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ROBERT KRAFT

WIR SEEZIGEUNER

ERLEBNISSE DES STEUERMANNS
RICHARD JANSEN AUS DANZIG

BAND 1

Cover Image

RGL e-Book Cover
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Ex Libris

Neuausgabe in neuer deutscher Rechtschreibung

Herausgegeben von Dieter von Reeken, Lüneburg

1. Auflage 2023

Diese E-Buchausgabe: Roy Glashan's Library, 2025
Fassung vom: 2025-05-18

Erstellt von Matthias Kaether und Roy Glashan

Textquelle: Verlag Dieter von Reeken
(Mit freundlicher Genehmigung des Verlegers)

Abbildungsnachweis

Braatz, Thomas (Archiv): sämtliche Abbildungen
Verlag H. G. Münchmeyer, Dresden-Niedersedlitz:
Einbandvorderseite, S. 2 und sämtliche
Illustrationen im Text: Adolf Wald

Einbandvorderseite:
Illustration auf dem Umschlag
der Lieferung 1 von Robert Kraft:
Wir Seezigeuner. Illustrierte Ausgabe.
Lieferungsroman (52 Lieferungen).
Dresden-Niedersedlitz:
H.G. Münchmeyer o.J. [1907];

Frontispiz auf Seite 2:
vorderer Einbanddeckel der Buchausgabe
(blaues Leinen) o.J. [1907]

Texterfassung und -aufbereitung: Helmut Prodinger

Korrektur: Ellen Radszat und Mike Neider

Herausgeber und Verlag der DvR-Buchreihe:

Dieter von Reeken, Brüder-Grimm-Straße 10, 21337 Lüneburg
www.dieter-von-reeken.de

Alle von RGL hinzugefügte Inhalte sind urheberrechtlich geschützt

Link zu weiteren Werken dieses Autors


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"Wir Seezigeuner," Band 1, Verlag Dieter von Reeken, 2023


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"Wir Seezigeuner," Lieferung 1,


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"Wir Seezigeuner," Cover der Ausgabe von 1920


INHALTSVERZEICHNIS


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Editorische Hinweise

Der vorliegende erste Band [1] dieser Neuausgabe enthält den ungekürzten Text der Kapitel 1—43 (Lieferungen 1 bis 13 teilweise) des von Robert Kraft (1869—1916) verfassten Kolportageromans


Wir Seezigeuner. Illustrierte Ausgabe. Erlebnisse des Steuermanns Richard Jansen aus Danzig. Nach seinen Aufzeichnungen bearbeitet von Robert Kraft. Dresden-Niedersedlitz: H.G. Münchmeyer o.J. [1907], 52 Lieferungen mit je 62—72 Seiten, Buchblockformat ca. 12,3 x 19,3 cm, 164 Tondruckillustrationen von Adolf Wald.


Die insgesamt 3342 Seiten des Romans waren nicht durchgehend paginiert, sondern bezogen auf die Buchausgabe in fünf Bänden: Band I umfasste 600, Band II 670, Band III 640, Band IV 664 und Band V 768 Seiten.

Wegen der Daten zu weiteren Auflagen und Ausgaben verweise ich auf die umfassende Bibliografie von Thomas Braatz [2]. Ausführliche Informationen über Robert Kraft und Werk enthält die farbig illustrierte Biografie von Walter Henle und Peter Richter.[3]

[1] Band 2 wird die Kapitel 44—85 (Lieferungen 13 teilweise bis 26 teilweise) enthalten, Band 3 die Kapitel 86—128 (Lieferungen 26 teilweise bis 39 teilweise), Band 4 die Kapitel 129—158 (Lieferungen 39 teilweise bis 52).

[2] Thomas Braatz: Robert Kraft — Farbig illustrierte Bibliographie zum 100. Todestag. Leipzig, Wien: Edition Braatz & Mayrhofer, 3., erweiterte Aufl. 2016. — 1032 S. mit über 1000 farbigen Abb.

[3] Walter Henle, Peter Richter: Unter den Augen der Sphinx. Leben und Werk Robert Krafts zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Leipzig, Wien: Edition Braatz & Mayrhofer 2005. — Das Buch ist vergriffen; eine Neuausgabe ist für 2024 geplant. 4 Lieferungsheft-Rückumschlagtext, zitiert aus Henle/Richter (wie Anm. 3), S. 201. Der im Original in Fraktur gesetzte Text ist in Antiqua (Garamond Stan-dard) umgewandelt und an die seit 1996 geltenden neuen Rechtschreibre-geln angepasst worden. Offensichtliche Rechtschreibfehler und überholte Schreibweisen sind stillschweigend berichtigt worden, z. B. »Bollauge« in »Bullauge«, »Boller« in »Poller«, »Bureau« in »Büro«, »Fallrepp« in »Fall-reep«, »Heuerbas« in »Heuerbaas«, »Indier« in »Inder«, »Mynheer« in »Mijnheer«, »Renntier« in »Rentier« »Sennor/Sennora/Sennorita« in (spanisch) »Señor/Señora/Señorita« bzw. (portugiesisch-brasilianisch) »Senhor/ Senhora/Senhorita«, »Schandy« in »Shanty«, »Wage« in »Waage« usw.


Der Verlag warb u. a. auf den hinteren Umschlagseiten der Lieferungshefte:


Richard Jansen aus Danzig war ein kerndeutscher Seemann, für dessen Tatendrang, überschäumende Jugendkraft und Unternehmungsgeist die deutsche Heimat zu eng war. Trotzdem vergaß er nie Heimat und Vaterland. (...) Was er draußen erlebte und aus eigener Anschauung über fremde Völker und Länder schrieb, ist Aufklärung darüber, wie es wirklich in der Welt zugeht. Wer Robert Kraft überhaupt gelesen hat, der erkennt das.


Als Herausgeber möchte ich darauf hinweisen, dass ich mehrere Textteile wegen der vielen menschenverachtenden rassistischen (auch nicht durch einen Hinweis auf den »Zeitgeist« zu rechtfertigenden), ja sadistischen Schilderungen Robert Krafts in diesem Roman ungekürzt wiedergebe, um eine Auseinandersetzung mit dem Text zu ermöglichen. Bei der Kraft-Rezeption sollten diese abstoßend wirkenden Darstellungen nicht ausgeblendet werden. Im Originaltext wird an einigen Stellen das Wort »Nigger« verwendet. Diese Bezeichnung, die auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts als bewusst herabsetzend galt, ist hier durch das seinerzeit nicht durchweg als herabsetzend verwendete Wort »Neger« ersetzt worden.

Fußnoten mit Sternchen (*) stehen so auch im Originaltext, solche mit [] sind vom Herausgeber eingefügt worden.

Da die Original-Lieferungen oft mitten in einem Absatz enden, der dann in der Folgelieferung unmittelbar fortgesetzt wird, wird in der vorliegenden Ausgabe der Text im Wege der »Ab- oder Aufrundung« kapitelweise gegliedert. Auf die Seitenzahlen des Originals wird bei den KapitelÜberschriften jeweils hingewiesen, wobei die vorangestellte römische Zahl die Bandnummer bezeichnet. In der Originalausgabe sind die Kapitelüberschriften nicht nummeriert; zur besseren Übersicht und Zitierfähigkeit sind die Kapitel für diese Neuausgabe durchgehend von 1—158 nummeriert worden.

Die Wiedergabequalität der Abbildungen war abhängig von der jeweiligen Druckqualität der Vorlagen. Da die den Lagen vorangestellten ganzseitigen Abbildungen in der vorliegenden Neuausgabe dem Fließtext räumlich zugeordnet werden konnten, ist auf die fast textgleichen Bildunterschriften verzichtet worden. Die um jeweils 90° nach links gedrehten ganzseitigen Abbildungen werden hier im Querformat leicht verkleinert wiedergegeben.

Für freundliche Unterstützung durch den Originaltext der Erstausgabe, für Bilder, Informationen und Hinweise bedanke ich mich bei Thomas Braatz, für die Umwandlung der Frakturschrift in Antiqua und die Textaufbereitung bei Helmut Prodinger sowie für die Korrektur bei Ellen Radszat und Mike Neider.

— • —

Vorbemerkung

Originalseiten I.1 — 3

Illustration

Höre, Leser! Ich will dir ein Lied singen. Ein Lied, wie du noch keines gehört haben wirst.

Ein Lied so süß wie Nachtigallenschlag, vermischt mit Kanonengebrüll und Mordgeschrei.

Ein Lied von Mannestreue bis zum Tode und von falschem Verrat, von einem Teufelsweibe, das mein Engel war. —

Vorhin stand ich auf dem Söller des Turmes.

Unter mir tobte das Meer. Die Gischt spritzte bis zu mir empor und netzte mein weißes, vom Sturme gepeitschtes Haar.

Und aus der schäumenden Flut tauchten blutige Gespenster auf, mit bleichen Gesichtern, mit klaffender Brust, mit gespaltenen Schädeln, und sie drohten mir.

Ich lache ihrer, denen einst meine bewaffnete Faust das Blut aus den Wangen getrieben.

Und dann kamen andere Gestalten, die Freunde meiner Jugend und Genossen meiner Waffengänge.

Und sie winkten mir.

Und da tauchte aus der weißen Gischt ein junges, bleiches Weib auf — ihr rotleuchtendes Haar zog sich wie ein goldener Mantel nach — ein Kind im Arm — mein Kind — und sie hebt die weiße Hand und winkt mir...

O, Blodwen, die ich dich ebenso liebte wie verfluchte, du Engel, der mir den Himmel auf Erden gab, du Teufelin, die mich zum hundertfältigen Mörder machte!

Und es ist unser Kind, das jetzt bittend die Hände zu mir erhebt!

Ja, Blodwen — ja, Darling — Liebling — ich komme, ich...

*

Die vorstehenden Zeilen haben eine Geschichte.

Im Jahre 1893 scheiterte bei Rolandsriff an der Ostküste Nordamerikas ein Dampfer, wobei unter anderen auch ein Mr. E. W. Higgin aus New York seinen Tod fand. Seine edle Gattin ließ aus eigenen Mitteln an der Unfallsstelle einen Leuchtturm errichten, setzte als Wächter einen alten Mann ein, der nicht aus der Gegend stammte, und gab ihm als Helfer noch einen jungen taubstummen Neger.

Länger denn zehn Jahre hat Old Dick, unter welchem Namen man den alten, weißhaarigen Mann nur kannte, auf dem Leuchtturm gehaust, nur in Gesellschaft des Taubstummen. Niemals hat er das Land betreten.

Eines Tages wurde auf dem Turme das Notsignal gehisst. Den alten Mann hatte der Schlag getroffen. Er saß noch auf dem Stuhle, vor ihm auf dem Tische lag ein Bogen Papier, auf dem jene anfangs wiedergegebenen Zeilen standen. Mitten im Satz hatte der Tod ihm die Feder aus der Hand genommen.

Es war hier überhaupt viel geschrieben worden. Man fand einen ganzen Koffer voll Manuskripte, aus denen man erfuhr, dass der alte Leuchtturmwärter von Rolandsriff Richard Jansen hieß, aus Danzig stammte... und wer er sonst gewesen ist, das wird das Nachfolgende zeigen.

Der Leuchtturm war Privateigentum der Mrs. Higgin, für welche alles Bewegliche belegt werden musste.

Ein Jahr später veröffentlichte Mrs. Higgin die vorgefundenen Tagebücher und Erzählungen des Leuchtturmwächters, von welchem Werke gleich in den ersten drei Monaten mehr als hunderttausend Exemplare verkauft wurden.

Das sagt mehr als jede andere Empfehlung.

Der Übersetzer und Bearbeiter

— • —

1. Kapitel
In welcher Gestalt sich mir mein Schicksal nahte

Originalseiten I.4 — 12

Es war am 10. Mai des Jahres 1859, ein wunderschöner Sonntagmorgen und gerade mein vierundzwanzigster Geburtstag, als ich aus Leibeskräften immer um einen großen Eichbaum herumrannte, der in der Nähe von Leytenstone, einer weiteren Vorstadt Londons, einsam auf einer blumigen Wiese stand.

Nicht etwa, dass ich dies zur körperlichen Erholung oder Übung tat, auch handelte es sich nicht um eine Wette, noch weniger wollte ich auf diese Weise meinen Geburtstag feiern — sondern hinter mir her war ein wild gewordener Ochse oder vielmehr ein Stier, den ich in seiner Ehre gekränkt hatte, und der mich nun durchaus auf seine Hörner spießen wollte.

Während ich so, was mich meine langen Beine tragen, um den dicken Baum herumlaufe, einen Meter hinter mir immer das verrückte Vieh mit den gefährlichen Hörnern auf dem Kopfe, gestatte ich mir, mich vorzustellen. Damals freilich dachte ich an alles andere als an solch eine Vorstellung.

Richard Jansen aus Danzig, von Beruf Seemann, seit zwei Jahren Steuermann. Dass ich damals, als ich immer um den Baum herumrannte, gerade vierundzwanzig Jahre alt war, habe ich bereits gesagt.

Alt? Vierundzwanzig Jahre jung! — so muss es heißen, wenn man dies mit ergrauten Haaren schreibt.

Sonst will ich von mir nur noch erwähnen, dass ich, als man mich einmal unter den Messapparat der holländischen Fremdenlegion stellte, zwangsweise, 1 Meter 94 Zentimeter maß, mit etwas hohen Stiefelhacken erreichte ich genau die Höhe von 2 Metern, trug ich einen Zylinder, so ging ich durch keine Tür, dabei war ich so eine Art von langbeinigem Windhund mit eingedrückten Weichen, und meine respektablen Schlenkerbeine kamen mir damals, als der wilde Stier hinter mir her war, außerordentlich zustatten.

Meine letzte Reise hatte ich als zweiter Steuermann auf einem englischen Dampfer nach Valparaiso gemacht. Nach anderthalb Jahren kamen wir zurück, die Besatzung wurde in London abgemustert. Ich erhielt rund hundert Pfund Sterling ausgezahlt.

Na, ich war noch jung — ach, noch so jung! — und ein Kopfhänger bin ich nie gewesen. Und nun das langweilige Leben mit Pökelfleisch und blau angelaufenem Salzspeck und steinharten Erbsen und wurmzernagtem Hartbrot! Anderthalb Jahre lang! Und der Seemann hat überhaupt ein ganz besonderes Blut in seinen Adern und ganz besondere Ansichten über den schnöden Mammon! Und wenn er kein Geld mehr hat, sucht er sich einfach eine andere Heuer und ist an Bord wieder wohlversorgt.

Hundert Goldfüchse in der Tasche! Hei, wie die brannten! Lord Mayor, was kostet dein London? Also nun man los! Natürlich immer per Equipage, immer aus einem Tingeltangel ins andere und den geschminkten Weibsbildern Champagner eingetrichtert!

Gott sei Dank, es währte nicht einmal ganze acht Tage, so hatte die liebe Seele wieder Ruhe. Der schnöde Mammon war glücklich totgeschlagen. Jetzt also in das Heuerbüro einer Schiffsgesellschaft gegangen, Papiere vorgelegt — jawohl, mit Kusshänden, sogar gleich die Stelle eines ersten Steuermanns, zum ersten Male — zehn Pfund im Monat, ach, war ich glücklich! — Da bricht in London der große Dockstreik aus, die im Hafen liegenden Schiffe werden nicht gelöscht und nicht befrachtet, natürlich gehen keine Schiffe mehr ab, und alles ist vorbei! Jetzt schnell zu einem Heuerbaas, dort Boardingmaster genannt, der mich auf Papiere, Kleidersack und auf mein ehrliches Gesicht hin in Kost und Logis nimmt, bis ich eine Heuer gefunden habe, die Schulden mit der Advancenote, d. h., mit der als Vorschuss gezahlten Heuer einiger Monate, deckend.

Wenn man damals geahnt hätte, dass dieser Streik der Londoner Dockarbeiter — die deutschen Arbeiter nannten das damals noch ›Stricke‹ — so lange währen und alle englischen Häfen in Mitleidenschaft ziehen würde, so hätte kein Heuerbaas einen stellenlosen Seemann auf Risiko aufgenommen. Na, Ausnahmen gibt es ja schließlich immer, und mit mir hatte die Fatje Mine auch schon eine Ausnahme gemacht, hatte ich bei der doch schon manche Fünfpfundnote wechseln lassen, ohne einen Penny wieder herauszubekommen, hatte ich bei der doch schon manchmal tief in der Kreide gesessen, als Matrose noch, und meine Schulden immer ehrlich bezahlt. Aber wenn ich selbst geahnt, dass der Streik so lange dauerte, so hätte ich doch die paar Schillinge aufgetrieben und wäre als vollausgerüsteter Seemann schleunigst nach Holland gefahren.

So blieben alle Seeleute in London, und ich begab mich nach dem WestindiaDock zur Fatje Mine, die mich mit offenen Armen aufnahm und gleich ans Kap der guten Hoffnung, wie wir ihren gewaltigen Busen bezeichneten, drückte. Sie hatte noch einen Mann, der war der eigentliche Boardingmaster, aber seine Frau, die Fatje Mine, eine überdicke Holländerin von ungefähr 125 Kilo, schon über das mittlere Alter hinaus, hatte die Hosen an und war die Seele des Seelenverkäufergeschäftes.


Illustration

Und nach sechs Wochen hatte sie mich denn auch wie noch manch anderen braven Seemann mit Haut und Haaren, mit Leib und Seele samt Kleidersack in der Tasche. Denn natürlich hatten wir doch unsere Papiere und Sachen abgeben müssen. Und was soll denn ein Matrose ohne Papiere und

Zeug anfangen? Und in meinem Kleidersack befand sich auch noch der kostbare Sextant, ohne welches Instrument der Steuermann aufhört, ein Steuermann zu sein. Und von Hause hatte ich keinen Pfennig zu erwarten. Also konnte ich gar nicht mehr fort, jetzt hieß es warten, bis... bis in die Puppen, bis in London wieder die Seefahrerei losging.

Nun, man ist bei den Heuerbaasen stets gut aufgehoben, mögen sie auch samt und sonders Seelenverkäufer sein. Ehe diese abgeschafft werden können, müssen erst andere Einrichtungen getroffen sein, dass der stellenlose Steuermann Kredit erhält. Wir hatten jeder ein gutes Bett, bekamen gut und reichlich zu essen, und ich besonders hatte nicht zu klagen; denn ich hatte bei der Fatje Mine von jeher einen großen Stein im Brett gehabt, und wenn ich sie einmal allein erwischen konnte, in der Küche oder noch besser im dunklen Keller, am allerliebsten aber in der Speisekammer, so schlang ich meinen Arm um ihre dralle Taille und drückte ihr einen Kuss auf; das nahm sie durchaus nicht übel, im Gegenteil, dafür schmierte sie mir die Butter etwas dicker aufs Brot, legte auf die obere Schnitte noch extra eine Schinkenscheibe, steckte mir einmal eine Buttel Bier zu, eine Handvoll Tabak, den sie erst ihrem Alten aus dem Knasterkasten stibitzte — die anderen Logierer hatten nicht etwa solche Vorteile, da gab es nichts bei der Fatje Mine.

Nur Geld bekam ich nicht von ihr. Anpumpen ließ sie sich nicht. Die Fatje Mine war selber auf jeden roten Penny versessen wie der Teufel auf jede Seele. Ich versprach ihr sogar, sie nach dem Tode des Alten zu heiraten, meinetwegen noch eher, ich, ihr zwei Meter langes Herzblättchen — allein auch das zog nicht. Und in derselben Geldklemme befanden sich natürlich auch meine Maate, und es wimmelte doch in der Nachbarschaft von Bierhäusern, und trotzdem litten wir an ewigem Durst.

Zuerst hatten wir uns ja zu helfen gewusst, jeder hatte doch irgend etwas Versetzbares bei sich gehabt. Ich für meinen Teil hatte zuerst meine silberne Uhr zu Samuel Cohn getragen; dann war die goldene Nadel darangekommen, die ein seidenes Halstuch zusammenhielt; dann dieses Halstuch selbst, dann eine Meerschaumpfeife; dann zuletzt sogar mein Taschenmesser. Jetzt war mir von meinen früheren Besitztümern nur noch in der rechten Westentasche ein silberner Zahnstocher geblieben, den mir auf der vorletzten Reise eine schwarze Hotelköchin in Kapstadt als Andenken ihrer unwandelbaren Liebe geschenkt hatte. Samuel Cohn hatte mir beim zufälligen Anblick desselben sofort einen Penny dafür geboten, war bis zu drei Pence in die Höhe gegangen, allein ich... ich... nicht gerade, dass ich mit besonderer Zärtlichkeit an die schmalzduftende Köchin aus dem Mohrenlande gedacht hätte... es widerstrebte mir eben, auch noch mein letztes Besitztum zu veräußern; was nützten mir denn jetzt noch drei Pence, und ein silberner Zahnstocher ist doch etwas Schönes, es macht doch immer einen gewissen Eindruck von Wohlhabenheit, wenn man sich mit solch einem silbernen Dinge in den Zähnen herumstochert — kurz, ich war eben trotz der Einflüsterungen aller Teufel nicht zu bewegen, ihn in Bier umzusetzen.

Eines Abends stehe ich in der Cable Street unter einer Laterne und philosophiere über die Nichtigkeit dieses Daseins, da... »Hallo, Stürmann!!«,... da ist's der Ernst, ein deutscher Matrose, mit dem ich die vorletzte Reise zusammen gemacht hatte, ebenfalls noch als Matrose, wenn auch schon im Besitze des Steuermannspatentes.

Ist mit der ›Anna Colmann‹ von Australien gekommen, heute Abend abgemustert worden, hat die ganze Tasche voll Geld.

Herrgott im Himmel, wurde das eine Sauferei! Man verzeihe den Ausdruck, aber anders lässt es sich nicht bezeichnen.

Wie gewöhnlich an Land weckte mich das erste Morgengrauen. Tatsache war, dass ich in meinem Bett lag. Aber fragt mich nur nicht, wie ich hineingekommen war. Keine Ahnung! Doch Kopfschmerzen und solche Schwachheiten gab's bei mir nicht. Auch sonst war alles in Ordnung, meine Sachen lagen sauber zusammengefaltet auf dem Stuhle.

Alles um mich herum schnarchte noch. Wenn ich einmal wach bin, duldet es mich nicht mehr in der Koje. Also mit gleichen Füßen heraus, angezogen, aus der Küche ein Waschbecken geholt und in den Hof an die Plumpe gegangen.

Als ich das Waschbecken zurücktrug, war in der Küche schon Mary, das Faktotum des Hauses, eine Jungfrau von etlichen dreißig Jahren, seit einem Jahrzehnt schon verlobt mit einem Werftschreiber, der gleichfalls in diesem Boardinghause wohnte. Die diesem Verlobungsverhältnisse nach und nach entsprießenden Kinder gab Mary irgendwo anders zum Aufheben. Aber sonst war es ein gutes Mädchen.

»Na, da gratuliere ich dir schönstens zum Geburtstage, und lass dir's immer recht gut gehen.«

Mit diesen Worten reichte sie mir ihre rote, aufgesprungene Hand.

Was, Geburtstag? War denn heute der zehnte?

»Jawohl, weißt du denn gar nicht mehr, was du gestern Abend alles zusammengeschwatzt hast? Von der Sonne und von Maikäfern und von Blumen. Und dann hast du den Kopf auf den Tisch gelegt und wie ein kleines Kind geheult. Du wolltest doch heute in die Country hinaus. Da habe ich dir schon Kragen und Vorhemdchen und Schlips zurechtgelegt, heute ist doch Sonntag, und dort steht dein Frühstück.«

Eine dunkle Erinnerung überkam mich. In halb bewusstlosem Zustande hatte ich, wie es so manchmal geht, gestern Abend gewusst, dass heute mein Geburtstag sei, hatte eine unbändige Sehnsucht nach Sonnenschein und blumigen Wiesen gehabt, die mich zwischen Häusern manchmal überfällt, und hatte mit Ernst für heute früh einen Ausflug in die Umgegend verabredet.

»Aber auf Ernsten brauchst du nicht zu rechnen, der war wie ein Sack, und Geld hat er auch keins mehr, er hat noch Schulden gemacht, und überhaupt, das ist ja gar keine Gesellschaft für dich. Na hier, weil heute dein Geburtstag ist.«

Und sie gab mir erst ein Päckchen Tabak — und dann noch zwei Schillinge.

Mir stieg es ganz heiß zum Herzen empor.

»Mary, du bist ein Engel — nein, du bist ein gutes Mädchen — wenn du nicht schon verlobt wärst...«

Und ich zog sie an meine Brust, zog sie hintern Ofen, ich küsste sie, ich tat, was ich konnte. Ihr Bräutigam schlief ja noch — und dann band ich ihres Bräutigams Vorhemdchen, Kragen und Schlips um, und während ich den dickbelegten Butterschnitten zusprach, wichste Mary meine Stiefel, was sonst jeder selbst tun musste. Aber heute war mein Geburtstag.

Nach Leytenstone sollte ich gehen. Das sei die nächste grüne Umgebung, welche man ohne Eisen- und Pferdebahn, die Sonntags so früh noch nicht gingen, erreichen könne. Den Weg hatte mir Mary schon gestern Abend beschrieben, sie tat es noch einmal. Die Beschreibung war einfach genug: immer geradeaus.

Ich war sauber abgebürstet, machte in dem blauen Anzuge mit den Trichterhosen einen ganz manierlichen Eindruck. Dass Ernst nicht zum Aufstehen zu bewegen war, davon hatte ich mich bereits überzeugt.

»Na, da adjüs, Dick«, sagte Mary. »Zum Mittagessen kannst du wieder da sein, und bringe mir ein paar Blumen von der Wiese mit.«

»Die ganzen Taschen voll«, versetzte ich und machte mich, den qualmenden Kalkstummel zwischen den Zähnen, die Hände in den Hosentaschen, auf den Weg.

Es ging den letzten Rest der Cable Street entlang, dann durch Whitechapel Road, dann kam Bow, das alte, ursprüngliche London, dann das klassische Stratford.

Hier machte ich einmal Halt. Unterdessen war es neun geworden, die Bierhäuser machten für zwei Stunden auf, ich zog mir eine Flasche Bass Ale zu Gemüte, wo einem hinterher die Kohlensäure so schön aufsteigt.

Dann ging es weiter durch Leyton, und dann kam Leytenstone. Das letzte Haus dieser Vorstadt ist die altberühmte Wirtschaft ›The Green Man‹, wo ich mir eine zweite Flasche Bass Ale zu Gemüte zog.

Und dann, gleich dahinter, begann die englische ›Country‹ in ihrer ganzen Lieblichkeit. Im üppigsten Graswuchs prangende Wiesen, durchsetzt von niedrigem Gestrüpp, und mit einzelnen, mächtigen Eichen bestanden, zum Schutze der weidenden Kühe gegen Sonne und Regen vom einstigen Walde stehen gelassen oder angepflanzt — das ist rings um London der Charakter der englischen Landschaft.

Und im blauen Äther jubilierten die Lerchen.

Ach, Lerchenschlag und blumige Wiesen! Das war's, wovon ich an Bord auf einsamer Nachtwache manchmal träumte. Ich langer Lümmel war trotz aller Lasterhaftigkeit überhaupt etwas sentimental veranlagt. Zu meiner Entschuldigung diene, dass ich das Gymnasium bis zur Obersekunda besucht hatte. Wenn es nach meinen Eltern gegangen wäre, so wäre ich Pastor geworden.

Eine halbe Stunde war ich so spaziert, als ich mich nach einem Ruheplätzchen umschaute. Eine mächtige Eiche, die etwa hundert Schritte vom Wege ab auf der Wiese stand, dünkte mir am geeignetsten dazu. Weiter abseits zog sich eine lange, hohe Mauer hin, jedenfalls eine Meierei umschließend.

Es mochte ja verboten sein, die Wiesen zu betreten; aber was machte ich mir aus so etwas! Es trampelten doch auch Kühe darauf herum.

Zwischen mir und der Eiche graste eine kleine Herde, und mir fiel sofort ein prachtvolles, schneeweißes Exemplar auf, mit gewaltigen Hörnern. Das war jedenfalls der Leitstier, der seinen Harem überwachte. — — —

Leser, war ich damals nicht ein glücklicher Mensch?

Dieser schneeweiße Ochse sollte es sein, der meinem Leben eine ganz andere Wendung gab, der mich zum Freibeuter und Piraten machte, der mich von Stufe zu Stufe sinken ließ, bis zum steckbrieflich verfolgten Raubmörder herab!

Und ich hatte dem Ochsen doch gar nichts getan.

— • —

2. Kapitel Wie ich in eine fremde Welt hineinspringe

Originalseiten I.13 — 30

Also um nach jenem Baume zu kommen, musste ich an der Herde vorüber. Furcht vor Rindern kannte ich nicht. Ich bin mit Kühen und Ochsen zusammen aufgewachsen, hatte aber noch niemals einen wildgewordenen Stier zu sehen bekommen und kannte dergleichen nur vom Hörensagen.

Eben wegen meiner früheren Bekanntschaft interessierte ich mich für Kühe. Außerdem hatte ich überhaupt stets für schöne Formen ein empfängliches Auge — und nicht nur für menschlichweibliche Formen.

Wirklich, dieser weiße Stier war ein Staatsexemplar. Ich blieb in der Nähe stehen, um mir den herrlichen Gliederbau näher zu betrachten.

Ach, wäre ich doch nicht stehen geblieben!

Die Tiere wendeten die Köpfe nach mir, schnaubten. Eine Kuh brüllte, eine zweite brüllte. Der Stier, immer starr nach mir blickend, peitschte die Lenden mit dem Schweif. Es war ein böser Blick, mit dem er mich betrachtete.

»Na na, mein liebes Tierchen«, sagte ich freundlich, »ich will dir doch keine Konkurrenz machen...«

Ja, hatte sich was! Es war ein englischer Ochse, der kein Deutsch verstand. Oder er hielt mich eben für einen Nebenbuhler und hörte in seiner Eifersucht überhaupt nicht.

Plötzlich nimmt das Vieh den Kopf zwischen die Vorderbeine, den Schwanz kerzengerade hinten herausgereckt und so in voller Karriere auf mich los!

Nun wusste ich, was es geschlagen hatte. Ich brauchte keine Erfahrung zu haben, um zu wissen, dass es nicht gut sei, mit solchen spitzen Korkziehern in Berührung zu kommen. Und meine einzige Bewaffnung bestand in dem silbernen Zahnstocher. So beschloss ich, die Defensive zu ergreifen, d. h., zu retirieren, mich lieber auf meine langen Beine zu verlassen. Also schleunigst die Pfeife aus den Zähnen genommen, kehrt gemacht und — heidi! — was mich meine Beine trugen nach dem Baume gerannt, in dessen Schatten ich hatte schlummern und träumen wollen.

Daraus wurde nun natürlich nichts. Der Stier blieb mir auf den Fersen. Und leider war kein Ast so tief, dass ich ihn hätte ergreifen und mich hinaufschwingen können.

Auch die Hoffnung trog mich, dass der Stier in seiner blinden Wut sich den Kopf an dem Stamme, hinter den ich schnell gesprungen war, zerschmettern oder sich doch wenigstens mit seinen spitzen Hörnern festnageln könne. Ich wollte vorsichtig hinter dem Stamme vorlugen, hatte aber nicht viel Zeit dazu, der Stier war schon hinter mir.

Und das Karussellspiel begann. Wie lange es dauerte, weiß ich nicht. Die Rundgänge zählte ich nicht, und meine Taschenuhr war bei Samuel Cohn. Einholen tat er mich ja nicht. Dazu machte er viel zu große Bogen, während ich mich immer dicht am Stamme hielt, also einen kürzeren Weg beschrieb, und auf den genialen Gedanken, einmal schnell kehrt zu machen und mich in seine Korkzieher laufen zu lassen, kam das tolle Vieh nicht. Übrigens war ich deshalb schon auf meiner Hut, blickte ab und zu immer einmal hinter mich, achtete auch auf das Pusten und Schnaufen.

Aber so konnte das nicht weitergehen. Um zwölf musste ich zum Mittagessen zu Hause sein. Nachservieren gab's bei der Fatje Mine nicht. Doch was tun? Weit und breit kein Mensch zu sehen, der mir auch wenig hätte helfen können, es müsste denn gerade ein amerikanischer BuffaloJäger gewesen sein.

Ich sah meine einzige Rettung in jener Mauer, welche sich etwa noch 150 Schritte entfernt befand.

Wenn ich um den Baum herumgaloppierte, dass sie mir gerade vor die Augen kam, musterte ich sie recht genau. Sie war offenbar viel zu hoch, als dass ich ihren Rand im Sprunge mit den Händen erreichen konnte. Außerdem hatte ich eine höllische Angst vor Glasscherben, mit denen ich einmal als Junge eine böse Erfahrung gemacht. Aber dort, etwas seitwärts, wurde sie durch ein Stückchen Bretterzaun unterbrochen, der bedeutend niedriger war.

Mein Entschluss war gefasst. Entweder — oder. Jetzt kam es darauf an, wer schneller war, ich oder der Ochse. In solchen Fällen, wenn es ums Leben geht, darf man seine Person zuerst nennen.

Zuerst die Pfeife, welche durch den Luftzug noch immer brannte, ausgedrückt, damit ich sie in die Tasche stecken konnte, weil ich dann doch meine beiden Hände brauchte, und nun los, für Gott, König und Vaterland!!

Ohne Zweifel war das Vieh schneller als ich. Glücklicherweise aber war mein Verfolger über die Änderung meiner Taktik verdutzt, er blieb stehen, was ich ganz deutlich merkte, blickte mir nach — schon hoffte ich, meinen Schritt mäßigen zu können, als sich der Ochse abermals in Karriere setzte, mir nach. Es hatte nur einiger Zeit bedurft, ehe sein gehörntes Ochsengehirn meinen neuen Rückzugsplan begriffen.

Trotzdem sah ich mich bereits gerettet. Ich hatte durch das Simulieren meines Feindes einen guten Vorsprung gewonnen und schlenkerte meine Spazierhölzer mächtig. Nun rief ich bloß noch den heiligen Petrus als den Schutzpatron aller Wasserratten an, dass er dort oben auf dem Zaune keine Nägel habe wachsen lassen, oder sie möchten doch wenigstens so weit auseinander stehen, dass ich unverletzt dazwischengreifen könnte, auch für meine unschuldigen Hosen flehte ich zum Schutzpatron um gütige Rücksicht empor — — und dann hing ich oben und schwang mich hinauf. Dem heiligen Petrus sei Dank — überhaupt keine Nägel! Und dann stand ich drüben auf der anderen Seite.

Was ich nun beschreibe, war für mich nur eine Vision, hatte ich zum Anblick doch auch nur wenige Sekunden Zeit. Aber einmal habe ich ein sehr gutes Auge, und dann ist wohl bekannt, dass sich gerade bei solchen visionsartigen Zuständen dem Gedächtnis alles außerordentlich scharf einprägt. Noch heute sehe ich alles und fast jede einzelne Person deutlich vor mir.

Es war ein parkähnlicher Garten, in dem ich mich befand; zwischen den Bäumen schimmerten in der Ferne weiße Häuser, und auf dem Kieswege, dicht vor mir, bewegte sich ein seltsamer Zug.

Ja, war ich denn durch den Sprung über die Bretterwand plötzlich in die klassischen Zeiten des alten Rom oder Griechenland versetzt worden? Ich entschied mich für Rom, noch vor Christi Geburt.

Vornweg schritten feierlich zwei Männer, mit langen Lanzen bewaffnet, bekleidet mit der weißen Toga, welche von einem silbernen Gürtel zusammengehalten wurde, an den nackten Füßen Sandalen, das lange, schwarze Haar aus der Stirn von einem silbernen Reif zurückgehalten. Diesen Lanzenträgern folgten sechs andere Männer, noch sehr jung, ausgesucht schöne Jünglinge, ganz ebenso nach römischem Muster gekleidet, aber anstatt der Lanzen in den Händen Saiteninstrumente, Flöten und Zimbeln, auf denen sie eine alte, schwermütige Weise spielten.

Hierauf kamen vier Römer, welche eine offene Sänfte trugen, und diese ward noch von sechs römischen Rittern begleitet, ausgerüstet mit stählernem Schuppenpanzer und Beinschienen, das Haupt mit einem phantastischen Helm bedeckt, die Unterschenkel aber bis auf die Sandalen nackt; diese waren mit kurzen, breiten Schwertern bewaffnet, welche sie entblößt in der Hand hielten. Ihnen schlossen sich noch eine ganze Menge von römischen Jungfrauen an, alle mit der weißen Tunika bekleidet, das Haar in der bekannten römischen Weise aufgesteckt, reich geschmückt mit Ketten, Reifen und anderem Zierrat. Jede hatte in beiden Händen etwas zu tragen, meist zierliche Kästchen, die Toilettengegenstände einer reichen Römerin enthaltend, andere wiederum trugen silberne Tafeln und Teller, auf denen Weintrauben, Birnen, Feigen, Granatäpfel und andere Früchte lagen, welche hier nur aus dem Treibhause stammen konnten.

Ich hatte einmal ein berühmtes Gemälde gesehen: Reiche Römerin auf dem Wege zum Bade — hier war dieses tote Bild zur lebendigen Wirklichkeit geworden. Ganz genau dasselbe.

Nun fehlte noch die Hauptperson, eben die nach dem Bade getragene römische Herrin.

Auf der offenen Sänfte stand ein goldener oder doch vergoldeter Thronsessel, und auf diesem saß ein Mädel — (ich schreibe absichtlich so, wie ich mich damals ausdrückte). — Sie mochte vielleicht zwanzig Jahre alt sein, ihre Gestalt wurde von dem weiten Gewande unkenntlich gemacht, welches sich von dem der Dienerinnen nur dadurch unterschied, dass es aus einem feineren Stoff und mit einem Purpursaum eingefasst war — ganz genau wie auf jenem Bilde — auch trug sie um die Stirn ein goldenes, reich mit Juwelen besetztes Band. Es war ein römischer Tituskopf, freilich ein solcher von rotblonden Locken, welche in der Sonne Funken sprühten, und auch sonst hatte die Dame, wie ich nun doch lieber sagen will, wenig Ähnlichkeit mit einer Römerin. Das war eine Engländerin oder doch eine echte Germanin. Sonst ein seltsames Gesicht, das der jungen Dame! Wäre es ein Mann gewesen, so hätte man von weibischen oder mädchenhaften Zügen gesprochen. Da es aber einem Weibe angehörte, so war es ein hübsches, trotziges Knabengesicht. Man sieht, ich hatte die wenigen Sekunden, die mir zum Studium der ganzen Szene blieben, ausgiebig genutzt. Das lag eben in der ganzen Situation, auch kam mir die Erinnerung an jenes Bild zu Hilfe.

Aber noch ist eine andere Hauptperson zu erwähnen: Die feine, reichberingte Hand der jungen, römischen Herrin spielte mit den gelben Kopfhaaren eines ausgewachsenen, mächtigen Löwen, oder vielmehr einer Löwin, welche würdevoll neben der Sänfte einher schritt, fessellos, ohne Maulkorb — der sicherste Schutz für den, dem es gelungen war, die Wildheit des furchtbaren Raubtieres für sich selbst in Treue zu verwandeln.

So bewegte sich die Prozession feierlich an der Mauer entlang. Da kam ich über die Bretterwand voltigiert. Ich kann nur sagen, dass die Menschen gar nicht recht dazu kamen, über mein unerwartetes Erscheinen zu staunen — ich hatte mit dem ersten Blick alles umfasst, der Zug dagegen geriet gar nicht ins Stocken, obgleich alles mich wie ein Phantom anstarrte — da plötzlich donnerte, krachte und prasselte es hinter mir, verschwunden war die Bretterwand, und aus der Staubwolke tauchte die weiße Gestalt des riesigen Ochsen auf.

Der hatte nicht nötig gehabt, die Bretterwand erst zu übersteigen. Nun ein einziges Stutzen, dann wieder den behörnten Kopf zwischen die Vorderbeine genommen und von Neuem mit einem dumpfen Brüllen der Wut drauf los!

Unbeschreiblich ist die Szene, die sich jetzt abspielte. Es währte ja alles nur einen einzigen Augenblick. Und dennoch erinnere ich mich jeder Einzelheit noch ganz deutlich.

Ein wilder Stier! Dieser Gedanke genügte. Die vordersten beiden Römer ließen die Lanzen fallen und flohen dem nächsten Gebäude zu. Die römischen Spielleute schleuderten Harfen, Flöten und Zimbeln von sich und folgten. Die römischen Schwertträger schlossen sich ihnen gleichfalls an, und wen das Schwert beim Laufen hinderte, der warf es weg. Die Jungfrauen hatten natürlich erst recht ihre Kästchen und die Schalen mit dem ganzen Gemüse fallen lassen, rafften ihre langen Gewänder hoch und liefen, was sie laufen konnten.


Illustration

Und der Löwe? Der machte mir den meisten Spaß. Er mochte schon wissen, dass mit einem wildgewordenen Stier schlecht Kirschenessen ist, oder es war ein angeborener Instinkt, wie ja auch in der Wildnis der Löwe dem Kaffernbüffel ängstlich aus dem Wege geht — kurz, auch mein Löwe kniff den Schwanz ein und jagte wie ein Hase über die Blumenbeete davon.

Die Träger hatten die Sänfte gleich fallen lassen, um ihr Heil in schleuniger Flucht zu suchen, und das sollte für die Dame bös werden.

So unsanft plötzlich auf den Boden gesetzt, war sie mit dem Thronsessel umgestürzt, raffte sich schnell wieder auf, aber sie stand mit den Füßen auf dem schleppenden Gewande, hatte sich darin verwickelt, konnte keinen Schritt tun, und so stand sie etwas zusammengeduckt da, die Hände erhoben, um sie vor die Augen zu schlagen, damit sie den Tod nicht sehe, der dort in Gestalt eines wütenden Stieres auf sie zugerast kam, aber zu dieser Bewegung schon nicht mehr fähig, vor Entsetzen zur Statue erstarrt.

Denn der Stier hatte von seinem zuerst erspähten Opfer, von mir, abgelassen, jetzt reizte die weiße Gestalt seine Wut, er stürmte gegen sie an, im nächsten Augenblick musste er seine spitzen Hörner in ihren Leib gebohrt haben, dann sie in die Lüfte schleudernd...

Wie alles geschah, wusste ich später nicht mehr. Mit einem Male stand ich zwischen der Dame und dem Stier, eine der weggeworfenen Lanzen in der Hand — und dessen entsinne ich mich noch deutlich, dass ich ganz klar dachte: Das ist Eschenholz, das Ding ist besser als mein silberner Zahnstocher — — und dann hatte ich die Stahlspitze dem Stier vorn in die Brust gerannt.

Er stürzte nicht. Zwischen uns beiden entstand eine Art Zweikampf. Auf der einen Seite schob der Ochse, auf der anderen Seite schob ich — ich hatte mich zu stemmen, dass sich meine Füße immer mehr in den Sand einbohrten wie die Lanze ihm in die Brust — dabei bog sich der Eschenschaft wie eine Gerte — und dann brach er zusammen — und ich wurde von dem federnden Schafte in die Höhe geschleudert und kam in ein Veilchenbeet zu liegen.

Im nächsten Moment war ich wieder auf den Füßen, raffte im Sprunge eins der Schwerter empor und war wieder neben dem Stiere, der wälzend sich aufzurichten versuchte, dabei mit der aus der Brust hervorstehenden Lanze in der Luft herumfuchtelnd — und ich holte aus und stieß ihm den breiten Stahl seitwärts bis ans Heft in die Brust, dort, wo ich das Herz vermutete.

Da streckte er sich mit einem Röcheln, er war verendet.

Ich zog das Schwert wieder heraus, und so den blutigen Stahl in der Hand, wandte ich mich der Dame zu, und ich glaube sogar, ich habe dabei einen Kratzfuß gemacht.

»Haben Sie keine Bange, Fräulein, und entschuldigen Sie nur, dass ich...«

Unvergesslich ist mir der Anblick, den sie bot. Sie stand noch genau so da, halb geduckt, die Hände etwas erhoben, um sie vors Gesicht zu schlagen, aber dieses hatte sich total verändert. Erst vor Todesangst entstellt, spiegelte sich jetzt das grenzenloseste Staunen darin wider, und so blickte sie mich mit weit geöffneten Augen an.

»Bei Thor und Odin!!«

Dieser Ausruf war es, der mich unterbrach, und er ist mir ebenso unvergesslich, so oft ich ihn auch später noch zu hören bekam.

»Bei Thor und Odin!!«, wiederholte sie nochmals.

Sie machte sich von ihrem Gewande frei, und da kamen die römischen Ritter und Jungfrauen schon wieder zurück, sie mochten beobachtet haben, wie alles gut abgegangen war, und ein Geschnatter fing an, wie in einer Gänseherde.

Einer der gepanzerten Männer trat auf die Dame zu.

»O, Mylady«, beteuerte er mit der Hand auf der stählernen Brust, »wenn ich gewusst hätte, dass es nur ein einziger Ochse war, und dass Sie zurück...«

Er kam nicht weiter.

»Memme!!!«

Und gleichzeitig holte die Dame aus, und die zarte Hand fuhr dem römischen Ritter an die Backe, dass es knallte.

Dabei blieb es nicht.

»Ihr feigen Memmen, ihr Halunken, ihr Schufte, ihr Kanaillen, ihr jämmerlichen Kaninchen...«

Plauz, plauz, plauz, ging es, und das Dämchen fuhr fort, unter den römischen Rittern und Zimbelspielern und Ehrenjungfrauen freigebig Maulschellen auszuteilen, ohne Ansehen der Person.

Ich merkte, dass ich hier ganz überflüssig war. Die besorgte alles allein. Auch gefiel mir diese Szene durchaus nicht. Sich prügelnde Frauenzimmer sind mir etwas Grässliches. Wenn so etwas auf dem Tanzboden vorkommt, gehe ich immer mit dem Wassereimer dazwischen. Das konnte ich hier nicht.

Also ich ließ das Schwert fallen, steckte die Hände in die Hosentaschen, warf noch einen bedauernden Blick auf den prachtvollen Ochsen, von dem ich mir jetzt gern ein Stück zum Braten abgeschnitten hätte, und überschritt die niedergebrochene Bretterwand und lenkte meine Schritte über die Wiese wieder dem Wege zu.

Unterwegs blickte ich prüfend an meinem Anzug hinab. Gott sei Dank, er hatte nicht gelitten und zeigte auch keine Blutspuren. Wenn ich nur gewusst hätte, ob nicht etwa das Vorhemdchen und der Kragen von Marys Bräutigam mit Blut bespritzt waren, es war doch Sonntag, es wäre doch genierlich gewesen...

»Hallo, Sir!«, erklang es da hinter mir, als ich eben wieder jene Eiche passierte.

Es war ein Diener, der mir nachgelaufen kam, kein römischer, sondern ein moderner, in reicher Livree. Das Kerlchen sah aus wie ein herausgeputzter Affe.

»Na?«

»Die Lady lässt den Herrn höflichst bitten, sich zurückzubegeben, sie möchte ihrem Retter danken.«

Ich überlegte nicht lange. Meine Neugier war doch rege geworden, zu erfahren, was für eine Bewandtnis es mit dieser römischen Milchwirtschaft habe. Und dann sollte die nicht etwa denken, ich könne nur einen Stier fällen, sonst aber sei ich zwei Meter langer Kerl ein schüchterner Mensch. O, ich war ein feiner Bengel, wenn ich's nur sein wollte!

Also ich drehte um. Der geputzte Affe trippelte neben mir her.

»Wer war denn die Dame, die mit dem Thronsessel umfiel?«, fing ich zu fragen an.

»Sie wissen wirklich nicht, wer das ist?«, erklang es erstaunt.

»Na, sonst würde ich doch nicht erst fragen!«, wurde ich gleich grob. Ich kann solch eine dumme Fragerei für den Tod nicht leiden. Hei, solch einen sollte ich einmal unter meinem Kommando an Bord haben! Mit dem würde ich aber längs fahren!

»Die Lady Blodwen von Leytenstone«, war jetzt die kleinlaute Antwort.

Mir gänzlich unbekannt.

»Haut die immer so?«

Der Diener duckte sich im Gehen gleich zusammen. Und dann versicherte er das Gegenteil.

»O, wir haben es hier sehr gut, können über nichts klagen.«

Es hatte das Gegenteil herausgeklungen. Es war eine Sklavenseele. Und mit dieser Erkenntnis kam mir das Bewusstsein, dass ich ein Steuermann war, der kraft seines internationalen Patentes den größten Dampfer über den Ozean führen durfte, und dieser Mensch neben mir ein Lakai, und dass es sich daher für mich nicht schickte, ihn über seine Herrin auszufragen.

Ja, ich konnte maßlos stolz sein! Ich machte wohl vor dem Mädel, das ich auf dem Tanzboden engagierte, einen Bückling, aber sonst hat wohl selten ein Mensch den Kopf so stolz im Nacken getragen wie ich damals! Nur der Kapitän, dem ich mich für eine gewisse Zeit verheuert, hatte über mich zu befehlen, sonst war ich keinem anderen Menschen auf der Erde Respekt schuldig. Und ich glaube, er ist gesund, dieser Stolz.

Wir durchschritten den Park. Viele Statuen, niedliche Tempelchen, auch die großen Wohngebäude, alle mit blendend weißen Fassaden, reich geschmückt mit Säulen, durchaus in römischem Stil gehalten. Eine richtige römische Villa.

Unter einer solchen verstand der alte Römer etwas anderes als wir heute. Sie entsprach unserem heutigen Schloss, welcher Begriff aber auch schon verdreht wird. Das Schloss, in dem Menschen wohnen, und das Türschloss haben ein und denselben Ursprung. Abgeschlossen... nämlich von der übrigen Welt. Ein Schloss muss seine Bewohner selbstständig ernähren können, seine Mauern müssen Handwerker aller Art beherbergen.

Das verlangte der alte Römer auch von einer Villa. Villa bedeutet ja übrigens auch Stadt, richtiger Flecken, Gemeinde, und noch heute werden in Italien kleinere Städtchen Villas genannt.

Unsere heutigen Villen und Schlösser sind verständnislose Nachäffungen. Nur auf Rittergütern findet man noch das ursprüngliche Verhältnis, und dann besonders in der ›Residenz‹ des reichen Engländers, wo mindestens Hauslehrer, Hausarzt und Hauskaplan vorhanden sein muss.

Hier hatte ein Engländer seiner Residenz einmal das Aussehen einer altrömischen Villa gegeben; auch im persönlichen Äußeren strebte man nach diesem Stile. Ich konnte dies alles recht wohl begreifen. Wenn ich Geld hätte, ich würde mein Leben auch nach meinem Geschmacke einrichten.

»Ist die Dame verheiratet oder noch ledig — 's ist nur wegen der Anrede«, meinte ich noch einmal zu dem Diener.

»Lady Blodwen ist die hochedle Gemahlin Seiner Herrlichkeit des vor vier Jahren selig gestorbenen Lords von Leytenstone.«

»Das heißt mit kürzeren Worten ausgedrückt: Sie ist Witwe.«

»Sehr wohl, mein Herr.«

»Gut! Übrigens bleibt es dann ja sowieso bei Mylady.«

Es ging durch eine Säulenhalle, einige breite Stufen hinauf, von steinernen Löwen bewacht, welche nicht so ausreißen konnten wie vorhin der lebendige, dann in eine weite Halle, gerade durch ihre steinerne Nacktheit wieder an altrömische Zeiten erinnernd, nicht minder aber durch prachtvolle Mosaiken und Wandgemälde — und in der Mitte der Halle saß sie schon wieder auf einem Thronsessel, immer noch als römische Patrizierin, immer noch umgeben von einer römischen Leibwache.

Wirklich ein famoses Frauenzimmerchen! Dieser knabenhafte Trotz in dem kleinen Gesichtchen gefiel mir. Das war einmal etwas ganz anderes. Mit der hätte ich nur immer Extratouren getanzt, es hätte kosten können, was es wollte. Und Witwe? Ich hätte sie eher für ein Mädchen gehalten. In dieser Beleuchtung sah sie wie höchstens achtzehn aus.

Was mich selbst anbetrifft, so sei nur bemerkt, dass ich die Hände aus den Hosentaschen genommen hatte. Ich wusste, was Anstand ist.

Jetzt versuchte sie ein recht strenges Gesicht zu machen.

»Wie heißen Sie?«, erklang es kurz, fast schroff.

Oho! Das fuhr mir gleich in die Nase. Na, ich wollte einen Pflock zurückstecken. Mit solchen reichen Herrschaften, die gar keine Lebenserfahrung haben und zwischen speichelleckenden Schranzen und Lakaien großgeworden sind, muss man etwas Rücksicht haben.

»Richard Jansen«, entgegnete ich also und machte nach hinten meinen elegantesten Kratzfuß.

»Das ist kein englischer Name.«

»Nein, aber ein deutscher — ich bin aus Danzig — ein echter Danzikmann.«

»Was sind Sie?«

»Steuermann.«

»Auf einem Schiffe?«

»Na, dachten Sie etwa auf'm Kutscherbocke?«, fuhr es mir heraus.

Über ihr blasses Gesicht huschte etwas, es war ein heiterer Zug, sie biss sich heimlich auf die Lippen. Doch schnell war sie wieder die unnahbare Aristokratin — was auf mich so den Eindruck von kindlicher Spielerei machte, die ich gutmütig beobachtete.

»Auf welchem Schiffe sind Sie Steuermann?«, fuhr sie dann in ihrem herrischen Examen fort.

»Zuletzt war ich auf der ›Helios‹ — von Liverpool nach Valparaiso und zurück nach London. Vor sechs Wochen wurde ich abgemustert. Seitdem liege ich an Land.«

»Wo wohnen Sie?«

»In der Cable Street — Nähe von WestindiaDock.«

»Nummer?«

»Nummer 277.«

»Wohnen Sie da bei anderen Leuten?«

Was wollte die eigentlich von mir? Behandelt man so seinen Lebensretter? Na, ich blieb ruhig. Kratzfüße freilich machte ich nicht mehr.

»Jawohl, bei einem Boardingmaster.«

»Boardingmaster? Ah, ich verstehe. Wie heißt der Mann?«

»Benjamin Franklin. Das ist aber nicht der, der den Blitzableiter erfunden hat, das ist ein anderer.«

Wieder zuckte es in dem hübschen Gesicht, wieder biss sie sich auf die Lippen.

Dann schwieg sie lange, blickte mich unverwandt an. Mir wurde es nach und nach zu viel. Um zu zeigen, wer ich eigentlich war, steckte ich die linke Hand in die Hosentasche und klimperte mit dem Reste von Marys zwei Schillingen, mit der rechten holte ich meinen silbernen Zahnstocher hervor und benutzte ihn.

Endlich hatte sie mich lange genug betrachtet.

»Herr Jansen, Sie haben mir...«

»Bitte, Mylady — Herr Steuermann«, korrigierte ich sie sofort, um zu zeigen, dass ich auch was war, und sie nahm die Zurechtweisung ohne Wimpernzucken an.

»Herr Steuermann, Sie haben mir das Leben gerettet.«

Ich nahm die Hand aus der Tasche und den Zahnstocher aus dem Munde. Denn jetzt sprach sie wieder, wie sich's gehört.

»Sie haben mir das Leben gerettet, Herr Steuermann.«

»O, Mylady, was das anbetrifft — das war nur meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit — überhaupt war ich ja erst daran schuld, dass Sie in Gefahr kamen, ich muss deswegen noch um Entschuldigung bitten.«

»Sie hatten den Stier geneckt?«

Mir war schon aufgefallen, dass sie sich nicht gleich nach den Einzelheiten erkundigt hatte, wie ich über den Zaun gekommen war und mir nach der Ochse. Wie ich später erfuhr, was ich gleich vorausschicke, war mein Abenteuer doch von einigen Leuten in der Villa beobachtet worden, man hatte es der Lady bereits hinterbracht.

»Nein, Mylady. Ich necke niemals einen Menschen, noch weniger einen Ochsen. Ich blieb einmal stehen, das Biest wurde wahrscheinlich eifersüchtig auf mich, und nachdem es mich einige Male um einen Baum gejagt hatte, erspähte ich jenen Zaun als meine Rettung. Dass es so kommen würde, konnte ich nicht ahnen. Ich bitte um Entschuldigung.«

Wieder ein minutenlanges Sinnen und Michanblicken.

»Trotzdem«, hob sie dann wieder an, »Sie haben mir das Leben gerettet. Ohne Sie wäre ich jetzt zer... genug! Ich möchte Sie belohnen.«

»O, Mylady, davon ist gar keine Rede...«

»Still!«, unterbrach sie mich herrisch. »Ich nehme nie etwas umsonst an, und Wohltaten muss man überhaupt vergelten. Wissen Sie, wer ich bin?«

»Die Lady Blodwen von Leytenstone.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe vorhin den Diener danach gefragt, der mich zurückholte.«

»Was haben Sie den Mann sonst noch gefragt?«

»Gar nichts weiter. Nun ja, ob Sie immer so mit Ohrfeigen um sich werfen, wie ich es vorhin sah, was eigentlich auch ganz in der Ordnung war, denn verdient hatten's diese römischen Helden.«

Wieder blickte sie mich lange an.

»Was haben Sie den Diener sonst noch über mich gefragt?«, fuhr sie dann ungerührt fort.

»Gar nichts weiter — auf Ehre nicht — fragen Sie'n doch selbst.«

»Wie kommen Sie eigentlich hierher?«

»Nu, heute ist doch Sonntag — und ich habe doch sonst nichts weiter zu tun — da habe ich so einen kleinen Spaziergang gemacht.«

»Ganz zufällig kamen Sie hierher?«

»Ganz zufällig.«

»Sie wussten nicht, dass dies die Residenz der Lady Leytenstone ist?«

»Nee.«

»Aber Sie haben doch schon von der Lady Blodwen von Leytenstone gehört!«

»Nee.«

»Wie, Sie hätten überhaupt noch nichts von der tollen Lady Blodwen gehört?!«

»Nee.«

»Von der Lady Leytenstone, die seit vier Jahren mit der englischen Krone prozessiert?«

»Nee.«

»Von der tollen Lady Blodwen, die unter Kuratel steht?«

»Nee.«

»Ja, lesen Sie denn gar keine Zeitungen?!«

»Nee.«

»Haben Sie schon gespeist?«

Ich hätte bald laut aufgelacht. Dieser plötzliche Wechsel der Fragen wirkte auf mich urkomisch. Dann aber wirkte auf mich der liebliche Klang, der in dieser letzten Frage lag. Haben Sie schon gespeist — aaah, wie appetitlich das klang — das schmeckte schon nach einem handgroßen Beefsteak mit Bratkartoffeln. Jawohl, gespeist hatte ich heute schon einmal — vor sechs Stunden — Butterbrot mit kaltem Käse. Von der Fatje Mine hatte ich heute Mittag nun sowieso nichts mehr zu erwarten, meine Antwort war daher schnell gefasst.

»Nee.«

»Ich darf Sie wohl als meinen Gast bewirten?«

»Wird mit Dankbarkeit akzeptiert.«

»Und inzwischen überlegen Sie sich, was für einen Wunsch ich Ihnen erfüllen kann.«

»Hören Sie, Mylady, das geht wirklich gegen meine...«

Eine gebieterische Handbewegung schnitt mir das Wort ab, und es war wirklich eine Handbewegung, gegen die nicht so leicht ein Widerspruch aufkommen konnte.

Die Dame hatte sich erhoben, hob auch die Hand, und fast feierlich erklang es:

»Ich bin die Lady Blodwen von Leytenstone. Verstehen Sie, was das heißt? Ich gestatte Ihnen, an mich eine Bitte zu richten. Und dieser Wunsch soll Ihnen erfüllt werden. Was es auch sei. Verstehen Sie? Was es auch sei! Was es auch sei!!! Die Sterne vom Himmel kann ich natürlich nicht herunterholen. Aber sonst — bei Thor und Odin! — Ihr Wunsch soll erfüllt werden! Das spricht die Lady Blodwen von Leytenstone! Und nun gehen Sie und überlegen Sie reiflich!«

Ich muss offen gestehen: Ich war wie niedergedonnert. Wie das Mädel nur dastand, etwas vorgeneigt, die Hand erhoben, einen Finger schüttelnd — und nun diese blauen, weitgeöffneten Augen, wie das plötzlich aus denen blitzte — und dann diese Worte, mit solch einer Wucht gesprochen — »bei Thor und Odin!!«, — na, kurz und gut, ich langer Geselle wurde ganz kopfscheu. Ein Diener mit silbernen Fransen und Klunkern machte vor mir eine Verbeugung, was ich für eine Einladung hielt, ihm zu folgen — ich tat es.

— • —

3. Kapitel
Wie ich speiste und mir dann
etwas nicht gefallen ließ

Originalseiten I.31 — 40

Welchen Weg ich nahm, bis ich in ein kleines Zimmer geführt wurde, weiß ich nicht mehr. Wirr jagten die Gedanken durch meinen Kopf. Himmel, welche Zukunft eröffnete sich meinen Augen! Ich sah mich schon am Ziele meiner sehnlichsten Wünsche, die bereits den Inhalt meiner Kinderträume gebildet hatten.

Wenn die mir 50 000 Taler pumpte! Ich wollte sie ihr gut verzinsen. Ach, schon 30 000 Taler genügten! Dafür bekommt man schon ein Schiff. Wenigstens genügt dann die Anzahlung, und man hat noch immer Kapital für Versicherung und dergleichen in Händen. Und was wollte ich nicht aus meinem Schiffe machen! Und mochte es auch ein noch so elender Holzkasten sein — aber eine Besatzung wollte ich zusammentrommeln und ausbilden, wie die Welt sie noch nicht gesehen hatte! Und als selbständiger Kapitän würde ich nicht mit dem lieben Gott in Frankreich tauschen! Freilich hieß es dabei arbeiten, dass die Schwarte knackte! Aber was gibt es denn Schöneres im Leben, als arbeiten, besonders, wenn man Erfolg dabei hat? In drei Jahren musste das Schiff mein schuldenfreies Eigentum sein. Und nun dann erst — ach, ihr gekrönten Fürsten der Erde, was für willenlose Sklaven seid ihr gegen mich!

Nun kennt man mein Ideal. Es war nicht so leicht zu verwirklichen. Wer pumpte einem armen Schlucker wie mir 30 000 Taler? Und soll sich einmal ein Seemann, der gegen Heuer arbeitet, so viel zusammensparen. Da war es wirklich besser, er verjuxte die in zwei schweren Jahren erarbeiteten sechshundert Taler in drei Tagen. Da hatte er wenigstens eine schöne Erinnerung davon.

Außerdem wird man mir zugestehen müssen, dass ich trotz allen anmaßenden Stolzes, der mich manchmal packte, höchst bescheiden war. Ich wollte nichts geschenkt haben, ich dachte sofort an eine Verzinsung, und ich dachte nicht gleich an Millionen, mit welchen sonst bei Schiffstaufen gerechnet wird. Auch meine Lebensansichten waren gewiss sehr gesund. Ein Leben ohne Arbeit konnte ich mir gar nicht vorstellen.

»Ihr Wunsch soll erfüllt werden. Was es auch sei. Ich bin die Lady Blodwen von Leytenstone. Ihr Wunsch soll erfüllt werden — bei Thor und Odin!«

Diese Worte hallten noch mit Wucht in meinen Ohren. Und wenn ich sie nun beim Worte nahm? Ich dachte einmal an eine Forderung von Millionen. Mit einer Art von Schamgefühl verwarf ich diesen Gedanken schnell wieder.

Dann hatte sie selber gesagt, dass sie unter Kuratel stände. Aber dass sie mir 30 oder 50 000 Taler verschaffen könnte, daran zweifelte ich trotzdem nicht. Wer in solch einer Residenz lebt, sich solch kostbare Spielereien leisten darf, der muss auch solch eine Summe auftreiben können. Die Kuratel hebt doch nur das Verfügungsrecht über das Kapital auf. Zu dieser Erkenntnis reichten meine Lebenserfahrungen aus.

Der Anblick eines gedeckten Tisches rüttelte mich aus meinen Träumereien auf, indem ich mir sagte, dass ein Beefsteak im Magen besser als ein fremder Ochse auf der Wiese ist.

Es war ein sehr kleines Zimmer mit wenigen Möbeln, aber prachtvoll, ganz eigenartig. Ich wurde durch Mosaik und Wandgemälde lebhaft an die Räume des ausgegrabenen Pompeji und Herculaneum erinnert, die ich gesehen hatte. Nur stellten die Gemälde Szenen aus dem altchristlichen Leben dar, desgleichen die Glasmalereien der Fenster, und... da an der Glastür war ja auch mein lieber Petrus, dem ich meine unzerschundenen Hände und meine heilen Hosen verdankte! Er war nicht allein, sondern in Gesellschaft der anderen elf Apostel.

Doch gegenwärtig war für mich die Hauptsache, dass der Tisch schon gedeckt war. Der Diener mit den silbernen Klunkern servierte schnell. Erst kam Suppe, Bouillon mit Spargel, Blumenkohl und Gott weiß was. Dann gab es Fisch — einen Fisch, dem ich Salzwasserratte im Meere noch nicht begegnet war.

Er schmeckte ja recht gut, hatte nur ein bisschen viel Gräten, und sonst — hm — ich dachte sehnsuchtsvoll an meinen gefällten Ochsen, von dem mir ein Stück aus den Rippen heraus viel lieber gewesen wäre.

Da kommt der Klunkermann schon wieder und bringt auf einer silbernen Platte zwei mächtige Beefsteaks! Na, dann ließ ich es mir gefallen. Dass auf den Beefsteaks ein ganzes Gemüsebeet arrangiert war, wäre gar nicht nötig gewesen.

Ich hatte das zweite Beefsteak noch nicht ganz aufgegessen, als der Lakai abermals hereinkam und... einen großen Vogel angeschleppt brachte. Nämlich einen gebratenen! Auf der Platte!

Und da ging mir die große Ahnung auf! Ich sollte ja speisen! Speisen!!! Und ich speiste Table d'hôte! Ahaaa!!!

Ich hatte schon viel von Table d'hôte gehört und gelesen, aber selber Table d'hôte gespeist hatte ich noch niemals. Schon seit sechs Jahren, nein, seit acht Jahren, seitdem ich als Matrose fuhr, hatte ich, wenn ich abgemustert war und Geld in der Tasche hatte, immer gern einmal in einem Hotel Table d'hôte speisen wollen, war aber nie dazu gekommen. Wenn ich's ausführen wollte, war immer das Geld schon alle gewesen. Ich hatte immer den geschminkten Frauenzimmern zu viel Champagner in den Hals gegossen, und dann musste ich wieder trocken Brot knabbern.

Und nun endlich sah ich mein Ideal, soweit es das Essen anbetraf, verwirklicht! Ich speiste Table d'hôte! Wirklich, es war mir ganz feierlich zumute, als ich mich über den gebratenen Vogel hermachte. Als sich dann später meine Kenntnisse in der gebratenen Zoologie erweiterten, erinnerte ich mich, dass es ein Fasan gewesen war. Innerhalb einer Viertelstunde hatte ich ihn tadellos skelettiert. Und da kam schon wieder etwas anderes — etwas, was ich nicht entziffern konnte — so ein kunterbuntes Gemengsel, das halb nach Fleisch, halb nach Gurke, halb nach Sirup und nach Gott weiß was schmeckte. Aber gut schmecken tat's. Und so ging das weiter. Immer eine Schüssel nach der andern kam herein. Gezählt habe ich sie nicht.

Der silberne Klunkermann grinste manchmal. Ich ließ ihn grinsen. An Bord meines Schiffes hätte er es freilich nicht tun dürfen.

Zuletzt kam Brot, Butter und eine große Platte mit verschiedenem Käse, wo ich noch einmal tüchtig hineinhaute. Dann war ich wirklich satt. Behaglich lehnte ich mich zurück, streckte die langen Beine aus, und jetzt kam mir voll und ganz zum Bewusstsein, was ein silberner Zahnstocher zu bedeuten hat.

Nachdem ich den Genuss des Stocherns genügend ausgekostet hatte, ergab ich mich einem zweiten Genusse: meinem Kalkstummel und Marys Tabak. Sie war doch wirklich ein Engel, die Mary. Aber die Lady Leytenstone war auch nicht schlecht.

Versteht der Leser, was hiermit angedeutet werden soll? Frauenzimmer war damals Frauenzimmer für mich. Küchenmagd oder Ihre Herrlichkeit die Lady von Leytenstone oder die Großherzogin von, auf und zu Estremadura und Kaiserin der noch unentdeckten Weltteile — mir ganz schnuppe, ich pfiff auf den ganzen Schwindel! Die Hauptsache war, dass mir das Mädel gefiel. Und links herum tanzen musste sie können. Die Mary hatte so rote, aufgesprungene Pfoten, und Ihre Herrlichkeit die Lady von Leytenstone hatte ein so herrisches Wesen. Die hätte ich einmal ein halbes Jahr an Bord unter meiner Fuchtel haben sollen, da würde ich den roten Trotzkopf mir bald dressieren, und dann würde sie mir vielleicht auch gefallen.

So kalkulierte ich. Ach, hätte ich glücklicher Jüngling damals geahnt, wie vermessen ich das Schicksal herausforderte! Wie es Weiber gibt, welche jeder Berechnung spotten!

Zu erwähnen vergaß ich, dass auf dem Tische eine Flasche Rotwein und eine Flasche Weißwein gestanden hatten. Die Flasche Weißwein hatte ich geleert, der Diener brachte unaufgefordert eine zweite, die, als abgeräumt wurde, ebenfalls bis auf den kleinen Rest verschwand, den schlürfte ich jetzt, und als der Klunkermann nicht von selbst wiederkam, machte ich mich einstweilen an die Flasche Rotwein.

Der Wein war schwer, sehr schwer. Aber drei Flaschen rührten mich gar nicht, ein halbes Dutzend nicht. So wie gestern Abend — na, da hatte ich den Grog aus Blecheimern getrunken, ohne Wasser, den schieren Rum.

Auch die Flasche Rotwein wurde unter Träumereien aller Art geleert. Unterdessen mussten doch schon zwei Stunden vergangen sein. Jetzt hätte jemand kommen können, um mich zu holen. Mein Wunschzettel war geordnet.

Eine Klingel war nicht zu sehen. Ich ging einmal nach der Tür, an deren Glasscheibe die zwölf Apostel in allen Farben prangten. Es war eine kunstvolle Glasmalerei. Was die zwölf Apostel machten, war mir nicht recht erklärlich. Eine allgemeine Unterhaltung. Petrus stand da, als wolle er Paulussen in den Bauch boxen, und Judas bückte sich, und Johannes schien einen Anlauf zu nehmen, als wollten die beiden Bockspringens machen. Die Tür klemmte sich. Nein, sie war — sie war — — nanu, die Tür war ja von draußen zugeschlossen!? Wahrhaftig, als ich mich bückte, sah ich im Schloss von draußen den Schlüssel stecken! Einfach abgesperrt! Ich ging nach den Fenstern, wollte rufen — die beiden hohen Fenster waren von innen überhaupt nicht zu öffnen. Nochmals nach der Tür, ich konnte es gar nicht fassen — aber es war und blieb Tatsache, man hatte mich eingeschlossen.

Himmelbombenelement noch einmal, Klüverbaum und Katzenschwänze!!!

Ich weiß nicht — mir stieg das Blut plötzlich siedend heiß zum Kopfe empor. Ich wurde ganz wild. Eingeschlossen sein — entsetzlicher Gedanke für mich! Wenn ich alles vertragen kann — nur das nicht!

In Colombo auf Ceylon sollte ich einmal vierzehn Tage eingesperrt werden. Ich hatte so einen malaiischen Polizisten verhauen. Ich hielt's keine Stunde aus. Mit einem Anlauf rannte ich die ganze Mauer ein, riss ein paar Türen aus den Angeln, und dann war ich im Freien. Ein brauner Soldat wollte auf mich schießen. Ich nahm ihm das Gewehr weg, nahm das Kerlchen untern Arm, nahm es gleich an Bord meines Schiffes mit, wo ich ihn erst bezecht machte, ehe ich ihn laufen ließ.

Und nun hier...

Ich klopfte, ich donnerte mit der Stiefelhacke gegen die Tür, bis ich für das Schicksal der zwölf Apostel fürchten musste. Ich wartete und donnerte weiter — niemand kam.

Nein, das konnte so nicht weitergehen. Ich lasse mich nun einmal nicht einsperren! Da hörte doch wahrhaftig alles auf.

Die Glasscheibe in der Tür saß tief genug, um, wenn ich hindurchgriff, den Schlüssel erfassen zu können. Nur musste ich dazu erst ein Loch ins Glas machen, musste gerade zwischen die Beine des heiligen Jakobus hindurch greifen, der sehr breitbeinig dastand. (Ich kenne die Gestalten der zwölf Apostel daher so gut, weil ich hatte Pastor werden sollen.)

Nein, das war doch nicht gut angängig. Aber ich lasse mich nicht einsperren! Also ich hob den Fuß, ein Druck, und knallend sprang die Tür auf. Freilich auch unter einem Klirren von Glas. Denn nun waren dabei die sämtlichen zwölf Apostel in die Brüche gegangen. Ich konnte ihnen nicht helfen.

Und draußen zwischen den Glastrümmern stand ein alter Mann — kein Römer, auch kein silberner Klunkerfritze, sondern ein würdevoller Herr in schwarzem Anzuge und machte eine Bewegung, als wolle er die Hände über seinem grauen Haupte zusammenschlagen, war aber dessen nicht fähig, er zitterte an allen Gliedern.

»Mein Gott, was machen Sie denn da?!«, jammerte er.

Ich war noch sehr erregt.

»Die Tür habe ich aufgemacht!!«, schnauzte ich ihn an. »So 'ne Gemeinheit, mich hier einzuschließen!«

»Sie haben die Glasscheibe zerbrochen«, jammerte der Alte weiter.

»Mir ganz egal, ich lasse mich nicht einschließen.«

»Das war eine Glasmalerei von dem berühmten Sandrock!«

»Mir ganz egal — und wenn Raphael oder der Prinz von Wales sie gemalt hätte — ich piepe darauf — ich lasse mich nicht einschließen!«

»Das war eine absichtslose Unüberlegtheit des Dieners.«

»Eine absichtslose Unüberlegtheit? So! Geben Sie mir den Kerl mal her, dass ich ihm Überlegtheit beibringe — übers Knie — und das absichtlich!«

»Aber, mein lieber Herr, seien Sie doch nicht gleich so böse, es soll ja nicht wieder vorkommen!«, flehte der alte Herr und wackelte angsterregend mit Kopf, Händen und Knien.

»Das will ich mir auch stark verbitten!«, schnauzte ich noch immer.

»Aber mein lieber, lieber Herr, seien Sie doch nicht so böse!«, flehte jener nochmals.

Schnell war mein Zorn wieder verraucht. Wie der Alte mit den weißen Haaren so bettelte, wie er so kläglich dastand, an allen Gliedern wie Espenlaub zitternd — er tat mir leid. Wie ich später erfuhr, war es ein permanentes Zittern. Er litt am Tadderich. Nicht vom Suff, sondern aus Altersschwäche.

»Aber die bemalte Glasscheibe bezahle ich nicht!«

»Ach, wer spricht denn davon? Die Lady erwartet Sie. Sie sollen ihr doch Ihren Wunsch vortragen.«

Mein Entschluss war schnell gefasst. Ich hatte mich ja hier nicht gerade in angenehmer Weise aufgeführt; aber dass die zwölf Apostel zersplittert am Boden lagen, das war nicht meine Schuld. Und ein heimliches Verduften gibt's bei mir überhaupt nicht. Ich wollte mich schon rechtfertigen, und war die Dame vernünftig, so achtete sie diesen Zwischenfall gar nicht, andernfalls... von einem unvernünftigen Menschen mag ich gar kein Geld geliehen haben.

Also ich ging mit, wieder in jenen Saal zurück, wo die Lady noch immer oder schon wieder auf ihrem Throne saß, umgeben von ihrer Leibwache. Sie hatte Papiere in der Hand, und unten vor den Stufen waren eine Menge Kleidungsstücke ausgebreitet. Ich sah eine Hose, ein Hemd...

Himmel!!! Ich blickte stier hin. Ich traute meinen Augen nicht. Ich rieb sie. Ich blickte wieder hin.

Natürlich! Das waren ja meine Hosen! Das war ja mein Hemd! Das waren meine Sachen! Und dort lag ja auch mein Kleidersack! Und was die Lady in der Hand hatte, das war mein Seefahrtsbuch, waren meine anderen Papiere!!


Illustration

»Ich habe von dem Boardingmaster Ihre Sachen holen lassen«, fing die Lady an. »Es waren einige...«

»Sie haben — von dem Boardingmaster — meine Sachen — holen lassen?«, unterbrach ich sie ruckweise, muss aber dabei im ganzen Gesicht gelacht haben, nämlich weil ich etwas zu hören bekam, was über meinen Horizont ging. Die Lady aber mochte sich dieses Lachen anders deuten.

»Jawohl. Ich habe sie ausgelöst, es waren sieben Pfund und...«

Wieder kam sie nicht weiter.

»Sie haben — bei dem Boardingmaster — ohne meine Einwilligung — meine Sachen ausgelöst?«, wiederholte ich, und diesmal mochte ich ein etwas anderes Gesicht dabei machen, dass sie mich plötzlich ganz erschrocken anblickte.

Und zum Erschrecken hatte sie auch allen Grund. Denn jetzt ging's bei mir los.

»Na, nun hat's bei mir aber dreizehn geschlagen! Lassen die meine Sachen holen!! Machen die meinen Kleidersack auf!! Stänkert das Frauenzimmer in meinen Papieren herum!! I du armseliger Sandsack du... «

Ich weiß nicht, was ich der alles für Titulationen an den Kopf geworfen habe. Ich schimpfte wie ein Rohrspatz. Mein erstes war, dass ich mit einem Satze die Thronstufen hinaufsprang, dem Weibsbilde meine Papiere aus der Hand riss, und dann, immer schimpfend, warf ich meine Sachen in den Kleidersack, schnürte ihn zu, hockte ihn auf den Rücken und wandte mich dem Ausgang zu, immer noch schwadronierend.

»Ihr wärt mir gerade die rechten, meine Schulden zu bezahlen, die ich selber gemacht habe! Ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht so eine Frechheit vorgekommen. Das wagt sich ja kein Kapitän — von der Polizei gar nicht zu sprechen — und ihr unverschämtes Landgesindel...«

Ich befand mich schon draußen, strebte schon wieder der Wiese zu. Wirklich, meine Aufregung war furchtbar. Und wer mich begreift, wird es verständlich finden. Soll einmal ein Fremder oder auch ein guter Freund in eines Geschäftsmannes Geldschrank herumstänkern. Da hört die Freundschaft auf. Und mein Kleidersack war mein Heiligtum. Dazu kam nun im besonderen noch mein ganzer Charakter, mein grenzenloser Hang zur Selbständigkeit. Ohne diesen Hang und Drang wäre ich jetzt schon Pastor gewesen.

Mit den 50 000 Talern war es nun freilich vorbei. Auch mit den 30 000. Machte nichts. Lieber sich sein ganzes Leben lang mit halsstarrigen Segeln herumbalgen, als so einen eigenmächtigen Griff in seine heiligen Rechte dulden.

— • —

4. Kapitel
Die Doppelgängerin und was
ich über Lady Blodwen erfuhr

Originalseiten I.40 — 65

Aber ich sollte wiederum nicht weiter als bis zu jener Eiche kommen, die mir eben das Schicksal als meine Grenze gesetzt zu haben schien. »Ach, mein lieber, lieber Herr«, erklang es hinter mir im jämmerlichsten Tone.

Es war wieder der Alte, keuchend und zitternd, dass ich in meiner Phantasie schon seinen Kopf im Grase liegen sah.

»Na, was gibt's denn immer noch?«

»Ach, mein lieber, lieber Herr, kommen Sie doch wieder zurück!«

»Weiter fehlte nichts«, musste ich ob solch einer naiven Zumutung denn doch lachen.

»Die Lady hatte es doch nur gut mit Ihnen vor«, fuhr der Alte in weinerlichem Tone fort. »Ich habe es ihr ja auch gleich gesagt, dass sie Ihre Sachen nicht so ohne Weiteres holen lassen dürfte — dazu müssten Sie erst Ihre Einwilligung geben — so etwas ließe sich kein Gentleman gefallen — aber wie Lady Blodwen nun einmal ist — die muss mit dem Kopf durch die Wand — und die weiß ja gar nicht, wie es in der Welt zugeht — es ist ein hinter Mauern aufgewachsenes Kind — und wenn Sie wüssten, wie unglücklich die ist — und wie die jetzt weint und jammert, dass Sie so fortgelaufen sind — dass Sie sich gekränkt fühlen — wo sie es doch nur gut gemeint hatte...«

Ich hatte nur eines herausgehört.

»Was, weinen tut sie?«, fragte ich förmlich erschrocken, wohl auch etwas ängstlich.

Ich kann kein weinendes Weib sehen. Und überhaupt, in mir grobem Patron steckte ein gar weiches Herz! Wenn jemand bittend zu mir sprach, in solch einem flehenden Tone, wie jetzt dieser zittrige Alte hier, und er verlangte mein Hemd von mir — — ich zog es aus und gab es ihm.

»Ach, mein lieber, lieber Herr, wenn Sie wüssten, was für eine unglückliche Frau Lady Blodwen ist — was alles für Jammer und Elend hinter diesem Reichtum und Glanz steckt — und die Lady hatte gehofft, in Ihnen endlich einmal einen Menschen zu finden, dem sie vertrauen darf — Sie sollten eine Erklärung bekommen...«

Es war wahrhaftig nicht die Neugier, was meine Schritte plötzlich wieder zurücklenkte. Ich sah vor meinen Augen nur immer das weinende Weib.

Also zum dritten Male an diesem gesegneten Tage hielt ich in der römischen Villa meinen Einzug. Es war ein anderes, aber jenem ganz ähnliches Zimmer, in das mich der Alte führte. Nur die zwölf Apostel fehlten an der Tür.

»Nun gedulden Sie sich wohl einige Minuten«, winselte der Alte, der wohl überhaupt nur winseln konnte.

»Ja, aber Sie dürfen mich nicht wieder einschließen.«

»Ach, denken Sie doch nicht an so etwas! Das war ja nur ein Versehen. Es wird gleich eine Dame zu Ihnen kommen, Mrs. Milner heißt sie, eine Cousine der Lady Blodwen, die gegenwärtig hier weilt. Die wird Ihnen alles erzählen.«

»So? Eine Cousine? Warum kommt denn die Lady Blodwen nicht selber?«

»Weil — weil... Mrs. Milner wird Ihnen ja alles erklären. Wollen Sie unterdessen eine Erfrischung zu sich nehmen?«

Vor meinen geistigen Augen tauchte sofort der große gebratene Vogel auf, der mir nämlich ausgezeichnet geschmeckt hatte, und ich war tatsächlich imstande, wieder ein ganzes Menü abzuessen. Jedes Mal, wenn ich zornig gewesen bin, bekomme ich Appetit.

Nur schade, dass neben dem Bratvogel auch gleich eine Flasche Limonade auftauchte! Unter ›Erfrischung‹ verstand ich damals nämlich Limonade.

»Na, aus einer Erfrischung mache ich mir nicht viel — aber ein solider Bissen wäre mir schon recht.«

Der Alte zitterte hinaus. Statt seiner erschien bald darauf wieder solch ein Kerl mit Kniehosen und silbernen Klunkern... der Schutzpatron aller Wasserratten sei gepriesen! — Ich erkannte schon von weitem, dass die Flasche auf dem Tablett keine Limonade, sondern Wein enthielt. Und dann Brotschnitte mit Kaviar, Sardellen und Lachs. Es schmeckte alles sehr gut, nur war das Brot zu dünn geschnitten. Es hätte überhaupt mehr sein können.

Eben schob ich den letzten Bissen hinter das Gehege meiner Zähne, als der Klunkermann wieder erschien. Diesmal ließ er die Tür hinter sich offen, es musste überhaupt etwas Besonderes kommen, der Kerl machte drei so abgezirkelte Schritte und blieb dann so verdächtig stehen.

»Mrs. Milner«, meldete er nach einer Verbeugung — einen Schritt nach rechts und eine Verbeugung — drei Schritte zurück und eine Verbeugung — nun links um und eine Verbeugung... bis das possierliche Kerlchen endlich draußen war. Draußen aber, glaube ich, knickte er noch ein paarmal zusammen.

Und da kam es hereingerauscht, eine Flatterei von Spitzen und Schleifchen und Bändchen und Tändchen, und ein Duft von solch stinkigem Zeug schlug mir entgegen, was die Leute an Land Parfüm nennen, dass es mir gleich den Atem nahm.

Aber meine Besinnung verlor ich nicht. Ich hatte mich schon in Positur gestellt, der rechte Fuß war bereit, elegant nach hinten hinausgeschlenkert zu werden, nun noch einmal schnell mit dem Handrücken über den Mund gewischt, den ein weißblondes Bärtchen zierte, und dann...

Und dann stand ich wie ein Storch da, nur auf einem Beine, den rechten Fuß etwas in die Höhe gehoben, den Oberkörper etwas vorgebeugt — so stand ich da und stierte die Eintretende an.

I, das war ja niemand anders als die Lady Blodwen selber! Das war doch das hübsche, trotzige Knabengesicht! Unter dem schwarzen Spitzentuch leuchtete doch auch der rote Tituskopf! Dass sie jetzt keine römische Tunika mehr trug, sondern so eine feine Kladderasche anhatte, das konnte mich doch nicht irremachen!

Hinter ihr hatte sich die Tür geschlossen, und jetzt machte sie eine Verbeugung, aber eine ganz merkwürdige, wie ich sie noch auf keinem Tanzboden von einem Frauenzimmer gesehen hatte. Sie trat dabei so eigentümlich zurück.

»Herr Steuermann Jansen?«

Ja, das war auch ihre Stimme, obgleich sie etwas anders klang.

Aber ich habe ein gar musikalisches Ohr. Das Klavier war nur ein bisschen verstimmt.

Ich setzte meinen rechten Fuß langsam zu Boden. Das Auskratzen vergaß ich.

»I, da sind Sie ja selbst, Mylady«, sprach ich jetzt aus, was ich schon gedacht hatte. Ich hatte mein Herz stets auf der Zunge — wenigstens damals noch!

Sie lächelte.

»Sie irren — Mrs. Milner.«

»I, machen Sie mir doch nichts vor!«

»Aber, mein Herr — doch es ist begreiflich — die Verwechslung kommt ständig vor — ich sehe meiner Cousine äußerst ähnlich.«

Mein Blick wanderte an ihrer Gestalt entlang, von unten anfangend. Unter dem Kleide mit mächtiger Schleppe, aber vorn nach damaliger Mode sehr kurz gehalten, sahen die Stiefelchen hervor — Dinger, wie ich sie noch gar nicht gesehen hatte — die Hacken unten mehr in der Mitte und so hoch, dass ich gar nicht begriff, wie ein Mensch darauf balancieren konnte. Diese Stiefel gaben natürlich nicht den Ausschlag. Von den Beinen konnte ich nichts sehen. Die Lady hatte sehr viel Ringe an den Fingern gehabt, die hier hatte sie auch, aber andere. Der auffallende grüne Ring fehlte, und die hier hatte fast lauter rote, Rubinen, von denen bei der Lady gar nichts zu sehen gewesen.

Diese Ringe gaben natürlich immer noch nicht den Ausschlag. Es sollte nur einmal gezeigt werden, wie scharf mein Auge alles beobachtete und gleich erfasste.

Das Gesicht war ganz genau dasselbe, und nun auch noch darin...

Mit ausgestrecktem Zeigefinger schlich ich näher und brachte die Fingerspitze ziemlich dicht in die Nähe des rechten Ohres, wo sich auf der Wange ein rotes Pünktchen zeigte, gar nicht der Rede wert, aber meinen Augen doch nicht entgangen.

»Und ganz dasselbe Pickelchen wie die Lady!«

Sie nahm diese Indiskretion nicht übel, wieder musste sie lachen.

»Aber, mein Herr...«

»Ganz genau dasselbe Pickelchen!«

»Ja, ich weiß wohl — das ist der reine Zufall — ich bin wahrhaftig die Doppelgängerin meiner Cousine. Wollen Sie mir denn nun glauben, wenn ich Ihnen versichere, dass ich nicht Lady Blodwen von Leytenstone, sondern Mrs. Milner aus Chicago, ihrer Mutter Schwesterkind bin?«

Sie sah mich auf eine Weise an, die meine Zweifel schwinden ließen.

»Ja, wenn Sie es selber sagen, dann muss ich's wohl glauben. Nee, aber so 'ne Ähnlichkeit!«

Und ehe ich mich nach ihrer Aufforderung setzte, wie ich die Stuhllehne noch in der Hand hatte, schüttelte ich den Kopf und wiederholte, nach ihr hinschielend:

»Nee, aber so 'ne Ähnlichkeit! Man hält's doch nicht für menschenmöglich! Und sogar ganz genau dasselbe Pickelchen! Nee, wirklich, Sie sehen Ihrer Cousine ähnlich wie ein Stockfisch dem anderen.«

»Sehen sich denn die Stockfische so ähnlich?«, lachte sie unbeleidigt, als sie sich schon gesetzt hatte, mit einem pompösen Fächer zu klappern anfangend.

»Stockfische? Ja. Sie wissen doch, dass der ursprünglich, wenn er noch lebt, Kabeljau heißt. Erst durch Trocknen wird er zum Stockfisch und dabei hört auch jede Physiognomie auf, gerade wie bei den Mumien — und so ist's fast auch bei Ihnen und Ihrer Cousine.«

O, ich war damals ein feiner Bengel! Aber sie amüsierte sich nur über mich, lachte noch immer, und eben das gab mir die Überzeugung, dass ich hier nicht etwa gefoppt wurde. Es musste doch wohl eine andere Person sein, das Gesicht der Lady war sehr herb gewesen trotz alles sonstigen Reizes, die konnte wohl kaum lächeln, und das hier war ja ein ganz heiteres Frauenzimmerchen.

»Sie haben wirklich noch gar nichts über die Lady Blodwen von Leytenstone gehört?«, begann sie dann.

»Nein. Absolut nichts. Ich bin ein Seemann, und auch an Land...«

»Ich verstehe. Gestatten Sie mir nun, dass ich Ihnen über meine Cousine etwas mitteile.«

Sie tat es, nicht nur etwas, sondern ganz ausführlich. Ich gebe es hier in Kürze wieder.

Blodwens Urgroßvater war fast alleiniger Besitzer des Grundes und Bodens gewesen, auf dem sich jetzt die sehr weitläufig gebaute Millionenstadt Chicago erhebt. Schon er hatte parzelliert, der Großvater setzte es fort, Blodwens Vater hatte das riesige Vermögen durch Bauspekulationen noch immer zu vermehren gewusst.

Er starb mit Hinterlassung eines einzigen Kindes: Blodwen. Nach der jetzigen Schilderung, und wie ich dann auch noch später erfuhr, war die Mutter, eine geborene Deutsche, eine sehr simple, stark bigotte Frau gewesen, welche aus der Tochter hinter Mauern eine Heilige hatte machen wollen. Nach ihrem Tode führten Tanten die Erziehung nach derselben Methode fort, dabei wurde die Erbin, die über halb Chicago verfügte, von ihnen vergöttert, man ließ ihr jeden Willen — nur nicht aus den Mauern eines großen Parkes heraus, zwischen denen sich ihre Phantasie erschöpfen musste. Denn Blodwen war schon als Kind sehr phantastisch gewesen, und nun die Erfüllung jeglichen Wunsches — es wurden mir tolle Dinger erzählt, teils in bezug auf kindliche Spielereien und Spielsachen, teils in Bezug auf ihre lebende Umgebung.

Es ist ja begreiflich, dass sich ein Kind, vielleicht besonders ein Mädchen, auf diese Weise ganz eigenartig entwickeln muss. Sechzehn Jahre lang hat sie nichts als kriechende Diener gesehen: wenn sie ihren Lehrer mit Füßen trat und ins Gesicht kratzte, so wurde sie von den Tanten angefleht, doch artig zu sein, und der Lehrer bekam auch ein paar Goldstücke, und ging er, so fand sich doch bald ein anderes, erbärmliches Individuum. Es ist begreiflich, dass solch eine Erziehung für das ganze Leben wirken muss. Blodwen kannte noch heute nur Herren und Sklaven, und ihr Kummer war, dass sie nicht auch den Elementen zu gebieten hatte. Gebieten konnte sie wohl, aber die Elemente gehorchten ihr nicht.

Außerdem aber ließen die guten alten Tanten auch die Verheiratung ihres Lieblings nicht aus den Augen.

Der Freiersmann nahte sich in Gestalt des Lords Archibald von Leytenstone, der sich wegen totaler Verschuldung in Amerika nach einer reichen Frau umsah.

Er war angenehm. Und der Blodwen, ein Kind von sechzehn und einem halben Jahre, brauchte man nur zu sagen, dass sie auf den Gütern des englischen Lords noch bessere Gelegenheit hätte, Sklaven mit Peitschenhieben zu traktieren, so war sie mit allem einverstanden. Auch mochte ihr der ritterliche Kavalier, der selbst so gut mit der Reitpeitsche ›die andern Menschen‹ zu behandeln wusste, imponieren.

Die Trauung erfolgte in England. Das erste war, dass Lord Archibald seine kindliche Frau mündig erklären ließ, was bei der Aristokratie schon in diesem Alter möglich ist.

Sein zweites war, dass er sich von seiner mündigen Gattin Generalvollmacht geben ließ, was wohl nicht schwer gehalten haben mag; was verstand denn das Kind davon, und es genügte ja eine einzige Unterschrift unter ein ausgefülltes Formular.

Nun hatte Lord Archibald freie Hand. Er gab den alten Tanten den Laufpass, verkloppte in Amerika alles, brachte das bare Geld nach England, kaufte seine Besitztümer und fast ganz Leytenstone zurück, das andere legte er sonst wie an — und nun ging es los, jenes Leben, dem er zuletzt nicht mehr hatte huldigen können.

Weiber, Spiel und Suff. Der letztere war seine stärkste Leidenschaft. Blodwen lernte selbst kennen, wie geschickt er die Reitpeitsche zu führen wusste. Einmal hat er sie geprügelt.

Glücklicherweise war dieser Tag sein letzter gewesen. Am anderen Tage fiel der edle Lord in seiner Besoffenheit eine Treppe hinunter und brach sich dabei seinen hochedlen Hals.

Nur ein halbes Jahr hatte diese ideale Ehe gedauert. Man darf wohl glauben, dass Blodwen unterdessen etwas andere Ansichten bekommen hatte.

Sie wollte alles mit ihrem Gelde Erworbene wieder verkaufen, das bare Vermögen von den Banken erheben, um nach Amerika zurückzukehren.

Jawohl, da gab es aber nichts! Das gehörte gar nicht mehr ihr! Das ganze Vermögen hatte sie doch ihrem Manne überschrieben! Sie hatte überhaupt nur noch die Nutznießung.

Ein Kind war nicht in Aussicht. Wenn Lady Leytenstone starb, so teilten sich in den Besitz die Krone und einige Verwandte des Lords. Ja, und wenn die Witwe noch einmal heiratete, so verlor sie schon drei Viertel ihres Vermögens, d. h., dann bezog sie nur noch den vierten Teil ihrer bisherigen Einkünfte. Englisches Adelsgesetz! Daran war nicht zu tippen!

Sie versuchte es dennoch. Die siebzehnjährige Witwe kämpfte um ihr Vermögen wie eine Löwin für ihre Jungen. Ganz vergeblich! Ehrenwerte Advokaten nahmen die Führung des Prozesses gar nicht an. Schwindler fanden sich natürlich genug.

Vier Jahre lang ließ sich Lady Blodwen von solchen Gaunern beschwindeln. Dann sah sie selbst ihre Hoffnungslosigkeit ein. Was nun tun? Es war eben gar nichts zu machen. Mit den Verhältnissen ganz unbekannt, hatte sie sich in ihrer phantastischen Weise sogar an die Regierung der Vereinigten Staaten um Hilfe gewendet, Amerika sollte deswegen mit England einen Krieg anfangen.

Lächerlich? Ich fand das durchaus nicht lächerlich. Man muss sich nur in die Seele solch eines jungen Weibes zu versetzen suchen. Ich selbst an ihrer Stelle hätte vielleicht eine Räuberbande organisiert.

Die Öffentlichkeit dachte hierüber anders, sie beging ja auch sonst tolle Streiche genug — es wurde über sie ein gerichtlicher Vormund gesetzt, sie kam unter Kuratel.

Freilich war das nur dem Namen nach. Der Vormund hätte nicht ihre Residenz betreten dürfen, die tolle Lady hätte ihn mit eigener Hand niedergeschossen oder ihn mit Hunden gehetzt.

Also auch heiraten durfte sie nicht wieder, wollte sie nicht auch noch ihre letzten Rechte verlieren. Dann wäre ihr Vermögen noch bei ihren Lebzeiten geteilt worden.

Es sind niederträchtige Streiche verübt worden, um die Witwe wieder an den Mann zu bringen. In allen Gestalten haben sich die Freiersleute ihr genaht, freiwillige, die sich mit den Zinsen des vierten Teiles für Lebenszeit begnügt hätten, und noch mehr gekaufte, bestochene, die im Auftrage der anderen Erben handelten. Da sind ihr niederträchtige Fallen gestellt worden, selbst vor Vergewaltigungen hat man nicht zurückgeschreckt. Freimütig erzählte mir Mrs. Milner einige solche Fälle. Ich gebe das hier nicht wieder, das gehört der Vergangenheit an.

Nur will ich hier gleich die Namen derer nennen, welche bei der Teilung des Vermögens in Betracht kamen, mit denen Lady Blodwen also den aussichtslosen Kampf führte. Wir haben nämlich mit diesen später noch viel zu tun, denn das sind die Personen, mit denen ich noch auf Leben und Tod ringen sollte, ihnen habe ich es zum größten Teil zu verdanken, dass sich mein Schicksal so furchtbar gestaltete. Doch ich habe einen Grund, nur ihre Vornamen zu nennen. Es sind dies: Lord Hektor, Lord James, Baronet Ralph, Lady Marion. — — —

»Nun können Sie wohl begreifen, warum sich meine Cousine hinter Mauern verbirgt. Bei jedem Bissen, den sie genießt, muss sie an Gift denken. Denn jenen Menschen ist alles zuzutrauen. Aber wiederum ist Blodwen viel zu stolz, um Furcht zu zeigen. Sie hat nur Verachtung. Also nicht etwa, dass sie ihre Speisen erst von einem Hunde kosten lässt. Aber was dabei in ihr vorgeht, können Sie sich wohl vorstellen. Und nicht einmal ins Ausland gehen kann sie. Der gerichtliche Vormund hat durchgesetzt, dass sie über den Empfang der Zinsen und sonstigen Einkünfte aller Vierteljahre quittieren muss, und zwar auf englischem Boden. Nach außerhalb würde sie keinen Penny bekommen. Also wäre sie gezwungen, wollte sie nicht verzichten, aller Vierteljahre nach England zu kommen. So etwas gibt's bei Blodwen natürlich nicht. Nun ist sie eben gezwungen, in England zu bleiben, und mag es auch noch so freiwillig aussehen — es ist dennoch ein Zwang, der ihr am Herzen frisst.«

Sie hatte sehr ausführlich erzählt. Wohl eine Stunde lang. Und ich hatte schweigend zugehört, sie mit keinem Worte unterbrochen, so sehr ich mir auch manchmal Zwang antun musste, z. B. als sie davon anfing, wie der Kerl seine junge Frau geprügelt hatte. Himmeldonnerwetter noch einmal, da... da hatte ich etwas im Halse hinterwürgen müssen.

Auch jetzt sagte ich minutenlang noch kein Wort.

Da aber mit einem Male erscholl in dem Zimmer ein donnernder Krach. Der Tisch neben mir, sonst ein ganz solider, vierbeiniger Tisch, war mit Flasche, Glas und Teller in sich zusammengesunken, lag plattgedrückt am Boden. Und ich hatte doch nur mit der linken Hand daraufgeschlagen. Freilich wohl etwas zu derb.

Man kann sich wohl vorstellen, wie das wirkte. Diese Totenstille, ich sitze bewegungslos da, und plötzlich haue ich mit einem donnernden Krach, mit dem Knalle eines Kanonenschusses, den ganzen Tisch zusammen.

Glücklicherweise schien die Dame starke Nerven zu besitzen. In Ohnmacht fiel sie wenigstens nicht, sprang vielmehr auf, freilich tödlich erschrocken genug.

»Um Gottes willen, was machen Sie denn?!«, stieß sie mit schreckensbleichem Munde hervor.

Auch ich war aufgesprungen, vielleicht nicht minder erschrocken, und starrte auf den platt gewordenen Tisch herab, in dessen Decke Weinflasche, Glas und Teller unversehrt gebettet lagen.

»Ich bitte um Entschuldigung — es geschah nicht mit Absicht«, murmelte ich, »und das war wirklich meine Schuld — ich will den Tisch bez...«

»Ach, das ist ja gar nicht der Rede wert«, unterbrach sie mich, gleich vollständig wieder gefasst, »im Gegenteil, es freut mich, dass sie auf solch kräftige Weise Ihrer Entrüstung Ausdruck gaben; denn das war es doch offenbar, und ich liebe solche Kraftnaturen.«

Erleichtert atmete ich auf, als die Tür aufgerissen wurde und der zittrige Alte angsterfüllt hereinkam.

»Ist denn hier geschossen worden?!«

»Nee«, entgegnete ich, »das war nur der letzte Seufzer dieses Tisches, ehe er sich zum Sterben niederlegte. Machen Sie, dass Sie wieder nauskommen.«

Als ich mich wieder der Mrs. Milner zuwandte, war ich wieder äußerst erregt.

»Nein — das ist ja unerhört — so was ist in der Weltgeschichte ja noch gar nicht dagewesen!!«, polterte ich los. »Gegen die Vergewaltigung mit dem Vermögen scheint freilich nichts mehr zu machen zu sein — da muss sie sich eben fügen, so bitter ihr das auch ankommen mag — aber sonst — dass man sie durch diese Geldabholerei hier festgenagelt hat — i der Deiwel noch einmal — das würde ich mir doch nicht gefallen lassen, da wüsste ich gleich einen Ausweg!«

»Einen — Ausweg?«, flüsterte die Dame, plötzlich ganz große Augen bekommend.

»Natürlich, ist denn die Lady oder sonst noch niemand darauf gekommen?«

»Was meinen Sie? Ich verstehe Sie nicht.«

»Na, die Lady kauft sich einfach eine Jacht, ein Schiff, das richtet sie sich als ihre Welt ein — und in dieser ihrer eigenen Welt braucht sie kein Gift und keinen Heiratsantrag zu fürchten.«

»Ja, aber da muss sie doch noch immer alle Vierteljahre...«

»I Gott bewahre! Natürlich muss das Schiff unter englischer Flagge fahren. Dann bedeutet dieses Schiff ein Stückchen englischen Bodens. Die Flagge macht jede registrierte Planke zum Boden des Heimatlandes selbst.«

»Das gilt aber doch nur für englische Gewässer.«

»I Gott bewahre! Für die ganze Welt! Ganz egal, ob Sie in Amerika oder in China oder in Honolulu sind — im Schatten der englischen Flagge, die rechtskräftig registriert ist, befinden Sie sich überall auf englischem Boden — geschrieben an Bord meines Schiffes den soundsovielten — und Sie schreiben auf englischem Boden — Ihre Unterschrift muss allerdings beglaubigt werden; aber hierzu ist nicht einmal ein englischer Konsul nötig, das kann der Gemeindevorsteher des kleinsten Fischerdorfes besorgen, und die Bestätigung dieses Dorfschulzen, ob deutsch oder englisch oder sonst was, ist vor aller Welt unanfechtbar! Muss sich die Lady ihr Geld immer selbst abholen?«

»Das ist durchaus nicht nötig. Sie kann es sich überallhin schicken lassen; aber eben nur in England, und ihre Unterschrift muss sie auf englischem Boden geben.«

»Na, dann kann sie es sich auch nach Honolulu schicken lassen; an Bord jedes Schiffes, auf welchem die englische Flagge weht, befindet sie sich auf englischem Boden — auf englischem Boden gibt sie ihre Unterschrift.«

Immer starrer wurde der auf mich gerichtete Blick.

»Das ist — ja gar nicht — möglich!«

»Na, geehrte Madam, ich werde Ihnen doch keine Märchen erzählen.«

»Das sollten doch aber auch die Gegner der Lady gewusst haben, als sie...«

»Natürlich wissen die das. Und die können auch nichts daran ändern. Die können wohl juristische Kunststückchen machen, aber das mit der Flagge sind internationale Bestimmungen, an denen nicht zu wackeln ist. Das registrierte Schiff ist eins mit dem Boden des Landes, dessen Flagge es führt — basta! Und es genügt ja der Gegenpartei, wenn die Lady in ihrer Unerfahrenheit nichts davon weiß.«

»Aber ich... wir haben doch so viele Advokaten zu Rate gezogen...«

»Bah, Advokaten! Sie haben mir die Sache ja ausführlich genug geschildert. Diese Linksanwälte werden sich doch hüten, die Lady aufzuklären, an Bord ihres Schiffes kann sie nicht mehr geschröpft werden.«

»Und Sie sind Ihrer Sache sicher?«

»Nu allemal! Ich habe mich jetzt während der letzten Reise auf mein Kapitänsexamen präpariert, da hatte ich gerade mit solchen Geschichten viel zu tun. Das wäre aber gar nicht nötig gewesen, das kann Ihnen jeder nur einigermaßen intelligente Matrose sagen.«

»Da muss ich doch gleich einmal einen Rechtsanwalt konsultieren...«

»Na, meine liebe Frau, nun hören Sie aber bald auf! Wenn ich, Richard Jansen, etwas so bestimmt behaupte, dann stehe ich auch mit meinem Kopfe dafür ein — also können Sie es mir glauben — oder Sie können heute Abend der Lady meinen Kopf gesalzen und getrüffelt vorsetzen.«

Da sprang die Dame mit leuchtenden Augen auf.

»Mein Gott — da habe ich viele Jahre lang mein Hirn Tag und Nacht zermartert«, rief sie, zur Decke emporblickend, »da habe ich Hunderttausende an Advokaten gezahlt — und ein einfacher Matrose muss es sein, der mich eines anderen belehrt, mir einen Ausweg aus dieser Hölle zeigt!!«

Ich belehrte sie diesmal nicht, dass ich kein einfacher Matrose, sondern ein Steuermann sei und jetzt schon Pastor hätte sein können — mir fiel auch nicht auf, dass Mrs. Milner jetzt von sich selbst sprach.

»Und wissen Sie, was das zu bedeuten hat, so sein eigenes Schiff zu besitzen?«

Und jetzt war ich es, der wohl eine Stunde lang ununterbrochen redete, ich sprach wie ein Buch, von Begeisterung hingerissen, mein Mund strömte über, denn die Worte wurden vom Herzen diktiert — wirklich, ich hätte einen ausgezeichneten Pastor abgegeben.

Was ich sprach, brauche ich hier nicht niederzuschreiben. Denn ich habe alles, was ich ersehnt, wovon ich auf einsamer Nachtwache geträumt — ich habe alles ausgeführt, selbst erlebt, ich habe mein Ideal verwirklicht, wovon der Leser noch genug hören wird.

»Was König, was Kaiser — bah! Wie kann sich der mit einem selbstständigen Kapitän messen! Sie sind Sklaven gegen ihn. An Bord meines Schiffes bin ich allmächtig. Wer nur einen Finger gegen mich zu erheben wagt, den schieße ich auf der Stelle nieder, und jedes irdische Gericht spricht mich frei. Welcher König oder Kaiser dürfte das? Selbst ein Zar und ein Schah von Persien hätte dann noch Blutrache zu fürchten — ein Kapitän weiß davon nichts. Es ist nicht schön, gleich von Totschlag zu sprechen — und dennoch, nichts kennzeichnet die ungeheuere Machtstellung eines Kapitäns besser, als diese seine Gewalt über Leben und Tod. Gewiss, es ist die höchste Gewalt, die ein Mensch auf der Erde erlangen kann — doch nicht auf dem Lande liegt sie, sondern auf dem Wasser, an Bord des Schiffes, dieser Welt für sich.«

Das waren meine letzten Worte gewesen, ich verstand zu sprechen und meine Zuhörer mit fortzureißen. Ihre erst leuchtenden Augen waren flammend geworden. So sprang sie auf, um durch einige Gänge ihrer Erregung Luft zu machen.

»Bei Thor und...«

Sofort brach sie ab, schnalzte mit den Fingern, und ganz kalt kehrte sie nach ihrem Stuhle zurück.

»Zu dumm, jetzt habe ich mir diesen Ausruf meiner Cousine auch schon angewöhnt. Ja, Sie haben mir eine wunderbare Perspektive eröffnet. Ich werde dies alles sofort der Lady vortragen. Und Sie sind doch bereit, der Kapitän ihres Schiffes zu werden?«

In diesem Augenblick sah ich die Lady vor mir, wie sie unter den römischen Rittern und Jungfrauen Ohrfeigen verteilte, wie sie meinen Kleidersack vor sich auspacken ließ... und was ich dachte, mochte in meinem Gesicht zu lesen sein.

Da beugte sich ihre Doppelgängerin, deren Charakter aber so ganz anders war, vor und legte ungeniert ihre Hand auf mein Knie, schaute mir bittend ins Auge.

»Wissen Sie, wer Sie sind?«

»Ich? Nee! O ja, das weiß ich so ziemlich.«

»Sie sind ein wunderbarer Mann. Jedes Ihrer Worte, so ausgesprochen, wie nur Sie es können, muss auf ein niedergedrücktes Gemüt wie heilende Medizin wirken. Die Heilkraft entspringt Ihrem eigenen Gemüt, welches von Gold ist. Bitte, unterbrechen Sie mich nicht — ich kenne keine Schmeichelei. Lassen Sie diese Ihre Heilkraft der unglücklichen Lady zuteil werden. Ach, wenn Sie wüssten, wie unglücklich sie ist! Und sie selbst weiß bereits, dass sie nur von Ihnen Heilung zu erwarten hat. Nur einen einzigen Menschen möchte sie auf der Erde haben, dem sie sich rücksichtslos anvertrauen darf. Das ist ihre Sehnsucht bei Tag und Nacht, und wie Sie über die Planke gesetzt kamen, da war es ihr, als ob ihr der Retter vom Himmel herabgekommen wäre. Das war ja auch der Fall. Sie haben ihr das Leben gerettet.

»Stolz gingen Sie davon, ohne einen Dank abzuwarten, ohne nur noch einmal den Kopf zu wenden. Lady Blodwen ließ Sie zurückholen. Durch alles, was sie schon durchgemacht hat, leidet meine arme Cousine an einer Art Verfolgungswahn. Ihr Misstrauen kennt keine Grenzen. Konnten Sie nicht von der Gegenpartei engagiert sein? Konnten Sie nicht mit Absicht den Stier gereizt, auf sich gelockt haben, dass er Ihnen nachstürmte, gerade auf die Holzplanke zu, hinter welcher Sie die Lady wussten? Konnte das nicht abgekartete Mache sein, dass Sie der Lady Lebensretter wurden, um sie sich Ihnen zu verpflichten, um ihr Vertrauen zu gewinnen, um dieses dann zu missbrauchen...«

»Oho!!!«

»Bitte. Es ist ja eine ganz krankhafte Phantasie, von welcher die Lady gemartert wird. Verstehen Sie denn das nicht?«

»O ja, ich verstehe. Fahren Sie fort.«

»Sie kamen zurück. Zum ersten Male sah Lady Blodwen einen Mann mit ungebeugtem Nacken vor sich stehen, und jedes Ihrer Worte enthielt einen beleidigenden Trotz. Und doch, so musste der Mann beschaffen sein, dem sie sich anvertrauen durfte. Aber konnte dies alles nicht immer noch nur eine kunstvolle Berechnung sein? Wollte man es einmal auf diese Weise versuchen, sich bei ihr einzuschleichen? Gewissheit musste sie haben! Sie wurden einige Stunden festgehalten. Jetzt dürfen Sie es auch erfahren: es war kein Versehen des Dieners, sondern Befehl der Lady, dass man Sie einschloss. Verzeihen Sie ihr, sie ist ja eben...«

»Kein Wort mehr davon, der nehme ich überhaupt nichts mehr übel.«

»Ich danke Ihnen. Nun, Sie machten sich ja auch sehr wenig aus dem vorgeschobenen Riegel. Unterdessen also jagte eine Equipage nach London, nach der Cable Street, um Erkundigungen über Sie einzuziehen. Eine kleine, sehr dicke Frau, wohl die Boardingmasterin, gab Auskunft über Sie...«

»Das war die Fatje Mine. Und was sagte sie?«

»Ein prächtiger Mensch, treu wie Gold, aber wenn er drei Tage an Land ist, niemals mehr einen Penny in der Tasche. Und so flossen alle über der Bewunderung, und ganz besonders das Dienstmädchen oder was es war...«

»Das ist die Mary«, nickte ich.

»Der Diener war beauftragt, gleich Ihre Sachen mitzubringen.

Es waren Schulden darauf, ungefähr sieben Pfund, der Diener, ein höherer Angestellter, hatte so viel bei sich, er löste die Sachen aus. Der alte David, der einzige, der die Lady aus Amerika hierher begleitet hat, der allein auf die Lady einigen milden Einfluss hat, machte sie darauf aufmerksam, dass Sie trotziger Mann sich wohl schwerlich solch einen Eingriff in Ihre Rechte gefallen lassen würden, und ich warnte desgleichen. Aber bei der Lady Blodwen ist ja alles vergeblich, die kennt nur eins: ihren Willen. Nun, Sie haben es ihr ja ordentlich gegeben. Und zum zweiten Male gingen Sie davon, diesmal im Zorn, in Verachtung. Ach, wenn Sie die Lady gesehen hätten! Und sie war sowieso schon furchtbar unglücklich, sie hatte in ihrer ersten Heftigkeit gleich Juno erschießen lassen...«

»Juno? Doch nicht die Löwin?«

»Jawohl. Ihr erster Befehl war gewesen, die Löwin, welche vor dem Stier die Flucht ergriffen, zu erschießen, und es war geschehen. Und sie hatte das anhängliche Tier geliebt. Zu spät sah sie ein, dass sie von der Löwin nicht verlangen konnte, dem wütenden Stiere gleich auf den Nacken zu springen. Meine Cousine war tief, tief unglücklich über ihren voreiligen Befehl — und nun gingen auch Sie beleidigt wieder davon. Und nun...«

Die Hand, welche noch immer auf meinem Knie lag, ergriff jetzt die meine.

»Bitte, bleiben Sie bei ihr. Nur sie können einen wohltätigen Einfluss auf sie ausüben. Zerstören Sie nicht den Glauben, dass Gott selbst Sie gesandt hat. Seien Sie ihr guter Engel. Bitte, bitte, bleiben Sie bei ihr. Haben Sie Erbarmen mit dieser Unglücklichen. Bitte, bitte.«

Plötzlich füllten sich die blauen Augen, große Tropfen purzelten über die Wangen. Und jetzt war ich es, der zu betteln begann.

»Bitte, fangen Sie nur nicht zu flennen an — ich kann partout kein heulendes Weib sehen — nu ja, natürlich, wenn es so ist, dann bleibe ich hier.«

Die aus den Augen hervorbrechende Wärme hatte im Nu die Tränen wieder getrocknet.

»Abgemacht!«

»Ja, abgemacht. Das heißt mit Widerruf.«

Was wir sonst noch verhandelten, gebe ich hier summarisch wieder.

Mrs. Milner wollte der Lady meine Idee mit der Jacht unterbreiten. Bis zu ihrer Entscheidung sollte ich hier in diesem Hause weilen, schon in dienender Stellung, oder mehr als Gesellschafter, aber doch wieder in ganz besonderer Weise.

»Sie muss sich doch erst an Sie gewöhnen, wird Sie auch prüfen. Denken Sie immer, dass es sich um ein krankhaftes Gemüt handelt. Gefallen zu lassen brauchen Sie sich natürlich nichts. Sofort, wenn Ihnen etwas nicht gefällt, gehen Sie einfach. Das wird dann die Schuld der Lady sein. Nehmen wir für diese Prüfungszeit eine Woche an. Während dieser Woche sollen Sie hier unumschränkter Herr sein. Nur der Lady Blodwen stehen Sie jederzeit zur Verfügung. Machen Sie von allen Rechten eines unumschränkten Herrn vollständigen Gebrauch. Denn tun Sie das nicht, so würde Lady Blodwen gleich wieder an Ihrer Selbständigkeit zweifeln. Das erste dürfte sein, dass sie Ihnen die Geldkasse übergibt. Einen Kontrakt kennt die Lady nicht, damit hat sie schon zu böse Erfahrungen gemacht. Hier gibt es auch keine Buchführung oder so etwas, hier geht alles aus dem großen Topfe. Nur niemals ihr irgendeinen Grund zum Misstrauen geben. Niemals mit einem anderen sich vertraulich machen...«

»O, ich weiß recht gut, was Sie meinen, wofür Sie nur nicht die Worte finden. Sehen Sie, ich bin Steuermann, Schiffsoffizier. An Land, wenn ich abgemustert bin, kann ich mit jedem Matrosen herumlumpen. Aber an Bord bin ich für denselben Matrosen, mit dem ich an Land Brüderschaft getrunken, der unnahbare Offizier; unüberbrückbar ist die Kluft, die mich von ihm trennt, so unüberbrückbar wie die Kluft zwischen mir und dem Kapitän. Ich habe das Maulhalten und Gehorchen gelernt, deshalb kann ich auch befehlen. Und wenn ich einmal ein Krüppel werden sollte, dass ich mein Brot an Land verdienen muss — was Gott verhüten möge! — und ich verdinge mich an einen Bauern, der mich zum Aufseher über seine Schafe setzt, die von drei Schäfern gehütet werden — dann ist dieser Bauer mein Herr, vor dem ich stramm stehe — und ich bin der Herr über die drei Knechte — und ich werde mir sehr überlegen, ob ich mir von einem Feuer für meine Pfeife geben lasse — und wenn ich von so einem Knechte nur ein einziges schlechtes oder verdächtiges Wort über den Bauern höre, dann fahre ich mit dem Kerl längs... wissen Sie, was ich meine?«

»Wahr gesprochen, vortrefflich gesprochen!!«, rief die Dame ganz enthusiastisch. »Das waren goldene Worte, denen ich nichts mehr hinzuzufügen habe. Nochmals meinen herzlichsten Dank für die Güte, die Sie meiner armen Cousine erweisen. Und nun leben Sie wohl.«

Mit diesen Worten war sie schnell aufgestanden und hielt mir die Hand hin.

»Was? Das sieht ja bald aus, als wenn Sie abreisen wollten?«

»Das ist auch der Fall. Ich bin nur auf Besuch hier. Heute Abend schon bin ich an Bord des Schiffes, das mich nach meiner Heimat zurückbringt — nach New York.«

Diese Plötzlichkeit kam mir sehr überraschend.

»Aber ich sehe Sie doch noch einmal wieder?«

»Heute nicht mehr. Ich spreche mit der Lady. Ein andermal!

Leben Sie wohl!«

Ich nahm die Hand, die sie mir hinhielt, und während ich meinen Kratzfuß machte, führte ich diese zarte Hand an meine Lippen — fast unbewusst, es war eine plötzliche Eingabe — und ich weiß nicht — es war mir, als ob sie ihre Hand länger an meine Lippen drückte, als sie selbst daran festhielt — und dann hatte sie die Hand schnell wieder zurückgezogen, dabei war ihr blasses Gesicht, so blass wie das der Lady, dunkelrot geworden — und dann rauschte sie nach der Tür, noch einen Blick nach mir zurück, einen ganz eigentümlichen Blick, und sie war hinaus.

Ich blickte nach der Tür und schüttelte den Kopf.

»Nee, aber so eine Ähnlichkeit! Sogar ganz genau dasselbe Pickelchen!«

Es begann zu dunkeln. Noch ehe ich überlegen konnte, in was für eine Stellung ich mich hier begeben hatte — vorausgesetzt, dass dies bei mir überhaupt noch nötig war — kam der zittrige Alte wieder herein.

»Darf ich dem Herrn Steuermann seine Zimmer anweisen?«

»Wie heißen Sie?«, fragte ich, anstatt eine Antwort zu geben.

»Emerson.«

»Ich denke David?«

»Das ist mein Vorname.«

»Welche Stellung bekleiden Sie hier?«

»Ich bin Hausverwalter.«

»Also der Höchste in diesem Hause hier, über die anderen Hausdiener gestellt.«

»Ja, Herr.«

»Sie werden ein andermal, ehe Sie ein Zimmer betreten, in dem Sie mich vermuten, an die Tür klopfen. Verstanden? Jetzt zeigen Sie mir mein Zimmer.«

Der Alte machte ein ganz erschrockenes Gesicht. Ich hatte ihm nicht wehtun wollen, hatte auch ganz freundlich gesprochen. Er mochte so etwas aber doch nicht erwartet haben.

O, ich wusste ganz genau, was man von mir verlangte — habe das immer gewusst, sobald man mich auf einen Posten stellte, da brauchte ich keine weiteren Instruktionen oder gar Ermunterungen. Es waren drei luxuriöse Zimmer, die mir eine Treppe höher gezeigt wurden.

»Aber die ganze Etage steht zu Ihrer Verfügung...«

»Weiß schon. Dieses eine Zimmer hier mit dem Bett genügt!«

Ich befahl, meinen Kleidersack heraufzubringen, überzeugte mich, dass alles vorhanden war, was ich brauchte, besonders auch die Klingel, die einen Diener herbeirief, dieser Diener musste sich mir vorstellen, und ich war allein, ohne wegen Essenszeiten oder dergleichen irgendeine Frage gestellt zu haben. Das würde sich ja alles von allein finden. Ich stellte mir vor, ich sei an Bord, die Lady sei mein Kapitän, der sich wohl um mich zu kümmern hat, ich mich aber nicht um ihn — und wenn der Lady diese Rolle nicht gefiel, sie sich nicht darein fand, dann ging ich einfach wieder. Ich war nicht geneigt, an Land andere Gewohnheiten anzunehmen, als die, die mir schon in Fleisch und Blut übergegangen waren.

Im Scheine der Petroleumlampe packte ich meinen Kleidersack aus, ordnete die Sachen in einem leer gewesenen Schranke. Dann wollte ich einen Gang durch das ganze Haus machen. Mir sollte ja alles offen stehen. So hatte Mrs. Milner gesagt, die ich doch für die Stellvertreterin der Lady hatte halten müssen.

Alle Korridore waren hellerleuchtet. Türen öffnete ich nicht. Alles hat seine Grenzen. Auf dem Korridor der ersten Etage sah ich die Lady mir entgegenkommen, immer noch als Römerin gekleidet.

Mein Entschluss war sofort gefasst. Steuermann und Kapitän. Sie blickte mich an, ich blickte sie an — und ohne Gruß, nur etwas zur Seite weichend, war ich an ihr vorübergeschritten. Wenn sie etwas von mir wollte, hätte sie es ja sagen können.

Aber diese Ähnlichkeit mit ihrer Cousine! Und sie hatte wirklich ganz genau dasselbe Pickelchen gehabt!

Über meinen Gang durch das Haus habe ich nichts zu sagen. Überall wich man mir respektvoll aus, aber doch eine Anrede erwartend. Ich stellte keine einzige Frage.


Illustration

Gegen neun war ich wieder auf meinem Zimmer, klingelte dem Diener, der fast augenblicklich erschien, bestellte das Abendessen, welches sofort serviert wurde. Auf Einzelheiten will ich mich nicht mehr einlassen.

»Haben Herr Steuermann sonst noch einen Wunsch?«

»Das würde ich Ihnen schon sagen.«

Nach dem Essen lockte mich die schöne, mondhelle Maiennacht nochmals hinaus. Ich spazierte rauchend in den Gartenanlagen umher, dies und jenes denkend.

»Richard!«

Betroffen fuhr ich aus meinem Träumen empor. Unabsichtlich war ich im dunklen Baumschatten vom Wege abgekommen, kurzer, weicher Rasen hatte meinen Schritt unhörbar gemacht.

Vor mir erhob sich zwischen Bäumen ein kleiner, römischer Tempel — und dort stand sie — die Lady — in der weißen Tunika — vom Mondschein umflossen, in dem ihr Haar wie Gold leuchtete.

Sie drehte mir den Rücken zu. Schon wollte ich mich zurückziehen, als sie nochmals meinen Namen aussprach, und das bannte mich.

»Mein Richard!«

Mein Name? Weshalb denn mein Name?

Und dann hob sie beide Arme, breitete sie wie sehnsüchtig aus und begann zu singen, leise, aber doch klang es jauchzend:

Du stolzes England freue dich,

Dein König geht und kämpft für dich,

Dein König, dein König, der Richard Löwenherz.

»Nein«, sagte sie dann, »nicht England, sondern Blodwen muss es heißen.« Und sie sang es noch einmal, mit demselben verhaltenen Jubel in der Stimme:

»Du stolze Blodwen freue dich...«

Ich zog mich zurück, suchte mein Zimmer auf. Lange floh mich der Schlaf, und dann suchten mich seltsame Träume heim.

— • —

5. Kapitel
Prüfungen und wie die Sache kitzlig wird

Originalseiten I.65 — 91

Mit dem Morgengrauen erwachte ich, gegen vier Uhr, und klingelte sofort dem Diener. Zu meiner Verwunderung war dieser sehr schnell zur Stelle. Er sah übernächtig aus, hatte sich wohl gekämmt, aber nicht ordentlich, sein Anzug war zerknüllt.

»Wo haben Sie geschlafen?«

»Nun — nun — in meinem Zimmer.«

»Aber nicht im Bett. Oder doch angezogen.«

»Ja, auf einem Sofa.«

»Weshalb nicht im Bett?«

»Ihre Herrlichkeit haben gestern Abend befohlen, ich soll dem gnädigen Herrn...«

»Sprechen Sie von mir? Ich bin nicht gnädig. Ich bin der Herr Steuermann, und wenn Sie zu mir von der Dame sprechen, so sagen Sie einfach die Lady. Still! Wie Sie Ihre Herrin selbst anreden, ist mir gleichgültig, in meiner Gegenwart aber haben Sie so zu sprechen, wie ich es Ihnen vorschreibe. Nun?«

»Die Lady hat Instruktion gegeben, dass ich Tag und Nacht sofort zur Stelle bin, sobald Sie klingeln, und so habe ich angezogen auf dem Sofa geschlafen.«

»Das haben Sie nicht nötig. Ich werde deswegen dann andere Einrichtungen treffen. Kann ich jetzt schon Frühstück mit Kaffee oder Tee bekommen?«

Ich erfuhr, dass die Lady keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht machte, das ganze Haus musste immer erleuchtet, mindestens ein Viertel der ganzen Dienerschaft auch während der Nacht auf den Beinen sein, jedes Winkes gewärtig.

O, wenn die Lady Blodwen schon solche Bordgewohnheiten hatte, dann würden wir auch recht gut nebeneinander leben können.

»Besorgen Sie mir das Frühstück. Dann legen Sie sich zu Bett. Ich werde Sie am Vormittag nicht mehr rufen.«

Nach dem Frühstück ging ich im Park spazieren. Da kam mir die Lady entgegen, in einem dunklen Morgenkleid. Ohne meinen Schritt zu ändern zog ich den Hut und wünschte einen guten Morgen.

Sie blickte mich im Vorübergehen groß an und hatte nur ein Kopfnicken. Sie sah viel frischer aus als gestern, gerade jetzt aber bemerkte ich in ihrem Gesicht einen schwermütigen Zug, der bei der Mrs. Milner gänzlich gefehlt hatte.

»Herr Steuermann!«, erklang es da hinter mir.

Sie hatte sich umgedreht, ich kehrte schnell zurück.

»Mylady befehlen?«

»Ich möchte Sie dann sprechen — vielleicht um acht Uhr, nicht wahr?«

»Um acht Uhr.«

»David wird Sie von Ihrem Zimmer abholen. Bitte.«

Wieder eine würdevolle Neigung des Hauptes, und sie setzte ihren Weg fort.

Als eine am Hause angebrachte Uhr die achte Stunde verkündete, klopfte David an meine Zimmertür. Ich durchwanderte unter seiner Führung einen endlosen Korridor. Die Lady hatte ihre Zimmer auf demselben zweiten Korridor, nur in einem ganz anderen Flügel des weitläufig gebauten Hauses.

Mir fielen einige Türen auf, welche schwer mit Eisen beschlagen waren. Eine solche öffnete der Alte, wobei es klingelte. In dem Salon fletschte mir knurrend eine riesige Bulldogge die Zähne entgegen, beruhigte sich aber auf des Alten Zuruf gleich wieder.

Die zweite Tür, welche wir unter einem Klingelzeichen passierten, war schon mehr gepanzert zu nennen, und dasselbe galt von der dritten Tür, an welche David stark klopfte.

Die Lady, an deren Seite mich wiederum ein riesiger Köter zähnefletschend begrüßte, öffnete von innen.

Sie brachte den Hund zur Ruhe und schloss die Tür wieder. Der Alte war draußen geblieben.

In dem nur kleinen Zimmer war am auffallendsten der große Geldschrank, der neben einem Schreibtisch stand, an dem offenbar wirklich viel geschrieben wurde. Dann waren da noch einige von der Decke herabhängende Portieren vorhanden, welche etwas abschlossen, und ich vermutete, wie sich später herausstellte, auch ganz richtig, dass dies zugleich das Schlafzimmer der Lady sei. Sie schlief auf oder doch neben ihren Geldsäcken, geschützt durch einige Panzertüren, bewacht von zwei oder noch mehr Bulldoggen.

»Wissen Sie die Bank von England in der City?«

Ich kannte das Gebäude, an dem jeden Mittag die Wache aufzieht.

»Ich bitte Sie, diesen Scheck einzulösen. Es sind 10 000 Pfund Sterling. Die Bank wird um zehn aufgemacht.«

Sie gab mir ein Blättchen Papier, bedruckt und beschrieben.

»Wird man mir denn auch so viel Geld gleich aushändigen? Ich bin in derartigen Geschäften ganz unerfahren.«

»Sie haben noch nie einen Scheck eingelöst?«

»Nein.«

»Sie haben nur nötig, hier hintendrauf Ihren Namen zu schreiben. Sie sehen doch, ich habe der Einfachheit halber den Scheck gleich auf Ihren Namen ausgestellt.«

Ja, das stimmte, da stand mein Name — zahlbar an Mr. Richard Jansen.

»Aber ich muss mich doch legitimieren.«

»Auch nicht. Sie erhalten die 10 000 Pfund gegen Abgabe dieses Schecks.«

Ich barg das Papier in meiner Brieftasche und hätte gehen können.

»Ich muss Ihnen mitteilen, dass ich ohne Geld bin. Nur wenige Pence habe ich in der Tasche.«

»Wie viel wollen Sie?«

»Wollen wir nicht gleich mein Gehalt ausmachen?«

Zwischen ihren Brauen entstand eine Falte, aus der ich mir aber wenig machte.

»Wie viel verlangen Sie?«

»Meine letzte Heuer als zweiter Steuermann betrug monatlich acht Pfund, bei freier Station. So viel darf ich wohl auch hier fordern.«

»Das ist sehr wenig.«

»Das ist für mich gerade genug.«

»Schätzen Sie Ihre Dienste nicht höher ein?«

»Bitte, Mylady — ich bin ein einfacher Seemann — bin noch nie in solche Situationen gekommen — und — mir ist so etwas peinlich...«

Unsere Blicke begegneten sich.

»Und mir nicht minder. Darin scheinen wir zu harmonieren, und eben deswegen bitte ich Sie, einfach anzunehmen, was ich Ihnen gebe. Sie können es sich ja immer aufschreiben.«

Doch es war nur eine Zehnpfundnote, was sie mir gab.

