppelten. Erst die Frau, dann der Kapitän. Dass sie vielleicht freiwillig über Bord gegangen ist, und das hat sich dann der Kapitän so zu Herzen genommen.«

So entgegnete ich ganz ruhig, während mir plötzlich ein furchtbarer Verdacht aufstieg. Das Benehmen des Steuermannes war schuld daran, wie der so erschrocken aufgefahren war.

Jetzt aber war ich es, der Mahlsdorf unterm Tisch auf den Fuß trat, damit er nicht so große Augen mache. Denn dem war das ebenfalls nicht entgangen, gerade bei so etwas aber konnte ich mich äußerlich vollkommen beherrschen.

Auch der Steuermann war schnell wieder Herr seiner selbst.

»Nee, die ist über Bord gewaschen worden, das haben wir alle gesehen, wenigstens viele der Leute, und ich selber. Eine Woge nahm sie mit, und ein Boot auszusetzen, daran war gar nicht zu denken. Und warum hätte sie denn über Bord jumpen sollen?«

»Ja, das hätte ich eigentlich Euch zu fragen. Die beiden konnten doch vielleicht unglücklich zusammen leben.«

»Unglücklich? Nee, die waren wie die Turteltäubchen zusammen, hähähä, so alt Kapitän Tankow auch schon war, hähähä.«

Diese grinsende Visage übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf meine Hand aus, ich hätte gar zu gern einmal über den Tisch gelangt. Doch ich beherrschte mich.

»Ihr wisst gar nicht, wie die beiden zusammengekommen sind, die so verschiedenen Alters waren?«

»O ja — sie erzählte es ja jedem, der es hören wollte. Er hat sie einmal als kleines Mädchen aus dem Wasser gerettet, in einer englischen Stadt, ohne dass sie erfuhr, wer ihr Retter gewesen wäre, und dann, zehn Jahre später, als sie als barmherzige Schwester nach Bombay gegangen war, kam dort Kapitän Tankow schwerkrank ins Hospital, und weil er da in seinen Fieberphantasien wieder von dieser Geschichte geschwatzt hat, wie er das kleine Mädchen aus dem Wasser zog, da hat sie ihren ehemaligen Retter erkannt — na, und da haben sich die beiden eben geheiratet. Vor zwei Jahren. Seitdem ist sie immer bei ihm an Bord gewesen.«

Es war gewiss eine rührende Geschichte, die wir da zu hören bekamen, wert, zu einer künstlerischen Novelle verarbeitet zu werden — aber dieser Kerl war nicht der Mann danach, sie mit seinem tabakkauenden Munde vorzutragen.

Vorläufig wollte ich diese Sache auf sich beruhen lassen.

»Kennen Sie mich nicht, den Kapitän Richard Jansen von der ›Sturmbraut‹?«, war meine nächste Frage.

Nein, all diese Namen waren diesem Steuermanns gänzlich unbekannt, so wie die ganze Affäre mit der Lady Leytenstone. Nun, so eine ›Weltberühmtheit‹ war ich ja auch nicht, und Steuermann Haller hatte kurz vor der Abfahrt aus London auf der ›Kalliope‹ angemustert, und da war er mit einem Segler eben erst von China gekommen, hatte sich jahrelang in den chinesischen Gewässern aufgehalten.

Ich durfte bestimmt voraussetzen, dass jener andere, wohl der zweite Steuermann, näher in meine Verhältnisse eingeweiht war, seine Äußerung über mich war nur unterbrochen worden, aber sonst hatte man an Bord über den ganzen Fall noch nicht gesprochen, da passiert in der Welt ja noch anderes Interessante, als dass jemand aus dem Zuchthaus von Portland entspringt. Außerdem wird an Bord zwischen Seeleuten gar nicht über Weltereignisse gesprochen, da hat jeder anderes im Kopfe, und das Seevolk ist ja überhaupt ein ganz eigentümliches.

Jetzt allerdings würde es auch noch dieser Steuermann erfahren — gut, dann brauchte ich es ihm ja nicht erst zu erzählen. Und was ging das den überhaupt an? Ich betrachtete mich als seinen Vorgesetzten.

So erklärte ich ihm nur — das war ich ihm doch schuldig — wie die Besitzerin der ›Sturmbraut‹, mehr eine große Privatjacht, die ich bisher geführt, mich und meine ganze Mannschaft maßlos beleidigt habe, dermaßen, dass wir augenblicklich Schiff und Osterinsel in offenem Boote verlassen hatten, so wie wir gingen und standen.

Mehr zu sagen hatte ich gar nicht nötig, der Steuermann, seinen Tabak kauend, dachte offenbar an etwas ganz anderes, als er so grübelnd vor sich hin schaute.

»Können Sie nicht auf Ihrer Fahrt nach Nanking nahe an den Elliceinseln vorbeisegeln?«

Haller fuhr aus seinen Träumen empor, eine Seekarte des Stillen Ozeans ward befragt.

Ja, das war recht gut zu machen. Eigentlich lag diese Inselgruppe von hier aus sogar in der direkten Richtung nach Nanking, wie ein Blick auf die Karte gleich zeigt. Nun aber werden alle diese Archipele von Koralleninseln wegen ihrer Gefährlichkeit natürlich von jedem Schiffe gemieden, welches nichts dazwischen zu suchen hat, sie werden umsegelt. Hinwiederum ist die Gefahr schließlich gar nicht so groß, gerade die Elliceinseln sind leicht anzusegeln. Auch die Windverhältnisse waren in dieser Jahreszeit gerade recht günstig dazu.

»Gewiss, Herr Kapitän, Ihr Wunsch ist mir Befehl!«, drückte sich der rohe Patron einmal recht gewählt aus.

»Gut, ich danke Ihnen.«

Über die Zeit, welche wir zu dieser Strecke brauchten, lässt sich bei einem Segelschiff gar nicht disputieren. Es konnte nur vierzehn Tage dauern, es konnten auch drei Monate vergehen.

»Sollten wir ein westwärts gehendes Schiff treffen«, setzte ich weiter hinzu, »womöglich ein kleineres, welches zu erkennen gibt, dass es diese Inselgruppe oder eine naheliegende anlaufen will, so siedele ich auf dieses über, und noch lieber wäre mir natürlich ein Dampfer.«

»O, Herr Kapitän, es sollte mir das größte Vergnügen bereiten, Sie selbst dorthin zu bringen. Der Wind wird bald wieder günstiger werden, und dann nimmt es die ›Kalliope‹ mit jedem anderen Segler auf, von solch einem Paddelkasten gar nicht zu sprechen«, versetzte der plötzlich ganz umgewandelte Steuermann.

»Ja, da muss ich Ihnen aber gleich mitteilen, dass ich gegenwärtig nicht in der Lage bin, Ihnen die Unkosten für mich und meine Leute zu vergüten, wir sind gänzlich mittellos.«

»Herr Kapitän«, entgegnete Haller mit abweisender Handbewegung, und es klang fast beleidigt, »bitte, sprechen Sie nicht so — ich schätze mir zur Ehre, Sie und Ihre Leute bewirten zu dürfen.«

Wie sich dieser Kerl geändert hatte! Mein Misstrauen wuchs nur immer, und Mahlsdorf trat mich schon wieder auf den Fuß.

»Darf ich fragen, inwiefern die einsamen, menschenverlassenen Elliceinseln Ihr Ziel sein können?«

Diese neugierige Frage war allerdings berechtigt.

»Es kreuzt dort eine Jacht, welche diese noch ziemlich unbekannten Inseln erforschen will, und ihr Besitzer und Kapitän ist mein guter Freund«, erklärte ich, und das musste genügen.

Die Schiffsglocke glaste die Mittagsstunde.

»Bitte, Herr Kapitän, suchen Sie sich die beste Kabine aus. Ich kann Ihnen und den Offizieren deren drei zur Verfügung stellen. Dann kommt auch noch die hinzu, welche Mrs. Tankow benutzt hat.«

Die Kabinen gingen von einem Korridor neben der Kajüte ab, doch hatte auch diese noch eine Tür.

»Das ist die des Kapitäns«, erklärte Haller ohne Befragen, »ich selbst habe sie bezogen, trete sie Ihnen aber natürlich gern ab.«

Er öffnete die Schiebetür. Es sah für einen Seemann recht liederlich darin aus, doch ward mein Blick nur von einem Bilde gebannt, welches an der Wand hing, einem Brustbilde, das in Lebensgröße einen vollbärtigen Mann mit schönen, ernsten Zügen darstellte.

»Das ist Kapitän Tankow?«

»Jawohl, Charles Tankow.«

»Das Bild ist aber wohl noch aus seinen jungen Jahren.«

»Hm, das kann ich nicht sagen.«

»Er muss doch viel älter ausgesehen haben, wenn er zwischen vierzig und fünfzig gewesen sein soll.«

»Nee — eigentlich nicht. So hat er noch zuletzt ausgesehen. Ja, dem Gesicht nach war er noch ziemlich jung, hähähä.«

Ich unterdrückte alles, was bei diesem hämischen Lachen wieder in mir aufstieg.

Dann regte sich in mir ein Wunsch.

»Ist nicht auch ein Bild von seiner Gattin da, vielleicht in deren Kabine?«

»Nee — aber dort hängt ja ihr's.«

Ich musste mehr in die Kabine treten, um es an der anderen Wand zu erblicken — und ich war sprachlos!

Das kam nämlich daher, weil ich schon zwei solcher Kapitänsfrauen kennen gelernt hatte, die ihren Mann stets auf Reisen begleiteten, und alle beide hatten auf mich durchaus keinen sympathischen Eindruck gemacht — so eine Art von Madam Hullogan, nur in etwas gemäßigterer Ausgabe, aber alle beide, wenn nicht Haare unter der Nase, so doch die eine wenigstens auf der Nase, und auf den Zähnen alle beide, die Seefahrt erfordert eben robuste Naturen und macht aus zarteren Personen solche — und wie es nun so geht, wenn man schon mehrmals dergleichen Bekanntschaften gemacht hat — da schlägt man zuletzt alles über einen Leisten — kurz, ich hatte mir von solchen mitfahrenden Kapitänsfrauen schon ein ganz bestimmtes Bild gemacht.

Nun aber schaute mir hier aus großem Goldrahmen plötzlich ein lächelndes, liebreizendes Frauenantlitz entgegen, wie Milch und Blut, wie eine... ich habe schon einmal gesagt, dass ich so etwas nicht beschreiben kann, und ein menschliches Antlitz beschreiben zu wollen ist überhaupt ein Unsinn, das kann doch kaum der Pinsel eines Malers wiedergeben.

Kurz, es war ein berückend schönes, holdseliges Gesichtchen, das mir da entgegenlächelte.

»Das ist Bessy?!«

Weiß der Teufel, wie ich darauf kam, plötzlich so vertraut ihren Vornamen auszusprechen.

»Jawohl, das ist sie«, grinste der Engländer, »die Frau Kapitänin.«

Kaum konnte ich mich von dem Anblicke dieses Bildes wieder losreißen — und als ich daran dachte, vor Augen sah, wie dieses holdselige, junge Weib über Bord gespült ward, wie die beiden hier in dieser Kajüte gelebt haben mochten, da stieg ein anderer heißer Wunsch in meinem Herzen auf.

»Wo befindet sich ihre Kabine?«, fragte ich, und ich wagte in Gegenwart ihres Bildes nur zu flüstern.

»Dort«, grinste der Steuermann, dessen gewöhnlicher Gesichtsausdruck ein grinsender zu sein schien, und er deutete auf die Nebentür dieser Kapitänskabine.

Zögernd ging ich hin, zögernd ergriff ich die Klinke — die Tür war verschlossen.

»Ja, die ist zu, und sie muss den Schlüssel in der Tasche gehabt haben, als sie über Bord gewaschen wurde.«

»Wie lange ist denn das schon her?«, fragte ich verwundert.

»Nun, so drei Wochen.«

»Und da ist diese Ladykabine noch gar nicht betreten, die Tür noch nicht geöffnet worden?«

»Nun, die hat ja noch vom Korridor einen Eingang.«

Ach so, das war etwas anderes! Und doch — ich weiß nicht — warum brachte der Kerl dies alles nur so zögernd heraus?

Ich hatte mein Ziel nun einmal im Auge — ich suchte den Eingang zu dieser Kabine vom Korridor aus.

Auch hier war die Schiebetür verschlossen.

»Steward«, rief der Steuermann durch den Korridor, »bringe den Schlüssel zur Kabine von der Frau, der Kapitän hier will drin schlafen!«

O, wenn ich doch einmal hätte so auslangen können, wie ich gern wollte!

Der Steward hatte mit einem seemännischen »ay, ay« geantwortet, aber dann ließ er nichts weiter von sich hören.

»Na, Lewis, wo bleibst du denn? Warum steckt der Schlüssel denn überhaupt nicht?«

Der Steward kam noch immer nicht zum Vorschein dann aber ertönte seine Stimme.

»Ich kann den Schlüssel nicht finden, Käpten.«

»Was, nicht finden?! Du blutigverdammter Halunke...«

Der Steuermann fügte noch einige andere solcher Titulationen hinzu, eine immer blutiger und schauderhafter als die andere, und schließlich, wenn mir so etwas passiert wäre, dass an Bord meines Schiffes ein Schlüssel verlegt würde, ich wäre mit dem Betreffenden nicht viel sanfter umgesprungen. So etwas ist an Bord eines Schiffes eigentlich undenkbar.

Endlich wagte sich der Steward aus seiner Pantry hervor, ein großes Schlüsselbund in der Hand.

Das erste war, dass der gar nicht mehr so junge Steward — aber das ist auf Segelschiffen auch nicht wie auf Passagierdampfern ein Kellner, sondern ein echter Seemann — einen Nackenschlag bekam... und ich hätte es mit meinem eigenen Steward, trotz aller Liebe, wahrscheinlich nicht anders gemacht.

Denn das will ich hier gleich einmal einschalten: Haue gibt es auf den Schiffen, und nicht nur auf Seglern, sondern auch auf den gewöhnlichen Transportdampfern, tüchtige Haue, und das noch heute! Und nicht etwa nur der Schiffsjunge! O, so ein Steuermann gibt es den Matrosen manchmal tüchtig zwischen die Backzähne — und so ein Steuermann, auch Offizier genannt, bekommt's wieder vom Herrn Kapitän — ›Ohrpfeifen und Backfeigen‹ und noch anderes mehr!

Das mag vielleicht manchem unglaublich klingen, aber das ist so! Ja, das geht überhaupt an Bord anders zu, als man manchmal so in einem Seegeschichtchen liest, von jemandem verfasst, der noch nie eine Schiffsplanke betreten hat, von Seglern gar nicht zu sprechen.

Allerdings muss Grund vorhanden sein. So mir nichts, dir nichts, wegen jeder Kleinigkeit, wie die Schiffsjungen, werden Matrosen und Offiziere natürlich nicht geschlagen. Aber wenn eine grobe Vernachlässigung im Dienst vorkommt — etwa wenn der Steuermann ein falsches Segelkommando gegeben, eine falsche Sonnenberechnung gemacht hat — o, da saust ihm die Faust des Kapitäns gleich einmal unters Kinn und um die Ohren! Und dieser Herr Offizier darf keinen Mucks dazu sagen! Nur ein Aufheben der Hand, und der Kapitän schießt ihn auf der Stelle nieder, legt ihn in Eisen! Hinterher kann sich der Steuermann beschweren — aber hat er irgendwelche Schuld gehabt, bekommt er kein Recht. —

Doch genug hiervon. Und doch war es wichtig, einmal dies zu erwähnen. Auf den Passagierdampfern ist das ja heute anders — wenigstens an Deck, aber nicht im Heizraum, wo das Publikum es nicht sieht. Sobald die nötige Dampfspannung nachlässt, kommt der verantwortliche Maschinist mit dem Schippenstiel, und der Oberheizer vertobakt seinen Untergebenen, und dieser lässt seine Wut wieder an dem Kohlenzieher aus... und dieser springt vielleicht über Bord. Alles, damit die Aktionäre ihre Dividenden bekommen. — —

Also der Steward hatte seinen Backs weg, der ihn gegen die Wand geschleudert, und als er sich von dieser wieder abgelöst, probierte er mit den vielen Schlüsseln an dem Bunde in dem Schlüsselloche herum.

»Hast du ihn denn nicht?«

»Nein, das sind andere; vielleicht ist einer darunter, der...«

Bruch, bruch, bruch... diesmal gab's noch etliche sogenannte Backse mehr. Der Steward warf dem stellvertretenden Kapitän einen hasserfüllten Blick zu — sollte er auch nicht! — dann schüttelte er sich wie ein Hund und fuhr fort, die einzelnen Schlüssel weiter zu probieren.

Während dieser Beschäftigung kam es zwischen ihm und dem Kapitän zu einem Gespräch, welches ich hier wiedergeben muss. Der Steward war dabei schon wieder ganz ruhig, er kannte eben keine andere Behandlung.

»Wohin hast du denn den Schlüssel gehängt?«, fragte der Steuermann.

»Dahin, wo er immer hängt.«

»Wann bist du denn das letzte Mal in dieser Kabine gewesen?«

»Als ich sie aufräumte.«

»Wann war das?«

»Na, gleich nach ihrem Tode — oder nach dem des Kapitäns — so vor drei Wochen.«

Dies war das Gespräch, welches ich als wichtig wiedergeben muss.

Keiner der Schlüssel hatte gepasst.

»Kerl«, brüllte der Steuermann dann, »du gehst nicht eher zur Koje, bringst keinen Bissen in den Mund, als bis du mir den Schlüssel zur Stelle geschafft hast — und wenn du verhungerst!!«

»Na, da gibt es doch noch andere Mittel, um so eine Tür aufzubringen«, meinte ich, griff an den Knopf, an dem die Schiebetür zurückgezogen wurde, rüttelte daran, machte ja einige Anstrengung, aber eigentlich hatte ich doch nur an einen Dietrich gedacht — da gab es einen Knacks, und die Tür ließ sich zurückschieben. Der eiserne Riegel hatte unter meiner Bärentatze nicht standhalten können, war einfach gebrochen — so wie es mir manchmal mit verschlossenen Türen und mit ähnlichen Dingen ging. Ich musste bei so etwas immer sehr zartfühlend sein.

Aber nun war die Tür einmal offen. Das erste, was ich fühlte, war wie ein warmer Hauch, der mir entgegenschlug.

Dann sah ich eine sehr komfortabel ausgestattete Kabine, der man gleich anmerken konnte, dass hier eine Frau gehaust hatte, an dem Waschtisch mit den vielen Schächtelchen und Büchsen und Bürstchen — und dort auf der ungemachten Koje lag zum Überfluss noch ein rotes Korsett mit weißen Spitzen, auch noch andere intime Toilettenstücke lagen herum...

Es war schade, dass ich in diesem Augenblick das Gesicht des Steuermanns nicht beobachtete. Mahlsdorf berichtete mir erst später davon.

»Kerl«, brüllte Haller wiederum den Steward an, »und das nennst du aufgeräumt?! Das sieht ja gerade noch aus wie damals an dem Tage, wo die Frau Kapitänin über Bord ging, wo ich diese Kabine betrat, um ihre Briefschaften und so weiter unter Verschluss zu nehmen!!«

Backs — und der flunkerhafte Steward zog es diesmal vor, schnell zu verschwinden.

Ja, das sah allerdings fast geradeso aus, als wenn die Inhaberin dieser Kabine erst vor...

Da sah ich etwas am Boden liegen, dicht vor meinen Füßen, und mir schoss etwas durch den Kopf; mein erstes war, schnell auf dieses kleine Etwas mit dem Fuße zu treten, und ich wusste ganz bestimmt, dass dieses mein Manöver von niemandem beobachtet worden war. Man hat doch manchmal so ein bestimmtes Bewusstsein.

Nun handelte es sich nur noch darum, dieses kleine Etwas unter meinem Fuß unauffällig in die Hand und in meine Tasche zu eskamotieren. Was es war, darüber werde ich noch später sprechen.

»Hm, das ist allerdings sehr traurig, wenn man so in einer Kabine steht, in der noch vor Kurzem jemand geschlafen hat, und jetzt ist er tot — zumal, wenn's so eine hübsche Frau war«, sagte ich, nur um irgend etwas zu sagen.

Und dann streckte ich meine Hand aus, rückwärts nach der Tür.

»Was soll denn das bedeuten?«

Es war eine geometrische Figur, die dort in die Holzverkleidung der Wand gleich neben der Tür eingeritzt war.

Da hatte wohl ein früherer Bewohner dieser Kabine, doch sicher ein Steuermann, als er gerade kein Papier zur Hand gehabt, mit dem Messer eine trigonometrische Berechnung gemacht, so äußerte sich auch Haller — für mich hatte es sich ja aber nur darum gehandelt, einmal seine Augen abzulenken, und kaum hatte er den Kopf gewendet, als ich mich schnell bückte und das weiße Tüchelchen, um das es sich der Hauptsache nach handelte, aufhob und in meine Tasche praktizierte.

»Meine Herren, das Mittagessen wird gleich fertig sein«, sagte der Steuermann jetzt. »Wollen Sie sich nicht erst Ihre Kabinen aussuchen? Der Herr Kapitän kann ja gleich diese nehmen, wo die Frau Kapitän drin gewohnt hat, hähähä.«

Mich konnte jetzt dieses hämische Grinsen nicht mehr irritieren, all meine Gedanken waren mit etwas ganz anderem beschäftigt.

Nein, wir wollten die Kabinen der Toten nicht benutzen, die des Kapitäns hatte ja auch schon sein Nachfolger mit Beschlag belegt.

Wir besahen uns die drei anderen.

Als Kapitän musste ich unbedingt meine eigene haben, in die beiden anderen teilten sich die vier Offiziere.

Haller und der zweite Steuermann stellten uns ihre Garderobe zur Verfügung, wir halfen uns, so gut es ging, dann sah ich nach meinen übrigen Leuten, die ebenso aus den Zeugkisten der Mannschaft versorgt, sonst in der Segelkammer untergebracht worden waren, dann wurde das Mittagessen aufgetragen, welches ausnahmsweise, da es eben noch zunächst an Platz mangelte, von den Kapitänen zusammen mit den Offizieren eingenommen wurde.

Dieses Mittagessen bestand in der Hauptsache aus Speck und Bohnen, wozu für die Kajüte noch etwas Pökelbraten hinzukam, es konnten davon nur sehr kleine Portionen verteilt werden, das Essen war doch schon angesetzt gewesen, bevor wir an Bord kamen. Für die vielen neuhinzugekommenen Leute hatten schnell nur noch Kartoffeln gekocht werden können, sonst musste der hungrige Magen mit Schiffszwieback gefüllt werden.

Die Bohnen waren weich, der Speck war noch gut, wie der Pökelbraten, letzterer sogar delikat — die Kartoffeln hingegen waren kaum noch genießbar, und aus dem Hartbrot krochen sogar auch ohne Klopfen die Würmer heraus.

Ein Jan Maat, wie sich der Segelschiffsmatrose stolz nennt, ist an manches gewöhnt, eigentlich aber war es schon ein Skandal, uns solchen Schiffszwieback vorzusetzen.

Doch ich hätte dies alles gar nicht erwähnt, wenn es nicht noch für später wichtig werden sollte.

»Ist dieses Hartbrot nicht schauderhaft?«, nahm der Steuermann von allein das Wort. »Solches Zeug müssen wir nun schon seit einem Vierteljahre kauen, wir haben es gleich so verdorben bekommen, ebenso die Kartoffeln, und das Schlimmste ist, dass jetzt auch die Bohnen zu Ende gehen, die waren allein noch genießbar. Erbsen sind noch massenhaft da, aber mit aller Soda nicht weich zu bekommen, und mehr Würmer als Erbsen, und mit dem Fleische ist es genau so.«

»Ja, das ist der letzte Salzspeck, der nicht stinkt«, ließ sich der servierende Steward vernehmen, »und der Koch sagt, dass dies der letzte Pökelbraten wäre, den man essen könnte.«

Das waren ja allerdings nette Aussichten!

»Der Proviant war gleich so verdorben, als Sie ihn in London bekamen?«, fragte ich.

»Zum größten Teil. Ab und zu ein frisches Fässchen, das wir heraussuchen mussten.«

»Konnten Sie denn da nicht an der Ostküste Südamerikas einen Hafen anlaufen, um frischen Proviant einzunehmen, auf Kosten des Reeders? Das ist doch selbstverständlich erlaubt.«

»Ja, wenn die Reederei nicht eine Aktiengesellschaft wäre, Scrubb und Kompanie in Bristol«, feixte der Steuermann in seiner Weise, »und Kapitän Tankow war selber Aktionär.«

»War der denn so geizig?«

»Na und wie! Beim Gelde hört eben jede Gemütlichkeit auf.«

»Und er und seine Frau aßen selbst diese schlechte Kost?«

»Nee, die beiden natürlich nicht. Die hatten extra Proviant mit, das Pökelfleisch hier ist noch davon, auch viele Konserven. Als die beiden tot waren, war ja noch genug vorhanden; aber das musste ich nun doch auch für die Mannschaft herausrücken, ich bin doch nicht so einer, der zusehen kann, wie die anderen mehr Würmer essen als Erbsen, hähähä — na, und da ist das schnell alle geworden.«

Diese letzte Henkersmahlzeit wollte uns nun auch nicht mehr schmecken, durch die Kartoffeln und das Hartbrot bekamen wir ja schon einen Vorgeschmack auf morgen, wir würgten das Essen so schnell wie möglich hinter, und länger als eine Viertelstunde wird auf einem Segelschiffe überhaupt nicht diniert.

Dann hatte der stellvertretende Kapitän seine frühere Wache von vier Stunden zu übernehmen, die er, da ja nur noch ein zweiter vorhanden war, noch immer gehen musste, und uns, die wir die ganze Nacht im offenen Boote verbracht hatten, konnte man nicht verdenken, wenn wir die Kojen aufsuchten.

Erst aber nahm ich Mahlsdorf mit zu mir herüber, und das brauchte nicht aufzufallen, nach solch einer ›Rettung‹, jedenfalls bei solch veränderten Verhältnissen hat der Kapitän mit seinem Steuermanne doch manches zu besprechen.

Dass wir hier nicht belauscht werden konnten, davon hatte ich mich schnell überzeugt, und wir konnten ja auch unsere Stimmen dämpfen. Und Mahlsdorf blickte mich, nachdem ich die Tür geschlossen, auch gleich ganz eigentümlich an.

»Nun, Mahlsdorf, was meinen Sie?«, fragte ich leise.

»Kapitän, hier ist etwas nicht in Ordnung!«, war meines Steuermanns erstes Wort, in entsprechender Weise hervorgebracht.

»Haben Sie auch schon etwas gemerkt?«

»Ja, eine ganze Masse.«

»Nun?«

»Wissen Sie, Kapitän, dass der Steward den Schlüssel zu der Kabine nicht fand — und dann, wie es in dieser Kabine aussah...«

»Nun?«

»Die Frau, die schon vor drei Wochen über Bord gespült worden sein soll, ist noch heute drin gewesen, hat immer drin gewohnt, bis vorhin — oder ich lasse mich doch gleich hängen!«

»Woraus wollen Sie denn das schließen?«

Zunächst blickte mich Mahlsdorf nur erstaunt an.

»Ist Ihnen denn das nicht auch gleich aufgefallen? Wie die Sachen herumlagen — und was der Steuermann schon für ein erschrockenes Gesicht machte, als die Tür plötzlich unter Ihrer Hand aus den Fugen ging... ich dachte zuerst sogar, die Frau Kapitän darin zu erblicken.«

»Jawohl, Sie werden wohl recht haben«, entgegnete ich, »und sie hat dieses Taschentuch darin zurückgelassen.«

Mit diesen Worten brachte ich das weiße Tüchelchen aus der Tasche zum Vorschein, welches vor noch nicht ganz einer halben Stunde meine besondere Aufmerksamkeit erregt hatte.

Ich faltete es auseinander und zeigte Mahlsdorf den in der Mitte befindlichen, ziemlich großen, roten Fleck.

»Für was halten Sie das?«

»Das ist Blut!«, flüsterte Mahlsdorf, »und... und... ich glaube fast...« er nahm das Tuch, befühlte den Fleck, rieb an dieser Stelle das Tuch, »und ich glaube fast, dieses Blut ist noch vor gar nicht langer Zeit erst eingetrocknet.«

»Ich versichere Ihnen sogar, dass vor einer halben Stunde, als ich meinen Fuß darauf setzte, dieser jetzt dunklere Fleck noch ganz hellrot und sogar noch feucht war. Glauben Sie, dass man dies nur durch Sehen unterscheiden kann? Und ich habe die Feuchtigkeit beim Aufheben sogar gefühlt!«

»Und Sie haben dieses Taschentuch mit dem noch feuchten Blutfleck in der Kabine gefunden, die seit drei Wochen verschlossen gewesen sein soll?«, fragte Mahlsdorf mit ganz erschrockenen Augen.

Ich erzählte ihm von meinem Manöver.

»Ja, Kapitän, warum haben Sie ihm da das Tuch nicht gleich als Beweis vor die Augen gehalten?«

Mahlsdorf hatte recht. Oder auch nicht. Mir selbst war damals die Ansicht, die totgesagte Frau Kapitän habe sich noch bis kurz vor unserer Ankunft in dieser Kabine aufgehalten, doch etwas ungeheuerlich vorgekommen, ich war ja ganz konsterniert gewesen — und schließlich hätte auch solch ein Beweis gar nichts genützt. Jener Mensch konnte so furchtbar flunkern, dass er sich auch hierbei mit Lügen herauszuhelfen gewusst hätte.

»Nein, wir müssen ihn gerade erst in Sicherheit wiegen.«

Mahlsdorf sah die Richtigkeit dieses Planes ein.

»Ja aber, Sie sind doch nicht etwa gar der Ansicht, dass diese Frau...«

»Dass diese Frau noch lebt, sich hier an Bord befindet, vor uns irgendwo versteckt gehalten wird«, ergänzte ich den Stockenden, der den furchtbaren Verdacht gar nicht auszusprechen wagte. Denn nun war auch noch anderes zu folgern.

»Dann kann der Kapitän aber doch auch nicht deshalb Selbstmord begangen haben, weil seine Frau über Bord gewaschen worden ist.«

»Wenn unsere Annahme richtig ist, sicher nicht.«

»Oder sollte der Kapitän gar... nein, ich wage es nicht auszusprechen!«

»Sprechen Sie es ruhig aus — ich habe wahrscheinlich denselben Gedanken.«

»Diese Frau war jung und hübsch...«

»Nun, und? Halten vielleicht auch Sie diesen Steuermann Haller eines Mordes für fähig?«

Unsere Gedanken hatten sich begegnet.

»Dann muss er aber doch auch die ganze Mannschaft auf seiner Seite haben.«

»Weshalb?«

»Mindestens der Steward muss gewusst haben, dass sich die Frau noch am Leben befindet — sagen wir gleich: in ihrer Kabine gefangengehalten wird — und das lässt sich doch kaum vor der übrigen Mannschaft verheimlichen.«

»Sehr richtig, und hieraus lässt sich schließen, dass die ganze Besatzung ein böses Gewissen hat.«

»Was könnte da vorliegen?«

»Der einfachste Gedanke ist wohl der an Meuterei. Der Kapitän ist getötet worden, der Steuermann hat die hübsche Frau für sich behalten...«

Ein Klopfen gegen die Kabinentür unterbrach meine Auseinandersetzungen, welche leise genug geführt worden waren.

»Wer ist draußen?«

»Herr Kapitän, sind Sie zu sprechen?«, fragte die raue Stimme des Steuermannes.

»Jawohl, kommen Sie nur herein!«

Wir standen ganz unauffällig da, als Haller hereinkam, ein dickes Buch in der Hand, in dem ich gleich das Schiffsjournal erkannte.

»Ich dachte, wir brächten sofort das mit dem Logbuch in Ordnung«, sagte er, das Buch aufklappend und auf den Schreibtisch legend, der bei heraufgehobenem Deckel zum Waschtisch wurde, aber inwendig auch ein Tintenfass und einen Federhalter enthielt.

Ich las die vorschriftsmäßige Eintragung, wie zweiunddreißig Menschen im offenen Boote unter dem und dem Längen- und Breitengrade zu der und der Stunde und Minute gesichtet und an Bord genommen worden seien.

»Nun machen Sie wohl gleich noch die Angaben von Namen und Schiff, dann ist die Sache erledigt, und dann unterschreiben Sie wohl gleich hier.«

Er deutete unter die letzten Zeilen. Und da las ich noch etwas anderes.

Danach sollte nämlich ich, Richard Jansen, bisher Kapitän der ›Sturmbraut‹ von New York, auf das Kommando der ›Kalliope‹ verzichten, freiwillig, deren bisherigen ersten Steuermann, Samuel Haller, als den nun rechtmäßigen Kapitän anerkennen — und dies alles ganz ausführlich ausgedrückt, sollte ich eigenhändig unterzeichnen oder vielmehr schon unterzeichnet haben. Es fehlte eben nur noch meine Unterschrift.

Da aber stieg es mir plötzlich siedend heiß zum Kopfe empor.

»Das soll ich unterschreiben?«

»Ich bitte sehr«, sagte jener mit ausgesuchter Höflichkeit, schon die Feder in die Tinte tauchend und sie mir hinhaltend.

»O nein, das kann ich nicht tun!«

Knacks — der gar nicht so dünne Federhalter war plötzlich zwischen den kulpigen Fingerspitzen des Steuermannes in zwei Stücke zerbrochen, und ein wahrhaft furchtbarer Blick traf mich.

»Was können Sie nicht tun?«

»Diese Verzichtleistung unterschreiben.«

»Weshalb nicht?«

»Weil ich nicht will!«, entgegnete ich einfach.

Immer drohender und gehässiger wurde der auf mich gerichtete Blick. Doch der Mann wusste sich zu beherrschen.

»Sie haben aber doch schon gesagt, dass Sie das Kommando nicht übernehmen wollen.«

»Nein, das will ich auch nicht. Ich werde Ihnen nicht ins Kommando sprechen. Aber solch eine freiwillige Verzichtleistung gibt es bei mir nicht.«

»Nun habe ich es aber schon ins Logbuch hineingeschrieben.«

»Dann wird's einfach wieder ausgestrichen.«

»Das darf nicht sein.

»I natürlich darf das sein«, entgegnete ich, nahm schnell eine Feder, tauchte ein, zog über diese letzten Zeilen kreuz und quer Striche und schrieb darunter: Ausgestrichen — und dann meinen Namen. Das war ganz ordnungsgemäß, auch für das heilige Schiffsjournal.

Haller hatte mir das Logbuch offenbar entreißen wollen, aber mein linker Arm hatte so fest darauf gelegen, dass ihm das unmöglich gewesen war.

»Very well!«, sagte er dann möglichst gelassen, jetzt konnte er das Buch wieder unter den Arm nehmen, und er wollte gehen.

Dazu ließ ich ihn aber nicht kommen, vertrat ihn, vielmehr schnell den Weg zur Tür.

»Halt, wir sind noch nicht fertig!«

»Was wollen Sie noch von mir?«, fuhr er mich grimmig an.

»Jetzt werde ich erst in das Buch eintragen, dass ich tatsächlich das Kommando über dieses Schiff übernehme.«

Anstatt eine Antwort zu geben, lief er mich plötzlich an, um mich beiseite zu schleudern.

Da gab es aber nun freilich nichts bei mir. Ich stand fest und packte ihn — da ließ er das Buch mit einem Fluche fallen, griff hinter sich, hatte einen Revolver in der Hand, wollte mich gleichzeitig zwischen die Augen schlagen, ich parierte den Hieb, schlug nach, und er sackte lautlos zusammen.

Es war ganz anders gekommen, als ich ursprünglich geplant hatte, nun schadete es aber auch nichts weiter.

»Recht so — er hat die Hand gegen mich erhoben, als ich ihm schon gesagt hatte, dass ich jetzt sein Kapitän sei. Lebt er denn noch?«

Ja, er atmete noch, war nur bewusstlos

»Mahlsdorf, versichern Sie sich seiner, ebenso dann der Kajüte mit den Waffen, während ich die Jungen instruiere.«

Dies alles war fast ganz lautlos vor sich gegangen.

Ich ging schnell in die beiden anderen Kabinen, wo sich der zweite Steuermann und die beiden Ingenieure eben in die Koje legen wollten, sagte ihnen mit drei Worten, dass ich hier das Kommando übernommen und den stellvertretenden Kapitän wegen Widerstands hätte niederschlagen müssen, die beiden Maschinisten, welche schnell genug alles erfassten, schickte ich zu Mahlsdorf hinüber, den zweiten Steuermann nahm ich mit, wie er ging und stand.

Wir beide eilten an Deck, nachdem wir uns noch in der Kajüte aus dem Waffenstand mit Revolvern und Patronentaschen versorgt hatten. Den Steward sah ich nicht, sonst hätte ich mich auch gleich seiner versichert.

Die ganze Besatzung schätzte ich, was man ja leicht bei einem Segelschiffe kann, auf höchstens zwanzig Mann, darunter zwölf bis höchstens vierzehn Matrosen. Mehr waren zur Bedienung der vier Masten nicht nötig.

Es waren offenbar sämtliche Matrosen, welche unter Anleitung des Bootsmanns, eines einäugigen Gesellen, soeben damit beschäftigt waren, unser nachgeschlepptes Boot einzuhieven, wozu durch Beseitigung eines anderen Platz gemacht worden war.

Meiner Anweisung gemäß eilte Wagner, mein zweiter Steuermann, zunächst nach der Segelkammer, um dort unsere Leute zu informieren, während ich selbst auf die arbeitende Gruppe zutrat.

»Hallo, boys!«

Man hielt einmal mit der Arbeit inne, um nach mir zu blicken.

»Kommt einmal alle mit in die Kajüte — alle Mann! Ruft die noch etwa fehlenden!«

»Wat?«, fragte der Einäugige.

»Ich habe das Kommando übernommen. Ihr habt mich als Eueren Kapitän zu betrachten.«

Jetzt ließen alle Hände die Taue fahren, die Bestürzung war groß.

»Wat?«, machte der tabakkauende Bootsmann noch einmal. »Wo ist der erste Steuermann — der Kapitän, wollte ich sagen?«

»Habt Ihr mich nicht verstanden?!!«, herrschte ich ihn jetzt nicht schlecht an. »Achter raus in die Kajüte sollt ihr kommen!!! Alle, wie ihr hier seid, sofort!! Dort wird euch Steuermann Haller das Weitere sagen!«

Die letzte unwahre Vorspiegelung war wahrscheinlich gar nicht nötig gewesen, mein Auftreten genügte schon.

Achselzuckend und brummend schickten sich die Leute zum Gehen an, vielleicht gar nicht bemerkend, wie mehr vorn im Schiff jetzt meine zahlreichen Jungen zum Vorschein kamen.

»Wer passt denn unterdessen auf die Segel?«, fragte nur der Bootsmann noch.

»Das besorgen meine eigenen Leute. Vorwärts, nun lasst Euch nicht länger nötigen!!«

Sie befanden sich schon sämtlich im Kajüteneingang, dann in der Kajüte selbst, und ein Wink von mir hatte genügt, um einige meiner eigenen Matrosen und Heizer herbeizuzitieren, darunter auch Goliath, und ebenso kamen die beiden Ingenieure mit in die Kajüte.

Dass sonst nichts hinter meinem Rücken passierte, dass auch gleich der Koch und der Mann am Ruder mit Beschlag belegt wurden, dafür sorgte schon Wagner, auf den ich mich verlassen konnte, auch ohne ihm besondere Instruktion gegeben zu haben.

Es waren sechzehn Mann, die sich außer uns in der Kajüte befanden, alle etwas wie die begossenen Pudel dastehend, nur mit starren Augen beobachtend, wie meine beiden gewitzigten Ingenieure an meine Matrosen Revolver und Patronen verteilten.

»Hört, Leute«, begann ich, als alles so weit war, »nun erzählt einmal offen, was für eine Bewandtnis es mit dem Tode des Kapitäns Tankow hat. Bootsmann, macht den Sprecher!«

Hei, was für eine Überraschung gaben diese meine Worte! Diese Augen! Wie die von der Katze überraschten Mäuschen, die sich schnell nach einem Versteck umsehen.

Nun aber konnte ich meiner Sache auch sicher sein. Denn zuerst war es doch ein etwas gewagtes Spiel gewesen.

»Wo ist Steuermann Haller?!«, stieß der Bootsmann noch einmal hervor.

»Der hat bereits gestanden.«

Hei, dieser abermalige Schreck, der durch alle Knochen fuhr.

»Jawohl«, wiederholte ich, »Steuermann Haller hat bereits gestanden...«

»Und der Steward ebenfalls«, ergänzte da der eintretende Mahlsdorf, »der ist direkt zum Verräter geworden. Kapitän Jansen, an Bord dieses Schiffes ist etwas Schreckliches passiert! Diese ganze Mannschaft ist bereits früher auf einem Schiffe zusammengewesen, ist in London abgemustert worden, hat auf der ›Kalliope‹ wieder zusammen angemustert. Sie hatten von ihrem früheren Schiffe, das aus dem Orient kam, zehn Kisten Opium gestohlen, haben sie an Bord der ›Kalliope‹ geschmuggelt, welche doch nach China geht, um das Opium dort zu verkaufen, was jedem einen ganz erklecklichen Gewinn abgeworfen hätte. Kapitän Tankow kam dahinter, wollte das Opium natürlich mit Beschlag belegen. Da haben die enttäuschten Matrosen, diese hier, gegen ihren Kapitän gemeutert...«

Mahlsdorf, der jedes Wort mit Wucht gesprochen hatte, kam nicht weiter.

Meuterei — dieses entsetzliche Wort genügte. Für Meuterer gibt es nur eine Strafe: im nächsten Hafen den Galgen! Jeder Meuterer kann sich als ein wildes Tier betrachten.

Und wie die wilden Tiere brüllten sie alle auf, als sie sich auf uns warfen.

Ich war der erste, welcher den bereitgehaltenen Revolver abfeuerte, zweimal. Wie sich dann herausstellte, habe ich den Bootsmann durch einen Schuss durch die Brust sofort getötet, einem zweiten zerschmetterte meine Kugel den Arm.

Ich verschmähe es, zu meiner Entschuldigung anzuführen, dass ich in Notwehr handelte, weil sie als Angreifer sich mit gezückten Messern auf uns warfen. Es war der erste Mensch gewesen, den ich absichtlich getötet hatte, und ich fühlte hinterher nicht die geringsten Gewissensbisse. Es waren eben Meuterer, die den Tod verdienten.

Auch einige meiner Matrosen mussten noch Gebrauch von ihren Revolvern machen, noch zwei wurden getötet, mehrere verwundet, dann ergaben sie sich samt und sonders auf Gnade und Ungnade.

Dass nun auch noch schnell der zweite Steuermann und alle übrigen, die sich nicht hier in der Kajüte befanden, unschädlich gemacht wurden, ist selbstverständlich. Es kamen überhaupt nur noch ein Matrose, der anderswo beschäftigt gewesen, und der Koch in Betracht, der Steward gehörte ja bereits zu uns, obgleich damit nicht gesagt werden soll, dass er als Verräter wegen der Schläge hätte Rache nehmen wollen. Nein, das war ja ausgemachte Sache gewesen. Der Wicht hatte nur sofort gestanden, als Mahlsdorf ihn beim Kragen genommen und er sonst gesehen hatte, wie die Sache stand.

Dem, was Mahlsdorf schon gesagt, habe ich gar nichts mehr hinzuzufügen.

Die ganze Mannschaft war eben empört darüber gewesen, dass der Kapitän die versteckten Opiumkisten gefunden hatte, der erste Steuermann hatte seinen Kapitän einfach über den Haufen geschossen, so halb und halb mit Einverständnis der ganzen Mannschaft, die mindestens jetzt treu zusammenhielt.

Passieren konnte ihnen ja nichts. Der Kapitän hatte eben Selbstmord begangen, aus Gram über den Verlust seiner Gattin. So wurde ins Logbuch eingetragen, und damit basta. Dann sollte das Schiff vorschriftsmäßig nach Nanking gebracht werden, und ich will nur erwähnen, dass der Verkauf der zehn Kisten gestohlenen Opiums in China jedem einzelnen rund hundert Pfund oder zweitausend Mark eingebracht hätte. Opium ist ein gar kostbarer Artikel, und in China wird man es überall sofort los. Nur muss es durchgeschmuggelt werden.

Nun war die Sache aber noch längst nicht erledigt.

»Der erste Steuermann hatte es schon immer auf die Frau Tankow abgesehen gehabt, deshalb hauptsächlich hat er den Kapitän niedergeschossen«, klagte jetzt der Steward den Steuermann an, und feig, wie Mörder nun einmal sind, stimmten auch alle anderen in diese Anklage mit ein.

»Wo ist die Frau Kapitän jetzt?«, war meine nächste Frage, und in meiner Brust schnürte sich dabei das Herz zusammen.

Steuermann Haller hatte sie die ganzen drei Wochen in ihrer Kabine eingeschlossen gehabt, erst vorhin, als wir Schiffbrüchigen nicht mehr abgewiesen werden konnten, hatte er es für besser befunden, sie einstweilen unten im Schiffsraume einzusperren...

»Hat der Steuermann sie missbraucht?«, unterbrach ich den geständigen Steward.

»Nein — ja — ich weiß nicht — vielleicht...«

»Antwort, ja oder nein!«

Die Mündung meines Revolvers saß vor des Mannes Stirn. Und da erfuhr ich das Entsetzliche. Der Steuermann hatte das unglückliche Weib zuletzt der ganzen Mannschaft preisgegeben!

Dass ich in diesem Augenblicke nicht an dem Geständigen zum Mörder wurde, vielleicht zum mehrfachen, das wundert mich noch heute.

Aber auch das weiß ich noch heute, dass ich niemals einen schwereren Gang gemacht habe als damals, da ich mit dem Schlüsselbunde hinab in den Kielraum stieg.

Es war die Arrestzelle, in welcher unfügsame Matrosen in Eisen gelegt werden, in die man die Frau einstweilen gelegt hatte.

Ich will hier gleich dieses ›Einstweilen‹ erläutern, womit zugleich erklärt wird, weshalb ich damals den guten Pökelbraten und die miserabeln Kartoffeln wie das würmerzerfressene Hartbrot so hervorgehoben hatte.

Man war sich schnell einig geworden, uns doch lieber aufzunehmen, um dann später nicht in Konflikt mit dem Seegerichte zu kommen, uns aber den Aufenthalt an Bord dieses Schiffes möglichst zu verleiden, dass wir auf das nächste uns begegnende Schiff übersiedeln möchten.

Es war vortrefflicher Proviant noch genug da, nur einige wenige verdorbene Fässer mit Salzfleisch und Hartbrot, dieses hätte man uns vorgesetzt, für uns die verrottetsten Kartoffeln ausgesucht. Die Mannschaft hätte eben einige Zeit mitmachen müssen. Hier in diesem Fahrwasser würden wir ja Schiffen genug begegnen, auf solch eines würden wir natürlich so schnell wie möglich übersiedeln.

Dann war man uns wieder los, aber man hatte korrekt gehandelt, dann wäre die unglückliche Frau wieder hervorgeholt worden, bis... man sie einfach, mit einem Säckchen Kohlen beschwert, hätte über Bord verschwinden lassen.

Mit dem Schlüsselbund und mit einer Lampe versehen stieg ich also hinab in den finsteren Raum. Gott, wie war mir zumute! Die Schlüssel klirrten in meiner Hand, kaum vermochte ich die eiserne Tür zu öffnen.

Der Blendstrahl der Laterne drang in den finsteren Raum. Ich mache es kurz.

Ein dunkler Haufen, bei dem man kaum menschliche Umrisse erkennen konnte und... eine große Blutlache!

Das junge Weib mit den schönen, jetzt aber verzweifelten Zügen war tot, schon starr. Sie hatte sich die Pulsadern geöffnet. Das große, verrostete Messer mochte sie erst hier gefunden haben.


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Weshalb sie nicht schon früher Selbstmord begangen hatte, erfuhr ich nicht. Tote können nicht mehr sprechen. — — —

Der zweite Ingenieur war der erste, der mir begegnete, als ich wieder an Deck kam, und er schrak vor mir zurück.

»Mein Gott, Kapitän, wie sehen Sie denn aus, was ist denn Ihnen unten passiert?!«

Zunächst hatte ich nur ein heiseres Lachen. Aber ich fühlte selbst, wie die Todeskälte auf mich übergegangen war.

»Kienock«, sagte ich dann, »Sie haben hier, wo es keine Maschinen gibt, doch nichts zu tun — bergen Sie mit Ihren Leuten die Leiche, welche Sie unten in der Arrestzelle finden werden.«

»Tot?!«, schrie der noch junge Mann entsetzt auf.

»Selbstmord, selbstverständlich. Was dachten denn Sie?«

Ich wollte gehen, doch er, sich aufraffend, hielt mich noch einmal zurück.

»Kapitän, da ist ein Matrose, der will uns, wenn wir ihn freigeben, ein Geheimnis entdecken, er wisse ein gesunkenes Wrack mit enormen Schätzen...«

Ich lachte meinem Ingenieur ins Gesicht. Na ja, er war eben kein richtiger Seemann. Ich habe wohl schon erwähnt, dass er früher Artillerieoffizier gewesen war, hatte sich, in der Mathematik ja genügend bewandert, erst nachträglich zum Schiffsingenieur ausgebildet. Nur so einem konnte es noch passieren, an so etwas zu glauben, darüber nur ein einziges ernstes Wort zu sprechen.

Was für eine Bewandtnis es mit solchen ›Geheimnissen‹ mit gesunkenen Wracks und dergleichen hat, darüber habe ich mich ja schon früher geäußert.

Dann stand ich vor dem ersten Steuermann, der gebunden noch immer auf dem kleinen Sofa in jener Kabine lag.

»Hund!!«

Ich musste mich gewaltsam beherrschen, ihm nicht einen Faustschlag zu versetzen. Er hätte diesmal zu derb ausfallen können, und das wäre doch zu schade gewesen.

Jetzt feixte diese widerliche Visage nicht mehr. Vor Angst verzerrt starrte sie mich an. Es war nicht einmal ein kühner Bösewicht. Ich könnte vielleicht einem Menschen, der zum Raubmörder geworden ist, verzeihen, der mit keckem Schritt das Schafott besteigt, aber nicht solch einem Buben.

»Schade, dass es für dich nichts anderes gibt als nur den Galgen. Nur etwas kann ich dir noch bieten. Während dieser Fahrt sollst du Ungeheuer nichts zu lachen haben!«

»Kapitän«, stieß da der Mann mit klappernden Zähnen hervor, »wenn Ihr mich nicht dem Gericht überliefert — mich freigebt — ich weiß ein Geheimnis — einen Schatz — ich mache Euch zum reichsten Manne der Welt...«

Er wurde nicht durch mein Lachen unterbrochen, sondern dieses ließ mich nur nichts weiter hören.

Jetzt kam auch der in seiner Todesangst mit so etwas! Gottvoll! Das schien bei Seeleuten immer mehr zur Manie zu werden.

Dann wurde ich wieder ernst. Oder es war das grausame Spiel der Katze mit der Maus, das ich begann.

»Ihr wisst einen Schatz?«, fragte ich mit scheinbarer Spannung. Hei, wie dieser Kerl gleich erleichtert aufatmete.

»Ja, ja!«

»Wo?«

»Wenn Ihr mich freigebt, sollt Ihr alles erfahren.«

»Auf dem Meeresgrunde?«

»Ja.«

»Ein gesunkenes Wrack?«

»Nein.«

»Was sonst?«

»Wenn Ihr mich freigebt!«

Ich ließ mich auf keine weitere Unterhaltung ein, machte dem Manne nicht erst klar, dass ich an solche Märchen nicht glaubte, dass ich selbst zwei solche Schatzstellen wüsste, aber gar nicht daran dächte, sie aufzusuchen, sondern ich legte meine Hände auf die seinen, die ihm vorn auf der Brust gebunden worden waren, allerdings in einer Weise, dass er sie unmöglich mit den Zähnen lösen konnte.

»Ihr wisst einen Schatz?«, fragte ich nochmals.

»Ja, ja.«

»Nun, wo?«

»Garantiert mir meine Freiheit, dann will ich Euch alles...«

Diesmal lachte ich in einer Weise, dass er erschrocken abbrach.

»Wo?«

Da schrie er wild auf, und ich hatte seine Hände doch erst ganz sanft zwischen meine Finger genommen, sie nur ganz sanft gedrückt.

»Um was für einen Schatz handelt es sich?«, fragte ich zunächst und drückte ein klein wenig stärker.

»Kapitän, Ihr zerbrecht mir ja die Finger!!«, heulte er jetzt.

»Ja, das will ich, wenn Ihr nicht sprecht. Was für einen Schatz?«

»Foltert mich, brennt mich — von mir erfahrt Ihr auf diese Weise nichts — meine Freiheit, meine Freiheit!!«, wimmerte er.

»Was für einen Schatz?«, wiederholte ich zum dritten Male, und ich glaube, ich habe gelächelt, als ich mich so über ihn beugte.

Es lässt sich leicht sagen, man wolle sich martern und brennen lassen, der Mund bliebe stumm — gerade die Hände sind ganz empfindliche Gliedmaßen, man braucht sie gar nicht zu zermalmen.

»Eine Perlenbank, eine Perlenbank!!«, heulte er jetzt.

»Eine Bank mit Perlmuscheln?«

»Ja, ja — lasst mich, lasst mich — Ihr zerbrecht mir die Knochen!!«

»Und wo befindet sich diese Perlenbank?«

»Zwischen den Liukiu-Inseln — bei Ohosima!«

Und dann schrie er unter dem Drucke meiner Hände mit seiner letzten Kraft.

»28 Grad 3 Minuten 47 Sekunden nördliche Breite, 127 Grad 56 Minuten 19 Sekunden östliche Länge — Perlen, Perlen...«

Da verließ ihn das Bewusstsein. Er hatte den Schmerz nicht mehr ertragen können.

Ich ließ ihn liegen. Dachte dann gar nicht mehr daran. Die Liukiu-Inseln an der Küste Chinas waren mir bekannt, dem Namen nach. Warum hatte der Mann diese Perlenbank nicht schon selbst ausgebeutet? Nun, ich hatte eben meine Perlmutter, der die Perlen dazu.

Kurz, ich dachte schon gar nicht mehr daran. Ich hatte diesem Mordbuben nur einen Beweis geben wollen, dass ich ihm nicht die Freiheit zu versprechen brauchte, um in Besitz seines Geheimnisses zu kommen.

— • —

66. Kapitel
Ich soll Zigeunerkönig werden

Originalseiten III.56 — 79

Vom besten Winde und Wetter begünstigt, bekamen wir die erste der Elliceinseln schon nach achtzehn Tagen in Sicht. Über die Verhältnisse an Bord während dieser Zeit habe ich nichts weiter zu erwähnen. Die Leiche der unglücklichen Frau war im Meer versenkt worden, desgleichen vier tote Matrosen. Die anderen Meuterer, noch fünfzehn Mann, waren wohlverwahrt im Schiff untergebracht, wurden sonst besser behandelt, als sie verdient hatten.

Ich hatte ein langes Protokoll aufgesetzt, wozu ich einen nach dem andern vernehmen musste, schreckliche Einzelheiten kamen dabei zum Vorschein — hatte Einsicht in die vorgefundenen Papiere genommen, das ganze Schiff inspiziert — was alles meine niedergedrückte Stimmung nicht verbessern konnte. Erst nachdem dies alles geschehen war, erholte ich mich nach und nach wieder. Dann aber waren wir nur noch wenige Tage von unserem ursprünglich geplanten Ziele entfernt, und nun dachte ich erst recht nicht mehr daran, Schiff und Meuterer einem uns begegnenden englischen Kriegsdampfer zu übergeben.

Was hätte denn dann auch aus uns selbst werden sollen? Wir hätten wieder ins offene Boot gehen müssen. Und ich hatte allen Grund, nicht als Gast an Bord eines englischen Kriegsschiffes zu gehen. Als aus England entsprungenen Sträfling konnte man mich allerdings nicht verhaften — die offene See ist frei! — man durfte mir nicht verwehren, auf irgendein anderes Schiff zu gehen, aber... lieber nicht! Gewalt geht vor Recht, auch auf See.

Nein, nun wollte ich auch gleich auf diesem Schiffe jener Einladung Folge leisten, die in so seemännischer Weise direkt an mich ergangen war.

Und bei dieser einmaligen Einladung sollte es nicht bleiben. Es war am sechsten Tage, seitdem wir uns an Bord dieses Schiffes befanden, der immer herrschende Ostwind hatte etwas abgeflaut, als mir ein von hinten aufkommender Luftballon gemeldet wurde.

»Es hängt auch ein Boot dran mit Menschen drin«, setzte noch der Matrose hinzu, der mir diese Meldung in die Kajüte brachte. Er meinte eine Gondel, machte ein Boot daraus, vielleicht auch gar nicht so versehentlich, denn wie ich dann meine Jungen sprechen hörte, waren sie sämtlich der Ansicht, dass der Ballonkorb stets so eingerichtet sei, dass er auch auf dem Wasser schwimmen könne, um gleich wie in einem richtigen Ruderboote weiterzufahren.

Wohl war der Luftballon schon seit achtzig Jahren erfunden, allein von der Rolle, welche er heute spielt, war damals, zu meiner Zeit noch keine Rede. Diese Matrosen hier und selbst die meisten Offiziere kannten nur die Miniaturausgabe des Luftballons vom Jahrmarkte her, bloß der zweite Steuermann hatte schon einen großen mit Menschen aufsteigen sehen, wohl aber war so etwas allen aus Beschreibungen und Abbildungen bekannt.

»Der ist ja gar nicht so groß, da kann doch gar kein Mensch drin sitzen, das ist doch nur ein ganz kleines Ding, so einer vom Jahrmarkt«, hörte ich sagen, als ich das Deck betrat und meinen Augen die allgemeine Richtung gab.

Der Sprecher hatte recht, und jetzt sahen auch die anderen ihren Irrtum ein. Dieser Ballon hatte, wie sich später herausstellte, noch nicht einmal einen halben Meter im Durchmesser.

Mancher Leser dürfte nicht begreifen, wie solch ein kolossaler Irrtum möglich ist. Man betrachte aus einiger Entfernung mit träumerischem Auge eine Fliege, welche langsam oben an der Fensterscheibe kriecht, man bilde sich ein, dass dies ein großer Vogel sei, der hoch, hoch im blauen Äther seine Kreise zieht — und mit einem Male wird man Einbildung von Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden können.

Der Ballon war noch sehr weit entfernt, befand sich in einer hohen, stärkeren Luftströmung, sodass er unser Schiff einholte, sich also scheinbar immer vergrößerte, auf offener See gibt es kein Maß für Größenverhältnisse — daher die optische Täuschung, der zuerst alle unterlegen waren.

Außerdem, wer konnte denn hier an solch ein Jahrmarktsspielzeug denken? Und dann hing an dem Ballon auch wirklich ein Gegenstand, den man recht gut für eine Gondel halten konnte.

Schnell holte uns der Ballon in der stärkeren Luftströmung ein. Die Höhe war eine ganz bedeutende, der Ballon hatte jetzt, als er sich über uns befand, etwa die Größe einer Taube, sonst war die Höhe nicht zu schätzen.

»Das ist eine Flasche, die an dem Ballon hängt«, sagte Goliath.

Wir, die wir das Fernrohr benutzten, mussten wieder einmal dieses Negers fabelhaft scharfes Auge bewundern. Denn dem war wirklich so. An dem Ballon hing eine Flasche.

Eine derartige Flaschenpost war mir neu. Das musste untersucht werden, ich wollte den Ballon herabholen, selbst wenn mit der Flasche ein ganz anderer Zweck verbunden war.

Ich wählte aus dem Waffenschranke die längste, gezogene Büchse, war nur auf Kugeln angewiesen, Schrotpatronen waren nicht zu finden.

Zunächst erprobte ich ihre Leistungsfähigkeit an einigen Möwen, die dem Schiffe folgten, und... da waren einige Leute, welche vor Staunen über ihren Kapitän, mit Respekt zu sagen, Maul und Nase aufsperrten.

Man wolle mir verzeihen. Der geneigte Leser wird schon gemerkt haben, dass ich nicht gern von meinen Vorzügen spreche. Ich war schon von Kind auf ein ausgezeichneter Schütze, ohne es gelernt zu haben, ohne mich darin zu üben. Es ist die alte Geschichte, dass der eine etwas kann, was der andere nie lernt, und dann noch mangelhaft. Sicheres Auge und feste Hand. Es liegt im Gefühl. Wenn ich mich auf irgendein Gewehr, eine alte Donnerbüchse, die nur fünfhundert Meter trug, einmal eingeschossen hatte, und ich legte an, dann wusste ich bestimmt, dass ich auf fünfhundert Meter ins Schwarze traf.

Und fünfhundert Meter mochte die Höhe des Ballons wohl betragen. Ich legte an.


Illustration

»Kapitän«, sagte da Mahlsdorf an meiner Seite ganz erregt, »wenn Sie wirklich diesen Ballon aus solcher Höhe herunter...«

Es war gut, dass er kein Versprechen beschwor. Unten bei mir hatte es geplatzt — und oben auch. Mindestens hatte die Kugel in die Hülle ein Loch gerissen, durch welches das Gas entwich. Schnell sank der Ballon, immer schneller, je kleiner er wurde, bis er nur noch als eine schlappe Blase auf dem Wasser trieb, gar nicht weit von uns entfernt, wir konnten direkt hinsteuern, und dann fischten wir nur noch einen braunroten Gummilappen auf, an dem mittels einer Schnur eine Flasche hing; aber noch während des Auffischens riss diese scheinbar starke Schnur wie Zunder.

Die Flasche enthielt dieselben beiden gedruckten Aufforderungen von Lord Seymour an alle Seezigeuner und solche, die sich dazu berufen fühlten, nach Fanafute zu kommen, die eine direkt an mich gerichtet.

Also selbst durch Luftballons suchte der ehemalige Präsident des Londoner Jachtklubs seine Einladungen zu verbreiten! Dabei rechnete er doch jedenfalls damit, dass die Flasche nach Erschöpfung des Ballons ins Meer falle, zur richtigen Flaschenpost würde, und durch eine ingeniöse Einrichtung war auch dafür gesorgt, dass sich die Flasche von allein ablöste.

Mir war gleich aufgefallen, wie der ziemlich starke Strick, mit dem die Flasche befestigt, so ganz morsch war oder wurde, immer morscher, bis er ganz zerfiel.

Ich ahnte sofort, dass dies ein besonderes Präparat war, welches sonst mehr fest, sich im Wasser schnell zersetzte. Wie ich später erfuhr, war es denn auch so. Es genügte schon, dass der Ballon in eine Wolke kam, dann wurde die besonders präparierte Schnur morsch, sie riss, die Flasche stürzte herab, und dasselbe galt natürlich bei einem Regenwetter, oder wenn der geschwächte Ballon gar die Meeresfläche erreichte.

Zwei Tage später harpunierten meine Jungen einen mächtigen Hai, der uns schon lange gefolgt war. Es wird immer gleich der Magen untersucht, um zu sehen, was die Hyäne des Meeres alles verschlungen hat. Man findet manchmal seltsames Zeug in dem Magen eines Haifisches.

Und wir fanden in diesem hier wieder solch eine Flasche, wieder mit den beiden gedruckten Briefen!

Im Laufe der anderen Tage fischten wir dann noch zwei solcher Flaschen auf, die mit der Meeresströmung trieben, ferner entdeckten wir noch einen zweiten Luftballon, der uns aber in sehr hoher Luftschicht entgegenkam, für uns unerreichbar war.

Weshalb betrieb unser englischer Lord seine Einladung mit solch ungeheuerer Energie? Nun, eben weil er ein energischer Mann war, der nichts halb machte.

Für uns aber stieg dadurch die Erwartung natürlich immer mehr, diesen seltsamen Mann kennen zu lernen, waren doch auch wir gerade diejenigen, an welche die Einladung speziell erging, und in der Tat, durften wir uns doch auch die ersten Seezigeuner der Welt nennen — neben Karlemann, für welchen dieses Wort ja erst geschaffen worden war — und so dachten wir natürlich gar nicht daran, erst dieses Schiff in Nanking abzuliefern. —

Also am Morgen des achtzehnten Tages tauchte vor uns die erste Insel des Ellicearchipels auf. Es war etwas neblig, man konnte nur schwache Umrisse erkennen — das vor uns liegende Land wurde mehr gefühlt denn gesehen. Dann berichteten doch auch meine Seekarten davon.

Ich war schon die ganze Nacht, Land voraus wissend, noch dazu Koralleneilande, äußerst vorsichtig gesegelt.

Die Ellicegruppe besteht aus neun größeren Inseln, aber keine über eine Quadratmeile groß, (deutsche oder geografische) und dann aus mindestens zweihundertfünfzig kleineren Eilanden, zum Teil ganz flach, zum Teil ebenfalls gebirgig.

Dass man da mit solch einem großen Segelschiffe nicht dazwischen kann, ist wohl selbstverständlich. Denn vielleicht ebenso selbstverständlich ist, dass diese zahllosen Inselchen noch nicht alle bestimmt sind, das Fahrwasser unbekannt ist. Zu holen soll ja von diesen Eilanden absolut nichts sein, Kokospalmen gibt es dort allüberall, bequemer zu erreichen; höchstens aufgefressen kann man werden, denn diese Eingeborenen sind alle noch Kannibalen.

So ist auf der Seekarte nur ein warnender Kreis darum gemacht: bis hierher und nicht weiter!

Wie ich die Segel festmachen und nach Ankergrund peilen ließ, überlegend, was nun weiter, da ertönte in der nebligen Ferne ein heulender Pfiff, sich mehrmals wiederholend.

»Das war ein Dampfer!«

Der Nebel, übrigens nur ein durchsichtiger Schleier, hob sich unter den warmen Strahlen der höhergehenden Sonne, und da sahen wir ihn schon direkt auf uns zukommen, einen kleinen Raddampfer.

Nach zehn Minuten lag er an unserer Seite. Die Matrosen zeigten englische, oder ich will sagen: germanische Gesichter und trugen eine schmucke, kriegsschiffähnliche Uniform.

»Was für ein Schiff ist das?«, fragte der Mann herauf, den ich für den Kapitän halten musste.

»Die ›Kalliope‹ von Bristol, Kapitän Richard Jansen.«

An Deck des kleinen Dampfers, auf den wir wie auf einen Zwerg herabblickten, entstand sofort eine große Bewegung.

»Doch nicht Kapitän Richard Jansen von der ›Sturmbraut?‹«

»Jawohl, aber gewesen, bis vor drei Wochen. Ich habe die ›Sturmbraut‹ verloren.«

»Was, verloren?!«, erklang es unten erschrocken. »Die ›Sturmbraut‹ ist gesunken?!«

»Nicht gesunken, sondern ich habe sie mit meiner Mannschaft freiwillig verlassen. Wünschen Sie genauere Auskunft, so bemühen Sie sich wohl in meine Kajüte. Oder soll ich zu Ihnen kommen?«

»Nicht jetzt, nicht mir«, wehrte der unten ab. »Sie haben eine Flaschenpost von Seiner Herrlichkeit Lord Seymour erhalten?«

»Gewiss!«

»Sie wollen mit diesem Segler nach Fanafute?«

»Wenn solch ein großes Schiff an die Insel herankann?«

»O, das ist das wenigste, auch das größte Schiff kann direkt ansegeln. Very well, ich nehme Sie ins Schlepptau.«

Es geschah, der Dampfer spannte sich vor, weiter ging es.

»Wie weit haben wir es noch bis nach Fanafute?«, rief ich nur noch einmal hinüber.

»Anderthalb Stunde.«

Es war eine herrliche Fahrt zwischen den zahllosen Inselchen hindurch, welche, von der Morgensonne vergoldet, uns bald von allen Seiten umgaben, wohin wir auch blickten.

Die Ellicegruppe unterscheidet sich dadurch von den anderen Inselarchipelen der Südsee, dass diese Eilande nicht durch Anwachsen von Korallen entstanden sind, sondern ihre Bildung vulkanischer Kraft verdanken.

Mit wenig Ausnahmen sind sie sämtlich gebirgig, aber nicht so wie die Osterinsel. Hier fand ich, was ich bei jener vermisst hatte, was man nämlich auch immer sonst bei solchen kleinen Gebirgsinseln findet: Aus dem Meere erhebt sich jäh ein Berg von völlig kegelförmiger Gestalt, nur rund herum läuft ein Saum flaches Land, bewachsen mit allem, was diese Zone hervorbringt, hauptsächlich mit Kokospalmen bestanden, das Charakteristikum all dieser Eilande.

Die Sache ist ja einfach genug. Das sind eben die höchsten Bergspitzen eines unterseeischen Gebirges, welches aber, nach den neuesten Forschungen, einst über dem Wasser gelegen hat, einen ganzen Kontinent bildend. Dieser ist im Laufe der Jahrtausende nach und nach gesunken. An den ehemaligen Ufern hatten sich Korallen festgesetzt, diese wuchsen langsam nach, und so ist um die Bergspitze der Landsaum entstanden, durch Verwitterung der zerbröckelten Korallen günstigen Boden für eine Vegetation abgebend.

Im Übrigen lässt sich der Anblick nicht beschreiben. Ich wenigstens kann es nicht. Einfach herrlich! Zum ersten Male kam ich in diese Gegend, und das Herz wurde mir so weit, so weit!

Man schätzte den ganzen Archipel nur auf rund zweihundertfünfzig Inseln? Das dürfte wohl nicht stimmen. Das mussten doch Tausende von Inseln sein! Denn schließlich ist ein Hügel, wenn er nur eben über das Wasser hervorguckt, auch eine Insel zu nennen, und solcher Zuckerhüte, auf denen man aber schon recht gut eine Hütte, ein Haus bauen und einen Gemüsegarten anlegen konnte, gab es in unserer nächsten Umgebung, die beständig wechselte, zahllose.

»Das wäre hier etwas für die beiden verrückten Duellanten, für den Mister Brown und Mister Fairfax«, meinte Mahlsdorf, »die könnten sich hier Ritterburgen anlegen, von denen aus sie sich gegenseitig befehden, zu Wasser und auch zu Lande, so mit gegenseitigen Überfällen, eben richtig Raubritter spielen.«

Ich blickte meinen Steuermann an. Hatte der auch dieselben Gedanken wie ich? Das lag freilich sehr nahe. Doch ich sagte nichts, beobachtete das Fahrwasser.

Hin und wieder bemerkten wir kleine Segler, aber auch kleine Dampfer, welche kreuz und quer zwischen den Inseln und winzigen Eilanden hin und her fuhren, andere schienen damit beschäftigt zu sein, die Meerestiefe auszuloten, vielleicht um ein neues Fahrwasser aufzufinden, was hier ja auch sehr nötig war. Wer auf einem größeren Fahrzeuge zufällig in dieses Wasserlabyrinth geriet, der konnte unmöglich aus eigener Kraft den Ausgang wieder finden, er musste ins Boot gehen, sein Schiff aufgeben.

Auch noch ein anderes größeres Segelschiff bemerkten wir, eine stattliche, elegante Jacht, die französische Flagge zeigend, welche ebenfalls von einem kleinen Dampfer geschleppt wurde, doch von einer anderen Richtung her, und ehe wir Signale wechseln konnten, um unsere Namen zu nennen, trat ein Bergriese zwischen uns, wir bekamen uns auch vorläufig nicht wieder zu sehen, und den Kapitän meines Schleppers wollte ich nicht fragen. Er hatte schon eine Andeutung gemacht, dass er nicht die Person sei, welche mir Auskunft zu geben habe.

Dann lag vor uns eine sehr große Insel, deren Bergspitze bis in den Himmel ragte. Das war Fanafute, unser Ziel; ich brauchte deshalb nicht zu fragen, keine geografische Ortsbestimmung zu machen, sondern das war gleich erkenntlich.

Bisher hatten wir noch auf keiner der Inseln und Inselchen etwas von einer Ansiedlung erblickt, keine Hütte, nichts Lebendiges, hier aber zeigte sich unseren erstaunten Blicken eine ganze Stadt.

Ich fühlte mich nach einem Hafen an der Riviera versetzt. Eine weite Bucht, in der mehrere große Fahrzeuge und eine Unmenge von kleinen lagen, war ringsherum mit weißen Häuschen besetzt, im modernen Villenstil erbaut, und nach dem Berg hinauf, amphitheatralisch angelegt, wie es ja auch gar nicht anders sein konnte, zog sich nun vollends eine ganze Kolonie solcher Villen, darunter aber auch wahre Paläste, und dazwischen immer Palmen und ganze Blumengärten.

Im Übrigen will ich es kurz machen, alle Einzelheiten überspringen.

Wir hatten an einem gemauerten Kai festgemacht. Von den vielen Menschen, die am Hafen standen oder geschäftig herumliefen, kam nur ein einziger an Bord, ein Herr im weißen Tropenkostüm.

»Herr Kapitän Richard Jansen? Sehr angenehm. Davidson ist mein Name. Ich bin der Sekretär Seiner Herrlichkeit des Lords Archibald Seymour, in seinem Namen und Auftrag heiße ich Sie herzlichst willkommen.«

Das war die erste Begrüßung, äußerst höflich. Es wurde mir gleich bemerkbar gemacht, dass ich in diesem Sekretär noch immer einen Untergebenen vor mir habe.

»Wir dachten, wenn wir es überhaupt hoffen durften, Sie würden mit Ihrer ›Sturmbraut‹ kommen.«

O, das gab eine lange Schilderung, in der Meuterei und Blut die Hauptrolle spielten.

Doch Mister Davidson war ein echter, phlegmatischer Engländer, er verzog in seinem glattrasierten Gesicht keinen Muskel.

»Schade, dass Sie mit Ihrer Mannschaft nicht im offenen Boote zu uns gekommen sind, in dem Zustande, wie Sie es beschrieben — das hätte Seiner Herrlichkeit wohl besondere Freude gemacht. Dann hätten Sie allerdings noch nicht hier sein können. Sie wollen das Schiff und die Meuterer doch nicht selbst nach Nanking bringen?«

»Das muss ich mir erst noch überlegen.«

»Wissen Sie, überlassen Sie mir die ganze Sache, und jetzt bitte ich Sie, mir zu folgen, Seine Herrlichkeit ist äußerst gespannt, Sie begrüßen zu dürfen.«

Ohne weitere Toilette zu machen, folgte ich dem Herrn. Den Weg nach dem stattlichen Haus oder mehr Palast will ich nicht beschreiben. Dann befand ich mich in einem überaus luxuriösen Salon, in dem aber der Charakter einer Kajüteneinrichtung gewahrt war, nicht nur durch die zahlreichen Schiffsmodelle, welche überall auf Postamenten aufgestellt waren und an den Wänden und der Decke herabhingen, und nicht nur solche, wie Matrosen sie in ihrer Freizeit schnitzen, allerdings immer noch kunstfertig genug, sondern von Elfenbein und von Gott weiß was, mit Silber und Gold ausgelegt, Prunkstücke allerersten Ranges, und so nach Geschmack eines Jachtsportsmanns, der über immense Reichtümer gebot, war die ganze übrige Einrichtung.

Ich vermutete, dass Lord Seymour schon mit seinem ganzen glänzenden Hausstande, mit dem früher in London geprunkt hatte, nach hier übergesiedelt war, was sich dann auch bestätigte.

Man ließ mich ziemlich lange warten. Aber ich wusste mir die Zeit zu vertreiben. Des Sekretärs letzte Frage war gewesen, ob ich schon gefrühstückt hatte. Jawohl, seit heute Mitternacht, seitdem ich auf den Beinen war, schon dreimal; aber das machte mir nichts aus, ich konnte auch zum vierten Male frühstücken. Und deshalb hatte ich lieber verneint.

Ein Diener trug auf. Alles delikat. Man merkte wirklich nicht, dass man sich auf einer weltverlassenen Insel befand. Es fehlte überhaupt gar nichts, was sich ein Gourmand nur wünschen kann. Aber man muss bedenken, dass ich eine lange Fahrt auf einem Segelschiffe hinter mir hatte, und so sehr bewandert in kulinarischen Genüssen war ich ja auch gar nicht.

Dann wandte ich meine Aufmerksamkeit dem Fenster zu, von dem aus man den Berg dieser Insel selbst erblicken konnte.

Am meisten wurde meine Aufmerksamkeit durch ein Loch gefesselt, ziemlich am Fuße des Berges gelegen, aus welchem in unendlicher Reihenfolge kleine Wagen herauskamen, und dicht daneben gingen sie wieder hinein, nicht von Menschen gezogen, sondern sich von allein bewegend.

Es waren sogenannte ›Hunde‹. Hier wurde ohne Zweifel Bergbau betrieben. Die herauskommenden Wagen waren offenbar mit etwas gefüllt, nur konnte ich nicht erkennen, mit was, dazu war die Entfernung doch zu weit.

Als ich noch so hinblickte, sah ich plötzlich in ziemlich rascher Fahrt solch einen kleinen Wagen, aber doch wieder anders gebaut, den Berg emporklettern. Erst ging es durch Gärten, dann über grüne Flächen, dann verlor ich ihn in einem Walde aus den Augen, aber er kam auf der anderen Seite, dort, wo der Kegelberg felsig und öde wurde, wieder zum Vorschein, dann noch durch einen Tunnel, und dann konnte ich ihn nicht mehr unterscheiden.

Aber an einem zweiten herabkommenden Wagen konnte ich es ganz deutlich sehen: hier war schon verwirklicht worden, wovon einmal Karlemann in Afrika an dem See und an dem Gorillaberge phantasiert hatte — es war eine Schwebebahn mit Hängewagen.

Mehr solcher Wagen sah ich jetzt nicht in Betrieb. Wohin der herunterkommende ging, konnte ich von hier aus nicht sehen, ebenso wenig die Anfang- und Endstation für die Förderhunde.

Von einem anderen Fenster aus konnte ich diese Insel selbst etwas überblicken, d. h., den flachen Strand, ferner das Meer mit seinen zahllosen Inselchen, und besonders ein Berg war es, der jetzt meine Aufmerksamkeit fesselte, mich in Träume versetzte.

Ich hatte ihn schon vorhin erblickt, hatte mit Goliath darüber gesprochen, seine Bestätigung haben wollend; aber ich hatte es nicht erwähnt, um den Gang der Erzählung nicht zu stören.

Etwa fünf Kilometer von hier entfernt stieg ein Berg aus den Fluten empor, der aber mit den anderen gar keine Ähnlichkeit hatte.

Hier fehlte die sonst übliche Kegelform, dieser Berg oder vielmehr mächtige Felsen glich einer riesigen Zigarrenkiste, die aber mit der hohen Kante auf das Wasser gestellt war.

Es war der mysteriöse Vogelberg, von dem mir schon Goliath erzählt hatte, damals, als es sich um den aufgefischten Matrosen gehandelt, von dem mir wohl auch Mr. Tischkoff hätte erzählen können, wenn er gewollt.

Mr. Tischkoff, Blodwen — was machten die wohl jetzt? War es nicht doch etwas leichtfertig von mir gewesen, so ohne Abschied...

»Good morning, Sir«, erklang da hinter mir eine fettige Stimme, die mich aus diesen Träumereien riss.

»Lord Archibald Seymour!«

Ach, wie ganz anders hatte ich mir den Präsidenten des Londoner Jachtklubs vorgestellt, als einen steifen, dürren Engländer, jede Bewegung abgezirkelt, solch eine Pedanterie lässt sich mit Exzentrizität ja ganz gut vereinigen — und jetzt präsentierte sich mir ein dickes Männchen mit Pumphosen, aber trotz seines Schmerbauches fix wie ein Wieselchen, auch ebenso schnell in der Sprechweise, mit lustig zwinkernden Äuglein, galant, liebenswürdig, händereibend.

Zunächst aber muss ich noch etwas bei seinem Äußeren bleiben, doch auch nur in einer Sache.

Seine Herrlichkeit Lord Archibald Seymour hatte nämlich eine sogenannte Gurke im Gesicht. Er hatte einmal, wie ich dann später erfuhr, die Nase erfroren, sie war ihm abgebrochen, vorn die Spitze, war ihm wieder dranoperiert worden, und da war so ein blaurot angehauchtes Gewächs daraus geworden, ein entsetzliches Ding von einer Nase. Vielleicht mochte der ursprünglichen Kälte auch Portwein und Whisky etwas nachgeholfen haben, auch Schnupftabak kam noch hinzu. Denn der kurze, graumelierte Schnauzbart war ganz mit Schnupftabak bestreut, und ferner konstatierte ich gleich mit untrüglichem Kennerblick, dass er beide Backentaschen, die einem Hamster alle Ehre gemacht hätten, mit Tabak vollgepfropft hatte.

»Willkommen, herzlich willkommen in meinem Königreiche, tausendmal willkommen...«

Und er bewillkommnete mich weiter, mir eine Hand nach der anderen schüttelnd und dann beide zugleich, dabei von einem Beine aufs andere hopsend — ein Zappelmännchen durch und durch.