»Ich erwarte Sie nicht mehr für heute«, sagte sie noch, ehe ich ging. »Sie werden doch noch Verschiedenes zu besorgen haben.«

Ich machte mich sofort auf den Weg. Wäre nicht so schönes Wetter gewesen, hätte es geregnet, so würde ich ohne weiteres einen Wagen gefordert haben, der mich wenigstens bis nach Leytenstone zum Bahnhof brachte. So ging ich dorthin zu Fuß, von eigentümlichen Empfindungen erfüllt, als ich denselben Weg zurückschritt, den ich gestern um ungefähr dieselbe Zeit herwärts gekommen war.

Ich fuhr bis zur FenchurchStation, löste bei Samuel Cohn meine Uhr und Schlipsnadel ein, kaufte mein im Schaufenster liegendes Taschenmesser und anderes gegen das dreifache zurück, dann bummelte ich durch die Straßen der Bank zu, kaufte in einem Laden, wo es so allerhand Klimbim gibt, was das Herz eines Frauenzimmers erfreut, für sechs Schilling eine brillante Brosche, gespickt mit Edelsteinen und Perlen, in einem anderen Geschäft für mich etwas weiße Wäsche, ließ des Bräutigams Kragen und Vorhemdchen und Schlips mit der Brosche gleich zu einem Paket vereinigen, welches ich auf der nächsten Post an Mary adressierte, nur mit einem beigelegten Zettelchen. Denn selbst hingehen wollte ich jetzt nicht. Zwischen gestern und heute war ein gewaltiger Unterschied.

Dann zur Bank, sie war offen. Wegen Einlösung eines Schecks wurde ich nach der Hauptkasse gewiesen. Da sah ich Gold und Banknoten hin und her geschoben werden! Von so etwas hatte ich noch keine Ahnung gehabt.

Jeder Empfänger wurde gefragt, ob Gold oder Banknoten. Ich sah einen Herrn, der 2000 Pfund, das doppelte meiner Summe, in Gold forderte. Die Goldstücke wurden natürlich nicht gezählt, was auch gar lange gedauert hätte, sondern auf eine Waage geschaufelt, auf der ein Ochse Platz gehabt hätte. Ich konnte damals nicht begreifen, wie die an der spielenden Zunge so genau bestimmen wollten, dass auf der Wage gerade tausend Goldstücke im Gewichte von zwanzig englischen Pfund lagen, dass es kein Goldstück zu viel oder zu wenig sein sollte. Ich geriet auf die merkwürdige Idee, dass es wohl bei so vielem Gelde gar nicht auf ein Goldstück mehr oder weniger ankäme.

Das Gold wurde in Ledersäcke geschaufelt, von Männern hinausgeschleppt und draußen, wie ich dann noch sah, von Herren in Empfang genommen, welche in Equipagen saßen.

Auch ich kam daran. Ich war noch der Überzeugung, abgewiesen zu werden, wenn ich nicht etwa gar wegen Verdachtes...

»Hier Ihre Unterschrift«, sagte der alte Herr, mir durch seine Brille kaum einen Blick zuwerfend, dann sich in ein dickes Buch versenkend.

Ich hatte meinen Namen hingeschrieben.

»Gold oder Banknoten? Was für Banknoten?«

Die Lady hatte mir deswegen nichts gesagt, und ich hatte mich unterdessen, wenn ich das Geld wirklich bekäme, bereits für Hundertpfundnoten entschieden. Das war nicht zu groß und nicht zu klein.

In rasender Schnelligkeit zählte ein anderer Herr mir hundert weiße Papiere hin, sich dann gar nicht mehr um mich kümmernd. Ich zählte langsam nach — hundert — es stimmte.

Dann war ich draußen, zweimalhunderttausend Mark auf der Brust. Himmeldonnerwetter! Die ganze Straße sah mir mit einem Male anders aus.

Mir war wahrhaftig ganz bange zumute. Ich wollte eine Droschke nehmen, um schleunigst nach dem Bahnhofe zu fahren. Bald aber lachte ich meiner Angst. Für mich selbst war das ja nur wertloses Papier. So frühstückte ich erst in einem kleinen Hotel, und gegen Mittag war ich wieder in der römischen Villa.

In dem Säulengange stand Lady Blodwen. Bei meinem unvermuteten Anblick fuhr sie jäh empor, und es waren ganz merkwürdige Augen, die mich anstarrten, erst erschrocken, dann mit einem Male aufleuchtend — und in diesem Augenblicke zuckte es durch mein Hirn:

Herrgott, die hat doch nicht etwa geglaubt, ich könnte mit dem Gelde durchbrennen?!

Doch im nächsten Moment schon hatte ich diesen schmählichen Verdacht zurückgewiesen — es war ein so blitzähnlicher Gedanke gewesen, dass deswegen kein Tröpfchen Blut in meine Wangen stieg.

»Sie sind schon wieder zurück?!«

»Ja, ich habe mich möglichst beeilt. Ich habe noch niemals so viel Geld bei mir getragen, man muss sich an alles gewöhnen. Wo soll ich Ihnen das Geld geben?«

»Gleich hier.«

Ich zog die Scheine mit einem Griffe aus der linken Brusttasche, in der ich sonst nichts weiter hatte.

»Es sind hundert Hundertpfundscheine, wollen Sie nachzählen?«

Sie tat es nicht.

»Danke.«

Sie wandte sich und ging davon. Ich blickte ihr nach. Weshalb war das blasse Gesicht plötzlich so purpurrot geworden?

Nachdem ich zwei Stunden zu Mittag gegessen — nein, gespeist hatte, wurde ich wieder zu ihr bestellt.

Ich sollte zu einem Mr. Cockswell gehen — oder ich könnte auch eine Equipage benutzen — ein Farmer, nur eine Viertelstunde von hier entfernt, ihm diesen Brief abgeben.

Die Aufforderung war im höflichsten Tone erfolgt, auch der Inhalt des Briefes wurde mir gesagt: der Farmer hatte eine Hundezucht, die Lady erwartete zwei junge Exemplare.

»Würden Sie die Güte haben, die Tierchen vielleicht gleich mitzubringen?«

»Gewiss doch!«

»Und es wäre mir sehr lieb, wenn Sie um sechs Uhr wieder hier sein könnten.«

»Ich werde hier sein.«

Ich ließ mir von einem Diener den Weg beschreiben und machte mich auf die Strümpfe.

Es war ein kleines Bauerngut, dessen Hof ich betrat, alles in musterhafter Ordnung, sehr viele Hunde, unter denen ich auch die Eltern jener Bulldoggen erkannte.

Einen gutgekleideten Bauern hielt ich für den Farmer.

»Mr. Cockswell?«

»Nein, der sitzt drin. Ich bin der Verwalter.«

»Ich habe an Mr. Cockswell einen Brief abzugeben.«

»Da gehen Sie nur hinein. Sie sind wohl Seemann?«

»Steuermann.«

»Na, da wird sich der Master freuen!«, sagte der Mann mit einem schadenfrohen Grinsen, und dann rief er seitwärts einem Knechte zu: »Pet, mach mal gleich 'ne Schubkarre zurecht!«


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Für diese Worte füge ich gleich die Erklärung bei, wenn ich damals auch noch gar nichts davon wusste.

Mr. Cockswell war so ein Millionenbauer, der aber nicht von seinem kleinen Stammgute herunter ging. Er ließ sich gern besuchen und hatte die niederträchtige Angewohnheit, den Besuch stets einzuseifen, d. h., ihn bezecht zu machen und ihn in sinnlosem Zustande auf der Schubkarre nach Hause fahren zu lassen. Das war bei ihm eine Art von Leidenschaft — die ich übrigens auch noch bei anderen Menschen gefunden habe. Er war deswegen in der ganzen Umgegend verhasst, hatte auch schon viel Unglück damit angerichtet, Familienfrieden zerstört und dergleichen.

Ich sah einen älteren Mann, der einen ganz biederen Eindruck machte. Es war ja sonst auch ein ganz ehrlicher Mensch — bis auf jene niederträchtige Schadenfreude.

»Nee, die Tiere müssen noch bei der Mutter bleiben. Wie kommt es denn, dass die Lady Sie schickt?«

»Ich bin gestern von ihr als Sekretär engagiert.«

»Ach was! Na, da wollen wir erst einmal zusammen trinken.«

Es war der schwerste Portwein, mit dem er zwei Gläser füllte. Wie ich zu dieser Stellung käme, ob ich nicht Seemann sei. Ich erzählte, von dem wilden Stiere, alles, soweit ich durfte.

»Na, die Stellung halten Sie mal feste, junger Mann«, sagte er, und dabei pumpte er immer ein.

Er fragte weiter; aber durchaus nicht neugierig, er bedauerte die Lady, deren Verhältnisse er kannte, durch die Hunde waren sie zusammengekommen, und dann fing er von Argentinien an, wo er in seiner Jugend gewesen war, ich auch, und so schwätzten wir immer weiter, aßen Brot und Schinken und tranken ein Glas nach dem anderen.

Dann führte er mich in seinen Keller, der ganz mit Flaschen und Fässern vollgepfropft war, da wurde probiert, und dann ging es oben weiter.

Der Alte bekam nach und nach gläserne Augen, fing an zu lallen, blieb aber noch immer trinkfest.

»Damn'd, kannst du aber saufen!«, sagte er zuletzt bloß noch.

Um fünf musste ich zurück. Der Alte wollte mich nicht fortlassen, ich ließ mich aber nicht halten. Er begleitete mich auf den Hof hinaus, konnte noch ganz gut gehen — mit einem Male aber kam er ins Schießen, nach dem Misthaufen hin, drehte sich ein paarmal im Kreise, dann legte er sich auf den Mist und streckte alle viere von sich. Ich überließ ihn den lachenden Knechten. Zu fürchten war nichts, er fing gleich an zu schnarchen.

»Da ist er einmal an den Unrechten gekommen«, hörte ich hinter mir sagen. Aber damals wusste ich ja noch gar nichts von den Gepflogenheiten dieses Farmers.

Zu Hause angekommen, fragte ich wegen eines Bades und erhielt es. Als ich dann in meinem Zimmer die letzte Hand an mich legte, sah ich vom Fenster aus auf dem Wege, der nach jener Farm führte, einen Reiter angesprengt kommen, den ich als einen Reitknecht hier von der Villa erkannte. Ich dachte mir nichts weiter dabei.

Schlag sechs Uhr meldete mich David der Lady an, die mich diesmal in einem im Parterre gelegenen Salon empfing. Sie war zum Ausgehen bereit, hatte eine Mantille um.

»Würden Sie mich auf einer Spazierfahrt begleiten?«

»Sehr gern doch.«

Jetzt fiel mir etwas ein. Gleich bei meinem Eintreten hatte sie mich wieder einmal mit so großen Augen angesehen, und ich entsann mich, dass mich alle Diener, denen ich bei meiner Rückkehr begegnet, noch mehr aber nach dem Bade, so eigentümlich von der Seite angesehen hatten.

War der Reitknecht vielleicht auf der Farm gewesen und hatte hier erzählt, wie wir beide dort gebügelt hatten? Wusste es auch die Lady und glaubte sie nun etwa, ich brächte statt zweier kleiner Hunde einen großen Affen mit? Ich musste innerlich lachen.

»Was sagte Mr. Cockswell?«

Ich teilte ihr des Farmers Auskunft über die bestellten Hunde mit.

»Schade! Ein sehr netter Mann, dieser Cockswell, nicht wahr? Gehen wir!«

Die Equipage war schon vorgefahren, nur mit dem Kutscher auf dem Bock. Ein Lakai öffnete wohl den Schlag, blieb dann aber zurück.

Beim Einsteigen nahm sie meine Hand an, und dann, als ich hinter ihr stand, sie aber noch nicht ganz drin war, wie sie noch ihren Rock hochhob, merkte ich erst, was für eine feine Kladderasche sie anhatte. Es war ein himmelblaues Kleid, von so einem Stoffe, den man wohl ›duftig‹ nennt, obschon er gar nicht zu riechen braucht, darunter kickten noch eine ganze Menge von weißen Spitzen hervor, dazu niedliche Halbschuhchen, die wie die Goldkäfer glänzten, und... Herr du meine Güte, und dabei ganz zerrissene Strümpfe!! Faktisch, ein Loch am andern!

Als der Lakai die Tür zugemacht hatte, konnte ich erst gar nichts sehen, weil die Fenster mit blauen Gardinen verhangen waren. Ich hätte mich beinahe auf die Lady draufgesetzt.

»Bitte, setzen Sie sich mir gegenüber.«

An ihrer Stimme erkannte ich, wo sie saß, dann gewöhnte sich mein Auge an die Dunkelheit, und ich ließ mich ihr gegenüber auf dem Rücksitz in einer Ecke nieder.

Fort ging es. Es war und blieb in der Kutsche dunkel, schwül und langweilig. Die wollte weder ein Fenster noch ihren Mund aufmachen.

Ich träumte. Das taktmäßige Rucken des Wagens verwandelte sich in eine Melodie.


Du stolze Blodwen freue dich,
Dein König geht und kämpft für dich,
Dein König, dein König, der Richard Löwenherz.


Ich konnte mich dagegen wehren, wie ich wollte, diese Melodie summte mir ständig in den Ohren, im Geiste musste ich dazu auch den Text singen, und vor meinen Augen sah ich immer die zerrissenen Strümpfe.

Es ist doch merkwürdig mit solchen feinen Stadtleuten — auch wenn sie auf dem Lande wohnen! Außen herum kann's nicht fein genug sein, Goldkäferschuhe, und dann ganz durchlöcherte Strümpfe! Und wenn das nun bei den Strümpfen schon so ist, die man doch manchmal sehen kann, wie mag da erst das andere beschaffen sein, was man für gewöhnlich nicht sieht, was sie auf dem Leibe tragen!

Na, wenn bei mir an Bord ein Matrose mit zerrissenen Strümpfen herumliefe — mit dem wollte ich aber längs fahren! — und das nicht etwa wie hier in einer gepolsterten Equipage.

Es wurde noch dunkler, weil wir in einen dunklen Wald kamen, und es begann überhaupt zu dunkeln. Wohin wollten wir eigentlich? Wir hätten bald umkehren können, ich dachte lebhaft ans Abendbrot, und — und — ich weiß nicht, ich hatte immer so einen Bratengeruch in der Nase.

Aber das war langweilig! Sollte ich einmal etwas sagen? Nein! Kapitän und Steuermann — dabei sollte es bleiben!

Ich mochte dieses verdammte Lied von Richard Löwenherz ungefähr zum hundertsten Male singen, als sie endlich den Mund aufmachte.

»Sie haben wohl eine gute Bildung genossen, Herr Steuermann, wenn ich fragen darf?«

Ich wusste sofort, woran ich war. Jawohl, zu dieser Frage war sie sogar sehr berechtigt. Ein Jachtbesitzer muss sich doch seinen Kapitän ansehen, dass er nicht einen ungebildeten Runks in die Kajüte bekommt. Doch sollte ich etwa alle die Schulfächer herzählen, die ich durchgebüffelt hatte? Ich wusste mich anders auszudrücken.

»O, was das anbetrifft, Mylady — ich kann noch den ganzen Ovid auswendig, und vom Homer alle Stellen, wo es eine Hauerei gibt — im Urtext, meine ich — ich kann auch die Bibel im Urtext lesen, weil ich im Hebräischen Privatstunden hatte. Ich sollte nämlich Pastor werden. Auch Klavier spielen kann ich noch recht gut. Nur geht dabei meistenteils das Klavier kaputt.«

Ein schluchzender Laut erscholl, und ich sah an den Schattenumrissen, wie sie schnell ihr Taschentuch vors Gesicht führte. Nanu, warum fing die denn mit einem Male zu weinen an? Oder — oder — wollte die etwa ein Lachen ersticken? Was gab's denn da zu lachen? Ich hatte doch gar nichts Lachhaftes gesagt?

Doch nein, sie hatte sich nur einmal die Nase geputzt. Sonst wäre ihr Ton nicht gleich wieder so ruhig gewesen.

»So, Pastor hatten Sie werden sollen?«

»Ja. Das heißt, ich sollte Theologie studieren. Es war der heißeste Wunsch meiner Eltern, mich dereinst auf der Kanzel predigen zu sehen. Ich betone das ›sehen‹ — Sie wissen schon — so in der schwarzen Kutte mit der mächtigen Halskrause und nun recht tüchtig mit den Armen herumgefuchtelt. Aber ich hatte keine Lust zum Pastor. Als es so weit war, wurde ich lieber Schiffsjunge.«

Wieder musste sie sich die Nase putzen.

»Sie haben als Seemann wohl recht viel erlebt? Ach, bitte, erzählen Sie doch etwas!«

Ja, das konnte ich. Die Hauptsache war mir, dass mir dabei das verdammte Lied von Richard Löwenherz mit den zerrissenen Strümpfen nicht mehr in den Ohren summte.

Eine halbe Stunde erzählte ich, schilderte einige besondere Episoden, und wenn wir keinen großen Bogen machten, fuhren wir noch immer geradeaus, und draußen war es schon so finster wie hier drinnen.

»Da wollen Sie sich wohl auch einmal selbstständig machen?«

Aha! Jetzt kamen wir endlich auf das bewusste Thema! Ich wollte ihr erklären, dass ein Kapitän noch lange nicht selbständig ist, dazu gehört ein eigenes Schiff — sie unterbrach mich sehr bald.

»Ich meine, da wollen Sie doch auch einmal heiraten?«

»Heiraten?!«, wiederholte ich in ehrlichem Staunen. »Nee, aufs Heiraten bin ich nun weniger erpicht. Und ich kann gleich jetzt Brief und Siegel darauf geben, dass ich nie und nimmer heiraten werde — nicht für acht Tage.«

»Weshalb denn nicht?«

»Weil die Ehe gerade das Gegenteil von der Selbstständigkeit ist.«

Ich dachte, die könnte doch selbst ein Lied vom Heiraten singen, und ich erwartete schon, sie würde es mir vortragen. Doch es sollte anders kommen.

»Aber geliebt haben Sie doch schon einmal?«

Was sollte ich sagen? Kapitän und Steuermann! Nur immer offen, kein Blatt vor den Mund genommen!

»Geliebt? Einmal? Ach, eine ganze Masse mal! Na ja, wie's bei uns Seeleuten so zugeht.«

Schon wieder putzte sie sich die Nase, und diesmal ganz gründlich. Sie musste in der Finsternis den Schnupfen bekommen haben. Solange es hell gewesen, hatte ich davon nichts bemerkt.

»Wir fahren nach einem Landhause, sind gleich da.«

Ich sagte nichts, dachte nur über die Lösung der Abendbrotfrage nach.

»Es ist ein ganz einsam liegendes Haus«, fuhr sie fort, »unbewohnt — aber eingerichtet — ich habe Proviant mitgenommen.«

Aha, ahi! Daher die gebratene Atmosphäre!

»Ich liebe solche nächtliche Exkursionen. Wir übernachten auch hier. Ich schlafe sehr oft außerhalb. Es geniert Sie doch nicht, Herr Steuermann?«

Wenn es die nicht genierte — mich genierte es nicht. Ich machte mir damals verdammt wenig Gedanken über so etwas. Es ist doch ganz gleichgültig, wo man seine verbrauchten Kräfte durch Schlaf ersetzt — wenn nur das Lager nicht allzu hart ist — und frieren und vollgeregnet werden darf man dabei auch nicht.

Der Wagen hielt. Nach dem Aussteigen sah ich im Scheine der Wagenlaterne die Umrisse eines großen Steinkastens — so ein altes, englisches, solides Landhaus; wir würden es Villa nennen. Um mich herum sah es recht verwildert aus. Ein Fensterladen stöhnte, ein anderer quietschte.

»Ich bin gespannt, ob unterdessen eingebrochen worden ist.«

»Sie lassen das Haus ganz ohne Aufsicht?«

»Ja. Was tut's? Mögen Obdachlose darin nächtigen und mitnehmen, was ihnen gefällt. Wenn sie nur die paar Zimmer verschonen, die ich manchmal benutze.«

Ja, wie es bei der stand — die ganze hoffnungslose Erbschaftsgeschichte — ich konnte ihre Gleichgültigkeit begreifen.

Der Kutscher, ein alter Mann, wohl schon an solche nächtliche Expeditionen gewöhnt, spannte bereits die Pferde aus. Sie bat mich, eine der Lampen abzunehmen und ihr zu leuchten, brachte einen großen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn in das Schloss der Haustür.

»Die ist nicht aufgebrochen. Dann wird auch niemand drin gewesen sein.«

Wir traten ein. Ich sah schöne Zimmer mit altertümlichen Möbeln, alles gediegen, natürlich sehr verstaubt. Das wäre so etwas für Zigeuner gewesen. Doch man ist in England mit solchen unbewohnten Häusern überhaupt sehr sorglos und darf es sein. Fahrendes Volk gibt es dort gar nicht, Einbrecher gehen nur nach der Stadt, nach London. Und die Polizei und Gendarmerie ist ausgezeichnet. In ganz England wird nach zehn Uhr die ganze Nacht hindurch jede Haustürklinke einmal von einem Konstabler oder Gendarmen in die Hand genommen, desgleichen drückt er gegen jedes Parterrefenster — das gilt von jedem einzelnen Londoner Haus, wie vom einsamsten Gehöft — und ist irgend etwas offen, so wird der Besitzer geweckt, er hat die Pflicht, alles zu schließen, und ist das Haus unbewohnt, so kennt der Reviergendarm doch die Wohnung des Besitzers oder dessen Stellvertreters, er muss hin und ihn holen. Für dieses Haus hier hatte ein benachbarter Farmer die Verantwortung gegen eine Entschädigung übernommen.

Wir stiegen die Treppe hinauf. Ich konnte wieder einmal die total zerrissenen Strümpfe unter der seidenen Kladderasche bewundern. Während die anderen Zimmer offen gewesen waren, musste die Lady hier wieder einen Schlüssel gebrauchen, und ich sah zwei Zimmer, welche doch einen etwas anderen Eindruck machten; einmal weniger verstaubt, und dann einige Gerätschaften, die vor noch gar nicht so langer Zeit benutzt worden waren, eine Lampe, eine Petroleumkanne, noch halb voll, ein Kasten mit Kohlen usw.

In dem einen Zimmer stand ein Himmelbett, ein mächtiges Ding, das einen ganz sauberen Eindruck machte — sonst hatte ich nur leere Bettstellen gesehen, etwas aufgeräumt war ja doch worden — der andere Raum schien als Küche und Esszimmer gedient zu haben, auf dem Tische lagen noch Krümel.

»Nun machen wir ein nächtliches Picknick — oder Biwak — müssen uns aber selbst bedienen. Zuerst Feuer anmachen, um Tee zu kochen. Schön wäre es ja, wenn wir den Kutscher nicht brauchten. Eignen Sie sich zu so etwas?«

Na und ob! So etwas war ja gerade mein Fall! Ich hatte schon Holz erspäht und das bei Samuel Cohn ausgeruhte Taschenmesser in der Hand. Vorher untersuchte ich erst die Lampe und brannte sie an, die Lady entnahm unterdessen einem Schranke angerissene Pakete mit Tee, Zucker und anderen haltbaren Lebensmitteln, dann spendeten die Polstertaschen und Sitzkästen der Equipage Roastbeaf, drei Brathühner und andere schöne Sachen, auch einige Flaschen kamen zum Vorschein, ferner Teller, Messer, Gabeln — es fehlte nichts.

Der Teetopf sang über dem offenen Kaminfeuer. Es war herrlich! Wirklich, diese Lady war doch ein ganz famoses Frauenzimmerchen! Wenn die solche Liebhabereien hatte, dann wollte ich schon mit ihr an Bord auskommen. Wenn sie nur nicht solche zerrissene... nein, daran wollte ich gar nicht mehr denken. Hinsehen tat ich schon lange nicht mehr.

Auch sie war mit behilflich und legte dazu Hut und Mantille ab. Himmel! Unten wohl eine ganze Masse von Röcken, wenigstens den Spitzen nach zu schließen, und oben gar nichts! Das heißt, sie hatte schon etwas an, aber von einem ganz durchsichtigen Stoff, wie Spinnengewebe, dass man alles sehen konnte, und ihre Ärmel waren ganz aufgeplatzt, freilich wohl künstlich, solche lange Lappen, die auf der äußeren Seite nur durch Schleifchen zusammengehalten wurden. Ich hätte gar nicht gedacht, dass das schlanke Figürchen so dicke Arme haben könnte, fast wie die Mary.


Illustration

Der Esstisch war fertig. Der Kutscher erhielt seinen Anteil, mit dem er sich aber wieder zu den Pferden zurückzog, denn wenn in England etwas Anziehungskraft auf diesen ausübt, so sind es aufsichtslose Pferde. Er hatte neben dem Stall ein hübsches Zimmerchen.

Wir aßen — oder speisten vielmehr. Sie trank Tee mit etwas Rotwein, und ich Rotwein mit etwas Tee. Dann wurde Glühwein ohne Tee gemacht, dem sie ebenfalls zusprach, wenn auch sehr mäßig.

Nach dem Essen setzten wir uns an das offene Feuer, das ja gar nicht mehr wärmte, wenn man nicht seine Nase dicht daran hielt. Sie hielt nur ihre Füße daran, und bei solchen mehr ganz als halbnackten Füßen und Waden musste sie ja auch frieren. Faktisch, Loch an Loch; die Löcher hingen kaum noch zusammen. Und es half alles nichts, ich musste es sehen, weil sie auch noch die Beine übereinandergeschlagen hatte und mit dem einen vorgestreckten Fuße immer schaukelte. Ob die sich nur gar nicht schämte? Aber das Schuhchen war wirklich prachtvoll, das flimmerte in dem roten Feuerschein wie ein goldgrüner Karfunkelstein.

Schon beim Essen hatte ich immer von meinen Abenteuern erzählen müssen, jetzt auch. Aber immer kam sie wieder auf die Liebe zurück — wie alle Frauenzimmer, das ist bei denen doch die Hauptsache.

Ob ich schon in Spanien gewesen sei. Ja. Ob die Spanierinnen recht schön wären. O ja — manchmal — manchmal auch nicht — sie werden so schnell alt, und dann klappen sie zusammen. Ob ich mit einer Spanerin schon ein Verhältnis gehabt hätte. Nicht nur mit einer.

»Bitte, erzählen Sie!«

Nun, ich verstand zu erzählen — immer dezent — ich verstand, durch die Schilderung von kleinen Episoden und Charakterschilderungen immer von der Hauptsache, die die Liebe mit sich bringt, abzulenken. Alles brauchte die doch nicht zu wissen, wenn sie auch schon verheiratet gewesen. Das konnte ich ihr doch nicht erzählen.

Und dabei schaute sie mich mit ihren großen, blauen Augen unverwandt an, und immer mehr begannen diese zu leuchten. Bei der begann der Glühwein zu wirken. Nicht minder bei mir, der ich immer wie gebannt das Fragment eines Strumpfes betrachten musste, durch dessen Löcher es wie Schnee leuchtete.

Dann trat eine Pause ein. Stumm beobachteten wir die Funkenbilder des erlöschenden Feuers.

»Haben Sie von der Lady Esther Stanhope gehört, genannt die Sibylle des Libanon?«, fragte sie plötzlich.

»Oder die Königin von Tadmor — oder die Zauberin von Dschihun«, ergänzte ich. »Ja, deren Lebensgeschichte kenne ich sogar ganz ausführlich.«

Ich erklärte ihr, woher. Ein Zufall. Ein Maat von mir hatte ihre englische Biografie in seiner Kleiderkiste gehabt.

Lady Esther Stanhope ist wohl das merkwürdigste und abenteuerlichste Weib gewesen, das je existiert hat. Geboren zu London am 12. März 1776 als Schwester des berühmten Diplomaten Graf Philipp Henry von Stanhope, Nichte des noch berühmteren Pitt. Bis zu Pitts Tode, 1806, leitete sie diesem, einem Junggesellen, den Hausstand, war zugleich seine Sekretärin, machte selbst in Politik. Dann ging sie auf Reisen, bis sie sich in Syrien eine neue Heimat gründen wollte, so ein phantastisches Königreich. Denn an toller Phantasie hatte es der nie gefehlt. Durch geheimnisvollen Hokuspokus verbreitete sie um sich das Gerücht, mit der Geisterwelt in Verbindung zu stehen, über unermessliche Schätze zu gebieten usw. Besonders auf die Drusen übte sie einen kolossalen Einfluss aus. Dass der allmächtige Ibrahim Pascha, Vizekönig von Ägypten, damals seinen Siegeszug durch Kleinasien unterbrach, nicht auch in die Türkei einfiel, was die schwersten politischen Verwicklungen aller Mächte nach sich gezogen hätte, das hatte man nur der Lady Esther zu verdanken. Als phantastische Königin von Tadmor trat sie dem ägyptischen Napoleon entgegen, und vor der Zauberin von Dschihun oder der Sibylle des Libanon kehrte der unbesiegte Feldherr um. Dieses Weib soll durch Blick, Worte und durch ihr ganzes Wesen eine wunderbare Macht auf jeden Menschen ausgeübt haben.

Was ich hier schreibe, kann in jedem Konversationslexikon nachgelesen werden. Was ihr Biograf sonst noch über ihre Abenteuer und phantastischen Tollheiten berichtet, will ich hier nicht wiedergeben, weil wir selbst dies alles noch bei weitem übertreffen sollten.

Aber mit den enormen Geisterschätzen war es nichts. Die Sibylle des Libanon und Königin von Tadmor starb in bitterster Armut, verlassen und verspottet von allen ihren Anhängern, am 23. Juni 1839, nur umgeben von einigen treuen Arabern, und auch ihr Arzt hatte bei ihr ausgehalten, Doktor Alois Selo, wohl ein Österreicher, der dann ihre Biografie herausgab.

»Sie war meine Großtante.«

»Was Sie nicht sagen!«, staunte ich.

»Ja. Ihre Schwester, Lady Blodwen Stanhope, heiratete meinen Großvater. Ich soll ihr sprechend ähnlich sehen — meiner Großtante, der Lady Esther.«

Ja, das konnte man bei diesen ganz merkwürdigen, so trotzigknabenhaften und dennoch reizvollen Zügen wohl glauben. Und an phantastischen Kunststückchen sollte die hier ja auch schon etwas geleistet haben, ich selbst hatte ja schon etwas davon zu sehen bekommen.

Sie starrte traumverloren in die letzten Funkengebilde, welche jetzt illuminierte Gebäude zeigten, um gleich darauf feurige Umrisse von Fratzen und ungeheuerlichen Tieren anzunehmen.

»Sie kann nicht so arm gestorben sein. Das war freiwillige Entsagung. Ich habe etwas gehört von...«

Ich lauschte wie ein Mäuschen. Aber es kam nichts weiter nach. Immer traumverlorener ward ihr Blick.

»Sie wollte sich ein Königreich suchen«, erklang es dann sehnsuchtsvoll, »ach — auch ich möchte Königin sein...«

Jetzt wäre es Zeit gewesen, endlich einmal von der Jacht zu beginnen. Mrs. Milner musste ihr doch die Idee vorgetragen haben.

Da blickte sie nach der Uhr und stand schnell auf.

»Schon elf. Ich bin müde. Wo werden Sie schlafen, Herr Steuermann?«

»Ich kann ja unten beim Kutscher...«

»Ach nein. Jemand muss bei mir bleiben, ich fürchte mich allein in dem einsamen Hause.«

Fürchten? Danach sah dieses Gesicht gar nicht aus, wenn sie auch einen noch so ängstlichen Ton anschlug. Wie sie es früher bei solchen nächtlichen Exkursionen gehalten hatte, durfte ich nicht fragen.

»Sie schlafen hier in diesem Zimmer. Wir werden schon etwas finden, um ein Bett zurechtzumachen.«

Gut! So ein Klappstuhl war bald gefunden, Decken und anderes Zeug gab es auch genug. Sie brannte ein Licht an, gab mir die Hand, wir blickten uns an, sie ging hinüber.

Ich band nur den Kragen ab und zog die Jacke aus, sonst legte ich mich angezogen auf den Klappstuhl, vorsichtig, ich traute dem hölzernen Dinge nicht recht: Für meine langen Beine brauchte ich noch extra zwei Stühle, hüllte mich in eine silbergestickte Decke, auf der ›Wünsche wohl zu speisen‹ stand, blies das Licht aus und rauchte noch ein bisschen.

Drüben rumorte sie noch etwas, dann knarrte mächtig das Himmelbett, und dann ward es still. Ich rauchte meine Pfeife aus und schlief ein.

Es war ein merkwürdiger Traum. Sie stand im Mondschein an dem weißen Tempel, jetzt mir aber zugekehrt, die Arme ausgebreitet, rief mich beim Vornamen und sang das verdammte Lied.


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Und dann hatte ich sie plötzlich auf den Knien und stopfte ihre zerrissenen Strümpfe, gleich an den Waden.

»Au, du darfst sie mir nicht an der Haut festmachen«, sagte sie, und dann fing sie wieder an: »Du stolze Blodwen freue dich...«

Und dann gab es einen Krach. Mein Bettstuhl war unter mir zusammengebrochen. Nämlich dadurch, dass ich gar zu gewaltsam aufgesprungen war.

Denn das war kein Traum mehr, mein Name wurde wirklich gerufen, und zwar schon vorher, ehe es hier gekracht hatte.

»Herr Steuermann!!«, erklang es drüben in ängstlichstem Tone. Im Nu war ich drüben — wunderte mich nur, dass ich es sein konnte, dass nämlich die Zwischentür gar nicht verschlossen war.

Sie hatte schon Licht angezündet, hatte den Himmelvorhang zurückgeschlagen, und so sah ich sie halb aufgerichtet drinsitzen im Himmel, den Arm hoch und das Hemd etwas herunter. Ihr Gesicht war gerötet, mit ängstlichen Augen blickte sie mich an.

»Hier ist jemand im Zimmer.«

»Es wird eine Maus gewesen sein«, lautete sofort meine Entscheidung.

»Nein, es war ein Mensch.«

Ich ging nach der anderen Tür, diese war im Gegensatz zu meiner verschlossen und sogar verriegelt — ich leuchtete unter das Bett und fuhr mit dem Feuerschürer unter alle Schränke, unter die sich nicht einmal eine Katze hätte quetschen können. Ich habe nämlich Schwestern gehabt, und daher wusste ich Bescheid in der Sache.

»Sehen Sie? Kein Mensch ist darunter. Sonst müsste ich ihn doch vorkratzen. Nur die üblichen Knäuel, welche alte Frauen Spinnennester nennen, eine abgedankte Brotrinde und ein antiker Zigarrenstummel.«

»Ich hörte es rascheln.«

»Dann ist's ganz gewiss eine Maus gewesen.«

»Es mag sein«, gab sie jetzt zu. »Und was für ein Krach war das vorhin? Waren Sie das?«

»Nein, das war mein Bettstuhl. Während ich aufstand, legte er sich ermüdet nieder.«

»Er ist zusammengebrochen?«

»Vollständig, und ich befürchte, dass er nie wieder aufstehen wird.«

»Ja, wo schlafen Sie denn nun da?«

Sie saß noch immer in derselben Stellung in ihrem mächtigen Himmelbett, den bloßen, vollen Arm mit der Gardine hochgehoben.

»O, zum Drauflegen ist er noch immer zu gebrauchen, nur verdient das Bett nicht mehr den Namen eines Stuhles.«

Sie sah mich lange an, und ihre feinen Nasenflügel zitterten jetzt ganz sichtbar.

»Ich danke Ihnen — schlafen Sie wohl«, sagte sie und machte den Himmel zu.

Ich blickte noch einmal auf die ganze Kladderasche, die mit sämtlichen Spitzen und allem, wofür ich keinen Namen hatte, auf zwei Stühlen lag, auch die zerrissenen Strümpfe, und dann war ich wieder drüben.

Himmel, Hagel und Haubitzen!!

Schlafen Sie wohl. Jawohl, hatte sich was! Der zerbrochene Bettstuhl setzte mir, wie ich mich auch legte, immer einen Fuß ins Kreuz, und dann...

O, diese verfluchten Gedanken! Diese Visionen! Was mir meine Phantasie vorgaukelte!

»Soll ich oder soll ich nicht? Richard, sei kein Esel. Natürlich sollst du, sie will's doch selbst. Aber hast du dich nicht in ihre Dienste gestellt? Kapitän und Steuermann! Richard, wenn du sonst kein Frosch bist, sei diesmal einer! Nur diese Nacht noch.

Morgen muss es sich entscheiden. So oder so. Oder ich gehe. Das halte der Deiwel aus.«

So marterte ich mich die ganze Nacht, bis der Morgen graute. Dann kam ich endlich auf die Idee, meine Stiefel auszuziehen, um geräuschlos hin und her gehen zu können. Und endlich knarrte drüben auch das Himmelbett. Dann plätscherte es. Und dann knarrte das Himmelbett nochmals. Jetzt setzte sie sich darauf, um ihre zerrissenen Strümpfe anzuziehen. Dann raschelte es, und dann war sie fertig.

»Guten Morgen, Herr Steuermann! Haben Sie gut geschlafen?«

Sie sah blass aus wie eine Kalkwand. Ich machte, dass ich hinunterkam, und half mit, die Pferde anzuspannen.

Wir fuhren in dem verdunkelten Wagen zurück, ohne ein einziges Wort zu wechseln.

— • —

6. Kapitel
Eine Gespenstergeschichte und
was ich im Geisterturm erlebte

Originalseiten I.91 — 113

Ich war krank. Gemütskrank. Im Magen. Faktisch. Unberührt war das Frühstück fortgetragen worden, ich hatte Mittagessen bestellt, und jetzt stand das auch noch da, und ich saß daneben, den Kopf in die Fäuste gestemmt und stierte vor mich hin.

So konnte das nicht weitergehen. Ich wollte fort. Ich musste erst tausend Knoten Salzwasser zwischen uns haben. Ich wollte hin zu ihr und es ihr sagen, sie um Entschuldigung bitten, ich hätte mir die Sache anders überlegt. Aber ich wagte es nicht. Morgen, morgen! Ich schimpfte mich selber einen elenden Feigling. Richard Hasenherz.

Der Leser weiß, wie es mit mir stand. Mich hatte etwas gepackt, was ich bisher noch nie gekannt. Hatte ich einmal so etwas gehört, hatte ich darüber verächtlich gelacht. Und da muss ich langer Lümmel...

Mein Diener kam. Die Lady wünsche mich zu sprechen. Und da war mir, als ob der schwarzgekleidete Diener eine ganze Flutwelle von goldenem Sonnenschein mit hereinbrächte, der Sonnenschein drang mir ins Herz und drang mir in den Magen, dass ich gleich wieder Appetit bekam. Nun war es aber zu spät.

Einen bedauernden Blick auf das kaltgewordene Essen, und ich ging. Ich glaube, ich tänzelte. Ich sollte sie ja sehen, sie sehen!! Und auf diesem Wege ward mir klar, dass ich nicht mehr leben konnte, wenn ich sie nicht täglich sah. Ich wäre einfach verhungert. Und das geht bei mir schnell.

Sie sah in der römischen Tunika wieder ganz frisch aus. Jedenfalls hatte sie noch ein Schläfchen hinter sich. Und sie setzte schon wieder ein unnahbares Gesicht auf. Aber daraus machte ich mir nichts. Ich war schon glücklich, sie nur sehen zu können.

Mit einem Male versuchte sie ein ganz geheimnisvolles Gesicht zu machen.

»Haben Sie schon einmal einen Geist gesehen?«

»Nee!«, war meine prompte Antwort, ob dieser unvermuteten Frage wieder etwas in meinen alten Ton fallend.

»Sie glauben wohl gar nicht an Geister?«

»Nee.«

Und nun kam es langsam heraus:

»Ich — habe — schon — einen — Geist — gesehen!«

»Einen richtigen Geist?«, vergewisserte ich mich nochmals.

»Ja.«

»War er weiß?«

»Ja.«

»Dann war's ein Mensch, der sich ein Bettuch umgehangen hatte«, war meine sofortige Erklärung.

Über ihr schwermütiges Gesicht ging wieder jenes eigentümliche Zucken.

»Sie glauben mir nicht, dass ich schon einmal einen Geist gesehen habe?«

»Mylady, Ihr Wort in Ehren — aber ich bin bisher noch keinem Geiste und sonstigem Gespenste begegnet, und es ist bisher auch meine Ansicht gewesen, dass es keine sogenannten überirdischen Erscheinungen gibt, obgleich ich Shakespeare nicht widersprechen will, dass zwischen Himmel und Erde Dinge existieren, die wir mit unserer Schulweisheit niemals fassen werden. Und werde ich betreffs der Geister eines anderen belehrt, bekomme ich nur einen einzigen handgreiflichen Beweis für ihr Vorhandensein, dann will ich gern aus einem Saulus ein Paulus werden.«

Man wird mir trotz aller sonstigen Offenheit, die manchmal an Grobheit grenzen konnte, ein gewisses diplomatisches Geschick nicht absprechen, und wenn ich wollte, so konnte ich sprechen wie ein Buch. Ich hatte ja auch Pastor werden sollen.

»Setzen wir uns.«

Ich war in einem der gepanzerten Zimmer empfangen worden, aber nicht in dem mit dem Geldschrank, wo ich ganz sicher hinter einer Portiere auch ihr Bett vermutete.

»Eine kleine Stunde von hier«, begann sie dann, »in der Nähe von Wanstead, steht auf freier Heide ein Turm. Haben Sie überhaupt noch nichts von diesem Hunger- oder Geisterturm von Wanstead gehört?«

»Nein.«

»Eigentlich kennt jeder Engländer ihn, er kommt in Spukgeschichten sehr häufig vor, es existiert über ihn schon mehr eine eigene Literatur, die ganze Umgegend weiß noch heute von geheimnisvollen Erscheinungen zu erzählen, und ich wünsche sogar, dass sie sich zuvor darüber orientieren, wozu ich Ihnen dann einige Adressen geben werde.

Dieser Turm ist der stehen gebliebene Rest eines ehemaligen Schlosses, welches der Königin Elisabeth gehörte. Das Schloss selbst ist wohl noch zu Elisabeths Zeiten abgetragen worden, man erkennt unter dem Heidekraut kaum noch die Grundmauern, nur den Turm hat man aus irgendeinem Grunde stehen lassen.

Nun meldet die Mär, dass Königin Elisabeth in diesem Turme einmal eine Kammerzofe oder vielleicht auch Ehrendame namens Florence Cook habe einsperren und verhungern lassen, wohl weil sie die Eifersucht der Königin erregt hatte, und der Geist ihres Opfers soll noch heute darin spuken, man will nächtlicherweile Lichterscheinungen in dem Turme gesehen haben, es sollen auch mutige Männer eine Nacht darin verbracht haben, die zwar lebendig wieder herauskamen, aber oftmals gebrochen an Leib und Seele, jedenfalls konnten sie immer Entsetzliches erzählen.

Der Turm steht auf meinem Grund und Boden. Als ich von dem Spuk erfuhr und hörte, dass sich in dem Turme noch immer nächtliche Lichterscheinungen und Seufzen und Stöhnen wahrnehmen ließen, besonders in mondlosen Nächten, stand bei mir fest, der Sache auf den Grund zu gehen.

Eingezogene Erkundigungen ergaben sehr wenig. Es sei stets das östliche Zimmer im zweiten Stock, in dem sich manchmal ein Licht zeige. Es wollten wohl schon Männer darin übernachtet haben, und sie sollten, wie schon gesagt, Schreckliches erzählen können — nur schade, dass ich keinen einzigen dieser Zeugen sprechen konnte, sie lebten nicht mehr oder waren ausgewandert, verschollen.

Zunächst stattete ich dem Turme am Tage einen Besuch ab. Er ist noch ganz angefüllt mit altertümlichen Möbeln. Sonst konnte ich nichts Auffälliges bemerken. Erwähnen will ich schon jetzt, dass das betreffende Zimmer, das östliche im zweiten Stock, unter anderem so eine Schreibkommode enthält, wie sie zur damaligen Zeit Mode waren. Sie war verschlossen, aufbrechen wollte ich sie nicht, sie erregte ja auch nicht mein besonderes Interesse.

Bei dem nächsten Publican, welcher nach polizeilicher Vorschrift einen Schlüssel zum Turme besitzt, hinterließ ich die Weisung, dass man schnellstens zu mir schicken sollte, sobald sich wieder einmal die Lichterscheinung zeigen würde. Und richtig, schon in der nächsten Neumondnacht, so gegen elf Uhr, kam ein Bote. Jenes Turmzimmer sei wieder erleuchtet, man höre darin ein Wimmern.

Ich war schon vorbereitet. Sofort in den Wagen. Der alte David musste mich begleiten. Unterwegs nahmen wir noch einen Konstabler mit.

Ich erzähle ganz kurz. Auch wir drei sahen das betreffende Fenster schwach erleuchtet. Dabei ein ganz eigentümliches Licht. So — so — nicht weiß, nicht gelb — — ein fahles Geisterlicht, anders kann man sich nicht ausdrücken. Und dabei ein wimmerndes Stöhnen, auch von draußen ganz deutlich hörbar.

Wir drangen ein. Nichts! Absolut nichts! Kein Licht, drinnen war auch nichts von dem Wimmern zu hören. Nun aber kommt das Merkwürdigste. Draußen standen der Publican und noch einige andere Leute, und diese behaupteten, auch als wir drin gewesen wären, hätten sie noch immer das Fenster erleuchtet gesehen und das Wimmern gehört, und dass dies wirklich so war, davon überzeugte ich mich sofort selbst. Die drinnen sahen und hörten nichts, aber ich selbst sah von draußen den Lichtschein und hörte die schrecklichen Töne. Doch sobald ich die Schwelle der Turmtür überschritt, verstummte auch für mich der Ton, von einem Lichte keine Spur, während die draußen Stehenden mir zuriefen, dass der Lichtschein am Fenster noch immer zu sehen sei. Wie können Sie sich das erklären?«

»Das war einfach ein reflektierter Lichtschein«, entgegnete ich, »und auch bei den Tönen handelt es sich um eine akustische Täuschung.«

»So? Ganz einfach? Eine optische und akustische Täuschung?«, wiederholte sie spöttisch, und in diesem Augenblicke wollte sie mir gar nicht gefallen. »Nun, warten Sie nur, was noch weiter folgt.

Der Publican und die anderen Eingeweihten sagten, dass dies ganz selbstverständlich sei. So hätte der Spuk es immer gehalten. Draußen das Licht zu sehen und das Wimmern zu hören, und wenn man eindrang, war alles dunkel und ruhig. Aber allein sollte man einmal eine Nacht drin verbringen, ganz allein, dann würde man schon etwas erleben.

Mein Entschluss stand fest. In der nächsten Neumondnacht machte ich mich wieder auf den Weg, ganz allein, zu Fuß — niemand wusste etwas von meinem Vorhaben und sollte es auch nicht erfahren, damit man nicht etwa Vorbereitungen zu einem künstlichen Spuk inszenieren könne.

Gegen zehn Uhr erreichte ich den Turm, zu dem ich selbst den Schlüssel besaß. Heute war von einer Lichterscheinung und einem Wimmern nichts zu bemerken. Das sollte sich ja auch immer erst in der elften Stunde zeigen und um eins wieder aufhören.

Ich drang ein, begab mich in das betreffende Zimmer, stellte die brennende Kerze auf den Tisch, kochte auf einer Spiritusmaschine Kaffee und wartete nun des Kommenden. Und es sollte denn auch kommen.«

Die Erzählerin machte eine Pause, sie wurde plötzlich noch blasser, wie ein Schauern ging es durch ihre Glieder.

Und ich sah sie starr an. Wie? Gestern hatte sie sich vor einer Maus gefürchtet, und damals wollte sie eine einsame Nacht in dem Spukzimmer verbringen? Wie reimte sich das zusammen? Das gestern mit der Angst vor der Maus war mir ja gleich erkünstelt erschienen — und dennoch... mir kam an der ganzen Sache gleich etwas nicht ganz geheuer vor. Aber war jetzt dieses noch nachträgliche Entsetzen nicht unbedingt echt?

Sie hatte sich wieder gefasst, mit ihrer ruhigen Stimme fuhr sie fort:

»Ich muss eingeschlafen sein. Wie es geschah, weiß ich nicht. Eine Art von Betäubung kam über mich. Plötzlich erwachte ich. Ein wimmernder Ton hatte mein Ohr getroffen. Und da sah ich — und da sah ich...«

Ein neues Entsetzen der Erinnerung befiel sie, und ich gestehe, dass ich selbst mit angesteckt wurde, am hellerlichten Tage.

»Nun, was sahen Sie?«, flüsterte ich.

Mit Gewalt rang sie ihre furchtbare Erregung nieder.

»Meine Kerze war erloschen. Trotzdem herrschte in dem Zimmer ein schwaches Licht. Es ging von einer menschlichen Gestalt aus, die vor der Schreibkommode saß, deren oberer Teil jetzt heruntergeklappt war. Eine weiße, etwas leuchtende Gestalt — ein Weib — es machte durch die gebückte Haltung und dann durch ein Hüsteln, welches immer durch das Stöhnen und Wimmern klang, auf mich auch gleich den Eindruck eines alten Weibchens — und ich konnte auch von dem Sofa aus, auf dem ich saß, ganz deutlich sehen, was sie tat. Sie hatte ein Federmesser in der weißen, durchsichtigen Hand und radierte mit diesem auf einem gelblichen Bogen Papier herum, auf dem ich auch Schriftzüge unterscheiden konnte.

Fragen Sie mich nicht, was ich dachte. Ich weiß auch nicht, wie lange ich so die weiße Gestalt mit entsetzten Augen beobachtete. Ich war unfähig, mich zu rühren, war wirklich wie gelähmt. Dazwischen immer das Hüsteln, Seufzen und ein lautes Wimmern, während sie ständig auf ein und derselben Stelle des Papiers herumschabte. Dann erhob sie sich mit einem schweren Seufzer, legte den gelben Bogen und das Radiermesser in ein aufgezogenes Fach der Schreibkommode, verschloss deren Deckel, d. h., klappte diesen herunter — von einem Schlüssel bemerkte ich nichts — jetzt drehte sie sich herum, ich sah das Gesicht, wirklich das eines alten Weibchens — aber nun diese Augen, wie kalt und starr und leer die auf mich gerichtet waren! — doch sie schien mich gar nicht zu bemerken, schwebte an dem Tisch vorüber, nach der Wand zu, es war mir, als dränge sie durch dieselbe hindurch... mit einem Male war alles vorbei — meine Kerze brannte wieder, ich fühlte wieder Leben in mir... wie ich die Treppe hinunter und zum Turme hinausgekommen bin, weiß ich nicht.«

Die Erzählerin schwieg, wurde aber von einem neuen Schaudern geschüttelt, und dementsprechend war ihr Gesicht.

»Sie werden geträumt haben, Mylady«, sagte ich. »Ihre Einbildung war sowieso mit...«

Nur der Ausdruck ihrer seltsam großen, auf mich gerichteten Augen war es, was mich unterbrach.

»Ich versichere Sie, dass ich nicht geträumt habe«, erklang es feierlich, »so wenig wie jetzt — ich sah den Geist so deutlich, wie ich Sie jetzt vor mir sehe — wollen Sie mir das glauben?«

Da konnte ich nur die Schultern heben.

»Haben Sie noch einmal nachgeforscht?«

»Zwei Tage brauchte ich, um mich von meinem Schreck zu erholen. Gesprochen habe ich zu niemandem darüber. Was ich gesehen hatte, konnte mir keiner abstreiten. Ich bildete mir selbst ein Urteil. Es gibt etwas, was... über unsere Begriffe geht. Das gelbe Dokument, das Radieren... hier war einmal eine Urkundenfälschung oder etwas Ähnliches geschehen, was dem Täter keine Ruhe im Grabe ließ. Am dritten Tage begab ich mich nochmals hin. Die Schreibkommode war verschlossen. Ich ließ einen Kunstschlosser holen, der sie nach vieler Mühe öffnete. Sehen Sie, und ich erblickte genau dieselben Fächer, die eigentümliche Schnitzarbeit, wie ich alles in jener Nacht gesehen hatte. Ich wusste auch noch genau die Schublade, welche offen gewesen war, links die dritte von oben. Aber sie war leer wie alle anderen Schubfächer. Auch nicht ein einziges Stückchen Papier darin.«

»Nun, also, Mylady — und Sie wollten doch deutlich gesehen haben, wie das geisterhafte Weibchen das Radiermesser und das Papier in die Schublade zurücklegte und...«

»Bitte, das war doch jedenfalls nur Einbildung des Geistes — er führt im traumhaften Zustande nur eine eingebildete Handlung aus — der lebende Beobachter aber ist nun gezwungen, dies mitzusehen, für ihn wird das eine reelle Handlung. Es ist eine Theorie — verstehen Sie nicht, wie ich das meine?«

O ja, ich verstand. Das heißt, ich konnte diese Theorie recht wohl begreifen. Sonst wollte ich mich jetzt jeder eigenen Meinung enthalten.

»Haben Sie die Sache weiter verfolgt?«

»Nein. Meine Cousine, Mrs. Milner, hat Ihnen doch von meinem Schicksal erzählt, von meiner unglücklichen Ehe und allem anderen.«

Ich bejahte. Es war das erstemal, dass sie dieser Cousine erwähnte und von ihrem eigenen Unglück eine Andeutung machte.

»Nun, gerade damals begann der Prozess — der Kampf um mein Eigentum — alles andere verlor jedes Interesse für mich — ich hatte mit lebendigen Menschen zu kämpfen, nicht mit Geistern — nein, ich habe mich nie wieder darum gekümmert. Gestern hatten wir die erste Neumondnacht. Und heute erfahre ich, dass gestern Abend wiederum im Geisterturm der Lichtschein und das Winseln beobachtet worden ist. Dann wiederholt es sich ganz bestimmt auch heute Nacht. Und bevor ich Abschied von hier nehme, jedenfalls für immer, will ich dieses Rätsel...«

Ich hatte mich, einer Eingebung folgend, schnell erhoben.

»Gestatten Mylady, dass ich diese Nacht in dem Geisterturme verbringe!«

Es war eine ganz merkwürdig staunende Freude, mit der sie zu mir emporblickte.

»Wie, das würden Sie wagen?!«

»Selbstverständlich, und da gibt es doch auch gar nichts zu wagen, haben Sie es doch schon selbst gemacht!«

Es waren nur wenige Worte, die wir noch wechselten. Dann befand ich mich auf dem Wege nach meinem Zimmer, den Kopf erfüllt von gar vielen Gedanken.

Wir Geschwister hatten als Kinder viele Gespenstergeschichten hören müssen. Unser Großvater war ein Sonderling gewesen, hatte wohl schon immer zu übersinnlichen Dingen hingeneigt, und als er dann im Alter etwas schwachsinnig wurde, auch uns Kinder mit Gespenstergeschichten traktiert, so sehr auch unsere vernünftigen Eltern es zu hindern suchten. Für uns Kinder war es ja gar zu schön, so hinter dem warmen Ofen das Gruseln zu lernen.

Tatsache war, dass in unserem Hause, ehe mein Vater es übernahm, ein scheußlicher Mord passiert war, ein Bruder hatte den anderen aus Habgier getötet, oben in einer Bodenkammer, der Mörder hatte sich dort auch aufgehängt. Doch das bekamen wir erst jetzt mit allen Einzelheiten von unserem Großvater zu hören, und dann weiter, dass die Seele des Mörders noch jetzt dort oben spuke, er selbst hätte den Geist gesehen. Es war eben ein kindischer Alter, der nicht mehr dafür verantwortlich zu machen war.

Es lässt sich denken, mit welchen Empfindungen wir Kinder von da an auf den Boden gingen. Ja, auch ich bekam immer eine Gänsehaut, daraus mache ich gar kein Hehl.

Aber fürchten? Ich schämte mich eben, dass ich mich wirklich fürchtete. Meine Eltern, meine Lehrer und alle vernünftigen Menschen versicherten doch, dass es gar keine Geister gebe, der liebe Gott dulde so etwas nicht, und so weiter.

Kurz, es war ein Schamgefühl, welches mich bestimmte, eine Nacht in der spukhaften Bodenkammer zu verbringen. Ich wollte den Geist sehen! Wohl mit einer Gänsehaut, aber ich tat es doch!

Ich sah nichts, meine Einbildung gaukelte mir nichts vor, und ich war ein für allemal von jeder Gespensterfurcht geheilt. Heute darf ich sagen, dass ich mich damals als ein kleiner Held gezeigt hatte.

Das zweite Mal sah ich einen wirklichen Geist. Er spukte auf dem benachbarten Kirchhofe. Ich lauerte ihn auf, sah die weiße Gestalt wirklich zwischen den Gräbern wandeln und... schoss ihr mit dem Blaserohr einen Stechbolzen ins Bein. Quiekend rannte er davon und kletterte über die Kirchhofsmauer, und ich hatte einen wirklichen Geist besiegt, einen alten Spaßmacher, der da seine Allotria trieb.

Der zweiten handgreiflichen Geistererscheinung war ich vor noch gar nicht so langer Zeit begegnet, in New York, wo es manchmal auf dem Boden eines Boardinghouse spukte. Ich produzierte mich wiederum als Geisterbanner, sah ihn, packte ihn, verwalkte ihn — bis er in meinen Händen ein weißes Bettuch zurückließ. Auf der Flucht verlor er außerdem noch einen Schinken und eine Kiste Zigarren. Denn ohne Betttuch nannte sich dieser Geist Friedrich und war in dem Boardinghouse als Hausknecht angestellt.

Das waren meine bisherigen Erfahrungen auf dem Gebiete der Geisterwelt. Und nun sollte ich zum dritten Male einem ›wirklichen‹ Gespenste zu Leibe gehen.

Ich weiß nicht, die Erzählung der Lady kam mir etwas...

Doch ich will meine damaligen Gedanken nicht wiedergeben, entschlug mich auch aller Grübeleien. Es würde sich ja alles finden.

Ich holte mein versäumtes Mittagessen nach, dann legte ich mich schlafen, um heute Nacht weder mit geschlossenen noch mit offenen Augen zu träumen. In der vorigen Nacht hatte ich ja auch kaum eine Stunde geschlafen. Wie sehr mich dies alles von meinen vorigen, so unglücklichen Gedanken ablenkte, das kam mir damals gar nicht recht zum Bewusstsein.

Als mich der Diener, wie ich angeordnet, um sechs weckte, brachte er mir von der Lady ein Paketchen. Es enthielt einen großen, altertümlichen Schlüssel — sonst nichts weiter, keine Zeile, und ich sollte die Lady auch nicht wiedersehen, hatte es ja auch gar nicht nötig.

Ich besorgte mir, was ich zu gebrauchen dachte, einige Lichter, Tee und Zucker, eine Spiritusmaschine, einigen Proviant, machte mir daraus ein Paket — dann ging ich noch einmal in das Bibliothekzimmer, um mir etwas zu lesen zu holen. Es war ein Zufall, dass das erste Buch, welches ich blindlings herausholte, eine dickleibige Gespenstergeschichte war, aus dem Russischen übersetzt. Gut, so würde ich mich gleich in die richtige Stimmung versetzen. Wirklich, ich freute mich außerordentlich auf diese Nacht im Geisterturme. Wenn nur auch wirklich etwas kam!

Schließlich nahm ich noch für alle Fälle von der Wand einen kurzen Hirschfänger, den ich bequem ins Hosenbein stecken konnte.

Dann, kurz vor Anbruch der Dämmerung, verließ ich die Villa. Nach Wanstead war gerader Weg, bis ich zuletzt die Umrisse eines Turmes erkannte, der auf freier Heide stand.

In einiger Entfernung sah ich in einem einsamen Hause an der Straße Lichter blinken. Das war die Wirtschaft, in welcher ich, wie mir die Lady zuletzt gesagt hatte, bei dem Wirte und bei den eventuell anwesenden Gästen über den Geisterturm Erkundigungen einziehen sollte.

Ich tat es nicht. Was konnten mir denn die Leute noch viel erzählen? Und ich hörte ein wüstes Singen von Zechbrüdern... ich verließ den Weg und stolperte in fast schon völliger Finsternis, ab und zu ein Streichholz anbrennend, über die Heide.

Vor mir erhob sich der massive Turm. Der Schlüssel passte. Dann musste es doch wohl auch der richtige Turm sein, falls es etwa zwei gab.

Das knarrende Tor ging inwendig wieder zu verschließen, auch ein mächtiger Riegel war vorhanden, den ich vorschob. Mein zweites war, mich im Scheine meiner Kerze unten weiter umzusehen. Es war alles leicht zu überblicken — nein, einen zweiten Eingang gab es hier nicht.

Ich stieg die steinerne Rundtreppe hinauf. Von dem Absatz gingen vier Räume ab. Die Öffnungen hatten einmal Türen besessen, aber diese waren ausgehängt worden, wovon die Lady mir gar nichts gesagt hatte. Ich sah altmodische Möbel, und dasselbe war im zweiten Stock der Fall, wo ich im östlichen Zimmer auch gleich das Möbel sah, welches die Lady eine Schreibkommode genannt hatte. Es war eine Art von unserem jetzt ebenfalls im Aussterben begriffenen Schreibsekretär, die heraufgeklappte Schreibplatte schloss die inneren Fächer ab.

Zunächst stieg ich noch eine Treppe höher, kam aber gleich unters Dach, stieg wieder hinab in die erste Etage und noch tiefer, um noch einmal alles gründlich zu untersuchen, nur der Gewissenhaftigkeit halber.

Von Geist gar keine Spur. Auch sonst nichts, was meinen Verdacht hätte erregen können.

Hierauf kehrte ich in den zweiten Stock zurück, konstatierte, dass der Schreibsekretär wieder verschlossen sei, und dann begann ich, es mir hinter dem Tisch auf dem altmodischen Sofa bequem zu machen.

Es war gleich um zehn Uhr, als mein Tee fertig war, den ich nur mit ein ganz klein wenig Rum verbesserte. Die Kerls hatten mir Lompenzucker eingepackt, den ich mit dem Hirschfänger in Stücke klopfte. Ich aß schnell etwas, dann brannte ich mir meine Pfeife an, und nun wurde es gemütlich. Wenn der Geist immer pünktlich um elf erschien, so hatte ich ja noch eine Stunde Zeit, und ich versenkte mich in das Buch.

Die Erzählung fesselte mich außerordentlich und versetzte mich in die richtige Stimmung. Es war eine ganz ordinäre Gespenstergeschichte, aber mit glühender Phantasie und mit vielem Geschick geschrieben. In so einem alten Bojarenschloss spukte es, und wer dem Spuk auf den Grund gehen wollte, den fand man am anderen Morgen immer im Schreibzimmer des ehemaligen Bojaren mit umgedrehtem Genick am Boden liegen, das Gesicht ganz grün angelaufen.

Die Kunst der Erzählung lag darin, dass die eigentliche Gespenstergeschichte gar nicht anfangen wollte. Immer nur neue Opfer und Vermutungen, gerade dadurch aber ward die Erwartung nur immer höher gespannt. Endlich aber sollte es doch losgehen; denn der Held, ein junger Arzt, der sich jetzt auf die Suche machte, durfte doch unmöglich dabei solch einen jämmerlichen Tod finden und grün anlaufen.


... und da plötzlich, eben fing die nahe Dorfkirche an, die zwölfte Stunde zu verkünden, zitterte ein wimmernder Seufzer...


Ich las nicht weiter. Bei mir wurde die Fortsetzung zur Wirklichkeit. Denn auch mein Ohr hatte ganz deutlich einen wimmernden Seufzer vernommen. Und da auch das Schlagen einer nahen Turmuhr! Unwillkürlich blickte ich nach meiner auf dem Tisch liegenden Taschenuhr — ich hatte die Zeit verpasst, es war schon zwölf, die Geisterstunde...

Und da kam auch schon der Geist herein, nicht durch die geschlossene Wand, sondern durch die offene Tür — eine weiße Gestalt — richtig ein altes Weibchen — gebückt — ein Licht in der Hand — hüstelnd und seufzend und wimmernd.


Illustration

Man bedenke die ganze Situation, in der Geisterstunde in dem einsamen Turmgemach, die Phantasie durch eine schauderhafte Gespenstergeschichte vorbereitet, nun dazu dieses Wimmern — und man wird begreiflich finden, dass mich ein Grausen überkam. Würde ich das nicht gestehen, so würde ich mir selbst das Zeugnis eines Renommisten ausstellen.

Freilich lange dauerte dieses mein abergläubisches Grausen nicht. Vielleicht schon in der nächsten Sekunde konstatierte ich kaltblütig, dass dieser Geist nicht schwebte, sondern ganz menschlich ging; dass solche wimmernde Töne auch ein Mensch hervorbringen kann; dass von der Kerze, die sie in der weißen Hand trug, durchaus kein übernatürliches Geisterlicht ausging, sondern dass es ganz einfach eine Groschenkerze war; mit einem Wort: dass dieser Geist einen ganz menschlichen Eindruck machte.

Ohne allen Zweifel: hier war ich mit meiner BettuchTheorie im Recht, und auch das weiße Gesicht, aus dem die glanzlosen Augen mit so starrem Ausdruck auf mich geheftet waren, konnte mich nicht mehr in der Richtigkeit meiner Theorie irremachen.

»Guten Abend!«

Ich weiß nicht, wie mir das so herausgefahren war.

Sie hörte mich nicht, die ausdruckslosen Augen wollten mich auch nicht sehen — die Gestalt schlich an dem Tische vorbei, nach dem Schreibsekretär, machte sich an diesem zu schaffen, die Platte klappte herab.

Desto besser, wenn sie mich nicht hörte. So brauchte ich mich nicht erst der Stiefel zu entledigen, um geräuschlos an sie heranzuschleichen.

Ich also auf und hin. An meinen Hirschfänger dachte ich gar nicht. Sie stellte eben die Kerze auf die Platte, wollte nach einem Schubfach greifen.

»Erschrecken Sie mal nicht!«, sagte ich ganz gemütlich, als ich sie von hinten mit den Armen umschlang.

Es war eine lebenswarme Gestalt, die ich umfasste — und nun beugte ich mich vor und zog ihr auch noch das weiße Tuch vom Gesicht...

»Lady Blodwen!!«

Das allerdings hatte ich nicht erwartet, jetzt mochte ich schon eher an ein Gespenst glauben. So beugte ich mich noch einmal vor, nahm auch noch die Fingerspitze zu Hilfe.

»Jawohl, Lady Blodwen — — ganz genau dasselbe Pickelchen!«

Sie wehrte sich, aber nur, um sich herumdrehen zu können, und... zwei weiche Arme waren es, die sich plötzlich um meinen Hals legten.

»Richard«, erklang es mit der süßesten Stimme und mit dem seligsten Lächeln, »mein Richard Löwenherz!«

Ja, wie sonst alles kam, das weiß ich jetzt nicht mehr. Ich wusste es auch damals nicht. Ich war wie im Traum — und es war auch wirklich ein Traum, der jetzt in Erfüllung ging. Denn mit einem Male saß ich auf dem Sofa und hatte sie umschlungen auf meinem Schoße.

»Nun sage mal bloß, Mädel, was machst du denn eigentlich für tolle Dinger?«

Dass ich dies gesagt habe, weiß ich noch. Da müssen aber doch offenbar noch andere Worte vorangegangen sein, dass ich plötzlich so sprechen konnte.

Was für Worte? Nun, Worte der Liebe!

Und so ging es auch fort. Sie blieb auf meinem Schoße sitzen, und die stolze Lady Blodwen schmiegte sich an meine Brust und weinte und lachte in einem Atemzuge.

Gott, wie soll ich wiedergeben, was wir alles gesprochen haben, die ganze Nacht hindurch, bis die Morgensonne in das Turmzimmer schien! Ich will alles in Kürze zusammenfassen und nur einige Proben aus unserer Unterhaltung dazwischenflechten.

Wir sprachen uns aus. Ich hatte sofort den größten Eindruck auf sie gemacht, d. h., mein ganz offenes, vielleicht auch rücksichtsloses Wesen — auf das arme, gemarterte Weib, welches schon an halbem Verfolgungswahne litt.

Wie ein Heiland sei ich ihr erschienen. ›Das ist dein Retter!‹ Aber sie wusste zugleich, dass dies nur eine fixe Idee sei, gegen die sie sich mit aller Macht sträubte.

Dass sie selbst ihre eigene Cousine gespielt hatte, die gar nicht existierende Mrs. Milner, brauche ich wohl nun gar nicht mehr zu erwähnen. Ich vertrauensseliger Narr hatte ihrer Versicherung geglaubt — trotz des Pickelchens.

Gerade diese Vertrauensseligkeit aber hatte sie für mich eingenommen. Dagegen schon weniger, dass ich für ihre Rettung gar keine Belohnung forderte.

Am nächsten Morgen ließ sie mich die 10 000 Pfund Sterling holen. Wäre ich mit dem Gelde durchgebrannt, so wäre ihr das nur angenehm gewesen, verfolgen hätte sie mich sicher nicht lassen. Dann wäre sie eben einen neuen Feind losgewesen. Dann schickte sie mich zu jenem Farmer, in der Hoffnung, mich bei meiner Rückkehr sinnlos oder doch wenigstens stark betrunken zu sehen. Ja, es war eine wirkliche Hoffnung gewesen. Besser fort ohne eigenen Schaden, als diesen später zu haben.

Und gestern Abend oder in der vorigen Nacht hatte sie mich der stärksten Versuchung ausgesetzt.

»Was hättest du denn nun gemacht, wenn ich der Versuchung, die schon mehr eine direkte Aufforderung war, erlegen wäre?«, fragte ich scherzhaft.

»Ich hatte einen geladenen Revolver bei mir — ich hätte dich getötet.«

»Oho!«

»Und die zweite Kugel hätte mein eigenes Leben beendet«, setzte sie mit demselben tiefen Ernste hinzu, an dem nicht zu zweifeln war.

Dann war ihr eigener Widerstand gebrochen. Ich war derjenige, den sie schon längst ersehnt, dem sie sich in Liebe anzuvertrauen wagte.

Aber, dieses Weib, dessen Exzentrizität ich erst noch richtig kennen lernen sollte, konnte nicht offen sprechen, konnte mir keine schmachtenden Blicke zuwerfen. Alles, was sie tat, musste etwas Besonderes sein.

So erfand sie erst das Märchen von dem Geisterturme. Denn an der ganzen Gesichte war ja kein Wort wahr. Ja, der Turm führte wirklich diesen Namen, eine Kammerzofe der Königin Elisabeth sollte wirklich darin verhungert sein, man machte daraus auch einen Spuk, wollte Lichterscheinungen gesehen und ein Wimmern gehört haben, das hätte ich auch in jener Wirtschaft erfahren, aber sonst... was Blodwen mir da alles aufgetischt hatte, von dem radierenden Weibchen... kein einziges Wort wahr! Alles freie, dichterische Erfindung!

O, hätte ich damals schon empfunden, was für eine Schauspielerin ich in meinen Armen hielt, hätte ich sie schon damals von mir zurückgestoßen, wäre dabei auch mein Herz verblutet — was für Leid wäre mir dann für später erspart geblieben!

So aber fand ich damals alles dies nur ergötzlich, an der Geliebten bewundernswert, ganz andere Fragen drängten sich mir auf.

»Und dachtest du nicht daran, dass ich meinen Hirschfänger an dem Geiste hätte probieren können?«

»Ich dachte daran, und es wäre mir ja nur eine Wonne gewesen, zu deinen Füßen sterben zu dürfen.«

Was sollte ich hierauf antworten? Nichts! Nur ihren Mund mit Küssen bedecken. Und dann erzählte sie mir von ihrer unglücklichen Ehe, von ihrem ganzen Jammer, und ich weinte mit ihr, dann lachten wir wieder zusammen.

»Mädchen, nun sage mal bloß, du hast ja schon wieder ganz zerrissene Strümpfe an?!«

»Zerrissene Strümpfe? Das sind doch durchbrochene Seidenstrümpfe, das Allermodernste!«

Ja, wie hatte ich alter Seebär von solch künstlich durchlöcherten Strümpfen wissen sollen! Jedenfalls aber war das doch wieder ein Grund, um sich auslachen zu können.

Und dann schilderte sie mir zwei Vergiftungsversuche und andere Niederträchtigkeiten, die von ihren geldgierigen Feinden ausgegangen waren, und so kamen wir auf das Schiff zu sprechen. Wir phantasierten von einem schwimmenden Königreiche, mit einem Volke, welches auf jeden Wink bereit war, Mann für Mann in den Tod zu gehen, eine Schar von auserlesenen Helden, ich malte mit glänzenden Farben — doch die Enkelin der Lady Esther Stanhope wusste mich bald bei weitem an Phantasie zu übertreffen.

»Weißt du aber auch, was für Geld dazu gehört?«

»Nun, wie viel?«

»Na, wie die Verhältnisse bei dir liegen — wo du jedenfalls alles gleich bar zu bezahlen hast — da muss man schon mit einer Million rechnen, wenn etwas Rechtes draus werden soll.«

»Eine Million Pfund Sterling — sofort im Anfang zu bezahlen?«, fragte sie mit leisem Schreck. Sie hatte ja nicht die geringste Ahnung, was so ein Schiff kosten könne.

»O nein«, lachte ich, »eine Million Pfund — was meinst du wohl! Ich dachte nur an — an — Schillinge...«

»Ja, weißt du denn gar nicht, was für ein Einkommen ich habe?«, unterbrach sie mich.

»Nein.«

Sie machte sich etwas von mir frei, um mich wieder einmal mit großen Augen starr anzublicken,

»Du weißt nicht, was für ein Einkommen ich habe?«, fragte sie nochmals. »Du hast dich noch gar nicht darum gekümmert?«

»Nein. Dass du viel Geld haben musst, konnte ich mir wohl denken, aber sonst — was ging das mich an...«

»O, du seltsamer, du einziger Mann!«, rief sie da mit hellem Jubel, für mich ganz unverständlich.

»Na, wie viel hast du denn?«

»Ich bekomme jedes Jahr rund 120 000 Pfund ausgezahlt.«

Ich wollte es erst gar nicht glauben — 800 000 Taler — wie die ein Mensch haben könnte — wo die jährlich herkommen sollten. Bis sie mir erklärte, was das hieße, der ehemalige Besitzer von halb Chicago gewesen zu sein, und was da nun sonst noch alles drum und dran hing!

Und doch, ich hatte schon von reicheren Leuten gehört, schon damals gab es in Amerika zwei Milliardäre — ich hatte solche Leute schon von weitem gesehen — aber so nahe noch nicht — und nun gar solch einen Goldfisch hier auf meinem Schoße — es lässt sich wohl begreifen, dass ich ganz verwirrt wurde.

»Küsse mich, Richard!«

Da war meine Verwirrung wieder vorbei, sie war wieder ein Wesen aus Fleisch und Blut geworden, in meinen Armen ein ebenso liebenswertes, wie liebebedürftiges Weib.

So hatte sie auf der Bank von England im Laufe der letzten vier Jahre mehr als 400 000 Pfund Sterling angehäuft — oder ich will fernerhin nach dem jetzigen deutschen Gelde rechnen: über acht Millionen Mark — und das stand zu ihrer freien Verfügung, das konnte sie zu jeder Zeit abheben, in diesem Falle war ihre Unterschrift gültig.

Ja, dann! — dann konnte etwas gemacht werden — dann konnten wir auch weiter phantasieren, und wir taten es.

»Aber du weißt, Richard — die Ansprüche auf mein Vermögen gebe ich nicht etwa auf!«

»Sicher nicht.«

»Wir dürfen uns nicht heiraten.«

»Gibt's ja gar nicht bei mir, das habe ich dir oder deiner Cousine schon einmal gesagt. Ja aber, Blodwen, darfst du denn einen Geliebten haben?«

Sie lachte nur über diese so naiv gestellte Frage. Ja, und weshalb auch hätte sie es nicht gedurft?

»Ja, Blodwen, wenn aber nun — wenn nun...«

Da verschloss sie mir mit ihrer Hand den Mund. Das Weib, welches mich hatte versuchen wollen, konnte auch verschämt wie ein unschuldiges Mädchen sein. Ja, und hatte ich nicht schon gleich gesagt, ich hätte sie eher für ein Mädchen gehalten? Und sie war es — es war mit dem abgedankten Lebemann eben eine sehr unglückliche, eine unnatürliche Ehe gewesen, und wäre Blodwen nicht unerfahren wie ein Kind gewesen, sie hätte gleich von Anfang an anders vorgehen können. Nun aber war es zu spät.

Es war bereits hell geworden, und da drang in das kleine Turmgemach der erste Sonnenstrahl — der erste Sonnenstrahl eines neuen Tages — eines Lebens! Was würde es uns bringen?

O, was waren wir beiden Menschenkinder glücklich!!

»Ja, Blodwen, wie wollen wir aber nach Hause kommen? Am hellerlichten Tage?«

»Was kümmern uns die anderen Menschen? Komm, Richard, wir wollen Hand in Hand hinausgehen in das neue Leben.«

Wir begaben uns hinab. Ich dachte schon, sie würde auch am hellerlichten Tage als weißer BettuchGeist den langen Weg neben mir her wandeln — was mir übrigens ganz egal gewesen wäre, ich hatte jene Bemerkung nur ihretwegen gemacht.

Aber etwas sollte der Geistereindruck doch abgeschwächt werden. Erst jetzt erfuhr ich, wie sie überhaupt hier hereingekommen war. Sie zeigte mir unten eine Falltür, die ich nicht hatte bemerken können, wir durchschritten einen kurzen, unterirdischen Gang und kamen in ein leeres Häuschen, ebenfalls noch von dem früheren Schlosse stehen geblieben. Hier hatte sie einen langen Mantel, ihre Kapuze und Stiefel, zurückgelassen, nichts weiter.

Im goldenen Scheine der frühen Morgensonne traten wir den Rückweg an, nicht Hand in Hand, sondern Arm in Arm. Uns begegnende Leute blieben stehen und blickten uns nach. Die Lady Blodwen wurde sogar trotz ihrer heruntergezogenen Kapuze erkannt, Bemerkungen wurden gemacht.

»Na, da hat sie ja endlich einen.«

»Na, wenn das ihr Vormund erfährt, da kann sie aber etwas erleben, das darf sie ja gar nicht, dann nimmt man ihr ja alles weg.«

»O ja, warum soll sie sich denn nicht einen Liebsten halten können? Das kann sie, nur heiraten darf sie nicht.«

Der Mann hatte recht. Und was ging uns an, was die Menschen hinter uns sprachen? Deren ganze Welt lag hinter uns, wir schritten in eine neue hinein, die wir uns erst zu gründen hatten.

— • —

7. Kapitel
Vorbereitungen und Abreise

Originalseiten I.114 — 127

O, was für eine herrliche Zeit war das, während welcher ich diese neue Welt gründete für das verfolgte Weib und nicht minder für mich selbst!

Es hätten meine Flitterwochen sein sollen — statt dessen waren sie rastloser Arbeit gewidmet, und dennoch waren es die seligsten meines ganzen Lebens.

Während dreier Wochen bin ich nur aus den Kleidern und Stiefeln gekommen, wenn ich einmal ein Bad nahm. Von einem Bett gar nicht zu sprechen. Jede Eisenbahn- und Wagenfahrt, die länger als eine Viertelstunde dauerte, wurde zum Schlafen benutzt. Meine Equipage war ein fahrendes Schreibbüro.

Und nicht minder tätig war Blodwen. Sie verließ die römische Villa mit keinem Schritt und arbeitete vor ihrem Schreibtisch täglich sechzehn Stunden. Denn da gab es noch vieles, vieles andere zu schreiben, Berechnungen aufzustellen und Gott weiß was. Aber alles musste von mir unterschrieben werden, überhaupt ging alles auf und für meinen Namen. Ich hatte ein Scheckbuch in der Tasche, auf welches ich mit einem Federzug von der englischen Bank 400 000 Pfund Sterling in Papier oder achtzig Zentner in barem Golde hätte erheben können, und es sei bemerkt, dass auf der Bank von England noch ganz andere Summen liegen. Und wie viel ist denn das der Menge nach? Das entspricht einem massiven Goldwürfel von noch nicht ganz sechzig Zentimeter Durchmesser, und als loses Gold ist das gar schnell mit der Schippe auf die Waage geschaufelt. Jetzt lernte ich auch schnell mit Schecks umgehen.

Das Glück war mir günstig. Im Katharinendock lag ein stählerner Schraubendampfer, aber auch mit voller dreimastiger Takelage, auf Bestellung neu erbaut, wegen Geldmangels nicht abgenommen. Mit einem Federzug war er für 23 000 Pfund Sterling mein Eigentum.

Auf technische Sachen will ich mich hier nicht einlassen. Nur wenige Worte.

Damals begann eben erst die Schraube ihren Siegeszug über die Welt zu halten, die Schaufelräder zu verdrängen. Dadurch konnte das Schiff auch wieder mehr zum Segeln benutzt werden. Die niedrigen Maschinen wurden gewissermaßen nur als Ballast hineingebaut.

Ich für meinen Teil hätte als eigener Kapitän niemals einen Dampfer übernommen. Die vielen mitzuschleppenden Kohlen, welche die Hälfte der Fracht verdrängten, die ewige Schmutzerei — das war ja damals alles noch etwas Neues, jeder Segelkapitän blickte damals noch mit maßloser Verachtung auf den Rußhauptmann herab, so wie übrigens heute noch jeder Segelmatrose, der sich stolz Jan Maat nennt, auf den Dampfermatrosen, dem er einen Namen gibt, der hier nicht genannt werden soll.

Wie aber hier die Verhältnisse lagen, war das doch etwas ganz anderes. Wir brauchten ja an gar keine Fracht zu denken, oder wir nahmen nur die kostbarste, deren Menge oder Gewicht dann wieder gar nicht in Betracht kam. Das Schiff von zirka 1000 Tonnen musste bis zur Erreichung der Wasserlinie mit 600 Tonnen belastet werden, hierfür nahmen wir einfach Kohlen, und dann hatte ich noch immer das ganze Zwischendeck als Laderaum oder zu sonstigen Zwecken frei.

Es war schon auf den Namen ›Sturmbraut‹ registriert, eine Umschreibung hätte viele Schwierigkeiten verursacht, und dieser Name gefiel uns. Es war fast 60 Meter lang, sehr schmal gebaut, hatte bei der glänzenden Probefahrt bis zu 16 Knoten gesegelt und mit 400 Pferdekräften 12 Knoten gedampft — damals eine ganz bedeutende Schnelligkeit. Nun denke man aber überhaupt nicht an einen Dampfer, sondern dem Aussehen nach war es ein vollgetakelter Dreimaster.

Das Schiff war ja schon für eine Besatzung von 26 Mann eingerichtet gewesen. Ich wollte aber doch etwas ganz anderes schaffen, meiner Mannschaft, die auch aus viel mehr Köpfen bestehen sollte, eine Heimat bieten, so musste doch viel umgebaut werden, und, ach! was ist bei der Einrichtung solch eines Schiffes, welches zwischen seinen Planken doch eine ganze Welt einschließt, nicht alles zu bedeuten! Doch ich hatte ja alles schon innerhalb von etwa 16 Jahren bedacht, das war ja immer mein Traum im Schlafen und im Wachen gewesen, und so vergaß ich nicht ein einziges Buch, mit welchem ich die Kajüten- und Mannschaftsbibliothek mir ausgestattet gedacht hatte. Hierbei bemerke ich aber, dass es so etwas wie eine Mannschaftsbibliothek sonst auf keinem einzigen Schiffe gibt, nicht einmal auf einer Privatjacht!

Dann aber gab es noch anderes zu bedenken, was in meinen früheren Träumereien gefehlt hatte: die Ausstattung der drei geräumigsten Kabinen als Damenzimmer, und ich setzte meinen ganzen Stolz darein, etwas zu schaffen, wobei die verwöhnte Lady nichts vermissen sollte, was sie an Bord eines Schiffes gar nicht vermuten konnte.

Dann war für mich die Hauptsache die Anmusterung der Mannschaft. Hierbei war für mich der noch immerfort währende Dockstreik von größtem Vorteil. Ich hatte die Auswahl unter den tüchtigsten Leuten, und es waren ausschließlich Freunde und Bekannte, die ich zu der gewöhnlichen Heuer anmusterte, sogar die beiden Maschinisten und die sechs Heizer hatte ich während der langen Landperiode zur Genüge kennen gelernt, um ihren Charakter beurteilen zu können. Was sich nicht für unsere Zwecke eignete, konnte mit der Zeit ausgemerzt werden. Doch ich will hier gleich bemerken, dass es jetzt nicht etwa mehr eine vertrauliche Freundschaft gab! Von dem Augenblicke an, da sich mein guter Freund und Zechkumpan in die Musterrolle eingeschrieben hatte, war ich für ihn der unnahbare Kapitän, der höchstens noch leutselig sein konnte. Das versteht sich überhaupt ganz von selbst.

Vorläufig bestand die ganze Besatzung aus mir, dem ersten und zweiten Steuermann, Bootsmann, Segelmacher, Koch und Kochsmaat, Steward, vierzehn Matrosen (zehn wären nur nötig gewesen), zwei Maschinisten und sechs Heizern.

Ach, wer das mitfühlen kann, was ich empfand, wenn ich so zusah, wie die Matrosen den Proviant übernahmen und die Köche und der Steward ihn verstauten, und die Konservenbüchsen und Eierkisten wollten gar kein Ende nehmen, was für Gesichter die machten!

»Ist denn das alles nur für die Kajüte?«, wurde geflüstert.

»Nein«, sagte ich, »das ist alles für euch, Jungens.«

Ich wollte eben an Bord meines Schiffes eine etwas andere, als die sonst übliche Küche einführen. Was kam es mir denn darauf an, ich hatte doch acht Millionen in der Tasche.

Aber ich glaube, was es heißt, so ein großes Schiff für ein ganzes Jahr mit Proviant zu versehen, das kann an Land höchstens eine Hausfrau nachempfinden. Und was nun alles auf so einer Schiffsliste steht! Wenn einmal die Anker gelichtet sind, kann es nicht mehr heißen: ach, wir müssen noch einmal umkehren, wir müssen noch für fünf Pfennig Stecknadeln mitnehmen.

Sonst werde ich noch genug von dieser Mannschaft zu erzählen haben, von jedem einzelnen etwas; denn jeder einzelne wurde durch Not und Gefahr mit mir zusammengeschweißt, jeder einzelne sollte nur durch den Tod von meiner Seite gerissen werden können.

Zunächst hatte ich erst noch mein Kapitänsexamen zu machen. Angemeldet hatte ich mich gleich am ersten Tage, die Aufforderung erhielt ich sehr bald. Während ich nach Greenwich reiste, löste Blodwen schon ihren ganzen Haushalt auf, wozu allerdings nichts weiter nötig war, als die in der römischen Villa angestellten Diener zu entlassen. Dann mochte alles liegen bleiben, wie es lag. Der alte David erhielt eine Summe, von deren Zinsen er leben konnte.

Wir hatten die Sache so geheim betrieben, dass noch nicht einmal ein Diener eine Ahnung hatte, Lady Blodwen wolle fernerhin auf einer Jacht leben. Man glaubte eben, sie habe mir das Geld geliehen oder geschenkt, dass ich mir ein eigenes Schiff hätte kaufen können. So schwiegen auch die Zeitungen ganz davon, welche sich sonst immer so viel mit Lady Blodwen beschäftigt hatten.

Das Bestehen des Kapitänsexamens bot mir nicht die mindeste Schwierigkeit. Ich hatte mich zwei Jahre darauf vorbereitet. Mit der eigentlichen Seetechnik hat das gar nichts zu tun, das muss ja alles schon der Steuermann wissen. Hierbei handelt es sich mehr um den Umgang mit den Hafenbehörden, um andere Formalitäten, dann kommen spezielle Sachen in Betracht, wie z. B., dass der Kapitän auch einige ärztliche Kenntnisse besitzen muss.

Um zu charakterisieren, wie es damals an Bord zuging — auf Segelschiffen ist es aber auch heute noch nicht anders — will ich nur zwei Fragen und Antworten anführen.

Frage: Was tun Sie, wenn sich ein Mann den Finger so gequetscht hat, dass an eine Heilung nicht mehr zu denken ist?

Antwort: Ich lasse ihn von zwei kräftigen Matrosen festhalten, schneide ihm den Finger ab und brenne den Stumpf mit einem glühenden Eisen.

Frage: Und wenn der Schenkel hoffnungslos gequetscht ist, dass die Knochensplitter hervortreten?

Antwort: Ich lege ihn auf einen Tisch, lasse ihn von vier starken Matrosen halten, säge ihm das Bein ab und brenne den Stumpf mit einem glühenden Eisen.

Das sind die ärztlichen Kenntnisse, die ein Kapitän haben muss.

Ich habe auf einem amerikanischen Segler gesehen, wie der Kapitän vor solch einer Operation die gewöhnliche Zimmermannssäge erst mit einem Stück Salzspeck einfettete. Chloroform und dergleichen gibt es an Bord nicht, und das einzige Desinfektions- und Blutstillungsmittel ist das glühende Eisen. Auf Passagierschiffen ist das etwas anderes.

Mein Entschluss war von vornherein gefasst gewesen, einen tüchtigen Schiffsarzt mitzunehmen. Das damit beauftragte Heuerbüro hatte nur noch keinen zugeschickt.

Ich erhielt das Patent ohne weitere Umstände ausgestellt. In später Vormittagsstunde traf ich in der römischen Villa ein. Schon die Gesichter der Diener machten mich bestürzt, und da kam mir der alte David entgegen. Er zitterte mehr denn sonst.

»Haben Sie denn das Telegramm schon erhalten? Können Sie denn schon hier sein?«

»Sprechen Sie!«, donnerte ich ihn an. »Was ist geschehen?«

Ein neuer Vergiftungsversuch, der dritte. Die Lady lag im Sterben. Der von Leytenstone herbeigeholte Arzt hatte in ihrer Morgenschokolade Arsenik konstatiert.

Ich hin. Es war gar nicht so schlimm. Ihr gesunder Magen hatte das bleischwere Gift, in großen Körnern der Schokolade beigemischt, keine Sekunde behalten. Sie hatte nur etwas Krämpfe. Am schlimmsten war ihr Benehmen. Sie wollte das ihr vom Arzte gereichte Gegenmittel nicht nehmen.

»Dieser Mann ist nur bestochen, mich noch mehr zu vergiften!«, schrie sie in einem fort, und dann wollte sie an meinem Herzen sterben.

Ich trank aus der Flasche — frisch gefälltes Eisenhydrat, welches mit Arsenik eine unlösliche und harmlose Verbindung eingeht. Da trank auch sie aus meiner Hand, und dann war sie völlig gerettet.

»Aller guten Dinge sind drei«, sagte ich, »und nun begeben wir uns sofort an Bord, in unser Königreich, da kann so etwas nicht mehr vorkommen.«

Wir stellten nicht die geringste Untersuchung an, wer das Gift in die Schokolade getan haben könnte. Was für einen Zweck hätte das gehabt? Nur aufgehalten konnten wir werden. Und die Quelle, aus der das Gift kam, wussten wir ja doch.

Wir gingen, wie wir standen. Blodwen hatte ein Morgenkostüm an, in dem sie sich überall sehen lassen konnte. Alles, alles wurde zurückgelassen. Es ging eben in eine neue Welt, nur dass man in diese nicht so ganz nackt hineingeboren werden kann. Nur die beiden Bulldoggen folgten uns als freiwillige Begleiter.

Während der Eisenbahnfahrt erholte sich Blodwen vollständig wieder, und als sie nun das Schiff sah, als sie es betrat, als ich sie herumführte, ihr alles zeigte, da verwandelte sie sich in ein freudestrahlendes Kind, das an den reichbesetzten Weihnachtstisch geführt wird, mit zitternden Händen musste sie alles untersuchen, und ihr Mund floss über vor Jubel. Besonders in der Einrichtung ihrer eigenen Kabinen hatte ich mich auch wirklich selbst übertroffen.

Aber ein selbstquälerischer Gedanke musste sich dann doch beimischen.

»Und wenn das Schiff nun einmal untergeht?«

»Es ist alles versichert.«

Da richtete sie sich mit blitzenden Augen auf.

»Ich aber werde mit dieser meiner Welt untergehen!!«

Sie sprach mir ganz aus dem Herzen. Wenigstens so, wie ich es mir früher gedacht hatte — wenn ich auf irgendeine Weise zu einem Schiff gekommen wäre — ich hätte die großen Versicherungssummen gespart, ich hätte ebenfalls va banque gespielt — freilich nicht länger, als ich es nötig gehabt hätte.

Dann bemächtigte sich ihrer doch, wie zu erwarten gewesen, eine große Schwäche, ich brachte sie zu Bett, und dann ließ ich im Zwischendeck alle Mann antreten, ich erzählte ihnen offen alles, was ich selbst von Lady Blodwen wusste, von ihrer unglücklichen Ehe, von ihren Vermögensverhältnissen, von den Verfolgungen, denen sie ausgesetzt, von dem neuen, erst vor einer Stunde stattgefundenen Vergiftungsversuch — und ich hatte kaum nötig, den Leuten zu sagen, warum die Lady sich fernerhin ganz auf diese Jacht zurückziehen wolle — noch weniger hätte ich nötig gehabt, ihren Schutz jedem einzelnen dieser Männer ans Herz zu legen — Rufe der allgemeinen Entrüstung wurden laut, schreckliche Flüche, die aber aus ehrlichstem Herzen kamen — und ich wusste, dass ich die Geliebte jedem einzelnen dieser rohen Matrosen und Heizer anvertrauen durfte. Spezielle Vorsichtsmaßregeln, wie, dass kein fremder Mensch noch das Deck betreten dürfe, brauchte ich gar nicht mehr zu geben.

Zwei Stunden später nahm ich mit Blodwen zusammen die erste Mahlzeit in der Kajüte ein.

»Richard«, sagte sie, »ich habe es mir überlegt — jetzt während des Schlafens kam mir der Gedanke — ich möchte alles, worüber ich noch verfügen kann, mit an Bord nehmen. Denn man kann mir doch einmal Schwierigkeiten machen, und was soll mit uns geschehen, wenn wir einmal kein Geld haben?«

Sie sprach meinen eigenen Gedanken aus. Ich wusste ihr aber noch etwas ganz anderes zu erzählen.

Es waren fast immer noch 400 000 Pfund, die sie auf der Bank liegen hatte.

»Papiergeld ist aber doch gar leicht verderbliches Zeug. Wir müssen alles in barem Gold an Bord nehmen.«

Mit ängstlichem Staunen blickte sie mich an.

»Wenn das Schiff aber nun doch einmal untergeht?«

»Das Gold soll nicht mit untergehen.«

»Wie meinst du das?«

»Das Gold haben wir schon vorher auf dem Meeresboden versenkt, wo der den Schiffbruch Überlebende es immer wieder zu finden weiß und abholen kann.«

Ich erklärte weiter. Überall im Meere, auch mitten im Ozean, gibt es Untiefen, Sandbänke, steinige Gründe, die sich nur wenige Faden unter der Wasseroberfläche befinden. Auf den Seekarten wimmelt es von solchen Angaben.

»An solchen Stellen versenken wir nach und nach das Gold, an den verschiedensten, in allen Meeren, unsere Schatzkammer ist über die ganze Erde verbreitet, soweit diese mit Wasser bedeckt ist, und wenn wir etwas brauchen, holen wir uns die genügende Menge herauf, dazu brauchen wir nicht einmal einen Taucher hinabzuschicken, der höchstens vierzig Meter tief dringen kann, wir können uns Tiefen von Hunderten von Metern aussuchen, nur muss das Gold dann in kleinen, festen, eisernen Schatullen verpackt werden, die wir dann ganz einfach durch einen kräftigen Magneten wieder heraufholen.«

Blodwen bekam wieder einmal ganz große Augen.

»Ja, kann man denn aber diese Stelle im Meere immer so ganz genau wiederfinden?«

O, was darin der Seemann leistet, das konnte ich ihr an einem Beispiel erläutern.

Aller drei Jahre schickt England ein Kriegsschiff um die Erde. Kurz nach der Abfahrt, aber schon im offenen Meere, versenkt dieses Schiff irgendwo eine Kanonenkugel — nur muss bekannt sein, was eben vorher ausgelotet wird, dass der Meeresboden dort eben nicht gar zu tief ist und keinen zu weichen Sand hat, sonst nichts weiter — die Stelle wird geografisch bestimmt, das Schiff macht seine Reise um die Erde, kehrt nach drei Jahren zurück, eine geografische Berechnung nach der Sonne, ein Magnet wird herabgelassen, dieser holt die Kanonenkugel wieder herauf.

Früher wurde das gemacht, um Chronometer und die anderen Instrumente zu prüfen, heute ist das nur noch eine Spielerei, ein alter Gebrauch, es ist auch etwas seemännischer Aberglaube dabei.

Jedenfalls aber zeigt das, wie man fast einen Punkt auf der planlosen Oberfläche des Meeres, mag diese auch noch so aufgewühlt sein, gewissermaßen festnageln kann, für immer, fast für die Ewigkeit; denn eine Schwankung der Erdachse und alles andere, was mit der Zeit eine Verschiebung dieses gedachten Punktes herbeiführt, das haben die Astronomen ebenfalls schon für Jahrhunderte vorausbestimmt und in Tabellen festgelegt. Und das kann auch jeder andere Steuermann, solch einen gedachten und bestimmten Punkt im Weltmeer wiederfinden. Nur rechnet er dabei nicht nach seinen gewöhnlichen, nautischen, fünfstelligen Logarithmentafeln, sondern nach den astronomischen mit fünfzehn Dezimalstellen, was ja aber nur etwas umständlicher ist, sonst auch nichts weiter.

Wie ich es sonst mit dem Versenken halten wollte, wird später in Wirklichkeit gezeigt werden.

Nachdem Blodwen die absolute Sicherheit dieser Art Aufbewahrung von Geld, das sich nicht zu verzinsen braucht und auch nach dem Tode des Besitzers in keine fremde Hände fallen soll, erkannt hatte, war sie gleich Feuer und Flamme für meine Idee. So zu wissen, dass das unendliche Meer, welches einem die Heimat ist, zugleich die eigene Schatzkammer — nur ein Zettelchen auf der Brust, in Hieroglyphen geschrieben, für jeden anderen unlösbar — man selbst imstande, jederzeit heraufzuholen, was man will, wenn nicht von diesem Schiffe, dann von einem anderen aus — verloren für die ganze andere Welt — beim Tode schaukelt man hinab zu seinem goldenen Eigentum — das war ja nun so etwas für dieses phantastische Weib!

Und wenn sie eben nicht wollte, dass nach ihrem Tode irgend etwas den feindlichen Erben in die Hände fiel, so war es auch wirklich der beste Rat, den ich ihr geben konnte — trotz aller Phantasie — und übrigens war so etwas auch ganz nach meinem eigenen Geschmack.

Ich begab mich sofort nach der englischen Bank — morgen Vormittag würde ich das ganze, auf meinen Namen überschriebene Deposit der Lady Leytenstone in gemünztem Golde erheben, traf gleich weitere Vorbereitungen, um dann das in Ledersäcke verpackte Gold abfahren zu lassen, konnte in einer Fabrik auch gleich fünfhundert stählerne und ausgezeichnet lackierte Kassetten bekommen, die ich sofort nach dem Katharinendock überführen ließ.

Auf dem Rückwege begegnete ich einem Beamten jenes Heuerbüros, der mir hastig zurief, es sei schon ein Schiffsarzt unterwegs.

Als ich an Bord kam, war der Geschickte noch nicht da gewesen. Aber er kam sehr bald. Der Mann gefiel mir gar nicht. Für einen Schiffsarzt noch jung, vielleicht dreißig Jahre, stark jüdisch aussehend, das voll Pomade geschmierte Haar in der Mitte wie mit dem Lineal gescheitelt, hinter dem Klemmer auf der krummen Nase stachen die Augen wie Dolche, wie ein Gigerl gekleidet, mit Lackschuhen, sogar ein silbernes Armband mit Gebammel dran... und dennoch erkannte ich sofort, dass es ein ›Befahrener‹ war. Das erkannte ich nämlich gleich daran, wie er mit dem am Laufbrett postierten Matrosen verhandelte, und dann noch mehr, wie er vor mir selber stand.

Es ist nämlich nicht so leicht für einen Arzt, zur See zu gehen. Ach, da muss der arme Äskulapsjünger noch viel lernen, da muss er sich gar viel gefallen lassen!

Ich bin der Kapitän, und du bist nur mein Schiffsarzt — Maul gehalten und Hände an die Hosennaht! — — und das sprechen dem Kapitän alle Offiziere nach, und so denkt sogar der einfachste Matrose. Sie alle sehen ihn nicht für voll an. Der Schiffsarzt ist nur so ein geduldetes Übel.

Auf den Salondampfern ist das heute anders geworden — aber sonst, auf den gewöhnlichen Auswandererkästen ist es immer noch so, und nun gar erst auf den englischen, holländischen und französischen Truppentransportdampfern — ach, was sich da so ein Schiffsarzt bieten lassen muss!

Es gibt einen ganz treffenden Vergleich: der Schiffsarzt ist das, was an Land ein Hauslehrer ist: mehr Sündenbock als Kindererzieher, der das Decken der Tafel überwacht, den Gästen zum Tanze aufspielt, sie sonst unterhalten muss — — ein Mädchen für alles.

Ich hatte vor, meinem Schiffsarzte eine andere Behandlung zuteil werden zu lassen — doch dem hier nicht, den nahm ich überhaupt gar nicht an.

Hinwiederum gefiel mir, dass er schon die Bordroutine kannte. Da gibt es nicht etwa eine Vorstellung — »mein Name ist Doktor Soundso, ich habe die Ehre und erlaube mir...« — er ging auf mich zu, nahm vor mir Stellung, Klemmer ah, und schweigend reichte er mir seine Papiere, obenauf die Order vom Heuerbüro.

»Schiffsarzt?«

»Jawohl, Herr Kapitän.«

»Wie lange?«

»Einundachtzig Monate Seefahrtszeit.«

Oho! Das imponierte!

»Jude?«

»Christ.«

Unterdessen hatte ich das Seefahrtsbuch aufgeschlagen.

»Dr. Oswald... was?! Sie heißen Selo?«

»Jawohl, Herr Kapitän.«

»Sind Sie verwandt mit dem Dr. Alois Selo, dem Arzte der Lady Esther Stanhope, der auch ihre Biografie geschrieben hat?«

»Das war mein Vater.«

So ein merkwürdiger Zufall!! Denn wie ich bald herausbrachte, wusste er gar nicht, dass sich an Bord Lady Blodwen befand, nicht einmal, dass die Lady Esther Stanhope die Großtante von ihr gewesen sei. Nicht die geringste Ahnung! Er hörte etwas ganz Neues.

Ich will gleich jetzt alles mitteilen, was ich über Dr. Oswald Selo zu sagen habe, oder doch, was ich so nach und nach von ihm erfuhr.

Sein Vater hatte noch in späten Jahren eine Malteserin geheiratet — daher auch das orientalische Aussehen — sein Sohn hatte ihn gar nicht mehr gekannt, konnte auch von dem ganzen Verhältnis zu Lady Stanhope absolut nichts weiter erzählen, als was sein Vater veröffentlicht.

Oswald Selo hatte in Wien und Paris studiert, hatte seine ärztliche Karriere gleich als Schiffsarzt begonnen, auf französischen Auswandererschiffen, dann fuhr er auf deutschen und englischen, dann auf einer amerikanischen Privatjacht in der ganzen Welt herum.

Diesen merkwürdigen Zufall musste ich natürlich Blodwen berichten. Die sah darin eine höhere Fügung, und so wurde der Sohn des Leibarztes und Biografen ihrer phantastischen Großtante natürlich angenommen.

Nun, ich habe über meinen Schiffsarzt nichts zu klagen gehabt. Der tüchtigste Mediziner und Chirurg, der angenehmste Gesellschafter, höflich, bescheiden und doch energisch, wenn es sein musste, mir als Dolmetscher unersetzbar, denn seine Sprachkenntnisse waren geradezu phänomenal — immer vertrauter wurden wir zusammen... bis ich endlich den wahren Charakter dieses Buben kennen lernen sollte!

Am anderen Morgen kamen meine Matrosen mit kleinen, aber mächtig schweren Ledersäcken angefahren, sie wurden an Bord getragen und verstaut, ohne dass einer der vielen Zuschauer ihren Inhalt geahnt hätte, und am Nachmittage fuhren wir die Themse hinab, am 4. Juni 1859.

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8. Kapitel
Kapitän Algots

Originalseiten I.127 — 151

»Boot ahoiii!« Ich saß mit Blodwen gerade beim Frühstück — (man wolle entschuldigen, dass ich so viel vom Essen spreche, aber das war damals meine Lieblingsbeschäftigung, und es war auch tatsächlich der Fall — also ich saß mit Blodwen gerade beim Frühstück, als dieser Ruf, vom wachthabenden Steuermann ausgesungen, durch die offene Kajütentür zu uns hereinschallte.

Was hatte der ein Boot zu melden? Es war am fünften Tage der Reise, wir befanden uns angesichts der portugiesischen Küste, ungefähr auf dem 40. Breitengrad, hier wimmelte es von Fahrzeugen aller Art, und wenn der jedes Fischerboot melden wollte, hatte er sich bald heiser gesungen.

Da schrillte die elektrische Klingel, die mich an Deck rief, und...

»Los Backbord, hol an Steuerbord! Klar beim zweiten Kutter!!«

Hallo, jetzt ließ ich mir keine Zeit, erst die Serviette abzubinden. Der zweite Kutter war das Rettungsboot, und das Schiff ging aus dem Wind, um dieses auszusetzen.

Ein Mann konnte nicht über Bord sein, es war ja zuvor nur ein Boot signalisiert worden, erst glaubte ich, wir hätten eines übersegelt; aber da sah ich es schon: Etwa eine Seemeile von uns östlich entfernt trieb mit niedergelegtem Segel ein kleines Boot, in dem ein Mann emsig den Schöpfeimer handhabte, und wenn er ihn einmal fallen ließ, so streckte er schnell den Arm aus, riss die Mütze vom Kopfe und hielt sie über den Arm, dabei nach uns blickend. Dann noch einmal die Mütze geschwenkt, wieder ausgestülpt und weiter geschöpft.

Es war das Zeichen der höchsten Seenot, welches mit Ball und Wimpel gemacht werden kann. Hat man diese nicht, so nimmt man eben nur den Arm und die Mütze oder nur die Faust zu Hilfe, über, vor oder unter dem ausgestreckten Arm gehalten, und das erstere bedeutet: höchste Not.

Sank das Boot, und der Mann konnte nicht schwimmen, so hatte er ganz recht, wenn er dabei hilfesuchend nach uns blickte. Die Küste war sehr, sehr weit entfernt, einige Fischerfahrzeuge waren näher als wir, aber ehe die ihr beigehängtes Beiboot losbrachten, wenn sie überhaupt eins hatten — kurz, die erste Hilfe konnte nur von uns kommen. Im Übrigen war jetzt keine weitere Gefahr vorhanden, die See war nur leicht bewegt, das Boot hielt sich ja noch, wir waren bereits aus dem Wind, schon rasselte der ausgeschwungene Kutter herab, sechs Matrosen auf den Duchten, am Steuer der Bootsmann.

Das Bootsmanöver war miserabel gegangen, und jetzt spielten die mit den Riemen erst ein bisschen Sechsundsechzig, ehe sie in Takt kamen, der Bootsmann brüllte und fluchte dabei ganz unnötigerweise, und pullen taten sie auch wie August auf dem Karpfenteiche...

»O, was für herrliche Männer sind das!«, flüsterte da an meiner Seite Blodwen ganz enthusiasmiert. »Diese Schnelligkeit, mit der sie das Boot runterließen — und sieh nur, Richard, sieh nur, wie die rudern, wie furchtbar schnell die rudern!!«

Ja freilich, für eine Landratte mochte das von ›entzückender Schneidigkeit‹ gewesen sein. Ich aber hatte einen etwas anderen Blick. Mein Ideal war die Disziplin und Routine eines erstklassigen Kriegsschiffes. Bisher war nur noch keine Zeit gewesen, es gab an Bord des neuen Schiffes noch zu viel zu tun — dann wollte ich die ›herrlichen Männer‹ schon zwiebeln! Umsonst sollten die keine so hübsche Uniform mit goldenen Knöpfen tragen.

»Oooh«, fing Blodwen mit ganz rotgewordenem Gesicht wieder an, »o, Richard, warum bist du nicht mitgefahren? — Du müsstest am Steuer sitzen — nein, vorn müsstest du stehen — hochaufgerichtet — die Rettungsleine in der erhobenen Hand — du müsstest winken...«

»Und dabei die Arie aus dem ›Fliegenden Holländer‹ singen«, ergänzte ich.

Sie verstand meinen Spott ob ihrer phantastischen Malerei nicht, hatte mich wohl gar nicht gehört. Jetzt wurde sie ängstlich.

»Ob sie ihn noch retten können?«

»Sicher.«

»Nein«, jammerte sie, »der Unglückliche geht unter!«

»Er wird gehn nix unter«, mauschelte ich mit der Handbewegung eines alten Juden und gab dann einige Segelkommandos, um das Schiff wieder etwas mehr in den Wind zu bringen. Zeit hatten wir übrigens ja; wir waren uns noch nicht einmal über das nächste Ziel klar.

Als ich dann meine Aufmerksamkeit wieder dem Boote zuwandte, war die ›Rettung‹ bereits geschehen. Soeben wanderte der Schiffbrüchige in meinen Kutter hinüber.

»Das ist aber ein kleiner Mann!«, meinte Blodwen. »Wie ein Zwerg.«

»Es wird so ein Portugiese sein, bei dem mächtig krumme Beine zur edlen Geburt gehören.«

»Nein, krumme Beine hat er nicht — ganz gerade.«

»Kannst du das so genau von hier aus erkennen? Na, dann ist er eben im ganzen so klein geraten.«

»Hat er nicht ein weißes Tier unter dem Arme?«

»Ja, mir kommt es auch so vor. Es scheint eine Katze zu sein. Was, haben jetzt auch schon Boote ihre Schiffskatze? Aber jede echte Schiffskatze muss schwarz sein, sonst bringt sie kein Glück.«

»Du, Richard, so eine Schiffskatze müssen wir uns auch noch anschaffen. Ja, ich habe davon gehört. Warum hast du denn das Glück vergessen?«

»Ich fürchte nur, deine Höllenhunde hätten der armen Katze wenig Glück gebracht.«

Warum die beiden Bulldoggen, welche, der römischen Villa entsprechend, auf die klassischen Namen Achilles und Diomedes hörten oder vielmehr nicht hörten, von der Mannschaft nur ›Höllenhunde‹ genannt wurden, werden wir später erfahren, wenn ich auf die Einzelheiten unseres ebenfalls klassischen Bordlebens näher eingehe. Jetzt will ich nur erwähnen, dass keiner meiner Leute noch einen ganzen Hosenboden hatte. Übrigens war Held Achilles weiblichen Geschlechtes und hatte erst gestern in der Koje des zweiten Steuermanns fünf Junge geworfen, die gleich zähnefletschend zur Welt gekommen waren.

Ich hatte mir ein Fernrohr bringen lassen.

»Ist es eine Katze?«, fragte Blodwen, als ich das Glas am Auge hatte.

»Ja, aber sie dürfte für gewöhnlich bellen. Das ist entweder ein Spitz oder ein Pudel.«

Blodwen bemächtigte sich des Fernrohrs, konnte aber den Punkt nicht finden, was auf See auch gar nicht so einfach ist.

Aus dem jetzt schnell sinkenden Boote, das aber trotzdem ins Schlepptau genommen wurde, da es ja auch kaum gänzlich sank, wurde eine Menge Kisten und Kasten und Fässer herübergenommen, sodass ich nicht auf einen Fischer schließen konnte.

»Es wird doch nicht ein Schmuggler sein, dem die Morgenröte zu früh gekommen ist?«, meinte ich. »Ein Sportboot ist es nicht, vielmehr ein sehr starkes Seeboot, fähig, den stärksten Wogenschlag auszuhalten.«

»Vielleicht ein Mann, der in dem Boote eine weite Seereise machen will, er hat viel Proviant mitgenommen.«

Ich musste ob solch einer naiven Ansicht lachen. Um mich dann schämen zu müssen. O, ahnungsvoller Engel du!

Mein Kutter zog durch. Hinterher schwabbelte der kurze Mast, der allein noch aus dem Wasser ragte, und je näher sie kamen, desto mehr wuchs unsere Spannung. Das war entweder wirklich ein Zwerg oder — nein, das war ein Junge, höchstens ein zehnjähriger!

Wie kam der in dem Boote so weit in die See hinaus? Und wie brav er sich in dem sinkenden Fahrzeuge gehalten hatte!

Der Kutter legte bei. An dem ausgeworfenen Fallreep kletterte zuerst der Junge herauf, unter dem Arme den weißen Pudel, den er gleich an Deck springen ließ, und...

Ich sehe das Kerlchen noch vor mir stehen, so wie es damals vor mir stand. Ich weiß nicht recht, womit ich bei der Beschreibung anfangen soll. Vorausschicken will ich, dass er zwölf Jahre alt war, für dieses Alter aber noch klein und dabei ziemlich dick. Kurz und dick wie ein Stöpsel. Überhaupt ein richtiger Stöpsel. Und was das allgemeine Äußere anbetrifft, so war alles ein undurchdringlicher Teerkleister. Natürlich, er hatte ja auch, wie es sich später herausstellte, sein möglichstes getan, das große Leck mit Teerpfropfen zu dichten. Was für Kleider und Züge sich unter der allgemeinen Teerschicht versteckten, war nicht zu erkennen. Nackte Füße, schwarze, etwas lange Haare, schwarze Augen, die mich frech oder doch selbstbewusst anblickten — so stand er breitbeinig vor mir, und jetzt versenkte er seine schmierigen Pfoten in die Hosentaschen und reckte den Bauch heraus.

»Hallo!«, war das erste Wort, das ich aus dem teerigen Maule zu hören bekam.

»Hallo!«, antwortete auch ich.

»Was für eine Schipp ist das?«

»Die ›Sturmbraut‹ von London.«

Ich muss etwas perplex gewesen sein, dass ich dem dummen Jungen so sachgemäß antwortete. O, ich sollte bald noch etwas ganz anderes werden.

»Wer ist der Käpt'n?«

»Ich selber — Kapitän Richard Jansen.«

Der Junge reckte den Bauch noch weiter heraus. »Kapitän Karl Algots vom ›Albatros‹. Na, mein Schiff wird wohl leck für immer sein.«

Wenn man etwas erlebt, was einem noch nicht passiert ist, so in einem kritischen Moment, hat man oftmals recht seltsame Gedanken, die mit der Sache gar nichts zu tun haben. Wenn ich z. B. als Junge vor meinem Lehrer stand, weil ich wieder einmal einen Streich ausgefressen hatte, und der würdige Herr holte aus zu einer langen Strafpredigt, wie ich denn so etwas tun könnte, ich sollte doch dereinst Pastor werden — dann konnte ich plötzlich den Gedanken bekommen: Herrgott, wenn dem jetzt die Hosen herunterrutschten! Und als ich als Steuermannskandidat vor dem Examinator stand, der an den Füßen mächtige Frostballen hatte, grübelte ich immer darüber nach, wie der Schuster dem wohl die Stiefel anmaß und dann ins Leder die kugelförmigen Hohlräume hineinbrachte.

In diesem Augenblick jetzt wunderte ich mich weniger darüber, wie sich dieser kleine Junge so selbstbewusst Kapitän nennen, auch so auftreten konnte — ich dachte nur daran, dass der Junge, welcher Algots hieß, dann sicher aus Ritnese stammte, einem idyllischen Flecken am Strande der unteren Elbe, dem Ruhesitz von pensionierten Kapitänen, wo jede dritte Familie den Namen Algots führt.

Der Junge nahm die heraufgereichten kleinen Kisten und Fässer in Empfang. Ich war noch immer baff. Ich brauchte unbedingt einen Reim. Gewiss, hier reimte sich etwas nicht zusammen. Das empfanden auch alle anderen, so standen sie alle da.

Da trat der Bootsmann, der sich an Deck geschwungen, zu mir.

»Hört, Käpt'n«, flüsterte er mir zu, »mit dem Jungen ist nicht zu spaßen — der hat den Teufel im Leibe — als ich ihn ausfragen wollte, fuhr er mir übers Maul, dass es nur so seine Art hatte — nur der Kapitän habe ihn zu fragen — er sei selber Kapitän — und einen Sextanten hat er auch.«

»Was, einen Sex—Sextanten hat er auch?«, stotterte ich gedankenlos nach.

Dann raffte ich mich empor. Es war doch lächerlich. Der erste Steuermann kam mir zuvor.

»Das ist ja ein Zigeunerjunge!«, lachte er.

»Wat?!«, fuhr der Stöpsel gegen ihn herum, und die Uniform mit den Goldstreifen schien ihm durchaus nicht zu imponieren. »Meenst du mir? Holt dien quaddrige Snut, sonst krägst wat up dien kulwige Näs!«

Er wollte sich wieder seinem schon gehievt werdenden Boote zuwenden, kam aber nicht dazu. Wir sollten etwas zu sehen bekommen, was uns vollends ins Bockshorn jagte.

Ein wütendes Heulen, und Diomedes kam angesetzt, ein furchtbares Ungeheuer von Bulldogge. Auf den fremden Hund hatte er es abgesehen.

Dieser, ein reizender Zwergpudel, das weiße Fell ebenfalls mit Teerflecken besprenkelt, hatte die Gefahr kommen sehen — mit einem Satze saß er auf der Schulter seines Herrn.

Nun aber war dieser in allergrößter Gefahr, jetzt hatte es die Bulldogge auf diesen abgesehen, wir sahen den Jungen schon zerrissen am Boden liegen, es war gar keine Zeit mehr, dazwischenzuspringen, und ich kann nur sagen, dass auch ich vor dem Köter den größten Respekt hatte. Ich hatte ihm schon einmal die Vorderpfoten halb zerquetscht, und gleich darauf hatte er mich doch wieder am Hosenboden gehabt. Nun wollten wir ihn aber gerade nicht anketten.

Da, als alles schon zu spät war, als wir den Jungen also im Geiste schon zerfleischt sahen, wandte sich dieser, sein Hündchen auf der Schulter, schnell um, bückte sich, befehlerisch die Hand ausgestreckt...

»I, willst du Luder gleich?!«

Und das Wunder geschah. Vor diesen mehr staunendvorwurfsvoll als herrisch gesprochenen Worten fuhr der riesige Köter zurück, machte kehrt, klemmte den Schwanz zwischen die Beine und verduftete, um nicht so bald wieder zum Vorschein zu kommen.

*

Ich will das Folgende kurz zusammenfassen. Vieles, was ich erst später erfuhr, muss ich auch vorausschicken.

Der Junge hatte sich gewaschen, zuerst mit Butter, wegen des Teeres, erst dann kamen Seife und Wasser daran, hatte aus einer Blechkiste einen Straßenanzug ausgepackt und machte jetzt einen recht netten Eindruck. Tiefbraun gebrannt, an sich schon brünett, mit schwarzen, funkelnden Augen, mit ziemlich langen Haaren, glich er ja mehr einem Zigeuner denn einem Nordländer, und dennoch war der Typus unverkennbar ein germanischer. Dabei ein intelligentes, schlagfertiges, nettes Kerlchen; aber... er wollte als Mann behandelt sein, noch mehr: als Kapitän.

Das hatte ich ja bald heraus, ich hatte Blodwen einen Wink gegeben, und nun kam es nur noch darauf an, das ›Wer bin‹ und ›Wohin‹ zu erfahren, und dabei durfte man den kleinen Stöpsel ja nicht beleidigen.

Wir setzten das unterbrochene Frühstück zu dritt fort, oder vielmehr zu viert, denn auch der Pudel speiste mit, später gesellte sich noch Doktor Selo hinzu.

Karl Algots, richtig aus Ritnese, jetzt zwölf Jahre alt, Vater ein kleiner Schmiedemeister, er selbst von Beruf Schuljunge, von zu Hause bei Nacht und Nebel durchgebrannt.

Hiermit wäre schon viel erledigt. Aber was ich sonst erfuhr — hätte ich so etwas gelesen, von anderer Seite erzählt bekommen, ich würde es niemals geglaubt haben.

Sein Vater war also ein ehrsamer Schmiedemeister. Aber sein Urururgroßvater war der Peter Algots gewesen, genannt der Meerwolf, welcher seinerzeit den freien Hansestädten viel zu schaffen gemacht hat, ein berühmter oder berüchtigter Seepirat, der nur nicht durch Literatur so bekannt geworden ist wie Klaus Störtebeker.

Und so etwas wollte Karl auch werden. Ein Seeheld. Aber nicht erst als Schiffsjunge anfangen. Gleich Kapitän. Und bis zu seiner Einsegnung konnte er auch nicht mehr warten. Der Tatendrang war gar zu groß.

Vor zehn Wochen, genau am 1. März, war er losgesegelt. Von Ritnese aus. In jenem kleinen, offenen Segelboote, das auch gerudert werden konnte. Das nächste Ziel sollte die Westküste von Afrika sein.

Wie dieses Ziel erreichen? Nun, das war doch ganz einfach. Zunächst die Elbe hinunter, dann links herum die Küste von Oldenburg entlang, und so immer weiter die europäische Küste entlang: Holland, Belgien, Frankreich — und dann kam der verdammte Busen von Biscaya, dessen tiefen Einschnitt bis nach Spanien er natürlich mitmachen musste, was ihn tüchtig aufgehalten hatte.

Jetzt, schon tief unten bei Portugal, hatte er das Schlimmste überstanden. Bald würde er seinen ›Albatros‹ etwas östlicher steuern können, wieder an der kleinen Strecke spanischer Küste entlang bis nach Gibraltar, von da war es ja nur noch ein Katzensprung bis nach Afrika hinüber, und hier nun ›ganz einfach‹ wieder immer die Küste entlang.

Heute freilich war seine Reise einmal unterbrochen worden, zum ersten Male hatte er eine wirkliche Gefahr überstanden. Ein kleiner Schiffbruch. Sein Boot — doch nein, sein Schiff, auf den Namen ›Albatros‹ getauft, musste erst einmal ins Dock.

Ja, hätte ich das Bürschchen hier nicht selbst aufgefischt, ich würde so etwas niemals geglaubt haben! Denn, lieber Leser, die Küste sieht in der Wirklichkeit total anders aus als auf der Landkarte! Probiere es einmal, in einem Boote so längs der Küste zu fahren. Oder frage einen Seemann, einen Lotsen. Ach, wo würdest du hinkommen, ach jeh!

Das konnten wohl die alten Phönizier und Römer, die hatten in Küstenseefahrt — eben weil sie noch keinen Kompass besaßen und nichts wussten von einer geografischen Ortsbestimmung — die allergrößte Erfahrung, und die hatten ja auch Zeit, denen kam es nicht darauf an, einmal eine Woche lang umsonst gesegelt oder richtiger gerudert zu haben, dann wieder umkehren zu müssen, weil sie sich nämlich in einer Bucht verrannt hatten... und hiermit ist auch schon alles gesagt. Nein, das ist nicht so einfach.

Dieser kleine Karlemann hier aber war dazu befähigt. Er hatte nämlich Sextant, nautische Tabellen und Logarithmentafeln bei sich und wusste damit umzugehen, wovon ich mich sofort überzeugen musste. Denn erst wollte ich es gar nicht glauben.

Ja, der Junge konnte es. Das heißt, über die Berechnung der nötigen trigonometrischen Formeln mittels Logarithmen gingen seine mathematischen und astronomischen Kenntnisse nicht, ein besonders talentierter Knabe war er überhaupt nicht, nun es gibt ja unter den Steuerleuten manches dumme Luder, dem das schließlich auch beigebracht wird — — und dennoch, als ich dann den zwölfjährigen Stöpsel mit Sicherheit eine geografische Bestimmung nach der Sonne machen sah — ich war sprachlos vor Staunen.

Der Bengel hatte eben von zartesten Kindesbeinen an für weiter nichts Interesse gehabt als für Seefahrt und was damit zusammenhängt, und Ritnese ist ja nun für so etwas der richtige Ort. Die alten Kapitäne hatten das dem Kinde so spielend beigebracht. Faktisch, mit der einfachen Bruchrechnung haperte es — aber die zehnstelligen Logarithmen schüttelte er nur so aus den Ärmeln, mit Leichtigkeit löste er die schwierigste trigonometrische Formel auf.

Da freilich hatte für ihn die Küstenschifffahrt nichts mehr zu bedeuten. Dann hätte ihm sogar ein einfacher Schulatlas genügt, und er besaß eine sehr genaue nautische Küstenkarte. Dann hatte ihm das ganze Meer offen gestanden! An der Küste musste er sich nur wegen seines gebrechlichen Fahrzeuges halten, sobald ein Sturm wehte, musste er einen Schlupfwinkel aufsuchen, und dann wegen Ergänzung des Proviantes. So war er auch immer nur am Tage gesegelt und gerudert, hatte es immer so einzurichten gewusst, dass er für die Nacht einen Hafen fand, wenn auch nur ein kleines Fischerdorf.

»Woher bekamen Sie denn das Boot, Herr Kapitän?«, erlaubte ich mir zu fragen.

Ich befleißigte mich der größten Höflichkeit oder behandelte ihn doch als Kapitän, so wollte er es ja haben, und tat man es nicht, so fuhr man auch schlecht auf. Wer ihn du nannte, den duzte er auch, und man konnte noch mehr zu hören bekommen. Der erste Steuermann hatte vorhin ja eine Probe davon gekostet. Sonst aber war er ganz manierlich — oder würdevoll wie ein alter Seebär, der schon ein Dutzend Mal das Kap Hoorn umkreuzt hat.

»Gemaust«, antwortete er lakonisch mit kauendem Munde auf meine Frage.

»Ja seht, Käpt'n«, gab er gleich noch nähere Erklärung, »alles, was ich sonst brauchte, konnte ich mir ja kaufen, gleich bezahlen — ich brauchte ja nur zu sagen, ich wäre geschickt worden — aber das Boot — da hätte man doch Lunte riechen können. Da nahm ich's so. Es gehörte dem Kapitän Reckmann, einem Nachbar von uns. Ich wusste damit Bescheid, er borgte es mir immer. Er wollte es schon immer verkaufen, dreißig Taler verlangte er dafür, und da habe ich ihm die dreißig Taler von Cuxhaven aus mit der Post zugeschickt, ehe ich in die offene See ging.«

Ah so, jetzt wurde das ja bedeutend abgeschwächt, das war ja überhaupt gar kein Diebstahl.

»Auch den neuen Sextanten haben Sie sich erst gekauft?«

»Alles, alles bar bezahlt. Es ist ein Ariodscher; kostete zweiundfünfzig Taler.«

»Ja, woher hatten Sie denn das Geld dazu?«, fragte jetzt Blodwen in ihrer offenen Weise.

»Gespart.«

»Zum Sparen muss man immer erst Geld haben.«

»Verdient.«

»Verdient, womit?«

»Im Frühjahr suchte ich die ersten Schneeglöckchen, die mir immer sehr gut bezahlt wurden, im Sommer sammelte ich Beeren, im Herbste Pilze, im Winter trug ich für alle Nachbarn Brennholz zusammen — na, und dann hatte ich immer noch so'n hübschen Nebenverdienst — besonders die Taubenzucht — ei, die Taubenzucht hat mir'n hübschen Feng Geld eingebracht! — Und dann besorgte ich so Wege für die Schiffer, die bei uns anlegten — da gab's auch immer etwas zu handeln und zu verkaufen — der eine wollte ein Paar neue Stiefel haben, der andere ein hübsches Mädel, und das wusste ich alles zu besorgen — — na, da habe ich einen ganz hübschen Feng Geld zusammengebracht.«

Ich musste mich auf die Lippen beißen. Der eine ein Paar Stiefel, der andere ein hübsches Mädel — der Junge hier besorgte alles prompt nach Wunsch — gottvoll! Blodwen schien das nicht richtig verstanden zu haben.

»Aber«, fuhr sie im Examen fort, »dreißig Taler das Boot, zweiundfünfzig sogar das Instrument — das ist doch eine Summe, die nicht so schnell durch Pilzesammeln und dergleichen verdient werden kann.«

»Na, denken Sie denn etwa«, wurde der kleine Kapitän jetzt schon etwas grob, »die ganze Idee ist so von heute? Sechs Jahre habe ich daran gespart und geschuftet — jawoll, sechs ganze Jahre lang — mindestens — denn ich war noch gar nicht in der Schule, als ich Kapitän werden wollte, und von da an habe ich Groschen auf Groschen gelegt und habe mein Frühstück verkauft — jawoll!«

Da ging mir die Ahnung auf, dass ich hier einen Wunderknaben vor mir hätte — nämlich einen Wunderknaben an Energie, und auch Doktor Selo, der sich unterdessen eingefunden, blickte ganz tiefsinnig auf den Jungen, und Blodwen bekam wieder einmal ganz große Augen.

»Es ist doch nicht möglich!«

»Na, da wissen Sie's besser.«

»Und wohl auch einmal einen Hasen gefangen, wie?«, kam Selo schnell zu Hilfe.

»Einen? Dutzendweise. Und nur fette Waldhasen, die auf dem Markte einen Taler das Stück kosteten. Ich verkaufte sie für die Hälfte. Mit Feldhasen ließ ich mich gar nicht ein.«

Also auch gewilddiebt! Na, wenn er das so offen gestand, dann hatte er auch ganz sicher wirklich die dreißig Taler eingeschickt. Darin kannte ich meine Pappenheimer. Ich war ja in meiner Jugend ein ähnlicher Stromer gewesen. Ganz so genial nicht, das musste ich dem Neid lassen. Ich war ja auch nur zum Pastor bestimmt gewesen.

»Sie gingen jeden Abend an Land?«

»Nur eine einzige Nacht bin ich durchgesegelt.«

»Sind Sie denn niemals angehalten worden?«

»Angehalten? Von wem denn?«

»Nun, Sie sind doch heimlich ausgerissen. Ihr Vater musste doch...«

»Mein Vater? Sie meinen, ob der mich nicht festnehmen ließ? Hat sich was! Dem hatte ich von Cuxhaven aus geschrieben, wie ich nach Afrika segeln wollte, es wäre nur sein eigenes Bestes, ich würde bald das Geld haufenweise einschicken können, und er sollte mir ja nicht etwa die Polizei auf den Hals schicken; denn lebendig brächte man mich nicht zurück — und mein Vater kennt mich doch — da mache ich gar keinen Sums — kchch.«

Und mit dem letzten nicht wiederzugebenden Laut hatte der Junge eine Bewegung gemacht, als wolle er sich das Tischmesser, auf dem er eine Sardine balancierte, ins Herz stoßen — schob aber lieber die Sardine in den Mund.

Ich war förmlich erschrocken. Diese Bewegung war nicht misszuverstehen gewesen. Und dieser Junge war ganz sicher der Mann, so etwas auch auszuführen. Und das musste auch sein Vater wissen. So hatte dieser sicher nichts dazu getan, der Polizei behilflich zu sein.

Was sonst die Verhältnisse anbetrifft, wie solch ein Junge so in der Welt herumgondeln kann, so wolle man bedenken, dass wir damals das Jahr 1859 schrieben, eine internationale Polizeiverbrüderung gab es da noch nicht, ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie sich der Junge so von Hafen zu Hafen durchgeschlagen hatte.

»Sie kauften sich unterwegs immer Proviant?«

»Kaufen? Na, ich brauchte doch nur ein vorübersegelndes Schiff anzurufen, da brauchte ich gar nicht lange zu bitten, die warfen mir immer alles herunter.«

Alle Wetter! Ein Fechtbruder zur See! Das war wirklich etwas ganz Neues!

»Algots«, ließ sich da Doktor Selo vernehmen. »Lassen Sie sehen, was aus den Buchstaben zu machen ist. Algots. A — little — gypsy — of — the — sea. Ein kleiner Seezigeuner.«

»Bravo, bravo!!«, zollte Blodwen händeklatschend Beifall, und auch ich musste die schnelle Auffassungsgabe dieses Arztes bewundern.

Auch der Gernegroß fühlte sich diesmal nicht beleidigt, mit einem Zigeuner verglichen zu werden, noch dazu mit einem kleinen, er lachte mit.

»Wahrhaftig, ich bin so'n Zigeuner. In unser Dorf kamen mal welche, die hatten eine ganze Menge dressierte Tiere mit, aber mit mir konnten sie's doch nicht aufnehmen.«

»Inwiefern nicht?«

»Na, ich sage Ihnen, ich habe... ich denke doch, ich bin hier unter lauter ehrlichen Menschen«, unterbrach sich der Knirps mit einem misstrauischen Blick über die Tafelrunde.

»O ja, das sind Sie!«, wurde gelacht.

»Weil Sie vorhin von Proviant kaufen sprachen — ja, kaufen musste ich mir ja manches — aber ich will doch kein Geld zusetzen, sondern immer mehr verdienen — na, da bin ich jeden Abend im Hafen so als Künstler aufgetreten — mit meinem Pudel. Komm mal her, Saltarino.«

Wir hatten den unter dem Tisch liegenden Pudel ganz vergessen. Jetzt kam er zum Vorschein, schaute schwanzwedelnd mit klugen Augen seinen kleinen Herrn an.

»Saltarino heißt er. In unserem Dorfe war nämlich einmal so eine Zirkusbude, der Besitzer hieß Signor Saltarino, der Name gefiel mir, und da gab ich ihn dann meinem Pudel. Nun passen Sie auf — hoppla...«

Der Junge klatschte in die Hände, und jedes Mal schlug der Pudel, der sich schon in Positur gesetzt hatte, einen tadellosen Salto mortale, rückwärts wie vorwärts, und zwar auf Kommando, was er durch ein besonderes Händeklatschen genau unterschied.

Ich will nicht von mir sprechen — mir war so etwas schließlich nichts Neues mehr — Blodwen war geradezu außer sich vor Staunen. Sie entsetzte sich förmlich. Sie hatte solch einen dressierten Hund noch nicht gesehen, und wie solch ein Tier sich so in der Luft überschlagen konnte — es war ihr eben etwas Unfassbares.

Dabei muss man an die ganze Erziehung des jungen Weibes denken. Sie hatte z. B. unter Anleitung von Lehrern alle klassischen Stücke gelesen, war aber selbst nie, niemals in ein Theater gekommen, von einem Zirkus und dergleichen gar nicht zu sprechen.

Wunderbar, unglaublich! Wie haben Sie das dem Tiere nur beigebracht?«, staunte sie ein Mal über das andere.

Endlich durfte Signor Saltarino seine akrobatischen Übungen einstellen.

»O, das ist noch gar nichts. Er kann noch ganz andere Sachen. Jetzt soll Signorina Saltarina einmal Ballett tanzen.«

Schnell wickelte er um den Hund seine Serviette, drapierte sie wie ein Frauenrock, befestigte sie mit Stecknadeln, auch an den Vorderpfoten, sodass es aussah, als ob der Pudel das Kleid mit ausgestreckten Armen hochgerafft habe, alles mit einer wunderbaren Geschicklichkeit und Schnelligkeit, zog aus der Brusttasche eine alte Holzflöte, spielte mit geläufigen Fingern eine hübsche Melodie, eine Art Menuett, und der Pudel begann nach dieser Musik zu tanzen, also auf den Hinterfüßen stehend.

Ich kann nur sagen, dass wir vor Lachen bald unter den Tisch gekollert sind. Ich war in so manchem Hundetheater gewesen, aber so etwas hatte ich wirklich noch nicht gesehen. Näher beschreiben, worin die Komik liegt, lässt sich ja so etwas nicht. Wie der kleine Hund taktmäßig die Beine schlenkerte, dabei mit dem hochgerafften Kleide kokettierend, es immer so hin und her schwenkend, manchmal einen quiekenden Ton ausstoßend, so einen Juchzer, und nun dieses Pudelgesicht dazu, in der weißen Wolle noch schwarze Teerflecke — der Hypochonder, der durch diesen Anblick nicht geheilt wurde, konnte sich nur gleich totschießen.

»So ist es gut. Nun, Salto, zeige einmal, wie unser Pastor in der Kirche predigt.«

Sofort setzte sich der Hund in Positur, das drollige Pudelgesicht mit dem weißen Schnauzbart nahm einen wahrhaft würdevollen Ausdruck an, nun unter einer schaukelnden Bewegung des ganzen Körpers die Vorderpfoten hin und her bewegt und dabei in den verschiedensten Tonarten jämmerlich geheult.

Na, wir mussten uns eben am Tisch festhalten.

»Und da haben Sie abends an Land immer so eine Vorstellung gegeben?«, fragte Doktor Selo, als er sich die Augen trocknete.

»Gleich am Hafen — denn ich schlief immer in meinem Boot, niemals in einer Herberge — so vor den Schiffern — und stets war meine Mütze ganz mit Kupferstücken gefüllt. Aber auch Herrschaften waren manchmal darunter, eine Dame hat mir gleich einmal ein Goldstück gegeben.«

»Das glaube ich, das glaube ich!«, rief Blodwen. »Wie in aller Welt haben Sie das dem Pudel nur beigebracht?«

Der Junge lächelte verschmitzt.

»Ja, Madam, das ist mein Geheimnis. Und das hier war ja noch gar nichts. Aber wie mein Hund klug ist — er kann überhaupt alles machen, was man nur von einem Hunde verlangen kann. Was soll er tun? Sagen Sie irgend etwas. Eine Schleife binden kann er Ihnen natürlich nicht.«

»Er soll — er soll... mir den Schuh ausziehen«, sagte Blodwen aufs Geratewohl.

»Salto, ziehe der Frau den linken Schuh aus!«

Fast gleichzeitig kreischte Blodwen laut auf, wie ein Blitz war der Pudel ihr unter die Röcke gefahren, dort drunter ein kurzer Kampf, dann kam Signor Saltarino mit einem Segeltuchschuh im Maule zum Vorschein, und es war tatsächlich der linke.

Ich will hier gleich etwas vorausschicken. Dieser Zwergpudel hier, der tatsächlich jedes Wort seines Herrn zu verstehen schien, war nicht etwa ein ganz bevorzugtes Exemplar seines Geschlechtes, sondern sein Herr war eben ein gottbegnadeter Dresseur. Ich habe ihn dann später noch oft genug beobachtet, wie er die verschiedensten Tiere abrichtete, werde auch noch oft darüber sprechen, ich sah manchen Kniff, und wenn man weiß, wie's gemacht wird, dann ist es, wie gewöhnlich, äußerst einfach, jede gewöhnliche Katze lehrte er innerhalb einer Stunde apportieren und auf Kommando über den Stock springen, das konnte ich dann auch nachmachen — d. h., eine Katze so abrichten — sonst aber hatte er noch Geheimnisse, denen ich nie auf den Grund kommen konnte.

Dass der Pudel wirklich jedes Wort verstand, war wohl ausgeschlossen. Da hatte Algots seine geheimen Zeichen. Ich glaubte auch bemerkt zu haben, dass er unter dem Tische etwas mit den Füßen gemacht hatte. Vielleicht hatte er getan, als wollte er seinen linken Stiefel abstreifen, oder hatte dies wirklich getan, dabei hatte er scharf nach der Dame geblickt, und nun allerdings hatte das kluge Tier ihn sofort verstanden.


Illustration

Dies wäre ja kein eigentliches Geheimnis. Und doch besaß dieser germanische Zigeuner den Tieren gegenüber solche, die mir immer ein Rätsel blieben, wovon ich also noch später sprechen werde.

Der Pudel zeigte durch Klopfen die Zeit an, ohne eine Uhr zu sehen, und machte andere schier unerklärliche Kunststückchen. Man hätte fast menschliche Vernunft annehmen mögen.

Dann hatte Blodwen das Tierchen auf den Schoß genommen. Ihre Erregung war eine außerordentliche. Man darf aber nicht etwa glauben, dass sie, weil so einsam erzogen, weil sie so etwas noch nie gesehen, etwa an unnatürliche Dinge dachte. Im Grunde genommen war sie ein hochgebildetes Weib, und der Leser hat wohl schon selbst gemerkt, wie aufgeklärt sie war. Ich konnte mir den Grund ihrer Aufregung recht gut erklären, und so kam es denn auch.

»Ist Ihnen der Hund feil?«

O weh! Hätte ich mich jetzt nur gleich ins Mittel schlagen können. Wenn Blodwen etwas nicht kannte, so war es der Wert des Geldes. Die war imstande, für den Hund gleich eine Million zu bieten. Hätte der kleine Zigeuner jetzt eine Million gefordert, sie hätte sofort ›topp‹ gesagt. Man muss nur ihre Erziehung und alle sonstigen Verhältnisse bedenken, um das begreiflich zu finden.

»Nee«, sagte aber Algots trocken, »den verkaufe ich um keinen Preis.«

Es war ein Glück, dass er das gleich so offen sagte, obgleich er das wohl nicht so ernstlich meinte. Nun aber würde Blodwen auch gar nicht weiter bieten. Denn hätte sie selbst diesen Hund besessen, so würde sie ihn doch ebenfalls nicht für alle Schätze hergegeben haben, sie, für die das Geld absolut keinen Wert hatte, schloss ja von sich selbst auf andere. Oder wurde doch noch ein Handel daraus, so musste jetzt der Junge eine Forderung stellen, und dann würde das Geschäft bedeutend billiger werden.

»Sie haben aber doch auch einen Hund an Bord«, fuhr er gleich fort, »den will ich Ihnen in ein paar Tagen dressieren.«

Bemerkt sei, dass sich der Junge erst vergewissert hatte, dass wir ebenfalls der Küste entlang nach Süden steuerten, sein Boot, aus dem eine morsche Planke losgebrochen war, hatte der Schiffszimmermann bereits in Reparatur.

»Den Diomedes?«

»Diomedes heißt das große Vieh? Es ist ein Bullenbeißer. Ja, den.«

Wir hatten ja schon erlebt, welchen seltsamen Einfluss der Junge auf das unbändige Tier ausgeübt hatte, erst jetzt kam uns das zu Bewusstsein. Aber es gab noch andere Zweifel.

»Den wollen Sie so dressieren wie Ihren Pudel hier?«

»Na, so gerade nicht. Der Pudel ist schon alt, ich habe mich schon als kleines Kind mit ihm beschäftigt. Aber in drei Tagen will ich ihm schon etwas ganz Hübsches beibringen.«

»Solche Kunststückchen?«

»Wenigstens ein paar Dutzend. Kann er denn schon etwas?«

»Ja, beißen«, mischte ich mich jetzt ein. »Können Sie ihm das Tanzen auf den Hinterbeinen beibringen?«

»Tanzen muss das Luder.«

»Auch dass er solche Salti mortali schlägt?«, fragte Blodwen wieder.

»Salti mortali schlagen muss das Luder.«

»Dieses schwere Tier?«, fragte ich jetzt wieder.

»Der ist nicht zu schwer dazu, der ist nur zu faul. Ich muss ihm erst ein bisschen Fett abtreiben.«

»Was verlangen Sie dafür?«, nahm mir wieder Blodwen das Wort ab.

»Was geben Sie?«

Leider konnte ich mich nicht schnell genug einmischen, Blodwen war ganz Feuer und Flamme.

»Tausend Dollar«, rief sie schnell.

Na, da ging es noch. Und wenn man da zusah, wie der kleine Junge dem riesigen Vieh den Salto mortale beibrachte, das war auch wirklich tausend Dollar wert — besonders wenn man es so hatte.

Immerhin, es war doch eine große Summe — und nun für so einen Jungen, der eigentlich noch Pumphosen tragen sollte. Aber der zuckte mit keiner Wimper.

»Well, tausend Dollar. Da will ich in drei Tagen aus dem Vieh auch etwas Hübsches machen.«

»Ah, jetzt weiß ich«, ergriff da Doktor Selo das Wort. »Jetzt weiß ich, was Sie an der afrikanischen Küste wollen!«

Der Junge machte manchmal einen ganz kindlichen Eindruck, manchmal kam er mir wieder vor wie ein alter, erfahrener, bedachtsamer Mann, so jetzt, als er den Arzt anblickte.

»Nun? Schießen Sie los!«

»Sie wollen sich so in den Dörfern von Eingeborenen mit Ihrem dressierten Pudel produzieren... nicht wahr?«

»Das habe ich bereits bisher an den europäischen Küsten getan — das habe ich Ihnen doch ausführlich genug erzählt.«

»... und Sie hoffen, dass Häuptlinge und reiche Personen Ihnen Ihre Hunde zur Dressur übergeben?«

»Well, das hoffe ich sogar sehr stark.«

Wahrhaftig, ich blickte plötzlich in eine Perspektive, an die ich noch gar nicht gedacht hatte! Dieser Junge war ja ein wirkliches Finanzgenie!

Da gab es nun freilich noch manches zu bedenken.

»Haben Sie auch bedacht, wie gefährlich das werden kann?«, fragte ich.

»Wieso?«

»Dort sind ganz unkultivierte Gegenden, das sind noch Wilde, selbst an der Küste.«

»Das habe ich schon als kleines Kind gewusst.«

»Sie können von einem Häuptling sozusagen als Hofdresseur festgehalten werden — werden als Sklave gezwungen, ihm seine Haustiere abzurichten.«

»Bah, das habe ich mir alles überlegt.«

Ja freilich, wenn er mit solchen Ideen schon seit seinem sechsten Jahre umgegangen war — da konnte man ihm schwer widersprechen.

Und was für ein gottbegnadetes Geschäftsgenie der Junge war, das sollte ich erst noch später erfahren. Wir hatten gar nicht besondere Obacht darauf gegeben, wie sorgfältig er zuerst sein Gepäck, hauptsächlich aus Blechkisten bestehend, in die ihm zur Verfügung gestellte Kabine getragen hatte. Was konnte denn darin sein? Proviant, Wäsche. Später aber sollten wir ob des Inhaltes, mit Respekt zu sagen, vor Staunen Maul und Nase aufsperren.

»Ich werde bald genug verdient haben, um mir ein eigenes Schiff kaufen zu können.«

»Ein Schiff? Was für ein Schiff?«

»Nun, eben ein Schiff.«

»Ein größeres als Ihr ›Albatros‹?«

»Ach, Unsinn! Wollen Sie mich veralbern? Ein richtiges großes Schiff meine ich, so wie dieses hier, aber noch ein ganz anderes.«

»Wissen Sie denn, was so ein Schiff kostet?«, stellte ich eine prüfende Frage.

»Neu? Auf Bestellung gebaut? Ich ziehe Holz vor. Hundert bis höchstens hundertfünfzig Taler die Tonne, und da verlange ich Teakholz.«

Diese Schätzung stimmte. O, ich sollte bald erfahren, was für Erfahrungen dieser kleine Wicht in allem, was zur Seefahrt gehört, schon besaß, wenn auch nur theoretische! Er hatte eben ständig mit Kapitänen verkehrt, hatte zugehört und gefragt.

Er wünschte das Schiff zu besichtigen. Blodwen blieb zurück, sich mit dem Pudel beschäftigend, der auch auf ihr Kommando schon tanzte und andere Kunststückchen ausführte.

»Ist das Ihre Frau, Käpt'n?«, fragte er mich vertraulich, als wir über Deck gingen.

Ich wusste nicht recht, was ich gleich sagen sollte.

»Nein, das gerade nicht...«

»Ach so, der gehört wohl das Schiff? Sie sind nur der Kapitän.«

»Auch nicht — das Schiff gehört mir.«

»Also Eure Geliebte?«

»Ja«, gestand ich, von diesem Jungen so zur Antwort gedrängt. Und da sagte dieser kleine Junge:

»Enne Geliebte? Na, wenn ich erst mein eigenes Schiff habe — Fruenslüt dürfen nicht zu mir an Bord kommen — weiter fehlte nichts — so ne Swienerie.«

Und anstatt über diese Worte entrüstet oder sonst etwas zu sein, ging eine seltsame, eine schmerzliche Ahnung in mir auf. Ich hatte plötzlich etwas wie eine Vision. Nämlich, dass dieser kleine, zwölfjährige Wicht mir an Charakter bedeutend überlegen war, dass er dasselbe Ideal hatte wie ich und dieses durch eigene Kraft erreichen würde, während ich das meine als Sklave eines launischen Weibes bereits verscherzt hatte...

Doch schnell verschwand diese schmerzlichdemütigende Vision wieder.

Ich war bis über die Ohren verliebt und konnte nicht im Geringsten über Blodwen klagen, durfte wirklich von keinen Launen sprechen. Sie war mir das hingebendste Weib.

— • —

9. Kapitel
Das rätselhafte Wrack und wie wir auf
demselben den Klabautermann finden

Originalseiten I.151 — 179

Einen großen Vorteil hatte uns der kleine Seezigeuner gebracht. Endlich hatten wir ein bestimmteres Ziel im Auge. Unsere Fahrt hatte einen Zweck bekommen.

Als wir schon im englischen Kanal schwammen, waren wir uns noch über kein bestimmtes Ziel klar gewesen. Erst hatte Blodwen den Wunsch geäußert, einmal wieder New York zu sehen, und es war westwärts gegangen. Kaum aus dem Kanal heraus, hatte Blodwen Sehnsucht nach dem kalten Norden bekommen, und der Kurs wurde nach Grönland genommen, doch kaum für einen halben Tag, dann zog Blodwen den Süden vor, und wir gingen über Stag und zurück.

Dennoch muss ich meine vorige Behauptung aufrecht halten. Aus alledem konnte ich der Geliebten keinen Vorwurf der Launenhaftigkeit machen. Gott, wir hatten doch absolut nichts vor, eigentlich wollten wir ja nicht einmal die Welt besehen, um uns dabei zu amüsieren. Das Schiff sollte unsere Heimat sein, für das verfolgte Weib speziell eine Burg.

Mich freute es vielmehr, dass Blodwen zunächst gar nicht wünschte, einen Hafen anzulaufen, und am allermeisten, welches Interesse sie für das Schiff selbst und für die Mannschaft nahm. Darin ging sie ganz auf. Sie stellte den Speisezettel für den folgenden Tag auf, wirtschaftete im Proviantraum und selbst in der Kombüse, sie nahm an den Spielen der Leute in der Freizeit teil, interessierte sich für deren Arbeit und für alles andere — kurz, sie führte das Leben, was ich ihr gewünscht hatte, mit welchem auch ich mich zeit meines Lebens hätte beschäftigen können, in Sorge aufgehen um das körperliche und geistige Wohl seines Volkes, und die Mannschaft eines Schiffes wird auf englisch ›crew‹ bezeichnet, was noch viel mehr sagt als Besatzung und dergleichen. Übrigens haben ja auch wir das Wort ›Schiffsvolk‹.

Und dann begann ja erst jetzt richtig die Zeit unserer ersten Liebe! Mit einem Wort: wir waren glücklich — sehr, sehr glücklich!

Nun aber sollte es bestimmt nach der Westküste Afrikas gehen, zunächst nach Senegambien. Was der kleine Algots eigentlich vorhatte, ob er uns verlassen würde oder nicht, das wussten wir noch immer nicht. Da hüllte er sich in unverbrüchliches Schweigen. Jedenfalls benutzte er eben diese günstige Gelegenheit, auf schnellere Weise dem Gebiete seiner späteren Tätigkeit so nahe wie möglich zu kommen.

Zunächst wollte er sich ja die tausend Dollar verdienen. Er nahm den Diomedes vor, aber mit der Beobachtung war es nichts. Er brachte den Köter, der sich dem kleinen Wicht nach wie vor seltsam gefügig zeigte, in eine leere, geräumige Kammer, ließ sich große Streifen von Segeltuch und andere Utensilien geben, deren Zweck wir uns vergebens zu deuten suchten, und er schloss sich mit dem Tiere ein, nur zu den Essenszeiten zum Vorschein kommend.

Als Zuchtmittel bediente er sich sowohl verschiedener Leckerbissen als auch der Hundepeitsche, und das tüchtig. Wir hörten den Bullenbeißer manchmal jämmerlich heulen, woraus aber wiederum zu schließen war, dass wir uns nicht um das Leben unseres kleinen Freundes zu sorgen brauchten.

Schon nach zwei Tagen war die Dressur beendet, Diomedes wurde vorgeführt. Es war erstaunlich, was der kleine Zigeuner dem Tiere in den zwei Tagen alles beigebracht hatte, und wahrhaft lebensgefährlich sah es aus, wie sich der mächtige Bullenbeißer mit einem Satze in der Luft überschlug.

»Wie haben Sie das dem Tiere denn nur beigebracht?«

»Das ist äußerst einfach. Sie würden lachen, wenn Sie es erführen.«

»Ach, sagen Sie es mir doch!«

»Ich bedaure, Madam, das ist Geschäftsgeheimnis«, sagte aber der kleine Weiberverächter kalt, und gelassen nahm er zwei Hundertpfundnoten in Empfang, um sie in einem auf der nackten Brust getragenen Beutelchen verschwinden zu lassen.

»Wieder zwanzig Tonnen für mein Schiff.«

Ja, ›sein Schiff‹. Davon konnte er einem etwas vorschwärmen!

Und bei uns fand er ja da nun auch die richtigen Zuhörer. Auch er wollte ein Musterschiff in die Welt setzen. Und das würde gar nicht mehr so lange dauern, höchstens noch ein Jahr, und da er dann selbst erst dreizehn Jahre wäre, müsste die ganze Besatzung ›natürlich‹ ebenfalls aus halbwüchsigen Jungen bestehen.

»Ich könnte mir ja auch gleich große Matrosen nehmen, ich wollte sie schon unter die Fuchtel bringen, aber besser ist doch, ich erziehe sie mir gleich von klein auf.«

»Ein Schiff, bloß mit Jungen besetzt? Das dürfte wohl schwerlich möglich sein.«

»Weshalb denn nicht?«

Vergebens sprach ich von internationalen Seegesetzen, von zu erfüllenden Formalitäten, dass jedes Kriegsschiff solch ein Kinderfahrzeug — dieses Wort durfte ich nun allerdings nicht gebrauchen! — aufbringen, festnehmen würde — der Junge wollte es besser wissen, ohne sich aber auszusprechen, und... ich weiß nicht, wenn ich das Kerlchen ansah, wenn ich an alles dachte, was ich schon gehört und selbst gesehen, so hielt ich schließlich alles für möglich.

Und wie definiert man denn das Genie? Das Genie schafft etwas bisher noch nie Dagewesenes, indem es sich an keine Regel bindet, sich über alles Herkömmliche hinwegsetzt, mit allem bricht — und dadurch verblüfft es alle Welt.

Manch kränkende Bemerkung musste ich mir von dem Kerlchen gefallen lassen.

»Da müssen Sie später mal mein Schiff sehen, da soll es anders drauf zugehen.«

Das konnte ich aller Stunden zu hören bekommen, wenn er sich so mit kritischen Augen umsah. Vor allen Dingen gab er seiner Verachtung unverhohlenen Ausdruck, dass die ›Sturmbraut‹ zugleich auch als Dampfer ausgerüstet war. Jeder Matrose, der auf einem Dampfer fuhr, war in seinen Augen ein Waschweib — und leider musste ich mir sagen, dass ich vor Kurzem ebenso gedacht hatte.

Dass er so verächtlich über die an Bord befindliche Bibliothek sprach, konnte man einem durchgebrannten Schuljungen noch weniger verdenken. —

Am 15. Juni passierten wir den Wendekreis des Krebses. Der aus Westen kommende Wind drohte in Sturm auszuarten, und wegen der Nähe der sandigen Küste ließ ich zum ersten Male Dampf aufmachen. Sonst hatte ich nur am ersten Tage der Fahrt die Maschine einmal probiert.

Nun, ich durfte die vorhandene Hilfsmaschine nicht mehr schlecht machen. Wer weiß, was in dieser Nacht ohne sie aus uns geworden wäre. Es war ein fürchterlicher Sturm, gegen den wir die ganze Nacht anzukämpfen hatten.

Kurz vor Tagesanbruch flaute er schnell ab, fast bis zur völligen Windstille, und als, wie es in diesen Breiten schon ist, mit Plötzlichkeit die finstere Nacht dem hellen Tage wich, hatten wir einen Anblick, der alle überstandenen Strapazen vergessen ließ, unsere furchtbare Müdigkeit, die uns zur Koje drängte.

Es war ein Wrack, das dort auf den erregten Wogen tanzte, ein großes Segelschiff, von dem nur noch der mittelste Mast bis zur Hälfte stand, aber nun was für ein Schiff!

»Der fliegende Holländer!«, wurde scheu geflüstert.

Bei Gott, auf diesen Gedanken konnte man auch kommen. Dieses enorme Vorder- und Hinterteil, in der Mitte die Ausschweifung, überhaupt im ganzen dieser seltsame, altertümliche Bau — so einen Schiffsbau gab es ja gar nicht mehr, der war schon seit Jahrhunderten ausgestorben.

Nun, ein alter Holländer würde es wohl sein. Aber den Glauben an einen ›fliegenden‹ ließ ich nicht lange aufkommen. »Jungens, das ist freies Seegut für uns!«

Diese Worte wirkten wie elektrisierend. Vergessen war plötzlich alle Erschöpfung, vergessen blutige Hände und Quetschungen, die man sich jetzt vom Arzt hatte verbinden lassen wollen. Größere Unfälle waren sonst nicht vorgekommen.

Und ich durfte das Wrack wohl schon als gute Prise versprechen. Trotz der sehr hohen Brüstung konnte man ja wegen des starken Schlingerns immer das ganze Deck übersehen, es war völlig glatt gewaschen, alles weggespült und weggeschlagen, die Brüstung war zum Teil zertrümmert, und wäre noch Mannschaft an Bord gewesen, so hätte sie sich doch sicher schon bemerkbar gemacht. Und selbst wenn es sich nur um die Bergung des Wracks handelte, nur um eine Hilfeleistung, so fiel doch noch immer für jeden Matrosen, der sich daran beteiligte, ein erklecklicher Gewinn ab.

Doch wir mussten uns beeilen. Dort trieb mit gerefften Segeln noch ein anderes Schiff, ein außerordentlich großer Schoner, wenigstens von 2000 Tonnen, der es ebenfalls auf das Wrack abgesehen hatte. Dort war ein Boot bereits im Wasser, mit acht Ruderern besetzt, tanzte es schon auf das Wrack zu, wir hörten den wilden Gesang zum Rudertakt, an Bord wurde gejubelt, triumphierend wurde das Sternenbanner der Vereinigten Staaten gezeigt.

Aber die ›Sturmbraut‹ war bedeutend näher. Noch konnte es uns gelingen.

Meine vierzehn Matrosen hatten schnell gelost, wer mit ins Boot gehen sollte. Ich ließ es nicht zu, suchte die fähigsten Burschen aus. Das Aussetzen eines Bootes war bei diesem Schlingern ungeheuer schwierig. Ich war bereit, von meinen acht Booten drei zu opfern. Dort an dem Schoner trieben auch schon die Trümmer eines Bootes, vielleicht hatte einer dabei auch sein Leben lassen müssen, und so fanden es auch meine Leute ganz selbstverständlich, dabei vielleicht ein oder beide Beine zu verlieren. — Doch das ist die christliche Seefahrt, darüber ist kein Wort zu verlieren.

Ölzeug aus, Rock aus, Hose ab, Stiefel ab — in Hemd und Unterhosen waren ich und sechs Matrosen bereit, im schon ausgeschwungenen Boote den Kampf mit den Planken des wütend um sich schlagenden Schiffes aufzunehmen.

Blodwen, welche fast die ganze Nacht neben mir auf der Kommandobrücke zugebracht, hatte offenbar große Lust, die Partie mitzumachen, aber bei diesen Vorbereitungen gab sie doch ihr Vorhaben auf.

Ich fasse mich kurz. Es gelang mir, gleich das erste Boot freizubekommen. Die sechs Matrosen sprangen von oben nach, teils direkt ins Boot, teils ins Wasser und wurden aufgefischt, es gab nur eine einzige blutige Nase.

Und dann ging es unter einem Gesange fort, dass sich die eschenen Ruderstangen wie die Reitgerten bogen und die Matrosen bei jedem Durchholen unter den Duchten verschwanden. Das amerikanische Boot näherte sich von der anderen Seite. Wie die Entfernungen standen, konnten wir nicht taxieren, doch schienen die Chancen für uns nicht günstig zu stehen, dort drüben waren acht Ruderer, und ich hatte doch lieber diesen kleinen Kutter mit nur sechs Mann gewählt.

Von den Schiffen aus musste diese Wettjagd noch viel interessanter aussehen, alles brüllte mit, von vornherein entschlossen, das Boot zu opfern. Jetzt kam das amerikanische Boot hinter das Schiff, uns also aus den Augen. Da schossen aber auch wir schon auf das Wrack zu.

Ich ließ die Riemenstange fallen, ergriff das Seil mit dem kleinen Enterhaken und sprang über die Köpfe der Matrosen hinweg nach vorn.

Ein Gegenkommando war schon gar nicht möglich, und so viel war mir klar, dass es sich jetzt um die Ausnutzung jeder einzelnen Sekunde handelte.

»Wahrschau!!!«

Ein Krachen, und unter meinen Füßen zersplitterte das Boot.

Aber mein geschleuderter Enterhaken hatte gefasst, und ich hing am Seile.

Es ist seltsam, wie schnell und dabei doch wie klar man in solchen Augenblicken denken kann.

»Komme ich ihnen zuvor? Oder sind die Amerikaner schon oben?«

Mir ist es, als ob ich eine Viertelstunde kalkuliert hätte, was ich oben erblicken würde. Am allerwenigsten dachte ich jetzt an meine sechs im Wasser liegenden Matrosen. Mochte der oder jener ertrinken, ich kümmerte mich den Teufel darum. Das hier war einfach Krieg.

Und dann schwang ich mich über die Bordwand. Wahrhaftig, dort drüben hing ebenfalls schon ein Enterhaken! Aber ich war der erste.

»Ich ergreife Besitz von diesem Wrack!«

Ich hatte es nicht allein geschrien, doppelstimmig hatte es geklungen, und da tauchte an dem anderen Bootshaken ein pockennarbiges, wüstes Gesicht auf, eine vierschrötige Gestalt schwang sich nach.

»Unter der amerikanischen Flagge ergreife ich Besitz von diesem Wrack!!«, schrie er nochmals und schwang ein Sternenbanner.

»Mann, lasst Euch nicht auslachen! Ich war zuerst hier.«

»Nein, ich.«

»Was, Ihr?!«

»Ich habe es zuerst gerufen.«

»Herunter vom Deck!!«

»Hund verdammter!«

»Eins...«

Es ist wohl begreiflich, dass man so etwas gar nicht schildern kann. Es ging alles Schlag auf Schlag, und wir beide standen uns wie zwei knurrende Bullenbeißer gegenüber, und dazu waren noch fünf andere wilde Gestalten gekommen, aber hinter mir standen jetzt auch meine sechs Matrosen, und elf rechte Hände griffen nach hinten, wo am Leibriemen das Schiffsmesser steckt.

»Zwei...«

Noch ein furchtbarer Fluch, ich sah einen Revolver, da aber hatte ich den Kerl schon unterlaufen und gepackt, er flog in weitem Schwunge über Bord.


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Keiner bekam das Messer heraus. Dazu war gar keine Zeit mehr. Ein allgemeines Handgemenge. Aber alles ging mit Gedankenschnelle. Ich hatte nicht umsonst die stärksten pommerschen Knochen ausgesucht. Ich selbst konnte beim besten Willen nur noch einen einzigen erwischen und hinab

befördern, dann waren wir sieben von der ›Sturmbraut‹ allein auf dem Wrack.

»Alles ist gut gegangen, nix ist passiert.«

Unten schaukelte das Boot, von drei zurückgebliebenen Matrosen mit Stangen von dem Wrack abgehalten. Sie fischten ihre schwimmenden Kollegen auf. Der eine war mit dem Leibe auf dem Bootsrand aufgeschlagen, mochte einige Rippen gebrochen haben, lag wimmernd am Boden — uns höchst gleichgültig.

Der vorletzte, der hineinkam, war der Kapitän, oder was er sonst war, er hatte den Revolver nicht fahren lassen, und... ein Feuerstrom, ein Knall, und mir pfiff die Kugel am Ohre vorbei.

Dann hörte ich es noch zweimal knacken, die anderen Schüsse versagten.

Und schon hatte ich die Hände auf die Bordwand gelegt, um hinab ins Boot zu springen, den Kerl zu züchtigen, und Knut schien die gleiche Absicht zu haben, auch er war schon zum Sprunge bereit, und was ich selbst ausführen wollte, erkannte ich an dem anderen für eine Torheit, ich hielt den Matrosen zurück, einem zweiten schlug ich das Messer aus der Hand, welches er nach dem Revolverhelden schleudern wollte.

Da krachte unten doch noch einmal der Revolver, glücklicherweise wieder daneben. Jetzt aber konnte mich das nicht mehr besonders aus der Fassung bringen.

»Mordversuch!«, schrie ich hinab, als die amerikanischen Matrosen schon die Riemen durchholten. »Die ›Helios‹ von New Orleans — auf Wiedersehen vor dem Seegericht!«

»Ja, auf Wiedersehen, du...«, fluchte der Pockennarbige, ein scheußliches Wort gebrauchend. »Aber nicht erst vor dem Seegericht!«

Dann zogen sie ab. Der Pockennarbige, am Steuer sitzend, schüttelte noch einmal die Faust. Wir achteten nicht mehr darauf, wandten uns der Untersuchung des Wracks zu.

Ja, was für ein altertümlicher Kasten war das eigentlich? Denn der vorsintflutliche Eindruck blieb auch hier in der Nähe bestehen. Viel zu sehen war ja nicht, das ganze Deck war nackt — die Altertümlichkeit lag eben in der übermäßig hohen Back und dem Aufbau am Hinterteil, wie man solch ein Schiff heute gar nicht mehr sieht. Wohl genau so stellt man sich den ›fliegenden Holländer‹ vor.

Aber das Seemannsauge erkannte gleich noch verschiedenes andere Auffällige. Wer lässt denn heute noch das Deck mit dem feinsten Sandelholz parkettieren? Das kommt höchstens auf einer Privatjacht vor, mit der dieser plumpe, schwerfällige Kasten nicht die geringste Ähnlichkeit hatte, und an den Maststümpfen wie an der eingedrückten Bordwand erkannten wir, dass das eisenharte Holz schon uralt sein müsse.

Na, die Hauptsache war doch, was wir unter Deck finden würden. Die Mannschaft war offenbar in die Boote gegangen; denn wären diese sämtlich schon vorher weggeschlagen worden, so hätte die Besatzung doch natürlich auch an Bord sein müssen.

Dass sie das Schiff verlassen hatten, war eigentlich recht merkwürdig: denn von einem Sinken des Wracks war nicht das geringste zu bemerken, und wir sollten dann später auch wirklich gar kein Leck finden.

Weshalb war die Besatzung denn nur in die Boote gegangen? Ich konnte ihnen für diese furchtbare Sturmnacht kein günstiges Schicksal in Aussicht stellen. Dass wir schon das ganze Meer nach einem treibenden Boot abgespäht hatten, ohne eins zu erblicken, brauche ich wohl nicht besonders zu erwähnen.

Ja, wo war hier eigentlich der Kajüteneingang? Alle Luken waren geschlossen, und schon wie diese direkt ins Deck eingelassen, wie es heute gar nicht mehr vorkommt, war sehr merkwürdig, sie waren fest geschlossen, und da aller Schiffsbau doch so ziemlich übereinstimmt, konnte man sich gar nicht recht erklären, wo sich der Eingang zur Kajüte befinden sollte. Dann war es nicht anders möglich, als dass er unter dem Heck angebracht war, was aber heute wohl schwerlich noch vorkommen könnte.

Ich wollte mich dem hohen Aufbau des Hinterteils zuwenden — denn unter der Back konnte er sich auf keinen Fall befinden, die gehört den Matrosen, oder die ganze Schiffsroutine geht in die Brüche — als Paul, der schon unter der Back gewesen war, auf mich zugestürzt kam.

»Mensch, was hast du denn?«

Der Matrose hatte nämlich ein aschgraues Gesicht und zitterte an allen Gliedern.

»Der Klabautermann!«, ächzte er.

Da ist wohl erst eine Erklärung nötig. Der Klabautermann ist die Figur einer uralten Seemannssage.

Es ist also ein Seegespenst, das sich manchmal auf Schiffen zeigt — ein greises, kleines Männchen, in alter, holländischer Tracht, mit Pumphosen und Schnallenschuhen, mit breitrandigem Hute — so sitzt er immer auf einer Kleiderkiste und raucht aus einer langen Kalkpfeife, und zwar sitzt er mit seiner Kleiderkiste immer entweder vor dem Gangspill oder unter der Back, nämlich, wenn sich das Gangspill, wie es besonders früher üblich war, unter dieser befindet.

Wohl dem Schiffe, auf dem sich der Klabautermann niederlässt! Es ist nämlich ein sehr guter Geist. Diesem Schiffe kann kein Sturm und keine Klippe etwas schaden, solange man das Gespenst so nächtlicherweile sitzen sieht. Aber er muss sich so Nacht für Nacht zeigen, wenigstens bis zum Ende der betreffenden Reise. Erhebt er sich schon früher, nimmt die Kleiderkiste seufzend auf die Schulter und verschwindet über Bord, dann droht dem Schiffe irgendeine Gefahr, wenn auch nicht direkter Untergang. Doch das hat man dann selbst verschuldet, man hat den Klabautermann nicht mit der gebührenden Hochachtung behandelt, hat ihn verspottet oder sonst wie gekränkt.

Ich gebe hier wieder, was jeder alte Seemann zu erzählen weiß, besonders an Land, beim Glase Grog, dass jeder Landratte die Augen übergehen. Wie diese Sage entstanden ist, weiß ich nicht. Sie ist international und uralt, wird schon im 15. Jahrhundert erwähnt. Jedenfalls also ein gemütlicher Holländer, und aus irgendeinem Grunde keine Ruhe im nassen Grabe findet.

»Der Klabautermann!«, stöhnte Paul.

»Mensch, dich plagt ein Hirngespinst.«

»Nee, faktisch, Käpt'n, dort unter der Back sitzt er, vor dem Gangspill!«

»Auf einer Kleiderkiste, nicht wahr?«, spottete ich.

»Jawohl, auf einer Kleiderkiste — und raucht aus einer langen Kalkpfeife — es ist faktisch der Klabautermann!«

Na, zum Donner, Paul war doch sonst ein ganz vernünftiger Mensch — ich hin, gefolgt von den anderen Matrosen, und...

Ja, es half nichts, dass ich den Kopf vorreckte. Da saß er wirklich auf seiner Kleiderkiste, der Klabautermann, so wie jedes Buch ihn beschreibt und wie jeder Bärenbinder ihn in der Kneipe schildert.

Es war ein altes, zusammengeschrumpftes Männchen, in vorsintflutlicher, holländischer Tracht — mit Pumphosen und Schnallenschuhen, der Flausrock mit großen Glasknöpfen besetzt und was sonst noch alles dazu gehört — und merkwürdig auch waren die großen, runden Eulenaugen und die scharfe Habichtsnase — nämlich deshalb besonders merkwürdig, weil der Klabautermann stets mit solchen runden Eulenaugen und mit solcher Habichtsnase beschrieben wird von allen denen, die ihn gesehen haben wollen, was nun schon in Bilder übergegangen ist.


Illustration

Und das war nicht etwa eine Figur aus Wachs oder Holz! Denn jetzt führte er langsam eine mächtig lange Kalkpfeife zum zahnlosen Mund und blies bedächtig einige Rauchwölkchen vor sich hin.

Na, dass ich hier so dastand und ihn anstarrte, nützte nichts. »Hallo, wer seid denn Ihr?!«

Ich hatte mich unwillkürlich des Holländischen bedient, von dem ich einige gute Brocken verstand.

Keine Antwort. Und er schien uns auch nicht zu sehen, beachtete uns wenigstens gar nicht. Überhaupt hatten die runden Augen, die vor sich hinstierten, einen recht leeren Ausdruck. Nur die Tabakswölkchen folgten sich etwas schneller.

»Seid Ihr der Kapitän?«

Keine Antwort. Es wurde weitergepafft.

Ich trat näher, dicht vor ihn hin.

»Mann, wer seid Ihr?«, fragte ich mit stärkerer Stimme.

Da öffnete sich der zahnlose Mund, und mit einem tiefen Seufzer kam das einzige Wort hervor:

»Minajorka.«

Ich kannte keinen Namen dieses Klanges. Wohl ein Minorka, eine Insel bei Spanien, aber kein Minajorka.

»Ist das der Name dieses Schiffes?«

»Minajorka«, wurde wieder geseufzt.

»Gehört Ihr mit zu der Besatzung?«

»Minajorka.«

Ich gestehe, dass es auch mir unheimlich zumute wurde. Dieses ausgedörrte Männchen in altholländischer Tracht, offenbar geistesgestört, diese ausdruckslosen Augen, die mich nicht etwa dabei ansahen, diese klägliche Seufzerei, dieses ganze ausgestorbene Schiff, von dem ich mir keine Rechenschaft abgeben konnte — kurz und gut, auch ich stand etwas unter dem Banne der Sage vom Klabautermann.

Fragen nützten nichts, es blieb immer bei dem einzigen Worte, aus tiefster Brust geseufzt: Minajorka.

Jetzt klopfte das unheimliche Männchen bedächtig seine Pfeife aus, griff zwischen die Beine, wo es einen großen Lederbeutel klemmen hatte, stopfte aus diesem seine Pfeife frisch mit Tabak, brachte darauf auch noch ein kleineres Beutelchen zum Vorschein, dem er Stahl, Feuerstein und Zunder entnahm, fing an, Feuer zu schlagen. Meine Matrosen kannten diese Art, sich Feuer zu verschaffen, gar nicht mehr.

»Es ist der Klabautermann«, wurde hinter mir nach wie vor scheu geflüstert.

Nein, das war und blieb ein Mensch, und durch Anstarren änderte sich nichts.

Hier unter der Back befanden sich die Kojen der Matrosen, ich sah Decken und anderes. Doch ehe ich an diese Untersuchung ging, wollte ich mich in der Kajüte umsehen.

So beorderte ich vier Matrosen, hier bei dem Alten zu bleiben, dass er nicht etwa ein Gelüste empfand, sich über Bord zu verabschieden — denn verrückt war der unbedingt — mit den beiden anderen begab ich mich nach hinten, wo ich unter dem hohen Aufbau richtig eine Tür fand, schön geschnitzt, woraus gleich zu schließen war, dass es hier nach der Kajüte ging.

Mein Staunen hier unten war vielleicht nicht geringer, als da ich oben zuerst den Klabautermann gesehen hatte. Ich kam mir wie in eine fremde Welt versetzt vor. Alles aufs feinste eingerichtet, aber eben mir ganz fremd. Nur das Bewusstsein kam mir sofort, dass ich es hier mit einer Schiffseinrichtung zu tun hatte, wie sie vor hundert oder sogar einigen hundert Jahren Mode gewesen sein mochte, das sagte mir der reichgeschnitzte Schreibtisch und jedes andere Möbel, überhaupt alles, und über dem Schreibtisch hing ein Ölgemälde, einen Holländer im bunten Samtwams mit Bauschärmeln und Spitzenkragen darstellend.

Wie der Kerl mich so ernst anblickte — wiederum ward es nur in dem stillen Raume ganz unheimlich. Ja, was sollte man aber auch von alledem denken?

Wie aber ward mir erst zumute, als ich in das eigentliche Zwischendeck kam!

Nicht etwa unverwesbare Leichen oder sonst etwas Unnatürliches oder Gespensterhaftes, sondern... auf jeder Seite, hinter den geschlossenen Stückpforten stehend, ein Dutzend Kanonen!

Und was für Dinger! Und noch aus Bronze! Vorderlader! Sie trugen auch die Jahreszahl ihrer Anfertigung: gegossen in Amsterdam, und keine später als im Jahre 1614.

Versteht der Leser, weshalb ich gerade beim Anblick dieser alten Kanonen so bestürzt wurde?

Meine Matrosen empfanden ganz genau dasselbe wie ich.

»Das ist dennoch der ›fliegende Holländer‹«, wurde wieder scheu geflüstert.

Ein Holländer, ein alter Patrizier und zugleich Sportsman, kann sich den Luxus erlauben, sein ganzes Schiff nach altholländischem Muster auszustaffieren. In alten Schlössern und anderen alten Häusern gibt es solche Möbel ja noch immer genug, es existieren auch noch ganze Schiffseinrichtungen aus früheren Jahrhunderten, nicht nur in Museen, man kann so etwas auch bei Raritätenhändlern zusammenkaufen. Nun aber dieser Ballast von zwei Dutzend solcher vorsintflutlichen Kanonen, im sonst leeren Zwischendeck, hier schon mehr Batterie zu nennen, richtig vor den Stückpforten aufgestellt — so etwas geht denn doch ein bisschen über den Geschmack an altertümlicher Umgebung, einer gewissen Art von Nationalstolz entspringend.

Und dann kam mir wieder zum Bewusstsein, dass dies ja keine Jacht, kein modernes Schiff war, sondern von uralter Bauart, und zwar keine künstliche Antiquität, das sah man gleich dem verräucherten Holze an, und oben, wo es zersplittert war, erkannte man die Echtheit dieses Alters von Jahrhunderten noch ganz besonders.

Kurz und gut, ich wusste gar nicht mehr, was ich von alledem denken sollte. Ich widersprach nicht einmal mehr dem Flüstern der Matrosen, hier auf dem gespenstischen ›fliegenden Holländer‹ zu sein.

Heftiges Getrampel über mir ließ mich erschrocken empor fahren. Trotz meines Schreckens, welcher, wie ich ganz offen gestehe, etwas der Gespensterfurcht entsprang, eilte ich sofort die Treppe hinauf, gefolgt von den beiden Matrosen, die sich wie die Kletten an mich hefteten.

Wenn ich jetzt, sagte ich mir dabei, das Deck voll alter Holländer finde, so mit Pluderhosen und Schnallenschuhen, alte Seehelden, die eigentlich schon dreihundert Jahre tot sein müssten, im Kampfe miteinander begriffen, meine anderen Matrosen dagegen im Starrkrampf steif an Deck liegend — ich würde mich gar nicht wundern.

Es sollte aber nichts sein mit den alten, gespenstischen Holländern. Es waren meine eigenen Matrosen, welche über Deck rannten, sich bereit machend, die Jolle zu empfangen, welche dort von der ›Sturmbraut‹ herangetanzt kam.

Blodwen befand sich darin. Sie hatte ihre Neugier doch nicht bezähmen können, hatte deswegen lieber ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Wie die ins Boot gekommen war, das hätte ich auch sehen mögen. Sie war offenbar ganz leicht angezogen, und ich konnte schon von hier sehen, dass sie triefte. Sie musste ebenfalls durchs Wasser gegangen sein.


Illustration

Und neben ihr saß Doktor Selo. Dass der Schiffsarzt mitgekommen war, verdross mich etwas. Wenn aber Blodwen ihn dazu aufgefordert oder ihm die Erlaubnis gegeben hatte, so war daran nichts mehr zu ändern, und jetzt galt es nur, die beiden auch glücklich hier herauf zu bugsieren. Schließlich war mir ganz recht, wenn auch der Schiffsarzt einmal dieses merkwürdige Wrack besichtigte. Ich hatte vor dieses Mannes schier allumfassenden Kenntnissen schon einen ganz gewaltigen Respekt bekommen. Man konnte ihn fragen, was man wollte — er war ein lebendiges Konversationslexikon.

Die Matrosen machten Taue zum Zuwerfen bereit.

»Woher habt ihr die?«

»Aus der Segelkammer, die sich unter der Back befindet.«

Na, dann ging es ja. Diese Taue waren nämlich aus neuem Manilahanf, das allermodernste, ganz frisch geteert — also doch wenigstens etwas, was darauf schließen ließ, dass es sich hier um kein umherirrendes Geisterschiff handelte.

Die warme Sonne trieb mir überhaupt schnell alle Geistergedanken aus. Aber dort unter der Back saß noch immer der altertümliche, klabautermannähnliche Holländer, das war und blieb eine Tatsache.

»Was macht er?«

»He smökt — er raucht«, war die lakonische Antwort.

Zunächst musste ich meine Aufmerksamkeit dem herankommenden Boote zuwenden. In der nächsten Minute würde ich die Geliebte einen Kampf um Leben und Tod bestehen sehen, oder ich konnte sie auch als verunstalteten Krüppel wiedererblicken. Doch das ist nun einmal Seemannslos, sonst muss man eben das, was man liebt, zu Hause lassen, und so schadete es nichts, wenn Blodwen gleich in Friedenszeiten einmal alle Kriegsmanöver durchmachte.

Der Bootsmann steuerte, ein kleiner, untersetzter Finnländer mit wahren Bärenkräften, die er jetzt geschickt zu benutzen verstand. Er packte den Schiffsarzt, der zuerst seinen Klemmer einsteckte, hinten beim Kragen und Hosenbund und schleuderte ihn wie eine Puppe an Bord, wo ich ihn als Jongleur auffing, und ebenso wurde Blodwen heraufbefördert, nur dass bei dieser der Bootsmann mehr Schwierigkeiten mit dem Anpacken hatte.

Aber es ging, Blodwen flog mit Vehemenz an meine Brust. Die anderen blieben unten, setzten die Jolle ab.

Mit kurzen Worten erklärte ich den beiden, was ich schon gesehen, zeigte ihnen den Klabautermann, führte sie in die Kajüte und in die Batterie hinab.

Blodwen wurde offenbar von etwas Geisterfurcht angesteckt, Doktor Selo hingegen putzte bedächtig seinen Klemmer, setzte ihn auf die krumme Nase und schaute sich aufmerksam um.

»Hm. Haben Herr Kapitän vielleicht gehört, dass in nächster Zeit irgendwo in der Welt wieder so eine Ausstellung von alten historischen Schiffen ist, wie sie vor vier Jahren in London stattgefunden hat?«

Da plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Dieser famose Selo hatte wiederum einmal den Knoten des Rätsels mit einem einzigen Schlage gelöst.

Jawohl, so war es! Im Jahre 1855 hatte London eine eigenartige Ausstellung arrangiert — (in neuerer Zeit ist so etwas öfters wiederholt worden, zuletzt bei der New Yorker Weltausstellung) — alle Staaten der Erde hatten ihre historischen Schiffe hingeschickt. So besitzt ja z. B. Spanien noch eins der Fahrzeuge, auf denen Kolumbus seine erste Fahrt nach Amerika antrat. Dieses war damals allerdings nicht hingeschafft worden, man fürchtete für das morsche Ding. (Für die New Yorker Ausstellung ist die alte Galeone dann aber doch über den Ozean geschleppt worden.)

Eines der sehenswertesten Schiffe der Londoner Ausstellung war das sogenannte Verbrecherschiff, auf welchem nämlich vor 150 Jahren Deportierte von England nach Australien gebracht wurden. Auf der Londoner Ausstellung war ich nicht gewesen, wohl aber hatte ich dieses Schiff in Sydney gesehen und besichtigt, und das Ganze war um so gruseliger, weil das ganze Schiff mit Wachsfiguren ausstaffiert war, welche zeigten, wie die Sträflinge an Bord lebten, wie sie in den Verliesen angekettet lagen, wie sie gepeitscht und sonst gefoltert wurden.

Nein, dass bald wieder solch eine Ausstellung stattfand, davon war mir nichts bekannt. Aber das war ja auch gar nicht nötig. Ein Staat wie England, der für das britische Museum alles zusammenkauft und zusammenräubert, was in der Welt kostbar und selten ist, konnte dieses alte, holländische Schiff, welches bisher irgendwo anders gelegen, erworben haben, oder auch nur ein reicher Privatmann konnte in Betracht kommen — kurz, man hatte dieses historische Schiff überführen wollen, es konnte von einem Dampfer geschleppt worden sein, das Tau war in der Sturmnacht gerissen, oder dieses Schiff aus eisenhartem Holze war wohl recht gut noch imstande, selbständig zu segeln, der Sturm hatte nur die Takelage weggeschlagen, es manövrierunfähig gemacht — die Besatzung hatte das Schiff, welches noch gar nicht den Namen eines Wracks richtig verdiente, aus Feigheit oder aus einem sonstigen Grunde verlassen.

Und der Klabautermann? Nun, der gehörte eben mit zur Staffage, wie auf jenem Verbrecherschiff die Wachsfiguren. Er war nicht mitgekommen, man hatte ihn zurückgelassen, absichtlich oder versehentlich.

»Haben Sie schon die Kiste untersucht?«

Das war erst noch zu tun. Jetzt beschäftigte sich Doktor Selo mit dem Kerlchen, das schon wieder Feuer schlug.

Selo redete ihn in den verschiedensten Sprachen an. Gar kein Interesse. Leer blickten die Augen geradeaus. Nur ein einziges Wort zitterte seufzend über die schmalen Lippen.

»Minajorka.«

»Das könnte der Schiffsname sein — Mina Jorka.«

Der Arzt nahm den Kopf des Alten in beide Hände, um ihm in die Augen zu sehen, was jener ruhig duldete. Er war wie eine Gelenkpuppe.

»Minajorka!«

»Ja, der ist geistig nicht normal, das sieht man gleich in den Augen.«

»Ist er schon immer wahnsinnig gewesen, oder ist er es erst in dieser Sturmnacht durch die Katastrophe geworden?«

»Das kann ich nicht so ohne Weiteres beurteilen. Doch ist es wohl auch kein Wahnsinn, sondern einfach Altersschwäche, er ist wieder zum Kinde geworden.«

Willig ließ er sich von der Kiste wegziehen, war auch noch recht gut auf den Füßen, blieb aber zunächst dort stehen, wo wir ihn hinstellten, rauchte gedankenlos weiter.

Die Kiste war mit Wachstuch umkleidet und mit einem Strick, der durch die Handgriffe gezogen, an dem Gangspill befestigt. Sie war verschlossen. Beim Aufstehen des Alten hatten wir es klirren hören, wir untersuchten seine Taschen, fanden darin nichts weiter als ein großes Schnupftuch, in dem mächtiger Tabaksbeutel dagegen, der sonst mit feinem, holländischem Knaster gefüllt war, ein Bund mit vielen Schlüsseln.

Bald war der betreffende Schlüssel gefunden.

»Minajorka!«, seufzte der Klabautermann aus tiefstem Herzensgrunde, als ich die Kiste aufschloss, nach der jetzt auch er blickte, aber ohne besondere Teilnahme.

Nichts als Wäsche und Kleidungsstücke, alles ebensolche alte Kostüme, wie die Holländer sie vor zweihundert Jahren getragen haben, zum Teil äußerst kostbar, mit Goldstickereien, eine unförmliche Taschenuhr, welche die Begierde jedes Raritätensammlers erweckt haben würde, ein Messer, eine ganze Masse Pfeifen und ähnliche Sachen, die man schon vor Jahrhunderten in der Kleiderkiste eines jeden Seemannes gefunden haben mag.

»Es bleibt dabei: er gehört mit zu der ganzes Staffage dieses alten Schiffes«, sagte Doktor Selo.

»Und hier ein Brief, oder ein ganzes Schriftstück.«

Die gelben, zusammengehefteten Blätter waren mit Hieroglyphen bedeckt, für mich unverständlich, Selo betrachtete sie prüfend.

»Das kann ich nicht entziffern. Es hat einige Ähnlichkeit mit Arabisch, ist es aber nicht, auch nicht Türkisch oder Russisch oder Persisch.«

»Haben die Malaien ihre eigene Schrift?«

»Das wohl, aber Malaiisch ist es ebenfalls nicht, so viel verstehe ich davon.«

»Es ist mit Tinte geschrieben, die noch gar nicht so verloschen aussieht.«

»Auch das Papier kann nicht so alt sein, obwohl es gelb ist. Ich halte es für eine künstliche Geheimschrift.«

»He, Mijnheer, was hat das zu bedeuten?«, wandte ich mich an den Alten, ihm die Papiere hinhaltend.

»Minajorka«, erklang es seufzend, aber ohne dass dem Schriftstück weitere Beachtung geschenkt wurde.

»Ob diese Schlüssel auch unten den Schreibtisch und die anderen Schränke aufschließen?«, meinte Blodwen.

Das war sofort zu untersuchen. Und es war tatsächlich so! Es gab kein Schloss im ganzen Schiff, zu dem nicht der Schlüssel vorhanden gewesen wäre. Doch wir fanden absolut nichts, wenigstens nichts, was uns über dieses Schiff hätte Auskunft geben können, also vor allen Dingen keine Papiere, und zwar auch nicht das geringste Fetzchen mit einer Zeile.

In der Proviantkammer befanden sich massenhaft Schinken und Speckseiten, Fässer mit Pökelfleisch, Säcke mit Hülsenfrüchten und Hartbrot, dagegen fehlte alles, was...

Doch ich will das, was wir uns nicht zusammenreimen konnten, anders ausdrücken: Wenn dieses Schiff vor zweihundert Jahren als Wrack aufgefunden worden wäre, so hätte es nicht die geringste Verwunderung erregt.

Versteht der Leser, was ich hiermit sagen will?

Unter dem Proviant fehlte jede Konservenbüchse und alles andere, was die betreffende Industrie heute dem Schiffe liefert.

Wir fanden altertümliche Kleiderkisten mit altertümlichen Sachen, aber auch nicht ein einziges Messer moderner Fabrikation.

Wohl waren die vorhandenen Taue neu und frisch geteert, aber waren sie das vor zweihundert Jahren etwa nicht ebenfalls gewesen? Wären da Schinken und Salzfleisch nicht auch noch genießbar gewesen?

Gesetzt nun den Fall, dieses altertümliche Schiff war von einem Dampfer geschleppt worden. Matrosen hatten sich dennoch darauf befinden müssen, eine vollzählige Besatzung.

Das hatten aber doch keine zweihundertjährige Matrosen gewesen sein können! Man musste doch wenigstens irgend etwas von ihnen finden, was in unserem Jahrhundert angefertigt worden war.

Nein, absolut nichts!

Dann musste man geradezu annehmen, dass sie auch mit allem ausgestattet gewesen waren, wie man es vor zweihundert Jahren auf holländischen Schiffen gebraucht hatte.

Mein Gott, aber bis zum Rasiermesser brauchte man das doch nicht auszudehnen, sogar bis zur Seife! Denn diese Seife, die wir da fanden, erklärte Doktor Selo für ein chemisches Präparat, wie es heute gar nicht mehr hergestellt würde.

Und wie kam es nun, dass der Mann, welcher die Schlüssel zu allem besaß, wenn nicht der Kapitän, so der Besitzer, auf dem Schiffe zurückgeblieben war? Außerdem war es doch ein schwachsinniger Greis, war es schon vorher gewesen. Warum hatten die Matrosen ihn nicht mit Gewalt mitgehen heißen? Weshalb hatte er sich da so gemütlich auf seine Kleiderkiste hingesetzt? Und warum hatten die Matrosen das sonst noch ganz seetüchtige Schiff, dessen Masten nur weggebrochen waren, überhaupt verlassen? Denn das Steuerruder war noch in Ordnung, es waren auch Reservemasten vorhanden, die man zur Not hätte errichten können.

Kurz und gut, wir standen vor Rätseln, deren Menge wir gar nicht zusammenzählen konnten.

Wir gingen an eine weitere Untersuchung der Laderäume. Fracht war, wie zu erwarten gewesen, nicht vorhanden; als den nötigen Ballast hatte man Sand eingenommen, und zwar merkwürdigerweise roten.

»Sand?«, meinte Doktor Selo, eine Probe, die er mit an Deck genommen, prüfend zwischen den Fingern reibend und dicht vor's Auge bringend. »Das ist kein gewöhnlicher Sand, das ist... zerriebene Koralle.«

Ich musste es bestätigen. Hieraus durften wir den Schluss ziehen, dass dieses Schiff aus australischen Gewässern kam, wo die Korallenbildung am meisten zu Hause ist — konnten uns aber auch irren, Korallen kommen noch anderwärts vor — und sonst war durch diese Entdeckung nur noch ein neues Rätsel hinzugekommen.

Der Seemann, besonders wenn er sein Kapitänsexamen bestanden, weiß doch mit so etwas Bescheid, und seine Bücher geben hierüber ausführliche Auskunft. Wie ich mich später nochmals vergewisserte, gibt es in der ganzen Welt keinen einzigen Hafen, in dem man als Ballast zermürbte Korallen einnehmen könnte. Das liegt ja auch sehr klar auf der Hand. Dieser feine Korallensand kommt nur an tiefen Stellen des Meeres vor, das lohnt sich nicht, den heraufzuholen. Koralle wird auch zu Kalk gebrannt, aber nur in größeren Stücken und immer nur gleich an Ort und Stelle.

Na, wir wollten vorläufig alle Grübeleien aufgeben. Wenn wir auch zuerst auf eine wertvolle Fracht gehofft hatten, so konnten sich meine Burschen doch noch immer freuen. Dieses Schiff besaß allein einen Holzwert von wenigstens 10 000 Pfund Sterling, dazu kam die kostbare Einrichtung und schließlich vor allen Dingen der Wert als Rarität. Der Eigentümer würde sich schon melden, und dann würde das Seegericht entscheiden, zu welchem Preise er uns das verlassene Wrack abzukaufen hatte, welche Summe dann unter uns rangmäßig geteilt wurde. Denn verlassen war das Wrack worden, daran änderte auch das Zurücklassen eines einzigen Mannes nichts; der war doch nicht fähig, das Wrack nach einem Hafen zu dirigieren, ganz abgesehen davon, ob dieser Schwachsinnige überhaupt zu der Besatzung gehörte.

Wohin wir das Wrack schleppten, das wollte ich erst mit meinen Steuerleuten besprechen.

Unterdessen hatte ich schon nach der ›Sturmbraut‹ semaphoriert , wozu ja die Arme genügen, ein großer Kutter sollte noch mit dem zweiten Steuermann herüberkommen, ausgerüstet mit seinem Sextanten und einigem anderen, was er brauchen könnte, wenn er mit zwei Matrosen allein auf dem Wrack zurückblieb, welches wir ins Schlepptau nehmen wollten, falls wir es nämlich bei Nacht einmal verlieren würden. Dann freilich konnten der Steuermann und zwei Matrosen es auch nicht dirigieren, aber ich konnte doch nicht meine ganze Mannschaft hergeben, und eine Hilfstakelage herrichten konnten wir auch nicht so ohne weiteres. Reservelampen und Petroleum hingegen waren vorhanden, wie ich mich gleich überzeugt hatte.

Der Kutter kam, der Steuermann gelangte unversehrt herüber, ich erteilte ihm Instruktionen, und dann begaben wir anderen uns alle wieder ins Boot hinab, bis auf zwei auserwählte Matrosen, welche also mit dem Steuermann an Bord des Wracks bleiben sollten.

Auch der Klabautermann kam mit uns. Ich bediene mich absichtlich dieses Namens, weil meine Matrosen mit unserer natürlichen Erklärung des Wracks durchaus nicht zufrieden waren. Wenn es nicht der ›fliegende Holländer‹ war, so musste es mit dem alten holländischen Schiffe doch eine andere Bewandtnis haben, ganz geheuer war das Ding jedenfalls nicht, und der glückbringende Klabautermann musste das unbedingt sein, der sich nur einmal ganz besonders verkörpert hatte.

1 Semaphorieren = Kommunikation unter Verwendung der Arme oder zweier Flaggen

Die Ausschiffung ging glücklich vonstatten, der Klabautermann ließ sich willig durchs Wasser holen, dem war überhaupt alles ganz egal, auch seine Kleiderkiste nahmen wir mit, und die Jolle fuhr gleich ein dünnes Seil aus, an dem dann vom Wrack aus das starke Schlepptau eingeholt werden sollte.

Ohne weitere Zwischenereignisse gelangten wir an Bord unseres Schiffes zurück, die Verbindung durch das Schlepptau wurde hergestellt, wir konnten unsere Fahrt fortsetzen. Doch erst galt es, zu beraten, welchen Hafen wir wegen des Wracks aufsuchen wollten.

Zu dieser Beratung sollte es indessen gar nicht kommen.

— • —

10. Kapitel
Eine kleine Seeschlacht und was
für Entdeckungen wir machten

Originalseiten I.179 — 194

»Was hat der Schoner nur eigentlich vor? Der hält ja direkt auf uns zu!« Ich hatte bisher nur beobachtet, dass sich das amerikanische Schiff nicht entfernte. Matrosen arbeiteten in der Takelage, auch an Deck war ein reges Leben.

Erst nachträglich kam mir zum Bewusstsein, wie auffällig es war, dass der Schoner uns beobachtete, was wir mit dem Wrack anfingen, anstatt als Segelschiff, nachdem ihm nun einmal die gute Prise entgangen war, den günstigen Wind auszunutzen.

Jetzt kam er mit vollen Segeln auf uns zu.

»Passt auf, die führen Böses gegen uns im Schilde!«

»Die wollen uns entern!«

»Mensch, sprich nicht so wahnsinnig!«

»Da — da — sie stellen Kanonen auf!«

So klang es durcheinander.

»Bei Thor und Odin!«, setzte Blodwen noch hinzu. »Richard, ist es möglich, dass ein Handelsschiff ein anderes so ohne Weiteres angreift?«

Ich blieb die Antwort schuldig. Nur mir selbst gab ich sie, mit Gedankenschnelle. In diesem Augenblick erinnerte ich mich der Behauptung eines alten Kapitäns, dass es nicht nur noch chinesische, malaiische und arabische Piraten gebe, sondern dass auch noch heute manches scheinbar friedliche Handelsschiff die Seeräuberei professionsmäßig betriebe.

Wir jungen, aufgeklärten Leute hatten damals den Alten verlacht. Und doch, warum sollte es nicht so sein?

Ein Schiff sieht auf dem einsamen Meere ein Wrack treiben, dessen Matrosen signalisieren um Hilfe — höchste Not! — in die Boote gegangen sind sie noch nicht, jetzt erst tun sie es.

Die Schiffbrüchigen werden an Bord genommen, mit Freuden willkommen geheißen — und mit einem Male stürzen sie sich mit Messer und Revolver auf die Ahnungslosen, machen im Handumdrehen alles nieder, sie sind Besitzer des fremden Schiffes.

Bei ihrem eigenen haben sie nur die Masten umgelegt, es sonst etwas als Wrack ausstaffiert. Man braucht ja nur das Steuer loszulassen, um das Fahrzeug in beängstigende Schwankungen zu bringen.

Entweder begnügen sich diese modernen Seepiraten nur mit der immer bedeutenden Schiffskasse, nehmen auch sonst nur das Kostbarste mit, dann genügt schon ein Durchschlag, oder wenn die See über Deck spült, so braucht nur eine Luke aufgemacht zu werden, und das Schiff sinkt schnellstens.

Oder die Piraten zerschlagen die Takelage und anderes, beseitigen die Boote, und sie haben ein verlassenes Wrack gefunden, das ihre gute Prise ist — und niemand als der Himmel hat es gesehen — und ist kein Verräter unter ihnen, so können sie dieses Manöver wer weiß wie oft wiederholen.

Taucht dabei einmal ein Schiff am fernen Horizont auf, so dauert es doch noch immer sehr lange, ehe man durch das schärfste Fernrohr etwas Genaueres unterscheiden kann. Nur Schüsse müssen dabei möglichst vermieden werden.

Und wenn jener pockennarbige Kerl der Kapitän war, so hatte er sich dadurch, dass er auf mich geschossen, als solcher fernerhin unmöglich gemacht, das Kapitänspatent ward ihm sofort entzogen, er ward auch sonst wegen Mordversuchs schwer bestraft. Dazu kam die enttäuschte Beutegier, überhaupt ein furchtbarer Ingrimm gegen uns. Und alle dachten so wie der Kapitän. Vielleicht mochte die ganze Besatzung mit dem Kapitän durch irgendein schreckliches Geheimnis verbunden sein. Und die Gelegenheit war so günstig...

Wie gesagt: wozu ich hier viele Zeilen brauche, alles das schoss mir wie ein Blitz durch den Kopf.

»Alle Mann an Deck!!!«

Wenige Worte genügten, und aller Augen flammten in wilder Kampflust auf.

»Bei Thor und Odin!«, sagte Blodwen nochmals, und die Matrosen und die aus dem Innern hervorgekommenen Heizer fanden noch andere Ausdrücke. Wohl nicht ein einziger war darunter, der gewünscht hätte, einem Kampfe aus dem Wege zu gehen.

Noch einmal stoben sie davon, um sich in der Waffenkammer mit Revolvern und Entersäbeln zu versehen, welch letztere aber vorläufig noch versteckt gehalten werden mussten.

Eine Idee zuckte durch meinen Kopf. Der Schoner wusste wahrscheinlich gar nicht, dass wir mit einer Hilfsmaschine ausgestattet waren. Noch vor Tagesanbruch hatten wir die Feuer ausgehen lassen, der Schornstein war umgelegt worden, wobei er in eine Versenkung zu liegen kam, und die Schraube schlug nicht aus dem Wasser, so hoch ging die See nicht. Wegen des Wracks hatten wir zuletzt alle Segel festgemacht oder doch dicht gerefft.

Das Wasser in den Kesseln war noch nahe dem Siedegrad. Nur wenig Feuer hätte genügt, um die Maschine wieder aktiv zu machen. Aber ich hatte anderes vor. Ich ließ die große Deckspritze mit der Kesselpumpe in Verbindung setzen, vorn den Schlauch dicht mit Segeltuch umwickeln. Dann wurde noch ein dünnerer, aber harter Schlauch in Stücke zerschnitten, jeder Mann erhielt ein Stück mit der nötigen Instruktion.

Jetzt konnten wir uns über die Absicht der Amerikaner nicht mehr irren. Sie hatten die Segel anders gesetzt, dass sie mit einem Zuge von Deck aus schnell dichtgerefft werden konnten. Schnell kam der Schoner von der Seite heran. Es waren wenigstens dreißig Mann, eine sehr starke Besatzung, und wir sahen die wüsten Gesichter glühen, und sie machten gar kein Hehl mehr aus ihrer Absicht, sie zeigten ja ganz offen ihre Revolver und Entersäbel, sogar schon die Enterhaken, und außerdem hatten sie gerade auf der Backbordseite, die uns zugekehrt war, vier kurze Bordgeschütze aufgepflanzt.

Auch die ›Sturmbraut‹ war von vornherein, als ich sie übernommen, mit drei fünfzölligen Hinterladern ausgerüstet gewesen. Noch heute muss ja jedes Schiff, besonders jeder Segler, armiert sein, wegen der Seeräuber, deren Handwerk noch allüberall floriert. Noch heute kann jedes Segelschiff bei Windstille an der chinesischen Küste ziemlich sicher sein, von eingeborenen Piraten angegriffen zu werden, desgleichen in einsamen Gegenden des malaiischen Archipels, nicht minder an der nordafrikanischen wie arabischen Küste.

Aber diese Geschütze mussten erst an Deck montiert werden, und gesetzt den Fall, ich hätte dazu überhaupt noch Zeit gehabt, ich hätte es nicht getan.

Mit Absicht standen wir alle ganz harmlos da, scheinbar ohne jede Ordnung, Verwunderung heuchelnd.

Doch welches Glück, dass sie jedenfalls jeden Kanonendonner vermeiden wollten, wohl nicht einmal einen Revolver losdrücken würden! Denn sonst würden sie doch nicht zum Enterangriff vorgehen.

Hinwiederum schoss es mir durch den Kopf, dass die wohl nicht den ersten Enterangriff unternahmen, sie mussten schon Übung darin besitzen, sonst hätten sie wohl schwerlich eine Enterung gewagt, zumal bei diesem Seegang, wobei sie doch ihr eigenes Schiff aufs Spiel setzten.

Liegen allerdings die Schiffe erst Seite an Seite, haben die Enterhaken einmal eingeschlagen, dann ist für das Schiff selbst auch jede Gefahr vorbei.

»Begib dich in die Kajüte, Blodwen«, flüsterte ich.

»Ich bleibe.«

»Wenigstens in das Ruderhaus, es könnte doch zum Handgemenge kommen — ich bitte dich inständigst, Blodwen.«

»Bei Thor und Odin, was verlangst du von mir, Richard!«

Ich blickte sie an, und ich sah ihre flammenden Augen, und ich wusste, dass hier alles Bitten vergeblich war. Umsonst würde sie wohl auch nicht die Hand in der Tasche haben.

Ich griff zum Sprachrohr, den Spritzenschlauch unter der Bordwand verbergend.

»Was tut ihr? Ihr rammt uns ja!!«, donnerte ich hinüber.

Es erfolgte gar keine Antwort, und es wäre schon zu spät gewesen, auch für uns, noch irgendwelches Manöver des Ausweichens zu machen.

Im Nu rollten dort drüben plötzlich alle Segel zusammen, und da kam dennoch eine Antwort — der schmetternde Krach, mit dem sich beide Schiffe berührten, und dann ein wildes Jubelgeheul aus dreißig Kehlen, als die Enterhaken in die Bordwand unseres Schiffes einschlugen.

Meine Schilderung der folgenden Szene ist äußerst einfach. Wie soll ich auch anders schildern? Das Furchtbare, was sich innerhalb dreier kurzer Minuten abspielte, lässt sich schriftlich ja gar nicht wiedergeben.

Ich öffnete einfach das Ventil des Mundstückes und spritzte los, das letztere dabei so etwas schwenkend, nur dass scheinbar kein Wasser kam, sondern bloß Dampf. Aber in Wirklichkeit war es dennoch kochendes Wasser, was in mächtigem Strome über das Deck des Schoners spritzte.

Was sich dort drüben in dem Nebeldampfe abspielte, sah ich ja selbst nicht.

Das frohlockende Wutgebrüll verwandelte sich in ein fürchterliches Schmerzgeheul, dann hing ich den heißen Schlauch über die Bordwand, dass sich das kochende Wasser ins Meer ergoss, so viel Raum war noch zwischen den beiden Bordwänden, zog meinen kurzen Gummischlauch aus dem Hosenbein und war mit meinen Jungen drüben, und wir schlugen auf alles Lebendige los, was wir unter die Hände bekamen, und als sich der Nebel etwas verteilt hatte, konnten wir noch viel besser die Köpfe treffen, dass ihre Besitzer wie die schlaffen Säcke umsanken.

Ich glaube, wohl keine Schlacht ist mit solcher Gemütlichkeit und dennoch mit solcher Gründlichkeit geschlagen worden wie diese.

Die ganze Geschichte dauerte höchstens eine halbe Minute. Dann war alles niedergeschlagen, was sich an Deck befand. In aller Gemütlichkeit konnten sie jetzt gebunden werden. Von keiner Seite auch nur ein einziger Schuss oder Messerstich, nur etwas verbeulte Köpfe — und dann hin und wieder freilich auch rohes Fleisch, nämlich eine Brandwunde. Aber so schlimm, wie ich mir die Sache erst vorgestellt hatte, war es gar nicht. Nur ein paar Spritzerchen des kochendheißen Wassers ins Gesicht, oder auch nur an den Hals, auf die Hände, auf die nackten Füße — Donner und Doria, auf so etwas waren die nicht geeicht gewesen, schnell die Jacke oder das Hemd über die Ohren gezogen und, hast du nicht gesehen; davongestürzt oder sich auch gleich an Deck geworfen! Schon allein der hervorquellende Dampf hatte diese Männchen ja gleich ganz kopfscheu gemacht.

»Käpt'n, mit der Dampfspritze da habt Ihr ein Meisterstückchen gemacht, das muss man sich merken«, meinte dann der erste Steuermann.

Es konnten wohl nicht alle sein, die an Deck lagen. Wir zogen sie aus Schlupfwinkeln hervor, fanden welche im Kajüteneingang — aber weiter wären sie nicht gekommen, unter Deck fand sich kein einziger, und auch in diesem Schlupfwinkel hatten sie noch Jacke und Hemd über die Ohren gezogen, wimmerten ob einiger Spritzerchen, die Blasen gezogen hatten, dachten also an gar keinen Widerstand, dass wir auch nicht mehr den betäubenden Gummischlauch anzuwenden brauchten.

Wir waren eben über diese unartigen Menschlein wie die mit Schwefel um sich spritzenden Teufel aus der Hölle gekommen, so stierten sie uns auch fassungslos an.

Dreiunddreißig Mann zählte ich an Deck, und da lag ja auch mein Freund mit den Pockennarben, den ich schon vorhin durch seine Kommandos ganz sicher als den Kapitän erkannt hatte. Auch er hatte nur wenige Blasen zwischen seinen Pockennarben im Gesicht.

Ihm schien die Besinnung, was hier eigentlich geschehen war, zuerst zu kommen.

»Höllenhund!«, zischte er mich an, als ich noch einmal seine Fesseln untersuchte.

»Ja, wir kommen aus der Hölle, und jetzt geht ihr alle zusammen hinein. Nun sagt einmal, was ihr eigentlich mit uns...«

»Käpt'n«, rief da einer meiner Matrosen aus dem Kajüteingange, »hier sind noch mehr, und die müssen tüchtig verbrüht sein, die wimmern schrecklich.«

Ich hin und hinab, gefolgt von einigen Matrosen. Jawohl, dort unten wimmerte es schrecklich, und das mussten eine ganze Menge sein.

Ich sprach eine in mir aufsteigende Ahnung nicht erst aus, hielt mich auch nicht mit dem Suchen nach einem Schlüssel auf, sondern sprengte die schwere Tür, hinter der das vielstimmige Wimmern erscholl, mit einem Stemmeisen.

Ein grässlicher Gestank schlug mir entgegen, das Licht der Laterne drohte aus Mangel an Sauerstoff zu verlöschen.

Meine Ahnung war eine richtige gewesen — der Schoner hatte Ebenholz geladen — lebendiges — afrikanische Sklaven!

Es waren gegen dreihundert Männer und hundert junge Weiber, die man hier in Ketten zusammengepfercht hatte. Ernährt waren sie gut, aber wegen der allgemeinen Sicherheit waren sie auf fürchterliche Weise zusammengefesselt, sogar zusammengeschmiedet; noch ganz frische Wunden, aus denen Blut floss, von den letzten Peitschenhieben herrührend, zeigten, wie man jede Unzufriedenheit, die etwa zu einer Rebellion, d. h., zu einem allgemeinen Befreiungsversuch hätte führen können, gleich im Keime erstickt hatte.

Schwer ward es mir, die Männer und Weiber zu überzeugen, dass ich nicht als ihr neuer Peiniger käme, also schwer, aus ihnen etwas herauszubringen.

Ein älterer Neger gab mir endlich Auskunft, und dann zeterten die anderen noch immer. Blodwen war an meiner Seite, als der Neger mit lauter Stimme erzählte.

Es waren Manus von der Pfefferküste, alle ein und demselben Dorfe angehörend, welches vor etwa sechs Wochen von einem benachbarten Stamme überfallen worden war. Greise und Kinder wurden niedergemacht, alles Gesunde und Kräftige davongetrieben — dann ein arabischer Händler — eine Sklavenkarawane — furchtbare Strapazen während vieler Wochen — westlich war es gegangen — und dann war es jedenfalls die Zahn- oder Elfenbeinküste gewesen, an welcher kleine Fahrzeuge, mit Negern und Europäern besetzt, die Sklaven abgeholt hatten. Sie wurden auf dieses große Schiff gebracht und hier verpackt.

Viel mehr konnte ich aus dem gebrochenen Englisch des Alten nicht erfahren. Er wusste nicht einmal, wie viele Tage oder Wochen sie schon hier auf diesem Schiffe zugebracht hatten. Mich interessierte jetzt am meisten, wie sie hier behandelt worden waren — eben jämmerlich, Prügel bei jeder Gelegenheit, und ganz besonders roh waren die Weiber von den amerikanischen Matrosen behandelt worden. Ausschreitungen jeder Art. Diesen Sklavenhändlern hier schien es nicht darauf anzukommen, demnächst tadellose Ware abliefern zu können, vielleicht auch hatte ihnen irgend etwas einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Ich muss hier etwas über die Sklaverei und über den Sklavenhandel einfügen. Sklavenhandel war schon damals verboten, die Sklaverei aber noch erlaubt, welcher Unterschied wohl leicht zu begreifen ist. Das heißt, es durften aus Afrika keine Sklaven mehr ausgeführt werden, wohl aber blieben die in Amerika — ich will hier nur von diesem Erdteil sprechen — nun einmal noch vorhandenen Sklaven bestehen, auch deren Kinder waren Sklaven, konnten weiterverkauft werden.

Den ersten Anstoß zur allgemeinen Aufhebung der Sklaverei gaben in Nordamerika die Quäker, welche im Jahre 1751 ihre eigenen schwarzen Sklaven sämtlich freiließen, was dieser manchmal so verspotteten Religionssekte gar nicht hoch genug angerechnet werden kann.

Leider fanden die Quäker wenige Nachahmer. Hundert Jahre und länger noch ist vergeblich gegen die Sklaverei gepredigt worden, und gerade von der Kanzel am meisten dafür, weil die Neger nach Ansicht der damaligen Geistlichkeit gar keine Seele haben, also überhaupt keine Menschen sein sollten.

Zuerst raffte sich England auf und machte Ernst. Im Jahre 1824 erklärte England den Sklavenhandel zu Land für Straßenraub, jeder Sklavenhändler zur See wurde als Pirat betrachtet und sofort gehenkt.

Diesem energischen Beispiel Englands mussten gezwungenermaßen nach und nach alle anderen Staaten folgen. Am schmählichsten benahm sich Spanien, das sich als letzter Staat das Recht zum Sklavenhandel von England für eine Entschädigung von 300 000 Pfund Sterling förmlich abkaufen ließ. England selbst bezahlte seinen Kolonisten für Freigabe der Sklaven 20 Millionen Pfund oder 400 Millionen Mark.

Im Jahre 1842 endlich, am 9. August, schloss England mit Frankreich über die Köpfe der anderen Nationen hinweg einen Vertrag, wonach jede Macht zur Verhinderung weiterer Sklavenausfuhr an den Küsten Afrikas 26 Kreuzer zu stellen habe, wozu Nordamerika freiwillig noch 6 Kreuzer gab.

Aber, wie schon vorher erwähnt wurde, mit der Aufhebung der Sklaverei selbst hatte diese Verhinderung des Sklavenhandels nichts zu tun.

Nur die nördlichen Staaten Amerikas hatten ihre Neger unter großen Verlusten freigegeben, in den südlicheren Staaten, den meisten, und ganz besonders auf den westindischen Inseln wurde die Sklaverei nach wie vor betrieben. (Und das führte ja eben bald zu dem furchtbaren Bürgerkriege.)

So lobenswert das nun auch alles war — was hatten die 58 Kriegsschiffe zu bedeuten, welche die unermesslichen Küsten von ganz Afrika bewachen sollten! Einen Tropfen im Ozean.

Im letzten Jahre also, ich meine das Jahr 1858, waren schätzungsweise von Afrika nach den Südstaaten Amerikas und den Inseln mindestens 200 000 Sklaven eingeführt worden! Und das war nur eine oberflächliche Schätzung! Die wirkliche Zahl mochte das Doppelte betragen. Nein, diese südlichen Staaten brauchten damals eben noch unbedingt Sklaven, und solange nicht Amerika selbst seine Küsten vor der Zufuhr schützte, war nicht einmal an eine Einschränkung des Sklavenhandels zu denken. Sklaverei erlaubt, Sklavenhandel verboten — das war ja überhaupt eine Unlogik sondergleichen.

Dem Sklavenhandel im Innern Afrikas war überhaupt nichts anzuhaben, auch nicht an der Küste, die Einschiffung der schwarzen Ware geschah direkt unter den Augen der Kriegsschiffe, und dann schlugen die kleinen, schlankgebauten Fahrzeuge, Seelenverkäufer genannt, ausschließlich Nordamerikaner, den schweren Kriegsschiffen regelmäßig ein Schnippchen, rutschten ihnen noch dicht unter der Hand durch.

Wenn freilich einmal solch ein Seelenverkäufer gekapert wurde, dann ging es der ganzen Mannschaft an den Kragen. Alles wurde im nächsten Hafen unter dem Schutze der englischen und französischen Flagge an den Galgen geknüpft. Aber da konnte solch ein Seelenverkäufer eher einmal Schiffbruch leiden, ehe er von einem Kriegsschiff aufgebracht wurde.

Hier nun freilich handelte es sich einmal um einen Schoner von 2000 Tonnen, ein mächtiger Segler, niemand hatte in ihm lebendiges Ebenholz vermutet, und jedes Schiff kann doch auch nicht angehalten werden. Außerdem war der Schoner der Hauptsache noch mit Kopra, das ist noch unausgepresste Kokosnuss, befrachtet, mit dieser waren die Sklaven gefüttert worden, daher sahen sie alle auch so fett aus.

Aber zum ersten Male hatte die ›Helios‹ so ein Geschäftchen mit Menschenware nebenbei nicht gemacht, das bewiesen alle getroffenen Vorkehrungen, und wie sicher das große Schiff war, das wurde dadurch bewiesen, dass die vierhundert Menschen, für ein so großes Schiff gar nicht so viel, gar nicht erst in einem Versteck untergebracht worden waren.

Der Kapitän, eben der pockennarbige Revolverheld, war dann geständig. Die lebendige Fracht war für Jamaika bestimmt. Wegen widriger Winde und zum Aufsuchen günstiger Meeresströmungen hatte man einen etwas nördlicheren Kurs eingeschlagen gehabt. Der Neid um das entgangene Wrack hatte sie gelegentlich zu Piraten gemacht — wenn das nicht schon früher der Fall gewesen war — und nur dadurch, dank meiner Feuerspritze, waren sie als Sklavenhändler uns in die Hände gelaufen.

Ich kann nur sagen, dass mich der Anblick der zusammengeschmiedeten Neger und Negerinnen und alles, was sie uns erzählten, gar nicht so sehr erschütterte. Ich war eben ein Sohn meiner Zeit, dazu Seemann, hatte schon manches Sklavenlos zu sehen bekommen, ohne es ändern zu können. Einmal einem Sklaven zur Flucht verholfen, ja, — — aber sonst war ich bisher ohnmächtig gewesen, und schließlich gewöhnt man sich an alles. Dagegen die Erkenntnis, Piraten vor mir zu haben, empörte mich aufs Furchtbarste.

Blodwen freilich war schon beim Anblick der Sklaven außer sich, noch mehr beim Anhören ihrer Erzählungen von ihren Folterqualen, von der Behandlung der Weiber; erst wurde sie ganz blass, ich fürchtete eine Ohnmacht, dann brach sie in ein hysterisches Weinen aus. Ich brachte sie an Bord unseres Schiffes hinüber.

Als ich wieder an Deck kam, wurde ich auf eine auftauchende Takelage aufmerksam gemacht, der sich bald eine Rauchwolke beigesellte, bis wir ein Kriegsschiff erkannten.

Wir machten uns bemerkbar, bis wir signalisieren konnten, worauf es die englische Flagge zeigte und herandampfte.

»Nun, Kapitän, jetzt hat bald Euer letztes Stündlein geschlagen«, wandte ich mich an den Pockennarbigen.

»Zur Hölle mit Euch!«, knirschte er, und dabei blieb es.

Ich fragte nicht einmal nach seinem Namen, noch weniger forschte ich unten nach Papieren. Nichts war mir lieber, als dass ich gar nichts mehr damit zu tun hatte. Es ist ja recht schön, Sklaven zu befreien und Piraten festzunehmen, aber der Unannehmlichkeiten, die man davon hat, sind ebenfalls genug. Ohne die Dazwischenkunft dieses Kriegsschiffes hätte ich jetzt den großen Schoner mit meinen Leuten bemannen, dabei auch noch das Wrack ins Schlepptau nehmen, die Schwarzen besorgen müssen, die gar nicht so ohne Weiteres freigelassen werden durften, und was sonst noch alles zu bedenken war. Allen Verpflichtungen würde ich mich allerdings nicht entziehen können.

Nach einer halben Stunde befand sich der Kapitän des ›Wareagle‹ mit zwei seiner Offiziere bei mir an Bord.

»Die ›Helios‹ von New Orleans — Kapitän Skimmer — als Sklavenhändler entlarvt!«, erklang es in namenlosem Staunen, noch ehe ich langen Bericht hatte abstatten können.

Es stellte sich heraus, dass diese Offiziere vor gar nicht so langer Zeit in einem afrikanischen Hafen mit diesem amerikanischen Kapitän zusammen gezecht hatten. Als ich aber nun gar von dem verräterischen Angriff auf mein Schiff erzählte, da war es mit jeder ehemaligen Kollegialität vorbei. Die Herren wollten es erst gar nicht glauben, doch einige Matrosen von dem Schoner gaben es zu, und da wurde auch der Kapitän geständig. Nur bei der Behauptung blieb er, dass es zum ersten Male seine Absicht gewesen sei, einmal nebenbei etwas Seeräuberei zu treiben, was ihm später auch nicht widerlegt werden konnte.

Der englische Kapitän eignete sich die Schiffspapiere an und nahm ein Protokoll über den ganzen Vorfall auf.

Hierauf erzählte ich, was für eine Bewandtnis es mit dem Wrack habe, die Herren begaben sich hinüber, untersuchten alles, besichtigten den Klabautermann, der nach wie vor sein »Minajorka!«, seufzte, und auch ihr Staunen wollte kein Ende nehmen, zumal, da auch sie für alles dies keine Erklärung finden konnten, oder nur die, welche ich schon gegeben habe, ursprünglich von Doktor Selo stammend.

Dann handelte es sich darum, was nun weiter zu beginnen war. Der ›Wareagle‹ kam von Kapstadt und hatte Order nach Gibraltar, welche er unbedingt befolgen musste.

Der Kapitän schien Lust zu haben, das holländische Wrack ins Schlepptau zu nehmen und mir das ganze Sklavenschiff zu überlassen, das heißt, dass ich den Schoner auch noch mit meinen Leuten bemannen ließ.

Hierfür war ich aber nun freilich nicht zu haben. Ich war wohl gewillt, die armen Negerlein in ihre Heimat zurückzubefördern, weil sie sonst erst die Reise nach Gibraltar hätten mitmachen müssen, aber das Wrack ließ ich mir nun keinesfalls aus den Zähnen rücken, und meine Jungen schienen bereit, ihren Klabautermann mit ihrem eigenen Leben verteidigen zu wollen. So einigten wir uns denn auch zuletzt. Die Besatzung des Schoners kam gefangen auf das Kriegsschiff hinüber, dieser wurde von Kriegsmatrosen bemannt, obgleich er dann immer noch von dem Dampfer ins Schlepptau genommen wurde, während die Schwarzen auf das sonst noch ganz seetüchtige Wrack hinüberkamen, welches ich dann ins Schlepptau nahm.

Um die Befreiten nach ihrer Heimat zurückzubringen, konnte nur Monrovia in Betracht kommen, die Hauptstadt und der Hafen der freien Negerrepublik Liberia. Wir klappten zwei Fliegen mit einem Schlage. Einmal liegt ja auch Liberia an der Pfefferküste, wohin diese Neger sowieso gehörten, wenn da auch Hunderte von Meilen in Betracht kamen, und dann ist Monrovia überhaupt der Zentralpunkt einer von New York aus dirigierten wohltätigen Gesellschaft, welche von hier aus befreite Sklaven auf Küstenschiffen und mittels Karawanen direkt in ihre Heimat zurückexpediert, wenn diese es nicht vorziehen, sich gleich in der Negerrepublik anzusiedeln.

Eine kolossale Arbeit war es, die schwarzen Männlein und Weiblein auf das Wrack hinüberzubringen, obgleich dieses dicht herangeholt wurde. Die Schwierigkeit lag hauptsächlich darin, ihnen nur begreiflich zu machen, dass sie jetzt freie Menschen waren, als Passagiere reisen sollten.

Endlich begriffen sie es, alles andere war leicht, Decken waren genug vorhanden, desgleichen drüben Proviant, weiteren Komfort brauchten die ja nicht. Sie wurden in der Batterie untergebracht, wo sie sich nach Herzenslust amüsieren konnten, nur einigermaßen unter Aufsicht des zweiten Steuermannes stehend, während die zwei Matrosen für das Steuerruder genügten.

Am Abend dieses tatenreichen Tages konnte die Fahrt endlich fortgesetzt werden. Der ›Wareagle‹ ging nordwärts, im Schlepptau die ›Helios‹ mit der dem Tode geweihten Mannschaft, wir südwärts mit dem Wrack, auf dem sich schon ein fröhliches schwarzes Völkchen zu tummeln begann. Das ganze Wrack war ein einziges jauchzendes Gebrüll — und ich hatte mein sauberes Schiff vor etwas bewahrt, wozu ich es nicht gern hergegeben hätte, wovon der Geruch nicht so bald hätte wieder weggespült werden können.

Die englischen Offiziere hatten ihr größtes Staunen darüber geäußert, hier an Bord die ihnen so wohlbekannte Lady Leytenstone vorzufinden, sie aber hatte die englischen Herren gar nicht sehen wollen, und was diese sonst über das ganze Verhältnis dachten, blieb ihre Sache.

An verständnisvollen Blicken, die betreffs meiner Person gewechselt wurden, hatte es freilich nicht gefehlt.

So schloss der Tag, an welchem wir, abgesehen von der Auffischung des kleinen deutschen Zigeuners, unser erstes richtiges Abenteuer erlebt hatten.

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11. Kapitel
Leben an Bord

Originalseiten I.194 — 204

Bis nach Monrovia waren es 1400 Seemeilen, die wir bequem in sechs Tagen machen konnten. Ich fasse alles, was sich während dieser sechs Tage zutrug, summarisch zusammen.

Mir war das Sklavenschiff, das wir immer hinter uns herschleppen mussten, durchaus kein angenehmer Anblick, auch gegen die Windrichtung rochen wir seinen Duft, den es bald aushauchte, und gerade dadurch sollte es mir einen großen Dienst erweisen.

Nachdem sich Blodwens erste furchtbare Aufregung gelegt hatte, musste ich ihr viel über die heute noch herrschende Sklaverei erzählen.

Sie, die selbst alle Menschen wie Sklaven zu behandeln gewohnt war, wollte so etwas kaum glauben. Dann erkannte ich mit einigem Schrecken, dass sie offenbar die Absicht hatte, sich ganz der Jagd auf Sklavenhändler zu widmen.

Glücklicherweise brauchte ich ihr das nicht erst wieder auszureden. Die Erfahrungen, die sie mit dem geschleppten Holländer machte, gleich am ersten Tage, was sie beobachtete, hörte und roch, das genügte, um ihren Entschluss schnell wieder aufzugeben.

Es wäre auch Torheit gewesen. Was man mitnehmen muss, wird mitgenommen. Ein feiges Ausreißen gibt es nicht, auch nicht vor dem Schicksal. Aber sonst soll man das Abfangen von Sklavenschiffen denen überlassen, deren Beruf und Pflicht das ist. Da ist von einer allgemeinen Menschenpflicht gar keine Rede. Sonst müsste auch jeder aufrichtig gottgläubige Mann Heimat, Weib, Kind und Beruf verlassen, um als Missionar den Heiden das Evangelium zu predigen.

Der Klabautermann hatte sich unter der Back auf seiner Kleiderkiste schon wieder häuslich niedergelassen. Er war geistesschwach. Die Mannschaft ließ es sich nicht nehmen, in ihrem Schlafraum (welchem ich aber fernerhin den seemännischen Ausdruck Foxl geben werde) räumten sie ihm die beste Koje ein, da schlief er des Nachts, wie ein Affe in Decken gehüllt, um des Morgens gleich wieder unter die Back zu humpeln, und da saß er den ganzen Tag auf der Kleiderkiste, stierte vor sich hin, nur mit seiner Pfeife beschäftigt. Für die Matrosen war er nun natürlich erst recht der heilige Klabautermann, sie brachten ihm die besten Bissen, versorgten ihn mit Tabak, wuschen ihn und beschäftigten sich sonst mit ihm und wehe dem, der den Klabautermann auch nur mit einem scheelen Blicke angesehen hätte! Wurde er angesprochen, so seufzte er noch immer sein ›Minajorka‹.

Ich kann nur sagen, dass ich mit diesem Verhalten meiner Mannschaft ganz zufrieden war. Der Mensch muss etwas Handgreifliches haben, woran er glauben kann. Wenn nicht die Bibel oder ein Kruzifix, dann einen Klabautermann.

Doktor Selo beschäftigte sich fortwährend mit der Enträtselung der Hieroglyphen, ohne zu einem Resultat zu kommen.

Blodwen amüsierte sich noch einige Tage mit ihrem dressierten Hundeköter und mit dem Pudel, bis Algots wiederum ihrem Interesse eine andere Richtung geben sollte.

Käpt'n Karlemann, wie meine Leute ihn schon längst umgetauft hatten, welchen Namen er auch ruhig akzeptierte, hatte unterdessen das ganze Schiff vom Masttop bis zum Kielraum gründlich gemustert, hatte die Matrosen bei den verschiedensten Arbeiten beobachtet, und immer wieder bekam ich zu hören:

»Das wird bei mir ganz anders, da sollen Sie später einmal mein Schiff sehen!«

Einmal standen wir im Zwischendeck, in dem sich wegen des schlechten Wetters auch die Freiwache befand. Die meisten beschäftigten sich mit ihren Kleiderkisten, nähten und stopften, andere schnitzten, so beschäftigte sich jeder auf seine Weise.

Ich hatte die verschiedensten Spiele mitgenommen, Ball- und Kegelspiele und dergleichen, aber das hat auf einem schlingernden Schiffe doch seine Schwierigkeiten, und ständig fechten und nach der Scheibe schießen konnten die Leute doch auch nicht. Während heute der Fechtsport auf allen Schiffen eifrig betrieben wird, besonders in der Marine, war das damals überhaupt etwas ganz Unbekanntes.

»Haben Sie denn kein Reck?«, fragte mich Karlemann.

Nein. Daran hatte ich nicht gedacht. Ich selbst war kein besonderer Turner. Dazu war ich viel zu lang.

Karlemann ließ neben dem durch das Zwischendeck gehenden Mittelmast vom Zimmermann noch eine Stütze anbringen, stöberte eine Eisenstange auf, begab sich in den Reparaturraum, machte die Stange im Kesselfeuer glühend und handhabte den Hammer wie ein ausgelernter Schmied. Er war ja auch der Sohn eines solchen.

Nach wenigen Stunden schon war das Reck mit verstellbarer Stange fertig, Karlemann zog seine Jacke aus, ein Sprung, er hing daran und... wir sperrten Maul und Nase auf.

Der Junge war der reine Akrobat. So etwas hätte man dem kurzen, dicken Stöpsel nimmer zugetraut! Er wirbelte nur so um die Stange herum, machte haarsträubende Dinge, bis er zuletzt mit einem eleganten Salto mortale abging.

Als ich ihn später anfühlte und ihn auch einmal nackt sah, da freilich merkte ich, wie man sich täuschte, wenn man den dicken Jungen, der sogar schon ein Bäuchlein hatte, für einen Plumpsack hielt. Das Kerlchen strotzte von steinharten Muskeln, die an den Oberarmen wie Kanonenkugeln hervortraten. In jener Zirkusbude hatte er die Anregung dazu bekommen, wie zur Dressur seines Pudels, wiederum hatte es geheißen: ›was der kann, kann ich auch‹ — und er hatte sich ein Reck gebaut und sich geübt, und auch bei so etwas gibt es eine Art von göttlichem Genie — denn ein anderer lernt's nie und dann noch mangelhaft.

Unter meine Leute war es wie ein elektrischer Schlag gefahren. Sogar der alte Bootsmann musste sich an die Stange hängen und mit seinen krummen Beinen in der Luft herumquirlen. Er wollte als erstes den Bauchaufschwung machen, brachte es aber trotz seiner sonstigen Bärenkräfte nicht fertig, kein Gedanke daran.

»Lift me, lift me, boys, hö, jubb!!«

Es war einfach zum Totlachen, und nicht nur etwa beim Bootsmann. Jeder kam daran, einer benahm sich immer possierlicher als der andere, des Lachens war kein Ende, und als Backbord auf Wache musste, fing die Komödie, die aber tiefernst genommen wurde, mit den anderen an.

Nur einer war darunter, Hans, der einzige, den ich als Leichtmatrosen angenommen hatte, ein siebzehnjähriger Bursche, auch so ein Durchbrenner, aus besserer Familie, ein schlanker, bildhübscher, schneidiger Bengel mit patenten Manieren, weshalb er von seinen Kameraden den Spottnamen ›der Page‹ bekommen hatte, womit er auch ganz richtig bezeichnet war, er hatte so etwas KnabenhaftRitterliches an sich, und das Wort ›Page‹ mochte ja nur für solche Matrosen etwas Spöttisches an sich haben.

Also nur dieser verstand schon etwas von der edlen Turnkunst, und was er nicht konnte, eignete er sich schnell an.

Denn mit der körperlichen Gewandtheit aller Matrosen ist es im allgemeinen nicht weit her. Da machen sich die Landbewohner wohl oft ein ganz falsches Bild. So unglaublich es klingen mag, gibt es doch genug Matrosen, welche nicht einmal an einem Tau hinaufklettern können. Und dass die meisten Matrosen des Schwimmens unkundig sind, dürfte wohl allgemein bekannt sein. Was die Bewunderung der Landratten erregt, das ist nur, wie die Matrosen, nachdem sie die Wanten erstiegen haben, gar nicht so schnell, nicht etwa wie die Eichkatzen, wie man es wohl in Jugendschriften lesen mag, in der Takelage arbeiten, wie sie auf den furchtbar schwingenden Rahen stehen, die Füße auf die daruntergezogenen Taue, Fußpferde genannt, stemmend, und nun mit beiden Händen zugreifend, das wild um sich schlagende Segel bändigen, und da gibt es kein Festhalten, höchstens mit den Zähnen darf man sich festbeißen, und wenn alles bricht und reißt, der Matrose muss himmelhoch in der Luft stehen und arbeiten wie ein Mann, das Segel muss festgemacht werden, und er packt die Rahe und wirft sich mit dem Leibe weit hinaus, um das Segel mit den Füßen heranzuziehen, jeden Augenblick ein Kind des Todes — und das allerdings ist immer etwas, was ihm der beste Turner nicht nachmacht, das muss eben in vielen Jahren vom Schiffsjungen an gelernt werden.

Aber sonst, wie gesagt, haben Matrosen von akrobatischen Kunststückchen gar keine Ahnung.

Und nun mit einem Male war es wie ein Schlag durch meine Leute gegangen. Ein ganz neues Leben entwickelte sich im Zwischendeck und auch oben. Vergessen war alle Kleiderflickerei — was sie ja auch gar nicht nötig hatten, nur eine alte Angewohnheit — Matrosen wie Heizer kürzten sich den Schlaf ab, um sich an der Reckstange zu schwingen, oder erst daran zu zappeln; dann wurde ein Barren konstruiert, dann wurde gesprungen, Hans hatte schon ein Pferd gesehen, und für eine Landratte mochte es erstaunlich sein, mit welch fabelhafter Geschwindigkeit diese Matrosen nur nach Beschreibung aus Segeltuch, Seegras und anderen Materialien solch ein Pferd und einen Bock gefertigt hatten, die jedem professionellen Handwerker zur Ehre gereicht hätten, und nun ging es erst recht los, und ich hatte schon das Gefühl, dass dies kein Strohfeuer war, dass ich nicht erst Prämien auszusetzen brauchte, hier herrschte allein die eigene Lust, vielleicht kam noch der Ehrgeiz dazu, einer wollte es dem anderen zuvortun, und was dies alles zu bedeuten hatte, merkte ich auch sofort bei der Arbeit an Deck. Es war plötzlich ein ganz anderes Leben in die Mannschaft gekommen. Ja, sogar beim einfachen Gehen war das schon zu merken.

»Bei Thor und Odin!«, hatte Blodwen wieder einmal mit ganz großen Augen gerufen, als sie den kleinen Herkules am Reck hatte wirbeln sehen. Dann hatte sie die kläglichen Versuche der anderen beobachtet; aber ohne dabei lachen zu müssen. Sie war tiefernst geblieben, und immer mehr fingen ihre herrlichen blauen Augen zu strahlen an.

Und dann hatte es nicht lange gedauert, und alle mussten hinaus aus dem Zwischendeck, und kaum war die Schiebetür geschlossen, so hing schon Blodwen an der Reckstange und... zappelte mit den Beinen, nicht viel eleganter mit ihren schlanken als der alte Bootsmann mit seinen krummen.

Dass sie durchaus nichts fertig brachte, nicht einmal einen Klimmzug, vom Bauchaufschwung und dergleichen Künsten gar nicht zu sprechen, daran mussten nach ihrer Ansicht unbedingt ihre Röcke schuld sein.

Sie wollte Hosen haben. Meine waren ihr reichlich einen halben Meter zu lang, und dass sie keine von Matrosen anziehen wollte, konnte ich ihr nicht verdenken, obgleich Hans ihr versicherte, er hätte seine besten erst viermal angehabt.

Also Matrosen herbei, so ungefähres Maß genommen, aus Segeltuch Hosen gemacht. Der Segelmacher war der Hauptmann, der fettete schon seine kulbige Sacknadel ein.

Doch bis die Hosen fertig waren, das dauerte ihr zu lange. Nun, sie hatte ja selber welche. Wie sie nun so in ihrem Unterkostüm an der Reckstange herumzappelte — ich habe gelacht, dass ich dachte, der Kopf müsste mir platzen — bis sie's übelnahm.

Dann waren die Segeltuchhosen fertig, nach allen Regeln der Kunst, nur schade, dass, weil wegen der Schnelligkeit an jedem Hosenbein ein Matrose genäht hatte, das rechte länger geraten war als das linke. Doch das ließ sich schnell umändern.


Illustration

Blodwen zappelte weiter an der Reckstange herum, zuerst immer hinter verschlossener Tür, auch ich musste gehen, weil ich so dumm gelacht hatte, dann musste ich aber doch wieder hereinkommen, um nachzuschieben — »schieb, Richard, schieb!«, — und dabei soll nun ein Mensch ernst bleiben! — Dann aber hatte sie sich an das Kostüm gewöhnt, es war ihr egal geworden, auch die Mannschaft durfte während ihrer Übung mit im Zwischendeck sein, schließlich fanden auch die Matrosen und Heizer nichts mehr dabei, man gewöhnt sich eben an alles, es wurde um die Wette geturnt, und ich sehe noch das rote, glückstrahlende Gesicht, wie Lady Blodwen von Leytenstone da oben an der Stange klebte und keuchte:

»Richard, das war mein erster Bauchaufschwung, den ich ganz, ganz allein gemacht habe.«

Na, ein bisschen nachgeschoben hatte ich doch.

Man sieht, wir wussten uns die Zeit zu vertreiben, Trübsinn gab's bei uns nicht, und immer Neues kam hinzu, schon wurde ein starkes Seil ausgespannt, und schon stand Blodwen in einer Ecke, die Füße oben an der Wand und den Kopf nach unten...

Am 14. Juni gegen Abend, die See war fast spiegelglatt, ließ ich Segel reffen, sie fassten auch kaum den schwachen Wind, und ließ Bootsmanöver vornehmen, die Matrosen mussten in den verschiedenen Booten pullen, Heizer und alles musste heran, auch der Schiffsarzt.

Ich selbst kommandierte das Ganze von Deck aus, hatte ja überhaupt etwas ganz anderes vor, und Blodwen wusste schon Bescheid.

Ich will hier keine genaueren Bestimmungen geben, sondern nur sagen, dass wir uns auf dem elften Breitengrade befanden, gegen dreihundertfünfzig Seemeilen von der Küste entfernt.

Hier zeigte die Karte nämlich eine ausgedehnte Untiefe mit felsigem Boden, zwanzig bis fünfundzwanzig Meter unter der Meeresfläche gelegen.

Peilung mit dem eingefetteten Lot, an dem etwaiger Sand hängen geblieben wäre, ergab die Richtigkeit dieser Angabe.

Wir hatten das gemünzte Gold zum Teil schon in die Kassetten verpackt, Blodwen und ich in aller Stille. Mit der Anzahl der Kassetten, als ich gleich fünfhundert Stück kaufte, hatte ich mich etwas verrechnet. Da kann man sich eben bei dem sehr schweren Golde grimmig irren.

Die Kassetten waren nur klein, etwa zwanzig Zentimeter lang, zehn breit und sechs hoch, und doch gingen in jede bequem 1200 Goldstücke hinein, die einem Gewichte von rund zwanzig Pfund entsprachen, sodass ich zu den 400 000 Pfund Sterling nur dreihundertundvierzig Kassetten gebraucht hätte. Doch ich hatte ja gleich einen ganzen Vorrat zu billigem Preise gekauft, und mancher hätte sich vielleicht noch mehr geirrt als ich.

Als ich Boote und Sklavenschiff so dirigiert hatte, dass wir von ihnen aus nicht beobachtet werden konnten, dafür auch an Deck und sonst gesorgt hatten, warfen wir zum Bullauge, wie die runden Fensterchen heißen, unserer gemeinsamen Kabine zwölf solcher gewichtigen Kassetten hinaus und versenkten damit 14 400 Pfund Sterling oder 96 000 Taler im Meere.

Ich hätte ganz gern noch ein paar hundertausend Taler nachgeschmissen — mir kam's ja gar nicht darauf an, ich hatte ja noch genug von dem Zeug — aber Blodwen reizte es, ihren Schatz in kleineren Portionen über die ganze Erde zu verteilen, soweit diese mit Wasser bedeckt ist, um überall in diese nasse Tasche greifen zu können.

Nun, wie sie wollte. Es war ja ihr Geld.

Jetzt schnell an Deck geeilt und nochmals die letzte Bestimmung nach der untergehenden Sonne gemacht. Es stimmte. Ich konnte den Punkt bezeichnen, wo die Kassetten auf dem Meeresgrunde liegen mussten. Da hinab konnte auch ein Taucher gelangen, und ich dachte schon daran, mir im nächsten größeren Hafen wo so etwas zu haben war, eine Dynamomaschine zuzulegen mit einem Elektromagneten, der solch eine Kassette von zwanzig Pfund Gewicht mit Leichtigkeit herausheben musste.

Wie ich auch sonst vorsichtig war, an manches dachte, zeigte auch, dass ich schon während der vierzehn Tage immer eine der lackierten Stahlkassetten im schärfsten Salzwasser hatte liegen lassen, und nicht die geringste Änderung war mit ihr vorgegangen. Jene Firma hatte für viele Jahre garantiert, der Lacküberzug sei einfach unverwüstlich.

Die geografische Ortsbestimmung wurde auf zwei Zettelchen geschrieben, jeder trug das seine in einem Ledertäschchen auf der Brust, doch riet ich Blodwen, ein noch unauffindbareres Versteck zu wählen, oder lieber diese Ortsbestimmungen unvergesslich auswendig zu lernen, so wie auch ich es tun würde.

Dieses erstemal habe ich ausführlich beschrieben, wie wir unseren Schatz nach und nach versenkten, und so wurde es immer gemacht.

— • —

12. Kapitel
Señorita Mercedes Calioni und
wie sie auf dem Seile tanzt

Originalseiten I.204 — 226

Dieses harmonische Zusammenleben, was auch besonders betreffs Blodwen und meiner galt, sollte leider gestört werden. Am anderen Tage in aller Frühe sichteten wir ein Fahrzeug, oder vielmehr ein Schiff, eine dreimastige Bark, ganz unter schneeweißen Segeln verborgen, und wir mussten lange hinblicken, ehe wir uns überzeugten, dass dieses Schiff gar nicht so weit entfernt von uns war.

Es war nämlich eine Jacht, aber nun was für eine, eine Spielerei, ein Miniaturschiffchen, und ich will gleich erwähnen, dass seine Länge elf Meter betrug und es eine Tragkraft von sechzig Tonnen hatte.

Ich habe nie wieder ein so reizendes, elegantes Schiffchen gesehen, und dabei dennoch fähig, auch den schwersten Sturm und Seegang zu bestehen.

Soeben wurden die Hauptsegel festgemacht, auch der mächtig weit herausgeschobene Klüverbaum zurückgeholt. Die vier Matrosen, welche in der Takelage arbeiteten, auf den Rahen standen, passten gar nicht zu der Zierlichkeit, sie nahmen sich aus wie große Brummkäfer im Netze einer Zwergspinne, denselben Eindruck machten die beiden an Deck stehenden Männer, und schließlich gewahrten wir auch noch eine Frau, oder, da wir mit der Besitzerin dieser Lustjacht zu rechnen hatten, eine Dame.

Am hingerissensten von Bewunderung ob dieses niedlichen Schiffchens war Karlemann.

»Das möchte ich haben, das möchte ich haben!«, rief er ein übers andere Mal, und ich konnte es ihm nachfühlen.

So ein Liliputanerschiff, aber ganz genau einem großen Segler nachgeahmt, hätte auch gut für diesen Knirps gepasst, zumal wenn er als Matrosen ebensolche Knirpse hätte, da konnte er sein Ideal ja gleich verwirklichen.

Ich konnte gar nicht begreifen, wie diese sechs ausgewachsenen Männer und das Weib dort drüben eigentlich Platz fanden, wie sie in dem Dingelchen beim Schlafen nur die Beine ausstrecken konnten. Freilich dachte ich dabei mit einiger Angst an meine eigenen Spazierhölzer.

Mit einem Male ging dort drüben am Mittelmast der zusammengeknotete Notwimpel hoch, wurde wieder etwas heruntergeholt, wieder hochgezogen, um schließlich stehen zu bleiben.

Wir konnten schon mit bloßen Augen erkennen, was dort vorging. Die Frau hatte die Notflagge hochgezogen, der eine Mann widersetzte sich, aber die Frau behielt ihren Willen.

Was sollte die Notflagge? Das Dingelchen tanzte mit der Eleganz einer Primaballerina auf den nur mäßigen Wellen, die Takelage war in tadelloser Krönung, in den Davits hingen die vier Boote, von hier aus wie Nussschalen aussehend, sogar aus dem blitzenden Messinggeländer durfte man schließen, dass dort drüben keine Not herrschen konnte.

Ich ließ den Flaggenkasten kommen, stellte nach dem internationalen Signalbuch die Fragen zusammen, und es ist wohl bekannt, dass man sich mit solchen Fragen vollständig unterhalten kann, da wird kein Interpunktionszeichen weggelassen, und sind die Matrosen im Anknüpfen der bunten Lappen genügend geübt, so geht dieses Signalisieren fast ebenso schnell wie das Schreiben.

»Was gibt es dort?«, ließ ich meine erste Flaggenreihe fragen. Auch drüben kletterten jetzt schnell die bunten Lappen in die Höhe.

Ich hatte nur die geläufigsten Fragen und Antworten und überhaupt Signale im Kopfe, sonst musste auch ich nach dem Flaggenbuche buchstabieren.

»Se—no—ri—ta«, begann ich also zu buchstabieren, »Mer—ce—des Calioni wünscht von Bord zu gehen.«

»Mercedes Calioni«, sagte da neben mir Doktor Selo. »Das ist die berühmte mexikanische Tänzerin.«

»Na na, gar so berühmt wird sie wohl nicht sein«, meinte ich, schon neue Flaggen zusammenreihen lassend.

»O, die ganze amerikanische Männerwelt liegt anbetend zu ihren Füßen«, musste der Schiffsarzt noch hinzusetzen.

»Nach Ihrer Äußerung müsste dann die ganze amerikanische Männerwelt nur aus Schwachköpfen und Waschlappen bestehen, und das glaube ich nicht«, versetzte ich und hatte meiner Verachtung über dergleichen Sachen wohl genügenden Ausdruck gegeben.

Im Augenblick dachte ich nur daran, dass ich vorhin in Gedanken das Schiffchen mit einer graziösen Ballerina verglichen hatte, und jetzt entpuppte sich die Besitzerin, für welche ich die Dame doch sicher halten musste, wirklich als eine solche.

»An Bord meines Schiffes?«, lautete meine nächste Frage. Drüben wurde die JaFlagge gehisst.

Ich musste diese Fragen und Antworten aus der Signalsprache natürlich immer für Blodwen übersetzen.

»Zu uns an Bord will sie sich begeben?«, rief da Blodwen auch schon gleich ganz wild. »Auf keinen Fall — auf keinen Fall — so eine Tänzerin — weiter fehlte nichts!!«

Ich tat wohl am klügsten, dass ich mich gar nicht weiter darauf einließ, sondern im Fragen fortfuhr.

»Weshalb?«

»Sie ist krank«, ward sofort zurückgegeben.

»Siehst du, Blodwen, sie ist krank, an Bord dieses winzigen Dingelchens kann sie doch nicht die nötige Pflege finden.«

»Weshalb denn nicht? Können wir ihr denn helfen?«

»Jawohl, vielleicht, wir haben doch einen Arzt.«

Unterdessen hatte ich eine neue Frage zusammenstellen lassen.

»Was fehlt ihr?«

Drüben blieb die Antwort einige Zeit aus.

»Die weiß selber nicht, was ihr fehlt!«, rief Blodwen.

Da kletterten wieder die bunten Wimpel empor. »Sie ist toll.«

Wahrhaftig, ich wenigstens irrte mich nicht, die beiden letzten Flaggen ergaben das Wort ›toll‹.

Und damit ich sicher sein sollte, dass ich mich nicht irrte, wurden die beiden letzten Flaggen herunter geholt und durch zwei andere ersetzt, welche das Wort ›verrückt‹ ergaben, sodass also die ganze Reihe lautete: Sie ist verrückt.

Was sollte ich davon denken? Nun, man durfte es fast glauben, das Weibsbild dort drüben benahm sich wie rasend, oder doch, als hätte sie einen tüchtigen Klaps — so sprang sie herum wie ein Sandfloh, immer nach dem Mast und nach dem Geländer und winkte uns mit einem weißen Tuche, und dann wieder zurück nach dem Mast und den Matrosen die Flaggenleine aus der Hand gerissen, und dann nach dem größten Boote und daran herumgefuhrwerkt, als wolle sie es ganz allein ins Wasser lassen.

Jedenfalls aber war mir so viel klar, dass sie selbst von dem Geisteszeugnis, welches ihr die Mannschaft ausgestellt hatte, nichts wusste, die hatten ihr etwas anderes gesagt; denn das würde sie sich wohl schwerlich gefallen lassen.

Unterdessen war das größere Boot von Matrosenhänden aber wirklich ausgeschwungen und herabgelassen worden, bei diesem Seegange ohne besondere Schwierigkeit, das Weib stieg hinein, recht geschickt, gar nicht wie sich sonst Frauen bei so etwas anstellen — es war ja auch so eine Ballerina, die auf den Zehennägeln balancieren kann — nur zwei Mann gingen hinein, der eine nahm das Steuer, der andere ruderte, dann kamen noch eine Menge Kisten und Koffer hinein, und ab ging die Fahrt — und dann wurde auch noch ein zweites Boot hinabgelassen, erst recht gefüllt mit Kisten und Koffern, darunter auch ein Ding, welches ich erst für eine Badewanne hielt, so eine, in die man sich nur zusammengekauert setzen kann, das Ding war oben viel breiter als unten, in der Mitte so ausgeschweift — aber wie sich dann herausstellte, war es eine mächtige Hutschachtel, die allerdings auch so groß sein musste, um den gewaltigen Hut mit Straußenfedern aufnehmen zu können.

»Die will wirklich zu uns«, rief Blodwen, »sie bringt gleich ihre ganze Garderobe mit! Und sie kommt nicht zu uns, ich will es nicht, ich will nicht!«

Blodwen war ganz außer sich, machte in diesem Augenblicke eben keinen schönen Eindruck auf mich.

»Blodwen, nimm doch Vernunft an«, bat ich, ganz ruhig, »wir wissen ja noch gar nicht, weshalb sie ihr Schiff verlassen will, und es gibt zwischen Seeleuten oder richtiger zwischen Schiffen eine besondere Art von Höflichkeit, welche man Routine nennt, diese Bordroutine legt gewisse Verpflichtungen...«

»Und ich will dieses Frauenzimmer nicht auf meinem Schiffe haben!!«, schrie Blodwen, vor Zorn blau und rot im Gesicht, und dabei stampfte sie wiederholt mit dem Fuße auf.

Ich muss offen gestehen, dass ich in diesem Augenblicke die größte Lust hatte, ihr eine ins Gesicht zu hauen — trotz aller Liebe in den Flitterwochen. Möge mir der Leser das nicht verübeln. Ich war eben kein Pastor geworden, wie's meine Eltern wollten, sondern Seemann, vom Schiffsjungen an. Und ich schämte mich ob dieses Benehmens meiner... Herrin, will ich sagen, in meiner eigenen Seele.

Aber ich beherrschte mich, und ich hatte einen recht glücklichen Gedanken.

»Bedenke doch, Blodwen, wenn die Dame nun auf ihrer kleinen Jacht von den eigenen Leuten belästigt worden, tätlichen Angriffen ausgesetzt gewesen sei — hat sie da nicht allen Grund, ihr Schiff zu verlassen und sich auf das erste beste andere zu begeben, das ihr begegnet?«

Ich sprach eine ungeheuerliche Beschuldigung aus, die sich dann als ganz falsch erwies. Doch es war ja keine Behauptung gewesen, nur eine Ansicht, ich hatte nach einem Grunde gesucht, und schließlich war die Hauptsache, dass ich dadurch Blodwen wirklich widerstandslos machte.

»Die? So eine Tänzerin, so eine feile Person?«, versuchte sie es noch einmal.

»Blodwen, es ist ein Mensch und ein Weib so gut wie du, und ich habe von Ballerinen erzählen hören, welche hochanständige Frauen waren.«

Da war ihr Widerstand besiegt. Sie wusste nicht mehr, was sie sagen sollte.

Außerdem waren die Boote jetzt schon ziemlich bis ans Schiff herangekommen, wir hätten sie in grobem Tone geradezu abweisen müssen, und dessen war wohl auch die eigensinnige Blodwen doch nicht fähig.

Ich sah eine recht ansehnliche junge Dame mit hübschem, interessantem Gesicht, brünett, schon mehr braun, sicher eine Kreolin, wenn nicht auch etwas afrikanisches oder indianisches Blut in ihren Adern war, aber einen schrecklich verwilderten Eindruck machend. Ihr Haar musste sie sich lange nicht mehr gemacht haben, die blauschwarzen Strähnen, die ihr ums Gesicht hingen, hatten sich schon förmlich verfilzt, und auch das elegante Kostüm, das sie trug, war in einer Unordnung, die sich nicht weiter beschreiben lässt — ich wenigstens kann's nicht, ich bin kein Schneider oder Modenschreiber — und der weiße Rock, der drunter hervorsah, war einfach dreckig, der Spitzensaum an vielen Stellen abgerissen, der Stiefel vorn aufgeplatzt.

Ich muss gleich bemerken, dass man auf Passagierschiffen seine Ansichten über menschliche Sauberkeit und dergleichen um einige Pflöcke zurückstecken muss, will man nicht ungerecht sein. Die Passagiere, so weit sie nicht schon mehrere Reisen gemacht haben, kommen in eine ihnen unbekannte Welt, und sie brauchen gar nicht seekrank zu werden — es ist ihnen eben alles fremd, sie wissen sich nicht zu helfen, werden hin und her geworfen — kurz — da wird auch der patenteste Kavalier zum sogenannten Schweinigel, der sich nicht mehr wäscht, an Rasieren gar nicht zu denken, an den Anzug denkt man erst recht nicht mehr, und dasselbe gilt vielleicht noch mehr von den Damen, denen es jetzt ganz gleichgültig ist, wenn sie einmal ihr Gebiss und den falschen Zopf verlieren.

Blodwen war auf ihrer ersten Überfahrt von New York nach London tüchtig seekrank gewesen, auf der ›Sturmbraut‹ war sie es nicht geworden, trotzdem hatte sie sich in den ersten beiden Tagen, die etwas stürmisch gewesen, in einer nicht minder traurigen Verfassung befunden, bis sie sich in der neuen Welt zurechtgefunden, und es gibt Menschen, welche dies niemals können. An Land die adrettsten Herren und Dämchen, und an Bord sind und bleiben es ausgemachte Schweinigel, was man ihnen aber eben nicht verübeln darf.

Nun, seekrank konnte die nicht sein, denn wie eine Katze kletterte sie das Fallreep empor, und mit einem Male lag sie auch schon auf den Knien und himmelte mit gefalteten Händen empor.

»O, Gott sei gepriesen und die Jungfrau Maria — endlich wieder zwischen richtigen Menschen — endlich wieder auf einem Schiffe, wo man sich als ein richtiger Mensch fühlen kann!!«

Mir waren diese Worte, die sie da gejauchzt hatte, gar nicht so unverständlich. Doch ich hatte weiter keine Zeit, darüber nachzudenken, sie war schon wieder auf, und ich dachte schon, sie wollte dem ersten Steuermann um den Hals fallen.

»Der Herr Kapitän, nicht wahr?«

Der Steuermann, der seine Uniform anhatte, holte erst bedächtig einen Kloß Kautabak aus dem Munde, ehe er der Dame die Antwort gab.

»Nee, der Kapitän steht dort.«

Also jetzt war ich ihr Ziel, auf das sie zutanzte.

»O, Herr Kapitän, wenn Sie wüssten...«

Ich weiß nicht, was für einen Wortschwall sie über mich ergoss. Reden konnte die, wie ich noch nie ein Weib hatte reden hören.

Jetzt erst schien sie auch Blodwen zu bemerken, sie stutzte, ihr Benehmen war gleich ein ganz anderes, ein reservierteres.

»Ihre Gattin?«

»Lady Blodwen von Leytenstone.«

Sofort bemerkte ich an ihren beweglichen Gesichtszügen, dass sie diesen Namen schon kennen musste. Sie hatte eben von der ›tollen Lady‹ schon gehört.

Unterdessen hatten meine Leute das Gepäck heraufgeholt, und da sah ich die beiden Boote auch schon wieder zurückrudern, ohne dass ich mit einem Manne der kleinen Jacht ein Wort gewechselt hätte — mir machte es fast den Eindruck, als ob die fürchteten, die Doña könnte ihren Entschluss doch noch ändern und wieder mit zurückkommen — und in dem einen Boote saß Karlemann, welcher sich wohl einmal die winzige Jacht ansehen wollte.

Es stand ihm ja gar nichts im Wege, dies zu tun; aber mir gar nichts von seiner Absicht zusagen, das sah dem kleinen Seezigeuner so ganz ähnlich.

Dann saßen wir drei in der Kajüte, die Doña hatte sich in der ihr angewiesenen Fremdenkabine etwas zurechtgetakelt, der Steward aufgetragen.

Sie erzählte mit einem Wortschwulst, den ich gar nicht wiedergeben kann, obgleich ich hatte Pastor werden sollen.

Vor sechs Wochen, in einem New Yorker Theater auftretend, hatte sie von einem Verehrer ihrem Wunsche gemäß eine Jacht geschenkt bekommen — die ›Farewell‹, dort jenes reizende Spielzeug, aber dabei vollständig gebrauchsfähig.

Wie es nun in dem Kopfe solch eines Frauenzimmers aussehen mag — kurz, sie wollte die professionelle Tanzerei an den Nagel hängen, nur noch auf ihrer Jacht leben, wollte so eine Seeheldin werden, von der alle Welt sprechen musste, ihr Tagebuch sollte in sämtliche Sprachen der Erde übersetzt werden.

Mit einem tüchtigen Jachtkapitän und den besten Jachtmatrosen bemannt, ging die Fahrt los. Das erste Ziel sollte die Westküste Afrikas sein. Ihr freigebiger Liebhaber musste wohl schon einige Erfahrung haben, dass er Krankheit vorschützte, um sie nicht begleiten zu müssen, was sie aber überhaupt abgelehnt hätte.

»O Gott, o Gott«, jammerte sie noch jetzt, »wenn Sie wüssten, was ich in den fünf Wochen ausgestanden habe! Wenn ich mich ausstreckte, lag ich mit dem Kopfe in der Küche und mit den Füßen in der Segelkammer. Mein Kopf ist ganz verbeult...«

Ich weiß nicht, ob für den Leser diese Andeutungen genügen, was die Dame auf dieser winzigen Jacht auszustehen gehabt hatte. Für mich genügten sie, obgleich ich selbst auf einer so kleinen Jacht noch keine Fahrt gemacht hatte. Aber als Seemann konnte ich mich in alles lebhaft hineindenken.

Da musste es eben fürchterlich eng zugehen, und solch ein Dingelchen tanzt ja schon beim leisesten Seegang wie ein toller Bock, und ein Aufenthalt an Deck ist kaum jemals möglich, immer alles unter Wasser, und das dringt natürlich auch bis in die unterste Kammer, da ist nichts dicht zu halten, alles und jedes muss selbst wasserfest sein, und sind es die Menschen nicht selbst, sind es nicht geborene Wasserratten da hört eben jede Gemütlichkeit auf.

Mehr kann ich sonst nicht erklären, was der Aufenthalt in solch einer Miniaturjacht zu bedeuten hat.

Dazu nun noch fortwährend seekrank, aber mit Zwischenpausen, gewissermaßen ruckweise. Zuerst war sie drei Tage seekrank gewesen, sie hatte sich erholt, glaubte sich ganz gesund, war an das Schlingern und Stampfen gewöhnt — da dreht sich der Wind, die Segeljacht wendet, das Schlingern und Stampfen nimmt einen anderen Takt an, und sofort bricht die Seekrankheit mit neuer Macht aus, und so immer wieder, sobald die Jacht über Stag geht und dadurch eine neue Schaukelbewegung annimmt.

Wie die spanische Kreolin noch dazu in ihrer lebhaften Weise all die ausgestandenen Leiden vorzutragen wusste — wirklich, sie dauerte mich. Bei Blodwen schien das weniger der Fall zu sein. Sie blickte die Tänzerin immer so eigentümlich an, ohne ein einziges Wort zu sagen. Aber auch die Doña blickte während des Erzählens die Dame des Schiffes immer so merkwürdig an. Ich wurde lebhaft an zwei Katzen erinnert, die sich in Gegenwart eines Katers begegnen. Die sitzen sich auch so gegenüber und blicken sich so herausfordernd an, die eine miauend, die andere stumm oder nur leise knurrend, aber schon die Krallen heraus, um der Rivalin in die Augen zu fahren.

Der Kater war ich. Ich hielt es für gut, noch einen zweiten Kater herbeizuzitieren. Doktor Selo kam. Ich lud ihn erst nachträglich ein, weil ich doch erst wissen musste, ob uns, den Hauptpersonen, die Dame, welche das Notsignal gehisst hatte, nicht etwas Intimes mitzuteilen hatte, was kein fremdes Ohr zu hören brauchte, und dass ich den Schiffsarzt erst zum Nachtisch einlud, verstieß nicht gegen die Höflichkeitsvorschriften der Bordroutine... Es war eben nur der Schiffsarzt, und mit dem ersten Offizier hätte ich es nicht anders gemacht, so höflich ich auch sonst meine Leute behandelte.

Des Doktors Anwesenheit wäre nicht nötig gewesen, sie änderte nichts. Dagegen erfolgte in anderer Weise eine mir sehr angenehme Unterbrechung unseres peinlichen Beisammenseins.

Die Señorita erzählte uns gerade, wie sie wiederholt beabsichtigt habe, auf eins der ihr ab und zu begegnenden Schiffe überzusiedeln, was aber immer der bisher herrschende hohe Seegang verhindert hatte, oder es wäre mit größter Lebensgefahr verbunden gewesen, als mir gemeldet wurde, dass der ›Farewell‹ uns durch Signale zu sprechen wünsche.

Wir begaben uns alle an Deck. Die kleine Jacht befand sich, wie wir, schon wieder in voller Fahrt. Die Flaggenreihen gingen hoch.

»Was kostet diese Jacht? Algots«, buchstabierte ich heraus. Hallo, wollte der Knirps dieses niedliche Spielzeug etwa gleich kaufen? Billig war das sicher nicht.

Ich erklärte der Spanierin, was gefragt wurde, und nachdem sie bisher ihre Jacht immer schlecht gemacht hatte, dass kein guter Span darangeblieben war, begann sie jetzt plötzlich von ihrem Schiffchen zu schwärmen, allerdings in anderer Weise, was für ein Wert darin stecke, diese Einrichtung, alles aus Ebenholz, diese Silbersachen, dieses Porzellan, diese goldgestickten Damastdecken usw.