Ich war grenzenlos enttäuscht. Was? Das war der Mann, der dem allmächtigen und geheiligten Beherrscher aller Reußen eine heruntergehauen hatte?

Doch meine Enttäuschung war eine angenehme. Denn dieser Empfang war herzlich genug, und dabei auch ganz ehrlich gemeint, das musste jeder sofort herausfühlen; dieser Mann war gar keiner Verstellung fähig.

Dann war mir die Hauptsache, dass ihm sein Sekretär meinen Bericht, wie ich mit dem fremden Schiffe hierher kam, schon wiedererstattet hatte, dass er sich auch sonst gar nicht weiter dafür interessierte; denn im Grunde genommen war er dennoch ein echt englischer Nevermindman, und so war ich dieser Sache ganz enthoben.

»Diese Halunken müssen gehangen werden, müssen gehangen werden, müssen gehangen werden — kchch — lassen Sie mich das nur machen, Sie brauchen sich gar nicht weiter darum zu kümmern, machen wir, machen wir!«

Na, das ließ ich mir gefallen. Und zu diesen vielen Wiederholungen brauchte er kürzere Zeit, als ein anderer, der schon ziemlich schnell spricht, zur einfachen Wiedergabe.

Näheres aber wollte er wissen, weshalb ich meine ›Sturmbraut‹ verlassen hätte.

Nun, ich erzählte. Ein Diener brachte mehrere Gläser und Flaschen, zwischen uns stand der Rauchtisch mit einem Dutzend Zigarrenkisten, ich bediente mich und erzählte also.

Dabei war mir erst jetzt, als wir uns gesetzt hatten, seine Weste aufgefallen. Was für ein braunschwarzes, schrumpliges Ding war das nur? Es kam mir manchmal wie Leder vor, dann aber wieder nicht. Es war eher ein ganz feiner Stoff.

Auch die Uhrkette war auffallend. Das waren unbedingt menschliche Backenzähne, die zusammengereiht waren, und zwar lauter mächtig hohle Dinger, durchaus nicht so appetitlich aussehend, als wenn man den Milchzahn eines Kindes in Gold fassen lässt.

Und dann ferner die Pumphose! Auch so ein Monstrum. Vorhin war mir dies alles nicht so aufgefallen, da hatte ich immer nur die blaurote Gesichtsgurke bewundert. Aus was diese Pumphose bestand, war nicht mehr zu unterscheiden. Ein Flicken am anderen, und auch schon diese Flicken von einem ehrwürdigen Alter zeugend.

Und als ich nun meine Musterung beendet, meinen Blick wieder nach oben richtete, da erwartete mich eine neue Überraschung.

Seine Herrlichkeit rauchte, wie ich — oder vielmehr, er hatte eine qualmende Mistgabel im Munde, oder, um mich poetischer und zugleich seemännischer auszudrücken: er rauchte aus dem Dreizack des Neptuns.


Illustration

So kompliziert das klingen mag, so einfach war es. Es war eine Zigarrenspitze, in welche man drei Zigarren stecken konnte, alle drei gleichzeitig rauchend.

Übrigens gar nicht so verrückt. Das gewährt dem Raucher besonderen Genuss, er kann sich den Geschmack der verschiedenen Zigarren mischen. Dann später hörte ich, dass auch ein Bruder des preußischen Königs so raucht, sogar gleich sieben verschiedene Zigarren in eine Spitze steckt.

Damals aber war mir so etwas neu. Ich staunte nicht schlecht über den qualmenden Dreizack — und dann griff Seine Herrlichkeit in die rechte Westentasche und pfropfte sich die Nasengurke voll Schnupftabak, und als das besorgt war, füllte er seine vorher entleerten Backentaschen aus einer Schweinsblase von Neuem mit losem Rauchtabak, den er dem Plattentabak zum Kauen vorzog, und dann wurde weiter aus dem Dreizack gepafft, bis wieder die Nase gefüttert werden musste, und so ging das immer fort.

Am angenehmsten aber war mir, dass dieser Mann zuhören konnte, ohne einem immer unterbrechen zu müssen, denn das ist mir schrecklich.

»Teufelsweib, Teufelsweib!«, sagte er in noch mehr Wiederholungen, nachdem ich ihm mein Verhältnis mit Blodwen geschildert, wie ich Abschied genommen. »Aber Sie sind auch ein Teufelskerl, ich gratuliere, meine Hochachtung, prost!«

»Weswegen?«, musste ich lächeln. »Weil ich mich nicht einen Bettler nennen lassen wollte?«

»Nee, wegen Ihrer Geschichte mit Uruguay und Argentinien, wie Sie diese beiden Republiken angezapft haben. Phänomenal!«

Er wusste alles, und er erging sich in Bewunderung und Lobesergüssen über mich, die ich hier nicht wiederholen kann.

»Erfuhr alles aus erster Quelle, wenigstens die Einleitung dazu, wie Sie die Silberbarren bekamen — von Brown und Fairfax.«

»Sie kennen diese beiden Herren?«

»Kennen? Die sind hier!«

Ich erfuhr, dass sich außer diesen beiden alten Bekannten schon noch drei andere eingefunden hatten, die nichts weiter zu tun hatten, als mit ihrer eigenen Jacht in der Welt herumzugondeln und Abenteuer aufzusuchen, und es konnten immer noch zwei andere erwartet werden, denn Lord Seymour hatte seine Einladung an alle derartigen Seesportsmen ergehen lassen, so weit das möglich war.

Was die hier tun wollten? Ein Reich von Seezigeunern gründen. Mr. Brown und Mr. Fairfax hatten die Anregung dazu gegeben, oder eigentlich ich, indem ich in ihrer Gegenwart nur einmal das Wort ›Seezigeuner‹ ausgesprochen, was ihnen so ungemein imponiert hatte.

Der Leser entsinnt sich, wie sie schon davon begannen, wobei sie aber durch das Signalisieren des brasilianischen Kriegsschiffes unterbrochen wurden, und dann hatten sie mir auch noch jene Abschiedsworte gesagt, schon eine Andeutung machend, was sie beabsichtigten.

Sie waren nach London gegangen, fanden in Lord Archibald Seymour, der sich zufällig dort aufhielt, den richtigen Mann zum Ausführen ihrer phantastischen Pläne.

Von Lord Seymour selbst habe ich nur zu sagen — was ich so nach und nach erfuhr — dass er schon vor vielen, vielen Jahren beschlossen hatte, sich hier in der Südsee auf einer Insel anzusiedeln. Diese ganze Ellicegruppe und noch viele andere waren sein Privateigentum — geworden durch jene englischen Kolonialverhältnisse, die ich schon früher erwähnt habe, und Lord Seymour hatte diesen seinen australischen Inselbesitz, den er von seinen Ahnen geerbt, bisher noch nicht an England abgetreten.

Er hatte also schon früher hier auf Fanafute gebaut. Dann war in ihm jene phantastische Idee entstanden, solch einen australischen Inselarchipel zum Mittelpunkt der gesamten politischen Weltmacht zu machen.

Er wurde mit seiner wahnwitzigen Idee natürlich ausgelacht — gut, Lord Seymour war seiner Wege gegangen. Nun aber hatte er erst recht hier gebaut, um sich in der Südsee sein eigenes Reich zu schaffen, allerdings nicht anders, als wenn sich ein reicher Mann, der mit aller Welt zerfallen ist, auf ein Schloss zurückzieht, um mit der ganzen übrigen Menschheit gar nicht mehr in Berührung zu kommen.

Ganz vor kurzem war nun Lord Seymour, nachdem er schon seit zwei Jahren hier so gehaust hatte, einsam, wenn auch von zahllosen Dienern und Arbeitern umgeben, wieder einmal nach London gekommen, um sich einiges für seine Insel zu beschaffen.

Da also hatten Mr. Brown und Mr. Fairfax ihn getroffen, welche selbstverständlich Mitglieder des Londoner Jachtklubs waren, sie hatten ihm ihre unterdessen ausgeheckten Pläne vorgelegt, und nun war Lord Archibald Seymour gerade derjenige, der auf so etwas mit Feuer und Flamme einging.

Was sie beabsichtigten? Wollte ich ausführlich werden, so müsste ich darüber ein dickes Buch schreiben. Aber für den Leser, der selbst etwas Phantasie besitzt, genügen nur einige Andeutungen.

Ein freies Reich von Seeleuten wollten sie hier gründen. Oder sagen wir gleich: ein Reich von Seezigeunern! Denn dieses Schlagwort war nun einmal gegeben.

Jeder Wassersportsmann, der genug Mittel besaß, um sich seine eigene Jacht halten zu können, sollte hier eine Insel bekommen, auf der er sich häuslich niederließ. Jeder ging nach wie vor seine eigenen Wege, auf seiner Jacht in die Welt hinaus, um Abenteuer zu bestehen, und was sie dabei erbeuteten, das brachten sie hier zusammen, stapelten sie hier auf ihren Inseln auf, jeder auf seiner eigenen, oder auch auf einer gemeinsamen, welche als Versammlungsort der Seezigeuner diente, hier Fanafute, entsprechend dem Klublokal.

Man wolle das Wort ›Beute‹ recht verstehen. Sie wollten nicht etwa Piraten werden. Nicht einmal an Schätze braucht man zu denken. Raritäten aus aller Herren Ländern, Kleinodien und dergleichen. Ja, eben ihre erlebten Abenteuer sind darunter zu verstehen, die Erinnerung daran. Hier kamen sie von Zeit zu Zeit zusammen, und dann erzählten sie sich beim Becherklang von ihren Reisen. Aber ein Buch schrieben sie darüber nicht, das war in diesem freien Zigeunerreich sogar direkt verboten. Das war eine Art von Hochverrat. Alles nur für sich, die Welt draußen durfte gar nicht erfahren, was hier getrieben wurde. —

Mit den lebendigsten Worten hatte mir Lord Seymour diesen Zigeunerstaat geschildert, und dieses dicke Männchen verstand wirklich zu sprechen. Immer mehr wurde er Feuer und Flamme.

»Verstehen Sie, was für ein Reich wir hier gründen wollen?«

Na und ob ich so etwas verstand! Aber ob ich da selbst mitmachte, das war eine andere Sache. Doch darüber später mehr.

Da sprang das dicke Männchen auf und schlug mir auf die Schulter.

»Und Sie sollen der König dieses Zigeunerreiches werden!«

Mir kam dieses Angebot gar nicht so sehr überraschend. Dass man mit mir etwas Besonderes vorgehabt, lag ja klar genug auf der Hand.

Zuerst aber war ich jetzt doch etwas erstaunt, und das ist ebenfalls begreiflich.

»Ich?«

»Ja, Sie! In der nächsten Sitzung, die wir abhalten, heute schon, werden Sie einstimmig zum König der Seezigeuner ernannt.«

»Ja, Mylord, wie komme ich denn zu dieser Ehre?«, fragte ich jetzt ganz gelassen.

Weniger gelassen erging sich der Lord wieder in Lobeserhebungen über mich. Kurz, ich sei der rechte Mann dazu.

Ich selbst sann vorläufig immer nur über eine Abwehr nach.

Denn so phantastisch veranlagt ich auch war — gerade diese Idee behagte mir durchaus nicht, am allerwenigsten die Rolle, die mir dabei zugeteilt werden sollte.

»Aber solch ein Reich kann doch keinen König haben, das muss eine freie Republik sein«, wehrte ich zunächst leise ab.

»Ganz im Gegenteil. Verstehen Sie nur recht. Es gibt kein freieres, ungebundeneres Volk, als die umherschweifenden Zigeuner, und dennoch stehen die einzelnen Banden unter Häuptlingen oder Stammesältesten, die unumschränkte Macht haben, über Leben und Tod, es soll sogar einen König geben, der über sämtliche Zigeuner herrscht. Und auch hier wird es zu Streitigkeiten kommen, da brauchen wir ein Oberhaupt, welches Recht spricht...«

Und so redete Lord Seymour noch lange weiter, und in diesem Falle, wenn ich auf seine Ideen einging, musste ich ihm recht geben.

Ja, der Lord machte schon Andeutungen, und zwar ziemlich starke, dass sich diese hier angesiedelten Jachtsportsmen, diese Seezigeuner, untereinander befehden würden, von Insel zu Insel, im blutigen Kampfe, trotz aller Gemütlichkeit — und ich brauchte mir nur die Gestalten des englischen Haarwasseronkels und des amerikanischen Puppenkleidermachers vor Augen zu führen, um so etwas durchaus nicht für unmöglich zu halten, ich hatte ja einen ihrer Seekämpfe selbst mit erlebt. Und hier ging das nun erst richtig los, das alte Rittertum lebte wieder auf, nur zur See, die Ritterburgen waren die Inseln.

Sogar der sonst äußerst nüchterne Mahlsdorf schien schon so etwas geahnt zu haben, als er vorhin jene Bemerkung gemacht hatte.

»Wollen Mylord denn aber nicht selbst diesen Posten eines Protektors übernehmen?«

»Protektor, ja. Aber solch ein König als Schiedsrichter, nein. Ich will von hier aus nur die Entwicklung des Ganzen beobachten.«

Aha! Aha!! Dieses dicke Männchen war ein Fuchs!

Aber dabei war er offen, das musste man ihm lassen, und das gefiel mir ganz besonders an ihm. Nun wollte ich es auch sein.

»Nein, ich nehme diese Wahl als König nicht an.«

»Weshalb nicht?«

Er hatte es ganz gelassen gefragt, ohne besondere Enttäuschung.

»Sie sagten vorhin doch selbst, jeder dieser Seezigeuner müsse seine eigene Jacht besitzen, und mir gehören nicht einmal diese Oberkleider, die ich trage...«

»O, was das anbetrifft, ich stelle Ihnen ein Schiff zur Verfügung, soviel Sie wollen, schenke es Ihnen...«

»Ich bedaure, ich nehme absolut nichts geschenkt«, unterbrach ich ihn mit einiger Kälte.

Er sah mich einen Augenblick mit großen Augen an.

»Very well, ich verstehe Sie. Sie sind ein Ehrenmann. Well, lassen wir jetzt einmal den Zigeunerkönig ganz aus dem Spiele. Jene Herren irren sich übrigens etwas. So etwas kann nicht mit einem Male gegründet werden, sondern muss sich nach und nach entwickeln. Meinen Sie nicht?«

»Da bin ich ganz Ihrer Ansicht«, entgegnete ich, und ich freute mich wirklich, dieses Männchen jetzt so vernünftig sprechen zu hören.

»Well — was gedenken Sie nun zu tun?«

»Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als die ›Kalliope‹ selbst nach Nanking zu bringen, da haben wir, ich und meine treue Mannschaft, zunächst ja gleich Beschäftigung.«

»Und dann?«

»Nun, dann muss ich mich eben nach einem Kapitänsposten umsehen. Es würde mir wahrscheinlich sehr leicht gelingen, gleich das Kommando über die ›Kalliope‹ zu bekommen, obgleich... mir das schließlich doch nicht so angenehm wäre.«

»Weshalb nicht?«

»Mit diesem Schiffe sind doch höchst traurige Erinnerungen verbunden...«

»Ich verstehe, ich verstehe. Well, auch ich kann doch Schiffsreeder sein, bin es sogar wirklich — treten Sie in meine Dienste.«

»Well«, sagte auch ich jetzt, »darüber lässt sich sprechen.«

— • —

67. Kapitel
In feiner Gesellschaft

Originalseiten III.79 — 95

Aber nicht sofort wurde darüber gesprochen. Wir hatten erst die achte Morgenstunde, die anderen Gäste, welche gestern Abend, wohl wie gewöhnlich, ein kleines Zechgelage gehabt und infolgedessen bis in den späten Morgen hinein geschlafen hatten, machten sich jetzt bemerkbar.

Lord Seymour bat um Entschuldigung, er wolle die Herren erst begrüßen, mich dann ihnen vorstellen.

»Also lassen wir erst einmal den Zigeunerkönig und überhaupt die ganze Zigeunerei aus dem Spiele«, war sein letztes Wort.

Es war heute mein fünftes Frühstück, bei welchem ich Mr. Brown und Mr. Fairfax wiedersah und die Bekanntschaft der drei anderen Sportsmen machte, denen sich alsbald ein sechster hinzugesellte, ein Franzose, dessen Jacht ich vorhin hatte einschleppen sehen.

Nur von diesem letzten, der sich ebenfalls zum Seezigeuner berufen fühlte, will ich erwähnen, dass er berufsmäßig Schokolade machte. Mitinhaber der größten Pariser Schokoladenfabrik, der größten der Welt — auch so ein Kerlchen, das nicht genau wusste, wie groß sein Einkommen eigentlich war, und der den schnöden Mammon durch die verschiedensten Tollheiten und hauptsächlich auf See zu verpulvern suchte. Er hatte an Bord seiner Jacht ständig einen ganzen Harem, dessen einzelne Mitglieder er in jedem Lande, das er besuchte, immer auswechselte. Das mag über Monsieur Chevalier vorläufig genügen.

Von den drei anderen war der eine noch ein Engländer, der zweite ein pomadiger Holländer, der dritte ein Australier. Diese brauchten sich ihr Geld nicht erst zu verdienen — nur mit der Couponschere. Höchstens will ich noch von dem Australier erwähnen, dass er an Bord seiner Jacht zwei Ärzte mit sich führte, welche nichts weiter zu tun hatten, als Mr. Rug jeden Tag einmal mit ihrer Kunst nüchtern zu machen. Denn wenn Mr. Rug nicht schlief, dann war er besoffen. Sonst aber ein ganz patenter Mensch. Nur schade, dass man sich so selten mit ihm unterhalten konnte. Egal besoffen! Und dem armen Menschen ging's immer zuerst auf die Sprache. Kein Wort brachte er mehr heraus. Nur im Traume führte er manchmal verständliche Selbstgespräche, dann auch ganz vernünftige. Was für eine Natur dieser Kerl besaß, habe ich nie begriffen. Denn dabei strotzend vor Gesundheit.

Und die anderen beiden — na, ich will lieber aufhören, denn wir wurden später immer und immer mehr, und unmöglich kann ich sie alle schildern. Und jeder einzelne, den ich kennen lernte, war ein Original. Eigentlich ist das auch selbstverständlich. Wer sich ganz auf ein Schiff zurückzieht, weil er an Land nicht mehr leben kann oder mag, der muss doch irgendwo eine lockere Schraube haben — und das meistenteils im Kopfe.

Mr. Ulysses Brown hatte sein linkes Ohr jetzt richtig an der Uhrkette hängen. Aber in besonderer Weise, gewissermaßen mit Hindernissen. Das Präservieren eines menschlichen Ohres ist wohl nicht anders möglich, als dass man es in Spiritus setzt. Und der Haarwasseronkel hatte dies denn auch getan, er trug sein Ohr an der Uhrkette in einem hocheleganten Kristallflakon, welches Spiritus enthielt. Und was den Puppenkleidermacher anbetrifft, so hatte dieser zur Abwechslung einmal...

Doch wirklich, ich muss mit solchen Schilderungen abbrechen, sonst werde ich nie fertig. Ich kann die Schrullen dieser Leutchen höchstens so nach und nach bei passender Gelegenheit mit anführen.

Wir wurden einander vorgestellt, erneuerten die Bekanntschaft.

»Hallo, Käpt'n«, sagte der Haarwasseronkel.

»Mmmmmornnning«, mauschelte der Puppenfabrikant durch seine krumme Nase.

Mr. Paulus Rug, der Australier, ein breitschultriger Hüne mit einem wahren Büffelkopf, fiel bei der Vorstellung um und warf dabei den ganzen schon überreich gedeckten Kaffeetisch über den Haufen.

Als er zwischen den Scherben lag, zwischen gerösteten Brotschnitten, Butter, Schinkenscheiben, Brunnenkresse und anderen kaubaren und nichtkaubaren Dingen, fing er sofort an zu schlafen, was ihm aber auch gleich die Zunge löste, die er gegen meine Person vergebens in Bewegung zu setzen versucht hatte.

»Zucker, mehr Zucker in den Brandy, Jonny«, sagte er jetzt im Traume ganz verständlich und manierlich. »Noch mehr Zucker, Jonny — stich dem Kerl die Augen aus, Jonny — beide Augen — ja, ja, alle beide Augen — sämtliche Augen — ja, ja, stich ihm sämtliche Augen aus — aber noch etwas mehr Zucker in den Brandy, Jonny...«

Wir anderen setzten die Unterhaltung an einem neugedeckten Frühstückstisch fort.

»Wie geht es Ihrer Herrlichkeit der Lady von Ollanstjerne?«, fragte Monsieur Chevalier den Wirt.

Lord Archibald Seymour schob soeben ein Bündel Wasserkresse unter seine Gesichtsgurke. Ich dachte lebhaft an einen Elefanten, der so mit seinem Rüssel einen Haufen Gras zusammenrafft und ihn sich ins Maul schiebt.

»Meiner Mutter? Danke, der geht's ganz gut.«

»Leidet sie noch immer so an Gicht?«

»Nee, gar nicht mehr.«

»Was? Das hat sich nach zwanzigjährigem Leiden, das sie immer ans Bett fesselte, wieder gelegt?!«

»Jawohl, das ist ganz vorbei.«

»Sie hat keine Schmerzen mehr?«

»Absolut nicht.«

»Wie ist denn das gekommen?«

»Ja, wie das nun eben so kommt im Leben.«

»Ihre Frau Mama kann wieder gehen?«

»Nee, gehen kann sie freilich nicht mehr.«

»Nicht? Weshalb denn nicht?«

»Nu, meine Mutter ist doch schon seit einem halben Jahre tot.«

Himmelbombenelement noch einmal! Ja, dann freilich hatte die gute Frau keine Gicht und keine sonstigen Schmerzen mehr! Aber gehen konnte sie nun freilich auch nicht mehr, das war zu viel verlangt.

Und wie das nun alles so mit kauendem Munde hervorgebracht worden war! Leider schriftlich nicht wiederzugeben.

Wenn ich jetzt vor Lachen nicht herausplatzte, so hatte ich dies nur dem Umstande zu verdanken, dass ich mich in diesem Augenblicke noch mehr über die anderen wunderte, welche dies mitangehört hatten.

Auch nicht das geringste Zucken im Gesicht! Vollständige Nevermindmen, abgebrüht gegen alles, die Nerven auch durch gar nichts mehr zu kitzeln. Das galt auch von dem Franzosen.

Ja, man sondert sich nicht ungestraft von der Welt ab, um ganz auf dem Schiffe, auf dem unendlichen Meere zu leben!

»Da hat Ihre Frau Mutter also nicht mehr die Erfüllung ihres Herzenswunsches erlebt?«, fuhr der Franzose fort.

»Welchen Herzenswunsch?«

»Ihren größten.«

»Dass ihre schwarze Katze Junge kriegte? Konnte das Vieh nicht, 's war 'n kastrierter Kater.«

»Dass Sie doch noch die Lady Umberdan heiraten würden, meine ich«, fuhr der Franzose unbeirrt fort.

Zunächst löffelte Seine Herrlichkeit bedächtig ein weiches Ei aus.

»Nee«, meinte er dann, »das hätte sie auch nicht erlebt, und wenn sie alt wie eine Methusaselma geworden wäre. Ich will Ihnen einmal offen meine Meinung sagen. Die Lady ist ein viel zu schönes Weib, dabei hat sie nischt — also würde sie mich doch nur meines Geldes wegen heiraten. Und das ist der Grund, warum ich überhaupt nicht geheiratet habe und auch niemals heiraten werde. Denn ich würde nur ein Mädchen heiraten, von dem ich bestimmt weiß, dass es mich wirklich liebt. Aber wer soll denn so einen Kerl wie mich, der so einen blauen Zinken im Gesicht hat, aus Liebe heiraten? 's geht doch immer bloß um mein Geld. Nee, is nich! Dieses bildschöne Weib soll lieber meinen Neffen heiraten, das ist ein stattlicher Kerl, so wie der Kapitän da, noch gesund und ungebrochen, das gibt für Old England ein kräftiges Geschlecht, und für die Mitgift werde ich sorgen. Aber ich mit meinem blauen Riechzinken — nee, das könnte ich diesem armen Mädel niemals antun.«

Erst musste ich mir das Lachen verbeißen — und dann hätte ich dem Besitzer dieses Riechzinkens so gern die Hand geschüttelt. A la bonheur, der hatte das Herz auf dem rechten Flecke!

»Außerdem«, setzte Lord Seymour noch hinzu, eine mächtige Prise nehmend, wobei die Hälfte des Schnupftabaks auf das vor ihm liegende Butterbrot fiel, was ihn dann aber nicht im geringsten genierte, »außerdem bin ich überhaupt so ein Schweineluder.«

Selbsterkenntnis ist der Anfang aller Weisheit!

Na, jetzt musste ich doch einmal aus vollem Halse lachen, was hier auch gar nicht verübelt wurde.

Und wolle mir auch der Leser nicht verübeln, dass ich so etwas wiedergebe, wolle er sich aber auch nicht über den Ton wundern, der in dieser Gesellschaft herrschte.

Das Seeleben verroht. Leider! Es ist nicht anders. Ich habe oft darüber nachgegrübelt, mit verständigen Personen darüber gesprochen, woher das nur kommen mag. Irgendeinen Grund muss es doch haben, dass alle Seeleute so mörderisch fluchen, und je besser einer zu fluchen weiß, ein desto tüchtigerer Matrose ist er nämlich. Darüber besteht kein Zweifel. Und diesen Ton eignen sich alle an, die sich immer an Bord befinden, wenigstens auf Transportschiffen.

Hört man schon heraus, was daran schuld sein mag?

Das Fehlen des Weibes. Denn ich glaube an den veredelnden, unbewusst veredelnden Einfluss der Frau auf den Mann.

Und wenn jetzt jemand gleich kommt und sagt: ›Na, es gibt auch noch andere Weiber, welche einen weniger veredelnden Einfluss ausüben...‹ gut, er hat recht — aber er hat sich doch selbst sein Charakterzeugnis ausgestellt, ich danke für seine Gesellschaft. Da ist mir dieser edle Lord, der sich gleich selbst ein Schweineluder nennt, doch noch lieber.

Übrigens braucht man nicht zur See zu gehen — man kann an Land bleiben — was für einen Ton der viele Umgang mit Pferden erzeugt — zwischen Offizieren, mögen sie sonst noch so ›vornehm‹ sein — wenn sie unter sich sind, wenn das Gespräch von den Pferden auf die Weiber kommt, was für Ausdrücke man da hört... nein, da ist mir so ein blutiggottverdammter Matrose doch noch lieber.

»Sie haben überhaupt niemals ans Heiraten gedacht, Mylord?«

»Ich? Nee!«

Und Mylord löffelte sein sechstes Ei aus.

»Ja«, widerrief er dann seine vorige Verneinung. »Damals, als meine Nase noch nicht erfroren war. Da hätte ich beinahe einmal geheiratet.«

»Wer war die Dame?«

Der Lord hielt mitten in der Bewegung inne; seine sonst so listig blinzelnden Äuglein nahmen einen starren Ausdruck an, als er vor sich hinsah, dann wollte er sich gewiss in den Haaren kratzen, vergaß aber, dass er den silbernen Löffel in der Hand hielt gefüllt mit Eigelb, und so schmierte er sich dieses in die Haare.

»Ich weeß nich mehr, wie se hieß«, kam es langsam heraus, und das Löffelchen wurde wieder ins Ei und in den Mund geführt. »Ja, die hätte ich beinahe geheiratet. Jawohl, so war's; ich war schon auf dem Wege zu ihr, wollte um ihre Hand anhalten — da erfror mir die Nase. Es war ein mächtig kalter Tag. Na, mit der kalten Nase wollte ich doch nicht hin. Ich hatte sie mit Katzenfett eingeschmiert, nach drei Tagen wollte ich wieder hin — da bricht mir vorne die Nasenspitze ab. Teifel, dachte ich! Und dann brach mir noch ein Stück ab. Na, und dann wurde diese Gurke draus. Whisky mit Selters!«

»Hahahahaben Sie diese Nnndame gelilililiebt?«, fing jetzt der Puppenkleidermacher, der heute seinen Stottertag hatte, durch sein krummes Riechorgan an.

Der Lord hatte sein Glas Whisky mit Soda ausgetrunken.

»Welche Dame?«

»Nnnnnun, die Sie heiheiheiheiraten wollten.«

»Ob ich die geliebt habe? Ich? Nee!«

»Weshalb wollten Sie sie denn da heiraten?«, übernahm jetzt wieder der Franzose die Fragen, der dazu weniger Zeit brauchte.

»Weshalb? Hm. Ich glaube, sie hatte irgend etwas Besonderes an sich — ach ja, einen großen Leberfleck auf der Backe, der sah gerade aus wie eine Mondsichel — faktisch, das richtige Mondgesicht war deutlich zu erkennen — das imponierte mir — faktisch, die hätte ich gerne gehabt. Ich sammelte schon damals.«

»Hahahahahaben Sie überhaupt schon einmal gelilililililililililililili...«

»... iebt«, ergänzte der Haarwasseronkel seinen Freund, mit dem er sich manchmal ›dulierte‹.

»Ja, dadadadadas wowowowowollte ich nnnnnsagen. Hahahahaben Sie schon einmal gelilililili...«

»... iebt«, kam der Haarwasseronkel abermals zu Hilfe.

Ich musterte die Gesichter der Anwesenden. Heiliger Klabautermann, hatten diese Menschen eine Ruhe! Aber auch die servierenden Diener zuckten mit keiner Wimper.

»Sie, Mymymymymylord«, fing dieser unglückselige Puppenkleiderschneider mit seinem krummen Riechorgan wieder an, »hahahahahaben Sssssss — ich weiß gar nicht, mir fällt heute das Sprechen recht schwer — hahahahaha...«

»Ob Sie schon einmal geliebt haben, Mylord«, machte ich jetzt schnell den Frager; denn mir stand bereits der Angstschweiß auf der Stirn.

Und endlich merkte der edle Lord, dass es ihm galt, er belilililiebte, von seinem achten oder neunten Ei aufzusehen.

»Sie meinen mich? Ob ich überhaupt einmal geliebt habe? Ja.«

»Wen?«

»Die hier.«

Und er griff an seine Weste und hielt die aus hohlen Backenzähnen bestehende Uhrkette etwas empor.

»Das sind doch menschliche Zähne?«, wurde noch zur Vorsicht gefragt, und das war auch sehr notwendig, denn es waren wirklich ganz unverschämte Zähne, man hätte auch an die eines uralten Hammels denken können. Solch defekte Zähne kann aber eigentlich nur ein Mensch bekommen.

»Damals freilich hatte sie andere Zähne. Es war eine Jugendliebe.«

»Bitte, erzählen Sie.«

»Ich war noch ein dummer Junge. Dumm? Na, ich mag fünfzehn gewesen sein, und mit diesem Alter kann man schließlich geradeso aufrichtig und heiß lieben wie mit dreißig. Sie war bedeutend älter als ich. Schon über die Mitte der zwanzig hinaus. Außerdem war sie schon verheiratet. Mit einem kleinen Bahnbeamten. Was machte das für mich? Für mich war es ein anbetungswürdiger Engel. Beim Derbyrennen war es, wo ich sie sah. Und ich sah keine Pferde mehr laufen. Ich sah nur sie. Und dann träumte der Knabe Tag und Nacht von ihr. Zu sehen bekam ich sie nicht mehr. Nur zufällig hatte ich ihren Namen gehört, und dass ihr Mann ein Weichensteller war. Und der Knabe wurde ein Mann, und er träumte noch immer von seinem Ideal. Auch noch, als ich meine Nase erfror und so ein blauer Zinken daraus wurde. Es ist ungefähr sechs Jahre her, da endlich sah ich sie wieder. Auf der Straße. Sie war unterdessen ein altes Mütterchen geworden. Ja freilich, es waren unterdessen mehr als fünfunddreißig Jahre vergangen.«

Gedankenvoll spielte der Lord mit den hohlen Backzähnen. Und mir stieg es plötzlich ganz heiß, zum Herzen empor.

»Und Sie haben sie wiedererkannt?«

»Auf der Stelle. Obgleich sie kein besonderes Kennzeichen an sich hatte. Und obgleich mir die ganzen fünfunddreißig Jahre immer nur die lieblichen Engelszüge der jungen Frau vorgeschwebt hatten. Trotzdem erkannte ich sie sofort wieder. Ich sprach sie an. Sie hatte einen anderen Namen. Und dennoch, ich irrte mich nicht, sie hatte zum zweiten Male geheiratet. War schon wieder Witwe. In den ärmlichsten Verhältnissen. Einen Haufen Kinder. Well, vor zwei Jahren ist sie gestorben. Ich habe sie bis zu ihrem Tode unterstützt. Ihren Verhältnissen entsprechend. Habe für die Kinder gesorgt. Aber unbekannt. Hat nie erfahren, dass Lord Archibald Seymour sie fünfunddreißig Jahre lang geliebt hat, von ihr jede Nacht geträumt hat — von der Frau des Weichenstellers. Ich sah sie noch einmal auf dem Totenbette. Aber immer unbekannt. Wollte mir eine Haarflechte abschneiden. Hatte keine Haare mehr auf dem Kopfe, kein einziges. Trug eine Perücke. Well, da habe ich ihr die Zähne rausruppen lassen. Die Kinder forderten gar nicht viel dafür. Habe mir diese Uhrkette davon machen lassen. Dann ging ich hierher in die Südsee.«

Lord Seymour schwieg, hatte nichts mehr zu erzählen. Und das heiße Schlagen meines Herzens wollte noch nicht aufhören.

O, Liebe, Liebe, wie bist du wunderbar!! Die Ausdrucksweise des Erzählers konnte mir nichts von dem idealen Werte dieses rührenden Geschichtchens rauben. Und das dicke Männchen mit der blauen Gesichtsgurke stieg plötzlich himmelhoch in meiner Achtung, wieder hätte ich ihm die Hand drücken mögen.

»Ist das wahr? Ist das eine Weste von Menschenhaut?«, fragte da der Holländer.

»Ja.«

Und Lord Seymour strich wohlgefällig oder zärtlich über das braunschwarze Ding, das sich in zahllosen Fältchen, ganz verschrumpelt, über sein dickes Bäuchlein spannte, fasste die Weste unten, zog sie glatt, ließ sie in ihre Fältchen zurückschnellen.

Ich blickte starr hin, glaubte nicht recht gehört zu haben.

»Aus Menschenhaut?«

»Yes.«

»Sie haben Ihrer Geliebten doch nicht etwa die Haut abziehen lassen?!«

»Der? Nee. Das ist die Haut des ältesten Menschen, der nachweislich, d. h. wie durch Urkunden bekräftigt ist, auf der Erde gelebt hat.«

Mit Stolz hatte der Lord es gesagt, dabei wieder liebkosend an der unheimlichen Weste herunterstreichend, und dann gab er die nähere Erklärung.

»Vor etwa fünf Jahren ging durch die Zeitungen die Notiz, auf einer kleinen karibischen Insel, in der Nähe von Trinidad, lebe ein Indianer, der einhundertsiebzig Jahre alt wäre. Das konnte auch beglaubigt werden; denn auf jener Insel hauste schon seit reichlich zweihundert Jahren ein und dieselbe englische Missionarsfamilie; der Beruf, diese menschenfressenden Wilden dem Christentume zuzuführen, war immer vom Vater auf den Sohn übergegangen, stets waren Tagebücher geführt worden, und da stand auch verzeichnet, dass am 4. November im Jahre 1693 dem Jeremias, einem bekehrten Indianer, früh um fünfe ein gesundes Knäblein geboren worden sei, welches drei Tage später in der heiligen Taufe den Namen Josua erhalten habe.

Und dieser Josua lebte noch immer, in seinem hunderteinundsiebzigsten Jahre stehend. Und das war umso glaubwürdiger, als sein ältester Sohn ebenso nachweislich einhundertvierundfünzig Jahre alt war — dort wird zeitig geheiratet — und unter anderem eine Enkelin noch in ihrem Hundertsechsunddreißigsten geheiratet hatte — als Jungfrau, wie in dem Kirchenbuche ausdrücklich verzeichnet war. Das hohe Alter war in der ganzen Familie erblich. Der alte Josua hatte Ururururenkel, im ganzen wohl an die fünfhundert Nachkommen, abgesehen von denjenigen, welche gestorben waren. Es ist dort überhaupt eine gesunde Gegend. Das heißt, die Kariben werden alle sehr alt — natürlich nur, wenn sie nicht schon jung sterben oder sonst ihren Tod finden. Die Kariben sagen, das komme vom Genuss des Menschenfleisches her. Ob's wahr ist, weiß ich nicht, habe noch kein Menschenfleisch gegessen.

»Nun, mein Entschluss war sofort gefasst. Diesen ältesten Menschen der Welt musste ich natürlich in meinem Museum haben. Also ich schickte sofort einen Vertrauensmann hin, mit dem Auftrage, mir diesen alten Josua zu bringen, der sich noch einer ganz guten Gesundheit erfreuen sollte. Falls er aber doch schon unterdessen gestorben war, sollte mir mein Sekretär ihn einbalsamiert oder noch besser ausgestopft bringen. War er schon längere Zeit tot, schon verfault — na, dann irgendein anderes Andenken von ihm, mindestens die Knochen, die Haare, die Zähne, die Nägel und was sonst von den Würmern verschmäht wird.

»Mein Sekretär ging hin. Richtig, der Alte lebte noch. Mr. Johnson wurde auch mit der ganzen Verwandtschaft handelseinig. Sie machten es sogar sehr billig. Nur drei Buttels Whisky wollten sie für ihren alten Großpapa haben.«

Der Erzähler machte eine Pause, um sich nachdenklich hinter dem Ohre zu kratzen.

»Ja«, fuhr er dann ebenso nachdenklich fort, »nun muss aber irgendein Versehen passiert sein. Die Verwandten müssen meinen Sekretär falsch verstanden haben. Die dachten wohl, der weiße Mann, hätte Appetit auf den alten Großpapa. Kurz, als Josua herbeigebracht wurde, hatten sie ihn schon geschlachtet und sogar schon tranchiert...«

»Was?!«, schrie ich entsetzt.

»Jawohl, sie hatten ihn schon geschlachtet, gleich bratfertig, hatten schon die Knochen herausgeschält, die waren schon von den Hunden gefressen worden. Nur die Haut hatten sie ihm vorher fein säuberlich abgezogen, und die war noch vorhanden. Na, so bekam mein Sekretär für die drei Buttels Whisky nur die Haut. Die Kinder und Enkel und Urururururenkel haben das Familienoberhaupt dann selber gefressen. Keiner bekam viel ab, es waren gar zu viele. Und schrecklich zäh soll er gewesen sein! Natürlich, mit einhunderteinundsiebzig Jahren! Na, und ich habe mir die Haut gerben und eine Weste davon machen lassen. Ich hätte auch gern eine Unterhose davon gehabt, aber dazu langte es nicht. Es war ja so ein klapperdürrer Kerl...«

»Reichte schon die Haut des Oberkörpers zu dieser Weste?«, wurde wissbegierig gefragt, aber mit unerschütterlicher Miene.

»I wo, nicht daran zu denken! Bei meinem Bauche! Die Weste ist aus den verschiedensten Teilen zusammengeflickt. Es ist übrigens eine Ärmelweste, und was hier die Ärmel sind, das waren des alten Kariben Beine, und was Sie hier vorn sehen, das Vorderteil, das war Josuas Hinterteil.«

Jetzt konnte ich diese merkwürdige Weste mit noch ganz anderen Augen bewundern.

»Ist Ihnen diese Weste ein besonderer Talisman? Glauben Sie, dass Ihnen die Haut solch eines uralten Mannes, am Körper getragen, das eigene Leben verlängert?«

»I wo, solchen Aberglauben gibt es bei mir nicht! Nur eine Liebhaberei! Solch eine Weste hat sonst kein anderer Mensch auf der Welt.«

Da hatte er allerdings recht.

Lord Seymour zog an den Backenzähnen seiner Geliebten eine silberne Uhr hervor, der sonst nichts Auffälliges anzumerken war.

»Und wissen Sie, was für eine Uhr das ist, wer die früher getragen hat?«

»Nun?«

»Der größte Mörder der Erde, der aus Habgier die meisten Menschen hinübergebracht hat, und das mit einem Male.«

»Und wer ist das?«

»Das ist die Uhr, welche Kapitän Rosario getragen hat.«

Ja, diesen Namen kannte ich, und ich starrte die Uhr an, die mir eine furchtbare Erinnerung, zurückrief.

Noch in meiner Knabenzeit war es gewesen, als die schreckliche Kunde die ganze Welt durchlaufen hatte.

Ein italienischer Kapitän namens Rosario, ein Passagierschiff zwischen Genua und Alexandrien fahrend, hatte alle Passagiere und die ganze Mannschaft mit dem Trinkwasser vergiftet, mehr als dreihundert Menschen, um sie berauben zu können.

»Sie war im Besitze eines Londoner Advokaten, der sie bei der Versteigerung für etwa hundert Pfund erstanden hatte; vor zehn Jahren kam auch dessen Nachlass mit den ganzen Raritäten unter den Hammer, und ich machte das Höchstgebot mit viertausend Pfund. Denn ich hatte starke Konkurrenten dabei.«

Stolz steckte der eine Lord die Uhr des Massenmörders wieder ein, für die er 80 000 Mark bezahlt hatte.

Dann stand er plötzlich auf, zog die Weste etwas in die Höhe und reckte den Bauch heraus, über den sich die geflickte Hose straff spannte.

»Und wissen Sie, was für eine Hose das ist?«, rief er mit seltsam zitternder Stimme.

»Nun?«

»Diese Hose... diese Hose...«

Es musste eine wunderbare Hose sein, der Lord bekam ganz rote Backen, seine Augen begannen zu strahlen, und mit einem Male sprang das dicke Kerlchen mit einer Gelenkigkeit, die ich ihm gar nicht zugetraut hätte, auf seinen Stuhl, und dabei blieb es nicht, plötzlich stand er mitten auf dem Tisch, mit dem linken Fuße in einer Schüssel mit Hummermayonnaise, und nun setzte er den rechten Fuß vorwärts, gerade in den Sahnekäse hinein, und in dieser Positur erklang es begeistert:


Illustration

»Meine Herren — in dieser Hose hat Admiral Nelson die spanischfranzösische Flotte bei Trafalgar vernichtet — am 21. Oktober 1805!!«

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68. Kapitel
Eine Ballonfahrt und ihr Ausgang

Originalseiten III.95 — 111

Ich blieb mit meiner Mannschaft auf der Insel. Der Lord hatte mich so herzlich gebeten, längere Zeit sein Gast zu sein, dass ich es ihm nicht abschlagen konnte.

Warum auch? Ich hoffte ja wirklich, mit ihm ins Geschäft zu kommen, ihn noch als meinen Schiffsreeder betrachten zu können.

Die ›Kalliope‹ wurde von anderen Händen weiterbefördert, nach Nanking, die gefangenen Meuterer an Bord. Seeleute gab es ja auf der Insel massenhaft, und mein Protokoll, von Zeugen unterschrieben, genügte. Denn ich hatte doch nicht etwa die Verpflichtung, dieses Schiff nun auch abzuliefern.

Es war eine recht angenehme Zeit. Ein bisschen toll. Tischunterhaltungen, immer denselben Charakter tragend, wie die oben geschilderte, abends regelmäßig mit einer Zecherei endend, wechselten mit Sportbelustigungen aller Art ab, und auch die holde Weiblichkeit, an der hier kein Mangel war, spielte keine geringe Rolle. Denn der alte Junggeselle war trotz der hohlen Backenzähne seiner unvergessenen Jugendliebe kein Weiberfeind.

Die Herren unterhielten sich häufig über das zukünftige Seezigeunerreich, spannen ihre Pläne aus. Aber niemals in meiner Gegenwart. Da fiel von alledem kein Wort. Lord Seymour hatte offenbar seine Gäste instruiert, man wollte mir Zeit lassen, dass ich meine Absicht ändere. Oder man hatte sonst eine Heimlichkeit.

Nun, ich verschaffte den Herren oft genug solche Gelegenheiten, ohne mich zu sprechen, indem ich viel Spaziergänge auf der Insel allein machte. Um mich sonst über deren Verhältnisse zu orientieren, war mein Mentor ein alter Engländer, der schon seit langen Jahren hier gehaust, die ersten Bauarbeiten geleitet hatte.

Wie diese Gebäude nach und nach entstanden waren, welchem Zwecke sie dienten, darüber habe ich nichts weiter zu sagen. Es war eben eine vollkommene Kolonie mit Stadt, die sich selbstständig ernähren konnte, wenn man auf allen Luxus, zu dem doch auch schließlich Tabak gehört, hätte verzichten wollen. Aber sogar Weinreben waren schon gepflanzt, Austernbänke angelegt, die recht gut gediehen.

Château Lafite wuchs freilich noch nicht, und ich vermute auch, dass der Boden der ganzen Insel nicht genügt hätte, um den Weinbedarf von Lord Seymours Tafel zu decken.

Was man sonst brauchte, wurde teils von Batavia, teils vom australischen Festland bezogen. Zweimal im Jahre aber kam auch ein Dampfer direkt von London, der alles mitbrachte, was man anderswo nicht bekam, und es waren noch mehrere Segelschiffe und Dampfer ständig unterwegs.

Am meisten interessierte mich, dass hier Steinkohlen gefunden wurden. Sie wurden im Innern des Berges gebrochen und durch jenen maschinellen Wagenbetrieb herausbefördert. Das Kohlenlager sollte nach unten zu unerschöpflich sein, wahrscheinlich bestand auch der ganze Meeresboden aus reiner Steinkohle, nur von einer Korallenschicht bedeckt. Wenn man an einen Kontinent dachte, der hier ungezählte Jahrtausende über dem Wasser mit Pflanzenwuchs bedeckt gewesen, erst später gesunken war, so war das Vorhandensein von Steinkohlen auch begreiflich. Sie dienten zum Hausgebrauch, zur Versorgung der eigenen Dampfer, und schließlich war sogar schon eine Gasanstalt vorhanden.

Auf der Spitze des fast 600 Meter hohen Berges befand sich eine Seewarte, Lord Seymour förderte auch die Wissenschaften, hatte hier sogar einen erfahrenen Meteorologen mit allen Instrumenten ausgestattet, die dieser zu seinem Studium brauchte.

Von hier aus wurden auch die kleinen Luftballons abgelassen, welche die Flaschenposten mit jenen Einladungen nach allen Windrichtungen verteilten. Die feste Schnur, welche bei Feuchtigkeit zerfiel, war eine Erfindung dieses Herrn.

Das letzte Schiff hatte die Hülle eines großen Luftballons mitgebracht, in dessen Gondel demnächst Lord Seymour mit dem Meteorologen und einigen seiner Gäste eine Luftreise antreten wollte. Ein Gasrohr war bis zur Seewarte hinausgelegt worden.

Schon am nächsten Tage hatte ich in einem bequemen Hängewagen der Schwebebahn die Partie hinaufgemacht, um dies alles zu besichtigen.

Dann galt meine Aufmerksamkeit hauptsächlich dem großen Vogelberge, der von hier oben aus in fast handgreiflicher Nähe zu liegen schien. Aber seine Oberfläche war auch von hier aus noch nicht zu übersehen, er musste bedeutend höher sein.

Jetzt konnte mir Mister Bigfeet mitteilen, dass seine Höhe 840 Meter betrage, was ja durch eine trigonometrische Berechnung auch von unten zu bestimmen ist.

Durch das Fernrohr konnte man unterscheiden, wie auf dem Plateau Vögel hin und her flogen, nichts weiter.

Ich hatte gegen meinen Mentor, der sich hier schon acht Jahre lang aufhielt, bereits Andeutungen gemacht, ob man an diesem Tafelberge nicht einmal irgend etwas Besonderes beobachtet habe.

Aber wäre dies der Fall gewesen, so hätte mir der alte Mann oder jetzt der Gelehrte wohl von allein etwas darüber mitgeteilt.

Nein, gar nichts! Ein isolierter, unersteigbarer Felsen, den die Laune der Natur anders als die übrigen Berge gebildet und so hierher ins Meer gesetzt hatte.

»Wie groß ist denn der Umfang dieses Felsens?«, fragte ich den Meteorologen.

»Sein Querschnitt ist fast quadratisch, jede Seite misst ziemlich anderthalb Kilometer.«

Das hätte ich nicht vermutet. Die Entfernung täuschte so.

»Sind auch die anderen Seiten so steil wie die, welche ich von hier erblicken kann?«

»Alle. Vollständig senkrecht und glatt wie gemeißelt.«

»Noch nicht bestiegen worden?«

»Niemals. Da müssten erst Stufen eingehauen werden, was eine kolossale Arbeit erfordert.«

»Mich wundert trotzdem, dass Lord Seymour noch nicht daran gedacht hat, sich diesen jungfräulichen Felsen dienstbar zu machen.«

»Doch, er hat es schon immer geplant. Dann aber fasste er die Idee, lieber mittels eines Luftballons hinaufzukommen, dann dort oben nur eine Strickleiter zu befestigen, und dazu soll eben der jetzt angekommene Ballon dienen, dessen Herbeischaffung sich nur sehr verzögert hat.«

Lange Zeit noch war ich in den Anblick dieses Felsens versunken.

Das wäre etwas für Karlemann gewesen, das war noch etwas ganz anderes, als jene Leuchtturminsel an der Goldküste.

Warum aber nur für Karlemann? Das wäre auch für mich etwas gewesen!

»O, diesen jungfräulichen Felsen möchte ich haben!«, machten sich dann meine Empfindungen Luft.

»Well, ich schenke Ihnen diese Jungfrau«, erklang es hinter mir. Auch Lord Seymour war heraufgekommen, schien sich allein zu befinden.

Eine jähe Freude, dann war sie wieder vorbei.

»Ich muss danken.«

»Bitte! Also machen wir das gleich schriftlich, hier ist Tinte und Papier...«

»Nein, nein«, lachte ich, wenn auch mit etwas heimlichem Schmerz, »ich dankte in anderer Weise — ich nehme nichts geschenkt an.«

»Weshalb nicht?«

»Weil... Sie wissen doch die Gründe, ich habe es Ihnen erzählt.«

»Bah! Oder denken Sie etwa, Sie werden mit mir solche Erfahrungen erleben wie mit jenem Frauenzimmer? Verlange ich etwa, dass Sie mich lieben, mir um den Hals fallen und mich abküssen sollen? Das ist doch etwas ganz anderes. Und wenn ich Ihnen eine Kleinigkeit schenke, als Andenken, würden Sie es nicht annehmen?«

»Doch, eine Kleinigkeit, aber jener kolossale Felsenberg...«

»... ist für mich im Vergleich zu den anderen Inseln und Bergen, die ich besitze, eine winzige Kleinigkeit. Er gehört Ihnen, basta!«

Der Lord hatte sich schon gesetzt und zur Feder gegriffen, warf einige Zeilen auf ein Stück Papier, setzte eine schneidige Unterschrift darunter.

»So, mein Lieber«, sagte er, mir das noch nasse Papier überreichend. »Da haben Sie's, und meine Unterschrift ist auch in diesem Falle gültig, ein Lord Archibald Seymour braucht keine notarielle Schenkungsurkunde. Altenglisches Adelsgesetz. Nun lassen Sie sich dort oben als Rittergutsbesitzer nieder, bauen Sie Hafer und Kartoffeln — ich rate Ihnen besonders zur Ziegenzucht.«

Ich zögerte noch immer.

»Na, was wollen Sie denn noch? Immer noch nicht zufrieden?«

»Zu welchen Bedingungen überlassen Sie mir diesen Felsen?«

»Was für Bedingungen?«

»Dass ich...«

Mr. Bigfeet war in dem Observatoriumszimmer anwesend.

»Dass Sie hier bleiben sollen? Zigeunerkönig werden?«, sagte aber der Lord ganz offen. »Gott bewahre! Machen Sie keine Faxen! Ich will Ihnen eine Freude bereiten, nichts weiter!«

Mein Zögern war besiegt. Ich schüttelte ihm die Hand und steckte die Schenkungsurkunde ein, vor Erregung ganz rot im Gesicht.

»Nun müssen Sie bloß sehen, wie Sie da hinaufkommen.«

»Mittels des Luftballons.«

»Haben Sie einen?«

»Nein, aber Sie haben einen«, lachte ich.

»Ja, aber den bekommen Sie nicht. Ich will eben beobachten, wie Sie das machen, da hinauf zu kommen.«

»Ich lasse einfach Stufen einmeißeln, ich habe ja Zeit.«

»Na, dann nehmen Sie lieber meinen Luftballon. Sobald ein günstiger Wind weht, treten wir zusammen die Reise an.«

Vier Tage vergingen, ehe sich der Wind so drehte, dass wir bei einem Aufstieg über jenen Felsenberg hinweg fliegen mussten.

Für mich wurden es Tage größter Aufregung, wenigstens marterte ich unausgesetzt meinen Kopf, auch im Traume.

Sollte es denn mit diesem Vogelberge nicht irgendeine geheimnisvolle Bewandtnis haben? War es jener Kapitän gewesen, der mich damals von der Fucusinsel abgeholt, oder Graf Axel, der mir gesagt, dass jenes indische Schiff direkt zu diesem Vogelberge in Beziehung stände?

Ich konnte mich nicht genau entsinnen, aber irgend so etwas musste es gewesen sein, mindestens war mir schon von einer Seite zugestanden worden, dass dieser Felsenberg ein Zentrum jener geheimen Verbindung sei, die sich aus Seeleuten zusammensetze und sich über die ganze Erde erstrecke.

Auch mit Goliath sprach ich öfters darüber, ohne dass mir dieser irgendwelche Auskunft geben konnte. Jedenfalls aber, da ich ihn nun einmal mit ins Vertrauen gezogen hatte, sollte er mich nun auch bei der Ballonfahrt begleiten, für welche Möglichkeit ich schon sorgen würde.

Übrigens war es das größte Wagnis, was Lord Seymour da vorhatte, das erkannte ich erst später, als ich mir alles recht überlegte, und ich musste mich nur wundern, dass das dicke Männchen bereit war, sich persönlich in solch ein gefährliches Abenteuer einzulassen.

Denn mit einem Luftballon da oben hinaufzufahren, eine Strickleiter mitzunehmen, um an dieser wieder herabzuklettern, dies alles war viel leichter gesagt als getan.

Zunächst hatte der Lord für diese Expedition außer dem Ballon in London eine Strickleiter von achthundertfünfzig Meter Länge herstellen lassen. Ein Jahr lang war daran gearbeitet worden. Die feinste chinesische Seide! Unheimlich dünn waren die Stricke, denen sich der Kletternde in der schwindelnden Höhe anvertrauen sollte. Und dennoch, was für ein Bündel das war, welches der Ballon mitschleppen musste! Das Gewicht betrug nicht ganz fünf Zentner. Aber was für ein Gewicht wäre das erst gewesen, wenn sie aus Hanf bestanden hätte! Und solch eine Strickleiter von achthundertfünfzig Metern hätte doch überhaupt gar nicht ihr eigenes Gewicht getragen. Nein, hier konnte nur Seide in Betracht kommen; und die Fabrik garantierte für eine Tragkraft von zwanzig Zentnern.

Doch wie nun dort oben landen? Das war auch so eine Sache. Das himmelhohe Plateau zeigte jedenfalls ganz nackten Steinboden. Bei jedem heftigen Regen kam es von dort oben wie ein Wasserfall herunter, auf der nördlichen Seite, die ganze Breite einnehmend, also neigte sich das Plateau etwas nach dieser Seite, und der Regen würde wohl allen sich bildenden Humus wieder fortspülen.

Also ein Ankern gab es dort oben schwerlich. Wir würden über das Plateau hinwegfliegen, so dicht über dem Boden wie möglich, das war durch Regelung des Ballastes erreichbar, die Betreffenden sprangen gleichzeitig aus der Gondel, und im nächsten Moment musste auch die Strickleiter hinabbefördert werden.

Diese befand sich zu diesem Zwecke nicht in der Gondel selbst, sondern war nur unten angebracht, und konnte durch eine sinnreiche Vorrichtung mit einem einzigen Handgriffe abgelöst werden.

Würde schon das Herausspringen der Menschen den Ballon in die Höhe schnellen lassen, so natürlich erst recht eine Befreiung von der fünfzentnerigen Last.

Der Ballon würde in höchster Höhe weitertreiben, die Herausgesprungenen befanden sich auf dem Plateau, abgeschnitten von aller Welt.

Nun, wenn man wieder herunter wollte, musste die Strickleiter hinabgelassen werden. Hierzu nahm Lord Seymour einen Arbeiter mit, welcher am besten verstand, mehrere Eisen in den härtesten Stein fest einzutreiben. An diesen wurde dann die kunstvoll aufgewickelte Strickleiter befestigt und langsam in die Tiefe abgerollt, wozu schon die Kraft eines einzigen Menschen genügt hätte: die Verbindung zwischen Plateau und Erd- oder vielmehr Meeresoberfläche war hergestellt.

Aber nun diese 850 Meter hinabklettern, sich an den bleistiftstarken Stricken festhalten müssend! Selbst mir, einem Seemanne, der als Matrose ein gar gewandter Kletterer gewesen war, graute etwas davor. Eine Viertelstunde hatte man da mindestens zu klettern, mit den Fingerrücken immer gegen die Felswand scheuernd, himmelhoch in der Luft schwebend.

Na, ich wollte das schon fertig bringen, doch wie der Lord, dieses dicke Männchen?!

Doch Lord Seymour versicherte, dass dies für ihn eine Kleinigkeit sei, er brauche gar nicht erst eine Probe abzuhalten — — na, wenn der seiner Sache so sicher war, dann war es ja gut, dann konnten wir aufsteigen, wenn wir nur erst günstigen Wind bekamen.

Also am vierten Tage stellte sich dieser ein. Dass er uns direkt über den Vogelberg treiben würde, war schon so zu erkennen, und außerdem wurden erst kleinere Ballons abgesandt. Sie strichen mitten über das Plateau weg.

In zwei Stunden war unser Ballon, ein mächtiges Ding, gefüllt. Er war von einem professionellen Aeronauten mitgebracht worden, der nun natürlich auch die Führung übernahm.

Die Gondel war zur Aufnahme von fünf Menschen bestimmt, aber im letzten Augenblick entschied sich der Aeronaut nur für vier Personen, und das war für uns Befehl.

So musste der Franzose, welcher die Partie hatte mitmachen wollen, zurückbleiben.

Anstatt des Schlossers kam mein Goliath mit, dazu hatte ich den Lord bereits zu bestimmen vermocht, nachdem er sich überzeugt, dass mein schwarzer Bootsmann genau so gut mit Hammer und Meißel umzugehen wusste und Eisen einzuzementieren verstand.

Es war alles so sorgfältig wie möglich vorbereitet worden. Schon einen Versuch zu machen, ob sich die zusammengerollte Strickleiter vom Boden der Gondel beim Drehen eines Hebels auf der Stelle ablöste, das ging freilich nicht. Das wäre als Probe erst möglich gewesen, wenn der Ballon mit der Gondel schon etwas über dem Boden schwebte. Aber dann hätten wir das mächtige Bündel wohl schwerlich wieder so kunstvoll an ihr befestigen können.

»Und wenn wir nun da oben herausspringen, und der Ballon fliegt über das Plateau weg, ohne dass sich die Strickleiter abgelöst hat?«, fragte ich. »Was machen wir dann dort oben? Wie lange dauert es, bis der Ballon zurückgebracht werden kann, um das Experiment zu wiederholen?«

»Ich garantiere mit meinem Kopfe, dass die von mir selbst erfundene und gearbeitete Vorrichtung tadellos funktioniert«, entgegnete stolz der Luftschiffer, ein Franzose, denn die Aeronautik wurde damals fast ausschließlich in Frankreich kultiviert.

Gut! Alles war fertig, wir stiegen ein. Noch ein kleiner Probeballon wurde vorausgeschickt, er bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von etwa zwei Metern in der Sekunde, ganz vortrefflich für unsere Zwecke, denn bei einer Eilzugschnelligkeit hätten wir natürlich nicht aus dem Ballon springen können, wir sahen ihn gerade über der Mitte des Plateaus hinwegstreichen —

»Let go!!!«, und die Verbindung mit der Erde war gelöst, wir selbst befanden uns in den Lüften.

Es war meine erste Ballonfahrt, und es war herrlich!

Doch wir durften uns nicht lange diesem Genusse hingeben.

Wie gesagt, der Felsenberg befand sich von hier rund fünf Kilometer entfernt, in den oberen Luftschichten, die wir zuerst erreichten, war die Windströmung stärker, in höchstens einer halben Stunde mussten wir dort sein.

Und was gab es bis dahin noch alles auszumachen! Eigentlich war ja alles schon zur Genüge besprochen, vier Tage lang hatten wir uns über nichts weiter unterhalten, aber... jetzt näherte sich eben der Augenblick, in dem es darauf ankam.

Unzählige Male hatten wir uns eingeübt, gleichzeitig aus der Gondel zu springen, wobei über den meterhohen Rand hinwegvoltigiert werden musste, und da hatte ich beobachtet, dass dieser dicke Lord ein ganz ausgezeichneter Turner und Springer war, was ich ihm nimmer zugetraut hätte; seine Leibesfülle hinderte ihn nicht im Mindesten.

Aber würde auch jetzt alles glücken? Jedes zufällig daliegende Seil konnte verhängnisvoll werden, das musste alles noch geordnet werden, weil die Bedienung der Takelage während des Aufstiegs doch einige Verwirrung angerichtet hatte.

Dann näherten wir uns dem Felsberge, noch hundert Meter höher.

Ein nacktes Felsplateau, nichts weiter, wie wir es auch zu sehen erwartet hatten.

Oder hatte ich etwas anderes erhofft? Wirklich, ich war enttäuscht.

Doch jetzt hatten wir keine Zeit mehr zum Beobachten.

Der Aeronaut zog das Ventil, der Ballon senkte sich, wir machten uns sprungfertig.

»Passt nur auf die Wasserflaschen auf, dass die nicht zerquetscht werden!«, sagte Lord Seymour noch einmal.

Das ist nur eine Andeutung, bei unserer Ausrüstung habe ich mich sonst gar nicht weiter aufgehalten. Wir brauchten doch Wasser, schon wegen des Einzementierens der Halteeisen, der Aeronaut musste dann auch sofort noch zwei größere Wasserschläuche herauswerfen, aber es war doch immer damit zu rechnen, dass beim Aufschlagen etwas in die Brüche gehen konnte.

Da war der Steinboden unter uns, da streifte ihn die Gondel oder vielmehr die unten befestigte Strickleiter.

»Turn to!!!«, kommandierte der Luftschiffer mit Donnerstimme. Jubb — gleichzeitig schwangen sich drei Paar Beine über den Gondelrand, wir hatten festen Boden unter den Füßen.


Illustration

Hei, wie der Ballon in die Höhe schnellte! Wie eine abgeschossene Kanonenkugel! Ich hätte so etwas gar nicht für möglich gehalten. Aber freilich, wir drei zusammen bedeuteten doch eine Last von mindestens fünf Zentnern, von der der Ballon plötzlich befreit war, das will etwas heißen!

Da klatschte es zweimal — und zwanzig Meter von uns entfernt waren ziemlich dicht nebeneinander zwei große Wasserpfützen, in denen die geplatzten Schläuche aus Ziegenfellen lagen.

Der Aeronaut hatte im nächsten Moment, als wir uns über die Bordwand geschwungen, die beiden Wasserschläuche hinausgeworfen — aber da war der Ballon schon von der fünfzentnerigen Menschenlast befreit gewesen, war emporgeschnellt, hatte im Moment eine Höhe von mindestens hundertfünfzig Metern erreicht — und diesen Sturz hatten die Wasserschläuche trotz aller Vorzüglichkeit des Materials natürlich nicht aushalten können, sie waren geplatzt.

Es war vorauszusehen gewesen. Aber was half's, es hatte probiert werden müssen. Eben in der Voraussicht, dass es so kommen würde, trug jeder von uns noch zwei große Lederflaschen mit Wasser bei sich.

Hoffentlich wird kein Leser die Frage aufwerfen, weshalb denn da die Wasserschläuche nicht zuerst herausbefördert worden wären, als sich die Gondel noch dicht über dem Boden befand; erst hierauf hätten wir springen sollen.

Jawohl, im nächsten Moment hätten wir uns dann doch in der gleichen Lage wie jetzt die Wasserschläuche befunden, der Ballon wäre gleichfalls sofort in die Höhe geschnellt, und uns war es freilich lieber, diese Wasserschläuche waren geplatzt, als unsere eigenen Leiber. Besonders um den Schmerbauch Seiner Herrlichkeit wäre es doch schade gewesen, um dessen aufgeplatzte Hülle hätte sich wahrscheinlich noch eine ganz andere Pfütze gebildet.

Doch ich muss bei der Sache bleiben. In der Schnelligkeit, mit der sich dies alles abspielte, lässt sich das allerdings nicht schildern.

Dort oben musste eine außerordentlich starke Windströmung herrschen, der Ballon trieb plötzlich pfeilschnell dem Westen zu.

»Die Strickleiter, los die Strickleiter!!«, brüllte Lord Seymour, vergessend, dass er nicht mehr gehört werden konnte.

Aber auch ich vergaß es.

»Die Strickleiter, die Strickleiter!!«, brüllte auch ich.

Dass der Aeronaut das Ablösen der Strickleiter nicht absichtlich oder gar böswillig verzögerte, ist selbstverständlich, wir sahen das kleine menschliche Figürchen denn auch dort oben in der Gondel eilfertig herumwirtschaften — — nur schade, dass das Ding eben nicht herunterkommen wollte, und das war doch die Hauptsache bei der ganzen Geschichte.

»Die Vorrichtung versagt! Abschneiden, abschneiden!!«

So brüllten wir alle aus Leibeskräften. Himmelbombenelement noch einmal, kam der Kerl denn nicht von allein auf den Gedanken, lieber das Messer zu gebrauchen...

Na endlich, da kam das Bündel herabgesaust, aus himmelhoher Höhe, denn der Aeronaut hatte keine Zeit gehabt, das Ventil zu ziehen, immer höher noch war der Ballon gestiegen — aber jetzt kam die Strickleiter herab, und dieser Seide konnte kein Aufschlagen etwas schaden.

Jetzt musste der Ballen aufgeschlagen sein.

Aber gehört hatten wir es nicht.

Warum hatten wir es nicht gehört?

Es hätte doch einen ganz bedeutenden Knall geben müssen. Und plötzlich rieselte es mir eiskalt den Rücken herab.

Und plötzlich sah ich, wie die blaurote Gesichtsgurke Seiner Herrlichkeit sich schneeweiß färbte.

Und dann sah ich, wie sich Goliath hoch emporrichtete, auf den Zehenspitzen reckte, als wolle er über ein Hindernis spähen, und auch sein schwarzes Gesicht wurde ganz lang.

»Massa, die Strickleiter ist ins Meer gefallen!«

Juhu! Das heißt, gejodelt habe ich nicht, sondern irgendeinen anderen Schrei ausgestoßen.

Wir rannten quer über das Plateau, dorthin, wo der Ballen gefallen war, bis wir an den anderen Rand kamen.

Nein, da war nichts von einem grauen Bündel zu sehen. Das hätten wir doch überhaupt sofort erblicken müssen auf dem vollständig ebenen Plateau. Die Strickleiter war einfach über den Rand hinaus ins Meer gefallen.

»Nun schlage Gott den Deiwel tot!«, musste ich mir zunächst Luft machen.

Und dann hob Lord Archibald die Hand und winkte nach dem Ballon, der schon in weiter, weiter Ferne war, nur noch als kleiner Punkt sichtbar.

»Bst, bst, he, Sie da, kommen Sie wieder zurück!«

Bei dem fing's schon im Kopfe zu piepen an.

Wir blickten uns an.

»Na, was sagst de nu dazu?«, entschlüpfte es mir.

Der Lord steckte seine Hände in Admiral Nelsons siegreiche Hose und drehte sich phlegmatisch auf dem Absatze im Kreise herum.

»Feine Aussicht hier oben.«

Der Ballon senkte sich jetzt schnell, das war an dem Punkte noch zu erkennen, und unter uns, die wir ganz nahe am Rande standen, steuerte ein Dampfer, wie ein niedliches Spielzeug aussehend, mit rauchendem Schornstein unter Volldampf nach Westen.

Es war der bestellte Dampfer, der dem Aeronauten sofort zu Hilfe eilen, ihn mit seinem Ballon auffischen und zurückbringen sollte.

»Wie lange wird das dauern, ehe der Ballon eine zweite Fahrt antreten kann?«, fragte ich.

»Na, zwei Tage vergehen mindestens.«

Nette Aussicht!

»Und dann haben wir doch auch keine Strickleiter mehr, oder sie muss aufgefischt werden, aber erst die Stelle wissen, wo sie liegt!«

»Und dieser Wind dreht sich noch heute«, ergänzte ich.

»Dideli, dideli, dideli«, trällerte der Lord, die Hände über dem Bäuchlein gefaltet und die Daumen drehend. Und dann wandte er sich an mich.

»Sagen Sie mal, Herr Kapitän, wo ist denn hier eigentlich der Ausgang?«

»Mylord, ich bitte Sie...«

»Na, ich bin doch bei Ihnen zu Gaste. Das ist hier Ihr Besitztum. Da müssen Sie Bescheid wissen. Und ich möchte gern nach Hause. Bitte, leuchten Sie mir die Treppe hinab.«

Endlich aber ward auch er ernst. Wir überblickten unsere Lage. Sie sah traurig genug aus.

Alles, was wir besaßen, um unser Leben zu erhalten, bestand in sechs Litern Wasser. Weiteren Proviant hatten wir nicht mitgenommen. Wozu auch? Es hatte ja doch nur gegolten, hier oben einmal Umschau zu halten, den Reiz zu befriedigen, solch einen jungfräulichen Berg als erster Mensch zu betreten. Dann sollte die Strickleiter befestigt, hinabgelassen und dann gleich benutzt werden. Für diese Zeit hätte der im Magen mitgenommene Proviant genügt.

Hier oben war absolut nichts zu haben. Auch keine Vogelnester. Hier ruhten sich die Seevögel nur manchmal aus, brüteten aber nicht. Jeder Regenguss hätte alle Vogelnester von der glatten und etwas geneigten Fläche doch gleich fortgespült.

Und von unten konnten wir keine Hilfe erwarten.

Wir waren dem Verschmachtungstode preisgegeben!

»Gehen Sie mir weg mit Ihren jungfräulichen Bergen«, sagte Lord Seymour. »Da ist die erste Jungfrau, mit der ich's probiert habe, und da bin ich auch gleich ganz gründlich hereingefallen.«

— • —

69. Kapitel
Im Innern des Felsenberges

Originalseiten III.111 — 141

Ich überspringe eine Nacht und den darauf folgenden Vormittag. Mit verzehrender Glut brannte die Mittagssonne auf uns herab, und... wir waren so weit!

Vor einer Stunde hatten wir den letzten Rest Wasser geteilt — ein Tropfen auf einen heißen Stein, auf glühendes Eisen. Meine Lippen waren schon ganz aufgesprungen — den anderen ging es nicht besser.

Von meiner Zunge und meinem Gaumen will ich gar nicht sprechen. Glühende Reibeisen!

»Sehen Sie hier«, sagte der Lord mit heiserer, kaum noch vernehmbarer Stimme, und er zog seine unheimliche Weste weit vom Leibe ab, »hier drin ist noch gestern mein Bauch gewesen. Hatte gar nicht geglaubt, dass man so fix austrocknen kann. Wenn ich glücklich von hier wieder herunterkomme, errichte ich hier oben eine Entfettungskuranstalt.«

Er war nicht so humoristisch gestimmt — es war nur seine Ausdrucksweise.

Der ganze Felsen war ringsum von Fahrzeugen umgeben, man winkte uns, man schien Vorbereitungen zu irgend etwas zu treffen.

Was konnte das sein? Hier oben aber war uns nicht beizukommen. Und mochte der Ballon auch schon geborgen sein — es herrschte vollkommene Windstille.

»Sie müssen den wieder gefüllten Ballon auf einem Fahrzeuge dicht hier heranbringen und ihn dann steigen lassen«, sagte Goliath.

Ja, das wäre unsere einzige Rettung gewesen, aber... ich glaubte nicht daran.

Und dann hätten wir doch auch schon die runde Kugel über einem Schiffe schweben sehen müssen.

Nichts davon! Und außerdem... ach, da gab es noch so viele Aber!

»Ob man wohl an eine Kanonenkugel einen Strick binden kann, um ihn hier heraufzuschießen?«, röchelte der Lord.

»Mylord, machen Sie keine Witze!«

»Ich wollte den Strick nur gern haben, um den Luftschiffer daran aufzuhängen — vorausgesetzt, dass ich ihn hier hätte. Aber wenn ich glücklich wieder herunterkomme — seinen Kopf hat der Kerl verspielt, den hacke ich ihm selber ab. Ja, abbeißen möchte ich ihn — und sein Blut schlürfen — und Brandy mit Soda — Soda, viel Soda — da, da ist ja eine ganze Sodaquelle...«

Er wollte davonlaufen. Goliath rannte ihm nach, packte ihn, warf ihn zu Boden, und ich half dann mit, den mit den Füßen und Händen um sich Schlagenden zu binden.

Der Lord war der erste, bei dem das Delirium ausbrach.

Und ich war der zweite, der Wasserquellen sah und murmeln hörte, aber bei mir machte sich das in anderer Weise geltend, ich blieb mir bewusst, dass es Täuschung war, ich studierte gewissermaßen diese Halluzinationen, meinen ganzen Zustand, wie ein Mensch den Verschmachtungstod stirbt.

Dann wurde mir übel, eine Betäubung überkam mich.

»Massa, Massa, Herr Kapitän!«

Ich fühlte, wie man mich an der Schulter rüttelte, schlug die Augen auf und blickte in Goliaths schwarzes Gesicht.

Meine Glieder waren Feuer, in meinem Innern brannte ein Vulkan, und dennoch war ich wieder ganz bei Sinnen.

Der Sterbezustand aus Wassermangel hat eben verschiedene Perioden. Die einzelnen Anfälle von Delirium steigern sich immer, und das ist nur umso schlimmer.

Jetzt fühlte ich gar keinen Durst mehr, nur die aufgesprungene Haut brannte so furchtbar.

Ebenso mochte es mit dem Lord stehen, auch er war wieder zu sich gekommen, schien wieder normal zu sein.

»Na, was habt ihr mich denn gebunden?!«, sagte er unwillig.

Für mich existierte jetzt natürlich nur Goliath, und schon von seinem Gesicht ging etwas wie ein Kraftstrom auf mich über.

»Was gibt es?«

»Ich habe etwas gefunden...«

»Wasser?!«

»Nein, einen Ring, aber ich kann ihn allein nicht heben... seid Ihr imstande, mir zu folgen und zu helfen?«

So unklar mir auch diese Worte sein mochten, es war doch ein Hoffnungsstrahl, der mich durchzuckte, ich konnte mich erheben, so sehr mir auch die brennenden Glieder schmerzten.

Goliath stützte mich, einige taumelnde Schritte, dann konnte ich gehen. Aber vergebens versuchte ich, etwas zu sagen, keinen Laut brachte ich hervor, die Zunge war plötzlich wie festgeklebt.

»Ich — ich —« röchelte es da hinter uns, und noch in ganz anderer Weise.

Goliath blickte zurück, ging zurück, beugte sich über den Lord, befreite ihn von seinen Fesseln, half ihm auf, führte ihn.

Nach einigen Schritten konnte auch der Lord allein gehen. Aber das Wie ist mir unvergesslich. Immer im Zickzack, dabei schwankend, immer drei Schritte vorwärts und zwei wieder zurück — ein ganz possierlicher Anblick. Lächerlich war es mir damals natürlich nicht zumute.

»Wo — wo — springen wir hinunter?«, konnte er noch röcheln. Er dachte an Selbstmord, wozu er allein jetzt nicht einmal mehr fähig war.

So torkelten wir beide über das Plateau, hinter Goliath her, der allerdings auch schon ganz auf den Hund gekommen zu sein schien, aber doch noch weit kräftiger war als wir beiden.

»Da — da!«

Es war ziemlich in der Mitte des Plateaus, wo er auf den Boden deutete.

Und was ich da erblickte, ließ mich im Moment alles andere vergessen.

Es war nichts mehr und nichts weniger als ein eiserner Ring, der da in den Steinboden eingelassen war, und um ihn war in den grauen Boden ein Quadrat gezogen, nicht ganz einen Meter breit — und diese Linien waren nichts anderes als Fugen! — das war eine lose Steinplatte, in der der Ring befestigt war!

Schon hatte sich Goliath breitbeinig über diese Platte gestellt, packte den Ring, hob und rüttelte daran.

Ja, die Platte bewegte sich! Aber sie war zu schwer für den Neger, dessen Riesenkraft doch schon sehr geschwächt war.

»Fasst mit an, Massa!«

Auch ich stellte mich breitbeinig darüber, der Ring war groß genug, um vier Hände daran zu lassen; wir zogen auf Kommando, zuerst erfolglos, wir strengten uns an, dass ich jeden Augenblick dachte, das Blut müsse mir aus der Nase spritzen, und der Stein wollte sich nicht liften lassen.

»Doch, doch, es geht, er ist lose — noch einmal — dort hinüber, vor uns — nur ein ganz klein wenig überkanten, das genügt schon — also aufgepasst: eins, zwei — jubb!!«

Und da lag die Steinplatte seitwärts. Wir waren gleich genügend im Schwung gewesen, brauchten sie nicht erst weiterzuschieben.

Es zeigte sich eine Öffnung, aus der es uns schwarz entgegengähnte — aber der oberste Teil war doch noch hell genug, um die eiserne Leiter erkennen zu lassen.

Mich erfasste zunächst nach dieser Anstrengung eine ungemeine Schwäche, ich sank zusammen, aber ohne bewusstlos zu werden, und ich sah, wie Goliath sofort in der Öffnung verschwand.

Wie lange er ausblieb, weiß ich nicht. Es kann eine Minute, es kann eine Stunde gewesen sein. Ich stierte nur immer nach der schwarzen Öffnung. Die Zeit hatte für mich ihre Bedeutung verloren.

Da tauchte Goliaths wolliger Kopf wieder auf. In jeder Hand hatte er eine Weinflasche und auch noch unter jeden Arm eine solche geklemmt, ohne dass ihn das am Ersteigen der Leiter gehindert hätte. Mit seinem Messer schlug er den Flaschenhals ab, setzte mir die Öffnung vor den Mund.

»Trinkt, Massa, aber langsam, und hört sofort auf, wenn es im Magen brennt, sonst kann's Euer sofortiger Tod unter den furchtbarsten Schmerzen sein.«

Ja, hatte sich was, langsam, mit Vorsicht trinken! Und mochte der riesige Neger auch noch so fest halten, ich drückte den Flaschenhals dennoch herab.

Es war Weißwein. Und ich saugte und saugte, bis die ganze Flasche hinabgegluckert war.

Aber mir schadete der Wein nichts, ich empfand nicht jenes Brennen im Magen, welches sonst immer den schon dem Verschmachtungstode Nahen befällt, wenn er das erste Wasser trinkt, woran solche Unglückliche so häufig erst recht sterben.

Dieselbe gute Natur schien auch der Lord zu besitzen, der wollte nur noch immer mehr Flaschen unter seine Gesichtsgurke haben.

Doch mit uns war es ja noch gar nicht so weit gewesen. Wir hatten nur das allererste Stadium der Verschmachtung durchgemacht. Wir hätten es noch zwei, drei Tage ohne Wasser ausgehalten — dann freilich wäre das Delirium in ganz anderer Weise mit uns umgesprungen.

Wie Feuer fühlte ich es plötzlich durch meine Adern rinnen — aber das war ein ganz anderes Feuer als vorhin, ein angenehm kühles Feuer möchte ich sagen — es war die zurückkehrende Lebenskraft, ganz leicht konnte ich mich erheben.

Zugleich aber fühlte ich auch, wie mir der Wein plötzlich zu Kopfe stieg. Man gießt in einen Magen, der dreißig Stunden lang leer ist, nicht ungestraft zwei Flaschen Wein hinein. Ich war plötzlich ganz bezecht, und der Lord fing auch gleich zu singen an.

»Was ist dort unten?«, fragte ich Goliath.

»Kommt selbst und seht, ich kann es nicht beschreiben.«

»Gibt es noch mehr Wein unten?«, ließ sich der Lord vernehmen.

»Ich fand zufällig gleich die Proviantkammer — alles voll von Weinflaschen — es war wohl die Weinniederlage.«

»Dann vorwärts hinab! So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage, in der allerschönsten Saufkompanie...«

Der Lord, der dieses deutsche Zechlied mit fremdem Akzent sang, wäre beinahe kopfüber in das Loch hineingefallen, wenn Goliath ihn nicht aufgefangen hätte.

Mir ging es nicht viel anders, bei mir drehte sich alles.