Drüben wurde durch die betreffende Flagge zur Antwort gedrängt.

»Ist Ihnen die Jacht überhaupt verkäuflich?«, fragte ich. »Gewiss! O, Santa Madonna...« wollte sie wieder zu schwärmen beginnen, doch ich ließ es nicht so weit kommen.

»Nun, wie viel fordern Sie dafür?«

»Wollen Sie sie kaufen? Bei Ihnen würde ich es billig machen.«

Ich ignorierte den kokett herausfordernden Blick, und Blodwen schien ihn nicht bemerkt zu haben, obgleich das schon in den Worten gelegen hatte.

»Nicht ich frage nach dem Preise, sondern von drüben wird gefragt.«

»Von wem denn?«

Sie wusste noch gar nicht, dass unser Karlemann mit hinübergefahren war. Ich sagte es ihr, ohne näher auf die Person des kleinen Seezigeuners einzugehen. (Hierbei bemerke ich, dass ich damals noch nicht ahnte, wie wir selbst bald heimatlose Seezigeuner werden sollten, nur in größerer Ausgabe.)

»Eine Million«, lautete endlich ihr Bescheid.

»Pennies oder Cents?«, ließ sich Blodwen in spöttischem Tone vernehmen.

Ein giftiger Dolchblick aus den schwarzen, brennenden Augen, sonst gab sie nichts zurück.

»Eine Million Dollar.«

Ohne zu sagen, dass das etwas sehr happig war, mochte die Einrichtung auch sein wie sie wolle, signalisierte ich diese Forderung hinüber.

»50 000 Dollar«, kam von drüben die Antwort zurück.

Oha, jetzt fing das Feilschen an! Und dieser deutsche Zigeunerjunge, der schon mit gewilddiebten Hasen, mit Seestiefeln und mit Mädchen gehandelt hatte, bot erst einmal den zwanzigsten Teil der geforderten Summe! Das konnte ja gut werden.

Aber es sollte anders kommen, als ich gedacht hatte.

»Kann Ihr Freund mir diese Summe sofort in bar zahlen?«, wandte sich die Spanierin hastig an mich.

Ich überlegte einen Moment. Die Ballerina schien bares Geld sehr nötig zu haben. Was mich aber am meisten interessierte, das war, wie dieser Junge wohl die 50 000 Dollar auftreiben wollte. Denn so, wie der es sich in Afrika vorstellte, den Häuptlingen nur immer so das Gold aus der Nase ziehen, wobei ich nämlich an den goldenen Nasenring dachte, das konnte ich mir noch nicht recht vorstellen.

Dann bejahte ich. Das war ja seine Sache.

»Garantieren Sie für ihn?«, fragte sie da aber auch noch.

Oho! Das freilich hatte ich nicht erwartet. Dann bejahte ich auch dies, glaubte es zu können, ohne erst einen Blick mit Blodwen zu wechseln, die mich durchaus nicht ansehen wollte.

»Gut. Mir ist es ja durchaus nicht um das Geld zu tun, ich will nur das schreckliche Ding los sein. Sagen Sie dem Herrn, dass ich damit einverstanden bin. Wo kann ich das Geld bekommen?«

»In Monrovia, der Hauptstadt von Liberia, wo wir in zwei Tagen sein können.«

»Liberia, ich weiß, ich weiß. Gut. Geben Sie meine Zusage.«

Ich tat es.

»Mit der vollständigen Ausrüstung?«, wurde drüben nochmals gefragt.

»Ja, ja, ich will das schreckliche Ding nur los sein, und was hat denn das für mich zu bedeuten, so etwas kann ich mir selbst alle Tage kaufen.«

»Der Handel ist gültig?«, ließ Karlemann drüben signalisieren.

»Ist unter Zeugen abgeschlossen«, gab ich zurück.

Die Spanierin kümmerte sich nicht weiter darum, und Karlemann blieb gleich drüben, doch sein Gepäck und seinen Pudel vorläufig bei uns lassend. Er ließ jetzt die verschiedensten Segelmanöver ausführen, ich sah ihn selbst mit arbeiten.

Auf diese Weise war der Knirps tatsächlich Besitzer einer Jacht geworden, die seinen Verhältnissen auch völlig entsprach.

Allerdings hatte er sie erst noch zu bezahlen, aber ich hatte ja für ihn garantiert, was er noch nicht einmal wusste. Und ich war gesichert. Der Junge hatte da einen Handel abgeschlossen, wie er im Schiffswesen wohl kaum je vorgekommen war und nie wieder vorkommen würde. Hunderttausend Dollar war diese Jacht mindestens wert, die Jacht allein, ohne jede Einrichtung und Ausstattung, das konnte auch ich taxieren. Denn das war eben ein Meisterstück von Jachtbau, das erkannte man doch gleich an den eleganten Formen und an allem, und wie wir sie nun manövieren sahen — schnell und gelenkig wie eine Taucherente, wie eine auf die Beute schießende Möwe — — —

*

Die zwei Tage, die wir noch bis nach Monrovia hatten, waren sehr bitter für mich.

Die Tänzerin kokettierte in auffallendster, wenn nicht in unverschämtester Weise mit mir. Ich musste gestehen, dass es ein bildschönes Weib war, alles Feuer, dabei graziös bis in die Fingerspitze. Nun wusste sie sich auch zu kleiden, und sie hatte in ihren Kisten und Koffern Garderobe in Überfülle mit, dazu Juwelen und anderen kostbaren Tand massenhaft.

Da machte mich stutzig, dass sie es so auf die 50 000 Dollar abgesehen hatte; denn was ich da zu sehen bekam, war viel, viel mehr wert, ich musste ihr wohl glauben, dass nur das eine Perlenhalsband, an dem aber ebenso viele Diamanten von Erbsengröße hingen, welches sie von einem französischen Herzog geschenkt bekommen haben wollte, allein eine Viertelmillion Dollar gekostet habe, und auch ihre sonstigen Besitzungen an Landgütern und Villen und Schlössern und Palästen, die sie mir an den Fingern herzählte, fast in aller Welt verteilt, lauter Geschenke von solchen reichen Gimpeln, die sich in die Tänzerin vernarrt hatten, kamen mir gar nicht so unwahrscheinlich vor. Doktor Selo brauchte mir gar nicht erst zu versichern, was für ein Weib diese spanische Tänzerin sei, einige Lebenserfahrung hatte ich doch auch schon. Aus alledem aber musste ich eben schließen, dass sie einen ganz ausgeprägten Geschäftssinn hatte, die gehörte nicht zu denen, welche das von den Gimpeln erbeutete Geld mit vollen Händen gleich wieder ausstreuen, und mit alledem ließ sich zusammenreimen, dass sie sich für die Jacht mit nur 50 000 Dollar begnügt hatte — aber auch gleich bar unter Garantie!

Denn wie der alte Vanderbilt gesagt hat: Ich lasse die sicherste Spekulation fahren, die mir morgen eine Million einbringen kann, wenn ich schon heute dafür nur den zehnten Teil in die Tasche bekomme.

Blodwen war maßlos eifersüchtig, wenn sie sich auch nicht das Geringste davon merken ließ. Sie hätte doch schon oft genug Gelegenheit gehabt, Eifersucht zu zeigen — damals, als sie immer allein in der römischen Villa war, während ich Tag und Nacht in London herumfuhr — niemals hatte sie irgendeine solche Frage gestellt.

Hier kam ihre grenzenlose Eifersucht zum Durchbruch, und sie hatte ja auch allen Grund dazu; denn dieses Weibsbild hatte es auf mich abgesehen, wie der Teufel auf jede sündhafte Seele und wie die Fatje Mine auf jeden Penny, und wenn sich Blodwen davon nichts merken lassen wollte, so sah ich nur um so mehr, wie sehr sie litt.

Aber ich konnte ihr ja nicht helfen. Ich zeigte bei jeder Gelegenheit, wie gleichgültig mir das Frauenzimmer war. Nur grob konnte ich nicht werden, dazu gab sie mir keinen Grund. Als sie sich zu mir auf die Kommandobrücke gesellen wollte, machte ich sie darauf aufmerksam, dass dieses Heiligtum von keinem Fremden betreten werden dürfte, und da versuchte sie das auch gar nicht mehr.

Aber sonst war sie immer in der aufdringlichsten Weise hinter mir her. Auch gab sie sich die möglichste Mühe, mich einmal allein zu sprechen, das war ja ganz ersichtlich, doch ist das an Bord nicht so leicht, ich brauche eben nur ein Kommando vorzuschützen, um sofort davoneilen zu können.

Es wäre vielleicht gar nicht nötig gewesen, auf diese Kokettiererei der Spanierin so ausführlich einzugehen, da sie ja ganz erfolglos blieb. Die Hauptsache war schließlich nur die, auf welche Weise der kleine Seezigeuner, der noch eine Hauptrolle spielen wird, zu einem Schiffe kam, das ganz seinem Ideal entsprach.

Im Allgemeinen war uns sonst die Person der Spanierin nur hinderlich. Blodwen hielt sich ganz reserviert, ich musste es desgleichen sein, so war eben, wie schon anfangs gesagt, das ganze harmonische Zusammensein gestört, und das machte sich sogar bei der Mannschaft geltend.

Nun, es waren ja bloß noch zwei Tage, dann waren wir die Kreolin wieder los.

Aber was für eine böse Geschichte daraus noch werden sollte, das ahnte ich damals noch nicht. Was am letzten Tage passierte, das war erst ein kleines Vorspiel dazu.

Endlich sprach sich Blodwen mir gegenüber einmal aus.

»Richard, ist das die vielgerühmte Freiheit, die du mir an Bord des eigenen Schiffes versprochen hast?«, sagte sie klagend.

Ich wusste, was sie meinte, und erst so versteckt zu fragen, das ist eben nicht meine Sache.

Ja, du lieber Gott, was sollte ich aber dagegen tun?

»Über Bord werfen kannst du sie doch nicht wieder.«

»Wir hätten sie gar nicht an Bord nehmen sollen.«

»Ich gestehe, dass dies allerdings etwas voreilig gewesen ist. Sie hat uns getäuscht. Daraus, dass sie die Notflagge hisste und gleich mit ihren Sachen ins Boot ging, musste ich doch einen ganz anderen Grund annehmen, und nicht nur, dass es ihr auf der kleinen Jacht zu unbequem geworden war.«

»Wir können Sie aber doch auf ein anderes Schiff bringen.«

»Gewiss, das kannst du.«

»Tue es. Dort ist gleich ein Dampfer in Sicht.«

Dass mir solch eine Ausweisung einer Person, die mir doch eigentlich gar nichts zuleide getan, höchst unangenehm war, lässt sich wohl denken.

Blodwen bemerkte mein Zögern.

»Wenn du wüsstest, Richard, wie unglücklich mich die Anwesenheit dieses Weibes macht!«

»Sie soll wenigstens nicht mehr an unseren Mahlzeiten teilnehmen.«

»Geht das?«

»Es muss eben gehen. Wir, die wir außerhalb der Welt getreten sind, haben doch gar keine Rücksicht mehr nötig, und in unserer eigenen Welt sind wir allmächtig. Es kommt nur auf unser Gewissen oder doch auf unsere Feinfühligkeit an, wie weit wir diese Allmacht ausnützen wollen. Wenn ich jetzt die Spanierin auffordere, sich in ihre Kabine zu begeben, und sie nicht wieder zu verlassen, ohne irgendwelche Angabe eines Grundes, so muss sie gehorchen, und tut sie es nicht, so lasse ich sie mit Gewalt hineinbringen, und dann schließe ich sie ein, behandele sie als Gefangene, und kein Gericht der Erde kann mich später etwa wegen Freiheitsberaubung zur Verantwortung ziehen. Das ist eben wieder so ein Unterschied zwischen Land und Schiff. Wenn irgendein Fürst — natürlich denke ich hier nur an einen europäischen — seinen Diener wider dessen Willen einschließt, kann er wegen Freiheitsberaubung vor die Schranken des Gerichts zitiert werden, und er muss verurteilt werden, da helfen ihm Wappen und Krone gar nichts. Gleiches Recht für alle. Aber der Kapitän darf es, ist niemandem Rechenschaft schuldig. Wenigstens nicht für so etwas. In dieser Hinsicht steht der geringste Kapitän der elendesten Holzplanke himmelhoch über jedem König und Kaiser.«

Blodwen musste etwas ganz Neues zu hören bekommen haben, was ihr wohlgefiel, sie bekam wieder einmal ganz große, strahlende Augen.

»Richard, würdest du...«

In diesem Augenblick erscholl draußen das Gelächter der Matrosen, Händeklatschen, und wir brauchten nur in die Tür zu treten, um zu sehen, was da vorging.

Die Matrosen hatten von Mast zu Mast ein Tau straffgespannt und trieben darauf Balancierkünste. Das hatten sie schon vorhin getan. Jetzt aber produzierte sich darauf Señorita Mercedes Calioni als Seiltänzerin, und die jetzige Ballerina musste früher wohl wirklich eine solche gewesen sein, und... sie trug auch ein dementsprechendes Kostüm, das sich in ihrer Garderobe befunden hatte: blaue Trikots, ein rotes Korsett und eine goldene Badehose.


Illustration

Verzeihe der Leser, wenn ich für derartige Bekleidungsstücke, die zum Kostüm einer Artistin gehören, keine anderen Ausdrücke zu gebrauchen weiß. Ich hatte doch Pastor werden sollen, da brauchte ich so etwas nicht zu wissen, noch weniger vielleicht als Seemann.

Für mich war das bunte Leibchen, welches noch viel, viel mehr sehen ließ als nur die nackten Arme, ganz einfach ein Korsett — mit welchem Ausdruck ich doch immerhin schon einige Bildung verriet — und das glänzende Ding, was sie da mehr um die Hüften und um den Unterleib als um die Schenkel hatte, war für mich ebenso einfach eine Badehose kürzester Form.

Donner und Doria! Hatte die einen... ein Hinterteil! Und nun diese Beine, diese Schenkel! Und was man da sonst noch alles in natura bewundern konnte!

Ja, das war so etwas für meine Jungens, die hatten allen Grund, so zu staunen und wohl auch zu lachen. Und wie die nun auf dem straffgespannten Seile so herumhopste, sich immer so zwischen die Beine fallen ließ, um gleich wieder auf den Füßen zu stehen...

Aber für Blodwen war das ganz und gar nichts. Dabei ist zu bedenken, wie schon einmal erwähnt, dass Blodwen noch nie in einem Theater, noch weniger in einem Zirkus gewesen war, also auch noch keinen Artisten und keine Artistin so mehr ganz als halbnackt gesehen hatte.

Erst dachte ich, Blodwen wäre zur Salzsäule erstarrt. Jedenfalls glaubte sie, ihren Augen nicht trauen zu dürfen. Dann aber fand sie Worte.

»Un—er—hört!!«

Die Señorita sah uns, ließ sich nicht beirren, lächelte, warf wohl gewohnheitsmäßig Kusshändchen, hopste weiter auf dem Seile herum, bei jedem Sprunge mit den blauen Beinen in der Luft herumquirlend.

»Ich sah Ihre Leute sich im Balancieren üben«, konnte sie dabei noch ganz ruhig sagen, immer während ihrer Hopserei, »und ich bin nämlich früher Seiltänzerin gewesen — da habe ich mich schnell angezogen...«

»Angezogen?!«, echote Blodwen. »Angezogen haben Sie sich?! So ein skandalöses Frauenzimmer!! Schämen Sie sich denn nur gar nicht?! Herunter von meinem Schiffe!!!«

Aha, jetzt ging's los! Jetzt kamen die beiden Katzen zusammen! Die Ballerina war heruntergesprungen.

»Was wollen Sie?«

»Herunter von meinem Schiffe, herunter, herunter, herunter!!!«

»Haben Sie denn überhaupt etwas zu befehlen?«

»Herunter von meinem Schiffe!!«, konnte Blodwen nur noch schreien.

»Herr Kapitän, hat diese Dame hier an Bord Ihres Schiffes etwas zu befehlen?«, wandte sich die Spanierin jetzt mit ihrem kokettesten Lächeln an mich.

O weh, war ich da in eine schlimme Situation gekommen! Doch ich wusste mir zu helfen, verlegen wurde ich auch nicht.

»Señorita, begeben Sie sich in Ihre Kabine, bitte.«

»Aber warum denn nur, ich...«

»Begeben Sie sich in Ihre Kabine!!«, sagte ich jetzt in kurzem Tone.

»Und das für immer, Sie werden Ihre Kabine bis nach Monrovia nicht mehr verlassen!«, setzte Blodwen noch hinzu.

»Das werden wir doch sehen«, schlug auch die Spanierin jetzt einen anderen Ton an. »Das ist...«

»Ich befehle Ihnen, sich sofort in Ihre Kabine zu begeben!«, sagte ich nochmals. »Oder ich bin genötigt, Gewalt anwenden zu lassen.«

Da brach sie, sich schon zum Gehen wendend, in ein höhnisches Lachen aus.

»Hahaha, dieses Liebespärchen! Das ist kostbar! Sie steht unter Kuratel und ihr Cicisbeo unter ihrem Pantoffel! Da möchte ich nur noch sehen, wenn die beiden...«

Zum Glück war sie schon unterwegs. Denn jetzt wurde auch mir alles egal, mir stieg das Blut in den Kopf.

Ich ging ihr nach, und als sie die Schiebetür zu hatte, in der außen der Schlüssel steckte, drehte ich diesen um und zog ihn ab.

Sie musste es gehört haben, denn ehe ich noch etwas sagen konnte, wurde drinnen schon geklinkt und dann furchtbar gegen die Tür gedonnert. So eine Niederträchtigkeit — Hilfe — Polizei — Mord und so weiter.

Blodwen stand neben mir, als ich sie in aller Gemütsruhe erst etwas austoben ließ, bis ihr Wüten in ein Schluchzen überging.

»Wenn Sie sich nicht vernünftig benehmen, müssen Sie diese Reise als Gefangene mitmachen.«

Ach Gott, ach Gott, nun aber ging es erst noch einmal richtig los. Sie schimpfte wie ein Rohrspatz, drohte mit irdischen und himmlischen Richtern und Polizisten, mit Teufeln und Engeln und allen ihren Heiligen.

Mit einem Male aber ward sie wieder still, und als ich etwas die Tür öffnete, saß sie in ihrem Trikot ganz artig auf dem Sofachen.

»Bitte, Señorita, seien Sie vernünftig, ich konnte nicht anders handeln, nachdem Sie meiner Aufforderung nicht nachkamen.«

»Nur immer zu, immer zu, Sie werden es schon bereuen, Sie werden es schon bereuen, hahaha«, war die Antwort nach gewisser Weiber Art, in der ich nicht so ganz unerfahren war...«

»Ich bitte Sie in Ihrem eigenen Interesse, Ihre Kabine nicht mehr zu verlassen, es sind bis nach Monrovia nur noch wenige Stunden.«

»Sie werden es schon bereuen. Sie werden es schon bereuen, eine Señorita Calioni lässt sich so etwas nicht gefallen, passen Sie nur auf, hahaha.«

Ich schloss die Tür natürlich nicht wieder zu, gab dem Steward Anweisungen, der Dame es an nichts fehlen zu lassen, wir hatten bis nach Monrovia wirklich nur noch wenige Stunden, sie kam nicht wieder zum Vorschein, ging dann ganz vernünftig von Bord.

Aber, wie gesagt, ich sollte mit diesem Weibe später noch meine böse Last haben.

— • —

13. Kapitel
Häuptling Kididimo und wie
Karlemann mit ihm ›snob‹ macht

Originalseiten I.227 — 246

Bevor ich unsere Ankunft in Monrovia schildere, will ich einiges über die freie Negerrepublik Liberia sagen. Im Jahre 1816 entstand in Washington auf Anregung einiger Philantropen — doch warum die Namen dieser vorzüglichen Männer nicht nennen, die mehr getan haben als mancher berühmte Welteroberer, sie hießen Robert Caldwell und Henry Clan — entstand also der ›Kolonisationsverein zur Ansiedlung freier Farbiger der Vereinigten Staaten von Nordamerika‹. Hoch klinge das Lied von diesen braven Männern und Frauen!

Es handelte sich also darum, entlassene Negersklaven, oder solche, die sich freigekauft hatten, zurück nach ihrer Heimat zu befördern, wenn sie es wünschten, aber natürlich nicht wieder als Wilde, sondern als kultivierte Kolonisten.

Doch erst im Jahre 1821 ging eine Deputation nach Afrika, wo sie an der Pfefferküste von den dortigen Negerhäuptlingen einen Küstenstrich von achtzehn geografischen Meilen Länge und neun Meilen Breite erwarb.

Und nun ging das Fortschicken der sich meldenden freien Neger aus den Vereinigten Staaten los, alles auf Kosten dieser Gesellschaft, die auch weiter für die schwarzen Ansiedler sorgte. Und die schwarze Kolonie gedieh herrlich! Schon drei Jahre später hatte die Hauptstadt Monrovia, nach dem Unionspräsidenten Monroe so genannt, steinerne Häuser, drei Kirchen, zwei Schulen, ein Fort, eine Druckerei mit Zeitung noch vieles andere, sogar schon Droschken.

Die Kolonie wurde durch Landerwerb immer vergrößert, bis zu einer Küstenlänge von 28 Meilen, und im Jahre 1847 erklärte sie durch Vermittlung Nordamerikas ihre Unabhängigkeit als Republik, welche ein Jahr später von allen Kulturstaaten anerkannt wurde. Sehr hübsch ist es zu lesen, vielleicht einzig in der Weltgeschichte dastehend, wie damals alles der jungen, schwarzen Republik hilfreich beisprang. So schenkte ihr England den ersten Anfang der zukünftigen Kriegsflotte, nämlich einen Kutter mit vier Kanonen, Frankreich 5000 Gewehre, Preußen brachte durch Subskription 60 000 Taler auf.

Der Verfassung nach ist es eine Republik im idealsten Sinne der Kultur: unter anderem vollständige Vereins, Presse- und Redefreiheit: jede Ortschaft über dreihundert Einwohner muss eigene Schule und Kirche haben (was bei uns noch lange nicht der Fall ist): kein stehendes Heer, sondern nur Miliz, zu der jeder waffenfähige Mann von 16—50 Jahren verpflichtet ist. Der Präsident wird jedes Mal auf zwei Jahre gewählt, ihm zur Seite stehen sechs Senatoren. Bürger können nur Farbige werden, sonst vollständige Handelsfreiheit auch für Europäer, welche aber keinen Bodenbesitz erwerben dürfen.

So war es damals, so ist es noch heute, und während unsere weißen Kulturstaaten manchen Rückgang zu verzeichnen haben, von den unglücklichen Donauländern nahe der Hundetürkei gar nicht zu sprechen, hat sich diese Negerrepublik in aller Stille ständig vorwärts entwickelt.

Zu meiner Zeit betrug die Bevölkerung etwa 300 000 Köpfe, alles stand in schönster Blüte. Der damalige Präsident, schon zum vierten Male wiedergewählt, war Hesekiel Hilarion, ein Vollblutneger mit einem gar klugen Pfefferkopf. — —

Angesichts der lieblichen Küste, an der unter Palmen freundliche Landhäuser und Faktoreien lagen, kam ein schwarzer Lotse an Bord, der uns unter Dampf, da der Wind nicht günstig war, in den geräumigen, ausgezeichneten Hafen bugsierte, in dem ein Dutzend amerikanischer, englischer und französischer Handelsschiffe lagen, ferner die jetzt schon aus vier Schiffen bestehende Kriegsflotte von Liberia, freilich keine Panzer. Ihre Hauptaufgabe ist immer die Jagd auf Sklavenschiffe.

Natürlich war schon der schwarze Lotse höchlichst entzückt und ebenso geehrt, ein Schiff führen zu dürfen, welches im Schlepptau nicht weniger als vierhundert seiner Brüder und Schwestern hatte, einem Sklavenhändler abgejagt. Wirklich, eine solche Massenbefreiung war hier noch gar nicht vorgekommen. Niemand hätte eben in solch einem großen Schiffe wie dem ›Helios‹ eine lebendige Ebenholzladung vermutet.

Nachdem ich ihm erzählt hatte, erfuhr ich von ihm, dass in Monrovia gerade der Aschantihäuptling Kididimo anwesend sei, als Bevollmächtigter seines Königs Aquassi Aquatuh, um mit der Republik Liberia einen politischen Handelsvertrag abzuschließen, der auch ganz besonders das gemeinsame Vorgehen gegen die Sklavenjäger betraf.

Es war in der zehnten Morgenstunde, die ansehnliche Stadt glich einem aufgestocherten Ameisenhaufen, als wir am Kai anlegten.

Das alte, holländische Schiff, das wir im Schlepptau hatten, musste natürlich gleich die allgemeine, Aufmerksamkeit erregt haben, schon drängten sich am Kai die schwarzen und braunen und gelben Wollschädel zu Hunderten, vielleicht zu Tausenden.

Zuerst kamen Polizisten und Sanitätsbeamte an Bord. Die Offiziere, mit denen ich ja nur zu tun hatte, waren sämtlich gebildete Männer, sprachen perfekt Englisch, und auch dadurch zeichneten sie sich vorteilhaft aus, dass sie ganz einfache Uniformen trugen, nach nordamerikanischem Muster, ohne Orden und Goldtressen und anderem Klimbim.

Wäre es eine spanische Kolonie gewesen, so wäre ich hier ganz anders empfangen worden, hinwiederum wäre ein jugendlicher Seeheld, der zum ersten Male nach der Pfefferküste kam, wohl äußerst enttäuscht gewesen. Denn mit ›nackt und im Fracke und Goldringe in der Nase und einen Papagei auf der Schulter‹ gab es hier eben nichts.

Ich war gespannt, was denn Karlemann zu diesen ›Wilden von der Pfefferküste‹ sagen würde. Vorläufig sahen wir seine Jacht noch draußen herumkreuzen.

In der Kajüte erzählte ich den Herren bei einer Flasche Champagner und den besten Delikatessen von meinem Abenteuer. Etwas kam das afrikanische Blut oder vielmehr der nordamerikanische Neger doch zum Vorschein.

»Hehe, o Golly!! erklang es in einem fort, und das eine schwarze Offizierchen fing in meiner Kajüte gleich Step zu tanzen an, spuckte in die Hände und klatschte sich dabei auf sein Hinterteil.


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Dann ging es hinüber auf das holländische Schiff. Ich habe zu erwähnen vergessen, dass sich Dr. Selo während der Fahrt zweimal hinüberbegeben hatte, um einige Verbände anzulegen. Sonst war alles bei bester Gesundheit, die Neger hatten sich rund gefressen wie die Made im Käse — es war auch besonders viel holländischer Käse vorhanden — und ich merkte nur zu deutlich, wie ungern sie dieses Schlaraffenschiff verließen, um in der Freiheit wieder Hirse und dergleichen kauen zu müssen.

Ebenso interessierten sich meine Begleiter viel mehr für das holländische Schiff als für ihre befreiten Landsleute. Ich drängte zur schleunigen Rückkehr; denn ich selbst konnte es vor Gestank nicht mehr aushalten.

Wieder in meiner Kajüte, wurde das Protokoll aufgenommen. Noch hiermit beschäftigt, erschien ein anderer schwarzer Offizier, dieser sehr reichlich dekoriert, wenn auch ohne Orden. Er stellte sich mir als der persönliche Adjutant des Präsidenten vor. Ob ich heute Mittag dessen Gast sein könne.

Als hohe Ehre angenommen. Aber bitte hier — Lady Blodwen von Leytenstone. Na, selbstverständlich, die konnte auch mitkommen.

Die Schwarzen wurden ausgeladen — ich hatte keine Zeit, mich darum zu kümmern — dann musste ihr bisheriges Schiff wegen seines grässlichen Gestankes weiter hinaus auf Reede gebracht werden, noch ehe gesäubert wurde, und unterdessen hatte sich ganz unbemerkt die Señorita mit all ihrem Gepäck an Land begeben. Mir desto lieber!

Gegen Mittag, wieder angemeldet, kam eine Equipage, nichts zu wünschen übrig lassend, die mich und Blodwen zum Präsidenten abholte.

Das schwarze und braune Volk bildete auf den Straßen Spalier, wedelte mit Lappen und Sonnenschirmen und Hüten, schmiss uns mit Blumen und schrie ›hip, hip, hurra!‹ und noch lieber ›Yambo, yambo!‹«

Es waren recht ansehnliche Straßen, nicht etwa die Gassen eines Negerdorfes, manchmal sogar mit pompösen Schaufenstern, und die Villa, vor der die Equipage hielt, konnte recht gut Anspruch auf den Namen eines kleinen Palastes machen.

Nun wolle der Leser mir altem Seebären nicht zumuten, dass ich viel von Empfangskomplimenten schreibe. Ich bin, wer ich bin, und ich habe mir zeit meines Lebens verteufelt wenig daraus gemacht, ob der andere Schneeschipper oder der Fürst von Ixenhofen ist.

Kurz und gut, ich lernte in dem alten Knasterbart von Präsidenten einen ganz vernünftigen Mann kennen, in dessen Familie, aus einem ganzen Haufen von Kindern und Kindeskindern bestehend, ich mich wie zu Hause fühlte, und das Essen war auch sehr gut.

Ich musste natürlich erzählen, Präsident Hilarion toastete auf mich, ein Offizier auf die Lady Blodwen, dann hielt ich eine Rede, dass ich dachte, alle diese schwarzen Herren und Damen wollten sich die Ohren abbeißen, und dann machte ich mit dem Präsidenten gleich ein Geschäft ab.

Die Zeit war nahe, da Blodwen von ihrem gerichtlichen Vormund ihre vierteljährliche Rente zu fordern hatte, was also auf einem unter englischer Flagge segelnden Schiffe geschehen und behördlich beglaubigt werden musste, allerdings nur von einem Konsul oder Bürgermeister oder Dorfschulzen; aber ein echter, international anerkannter Präsident einer Republik war mir doch lieber.

Ich hatte den Präsidenten beim Rockknopf genommen, ihn zur Seite gezogen und ihm über meine Begleiterin einige Aufklärungen gegeben, und dann nahm ich ihn noch fester beim obersten Knopfe und sagte:

»Hören Sie, mein lieber Präsident Hesekiel Hilarion, können Sie das nicht gleich selber machen?«

Ich glaube, dieser Neger hatte viel mehr Lebenserfahrung, war im Salon viel gewandter als ich ungeschlachter Lümmel. Er lächelte so eigentümlich — so wie noch manch anderer mit weißer Haut über mich heimlich gelächelt hat.

Aber jawohl, herzlich gern — wenn ich erlaubte, würde er mich heute Nachmittag an Bord besuchen.

»Da habe ich doch gar nichts zu erlauben, ich bitte Sie doch erst darum«, musste ich feiner Bengel nun erst wieder sagen, und dabei zog ich eine Platte Kautabak aus der Tasche und biss ein herzhaftes Stück davon ab.

»Primen Sie auch, Herr Präsident?«

»O ja, ab und zu...«

»Hier, beißen Sie sich ein Stück ab — echter Overwater, die Platte drei Shilling — oder nehmen Sie nur gleich die ganze Platte, ich habe einen halben Zentner mit. Ja, 's Rauchen könnt' ich lassen: aber 's Primen nicht. Ich muss sogar beim Schlafen immer einen mang die Kusen haben.«

Wir schieden als die besten Freunde. Sollten wir auch nicht! Wir hatten doch zusammen die Friedenspfeife gepriemt.

Gegen vier Uhr kam die ›Farewell‹ angesegelt, ohne Hilfe, und es waren die tüchtigsten Matrosen unter dem besten Kommando, das Dingelchen schwamm wie eine Ente an den Kai und lag im Nu mit gerefften Segeln an der ihr zugewiesenen Stelle fest.

Ich kam nicht dazu, mich hinzubegeben oder auch nur Karlemann zu sprechen; denn schon erschien wiederum ein Adjutant, welcher die Ankunft des Präsidenten meldete, und zwar in Begleitung von Kididimo, Makosso von Aschanti, welcher mein Schiff zu besichtigen wünsche.

Mir kam es vor, als ob die um den Häuptling rechten Sums machten, schon an der Tafel des Präsidenten hatte ich es bemerkt, hatte aber den Häuptling selbst nicht zu sehen bekommen.

»Was für ein großes Tier ist denn das?«, fragte ich den Adjutanten.

»O, das ist ein Makosso!«

»Ein Makosso?«

»Ein Fürst!«

»Ein Fürst von so einem Negerdorf?«

»O nein!«

Ich konnte mir so einen Negerfürsten nicht anders vorstellen, als bekleidet mit einem Schleppsäbel, Seestiefeln, Manschetten und Zylinder, dazu vielleicht noch mit einer Badehose. Ich war nämlich schon einmal in dieser Gegend gewesen, nur nicht gerade hier, und in derartigem Paradeanzuge hatte sich mir bereits einmal solch ein echter Negerkönig präsentiert.

Eben fuhr eine geschlossene Equipage vor, alles war zum Empfang der schwarzen Majestäten bereit, als noch Karlemann ankam, lustig pfeifend wie ein Bäckerjunge und dreckig wie ein Feuerrüpel.

Ich hatte keine Zeit mehr, ihn wegen seiner Jacht zu fragen; denn schon entleerte sich die Equipage ihres Inhaltes.

Alle Wetter, da hatte ich mich aber grimmig geirrt! Das war kein solch ewig besoffener Negerhäuptling mit Schleppsäbel und Zylinder, am rechten Fuße einen Reitstiefel, am linken einen abgelegten Filzpantoffel — das war ein ganz waschechter, noch nicht so gräulich von einer halben Kultur beleckt, das war sogar jeder Zoll ein schwarzer König, wie ich ihn hier in Liberia gar nicht mehr zu sehen erwartet hätte.

Eine tiefschwarze, hohe, herkulisch gebaute Gestalt, das finstere Antlitz mit den kühnblickenden Augen erhielt durch eine weiße Tätowierung noch einen besonderen Anstrich von wildem Grimm, und seine ganze Bekleidung bestand nur aus einem kleinen Schurz, Sandalen, die aber oben in eine Art von Gamaschen übergingen, und aus einem prachtvollen Pantherfell, das ihm frei von den Schultern auf den Rücken herabfiel.

Wenn ich aber sagen wollte, dass seine Kleidung aus nichts weiter bestanden hätte, so wäre das unvollkommen. Denn zur Kleidung konnte man auch den Schmuck rechnen, mit dem er förmlich überladen war. Um den Hals schlang sich eine dicke, goldene Kette, eine Kette, an der man einen Ochsen spazieren führen konnte, und von dieser nun hing eine Unmenge von Geschmeide herab, auf Brust wie auf Rücken, bis auf die Knie, lauter Kettchen, Streifen und Schuppenbänder, und alles blitzend von den herrlichsten Diamanten und anderen kostbaren Edelsteinen.

Solch einen in allen Farben des Regenbogens schimmernden Schmuck trug er auch in dem hochfrisierten Haar, der im Gürtel steckende Dolch mit großen Diamanten übersät, der Stock in seiner Hand, wohl eine Art Zepter, schien ganz aus Diamanten zusammengesetzt zu sein, das Pantherfell war an den Rändern mit kleinen Goldschuppen besetzt, und in jede einzelne waren mehrere Diamanten gefasst, außerdem nun noch eine Unzahl von Ringen, von Arm- und Fußspangen — Gold und Diamanten, wohin man nur blickte — und dabei ist bemerkenswert, dass im AschantiReiche selbst überhaupt gar keine Diamanten gefunden werden, damals waren auch in Südafrika die Diamantenfelder noch gar nicht entdeckt worden — das hier waren alles brasilianische oder indische Diamanten, in Amsterdam geschliffen.

So bin ich dem Leser wohl erst eine Erklärung schuldig, wie dieser Negerhäuptling zu solchen Diamanten, überhaupt zu solcher Pracht kam, und ich führe hier gleich an, was ich erst später erfuhr.

Ja, das Reich der Aschantis ist eben groß, noch einmal so groß wie ganz Deutschland, Ackerbau und Viehzucht werden mit bestem Erfolge betrieben, gewinnbringende Jagd, auch auf Elefanten, auf Sklaven und Gold überall.

Jeder darf auf eigene Faust Gold graben oder waschen, muss aber an den Fürsten des betreffenden Gebietes einen bedeutenden Teil des Gewinnes abgeben, dieser beschäftigt selbst zahllose Sklaven, und da diese Häuptlinge das Gold doch nicht weiter ausgeben, sich höchstens anderen Schmuck dafür anschaffen, wie hier an den holländischen Diamanten ersichtlich, so haben sich in den Residenzen dieser Fürsten ungeheure Schätze von Gold angehäuft, im Kumasi, der Residenz des Fürsten, der ab und zu einen seiner Lehnsmänner einen Kopf kürzer machen lässt, um sein Vermögen einzuziehen, sollen sie geradezu fabelhaft sein.

Wie kommt es nun, wird jetzt wohl mit Recht gefragt, dass man solch ein Negerreich, in welchem noch die größte Barbarei herrscht, in welchem z. B. alljährlich zu Ehren des Königs Tausende von Sklaven geschlachtet werden (verzehrt werden sie aber nicht!) unabhängig lässt? Oder wo bleibt da der afrikanische Cortez, welcher die Schatzkammer plündert? Sagen wir gleich: Wo bleibt da England? Und es sind ja nicht diese gefüllten Schatzkammern allein, sondern das ganze Aschantiland ist ein Dorado, jeder Bach enthält Goldkörner, die Goldklumpen können mit dem Messer aus dem Tonboden gekratzt werden — warum wird denn da dieses zweite Kalifornien nicht von einer europäischen Macht annektiert? Wo bleibt da England?

Ja, die Sache hat eben einen bösen Haken! Gewiss, England ist mehrmals mit Waffengewalt eingedrungen, zuletzt erst vor zwei Jahren, d. h., im Jahre 1857.

Dreitausend Soldaten rückten in der günstigsten Jahreszeit gegen das nur 25 Meilen von der Küste entfernte Kumasi vor, und... eine Woche später waren es keine 500 mehr, welche nach der Küste zurückkehrten, auch schon dem Tode verfallen. Alle anderen lagen unbegraben im Urwalde, ein Fraß für die wilden Tiere, nicht von den Waffen der Aschantis hinweggerafft, sondern vom mordenden Sumpffieber.

Und wenn man Legionen von Soldaten hineinschickte — je mehr es sind, desto schneller geht es. Nur eine einzige Nacht im sumpfigen Urwalde, und am anderen Morgen liegen sie alle wie die matten Fliegen da, die Neger schneiden ihnen nur noch die Köpfe ab.

Nein, da ist nichts zu wollen. Es gibt reiche Länder auf der Erde, welche den Europäern für immer verschlossen sind, und dazu gehört das Reich der Aschantis.

Trotzdem hat ja England Nutzen genug davon. Es hat mit Aschanti einen Handelsvertrag abgeschlossen, es besitzt das Monopol, lässt keine andere europäische Macht mehr heran. Es lockt den Aschantis das Gold eben auf andere Weise ab.

Nun weiß man, woher dieser Aschantihäuptling sein Gold und die Diamanten hatte, und wie ein König war er gekommen, mit einem Gefolge von 46 Kriegern, und Dienern, und nicht etwa per pedes apostolorum auf der Landstraße, auch nicht zu Ross, sondern England hatte sich nicht nehmen lassen, die Gesandtschaft des Königs auf einer Korvette unter königlichen Ehren nach Monrovia zu bringen, und da hatte kein Salutschuss gefehlt! Denn in so etwas hat ja England nun etwas los, da darf es an nichts fehlen — wenn es etwas einbringt.

Nun, dies alles wusste ich vorläufig noch nicht, und ich hätte den schwarzen Fürsten, der jetzt ohne Gefolge, nur in Begleitung des Präsidenten kam, schließlich nicht anders empfangen. Außerdem war dieser Kididimo noch so ziemlich echt. Eine Vorstellung gab es hier nicht, das merkte ich gleich. Überhaupt konnten wir ihn gar nicht verstehen, er sprach kein Englisch, nur seine Hottentottensprache.

Wir setzten uns in die Kajüte, wo ich hatte aufdecken lassen, präservierte Fleischsachen, Biskuits und dergleichen, Limonade,

Champagner und Wein. Fürst Kididimo hielt es mit der Zuckerdose. Den Champagner spuckte der Kerl wieder aus.

Der Präsident erzählte mir einiges über Seine schwarze Herrlichkeit, wodurch ich allerdings schon einige andere Begriffe über ihn bekam, und dann erzählte er dem Häuptling, was für einen hohen Rang die Lady Leytenstone in ihrer Heimat einnehme.

Und was tat der schwarze Kerl nach dieser Vorstellung? Er steckte der Lady Blodwen von Leytenstone die Zunge heraus! Faktisch! So weit er sie aus seinem Halse herausrecken konnte und dabei auch noch das Maul sperrangelweit aufgerissen.

Aber das war nicht etwa eine in seiner Heimat gebräuchliche Höflichkeitsbezeugung — eine Unhöflichkeit hätte ich dem ernsten Krieger gar nicht zugetraut — sondern das war nur die Vorbereitung zu etwas anderem.

Jetzt nahm er aus einem Beutelchen, das er am Gürtel trug, eine goldene Dose, öffnete sie, griff mit den Fingerspitzen hinein, wie man eine Prise nimmt — und es war auch wirklich Schnupftabak, nur steckte er diesen nicht direkt in die Nase, wohin Schnupftabak doch gehört, sondern... legte die Prise auf die Zunge. Nun wurde diese langsam in den Mund zurückgezogen, da hatte der Häuptling schon einen kleinen Schlauch in der Hand, das eine Ende nahm er in den Mund, das andere steckte er ins Nasenloch, und — puh! — der Schnupftabak war doch noch dorthin gelangt, wohin er gehört, der Häuptling hatte ihn sich in die Nase geblasen.

Und dieses Manöver ward aller fünf Minuten wiederholt, immer die Zunge herausgereckt und die Prise daraufgelegt und sich auf diese umständliche Weise ins Nasenloch geblasen, einmal ins linke, einmal ins rechte.

Und da soll unsereiner nun ernst bleiben! Ich konnte es, aber Blodwen musste mächtig mit ihren Lachmuskeln kämpfen.

Mit einem Male saß auch Karlemann zwischen uns, ungewaschen wie er war, und langte mit seiner schmierigen Pfote gleich in die Zuckerdose und dann in den Biskuitkorb, und während er mit vollen Backen kaute, musterte er den Häuptling mit unverschämt dreisten Blicken.

»Wer ist denn der?«, kam es nach einer Weile recht breit aus seinem kauenden Munde heraus.

Es wurde ihm gesagt.

Auf dem Tische lag das Zepter, jetzt sah ich, dass es ein Elfenbeinstock war, aber eben ganz mit Juwelen bedeckt, und es dauerte nicht lange, so hatte Karlemann ihn in seiner schmierigen Pfote.

»Ist das echt? Was hat denn der Spazierstock gekostet?«

Ich machte ihn mit gelinden Worten darauf aufmerksam, wen er vor sich habe, und dass er sich etwas anders benehmen möge, soweit man dies solch einem Zigeunerknaben erklären kann. Jedenfalls trug dies alles nicht dazu bei, unsere Lachlust zu dämpfen.

Die Unterhaltung stockte — wenn sie je in Fluss gekommen war. Makosso, also der Fürst, trank ab und zu einen Schluck Champagner, spuckte ihn aber stets wieder aus, benutzte den Champagner als Gurgelwasser. Sonst blies er sich Schnupftabak aus dem Munde ins Nasenloch.

»Kapitän Algots, wollen Sie nicht einmal Ihren Salto vorführen?«, schlug ich vor.

»Kann ich machen.«

Vor dieser Antwort aber hatte mich ein ganz eigentümlicher, so verschmitzter Blick aus den schwarzen Zigeuneraugen getroffen, der ungefähr ausgedrückt hatte: »Na, mich brauchst du, nicht erst daran zu erinnern!«

Salto kam auf einen Pfiff seines Herrn herangewedelt. Schon beim Anblick des reizenden, schneeweißen Zwergpudels bemächtigte sich des schwarzen Häuptlings eine große Erregung, ich sah, mit welcher Mühe er sie niederzukämpfen suchte. Er schien die Erhabenheit über Neugier und dergleichen mit einem Indianerhäuptling teilen zu wollen.

Karlemann hielt als erstes einen Stock hin — »Hopp!«, — und Salto setzte darüber, zuerst in einfachem Sprunge.

»Hehehehe!!!«

Ich habe selten einen Menschen sich so plötzlich umwandeln sehen. Der ernste, finstere Negerfürst geriet ganz außer dem Häuschen, der Hund brauchte gar nichts anderes zu machen, schon das über den Stock springen genügte, so etwas schien der Häuptling eben noch nie gesehen zu haben, mochte es für etwas Übernatürliches halten; denn trotz seines Jubels fürchtete er sich etwas vor dem Hündchen, besonders, als es dann Salti mortali zu schlagen und auf Vorder- und Hinterpfoten zu tanzen begann.

Dann redete er hastig auf den Präsidenten ein.

»Ob der Hund auch bei ihm über den Stock springt«, übersetzte dieser.

»Gewiss.«

Karlemann gab dem Häuptling den Rohrstock. Salto sprang, der Stock brauchte ihm nur vorgehalten zu werden. Dann nur ein Wort seines Herrn, der Pudel blickte den Häuptling an, dieser wurde aufgefordert, langsam in die Hände zu klatschen, er tat es, und jede Mal schlug der vierbeinige Artist ein Salto mortale.

Plötzlich ergriff Kididimo sein Zepter, hielt es Karlemann hin, in der anderen Hand den Rohrstock.

»Snob?«

Der Präsident sagte uns, was er wollte — er meinte swop, tauschen, es war so ziemlich sein einziges englisches Wort, das er kannte, und daraus machte er auch noch snob. Die Aschantis können überhaupt schwer das w aussprechen.

Und was mich betrifft, so war ich für einen Augenblick starr. Eine Ahnung ging in mir auf. Dieser Negerfürst bot für den Pudel seinen diamantstrotzenden Elfenbeinstab, dessen Wert ich gar nicht zu taxieren wagte. Und ich blickte weiter in die Zukunft, ich blickte auf den zwölfjährigen Sohn des deutschen Schmiedemeisters...

Dieser hatte das Zepter genommen, betrachtete es bedächtig.

»Ob das wirklich alles echt ist?«

»Jawohl, ich kann es Ihnen versichern, ich verstehe mich auf Edelsteine«, sagte der mitanwesende Doktor Selo.

Aber Karlemann schien immer noch nicht recht zu trauen...

»Ich will doch einmal sehen...«

Er trat an die Wand, und... macht der Lausejunge über meinen größten Wandspiegel mit einem der Diamanten einen meterlangen Riss!

»Jawohl, Glas schneiden tut er!«, sagte er freudestrahlend. Blodwen war schon lange unruhig gewesen.

»Verkaufen Sie Ihren Hund doch nicht«, bat sie, flehte sie mehr, »Sie wissen doch, auch ich hätte Ihnen jede Summe...«

Allein dieses Gesicht des Jungen war es, was sie unterbrach.

»Verkaufen? Meinen Hund? Den Salto?«

»Na ja, er will Ihnen doch den Elfenbeinstab dafür geben, und Sie scheinen auch mit dem Tausche einverstanden zu sein.«

»Ich? Meinen Salto verkaufen? I wo! Ich denke, er will mir sein Ding für meinen Stock geben, er hat ihn mir doch hingehalten — snob?«

Himmelsapperlot! Diesmal konnte ich nicht an mich halten, ich brach in ein schallendes Lachen aus, und zum ersten Male merkte ich, dass auch Doktor Selo eines Lächelns fähig war, wenigstens drehte er so an seinem Schnurrbart herum.

Nein, gegen diesen zwölfjährigen Jungen war ja der alte Salomo der reine Waisenknabe! Wollte der das Geschäft auf diese Weise schieben! Und dabei gehörte der Rohrstock nicht einmal ihm!

Der Präsident setzte ihm auseinander, dass es sich natürlich um den Hund gehandelt hätte.

»Nee, meinen Hund verkaufe ich um keinen Preis«, meinte Karlemann kopfschüttelnd.

Der Häuptling musste es verstanden haben. »Snob?«

Und schon hatte er die goldene Kuhkette vom Halse genommen, an der noch einige Vermögen baumelten.

»Snob?«

»Nix snob«, wehrte der Junge mit der Bewegung eines alten ausgelernten Juden ab, »wenigstens nix snob for Hind meiniges. Aber wie wäre es denn hiermit?«

Und Karlemann brachte aus seiner Hosentasche eine Maus zum Vorschein, so eine zum Aufziehen, wie man sie auf dem Jahrmarkt für fünf Groschen bekommt, wenigstens im Anfang, zuletzt kostet sie nur noch einen Groschen — zog sie auf, und die graue Maus rannte frisch und lustig auf dem Tisch herum, geradeaus oder im Kreise herum, je nachdem der als Steuer dienende Schwanz gestellt wurde.

»Hehehehe!!!«


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Na, dieser Jubel von dem schwarzen Häuptling! Nur mischte sich etwas Angst bei, als er das unheimliche Vieh angriff. Doch das dauerte nicht lange, und der Jubel ward erst recht groß, als er die Maus selbst aufziehen und laufen lassen konnte.

»Snob?«, war es jetzt Karlemann, welcher fragte, und dabei nahm er die Maus wieder und griff mit der anderen Hand nach der goldenen Kuhkette mit allem, was daran baumelte und bummelte.

»Snob!«, rief der Häuptling sofort, und während er selig vor Freude die Maus betrachtete, pfropfte Karlemann ganz gemütlich die mächtige Halskette mit all den funkelnden Schildchen und Plättchen in seine linke Hosentasche.

»Na, und wie wäre es denn hiermit?«, fuhr er gleich fort, und brachte aus seiner rechten Hosentasche so ein kleines Krokodil aus Blech zum Vorschein, das, wenn man an einem Gummibändchen zog, selbsttätig lief, Stück für Stück einen Groschen, tausend Stück einen Taler, portofrei mit Verpackung.

»Snob?«, fragte dabei der Bengel und griff auch schon nach dem heiligen Zepter. Ich war noch von dem ersten Tausch ganz erstarrt. Wirklich, ich war förmlich erschrocken. So etwas ist doch auch keine Kleinigkeit. Da kann man doch nicht ruhig mit zusehen.

Ich hatte gar keine Zeit, erst den Präsidenten beiseite zu nehmen.

»Herr Präsident, das geht doch nicht!!«

Aber Mister Hesekiel Hilarion hob nur die Schultern. »Verhindern Sie die Tauscherei!!«

»Ja, geehrter Herr, was soll ich denn dagegen tun?«

»Treten Sie dazwischen, klären Sie den Häuptling auf!!«

»Den aufklären? Wie soll ich denn das anfangen?«

Und ich konnte es noch immer nicht begreifen. Versteht der Leser, weshalb nicht? Man muss wohl selbst Augenzeuge von solch einem ›Geschäft‹ sein, um meine Aufregung zu begreifen. Wir haben bei uns ja genau dasselbe. Wer ruhig zusieht, wie ein Jude einen harmlosen Bauern übers Ohr haut, das ist kein Ehrenmann.

»Wir können den Häuptling doch nicht so übervorteilen lassen!!«

»Wieso übervorteilen? Solche Tauschgeschäfte kommen im Innern Afrikas noch täglich an allen Stellen vor, auch hier an der Küste, es kommt nur darauf an, was angeboten wird, und dem Häuptling ist das Zeug genau so viel wert, wie er dafür bietet. Und gesetzt den Fall, er befände sich wirklich nur in einem augenblicklichen Rausche, glauben Sie denn, ich könnte diesem AschantiFürsten abraten? Das dürfte ich gar nicht wagen, keine Andeutung davon! Ich werde mich hüten! Das ist ein AschantiFürst... ich weiß nicht, ob Sie mich recht verstehen, was ich damit sagen will. Der lässt sich nichts einreden.«

Ja, in mir begann es zu dämmern. Außerdem war es nun schon zu spät, das Geschäft war gemacht, und Karlemann brachte aus seiner unerschöpflichen Hosentasche schon wieder etwas anderes zum Vorschein, so ein Männchen, in jeder Hand eine Schelle, und wenn man es auf den Bauch drückt, dann schlägt es die Schellen zusammen und quäkt dazu. — »Snob?«

Jawohl — snob — und diesmal kam das Pantherfell mit dem Goldsaum daran.

Kurz und gut, innerhalb einer halben Stunde hatte mein kleiner Karlemann den schwarzen Fürsten splitterfasernackt ausgezogen. Nur das winzige Schürzchen hatte Seine Majestät noch an, und wäre da etwas Wertvolles daran gewesen, dann hätte Karlemann ihm auch das noch ausgezogen. Sonst alles weg! Die Ringe hatte er ihm aus den Ohren heraus gekaupelt. Und der Häuptling hatte für Zepter, Krone und Stern und allen übrigen Klimbim nichts weiter erhalten als ein halbes Dutzend kleiner Püppchen und dergleichen Spielzeug — oder genau sieben Stück — Stück für Stück einen Groschen. Dann ging er. Selig!

Wir hörten noch draußen das Zappelmännchen quäken und tschintschin machen.

— • —

14. Kapitel
Ich bekomme die Wahrheit zu
hören und glaube sie nicht

Originalseiten I.246 — 262

»Na, Blodwen, was sagst du nun dazu?« Wir befanden uns beide allein in der schon erleuchteten Kajüte. »Es geschehen noch immer Zeichen und Wunder!«, entgegnete Blodwen in Ekstase.

Sie war viel aufgeregter als ich. Ich hatte mich schon vollkommen wieder beruhigt. Das vorhin war nur so eine Redensart gewesen. Der Präsident hatte ganz recht gehabt. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, und der Häuptling, der den Wein doch immer wieder ausgespukt, hatte für die Spielsachen wirklich nicht mehr bezahlt, als sie ihm wert waren.

Wann ist in Südafrika das Vorkommen von Diamanten entdeckt worden? Ich weiß es nicht genau. Damals jedenfalls hatte man noch keine Ahnung davon. Und einige Jahre später, also noch nach jener Zeit, sind nicht im Innern Afrikas, sondern ganz dicht an großen Städten noch ganz andere Geschäfte gemacht worden, da hat noch mancher Händler für ein Glas voll Schnaps dasselbe Glas von einem Kaffern mit Diamanten gefüllt bekommen!!

Hier lag freilich ein etwas anderer Fall vor, und doch schließlich mit jenem ganz vergleichbar.

Es war eben ein neues Ei des Kolumbus, welches der geriebene Junge da gelegt hatte. So viel mir bewusst, war noch kein anderer auf die Idee gekommen, den Eingeborenen Afrikas und anderer Länder solche sogenannte Nürnberger Spielsachen als Tauschartikel anzubieten.

Und das war bei dem Jungen nicht etwa so ein Zufall gewesen, er hatte also nicht nur so ein paar Spielsachen in der Tasche gehabt. Wie ich mich inzwischen bereits überzeugt, hatte er die ganzen Blechkisten, in denen ich erst Proviant vermutete, voll lauter solchen automatischen Spielsachen. Er hatte sie in Hamburg dutzendweise bei einem Engroshändler gekauft, und ich wusste auch schon, dass morgen oder vielleicht noch heute Abend der Tauschhandel nun noch mit dem Gefolge des Häuptlings beginnen sollte, und gab es doch auch in Monrovia reiche Schwarze genug, und selbst der Ärmste konnte noch zur Genüge ausgeplündert werden, denn mochten die Eingewanderten solches Zeug schon von Amerika aus kennen, in Monrovia selbst gab es so etwas jedenfalls noch nicht. Woher das kommt? Du lieber Gott! Als ich vor zehn Jahren zum ersten Male als Schiffsjunge nach England gekommen war, da wurden auf den Straßen schon die Bananen wie bei uns die Äpfel verkauft, spottbillig, und in Deutschland bekam man überhaupt noch gar keine Banane zu sehen, und so ist es wohl noch heute, da ich dies als alter Mann in meinem Leuchtturm schreibe. Damals aber traf dies sogar noch bei den Apfelsinen zu.

Hierüber, wie für solch billiges Spielzeug derartige Kostbarkeiten hingegeben werden können, ist also kein Wort mehr zu verlieren, höchstens noch, dass der schwarze Fürst in dieser Hinsicht eben ganz einem Kinde glich, welches doch auch lieber mit einem Püppchen spielt als mit einem Steinchen, mögen diese auch noch so schillern und bunt sein.

Aber wie lange würde die Periode derartiger Tauschgeschäfte dauern? Höchstens vierzehn Tage. Ganz Monrovia hatte unterdessen schon erfahren, wie Kididimo ausgeplündert worden war, alle, nicht nur die Händler, waren in fieberhafte Aufregung versetzt worden, ähnlich dem Goldfieber Kaliforniens, und da waren genug spekulative Engländer und Yankees vorhanden, Monrovia war schon damals telegrafisch verbunden, es wurde bereits eifrigst gekabelt, nicht nach Nürnberg, sondern nach den nächsten Städten, wo man solche Spielsachen bei Händlern vermuten konnte — — kurz und gut, schon in vierzehn Tagen würden all diese afrikanischen Küsten mit derartigen Sachen überschwemmt sein, einige hundert Prozent, das genügt ja auch schon, bis diese unschuldigen Eingeborenen nicht viel mehr dafür bezahlen würden als an der Stätte der Fabrikation, und dann wollten sie selbst nichts mehr von dem Spielzeug wissen, würden es höchstens noch für ihre Kinder kaufen, Stück für Stück eine Kokosnuss. So geht es immer und überall, das ist bei den modernen Verkehrseinrichtungen der Welt Lauf.

Dieser deutsche Zigeunerjunge aber hatte das Fett abgeschöpft, und so etwa vierzehn Tage konnte er auch noch weiter schöpfen.

Hierüber hatten wir uns unterhalten.

»Der Junge hat seinen Beruf verfehlt, der hätte Finanzminister werden sollen«, meinte ich.

»So? Ich glaube gerade, das dies die einzig richtige Laufbahn ist, die er ergriffen hat, oder auf die er vielmehr durch Neigung gedrängt worden ist, und ich möchte fast annehmen, dass er noch mehr solche Überraschungen in Bereitschaft hat.«

Da hatte nun wieder Blodwen recht. Es war ja auch von mir nur so ein Wort gewesen.

»Was wird er mit dem Schmuck anfangen?«, fragte Blodwen. »Ich würde ihn gern kaufen.«

Ein schwarzer Bote kam, brachte an mich einen Brief von der Señorita Calioni, die in einem französischen Hotel abgestiegen war. In impertinentem Tone teilte sie mir mit, sie habe erfahren, dass der Käufer, der auf ihre Jacht hinübergegangen war, ja nur ein Junge sei, und sie fordere sofort ihre 50 000 Dollar von mir, der ich garantiert hätte.

Karlemann befand sich noch in seiner früheren Kabine bei seinen Sachen, er wurde geholt, und ganz von selbst begann er wegen des Verkaufes der Kleinodien. Hierbei war auch Doktor Selo zugegen.

»Mit einigem Rat kann ich Ihnen wohl dienen, soweit eine Abschätzung solcher Schmucksachen überhaupt möglich ist. Mein Onkel, bei dem ich erzogen wurde, war Juwelier, er hatte mich zu seinem Nachfolger bestimmt, ein Jahr habe ich in seinem Geschäft gelernt, und ich soll für Goldschmuck und Juwelen ein sehr guter Taxator gewesen sein.«

Es war ja eben nur eine ungefähre Schätzung möglich, von einem Liebhaber- und selbst Kunstwert musste ganz abgesehen werden. Etwa wie im Leihhaus, und als Doktor Selo seinen geputzten Klemmer wieder auf die krumme Nase gesetzt hatte und die Kleinodien eingehend betrachtete, machte er mir auch ganz den Eindruck solch eines Leihhausjuden.

Den Elfenbeinstab allein schätzte er auf 75 000 Dollar, die Halskette mit allem Anhang auf 100 000, die Arm- und Fußspangen und Ringe schätzte er summarisch ab, unter den Ringen sofort einen Diamanten als falsch erkennend.

»Dass darunter falsche Steine sein können, erschwert die Sache ungemein. Aber... nun... ich würde das Ganze, wenn ich kein besonderes Geschäft durch Wiederverkauf machen will, nur mit zehn Prozent rechne, mit rund fünfmalhunderttausend Dollar beleihen.«

Und Doktor Selo nahm den Klemmer ab, um ihn noch einmal zu putzen.

Wieder beschlich mich ein fast ängstliches Gefühl. Ich dachte daran, was für eine Menge Geld es doch in der Welt gibt, was für ein ungeheueres Vermögen dieser nackte Negerhäuptling doch nur so als Putz mit sich herumgeschleppt hatte, und ich dachte daran, wie dieser zwölfjährige Sohn eines armen Dorfschmiedes mit einem Schlage plötzlich ein doppelter Millionär sein sollte, und nicht einmal durch die Gunst des Schicksals, nicht durch Lotteriespiel, sondern durch einen Trick, den er durch eigene Geisteskraft ausspekuliert und durch energievollen Wagemut glücklich ausgeführt hatte.

Und doch, kann so etwas nicht jeden Tag vorkommen? Ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht ist es jedenfalls nicht.

Einige Jahre später ist ja etwas viel Tolleres passiert.

Ein armer, schwindsüchtiger Pastorssohn wird auf Kosten einer wohltätigen Gesellschaft nach Südafrika geschickt, um dort seine Gesundheit wiederherzustellen — und ein halbes Jahr später ist er ein hundertfacher Millionär — und noch später nennt man den ehemaligen englischen Pastorssohn den ungekrönten König von Südafrika! Cecil Rhodes.

Ja, diese Pastoren! Ich halt's mit den Pastoren. Auch ich war ja von einem Ochsen so mittenmang ins Gold gejagt worden.

Jetzt aber durfte ich nicht träumen, musste meine Sinne zusammennehmen. Es handelte sich um mehr als den vierten Teil unseres Schatzes, den wir hinzugeben hatten, denn die Zinsen von Blodwens Vermögen... auch mir ist der Sperling in der Hand stets lieber als die Taube auf dem Dache gewesen.

»Hatte Ihr Onkel ein Leihamt?«, fragte ich den Arzt.

»Ja, in Genua, das größte vielleicht von ganz Italien.«

Aha! Ich hatte also doch richtig gewittert, als er vorhin den Klemmer auf die krumme Nase gesetzt hatte.

»Und da kamen auch solch ungeheure Beleihungen auf Juwelen vor?«

»Gewiss, oft genug. Ganz in der Nähe sind Monte Carlo und Nizza, wo schon damals Spielhöllen in Menge existierten.«

»Da muss Ihr Onkel doch ein schwerreicher Mann gewesen sein.«

»Reich war er allerdings, aber zu so etwas hatte sein Kapital doch nicht gelangt. Er war in solchen Leihgeschäften nur der Vermittler der LombardBank.«

»Und Sie sollten mit in dieses Geschäft kommen?«

»Ja! Aber mich trieb eine unwiderstehliche Neigung zum ärztlichen Beruf und noch unwiderstehlicher in die weite Welt hinaus.«

»Lebt Ihr Onkel noch?«

»Nein.«

»Beerbten Sie ihn?«

»Gar nichts bekam ich. Eben weil ich nicht seinem Wunsche entsprach, meine eigenen Wege ging, enterbte er mich.«

»Wussten Sie schon vorher, dass Sie leer ausgehen würden, ehe Sie sich seinem Wunsche widersetzten?«

»Gewiss. Es hatte böse Szenen genug gegeben. Ich verzichtete von vornherein.«

Da hielt ich meinem Schiffsarzt die Hand hin, und ich drückte sie ihm in hochachtungsvoller Anerkennung.

Ach, hätte ich schon ahnen können, wem ich damals die Hand so treuherzig drückte!!

»Ich würde den ganzen Schmuck gern zu diesem Preise kaufen«, sagte Blodwen; »wenn sich aber nun Herr Doktor Selo zu Algots Ungunsten sehr geirrt hätte?«

Das war wieder einmal ganz Blodwen gewesen!

»Ich bin mit 500 000 Dollar zufrieden«, erklärte Karlemann, »her damit!«

Wusste der, dass wir so viel Gold an Bord hatten? Es konnte möglich sein, obgleich es unseren Leuten, welche die Geldsäcke doch erst von der Bank abgeholt hatten, streng verboten war, darüber zu sprechen.

Aber ich vermutete mehr, dass der Junge trotz aller sonstigen Schlauheit gar nicht wusste, was für eine Summe das war, besonders nicht in Gold — — ich hatte es bis vor einigen Wochen auch nicht gewusst.

Im Übrigen will ich gleich hier bemerken, dass sich noch an demselben Tage ein holländischer Jude einfand, dessen Höchstgebot die taxierte Summe des Arztes nur wenig überstieg.

»Sie können das Geld auch sofort bekommen, mein kleiner Herr Kapitän, sogar in Gold.«

»Gold will ich auch nur haben, solche Papierwische nehme ich gar nicht an«, war die selbstbewusste Antwort.

»In englischen Goldstücken.«

»Sterlings? Jawohl, die sind mir gerade recht lieb.«

»Wissen Sie auch, wie viel das sind, 500 000 Dollar?«

»Das sind... 100 000 Pfund Sterling.«

»Und was dürften die wiegen?«

Nur eine kleine Pause der Überlegung.

»So ungefähr zwanzig Zentner.«

Alle Wetter, ich hatte mich in dem Jungen wiederum geirrt! Noch ehe ich etwas sagen konnte, hatte Karlemann den schmutzigen Finger an seine schmierige Nase gelegt und blickte in einer Weise sinnend vor sich hin, dass jetzt unbedingt ein großer Gedanke kommen musste, dem ich erwartungsvoll entgegensah.

»Hm. Wohin bringe ich denn nun das viele Gold? Ich habe schon immer daran gedacht, aber... nicht dass es so schnell gehen würde, es kommt mir etwas zu unerwartet.«

»Nun, die Staatsbank von Liberia ist doch gut...«

»Ist nicht«, unterbrach er mich. »Das Geld könnte wohl auf meinen Namen abgegeben werden, aber wenn ich einmal Geld brauche, da könnte es doch eine faule Sache sein, meine Unterschrift würde wohl nicht gelten, ich bin doch noch nicht mündig, und...«

Weiß Gott, er hatte recht! Das wäre mir ja schließlich auch noch eingefallen, ich musste nur staunen, wie dieser Junge so selbstständig seine Unselbstständigkeit erkannte. Anders kann ich mich kaum ausdrücken. Er wollte eben als Mann behandelt sein, weil er sich als Mann fühlte, und dazu gehörte auch die Erkenntnis, dass er in Wirklichkeit noch ein Kind war.

»Hm«, fuhr er fort, immer noch den Finger an der Nase. »Und dann hätte das auch noch einen anderen Haken.«

»Welchen?«

»Wenn die Maus und der Hampelmann nun kaputt gehen? Der Schwarze könnte mir doch noch auf den Leib rücken, und wenn ich nun das ganze Geld hier auf der Bank habe...«

Ich konnte mir nicht helfen, ich musste aus vollem Halse lachen. Also auch mit so etwas rechnete dieser Bengel schon!

»Am liebsten würde ich ja das ganze Geld mit auf den Knipperdolling nehmen.«

»Wohin?«, fragte ich verwundert, nicht recht gehört zu haben glaubend.

»Auf den Knipperdolling.«

»Was ist denn das?«

»Nun, meine Jacht. Ach so, das wissen Sie noch nicht. Der Name ›Farewell‹ gefällt mir nämlich gar nicht, und da habe ich das Schiffchen ›Knipperdolling‹ getauft.«

Knipperdolling — na, einen seltsameren Schiffsnamen hätte man wohl kaum finden können! Selbst Doktor Selo musste wieder einmal lachen.

»Wie sind Sie denn auf diesen Namen gekommen?«

»Nur so — der Name gefällt mir.«

»Wissen Sie denn, wer Knipperdolling gewesen ist?«, lachte ich.

»Nee.«

»Das wissen Sie überhaupt gar nicht?«

»Nee.«

»Ja, wie sind Sie denn nur auf diesen Namen gekommen?«

»Ich weiß nicht — ich habe den Namen einmal irgendwo gehört — ein Mensch hieß doch wohl so — und der Name gefällt mir.«

»Knipperdolling war ein Wiedertäufer, im 16. Jahrhundert.«

Mehr konnte ich dem Jungen, der sicher noch nicht einmal etwas von den Wiedertäufern gehört hatte, hier ja nicht erzählen, und Karlemann hatte überhaupt nur eines herausgehört.

»Ein Wiedertäufer war er? Na ja, da passt's ja gerade recht gut für mein Schiffchen.«

Wir mussten noch lange lachen. Karlemann und Knipperdolling — wahrhaftig, in gewissem Sinne passten diese beiden Namen zusammen!

Karlemann ließ sich durch unser Lachen nicht stören. Er sann noch immer.

»Aber sehen Sie, die jetzige Mannschaft gefällt mir nicht recht — da muss ich erst meine eigene haben, der ich vertrauen kann — ich dachte schon, mir von Ihren Matrosen ein paar... nein, wissen Sie was, ich schicke das ganze Geld lieber nach Hause, an meinen Vater — oder lieber an meine Mutter, der Vater könnt's versaufen — geht das?«

Unseren Ernst zurückfinden konnten wir bei solchen Worten natürlich nicht, und ich selbst in meiner lebhaften Phantasie malte mir schon aus, wie der arme Dorfschmied die zwei Millionen Mark bekam und sie schleunigst in Schnaps umsetzte.

»Gewiss, das geht.«

»Haben Sie denn so viel Geld bei sich? Aber keine solche Papierlappen, das sage ich gleich.«

Also er wusste noch nicht, dass wir so viel Gold an Bord hatten. Dann lag hier ein Rätsel vor. Und doch nicht. Sondern uns verband eine eigentümlich gemeinsame Charaktereigenschaft. Denn auch dieser Junge dachte doch sofort daran, das ganze Geld mit sich an Bord zu nehmen, er traute nur nicht recht der jetzigen Mannschaft.

Ich belehrte ihn, dass es beim Abschicken ja gar nicht darauf ankäme, ob Gold oder Papier, Karlemann sah alles ein, und sofort wurden Anstalten getroffen, um dieses Geschäft gleich zu erledigen, jetzt in der achten Abendstunde, wobei zu bedenken ist, dass in diesen heißen Gegenden die Geschäftsstunden bis um elf Uhr und bis um Mitternacht währen. Dagegen ist zu Mittag alles für drei bis vier Stunden geschlossen.

Wenn wir solch eine Zahlung vermutet, dann hätten wir uns nicht mit der goldenen Last zu schleppen brauchen. Nun, einmal herunter musste das Gold doch sowieso wieder.

Die Staatsbank wurde benachrichtigt, und eine Viertelstunde später lieferte ich dort Goldsäcke im Werte von 500 000 Dollar ab — Liberia hat nordamerikanisches Geld — hiervon wurden 450 000 Dollar nach Ritnese auf den Schmiedemeister Moritz Algots angewiesen, oder vielmehr auf den Namen seiner Frau, welche auch sofort durch die Post benachrichtigt wurde — und als ich dies alles tat, da musste ich mich wiederum mehrmals fragen, ob dies alles denn nicht nur ein sonderbarer Traum sei! Am deutlichsten kam mir der Gedanke an einen Traum, wenn ich diesen zwerghaften Jungen dabei ansah, der sich durchaus nicht waschen wollte.

So blieben noch 50 000 Dollar liegen, vorläufig auf meinen Namen, die ich sofort der Calioni anweisen wollte.

Um den unmündigen Jungen nicht als Aussteller fungieren zu lassen, wollte ich lieber gleich selbst hingehen. Karlemann war mit allem einverstanden, wie ich das machen wollte, und... es reizte mich überhaupt etwas, ich weiß selbst nicht, was es war, noch einmal die Tänzerin aufzusuchen. Nicht etwa, dass ich unlautere Hintergedanken dabei gehabt hätte — ganz im Gegenteil — ich wollte mich einer Versuchung aussetzen, um sie siegreich zu bestehen — so eine Art Gefühl des Raubtierbändigers, wenn er den Zwinger betritt — kurz, ich ging selbst hin, um ihr die Anweisung zu überbringen und die Quittung in Empfang zu nehmen.

Karlemann hatte keine Lust, mitzugehen, er sehnte sich nach seinem Schiff zurück, und ich musste ihm versprechen, heute Abend noch einmal zu ihm zu kommen.

Zehn Minuten später stand ich in dem französischen Hotel der Tänzerin gegenüber, die es sich für die Nacht schon recht bequem gemacht hatte.

Ich wünschte guten Abend. Sie richtete sich nur etwas auf dem Sofa empor, auf dem sie gelegen hatte.

»Ich bringe Ihnen im Auftrage von Karl Algots das Geld für die Jacht — 50 000 Dollar — eine Anweisung auf die hiesige Staatsbank.«

»Bitte, nehmen Sie Platz.«

»Danke, ist nicht nötig. Sie brauchen hier nur diese Quittung auszufüllen.«

»Habe ich Ihnen etwas getan?«

»Mir? Nicht, dass ich wüsste!«

»Habe ich Sie beleidigt?«

»Bitte, Señorita, wir wollen doch dieses Geschäft...«

»Haben Sie vorhin meinen Brief erhalten?«

»Jawohl.«

»Er war recht unhöflich abgefasst, nicht wahr?«

»Wenn Sie es hören wollen, allerdings.«

»Ich tat dies mit Absicht.«

»Wieso mit Absicht?«

»Es könnte doch sein, dass Ihre Gattin — Ihre Geliebte wollte ich sagen, diesen Brief in die Hände bekam, Sie scheinen ja in Gütergemeinschaft zu leben...«

»Bitte, nehmen Sie hier diese Anweisung, und stellen Sie die Quittung aus.«

»... und hätte ich mich zärtlicher oder nur höflicher Ausdrücke bedient, so hätte die Lady glauben können, ich wollte sie eifersüchtig machen.«

»Wollen Sie jetzt hier unterschreiben?«

»Herr Kapitän Jansen, können Sie die Wahrheit nicht vertragen?«

»Das kann ich immer.«

»Nun denn: Sie sind ein schöner Mann, ein ganzer Mann, Sie gefallen mir...«

»Ich empfehle mich, ich komme morgen wieder.«

»... aber noch mehr muss ich Sie bemitleiden.«

Das allerdings war etwas, was meinen schon zur Türe gerichteten Schritt noch einmal stocken ließ.

»Sie bemitleiden mich?«

»Ich bedauere Sie unsäglich.«

»Weshalb?«

»Erst lassen Sie uns jetzt das Geschäft erledigen.«

Es war doch ein ganz raffiniertes Weib, und nun brauchte sie erst lange Zeit, um die Quittung auszustellen.

»Alles in Ordnung. Sie können das Geld heute noch von der Bank abholen. Ich empfehle mich.«

»Sie wollen also nicht hören, weshalb ich Sie so sehr bemitleide?«

In diesem Augenblick kam mir das braune Weib wie eine Hexe vor, wenn auch wie eine junge.

»Nun, und?«

»Ich habe inzwischen über Ihr beiderseitiges Verhältnis zu erfahren bekommen...«

»Von wem?«

»Das lassen Sie meine Sache sein. Es ist hier jemand, der Sie sowohl als auch die Lady Leytenstone sehr gut kennt, von der ja auch ich schon genug zu hören und zu lesen bekommen habe. Erlauben Sie, dass ich erst einmal von Ihnen spreche.«

»Bitte.«

»Ihr Ideal ist, ein eigenes Schiff zu besitzen, auf dem Sie frei in der Welt umherfahren können, als selbständiger Kapitän. Nicht wahr?«

Das hatte sie sehr leicht an Bord meines eigenen Schiffes von Matrosen erlauschen können, ich hatte ja ehemalige Freunde darunter, mit denen ich mich früher über so etwas unterhalten hatte.

»So ist es«, bestätigte ich.

»Nun, Herr Kapitän — ich bin ein freies Weib, welches keine Fesseln kennt — lebe ganz meinen Neigungen — etwas emanzipiert — etwas exzentrisch — sogar etwas sehr — und ich bin reich — reicher als Sie denken — und Sie gefallen mir eben — — kurz und gut, ich will Ihnen Ihr Ideal verwirklichen.«

Ich konnte die schöne Sprecherin nur anstarren, doch begriff noch gar nicht, wo hinaus das alles eigentlich wollte.

»Sie verstehen nicht, was ich beabsichtige?«

»Ganz und gar nicht.«

»Nun — wie gesagt — ich will eben Ihr Ideal verwirklichen — nennen Sie es meinetwegen eine Caprice von mir — ich will Ihnen so viel Geld geben dass Sie sich solch ein Schiff kaufen und es unterhalten können, ganz sorglos.«

Ich glaubte, meinen Ohren nicht trauen zu dürfen, behielt aber meine Besinnung, wollte etwas aushorchen.

»Dazu bedürfte ich ungefähr einer halben Million Dollar.«

»Na ja, sollen Sie haben — kann ich mir leisten.«

»Die würden Sie mir geben?«, vergewisserte ich mich nochmals.

»Jawohl.«

»Leihweise?«

»Nein. Schenken. Wenn Sie einmal in der Lage sind, können Sie mir es ja zurückerstatten, oder nein, diese Summe irgendeiner wohltätigen Anstalt vermachen. Falls Sie nicht gern Geschenke annehmen. Und ich komme nicht etwa mit Ihnen — ich danke für diese Seefahrerei — einmal und nicht wieder. Nun, nehmen Sie das an? Ich bitte Sie sehr.«

Was für ein Glückspilz war ich doch! Es mit einem Male geworden. Früher war meine ganze Sehnsucht gewesen, dass ich einmal jemanden fand, der mir 50 000 Taler gepumpt hätte, und jetzt wurden mir die Millionen von allen Seiten nur so in die Taschen gepfropft.

So hätte ich denken können. Ich aber fuhr grimmig empor.

»Madam, wofür halten Sie mich eigentlich?!«

»Nun?«, erklang es kalt zurück.

»Sie wagen mir solch ein Angebot zu machen?! Wie kommen Sie eigentlich dazu?«

»Bah«, sie machte eine verächtliche Bewegung. »Haben Sie denn nicht ganz genau dasselbe von der Lady Leytenstone angenommen?«

»Das ist etwas anderes, und... genug, genug...«

»Warten Sie doch noch einen Augenblick!«

Ihre brennenden Augen wussten mich wirklich noch einmal auf die Stelle zu bannen. »Sie denken wohl, Sie haben Ihr Ideal schon erreicht, indem Sie jetzt Ihr eigenes Schiff besitzen, sodass mein Angebot gar nicht mehr nötig wäre?«

»Allerdings bin ich vollständig zufriedengestellt, ich bin glücklich, ich liebe Lady...«

»Hahahaha!!«, brach sie jetzt plötzlich in ein schrilles Lachen aus. »Sie Narr, Sie blinder Maulwurf! Oder aber Sie betrügen sich selbst! Sie ein freier Mann? Wissen Sie, was Sie sind? Ein Hampelmann sind Sie, nämlich in der Hand eines launenhaften Weibes, das Sie nach seinen Launen tanzen lässt! Und ich sage Ihnen: ich kann jeden Menschen auf den ersten Blick beurteilen — und ich irre mich nie — und Sie werden dieses Weib noch kennen lernen — hüten Sie sich! — aus dieses Weibes Augen blitzt eitel Grausamkeit, die nur auf Gelegenheit wartet, um zum Durchbruch zu kommen — diese Lady ist zweitausend Jahre zu spät geboren worden — die passte in Neros Zeiten hinein — denn ich sage Ihnen: die ist fähig, nur aus grausamer Wollust Löwen und Tiger auf Menschen zu hetzen...«

Schmetternd flog die Tür zu. Ich hatte sie von draußen zugeworfen. Wie ich hinunter auf die Straße gekommen bin, weiß ich nicht.

Sapristi!!! Das heißt, es war aber ein drei Ellen langer Fluch, in dem ich mir Luft machen musste.

Schade, jammerschade, dass das ein Weib und kein Mann gewesen war, der mir so etwas gesagt hatte, der hätte aber etwas zu hören oder vielmehr zu fühlen bekommen!!

Ich ein Hampelmann?! In Blodwens Händen eine Hampelpuppe?!

Die ganze bisherige Zeit flog schnell an meinem Geiste vorüber — ja, ich hatte manchmal nachgegeben — sollte ich auch nicht! — aber sonst...

Ach, es war ja überhaupt Unsinn, nur noch daran zu denken! Das war ja dieses miserable Frauenzimmer gar nicht wert! Meine Blodwen so schlecht zu... nein, gar nicht mehr daran denken!

Und es gelang mir. In einer Kneipe bei der Unterhaltung mit einem fremden Kapitän fand ich mein seelisches Gleichgewicht vollkommen wieder.

Ich war ja eine viel zu gutmütige Natur, viel zu sorglos, in dieser Hinsicht auch viel zu leichtsinnig, um mir noch lange Gedanken darüber zu machen. Bald wäre ich imstande gewesen, selbst dieser Tänzerin alles wieder zu verzeihen, es hätte ihrerseits nur ein bittendes Wort bedurft, ich hätte sie nur in irgendeiner kleinen Not zu sehen brauchen. —

Erst später sollten mir die Augen aufgehen, um zu erkennen, wie furchtbar wahr diese mexikanische Tänzerin gesprochen hatte!

— • —

15. Kapitel
Ein geheimnisvoller Besuch und wie
ich selbst zum Sklavenhändler werde

Originalseiten I.262 — 27

»Denke dir nur, Blodwen, was ich soeben bei der Mexikanerin erlebt habe!« Mit diesen Worten trat ich vor Blodwen wieder hin — und wenn etwas meinen damaligen Charakter offenbarte, so geschah es hierdurch.

Ich erzählte — alles — mit Ausnahme von Blodwens vorgeblicher Grausamkeit, das verschwieg ich, ich hätte sie doch sonst grenzenlos gekränkt.

Blodwens Verhalten war ein ganz eigentümliches. Wenn sie in Schmähungen über jene Tänzerin ausgebrochen wäre, ich hätte mich nicht gewundert, hätte es für gerechtfertigt gefunden — denn sie gehörte zum Menschengeschlecht und stand auf keiner besonders hohen philosophischen und ethischen Stufe. Darin konnte ich äußerst gerecht denken.

Aber nichts dergleichen. Langsam nestelte sie ihre Taille auf und zog das Ledertäschchen heraus, das ich ihr von einem Matrosen hatte machen lassen.

»Hast du dir die geografische Ortsbestimmung aufgeschrieben, wo wir neulich das Gold versenkten?«

»Nein.«

»Du kannst die Zahlen auswendig?«

»Ja.«

»Sage sie mir!«

Ich sagte die Zahlen leise auf, sie stimmten mit denen überein, die auf dem Zettelchen standen, das sie dem Ledertäschchen entnommen hatte.

»Kannst du das für immer auswendig?«

»Für immer.«

Schnell hielt sie das Papier über die Petroleumlampe, sofort fing es Feuer, verbrannte.

»Was soll das?«

»Du kannst noch fragen?«

»Blodwen!«

»Was mein ist, soll dein sein, und ich will nichts von dir zu beanspruchen haben, als was du mir gutwillig gibst. Nach wie vor werden wir unser Geld überall im Meere verteilen, aber niemals mehr will ich wissen, wo es liegt. Und wenn du stirbst? Dieser Tag wird auch mein letzter gewesen sein.«

Ich schloss sie in meine Arme. Es war das Allereinfachste. So einfach, wie sie gesprochen hatte.

Dann hatte ich noch viel zu tun. Zunächst ließ ich mich nach dem etwas weiter draußen liegenden holländischen Schiffe rudern, in welchem die Hälfte meiner Leute heute fast den ganzen Tag gescheuert hatte.

Es war mit Reserveankern von unserem Schiffe versehen worden, ich prüfte diese, teilte eine Wache von vier Mann ab, welche während der Nacht abwechselnd wachen sollte, gab allen übrigen bis auf die notwendigste Wache für das eigene Schiff Urlaub, an Land zu gehen, und dann suchte ich Karlemanns ›Knipperdolling‹ auf.

Es war gegen zehn Uhr und an Deck der kleinen Jacht so lebendig wie noch in der ganzen, hellerleuchteten Stadt.

Einige Dutzend schwarzer Gestalten hatten sich eingefunden, im Gegensatz zu den Bewohnern der Stadt, die immer gern die neueste Mode mitmachen, mehr ganz als halbnackt, aber ich sah vielen Schmuck — kurz, Karlemann war schon wieder beim Kaupeln, hing den unschuldigen Söhnen der Wildnis seine Mäuse, Krokodilchen und Schellenmännchen auf, nahm ihnen dafür die Ringe aus Ohren, Nase und von allen anderen Körperteilen.

Wie das noch enden würde, war noch gar nicht vorauszusehen. Der zwölfjährige Junge würde bald dem alten Vanderbilt Konkurrenz machen können. Hatte ich aber das Heft in Händen, so würde ich dafür sorgen, dass er an Blodwen keine große Käuferin mehr für seine afrikanischen Schmucksachen fand. So vernünftig würde Blodwen wohl auch sein.

Ich sah einige Minuten zu, der Junge ließ sich gar nicht stören, dort stände der Kapitän, der hätte die Schlüssel, sollte mir unten alles zeigen.

Es war eine reizende Einrichtung, aber eben für Zwerge berechnet. Damastbettdecken, das feinste Silberzeug, alles auf den Namen der Calioni graviert — fürwahr, der Junge hatte einen Spottpreis dafür bezahlt.

Es war gut, dass ich mir die Miniaturjacht einmal besehen hatte, die Karlemann fernerhin als seine Heimat betrachten wollte, denn ich sollte nicht so bald wieder Gelegenheit dazu bekommen. Aber was dieser geniale Zigeunerknabe daraus zu machen imstande war, das konnte ich mir lebhaft vorstellen. Nur so verdrecken lassen durfte er sie nicht wie sich selbst.

Der Jachtkapitän wollte mich aushorchen, wollte mir dann etwas von der Mexikanerin erzählen; aber der Mann gefiel mir überhaupt nicht, ich ließ mich nicht mit ihm ein.

Als ich an Bord meines Schiffes zurückkehrte, meldete mir die Deckwache, in der Kajüte warte auf mich ein Neger.

»In der Kajüte?«, fragte ich verwundert, schon mehr bestürzt.

»Ja — das heißt — 's ist nur ein Neger, weil er schwarz ist«, sagte Wilm stockend, »eigentlich ist's ein ganz feiner Herr, er hat sogar eine Angströhre auf und Handschuhe an den Fingern.«

»Ja, wie kommt der denn aber in die Kajüte?!«

»Ich ließ ihn auch nicht an Bord, als er nach dem Kapitän fragte — er blieb auf dem Kai stehen — dann kam die Lady an Deck — und da sind die beiden ins Quasseln gekommen — und da hat die Lady den Neger mit der Angströhre und mit den Handschuhen eben mit herein in die Kajüte genommen.«

Meine Bestürzung war begreiflich. Unbegreiflich war nur Blodwens Verhalten. Konnte ihr doch auch hier in einer ziemlich kultivierten Gegend Afrikas ebenso gut wie in England von gewisser Seite aus nach dem Leben getrachtet werden. Und sie nahm einen fremden Mann mit sich in die Kajüte!

Hierbei halte ich die Bemerkung für notwendig, dass mir wegen des fremden Negers, der nach des Mattrosen Beschreibung ein tadelloser Gentleman sein sollte, aber nur bekleidet mit Zylinder und Handschuhen, nicht der leiseste mit Eifersucht verwandte Gedanke aufstieg.

»Sie ist allein mit ihm in der Kajüte?«

»Ich glaube wohl.«

»Wo ist der Schiffsarzt?«

»Vorhin saß er in seiner Kabine.«

Nun, ich brauchte nicht weiter zu forschen, ich hatte ja nur ein paar Schritte.

Noch an Deck traf ich mit Blodwen zusammen, die eben aus der Kajüte trat.

»Ich hörte deine Stimme, Richard.«

»Was für ein Neger ist das?«

»Er begehrte dich zu sprechen. Die Wache ließ ihn nicht an Deck, ich sah ihn stehen, er machte einen so netten Eindruck, fragte ihn, was er wünsche, die Antwort war die eines gebildeten Mannes — kurzum, ich konnte ihn nicht so draußen stehen lassen, eben gerade deshalb nicht, weil es ein Neger ist — ich nötigte ihn in die Kajüte.«

»Was will er denn von mir?«

»Das will er nur dir selbst mitteilen. Er ist ja erst vor zehn Minuten gekommen, wir haben uns nur etwas über Liberia unterhalten — ein ganz gebildeter Mann, trotz seiner schwarzen Haut.«

»Blodwen, Blodwen, und du, die sich wegen ihrer Sicherheit ganz auf ein Schiff zurückgezogen hat, du nimmst einen dir wildfremden Mann mit in die Kajüte?!«

»Ja, wenn ich nicht einmal auf meinem eigenen Schiffe frei handeln darf, wo bin ich denn sonst in Sicherheit?«, war ihre stolze Gegenfrage, und ich verstand sie.

Schon in ihrer römischen Villa hatte sie trotz aller Vorsichtsmaßregeln doch immer bewiesen, dass sie im Grunde genommen keine Furcht hatte, mindestens ihre hinterlistigen Feinde verachtete.

Ich betrat die Kajüte. Der schwarze Besuch erhob sich.

Es war ein tiefschwarzer Neger, mir nur wenig an Größe nachgebend, dabei herkulisch gebaut — ich taxierte ihn sofort für einen Zulu, der wohl der größte und schönstgebaute Repräsentant der afrikanischen Rasse ist, auch die größte Intelligenz und den ritterlichsten Charakter besitzt, was sich wiederum schon in den Gesichtszügen ausdrückt.

Und nun präsentierte sich mir hier auch noch ein wirklich tadelloser Gentleman im schwarzen Gehrockanzug, der seinen Zylinder in der Hand zu halten wusste, und auch nichts von allem dem buntschreienden Tand, mit dem sich sonst der Neger so gern herausstaffiert, wenn er einmal von der Kultur etwas beleckt worden ist und er Geld in die Tasche bekommen hat, wodurch er stets für den Europäer ein so lächerliches Zerrbild wird.

»Sie wünschen?«

»Habe ich die Ehre, Herrn Kapitän Richard Jansen aus Danzig zu sprechen?«, lautete die Gegenfrage, im besten Englisch gegeben, mich aber auch gleich stutzig machend.

Was ging es den an, ob ich aus Danzig oder sonst woher war? Das war überhaupt eine ganz ungebührliche oder doch ungewöhnliche Frage, wenigstens für einen Seemann. Denn bei einem Kapitän kommt es wohl darauf an, von welchem Schiffe er ist, das setzt man gewöhnlich hinzu, aber das Woher, das hat doch gar nichts zu sagen.

Nun, dieser Neger mochte solch eine Routine nicht kennen. »Bin ich. Ihr Name?«

»Ich habe mir den Namen Peter Steffens gegeben.«

»Was soll das heißen: Sie haben sich diesen Namen gegeben?«, fragte ich misstrauisch.

»Nun, bei meiner Freilassung. Ich war früher Sklave.«

Ach so, jetzt verstand ich. Als Sklaven führen die Neger doch gewöhnlich biblische oder klassische Namen, Gideon, Simson, Jupiter und dergleichen. Werden sie freigelassen, können sie sich einen bürgerlichen Namen wählen, auf den ihr Freibrief registriert wird. Mit Vorliebe wählen sich die eitlen Neger dann immer möglichst pompöse Namen, solche von berühmten Männern, was ihnen aber auch versagt werden kann, damit nicht zu viele Irrtümer entstehen. Genau so ist es früher mit den österreichischen Juden gemacht worden, daher auch die vielen Blumennamen und andere ungewöhnliche.

Dieser hier war mit Peter Steffens einmal recht bescheiden gewesen.

»Was wünschen Sie also von mir, Mister Steffens?«

»Gestatten Herr Kapitän, dass ich Sie unter vier Augen spreche?«

»Wir sind ja unter vier Augen, und belauscht können wir hier nicht werden.«

Er wagte es nicht auszusprechen, nur seine Augen richteten sich nach Blodwen, welche hinter mir wieder eingetreten war.

»Diese Dame bleibt hier — vor dieser Dame habe ich kein Geheimnis.«

»Ich bitte Sie, Herr Kapitän...«

»Lady Leytenstone bleibt hier«, wiederholte ich, »und wenn Sie mir Ihr Geheimnis nicht in Gegenwart dieser Dame anvertrauen können, so will ich es gar nicht wissen, und überhaupt bin ich kein Freund von solcher Geheimniskrämerei.«

»Handelt es sich denn um ein Geheimnis?«, fragte Blodwen.

In der Tat, eigentlich hatte der Neger von so etwas noch gar nichts gesagt. Nur dass er mich so partout unter vier Augen sprechen wollte, hatte dies angedeutet.

»Nicht gerade ein Geheimnis...«, entgegnete er jetzt zögernd, und Blodwen fiel ihm wieder ins Wort.

»Handelt es sich etwa um das holländische Wrack?«

»Nein, ganz und gar nicht.«

Der Neger hatte sich aus seiner etwas verlegenen Stellung emporgerichtet, ein scharfer Blick, der aber nichts Stechendes an sich hatte, musterte Blodwen.

»So darf ich in Gegenwart dieser Dame ganz offen sprechen?«

»Ganz offen.«

»Nun denn, Herr Kapitän, ich habe ein großes Anliegen an Sie.«

»Nehmen Sie erst Platz, bitte!«

Ich hatte mich auf die Lehnbank gesetzt, welche um den Tisch herumlief, desgleichen Blodwen, der Neger aber folgte meiner Einladung nicht.

»Nein, Herr Kapitän, zu dem, was ich Ihnen vorzuschlagen habe, muss ich stehen.«

»Weswegen stehen? Sie sind doch nicht mein Sklave — nicht einmal mein Diener.«

»Aber ich möchte es werden, und nicht nur Ihr Diener, sondern Ihr Sklave. Herr Kapitän, wie hoch taxieren Sie meine Arbeitskraft als Kapital, das Sie für mich zahlen würden?«

Hoch hatte der junge Neger seine kraftvolle Figur mit den mächtigen Schultern aufgerichtet, blickte mich fest an.

Ich war etwas baff.

»Sie wollen sich mir wohl als Sklave verkaufen?«

Hierbei muss ich bemerken, dass es damals, da Amerika nur die Sklaveneinfuhr, nicht die Sklaverei, nicht einmal der Sklavenhandel direkt verboten war, noch oft genug vorkam, dass sich ein schon freigewordener Sklave zum zweiten Male verkaufte. Meist wollten sie dadurch eben Geld in die Finger bekommen, gewöhnlich um einen anderen aus der Sklaverei loszukaufen, den Vater, den Bruder, einen Freund, und die Chronik weiß da ja herrliche Episoden von Opfermut und treuer Freundschaft zu erzählen.

»Allerdings«, war seine Antwort.

Na, bei mir gab es so etwas natürlich nicht.

»Nein, mein guter Freund, bei mir sind Sie da gerade an den Unrechten gekommen. Ich verstehe Sie überhaupt nicht, wie Sie hier im Schutze der Flagge von Liberia so eine ungeheuerliche Forderung an mich stellen können.«

Aber der Mann blieb ungerührt.

»Herr Kapitän, glauben Sie nicht, dass es auch hier in Liberia genug Männer gibt, welche mich sofort als Sklaven kaufen, wenn ich mich ihnen anbiete? Dort unter den Mauern des Forts.«

Da hatte der Mann nun allerdings wieder recht. Jeder Spanier und Portugiese kaufte ihn sofort und wusste den Handel gleich rechtskräftig zu machen. Das ganze Verbot des Sklavenhandels war ja damals nur ein blutiger Hohn — nämlich auch nur durch Blutvergießen, durch Waffengewalt konnte er verhindert werden.

»Sie sind in Geldnot?«

»Ja.«

»Mit wie viel ist Ihnen geholfen?«, fragte jetzt Blodwen.

Da aber bekam der Neger große Augen.

»Sie würden mir helfen?«

»Ja.«

»Ohne dass ich mich Ihnen als Sklave verkaufe?«

»Selbstverständlich! Daran ist bei uns überhaupt gar nicht zu denken. Wir sind doch alles andere als Sklavenhändler.«

»Auch wenn ich 10 000 Dollar forderte?«

»Wenn Sie mir den Grund angeben, würde ich sie Ihnen leihen — schenken. Sie gefallen mir.«

Das war offen gesprochen, wie nur Blodwen es konnte. Der Neger aber schien wieder etwas von seiner sicheren Haltung zu verlieren.

»Dann muss ich gestehen, dass ich vorhin nicht die Wahrheit gesprochen habe«, murmelte er.

»Wieso nicht?«

»Ich brauche gar kein Geld.«

»Mann«, wurde ich jetzt ungeduldig, »nun sagen Sie endlich, was Sie eigentlich von uns wollen!«

»Mich Ihnen, Herr Kapitän Richard Jansen, als Sklaven verkaufen.«

»Das ist ja Unsinn — ich verstehe überhaupt gar nicht...«

»Sollen Sie vielleicht ein Gelübde erfüllen?«, fiel mir Blodwen ins Wort.

Auf so eine romantische Idee konnte nun auch wieder bloß Blodwen kommen, und hätte ich sie gehabt, ich hätte sie nicht auszusprechen gewagt.

»Das ist es«, sagte da tiefatmend der Neger.

»Was? Ein Gelübde hätten Sie zu erfüllen?«

»Sie sagen es.«

»Das Gelübde, sich als Sklaven zu verkaufen?«

»Jawohl.«

»Und wer ist es denn, der solch eine Gewalt über Sie hat?«

»Verzeihen Sie — das allerdings muss mein Geheimnis bleiben.«

»Und nun will ich Ihnen etwas sagen: ich eigne mich nicht für solche Geheimniskrämerei, machen Sie, dass Sie hinaus...«

»Bitte, Richard, lass mich doch einmal fragen!«, fiel mir Blodwen wieder ins Wort. »Also Sie sollen sich als Sklaven verkaufen?«

»Ja, Mylady.«

»Es handelt sich um ein Gelübde?«

»Jawohl.«

»Wer hat Ihnen dieses Gelübde auferlegt?«

»Eigentlich niemand — ich selbst.«

»Ah so, ich verstehe! Sie haben etwas zu sühnen?«

»So ist es, Mylady.«

»Was haben Sie zu sühnen?«

»Das darf ich nicht verraten.«

»Haben Sie einen Mord begangen?«

»Darüber darf ich nicht sprechen.«

Nein, wie ein Mörder sah dieser Neger mit den offenen Gesichtszügen nicht aus, wenigstens nicht wie ein gemeiner Mörder. Und im Übrigen amüsierte ich mich, wie Blodwen gleich auf alles einzugehen wusste. So etwas Romantisches war ja auch ihr Fall, daher immer gleich ihr Entgegenkommen durch Fragen, gewissermaßen ein Wittern.

»Es ist also Ihr freier Entschluss, sich wieder als Sklave zu verkaufen?«

»Jawohl, aber auch mein felsenfester.«

»Weshalb kommen Sie gerade zu uns? Oder vielmehr zu Herrn Kapitän Jansen?«

»Ich habe den Herrn Kapitän heute mehrmals an Land gesehen — ich fasste sofort Zutrauen zu ihm — und... an irgendeinen muss ich mich doch verkaufen...«

»Sie kennen mich schon?«, fragte ich wieder.

»Nein. Ich habe Sie hier zum ersten Male gesehen. Doch hörte ich über Sie und auch über Lady Leytenstone sprechen.«

»Von wem?«

»Von einigen Herren, die mir selbst unbekannt geblieben sind.«

»Wo war denn das?«

»Im Speisesaale des HenryHotels, in dem auch ich logiere — heute Mittag war es.«

»Was sagten die Herren?«

»Sie unterhielten sich über Lady Blodwen von Leytenstone, über einen Erbschaftsprozess, den sie führt, wie sie so vielen Verfolgungen ausgesetzt sei, und wie sie sich deswegen wohl für immer auf eine Jacht zurückgezogen und sich unter den Schutz des Kapitäns dieser Jacht, namens Richard Jansen, gestellt habe. Viel mehr habe ich kaum gehört.«

Und ich konnte kaum eine größere Offenheit verlangen. Gesetzt den Fall, dieser Neger wäre von unserer gegnerischen Seite bestochen worden, sich bei uns einzuschleichen, so hätte er doch nicht diese seine Kenntnisse uns offenbart.

Ebenso dachte Blodwen, das sah ich ihr gleich an.

Auch was für Herren das gewesen waren, konnte ich mir gleich erklären.

»Waren die Herren von Bord der ›Port Natal‹?«

»Ich glaube wohl, ich hörte sie davon sprechen.«

Der Dampfer ›Port Natal‹ kam von London, war nach uns abgefahren, hatte uns aber überholt. Bei unserer Abfahrt war doch natürlich viel über uns gesprochen worden, nachdem man nun erfahren, dass sich die tolle Lady Leytenstone bei mir an Bord befand, und nun begegnete man meiner Jacht hier, wir waren schon die Helden eines Abenteuers geworden.

Diesbezüglich wechselte ich mit Blodwen einige Worte, und sie stimmte mir bei.

»Nun wieder zu Ihnen. Weshalb bieten Sie sich gerade mir als Sklaven an?«

»Ja, bei einem muss ich es doch tun, wenn ich es, nun einmal will. Und... was ich heute über Sie gehört habe, daraus habe ich das größte Zutrauen zu Ihnen gefasst.«

Für diese Schmeichelei war ich wenig empfänglich, bei mir trat jetzt wieder ein Misstrauen hervor.

»Und«, fuhr der Neger in zögerndem Tone wieder fort, »was ich heute sonst noch hörte... auch ich hoffte auf dieser Jacht ein Asyl zu finden.«

»Ah, so stehen die Aktien! Da müssen Sie aber doch erst gestehen, was Sie auf dem Kerbholz haben.«

»Ich habe nichts verbrochen«, war die Antwort mit ehrlichem Augenaufschlag.

»Sie sprachen aber doch selbst davon, dass es sich um eine Sühne handelte, wenn Sie sich als Sklaven verkaufen.«

»Das allerdings; aber... eine Schuld habe ich nicht auf dem Gewissen.«

»Und trotzdem suchen Sie hier auf meinem Schiffe eine Freistatt? Mann, Sie sprechen für mich in Rätseln!«

»Aber durchaus nicht für mich«, sagte Blodwen. »Wenn jemand in ein Kloster geht, oder nur in die Einsamkeit, ebenfalls gewissermaßen zur Sühne, muss er deshalb denn unbedingt ein Verbrechen begangen haben? Und weshalb habe denn ich die Einsamkeit des Meeres aufgesucht? Richard, nimm den Mann an!«

Wenn Blodwen es wünschte, konnte ich ja überhaupt kaum noch etwas dagegen tun. Ich hätte ihn höchstens noch abweisen können, wenn ich für Blodwen eine Gefahr darin erblickte, und das war eben nicht der Fall.

»Nun erzählen Sie mir einmal, was Sie bisher gewesen sind, wie Sie hierher nach Monrovia gekommen sind und so weiter.«

»Wenn ein Herr einen neuen Sklaven kauft, so fragt er ihn nie nach seinem früheren Lebensschicksal, nicht, ob er Frau und Kinder hat, nach gar nichts — sondern er taxiert seine Knochen und Muskeln, danach bezahlt er ihn, und dann sucht er das angelegte Kapital möglichst auszunutzen.«

Oho!! Das war eine kecke Sprache! Und doch, wenn der Mann nun einmal aus einem mir unbegreiflichen Grunde als Sklave behandelt sein wollte, dann hatte er ganz recht.

Ich beschloss, die Sache jetzt kurz zu machen.

»Also Sie wollen durchaus mein Sklave sein?«

»Ja, Herr.«

»Ohne dass ich Ihnen dafür etwas gebe?«

»Ich verlange nichts.«

»Als Sklave haben Sie auch sonst nichts weiter zu beanspruchen, kein Gehalt und dergleichen.«

»Selbstverständlich nicht.«

»Gut, wenn Ihnen das so großes Vergnügen macht, will ich gern auf diese Spielerei eingehen. Denn für mich ist das nichts weiter als eine Spielerei.«

»Für mich ist es furchtbarer Ernst.«

»Und wie lange soll dieser furchtbare Ernst währen?«

»Zeit meines Lebens.«

»Sie wollen zeit Ihres Lebens mein Sklave bleiben?« — »Ja, Herr.«

»Nun werde ein anderer daraus klug! Na, meinetwegen. Also ich habe dich jetzt gekauft.« — »Ja, Herr.«

»Du bist jetzt mein Eigentum.«

»Ich werde treu wie ein Hund sein.«

Mir kam fast das Lachen an, wie ich den eleganten schwarzen Gentleman bei diesen Worten so vor mir stehen sah.

»Was kannst du?«

»Alles, was man von mir verlangt, und was ich noch nicht kann, lerne ich.«

Diese Antwort gefiel mir. »Wie heißt du?«

»Goliath.«

Ich forschte nicht danach, wie er plötzlich auf diesen Namen kam.

»Denke nicht etwa, Goliath, dass ich dich mit einer Arbeit beschäftigen werde, wo du nur mit Glacéhandschuhen zuzugreifen brauchst.«

»Danach hat ein Sklave nicht zu fragen.«

»Kannst du Matrosenarbeit?«

»Ich werde sie lernen.«

»Wenn ich nicht mit dir zufrieden bin, verkaufe ich dich natürlich weiter.«

»Massa wird mich nicht verkaufen«, schlug der Neger jetzt einen anderen Ton an, und im Geiste sah ich vor mir statt des schwarzen Gentlemans einen Neger im gestreiften Baumwollhemde vor mir stehen.

»Weshalb soll ich dich nicht wieder verkaufen? Kann ich das nicht halten wie ich will?«

»O, Massa wird mit mir zufrieden sein, sehr zufrieden — und Goliath wird treu und gelehrig wie ein Hund sein.«

»Gut«, musste ich unwillkürlich lächeln, »wir werden ja sehen. Hast du Sachen?« — »Zwei Koffer voll.«

»Wo?« — »Im HenryHotel.«

»Hast du da noch etwas zu bezahlen?«

»Ist alles schon bezahlt.«

»So hole deine Sachen, dann tritt hier an. Aber nicht etwa im Frack mit Glacéhandschuhen — sondern im Arbeitszeug.«

»Very well, Massa.«

Und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ der Neger die Kajüte.

Wir Zurückgebliebenen blickten uns an, lange Zeit sprachlos.

»Das ist höchst romantisch«, brach Blodwen endlich das Schweigen.

»Nein, das ist schon eher ein Märchen. Und doch möchte ich fast glauben, dass er wiederkommt.«

»Sicher kommt er wieder! Du musst ihn aber noch fragen, was er früher gewesen ist, wo er früher als Sklave...«

»Nein, Blodwen, wenn das nun einmal Tatsache ist, dass er wirklich freiwillig mein Sklave sein will — mag der Teufel den Grund dazu wissen! — dann wollen wir auch einmal ganz auf seine Ideen eingehen, und er will wohl, dass seine Vergangenheit hinter ihm begraben ist. Er ist eben ein Neger, kommt frisch mit der Sklavenkarawane, und ich habe ihn gekauft, damit basta. Nun könnte nur noch in Betracht kommen, dass er ein Spion ist.«

»Du meinst?!«, fuhr Blodwen erregt auf.

»Diese Möglichkeit ist wenigstens in Betracht zu ziehen. Er braucht ja nicht gerade deinetwegen zu spionieren. Du verstehst mich. Vielleicht gehörte er mit zur Besatzung des holländischen Wracks. Dann aber ist meine Ansicht, dass es besser ist, einen Feind immer vor Augen zu haben, als ihn heimlich hinter sich zu wissen.«

Nach einer Viertelstunde kam Goliath zurück, zwei elegante Koffer tragend, er selbst aber in einen groben Arbeitsanzug gekleidet.

Wahrhaftig, ich war überrascht, dass er überhaupt wiederkam! In den letzten Minuten, da ich mit etwas anderem beschäftigt gewesen war, hätte ich das alles fast für einen Traum gehalten.

Doch nun war es auch zu nehmen, wie es einmal war. Es war kurz vor Mitternacht, meine Leute kamen nach und nach an Bord zurück.

»Hast du deine Rechnung an Land abgeschlossen, Goliath?«

»Ich habe nichts mehr an Land zu suchen, Massa.«

»Ich werde deinetwegen auch keine Unannehmlichkeiten haben?«

»Was für Unannehmlichkeiten?«

»Mit der Polizei.«

»Massa soll mich blutig schlagen, wenn ich nicht die Wahrheit spreche, dass dem nicht so ist.«

»Gut. Du wirst heute Nacht hier schlafen. Morgen sprechen wir weiter darüber, wie ich dich verwenden werde.«

Ich hatte die nächste Fremdenkabine geöffnet, der Neger trat mit seinen beiden Koffern ein.

»Bist du hungrig?«

»Nein, Massa.«

»So schließe ich dich jetzt ein.«

»Wie Massa will.«

Ich tat es, machte noch die Wache darauf aufmerksam, dass ich einen schwarzen Gast an Bord habe, teilte den Leuten sonst natürlich nichts weiter mit, dann suchte ich selbst meine Kabine auf.

— • —

16. Kapitel
Das verschwundene Wrack und
wie ich einen Schädel rasiere

Originalseiten I.278 — 310

Ich wurde von einem Matrosen geweckt. Für einen ganz gewissenhaften Leser sei bemerkt, dass ich meine eigene Kabine hatte, neben der Blodwens liegend. Bei einem Kapitän, der immer auf dem Posten sein muss, dessen Tür immer offen ist, weil jeden Augenblick jemand hereinstürzen kann, ist das wohl nicht anders möglich.

»Käpt'n, der Klabautermann will sterben!«

Ich war schon aus der Koje, in der ich wie gewöhnlich ziemlich angekleidet lag.

»Ist der Arzt bei ihm?«

»Den haben wir schon geholt.«

»Was fehlt ihm?«

»Das weiß der Doktor noch nicht — er will sterben.«

Als ich mich in der Foxl befand — also im Mannschaftslogis — wo der Klabautermann die beste Koje eingeräumt bekommen hatte, konnte ich nur konstatieren, dass der alte Holländer nur geträumt hatte, und ebenso alle Matrosen, die jetzt ängstlich an der Koje standen.

»Minajorka, Minajorka«, hatte der Alte im Traume kläglich gewinselt, ein Matrose hatte es vernommen, schnell alle seine Kameraden geweckt, und da der Klabautermann weiter winselte, wurde der Arzt geholt, dann sogar ich, obgleich Doktor Selo gleich gesagt hatte, dass ja gar nichts vorläge.

Jedenfalls aber zeigte dies doch, wie sehr die ganze Mannschaft den Klabautermann abergläubisch verehrte. Weil er einmal im Schlafe gesprochen hatte, was er sonst nie tat, deshalb musste er nun gleich krank sein — gleich dem Tode nahe.

Da er aber nun einmal wach war, winselte er auch weiter.

»Seid Ihr krank?«, fragte Doktor Selo.

»Minajorka«, war die stereotype Antwort, so recht aus Herzensgrunde geseufzt, und ein anderes Wort hatten wir noch immer nicht aus seinem Munde zu hören bekommen.

»Fehlt Euch etwas?«

»Minajorka!«

»Habt Ihr Durst?«

»Minajorka!«

»Zeigt mal Eure Zunge!«

»Minajorka.«

»Ich kann durchaus nichts an ihm finden«, sagte Doktor Selo, nachdem er den Puls geprüft hatte. »Nicht das geringste Fieber.«

»Einfaltspinsel!«, schalt ich die Matrosen. »Weil er einmal im Traume gesprochen hat, deshalb macht ihr das ganze Schiff rebellisch?!«

»Nee nee, er ist krank«, blieben aber die Matrosen bei ihrer Behauptung.

»Na, was soll ihm denn fehlen?«

»Er seufzt sein Minajorka ganz anders als sonst.«

»Minajorka, Minajorka!!«, erklang es nochmals winselnd.

»Da — da — gleich zweimal hintereinander, das hat er noch niemals getan — der ist krank.«

Gegen solche Argumente war freilich schwer anzukämpfen. Die Matrosen mussten schon ein feines Ohr für diese Seufzerei bekommen haben, und nun gar gleich zweimal hintereinander... es war eben ihr Klabautermann.

Schon wollte ich wieder gehen, warf noch einen Blick auf das ausgedörrte Männchen, als dieses plötzlich mit stieren Augen in seiner Koje in die Höhe fuhr und...

»Minajorka!!«, erklang es, aber diesmal nicht seufzend, sondern schreiend, und zwar mit einer Stimme, die einem durch Mark und Bein ging.

Ich kann nur sagen, dass auch ich wie alle umstehenden Matrosen und Heizer förmlich entsetzt zurückprallte. Wir hatten dieses Wort eben bisher so einige hundert Male nur seufzen hören, immer mit derselben schwermütigen Miene, und nun mit einem Male dieser wilde Klang, dazu auch das entsprechende Gesicht, alles total verändert...

»Minajorka, Minajorka!!«, zeterte der Alte noch einmal in schrillstem Tone, mit allen Zeichen des Entsetzens, seine Haare sträubten sich...

Da erscholl draußen der Alarmpfiff der Wache. Schritte trampelten auf Deck, ich stürzte hinaus.

Wilm hatte wieder Wache, und der neben ihm Stehende war Bruno, der jetzt auf dem holländischen Wrack sein sollte, so wie die drei anderen Matrosen, die sich soeben über die Bordwand schwangen.

»Bei Gottes Tod, woher kommt ihr?«, schrie ich.

»Der Holländer — der Holländer...« stöhnte Bruno, nach Atem ringend.

»Wo ist das holländische Wrack?«, schrie ich, den Matrosen bei den Schultern rüttelnd.

»Fort — weg — gestohlen!«

Ich wendete den Kopf — jawohl, dort leuchteten die farbigen Seitenlichter des englischen Seglers, dort die Toplaterne des französischen Dampfers, dazwischen sollten die ausgesteckten Signallichter des Wracks sein — aber sie waren eben nicht mehr da!

»Gestohlen?!«


Illustration

»Wir sind überfallen worden — es war ein kleiner Dampfer — wir wurden gebunden — ins Boot geworfen — sie hatten Masken vorm Gesicht — nur den einen konnte ich zu Boden schlagen — einem habe ich mein Messer zwischen die Rippen gejagt — sie nahmen das Wrack ins Schlepptau...«

So klang es durcheinander. Ich hatte nur das Letztere gehört.

»Alle Hände an Deck! Die Heizer an die Feuer!! Werft Speckseiten hinein!!«

So schrie ich, und die Bootsmannspfeife schrillte, in der Takelage wurde es lebendig, und der Schornstein begann Funken zu sprühen.

Verfolgung, das war das einzige, was es hier gab, und ganz auf sich selbst verlassen, nicht etwa erst die Polizei an Land alarmieren, weiter fehlte nichts, und schon begannen sich die Segel zu entfalten, und ich selbst stand am Steuer, um die Fahrt aus dem Hafen ohne Lotsen zu wagen.

Dann ließ ich mir den Bruno kommen, den ich für den intelligentesten hielt, und ließ mir mit einiger Ruhe alles ausführlich erzählen.

Vor kaum zehn Minuten war es passiert. Bruno und Hein hatten Wache. Lichter und alles in tadelloser Ordnung.

Da war es den beiden gewesen, als ob sich dem Wrack ein großes Fahrzeug nähere, ein Dampfer. In einiger Entfernung waren Funken aufgesprüht. Aber die mondlose, wolkenbedeckte Nacht war stockfinster, und hätten sie Lichter gesehen, dann hätten sie natürlich gleich gewusst, woran sie gewesen.

Als die beiden noch so spähten und lauschten, an einen Irrtum glaubend, waren plötzlich eine Menge dunkle Gestalten über die Bordwand gesprungen, erst im Scheine der Laternen des Wracks etwas erkenntlicher werdend — eben Matrosen, wie solche gekleidet, aber Masken oder Lappen vor dem Gesicht, dieses vielleicht auch nur mit Ruß geschwärzt.

Es war eben alles, alles viel zu schnell gegangen, als dass die beiden deutlich etwas unterscheiden konnten.

Ein Überfall durch Hafenpiraten. Das Messer heraus und die Hand zur Faust geballt. Bruno wollte einen gestochen, Hein einen niedergeschlagen haben. Sonst hatten sie nicht einmal Zeit, auch nur einen Schrei auszustoßen.

Im Nu waren sie überwältigt, von der Menge erdrückt, gebunden und geknebelt, und dann ebenso die beiden anderen, als diese auf das Getrampel hin schlaftrunken unter der Back hervorgestürzt kamen.

Sie wurden in das Boot hinabgebracht oder mehr geworfen, wenn auch nicht gerade rücksichtslos — in mein eigenes Boot, welches ich doch der Wache des auf Reede liegenden Wracks hatte lassen müssen, und da sahen die hilflosen Matrosen auch schon, immer nur im Scheine der Schiffslaternen, wie ein kleiner Dampfer dicht herankam, die Verbindung durch das Schlepptau wurde hergestellt, die beiden Ankertaue wurden einfach durchschnitten, eine mächtige Feuergarbe aus dem Schornstein, und fort ging es.

Der eine Matrose war sehr oberflächlich gebunden worden, vielleicht sogar mit Absicht, er konnte sich ohne besondere Schwierigkeit seiner Bande entledigen, er befreite die anderen, und nun, ohne Knebel im Munde, hätten sie um Hilfe schreien können.

Ich verdachte ihnen nicht, dass sie es nicht getan hatten. Den Dampfer hätten sie dadurch doch nicht aufhalten können, und bis zu dem englischen Segler und dem französischen Dampfer war es doch noch immer eine beträchtliche Entfernung, bis hierher in den Hafen zu uns war es nicht viel weiter, und so griffen sie zu den Rudern, um mir gleich direkt die Kunde zu bringen von dem Raube — von einem Diebstahl, wie er wohl selten geschehen ist. Denn gleich ein ganzes Schiff von der Reede zu stehlen, oder man kann auch gleich sagen, aus dem Hafen, denn das Wrack hatte ganz dicht vor dem Hafen gelegen, dazu gehört doch schon etwas.

Das war alles, was mir Bruno berichten konnte, während ich das bei dem flauen Winde nur langsam in Fahrt kommende Schiff steuerte. Äußerlich war ich ganz ruhig, kalt teilten sich meine Blicke zwischen Kompass und den Signalfeuern, welche die Hafeneinfahrt markierten, innerlich aber kochte bei mir noch eine furchtbare Aufregung, die man wohl begreifen kann.

»Geschwärzt hatten sie ihre Gesichter?«

»Nur manche. Andere trugen richtige schwarze Masken.«

»Oder waren es Neger?«

»Nee, Käpt'n, es waren Jan Maate wie wir.«

»Hörtest du sie nicht sprechen?«

»Das wohl, aber es war ein Kauderwelsch, was ich nicht verstand — ja und doch, zweimal hörte ich das Wort Minajorka, was der Klabautermann immer sagt. Den haben sie doch nicht etwa gar auch gemaust?«, setzte Bruno erschrocken hinzu.

In diesem Augenblick ertönte auf der Brücke das Klingelzeichen, dass der Dampf die nötige Spannung habe, das Kesselwasser war ja noch von heute früh ganz heiß gewesen — und ich signalisierte zurück, Volldampf voraus zu geben.

Die Schraube begann sich zu drehen, immer schneller und schneller, bis alle Planken zitterten, und da ward ich mir bewusst, was für ein Risiko das war, hier so allein ohne Lotsen aus dem mir unbekannten Hafen zu steuern, die Nacht brauchte gar nicht so stockfinster zu sein.

Ein Hafen gehört eben immer mit zur Küste, mag er auch noch so offen sein, und die Küste ist dem Schiffer, wenn er sie nicht wie seine Tasche kennt, immer gefährlich, sogar bei Tage.

Heute früh, als uns der Lotse hereinbugsierte, da hatte ja alles ganz bequem ausgesehen, aber ich hatte doch auch einmal in die vor ihm liegende Peilkarte geblickt, die sich jeder Lotse selbst macht, da gab es Untiefen und Klippen genug, zumal hier, wo es sich um eine noch junge Negerrepublik handelte, die weder das Geld noch die Tatkraft hatte, um jede Klippe gleich aus dem Wege zu schaffen.

Aber bestand die einzige Möglichkeit, den Dampfer mit dem Wrack zu bekommen, nicht darin, ihm sofort mit größter Schnelligkeit nachzujagen?

Hier handelte es sich um Minuten, um Sekunden. Wiederum lag in meinen Händen das Leben von... Während ich noch so fieberhaft grübelte, ob oder ob nicht, ob das Risiko nicht Tollheit sei, kam mit leichten Sätzen eine dunkle Gestalt die Treppe zur Brücke heraufgesprungen, und vor mir stand der fremde Neger, den ich in seine Kabine eingeschlossen hatte, allerdings den Schlüssel draußen stecken lassend.

»Massa, gebt mir das Steuer, ich kenne die Fahrt aus dem Hafen!«

Ich weiß nicht, in diesem Augenblick war mir, als ob es mir wie Schuppen von den Augen fiele — ich schob Bruno ans Steuerrad, um den Neger vorn an der Brust zu packen.

»Du bist mit den Räubern im Bunde — nun willst du uns auch noch auflaufen lassen, gestehe es, Schurke!«

Ich wollte ihn schütteln — aber der schwarze Kerl ließ sich nicht schütteln, stand wie ein eingewurzelter Baumstamm — und da erwachte erst recht in mir der Grimm, jetzt hob ich ihn aus und schmetterte ihn gegen die Wand des Kartenhäuschens, dass Holz und Knochen krachten.

»Was, du schwarzer Hund, mir, mir willst du widerstehen? Gestehe, dass du mit den Räubern im Bunde bist!!«

Obgleich ich ihn so unsanft behandelt hatte, ihm vielleicht auch einige Rippen gebrochen haben konnte, blickte er mich mit seinen offenen, klugen Augen ganz lustig an.

»Bei Gott dem Allmächtigen, an den ich glaube«, sagte er feierlich, »ich weiß nichts von den Räubern und will nur Euer Bestes, Massa.«

Es war in einer Weise gesprochen, dass sich gleich mein Griff lockerte. Nur noch etwas Misstrauen blieb.

»Woher weißt du denn überhaupt, dass das Wrack gestohlen worden ist?«

»Ich hörte in meiner Kabine durch die dünne Wand, wie jemand, wahrscheinlich ein Steuermann es einem anderen mitteilte, den er mit Doktor anredete.«

Das konnte allerdings sein, neben jener befand sich die des Arztes, der freundschaftlich mit dem ersten Steuermann verkehrte.

»Und der Steuermann«, fuhr der Neger fort, »drückte seine Besorgnis aus, dass der Kapitän nun gleich mit Volldampf dem Piraten nachjagen wolle, also doch zuerst zum Hafen hinaus, ohne die Einfahrt genau zu kennen, ohne einen Lotsen an Bord zu haben. Da donnerte ich gegen meine Tür, sie wurde geöffnet, ich eilte hierher.«

»Und du kennst hier die Ein- und Ausfahrt?«

»Ich kenne sie.«

»Wie kommt das?«

»Ich war früher selbst Lotse, habe oft genug Schiffe hier ein- und ausgeleitet.«

Wenn dem so war, dann war jetzt auch keine weitere Zeit zu Erklärungen.

»Gut, übernimm das Steuerrad, aber ich bleibe hier stehen, und sobald ich auch nur den Kiel knirschen höre, bist du ein toter Mann. Verstanden?«

Goliath griff in die Speichen, gab dem Schiffe gleich eine ganz andere Richtung, die ich niemals gewählt hätte, sie deuchte mir gerade die allergefährlichste, doch schon bald hatten wir die mit Riffen verbarrikadierte Hafeneinfahrt hinter uns, befanden uns in der offenen See.

Aber es nützte nichts, dass ich die ›Sturmbraut‹ mit Volldampf hin und her schießen und große Kreise beschreiben ließ, ab und zu eine Magnesiumrakete abfeuerte, welche das Meer weithin erleuchtete.

Ich hatte von vornherein nur mit einem Zufall gerechnet, dass wir den Dampfer mit dem Wrack noch erwischten, dieser Zufall war nicht eingetreten, und nun verringerte sich die Möglichkeit, dass wir den natürlich ohne Lichter fahrenden Dampfer noch erspähen würden, mit jeder Minute. Denn während wir immer hin und her kreuzten, fuhr der doch immer geradeaus.

»Sie sollen uns dennoch nicht entkommen«, sagte ich zu Blodwen. »Wir fahren zurück, ich benachrichtige sofort telegrafisch sämtliche Seemannsämter und Hafenbehörden. Dieses holländische Wrack an sich war schon etwas Rätselhaftes, aber es war unsere gute Prise — und nun wird es uns von einem geheimnisvollen Dampfer wieder aus den Zähnen gerückt, — — i, diesem Dampfer muss man jetzt doch mit Leichtigkeit auf die Spur kommen können! Einmal muss er doch irgendeinen Hafen anlaufen, außerdem werden alle nach Erhalt meiner Zirkulardepesche abgehenden Schiffe davon benachrichtigt — — nein, so ein ganzes Schiff kann heutzutage nicht mehr den gemeinsamen Nachforschungen entgehen.«

Ich sollte später noch darüber nachdenken, was ich da geschwatzt hatte! Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, also auch auf dem Wasser, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen lässt.

»Du meinst«, fragte Blodwen, »das sei derselbe Dampfer gewesen, welcher auch schon das holländische Wrack geschleppt hat?«

»Na, das ist doch ganz sicher! Der Dampfer hat im Sturm den Holländer vom Schleppseil verloren, hat erfahren, dass das Wrack jetzt in Monrovia liegt, wollte das Rückkaufgeld oder die Prämie für Bergungsarbeiten ersparen, und da hat der Betreffende das Wrack lieber gleich gestohlen.«

»Richard, das klingt doch eigentlich etwas ungeheuerlich.«

Ja, das dachte ich selber. Meinem Steuermann oder sonst einem Seemann hätte ich solch eine Erklärung gar nicht zu geben gewagt. Mir war konfus im Kopfe. Wir standen eben alle vor unlösbaren Rätsel, und das Beste war, lieber gar nicht darüber zu sprechen, denn es konnten doch nur unsinnige Vermutungen werden.

»Es ist nur gut, dass sie nicht auch unsern Klabautermann gestohlen haben«, hörte ich einen Matrosen zum anderen sagen.

»Die dachten eben«, entgegnete der andere, »der wäre noch auf dem Wrack, und wenn sie ihn dort nicht finden, werden sie ihn schon noch von uns holen.«

»Die sollen nur kommen!«, drohte der erste, und ich dachte dasselbe.

Zunächst aber musste ich gestehen, dass mir da ein niederträchtiger Streich gespielt worden war, den ich nicht so bald verschmerzen würde. Ganz abgesehen von dem Prisengeld — das mussten wir ja doch noch bekommen — nein, dass mir überhaupt so etwas passieren musste.

Ich konnte fast die Matrosen beneiden, welche an etwas Übernatürliches glaubten, deshalb zwar auch gleich auf das Prisengeld verzichteten, sich so aber doch zu trösten wussten. Denn gegen übernatürliche Mächte kann der Mensch nun einmal nicht ankämpfen.

Es war gegen drei Uhr, finsterer denn zuvor, als wir zurückkehrten. Das Meerwasser phosphoreszierte am Heck, von der Schraube aufgewühlt, prachtvoll, und ab und zu tauchte auch der phosphoreszierende Schein eines Haifisches auf.

»Dort — sind das nicht eine ganze Menge?«, sagte Blodwen an meiner Seite.

Dem war auch so. In einiger Entfernung huschten die leuchtenden Gestalten um ein Zentrum herum. Es musste eine Beute sein, um die sich die Hyänen des Meeres stritten, nicht gleich mit einem Bissen wegzuschnappen, vielleicht ein toter Delfin oder dergleichen.

Da... an mein Ohr war ein Ton gedrungen, im nächsten Augenblick stand unter meiner am Signalapparat liegenden Hand die Schiffsschraube, das Zittern und Rauschen hörte auf, eine plötzliche Totenstille herrschte über dem Wasser.

Und ich hatte mich nicht geirrt.

»Hilfeeh, Hilfeeeehhh, Mann über Bord!!!«

So erscholl aus weiter Entfernung ein schwaches Stimmchen, wenn auch wohl einem Manne angehörend und aus heiserer Kehle kommend, und zwar waren es deutsche Worte gewesen.

»Dort, dort, wo die Haifische spielen — er kämpft mit den Ungeheuern!!«


Illustration

Schon arbeitete die Schraube wieder, die ›Sturmbraut‹ wendete, ich hielt direkt auf die Stelle zu. Ein Boot auszusetzen war gar nicht nötig, bei dieser ruhigen See konnten wir dicht heranfahren, wussten freilich im Voraus, dass wir dadurch nicht die gefräßigen und überaus dreisten Ungeheuer von ihrem Opfer verjagen konnten.

Und da konnten wir auch schon das grässliche Schauspiel erblicken. Ein Mann kämpfte mit den Wellen, noch mehr mit den ihn umschwärmenden Haifischen.

Es ist ja bekannt, dass der Haifisch, der den Rachen tief unten hat, sich erst auf den Rücken drehen muss, ehe er seine Beute fassen kann; nun ist der Hai auch mehr ein Aasjäger als ein richtiger Raubfisch, oder seine Beute, ein lebendiges Tier, muss doch schlafen oder sich sonst ruhig verhalten, jedenfalls geht der Haifisch nur ungern an ein sich heftig bewegendes Tier, und so ist der schwimmende Mensch fast immer gesichert, so lange er Arme und Beine heftig bewegen kann. Aber er braucht nur einmal die Beine lang ausgestreckt ruhen zu lassen, nur zwei Sekunden — schwubb, wird ein sich auf den Rücken gedrehter Hai das Bein erwischt haben.

Das wusste der Mann. Denn er war offenbar ein vorzüglicher Schwimmer, und ein solcher schwimmt doch entweder ruhig mit langgestreckten Stößen, oder er lässt sich fast ohne Bewegung treiben, dieser hier aber arbeitete aufs angestrengteste mit allen Gliedern, umschwärmt von den gierigen Haifischen, die immer schon halb auf der Seite lagen.

Das hierdurch aufgeregte Meer phosphoreszierte stark, sodass wir dies alles deutlich beobachten konnten.

Wir waren dicht heran, hätten dem Schwimmer ein Seil zuwerfen, es ihm nur hinabzulassen brauchen, hätten ihn gleich heraufziehen können.

Ich hinderte die Matrosen daran, welche dies tun wollten.

Die meisten Menschen, die zwischen Haifische gefallen sind, werden noch nachträglich deren Opfer, wenn sie schon aus dem Wasser sind. So leicht lässt sich der Hai dasselbe eben nicht entgehen, er kann sich außerordentlich hoch schnellen, und wenn der Mann nun so am Seile hängt, befindet er sich ja gerade in der günstigsten Lage, der Haifisch schnellt ihm nach und packt ihn beim Beine, oder schon die Hacke genügt, gewöhnlich lässt der Entsetzte vor Schmerz noch das Tau los, und dann ist er natürlich geliefert. Außerdem genügt gewöhnlich schon das zugeworfene Seil, um den Schwimmer die Bewegungen vergessen zu lassen, er fasst zu — und der Hai fasst ebenfalls zu, und weg sind alle beide.

Ich hatte schon Vorkehrungen getroffen, keine Gewehre oder dergleichen, sondern einige Schinken und Speckseiten hatte ich auf den Bordrand legen lassen, dazwischen aber auch große Kohlenstücke, die wurden in einiger Entfernung von dem Schwimmer hinabgeworfen, sofort hatten die Haie heraus, dass es hier bessere Bissen gab, wenn auch kleinere — ähnlich mit dem Sperling in der Hand und der Taube auf dem Dache — sofort ließen sie von dem Schwimmer ab und waren zur Stelle, verschluckten die großen Schinken wie Pillen und auch einmal ein paar Pfund Kohle, konnten so immer weiter fortgelockt werden und dann hatten wir den Mann ohne Gefahr schnell am Seil an Bord gebracht.