»Hast du au—auch Memenschen gesehen?«, lallte ich mit schwerer Zunge, als ich mit möglichster Vorsicht die Leiter hinunterkrabbelte.

Ehe ich noch eine Antwort erhielt, gab es einen Plumps — Seine Herrlichkeit Lord Archibald Seymour war doch noch glücklich die Leiter hinuntergefallen.

»Er kann nicht tief gestürzt sein«, tröstete Goliath, als mich ein jäher Schreck durchzuckte, »er muss ja gleich unten gewesen sein. Da liegt er schon.«

Es war ein Glück, dass es kein tiefer gehender Schacht war! Er endigte über festem Boden, und richtig, neben der Leiter lag schon der Lord, wie sich noch in dem von oben einfallenden Lichte erkennen ließ, auf dem Rücken, und viel geschadet konnte es ihm nicht haben, er schnarchte schon friedlich wie ein Bär.

Ich wollte Umschau halten. Doch ich kam nicht dazu. Schnell legte ich mich neben den Lord, oder fiel um, und half ihm mit schnarchen.

Wie lange ich geschlafen habe, weiß ich nicht. Meine Schläfen wurden mit kühlem Wasser gewaschen — Wasser war es wenigstens, was ich dann aus einem Kruge zu trinken bekam.

Doch mehr Fürsorge brauchte ich nicht. Es war nur ein Mordsrausch gewesen, den ich mir durch die zwei Flaschen Wein auf nüchternen Magen geholt hatte, sonst kenne ich so etwas wie einen Kater nicht, und ebenso schnell war auch der Lord wieder auf den Beinen.

Noch immer fiel Tageslicht durch den Schacht herein, und in weiter Entfernung sah ich helle Punkte, die nur Fenster sein konnten. Ihr Licht genügte allerdings nicht, um den weiten Raum zu erhellen, in dem ich mich offenbar befand. Die Decke war drei Meter über uns.

Goliath hatte eine große, brennende Schiffslaterne in der Hand.

»Ich habe schon einige Umschau gehalten. Es ist hier alles aufgestapelt, was der Mensch nur braucht — gerade wie an Bord eines Schiffes.«

»Sind Menschen da?«

»Schwerlich. Dieser als Wohnung und Vorratskammer eingerichtete Felsen ist verlassen worden. Es ist nur sehr wenig, was ich zu sehen bekommen habe. Nur auf der Suche nach Wasser.«

»Und du hast solches gefunden?«

»Ja.«

»Wo?«

»Es ist ein Brunnen vorhanden. Ich vermutete einen solchen, denn sonst hätten doch hier keine Menschen existieren können, suchte ihn in der Tiefe und fand ihn. Dort hinten ist eine hinabführende Treppe.«

So traten wir die nähere Forschungsreise im Innern des hohlen Felsenberges zusammen an. Unsere Empfindungen dabei lassen sich denken. Ich war wohl am meisten erregt.

Die Decke über uns war etwa zwei Meter dick, und darunter befand sich eine einzige Halle, in der Ausdehnung des ganzen Felsenplateaus, also anderthalb Kilometer lang und ebenso breit. Nur hin und wieder war als Stütze der Decke eine Säule stehen gelassen worden, keine künstlich eingeschobene, und schon daraus konnte man ersehen, dass dies ein Werk von Menschenhand sein musste. Wie hätte es übrigens auch anders sein sollen!

Wer hatte dieses kolossale Werk vollendet? Vergebliche Frage. Übrigens brauchten gerade wir, die wir schon weit in der Welt herumgekommen waren, uns gar nicht so sehr über so etwas zu wundern.

Nach Indien muss man gehen, z.B. nach der Insel Elephantine[1]. Was da menschlicher Fleiß aus den Felsen herausgearbeitet hat!! Diese mächtigen Hallen, diese Säulen, diese Gestalten, diese Skulpturen — doch so etwas muss man sehen, um es glauben zu können!

[1] Gemeint ist offenbar die Insel Elephanta vor der Küste von Mumbai (früher Bombay) in Indien; Elephantine ist eine Nilinsel in Ägypten.

Wenn ich damals über Karlemanns Pläne gestaunt hatte, so hatte dies nur dem Unternehmungsgeiste dieses Knaben gegolten, der den ganzen Felsen aushöhlen wollte, für seine eigenen Zwecke.

Das war wieder etwas ganz anderes. Der bohrte sich doch nur Gänge und einzelne Räume. In jenen indischen Heiligtümern haben aber ungezählte Generationen gemeißelt, man hat vielleicht Jahrtausende dazu gebraucht, um solche Räume herzustellen, ganz abgesehen von den zahllosen Figuren und Skulpturen.

Diese fehlten allerdings hier, aber auch diese einfache Aushöhlung einer Fläche von mehr als zwei Quadratkilometern bei einer Höhe von drei Metern konnte unmöglich das Werk einer einzigen Menschengeneration sein, mochten daran auch noch so viele Hände gearbeitet haben.

Und das war ja hier nur die erste Etage! Wir sollten noch etwas ganz anderes zu sehen bekommen.

Wozu dieser unermessliche Saal gedient, war nicht mehr zu erkennen. Er war ganz nackt — so wie ich immer das Zwischendeck meines Schiffes zum Aufenthalt der Mannschaft bei schlechtem Wetter, dass sie freien Spielraum hatten, frei ließ.

Wir waren, den Schein der Laterne immer vorsichtig vor den Füßen, an der Wand angelangt. Die Fenster, durch die wir freien Ausblick nach dem Meere hatten, waren einfache, runde oder eckige Löcher in der noch meterstarken Felswand, nur dreißig Zentimeter im Durchmesser.

Dass man diese von draußen nicht bemerken konnte, kam einmal von der großen Höhe, und dann war der ganze Felsen außen überhaupt schwarz gesprenkelt, und dass diese Öffnungen nicht alle in gleicher Höhe sich befanden, auch nicht alle kreisrund oder viereckig waren, eben ganz verschieden, das verriet doch offenbar die Absicht, sie zu verbergen, nicht auffallend zu machen.

Goliath führte uns an die Treppe, welche er schon vorhin benutzt hatte. Wie er sie gefunden, war mir freilich ein Rätsel.

Es war eine mächtige Treppe, mindestens zehn Meter breit. Daneben befand sich noch ein kolossaler Schacht mit einer Winde.

Wir kamen in die zweite Etage, von oben an gerechnet. Wieder zahllose Fenster, welche die äußeren Seiten eines immensen Saales erleuchteten, dann aber auch an den Wänden Nischen, in denen alles aufgestapelt war, was der Mensch nur zum Leben braucht — zu einem bequemen Leben.

Als Seemann muss ich nur immer an eine Schiffsausrüstung erinnern. Wenn das Schiff einen Monat unterwegs ist, fehlen freilich schon die Eier, frisches Fleisch gibt es schon vorher nicht, auch kein frisches Gemüse — aber was die Kunst ersetzen kann, das ist doch alles vorhanden, wenigstens für den Bedarf des Kapitäns.

Gleich unten neben der Treppe war die Flaschenniederlage, Wein, Spirituosen und... Bier!

Gewiss, das waren nicht nur Bierflaschen, sondern sie enthielten auch noch Bier. Es klebte ja auch die Etikette daran. Exportbier einer Triester Brauerei!

»Aber es ist schon verdorben, ich habe es vorhin probiert«, sagte Goliath.

Immerhin — allzu lange konnten jene Leute, welche sich den Kopf mit Ringen und Zahlen tätowieren ließen, diese Felsenwohnung noch nicht aufgegeben haben.

Warum hatten sie dies überhaupt getan? Vergebliche Frage! Neben diesen Flaschenniederlagen kamen Nischen mit Fässern, Salzfleisch, Speck und Schiffszwieback enthaltend, wie die Aufschrift gleich verriet.

»Dort auf der anderen Seite ist der Storeraum«, sagte Goliath, »da fand ich Laternen und volle Petroleumfässer. Weiter bin ich nicht gekommen. Und dann noch bis auf den Brunnen. Bis dahin ist's aber noch tief.

»Und alles so ausgehöhlt?«

»Alles, alles. Es muss noch tief ins Meer hinabgehen, tiefer als der Meeresboden — sonst könnte der Brunnen doch kein frisches Wasser geben.«

Ach, was entdeckten wir alles, als wir noch in dieser Etage von Kammer zu Kammer gingen, aber jede schon ein riesiger Saal für sich.

Ich will gar nichts weiter erwähnen, als dass in dem einen Raume mindestens tausend Ballen der feinsten indischen Seide aufgestapelt waren! Und das war nur das eine. Dann Tabak, Kaffee und Tee, dann wieder ganze Räume voll fertiger Stiefel, darunter die zierlichsten Damenstiefelettchen — alles, alles war vorhanden, womit nur Schiffe befrachtet werden, und auch alles so massenhaft vorhanden, um wirklich ganze Schiffe zu füllen.

Ich kann mein Staunen gar nicht beschreiben. Auch Lord Seymour geriet ganz außer sich. Bis er sich wieder beherrschte.

»Wir haben es hier mit dem Versteck einer Seeräuberbande zu tun«, meinte er dann, als er wieder sprechen konnte.

Ja, diese Vermutung lag sehr nahe. Doch ich blieb dem Lord meine Beistimmung schuldig.

Dann konnte man wieder auf die Vermutung kommen, dass wir hier solch eine Diebeshöhle entdeckt hätten, welche von Seeräubern vor mindestens drei Jahrhunderten angelegt und gefüllt worden war.

Denn wir kamen in Säle, die nichts weiter enthielten als alte Ritterrüstungen, Schwerter, Streitkolben, Bogen, Armbrüste und dergleichen.

Gleich daneben aber waren wieder die allermodernsten Schusswaffen. Und das Stiefellager zerstörte nun vollends den Glauben an ein früheres Jahrhundert, ganz abgesehen von dem Flaschenbier und dergleichen.

Himmel, was für ein Wert steckte hier drin?! Das war vielleicht noch etwas ganz anderes, als wenn man nur eine Goldmine gefunden hat.

»Herr Kapitän, ich gratuliere, jetzt brauchen Sie sich nichts mehr schenken zu lassen«, sagte der Lord.

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, das gehört doch alles Ihnen.«

»Mir?!«

»Na ja, ich habe Ihnen doch diesen Felsenberg geschenkt, natürlich mit allem, was drin ist — und da beißt die Maus kein Fädchen ab.«

»Ja, aber wem mag dies alles nur gehören?«

»Wer es zusammengetragen hat, wollen Sie wohl sagen. Diebe, Seeräuber! Und alles, was der Seeräuber besitzt, was er erbeutet hat, ist nach internationalem Seegesetz Eigentum desjenigen, der es dem Piraten abnimmt. — Na, was gucken Sie mich denn so an?«

Wirklich, ich wusste, dass ich den Lord plötzlich ganz starr ansah.

Urplötzlich war mir ein Gedanke durch den Kopf gezuckt. Mein Gott, warum hatte ich diesen Einfall nur noch nicht früher gehabt?!

Doch jetzt legte ich ihn einstweilen wieder beiseite. Nur eine äußerst vergnügte Empfindung blieb bei mir davon zurück.

»Wem dies alles gehört, darüber wollen wir später sprechen«, meinte ich.

»Ihnen, unbedingt Ihnen! Oder Sie denken wohl, jetzt will ich mit Ihnen teilen? Herr, da kennen Sie den Lord Archibald Seymour schlecht! Und da kann er auch einmal schlecht werden!«

»Wenn nun die Leute, welche hier hausen oder gehaust haben, zurückkehren?«, musste ich lächeln, als wir die zweite Treppe hinabstiegen.

»Dann werden wir sie in Empfang nehmen, dann kommt es zum Kampf und...«

Das Wort erstarb ihn, im Munde.

Die große Laterne verbreitete einen sehr weiten Lichtkreis, und es war gleich ein halbes Dutzend mächtiger Kanonen, welche wir hier unten erblickten.


Illustration

»Alle Wetter«, flüsterte der Lord, »die allermodernsten Armstronggeschütze!«

Ja, auch ich war fassungslos, und wir wurden es immer mehr, als wir die kilometerlangen Wände abschritten und nicht weniger als einhundertundsechsundzwanzig solcher Vierundzwanzigpfünder und noch größere zählten, welche ringsherum regelrecht auf Laufschienen montiert waren, die Mündungen gegen die Felsenlöcher gerichtet, aber etwas zurückgezogen, sodass sie nicht hervorlugten, was durch Vorschieben jedoch geschehen konnte, die ganze Umgebung in einem Kreise von zwei Meilen beherrschend, und alles in tadelloser Ordnung, alles noch frisch geölt und geschmiert.

»Alle Wetter, die können ja von hier aus mein ganzes Fanafute zusammenschießen, als wäre es von Pfefferkuchen«, flüsterte der Lord, und es klang fast ächzend.

Und es blieb nicht nur bei diesen Geschützen. Dies hier war erst das richtige Waffenarsenal. Jede einzelne der die Decke stützenden Säulen enthielt eine Gewehrgalerie, die modernsten englischen Infanteriegewehre, mit dazugehörigem Bajonett, an anderen Säulen wieder Degen, Entersäbel und andere blanke Waffen, an anderen wieder Revolver und Pistolen — und die Zahl gar nicht abzuschätzen, jedenfalls genug, um ein ganzes Regiment zu bewaffnen.

Munition war hier nicht zu sehen, aber zahlreiche Schächte mit Winden bewiesen, dass diese für die Geschütze aus der Tiefe geholt wurde.

»Nun sagen Sie mal, Mylord — wussten Sie denn wirklich nicht, dass hier Menschen hausen, dass es wenigstens mit diesem Felsenberge eine besondere Bewandtnis hat?«

»Ich? Wie kommen Sie auf diese Frage?«

»Wie lange sind Sie schon auf Fanafute?«

»Seit zwei Jahren, kam aber auch schon früher öfters hierher.«

»Und Sie haben niemals etwas davon gemerkt, dass hier Menschen hausen, welche dies alles doch auf Schiffen hierher gebracht haben müssen, auch Schiffe zu ihrer Verproviantierung gebrauchen?

»Niemals! Und dem Doktor Bigfeet habe ich auf der Bergspitze von Fanafute das Observatorium schon vor 18 Jahren eingerichtet, seit 18 Jahren haust der dort oben, ist gar nicht mehr heruntergekommen, hat die ganze Umgegend Tag und Nacht im Auge, und nie ist ihm etwas Besonderes aufgefallen.«

Wir konnten nur den Kopf schütteln.

Ich zwar wusste etwas mehr, aber... schließlich war mir aber doch alles ebensolch ein Rätsel.

Die dritte Etage, in die wir kamen, hatte als Wohnung gedient. Die einzelnen Steinkammern waren vollständig möbliert, und zwar hochelegant. Es war gleich zu erkennen, dass sie für Offiziere bestimmt gewesen waren.

Dann gab es auch noch größere Säle zur gemeinsamen Benutzung, Rauchzimmer und alles, was sich nur denken lässt, eine Bibliothek mit vielen Tausenden von Bänden in allen Sprachen, ein Musiksaal mit einem Bechstein'schen Konzertflügel, wir hatten aber noch viele andere Pianinos gesehen.

Die Etage darunter war für die Mannschaft bestimmt, was sich besonders an den zahllosen Betten erkennen ließ. Wirklich zahllos — wir konnten ja nur immer das übersehen, was in den Lichtkreis der Laterne kam, mit Ausnahme in der Nähe der Wände, wo das durch die Fenster eindringende Tageslicht genügte.

Aber auch hier war für allen erdenklichen Komfort gesorgt, auch hier für die Mannschaft ein Klavier und eine gewaltige Bibliothek, Billards und alles mögliche, sogar zwei Kegelbahnen.

Genau so war die fünfte Etage beschaffen, während die sechste als Küche diente, charakterisiert durch die großen Kochherde. Die eisernen Kästen waren zum Teil noch mit Steinkohlen gefüllt.

»Auch von einem Rauch ist niemals etwas gemerkt worden?«

»Niemals!«

Merkwürdig! Allerdings lagen die Kochherde alle nur an der Westseite, und hier hatte dieser Felsenberg, welcher an der äußersten Grenze der Ellicegruppe liegt, nur noch einige kleine, wohl schwerlich bewohnbare Koralleneilande gegenüber.

Außerdem schienen es ganz besondere Kochherde zu sein, die Feuerungsanlage war eine ganz merkwürdige, ebenso die Rohrleitung, ehe diese an einem Fenster mündete, und so konnte man wohl vermuten, dass hier die Kohlen rauchlos verbrannt wurden.

»Woher bekommen sie die Kohlen? Bist du auch dort unten gewesen, Goliath? Werden die Kohlen auch hier gegraben?«

»Ich bin überhaupt nicht tiefer als bis hierher gekommen, Massa.«

»Ich denke, du warst bis zum Brunnen unten?«

»Das war nicht so wörtlich gemeint, Massa, ich hatte doch vorhin keine Zeit, eine längere Erklärung zu geben. Hier fand ich frisches Wasser, aber in einem Bassin, welches aus einem Brunnen gespeist wird.«

Er führte uns nach der Mitte des mächtigen Saales.

Hier war ein riesiges Bassin aus Eisenblech, von dem aus Rohre nach allen Richtungen verliefen, eine richtige Wasserleitung, welche die ganze Küche versorgte, und daneben war ein Schacht mit einer Winde, von der ein Drahtseil hinablief.

Dass dies ein Brunnen sein musste, war ganz offenbar. Als wir an der Winde drehten, kam denn auch alsbald ein Schöpfeimer zum Vorschein, von ganz besonderer Konstruktion, gefüllt mit frischem Wasser, der sich beim Vorbeigehen an dem Bassin selbsttätig in dieses entleerte. Dann war auch noch eine Saugvorrichtung vorhanden, eine Zentrifugalpumpe, welche ebenfalls Wasser ohne Unterbrechung heraufbeförderte. Der Ziehbrunnen mochte die erste Anlage gewesen sein.

Nun aber befanden wir uns noch immer achthundert Meter über dem Meeresspiegel, und mindestens musste süßes Wasser doch noch unter diesem erst vorkommen können — obschon es Ausnahmen gibt — auf keinen Fall aber konnte das kaum dreißig Meter lange Drahtseil schon Wasser erreichen.

Auch ohne besondere Ingenieurkenntnisse war uns klar, dass dann das Wasser nur vermittelst Zwischenstationen heraufbefördert werden konnte, es gab also in den unteren Etagen noch mehr solcher Hebewerke, und dies setzte wieder voraus, dass es sich nicht nur um einen bis auf den Meeresgrund gehenden Schacht handeln konnte, sondern dass auch größere Räume geschaffen sein mussten — ja, wahrscheinlich setzten sich diese Etagen in derselben Weise bis auf den Meeresboden und vielleicht noch weiter fort, zeigte sich doch auch hier wieder eine hinabführende Treppe, ebenso breit.

Doch ehe wir die Untersuchung fortsetzten, mussten wir an unser leibliches Wohl denken. Jetzt, nachdem der Durst gestillt war, machte sich ein grimmiger Hunger bemerkbar — am allergrimmigsten jedenfalls bei mir. Hatten wir seit dreißig Stunden doch auch nichts gegessen!

Wir begnügten uns nicht mit einer kalten Mahlzeit, oder doch nur zur Stillung des ersten Wolfshungers, dann machte Goliath unter einem Herde Feuer und setzte an. Allerdings konnten nur die in allen Arten vorhandenen Konserven benutzt werden, alle noch wohlerhalten, welche nur gewärmt zu werden brauchten, während Salzfleisch und Erbsen oder dergleichen hätte stundenlang kochen müssen.

Nach einer halben Stunde traten wir gesättigt den Weitermarsch in die Tiefe an.

Die nächste Etage zeigte sich abermals als Proviantraum, dann kam eine Etage, in welcher Garderobestücke aller Art massenhaft aufgespeichert waren, hierauf kamen die Munitionskammern, man hätte wohl ein ganzes Jahr lang die sämtlichen Geschütze bedienen können.

Und immer wieder führte solch eine breite Treppe hinab, und immer wieder solche mächtige Säle! Hier aber war nichts mehr drin, nur nackte Säulen und Wände, in denen auch die Fenster fehlten.

Wir gebrauchten nicht weniger als eine Stunde, und in dieser waren wir noch durch zweiundsiebzig Etagen gekommen, durch zweiundsiebzig, bis wir endlich keine Treppe mehr fanden.

Wie tief wir uns befanden, wussten wir nicht, keiner hatte ein Barometer bei sich, und die Stärke der einzelnen Decken hatten wir nicht gemessen.

Diese wurden nach unten zu nämlich immer dicker, ebenso wie die Säulen, aus leicht begreiflichen Gründen, die Last wuchs doch immer, welche abgesteift werden musste.

Oben die erste Decke, welche also das Plateau bildete, war zwei Meter stark gewesen, und hier unten bei der letzten betrug ihre Stärke mindestens zehn Meter!

Nun rechne man nach, achthundertfünfzig Meter betrug die ganze Höhe des Felsens — da waren zweiundsiebzig solcher Etagen sehr leicht möglich.

Wer nur hatte diesen ganzen Berg so ausgehöhlt, wie lange musste daran gearbeitet worden sein?

Immer wieder vergebliche Fragen. So viel aber war sicher, dass wir hier ein Werk von Jahrhunderten vor uns hatten.

Auch die äußeren Wände mussten natürlich immer stärker gehalten werden, wie bei jedem Hause, und zwar war dies hier ganz bedeutend der Fall.

Das Ganze verjüngte sich überhaupt trichtermäßig, der unterste Raum hier hatte kaum noch hundert Meter im Durchmesser, sodass hier die massiven Wände, wenn der ganze Felsen anderthalb Kilometer lang und breit war, mindestens siebenhundert Meter dick waren.

Richtiger aber wird das Bild, wenn man sagt, dass sie nur so tief in den Felsenberg hineingebohrt hatten.

Hier unten nun führte wohl keine Treppe weiter hinab, dafür aber gab es immer noch tiefer gehende Schächte, aus denen Kohlen herausbefördert wurden.

Alles war mit Kohlenstaub bedeckt, noch lagen Spitzhacken und Schaufeln umher, sogar Sicherheitslampen. Es sah fast aus, als wäre dieses Kohlenbergwerk in eiliger Flucht verlassen worden.

In der Mitte dieses Raumes befand sich auch der Brunnenschacht, bis nach oben in die erste Etage durchgehend, was aber auch von denjenigen Schächten galt, durch welche die Kohlen in Säcken empor gewunden wurden. Wenigstens ein solcher Schacht war vorhanden.

Wie sich der Brunnen mit der Kohle zusammenreimte, wussten wir nicht. Übrigens kommt ja in jedem tiefen Kohlenbergwerk Wasser vor.

Wir hatten keine Lust mehr, auf den vorhandenen Leitern in dieses Bergwerk selbst zu dringen. Uns hatte die stundenlange Treppentour tüchtig ermüdet und... es mochte auch einiges Grausen dabei sein.

Vielleicht befanden wir uns schon unter dem Meeresgrund, ganz gewiss aber unter der Meeresoberfläche.

»Woher aber kommt nur die frische Luft?«, meinte der Lord. Auch ich hatte mir schon diese Frage gestellt. Die Luft war völlig atembar, ungetrübt brannte die Laterne, obgleich hier doch alle ins Freie führenden Öffnungen fehlten, und die von oben kommende Luft genügte nicht etwa, um die hier unten von einigen Menschen verbrauchte zu ersetzen.

Da kommt ein Naturgesetz in Betracht. Es muss doch auch in jedes tiefere Bergwerk künstlich Luft eingepumpt werden. Die Kohlensäure, welche ausgeatmet wird, ist schwerer als die atmosphärische Luft.

Wie ich noch so nachgrübelte, auf welche Weise diese Frage hier wohl gelöst worden sei, sah ich, wie Goliath mit einer schnellen Bewegung die Laterne hochhielt und mit scharfen Blicken um sich spähte.

»Massa, merkt Ihr nichts?«

»Nein, was denn?«

»Die Luft ist in Bewegung, ein leiser Windhauch umspült uns.«

Nein, ich merkte nichts. Ich riss ein Schwefelholz an, hielt es hoch, aber es brannte mit ganz, ruhiger Flamme.

»Da — da — von dieser Seite kommt es, jetzt merkte ich es ganz deutlich — von dieser Seite kommt ein Luftzug.«

Goliath hatte die Hand ausgestreckt, und, bei Gott, jetzt fühlte auch ich es! Der Hauch war so schwach, dass er die Flamme noch gar nicht in Bewegung setzte, aber man empfand es hauptsächlich durch die Kühle, welche von jener Seite kam, noch mehr, wenn man das bekannte Experiment mit dem benetzten Finger machte.

Es war die westliche Seite — ich hatte einen Taschenkompass bei mir — auf welche wir zugingen.

Und immer stärker ward der uns entgegenkommende Luftzug, und als wir die Wand erreicht hatten, sahen wir die Lösung des Rätsels, wodurch uns aber nur ein anderes aufgegeben wurde.

In der Felsenwand befanden sich in Kopfeshöhe einige kleine Löcher, und durch diese drangen Luftströme ein, unter einem jetzt auch hörbaren Sausen.

»Nanu, wie wird denn das bewerkstelligt?!«, rief der Lord. »Ist denn hier ein maschineller Betrieb, der Luft einpumpt?«

Mir aber kam sofort eine Erkenntnis, ich zog zunächst meine Taschenuhr.

»Es ist zehn Minuten nach vier — und fünf Minuten vor vier setzt hier die Flut ein — auch hinter dieser Steinwand ist noch ein Hohlraum, der mit dem offenen Meere in Verbindung steht, die steigende Flut presst die Luft zusammen und drückt sie hier herein.«

Ich will es eine Offenbarung nennen, dass ich gleich auf das gekommen war, was sich dann als richtig erwies, obgleich wir schließlich doch darauf gekommen wären, nur wohl erst nach längerer Überlegung.

Jetzt stimmten der Lord und Goliath sofort meiner Ansicht bei. »Gut«, meinte dann der Lord, »hier sind wir also dem Meere am nächsten. Aber ob es hier auch ein Herauskommen gibt? Das ist jetzt wohl für uns das Wichtigste.«

In der Tat, wir waren immer noch abgeschnitten von aller Welt. Seile gab es hier wohl genug, wir hätten uns eine Strickleiter von achthundertundfünfzig Meter Länge anfertigen können, aushalten konnten wir es ja, aber, wie gesagt, aus Hanf hätte solch eine Strickleiter bei Weitem ihr eigenes Gewicht nicht getragen.

Wir konnten mit der gegen Luftzug geschützten Laterne in die Löcher hineinleuchten.

Aber es war nichts zu sehen, jedenfalls nicht das Ende. Wir fanden eine lange Stange und konstatierten durch vorsichtiges Fühlen, dass die Stärke dieser Wand über drei Meter betrug.

Diese zu durchbrechen, daran war natürlich kein Gedanke, und dann kam es doch sehr darauf an, wie es dahinter aussah.

Da mit einem Male vernahm ich ein knarrendes Geräusch. »Massa, Massa!!«, schrie in diesem Augenblick Goliath, der sich von uns entfernt hatte, die Laterne bei uns lassend.

Wir eilten hin zu ihm, die Laterne mitnehmend, und da sahen wir es.

Eine mächtige Öffnung war entstanden, dadurch, dass sich ein Stück der Felswand herausgedreht hatte, mindestens fünf Meter hoch und ebenso breit, um richtige Angeln, die wir jetzt erblickten, diese Felswand war auch gar nicht so dick, höchstens einen Viertelmeter, also mehr eine als Tür eingesetzte Steinplatte.

»Hier war ein Griff, ich zog daran, plötzlich kam mir die ganze Wand entgegen...«

Wir hörten nicht, was der Neger erklärte, wir sahen nur das Wasser zu unseren Füßen, und dann... das Heck eines ansehnlichen Fahrzeuges, welches schon mehr den Namen ›Schiff‹ verdiente!

Mehr erblickten wir deshalb nicht, weil der Lichtkreis der Laterne doch eben ein beschränkter war, und außerdem war hier die Luft mit Feuchtigkeit geschwängert, etwas neblig, wodurch der Lichtkreis noch kleiner wurde.

Ich hob die Laterne, so hoch ich konnte.

»Bei Gott, das ist ein vollständiges Segelschiff!«

Wir kletterten an Deck. Es war eine Brigg. Ich erstieg eine Wante, weiter bis zum Masttopp empor, schätzte dessen Höhle auf mindestens fünfundzwanzig Meter, und ich konnte nach oben noch keine Decke erreichen.

Die Brigg war vollständig ausgeräumt, wie wir uns alsbald überzeugten, sonst aber noch in tadellosem Zustande.

Und bei dieser Brigg sollte es nicht bleiben. Als ich über Bord leuchtete, bemerkte ich zunächst einige kleine Boote, und dann weiter auch schon die Umrisse eines anderen Schiffes, und zwar fiel das Licht der Laterne gerade auf... die Verdeckung eines Schaufelrades!

Zunächst aber wurde unsere Aufmerksamkeit durch etwas anderes gefesselt, was nämlich unsere Befreiung versprach, und das war doch mit eine Hauptsache.

In der Ferne war ein weißer Fleck, von dem ein breiter Strahl durch die schwarze Finsternis ging.

Das war einfach eine Öffnung, ein Fenster, welches das noch herrschende Tageslicht hereinließ.

Ihm musste unsere erste Untersuchung gelten, wozu wir ein kleines Ruderboot benutzten.

Wir hätten es vielleicht bequemer haben können, um das ganze riesenhafte Bassin schien eine breite Galerie zu laufen, aber man muss nur immer bedenken, dass wir von der schwärzesten Finsternis eingehüllt waren und die Laterne nur einen Lichtkreis von höchstens sechs Metern Durchmesser verbreitete, und hier verlor er sich noch eher in einem Nebel.

Es war eine schwierige Wasserfahrt. Das ganze Bassin war mit Schiffen und Fahrzeugen und Booten angefüllt, durch welche wir uns hindurchwinden mussten.

Ich will gleich jetzt bemerken, dass dieses Bassin, wie sich später herausstellte, siebenhundert Meter lang und breit war. Es füllte eben den ganzen Felsenberg aus, von dem letzten Kohlenraume an gerechnet bis zum Meere hin, von diesem nur durch eine nicht allzu starke Felsenwand getrennt.

Nun lässt sich aber auch denken, wie weit entfernt der helle Punkt war, es gehörte schon einige seemännische Erfahrung dazu, um ihn als eine Lichtöffnung zu erkennen — der Seemann ist eben ganz besonders auf Lichter geeicht — und wir tappten hier in der Stockfinsternis herum.

Schließlich aber hatten wir die Öffnung doch direkt über uns, konnten auch eine die Wand entlang laufende Galerie ersteigen.

Schon immer hatte mich unterwegs eine Frage beschäftigt, auch wieder ein Rätsel.

Diese einzige nach außen führende Öffnung war doch offenbar dazu vorhanden, dass frische Luft einströmen konnte, wenn das Meer, welches irgendwo Zugang haben musste, sank.

Wenn nun bei Flut das Wasser wieder stieg — und zwar betrug hier der Unterschied mehr als zwei Meter — würde da die eine Million Kubikmeter Luft, welche dadurch zusammengepresst wurde, nicht ganz unnütz durch diese obere Öffnung wieder entweichen? Wenigstens zum Teil?

Allerdings würde die Luft ja auch durch jene Löcher in den inneren Raum dringen, aber immer doch nur zum Teil, vielleicht der größere würde durch diese weite Öffnung ganz nutzlos entweichen.

Da hätte man doch nur ein ganz einfaches Ventil anzubringen brauchen, nur eine Klappe.

Nun, so schlau wie ich waren die Erbauer dieser Seefestung auch gewesen! Solch eine Ventilklappe war hier denn auch wirklich vorhanden, nur dass sie mit einem Glasfenster versehen war, und das hatte uns getäuscht.

Solche Ventilklappen fand ich dann später, als ich alles näher untersuchte, auch im Innern jener anderen Löcher angebracht, wir hatten sie mit der Stange nur nicht gefühlt.

Im Übrigen ist es wohl einfach genug, wie der ganze Mechanismus funktionierte.

Wenn hier drinnen der Wasserspiegel sank, hob sich hier dieses Glasventil und ließ die frische Luft ungehindert eindringen, während sich die vielen Ventile in den Löchern schlossen. Hob sich der Wasserspiegel, so presste sich diese Klappe hier durch den Luftdruck fest gegen einen Kautschukrahmen, die Klappen in den Ventilationsröhren dagegen wurden durch denselben Luftdruck gehoben.

Hätte es nicht gerade durchgeblasen, sodass die Klappen gehoben waren, so wären wir mit der Stange auf einen festen Widerstand gestoßen.

Doch diese hier nach außen führende Klappe versprach uns noch keine Freiheit. Sie war nicht groß genug, um einen erwachsenen Mann durchzulassen.

Aber nun musste doch auch das Meerwasser einen Zutritt haben. Freilich würden wir den schwerlich benutzen können, der würde sich gewiss auch bei tiefster Ebbe noch unter dem Niveau des Meeresspiegels befinden.

Wie aber gelangten diese Schiffe hier herein und wieder heraus? Diesen Weg mussten wir finden, wollten wir uns durch eigene Kraft befreien.

Ich fasse mich kurz. Nach einer Stunde hatten wir noch immer nichts von einem geheimen Mechanismus gefunden.

Dann mussten wir den Rückweg antreten; denn draußen ging die Sonne zur Rüste, sie würde nicht mehr eindringen, und das Petroleum in unserer Laterne hielt höchstens noch eine Stunde vor, und in keinem der Fahrzeuge, die wir untersuchten, war Petroleum oder sonst etwas Brennbares zu finden.

Es war ein Rückzug mit schwerem Herzen. Wir konnten uns darauf gefasst machen, noch lange, lange Zeit hier als Gefangene verweilen zu müssen. Widerstand sollte uns diese Felsenwand allerdings nicht lange leisten können. Vorhin hatten wir nur an ein Meißeln gedacht — wir hätten ganz einfach Pulver zum Sprengen verwandt.

Aber es wäre doch schade gewesen, hier zerstörend einzugreifen.

Hinwiederum wäre es ebenso schade, wenn die anderen zu unserer Rettung doch noch auf das Plateau gelangten, mittels des Luftballons oder sonst wie.

Denn dass wir dies, was wir hier gefunden, als unser Geheimnis streng hüten würden, das war doch selbstverständlich.

So stiegen wir wieder hinauf, abermals eine Stunde gebrauchend, um uns zunächst mit genügend Petroleum, auch mit Proviant zu versehen. Dann musste dort unten weiter nach einem geheimen Tore gesucht werden.

Da stieß Goliath einen Freudenschrei aus.

Er hatte — aus welchem Grunde, weiß ich nicht — in einer der Offizierskammern Umschau gehalten und an der Wand eine große Zeichnung hängen sehen. Sie hing ja auch auffällig genug da, man brauchte nur einen Blick hineinzuwerfen.

Es war ein vollständiger Plan des ausgehöhlten Felsenberges, in den verschiedensten Grund, Auf- und Seitenrissen, sehr übersichtlich.

Jetzt erst erkannten wir, was für ein gewaltiges, kompliziertes Werk das war!

Der Durchschnitt eines Ameisenhaufens, eines Termitenhügels! Die Hauptsache aber war für uns, dass darin ganz deutlich auch das Tor angegeben war, welches die Schiffe passierten, einmal geschlossen und dann auch geöffnet eingezeichnet.

Wie man die Vorrichtung funktionieren ließ, das war freilich nicht angegeben; aber es war schon viel wert, dass wir überhaupt wussten, wo wir zu suchen hatten.

Doch, da waren auch blaue Linien eingezeichnet, von dem Tore ausgehend und in einem Zentrum zusammenlaufend, woraus wir schon etwas schließen durften. Näher kann ich sonst die Art dieser Zeichnung nicht angeben.

Es war in der siebenten Abendstunde, draußen herrschte schon Nacht, als wir abermals in den Orkus hinabstiegen, und gegen acht Uhr nahmen wir unsere Untersuchungen auf.

Richtig, wir fanden einen Handgriff, und ein nur schwacher Zug genügte — ein ungeheueres Stück der Felswand ging zurück.

Sie wurde durch die Kraft der wiedereinsetzenden Ebbe von selbst hinausgedrängt, wie die Flut sie wieder zurückdrücken musste.

Frische Luft, das freie Meer und funkelnde Sterne! Ich kann nicht schildern, wie mir zumute war, wie ich geatmet habe!

Es war hell genug, um zu erkennen, dass sich auf dieser westlichen Seite des Vogelberges kein Fahrzeug unserer Leute befand.

Wir suchten uns ein Ruderboot aus, schon trieb uns die Ebbeströmung hinaus.

»Aber wir müssen uns diesen Ausgang auch offen halten, wenn wir nicht immer wieder nur durch den Luftballon dort oben hinaufkommen wollen«, sagte ich, als wir schon die Öffnung in der dicken Felswand passierten.

»Das ist nicht nötig«, entgegnete Goliath, »hier — hier.«

Ich wusste nicht, was er wollte, er tastete an dem Rande der Steinwand herum.

»Was ist da?«

»Ein regelrechtes Schloss, aus Eisen, ganz winzig für diese ungeheuere Tür. Man braucht ja nur hier zu drücken, dann schiebt sich der Riegel von allein zurück.«

Das Nähere über diesen Mechanismus kann ich schriftlich nicht weiter schildern.

Kurz, da die Strömung der Ebbe noch ganz mäßig war, konnten wir das Steintor ohne Anstrengung ihr entgegendrehen, dass sie sich also schloss, ein leises Schnappen — und dann überzeugte ich mich, dass es nur eines leichten Druckes auf eine winzige Höhlung bedurfte, um die Tür sich wieder selbsttätig öffnen zu lassen.

Ich war beruhigt, der Zutritt zu diesem Wunder menschlicher Baukunst war uns jederzeit gesichert.

Die See war glatt wie ein Spiegel. Eine Brandung gab es hier überhaupt nicht, dazu waren zu viele andere Inseln vorgelagert — aber, wie gesagt, nur ganz kleine, für den Menschen wertlose Koralleneilande, und dennoch durch ihre Riffe gerade für diesen Zweck, die Brandung abzuhalten, wie geschaffen.

Wir steuerten um den Berg herum. Da leuchteten uns zahlreiche Feuer entgegen — die Lichter der Fahrzeuge, die uns zu Hilfe kommen wollten.

Erst hatte ich noch einmal mit dem Lord ein Gespräch.

»Ich gratuliere, Herr Kapitän«, sagte dieser. »Was fangen Sie nun mit diesem Ihrem Besitze an?«

»Es ist nicht mein Eigentum.«

»Nun hören Sie aber auf!!«, fuhr er mich grimmig an.

»Und wenn jemand kommt und sich als rechtmäßiger Besitzer legitimiert?«

»Gibt es ja gar nicht! Der Vogelberg ist schon seit Jahrhunderten im Besitze meiner Familie — und jetzt gehört er Ihnen. Und wehe nun Ihnen, wenn Sie noch einmal einen Widerspruch wagen!«

»Ja; aber all das, was drin ist?«

»Da müssen jene erst beweisen, woher sie das alles haben, und ist es Piratenbeute, so gehört es selbstverständlich Ihnen.«

»Und wenn das nicht der Fall ist?«

»Verlassen Sie sich darauf, wir haben es mit einer Seeräuberbande zu tun, deren Beruf sich seit Jahrhunderten von den Vätern auf die Söhne vererbt. Haben Sie übrigens etwas von der Anwesenheit von Frauenzimmern gemerkt?«

»Nein.«

»Keinen Unterrock bemerkt, keine Haarnadel? Hat es nicht nach Parfüm gerochen? Ich rieche mit meiner Nase überhaupt nicht mehr.«

»Gar nichts«, lachte ich. »Ja, nun aber noch eine Hauptsache für mich, wenn ich mich nun einmal als Eigentümer betrachten soll.«

»Sprechen Sie!«

»Ich möchte dann gern dies alles als mein Geheimnis gewahrt wissen.«

»Selbstverständlich! Ich bin stumm wie ein Fisch, und Ihr schwarzer Bootsmann wird wohl auch kein Schwätzer sein.«

»Ja, wie rechtfertigen wir aber nun, dass wir hier wieder zum Vorschein kommen, noch dazu mit einem Boot?«

»Hm, freilich«, brummte der Lord nach einigem Nachdenken, »das Einfachste wäre, wir ziehen den Pfropfen aus dem Boote, lassen es sinken und sagen dann, wir wären oben von dem Felsen heruntergejumpt — aber...« Er schlug mit einer Stechstange nach einem phosphoreszierenden Scheine, der neben unserem Boote auftauchte, »lieber nicht, in einem Haifischmagen dürfte man weniger Bewegung haben als in diesem hohlen Berge.«

»Was sagen wir sonst?«

»Einfach gar nichts! Ein Geheimnis, wird nicht verraten, basta!«

»Mit meinen Leuten werde ich ja da bald fertig, aber wenn nun die anderen Herren in uns dringen?«

»Dann lassen Sie sie dringen. Von mir erfahren sie nichts, und seien Sie nur auch standhaft. Diese Kerls sind ja überhaupt gar nicht so neugierig.«

Wir waren in der Nähe des nächsten Fahrzeuges gekommen, eines Raddampfers, machten uns bemerkbar.

Ich kann dieses Staunen nicht beschreiben, welches hier und auf allen anderen Schiffen ausbrach, als wir plötzlich in einem Boote auftauchten.

Doch wir waren die höchsten Respektspersonen, nur die sechs Sportsmen, die ebenfalls alle hier waren und seit vierzig Stunden den Kopf in den Nacken zurückgelegt hatten, um da oben hinaufzublicken, richteten an uns Fragen.

»Geheimnis, wird nicht verraten!«, sagte Lord Seymour auf alle Fragen.

»Ist der Berg hohl?«, fragte nur noch einmal der Franzose.

»Geheimnis, lieber Freund — es wird absolut nichts verraten!«

Hiermit war die Sache erledigt. Es waren eben ganz besondere Leute, diese Seasportsmen — erhaben über alles, also auch über Neugier und was sonst einen Menschen beunruhigen kann.

— • —

70. Kapitel
Ein neuer Auftrag mit Kanonenschüssen

Originalseiten III.141 — 165

Das war ein köstlicher Schlaf gewesen in dem Eiderdaunenbett! Auch kein Traum hatte mir etwas vorgegaukelt, mich etwa zurückversetzt in jenes Felsenlabyrinth, das ich jetzt mein Eigentum nennen konnte.

Ein Kanonenschuss hatte mich geweckt. Ich dachte nicht weiter über die Bedeutung dieses Schusses nach, hier mochte öfters geschossen werden.

Gemächlich kleidete ich mich an, klingelte dem Diener, bestellte mein Frühstück — das allererste, wie ich zur Vorsicht erwähnen will, welches, wie hier üblich, dem Gaste stets auf sein Zimmer gebracht wurde, oder vielmehr auf sein besonderes Speisezimmer. Denn an Platz mangelte es hier nicht.

Jetzt dachte ich doch gründlich darüber nach, was ich nun mit diesem hohlen Felsen anfangen solle. Ich war etwas aufgeregt — freudig. Dabei warf ich ab und zu einen Blick durch die Fenster, welche auf dieser Seite nach dem Berge zu lagen. Noch näher vor mir befanden sich einige Häuschen, Villen, wahrscheinlich Beamtenwohnungen.

Hin und wieder sah ich einen Menschen herumspazieren.

Da fuhr ich zusammen.

Himmel, war das nicht...

Er war schon um die Ecke.

Hätte ich doch fast geglaubt, dass es Mister Tischkoff gewesen sei, mein Kommodore.

Aber nein, der hier war viel größer gewesen.

Ich war fertig, wollte zunächst einen kleinen Morgenspaziergang machen.

Das Hauptportal führte direkt nach dem Hafen, der gar nicht so weit entfernt lag.

Ich überblickte die mir schon bekannten Schiffe und... dann stand ich da und glaubte meinen Augen nicht trauen zu dürfen. — Die ›Sturmbraut‹.

»Nein, es ist nicht möglich!«

»Gewiss, Herr Kapitän, es ist Ihre ›Sturmbraut‹!«, sagte da hinter mir eine wohlbekannte Stimme, die Betonung auf das ›Ihre‹ legend.

Wie der Blitz fuhr ich herum — ich hatte mich vorhin doch nicht geirrt — Mister Tischkoff, mein Kommodore!

Und in diesem Augenblick beschlich mich eine tiefe Scham, am liebsten hätte ich gleich in die Erde versinken mögen.

Es waren noch andere Leute in der Nähe, und dennoch musste es gleich bei mir heraus.

»Mister Tischkoff, ich habe unrecht gegen Sie gehandelt, habe gehandelt wie ein...«

»Wie ein echter Seezigeuner — nein, sondern so, wie ich es von Ihnen erwartet habe, von jedem Manne, der mit Unrecht ein Bettler genannt wird und sich das natürlich nicht gefallen lässt.«

Freundlich hatte er mich unterbrochen, freundlich ruhten seine Augen auf mir. Ich hätte ihm überhaupt gleich ansehen können, dass er mir nicht zürnte. Sein faltiges Gesicht mit dem spöttischen Lächeln war so gutmütig wie immer gewesen.

»Ich hätte wenigstens erst mit Ihnen sprechen sollen«, suchte ich mich noch einmal selbst zu beschuldigen.

»Ganz im Gegenteil; Sie haben genau so gehandelt, wie ich von Ihnen erwartet habe.«

»Aber ich stehe tief in Ihrer Schuld.«

»Wollen Sie nun endlich darüber schweigen?«

Er hielt mir die Hand hin, ich drückte sie ihm, und damit war diese erste Hälfte der Sache für uns erledigt.

In einer Laube des parkähnlichen Gartens, wo wir nicht belauscht werden konnten, wurde die Unterhaltung fortgesetzt.

Ganz in Gedanken versunken war ich von ihm dorthin geführt worden.

»Was sagte die Lady?«, war dann meine erste Frage.

»Sie bedauerte furchtbar, dass es so gekommen ist — wenn sie ihr Bedauern auch nicht öffentlich zeigte. Sie kehrte dann den Trotz heraus. ›Mag er gehen!‹ Aber in ihrem Herzen ist es anders beschaffen.«

»Ich bleibe fest!«

»Natürlich!«

»Am liebsten möchte ich sie gar nicht mehr sehen — besser so.«

»Weshalb auch sollten Sie sie wieder aufsuchen? Das liegt doch nur an Ihnen.«

Erstaunt hob ich den Kopf.

»Sie ist nicht mitgekommen?«

»Gott bewahre, die ist auf der Osterinsel geblieben!«

Das hätte ich allerdings nicht gedacht. Ich hatte doch erwartet, die ›Sturmbraut‹ hätte sie hierher gebracht.

»Wie ist denn die ›Sturmbraut‹ hierher gekommen?«

»Lady Blodwen hatte an Bord ihrer Jacht überreich Matrosen; die Hälfte genügte, um die ›Sturmbraut‹ zu bedienen. Ich habe sie mir von ihr gewissermaßen geliehen, die Leute brauchen auch nicht wieder zurück, sie sind gleich abgemustert worden, auf eigenen Wunsch. Das Weiberkommando behagte ihnen nicht, wie sie sagen.«

Ja, das konnte ich begreifen. Aber anderes war mir noch ganz unklar.

»Kommen Sie denn zufällig hierher?«

»Nein, ich habe Sie gesucht.«

»Woher wussten Sie, dass ich hier bin?«

»Ich fischte mehrere Flaschenposten auf — den Inhalt kennen Sie, sonst wären Sie nicht hier — und die schwimmenden Flaschen waren so zahlreich, auch durch Luftballons verbreitet, dass ich bestimmt annehmen konnte, auch Ihnen wäre solch eine Flaschenpost in die Hände gekommen. Also wandte ich mich hierher, und ich habe mich ja auch nicht geirrt.«

»Ja, aber wie kommen Sie denn nur mit der ›Sturmbraut‹ hierher?«

»Die ›Sturmbraut‹ gehört Ihnen!«

»Mir?!«

»Wie gesagt, Lady Blodwen bereute bitter, in ihrer ersten Heftigkeit Sie so beleidigt zu haben. Von der ›Sturmbraut‹ wollte sie dann nichts mehr wissen, verschmähte, sie auch nur mit einem Fuße zu betreten. Dass Sie das Schiff jetzt aber nicht mehr von ihr geschenkt nehmen würden, war doch selbstverständlich. Ich fragte sie, was sie dafür haben wolle. Hatte meine liebe Not mit ihr. Schließlich nannte sie den ursprünglichen Kaufpreis — 23 000 Pfund. Ich gab ihr einen Scheck. Es wurde alles gleich schriftlich ausgemacht. Dass sie den Scheck sofort verbrannte — never mind, was geht das mich an? Die ›Sturmbraut‹ war mein Eigentum.«

»Wohl, so gehört sie Ihnen.«

»Aber ich trete sie Ihnen ab.«

Ich machte nur eine abweisende Handbewegung, aber energisch genug.

»Nicht umsonst«, fuhr Tischkoff fort. »Sie sollen mir das Schiff abkaufen.«

»Wollen Sie mich verspotten?«

»Weil Sie kein Geld haben? Never mind. Dafür haben Sie etwas anderes.«

»Was soll ich haben?«

»Nun, repräsentiert eine Kunst, etwa die Stimme eines Sängers, nicht auch ein Kapital, welches man sogar beleihen kann?«

»Ich wüsste nicht, was man bei mir beleihen könnte.«

»Nicht? Dann unterschätzen Sie sich. Da bin ich ein weiterblickender Geschäftsmann. Sagen Sie — führen Sie eigentlich ein Tagebuch über Ihre Erlebnisse?«

Überrascht blickte ich auf. Schon kam mir eine Ahnung. Aber ich wollte nicht daran glauben.

Ich verneinte.

»Well, so führen Sie von jetzt an ein Tagebuch! Ganz gewissenhaft! Und was Sie früher erlebt haben, schreiben Sie nachträglich auf. Ich weiß, dass Sie erzählen können. Und alles, was Sie schreiben, gehört mir — als Preis für die ›Sturmbraut‹. Sie sollen von mir nichts geschenkt bekommen.«

»Und mein Geschreibsel soll 23 000 Pfund Sterling wert sein?«

»Allerdings. Was geht Sie das überhaupt an? Ich bin ein reicher Mann, reicher, als Sie ahnen, und ich kann doch mit meinem Gelde machen, was ich will. Und ich habe meine besonderen Liebhabereien. Ich möchte Ihre Tagebücher haben, ich allein. Sie haben dann kein Recht, Ihre Erlebnisse anders zu verwerten, eigentlich nicht einmal, von Ihren Abenteuern zu erzählen. Aber seien Sie versichert, ich schenke Ihnen durchaus nichts, ich werde sogar ein ausgezeichnetes Geschäft dabei machen. Also, wollen Sie?« — —

Er wusste mich herumzubringen. Dabei kam noch der Umstand in Betracht, dass mir bekannt war, wie vor einigen Jahren einem Kapitän Marryat für sein Tagebuch, welches er während einer Reise um die Erde geführt hatte, von einem Londoner Verleger bare 30 000 Pfund Sterling auf den Tisch gezahlt worden waren, eigentlich nur für das Recht der Veröffentlichung, oder nur als Anzahlung: denn außerdem erhielt Marryat dann noch fürstliche Honorare. In der deutschen Übersetzung sind von diesem Kapitän Frederik Marryat, der sich dann ganz auf die Schriftstellerei legte, am bekanntesten die Seeromane ›Peter Simpel‹ und ›Japhet‹ geworden.

Ich hatte den Kontrakt unterschrieben. Und dann war ich wieder an Bord der ›Sturmbraut‹ — meiner ›Sturmbraut‹!

Nur einen einzigen Mast umarmte ich, lieber hätte ich jede einzelne Planke küssen mögen. Und nicht minder glücklich waren alle meine treuen Jungen, als sie wieder Einzug hielten.

Tischkoff hatte mir die Schlüssel übergeben; im Panzerschrank waren unberührt die 22 000 Taler, in den verschiedensten Geldsorten, die ich wirklich mein Eigentum nennen durfte — aber was dachte ich jetzt daran — mehr wert war mir die kostbare Schlipsnadel, die ich noch im Halstuch stecken fand — und dann vor allen Dingen mein silberner Zahnstocher. Smutje musste mir schnell eine Portion Büchsenfleisch wärmen, recht zähes, nur damit ich dann meinen Zahnstocher benutzen konnte. Ach, war ich glücklich!

Die Herren kamen an Bord, das Schiff zu besichtigen, welches besonders durch den Putsch mit den südamerikanischen Republiken schon eine Berühmtheit erlangt hatte. Glücklicherweise waren diese Herren nicht viel fürs Fragen.

Dabei machte ich eine Beobachtung. Ich sah, wie sich in einiger Entfernung von mir Lord Seymour mit Mr. Tischkoff unterhielt, und ich hatte den ganz bestimmten Eindruck, dass sich die beiden schon kennen mussten, nicht erst von heute, und ebenso unverkennbar war es, welchen Respekt der Lord meinem geheimnisvollen Kommodore entgegenbrachte. Das dicke, zapplige Männchen, sonst die ungenierte Freiheit selbst, war vor Mr. Tischkoff ganz komplimentierende Ergebenheit.

»Herr Kapitän, wenn ich Sie einmal in Ihrer Kajüte sprechen kann!«, rief mir dann der Lord zu.

Wir drei waren allein.

»Mr. Tischkoff hat mir alles erzählt«, begann der Lord, »aber nur mir, es bleibt unter uns. Nun haben Sie ja Ihr Schiff, nun haben Sie mich nicht mehr nötig.«

»Wenn ich Ihnen zu Diensten stehen kann, Mylord — mit dem größten Vergnügen, und nicht nur, um Ihre Gastfreundschaft zu vergelten.«

»Was werden Sie jetzt tun?«

Ich wusste es nicht. Auf den Handel gehen, davon wollte ja vor allen Dingen mein Kommodore nichts wissen.

»Kennen Sie mein Verhältnis zu Mr. Tischkoff?«

»Ja. Wenigstens einigermaßen hat er mich eingeweiht. Er ist Ihr Kommodore. In ganz freundschaftlicher Weise gemeint.«

»So ist es!«

»Aber Sie können doch natürlich tun, was Sie wollen.«

»Bisher konnte ich es.«

Diese Worte sind humoristisch zu lesen. Mein Kommodore hatte dazu immer liebenswürdig gelächelt, und ich hatte ein paar Komplimente gegen ihn gemacht.

»Sie haben also gar nichts vor?«, fragte der Lord nochmals.

»Nein.«

»Wollen Sie einen Auftrag von mir annehmen?«

»Gewiss, sehr gern. Nur hoffe ich, dass Sie mir keine Kohle oder Baumwolle als Fracht mitgeben wollen. Das ist bei mir nämlich immer eine brenzlige Geschichte.«

»Ich weiß, ich weiß!«, lachte der Lord. »Auch hiervon hat mir Ihr Kommodore schon einiges erzählt! Nein, mit so etwas sollen Sie verschont bleiben. Aber ich weiß etwas anderes für Sie, was gerade Ihr Fall ist.«

»Bitte!?«

»Kennen Sie den Kapitän Ralph Berseck?«

»Nein.«

»Wie? Sie kennen den Berserker nicht?«

»Was ein Berserker ist, weiß ich wohl...«

»Nein, nein, er heißt wirklich Berseck, und bei ihm trifft der Name, wenn er etwas umgeändert wird, tatsächlich zu. Er ist ein Berserker, der sich in blinder Wut auf seinen Feind stürzt. Haben Sie denn noch nichts von diesem Kapitän Ralph Berseck gehört, der vor einem Jahre für vogelfrei erklärt worden ist, auf den alle Kriegsschiffe fahnden, und nicht nur die?«

Nein. Ich war ja seit einem, seit zwei Jahren immer unterwegs, und bei einem Seemanne ist doch so etwas überhaupt eine eigentümliche Geschichte. In der Weltgeschichte kann ein ganzer Staat vernichtet werden, und ein Kapitän fährt noch jahrelang immer lustig unter der Flagge dieses Staates.

»Ich will Ihnen ganz kurz schildern«, sagte der Lord. »Dieser Ralph Berseck ist ein echter Seezigeuner. Weiß nicht einmal, was für ein Landsmann er ist. Irgendein Meer mag ihn ausgespien haben. Aber ein Seezigeuner allerschlimmster Sorte. Es gibt ja auch unter den Landzigeunern Strauchdiebe und Bluthunde genug. Ralph Berseck ist ein Bluthund erster Klasse. Wegen unglaublicher Rohheiten wurde ihm schließlich das Kapitänspatent entzogen. Aber er fuhr dennoch weiter als Kapitän, auf seinem eigenen Schiffe, zu dem er durch unsaubere Manipulationen gekommen war. Trieb Schmuggel. Bis man ihm abermals das Handwerk legte. Dann wurde er zum richtigen Piraten, hat tatsächlich ein spanisches Schiff mit Gewalt gekapert, die ganze Mannschaft niedergemacht.

Vor vierzehn Monaten kam er hierher, bat mich um Kohlen und Proviant. Nun, ich muss gestehen, dass mir der Kerl eigentlich etwas imponierte. Das heißt, damals hatte ich schon lange hier in der Einsamkeit gelebt, ich wusste noch nichts von seinen letzten Streichen, wie er schon zum offenkundigen Piraten geworden war, und zu noch schlimmerem. Ich hielt ihn nur für einen kühnen Schmuggler. Und ich habe über Schmuggelei meine besonderen Ansichten. Wer schlau und kühn genug ist, den Fiskus zu prellen, mag es probieren. Aber wenn ich schon damals gewusst hätte, was ich dann über diesen Kapitän erfuhr, hätte es bei mir nichts gegeben. Ich wurde auch auf der Stelle bitter genug durch eigene Erfahrung bestraft.

Also ich gab dem Berseck Proviant und Kohlen, er war mein Gast. Da war auch gerade hier bei mir ein junger Ingenieur, ein Deutscher. Der hatte eine neue Erfindung gemacht, eine Schiffsmaschine, welche jedem Schiffe, in verhältnismäßiger Größe eingebaut, eine Schnelligkeit von mindestens achtzehn, wahrscheinlich aber zwanzig Knoten verleihen sollte. Doch nur Schraubendampfer, wie Ihrer einer ist, kämen in Betracht.

Patentieren hatte sich Mister Einsiedel seine Erfindung noch nicht lassen, überhaupt noch zu keinem Menschen davon gesprochen. Es war ja auch gar nicht so dumm von ihm, dass er zuerst zu mir kam. Er kannte mich, meine Verhältnisse, und er wusste auch, dass ich mehr zahlen würde als jede Maschinenfabrik oder Gesellschaft, wenn mir die Möglichkeit gegeben wurde, das schnellste Schiff der Welt zu besitzen, ich allein, wenigstens für eine gewisse Anzahl von Jahren. Dann hätte er es ja noch immer anders verwerten können.

Also es handelte sich noch nicht um den Ankauf eines Patentes, sondern mehr eines Geheimnisses. Na, ich traute der Geschichte nicht recht. Ein Modell hatte der junge Mensch nicht, brachte nur eine Unmenge von Zeichnungen mit — ich fand mich darin nicht zurecht, verstehe überhaupt von Maschinen herzlich wenig. Und einen Fachmann zu Rate ziehen durfte ich nicht, keinen anderen Menschen — ich hatte wegen strengster Hütung des Geheimnisses vorher mein Ehrenwort abgegeben.

Wir wurden belauscht. Es war nicht meine Schuld. Dieser Kapitän Berseck hat die sämtlichen Zeichnungen gestohlen. Machte sich auf und davon. Und dann erfuhr ich auch gleich, wen ich beherbergt hatte. Einen professionellen Piraten, einen Raubmörder zu Wasser und zu Lande, einen Sklaven- und Mädchenhändler, auf den schon seit einem Jahre gepirscht wird. Auf seine Ergreifung ist seitens der internationalen Seegerichte eine Summe von 10 000 Pfund gesetzt, die englische Seebehörde hat noch 10 000 Pfund extra dazugesetzt. Ist Ihnen von alledem nichts bekannt?«

»Gar nichts.«

»Na, dann geht's Ihnen jetzt noch so wie mir damals. Ich habe sofort 50 000 Pfund dem versprochen, der mir diesen Schurken tot oder lebendig bringt, und heute«, der Lord schlug auf den Tisch, »heute erhöhe ich diese Prämie auf 100 000 Pfund. Wollen Sie sich diese zwei Millionen verdienen?«

»O ja, recht gern. Wo ist er denn zuletzt gesehen worden? Was für ein Schiff fährt er überhaupt?«

»Ja, das ist es eben, was ich Ihnen alles noch mitteilen muss. Sein Schiff hatte in den letzten Jahren schon immer keinen Namen. Natürlich, er war doch vogelfrei. Er wechselte eben stets Namen und Flagge. Aber sein Schiff wechselte sogar fortwährend das Aussehen. Dieser Kapitän Berseck ist nämlich ein Hexenmeister. Er versteht sein Schiff zu maskieren wie kein zweiter. Es sollte eine Brigg von vielleicht sechshundert Tonnen sein, das war sein Schiff auch hier, dann aber will man wieder einen Vollmaster, dann eine Brigantine, dann eine Bark, dann einen Schoner gesehen haben. Er ändert nicht nur die Takelage, sondern er kann wahrscheinlich auch die Masten versetzen. Außerdem baut er am Heck etwas auf, erhöht die Back, verbreitert die Bordseiten... das lässt sich ja alles mit Holzverkleidung machen. Doch das kommt jetzt gar nicht mehr in Betracht. Nachdem er sich hier auf so gemeine Weise verabschiedet hatte, war er lange Zeit verschwunden, nun aber...«

Der Lord suchte in allen Taschen nach.

»Ich habe die Zeitung nicht hier, die ich vorhin bekommen habe. Kurz, Kapitän Berseck ist wieder aufgetaucht, vier Kapitäne bezeugen, ihn an verschiedenen Stellen gesehen zu haben, und am meisten können es die Bewohner von Albay. Kennen Sie dieses Albay auf den Philippinen?«

»Nein.«

»Ein kleines Hafenstädtchen auf der Insel Camarines. Kapitän Berseck ist bei Nacht gelandet, ist mit seinen zahlreichen Leuten über die Ansiedlung hergefallen, hat alles gebrandschatzt, alles mit Feuer und Schwert verwüstet und ist mit reicher Beute wieder abgesegelt, oder vielmehr abgedampft, unter anderem auch mit einigen Dutzend Philippinerinnen, die er natürlich als Sklavinnen verkauft.«

»Mein Gott«, rief ich, »ist denn solch eine Freibeuterei heutzutage noch möglich?!«

»Kapitän Berseck hat bewiesen, dass es noch möglich ist.«

»Wann ist das geschehen?«

»Davon später! Ich gebe Ihnen noch nähere Details. Jetzt erst die Hauptsache. Kapitän Berseck fährt jetzt ein anderes, viel größeres Schiff, mindestens tausend Tonnen. Wurde aber auch schon einmal als Vollschiff, ein andermal als dreimastiger Schoner gesehen, auch von scheinbar verschiedener Bauart. Und außerdem kann er dampfen. Es ist ein Schraubendampfer. Zwei Handelskapitäne und die Offiziere eines englischen Kriegsschiffes berichten, dass er mit einer ungeheueren, bisher noch gar nicht bekannten Schnelligkeit gedampft ist, was auch die unglücklichen Bewohner von Albay bezeugen.«

»Der hat einfach die Maschine nach jenen Zeichnungen ausführen lassen!«

»Natürlich, so ist es. Und somit ist dieser Hund auf See überhaupt nicht mehr zu fassen, er übertrifft jedes andere Schiff an Schnelligkeit.«

»Ja, lebt denn der junge Ingenieur nicht mehr, dass nach seinen Angaben...«

»Nein. Der wurde hier gleich an demselben Tage vor Kummer über den Verlust irrsinnig. Dort von jenem Felsen hat er sich herabgestürzt. Tot!«

»Hat er denn nicht Kopien von seinen Zeichnungen gehabt?«

»Hier nicht. Ich habe die Sache einem gewieften Detektiv übergeben, schon lange, sofort, habe aber noch keine Nachricht, das geht doch auch nicht so schnell von hier aus und wieder zurück. Überhaupt never mind — 100 000 Pfund Sterling demjenigen, der mir diesen Schuft tot oder lebendig bringt. Kapitän Jansen, die können Sie sich verdienen.«

»Ja, wenn er mir mal in die Quere kommt...«

»Nein, Sie sollen sich ganz auf diesen Fang legen. Wie viel segelt Ihre ›Sturmbraut?«

»Bis zu sechzehn Knoten.«

»Und dampft?«

»Zwölf Knoten.«

»Können Sie das durch Verbindung nicht noch forcieren?«

»Ja, vor dem Winde habe ich es mit Hilfe der Maschine bis auf achtzehn Knoten gebracht.«

»Sehen Sie! Ihre ›Sturmbraut‹ verdient den Namen mit Recht. Ich habe nämlich auch schon etwas von Ihrem Schiffe gehört. Und überhaupt — Sie sind der Rechte, um so etwas in die Hand zu nehmen.«

»Wo ist denn das Schiff von Berseck zuletzt gesehen worden?«

»In Albay. Sonst keine Ahnung. Sie müssen sich ihn eben suchen.«

»Ja aber, geehrter Mylord, die Erde ist groß, und ihre Oberfläche ist mit doppelt so viel Meerwasser wie mit Land bedeckt...«

»Never mind, Sie haben Zeit. Und ich will Sie instand setzen, dass Sie sich dieser Sache ausschließlich widmen können. Wie viel verlangen Sie pro Tag? Nennen Sie den vollen Charterpreis für Ihre ›Sturmbraut‹.«

Schon wieder solch ein Angebot! Zunächst machte ich nur eine abwehrende Bewegung.

»Tausend Tonnen, nicht wahr? Sind Sie da mit fünfzig Pfund pro Tag zufrieden?«

»Mylord, ich kann nicht...«

»Ach, fassen Sie das doch nicht so auf! Mir kommt es doch nicht aufs Geld an. Also das Doppelte, hundert Pfund.«

»Nein, nein, Sie missverstehen mich. Ich gehe nicht darauf ein.«

»Weshalb nicht?«

»Weil es doch nur ein außerordentlicher Zufall wäre, wenn ich das Schiff dieses Kapitäns aufstöberte. Oder weiß man denn, wo er sich immer verproviantiert? Wo er Kohle und Wasser einnimmt?«

»Das ist es eben, auch das ist ein Rätsel. Nein, das weiß man nicht, und dieses Rätsel können Sie gleichfalls lösen.«

»Und wenn das nun ein paar Jahre dauert?«

»Never mind. Bis zu Ihrem Tode sollen Sie das Chartergeld erhalten, wenn Sie diesen Hund nur auftreiben und packen.«

»Nein, Mylord, auf so etwas gehe ich nicht ein. Es ist zu unsicher. Und... auch hierbei würde wieder meine Freiheit beschränkt...«

»Recht so«, ließ sich da Tischkoff vernehmen, der bisher schweigend zugehört hatte. »Sehen Sie, Mylord, ich hatte Ihnen gleich gesagt, dass Kapitän Jansen auf so etwas nicht eingehen würde — eben weil er ein Ehrenmann ist.«

Die beiden hatten also schon vorher darüber gesprochen.

»Ich will Ihnen meine Ansicht sagen, nahm ich wieder das Wort, »ich werde nach wie vor jeden Auftrag annehmen...«

Ein Kanonenschuss unterbrach mich. Er hätte mich nicht unterbrochen, wenn der Lord nicht so aufgefahren wäre.

»Was war das?!«

Durch die Kajütenfenster war nichts Besonderes zu sehen.

»Es wird ein Signalschuss gewesen sein«, meinte ich.

»Jetzt wird hier kein Signalschuss abgegeben, und außerdem klang das fast wie ein...«

Ein zweiter Schuss, aber doch nicht so klingend, und da sahen wir auf der Landseite das Entsetzliche, oder hatten es vielmehr gleichzeitig mit dem Donner gesehen.

Aus einem kleinen Hause stieg plötzlich eine Feuergarbe empor, das Haus war verschwunden, und wimmernd und brüllend wälzten sich die Menschen, die sich in der Nähe befunden, dort am Boden, während andere in wilder Flucht davon stoben.

»Eine Explosion!!«, schrie ich.

Der Lord stand wie versteinert da.

»Ja, was soll denn in dem Hause explod...«

Da abermals ein Schuss — jawohl, das musste unbedingt ein Kanonenschuss sein! — und da sah ich ganz deutlich, wie dort am Lande etwas in den Boden einschlug, wie ein großer Vogel war es herabgestürzt gekommen, eine Wolke von Staub und Erdmassen aufwirbelnd.

»Bomben und Granaten! Wir werden beschossen!!«

Mit diesem Rufe stürzte der Lord aus der Kajüte, ich ihm nach.

Was für eine heillose Verwirrung plötzlich an Land herrschte, kann ich gar nicht schildern. Ich sah ja auch nur den großen Dreimaster, der dort in einer Entfernung von mindestens sechs Kilometern auf dem Wasser lag und an dessen Bord soeben eine Rauchwolke emporstieg, noch eine, und da sah ich auch schon die großen Vögel geflogen kommen, im Nu waren sie da — und wieder ein Erdregen, neues Schmerzgeschrei, und zugleich legte sich Mr. Rugs Jacht über, als wolle sie kentern, es spritzte etwas in der Luft herum, und als sie sich wieder aufrichtete, zeigte sie hinten am Heck ein großes Loch.

Ich dürfte mich jetzt eigentlich nicht mit der Erklärung aufhalten, dass die Sprenggranate die hölzernen Schiffsplanken glatt durchschlagen hatte, ohne explodiert zu sein — oder es war ein Hartgussgeschoss gewesen.

Jenes Schiff dort beschoss die Insel — das war jetzt doch die Hauptsache.

»Kapitän Berseck — der Berserker, der Berserker!!«, erscholl es überall.

Wohl zeigte das Schiff Flaggen, aber wieso daran gleich dieser Kapitän zu erkennen war, ob er schon vorher seinen Namen signalisiert hatte, das wusste ich nicht, erfuhr ich nicht.

Man stelle sich nur vor, wie es bei so etwas zugehen mag. Schmerzgeschrei, Wutgebrüll, furchtbare Flüche, ein allgemeines Durcheinander, und dann donnernde Kommandos, welche den Laufenden eine bestimmte Richtung gaben — nach den Geschützen, welche auf der Insel vorhanden sein mussten, wenn solche auch nicht zu sehen waren.

»An die Geschütze!!«

Mehr hörte und sah ich nicht. Ich gab für mein Schiff, für meine Leute dasselbe Kommando, nicht wissen könnend, dass die Kanonen, welche ich damals von dem Wrack übergenommen hatte, dermaßen gezurrt, d. h. befestigt worden waren, dass an ein Instandsetzen nicht gleich zu denken war, ganz abgesehen davon, dass auch die Munition erst aus dem tiefsten Raume nach oben geschafft werden musste.

Durch die Batterieluken sah ich, dass das Freibeuterschiff jetzt vorzog, schnellstens Reißaus zu nehmen. Kapitän Berseck hatte gewissermaßen nur seine Visitenkarte abgegeben — aus einem Grunde, den ich nie erfuhr. Einfach Übermut!


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Jetzt war auf dem vermeintlichen Segelschiffe plötzlich ein Schornstein aufgerichtet, mächtige Rauchwolken stiegen daraus empor, noch einige Granaten, die aber kein Unheil mehr anrichteten, und der Schraubendampfer schoss davon, dem Osten zu, und noch ehe eine der Inselkanonen eine Antwort hätte geben können, war er schon außerhalb der Schussweite, die man doch nur auf sieben Kilometer berechnen konnte.

Dies alles spielte sich aber schneller ab, als ich hier schildere. Und da begannen schon die Planken der ›Sturmbraut‹ unter den Umdrehungen der Schraube zu zittern.

Während ich im Zwischendeck mit den Geschützen beschäftigt gewesen war, hatte oben an Deck Tischkoff das Kommando ergriffen. Er war ja erst vor zwei Stunden hier angekommen, hatte bis zuletzt gedampft, es war noch immer volle Dampfspannung gewesen, und er hatte die Matrosen, welche aushilfsweise während dieser Fahrt einmal die Feuer bedient hatten — das ist ja schließlich keine Kunst, wenn man genügend Zeit dazu hat, denn mit professionellen Schiffsheizern kann es freilich kein Matrose und kein sonstiger Arbeiter aufnehmen, das furchtbare Kohlenstechen will gelernt sein — hatte diese also schon wieder hinabgeschickt.

Nun waren aber doch meine eigenen Leute auch schon wieder alle an Bord, und so stürzten jetzt auch die Heizer und Kohlenzieher Hals über Kopf hinab, die Ingenieure übernahmen die Maschine, und ich schickte nun schnellstens auch noch die Matrosen in die Takelage, um noch das bisschen Nordwind auszunutzen.

Kurz, wir hatten mit einer Fixigkeit gehandelt, die uns alle Ehre machte. Es hatten auch einige andere Fahrzeuge im Hafen unter Dampf gelegen, auch sie machten sich sofort auf die allgemeine Jagd, aber ehe die ihre Paddelräder in Bewegung setzen konnten, war meine ›Sturmbraut‹ schon weit, weit draußen, von den Segeljachten gar nicht zu sprechen.

Doch was kümmerten wir uns jetzt um das, was hinter uns vor sich ging?

In was für einer furchtbaren Erregung wir uns alle befanden, lässt sich denken.

»War es denn nur wirklich dieser Kapitän Berseck?«, fragte ich, während ich die Stricke von den Geschützen abriss, den mir ganz gelassen zusehenden Tischkoff.

»Sicher. Er hätte gar nicht nötig gehabt, durch Signale sich erst vorzustellen — wer anders als dieser Berseck soll denn sonst eine friedliche Inselkolonie beschießen?«

»Warum hat er denn nur überhaupt geschossen?«

»Einfach, weil es ihm Spaß macht. Er wird von der Prämie gehört haben, die Lord Seymour auf seinen Kopf gesetzt hat, und nun fordert er ihn gleich noch zum Kampfe heraus.«

Aber dies letztere war doch nicht ganz der Fall. Das Schiff ließ es eben nicht zum Kampfe kommen, es floh vielmehr davon, und leider mussten wir erkennen, obgleich uns jetzt der stärker werdende Wind mit voller Macht packte, dass sich die Entfernung zwischen uns und ihm langsam, aber stetig vergrößerte. Es war uns eben an Schnelligkeit überlegen.

Ja, es war sogar bald zu bemerken, dass es ganz bedeutend schneller war als die ›Sturmbraut‹, indem mit uns gespielt wurde. Manchmal schienen wir näher zu kommen, einmal glaubte ich bestimmt, dort sei an der Maschine etwas gebrochen — aber sobald die Kanonen klar gemacht wurden, ging jenes Schiff unter Volldampf wieder auf und davon, durchs Fernrohr konnten wir sogar deutlich erkennen, wie man uns höhnisch zuwinkte.

Ein Glück nur, dass die dort drüben nicht noch weitertragende Geschütze hatten als wir, sonst wären wir natürlich übel daran gewesen.

Sie probierten es freilich, noch mancher Schuss böllerte. Aber keine einzige Granate erreichte uns. Zuletzt schusselte sie stets über das Wasser und versank noch weit vor der ›Sturmbraut‹. Dasselbe galt indessen auch von unseren eigenen Geschossen, die wir ab und zu abschickten.

Wenigstens aber wurde hierdurch erwiesen, dass dieser Kapitän Berseck ein Feigling war, der sich auf keinen offenen Kampf einlassen wollte.

»Wozu soll er auch sein Schiff und seine Leute riskieren?«, entgegnete Tischkoff auf meine diesbezügliche Bemerkung. »Hat er es wirklich auf uns abgesehen, so wird er es auf andere Weise versuchen.«

»Auf welche?«

»Wissen Sie nicht, wie er den spanischen Dampfer gekapert hat?«

»Nein, Sie waren doch zugegen, als ich erklärte, überhaupt noch nichts von diesem modernen Freibeuter gehört zu haben.«

»Richtig! Nun, er hat sein Schiff als Wrack maskiert, hat den aufkommenden spanischen Dampfer um Hilfe ansignalisiert, ist mit seiner Mannschaft in die Boote gegangen — und als sie drüben an Bord waren, haben sie die ahnungslose Mannschaft einfach niedergemacht.«

Es war dasselbe Manöver, was ich schon früher einmal hatte erzählen hören, auch schon wiedergegeben habe.

Und das hatte dieser moderne Pirat bei einem großen Dampfer gewagt!

»Das soll er einmal bei mir probieren!«

»Was wollen Sie dagegen tun? Oder kennen Sie diese Leute? Jeden einzelnen davon? Oder Sie dürfen überhaupt keine Schiffbrüchige mehr aufnehmen.«

Mein Kommodore hatte recht, hatte furchtbar recht!

Ja, wie sollte dieses Spiel aber noch enden? Nun waren wir schon zwei Stunden unterwegs, wir jagten hinter dem Schiffe her, und es hatte doch absolut keinen Zweck.

Wir hatten schon mehrere Schiffe in Sicht bekommen, hatten sie überholt, aber was konnten die nützen? Die hatten doch höchstens Böller an Bord, und ehe die unser Signal verstanden, hätte der Pirat, der sich seiner Vogelfreiheit bewusst, sich recht wohl dabei gefühlt, die meist hölzernen Kästen einfach in den Grund geschossen.

Jetzt tauchten die Umrisse eines Fahrzeuges auf, das schnell als Kriegsschiff zu erkennen war.

Da gingen am Kreuzmast des verfolgten Dampfers Flaggen hoch.

»Auf Wiedersehen heute Nacht«, lautete das uns gegebene Signal, und mächtig wirbelte dann der Dampf empor, erst jetzt entwickelte das Schiff seine ganze Schnelligkeit.

»Er flieht vor dem Kriegsschiff.«

»Das würde ihm wohl wenig anhaben können«, entgegnete Tischkoff, »der macht bedeutend mehr als achtzehn Knoten.«

Ja, da ging er hin. Wir konnten ihm nachsehen.

»Also heute Nacht!«, sagte Tischkoff, das Fernrohr zusammenschiebend.

»Was will er da?«

»Uns jedenfalls in Booten angreifen, uns im Schutze der mondlosen Nacht entern.«

»Er soll nur kommen!«

»Ja, da haben Sie recht, aber genügt nicht allein schon diese Drohung, uns matt und schlapp zu machen? Nun können alle Leute die ganze Nacht Wache halten und auslugen — und wenn sie auch zur Koje abgeteilt würden, nützt alles nichts, es würde doch keiner schlafen, und morgen werden wir lauter hohläugige Matrosen haben.«

Wieder sprach Tischkoff eine furchtbare Wahrheit aus. Der Gegner, der den Feind in ständiger Unruhe zu halten weiß, hat ihn bereits besiegt, und das gilt ganz besonders beim Seekrieg.

Nun, ich wollte mein möglichstes tun, um so etwas zu verhüten. Da gab es trotz alledem noch beruhigende Mittel.

Aber es sollte bald alles ganz anders kommen, wir sollten uns nicht mehr lange mit einem menschlichen Feinde zu beschäftigen haben.

Es war schon seit einiger Zeit Windstille eingetreten, in der Atmosphäre bereitete sich schon lange etwas vor, und jetzt kamen von Westen her pechschwarze Wolken mit einem gelben Schwefelsaume heraufgezogen.

Eine halbe Stunde später ging der Tanz los. Es war nicht gerade ein alles vernichtender Taifun, aber die Blaserei genügte. Ein Aufrechtstehen, ohne sich an etwas festzuklammern, was aber sehr solid sein musste, gab's nicht mehr, und am Mittage war die Himmelselektrizität das einzige Licht, eigentlich ein ununterbrochener Blitz, der das ganze Firmament bedeckte, und man konnte sich gegenseitig ins Ohr brüllen — vor diesem Donner verstummte alles.

Mag diese Beschreibung genügen. Ich kann so einen Orkan mit Blitz, Donner und Regengüssen in der Tropenzone nicht schildern, da fehlen mir die Worte. Die poetische Ausmalerei überlasse ich denen, die dazu hinterm Ofen genügend Zeit haben.

Dieses Tohuwabohu währte reichlich vierzehn Stunden, bis nachts zwei Uhr. Das heißt, dann hörte wenigstens die Blaserei auf, dass man wieder atmen konnte, und auch das Gewitter flaute ab. Die See ließ dann natürlich noch lange zu wünschen übrig. Na, bei so einem Wetterchen hatten wir natürlich keinen Angriff von Piraten zu fürchten.

Ebenso wenig aber konnte man von mir verlangen, dass ich etwa meinem Kommodore Geschichten erzählte, von dem hohlen Vogelberge usw.