Die Fahrt wurde fortgesetzt. Keuchend war der triefende Mann, wie ein Matrose angezogen, auf einen Poller niedergesunken.

»Himmelgottver... , da lernt man beten«, war sein erstes Wort. Es sollte also eigentlich ein Dankgebet sein, wurde aber durch einen schrecklichen Fluch eingeleitet.

Im Übrigen schien er gar nicht so sehr erschöpft zu sein.

»Von welchem Schiffe seid Ihr?«

»Von — von...«

Der Mann schien den Namen seines Schiffes vergessen zu haben, was nach solch einem überstandenen Schreck ganz begreiflich war.

Da griff ihm einer meiner Matrosen hinten in den Nacken und schob etwas herum, was an einem schwarzen Bündchen hing, das er um den Hals trug, und als das Ding nun vorn war, zeigte es sich als eine schwarze Maske oder Larve.

»Eine Maske — der gehört mit zu dem Dampfer, der uns das holländische Wrack gestohlen hat — passt auf unseren Klabautermann auf!!«

So klang es bei meinen Matrosen durcheinander. Es war mir sehr unlieb, dass der Mann nun gleich wusste, wo er sich befand, oder dass wir nun schon wussten, wen wir vor uns hatten; doch daran war nun nichts mehr zu ändern.

Der Schreck des Mannes war denn auch ein furchtbarer. Ich dachte erst, er wolle wieder über Bord jumpen, lieber zu den Haifischen zurück, als hier bei uns bleiben, und ich hatte schon meine Hand bereit, um ihn beim Kragen zu fassen. Aber es kam nicht so weit, er war nur von dem Poller aufgesprungen.

»Was?!«, schrie er mit stieren Augen.

»Jawohl, guter Freund, wir kennen uns bereits, wenn auch nicht persönlich. Na, was für ein kleiner Dampfer ist das, der vorhin das holländische Wrack von der Reede von Monrovia geholt hat?«

Da kreuzte der Mann trotzig die Arme über der Brust.

»Ich weiß von nichts.«

»Du willst es mir nicht sagen?«

»Nein!«

Da packte ich den Kerl bei der Brust, hob ihn wie ein Kind auf, stellte ihn gegen den Mast, stieß ihn ein paarmal dagegen und bearbeitete dazu mit meinen schweren Stiefeln seine Schienbeine.

»Du — willst — mir — nicht — sagen, was für ein Schiff das ist?«

»Richard!!!«, schrie Blodwen entsetzt.

Auch der Leser dürfte über dieses mein Verfahren empört sein.

Ja, du lieber Gott! Ich erzähle hier doch keine feingesponnenen Geschichtchen, die man in einem Boudoir vorlesen kann, sondern ich erzähle, wie es auf einem Schiffe zugeht. Und ich war eben kein Pastor geworden, sondern Seemann, hatte immer nur auf Segelschiffen gefahren.

Und mir, dem Kapitän dieses Schiffes, wollte dieser Lump die Antwort verweigern?

Himmel Bomben... da findet der Mensch ja gar keine Worte! Ein Seemann wenigstens nicht.

Und eben deswegen muss ich noch ganz besonders betonen, dass bei mir durchaus nicht so etwas wie Gemütsrohheit vorlag. Ich blieb dabei auch ganz ruhig, wie ich ihm die Schienbeine bearbeitete.

Und was die Entrüstung Blodwens anbetrifft, so wird der Leser später sehen, wie wir noch unsere Charakterrollen wechseln sollten.

»Richard, um Gottes willen, vergiss dich nicht so!!«

»Halt's Maul, ich weiß genau, was ich tue. Also — du — willst — mir — nicht — sagen, was für ein Schiff das ist?«

Der Mann war unter meinen Fußtritten zusammengebrochen; aber kein Schmerzenslaut war von seinen Lippen gekommen, und nur umso trotziger, freilich auch mit einem furchtbaren Hass blickte er mich von unten auf an.

»Henkt mich, foltert mich, bratet mich — von mir erfahrt ihr Hunde nichts!!!«, zischte er.

»Das wollen wir sehen. Na, da komm mal mit, mein Junge!«, Zunächst ließ ich ihm die Hände auf den Rücken binden, dann packte ich ihn beim Kragen, stellte ihn auf die Beine und schob ihn so nach der Kajüte.

»Bruno und ihr anderen drei, ihr kommt mit!«

In der Kajüte setzte ich ihn ganz anständig auf die Bank. Außer den vier Matrosen war noch Blodwen gefolgt, sonst natürlich kein anderer.

Es war ein Mann von vielleicht dreißig Jahren — über sein Äußeres ist sonst gar nichts weiter zu sagen. Ein Matrose mit arbeitsschwieligen Händen. Also keine Uniform, sondern grobes Arbeitszeug, wie solches auch jene maskierten Männer getragen hatten. Hierbei bemerke ich, dass auch meine Leute nur eine Art von Uniform trugen, wenn wir in einen Hafen einliefen, und sie waren immer schwer in die Uniform zu bekommen, hatten sie ja überhaupt nur so lange getragen, als wir in London gelegen hatten. Auch Karlemann hatte darüber oft genug seinen Spott ausgegossen, und ich selbst hatte durch das mehr kriegsmäßige Aussehen der Leute eigentlich nur Blodwen eine Freude machen wollen, ich selbst trug nie solch einen Klimbim.

»Nun einmal heraus mit der Sprache. Wer seid Ihr?«

Der Mann kniff nur die Lippen zusammen.

»Ihr wollt mir nicht antworten?«

»Nein!«

»Richard, ich bitte dich«, flehte Blodwen, »brauche nicht wieder Gewalt!«

»Pshaw, dieser Mann weiß ganz genau, was er von mir zu erwarten hat. Doch sei ruhig, Blodwen, ich werde ihn nicht mehr prügeln, da ich nun weiß, dass es nichts hilft. Verstehst du? Es freut mich sogar, dass es kein Waschlappen ist. Aber antworten soll er mir dennoch.«

»Ich werde nicht antworten.«

»Wollen sehen. Wenn ich Euch vernünftig behandeln will, wie Ihr eben gehört habt, werdet auch Ihr vernünftig sein.«

»Ich bin vernünftig.«

»Gehört Ihr zu dem Schiffe, welches das holländische Wrack von der Reede von Monrovia geschleppt hat?«

»Meinetwegen, das kann ich sagen — ja, ich gehöre zur Besatzung dieses Dampfers.«

»Hattet ihr das Wrack auch schon vorher im Schlepptau?«

»Ja.«

»Ihr verlort es vor drei Tagen?«

»Ja, vor drei oder vier Tagen, in einer Sturmnacht.«

Man sieht, ich war doch ganz vernünftig gewesen. Der Mann, der erst nicht antworten wollte, wurde jetzt ganz mitteilsam. Dazu hatte aber doch erst unbedingt gehört, ihm zu beweisen, dass ich nicht mit mir spaßen ließ.

Freilich hatte seine Mitteilsamkeit eine baldige Grenze.

»Was für ein Dampfer ist das nun?«

»Das sage ich nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Ich habe geschworen.«

»Was habt Ihr geschworen?«

»Nichts zu verraten.«

»Das heißt wohl mit anderen Worten: Ein Schwur bindet Eure Zunge.«

»Jawohl, so ist es! Henkt mich, foltert mich, bratet mich — von mir erfahrt Ihr nichts!«

»Hört, Mann, das hättet Ihr Euch ersparen können, denn dasselbe habt Ihr mir schon vorhin gesagt. Gut, wenn Ihr einen Schwur abgelegt habt, dann müsst Ihr ihn auch halten, und wenn man Euch auch tausendmal auf die teuflischste Weise das Leben nähme. Sonst seid Ihr kein Kerl. Versteht Ihr mich?«

Ich glaube, besser und schlauer hätte ich gar nicht sprechen können. Der feindselige Blick des Mannes wurde mit einem Male ganz vertrauensvoll. Wirklich, an mir war ein ausgezeichneter Pastor verloren gegangen.

»Nun müsst Ihr aber doch zugeben«, fuhr ich fort, »dass wir das Wrack ganz ehrlich als gute Prise gefunden hatten. Wie?«

»Eigentlich, ja«, meinte er zögernd.

»Gar nicht eigentlich, sondern das ist ein Faktum. Kennt Ihr die Verhältnisse, wie wir das Wrack fanden?«

»Ja.«

»Wie ich dem amerikanischen Schoner zuvorkam?«

»Ja.«

»Das ist Euch bekannt?«

»Jawohl.«

»Woher wisst Ihr denn das?«

»Weil Ihr doch sel... ich darf nichts verraten.«

Weil ihr es doch selbst erzählt habt, hatte er sagen wollen — nämlich in Monrovia. Die hatten ganz einfach in Monrovia spioniert. Nur solch ein kleiner Dampfer, wie Bruno ihn beschrieb, hatte gar nicht im Hafen gelegen, höchstens ganz kleine Küsten- und Hafendampfer, die wiederum nicht in Betracht kommen konnten.

»Dieses holländische Wrack gehörte doch vorläufig uns, nicht wahr?«

»Nicht so ganz.«

»Weshalb nicht?«

»Es war doch noch ein Mann darauf.«

»Ah, der Klabautermann!«, entfuhr es mir. Der Matrose antwortete nicht, er grinste nur.

»Konnte da der Eigentümer des Holländers oder der Kapitän des Dampfers, der das Wrack schleppte, nicht zu mir kommen und sagen: so und so, was willst du für die Bergungsarbeiten haben — konnte er das nicht, wenn er ein ehrlicher Mann war?«

»Wenn er aber nun kein Geld dazu hatte, das Wrack auszulösen?«

»Pshaw, Mann, macht mir doch nichts vor. Nein, er ist eben kein ehrlicher Mann, sondern ein Spitzbube — er hat mir das Wrack gestohlen.«

»Der hat das Stehlen nicht nötig«, grinste der Matrose wieder. »Na, da seht, wie Ihr Euch widersprecht! Dann ist die Sache eben die, dass er sich mit mir gar nicht erst in Verbindung setzen wollte, weil mit diesem holländischen Wrack ein Geheimnis verbunden ist, das kein fremder Mensch erfahren darf.«

»So ist es«, nickte der andere, immer wieder grinsend.

»Was für eine Bewandtnis hat es mit dem Klabautermann?«

»Den werden wir euch auch noch bald genug ausspannen«, wurde wieder gegrinst.

Da aber gab es einen sogenannten Backs, nämlich von meiner Hand, und der Matrose lag unterm Tisch. Meine Leute holten ihn hervor und setzten ihn wieder auf die Bank.

Jetzt grinste er nicht mehr, wuterfüllt blickte er mich an.

»Das sollt Ihr mir büßen, das sollt Ihr mir büßen!«, knirschte er.

»Ruhe, sonst gibt's auch noch auf Steuerbordseite einen Backs. Ihr seht, ich spreche mit Euch doch ganz ruhig und vernünftig, aber wenn Ihr mir so kommt, Euch auch noch rühmt, ein Schuft und Spitzbube zu sein, mich sozusagen veralbern wollt, dann gibt's Haue. Verstanden?«

»Wir sind keine Spitzbuben.«

»Na, habt Ihr nicht schon das Wrack richtig gestohlen?«

»Das ging nicht anders zu machen, und Eure Belohnung werdet Ihr schon bekommen.«

Aha, jetzt änderte sich die Sache etwas!

»Von wem?«

»Von dem, dem das alte Schiff gehörte.«

»Und wer ist das?«

»Fragt nicht so dumm.«

»Hört, Mann, wahrt Eure Zunge!«, warnte ich im guten. »Nun aber lasst Euch eins sagen. Ich fahre jetzt nach Monrovia zurück und telegrafiere an alle Häfen der Welt, aufzupassen auf einen kleinen Dampfer, der einen mastlosen Holländer im Schlepptau hat...«

»Hahahaha!!«

»Was habt Ihr da zu lachen?«

»Und Ihr denkt, auf diese Weise, durch solche Telegramme, wie Ihr sie nennt, wollt Ihr meinen Herrn bekommen?«

»Das wird sogar sehr schnell gehen. Unsichtbar machen könnt Ihr Euch doch nicht.«

»Ich selbst nicht.«

»Wer sonst?«

»Mein Herr — mein Kapitän — mit seinem ganzen Schiffe.«

»Da möchte ich einmal dabei sein, wenn er sich unsichtbar macht«, spottete ich.

»Habt Ihr denn noch nicht von dem ›fliegenden Holländer‹ gehört?«

Aha, also dahinaus wollte er! Bange machen wollte er uns! Auf den seemännischen Aberglauben spekulierte er!

Bei meinen Matrosen spekulierte er ja da nun allerdings ganz richtig. Bruno und die anderen blickten den Sprechenden schon mit ganz unsicheren Augen an. Da musste ich doch gleich einen Riegel vorschieben.

»So so, Euer Kapitän ist also der ›fliegende Holländer‹?«

»Allerdings.«

»Und der fährt jetzt einen Dampfer.«

»Das kann er machen, wie er will.«

»Und Ihr gehört mit zu seiner ganzen Geistermannschaft.«

»Jawohl.«

»Ihr macht aber gar keinen so geisterhaften Eindruck.«

»Weil ich nicht mehr auf unserem Schiffe bin.«

»Na, diese Gelegenheit muss doch gleich benutzt werden, solange Ihr noch ein Mensch aus Fleisch und Blut seid. Da wollen wir erst einmal Eure Wäsche visitieren.«

Ich griff gleich zu, und weil mir nichts passierte, ich nur die Finger nicht verbrannte, fassten auch die Matrosen, denen nun sonst einmal der Aberglaube nicht auszutreiben ist, wenigstens nicht der an solche Seegespenster, wieder Mut und beteiligten sich ebenfalls an der Visitation.

Es kamen zum Vorschein ein Dolchmesser, eine Tabakspfeife, ein Schlagring, eine Büchse mit Kautabak — nichts weiter.

»Das alles ist gar nicht geisterhaft«, spottete ich.

»Freilich, auch wir können einmal über Bord stürzen, und dann sind wir Menschen, können sogar sterben, bis uns der Kapitän wieder an Bord geholt hat.«

»Wie macht er denn das?«

»Das werdet Ihr schon bald genug erfahren.«

»Hört, das mit dem ›fliegenden Holländer‹ ist Euch zu spät eingefallen, das hättet Ihr gleich vorbringen sollen. Wir wollen ihn weiter visitieren, zieht ihn ganz aus.«

In der Tat, auch der simpelste Matrose fand, dass der Mann erst später auf die Idee gekommen war, sich für einen Matrosen von dem Spukschiffe auszugeben, überhaupt die ganze Affäre mit dem Wrack mit dem ›fliegenden Holländer‹ in Verbindung zu bringen.

Diese Nachträglichkeit war ganz auffallend, auch der Leser wird es wohl gemerkt haben.

Wir zogen ihm die Kleider Stück für Stück aus. Blodwen stand jenseits des Tisches und konnte nur den Rücken bewundern.

In den Sachen wurde nichts gefunden. Am Körper einige Tätowierungen, wie fast jeder Matrose sie hat...

»Was hat denn der Kerl hier auf dem Kopfe?«

Wie Fritz, ein eigentlich etwas dämlicher Matrose, zwischen den dichten Haaren hindurch hatte entdecken können, dass der Mann auf seinem Kopfe eine Tätowierung hatte, ist mir noch heute ein Rätsel. Es mochte ein Zufall sein, dass Fritz das Haar des Gefangenen dort gerade etwas geteilt und da einige blaue Linien gesehen hatte.

Auffällig aber war es, wie der Mann bei diesen Worten zusammengefahren war.

»Wo denn?«, fragte ich.

»Hier auf dem Kopfe«, entgegnete Fritz, die dichten schwarzen Haare zur Seite streichend und hineinblasend.

»Wehe dem, der meinen Kopf berührt!!«, schrie da der Mann, sich auch gleich wie ein Wurm krümmend.

»Na, was ist denn da zu wehen?«

»Und ich lasse mich nicht an den Kopf greifen, das ist mein — das ist mein...«

»Was denn? Dein Geheimnis, wie?«

Schon hatten zwei Matrosen mit ihren Eisenfäusten zugepackt, er konnte den Kopf nicht rühren, und ich teilte die Haare.

Vorläufig erblickte ich an den freigelegten Stellen nur immer blaue Linien und Punkte.

»Das ist wohl der Stempel, den der ›fliegende Holländer‹ dir aufgedrückt hat?«

»Allerdings, dadurch gehöre ich zu ihm, und mir kann nichts geschehen«, war jetzt wieder die ganz gleichmütig gegebene Antwort.

»Warum du das mit dem ›fliegenden Holländer‹ nur erst immer hinterher sagst — das kannst du doch gleich tun. Na, diesen Stempel des ›fliegenden Holländers‹ muss ich mir doch näher betrachten. Bruno — oder du, Blodwen, bitte, hole mir doch einmal aus meiner Kabine die Schere...«

Wieder versuchte der Mann emporzufahren.

»Wehe dem, der mein Haar abschneidet!!«, heulte er.

»... und das Rasiermesser mit Napf und Seife«, ergänzte ich. Himmel, jetzt fing der Mann erst zu toben an. An den ›fliegenden Holländer‹ dachte er dabei nicht mehr, sondern drohte mit irdischen Rächern.

Aber es half ihm alles nichts, meine Burschen hielten seinen Kopf wie in Eisenklammern, und nachdem ich ihm erst die Haare kurz geschnitten hatte und immer noch nichts Deutliches sehen konnte, nur hier und da Striche und Punkte schimmern, seifte ich ihm den ganzen Kopf ein.

»Macht Euer Maul zu, oder ich fahre mit der Seifenquaste hinein!«

»Verdammt sollt Ihr sein, wenn Ihr's tut!«

»Na, ist Euer Kapitän wirklich der ›fliegende Holländer‹?«

»Unsinn!«

»Also ein Mensch wie ich und Ihr?«

»Natürlich, was denn sonst?«

»Nun, wer ist er sonst?«

»Das darf ich nicht verraten, ein furchtbarer Schwur bindet meine Zunge.«

»Treibt er vielleicht so ein bisschen Seeräuberei?«

»Er wird Euch schon zwischen seine Zangen kriegen.«

»Dann werde ich Euch doch vorher den Kopf rasieren.«

»Tut's und seid verdammt!«

»Also Ihr wollt nicht gestehen?«

»Nein.«

Da fing ich mit dem Rasiermesser an zu schaben, und weil ich nun einmal dabei war, machte ich auch gleich den ganzen Kopf blank.

Als er dann fein säuberlich gewaschen und abgetrocknet war, lag die Tätowierung deutlich da.

Es war ein Kreis mit zackiger Peripherie, mit vier Linien durchzogen, in der Mitte noch ein blauer Klecks.

Das war keine besonders auffallende, geheimnisvolle Tätowierung. Geheimnisvoll war nur, dass der Mann die Tätowierung auf dem Kopfe hatte, unter den Haaren.

Hatte mein ganzes Leben lang noch nicht vernommen, dass sich jemand auf der Schädeldecke tätowieren ließe, das ist bei keinem wilden Volksstamme Sitte, noch kein anderer Mensch ist auf den Gedanken gekommen, sich unter den Kopfhaaren tätowieren zu lassen wobei diese doch erst abrasiert werden müssen.


Illustration

»Das ist wohl Euer geheimes Erkennungszeichen?«

»Das werdet Ihr schon noch zu Eurem eigenen Schaden erfahren.«

Ich ließ Doktor Selo und die beiden Steuerleute rufen, sie sollten einmal diese Tätowierung auf dem Schädel besichtigen.

»Das ist das geheime Zeichen einer Verbindung, die irgend etwas zu See betreibt, vielleicht einer großen Schmugglerbande, wenn nicht gar noch etwas Schlimmeres«, lautete das Urteil der weitherumgekommenen Steuerleute, wozu auch Doktor Selos Weisheit nichts hinzuzusetzen hatte.

Damit aber hatten sie mir nichts Neues erzählt, dasselbe Urteil hatte auch ich mir schon gebildet, selbst der simple Fritz war schon auf dieselbe Vermutung gekommen, wie er jetzt verkündete.

Ich wollte vielmehr wissen, ob diesen weitgereisten Männern schon einmal solch eine Tätowierung, ob nun auf dem Schädel oder sonst wo, oder diese an sich doch besondere Figur nur auf einem Blatt Papier, zu Gesicht gekommen sei.

Nein, das war eben nicht der Fall, so wenig wie mir.

Ich überlegte gerade, ob ich einmal die ganze Mannschaft hier durch die Kajüte passieren lassen sollte, wir waren noch weit ab vom Hafen, das konnte wachenweise geschehen, hinwiederum hätte ein Stück Papier mit der abgezeichneten Figur genügt — als ein Ruf der Überraschung ertönte.

Hinter dem Tisch stand wie ein schwarzer Schatten Goliath, dessen Eintreten ich gar nicht bemerkt hatte.

»Diese Tätowierung kenne ich!«

»Woher?«

»Aber nicht auf dem Kopf, sondern auf dem Rücken, und dann gingen durch den gezackten Kreis auch nur drei Linien, und in dem blauen Fleck daneben stand eine fünf, nicht wie hier eine... eine...« Goliath bog sich etwas über den Tisch, »ja, eine 108 ist das.«

»Was ist das?«, fragte ich verwundert.

»Eine 108.«

»Wo denn?«

»In den blauen Fleck ist doch mit roter Farbe eine 108 eintätowiert.«

Ich beugte mich über den nackten Schädel — ja, ich sah in dem blauen Grunde etwas Rotes, aber ich musste des Doktors Vergrößerungsglas zu Hilfe nehmen, ehe ich erkannte, dass es eine Zahl war, und zwar tatsächlich eine 108.

Doch zunächst staunte ich über etwas anderes.

»Mensch, musst du aber Augen haben, dass du das von dort über'n Tisch erkennen kannst!!«

»Ja, ich habe auch ausgezeichnete Augen.«

»Nun, wo hast du diese Tätowierung schon einmal gesehen?«

Die Augen des Negers wanderten über die anderen Anwesenden, ich verstand ihn sofort, und er hatte recht.

Es brauchte gar kein Geheimnis zu sein, welches er mir mitzuteilen hatte — wir befanden uns hier in der Kajüte, in welcher allein die Ohren des Kapitäns zu hören haben, und ich war gewillt, die strengste Schiffsroutine zu wahren.

Wenn ich sie zu einer Beratung zusammenrief, so war das etwas anderes, jetzt aber mussten sie ohne Rücksicht hinaus, auch die Matrosen, welche mir vorher behilflich gewesen waren, noch eher der Schiffsarzt — nur Blodwen blieb natürlich.

»Nun, was hast du mir zu erzählen?«

»Es ist dreizehn... oder genau vierzehn Jahre her, wir fuhren nach Sydney...«

»Wer wir? Ich will sonst gar nicht in die Geheimnisse deines früheren Lebens dringen, aber da möchte ich mehr Klarheit haben.«

»Die ›Teutonia‹ von Liverpool.«

»Ein Dampfer?«

Ja freilich, da hatte dieser Neger recht.

»Wie alt warst du denn damals?«, durfte ich ihn jetzt wieder unterbrechen, da er ja auch etwas über seine Vergangenheit sprach.

»Fünfzehn Jahre.«

»So, hatte dich gar nicht für so alt geschätzt. Nun, weiter?«

»Von Sydney nahmen wir Ladung nach San Francisco. Ungünstige Winde trieben uns tiefer zwischen die Koralleninseln hinein, als uns lieb war. Wir mussten Tag und Nacht loten. Wir befanden uns nahe der EliceGruppe... ist Massa die bekannt?«

»Ja, die kenne ich.«

»Hatten den Vogelberg — den großen Vogelberg in Sicht. Kennt Massa den?«

Ich verneinte. Ich war überhaupt noch gar nicht in diesem Inselarchipel gewesen. Überall kann man doch nicht gewesen sein.

Vor allen Dingen aber machte mich das Benehmen unseres Gefangenen aufmerksam.

Warum war der Kerl bei dem Namen Vogelberg so zusammengezuckt, warum blickte er den Neger so ängstlich von der Seite an? Und das wiederholte sich nochmals und sogar in stärkerem Grade, als noch ›großer Vogelberg‹ hinzugesetzt wurde.

»Es ist eigentlich kein Berg, sondern eine ziemlich umfangreiche Insel, die mit himmelhohen Ufern jäh aus dem Meere emporsteigt, wie es dort noch mehrere solcher Inseln gibt.

In der Nähe dieses Vogelberges trieb noch ein anderes Schiff, ein Dreimaster. Da sahen wir eine Leiche schwimmen, einen Mann. Wir fischten ihn auf. Er musste erst vor ganz Kurzem ertrunken sein. Oder wohl nicht ertrunken, sondern der Kopf war ihm eingeschlagen. Dadurch hatte er seinen Tod gefunden. Es war ein schon älterer Mann, nur mit einer Hose bekleidet, und auf dem nackten Rücken hatte er mit blauer Farbe diese selbe Figur eintätowiert, aber also nur mit drei Linien durchzogen.

Meine Augen waren damals vielleicht noch besser als jetzt, ich erkannte in dem blauen Fleck daneben eine winzige rote Fünf eingetragen. Musste erst die anderen darauf aufmerksam machen. Wir dachten uns nichts weiter dabei. Eben irgendein geheimes Zeichen für irgend etwas, vielleicht schon bei der Geburt eintätowiert.

Dann machte das andere Schiff uns auf sich aufmerksam, das unser Treiben wohl beobachtet hatte. Es signalisierte, ob wir einen toten Mann aufgefischt hätten. Jawohl. Er sei soeben erst drüben verunglückt, sie wollten die Leiche abholen.

Ein Boot kam. Der Steuermann gab nähere Auskunft. Es sei ein alter Bootsmann, der auf der Rahe gearbeitet habe, heruntergestürzt sei, nach dem Aufschlagen auf die Bordwand ins Wasser. Sie hätten gerade das Meer nach seiner Leiche abgesucht. Der Mann war ziemlich dick, deshalb schwamm er nach seinem Tode.

Wir lieferten die Leiche aus, das Boot ging zurück, eine Stunde später waren wir uns außer Sicht gekommen. Das ist alles, was ich darüber zu erzählen habe, und ich bin ganz ausführlich gewesen.«

»Ist dir an der Bootsbesatzung etwas Besonderes aufgefallen?«, fragte ich.

»Gar nichts. Es waren lauter weiße Matrosen, sprachen Englisch.«

»Und das Schiff?«

»War ein vollgetakelter Dreimaster.«

»Auf den Namen kannst du dich wohl nicht mehr besinnen?«

»Doch. Die ›Reineclara‹ von Philadelphia. Das war auch am Heck zu lesen, so dicht waren wir zusammen.«

»Du hast ein ganz vorzügliches Gedächtnis, Goliath.«

»Das habe ich Gott sei Dank.«

»Und hast du nichts an dem Vogelberge bemerkt?«

»Gar nichts. Oben nisten ungeheure Scharen von Möwen.«

Ich versank in Nachdenken, d. h., ich stellte mich so, und beobachtete dabei unter den halbgeschlossenen Lidern hervor den Gebundenen.

»Hm«, brummte ich nach einer Weile, »über diesen großen Vogelberg gehen ganz merkwürdige Gerüchte.«

»Was denn für welche?«, fragte Goliath ganz unschuldig.

Auf seine Meinung kam es mir nicht an, sondern auf die des unbekannten Mannes, und der war wirklich in die von mir ihm gestellte Falle gegangen!

Er war bei meinen Worten abermals zusammengezuckt, ich merkte ganz deutlich, wie er jetzt hoch aufhorchte.

Was mich bewogen hatte, ihm diese Falle zu stellen, ist wohl begreiflich. Es war mir eben aufgefallen, dass schon vorhin das Wort ›Vogelberg‹ solch einen Eindruck auf ihn hervorgebracht hatte.

»Nun, Bursche, willst du nicht die Fortsetzung erzählen, was für eine Bewandtnis es mit diesem Vogelberg hat?«

»Damn'd«, war seine einzige Antwort, und nachdem er mich wild angestiert hatte, schloss er die Augen.

»Nicht?«

»Ich weiß nicht, was Ihr wollt, ich kenne gar keinen Vogelberg, bin noch nie im Australischen Inselarchipel gewesen.«

»So so. Nun, vielleicht bringe ich dich noch zur Sprache.«

Ein Matrose meldete, dass die Lichter des Hafens wieder in Sicht kämen. Ob der schwarze Lotse wieder die Führung übernehmen wolle.

»Jawohl, das soll er. Woher aber kennst du diese Hafeneinfahrt so genau, Goliath?«

»Ich bin in dieser Gegend geboren, und schon als Kind habe ich mit in den Booten gerudert, nach den fremden Schiffen, als man hier noch von gar keinem Hafen sprechen konnte.«[1]

[1] Eine entsprechende Erklärung hatte Goliath schon früher gegeben (vgl. S. 193 dieser und S. 286 der Originalausgabe).

Diese Erklärung musste mich wohl befriedigen.

Der Unbekannte wurde in einem Raume untergebracht, von seinen Fesseln befreit, aber er sollte mein Gefangener bleiben, und die Mannschaft wurde instruiert, davon überhaupt gar nicht zu sprechen, diesen Gefangenen als ein Geheimnis zu betrachten, also auch, wie wir ihn aus dem Wasser gefischt hatten.

*

Hiermit schließen wir vorläufig Kapitän Jansens persönlichen Bericht.

Was in der ManuskriptenKiste des Leuchtturms vorgefunden wurde, war ja durchaus nicht allein von Richard Jansens Hand niedergeschrieben. Es gab noch eine Menge anderer Tagebücher, der Leuchtturmwärter selbst hatte andere Erzählungen mit eingeflochten, die nicht allein sein eigenes Schicksal behandelten.

Es war eben ein großes Kunststück des englischen Bearbeiters gewesen, dies alles zu einem harmonischen Ganzen zusammenzuflechten.

Über die ›Sturmbraut‹ erwähnen wir jetzt nur noch, dass sie noch einmal nach Monrovia zurückkehrt. Kapitän Jansen gibt die erwähnte ZirkularDepesche auf wegen des entführten holländischen Wracks. Diese Depesche wird von den großen Seemannsämtern nach sämtlichen Häfen der Erde weiterbefördert, sie kommt in die Schiffsnachrichten, jeder Kapitän muss davon Kenntnis nehmen.

Den Erfolg dieser ZirkularDepesche kann Jansen hier natürlich nicht abwarten, darüber können Wochen, Monate vergehen, ja, vielleicht kommt auch gar nichts danach, was sich dann Jansen freilich gar nicht erklären könnte. So ganz spurlos kann doch kein Schiff aus der Welt verschwinden.

Richard schlägt vor, sofort nach dem Australischen Archipel zu segeln; denn er wittert hinter dem Vogelberg ein Geheimnis, wenn nicht die Lösung dieses Rätsels.

Nun ist aber Blodwens Geld nach Kapstadt beordert gewesen. Das hatten sie damals, als sie von dem Verschwinden des Wracks noch nichts ahnen konnten, als ihr Ziel gewählt.

Bis das Geld dorthin gelangt, vergehen mindestens acht Wochen, welche nicht ausreichen, um inzwischen nach Australien zu segeln.

Nun könnte ja allerdings das Geld einstweilen in Kapstadt liegen bleiben, dort liegt es ganz sicher, die Zeit des Abholens tut nichts mehr zur Sache; aber Blodwen ist noch immer im Zweifel, ob man ihr die Rente wirklich nachschickt, sie ist in großen Sorgen — kurz, sie kann es nicht erwarten, will hierüber erst Gewissheit haben, muss sich aber doch noch acht Wochen gedulden.

So sticht die ›Sturmbraut‹ wieder in See, plan- und ziellos, nur um die acht Wochen hinzubringen.

Bevor wir nun erfahren, was für einen furchtbaren Schlag unsere Helden in Kapstadt erleben sollten, beschäftigen wir uns mit der zweiten Hauptperson unserer Erzählung.

— • —

17. Kapitel
Die Mannschaft des ›Knipperdolling‹

Originalseiten I.311 — 348

In den Hafen von Monrovia wurde ein Segelschiff bugsiert, an dessen Heck das Sternenbanner der Vereinigten Staaten flatterte. Die Beobachter an Land wunderten sich, dass so viel Schiffsjungen an Bord waren. Denn die nordamerikanische Kauffahrtei kennt sonst gar keine Schiffsjungen. In Amerika dient man ja überhaupt nicht von der Pike auf. Wenn ein Arbeiter denkt, bei der Seefahrt etwas verdienen zu können, so wird er eben Matrose, als Erwachsener kann er sich ja die nötigen Handgriffe und sonstigen Kenntnisse viel schneller aneignen. Da dies aber, wie schon früher erwähnt, doch seine Schwierigkeiten hat, gerade die Schwindelfreiheit usw. muss man von Jugend auf lernen, so findet man auf amerikanischen Schiffen sehr selten Yankees, die Mannschaft rekrutiert sich fast ausschließlich aus deutschen, skandinavischen und englischen Matrosen. Deutsche haben bei der Seefahrt tatsächlich überall den Vorzug, es sind die pflichttreuesten Matrosen, und dann haben sie eben alle von der Pike auf gelernt, was bei den Engländern auch nicht immer der Fall ist, mehr schon bei Norwegern und Schweden, die aber wegen ihrer Trunksucht berüchtigt sind.

Hier nun zählte man nicht weniger als fünf Jungen an Bord, von denen einige noch nicht einmal das Prädikat ›halbwüchsig‹ verdienten. Zwei davon waren noch die reinen Kinder.

Hatte sich hier einmal ein amerikanischer Segler mit der Ausbildung von Schiffsjungen befasst?

Nein, es sollte sich anders aufklären. Es fiel schon auf, dass die fünf Jungen, während die Matrosen bei der Einfahrt und dann beim Festmachen am Kai schwer zu arbeiten hatten, tatenlos umherstanden. Kaum war das Laufbrett ausgeschoben, als schon die Expedierung begann.

»Nun herunter mit euch blutigverdammten Stromern«, schrie ein Kerl, schon den Stiefel zum Tritt erhoben.

»Aber, Herr Steuermann«, flehte der eine, »geben Sie uns doch wenigstens...«

Der Stiefel schnellte vor, der eine schoss unfreiwillig über das Laufbrett, die anderen vier folgten schleunigst freiwillig nach.

Der Agent kam an Bord, beglückwünschte den Kapitän, in der Kajüte wurde mit dem unvermeidlichen Champagner angestoßen, mit dem ja auch jedes Schiff getauft wird, dann folgten Portwein, dann Whisky und andere immer gehaltvollere Spirituosen.

»Was für Kerlchen waren denn das?«, fragte dann bei Gelegenheit der Agent.

Blinde Passagiere — im Englischen Stowaways genannt, Wegverstauer, nämlich die sich im Schiffsraum vor der Abfahrt heimlich verstaut hatten.

Dieser amerikanische Segler kam von Bremen, hatte dort für Monrovia Fracht genommen. Noch vor dem englischen Kanal waren die fünf Bürschchen aus ihrem Versteck, vom Hunger getrieben, hervorgekrochen.

Erst ein paar knallende Ohrfeigen, dann hatten sie arbeiten müssen. Scheuern, Messing putzen, Farbe waschen und dergleichen. In die Takelage waren sie gar nicht gekommen. Der Kapitän hier wusste keinen einzigen Namen von ihnen.

»Sind wohl von Berlin. Steward, noch eine Flasche! Also dreimalhunderttausend Dollar?«

Wenn solch ein Schiff mit voller Fracht sein Ziel glücklich erreicht hat, dann denkt man an etwas anderes als an solche Lausejungen.

Unterdessen standen die fünf Berliner Lausejungen zusammengedrängt wie eine Herde junger Schöpse auf dem Boden der afrikanischen Pfefferküste. Zerlumpt, die Fetzen flatterten buchstäblich an ihnen herum, mit langen Haaren, seit drei Monaten ungewaschen. Nur der eine hatte noch einen Latschen am linken Fuße, den rechten hatte er an Bord unter dem Schutze des amerikanischen Sternenbanners zurückgelassen.

Wenn sie sich nebeneinander stellten, waren es Orgelpfeifen. Der älteste mochte fünfzehn Jahre alt sein, der jüngste, der mit dem linken Latschen, noch nicht zehn.

Gesund und wohlgenährt sahen sie aus. Hunger konnten sie nicht gelitten haben. Und wenn man so den ganzen Tag scheuert und Farbe wäscht, sind auch die härtesten Erbsen und blauangelaufener Salzspeck die schmackhafteste Kost.

Neugierige gab es genug. Sie wurden angesprochen. Die Jungen mussten während der drei Monate auf dem amerikanischen Schiffe doch einiges Englisch gelernt haben; aber sie verstanden den Jargon dieser Neger nicht.

Ein Gentleman näherte sich ihnen, schwarz gekleidet, aber mit weißer Haut, statt des Zylinders oder Strohhutes einen breitrandigen Sombrero tragend — ein Mann, dem man den englischen Missionar schon von weitem ansah.

»Wer seid ihr denn?«, fragte er ebenso erstaunt wie salbungsvoll.

Ein Durcheinander begann, jeder wollte sein Englisch zum besten geben. Kaum aber war das Wort Stowaways gefallen, als sich der Missionar schleunigst wandte und davonging.

Nein, auch die Nächstenliebe hat ihre Grenzen. Solche Stowaways unter seine Flügel zu nehmen, gleich fünf — nein, das ist von der christlichen Nächstenliebe denn doch etwas zu viel verlangt.

Die Jungen ahnten noch gar nicht, in welch bedenklicher Lage sie sich befanden. Das war damals vor fünfzig Jahren — und heute ist es noch nicht anders geworden. Es braucht gar nicht an der Pfefferküste zu sein.

Wenn heute ein zehnjähriger Junge seinen Eltern durchbrennt, er versteckt sich auf einem nach England gehenden Schiffe, kommt erst in London zum Vorschein, kommt ungesehen an Land — ehe sich die Behörden seiner annehmen, ihn zurückschicken, können Jahre vergehen, dann ist er schon naturalisiert.

Der Konsul seines Landes soll sich seiner annehmen? Hat sich etwas! Man soll es nur einmal probieren, soll einmal aufs Konsulat gehen! Wie man da hinausgefledert wird!

Ja, wenn die Eltern zu Hause reklamieren, dann ist das etwas anderes. Aber sonst — kein Teufel nimmt sich solch eines jugendlichen Ausreißers an — heute noch nicht. Und unsere Erzählung spielt vor fünfzig Jahren, noch dazu dort, wo der Pfeffer wächst.

Sie mussten sehen, dass sie Arbeit bekamen. Vielleicht erst in einer Speisewirtschaft, das ist immer das beste, Teller waschen, Flaschen spülen und dergleichen — immer so Gelegenheitsarbeit gegen Knochenkost und Hundehütte, bis man Sprache und Verhältnisse kennt.

Da kam die Hafenstraße entlang auch so ein Junge, aber ein ganz anderer! Der kleine, dicke Stöpsel war ins feinste blaue Tuch gekleidet, nach Seemannsschnitt, unten die Hosen trichterförmig; aber nicht etwa eine bebänderte Mütze, sondern einen steifen Hut, recht in den Nacken gerückt, die Hände in den Hosentaschen, dass die dicke, goldene Uhrkette zu sehen war, aus der kurzen, silberbeschlagenen Pfeife mächtige Dampfwolken lockend — so wandelte er breitbeinig einher, auch etwas schaukelnd — ein alter Seebär von Kapitän, wie er im Buche steht, nur in Miniaturausgabe.

Er blieb vor der Gruppe der Lausejungen stehen. »Hallo, who are you?«

Nur wenige Worte, und Karlemann, der im Verkehr mit Schiffern schon früher ein recht gutes Englisch sprach, wiederholte seine Frage auf deutsch: »Wer seid ihr denn?«

Nun ging es besser. Aber immer noch ein Durcheinander.

Die Hände in den Hosentaschen, qualmend, betrachtete Karlemann die fünf Jungen überlegen von... nicht von oben herab, sondern von unten herauf: Denn der kurze Stöpsel war trotz seiner zwölf Jahre noch etwas kleiner als der Zehnjährige.

»Also Berliner Pflanzen?«

Kleinmütig bejahten die Jungen. Den betrachteten sie nicht etwa als ihresgleichen, das war etwas ganz anderes, das hatten sie sofort heraus.

»Schon in der Takelage gearbeitet?«

Farbe gewaschen und dergleichen.

»Hm. Ich könnte euch wohl gebrauchen. Wollt ihr an Bord meines Schiffes kommen?«


Illustration

Immer respektvoller blickten die fünf zerlumpten Jungen auf den Liliputaner, der von ›seinem‹ Schiffe sprach. Sie mochten ihn für den Sohn eines Kapitäns halten, und das genügte schon für sie.

»O ja. Aber — aber...«

Es mochte ihnen doch etwas grauen.

»Ich bilde euch als Matrosen aus.«

»Aber es gibt doch nicht wieder Haue?«, erklang es kläglich.

»Unsinn! Wenn's euch nicht passt, könnt ihr wieder gehen. Nur eine Probezeit. Die Heuer ist im Monat dreißig Dollar. Wie die amerikanische. Einverstanden?«

Verständnislos glotzten die Jungen den Liliputaner an. Dessen Pfeife war ausgegangen, oder der Tabak alle, bedächtig klopfte er sie an der Stiefelsohle aus, steckte sie ein, brachte dafür eine Platte Kautabak aus der Westentasche zum Vorschein, brasilianischen Dulcissimo, schnitt sich mit dem Taschenmesser ein beträchtliches Stück davon ab, steckte es in den Mund, kaute wie ein Ochse. Mit andachtsvoller Bewunderung hatten die fünf Jungen dieses Manöver beobachtet.

Donner und Doria, war das ein Kerl!! Ja, wenn man der Sohn von einem Kapitän ist — und hier an der afrikanischen Pfefferküste.

»Jetzt geht erst mal in mein Hotel. Hotel zum blauen Mast, Schifferstraße 8 — gleich dort um die Ecke. Lasst euch zu essen geben. Was ihr wollt. Mit dem Trinken wartet ihr, bis ich komme. Bleibe nicht lange. Verstanden?«

»Wir haben aber kein Geld«, ward kläglich gesagt.

»Pshaw. Braucht nur meinen Namen zu nennen. Käpt'n Algots vom ›Knipperdolling‹. Verstanden?«

»Kapitän Al — Al...«

»Käpt'n Algots vom ›Knipperdolling‹. Oder wartet mal!«

Karlemann pfiff, winkte, ein schwarzer Dienstmann kam gesprungen.

»Hier, führen Sie mal diese fünf Männer in mein Hotel — Sie wissen doch, wo ich wohne?«

»Natürlich, Herr Kapitän, Hotel zum blauen Mast.«

»Die Männer sollen dort essen — für meine Rechnung — können auch eine Flasche Rotwein trinken — aber alle zusammen nur eine. Verstanden?«

»Very well, Herr Kapitän.«

Der schwarze Dienstmann, welcher immer aufs ehrerbietigste gesprochen hatte, rückte mit den fünf ›Männern‹ ab.

Ja, der kleine Herr Kapitän vom Knipperdolling hatte sich schon einen geachteten Namen erworben! Und Karlemann wandelte erst noch die Straße hinab, wollte wohl erst noch einmal nach seinem Schiffe.

Immer mehr beschleunigte er die Schritte, vergaß das Schaukeln dabei, nur den breitbeinigen Gang behielt er, der war bereits natürlich — und was war das, dass er auf einmal so blass wurde? Bekam er einen Anfall von Tropenfieber?

Er bog in eine Seitengasse, in noch eine engere, menschenleere — scheu blickte sich der kleine Herr Kapitän um, ob jemand in der Nähe sei, er musste ein böses Gewissen haben — und nun schnell in eine Ecke, sich gegen die Wand gebeugt, den Kopf vorgestreckt, und — erst spuckte er den Kautabak aus, echt brasilianischen Dulcissimo, und dann — chöööhh uaaahhh — das andere folgte von ganz allein nach, und dann steckte er noch einmal den Finger in den Hals, um eine neue Auflage folgen zu lassen.

Doch so furchtbar unwohl konnte er sich nicht fühlen. Eine richtige Krankheit konnte es jedenfalls nicht sein. Er hatte dabei sorgfältig darauf geachtet, sich die Stiefel nicht vollzuspucken.

Als er sich aufrichtete, machte er freilich ein recht klägliches Gesicht, blickte noch einmal hinter sich — nein, niemand hatte es gesehen — und dann schüttelte er schwermütig den Kopf, bis sich seine Gedanken auch in Worten Luft machten.

»Rauchen kann ich schon, soviel wie ich will — aber das Priemen, das Priemen — Gott, ist das eine Qual, ehe man das lernt!«

Er brachte die Platte wieder zum Vorschein, betrachtete schwermütig den schwarzen Tabak, mit gelben Blättern umwickelt, damit er sich feucht hält.

»Und doch, es muss sein — sonst bin ich kein wirklicher Seemann — und überhaupt Kinderei — jawohl, los, du oder ich!!«

Und heißhungrig wie ein Wolf biss er gleich in den Kautabak, wieder ein großes Stück hinter dem Gehege seiner Zähne verschwinden lassend.

Ha, das nennt man Energie! Wenn dieses Stückchen ein Pädagoge beobachtet hätte, und dieser Pädagoge war noch etwas mehr als nur so ein Schulmeisterlein, verstand auch etwas von psychologischer Philosophie — der hätte diesem Jungen gewiss eine Zukunft prophezeit, ohne dass er ihn sonst schon kannte.

Nachdem sich Karlemann die tränenden Augen und den nassen Mund getrocknet, setzte er seinen Weg fort, schon wieder mit Todesverachtung kauend, seinem Magen zum Trotz.

Der ›Knipperdolling‹ war sein Ziel. Fröhlich sprang der Zwergpudel an ihm empor, weniger fröhlich blickten die herumlungernden Matrosen auf ihren kleinen Gebieter, vielmehr recht grimmig.

»He, wer hat denn Salto aus der Kajüte gelassen?«, polterte Karlemann gleich los.

»Zum Teufel mit dem Vieh, wir sind keine Hundezüchter«, knurrte ein baumlanger Matrose, der zu dem niedlichen Schiffchen passte wie die Faust aufs Auge.

»Was soll das heißen? Was ist das für ein Ton Eurem Kapitän gegenüber? Und warum ist denn das Messinggeländer nicht geputzt?«

»Verdamm Euch! Wir haben die Spielerei und Kujoniererei von dir Rotzjungen nun satt.«

So hatte sich der amerikanische Matrose ausgedrückt, so muss es hier unbedingt wiedergegeben werden, um den richtigen Ton zu treffen.

Inwieweit Karlemann diese Matrosen kujoniert hatte, davon weiß die Chronik nichts zu melden. Jedenfalls hatte die Mannschaft diese ganze Jacht in ihrer Winzigkeit satt.

»Du magst Geld haben, soviel du willst, uns passt es hier nicht mehr...«

»Von dem Gelde ist hier gar keine Rede, das lasst nur meine Sache sein. Was wollt ihr? Abmustern?«

Nachdem Karlemann erkannt hatte, um was es sich handelte, war er ganz kalt geworden, zeigte, dass er Kautabak im Munde hatte.

»Jawohl, abmustern wollen wir, und das auf der Stelle.«

»Well, geht!«

»Wir haben noch die Heuer von zwei Monaten zu bekommen.«

»Sollt ihr haben. Geht nach dem Hotel zum blauen Mast, ich komme gleich nach.«

»Der Käpt'n geht auch.«

»Ist mir gerade recht.«

Die vier Matrosen packten sofort ihre Kleidersäcke und marschierten ab. Der Kapitän war nicht anwesend. Aber der Steuermann war noch da, ein junger, untersetzter Norweger mit freimütigen Zügen.

»Nun, Knut, wollt Ihr nicht auch gehen?«

»Habe keine Ursache, Käpt'n, mit Euerm Kommando unzufrieden zu sein.«

Schon aus diesen Worten ließ sich schließen, dass die anderen nur deshalb unzufrieden gewesen waren, weil sie sich eben von solch einem kleinen Jungen nicht kommandieren lassen wollten. Lässt sich schon kein Diener an Land von dem unmündigen Sohne seines Herrn gern befehlen, was gegen seine Ehre geht, wenn er eine solche hat, so noch weniger so ein Matrose, und vor dem kleinen Wicht Respekt zu bekommen, dazu hatten diese hier noch keine Gelegenheit gehabt. Dass er plötzlich so viel Geld verdient hatte, das war doch einfach Glückssache, davon hatten sie nicht einmal Vorteil, und dazu kam vielleicht noch der Neid.

Dieser Norweger hier dachte anders, seine Figur, noch unter Mittelgröße, passte eher zu der Jacht, deren Winzigkeit für normale Menschen auch wirklich manchmal eine Qual sein musste.

Übrigens nannte sich dieser Steuermann wohl nur einen Norweger, wahrscheinlich war er ein Lappe, das heißt ein Lappländer. Doch wenn ein in seinem Lande maßlos verachteter Lappe sich etwas höher schwingt, so gibt er sich stets für einen Norweger aus, was er schließlich ja auch ganz mit Recht kann.

»Gut, dann bleibt.«

»Ihr werdet wohl schwerlich hier andere Leute bekommen.«

»Weshalb nicht?«

»Dafür werden jetzt doch die Matrosen sorgen, besonders der Fred ist ein Stänker.«

»Lasst sie. Habe schon welche.«

»Woher?«, fragte der Steuermann erstaunt.

»Werdet schon sehen. Müssen erst ausgebildet werden.«

Karlemann wollte in den engen Kajüteneingang kriechen, einfach eine kleine Luke, auf See durch verschiedene Sicherheitstüren verschlossen, wie noch später beschrieben werden soll.

»Aber, Käpt'n«, hielt Knut ihn noch einmal zurück, »das Trinkwasser, das wir hier eingenommen haben, ist nicht gut.«

»Was fehlt denn dem?«

»Das schmeckt bitter.«

»Ihr selbst habt die Tanks doch erst scheuern lassen!«

»Ja, aber das ist kein Süßwasser, sondern Bitterwasser.«

»Ich habe noch nichts geschmeckt.«

»Nicht? Na ich danke. Das ist das reine Bitterwasser, so ein Abführmittel.«

»Habt ihr denn schon die... danach bekommen?«

»Das gerade noch nicht«, lachte der Steuermann, »aber...«

»Ach was, Einbildung!«, knurrte Karlemann und verschwand unter Deck.

Als er nach wenigen Minuten wieder zum Vorschein kam, hatte er schon wieder tränende Augen und einen nassen Mund, was viel vermuten ließ, und das eine Bullauge unten war groß genug, um den Kopf hindurchstecken zu können, und trotzdem biss er schon wieder ein herzhaftes Stück Kautabak ab.

»Aller Anfang ist schwer«, seufzte er; »aber gelernt ist gelernt, und Übung macht den Meister. Stürmann, Ihr bleibt hier.«

»Ich gehe nicht von Bord.«

»Niemand darf das Deck betreten.«

»Selbstverständlich nicht.«

»Wer es wagt, den schießt Ihr auf der Stelle nieder.«

»Ay ay, Käpt'n«, lachte der Steuermann.

»Da ist gar nichts zu lachen, sondern es ist mein blutiger Ernst.«

Diesmal nahm Karlemann den Pudel mit, aber an der Leine. »Er könnte doch verschwinden, sie sind höllisch hinter dem dressierten Pudel her, und nicht nur der Aschantihäuptling.«

Zehn Minuten später betrat Karlemann das einem Engländer gehörende Hotel zum blauen Maste, in dem besonders Kapitäne verkehrten, die hier manchmal den Champagner in Strömen fließen ließen.

Der kleine Kapitän ward von den Kellnern wie ein Großfürst empfangen — wie ein großer Großfürst. Karlemann wohnte hier nicht gerade, wie gesagt, sondern er erledigte in diesem Hotel nur seine Geschäfte, deren er wirklich genug hatte, hatte dazu auch sein eigenes Zimmer für ständig gemietet, konnte deshalb schon von ›seinem‹ Hotel sprechen. Sonst schlief er immer an Bord seiner Jacht — und hatte sonstige Heimlichkeiten, welche sich vorläufig noch unserer Kenntnis entziehen.

»Sind meine Leute vom ›Knipperdolling‹ da?«

»Alle, auch der Herr Kapitän, nur der Steuermann fehlt noch.«

»Der kommt auch nicht. Wo sind sie?«

»Im kleinen Speisesaal.«

»Und sind fünf Jungen da?«

»Die Stowaways«, lächelte der Oberkellner, »jawohl, die sind in einem hinteren Zimmer untergebracht, sie lassen es sich noch schmecken.«

Karlemann begab sich zunächst in das kleine Speisezimmer, wo sich auch schon der Jachtkapitän eingefunden hatte, gleichfalls nicht gewillt, unter solch einem halbwüchsigen Herrn länger zu dienen.

Die Sache war schnell erledigt. Die fünf Seeleute hatten zusammen noch 340 Dollar zu fordern. Karlemann griff in die Brusttasche, zog ein Bündel Banknoten hervor, zahlte, wie man sagt, diese Lappalie mit einer Hand.

Ja, er hatte in den letzten Tagen mit seinen Mäusen und Hampelmännern noch genug verdient, hatte die AschantiGesandtschaft, welche noch immer in Monrovia weilte, auch vollständig ausgeplündert. Dann hatte er ja auch von einheimischen, schon zivilisierten Negern genug bares Geld erhalten.

Zuletzt hatte der Schacher ein Ende genommen. Sein Vorrat war wohl erschöpft. Für die letzte Maus hatte er ›nur‹ zehn Dollar bekommen. Er musste so ›billig‹ werden, weil die anderen weißen Händler den Negern so lange vorgeredet hatten, dass sie ja furchtbar übers Ohr gehauen würden, dass sie einer Woche so eine Maus für ›nur‹ einen Dollar bekommen könnten, bis diese es glaubten und sich so lange noch gedulden wollten. Da aber hatte sich Karlemanns Vorrat, wie gesagt, schon erschöpft — und das Fett hatte er auch schon abgeschöpft, und das gründlich und natürlich für immer.

In acht Tagen würde man vielleicht für die ersten Mäuse wirklich noch einen ganzen Dollar nehmen können, dann trat die Reaktion ein — Stück für Stück einen Groschen.

Aber wohin der kleine Schacherjude das Geld und besonders den kostbaren Schmuck brachte, das war für alle, die sich dafür interessierten — und wer hätte sich in Monrovia nicht dafür interessiert! — ein geheimnisvolles Rätsel.

Abgeschickt hatte er nichts wieder, keinen Schmuck verkauft, nichts auf die Bank gebracht. Die Vermutung lag ja sehr nahe, dass er alles eben auf seiner Jacht hatte — denn des Schmuckes war so viel, dass er den wohl kaum bei sich am Körper tragen konnte.

Dem widersprach aber der Charakter des kleinen Mannes, soweit man diesen bisher kennen gelernt hatte. Denn Kapitän Algots war trotz seines Knabenalters eine äußerst misstrauische, vorsichtige Natur, und betreffs seiner Jacht war er nun geradezu wieder leichtsinnig, indem er z. B. keine Polizei an Deck aufgestellt hatte, was sehr oft Schiffe tun, sie in den Händen von ihm noch unbekannten Matrosen ließ, und dabei blieb der kleine Mann auch oft genug Nachts aus, trieb sich wenigstens bei Nacht noch in der Stadt umher, war also auch persönlich sorglos, und dies wäre doch nicht der Fall gewesen, hätte er seine Schätze bei sich oder an Bord gehabt.

Dies war wenigstens sicher anzunehmen. Kurz, man grübelte darüber nach, wo er sein vieles Geld und die Wertsachen wohl aufbewahren könnte. —

Doch kehren wir wieder in das Hotel zum blauen Mast zurück. Da es sich um eine Privatjacht handelte, waren keine weiteren Formalitäten nötig, welche sonst die Seebehörde bei einer Abmusterung fordert, und Karlemann begab sich in das Hinterzimmer.

Obgleich die kleinen Stromer gar nicht so verhungert sein konnten, waren sie doch wie die Wölfe über die Beefsteaks und die anderen guten Sachen hergefallen, die man ihnen vorgesetzt hatte. Das war eben etwas anderes als die ewigen Erbsen mit anrüchigem Salzspeck, und nur wer selbst einmal einige Monate steinharten Schiffszwieback mit dem Hammer zerschlagen und mit den Zähnen zermalmt hat, der erst weiß frisches, gesäuertes Brot zu würdigen.

Karlemann forderte sie auf, ihren zehn- bis fünfzehnjährigen Lebenslauf zu erzählen. Es kann summarisch abgemacht werden.

Echte Berliner Kinder. Entweder stammten sie aus Kellerlöchern oder hatten das Licht der Welt am nächsten dem Himmel erblickt. Nur der eine war in der BelEtage geboren worden, hatte auch ›Zeit seines Lebens‹ nur in den feinsten Häusern gelebt, denn seine Eltern waren berufsmäßige Trockenwohner.

Nachbarschaft in einem Stadtviertel, mehr noch Geistesverwandtschaft und gleiche Ideale hatten sie zusammengeführt. Nachdem sie die Theorie in Indianerschmökern studiert hatten, gingen sie zur Praxis über. Sie legten im Geiste ihre weiße Haut ab, wurden Rothäute.

Ihr Jagdgebiet war eine Gartenkolonie — so ein freies Terrain an einer Vorstadtbahn, mit winzigen Gärtchen, in jedem eine Laube, die im Sommer den armen Familien gleich als Wohnung dient.

Hier hatten sie... gespielt, wäre beinahe gesagt worden. Nein, es war ihnen furchtbarer Ernst. Hier hatten sie alles durchgemacht, was nur jemals die Phantasie eines Jugendschriftstellers erfand, hatten den Tomahawk ausgegraben und waren auf dem Bauche gerutscht, hatten einander skalpiert und dann wieder zusammen die Friedenspfeife geraucht.

Doch mag das genügen. Der Leser hat wahrscheinlich all das selbst durchgemacht, und hat er es nicht, so ist ihm so etwas ja gar nicht näher zu schildern.

Auch noch etwas reeller waren sie geworden, indem sie sogar Feuer angezündet und daran selbsterlegte Katzen und leider auch Karnickel gebraten hatten... wollte sagen Leoparden und Wapitihirsche, welche sie aus den Ställen der Kolonisten mausten.

Und dann genügte ihnen auch dies nicht mehr. Am Beratungsfeuer wurde der Entschluss gefasst, und nachdem der ›große Bär‹ gesprochen hatte, stimmten alle die anderen roten Krieger, darunter die edelsten Häuptlinge, mit einem ›Hugh‹ bei.

Auf nach Amerika! Nach dem wirklichen Amerika! Nur über das besondere Ziel waren sie sich noch nicht ganz einig. Die einen wollten sich zu den Sioux schlagen, die anderen zogen die Apachen vor.

Und sie brachen auf:

1. Emil Bolle, genannt der große Bär, fünfzehn Jahre, Eltern professionelle Trockenwohner, denen der Sohn bei diesem schwierigen Berufe hatte mithelfen müssen. Ausgerüstet mit einer Teschingpistole und einem Brotskalpiermesser.

2. Gottfried Klingelmann, genannt die züngelnde Schlange, dreizehn Jahre, Mutter Waschfrau, Vater unbekannt, gab's gar nicht. Ausgerüstet mit einer Türangel als Tomahawk, mit einem Kartoffelschälskalpiermesser und mit der allgemeinen Friedenspfeife.

3. Balduin Nauke, genannt Büffelstirn, dreizehn Jahre, Vater Schutzmann. Ausgerüstet mit des Vater dienstlichem Seitengewehr.

4. Heinrich Ehrich, genannt der schleichende Tod, elf Jahre. Mutter auf dem Markte mit Gemüse, Vater im Gefängnis mit Tütenkleben. Ausrüstung bestand aus einem Knüppel und sechs Schachteln Streichhölzern — utan swafel ok phosphor.

5. Fritz Neumann, genannt der kleine Igel, zehn Jahre alt. Mutter pensionierter Wachmeister, Vater, geprüfte Heb... nein, Vater pensionierter Wachmeister, Mutter geprüfte Hebamme. Ausrüstung: des Vaters Kavalleriesäbel und eine ewige Rotznase.

So waren sie aufgebrochen aus ihren heimatlichen Jagdgefilden. Da man als ihr Ziel wohl Hamburg vermuten würde, wandten sie sich lieber nach Bremen.

Und es gelang. In vier Tagen oder vielmehr vier Nächten erreichten sie Bremen. Ebenso ungesehen verschwanden sie im Kielraum eines amerikanischen Seglers. Nur schade, dass dieses amerikanische Schiff nicht nach Amerika, sondern nach der afrikanischen Pfefferküste ging.

Alles Übrige wissen wir.

Mit tiefstem Interesse hatte Karlemann zugehört, aber ohne eine Miene zu verziehen, hatte auch gar kluge, sachverständige Fragen gestellt.

»Well. Wollt ihr als Matrosen an Bord meiner Jacht kommen?«

Die Jungen wurden wieder etwas kleinlaut. Sie hatten die Nase noch gar zu voll und nun eben hier gekostet, wie herrlich es sich an Land leben lässt, und auf dem Schiffe immer steinharte Erbsen mit gesalzenem Fleisch und ungesalzener Haue, und die Matrosen hatten es auch nicht so leicht gehabt.

Im Übrigen hatten sie noch keine Ahnung, was der Knirps wollte, hielten ihn noch immer für den Sohn eines Kapitäns, der für sein Schiff Arbeiter brauchte, so etwas von ›Seelenverkäufer‹ hatten sie doch auch schon gehört.

»Habt ihr Läuse?«, war Karlemanns zweite Frage.

Unwillkürlich fuhren sich alle mit den Fingern in die langen Haare.

»Wir haben welche gehabt, aber wir sind abgeschrubbt und ausgebrannt worden«, lautete dann die einstimmige Antwort.

Natürlich, während der langen Heeresfahrt nach Bremen, wo sie irgendwo in Winkeln geschlafen, hatten sie sich solche Tierchen, mit dem spezifischwissenschaftlichen Namen ›Reichskäfer‹ genannt, aufgesackt, aber die Matrosen hatten sie schnell wieder davon befreit, mit Scheuerbürste, Seife, Sand und Soda.

Der in so etwas sicher die größte Erfahrung habende Karlemann traute dem Braten nicht recht, aber eben wegen dieser seiner großen Erfahrung genügten ihm auch nur einige Griffe zwischen Haare und Rocksaum, um zu konstatieren, dass sie tatsächlich ›rein‹ waren.

»Da kommt mal mit, ich will euch gleich meinen ›Knipperdolling‹ zeigen.«

Sie wanderten hin. Ja, als die Jungen nun das reizende Schiffchen sahen, die innere Einrichtung, wie ihnen gezeigt wurde, wo sie schlafen würden, wo man kochte, wo der Proviant lag, und was für Proviant! — und was ihnen dieser gewiefte deutsche Zigeunerknabe nun sonst noch alles zu erzählen wusste, dieses Leben an Bord, diese Abenteuer an Land, Jagden in allen Weltteilen, eigene Inseln, auf denen sie als Robinsons hausen würden... kurz und gut, es wären ja keine Jungen gewesen, die für eine romantische Idee von zu Hause durchgebrannt, wenn sie nicht Feuer und Flamme geworden wären.

Nur eins konnten sie kaum fassen.

»Und dieses Schiff gehört Ihnen?«

»Das gehört mir.«

»Ihnen ganz allein?«

»Mir ganz allein.«

Schließlich mussten sie es doch glauben, und sie lachten vor seligem Staunen. Sie sollten ja mitmachen! Ihre kühnsten Jugendträume, die sie selbst für unmögliche Phantasie gehalten, sollten sich verwirklichen.

Nun freilich verstand dieser deutsche Zigeunerjunge eben auch zu erzählen, er selbst besaß ja eine glühende Phantasie.

Was er ihnen alles sagte, braucht hier nicht wiedergegeben zu werden, da alles in reelle Tatsachen umgewandelt wurde.

Noch eine große taktische Schlauheit beging Karlemann.

»Knut — das ist hier nämlich mein Steuermann — erzählt doch einmal den Matrosen, wer ich eigentlich bin, was ich hier schon getan habe, was Ihr sonst von mir wisst.«

Versteht der Leser, was für eine Schlauheit hier zugrunde lag? Allein schon das Wort ›Matrosen‹ war nicht ohne Bedeutung gesprochen. Dieser Junge schien überhaupt kein einziges unnützes Wort zu sprechen.

Während Karlemann sich anderswo zu schaffen machte, nahm Knut die Jungen vor.

Dieser Steuermann war nämlich der einzige von der Jachtmannschaft gewesen, welcher sich um den neuen Besitzer mehr gekümmert hatte, hatte sich auch sonst von ihm erzählen lassen... kurz, er war in demselben Maße ein Bewunderer von ihm geworden wie Richard Jansen, was dieser aber vielleicht gar nicht so sehr ausgedrückt hat.

Als Karlemann die kleine Kajüte, in die kaum sieben Menschen hineingingen, in der selbst der untergroße Steuermann nur gebückt stehen konnte, wieder betrat, blickten ihm fünf leuchtende Augenpaare mit enthusiastischer Bewunderung entgegen. Ja, dann freilich — ein Junge, der so im Handumdrehen Millionen verdienen kann — der im offenen Boote nach Afrika fährt — — gegen den waren die älteren Jungen doch Säuglinge zu nennen.

»Nun, wollt ihr hier bei mir bleiben?«

»Wir wollen, wir wollen!«, erklang es enthusiastisch im Chore. »Na, dann wollen wir daraufhin einen trinken, eine weitere Abmachung gibt es bei mir nicht.«

Karlemann nahm aus einem Wandschränkchen eine Flasche und ließ ein Likörgläschen die Reihe herumgehen, er selbst den Anfang machend.

Die Jungen, welche ja nach der Mahlzeit einen Schnaps vertragen konnten, schnitten rechte Gesichter, sagten aber nichts.

»Ihr auch ausnahmsweise einen, Steuermann?«

Der Kapitän war nämlich Abstinenzler gewesen, hatte nur solche Matrosen an Bord genommen. Aber der lappländische Steuermann hatte wohl nur wegen des guten Gehaltes aus dieser Not eine Tugend gemacht.

»Na ja, jetzt hat sich ja das Verhältnis geändert«, sagte er, trank das gereichte Glas aus, und dann schnitt auch er ein Gesicht und schüttelte sich.

»Was für Höllenzeug ist denn das? Das ist ja noch bitterer als Galle.«

»Aber gesund«, entgegnete Karlemann, nichts weiter, als er die Flasche zurücksetzte.

Die Jungen blieben gleich an Bord, wurden von dem Steuermann schon instruiert, während Karlemann Händler und Schneider zitierte, welche innerhalb zweier Tage für jeden verschiedene Anzüge zu liefern hatten, soweit diese nicht schon fertig zu kaufen waren, aber nicht für Knaben, sondern für kleine Männer.

Schnell hatte sich die Kunde verbreitet von dem, was der kleine Kapitän Algots wieder herausgesteckt hatte, und es gab ja in Monrovia nicht nur neugierige und alles anstaunende Neger, sondern auch gebildete Europäer genug, abgesehen von den Offizieren der im Hafen liegenden Schiffe, welche das Ganze noch mit anderen Augen betrachteten.

Also dieser tolle Junge wollte seine Jacht mit kindlichen Altersgenossen bemannen! Das war eine Idee, wie sie noch nicht einmal ein phantasievoller Jugendschriftsteller verwertet hatte.

Abgesehen aber nun davon, wie diese Jungen solch eine Jacht, welche in Wirklichkeit dennoch kein Spielzeug war, bedienen, beherrschen wollten, im Kampfe mit Sturm und Wogen, wovon mancher Kapitän erzählen konnte, was das gerade bei solch einer kleinen Jacht zu bedeuten hatte — wie dachte der Junge denn nur die gesetzlichen Formalitäten einhalten zu wollen?

Denn das unermessliche Meer ist nicht etwa so ein Freigebiet, wie es sich vielleicht mancher vorstellt. Auch das Meer steht unter Gesetzen, welche international sind. Man darf wohl so ein bisschen an der Küste herumgondeln, aber sonst — jedes Fahrzeug, jede Privatjacht muss unter Leitung eines staatlich konzessionierten Kapitäns stehen, welcher also alle die zahllosen Vorschriften kennt, unter denen das Meer befahren werden darf.

Gewiss, das Knabenschiff durfte hier im Hafen liegen. Aber die Hafenbehörde hatte eigentlich schon die Pflicht, die Festigkeit der Anker zu prüfen, einen Posten als Sicherheit zurückzulassen. In den Hafen herumfahren durfte es schon nicht, es konnte andere Schiffe gefährden. Und lief das Jungenschiff aus und einen anderen Hafen an, und an Bord befand sich nicht die vorschriftsmäßige Bemannung, so wurde es konfisziert und der Steuermann, der nicht einmal das Kapitänspatent besaß, noch besonders schwer bestraft, und auch jedes Kriegsschiff konnte es unterwegs mit Beschlag belegen und ins Schlepptau nehmen. Das alles war also nur eine Spielerei, welche sobald sie ernst genommen werden sollte, ein tragikomisches Ende nehmen musste.

So wurde allgemein in fachmännischen Kreisen darüber gesprochen. Nur ein Mann dachte anders, ein alter Schiffsmakler, der selbst ein Menschenalter lang als Kapitän gefahren war.

»Meine Herren! Dieser deutsche Junge ist doch offenbar ein Genie. Und was ist ein Genie? Ein Genie schafft aus eigener Kraft etwas noch nie Dagewesenes, sich dabei über alle Schranken hinwegsetzend, mit allem Konventionellen und Traditionellen brechend, ohne sich um irgendwelches Gesetz zu kümmern — und dadurch bezwingt er die staunende Menge, für welche diese Gesetze nur geschaffen sind. Für ihn selbst aber entstehen neue Gesetze. Das ist das Genie. Dieser Junge wird euch Klugschnacker noch alle auslachen, der kommt überall durch, und alle die Hüter der Gesetze werden sich vor ihm beugen. Oder er wäre eben kein Genie.«

So sprach der alte Schiffsmakler, und er hatte schon oft recht behalten, dass man ihm auch jetzt nicht zu widersprechen wagte. Eine leise Ahnung sagte auch schon jedem, dass eben in der Praxis alles immer anders zugeht, als man es sich in der Theorie zurechtlegt, — — allerdings neu muss es sein, eben etwas Geniales!

Das köstlichste Beispiel liefert der erste Dampfer. Eine Akademie von Professoren hatte berechnet, um die ungeheuren Summen nicht unnütz zu verschwenden, dass ein Dampfer niemals genug Kohlen mitnehmen könne, um von England nach New York zu fahren. Die wissenschaftliche Schrift erschien gedruckt und... zwei Tage später lichtete die ›Great Western‹ in Bristol die Anker und ließ sie vierzehn Tage später in New York wieder fallen — und das Humoristische ist dabei, dass dieser Dampfer seine eigene Verurteilungschrift, die erwiesene Unmöglichkeit seiner Existenz, in 10 000 Exemplaren dem amerikanischen Publikum gleich mitbrachte.

Und dasselbe gilt auch in Bezug auf die Gesetze, die von Menschen gemacht sind.

»Unmöglich?«, rief Napoleon seinem General Murat im Schlachtgewühl zu. »Sprechen Sie in meiner Gegenwart nie wieder dieses lächerliche Wort aus!«

Und Napoleon hat aller Welt bewiesen, aber nicht nur auf dem Papiere, dass es für ihn keine Unmöglichkeit gab. —

Die Hauptsache aber war doch, die kleine Jacht selbst zu beobachten.

Sie war mehr in die Mitte des Hafens verholt worden. Man sah die fünf Jungen in der Takelage exerzieren und sehr oft sich an einer Reckstange schwingen, welche Karlemann bereits wie auf der ›Sturmbraut‹ auch hier angebracht hatte.

An Land kam niemand wieder, nur Karlemann, der Proviant und anderes einkaufte.

Auch an Bord durfte niemand kommen. Jeder neugierige Besuch wurde abgewiesen. Dagegen wurde der Häuptling Kididimo, der sich zweimal mit seinem schwarzen Dolmetscher übersetzen ließ, empfangen.

»Der will durchaus den weißen Pudel haben«, hieß es; »wer weiß, was der schon dafür geboten hat.«

Aber er bekam ihn nicht. Hinwiederum machte der Häuptling bei seiner Rückkehr immer ein vergnügtes Gesicht, konnte also doch nicht unzufrieden sein.

Oder erfreute ihn so die Turnerei? Besonders Karlemann musste ihm drüben an Deck immer etwas vorturnen.

»Der hat mit dem Aschantihäuptling etwas Heimliches vor«, hieß es weiter, »wir werden schon noch erleben, wie der den wieder übers Ohr haut.«

Es war am vierten Tage, nachdem die Jungen an Bord gekommen waren, als sich Karlemann nach einem längeren Aufenthalte an Land wieder nach seiner Jacht rudern ließ.

Auch im Bootsrudern waren die kleinen Matrosen fleißig ausgebildet worden, doch benutzte Karlemann stets ein Mietsboot. Jedenfalls wollte er die Jungen vorläufig gar nicht wieder an Land lassen, dass sie nicht mehr mit anderen Menschen in Berührung kamen.

Beim Näherkommen erkannte man, dass an Deck der Jacht eine Kampfszene stattfand; man hörte Geschrei, die Jungen mussten sich bei den Haaren bekommen haben.

Als das Boot noch einen Meter weit von der Jacht entfernt war, stand Karlemann mit dem Sprunge einer Katze schon an Deck.

Richtig, es fand ein Zweikampf statt zwischen dem großen Bären und dem kleinen Igel. Der fünfzehnjährige Emil Bolle vertobakte den bald zwei Kopf kleineren Fritz nach allen Regeln der Boxkunst, dieser verbiss sich in den überlegenen Gegner, nun aber schlug Emil von unten auf ihm immer ins Gesicht. Das Blut floss reichlich.

Die anderen drei standen als Zuschauer herum, doch schien es, als wären auch sie beteiligt gewesen, hatten die Kämpfenden wahrscheinlich trennen wollen, und standen erst tatenlos da, als sie ihren Kapitän sich über die Bordwand schwingen sahen, während die Streitenden in ihrer Erregung ihn nicht bemerkten.

»Ruhe an Bord!!«, donnerte Karlemann, soweit eine Kinderstimme donnern kann.

Doch die beiden ließen nicht voneinander ab.

»Wart — ick — will — dir — lernen!«, heulte der große Bär, jedes Wort mit einem Faustschlag begleitend.

Da lagen beide plötzlich im Wasser. Karlemann hatte eine Messingstange des Geländers zurückgeschlagen, ein Schieben, ein kräftiger Stoß, und die beiden waren vom Deck verschwunden gewesen.

Prustend tauchten sie wieder auf. Beide Spreejungen konnten schwimmen. Sie blickten nach oben, suchten ein Tau.

Aber das, welches Karlemann soeben benutzt hatte, war von diesem schon eingeholt worden, und sie erblickten den kleinen Kapitän, wie er gleich einem Jupiter an Deck stand und mit dem ausgestreckten Arm nach dem Lande deutete.

Das Boot, mit dem er gekommen, hatte bereits den Rückweg angetreten.

»Schwimmt an Land!«

Die beiden schienen schon zu wissen, was ihnen bevorstand, sie machten im Wasser unsagbar klägliche Gesichter.

»Herr Kapitän...«, erklang es flehend.

»Schwimmt an Land! An Bord meines Schiffes kommt ihr mir nicht wieder. Ihr seid entlassen.«

»Der Emil fing an«, sprudelte Fritz jammernd hervor.

»Der Fritz hatte mir einen Eimer Wasser auf den Rücken gegossen«, winselte der große Bär.

»Ich tat's nicht mit Absicht«, verteidigte sich der kleine Igel.

»Nichts da«, erklang es von oben unerbittlich zurück. Ihr kennt die Bedingungen. Wer Streit anfängt fliegt über Bord, ob nun im Hafen oder mitten auf Meere. Schwimmt an Land oder ersauft.«

Da wandten sich die beiden, schwammen dem Lande zu. Sie mochten wissen, dass hier nichts mehr zu hoffen war.

Einige Sekunden blickte ihnen Karlemann nach, dann wandte er sich an die drei anderen, welche wie die geknickten Sünder dastanden.

»Seht ihr sie?«

»Ja, Herr Kapitän«, wurde gemurmelt.

»Da schwimmen sie nun hin. Wenn sie das Land betreten, sind sie wieder so wie damals, ohne Stiefel. Sind es nicht Narren? Unten haben sie die Kisten voll Sachen, aber sie bekommen nichts von mir, keinen Pfennig. Das habe ich mit euch ausgemacht. — Wie entstand der Streit?«

Wie Emil es schon gesagt hatte.

»Warum habt ihr sie nicht getrennt?«

Sie hatten es versucht, es war ihnen nicht gelungen.

»Ihr seid genau so schuld wie die anderen.«

Karlemann zog eine silberne Bootsmannspfeife hervor, ein trillernder Pfiff mit endigendem Signal, es erreichte noch das Ohr der Schwimmer, die sich schon gut hundert Meter entfernt hatten, sie blicken zurück, Karlemann winkte, und eiligst, mit ungeschwächter Kraft schwammen sie zurück.

»Diesmal will ich noch Gnade für Recht ergehen lassen, das nächste Mal gibt es so etwas nicht mehr«, empfing er die triefenden Jungen. »Aber Strafe muss sein. Hein, hole die Pulle — aber die grüne.«

Es musste ein schreckliches Wort gewesen sein, das der Kapitän da ausgesprochen hatte. Zusammen knickten sie nicht gerade, es waren doch Matrosen, die keine Angst zeigen durften, aber so einen kleinen Hexenschuss schienen sie doch alle zu bekommen! Die Wirkung dieser Worte war auch in ihren Gesichtern zu lesen, sie machten plötzlich alle schiefe Mäuler; der eine schüttelte sich schon.

Hein war unter Deck gegangen, kam mit einem Gläschen und einer dickbauchigen Flasche zurück, die zur Hälfte mit einer grünen Flüssigkeit angefüllt war.

»Nach Nummern angetreten!«

Sie traten an, zugleich der Größe nach, Karlemann füllte das Gläschen. Jeder der drei Zuschauer bekam eins zu trinken, Fritz musste zwei, Emil als Hauptattentäter sogar drei hintereinander leeren.

Es musste ein schreckliches Zeug sein. So mannhaft die Jungen sein wollten, so zogen sie doch furchtbare Grimassen, schüttelten sich, und Emil hatte sich schon beim zweiten Gläschen wie ein Wurm gekrümmt, für das dritte schien seine Kraft nicht mehr zu reichen.

»Trink!«

»Ich kann nicht mehr, Herr Kapitän«, ächzte der Gemarterte.

»Dann verlässt du sofort mein Schiff!«

Da leerte er auch noch das dritte Likörgläschen, und zu verwundern war, dass er dann nicht in krampfhaften Zuckungen hinstürzte.

Jetzt füllte Karlemann das Glas noch einmal und leerte es selbst, ohne eine Miene zu verziehen, mit anscheinendem Wohlbehagen.

»Aaahhh. Ich weiß gar nicht, was ihr wollt, das schmeckt doch delikat. Nun ja, etwas bitter: aber gesund. Wer jeden Tag so ein Gläschen trinkt, der kriegt niemals das Fieber und wird hundert Jahre alt.«

Wenn man nur gewusst hätte, was das eigentlich war. Hier lag unbedingt ein Geheimnis vor.

Ehe der ›Knipperdolling‹ nach der Mitte des Hafens verholt worden war, hatte der Kapitän die Wassertanks auspumpen, scheuern und mit frischem Wasser füllen lassen. Aber dies schmeckte auch wieder bitterlich, obgleich nicht so wie zuerst, da sich die frühere Mannschaft darüber beklagt hatte.

Zuerst hatte Karlemann die Schuld doch dem Steuermann zugeschoben, dieser habe die Tanks nicht ordentlich reinigen lassen. Unterdessen aber stellte sich heraus, dass hier etwas anderes vorliegen müsse.

Dieser deutsche Zigeunerknabe schien für das Bittere zu schwärmen. Er musste etwas mitgebracht haben, irgendeinen Bitterstoff, den er nun auch partout seinen Leuten beibringen wollte.

Die Bitterkeit des Trinkwassers war also erträglich. Wenn man sich einmal daran gewöhnt hatte, störte sie kaum noch den Geschmack des Kaffees, Tees und der in dem Wasser gekochten Speisen. Bitterer war schon der Schnaps, den die Jungen ab und zu nach getaner Arbeit erhielten, allerdings mäßig, täglich höchstes zwei. Das war eben ein Bitterer, etwas sehr bitter, aber doch noch recht schmackhaft.

Anders der grüne Inhalt der Flasche, die bereits unter dem Namen ›Giftpulle‹ bekannt und gefürchtet war. Wer von den Jungen sich in etwas vergangen hatte, bei der Arbeit oder im Verkehr untereinander oder sonst wie, wer nur seine Koje nicht ordentlich gemacht hatte, der musste einen Schluck aus der Giftpulle nehmen, das war die einzige Strafe, die es an Bord gab, aber Karlemann teilte solche Strafen auch sehr reichlich aus.

Der grüne Inhalt dieser Flasche war kein Schnaps. Es schien sonst nur Wasser zu sein. Aber der Bitterstoff?

Die Vermutung lag nahe, dass es Chinin war, das beste oder einzige Mittel gegen Fieber, durch welches man diesem auch schon vorbeugen kann. Aber man nimmt Chinin auf die Dauer nicht ungestraft regelmäßig zu sich. Es schwächt außerordentlich den Magen, zerstört die ganze Verdauung. Und diese Jungen befanden sich bei bestem Appetit und sonstiger Gesundheit.

Der Steuermann hatte einmal gefragt, ob denn das Chinin sei. Und da hatte sich gezeigt, dass Karlemann überhaupt noch gar nichts von Chinin gehört hatte.

»Was ist es denn sonst?«

»Mein Geheimnis. Das wird nicht verraten. Ein Kraut, das für alles gut ist. Habe das Rezept von meiner Großmutter geerbt.«

Weiter ließ sich Karlemann nicht aus, und in der Stille seiner Kajüte ersetzte er den Inhalt der Giftpulle immer wieder und mischte dem höllischen Schnapse die grüne Galle bei.

Im Übrigen war der lappländische Steuermann ein viel zu phlegmatischer Charakter, als dass er sich weiter darum gekümmert hätte. Aus der Giftpulle brauchte er nicht zu trinken, und der bittere Schnaps schmeckte ihm, an das Trinkwasser gewöhnte er sich schnell, dieser geniale Junge hatte eben immer seine Geheimnisse, er trank ja auch selber davon, also konnte es doch nichts schaden, und die fünf Jungen hatten einfach zu gehorchen.

»Wo ist der Steuermann?«

»Er schläft.«

»Weckt ihn! Wir gehen sofort in See.«

Das wirkte elektrisierend. Karlemann begab sich zunächst in die winzige Kajüte, mit raffiniertem Luxus eingerichtet. Durch die Mitte ging der Mast, früher mit Samt und Attrappen verkleidet gewesen. Das war entfernt worden, statt dessen lief jetzt um den Mast eine Stellage, in der Gewehre, Revolver, Entersäbel und andere Waffen standen und hingen, alles von Karlemann erst in Monrovia angeschafft. Auch um ein Schiffsgeschütz hatte er sich unter der Hand bemüht, aber keines auftreiben können, das ihm für seine Miniaturjacht gepasst hätte.

An der Hinterwand, über dem Steuer, befand sich ein rundes Fenster, größer als sonst die sogenannten Bullaugen, durch die man nicht den Kopf stecken kann. Durch dieses Fenster konnte man es, und Karlemann tat es, blickte hinab, griff mit der Hand nach, tastete und zog durch das Bullauge einen dünnen Stahldraht, zog immer weiter, bis durch das Fenster ein schlauchähnlicher Beutel kam.

Karlemann öffnete ihn nicht erst, ließ nur das Wasser etwas ablaufen, dann verschloss er ihn in den kleinen Panzerschrank, in dem die frühere Besitzerin einst ihr Geld und ihre Juwelen verwahrt hatte.

Dasselbe tat jetzt Karlemann mit seinen eigenen Schätzen. Also außer Bord, im Wasser hatte er das Geld und all die Schmucksachen, die er den Negern abgenommen, bisher aufbewahrt! Hatte den ganzen Sack nur an einem Stahldraht, der ja allerdings eine große Last trägt, hängen gehabt.

Man weiß nicht, ob das von dem Jungen ein bodenloser Leichtsinn oder eine ganze geniale Vorsichtsmaßregel gewesen war. Jeder hätte in einem Boote nach der Jacht rudern, den Draht abschneiden können. Aber eben erst auf so einen Gedanken kommen! Der dünne Draht war vielleicht kaum zu sehen gewesen, konnte noch unter Wasser an den Schiffsplanken befestigt gewesen sein.

Jedenfalls war Karlemann noch im Besitze seiner unversehrten Schätze, und jetzt sollte es ja in See gehen, wo nur noch die Elemente räubern konnten.


Illustration

Auf der Seewarte beobachtete man, wie auf der kleinen Jacht die zwerghaften Matrosen unter einem lustigen Gesang taktmäßig um das Gangspill marschierten; die Anker wurden gehievt, dann entrollte sich ein Segel nach dem andern.

»Das Kinderschiff will in See stechen. Das müssen wir verhindern.«

Ja, sie sollten es einmal verhindern! Der schon in Fahrt befindlichen Jacht etwa eine der Kanonenschaluppen nachschicken, vorausgesetzt, dass eine solche unter Dampf lag? Die kleine Jacht mit den unverhältnismäßig hohen Masten legte sich nach Backbord über, als wolle sie kentern, richtete sich wieder auf, und dann schoss sie wie eine weiße Möwe davon, bei diesem Winde auch nicht vom schnellsten Schnelldampfer einzuholen.

Zwei Tage und zwei Nächte wurde unter Leitung des speziell im Jachtdienst ausgebildeten Steuermanns exerziert, wurden alle Manöver ausgeführt und immer wiederholt. In der dritten Nacht hörte das Üben auf, der furchtbare Ernst trat an die kleinen Seefahrer heran, ein Nordsturm war zu überstehen.

Da lernte auch Karlemann zum ersten Male kennen, was der Dienst auf einer Jacht zu bedeuten hat. Jachtmatrosen sind eben die Elite der ganzen Seemannschaft. Es müssen halbe oder vielmehr ganze Akrobaten und Jongleure sein, außerdem echte Wasserratten, die sich am wohlsten in dem nassen Elemente fühlen, unempfindlich gegen Kälte und alles.

Die Jacht besaß auch eine geschlossene Bordwand, welche durch wenige Handgriffe aufgerichtet werden konnte. Dies aber geschah nur bei ganz mäßig bewegter See, um das Überkommen von Wellen zu verhindern. Ging die See höher, so war es besser, sie spülte gleich direkt über Deck, als dass sich das Wasser dort versackte und die ganze Jacht einer vollen Badewanne glich; denn da halfen doch keine Ausflusslöcher mehr, im nächsten Augenblick hatte sich die Wanne schon wieder vollgeschöpft.

Wie sich aber nun die kleine, schmale Rennjacht mit den ungeheuer hohen Masten bei sturmgepeitschter See gebärdete, das spottete jeder Beschreibung. Eben immer unter Wasser.

Die Segel aber müssen dennoch bedient werden. In der Takelage arbeiten, das geht noch, aber sich an Deck aufhalten, das ist die Kunst, wozu sich nur fünf Prozent von der ganzen Seemannschaft eignet, und die Hälfte davon verlässt bald wieder mit Grausen diesen Jachtdienst.

An ein freies Aufrechtstehen ist da überhaupt nicht zu denken. Es kann nur gekrochen werden. Aber Schnelligkeit, Fixigkeit ist die Hauptbedingung, die man von Jachtmatrosen fordert.

An der starken Stange des Geländers liefen Lederschlingen entlang, durch welche man den Ann streckte, um nicht fortgespült zu werden. Da aber die Laufstange doch an gewissen Stellen mit dem eigentlichen Geländer verbunden war, über welche die Lederschlinge nicht hinweg konnte, so waren viele solcher Lederriemen vorhanden, auf jeder Seite sechzehn. Um sich also an Deck entlangbewegen zu können, musste man immer aus einer Lederschlinge in die andere schlüpfen, und dies galt nicht nur für den einzelnen Mann, sondern die Matrosen müssen gelernt haben, sich gegenseitig auszuweichen, die Lederschlingen von Hand zu Hand gehen zu lassen, oder vielmehr von Arm zu Arm, und mit ebensolchen Lederschleifen sind die Masten und die Rahen und überhaupt alles versehen, und eben sich dieser bedienen zu können, das ist die Kunst, welche den Jachtmatrosen zum Akrobaten macht. Denn nur ein einziger Fehlgriff, zwei sich begegnende Matrosen übergeben sich nicht rechzeitig die Schlinge, sie nicht schnell genug über den Arm streifend — schwubb ist der Mann fort, sind alle beide verschwunden, auf Nimmerwiedersehen über Bord gewaschen!

Dieses Vertauschen der Lederschlingen, Handpferde genannt, war von den Jungen unter Leitung des Steuermanns im Hafen, wie während der zwei Tage auf See zur Genüge geübt worden. Die Jungen waren schon einigermaßen imstande, die Jacht zu bedienen.

Als aber nun freilich die Sturmnacht losbrach, da hörte alles auf. Sie befanden sich unten in ihrer Foxl, klammerten sich fest, dachten ans Ende der Welt. Warum, das ist gar nicht näher zu beschreiben. Es war eben furchtbar, wie das Schiffchen um sich schlug.

So befanden sich an Deck nur zwei Mann oder vielmehr nur ein einziger Mann und ein halbwüchsiger Junge.

Der Steuermann hatte rechtzeitig alle Segel festgemacht, kräftig dabei unterstützt von Karlemann, und wenn sich der phlegmatische Lappe einmal wundern konnte, so tat er es jetzt, als er diesen Jungen neben sich arbeiten sah. Er stellte einen ganzen Mann.

Nur das Sturmsegel stand noch am Mittelmast, unter diesem flog das Schiffchen wie ein Pfeil vor dem Sturme her durch die finstere Nacht.

Karlemann stand hinten am Steuerrad, oder vielmehr in Lederschleifen hängend. Neben ihm hielt sich der Steuermann, ihm noch immer Anweisungen gebend.

Da beugte sich der Steuermann vor und lauschte.

»Ich glaube, ein Klüversegel flattert.«

Auch Karlemann hatte schon ein Klatschen gehört, wenn er einmal aus dem Wogenschwall auftauchte. Denn die Hälfte der Zeit standen die beiden unter Wasser.

Der Steuermann schalte sich aus seinen Lederriemen los, steckte den Arm durch die nächste Laufschlinge, arbeitete sich nach vorn.

Obgleich das Bugspriet, welches auch die Klüver enthält, nur zehn Meter vom Steuer entfernt war, war in dieser Finsternis doch nichts zu sehen.

Fünf Minuten vergingen — zehn Minuten — der Steuermann war noch nicht wieder zurück.

Das Klatschen hatte aufgehört, aber Knut war noch nicht wieder da.

Weitere zehn Minuten vergingen, der Steuermann hatte sich seinem jungen Kapitän noch nicht wieder beigesellt.

»Stürmann! Knut!«

Keine Antwort. In diesem Heulen und Pfeifen und Brausen nützten wohl auch keine menschlichen Worte.

Das Steuerrad war durch eine Vorrichtung festzusetzen. Karlemann tat es, glitt in den Handpferden nach vorn.

»Stürmann, wo steckt Ihr denn nur?«

Keine Antwort. Und zu sehen war von ihm auch nichts mehr. —

*

Ein neuer Tag brach an. Furchtbar wütete noch das Meer, aber aus dem Sturme war ein ganz schwacher Wind geworden, freundlich lächelte die Tropensonne auf das Schiffchen herab, das da wie ein junger Ziegenbock auf den weißen Wogenkämme hüpfte.

Karlemann stand am Rad, ließ es spielen. Zu seinen Füßen lugte aus dem Deck ein Eisenknopf, auf den er jetzt mehrmals trat. Infolgedessen erscholl unten im Zwischendeck eine Glocke, welche die Wache an Deck rief.

Ob sie aber kommen würden? Ja, sie kamen. Seekrank waren sie nicht geworden, und als durch die Bullaugen die Morgensonne lachte, kein Sturm mehr wütete, hatten sie wieder Mut gefasst.

Ein Junge nach dem andern kam zum Vorschein. Dass unter solchen Umständen, wenn sich die Jacht mehr unter als über Wasser befindet, eine besondere Vorrichtung vorhanden sein muss, um aus dem Zwischendeck an Deck und wieder zurück gelangen zu können, ist begreiflich. Würde nur eine gewöhnliche Luke mit Schiebetür vorhanden sein, so würde sich beim Öffnen derselben doch das überstürzende Wasser ins Innere der Jacht ergießen, alles ruinieren, den Aufenthalt unten unmöglich machen.

Diese Einrichtung ist ebenso einfach wie sinnreich. Im Deck ist ein Kasten eingelassen, der sich auf und nieder schieben lässt, von außen sowohl wie von innen. Der Betreffende, der von Deck aus nach unten will, steigt in den hochgeschobenen Kasten, fährt nach unten, nimmt freilich eine große Portion Wasser mit, die bei seinem Einsteigen hineingedrungen ist, kann aber unten den Kasten verlassen, ohne dass dieses Wasser herausläuft. Ebenso wird er wieder nach oben befördert.

Ist unten noch ein Vorraum, in dem man sich erst der wasserdichten Ölsachen entledigt, so kann das Innere der Jacht ziemlich trocken gehalten werden.

Immerhin lässt sich begreifen, was für ein ungeeigneter Aufenthalt das für eine verwöhnte Dame ist. Auch die Betten sind immer nass, das lässt sich nicht vermeiden.

»An die Handpferde!!«, schrie Karlemann jedem einzelnen Auftauchenden zu.

Sie waren alle fünf an Deck, hängten sich fest und blickten mit ängstlicher Scheu nach ihrem kleinen, am Rade festgebundenen Kapitän.

Himmel, wie sah der aus! Abgesehen davon, dass sein sonst so rundes Gesicht plötzlich ganz mager geworden zu sein schien, rannen auch ganze Bäche Blut daran herab, aus klaffenden Wunden an Stirn und anderen Kopfteilen kommend, und ebenso war das Rad mit Blut besudelt, aus seinen förmlich zerfetzten Händen kommend.

»Leute, nehmt die Mützen ab!«

Es geschah. Karlemann hatte keine mehr abzunehmen. »Heute Nacht gegen zwei Uhr ist unser Steuermann über Bord gewaschen worden.«

Stille herrschte. Scheu blickten sie alle nach der kleinen, blutigen Gestalt, die unentwegt nach dem Kompaß das Steuerruder regierte.

Wenn ihnen je zum Bewusstsein gekommen, wie himmelhoch überlegen ihnen dieser zwölfjährige Junge war, den sie Herr Kapitän anreden mussten, so war es in diesem Augenblick. Mit Scham dachten sie daran, wie sie sich unten festgeklammert hatten, während der Steuermann und vor allen Dingen ihr Kapitän für sie gearbeitet hatten, und wie er gearbeitet, das zeigten die Spuren an seinem Körper.

Aber kein Wort des Vorwurfs, des Hohnes, des leisen Spottes. »Seid ihr jetzt imstande wieder an Deck zu arbeiten?«

»Jawohl, Herr Kapitän«, erklang es einstimmig, und plötzlich begannen aller Augen zu blitzen.


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»Gottfried Klingelmann!«

»Hier, Herr Kapitän!«, entgegnete der dreizehnjährige Junge. »Ich ernenne dich zum Steuermann.«

Es war kein Neid dabei, wie die anderen auf den Auserwählten blickten, der einen ganz roten Kopf bekam. Sie wussten wohl, dass ihr Kapitän den Tauglichsten erkannt hatte.

»Ihr habt Gottfried fernerhin mit Steuermann und mit Ihr anzureden, verstanden?«

»Jawohl, Herr Kapitän.«

»Steuermann, übernehmt das Rad! Fritz, komm mit in die Kajüte, sollst mich verbinden.«

— • —

18. Kapitel
Die Leuchtturminsel und wie Karle-
mann eine neue Triebkraft erfindet

Originalseiten I.348 — 364

Am anderen Tage tauchte in östlicher Ferne eine Küste auf. Vorher zeigte sich noch ein hoher Punkt, und da es hier keine gebirgige Landzungen gab, konnte es sich nur um eine hohe Insel handeln.

Auf einem improvisierten Tische war eine Seekarte ausgebreitet, Karlemann berechnete nach der Sonne die geografische Lage des Ortes, wo sie sich gegenwärtig befanden, sich dabei Zeit nehmend, denn er weihte gleich seinen neuen Steuermann in die Geheimnisse des Sextanten ein.

Die Berechnung war gemacht, die Seekarte und das offizielle Handbuch wurden befragt.

»Famos! Wir sind gerade vor Legala, dem Haupthafen des AschantiReiches oder Aschanta, wohin ich sowieso wollte. Dann ist das dort auch die Leuchtturminsel von Legala.«

Der kleine Kapitän erklärte seinen nur wenig größeren Leuten weiter, dass die Engländer und Holländer zwar an der Küste der Aschantis viele Forts errichtet hätten, dass aber der Haupthafen Legala durch Abmachung mit allen Mächten für Fremde gesperrt sei, oder man bedürfe zum Besuche der Erlaubnis von der Hauptstadt Kumasi aus. Dass Karlemann in alledem so gut beschlagen war, kam daher, dass er eben diesen sonst gesperrten Hafen als sein Ziel gewählt hatte, und er würde wohl die Erlaubnis zum Einlaufen haben, er hatte mit dem Aschantifürsten lange genug heimlich verhandelt.

Obgleich der Wind günstig war, dauerte es noch eine gute Stunde, bis man näher an die Leuchtturminsel herangekommen war, welche kaum fünfhundert Meter von der Küste entfernt liegt, direkt vor Legala.

Der Anblick dieses Eilandes ist ganz der von Helgoland, dem es auch an Größe gleicht: wie eine Kiste liegt es auf dem Wasser, nur die grünrotweißen Farben fehlen; alles zeigt ein eintöniges Schwarzgrau.

Jäh steigen die Felsen bis zu einer Höhe von dreißig Metern empor, auf der Ostseite, an deren Rande sich auch der kleine Leuchtturm erhebt, noch höher als auf der Westseite. Aber dieser vierkantige Bau ist nicht wie Helgoland von Sanddünen umgeben, sondern von Klippen und Riffen, zwischen denen die See fürchterlich brandet, himmelhoch spritzt das Wasser, und doch sind diese Riffe der beste Schutz für das Eiland selbst, es wird dadurch nicht wie Helgoland ausgewaschen, dicht an den Felsenmauern ist das Wasser ganz ruhig, die Riffe halten eben die Dünung des Ozeans ab.

Karlemann ließ die Segel reffen, und die Jungen arbeiteten in der Takelage wie die Männer, wobei allerdings die Zierlichkeit von allem und jedem auf dieser Miniaturjacht in Betracht kommt. Immerhin, es klappte alles großartig, kein Seemannsauge hätte an den Manövern etwas auszusetzen gehabt.

So trieb die Jacht in ziemlicher Nähe an der Insel langsam vorbei. Karlemann hatte immer das Fernrohr vorm Auge. Da kam aus der Tür des am Rande stehenden Leuchtturmes hastig ein weißgekleideter Mann gelaufen durch das Fernrohr als Neger erkenntlich.

Der Mann hatte mit wenigen Schritten den Rand des hohen Plateaus erreicht, dort blieb er stehen, winkte, ließ eine blaue Flagge flattern, in die ein Knoten geschlungen war.

Was sollte das? Der Leuchtturmwächter wusste doch nichts von dem Kinderschiff, glaubte, dort würde man sein Signal verstehen.

Nun, darin irrte er sich auch nicht. Allerdings war ein Zufall dabei.

Wie der Stenograf sogenannte Sigel hat, gebräuchliche Abkürzungen, so auch der Seemann in seiner Flaggensprache. Sie sind nicht offiziell, die Seeleute haben sie unter sich gemacht, sind so nach und nach entstanden, die Bücher, welche sie sämtlich anführen, sind eigentlich mehr Kuriositäten.

Der zwischen Seeleuten aufgewachsene Knabe, der sonst noch nicht viel von der Flaggensprache verstand, war aber nun gerade in solchen Sigeln bewandert.

Diese blaue Flagge mit dem Knoten bedeutete: Wir haben Fische. Wollt ihr welche?

Diese Frage hatten Schiffe auf der Elbe ja oft genug nach dem Lande signalisiert.

Karlemann hob den Arm und machte durch die Luft einen Strich nach unten: ja.

Daraufhin hob der Neger die geballte Faust und schlug sie gegen seine Brust — warten, ich komme selbst! — und er verschwand vom Rande des Plateaus.

Karlemann ließ die Segel völlig festmachen, bis die Jacht bei dem schwachen Wind fast still lag, und es dauerte gar nicht lange, so kam hinter einer Ecke ein kleines Boot hervorgerudert.

Der Neger, ein schon bejahrter Mann, nur mit Hemd und Hose bekleidet, kletterte das ausgeworfene Fallreep hinauf.

Beim Anblick der sechs halbwüchsigen Jungen machte er große Augen.

»Wo ist der Kapitän?«

»Der bin ich!«, erklärte Karlemann mit Würde.

»Ich meine deinen Vater.«

»Den habe ich zu Hause gelassen. Diese Jacht ist der ›Knipperdolling‹, und ich, Karl Algots, bin ihr Eigentümer und Kapitän.«

Es dauerte ziemliche Zeit, bis der alte Neger, der sich dann als ein recht gebildeter Mann erwies, es glauben wollte. Zuletzt musste er es wohl.

»Ist mir in meinem ganzen Leben doch so etwas noch nicht passiert!«

»Habt Ihr Fische?«

Der im Boot befindliche Korb mit Fischen wurde heraufbefördert.

»Was kosten sie?«

Der alte Mann war noch immer ganz fassungslos.

»Könnte ich mir den Leuchtturm und die ganze Insel einmal besehen?«

»Wozu?«

»Weil sie mir gefällt. Vielleicht werde ich sie kaufen.«

Der Alte starrte den Jungen mit großen Augen an. Dann brach er in ein Gelächter aus.

»Na, was gibt's denn da zu lachen?«

»Weil das so komisch herauskam. Nein, diese Leuchtturminsel ist nicht zu kaufen. Wenn die zu kaufen wäre, hätten die Engländer schon längst ein Fort daraus gemacht.«

Anstatt noch eine Frage zu stellen, griff Karlemann in sein Hemd, zog einen an einer Lederschnur hängenden Ring hervor. Es war ein außerordentlich dicker Goldreif, der einen roten Stein trug, groß wie ein kleiner Pflasterstein, in den kunstvoll ein springender Löwe graviert war.

Vor acht Tagen noch hatte dieser Siegelring die Hand des Aschantifürsten geschmückt.

»Kennt Ihr den Ring?«

Wäre dieser Leuchtturmwächter ein gewöhnlicher Aschanti gewesen, so wäre er gleich auf die Knie gestürzt und hätte mit der Stirn den Boden berührt.

Das tat dieser hier nicht, doch war sein Staunen oder mehr schon Schreck groß genug.

»Der Saboje des Kididimo, des Makosso von Legala!!«, rief er in hellem Staunen.

»Ja, das Würdezeichen des Fürsten, dem diese Insel gehört, unter dessen Oberhoheit auch Ihr steht.«

»Junge, wie kommst du...«

»Wat?!«

Dieses eine Wort genügte, der Alte verbesserte sich schnell und erschrocken.

»Herr, wie kommen Sie zu diesem Ringe?«

»Na, da ich selbst nach Legala will, werde ich ihn wohl nicht gestohlen haben. Ich habe ihn eben von Kididimo bekommen, um nach Legala hineingelassen zu werden, und dass dort alles gehorcht. Kididimo ist mein Freund. Werdet Ihr mir nun die Leuchtturminsel zeigen?«

Diese Erklärung, wie Karlemann zu dem Ringe gekommen war, entsprach allerdings nicht den Tatsachen, es konnte aber recht wohl noch hinterher etwas Wahres daraus geworden sein, der Häuptling hatte mit dem Jungen ja noch genug verhandelt.

Der Alte aber sah nur den Ring und hatte nur eines gehört.

»Selbstverständlich, selbstverständlich«, beeilte er sich, zu versichern, »und wenn der Zutritt auch verboten wäre, weil die Insel ein Geheimnis birgt, was ja aber gar nicht der Fall ist, so müsste ich sie Ihnen doch zeigen. Wollen Sie mein Boot benutzen?«

»Einen Hafen besitzt die Felseninsel wohl nicht?«

»Doch.«

»Wirklich einen Hafen?«, fragte Karlemann nochmals, und es klang recht erfreut.

»Sogar einen ausgezeichneten Hafen.«

»In den diese Jacht einlaufen kann?«

»Sogar ein großes Schiff. Mehr als drei gehen freilich nicht hinein.«

»Dann bugsieren Sie mich hinein.«

Der Leuchtturmwächter verstand gar nichts von Schifffahrt. Nur ein Boot bedienen konnte er. Er gab die Richtung an, machte auf gefährliche Stellen aufmerksam, Karlemann ließ einige Segel setzen, langsam ging es um die Insel herum.

»In wessen Diensten stehen Sie?«, fragte Karlemann einmal. Der Alte, namens Daniel, gab die Erklärung. Weil Legala gesperrt war, musste auf Wunsch des allmächtigen Aschantikönigs auch diese vorgelagerte Insel für jeden Fremden unantastbar sein, und hierzu hatte das noch allmächtigere England Amen gesagt. Nur hatte der Fürst von Legala, also jetzt Kididimo, die Verpflichtung übernehmen müssen, hier einen von den Engländern erbauten Leuchtturm zu unterhalten.

Der Alte erzählte gleich seinen Lebenslauf. Er war ein Aschanti, in früher Jugend als Sklave nach Nordamerika gekommen, zu einem guten Herrn, der seine Fähigkeiten erkannte, ihn zum Missionar ausbildete, oder mehr als Schulmeister, der unter seinen heidnischen Stammesgenossen dann wirken sollte. Hatte damit wenig Glück gehabt. Nun, aber einmal hier, blieb er auch, übernahm diese Stelle, wo er in philosophischer Ruhe lebte. Als Gehilfen hatte er noch einen jüngeren Neger. Von seinem pedantischen Schulmeistertone war ihm noch viel geblieben.

Um den Felsenberg herumgekommen, erblickte man auf der Ostseite den durch die Riffe führenden Wasserweg, und man glaubte erst nicht anders, als hier läge ein Werk von Menschenhand vor.

Links und rechts spritzte das Wasser zwischen einzeln liegenden, spitzen Riffen empor, und in der Mitte eine ganz glatte Wasserstraße, etwa sechs Meter breit, begrenzt von zusammenhängenden, zwei Meter hohen Wällen, welche die stärkste Brandung abhielten.

Hineinsegeln konnte man freilich nicht. Es wurden zwei Taue ausgefahren, nach jedem Wall eins, und zwei der Jungen genügten, die Riffbarrieren als festen Weg benutzend, um das leichte Fahrzeug fortzuziehen.

Die Wasserstraße verengte sich nach hinten etwas, kurz vor der hohen Felswand, die hier einen tiefen Einschnitt zeigte, war sie nur noch vier Meter breit, dann befand sich die Jacht in einer Felsenschlucht, deren Wände glatt und senkrecht emporstiegen, das Schiffchen konnte mit angestemmten Stangen fortgeschoben werden, und dann eröffnete sich vor den erstaunten Augen ein großartiges Naturgebilde.

Es war ein trichterförmiger Kessel, an der Basis, also unten an der Wasseroberfläche, ungefähr fünfundzwanzig Meter im Durchmesser, und ringsherum stiegen die dreißig Meter hohen Felswände schräg empor, aber nicht glatt, sondern terrassenförmig, in Absätzen immer Galerien bildend, und zwar zählte man deren vier. Die fünfte war dann der Rand des eigentlichen Plateaus, die erste lag zweiundeinenhalben Meter über dem Wasserspiegel.

»Ist das ausgemeißelt?«, fragte Karlemann.

Nein, und jetzt nahm der Alte seinen Schulmeisterton an:

»Sie sehen hier den Krater eines ehemaligen Vulkans, und das Innere von Vulkanen zeigt sehr häufig solche Bildung von Galerien. Das hängt mit den periodischen Ausbrüchen zusammen, jeder unterirdische Ausbruch bildet solch einen Absatz oder eine Galerie. Trotzdem besteht dieser ganze Berg ausschließlich aus Muschelkalk, von der Härte drei. Ein feuerspeiender Berg aus weichem Muschelkalk, das werden Sie wohl noch nicht gehört haben nicht wahr?«

Und der Alte fuhr fort zu erklären, wie durch eine Eruption der Meeresboden gehoben worden war, so dieses Kalkplateau entstehen lassend, während die feurigen Lavamassen durchbrachen, sich dort durch die Schlucht ergossen und zu jenen Riffen und Barren erstarrten.

Karlemann hatte sehr aufmerksam zugehört.

»Kommen denn jetzt noch Erdbeben vor?«

»O nein, Erdbeben sind in dieser Gegend ganz unbekannt, das hat sich alles in prähistorischer Zeit abgespielt«, entgegnete der gebildete schwarze Schulmeister ohne Stiefel, gab der Jacht am Ende der Schlucht noch einen Stoß, dass sie bis nach einer Stelle des Kesselrandes fuhr, wo die unterste Galerie etwas niedriger war. Er musste von dem Deck noch einige Fuß tief hinabspringen und schlang dann ein am Vorderteil der Jacht befestigtes Tau um einen großen, mit dem Boden verwachsenen Felsblock.

Dieser war die Anlegestelle auch für das Boot, hier lehnte eine lange Bambusleiter, welche bis zur nächsten Galerie reichte.

»Sie können mir unbesorgt direkt folgen, die Leiter trägt drei schwere Männer auf einmal«, sagte der Alte, als er den Aufstieg begann.

Karlemann hieß seine Jungen warten und folgte.

Es war nur diese einzige Leiter vorhanden, sie musste also jedesmal wieder heraufgezogen und neu angesetzt werden, und so primitiv war es hier mit allem und jedem, die Bewohner des Leuchtturmes hatten auch gar nichts getan, um ihren Aufenthalt sich hier zu erleichtern.

»Gibt es hier keine Winde?«, fragte Karlemann unterwegs.

»Nein.«

»Wie sind denn die Bausteine hinaufgeschafft worden?«

»Bausteine? Die sind oben aus dem Felsen herausgebrochen worden, wodurch eine Zisterne gebildet ist, in der wir das Regenwasser sammeln.«

»Und was Ihr sonst braucht, wie wird das hinaufbefördert?«

»Nun, auf der Leiter, das muss auf dem Rücken getragen werden.«

Auch nicht ein einziges Eisen war in den Felsen getrieben, um etwa einen Strick anbinden zu können.

»Ha, wenn diese Felseninsel erst mir gehört, da soll es bald anders hier aussehen«, murmelte Karlemann, ungehört von dem Alten.

Sie hatten das Plateau erreicht. Es war eben ein flaches Plateau, etwa zweihundert Meter lang und ebenso breit. Nach Westen und nach der Mitte zu senkte es sich etwas, und eben dadurch musste jeder tropische Regenguss alles fortspülen, sich bildendes Erdreich wie auch jedes Vogelnest.

Auf der nordöstlichen Seite stand der nur niedrige Leuchtturm, daneben befand sich ein tiefes Loch, in dem das Regenwasser gesammelt wurde.

Man hatte von hier aus eine herrliche Aussicht auf die afrikanische Küste, welche hier auch einen echt exotischen Charakter zeigte; der Urwald schien dicht bis an das Meer heranzutreten, und dort in einer Bucht lag auch die Hafenstadt Legala, freilich wohl mehr ein Hüttendorf, der Hafen nur von Negerbooten belebt, immerhin ein reizendes Bild.

Doch dem allen widmete Karlemann gar kein Interesse, ebenso wenig dem Leuchtturm selbst. Er schritt das ganze Plateau ab, manchmal stehen bleibend und mit seinem Schiffsmesser in dem ziemlich weichen Stein kratzend, trat bis dicht an den Rand heran und blickte schwindelfrei in die furchtbare Tiefe hinab, wo es kochte und spritzte, nur nicht dicht an den Felsenmauern selbst.

»Alles wie für meine Zwecke geschaffen«, sagte er, als er zurückgekehrt war, »diese Felseninsel werde ich mir kaufen.«

Der Alte machte ein ebenso ungläubiges wie niedergeschlagenes Gesicht.

»Herr, das ist wohl nicht angängig.«

»Warum nicht?«

»Weil — weil — auch die Engländer haben diese Insel schon immer gern haben wollen, aber das ist königliches Eigentum...«

»Ich weiß alles, was Ihr sagen wollt. Aber bei mir ist das etwas ganz anderes. Ihr seid wohl mehr um Eure Stellung besorgt. Nun, wenn ich mit Euch zufrieden bin, könnt Ihr ja bleiben. Wie viel bekommt Ihr?«

»Im Jahre zwanzig Dollar, zehn Yard Leinewand...«

»Bah, da würdet Ihr Euch bei mir besser stehen. Es ist ganz windstill geworden. Schade! Ich wäre gern nach Legala gesegelt, um gleich alles in Ordnung zu bringen. Na, da will ich mir erst einmal die Galerien ansehen.«

Und der seltsame Junge, der diese sonst unantastbare Insel schon als sein Eigentum betrachtete, verließ das Plateau wieder, schritt eine der Galerien nach der anderen ab, immer rings um den Trichter marschierend, natürlich aber stets vor der Schlucht, welche die Einfahrt bildete, umkehren müssend, immer wieder einmal mit dem Messer in die Kalkwände kratzend, immer dabei zufrieden mit dem Kopfe nickend.

Dann wurde er von einem merkwürdigen Anblick gefesselt. Das Wasser in der Kesselbucht war so klar, dass man schon von Bord aus den etwa zehn Meter tiefen Grund hatte deutlich erkennen können, und je höher man steht, desto durchsichtiger scheint bekanntlich das Wasser zu werden.

In der Bucht befand sich ein Haifisch von wenigstens neun Meter Länge, also eines der riesigsten Exemplare seines Geschlechts; denn der größte Menschenhai, der je gefangen worden ist, maß 10,2 Meter.

Der ›Knipperdolling‹ war schon oft von Haifischen umschwärmt worden, aber solch ein Ungetüm war noch nicht darunter gewesen. Es sah eben, besonders von hier oben, ganz merkwürdig aus, wie sich das Ungeheuer, fast so lang wie die Jacht, spielend leicht in der engen Bucht umherbewegte, sich auf den Rücken wälzte, wie ein Pfeil hin und her schoss.

»Das ist der Joe«, sagte der Alte, »eigentlich ist's ein Weibchen, das legt hier immer seine Eier ab, betrachtet diesen Wasserkessel als seine Heimat.«

»Kommen noch mehr Haifische hier herein?«

»O nein, der Joe duldet keinen anderen, er frisst seine eigenen Jungen auf, wenn die nicht bald machen, dass sie fortkommen. Deshalb haben wir ja auch keinen einzigen Fisch in der Bucht, und das ist sehr schade.«

»Warum fangt Ihr ihn denn da nicht weg?«

Ja, warum nicht? Warum hatte der Leuchtturmwärter denn nicht einmal ein Eisen in den Felsen geschlagen, an dem er sein Boot befestigen konnte, anstatt das Seil umständlich immer um einen großen Felsblock schlingen zu müssen?

Der ehemalige Schulmeister hätte lieber an so etwas denken sollen, anstatt so stolz auf seine kleine Bibliothek zu sein.

Eiligst kletterte Karlemann hinab, brachte aus dem Kabelgatt eine Drahtleine zum Vorschein, befestigte an dem Haken, der schon mehr einem kleinen Anker glich, ein großes Stück Salzspeck. Die Miniaturjacht war mit allem ausgerüstet, was zu einem Schiffe gehört, also auch mit einer Haifischangel. Denn zum Fangen eines Hais bedarf es einer ganz besonderen Vorrichtung, da genügt nicht ein einfaches Seil mit einem großen Angelhaken.

Hat der Hai nämlich den Köder verschlungen, sitzt er fest am Haken, so beginnt er sich um sich selbst zu drehen, mit einer fabelhaften Geschwindigkeit, und es gibt kein Tau und keine Stahltrosse, die er auf diese Weise nicht in kürzester Zeit abgewürgt hätte, noch ehe man ihm eine tödliche Kugel beibringen kann.

Die spezielle Haifischangel besitzt eine dementsprechende Vorrichtung. Es ist einfach ein Scharnier, das Seil, welches gar nicht aus Draht geflochten zu sein braucht, muss die Drehungen mitmachen können.

Zaghaft blickten die kleinen Matrosen auf ihren Kapitän, wie dieser seine Vorbereitungen traf, zaghaft auf das Ungeheuer, mit dem jener den Kampf aufnehmen wollte.

Es sah auch wirklich grauenhaft aus, besonders in dieser engen Umgebung, das furchtbare Ungeheuer, so lang wie das ganze Schiff, wie es sich auf den Rücken wälzte und den grässlichen, mit dreieckigen Zähnen gespickten Rachen zeigte, der einen erwachsenen Menschen bequem aufnehmen konnte, und wenn es mit seinem Schwanze gegen die Planken schlug, was es mit Vorliebe tat, wie um seine Verachtung gegen dieses Schiffchen auszudrücken, so erbebte alles vom Kiel bis zur Mastspitze.

»Kapitän, Sie wollen den Haifisch mit der Angel fangen?«, fragte Gottfried, der Steuermann, schalkhaft.

»Sicher.«

»Er zieht uns mit hinab auf den Grund.«

»Ach, Unsinn, sechzig Tonnen Tragkraft sind nicht so leicht hinunterzuziehen.«

Wirklich, es war staunenswert, wie dieser Dorfjunge die Richtigkeit der Theorie nach erkannte; denn dem Augenschein nach schien es das hölzerne Schiffchen mit dem lebendigen Meerungeheuer gar nicht aufnehmen zu können.

Die Vorbereitungen waren getroffen. Noch holte Karlemann aus der Kajüte eine gewaltige Donnerbüchse, die sich in seiner Hand wie eine langgezogene Kanone ausnahm.

Dass man sonst des Haifisches nicht mit Kugeln habhaft werden kann, ist begreiflich. Beim ersten Schuss, selbst wenn dieser tödlich war, geht er auf Nimmerwiedersehen davon. Höchstens ein Explosivgeschoss brachte ihn gleich zur Strecke, aber dann könnte vom ganzen Hai nicht mehr viel übrig bleiben. Und eine Harpune würde bei seinen rasenden Umdrehungen ebenfalls gleich abbrechen.

Erst wenn man ihn am Haken hat, kann man ihn erschießen oder harpunieren. Doch dann wird er noch lebendig an Deck geholt, die Matrosen kühlen an der verhassten Hyäne des Meeres erst ihr Mütchen. Das konnte bei der kleinen Jacht natürlich nicht geschehen. Er musste noch im Wasser getötet werden.

Erst ein ermunternder Leckerbissen von zehn Pfund Gewicht, der in dem Rachen wie eine Pille verschwand, dann fiel der Köder mit dem Haken — schwubb, war auch der weg — und nun ging es los!!

Zu beschreiben ist das nicht. Ein weißer Gischt, in dem der Hai wie eine lange Trommel herumwirbelte, das Vorderteil der Jacht, wo das Seil befestigt war, senkte sich tief hinab, und — — es sollte alles ganz anders kommen.

Plötzlich befand sich die Jacht in voller Fahrt. Der Leuchtturmwärter, der das Seil um den Felsblock geschlungen, hatte den Knoten nicht ordentlich geschürzt, dieser hatte sich durch die enorme Zugkraft gelöst.

Und schon hatte die Jacht die Bucht durchquert, befand sich an der jenseitigen Felswand.

Wie betäubt standen die fünf Jungen da. In ihren Ohren hörten sie schon das Krachen der zersplitternden Planken.

Nur Karlemann verlor die Besinnung nicht. Im Nu hatte er die Donnerbüchse an die Wange gerissen, die Mündung auf den weißen Strudel gerichtet.

Aber er schoss nicht. Dank seiner Kaltblütigkeit erkannte er die ganze Lage, die gar nicht so gefährlich war, wenn jetzt danach gehandelt wurde.

Mit einem Satze stand er an der Bordwand.

»An die Korkfänder!!«, brüllte er. »Gottes Tod über euch, an die Korkfänder!!«

Da kam auch in die Erstarrten wieder Leben. Sie sahen, dass sie die Bucht schon hinter sich hatten, sich bereits in der Wasserstraße befanden, durch die sie von dem als rückwärtsgehende Schiffsschraube wirkenden Hai geschleppt wurden.

Ohne einige tüchtige Püffe gegen die Felswände war es freilich dabei nicht abgegangen. Ein Glück war es gewesen, dass die Korkfänder, das sind große Kugeln aus elastischem Kork, mit Stricken umsponnen, schon vorher ausgehangen hatten.

Jetzt wurden sie von den Jungen bedient. Es wäre gar nicht mehr nötig gewesen. Der Hai hielt genau die Mitte der Fahrstraße ein, die Jacht folgte ihm willig nach, es konnte sogar schon gesteuert werden.

Und dann hatte man die Wasserstraße mit allen Barren und Riffen hinter sich, es ging in die offene See hinaus, direkt nach Osten. Mit unverminderter Schnelligkeit drehte sich der Hai, als ziehende Schraube wirkend. Den Umdrehungen konnte das Auge nicht folgen. Hätte er einmal nachgelassen, so hätte man nur auf das straffgespannte Tau zu schlagen brauchen, mit erneuter Wut hätte er sich gedreht, und das stundenlang. Die Lebenszähigkeit dieser Tiere ist ja fabelhaft.

Aber noch war solch eine Ermunterung nicht nötig, der Meeresgaul zog brav.

»Fritz, lang mir mal die Ölkanne her!«

Und bedächtig schmierte Karlemann das Scharnier.

»Loggen!!«

Es wurde geloggt, d. h. durch jene bekannte Vorrichtung, eine Leine mit einem im Wasser senkrecht stehenden Brettchen, nach der Sanduhr die Schnelligkeit der Fahrt bestimmt.

»Stopp!«

»Sechs.«

»Sechs Knoten. Na, das geht ja. Da bin ich ganz zufrieden. Wenn nur jeder Dampfer in der Stunde sechs Meilen machen könnte.«

Da rauschte es von Norden her schwerfällig heran — eine englische Panzerkorvette. Sie brachte den Aschantifürsten mit seinen Begleitern in die Heimat zurück.

Vorn drängten sich Offiziere, Mannschaften und die schwarzen Häuptlinge. Staunend sahen sie das Wunder.

Arion machte sich durch die süße Gewalt seiner Saiten einen Delfin dienstbar — — das hier war ein weit größeres Wunder!

Majestätisch stand auf dem Vorderteil seines Schiffchens der kleine Kapitän, die Arme über der Brust verschränkt.

Jetzt streckte er den rechten Arm aus, winkte mit der Hand etwas nach rechts.


Illustration

»Mehr steuerbord«, erklang schallend seine Stimme im Kommandotone. »Drei Strich mehr steuerbord!«

Und die lebendige Schiffsschraube gehorchte. Der Hai wendete sich etwas nach Süden. Deutlich hatte man das dort drüben beobachten können.

Wenn Karlemann klug war, so wiederholte er solch ein Manöver nicht mehr, ließ es nicht wieder auf solch einen Zufall ankommen.

Und dieser deutsche Zigeunerknabe war gewiss klug.

Und er hatte Zeugen gehabt für das, was ihm sonst niemand geglaubt — — —

*

Hier verlassen wir unseren kleinen Helden und wenden uns wieder Richard Jansens persönlicher Erzählung zu.

Da er doch den Inhalt aller Manuskripte kannte, auch die von anderer Hand geschriebenen Berichte, finden, wenn er zum Beispiel mit Karlemann wieder zusammentrifft, die Leuchtturmsinsel besichtigt usw., natürlich keine Wiederholungen statt.

— • —

19. Kapitel
>Bittere Offenkundigkeiten
und ein süßes Geheimnis

Originalseiten I.364 — 379

Auch die acht Wochen vergingen. Ich hatte während dieser Zeit mit Blodwen meine schwere Not. Mir stand's manchmal bis zum Halse und noch weiter.

Seit wir in Monrovia den vom Präsidenten beglaubigten Brief abgeschickt hatten, verzehrte sie sich in Zweifel, ob ihr die vierteljährliche Rente, also zirka 30 000 Pfund Sterling, wirklich nach Kapstadt angewiesen würde, dass sie das Geld dort so ohne Weiteres erheben könnte.

»Verlass dich darauf, das Geld ist nicht da!!«

So jammerte sie Tag für Tag, sogar in der Nacht, jede Stunde bekam ich's zu hören. Denn sie fand gar keinen Schlaf mehr.

Vergebens bot ich ihr immer wieder meinen Kopf getrüffelt an, vergebens stimmte auch Doktor Selo mir bei, dass man ihr unter solchen Verhältnissen die Rente gar nicht vorenthalten könne.

Sie blieb beim Winseln, und ich wurde gallig.

»Zum Teufel, so lass doch das verdammte Geld schießen!«

»Was soll ich?«

»Na, wir haben doch genug, wir wollen arbeiten, das heißt, das Schiff arbeiten lassen, wir nehmen eigene Fracht...«

»Du meinst, ich soll alle Ansprüche an mein Vermögen aufgeben?«

»Na ja, warum denn nicht? Ehe ich mich mit solchen Ungewissheiten peinige...«

»Das Vermögen aufgeben, das ich von meinem Vater geerbt habe, das diese Hunde...«

Herrgott im Himmel, jetzt ging sie aber los! Mit Händen und Füßen zappelte sie. Ich machte immer schnell, dass ich hinauskam.

Einmal belauschte ich nach solch einer Szene das Gespräch zweier Matrosen.

»So ein giftiger Stachelrochen.«

»Schade um den Käpt'n.«

»Schade? Das ist ja gar kein Mann, so lang er auch ist.«

Ich hatte genug gehört.

Glaubt man aber etwa, ich wäre beschämt gewesen?

Weshalb?

Ja, mir stand die Geschichte bis an den Hals! Und die Flitterwochen waren vorbei.

Das ganze Gelumpe verdrossen hingeworfen und seiner Wege gehen, das kann jeder Hanswurst und jeder Waschlappen. Aber bis zu einem bestimmten Ziele treu ausharren, das kann nicht jeder, das kann nur ein Mann.

Was konnte mich denn hindern, nach dem nächsten Hafen zu fahren und von Bord zu gehen? Eine neue Stelle bekam ich sofort wieder, jetzt sogar als Kapitän. Denn so weit war es schon mit mir. Mein Ideal verwirklichte sich hier doch nicht, so viel war mir unterdessen klar geworden.

Aber nein. Bis nach Kapstadt wenigstens musste ich noch ausharren, das heißt, noch acht Wochen lang. Dann wollte ich mich mit ihr auseinandersetzen, kalt oder in Güte, ganz wie sie wollte, jedenfalls aber meinerseits nicht im Zorn. Dieser Entschluss stand fest bei mir.

Diese acht Wochen mussten hingebracht werden. Blodwen wollte gleich nach Kapstadt, nur einmal so nachfragen — weiter fehlte nichts. Dort wäre ihre Ungeduld erst recht nicht auszuhalten gewesen.

Ich wusste sie hinzuhalten, wir kreuzten hin und her, wiegten uns einmal durch einen Ausläufer der großen FucusBank, wären bald darin stecken geblieben, über welche SeetangInseln ich noch später Seltsames zu berichten haben werde, und so ging die Zeit hin — die längsten Wochen meines Lebens.

Außerdem versenkten wir während dieser Zeit an fünf verschiedenen Stellen zusammen 250 000 Pfund Sterling, sodass wir jetzt nur noch zirka 40 000 Pfund an gemünztem Golde an Bord hatten.

Denn Blodwen hatte ihre erste Absicht, ihren Schatz über die ganze Erde zu verteilen, aufgegeben. Sie wurde eben von dem Gedanken gepeinigt, sie könne ihre Rente verlieren, und was dann, wenn nun einmal das Schiff mit dem ganzen Gelde unterging? Bei den Kanarischen Inseln war ihr der Gedanke gekommen, ihr mitgenommenes Geld, was sie schon für ihr letztes erachtete, lieber freiwillig und schnellstens auf dem Meeresgrunde zu bergen. Immerhin war das Revier im Atlantischen Ozean ja groß genug, auf dem wir in je vierzig Schatullen die 250 000 Goldstücke verteilten, in fünf Portionen, wir hatten immer tagelang zu segeln, und so kam es auch, dass wir gar nicht mehr nach der Küste kamen, also auch keinen anderen Hafen anliefen.

Dann versenkte ich auf Blodwens Wunsch an zwei verschiedenen Stellen, tausend Meilen voneinander getrennt, in zwei Portionen auch noch den gesamten Schmuck, den sie von Karlemann für 100 000 Pfund gekauft hatte.

So, da lag das ganze glitzernde Gelumpe gut. Nachdem der Grund auf Festigkeit geprüft, nahmen wir uns gar nicht erst die Mühe, die Goldsachen einzupacken. Gleich hinuntergeschmissen. Das Seewasser griff ja die Edelsteine und das Gold nicht an. Höchstens Fische konnten sich die Ringe in die Nase hängen. Nur beim Hinablassen mussten wir aufpassen, dass keine Haifische in der Nähe waren. Die schnappen ja alles weg, was über Bord fällt, aber nicht mehr, wenn es einmal am Boden liegt.

Dieses Versenken von Blodwens Schätzen brachte für mich stets eine schwache Stunde mit sich.

Jedes Mal wollte ich ihr die geografische Ortsbestimmung aufdrängen, dass sie dieselbe zu sich steckte, aber nie nahm sie es an.

Und bei solchen Gelegenheiten konnte sie immer so ganz anders sein.

»Was soll ich damit?«, fragte sie dann.

»Du musst doch wissen, wo dein Geld liegt.«

»Es ist nicht mein Geld, sondern das deine, oder doch unser Geld, und es ist ja genug, wenn du es weißt.«

»Und wenn ich nun einmal meinen Tod finde?«

»Es würde auch mein Tod sein.«

So sprach sie stets. Und wie sie mich nun dabei ansah! Da wurde ich immer weich. Dann war sie auch so ganz anders. Kann man mir verdenken, dass ich da weich wurde? Ich junger Mensch hatte ja ein so gutes Herz! Sie tat mir so leid — und Mitleid ist ja Liebe.

Ja, was half es denn alles — ich liebte sie noch immer so stark, wie je zuvor. Ach, ich armer Kerl steckte in einer bösen Klemme!! —

Sonst habe ich über diese Zeit nichts weiter zu melden. Niemand wurde krank, der Klabautermann rauchte und der Mister Unbekannt ließ sich füttern, ohne ein Wort zu verraten. Als wir einmal dampften, steckte ich ihn vor die Kesselfeuer, wo er willig die furchtbar schwere Arbeit verrichtete. Dadurch brachte ich ihn nicht zum Sprechen. Nun gab es aber an Bord mehr Hände als Arbeit, und so ließ ich ihn wie einen Grandseigneur leben.

Am 6. September gingen wir auf der Reede von Kapstadt vor Anker. Da wir hoch vom Norden kamen, waren die ausgerechneten acht Wochen schon weit überschritten. Den letzten Tag hatte Blodwen in einer Art von Raserei verbracht, die mit Starrsucht abwechselte.

Auch in den Hafen wollte sie nicht, sondern durchaus weit draußen auf Reede liegen bleiben.

»Du gehst allein nach der südafrikanischen Bank. Aber kannst du mir nicht vom Hafen aus ein Zeichen geben, etwa eine Flagge hissen, die mir meldet, ob das Geld da ist oder nicht?«

Ich wusste nicht gleich, wie das zu machen sei.

»So lasse, wenn nicht, bei der Rückfahrt die Bootsflagge halbstock wehen, dann weiß ich, woran ich bin.«

Wie? Trauer sollte die Bootsflagge anzeigen. Da ahnte mir Böses.

»Blodwen, was hast du vor?«

»Was soll ich vorhaben?«

»Warum willst du auf Reede liegen bleiben?«

»Weil — weil — ich keinen fremden Menschen mehr sehen will.«

»Und warum soll ich die Trauerflagge zeigen? Blodwen, du denkst doch nicht etwa an... die Pulverkammer oder dergleichen?«

Da blickte sie mich mit großen Augen starr an.

»Um Gott, Richard, wessen hältst du mich für fähig?! Wegen dieses elenden Geldes soll ich unschuldige Menschenleben vernichten?«

»Und wie denkst du über das deine?«

»Wegen dieses elenden Geldes?«, wiederholte sie.

Nun nannte sie es wieder ›elendes Geld‹. Sie war eben unberechenbar. Doch etwas konnte ich den Widerspruch begreifen. Die Ungewissheit war es, die sie so nervös machte, und dabei handelte es sich bei ihr nicht um das Geld, sondern um die Gewalt, die man ihr antun wollte.

Etwas beruhigt stieg ich in den achtriemigen Kutter und schoss dem Hafen zu.

Auf dem Wege zur Bank kam ich am Hafenamt vorbei. Schnell trat ich einmal ein, fragte nach Briefen für die ›Sturmbraut‹. Ja, eine ganze Menge, aber mit dem Postboote bereits unterwegs.

Schade! Dann war ich auf der Bank. Mit starkem Herzklopfen fragte ich nach der Geldsendung für Lady Blodwen Leytenstone.

Denn gar viel hing für mich von der Beantwortung dieser Frage ab.

Mein Entschluss war felsenfest. So konnte es nicht weitergehen. Ich wollte nicht der Sklave eines launenhaften Weibes sein. Liebe hin, Liebe her — ich ging meiner Wege.

Nur eine Ausnahme gab es, die mich zum Bleiben zwang: wenn ihr die Rente nicht nachgeschickt wurde. Ja, dann musste ich bei ihr bleiben, das war dann meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Dann war ich es, der ihr die Suppe eingebrockt hatte, dann musste ich diese auch mit ihr zusammen auslöffeln — und eigentlich mit ihr zusammen auch meinen eigenen Kopf gepökelt und getrüffelt aufessen.

»Ja, für Lady Leytenstone liegen hier 31 455 Pfund Sterling in Gold.«

So sicher ich auch meiner Sache gewesen war, so hätte ich doch laut aufjauchzen mögen. Denn ich sah mich schon im Geiste mit hochgehisster Flagge zurückrudern, und nun diese Freude Blodwens, nun war doch, wie ich sie kannte, ihre schreckliche Ungewissheit ein für allemal vorbei...

Gleichzeitig aber gab es mir einen Stich durchs Herz, einen wirklichen, dass ich bald laut aufgeschrien hätte vor Schmerz.

Vorbei! Der Würfel war gefallen! Jetzt kam die Auseinandersetzung, im Guten oder im Bösen, wie sie wollte.

Das Geld konnte ich natürlich nicht so ohne Weiteres erheben, da musste Blodwen erst ihre Unterschrift an Bord in Gegenwart des englischen Konsuls oder sonst einer behördlichen Person geben.

Doch um die Sache abzukürzen, legitimierte ich mich gleich.

»Mister Richard Jansen, Kapitän der ›Sturmbraut‹? Das sind Sie selbst?«

»Jawohl.«

»Für Sie ist auch Geld deponiert, 10 000 Pfund Sterling.«

»Für mich?«, staunte ich.

»Für Sie.«

»Von wem denn?«

»Namenlos. Unter Chiffre, gegen Ihre Unterschrift. Desgleichen hier dieser Brief.«

Ich quittierte und erbrach den Brief.

Geehrter Herr! Verzeihen Sie, dass ich so gewalttätig vorgehen musste, um wieder

in Besitz des mir abhanden gekommenen Wracks zu gelangen. Ich deponiere für

Sie und Ihre Mannschaft 10 000 Pfund Sterling Prisengeld, welche Sie gegen Ihre

Unterschrift abheben wollen. Dann bitte ich Sie, den gefangenen Matrosen laufen

zu lassen. Den Klabautermann, wie Ihre Leute ihn nennen, können Sie behalten.

Er ist für mich wertlos. Dagegen etwas anderes ist für mich wertvoll. In der Kiste

dieses sogenannten Klabautermanns werden Sie ein Pergamentpapier gefunden

haben, bedeckt mit einer Geheimschrift. Wenn Sie dieses Dokument hier auf der

Südafrikanischen Bank in Kapstadt deponieren, so löse ich dasselbe mit 50 000

Pfund Sterling ein, Ihnen gehörig. Geben Sie sich keine Mühe, Sie entziffern diese

Geheimschrift nicht. Und wenn Sie es doch könnten, so würden Sie etwas für Sie

absolut Wertloses zu lesen bekommen. Also wählen Sie: 50 000 Pfund Sterling

oder — Gewalt! Sie werden vernünftig sein. Ich zeichne als ein noch lebender

Mann, der aber nicht dieser Erde angehört.

Wie ein Taumel überkam es mich plötzlich. Die Millionen fielen mir jetzt nur so in den Schoß. Und die mir hier angebotene Million war wirklich mein! Mein!! Jetzt endlich konnte ich mein Ideal verwirklichen!

Denn dass mein Ideal, das mir seit frühester Jugend vorgeschwebt, ganz anders ausgesehen hatte, als ich es seit drei Monaten auf der ›Sturmbraut‹ genoss, ist mir wohl begreiflich.

Wie ich übers Heiraten dachte, habe ich schon früher einmal erwähnt. Nun war ich ja allerdings mit Blodwen nicht verheiratet, aber im Grunde genommen war es doch ganz dasselbe. Kurz und gut, ich war ein gebundener Mann, der nicht so beliebig auf Abenteuer ausgehen durfte. Wenn ich gestehe, dass ich dabei, wenn ich mir so das angenehme Leben eines freien Kapitäns vorstellte, nicht am wenigsten immer an Frauenzimmer dachte, von denen man sich aus aller Welt immer die schönsten auswählt, sie einmal für eine Reise mit an Bord nimmt, was aber nicht unbedingt nötig ist — wenn ich dies also gestehe, so stelle ich mir nur ein Zeugnis für meine Offenherzigkeit aus. Ein Philister und Mucker bin ich eben nie gewesen.

Und nun sollten alle diese Träume doch noch in Erfüllung gehen, die Mittel dazu waren mir gegeben!

Ich raffte mich aus meiner halben Betäubung empor. Die 10 000 Pfund erhob ich sofort, steckte das Bündel Banknoten in die Brusttasche.

Aber draußen, wieder im Sonnenschein, da kam die Ernüchterung. Ich hatte unterwegs einen harten Kampf durchzumachen.

So! Als ich bettelarm war, als ich ein Schiff suchte, da war mir Blodwen gut genug. Aber jetzt, da ich selbst Geld hatte, brauchte ich sie nicht mehr, da wollte ich ihr den Laufpass geben. Pfui Deibel! Schäme dich, Richard!

Ja, hatte ich aber nicht sowieso gehen wollen, auch schon, als ich noch gar nicht wusste, dass ich plötzlich reich war?

Mag diese Andeutung genügen, um zu zeigen, was für ein Kampf in meinem Innern tobte. Und nun stand mir auch immer die schlanke Gestalt mit den trotzigknabenhaften Zügen vor Augen. Denn... ich liebte sie ja doch noch!

Da fasste ich einen neuen Entschluss. Ich wollte ihr einen Vorschlag machen. Wir mussten arbeiten. Wie ich hierüber dachte, habe ich schon früher erwähnt. Ich konnte mir ein Leben ohne Arbeit nicht denken. Wir mussten Fracht nehmen. Die damit verbundenen Sorgen sind nur wohltätig. Das freilich merkt man erst hinterher, wenn sie überstanden sind. Die Abenteuer, nach denen ja auch ich mich sehnte, mussten von allein kommen. Überhaupt, wenn man Abenteuer aufsuchen will, erlebt man ja gar keine.

Diesen Vorschlag wollte ich ihr machen. Von ihrer Entscheidung würde es abhängen, ob wir weiter zusammenbleiben konnten oder nicht.

Es ging zurück. An der Bordwand lehnte Blodwen.

»Halli, hallo!!«, sang sie mir jubelnd entgegen, winkte und lachte im ganzen Gesicht.

Und ich war schon überglücklich, sie wieder einmal so fröhlich zu sehen. Im Augenblick war alles andere vergessen.

»Siehst du, nun haben wir gar nichts mehr!«, rief sie weiter herab, als das Boot noch nicht ganz heran war.

Ich verstand sie nicht.

»Gott sei dank, dass ich den schnöden Mammon endlich los bin.«

Mir ebenfalls unverständlich. Da musste sich unterdessen an Bord etwas anderes abgespielt haben.

»Na, du bist mir ein netter Prophet«, fuhr sie fort, immer noch im ganzen Gesicht freudestrahlend. »Heute Abend verspeise ich dein Denkerhaupt getrüffelt.«

»Weshalb denn? Das Geld ist doch da.«

»Welches Geld?«

»Na, dein Geld — 31 000 Pfund. Du kannst es noch heute erheben.«

»Was, dieses Geld wäre da?«

»Na, sonst hätte ich doch...«

Ich blickte erst einmal zurück. Da sehe ich hinter mir die Bootsflagge halbstock wehen! Sie war heruntergerutscht, keiner der Matrosen, die auch recht in finstere Gedanken versunken zu sein schienen, hatte mich darauf aufmerksam gemacht.

Ja, so hatte Blodwen aber doch glauben müssen ihre Rente wäre ihr eben nicht nachgeschickt worden! Und nun diese ungeheure Lustigkeit, die unmöglich erkünstelt sein konnte, keine Ähnlichkeit mit Galgenhumor hatte? Nun reime sich das jemand zusammen!

Ich befand mich an Deck.

»Hurra, Richard, ich werde steckbrieflich verfolgt!!«, jubelte Blodwen und schwenkte einen blauen Wisch

»Was sagst du da?!«

»Hier, lies nur!«

Steckbrieflich verfolgt wurde sie nicht, das war Übertreibung.

Es war eine gerichtliche Vorladung, und zwar vom... englischen Schwurgericht!

»Blodwen, was hast du denn verbrochen?!«, rief ich erschrocken.

Hätte sie nicht gleichzeitig einen Brief von ihrem ehemaligen vertrauten Diener David erhalten, sie hätte es selbst nicht gewusst.

Sie hatte vor einem halben Jahre einer Kammerzofe eine Vase an den Kopf geworfen. So etwas war ja bei Blodwen öfters vorgekommen. Das Mädchen wurde mit einem anständigen Schmerzensgeld entlassen, damit war die Sache wie gewöhnlich erledigt.

Jetzt sollte sich noch nachträglich eine Gehirnerschütterung herausgestellt haben, das Mädchen lag im Hospital, und es war noch nicht mündig, die Eltern hatten gegen Lady Leytenstone Strafantrag gestellt, die Zeugen waren schon vernommen worden — — schwere Körperverletzung, fertig war die Staatsanwaltsache!

»Das ist ja Unsinn, das ist nichts weiter als eine abgekartete Geschichte, man will mich eben zurück nach England haben«, lachte Blodwen in heiterstem Tone.

»Ja freilich, das schreibt ja auch hier David, er hat so etwas munkeln hören, das Weibsbild ist bestochen worden, freilich kann er nichts beweisen. Aber warum fasst du denn das humoristisch auf?«

»Na, warum denn nicht? Ich amüsiere mich über die Experimente, die dort drüben aufgestellt werden, um mir meine Rente nach dem Ausland vorzuenthalten. Diesmal habe ich sie noch bekommen, das nächste Mal nicht. So denken wenigsten die. Die glauben doch nicht, dass ich mich wirklich stelle.«

»Blodwen, du willst dich dem Staatsanwalt stellen?«, rief ich erschrocken.

»Na, warum denn nicht?«, wiederholte sie lustig. »Schlimm kann die Sache doch nicht werden, und...«

Sie wurde ernst. »Lass uns in die Kajüte gehen, Richard.«

Ich folgte ihr.

»So, hier sind wir ungestört. Und wenn ich nun nicht gehe?«

»So wird hinter dir ein Verhaftungsbefehl erlassen.«

»Und was weiter?«

»Handelt es sich um eine Polizeistrafe oder um ein anderes Gericht, so könnte die Sache zum Beispiel gleich hier abgemacht werden, also vor englischen Behörden. Aber wenn du vors Schwurgericht sollst, musst du auch nach London.«

»Und die Verhaftung?«

»Die kann in jeder englischen Kolonie und in jedem englischen Hafen erfolgen.«

»Nicht an Bord des Schiffes?«

»Wenn die englische Flagge darauf weht, erst recht, dann sogar überall in der Welt. Das ist doch wieder die Geschichte mit dem englischen Boden, dagegen gäbe es ein sehr einfaches Mittel.«

»Welches?«

»Das Schiff wird einfach auf eine andere Nationalflagge umgeschrieben.«

»Geht denn das?«

»Natürlich! Das dauert nur eine Stunde — das heißt von hier aus, weil ich erst hinfahren muss — an Ort und Stelle dauert es nur fünf Minuten. Das kommt fortwährend vor. Bedenke doch nur, ein englisches Schiff sucht Ladung, endlich findet es einen Frachtherrn, der braucht das Schiff sofort, aber aus irgendeinem Grunde will er es unter deutscher Flagge segeln haben — schwubb, wird das Schiff umgeschrieben. Wenn es eine Viertelstunde später in See geht, muss schon die deutsche Flagge darauf wehen. Der ganze Seehandel ist doch auch so eine Art von Börsengeschäft, da sind von Minuten Millionen abhängig — Minuten, die man dem Konkurrenten zuvorkommen muss. Und das kostet nur ein paar Pfund.«

»Und das würdest du tun?«

»Na, warum denn nicht? Das ist doch ganz ehrenwert. Und ganz besonders, wenn es dich zu schützen gilt.«

»Und gesetzt nun den Fall, wir fahren unter dem Sternenbanner — dann kann ich von England aus nicht mehr verhaftet werden?«

»I Gott bewahre! Soll dann einmal ein englischer Beamter mein Schiff betreten! Und wenn's der Oberstaatsanwalt selber ist, oder der Prinz von Wales — der fliegt über Bord — und dann verklage ich ihn noch, dass er meiner Aufforderung, mein Schiff zu verlassen, nicht nachgekommen ist. Nur wegen Mordes wird ausgeliefert — aber wegen einfachen Totschlages auch noch nicht.«

Blodwen machte ein unbeschreibliches Gesicht.

»Na, wenn's so ist — dann gehe ich natürlich auch nicht nach England.«

»Wenn du dich aber nicht stellst, wird natürlich dein Vermögen gesperrt — also auch die Nutznießung, dir werden keine Zinsen mehr nachgeschickt.«

»Na, dann eben nicht!«, erklang es heiter zurück.

Nun sollte ein Mensch aus diesem Frauenzimmer klug werden! »Du wunderst dich«, fuhr sie schon von selbst fort, »dass ich das jetzt so gleichmütig auffasse? Verstehst du denn den gewaltigen Unterschied nicht? Bisher war ich deshalb so furchtbar erregt, weil man mir ohne Recht mein Vermögen und sogar die Zinsen vorenthalten wollte. Das war Vergewaltigung. Nun aber wäre es tatsächlich meine Pflicht, mich dem Gericht zu stellen, und tue ich das nicht, so sind die auch im Recht, mir mein Vermögen vorzuenthalten, das ganze Geld zu sperren. Da bin ich nun ganz ruhig darüber. Begreifst du den Unterschied nicht?«

Er mag nicht so leicht zu begreifen sein, aber ich konnte es. Sie hatte recht, und dennoch — es war einfach toll!

Acht Wochen jammert sie, stellt sich wie rasend, falls man ihr die eine Rente nicht nachschicken sollte, und jetzt verzichtet sie mit lachendem Munde einfach auf alles!

Nur noch einmal fuhr sie mit blitzendem Auge empor. Es war, als hätte sie meine Gedanken gelesen.


Illustration

»Aber denke nicht etwa, dass ich auf meine Ansprüche verzichte!«

»I Gott bewahre!«

»Das Erbe meines Vaters ist und bleibt mein Eigentum, das ich noch dereinst zurückfordern werde!!«

»Selbstverständlich!«

Nach dieser meiner Zustimmung, die auch aus ehrlichstem Herzen kam, war sie wieder wie verwandelt. Und plötzlich sank sie vor mir, der ich auf einem Stuhle saß, auf die Knie nieder, umschlang meine Füße und blickte tränenden Auges zu mir empor.

»Um Gottes willen, Blodwen, was hast du?«, rief ich erschrocken.

»Verzeihe mir, Richard, ach, verzeihe mir!«, erklang es unter herzzerreißendem Schluchzen.

»Aber was denn nur, Blodwen?«, wurde ich immer bestürzter.

»Ich war immer so garstig gegen dich.«

»Aber, Blodwen...«

Und jetzt fing ich junger Bengel auch gleich mit an zu flennen.

»Ja, ich war es. Aber ich war so furchtbar aufgeregt — nervös — und — und...«

Sie zog meinen Kopf herab und flüsterte mir etwas ins Ohr — ein sogenanntes süßes Geheimnis. Und ich?

Ich muss in diesem Augenblick einen furchtbar dämlichen Eindruck gemacht haben.

Denn so etwas war mir ja in meinem ganzen Leben noch nicht passiert. Das heißt passiert wohl schon — leicht möglich — besonders wohl da an der Ostküste dieses afrikanischen Erdteils mochte ich etliche halbschwarze Kinder nackt mang die Brombeeren herumlaufen haben — vielleicht mehr noch an der Westküste Südamerikas — nicht minder in — in... na, lassen wir das ruhen. Wer soll sich denn auf so etwas, wenn's so viel ist, noch entsinnen können.

Aber so etwas mir ins Ohr gesagt, das hatte noch niemand, keine Schwarze, keine Rote, keine Gelbe, keine... Grüne, hätte ich beinahe gesagt — jedenfalls auch noch keine mit einer weißen Haut.

»Ja, dann freilich«, konnte ich nur murmeln, »ja, dann freilich — hm hm hm hm, wer hätte so etwas gedacht — auch nur geahnt — hm hm hm hm — ja, dann freilich — ja, dann freilich...«

Ich hätte vielleicht noch weiter gefreilicht.

»Freust du dich denn gar nicht?«

Da schnellte ich empor, dass gleich alle vier Stuhlbeine abbrachen, weil der Stuhl nämlich festgeschraubt war.

»Na und ob!!!«, schrie ich. »Blodwen, soll ich mich oben auf dem Mastknopf auf den Kopf stellen? Verlang's — ich tu's.«

Einen anderen Ausdruck konnte ich meiner Freude wirklich nicht geben.

Na, und da soll nun ein Mensch noch länger Grimm oder auch nur Kälte im Herzen hegen! Ich wenigstens konnte es nicht.

— • —

20. Kapitel
Eine Verhaftungsgeschichte

Originalseiten I.380 — 392

Aber meine Besinnung kehrte schnell genug zurück. Ich wusste, was auf dem Spiele stand. Vor allen Dingen handelte es sich jetzt darum noch diese Rente zu ergattern, die 31 000 Pfund.

Diese hatten, vorschriftsmäßig, wie sie gefordert, auch abgeschickt werden müssen. Nun war ja Blodwen erst zur gerichtlichen Stellung aufgefordert worden, da war erst abzuwarten, ob sie kam oder nicht, erst in letzterem Falle, nach Ablauf einer gewissen Wartefrist, konnte ein Verhaftungsbefehl erlassen werden — aber wie die ganzen Sachen nun standen — denen war doch alles zuzutrauen — kurz, zuerst musste der englische Konsul oder eine ähnliche Person an Bord geschafft werden, um Blodwens Unterschrift zu beglaubigen, dann schnell dieses Geld erhoben und hierauf das Schiff umgeschrieben, eine andere Flagge hochgezogen.

Dies teilte ich schleunigst Blodwen mit, sie war mit allem einverstanden.

»Und dann nehmen wir eine Fracht, werden solide Handelsleute«, setzte sie freudig hinzu.

»Was?!«, rief ich nicht minder freudig erstaunt.

»Na ja, du hast doch schon mehrmals davon gesprochen. Jawohl, das machen wir, da haben wir immer etwas zu tun, erleben können wir dabei doch noch genug, und Geld haben wir ja auch reichlich. O, das soll jetzt erst ein herrliches Leben werden. Jetzt arbeiten wir für unsere Kinder.«

»Blodwen, du bist ein einziges Mädel«, sagte ich und umärmelte sie.

Sofort wieder an Land! Doch war eins noch zu bedenken. Nämlich, dass ein Mensch mit dem Haftbefehl schon recht bald kommen konnte, während meiner Abwesenheit.

Dann musste Blodwen einstweilen versteckt werden. Die Verhaftler mussten sich ihre Beute dann eben selber suchen, und das ist an Bord eines Schiffes nicht so leicht — das Suchen wohl, aber nicht das Finden.

Und das konnte Blodwen nicht so allein machen, da brauchte sie Führung. Also ich ließ meine beiden Offiziere kommen, vor allen Dingen auch den Bootsmann, der hier Hauptmacher war, sagte ihnen so und so.

»Am besten ist wohl, ihr versteckt sie im Kielraum zwischen die...«

»Nee, nich im Kielraum«, unterbrach mich der krummbeinige Bootsmann.

»Wo denn sonst?«

»Ick weet man, ick weet man«, sagte der kleine Finne und sagte es mit entsprechender Handbewegung noch einige Male.

Mir hätte schon ein einziges ›ick weet man‹ genügt; denn auf dieses finnländische Krummbein konnte ich mich verlassen.

Ich zog noch eine andere Jacke an, weil mich die hier unter den Ärmeln kniff, und wieder ins Boot.

Dass ich in jener Jacke 10 000 Pfund Sterling stecken hatte, daran dachte ich gar nicht. Ich hatte über das, was mir da Blodwen erzählt, die ganze Million absolut vergessen. Es dient dies auch mit zur Schilderung meines damaligen Charakters. Ein anderer Mensch hätte wohl doch nicht so leicht vergessen, dass er in der Jacke, die er in der Kajüte aufs Sofa geschleudert, 70 000 Taler stecken und auf der Bank noch eine Million liegen hatte.

Auch unterwegs sollte ich noch nicht gleich wieder daran denken.

Da kam mir ein großes Boot entgegen, alle Insassen bis auf einen uniformiert, am Heck die englische Polizeiflagge.

Aha, ahi! Da kamen sie schon! Der junge Laffe im Bratenrock mit der Angströhre war doch jedenfalls der Sheriff, so ein Referendarchen, das schon den Verhaftungsbefehl in der Tasche hatte.

Nun, sie sollten nur suchen. Aber die 31 000 Pfund waren nun auch schon belegt, das war mir ganz klar.

Der Zivilist war aufgestanden, machte eine Bewegung, das Boot wurde abgestoppt.

»Stopp!«, wurde auch mir zugerufen.

Ich tat ihnen die Gefälligkeit nur, weil ich neugierig war.

Meine Jungen waren in den acht Wochen gut eingepullt, bei mir funktionierte es tadellos, dort drüben aber war ein falsches Ruderkommando gegeben worden, das Boot schoss direkt auf mich zu, und hätte ich nicht meine Kaltblütigkeit behalten, und wären meine acht Jungen nicht so taktfest gewesen, wir hätten im nächsten Augenblick zwischen Trümmern im Wasser gelegen.

»Die Pest euch in den Magen!!«, fluchte ich. »Was sind das für Heiduckenstreiche?«

»Pardon«, sagte der junge Mann im Bratenrock. »Sind Sie Kapitän Richard Jansen vom englischen Vollschiff ›Sturmbraut‹?«

»Jawohl, der bin ich, und wer sind denn Sie?«

»Sheriff...« Ich weiß seinen Namen nicht mehr.

»Na, und?«

»Befindet sich an Bord Ihres Schiffes eine Lady Blodwen von Leytenstone, englische Untertanin?«

»Jawohl, die befindet sich bei mir, als Passagier. Aber ob sie der englischen Regierung so untertan ist, weiß ich nicht, bezweifle ich.«

»Kommen Sie mit!«

»Was?«

»Drehen Sie um, begleiten Sie mich an Bord Ihres Schiffes zurück.«

Da lachte ich dem Kerlchen ins Gesicht, und ich sagte ihm auch, weshalb.

»Mann, lassen Sie sich doch nicht auslachen! Wie können Sie denn mir, den Sie also als Kapitän kennen, sagen, ich soll mit Ihnen umkehren?«

Der Bratenrock richtete sich auf.

»Im Namen des Gesetzes, ich befehle Ihnen...«

»Mann, machen Sie sich doch nicht gar zu lächerlich!«, unterbrach ich ihn. »Oder haben Sie einen Verhaftungsbefehl gegen mich? Mir ganz gleichgültig. Sie haben mir als aktiven, im Dienst befindlichen Kapitän auch tatsächlich nichts zu befehlen, sehen Sie nur einmal in den Seeinstruktionen nach, Paragraf 163. Ich bin als verantwortlicher Kapitän unantastbar. Sie aber oder den Bootsführer werde ich bei der Hafenbehörde wegen grober Fahrlässigkeit anzeigen. Go ahead — Ruder an!«

Ich sah noch, wie der Bootssteuerer in Wachtmeisteruniform sich etwas aufgerichtet hatte und dem Sheriff etwas zuflüsterte, der junge Mensch bekam einen ganz roten Kopf, dann schossen wir davon.

Ich war natürlich im Recht. Ich hätte diesen Vertreter des Gesetzes wegen seiner Unkenntnis der Paragrafen noch ganz anders behandeln sollen.

Das wäre ja noch schöner, wenn man einen Kapitän oder dessen Stellvertreter, der auf dem Wege von oder nach seinem Schiffe ist, anhalten könnte! Und wenn er als Raubmörder verhaftet werden soll — solange er im Dienst ist, darf er nicht aufgehalten werden. Das Schiff kann ja brennen, nur wenige Sekunden Verzögerung, es fliegt in die Luft, und mit ihm alle Menschen! Nein, so etwas gibt es nicht.

Mein nächster Weg war auf die Bank.

»Sie kommen wegen des Geldes der Lady Leytenstone? Das ist behördlicherseits mit Beschlag belegt worden...«

Ich wusste genug, hielt mich keine Sekunde länger auf.

Von hier nach dem Seeamt, und in weiteren fünf Minuten war aus einem englischen Schiff ein unter dem Sternenbanner der amerikanischen Union segelndes geworden. Nur mein Antrag, meine Schiffspapiere vorgezeigt, und es war geschehen. Und dann hinterher vierzehn Pfund Kosten.

Weshalb das so schnell geht, ist schon gesagt worden. Eben Spekulationsverhältnisse. Die neue Anmeldung hebt die vorige auf, weiter nichts. Nur einen Schiffsnamen umändern, das bringt Schwierigkeiten mit sich.

Nun schleunigst wieder zurück. Wie die meisten Schiffe, so hatte auch das meine sämtliche Nationalflaggen an Bord, doch kaufte ich unterwegs gleich noch den Quadratmeter mit Streifen und Sternen.

Am Fallreep lag das große Polizeiboot, aber ohne zurückgelassene Mannschaft. Denn es lag nicht auf, sondern unter Wasser, schwabbelte nur noch so. Die Backbordseite war eingedrückt, das Anlegen war nicht geglückt.

»Der Kutter wird sofort gehievt und eingeschwenkt«, sagte ich noch zu meinen Leuten, dann schnell das Fallreep hinauf.

Oben stand ein Matrose und griente, als wolle er sich beide Ohren abbeißen.

»Was gibt's, Paul?«

»Ach du blauer Dunnerslag!«, sagte der Mann, fingerschlenkernd.

Ich sah noch andere stehen, alle so grinsend, aber womöglich versteckt — nur die Polizisten, die herumlungerten oder herumschnüffelten, lachten nicht, und ich konnte mir ungefähr vorstellen, wie es hier inzwischen zugegangen war. Bei solchen Matrosen kamen diese uniformierten Spürhunde ja nun gerade an die Richtigen!

Ich gab dem zweiten Offizier die zu einer Wurst zusammengerollte Flagge mit den nötigen Instruktionen.

»Wo ist denn die Lady?«, flüsterte ich.

»Ich weiß faktisch nicht, wohin der Bootsmann sie praktiziert hat.«

»Wie geht die Sucherei sonst?«

»Ach du grüner Dunnerslag!«, fing jetzt auch der Steuermann zu grienen an, nur seinem ›Dunnerslag‹ eine andere Farbe gebend.

Wie gesagt, ich wusste mir alles zu erklären.

Dort stand ein Polizist, wie aus einem Teerfass gezogen, und jetzt tauchte aus einer Luke der Polizeiwachtmeister auf, der reine Mehlsack, über und über mit Mehl gepudert, und der ihm folgende hatte noch besonders eine Pfütze Wasser über den Kopf bekommen, sodass er gleich in den Backofen hätte geschoben werden können.

»Wo sind sie denn jetzt?«

»Ich glaube, im Proviantraum.«

Ich hinab. Sie waren richtig unten, der erste Steuermann machte den Führer für den Herrn Sheriff, der Hauptmacher aber, der am eifrigsten mit suchte, war mein Bootsmann.

Soeben hatte er von einem großen Fasse den Deckel abgenommen.

»Hier is see, hier drin steckt see!«, schrie er.

»Wo denn?«, fragte der junge Mensch im Bratenrock, in die Finsternis des mächtigen Fasses blickend.

»Na da — na da — — see hädd sich wat zusammduckt. Griepen Se mal rin!«

Und der Herr Referendar griff denn wirklich hinein, gleich mit dem ganzen Arm, bis an die Achsel, zog ihn wieder heraus und... das Fass war bis an den Rand voll Sirup gewesen! Wie der junge Mensch im Bratenfrack nun dastand, den Arm ausgestreckt, der durch den Sirup plötzlich ganz dick geworden war, die Finger gespreizt, und von jedem Finger lief eine lange Sirupsnudel herunter — es war ein Bild, das sich mit der Feder nicht wiedergeben lässt.

Das war nur das eine, was ich zu sehen bekam. Aber was die nun während der halben Stunde sonst alles mit dem aufgestellt hatten!

Sein ehemals hoher Zylinder glich einem zusammengeschobenen Teleskop, sein Bratenrock schillerte in allen möglichen Farben, und sogar die Stiefel waren ihm verbrannt, er lief nur noch in den Strümpfen, indem sie ihn unten im Heizraum auf eine glühendheiße Eisenplatte gelockt hatten, und nicht anders war es allen übrigen gegangen.

Der Sheriff erkannte mich in der Dunkelheit nicht; ich flüsterte dem Bootsmann zu, wo die Lady denn versteckt sei. Es sei alles in Ordnung, sie könne hervorkommen.

Oben an Deck sei sie. Ich hinauf, der Bootsmann wusste den Sheriff auch gleich nachzulotsen.

Jetzt erkannte er mich im Abendsonnenschein, in dem er eine noch traurigere Figur spielte.

»Herr Kapitän«, suchte er noch seine Würde zu wahren, »Sie selbst haben zugegeben, dass sich Lady Blodwen von Leytenstone an Bord Ihres Schiffes befindet.«

»Ich glaube so. Was soll's?«

»Ich muss die Dame sprechen, und sie hat sich versteckt.«

»Versteckt? Bootsmann, Steuermann, wissen Sie, wo sich Lady Leytenstone befindet?«

»Da liegt sie ja, der Herr Wachtmeister sitt ja up uf see«, grinste der Bootsmann und deutete auf ein zusammengerolltes Segel, das da ganz harmlos mitten auf Deck lag, und eben hatte sich der Wachtmeister draufgesetzt, um sich den Semmelteig von seinen Stiefeln zu wischen.

»Was, in dem Segel soll sie liegen?«

»Ja freilich, der Herr Wachtmeister muss nur upstahn, sonst kann see ja nich rut.«

Ich wollte es noch gar nicht recht glauben. Diese Dreistigkeit, die zu Suchende einfach in ein Segel zu rollen und gleich hier an Deck liegen zu lassen, ging doch etwas zu weit. Oder es war eben die alte Geschichte von der Höhle des Löwen, wo man am sichersten verborgen ist.

»Blodwen, komm hervor!«

Auf schnellte der Wachtmeister, wie von einer Tarantel gestochen.

»Das Segel lebt ja«, schrie er, erschrocken auf die große Wurst aus Segeltuch blickend.

Ja, es lebte, es rollte sich auseinander, Blodwen kam zum Vorschein, rieb sich wie schlaftrunken die Augen — »Ach, das war einmal gut geschlafen!«, — aber ich sah, wie verräterisch es in ihrem Gesicht zuckte.

Der Sheriff aber trat sofort auf sie zu und legte ihr seine Sirupspfote auf die vom Kleide etwas entblößte Schulter.


Illustration

»Lady Blodwen von Leytenstone, ich verhafte Sie.«

Während Blodwen noch ein erstauntes Gesicht zu machen suchte, trat ich schnell dazwischen.

»Mit welchem Rechte?«

»Im Namen des Gesetzes.«

»Welches Gesetzes?«

»Des englischen.«

»Was haben wir mit dem englischen Gesetze tun?«

Etwas verblüfft blickte mich der Sheriff an. Meine Frage schien ihm doch gar zu dumm gestellt.

»Sie fahren doch unter englischer Flagge, das ist englischer Boden.«

»Bitte, blicken Sie dorthin!«

Der Sheriff folgte der Richtung meiner Hand, seine Augen wurden starr — dort am Heck wehte das amerikanische Sternenbanner.

»Wollen Sie nun gefälligst Ihre Hand von der Dame zurückziehen?«

Mit einiger Mühe gelang ihm das. Sie hatte sich auf Blodwens Schulter schon festgekleistert gehabt.

Nun schien er aber auch gleich zu wissen, was hier vorgegangen war.

»Sie haben die Nationalität Ihres Schiffes umschreiben lassen?«

»Allerdings.«

Ich hielt ihm das betreffende Schiffspapier unter die Nase.

Da sagte er gar nichts mehr, drehte sich um, murmelte nur etwas und blieb mit verschränkten Armen an der Bordwand stehen.

Aber hinter mir wurde etwas gesagt, von einem meiner Matrosen, im breitesten Platt:

»Worum hädd dör denn dee so voll Särup smärt?«

Es lässt sich schriftlich gar nicht sagen, wodurch in diesen einfachen Worten so eine Urkomik lag. Das muss man eben aus solch einer tabakwiederkauenden Matrosensnut hören, wie die das so breit herausbringt.

Die Wirkung war jedenfalls die, dass zunächst Blodwen in ein schallendes Gelächter ausbrach, in das wir alle mit einstimmten, sogar die englischen Polisten.

»Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen«, sagte dann, als wir uns etwas beruhigt hatten, der junge Referendar bitter. »Herr Wachtmeister, lassen Sie das Boot... ach so.«

Er presste die Lippen zusammen und blickte finster auf das mit Wasser gefüllte Boot herab, welches nie wieder brauchbar gemacht werden konnte, und dann sah ich, was für einen Entschluss es ihn kostete, als er sich an mich wendete.

»Bitte, Herr Kapitän, Sie stellen mir wohl ein Boot zur Verfügung.«

»Ich? Tut mir leid. Ich gehe sofort in See.«

Und schon erschollen meine Kommandos, schon bewaffneten sich meine Leute mit Handspeichen und sprangen an das Gangspill, um die Anker emporzuwinden, schon schrillte die Bootsmannspfeife, welche die Rahengasten in die Takelage zum Segelsetzen schickte.

Der Referendar machte bei diesen nicht misszuverstehenden Vorbereitungen keine schlechten Augen.

»Aber ich muss doch wieder von Bord!«

»Jawohl, ich bitte sehr darum, mein Schiff alsbald wieder zu verlassen, wenn Sie nicht mit nach New York wollen.«

»Nach New York in...?«

»In Nordamerika, auf der anderen Seite der Erdkugel — jawohl, ein anderes New York kenne ich nicht. — Hol an die Backbordbrassen — lass gehn Steuerbord!!!«

Und das laufende Gut schnarrte.

»Aber ich muss doch mit meinen Leuten wieder von Bord!!«, fing der junge Mensch wieder an, jetzt schon etwas weinerlich.

»Ja, springen Sie doch über Bord und schwimmen Sie zurück.«

»Ich kann gar nicht schwimmen.«

»Tut mir leid, das hätten Sie lernen sollen.«

»Sie dürfen mich nicht so mitnehmen.«

»Ich werde Ihnen gleich zeigen, was ich alles darf. Los die Bram, los die Royal!!«

Die Segel entfalteten sich, das Schiff kam in Fahrt.

»Signalisieren Sie doch, dass man mir ein Boot schickt — bitte, bester Herr Kapitän!«, winselte der Gerichtsverhaftler.

»Das könnte ich wohl, hat aber keinen Zweck, bei diesem Winde holt mich kein Dampfer mehr ein.«

Ich gab ein Ruderkommando.

»Na, merken Sie denn nicht, wohin wir gehen?«, wandte ich mich dann gutmütig an das geknickte Menschlein, als sich der Bug dorthin wendete, wo auf dem Tafelberge eine vom Abendsonnenscheine vergoldete Wolke lagerte. »Ich gehe im Hafen vor Anker.«

Mein Betragen war rüpelhaft gewesen, da gibt es nun gar keine Entschuldigung. Der Sheriff hatte nur seine Pflicht getan, hatte sich an Bord ganz anständig benommen, auch mir gegenüber, auch ich hätte ihn anständig behandeln sollen.

Aber ich befand mich damals noch in den gesunden Jahren, da man alles, was eine Polizei- oder Gerichtsuniform trägt, als eine Art Feind betrachtet, ungefähr so, wie die Elemente alles Werk von Menschenhand hassen. Ich sage mit Absicht ›gesund‹; denn auf mich hat ein Junge, der keine Äpfel stiehlt und badenden Mädchen nicht die Kleider wegnimmt, keine Haustürklingeln zieht und dergleichen, immer einen kränklichen Eindruck gemacht. Was mich betrifft, so machte es mir langen, vierundzwanzigjährigen Bengel, der schon Steuermann war, jetzt sogar schon Kapitän, immer noch ein Teufelsvergnügen, auf dem nächtlichen Heimweg alle Straßenlaternen auszudrehen.

Aber ich war ebenso gutmütig wie lasterhaft. Es fiel mir ja nicht im Traume ein, dem armen Menschen einen wirklichen Schabernack zu spielen, von dem er Schaden gehabt hätte, ihn auch nur zu blamieren. Auch dass ich ihm jetzt noch kein Boot gab, sondern ihn an Bord mit in den Hafen nahm, hatte nur eine gute, versöhnende Absicht.

Schon wurden in der Kombüse für die zehn Hafenpolizisten zwei große Holzeimer voll Grog gebraut, sie kamen ins Zwischendeck, und als ich mich dann einmal hinab begab, um noch jedem ein Goldstück in die Hand zu drücken, hatte der Wachtmeister, auch so ein alter Seebär, schon den ganzen Pferdeeimer am Munde.

Er erklärte mich für den ersten Gentleman der Welt — und nachdem er das gesagt hat, speit mich der Kerl von oben bis unten voll, mit einem halben Pferdeeimer Grog, einem halben Schinken und einer halben Platte kleingekautem Tabak.

Schwerer hatte ich es mit dem Referendar. Der fing jetzt zu trotzen an. Als dann aber Blodwen, die sich schnell umgezogen hatte, lächelnd auf ihn zutrat — »Aber, Herr Sheriff, das war eine Arbeit, den Sirup wieder abzuwaschen!«, — da gab er klein bei, in der Kajüte knallten die Champagnerpfropfen, und als im Hafen schon längst die Anker gefallen waren, wollte er immer noch nicht wieder gehen, der junge Mensch saugte wie eine Biene, fraß ein ganzes Fässchen Kaviar aus, bis er zuletzt den Tisch vollspie. Zwei Matrosen mussten ihn wie einen Sack unter die Arme nehmen und nach Hause tragen.

— • —

21. Kapitel
Wie mein Schiffsarzt und noch
manches andere flöten ging

Originalseiten I.392 — 412

Es war gegen acht Uhr geworden, als wir wieder Ruhe an Bord hatten. Ich war noch so gut wie nüchtern, Blodwen war sehr mäßig, desgleichen Doktor Selo, der mit an der Zecherei teilgenommen hatte, aber in der Art ein Mucker war.

Jetzt erst fiel mir ein, was alledem vorangegangen war.

»Ja, Blodwen — deine 31 000 Pfund sind schon gesperrt gewesen.«

»So? Ich hab's mir gleich gedacht, als ich das Polizeiboot kommen sah.«

Also nicht die geringste Aufregung deswegen. Nachdem sie einmal Gewissheit hatte, war dies alles Lappalie für sie.

»Nun, wir haben ja zunächst noch 40 000 Pfund an Bord«, setzte sie hinzu, »damit muss sich doch schon etwas anfangen lassen.«

»Und ich — ich habe heute 10 000 Pfund einkassiert und noch extra eine Million oder doch 50 000 Pfund in sicherer Aussicht«, jubelte ich heraus.

Und ich erzählte. Ja, ich freute mich, einmal so viel Geld selbst zu besitzen, und Blodwen freute sich mit mir.

»Wo ist denn das Dokument?«, wandte ich mich an Doktor Selo, den ich bisher gar nicht beachtet hatte. »Holen Sie's doch gleich einmal her.«

Was war das? Warum wurde der Kerl plötzlich so blass?

Aber, wohlgemerkt, das kam mir nur so vor, ich beachtete es gar nicht weiter.

Er erhob sich auch sogleich.

»Sofort, Herr Kapitän«, sagte er und verließ die Kajüte. Einstweilen erklärte ich Blodwen weiter, dass ich die 10 000 Pfund Sterling als Bergegeld ganz unter meine Leute zu verteilen gedachte, rangmäßig, mit den 50 000 würde ich in Schiffsfrachten spekulieren.

Wie ich das noch sagte, dachte ich an die 10 000 Pfund, die ich ja in Banknoten eingesteckt hatte, griff in die linke Brusttasche, wurde etwas verdutzt, weil diese leer war, entsann mich aber auch gleich, dass ich ja die Jacke gewechselt hatte.

»Bernhard«, wandte ich mich an den Steward, der eben den Tisch abräumte, »wo ist meine Jacke, die ich dorthin gelegt hatte?«

»Die habe ich in des Herrn Kapitäns Kabine in den Kleiderschrank gehängt.«

»So, es ist gut«, sagte ich und begann mich mit Blodwen darüber zu unterhalten, was für eine Bewandtnis es mit dem Dokument wohl haben könne, wer der geheimnisvolle Unbekannte sei usw.

An die 10 000 Pfund dachte ich also schon gar nicht mehr. Man muss die Bordverhältnisse kennen, um diese meine Sorglosigkeit zu begreifen, wozu nun auch noch mein ganzer Charakter kam.

»Hat denn Doktor Selo sich bemüht, das Dokument zu entziffern?«, fragte Blodwen. »Er sagte doch, er verstände sich auf solche Geheimschriften.«

»Nur einmal fragte ich ihn deswegen, da konnte er noch gar nichts sagen. Ja, wo bleibt der denn eigentlich?«

Denn fünf Minuten waren unterdessen schon vergangen, und wenn der Kapitän etwas befiehlt oder nur wünscht, so muss an Bord natürlich mit langen Beinen gesprungen werden, und wenn der erste Offizier gerade in der Badewanne sitzt, und der Kapitän will ihn sprechen, so gibt es nicht erst ein Abtrocknen, sondern der Badende hängt einfach den Bademantel um und erscheint mit eingeseiften Haaren.

Da der Steward nicht gerade in der Kajüte war, ging ich gleich selbst. Die Kabine des Arztes lag, wie alle anderen, außer unserer, in einem der beiden Korridore, welche die Kajüte seitwärts begrenzten.

Ich trat ein. Selo stand vor seinem Pult, wühlte zwischen den Papieren.

»Na, wo bleibt denn das Pergament?«

»Ich kann es gar nicht finden, ich hatte es doch hierherein...«

»Nicht finden? Was soll das heißen? Nun aber etwas holla, sonst können Sie mich auch einmal von einer anderen Seite...«

Trampelnde Schritte, schreiende Stimmen, und dann ein heftiger Ruck mit knirschenden Planken. Ich stürzte nach oben. Ein neben uns liegendes Schiff hatte sich von den Ankern gelöst, war ins Treiben gekommen, hatte uns gerammt. Hatte nicht viel zu sagen, ging alles gut ab. Nur zuletzt blieben wir noch mit den Klüverbäumen hängen, verstrickten uns mit dem Tauwerk, eine Stunde hatten wir doch kräftig zu tun. Dann verging auch noch einige Zeit, bis alles klar war, dass ich wieder an den Schiffsarzt denken konnte.

»Wo ist Doktor Selo?«

»Ich habe ihn noch nicht wieder gesehen«, entgegneten der Steward wie Blodwen.

»Hole ihn!«

Des Schiffsarztes Kabine sei verschlossen. Beim Anklopfen keine Antwort, also sei Doktor Selo auch nicht darin.

»Ja, wo ist er denn sonst?«

Der Steward und Goliath, der auch so eine Art von Steward machte, suchten ihn — vergebens. Und das war bei einem Schiffsarzt auffällig. Ein Matrose kann sich wohl leicht im Schiffe verkrümeln, er braucht nur einen ihm befreundeten Heizer zwischen den Kohlen aufzusuchen, aber des Arztes Revier ist doch nur ein beschränktes.

Urlaub hatte ich meinen Leuten noch nicht gegeben, und dass sich etwa der Schiffsarzt im Hafen nach Belieben entfernen könne, davon war gar keine Rede, dazu musste er doch auch ein Boot benutzen, und außerdem sollte er mir doch das Pergament bringen.

In diesem Augenblick erinnerte ich mich, wie der Doktor vorhin, als ich ihn nach dem Pergamente gefragt, die Farbe gewechselt hatte! Jetzt also fiel mir ein, dass dies tatsächlich geschehen war! Und da kam mir schon eine Ahnung!

Alle Mann antreten zur Musterung!!!

Die Bootsmannspfeife schrillte es in alle Luken hinein, und es gab keinen Platz im Schiffe, wo dieses Pfeifen nicht gehört worden wäre.

Alle waren vorhanden, nur der Schiffsarzt nicht.

Niemand hatte ihn gesehen.

Vielleicht befand er sich doch noch in seiner Kabine, zu der selbstverständlich ein zweiter Schlüssel vorhanden war.

Die Petroleumlampe war ausgedreht. Ich brannte sie an. Da stand mitten in der Kabine ein offener Koffer, alles durchwühlt, herausgerissen. Nun wurde mir meine Ahnung zur Gewissheit.

»Blodwen, der Kerl ist uns mit dem Pergament durch die Lappen gegangen, der will sich die Million selber verdienen!!«

»Kann er denn das?«

Hier halfen keine Erwägungen, auch nicht, auf welche Weise der Mann an Land gekommen war,

»Er hat gehört, dass ich für Deponierung des Pergaments 50 000 Pfund erhalten soll und er riskiert's, vielleicht hat er die Geheimschrift auch schon entziffert und weiß, wohin er sich zu wenden hat, und für eine Million kann man schon eine Viertelstunde schwimmen — jetzt sofort zur Polizei und alles alarmieren!!«

Ich befand mich in Hemdsärmeln. Also in meine Kajüte und in den Kleiderspind gegriffen. Ich erwischte gerade die Jacke, die ich angehabt, als ich heute das erste Mal an Land gewesen.

Da dachte ich an meine 10 000 Pfund, griff in die Brusttasche — leer!!

Jetzt durchzuckte mich doch ein gelinder Schreck. Ich wollte es nicht glauben — jawohl, das war die linke Tasche, und sie war wirklich leer. War das auch die betreffende Jacke? Gewiss; denn in der anderen Tasche befanden sich auch noch die Papiere, die ich damals gebraucht hatte.

Ein zweiter Schreck durchzuckte mich. Schnell noch einmal alles durchsucht — es nützte nichts, es wurde mir zur Gewissheit.

»Blodwen, der Spitzbube hat auch noch meine 10 000 Pfund mitgehen heißen!!«

Blodwen wollte es erst nicht glauben. Warum gerade Doktor Selo? Es gab doch noch andere Menschen an Bord.

Da kam sie aber bei mir schön an. Doch ich lachte sie nur aus. Wenn die 10 000 Pfund gestohlen worden waren, dann doch nur von dem, der schon Ursache hatte, sich überhaupt von Bord zu entfernen. Und Selo hatte gehört, wie ich 10 000 Pfund bei mir gehabt, dass der Steward die Jacke in meinen Kleiderspind gehängt hatte usw., und meine Kabine war wie immer unverschlossen gewesen. Sollte ich auch auf den Gedanken gekommen sein, dass mich einer meiner Leute bestehlen könnte!

Also schnell ans Land gerudert, zur nächsten Polizeiwache gelaufen und die Geschichte gemeldet, das Signalement des Flüchtlings abgegeben usw. Auf der Polizei schien man schon etwas von der Behandlung zu wissen, die ich dem Sheriff und seinen Begleitern hatte zuteil werden lassen, den Ausgang hinwiederum schien man noch nicht zu kennen; denn man war nicht gerade freundlich gegen mich, und ich klärte nicht auf. Dass trotzdem sofort pflichtschuldigst alle Hebel in Bewegung gesetzt wurden, um nach dem Flüchtling zu fahnden, war selbstverständlich.

Dann erkundigte ich mich nach der Adresse des Direktors der südafrikanischen Bank. Er war nicht zu Hause, hatte eine hochfeine Privatgesellschaft besucht.

Ich unverzagt hin, ließ den Direktor herausrufen. Ich war ganz gelassen, teilte ihm alles mit, und er war ein äußerst liebenswürdiger Herr. Dass er auch sonst sehr neugierig war, ist begreiflich. Ich musste mit hinein in den Salon und weiter auspacken. Die Sensation war natürlich groß, nicht nur wegen des geheimen Dokumentes, auch der Klabautermann und alles andere kamen dran, und nur mit Mühe konnte ich mich nach einer Stunde losmachen. Besonders die Dämlichkeiten hatten mir arg zugesetzt.

Die Hauptsache also war, dass Doktor Selo und jeder andere festgenommen wurde, welcher auf der Bank nachfragte, ob er gegen Deponierung eines Dokumentes 50 000 Pfund Sterling erheben könne.

Ich begab mich noch einmal nach der Hauptwache, wo ich erfuhr, dass die polizeiliche Maschinerie schon im Gange sei. Vorläufig freilich hatte man noch keine Spur von meinem Schiffsarzte. Jedenfalls aber war alles bereits alarmiert. Hier kannte man ja auch schon das angenehme Ende der Verhaftungsaffäre, man war bedeutend freundlicher gegen mich, und noch mehr, als ich beim Abschied noch einige Goldfüchse spendierte und für Ergreifung des Durchbrenners eine vorläufige Prämie von 100 Pfund versprach.

So, ich hatte getan, was ich hatte tun können. Im Übrigen griff mich die ganze Geschichte sehr wenig an. Um verlorenes Geld habe ich noch niemals geweint.

Gegen zehn war ich an Bord zurück. Die Steuerbordwache wollte Urlaub haben und bat um Vorschuss, den ich reichlich gab.

»Wo ist der fremde Matrose?«, fragte ich dann den Bootsmann. Er war von diesem, sobald wir die Küste in Sicht bekommen hatten, in eine Kabine eingeschlossen worden, was auch stets geschah, wenn uns nur ein anderes Schiff zu nahe kam, damit der Gefangene nicht einmal über Bord ging. Dafür sorgte der Bootsmann gewissenhaft, dem ich den Unbekannten speziell anvertraut hatte. Ich betrat die Kabine, musste den Gefangenen wecken, der den Schlaf des Gerechten schlief. Noch nicht einmal seinen Namen hatte er mir genannt, obgleich er sich sonst nicht störrisch zeigte. Das lag eben in meiner Behandlung, ich hatte ihn sonst ganz in Ruhe gelassen.

»Ich bringe Ihnen die Freiheit.«

»Na, endlich!«

»Ihr Kapitän bittet mich darum.«

»Mein Kapitän? Ich glaube nicht, dass der mit Ihnen gesprochen hat.«

»Gesprochen nicht, aber geschrieben.«

Ich erzählte den ganzen Fall ausführlich, wie mir jetzt vom Schiffsarzt das Dokument mit der Geheimschrift gestohlen worden war.

Wegen dieses Dokumentes wie wegen des Klabautermanns hatte ich ihn schon früher gefragt, er hatte von beiden nichts wissen wollen, und jetzt kam es mir vor, als wisse er tatsächlich nichts von dem Vorhandensein dieses Dokumentes.

»Das muss etwas sehr Wichtiges sein, dass Ihnen so viel Geld dafür gezahlt werden soll.«

»Sie wissen nicht, um was es sich handelt?«

»Keine Ahnung.«

»Wenn ich Sie jetzt freilasse, wohin werden Sie gehen?«

»Dorthin, wohin ich gehöre.«

»Ist es ein langer Weg?«

»Ja.«

»Zur See?«

»Hm — je nachdem — ist nicht unbedingt notwendig.«

»Hören Sie, Mann — ich frage das nicht, um Sie auszuforschen. Ihr Kapitän, wer es nun auch sei, hat freiwillig ein anständiges Bergegeld für das Wrack bezahlt, und ich bin ebenfalls ein anständiger Mensch, er hätte gar nicht nötig gehabt, mich zu bitten, Sie freizulassen. Also ich frage nur deshalb wegen Ihrer Reise, um zu hören, ob Sie Geld brauchen?«

»Nicht unbedingt.«

»Was soll das heißen? Sprechen Sie doch offen wie ich zu Ihnen. Sie meinen, Sie können die Reise abarbeiten?«

»Ja.«

»Sie wollen partout kein Geld von mir annehmen?«

»O — ja — recht gern«, erklang es jetzt zögernd.

»Wie viel brauchen Sie?«

»Na — drei — vier Pfund...«

Ich drückte ihm zwanzig einzelne Pfundstücke in die Hand. »Reicht das?«

Er schien es erst gar nicht glauben zu wollen.

»Herr, Sie sind nobel!!«, rief er dann.

»Sie werden Ihrem Kapitän erzählen, wie ich Sie behandelt habe.«

»Anständig — fein — hochfein! Und wegen der Tritte ans Schienbein — na — never mind — wenn mir jemand die Auskunft verweigert, ich hätte ihn noch ganz anders traktiert.«

»Sie werden Ihrem Kapitän vor allen Dingen von dem Pergament erzählen, wie es mir mein Schiffsarzt gestohlen hat, dass es mir selbst am guten Willen nicht gefehlt hat.«

»Alles werde ich ihm erzählen, und wie Sie mich freilassen, obgleich Ihnen dieser Schuft doch sogar die 10 000 Pfund ausgespannt hat.«

»Gut! Nun gehen Sie. An dem Klabautermann ist Ihrem Kapitän nichts gelegen?«

»Weiß nicht. Er hat's Ihnen ja geschrieben, dass Sie ihn behalten sollen, und ich werde mich hüten, mich mit dem verrückten Kerl zu schleppen.«

»So gehen Sie. Sie werden im Boot an Land gebracht.«

Der Mann, der angekleidet in der Koje gelegen hatte, zögerte noch.

»Kapitän, noch ein Wort! Sie müssen doch verdammt neugierig sein, wer dieser, mein Kapitän, der Ihnen das Wrack wieder aus den Zähnen rückte, eigentlich ist.«

»Ja, das bin ich.«

»Von mir erfahren Sie nichts.«

»Das habe ich nun schon erkannt.«

»Ich darf nicht, beim besten Willen nicht.«

»Nun, und was weiter?«

»Sie werden weiter nachforschen, wer das gewesen ist?«

»Das werde ich allerdings.«

»Kapitän — ich möchte dankbar sein — möchte Sie wenigstens warnen.«

»Wovor?«

»Eben vor solchen Nachforschungen.«

»Weswegen?«

»Seht — mein Kapitän ist eigentlich ein guter Mensch — aber auch ein merkwürdiger Mensch — der lässt sich nicht in seine Karte blicken — und wer es versucht, dem klopft er auf die Finger — lässt ihn auch gleich ganz verschwinden — und — er hat die Macht dazu — und niemand kann ihm etwas anhaben — und — Sie scheinen schon eine kleine Ahnung zu haben...«

»Weil ich ihn im polynesischen Archipel am großen Vogelberge zu suchen habe, was?«

Mit gleichen Füßen sprang der Mann vom Kojenrand, auf dem er gesessen hatte, herab.

»Nun ist's genug! Ich habe schon zu viel gesagt, indem ich Sie nur gewarnt habe. Wenn Sie wollen, so behalten Sie mich, aber sprechen tue ich nun nichts weiter.«

Ich begleitete ihn an Deck, sah ihn ins Boot steigen und in der Nacht verschwinden. Nun war auch der noch weg. Aber ich hatte es für meine Pflicht gehalten, so zu handeln. — — —

*

Am nächsten Tage sah ich mich an Land nach einer Fracht um, die ich für eigene Rechnung nehmen wollte.

Ich will hier durchaus nicht geschäftlich werden. Andeutungen genügen ja.

Ich kam mit einem Makler zusammen, der mir 1000 Tonnen Ballen Baumwolle vorschlug, welche im Hafenmagazin lagen und morgen wegen Zahlungsunfähigkeit des Eigentümers unter den Hammer kommen würden. Nicht einmal die Versicherungssumme hatte er aufbringen können. Wenn ich jetzt zugriffe, könnte ich sie vielleicht für 40 000 Pfund Sterling bekommen, die feinste, längste Baumwolle, zur Mischung mit Seide geeignet. Das beste Absatzgebiet dafür sei jetzt Marseille, könnte 12 000 Pfund daran verdienen, mindestens.

Über diese Summe verfügte ich ja gerade noch, dann musste ich von den noch vorhandenen 500 Tonnen Kohlen 400 löschen, um Laderaum zu bekommen, die mir hier in Kapstadt ebensoviel Pfund Sterling einbrachten.

Mir war etwas bänglich zumute, als ich von einem geöffneten Ballen die Baumwolle prüfen sollte. Was verstand ich junger, ungeleckter Seebär denn von Baumwolle! Und allen den Kerlen, die da die Fasern über den Fingernagel zogen und sie durch die Lupe betrachteten und mir ihre Güte priesen, war doch nicht zu trauen.

Dann aber traf ich einen alten, mir bekannten Kapitän, der etwas davon verstand, der zog die Fasern ebenfalls über den Daumennagel, und dann sagte er: jawohl, Richard, zugegriffen, so was bekommst du nicht gleich wieder!

Also, nun mal los! Ich einigte mich mit dem Konkursverwalter richtig auf rund 40 000 Pfund. Bei Barzahlung nicht weniger als 7 Prozent Diskont. So gehörten die 1000 Ballen Baumwolle jetzt mir, und heute noch hatte ich die 36 700 Pfund Sterling zu zahlen. Na, die hatte ich ja sicher noch an Bord. Der Kerl staunte nicht schlecht, als ich sagte, er solle nur gleich mit Schaufel und Ledersäcken kommen!

Und drei Wochen später würde ich 15 000 Pfund daran verdient haben, 100 000 Taler, und das ist doch gewiss, wie Karlemann sagte, ein hübscher Feng Geld.

Dann fand ich auch gleich noch einen anderen Makler, der mir für 400 Pfund Sterling ebenso viele Tonnen Kohlen abnahm. Als aber das Geschäft nun schon perfekt geworden, da bot mir der Kerl einen Dreimonatswechsel an, und dabei hatte ich, eigentlich mir ganz unbewusst, schon unterschrieben, dass ich die Kohlen auf meine Kosten an Land befördern müsse.

Aber was ich denn wolle, der Wechsel sei doch so gut wie bares Geld, ich könne ihn sofort bei jedem Bankier umsetzen... na, kurz und gut, man machte mich unschuldigen Jüngling, auf gut deutsch gesagt, mit schönen Redensarten besoffen, ich quittierte und steckte den Wechsel zusammengefaltet in die Westentasche.

Ich musste ja noch mindestens 40 000 Pfund an Bord haben, der Überschuss reichte schon zur Versicherung der Baumwolle; denn anders wollte ich es doch lieber nicht machen, und vor meinen geistigen Augen sah ich immer den ganzen Meeresboden mit Gold und Diamanten bedeckt — mit meinem Gold und meinen Diamanten. Uns konnte doch gar nichts entgehen.

Während schon die Kohlen ausgeladen wurden und in die großen Boote hineinprasselten, zählten wir in Gegenwart des Maklers auf dem großen Tische in der Kajüte die 36 700 Goldstücke auf.


Illustration

Herr du meine Güte, war das eine Arbeit! Zwei Kohlenzieher schleppten das Gold heran, drei Mann mussten immer auf dem großen Tische von den Goldstücken drei Quadratmeter große Karrees bilden. Der Makler, der das Gold immer in die Ledersäcke strich, hatte es am leichtesten.

Na, wenn ich daran zurückdenke! Wie das dabei zuging! Ich bin fest überzeugt, dass der Makler manches Goldstück ungezählt mit einstrich, ich konnte nicht einmal verhindern, dass die beiden Arbeiter, die er mitgebracht, manchmal ihre Pfoten in das noch ungezählte Gold steckten.

Aber egal, nur immer fort damit! Wir hatten ja noch genug von dem Zeug. Für mich wurden die Goldfüchse überhaupt immer mehr zu wertlosen Zahlmünzen.

Wenn meine Striche im Notizbuch stimmten, so waren schon 25 000 Stücke aufgezählt worden, und der Goldvorrat neigte sich in beängstigender Weise dem Ende zu.

»Blodwen, sind's denn auch wirklich noch 40 000 gewesen?«

»Nu sicher«, war ihre vergnügte Antwort.

»Mir kommt es aber doch fast vor, als ob... als ob...«, ich hob schnüffelnd die Nase in die Luft, »als ob es hier recht brenzlig röche.«

»Du, Richard, ich merk's auch — das riecht hier recht — recht nach — nach — nach...«

»Nach verbrennter Boomwoll«, ergänzte der Bootsmann.

»Feuer! Feueeer!!!«, erscholl da auch schon der Ruf, und wir hätten gleich die Lampe auspusten können, so hell wurde es plötzlich in der Kajüte. »Die Hafenschuppen brennen!!«

Na, ich will mich kurz fassen. Hier bezahlte ich die Baumwolle, und drüben verbrannte sie. Unversichert.

»30 000«, sagte der Makler und schaufelte wieder ein Quadrat ein. Ja, was sollte ich tun? Ich konnte doch dieses Feuer nicht ausspucken. Das ganze Magazin brannte.

Und wie ich mich noch so hinter den Ohren kratze, bekommt Blodwen plötzlich den Lachkrampf. Und nicht vor Ärger, kein nervöser. Nein, sie lachte aus Herzensgrunde, wie ich sie noch nie hatte lachen hören, sie wälzte sich auf dem Sofa. Und schließlich musste ich selber mitlachen.

Aber bald wurde ich wieder ernst.

»30 000 Pfund«, sagte der Makler nochmals und hatte seine schmierigen Pfoten schon wieder zum Einkratzen bereit.

Und in dem Eisenkasten, den die Kohlenzieher immer hereinschleiften, befanden sich nur noch wenige Goldfüchse.

»Na, vorwärts, Jungen, heran mit einem neuen Kasten!«

»Is nix mehr da, Käpt'n.«

Ich bekam einen kleinen Hexenschuss. Aber es konnte ja gar nicht möglich sein.

»Auf der Steuerbordseite.«

»Der Kasten ist leer.«

»Unter der Koje auf Backbord steht auch noch einer.«

»Den haben wir zuerst leer gemacht.«

»Ach, Unsinn!«

»Weiß Gott, Käpt'n, is gar nix mehr da.«

Von dem Hexenschuss etwas kreuzlahm, begab ich mich in unsere Kabine, in welcher wir das letzte Geld aufbewahrt hatten, in langen, eisernen Kästen, die sich unter je einer Koje befanden, mit Kissen gepolstert.

Die Heizer hatten beide Kästen hervorgeschoben — beide waren leer. Das war ein Faktum. Ein Verdacht gegen die beiden Leute konnte in mir gar nicht auftauchen, und dass ich so in die verödeten Geldkisten stierte, hatte auch keinen Zweck.

»Können wir uns denn wirklich so verzählt haben?«, fragte da Blodwen, die mir gefolgt war.

»Verzählt? Bei dem Makler dürfte es ungefähr stimmen.«

»Ich meine so verzählt mit unseren 40 000 Pfund?«

»Ja, hattest du sie denn gezählt?«

»Ich nicht, du?«

»Nee, ich ooch nicht.«

»Aber es müssen doch noch 40 000 gewesen sein.«

»Woher weißt du das?«

»Ich denke nur so.«

Ja, ich dachte auch nur so. Das zeigt wohl zur Genüge, wie es bei uns zuging.

»Es können doch weniger gewesen sein«, meinte dann Blodwen kleinlaut, »wir haben manchmal hineingegriffen.«

Ja, das hatte ich allerdings getan, ohne jemals nachzuzählen. Aber gleich eine Differenz von 6000 Pfund...

»Müssen wir denn die Baumwolle wirklich bezahlen, wo doch nun sicher alles verbrennt?«

In dieser Beziehung hatte ich Lebenserfahrung genug, um ihr erklären zu können, dass wir hier unbedingt zu zahlen hatten, da half uns nun kein Schwanzwedeln und gar nichts.

»Halt«, rief da Blodwen, »ich habe ja hier noch ein Säckchen!«

Das Säckchen war ein ganz ansehnlicher Sack, fast tausend Goldstücke enthaltend, den sie unter einer Matratze zum Vorschein brachte.

Das war schon etwas, und nun kam uns zum Bewusstsein, dass wir noch längst nicht verloren waren, Blodwen visitierte ihren Schreibtisch und ich meinen Geldschrank und andere Schubladen, und so brachten wir noch 4000 Pfund zusammen, meist Papier, sodass uns jetzt nur noch rund tausend Pfund fehlten.

Dann untersuchten wir die Taschen unserer verschiedenen Kleider und verminderten das Defizit immer mehr; denn überall kam noch etwas zum Vorschein. Dann legte ich mich, von einer Ahnung erfüllt, auf den Bauch und kratzte unter den Kojen mit einem Besen, und als ich wirklich einige Goldfüchse zum Vorschein brachte, fing auch Blodwen unter den anderen Möbeln zu stochern an, zeitigte auch wirklich einiges Geld, und zwar meist Goldstücke, zutage, die sich bei unserem Hantieren mit dem schnöden Mammon dort unten verkrümelt hatten.

Richtig, es war eine ganz erkleckliche Anzahl von Goldfüchsen, welche auf diese Weise noch zum Vorschein kamen; aus einem Rockfutter schnitt ich noch zwei solcher roten Dinger und noch einen Schilling und zwei Pence extra heraus. Dann aber hatten sich unsere bisher unbewussten Kassen auch vollkommen erschöpft, nirgends mehr wollte sich etwas finden lassen, ich fingerte schon in den Westentaschen herum, von denen die rechte noch immer meinen silbernen Zahnstocher barg, während in der linken...

»Ach, Blodwen, ich habe ja auch hier den Wechsel von 400 Pfund, der ist doch so gut wie bares Geld!!«, rief ich vergnügt.

»Ja, wie viel fehlt denn überhaupt noch?«

Freilich, darauf kam es erst an.

Wir zählten gleich hier in unserem Fundbüro nach. 30 000 Pfund hatten schon auf dem Tische gelegen, und hier waren doch noch etwas über 4800 Pfund zusammengekommen, allerdings weniger unter den Schränken hervorgekratzt. Da kamen ja Blodwens 4000 Pfund in Betracht und was ich auch in Papier gehabt hatte.

»Und dann lagen doch auch noch in dem Kasten ein ganzer Haufen Goldstücke!«

Wir gingen wieder in die Kajüte, zählten den letzten Rest auf — es war doch kein so großer Haufen.

Kurz und gut, wenn ich das zusammengekratzte Silbergeld nicht mitrechnete, so fehlten an der ganzen Summe von 36 700 Pfund gerade noch 214, und nun war ich ja fein raus, hatte mich mit allen Ehren aus der Affäre gezogen. »Hier, mein Lieber, Sie haben wohl die Güte«, sagte ich und überreichte den zusammengeknitterten Wechsel dem Makler.

Aber dieser nahm ihn gar nicht, warf nur einen Blick darauf und schüttelte den Kopf.

»Ich nehme keinen Wechsel.«

»Weshalb nicht? Der ist doch so gut wie bares Geld.«

»Mag sein, aber es war bares Geld abgemacht — ich nehme keinen Wechsel.«

Wenn der Mann darauf bestand, war ihm nicht zu helfen. Aber nun musste erst mir selbst geholfen werden.

Da kam mir ein genialer Gedanke. Weshalb sollte ich es nicht tun? Da brauchte ich mich doch gar nicht zu genieren. Die Leute kannten doch mich und meine oder vielmehr Blodwens Verhältnisse.

»Hört, Jungens«, sagte ich, »so und so, mir fehlen hier noch 214 Pfund, könnt ihr mir nicht einmal aushelfen?«

Erst als ich das gesagt, fiel mir ein, was für ein Verlangen ich da gestellt hatte. Bei mir war das Geld eben schon gar zu sehr im Werte gesunken. Erst das dämliche Gesicht des Bootsmanns, wie der mich anguckte, ließ mir zum Bewusstsein kommen, was ich da von diesen Matrosen forderte. Denn es waren ja nur die drei Matrosen anwesend, die das Geld zählen oder vielmehr in Quadrate ordnen mussten, die beiden Kohlen- oder jetzt vielmehr Goldzieher und der Bootsmann als Kontrolleur. Auch Goliath hielt sich beschäftigungslos in der Kajüte auf.

»Twee — twee— tweehondertunvärtehn Pund?«, stotterte der Bootsmann. »Ob wi dee hämm? Nee, Käpt'n dee hämmer nich.«

»Plötzlich fiel Blodwen wieder einmal um — nämlich aufs Sofa — weil sie vor Lachen nicht stehen konnte. Aber ich ließ mich nicht aus der Fassung bringen.

»Ich meine die Offiziere — und unter euren Kameraden kann doch vielleicht ein reicher Schlucker sein — fragt mal nach!«

»Vielleicht der Gustav, dass der noch een oder twee Schilling...«

»Naus, fragt mal nach!«

Ungerührt wartete der Makler, ich hatte einen etwas roten Kopf bekommen, und Blodwen suchte ihr Lachen mit dem Taschentuch zu ersticken. Weshalb die eigentlich lachte, wusste ich in diesem Augenblick selbst nicht.

Alsbald kam der Bootsmann wieder, seine fettige Pelzmütze, die er auch unterm Äquator trug, in der Hand, und in dieser, wie sich herausstellte, dreiundzwanzig Schilling und einige Pence, aber nur zwei Silberstücke darunter, sonst alles Kupfer, und nicht nur englisches, aus aller Herren Ländern, sogar messingnes aus China.

»Dat is al, wat ick uptrieven konnt, aber der tweete Maschinist is en riecher Swienegel...«

Da kam der zweite Maschinist schon selbst. Er war ein kleiner Kapitalist, nein, ein großer, hatte bei sich an Bord fast zweihundert Pfund gehabt, hatte sich wegen meiner Verlegenheit auch gleich an die anderen Offiziere gewendet, auch sie hatten in allen Taschen zusammengesucht — nun waren es gerade noch neun Schilling, welche an der Summe von 36 700 Pfund Sterling fehlten. Nun durfte ich aber auch nichts mehr hoffen, jetzt war das ganze Schiff rein ausgekehrt. Und der alte Makler beharrte auf seinen neun Schillingen wie der selige Shylock auf seinen Schein.

»Mann, seien Sie doch nicht so komisch, kommen Sie morgen wieder...«

»Ordnung muss sein.«

»Tut mir leid, machen Sie, was Sie wollen, ich habe nichts mehr.«

Da zog der Bootsmann seine silberne Zwiebel hervor, seine Taschenuhr, ein vorsündflutliches Ding.

»Ick häww schon oftens tehn Schilling dafor krägen...«

Ein neues Gelächter erscholl, aus Blodwens Munde kommend, und wie der Bootsmann so bescheiden mit seiner Zwiebel dastand, um meine Baumwolle damit zu bezahlen, die dort im Werte von Dreiviertelmillionen verbrannte, da musste auch ich aus vollem Halse mit beistimmen.

Der Makler schien Lust zu haben, die Uhr wirklich zu nehmen, aber ich mischte mich schnell ein.

»Wollen Sie Zigarren dafür nehmen?«

»Jawohl, Zigarren — oder Schnaps.«

Ich holte eine Hundertkiste, die mich selbst dreißig Schilling gekostet hatte, der Makler steckte seine Nase hinein, brannte gleich eine an und erklärte sich zufrieden, er quittierte und verabschiedete sich mit seinen 36 691 Pfund Sterling und seiner Zigarrenkiste, bezahlt für die tausend Ballen Baumwolle, die dort in Flammen aufgingen, zu diesem ganzen Geschäfte geleuchtet hatten.

Und Blodwens Lachen hallte ihm nach, nicht minder das meine. — — —

*

Am anderen Morgen ging ich nach der Bank. Was von den 1000 Ballen Baumwolle nicht verbrannt war, das glimmte noch. Da war nichts mehr zu wollen. Es war ja noch viel, viel mehr verbrannt — nur mit dem einzigen Unterschied, dass die anderen alle versichert hatten.

Jetzt aber wollte ich erst den Wechsel versilbern.

Ich hatte doch auch noch die Kosten für das Ausladen der Kohlen zu bezahlen, fast fünfzehn Pfund.

»Nein«, lächelte der Bankbeamte, »dieser Wechsel ist ganz wertlos. Vielleicht gestern noch, aber heute nicht mehr. Mit dem Stück Papier können Sie sich nur gleich Ihre Pfeife anbrennen.«

Und ich hätte dem Kerl gleich in die grinsende Visage...

Aber es war und blieb Tatsache. Der Händler war während der Nacht über die Schweiz gegangen. Meine Kohlen hatte er natürlich schon wieder verkauft.

Ich ging wieder an Bord.

»Blodwen, das ist eine nette Geschichte — soundso — jetzt sitzen wir ganz auf dem Trockenen.«

Zunächst bekam Blodwen wieder ihre Lachkrämpfe, und ich konnte mir nicht helfen, ich musste immer mit einstimmen.

Dann versetzte ich auf dem Leihhause eine prachtvolle Diamantbrosche, bekam ohne weiteres 100 Pfund vorgestreckt — 1000 hatte sie wohl gekostet. Verloren waren wir also noch nicht, Blodwen hatte noch mehr solches glitzerndes Zeug in ihren Kästchen, aber sonst...

Ich stand wieder an Deck meines Schiffes, hatte die Arme über der Brust verschränkt und stierte hinab ins Wasser, simulierte.

Doktor Selo futsch, meine Million futsch, das schöne Prisengeld futsch, die Rente futsch, die Baumwolle futsch, die Kohlen futsch... eben alles futsch!

Na, go ahead!

— • —

22. Kapitel
Es geht noch viel mehr futsch

Originalseiten I.412 — 435

»Blodwen, ich bitte dich, nun höre endlich auf mit deinem grässlichen Lachen«, sagte ich ärgerlich, musste aber immer wieder selbst mit einstimmen, und zwar aus vollem Herzen, es war kein Galgenhumor dabei. Endlich konnten wir wieder ernst zusammen sprechen.

»Was nun?«

»Ich könnte dir vorschlagen, einen Teil unseres Schatzes vom Meeresgrunde zu heben und die Geschichte noch einmal zu probieren. Wir haben ja noch genug, und immer wird mir doch die Baumwolle nicht verbrennen. Aber nein, lieber nicht. Blodwen, ich bin ein tüchtiger Kapitän. Das sage ich ohne jede Renommage. Zwar habe ich mir direkt als Kapitän noch keinen Namen gemacht, aber wir haben unsere Verbindungen, ich brauchte nur zu irgendeiner Versicherungsgesellschaft zu gehen, sage, dass ich der und der bin, gebe ein paar Referenzen von Kapitänen auf, ich suche für mein Schiff Fracht — pass auf, wie die Handelsherren gelaufen kommen...«

»Nein, nur das nicht, Richard!«, unterbrach mich Blodwen mit erhobenen Händen. »Arbeiten wollen wir — aber nur nicht für fremde Leute!«

Ich verstand sie sofort. Es war eben die Lady Blodwen von Leytenstone.

»Nein, Blodwen, das will ich auch nicht. Doch abgesehen davon, dass ich mich als Geschäftsmann blamiert habe — das war hauptsächlich Pech, never mind — so passe ich auch in anderer Weise nicht zu selbstständigen Geschäften. Ich muss gestehen, dass ich alle diese Geschäfte mit Unlust abschloss, ich war die ganzen Tage gedrückt, es ist ein Widerwillen, den ich gegen solche Schachergeschäfte mit Handelsjuden habe, ich sehnte mich immer...«

»Ich verstehe, ich verstehe, Richard, du sprichst ja mir aus dem Herzen! Aber war es nicht immer dein Wunsch, ein eigenes Schiff zu besitzen, und wolltest du es nicht mit eigener Ladung befrachten?«

»Nein, ich hätte Ladung angenommen. Doch lass dir noch einen anderen Vorschlag machen. Weißt du, was man unter chartern versteht?«

»Mieten.«

»Jawohl, ein Schiff mieten oder vermieten.«

»Wir wollen unser Schiff vermieten?«, fragte sie erschrocken.

»Nein, aber einen sogenannten CharterKapitän engagieren.

Das ist einfach ein Agent oder ein Sekretär, ein richtiger Kaufmann, der alles versteht, also ein Schiffsmakler, der aber immer mit an Bord ist, auch etwas von Seemannschaft verstehen muss, da ihm auch das Verstauen der Ladung überlassen bleibt, und der daher den Namen CharterKapitän führt.«

Ich erklärte ihr weiter, was ich beabsichtigte. Sie hatte mir aufmerksam zugehört. Recht niedergeschlagen saß sie da.

»Dazu muss das Schiff doch versichert werden.«

»Das ist nicht nötig. Im Gegenteil, ein unversichertes Schiff bekommt viel eher Fracht, weil man doch annimmt, dass man mit einem unversicherten Schiffe viel vorsichtiger umgeht.«

»Aber die Fracht muss versichert werden.«

»Ja, du lieber Gott, wenn man nicht wieder einmal eine halbe Million futsch gehen lassen will — freilich.«

Ganz erbärmlich blickte mich Blodwen von unten auf an.

»Richard, weißt du denn nur gar nicht, wie mir bei solchen Vorschlägen zumute ist?«, fragte sie mit weinerlicher Stimme.

Verdammt, ja, ich wusste es! Und sie hatte recht! Wir passten ja alle beide nicht zum Kaufmann. Und wenn ich so viel Geld gehabt hätte, wäre es mir auch niemals eingefallen, Schacher zu treiben. Es gibt doch noch andere nützliche Tätigkeit.

»Na, Blodwen, da will ich dir einen andere Vorschlag machen, der deine Zustimmung wohl finden wird. Mir ist es ja nur darum zu tun, dass wir nicht so ganz und gar planlos wie bisher in der Welt herumkutschieren; denn das ist schrecklich, das halte ich auf die Dauer nicht mehr aus.«

»Nun, was für ein Vorschlag ist das?«

»Wir heben einfach unsern Schatz vom Meeresboden wieder ab, das sind noch immer sieben Millionen, darunter fünf in Bar, die legen wir wie jeder andere vernünftige Mensch verzinslich an, zu vier Prozent, oder, um todsicher zu gehen, zu drei Prozent in Staatspapieren, wir haben also noch immer jährlich allermindestens zehntausend Pfund zu verzehren, und damit kann man solch ein Schiff wie dieses noch immer fein unterhalten.«

»Und nun die Arbeit, ohne die du nicht leben kannst?«

»Wie gesagt, muss es denn immer gerade Schacher sein? Wenn ich's nicht nötig habe, tue ich's auch nicht. Wir können der Menschheit auch in anderer Weise nützliche Dienste leisten.«

Und ich zählte sie auf. Forschungsexpeditionen. Das brauchten nicht gerade wissenschaftliche zu sein. Vergangenes Jahr hatte ein englisches Kriegsschiff den Polynesischen Archipel untersucht und gleich auf drei Koralleninseln Niederlassungen von Weißen gefunden, die sich ganz selbstständig entwickelt hatten. Es waren entweder Schiffbrüchige gewesen oder Missionare mit ihren Familien, die nun ein Robinsonleben führten, aber wie Robinson Crusoe durchaus keine Lust hatten, ihre Eilande mit allem, was sie darauf aus eigener Kraft geschaffen, wieder zu verlassen.

Reizend war die Schilderung der patriarchalischen Verhältnisse auf diesen Inseln gewesen. Immer wieder eine neue Robinsonade, jede Kolonie hatte sich immer wieder ganz anders entwickelt.

Das hatte Anregung zu einer literarischen Debatte gegeben, zahllose Briefe von Kapitänen liefen ein, auch sie konnten von solchen Robinsons erzählen, die sich mit Schwarz oder Braun vermischt und ein selbstständiges Volk geliefert hatten — kurz, in der Welt gibt es so viele einsame Inseln mit Robinsons, wie wir uns gar nicht träumen lassen, nicht einmal die phantastischen Jugendschriftsteller — und ein Geschichtsprofessor hatte darauf hingewiesen, dass es eine ernste Aufgabe sei, alle diese Inseln aufzustöbern, zu untersuchen, mit Forscheraugen die Entwicklung der Insulaner rückwärts zu verfolgen und zu beschreiben — das sei etwas ganz anderes, als die Weltgeschichte oder die Entwicklung der Menschheit aus Büchern zu studieren, die nur von Theorien diktiert sind...

»Siehst du, Blodwen, das wäre so eine Aufgabe für uns! Wir können ja auch exakte Gelehrte an Bord nehmen, als Gäste, wir können sie besolden, wir geben Bücher heraus, und dann wird es dereinst heißen: die berühmte Forschungsreisende Lady Blodwen von Leytenstone...«

Ich konnte nicht weiter sprechen, weil sie mir jubelnd um den Hals gefallen war.

Ja, das war so etwas für Blodwen! Ich Esel hätte überhaupt eher darauf kommen können. Dann hätte ich jetzt noch meine 37 000 Pfund Sterling gehabt, auch noch meine 400 Tonnen Kohlen, die wir gerade recht gut brauchen konnten...

»Reichen die hundert Tonnen noch, um im Notfall zu dampfen?«

»Die reichen sogar noch, um alle sieben Stellen aufzusuchen und auch wieder hierher dampfen zu können, wenn das nötig wäre.«

»Und Proviant?«

»Noch massenhaft vorhanden. Auch Trinkwasser brauchen wir noch nicht einzunehmen.«

»Dann vorwärts, vorwärts!!«, jubelte Blodwen mit lachendem Munde. »Gott, bin ich glücklich, dass die Baumwolle verbrannt ist — bin ich glücklich!!«

Es sollten denn auch sofort die Anker gelichtet werden. Ein ganz neues Leben war in uns alle gekommen; denn die Kunde von unserem neuen Vorhaben hatte sich schnell durch die Offiziere, die ich einweihte, unter der ganzen Mannschaft verbreitet.

Hierdurch erfuhr ich auch etwas, was auf mich einen tiefen, einen gewaltigen Eindruck machte.

Ich hatte damals gesagt, die Bootsruderer hätten, als ich das erste Mal an Land ruderte, recht finstere Gesichter gemacht. Jetzt erfuhr ich den Grund davon.

An Bord meines Schiffes war eine Rebellion ausgebrochen; allerdings keine strafbare. Auch meine Leute hatten das Verhalten Blodwens, obgleich sie nicht von ihr kujoniert worden waren, satt gehabt. Etwas dazu angetrieben, gestand mir der erste Offizier ganz offen, dass sie nicht mehr unter meinem Kommando fahren wollten, ihnen behagte dieses Weiberkommando nicht mehr, usw.

Das hatten sie mir sofort in Kapstadt vortragen, ihre Abmusterung verlangen wollen. Es hatte sich nur verzögert, weil einige darunter waren, die mich als Freunde nicht so ohne weiteres verlassen wollten, man wollte mir erst Vorstellungen machen, dass doch auch ich dieses Weiberschiff verlasse.

Da kam der Brand dazwischen, die Leute sahen, wie wir eins nach dem anderen verloren, sogar dieser gottverd... Schiffsarzt — einen Verräter, solch einen Halunken an Bord gehabt — und dann musste ich meine eigenen Leute anpumpen — kurz und gut, wie ausgeblasen war alles — und nun kam ja auch noch dazu, dass sich Blodwen, obgleich in ihrer Hoffnung so furchtbar getäuscht, plötzlich von ihrer besten Seite zeigte.

Versteht der Leser, warum mich das so mächtig ergriff? Nicht allein, weil ich die Treue dieser Burschen erkannte. Sie waren ja schwankend geworden.

Aber das diente zu meiner eigenen Rechtfertigung. Alles, was ich mir vorgenommen, war plötzlich über den Haufen geworfen worden — und bei mehr als dreißig Männern, die durch nichts an dieses eigensinnige Weib gebunden waren, darunter rohe Patrone, darunter Kerls von Stahl und Stein, die sonst auf nichts Rücksicht nahmen, ebenfalls!

Wenn also auf dreißig solche Männer der Zauber der Umwandlung gewirkt hatte, dann hatte wohl auch ich einzelner Mensch, dem dieses verlassene und verfolgte Weib so nahe ging, ihm unterliegen müssen.

Dies nur zu meiner Rechtfertigung.

Ich hatte noch etwas an Land zu tun. Was ich eigentlich vorhatte, sagte ich Blodwen gar nicht. Jetzt musste das Schiff unbedingt versichert werden.

Die Versicherung eines Schiffes wird gewöhnlich von Fall zu Fall vorgenommen, d. h. für jede Reise. Und dann darf man natürlich keine Abstecher machen; denn passiert etwas, und man kann sich nicht verantworten, dann ist die Versicherung hinfällig.

Doch auch anders kann versichert werden, für eine bestimmte Zeit, auf Jahre hinaus, ganz gleichgültig, was man unternimmt. Es werden ja sogar die Schiffe für Nordpolexpeditionen versichert. Nur Kriegsschiffe und Kaper sind ausgeschlossen. Natürlich kostet das einen Haufen Geld zu höchsten Prozenten.

So viel besaß ich nicht. Nicht daran zu denken. Doch das lässt sich anders arrangieren. Die Versicherungsprämie wird als Hypothek auf das Schiff, vorausgesetzt, dass dieses noch nicht zu hoch belastet ist, eingetragen, braucht nur noch verzinst zu werden.

Über Summen will ich hier gar nicht sprechen, denn aus alledem sollte nichts werden.

Ich begab mich zu einer ersten Versicherungsgesellschaft, trug mein Anliegen vor. Mit der gewohnten Schnelligkeit, die im Schiffswesen herrscht, konnte dies alles in einer halben Stunde geregelt sein. Da bekam ich zu hören, wie es mit uns stand!

»Nicht wahr, an Bord der ›Sturmbraut‹ befindet sich die Lady von Leytenstone?«, fragte der Direktor.«

»Jawohl«, stutzte ich.

»Bedaure, ich kann Ihr Schiff nicht versichern.«

»Weshalb denn nicht?«

»Weil...«

Der Direktor begnügte sich, die Achseln zu heben.

Also so stand es mit mir! Jetzt konnte ich in der ganzen Welt herumlaufen, nirgends mehr würde ich mein Schiff versichert bekommen. Denn diese Seeversicherungen sind doch international, arbeiten alle Hand in Hand. Und dadurch würde ich natürlich auch keine Fracht mehr bekommen — nicht deshalb, weil mein Schiff nicht versichert war — (dass dies gar nichts mit der Befrachtung zu tun hat, wurde schon früher gesagt) — sondern deshalb, weil der Kapitän, dessen Schiff man nicht für versicherungswürdig hält, doch natürlich auch von allen Maklern boykottiert wird.

Wem ich das zu verdanken hatte, war ja ganz klar. Das ging alles von London, von jenem Konsortium aus. Die Lady Blodwen sollte unmöglich gemacht werden. Ich brauchte sie nur von Bord zu jagen, dann war meine Ehre wiederhergestellt.

Na, dass ich nicht an so etwas dachte, brauche ich wohl nicht erst zu sagen. Ich ärgerte mich überhaupt sehr wenig über diese ganze Geschichte. Im Gegenteil, als ich so wieder nach dem Hafen bummelte, überkam mich die vergnügteste Stimmung.

Recht so! So hatte es kommen müssen! Jetzt wurde va banque gespielt! Aber mit sieben Millionen! Und die wollen auf diese Weise doch erst vermöbelt sein, da konnten wir gut ein halbes Dutzend mal hintereinander Schiffbruch leiden, da konnten wir uns immer wieder ein neues kaufen, und immer noch tun, was uns beliebte.

Ha, die konnten doch nicht an uns tippen!!

Um Blodwen nicht erst aufzuregen, sagte ich ihr gar nichts davon, ich hatte ihr ja schon mein Vorhaben verschwiegen gehabt, und was kümmerte die sich überhaupt um Versicherung und dergleichen.

Sonst habe ich nur noch zu sagen, dass die Polizei von Doktor Selo noch keine Spur gefunden hatte, und ebenso wenig war mir über Monrovia etwas gemeldet worden, dass in einem Hafen oder von einem Schiff auf offener See ein kleiner Dampfer beobachtet worden wäre, der ein holländisches Wrack geschleppt hätte.

Sehr traurig, sehr rätselhaft — aber im Grunde genommen mir alles äußerst schnuppe. — —

Mit vollen Segeln ging es in die See, um von sieben verschiedenen Stellen das ganze Geld und den versenkten Schmuck wieder zu heben. Es war eine ganz unnütze Arbeit, die wir uns gemacht hatten — immerhin, es war ein Ziel, das wir jetzt vor Augen hatten, das war an sich schon etwas wert.

Zu einer magnetelektrischen Maschine, wie ich beabsichtigt, um die Kassetten von Bord aus zu heben, war ich noch nicht gekommen, hatte dagegen zwei vollkommene Taucherapparate mit allem, was dazu gehört, gleich in London mitgenommen.

Die nächste Stelle, wo wir in vierzig Kassetten etwa 50 000 Pfund Sterling — wir hatten ja niemals gezählt, immer nur so hineingeschaufelt — versenkt hatten, lag ungefähr auf dem Kreuzungspunkte des südlichen Wendekreises und des zweiten Grades östlicher Länge, in drei Tagen bequem zu erreichen.

Bis dahin wurden viele Zukunftspläne geschmiedet.

Die Erforschung der Robinsoninseln trat etwas in den Hintergrund zurück. Da diese alle im polynesischen Archipel gefunden worden waren, dachten wir wieder an den Vogelberg und beschlossen, erst einmal diesen zu ergründen; denn ein Geheimnis war mit dem verbunden, der musste mit jenem geheimnisvollen Kapitän zusammenhängen, das hatte damals der Schreck des unbekannten Mannes gar zu deutlich verraten.

Außerdem kam Blodwen jetzt auf den Gedanken, sich selber auf so einer Insel als Robinson zu etablieren, dort eine Kolonie zu gründen.

Geht das? Gibt es noch unbewohnte Inseln, auf denen man sich ernähren kann, wo man auch in Ruhe gelassen wird?

Nu allemal! Die Welt sieht ja überhaupt ganz anders aus, als wie der Schulmeister den Jungen erzählt, damit sie nicht durchbrennen — — oder weil er's selber nicht anders weiß.

Kommt nur mal hin nach dem Stillen Ozean, in die Region dieser Inselgruppen! Ich war selber noch nicht dort gewesen, aber ich konnte es mir vorstellen, schon die Seekarten erzählten mir davon.

Wie viele solcher Inseln und Inselchen gibt es denn im Stillen Ozean?

Tausend? Oder zehntausend? Oder hunderttausend? Das kann vorläufig ein Mensch noch nicht einmal abschätzen! Man betrachte sich nur einmal die großen, speziellen Seekarten. Was für Punkte da zusammengequetscht sind! Und dann diese vielen Fragezeichen! Unbekannt, alles unbekannt! Da muss erst noch der Kolumbus kommen, hundert Kolumbusse!

Da nun die Möglichkeit gegeben war, baute Blodwen auf derselben auch gleich weiter, gründete auf der Insel ein Königreich, ein ganzes Inselreich, spickte es mit Kanonen, und so weiter.

Ich ließ sie phantasieren, phantasierte sogar mit. Mich freute es ja nur, dass sie wieder solche Tatkraft zeigte, wenn auch nur in der Phantasie.

Hierbei machte ich eine eigentümliche Beobachtung. Im Vollbesitz ihres Geldes hatte sie alles kaufen können, was auf der Welt nur käuflich ist. Aber da hatte ihr nichts Freude gemacht.

Jetzt rechnete sie in ihren Plänen schon immer mit viel Mühe und Arbeit, mit Misslingen, mit Geldschwierigkeiten, die zu besiegen waren, wie alles am billigsten zu beschaffen, und darin war sie glücklich.

Es ist eben die alte Geschichte. Das sieht man ja schon beim kleinen Kinde. Kauft dem Kinde das kostbarste Spielzeug, Puppen mit seidenen Kleidern, mechanische Spielwerke, an denen man nur zu leiern braucht, und sie führen ein ganzes Theater auf — es wird bald alles überdrüssig beiseite werfen. Aber gebt dem Jungen ein paar Bretter, Messer, Hammer usw., und er wird nie müde werden, sich eigenes Spielzeug herzustellen, und schneidet er sich einmal in den Finger und pocht sich auf den Nagel, das gehört mit zum Vergnügen.

Außerdem bereiteten wir uns während dieser drei Tage schon persönlich vor, um die Kassetten vom Meeresboden zu holen.

Es gab an Bord nur einen Mann, der schon getaucht hatte, ein Heizer, früher Werftschlosser, der war unser Instrukteur.

Gleich im Meere zu tauchen, das ging natürlich nicht während der Fahrt. Eine große mit Wasser gefüllte Tonne musste einstweilen den Ozean vertreten. August, pump Luft, hieß es, und auch ich legte zum ersten Male in meinem Leben ein Taucherkostüm an, ließ mich gürten und wappnen, die schweren Bleisohlen an die Füße, den Helm über den Kopf, und ich stieg in den Ozean — — in das Heringsfass wollt' ich sagen.

Nun, ich fühlte mich ganz mollig in der Tonne. Es war gerade ein recht heißer Tag. Nachdem ich so als Unterseetaucher in der Heringstonne fix und fertig ausgebildet war, ließ ich noch andere hineinklettern — ich besaß zwei verschiedene Kostüme, ein großes und eines für kleinere Personen — August pumpte immer brav Luft, und dann konnte sich auch Blodwen nicht enthalten, sich als gepanzerte Wassernixe zu versuchen.

»Aber das Pumpen nicht vergessen«, sagte sie, ehe man ihr den Helm aufschraubte, »ja nicht das Pump...«

Da war sie sprachlos geworden, wenigstens hörte man sie nicht mehr, oder sie hätte sehr laut schreien müssen.

Nun, sie watschelte nach der Tonne hin, kam mit den Bleisohlen kaum die Leiter hinauf, und dann wollte sie gar nicht wieder heraus.

»Ich hatte mir das Tauchen viel schwerer vorgestellt«, sagte sie, als ihr der Helm wieder abgeschraubt worden war, »da ist doch gar nichts weiter dabei.«

Jawohl!

Dann muss ich noch eines besonderen Taucherlehrlings in der Heringstonne gedenken.

In jeder Gesellschaft gibt es einen Spaßvogel und einen Hansnarren. Das muss wohl in der Welt ein eisernes Gesetz sein. Der letztere war an Bord meines Schiffes Fritz, ein tüchtiger Matrose, zugleich von einer fabelhaften Handfertigkeit, der aus einem abgelegten Seestiefel sowohl ein paar elegante Handschuhe wie einen weichen Filzhut zu machen wusste — — sonst aber etwas sehr dämlich.

Die Tonne war mit Wasser gefüllt. Während sich Fritz vorbereitete, wurde schnell unten der Pfropfen herausgezogen, das ganze Wasser lief aus.

So, Fritz war gewappnet. Er steigt langsam die Leiter hinauf, taucht erst vorsichtig den einen Fuß Mein, hält sich am Rande fest, lässt sich langsam hineingleiten, fängt an, in dem vermeintlichen Wasser zu plätschern.

Tatsache! Er merkte nicht, dass er gar nicht im Wasser war. Er klabusterte immer so mit den Händen herum, als wolle er das Wasser bewegen; wir warfen Eisenstückchen hinein, die suchte er unten zusammen, wollte Holzspäne steigen lassen, schüttelte seinen kupfernen Nischel , dass die Späne nicht stiegen, plätscherte wieder — dann gab er das Signal, ihn aufzuziehen.

Während man ihn langsam auskleidete, wurde hinter seinem Rücken schnell die Tonne wieder mit Wasser gefüllt.

»Das ist ja komisch«, meinte er dann, »wenn man in so einem Gummianzuge steckt und so einen Kupperhelm aufhat, da fühlt sich das Wasser ganz anders an, nicht einmal das Holz will dann schwimmen. Das kommt wahrscheinlich daher, weil man in dem Helme nischt hören tut.«

Na, wir lachten, dass unsere Schädel zu platzen drohten.

Aber uns sollte das Lachen bald vergehen.

Am dritten Tage erreichten wir die betreffende Stelle, die uns am nächsten lag. Die See war fast ruhig. Nach einer nochmaligen genauen Berechnung brauchte ich das Schiff nur noch wenig weiter zu dirigieren, dann ließ ich die Anker fallen, welche bei dreizehn Meter Tiefe Grund finden mussten und auch fanden.

Wir lagen genau über der Stelle, wo ich vor acht Tagen die letzten vierzig Kassetten versenkt hatte, oder noch ein ganz klein wenig seitwärts davon an, der in der Nähe des Mittelmastes über die Bordwand gleitende Taucher musste direkt auf die Kassetten kommen, so genau konnte ich die Stelle bestimmen.

Ein Schiff war nicht in Sicht, jetzt brauchten wir auch keinen Beobachter zu fürchten. Ob meine Mannschaft etwas davon wusste, kann ich nicht sagen. Möglich war es, besonders nach diesen Vorbereitungen. Die Matrosen hatten in London doch die Goldsäcke von der Bank geholt, dann die Kassetten, dann konnten wir in Kapstadt nicht mehr bezahlen — — wenn sie beim Versenken noch nichts bemerkt, so mussten sie doch jetzt, nach den vorausgegangenen Tauchversuchen etwas ahnen.

Nun, mochten sie denken, was sie wollten! Ich als Kapitän konnte sie gar nicht so erzählend einweihen, hätte dazu die Vermittlung eines Offiziers gebraucht — ich tat es nicht, sie würden ja alles gleich selbst sehen.

»Klar zum Tauchen!«

Das Pumpwerk ward gebracht, alles, ich legte das Kostüm an.

»Richard, willst du nicht erst den Karl hinuntergehen lassen, der hat doch schon früher getaucht?«, fragte Blodwen ängstlich.

»Und ich wohl nicht?«, scherzte ich und schraubte den Helm fest.

Wenn es sich um eine wirkliche Gefahr gehandelt hätte, konnte ich doch erst recht nicht einen meiner Leute schicken.

Ich stieg das besonders starke Fallreep, eine Art von Strickleiter, aber mit hölzernen Sprossen, hinab, ließ mich ins Wasser gleiten, ich sank hinab.

Wenn ich leugnen wollte, dass mir etwas bänglich zumute war, so wäre ich ein Renommist. Nein, mein Herz klopfte ganz gewaltig. Und immer mehr begann es zu klopfen. Und immer düsterer ward es um mich herum,

1 Mitteldeutsche Bezeichnung für »Kopf« obgleich die am Gürtel befestigte Petroleumlampe mit Reflexspiegel brannte, die durch einen vom Helm ausgehenden Schlauch mit Luft gespeist wurde. Und das Blut stieg mir zu Kopf. Und dann begann es in den Ohren zu sausen und zu brausen.

Von diesem Ohrensausen hatte ich schon oft gehört, auch Karl hatte es geschildert, das sei das Allerschlimmste für den Anfänger, bis man sich daran gewöhnt habe. Dann merke man gar nichts mehr davon.

Na, vorläufig merkte ich noch genug davon. Ein scheußliches Sausen und Brausen in den Ohren! Und das ward immer schlimmer. Der ganze Niagara sang in meinen Ohren. Ja, war ich denn noch nicht bald unten? Immer tiefer und tiefer ging es, immer furchtbarer ward das Ohrensausen, welches alles andere unangenehme Gefühl, durch den zunehmenden Druck erzeugt, vergessen ließ.

Donnerwetter, ich musste doch wenigstens schon hundert Meter tief... na, ich wollte nicht übertreiben, tiefer als vierzig Meter ist überhaupt noch kein Taucher gekommen, bei fünfzig Meter ist einer einmal plattgedrückt worden, und die Lotung damals hatte doch nur dreizehn Meter Tiefe angegeben, das hatten vorhin auch die Ankerketten ange...

Da kam mir ein schrecklicher Gedanke.

Herrgott, wenn sich hier im Meeresboden ein Loch befand, und ich gerade in dieses...

Ein kalter Schauer rieselte mir den schweißbedeckten Rücken herab, und nun aber schleunigst an der Signalleine geruckt und Luft angesammelt, um dem Emporziehen nachzuhelfen.

Hinauf ging es seltsamerweise viel fixer als hinunter, und ich kann nur sagen, dass ich trotz meiner schweren Bleisohlen wie ein Wieselchen das Fallreep hinaufkletterte, um nur erst wieder den verdammten Helm vom Kopfe zu bekommen.

»Sie können doch noch nicht unten gewesen sein, Herr Kapitän?«, sagte der das Pumpwerk und alles beobachtende Karl, der schon früher getaucht hatte.

»Nee«, entgegnete ich, tief die sonnige Lust einatmend, obgleich diese durchaus nicht besser war als die, welche mir zugepumpt worden, »nee, Grund habe ich nicht erreicht.«

»Drum!«

»Was drum? Wie tief bin ich denn gekommen?«

»Elf Meter.«

Erst wollte ich es gar nicht glauben. Dann musste ich es wohl, auf eine größere Länge war die Leine gar nicht nass geworden. Ich war nicht wenig verdutzt, und auch etwas Scham beschlich mich.

»Sie haben wirklich noch gar nicht getaucht?«, fragte da der Schlosser.

»Noch niemals.«

»Dann sollte man's kaum glauben.«

»Was nicht glauben?«

»Ich habe noch keinen Menschen gesehen, der das ausgehalten hat, gleich beim ersten Male elf Meter zu tauchen. Die meisten haben schon bei drei Meter genug.«

Ja, der Mann hatte recht. Erst später, als ich mich mehr mit der Taucherei beschäftigte, andere darin ausbildete, erkannte ich, was ich damals geleistet hatte.

Soll man nur einmal beim ersten Male drei Meter tief tauchen! Im Taucherhelm ist das nämlich etwas ganz anderes, als so in natura, ohne Apparat. Da hat man auch nicht das schreckliche Ohrensausen. Ja, kommt nur hin! Umsonst bekommt doch ein mittelmäßiger Taucher nicht vierzig Mark die Stunde, für jede weitere Minute eine Mark und noch mehr. Schon der Rekrut in der Marine, der zum Taucher ausgebildet wird, erhält für die Minute zwanzig Pfennige, und da hat er noch nichts zu leisten, hat unten nur Steine aufzulesen — oder die Bibel zu lesen, wie es dort heißt. Berühmte Taucher, und da kann man wirklich von Weltberühmtheit sprechen, denn solch ein Mann wird doch von Amerika nach Australien geholt, um ein Wrack zu untersuchen — taucht nicht unter hundert Mark pro Stunde. Der Hamburger Taucher Flint, den ich noch kennen lernte, bekam für die Minute unter normalen Verhältnissen drei Mark. Natürlich weiß man, dass sich solche Männer unten nicht untätig hinsetzen. Davon ist ja überhaupt gar keine Rede, da macht jeder so schnell wie möglich, dass er wieder ans Licht der Sonne kommt.

Kurz, die aufrichtige Versicherung dieses gelernten Tauchers hatte mir die Überzeugung gegeben, dass ich kein Schwächling und Feigling gewesen war, und später sah ich das noch viel mehr ein.

»Lassen Sie mich zuerst hinuntergehen«, sagte er, »oder mit Ihnen, das Pumpwerk bedarf ja weiter keiner Aufsicht...«

Nein, da gab es aber bei mir nun nichts! Nur noch zwei Meter hatten bei mir gefehlt, hätte ich den Blendstrahl nach unten gesenkt, hätte ich den Boden, die Kassetten schon sehen müssen.

Vergebens beschwor Blodwen mich — ich ließ den Helm wieder festschrauben, zum zweiten Male ging es hinab. Und ich erreichte den Boden. Und mit einem Male merkte ich gar nichts mehr von dem Ohrensausen. Nämlich deshalb nicht, weil ich auch nichts von Kassetten bemerkte.

An die Dunkelheit hatte ich mich nun schon gewöhnt, oder vielmehr war der Blendstrahl für mich jetzt schon sehr hell geworden. Auf fünf Meter Entfernung konnte ich in grünlichem Scheine alles deutlich erkennen.

Ich sah nebenan felsigen Grund, fast ganz glatt, nur mit einer Schicht kleiner Muscheln bedeckt — aber von Kassetten keine Spur, wie ich den Blendstrahl auch herumwandern ließ.

Wo lagen denn die? Ich hatte sie beim Versenken absichtlich etwas durch Werfen verstreut, dass sie nicht alle direkt auf einem Haufen zu liegen kommen sollten. Und wenn ich mich drehte, so konnte ich doch einen Kreis von zehn Meter Durchmesser überblicken, das ist doch schon ein ganz hübsches Terrain. Und meine geografische Berechnung, bis auf eine Zehntelsekunde gemacht, bestimmte nur wenige Quadratmeter!

Die einzige Möglichkeit, an die ich im Augenblick dachte, war die, dass hier unten eine Strömung herrschte, welche die Kassetten oder jetzt mich seitwärts getrieben hatte.

Doch nein, diesen Gedanken musste ich gleich wieder verwerfen. Jetzt herrschte hier keine Strömung, das konnte ich doch beurteilen, ich brauchte ja nur eine Muschel aufzuheben und sinken zu lassen, und ich war fest überzeugt, dass auch damals hier unten keine Strömung gewesen war, und solch eine Kassette, fast dreißig Pfund wiegend, kann doch auch gar nicht so weit fortgetrieben werden.

Ich ging noch eine Weile hin und her, wie eine Ballerina bei jedem Schritte in die Höhe hüpfend, unter dem Schiff hinweg, leuchtete — nichts!

Dann gab ich das Zeichen zum Emporziehen. Ich war einfach ganz perplex, auch noch, als ich an Deck den Helm losschraubte.

Ich erzählte von meinem negativen Resultat. So bekam die Mannschaft gleich zu hören, um was es sich handelte.

»Du hast dich einfach damals in der Berechnung geirrt!«, rief Blodwen sofort.

Das war ja auch die einfachste Lösung des Rätsels. Nur nicht für mich. Nur an das wollte ich nicht glauben.

Was die Richtigkeit der mathematischen Berechnung betraf, so konnte ich die ja gleich nachprüfen. Ich machte sie stets in einer besonderen Kladde.

Ich rechnete also nach — die Berechnung stimmte, sollte sie auch nicht! Ich hatte dieselbe Berechnung zweimal mit Prüfung gemacht, hatte es sich doch um eine Bestimmung gehandelt, wo sich der Punkt bei einer falschen Dezimalstelle um hunderte von Metern, um Meilen verschieben kann!

Nun aber konnte auch noch ein anderer Fehler vorliegen. Nämlich ein instrumentaler, aus Sextant oder Uhrzeit, dass ich also die Höhe der Sonne falsch bestimmt hätte. Aber hätte ich genau denselben Fehler wirklich zweimal begehen sollen? Außerdem war das auch jetzt noch nachzurechnen.

Es wäre doch schlimm, könnte der Astronom respektive der Seemann nicht jederzeit bestimmen, wo vor einigen Wochen zu einer gewissen Sekunde die Sonne am Himmel gestanden hat!

Um ganz sicher zu gehen, ließ ich gleichzeitig mit mir den ersten und zweiten Steuermann solch eine rückbezügliche Sonnenaufnahme machen, jeder einzeln für sich. Wer es nicht gekonnt, den hätte ich sofort zum Teufel gejagt.

Die Berechnung stimmte! Und auf die sekundale Richtigkeit meines Chronometers, den ich in Kapstadt nicht um die Zehntelsekunde hatte zu justieren brauchen, schwor ich — also hier auf diesem Punkte, auf den ich jetzt mit dem Finger deutete, hatte ich heute vor neun Tagen die vierzig Kassetten versenkt!!

Ich ging noch einmal hinunter, diesmal aber doch Karl mitnehmend. Dachte ich, er könnte mehr sehen als ich? Ja, ich begann an Wunder zu glauben, ich war ganz verstört.

»Dampf auf!!«, war mein nächstes Kommando, als ich wieder oben war.

»Ja aber, Richard!«, wollte Blodwen beginnen.

»Ich bitte dich, Blodwen, sprich gar nicht!! Ergehe dich nicht in Vermutungen!«

Und die nächsten zwei Tage habe ich tatsächlich kein Wort gesprochen — wenigstens nichts, was nicht das Schiff betraf.

Ich war eben vollständig perplex geworden, konnte mich gar nicht wieder erholen. Soll einmal ein Geschäftsmann sein Hauptbuch, das er im sicheren Verschluss bewahrt, eines Morgens aufschlagen, um er findet da ganz andere Zahlen eingetragen; am von seiner Hand geschrieben. Was würde der Mann sagen? Was würde er denken? Würde er nicht an seinem Verstande zweifeln? Das ist ein Gleichnis. So war auch mir zumute. Wie betäubt! Sonne, steh still, Mond, bewege dich nicht — ich zweifelte an nichts mehr.

Glücklicherweise konnte sich Blodwen in meine Lage versetzen, sie verstand, sie nahm mir mein sonderbares, grillenhaftes Wesen nicht übel.

Am zweiten Tage machte ich eine neue Berechnung. Es stimmte, hier auf diesem Punkte hatte ich vor vierzehn Tagen die vorletzten vierzig Kassetten versenkt, in einer Tiefe von nur acht Metern, das eingefettete Lot hatte Pflanzenteile mit heraufgebracht.

Ich tauchte hinab, ebener Felsboden, mit Seemoos bewachsen, und sonst — wieder nichts! Keine Kassetten!

»Um Gottes willen, Richard«, flüsterte Blodwen mit ganz bleichem Gesicht, als ich es ihr mit kurzen Worten meldete, »wenn uns das Geld gestohlen...«

»Gestohlen? Von wem denn?«, fuhr ich empor.

Weiter gedampft, dem dritten Punkte zu, an dem ich Kididimos Schmuck versenkt hatte, wenigstens die Hälfte davon.

Ich war dem Wahnsinn nahe. Weshalb, das kann ich nicht erklären. Das kann jemand nur mitfühlen.

Am anderen Tage warfen wir zum dritten Male Anker, ich hatte zweiundzwanzig Meter tief zu tauchen, und das Lot hatte damals sandigen Boden angezeigt, doch der Sand konnte nicht tief sein. Ich schwebte hinab, tief, immer tiefer. Diesmal aber merkte ich nichts von Ohrensausen.

Den Blendstrahl nach unten gerichtet, sank ich — und da tauchte der weiße Boden auf — wieder nichts — kein Gold, kein Edelstein leuchtete mir entgegen, wohl aber...

Himmel, was war denn das?! Ich traute meinen Augen nicht! Vor mir war schon ein anderer Taucher hier gewesen! Scharf und deutlich hatte sich in den feinen Sand eine ovale Spur eingegraben — das war nichts anderes als die Bleisohle eines Tauchers!

Die Spur, welche so tief unter der Wasserfläche nicht wieder zerstört, nicht weggespült werden konnte, lief hin und her und kreuz und quer — der Besitzer dieser Bleisohlen hatte schon vor mir die Ketten und die Ringe des Aschantihäuptlings aufgesammelt — nur einen kleinen Fingerring hatte er übersehen — ich hob ihn auf, brachte ihn an das Helmfenster...


Illustration

Gerechter Gott, wie ward mir da, als ich diesen schmalen Goldreifen, in den ein blauer Saphir gefasst war, näher betrachtete!

Mit der größten Schnelligkeit ward ich emporgezogen, dort oben glaubte man, mir sei ein Unglück zugestoßen, so hatte ich an der Signalleine gerissen,

»Na, endlich, diesmal hast du es gefunden!«, sagte Blodwen, als ich den Helm losgeschraubt hatte.

Weshalb sie zu diesem Glauben kam? Weil ich im ganzen Gesichte lachte, vor strahlendem Jubel.

»Nein, ganz im Gegenteil — da unten ist wiederum nichts — nur dieser Ring — kennst du diesen Ring, Blodwen?«

Immer größer wurden Blodwens Augen, als sie den Ring betrachtete.

»Ja — wie ist mir denn — hat so einen Ring — so einen blauen Saphir — nicht Doktor Selo getragen?«

»Natürlich«, sagte ich vergnügt. »Doktor Selo hat gewusst — alles — auch hier ist er uns zuvorgekommen — hier in dem weichen Sande hat er seine Spuren hinterlassen — und unabsichtlich auch seine Visitenkarte in Gestalt dieses Ringes, der ihm vom Finger gefallen ist.«

Versteht der geneigte Leser, weshalb ich plötzlich so vergnügt war? Und das war nicht etwa Galgenhumor. Nein, diese Lustigkeit war ungekünstelt. Weil ich jetzt Gewissheit hatte! Ich hatte mich nicht verrechnet, die Sonne ging keine falsche Bahn, noch konnte man sich auf die ewigen Himmelsgestirne verlassen — und unter den Menschen hat es ja immer genug Schufte gegeben, da war also gar nichts weiter dabei, dass uns der Schiffsarzt betrogen hatte.

Als ich erkannte, dass ich einfach von einem Menschen bestohlen worden war, da war der fürchterliche Bann von mir genommen, da kam mein sonst so sorgloser Charakter wieder voll zum Durchbruch.

Lange konnte diese lustige Stimmung natürlich nicht anhalten. Als Blodwen von meiner Entdeckung hörte, als sie begriff, da schloss sie die Augen, ihre Füße konnten sie nicht mehr tragen, und ich selbst sagte einige Flüche her, von denen ich hier keinen einzigen wiederholen will.

O, was an diesem Tage an Bord meines Schiffes auf den krummnasigen Selo geflucht wurde, von der ganzen Mannschaft — der zehnte Teil dieser Last von Flüchen hätte genügt, um ihn tot zu quetschen.

Woher konnte Selo das Geheimnis erfahren haben? Nun, so unerklärlich war das nicht. Dass wir etwas Geheimes trieben, wenn wir das Schiff so manchmal vor Anker gehen ließen, das musste jeder geahnt haben, und der Schiffsarzt konnte wohl fähig gewesen sein, die Berechnungen nachzumachen. Außerdem hatte ich zuerst die notierten Bestimmungen auf der Brust getragen, Blodwen bis zuletzt, wir waren sehr sorglose Naturen, hatten auch manchmal darüber gesprochen... überhaupt hatte das jetzt gar keinen Zweck, das Wie und Warum zu erwägen, sondern jetzt handelte es sich darum, noch zu retten, was noch zu retten war.

Es musste angenommen werden, dass Selo einen Dampfer gemietet hatte — mit dem mir gestohlenen Gelde! — und dass er das Aufsuchen unserer unterseeischen Schatzkammern von Süden aus begonnen hatte. Und das war doch vor gar nicht so langer Zeit passiert. Vielleicht war er noch nicht bei der ersten Versenkungsstelle angelangt.

Also mit Volldampf voraus!! Nicht weniger als neun Tage haben wir ununterbrochen gedampft. Dann verschwand ich unter Wasser und... wieder nichts!

Ja, nun stand es faul. Dann hatte dieser saubere Schiffsarzt doch gewiss schon die ihm näherliegenden Geldschränke ausgeräumt, wenn er sogar hier schon gewesen war.

Ich hatte Lust, mich gar nicht mehr darum zu kümmern. Aber der Pflicht musste doch genügt werden. Es handelte sich um Millionen, um unsere Existenz — wenigstens als freie Seefahrer. Und vielleicht konnte Selo ja doch eine Versenkungsstelle übersprungen haben, und zuletzt hatten wir doch jedes Mal rund 50 000 Pfund Sterling versenkt, das nennt man auch eine Million, und das ist doch gewiss, wie Karlemann sagte, ein hübscher Feng Geld.

Ja, Karlemann, Karlemann, du Knirps warst schlauer als wir! Es gab mir wirklich viel zu denken.

Kurz und gut, es waren noch fünf Stellen aufzusuchen, ich tat es, wozu wir gute zwei Wochen brauchten, unsere ganzen Kohlen verdampften — zwecklos!

So, nun waren wir fertig. Kein Geld, keine Kohlen, keinen Proviant, kein Trinkwasser, kein... ich weiß gar nicht mehr, was uns alles noch fehlte.

— • —

23. Kapitel
Gegenüber dem Nichts

Originalseiten I.435 — 441

»So, Blodwen, nun weißt du, wie es mit uns steht. Mit der Freiherrlichkeit zur See ist es vorbei.« Als ich das der Blodwen in der Kajüte ganz sachgemäß auseinandergesetzt habe, und ich fürchtete schon einen Ausbruch der Verzweiflung, da kriegt dieses Teufelsweib wieder einen Lachkrampf. Und zwar einen ganz natürlichen. Faktisch, es war die herzlichste Heiterkeit, die aus diesem Lachen sprach, als hätte ich einen famosen Witz gemacht.

»Aber Blodwen, ich bitte dich, ist unsere Lage denn nicht furchtbar ernst? Die paar Groschen, die wir noch haben, schulden wir der Mannschaft — wir können jetzt nicht einmal einen Hafen anlaufen, das kostet Ankergeld, das Trinkwasser kostet Geld, heute Mittag gibt's die letzten Linsen — ist das nicht furchtbar ernst?«

Endlich hatte sie sich beruhigt. Sie trocknete die Augen.

»Nein, im Gegenteil, das finde ich furchtbar heiter.«

Und da plötzlich war ich es, der in ein schallendes Gelächter ausbrach. Mich hatte es ja auch lange genug gekitzelt.

Mit meinen Augen betrachtet, war die ganze Geschichte ja auch wirklich heiter. Eigentümer eines Dampfers von 1000 Tonnen, alles aufs modernste, prachtvoll eingerichtet, ohne Schulden, d. h. ohne Hypothek, eine Versicherung gar nicht nötig habend, statt der vorschriftsmäßigen acht Matrosen gleich vierzehn an Bord, nur so aus Liebhaberei — und dabei keine Kohlen, kein Geld — die Feuerungsanlagen mussten schon jetzt so hungern wie wir es bald auch würden.

Wie sagen doch gleich die Handwerksburschen, wenn sie mit hungrigem Magen wandern müssen? Richtig, Kohldampf schieben. Das ist der technische Ausdruck. Auf uns passte er noch viel besser. Wir schoben ebenfalls Kohldampf.

Und nochmals: mit meinen Augen betrachtet, war die Geschichte auch wirklich heiter. Mit meinen Augen! Es war doch nicht mein Geld gewesen, im Grunde genommen war es doch nicht mein Schiff — ich hatte doch niemals etwas gehabt, konnte daher auch gar nichts verlieren. Und ich maß immer noch einen Meter vierundneunzig Zentimeter, ich konnte immer noch eine Speisekarte vor- und rückwärts abessen, und das nötige Geld dazu konnte ich mir immer noch verdienen.

»Blodwen, jetzt müssen wir wirklich ernsthaft zusammen sprechen. Mit unserer Seefreiherrlichkeit ist es tatsächlich aus. Aber verloren sind wir deshalb noch lange nicht. Keine Ahnung davon. Wir müssen arbeiten...«

»Also müssen wir jetzt doch fremde Fracht nehmen«, unterbrach sie mich.

Au, davon hätte sie lieber nicht anfangen sollen! Jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als sie auch noch hierin aufzuklären. Das arme Weib sollte eben den Kelch bis zum letzten Tropfen leeren.

Ganz ruhig hörte mir Blodwen zu, höchstens noch mit einem recht heiteren Zug um den Mund, und als ich fertig war, da merkte ich, dass mein Mitleid ganz unangebracht gewesen war.

»Was meinst du, Richard, wenn ich einmal ins Kittchen gehe?«, fragte sie gemütlich, die Hände im Schoße gefaltet.

»Wohin?«, staunte ich.

»Na, ins Kittchen.«

Achso, sie hatte dieses Wort auch schon aufgeschnappt — das Gefängnis wird nämlich von den deutschen Matrosen Kittchen genannt, wohl auch von Handwerksburschen, ist aber offenbar von englischsprechenden Matrosen erfunden.

»Was, du willst dich den englischen Gerichten stellen?!«, rief ich aber erschrocken.

»Warum nicht? Schlimm kann es doch nicht werden. Ein paar Wochen bei Wasser und Brot, das ist manchmal der Gesundheit sehr zuträglich. — Doch im Ernst, Richard, glaubst du, dass man meine Rente wieder freigeben muss, wenn ich mich dem Gericht stelle, die mir diktierte Strafe verbüße?«

»Unbedingt«, musste ich zugeben, »vielleicht und höchst wahrscheinlich kommst du als Lady ja auch nur mit einer Geldstrafe weg...«

»Lass das jetzt. Also du bist der Überzeugung, dass ich sofort wieder in den Besitz meiner Jahresrente von 120 000 Pfund Sterling gelangen kann?«

»Ja, der Überzeugung bin ich.«

»Na, da sind wir ja noch nicht verloren.«

»Davon ist doch auch gar keine Rede. Aber du musst dennoch darauf gefasst sein, ein paar Wochen brummen zu müssen, und bei deinem jetzigen Zustand...«

Sie unterbrach mich dadurch, dass sie sich vorneigte, mir die Hände auf die Schultern legte und mich mit ihren so seltsam großen, herrlichen blauen Augen fest anblickte.

»Richard, du bist ein wunderbarer Mann!«

»Ich, warum denn?«, fragte ich naiv und erstaunt.

»Weißt du denn nur gar nicht, was du sprichst?«

»Ich, nee. Was soll ich denn gesagt haben?«

Sie hätte es mir erklären können, ich würde es gar nicht verstanden haben. Und was das war?

Na, wer würde denn nicht gern ein paar Wochen brummen, wenn er dafür jährlich achtmalhunderttausend Taler bekommt? Wer würde deshalb nicht gern seine Frau einmal einsperren lassen?

Aber solche Fragen tauchten mir harmlosem Jüngling damals gar nicht auf, und Blodwen ließ sich nicht weiter darauf ein. Nur ihr leuchtendes Auge sagte mir, dass ich etwas recht Nettes gesprochen haben müsste, mir aber ganz unbewusst.

»Nicht wahr, Richard, du würdest für mich arbeiten, für mich sorgen, falls wir dieses Schiff aufgeben müssten?«

»Na und ob!«, rief ich begeistert. »Ich bekomme sofort eine Heuer als Kapitän, ich richte dich irgendwo behaglich ein, du kannst aber auch bei mir an Bord bleiben, oder wir verkaufen dieses Schiff, bleiben aber darauf, ich als Kapitän, da gibt es ja noch eine ganze Menge Auswege...«

»Zum Beispiel auch den, dass du das Anerbieten jener mexikanischen Tänzerin annimmst, die dir ja ebenfalls ein eigenes Schiff kaufen wollte, wie?«

Ich blickte sie starr an.

»Blodwen, was mutest du mir zu?«, flüsterte ich dann. »Jetzt hast du mich gekränkt!«

»Das wollte ich nicht, aber mutest du mir nicht auch viel zu?«

»Was denn?«

»Also du gibst zu, dass ich mich sofort wieder in den Besitz einer Jahresrente von 120 000 Pfund setzen kann, aber ich soll das Mittel dazu scheuen, lieber soll ich einen allerdings höchst ehrbaren, aber doch auch sehr nüchternen Weg betreten, um mich durchs Leben zu schlagen. Siehst du die Unlogik nicht ein?«

Eigentlich nicht. Und doch, ein gewisses Gefühl sagte mir, dass sie recht hatte. Wenn ein Pastor seinem Amt und seiner Würde entsagt, weil er das, was er von der Kanzel predigen soll, nicht mit seinem Gewissen vereinen kann, so ist das heroisch. Aber wenn er nun nichts weiter weiß, als Steine zu klopfen, so ist er ein dummer Hund.

Ich sollte nicht erfahren, was Blodwen eigentlich vorhatte. Es wurde Land signalisiert, ich musste an Deck.

Der Streifen, den wir da sahen, musste die Goldküste sein, was dann die Berechnung auch betätigte, und zwar war es die des AschantiReiches.

»In dem der Häuptling herrscht, dem Karlemann die goldenen Ringe aus Ohren und Nase gezogen hat«, ergänzte ich, zu Blodwen gewendet. »Was mag unser Karlemännchen jetzt machen?«

»Ja, Karlemann, Karlemann!«, rief da plötzlich Blodwen ganz begeistert. »Sieh, das soll unser Vorbild sein! Wir haben Millionen im Handumdrehen verloren, der hat sie im Handumdrehen gewonnen.«

»Das hat Doktor Selo auch, das ist der Lauf der Welt. Dieses Rollen soll daher kommen, dass das Geld rund ist.«

»Können wir nicht dasselbe, was dieser kleine Junge konnte?«

»Hm, das ist nicht gleich so gesagt.«

»Handeln, Richard, immer handeln!«

»Ja, aber nicht mit Baumwolle.«

»Alle Schätze der Welt stehen uns zur Verfügung, wir müssen sie nur zu heben wissen.«

»Zunächst aber, wo liegen sie?«

Vorläufig wurde dieses Gespräch abgebrochen. Jetzt galt es, die Gedankenkraft auf andere Fragen zu lenken.

Einigen Proviant hatten wir noch, er reichte noch für eine Woche, aber das Trinkwasser ging stark zur Neige. Es war die höchste Zeit, dass wir die Küste aufsuchten.

Trinkwasser bekommt man ja in jedem Hafen, aber nicht umsonst. Der Kubikmeter kostet einen Groschen bis zu einer Mark und noch mehr, je nachdem die Wasserverhältnisse dort sind, und wie es an Bord gebracht werden kann.

Es braucht aber auch gar nichts zu kosten.

»Das beste ist wohl, um gar keine Unkosten zu haben, wir suchen eine Flussmündung auf, fahren vorsichtig hinein und pumpen unsere Tanks voll.«

»Bravo, bravo!«, jubelte Blodwen plötzlich an »Sieh, Richard, hättest du das nicht selbst gesagt, diesen Vorschlag hätte ich dir gleich gemacht.«

»Freilich kann es sich da nur um eine wenig bekannte Flussmündung handeln, ein Hafen darf noch nicht daran liegen, sonst kostet es gleich Ankergeld.«

»Gibt es denn an dieser Küste noch solche Flüsse?«

»O, massenhaft! Freilich ist die Einfahrt gefährlich, da muss viel gepeilt werden.«

»Du wünschst dir ja immer Arbeit.«

»Und dann müssen wir uns darauf gefasst machen, in unserem Trinkwasser ab und zu einen Frosch oder ein kleines Krokodil zu finden.«

»Das Viehzeug wird gekocht und verspeist. Da haben wir gleich etwas zu essen. Und dann gehen wir ans Ufer, halten ein paar Tage große Treibjagd ab, und was wir erbeuten, wird getrocknet und geräuchert, da haben wir Proviant.«

Ich blickte Blodwen starr an. Und in diesem Augenblicke hatte ich etwas wie eine Vision. Ich sah mich, die ganze Mannschaft, mit bunten Lumpen bekleidet, an einem Feuer im Walde liegen — Zigeuner — dann aber waren wir in denselben Lumpen wieder an Bord des Schiffes — da war die Vision vorbei.

— • —

24. Kapitel
In Karlemanns Reich

Originalseiten I.441 — 474

Es war die Leuchtturminsel von Legala, die wir zunächst in Sicht bekamen. Ich las darüber in meiner Handbibliothek nach. Unbewohnt, eben nur ein Leuchtturm darauf — na ja, das konnte man der wie ein Kasten auf dem Wasser liegenden Felsenklippe ja gleich ansehen, von dort war das Wasser nicht zu holen, welches ich jetzt am notwendigsten brauchte.

Gegenüber an der Küste lag die Hafenstadt Legala, für fremde Schiffe überhaupt gesperrt — konnte also ebenfalls nicht in Betracht kommen...

»Herr Kapitän, von dem Leuchtturm aus wird uns zusignalisiert«, unterbrach der wachehabende Steuermann meine Studien, die ich in dem auf der Kommandobrücke befindlichen Kartenhäuschen machte.

Ich trat hinaus. Jawohl, auf dem Signalmast des Leuchtturms wurden Flaggen gehisst.

»Gilt denn das uns?«

»Wir werden ja direkt angerufen.«

Richtig, da war schon der Name meines Schiffes als Anruf, nur abgekürzt. Wie es sich gehört, wenn man sich einem Leuchtturm nähert — wenn es auch nicht gerade Pflicht ist — war ohne meinen besonderen Befehl unser Signalement gezeigt worden — ›Sturmbraut‹, jetzt nach New York gehörend, Kapitän Richard Jansen — dort auf dem Leuchtturm wurde der Name ›Sturmbraut‹ abgekürzt wiederholt, falls noch andere Schiffe in Sicht waren, obgleich dies nicht der Fall war.

Ein bunte Flaggenreihe kletterte in die Höhe, das Signalbuch wurde befragt.

»Kommt näher heran!«, wurde übersetzt.

Was wollten die von uns? Durch das Fernrohr, das ich jetzt benutzte, bemerkte ich noch etwas anderes.

In dem Handbuch stand direkt, dass diese Felseninsel nur einen Leuchtturm besitze, auf englisches Verlangen von dem AschantiReiche mit zwei Wächtern unterhalten, sonst sei sie unbewohnt — und jetzt sah ich darauf, oder doch an den Rändern des hohen Plateaus, eine ganze Masse Menschen wimmeln, die klebten sogar an den scheinbar ganz glatten Felswänden, krabbelten dort auf und ab, gerade wie die Baumameisen.

Weshalb aber nun die Aufforderung, näher zu kommen?

»Weshalb?«, ließ ich fragen.

Da kam als Antwort nur ein Name, doch sicherlich der des Anrufers: Kapitän Algots. Karlemann! Uns ging es wie ein elektrischer Schlag durch alle Glieder. Eben hatten wir so lebhaft an ihn gedacht, und da mit einem Male, als wir uns einer unbewohnten Leuchtturminsel an der Goldküste nähern, paradiert an der Flaggenstange sein Name.

»Richard, das ist ein Zeichen des Himmels!«, sagte Blodwen neben mir.

Ich blieb ihr die Antwort schuldig, wollte sie nicht verstehen — ich las rasch noch in einem Spezialbuch über diese Leuchtturminsel von Legala nach.

Die Engländer hatten sich schon mehrmals vergebens bemüht, diese Klippe zu bekommen, unantastbares Eigentum des Königs oder des Fürsten von Legala usw.

Was hatte Karlemann da auf dieser Leuchtturminsel zu suchen?