Als vielleicht die Gelegenheit dazu gewesen wäre, hatte der Berserker mit Kanonen dazwischengeschossen, dann bei der Verfolgung war ebenfalls an anderes zu denken gewesen, dann mussten schleunigst Vorbereitungen getroffen werden, um den Sturm zu bestehen, und in diesem war, wie gesagt, die Gelegenheit zur gemütlichen Unterhaltung erst recht ungünstig.

Also nachts gegen zwei Uhr ließ der furchtbare Sturm schnell und ganz bedeutend nach. Dafür aber bekamen wir jetzt einen anderen Wellenschlag. Bös genug war er ja schon immer gewesen, aber der hier war noch viel böser. Sogenannte haushohe Wellen hatten wir schon immer gehabt — na, haushoch ist ein bisschen viel, doch es gibt ja auch kleinere Häuser, nur mit drei Etagen — — jedenfalls aber war es schon immer gerade genügend gewesen.

Weiter kann ich das ebenfalls nicht beschreiben, wie da Gott Neptun mit so einem Schiffchen Fangeball spielt. Jetzt fing er Fußball an.

Wer sich unbedingt an Deck befinden musste, hatte sich festgelascht, sich von anderen festbinden lassen müssen. Auch der Ausguck und der Mann am Ruder, die sich auf der Kommandobrücke befanden, ebenso wie die beiden Steuerleute. Denn jetzt mussten natürlich beide auf der Wache sein.

Nur ich war nicht angelascht. Ich hätte überhaupt gar nicht mehr gewusst, wo ich mich auf der Kommandobrücke hätte festbinden sollen, alles war schon besetzt.

Nur die Bussole war noch frei. Das ist das Postament, in das der Kompass eingelassen ist, ein schweres Ding aus Gusseisen, aber mir nur bis zum Unterleib gehend, und wenn man nicht mit der Brust festgebunden wird, so hat die ganze Anlascherei ja gar keinen Zweck.

So begnügte ich mich, wenn die ganze Kommandobrücke unter Wasser gesetzt wurde, was in jeder Minute dreimal zehn Sekunden lang geschah, mich an dieser Bussole anzuklammern.

Es war etwas unbequem, ich musste mich dabei stets bücken, war daher immer noch etwas länger unter Wasser, als es sonst meine ansehnliche Statur erfordert hätte, aber das musste ich mit in den Kauf nehmen.

Ich wollte doch einmal sehen, ob mich eine Woge, und wenn sie auch noch so groß war, von der eisernen Bussole losreißen konnte, wenn ich sie mit beiden Armen umklammerte.

So dachte ich. Ja, der Mensch denkt, und... das Meer henkt. Es sollte nämlich mein Henker werden — wenn auch nicht mit dem Stricke. Henken ist ja auch etwas anderes als hängen.

Wieder kam eine mächtige Woge angerollt — patsch, alles unter Wasser! — und mit einem Male verlor ich den Boden unter den Füßen.

Ich wunderte mich darüber, ich hatte die Bussole doch noch immer innig umschlungen — und dabei merkte ich, dass es immer tiefer und tiefer hinabging — und da ging mir selbst eine Ahnung auf.


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Die eiserne Bussole war aus den Planken gerissen worden, ich war mit ihr über Bord gesegelt!

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71. Kapitel
Im Stillen Ozean

Originalseiten III.165 — 172

Es war das erste Mal, dass ich über Bord gewaschen worden war. Noch nicht einmal über Bord gefallen war ich. Leider nicht. Denn was ein echter Seemann ist, der muss doch erzählen können, wie er einmal über Bord gewaschen ist, mindestens gefallen, und dann ebenso mindestens mitten mang die Haifische.

Es gibt auch tatsächlich wenig Seeleute, die schon zehn Jahre Fahrzeit hinter sich haben und so etwas nicht erzählen können. Und ich konnte noch immer nicht mit so etwas renommieren.

Das heißt, solche Erwägungen stellte ich damals nicht an, als mir klar wurde, dass ich mich außerhalb der Bordwände im Wasser befand und so langsam auf den Grund hinabtrudelte.

Luft, Clavigo, Luft! Ich brauchte schon sehr nötig frischen Atem.

Das erste war natürlich, dass ich das eiserne Wickelkind aus meinen Armen ließ, der Kompass konnte mir jetzt doch nichts mehr nützen, und dann strampelte ich ganz bannig mit den Beinen, um wieder nach oben zu kommen.

Gott sei Dank, ich hatte wieder einige Backentaschen voll Luft schnappen können, ehe sich mir abermals eine Woge über den Kopf stülpte.

Das zweite war, dass ich mich meiner Jacke entledigte, die mir schon seit einiger Zeit etwas eng geworden war, mich unter den Achseln kniff. Dabei aber, des war ich mir bewusst, kalkulierte ich, dass ich meinen silbernen Zahnstocher nicht in der Jacke, sondern an seinem gewohnten Platze, in der rechten Westentasche haben müsse, und so wollte ich die Weste doch lieber anbehalten. Nachfühlen konnte ich allerdings nicht.

Es ging hinauf und hinunter — — meistenteils aber war ich doch mehr oben als unten, und so entledigte ich mich zunächst meiner Schuhe, die ich glücklicherweise anstatt der Seestiefel trug.

Dann pustete ich einmal auf und konnte Umschau halten.

Ach, das sah traurig aus, was ich da erblickte! Wasser, nichts als Wasser. Allerdings sehr schönes Wasser, prachtvoll phosphoreszierend, ich war wie in einem Lichtmeer gebadet. Aber ich war nicht in der Stimmung, diese Schönheit zu empfinden. Wenigstens jetzt noch nicht.

Wo war mein Schiff? Ach, das hatte sich schon gar weit entfernt. Und ich bemerkte sehr schnell, dass sich die farbigen Bordfeuer immer weiter entfernten.

Ich befand mich in einer heftigen Strömung, die mich fortriss, während die ›Sturmbraut‹ von einem noch immer starken Winde gerade in der entgegengesetzten Richtung davongeführt wurde, obgleich sie keine Segel gesetzt hatte.

Ich gab mir gar nicht erst die Mühe, ›Mann über Bord!‹ oder dergleichen zu schreien. Wohl musste man auf der Kommandobrücke sofort mein Verschwinden bemerken, wohl würde man die ›Sturmbraut‹, die bis zuletzt gedampft hatte, Bogen fahren lassen, aber es war gar nicht daran zu denken, dass man mich auffinden würde, und noch weniger konnte jetzt ein Boot ausgesetzt werden.

Wer bei solch einem Seegange, ob in finsterer Nacht oder bei hellem Tage, außerhalb der Bordwände kommt, der ist rettungslos verloren.

Rettungslos verloren! Ich hatte mich mit meinem Geschick bereits abgefunden. Hatte mir ja einen ähnlichen Tod schon oft genug in meiner lebhaften Phantasie vorgestellt.

Was war weiter dabei? Seemannslos! Ich fühlte sogar etwas wie Stolz, dass es die eiserne Bussole gewesen war, die nachgegeben hatte, von den Wogen fortgespült worden war, nicht ich.

Nur der Gedanke an Haifische war mir unangenehm. Ich lugte schon immer nach den phosphoreszierenden Scheinen aus, die noch weißer leuchten als die Meeresinfusorien. Wenn sie kamen — na, dann sollten diese Hyänen des Meeres erst noch einmal einen Menschen kennen lernen. Ich fühlte nach — jawohl, hinten in der Scheide steckte mein langes Dolchmesser.

Aber die Haifische kamen nicht. Die hielten sich jetzt vorsichtig tief unten im Wasser auf, wo es auch der wildeste Sturm nicht mehr aufwühlen kann.

Nämlich auch die Schwimmfähigkeit der Fische hat ihre Grenzen, ihr eigenes Element kann ihnen gefährlich werden. Umsonst sind doch nicht nach jedem größeren Sturme, der das Meer furchtbar aufgewühlt hat, die Küsten mit zahllosen toten Fischen bedeckt. Für den Fisch mag solch ein Aufruhr des Wassers dasselbe bedeuten, wie für die Menschen und vierfüßigen Tiere ein Erdbeben.

Ich wunderte mich, dass ich dagegen so leicht schwimmen konnte. Ich hatte gehört, dass ein Schwimmer bei sehr hoher See schon allein von den sich überstürzenden Wogen erschlagen würde. Diese fehlten hier allerdings. Es war eine gewaltige See, bald schwebte ich hoch oben auf einem Berge, dann schoss ich hinab in den Abgrund — aber das Überstürzen war nicht vorhanden, das war mein Glück.

Mein Glück? Zwei Stunden hatte ich schon einmal geschwommen, in der Elbe, also im Süßwasser, und ich konnte mich darauf gefasst machen, mich hier in diesem salzigen, das doch viel leichter trägt, sechs Stunden lang herumquälen zu müssen.

Denn ich schwamm faktisch wie eine Blase. Auch im Süßwasser wurde ich trotz meines starken Knochenbaus sehr leicht getragen. Mein umfangreicher Brustkasten mochte daran schuld sein.

Aber warum sollte ich mich quälen lassen? Nur einen kleinen Schnitt ins Handgelenk, und bald würde mein Lebensblut dahingeflossen sein. Doch pfui! Wie feig! Des Lebens Freude ist der Kampf. Und erst recht der mit den Elementen. Da kämpft man nicht mit Menschen, sondern mit Göttern.

Ich wurde zum göttertrotzenden und götterverspottenden Prometheus.

»O, ist das schön, ist das herrlich! So möchte ich mein ganzes Leben lang schwimmen!«

So jubelte ich — durfte dabei nur nicht den Mund zu weit aufreißen.

Es gelang mir tatsächlich, mich umzustimmen. Ich fand es zuletzt wirklich schön. Und war es denn dies auch nicht?

Das Wasser so warm, so mollig, und nun dieses Feuermeer, in dem ich auf und ab tanzte, immer hinauf und hinunter, wie auf einer Rutschbahn, und diese Myriaden von Funken, wie die sprühten und spritzten! Sie schmeckten nur sehr schlecht.

Da prasselte es von dem noch immer pechschwarzen Himmel herab, es knatterte wie Magazinfeuer. Au, au, au! Ich wäre gern untergetaucht, aber das geht bei dieser Schwimmerei im hohen Meere nicht, da wird man nur unfreiwillig untergetaucht. So musste ich mich begnügen, bei jeder passenden Gelegenheit die Hände schützend über die Ohren zu legen, die schon wie Feuer brannten.

Erst dachte ich, es wäre Hagel. Aber den gibt's ja in diesen Tropenzonen gar nicht. Es regnete einfach Bindfaden und Stricke, taubeneiergroße Tropfen. Besonders in Indien kann man von solchen Regentropfen sogar totgeschlagen werden.

Nichts beruhigt die aufgewühlte See so schnell wie solch ein Regenguss, den man freilich einmal erlebt haben muss, um sich eine Vorstellung davon machen zu können. Die Tropfen hörten auf, es wurden dicke Wasserstrahlen daraus — eben richtige Stricke.

Man kennt doch die Einrichtung in Bädern, wo von oben ein dicker Wasserstrahl herunterkommt, nicht nur so eine feinverteilte Brause. Solch einen Wasserstrahl hält man doch nicht lange auf dem Schädel aus, dann droht er zu platzen. Hier aber kommen diese Wasserstrahlen vom Himmel herunter, vielleicht aus einigen tausend Metern Höhe! Da ist begreiflich, dass solch eine entgegenwirkende Wasserlast auch die am höchsten gehende See schnell niederwerfen muss.

So geschah es auch jetzt. Mir aber wäre lieber gewesen, ich hätte noch so auf und ab tanzen können. Dieses Regnen hielt ich nicht mehr aus. Zum Glück ließ es bald nach. —

Was ich während der drei Stunden, die ich im sogenannten Stillen Ozean zubrachte, alles gedacht habe, kann ich nicht schildern.

Zuletzt dachte ich wohl gar nichts mehr. Ganz mechanisch führte ich die Schwimmbewegungen aus. Und das war auch sehr nötig. Wohl hatte sich das Meer etwas beruhigt, aber von einem Stillen Ozean war noch nichts zu bemerken, noch immer hätte man kaum ein Boot aussetzen können. Und jetzt stellten sich die Haifische ein, welche man sich nur dadurch vom Leibe halten kann, dass man immer alle Gliedmaßen in Bewegung hält.

Doch sie griffen mich nicht an, ich blieb nicht immer von ihnen umschwärmt, wie es sonst bei einem unglücklichen Schwimmer der Fall ist. Jeder Fisch hat seine Zeiten, da er Lust zum Anbeißen hat oder keine. Das vorangegangene Unwetter schien die Hyänen des Meeres verstimmt zu haben. Sie kamen nur an, um sich den Gegenstand zu betrachten, der da in ihrem Elemente herumzappelte, dann schossen sie wieder pfeilschnell davon, um anderen Platz zu machen. Und ich war schon viel zu apathisch geworden, um mich noch darum zu kümmern. Immer beißt zu, wenn ihr Lust habt!

Da aber fuhr ich wie elektrisiert empor. Ein grünes Feuer! Das Steuerbordlicht eines Seglers! Ganz nahe vor mir war es plötzlich aus der Finsternis aufgetaucht, auch einige erleuchtete Bullaugen konnte ich jetzt unterscheiden.

Meine Lebenshoffnung war doch noch nicht so weit erloschen. Auch ein Matrose, der sonst immer nur flucht, kann einmal beten — besonders wenn er die sicheren Schiffsplanken unter den Füßen verloren hat und draußen im Wasser liegt.

Es ist eigentlich nicht hübsch, dass man erst dann zu beten anfängt, es ist sogar eine gewisse Feigheit, eine Erbärmlichkeit dabei, aber wenn es nun einmal so ist, muss man es auch gestehen.

Ja, ich habe gebetet.

»Herrgott im Himmel, hilf, dass ich mich bemerkbar machen kann und aufgenommen werde!«

Meine Chancen waren günstig. Das Schiff, welches schon ziemlich viele Segel gesetzt hatte, hielt direkt auf mich zu, schon nach fünf Minuten war es etwas querab vor mir, in der nächsten Minute musste es vorbeirauschen, kaum fünfzig Meter von mir entfernt.

Jetzt konnte ich im Scheine der Bordlaternen sogar schon Menschen unterscheiden.

»Hallo, hallo. Mann über Bord, Mann über Bord!!!«, heulte ich. Da sprangen dort die Matrosen durcheinander, nach der Bordwand, spähten aus!

O, Gott, o, Gott, war das ein Anblick! Denn er sagte mir, dass ich gehört worden war.

»Mann über Bord, Mann über Bord!! Hier, hier, auf Steuerbord, vier Strich hinter Steuerbord!«

Kommandos, schrillende Bootsmannspfeifen — das Schiff, ein Dreimaster, drehte aus dem Wind, Segel wurden gerefft, Blendlaternen leuchteten auf, ihre Strahlen suchten das Meer ab, freilich nicht etwa vergleichbar mit einem elektrischen Scheinwerfer.

Dann aber kam doch ein blendendweißer Strahl — eine Magnesiumfackel mit Reflexspiegel.

»Hol ein Butenklüver, los Backbordtrossen, klar die Jolle!!«

Aber es sollte nicht dazu kommen, das Rettungsboot erst aussetzen zu müssen, was seine furchtbaren Schwierigkeiten gehabt hätte, denn das große Schiff schien noch bei jedem Wogenschlag kopfüber gehen zu wollen.

»Da swimmt he, da swimmt he!!«, erklang der Ruf, so deutsch, wie auch die Kommandos immer gewesen waren, und ausgestreckte Arme deuteten auf mich.

An Seilen befestigte Korkringe wurden ausgeschleudert, sie trieben alle auf mich zu, ich fasste den einen, wurde herangezogen, ein stärkeres Seil traf meinen Kopf, ich packte es, ein Schwung, und ich befand mich an Deck.

Es war meine letzte Kraftleistung gewesen. Meine Beine versagten den Dienst, und dann schwand das Bewusstsein.

— • —

72. Kapitel
Das rätselhafte Schiff

Originalseiten III.172 — 189

Doch es war keine wohltätige Ohnmacht. Mich quälte ein schrecklicher Traum. Ich schwamm und schwamm, und dabei wusste ich dennoch, dass ich in einer Koje lag und nur immer in den Decken herumwühlte, sie beim Wassertreten zusammenwürgte — es war Fieber, eine Folge der Überanstrengung.

Mehrmals wurde ich mit kühler Limonade getränkt, ich wusste es, aber ich vermochte nicht die Augen zu öffnen, ich schwamm weiter und balgte mich mit Haifischen herum.

Dann aber wurde der Traum undeutlicher. Ich glaube, jetzt kam Kapitän Berseck mit ins Spiel, den ich verfolgte, ohne ihn einholen zu können — bis mich endlich ein tiefer, erquickender Schlaf umfing.

Als ich erwachte, drang durch das Bullauge freundlich die Sonne herein. Ich war wieder vollkommen fieberfrei, fühlte mich ganz behaglich. Mit solch gesunden Augen schaute ich um mich.

Es war eine recht komfortabel ausgestattete Kabine. Wohl für einen Gast berechnet, auf den ja selbst jedes größere Segelschiff eingerichtet ist. Würdig, sogar eine verwöhnte Dame zu beherbergen. Der Waschtisch zierlich und von Mahagoni, desgleichen der in die Wand eingelassene Garderobenschrank, die oben offene Koje, in der ich lag, mit gestickten Seidendecken belegt, überhaupt gar keine richtige Koje, sondern ein Schwebebett, auf Federn und Rolllagern ruhend, sodass die Schlingerbewegungen des Schiffes möglichst ausgeglichen wurden, das allermodernste...

Meine Betrachtungen wurden durch den Eintritt eines Mannes unterbrochen.

Donnerwetter, war das ein schöner Kerl! Das heißt männlich schön! Nicht etwa so ein Puppenkopf mit roten Bäckchen und schwarzen Löckchen, pomadisiert und in der Mitte gescheitelt, was ja manchen Frauenzimmern gefallen mag, aber mir wird's beim Anblick solch eines männlichen Puppenkopfes immer gleich schlecht.

Doch dieser Kopf hier hätte wohl auch jedem Weibe imponiert. Das tiefgebräunte Gesicht zeigte trotz aller Verwitterung wahrhaft klassische Züge, dabei tiefernst wie die blauen Augen, und dass der blonde Schnurrbart durch eine furchtbare Schmarre an der unrechten Stelle geteilt war, konnte dieses Gesicht ebenso wenig entstellen, wie die anderen zahlreichen Schmisse, im Gegenteil, dies hob die Kühnheit nur noch mehr hervor, welche sonst auch von dieser kraftvollen, breitschultrigen Gestalt ausging.

Ich sagte absichtlich nicht Narben, sondern Schmisse, weil ich nämlich lebhaft an einen Studenten dachte. Ich hatte schon einmal solch einen verluderten Studenten kennen gelernt, welcher, nachdem er auch im sechzehnten bis zwanzigsten Semester durchs Examen gekracht, zur See gegangen war. Sein Vater hatte etwas bei einer großen Schiffsreederei zu sagen gehabt, hatte ihm eine Stelle als Zahlmeister verschafft. Der hatte auch solche Schmisse gehabt.

War aber trotz alledem immer ein trauriger Kerl gewesen.

Das war der hier nicht! Das war ein echter Seemann! Er hätte gar nicht den Südwester auf dem Kopfe zu haben brauchen, nicht solche mächtige Seestiefel. Alles Kraft und Kühnheit und ruhiger Trotz gegen die Elemente. Ausdauer bis ans Ende!

Als er herantrat, wollte ich mich aufrichten — Himmelbombenelement, da fühlte ich erst, wie ich zerschlagen war! Ganz gelähmt! Ja, man plätschert nicht ungestraft drei Stunden lang im Stillen Ozean herum.

»Herr Kapitän Richard Jansen von der ›Sturmbraut‹?«, fragte seine sonore Stimme.

»Bin ich. Woher ist Ihnen das schon bekannt?«

»Sie haben im Traume davon gesprochen. Bitte, bleiben Sie nur liegen.«

Er klappte vom Bett einen Sitz herunter und setzte sich darauf. Da sah ich, dass er am rechten Handgelenk ein goldenes Armband trug, an dem eine große Silbermünze hing.

Recht unseemännisch, aber... weil ich solch eitlen Tand nicht leiden kann, deshalb will ich das noch lange nicht bei anderen Männern verurteilen. Sein Steckenpferd hat schließlich jeder, und ich war mit meinem silbernen Zahnstocher ja auch so ein Narr.

Außerdem erkannte ich dann, dass es ein Georgstaler war, wie ihn wohl besonders Offiziere gern tragen, als Talisman, und ich halte den Glauben an solch einen Talisman für gar keine so üble Sache.

Ein Offizier aber — ich meine einen Offizier mit einem Säbel, nicht nur einen Steuermann — war der früher einmal unbedingt gewesen, oder ich ließ mich doch gleich hängen.

Er schlug die Seestiefel übereinander, sich mit dem einen gegen die Wand stemmend, um nicht von seinem Bänkchen herunterzurutschen, und blickte mich lange und forschend an.

»Und wem habe ich meine Rettung zu verdanken?«, unterbrach ich endlich das Schweigen.

»Der ›Atlanta‹«, kam es einsilbig heraus, und das konnte doch nur der Name dieses Schiffes sein.

»Sie sind der Herr Kapitän?«

»Ja.«

Diese Einsilbigkeit mutete mich schon etwas seltsam an.

»Darf ich denn nicht den Namen meines Retters erfahren?«

»Anklam.«

Nach diesem einen Worte wieder eine lange Pause. Er blickte mich unausgesetzt an. Das ward mir langsam unangenehm.

»Ich danke Ihnen, Herr Kapitän Anklam.«

»Sie haben mir nicht zu danken.«

»Weshalb nicht? Sie haben mir das Leben gerettet, waren sogar bereit, unter den schwierigsten Verhältnissen ein Boot auszusetzen.«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, dass nicht ich es war, der Sie rettete.«

»Wer denn sonst?«

»Atlanta.«

»Ja, wer ist das?«

»Meine Schwester.«

Ich musste erst einige Zeit nachsinnen. Ich hatte doch geglaubt, dies sei der Schiffsname. Nun, das konnte ja noch immer sein, nun aber kam auch noch eine Schwester in Betracht, und dann lag ein anderer Gedanke sehr nahe.

»Sie selbst hätten mich nicht gerettet?«

»Nein.«

»O! Warum nicht?«

»Weil ich höchst ungern einen Fremden an Bord nehme.«

»Da hätten Sie mich lieber meinem Todesschicksale überlassen?«

»Ja.«

Oho! Da fand ich nicht gleich Worte.

»Nicht wahr, Herr Kapitän Jansen«, fuhr da jener, der gesprächiger werden zu wollen schien, von selbst fort, »Sie haben das Wort Seezigeuner erfunden?«

»Nicht eigentlich ich — nun ja, ich habe es zuerst häufig gebraucht. Also auch Sie kennen dieses Wort nun schon? Da kennen Sie auch mich schon?«

»Ich kenne Sie. Und Sie nennen sich einen Seezigeuner?«

»Ja, ich bin ein solcher«, musste ich lächeln, als mir in diesem Moment die Ereignisse der letzten beiden Jahre an meinen geistigen Augen vorüberschossen.

»Well, auch ich bin ein solcher Seezigeuner.«

Schon wieder einer! Nun ja, ich sollte erst später erkennen, wie viele solche Seezigeuner es in der Welt gibt. Aber man hört so selten von ihnen, aus dem einfachen Grunde, weil sie nicht von Zeitungsberichterstattern besucht werden können. Denn wo ist ihre Heimat? Und das ewige Meer ist schweigsam wie das Grab.

»Auch ich bin ein Jachtsportsman — nein doch, ein freier König des Meeres!!«

Wie Feuer war es plötzlich aus den blauen Augen hervorgebrochen.

»Solch ein freier König des Meeres möchte auch ich gern sein!«

»Sie wollen es?«

»Es war immer mein Ideal.«

»Warum haben Sie es nicht verwirklicht?«

»Ja, ich wollte es immer, aber das Schicksal wollte nicht. Es machte mich immer abhängig, und wenn ich glaubte, ich hätte es erreicht, dann kam immer wieder etwas dazwischen. Doch da müsste ich Ihnen meinen ganzen Lebenslauf erzählen.«

»Das ist nicht nötig, ich kenne ihn, wenigstens Ihre letzten Jahre auf der ›Sturmbraut‹, und ich weiß, was Sie meinen.«

»Dann ist es ja gut!«

»Soll ich Sie zum freien Seekönig machen?«

Wieder leuchteten diese blauen Augen ganz mächtig auf!

»Bitte, sehr gern!«

»Wir werden noch darüber sprechen«, entgegnete der Kapitän, und ein flüchtiges Lächeln huschte über seine edlen Züge. »Sie werden zunächst Appetit haben.«

Na, das war ein vernünftiges Wort! Was nützt mir eine Königskrone, wenn ich dabei Hunger leiden muss!

»Meine Schwester wird Sie gleich bedienen.«

Nach diesen Worten stand er auf und verließ die Kabine. Seine Schwester? Die Atlanta? Mich bedienen?

Donner und Doria! Und ich lag hier im Bette! Sollte ich mich nicht erst fix anziehen? Ja; aber wenn sie nun inzwischen hereinkam, und ich stand gerade sogar ohne die Unaussprechlichen da? Nein, lieber nicht, dazu war ich zu genant. Außerdem sah ich meine Sachen gar nicht, auch nicht andere, sie hätten denn gerade dort in dem Schranke hängen müssen. Und ich wagte nicht einmal, schnell bis dorthin zu schlüpfen, weil er von seiner Schwester gesprochen hatte, die mich bedienen sollte.

Ja, aber warum sollte ich denn überhaupt im Bett...

Da ging abermals die Schiebetür auf, und richtig, sie war's! Donnerwetter! Ich hatte, um mir Mut zu machen, im Hemde einmal nach dem Kleiderschranke zu springen, mir im Geiste eine alte, ausgetrocknete Schachtel von etlichen vierzig Jahren mit einer langen, spitzen Nase und mit Triefaugen vorgestellt — und nun erblickte ich hier vielleicht das pompöseste Weib, das ich jemals in meinem Leben gesehen hatte und habe, das sage ich noch jetzt, da ich dies als alter Mann schreibe.

Aber nun fängt es wieder mit der elenden Schilderung an! Wie soll ich solch eine Schönheit beschreiben?

Nun, das hier war so ein Puppenkopf mit rotgeschminkten Bäckchen. Und das gefiel mir. Bei Frauenzimmern ist das eben etwas ganz anderes als bei Männern. Das heißt, sie war nicht etwa angepinselt. Das war die Röte der Gesundheit, die die sonst schneeweiße Haut mit einem rosigen Hauche überzogen hatte.

Kennt man die wunderschöne Dame im Panoptikum, im Wachsfigurenkabinett, die mit dem Fächer wedelt und dabei immer den Kopf hin und her bewegt und mit den Augen klappert? Sie muss allemal schwarze Haare und einen ganz kleinen, kirschroten Mund haben.

Na, das hier war diese Wachsfigur, als Personifizierung der weiblichen Schönheit. Nur lebendig.

Überhaupt, kann ich gleich sagen, ganz das Gegenteil von Blodwen. Ein rundes Gesicht, große, schwarze Augen, ein kleines, rotes Mündchen... und was eben sonst noch alles zu dieser wunderschönen Panoptikumsfigur gehört.

Also auch die Figur war danach beschaffen.

Atlanta! Ja, das war sie. Dem Meere entstiegen. Sie trug nämlich ein weites Gewand von hellgrüner Gaze, das um die Hüften durch einen silbernen Schuppengürtel zusammengehalten wurde. Unten war es sehr lang, schleppte nach — oben war viel weniger Stoff vorhanden, auch die Ärmel waren ganz weit und lang herabhängend, sodass man bei jeder Bewegung die vollen, weißen Arme und noch viel mehr sehen konnte.

Dabei nun das schwarze Haar fein frisiert, um den vollen Hals eine prachtvolle Perlenkette... na, kurz und gut, eine bezaubernde Erscheinung. Ich guckte nicht schlecht.

Sie brachte ein Servierbrett mit herein, darauf eine silberne Teekanne und Tasse, geröstete Brotschnitte und besonders die runden Eier darauf sehr geschickt balancierend, denn das will bei so einem schlingernden Schiffe gelernt sein, klappte von meinem Bette ein anderes Brett herunter, in dessen Klammern die silberne Tafel genau passte, und wie ich jetzt merkte, war Topf und Tasse wieder auf diesem befestigt. Nur die braunen, gesprenkelten Möweneier mussten noch besonders gesichert werden.

Doch das sind ja alles Nebensachen.

»Wie geht es Ihnen, Herr Kapitän? Wie fühlen Sie sich?«

Ich hätte sie eher für eine Spanierin gehalten. Aber es war dennoch die Schwester jenes Kapitäns, die Ähnlichkeit war trotz aller Grundverschiedenheit eine ganz auffallende — wie das möglich ist, lässt sich nicht weiter beschreiben — und jetzt fiel mir auch die Ähnlichkeit der Stimme auf, und ihr Bruder war ein echter Germane gewesen. Man findet ja genug deutsche Frauen, welche so ein südländisches Aussehen besitzen, ohne dass nachweislich ein Tropfen fremdes Blut in ihre Adern gekommen ist. Man sagt, dass das sehr gefährliche Frauen sind, trotz ihrer sonstigen Ruhe noch viel leidenschaftlicher werden können als die wirklichen Südländerinnen.

»Danke, ganz gut.«

»Geben Sie mir Ihre Hand!«

Sie krabbelte mir mit ihren kleinen, wie gedrechselten Fingerchen lange am Gelenk herum, ehe sie den Puls fand.

»Sie haben noch immer Fieber.«

»Ich merke wirklich nichts davon.«

»Sie waren sehr krank.«

»Ach nein!«

»Wissen Sie, wie lange Sie geschlafen haben?«

»Ich halte das für die frühe Morgensonne.«

»Ja; aber nicht die Morgensonne desselben Tages, an welchem wir Sie aufgefischt haben. Inzwischen ist ein ganzer Tag vergangen.«

»Was?!«

»Sie haben länger als vierundzwanzig Stunden geschlafen.«

Ja, dann freilich — dann konnte ich mir diesen fürchterlichen Wolfshunger erklären, der sich immer deutlicher fühlbar machte, und ich schielte etwas wehmütig nach den wenigen Brotschnitten und nach den drei Eiern.

»Sie haben außerordentliches Fieber gehabt. Sie dürfen vorläufig nur leichte Sachen essen.«

Sie schenkte mir Tee ein, und ich fügte mich.

Während ich aß, schaute sie mich unverwandt an. Das ewige Meer macht jeden schweigsam, der sich ihm ergibt, aber mir wurde das peinlich.

»Was für ein Schiff ist das?«

»Die ›Ozeana‹.«

Also doch wenigstens so etwas Ähnliches wie ihr eigener Name.

»Was für ein Typ?«

»Ein Vollrigger.«

Sie war schon ganz ›Seemann‹ geworden. Das ist die Abkürzung für einen Vollmaster, also ein vollgetakeltes Schiff, an jedem Maste Rahen.

»Unter deutscher Flagge?«

»Unter gar keiner.«

»Sie haben gar keine Nationalität?«, staunte ich. »Jedes Schiff muss doch wenigstens einen Heimathafen haben.«

»Wir haben keinen.«

Ich dachte an Blodwen; bei der war jetzt etwas Ähnliches der Fall, die führte ihre eigene Flagge, aber die hatte dazu von dem allmächtigen England die Konzession erhalten.

»Ja, wenn Sie aber nun von einem Kriegsschiff aufgefordert werden, die Flagge zu zeigen?«

»Nun gut — allerdings ist die ›Ozeana‹ in Kalkutta unter englischer Flagge registriert, aber das ist nur eine Förmlichkeit, wir selbst nennen uns heimatlos; wir wollen auch nichts von einer Nationalität wissen.«

Da sieht man wieder einmal, wie selbst die Freiheit auf dem freien Meere ihre Grenzen hat.

»Das ist aber nur für den höchsten Notfall«, fuhr sie von selbst fort, »und dieser ist noch niemals eingetreten. Wir haben noch niemals diese Flagge gezeigt.«

»Sie sind noch niemals von einem Kriegsschiffe dazu aufgefordert worden?«

»Doch, aber wir verweigern, Namen und Flagge zu zeigen.«

»Wie wollen Sie denn dem ausweichen?«

»Nun, wir tun es eben nicht.«

»Dann ist jedes Kriegsschiff berechtigt, Sie mit Beschlag zu belegen, ins Schlepptau zu nehmen; es kann Sie sogar in den Grund schießen.«

Ein unsäglich spöttisches Lächeln trat auf den schönen Zügen hervor, ohne diese zu entstellen.

»Mich?«

»Ihr Schiff meine ich natürlich.«

»Dies wissen wir zu verhindern.«

»Auf welche Weise denn?«

»Wenn Sie bei uns an Bord bleiben, werden Sie es erfahren.«

Dies lenkte zunächst meine Gedanken auf etwas anderes. Ich dachte an meine ›Sturmbraut‹, an meine Leute.

»Wohin segeln Sie?«

»Nach Nordwesten.«

»Haben Sie denn nicht ein bestimmtes Ziel?«

»Nein. Hat Ihre ›Sturmbraut‹ eins gehabt?«

»Hm. Wissen Sie eigentlich, auf was für einer Fahrt ich begriffen war, als ich über Bord gewaschen wurde?«

»Sie waren hinter dem Kapitän Berseck her, der Fanafute bombardiert hat.«

»Woher ist Ihnen das bekannt?«, fragte ich mit grenzenloser Überraschung.

»Nun, Sie haben im Fiebertraume alles ausführlich erzählt.«

Ach so — ich brauchte gar nicht überrascht zu sein. Es ist doch unangenehm, wenn man im Traum so schwatzt — wer weiß, was ich da alles hervorgebracht hatte. Doch ich hatte ja ein gutes Gewissen.

»Wird die ›Sturmbraut‹ nach Fanafute zurückkehren?«

»Das weiß ich wirklich nicht. Ich habe vorher gar keine Dispositionen getroffen. Ja, gestatten Sie mir erst noch eine andere Frage, die mir gerade einfällt — Sie weigern sich durchaus, Namen und Flagge Ihres Schiffes zu nennen?«

»Durchaus! Mein Bruder ist ein Sonderling, der neben sich keine andere Macht anerkennen will.«

»Aber wenn das Schiff einen Hafen anläuft, muss er es tun.«

»Wir laufen keinen Hafen an.«

»Nanu, Sie müssen doch Ihren Proviant ergänzen!«

»Dazu brauchen wir aber keinen Hafen anzulaufen.«

»Woher bekommen Sie denn den sonst?«

»Sie werden es erfahren, wenn Sie bei uns an Bord bleiben«, lautete wiederum ihre Antwort.

Jetzt wurde ich natürlich erst recht gespannt. Rätselhaft war mir die ganze Sache ja schon von vornherein gewesen; mit diesem Schiffe musste irgendein Geheimnis verbunden sein, das war mir gleich zum Bewusstsein gekommen, als ich mich nun mit dem ersten Augenaufschlag in der Kabine umgeschaut hatte, ohne zuerst einen richtigen Grund dafür zu haben. Aber allein der Kapitän hatte dann meine Ahnung bestätigt, diese seine Schwester tat es jetzt erst recht, mit ihren eigenen Worten.

Mein Entschluss war sofort gefasst. Ja, ich wollte die mir angebotene Gastfreundschaft benutzen. Mochten mich meine Jungen einstweilen für tot halten. Ich hatte ja überhaupt gar keine Gelegenheit, dies zu dementieren. Das konnte ich höchstens erst später in einem Hafen tun, durch Erklärung in einem Schiffspapier. Und meine ›Sturmbraut‹ war ja unter der Führung meines famosen Kommodore gut aufgehoben; denn ich musste diesen geheimnisvollen Mann wirklich bald für allwissend halten.

»Sie haben ein Versteck, eine heimliche Proviantkammer?«, fragte ich zunächst, dabei lebhaft an den Vogelberg denkend.

»Ja.«

»Wo?«

»Aber, mein bester Herr Kapitän«, lächelte sie jetzt, »solch ein Geheimnis wird man doch nicht gleich offenbaren.«

»Sie sagten doch, ich sollte es erfahren.«

»Ja, aber durch eigene Anschauung müssen Sie sich davon überzeugen. Denn wenn ich es Ihnen erzähle, würden Sie es ja doch nicht glauben.«

»Ist es so wunderbar?«

»Wunderwunderwunderbar!«

»Gut, ich nehme Ihr Anerbieten an, ich bleibe vorläufig hier an Bord, bis Sie mich überdrüssig haben und wieder absetzen«, musste ich ob dieser dreifachen Versicherung der Wunderbarlichkeit lachen.

Da plötzlich ging es über diese schönen, sonst sehr ernsten Züge wie ein Sonnenschein des Glücks, als sie mir ihre kleine Hand hinhielt.

»Abgemacht!«

Ich nahm diese warme Hand und drückte sie leicht.

»Ja, abgemacht, Madam... wie darf ich Sie eigentlich nennen?«

»Ich bin unverheiratet.«

»Also abgemacht, Fräulein Atlanta.«

»Fräulein Atlanta, wie das klingt«, lachte sie. »Das ist mir gänzlich fremd. Nennen Sie mich nur Atlanta, wie jeder zu mir sagt.«

Unsere Hände waren endlich wieder auseinandergekommen.

»Ist das Ihr richtiger Name?«

»Atlanta? Ja.«

»Ein ganz ungewöhnlicher Name.«

»Ich bin auf dem Atlantischen Ozean geboren worden.«

»Was Sie nicht sagen!«

»Und mein Bruder auch.«

»Da waren wohl schon Ihre Eltern solche Seezigeuner? Verzeihung, aber...«

»Ich weiß, ich weiß, mein Bruder hat mir schon davon erzählt. Ja, bereits unsere Eltern waren echte Seezigeuner, welche das ganze Meer ihre Heimat nannten. Aber noch mehr: meine Mutter war tatsächlich eine Zigeunerin.«

Sie blickte mich gespannt an, und ich sie nicht minder.

»Eine richtige Zigeunerin? So eine Landstreicherin, welche aus der Hand wahrsagt und stiehlt, was nur zu stehlen...«

O Gott, was hatte ich da in meiner Offenherzigkeit gesagt! Und sie blickte mich denn auch plötzlich mit ganz großen Augen starr an.

»Dann denken Sie verächtlich über die Kinder solch einer Zigeunerin?«

»I wo, Fräulein, nehmen Sie das doch nicht so, das war mir nur so herausgefahren, ich habe das Herz überhaupt immer auf der Zunge, und ich habe als Kind eben keine anderen Zigeuner kennen gelernt. Was können denn die Kinder dafür, was ihre Eltern gewesen sind? Nee, faktisch, Ihre Mutter war eine richtige Zigeunerin? Die Zigeunersch sind immer als Kind mein Ideal gewesen. Wenn ich an Land bleiben musste, dann wollte ich mindestens so ein freier Vagabund werden. Und... ich hab's noch jetzt im Blute.«

Ihr Ausdruck war gleich ein anderer geworden, sie lachte.

»Mein Vater heiratete sie aus Liebe«, sagte sie dann, wieder ernst werdend.

»Natürlich, natürlich«, stimmte ich bei, »wo die Liebe hinfällt!«

»Er hatte sich mit einer jungen Zigeunerin eingelassen.«

»Ja ja, wie das so manchmal ist.«

»Es war ein wunderschönes Mädchen.«

»Aber schöner als Sie kann Ihre Mutter nicht gewesen sein.«

Ich weiß nicht, wie mir das so herausgefahren war. Es war eben meine ehrliche Offenheit.

In ihrem Gesicht zuckte es, aber sie wollte nichts gehört haben.

»Und dann hat er sie geheiratet, obgleich er es durchaus nicht nötig gehabt hätte. Aber er hatte sie verführt, und auch ein Zigeuner ist doch schließlich ein Mensch.«

»A la bonheur, das gereichte Ihrem Vater doch nur zur höchsten Ehre. Meine Hochachtung!«

»Ja, aber nicht zur Ehre vor seinen Geschwistern und übrigen Verwandten.«

»Das kann ich mir schon denken. Es gibt solche Menschen genug.«

»Und wenn Sie wüssten, wer mein Vater gewesen ist!«

»Nun, wer denn?«

»Kennen Sie nicht den Namen Anklam?«

»Nur als Namen einer Stadt. Anklam liegt doch wohl im Regierungsbezirk Stettin?«

»Jawohl, von dort stammte mein Vater her.«

»Ach, da ist das wohl nur ein angenommener Name?«

»Ja. Mein Vater war ein Edelmann, noch mehr.«

»Ein Graf?«

»Noch mehr.«

»Ein Herzog? Ein Fürst?«

»Ich darf es nicht sagen, dies alles hat mein Vater selbst begraben, und das muss uns heilig sein. Und er hat auf alles, alles verzichtet.«

»Wegen dieser Zigeunerin?«

»Ja. Er wurde so angegriffen, dass er verzichtete, obgleich er es nicht etwa nötig hatte, man konnte ihn nicht verstoßen. Aber er warf seinen stolzen Verwandten Geld und Titel und alles vor die Füße — wegen dieser Zigeunerin.«

»A la bonheur, meine Hochachtung vor Ihrem Vater wächst immer mehr — das muss ja ein herrlicher Mann gewesen sein, gerade mein Fall!«

»Und dann ging er zur See.«

»Er kaufte sich sein eigenes Schiff?«

»Das musste er sich erst verdienen, er hatte ja gar nichts mehr.«

»Aha! Immer besser. Aber dann fuhr er seine eigene Jacht, nicht wahr?«

»Ja, dann nannte er sich einen freien König des Meeres.«

»Merkwürdig, dass ich niemals etwas von ihm gehört habe!«

»Warum? Mein Vater hat immer ganz für sich gelebt, nur auf seiner Jacht, seine Mannschaft war sein Volk, doch sonst hat er niemals von sich reden gemacht.«

»Ganz mein Fall. Und auch seine Frau hatte er immer mit an Bord?«

»Immer.«

Diesmal sagte ich nicht: ganz mein Fall.

»Da sind Sie und Ihr Herr Bruder also auch an Bord geboren?«

»Wie ich schon sagte, und zwar beide während der Durchkreuzung des Atlantischen Ozeans. Mein Bruder erhielt den Ihnen wohl etwas ungewöhnlich, uns aber ganz geläufig klingenden Vornamen Neptun, ich wurde Atlanta getauft.«

Ich merkte, wie dieses sonst jedenfalls sehr schweigsame Mädchen begierig die Gelegenheit ergriff, sich einmal mit einem anderen Menschen unterhalten zu können.

»Und was für schwierige Verhältnisse das waren!«, fuhr sie fort.

»Das glaube ich schon.«

»Herr Kapitän, ich möchte Ihnen etwas gestehen.«

»Nun?«

»Auf die Gefahr hin, dass Sie sich dann mit Abscheu von mir wenden.«

»Aber ich bitte, wie soll Sie denn überhaupt jemand verabscheuen können!«

»Ich möchte es fast gar nicht sagen.«

Sie war trotz aller sonstigen Ungewöhnlichkeit doch immer noch ein echtes Weib!

»Ist es denn etwas gar so Fürchterliches?«

»Mein Vater hatte Hunde an Bord.«

»Weiter nichts?«, musste ich lachen.

»Wolfshunde, die Abkömmlinge von echten Wölfen.«

»Und da haben Sie wohl, als der Proviant einmal ausging, Wolfsbraten gegessen?«, musste ich noch immer lachen. »Und deshalb wollen Sie meine Absolution? Die haben Sie. Ich habe schon ganz andere Dinge verspeist.«

»Nein, aber die Mutter konnte ihre Kinder niemals selbst nähren.«

Jetzt mochte ich allerdings große Augen machen.

»Was, und da sind Sie und Ihr Bruder wohl gar von einer Wölfin gesäugt worden?!«

»Ja.«

Da erst bemerkte ich, wie sie mich mit ängstlicher Erwartung anblickte, auch dieses so gehauchte Ja musste auffallen — da aber hielt ich ihr lachend die Hand hin.

»Sie glauben wohl gar, dass da irgend etwas dabei ist? Sie meinen wirklich, dass Sie deswegen von jemandem verachtet werden können?«

»Es ist schon oftmals geschehen«, hauchte sie wiederum so.

»Na, das müssen die richtigen Schwachköpfe gewesen sein, oder ganz gemeine Menschen. Kennen Sie denn nicht die Fabel von Remus und Romulus, von den Gründern Roms, welche ebenfalls von einer Wölfin gesäugt wurden? Und die wurden dann unter die Halbgötter versetzt.«

Ich sprach noch mehr — die Hauptsache war, dass ich dergleichen Gedanken aus ihrem Kopfe brachte, das war ja auch gerade so etwas für mich, so etwas imponierte mir — von einer Wölfin groß gezogen! — und dabei schüttelte ich ihr immer lachend die Hand, behielt diese noch länger in der meinen.

»Na, sind Sie nun beruhigt?«

»Ja, weil Sie es sagen.«

»Hat Ihnen denn dies noch kein anderer gesagt?«

»Doch, aber nicht so wie Sie.«

»Ihre Eltern sind tot?«, sprang ich jetzt auf ein anderes Thema über.

»Beide.«

»Und nun leben Sie mit Ihrem Bruder ebenso auf dem eigenen Schiffe?«

»Ebenso. Wir kommen mit anderen Menschen gar nicht mehr in Berührung.«

»Und Sie fühlen sich dabei glücklich?«

Eine lange Pause.

»Glücklich?«, wiederholte sie dann leise mit einem ganz verdächtigen Zucken um die Mundwinkel.

Und mit einem Male wirft sich das Weib über mein Bett, umklammert mit beiden Armen die Bettdecke, unter der mein Oberkörper liegt, und jammert und schluchzt in einem fort:

»Von einer Wölfin gesäugt, von einer Wölfin gesäugt...«

Und dann ist sie hinaus.

— • —

73. Kapitel
Von einer Wölfin gesäugt!

Originalseiten III.189 — 211

Ich war starr. Ich brauchte lange Zeit, um mich zu erholen. Hätte die mir plötzlich eine Liebeserklärung gemacht, mich abgeküsst — ich wäre längst nicht so baff gewesen. Aber so!

»Was zum Teufel nimmt die sich denn so zu Herzen, dass sie von einer Wölfin gesäugt worden ist?!«

Mit diesen Worten sprang ich mit gleichen Füßen aus der Koje, verriegelte die Tür und öffnete den Kleiderschrank.

Richtig, da hingen meine Sachen, trocken und sogar gebügelt, in der Westentasche war mein Zahnstocher, dann waren aber auch noch andere Kleidungsstücke vorhanden, sodass ich z. B. meine Jacke ersetzen konnte — nur mit den Hosen sah es mau aus, das war überhaupt bei mir stets der wunde Punkt, wenn ich mich mit fremder Garderobe behelfen musste, sie reichten mir alle nur bis zu den Knien — doch da war ja eben meine eigene, sogar eine Falte hineingebügelt, und in den unteren Schubladen fand ich auch Wäsche.

Ich fuhr in die Büxen. Oder, um mich feiner auszudrücken: ich machte Toilette — grande toilette.

Nun muss ich aber gestehen, dass mein Blut bei jenem Manöver ganz mächtig erregt worden war. Es war schon vorher immer etwas heiß gewesen. Na ja, ich war ja ein schwer Fieberkranker. Mir wäre eigentlich lieber gewesen, wenn sie mich selber abgeknutscht hätte, anstatt nur die Bettdecke, und wenn sie von etwas anderem gesprochen hätte, als nur immer davon, dass sie am Euter einer Wölfin ihren ersten Appetit gestillt.

Na, sie war ja noch an Bord dieses Schiffes, da konnte ja noch die Fortsetzung kommen. Wirklich, ein tadelloses Frauenzimmer! Einmal etwas ganz, ganz Apartes!

War doch gespannt, wie das noch kommen, was ich hier noch alles erleben würde. Ich war überhaupt mächtig gespannt, wie ein Aal in der Hobelbank. Neptun, Ozeana, Atlanta — keine Heimat und keine Flagge — Sie werden schon noch erfahren, wo wir uns verproviantieren — das klang alles so geheimnisvoll.

Natürlich, ein Geheimnis war mit diesem Schiffe verbunden. Man hat doch nicht umsonst eine Zigeunerin zur Mutter und ist doch nicht umsonst von einer Wölfin gesäugt worden!

Was für seltsame Existenzen es doch in der Welt gibt, und die anderen Menschen erfahren gar nichts davon!

Für die See gilt das noch viel mehr als für das Land, da kann das Geheimnis viel besser bewahrt bleiben. Da kann es ja die tollsten Sonderlinge geben! Und sackt das Schiff, diese kleine Welt für sich, einmal auf den Grund — na, dann ist eben auch keine Spur mehr davon vorhanden.

Was ich hiermit meine, ist wohl verständlich. Zu Land mag ein verrückter Sonderling noch so geheimnisvoll hausen, sich mit einer undurchsichtigen Mauer umgeben — man kann sein Treiben dennoch beobachten, es muss ihm alles gebracht werden, was er zu seines Lebens Nahrung und Notdurft gebraucht, und stirbt er, so findet man doch noch etwas von seinen Eigentümlichkeiten in der Hinterlassenschaft, mag er sonst auch alles verbrannt haben — auf festem Boden lassen sich eben alle Spuren doch nicht so verwischen — das Meer hingegen macht einfach einen einzigen Schluck — spurlos verschwunden ist alles, nicht eine Ratte kann noch etwas erzählen.

O, ich lobe mir das Meer!! Das ist etwas Ganzes, nichts Halbes. Ich möchte ein Hatschigagok sein, auch so ein Fischmensch. Ja, was machte jetzt wohl mein Karlemännchen?

Unter solchen Gedanken, unter denen ich aber der Hauptsache nach doch immer dieses pompöse Frauenzimmer in dem grünen Gazekleid vor Augen hatte, war meine Toilette beendet.

Ich trat hinaus. Ein hochnobler Gang! Oder will beim Korridor bleiben, der nämlich auf Schiffen einfach ›Gang‹ genannt wird. Mit einem sonderbaren Stoffe belegt, den ich beim näheren Untersuchen als Gummi oder Kautschuk erkannte, wenigstens zwei Zentimeter dick. Damals auch noch etwas ganz Neues, Läufer und Teppiche aus Kautschuk! Übrigens sehr kostspielig!

Worin sonst das Hochnoble bestand, kann ich nicht weiter beschreiben, ich entsinne mich dessen nicht mehr so genau. Weiße Holzwände mit vergoldeten Schnörkeln und dergleichen, was man sonst nicht so leicht auf einem Segelschiffe zu sehen bekommt, es sei denn eine Lustjacht. Aber das war doch hier ein großer Kasten. Meine ›Sturmbraut‹ war schließlich auch eine Lustjacht, aber so fein sah es in der nicht etwa aus.

Hüben und drüben Kabinentüren, und dann kam ich geradeaus, aber nach hinten, in die Kajüte.

Auch hier wieder alles hochvornehm. Wie auf einem Luxusdampfer. Doch Besonderes bemerkte ich sonst nicht.

Anwesend war niemand. Die vom Innern der Kajüte ausgehenden Kabinen gehörten doch offenbar dem Kapitän und seiner Schwester, die waren für jeden anderen tabu, heilig, und man öffnet doch auch nicht in einem fremden Hause, in dem man Gast ist, jede Tür.

Ich hätte die nach oben führende Treppe benutzen können, wollte mich aber erst etwas weiter hier unten umsehen. Wie weit ich da gehen, welche Türen ich öffnen durfte, wusste ich als Seemann.

So verließ ich die Kajüte auf der anderen Seite, d. h. auf Backbord, passierte den zweiten Korridor.

Auch wieder hüben und drüben Kabinen, und dann kam ich an der offenen Pantry vorbei.

Alles Silbergeschirr. Mich wunderte nur, dass der Schiffsname nicht eingraviert war, was doch sonst immer der Fall ist.

Der Steward war nicht zu sehen, kein anderer Mensch. Doch das war durchaus nicht auffällig. Zu anderen Zeiten, bei schlechtem Wetter, scheint manchmal wieder das Deck wie ausgestorben zu sein.

Die große Tür am Ende des Ganges musste in das eigentliche Zwischendeck führen, damals noch Batterie genannt, auch bei ganz harmlosen Kauffahrteischiffen.

Richtig! Der lange Raum, von der Kajüte und ihren Nebenwohnungen aus durch das ganze Schiff gehend, war völlig leer. Das ist aber sehr häufig der Fall. Das oberste Zwischendeck wird eben mit Absicht immer freigelassen, falls doch einmal etwas kommt, was man mitnehmen will, um immer noch einen freien Platz zu haben. Es ist nicht nötig, dass er wie bei meiner ›Sturmbraut‹ als Tummelplatz der Mannschaft dient, davon ist vielmehr sonst auf Schiffen keine Rede.

Dieses Schiff war eben noch nicht voll befrachtet — wenn es sich überhaupt mit Ladung befasste!

Nun, so ganz nackt war der große Raum nicht. Da gingen vor allen Dingen die beiden vordersten Masten durch, wie gewöhnlich als Stellage oder Aufbewahrungsort für Äxte und Harpunen dienend, ferner aber auch für Entersäbel und Schießwaffen aller Art.

Doch da war wiederum nichts Besonderes dabei. Noch heute ist jedes Kauffahrteischiff so eingerichtet. Denn, wie schon gesagt, noch heute muss jeder Segler bei Windstille in den chinesischen, malaiischen und arabischen Gewässern damit rechnen, von Piraten angegriffen zu werden, deren man sich zu erwehren hat.

Daher waren auch die vier Bordgeschütze ganz selbstverständlich, an jeder Seite zwei, größer als meine, aber doch nicht so schlimm, Vierpfünder.

Sonst gab es hier unten nichts weiter zu sehen, und mir war es vor allen Dingen um die Küche zu tun.

Ich benutzte die schmale Treppe, die auch von hier aus nach oben führte, musste nur einen Lukendeckel aufstoßen, dann lachte mir die Sonne entgegen.

»Morning, Sir!«, begrüßte mich ein Mann, der eben ein Tau aufrollte, durch die silberne Pfeife an Lederschnur als Bootsmann gekennzeichnet.

Herrgott, hatte der Kerl eine zerfetzte Visage! Aber der Matrose dort hatte auch keinen schlechten Hieb im Gesicht — und der auch — und dem fehlte die Nase — und dem ein Ohr — und der dort wieder mit so einem zerfetzten Gesicht — und der hatte nur einen Arm — und der einen hölzernen Fuß... es waren nur wenige, die man als normale Menschen bezeichnen konnte.

Doch mir fiel das durchaus nicht auf. Wenn man so seine eigene Jacht hat, mit der man auf Abenteuer ausgeht, und man wechselt die Mannschaft nie, ergänzt nur den Abgang, dann hat man bald lauter Veteranen an Bord. Und wenn ich das ausführte, was ich mir vorgenommen hatte, dann würden meine Jungen auch bald so aussehen.

Eine Kommandobrücke war nicht vorhanden. Und an den Rettungsgürteln, Eimern und dergleichen Gegenständen sah ich wiederum keinen Schiffsnamen!

Ja, dann allerdings durfte dieses Schiff gar nicht wagen, einen Hafen anzulaufen. Oder der Schiffsname musste, wie es Vorschrift ist, erst angemalt werden.

Da sah ich den Kapitän auf mich zukommen, ernst, wie ich ihn schon kennen gelernt.

»Nun, Herr Kapitän, Sie haben sich an Deck gemacht?«

Nicht freundlich, nicht mürrisch — kalt und ruhig, wie dieses Gesicht war. Denn erst jetzt im Sonnenlichte sah ich, wie steinern diese edlen Züge waren. Leblos!

Ein Handgeben war nicht.

»Ich hielt es in der Koje nicht mehr aus.«

»Sie haben sehr stark gefiebert, einen Tag und eine Nacht lang.«

»Ihr Fräulein Schwester sagte es mir, und ich war erstaunt, es zu hören. Ich glaubte, nur eine Nacht sei vergangen.«

»Nein, es war vorgestern in der sechsten Morgenstunde, als wir Sie auffischten. Wann sind Sie denn über Bord gestürzt?«

»Kurz vor zwei Uhr.«

»Da haben Sie ja länger als drei Stunden im Wasser gelegen. Wie kam das eigentlich?«

Ich erzählte ihm den Vorgang mit kurzen Worten.

»Ja, das konnten wir auch schon ihren Fieberträumen entnehmen. Sie haben unausgesetzt geredet.«

»Doch nicht große Geheimnisse verraten?«, lachte ich.

»Haben Sie solche?«, war die ernste Gegenfrage.

»Nein — und doch...«

Jetzt wurde auch ich ernst.

»Habe ich etwas von einem hohlen Felsenberge erzählt?«

»Von einem hohlen Felsenberge? Nein. Was ist damit? Doch lassen Sie, lassen Sie, ich will doch nicht etwa Ihre Geheimnisse wissen. Ich machte doch nur Scherz. Wie fühlen Sie sich denn?«

»Ganz wohl, nur etwas zerschlagen, und dann... Appetit.«

Jetzt lachte auch er einmal. Aber es sah recht gekünstelt aus, klang auch so. Dieser Mann schien eines Lachens nicht mehr fähig zu sein, er musste sich dazu zwingen.

»Das glaube ich. Die Fürsorge meiner Schwester für Sie ist ja ganz übertrieben, bei so einer Natur, die Sie Ihrem Äußeren nach haben müssen. Sind Sie denn mit den drei Eiern fertig geworden?«

»Na, offen gestanden, die haben mir erst Appetit gemacht. Ich habe Hunger wie ein Wolf.«

Was war denn das? Ich erschrak mächtig, nämlich darüber, was für ein Gesicht der machte.

Er hatte die letzte Frage ebenfalls lachend gestellt, lachte noch immer — und nun mit einem Male erstarrten diese lachenden Züge, wurden wie von Stein, dabei verzerrt — ich kann es nicht beschreiben. Man stelle sich einen steinernen Kopf vor, dem der Künstler ein krampfhaft verzerrtes Lachen gibt. Wie würde sich das in Stein ausnehmen? Kurz, es war ein schreckliches Bild, was sich mir da bot.

»Hunger — Hunger — wie ein — wie ein — Wolf?«, kam es jetzt aus diesem im Lachen noch geöffneten Munde röchelnd hervor. »Hunger auf was?!«

Nanu, was hatte denn der Mensch?! Griff den das Bewusstsein auch so an, dass ihn eine Wölfin gesäugt hatte? Merkwürdige Menschen das, die ich hier kennen lernte! Na ja, eben der Welt gänzlich entfremdet, immer mit ihren eigenen Gedanken allein gewesen — da entwickeln sich solche Schrullen.

»Hunger auf eine große Portion richtiges Schiffsessen, Salzfleisch mit Erbsen oder dergleichen«, entgegnete ich ruhig.

Plötzlich waren die Züge wieder normal geworden.

»Ach so! Ich dachte... ich dachte...«

Der Mann sah sonst gar nicht danach aus, als ob er manchmal nicht Worte fände.

»Was dachten Sie denn, auf was ich sonst Hunger haben könnte?«

»Schon gut, es war eine andere Idee, die mir einfiel — Sie werden es sofort bekommen, trotz des Verbotes meiner Schwester. Wenigstens wird es sofort bestellt.«

Er gab einen diesbezüglichen Auftrag an einen Matrosen für den Steward.

»Eine Viertelstunde wird allerdings noch vergehen, wenn Sie nicht gerade...«

»Nein, nein, so schlimm ist es doch nicht, umfallen tue ich noch nicht.«

Kapitän Anklam gab einige Kommandos für die vollstehenden Segel.

»Sie hatten der ›Sturmbraut‹ kein bestimmtes Ziel gegeben?«, wandte er sich dann wieder an mich.

»Nein. Sie wissen doch, auf welcher Fahrt ich begriffen war.«

»Hinter dem Kapitän Berseck her — Sie sprachen davon im Fiebertraum.«

»Kennen Sie eigentlich diesen Kapitän Berseck?«

»Ich habe wohl schon von ihm gehört — dass er wegen Schmuggelei und wohl sogar wegen Piraterie für vogelfrei erklärt worden ist — nichts weiter«, war seine gleichgültige Antwort.

»Er soll erst vor kurzem ein Hafenstädtchen auf den Philippinen überfallen haben.«

»So?«

Ohne Aufforderung erzählte ich das wenige, was mir Lord Seymour darüber mitgeteilt hatte.

»Nicht möglich! Und doch, warum denn nicht? Das ist ja ein ganz rabiater Kerl, dieser Kapitän Berseck. Nun, dem werden sie auch schon einmal das Handwerk legen.«

»Das denke ich auch. Und wenn nicht von Menschenhand — solch ein Scheusal wird schon von der göttlichen Natur nicht für längere Zeit geduldet.«

»Sie glauben an solch eine Vorsehung?«

»Unbedingt!«

»Gut, jeder Glaube macht selig. Ja, wo werden Sie da aber Ihr Schiff zu suchen haben?«

»Ich glaube sicher, dass es nach Fanafute zurückgekehrt ist.«

»Hm. Und gerade nach Fanafute möchte ich nicht gern.«

»Weshalb nicht?«

»Lord Seymour hat doch eine Einladung an alle ergehen lassen, die sich Seezigeuner nennen.«

»Ist die auch Ihnen durch eine Flaschenpost bekannt geworden?«

»Jawohl!«

»Dann wundert mich erst recht, dass Sie dieser Einladung nicht folgen.«

»Nein, ich will mein freier Herr bleiben.«

Da dachte dieser Mann ja genau so wie ich.

»Aber Sie hätten sich die Geschichte doch wenigstens einmal ansehen können.«

»Auch das nicht. Ich will mit keinem Menschen mehr zu tun haben. Für mich ist die ganze Welt gestorben. Mein Schiff ist mein Königreich, meine Welt. Doch da Sie sich natürlich um Ihr Schiff bekümmern, werde ich doch noch einmal zurückfahren. Sie können ja mein Schiff verlassen, ohne dass ich mit jenen Herrschaften in Berührung komme. Nun allerdings haben wir mehr als vierundzwanzig Stunden verloren. Aber das geht nicht zu ändern, wir hätten ja auch wirklich von Ihnen kein Ziel bekommen können. Klaaar zum Manöver!!! Halseeeen!!!«

Und sofort folgte Kommando auf Kommando, die Matrosen flogen die Takelage hinauf, sogar der mit dem Stelzfuß.

Und ich hätte so gern erst noch gesagt, dass ich's mit der Rückkehr zu meiner ›Sturmbraut‹ gar nicht so eilig hatte.

Ich hätte ja so gern meine Jungen beruhigt, aber... ich wäre auch ganz gern noch ein bisschen länger hier geblieben.

Na, bei diesem Winde dauerte es auch mindestens noch vier Tage, ehe wir wieder nach Fanafute kamen, da musste tüchtig gekreuzt werden, und drehte sich der Wind noch mehr, gab's nach dieser südwestlichen Richtung überhaupt nichts mehr.

Ja, und hatte mich seine Schwester nicht direkt aufgefordert, an Bord zu bleiben? War das ohne Einverständnis ihres Bruders geschehen? Da musste ich sie doch darüber sprechen. Wenn ich sie nur erst wieder zu sehen bekommen hätte!

»Herr Kapitän, das Essen ist serviert«, meldete ein Kerlchen, dem man den Steward gleich ansah, obschon auch er wiederum den richtigen Seemann nicht verleugnen konnte. Und auch er hatte an der Schläfe eine fingertiefe Narbe, jedenfalls von einem Streifschusse herrührend.

Als ich in die Kajüte hinunterstieg, als ich sie betrat, ließ ich die Sonne draußen, während sie für mich hier unten aufging. Nicht deshalb, weil ich auf dem Tische mehrere dampfende Schüsseln stehen sah — ich bin Idealist — sondern weil mir da wieder das grüne Gazekleid entgegenwogte, sich mir schon wieder die feine, weiße Hand entgegenstreckte, von dem liebreizenden Lächeln gar nicht zu sprechen.

Ich machte meinen elegantesten Kratzfuß, wie seit lange nicht mehr.

»Sie Böser, also Sie sind doch aufgestanden! Habe ich deshalb Tag und Nacht an Ihrem Bett gesessen und gewacht?«

Ich glaube, mein nach hinten ausgestrichener Fuß blieb vor Schreck in der Luft schweben.

»Was? Sie haben Tag und Nacht, die ganze Zeit an meinem Bett gesessen?!«

»Unentwegt. Sie forderten ja ständig zu trinken, und ich wollte mir Ihre Pflege nicht nehmen lassen.«

»Sie haben gar nicht geschlafen?«

»Doch, als ich Sie ruhig verlassen konnte, heute nach Mitternacht, und einige Stunden Schlaf genügen mir.«

»O, wie soll ich Ihnen danken?!«

»Indem Sie mir etwas über die Lady Blodwen erzählen, über welche Sie fortwährend phantasiert haben. Darf ich hier bleiben, während Sie essen?«

Sie genierte mich nicht, und ich erzählte ihr von Blodwen — erzählte ihr mein ganzes Liebesleben während der letzten zwei Jahre.

Von meinem Liebesleben! Hiermit ist schon ausgedrückt, dass ich keineswegs etwas Nachteiliges über meine einstige Liebe erzählte. Denn wenn an mir langem Laster etwas Gutes war, so war es das, dass ich hinter dem Rücken einer Person nichts Schlechtes sagen konnte, sondern nur immer an ihre besten Seiten dachte.

Aber... wie zwischen den Zeilen lesen, so kann man ja auch zwischen den Worten hören, und ich glaube, dass jedes echte Weib gerade für so etwas ein sehr feines Ohr hat.

»Sie haben unglücklich mit ihr zusammen gelebt, gestehen Sie es.«

Sie setzte mir weiter durch Fragen zu, und schließlich wusste sie alles, hatte einen offenen Einblick in unser Verhältnis getan.

Weshalb ich unglücklich gewesen, das kann ich so nicht schildern. Alles, was ich bisher geschrieben, bis zur Trennung von Blodwen auf der Osterinsel, hat ja davon gehandelt. Ich selbst war mir ja dessen gar nicht recht bewusst gewesen. Erst damals, als ich sie auf der Osterinsel wiedergesehen, da war es über mich gekommen, alles, alles, da hatte ich mit voller Macht er kannt, wie sehr ich bisher der Sklave eines launenhaften Weibes gewesen war, da war ich geflohen.

Und Atlanta verstand mich. Ich sah es ihr gleich an. Dann sagte sie es auch.

»Sie Ärmster!«

Ja, wie soll ich nun schildern, wie alles kam? Es war gekommen, wie es gewöhnlich kommt. Erschrecke der Leser nicht über den großen Sprung, den ich jetzt mache.

Gegen neun Uhr hatte ich die Kajüte betreten, und zwei Stunden später, als die Schiffsglocke die vorletzte Stunde der letzten Vormittagswache glaste, hatte ich in dieser Kajüte das schöne Weib in dem grünen Gazekleide auf meinem Schoße und küsste ihren roten Mund — und küsste sie wieder und wieder, und sie war ganz Hingebung.

»Mein Richard!«

»Du kommst zu mir an Bord meines Schiffes.«

»Mein Richard«, konnte sie immer wieder nur unter meinen Küssen hauchen.

»Du wirst mir eine andere sein, wir beide werden zusammen leben können.«

»Als deine Magd, mein Richard!«

Ich küsste sie wieder mit heißester Glut.

»So!«

Eine dritte Stimme hatte dieses trockene ›So‹ gesagt.

In der Tür stand der Bruder, die Arme über der Brust verschränkt.


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Ich erwachte aus meinem Taumel. Denn in einem solchen hatte ich mich nur befunden.

O Gott, o Gott, was hatte ich getan, was hatte ich alles versprochen, ich Tor, ich Narr, ich jämmerlicher Schwächling!

»So. Also so vergilt jetzt die moderne Welt die Gastfreundschaft?«, erklang es von der Tür her in bitterem Spott.

Da raffte ich mich empor. Jetzt gab es keinen Rückweg mehr. Und... ich bereute auch nichts, ganz im Gegenteil.

»Herr Kapitän, ich habe nur getan, was ich verantworten kann — ja, ich liebe Ihre Schwester — ich liebe Atlanta...«

Ich kam nicht weiter. Ich wurde unterbrochen. Durch etwas Entsetzliches.

Ich hatte beim Nennen ihres Namens nach ihr hingeblickt — und da erschrak ich furchtbar — über ihr Gesicht, welches weiß wie Schnee geworden war, bis in die Lippen hinein — und jetzt, wie sie sich langsam erhob, breitete sie beide Arme aus...

»Wehe, was habe ich Unglückliche getan — wehe mir, wehe, wehe, wehe!!!«

Mit diesem gellenden Schrei war sie davon- und hinausgestürzt.

Was darin Entsetzliches lag, kann ich unmöglich schildern. Mir klingt dieser gellende Weheschrei noch heute in den Ohren, und damals sträubte sich mein Haar.

»Um Gott, was hat sie, was ist mit Ihrer Schwester?!«, schrie ich außer mir.

»Nichts — ein töricht Weib«, erklang es ebenso eisig wie zuvor von der Tür zurück, und nachdem er diese geschlossen, trat er näher. »Nun, Herr Kapitän Jansen, was haben Sie mir zu erklären?«

»Nichts, als dass ich Ihre Schwester geküsst habe, weil ich sie liebe.«

»Seit wann?«

»Seitdem ich Atlanta zum ersten Male gesehen habe.«

»Das kann erst vor drei Stunden gewesen sein.«

»Länger ist es auch noch nicht her.«

»Das ist sehr schnell gegangen.«

»Ich habe gehört, dass es zur Entzündung der Liebe nur eines einzigen Augenblickes bedarf.«

Langsam neigte der Kapitän den edlen Kopf und hob ihn wieder — eine ganz energische Bestätigung meiner Ansicht.

»Ja. So ist es. Leider! — Nun fehlt aber noch die Liebeserklärung, welche gewöhnlich etwas länger dauert.«

»Herr Kapitän, wir Seeleute sind doch Kürze gewöhnt — ich sagte ihr, dass ich sie liebe.«

»Wirklich?«

»Sie können noch zweifeln nach dem, was Sie gesehen haben?«

»Ich meine: Sind wirklich Sie es gewesen, der ihr die Liebe gestanden? Sollte es nicht meine Schwester gewesen sein, die angefangen hat?«

Ich war zuerst ganz baff. Hätte doch alles andere erwartet als so etwas.

»Herr Kapitän, ich schwöre Ihnen...«

Eine befehlerische Handbewegung unterbrach mich.

»Schweigen Sie! Lehren Sie mich die Weiber nicht kennen. Ein edler Mann, der Sie sind, wird niemals seine Liebe gestehen, wenn er vom Weibe nicht dazu aufgefordert wird, stillschweigend, aber doch so deutlich, dass er bestimmt weiß, dass seine Liebe erhört wird. Im anderen Falle kann der edle Mann nur zum anbetenden Narren werden.«

Gegen solch eine Lebensweisheit wusste ich nichts zu sagen. Doch ich fühlte, dass er recht hatte.

»Meine Schwester hat sie verführt.«

Fühlte ich die Wahrheit, so wollte ich doch nichts von so etwas wissen, nur ich wollte die Schuld auf mich nehmen.

»Bei Gott, Herr Kapitän...«

»Schweigen Sie! Schwören Sie nicht!«, unterbrach er mich abermals. »Es ist so, wie ich sage. Obgleich ich dies bei meiner Schwester zu beobachten noch nicht Gelegenheit hatte, denn es ist das erste Mal, dass ein Mann in ihr Leben eintritt, dass sie einen anderen liebt als nur mich, ihren Bruder. — Ja, Herr Kapitän, was aber nun?«

»Nun«, rief ich da plötzlich mit hervorbrechender Begeisterung, denn ich hatte etwas Herrliches zu bekommen, »so will ich auch dieser einzige Mann bleiben, den Atlanta mehr liebt als ihren Bruder!!«

»Sie wollen Sie also heiraten?«

Da war mir doch plötzlich, als ob mir jemand einen Kübel eiskalten Wassers über den Kopf gösse.

»Hei — heiraten? Ach nee. Ach nööö! Das wäre doch schade, mit dem Heiraten hört doch allemal die richtige Liebe auf und...«

Diesmal war es ein Lachen, das mich unterbrach, ein schrilles Lachen.

»Heiraten?«, wiederholte auch er. »So, wie Sie es meinen? Pshaw! Oder glauben Sie wirklich, ein freier König des Meeres mache sich abhängig von der Formel eines Pfaffen oder eines Standesbeamten? Pshaw!«

»Ganz meine Meinung!«, rief ich freudig. »Na dann ist ja alles gut, alles in Ordnung.«

»O nein, noch lange nicht. Da habe doch auch ich ein Wörtchen mitzusprechen.«

»Wieso?«

»Wieso, hahaha!«, lachte Anklam, und diesmal klang es ungezwungen. »Sie sind ja köstlich! Nun, weil Atlanta meine Schwester ist.«

»Ist Atlanta nicht ein freies Weib? Oder wollen Sie, der Sie sich ein freier Seekönig nennen, die Freiheit eines freigeborenen Menschen schmälern?«

»Ich bin Kapitän, und das erste, was an Bord gefordert wird, ist Gehorsam.«

»Ja, aber die Seele darf nicht geknechtet werden, so weit geht die Disziplin nicht.«

»Herr, lassen Sie sich etwas gesagt sein: ich bin weniger König als Tyrann. Im besten Sinne des Wortes gemeint. Es hat auch edle Tyrannen gegeben...«

»Well, so seien Sie ein solcher«, unterbrach ich seine Erklärungen, »geben Sie mir Ihre Schwester, die ich liebe, wie sie mich liebt.«

Er verschränkte wieder die Arme über der Brust und betrachtete mich gedankenvoll.

»Meine Schwester geben, geben — hm. Sie gebrauchen gleich das richtige Wort, sprechen nicht einmal von einer Hand geben. So wird im Orient über das Weib verhandelt. Hm, und Sie gefallen mir, ich möchte Sie ganz gern als meinen Schwager haben.«

»Na also, los!«

»Und was gedenken Sie mit meiner Schwester zu tun?«

»Was soll ich mit ihr tun?«, lachte ich. »Sie bleibt an Bord meines Schiffes, als mein Weib, wenn ich auch nicht durch den Segen eines Priesters mit ihr verbunden bin.«

»Hm. Und wenn Sie ihrer überdrüssig sind, geben Sie ihr wieder einen Tritt.«

Himmelbombenelement noch einmal!!

»Herr, was wagen Sie zu sagen!«, brauste ich auf. »Sie spielen wohl auf mein Verhältnis mit jener englischen Lady an? Aber das war etwas ganz anderes, da war ich...«

»Ruhe, Ruhe!«, unterbrach er mich. »Ich weiß, ich weiß. So war das auch gar nicht von mir gemeint, es war ein grober Ausdruck, ich bitte um Verzeihung. Aber glauben Sie nicht, dass Sie auch mit Atlanta einmal Differenzen haben können?«

»Ja, das wäre möglich. Es könnte sogar einmal vorkommen, dass ich mich in ein anderes Weib vernarrte...«

»Herr Kapitän Jansen, diese Offenheit gereicht Ihnen zur Ehre, obgleich ich es kaum fassen kann, wie Sie so zu mir zu sprechen wagen, da Sie doch soeben um die Hand meiner Schwester anhielten. Na, wir beide scheinen eben ganz besonders geartete Naturen zu sein. Und was würden Sie tun, wenn Sie ihrer überdrüssig wären?«

»Von Überdrüssigsein ist überhaupt gar keine Rede. Nur von Differenzen. Unbedingt würde ich mich mit ihr im Guten auseinandersetzen. Fühle ich, dass sie nicht freiwillig geht, würde ich so etwas niemals merken lassen, ich würde sie nach wie vor als mein Weib in allen Ehren halten, sie lieben, wenn es auch gezwungen wäre, was sie aber nimmermehr merken sollte.«

»Das war ein Wort! Auf Ehre?«

»Auf Ehre! Bei jener englischen Lady war das ja etwas ganz anderes. Sie ist es gewesen, die mich treulos verlassen hat, wenn vielleicht auch nur aus einer Laune. Aber ich lasse doch nicht so mit mir spielen. Atlanta hingegen ist eine ganz andere Natur...«

»Ja, sie ist zum unbedingten Gehorsam geboren. Sie könnten noch andere Frauen neben ihr haben, sie würde diese sogar lieben, weil Sie sie lieben. Und wenn ihr die Eifersucht Schmerzen verursachte, würde sie sich doch nichts davon merken lassen.«

Ich würde mich selbst gar zu sehr schlecht machen, wollte ich behaupten, diese Offenbarung hätte in diesem Augenblick in meinen Ohren angenehm geklungen. Jedenfalls schwieg ich.

»Nun, Sie sollen meine Schwester haben. Unter Bedingungen!«

»Nennen Sie dieselben!«

»Ich sagte Ihnen, dass ich Sie zu einem freien Seekönig machen könnte.«

»Sie sprachen davon.«

»Sie haben sich wohl schon selbst für solch einen freien Seekönig gehalten.«

»Herr, da habe ich schon bittere Enttäuschungen erlitten. Ja, ich tat es. Es war mein Traum von Jugend auf. Vor zwei Jahren glaubte ich, ich hätte mein Ideal verwirklicht. Da merkte ich, dass ich an ein launenhaftes Weib gebunden war. Ich kam von ihm los. Jetzt wäre ich frei. Und doch... es ist noch immer nicht das Ideal, von dem ich träumte.«

»Wieso nicht?«

»Weil — weil — ich kann es mit Worten gar nicht ausdrücken.«

»Soll ich es Ihnen sagen?«

»Nun?«

»Weil, wenn Ihnen Trinkwasser und Proviant ausgeht, Sie einen Hafen anlaufen müssen; da müssen Sie Papiere vorlegen, vor jedem Kriegsschiffe haben Sie Reverenz zu machen...«

»Das ist es, das ist es!!«, rief ich.

»Nun, von diesem allen kann ich Sie unabhängig machen.«

»O, bitte, bitte, tun Sie es! Sagen Sie mir dieses Geheimnis!«

»Well, verbünden Sie sich mit mir!«

»Ich bin ja schon Ihr Schwager.«

»Sie sollen noch mehr werden. Wohl will ich Sie zum freien Seekönig machen, der keinen Menschen mehr auf der Welt braucht, keinem Kriegsschiffe mehr die Flagge zeigen muss, aber... nur zum Vizekönig kann und will ich Sie machen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Auf Ihrer ›Sturmbraut‹ sollen Sie unumschränkter Herr seien, aber Sie stehen unter meinem Kommando. Sie haben mir im Kielwasser zu folgen, und wenn ich Ihnen befehle: segeln Sie dahin, segeln Sie dorthin, so haben Sie zu gehorchen. Aber dieses Gehorchen unter meinem Kommando wird Ihnen sehr leicht fallen.«

»Aber doch immer noch nicht ganz frei.«

»Es soll sich nur um eine kurze Probezeit handeln, dann werde ich Sie gänzlich freigeben. Nun, wollen Sie unter mein Kommando treten?«

»Ja, Herr Kapitän, was für Geschäfte treiben Sie eigentlich?«

»Das werden Sie schon erfahren.«

»Nein, das muss ich vorher wissen.«

»Trauen Sie mir etwas Schlechtes zu?«

Ich musterte diese edlen Züge.

»Nein.«

»Also wollen Sie mir unbedingten Gehorsam zusichern?«

»Auf wie lange?«

»Sagen wir: auf nur ein Jahr.«

»Gut.«

»Ein Jahr lang führen Sie unbedingt alles aus, was ich Ihnen befehle?«

»Ja.«

»Ihre Hand darauf!«

Ich gab sie ihm.

»Also abgemacht! Und wissen Sie, wer ich bin?«

Ich blickte ihn an. Warum wurde sein Gesicht plötzlich so furchtbar höhnisch?

»Kapitän Anklam.«

»Das ist nur ein angenommener Name, das hat Ihnen doch schon Atlanta gesagt.«

»Wer sind Sie denn sonst?«

»Ahnen Sie nichts?«

»Nein. Für mich genügt, dass Sie ein Ehrenmann sind.«

Da verzerrte sich das schöne, edle Männerantlitz zu einem grimmigen Lachen, und während er meine Hand losließ und in seine Rocktasche griff, erklang es unter diesem schrecklichen Lachen:

»Sie ahnen wirklich nicht, was für einen Schwager Sie bekommen haben? Ich — bin — die Hyäne des Meeres... ich bin Kapitän Ralph Berseck!!«

Klatsch!


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74. Kapitel
Kapitän Berseck

Originalseiten III.211 — 222

Ja, er hatte mir etwas ins Gesicht geklatscht, was mich augenblicklich bewusstlos gemacht.

Als ich wieder zu mir kam, hatte ich miserable Kopfschmerzen, die ich sonst gar nicht kannte, und noch miserabler war's mir moralisch zumute.