»Pass auf, Richard, ob dieser geriebene Junge sie nicht für seinen Pudel eingetauscht oder sie dem Kididimo, dem sie doch zu gehören scheint, sonst wie abgekaupelt hat!«

Ich beschränkte mich darauf, die Insel durch das Fernrohr zu beobachten. Aber je näher ich kam, desto weniger Menschen konnte ich bemerken, im Gegensatz zu vorhin, aus dem einfachen Grunde, weil das Plateau beim Näherkommen doch immer weniger übersichtlich ward. Nur an der Felswand klebten noch Menschlein, dann erkannte ich, dass es ausschließlich nackte Neger waren, dann, dass sie an Stricken hingen oder auf Brettern saßen, dann war ich schon seitwärts, hatte diese menschenbedeckte Wand hinter mir.

Da kam von der anderen Seite hinter der Insel ein kleines Dampfboot hervor und hielt auf uns zu. An Deck stand ein Neger, wohl der einzige Matrose, der zur Bedienung des Dingelchens nötig war, ein zweiter Neger regierte das Rad und dort, das breitbeinige Kerlchen, die qualmende Pfeife im Munde — unser Karlemann!

»Ja, hat der denn jetzt blonde Haare bekommen?«, wurde verwundert gefragt.

Natürlich, der hier hatte blonde Haare, das war überhaupt ein anderer. Jetzt wurde das schon mit bloßen Augen erkannt, aber auch so ein kleiner Wichtelmann, ein halbwüchsiger Junge, der noch auf der Schiefertafel zu schreiben hat, wenigstens auf dem Dorfe, wo Papier gespart wird.

Unser Staunen war nicht gering. Ich ließ nach und nach die Segel einziehen. Der kleine Dampfer erreichte uns. Mit heller Kinderstimme einige schneidige Kommandos, das Boot legte bei, der Knirps kletterte das herabgelassene Fallreep empor.

Wahrhaftig — ein Kapitän Algots in zweiter Ausgabe, von der Schiffermütze, Wolkenschieber genannt, an bis zu den Trichterhosen. Die Pfeife hatte er, wie sich's beim Betreten eines fremden Schiffes gehört, unten gelassen. Er hatte mich gleich herausgefunden.

»Herr Richard Jansen, Kapitän von der ›Sturmbraut‹?«, fragte er mich, die Hand am Wolkenschieber.

»Bin ich.«

Er salutierte nochmals.

»Kapitän Neumann — Fritz Neumann — Kapitän vom ›Gernegroß‹.«

Bei solch einer Vorstellung soll man nun ernsthaft bleiben! Dabei bedenke man unsere Stellung. Ich schätzte den Wicht auf höchstens zehn Jahre, was sich dann auch bestätigte, und ich blickte auf ihn herab wie der Chimborasso auf den Maulwurfshügel.

Aber wir hatten unseren Karlemann schon kennen gelernt, das war hier offenbar sein Stellvertreter, den er sich zugelegt hatte, da musste auch der Ernst gewahrt werden. Wirklich dachte auch keiner meiner Leute ans Lachen, nicht einmal Blodwen.

»Freut mich«, sagte ich nach dieser Vorstellung.

»Ich komme als Stellvertreter des Herrn Kapitän Algots, den Sie ja kennen«, schrie der Junge denn auch richtig zu mir herauf.

»Jawohl, den Kapitän Algots kenne ich«, hauchte ich hinunter, um das Männchen nicht umzublasen.

»Er lässt Sie bitten, ihn zu besuchen.«

»Er befindet sich auf der Leuchtturminsel?«

»Jawohl, auf seiner Insel!«

»Die Insel gehört ihm?«

»Jawohl!«

»Wie ist er denn dazu gekommen?«

»Das ist nicht meine Sache, das wird Ihnen vielleicht Kapitän Algots selber sagen.«

So, ich hatte meinen Hieb weg. Das Bürschchen hatte recht, vorläufig verkehrten wir noch ganz dienstlich.

»Oder Ihr Schiff kann auch in den Hafen bugsiert werden«, fuhr Fritze gleich fort.

»In einen Hafen dieser Insel?«

»Jawohl, auf der Ostseite! Ich bin beauftragt, wenn Sie wollen, Ihr Schiff hineinzubugsieren.«

»Findet dieses Schiff auch Platz darin?«, fragte ich misstrauisch.

»Dreimal«, lautete die selbstbewusste Antwort, obgleich das nicht besonders für die Größe eines Hafens sprach.

Nun, ich traute, die Aufforderung kam ja von Karlemann, und den kannte ich.

Eine weitere Unterhaltung konnte jetzt nicht stattfinden. Für das große Schiff gab es noch viele Vorbereitungen zu treffen, und der kleine Vizekapitän — denn ein solcher war er nur, aber in der Anrede gibt es auch keinen Unterleutnant und keinen Vizeadmiral — war ganz Diensteifer.

Von der Seemannschaft verstand er nicht gerade viel, wenigstens nicht von einem großen Segler, sogar die gebräuchlichsten Ausdrücke fehlten ihm, das merkte ich gleich; aber sein Dampfboot, an dem ich dann wirklich den Namen ›Gernegroß‹ las, hatte er wie am Schnürchen, und beim Durchlotsen der ›Sturmbraut‹ erwies er mindestens große Umsicht.

Ich fuhr durch die Passage ja zum ersten Male, werde aber natürlich nichts wiederholen. Mir ist doch alles Vorausgegangene bekannt, ich schreibe dies jetzt ja fast dreißig Jahre später.

Glatt kamen wir durch. Vieles hatte sich geändert.

Vor allen Dingen, was zuerst in die Augen fallen musste, war eine Brücke, welche hoch oben auf der ersten Galerie über die Einfahrt gespannt war, und wie ich dann merkte, besaß jede Galerie ihre Zugbrücke, sodass man jetzt überall die Galerien rundum beschreiten konnte, nicht mehr durch die die Einfahrt bildende Schlucht behindert war.

In dem Kesselhafen sah ich meinen lieben ›Knipperdolling‹ liegen, bei dessen Anblick mir förmlich das Herz lachte — weshalb, weiß ich selbst nicht, eben eine hübsche Erinnerung — ferner lagen da noch einige größere und kleinere Segel- und Ruderboote, ferner ein Dampfboot, wozu noch der ›Gernegroß‹ kam.

Wie es früher hier aussah, weiß der Leser. Auch ich habe das später erfahren. Also muss ich bemerken, dass jetzt überall praktische Anlegestellen eingerichtet waren, mit Stangen und Poller und allem, was dazugehört.

Ferner waren schon überall nach dem Wasser führende Treppen gemeißelt, an den Galerien lehnten solide Leitern.

Und nun eine Unmenge von Menschen, lauter Neger. Auf den Galerien kribbelte es nur so. Die einen frachteten ein großes Segelboot aus, die Ballen und Kisten wurden mit einer Winde, die ich hoch oben in der Luft vom Plateau aus gefährlich weit herausgereckt sah, emporgewunden und durch Schwenken des Balkens beliebig auf die einzelnen Galerien verteilt; die anderen waren mit einer Arbeit beschäftigt, die ich erst nicht recht beurteilen konnte, bis ich bemerkte, dass überall in die Felswände hineingemeißelt wurde, und es waren schon ganz ansehnliche Löcher entstanden, wenn nicht Tunnels; denn die Neger gingen aufrecht aus und ein — wie tief, konnte ich ja noch nicht wissen.

Das Schiff war befestigt, es war nichts mehr zu besorgen.

»Du, Richard«, meinte da Blodwen, »riecht das hier nicht recht nach — nach — Löwen?«

Ich hatte keine so feine Nase. Außerdem war mir ein ›Löwengeruch‹ etwas ganz Neues. Ich vergaß dabei, dass Blodwen noch niemals in einer Menagerie gewesen war, wilde Tiere kannte sie nur von Bildern her, mit Ausnahme des Löwen, sie hatte selbst ja eine gezähmte Löwin gehabt. Also sie meinte, hier riecht es nach Menagerie, wie man sagt, nach Raubtieren. Aber ich verstand sie nicht gleich.

»Nach Löwen?«, lachte ich. »Hier riecht's mir eher nach fettgetränkten Negerlein.«

»Nein, hier riecht's nach Löwen.«

In diesem Augenblick erscholl ein donnerndes Gebrüll, sodass wir alle erschrocken zusammenfuhren. Wenn ein Löwe brüllt, fahre ich nicht gleich erschrocken zusammen; aber das war hier doch etwas anderes, das musste eine ganze Herde Löwen sein, die ein Konzert aufführten. Erst hatte es mit einem leisen, ganz kurzen Knurren angefangen, dann setzten plötzlich alle Instrumente ein, fauchend und heulend und alles übertönend ein furchtbares, donnerndes Brüllen.

»Der hat sich hier Löwen zugelegt!«

»Das sieht unserem Karlemann auch ähnlich, und nahe genug der ersten Bezugsquelle ist er ja!«

Kapitän Fritz Neumann bat mich, mich nach oben zu begeben.

»Der Aufzug ist noch nicht fertig, Sie müssten die Leitern benutzen, und das hier geht doch viel fixer.«

Dabei zeigte er mir eine Art Gürtel und eine Leine, die er in der Hand hielt, und machte auch gleich eine Bewegung, als wolle er mir den Gurt um den Bauch legen.

Ich wusste erst gar nicht, was das Kerlchen eigentlich von mir wollte. Bis ich merkte, dass das Seilende, welches er in der einen Hand hielt, von oben kam, ich blickte also in die Höhe, und da sah ich, dass der Schwebebaum dort oben, von hier unten wie ein Zahnstocher aussehend, ganz herumgeschwenkt war, er ragte über mein Schiff, und von dort oben lief das Seil herab.

Da ging mir eine Ahnung auf.

»Ich soll wohl da oben hinaufgeleiert werden? An dem dünnen Stricke?«, fragte ich mit einem förmlichen Schreck.

»Jawohl, wir alle...«

»Nu nee, nu nee!«, rief ich aber abwehrend mit entsprechender Handbewegung.

»Sie brauchen keine Angst zu haben, das Seil hält noch ganz andere Lasten, wir lassen uns doch alle hinaufwinden. Soll ich es Ihnen erst einmal vormachen lassen?«

Was sollte ich tun? Wenn es einmal hier so Usus war, dann durfte ich doch auch keine Angst haben, wie ein kleines Mädchen, das nicht in die Gondel will.

»Ist Kapitän Algots oben?«

»Der ist oben und erwartet Sie schon.«

»Kann er nicht herunterkommen?«

»Er hat jetzt keine Zeit, er trainiert.«

»Was tut er?«

»Er trainiert.«

»Was trainiert er denn?«

»Ich weiß nicht. Er erwartet Sie oben.«

»Na, da mal los!«

Ich ließ mir den Gurt von meinen eigenen Matrosen umlegen, nicht um den Bauch, sondern unter die Arme, der Steuermann erklärte Seil und Karabinerhaken für durchaus solid, mir war mein Kautabak, von dem ich fix noch einmal abbeißen wollte, an Deck gefallen, ich wollte mich bücken, um ihn aufzuheben, da — go ahead! — da zappelte ich schon in der Luft.


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Es ging sehr fix. Aber was ich unterwegs alles zu sehen bekam! Das heißt nur ganz schnell, nur so wie Schattenbilder im Vorüberhuschen.

Auf der ersten Galerie waren nur Neger zu sehen, die an den Felswänden herumhämmerten.

Dann kam die BelEtage. In der war in der Wand ein Loch, ein großes, eine Höhle, stark vergittert, und hinter den Eisenstäben bemerkte ich ein halbes Dutzend — wenn das reichte — stattliche Löwen, die vorhin über unseren Köpfen das Konzert gemacht hatten. Schrumm, ein anderes Bild in der ersten Etage: drei oder vier Kühe, auch in so einer Höhle untergebracht.

Zweite Etage: eine ganze Masse nackter, afrikanischer Hunde. Dritte Etage: was für Viehzeug da in so einer vergitterten Höhle untergebracht war, konnte ich bei der Schnelligkeit nicht unterscheiden. Vor allen Dingen sah ich lange Schwänze — vielleicht Krokodile oder Riesenschlangen.

Schrumm, an der vierten Etage vorbei: das Ding, was sich in dem Käfig befand, war ein kleiner Elefant gewesen, das hatte ich ganz deutlich gesehen.

Und dann konnte ich das ganze Plateau frei überblicken, der Schwebebaum wurde herumgeschwenkt, ich flatterte wie ein Schmetterling durch die Luft und ward fein säuberlich auf den Boden niedergesetzt.

Hier sah ich, was für eine solide Winde das war. Die allermodernste, alles aus Stahl und Eisen, in den Felsboden einzementiert, vielleicht hundert Zentner tragend.

Sie wurde von Negern mit der Hand bedient. Doch war hier auch ein weißer Mann, der erste, den ich hier zu sehen bekam, sehr elegant in ein Tropenkostüm gekleidet, entweder ein Deutscher oder ein Engländer. Außerdem hatte er noch einen kleinen Jungen bei sich, vielleicht sein Sohn — aber — ich traute nicht recht — der Bengel hatte auch schon solche lange Trichterhosen an — und, weiß Gott, da spuckte der Bengel gerade seinen Kautabak aus und versorgte seine nun einmal zum Kauen bestimmte Maschinerie mit einer neuen Ladung. Sogar brasilianischen Dulcissimo, den ich in Kapstadt nicht hatte bekommen können.

»Herr Kapitän Jansen werden von Herrn Kapitän Algots erwartet, er kann nicht selbst kommen«, sagte der Herr im Tropenkostüm, seinen Strohhut lüftend, und dann sich vorstellend; »Ingenieur Schimmel.«

»Stürmann Nauke«, setzte sofort der Wichtelmann hinzu, die Hand an seinen Wolkenschieber legend, und gleichzeitig spritzte er mir seinen Tabakssaft auf die Stiefel.

Wo hatte Karlemann nur diese kleine, deutsche Bagage herbekommen? Dort lief schon wieder so ein Trichtermännchen mit dem Wolkenschieber.

Nun, der Leser weiß es. Ich wusste es damals noch nicht, erfuhr es erst heute nach und nach, und so kann ich gleich verraten, dass die ›Berliner Lausejungen‹, wie sie ja schon oft genug genannt wurden, und anders waren sie früher auch nicht zu bezeichnen, unterdessen sämtlich zu Steuerleuten und gar Kapitänen, wenn auch mit dem Vorsatz ›Vice‹, avanciert waren, und zwar wirklich infolge ihrer Verdienste. Ich sollte selbst noch kennen lernen, wie dieser kleine deutsche Karlemann zu erziehen verstand, wie er auch aus dem unfähigsten Menschen — und Tiere — etwas Tüchtiges zu machen wusste.

»Wo ist der Herr Kapitän?«

»Dort — ziemlich in der Mitte — gehen Sie nur geradeaus, Sie können ihn nicht verfehlen.«

Ich folgte der bezeichneten Richtung. Ich sah eine Menge Neger, auch hier oben in dem Felsboden herumbuddelnd; viele Holzbaracken waren aufgeschlagen, Häuserchen aus lose zusammengesetzten Steinen aufgerichtet, aber gerade dort in der Mitte, wohin ich meine Schritte lenken sollte, war alles öde und leer.

Da hörte ich Peitschenknalle, immer lauter, je mehr ich mich der Mitte näherte, und dann auch die mir wohlbekannte Stimme Karlemanns:

»He — hoppla — hoppla — ruhig — ruuuuhig! — so ist's schön, so ist's >schön — links, rechts, links, rechts — taramtata, taramtata — ruuuuhig — hoch das Bein, hoch das Bein — hoppla...«

So ging das weiter, und dazwischen immer einmal ein Peitschenknall.

Was machte denn der? Das klang ja fast gerade, als ob er... Da sah ich es schon. Ich stand vor einem großen, kreisrunden Loche, ganz scharf abgezirkelt, auch unten — man stelle sich einfach die Manege eines Zirkus vor, die Einfassung, innerhalb welcher die Pferde herumlaufen — genau dasselbe war hier, nur dass es keine erhöhte Einfassung gab, sondern die kreisrunde Manege war eben in den Felsen hineingearbeitet, und zwar tief, mindestens drei Meter tief — und es war auch wirklich eine Zirkusmanege — denn dort unten stand mein Karlemann, allerdings nicht mit solchem Zirkusklimbim angetan, sondern in einem weißen Tropenanzug mit Seemannsschnitt, aber eine Peitsche in der Hand, und... ließ einen riesigen Elefanten im spanischen Tritt exerzieren!

Na, ich stand da wie Lots Frau, zur Salzsäule erstarrt. Nicht vor Schreck, sondern vor Überraschung. Denn ich hatte doch alles andere erwartet als hier oben plötzlich einen riesigen Elefanten zu finden, der unter des kleinen Karlemanns Anweisung und sanften Peitschenhieben, immer so mit den Beinen schlenkernd, im Kreise herumspazierte.


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Und nun in dem an sich doch engen Trichter dieser ungeheure Dickhäuter und dazu das winzig kleine Menschlein, dieses Verhältnis, und nun zu sehen, wie der Riese der Schöpfung dem Zwerge so parierte — es war ein ganz unbeschreibliches Bild.

»Alle Wetter, was machen Sie denn unten?!«

Karlemann warf nur einen Blick zu mir herauf.

»Morning, Käpt'n. Kommen Sie lieber nicht runter, bleiben Sie oben, ich bin gleich fertig. Rrruuuuhig, mein Tierchen — links, rechts — links, rechts — haaaalt — so, nun mache dein Kompliment...

Der Elefant blieb stehen, warf dem menschlichen Zwerge einen verächtlichen Blick zu, wackelte mit den Ohren, dann hob er sein Hinterteil empor, immer höher, bis er auf den Vorderbeinen stand, die hinteren in die Luft gereckt.

»So war's brav, Sultan — hier — und nun verschwindibus...«

Der in seine natürliche Stellung zurückgekehrte Elefant erhielt ein Stück Zucker, Karlemann öffnete eine unten eingelassene große Gittertür, der Elefant kroch hinein, Karlemann folgte ihm nach, die Tür ward wieder geschlossen, einsam und verlassen lag der seltsame Zirkus wieder da.

Gleich darauf hörte ich neben mir ein Geräusch. Als ich seitwärts blickte, gewahrte ich ein Brett, das nur so zufällig dazuliegen schien, jetzt aber erwies es sich als eine Falltür, sie ward zurückgeschlagen, Karlemann tauchte auf.

»Hallo, Käpt'n! Kommen Sie zufällig hierher?«

»Ganz zufällig. Aber nun sagen Sie mal in aller Welt...«

»Halt«, unterbrach er mich, nachdem wir uns die Hand geschüttelt hatten, »eins nach dem anderen. Sonst, könnten wir gar nicht fertig werden. Kommen Sie also zufällig hierher?«

»Ganz zufällig, wie ich schon sagte.«

»Ich hatte nämlich von Monrovia aus nach Kapstadt telegrafiert, wohin Sie doch wollten. Aber Sie waren schon fort, und Ihr nächstes Ziel wusste auch niemand. Davon haben Sie nichts erfahren?«

»Gar nichts. Ich bin vom letzten Sturm hierher verschlagen worden. Muss einen Hafen aufsuchen, brauche Trinkwasser.«

»Das können Sie freilich nicht von mir bekommen, wenigstens keinen größeren Vorrat. Wenn Sie in einem halben Jahre wiederkommen, ja — jetzt noch nicht. Ich habe unterdessen immer an Sie gedacht.«

»Weshalb? Und was hatten Sie mir nach Kapstadt telegrafiert?«

»Abwarten. Das lässt sich alles gar nicht so schnell erledigen. So wissen Sie noch gar nicht, was ich unterdessen alles getrieben habe?«

»Ich weiß gar nichts. Ich staune.«

Er begann zu erzählen, sofort, hier neben dem Zirkus stehen bleibend. Er fasste sich auch kurz genug, und alles bekam ich durchaus nicht zu erfahren.

Wie er gleich nach meiner Abreise die ursprüngliche Mannschaft seiner Jacht entlassen, wie er zu den fünf Berliner Pflanzen gekommen — das war mit wenigen Worten erledigt. Länger und mit sichtlichem Behagen verweilte er dann dabei, wie er den RiesenHaifisch geködert und ihn als rückwärtswirkende Schiffsschraube benutzt hatte, wie er dabei von dem englischen Kriegsschiff beobachtet worden war, welches den Aschantihäuptling und die ganze Gesandtschaft zurückbrachte.

»Na, das hätten Sie sehen sollen! Nämlich was für einen Eindruck das machte! Und nicht nur auf die Neger. Diese freilich lagen allesamt gleich auf den Knien und beteten mich an. Dann wich das Vieh zu sehr vom Kurse ab, da musste ich es mit meiner Elefantenbüchse in die Luft sprengen — oder vielmehr ihn im Wasser zu Mus verrühren. Aber mein Ziel war doch erreicht — der Erfolg da. Seht, sagte ich, so mache ich mir jedes Tier zu Diensten, das einmal zwischen meine Finger kommt. Das hatte ich dem Kididimo ja schon früher gesagt, er hatte ja auch schon genug Beweise, den Pudel und so weiter — auch eine Katze hatte ich ihm schon damals innerhalb einer Stunde dressiert, dass sie wenigstens über den Stock sprang — aber nun dieser Haifisch, der mein Schiff zog — na, ich sage Ihnen, wie ich in Legala, was die Residenz von Kididimo ist, wenigstens die eine — wie ich da empfangen wurde — Sie machen sich keinen Begriff davon.«

Wenn das alles wirklich wahr war, was mir der Zigeunerjunge da erzählte, dann konnte ich mir das andere vorstellen.

Aber weshalb sollte er mir so etwas vorflunkern? Er hatte doch viele Zeugen, die ich befragen konnte. Also ich glaubte schon damals an die Wahrheit dieses Vorkommnisses.

»Wissen Sie, was ich mit dem Negerfürsten damals ausgemacht hatte?«

»Nein.«

»Er wollte doch durchaus meinen Salto haben.«

»Ja, das weiß ich.«

»Den hat er nicht bekommen. Aber ich versprach ihm, jeden Hund und jedes andere Tier, das er mir bringen würde, ebenso zu dressieren — Regenwürmer und dergleichen natürlich ausgenommen — und dafür forderte ich selbstverständlich eine Belohnung.«

»Was für eine?«

»Sie wissen doch, dass Aschanti furchtbar reich an Gold ist.

Gold überall. Aber wir Europäer dürfen darin nicht paddeln [1]. Nun wollte ich mir dort drin im Lande ein hübsches Fleckchen geben lassen, als mein Eigentum, und das schlechteste Land hätte ich mir natürlich nicht ausgesucht. Ich hätte schon erfahren, wo das meiste Gold herauszukratzen ist. Kididimo war damit ganz einverstanden. Nebenbei bemerkt: auch meine Turnerei und die meiner Jungen hatten es dem Häuptling angetan, er war ganz närrisch, so müssten seine Jungen auch turnen lernen, d. h., sein ganzes Volk, soweit es jung ist, oder doch die Söhne der auserwählten Krieger — kurz und gut, ich sollte so eine Art von Turnschule einrichten.«

[1] Eine andere Bezeichnung für »buddeln«, also graben.

»Und daraus ist nichts geworden?«

»Nee, wenigstens dort drüben an Land nicht. Wissen Sie, ich überlegte mir die Sache. Dort drüben herrscht fortwährend Fieber, höchstens nicht direkt an der Küste, aber dort gibt's gerade wieder gar kein Gold — na, und wenn der seine dressierten Tiere hatte, und wenn er mir die Kunstkniffe abgelauscht hatte, schwarze Turnlehrer hatte — na, da hätten die Kerls mich doch einfach einen Kopp kürzer gemacht, und mein Gold und so weiter hätten sie mir wieder weggenommen. Meinen Sie nicht?«

Da musste ich ihm nun allerdings recht geben. Nur die Schlauheit dieses Knirpses! Und wie der nun zu erzählen verstand, wie er alles so trocken herausbrachte! Es war gottvoll.

»Sehen Sie, da haben wir's. Auf der Fahrt nach Legala musste ich natürlich hier vorbei — und gleich beim Anblick dieser Leuchtturminsel mit den steilen Wänden kam mir der Gedanke — ich besichtigte sie, alles wie für meine Zwecke geschaffen — jawohl, wird gemacht! Na, jetzt ist die Seeburg meine. Seeburg habe ich die Insel getauft. Auch eine Flasche Champagner habe ich bei der Taufe darauf zerschmissen.«

»Man hat Ihnen diese Insel so ohne Weiteres gegeben?«

»So ohne Weiteres? Na ich danke, wenn man einen Haifisch vor sein Schiff spannen kann! Was meinen Sie wohl, ich bin dem König Aquassi Aquatuh vorgestellt worden. Oder der König vielmehr mir. Ich sollte nämlich nach seiner Residenz kommen, nach Kumasi, aber — nich in de Hand! — lieber nicht! Sie hätten mit mir Verschwindibus machen können. In Legala ist das nicht so leicht möglich. Es half alles nichts, der König musste zu mir kommen. Er hat mir eine goldene Kette um den Hals gehängt, so groß wie — wie — na, ich knickte drunter zusammen, obgleich ich doch nicht gerade von Kuchen bin.«

»Und da ist Ihnen die Insel definitiv abgetreten worden?«

»Jawohl, denetief, wie Sie sagen.«

Ich musste es wohl glauben. Was machten sich denn die Aschantis aus den Engländern.

»Sie können damit machen, was Sie wollen?«

»Warum denn nicht? Man kann doch mit seinem Eigentum machen, was man will. Erst verlangte der König von mir, ich sollte noch einmal einen Haifisch haschen und ihn vor mein Schiff spannen; das wusste ich ihm aber geschickt auszureden. Na, und das hier ist doch etwas anderes, als dort an Land so eine Station haben. Hier kommt auch kein Fieber vor, dazu ist die Luft schon viel zu rein, das weiß der alte Leuchtturmwärter ganz genau, und das habe ich in den zehn Wochen, wo ich nun schon hier bin, doch selbst gemerkt. Hier oben wird niemand krank.«

»Aber das Gold, auf das Sie reflektierten?«

»Das brauche ich jetzt nicht mehr aus der Erde zu paddeln, das bringen mir die Schwarzen gleich selber hierher, sogar schon zu Schmuck verarbeitet. Das hätte ich allerdings dort auch bekommen — aber hier kann man es mir nicht wieder wegnehmen, hier bin ich auch sonst gesichert — das ist der Unterschied.«

»Sie wollen Tiere dressieren, sich ganz darauf legen?«

»Jawohl. Die Häuptlinge und andere reiche Schwarze bringen mir Hunde, Katzen, auch Löwen, Panther, Rehe — ich dressiere überhaupt alles. Bandwürmer und dergleichen natürlich nicht. Aber sogar eine Riesenschlange habe ich — wenn ich die vorn Bauch trete, sperrt sie's Maul auf, und trete ich ihr auf den Schwanz, klappt sie's wieder zu — sonst behält sie's stundenlang offen.«

Jetzt konnte ich mich einmal nicht mehr halten, jetzt sperrte auch ich einmal meinen Mund auf, um aus vollem Halse zu lachen.

»Na, was lachen Sie denn? O, die soll noch viel mehr lernen. Walzer tanzen muss das lange Luder noch. Und wenn Sie wüssten, was ich dafür bekomme, würden Sie nicht mehr lachen.«

»Nun, wie viel bekommen Sie denn für so eine Dressur?«

Da reckte sich Karlemann auf den Zehenspitzen empor, er schien mir auf die Schulter klopfen zu wollen, langte aber nur bis zum Bauch, auf dem pochte er herum.

»Geschäftsgeheimnis, lieber Freund, Geschäftsgeheimnis!«, schmunzelte er dabei augenblinzelnd.

»Jetzt aber«, fuhr er dann fort, als er sich wieder heruntergelassen hatte, »nehme ich statt Gold und dergleichen mit Vorliebe noch Sklaven.«

»Sklaven, wozu?«

»Na, sehen Sie nicht die Masse Neger hierherum arbeiten?«

»Die sehe ich.«

»Das sind meine Sklaven. Das heißt nur auf ein Jahr. Zum Beispiel so ein nackter Hund, der Pfötchen geben kann, kostet fünf Sklaven. Nur kräftige Männer, ausgesuchte Ware. Die müssen hier arbeiten, müssen von ihrem Herrn während dieses Jahres auch mit Nahrung und mit allem versehen werden. Kann der Hund auf den Hinterbeinen tanzen, kostet es sieben Sklaven — auf den Vorderbeinen zehn — kann er aber gar Salti mortali schlagen, das kostet zwanzig Sklaven. Über'n Stock springen und Schönmachen gebe ich gratis zu.«

Dabei soll nun ein Mensch ernst bleiben!

»So habe ich meine Preise festgesetzt, für jedes Kunststück und für jedes Tier extra — am billigsten sind die Affen und Kakadus, am teuersten die Krokodile — die Ludersch wollen immer nur fressen und nischt machen — von dressierten Flöhen wollen diese dummen Negers hier nichts wissen.«

»Hahahaha!!!«, gröhlte ich.

Karlemann nahm es nicht übel, er lachte selber mit.

»Wie viele Neger haben Sie hier?«, fragte ich dann, als ich wieder sprechen konnte.

»Sechshundert Stück. Mehr nehme ich auch nicht. Die sollen auch nur die Hauptarbeit machen, dass es hier etwas wohnlicher wird, dann lasse ich vielleicht nur noch hundert arbeiten.«

»Was müssen sie denn arbeiten?«

»Sie fragen noch? Na, hier aus diesem ganzen Felsen ein Haus machen, Tunnels bauen, Zimmer aushauen. Ei, das wird ein Haus, wie's kein zweites in der Welt gibt — bedenken Sie doch nur — 200 mal 300 Meter, fünf Etagen hoch — und kein Fleckchen bleibt unbenutzt.«

Da begann mir zu ahnen, was dieser Junge vorhatte, und ich sah im Geiste schon ein Werk fertig, wie es tatsächlich kein zweites in der Welt gibt — höchstens vergleichbar mit der Insel Elephantine bei Bombay.

»Wir wollen doch einmal hinuntergehen, ich will Ihnen die Pläne zeigen. Fertig ist freilich noch nichts, nur hier oben sind erst so ein paar Zimmer ausgehauen, die ich für mich und für mein Viehzeug brauche.«

Ich folgte nach in das finstere Loch, aus dem Karlemann vorhin gekommen, wir mussten zum Abstieg eine Leiter benutzen.

»Das ist alles nur für einstweilen«, entschuldigte sich Karlemann. »Denn was sonst hier einmal gemeißelt wird, muss doch gleich tadellos sein, was einmal weggehauen ist, kann doch nicht so leicht wieder drangekleistert werden.«

Ich hatte den Boden erreicht, befand mich mit einem Schritte in völliger Finsternis, rannte beim zweiten Schritte mit dem Kopfe gegen die Decke.

»Geben Sie mir Ihre Hand. Ich habe kein Licht bei mir, aber es kommt gleich welches. Sie brauchen sich nur ein kleines bisschen zu bücken.«

Es war doch ein ziemlich langer Weg, den wir erst zurücklegten.

»So, hier bleiben Sie einen Augenblick stehen, es wird gleich Licht.«

Ich stand da in der Stockfinsternis. Aufrichten konnte ich mich hier.

Aber, Himmel Herrgott, war hier ein Gestank! Wie in einem Affenkäfig!

Da hörte ich etwas schnubbern, ein heißer Luftzug streifte meine Hand, und mit einem Male legte sich mir eine Last auf die Schultern, dass ich fast zusammengeknickt wäre, und unter einem glühend heißen Atem röchelte mir eine Stimme ins Gesicht.

In diesem Augenblicke ward es hell, Karlemann stand neben mir, eine Laterne mit sehr hellem, weißem Lichte — und vor mir stand ein riesiger Löwe.

Und das beste war dabei, dass es sich hier durchaus nicht um ein schon völlig gezähmtes Exemplar handelte.

Karlemann schien, wie er uns beide so stehen sah, offenbar erschrocken zu sein.

Schnell setzte er die Laterne an den Boden, hatte dafür einen Revolver in der Hand.

»Bleiben Sie stehen — um Gottes Willen, ganz ruhig — ist das Luder schon wieder ausgewischt. Zurück, Simson, hierher, Simson — na, sei ein artiges Tierchen...«


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Er packte das niedliche Tierchen bei der Mähne, es ließ auch von mir ab, dann aber schien sich der Löwe eines anderen zu besinnen, er fauchte den Jungen an und schlug nach ihm mit der Tatze, und plötzlich entstand in dem niedrigen Gewölbe eine schreckliche Knallerei.

Karlemann traktierte den entsprungenen und unartigen Zögling mit Revolverschüssen, jedenfalls nur mit Platzpatronen, ich sah, wie er ihm direkt in den geöffneten Rachen hinein schoss, der Löwe wich denn auch zurück, immer fauchend und tatzenschlagend, Karlemann immer nach, bis das Tier in einer Ecke verschwand, ich hörte ein Gitter fallen.

Karlemann kam zurück, gleichmütig, als wäre nichts geschehen.

»Der ist nun schon zum dritten Male ausgebrochen. Ich weiß, woran's liegt, der Schlosser hat nur gerade keine Zeit. Ich habe ihn erst ein paar Tage, es ist ein ganz frisch gefangener, will noch nicht einmal recht Pfötchen geben. Erst gestern, wie er wieder einmal ausgebrochen ist, hat er einen Neger kurz und klein zerrissen und ihn halb aufgefressen.«

»Na ich danke, bei Ihnen geht's ja gemütlich zu!«

»Ach ja, wir leben hier ganz hübsch. Oder Sie meinen wohl wegen des Negers? Dem geschah ganz recht, der Kerl wollte hier unten spionieren, und wäre er in den anderen Raum gekommen, wäre er doch sowieso von den Panthern zerrissen worden.«

Wir kamen in einen langen, hellen Gang. Durch die vielen kleinen Fensterchen, in die meterstarke Felswand gebrochen, sah ich unten das Meer branden — ein herrlicher Anblick.

»Sehen Sie«, sagte Karlemann, während wir den Korridor entlang schritten. »Diese Neger will ich doch nicht etwa hier oben behalten. Es soll überhaupt niemand wissen, was ich hier treibe. So ist's auch dort oben mit dem Zirkus, wo ich dressiere. Hier unten gibt's noch keinen so großen Saal, und dort oben war gerade eine Zisterne, ich musste sie nur noch etwas ausmeißeln lassen, dann war der Zirkus fertig. Und so tief muss der Kreis sein. Außerdem ist der Zutritt dort streng verboten. Niemand darf sich dem Loche bis auf dreißig Schritte nähern. Wenn die Neger nämlich wüssten, dass ich dort im Freien auch Löwen herumspazieren lasse, so würde kein einziger hierbleiben, sie würden vor Angst gleich den Felsen hinunterspringen.«

»Sie können den Zirkus doch mit einem hohen Gitter umgeben lassen.«

»Kommt alles noch, kommt alles noch. Hier, treten Sie ein!«

An der viereckigen Öffnung waren schon Angeln eingelassen, um eine Tür einzuhängen, aber eine solche noch nicht vorhanden. Ich befand mich in einem Felsenzimmer, in dem ich mich staunend umsah.

Fast alles, was an Möbeln vorhanden, war aus dem Felsen herausgehauen oder vielmehr beim Aushauen des Raumes stehen gelassen worden. Schränke, für welche nur noch die Tür fehlte, Regale, Tische, Stühle, ein Schreibtisch sogar mit Zierraten, mit Schiebladen und mit allem, was dazu gehört — alles aus Stein, mit dem Felsen verwachsen. Die Schubkästen konnten natürlich nicht von Stein sein, die fehlten noch.

»Sehen Sie, so wird einmal das ganze Haus. Das ist hier das erste Zimmer, was so ziemlich fertig ist, meins. Es ist ein sogenanntes Studierzimmer. Sehen Sie, hier drin im Schreibtisch hebe ich schon meinen Kautabak auf. Fein, was? Und so soll nach und nach das ganze Haus werden — oder vielmehr die Burg — die Seeburg.«

Ich konnte nur staunen.

»Haben Sie das alles selber gemacht?«

»O nein. Das heißt, die Idee stammt von mir. Zuerst fing ich auch selber an zu meißeln oder stellte doch meine Jungen und dann die Neger an. Aber das ging verdammt langsam. Dann trieb ich zwei Männer auf, die so etwas können. Der eine heißt Schimmel und ist der Ingenieur, der andere ist Architekt und Baumeister Herr Arndt, war lange bei den Engländern in den Kolonien, und der hat in solchen Steinarbeiten was los. Es wurden gleich Bohrmaschinen angeschafft, auch viel gesprengt wird, dann hat Arndt so ein wässeriges Zeug, das schmiert er auf den Stein, und nach einiger Zeit kann man ihn wie Butter schneiden. Da geht's fix. Ein paar Jahre wird's freilich dauern, ehe alles fertig ist, zumal wenn ich dann die meisten Neger abschaffe. Aber ich habe ja Zeit. Sehen Sie, so wird's aussehen.«

Er hatte in seinem steinernen Schreibtische doch nicht nur Kautabak, sondern auch Papiere, brachte einige große Rollen zum Vorschein, die sich dann als Grund, Auf- und Seitenrisse erwiesen, diese ganze Felseninsel darstellend, wie ein Ameisenhaufen ausgehöhlt — die saubersten Zeichnungen, in farbigen Tuschen ausgeführt.

»Ich finde mich selber nicht drin zurecht«, meinte Karlemann, »aber Arndt sagte, das wäre alles so, wie ich es ihm beschrieben und auch vorgemalt habe, und wenn ich den anderen, den Ingenieur Schimmel frage, wie ich das und jenes haben will, so braucht er nur aufs Papier zu blicken, dann kann er's beschreiben, und es stimmt immer ganz genau mit meinen Angaben überein.«

Nun, ein Steuermann hat auf der Schule im Fache Schiffbau auch zeichnen gelernt, ich fand mich darin zurecht, und je länger ich studierte, desto mehr wuchs mein Staunen, das sich bis zur ehrfürchtigen Bewunderung steigerte, nämlich vor dem, dessen erfinderischem Kopfe dies alles entsprang, und das war doch schließlich dieser zwölfjährige Junge, der Sohn eines Dorfschmiedes.

Den Grund meines ehrfürchtigen Staunens kann ich gar nicht so ohne weiteres angeben. Es lag weniger in der Unmasse von Gängen, Kammern und Treppen, also überhaupt in der Gewaltigkeit des Ganzen, als vielmehr in der symmetrischen Anordnung, wie eines immer ins andere griff. Für so etwas hatte ich ein feines Auge.

»Käpt'n Algots, Sie sind ein Genie!«

»Weiß ich«, war seine trockene Antwort.

»Da können aber doch ein paar tausend Menschen drin wohnen.«

»Sollen sie auch.«

»Was?«

»O, ich will meine Seeburg schon bevölkern. Aber nicht mit solchen lausigen Negern.«

»Mit was für Leuten sonst?«

Karlemann hämmerte wieder einmal gegen meinen Bauch.

»Geheimnis, lieber Freund, Geheimnis!«

Wenn mir jemand etwas nicht sagen will, habe ich auch keine Neugierde mehr. Eine andere Frage fiel mir ein.

»Die von Ihnen beschäftigen Neger — oder Sklaven, wie Sie sie nennen...«

»Sind auch Sklaven. Die Aschantis wollen nur außerhalb ihres Landes keine Sklaverei mehr haben — diese schlaue Bande.«

»Die werden also von ihren Herren ernährt?«

»Jawohl, jede Woche kriege ich so und so viel Mehl, Schafe und sogar ganze Ochsen her.«

»Und das Trinkwasser? Ich vermute doch nicht, dass diese Felseninsel eine Quelle hat?«

»Hat sie auch nicht. Regenwasser. Wird in Zisternen aufgefangen.«

»Aber reicht denn das für 600 Menschen?«

»Wissen Sie, wie viel Regen hier jedes Jahr fällt?«

»Na, ein Meter Regenhöhe ist hier sicherlich.«

»Noch etwas mehr. Und kennen Sie die Größe der Insel oder des Plateaus?«

»Sie sagten es vorhin selbst — 200 mal 300.«

»Noch etwas mehr. Und nun rechnen Sie gefälligst aus, wobei ich bemerke, dass dort oben jeder Tropfen Regenwasser aufgefangen werden kann.«

Ich nahm denn auch Bleistift und Papier zur Hand, setzte pro Mann täglich zwanzig Liter Wasser an, und brachte zu meinem Staunen heraus, dass solch ein Terrain nicht nur für 600, sondern für 6000 Menschen genug Wasser lieferte. So kann man sich irren. Man muss aber nur einmal nachdenken, was ein Kubikmeter Wasser zu bedeuten hat. Das sind zehn Hektoliter.

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen meine Menagerie.«

Wir durchschritten den Gang, welcher in der vierten Etage, sodass also das eigentliche Plateau die Decke bildete, gewissermaßen unter dem Dache, auf der Südseite entlang führte, durch ein ab und zu angebrachtes Fenster genügend hell erleuchtet.

In den zehn Wochen hatte von dem geplanten Werke natürlich noch nicht viel ausgeführt werden können. Immerhin, ich staunte, wie in dieser Zeit schon solch ein Gang geschaffen worden sein konnte, da hätten Meißel nicht viel genützt, die Ingenieure mussten tatsächlich ihre eigenen Mittel besitzen, um den Kalkstein so schnell zu bearbeiten.

Dieser Gang war also der Haupttunnel, der vorläufig geschaffen war, von ihm gingen auch schon viele Gewölbe ab, und in ihnen sah ich Tiere aller Art der afrikanischen Fauna untergebracht. Natürlich nicht sämtliche Vertreter. So vermisste ich, wenn ich mir ein afrikanisches Landschaftsbild vorstellte, unter anderem den Strauß, das Zebra, die Giraffe, das Nilpferd, das Rhinozeros und andere mehr.

»Kommt alles noch«, sagte Karlemann einmal auf meine diesbezügliche Erklärung, »man muss sie mir nur bringen.«

In einem besonderen Raume waren wenigstens fünfzig Affen der verschiedensten Art untergebracht, die Früchte verzehrten und sich sonst amüsierten, wie Affen es zu tun pflegen.

»Wissen Sie, was für ein Exemplar hier fehlt?«

So genau war ich in der Affenwelt nicht bewandert. Der mir bekannteste Affe Afrikas war der Pavian, und der war in verschiedenen Exemplaren vertreten.

»Nein. Welches?«

»Der Gorilla. Und den zu bekommen hat seine Schwierigkeit, obgleich er gerade hier in dieser Gegend zu Hause ist. Aber der Gorilla gilt den Aschantis und allen übrigen Negern als ein verwilderter Mensch, er ist ihnen heilig — nicht gerade heilig, vielleicht gerade das Gegenteil — kurz, sie wollen nichts mit ihm zu tun haben, werden niemals einen fangen oder erlegen. Wenn ich einen haben will, muss ich wohl selbst einmal ins Innere, in die Urwälder.«

»Sind denn diese Affen oder überhaupt alle diese Tiere, die ich hier sehe, schon dressiert?«

»Nicht alle — nur die wenigsten.«

»Aber Sie haben sie in der Dressur?«

»Auch durchaus nicht alle. Das würde mir etwas gar zu viel.«

»Algots, sprechen Sie einmal offen — was haben Sie hier eigentlich vor?«

»Geheimnis! Oder ahnen Sie nichts?«

»Sie wollen hier eine Tierhandlung gründen — von hier aus die zoologischen Gärten und Menagerien mit exotischen Tieren versehen.«

»Ja, so ungefähr.«

Hierzu bemerke ich, dass es damals noch keinen Hagenbeck gab, der jetzt überall in der Welt seine großartigen Stationen hat, wo er wilde und andere Tiere von den Eingeborenen eintauscht oder durch sein eigenes, geschultes Personal einfangen lässt.

Damals war es der Franzose Dechampes, der dieselbe Rolle spielte, aber nicht zu vergleichen mit Hagenbeck. Er hatte eine Station an der Ostküste Afrikas und in Indien, legte sich auch mehr aufs Handeln, dies überhaupt nur so nebenbei betreibend.

Wir standen vor dem großen Raume, in dem der riesige Elefant untergebracht war. Er war gerade beim Frühstück, packte das lose Heu, das ihm ein Schwarzer vorschüttete, mit dem Rüssel zu Ballen zusammen und schob sich diese in den Rachen.

»Der gehört dem König Aquassi. Ein Prachtexemplar, was?«

»Wie in aller Welt haben Sie den nur hierherauf gebracht?«

»Auch mit der Winde. Immer etagenweise, von Galerie zu Galerie. Eine schwere Arbeit war's freilich doch. Einmal riss der Gurt.«

»Und das hat sich der Elefant gefallen lassen?«

»Sein Wärter war bei ihm, dem er unbedingt vertraut und gehorcht. Er ist nämlich in der Gefangenschaft geboren, ist völlig zahm. Besondere Kunststückchen kann er freilich nicht machen, so etwas wissen diese Neger den Tieren eben gar nicht beizubringen. Na, der König wird nicht schlecht staunen, wenn ich ihn nach vierzehn Tagen wieder abliefere.«

»Als ich mit der Winde emporgeleiert wurde, sah ich auch in den unteren Etage Tiere.«

»Das sind neue, zum Teil erst gestern gekommen, die müssen sich erst an die fremde Umgebung gewöhnen, ehe sie hierherauf kommen.«

»Außer vielen Löwen sah ich auch einen sehr kleinen Elefanten, wohl noch ganz jung.«

»Hier ist ein noch jüngerer.«

Es war ein reizendes Elefantenbaby, nicht größer als ein Kalb, aber natürlich viel massiger, mit einer Art von braunschwarzem Pelz bedeckt, wie Elefanten ihn in ihren Kinderjahren immer haben, aus dem Maule ragten schon die Spitzen der zukünftigen Stoßzähne hervor.

Liebkosend legte sich der kleine Rüssel um Karlemanns Hals, dann wurden auch gleich meine Taschen untersucht, die gefundene Tabakspfeife prompt in den Mund gesteckt, gerade wie auch menschliche Kinder es tun, alles gleich in den Mund.

»Der gehört mir«, sagte Karlemann, nachdem er mit einiger Schwierigkeit die hölzerne Pfeife, aber schon plattgedrückt, wieder abgenommen hatte. » Ich hörte, wie man ein Junges gefangen hatte, die Mutter war bei einer großen Jagd getötet worden, das Junge wollte nicht von ihr lassen — da wollte ich's haben, bekam es billig. Wie alt es ist, weiß ich nicht. Vielleicht acht Wochen. Wiegt aber schon zwei Zentner. Fressen tut's noch nicht, es muss noch Milch bekommen.«

»Und woher bekommen Sie denn die Milch?«

»Na, einfach von Kühen. Wegen junger Tiere muss ich eine ganze Menge hier unterhalten, und die sind ja einfach zu füttern, mit Heu, welches mir die Aschantis regelmäßig liefern. Dieses Elefantenkindchen hier braucht alleine drei Kühe für sich, manchmal saugt's auch vier leer.«

»Es saugt an den Kühen?«

»Nein, so war das nicht gemeint. Es bekommt die Milch eingeflößt — früher — jetzt muss es schon selber die Flasche nehmen.«

Diese Erklärung hatte bei Karlemann offenbar einen besonderen Gedanken ausgelöst — er griff in die Brusttasche, brachte eine Flasche zum Vorschein, welche die bekannte Form der Schnapsflaschen hatte, auch richtig gefüllt mit Schnaps, der eine grüne Färbung hatte, und er setzte die Buttel an den Mund.

In diesem Augenblick kam mir zum Bewusstsein, dass dies doch eigentlich ein zwölfjähriger Junge war, der manchmal noch etwas anderes bekommen sollte als Schnaps. Und nun gleich so aus der Pulle zu trinken, die er immer bei sich trug? An Bord meines Schiffes hatte ich bei dem Jungen gar keine Vorliebe für Spirituosen bemerkt, und... dass dem doch so war, das war eigentlich verdächtig.

Dann aber, als Karlemann die Pulle nach einigen kräftigen Schlucken absetzte, hatte ich zunächst einen anderen Gedanken.

»Na, da lassen Sie mich auch mal einen aus der Pulle nehmen.«

Doch zu meiner Verwunderung zog Karlemann die Flasche vor meiner schon ausgestreckten Hand zurück.

»Nein, das ist nichts für Sie — es wäre schade um Sie — aber hier...«

Und zu meinem noch größeren Staunen hielt er die Flasche dem Elefantenkindlein hin, und dieses wickelte um die Pulle zierlich und geschickt die Rüsselspitze, hob sie, den Rachen aufgemacht, den Kopf etwas gehoben, und... gluck gluck gluck — verschwunden war der grüne Schnaps im Maule und Magen des Zweimonatkindes.

»Nanu!«, durfte ich wohl mit Recht staunen. »Sie geben dem jungen Tierchen Schnaps zu trinken? Sie wollen wohl, dass es so klein bleibt? Aber mich wundert nur, dass es das Zeug überhaupt trinkt!«

Es war ein fast misstrauischer Blick, der mich von der Seite traf.

»Wer sagt Ihnen denn, dass es Schnaps ist?«

»Ach so! Es ist gar kein Schnaps?«

»Gott bewahre!«

»Was ist es denn sonst?«

Diesmal machte Karlemann wieder eines seiner verschmitzten Gesichter.

»Das ist mein Geheimnis. Meinetwegen: Medizin — ein stärkendes Mittel. Aber da fällt mir ein — ist es wirklich wahr, dass man klein bleibt, wenn man viel Schnaps trinkt?«


Illustration

»Sie meinen, ob Schnaps das Wachstum hindert? Ach wo, das ist so ein alter Volksaberglaube. Gewiss, der Genuss wird das Wachstum wohl nicht gerade fördern, aber wie man so manchmal erzählen hört, die Eingabe von Schnaps oder überhaupt von Spirituosen solle das Wachstum ganz aufheben — das ist Unsinn. Das sagt man nur zu Kindern, um ihnen das Schnapstrinken zu verleiden.«

»Aber ich habe gehört, dass man Tieren Schnaps eingibt, um sie nicht mehr wachsen zu lassen, zum Beispiel jungen Pferden...«

»Ach, Unsinn. Ich weiß schon, was Sie meinen. Da werden im Zirkus oder sonst wo kleine Pferdchen gezeigt, und da heißt es, die hätten immer Schnaps bekommen. Nein, so beeinflussen lässt sich die Natur nicht. Das ist ganz einfach eine besondere Rasse, die Shetlandsponys zum Beispiel sind doch überhaupt außerordentlich klein, und nun allerdings kann man ja durch lange Züchtung immer kleinere Rassen erzielen. Aber nur nicht so, dass man mit einem Male das Wachsen ganz aufhören lassen kann.«

»So so, hm«, brummte Karlemann vor sich hin. »Wieder etwas gelernt. Ja, der Mensch lernt doch nie aus, so alt er auch wird. Also da ist das alles Unsinn mit dem Schnaps eingeben?«

»Hören Sie, Sie geben dem Elefanten doch nicht etwa wirklich Schnaps ein?! Dass er sich schon an den Genuss gewöhnt hat?«

»Ich sagte Ihnen doch schon, dass es nur ein Kräftigungsmittel ist.«

»Was ist es denn?«

»Ich weiß es selber nicht. Es schmeckt etwas bitter.«

»Na, woher haben Sie es denn?«

»Von den Aschantis. Ich soll eben dem jungen Elefanten immer davon eingeben.«

Der Leser weiß, dass mich der Junge belog, oder mir doch etwas verheimlichte.

O, wie sollte ich diesen Knirps noch kennen lernen, wie der es faustdick hinter den Ohren hatte! Wie konnte ich denn diesen ausgetragenen Jungen belehren? Dem war ich trotz meiner Länge doch nicht im Entferntesten gewachsen!

— • —

25. Kapitel
Was für eine ungeheuerliche
Behauptung Karlemann aufstellt

Originalseiten I.474 — 504

Was ich sonst noch zu sehen bekam, die Fleischerei, die Bäckerei, die Magazine und anderes, will ich überspringen. Karlemann hatte mich wieder auf das Plateau geführt. Trotz der Mittagsglut gingen wir auf demselben immer hin und her, ganz zwecklos. Mein kleiner Begleiter war tief in Gedanken versunken. Ich merkte, dass er mir etwas eröffnen wollte und keinen Anfang fand.

»Wie sieht es denn jetzt mit den Nürnberger Spielsachen aus?«, wollte ich ihm zu Hilfe kommen.

Er fuhr aus seinen Träumereien empor.

»Damit ist nichts mehr zu machen. Alles ist gleich überschwemmt worden. Jetzt kostet das Stück fünf Cent, und die Neger wollen das nicht mehr bezahlen. Es geht ja alles gleich kaputt. Ja, was ich sagen wollte — ja, ich habe immer an Sie gedacht.«

»Das freut mich. Oder hatten Sie ein besonderes Interesse für mich?«

»Hm. Wie man's nimmt. Wie geht's Ihnen denn?«

»Danke.«

»Ich meine Ihr Schiff. Nichts passiert? Keine Havarie gehabt?«

»Gerade dem Schiffe geht's ganz gut.«

»Ist die Dame noch an Bord — Ihre Frau oder was sie sonst is — ist die noch drauf?«

Ich verbiss mein Lächeln.

»Ja, die befindet sich noch an Bord.«

»Das ist Ihre Liebste, nicht wahr?«

Ich hielt es für das einfachste, dies zuzugeben.

»Die hat Geld, was?«

»Hatte sie.«

»Ich denke, sie hat erst in Kapstadt dreißigtausend Pfund bekommen, und so viel soll sie aller Vierteljahre erhalten?«

Nach einer kleinen Überlegung hielt ich es für das beste, Karlemann gleich in alles einzuweihen, wenigstens was unsere pekuniären Verhältnisse anbetraf. Ich sagte, wie die Lady von Leytenstone ihr sämtliches Geld verloren habe, welchen Verlust ich in Kapstadt gehabt, wie uns der Schiffsarzt bestohlen, dass wir nun nichts weiter besäßen als das Schiff, allerdings schuldenfrei, aber kaum imstande, dasselbe zu halten.

Ganz ruhig hatte Karlemann mich angehört. Hierbei bemerke ich, dass ich vollkommen vergaß, an meiner Seite einen zwölfjährigen Jungen zu haben. Eher dachte ich, wenn ich einmal auf ihn herabblickte, an einen Zwerg. Ich hatte einst die Bekanntschaft eines solchen gemacht, schon älter, mit einem Schnurrbart, und das war trotz seiner Kleinheit ein ganzer Mann gewesen, mit dem man sich unterhalten konnte.

»Das klingt ja fast unglaublich«, meinte Karlemann dann, als ich geschlossen.

»Sie werden doch nicht etwa glauben, dass ich Ihnen etwas vorschwindele?«

»Nein, davon ist keine Rede. Hm. Dass Sie immer etwas Heimliches taten, wenn Sie die ganze Mannschaft zur Übung in die Boote schickten, das merkte ich ja auch. Haben Sie denn aber den Arzt in alles eingeweiht?«

Natürlich nicht, und auf welche Weise er zu den geografischen Ortsbestimmungen gekommen, war mir noch immer ein Rätsel.

»Sehen Sie, mir hat dieser Doktor Selo noch niemals gefallen«, sagte dann Karlemann. »Er trug einen Klemmer, und das sagte mir schon genug.«

»Na«, musste ich denn doch lachen, »weil er einen Klemmer trug, brauchte er doch noch kein Spitzbube zu sein.«

»Nicht? Ich habe noch keinen ehrlichen Menschen gesehen, der einen Klemmer trägt.«

»Na, da behaupten Sie doch etwas zu viel.«

»Ganz und gar nicht. Unser Lehrer trug einen Klemmer, und wenn er uns zur Freiviertelstunde hinausschickte, und es hatte jemand sein Frühstück unter der Bank liegen lassen, dann wusste er ganz bestimmt, dass der Lehrer es gemaust hatte, und der Eisenjude, der meinen Vater um hundert Taler beschwindelte, trug ebenfalls einen Klemmer, und der...«

Karlemann führte noch drei andere Beispiele an, dass jeder Mensch, der einen Klemmer trägt, ein Spitzbube ist. Da allerdings kam der zwölfjährige Junge zum Vorschein. Doch man konnte ja auch annehmen, dass er nur Scherz mache.

»Also da haben Sie nun gar nichts mehr?«

»Nicht einmal mehr Kohlen — nicht einmal mehr Proviant und Trinkwasser.«

»Und deswegen kommen Sie hierher?«

»Wieso deswegen?«

»Na, um mich anzupumpen.«

Wie er das herausbrachte — man konnte es ihm wirklich nicht übel nehmen.

»Auf mein Ehrenwort, ich komme ganz zufällig hierher, wusste überhaupt gar nicht, dass Sie sich hier befinden — keine Ahnung hatte ich davon.«

»Gut, ich glaube Ihnen. Und was gedenken Sie nun zu tun?«

Ja, da wusste ich nicht, was ich ihm antworten sollte. Dass ich, solange sich die Lady an Bord befand, auch keine Fracht mehr bekam, hatte ich ihm schon erklärt, und es schien mir, als ob Karlemann sofort den Grund und alles begriffen hätte, obgleich dies doch gar nicht so leicht war, weil er keine Fragen stellte.

»Das einzige ist, wenn wir auf dem Schiffe selbst bleiben wollen, dass ich es zu verchartern suche.«

»Na, da gibt's doch noch andere Auswege.«

»Welche denn?«, rief ich, nicht wenig überrascht.

»Die Hauptsache ist doch, dass man Ihnen das Schiff nicht wegnehmen kann, weil Sie keine Schulden drauf haben.«

»Was nützt das Schiff, wenn man darauf verhungert und verdurstet?«

»Das wäre dann Ihre eigene Schuld. Sie brauchen doch nicht zu hungern und zu dursten.«

»Bitte, geben Sie mit ein Rezept dafür.«

»Mein Gott, das ganze Meer wimmelt doch von Fischen, Sie brauchen Sie doch nur zu fangen, und Trinkwasser bekommen Sie auch umsonst, und an solchen einsamen Küsten finden Sie auch immer genug Treibholz, um die Fische zu kochen oder zu braten, und was Sie nicht aufessen können, wird getrocknet oder eingesalzen, fertig ist die Geschichte. Wie kann man denn nur auf dem Meere Not leiden?«

Karlemann hatte in einem Tone gesprochen, als hätte er wirklich etwas für ihn ganz Unfassbares gehört — so wie ein Zigeuner, der in einer wildreichen Gegend, und gäbe es darin auch nur genug Igel, verhungern sollte — ich aber, der doch auch schon einige Zeit zur See fuhr und Erfahrung hatte, dachte hierüber etwas anders.

»Mit dem Wasser und mit dem Brennholz mögen Sie recht haben. Aber in Bezug auf die Fischerei irren Sie sich.«

»Wieso denn?«

»Haben Sie schon einmal geangelt?«

»Einmal? Oft genug! Mit der Angelei habe ich mir früher ein schönes Stück Geld verdient, besonders mit Karpfen, unser Müller hatte einen Karpfenteich, er zog sie sich selber, da habe ich in mancher Nacht...«

»Ich meine, ob Sie schon einmal auf offener See geangelt oder überhaupt gefischt haben.«

»Nee, das allerdings nicht.«

»Na, sehen Sie. Und wenn Sie auch von Ihrem Boote aus die Angel ausgeworfen hätten, so wäre das doch noch immer nicht das richtige gewesen, da befanden Sie sich noch immer nahe der Küste, wo sich die Fische schon zahlreicher aufhalten.«

Ich schilderte ihm weiter, was für eine Bewandtnis es mit der Fischerei im allgemeinen und mit der Angelei im besonderen auf offener See habe.

Es ist ja durchaus nicht der Fall, dass die Fische so planlos im Meere herumschwimmen. Vielmehr haben auch die Meeresbewohner ihre Heimatstriche, die man Fischbänke nennt, wegen der Bodenbeschaffenheit wirkliche Weidegründe, auf denen sie Nahrung finden, und erst, wenn sich diese erschöpft, suchen die Fische in gemeinsamen Scharen andere Weidegründe auf, bis sich die alten nach einiger Zeit wieder ergänzt haben.

Die bekanntesten Fischbänke sind die von Neufundland und von den Lofoten. Natürlich gibt es noch eine ganze Menge andere, aber selbst in der fischreichen Nordsee können die Netze nicht so an beliebiger Stelle ausgeworfen werden, man muss wissen, wo sich die Fische aufhalten, sonst wird sich im Schleppnetz kein einziger befinden, und nun gar auf hoher See wird man die Angel vergebens auswerfen. Höchstens wird der Köder von einem Hai oder von einem anderen großen Raubfisch weggeschnappt.

»Es mögen ja noch genug Bänke existieren, auf denen es von Fischen wimmelt, und von denen wir noch gar nichts wissen, vielleicht mitten im offenen Meere, aber so, wie Sie sich das vorstellen, dass man einfach das Schleppnetz nachschleift und es von Zeit zu Zeit gefüllt wieder heraufholt, immer Angeln aushängen hat — nein, so ist die Sache nicht.«

Karlemann schaute mich mit einem langen Seitenblicke an.

»Ach, was Sie klug sind!«

»Na, wissen Sie es etwa besser?«

»Allerdings.«

»Sie wollen irgendwo auf hoher See die Angel auswerfen und immer einen Fisch dran haben?«

»Allerdings.«

»Das machen Sie mir einmal vor.«

»Vielleicht haben wir bald die Gelegenheit dazu.«

Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Und ich dachte daran, dass dieser kleine Krösus, der jetzt wie ein ganzer Mann einige hundert Menschen beschäftigte, wie ein Zigeuner zur See gebettelt hatte. Schließlich war alles möglich.

»Und wir können doch nicht immer Fische fangen, um uns nur gerade zu ernähren.«

»Weshalb nicht?«

»Na — fragen Sie doch nicht so — zum Leben gehört doch noch etwas anderes.

»Dann fangen Sie doch Walfische.«

Ich starrte den Sprecher an. Walfische! Dieses Wort wirkte auf mich wie ein Blitz — so erleuchtend fuhr es mir durch den Kopf. Mein Gott, weshalb war ich selbst noch gar nicht darauf gekommen? Ich war noch auf keinem Walfischfänger gewesen, meines Wissens auch noch keiner meiner Leute, und wäre das der Fall gewesen, so hätte der Betreffende doch sicher schon diesen Vorschlag gemacht — und was man nicht kann, das lernt man, gehört hatte ich schon genug davon — ich konnte ja auch einen Harpunier engagieren — und ein Walfischjäger braucht nichts weiter als warme Kleidung und genügend Proviant — dies alles wollte ich mir schon noch verschaffen, Blodwen hatte ja noch genug reichen Schmuck — und wenn uns das Glück nicht ganz und gar verließ, wollten wir es schon zu etwas bringen...

»Walfische«, wiederholte ich langsam. »Kapitän, da bringen Sie mich auf einen Gedanken!«

»Es brauchen ja nicht gerade Walfische zu sein.«

»Was sonst?«

»Nun, das Meer birgt doch Schätze genug, man muss sie nur zu heben wissen.«

»Schätze?«

»Denken Sie nur an die zahllosen Wracks.«

»Deren Lage muss man aber erst kennen, vorausgesetzt, dass sie nicht zu tief liegen.«

»Lagerstätten von Perlmutter und dergleichen.«

»Das sind alles utopische Schätze — Phantasien — da sind mir reelle Walfische lieber.«

Plötzlich blieb Karlemann stehen und blickte mich von unten auf an.

»Ich weiß einen Schatz im Meere.«

»Wo?«

»Ja, wo — so fragt man die Dummen aus«, entgegnete Karlemann ungeniert, was ich ihm nicht verübeln konnte. Aber ich war tatsächlich äußerst gespannt. Denn was dieser Junge sprach und tat, das hatte doch alles Hand und Fuß, und wie er nun auch dies gesagt hatte!

»Tatsache, Sie wissen einen Schatz?«

»Ja.«

»Einen natürlichen oder einen von Menschenhand versenkten?«

»Sie wissen gleich den richtigen Unterschied zu machen. Es ist ein natürlicher, der sich mit der Zeit dort angesammelt hat.«

»Darf ich wenigstens erfahren, was es ist?«

Zunächst blieb mir Karlemann die Antwort schuldig.

»Gold?«

»Nein, kein Gold.«

»Edelsteine?«

»Ich — ich weiß es selber nicht«, kam es schließlich zögernd heraus.

Das war allerdings höchst seltsam. Und schließlich doch nicht. Man kann doch irgendwo einen Schatz vergraben wissen, ohne zu ahnen, woraus er besteht.

Da aber kam mir eine böse Vermutung.

»Von wem haben Sie dies denn erfahren?«

»Das... muss mein Geheimnis bleiben.«

»Hören Sie, das hat Ihnen wohl ein alter Matrose gesagt — oder es kann auch ein junger gewesen sein — er hat Ihnen von einem Schatze erzählt, den er an irgendeiner entlegenen Meeresküste oder irgendwo auf dem Meeresgrunde liegen weiß, ein gesunkenes Wrack oder etwas Ähnliches.«

Um zu verstehen, was ich meine, muss man einmal in eine Schifferkneipe gehen. Ich glaube, es gibt keinen einzigen alten Seemann, der nicht irgendwo seinen Schatz oder speziell sein Wrack weiß, welches nur der Hebung wartet. Und die jüngeren Matrosen machen mit. Das geht eben so von Mund zu Mund, einer vertraut es unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit — meistenteils in einer besoffenen Stunde — seinem besten Freunde und... glaubt selbst nicht daran.

Was mich anbetrifft, so wusste ich in der Südsee eine kleine Insel, die meterhoch mit Perlmutterschalen bedeckt war, eine sehr kostbare Ware, die mich sofort zum vielfachen Millionär gemacht hätte — und zweitens war mir ganz genau die Lage der ›Ariadne‹ bekannt, ein spanisches Schiff, welches vor hundert oder fünfhundert Jahren — so genau kommt es dabei nicht darauf an — an der Küste von Yucatán gesunken war, ganz vollgepfropft mit Gold und Perlen und Edelsteinen, den alten Azteken abgenommen, und dabei war das Wrack in ganz bequemer Tiefe erreichbar.

Aber mir fiel es gar nicht im Traume ein, dorthin zu gehen, um mir meine Schätze abzuholen. Ich wollte immer andere hinschicken.

Nebenbei bemerkt: man findet eine ganz ähnliche Manie bei den deutschen Handwerksburschen, bei den deutschen Walzbrüdern, die überhaupt eine gewisse Ähnlichkeit mit Seeleuten haben, indem sie einmal in der ganzen Welt zu Hause sind, dann sprechen sie mit Stolz von so und so vielen Jahren Wanderzeit, usw. Und unter diesen Pennbrüdern findet man keinen einzigen, der nicht sein Patentchen hat, das er verkaufen will. Das heißt noch kein Patent, sondern seine Erfindung, die er patentieren lassen will, wozu er einen Dummen sucht. Es ist fast ganz genau dasselbe. Beim Seemann kommt nur noch mehr Humor, eine absichtliche Aufschneiderei hinzu.

Hierüber hatte ich meinem kleinen Gesellschafter noch keine Erklärung gegeben, wollte es erst tun, als er mich listig von der Seite anblickte.

»Sie denken wohl, ich glaube an solche Meeresschätze, an Wracks und dergleichen, wovon die alten Kapitäne immer anfangen, wenn der Grog steif genug gewesen ist?«

Dann kam ich also zu spät. Freilich, der Junge stammte ja auch aus Ritnese, der musste so etwas wohl kennen.

»Woher haben Sie die Kunde sonst?«

»Habe durch Zufall etwas erfahren, aber auch ganz sicher...«

Wieder blieb Karlemann stehen und blickte mich steif an.

»Glauben Sie, dass noch einmal ein Erdteil entdeckt werden könnte?«

»Ein ganzer Erdteil? Auf dieser Erde? Nee.«

»Und warum nicht?«

»Mein Gott, warum nicht! Weil eben die Erde schon durchaus erforscht ist. Oder... Sie meinen wohl die Nord- und Südpolarländer? Ja, die müssen erst noch erforscht werden.«

»Nein, ich meine einen noch unentdeckten Erdteil in recht bewohnbarer Gegend.«

»Im Meere? Ich meine einen ganzen Erdteil, der vom Meere umspült ist. Also nicht eine Gegend des inneren Asiens, Afrikas oder Australiens?«

»Ein ganzer Erdteil, der vom Meere umspült ist, in der gemäßigten Zone liegend. Könnte so einer nicht noch entdeckt werden, so wie Kolumbus Amerika entdeckt hat?«

»Na, Karlemännchen, nun hören Sie aber bald auf!«, musste ich jetzt lachen. »Ich habe Sie doch nun schon kennen gelernt. Sie haben in solchen Angelegenheiten doch den Verstand eines erwachsenen Menschen. Dass es noch viele kleine, unerforschte Inseln gibt, das glaube ich, besonders im Australischen Archipel...«

»Ich meine einen ganzen Erdteil, wenn auch nicht allzu groß, aber sicher so groß wie ganz Großbritannien, und wenn das ganz einsam im Weltmeer liegt, warum soll man es dann nicht als einen Erdteil für sich bezeichnen? Und wenn ich Ihnen nun sage, dass es noch solch einen unbekannten Erdteil gibt?«

Und dabei blickte der Junge mich in einer Weise an, dass ich ganz baff wurde.

»Sie wollen mich wohl veralbern?«

»Durchaus nicht, und ebenso wenig bin ich verrückt. Aber, Herr Kapitän — wenn ich Ihnen nun damals, als ich zuerst als Schiffbrüchiger an Bord Ihrer ›Sturmbraut‹ kam, alles erzählt hätte, was ich beabsichtigte, wie ich den Negern im Handumdrehen alles Gold abnehmen wolle, dass ich gleich zum reichen Manne würde, dass ich hier diese Leuchtturminsel, selbst für die Engländer unerreichbar, schon damals als mein Eigentum betrachtete, und so weiter und so weiter — wenn ich Ihnen von diesen meinen Plänen erzählt hätte — würden Sie mich nicht für einen Narren, für einen Wahnsinnigen gehalten haben? Würden Sie mich nicht mindestens verlacht haben?«

Er hatte recht, hundertmal recht!!

»Nein, Herr Kapitän Algots, ich zweifle an nichts mehr, was Sie mir sagen — ich darf gar nicht mehr zweifeln.«

»Und so sage ich Ihnen, dass es in der Welt noch einen unbekannten Erdteil gibt, der erst noch entdeckt werden muss.«

»Unfassbar — mir unfassbar!«, konnte ich trotz meiner vorigen Erklärung nur flüstern.

»Haben Sie nicht eine kleine Ahnung, wo der kleine Erdteil oder die riesig große Insel liegen könnte?«

Ich marschierte im Geiste schnell einmal um die ganze Erde herum, mehrmals, die verschiedensten Breitengrade einhaltend — — nein, da die Polarregionen ja nicht in Betracht kommen sollten, wusste ich auf unserem Planeten keine Gegend, in der sich irgendeine Insel noch hätte verstecken können — und Karlemann sprach von einer Insel, so groß wie ganz Großbritannien, und wenn so etwas ganz isoliert liegt, kann man es ja auch wirklich einen eigenen Kontinent nennen, mit mehr Recht als Europa, welches doch nur ein ganz kleiner Teil von Asien ist, der Geografie nach beurteilt.

»Nein — das ist für mich ein unfassbares Rätsel.«

»Desto besser. Wollen wir zusammen Kumpe machen?«

»Ob wir was zusammen machen wollen?«, fragte ich verwundert.

»Na, Kumpe — Sie wissen doch — Kumpe — wollen wir?«

Da erinnerte ich mich, dieses Wort doch schon einmal gehört zu haben.

»Sie meinen Kompanie?«

»Jawohl — auf deutsch Kumpe. Wollen wir?«

»Inwiefern Kompanie oder Kumpe?«

»Na, wir wollen diesen Erdteil zusammen entdecken.«

Nun soll man aus so etwas klug werden! Ich fing doch wieder etwas zu zweifeln an.

»Wo soll denn der Erdteil liegen?«

»Westwärts. Geradeso wie auch Kolumbus westwärts fuhr, um Indien auf dem Seewege zu erreichen und dabei zufällig Amerika entdeckte.«

Der Junge besaß doch größere Kenntnisse, als ich manchmal annahm.

Und wie ich so Kolumbus auf seiner Fahrt nach Amerika verfolgte — nur so, weil man sich doch bei allem etwas denken muss — — da plötzlich ging mir eine Ahnung auf.

»Diese große, noch unbekannte Insel soll doch nicht etwa in — in...«

»Na, na?«, ermunterte mich Karlemann, als ich die Vermutung gar nicht auszusprechen wagte.

»... in der großen Fucusbank von Sargasso liegen?!«

»Erraten.«

Ja, dann freilich!

Ich will hier gleich anführen, was der Leser darüber wissen muss.

Der Fucus oder Seetang, auf portugiesisch sargaço, ist eine Wasserpflanze, die auf der nördlichen Hälfte unserer Erdkugel überall im Meere vorkommt. Es ist die größte und längste Pflanze, welche es gibt, indem man schon solche von tausend Metern Länge gemessen hat. Die lederartigen, aber hellgrünen Blätter schwimmen, durch eine besondere Art von Luftblasen gehalten, auf dem Wasser, die ganze Pflanze wächst nach unten, bis die Wurzel den Meeresboden erreicht.

Besonders häufig kommt der Fucus an der portugiesischen und an der schottischen Küste vor. Jeder Sturm wirft hier wie dort ungeheure Massen von Seetang an den Strand. In beiden Ländern wird er gesammelt und entweder gleich als Dünger ins Innere des Landes gefahren oder getrocknet und sofort an der Küste verbrannt. Die Asche heißt in Portugal Varec, in Schottland Kelp, aus ihr wird der größte Teil des im Handel vorkommenden Jods gewonnen, wie überhaupt alle Seepflanzen jodhaltig sind, der Seetang am allermeisten.

Dann gibt es mitten im Meere solche schwimmende Inseln von Seetang, Fucusbänke genannt, kleine und große, und die allergrößte ist die von Sargasso, zwischen Afrika und Amerika. Diese ganze Gegend des Atlantischen Ozeans wird als Sargassomeer bezeichnet.

Die Ausdehnung dieser Fucusbank geht vom 16. bis zum 38. nördlichen Breitengrade, das wäre eine Länge von etwa 300 geografischen Meilen, und ihre Breite beträgt durchschnittlich 160 geografische Meilen. Ihre Grenzen sind durch Meeresströmungen ziemlich scharf bestimmt, sodass alles, was darüber hinaus wuchert, abgerissen wird und eben an Küsten antreibt.

Kann der Leser sich vorstellen, was für eine grüne Wiese das ist, die dort auf offenem Meere seit Urzeiten schwimmt und bis ans Ende der Welt dort schwimmen wird?

50 000 geografische Quadratmeilen — fünfmal so groß wie Deutschland — und da ist nur die undurchdringliche Kernmasse gemeint, da sind nicht die unzähligen Ausläufer mitgerechnet, die ganze Masse, welche noch so daran herumschwabbelt. Sonst müsste man das Ganze mindestens 200 000 Quadratmeilen schätzen.

Kolumbus war der erste Mensch, der uns von dieser Fucusbank berichtete. Am 16. September 1492 erblickte er bei Sonnenaufgang eine grüne Wiese, die er nicht gut für Land halten konnte, sie war ja nicht über der Wasserfläche erhaben, sie schaukelte doch auch — dann erkannte er Seetang — willig teilte sich die schwimmende Wiese vor den Schiffen — es kamen immer mehr, immer größere solcher Wiesen, immer schwerer kamen die Schiffe vorwärts, aber nun konnten diese Segelfahrzeuge doch auch nicht wieder zurück, jetzt hieß es also durch!! — und in drei Tagen hatten sich die kühnen Schiffer denn auch glücklich aus der furchtbaren grünen Umschlingung befreit.

Wie den Leuten damals zumute gewesen ist, können wir heute gar nicht mehr nachfühlen. Kolumbus hatte auch außerordentliches Glück gehabt. Einmal hatte er einen starken Ostwind hinter sich, dann hatte er zufällig gerade eine wenig bewucherte Fahrstraße gefunden, welche noch heute von Dampfern und wohl auch einmal von einem wagemutigen Segelschiffkapitän benutzt wird.

Heute bedeutet diese ungeheure Fucusbank von Sargasso für die Schiffahrt kaum noch eine Gefahr, wenigstens keine größere als ein festes Land. Man kennt eben genau ihre Grenzen, welche, wie schon gesagt, durch Meeresströmungen scharf bestimmt sind, und so betrachtet man diese schwimmenden Inseln ganz einfach als festes Land, von dem man sich fernzuhalten hat, und ein Leuchtturm ist nicht nötig, weil schon hundert Meilen zuvor Seetang genug treibt, was man auch in finsterster Nacht bemerkt, und dann muss eben der Kurs geändert werden, um nicht näher an die wirklich gefährlich werdende Bank heranzukommen.

Es gibt genug Schiffe, welche dennoch hineingeraten sind, und deren Mannschaft erzählen kann, was sie durchgemacht hat. Schreckliches! Mehr und mehr häufen sich am Bug die grünen Stricke mit den breiten Blättern an, immer mehr hemmen sie die Fahrt, sie klettern empor, und wenn sie das Schiff fest haben, dann wuchern sie auch an den Seiten empor, von hinten — und dann brütet die Sonne mit furchtbarer Macht auf der grünen, bei Windstille unbeweglichen Fläche, ein schwüler Dunst steigt empor, daraus wird ein faulender Gestank, atemversetzend, hirnbetäubend — — bis ein frischer Wind die Luft reinigt und das Schiff wieder manövrierfähig macht, es aus der grünen Umstrickung reißt.

So wissen viele Leute zu erzählen. Wenn der frische, erlösende Wind aber nun nicht kommt? Dann kann auch niemand davon erzählen. In grüner Umstrickung findet alles seinen Tod.

Wieviel Schiffe mögen in der Fucusbank von Sargasso spurlos verschwunden sein? Man weiß es nicht. Doch da ist gar nichts so Schreckliches dabei. Es ist nur etwas Ungewohntes. Ebenso könnte man fragen: von wie vielen Schiffen, die nie wieder den Heimathafen erreicht haben, weiß man nicht, an welcher Küste sie gescheitert sind? Es ist schließlich doch ganz genau dasselbe. Der vorsichtige Schiffer muss eben dieser Fucusbank genau so fern bleiben wie jeder Küste, an der er nichts zu suchen hat — — und schließlich findet das Schiff trotz aller Vorsicht seinen Untergang im offenen Meere bei Sonnenschein und ruhiger See, und es sinkt mit Mann und Maus hinab auf den Meeresgrund, und niemand weiß, wo es liegt, wo es geblieben ist. Seemannslos! — —

Ja, in dieser Fucusbank von Sargasso, in diesem Zentrum von 50 000 deutschen Quadratmeilen, das noch von keinem Schiffe durchkreuzt worden war, da konnte wohl noch eine mächtige Insel liegen, so groß wie Großbritannien, in seiner Einsamkeit mit Recht ein Kontinent für sich selbst zu nennen, und niemand hatte auch nur eine Ahnung davon — — bis auf diesen Jungen hier!

»Also in der Fucusbank von Sargasso?«

Karlemann nickte nur.

»Wo da? Können Sie mir die Lage näher bezeichnen?«

»Ich kann es, aber... vorläufig werde ich das natürlich nicht tun.«

Das konnte ich ihm auch gar nicht übel nehmen.

»Woher haben Sie davon Kenntnis bekommen? Darf ich wenigstens das erfahren?«

»Nein, auch das nicht.«

»Und Sie wollen in dieses grüne Wirrsal eindringen?«

»Ja, das will ich, und dazu möchte ich mich mit Ihnen verbinden. Machen Sie mit? Halbpart, und es gibt dabei etwas zu verdienen.«

»Auf der Insel ist ein Schatz zu heben?«

»Wie ich sagte. Freilich kein gemünztes Geld, wohl nicht einmal Gold, sondern... ich weiß es nicht... Irgend etwas, woran man viel Geld verdienen kann — — ungezählte Millionen.«

»Und Sie wissen ganz, ganz bestimmt, dass sich dort wirklich ein Festland befindet, mag dieses nun noch so groß, oder noch so klein sein?«

»Ganz, ganz bestimmt.«

»Und da wissen Sie nicht einmal, worin die Reichtümer bestehen, die darauf zu finden sind? Wie soll ich mir das zusammenreimen?«

Karlemann zögerte lange, druckste auch so, bis er endlich sagte:

»Na, ich kann es ja gestehen. Eigentlich ist es ein Verrat, schon mehr Diebstahl, aber... na, das geht Sie überhaupt gar nichts an, das kann ich machen, wie ich will. Kurz, ich habe einmal das Gespräch zweier Männer belauscht.«

»Was für zwei Männer waren das? Kapitäne in Ihrer Heimat?«

»Hören Sie, Jansen, wenn Sie darüber noch weiter fragen, sage ich Ihnen überhaupt gar nichts mehr!«

Es musste wirklich etwas ganz... Strafwürdiges vorliegen, will ich sagen, um nicht gleich an eine Nichtswürdigkeit zu denken, dass der Junge dies so geheimhalten wollte. Noch mehr merkte ich dies seinem ganzen Gebaren an.

»Sehen Sie«, fuhr er gleich fort, »ich kann die Sache auch allein machen, oder aber, wenn ich glaube, allein dazu nicht imstande zu sein, auch einen anderen finden. Es gibt doch noch andere Kapitäne, die sich auch vor dem Teufel nicht fürchten, zumal wenn es dabei etwas zu verdienen gibt. Was?«

»Verwegene Kapitäne gibt es noch genug«, stimmte ich bei.

»Aber ich habe Sie doch nun schon so ziemlich kennen gelernt, und... ich traue Ihnen wie keinem zweiten Menschen — und... Sie stellen auch nicht immer solche Fragen wie andere... und nun sollte ich mich geirrt haben?«

»Nein, Algots, das haben Sie nicht. Also ich werde nichts mehr fragen, als was ich unbedingt muss, sonst will ich nicht in Ihre Geheimnisse dringen. Also Sie haben das Gespräch zweier Männer belauscht — ob das nun Kapitäne in Europa oder Neger in Afrika oder Südseeinsulaner waren, soll mir ganz gleichgültig sein. Und was nun weiter?«

»Der eine war schon nach jener Insel vorgedrungen, hatte dieselbe gefunden, sie wenigstens gesehen — konnte sie aber nicht betreten, weil ihm Trinkwasser und Kohlen ausgegangen waren, und er musste den gerade einsetzenden günstigen Westwind benutzen, um wieder das Freie erreichen zu können. Das gelang ihm auch. Und er suchte einen anderen, der ihm Geld borgte, dass er eine neue Expedition ausrüsten konnte. Dieses Gespräch belauschte ich.«

»Aha, das ist wenigstens schon etwas Handgreifliches. Also, Algots, Sie vertrauen mir wirklich?«

»Unbedingt. Aber... es gibt eben solche Sachen, die man nicht verraten, nicht einmal andeuten darf, und das betrifft jene beiden Männer, die — die — nämlich mit mir verwandt waren.«

Da ging mir schon eine kleine Ahnung auf, weshalb diese Heimlichkeit, ich sollte es dann auch bestätigt finden. Doch jetzt sagte ich deswegen noch nichts.

»Na, wenn Sie mir so unbedingt vertrauen — dann sagen Sie mir doch gleich, wo sich diese Insel befindet. Es handelt sich ja um eine geografische Ortsbestimmung?«

»Allerdings.«

»Denn dass man in dem grünen Wirrsal nichts finden kann, wenn man nur so drin herumfährt, obgleich ich noch nicht einmal weiß, wie das zu machen ist, das kann ich begreifen.«

»Niemals werden Sie etwas finden. Oder es wäre ein Zufall, wie beim blinden Huhn mit der Perle.«

»Also schießen Sie los. Geben Sie die geografische Ortsbestimmung.«

Noch ein kurzes Zögern, dann schien sein Entschluss gefasst zu sein.

»Aber Sie dürfen es keinem anderen Menschen verraten.«

»Niemandem.«

»Auch Ihrer Frau nicht — oder was sie sonst is.«

»Die gehört doch auch mit zu den Menschen«, musste ich wieder lächeln.

»Auch nichts aufschreiben.«

»Nun hören Sie endlich auf oder... suchen Sie sich einen anderen.«

»Geben Sie mir Ihr Ehrenwort!«

»Auf mein Ehrenwort!«

»Das genügt!«, sagte Karlemann, und dann deklamierte er schnell her:

»21 Grad 36 Minuten 45 Sekunden nördliche Breite, 43 Grad 2 Minuten 17 Sekunden westlich von Greenwich.«

Er hatte sein tiefstes Geheimnis ganz vernehmlich aussprechen können, wir befanden uns völlig allein auf dem weiten Plateau, erleichtert atmete er jetzt auf, und ich zog sofort meinen Taschenatlas hervor, suchte nach, wobei ich bemerke, dass ich für solche geografischen Zahlen ein ausgezeichnetes Gedächtnis besitze. Andere Zahlen, wie Geschichtsdaten, interessieren mich viel weniger, am allerwenigsten solche von Geldsummen.

»Das ist gerade die Mitte der Fucusbank — gerade das Zentrum jenes Teiles, welches alle Schiffe wie die gefährlichste Rifformation fliehen müssen.«

»Sie sagen es.« »Das ist aber nur ein Punkt von wenigen Quadratmetern.«

»Von diesem Punkte hat Ferd... festes, gebirgiges Land erblickt.«

Er hatte Ferdinand sagen wollen — der Mann musste ihm sehr gut bekannt gewesen sein. Von Verwandten hatte er ja auch schon gesprochen.

»Und dann hat der Kapitän wieder umgedreht?«

»Es war kein Kapitän.«

»Na, dann etwas anderes! Seien Sie doch nicht so wortklauberisch. Dann ist der Mann also wieder umgekehrt?«

»Ja.«

»Wie konnte er da wissen, dass es sich um eine große Insel handelte, die man als einen ganzen Kontinent bezeichnen könnte?«

»Weil er einige Tage an der Küste entlanggefahren ist, ohne ein Ende abzusehen; aber wegen trüber Witterung war er nicht imstande, eine geografische Berechnung zu machen, bis an jenem Tage, da er wieder umkehren musste.«

Ah so! Das war allerdings eine genügende Erklärung. Mein Misstrauen musste immer mehr schwinden, wenn auch noch genug Fragen offen blieben.

»Ein gebirgiges Land?«

»Wenigstens hüglig, obgleich diese Hügel vielleicht auch nur aus aufgehäuftem Seetang bestehen konnten.«

»Konnte das überhaupt nicht nur aufgehäufter Seetang sein, der sich dort unverrückbar festgesetzt hat?«

»Nein, er sah auch felsigen Boden genug.«

»Und die Schätze, oder die wertvollen Naturalien, die sich des Abholens lohnen?«

»Weiß ich nicht.«

»Auch jener Mann nicht?«

»Doch! Jedenfalls! Ich konnte die Unterhaltung der beiden nur sehr abgerissen belauschen, und gerade das entging mir.«

»Gar keine Andeutung?«

»Millionen liegen dort aufgespeichert — ist das keine genügende Andeutung?«

»Hm, wie man's nimmt! Der Mann fand den Rückweg wieder?«

»Er erreichte glücklich wieder das offene Meer.«

»Es war ein größeres Schiff?«

»Jedenfalls ein großer Dampfer.«

»Dieser Mann glaubte sich doch wahrscheinlich im alleinigen Besitze des Geheimnisses.«

»So versicherte er.«

»Wo bleibt denn da die andere Besatzung, die doch auch dabei war?«

»Der Dampfer ging bald darauf mit Mann und Maus unter.«

»Nur der Kapitän kam mit dem Leben davon?«

»Es war nicht der Kapitän. Oder meinetwegen denn — nur er blieb am Leben, konnte sich retten.«

Jetzt bestätigte sich meine Ahnung. Offenbar lag ein Verbrechen vor. Zur Wahrung seines Geheimnisses hatte der Betreffende das ganze Schiff mit allem Lebendigen absichtlich untergehen lassen, nur sich selbst hatte er rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Und es waren Karlemanns Verwandte gewesen — daher diese sorgfältige Verschwiegenheit — vielleicht sogar einem Edelmut entstammend.

»Und jener Mann, lebt er noch?«

»Nein, er ist tot.«

»Und der, dem er es erzählt hat?«

»Ist gleichfalls tot.«

Ich mochte wiederum fast an ein Verbrechen glauben. Doch ich sagte nichts davon.

»Wie lange ist das nun schon her?«

»Als ich das hörte? Vier Jahre.«

»Und wann hatte der Mann die Expedition gemacht?«

»Im Jahre zuvor. Er war eben erst zurückgekommen.«

»Und die geografische Ortsbestimmung? Haben Sie die auch richtig gehört?«

»Ganz deutlich, sie wurde mehrmals wiederholt!«

»Können Sie sich da auch nicht geirrt haben? Sie als Sachkundiger wissen recht wohl, was da eine Zahl zu bedeuten hat.«

»Irrtum ganz ausgeschlossen. Oder ich will's Ihnen zu Ihrer Beruhigung nur sagen, die geografische Ortsbestimmung, von jenem Manne selbst geschrieben, befindet sich in meinen Händen.«

Eines Verbrechens hielt ich diesen Jungen nicht für fähig. Höchstens ein kleiner Diebstahl — es mochte ja ein Onkel gewesen sein, der Junge hatte gewusst, wo das Blatt nach dem Tode zu finden gewesen war, hatte es sich gleich angeeignet.

»Ja, wie hat der Dampfer da nun aber so weit vordringen können?«

»Das frage ich Sie.«

Der Junge konnte trotz aller sonstigen Offenheit manchmal einen recht lauernden Ausdruck annehmen.

»Hat der betreffende Mann davon nicht erzählt?«

»Das wahrscheinlich, aber ich habe nichts davon zu hören bekommen.«

»Der Dampfer muss doch dazu eine ganz besondere Vorrichtung gehabt haben, um die Wasserschlingpflanzen zu durchschnei...«

»Natürlich, wir bringen vorn große Messer an«, unterbrach mich Karlemann mit Hast, als wolle er nicht, dass ich ihm eine Idee wegnehme. »Halten Sie es dann für möglich, in der Fucusbank herumzufahren, ohne Gefahr, darin stecken zu bleiben?«

Ja, das hielt ich für möglich. Auf diese Weise hätte die bisher noch unbekannte Region der großen Fucusbank schon längst erforscht sein können — wenn irgend jemand Interesse daran gehabt hätte. Aber wer vermutete denn etwas anderes als die ewig grüne Wiese, wer hatte schon an ein Geheimnis, an festes Land gedacht?

»Und außerdem«, fügte Karlemann meiner diesbezüglichen Erklärung bei, »konnte man erst nach Erfindung des Dampfers daran denken, der sich vom Winde unabhängig gemacht hat; denn sonst wäre so etwas doch gar zu gefährlich gewesen.«

Dem konnte ich nur beistimmen.

»Hat denn der betreffende Mann sonst nichts von Gefahren oder doch von Abenteuern erzählt?«

»Nicht dass ich wüsste. Ich habe wenigstens nichts davon gehört.«

Ich weiß nicht — in dieser Beziehung traute ich meinem kleinen Freunde nicht recht. Etwas Verstecktes hatte er doch immer an sich.

»Nun, wollen Sie sich auf die Entdeckungsfahrt machen?«

»Zu welchen Bedingungen?«

»Halbpart!«

»Sie meinen, was ich finde, das teilen wir zusammen?«

»Ja. Was die Expedition einbringt.«

»Und Sie wissen wahrhaftig nicht, was es dort geben kann?«

»Wahrhaftig nicht! Auf Ehre nicht!«

Diesmal glaubte ich ihm. Und mein Entschluss war schon längst gefasst gewesen. In mir regte sich die Abenteuerlust. Nur eines war noch zu bedenken.

»Sie wissen doch, wie es mit mir, mit meinem Schiffe steht.«

»Sie meinen, Sie haben kein Geld.«

»Nicht einmal so viel, um mich für drei Wochen zu verproviantieren.«

»Well, ich zahle Ihnen jeden Vorschuss, den Sie wünschen. Oder einen anderen Vorschlag, um Ihrer Bescheidenheit zuvorzukommen.«

Wie dieser Junge nur sprechen konnte! Nein, das war kein Junge, sondern ein alter Zwerg!

»Welchen Vorschlag?«

»Ich will Ihr Schiff chartern, auf ein ganzes Jahr. Wie viel verlangen Sie pro Tonne und Tag?«

Ob der wusste, was das kostete?

»Sagen wir«, fuhr er fort, als ich noch überlegte, »pro Tonne einen halben Dollar. Ihr Schiff hat 1000 Tonnen, das sind pro Tag 500 Dollar, das sind für das Jahr rund 180 000 Dollar. Sind Sie damit zufrieden?«

O, wie genau dieser halbwüchsige Junge in allem und jedem Bescheid wusste! Ich hätte genau dieselbe Summe gefordert, das war und ist tatsächlich der Miet- oder Charterpreis für einen Dampfer, wenigstens im Durchschnitt. Je kleiner ein Dampfer, desto höher wird der Preis. Bei 1000 Tonnen traf es fast genau zu.

Hierbei sieht man auch, was mit einem Schiffe zu verdienen ist. Für mein Schiff, welches 100 000 Dollar gekostet hatte, bekam ich pro Jahr fast die doppelte Miete. Freilich sind hiervon die Heuern — doch das ist ebenso Nebensache wie die Beköstigung der Leute — und Kohlen abzurechnen. Immerhin verzinst sich ein Schiff mit mindestens 100 Prozent. Nun aber kommt die Versicherung hinzu — die ist es, die alles wieder auffrisst, dass für Aktionäre auch nicht viel mehr als eine zehnprozentige Dividende bleibt. Und ein Schiff muss doch versichert sein, das ist etwas anderes als ein Haus, von dem bei einem Feuer doch wenigstens der Grund und Boden stehen bleibt; aber wenn ein Schiff wegsackt, dann ist eben alles futsch! Oder man spielt va banque, und solche Spieler zur See gibt es ja allerdings auch genug. Aber ein gutes Ende hat wohl noch keiner genommen. Deren Vorsatz ist ja von vornherein, mit ihrem Schiffe auch ihr Leben zu verlieren — wie Spieler es eben machen. Und ich hätte es früher auch so gemacht, war noch jetzt bereit dazu.

»Ich zahle Ihnen«, fuhr Karlemann fort, »180 000 Dollar, in der Annahme, dass die ganze Expedition ein Jahr währt. Was Sie daran ersparen, gehört Ihnen. Diese Summe ziehe ich dann von Ihrer Hälfte am Gewinn ab. Das ist wohl recht und billig; denn ich bin der Urheber der ganzen Idee. Gesetzt aber den Fall, Sie finden auf der Insel gar nichts, was des Mitnehmens wert ist, dann trage ich die Kosten des ganzen Unternehmens allein, ich habe die 180 000 Dollar verspielt, ich verlange nichts von Ihnen, auch nicht, was von dieser Summe übrig geblieben ist. — Herr, kann ich Ihnen ein günstigeres Anerbieten machen? Und glauben Sie nun endlich, dass es sich um etwas Reelles handelt? Oder denken Sie, ich bin so einer, der 180 000 Dollar nur so zum Fenster hinauswirft?«

In der Tat, ich war wieder einmal baff! Ja, hier musste wirklich etwas ganz Besonderes vorliegen.

»Abgemacht!«, rief ich sofort.

»Ihre Hand her!«

Ich gab sie ihm.


Illustration

»Etwas anderes gibt es nicht bei mir. Etwas Schriftliches braucht es nicht bei mir.«

Wenn jemand ebenso dachte, dann war ich es.

»Ich kann Sie doch nicht betrügen«, fügte Karlemann noch hinzu, »vielmehr muss ich es sein, der Ihnen unbedingt traut, und das tue ich.«

In der Tat, so war es. Wenn ich nun dort einige Berge Gold fand, wer sagte ihm da, dass ich die Berge nicht für mich behielt?

Ja aber, da war doch Karlemann selbst...

»Mir scheint fast, dass Sie selbst gar nicht mitgehen wollen?!«

»Will ich auch nicht.«

»Warum nicht?«

»Ja, mein lieber Jansen, was soll ich denn dabei tun? Sie sind doch selbst Mann genug, um so etwas durchzuführen, in dieser Hinsicht kann ich mich doch nicht mit Ihnen vergleichen, und ich habe hier noch genug zu tun, auch noch genug zu verdienen und... ich traue Ihnen eben. Was soll ich da die Expedition mitmachen?«

Wenn ich diesen KnabenCharakter nicht schon erwogen hätte, so hätte ich abermals misstrauisch werden können. Aber ich wurde es nicht, eben weil ich diesen Charakter begriff.

Denn im Grunde genommen war dieser deutsche Zigeunerknabe gar nicht so besonders abenteuerlich und romantisch veranlagt.

Ist denn etwa der Zigeuner, der Indianer romantisch und abenteuerlich veranlagt zu nennen? Nein, eigentlich nicht.

Der Zigeuner zieht unstet umher, lebt lieber vom Stehlen als von ehrlicher Arbeit, weil dies in seiner innersten Natur liegt, und dasselbe gilt von der amerikanischen Rothaut, die von der Jagd lebt, und deren Lust der Schleichkrieg ist. Wollte man aber einen Zigeuner oder eine Rothaut abenteuerlich nennen, so trifft das gar nicht zu.

Der Junge, der Mann ist abenteuerlich veranlagt, der eine bequeme Heimat verlässt, um das Leben eines Zigeuners oder eines Indianers zu führen! Das ist ein gewaltiger Unterschied!

Nun allerdings hatte dieser deutsche Junge ja ebenfalls seine Heimat verlassen: aber doch nicht so aufs Geratewohl, sondern mit allem ausgerüstet, was zu seiner Verfügung stand, mit der wohlgeplanten Absicht, möglichst schnell viel Geld zu verdienen — und diese Pläne waren nur für andere abenteuerlich, nicht für ihn selbst! Ich hatte überhaupt schon erkannt, dass es diesem Jungen immer nur aufs Geldverdienen ankam, dass er sonst durchaus nicht auf Abenteuer ausging.

Kurz, in mir stieg deswegen kein Misstrauen auf.

»Well, ich bin mit allem einverstanden, und ich werde tun, was nur ein Mann tun kann. Wie stellen Sie sich nun das mit den Messern vor?«

Das wurde ebenfalls sofort hier oben auf dem Plateau besprochen. Karlemann offenbarte mir seinen sicherlich wohlüberlegten Plan, der aber auch gar nicht anders hätte ausfallen können.

Es handelte sich also darum, am Bug des Schiffes eine Vorrichtung anzubringen, welche die hemmenden Wasserschlingpflanzen leicht durchschnitt. Das konnte nur ein Messer sein, das von Deck aus bis hinab an den Kielsteven reichte. Der Stahl musste verzinkt werden, um dem ätzenden Seewasser besser widerstehen zu können, darüber vielleicht noch so ein Lack wie der von meinen Kassetten, verschiedene solcher Messer, die nach Bedarf ausgewechselt wurden, noch eine besondere Vorrichtung, um solche Messer leicht einzuschieben und wieder zu entfernen, also auszuwechseln.

Wir gingen die nächsten Häfen durch, wo dies alles in Werkstätten gefertigt werden konnte. Außer Kapstadt kam wohl nur noch Monrovia in Betracht.

»Wissen Sie was — fahren Sie gleich nach New York. Dort finden Sie alles, was Sie brauchen, dort geht es am schnellsten, und New York ist schließlich auch nicht viel weiter als Kapstadt.«

»Hm. Dann könnte ich auch gleich von Westen her in die Fucusbank eindringen, und das ist um so günstiger, weil doch meistenteils Westwind herrscht, da sparen wir Kohlen.«

»Das können Sie machen, aber erst müssen Sie noch einmal hierher kommen.«

»Weshalb?«

»Weil... ich die ganze Vorrichtung erst noch einmal sehen möchte.«

Mir kam es fast vor, als hätte er noch einen anderen Grund. Er hatte hinter dem ›Weil‹ eine so verdächtige Pause gemacht. Doch das war mir schließlich ganz gleichgültig, ich stand jetzt gewissermaßen in Karlemanns Diensten.

»Aber jede Verzögerung kostet Ihr Geld.«

»Geld, lieber Jansen, spielt bei mir gar keine Rolle, vorausgesetzt, dass ich es doppelt oder lieber dreifach wiedergewinne. Sie müssen sich erst mit Trinkwasser versehen?«

»Auch mit Proviant und, wenn ich dampfen soll, auch mit Kohlen.«

»Dann nehmen Sie auch Kohlen ein, gleich als Ballast, wenn die hier an der afrikanischen Küste nicht gar zu teuer sind.«

»In New York sind sie natürlich bedeutend billiger.«

»Wie viel beträgt der Unterschied?«

»Die Tonne mindestens einen halben Dollar.«

»Dann nehmen Sie die Kohlen lieber in New York.«

Also doch immer sparsam! Ja, ich wusste recht wohl, dass dieser Junge knickrig sein konnte. Um so mehr aber wuchs mein Vertrauen zu seinem jetzigen Unternehmen. Für etwas Zweckloses gab der eben keinen Pfennig aus.

»Und wo verproviantieren Sie sich?«

Da ich doch sowieso an Monrovia vorüber musste, schlug ich dieses vor.

»Gut, so gehen Sie erst nach Monrovia. Aber bleiben Sie zuvor noch einige Tage hier, wir werden noch vieles zu besprechen haben.«

»Und von wann an gilt der Charterungskontrakt?«, fragte ich wohlweislich.

»Natürlich von heute an, von diesem Augenblicke ab. Was abgemacht ist, ist abgemacht. Sie erhalten für den heutigen Tag schon 500 Dollar. Während Ihres Hierseins sind Sie und Ihre Leute natürlich meine Gäste. An Proviant ist hier kein Mangel.«

Das war mehr als nobel. In so etwas ließ sich der Junge nun nicht lumpen. Dass er alle Ursache hatte, mich aufs Zuvorkommendste zu behandeln, sollte ich freilich erst später erfahren.

»Und inzwischen«, setzte er noch hinzu, »wird natürlich mit keinem Worte über unser Ziel gesprochen.«

»Auch gegen die Lady nicht?«, fragte ich, unangenehm berührt, schon eine Verwicklung voraussehend.

»Gegen die?«, war seine knabenhaftgeringschätzende Antwort. »Na, der dürfen Sie natürlich erst recht nichts sagen, wenn's auch Ihre Liebste ist. Ein Weib bleibt immer ein Weib.«

Ich schluckte alles, was in mir aufstieg, hinunter. Es war schließlich doch noch ein Knabe, der sich fühlte — ich empfand fast nur das Humoristische dabei.

»Sagen Sie der nur«, fuhr er fort, »ich hätte Ihr Schiff gemietet, zu einem geheimnisvollen Unternehmen, was dabei verdient wird, teilen wir. Sie wissen aber selbst noch nicht, was es ist — oder meinetwegen, es gelte irgendwo einen Schatz zu heben — passen Sie auf, wie verrückt die gleich ist, wie die gleich auf alles eingeht.«

»Meinen Sie?«, fragte ich zweifelnd, auch in Wirklichkeit ganz anders denkend.

War ich nicht doch gleich etwas zu voreilig gewesen, die Zusage zu geben? Schließlich hatte doch auch Blodwen etwas mitzusprechen, und sie, welche durchaus keine fremde Fracht nehmen wollte, würde sie sich in die Dienste dieses Knaben stellen?

»Nu, was meinen Sie wohl!«, versicherte aber Karlemann. »Wenn Sie da noch zweifeln, da kenne ich die Lady doch noch besser als Sie, wenn's auch Ihre Liebste ist. Ich kann doch nicht umsonst jedes Tier dressieren, und da muss man doch immer ganz genau wissen, was es will.«

Ob dieses Vergleiches musste ich diesmal aus vollem Halse lachen.

Und der Junge sollte wirklich wiederum recht behalten!

Als ich dann Blodwen wiedersah, die nicht über die erste Galerie hinausgekommen war, wo sie noch immer vor dem Käfig mit den vielen Löwen stand, führte ich es so aus, wie Karlemann es mir angegeben hatte.

Also wir wollten ›Kumpe‹ machen. Irgend etwas Geheimnisvolles — was, wusste ich selbst noch nicht — wahrscheinlich einen Schatz heben.

Und Blodwen? Sie war gleich Feuer und Flamme. Größer war höchstens nur noch ihre Neugierde, der ich aber widerstand.

»Vortrefflich, ausgezeichnet!!«, rief sie ein Mal über das andre fröhlich. »Jetzt werden wir auch solche Seezigeuner wie dieser Karlemann! Das ist's ja gerade, was ich wollte, diesen Vorschlag hätte ich dir selber gemacht!«

— • —

26. Kapitel
Ich werde von Karlemann noch mehr eingeweiht

Originalseiten I.504 — 534

Völlige Windstille hielt uns sowieso auf der Felseninsel festgebannt. Alles stand uns offen, und was Blodwen da zu sehen bekam, das trug nur dazu bei, ihr Verlangen zu steigern, sich mit diesem deutschen Zigeunerknaben zu verbinden, womöglich für immer.

Denn so etwas Abenteuerliches, Phantastisches war ja gerade nach ihrem Geschmack.

Ich stellte einmal eine Betrachtung an, mich daran erinnernd, damals den Ausdruck gebraucht zu haben, dass es mit unserer Freiherrlichkeit zur See nun vorbei sei.

Da also fiel mir Folgendes ein: wenn so einem Adligen das Geld ausgeht, so greift er in den seltensten Fällen zur ehrlichen Arbeit. Das war schon im grauesten Altertum und im Mittelalter so — wer sich nicht mehr schlicht und recht durch direkten Straßenraub ernähren konnte, den er von seiner heimatlichen Burg aus betrieb, der wurde zum heimatlosen Wegelagerer, oder er nahm teil an einem Kreuzzug oder stellte sich in andere Kriegsdienste — kurz, zum ehrlichen Gewerbe eigneten sie sich alle nicht. Immer musste etwas Abenteuerliches dabei sein. Und heutzutage ist es ja fast noch genau so. Es soll durchaus nicht etwa gesagt werden, dass ein kassierter Edelmann ohne Land und Leute ein Hochstapler werden muss — häufig ist dies allerdings der Fall; denn vom Schuldenmacher bis zum Hochstapler ist doch kein weiter Schritt — aber einen nüchternen Beruf, der seinen Mann redlich nährt, ergreift so einer doch selten. Meist gehen sie ins Ausland, werden dort Offiziere, treten also auch in fremde Kriegsdienste, wenn nicht in Spanien oder in der Hundetürkei, dann in Abessinien oder sonst bei einem schwarzen König, werden dort General oder Minister, oder sie werden Kunstreiter, Pferdebändiger... na kurz und gut, irgend etwas, was abseits der breiten Heeresstraße liegt.

Man muss nur in der Welt herumgekommen sein, um das beurteilen zu können. Dazu muss ich noch bemerken, dass dies gewöhnlich die tüchtigsten Kerls sind.

Nun, Blodwen war ja nicht nur durch Heirat adlig geworden. Sie hatte schon blaues Blut gehabt. Ihre Großmutter väterlicherseits war ja die Schwester der tollen Lady Hamilton gewesen. Lady Blodwen hatte selbst an Tollheit schon genug geleistet, sie hatte sich ganz auf See häuslich einrichten wollen, das Geld hatte sie dazu gehabt, und da dieses ausging und sie die See, das Schiff dennoch nicht verlassen wollte, da wurde sie eben so eine abenteuerliche Lady zur See, bereit, sich mit allem zu befassen, sich durchs Leben zu schlagen — nur nicht auf irgendwelche vernünftige Weise!

Übrigens, muss ich hier gestehen, war ich ja ein ganz ähnlich veranlagter Charakter. Wohl wollte ich immer arbeiten, aber etwas Abenteuerliches musste dabei sein, sonst behagte es mir wenig.

Und wie ich hieran dachte, mir der Gedanke an die Lady Hamilton durch den Kopf ging, da fiel mir auch gleich etwas anderes ein.

»Himmel, Blodwen, wir sind doch noch gar nicht so arm!«

»Weshalb nicht? Weißt du etwas?«, fragte sie gespannt.

»Ich nicht, aber du.«

»Ich wüsste etwas?«

»Na, wir verfügen doch noch über Schätze! Weißt du, wir sprachen doch auch einmal über Lady Hamilton, du nanntest sie deine Großtante, aus meinem Munde wolltest du ihren Lebenslauf hören, damit konnte ich dir dienen — ich erzählte, wie die Sibylle des Libanon oder Königin von Tadmor schließlich im größten Elend gestorben sei, und da sagtest du, so arm könnte sie doch wohl nicht gestorben sein, du hattest etwas erfahren... und da brachst du ab. Na, nun heraus mit der Sprache: wo hat die Königin von Tadmor ihre ungeheueren Schätze, die sie sich mit Hilfe von Geistern verschafft hat, versteckt? Auf, hin, dass wir die gleich heben! So ein paar Truhen mit Gold und Geisteredelsteinen kämen mir gerade recht gut zu passe.«

Blodwen aber machte nach meinen begeisternden Worten ein recht niedergeschlagenes Gesicht.

»Da machst du erst eine so spannende Einleitung... mir ist gar nichts bekannt.«

»Du sagtest es aber doch, machtest so eine Andeutung.«

»Ach, das ist ja nur so eine Vermutung. Meine Mutter erzählte mir einmal, ihre Schwiegermutter hätte von der Lady Hamilton aus Syrien einen Brief bekommen, so einen geheimnisvollen, sie sollte nach ihrem Tode da und dort nachgraben...«

»Schon gut, schon gut!«, unterbrach ich sie lachend, und dass ich nur Scherz machte, war ja gleich meinen einleitenden Worte anzumerken gewesen.

Denn wenn Blodwen von solch einem Schatze gewusst hätte, da hätte sie doch schon vorher in unserer Geldnot daran gedacht!

»Aber, Blodwen, warum hast du denn damals mit so einem tiefsinnigen Gesichte solch eine Andeutung gemacht?«

»Ach Gott, um — um — um dir etwas zu imponieren«, gestand sie jetzt schamhaft ein.

»Aber deine Mutter hat dir wirklich von solch einem Briefe erzählt?«

»Gewiss, das hat sie. Nur nicht sie selbst, sondern meine Großmutter soll ihn von der Lady Hamilton bekommen haben, ein Testament, in dem meine Großmutter, Lady Hamiltons Schwester, zur Universalerbin aller Geisterschätze eingesetzt wurde. Aber meine Großmutter soll ja ebenfalls stark übergeschnappt gewesen sein.«

»Hast du den Brief oder das Testament einmal gesehen?«

»Niemals.«

»Deine Mutter?«

»Auch nicht. Die hatte es wiederum nur von ihrer Schwiegermutter. Ach, das ist ja überhaupt alles Unsinn. Die Lady Hamilton ist wirklich in tiefster Armut gestorben; denn hätte die noch etwas gehabt, dann wäre sie doch auch bis zum letzten Atemzuge danach aufgetreten, die war doch immer so beschaffen.«

»Ich fragte nur deshalb, weil solch eine Handschrift einer immerhin berühmten Person doch als Rarität einen gewissen Wert hat.«

»Nun, wenn wir einmal nach New York kommen, können wir ja nachsehen. Meine Großmutter hatte nämlich in New York ein Haus, in dem sie immer gewohnt hat, ich habe sie beerbt, und sie ist erst nach jener unglücklichen Geschichte gestorben, sodass ich auch das freie Verfügungsrecht über diese Erbschaft habe. Bekommen habe ich freilich nicht viel, sie hatte sich schon vorher alles Besitzes entäußert, es ihrer Schwiegertochter, also meiner Mutter vermacht, sich nur eine Leibrente vorbehalten.«

»Und das Haus in New York?«

»Das ebenfalls. Es ist nur ein kleines baufälliges Häuschen in der Lost Street. In diesem hatte sie die ersten Jahre ihrer glücklichen Ehe verbracht, deshalb wollte sie auch drin sterben. Dieses Haus ist mein Eigentum, ich habe es verschließen lassen, es muss alles noch so sein wie bei ihrem Tode. Da können wir, wenn du dich für so etwas interessierst, ja einmal nachsehen.«

Wenn es mit dem Geisterschatze nichts war, dann hatten wir hierdurch doch wenigstens entdeckt, dass Blodwen auf dem teuren Grund und Boden von New York noch ein Haus besaß, und wenn wir noch mehr solcher Entdeckungen machten, wozu ich nur ihrem Gedächtnis zu Hilfe zu kommen brauchte, dann brachten wir auf diese Weise vielleicht noch ein ansehnliches Vermögen zusammen.

Ich hatte also zu Blodwen nur gesagt, dass ich von Karlemann für ein Jahr engagiert worden wäre, als sein Kompagnon, er wolle mich irgendwohin schicken, auf eine ganz abenteuerliche Fahrt, bei der eine schwere Menge Geld zu verdienen sei — aber wie und wo, das wolle mir der kleine Geheimniskrämer noch nicht mitteilen. Jedenfalls etwas ganz, ganz Geheimnisvolles!

Dasselbe sagte ich der vor dem Hauptmast versammelten Mannschaft. Solch eine Erklärung hatte ich als Kapitän ja eigentlich gar nicht nötig, die Leute waren für eine sogenannte wilde Reise gemustert worden, das heißt, für eine Reise ohne bestimmtes Ziel, auf ein Jahr.

Aber zwischen uns lag doch ein etwas anderes Verhältnis vor. Ich hatte ja meine besten Freunde zusammengesucht und von diesen mir wieder wackere Männer empfehlen lassen, um für das verfolgte Weib einen sicheren Schutz zu haben, und das hatte ich ihnen damals ebenfalls gesagt, weil doch sonst das Bewachen einer verfolgten Unschuld nicht Sache von Matrosen und Heizern ist, außerdem charterte Karlemann selbst das Schiff auf ein Jahr, sodass der Kontrakt der Leute unterdessen ablaufen musste — kurz, ich hielt es diesmal für angebracht, vor der angetretenen Mannschaft einen Speech zu halten.

»So und so«, sagte ich, »ich habe in Kapitän Algots Auftrag eine abenteuerliche Expedition zu machen, zu der ich ganze Männer brauche. Um was es sich eigentlich handelt, weiß ich selbst noch nicht, jedenfalls ist es etwas ganz Abenteuerliches, und ich denke doch, ihr lasst mich nicht im Stich. Karlemann versichert mir, dass ich schweres Geld dabei verdienen soll, und dass dann auch ihr daran beteiligt seid, das wisst ihr doch von mir.«

Nun, das letzte wäre gar nicht nötig gewesen. Für alle diese Matrosen und Heizer galt genau dasselbe, was ich von Blodwen gesagt, und die hatte des angedeuteten Verdienstes auch mit keiner weiteren Frage erwähnt.

Denn ich hatte ja meine Leute ausgesucht, die meisten waren intime Freunde von mir gewesen, mit denen ich schon als Matrose gefahren war, manches Abenteuer zu Wasser und zu Lande bestanden, manches Renkontre mit der Polizei ausgefochten hatte, und diese meine ehemaligen Freunde hatten wieder andere gehabt, die ich selbst nicht kannte, und so war denn eine nette abenteuerliche Gesellschaft zusammengekommen, jederzeit bereit, mit mir einen Einfall in eine südamerikanische Republik zu wagen, um mich dort als König auszurufen, wenn ich ihnen das nur etwas plausibel machen konnte — bereit zu jedem anderen tollen Streich.

Dasselbe galt sogar von den Offizieren, also von den beiden Steuerleuten und den beiden Ingenieuren. Die beiden ersteren hatte ich lange Zeit persönlich gekannt — tüchtige Kerls, aber zu jedem Abenteuer bereit — auch den zweiten Maschinisten hatte ich schon gekannt, der war sogar mein Jugendgespiele gewesen, wir hatten zusammen die Obstgärten und noch anderes unsicher gemacht, und der war noch heute zu allem fähig, obgleich er — was man aber oft vereint findet — sonst ein ganz solider, sparsamer Mensch war — hatte er mir doch auch in Kapstadt mit zweihundert Pfund ausgeholfen — und dieser hatte mir den ersten Maschinisten als einen verwandten Charakter zugeführt, der trotz seiner schon weißen Haare immer noch behauptete, dass Dummheiten nur dazu in der Welt seien, um ausgefressen zu werden.

Also ein allgemeines, jubelndes Beistimmen.

»Der Klabautermann geht doch mit?«

Natürlich, so lange sie den an Bord hatten, gingen sie ja überhaupt nicht vom Schiff. Und hatte er uns denn nicht bisher immer Glück gebracht? Wir hatten schon zwei fürchterliche Stürme überstanden, wir hatten anderes Schwere schon durchgemacht, und noch keine Rahe war uns gebrochen, auch noch kein menschlicher Arm, kein Finger.

Ist das etwa kein Glück? Dass ich viel Geld verloren hatte, dass uns die Baumwolle verbrannte — — bah, was bedeutet denn alles das, wenn man noch Hartbrot hat und gesunde Zähne und einen gesunden Magen, um es zu verarbeiten — was geht denn überhaupt über gesunde Knochen und fröhlichen Lebensmut?!

Und mein Unglück, auch wie mich der Schiffsarzt so schmählich betrogen, das alles trug ja nur um so mehr bei, jeden dieser wackeren Männer mit ehernen Ketten an mich zu fesseln. Wer in der Foxl geäußert hätte, er habe die Geschichte jetzt satt, wolle das Schiff verlassen, der wäre wohl sofort gelyncht worden. Aber so etwas fiel ja eben niemandem ein.

Und was ich ihnen nun jetzt offenbart hatte! Mich mit Karlemann verbinden, mit diesem gottverd... Lausejungen! Das heißt nämlich, sie alle blickten natürlich zu dem Knirps mit ungeheurer Hochachtung empor, sie waren dabei gewesen, wie er dem Kididimo alles abgekaupelt hatte, schon vorher, diese Fahrt im offenen Boote um ganz Europa herum, und nun hier diese Insel, eigentlich unantastbar, jetzt sein Eigentum, und was man nun darauf alles zu sehen bekam... na, kurz und gut: wenn Käpt'n Karlemann mit uns ist, dann muss es uns diesmal glücken!! Mit dem hauen wir doch die ganze Welt übers Ohr.

Die absolute Windstille hielt vier Tage an, und wir hatten überhaupt gar keine Möglichkeit, mit unserem Schiff die Insel wieder zu verlassen. Wohl war ein genügender Kohlenvorrat für die drei kleinen Dampfboote vorhanden — ein dritter, alles Karlemanns Eigentum, befand sich nämlich zurzeit in Legala — doch der genügte bei weitem nicht, unser Schiff von tausend Tonnen bis nach dem nächsten Kohlenhafen zu befördern, an Monrovia gar nicht zu denken, und wir selbst hatten nur so viel an Bord gehabt, um noch eine Woche lang unser Essen kochen zu können.

Wir waren während dieser Zeit Karlemanns Gäste, alles stand uns offen, und meine Leute sowie Blodwen amüsierten sich über die Menagerie vortrefflich.

Wir durften zuschauen, wie der kleine Kerl in dem tiefen Zirkus ein Tier nach dem andern vornahm und es seine täglichen Exerzitien durchführen ließ, Elefanten und Löwen und Panther und Hunde und Katzen und Hirsche und anderes Viehzeug, und manchem mochte wohl das Herz stocken, wenn wir so dicht an dem Rande des Zirkus standen und dort unten wurde so ein mächtiger Löwe mit Peitschenhieben traktiert, weil er nicht auf Kommando ›schön‹ machen wollte, und diese Höhe von drei Metern war doch für solch einen Löwen gar nichts, mit einem Satze wäre er mitten unter uns gewesen, und die waren noch nicht so ganz zahm wie die Pudel, Karlemann hatte noch manchem Tatzenschlage auszuweichen, manchmal sah es aus, als würde sich solch ein furchtbares Raubtier im nächsten Augenblick auf ihn stürzen, ihn zerfleischen.

Ich machte Karlemann einmal Vorwürfe deshalb. Das sei doch ein großer Leichtsinn. So ein Löwe oder Panther könnte doch einmal herausspringen, könnte unter den friedlichen Negern furchtbares Unheil anrichten, von ihm selbst und uns, die er zum Zuschauen direkt einlud, gar nicht zu sprechen.

Aber Karlemann lächelte schlau.

»Nee, da springt keener.«

»Weshalb denn nicht?«

»Zuerst haben sie es getan — oder doch probiert — aber das habe ich den Viechern sofort verleidet und das ein für allemal.«

»Wie haben Sie denn das gemacht?«

»Ja, mein lieber Kapitän, so fragt man die Dummen aus«, lautete wiederum seine augenblinzelnde Antwort. »Das wird nicht verraten, das ist Geschäftsgeheimnis — da müssen wir schon noch mehr Kumpe gemacht haben.«

»Wie? Sie haben es also fertig gebracht, den Tieren ein für allemal abzugewöhnen, dass sie auf den Rand des Plateaus springen?«

»Ganz und gar unmöglich. Die getrauen sich nicht einmal, dort unten die Wand zu berühren, als wäre es glühendes Eisen.«

Rätselhaft, wie der Junge das gemacht hatte! Vielleicht wirklich mit Feuer, hatte den Rand früher mit glühenden Eisenplatten belegen lassen. Doch dies waren alles nur Vermutungen.

»Aber die Tiere sind doch noch gar nicht richtig gezähmt.«

»Zahm wie die Lämmer.«

»Na, ich danke! Sie haben sich doch fortwährend vor Tatzenschlägen zu hüten.«

»I, mein lieber Jansen, das ist doch alles Dressur.«

»Was, wenn der Löwe oder Panther nach Ihnen mit der Tatze schlägt, das ist ihm sozusagen künstlich beigebracht?!«

»Natürlich.«

»Und wenn der Löwe faucht und brüllt und Miene macht, auf Sie zu springen?«

»Alles Dressur. Macht er alles auf Kommando. Na ja, wenn ich sie einmal einem Publikum vorführen will, dürfen sie doch nicht wie die wirklichen Schafe sein, sie müssen doch noch ein bisschen wilde sein, dass die Weiber kreischen; andernfalls, mein lieber Jansen, würde ich mich hüten, hier unten mit so einem wilden Vieh allein zu sein, ich würde Ihnen und Ihren Matrosen doch nicht sagen, dass sie sich so dicht heranstellen können — wenn ich nicht meiner Sache so sicher wäre. Alles künstliche Dressur!«

Ich war wieder einmal sprachlos vor Staunen. Und was ich dachte, hörte ich dann von meinen Leuten sagen, die das ebenfalls mit angehört hatten.

»Es ist wirklich ein Teufelskerl! Der Junge hat zwar noch keine Haare unter der Nase, aber desto mehr schon auf den Zähnen — der spielt nicht nur mit Menschen, sondern der ist imstande, noch des Herrgotts ganze Schöpfung umzukrempeln.«

Ja, das schien wahrhaftig so!

Also wir bekamen nur die Tiere zu sehen, welche schon vollständig dressiert waren. Aber wie er das machte, das wussten wir noch immer nicht. Dazu hatte er in der vierten Galerie zwei besondere Räume, auch so als Manege eingerichtet, hier nahm er die Tiere in den ersten Dressuren vor, aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Diese beiden Räume besaßen schon Türen, und sie waren immer verschlossen, wenn wir dahinter Peitschenknalle und wohl auch Revolverschüsse hörten.

In der ersten Zeit hatte Blodwen mehrmals versucht, Karlemann zu bewegen, ihr doch schon zu sagen, wohin er uns denn schicken wolle, um was es sich handle, was für ein Geheimnis das sei.

Der zwölfjährige Junge hatte ihr immer mit einer Geschicklichkeit auszuweichen gewusst, die dem ältesten europäischen Diplomaten Ehre gemacht hätte. Dann aber konnte er auch kurz werden, und ich selbst bat Blodwen, doch von solchen neugierigen Versuchen abzustehen, und sie hatte Einsicht gehabt.

Sie konnte überhaupt schon froh sein, dass sie Karlemanns Insel nur betreten durfte und hier geduldet wurde; denn dieser Junge war doch offenbar ein geschworener Weiberfeind — was in bezug auf Mädchen so viele Jungen sind, und fast immer werden gerade das dann die tüchtigsten Männer — der wollte sich doch seine Seeburg nicht von ›Frunslüt verswienegeln‹ lassen.

Aber er hatte doch schon die Gastfreundschaft der Lady genossen, sie war doch auch ›meine ›Liebste‹, und so zeigte er genug Takt, um ihr im allgemeinen höflich entgegenzukommen.

Als wir nun wieder einmal auf die Tierdressur zu sprechen kamen, als eine ganze Bande solcher nackter afrikanischer Hunde auf einen Händeklatsch sich gleichzeitig in der Luft überschlug, da konnte sich Blodwen nicht mehr bezähmen.

»Ach, bitte, bitte, mein liebstes Karlemännchen, verraten Sie mir doch, wie Sie das machen, dass so ein Hund einen Salto mortale schlägt«, schmeichelte sie.

In der Tat, das hätte auch ich zu gern gewusst. Mir war ganz unbegreiflich, wie man das einem Hunde beibringen kann. Und Karlemann hatte gerade seinen galanten Tag.

»Na, weil Sie der Schatz von meinem Freunde sind — und wir wollen doch auch Kumpe machen — und später vielleicht noch mehr, als Sie jetzt denken — da kommen Sie mal mit.«

Er führte uns in einen unter der Decke ausgemeißelten Raum, den wir ja außer zu den Dressierstunden sonst auch betreten durften. Der Raum war rund ausgemeißelt, an den Wänden waren einige Haken und Ringe und Ketten einzementiert, sonst nichts weiter.

Karlemann entfernte sich noch einmal, kam mit einem afrikanischen Hunde zurück. Man dürfte solche afrikanische Hunde schon in zoologischen Gärten gesehen haben. Sie sind so groß wie ein Schakal, oder wie ein Wolfshund, und das Charakteristische an ihnen ist, dass ihr helles Fell mit so kurzen Haaren besetzt ist, dass sie ganz nackt aussehen — oder sie haben überhaupt gar keine Haare, wie der chinesische, der aber viel kleiner ist.

Es ist die einzige Hunderasse, die im tropischen Afrika aushält, hier überhaupt heimisch ist. Denn sonst geht jeder andere Hund in diesen Gegenden Afrikas bald zugrunde. Hauptsächlich stirbt er an einem Eingeweidewurm, der gerade im Innern dieses afrikanischen Hundes, arabisch Ranir genannt, sein Dasein fristet und von diesem ausgezeichnet vertragen wird, wohl mit zu seinen Lebensbedingungen gehört. Ebenso ist es ja auch mit den Pferden. Im Innern Afrikas geht jedes europäische Pferd in Bälde zugrunde, ebenfalls an Würmern, erzeugt durch die Tsetsefliege, der nur das Zebra, das man ebenfalls als afrikanisches Pferd bezeichnen kann, widersteht, und dann eine besondere, einheimische Rasse.

Benutzt wird der Ranir von den Negern nur zur Bewachung des Dorfes, führt aber ein halb wildes Leben, ist zu gar nichts abzurichten, am wenigsten zur Jagd.

»Er kann schon verschiedene Kunststückchen, über den Stock springen und anderes, auch schon apportieren, aber Salti schlagen noch nicht. Passen Sie auf, wie ich das mache.«

Ein Neger brachte zwei lange Gurte aus Segeltuch. Diese wurden hüben und drüben an der Wand befestigt, übereinander, und der Hund selbst zwischen den beiden straff gespannen Gurten, sodass er auf den Beinen stand, sich aber sonst nicht bewegen konnte. Die Gurte selbst waren an beiden Seiten in Scharnieren drehbar.

»Hoppla!«, rief Karlemann, klatschte dabei in die Hände, der Neger drehte schnell die Gurte herum, und ganz unfreiwillig musste der Hund einen Salto mortale rückwärts schlagen, wofür er ein Stück Zucker bekam.

Hoppla — wieder herum — und so immer weiter, und dazwischen immer Lob und Zucker. Jetzt war es mir begreiflich. Einfach genug — wenn man es weiß! Zuletzt würde der Hund nur noch ein Händeklatschen zu hören brauchen, und sofort würde er sich rückwärts überschlagen, und dann konnte ihm auch das Überschlagen nach vorwärts beigebracht werden.

»Und so einfach ist alles.«

»Wie lange brauchen Sie dazu, ehe das der Hund von allein macht?«

»Je nachdem. Dieser hier drei Tage lang täglich eine halbe Stunde, und er wird es kapiert haben, das Entweder — Oder: Zucker oder Prügel. Ein kluger Pudel begreift es in der ersten Viertelstunde, überschlägt sich dann sofort allein. Nach vorwärts ist viel schwerer.«

Ich habe dann gesehen, wie Karlemann einer gewöhnlichen Hauskatze, die man überall in der Welt findet, also auch in den Hütten der ansässigen Neger, innerhalb einer halben Stunde lehrte, über den Stock zu springen.

Er nahm ein halbjähriges Kätzchen, von dem er versicherte, es zum ersten Male in der Hand zu haben. Er bückte sich, nahm die Katze zwischen die Beine, hielt sie fest und warf ein Stückchen Fleisch vor sie hin.

Die Katze, offenbar etwas verhungert, wollte gleich drauf zu, doch schnell hielt Karlemann, sie loslassend, vor sie die Hände hin, etwas hoch, sie wollte unten durch, das wurde durch Tieferhalten der Hände verhindert — schließlich sprang sie drüber, fraß das Fleisch.

Dieses Experiment wurde mehrmals wiederholt — vielleicht nach dem zwölften Male sprang die Katze sofort, in der Erwartung, hinter den Händen ein Stück Fleisch zu finden, und obgleich das nicht der Fall war, bekam sie doch sofort ihre Prämie.

Dass Katzen über die vorgehaltenen Hände springen, ist wohl nichts Neues, und so wird es ihnen gelehrt.

Daraufhin nahm Karlemann ein Brett, warf ein Stück Fleisch darüber — die Katze sprang über das Brett, und das zweitemal sprang sie von selbst, ohne das Fleisch gesehen zu haben, erhielt es natürlich hinterher.

Dann kamen wieder die Hände daran, das Untendurchkriechen ward ihr immer verwehrt, aber ohne Anwendung von Gewaltmitteln, und bald sprang die Katze immer höher, zuletzt auch über einen vorgehaltenen Stock — und noch war keine halbe Stunde verflossen, als Karlemann, aufrecht stehend, einen Stock hinhielt, gar nicht direkt vor die Katze — aber diese dachte beim Anblick des Stockes sofort an den Leckerbissen, sprang darüber und bekam ihn auch.

Dann weiter wurden sechs offene Kisten hingestellt, in jede ein Stückchen Fleisch hineingelegt, und die Katze sprang aus einer Kiste in die andere.

Nun war es allerdings seltsam, dass die Katze nicht kletterte, nicht auf den Rand der Kistenwand, sondern frei hinübersprang. Da war aber die Dressur mit den Brettern und dem Stocke vorausgegangen. Und wieder eine halbe Stunde später wurden zehn kleine Barrieren aufgestellt — hoppla! — und die Katze sprang schlankweg über die zehn Barrieren, eine nach der anderen nehmend, nämlich in der Erwartung, hinter jeder ein Stückchen Fleisch zu finden, und ein solches auch nach der zehnten Barriere aus der Hand des Meisters empfangend.

Wer nicht glaubt, dass das zu machen geht, probiere es selbst. Es ist überaus einfach — wenn man es weiß!

»Größere Tiere, die ich in der Manege des Zirkus vorführen will, kann ich aber hier nicht dressieren.«

»Weshalb nicht?«

»Weil der Raum zu klein ist. Es ist eben keine richtige Manege. Wissen Sie denn nicht, um was es sich hierbei handelt?«

Ich musste verneinen.

»Nun, wie groß ist denn oben die eingemeißelte Manege im Durchmesser?«

»Vielleicht dreizehn Meter.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich taxiere so.«

»Dann haben Sie ein gutes Augenmaß. Aber nicht nur ungefähr, sondern ganz genau dreizehn Meter ist sie, und das muss sie sein, wenn ich denke, die Tiere einmal im Zirkus zu zeigen. Und wissen Sie nicht, warum der Durchmesser der Manege genau dreizehn Meter sein muss?« Nein, das wusste ich nicht. Karlemann gab mir die Erklärung.