Kapitän Ralph Berseck!!

An meiner Ahnungslosigkeit war eigentlich nur Lord Seymour schuld. Der hatte ihn doch persönlich kennen gelernt, der hätte mir doch etwas davon sagen können, was für ein bildschöner Mann mit scheinbar edlem Charakter das dem Äußeren nach war, wie man sich in dem täuschte.

Denn ich hatte mir doch natürlich in dem Berserker, der ein ganzes Hafenstädtchen in Brand gesteckt, Frauen geraubt hatte und dergleichen mehr, einen blutschnaubenden Wüterich vorgestellt.

Doch Lord Seymour war ja gleich im Anfange unterbrochen worden, und auch Tischkoff schien noch nichts von diesem Manne gewusst zu haben.

Kapitän Ralph Berseck!

Und dieses schöne Weib seine Schwester!!

Und ich liebte sie, liebte sie wirklich!

Ja, mir war sehr miserabel zumute.

Dann sah ich mich zunächst in dem Raume um, in dem ich mich befand. Es war darin nicht viel zu sehen.

Er war ganz vorn im Schiff, ziemlich lang — ich hatte gute zehn Schritte zu machen, um ihn zu durchmessen — enthielt eine Koje, von deren Seite Tisch und Bank herunterzuklappen waren, und dann stand in der Mitte noch ein Postament, das ich für eine Bussole hielt, aus der man den Kompass genommen hatte. Ich schenkte dem Dinge vorläufig gar keine Aufmerksamkeit.

Auf jeder Bordwand befanden sich zwei Bullaugen, desgleichen noch vorn eins, sodass ich das Meer nach drei Seiten überblicken konnte, nur nach hinten nicht.

Am meisten interessierte mich die hintere Wand, die mich von dem übrigen Schiffe abschloss. Sie war von Eisen, und nur einige Fugen ließen erkennen, dass hier eine Tür und wohl auch noch ein kleines Fenster angebracht war, aber eben geschlossen, alles Eisenplatten, ohne Klinke und Riegel.

O, das sah bös aus!

Da knackerte es dort an der Wand, die in Brusthöhe eingelassene Platte ging zurück, eine Öffnung zeigte sich, noch nicht so breit, dass ein normaler Mensch seine Schultern durchzwängen konnte, und ich erblickte das klassische, edle Gesicht des Spitzbubenkapitäns.

»Wie befinden Sie sich, Herr Schwager?«

Er hatte es nicht spöttisch gesagt, weil er dessen wahrscheinlich gar nicht fähig war — aber das lag ja in der Anrede.

Well, ich wollte darauf eingehen. Mein Plan war gefasst. Ein Toben hätte hier doch gar nichts genützt, wäre lächerlich gewesen. Schließlich war das überhaupt so ein Abenteuerchen, wie ich es liebte, und das mit meiner Liebe zu der schönen Schwester darf man nicht gar zu tragisch nehmen.

Also ich baute mich auf und steckte die Hände in die Hosentaschen.

»Danke für gütige Nachfrage. Was haben Sie mir denn da eigentlich ins Gesicht geklatscht? Ich habe riesige Kopfschmerzen davon bekommen.«

»Es war ein mit einem Betäubungsmittel getränkter Schwamm.«

»Ja ja, das kann ich mir schon denken. Und warum das?«

»Weil ich es für besser hielt, erst einmal durch eine Sicherheitswand mit Ihnen zu sprechen.«

»Fürchten Sie sich denn vor Ihrem Schwager?«

»Lassen wir den Scherz beiseite, sprechen wir erst einmal ernsthaft zusammen.«

»Ja, und Ihr Schwager bin ich noch lange nicht. Ich danke für diese Ehre.«

»Was wissen Sie von mir?«

»Dass Sie ein Bluthund sind.«

»Keine Einzelheiten?«

»Dass Sie ein spanisches Schiff gekapert haben und die ganze Mannschaft über die Klinge springen ließen, und dass Sie erst vor kurzem eine harmlose Hafenstadt auf den Philippinen mit Feuer und Schwert verwüstet und einige Dutzend Weiber als Sklavinnen fortgeschleppt haben.«

»Mehr wissen Sie nicht?«

»Mehr konnte Lord Seymour mir wenigstens nicht erzählen.«

»Da wusste der edle Lord sehr wenig von mir. Ich habe allein in dem letzten Jahre sieben Schiffe gekapert. Aber diese Unwissenheit ist begreiflich. Ich sorge stets dafür, dass das Schiff spurlos verschwindet und kein Mensch mehr davon erzählen kann, und so kommt das Schiff einfach auf die Liste der Verschollenen, es ist eben untergegangen.«

Ich starrte den Sprecher an — langsam, die Bewegung verdeckend, griff ich hinter mich, wo am Gürtel mein Dolchmesser hing — die Scheide war noch da, aber das Messer hatte man mir abgenommen.

Der Kapitän hatte die Bewegung dennoch bemerkt und wusste sie sich zu erklären.

»Ich hoffe, Sie wollen Ihrem Schwager nicht nach dem Leben trachten.«

»Bestie!«, knirschte ich zwischen den Zähnen hervor.

»Was wollen Sie? Ich bin ein selbstständiger König und habe aller übrigen Welt den Krieg erklärt. Ich bin ein moderner Raubritter. Fangen Sie bloß nicht von Unmoral und dergleichen an. Ich will Ihnen für mein Tun Argumente vorbringen, von denen jedes einzelne wie ein Keulenschlag wirken soll. Ich bin ein König von Gottes Gnaden, und ehe ich ein Schiff überfalle, bete ich zu Gott um Sieg — so wie jeder andere König und sein Volk es tun.«

Ach — wehe! — das war der erste Keulenhieb gewesen, den ich nicht parieren konnte — gerade ich nicht, der ich auf einsamer Nachtwache so viel über das Treiben dieser Welt nachgesonnen hatte — dem es manchmal wie Schuppen von den Augen fällt!

Du stolzes England freue dich,

Dein König geht und kämpft für dich...

... um sengend und mordend in ein friedliches Land einzufallen, um ein glückliches Volk, das niemals an Krieg gedacht hat, in Sklavenketten zu schlagen, um es bis aufs Blut auszusaugen — und dann kriechen die anderen Nationen diesem stolzen England bewundernd zu Füßen — und seine Königstöchter werden von anderen Fürsten gefreit, eifersüchtig buhlt man um ihre Gunst — und die anderen Nationen suchen es diesem Raubritterstaat nachzuahmen, alles von Rechts wegen unter Anrufen von Gottes Gnade — und...

Doch genug, genug!! Der Mensch ist das furchtbarste und unbarmherzigste Raubtier dieser Erde und dabei nicht einmal so ehrlich wie seine vierbeinigen Kameraden, die ihren Blutdurst wenigstens nicht beschönigen wollen.

Ich hatte mich wieder gefasst, blickte der Sache kalt ins Auge.

»Und ich soll mich mit Ihnen verbünden?«

»Ja!«

»Als Pirat?«

»Ja!«

»Unter dieser Bedingung wollen Sie mir ihre Schwester zum Weibe geben?«

»Ja! Sagen Sie nur gleich: zur Geliebten.«

»Weiß denn Atlanta von Ihrem räuberischen Treiben?«

»Selbstverständlich! Das kann ihr doch nicht verheimlicht werden.«

»Und sie ist mit dem Treiben ihres Bruders einverstanden?«

»Gewiss! Warum soll sie nicht? Bedenken Sie doch nur: Schon unser Vater betrieb das Piratenhandwerk, allerdings nicht wie wir, sondern mit Konzession, damals im spanischen Krieg, er hatte einen Kaperbrief, pirschte auf französische Schiffe. Aber schließlich ist das doch genau dasselbe. Wir haben uns die Konzession selbst erteilt, von Gottes Gnaden, verstehen Sie! Kurz, Atlanta ist von klein auf an Kanonendonner und Kriegsgeschrei und rauchendes Blut gewöhnt. Ihr Bruder setzt das Gewerbe des Vaters fort, nur auf eigene Faust, aber sonst... dass die besiegte Mannschaft über die Klinge springen muss, ist ihr etwas ganz Selbstverständliches, sie kennt den Lauf der Welt eben gar nicht anders.«

Er hatte recht, furchtbar recht!!

Geht mir doch weg mit eurer ganzen ethischen Moral! Ein Unsinn ist diese Moral, welche dem sogenannten Gewissen entspringen soll. Das ist alles nur Sache der Erziehung. Darauf haben schon andere Geister hingewiesen, als ich einer bin. Dass der Kannibale den besiegten Feind auffrisst, ist seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, das ist seine Moral, und tut er es nicht, dann schlägt's ihm aufs Gewissen!

Etwas anderes ist es, wenn man seine Moral durch eigenes Nachdenken entwickelt. Aber wer ist solch ein selbstständiger Kopf? Ein tausendstel Prozent der Menschheit. Sie sind zu zählen: Buddha, Christus, Zoroaster, Mohammed — die griechischen Philosophen wie Zeno, Pythagoras, Sokrates, Plato — ferner Spinoza, Kant, Fichte, Schopenhauer... aber dann hört es bald auf. Das sind die bekannten, welche eine Moral geschaffen, durch eigenes Nachdenken wirklich erfunden haben, und die anderen tausend Millionen, welche die Erde bevölkern, plappern diese Moral gedankenlos nach. Oder sie sind mit diesen Ansichten über Gut und Böse einfach geimpft worden. (Und da kommt ein Nietzsche und wirft bei unreifen Köpfen alles wieder über den Haufen.)

»Und auch Atlanta beteiligt sich an diesem Mordgewerbe?«

»An diesem Kriegsgewerbe? Sie meinen mit Pistole und Entersäbel? O nein, was glauben Sie wohl! Die ist sanft wie eine Taube, unschuldig wie ein Engel. Die kann nur Wunden heilen, nicht schlagen. Die kann nicht einmal einen Wurm töten. Oder können Sie sich das nicht zusammenreimen?«

O doch, ich konnte es, ich konnte es!!

Es gibt nichts Neues unter der Sonne, alles ist schon da gewesen.

In meiner Kindheit beherrschten Ritterromane die Literatur. Ich wusste Bescheid.

Da ist so ein blutrünstiger Raubritter, der harmlose Kaufleute und Wanderer überfällt, er foltert sie auf entsetzliche Weise, um ihnen Geld und Geheimnisse zu erpressen — ein Bluthund durch und durch — und zu Hause auf seiner Burg waltet sein Weib, ein Engel durch und durch — und sie tröstet und speist weit und breit nicht nur die Armen, sondern sie pflegt auch mit Liebe ihren verwundeten Mann und seine Mordgesellen, ja, sie betet diesen offenkundigen Schuft sogar an — und für alles das wird sie dann heilig gesprochen.

Das ist kein Roman, sondern Historie!

Ich musste dies alles anführen, um zu rechtfertigen, wie ich mich dann benahm, wie ich diese ganze Sache kaltblütig auffasste.

»Geben Sie mir Ihre Schwester«, war mein nächstes Wort.

In dem Gesicht an der Öffnung leuchtete es freudig auf.

»Also Sie wollen sich mit mir verbünden?«

»Um friedliche Schiffe und Ortschaften zu überfallen und zu plündern? O nein, wofür halten Sie mich wohl!«

»Für einen tüchtigen Mann, der anders denkt als die übrigen Schwächlinge dieser Erde, welche allein von der Macht beherrscht wird, welche dem Kühnsten und dem Stärksten gehört...«

Und er philosophierte weiter mit gewandten Worten, was ich hier nicht wiedergeben will. Es ist eine gar gefährliche Philosophie. Und mochte er auch in gewisser Beziehung recht haben, mochte er auch eine furchtbare Wahrheit aussprechen — ich setzte dem allen ein einfaches Nein entgegen.

»Begeistert Sie denn das gar nicht, was ich Ihnen da schildere?«

»Nein.«

»Ich mache Sie wahrhaftig zum freien König des Meeres.«

»Aber in solcher Weise möchte ich es nicht werden, nicht für alle Schätze der Welt. Ich bin nicht zum Piraten geschaffen...«

»Haben Sie nicht auf eigene Faust gegen Argentinien und Uruguay Krieg geführt?«

»Machen Sie sich doch nicht lächerlich, ziehen Sie nicht solch ungeheuerliche Vergleiche! Ist dabei Blut geflossen?«

»Das weiß ich allerdings nicht...«

»Und selbst wenn es geschehen wäre — an diesen meinen Händen klebt kein unschuldiges Blut.«

In der Ekstase der Worte hielt ich ihm meine beiden Hände hin.

»Aber es wird noch daran kommen«, war seine ruhige Entgegnung.

»Unschuldiges Blut? Niemals!«

»Kapitän, machen Sie mir doch nichts vor! Sie sind zum Piraten geboren — kein Mensch entgeht seinem Schicksal — auch Sie werden dereinst noch sogenannte friedliche Schiffe mit Pistole und Entersäbel im Sturm nehmen, sie ausrauben und die besiegte Mannschaft den Haifischen ausliefern.«

Ich war im ersten Augenblick ob dieser mit der größten Zuversicht gesprochenen Worte wahrhaft entsetzt.

»Was — wagen Sie da zu behaupten?!«, rief ich außer mir.

»Die Wahrheit.«

»Mensch, woher wollen Sie denn das wissen?«

»Aus den Linien Ihrer Hände. Sie wissen doch, dass meine Mutter eine Zigeunerin war. Von der habe ich diese Kunst nicht nur gelernt, sondern bei mir ist das eine Gabe, die ich mir selbst nicht erklären kann. Und bei mir ist das so ausgeprägt, dass ich das schon von weitem unterscheide, ja, ich kann sogar im Finstern aus der Hand lesen, mit geschlossenen Augen — es ist wie eine Ahnung, die mich überkommt, der Schleier der Zukunft lüftet sich vor meinen geistigen Augen. Doch zeigen Sie Ihre Hände noch einmal her!«

Ganz unbewusst tat ich es, und seine Augen nahmen einen sonderbaren, starren Ausdruck an, als er meine Hände betrachtete, immer noch in einiger Entfernung.

»Gewiss«, sagte er dann, »es wird nicht einmal ein Jahr vergehen, so werden Sie denselben Beruf ergriffen haben wie ich, Sie werden ein professioneller Seeräuber sein...«

Ich steckte die Hände in die Hosentaschen, drehte mich um und schritt nach vorn. Ich wollte nichts mehr hören.

»An solchen Mumpitz glaube ich nicht«, sagte ich nur noch. Dabei aber musste ich mich zwingen, nicht an jenen Graf Axel zu denken, der mir von der Kunst der Chiromantie ja schon einmal einen wunderbaren Beweis geliefert hatte, allerdings nach rückwärts, aus meinem früheren Leben, von dem er aber unmöglich etwas hatte wissen können.

»Sie verlangten vorhin doch noch immer meine Schwester von mir«, erklang es dann wieder.

Ich wandte mich wieder um.

»Ja.«

»Sie lieben sie also wirklich?«

»Jetzt kommt es mir hauptsächlich darauf an, das Mädchen, welches Sie als ganz unschuldig schildern, und woran ich auch gar nicht zweifle, dieser Umgebung zu entreißen.«

»Sehr edel von Ihnen«, erklang es zurück, immer ohne jeden Spott, »wenn auch etwas egoistisch — aber daraus wird natürlich nichts.«

»Dass Sie mir Ihre Schwester nicht so umsonst geben, finde ich begreiflich. Nun, dann kann eben nichts daraus werden — ich verzichte.«

»Gut, aber Sie werden hier bei mir bleiben.«

»Sie wollen mich gefangen halten?!«, fuhr ich auf.

»Es bleibt mir nichts anderes übrig. Übrigens haben Sie mir doch schon Ihre Zusicherung gegeben, durch Ihren Handschlag bekräftigt, dass Sie sich ein Jahr lang unter mein Kommando stellen wollen.«

Ich konnte nur lachen.

»Jetzt machen Sie sich wirklich lächerlich. Sie können glauben, dass ich mich jetzt noch gebunden fühle? Nein, mein Herr, da brauchte ich nicht einmal mein eigenes Gewissen zu fragen, diese Entscheidung würde ich jedem Gerichte, jedem Menschen überlassen, der nicht einmal ein besonderer Ehrenmann zu sein braucht.«

»Well, ich will Ihnen nicht widersprechen — aber an meiner Entschließung ändert das nichts.«

»Sie wollen mich hier gefangen halten?«

»Sicher!«

»Ein Jahr lang?«

»So lange wird das nicht einmal nötig sein, denn noch vor Ablauf eines Jahres werden Sie selbst freiwillig zum Seeräuber geworden sein.«

»So tun Sie, was Sie nicht lassen können!«, entgegnete ich und wandte ihm abermals den Rücken.

»Nein, nein, sprechen wir noch etwas weiter darüber. Wissen Sie, welches Schiff das nächste sein wird, welches ich kapern werde?«

Ich antwortete nicht mehr, blickte durch ein Bullauge.

»Ihre ›Sturmbraut‹.«

Da allerdings fuhr ich wie vom Blitz getroffen herum.

»Oho, das probieren Sie mal!!«

»Sie werden es erleben. Wie will denn das überhaupt Ihre Mannschaft verhindern? Ich bin auf dem Meere einfach allmächtig. Ohne einen Schornstein aufzurichten, ohne am Tage Rauch und in der Nacht einen Funken zu zeigen, kann ich mit einer Geschwindigkeit von zweiundzwanzig Knoten in der Stunde dampfen — dank der genialen Erfindung jenes deutschen Ingenieurs, dessen Zeichnungen ich annektiert habe. Desgleichen unfehlbar sind meine Geschütze, weiter tragend als alle anderen...«

»Das haben Sie mir aber nicht bewiesen«, fiel ich ihm spöttisch ins Wort.

»Wieso nicht?«

»Nun, das war doch hier dasselbe Schiff, welches ich gestern verfolgte.«

»Jawohl. Nur etwas anders herausstaffiert.«

»Und Sie konnten mich mit Ihren Kugeln ebenso wenig erreichen, wie ich Ihr Schiff.«

»Das war Absicht, Verstellung. Ich hätte Sie sofort in Grund schießen können. Ich habe mit Ihnen nur gespielt. Ich wollte Ihre ›Sturmbraut‹ schonen.«

»Schonen, weshalb?«

»Nun, weil ich mich eben mit Ihnen verbinden will. Ihre ›Sturmbraut‹ soll mir Beistand leisten.«

»Gehen Sie, Sie sind ein Aufschneider!«, sagte ich verächtlich, so unbehaglich mir auch bei diesen Eröffnungen zumute wurde.

»Sie sollen erleben, wie ich Ihre ›Sturmbraut‹ nehmen werde. Wenn nicht mit Gewalt, um Ihr Schiff und Ihre Mannschaft für meine späteren Zwecke unbeschädigt zu erhalten, dann mit einer List. O, was meinen Sie wohl, was für Schliche ich kenne! Also passen Sie auf! Sie haben ein bequemes Mittel, um alles beobachten zu können. Nach vorn und seitwärts haben Sie ja durch die Bullaugen freie Aussicht. Aber Sie können auch nach hinten beobachten. Betrachten Sie dort den Apparat, der wie eine Bussole aussieht!«

Ganz mechanisch folgte ich der Aufforderung. Zu meiner Verwunderung bemerkte ich erst jetzt, dass auf dem Postament ein flacher Spiegel angebracht war.

»Sie erblicken in diesem Spiegel alles, was sich hinter diesem Schiffe befindet. Ich weiß nicht, was jetzt darin ist. Was sehen Sie?«

»Es scheint das Meer zu sein.«

»Wohl, so ist jetzt dieses darin. Sie können aber auch das Deck dieses Schiffes hineinbringen. Drehen Sie nur den Spiegel. Sie werden sich schnell hineinfinden. — Nun gehaben Sie sich wohl, Herr Kapitän, Sie werden mit allem versorgt, was Sie brauchen. Dort an dem Postament der weiße Knopf, das ist eine elektrische Klingel, benutzen Sie sie nur, wenn Sie irgend etwas wünschen — auf Wiedersehen, und hoffentlich haben Sie sich dann eines Besseren besonnen.«

— • —

75. Kapitel
Was ich im Spiegel beobachte

Originalseiten III.222 — 237

Die Öffnung in der Wand hatte sich wieder geschlossen. Wie mir zumute war, lässt sich denken. Zunächst fand ich einige Zerstreuung dadurch, dass ich die Spiegelvorrichtung untersuchte.

Der Spiegel hatte Handgriffe und ließ sich ziemlich nach allen Richtungen drehen, allerdings nicht vollständig um seine Achse, und bald fand ich mich zurecht, brachte das aufgewirbelte Kielwasser hinein und dann auch das Deck, konnte dieses entlang verfolgen, aber nicht weiter als bis zum Vordermaste.

Dann ließ sich der Spiegel wohl noch etwas weiter drehen, aber es kam nichts mehr hinein, nur noch, wenn ich mich darüber beugte, mein eigener Kopf, über welchem ich dann die Decke dieses Raumes sah.

Was hier vorlag, hatte ich bald heraus. Ich war ja vorhin bei der Musterung des Raumes unterbrochen worden. So gewahrte ich erst jetzt, dass auf der hinteren Seite an der Decke ebenfalls ein Spiegel eingelassen war, der sich mitdrehte, wenn ich diesen hier an der Bussole bewegte, aber wohl immer in entgegengesetzter Richtung.

Es handelte sich hier also um eine Reflexspiegelung. Der obere Spiegel nahm die hinter dem Schiffe liegenden Bilder und auch noch das Deck auf und projizierte es auf diesen Spiegel in der Bussole.

Wie freilich die Bewegung zustande kam, übertragen wurde, das war und blieb mir unklar. Von einem Hebelwerk oder dergleichen war nichts zu bemerken. Ich musste an eine elektrische Übertragung denken. Doch das war für damalige Zeiten etwas Außerordentliches. Ich verstand überhaupt gar nichts von der Elektrotechnik.

Jedenfalls eine höchst sinnreiche Vorrichtung! Offenbar war dies hier der Posten für den Ausguck haltenden Matrosen, nur dass dieser nicht, wie sonst üblich, auf der erhöhten Back zu stehen brauchte — noch früher haben sie in dem jetzt abgeschafften Mastkorb gesessen — hier wie da allen Unbilden der Witterung preisgegeben, immer in Gefahr, von der überdammenden See fortgespült zu werden. Vollends der Mastkorb hat sich aus verschiedenen Gründen gar nicht bewährt.

Hier aber hatte der betreffende Mann bei aller Sicherheit ständig das ganze Meer im Auge, im Spiegel sogar die hintere Seite, ohne deshalb nach hinten blicken zu müssen.

Wie ich noch so experimentierte, sah ich in dem Spiegel plötzlich ein großes Schiff, gleich als Kriegsschiff erkennbar, und jetzt zeigte es auch die französische Kriegsflagge, senkte sie und hisste sie wieder — es forderte die Nationalität des in Sicht gekommenen Schiffes, und es konnte sich nur um dieses hier handeln; denn wie ich den Spiegel auch drehte, es war kein anderes zu erkennen.

Jetzt brauchte ich den Spiegel nur etwas nach vorn zu drehen, und ich bekam das über mir befindliche Deck hinein.

Die Matrosen liefen und standen herum, auch den Kapitän konnte ich deutlich erkennen. Aber dem Gebote des Kriegsschiffes kamen sie nicht nach, es wurden keine Flaggen gehisst.

Da donnerte ein Kanonenschuss, das Kriegsschiff hatte ihn gelöst, um seinem Befehle Nachdruck zu geben.

Gleichzeitig qualmten aus seinen beiden Schloten mächtige Rauchwolken empor, ich konnte in dem Spiegel ganz deutlich bemerken, wie das Kriegsschiff, den Bug diesem hier zugewendet, seine Fahrt beschleunigte, ebenso aber gewahrte ich, wie sich die Entfernung zwischen den beiden Schiffen mit rapider Geschwindigkeit vergrößerte.

Jetzt, als ich den Spiegel wieder nach dem Deck lenkte, sah ich, dass Flaggen gehisst wurden, und ich hatte diese so weit im Kopfe, um buchstabieren zu können.

»›Ozeana‹, Kapitän Ralph Berseck!«

Wie, der Seeräuber gab sich zu erkennen?!

Doch ich brauchte mich nicht mehr zu wundern, hätte auch nicht zu sehen brauchen, wie jetzt die Seeräuber höhnisch lachend nach dem Kriegsschiffe zurückwinkten. Von diesem donnerte es mehrmals auf, aber die Kugeln oder Granaten konnten dem Seeräuberschiffe nichts mehr anhaben, dieses war bereits zu weit entfernt.

Dann verlor ich das Kriegsschiff aus dem Auge oder vielmehr aus dem Spiegel.

Und nun konnte ich sinnen.

Gewiss, die ›Ozeana‹ war mindestens doppelt so schnell gefahren, wie jenes Kriegsschiff dort.

Was für eine wunderbare Maschine war das nur, welche dieses Fahrzeug im Bauche hatte? Kein Rauch, keine Funken, wie der Kapitän gesagt, ich selbst hatte vorhin keinen Schornstein gesehen — das allerwunderbarste aber für mich war, dass auch nicht das geringste von einem Zittern der Schiffsplanken zu verspüren war.

Ja, wenn man solch eine geheimnisvolle Maschine besaß, die eine derartig ungeheuere Schnelligkeit entwickelte — noch dazu für damalige Zeiten! — dann allerdings brauchte man kein Kriegsschiff zu fürchten, dann konnte man sich wirklich den Herrn und König aller Meere nennen!

Als sich Kapitän Berseck bei Fanafute gezeigt, hatte sein Schiff einen Schornstein gehabt, aus dem Rauch gequollen war, und unter Volldampf war er abgefahren. Das durfte mich nicht beirren. Da hatte er eben mit schlauer Berechnung seinem Schiffe das Aussehen eines echten Dampfers gegeben, er maskierte es ja ständig.

Hatte er aber nicht auch gesagt, er besäße ebenso Kanonen, welche weiter trügen, als alle anderen bisher bekannten? Warum benutzte er sie jetzt nicht, um dem Kriegsschiffe wenigstens eins auszuwischen, schon in genügender Entfernung, dass er selbst nicht mehr beschädigt werden konnte?

Ich wusste es nicht.

Wenn ich aber nun auch das mit den Kanonen für Renommage zu halten geneigt war — das mit der ungeheueren Schnelligkeit war Tatsache, davon hatte ich mich selbst überzeugt, und... ich war entsetzt ob dieser furchtbaren Macht, die einem einzelnen Menschen in die Hände gegeben war, der diese Macht nur zum Bösen missbrauchte.

Zunächst beschäftigte ich mich immer noch mit dem Spiegel. Es war ein amüsanter Zeitvertreib, lenkte meine Gedanken ab, und dann galt es doch auch, das Treiben dieser Piratengesellschaft zu beobachten.

Ich sollte alsbald Zeuge einer merkwürdigen Szene werden, die sich an Deck abspielte, und die ich mir nicht erklären konnte.

Aus einer Luke sah ich den Steward auftauchen, eine große Schüssel balancierend, auf der etwas Rauchendes lag.

Dies alles konnte ich in dem klaren Spiegel ganz deutlich unterscheiden, sah selbst den leichten Dampf aufwirbeln. Was das auf der Schüssel war, konnte ich freilich nicht erkennen, so weit ging die Deutlichkeit des Spiegelbildes doch nicht.

Nun, jedenfalls war es eine Schüssel Essen; denn die Mittagszeit war herangekommen. Bestimmt war die Speise wahrscheinlich für den Kapitän, vielleicht noch für seine Schwester, oder auch für die Offiziere; denn der Steward schlug den Weg nach hinten ein, nach dem Kajüteneingange, während ich mich ganz vorn im Schiffe befand.

Der Steward hatte erst einige Schritte gemacht, als ich Atlanta auftauchen sah.

Die Gestalt in dem grünen Gazekleid gab mir einen Stich durchs Herz. Doch was ich weiter beobachtete, ließ mich alles andere vergessen.

Atlanta hatte an dem ihr begegnenden Steward achtlos vorübergehen wollen, da verriet mir der Spiegel mit unverkennbarer Deutlichkeit, wie sie plötzlich stutzte, und mit einem Schritt hatte sie dem Steward den Weg vertreten.

Es entwickelte sich eine stumme Pantomine. Denn ich konnte ja im Spiegel nur die kleinen Figürchen sich bewegen sehen, zu hören war natürlich kein Wort.

Atlanta deutete auf die dampfende Schüssel, der Steward antwortete, zuckte mit den Schultern — Atlanta winkte, Kapitän Berseck kam herbei — zwischen Bruder und Schwester entstand ein heftiger Wortstreit, besonders Atlanta gestikulierte heftig — der Kapitän wollte, dass der Steward weiter ginge, befahl ihm mit der ausgestreckten Hand gebieterisch — plötzlich aber riss ihm Atlanta die Schüssel aus den Händen, diese flog durch die Luft, jedenfalls über Bord, was ich im Spiegel nicht mehr beobachten konnte.

Dann sah ich noch, wie sich des Kapitäns Gesicht in grimmigem Hohne verzerrte, wahrscheinlich lachte er auch, Atlanta hingegen erhob die Arme, als wolle sie die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, oder aber als wolle sie beten, sie blickte auch zum Himmel empor, dabei sah ich auch ihr verzweifeltes Gesicht — dann schüttelte sie wieder gegen den Bruder die geballte Faust, jedenfalls unter den heftigsten Worten — jetzt war es der Kapitän, welcher die Achseln zuckte — dann legte er seinen Arm um die Taille der Schwester, wollte sie an sich ziehen, aber sie riss sich mit einer Gebärde des Abscheus los, schien in krampfhaftes Weinen auszubrechen... da verschob sich der Spiegel durch einen kleinen Ruck, und ich konnte die beiden nicht wieder hineinbringen. Wahrscheinlich hatten sie auch schon wieder das Deck verlassen.

Was hatte das zu bedeuten gehabt? Ich machte mir wenig Kopfschmerzen darüber. Vielleicht handelte es sich nur um eine Speise, welche nicht nach Atlantas Geschmack war. Dann musste sie aber ein sehr launenhaftes Weib sein, dass sie gleich die ganze Silberschüssel über Bord warf. Oder der Bruder hatte sie dazu erst gereizt.

Na, mir sollte dies alles jetzt sehr gleichgültig sein.

Dann beobachtete ich weiter, wie Matrosen Essen holten, ebenfalls aus jener Luke heraus, welche also zur Küche führte. Alles wichtig für mich zu wissen, ich wollte nur immer weiter so beobachten.

Auch zwei rußige Gesellen holten große Schüsseln. Das waren Heizer — also Kohlenfeuerung!

Da tauchte aus derselben Luke das grüne Gazekleid empor — Atlanta, ebenfalls eine dampfende Schüssel tragend. Aha, die hatte etwas in den Kopf bekommen, die wollte sich, trotzig, nicht mehr vom Steward bedienen lassen, der ihr vorhin eine Speise hatte bringen wollen, die ihrem Gaumen nicht behagte, sie holte sich selber jetzt ihr Essen aus der Küche. Echte Frauenmanier!

Sie schritt nach achtern — ich amüsierte mich, wie nett sie zu balancieren wusste, denn das Schiff schlingerte mächtig, und das Tragen einer nur halbvollen Back, oder, wie die Landratten sagen, einer Schüssel, will gelernt sein — sie verschwand im Kajüteneingang.

An Deck wurde es leer. Jetzt tauchte aus jener Luke eine weiße Gestalt auf, auch mit weißer Mütze — der Smutje, der Schiffskoch, der nach getaner Arbeit einen Mund voll frische Luft nehmen wollte.

Jetzt kam wieder der Kapitän...

Da knackerte es bei mir an der Wand, das Fenster ging auf, und... ich sah das grüne Gazekleid schimmern!

»Herr Kapitän!«, sagte die so lieblich klingende Stimme.

Ich war an der Öffnung. Da schob sich noch ein Brett herein, eine Eisenplanke, die sonst draußen befestigt sein musste, und auf dieses ward die große, silberne Schüssel gesetzt, von zarten, weißen Händen gehalten.

Es war dieselbe Schüssel, die ich vorhin gesehen — Atlanta hatte sie mir selbst gebracht!

»Klappen Sie erst den Tisch von der Koje herab, die Schüssel passt in die Klammern.«

Ich tat es, ging wieder hin nach der Öffnung, um ihr die Schüssel abzunehmen, eine moderne Schiffsback, welche zahlreiche Fächer enthielt, in denen sich Fleisch, Kartoffeln und verschiedenes präserviertes Gemüse befanden, durch Scheidewände voneinander getrennt. Um das Essen auf dem schlingernden Schiffe zu servieren, bedarf es ja besonderer Vorrichtungen, übrigens habe ich solch ähnliche Schüsseln auch in Hotels auftragen sehen, Platten mit verschiedenen Fächern, in denen die einzelnen Haupt- und Nebenspeisen liegen, um nicht alles einzeln servieren zu müssen. Auf dem Schiffe müssen diese Platten natürlich einen hohen Rand haben, es werden Terrinen daraus.

Aber ich bekam die Schüssel noch nicht gleich.

Ein geisterbleiches Gesicht war es, welches sich jetzt zu der Öffnung niederbeugte, gar nicht zu vergleichen mit der gesunden Farbe, die ich früher gesehen, und geisterhaft auch blickten die schwarzen Augen.

Sie hielt die Schüssel an den Henkeln also noch immer mit ihren weißen Händen fest.

»Ihr Mittagessen, Herr Kapitän.«

»Ich danke sehr.«

»Ich werde es Ihnen immer selbst bringen — alles Essen.«

»Sehr liebenswürdig von Ihnen.«

»Und sollte ich es Ihnen einmal nicht selbst bringen können — ein anderer kommt — Sie werden — Sie werden — niemals — niemals Fleisch essen!«

Mit zitternder Stimme hatte sie es hervorgestoßen, es kaum herausgebracht.

Und mein Stutzen lässt sich denken.

»Weshalb denn nicht?!«

»Weil... weil...«

Ihr keuchender Atem versagte.

»Man will mich vergiften?!«

»O nein, aber... aber... ich kann es nicht sagen. Nicht wahr. Sie werden niemals eine Fleischspeise irgendwelcher Art essen, wenn nicht ich selbst sie gebracht habe, wenn Sie die Schüssel nicht aus meiner Hand empfangen?«

Was sollte ich davon denken? Na, hier waren ja mehr Rätsel, und ich war auch gegen eine Seeräuberin immer galant, das herrschte jetzt vor.

»Es wird mir nicht schmecken, ich werde nichts zum Munde führen, was ich nicht aus Ihrer schönen Hand erhalte«, entgegnete ich also galant.

»Nur Fleischspeisen...«

»Nein, ich werde überhaupt nichts mehr annehmen, was ich nicht aus Ihren eigenen Händen empfange. Lieber werde ich verhungern.«

Mit seltsam großen Augen blickte sie mich an.

»Wirklich?«

»Wahrhaftig! Aber ich hoffe, dass Sie mich nicht verhungern lassen werden. Denn das ist meine allerschwächste Seite.«

»Ich... danke Ihnen... danke Ihnen«, erklang es hauchend. Endlich hatte ich die Schüssel in meine Hände bekommen, trug sie nach der Koje und schob den unteren Rand in die übergreifenden Schienen der heruntergeklappten Tischplatte, befestigte sie mit einer zweiten Schiene.

»Nun sagen Sie aber mal, geehrte Atlanta«, fragte ich dabei, und ich hätte gar nicht so zeremoniell zu sein brauchen, wir waren doch schon ziemlich vertraut geworden, und das wollte ich jetzt noch ausnutzen, »was ist das nun eigentlich...«

Knacks, hatte es in der Wand gesagt, und die Öffnung war schon wieder geschlossen.

Verdammt und zugenäht! Schnell sprang ich hin, klopfte stark gegen die Eisenwand — vergebens. Sie kam nicht wieder.

Dann musste ich das nächste Mal besser aufpassen. Die Gelegenheit, dieser weiblichen Person des Piratenschiffs, der ich schon die Lippen geküsst, nun auch noch näher auf den Zahn zu fühlen, durfte ich mir doch nicht entgehen lassen.

Dann machte ich mich über die einzelnen Fächer der großen Terrine her. Delikat! Messer und Gabel fehlten, in der seitlichen Klammer steckte nur ein Löffel. Gerade wie im Zuchthaus, dass man nicht ein Instrument in die Hand bekommt, mit dem man dem Wärter die Gurgel durchschneiden kann oder sich selbst die Pulsader.

Es war auch nur ein Löffel nötig. Die beiden Fleischgerichte waren als kleingeschnittenes Ragout zubereitet.

Ja, was sollte es nun eigentlich mit dieser Warnung vor Fleischspeisen?

Wenn ich einen Gedanken hatte, so war es die Erinnerung an jenen Mann — Beelzebub war der schwarze Kerl wohl genannt worden — den mir damals Karlemann vorgestellt hatte, mit der Erklärung, er verstände durch Verabreichung gewisser Speisen aus dem ungefügsamsten Menschen ein zahmes Lamm zu machen.

Sollte so etwas hier vorliegen? Verstand auch dieser Piratenkapitän solch eine schwarze Kunst? Wollte er mich durch gewisse Speisen klein kriegen, durch eine Ingredienz, welche einem nur in Fleischspeisen beizubringen ist?

Na, mir ganz schnuppe. Ich hatte Hunger. Wie wenig ich an Gift dachte, das zeigte, wie ich es mir schmecken ließ.

Dann hielt ich in der vortrefflichen Koje ein Mittagsschläfchen. Trotz der Seelenruhe, mit der ich schlummerte, genügte das Knacken, um mich zu wecken.

In der Öffnung zeigte sich wieder das grüne Gazekleid, Atlanta brachte mir den Kaffee, bat mich um das vorige Geschirr.

»Soll Ihre Kabine aufgeräumt werden?«

»Nein, es ist noch nicht nötig. Aber nun bitte ich um eine Erklä...«

Ein leises, kaum hörbares Zischen aus ihrem Munde unterbrach mich, und mehr noch sagten mir ihre blinzelnden Augen.

»Ich darf mich mit Ihnen nicht unterhalten, Ihnen keine einzige Frage beantworten.«

Um mir das zu sagen, dazu wäre das Augenblinzeln und das vorausgehende Zischen nicht nötig gewesen.

Auch schien sie mit Absicht etwas seitwärts zu treten, und da sah ich zum ersten Male, dass hinter dieser Wand noch ein schmaler Raum war.

Also eine Sicherheitskammer, welche sehr angebracht war, wenn man diese Gefangenkabine betreten wollte, um sie zu säubern.

Und dann gewahrte ich auch noch einen blauen Rockzipfel! Also Atlanta hatte noch einen Begleiter bei sich, der sich zur Seite zu drücken suchte — einfach einen Aufpasser.

O, das war fatal!

Hingegen hatte sie mir nun schon ziemlich stark angedeutet, dass sie auf meiner Seite stand, und darüber konnte ich mich wieder freuen.

»Hier ist konservierte Milch, hier Zucker...«

Weshalb griff sie dabei unter so bedeutungsvollem Augenblinzeln in die Zuckerdose hinein?

»Haben Sie sonst noch Wünsche, Herr Kapitän?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Ich komme erst um sieben wieder, wenn ich Ihnen das Abendbrot bringe.«

»Wenn ich einen Wunsch habe, so ist es der, dass Sie schon eher wiederkommen«, konnte ich mich nicht enthalten, zu sagen, obgleich diese Galanterie sehr unvorsichtig war.

Sie zog denn auch gleich die Brauen hoch und sah mich warnend an, wovon ja der hinter ihr stehende Aufpasser nichts merken konnte.

»Weshalb?«

»Nun — weil ich mich hier natürlich sehr langweile.«

»Ich bedaure«, erklang es jetzt kalt zurück. »Aber wollen Sie zum Abend vielleicht eine Lampe?«

»Ach ja, eine Lampe!«

»Etwas zu lesen?«

»Auch das.«

»Sie werden es erhalten.«

Die Klappe schloss sich wieder.

Vortrefflich! Ich brauchte mich nicht verloren zu geben — wenn ich dies überhaupt jemals getan hätte. Immerhin, es war doch angenehm, die Schwester des Piratenkapitäns als seine Bundesgenossin zu wissen.

Teufel noch einmal, ich hatte sie doch auch schon auf dem Schoße gehabt, sollte sie da auch nicht!

Und auch ihren Willen konnte sie hier durchsetzen, wie ein echtes Weib, sonst hätte man sie mich doch nicht bedienen lassen. Freilich war ihr ein heimlicher Aufpasser beigegeben worden.

Zunächst untersuchte ich den Zuckertopf.

Richtig, auf seinem Grunde lag ein Zettelchen!

»Seien Sie stark, ich befreie Sie«, war darauf gekritzelt.

Na also! Hat sich etwas, einem jungen Mädchen einen Aufpasser beizugeben. Oder das Mädchen kann auch schon etwas älter sein, was bei Atlanta allerdings nicht der Fall war. Ebenso gut kann man ein Sieb voll Flöhe hüten.

Das ›seien Sie stark‹ erklärte ich mir so, dass ich dem Ansinnen des Bruders nicht etwa willfahren sollte. Nein, da gab es bei mir ja nun nichts.

Aber wenigstens wurde mir hierdurch klar, dass es wirklich ein braves Mädel war, vor dem ich mich einst nicht zu grauen brauchte, und dass es die Schwester eines Seeräubers und Bluthundes war, damit hatte ich mich ja bereits abgefunden.

Ich war mit meinem Kaffee noch nicht ganz fertig, als die Luke wieder aufging. Meine Freudigkeit wurde aber getrübt, als ich das edle Spitzbubengesicht des Kapitäns erblickte.

»Nun, Herr Schwager, wie geht's?«

»Lassen Sie mich ungeschoren!«, knurrte ich, die Tasse noch am Munde, änderte aber gleich den Ton. »Oder warten Sie, ich will höflicher sein — können Sie mir nichts zu rauchen geben?«

Er war doch eines Lächelns fähig.

»Sie scheinen sich ja hier ganz wohl zu befinden.«

»Ich bin überhaupt niemals unterzukriegen.«

»Das freut mich. Ja, rauchen ist hier gestattet. Zigarre oder Pfeife?«

»Bringen Sie mir eine Pfeife... doch nein, Sie könnten sie schon im Munde gehabt haben, und da würde sie mir wenig schmecken. Lieber ein paar Zigarren.«

»Sollen Sie haben. Ich fürchte nur, die Zigarre wird Ihnen immer ausgehen.«

»Weshalb?«

»Sie werden gleich etwas zu sehen bekommen.«

»Was?«

»Blicken Sie nur in den Spiegel. Passen Sie auf, wie's gemacht wird, damit Sie es später selbst können.«

Die Luke schloss sich wieder.

Was wollte der Kerl damit sagen?

Im Spiegel war nichts als das Meer zu erblicken. Doch da segelte eine Bark.

Was ich nun in der nächsten halben Stunde in dem Spiegel erblickte, zum Teil auch seitwärts durch die Bullaugen, das kann ich hier nur mit wenigen Zeilen wiedergeben. Ich wüsste gar nicht, wie ich es ausführlich schildern sollte; denn ich bekam etwas Entsetzliches zu sehen.

Die ›Ozeana‹ richtete den Bug auf diese Bark zu, in zehn Minuten hatte sie die große Strecke zurückgelegt, hatte die Bark erreicht, Bordwand lag an Bordwand — Schreien, Brüllen, Schüsse — ich sah im Spiegel, wie die Matrosen hinübersprangen, Kapitän Berseck an der Spitze — — nur ein ganz schwacher Widerstand seitens der Mannschaft der Bark und ich sah, wie sie abgeschlachtet wurde — und dann wurde es wieder still.

Ich war wie ein wütender Stier gegen die eiserne Wand meines Gefängnisses gerannt. Dass sie nicht zusammenbrach, wundert mich.

Dann kam es wie eine Betäubung über mich, und sie konnte nicht von dem Anprall herrühren.

Ja, ich hatte es gesehen — hatte Piraten bei ihrem Handwerk beobachtet!

Wie lange Zeit vergangen war, bis ich aus meinem Brüten erwachte, weiß ich nicht. Es begann zu dämmern, als sich die Klappe abermals öffnete.

Hinter meiner Gefängniswand brannte schon eine helle Lampe, und ich sah den Kapitän.

»Haben Sie alles beobachtet?«

Dass ich so ruhig bleiben konnte, ist mir ein Rätsel. Doch ich habe über den merkwürdigen Zustand, der mich manchmal befällt, schon mehrmals berichtet.

»Schleichen Sie nicht näher!«, rief er drohend. »Ich glaube schon, dass ich zwischen Ihren Fäusten verloren wäre, aber so weit werden Sie nicht kommen!«

Hatte ich mich zum Sprunge geduckt gehabt? Ich wusste nichts davon. Und dann war ich vollends ganz ruhig.

»Ja, ich habe es gesehen, alles, und es war sehr interessant.«

»Wirklich? Wenn Sie ehrlich sprächen, würde mich das sehr freuen.«

»Was für eine Bark war das?«

»Die ›Heliand‹, welche von Singapur nach Sydney mit Kohlen unterwegs war. Es ist kein Zufall, ich habe diesem Schiffe aufgelauert, habe es überhaupt immer hauptsächlich auf Kohlenschiffe abgesehen. Ich brauche doch Kohlen. Dann hat ja jedes Schiff immer genug Proviant bei sich, so ergänze ich meinen eigenen — abgesehen von der Schiffskasse.«

»Sie haben die Kohlen übergenommen?«

»Jawohl, wenigstens so viel, um meine Bunker wieder zu füllen.«

Ich hatte von dieser Kohlenübernahme gar nichts bemerkt. Ich war eben wie betäubt gewesen.

»Woher wussten Sie, dass dieses Schiff mit Kohlen von Singapur nach Sydney unterwegs war?«

»Nun, das erfährt man doch durch die Schiffszeitungen.«

»Sie unterhalten in den Hafenstädten keine Spione?«

»Nein, ich bin vollkommen unabhängig«, war die stolze Antwort.

»Das also ist das große Geheimnis, wie Sie sich mit Kohlen und Proviant versehen?«, fragte ich jetzt spöttisch. »Indem Sie harmlose Frachtschiffe überfallen und ausplündern?«

»Nicht anders.«

»Dann tun Sie mir leid.«

»Herr Kapitän, bedenken Sie doch: Ich allein besitze das allerschnellste Schiff, und ich statte Ihre ›Sturmbraut‹ mit einer ebensolchen Maschine aus, wir beide können die ganze Erde beherrschen...«

»Sie täten mir den größten Gefallen, wenn Sie mich allein ließen.«

»Gut, aber Ihrer ›Sturmbraut‹ werde ich mich dennoch bemächtigen, dann wird sie eben unter meinem Kommando fahren — vorläufig — denn innerhalb eines Jahres werden Sie Ihre ›Sturmbraut‹ doch selbst als Piratenschiff kommandieren.«

Ich wandte ihm den Rücken zu.

»Nun lassen Sie sich bloß noch eins gesagt sein«, fuhr es hinter mir fort. »Hoffen Sie nicht etwa auf Befreiung durch meine Schwester. Ich habe sie nämlich vorhin dabei ertappt, wie sie ein Zettelchen schrieb. Sie sollten sich schon für diese Nacht zur Flucht bereithalten. Daraus wird nun natürlich nichts. Atlanta ist in sicherem Gewahrsam. Lampe, Zigarren und Bücher werden Sie gleich bekommen.«

— • —

76. Kapitel
Ein gemorstes Signal

Originalseiten III.237 — 248

Die Klappe war wieder gefallen. O, wie mir jetzt erst zumute war! Atlanta bei ihrer heimlichen Korrespondenz ertappt, als meine Bundesgenossin erkannt, in sicherem Gewahrsam!

Nun war mein letztes Fünkchen Hoffnung erloschen! Diesmal war es ein Matrose, der mir das Abendessen brachte, außerdem eine Lampe, eine Kiste, Zigarren und Bücher. Auch er hatte einen Begleiter bei sich.

»Wünschen Herr Kapitän sonst noch etwas?«

»Nein.«

»Dann lassen Sie sich das Essen recht gut schmecken, es ist ganz frisch«, grinste der Kerl, ehe er die Klappe wieder zumachte.

Nachdem ich die brennende Lampe an einen Haken der Decke gehängt hatte, wandte ich meine Aufmerksamkeit der Schüssel zu.

Es war ein warmes Gericht, wieder solch ein Fleischragout mit Zugemüsen, und zwar, wie ich gleich in erkennen konnte, war ersteres aus frischem Fleische zubereitet, während das vorige aus Salzfleisch bestanden hatte.

Über das frische Fleisch brauchte ich mich nicht besonders zu wundern. Schiffe nehmen doch oft genug lebendes Schlachtvieh mit, und wenn das nicht bei der ›Ozeana‹ der Fall, so konnte es auf dem erbeuteten Schiffe vorhanden gewesen sein.

Was aber hatte der Kerl so widerlich zu grinsen gehabt, als er mir guten Appetit wünschte? Jetzt nahm ich mir Atlantas Warnung doppelt zu Herzen; ich hätte das Fleisch auch beim größten Hunger nicht angerührt. Vor meinen Augen schwebte immer das höhnisch grinsende Gesicht des Matrosen, doch konnte mich dies nicht hindern, meinen Appetit an den Bratkartoffeln und dem Mischgemüse zu stillen.

Ich ging die ganze Nacht nicht zur Koje. Rastlos wanderte ich auf und ab. Von den mir gegebenen vier Büchern schlug ich bei keinem auch nur das Titelblatt auf, dagegen entnahm ich der Kiste eine Zigarre nach der anderen.

Es war in der elften Stunde, die See war recht ruhig geworden, kaum schlingerte das Schiff noch etwas, als sich an der Öffnung wieder das Gesicht des Kapitäns zeigte.

»Hat es Ihnen geschmeckt?«

Ich antwortete nicht, setzte meinen engbegrenzten Spaziergang fort.

Er musste in die auf dem Kojentisch stehende Schüssel hineinsehen können.

»Ah, Sie haben das Fleisch ja gar nicht angerührt! Weshalb nicht?«

Ich gab keine Antwort.

»Sind Sie Vegetarier? Heute früh waren Sie es doch nicht. Nun, von morgen an gibt es überhaupt nichts anderes mehr als frisches Fleisch, wir haben zu viel lebendes Vieh an Bord, das muss alle werden, und da werden wir ja sehen, wie weit Sie kommen, denn ich kalkuliere, Sie sind nicht der Mann, der aus Prinzip gern Hungers stirbt. Das ist es aber nicht, weshalb ich komme. Blicken Sie einmal durch das rechte Bullauge, etwas nach vorn.«

Ich tat ihm diesen Gefallen nicht. Was konnte es sein? Die Feuer eines Schiffes, welches er wiederum kapern wollte. Ich konnte es nicht verhindern.

»Sie wollen mich nicht hören?«

Mein Schweigen war auch eine Antwort.

»Ich werde Sie gleich hörend machen. Soeben haben zwei sich begegnende Schiffe ihre Namen gewechselt. Das eine, ein Segler, war die ›Hortensia‹ von Valparaiso. Die hat doch nur Guano oder Salpeter an Bord, was mich wenig reizt. Aber das andere Schiff, ein Dampfer — wissen Sie, welchen Namen der durch farbige Lichter signalisierte?«

Ich wollte standhaft bleiben, aber ich konnte es nicht, eine Ahnung überkam mich — schnell trat ich auf Steuerbordseite und blickte durch das Bullauge, etwas voraus.

Es waren die Feuer eines Dampfers, die ich erblickte, durch die weiße Toplaterne gekennzeichnet, aus dem Schornstein sprühten Funken zum Himmel empor, sonst war die Nacht zu dunkel, um nur die Umrisse des Schiffes erkennen zu können, aber... ich habe schon einmal geschildert, wie man ein wohlbekanntes, sein eigenes Schiff nur an den Lichtern zu erkennen vermag, ich wenigstens kann es.

»Die ›Sturmbraut‹!«, flüsterte ich. »Meine ›Sturmbraut!«

»Ja, Ihre ›Sturmbraut‹. Und wissen Sie, was ich jetzt tue?«, Auch jetzt blieb ich die Antwort schuldig, aber ich musste ihm doch wenigstens mein Gesicht zuwenden, und ich mag nicht schlecht stiere Augen gemacht haben.

»Ich werde«, erklärte er mit Seelenruhe weiter, »auf Ihre ›Sturmbraut‹ zuhalten, werde durch Signalfeuer anfragen, ob mir der Dampfer mit einigen Fässern Trinkwasser aushelfen kann. Mein Schiff macht den Eindruck eines Seglers, dass es selbst dampft, davon ist nichts zu merken. Hat Ihre ›Sturmbraut‹ genügend Wasser, was Sie wohl selbst nicht wissen, so wird man mir schon einige Fässer ablassen, zu den üblichen Seepreisen. Der Dampfer wird an das unbehilfliche Segelschiff herankommen, wir werden Bord an Bord legen, das lässt die See jetzt bequem zu, so wird sich mir Ihre ›Sturmbraut‹ also ganz allein und freiwillig ausliefern. Wenn dann meine vierzig Matrosen mit Revolver und Entersäbel hinüberspringen, so ist an einen Widerstand natürlich gar nicht zu denken. Geben Sie das zu?«

Ich konnte nur ein Röcheln hervorbringen.

»Sollte man mir aber«, fuhr der Kapitän Berseck fort, »das Trinkwasser abschlagen müssen, weil man drüben keins überflüssig hat, dann versuche ich gar keine andere List, dann tue ich das, was ich auch sonst immer vorziehe: Ich dampfe einfach mit gelöschten Lichtern heran, stürze mich wie ein Falke auf meine Beute, im Nu sind die Enterhaken eingeschlagen, und... dann ist es dasselbe Spiel. Sehen Sie ein, dass die ›Sturmbraut‹ bereits mir gehört?«

»Bluthund!!!«

Ein Satz... aber ich griff durch die Öffnung ins Leere. Mein vorheriger Ruf war sicher nicht schuld daran gewesen, dass der Kapitän noch rechtzeitig hatte retirieren können. Er war eben von vornherein auf seiner Hut gewesen.

Er stand an der jenseitigen Wand, und da war er vor meinem Arm in Sicherheit.

»Geben Sie sich keine Mühe«, sagte er, so kalt wie immer. »Sprechen wir doch lieber ruhig zusammen. Sie können ja vermeiden, dass ich Ihre ›Sturmbraut‹ mit Gewalt nehme und einen und den anderen Ihrer Matrosen, die ihnen doch gewiss ans Herz gewachsen sind, niedermachen muss, und so sehr wenige dürften das nicht werden. Wer sich wehrt, muss natürlich daran glauben.«

»Vermeiden, wie?«, konnte ich wirklich schon wieder mit Ruhe fragen.

»Nun ja, verbünden Sie sich doch mit mir. Ihr Ehrenwort genügt mir.«

»Und dann?«

»Dann sind Sie natürlich frei, dann signalisieren Sie einfach Ihrem Schiffe zu, dass es herankommt, Sie übernehmen eben wieder das Kommando.«

»Und dann?«

»Na, dann folgen Sie in meinem Kielwasser, wie ich schon sagte.«

»Als Pirat?«

»Selbstverständlich!«

»Und wenn ich das nicht tue?«

»Dann nehme ich eben Ihr Schiff mit List oder Gewalt. Schade um Ihre Jungen!«

»Hm. Und was für eine Garantie verlangen Sie?«

»Nur Ihr Ehrenwort, bekräftigt durch Ihren Handschlag. Aber nun machen Sie es kurz, ich lasse mich nicht so hinhalten.«

Er durchschaute meine Absicht. Schade! Aber was hätte es auch genützt? Die ›Sturmbraut‹ war noch gar weit ab, man hatte noch genügend Zeit.

»Mein Handschlag genügt Ihnen?«

»Ja. Denn in diesem Falle, wenn Sie schon wissen, um was es sich handelt, werden Sie später nicht wieder von Ungültigkeit sprechen.«

Er irrte sich in meiner Anschauung über ein Ehrenwort, darüber denke ich ganz frei — ich hielt ihm meine Hand durch die Öffnung hin.

Nein, er irrte sich eben nicht!! Denn zunächst zog er, dicht an der hinteren Wand stehend, einen Revolver hervor, entsicherte ihn und richtete die Mündung auf mich.

»So, nun geben Sie mir Ihre Hand!«

Da aber zog ich die meine schnell wieder zurück — mit einem gewissen Gefühl der Beschämung. Doch was für einen Zweck hatte es, wenn ich ihn jetzt packte? Er hätte mich einfach niedergeschossen, ehe ich ihn erwürgen konnte. Der Mensch aber kann nur handeln, solange er lebendig ist.

Jetzt brach er doch einmal in ein höhnisches Gelächter aus.

»Aha, aha!!! Nein, geehrter Herr Schwager, der Sie ja doch noch werden — auf diese Weise fangen Sie den Kapitän Berseck nicht! Ich habe alle Hochachtung vor Ihrer Energie und vor Ihrer Kühnheit — aber schlauer bin ich doch — und eben deswegen werden wir zusammen verbündet ein ausgezeichnetes Seeräuberpaar geben. Genug, ich habe Sie durchschaut — jetzt wird Ihre ›Sturmbraut‹ mit der Waffe genommen — das Blut Ihrer Leute komme über Ihr Haupt!«

Diesmal blieb die Kopftür ungeschlossen, er öffnete eine Tür in der jenseitigen Wand.

»Beobachten Sie nur durch die Bullaugen und im Spiegel«, sagte er noch, und er war verschwunden.

Ich war wieder allein. Was sollte ich tun? O, diese Verzweiflung, diese Gedanken!

Es blieb mir ja nichts anderes übrig, als zu beobachten. Ich führe dabei nicht immer an, ob dies durch das Fenster oder im Spiegel geschah.

Die ›Sturmbraut‹ dampfte uns entgegen, war unterdessen bedeutend näher gekommen, aber immer noch mindestens eine Seemeile entfernt.

Die Feuer von einem anderen Schiffe konnte ich nirgends entdecken, auch jenes nicht mehr, mit welchem die ›Sturmbraut‹ durch farbige Lichter den Namen getauscht hatte, wie es ja Schiffe auf hoher See immer tun.

Also die Gelegenheit war für den Seeräuber die günstigste. Doch was hätte sich schließlich dieser Pirat daraus gemacht, wenn noch ein anderes Schiff in der Nähe gewesen wäre? Bei seiner Schnelligkeit brauchte er ja auch kein Kriegsschiff zu fürchten, höchstens, dass ihm die schon gekaperte Beute noch aus den Zähnen gerückt wurde.

Jetzt wurden am Mittelmaste der ›Ozeana‹ farbige Laternen hochgezogen. Gerade diese Signalsprache bei Nacht, welche viel einfacher, freilich auch viel mangelhafter ist als die Flaggensprache, hatte ich fast vollständig im Kopfe. Ich konnte Wort für Wort übersetzen.

Die ›Ozeana‹ nannte sich jetzt ›Isis‹, gab an, aus Marseille zu sein.

Mein Schiff signalisierte zurück, nannte seinen ehrlichen Namen, Heimathafen New York, der ja auch adoptiert war.

O, wie mir das Herz schlug!

Die Namen der Kapitäne wurden nicht wie sonst üblich angegeben, eben weil das Signalisieren mit Laternen — elektrische Lichter für so etwas mit Klaviatur gab es damals noch nicht — sehr kompliziert ist, jedes Wort muss einzeln buchstabiert werden.

Dann ging es kurz.

»Not. Trinkwasser.«

Drüben kam als Antwort eine seltsame Frage.

»Morsen?«

Ja, es war ein seltsames Signal — die sechs Reihen bunter Laternen, die nacheinander in die Höhe gezogen wurden, ergaben wirklich das Wort Morsen... und mir schoss es plötzlich wie ein Feuerstrom durch den Kopf.

Gerettet, gerettet, meine ›Sturmbraut‹ und meine Jungen waren gerettet!! Und ich vielleicht selbst! Doch nur meine ›Sturmbraut‹, meine ›Sturmbraut‹!!

Mein Gott, wie war ich nur noch auf diesen rettenden Gedanken gekommen!!

Hier muss ich einige Erklärungen einschieben, woran ich freilich nicht dachte, als ich schnell wie der Gedanke vom Spiegel nach dem Bullauge sprang.

Was ›morsen‹ ist, werden wohl die meisten Leser wissen. Es ist die aus Punkt und Strichen bestehende Telegrafensprache. Man braucht diese Punkte und Striche aber nicht unbedingt aufs Papier zu bringen, man kann auch die Sonne dazu verwenden, oder ein Licht, oder nur durch Bewegungen kann man diese Punkte und Striche wiedergeben. Die optische Telegrafie ist doch überhaupt viel älter als unsere elektrische, ist uralt, der Erfinder der Telegrafie, Morse, hat diese Zeichen erst von ihr herübergenommen, wenn auch verbessert.

Der ausgebildetste Apparat für die optische Telegrafie mittels der Sonne ist heute der Heliograf, wie schon der griechische Name sagt. Aber man hat die Sonne gar nicht nötig. Jede Lampe, jedes Licht tut es. Die Verständigung geht nur nicht so weit, und dann kann sie jeder mitlesen — wenn man nicht eine Geheimsprache ausgemacht hat.

Man hält vor das Licht einfach die Hand, ein kurzer Wegzug ist ein Punkt, ein längeres Zeigen des Lichtes ist ein Strich. Das bedarf weiter keiner Erklärung.

Heute ist das Morsen bei allen Seeleuten obligatorisch, jeder Steuermann muss es können, es wird auf der Schule gelehrt, so gut wie das Semaphorieren, das Ausdrücken der Buchstaben mittels verschiedener Stellung des Semaphors. Die internationale Sprache zur See ist Englisch.

Damals war das noch nicht der Fall. Trotzdem aber konnte jeder Steuermann morsen, jeder intelligente Matrose, der sich etwas weiter ausbilden wollte. Nur musste eben erst angefragt werden, ob es auch verstanden würde.

So hatte auch meine ›Sturmbraut‹ getan. Das Signalisieren mit farbigen Laternen, die stets erst in die Höhe gezogen werden mussten, war zu langweilig.

Ich hatte noch im Spiegel gesehen, wie schnell eine weiße Laterne in die Höhe gehalten worden war, ein Brett davor, dieses schneller und langsamer zurückgezogen — die Frage war bejaht worden.

Ich aber war also nach dem Bullauge gesprungen, ich hätte laut aufschreien mögen vor Jubel. Und jetzt kommt die zweite Erklärung.

Ich hatte mit meiner Mannschaft respektive mit meinen Steuerleuten eine Geheimsprache ausgemacht, mit Flaggen sowohl wie durch farbige Lichter, wie durch Semaphorieren, wie durch Morsen. Denn der Teufel hätte meine Offiziere holen sollen, wenn sie nicht auch morsen gekonnt hätten, auch meinen Jungen hatte ich Instruktionsstunde erteilt, theoretisch und praktisch, jeder musste es können.

Nicht etwa jedes Handelsschiff hat so eine Geheimsprache; man sollte eigentlich fragen: wozu auch? Für mich aber war die ganze Seefahrt doch eine Passion, sage man meinetwegen ein lustiges Spiel.

Und dennoch, es hatte seine großen Vorteile. Wenn ich nicht an Bord war, konnte ich mich immer verständlich machen, ich brauchte gar nicht gesehen zu werden, wenn nur die Zeichen noch sichtbar waren.

Bei Tage war eine blaue Flagge mit drei Knoten mein persönliches Signalement. Über welchem Hause das Signal wehte, wo es aus dem Fenster heraushing — einfach ein blaues Taschentuch, welches ich besonders aus diesem Grunde immer statt eines weißen oder roten benutzte — in diesem Hause befand ich mich, dort wussten mich meine Leute.

Wurde ein Knoten gelöst, sodass dann nur noch zwei darin waren, so bedeutete das: kommt zu mir — wurde geschwungen: bin in Not, Eile!... und so hatte ich noch mehr Signale, meine eigenen, die ich hier nicht anzuführen brauche.

Bei Nacht brauchte ich nur drei UZeichen zu morsen — dreimal Punkt Punkt Strich — und ich machte meine Leute aufmerksam auf mich, und erhielt ich das Gegensignal, ein B, Strich Punkt Punkt Punkt, so hatte man mich verstanden, dann konnte das Morsen weitergehen, entweder nach dem gewöhnlichen Alphabet oder in der ausgemachten Geheimsprache.

Schnell hatte ich ein Kissen aus der Koje gerissen, hielt es gegen das Bullauge, zog es in kürzeren und längeren Pausen zurück, machte also ein UZeichen, wartete etwas, spähte, dann noch eins und noch eins, und dann spähte ich wieder mit klopfendem Herzen — und wie es mir klopfte!

Würde man das ruckweise Verdunkeln des erleuchteten Bullauges auf der ›Sturmbraut‹ bemerkt haben? Das Gegenteil wäre eine Unachtsamkeit gewesen. Jedes begegnende Schiff wird auf der weiten Wasserwüste höchst aufmerksam beobachtet. Bei Nacht sind immer die runden, erleuchteten Fensterchen das Hervorstechendste. Wäre dort drüben eines der rotglühenden Augen mehrmals hintereinander verdunkelt worden, es wäre mir, jedem anderen, der jetzt dort hinübersah, augenblicklich aufgefallen.

Aber ob die Intelligenz so weit ging, gleich ein Morsezeichen zu erkennen, oder es konnte doch einmal ein unglückseliger Zufall... Da — da... das Gegenzeichen!! Soeben hatte man auf der ›Sturmbraut‹ an der mir so gut bekannten Magnesiumlaterne die Frage gemorst, wie viel Trinkwasser gebraucht würde — die Frage kam nicht ganz zustande, wurde unterbrochen, eine kleine Pause, dann wurde langsam und deutlich ein B gemorst — Strich Punkt Punkt Punkt!

Man hatte mich erkannt, man hatte mich erkannt, kein Zweifel mehr!!!

Während man drüben die angefangene Frage vollendete, morste ich noch einmal ein U, und dann gleich weiter in unserer ausgemachten Geheimsprache:

»Hier Kapitän Jansen! Bin gefangen! U — U.«

Drüben ging es weiter.

»Wir — können — nur — fünf — B — B — Fässer abgeben.«

O, wie ich jubelte!! Der Leser wird sich hineinfinden können. Sie schalteten das Verstandenzeichen dazwischen ein. Das war nicht auffällig. Der den Apparat Bedienende war einfach nicht ganz perfekt, schob manchmal einen falschen Buchstaben ein. Aber nicht falsch für mich!

Und weiter morste ich in unserer Geheimsprache:

»Aufgefischt. Piratenschiff. Ralph Berseck. Will ›Sturmbraut‹ kapern. U — U.«

Und drüben unterhielt sich die Magnesiumlampe mit diesem Schiffe hier:

»Hektoliter — zwanzig — Schilling — B B — ja? — B B.«

Verstanden, ich war verstanden!!

Aber jetzt — jetzt kam es darauf an! Wild schossen mir die Gedanken durch den Kopf! Ich konnte meine ›Sturmbraut‹ kommandieren! Ich konnte sie retten, gewarnt vor dem Piraten war sie schon — ich konnte befehlen, dass sie die Lichter löschte und in der stockfinsteren Nacht dem schnellen Piratenschiffe zu entkommen suchte, oder aber... ich konnte auch etwas anderes tun! Und mein Entschluss war gefasst.

»U — auf die List eingehen! Dampfpumpe! Heißwasser! Wie damals! Stichwort zurück — U.«

Und das aufblitzende Magnesiumlicht sprach auf meiner ›Sturmbraut‹ weiter:

»Aus dem Winde — wir — opdhuchbezka — wir — dampfen heran.«

Der Leser versteht. In den geordneten Satz war ein Geheimwort eingefügt. Für den Ableser brauchte das nicht auffällig zu sein, da hatte der nicht sehr geübte Morsende eben einmal Kuddelmuddel gemacht, weswegen er dann auch das ›wir‹ wiederholt hatte.

Für mich aber bedeutete dies sonst unverständliche Wort, wenn ich die Buchstaben übersetzte: Dampfspritze.

Und dieses zurückgegebene Stichwort genügte!

»Oder der Teufel soll die Kerls frikassieren, wenn sie so dumm sind!«, konnte ich mit hervorbrechendem Übermut sagen, als ich von dem Bullauge zurücktrat. Ja, eine wunderbare Erleichterung war über mich gekommen. Nun los denn, der Tanz konnte beginnen!

— • —

77. Kapitel
Meine schrecklichste Erinnerung

Originalseiten III.248 — 257

Es war die höchste Zeit gewesen. Lange hätte ich die Ausführung meines Vorhabens nicht aufschieben dürfen. Es klappte, und plötzlich waren die fünf Bullaugen geschlossen. Die Fensterchen besaßen nicht jene Dichtungsklappen aus Gusseisen, die Deckel mussten von außen geschlossen worden sein, oder richtiger wohl waren sie inwendig zwischen den hohlen Schiffswänden angebracht, durch einen Mechanismus waren sie herabgelassen worden.

Ein jäher Schreck durchzuckte mich. Wehe, wenn meine Manipulationen doch beobachtet worden waren, hier auf diesem Schiffe nämlich, und wenn man auch die Geheimsprache nicht verstand, und das kleine Sprechloch war noch offen gewesen, es konnte jemand draußen gewesen...

Da fiel durch dieses Loch ein Lichtschein, Kapitän Bersecks Gesicht war es, welches darin erschien.

Jetzt kam es darauf an! Mein Herzschlag setzte aus.

»Ihre ›Sturmbraut‹ kommt wirklich heran, in zehn Minuten werde ich sie am Enterhaken haben.«

Gott sei gedankt! Ich konnte beruhigt sein. Sonst hätte der doch gleich etwas ganz anderes gesagt.

»Ich wollte mich nur überzeugen«, fuhr jener fort, »ob die Bullaugen auch geschlossen sind. Der Mechanismus hat schon einmal versagt. Ja, alles geschlossen, und von hier drinnen gibt's dann kein Aufmachen. Ich muss Ihnen einmal die Aussicht nehmen, Herr Kapitän — Sie könnten sich durch Rufen bemerkbar machen, und das darf natürlich nicht sein. Außerdem können Sie ja im Spiegel alles beobachten, was an Deck der beiden Schiffe vor sich gehen wird. Nun, Herr Schwager, wie denken Sie sich die Sache?«

Ich wusste, wie ich mich zu verhalten hatte. Ich machte einmal meinem Ingrimm Luft, jetzt freilich ganz erkünstelt, schüttelte die Faust nach dem Kapitän.

»Hund verdammter!«

»Ja, das möchten Sie wohl, mich einmal in dieser Faust haben,« lächelte er. »Was für eine Handschuhnummer haben Sie eigentlich?«

»Mensch, Sie können noch so scherzend sprechen?«

»Warum nicht?«

»Fürchten Sie denn gar keinen Richter?«

»Nee!«

»Er wird sie erreichen!«

»Nee. Gibt's gar nicht. Ich bin unerreichbar. Meine Maschine kann nicht versagen, das Ding ist nämlich an sich überaus einfach.«

»Aber Gott wird Sie erreichen und dereinst zur Verantwortung ziehen!«

»Ich glaube an keinen Gott — nur an einen Teufel, und der bin ich selber. Doch Scherz beiseite...«

»Ich scherze nicht!«

»Na, da sprechen wir ernsthaft weiter. Ich komme nicht hierher, um mit Ihnen zu plaudern, sondern um Ihnen noch einmal einen Vorschlag zu machen. In zehn Minuten habe ich Ihre ›Sturmbraut‹ am Enterhaken — hören Sie?«

Es war schauspielerisch wohl ganz richtig, wenn ich jetzt einmal die Fäuste gegen die Brust legte und keuchte.

»Ich werde manchen Ihrer braven Jungen niedermachen müssen.«

Ich zuckte mit den Fingern und keuchte noch ein bisschen stärker. Auch Schaum hätte ich vor den Mund bringen können, doch das fand ich noch verfrüht.

»Sie haben es noch in der Hand — noch immer ist es Zeit — wenden Sie das Schicksal Ihres Schiffes und mehr noch das Ihrer Mannschaft.«

»O, Sie Satan!«, verwandelte ich jetzt mein Keuchen in ein Röcheln.

»Ja, ein Satan bin ich. Trotzdem werden wir wirklich Schwäger mit gemeinsamen Interessen, machen wir Kompanie.«

»Niemals!«

»Sie werden ja doch selbst bald so ein Pirat und Satan.«

»Nie — niemals!!«

»Ihr letztes Wort?«

»Mein letztes!«

»Dann tragen Sie die Folgen. Das Blut Ihrer Leute komme über...«

»Fahre zur Hölle, Himmelhund!!!«

Mit diesem sich nicht ganz zusammenreimenden Fluche war ich wieder mit ausgestrecktem Arme nach der Öffnung gestürzt.

Glücklicherweise war er schneller als ich, diesmal hatte ich ihm auch etwas Zeit gelassen, noch zurückzuspringen. Denn jetzt war mir doch gar nichts mehr daran gelegen, ihn kalt zu machen, das hätte ja den ganzen Spaß verdorben.

»Also so! Wohlan denn! In fünf Minuten geht es los. Beobachten Sie nur im Spiegel. Für genügendes Licht werde ich sorgen.«

Mit diesen Worten hatte er mich verlassen, hinter sich die Tür zugeworfen.

Der Leser braucht nicht zu glauben, dass ich dies erst nachträglich mit einem Anfluge von Humor schildere, wie ich schauspielerte und dergleichen — das wäre sogar gemein, frivol, nämlich jetzt, nachträglich. Nein, mir war damals wirklich so humoristisch zumute, oder ich will sagen: eine wilde Kampfesfreudigkeit durchflutete mich, und diese Freudigkeit war eine echte!

Zum Kampfe würde es kommen, und was tat's, wenn meine ›Sturmbraut‹ dabei wirklich unterlag? Es kann immer nur einen Sieger geben...

Mein Gedankengang, wobei ich auf und ab raste, wurde unterbrochen durch ein Knirschen. Das waren Bordwände, die zusammenscheuerten!

Jetzt, jetzt kam es darauf an!

Hurra, da ging der Tanz los!!

Trampelnde Füße, jetzt ein Kampfgeschrei, Schüsse — und da plötzlich verwandelte sich das vorzeitige Siegesgeschrei in ein wahnsinniges Schmerzgeheul!

Und jetzt ein hipp, hipp, hurra, aus anderen Kehlen! Das waren meine Jungen!

Und das Schmerzgeheul wurde immer wahnsinniger.

Ja, ja, die Dampfspritze wirkte!

Ja, ja, Kapitän Berseck, du edler Seeräuber, hier bist du einmal an den Unrechten gekommen, das sind meine Jungen, meine!!

Und ich hier, ich hier, musste untätig zuhören. Denn den Spiegel hatte ich vergessen.

Ich hier untätig, während es oben so lustig zuging!

Und da betete ich etwas — ich weiß nicht, ob zu Gott oder zum Teufel.

Und da nahm ich einen Anlauf.

Und ich habe stets begriffen, was die heutigen Realisten nicht mehr zu glauben vermögen, wie nämlich ein Weib wie die Jungfrau von Orleans mit einem Ruck ihre schweren Ketten durchbrechen konnte.

Und ich bin doch keine Jungfrau.

Ich brach durch die eiserne Tür, als wenn's eine Eierschale wäre — und ich war nun einmal in Fahrt, ich ging auch gleich noch durch die zweite Eisenwand.

Und dann rannte ich, flog ich durch einen erleuchteten Korridor. Kam an eine Treppe. Und von dieser stürzten mir laut brüllend ein halbes Dutzend Männer entgegen. Ich dachte, sie wollten etwas von mir. Und ich nahm den ersten beim Griebse, er verwandelte sich in meiner Hand zur Kriegskeule, mit der ich den anderen die Schädel einschmetterte.


Illustration

Und dann war ich an Deck. Überall lagen sie herum, brüllend und wimmernd. Doch ich sah ja nur Mahlsdorf, alle meine Jungen.

Enoch, mein Bootsmann, hatte noch den dampfenden Schlauch in der Hand. Ein Glück, dass er nicht mehr spritzte, sonst hätte ich etwas abbekommen können.

»Der Käpten, der Käpten!!!«, erklang es jauchzend im Chor.

Ich weiß nicht, wer es war, den ich zuerst erwischte und im Kreise herumschwenkte. Ich weiß überhaupt nicht, was sich in den nächsten Minuten zutrug.

»Wie ist es gegangen?«

»Fein — fein — fein«, sagte irgend jemand.

»All right, Käpten, all right — alles gefixt«, setzte dann noch Enoch hinzu, mit einer entsprechenden Handbewegung, so etwa wie der große Cäsar, als er einen Triumphzug ablehnte, weil er solche Kinkerlitzchen nicht mehr nötig hatte; nur dass mein Enoch dabei noch eines seiner Säbelbeine in entsprechender Weise schlenkerte.

»Wo ist Mr. Tischkoff?«, war wohl meine zweite Frage.

»Der ist tot.«

»Tot?!«

»Nee, nee, Käpten, nur so ein bisschen, in seiner Kabine — seit zwei Tagen — er wird schon wieder lebendig werden.«

Dann fielen meine Blicke, so weit ich mich entsinnen kann, auf Enochs holde Ehehälfte. Madam Hullogan war soeben dabei, einem regungslos daliegenden Matrosen die Taschen zu untersuchen.

»Hat sich Lausbub miserabler nicht einen roten Penny im Sack!«

Das gab mir die Besinnung wieder. Das heißt, jetzt sah ich nicht nur noch meine Leute, sondern auch die Seeräuber.

Brüllen und Winseln und sich wälzen noch allüberall. Enoch hatte die Spritze noch viel besser geführt als ich damals, er hatte mehr gezielt, und das war ja auch sein Fach, als Bootsmann war er doch der Spritzenonkel, führte beim Deckwaschen immer den Wasserschlauch. Außerdem fehlten hier an dem Deck ohne Aufbau die Verstecke.

Es wurde gebunden, manchmal auch noch eins auf den Kopf gegeben. Bei einigen war kein Binden mehr nötig — schrecklich verbrüht — die Haut ging vom ganzen Körper in Fetzen ab.

Schon drangen meine Jungen ins Innere des Schiffes, um unschädlich zu machen, was noch eine Hand regen konnte. Sie fanden auch solche, aber zu einem Kampfe sollte es nicht mehr kommen. Vor Entsetzen gelähmt! So etwas war diesen edlen Piraten eben noch nicht passiert.

Man will einige Hektoliter Trinkwasser haben — doch natürlich kaltes — und die schicken es einem gleich kochendheiß herüber.

Auch ich schloss mich den Suchenden an. Atlanta — das war jetzt mein nächster Gedanke.

Ich setzte zwei Kerlen ein Messer auf die Brust, als ich sie fragte, wo die Schwester des Kapitäns untergebracht sei.

»Antwort, oder...!!«

Vergebens! Die beiden waren vor Entsetzen keines Wortes fähig.

Als ich mit einer brennenden Lampe durch einen tieferen Korridor eilte, sprang hinter einem Wandschranke ein Kerl hervor, in einem weißen Anzuge, eine weiße Schürze vorgebunden, aber über und über mit frischem Blute besudelt, ein ellenlanges Messer in der Faust.

Angreifen wollte er mich wohl nicht, nur an mir vorüber, war zu zeitig aus seinem Versteck hervorgesprungen.

Ich hatte gerade noch Zeit, ihm die Petroleumlampe auf dem Schädel zu zerschmettern. Er sackte zusammen. Sonst hatte es ihm nichts weiter geschadet. Nur dass er mit Petroleum getränkt war, das sich aber nicht entzündet hatte. Im Korridore hing noch eine andere brennende Lampe.

»Wo ist Atlanta?«

Er stierte mich verständnislos an — ein scheußliches Bild, dieser mit Blut und Petroleum getränkte Kerl, noch immer das lange Schlachtmesser in der Hand.

»Wo ist die Schwester des Kapitäns?«

Noch immer keine Antwort. Ich trat ihn ein bisschen auf den Bauch, und das half, es gab ihm die Sprache wieder.

»Dort, dort!«, konnte er wenigstens stammeln, mit dem blutigen Messer auf eine Tür deutend.

Zwei meiner Matrosen rannten durch den Korridor, ich übergab ihnen den Mann zur Besorgung, wandte mich jener Tür zu.

Sie war unverschlossen. Ich öffnete sie. Gerade davor hing die Lampe, ihr Licht fiel in die Kammer.

O, was für einen Anblick ich da hatte! Noch heute, da ich dies nach dreißig Jahren schreibe, überläuft es mich eiskalt, noch heute kann bei mir deswegen der Todesschweiß hervorbrechen, wenn ich dieses Anblickes gedenke.

An den Wänden hingen an großen Haken nackte Menschen — Teile von Menschen — ausgeweidet — Schenkel — halbierte Bauchstücke...

Regelrecht geschlachtet! Genug!

Und da plötzlich wusste ich alles.

Eine Stimme klang mir ans Ohr.

»Sie werden — werden — niemals Fleisch essen.«

Es wäre nicht nötig gewesen, dass mir diese Worte Atlantas wieder in den Ohren klangen.

Ich wusste alles.

Menschenfresserei!

Dort auch die Viertel eines Weibes, zweier Weiber.

Und ich wandte mich um, musste mich stöhnend an eine Wand lehnen. Ich langer Mensch war einer Ohnmacht nahe.

— • —

78. Kapitel
Etwas über Menschenfresserei

Originalseiten III.257 — 267

Erst oben an Deck kam ich wieder zu mir. Dann befand ich mich in meiner Kajüte, und mir gegenüber saß Atlanta. Man hatte sie in einer Kabine eingeschlossen gefunden. Wie man sie zu mir gebracht, ob ich danach verlangt oder wie sonst, weiß ich nicht. Ich weiß gar nichts mehr.

Wir beide befanden uns eben in der Kajüte meiner ›Sturmbraut‹.

Dann aber hatte ich nicht nur meine Besinnung, sondern auch meine kühle Vernunft wieder, meine kritischen Augen, die allerdings etwas anders blicken als die der meisten Menschen.

»Ja, wir haben immer Menschen gegessen. Die Toten, wenn wir ein Schiff überfallen hatten, wurden immer gleich verspeist, die noch Lebenden und Leichtverwundeten für späteres Schlachten aufgehoben. Oder sie wurden auch gleich eingesalzen, damit sie nicht erst lange gefüttert zu werden brauchten.«

Ganz ruhig hatte dies das schöne Weib erklärt, und ganz ruhig konnte ich weitere Fragen stellen.

Weshalb ganz ruhig? Weil ich eben mit anderen Augen blicke, mindestens über alles meine eigenen Gedanken habe.

O, Mensch, du Sohn des Himmels und der Erde, was bist du doch für eine... seltsame Kreatur! Den beliebten Ausdruck ›Bestie‹ will ich gar nicht gebrauchen. Wenn man allgemein vom Menschen spricht, ist er auch gar nicht zutreffend. Ich habe genug hochedle Menschen kennen gelernt.

Aber sonst — was ist doch zwischen Mensch und Mensch für ein Unterschied! Sohn des Himmels und der Erde — darin liegt der Unterschied.

Ich kannte in London einen Mann, einen Schiffsmakler, der ein jährliches Einkommen von mindestens zweimalhunderttausend Mark hatte. Hiervon gebrauchte er für sich und seine große Familie dreitausend Mark, alles übrige verteilte er mit weiser Hand unter die Armen. Dabei ganz unbekannt. Nur durch einen Zufall machte ich seine nähere Bekanntschaft, wobei er sich mir offenbarte. Deshalb darf ich auch seinen Namen nicht nennen. Und dabei glaubte dieser Mann nicht einmal an eine ewige Seligkeit, nicht an eine Wiedervergeltung im Himmel, was doch immer etwas auf Egoismus hinausläuft. Ein kleines, bescheidenes Männchen, etwas verwachsen — aber aus seinen herrlichen Kinderaugen strahlte der Himmel, den er schon hier auf Erden in seiner Brust trug! Und wenn er sprach, wobei es wunderbarerweise aus der gebrechlichen Brust wie Glockenton klang, so fühlte jeder den göttlichen Hauch der Liebe auf sich überströmen.

Und nun nehme man so einen Wucherer an, der wegen ein paar lumpiger Groschen rückständigen Mietszinses eine arme Familie auf die Straße setzt, sie dem Elende preisgibt — der seine Kornscheuern verschließt, um den Preis höher zu schrauben, und sollten deswegen auch Tausende von Menschen verhungern, seine eigenen Geschwister und Eltern...

Siehe, das sind zwei Menschen, beide nackt unter Schmerzen von einem irdischen Weibe geboren, beide nach ein und demselben Ebenbilde geformt!

Wer löst das Rätsel?

Oder da ist ein Mensch, der kein Fleisch essen mag. Nicht, weil er Vegetarier ist, was ja meist nur aus Gesundheitsrücksichten geschieht — das Fleisch widersteht ihm im Herzen, nicht im Magen. Jeder Bissen des delikaten Beefsteaks würde ihm im Munde quellen, weil er dabei derer gedenken muss, die jetzt nicht einmal ein Stückchen trocknes Brot haben. Solcher hochgesitteter und -gesinnter Männer habe ich einige kennen gelernt.

Und die anderen Menschen? Na, die essen oder fressen alles, was nur kaubar ist. Muscheln und Schnecken, gleich noch lebendig werden sie verschlungen, im Kote wühlende Enten, Schweine, die ab und zu einmal eine Ratte wegschnappen — zieht man aus einem Flusse eine mehrtägige Leiche, sitzen gewöhnlich Krebse daran — macht nix, wird alles gefre... verspeist, wollte ich sagen.

Versteht der Leser, was ich hiermit meine? Ich hoffe es. Dann wird man auch verstehen, weshalb ich, nachdem der erste Ekel überwunden war, so ruhig bleiben konnte. Jedes Ding lässt sich eben von zwei Seiten betrachten.

Aber man darf mich um Gottes willen auch nicht missverstehen!!

Es gibt Menschenfresser genug, sogenannte Wilde, welche sonst die harmlosesten, friedsamsten Menschen sind, die ohne Not kein Würmchen töten. Aber die im ehrlichen Kampfe erschlagenen Feinde werden verzehrt, die eigenen Angehörigen, wenn sie ein gewisses Alter überschritten haben, Eltern und Geschwister, sogar die neugeborenen Kinder, die eigenen, die Eltern machen einen Feiertagsbraten daraus.

Gerade hier auf diesen Koralleninseln der Südsee findet man derartige harmlose Menschenfresservölkchen.

Ja, das ist einfach der Hunger!! Der Übervölkerung muss vorgebeugt werden, und weshalb soll man denn das schöne Fleisch der Getöteten nutzlos vergraben? Es wird einfach verspeist! Und nun soll man einmal diesen Leuten klarzumachen suchen, dass sie unrecht tun! Gibt's gar nicht, verstehen sie gar nicht. Gebt ihnen zu essen, eine andere Existenz, und sie lassen ganz allein von der Menschenfresserei.

Dann bin ich mit zwei Matrosen zusammengewesen, welche beide in zwei verschiedenen Fällen, im offenen Boote und auf einer Felsenklippe, ihren Hunger am Fleische getöteter Kameraden gestillt hatten. In beiden Fällen war es ganz ehrlich zugegangen, die Schlachtopfer waren immer ausgelost worden.

Beide wurden dann, als es herauskam, unter Zubilligung mildernder Umstände mit Zuchthaus bestraft, der eine in England mit täglicher Prügelstrafe.

Das halte ich einfach für unrecht, jede Bestrafung deswegen. Man soll einen Mausedieb bestrafen und einen sonstigen Verbrecher — aber bei so etwas — Hand davon weg!! Da ist kein irdischer Richter kompetent!

Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet! Da soll jeder an seine Brust schlagen und sprechen: Auch ich bin nur ein Mensch und zur Sünde geneigt — Herr, führe mich nicht in Versuchung!

Aber glaubt der Leser etwa, ich will der Menschenfresserei das Wort reden, sie entschuldigen?

Ich verurteile kein wildes Tier, welches ab und zu einen Menschen frisst, aber... ich schieße es nieder! Die Welt muss von Raubtieren befreit werden. — — —

»Ihr habt euch ausschließlich von Menschenfleisch genährt?«

»Nein, nur wenn wir Menschen bekommen konnten.«

»Natürlich. Und woher bekamt ihr die?«

»Wie ich schon sagte — durch Kapern von Schiffen.«

»Nicht auch vom Land?«

»Ja, manchmal — wenn Ralph wagen durfte, einen Einfall in ein Land zu machen.«

»Als ihr die Kolonie auf den Philippinen überfielt, habt ihr die gefangenen Weiber nur deshalb weggeschleppt?«

»Nur deshalb.«

»Ihr habt die Mädchen und Frauen nicht als Sklavinnen verkauft?«

»Nein.«

»Nur aufgegessen?«

»Ja.«

»Wie viele Frauen waren es?«

»Achtunddreißig — und dann noch fünfzehn Männer und sieben kleine Kinder.«

Genug, genug — ich wollte keine Einzelheiten mehr hören! Das heißt, bei demselben Thema blieb ich noch, nur die Quellen wollte ich noch erfahren, woher die ihr menschliches Schlachtvieh immer bezogen hatten.

Nur noch einmal beschlich mich ein Grausen, als ich dieses schöne, junge Weib anblickte, welches diese Ungeheuerlichkeiten so gelassen aufzählen konnte.

Sollte man es denn nur wirklich für möglich halten?!

»Fühlten Sie denn nur gar nicht dabei, dass das Essen von Menschenfleisch etwas Unrechtes, etwas Widernatürliches ist?«, fragte ich leise.

In demselben Moment aber bereute ich meine Frage schon. Unrecht, widernatürlich — pshaw! Der Maulwurf frisst seinesgleichen auf, und der christliche Soldat geht mit freudigem Hurra in die Schlacht, sucht möglichst viele wegzuplatzen und seinem lieben Nächsten, der ihm gar nichts getan hat, mit dem Bajonett den Leib aufzuschlitzen, und Krebse sitzen an Kadavern, auch an menschlichen.

Nur auf die Erziehung kommt's bei der großen Masse an, auf das Impfen.

Da aber... was war das?!

Warum senkte sie so scheu den Kopf?

Das heißt, erst durch diese Scheu, einem bösen Gewissen entspringend, wurde für mich die Sache furchtbar.

»Ja!«, erklang es hauchend.

»Was? Sie wussten, dass das Verzehren von Menschenfleisch ein Unrecht ist?«, stieß ich entsetzt hervor.

»Ja. Ich — ich — fühlte es immer — ich weiß nicht, mir kam es stets wie Unrecht vor, so sehr mein Bruder auch dafür sprach...«

»Und Sie haben dennoch Menschenfleisch gegessen?«

»Ich? Nein!«

Jetzt war ich es, der betroffen auffuhr.

»Sie haben kein Menschenfleisch gegessen?«

»Niemals! So sehr mich mein Bruder auch drängte, mich dazu verführen, zwingen wollte.«

»Überhaupt keinen Bissen davon in den Mund gebracht?«

»Niemals!«, wiederholte sie ganz schlicht. »Mein Bruder fing erst später damit an, als ich vielleicht schon vierzehn Jahre alt war — und als ich merkte, dass auch er mich so weit bringen wollte, habe ich überhaupt niemals mehr Fleisch angerührt, aus Furcht, man könnte mir heimlich etwas beimischen — habe nur von Brot und etwas Gemüse gelebt...«

Sie schlug plötzlich die Hände vors Gesicht und fing bitterlich zu weinen an.

Da — da war es!! Und wenn alle Menschen sie verurteilt hätten — ich wusste einen Richter, der sie freisprach, dereinst freisprechen würde. Diese Tränen entsühnten sie, wenn überhaupt etwas zu entsühnen war. Ich für meinen Teil hätte sie jetzt ruhig in meine Arme nehmen, sie wieder küssen können, ohne jedes Grauen.

»Mein Bruder wollte jeden Menschen dazu verleiten«, brachte sie mühsam schluchzend hervor, »auch Sie — und das wollte ich nicht zulassen — denn wer einmal Menschenfleisch gegessen hat... o, es ist entsetzlich...«

Sie konnte vor Weinen nicht weitersprechen.

»Deshalb warfen Sie auch die Schüssel über Bord, es war Menschenfleisch, nicht wahr?«, fragte ich, als sie sich wieder etwas beruhigt hatte.

Sie nickte.

»Darf ich Sie noch weiter fragen?«

»Sie haben über mich zu befehlen.«

»Davon ist keine Rede. Alle Matrosen aßen Menschenfleisch?«

»Alle.«

»Wie ist denn Ihr Bruder auf diese schreckliche Leidenschaft verfallen?«

»Er hat einmal lange Zeit auf einer einsamen Insel verbringen müssen — mit noch einigen Kameraden zusammen — sie wurden von furchtbarem Hunger geplagt — und da haben sie sich gegenseitig geschlachtet — und seit dieser Zeit hat Ralph Menschenfleisch allem anderen vorgezogen — und — und...«

»Und was?«

»Und da wusste er immer Ausreden — suchte sich zu rechtfertigen — — er sagte, weil — weil...«

»Weil er von einer Wölfin gesäugt worden wäre, daher der unnatürliche Appetit, nicht wahr?«

»Ja«, schluchzte die Unglückliche unter neuen Tränen, »und nun sagte er immer, auch bei mir bräche dieses Verlangen noch einmal durch — ich sollte nur gleich anfangen — auch ich wäre doch von einer Wölfin gesäugt — das sei auch bei mir Natur... o Gott, o Gott, diese schreckliche Angst, diese Qualen, die ich immer ausgestanden habe!«

»Haben Sie denn wirklich manchmal Appetit nach solcher Nahrung gehabt?«

Mit entsetzten Augen blickte sie mich an.

»Ich? O Gott, o Gott, wo denken Sie hin! Ja, mir wurde es zur Gewohnheit, die Männer Menschenfleisch essen zu sehen, ich dachte mir gar nichts mehr dabei — und doch, eine innere Stimme flüsterte mir immer zu, dass dies eine Sünde sei — aber dann verhöhnte mich mein Bruder wieder so, bis ich glaubte, das müsse so sein, auch alle anderen Menschen auf der Welt äßen ihre eigenen Brüder — nur heimlich, wie man Opium raucht — deshalb die vielen Kriege — das wusste mein Bruder mir alles so einzureden — aber der Widerwille blieb bei mir — nein, der geheime Gedanke, dass dies doch ein schweres Unrecht sein müsse — und so blieb immer die furchtbare Angst...«

»Was für eine Angst denn nur? Oder wollte Ihr Bruder Sie direkt zwingen, Menschenfleisch zu essen?«

»Das nicht, aber... aber...«

»Ach so, Sie glaubten wirklich daran, weil Sie von einer Wölfin gesäugt worden sind, könnte die Wolfsnatur doch noch einmal bei Ihnen zum Durchbruch kommen?«

»Ja — ja — und mein Bruder behauptete das immer so fest.«

»Bah, das ist ja Larifari. Sehen Sie, ich habe einen guten Freund, mein bester Freund, der ist von einer Hyäne gesäugt worden, und er ist der bravste Kerl, eine Seele von einem Menschen.«

Daran war freilich kein Wort wahr — aber die Hauptsache war doch, dass sie hoffnungsfreudig aufblickte.

»Sie meinen wirklich nicht?«

»I Gott bewahre!«

»Aber wenn wir einen neuen Mann bekamen...«

»Ja, wenn nun einmal einer abging, wie bekamen Sie da Ersatz?«

»Die Gefangenen wurden gefragt, ob sie Pirat werden wollten, sonst wurden sie getötet — eben geschlachtet.«

O, da brauchte ich nicht zu fragen, ob sich da auch öfters Willige gefunden hätten. Warum auch nicht? Söldlinge oder Piraten, es ist im Grunde genommen ziemlich das gleiche. Nur erwischt werden darf man dabei nicht.

»Und wenn sich nun jemand dazu bereit erklärte?«

»Dann musste er sich erst verschiedenen Prüfungen unterziehen.«

»Was für Prüfungen?«

»Vor allen Dingen musste er längere Zeit Hunger leiden.«

»Ach so, und dann wurde ihm Menschenfleisch vorgesetzt, nicht wahr?«

»Jawohl.«

»Wusste er denn überhaupt schon zuvor, dass hier die Hauptnahrung Menschenfleisch bildete?«

»Nein, das wurde ihm nicht gesagt.«

»Und wurde ihm gesagt, dass er jetzt Menschenfleisch zu essen bekäme?«

»Auch nicht.«

»Und was weiter?«

»Erst hinterher wurde ihm gesagt, wenn er schon mehrere Mahlzeiten genossen hatte, dass er Menschenfleisch gegessen habe. Dann wurde ihm stets furchtbar übel, er war entsetzt — aber schließlich gewöhnte er sich daran, er sah es nicht anders, und mein Bruder behauptete, wer einmal Menschenfleisch genossen habe, der könne niemals wieder davon lassen, es gebe ihm auch einen ganz anderen Charakter.«

Ich erhob mich.

»Wissen Sie, Atlanta, lassen wir diese ganze Menschenfresserei jetzt ruhen, und das für immer. Oder höchstens noch eines! Also, Sie wollten mich davor bewahren?«

»Ja, ja.«

»Weshalb?«

»Weil — weil...«

»Sie wollten mich befreien?«

»Ja.«

»Auf welche Weise?«

»Ich wollte die ganze Mannschaft durch einen Schlaftrunk betäuben.«

»Und dann?«

»Dann waren Sie ja frei, konnten in einem Boote fliehen.«

»Und Sie? Wollten Sie mich begleiten?«

»Ich?«

Ein erschrockener Blick, und dann fing das arme Mädchen wieder an zu weinen.

Ich machte es kurz, nahm sie beim Kopfe und... wurde durch einen dumpfen Knall unterbrochen.

Im Nu war ich an Deck.

»Kappen! Kappt die Entertaue!«, donnerte da schon Mahlsdorf, der wirklich wie ein Löwe brüllen konnte.

Ich sah es sofort — die ›Ozeana‹ sank mit rapider Geschwindigkeit, und jetzt war keine Zeit, zu fragen, was da geschehen war; wir waren mit dem Schiffe noch durch die Enterhaken verbunden. Ich riss einem Matrosen, der mir nicht fix genug war, die Axt aus der Hand und schlug selber zu, und da ging die ›Ozeana‹ auch schon mit allem, was sich noch darauf befand, hinab in die Tiefe!

Nur im letzten Augenblick voltigierten noch einige meiner Matrosen über die Bordwand — und da schoss noch einer aus dem Wasser empor, der zweite Maschinist. Er wurde an Bord geseilt.

Mein Schreck lässt sich denken! Die Matrosen hatten doch das ganze Schiff durchsucht; einige konnten sich noch immer im Innern befunden haben.

»Alle Mann antreten vor dem Mast!!«

Nur zwei fehlten: Goliath und der Matrose Pieplack. Aber ich wurde gleich beruhigt.

»Die sind im Lazarett«, hieß es. »Goliath verbindet Pieplacken.«

»Was ist mit ihm?«

Die Piraten hatten doch noch einige Schüsse abgeben können, ehe sie unter die Dampfspritze genommen wurden, aber nur ein Schuss hatte getroffen — den Matrosen Pieplack.

»Schlimm?«

»Nu nee — nu tjo.«

»Was für eine Verwundung ist es denn?«

»He hädd keen...«

Ich kann es nicht wiedergeben. Kurz, der unglückliche Schuss hatte meinem armen Pieplack die Möglichkeit genommen, jemals Vater werden zu können. Danach sollte es wenigstens ganz aussehen. Er befand sich in Goliaths Behandlung, und sonst sollte es ihm ganz gut gehen.

Also von meinen Jungen hatte ich niemanden zu beklagen, keiner war zur Zeit der noch rätselhaften Katastrophe im Innern des Schiffes gewesen, nur der zweite Maschinist, der sich aber noch rechtzeitig hatte herausretten können.

Und von dem Seeräuber- und Menschenfresserschiff war nichts mehr übrig — bis auf Atlanta und vier Enterhaken, die noch an unserer Bordwand hingen.

Was für eine Explosion das gewesen — niemand konnte es sagen. Aber eine Vermutung lag ja sehr nahe. Da war eben doch ein Mann entkommen, hatte das Schiff zum Sinken, vielleicht die Pulverkammer zur Explosion gebracht, um auch uns mit zu vernichten, was aber eben nicht geglückt war.

— • —

79. Kapitel
Zufall oder Absicht?

Originalseiten III.268 — 281

»So, so«, sagte Mr. Tischkoff, der sich am anderen Morgen zu seinem gewöhnlichen Spaziergang an Deck eingefunden, nachdem ich ihm Bericht erstattet hatte, und für längere Zeit sagte er nichts mehr, war ganz in Gedanken versunken. Alles andere hatte ich von Mahlsdorf erfahren.

Was für ein Schreck auf der Kommandobrücke geherrscht hatte, als die auf ihr befindlichen Männer aus den Fluten wieder auftauchten und die Bussole samt dem Kapitän verschwinden sahen, lässt sich denken.

An ein Bootaussetzen war nicht zu denken, die ›Sturmbraut‹ konnte nicht einmal nach Belieben hin und her kreuzen; denn wie auch die Schraube arbeitete, sie war ein Spiel der Wogen und des Sturmes. Das konnte ich auch meiner Jacht gar nicht verübeln. Sie war eben die Braut des Sturmes, und diese hat schon dem Verlobten zu gehorchen, sonst gibt's sicher eine unglückliche Ehe.

Tischkoff befand sich zurzeit in seiner Kabine. Mahlsdorf hatte gegen die verschlossene Tür gedonnert.

»Lassen Sie mich ungeschoren!!«, war der einmal unfreundlich gegebene Bescheid meines Kommodores.

»Der Kapitän ist über Bord gewaschen!«, schrie Mahlsdorf trotz alledem.

»Never mind!«, klang es zurück.

Na, da blieb dem Steuermann wohl nichts anderes übrig, als wieder zu gehen.

Am anderen Morgen war Tischkoff, nachdem er, wie gewöhnlich, gefrühstückt hatte, an Deck gekommen, allerdings nicht zur Morgenpromenade, die war nicht möglich, wenn die ›Sturmbraut‹ auch schon die Herrschaft über die Elemente wiedergewonnen hatte. Aber sonst war noch alles ständig unter Wasser.

Und überall natürlich die niedergeschlagensten, verzweifeltsten Gesichter. Nur das meines Kommodores war es nicht.

»Ist der Kapitän wieder da?«

»Nein.«

»Gut. Mr. Mahlsdorf, Sie behalten das Kommando, ich habe keine Zeit.«

Seltsame Worte, seltsames Verhalten!

»Ich werde mich jetzt für einige Tage gänzlich in meine Kabine zurückziehen«, setzte Tischkoff dann noch erklärend hinzu. »Dass man mich nicht stört.«

»Ja, aber, Mr. Tischkoff...«

»Was aber?«

»Was soll denn nun werden?«

»Nun, was denn?«

»Der Kapitän ist fort.«

»Nun, auch ohne den geht die Geschichte ruhig weiter.«

Was Mahlsdorf bei all diesen Worten dachte, konnte er mir dann beim besten Willen nicht sagen.

»Was für eine Geschichte meinen Mister Tischkoff?«

»Die allgemeine Weltgeschichte.«

Da hatte er allerdings recht — die würde auch ohne mich weitergehen.

»Soll ich zurück nach Fanafute?«

»Nein. Steuern Sie immer Südost zu Ost drei Viertel Ost.«

Sprach's, wandte sich, ging von dannen und ward nicht mehr gesehen.

Nun, Mahlsdorf hatte den angegebenen Kurs eingeschlagen. Und in der Nacht des zweiten Tages war die ›Sturmbraut‹ von einem Segelschiffe um Trinkwasser ansignalisiert worden — und dann waren meine Morsezeichen gekommen.

Das andere weiß der Leser. Was aber sonst hier vorlag, ob das ein ungeheuerer Zufall war, dass die ›Sturmbraut‹ dem Piratenschiffe begegnete, auf dem ich gefangen war, oder ob sich mein Kommodore hierbei als ein Prophet, schon mehr als ein das Schicksal dirigierender Gott bewiesen hatte — das wusste ich selbst nicht, so wenig wie ein anderer Mensch — nur Tischkoff selbst hätte es sagen können, der aber gab keine Aufklärung, jetzt nicht und niemals.

»Das ist ein hellsehender Prophet«, sagte Mahlsdorf. »Wenn der in seinem todähnlichen Starrkrampfe liegt...«

»Bemühen Sie sich nicht um Erklärungen, welche die Person dieses Mannes betreffen«, unterbrach ich meinen Steuermann mit einiger Schroffheit, denn ich war schon wieder der unnahbare Kapitän.

Nur eine vertrauliche Frage musste ich doch noch stellen.

»Na, Mahlsdorf, was dachten Sie denn, als von dem erleuchteten Bullauge mein geheimes Morsezeichen kam? Wurde es denn gleich bemerkt?«

»Augenblicklich. Ach, Kapitän, wie uns allen da zumute wurde, das kann man nicht schildern...«

So will auch ich es nicht tun. —

Jetzt also, im Scheine der Morgensonne, hatte ich meinem wiederaufgetauchten Kommodore berichtet. Ich brauchte gar nicht so ausführlich zu werden; denn ich sah es ihm gleich an, dass ihn dies alles gar nicht interessierte. Er langweilte sich dabei. Ein seltsamer Kauz — nein, ein lebendiges Rätsel, ein menschliches Geheimnis.

»So so«, hatte er also gesagt, als ich meinen bündigen Bericht geschlossen.

Erst nach einer langen Pause, die ich nicht unterbrechen wollte, nahm er von selbst wieder das Wort:

»Es ist keiner der Piraten an Bord der ›Sturmbraut‹ gekommen?«

»Kein einziger. Das Schiff sackte innerhalb einer Viertelminute weg. Und die an Deck befindlichen Piraten waren an Händen und Füßen gebunden gewesen, die haben sich nicht durch Schwimmen halten können. Wir konnten keinen einzigen mehr auffischen. Außerdem hatten sich zahlreiche Haifische eingestellt, die haben schnell aufgeräumt.«

»Hm! Also nur das Weib.«

»Ja, nur die. Sie befindet sich in der Kabine, die ich ihr zur Verfügung gestellt habe.«

Ich dachte natürlich, jetzt würde Tischkoff sie zu sehen begehren — aber ich hatte falsch gedacht. Bei diesem Manne durfte man überhaupt keine eigenen Gedanken haben, und so etwas wie Neugier gab's bei dem nun gleich gar nicht.

»In welchem Zustande hatte sich Kapitän Berseck befunden?«

»Das ist schwer zu sagen. Ich selbst habe ihn nicht gesehen, und unsere Leute kannten ihn ja nicht. Einige erzählen, der Mann, der sich zuerst mit dem Entersäbel in der Faust über die Bordwand schwingen wollte, sei auch zuerst von dem kochenden Wasserstrahle getroffen worden, und das wird wohl der Kapitän gewesen sein, die mir gegebene Beschreibung dieses Mannes passt auch auf Kapitän Berseck. Freilich kann das nur eine sehr mangelhafte Beschreibung sein, unter solchen Verhältnissen.«

»Hm! Sind Sie in den Maschinenraum hinabgekommen?«

»Leider nicht. Nur bis in jene Fleischkammer, von der ich erzählte, und die befand sich im zweiten Zwischendeck.«

»Ist kein anderer hinabgekommen?«

»Nur der zweite Maschinist.«

»Und was sah er?«

»Er spricht nur von einem Röhrensystem, welches er erblickte, an der Stelle, wo er die Maschine vermutete. Dann musste er sich nach oben retten, nach dem Knalle begann das Schiff sofort zu sinken.«

»Gar nichts von einer Maschine?«

»Der Ingenieur wenigstens hat nichts davon gesehen.«

»Haben Sie die Schwester des Kapitäns deswegen schon gefragt?«

»Jawohl.«

»Was sagt die?«

»Ja, die hat davon gar keine Ahnung, ist niemals in den Maschinenraum hinabgekommen. Aber eine kleine Maschine sei dennoch vorhanden gewesen, das kann sie mit Bestimmtheit versichern. Doch nicht etwa so groß, wie diese hier von der ›Sturmbraut‹, die ich ihr zeigte. Keine Spur davon. Nur ein kleines Maschinchen. Dann spricht sie ebenfalls von einem Röhrensystem, das wohl die Hauptsache der ganzen Maschinerie ausmachte, und ferner von sechs großen Kesseln, die mit Kohlen gefeuert worden wären. Und dann hat sie das Schiff auch einmal im Trockendock gesehen.«

»Im Trockendock? Wo?«

»In einem indischen Hafen. Aber was für einer das gewesen ist, das weiß sie nicht.«

»Wie ist das möglich?«

»Sie sagt, sie sei damals sehr niedergeschlagen gewesen, und sie ist ja überhaupt ganz menschenscheu. Kurz, sie hat damals das Schiff oder vielmehr ihre Kabine nur ein einziges Mal verlassen, um einmal das Land zu betreten. Da hat sie den Schiffsrumpf von außen gesehen, und sie versichert, dass die ›Ozeana‹ keine Schraube besessen habe.«

»Keine Schraube?«

»Nein. An jener Stelle habe aus dem Schiffsrumpf nur ein starkes Rohr hervorgesehen.«

»Die Schraube war einfach abgenommen.«

»Ich glaube fast nicht. Atlanta versichert, dass sie auch nie eine Schraube gesehen hat, wenn das Schiff bei hohem Seegange aus dem Wasser schlug.«

»Dann war nur immer das Rohr vorhanden?«

»Nein, auch nicht. Dieses sah sie nur damals im Dock, und es wurde wieder nach innen hineingeschoben.«

»Hm. Sollte dann die Triebkraft darauf beruhen, dass Wasser eingepumpt und mit großer Gewalt wieder ausgestoßen wird? Auf diese Weise Schiffe fortzubewegen ist schon versucht worden, nur war man bisher mit dem Erfolge nicht ganz zufrieden.«

»Dasselbe äußerten schon die Ingenieure, und es ist auch meine Ansicht.«

»Nun, lassen wir das, es hat keinen Zweck. Wenigstens kommen wir auf diese Weise nicht zum Ziele. Kennen Sie die Stelle, wo das Schiff gesunken ist?«

»Ja. Der Mond ging eben auf, ich machte nach ihm eine geografische Ortsbestimmung.«

Ich nannte diese, will hier aber nicht gar zu viel Zahlen geben. Wir befanden uns jetzt etwa acht Seemeilen westlich von jener Stelle.

»Ich bin bisher langsam gegen den Wind angedampft. Ich wusste ja nicht, was ich tun sollte, erhoffte, erst von Ihnen Instruktionen zu bekommen.«

»Die Tiefe dort haben Sie wohl noch nicht gemessen?«

»Doch! Bei zweihundert Meter fand das Lot noch keinen Grund.«

»Zweihundert Meter? Dann leider ist das Wrack auch für mich unerreichbar. Was kann denn die Schwester des Kapitäns nun darüber sagen, wo und wann die Maschine in das Schiff einmontiert worden ist, woher der Bruder sie bezogen hat?«

»Darüber kann sie eben fast gar nichts sagen. Wir haben es ja mit einem Weibe zu tun, welches der Welt ganz entfremdet ist, überhaupt nur in seinen Träumen gelebt hat. Die Maschine wurde eben in jenem Hafen einmontiert.«

»Gut. Und wohin gedenken Sie nun zu segeln?«

»Wohin Sie befehlen.«

»Ich habe Ihnen nichts zu befehlen.«

»Wohin Sie wünschen.«

»Wollen Sie nicht nach Fanafute zurück und sich Ihre Belohnung abholen?«

»Was für eine Belohnung?«, fragte ich verwundert, und ich wusste im Augenblick wirklich nicht, was jener meinen könne.

»Nun, die Lord Seymour auf die Ergreifung dieses Seeräubers gesetzt hat — 100 000 Pfund Sterling.«

»Ich kann den Piraten aber weder tot noch lebendig bringen.«

»Herr, das ist doch nicht so wörtlich zu nehmen. Es handelt sich doch nur um die Vernichtung dieser Bestie in Menschengestalt.«

Tischkoff hatte recht. Ich aber hatte wenig Lust, noch einmal nach Fanafute zu dieser verrückten Gesellschaft zurückzukehren, nur um eine Summe Geld oder gar nur einen Scheck abzuholen. Der Leser kennt ja meine Ansicht über den schnöden Mammon, außerdem entging mir diese Belohnung ja nicht, und mein Kopf hatte sich in der letzten Zeit schon immer mit besonderen Gedanken beschäftigt, was ich auch schon einmal angedeutet habe.

Jetzt gab ich Tischkoff darüber meine Erklärungen und Ansichten.

Schon wiederholt habe ich gesagt, wie die Zeiten der Seeräuber noch längst nicht vorüber sind. Man liest ja auch immer noch hin und wieder einmal solch einen Fall in der Zeitung, doch das sind eben immer nur die Ausnahmefälle, die zu den Ohren eines Zeitungsberichterstatters kommen. Sonst kann so ziemlich jedes Segelschiff an der chinesischen, malaiischen, arabischen und marokkanischen Küste mit Sicherheit annehmen, dass es bei Windstille von eingeborenen Seeräubern in Dschunken, Prauen oder anderen kleinen Ruderbooten angegriffen wird, und daher eben auch immer die starke Bewaffnung, zu welcher gerade bei Segelschiffen stets auch Kanonen gehören, wenigstens solche Böller, die mit gehacktem Blei oder Nägeln unter Menschen Verwüstung anrichten können.

»Noch immer suche ich nach einen Beruf, nach einer Arbeit für mein Schiff. Solch ein selbstständiger Kampf gegen diese Seeräuber, das wäre gerade etwas für mich.«

»Hm, das ließe sich hören«, brummte mein Kommodore.

»Einmal ganz nach meinem Geschmack, zweitens ist das eine nützliche Arbeit, durch welche ich der ganzen Menschheit einen Dienst erweise, und meinen Sie nicht, dass sich so etwas lohnen würde?«

»Das wohl sicher, besonders wenn man auch noch das eigentliche Versteck solcher Seeräuber dabei immer aufstöbern kann. In diesem Augenblick wundert mich nur, dass noch kein anderer auf diese trotz aller Genialität so einfache Idee gekommen ist.«

»Daran wird wohl das schuld sein, dass meine ›Sturmbraut‹ eines der ersten Schiffe ist, welches dessen fähig ist.«

»Wieso gerade Ihre ›Sturmbraut?«

»Nun, weil es ein Schraubendampfer ist. Sie wissen doch, wie sehr enttäuscht man bisher von der Schiffsschraube gewesen ist, wie man immer wieder zum Paddelrad zurückging. Bei meiner ›Sturmbraut‹ hat sich der neue Typ aber nun doch einmal bewährt, und wie selbst jeder geschulte europäische Seemann meine ›Sturmbraut‹ wenn sie nicht gerade dampft, immer für ein einfaches Segelschiff hält...«

»Sie haben recht. Sie haben recht!«, fiel mir Tischkoff ins Wort, diesmal mit vielem Eifer. »Gut, führen wir Ihr Vorhaben aus! Da bin ich mit ganzer Seele dabei, das ist nämlich auch etwas für mich, selbst wenn ich dabei auch nur den Beobachter spiele, und nun brauchen Sie nicht mehr zu sagen, dass Sie von meinen Ratschlägen abhängig sind. Trotzdem möchte ich Ihnen auch hierzu noch einen Vorschlag machen.«

»Bitte sehr!«

»Welcher Rasse von Piraten würden Sie da zuerst auf den Hals rücken?«

»Ich hatte zuerst an die arabischen Prauen gedacht.«

»Aber da haben Sie doch von hier aus jetzt China viel näher, und an der chinesischen Küste haben Sie auch ein weit größeres Operationsfeld als an der arabischen oder afrikanischen.«

»Das ist es eben. China ist mir gar zu groß, ich bin da gänzlich unbekannt, im roten Meere wie an der Küste von ganz Ostafrika habe ich schon mehr Erfahrung, auch schon mit Seeräubern, habe mit diesen sogar noch ein Hühnchen zu rupfen.«

»Trotzdem möchte ich Ihnen raten, sich erst einmal nach dem näheren China zu wenden.«

»Nun, wie Sie wünschen, und Sie werden mir diesen Vorschlag wohl auch nicht umsonst machen.«

»Allerdings nicht. Ich habe Ihnen doch schon damals gesagt, als wir das Wrack an der patagonischen Küste ausnahmen, dass ich noch mehr solcher Wracks liegen weiß.«

Aha, jetzt fing mein Kommodore wieder mit seinen Wracks an! Nun, das war allerdings auch keine üble Beschäftigung.

»Und«, fuhr er fort, »Sie werden doch ganz gern in doppelter Hinsicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.«

»Sicher werde ich das tun. Sie wissen an der chinesischen Küste ein Wrack?«

»Ja. Ein französischer Segler, der vor zwei oder jetzt drei Jahren nahe einer chinesischen Insel gesunken ist.«

»Wo da? Die chinesische Küste ist etwas sehr ausgedehnt.«

»Kennen Sie die Gruppe der Liukiu-Inseln?«[1]

[1] Gemeint sind die Riukiu- oder Ryukyo-Inseln, heute auch Nansei-Inseln genannt.

Ich horchte nicht schlecht auf, konnte mich im Augenblicke aber doch nicht gleich entsinnen, wo ich diesen Namen schon gehört hatte. Es musste erst vor ganz Kurzem gewesen sein, und die Nennung dieser Inseln hatte tief in mein Leben eingegriffen; nur so viel war mir gleich bewusst.

»Ja, dem Namen nach kenne ich diese Inselgruppe, sonst nicht weiter.«

»Da ist ein Eiland, nicht gerade das größte, aber doch ein bedeutenderes, welches den Namen Ohosima führt.«

Wir befanden uns noch immer an Deck, Tischkoff klappte den Tisch am Hauptmast herab und breitete darauf eine Weltkarte aus, die er aus der Tasche gezogen — und in diesem Augenblicke schon kehrte mir die Erinnerung zurück!

Der Steuermann oder stellvertretende Kapitän von der ›Kalliope‹ — als er unter meinen Fäusten sein Geheimnis mir freiwillig preisgeben musste — das mit seiner Perlenbank... das war es!!

»Hier sehen Sie«, fuhr Tischkoff fort, mit der Fingerspitze auf die Karte deutend, »hier ist das Inselchen Ohosima — und hier ist die ›Laboche‹ gesunken — oder ganz genau: 28 Grad 3 Minuten 47 Sekunden nördliche Breite, 127 Grad 56 Minuten 19 Sekunden östliche Länge.«

Was sollte ich davon denken?!

Es wäre nicht nötig gewesen, dass Tischkoff meinem Gedächtnis zu Hilfe gekommen — ich habe schon früher gesagt, welch gutes Gedächtnis ich in Sachen Zahlen oder speziell geografischen Ortsbestimmungen habe — und ganz genau dieselben Zahlen hatte mir Samuel Haller genannt!

Doch ich beherrschte mich, wollte aber diesmal meinem Kommodore etwas genauer auf den Zahn fühlen.

»Woher wissen Sie, dass dort ein Wrack liegt?«

»Eigentlich«, lächelte Tischkoff, »dürften Sie laut unserer Abmachung ja gar keine solche Frage stellen. Doch bitte, es ist wirklich kein Geheimnis dabei. Es war vor drei Jahren am 16. August, ich befand mich auf einem Schiffe, welches dann ebenfalls bald seinen Untergang fand — da sahen wir, wie dort an jener Inselgruppe von chinesischen Piraten ein Segler angegriffen wurde, die französische ›Laboche‹ von Bordeaux — sie wollte den aufkommenden Ostwind benutzen, um den Piraten zu entgehen — aber sie geriet zwischen die Riffe, wir sahen sie sinken, ohne ihr Hilfe bringen zu können. Nur das konnten wir noch genau bestimmen, dass das Unglück eben auf jenem Punkte passierte. Sie liegt dort höchstens dreißig Meter tief, für unsere Taucher noch recht gut erreichbar, aber nicht mehr für solch einen Chinesen, für den das Wasser überhaupt keine Balken hat. Die Chinesen sind bekanntlich alle wasserscheu.«

Ich fand immer mehr Merkwürdiges in diesen Erklärungen. Aber ich durfte nur ganz vorsichtig fragen.

»Nicht gescheitert, wirklich gesunken?«

»Wir sahen sie spurlos wegsacken. Es muss ein unterseeisches Riff gewesen sein, das ihr den hölzernen Leib aufschlitzte.«

»Kann das Schiff aber nicht viel tiefer gesunken sein?«

»Nein. Ich lotete damals etwa neunundzwanzig Meter Tiefe.«

»Ah, Sie waren schon dort?!«, rief ich überrascht.

»Jawohl, ich allein, d. h. mit einigen Gefährten. Aber wir wurden von chinesischen Seeräubern vertrieben, welche auf diesen Inseln nämlich ihren heimlichen Hauptsitz haben; sie greifen dort die Schiffe aller Nationen an, welche hier von China nach Korea und Japan gehen und wieder zurück; die Piraten aus der weitesten Umgegend haben hier überhaupt ihr Versteck, in diesen Insellabyrinthen sind sie für moderne Schiffe unangreifbar, und sehen Sie, so können Sie hier gleich ein doppeltes Ziel erstreben, sogar ein dreifaches: ein gesunkenes Wrack ausnehmen, sich von Piraten angreifen lassen und darauf deren Versteck aufspüren, das sicher eine überreiche Niederlage von erbeuteten Sachen birgt.«

Jetzt wollte ich mich nicht mehr wundern, sondern jetzt war mein Entschluss gefasst.

»Ich habe Ihnen noch nicht erzählt, was ich erlebt habe während meiner Fahrt nach Fanafute, als ich Sie mit der ›Sturmbraut‹ auf der Osterinsel zurückließ.«

»Nun, Lord Seymour erzählte mir schon etwas davon, von der ›Kalliope‹, mit der Sie ankamen.«

»So will ich dem jetzt nur noch etwas hinzufügen.«

Ich erzählte hauptsächlich den Fall mit dem Steuermann, wie dieser mir, um sein Leben zu retten, so ein Geheimnis von einer Perlenbank anvertrauen wollte — wie er ganz genau dieselben Zahlen genannt hatte.

Tischkoff schien überrascht zu sein. Die Hände hinten in die Hüften gestemmt, ging er mehrmals über Deck hin und her.

»Merkwürdig, sehr merkwürdig! Da muss dieser Steuermann etwas von dem Wrack gewusst haben. Aber ich wüsste gar nicht woher.«

»Er sprach von einer Perlenbank.«

»Nein, von einer Perlenbank kann dort keine Rede sein. Ich kenne die Gegenden, wo sich Perlmuscheln wohlfühlen. Die Gegend dort sieht gar nicht danach aus. Nein, der hat von dem Wrack gehört, hat dafür nur eine Perlenbank vorgeschoben.«

Ich wäre lieber anderer Meinung gewesen, aber für Tischkoff schien hiermit die Sache erledigt zu sein.

»Mit was war der französische Segler denn befrachtet?«, fragte ich dann noch weiter, und das war doch auch wirklich eine Hauptsache.

»Mit indischer Baumwolle.«

»Das ist aber keine Ladung, die sich drei Jahre lang besonders gut in Salzwasser hält«, musste ich lächeln.

»Nein, nein, mit Baumwolle sollen Sie sich auch nicht wieder einlassen«, lächelte Tischkoff ebenso. »Für uns käme vor allen Dingen die Schiffskasse in Betracht, die mindestens aus 300 000 Francs bestanden hat, und das ist doch schon ein recht annehmbares Objekt. Dann aber waren auch viele chinesische und indische Diamantenhändler auf der ›Laboche‹, die in Indien schon Juwelen eingekauft hatten oder eben das Einkaufsgeld noch bei sich haben müssten. Das alles liegt jetzt auf dem Meeresgrunde, in für uns erreichbarer Tiefe.«

Ja, dann allerdings war das ein Objekt! Woher aber wusste dieser rätselhafte Mann, der er mir noch immer war, nur von alledem?

Als ich über dieses Rätsel nachdachte, stieg mir mit aller Macht eine andere Frage auf, die noch immer nicht berührt worden war.

»Mr. Tischkoff, noch eine Sache möchte ich Ihnen offenbaren.«

War das nicht ein misstrauischer Blick, der mich traf?

»Welche?«

»Es handelt sich um den Vogelberg bei Fanafute. Sie wissen wohl, dass ich mit Lord Seymour dort oben eine Luftballonfahrt...«

Es war allein die Bewegung, mit der er seine Uhr zog, welche mich unterbrach.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte er erst dann, »Lord Seymour hat mir alles erzählt. Ich interessiere mich nicht dafür.«

Er ließ mich einfach stehen. Ich konnte davon denken, was ich wollte.

Sollte Lord Seymour ihm wirklich trotz unserer Abmachung etwas davon verraten haben?

Daran zweifelte ich sehr.

Dieser geheimnisvolle Mann wollte eben nichts davon wissen, wie er sich niemals in seine Karten blicken ließ.

Doch jetzt war auch meine Neugier überwunden. Ich gab Segelkommandos und der ›Sturmbraut‹ einen neuen Kurs, nordwärts nach China.

— • —

80. Kapitel
Im Kampfe mit chinesischen Piraten

Originalseiten III.281 — 297

Am neunten Tage sahen wir in weiter Ferne die Umrisse des Gebirges, welches diesem chinesischen Inselarchipel angehört, nebelhaft auftauchen. Wir brauchten unseren Dampfer nicht erst zu maskieren, denn die letzte Zeit hatten wir immer direkten Südwind hinter uns gehabt.

Wenn ich meinen Jungen jemals eine Freude gemacht habe, so war es damals, als ich ihnen meine Pläne für die Zukunft auseinandersetzte.

Einen ständigen Krieg gegen Seeräuber zu führen, ihnen die schon gewonnene Beute wieder abzunehmen — ja, das war so etwas für diese Burschen.

Nun handelte es sich aber auch darum, vorsichtig zu sein. Erst musste ein regelrechter Kriegsplan ausgeheckt werden, und jeder Mann durfte dabei seine Ansicht geben.

Denn schließlich ist die Sache doch nicht so einfach, wie ich sie bisher immer behandelt habe.

Es wäre trotz alledem, wenn damals Schraubendampfer für chinesische Piraten noch etwas Neues waren, seltsam gewesen, wenn nicht auch andere Schiffe, Segler, schon auf einen ähnlichen Gedanken gekommen wären, und schließlich können doch selbst die Paddelkästen eines Dampfers verdeckt werden.

Da kommt zunächst die ganze Angriffsweise der Piraten in Betracht, speziell dieser chinesischen.

Die sehen sich doch auch erst ein Schiff an, welches bei Windstille hilflos auf dem Wasser liegt, ehe sie hinter den Inseln, die immer ihr Versteck bilden, in ihren gebrechlichen Booten hervorrudern.

Wenn ich sagte, dass jeder Segler bei Windstille an der Küste von chinesischen oder anderen Piraten angegriffen würde, so ist das doch nicht ganz wörtlich zu nehmen.

Einmal nähert sich gar kein Schiff, ob Dampfer oder Segler, so sehr der Küste, zumal wenn diese so gut wie unbekannt ist. Und so ein weit draußen liegendes Schiff wagen solche eingeborene Seeleute auch niemals anzugreifen. Der Wind kann doch noch aufkommen, gleichgültig von welcher Richtung — na, und was wollen denn dann solche gebrechliche Fahrzeuge gegen einen derartigen Riesen anfangen? Der segelt doch alles sofort über den Haufen, ganz abgesehen davon, dass diese Ruderboote nicht mit unseren modernen zu vergleichen sind, einen nur etwas hohen Seegang gar nicht aushalten.

Nein, es muss ein verschlagenes Segelschiff sein, das sich aus Versehen der Küste zu sehr genähert hat, dann erst wird es von der Windstille überrascht. Hier nun fühlen sich diese seeräuberischen Küstenbewohner in ihrem Elemente, da greifen sie auch das größte Schiff mit unerhörter Kühnheit an, und geht die Sache schief — na, dann sind sie mit wenigen Ruderschlägen gleich wieder an ihrer Küste, wo sie jeden Fußbreit kennen, wohin ihnen auch kein anderes Boot folgen kann, ohne von unterseeischen Riffen aufgeschlitzt zu werden.

Wie es überhaupt möglich ist, dass solche primitive Boote, und seien es auch viele Dutzende, so ein großes Schiff überrumpeln? Bei arabischen Piraten hatte ich es selbst beobachten können. Das machte eben der Fanatismus dieser Mohammedaner. Mochten wir auch noch so viele Prauen in den Grund schießen, einige kamen doch heran, und nur ein Enterhaken brauchte zu fassen, so waren die Araber, den Dolch zwischen den Zähnen, schon wie die Katzen heraufgeklettert, und schon ein einziger hatte dann tüchtig zwischen uns aufgeräumt, ehe ihn eine Kugel niederwerfen konnte.

Wenn wir damals entkommen waren, so hatten wir dies nur unserer vortrefflichen Bewaffnung zu verdanken gehabt, sowohl den Geschützen, als weil wir Matrosen, ausgesuchte Männer, alle mit der blanken und mit der Schusswaffe umzugehen gewusst hatten, und Disziplin hatten wir alle im Leibe gehabt.

Aber bei den meisten Segelschiffen ist das doch gar nicht der Fall. Sie haben einige Böller an Bord, weiter nichts. Denn wer denkt auch an solch einen Angriff von Seeräubern! Das sind doch immer nur die seltensten Ausnahmefälle. Desgleichen sind Matrosen immer auch die allerschlechtesten Schützen und überhaupt Kriegshelden. Dass dem so ist, zeigen am besten die Rekruten in der deutschen Marine. Lauter wackere Burschen, die sich vor Gott und Teufel nicht fürchten, gewiss, meine Hochachtung — aber sonst — wer von diesen Kerlen hat denn schon einmal ein Gewehr in der Hand gehabt? Und von einer kriegstüchtigen Ausbildung auf Frachtschiffen ist natürlich keine Rede.

Kurz, bei uns war das damals auch nur so ein Zufall gewesen, dass wir diesen arabischen Piraten entkommen waren.

Und wie war's bei den chinesischen Seeräubern? Deren Hauptangriffswaffe, eine fast unwiderstehliche, sollten die Stinktöpfe sein.

Es war zufällig kein einziger bei mir an Bord, der schon mit chinesischen Piraten Bekanntschaft gemacht hatte. Erzählen konnten sie alle davon, ich auch, auch von den mörderlichen Stinktöpfen, aber... die praktische Erfahrung fehlte eben. Was helfen da alle Bücher? Die erzählen, dass es irdene Töpfe sind, mehr irdene Granaten, mit einer Mischung angefüllt, deren Herstellung ausschließlich das Geheimnis dieser chinesischen Piraten ist, die ebenfalls eine Kaste für sich bilden. Das Geheimnis vererbt sich also immer vom Vater auf den Sohn, es bleibt in der Genossenschaft. Das Gas, das sich beim Zerplatzen entwickelt, ist wahrscheinlich das auch unseren Chemikern bekannte Kakodyl, ein schrecklicher Stoff. Nicht allein ist der fürchterliche Gestank betäubend, sondern es wirkt direkt giftig. Also nützen auch Nasenklammern nichts. Man soll versuchen, mit langen Bambusstangen die Töpfe den Chinesen schon zwischen den Händen zu zerschlagen, dann muss die ganze Bootsbemannung selbst schleunigst ins Wasser springen.

Nur einer hätte uns wohl genauer instruieren können: Mr. Tischkoff, aber der hatte sich während der ganzen Fahrt wieder einmal in undurchdringliches Schweigen gehüllt. Nun, wir würden schon sehen, wie wir fertig wurden. Die Erfahrung musste schließlich von ganz allein kommen. Jetzt beteten wir nur, ganz im Gegensatz zu anderen Schiffsmannschaften, dass uns die Piraten nicht verpassten.

Doch alles war und blieb uns günstig. Am Abend desselben Tages, noch immer so weit entfernt von der Inselgruppe, dass auch unser großes Schiff durch das beste Fernrohr kaum bemerkt werden konnte, flaute der Südwind ab bis zur gänzlichen Stille, und nun konnten wir flott dampfen, direkt unserem Ziele zu, natürlich mit verdeckten Lichtern, während die in der sonst finsteren Nacht funkelnden Sterne unsere sicheren Führer waren. Denn dass wir uns sonst über Richtung und alles andere aufs genaueste orientiert hatten, ist selbstverständlich.

Bei Anbruch der Morgendämmerung lagen wir bei völliger Windstille als ein totes Segelschiff da, kaum einen Kilometer von der Küste ab.

Diese Küste gehörte einer Insel an, wie solche noch zahllose vorhanden waren. Sonst ist nichts weiter darüber zu sagen. Zum Teil gebirgig, zum Teil flach, aber alle unwirtlich, ohne irgendwelches Zeichen einer Vegetation, ohne Leben, selbst die Seevögel fehlten.

Von den Liukiu-Inseln ist ja absolut noch nichts bekannt. Auf den Seekarten ist ein warnender Kreis darum gezogen, die nautischen Handbücher erzählen von ihnen, dass dort chinesische Fischer wohnen, welche alle mehr noch dem Seeräuberhandwerke nachgehen.

Nun, da brauchte man sich nicht zu wundern, wenn nichts von Menschen und deren Ansiedlungen zu bemerken war.

Es wurde gelotet und die geografische Berechnung nach der aufgehenden Sonne gemacht, was ja auch jedes andere hierher verschlagene Segelschiff getan hätte, und danach wurde bestimmt, dass dies wahrscheinlich gerade die Insel Ohosima sein müsse, denn wir waren von jenem angegebenen Punkte kaum noch sechshundert Meter entfernt. Der Zufall hatte uns hierher getrieben.

»Jawohl«, sagte Tischkoff, die zerrissenen Küsten durch ein Fernrohr musternd, »dort, wo sich das halbmondförmige Vorgebirge ins Meer schiebt, dort wurde vor drei Jahren das französische Schiff von den Chinesen angegriffen und... da sind sie ja schon wieder!«

Ja, da waren sie schon! Hinter einem gebirgigen Vorsprung kam ein Boot hervor, ein zweites folgte — und erst als wir deren sechsundzwanzig gezählt hatten, schien der Vorrat erschöpft zu sein.

Ich will auch diese chinesischen Ruderboote Prauen nennen, im Gegensatz zu den Dschunken, den Segelfahrzeugen. Also, es waren ausschließlich Prauen, immer von mindestens sechzehn Mann gerudert, dann aber noch eine Menge andere Chinesen darin, sodass ich die ganze Bande, die uns da angreifen wollte, auf rund tausend Köpfe schätzen musste.

Die Rechnung stimmt, sechsundzwanzig Boote waren es, und vierzig Mann waren mindestens in jedem, lauter wilde Gesichter, meist mit lang herabhängendem Schnurrbart, überhaupt trotz des harlekinartigen Anzuges wirklich wilde, verwegene Gestalten, alles gespickt mit endlos langen Gewehren und Pistolen und unheimlich krummen Schwertern, und nun dazu ein Höllengebrüll...

Nun, gerade ich bin derjenige, welcher jeder Schiffsmannschaft verzeihen will, wenn ihr beim ersten Anblick solch einer Bande unisono das Herz in die Hosen rutscht! Faktisch, wer diesen Anblick zum ersten Male gehabt hat, und er behauptet, er habe dabei einen kalten Kopf behalten, der ist einfach ein Renommist, und mag er auch sonst in Wirklichkeit der bravste Kerl sein, der sich weder vor Gott noch Teufel fürchtet.

Man braucht ja auch nur das eine zu bedenken: tausend solcher bis an die Zähne bewaffneten Banditen gegen ein manövrierunfähiges Segelschiff, das unter normalen Verhältnissen doch immer nur etwa zwanzig Mann an Bord hat — ja, wo in aller Welt soll denn das hin?!!

Wenn gerade wir den Kopf nicht verloren, so kam das nur daher, weil wir uns doch in längst besprochener Absicht auf dieses Abenteuer eingelassen, es heraufbeschworen hatten. Und außerdem: Wir waren eben Seezigeuner, so halb und halb ebenfalls schon Piraten, jedenfalls Menschen, die verdammt wenig noch zu verlieren hatten!

Es war Instruktion, mein Befehl, dass meine Jungen jetzt scheinbar den Kopf verlieren und planlos durcheinanderlaufen mussten. Damit nämlich die Banditen dort nicht etwa Lunte rochen, wie gut wir schon auf ihren Empfang vorbereitet waren.

Denn dass ich darin nichts unterlassen hatte, das ist wohl selbstverständlich.

Ich hatte meine Jungen, auch die Heizer, während dieser letzten acht Tage nicht schlecht exerzieren lassen, jeder hatte mit Entenflinte und Revolver gegen hundert Patronen nach den verschiedensten Zielen verplatzen müssen, die Bedienung an den kleinen und großen Geschützen ging tadellos, nicht minder das Schießen oder vielmehr das Treffen, an einem Strohmanne war jeder einzelne darauf eingeübt worden, wenn irgendwo ein Mensch mit dem Kopfe über die Bordwand guckte, ihm diesen Kopf mit Eleganz wegzuhacken, auch sich an die Bordwand klammernde Hände waren zur Übung daran gekommen — bei mir waren in den letzten acht Tagen immer nur menschliche Gliedmaßen gekappt worden — und dann nicht zu vergessen das Zerschlagen von alten und neuen Töpfen und Holzeimern mittels langer Bambusstangen, die sich im Kielraum vorgefunden hatten, und das durfte nicht bloß so pro forma geschehen, um überhaupt nur das Ziel zu treffen — o nein, so was gab's bei mir nicht! — die Suppenterrine und der Holzeimer mussten beim Schlage mit der Stange in Trümmern gehen.

Denn was hilft's denn, wenn man an solch einem Stinktopfe nur ein bisschen herumklopft? Kaputt muss er gehen, dass die Chinesen das Parfüm selber in die Nase kriegen!

O, wir waren auf einen gesegneten Empfang eingerichtet!

Was ich sonst noch alles vorbereitet hatte, kann ich hier ja gar nicht schildern. Kurz, wenn jetzt auch alle meine Jungen wie die erschrockenen Hammel kopflos durcheinander liefen, der Stimme des Schäfers nicht achtend — jeder wusste seinen Posten, und er würde im Augenblick daran stehen, sobald meine Knochenpfeife schrillte.

Enochs Posten aber war wiederum an der Spritze! Wenn sich das Wasser unterdessen auch, weil nicht mehr gefeuert werden durfte, auf 90 Grad Celsius abgekühlt hatte, das reicht noch immer, um einen schwarzen Krebs rot zu machen.

So war ich der einzige, wenigstens an Deck, welcher das Kommen der Piraten mit Ruhe beobachten konnte. Durch die ein wenig geöffneten Geschützpforten lugten ja noch andere scharfe Augen.

Unter wütendem Gebrüll kamen sie heran, sehr schnell, die Ruderer legten sich ganz mächtig ins Zeug. Ich kalkulierte. Die langen Feuersteingewehre von Anno dazumal waren wenig zu fürchten, sehr die Frage, ob die überhaupt losgingen. Und nicht besser sah es mit den Pistolen aus. Mit den modernen Schusswaffen, die sie doch manchmal erbeuteten, wussten diese konservativen Chinesen wahrscheinlich nichts anzufangen. Ganz achtunggebietend dagegen sahen die Dolche und besonders die ungeheueren, krummen Säbel aus, und es waren gar nervige Arme, von denen sie schon drohend gegen uns geschwungen wurden.

Aber nach den berühmten Stinktöpfen spähte ich vergebens aus. Diese lagen wohl am Boden der Prauen, oder... vielleicht und hoffentlich war den Piraten aus dieser Gegend hier solch eine Stänkerwaffe unbekannt.

Jetzt bildeten sie einen Halbkreis, sie wollten das Schiff umfahren, um es dann von allen Seiten zugleich anzugreifen — so weit durfte ich es aber nicht kommen lassen — unterdessen waren sie auch so weit herangekommen — der Tanz konnte beginnen!

Und meine Knochenpfeife gab das Signal zum Tanz! Eine Breitseite von fünf Vierundzwanzigpfündern eröffnete ihn, nicht mit Granaten oder Vollkugeln geladen, sondern ausschließlich mit mühsam gehacktem Blei und alten Nägeln, bis an den Rand vollgepfropft. Eine ganze Woche hatten zwei Matrosen gehackt.

Jedes Geschütz hatte sein Ziel getroffen, immer die äußersten Boote, so hatte ich bestimmt. Hei, gab das einen Tanz! Zu beschreiben ist ja so etwas nicht. Fünf Prauen waren verschwunden, aber das gehackte Blei war noch weiter gestrichen, auch noch dahinter wälzten sich brüllende Menschen in langsamer sinkenden Booten.

Doch von einer Flucht oder nur von einem Stillstand war keine Rede. Es war vorauszusehen, gewesen, wie es kommen würde. Nur noch einmal konnten die fünf Geschütze auf dieser Seite geladen und abgefeuert werden, noch fünf weitere Prauen sanken auf der Stelle, dann konnte nicht einmal mehr die auf Deck postierte Drehbasse Verwendung finden, die Boote waren schon zu dicht heran.

Unsere Gewehre sprachen jetzt allein. Auch die Piraten schossen die ihren ab, indes, wie ich geahnt, ohne jeden Erfolg.

Wir gaben's ihnen tüchtig. Auch von Gewehrkugeln durchbohrt sank eine Praue nach der anderen.

Aber wir konnten nicht hindern, dass die letzten acht herankamen. Und bei aller Kampfeshitze, die mich gepackt, musste ich doch noch immer staunen ob solcher zäher Todesverachtung dieser Chinesen!

Dann begann der Kampf Mann gegen Mann. Die unten warfen mit Enterhaken, wir konnten nicht mehr lange feuern, wir mussten Gewehr und Revolver mit Bambusstangen vertauschen, denn jetzt tauchten auch die berühmten Stinktöpfe auf, tönerne Gefäße von Kürbisgröße.

Ich selbst hatte mich mit einer sechs Meter langen Stange bewaffnet und schlug auf alles los, was Kopf und was Topf war.

Dabei hatte ich nur ein Feldgeschrei: »Enoch, Bootsmann, an die Spritze, an die Spritze!!«

Ja, mich hatte schon längst ein Todesschreck erfasst.

Wo blieb nur der Kerl mit seinem warmen Wasser? Himmel, wenn an der Dampfpumpe etwas passiert war, dann Gnade uns...

Da, als ich eben einen bezopften Kopf, der über der Bordwand auftauchte, mit meinem Entersäbel wie eine Melone in zwei Hälften spaltete, schlug etwas neben mir auf, es barst, und gleichzeitig wurde die Luft von einem Odeur erfüllt, der mir fast augenblicklich die Besinnung raubte — doch es sollte nicht so weit kommen, der Anblick meines krummbeinigen Bootsmannes gab mir die Besinnung wieder, er spritzte soeben die Scherben und die Materie mit seinem Schlauche weg, und in so etwas hatte ja mein Bootsmann nun was los, im Nu war das ganze Zeug durch die Wasserklappe gespült — und im nächsten Augenblick bekam den dicken, kochendheißen Wasserstrahl ein Chinese ins Gesicht, der eben seinen krummen Säbel auf mich schwang.

Mein Enoch spritzte weiter und — da war's vorbei! Da hatten wir im Nu gesiegt! Es ist ja wirklich wunderbar, was man mit heißem Wasser alles machen kann! Nicht nur Eier und andere Sachen kochen. Nur ein kleines Spritzerchen ins Gesicht, an den Hals, auf die nackte Brust — und wer da nicht gleich alles fahren lässt, um sich brüllend kopfüber in die kalten Fluten des Meeres zu stürzen, der wäre ja gar kein Mensch.

Ich hatte übrigens meinem Enoch bitteres Unrecht getan. Ich hatte im persönlichen Handgemenge nur die Übersicht verloren gehabt. Es waren schon einige Prauen hintenherum gekommen, hatten das Schiff von der anderen Seite angegriffen. Diese hatte Enoch mit seiner Dampfspritze zunächst besiegt, dann war er zu uns gekommen — allerdings im letzten Augenblicke.

Ich gestehe ganz offen: Ohne Enochs Dampfspritze wären wir zuletzt doch noch unterlegen, und das sogar sehr bald.

So aber waren wir eben Herren des Schlachtfeldes. Was noch lebte und sich in Prauen befand, das hatte Enoch in die Flucht gespritzt.

Es waren nur noch sieben Prauen, welche eilends dem Lande wieder zustrebten. Mit einem schnell ausgesetzten Boote hätten wir sie mit Leichtigkeit einholen können, aber wir hatten es ja viel bequemer, brauchten uns dabei auch nicht zu trennen.

Es war ja alles und jedes schon vorbereitet gewesen. Die Heizer hatten sich nicht am Kampfe beteiligt, waren immer unten in ihrem Revier gewesen, und kein Kommando war vergessen worden; sobald die Schießerei begann, hatten sie helles Feuer unter die Kessel machen müssen, noch einiges fettgetränktes Holz hinein, und so hatten wir jetzt schon wieder volle Dampfspannung, konnten den Prauen nachjagen.

Im Nu waren wir mitten zwischen ihnen. Und da sah ich einmal die eigentliche Natur des Menschen hervorbrechen. Wir hätten die Prauen einfach mittendurch schneiden können — nein, meine Jungen mussten ihren Blutdurst stillen, einzeln nahmen sie die Chinesen aufs Korn — und ich tat dasselbe, ohne ein ›leider‹ hinzufügen zu müssen. Es waren ja Piraten, Menschenjäger.

Aber die ins Wasser Gestürzten oder freiwillig Hineingesprungenen wurden geschont. Aus gutem Grunde. Schon gleich nachdem die Prauen in die Flucht geschlagen worden, als der Dampfer nur noch nicht ganz manövrierfähig war, waren meine Matrosen eifrigst damit beschäftigt gewesen, möglichst viele der im Wasser schwimmenden Chinesen aufzufischen, und das geschah auch jetzt mit den Überlebenden der sieben letzten Prauen.

Auf den ersten Blick mochte es aussehen, als wäre es klüger gewesen, die fliehenden Prauen in einem oder mehreren Booten zu verfolgen, sie aber mit Absicht nicht einzuholen. Vielleicht, dass wir hier gleich ihr Versteck gefunden hätten, wir brauchten ihnen eben nur zu folgen. Doch dies alles hatten wir schon im voraus erwogen.

So dumm wären diese Chinesen wohl schwerlich gewesen. Kein Fuchs, kein wildes Tier eilt bei einer Verfolgung direkt seinem Bau zu. Sie hätten uns vielmehr trennen und in einen Hinterhalt, mindestens in die Irre locken können, und wir wussten ja gar nicht, über welche Kräfte sie noch verfügten.

Nein, so war es jedenfalls viel besser! Jetzt hatten wir drei Dutzend Gefangene, konnten noch mehr machen, dort hinten wimmelte das Wasser noch von Schwimmern, und das wäre doch der Teufel gewesen, wenn nicht ein Verräter darunter war. Denn bei solch einem Piraten schreckte ich vor nichts zurück, um ihn zu einem Geständnis zu bringen.

Zunächst hielt ich eine Musterung über meine eigenen Leute ab. Der Matrose Werner hatte einen Stich in den Oberarm bekommen, ein anderer hatte einige gequetschte Finger. Das war alles.

Dann wandte ich mich, während der Dampfer langsam hin und her fuhr, um noch mehr Schwimmende aufzufischen, welche Arbeit uns aber bald die sich einstellenden Haie abnahmen, unseren Gefangenen zu. Jetzt machten die Chinesen gar keinen wilden Eindruck mehr, vielmehr einen recht jämmerlichen. Sie schnatterten und winselten mich von allen Seiten an, beteuerten wahrscheinlich ihre Unschuld.

Ich war in Verlegenheit, wie ich mich mit den Burschen verständigen sollte.

»Überlassen Sie mir das Verhör«, sagte Tischkoff, der übrigens vorhin seine Donnerbüchse ebenfalls recht brav gehandhabt hatte.

»Ich kann auch Chinesisch, Massa«, ließ sich da Goliath vernehmen.

Dass dieser Allerweltsneger auch das konnte, war mir äußerst lieb. Denn — ich weiß nicht — ich hatte doch gar keinen Grund zu einem Misstrauen — aber mir kam es auch gleich vor, als ob Tischkoff ein etwas verdrießliches Gesicht mache. Doch ich konnte mich auch täuschen.

Das Verhör begann. Natürlich war zuerst nichts herauszubringen. Entweder unschuldig wie die Lämmer, oder stumm wie die Stockfische. Der Allerunschuldigste versicherte uns, die Prauen hätten das Segelschiff wegen der Windstille nur ins Schlepptau nehmen wollen, und der störrische Stockfisch war plötzlich tot, hatte seine Zunge verschluckt, und zwei andere mussten wir hindern, sich die Pulsader aufzubeißen.

Für uns aber waren all diese möglichen und unmöglichen Entschuldigungen und anderen Aussagen insofern wichtig, als dies uns verriet, dass sie vorher deswegen keine Verabredungen getroffen hatten. So ein Fehlschlag war ihnen eben noch gar nicht passiert. Deshalb wurden sie nun alle schnell isoliert, jeder wurde einzeln vorgenommen.

Nachdem der Betreffende freundlich ausgefragt worden war, wurde er noch einmal unter Tortur genommen. Wir haben sie gemartert. Daraus mache ich gar kein Hehl. Na, es ging ja auch noch immer menschlich dabei zu. Auseinandergereckt und auf glühende Kohlen gesetzt haben wir keinen. Nur ein bisschen geknickt und mehr noch geprügelt. Es gab wohl ein paar gebrochene Knochen dabei, aber sonst passierte nichts weiter.

Da aber erst zeigte sich, was für hartgesottene Sünder diese Chinesen waren, und wie angebracht bei ihnen eine nachhaltigere Tortur war!

Zuerst hatten sämtliche geleugnet, auch wenn sie schon zugaben, professionelle Seeräuber zu sein, eine besondere Niederlassung mit Frauen und Kindern zu haben. Ja, sie seien wohl Piraten, aber ohne jeden Anhang, und jetzt seien sie eben samt und sonders vernichtet worden.

Als sie nun einzeln mit mehr oder minder Prügel vorgenommen wurden, waren sie schon eher geständig. Ja, sie hätten ein Versteck, eine ganze Niederlassung, wo sich noch andere Männer und ihre Familien, wie auch kostbare Waren befänden.

Nun aber widersprachen sich die einzelnen Angaben über die Anzahl der Mitglieder, wie über die Lage dieser Insel fortwährend, und wenn sie unter größeren Schmerzen endlich die richtige Aussage machten, so stimmte diese wieder mit der von anderen nicht überein, obgleich doch alle ein und derselben Bande angehörten.

Was war da zu machen? Auf diese Weise wurden wir bei Lebzeiten nicht fertig.

Ich wollte mich einmal mehr auf die Menschenkenntnis, auf die Physiognomik verlassen.

»Nehmen wir den einmal vor«, sagte Tischkoff, einen noch jungen, bartlosen Chinesen mit etwas unschuldigerem Gesicht meinend, und gerade den hatte auch ich mir schon ausgesucht.

Sollte man für möglich halten, dass selbst im Leben solcher chinesischer Piraten die Liebe noch die Hauptrolle spielt?

Dieser Jüngling versprach uns, noch ehe er einen Schlag erhalten hatte, uns nach jenem Versteck zu führen, wenn er... dafür als Belohnung ein näher benanntes und bezeichnetes Chinesenmädel, also eine Angehörige der Piratenkolonie, als seine Frau zugesichert bekäme — und natürlich auch die Freiheit, um diese Liebe in Ruhe genießen zu können.

Ich gab die Zusicherung, beschwor sie auf christliche, chinesische und noch andere Weise, dabei zuletzt auf einem Beine balancierend, worauf uns der Jüngling nähere Details erzählte, und nun, da wir solche bringen konnten, gaben auch die meisten anderen Gefangenen klein bei, und nun wussten wir, wohin wir uns zu wenden hatten.

*

Hier machen wir in Jansens persönlichen Erzählungen einen großen Sprung.

Er hält sich nämlich noch zwei Monate mit seiner ›Sturmbraut‹ in den chinesischen Gewässern auf, wohl viele Abenteuer bestehend, uns aber doch nichts Neues bietend, und wie wir dies alles überspringen, so können wir auch den Schluss jenes ersten Abenteuers mit chinesischen Seeräubern in Kürze wiedergeben.

Von Lotsen geleitet, gelangt die Besatzung der ›Sturmbraut‹ in Booten nach der Piratenkolonie, diese ist aber schon verlassen, und was an Beute vorgefunden wird, an Reis, Salz und dergleichen, ist nur sehr gering.

Das nächste Ziel ist das gesunkene französische Schiff. Tischkoffs Angabe erweist sich als Tatsache, in dem für Taucher zugänglichen Wrack wird die ansehnliche Schiffskasse gefunden, bei den Skeletten, die Händlern angehört haben, andere größere Geldsummen, ferner auch reiche Schätze an Diamanten.

Aber auch jener Steuermann hatte keine falsche Aussage gemacht, das Wrack sitzt tatsächlich auf einer Perlmuschelbank, die eine ziemliche Ausbeute ergibt.

Nachdem sie einige Wochen hier mit dieser Arbeit verbracht haben, kann sich Jansen einen schwerreichen Mann nennen, der keine fremde Unterstützung mehr braucht.

Unterdessen hat sich seine Ansicht ganz bedeutend geändert. Zuerst hat er wohl noch chinesische Piraten zu bekämpfen gesucht, weil er das für einen ebenso abenteuerlichen wie nützlichen Beruf hält, aber... die Piraten wollen die ›Sturmbraut‹ nicht mehr überfallen, dieses Schiff ist an der ganzen Küste schon bekannt geworden.

Außerdem findet Jansen an so etwas eben keinen Geschmack, immer in ein und demselben Gewässer, und sei dieses auch noch so groß, herumzusegeln und sich mit Chinesen herumzuprügeln, die ihm ja gar keinen ernstlichen Widerstand bieten können.

Er erinnert sich seines früheren Ideals, immer recht viel angenehme Gesellschaft um sich zu haben, und die Idee kommt ihm, seine ›Sturmbraut‹ ganz als Passagierdampfer zu verwenden. Da braucht ja nicht immer ein und dieselbe Linie in Betracht zu kommen. Schon damals hat es reiselustige Personen genug gegeben, welche sich zusammentaten und einen eigenen Dampfer, noch früher ein eigenes Segelschiff mieteten, oder sie gingen zusammen eben als Passagiere an Bord, machten als solche eine Reise um die ganze Welt, wenn das damals auch noch nicht so Mode war wie jetzt.

Gedacht, getan — in den Dienst eines solchen Unternehmens will Jansen seine ›Sturmbraut‹ fernerhin stellen. Dabei bleibt er ja immer noch ganz selbstständig. Passagiere genug will er dazu schon finden, und ihm kommt es jetzt ja gar nicht mehr darauf an. Nur kann er zu diesem Zwecke nicht auf dieser Hälfte der Weltkugel bleiben, auch die Westseite Amerikas ist dazu nichts, da käme überhaupt nur San Francisco in Betracht — er muss wieder herum um Kap Hoorn, dann steht ihm für seine Pläne das kultiviertere Amerika oder Europa offen.

Ruhig hat Tischkoff Jansens Auseinandersetzungen gelauscht, leise lächelnd, aber ohne ihm zu widersprechen, durch Kopfnicken scheinbar mit allem einverstanden.

So geht es wieder zurück durch die Südsee und, ohne Fanafute oder die Osterinsel noch einmal berührt oder auch nur gesehen zu haben, um Kap Hoorn herum und dann wieder hinauf nach dem wärmeren Norden.

Es ist jetzt schon das Jahr 1861, anfangs März, die ›Sturmbraut‹ hat bereits den Äquator, die Bahamainseln hinter sich, da erleidet sie im Sturm die erste Havarie, eine leichte nur, welche sie aber doch zwingt, den nächsten Hafen aufzusuchen, und das ist Charleston in South Carolina.

Hier beginnen wir wieder mit unseres Helden eigener Erzählung.

— • —

81. Kapitel
Der Blockadebrecher wider Willen

Originalseiten III.297 — 317

Ich traute meinen Augen nicht, als ich Charleston wiedererblickte, dem ich vor fünf Jahren einen Besuch als Matrose abgestattet hatte. Die Stadt selbst schien sich nicht vergrößert, nicht verändert zu haben, die alte, noch von den Spaniern erbaute Festung beherrschte von ihrem Felsen noch immer den Hafen — aber nun dieser Hafen selbst!

Ich glaubte mich plötzlich nach Hamburg oder nach Liverpool versetzt.

Ein bedeutender Hafen ist Charleston ja immer gewesen, aber doch nur wegen seiner günstigen Lage und wegen seiner guten Docks, als Handelsplatz hat es sonst nie einen besonderen Ruf gehabt, gar nicht zu vergleichen mit New Orleans, von New York, Boston und Baltimore nun gleich gar nicht zu sprechen — damals hatte ich vielleicht zwei Dutzend Schiffe gezählt, von denen zwei Drittel Charleston, so wie ich jetzt, nur deshalb aufgesucht hatten, um Dock oder Reparaturwerkstätten zu benutzen — und heute lag vor mir ein unübersehbarer Mastenwald, vielleicht Hunderte von Schiffen aller Größen und Typen, an deren Toppen die Flaggen aller Nationen flatterten. Was sollte das bedeuten?

»Hier ist irgend etwas los«, sagte Mahlsdorf.

Ja, und das musste etwas ganz Unerklärliches sein — so lange wir es nicht wussten.

Wir waren ja reichlich seit einem halben Jahre ohne jede Kenntnis von der Weltgeschichte, aber auch dass sich Charleston innerhalb der letzten fünf Jahre zu solch einer kolossalen Handelsstadt entwickelt hätte, das war ebenfalls ganz ausgeschlossen, das hätten wir doch schon vorher erfahren, und dann hätten wir solch einen Bericht noch immer für ein Märchen gehalten.

»Hier ist vielleicht Gold gefunden worden, das braucht erst vor einem Monat gewesen zu sein, und nun wird Charleston so aus der Erde emporschießen, wie damals San Francisco.«

Nein, nein, ich konnte dieser Vermutung meines zweiten Steuermanns nicht beistimmen. Da hatte der erste viel mehr recht, hier war eben irgend was los.

Meine ansegelnde ›Sturmbraut‹ mit ihrem geknickten Mittelmast, unter vollem Signalement einen Lotsen begehrend, rief eine ungeheuere Erregung hervor; kaum hatte ich die Flaggen gezeigt, als es in dem ganzen dicht zusammengedrängten Schiffsfelde wie in einem Ameisenhaufen zu wiebeln begann, das pflanzte sich auch nach der Stadt fort, in der Sonne blitzten Tausende von Fernrohren, die auf mich gerichtet waren, und sämtliche Lotsenkutter veranstalteten ein Wettrennen, um mich zuerst zu erreichen.

»Nord oder Süd!«, schrie der grauhaarige Lotse herauf, welcher der Glückliche geworden, noch ehe er sich über die Bordwand geschwungen hatte.

»Nord oder Süd?«

»Was wollen Sie?«

»Lincoln oder Davis, Nord oder Süd, wozu halten Sie?«

Ach so, da ging mir eine kleine Ahnung auf!

Der Bürgerkrieg zwischen den Nord- und den Südstaaten hatte ja schon längst in der Luft geschwebt. Die Sklavenfrage sollte zur Entscheidung kommen, die Abschaffung der Sklaverei, von Washington angeregt. Ein hochedles Menschenwerk, nicht wahr? Nun, heute weiß es — hoffentlich — jedes Kind, und schon damals war es ein offenkundiges Geheimnis, dass es die Nordstaaten nur darauf abgesehen hatten, den viel reicheren Südstaaten den Lebensfaden zu unterbinden. Denn wenn diese Baumwollstaaten jetzt plötzlich alle ihre schwarzen Sklaven preisgeben mussten, doch richtiges Kapital, so waren sie einfach bankrott, kamen auf Gnade oder Ungnade in die Wucherhände ihrer nördlichen Vettern.

Ja, im Grunde genommen war das Ziel ein hochedles — aber diktiert wurde das Ganze vom niedrigsten Schachergeist.

»Wann geht's denn los?«, fragte ich zunächst, »oder es ist doch nicht etwa schon losgegangen?«

»Was soll losgehen?«, fragte der Lotse entgegen, mit ganz unschuldigem Gesicht, dem man aber die Verstellung gleich ansah.

»Nun, der Bürgerkrieg.«

»Bürgerkrieg? In Amerika wird es niemals einen Bürgerkrieg geben!«, war die stolze Antwort.

Dann erzählte mir der Lotse weiter, dass es sich doch nur um einen Wahlkrieg handeln könne. Die Südstaaten hatten gegen den allgemeinen Präsidenten der Union, Abraham Lincoln, ihren eigenen Kandidaten aufgestellt, den Jefferson Davis, und nun sei es Pflicht für jeden Amerikaner, der noch auf Rechte hielt, diesen letzteren durchzubringen.

»Aber von einem Bruderkriege kann bei uns doch keine Rede sein!«

Dabei zwinkerte der alte Bursche immer so listig mit den Augen, und hätte er nicht weiße Haare gehabt, ich hätte ihm gleich eine heruntergehauen. Die Verstellung dieses Beamten, der nicht so sprechen durfte, wie er gern wollte, war gar zu offenkundig.

So beherrschte ich mich.

»Weshalb sind denn die vielen Schiffe hier zusammengekommen?«

»Hier wird ein Jahrmarkt abgehalten«, entgegnete der Alte wieder mit so einem vertrackten Augenblinzeln, woran er nämlich sonst durchaus nicht litt.

»Kapitän, Kapitän, Kapitäääään!«, fing da mit einem Male mein Mahlsdorf an, bei jedem Worte immer größere Augen bekommend.

»Na, was denn?«

Jetzt hob Mahlsdorf auch noch den Finger und bekam, wie er mich anblickte, immer noch größere Augen.

»Kapitäään, Kapitäääään, ahnen Sie nichts?«

»Hört, Stürmann, wenn Ihr jetzt noch weiter kapitäääänt, dann kriegt Ihr von mir die Watsche, die ich eigentlich schon einem anderen zugedacht hatte.«

Aber Mahlsdorf fürchtete sich nicht, er musste seinem Herzen Luft machen, nur dass er jetzt geheimnisvoll zu flüstern begann.

»Ahnen Sie wirklich nichts? Hier werden Kaperschiffe geworben — von den Südstaaten — Herr Kapitän, das wäre etwas für uns!«

Er hatte recht, sollte recht behalten, wie dann die Zukunft lehrte. Die ganze amerikanische Kriegsflotte blieb auf Seiten der Nordstaaten, der Süden stellte jedem Handelskapitän und überhaupt jedem Abenteurer, der sein eigenes Schiff mitbrachte, einen Kaperbrief aus.

Wie ich über Politik dachte, habe ich schon oft gesagt. Mich ekelte die ganze Politik an, und nun vor allen Dingen erst dieser zukünftige Bürgerkrieg, dessen niederträchtigen Krämergeist ich instinktiv gleich von vornherein durchschaute.

Dann liegen noch andere Ursachen vor, weswegen ich über den Vorschlag meines Steuermanns so entrüstet war, welche ich aber erst nach und nach anführen kann.

Kurz, ich legte meine Faust auf die neue Bussole, die wir in der Reservekammer gehabt, und ich fühlte, wie die Adern auf meiner Stirn schwollen, als ich Mahlsdorf anblickte.

»Lasst Euch eins gesagt sein, Stürmann, und verkündet es dem ganzen Schiffsvolk: Wer an Bord meines Schiffes sich in diesen niederträchtigen Bürgerkrieg einzumischen Lust hat, etwa wünscht, dass auch ich ein gemieteter Kaperkapitän werden soll, der ist auf der Stelle entlassen! Verstanden?«

Ganz bestürzt blickte mich der arme, so hart angelassene Mahlsdorf an.

Da zwang mich ein Räuspern, den Kopf zu wenden, und ich blickte direkt in das lächelnde Gesicht meines Kommodores. War das nicht ein spöttisches oder gar höhnisches Lächeln? Noch nein, ich irrte mich, es war sein gewöhnliches, überlegenes, aber dennoch gütiges Lächeln.

Und weshalb hätte Tischkoff auch Spott zeigen sollen? Er war ja mit meinen neuen Plänen, ein Passagierdampferkapitän zu werden, so überaus einverstanden gewesen, und er stimmte auch sonst immer mit meinen Ansichten über alles, was Politik heißt, so vollkommen überein.

Der Lotse wollte weiter anfangen über Abraham Lincoln und Jefferson Davis, zunächst wieder mit jenem vertrackten Augenblinzeln den Verdacht zurückweisend, als ob es sich dort wirklich um Kaperschiffe handeln könne... ich unterbrach ihn kurz, indem ich ihn anwies, seines Amtes als Lotse zu walten.

Ich gewahrte ein neues Wettrennen, diesmal von kleinen Dampfern, welche wiederum meine ›Sturmbraut‹ als Ziel erkoren zu haben schienen.

»Was für Dampfkutter sind denn das?«, wandte ich mich an den Lotsen. »Schon die Zollboote?«

»Vertreter der einzelnen Schiffswerften«, brummte jetzt der gemaßregelte Lotse verdrießlich.

Ach so! Dass meine ›Sturmbraut‹ reparaturbedürftig war, erkannte ja jedes Landkind an ihrem zersplitterten Maststumpf. Aber dass die einzelnen Werften mit ihren Booten deswegen ein Wettrennen veranstalteten, jede in der Hoffnung, den Konkurrenten zu schlagen, das war mir etwas ganz Neues.

Sonst sind nämlich diese Werftbesitzer immer gar gewaltige Herren, die es alle nicht nötig haben. Der Kapitän muss vor ihnen auf den Knien rutschen, um nur ein paar Nägel eingeschlagen zu bekommen — d. h., dies ist nicht gar so wörtlich zu nehmen.

Erst als das eine Dampfboot mich schon erreicht hatte, kehrten die anderen um.

Ein junger, eleganter Herr kletterte das Fallreep herauf, eilte auf die Kommandobrücke, mit ganz rotem Kopfe.

»Crumbman, Vertreter der Schiffswerft Atkins Söhne und Kompanie. Ahoi, Käpten Jansen, ahoi, ahoi, ahoi!«

Dabei schüttelte er mir immer krampfhaft die Hand.

Ein sehr liebenswürdiger junger Mann, aber... so etwas war mir noch nicht passiert, und am allerwenigsten von dem Vertreter einer Schiffswerft.

»Well, ich will aber meine ›Sturmbraut‹ auch gleich ins Trockendock gehen lassen, sie muss einmal abgeklopft werden.«

»Alles vorhanden, alles vorhanden, die Firma Atkins Söhne und Kompanie schlägt jede Konkurrenz.«

Nanu, seit wann hatten sich denn die amerikanischen Schiffswerftler nur so verändert? Der junge Mann war ja die Liebenswürdigkeit selbst.

»Was wird das ungefähr kosten? Tausend Tonnen sind abzuklopfen.«

»Bah, kosten?! Pshaw bah! Sie wählen doch natürlich für unseren Jefferson Davis, Herr Kapitän Jansen, wat?«

Ha, jetzt ging mir eine Ahnung auf! Ich hatte schon einmal einen Wahlkampf in New York mitgemacht. Wer das freilich nicht kennt, dem kann man es auch nicht beschreiben. Das kann man nur erleben. Und hier handelte es sich noch um etwas ganz anderes, als nur um eine einfache Präsidentenwahl.

»Ich bin gar nicht wahlberechtigt, ich fahre nur unter der Unionsflagge.«

»Gar nicht wahlberechtigt, pshaw! Ihre ›Sturmbraut‹ unter Ihrem Kommando wiegt mehr, als ein Dutzend solcher Klepperschiffe, wie sie dort zu Hunderten liegen. Nord oder Süd?«

Na, nun war's raus. Nun brauchte ich nicht mehr im Zweifel zu sein, was hier vorlag. Zunächst sollte ich selbst gekapert werden.

»Nord oder Süd?«

»Herr, das will reiflich überlegt sein«, wich ich aus und wusste mir den Schwätzer auch sonst vom Halse zu halten.

Diese beiden Männer, der Lotse und der Werftvertreter, waren erst die kleine Einleitung zu dem noch Kommenden. Doch wollte ich ausführlich schildern, wie ich in Charleston empfangen wurde, wie man sich um mich riss, wie man mir alles, was ich verlangte, schenken wollte, wie man mir Austern- und Kaviarfässer und Champagnerkörbe dutzendweise an Bord brachte — ganze Körbe, nicht bloß Flaschen — und dann diese möglichen und unmöglichen Versuche, mich und meine ganze Mannschaft besoffen zu machen, sowohl mit schönen Worten wie mit Spirituosen — wenn ich das alles schildern wollte, ich müsste dicke Bücher darüber schreiben.

O, das war ein Leben in jenen Tagen zu Charleston! So etwas hat die Welt noch nicht zu sehen bekommen!

Doch nichts von Politik! Mir genügte, dass meine eigene Person hierdurch so große Vorteile hatte, obgleich ich eigentlich noch gar nicht wusste, weshalb man solchen Sums mit mir machte.

Der erste Vorteil bestand darin, dass man mir im Hafen gleich den besten Platz anwies, den zwei andere Schiffe meinetwegen freimachen mussten.

Aber ich hätte lange hier liegen können, denn bei dieser Masse von weit hergekommenen Schiffen, von denen viele denselben Orkan wie ich zu bestehen gehabt, waren alle Docks und Schiffswerften besetzt, hatten Bestellungen für ein halbes Jahr hinaus — da kam ich, und sofort musste in der Schiffswerft von Atkins ein erst halb abgefertigtes Fahrzeug hinaus — schon eine Stunde später befand sich meine ›Sturmbraut‹ im Trockendock, in wenigen Tagen konnte sie abgeklopft sein und einen neuen Mast haben.

Was ich während dieser Stunde, da ich am Kai lag, und dann die erste Zeit im Dock durchgemacht habe, kann ich gar nicht schildern. Massenhaft drängten sich die Besucher herbei, um mich zu sprechen, darunter stark vertreten die holde Weiblichkeit, welche in Amerika ja ganz besonders eifrig die Wahlagitation betreibt, wobei sich die sonst anständige Frau nicht geniert, mit Küssen und mit noch ganz anderem zu ködern, wenn es nur zum Ziele führt.

Ich hatte es ja ganz einfach, ich stellte ein paar handfeste Matrosen ans Laufbrett, niemand durfte das Deck betreten. Aber hin und wieder wusste sich doch einer der schlauen Amerikaner und noch schlaueren Amerikanerinnen durchzuschmuggeln, und dann hatte ich allemal meine liebe Not, sie wieder loszuwerden.

»Nord oder Süd? Süd, natürlich Süd! Nieder mit den Nordstaaten!«

Das war hier das Feldgeschrei, etwas anderes gab es gar nicht. Dabei durfte aber von einem Kriege eigentlich noch gar nicht gesprochen werden. Das wäre Hochverrat gewesen. Dort oben auf der Festung von Charleston wehte doch noch das Unionsbanner.

Man tat so, als handle es sich nur um eine Stichwahl zweier verschiedener Präsidenten — — im Grunde genommen aber war es doch schon die Vorbereitung zum Kriege, ganz öffentlich betrieben. Kaperbriefe konnten natürlich noch nicht ausgestellt werden.

Mit einem mir verständig erscheinenden Herrn ließ ich mich doch einmal in ein Gespräch ein. Der offenbarte mir nun freilich etwas ganz anderes. Jeden Tag konnte es zum Klappen kommen, die beiden bisher nur politischen Gegner rüsteten schon fieberhaft, unter die weiße wie schwarze Bevölkerung wurden schon ganz offen Waffen verteilt, und das Traurige oder doch Merkwürdige dabei ist, dass alle Sklaven der südstaatlichen Pflanzer bereit waren, für ihre Herren ins Feuer zu gehen.

Doch nichts von Politik!

Für mich war es auffällig, dass ich schon wiederholt als ›Blockadebrecher‹ angeredet worden war.

»Wieso denn nur, was habe ich denn nur getan, dass man solchen Sums mit mir macht?«

»Was Sie getan haben? Sie fragen auch noch? Sie haben ein Sklavenschiff aufgebracht, haben auf eigene Faust gegen zwei südamerikanische Republiken Krieg geführt und diese besiegt, haben chinesische Piraten vernichtet...«

»Woher weiß man denn das schon?«

Meine Matrosen hatten bereits erzählt, es waren ja fortwährend Besucher an Bord gewesen. Mehrere Matrosen waren auch schon voll des süßen Weines gemacht worden, um von ihnen über meine Absichten zu erfahren, bis ich mein Veto eingelegt hatte.

»Ja aber, weshalb nennt man mich denn nur immer den Blockadebrecher?«

»Weil Sie wie kein zweiter dazu geeignet sind, mit Ihrer ›Sturmbraut‹ und Ihrer kriegsgeübten Mannschaft die Blockaden zu brechen, welche die Nordstaaten bald über alle südlichen Häfen verhängen werden, und uns fehlen doch Kriegsschiffe. Sie sind der Mann, auf den jetzt unser ganzes Volk hoffnungsfreudig blickt...«

Genug! Ich will lieber eine Erklärung geben, wieso ich plötzlich zu solch einem beliebten Volkshelden werden konnte.

Das Volk braucht immer einen Helden. Immer einen einzigen, auf den es sein ganzes Interesse wirft. Dabei braucht dieser Mann durchaus kein Held zu sein.

Zum Beispiel denke ich jetzt an den letzten Burenkrieg. Da war für das englische Volk der Held Jameson und für die Buren und alle die, welche mit ihnen sympathisierten, so ziemlich die ganze Welt, war es Oberst Schiel, damals der Minister oder Generalfeldmarschall von irgendeinem Kaffernhäuptling. Der war für das Volk der Held, der die Buren unbedingt zum Siege führen musste.

Oberst Schiel konnte alles, wusste alles — Oberst Schiel hier, Oberst Schiel da.

Als aber mit der Sache ernst wurde, als es wirklich losging, da war dieser Oberst Schiel mit einem Male verschwunden. Das heißt, man sprach gar nicht mehr von ihm. Und ich selbst weiß wirklich nicht, wo er geblieben ist.

Das ist das Los aller dieser Volkshelden, die plötzlich auftauchen, sogar ganz ohne ihren Willen zu Nationalhelden gestempelt werden. Denn das ist eben ein Naturgesetz, dass das Volk immer solch einen Helden braucht, den es bewundert, vergöttert. Dann freilich wird er ebenso schnell wieder fallen gelassen.

Notabene: Wenn von diesem Oberst Schiel etwas in Erinnerung bleiben möchte, so soll es, für mich wenigstens unvergesslich, sein Ausspruch sein: Ich diene treu dem Manne, dem ich Treue versprochen habe, und wenn dieser Mann auch nur ein armer, schwarzer Negerhäuptling ist!

Jetzt hatte man mir diese unglückliche Rolle eines Volkshelden aufgebürdet. Man hatte ja schon wiederholt von mir gehört, besonders damals von Uruguay und Argentinien, nun kam ich gerade jetzt, als die kriegerische Stimmung, eine Art von Rausch, den höchsten Grad erreicht hatte. Sie hatten ihren Volkshelden noch nicht — — »da kommt er, da kommt er, Heil ihm!!«

So erklärte ich mir die Sache ganz nüchtern, frei von jeder Eitelkeit. Nun, wenn ich meinen Vorteil dabei hatte, dann war es ja gut. Sonst machte ich da nicht mit.

Nein, ganz etwas anderes hatte ich jetzt vor, da es für mich nichts mehr an Bord zu tun gab.

Atlanta!

Glaube der Leser nicht etwa, dass ich die vergessen hätte. Nur habe ich nicht viel über sie zu sagen.

Sie war trotz aller Menschenfresserei — d. h. trotzdem sie die Genossin von Menschenfressern gewesen war — ein völlig unschuldiges Kind. Und ein gehorsames dazu.

Ja, ihr Bruder hatte recht gehabt. Ich hätte Frauen neben ihr haben können — sie hätte nur ihre Freude daran gehabt, weil ich noch andere liebte.

Ich habe wirklich nichts weiter über sie zu sagen. Höchstens noch über ihre Unerfahrenheit. Diese war grenzenlos. In gewisser Beziehung war sie allerdings gebildet, sogar sehr, sie konnte mehrere Sprachen, hatte noch vielerlei gelernt, aus Büchern — — aber die Welt selbst war ihr noch ein versiegeltes Buch.

Wie hätte es auch anders sein können! Das Schiff war von jeher ihre Heimat gewesen, und zwar kein Passagierschiff, sondern das ihres Vaters und dann des Bruders, auf dem nicht einmal die Mannschaft wechselte, und so oft das Schiff auch in einen fremden Hafen gekommen war, hatte sie das Land doch kaum mit einem Fuße betreten.

Ach, ich hatte als ihr Lehrer köstliche Stunden verlebt, und wie hatte ich mich schon längst darauf gefreut, ihr die Welt zeigen zu können, sie einmal mitten hineinzuführen!

Vor allen Dingen aber musste sie eine Toilette bekommen. Denn das grüne Gazekleid mit dem sie mein Schiff betreten, war bald in Trümmer gegangen, zuerst hatten des Segelmachers Nadel und Fritzens und Pieplackens Kunstfertigkeit herhalten müssen, aber die Kostüme aus Segeltuch waren danach geworden, und dann hatte sie chinesische Gewänder getragen, die wir den Piraten abnahmen, und solche trug sie noch jetzt, sehr geschmackvoll, sehr phantastisch, aber doch nichts für eine nordamerikanische Stadt.

Denn ich hatte seitdem faktisch noch keinen anderen Hafen angelaufen, war nicht imstande gewesen, irgendwoher europäische Frauenkleider zu bekommen.

Ja, ich hätte es sehr leicht gehabt, sie mit allem auszustatten, was eine moderne, verwöhnte Dame zur Toilette braucht.

Alle die Garderobe und der ganze Krimskrams war ja noch immer an Bord, den Blodwen damals zurückgelassen hatte.

Aber ich hätte es nicht fertig gebracht, Atlanta in Blodwens Wäsche und Kleider gehüllt zu sehen, auch nicht, dass sie in diesen Kabinen wohnte. Die drei Kabinen, welche einst Blodwen innegehabt, waren seither immer verschlossen gewesen, nie hatte ich sie wieder geöffnet.

Also zunächst Garderobe für Atlanta!

Ein Matrose sollte einen Wagen holen, womöglich geschlossen, und ich wunderte mich, dass er einen solchen brachte.

»O, ich brauchte nur zu sagen, dass er für den Kapitän Richard Jansen von der ›Sturmbraut‹ sei... ›Für den Blockadebrecher?!‹, schrie der Kutscher, und da hat er gleich seinen Fahrgast, einen General mit einem richtigen Säbel, aus dem Wagen geschmissen.«

Soso. Na, dann war's ja gut.

Das Ziel sollte irgendein großes Geschäft sein, wo man so Frauenkladderage bekommt, und wir segelten per Achse ab.

Die grünen Vorhänge hatte ich zur Vorsicht herabgelassen, aber wir konnten genügend durch die Spalten beobachten. Atlanta staunte nicht schlecht, ich aber auch.

Ach, das war ein Leben in den Straßen! Und in den Kneipen saßen sie noch oben auf den Dächern. Und immer und überall dasselbe Gebrüll: Nord oder Süd? Lincoln oder Davis? Nieder mit dem Yankee, nieder mit den Nordstaaten, hip hip hurra für die Konföderation!!

Es ging dabei nicht immer gemütlich zu. So im Vorbeifahren sah ich, wie ein Bowiemesser ein Ohr glatt absäbelte. Auch Schüsse knallten genug.

Selbst meine Droschke wurde angefallen, von einem baumlangen, breitschultrigen Kerl, aber gentlemanlike, der den Wagen einfach festzuhalten suchte und das Fenster aufreißen wollte.


Illustration

Herrgott, wo hatte ich denn den nur schon einmal gesehen?! Der Gentleman war besoffen wie eine Strandkanone. »Nononord oder Süd?«, lallte er mit schwerer Zunge, aber dabei feste brüllend, »Abraham Lincoln oder — oder — Brandy mit Zucker?!«

Da fiel er um.

Bei allem was lebt — Mr. Rug, der ewig besoffene Australier von Fanafute! Der auch hier!

Bei Gott, dort war ja auch Lord Seymour — Arm in Arm mit dem Haarwasseronkel und dem Puppenkleidermacher!

Natürlich, die sämtlichen Seezigeuner waren hier vertreten! Na ja, was anders als Seezigeuner sollte sich denn hier auch zusammenfinden? Alle die Hunderte von Kapitänen und Jachtsportsmen, die hierher gekommen, um sich Kaperbriefe zu holen, konnten ja Anspruch auf den Titel ›Seezigeuner‹ machen.

Na, das konnte eine gute Geschichte hier werden! Wenn ich nur erst meinen Mast wieder hatte, die Muscheln brauchten sie gar nicht abzuklopfen.

Dann erblickte ich eine andere Gestalt, die mir weniger Freude machte: Baron Ralph, den ich damals geohrfeigt, der mich ins Kittchen gebracht hatte.

Eigentlich war daran mehr die...

Und wahrhaftig, da war sie ja schon, die Ballerina und Seiltänzerin, die Señorita Mercedes Calioni!

Überhaupt eine nette weibliche Gesellschaft, die sich hier im Rebellenlager zusammengefunden hatte! Aasgeier!

Da fiel mir ein riesengroßes Plakat auf, Tiere darauf, afrikanische, ein Elefant, ein Zebra, ein Löwe, ein Strauß — und auf diesem Strauße saß reitend im Afrikanerkostüm ein Mensch...

Der Kutscher musste in dem Menschengewühle jede Gelegenheit wahrnehmen, schnell fahren zu können, und eben bogen wir um eine Ecke. Aber ich konnte mich mit dem Rosslenker durch ein Guckfensterchen unterhalten.

»Hier liegt doch nicht etwa der ›Karbunkel von Liberia‹?«

»Jawohl, Sir, Kapitän Algots mit seinem schwimmenden Zirkus ist heute früh hier eingetroffen, heute Abend findet die Eröffnungsvorstellung statt.«

Auch Karlemann hier! Wie ein freudiger Schreck hatte es mich beim Anblick des Plakates durchzuckt, jetzt brach die helle Freude erst recht hervor!

Nur erst Atlanta versorgt, dann hin zu ihm, mit dem mich die holdesten Erinnerungen verbanden!

Es war ein Modegeschäft, in dem überhaupt alles zu haben war, was ein Frauenzimmer braucht, vom Hute an mit der Haarnadel bis zur Stiefelsohle.

Das ganze Personal schien bei meinem Anblick gleich einen Hexenschuss zu bekommen. Ich war erkannt, das merkte ich sofort, wurde ich doch auch gleich Herr Kapitän angeredet. Eine gute Stunde hatte ich in einem Ankleidezimmer zu tun. Das auf dem Schiffe geborene und großgewordene Weib fand sich in manchem intimen Kleidungsstück gar nicht zurecht, und ich wusste eher, wie man ein solches aus- als anzieht.

Schließlich waren wir doch fertig geworden. Sogar eine Frisierstube war hier gleich vorhanden gewesen. Ich hatte während des Zusehens sechs Butteln Bier getrunken.

Atlanta sah aus wie eine Prinzessin. Ja, die Frauenzimmer haben doch nicht so unrecht, wenn sie durchaus nicht das gesundheitsschädliche Korsett ablegen wollen, wenn sie ihre Füße in enge Stiefelchen einzwängen und sich mit bunten Wimpeln und Fähnchen behängen.

Atlanta sah jetzt doch ganz anders aus als vorhin in dem chinesischen Kostüm und früher in ihrem Gazekleid.

Wie sie aussah? Den Maler möchte ich finden, der das wiedergeben kann!

Die schönsten Weiber der Erde habe ich im Tale von Kaschmir gesehen, aber die Schönheit der Schönsten verblasste gegen die dieses Weibes, das ich auf dem Menschenfresserschiffe gefunden hatte.

Mit Einkäufen vollgepfropft, hatte ich den Wagen nach der ›Sturmbraut‹ zurückgeschickt, wir traten auf die Straße hinaus, um in ein nahes Hotel zu gehen.

Was soll ich sagen? Ein zufälliger Blick auf meine Begleiterin, und die Leute fuhren vor Staunen zurück, blieben mit offenem Maule stehen.

Mir ist so etwas einmal in Gibraltar passiert. Da ging ein Mädel an mir vorüber, d. h., auch ein so pompös gekleidetes, und da bin ich auch wie erschrocken zurückgefahren und habe mit offenem Maule nachgeblickt, nicht fassen könnend, wie selbst ein allmächtiger Herrgott so etwas von Schönheit schaffen konnte, wie er nur überhaupt auf den Gedanken kommen konnte, so etwas zu erfinden!

Ich glaube, gerade durch meine plumpe Ausdrucksweise wird man vorstehen, was ich meine. Himmeln kann ich nicht.

Denn ich wurde damals halb wahnsinnig, konnte weder essen noch schlafen noch arbeiten. Unablässig verfolgte mich dieses Frauenbild. Und das merkwürdigste vielleicht dabei war, dass ich zu jener Frau selbst gar keine Zuneigung hatte, d. h., es fiel mir gar nicht ein, mich sonst nach ihrer Adresse zu erkundigen, wünschte gar nicht, sie wiederzusehen.

Da lernte ich kennen, dass schwärmerische Menschen nicht umsonst von einer Allmacht der Schönheit sprechen.

Erst als ich tausend Meilen Salzwasser zwischen mir und jenem Orte hatte, wo ich sie gesehen, wurde es wieder besser mit mir.

Und ich glaube, jenes ideale Weib war immer noch nur ein Schatten gegen das, welches jetzt an meiner Seite schritt.

Nun aber bitte ich um fünf gute Groschen — so etwas von Schönheit soll nun jemand beschreiben!

Na, kurz und gut — ich war stolz, ganz mächtig stolz!

Ach, wenn ich mich entsinne — und wie deutlich steht das Bild noch vor meinen Augen, wie ich mich ja selbst in den Spiegelscheiben der Schaufenster erblickte — wie ich langer Schlagtot damals in den Straßen von Charleston einherstolzierte, den steifen Hut im Nacken, die Hände wie immer in den Hosentaschen — und dieses wunderschöne Püppchen hatte ihren Arm durch meinen gelegt...

Wie ich so einherschlenderte... ja, kiekt sie euch nur an, das ist die schönste Frau, die Gott geschaffen hat, und sie gehört mir, mir ganz allein, mir, dem Kapitän Richard Jansen aus Danzig...

Und wie ich dann mit ihr in dem Spiegelsaal des Hotels saß — und herum die Gäste, immer das Maul vor Staunen offen — und ich rief »Waiter, Kellner!« — und die befrackten Geister krochen heran, keinen Blick von diesem Wunder Gottes verwendend — und ich fragte so gelassen: »Nun, mein Darling, was willst du genießen?« — und als ich dann die Speisekarte von oben nach unten und wieder zurück abaß, dazu einige Flaschen Champagner zu zehn Dollar — wie das alles guckte und staunte — wie das alles platzte vor Neid und Eifersucht...

Und als ich dann wieder mit ihr auf der Straße schlenderte, die Schaufenster musterte — »Gefällt dir das Armband, Atlanta? Oder willst du diese Ohrringe haben? Diese Diamantbrosche?«, — und ich ging mit ihr hinein, warf die Banknoten und die Goldstücke auf den Ladentisch — und wenn einige Goldfüchse herunterkollerten und der Ladenschwengel wollte sich bücken, so sagte ich mit majestätischer Handbewegung: »Lassen Sie's nur liegen, das ist für den Auskehrer« — oder der kleinen Verkäuferin steckte ich gleich eine Handvoll Goldstücke vorn in den Busenschlitz...

Ach, war ich damals ein glücklicher Mensch, war das eine köstliche Zeit!!

Und ich dummes... dummes Luder wollte immer wieder partout ein solider Handelskapitän werden! Mir brannte das Geld doch mehr denn je in der Hosentasche. — — —

Aber wir wollen dieses mein Verhalten auch einmal von einer anderen Seite betrachten.

Oder ist es nicht nötig?

Ahnt der Leser schon etwas?

Ja, ich war ein Schoßkind des Glückes, wozu ich gar keines Geldes bedurft hätte — aber ich wurde durch dieses Glück stolz, maßlos stolz — ich forderte den Neid der Götter auf eine furchtbare Weise heraus!

Was aber mein Verhältnis zu diesem zauberhaft schönen Weibe anbetraf, so sollte ich die Wahrheit darüber noch aus anderem Munde hören — und da ich sie nicht glauben wollte, musste ich sie fühlen, und das auf eine schreckliche Weise! — — —

Noch eins muss ich erwähnen, ehe ich Atlanta an Bord der ›Sturmbraut‹ zurückbringe, um dann meinen Freund Karlemännchen aufzusuchen.

Ich komme zufällig wieder an jenem Garderobegeschäft vorüber, und da sehe ich an der Hausfront eine lange Leinewand gespannt, auf der in riesigen Lettern steht:

»In diesem Geschäft hat der Blockadebrecher Kapitän Jansen von der ›Sturmbraut‹ für seine Frau eingekauft!«

Erst Staunen, dann Beschämung, dann etwas Zorn — und dann habe ich aus vollem Halse gelacht.

Was hatten die denn nur mit meiner Blockadebrecherei?

Na, schmeicheln konnten sie mir mit so etwas nicht! Ja, ich konnte wohl stolz sein, maßlos stolz — aber so etwas wie Eitelkeit gab es bei mir nicht, und am allerwenigsten, wenn ich gar nicht wusste, weswegen ich eigentlich Lob verdiente.

Sollte ich jetzt hineingehen und solche unwahre Marktschreierei den Leuten verbieten?

I wo, lasst sie doch! Ich war über so etwas einfach erhaben. Wie werden doch die Namen anderer, wirklich großer Männer missbraucht! ›Bismarckhering‹!

Außerdem war es nun schon zu spät. Oder ich hätte gar viel laufen und verbieten müssen.

Auch an jenem Hotel komme ich wieder vorbei, und da steht an den riesigen Fensterscheiben, hinter denen die Reklameesser sitzen, mit Schlämmkreide gemalt:

»In diesem Hotel hat der Blockadebrecher Richard Jansen mit seiner Gemahlin gespeist.«

Ähnliches sah ich auch schon an den Juwelier- und anderen Geschäften geschrieben, die ich mit meinem Einkauf beehrt hatte.

Eben amerikanisch!

Dann sah ich sogar den Wagen wieder, den ich benutzt, richtig, vorn auf dem Bock ein hoch emporragendes Plakat:

»Dieses Cab hat der Blockadebrecher Jansen von der ›Sturmbraut‹ mit seiner Gattin benutzt.«

So, nun war es fertig, nun wurde ich als Blockadebrecher in der ganzen Stadt herumgefahren. Nun war nichts mehr dagegen zu machen.

— • —

82. Kapitel
Karlemanns neueste Attraktionen

Originalseiten III.317 — 341

Da lag der alte Paddeltrog, der elektrische Funke, jetzt der ›Karbunkel von Liberia‹. Ja, ein richtiger Karbunkel! Ein scheußliches Ding! Und doch, mir wurde das Herz so weit, als ich ihn wieder sah! Die holdesten Träume meiner Jugendzeit kehrten zurück, obgleich ich alles doch erst vor Kurzem im reifen Mannesalter wirklich erlebt hatte.

Oder war ich noch nicht ganz ein reifer Mann? War ich nicht vielleicht trotz meiner zwei Meter Länge und trotz aller Pferdeknochen immer noch ein Kind?

Lassen wir das!

Es war noch frühe Nachmittagsstunde, als ich ihn in Sicht bekam. Er lag am Kai des kleinen Hafens.

Die an Deck wachehaltenden Neger erkannten mich gleich wieder. Sollten sie auch nicht!

Es hatte wohl schwerlich irgendein anderer Mensch, der nicht bestellt war, hier Zutritt. Außerdem war das Laufbrett als Zugbrücke hochgezogen. Für mich wurde es sofort herabgelassen, ohne dass ich es erst begehrt hätte.

Der Neger zog zähnefletschend seine Mundwinkel bis an die Stellen zurück, wo er früher seine Ohren gehabt hatte. Er hatte nämlich keine, hatte sie sich wahrscheinlich bereits abgebissen.

Denn überhaupt, das will ich hier gleich einmal sagen: einen normalen Menschen gab's an Bord des ›Karbunkels‹ gar nicht.

»Der Herr Direktor ist in der Manege und drennisiert«, meldete grinsend der Neger.

Vielleicht kann man auch trainisiert schreiben — er zog jedenfalls die beiden Worte dressieren und trainieren mit seemännischer Kürze zusammen.

Beim Hinabsteigen der Treppe hätte ich bald ein kleines Kerlchen totgetreten, das nur aus Knochen bestand. Es war das lebende Skelett, das damals meiner Laura die Liebeserklärung gemacht hatte und ihr dabei in den Busen gerutscht war.

Als ich unten war, sprang plötzlich ein Wichtelmann auf mich los, oder ich will gleich Karlemann sagen, immer noch ganz derselbe, immer noch mit seinen langen, schwarzen Zigeunerhaaren — in der Faust eine riesige Pistole, mehr so eine Handkanone, deren Mündung er mir auf den Bauch setzte.

»Nord oder Süd?!«, brüllte er mich an. »Abraham Lincoln oder Jefferson Davis?!«

Ich hätte natürlich alles andere erwartet als solch eine Begrüßung, aber lachen musste ich doch.

»Nord oder Süd?!«, brüllte er immer wieder, dabei wild seine schwarzen Zigeuneraugen rollend.

Selbstverständlich versteht der Leser — der machte gleich aus den hiesigen Verhältnissen eine Parodie. Denn an Witz fehlte es diesem deutschen Zigeunerknaben ja nun nicht.

Endlich steckte er die Handkanone vorn in den Hosenbund.

»Guten Tag, Herr Blockadebrecher. Das haben Sie wohl im Zuchthaus gelernt?«

»Sie wissen schon?«

»Wer soll nicht schon von Ihrer Blockadebrecherei gehört haben!«

»Lassen Sie den Unsinn. Na, Karlemännchen, wie geht's denn sonst?«

»Nu fein! Fein mit...« Er sprang plötzlich davon, in eine Kammer hinein, und kam mit einem Ei wieder heraus.

»Hier, essen Sie mal dieses Ei, wie's Ihnen schmeckt.«

Mit einigem Misstrauen schälte ich die Schale ab, roch an dem hartgekochten Ei...

»Nur zu, nur zu! Denken Sie etwa, ich will Ihnen Gift geben?«

Ich tat ihm den Gefallen, aß das Ei — ein gewöhnliches Hühnerei.

»Na, wie schmeckt's?«

»Hm, eigentlich ja ganz gut, aber... aber...«

»Was aber?«

»Aber doch auch etwas merkwürdig, zumal das Gelbe.«

»Das ist jetzt bei Ihnen nur Einbildung, weil Sie misstrauten.«

»Möglich.«

»Wissen Sie, was für ein Ei das ist?«

»Ein Hühnerei, hartgekocht.«

»Nee.«

»Ein Entenei auch nicht.«

»Dieses Ei habe ich selber gemacht.«

»Machen Sie keine Faxen.«

»Nu faktisch. Das ist ein Patentei. Ein künstliches. Das habe ich erfunden. Die Eier, die ich hier verkaufe, die mache ich nur jetzt selber.«

Ich blickte den Jungen an — ich konnte nicht an dem Ernste der Worte zweifeln.

»Ist nicht möglich!!«, musste ich dennoch rufen.

»Nu warum denn nicht? Warum soll man denn nicht künstliche Eier machen können?«

»Ja, wie machen Sie das denn?!«


Illustration

»Nu ganz einfach. Innen eine gelbe Kugel, außen drum eine weiße Hülle, länglich rund, und mit Wasserglas und Gips die Schale drum. Fertig ist die Geschichte!«

»Ja, aber was für ein Stoff ist denn das nun, das Gelbe und das Weiße?«

Jetzt nahm Karlemanns Auge einen ganz eigentümlichen Blick an.

»Kunststück«, brachte er dann in seiner drolligen Weise hervor, »das werde ich Ihnen verraten! Das ist eben das Geheimnis dabei. Das Weiße will ich Ihnen sagen. Das ist einfach Mehlpampe mit entstänkertem Fischleim. Aber nun das Parfüm, was erst den Eiweißgeschmack geben muss — das erfahren Sie natürlich nicht, und wenn Sie mir hunderttausend Millionen geben. Und der Eidotter ist auch schwer herzustellen. Das heißt, wenn man die Geschichte nicht weiß.«

»Die alte Geschichte mit dem Ei des Kolumbus.«

»Jawohl. Aber jetzt hat nicht nur Kolumbus sein Ei, jetzt hat auch Karl Algots sein eigenes.«

Ja, was sollte man dazu sagen? Gar nichts, nur staunen.

»Ist denn die Fabrikation schwierig?«

»I wo! Anfangs, ja. Das hat mir manches graue Haar gemacht. Ach, wie manche Nacht habe ich da exemper... exrembel... expemrel...«

»Experimentiert meinen Sie«, kam ich zu Hilfe.

»Jawohl, expeliminiert. So manche liebe Nacht. Aber jetzt, wo ich's raus habe — ich lege mit Leichtigkeit jeden Tag tausend Schock Eier, ich ganz alleine, ohne dass es mich angreift.«

Da endlich machte sich mein Staunen Luft — in einem schallenden Gelächter! Karlemann schien sich das anders zu deuten.

»Sie glauben's nicht? Faktisch, tausend Schock pro Tag. Ich presse die Schmiere einfach in Formen und lege sie in ein besonders präpariertes Kalkwasser. Was wollen Sie? Als ich in New York war, hörte ich, dass ein Hotelier für ein großes Essen zehntausend Eier kaufen wollte — so eine Massenabfütterung — oder ich weiß nicht, was man da vorhatte — kurz, zehntausend Eier — und es war damals in New York eine große Eiernot — zu Weihnachten, wissen Sie — du riskierst's, denke ich. Mehr als die zehntausend Eier mir an den Kopf werfen können sie doch nicht. Ich hatte gerade einen unheimlichen Haufen fabriziert. Es war am Anfang, als es glückte, mir noch Spaß machte, ich legte Tag und Nacht Eier, nur so zum Vergnügen. Hatte ja auch immer einen starken Absatz.

»Also ich gehe hin in das Hotel. ›Wollen Sie zehntausend Eier haben?‹ — ›Ei ja!‹ — ›Aber nur hartgekochte.‹ — ›Weshalb nur gekochte?‹ — ›Geht Sie gar nischt an, ich habe eben nur hartgekochte, ich bin doch der und der, der Zirkusdirektor mit dem Karbunkel, verkoofe doch selber Eier, aber nur harte, habe mich verspekuliert, wollen Sie oder wollen Sie nicht.‹

›Well, da bringen Sie mal her.‹ Ich schaffte sie hin, zehntausend Stück. Und was soll ich Ihnen sagen? Es waren gar feine Herrschaften, sogar Damens die schwere Menge, an die fünftausend Stück — und sie haben meine selbstfabrizierten Eier gefressen un kee Luder hat e Wort gesagt. Nischt gemerkt, absolut nischt! Na, was sagen Se nu?«

Es ist schade, dass ich Karlemanns Ausdrucksweise nur manchmal so andeuten kann.

»Und wissen Sie, was mich so ein Gackei selber kostet?«

»Nun?«

»Nich emmal ganz en Feng. 's ist ja nischt weiter als Mehlpampe mit ein bisschen Fischtran, damit sie zusammenhält und so glänzt, und das Eigelb ist erscht recht ein ganz billiges Luderzeig.«

»Und wie viel nehmen Sie für solch ein Ei?«

»Immer noch fünf Groschen Stück für Stück. Das heißt hier an Bord, während der Vorstellung. Bei dem Hotelier begnügte ich mich mit einem Groschen.«

»Anders als hartgekocht können Sie die Eier nicht herstellen?«

»Nee. Nicht einmal pflaumenweich. Schon dann läuft die Schmiere durcheinander. Und, wissen Sie, auszubrüten gehn sie auch nicht. Das ist noch der Mangel bei der ganzen Erfindung.«

»Was?«, rief ich da in hellem Staunen. »Sie glauben wirklich, dass es möglich wäre, solche künstliche Hühnereier auch noch auszubrüten?! Das haben Sie schon versucht?!«

Da beugte sich Karlemännchen vor und klopfte mit der Fingerspitze gegen seine Stirn.

»Hähä, Sie halten mich wirklich für so dumm? Ich soll daran denken, dass aus dieser Mehlpampe mit Fischtran und Safran ein Hühnchen herauskriechen könnte? Nee, Männicken, ich bin viel, viel gescheiter, als wie ich aussehe.«

Nachdem ich meinen Hieb wegbekommen hatte, war diese Eiergeschichte erledigt.

Seltsam genug war dieses Wiedersehen nach langer Trennung jedenfalls gewesen.

Erst bekomme ich die Handkanone vor die Brust gesetzt, und in der nächsten Sekunde verkündet nur mein kleiner Freund, dass er jetzt seine Eier selber legt.

Alles so echt zigeunerhaft, aber... die Seezigeuner scheinen doch viel genialer veranlagt zu sein als die Landzigeuner, das wird man mir zugeben müssen.

Die Fortsetzung unseres Gesprächs fand in einem reizenden Kabinchen statt, das ich in dem alten Paddeltrog gar nicht vermutet hätte.

»Na, Karlemännchen, wie ist es Ihnen denn sonst immer gegangen?«

Er erzählte, ganz vernünftig. Es war einfach genug. Von Buenos Aires war er die amerikanische Küste nordwärts hinaufgefahren bis nach New York und Boston, unterwegs jeden Hafen mitnehmend, in dem sich eine Vorstellung verlohnte.

Von Boston aus hatte er sich ostwärts nach Europa wenden wollen, um diesen alten Kontinent mit seinem ›Karbunkel‹ zu beglücken — da zeigte das politische Barometer an, dass es unbedingt bald zum Bruderkriege kommen müsse, Charleston würde jedenfalls das Hauptlager der Konföderierten werden — Karlemann hatte sofort den Rückweg angetreten, heute früh war er hier eingetroffen.

Mich freute hauptsächlich, dass er sich nicht weiter mit Politik aufhielt, und so vermied ich auch jede diesbezügliche Frage, z. B., woher er denn gewusst, dass das kleine Charleston zum ersten Stützpunkte der Rebellen werden würde — woran nämlich tatsächlich niemand gedacht hatte.

»Wie lange halten Sie sich denn in jedem Hafen auf?«

»Je nachdem. Aber niemals länger als fünf Tage.«

»Das hängt natürlich von der Größe des Hafens ab.«

»Ganz und gar nicht. In New York war ich nur drei Tage, habe natürlich auch andere Eintrittspreise genommen. Das soll ja jetzt auch nur erst einmal eine Fühlungsreise sein. Ich sammle Erfahrungen, verstehen Sie?«

»Die Sache rentiert sich?«

»Na und wie! Geld wie Mist!«

»Fürchten Sie denn nicht, einmal Konkurrenz zu bekommen?«

»Fürchten? Gibt's überhaupt nicht bei Kapitän Algots. Konkurrenz? Sie sollen's nur einmal probieren. In den ersten acht Tagen pleite. Diese weiten Transporte — und dann die Menschen und hauptsächlich die vielen Raubtiere auf den langen Seereisen zu füttern — das soll mir erst jemand nachmachen.

»Nun, wie machen Sie denn das? Darf man das nicht erfahren?«

»Nun, was meinen Sie wohl?«

»Sie füttern die Tiere mit Salzfleisch, mit Pökelfleisch.«

»Salzfleisch, Pökelfleisch«, wiederholte Karlemann verächtlich. »Sollen mal sehen, was für ein Gesicht so ein Löwe macht, wenn man dem eine Portion gesulzte Schweinsknochen vorsetzt, wie der die wieder ausspuckt!«

»Na dann mit präserviertem Fleisch«, musste ich lachen.

»Jawohl, hat sich was präservieren! Diese Raubtiere sind doch keine Hunde und Hauskatzen, die rühren ja so etwas gar nicht an. Und dann, was das kosten würde — acht Tage Seefahrt und drei Tage Vorstellung — ich kann aber auch einmal acht Wochen unterwegs sein — na, was meinen Sie wohl!«

»Ja, was geben Sie den Raubtieren denn sonst zu fressen?«

»Nu, Fische. Fische, frische Fische! Und sollen mal sehen, wie die Löwen und Tiger da hinterher sind, auch wenn sie noch gar keinen Hering gesehen haben. Alle Katzen lieben ja Fische. Und es bekommt ihnen ausgezeichnet. Und dann gibt's doch auch noch genug andere Fische, wie Delfine und Schweinsfische, die gar keine richtigen Fische sind, die nur so tun — deren Fleisch ist von Rindfleisch überhaupt fast gar nicht zu unterscheiden.«

»Und diese Fische fangen Sie selbst?«

»Selbstverständlich! Und wenn ich am Tage und des Nachts hundert, dreihundert, tausend Angelschnüre aushänge — ich habe an jedem Haken einen Fisch, und da kann ich noch die Sorte bestimmen. Sie wissen doch, wie ich das mache.«

Ja, ich wusste es, obgleich ich selbst jenes Mittel gar nicht probiert hatte. Aber ich konnte an nichts mehr zweifeln.

»Und die anderen Viecher kriegen eben Heu und dergleichen, das kann ich freilich nicht selber machen, das muss ich kaufen, mich damit verproviantieren, aber das ist doch billig genug. — Aber die Raubtiere zu erhalten, auf See, bei den langen, langen Reisen, das soll mir erst jemand nachmachen, wenn er nicht fürchterliche Unkosten haben will.«

Ja, der Junge war einfach ein Genie, daran war nichts mehr zu ändern.

»Na, und was ich dem Publikum biete, das ist auch wirklich sehenswert.«

»Unbestreitbar. Reiten Sie denn nur tatsächlich auf einem Strauße?«

»Sie sollen's heute Abend sehen. Sie kriegen auch ein Freibillett. Aber nur Sie, Ihre Leute dürfen Sie heute nicht mitbringen. Alles schon ausverkauft. O, was meinen Sie wohl, ich bin doch nicht umsonst hierher gekommen, und die Männickens hier haben alle Pinkepinke, und für die ist keine Wurscht zu teuer.«

»Was kosten denn die Plätze?«

»Der billigste zehn Dollar, und von dem ist absolut nischt zu sehen, von dem aus hört man nur das Händeklatschen und mein Peitschenknallen. Jawohl, was meinen Sie wohl, mein gutster Jansen, ich nehm's von den Lebendigen.«

»Daran habe ich nie gezweifelt«, lachte ich.

»Na, Sie werden staunen. Ich habe eine ganze Menge neuer At... Attarak — Kataraktionen...«

»Attraktionen.«

»Jawohl, eine ganze Menge neue Attarakaktionen habe ich. Da ist z. B....«

In diesem Augenblick erscholl irgendwo ein Klavierspiel. Ein ganz merkwürdiges Klavierspielen. Das Wie kann ich gar nicht schildern. Wohl vierhändig — oder es waren wohl zwei Klaviere — ich hörte eine Art von Marsch heraus — aber im übrigen einfach scheußlich.

Karlemann lauschte.

»Die Ludersch spielen schon wieder falsch«, meinte er dann, und griff nach der an seiner Seite hängenden Hundepeitsche. »Merken Sie's?«

»Dass da falsch gespielt wird, ja«, lachte ich, wie sollte man diesem Jungen gegenüber denn auch anders als lachend sprechen. »Ja, was für ein Höllenkonzert ist denn das eigentlich?«

»Höllenkonzert? Na na, so grässlich ist es doch nicht. Aber sie greifen immer daneben, wie so der echte Künstler sagt — jawohl, das tun die Ludersch. Wissen Sie, wer da spielt?«

»Nein.«

»Das ist achthändig.«

Wahrhaftig, jetzt hörte ich es heraus. Das waren acht Hände, welche die Tasten mordsmäßig bearbeiteten.

»Aber doch nicht auf ein und demselben Klaviere?«

»Auf ein und demselben.«

»Vier Menschen an ein und demselben Klaviere? Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«

»Viere? Nee, es sind nur zwei. Na, kommen Sie mal mit!«

Wir hatten nicht weit zu gehen — ach, was für ein Anblick erwartete mich da!

Hinter einem Piano stand auf einem Podium ein Mann mit langen, blonden Haaren, dem man den Künstler und sogar den Klaviervirtuosen gleich ansah, schwang den Taktstock und zählte eins zwei drei vier, eins zwei drei vier — und an der Klaviatur saßen... zwei große Affen, OrangUtans, balancierten mit dem Hinterteil auf ausgehöhlten Schemeln und spielten gleichzeitig vierhändig sowohl als vierbeinig, d. h., auch mit den gelenkigen Zehen oder Fingern der Hinterfüße klabasterten sie auf den Tasten.

Wenigstens sollten sie das tun. Im Augenblick unseres Eintretens kratzte sich der eine mit dem Hinterfuße soeben am Ohr, und der Bass vergaß die Begleitung mit der linken Vorderhand, fing sich dafür lieber einen Floh und steckte ihn in den Mund.

»Spielen, spielen, nicht kratzen«, hatte in diesem Augenblick der langhaarige Kapellmeister kommandiert, »eins zwei drei vier, eins zwei drei vier!«

Die Aufforderung schien wenig zu helfen, da aber gewahrten die beiden haarigen Klaviervirtuosen ihren kleinen Herrn und Meister, und nun wurde mit verdoppeltem Eifer das Versäumte nachgeholt, sie hämmerten mit sämtlichen Vorder- und Hinterpfoten drauflos, blickten aber dabei nach Affenart mit ängstlichen Gesichtern seitwärts nach Karlemann, nach dessen Peitsche.

»Aufhören!«, sagte Karlemann.

»Brrr«, machte der Kapellmeister, einen wenig musikalischtechnischen Ausdruck wählend, bei Affen aber schließlich ganz angebracht, und die Höllenmusik verstummte.

»Was ist denn da wieder los?! Die Saukerle spielen ja wieder wie die undressierten Schweine!«

»Ja, Herr Direktor, meine Schuld ist das nicht — der Max hat wieder zu viele Flöhe, und da denkt der Moritz, er kann sich auch mit kratzen.«

»Flöhe? Woher wissen Sie denn, dass der Max Flöhe hat?«

»Weil er sie immer fängt und mit den Zähnen knackt.«

»Das ist nur Einbildung, Vorspiegelung falscher Tatsachen!«

»Nein, Herr Direktor, sie huppen hier auf dem Klaviere herum.«

»Huppen sie? So so! Dann ist das keine Einbildung. Dann sind Sie entschuldigt, Herr Kapellmeister. Sie sollen gebadet und mit Insektenpulver eingespritzt werden — alle beide — und Sie auch gleich mit, Herr Kapellmeister. — Na, Jansen, was sagen Sie denn zu meiner allerneusten Attarakaktion?«

Ich hielt schon lange eine Säule umklammert, um vor Lachen nicht umzufallen. Wie dann der Herr Kapellmeister mit seinen beiden Schülern abrückte, jeden an einer Hand führend, wie die jetzt schnell das Kratzen nachholten — das trug nicht dazu bei, mich ernst zu stimmen.

Endlich brachte ich's doch fertig.

»Mensch, Junge, Karlemännchen — wie in aller Welt haben Sie das nur den Affen beigebracht?«

»Für einen Affen war das doch schon eine recht hübsche Leistung, was?«

»Für einen Affen, ja. Aber wie machen Sie denn das nur, dass ein Affe so etwas überhaupt begreift?!«

»Ach, mein bester Jansen, wenn Sie wüssten, was für Dresche diese armen Ludersch bekommen haben, eh die musikalisch wurden!«

Das war wiederum in einer Weise gesagt worden, dass ich vor Lachen bald umfiel.

Aber sonst verriet er mir das Geheimnis nicht, wie er dies den Affen beigebracht habe. Übrigens habe ich später noch einmal einen Menschenaffen gesehen, welcher ebenfalls ganz leidlich Klavier spielen konnte, einem Affen entsprechend.

Große Kunstleistungen kann man da natürlich nicht erwarten. Auch die Technik der Melodie dieser achthändig oder achtbeinig spielenden beiden Affen war im Grunde genommen ganz einfach. Es war für sie ein besonderes Musikstück geschrieben worden. Der oben machte nur immer bimbam bambim, und der am Baß machte dazu bambum, bumbam. Freilich ist das noch immer leichter gesagt als solchen Affen beigebracht, so klug sie sonst sein mögen.


Illustration

»Die treten heute Abend mit auf?«

»Nein, so weit sind sie noch nicht, und ich zeige nie Halbfertiges. Aber wenn das alles erst so weit ist — Jansen, ich freue mich selber auf die Gesichter des Publikums. Stellen Sie sich vor, wenn die beiden Kerls hereinkommen, als richtige Klaviervirtuosen, mit Frack und Lackschuhen, mit langen Haaren, der eine eine Brille auf der Nase, der andere einen Klemmer, wenn sie sich verbeugen, ihre weißen Handschuhe ausziehen, immer wieder Verbeugungen — und dann sitzen sie am Klavier, das Konzert geht los — und was sie hier nicht tun dürfen, das sollen sie in der Vorstellung machen — nämlich sich hin und wieder kratzen und Flöhe fangen — aber das muss alles auf Kommando geschehen, eigenen Willen gibt es hier bei mir an Bord überhaupt nicht, alles Dressur — und nun muss bei den Klaviervirtuosen während des Spielens doch immer wieder die Affennatur zum Durchbruch kommen — die bemausen sich gegenseitig — der eine zieht während des Spielens vorsichtig die Hinterpfote zurück und untersucht des anderen Fracktaschen, findet einen Apfel, eskamotiert diesen hinter dem Rücken in die andere Hinterpfote — so wird er auch vom anderen bemaust — und so geht das immer weiter, immer während des ernsthaftesten Spielens — Jansen, ich sage Ihnen, das Publikum soll auf dem Buckel liegen und vor Lachen Tränen weinen. Beim Erzählen klingt das nur nicht so.«

O ja, in meiner Phantasie konnte ich mir all diese Szenen lebhaft vorstellen, ich musste schon jetzt aus vollem Halse lachen. Hatte ich doch auch schon eine Probe zu sehen bekommen.

»Nun kommen Sie, ich will Ihnen meine anderen Attarakaktionen zeigen.«

Ich bekam noch vielerlei zu sehen, doch ich will weiter nichts schildern, es würde zu viel des Guten werden. Auch all meine Missgeburten sah ich wieder, und die Freude war groß.

»Haben Sie denn Ihre drei Frauen noch?«

»Nu, was dachten denn Sie? Oder meinen Sie, ob eine davon gestorben ist? Nee, bis jetzt noch nicht.«

»Also es geht ihnen gut?«

»Ei ja, die sind alle drei dick und fett... Bei dem Futter auch, was die ganze Menagerie hier bei mir bekommt! Hier ist ja gleich die eine, die Emma — eigentlich heißt sie Emalulolulimamumomi... und so geht es noch einige Kilometer weiter. Ich nenne sie einfach Emma. Das habe ich Ihnen wohl schon einmal gesagt.«

»Jawohl, das sagten Sie mir bereits einmal, und damals kannten Sie noch gar nicht den Namen Ihrer zweiten Gattin...«

»Meiner dritten, meinen Sie — es ist nämlich die zweite Tochter des Königs. Heern Se, den weeß 'ch heite noch nich. Schon bei der ersten Silbe breche ich mir die Zunge ab. Husten Sie mal, niesen Sie dabei recht kräftig, und sprechen Sie gleichzeitig das Wort Vitzliputzli aus. Dann haben Sie so ungefähr den Namen. Ich nenne sie einfach Dingsda.«

»Und Ihre erste Gemahlin, die Schwester des Königs?«, lachte ich immer wieder.

»Die wohnt hier.«

Wir standen gerade vor einer eisernen Tür, welche in die sonst hölzerne Wand des Korridors eingelassen worden war, und zwar eine unverschämt eiserne Tür, ganz der eines Panzerschranks entsprechend.

Karlemann zog einen umfangreichen Schlüsselbund hervor.

»Was? Sie halten sie wohl gefangen?!«

»Nee, nicht gerade gefangen, nur hinter Schloss und Riegel.«

Die Tür war offen — und dahinter zeigte sich eine zweite solche Panzertür — und als die auf war, kam noch eine dritte.

»Das habe ich mir erst machen lassen«, erklärte Karlemannn, als er sich anschickte, auch diese zu öffnen, »seitdem ich aber einmal bemerkt habe, dass es doch einen Menschenkopf gibt, der durch das Bullauge geht, habe ich sie verlegt, in einen ganz geschlossenen Raum. Jetzt hebe ich hier drin meine erste Frau auf, die Tatla.«

Noch ehe ich eine Frage stellen konnte, war die Tür schon auf, und ich sah in dem engen Raume, durch ein Bullauge erleuchtet, jene unmäßig dicke Negerin mit den beiden Elefantenzähnen auf einem großen Stuhle sitzen, dessen Form mir einen bekannten Eindruck machte — ich will es gleich sagen: es war ein Nachtstuhl — und durch den gewaltigen goldenen Ring, den sie in der Nase trug, den ich auch schon früher erwähnte, ging eine sehr starke, stählerne Kette, für eine Kuh berechnet, welche Kette wieder in der Wand schwer befestigt war.

Ich war starr. Das freundliche Grinsen, mit dem mir die Negerin entgegenblickte, konnte mich nicht beruhigen.

»Was hat die denn verbrochen?«, flüsterte ich.

»Verbrochen? Nischt. Das ist nur zur Sicherheit. Ach, mein lieber Jansen, ich habe schwere schwere Sorgen.«

Und Karlemännchen kratzte sich, wie vorhin der Affe, in den Kopfhaaren.

»Aber warum haben Sie sie denn so angeschlossen?«

»Nun, weil sie se mir mausen wollten.«

»Mausen? Entführen?«

»Jawohl. In New York. Ich will Ihnen die lange Geschichte gar nicht erst erzählen — kurz und gut, wäre ich nicht noch rechtzeitig dazugekommen, so hätten sie sie mir richtig ausgespannt, hier von Bord meines eigenen Schiffes. Das ist es ja eben, es gehen hier doch so viel fremde Menschen aus und ein, da schlagen auch keine Hunde mehr an. Zwei Kerle waren's. In der Nacht, gerade als die letzte Vorstellung alle war. Sie trugen einen großen Korb, hier durch diesen Korridor. So etwas fällt ja hier, wo egal so viele Requi — Requi — Requilisitäten hin und her getragen werden, gar nicht auf. Und alle meine Leute, diese dummen Ludersch, müssen blind gewesen sein. Dachten, die wären neu enschaniert worden. Na, ich hielt sie natürlich gleich an. Wie ich den Korb von dem Deckel zurückschlage, was meinen Sie wohl, wer in den Korb hineingepfropft ist?«

»Ihre Gattin hier?«

»Jawohl. Betäubt, koloformeriert ham se se. Und die beiden Lumiche hatten natürlich sofort Reißaus genommen. Und ich hatte nur eine Pistole bei mir, die mit Schweinsborsten geladen war, die ich immer gegen die Raubtiere gebrauche. Da konnte ich nischt weiter tun, als die Schweinsborsten dem einen in den Hintern schießen. Der schrie nur ›Autsch!!!‹ schlug die Hände hinten gegen die Hose — und dann waren sie alle beide verschwunden. Wir liegen doch immer dicht an Land.«

»Ja, weshalb wollten die denn aber Ihre Gattin entführen?«

»Nu, Sie wissen doch, dass die Schwester des Königs von Aschanti so wertvoll ist.«

»Wertvoll wieso?«

»Habe ich Ihnen denn das nicht schon damals erzählt?«

»Ach so — ja — aber Sie machten nur eine Andeutung — sprachen von drei Prozent — bei der drei brachen Sie ab — das brauche ich nicht zu wissen.«

»Jetzt können Sie es wissen. Das ist ja viel bekannter, als ich zuvor selbst glaubte. Es steht ja in allen Büchern. Das wissen Sie doch, dass der König zehn Prozent von allem Golde erhält, das im Aschantireiche gefunden wird?«

»Ja, das weiß ich.«

»Und ferner dass er jeden Häuptling beerbt?«

»Auch das. Wenigstens beerbt er ihn unter gewissen Umständen.«

»Ja, wenn er ihn mit Absicht einen Kopf kürzer macht. Und wissen Sie, wie viel Gold dadurch jährlich in die königliche Schatzkammer fließt?«

»Das ist mir allerdings unbekannt.«

»Jährlich mindestens hundert Zentner. Das wird dann zu goldnen Töppen verarbeitet, oder zu Panzern und zu solchem Mumpitz. Geld kennen sie ja dort nicht. Sonst wären das so rund vier Millionen Taler. Aber dieses Gold gehört nicht allein dem Könige.«

»Wem sonst noch?«

»Sagte ich Ihnen denn nicht schon, dass auch die Schwester des Königs mit neinzureden hat?«

»Ach ja, davon erzählten Sie mir schon.«

»Na, sehen Sie. Das heißt immer nur die älteste Schwester, die zuerst geborene Tochter. Und die bekommt nun von alledem dreißig Prozent.«

»Von diesem Golde?«

»Jawohl.«

»Sie sprachen aber erst nur von drei Prozent.«

»Dreißig. Da brach ich wahrscheinlich nur ab.«

»Und da haben Sie das ganze Gold, welches dieser Schwester gehörte, mitbekommen, als Sie sie heirateten?«

»Nee. Ich sagte Ihnen doch, welche Schwierigkeiten ich hatte, die Tatla zu bekommen. Seine beiden Töchter gab er mir gleich, aber bei der Schwester setzte er sich auf die Hinterbeine, wollte partout nicht. Erst bei dem Schiffchen ließ er locker, das wissen Sie ja. Aber ich musste auf den ganzen bisher angesammelten Goldschatz der Schwester verzichten. Nur von jetzt an bekomme ich die Prozente. Na, das sind im Jahre doch immer noch so mindestens hunderttausend Taler.«

»Und Sie meinen, deshalb hat man Ihre Frau entführen wollen?«

»Nu sicher. Das steht doch alles in den Büchern, was ich früher aber auch nicht gewusst habe. Das hat man doch außerdem nun alles schon erfahren, wie ich diese goldene Schwester geehelicht habe. Natürlich sind's Engländer, diese Lausewenzel elendiglichen. Die haben's doch überhaupt auf das Aschantireich abgesehen, wenn die nur so könnten, wie sie wollten! Ich habe nämlich schon drei, vier Briefe bekommen, immer aus England, für wie viel ich meine Frau, diese hier, verkaufen wolle, damit die das Gold immer einstecken können. Im letzten Schreiben wurden mir für sie 100 000 Pfund geboten. Hat sich was! Das sind ja noch nicht einmal fünfzehn Prozent von dem, was das Kapital abwirft.«

Mit Fremdwörtern haperte es bei den Jungen, aber in Geldsachen wusste er recht gut Bescheid.

»Sehen Sie«, fuhr Karlemann fort, »und da habe ich nun eben meine liebe Frau zur Sicherheit hier eingeschpunnt. Es gefällt ihr hier ganz gut. Sie hat frische Luft, sie sitzt auf'n Nachtstuhl, genug zu essen kriegt se, zu arbeiten braucht se ooch nich — was kann se denn mehr verlangen?«

»Aber warum haben Sie sie denn mit dem Nasenring an einer Kette befestigt?«, fragte ich, nachdem ich mein Lachen niedergekämpft hatte.

»Nu, weil der Ring die Hauptsache ist. Der Besitzer der Königsschwester muss sich doch legitimieren können, dass seine Frau auch wirklich diejenige ist, welche. Der Mann erbt doch auch. Nun allerdings legitimieren ja schon die beiden Stoßzähne. Aber die können ihr doch einmal eingehauen werden. Oder schließlich kann man doch auch bei einer anderen Negerin solche Hauer wachsen lassen, wenn das auch lange dauert, weil die Zähne schon beim Säugling so gezogen werden müssen. Aber der Ring, der Ring! Der ist nämlich inwendig graviert. Gucken Sie sich ihn mal an!«

Karlemann packte die Kuhkette und zog den Kopf seiner Ehehälfte zu sich heran.

»Sehen Sie die Zeichen?«

Ich hatte keine Lust, meine Nase mit den gefährlichen Elefantenzähnen in Berührung zu bringen, aber ich bejahte.

»Na also. Deshalb habe ich die Kette durch den Nasenring gezogen, und außerdem ist das doch gleich das Allereinfachste, um jemanden anzuketten, wenn er nun einmal einen Ring in der Nase hat — gerade wie bei 'nem Ochsen. Ja, mein lieber Jansen, ich möchte Ihnen überhaupt etwas raten.«

»Nun?«

»Ziehen Sie Ihrer Frau doch so'n Ring durch die Nase.«

»Was?!«, rief ich erstaunt.

»Sie sollen Ihrer Frau auch so'n Ring durch die Nase ziehen, um sie dran anzuketten, und zwar lieber 'nen eisernen.«

»Welcher Frau?«

»Nu, Ihrer.«

»Ich habe keine Frau!«

»Nu, dann Ihrer Geliebten. Hören Sie, wo haben Sie denn dieses Prachtstücke aufgegabelt?«

»Ach so — woher wissen Sie denn...«

»Nu, ich habe Sie doch heute Morgen spazieren gehen sehen, dann saßen Sie auch mit ihr in einem Hotel — ich hatte nur gerade keine Zeit, Sie anzusprechen. Hören Sie, das ist aber ein Prachtmädel! So was von einem Frauenzimmer habe ich weeß Knebbchen noch nicht gesehen. Ist die Ihre?«

»Ja«, musste ich zugeben, mein Lächeln verbeißend.

»Woher haben Sie die denn nur?«

»Das kann ich Ihnen jetzt nicht des Längeren schildern.«

»Mir auch ganz gleichgültig. Also die gehört wirklich Ihnen?«

»Jawohl, die gehört mir.«

»Verkoofen Se mir die?«

»Machen Sie keinen Unsinn, Karlemann!«

»Nee faktisch! Was woll'n Se denn dafür ham? Ich lass es mir einen guten Feng Geld kosten.«

»Ich bin kein Menschenhändler.«

»Aber ich.«

»Schämen Sie sich was!«

»Später mal, wenn ich Zeit dazu habe.«

Mit dem Jungen war ja doch nichts anzufangen. Überhaupt wusste man niemals, ob er nicht nur scherzte. Zuzutrauen war dem allerdings alles.

»Was würden Sie denn mit ihr machen?«

»Nu, ausstellen, ausstellen! So was von Schönheit hat ja die Welt noch gar nicht gesehen. Nur die Ohren würde ich ihr noch ein bisschen verstutzen. Nicht etwa, dass sie zu große Horchlöffel hat, aber... ich liebe gestutzte Ohren, ich coupiere allen meinen Hunden die Ohren.«

Wir hatten unterdessen die angekettete Lieblingsfrau wieder verlassen, dieses Ideal von einem Mustergatten und überhaupt Gemütsmenschen schloss eine Panzertür nach der anderen wieder zu.

Karlemann selbst fing nicht wieder von dem Menschenhandel an, dagegen war ich es, der wenigstens auf dasselbe Thema zurückkam.

»Weshalb soll ich ihr denn einen Ring durch die Nase ziehen?«

»Nu, damit Sie sie anketten können, so sicher wie möglich. Und dann gleich rin in den feuerfesten Panzerschrank!«

»Aber weshalb denn nur?«

»Nu, damit Sie sie sicher haben. Denn passen Sie auf, mein lieber Jansen, die spannt man Ihnen noch aus. So ein bildschönes Frauenzimmer findet Liebhaber genug.«

Ich starrte den altklugen Jungen an — und dann lachte ich sorglos.

Nein, an Bord meiner ›Sturmbraut‹ unter dem Schutze meiner Offiziere und meiner Jungen war Atlanta sicher, oder aber... die ganze ›Sturmbraut‹ ging mit ihr zugrunde.

Wir hatten uns in jene kleine, behagliche Kabine zurückbegeben.

»Nun will ich Ihnen einmal etwas vorsetzen, was Sie hier auch nicht erwartet haben«, sagte Karlemann, als er eine Weinflasche entkorkte.

Ich roch an dem eingeschenkten Glase — Waldmeister, Maitrank.

»Selbst gemacht?«

»Ja, aber den können Sie ruhig trinken, ich trinke ja selber mit. Denn meine Eier esse ich nicht etwa selber — ich werde mich hüten!«

Ich hatte ihm unrecht getan — wirklich ein famoser Stoff.

»Ja, Sorgen, Sorgen«, begann Karlemann abermals, sich wieder in den Haaren kratzend.

»Was denn nur für Sorgen?«

»Warten Sie mal erst — was wollen Sie jetzt machen? Sich doch natürlich einen Kaperbrief ausstellen lassen.«

Ich verneinte, setzte ihm meine politischen Gründe auseinander.

»Ganz meine Ansicht. Bleiben Sie neutral. Immer nur den ausnehmen, der das meiste Geld hat.«

»So war meine Neutralität nun allerdings nicht gemeint.«

»Was haben Sie sonst vor?«

Ein gewisses, undefinierbares Schamgefühl hielt mich ab, diesem Knaben meine soliden Passagierdampferpläne zu offenbaren. Ich hätte eben jetzt noch nichts besonderes vor.

»Machen wir Kumpe.«

»Schon wieder mal?«

»Dass immer nichts daraus geworden, ist doch nur Ihre Schuld gewesen.«

»Und um was handelt es sich diesmal?«

Ich will es kurz machen: der ›Karbunkel‹ sollte sich während des Krieges in ein Marketenderschiff verwandeln. Wie das zu verstehen ist, wird später ausführlicher geschildert. Dabei immer noch Vorstellungen geben.

»Wozu brauchen Sie mich denn da?«

Als Schutz. Karlemann schlug mir vor, nach Liberia zu fahren und die Flagge dieser Republik anzunehmen, deren Neutralität mir absoluten Schutz gewährte.

Dann sollte ich gleich einmal nachsehen, wie es auf seiner Felsenburg zuging. Denn das war die Sorge, welche meinen kleinen Freund peinigte.

Karlemann hatte nämlich erfahren, wie gerade jetzt das unersättliche England starke Annektionslüste auf das Aschantireich habe, und zunächst habe man es auf die Leuchtturminsel abgesehen, England wolle den Vertrag, den der Aschantikönig Aquassi Aquatuh mit einem unmündigen Knaben abgeschlossen hatte, nicht gelten lassen.

Kurz und gut, Karlemann wollte sich diesmal mit mir verbünden, um einen energischen Genossen mit gleichen Interessen zu haben. Also sollte ich auch die Hälfte von allem haben, was er sich bisher erworben hatte und was er fernerhin verdienen würde, und es waren ganz horrende Summen, sagen wir gleich fabelhafte Schätze, die er mir vorrechnete.

Da aus alledem nichts wurde, so gebe ich den Inhalt unseres Gespräches, welches hierüber noch länger als zwei Stunden währte, in solcher Kürze wieder.

Trotzdem schieden wir dann als die besten Freunde — Karlemann gab mir sogar noch ein Freibillett erster Güte für Atlanta mit.

»Nein, Karlemann, so leid es mir tut — aber ich will diesem abenteuerlichen, unsicheren Leben endlich den Rücken wenden. Auch mit diesem ganzen amerikanischen Bürgerkriege will ich nichts zu tun haben. Sobald meine ›Sturmbraut‹ seeklar ist, segle ich ab. Ich werde ein solider Handelskapitän.«

Das war mein letztes Wort gewesen, als ich mich von ihm verabschiedete.

Ach, ich armer Narr!

Aber konnte ich es denn ahnen?

Mit des Geschickes Mächten ist kein ew'ger Bund zu flechten.

— • —

83. Kapitel
Noch ein Wiedersehen

Originalseiten III.342 — 357

Das hölzerne Amphitheater hatte sich gefüllt. Die Abenteurer aller Nationen waren es, welche die Plätze einnahmen.

Ich sage nicht ›Abenteurer aller Nationen‹, sondern ›die Abenteurer‹.

Denn wer damals irgendwo in der Welt noch etwas Tatendrang hatte, der ging nach Amerika, um mit den Südstaaten, der Konföderation, gegen die Nordstaaten, die Union, zu kämpfen.

Allein Deutschland hatte eine Ausnahme gemacht. Das ist ganz wunderbar. Doch Deutschland hat damals all seine Glücksritter und verkrachten Existenzen, darunter aber auch manch gediegenen Offizier, der Union zu Hilfe geschickt — und nicht zum Wenigsten haben durch diese die Nordstaaten triumphiert — was damals nämlich niemand, niemand vermutet hätte. Eigentlich war der Sieg von vornherein auf Seiten der Konföderierten, denn diese hatten viel mehr Truppen, viel mehr Geld und was sonst noch zum Kriegführen gehört. Nur die Kriegsschiffe fehlten ihnen, die aber reichlich durch die zahllosen Kaperschiffe ersetzt wurden, die sich der Konföderation zur Verfügung stellten.

Eine traurige Rolle hat damals England gespielt.

Als Urheber der Sklavenemanzipation musste es natürlich auf Seiten der Union stehen. Dem Äußeren nach, um den Respekt zu wahren.

England hat der Union, als dort alles brach lag, ununterbrochen Getreide geschickt, hat sie reichlich mit Geld unterstützt.

Dasselbe England aber rüstete gegen die Union Kaperschiffe aus, welche die eigenen Getreideschiffe und das Geld wegnehmen mussten.

Man zählt nicht weniger als achtundfünfzig englische Lords, Grafen, Barone und Baronets, welche damals als Kaper, sagen wir gleich als Seeräuber, gegen die Union gezogen sind.

Und die Seeoffiziere, welche damals die englische Marine verließen, um in den Dienst der Konföderation zu treten, sind gar nicht zu zählen. Sie wurden gewissermaßen nur beurlaubt; denn wer dann noch lebte, wurde in allen Ehren wieder aufgenommen.

Ein Kaperschiff auszurüsten, das kostet Geld. Solch ein Schiff, das nicht versichert werden kann, muss doch auch erst bar gekauft werden.

Aber die Abenteurer brauchten nicht zusammenzuschießen — vorausgesetzt, dass sie überhaupt etwas zum Schießen hatten — um sich gemeinsam ein Schiff zu kaufen.

In England flossen ihnen von allen Seiten Geldmittel zu, so viel sie wollten oder doch brauchten, und sie wussten gar nicht, woher das Geld kam.

Wenn da ein tüchtiger Seeoffizier die Absicht aussprach, einen Kaper gegen die Union ausrüsten zu wollen, so konnte er sicher sein, dass ihm am andern Tag auf geheimnisvolle Weise ein Scheckbuch zugestellt wurde — so und so viel Kredit — nun konnte er sich ausrüsten.

Ein tüchtiger, bekannter Seeoffizier oder Jachtsportsman musste es natürlich sein. Ein Hanswurst von einem Jachtsportsman, der nur hin und wieder einmal ein geteertes Tau gerochen, sprach diesen Wunsch selbstverständlich umsonst aus. Solche Fatzken haben ja aber gewöhnlich das meiste Geld, die rüsteten dann auf eigene Kosten einen Kaper aus und stellten als Kommandanten einen tüchtigen Kapitän an, oder einen fixen Sportsman, der eben nichts hatte.

So kannte ich persönlich einen englischen Baron William Dudley, genannt Sailorbill, Matrosenwilhelm, ein total verlumpter Kerl, nicht einmal mehr Knöpfe an der Hose, den Riemen versaufend, nur noch einen Strick um den Leib gebunden. Aber den Wind, den ein anderer guter Seemann in der Nase hat, den hatte dieser Kerl im kleinen Finger. Der beste Boots- und Jachtsteuerer, den es je gegeben. Bei jeder Regatta war er der Mann an der Spitze. Natürlich übernahm er nicht das erste beste Boot. Segelte die Jacht des Prinzen von Wales mit, so steuerte er diese. Das Geld, das er dafür erhielt, doch eine bedeutende Summe, wurde noch in derselben Nacht verwichst, und dann versoff er noch Stiefel und Hemd dazu, und das ist wörtlich zu nehmen. In so einer irischen Budike zog er für ein Glas Whisky sein Hemd aus.

Dieser Baron William Dudley also erhielt damals von unbekannter Seite die ›Flirt‹ zur Verfügung gestellt, die herrlichste Jacht, die vielleicht vom Stapel gelaufen ist, im amerikanischen Kriege besonders dadurch berühmt geworden, dass das kleine Fahrzeug den Kampf mit dem amerikanischen Panzerkoloss ›Anahuac‹ aufnahm und diesen bald zum Sinken gebracht hätte, und dass es dann die Blockade von New Orleans brach. Allerdings nicht mehr unter Dudleys Führung, da hatte der sich schon totgesoffen. Immerhin, diesem Kerl hatte man die wertvolle Jacht zur Verfügung gestellt, um mit ihr gegen die Union zu kämpfen, und außerdem erhielt er 10 000 Pfund, um sie kriegstüchtig auszurüsten.

Woher dieser förmliche Hass Englands gegen die Nordstaaten? Jawohl, das war ein ehrlicher Hass. Nun, Nordamerika war doch einst eine Kolonie von England gewesen, die sich unabhängig gemacht hatte. Den Südstaaten hatte man unterdessen schon verziehen, die produzieren ja doch nur Getreide und Baumwolle — aber die industriellen Nordstaaten drohten hauptsächlich mit ihren Eisen- und Stahlerzeugnissen dem bisher hierin allmächtigen England den Weltmarkt streitig zu machen. Das konnte dieses nie verzeihen.

Was aber von England, das galt auch von Spanien — nur nicht in handelswirtschaftlicher, sondern in religiöser Hinsicht. Auch Spanien hat einst die Oberhoheit über ganz Amerika gehabt, in Amerika hatte der Katholizismus geherrscht.

Jetzt sind nur noch die Südstaaten katholisch, die ja überhaupt stark mit dem spanischen Element durchsetzt sind.

Hier war es die Kirche, waren es die Pfaffen, hauptsächlich die Jesuiten, welche spanischen seetüchtigen Abenteurern die Mittel dazu gaben, sich einen eigenen Kaper auszurüsten. Jedes Kloster stellte seinen eigenen Kaper zum Kampf gegen die ungläubigen Yankees.

Daher also neben den englischen auch so viele spanische Physiognomien. Dann aber auch italienische, griechische, russische und allerdings auch einige deutsche, wahre Räubergesichter.

Denn zur Elite der Menschheit gehörten diese natürlich nicht, welche ausgezogen waren, nicht nur, um gegen Kriegsschiffe zu feuern, sie mindestens zu beunruhigen, sondern um auch friedliche Handelsschiffe zu überfallen, die Mannschaft abzuschlachten, und natürlich die Hauptsache: um Beute zu machen, welche ihnen dann von der Konföderation zum festen Marktpreis abgekauft wurde. Außerdem erhielt der Kaper für jede Heldentat ein festgesetztes Prisengeld, eine Prämie, und das genommene Schiff gehörte natürlich auch ihm.

Es ist merkwürdig. Auch ich bin ein Abenteurer gewesen — und was für einer! — und ich bin noch viel mehr als nur ein Kaper gewesen — aber auf meinem Gesicht hat sich nicht der Stempel abgedrückt, der hier allüberall so deutlich hervortrat.

Lustig gelebt und selig gestorben! Nicht selig? Na, dann lustig zur Hölle gefahren! Was ist der Mensch? Ein Erdenwurm. Tritt den Wurm tot, es gibt ja noch genug von ihnen. Blut und Mord — nur Geld in die Tasche bekommen! Morgen sind vielleicht auch wir tot.

Wie deutlich stand das all diesen Gesichtern auf der Stirn geschrieben — und darunter bildschöne, hochedle Männerköpfe — aber allüberall der furchtbare Ausdruck der todverachtenden Wildheit, die dem Teufel sowohl wie dem lieben Gott zu Leibe rückte, wenn man ihm mit der Pistole etwas abnehmen könnte.

Selbst in den blasierten, aber energischen Gesichtern der kalten, zähen Engländer konnte ich all dies lesen, mochte es auch noch so versteckt sein.

Ja, es waren Männer, all die Hunderte, die sich hier zum Raubzuge zusammengefunden hatten, Männer im vollsten Sinne des Wortes — aber auch im furchtbarsten Sinne.

Und all diese Hunderte von verwegenen Abenteurergesichtern waren auf mich gerichtet, und dann noch die mindestens tausend anderen Augenpaare, Bürgern der Stadt gehörend, und dann nicht minder geschminkten Frauenzimmern, welche diese Abenteurer begleiteten wie in früheren Zeiten die Scharen der Landsknechte und noch heute die russischen Kriegsheere.

Mir galten all diese Blicke? Mir, dem zukünftigen Blockadebrecher?

Nein, auf solch einen Gedanken kam ich gar nicht, dazu war ich viel zu bescheiden — oder über so etwas viel zu erhaben, will ich lieber sagen.

Nein, meiner Begleiterin galten sie, Atlanta, und darauf war ich stolz. Aber ich hatte sie auch herausstaffiert!

Ja, ich war stolz!

Diese lüsternen Blicke, diese begehrlichen Augen in den Abenteurergesichtern! Doch das konnte mich nicht beleidigen. Ganz im Gegenteil! Ich hatte meine Freude dran.

»Jawohl, immer guckt nur. Nicht wahr, so was von einem schönen Weibe habt ihr noch nicht gesehen? Und die gehört mir, mir ganz allein — und ihr könnt euch die Näs putzen.«

Auch einige Uniformen waren vertreten. Darunter fiel mir besonders ein Mann in der Uniform eines Colonels auf, eines Obersten. Es war ein prächtiger Kerl mit schönem Männerkopfe, so stolz und gelassen. Und was mir am allermeisten auffiel, das war, dass er nicht so wie alle anderen mit begehrlichen Augen nach mir oder vielmehr nach Atlanta blickte, sondern immer mit einem spöttischen oder sogar verächtlichen Lächeln, und dann neigte er sich zu der Dame an seiner Seite, flüsterte mit ihr, und dann blickte er wieder mit einem so spöttischen Lächeln nach uns herüber.

Was zum Henker hatte der Kerl so verächtlich zu grinsen?!

»Können Sie mir vielleicht sagen, wer der Offizier ist in der Oberstenuniform — da, jetzt putzt er sich gerade die Nase.«

Mit dieser Frage wandte ich mich an meine Nachbarin zur Linken, ein Weibsbild, die in mindestens dreißig Meter Seide gewickelt war, obgleich sie oben gar nichts anhatte, und die nun schon seit einer Viertelstunde mit ihrem Lackschuh auf meinem Stiefel herumtrampelte.

»Das wissen Sie nicht?«, flötete sie, und ich dachte erst, jetzt würde sie mir um den Hals fallen, so schnell wandte sie sich mir zu.

»Nee, sonst würde ich doch nicht erst fragen.«

»Das ist Colonel Mac Pierson, der Stadt- und Festungskommandant von Charleston.«

So, nun wusste ich es. Was hatte der Kerl nur so verächtlich zu feixen? Weil man mich schon zum Blockadebrecher gemacht hatte? Konnte ich denn etwas dafür?

Da mit einem Male schrie meine Nachbarin zur Linken ›juuuuiihhh aaahhh‹ — und fiel mir mit dem Oberleibe in den Schoß — und noch hundert andere Weiber quiekten und stöhnten und wurden zum Teil ohnmächtig... nämlich der Kanonenschuss war gefallen, der den Anfang der Vorstellung verkündete.

Das Rundteil senkte sich und hob sich wieder, ein allgemeines Aaaahhhh...

Ich aber sah und hörte nichts mehr, kann nichts von der ganzen Vorstellung erzählen.

Ich sah nur mit starren Augen seitwärts, denn — bei allem, was lebte! — dort saß... Blodwen!!

O, war mir das fatal! Denn auch sie hatte für nichts anderes Auge als nur für uns beide.

O, war mir das fatal! Wie gern wäre ich mit in die Versenkung hinabgerutscht, samt Atlanta.

»Sieh nur, sieh nur, Richard!«, sagte diese in einem fort.

Aber ich sah nichts. Wenn ich auch in die Manege blicken mochte — ich sah doch immer nur die forschenden Augen Blodwens auf mich gerichtet.

Das arme Weib! Was die jetzt wohl dachte!

Ich machte noch einmal die ganzen letzten zwei Jahre durch, von da an, als ich den weißen Ochsen niedergestochen hatte.

Ach, wäre mir doch dieser weiße Ochse nicht in den Weg gekommen! Ich hatte dem Vieh doch gar nichts getan!

Bei Thor und Odin!

Du stolzes England freue dich,

Dein König geht und kämpft für dich,

Dein König, dein König, der Richard Löwenherz.

So gaukelte es mir vor den Augen und summte es mir in den Ohren.

Das arme, arme Weib!

Musste die gerade hier sein und mich mit der anderen sehen! Musste vielleicht oder jedenfalls Vergleiche ziehen zwischen sich und Atlanta.

O Gott, o Gott, wenn die Vorstellung doch nur endlich zu Ende wäre! Hier gab's ja kein Durchkommen!

Heute wurde auch keine Pause gemacht. — —

Na, endlich pilgerte ich mit Atlanta durch die Straßen meinem Schiffe zu.

»Hier sind Briefe für den Herrn Kapitän abgegeben worden, und die hier kamen durch die Post«, sagte Mahlsdorf.

»Wat?!«

Ich stierte fassunglos auf die beiden großen Körbe, bis an den Rand mit Briefen gefüllt.

»Hundertzweiundsiebzig durch Boten und zweihundertunddreizehn durch die Post«, fing jetzt Mahlsdorf zu lachen an.

Na ja, jetzt wusste ich — der berühmte Blockadebrecher — Einladungen zu politischen Gesellschaften und zu friedlicheren Zusammenkünften.

»Herr Kapitän verzeihen«, fuhr Mahlsdorf ernst fort, ein Briefchen aus der Tasche ziehend, »dies hier habe ich zurückbehalten, um es Ihnen persönlich zu geben — ein Negerjunge brachte es — und die Handschrift kam mir so bekannt vor...«

Ja, mir auch. Ich riss das Kuvert auf. Auch das Parfüm kannte ich — ach, so gut!


Herrn Kapitän Richard Jansen.

Haben Sie, bitte, die Güte, mich heute Nacht noch im Hotel Henry aufsuchen zu wollen. Es handelt sich um eine geschäftliche Auseinandersetzung. Da ich schon morgen von hier abreise, werden Sie mir die Bitte nicht abschlagen.

Ich bin hochachtungsvoll

Blodwen Lady von Leytenstone.


»Wann brachte der Bote den Brief?«

»Sieben Uhr fünfundzwanzig Minuten, Sie waren schon unterwegs nach dem Zirkusschiff.«

Dann musste Blodwen ihn auch schon vorher abgeschickt haben, ehe sie mich gesehen hatte, d. h. im Zirkus.

Mein Entschluss war gefasst. Ein Nichtkommen wäre einfach Feigheit gewesen.

»Hier ladet mich Lady Blodwen zu einer Zusammenkunft ein.«

»Sie haben den Brief laut vorgelesen, Herr Kapitän.«

»So? Nun, ich werde gehen.«

»Kapitän!!«, rief Mahlsdorf erschrocken.

»Na was denn?«

»Sie werden — Sie können — dieses Weib — nach jener Szene...«

»Kann mich niederschießen«, ergänzte ich. »Well, ich bin darauf gefasst. Wenn nicht jetzt, dann würde Sie mich eben ein andermal niederknallen oder mir Vitriol ins Gesicht gießen oder so was Ähnliches. Lieber gleich! Ich gehe. Haben Sie nur gut Obacht auf Atlanta, dass die nicht etwa Vitriol ins Gesicht bekommt. Nein, ein Verstecken gibt's bei mir nicht, nicht für meine Person.«

Und ich ging.

Eine Viertelstunde später stand ich ihr im Hotelzimmer gegenüber.

Sie war ganz ruhig, ich war ganz ruhig.

»Herr Kapitän!«

»Mylady?«

»Es handelt sich um eine Auseinandersetzung.«

»Das schrieben Sie mir schon, und ich bin gekommen.«

»Jeden Tag kann zwischen der Konföderation und der Union der Krieg ausbrechen.«

»Leider.«

»Welche Stellung nehmen Sie in diesem Kampfe?«

»Gar keine.«

»Nicht? Sie sind doch auf Seiten der Konföderierten?«

»Durchaus nicht. Ich bleibe ganz neutral.«

»Man feiert Sie doch schon als den zukünftigen Blockadebrecher.«

»Ganz gegen meinen Willen. Man will mir eine Rolle zuschieben, aber ich werde sie nicht spielen. Sobald mein Mast eingesetzt und mein Schiff abgeklopft ist, segle ich ab.«

»Wohin?«

»Nach einer Gegend, wo es keinen Krieg gibt.«

Sie nickte langsam.

»Ich dachte es mir«, sagte sie einfach. »Aber«, fuhr sie lebhafter fort, »auf welcher Seite ich kämpfe, das werden Sie wohl wissen.«

»Da Ihre Heimat New York ist, so wohl für die Union.«

»Heimat?«, wiederholte sie verächtlich. »Ich habe keine Heimat mehr, oder ich habe mir eine solche erst wieder geschaffen, mein eigenes Königreich. Aber wissen Sie, wer sich hier aufhält?«

»Ich habe den Baron Ralph hier gesehen, und den dürften Sie wohl meinen.«

»Und den Lord Hektor, und den Lord James, und die Lady Marion«, kam es zischend hervor, wie sie überhaupt nach und nach immer mehr ihre anfängliche Ruhe verlor. »Und sie alle, alle haben einen Kaper ausgerüstet — und das gibt bei mir den Ausschlag — die Hunde, die mir das Erbteil meines Vaters stahlen!«

In diesem Augenblick begriff ich nicht, wie ich dieses Weib jemals lieben, liebenswürdig finden konnte.

Es war einfach hässlich, widerwärtig in seinem hervorbrechenden Hass.

»Ich denke, Sie haben sich mit ihnen in Güte auseinandergesetzt?«

»In Güte? Hahahaha! Abgegaunert haben sie es mir!«

»Damals aber sprachen Sie ganz anders.«

Ihre Verlegenheit war unverkennbar.

»Ja«, sagte sie dann rasch, »damals glaubte ich, ich hätte mein Vermögen der englischen Krone abgetreten.«

»Nun, ist das nicht zum Teil der Fall?«

»Nein! Nein!!!«, rief sie mit Heftigkeit. »Man hat es mich glauben gemacht, dass ich hauptsächlich gegen die englische Regierung prozessiere, dass jene Halunken nur einen ganz geringen Anteil dabei hätten — da ich aber nun freiwillig verzichtet habe, stellt sich heraus, dass die englische Krone überhaupt gänzlich zurücktritt, nicht den geringsten Anspruch auf mein Erbteil macht, und dass es nur diese Spitzbuben sind, welche mein ganzes Vermögen unbehindert zwischen sich geteilt haben.«

Das war mir ganz neu. Aber ich konnte es begreifen. Ein echt englisches Manöver.

»Das heißt mit anderen Worten: Den Verwandten Ihres Gatten hätten Sie Ihr Vermögen nicht abgetreten?«

»Nie! Niemals!!«

Also nur ein rein persönlicher Hass, allein den Verwandten ihres Mannes geltend, der sie einst geprügelt, oder vielmehr diesem selbst noch nach seinem Tode geltend.

O, diese Engländer sind doch schlau, und keine Gesellschaft ist fester zusammengeschweißt als der englische Adel.

In gewissem Sinne bedauerte ich dieses Weib, Für meine Begriffe freilich, der ich niemals etwas von nachtragendem Hasse gewusst habe, konnte ich nicht recht den Unterschied einsehen.

Meine Toleranz ging so weit, dass ich Blodwens Wut jetzt nicht mehr widerwärtig fand, ich konnte mich eben in die Seele dieses launenhaften Weibes hineindenken, für welche Launenhaftigkeit sie meiner Ansicht nach ja gar nichts konnte, daran war ihre ganze Erziehung schuld, und... ich hatte sie ja einst geliebt, so heiß geliebt!

Da fiel mir ihr verändertes Betragen auf. Ahnte sie, empfand sie meine ihr geltenden Gedanken?

Wie ihr Gesicht, so verwandelte sich ihre ganze Haltung, sie begann nervös mit ihrem Spitzentuche zu spielen.

Schon ahnte mir Schlimmes — das Schlimmste, was mir hier begegnen konnte.

»Richard...«

Furchtbar erschrocken zuckte ich zusammen. Meine schlimme Ahnung war schon in Erfüllung gegangen. Nur auf diese Weise durfte sie mich nicht nehmen, nur auf diese nicht! Wenn sie ihre herrlichen, blauen Augen nur nicht so bittend jetzt auf mich gerichtet hätte!

Doch noch konnte ich mich beherrschen, so weit war es ja noch nicht.

»Mylady?«, fragte ich kühl zurück.

»Ich habe — habe — dich — Sie — damals so furchtbar beleidigt.«

»Das ist schon längst verziehen, wenn Sie nicht überhaupt recht gehabt hätten.«

»Nein — nein — ich hatte schlecht gehandelt — aber das war ja gar nicht so gemeint gewesen — und du — Sie kennen doch — meinen unglücklichen Charakter.«

Angstvoll waren ihre blauen Kinderaugen auf mich gerichtet, während sie das Spitzentuch in ihren Händen drehte.

Ach, wenn sie mir nur nicht so gekommen wäre! Gegen so etwas war ich nicht gewappnet. Da war ich wie ein kleines Kind, von dem es heißt, dass ihm das Himmelreich sein soll.

Ich hätte jetzt sagen sollen, dass ich ihr auch noch die goldene Uhr ersetzen würde, die ich damals auf der Osterinsel an der Felswand zerschmettert hatte — das hätte wie eine Schutzmauer gegen meine Schwäche gewirkt. Aber dessen war ich eben nicht fähig.

»Ist das die geschäftliche Auseinandersetzung, die Sie mir geben wollten?«, fragte ich statt dessen.

»Ja — ja — Richard — wer ist das Weib, welches du bei dir an Bord hast?«

Da war es! Nun aber bei der Wahrheit geblieben!

»Ein unglückliches Weib, das ich in der Südsee an Bord eines Piratenschiffes fand.«

»Unglücklich? Wie kann jemand unglücklich sein, den du liebst?«

»Wohl, so habe ich sie glücklich gemacht.«

Es war heraus. Nun mochte es kommen, wie es wollte.

Und da plötzlich geschah das völlig Unerwartete — da plötzlich lag die stolze Blodwen zu meinen Füßen und umklammerte meine Knie.


Illustration

»So lass mich wenigstens deine Liebe mit ihr teilen!«, erklang es in herzzerreißendstem Tone.

O, nur das hätte nicht kommen sollen!! Ich konnte mich nicht freimachen von ihr, ich war ja schon so gut wie gefangen.

Da zum Glück erhob sie sich selbst wieder, sie trat zurück, und wieder war sie eine ganz andere, hochaufgerichtet stand sie vor mir, stolz wie eine Königin, maßlos stolz auch die Züge, und dennoch leuchtete es darin wie jubelndes Glück, und so klang auch ihre Stimme.

»O nein, Herr Kapitän Jansen, o nein, ich teile mit keinem anderen Weibe meine oder Ihre Liebe, ich will den, den ich liebe, ganz allein haben!!«

Ich war fassungslos. Was sollte dieses Spiel? Und wie sie dastand! Wie sie so jubelnd sprach!

»Mylady...«

»Schweig, Richard! Ich wollte dir nur einen Beweis geben, dass ich nicht zu stolz bin, um zu deinen Füßen zu liegen — zweifelst du noch daran, dass ich dich wirklich liebe?«

Meine Fassungslosigkeit blieb. Dieses Weib war eben unberechenbar.

»Immer gehen Sie zurück zu diesem wunderschönen Weibe«, fuhr sie mit lachendem Munde fort, aber mit fröhlich lachendem, »die fürchte ich nicht, das ist keine Nebenbuhlerin für mich. Denn dieses Weib hat ja gar keine Seele. Immer führen Sie sie spazieren — renommieren Sie mit ihr, so wie man auf einen schönen, kostbaren Hund stolz ist — denn nichts anderes als solch ein Renommierhund bedeutet dieses Weib für Sie...«

»Blodwen!!!«, schrie ich auf, selbst noch gar nicht wissend, eine wie furchtbare Wahrheit sie mir förmlich aus dem Herzen zog, diese Wahrheit zunächst nur mehr ahnend.

»Es ist so, wie ich sage!! Diese wunderschöne Puppe fürchte ich nicht!! Und was uns beide anbetrifft — Richard, da ich dich verloren habe, so werde ich dich zurückerobern — bei Thor und Odin, ich gewinne deine Liebe wieder — wir beide gehören zusammen — vielleicht nicht im Glück, wohl aber zusammen in Not und Tod — bei Thor und Odin!!«

Die erhobene Hand schüttelnd, hatte sie es gerufen, mit jubelndem Munde, und ich... war plötzlich draußen auf der Straße in der finsteren Nacht.

Wie ich hinausgekommen, weshalb ich so plötzlich davongestürzt war, weiß ich nicht.

Wie mir zumute war, kann ich nicht schildern.

»Bei Thor und Odin, wir beide gehören zusammen, bei Thor und Odin!!«

Nichts anderes klang in meinen Ohren.

Und ich sah sie so hochaufgerichtet vor mir stehen, mit blitzenden Augen und lachendem Munde, diese Worte rufend.

Ich hatte eine Prophetin gesehen.

— • —

84. Kapitel
Noch etwas anderes als ein Blockadebrecher!

Originalseiten III.357 — 375

Schon nach vier Tagen war mein Schiff fertig, konnte das Trockendock verlassen. Ein bestimmtes Ziel hatte ich noch immer nicht, doch konnte jetzt nur noch ein europäischer Hafen in Betracht kommen. Ich brauchte sowieso Kohlen, so nahm ich sie gleich als Fracht ein, das ganze Schiff voll. Denn Kohlen waren jetzt hier außerordentlich billig zu haben, weil Spekulanten eine Unmenge amerikanischer Kohlen hierher gebracht hatten, in der Hoffnung, es würden auch hier zahlreiche Dampfer zusammenkommen, während die Kaper fast ausschließlich Segler waren. So konnte ich selbst noch in einem europäischen Hafen ein gutes Geschäft machen. Also, ich war trotz Tischkoffs Spottes immer wieder bei Kohlen angelangt.

Mit Tischkoff selbst war über so etwas nicht zu reden. Eine Unterhaltung mit ihm kam nur zustande, wenn er selbst es wollte, und dann lag stets ein triftiger Grund vor.

Meines Kommodores Charakter hatte ich nun überhaupt erkannt, d. h., in welcher Eigenschaft er sich bei mir aufhielt.

Er war ganz einfach ein Gelehrter, der sich von aller Welt zurückziehen wollte, was man doch nirgends so gut kann, wenn man dabei nichts vermissen will, wie an Bord des Schiffes.

Auch ich hatte zufällig einmal einen Blick in einen solchen dicken, in Schweinsleder gebundenen Folianten getan, mit denen seine ganze Kabine vollgepfropft war.

Es waren geschriebene Hieroglyphen. Sie hatten einige Ähnlichkeit mit Sanskrit, von dem ich eine kleine Ahnung habe, aber doch wieder anders. Ich vermutete eher, dass es Tolua sei, die ausgestorbene Ursprache der alten Malaien, die noch früher auch die Japaner gehabt haben, vielleicht noch älter als das Sanskrit, welches den Gelehrten noch heute so viel Kopfschmerzen macht, weil die Zeichen beständig wechseln und manchmal für jede Zeile ein neuer Schlüssel gefunden werden muss.

Diese uralten, doch jedenfalls echten ToluaSchriften, hauptsächliche Priestergeheimnisse, aber auch die ganze Literatur und Poesie eines ausgestorbenen Volkes enthaltend, waren in dieses Mannes Besitz gekommen, er übersetzte sie. Dem widmete er sein ganzes Leben, seine ganze Gedankenkraft, hatte für gar nichts Interesse mehr, zu diesem Studium war ihm ein Schiff eben einsam genug, und als Dank dafür unterstützte mich der ehemalige Kapitän, der er doch sicher war, aus dem reichen Schatze seiner gesammelten Erfahrungen. Meine Sicherheit oder die Sicherheit des Schiffes war ja seine eigene. Aber was wir sonst trieben, wohin wir segelten, das war ihm alles gleichgültig, wenn er nur in seiner Arbeit nicht gestört wurde.

Freilich, welches Geheimnis sonst mit diesem Manne verbunden war, die Tätowierung auf dem Kopfe wie am ganzen Körper, und manch anderes noch, vor allen Dingen auch sein zeitweiliger Starrkrampf oder gar Scheintod, das würde mir wohl immer ein Rätsel bleiben.

Sonst aber, mit nüchternem Auge betrachtet, war gar nichts Besonders an ihm. ›Nur mich in Ruhe lassen, mehr verlange ich gar nicht!‹

Auch über unseren Klabautermann war mir unterdessen etwas klar geworden.

Der alte Holländer war tatsächlich wieder zum Kinde geworden, oder sagen wir eben: Er war vor Altersschwäche blödsinnig geworden — aber seine Erinnerung erwachte wieder, er lebte wieder auf, sobald er in einer anderen Sprache angeredet wurde, und das war eben das Tolua.

Sobald Tischkoff den alten Mann, der nach wie vor rauchend auf seiner Kleiderkiste saß, ansprach, wurde er lebendig, gab Antwort.

Solche Fälle hat man so häufig, dass Geistesschwache nur auf eine besondere Sprache reagieren, die sie etwa in der Jugend geredet haben — da kehrt bei ihnen eben plötzlich auch die Jugendzeit wieder zurück. Ich hatte schon einmal solch einen Fall erlebt, bei einem alten Irländer, der sonst vollständig blödsinnig war, aber sofort wieder ganz vernünftig zu werden schien, wenn er mit dem jetzt fast völlig erloschenen Irländisch oder Irisch angeredet wurde.

Wenn ich mir das nun alles recht überlegte, so konnte wohl möglich sein, dass der geheimnisvolle Tischkoff nur deshalb zu mir an Bord gekommen war, mich deshalb damals aus dem Gefängnis von Portland befreit hatte, weil bei mir an Bord der alte Holländer war, welcher die ToluaSprache beherrschte. Die Holländer haben ja von jeher auf dem malaiischen Archipel zu tun gehabt, auch dieser Alte in Schnallenschuhen mochte ein Gelehrter, ein Sprachenforscher gewesen sein.

So verschwand der Klabautermann noch oftmals in Tischkoffs Kajüte, wo er sich nach des Stewards Bericht ganz vernünftig unterhalten konnte, allerdings unverständlich für uns.

Das ganze, große Geheimnis, welches hinter alledem steckte, das konnte ich mir freilich nicht enträtseln, doch zerbrach ich mir darüber nicht den Kopf.

Mensch, halte fest, was du hast, — — und nimm, was du kriegen kannst.

Hiermit seien wieder einmal die beiden Personen erledigt, die nun einmal zu meinem Schiffe zu gehören schienen wie der Tabak zur Piep. — —

Von Blodwen hatte ich nichts wieder gesehen und gehört. Aber ich erfuhr, dass sie mit ihrer eigenen Jacht hierher gekommen sei, doch wieder eine andere, als mit welcher sie damals die Osterinsel besucht hatte.

Es war eine Jacht von etwa sechshundert Tonnen, also bedeutend kleiner als die ›Sturmbraut‹ — obgleich nicht etwa um ziemlich die Hälfte kleiner, weil die ›Sturmbraut‹ tausend Tonnen hatte, im Kubik sind die Größenverhältnisse bekanntlich ganz andere als im einfachen — und war getauft auf den Namen... ›Seebraut‹.

›Sturmbraut‹ — ›Seebraut‹... sie hatte es herausgesucht.

Am allermeisten interessierte es mich, dass auch diese ›Seebraut‹ mit Maschine und Propellerschraube ausgestattet war, ganz wie meine ›Sturmbraut‹.

Dann erfuhr ich nur noch zufällig, dass Blodwen selbst oben im Fort wohne, als Gast des Kommandeurs, was mich wiederum sehr wenig interessierte.

Sonst habe ich über die vier Tage nichts weiter zu berichten. Trotzdem von Washington beruhigende Telegramme einliefen — die feindlichen Parteien schienen sich doch noch im Guten einigen zu wollen — änderte sich die kriegerische Stimmung in Charleston nicht, im Gegenteil, sie nahm zu; immer mehr kam es zu Ausschreitungen, eben aus enttäuschter Hoffnung, man wollte den Krieg provozieren, obgleich das durchaus nicht nötig war; denn wie die Sache lag, musste es doch zum Klappen kommen, die Telegramme aus Washington beruhten auf Klatsch und Tratsch, und seit uralten Zeiten haben die professionellen Diplomaten bekanntlich am allerwenigsten von der politischen Lage gewusst, haben sich immer geirrt, immer daneben gestrebt. Ausnahmen hiervon bestätigen nur die Regel. (Die französischen Diplomaten aber, welche mit dem ›Allmächtigen‹ Russland ein Schutz- und Trutzbündnis abgeschlossen, gehörten nicht zu diesen Ausnahmen, sondern zur Regel, ein Mann wie Bismarck war einmal eine seltene Ausnahme.) Das allein richtige Verständnis für Politik hat immer das Volk, und zwar gerade in seiner breitesten Schicht.

Mein Ruf als zukünftiger Blockadebrecher hatte noch immer nichts eingebüßt. Ich verließ meine ›Sturmbraut‹ gar nicht mehr, amüsierte mich nur mit Atlanta über die Briefe, die mir jede Post in schwerer Menge brachte. Niemand wurde empfangen, auch die Herren Seezigeuner nicht, die ich auf Fanafute kennen gelernt hatte. Ich wollte eben mit der ganzen Sache nichts zu tun haben.

Es war am Abend des fünften Tages. Die ›Sturmbraut‹ nahm noch Kohlen ein.

Im Stadttheater von Charleston wurde ein möglichst harmloses Stück gegeben — ich weiß nicht mehr, welches es war, jedenfalls hatte es zu der jetzigen Politik so viel Beziehung, wie eine Kindertrompete zu einer Kanone. Denn im Theater war es bisher immer stürmisch zugegangen; es brauchte nur irgend einmal ein anzügliches Wort auf der Bühne zu fallen, so setzte es Haue.

Nun, bei diesem Stücke war so etwas nicht zu befürchten. Atlanta war noch niemals in einem Theater gewesen, konnte sich gar keine Vorstellung davon machen.

Ich schickte einen Matrosen hin, um Billetts zu holen — zu versuchen, solche zu bekommen.

Er brachte wirklich welche, sogar die besten Plätze. Es war die alte Geschichte.

»Ich brauchte nur zu sagen, dass sie für den Kapitän von der ›Sturmbraut‹ wären, da wurden mir von allen Seiten welche in die Hand gedrückt, ich habe gar nichts dafür bezahlt.«

Im Theater selbst wurden mir Ovationen gebracht. Ich übergehe diesen ganzen Unsinn. Meine Scham war größer als mein Unmut.

Um elf Uhr trat ich mit Atlanta den Rückweg an. Ein Wagen war überhaupt nicht mehr zu sehen gewesen.

Ich verirrte mich etwas, kam immer mehr in menschenleere Gassen.

Es war mir mehrmals gewesen, als ob ich im Scheine der spärlichen Gaslaternen Schatten hätte huschen sehen. Doch ich dachte nicht einmal an meinen Revolver, rief die Schatten nur mehrmals an, in der Hoffnung, dass sie sich in Menschen verwandeln würden, die ich nach dem Wege fragen konnte. Ich musste mich getäuscht haben.

Da plötzlich, als wir um eine Ecke bogen, waren wir von einer Menge Männer umringt, die auf mich mit Knütteln einhieben. Ein Schlag gegen die Schläfe raubte mir die Besinnung — vielleicht nur für wenige Sekunden — als ich, wohl nur gegen die Wand lehnend, wieder zu mir kam, lag nur noch ein Kerl auf dem Pflaster, sonst alles verschwunden — auch Atlanta!

Ich rannte die Straße entlang — brüllend! Passanten kamen herbei, auch einige Polizisten. Von verdächtigen Individuen, die eine Dame zwischen sich gehabt, wollte niemand etwas wissen.

Auch der zurückgebliebene Mann konnte nichts erzählen. Meine Faust hatte ihm einen schweren Schädelbruch beigebracht. Aber er lebte noch, er wurde gleich ins nahe Hospital geschafft.

Wie ich sonst die ganze Nacht bis zum Morgen verlebte, kann ich gar nicht schildern. Immer aus einer Polizeiwache in die andere, um alles zu alarmieren, immer wieder die Prämie verdoppelnd, zurück an Bord, ob unterdessen schon eine Meldung eingelaufen sei, und dann wieder ins Hospital.

Aber der Mann war nicht vernehmungsfähig, er lag im Sterben. Offenbar war es ein Nordamerikaner, kein Arbeiter, einer besseren Gesellschaftsklasse angehörend, doch sonst fand man auch nicht die geringste Legitimation, keinen Brief bei ihm vor, und niemand wollte ihn kennen.

Es war in der neunten Morgenstunde. Ich befand mich wieder einmal in meiner Kajüte. Mit meiner Kraft war es vorbei. Die Rennerei während der ganzen Nacht hatte mich so erschöpft. Wenn ich alles zusammenrechne, mag ich während der zehn Stunden doch auch dreißig englische Meilen gelaufen sein. Und nun diese seelische Erregung! Es war begreiflich, dass ich wie eine Fliege dalag.

Doch es brauchte mir nur gemeldet zu werden, dass mich eine Dame zu sprechen begehre, als ich schon wieder mit frischer Kraft aufschnellte.

»Atlanta!!«

»Nein, es ist eine fremde Dame.«

»Atlanta ist aber gefunden worden!«

»Das weiß ich nicht. Die Dame wünscht den Herrn Kapitän unter vier Augen zu sprechen.«

Sie kam herein. Es war eine... ein junges Mädchen will ich lieber sagen, einfach gekleidet, aber durchaus anständig... ich hatte sofort den Eindruck, als ob zu diesen so überaus sanften, entsagungsvollen Zügen unbedingt ein weißes Häubchen gehören müsse.

Wahrhaftig, ich sollte mich auch nicht geirrt haben! Es war tatsächlich eine barmherzige Schwester aus dem Hospital. Ihren Namen weiß ich nicht mehr, und ich bezweifle auch sehr, dass sie ihn mir überhaupt genannt hat.

»Sie bringen mir Nachricht von Atlanta... von der Dame, die mir heute Nacht entführt worden ist?!«

Das junge Mädchen befand sich in einer außerordentlichen Aufregung, rang nach Fassung.

»Ich bin — ich bin — barmherzige Schwester im Hospital...«

»Der Sterbende hat ein Geständnis abgelegt?!«, rief ich sofort.

»Ja — nein — ich darf es nicht verraten — meine Religion — mein Glaube — es ist eine Sünde...«

Ich wundere mich noch heute, wie damals mein Gehirn gearbeitet hat. Ich wurde förmlich zum Hellseher, wusste sofort, weshalb das junge Mädchen nicht sprechen wollte, wusste alles andere.

»Der Mann hat gebeichtet?!«

»Ja — ja — er war ein Katholik — vorhin verlangte er nach einem Beichtvater — um Absolution...«

»Und Sie waren zugegen, haben die Beichte vernommen!!«

»Ja — nein...«

»Sie waren zufällig zugegen, haben die Beichte heimlich belauscht?!«

»Ja — ja«, war die händeringende Antwort.

Ich ergriff diese ringenden Hände.

»Bei allem, was Ihnen und mir heilig ist — es gibt keinen Gott, der Ihnen in diesem Falle Schweigen auferlegt — und sollte doch eine Schuld Sie treffen, so will ich diese Schuld auf mich nehmen — hier und vor dem ewigen Richter — nur sprechen Sie!!«

So rief ich mit furchtbarer Leidenschaft, und da plötzlich wurden die Kinderaugen ganz ruhig, wie sie mich anblickten, und ebenso ruhig erklang es:

»Die Männer waren von dem Stadtkommandanten angeworben, von Colonel Mac Pierson — die Dame befindet sich jetzt jedenfalls oben auf der Festung, denn dorthin sollte sie gebracht werden.«

Mehr Worte haben wir nicht gewechselt. Ich brauchte ja nichts mehr zu hören.

Es ist vielleicht der dunkelste Punkt in meinen ganzen Erinnerungen, dass ich nie den Namen dieses Mädchens erfahren habe, dass ich nicht weiß, wo es geblieben, was dann aus ihm geworden ist — dieses junge Mädchen mit den sanften, etwas verschüchterten Zügen, eine weltentsagende, barmherzige Schwester, eine gute Katholikin, die eine nach ihren Begriffen furchtbare Sünde beging, indem sie eine zufällig erlauschte Beichte verriet, um einem anderen Menschen zu helfen.

Ja, es gibt auf dieser jämmerlichen Erde doch mehr Helden und Heldinnen, als man vermuten möchte — Helden, die niemals von sich sprechen machen, deren Namen man nicht einmal erfährt.

Ich war schon auf dem Wege zur Festung. Wie ich durch die Stadt und die Rampe hinaufgekommen bin, weiß ich nicht; was ich zu den Posten gesagt, wie ich angemeldet wurde, weiß ich nicht — ich stand in einem Festungszimmer dem Colonel gegenüber.

Und nun weiß ich noch, dass es dieselbe schlanke, kraftvolle Gestalt war, dass es dieselben schönen, spöttischen Züge waren, die ich schon im Zirkus erblickt, die mich aber schon dort gereizt hatten.

»Herr Colonel, haben Sie mich heute Nacht überfallen lassen, um mir meine Begleiterin zu rauben?«

»Ja.«

Und nun weiß ich noch, dass er bei diesem so einfachen ›Ja‹ vom Schreibtisch, neben dem er stand, ein elfenbeinernes Papiermesser ergriff und es zwischen seinen feingepflegten, aber kräftigen Händen, selbst wie von Elfenbein geschnitzt, spielend bewegte.

Was war es nur, dass ich, der ich mich in jenem schon oft geschilderten, sinnlosen Zustand befand, diesen Mann nicht packte und ihn gegen die Wand schmetterte?

War es diese Gelassenheit? War es das spöttische Lächeln? Waren es diese Augen, die so herausfordernd auf mich gerichtet waren?

Ich will der Wahrheit die Ehre geben: Ich hatte einmal meinen Meister gefunden — einen Mann, der mich geistig oder seelisch bemeisterte — sonst freilich kann ich diese Überlegenheit, die von dieser ganzen Gestalt ausströmte, nicht definieren.

Eingeschüchtert allerdings wurde ich nicht, vielmehr begann es immer mehr in mir zu kochen.

»Geben Sie mir Atlanta heraus!!«

»Nein!«

»Was? Sie wollen nicht?!«

»Nein! Freiwillig nicht!«

Wir standen einander gegenüber, wir blickten uns an — und da begann in mir eine Ahnung aufzudämmern, was jener beabsichtigte — aber noch immer konnte ich es nicht definieren.

Er sagte es mir selbst, immer in einer spöttischüberlegenen Weise.

»Nein, Herr Blockadebrecher, freiwillig gebe ich Ihnen Ihre Geliebte nicht zurück! Holen Sie sich sie doch mit Gewalt. Sie sind doch so ein berühmter Blockadebrecher — stürmen Sie diese Festung mit bewaffneter Hand — unten stehen Ihnen ja Tausende von waffentragenden Männern zur Verfügung, die Ihnen zum Sturm auf diese Festung sofort folgen werden — lassen Sie Ihr eigenes Schiff und alle die hundert anderen Bomben und Granaten auf meine Festung werfen...«

»Mensch! Mensch!!«, fiel ich ihm ins Wort. »Sie fordern mich wirklich heraus, die Festung von Charleston im Sturm zu nehmen?!«

»Wie ich Ihnen sage«, war die noch immer kalt lächelnde Antwort. »Ja, ich brenne darauf, mich mit dem berühmtesten Blockadebrecher unserer Zeit zu messen. Und ich ermahne Sie, sich zu beeilen. Noch wird das Weib als Lady behandelt, aber heute Abend schon werde ich sie der ganzen Besatzung preisgeben...«

Versteht der Leser eigentlich, was dieser Mann beabsichtigte? Das war auch ein Held, der sich für sein Vaterland zu opfern entschlossen war, nur ein Held in ganz besonderem Sinne.

Dieser unionistische Colonel hatte die Zwickmühlen der Diplomatie nun endlich satt — der wollte nicht mehr biegen, sondern die Sache einfach übers Knie brechen — und da hatte er auch ganz recht, denn einmal kam es doch zum Klappen, und je eher, desto besser war es für die Union, während jede Verzögerung zum Vorteil für die Konföderation war.

Seltsam, ganz seltsam freilich war das Mittel, welches er zur Erreichung seines Zieles wählte. Aber doch wieder ganz einem Abenteurercharakter entsprechend. Und was sind denn die meisten amerikanischen Offiziere anderes als Abenteurer? Dieser Colonel hier war sogar ein Abenteurer comme il faut, ein gottbegnadeter, das sah man ihm ja gleich an. Das wäre vielleicht auch ein Napoleon geworden.

So also forderte der Vertreter der Union in Charleston mich, den er gewissermaßen für den hiesigen Vertreter der Konföderation hielt, offen zum Kampfe heraus, um den gordischen Knoten, den die Diplomatie geschürzt hatte, mit dem Schwerte zu durchhauen.

Das heißt, so deutlich kam mir dies alles damals nicht zum Bewusstsein, als wir uns gegenüberstanden. Aber eine kleine Ahnung, was jener beabsichtigte, hatte ich doch.

»Gut, gut, Sie sollen es haben!«, schrie ich und stürmte hinaus. Wieder weiß ich nicht, wie ich die Rampe hinab und in die ersten Straßen gekommen bin.

In diesen gärte es nach wie vor, eine murrende Volksmenge, die den endlichen Kampf begehrte, um... Beute zu machen!

Nun, ich habe zu erwähnen vergessen — oder hatte es in meiner bisherigen Aufregung ja auch gar nicht beachtet — welche Entrüstung Atlantas Raub unter der Menge hervorgerufen hatte.

Denn ich war noch immer der Blockadebrecher, d. h., der vermeintliche Anführer in der zukünftigen Rebellion, die einen regelrechten Krieg einleiten musste, und nun also hieß es: Die Frau unseres Führers, des Kapitäns

Jansen von der ›Sturmbraut‹, ist geraubt worden! Wer ist der Räuber? Wo ist er? Sucht ihn, fangt ihn, damit wir ihn lynchen!

Hatte ich dies vorher nicht gewusst, so erfasste ich doch jetzt die Situation.

Was ich gesprochen, was für Brandreden ich gehalten, weiß ich nicht. Ich war ein vor Wut blinder Stier in menschlicher Ausgabe, und wie ahnend, was jetzt kommen würde, hatte sich schnell eine zahllose Menschenmenge um mich gesammelt.

»Colonel Mac Pierson, der Stadtkommandant von Charleston, hatte die Räuber geworben! Er hält Atlanta oben in der Festung gefangen! Er verweigert mir die Auslieferung! — Wer ein Mann ist, folgt mir nach — auf zum Sturme gegen die Festung!!!«

Das mag ich gesprochen, gerufen, gebrüllt haben. Aber unvergesslich sind mir die Gegenrufe.

»Hip hip hip hurra für Kapitän Jansen! Hip hip hip hurra für Jefferson Davis und für die Konföderation!!! Zum Sturme gegen die Festung!!!«

Wie soll ich es schildern? Ich selbst weiß ja gar nichts mehr davon.

Hinter mir her die Rampe hinauf wälzte sich die brüllende Volksmenge, jeder einzelne mit Revolver und Bowiemesser bewaffnet, plötzlich aber tauchten auch überall Gewehre, Äxte und andere Waffen auf, die man vorher gar nicht bemerkt hatte — und plötzlich war ich im Handgemenge mit einer Abteilung Soldaten, die auf der Rampe am Wege gewartet hatten. Was nicht rechtzeitig das Tor gewann, das fiel, wurde niedergetreten — und dann krachten uns Schüsse entgegen, nicht nur Gewehrschüsse, sondern das war auch gehacktes Blei, das aus Geschützen gegen uns gespien ward!

Es brachte die reißende Menschenflut ins Stocken. Sollte es auch nicht! Nur ich allein stand schon an dem verschlossenen Tor, ergriff einen mächtigen Balken, den die Arbeitssoldaten draußen hatten lassen müssen — und gab den Zurückweichenden wieder neuen Kampfesmut; trotz allen Hagels hatten die Vordersten mich erreicht, der Balken verwandelte sich in einen Sturmwidder, jeder Stoß brachte das Tor mehr zum Wanken, dann sprang es donnernd auf.


Illustration

O, wie soll ich so etwas schildern!

Aus dem Forthofe neue Salven, die unsere Reihen dezimierten.

Und dann blitzende Bajonette! Und ich stand mit einem Male dem Colonel gegenüber.

Wie hatte sich dieser Mann plötzlich verändert! Verschwunden das spöttischüberlegene Lächeln, ein blasses Gesicht stierte mir entgegen.

Ja, das hatte er wohl nicht erwartet, dass ich so gewissermaßen im Handumdrehen wieder zur Stelle sein würde, ganz seinem Wunsche entsprechend — und doch auch nicht so!

Es war ihm eben doch etwas gar zu fix gegangen!

Er drückte seinen Revolver auf mich ab, die Kugel riss mir die Mütze vom Kopfe, der Feuerstrom verbrannte mir Bart und Wimpern — und dann hatte er mein Dolchmesser in der Brust, das ihm das letzte Blut aus den früher so gesunden Wangen jagte — und dann schleuderte ich seinen Körper den Bajonetten entgegen, in diese eine Bresche schlagend — und dann war ich mitten zwischen den Bajonetten, die mir schon nichts mehr anhaben konnten — und dann waren wir Herren des Forthofes.

Es war der erste Teil des Kampfes gewesen.

Die Hauptbesatzung befand sich schon in der eigentlichen Festung, im Turm.

Nun, wir haben ihn erstürmt.

Ich habe die Nordamerikaner stets für ganze Männer gehalten — bei allem ihren sonstigen Schachergeist. Damals habe ich schon einen Vorgeschmack bekommen von dem amerikanischen Bürgerkriege.

Denn das sei hier einmal gesagt: In diesem Kriege haben sich die Amerikaner auf beiden Seiten geschlagen, wie sich selten Männer geschlagen haben! Ganz undisziplinierte Truppen stießen zusammen, fast immer ging es Mann gegen Mann, und die Amerikaner, ob Nordstaatler oder Südstaatler, haben Mann gegen Mann gekämpft, mit Waffen, mit Fäusten und mit Zähnen, wie die Weltgeschichte es wohl nur aus den Zeiten der Streitaxt gekannt — und wie man es vielleicht im russischjapanischen Kriege wieder erlebt hat.

Amerika ist das Land, welches außerhalb aller Berechnung liegt, und damals ist gezeigt worden, dass sich auch die Amerikaner selbst von uns überkultivierten Europäern nicht berechnen lassen!

Jeder einzelne Mann ein Held — nein, eine wilde Bestie, ein vor Wut blinder Stier!

Hier bekam ich schon im Kleinen eine Probe davon — freilich schon blutig genug! Sie fielen wie die Fliegen. Nicht dezimiert wurden sie, sondern halbiert — mehr als die Hälfte fiel. Aber der noch Lebende stürmte weiter — und wenn er auch schon den Leib voll von gehacktem Blei hatte, er stürmte weiter, um sich noch im Todeskampfe an der Kehle des Gegners festzubeißen.

Und was mich selbst anbetrifft...

Ach, in welcher Gestalt habe ich in meinem späteren Leben den Tod nicht aufgesucht!

Ich war dann des Lebens überdrüssig, so sehr überdrüssig, und was habe ich nicht alles versucht, um dieses jämmerliche Leben von mir abzuschütteln!

Allerdings nicht Selbstmord! Ich habe stets so verächtlich über den Selbstmord gedacht.

Im Kampfe zu sterben — es war von jeher meine Hoffnung gewesen.

Vergebens, alles vergebens! Ich war stets wie gefeit, gegen Kugel und gegen Schwert und Messer und gegen alles, was den Lebensfaden abschneiden kann. Auch das Meer verschmähte mich — wie oft hat es mich wieder ausgespien!

Hätten mir noch Proben gefehlt, dass mich der Tod nicht in seine Arme nehmen wollte, so bekam ich hier eine, wie sie sich dann später noch unzählige Male wiederholen sollte.

Um mich herum stürzte alles, hinter mir schlugen die Kugeln ein — sie schienen wie spurlos durch meinen Körper hindurchzugehen, nur das Pulverfeuer mir die Haare versengend.

So war es diesmal, so hat es sich später immer wiederholt. Nach jedem Kampfe, den ich im Leben durchgemacht, mussten sich bei mir Bart, Wimpern und zum Teil die Kopfhaare neu ersetzen. Mir, der ich doch den Tod so sehnsüchtig suchte, ist geweissagt worden, dass ich ihn schnell und schmerzlos finden würde, wie ein Mensch ihn sich nur wünschen kann — ein seliges Ende nehmen, in den Sielen sterben — und jetzt, da ich dies als alter, aber noch rüstiger Mann in meinem Leuchtturm schreibe, kann ich nicht mehr daran zweifeln, das sich dies erfüllen wird. Vielleicht nimmt mir der Tod noch einmal die Feder aus der Hand, als Beweis, dass kein Mensch seiner Bestimmung entgeht. — —

Wir hatten das Fort genommen, die letzte Barrikade der todesmutigen Verteidiger gestürmt. Ehre dem Angedenken dieser unionistischen Soldaten!

Ich stürmte durch die Gänge.

Atlanta!

Und seltsam, gerade in diesem Augenblick ward mir bewusst, dass es nicht die echte, göttliche Liebe war, welche mich sie jetzt mit solcher Wut suchen ließ.

Es war nicht meine Geliebte, die ich in den Kasematten suchte, sondern... nur das schöne Weib, das schönste der Erde, mein Prunkstück, mein Stolz — meinetwegen auch mein Renommierhund.

Da plötzlich, als ich so durch einen Korridor rase, laut ihren Namen rufend, steht Mahlsdorf vor mir. Sein sonst so von Wetter und Sonne gebräuntes Gesicht weiß wie eine Kalkwand.

So prallt er erst vor mir wie vor einem Gespenst zurück. »Käpt'n — um Gottes willen, Käpt'n!!!«, schreit er entsetzt.

Da war gerade ein Wandspiegel, und ich wusste, wovor er sich so entsetzte. Ich sah nett aus! Wie ein aus dem Mörser geschossener Kanonenkönig. Der Steuermann konnte mich wohl überhaupt nur an der Uniform erkennen, die ich getragen hatte, weil ich so viel mit Behörden zu tun gehabt. Dann war ich ja bei meiner Körperlänge auch nicht so leicht zu übersehen.

Ich packte ihn etwas unsanft bei den Schultern.

»Atlanta — wo ist Atlanta?!«, schrie ich ihn an.

»Von der Lady Blodwen an Bord ihres Schiffes gebracht, und die ›Seebraut‹ verlässt soeben unter Volldampf den Hafen!«

Was für einen Eindruck diese Mitteilung auf mich machte, lässt sich denken. Ich hätte doch alles andere erwartet. Eigentlich war meine Frage schon recht dumm gewesen, wie konnte Mahlsdorf denn etwas von Atlanta wissen, ich hätte mich vielmehr wundern müssen, wie er überhaupt hierher kam.

Und nun dieser Bericht!!

Jetzt gab es für mich aber auch keine Frage weiter, ich stürzte durch die Korridore der Festung wieder dem Ausgange zu, mir nach Mahlsdorf, immer über Leichen und wimmernde Verwundete stolpernd, die Rampe hinunter... wahrhaftig, dort fuhr die elegante, mir schon bekannte Jacht unter vollem Dampfe bereits über die Reede!

»Wir liegen schon klar, auch wir haben schon vollen Dampf!!«, keuchte Mahlsdorf neben mir.

Famoser Kerl! Oder wer sonst so tatkräftig gehandelt hatte! Wir jagten wie die Windhunde nach dem Hafen.

Die Stadt zeigte plötzlich ein ganz anderes Bild. Aber eine Schilderung erlasse man mir. Ich sah ja überhaupt gar nichts. Die Glut der Zündschnur hatte die Explosionsmischung erreicht, die Bombe war endlich krepiert. Mag dieses Gleichnis genügen.

Und dann noch eins, was mir aber auch nur ganz undeutlich zum Bewusstsein kam.

Die unter meiner Führung siegreichen Rowdies, soweit sie noch lebten, verließen jetzt eilig die genommene Festung, und sofort eröffneten die sämtlichen im Hafen liegenden Schiffe, sich schon als Kaper fühlend, auf das Fort eine einstimmige Kanonade. Zweck hatte es ja keinen mehr, sie schossen nur einmal ihre Kanonen ein. Oder meinetwegen auch eine Demonstration. Es war die Eröffnung, die Ouvertüre zum amerikanischen Bürger- und Bruderkriege.

Im Übrigen kann man sich von dem Höllenspektakel, den diese mindestens hundert Schiffe mit ihren Breitseiten vollführten, gar keine Vorstellung machen! Und dieses Menschengebrüll dazu! Und dann diese Atmosphäre! Alles ein undurchdringlicher Pulverrauch!

Und dann schließlich noch etwas über mich.

Ich kann es nur wiederholen: ach, ich armer Narr!!

Ich hatte durchaus ein solider Handelskapitän werden wollen! Ich hatte in diesem Bürgerkriege durchaus neutral, ihm ganz fern bleiben wollen!

Und jetzt war ich es geworden, ich, der ihn erst in Szene gesetzt hatte!!

O, Hohn des Schicksals!!

Wohl wäre es auch ohne mich zu diesem Kriege gekommen — wohl hatte mich jener Festungskommandeur mit Absicht erst dazu herausgefordert — wenn nicht ich, dann wäre es eben ein anderer gewesen... aber als einfache Tatsache betrachtet: ich bin es gewesen, ich, der damals in Charleston das Signal, zum Ausbruch dieses Bürgerkrieges gegeben, der in den schon geteerten Holzstoß die Brandfackel geschleudert hat!!

So geschehen am 14. April des Jahres 1861.

— • —

85. Kapitel
Auch ein Seezigeuner!

Originalseiten III.376 — 394

Auch meine ›Sturmbraut‹ hatte vom Kai schon abgesetzt und nach der Mitte des Hafens verholt, wo sie mit qualmendem Schornsteine lag. Aber an der Landungstreppe lag noch eines ihrer Boote, mit einigen meiner Jungen besetzt. Sie erwarteten ihren Kapitän.

Wussten sie denn schon, was für eine Rolle dieser ihr Kapitän soeben gespielt hatte und wohl auch fernerhin spielen würde, was für eine Unmenge von rotem Blute jetzt an seinen Händen klebte? Und das wörtlich zu nehmen!

Ja, sie mussten es schon wissen, sonst hätte mich der erste Steuermann doch nicht dort in der erstürmten Festung gesucht.

Und wie fassten sie es auf? Hei, wie in den rotglühenden Gesichtern die Augen blitzten!

Vielleicht war auch ein Zug von Wehmut dabei.

Ich glaube, der eine Matrose machte unterwegs einmal eine schwermütige Äußerung:

»Warum hat uns der Käpt'n nicht gleich geholt, dass wir auch mit dabei sein konnten?«

Brave Jungen! O, erst jetzt sollte ich sie richtig kennen lernen! Bisher war ja alles nur Spielerei gewesen.

Wir waren schon in voller Fahrt, als ich am Kai Karlemanns kleine Figur auftauchen sah. Er winkte, gestikulierte heftig, schrie uns etwas zu — aber in diesem ununterbrochenen Kanonengebrüll konnte man ja sein eigenes Wort nicht verstehen.

Jedenfalls winkte er mir, ich solle zurückkommen. Er wollte mir etwas mitteilen. Daran war natürlich nicht zu denken. Ich sah ja nur die kleine Jacht dort, die mit immer schnellerer Fahrt dem offenen Meere zustrebte, und ich maß den immer größer werdenden Abstand zwischen ihr und meiner noch stilliegenden ›Sturmbraut‹.

Und dann war ich an Bord. Und dann legten wir selbst los, mit einer Spannung, dass die Sicherheitsventile kaum noch den überschüssigen Dampf auslassen konnten.

Zuerst glaubte ich, dass meine Chancen gut ständen. Die ›Sturmbraut‹ war offenbar schneller als die ›Seebraut‹. Und wenn wir erst um die Landecke herum waren, mussten wir auch noch den Wind abfangen können.

In meiner Siegessicherheit ließ ich mir jetzt von Mahlsdorf Bericht erstatten, konnte mit Ruhe zuhören.

Wie ein Lauffeuer — nein, wie eine Explosion hatte sich in der ganzen Stadt die Kunde verbreitet, dass der Entführer des wunderbar schönen Weibes, der Frau oder Geliebten des zukünftigen Blockadebrechers, der Stadtkommandant selbst war und dass ich bereits mit bewaffneter Hand zur Befreiung geschritten sei.

Wer es noch nicht glaubte, der konnte im nächsten Augenblick auf dem Fort schon die Kanonen donnern hören, konnte die erste Metzelei auf der Rampe beobachten.

Ja, der Blockadebrecher und Volksheld machte denen, die ihn dazu gewählt, alle Ehre!

Was für eine Aufregung sonst dadurch entstand, kann ich nicht schildern. Das alles war mir ja auch entgangen.

Ich hatte gar nicht gewusst, dass ich dann einige Tausend hinter mir gehabt. Da war ich freilich bereits drin in der Festung gewesen. Denn alles, was sich auf der Straße befunden, war sofort nach der Festung gestürmt, die Matrosen verließen bis an die Zähne bewaffnet ihre Schiffe — wenn sie nicht rechtzeitig zurückgehalten wurden, denn schon machten die Kaperkapitäne, ergriffen vom Kampfesfieber, klar zur Beschießung des Forts, womöglich der ganzen Stadt.

Und auf meinem eigenen Schiffe? Da hätte man bald den Kopf verloren. Und wäre es wirklich geschehen, es wäre begreiflich gewesen.

»Sollen wir ihm zu Hilfe kommen? Was sollen wir nur tun?«

Das waren die bangen Fragen.

Und dann immer wieder der schmerzliche Ruf:

»Ach, warum hat der Kapitän uns nicht mitgenommen, nicht erst uns geholt!«

»Ruhe an Bord!!«, hatte Mahlsdorf dann kaltblütig kommandiert.

Aber wenn er glaubte, erst einmal mit Tischkoff sprechen zu können, so hatte er sich geirrt. Mein Kommodore saß über seinen dicken Folianten und ließ sich weder vom Kanonendonner noch von Mahlsdorf stören. Auch er kommandierte nur, dass er Ruhe haben wolle, wenigstens persönliche.

Mein ganzer Kampf oben hatte höchstens eine halbe Stunde gewährt. Und vielleicht erst eine Viertelstunde mochte vergangen sein, als Mahlsdorf gewahrte, eigentlich mehr zufällig, wie die Jacht Blodwens Dampf aufzumachen begann und mehr nach der Mitte des Hafens verholte.

Deswegen schöpfte Mahlsdorf eigentlich noch keinen Verdacht. Da aber gewahrte er plötzlich, und andere auch, wie sich von dem Felsen, auf dem das Fort thronte, ein kleines Boot ablöste, in dem sich als Hauptpersonen zwei weibliche Gestalten befanden.

Die Entfernung war zu groß, um mit bloßen Augen Gesichtszüge erkennen zu können — außerdem waren die Frauenspersonen wohl verschleiert — und so wäre vielleicht noch immer kein Verdacht aufgestiegen, wenn das Boot nicht gerade auf die ›Seebraut‹ zugehalten hätte.

»Die Lady Blodwen — und Atlanta — bei Gottes Tod, sie sind es!!«, hatte da plötzlich der zweite Steuermann, das Fernrohr vor dem Auge, geschrien.

Und alle, alle mussten das dann bestätigen, als sie die beiden Frauenspersonen das Fallreep hinaufklettern sahen, die eine schnell und sicher, die andere ängstlich und unbehilflich.

Wie der Landbewohner seinen Freund schon von Weitem am Gange erkennt, so urteilt der Seemann besonders danach, wie jemand das Boot besteigt und verlässt, das Fallreep erklettert. Dass da jeder seine eigenen Bewegungen hat, ist begreiflich.

Und so konnte die erste nur Blodwen gewesen sein, jeder wollte es beschwören — und wenn sie auch Atlanta vorher deswegen noch nicht beobachtet hatten, so sagte doch gerade diese Unbehilflichkeit, so sicher sie auch sonst an Deck sein mochte, dass es keine andere als Atlanta sein könne. Ja, sie schien sogar sehr von ihren männlichen Begleitern genötigt zu werden, das Fallreep zu ersteigen, tat es also nicht freiwillig.

Es war ja überhaupt alles ganz klar. Der eigentliche Urheber von Atlantas Entführung war nicht Colonel Pierson, sondern Blodwen. Sie hatte doch auch oben auf dem Fort gewohnt. Der unionistische Kommandant benutzte diese Gelegenheit nur, um den Krieg zu provozieren, dazu mich, den Volkshelden ausersehend.

Während oben der Kampf tobte, brachte Blodwen ihre Beute weiter in Sicherheit. Die altspanische Festung hatte jedenfalls sehr tiefe Kasematten, Keller, die bis ans Meer hinabgingen. Atlanta wurde in einem Boote nach der ›Seebraut‹ gebracht, alles war schon vorbereitet, die Jacht ging sofort in See.

Und Mahlsdorf war sofort nach dem Fort geeilt, mich zu suchen, nur den Befehl hinterlassend, mit allen Mitteln Feuer unter die Kessel zu machen.

Ich hatte es vernommen. Und nun kam für mich zunächst etwas anderes daran.

Alle Mann vor den Mast! Nur vier Heizer konnten nicht herauf, und dann der erste Maschinist. Doch den brauchte ich nicht erst zu fragen, dieser grauhaarige Sünder ging mit mir durch dick und dünn.

Meine Jungen waren angetreten, vor ihnen standen die Unteroffiziere, Bootsmann, Segelmacher und Koch, seitwärts die Offiziere: Auch Madam Hullogan fehlte nicht.

Sie blickten mich an, und ich blickte sie an.

Und dann begann ich zu sprechen.

So und so. Der Kampf, der dort hinter uns tobt, den habe ich verschuldet, euer Kapitän. Selbst wenn ich nicht zur Verantwortung gezogen werden könnte — ich bin schuldig. Und ich werde mich noch weiter schuldig machen. Schon in der nächsten Stunde hoffe ich, jenes Schiff dort an den Enterhaken zu haben. Und ich weiß nicht, was da kommen wird. Meine Hände sind schon mit Blut befleckt, welches nicht hätte vergossen zu werden brauchen — meinetwegen sollen die eueren nicht besudelt werden — ich bin noch immer bereit, umzukehren, einen anderen Kurs einzuschlagen.

So ungefähr habe ich damals gesprochen.

»Und nun sprecht ihr, die ihr durchaus nicht an mich gekettet seid.«

Lange standen sie stumm. Nur ihre Gesichter glühten, und ihre Augen blitzten. Bis der Matrose Paul vortrat, der gesetzteste aller meiner Jungen, der solideste und vernünftigste, der schon mehrmals den Sprecher für die anderen gemacht hatte.

Was ich selbst gesprochen habe, weiß ich also nicht. Aber was dieser gesetzteste Matrose im Namen der Kameraden sagte, hat sich unauslöschlich meiner Erinnerung eingeprägt, und sie klingen noch heute in meinen Ohren, ganz einfache Worte, die ich außerdem nun zum dritten Male zu hören bekam:

»Warum habt Ihr uns nicht geholt, Kapitän, dass wir die ersten im Fort waren? Und was Ihr sonst jetzt zu uns gesagt habt — Ihr kränkt uns, Kapitän — wir sind gar nicht so schlecht, wie Ihr denkt.«

Das waren die Worte gewesen, die der Sprecher, der frei reden durfte, vorwurfsvoll zu mir gesagt hatte — und vorwurfsvoll blickten sie alle auf mich.

Dann sagte ich wieder etwas — ich bat um Entschuldigung, wie ein Kapitän seine Leute um Entschuldigung bitten darf — und dann brüllten sie ›Hip hip hurra für unseren Käpt'n!‹ und brüllten anderes mehr, und dann klommen sie die Wanten hinauf, um mit jedem Fetzen Leinwand den Wind abzufangen.

Und ich hatte einmal eine selige Minute, wie sie so schön mir die reinste Liebe und der tollste Liebesrausch nie gewährt hat!

Dann aber, im Laufe der nächsten Stunden, kam ich zu einer bösen Erkenntnis.

Die ›Seebraut‹ war der ›Sturmbraut‹ an Schnelligkeit ebenbürtig. Wir kamen nicht weiter auseinander, ich kam aber auch nicht näher.

Dabei musste ich noch eine beschämende Entdeckung machen. Nämlich, dass jene kleine Jacht noch besser segelte als meine ›Sturmbraut‹.

Der Wind war sehr launisch. Flaute er ab, dann schien die ›Sturmbraut‹ aufzukommen. Nahm er aber wieder zu, dann ging die ›Seebraut‹ auch wieder ab.

Und — der Leser erschrecke nicht! — das währte dreizehn Tage und dreizehn Nächte!

Dreizehn ganze Tage und dreizehn ganze Nächte sind wir hinter der Jacht hergewesen! Nicht im Zickzack, niemals wurde gekreuzt, sondern von Charleston immer geradeaus, immer ostwärts mit einer kleinen Abweichung nach Süden — und so durch den Atlantischen Ozean bis nach Afrika hinüber, bis in den Golf von Guinea hinein.

Ich will und kann nicht schildern, was für Anstrengungen ich in diesen dreizehnmal vierundzwanzig Stunden alles gemacht habe, um die Jacht wenigstens in Kanonenschussweite zu bekommen. Denn ich war entschlossen, Atlanta lieber auf den Meeresgrund zu versenken, als sie mir entgehen zu lassen — und Blodwen — nicht zu vergessen.

Ja, meine Leute haben während dieser Zeit furchtbar arbeiten müssen! In der Hoffnung, die Schnelligkeit nur um ein Hundertstel Knoten steigern zu können, habe ich alle Kohlen im Frachtraum, soweit nur Platz dazu war, von vorn nach hinten schaffen lassen, und da hier ein Karren doch unmöglich war, mussten die einzelnen Kohlenstücke von Hand zu Hand gehen.

Ich wollte nämlich das Vorderschiff entlasten. Denn dann ließ ich an den Masten die eisernen Gürtelringe lösen, oben und unten, dass sie mehr federten, und die himmelhohen Masten bogen sich unter dem Drucke der vollgeschwellten Segel wie die Gerten, dass einem unter anderen Umständen himmelangst geworden wäre...

Alles vergeblich, alles vergeblich!! Es war, als ob sich alles gegen mich verschworen hätte!

Oder war das nicht Hexerei? Wie in aller Welt kam das nur, dass sich die Entfernung weder verringerte noch vergrößerte? Führte die verfolgte Jacht zufällig immer dieselben Manöver aus wie ich, um die Schnelligkeit zu steigern, immer mit demselben Resultat, sodass wir uns immer völlig ebenbürtig blieben?

Für den Leser wird eine Vermutung nahe liegen. Nämlich dass die Jacht uns tatsächlich überlegen war, dass sie mit uns nur spielte.

Aber dem war nicht so. Die Verfolgten machten nämlich auch noch andere Versuche, um uns zu entkommen.

Vor allen Dingen wurden bei Nacht immer die Feuer gelöscht. Erst hatte das bei Mondschein wenig Zweck, wir konnten die Jacht immer erkennen, und dann, als Neumond eintrat, machte sich in der Finsternis ein Fehler der Jacht noch stärker bemerkbar.

Der Feuergang, das Rohrsystem von der Feuerung zum Schornstein musste zu kurz oder sonst fehlerhaft sein. Der Schlot sprühte immer einen mächtigen Funkenregen aus. So konnten wir der Jacht immer folgen wie Moses der feurigen Säule durch die Wüste.

Dass man dort drüben alles Mögliche versuchte, um dieses Funkensprühen zu beseitigen, war oft erkennbar. Ein plötzliches Aufhören des Funkenregens für einige Sekunden und dann ein kolossales Hervorbrechen sagte uns, dass man den Feuergang zu verstopfen versucht hatte. Dieses und ähnliches geschah noch mehrmals, auch am Tage. Da brach manchmal eine ungeheuere Rußwolke aus dem Schlote empor.

Zu sehr durfte man an dem Feuergange ja überhaupt nicht herumexperimentieren. Brannte das Feuer nicht mehr lichterloh unter den Kesseln, dann war doch die Lunge des Schiffes verletzt, dann wäre die Jacht eben geliefert gewesen.

Einmal wurde auch ein besonderes Manöver ausgeführt. Nur einmal wurde der Kurs geändert.

Nämlich als in nördlicher Ferne ein Kriegsschiff auftauchte, das einzige, dem wir begegneten.

Es zeigte alsbald die englische Kriegsflagge. Und sofort versuchte die ›Seebraut‹ dorthin zu lavieren.

Aber diese Hoffnung, bei dem englischen Kriegsschiffe Schutz zu finden, vereitelte ich nun freilich.

Auf dem Wege dorthin kam ich der verfolgten Jacht doch einmal zuvor!

Sie sah schnell genug ein, dass ich ihr den Weg abgeschnitten hätte, und dort drüben wusste man auch, dass die dichteste Nähe des englischen Kriegsschiffes mich nicht gehindert hätte, die Jacht an den Enterhaken zu nehmen oder doch in den Grund zu bohren oder zu schießen — sie nahm schnell den alten Kurs wieder auf, wobei sie am besten den Wind ausnutzen konnte.

Und so ging es bis in den Golf von Guinea hinein.

Was wollte Blodwen an der Westküste Afrikas?

Nun, ihre Absicht mit dem englischen Kriegsschiffe hatte es ja schon gesagt. Eben Schutz bei den Engländern suchen, jetzt in einem englischen Hafen, der doch stets stark befestigt ist.

Also sie hoffte immer noch. Sie erwartete, dass ich vor englischen Kanonen umkehren würde.

Es war am Morgen des dreizehnten Tages, noch immer hatte sich nichts geändert, nur dass wir höchstens noch zweihundert Seemeilen von der Küste Afrikas entfernt waren, als ich, nach der fliehenden Jacht blickend, meine rechte Hand mit zwei gespreizten Fingern zum Himmel emporhob.

»Wenn dieses Teufelsweib mit ihrer Jacht auch bis zur Hölle fahren würde...«

Ich sollte nicht zum Schwure kommen. Oder aber: Der zweite Steuermann machte dann später die Bemerkung, ich hätte solch einen Schwur schon früher leisten sollen, dann hätten wir die Jacht auch eher bekommen.

»Da da da da da!!!«, schrien die Matrosen.

Ich hatte es ja selbst gesehen. Die verfolgte Jacht war plötzlich außer Fahrt gekommen. Woran dies für ein Seemannsauge gleich zu erkennen ist, lässt sich nicht weiter erklären. Denn eigentlich befand sich die Jacht ja noch in voller Fahrt, aber dort war etwas nicht in Ordnung, die Triebkraft fehlte — und dann ließ sich auch schon mit bloßen Augen erkennen, wie dort an Deck plötzlich alles durcheinander lief — freilich nur wie die Ameisen.

Aber schon in der nächsten Minute wussten wir es als Tatsache.

»Die Maschine ist defekt, die Maschine ist defekt!«, schrien die Matrosen.

Ja, der Schlot pustete noch mächtig, aber der Abstand zwischen uns verringerte sich ebenso mächtig.

Jetzt drauf und dran!! Die Maschine konnte ja wieder in Funktion gebracht werden.

Aber schon in den nächsten fünf Minuten hätte ich sie mit einer Granate erreichen können, und nach weiteren zehn mit einem ausgeschleuderten Seile, an dem ein Enterhaken hing.

Es waren zwei Schiffe in Sicht, ein deutscher Segler und ein holländischer Dampfer. Die ›Seebraut‹ hätte ruhig Hilfszeichen geben, etwas von Piraten erzählen können — ich hätte mich nicht abschrecken lassen.

Abschrecken! Du lieber Gott, was kümmerte ich mich um diese beiden harmlosen Schiffchen!

Und klatschend und knackend schlugen die Enterhaken in die hölzerne Bordwand ein, die noch in voller Fahrt befindliche Braut des Sturmes riss die der See noch ein Stück mit — da aber war ich schon drüben, und mit mir meine Jungen.

Es war nicht nötig, dass wir in der linken Faust den Revolver und in der rechten den Entersäbel hatten. Die Mannschaft hatte sich schon vorher recht merkwürdig betragen. Sie lungerte einfach herum, die meisten die Hände in den Hosentaschen, manche gewohnheitsmäßig sich jetzt im letzten Augenblick noch eine Pfeife stopfend oder ein Stück Kautabak abschneidend.

»Wir ergeben uns Ihrer Gnade — Monsieur Kapitän, ich appelliere an Ihren bekannten Edelmut!«

Diese wohlgewählten Worte rief mir ein junger Fant entgegen, dem ich den Franzosen gleich ansah.

Ich kann nur sagen, dass ich im ersten Augenblicke einfach baff war.

»Meine Tat ist mir selbst unbegreiflich — jugendlicher Leichtsinn«, fuhr der Fant fort, »die Reue kam zu spät, aber ich schwöre Ihnen zu, dass ich die Dame mit keiner Fingerspitze angerührt habe, ihr vielmehr mit aller gebührenden Hochachtung begegnet bin.«

Ich blickte den Sprecher an — diese geknickte Jammergestalt, dieses ängstliche Gesicht, diese weinerliche Stimme — was für eine Maskerade versuchte der Kerl nur aufzuführen? Zunächst musste ich ihm einmal ins Gesicht lachen. Dann freilich wurde ich furchtbar ernst.

»Wo ist Blodwen?!«

»Blodwen?«, wiederholte er mit scheinbarer Verständnislosigkeit.

»Die Lady Blodwen von Leytenstone!«

»Ja, diese Dame zu kennen habe ich die Ehre — befand sich als Gast des Colonels auf dem Fort.«

»Die ist doch hier an Bord!«

»Hier an Bord? Nein!«

»Was? Nicht?!«

»Nein!«, erklang es mit scheinbarer Verwunderung zurück.

»Das ist doch ihre Jacht!«

»Gewesen. Ich habe ihr die ›Seebraut‹ abgekauft — für 600 000 Francs. Die Lady war mit dieser Jacht nicht zufrieden, der Schlot sprüht so Funken — und es war ihr schon eine andere Jacht zum Kauf angeboten worden, die ihr besser gefiel — sonst derselbe Typ.«

Jetzt war ich es, der den Sprecher verständnislos anstierte.


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»Aber Atlanta befindet sich doch hier an Bord«, mischte sich da Mahlsdorf ein, weil ich die Sprache gar nicht wiederfinden wollte.

»Die Dame, die ich... ja, die befindet sich unten in ihrer...«

»Ja, aber wer war denn die Dame, die sie im Boote an Bord begleitete, das war doch die Lady von Leytenstone!«

»Die Lady von Leytenstone? Nein, die ist in Charleston zurückgeblieben. Das war meine...«

In diesem Augenblicke sah ich zwei weibliche Gestalten aus dem Kajüteneingange auftauchen. Die eine war Atlanta.

Sie stürzte auf mich zu, hing sich an meinen Hals, überhäufte mich mit Zärtlichkeiten.

»Richard, mein Richard, ich wusste ja, dass du mich befreien würdest!!«

Doch ich starrte zunächst nach der anderen Frauensperson. Nein, diese zusammengeschrumpelte Hexe war freilich Blodwen nicht.

»Monsieur Richard Jansen, Kapitän der ›Sturmbraut‹ — Ihre Durchlaucht die Marquise de Roloques — ich habe die Ehre«, stellte uns da der junge Fant, sein Käppi ziehend, einander vor, als fände diese Begegnung in aller Gemütlichkeit auf dem Parkett eines Salons statt.

Ja, ich musste noch immer stieren.

»Wo ist denn aber nur Blodwen — die Lady von Leytenstone?!«, schrie ich dann wieder.

»Die ist in Charleston zurückgeblieben.«

»Richard, du irrst«, mischte sich da Atlanta ein, »die Lady von Leytenstone hat gar nichts mit meiner Entführung zu tun gehabt.«

*

Wir saßen ganz gemütlich zusammen in der Kajüte der ›Seebraut‹ und tranken französischen Champagner.

Ich erhielt Aufklärung, ebenso ganz gemütlich — und ich musste manchmal aus vollem Halse lachen — aus Wut nämlich, dass ich dies jetzt alles so gemütlich mit anhörte.

Leon de Waillac, ein französischer Edelmann, war ebenfalls ein Seezigeuner, der mit seiner Jacht in der Welt herumgondelte. Dasselbe galt von der Marquise de Roloques. Das heißt, die beiden waren immer zusammen. In welcher Beziehung die alte, ausgetrocknete und angemalte Hexe, die sich meinetwegen schnell kokett herausgeputzt hatte, zu dem jungen Edelmanne stand, habe ich nicht richtig erfahren. Es sollte seine Tante sein. Aber ich glaubte es nicht recht. Irgend so ein unsauberes französisches Verhältnis. Jedenfalls hatte sie das Geld, hielt den Jüngling aus. Aber das hinderte durchaus nicht, dass sie duldete, dass er auch andere Weiber mit an Bord nahm. Sie führte ihrem Liebling solche direkt zu. Eben so ein französisches Verhältnis, von dem man lieber gar nicht spricht. Es ist zu schmutzig.

Also die beiden waren nach Charleston gekommen. Aber mit einer anderen Jacht, mit einem Segler. Sie wollten nicht mitmachen, sich nicht als Kaper verdingen, sondern sich die Geschichte nur mal ansehen.

Mit der liebenswürdigsten Offenheit erzählte mir der Jüngling, manchmal unterstützt von seiner lieben Tante, wie alles gekommen war. Nein, die beiden nahmen durchaus kein Blatt vor den Mund.

Gleich am ersten Tage hatten sie mich mit Atlanta auf der Straße gesehen.

»Du, Leon, das wäre so etwas für dich!«, hatte die gute Tante gesagt.

»Wenn ich die kriegen könnte!«, hatte der edle Franzose zungenleckend gesagt.

»Na, warte nur, mein Leon, vielleicht kann ich sie dir verschaffen.«

Und dann, an demselben Abend, hatten sie uns beide wieder in Karlemanns Zirkus gesehen. Und da hatten sie wieder solche Bemerkungen ausgetauscht.

»Parole d'honneur! Welches Prachtweib! Tante, sollte ich die dem nicht ausspannen können?«

Ganz ungeniert hatten sie so zusammen gesprochen. Auf französisch.

Und ihr Nachbar war gerade der Colonel Mac Pierson gewesen. Und der hatte gelächelt.

»Wünschen Sie diese Dame wirklich zu besitzen?«, hatte er sich plötzlich an seinen Nachbar gewandt. »Es ist die Gattin oder Geliebte des Kapitäns der ›Sturmbraut‹, der jetzt als zukünftiger Blockadebrecher vergöttert wird. Wenn Sie es nicht allein ausführen können — well, ich will Ihnen dieses Weib verschaffen. Besuchen Sie mich morgen einmal auf der Festung.«

Der Leser versteht. Ich gebe dies alles nur in gedrängter Kürze wieder, deute nur an.

Mein Leon war mit seiner Tante denn auch richtig gekommen. Doch der Herr Festungs- und Stadtkommandeur hatte im Augenblick anderes zu tun. Sie möchten doch die Güte haben, sich etwas zu gedulden.

Unterdessen verkaufte der Franzose seine Segeljacht, er hatte ein vorteilhaftes Angebot bekommen, erwarb dafür Blodwens Dampfjacht.

Er hatte ja Blodwen dort oben auf der Festung kennen gelernt, doch muss ich ausdrücklich betonen, dass Blodwen von der geplanten Entführung Atlantas gar nichts gewusst hatte, bis zuletzt nicht.

Ebenso ist selbstverständlich, dass der Kommandeur, dieser Abenteurer comme il faut, bei dieser Entführung nichts weiter vorhatte, als mir nur eins auszuwischen — oder sich mit mir, dem bewunderten ›Blockadebrecher‹, einmal zu messen — und schließlich auch, um diesem faulen Frieden endlich ein Ende zu machen.

Wie es sonst im Kopfe dieses Mannes ausgesehen hat, der auf diese Weise gewissermaßen zum Märtyrer für sein Vaterland wurde, weiß ich freilich nicht.

Ich bedauere nur, diesen merkwürdigen Mann nicht schon früher kennen gelernt zu haben. Ich hätte mich mit ihm doch viel lieber verbündet, als ihn kalt zu machen.

Also am vierten Tage, als meine ›Sturmbraut‹ schon das Dock verlassen hatte, fand der Colonel endlich Zeit. Und die Sache hatte ja auch Eile, ich konnte doch den Hafen verlassen.

Der Colonel warb die Räuber, es waren wohl seine eigenen Leute, verkleidete Soldaten, Atlanta kam auf die Festung, wurde dem edlen Franzosen ›zur Verfügung gestellt‹.

Ich mag durch die barmherzige Schwester etwas zu früh auf die Spur gekommen sein. Tante und Neffe konnten mit ihrer menschlichen Beute erst im letzten Augenblicke retirieren — richtig, wie ich mir gedacht, durch einen unterirdischen Ausgang, wenn auch noch über Wasser gelegen.

Sonst aber war schon alles vorbereitet, die neuerworbene ›Seebraut‹, vorläufig diesen Namen beibehaltend, hatte schon unter Dampf gelegen.

Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich sonst noch zu erwähnen hätte.

Die Flucht war eben nach der günstigsten Richtung gegangen, welche Wind und Wetter vorschrieben, und das war östlich gewesen, mit einer kleinen Abweichung nach Süden, auf den Golf von Guinea zu.

Der edle Franzose hatte freilich — um einen guten deutschen Ausdruck zu gebrauchen — die Hose schon immer voll gehabt — und die edle Herzogin die ihren. Aber sie hofften, mir doch noch zu entkommen. Wenn nur der verdammte Schlot nicht so Funken gespien hätte! Und den Weg nach dem englischen Kriegsschiff hatte ich ihnen auch abgeschnitten! Na, dann gelang es ihnen vielleicht und hoffentlich, in einem afrikanischen, von Europäern befestigten Hafen vor mir racheschnaubendem Wüterich Schutz zu finden.

Sie hatten sich die Sache doch leichter vorgestellt. Jetzt wurde das ungemütlich. Da, nur noch einen Tag entfernt von dem vermeintlich sicheren Hafen, musste etwas an der Maschine brechen!

Ein Glück nur, dass dieser edle Franzose so schlau und vorsichtig gewesen, solange er meine ›Sturmbraut‹ als Racheengel hinter sich sah, sich nicht an seinem menschlichen Beutestück zu vergreifen.

Nein, das hatte er nicht getan, dazu war er doch zu klug gewesen. Selbst seine Tante mochte ihm davon abgeraten haben.

»Ich versichere Ihnen auf Kavaliersehrenwort, dass ich Ihrer Maitresse mit keiner Fingerspitze zu nahe gekommen bin. Und im Übrigen bitte ich tausendmal um Entschuldigung — und, mein Herr, Sie werden mir verzeihen, Sie müssen es geradezu, es ist Ihre Pflicht — ja, eigentlich sind Sie sogar selbst der schuldige Teil — denn wenn man ein so bezaubernd schönes Weib besitzt, darf man es eben nicht in der Öffentlichkeit zeigen, oder man muss auch die Folgen tragen. Nicht ich habe Ihre Maitresse entführt, sondern sie mich. Eine Zigarre gefällig? Felix Brasil mit Havannadeckblatt.«

So plädierte der Franzose mit geläufiger Zunge, dann fing wieder die Marquise an zu schwatzen, manchmal sprachen auch beide gleichzeitig — sie redeten mir, wie man sagt, ein Loch in den Bauch.

Heiliger Klabautermann!!!

Na, was soll denn nun ein Mensch dazu sagen?!

Ich hatte schon manches erlebt, aber so etwas denn doch noch nicht!

Der raubt mir meine Geliebte, ich jage dreizehn Tage und dreizehn Nächte hinter ihm her, von Amerika bis nach Afrika hinüber, und wie ich ihn endlich habe, bittet er mich einfach um Entschuldigung — ja, dann dreht er sogar den Spieß herum, behauptet, eigentlich sei ich der schuldige Teil!

Was sollte ich denn nur tun? Erst einmal mit der Faust auf den Tisch schlagen, dass die Champagnerflaschen und die Gläser gegen die Decke flogen — der Champagner, den ich schon mitgetrunken hatte?

Und plötzlich erfasste mich eine ganz seltsame Laune — sie hatte einige Ähnlichkeit mit Galgenhumor, und doch war es wieder etwas ganz anderes.

»Nicht wahr, Sie verzeihen mir meinen losen Streich? Es wird nie wieder vorkommen!«

Mit diesen Worten hielt mir der Kerl seine Hand hin — und da stand ich auf und ergriff diese Hand.

»O, bitte, bitte sehr, hat gar nichts zu sagen gehabt...«

»Ich befand mich tatsächlich wie in einem Rausche...«

»Nein nein, mein Herr, eigentlich war es ja auch meine Schuld...«

»Ich bin kuriert, es wird niemals wieder vorkommen...«

»O, bitte sehr, tun Sie sich keinen Zwang an, wenn es Ihnen Spaß macht...«

»Tausend Dank, mein Herr, tausend Dank...«

»O, bitte, bitte, es hat mir sogar zur höchsten Ehre gereicht...«

»Ich hoffe, Sie noch einmal wiederzusehen...«

»Ich empfehle mich sehr, empfehle mich sehr — ist mir höchst angenehm gewesen...«

*

Ich befand mich wieder in der Kajüte meiner ›Sturmbraut‹. Und da habe ich mich aufs Sofa geworfen und habe gelacht — habe gelacht wie selten in meinem Leben — habe gelacht, dass meine Offiziere hereinkamen, weil sie für mich zu fürchten begannen.

»Aber, Kapitän«, sagte Mahlsdorf, »wollen Sie den Halunken denn wirklich so laufen lassen? Seine Maschine ist schon wieder instand, er macht sich schon frei von uns.«

»Ja, lasst ihn laufen«, entgegnete ich, mir die Augen trocknend und dann meinen schmerzenden Kopf haltend. »Diese edle Dreistigkeit muss wirklich belohnt werden — hoffentlich findet dieser Franzose bei seinen Liebesabenteuern als Rivalen immer so einen Esel, wie ich einer bin.«


ENDE VON BAND 2


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