Alle Zirkusmanegen, ob nun in Russland oder in Spanien oder in Amerika oder in Australien, haben genau denselben Durchmesser, den von dreizehn Metern. Das ist eine internationale Abmachung, deren Ursprung gar nicht mehr zu verfolgen ist.

Weshalb das so ist? Weil doch auch die Kunstreiter international sind, sie gehen von einem Zirkus in den anderen, von einem Lande ins andere, und ändert sich der Umfang der Manege etwas, in der die Pferde doch in schräger Stellung im Kreise herumlaufen, so kann das Pferd die gewohnten Kunststückchen nicht mehr ausführen, es wird unsicher, versagt gänzlich, der auf dem Rücken stehende Artist, selbst kann nicht mehr tanzen, nicht mehr springen, kommt in die größte Gefahr. Denn um die Manege zu umkreisen, bedarf es so und so vieler Galoppsprünge, und die Manege braucht nur einen, nur einen halben Zentimeter weiter oder enger zu sein, dann passt die gewisse Anzahl von Galoppsprüngen, auf welche das Pferd wie auch der Künstler nun einmal geeicht sind, nicht mehr hinein, die Schrägstellung wird eine andere, die Aufstellung der Barrieren muss verändert werden — die ganze Vorstellung wird in Frage gestellt, und dasselbe gilt von allen Tieren, welche im Kreise herumzulaufen haben. Man muss nur bei einer Probe beobachten, wie die Artisten vorher die Manege abzirkeln, wie sie sich mit Blaustift ihre geheimen Zeichen machen — ganz genau an dieser Stelle ist die Barriere anzusetzen, an dieser hat das Pferd zu springen, an jener er selbst, und kommt er in einen anderen Zirkus, dessen Manege einen anderen Durchmesser hätte, so würde eben die ganze Dressur versagen und der Reiter selbst nicht mehr fähig sein, seine halsbrecherischen Kunststückchen auszuführen. Es war sehr lehrreich, was ich da zu hören bekam. Dabei vergaß ich ganz die Frage, woher der Junge dies alles wusste, und ob er denn beabsichtige, mit seinen Tieren in Zirkussen aufzutreten.

O, ich sollte noch manches erfahren, was dieser Junge alles vorhatte, einiges ebenso praktisch wie anderes wieder maßlos phantastisch.

Ich hatte gesagt, dass sich die tiefliegende Manege in der Mitte des Plateaus befand. Das war nicht so ganz der Fall. Sie befand sich etwas mehr nach der westlichen Seite. Direkt in der Mitte des Plateaus erhob sich ein kleiner Turm, d. h. nur etwa einen Meter hoch, darüber war eine Winde angebracht, ich sah dort Neger arbeiten.

Als ich hinging, entdeckte ich, dass es nichts weiter war als ein ummauerter Brunnenschacht von etwa zwei Metern Durchmesser und mindestens schon zwanzig Meter Tiefe. Das erkannte ich nur aus der Länge der Seile, an welchem die Eimer heraufgezogen wurden, gefüllt mit Steinschutt, der von den Negern fortgetragen und einfach ins Meer geworfen wurde. Wenn die dort unten meißelten, so war das schon gar nicht mehr zu hören, man musste sich denn direkt darüber beugen.

»Soll das ein Brunnen werden?«, fragte ich die Schwarzen verwundert.

Diese grinsten, sie verstanden kein Englisch.

Da kam Karlemann. Ich stellte dieselbe Frage an ihn.

»Glauben Sie, dass man hier zuletzt noch auf Wasser kommt?«, war seine Gegenfrage.

Das bezweifelte ich sehr. In diesem Felsen, der sich aus dem Meere erhob — nein, das glaubte ich nicht, obgleich alles möglich ist. Aus dem Mädchenfelsen, der in der Nähe von Konstantinopel mitten im Meere steht, bricht ja auch frisches Wasser hervor, es gibt sogar süße Quellen mitten im Meere, das Salzwasser wird von dem frischen, welches leichter ist, verdrängt.

»Nun, ich probier's. Ich habe ja genug Sklaven, es kostet mich ja nichts. Ist es wahr, dass das Innere der Erde Feuer ist?

Ich bejahte, gab etwas von meinen geognostischen Kenntnissen zum besten, verbesserte das Feuer in Gesteinsmassen, die sich in feuerflüssigem Zustande befinden.

Aufmerksam hatte mir Karlemann zugehört.

»Dann muss es wohl so sein«, meinte er nun sinnend, »früher dachte ich immer, der Lehrer wolle uns etwas vorflunkern, dass wir nicht gar so tiefe Löcher in die Erde machten.«

»O, nein«, lachte ich, und jetzt kam das naive Kind doch einmal zum Durchbruch, »so schnell geht das nicht, was meinen Sie wohl!«

»Na, wie tief muss man denn da graben?«

»Die feste Erdrinde wird auf mindestens 100 Kilometer geschätzt.«

»Hm, das ist ein bisschen viel. Es wird jeden Tag 30 Zentimeter herausgemeißelt, das sind im Jahre 100 Meter — und 100 000 Meter sagen Sie? — da hätte ich ja hier tausend Jahre meißeln zu lassen, ehe ich an das Feuer komme. Nee, das erlebe ich nicht.«

Was, der Junge wollte wohl gar von hier bis an den Mittelpunkt der Erde dringen?!

»Und Sie vergessen wohl ganz, dass die Wärme dabei auch immer zunimmt.«

»Um wie viel?«

»Man schätzt, bei je 100 Metern immer um einen Grad. Das geht aber erst von einer gewissen Tiefe an.«

»Na was meinen Sie, wie tief kann ein Mensch dringen?«

»Ich kenne Bohrlöcher und Schächte von tausend Metern. Sagen wir, nach 100 Metern soll die Normaltemperatur, welche ungefähr 12 Grad beträgt, überschritten sein. Bei 100 Metern immer einen Grad Zunahme. Na, tiefer als 3000 Meter wird man wohl niemals dringen können, das wären dann schon 42 Grad, das ist wohl die höchste Temperatur, die ein Mensch aushalten kann, die z. B. auch in den Kesselräumen der Dampfer vorkommt.«

»Hm. 3000 Meter? Da müsste ich dreißig Jahre lang meißeln lassen, und das könnte ich erleben. Na, wir wollen mal sehen, was schließlich herauskommt.«

Sollte man über so ein Vorhaben lachen oder staunen? War das ein phantastisches Beginnen oder ein geniales Unternehmen? Ich zog es vor, diesen Jungen zu bewundern.

Wegen der tropischen Regengüsse, wie ich einen solchen während dieser Zeit erlebte, war der Schacht ummauert, damit kein Wasser hinabfloss. Für kritische Leser muss ich deshalb erwähnen, dass der tiefe Zirkus mit Absicht nicht ummauert war. Bei dem Regenguss floss eine gewaltige Wassermenge hinein, welche dann durch den Tunnel weitergeleitet wurde, um gleich die unteren Räume, in denen die Tiere untergebracht waren, zu säubern, und was nicht gebraucht wurde, konnte noch immer, in eine besondere Zisterne geleitet, als reines Trinkwasser verwendet werden, wozu das Plateau immer in peinlichster Sauberkeit gehalten wurde. So war hier alles und jedes auf das praktischste eingerichtet, auch gar nichts schien vergessen worden zu sein.

Als ich einmal in den unteren Räumen herumstöberte, die schon ausgemeißelt worden waren, entdeckte ich einige gewaltige Kisten, die eine war geplatzt, und ich erkannte nichts anderes als ein gezogenes Geschützrohr modernster Konstruktion. Was hatte der Junge vor? Wollte er diese Insel in eine wirkliche Seeburg verwandeln, sie mit Kanonen bespicken, hier ein neues Gibraltar schaffen? Zuzutrauen war dem ja alles, und ich hatte längst verlernt, über seine Phantasterei zu lächeln.

Am Abend des vierten Tages machte sich ein leichter Westwind auf, der immer stärker zu werden versprach.

»Morgen früh oder schon diese Nacht segeln Sie«, sagte Karlemann. »Die Hauptsache ist nun wohl das Geld. Wie viel brauchen Sie?«

Das war schwer zu berechnen.

»Wenn ich Ihnen die Hälfte des ausgemachten Chartergeldes sofort gebe — oder sagen wir rund 100 000 Dollar — sind Sie damit zufrieden?«

Ob ich damit zufrieden war!

»Gehen Sie in das Zimmer mit dem Schreibtisch, ich bringe das Geld gleich.«

Als ich in dem Steinzimmer saß, das von einer Petroleumlampe erhellt wurde, kam es mir noch einmal voll und ganz zum Bewusstsein, dass es ein zwölfjähriger Junge war, der mir jetzt 100 000 Dollar aufzählen wollte!

Und wo bewahrte er sein ganzes Geld wohl auf? Ich hatte unterdessen jeden einzelnen Raum durchforscht, und, wie gesagt, es hatte uns alles offengestanden. Mir kam es kaum glaubhaft vor, dass er seine Schätze hier irgendwo verstecken sollte, oder... da hatte er eben auch wieder sein Geheimnis.

Sehr bald kam Karlemann zurück, schüttete auf die Steinplatte des Schreibtisches einen Ledersack aus, der 5000 Dollar in Gold enthielt, zählte 95 000 Dollar in großem und kleinerem amerikanischen Papiergeld auf.

»Stimmt es?«

Während des Zählens bemerkte ich zwischen den Goldstücken einige Wassertropfen, auch ein Hundertdollarschein war ganz nass, aber nur der eine, und trotzdem kam mir gleich eine Vermutung.

»Sie heben Ihr Geld wohl auch in Salzwasser auf?«, fragte ich.

»Auch?«, wiederholte er mit Betonung, und es lag einiger Spott dann. »Wenn ich es tue, dann können Sie sicher sein, dass es mir nicht gestohlen wird.«

Ich musste diese Pille wohl hinterschlucken.

»Ja, es stimmt. Wollen Sie Quittung?«

»Brauche ich nicht — wenigstens nicht von Ihnen. Nun lassen Sie uns noch einmal alles besprechen.«

Auf Papier wurden Zeichnungen entworfen, wie wir uns das mit den Messern dachten.

»Also Sie verproviantieren sich in Monrovia und nehmen dort so viel Kohlen ein, um mit deren Hilfe, wenn es sein muss, nach New York zu kommen. In New York nehmen Sie als Ballast 600 Tonnen Kohlen ein.«

Das war alles schon besprochen worden, schon wiederholt. »Mir ist unterdessen noch vieles andere eingefallen«, fuhr Karlemann fort. »Sie hatten mir gesagt, dass Sie Salzwasser destillieren könnten.«

»Ja, das kann ich natürlich, solch eine Vorrichtung ist doch auf jedem Dampfer vorhanden.«

»Ach so, das ist etwas anderes. Sonst hätte ich Ihnen geraten, in New York einen Destillierapparat zu kaufen. Ich habe so ein Ding schon einmal gesehen. Dann ist das ja nicht nötig. Wenn Ihnen aber nun die Kohlen ausgehen sollten?«

Diesmal nahm ich den lauernden Ausdruck in seinen sonst so offenen Zügen ganz deutlich wahr.

»Wenn ich unterdessen die Insel erreicht habe, bin ich ganz sicher geborgen.«

»Weshalb?«

»Dort haben sich doch unbedingt große Massen von Seetang aufgehäuft, das Zeug ist trocken, kann verfeuert werden, auch unter dem Destillierapparat, der eine sehr große Heizfläche hat.«

»Ach so, dann wäre diese Frage ja gelöst«, sagte Karlemann, und der lauernde Ausdruck wich.

Als ob er das nicht schon selbst gewusst hätte! Dieser Junge stellte sich absichtlich naiv, um mich zu prüfen! Es war kaum glaublich, und doch war es so!

»Nun, darüber können wir ja noch später sprechen, denn Sie kommen unbedingt noch einmal hierher.«

»Natürlich, wenn Sie es wollen — jetzt haben Sie mir zu befehlen.«

»Da können Sie mir aus New York gleich verschiedenes mitbringen, was hier nicht zu haben ist.«

»Sprechen Sie Ihre Wünsche aus«, sagte ich und nahm Bleistift und Notizbuch zur Hand.

Aber Karlemann hatte es nicht so eilig. Er stand auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und begann, breitbeinig in dem Raume auf und ab zu wandern.

»Wissen Sie, wenn Sie nun einmal nach Amerika kommen, können Sie mir auch gleich ein paar Indianersch mitbringen, was?«

Ich hatte ein »Wozu denn?«, auf den Lippen, unterdrückte es aber noch rechtzeitig. Jetzt war das hier mein Vorgesetzter.

»Indianer«, schrieb und sagte ich kaltblütig. »Wie viele?«

»Na, warten Sie erst mal. Sie sind schon in Amerika gewesen?«

»Schon mehrmals.«

»In Nordamerika, meine ich.«

»Auch.«

»Im Innern?«

»Das allerdings nicht.«

»Haben Sie schon Indianer gesehen?«

»Massenhaft.«

»Echte, meine ich. Solche, die noch halbnackt herumlaufen, höchstens mit solchen Lederhosen — Leggins heißen ja die Dinger wohl — und dann mit Tomahawk und Skalpiermesser, die aber auch noch wirklich Skalpe absäbeln. Haben Sie solche gesehen?«

»Jawohl, auch das. Abgesehen davon, dass ich solche ausgestellt gesehen habe — und zwar ganz waschechte — war ich auch dabei, wie der Präsident der Vereinigten Staaten eine große Menge Siouxhäuptlinge empfing.«

»Na ja, dann ist es ja gut. Dass es noch echte Indianer genug gibt, weiß ich selber. Können Sie mir nicht so ein paar Kerls verschaffen?«

»O, das ließe sich schon machen.«

»Dazu müssen Sie aber wohl erst ins Innere reisen?«

»Hm, das kommt darauf an...«

»Sind denn sonst auch in den Städten oder gar gleich in New York echte Indianer zu finden?«

»In New York gerade nicht — höchstens auf Ausstellungen, in Schaubuden, die dann aber natürlich auch schon etwas von der Kultur beleckt sind — aber in weiter entfernten Städtchen — auch auf den kleinen Eisenbahnstationen treiben sich immer Rothäute herum, freilich nicht gerade sehr edle Erscheinungen, sie betteln um Tabak und mehr noch um Geld für Whisky...«

»Na, sehen Sie nur, wo Sie sie herbekommen. Ganz so echt brauchen sie ja nicht zu sein. Wenn es nur wirkliche Indianer sind, mit so einer kupferroten Haut. Und ihre Sprache müssen sie noch sprechen. Jawohl, das müssen sie unbedingt. Und wenn die Kerls keinen Tomahawk und kein Skalpiermesser mehr haben, dann besorgen Sie solche — die müssen aber echt sein — und Friedenspfeife und Federschmuck und den ganzen Klimbim, der dazu gehört — und dann rasieren Sie ihnen das Haar ab und lassen nur in der Mitte ein Büschel stehen, da machen wir eine echte Skalplocke daraus... wissen Sie, was ich meine?«

»Jawohl, ich verstehe«, lächelte ich.

»Und unterwegs lassen Sie die Kerls mit dem Tomahawk und mit dem Messer nach einem Ziele schmeißen, sie müssen sich üben — und — und — wissen Sie, was ein Lasso ist?«

»Natürlich, ich habe früher doch selber Indianers gespielt.«

»Gespielt habe ich niemals, aber doch solche dumme Geschichten gelesen... also auch ein Lasso müssen die Kerls haben — und da müssen sie sich unterwegs üben — Zeit genug haben sie doch während der Fahrt dazu. Wissen Sie, was ich will?«

»Jawohl, Käpt'n. Ich soll Ihnen bei meinem Wiedereintreffen hier echte Indianer, echte rote Krieger abliefern, die direkt aus dem Wigwam, von der Kriegsfährte kommen — ganz gleichgültig, was und wo sie bisher gewesen sind.«

Karlemann trat auf mich zu und schlug mir auf die Schulter, was er konnte, weil ich auf einer niedrigen Steinbank saß.

»Jansen, Sie sind ein Mordskerl! Sie reden ja wie ein Buch — Sie hätten wirklich einen guten Pastor abgegeben.«

Dann nahm er seine Wanderung wieder auf. Ich blickte ihm sinnend nach. Mehr als dieses Lob hatte etwas anderes auf mich Eindruck gemacht.

Ich habe niemals gespielt, hatte er gesagt.

Es hatte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Er hatte sich selbst charakterisiert.

»Ja«, fing er dann wieder an, »und vielleicht noch so ein rotes Frauenzimmer dazu — eine — eine — wie heißen diese Weiber doch gleich bei den Indianersch?«

»Squaw.«

»Jawohl, eine Squaw. Nicht wahr, die sollen manchmal recht hübsch sein?«

»Ich habe sogar Schönheiten darunter gesehen.«

»Dann so eine Schönheit. Und jung. Schreiben Sie auf; jung und schön. Haben Sie geschrieben?«

»Ich habe.«

»Aber vor allen Dingen recht kupferrot, und das muss echt sein.

Dass Sie sie mir nicht etwa anpinseln!«

»Gott bewahre.«

»Wenn Sie ein Kind hat, schadet's nicht. Wie alt, ist egal. Womöglich Säugling. Aber kupferrot. Nicht wahr, diese Frauenzimmer werden immer, wenn sie alt werden, furchtbar hässlich?«

»Es werden immer ausgedörrte Hexen.«

»Hm. Na, dann kommt mir's nicht drauf an. Dann bringen Sie mir auch eine alte mit. Aber es muss eine furchtbar alte, ausgedörrte Hexe sein.«

»Wird alles besorgt, Käpt'n.«

»Und dann müssen sie solche Perlschnüren haben, die sie sich in die Haare flechten, und gestickte Stiebeln oder sonstige Latschen...«

»Mokassins.«

»Jawohl, echte Mokassins. Woher Sie die bekommen, ist mir egal. Und dann müssen sie auch solche bunte Röcke haben und — und...«

»Mein Gott, ich bin doch nicht so schwer von Begriffen — Sie wollen

eben eine echte Indianerfamilie haben.«

»Richtig, richtig, eine echte Indianerfamilie mit Bogen und Skalpiermesser und Fitschepfeilen und was sonst noch dazu gehört. Und da können Sie auch gleich noch ein ganzes Zelt — oder Wigwam heißt es wohl — so ein buntbemaltes Wigwam mitbringen, und dann vielleicht noch ein — ein...«

»Ich will Ihnen einmal etwas sagen, Algots.«

Ich hatte es wohl in einem besonderen Tone gesagt, dass er so herumfuhr.

»Na?«

»Sie wollen so ein Jahrmarktsbudiker werden und als erstes dem geehrten Publikum eine echte Indianertruppe aus dem Wilden Westen Nordamerikas vorführen. Stimmt's nicht?«

Karlemann machte ein recht verdutztes, wenn nicht misstrauisches Gesicht.

»Woher wissen Sie das?«

»Na«, lachte ich, »so bin ich doch nicht auf den Kopf gefallen, und Sie sagten doch selbst, an mir wäre ein Pastor verloren gegangen, und ein solcher muss auch die schwierigsten Bibelstellen auslegen können. Also stimmt's?«

»Ja.«

»Dann weiß ich auch alles, was ich Ihnen zu besorgen habe.«

»Alles?«

»Eben so eine echte Indianertruppe.«

»Und wo soll ich die ausstellen? Hier etwa, auf dieser Insel?«

In der Tat, daran hatte ich noch gar nicht gedacht. In diesem Augenblick aber hatte ich eine sonderbare Idee.

»Sie wollen doch nicht etwa — etwa...«

»Na, was?«

»Ich denke an die grünen Wagen, mit den Fensterchen und mit dem rauchenden Schornstein, in dem die fahrenden Zigeuner wohnen.«

»Ja, aber mein Wagen soll schwimmen.«

Da hatte ich wieder einmal eine Vision. Ich will sie jetzt nicht schildern, da ich sie später als Wirklichkeit beschreiben werde.

Karlemann trat wieder auf mich zu, um mir die Hand auf die Schulter zu legen.

»Jansen, wollen wir Kumpe machen? Ich glaube, wir beide passen zusammen. Wenn wir auch ganz anders sind. Aber gerade deshalb passen wir zusammen. Was der eine nicht kann, kann der andere. Und ich sage Ihnen: wir schmeißen einen Haufen Geld zusammen.«

Mit einem Male musste ich hell auflachen, und dann ergriff ich seine Hand und schüttelte sie.

»Top, ich mache mit!«

»Wissen Sie auch wirklich schon, was ich vorhabe?«, »Sie wollen ein Schausteller zur See werden.«

»Das ist's! Die Menagerie liefere ich selber, das andere liefern Sie mir.«

»Meinen Sie, dass sich das rentiert?«

»Das lassen Sie meine Sorge sein. Meine Kalkulation ist fertig, und es wird sich großartig rentieren. Aber ich kann nicht von hier fort, deshalb müssen Sie mir das andere Material besorgen.«

»Zunächst eine echte Indianertruppe aus dem Wilden Westen.« »Nicht nur das können Sie mir aus Amerika besorgen. Da gibt es noch anderes zu denken, was in Amerika alles zu haben ist.«

Und Karlemann fing an den Fingern herzuzählen.

»Ein oder zwei Klapperschlangen — ein oder zwei Büffel — ein oder zwei amerikanische Bären — ein oder zwei...«

»Ich verstehe, ich verstehe! Eben alles, was es sonst noch in Amerika gibt.«

»Ja, und womöglich immer ein Weibchen und ein Männchen, damit ich eigene Zucht anlegen kann. Dann aber auch noch Menschen.«

»Was für Menschen?«

»Na, fragen Sie nicht so dumm. Alles, was Sie sehen, und Sie denken, das wird man anstaunen, nicht nur in Europa, in Deutschland, sondern auch in Hinterindien oder in Honolulu, das kaufen Sie. Als da sind: Riesen — Zwerge — oder so einen Fettwanst — oder einen Kerl mit zwei Köppen — einen anderen mit sechs und womöglich noch mehr Fingern an jeder Hand — überhaupt Missgeburten. Verstanden?«

»Ich verstehe, ich verstehe!!«, rief ich abermals, und jetzt wurde ich ganz Feuer und Flamme.

Aber es half alles nichts, dieser deutsche Zigeunerknabe wusste mich immer zu überbieten.

»Und immer praktisch, mein lieber Jansen, immer praktisch. Man muss stets versuchen, wenn man einmal mit der Fliegenklatsche zuschlägt, mindestens zwei Fliegen totzuschlagen. Je mehr, desto besser. Ein Riese von vier Meter Länge ist ja schon etwas sehr Schönes — aber ich will lieber einen Riesen von nur drei und einen halben Meter Länge haben, wenn der noch einen Wasserkopp und vielleicht gar drei Augen hat — aber schon drei Meter genügen, wenn der Kerl außer dem Wasserkopp und den drei Augen noch einen mächtigen Buckel hat... na, was gibt's denn da zu lachen?«

Soll da der Mensch nicht lachen! Und wie dieses Kerlchen das alles nur hervorbrachte!

»Überhaupt alles zusammen zu verbinden suchen. Gesetzt den Fall, unser Buchdrucker... ja, dass ich es nicht vergesse — eine Buchdruckerei können Sie mir auch gleich noch aus New York mitbringen.«

»Was? Eine Buchdruckerei? Wozu denn die?«, staunte ich.

»Fragen Sie doch nicht immer so dumm. Wir müssen doch...«

»Ach so«, fiel ich ihm schnell ins Wort, »um die Programme zu drucken.«

»Natürlich. Das müssen wir doch alles selber machen, wenn wir auf unserem Schiffe irgendwo an einer Küste sind und die nackten Wilden zusammentrommeln. — Sehen Sie, Trommeln nicht vergessen!!«

»Trommeln, Pauken und Posaunen — wird besorgt. O, jetzt weiß ich schon, was Sie wollen. Also eine Buchdruckerei! Sie meinen eine Buchdruckmaschine, wo man wenigstens Programme drucken kann.«

»Jawohl. Aber auch große Zettel mit Bildern drauf.«

»Wird alles besorgt, da kann man sich ja orientieren. Was wollten Sie nun von dem Buchdrucker sagen?«

»Ach so, ja — also immer mehreres zusammen, zu verbinden suchen. So einen Buchdrucker oder — oder — Setzer heißt so ein Kerl wohl — den kriegen sie natürlich überall. Aber der erste beste genügt mir nicht, wenn er sonst auch noch so tüchtig ist. Der Buchdrucker muss noch etwas anderes können — zum Beispiel — zum Beispiel — er muss zugleich auch so ein Schlangenmensch sein, der sich mit der großen Zehe in der Nase bobeln kann...«

Himmeldonnerwetter! Verzeihe man mir diesen Fluch und jenen Ausdruck Karlemanns. Aber ich muss ihn wiederholen!

Wie der Buchdrucker am Setzkasten steht, und zugleich hebt er das Bein und... wie ich mir das bei meiner lebhaften Einbildungskraft alles gleich vorstellen konnte!

Die steinernen Wände hallten wider von meinem dröhnenden Lachen.

»Na, was gibt's denn dabei nur zu feixen?!«

»Nee, Karlemännchen, nehmen Sie's mir nicht übel — aber ich kann nicht anders!«

Endlich hatte ich mich wieder beruhigt, und da fuhr der Junge auch gleich fort:

»Und weil ich vorhin von der Harmonika sprach — ja, ich brauche an Bord natürlich auch eine Kap — Kap — Kap...«

»... pelle«, kam ich ihm zu Hilfe, »eine Kapelle, meinen Sie?«

»Jawohl, eine Kapelle. Also am liebsten wäre mir, wenn die Indianer auch gleich etwas spielen könnten, Klavier oder Violine oder sonst etwas...«

»Und der Mann mit den zwei Köpfen spielt mit dem einen Munde die Flöte, mit dem anderen die Posaune.«

»Richtig, richtig!«, zollte mir Karlemann Beifall.

»Und so müssen auch alle anderen...«

»Überhaupt musikalische Missgeburten!«

Jetzt sagte Karlemann nicht mehr, ich solle mich doch nicht so dumm stellen, jetzt war ich im Fahrwasser, jetzt konnte auch ich Vorschläge machen, meinen Kompagnon an phantastischen Ideen sogar manchmal überbieten.

»Kaufen Sie nur, immer kaufen Sie alles, wovon Sie meinen, dass es überall Aufsehen erregen wird, wofür man Entree zahlt, in Deutschland sowohl wie auf Honolulu.«

»Aber Menschen kann man nicht kaufen.«

»Ach, Sie wissen doch, was ich meine.«

»Nun, was soll ich denn den Leuten bieten?«

»Natürlich so wenig wie möglich«, war die prompte Antwort.

»Einen halben, höchstens einen Dollar pro Tag. Doch das muss ich ganz Ihnen überlassen. Es handelt sich ja auch nur um die Reise hierher, dann werde ich schon selber mit den Kerlen verhandeln.«

»Aber«, warf ich ein, »wenn Sie dann mit ihnen weite Reisen machen, von Hafen zu Hafen, um dort Vorstellungen zu geben, von Land zu Land, von Erdteil zu Erdteil — während dieser langen Reisen müssen Sie doch immer diese vielen Menschen beköstigen und bezahlen, das kostet Sie doch viel Geld.«

»Nun, da müssen sie eben unterwegs arbeiten.«

»Solche Missgeburten?«, fragte ich zweifelnd.

»Weshalb nicht? Natürlich nicht in der Takelage. O, ich werde sie schon zu beschäftigen wissen.«

Karlemann hatte es wieder mit seinem schlauesten Augenblinzeln gesagt. Ja, der schien nicht nur Tiere dressieren zu können.

»Natürlich«, setzte er gleich hinzu, »davon dürfen Sie ihnen nichts sagen, wenn Sie sie engagieren. Versprechen Sie ihnen die beste Kost, was Sie natürlich auch einhalten müssen, meinetwegen geben Sie ihnen auch drei Dollar pro Tag, machen Sie das sogar schriftlich mit ihnen aus — — wenn ich sie erst hier habe, mache ich ja doch mit ihnen, was ich will.«

So besprachen wir die Sache noch eine halbe Stunde, was ich da zu hören bekam, das machte, dass ich mich vor diesem zwölfjährigen Jungen fast zu fürchten begann.

Dann war diese Angelegenheit erledigt, ich begab mich an Bord, um sofort in See zu stechen.

Da mir nicht verboten war, hierüber zu sprechen, teilte ich dies alles Blodwen mit, welche wieder einmal einen Lachkrampf bekam, dann aber Feuer und Flamme für dieses Unternehmen war, an dem wir uns ja beteiligen sollten, und das so ganz ihrem phantastischen Geschmacke entsprach.

— • —

27. Kapitel
Wie ich Missgeburten und anderes sammle

Originalseiten I.535 — 564

Mit günstigem Winde, der sich nach Süden drehte, kamen wir nach Monrovia, wo ich reichlich Proviant und hundert Tonnen Kohlen einnahm. Als Ballast diente Seewasser, wozu die ›Sturmbraut‹ eingerichtet war, denn nicht jedes Schiff kann die unteren Räume einfach voll Wasser laufen lassen.

Dann ging es unter günstigem Südwind westwärts nach New York.

Unterwegs weihte ich meine Mannschaft nach und nach ein, um was es sich handelte, was Karlemann aus uns machen wolle: einen schwimmenden Zirkus, oder sagen wir gleich: ein Zigeunerschiff — und unter meinen Leuten war kein einziger, der nicht, nachdem er sein Staunen überwunden, dieser tollen Idee mit hellem Jubel Beifall gezollt hätte.

Ich bekam manchmal Proben zu hören, in der Foxl, an Deck bei der Arbeit, auf Nachtwache, im Heiz- und Maschinenraum, wie sich das meine Jungen vorstellten, was für Pläne sie schon spannen — was alles zu schildern mir unmöglich ist, und wir haben ja dann auch alles in der Praxis ausgeführt.

Hierbei muss ich immer wieder bemerken, dass es eben eine ganz besondere Schiffsbesatzung war, die ich damals in London zusammengetrommelt hatte, und dabei ist es gar nicht so merkwürdig, dass fast die Hälfte der Matrosen jugendliche Ausreißer gewesen waren, aus dem Binnenlande und aus besseren Familien stammend, die eben durch ihre Abenteuerlust in die weite Welt, zur See getrieben worden waren.

Deswegen muss ich auch noch eine andere Bemerkung einschalten.

Man möchte annehmen, dass ein Binnenländer keinen so tüchtigen Matrosen abgibt wie ein an der Waterkant geborener Junge, der aus einer Seemannsfamilie stammt, dessen Element das Meer ist.

Aber gerade das Gegenteil ist der Fall, und das ist ja auch einfach genug.

Der Sohn der Küste, dessen Vater, Großvater und Ururururgroßvater schon Seemann gewesen sind, wird von vornherein wieder zu demselben Berufe bestimmt, es gibt gar keinen anderen für ihn, ganz gleichgültig, ob er sich hierfür eignet oder nicht.

Er wird eingekleidet, als Schiffsjunge untergebracht, und nun arbeitet er sich so weiter bis zum Matrosen empor, bar jeden Ideals, ihm ganz gleichgültig, ob es nach China geht, oder ob er sein ganzes Leben lang in der Ostsee herumfährt — wenn die Heuer nur angemessen ist, das Salzfleisch nicht gar so sehr stinkt — wenn er nur immer genügend Tabak für seine Pip hat und sich an Land allemal tüchtig besaufen kann. Dann, wenn er so weit ist, heiratet er seine Deern, aber immer in seiner Heimat, der er stets treu bleibt, er fährt weiter als Matrose, muss jetzt nur immer das Geld zu Hause abliefern — und das geht so weiter, bis er einmal hinabschaukelt auf den Meeresgrund, oder bis er zum Krüppel geschlagen wird, als solcher weiß er dann in der Heimat am Strande auch noch sein Dasein zu fristen.

Gewiss, es gibt die tüchtigsten Kerls unter diesen geborenen Seeleuten, daran ist kein Zweifel. Aber das Ideal, welches sich jeder Knabe von einem Seemanne macht, bilden sie lange nicht — und auch nicht für den Kapitän, der für sein Schiff natürlich immer die exquisiteste Mannschaft anmustern möchte.

Ganz anders der Junge aus dem Binnenlande, der das Meer noch niemals gesehen hat, das Seeleben nur aus möglichen und unmöglichen Erzählungen, nur aus Jugendschriften kennt.

Diese haben ihm, wie Eltern und Erzieher sagen, den Kopf verdreht. Never mind — er will zur See, in die Welt hinaus, Abenteuer bestehen, auf Palmen klettern und Affen fangen.

Und er weiß, was dazu gehört — eben aus Jugendschriften. Ist dieser Junge kein guter Turner, ist ihm ein Vogelnest zu hoch, kriecht er im Winter hinter den Ofen — dann fällt ihm so eine Idee ja überhaupt gar nicht ein.

Also, um sich vorzubereiten, turnt und klettert er, trotz Hitze und Kälte, verschmäht im Winter Handschuhe und Ohrenklappen — ich spreche aus eigener Erfahrung — und außerdem weiß er auch aus seinen Schmökern, dass er als Schiffsjunge schmähliche Prügel bekommt, und setzt er nun dennoch seinen Entschluss durch, so ist die geeignetste Voraussetzung gegeben, dass er sich zum Seemann eignet.

Nun aber kommt noch etwas anderes in Betracht, vielleicht die Hauptsache.

Entweder geht er mit Erlaubnis der Eltern zur See, oder er brennt bei Nacht und Nebel durch. Greift er zuvor einmal in des Vaters Kasse, so hat das dieser selbst verschuldet. Der Mensch ist frei, und das gilt sogar von Kindern, man muss die Sache nur von der richtigen Seite betrachten.

Aber sehr häufig kommt es vor, dass der Junge gleich bei der ersten Reise von der christlichen Seefahrt die Nase voll bekommt, er merkt, dass er den Strapazen nicht gewachsen ist, er mag sich nicht prügeln lassen — dann kehrt er als reumütiger Sohn zurück, er ist für immer geheilt — und die Seemannschaft ist befreit von einem Menschen, der sich nicht zum Schiffsdienst eignet, während es solche von der Waterkant genug gibt. Denn bei solch einem Jungen, der eben aus einer Seemannsfamilie stammt, ist es ganz ausgeschlossen, dass er diesen Beruf verlässt, oder er würde zu Hause totgeprügelt werden, er muss eben dabei bleiben, ob er dazu taugt oder nicht.

Jenes erstere gilt auch für die Tunichtgute, welche aus dem Binnenlande zur See geschickt werden. Kein Gedanke daran! Die bleiben niemals dabei, sie reißen aus, gehen zurück, schließlich muss man sie doch wieder aufnehmen, steckt sie in eine Besserungsanstalt, und so ist es durchaus nicht wahr, dass sich die binnenländischen Matrosen aus den verworfensten Elementen zusammensetzen, welche das Land abgeschoben hat. Ganz im Gegenteil!

Kurzum — ich habe Hunderte von Matrosen unter mir gehabt, und stets habe ich Binnenländer bevorzugt, und das gilt von jedem anderen Kapitän. An Gewandtheit, Schnelligkeit, Intelligenz usw. usw. können die sogenannten geborenen Matrosen, die Küstenbewohner, denen aus dem Binnenlande niemals das Wasser reichen. Vor allen Dingen ist es immer die fröhliche Tatkraft, der abenteuerliche Unternehmungsgeist, der jenen gänzlich fehlt, und das ist eine Quelle, der alles andere entspringt, was zu einem fixen, niemals verzagenden Matrosen gehört.

Am deutlichsten sieht man das ja in der Kriegsmarine. Was für ein Unterschied zwischen dem bedächtigen, plumpen Handelsmatrosen, dem Küstenbewohner, der seiner Dienstzeit genügt, und dem gewandten, frischen Zwölfjährigen, der in Kiel als Kaiserlicher Schiffsjunge angefangen hat! Und dass ein Schiffers- oder Fischerssohn als MarineSchiffsjunge eintritt, wo er lange Zeit gar nichts verdient, das ist wohl ganz ausgeschlossen.

Schließlich möchte ich noch eins erwähnen, was auch diesen Unterschied recht charakterisiert.

Es ist wohl bekannt, dass die meisten Matrosen nicht schwimmen können. Sie sagen, es habe keinen Zweck, wenn das Schiff untergeht, müssten sie doch sowieso ersaufen, weshalb sollten sie sich da, wenn sie des Schwimmens kundig sind, noch stundenlang herumquälen.

Das ist natürlich Unsinn, eine faule Ausrede. Wenn sie nun im Hafen über Bord fallen und niemand bemerkt es, der ihnen gleich ein Tau zuwirft?

Nein, diese Küstenbewohner sind ganz einfach samt und sonders wasserscheu. Als Kinder höchstens bis an den Leib ins Wasser, nur ja nicht mit dem Kopfe untergetaucht! Es ist ja gar nicht wahr, dass diese Küstenbewohner das Meer lieben. Im Gegenteil, es hat ihnen Vater und andere Verwandte geraubt, das Meer ist ihnen vielmehr ein feindliches Element, mit dem sie, der Not gehorchend, kämpfen müssen ums tägliche Brot, und sie fühlen sich nur so lange sicher, wie die Planken unter ihren Füßen halten.

Ganz anders der Matrose vom Binnenlande. Dass sich der von Kind an zum guten Schwimmer ausbildet, ist doch ganz selbstverständlich.

Genug davon. Ich hatte die tüchtigsten Matrosen an Bord, zur Hälfte Binnenländer, welche noch für alles Romantische schwärmten, und dasselbe galt von den Plattdeutschen von der Waterkant, weil ich mir eben die Ausnahmen zusammengeholt hatte. Hätte einmal einer bei mir nicht sollen schwimmen können! Dann wurde er einfach bei der nächsten Gelegenheit an die Kreuzleine genommen. — — —

*

Wir passierten einen nördlichen Ausläufer der großen Fucusbank. Mochte sich der Seetang auch am Bug aufhäufen, hier war er noch zu spärlich, als dass er uns hätte hindern können, der Wind brauchte gar nicht so günstig zu sein. Die Wasserpflanzen hier waren abgerissen worden, sie schwammen, waren also nicht mit dem Boden verwachsen, konnten daher leicht mit einer Stange von Zeit zu Zeit entfernt werden.

Aber dort im Süden, wo sich unübersehbar die grüne Wiese ausbreitete, wie würde es uns dort ergehen?

War es nicht meine Pflicht, den Leuten zu sagen, was ich vorhatte, welche Gefahren ihrer dort warteten?

Ich hatte Karlemann mein Ehrenwort gegeben, nichts zu verraten, aber...

Nun, das konnte ich mir ja noch auf der Rückfahrt überlegen, das eigentliche Geheimnis brauchte deswegen nicht verraten zu werden.

Ohne Unfall erreichten wir in drei Wochen New York. Die Zeichnungen für die Messervorrichtung hatte ich unterdessen gemacht, nach allen Maßen, und die erste Werft, an die ich mich wandte, erbot sich, die Sache auszuführen, billiger, als ich gedacht hatte.

Dabei hatte ich darauf Rücksicht genommen, dass nichts unter Wasser anzubringen war, mit Ausnahme zweier Schrauben, sodass die ›Sturmbraut‹ deswegen nicht ins Trockendock musste. Wenn das Schiff vom Ballast befreit war, konnte ein Taucher alles besorgen, und die Messer, sechs Meter lang, würden bei aller Festigkeit dennoch bis an das Ende des Kiels hinabreichen.

Nach amerikanischer Manier hatte der Auftragnehmer keine einzige Frage getan, wozu ich denn diese Schneidevorrichtung brauche. Meinen Leuten war ich deswegen keine Rechenschaft schuldig, und Blodwen deutete ich jetzt nur an, dass es sich um eine Durchquerung der Fucusbank handle, ohne sonst etwas Näheres über Karlemanns Plan wissen zu wollen, was ihre Neugier natürlich nur steigerte.

Das Wasser wurde ausgepumpt, die Arbeiten an dem wie ein hohles Ei schwimmenden Schiffe begannen sofort, und ich machte mich auf die Suche nach Rothäuten und Missgeburten, woran sich die ganze beurlaubte Mannschaft beteiligte, allein, auf eigene Faust oder in kleinen Trupps, wie die Freundschaft es ergab.

Das Glück war mir günstig. Zuerst hatte ich mich erkundigt, ob in New York zufällig gerade eine Indianertruppe gastiere. Denn für ein New Yorker Kind ist und war schon damals ein echter Indianer eben solch eine schauenswerte Seltenheit wie für uns, die an der Küste gelegenen Städte, aber auch die im Innern, wurden schon damals ab und zu von Entrepreneurs besucht, welche eine Truppe ›wilder‹ Indianer mitbrachten, dem schaulustigen Publikum das Leben im wilden Westen vorführend, wie es dann später der bekannte Colonel Cody, genannt Buffalo Bill, im großen betrieb, durch seinen Unternehmungsgeist alle Konkurrenz aus dem Felde schlagend.

Sonst aber gibt es noch heute alte, in Amerika geborene Leute genug, welche noch niemals eine echte Rothaut im vollen Federschmuck gesehen haben, da sind eben gar weite Reisen nötig.

Nein, solch eine Truppe gastierte zur Zeit nicht hier.

»Gehen Sie doch einmal nach der Castle Avenue«, sagte mir jemand, »da sind ein paar Feuerfresser und wilde Männer, vielleicht ist ein ›Redman‹ dazwischen.«

Die Castle Avenue ist für New York dasselbe, was für Hamburg der Spielbudenplatz ist. Eine Schaubude neben der anderen, mit Kraftmeiern, Riesendamen, Feuerfressern, Fischweibern usw.

Es war gegen Abend, als ich mit Blodwen dorthin schlenderte. Ich hatte ihr davon erzählt, das war ihr etwas ganz Neues, sie wollte sich amüsieren, war zu jeder Torheit bereit.

Wir waren noch längst nicht hin, da sitzt an einer belebten Ecke ein schmieriger Kerl, pfeift den Yankee Doodle mit Begleitung. Wie das zu verstehen ist, kann ich nicht weiter beschreiben. Kurz, er brachte zwischen den gespitzten Lippen immer zwei verschiedene Töne gleichzeitig hervor, und am besten war das dann zu merken, als er gleichzeitig zwei verschiedene Melodien pfiff, einen Marsch und einen Walzer, durchaus unabhängig voneinander, und dennoch klang es ganz harmonisch.

Wie der Kerl das fertig brachte, habe ich nie begreifen können. Ich glaube, den einen Pfeifton brachte er hinten im Gaumen hervor.

Für mich aber war damals mit die Hauptsache, dass ich sofort einen Indianer erkannte. Das rotbraune, bartlose Gesicht mit den melancholischen Zügen, welche an die eines alten Weibes erinnerten, obgleich er noch ziemlich jung war, das schwarze, straffe Haar — es war gar nicht nötig, dass er sich durch gestickte Mokassins und durch eine bunte Decke als roter Sohn des großen Geistes herausstaffiert hatte, übrigens furchtbar zerlumpt.

Derartige Herren des Landes und Söhne des großen Geistes sieht man ja nun allerdings noch heute überall in den Straßen der größeren Städte Amerikas. Es sind durchweg Bettler, Streichholzverkäufer und dergleichen, immer besoffen, bis sie wegen Diebstahls für einige Zeit im Gefängnis freie Kost und Station finden.

Aber der hier konnte ganz besonders pfeifen, und wenn ich ihm die Skalplocke zurechtstutzte und ihn sonst etwas herausstaffierte, hatte ich ja hier gleich, was ich suchte, was mein Kompagnon verlangte.

Ich ließ in die Büchse zwischen die wenigen Kupfermünzen einen Silberdollar gleiten, und der Sohn des großen Geistes folgte mir auf meinen Wink in die nächste Kneipe, wo er zunächst ein Bierglas voll Gin, das ist Wachholderschnaps, hinuntergoss, als wäre es ein Finkennäpfchen voll.

So und so, ob er mit auf mein Schiff wolle.

Wozu denn?

Na, ich hatte natürlich meine liebe Last, dem Kerl das begreiflich zu machen, zumal er jede Minute ein großes Glas Gin leerte und daher immer bezechter wurde. Übrigens hielt ich mich gar nicht lange bei einer Erklärung auf, ich vergewisserte mich nur, dass er hier in New York keine Frau, keinen Anhang habe, auch sonst nichts zurücklasse, dann filtrierte ich ihm noch eine Flasche Schnaps ein, und als er so weit war, wie ich ihn haben wollte, nahm ich den Sohn des großen Geistes unter den Arm, packte ihn in eine Droschke und fuhr mit ihm nach meinem Schiffe, wo er in Verwahrsam genommen wurde.

So, dieser rote Kunstpfeifer kam mir nicht wieder aus den Fingern, der gehörte jetzt mir, den hatte ich mir richtig, wie Karlemann gesagt, gekauft. Ich bin ja sonst ein Gegner vom Menschenhandel und Menschenraub, aber... es gibt Ausnahmen, bei diesem Indianer konnte ich nicht anders handeln, und bei seinem Verschwinden von der Erdoberfläche krähte ja auch kein Hahn.

Auch Blodwen war in der Droschke mitgefahren, die der schlafende Kunstpfeifer mit einer Alkoholatmosphäre und mit noch etwas ganz anderem erfüllte, und leider muss ich sagen, dass ihr dieses Abenteuerchen ausgezeichnet gefiel — nämlich deshalb ›leider‹, weil ich dann doch lieber alleine losgegangen wäre.

Doch dazu sollte ich gar nicht kommen.

Ich hatte den roten Kunstpfeifer von der Wache eben in einer Kammer unterbringen lassen, wo er seinen Mordsrausch ausschlafen konnte, als johlend ein Trupp meiner Jungen ankam, zwischen sich einen Chinesen im Nationalkostüm schleppend — einen Menschen, wie ich überhaupt noch keinen gesehen hatte.

Es war nämlich ein Riese — ein Riese, der aufrecht in keiner Kabine stehen konnte. Die Messung dann ergab zwei Meter sechsunddreißig Zentimeter. Man messe sich das aus, um einen Begriff davon zu bekommen. Und dabei dürr wie ein Bandwurm. Ich hatte Mühe, aus den Matrosen herauszubekommen, woher sie den Chinesen hätten, der stammte doch offenbar aus einer Schaubude. Die ganze Bande war nämlich besoffen, sie hatten mit dem schlitzäugigen Riesen erst herumgezecht.

Schließlich erfuhr ich, dass der Riese allerdings auf der Castle Avenue engagiert gewesen wäre, bis vorhin; er habe einen Streit mit seinem Herrn gehabt, dieser habe ihn hinausgeworfen, und das ginge nur von Tag zu Tag, pro Tag bei freier Station einen Dollar, also könne Ralusin jetzt auch machen, was er wolle, und er wolle mit uns gehen, alles sei in Ordnung.

»Ja aber«, fing ich an, »lang genug ist ja der Riese, indes ich habe euch doch klar gemacht, dass die Länge nicht genügt, es muss alles doppelt...«

Weiter kam ich nicht.

Auf dem Kajütentisch standen resp. lagen ein Tintenfass, eine Schreibmappe, ein volles Bierglas, eine halbvolle Bierflasche und eine Papierschere — der Chinese greift danach, nach allem zugleich, und plötzlich fliegen Tintenfass, Schreibmappe, Bierglas, Bierflasche und Papierschere in der Luft herum, der Kerl jongliert damit, Tinte und Bier spritzen nur so herum — und dann liegt der Kerl plötzlich auf dem Rücken, unter seinem buntseidenen Rocke kommen ein paar nackte, spindeldürre Beine zum Vorschein, so lang wie die Ruderstangen, und nun jongliert er Tintenfass usw. zwischen seinen Beinen hindurch, mit denen er in der Luft herumquirlt, und dann nimmt er die Füße mit zu Hilfe, kann mit den nackten Zehen wie mit Fingern greifen — und dann steht er wieder auf den Beinen, nimmt schnell den heißen Zylinder von der Lampe, beißt hinein, dass es nur so knirscht und... frisst der lange Kerl den ganzen Lampenzylinder auf! Wahrhaftig, als wär's eine saure Gurke — nur dass es dabei knirschte.


Illustration

»Un dat Petroleum kann he ok utsupen«, versicherten mir noch meine Matrosen, »un ok den brennenden Docht kann he upfräten.«

Na, kann der Mensch von einem chinesischen Riesen mehr verlangen? Ich verzieh ihm Tintenflecke und alles, er war engagiert — rin mit ihm in die Kammer, wo er ebenfalls seinen Rausch ausschlafen konnte.

Noch bin ich mit dieser zweiten Unterbringung nicht ganz fertig, da naht schon wieder eine johlende Matrosenbande, wieder schleppt sie in der Mitte etwas mit sich, eine ungeheure Kugel — ein langer Regenmantel fällt, und... vor mir steht eine Unmasse von Fleisch, angetan mit einem ganz kurzen, flitterbesetzten Röckchen, das nicht einmal bis an die Knie geht — und was nun für Knie! — und diese Waden! — und diese Beine! — nee, diese Beine! — die eines ausgewachsenen Elefanten waren Streichhölzer dagegen! — und nun dieser Leib, dieser Busen...

O, Fatje Mine, Fatje Mine, was für ein schlankes Persönchen warst du gegen diese Riesendame, die sich mir da vorstellte!!

Und nun auf dieser Körperfülle von ziemlich vier Zentner Gewicht ein Mopsgesicht mit winzigen Augen und einem noch winzigeren Näslein!

Schade, dass sich so etwas nicht beschreiben lässt! Und zeichnen kann ich nicht.

»Die Laura, die Laura!«, erscholl es jubelnd im Chor.

»Wo habt ihr denn die her?«

Bei der war es nicht so harmlos abgegangen. Ihr Mann war früher Schneider gewesen, seit einiger Zeit stellte er seine schwächere Hälfte aus, in der Castle Avenue; meine bezechten Jungen hatten sich an sie heran gemacht, hatten ihr vorgeschwärmt — jawohl, die war mit allem einverstanden, die wollte mitkommen — aber ihr Ehegatte wollte nicht — da hatte der Schneider Haue bekommen — meine Jungen hatten die ganze Bude demoliert — Laura hatte, bezecht wie sie war, selbst mitgeholfen, und... nun kam der Ehemann von Schneider schon selbst, um seine bessere Hälfte wiederzuholen, brachte gleich Polizei mit.

Himmel, war das ein Spektakel in der Kajüte. Was alles gebrüllt wurde, weiß ich nicht. Ich glaube, das kleine, dünne Schneiderlein wollte mich hauen.

»Nee, un ich geh äm niche!«, schrie Laura, die wie ihr Schneiderlein Deutsch sprach. »Ich bleiwe bei dich, mei Blondchen...«

Und plötzlich setzt sich dieses Frauenzimmer mit ihren vier Zentnern auf meinen Schoß und krabbelt mir am Kinn. Zum Glück krachte der Stuhl zusammen. Sonst wären sicher meine Beine abgekracht. Denn auf eine Tragkraft von vier Zentnern waren die denn doch nicht geeicht.

Wir wälzten uns beide am Boden. Sie hätte mir beinahe den Brustkasten eingedrückt.

»He jubb!!«, schrien die Matrosen, hatten Handspeichen untergeschoben und wälzten sie von mir runter und bekamen sie so wieder in die Höhe.

Ich blickte, wie ich mich emporrichtete, etwas scheu nach Blodwen. Aber die lachte, dass ihr die Augen übergingen, und das auch noch und erst recht, als mir das besoffene Weibsbild schon wieder am Halse hing und mich ihr Blondchen nannte, ihren Herzallerliebsten usw.

Ich hatte ganz die Fassung verloren. Ich habe dem Schneider eine Entschädigung gegeben, für seine Frau, dass er sie mir abtrat, für seine Bude, für alles. Aber wie viel, das weiß ich nicht, wusste es auch damals nicht. Ob ich ihm hundert Dollar gab oder tausend — keine Ahnung.

Als wieder Ruhe wurde im Schiff, war Laura schon auf dem Sofa eingeschlafen. Sechs Matrosen packten sie, je zwei an einem Beine und je einer unter den Achseln, so schleppten sie das Ungetüm keuchend hinaus. Dort, wo auf dem Sofa ihre Schultern gelegen, waren zwei große Fettflecke auf den Polstern, und...

Und da kam schon wieder eine gröhlende Bande angerückt, diesmal aus Heizern bestehend. Dann benahmen sie sich aber ganz manierlich, ebenso wie der rothaarige Kerl, den sie zwischen sich führten — oder ich will lieber Herr sagen; denn er war ganz anständig angezogen, benahm sich auch anständig, nur dass er, wie die Heizer, etwas schief geladen hatte.

Sie hatten ein Plakat gelesen, heute Abend eine Gesellschaft der Typographia, zu irgendeinem wohltätigen Zwecke, die meisten Heizer sind Schlosser, sie hatten gewusst, dass Typografen so Buchdrucker und Setzer sind, gleich hatten sie sich meines Auftrags erinnert, ich hatte sie doch instruiert, sie hatten Billetts genommen, hatten Bekanntschaft gemacht... nun brachten sie gleich einen mit, der bereit war, für billiges Geld uns ein paarmal um die ganze Erde zu begleiten. Konnte setzen und drucken und alles.

»Ja, das ist ja alles recht schön und gut«, sagte ich; »aber kann er denn auch mit der großen Zehe sich in der Nase...«

»Nee, das kann er nicht; aber mit dem Bauche bellen kann er.«

Und kaum hatten das die Heizer gesagt, als aus allen Ecken der Kajüte ein Hundegebell erscholl, von großen und kleinen Kötern, dröhnend und quietschend, sie knurrten und bissen sich — ich blickte nach dem Rothaarigen, denn dass es sich um Bauchreden handelte, hatte ich ja schon gehört; aber ich sah dessen Mund sich nicht im mindesten bewegen, was beim Bauchredner doch sonst immer etwas der Fall ist, bei dem nicht, keine Muskel zuckte in seinem sommersprossigen Gesicht — und dadurch wurde ich fast irre, ich glaubte einen Augenblick wirklich an Hunde, ein solcher musste doch unbedingt unter dem Kajütentisch sein, wo er mich ankläffte, ich bückte mich, um darunter zu blicken — und dann stimmte ich mit ein in das allgemeine Gelächter.

Paddy — seinen eigentlichen Namen weiß ich nicht mehr, aber da er ein Irländer war, konnte er natürlich nicht anders als Paddy heißen — Paddy war ein AmateurBauchredner, hatte sich als solcher heute Abend in dem geselligen Verein produziert, nicht nur im Hundebellen, er konnte auch sprechen, durch Unterhaltung verschiedener Personen die verblüffendsten Tricks erzielen, aber seine Hauptforce war doch das Nachahmen von Tierstimmen, besonders von Papageien, Affen, Hunden und Katzen, alles gleichzeitig durcheinander, wovon er jetzt sofort eine Probe gab, indem sich zu den Hundestimmen auch Katzenmiauen und Affengeschnatter und alles mögliche gesellte, auch menschliche Stimmen, welche auf die Hunde schimpften, alte Jungfern, die ängstlich ihre Katzen lockten — die ganze Kajüte schien belebt zu sein, und da bellte auch an Deck ein riesiger Köter im Brustton.

Paddy war von Profession Buchdrucker, konnte aber auch setzen und alles andere, was dazu gehört, und er war mit Freuden bereit, uns zu begleiten, ganz egal wohin, wenn es nur hinaus in die Welt ging, und bei freier Station war er mit wöchentlich sieben Dollar mehr als zufrieden. —

Es ist dies nur ein einziger Tag, nur ein Abend, von dem ich eine ausführliche Probe gegeben habe.

Und so ging es während acht Tagen weiter, bis wir wieder absegelten.

Ich brauchte mich um nichts mehr zu kümmern, meine Leute besorgten alles, ich hatte ihnen nur immer abzunehmen, was sie heranschleppten, und sie gingen mit einem Feuereifer daran — mit einem Feuer, das wirklich gefährlich wurde. Denn nachdem ihr Eifer einmal entfesselt, ließ er sich gar nicht wieder eindämmen, da half weder Drohen noch Bitten.

An einem einzigen Tage musste ich fünfmal auf die Polizei gehen, um als verantwortlicher Kapitän Strafe zu zahlen, um mich mit einem Geschädigten durch klingende Münze wieder zu versöhnen.

Das sagt genug, wie meine Jungen es trieben. Sie hatten eben den Auftrag bekommen, Missgeburten und andere Raritäten herbeizuschaffen, die man ausstellen könnte, und sie entledigten sich ihres Auftrags, ihnen ganz egal, wo und wie sie dieses Material bekamen.

So will ich nur im besonderen erwähnen, dass zwei Matrosen auf den zusammengefalteten Händen einen Mann getragen brachten, der einen langen Mantel anhatte.

»Wer ist denn das?«

»Der kann mit dem Maule schreiben und malen.«

Ich verstand noch gar nicht, was die eigentlich meinten.

»Warum tragt ihr ihn denn?«

»Nu weil 'r nich gehen kann.«

»Warum kann er denn nicht gehen?«

»Nu weil 'r keene Beene hat.«

Erst dann merkte ich, dass der ganze Mann nur aus Rumpf und Kopf bestand, weder Arme noch Beine, er bediente sich zur Verrichtung der meisten Geschäfte des Mundes, konnte mit der zwischen den Zähnen gehaltenen Feder sehr schön schreiben und recht hübsch zeichnen, wusste sich aber auch sonst mit dem Munde zu helfen, trank jedes Glas und jede Tasse fein säuberlich aus, nahm den Hut mit den Zähnen, warf ihn in die Luft und hatte ihn auf dem Kopfe.

Gleich darauf wurde eine Frau gebracht, die ebenfalls keine Arme, aber doch wenigstens noch Beine und Füße hatte, mit denen sie stricken, sticken, flicken und sogar Violine spielen konnte.

Woher meine Jungen die menschlichen Raritäten bekamen, darnach erkundigte ich mich gar nicht mehr. Ich ging einfach zur Polizei und bezahlte die Strafe. Eine Entführung lag fast immer vor, doch wusste ich mich stets mit dem Geschädigten zu einigen, musste dabei natürlich immer tief in die Kasse greifen.

Dabei zeigte sich wiederum, wie wenig ich Geschäftsmann war. Ein Aufschreiben gab es nicht, hatte ja keine Zeit dazu, immer rin in den Geldschrank! Na, ich hatte es ja auch dazu, die sechshundert Tonnen Kohlen und alles war schon bezahlt, Proviant genug für drei Monate, und die Hauptsache war doch, dass Karlemann dann zufrieden mit mir war.

Und es kam weiter: ein vierjähriger Junge, der schon zwei Zentner wog und ausgezeichnet Posaune blasen konnte, wobei seine Wampe unterm Kinn wie ein Luftballon anschwoll, seine mitkommende Mama war Schlangendame und konnte wenigstens den Leierkasten drehen. Ein Kalb mit fünf Beinen. Ein Mann, der seine Zunge einen Viertelmeter weit aus dem Munde herausziehen konnte und außerdem noch als Gratiszugabe einen mächtigen Ast hatte. Eine Gans mit zwei Köpfen. Als zweiter Sohn des großen Geistes wurde ein Indianer gefunden, der ein ausgezeichneter Taschendieb... wollte sagen Taschenspieler war, er wurde abgefangen, als er gerade aus dem Gefängnis kam, wo er gesteckt hatte, weil er in einer öffentlichen Straßenvorstellung ohne Zuschauer eine Taschenuhr samt Kette hatte verschwinden lassen, frei aus dem Handgelenk heraus. Drei Baribalbären, die tanzen konnten; vom amerikanischen Grizzlybären bekam ich nur ein einziges Exemplar, und für das musste erst ein Gitter gefertigt werden, mit dem Vieh war nicht zu spaßen. Da keine echte rote Squaw aufzutreiben war, wurde wenigstens eine Kreolin engagiert, auch so kupferbraun, die ihren Bauch wie ein Karussell im Kreise drehen konnte. Amerikanische Schlangen und andere Tiere in schwerer Menge.

Auch die ›Buchdruckerei‹ war zu besorgen. Mit der sollte ich noch etwas erleben, die sollte mich wieder etwas kosten!

Ich sprach mit Paddy als Fachmann darüber, er wollte so ein Tretmaschinchen mit allem, was dazu gehört, besorgen.

Kostenpunkt?

»Na, für hundert Dollar ist da schon etwas recht Hübsches zu haben, Marke Liliput, das genügt wohl für solche Zwecke, mit Typen und allem.«

Gut, ich gab ihm die hundert Dollar. Mein Paddy trabt ab und... kommt nicht wieder! Doch, aber erst nach drei Tagen — und ohne Buchdruckerei. Er war unter die Räuber gefallen — d. h., hatte die hundert Dollar bis zum letzten Cent versoffen.

Reumütig gestand er es mir, erbot sich, drei bis zehn Jahre für mich umsonst zu arbeiten.

Was sollte ich tun? Ich verzieh ihm. Es gefiel mir ja schon, dass er überhaupt wiedergekommen war, das hätte er gar nicht nötig gehabt, und dann konnte ich doch nicht dieses Ideal von einem Buchdrucker und Setzer, der mit dem Bauche bellen konnte, wieder fortlassen.

Kurz, ich gab ihm nochmals hundert Dollar, schickte aber zur Vorsicht einen meiner Matrosen mit.

Die beiden rücken ab und... kommen ebenfalls nicht wieder! Oder doch erst am anderen Tage — wiederum ohne Maschine! Sie sind zerknirscht wie die jungen Hunde. Haben die beiden schon wieder die ganze Buchdruckerei versoffen!

Eigentlich hätte ich das meinem Alfred gar nicht zugetraut, es war sonst ein ganz solider, zuverlässiger Mann — aber eben ein unglückseliger Zufall — er hatte einen früheren Schiffskameraden getroffen — und so etwas wusste ja nun gerade ich zu würdigen, also auch mild zu beurteilen — und überhaupt sind Matrosen dazu da, um Schiff und Takelage zu bedienen und nicht, um Buchdruckereien einzukaufen — oder man muss sich zu so etwas seine besondere Ordonnanz erziehen — kurzum, eine Buchdruckerei musste ich doch mitbringen, also immer noch einmal eine Hundertdollarnote herausgerückt und den sachverständigen Buchdrucker und Bauchbeller fortgeschickt, diesmal aber mit einer Eskorte von sechs handfesten Matrosen, denen ich zuerst den Eid der Nüchternheit abgenommen hatte, wenigstens bis zur Rückkehr von dieser gefährlichen Reise.

Und da brachten sie denn auch glücklich die Buchdruckerei angeschleppt, ein kleines Maschinchen, wie eine Nähmaschine, und eine Zigarrenkiste voll Typen.

»Und wo ist denn das Papier für die Programme?«, fragte ich. Denn das hatten sie auch gleich mitbringen sollen, und ich dachte mindestens an so einen Ballen.

»Hier«, sagte Alfred und zeigte triumphierend ein Pappschächtelchen mit hundert Bogen Briefpapier.

Zu mehr hatte es nicht gelangt. Also immer noch einmal ringegriffen in den feuerfesten und diebessicheren Panzerschrank mit drei Sicherheitsschlössern.

Ach, ich kann ja gar nicht schildern, wie es während dieser acht Tage an Bord meines Schiffes zuging!

Ich wusste ja auch gar nicht, mit was für Raritäten mich meine braven Jungen versorgt hatten, so ganz unter der Hand, ohne dass sie mir etwas davon gesagt hatten!

Wie ich einmal spät in der Nacht in meine Koje steigen will, da liegt schon ein anderer drin, zuerst nur erkenntlich an zwei ungeheueren Sporen, die unter der blauen Gardine hervorgucken.

Ich schlage den Vorhang zurück — es ist ein langer Kerl, ganz in Leder gehüllt, schmierig, an dem mit Patronen gespickten Gürtel zwei riesige Revolver.

Mit Mühe kriege ich den schnarchenden Kerl wach.

»He, guter Freund, wer bist du denn?«

»Ach, häng dich!«, ist seine erste Begrüßung.

»Wie kommst du denn hier herein?«

»Gottverd...«

Das waren die ersten beiden Silben von hundert anderen mit ähnlich schönem Inhalt, meiner Person und aller Welt geltend, weil ich ihn im Schlafe gestört hatte.

Vielleicht wären auch noch mehr Silben gefolgt, aber etwa bei der hundertsten packte ich ihn beim bespornten Stiefel und zog ihn aus meiner Koje; das wollte sich das Kerlchen nicht gefallen lassen, ich glaube sogar, er wollte nach dem Revolver greifen, wofür es von mir zuerst ein paar sogenannte Kopfnüsse gab.

Da war er mit einem Satze auf den Beinen, wollte mich packen, oder hatte mich auch schon; aber ich hatte ihn ebenfalls und noch fester, wir walzten ein paarmal ohne Musikbegleitung durch die enge Kabine, dann hob ich ihn aus und setzte ihn mit seinem ledernen Hosenboden in das gefüllte Waschbecken, hob ihn wieder herunter und legte ihn fein säuberlich aufs Sofa, verwalkte ihn noch ein bisschen, und dann endlich war er zum Sprechen bereit, nachdem ich ihm noch höflich versichert, dass ich hier Kapitän und Herr sei.

»Ich bin doch der RevolverJim!«

»Was, RevolverJim?«

»Na, der Cowboy, der Pferdebändiger.«

Es stellte sich heraus, dass es ein ChampionPferdebändiger war, täglich zwanzig Pferde zureiten konnte, und meine Jungen hatten ihn als solchen für unser WeltTournee engagiert.

Heiliger Himmel! An Bord meines Schiffes ein Pferdebändiger! Sollte wilde Pferde zureiten!

Nach der ersten Prügelei konnten wir uns ganz gut unterhalten, und da stellte sich weiter heraus, dass er auch ein gottbegnadeter Kunstschütze sei.

Na, das war etwas anderes, da konnte ich ihn schon eher gebrauchen.

»Ihr glaubt nicht, dass ich mit dem Revolver niemals mein Ziel verfehle...«

Ich stand eben an der Wand, zündete mir gerade eine Zigarre an, hatte sie noch zwischen den Fingern, da...

Puff puff puff — ich kriege einen Schlag zwischen die Hand und gleichzeitig an die Füße — hat mir der Kerl die Zigarre aus den Fingern und von beiden Stiefeln die Hacken abgeschossen!!

»Mein Herr, Sie sind engagiert«, sagte ich, als ich mit heilen Fingern nach einer anderen Zigarre griff.

Einmal, immer noch im Hafen von New York, vielleicht am dritten Tage, will ich nachsehen, ob die Klapper- und anderen Schlangen mit Fressen versehen sind.

Dieses reptilische Ungeziefer wurde in einer großen Tonne aufbewahrt, die mit einem Drahtgeflecht zugedeckt war, in der Segelkammer stehend. Gefüttert wurden sie mit Ratten und Mäusen, die nicht erst von auswärts bezogen zu werden brauchten. Wenn sie nicht schon in London im Unterrock der ›Sturmbraut‹ heimisch geworden, so hatten wir sie in Kapstadt bekommen. Von diesen menschentreuen Tierchen ist ja kein Schiff frei.

Ich blicke hinein, kann natürlich nichts sehen, weil es im Innern des hohen Fasses finster ist; aber da hängt an der Wand eine Laterne, ich zünde sie an, sende den Blendstrahl durch das Drahtgeflecht — richtig, da sitzen dort unten zwei große Ratten und etliche Mäuse, aber... keine einzige Schlange, nicht einmal eine Klapper davon.

»Nanu!«, denke ich. »Haben die Ratten etwa die Schlangen aufgefressen?«

Mit einem Male aber überkommt mich eine schreckliche Ahnung. Ich schiele schon nach den zusammengerollten Segeln, hebe schon die Beine. Doch Ausreißen gibt's bei mir nicht so leicht, zumal wenn ich die langen Seestiebel anhabe.

»Aujust!!«

August hatte nämlich außer der Taucherpumpe im speziellen auch die Schlangen unter sich.

Weil August nicht gleich kommt, lasse ich die Bootsmannspfeife mit meinem eigenen Signal ertönen, und der erste, der dem Rufe Folge leistet, ist der dämliche Fritze.

»Wat jibt's, Käpt'n?«

»Wohin sind denn hier die Schlangen?«

»Wat for Schlangen, Käpt'n?«

»Na, die Schlangen, die hier untergebracht sind!«

»Hier sin keene Schlangen drin, Käpt'n, nur Ratzen und Müs.«

Kurz und gut, ich habe gerade den richtigen Mann erwischt, der mir beichten kann. Wie alle anderen, machte auch dieser Matrose Jagd auf Ratten und Mäuse, hatte Fallen aufgestellt, hatte vorhin zwei Ratten und fünf Mäuse abliefern wollen, er wusste, dass die Jagdbeute in dieses Fass gesteckt werden sollte — und als er hier hereingekommen war, hatte das Fass umgekippt am Boden gelegen, der Drahtdeckel abgefallen.

Fritz hatte sich weiter keine Gedanken gemacht, hatte das Fass wieder aufgerichtet, seine beiden Ratten und fünf Mäuse hineingetan, den Drahtdeckel aufgesetzt, und er war selbstzufrieden seiner Wege gegangen. Ich fragte nicht erst, ob er denn gar nicht gewusst, dass da Schlangen drin gewesen, ich forschte nicht nach dem eigentlichen Sünder — sondern ich jetzt schleunigst trotz meiner langen Seestiefel hinaus zur Segelkammer, Fritz mit mir gerissen, denn schon sah ich dort aus einem zusammengerollten Segel wirklich den züngelnden Kopf einer Schlange zum Vorschein kommen, und dort ragte auch so ein klapperähnliches Instrument hervor, aber keine Kinderklapper, ich fühlte die Viecher schon in meinen Hosenbeinen hochkriechen, obgleich diese in den Stiefeln steckten, und das Schlimmste war, dass die Tür zur Segelkammer offen gestanden hatte!

Eine nette Geschichte! Jetzt konnten sich die im ganzen Schiffe verbreitet haben! Und darunter die Kupferschlange, die giftigste von Amerika, die den unfehlbaren Tod innerhalb einer Minute herbeiführt! Oder es konnten auch mehrere Exemplare dieser Spezies sein. Ich wusste nicht einmal, wie viele Schlangen es zusammen waren.

In diesem Augenblick, als ich die Tür hinter mir zuschmetterte, kam mir ein Geschichtchen in die Erinnerung, das ich selbst miterlebt habe.

Vor sechs Jahren fuhr ich als Matrose auf einem Segler von Singapur nach Batavia. Es war ein großes Segelschiff, welches speziell Passagiere zwischen diesen beiden Häfen hin und her beförderte. Da fuhr ein Engländer mit, der hatte zwei Brillenschlangen bei sich, zeigte sie unterwegs im wohlgesicherten Käfig den anderen Passagieren.

Als aber in Batavia das Gepäck revidiert wird, fehlt die eine Brillenschlange, ist und bleibt verschwunden!

Dieses Schiff, die ›Ahawaya‹ von Singapur, unter englischer Flagge, hat niemals wieder eine Besatzung bekommen! ›Da steckt noch eine Kobra drin,‹ hieß es, und... es war verpestet! Die Reederei tat alles, um des Reptils habhaft zu werden. Sie ließ Schlangenbeschwörer aus allen Teilen der Welt kommen, bezahlte Tausende und Abertausende dafür — nützte alles nichts, die Schlange kam nicht zum Vorschein — das Schiff wurde unter luftdichtem Verschluss ausgeschwefelt, und da endlich fand man in einem Loche den schon ausgedörrten Leib der Schlange — nützte ebenfalls nichts, das sollte nicht diejenige sein, welche, die sei von der Reederei nur untergeschoben worden... kurz und gut, so hat das noch fast neue Schiff zwei ganze Jahre untätig auf der Reede von Batavia gelegen, durch die entkommene Brillenschlange mit einem Fluche beladen, bis es einmal gerammt wurde und in den Wellen versank, samt seinem Fluche. — — —

Ich alarmierte das ganze Schiff. So und so. Der Schreck der Leute war nicht geringer als der meine.

»Wie viele Schlangen waren es denn?«

Nicht einmal das konnte einer angeben!

Eine ganze Masse. Ein ganzer Knäuel.

»Wer hat sie denn eigentlich an Bord gebracht?«

Die Leute antworteten mir nicht mehr.

»Der Schlangengrieper!«, fingen sie zu schreien an. »Wo ist der Schlangengrieper?!«

Was wollten die mit einem ›Schlangengreifer‹?

Da kommt phlegmatisch ein schlanker, rotbrauner Bursche anspaziert, in dem ich sofort einen Indianer erkenne, auch so kostümiert, spaziert ebenso phlegmatisch in die Segelkammer hinein, ich beobachte ihn durch die offen gebliebene Tür, er kauert sich hin, zieht aus dem Gürtel eine Flöte und bläst hinein, es ist aber keine Flöte, sondern nur so eine Art von Kinderfiebe, es kommt nur ein einziger kläglicher Ton heraus — doch das genügt. Eine Schlange nach der anderen kriecht aus den Segeln hervor, der Indianer packt eine nach der anderen am Halse und wirft sie in das Fass... »One — two — three — four...«, zählt er dabei und so fort, bis neun Schlangen aller Art dabei zum Vorschein bringend.

»Well«, sagt er dann, als er den Deckel auf das Fass setzt. »Neun Stück, keine fehlt. Wie ist das passiert?«

Ich hörte die Erklärung nicht. Ich staunte nur ob der Versicherung, dass sich dieser Indianer bereits seit sechs Tagen an Bord befand, und zwar waren diese Schlangen sein Eigentum. Er war ein indianischer professioneller Schlangenbeschwörer und Gaukler, der sich auf der Straße produzierte, was ihm aber in New York verboten worden war. Gern war er der Aufforderung meiner Matrosen gefolgt, wollte mit uns gehen.

Versteht der Leser, was ich hiermit sagen will? Ich hatte schon einen dritten Indianer an Bord, bereits seit sechs Tagen, ohne eine Ahnung davon zu haben.

Es ging eben in dieser Zeit an Bord alles drunter und drüber, und so bemerkte ich auch erst auf offener See, als sich nach und nach alles zu lichten begann, dass mich meine Jungen mit viel mehr zwei- und vierbeinigen Missgeburten und anderen Raritäten versehen hatten, als ich zurzeit wusste.

Außerdem hatte ich eine tüchtige Lehre empfangen. Der indianische Gaukler, dessen erstaunliche Künste ich noch später kennen lernen sollte, hatte eigentlich keinen Grund, so phlegmatisch zu sein, er hatte seinen Schlangen nicht etwa die Giftzähne ausgebrochen, er selbst wurde dann später an Bord meines Schiffes ein Opfer eines Schlangenbisses, trotz all seiner Kunst.

Ich trug Sorge, dass so etwas nicht wieder vorkommen konnte. Die Schlangen wurden jetzt in sichersten Gewahrsam genommen — ich konnte aber nicht hindern, dass noch am selben Tage einer der beiden Büffel, die ich für billiges Geld erworben, der Stier, seine Freiheit gewann und eine Stunde lang Herr an Deck war, bis sich der Cowboy so weit ernüchtert hatte, um ihn mit dem Lasso zu fangen, das heißt, ihn in eine Schlinge zu locken, wonach er sich wieder beruhigt abführen ließ.

Und solche Szenen kamen an Bord des Zigeunerschiffes täglich, stündlich vor, auch während der langen Rückreise. Denn ein Zigeunerschiff durfte ich das meine wohl schon mit Recht nennen.

Auch noch etwas anderes trug dazu bei, dass alles außer Rand und Band war.

Ich hatte unter meinen Jungen keinen einzigen Trunkenbold. An Land mochten sie über den Strang hauen, und das mit der Buchdruckerei, das sind eben Matrosenzicken, Matrosen sind, wie schon gesagt, nicht dazu da, um Buchdruckereien zu kaufen — an Bord waren meine Jungen durchaus nüchtern, ich konnte sie ruhig am offenen Spiritusfasse Wache halten lassen.

Das änderte sich jetzt etwas, und daran war nur diese ganze Zigeunerwirtschaft schuld.

Alle diese Missgeburten und Artisten waren, soweit sie zwei Beine und keine Flügel hatten, in bezechtem Zustande an Bord gekommen. Das war begreiflich genug. Es waren Matrosen, die auf der Suche gewesen, die das Geschäft abgeschlossen hatten, sie hatten sich zur Verlockung von vornherein der Whiskybuttel bedient. Daher war sich hinterher auch niemand darüber klar, was für einen Gehalt man eigentlich ausgemacht hatte.

Nun aber, als die Leutchen aus ihrem Rausche erwachten, als sie sich auf einem Schiffe sahen, das nach der Pfefferküste gehen sollte, und dann noch viel weiter, wo noch etwas ganz anderes als Pfeffer wächst, da wurde den meisten der Handel leid, oder sie konnten sich überhaupt auf nichts mehr entsinnen — kurz, sie wollten wieder an Land, sprachen von Freiheitsberaubung und dergleichen.

Besonders die vierzentnerige Riesendame schrie Zeter und Mordio, sie wollte zu ihrem Schneiderlein zurück, besonders auch der Cowboy erwies sich renitent und mehr oder weniger alle anderen. Sie wollten eben vom Schiff, wollten von der ganzen Reise nichts mehr wissen.

Was war da zu machen? Einen schriftlichen Kontrakt hatte ich nicht. Der hätte bei so etwas doch auch gar nichts genützt. Aber ebenso wenig fiel mir ein, auch nur ein einziges dieser kostbaren Objekte, mit denen ich bei Karlemann alle Ehre einzulegen gedachte, wieder laufen zu lassen, und direkt einschließen wollte ich sie auch nicht, ich bin eben nicht so für Menschenraub, und ich hätte sie auch binden und knebeln müssen, sonst wäre ja das ganze Schiff ein einziges Zetergeschrei geworden.

Nun, der Mund wurde ihnen dennoch geschlossen — nur in anderer Weise. Nämlich mit Whisky, Punsch und anderen angenehmen Getränken. Denn da war ja unter dieser Bande nun kein einziger, der nicht wenigstens zum Abschied noch ein Gläschen angenommen hätte, und dann noch eins, und dann ein drittes — und jedes liebe Vieh hat doch vier Beine — nein, unser Wunderkalb hatte fünf — und Fliegen haben sechs... und dann lagen sie selber wie die Fliegen da, und wenn sie wieder wach wurden, ging die Geschichte von vorne an und so in infinitum.

Es war ein Zechgelage ohne Ende, und da half doch alles nichts, da mussten meine Jungen immer mitmachen, wenigstens die Hälfte von ihnen, während die andere noch nicht nüchtern war. Ach, was hat während dieser acht Tage mein Zwischendeck für Szenen gesehen! Wenn die vierzentnerige Riesendame, die immer noch ihr kurzes Röckchen trug, sich während dieser acht Tage überhaupt noch gar nicht gewaschen hatte, mit meinem krummbeinigen Bootsmanne zusammen Ballett tanzte!


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O Gott, o Gott!!

Ach, war ich froh, dankte ich meinem Schöpfer, als wir in der Nacht des neunten Tages die Anker lichteten!

Mit Volldampf ging es hinaus in die See! Unten hatte ich noch einmal eine Punschterrine anfahren lassen, die aus einem ganzen Fasse bestand, als Schöpfkelle diente ein Stiefel, und als das Zittern der Planken begann, da hatte ich schon dafür gesorgt, dass niemand mehr etwas davon merkte.

Die vierzentnerige Laura hatte auf ihren Elefantenbeinen einen achtzigpfündigen Hering von Leichtmatrosen und grölte mit ihm zusammen ein Liebesduett, die armlose Dame fand mit ihrem Fuße nicht mehr den Weg zum Mund, goss sich den Punsch immer über den Kopf, und so war alles total bezecht.

Und mein Leiden sollte noch nicht zu Ende sein.

Wie ich auf der Kommandobrücke stehe, das Nachtglas vorm Auge, wird mir plötzlich die Mütze vom Kopfe gerissen, und wie ich aufblicke, hängt da über mir nur ein großer Affe an einem Wickelschwanz, schwenkt meine Mütze, außerdem hat er am Beine noch einen Seestiefel — ich habe keine Zeit, mich um das Vieh und meine Mütze weiter zu kümmern, ich gehe ins Kartenhaus, will messen — Herrgott, ich pralle doch zurück, sitzt da auf der Karte ein haariges Ungeheuer von Spinne, wie ich noch keine gesehen habe, glotzt mich mit mächtigen Augen an — zuerst hielt ich es gar nicht für eine Spinne.

»Kruzifix«, ruft da der Matrose, der eben den Mann am Ruder ablösen will, reißt seine Mütze vom Kopfe, guckt hinein und wühlt sich in den Haaren, »Kruzifix, dat ist ja mien Kreizspinn!«

Ich hatte gar nichts von einer Vogelspinne gewusst — und der Matrose, der keine Zeit hat, packt das haarige Ungeheuer mit verwegener Hand, setzt sich die Spinne auf den Kopf, schnell die Mütze wieder darüber, und er übernimmt das Steuerrad — unter der Mütze die große Vogelspinne!

Eine tolle Geschichte! Wirklich, wir waren alle toll geworden!

— • —

28. Kapitel
Auf der Rückfahrt —
Einiges über Goliath und Hans

Originalseiten I.564 — 575

Die Situation begann sich für mich zu klären. Wenn ich Papier und Bleistift zur Hand nahm, so erkannte ich, dass ich nichts vergessen hatte, weder einen buntbemalten Wigwam noch Tomahawk noch Friedenspfeife noch sonst etwas.

Mein Kompagnon würde mit mir zufrieden sein. Überzählte ich die Häupter meiner Lieben, so waren es sechzehn Menschen, welche ich Karlemann zuführte, und jeder war ein Unikum in seiner Art, welches der spätere Humbugkönig Barnum sofort engagiert hätte.

Man erlasse mir alle weitere Beschreibung derjenigen Missgeburten und Artisten, die ich noch nicht angeführt habe, und alle die mitgenommenen Tiere aufzuzählen ist überhaupt unmöglich; denn da war z. B. ein großer Käfig vorhanden, in dem es wie fliegende Diamanten durcheinander schwirrte — feuersprühende Kolibris, die in ihrer Rastlosigkeit also überhaupt nicht zu zählen waren.

Man sieht, es würde immer Neues hinzukommen — und dann aber sieht man auch, welche Intelligenz und welchen Eifer meine Jungen gezeigt, wie sie die ihnen gegebene Aufgabe begriffen hatten; denn das hatten sie alles ohne mein Zutun herbeigeschafft — Amerika sollte gezeigt, auf diesem Schiffe vereint werden! — denn ich, wie gesagt, hatte mich um alles dies ja gar nicht kümmern können, und das hatten die wackeren Burschen fertig gebracht, obgleich sie immer etwas chloroformiert gewesen waren.

Auch Blodwen gebührte das höchste Lob. Mit einem Worte: sie war ganz die Frau Ausstellerin — meinetwegen auch die Frau Zigeunerin.

Dass sie gleich anfangs Interesse für diese ganze tolle Geschichte gehabt, darüber hatte ich mich ja nicht gewundert, mir nur die Frage gestellt: Wie lange wird das währen? Wann wird sie die Nase über dieses Gesindel rümpfen? Und — wann wird wegen der weiblichen Mitglieder ihre Eifersucht zum Durchbruch kommen?

Nichts von alledem! Ich hatte ihr unrecht getan. Denn wenn das noch eintreten sollte, dann wäre es bald Zeit gewesen.

Nein, Blodwen blieb bei der Stange. Und was sie, als sie mir in dem allgemeinen Durcheinander aus den Augen gekommen, geleistet hatte, das erkannte ich erst jetzt.

Während des ersten Tages der Rückreise stellte ich mir oft die bange Frage, ob für unsere vierbeinigen Gäste denn auch das geeignete Futter vorhanden sei.

Ich selbst hatte mich eigentlich nur um die Raubtiere gesorgt, hatte deswegen einige Rinder und Schafe an Bord genommen, nach der Fleischmenge ausgerechnet, dass es für die Raubtiere gut einen Monat langte und auch für uns ab und zu einen frischen Braten abgab.

An alles kann der Mensch doch nicht denken. Fast hätte ich für die Tiere, welche verfüttert werden sollten, das eigene Futter vergessen. Erst Blodwen machte mich darauf aufmerksam, und es wurden genügend Heu und Rüben eingenommen.

Die Affen waren ja leicht zu versorgen, aber nun die verschiedenartigen Vögel... meine Sorge war grundlos, Blodwen war es gewesen, die an alles und jedes gedacht hatte, für Körnerfresser wie für Insektenfresser, und sie hatte wirklich etwas geleistet. Es war eben alles vorhanden, was gebraucht wurde, und das war allein ihr Werk gewesen, ganz in der Stille ausgeführt. Hieran erkannte ich einmal, dass sie ein wirkliches Weib war. Eigentlich nämlich hätte ich ihr das gar nicht zugetraut. Kurz, ich hatte ihr unrecht getan, und offen, wie ich damals nun einmal war, gestand ich ihr dieses doch nur gedachte Unrecht gleich ein, was nur dazu beitrug, unser gutes Verhältnis zu befestigen.

Blodwen nahm sich des kleineren Getieres auch weiter an, fütterte es eigenhändig, dabei unterstützt von Goliath.

Von diesem habe ich bisher gar nichts gesagt, weil über ihn wirklich auch gar nichts zu berichten ist.

Er spielte an Bord die Rolle eines Hausdieners, war das Faktotum. Wenn der Steward zu viel zu tun hatte, half er ihm Messer putzen, er scheuerte die Korridore, arbeitete, wenn Not an Mann war, auch mit in der Takelage.

Habe ich noch nichts von ihm berichtet, so unterhielt ich mich doch mit Blodwen über ihn.

Das war kein gewöhnlicher Neger!! Der war nicht nur Plantagenarbeiter gewesen!

Je mehr wir ihn beobachteten, desto mehr wurde dieser Neger für uns ein Rätsel.

Er schien alles zu können, und alles tadellos. Als er uns aus dem Hafen von Monrovia lotste, hatte er sich als Seemann offenbart. Bei Gelegenheit überzeugte ich mich, dass er auch mit Sextant und Logarithmentafel umzugehen wusste. Also Steuermann. In seiner frühesten Jugend wollte er ja auch als Steward gefahren sein, und das zeigte sich beim Servieren, wie der gewandteste Oberkellner.

Was war dabei Merkwürdiges? Er hatte eben als Steward begonnen, war Matrose, dann Steuermann geworden. Es gibt ja auch schwarze Kapitäne genug.

Doch nein, so einfach war das nicht. Das Rätsel lag in seinem Charakter. Wenn einer etwas gelernt hat, so will er es doch auch verwerten, will danach beschäftigt sein, und nun vor allen Dingen so ein Neger!

Aber wozu jemand sich selbst macht, danach wird er von der Welt behandelt. Bernhard, der Steward, betrachtete ihn als seinen Untergebenen, den er die schmutzigsten Arbeiten verrichten ließ. Der Bootsmann ließ ihn kalfatern, d. h., die Fugen im Deck mit Teer verschmieren. Und wurden mitten in der Nacht alle Mann an Deck gepfiffen, so erschien auch Goliath, als erster aus der Koje springend, obgleich er es gar nicht nötig hatte, überhaupt gar keine Wache ging, also den ganzen Tag auf den Beinen war.

Dabei immer tiefernst, nicht gerade liebenswürdig, aber bescheiden, zuvorkommend, stumm. Und ob er nun kalfaterte oder den Korridor scheuerte oder Messer putzte — alles tadellos, in der Takelage der tüchtigste, unerschrockenste Matrose, und wenn wir ihn brauchten, und er hatte soeben erst mit Teer geschmiert, so brachte er es fertig, in der nächsten Minute mit sauberen Händen und sauberem Gewande zu erscheinen — ernst und stumm mit den aufmerksamen Augen eines Hundes unseres Winkes harrend.

»Was ist nur mit dem?«, fragte Blodwen oftmals. »Der ist einstmals etwas ganz anderes gewesen.«

»In der Tat«, entgegnete ich dann, »der hat sich selbst besiegt, und wer das kann, dem gehört die ganze Welt. Aber lassen wir ihn gewähren. Er will durchaus die Rolle eines willenlosen Sklaven spielen. Gut, er soll es haben. Drängen wir ihn nicht. Vielleicht kommt er selbst noch zu uns. So lange aber soll er das bleiben, was er sein will. Bevorzugen wir ihn nicht.«

Aber wir beobachteten ihn unausgesetzt, und wir entdeckten immer Überraschenderes an ihm, dieser Neger ward uns immer geheimnisvoller.

Er sprach das beste Englisch mit allen Feinheiten. Zufällig entdeckte Blodwen, dass er ebenso das Französische beherrschte. Unser Staunen war groß, aber ebenso, wie er gar kein Hehl daraus machte, also seine Kenntnisse nicht verbarg, doch sie auch grundlos nicht verriet, so stellten wir auch unserer Abmachung gemäß deswegen keine Frage.

Eben ein sehr gebildeter Sklave, den wir da gekauft oder sozusagen vom Himmel geschenkt bekommen hatten — damit basta!

Dann zeigte sich, dass er ebenso ausgezeichnet das Spanische beherrschte. Die kreolische Bauchtänzerin sprach nämlich nur Spanisch, dabei hatte es sich herausgestellt.

Ich hätte einmal fragen können: Wie viele Sprachen sprichst du eigentlich? Aber nein, ich wollte konsequent bleiben.

Jetzt war er hauptsächlich Blodwen behilflich, Vogelfutter zu quetschen, überhaupt die kleineren Tiere zu füttern, womit auch den ganzen Tag genug zu tun war.

Die großen Raubtiere wurden gemeinschaftlich von den Matrosen versorgt, das machte denen ja das größte Vergnügen, selbst das Füttern der Kühe und Schafe. Es wurde hier an Bord einmal etwas Landwirtschaft getrieben, das war ihnen etwas Neues. Ich musste nur darauf achten, dass sie dem Viehzeug nicht zu große Portionen zusteckten, das wollte überhaupt zu den Hauptmahlzeiten gar nicht mehr fressen, denn jeder Matrose und Heizer steckte im Vorbeigehen doch eine Handvoll Heu oder eine Rübe zu. Am meisten Spaß machte natürlich das Füttern der Bären und der beiden Leoparden, zweier Prachtexemplare.

Dieses an sich harmlose Vergnügen sollte eine böse Störung erfahren. Ich hatte vergebens zur Vorsicht gemahnt — es war am zweiten Tage nach der Abreise, als das Leopardenmännchen meinen Bootsmann zwischen den Klauen hatte, ihn an das Gitter heranziehend, ihm Arm und Brust zerfleischend. Nur mit Mühe konnte ihm sein Opfer entzogen werden, der Bootsmann selbst, unerschrocken bis zuletzt, hatte ihm die Daumen auf die Augen gesetzt, hätte sie dem Leoparden bald eingedrückt.


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Zum ersten Male sollte ich die Rolle des Arztes spielen. Mir war schrecklich zumute. Ich hatte schon Blut genug fließen sehen, Wunden — aber doch noch nicht eine solch entsetzlich zerfleischte Brust, und nun sollte ich die Fleischlappen und Hautfetzen abschneiden, und nun war es mein armer Bootsmann, dieser brave, biedere, treuherzige Kerl, den ich samt seiner krummen Beine gar eng in mein Herz eingeschlossen hatte, und wie er nun so wimmernd dalag...

»Massa, soll ich ihn operieren und verbinden?«

Erstaunt blickte ich in Goliaths schwarzes, ernstes Gesicht.

»Was, das verstehst du?!«

»Ich habe einige ärztliche Kenntnisse.«

Hier war keine Zeit zu verlieren, ich gab ihm das Messer — und schon wie er es anfasste — ganz anders als ich — und wie er schnitt, wie er die antiseptische Watte auflegte, den Verband umwickelte... das war ein professioneller Arzt, oder ich ließ mich doch gleich hängen!!

Es war geschehen. Enoch — dies ist der Name des finnischen Bootsmannes — war unterdessen bewusstlos geworden.

»Wird er es überstehen?«, flüsterte Blodwen, die Handreichungen getan hatte, was ich ihr gar nicht zugetraut hätte.

»Nach menschlichem Ermessen ja. Es ist nur äußerlich. Die Wunden müssen aufs Peinlichste sauber gehalten werden, sonst brechen sie später immer wieder auf. Wenn er das Wundfieber übersteht, ist er gerettet.«

Zunächst, um nichts zu vergessen, muss ich erwähnen, dass Blodwen, nachdem sie diese Worte gehört hatte, die volle Waschschüssel fallen ließ und sich in die Pfütze hineinlegte. Die Ohnmacht hatte sie erst nachträglich gepackt. Nachdem auch die versorgt war, hatte ich es wieder mit Goliath zu tun.

»Woher hast du diese ärztlichen Kenntnisse?«

Er sei lange Zeit Diener bei einem Arzt gewesen — und da ich merkte, wie er wiederum auszuweichen versuchte, keinen Namen nennen wollte, ließ ich mir diese Auskunft genügen.

Sonst also blieb ich meinem Vorsatze treu, nur in anderer Hinsicht musste sich das Verhältnis ändern.

»Goliath, das geht nicht mehr, dass du Kartoffeln schälst und die Korridore scheuerst und bei der Deckarbeit zum Kalfatern und dergleichen verwendet wirst. Der Bootsmann muss ersetzt werden. Kannst du seine Stelle ausfüllen?«

»O, Massa, ich bin nur...«

»Ob du die Stelle des Bootsmanns ausfüllen kannst oder nicht, frage ich.«

»Ich kann es.«

»So bist du von heute an Bootsmann, nach amerikanischer Heuer vierzig Dollar monatlich.«

Die Mannschaft wurde benachrichtigt, und ich habe nie einen besseren Bootsmann gehabt.

Nun muss ich noch eines besonderen Falles Erwähnung tun, der, für mich selbst damals ganz unbedeutend, später noch eine große Folge haben sollte.

Jetzt hatte Blodwen beim Füttern ihrer Vögel und anderen Tiere keinen Assistenten mehr, und es zeigte sich bald, dass hierzu ein ganzer Mann nötig war, also nicht, dass etwa der Steward ihr so manchmal dabei half. Blodwen selbst sagte das mir, ich solle ihr hierzu einen Matrosen zur Verfügung stellen.

Wie ich so noch darüber nachdachte, wen ich dazu kommandieren solle, dabei erwägend, dass zum Körnerquetschen nicht jeder passe, die meisten könnten sich wohl für solch eine Ehre bedanken, das war doch Weiberbeschäftigung, kam Hans auf mich zugetreten.

»Herr Kapitän!«

»Nun, was gibt's, mein Junge?«

»Die Lady braucht doch einen Mann, der ihr hilft, und — und — und — da dachte ich — dachte ich...«

»Was, du willst wohl gar Goliaths Posten übernehmen?«

»Ja, wenn Herr Kapitän erlauben«, platzte Hans heraus.

Ich wunderte mich nicht wenig, ob dieser seltsamen Neigung.

Ich hatte den siebzehnjährigen Menschen auf Empfehlung eines anderen als Leichtmatrosen gemustert, der einzige, der sich an Bord befand, und obgleich er seine letzte Reise noch als Schiffsjunge gemacht hatte, war er doch ein so tüchtiger Kerl, dass ich ihn nach den ersten drei Monaten zum Vollmatrosen ernannt hatte.

Doch wie es an Bord so ist, während dieser einen Reise bleibt der Avancierte für seine Kameraden noch immer der Leichtmatrose, wird ja auch tatsächlich als solcher verwendet, muss hauptsächlich die Royal bedienen, die oberste Rahe, und dann hatte ich schon früher erwähnt, dass er allgemein ›der Page‹ genannt wurde.

Da hatte Hans ja nun allerdings auch einen ganz treffenden Spitznamen bekommen. Das war auch weniger eine spottende Ironie, als ich anfangs vermutet hatte.

Der Junge, der Sohn eines kleinen Beamten aus dem Binnenlande, unten aus dem Brandenburgischen, hatte tatsächlich etwas Ritterliches an sich. Es war eine schlanke, famos gewachsene Gestalt, die durch schwere Arbeit noch nicht verdorben worden war, er hielt viel auf sein Äußeres, putzte sich sogar gern, auch bei der Arbeit, d. h., kam fast nach jeder Freiwache mit frisch gewaschener Kleidung an Deck, trug gern eine bunte Schärpe und dergleichen, und auch an Land wollte er immer den Kavalier spielen, steckte wohl den Seemann heraus, machte aber eher den Eindruck eines Kadetten, selbst sein etwas breitbeiniger, schaukelnder Gang war dann immer noch wahrhaft elegant zu nennen.

Ich wusste alles dies zu würdigen, ich hatte den Burschen mit den hübschen, ehrlichen Zügen tatsächlich in mein Herz geschlossen, obgleich er mir sonst noch nicht durch irgend etwas Besonderes nahegetreten war.

Zu meiner Hochachtung als Vorgesetzter gehörte natürlich, dass er auch in der Takelage und sonst bei der Schiffsarbeit seinen ganzen Mann stand, und das war eben bei Hans der Fall, und infolgedessen stand er auch bei seinen älteren Kameraden in Achtung, und wiederum infolgedessen konnte der Spitzname ›Page‹ auch kein spöttischer sein.

Nein, die Matrosen hatten ganz richtig herausgefühlt. Das war noch kein ganzer Ritter, sondern erst ein halber, ein zukünftiger — und nun eben dieses hübsche, schlanke, adrette Kerlchen, das zum Zweikampf wegen irgendeiner Meinungsverschiedenheit, wie es nun einmal an Bord zugeht, unverzagt auch dem herkulischsten Matrosen gegenübertrat, sich von ihm verboxen ließ, dann ihm aber die Hand schüttelte und nichts von Nachtragen wusste — — jawohl, das war eben bei uns an Bord der ritterliche Page, einen besseren Namen hätte er gar nicht bekommen können.

Und nun meldete sich dieses fixe Kerlchen, das in der Takelage stets der erste sein musste und es auch wirklich war, zu solch einem Frauendienste! Allerdings ganz einem Pagen entsprechend, aber... ich hatte schon daran gedacht, dass hierfür überhaupt kein Matrose in Betracht kommen könne, so ein Seebär war fähig, mir gleich den ganzen Bettel vor die Füße zu werfen, da musste ich einen Mann wohl zwischen den Heizern und Kohlenziehern suchen, die weniger empfindlich im Punkte ihrer Seemannsehre sind — — und am allerletzten hätte ich Hans so etwas anzubieten gewagt.

»Du machst wohl nur Spaß, Hans?«

»Nein, Herr Kapitän, wenn ich darf — ich dachte — — die Lady wird nicht so leicht einen bekommen...«

Na, wenn er wollte, mir war's ganz recht. Dann wurde er eben wirklich ein Page, so ein Frauenlakai — dann würde er aber noch manches von seinen Kameraden zu hören bekommen.

Also Hans kam achterraus, half Blodwen mit, die Körner zerquetschen, reinigte die Vogelbauer und flöhte Affen.

Im Übrigen hatte ich damals den Kopf viel zu sehr voll anderer Gedanken, um mich weiter groß darum zu kümmern.

Dass der Junge einen so roten Kopf bekommen hatte, als er stotternd mit seinem Vorliegen herausrückte, das schrieb ich eben dem Umstande zu, weil er sich selbst bewusst war, dass solche Arbeit nicht recht zur Seemannschaft passe. Aber des Menschen Wille ist sein Himmelreich — — basta!

Nach alledem, was ich hier angeführt habe, brauchte ich wohl kaum noch zu sagen, dass mir nicht der geringste Gedanke aufstieg, der irgendwelche Ähnlichkeit mit Eifersucht hatte. So etwas fiel mir ja gar nicht im Traume ein.

Nun, ich sollte erst später erkennen, was für eine Bewandtnis dies alles hatte. — — — Über meine sechzehn menschlichen Missgeburten und Raritäten habe ich nur wenig zu sagen.

Wir hatten die erste Zeit nach der Abfahrt schweres Wetter gehabt, sie waren samt und sonders seekrank geworden, mindestens vier Tage lang, und dann war es gegangen, wie es immer geht.

Nach Überstehen der Krankheit fühlt sich jeder Mensch wie neugeboren, da kommt plötzlich ein Appetit, von dem man vorher noch gar nichts gewusst hat, und da sagt auch die zarteste Dame, und mag die See auch noch so brüllen und das Schiff auch noch so schlingern und stampfen: ›Ach wenn es doch immer so bliebe! Könnte ich doch immer so auf einem Schiffe leben, nur immer essen, essen, essen!!‹

Das war also auch bei meinen Passagieren der Fall, besonders zarte Damen waren nicht einmal darunter, dazu nun die vorhergegangene endlose Zecherei, ein dementsprechender Kater, der ebenfalls erst überstanden sein wollte, ich sorgte unterwegs für immer neue kleine Festlichkeiten — — kurz, wir bekamen nach achtzehntägiger, ausgezeichneter Fahrt schon die Leuchtturminsel von Legala in Sicht, und diese Leutchen hatten noch nicht einmal richtig die Frage aufgeworfen, was sie eigentlich an Bord oder wohin sie sollten, und meine Ahnung, dass Karlemann sie zu behandeln wisse, wenn der sie erst einmal zwischen seinen Fingern hatte, sollte sich denn auch später bestätigen.

— • —

29. Kapitel
Was Doktor Selo hinterlassen hat

Originalseiten I.575 — 587

Aber so weit sind wir noch nicht. Es war am elften Tage, als wir im Sargassomeer wieder die erste schwimmende Seetangwiese passierten. Ich hatte während der ganzen Reise für die Maschine noch keine einzige Schaufel Kohlen verbraucht, es war auch jetzt noch nicht nötig, der Wind hätte gar nicht so günstig zu sein brauchen. Ein am Bug mit einer Stange postierter Mann genügte, das Schiff von Zeit zu Zeit von dem sich aufhäufenden Seetang zu befreien.

Für meine sechzehn Passagiere war der Anblick dieser sich unabsehbar erstreckenden Wiese nun wieder so etwas, was alles andere vergessen ließ, der Cowboy, ein schrecklich unwissender Mensch, spähte schon nach Rindern und Pferden, für welche dieses vermeintliche Land, ob es nun schwämme oder nicht, doch den herrlichsten Weidegrund abgäbe, so äußerte jeder seine Ansicht, und demselben Zauber, den dieses frische Grün ausübt, das da auf dem Meere schwimmt, verfällt ja auch jeder Seemann immer von Neuem, mag er die Fucusbank noch so oft gesehen haben.

Auch die neben mir stehende Blodwen erging sich in Entzücken über den Anblick, und da fiel ihr eine Frage ein, die eigentlich schon längst sehr nahe gelegen hätte.

Es war überhaupt verschiedenes vergessen worden, was nicht gerade mit unserer Pflicht zusammenhing. Vom ersten Tage an, nachdem ich die sechs Messer in Auftrag gegeben hatte, waren wir doch ausschließlich mit dem Auftreiben von menschlichen und tierischen Missgeburten und anderen Schauobjekten beschäftigt gewesen, und da hatte sich eben an Bord ein solch tolles Leben entwickelt, wie ich zum Teil ausführlich geschildert habe, und die Folge davon war, dass Blodwen und ich total unsere Absicht vergessen hatten, das Haus der alten Großmutter in der Low Street zu besichtigen, nach jenem Briefe der Lady Stanhope zu forschen. Never mind — das hatte für mich nur ein historisches Interesse gehabt, ich glaubte nicht an solche Geisterschätze, so wenig wie an mein Goldwrack und an meine Perlmutterinsel, obgleich ich selbst bei Gelegenheit allen Ernstes davon erzählen konnte. Das sind eben solche Seemannsmärlein, entsprechend dem Jägerlatein, ohne welches ein echter Jünger des heiligen Nimrod doch nicht denkbar ist.

Nun aber war auch das ganze weitere Leben an Bord dazu angetan, noch mehr zu vergessen. Ich glaube kaum, dass einer meiner Leute noch an die Vorrichtung mit den Messern gedacht hat, was für einen Zweck die eigentlich hatte, das musste ich aus Blodwens Person schließen, die trotz aller weiblichen Neugier, von der sie über eine gute Portion verfügte, diese Messer noch mit keiner Frage wieder erwähnt hatte.

Beim Anblick dieser grünen Wiese aber kam es ihr in die Erinnerung.

»Du, Richard«, sagte sie plötzlich, »wozu haben wir eigentlich die riesigen Messer machen lassen müssen? Die wären doch eigentlich wie geschaffen dazu, um dieses grüne Zeug zu durchschneiden.«

Mein Entschluss war sofort gefasst. Jetzt war die Gelegenheit gegeben.

Ich ließ das Schiff etwas aus dem Wind gehen, dass es sich mit dem Schnabel nach Süden richtete, dorthin, wohin mit Absicht wohl noch kein Schiff den Kurs genommen hat, wollte nicht die ganze Besatzung Selbstmord begehen, rief alle Mann vor dem Mast zusammen.

So und so, erklärte ich kurz, das ist ein Ausläufer der großen Fucusbank von Sargasso, die ihr doch alle kennt, mindestens schon von ihr gehört habt — ich bin von dem kleinen Kapitän Algots beauftragt, sie zu durchqueren, mitten durch das Zentrum hindurch — erst gehen wir noch einmal nach der Goldküste. — Wer von euch macht dann diese Expedition mit?

Es war begreiflich, dass keiner der Leute zunächst eine Antwort wusste. Die Sache kam ihnen zu überraschend. Denn obgleich ich ihnen gar nichts hiervon gesagt hatte, waren sie doch von allein zu der festen Überzeugung gekommen, dass wir ein Schaustellerschiff begründen wollten, um uns schlicht und recht durchs Leben zu schlagen, was so ihren Beifall gefunden hatte. Und nun fing ich plötzlich von solch einer abenteuerlichen Expedition an.

Es war ganz gut, dass Blodwen am wenigsten auf den Mund geschlagen war, gleich die Sprecherin für alle machte.

»Karlemann will dich durch diese schwimmende Grasbank schicken?«

»Ay, durch die Fucusbank, auf einem genau vorgeschriebenen Wege.«

»Und das sagst du mir erst jetzt?!«, erklang es etwas pikiert.

»Ay, erst jetzt«, gab ich so gleichmütig wie vorhin zurück. »Karlemann hat mich beauftragt, erst auf der Rückfahrt beim Anblick der Fucusbank davon zu sprechen.«

Das stimmte zwar nicht ganz, aber das konnte ich doch machen wie ich wollte. Eigentlich sollte ich ja gar nicht darüber sprechen. Dass ich für gewöhnlich mein gegebenes Wort nicht brach, darf der Leser mir wohl glauben. Doch es gibt eben Ausnahmen — ich habe ja schon früher zur Genüge erklärt, was mich dazu bewog, meine Leute schon vorher wenigstens in etwas einzuweihen, um was es sich handelte. Man kann der Mannschaft nicht vorflunkern, man wolle eine Vergnügungsfahrt nach Norwegen machen, und dann geht es direkt nach dem Nordpol. Kurz, ich handelte nach bestem Gewissen.

Und bei Blodwen erwachte die Neugier, die alles andere vergessen ließ.

»Und aus was für einem Grunde? Was gibt's denn da drin zu finden?«

»Das weiß vorläufig nur Gott und Karlemann, so weit hat er mich selbst noch nicht eingeweiht«, sagte ich wiederum nicht ganz der Wahrheit gemäß, und dann fuhr ich mit schallender Stimme fort:

»Leute — ich habe oder werde eine geografische Ortsbestimmung bekommen, mitten im Zentrum der großen Fucusbank gelegen, das noch keine Schiffsbesatzung lebendig, das wohl überhaupt noch kein Schiff erreicht hat. Dort drinnen gibt es ein Geheimnis zu entdecken, ein Rätsel zu lösen — welches, weiß ich selbst noch nicht. Vielleicht werden wir Schätze finden — vielleicht auch nicht — vielleicht nur den Tod. Um durch den festgewachsenen Fucus zu kommen, habe ich jene Schwerter oder Messer anfertigen lassen, deren Gebrauchsfähigkeit ich dann gleich prüfen lassen werde. Wisst ihr, weiß ein jeder von euch, was diese grüne Wiese zu bedeuten hat, die jetzt so harmlos um uns herumschwimmt? Ich gebe euch eine halbe Stunde Bedenkzeit, geht jetzt einmal in die Foxl, lest in den Nachschlage- und in den Spezialbüchern nach, was für eine Bewandtnis es mit dieser Fucusbank von Sargasso hat, wie jedes Schiff unrettbar verloren ist, um das sich einmal der lederartige Seetang gestrickt hat — lest nach, wie dort das Wasser bei Windstille fault, was für pestilenzialische Dünste ihm entsteigen — es werden auch Männer unter euch sein, die davon erzählen können, ob nun Selbsterlebtes oder Gehörtes — ob Wahres oder Erfundenes — hört sie an und erwägt, beratet euch — dann gebt mir Antwort, ob ihr bereit seid, mich in diesen grünen Tod zu begleiten. Geht in die Foxl und lest nach!«

Ich hatte gesprochen. Aber die Leute standen wie die Mauern, keiner rührte sich. »Geht in die Foxl und lest in der Bibliothek nach!«, wiederholte ich. Keiner ging.

»Wat schalln wi?«, nahm da endlich einer der Matrosen das Wort, wer es war, ist gleichgültig, er sprach die Meinung aller aus. »Wat schalln wi denn da irst in dee Bükers leehsen? Wenn der Käpten geiht, geihn wi ok, un wenn ok dee Düwel drin stecken deit.«

Es gibt solch kleine Situationen, die sich gar nicht weiter beschreiben lassen. Da kann es einem plötzlich so siedend heiß zum Herzen emporsteigen. Mir wenigstens.

Kurzum, die Angelegenheiten war schon erledigt, niemand brauchte erst in ›dee Bükers nachtoleehsen‹. Ich musste den Leuten erst klarmachen, dass wir zuvor noch einmal nach Karlemanns Leuchtturminsel gingen, durfte aber nicht wagen, sie darauf aufmerksam zu machen, dass sie sich die Sache bis dahin ja also immer noch überlegen könnten. Das hätten sie grimmig übelgenommen.

Aber die Versuche mit den Messern wurden sofort gemacht. Jedes derselben war sechs Meter lang, dabei etwas gebogen, sodass es sich der Krümmung des Schiffsbugs genau anschmiegte, zwanzig Zentimeter breit, hinten beträchtlich stark, vorn von außerordentlicher Schärfe, der Stahl verzinnt und mit einem Lacküberzug versehen.

Es konnte bequem von einem einzigen Manne eingelassen und wieder herausgehoben werden, diese sägende Bewegung war überhaupt vorgesehen gewesen, ebenso seitliche Drehungen.

Ich ließ wieder etwas in den Wind drehen, nur ein schwacher Hauch traf die Segel, vorn hatte sich der Seetang, der sich wie Leder anfühlte und auch dessen Zähigkeit besaß, schon ganz beträchtlich angehäuft, aber er wurde bei der ersten Bewegung zerschnitten, wie die Butter vom Rasiermesser. Nun allerdings war dieser Fucus hier ja schon nicht mehr mit dem Meeresboden verwachsen. Aber um so stichhaltiger war doch eigentlich diese Probe hier mit dem lose treibenden Tang. Wenn die Japaner eines ihrer berühmten Schwerter prüfen, so werfen sie eine Gurke in fließendes Wasser, halten die Klinge ruhig entgegen, und die treibende Gurke muss von ihr glatt durchgeschnitten werden. Das ist doch jedenfalls eine andere Prüfung, als wenn man auf eine Gurke mit aller Macht draufhaut.

Kurz, ich war mir jetzt sofort klar, dass die Fucusbank, und mochte der Tang im Zentrum noch so dicht zusammenstehen, einem Schiffe, das diese Vorrichtung besaß, überhaupt keinen Widerstand mehr bieten könne. Vor meinen Augen schwand hiermit eigentlich jegliche Gefahr.

Was hinderte mich noch, die abenteuerliche Fahrt durch die schwimmenden Meereswiesen sofort anzutreten, da wir doch auch mit Kohlen und allem reichlich versehen waren? Nichts weiter, als das Karlemann gegebene Versprechen, zuerst noch einmal...

»Massa«, trat da Goliath an mich heran.

Auch als Bootsmann redete er mich nie Kapitän an, sondern blieb nach wie vor bei dem bei Negern und besonders Sklaven beliebten ›Massa‹, und ich ließ den Kauz gewähren.

»Was gibt's, Bootsmann?«

»Ich habe in des Schiffsarztes Kabine etwas gefunden.«

Goliath hatte nämlich mit Übernahme der Unteroffiziersrolle Dr. Selos frühere Kabine bezogen.

»Etwas gefunden?!«, wiederholte ich, schon von einer ganz undefinierbaren Ahnung erfüllt.

»Mir fällt vorhin, als ich etwas nähen will, die Nadel herunter, sie verkrümelt sich in einer Spalte, wo zwei Eisenplatten nicht dicht zusammengenietet sind, ich will sie mit einer anderen Nadel hervorholen — da kommt dieses Papier zum Vorschein.« Er gibt mir den kleinen Streifen Papier. Ich sehe ihn mit Zahlenreihen bedeckt, mit Bleistift geschrieben, die nichts anderes als geografische Ortsangaben sein können — das ist doch sofort ersichtlich, wenn auch Worte und selbst Buchstaben fehlen, meistenteils ist es doch eine dreifache Angabe, die der Minuten und Sekunden übersteigt nicht die Zahl sechzig — ich denke im Augenblick daran, das könnten meine eigenen Bestimmungen sein, wo ich Geld und Schmuck versenkt hatte, und Doktor Selos mir wohlbekannte Zahlenschrift erkenne ich sofort — aber nein, es sind viel mehr als neun, die bei mir in Betracht kommen, außerdem eben andere, die meinen habe ich ja immer im Kopfe — ich lese die Reihen herunter — die geografischen Bestimmungen erstrecken sich über die ganze Erde, der Seemann hat, wie der Geograf, doch immer den Erdglobus, mit Breitengraden und Meridianen überzogen, vor den Augen — und da — da — wie wird mir da...

»24 Grad 34 Minuten 59 Sekunden nördliche Breite, 43 Grad 41 Minuten 3 Sekunden westliche Länge.«

So lese ich eine Reihe ab!!

Und wie lautete Karlemanns Bestimmung für den Punkt, von dem aus jener Mann mitten in der Fucusbank das Festland erblickt haben wollte?

21 Grad 36 Minuten 45 Sekunden nördliche Breite, 43 Grad 2 Minuten 17 Sekunden westliche Länge von Greenwich.

Und da zuckte es mir durch den Kopf, da brauchte von gar keiner Ahnung oder göttlichen Eingabe die Rede zu sein.

Der Schiffsarzt hat das in Hieroglyphen geschriebene Dokument zu entziffern gewusst! Es enthielt diese geografischen Ortsbestimmungen! Er hat es erst mit Bleistift übersetzt, hat diesen Zettel in einer Spalte seiner Kabine verborgen, oder aber — viel wahrscheinlicher — dieser Zettel ist ihm heruntergefallen, hat sich in jener Spalte verkrümelt, Doktor Selo hat ihn nicht wiederfinden können!

Und gerade diese eine Bestimmung? Sie wich nur in Minuten und Sekunden von der Karlemanns ab, der Unterschied war gerade unter dieser Breite ein ganz beträchtlicher — aber immerhin, auch sie gab einen Punkt an, der fast mitten im Zentrum der großen Fucusbank lag!

Wie kam diese Übereinstimmung zustande? Wer hatte die Geheimschrift geschrieben? Ganz gleichgültig! Jener Unbekannte, nenne man ihn meinetwegen den Herrn vom Vogelberge, kannte dasselbe Geheimnis wie Karlemann! Auch er hatte das in der schwimmenden Wiese gelegene Festland gesehen und diesen Gesichtspunkt bestimmt, oder der Punkt konnte ja auch schon auf dem Lande selbst liegen, konnte vielleicht ein noch größeres Geheimnis bergen!

Ich verbarg meine Aufregung vor der Mannschaft, wusste Blodwen erst zu beschwichtigen — dann in der Kajüte weihte ich sie in alles ein, um nicht immer Ausreden haben zu müssen. Denn vor Karlemann hatte ich jetzt überhaupt eigentlich gar kein Geheimnis mehr zu wahren, jetzt war das mein eigenes geworden, mit dem ich machen konnte, was ich wollte.

Soweit Blodwen etwas davon verstand, stimmte sie mir in allem bei.

Und nun die anderen Bestimmungen, die auf dem Zettel standen?

Es waren im ganzen achtundzwanzig, zum Teil in Zehntelsekunden gegeben, die genaueste, die man bis heute noch machen kann, wodurch selbst auf dem Äquator ein Punkt von nur wenig Quadratmetern Umfang begrenzt wird.

Sie verteilten sich, wie ich jetzt gleich an der Hand von großen Seekarten nachwies, über die ganze Erde, und zwar ausschließlich im Wasser liegend. Am meisten kam der australische Inselarchipel in Betracht, und da konnte es wohl einmal, vorkommen, dass solch ein angegebener Punkt auch einmal direkt auf einer der zahllosen Koralleninseln lag, in so großem Maßstabe ist doch auch die genaueste Seekarte nicht gezeichnet.

»Kommt da auch der große Vogelberg in Betracht?«, fragte Blodwen, ein Zeichen, wie schnell sie sich in alles fand.

Ich prüfte — nein, dessen Lage war hier nicht angegeben.

»Aber hier — hier...« flüsterte ich.

»Was ist da?«

»Hier ist ein geografischer Punkt in Zehntelsekunden angegeben, und von diesem befinden wir uns keine zwei Stunden entfernt.«

»Und was soll da versenkt liegen?«

»Ja, wie kann ich das wissen? Da heißt es eben sofort hin und untersuchen, und von dem, was wir dort finden, können wir vielleicht Schlüsse auf alle übrigen Punkte machen.«

»Auch dieser unbekannte Mann, jener geheimnisvolle Kapitän, der uns das Wrack wieder entführte, wird seine Schatzkammern auf dem Grunde des Meeres haben!«

Was halfen solche Phantastereien? Ich phantasierte ja etwas mit, meine Erregung war nicht gering, vor allen Dingen aber ließ ich doch Dampf aufmachen, um nordwärts dem Winde entgegenfahren zu können.

Nach noch nicht zwei Stunden lagen wir an Ort und Stelle. Aber die erste Enttäuschung war die, dass das hundertmetrige Lot noch keinen Grund ergab, wir fanden mit einer längeren Leine erst bei etwa hundertzwanzig Meter Grund, so weit reichten unsere Ankerketten nicht, solche gab es überhaupt gar nicht, und da konnte auch kein Taucher hinab.

Nun lagen wir da, trieben etwas ab, mussten immer unsere Lage korrigieren, um an Ort und Stelle zu bleiben, blickten in das balkenlose Wasser hinab, ich fummelte noch etwas mit dem Lot herum, das eingefettete Blei brachte Sand und Muscheln herauf — nichts weiter.

»Jener Kapitän besitzt einen Apparat oder sonst etwas, mit dem er dennoch in solche Tiefen tauchen kann«, flüsterte Blodwen.

Möglich, warum nicht, aber — für uns doch schließlich nur eine Phantasterei, die uns nichts einbrachte.

»Oder er zieht's mit einem Magneten heraus, wie wir es vorhatten. Ach, Richard, warum hast du noch immer keine magnetelektrische Maschine angeschafft?«

Diese kindlichen Vorwürfe ließen mich ganz kalt.

»Kannst du denn nur gar nicht fühlen, was da unten liegen mag?«

Ja, hat sich was fühlen, mit einer hundertzwanzig Meter langen Lotleine, die so im Wasser herumschwabbelt!

»Oder ist nicht noch ein anderer Punkt in der Nähe, den wir daraufhin untersuchen können?«

In der Tat, das war ein ausführbarerer Vorschlag — und wahrhaftig, ich hatte nur etwas von meinem direkten Kurse abzuweichen, um morgen etwa auf dem elften Breitengrade und zweiunddreißigsten Meridian abermals solch eine bis zur Zehntelsekunde angegebene Stelle zu passieren.

Wir kamen an. Die Berechnung stimmte. Aber die Anker brauchten wiederum nicht erst ausgeworfen zu werden, wenn hier die Tiefe auch nur sechsundsiebzig Meter betrug — also doch immerhin schon unerreichbar für den modernsten Tauchapparat.

»Hier liegen gewiss Schiffe, die untergegangen sind«, musste Blodwen immer wieder bemerken, »mit reichen Schätzen; jener geheimnisvolle Kapitän weiß die Stelle ihres Untergangs, hier hat er die Quelle seiner unerschöpflichen Geldmittel.«

»Ich bitte dich, Blodwen, lass doch diese Phantasien. Was für einen Zweck hat das alles? Für uns ist das eben unerreichbar.«

»Ja, für dich — aber nicht für Doktor Selo, der gewiss schon hier und auch auf dem Meeresboden gewesen ist.«

»Dann suche ihn auf und lass dir von ihm das Rezept dazu mitteilen — und auch gleich seine ständige Adresse, damit ich ihn einmal besuchen kann — warmes Abendbrot bringe ich gleich selber mit.« —

Nein, in solche Meerestiefen wird der Mensch niemals dringen. Die Oberfläche der Erde besteht zu einem Drittel aus festem Lande, zu zwei Dritteln ist sie mit Wasser bedeckt, und was dieses verbirgt, das wird der Mensch niemals bis in alle Ewigkeit...

Doch nein! Halt an, halt an!!!

Will ich armer Wicht wagen, die Endlichkeit des Geistes, den Gott seinem Ebenbilde eingeblasen hat, mit meinem schwachen Verstande zu ermessen?

Gerade jetzt, da ich dies als alter Mann schreibe, ertönt über meinem Leuchtturm ein trompetenähnlicher Ton, ich trete hinaus, ich blicke empor, und da sehe ich über mir zu meinem Staunen, zu meinem Schrecken ein ungeheueres Etwas, einen riesigen Vogel; aber das muss wohl Menschenwerk sein, es wird von großen Schraubenrädern getrieben...

Das erste Luftschiff! Ich habe davon schon gelesen, es abgebildet gesehen, und dennoch ist mein Staunen jetzt grenzenlos, und dieses paart sich mit Schreck und mit Ehrfurcht.

O, Menschengeist, der du schon beginnst, dem befiederten Segler der Lüfte die unermesslichen Höhen der Atmosphäre streitig zu machen, was soll denn dir noch widerstehen können? Wie soll da mein schwacher Verstand einen Maßstab anlegen, was unmöglich ist und was nicht?

Wohl hatte mir jener Unbekannte geschrieben, falls wir die Hieroglyphen wirklich enträtseln könnten, so würden wir doch nur für uns ganz Wertloses entdecken.

Ja, das stimmte! Für uns waren diese Meerestiefen verschlossen.

Aber konnte jener Mann nicht irgendein Mittel besitzen, um da hinabzugelangen — oder, wenn nicht in einem Taucherkostüm, konnte er sonst nicht etwas besitzen, um das, was dort unten lag, ans Tageslicht zu heben?

Ja, wäre dies nicht der Fall, hätte er mir sonst wohl 50 000 Pfund Sterling geboten, um wieder in Besitz der Geheimschrift zu kommen, die er selbst noch nicht enträtselt, deren Inhalt er nur ungefähr kannte — hätte er dies sonst getan?

Jedenfalls gab dies alles viel, viel zu denken.

— • —

30. Kapitel
Wieder auf der Leuchtturminsel —
Der Fischmensch

Originalseiten I.587 — 600

Es war gegen Mitternacht, als wir das Leuchtfeuer von Legala in Sicht bekamen, wir meldeten unsere Ankunft durch farbige Signallichter, segelten dabei immer näher heran, und gegen zwei Uhr befand sich Karlemann, von einem Dampfboot gebracht, bei mir an Bord.

Wir schüttelten uns die Hände — glückliche Fahrt gehabt — und dann saßen wir zusammen in der Kajüte, ich stattete Bericht ab.

Meine Passagiere lagen ja im tiefsten Schlafe, und außerdem schien Karlemann sie mit Absicht noch gar nicht sehen zu wollen, er hätte doch wenigstens die Tiere betrachten können; übrigens hielt ich ihn für rücksichtslos — oder meinetwegen für energisch genug, um alles gleich aus der Koje zu jagen — nein, von mir wollte er zunächst Bericht haben. Schon hierbei ging es humoristisch genug zu, d. h., für einen unparteiischen Zuhörer. Für diesen Jungen war alles tiefer Ernst.

Ich zählte auf, fing, wie es in meinem Notizbuche stand, mit dem Manne ohne Arme und Beine an.

»Ohne Beine? Worauf läuft der denn?«

»Nun, der kann eben gar nicht laufen, das ist nur ein hilfloser Rumpf. Ist das nicht sehenswert genug?«

»Hm«, brummte Karlemann nachdenklich, »hätten Sie nicht dafür sorgen können, dass der Kerl wenigstens Arme hatte, dass er auf den Händen laufen konnte? Das hätte vielleicht noch mehr Effekt gemacht.«

»Dann müssen Sie ihm Arme und Hände ankleben.«

»Hm! Wollen sehen, was sich machen lässt. Na nu weiter!«

Als zweites kam Laura dran, die Riesendame.

»Wie schwer?«

»Vier Zentner.«

»Hat die Beine?«

»Na und was für welche!!«

Und so ging das zwischen uns weiter.

Noch ehe Karlemann irgend etwas selbst gesehen hatte, schüttelte er mir die Hand und erklärte seine äußerste Zufriedenheit mit allem, einen besseren und intelligenteren Kompagnon als mich hätte er gar nicht finden können.

Nun konnte er mich ja allerdings fragen, was er wollte, ich hatte nichts vergessen, weder den Wigwam, noch das echte Skalpiermesser, noch sonst etwas, und dass ich statt der jungen, schönen Indianerin eine Kreolin mitbrachte, die aber sogar mit dem Bauche tanzen konnte, das hatte eben in den Verhältnissen gelegen, ich hatte alle mir gegebenen Aufgaben glücklich gelöst, und dass der Buchdrucker nun gar mit dem Bauche bellen konnte, dass ich einen perfekten Bauchredner mitgebracht hatte, darüber war Karlemännchen einfach entzückt. Er wollte mich deshalb umarmen, da ich aber gerade stand, reichten seine Arme nur um meinen Unterleib.

In diesem Augenblicke fiel mir etwas ein, machte ich eine Entdeckung.

»Sagen Sie mal, Karlemann — wir kennen uns doch nun seit bald einem halben Jahre — wachsen Sie denn nur eigentlich gar nicht?«

»Das kann ich doch machen, wie ich will!«, war seine trotzige Antwort.

»Na na«, lachte ich, »das kann der Mensch für gewöhnlich eben nicht machen, wie er will.«

Jetzt hätte für mich eine Vermutung doch sehr nahe gelegen, ich hätte an die Schnapskur des Elefanten denken sollen, oder was das grüne Zeug nun sonst war, eine Ahnung hätte in mir aufsteigen sollen — — allein der Junge stellte gleich weitere Fragen, ob ich auch Musikinstrumente für eine Kapelle mitgebracht hätte usw., was ich alles bejahen konnte, und so dachte ich eben nicht mehr daran.

Unterdessen waren wir um die Insel herumgekommen, bei Fackelschein wurden wir durchgeschleift — nein, nicht bei Fackelschein, wenn man unter Fackeln mit Pech getränkte Holzstücke versteht.

Ich bekam etwas mir ganz Unbekanntes zu sehen. Die Neger, welche leuchteten, hielten in den Händen Röhren, oben mit einer Kugel daran, und unten kam eine große Flamme wie mit Heftigkeit unter einem zischenden Geräusch heraus.

Heute sind diese Blaselichter etwas Allbekanntes, man sieht sie überall, besonders auf Jahrmärkten, die Schaubudenbesitzer bedienen sich ihrer zur Beleuchtung, es ist wohl Naphta oder solch ein ähnliches Zeug, welches in der Kugel durch Erwärmung vergast wird — damals aber war das noch etwas ganz Neues, ich wenigstens hatte so etwas noch nicht gesehen, und ich bekam wieder einmal zu merken, wie dieser deutsche Zigeunerjunge schon vorgearbeitet hatte, sich alle modernen Erfindungen zunutze machend.

Dann aber musste ich meinem Kompagnon gestehen, dass ich in einem wenigstens meine Pflicht total vernachlässigt hatte. Ich hätte doch zum Beispiel die mitgebrachten Indianer, die nicht mehr so ganz echt waren, schon unterwegs wieder mehr zu echten Rothäuten ausbilden sollen, dass sie wieder mit Tomahawk und Lasso umzugehen wussten, ich hätte vielleicht aus der ganzen zweibeinigen Gesellschaft eine Musikkapelle machen sollen, hatte deswegen ja auch alle Arten Blasinstrumente mitgenommen — allein, das war aus den angeführten Gründen nicht möglich gewesen, ich hatte immer genug zu tun gehabt, meine Passagiere über das Ziel und die ganze Reise hinwegzutäuschen — kurz und gut, die waren noch immer nicht bei voller Besinnung, wussten immer noch nicht, was sie eigentlich sollten.

Karlemann hatte mir aufmerksam zugehört und er nickte zufrieden.

»Gut, dass Sie mir das sagen. Alles ganz vortrefflich. Das war Ihrerseits auch gar nicht nötig. Wenn ich sie nur erst einmal hier habe.«

»Es gibt rabiate Gesellen dabei, vor allen Dingen der Cowboy, ein Revolverheld, der musste immer beschwichtigt werden...«

»O, wenn ich sie nur erst hier habe, die will ich bald zahm haben.«

»Auch die Riesendame ist nicht zu verachten, die leidet manchmal an...«

»Lassen Sie mich die nur erst hier haben«, wiederholte Karlemann zum dritten Male, und ich glaubte bereits an seine Dressierkunst auch Menschen gegenüber.

Eben als wir die Schlucht passierten, in den eigentlichen Hafen einliefen, brach der helle Tag mit jener Plötzlichkeit an, welche in diesen Gegenden, die keine Dämmerung kennen, eigentümlich ist, und zu meinem Staunen sah ich in dem engen Kesselhafen noch einen zweiten Dampfer liegen, fast ebenso groß wie meine ›Sturmbraut‹, sodass wir kaum noch Platz hatten, mindestens mit der größten Vorsicht uns so durchquetschen mussten.

An Deck des vollgetakelten Dampfers sah ich bunt herausstaffierte Matrosen, wahrscheinlich Spaniolen oder Mexikaner oder dergleichen, lauter wilde, verwegene Gesichter, so eine richtige Zigeunerbande, und ich muss gestehen, dass mich etwas wie Eifersucht beschlich.

»Sie haben wohl noch mit einem anderen Kapitän Kumpe ge...«

Das Wort erstarb mir im Munde.

Ich hatte dabei die Takelage des Dampfers gemustert, um seine Nationalität zu erkennen, mochte er auch unter irgendwelcher fremden Flagge segeln, hatte gerade nach der mittelsten Topspitze geblickt, dabei musste mein Auge auch die dritte Galerie streifen, und da sehe ich auf dieser, also in einer Höhe von etwa mindestens sechzehn Metern eine dunkle Gestalt stehen, mehr braun als schwarz, doch das kann ich alles gar nicht deutlich unterscheiden — denn in diesem Augenblick, als ich ihn gewahre, schießt der Kerl in weitem Bogen hinab in die Tiefe, mit dem Kopfe voran, die Hände vorgehalten — und ich schreie wirklich vor Schreck laut auf; denn ich denke nicht anders, als er muss im nächsten Moment mit zerschmettertem Kopfe an Deck meines Schiffes liegen oder auch auf dem des anderen Dampfers; denn wir lagen ganz dicht zusammen, zwischen unseren Bordwänden war kaum ein Zwischenraum von einem Meter... aber nein, eben durch diese Spalte schießt der Kerl in gewaltigem Bogen hindurch, er muss das Wasser erreicht haben, aber ich höre gar keinen so lauten Schall, nur ein ganz leises Aufschlagen — schnell blicke ich über die Bordwand — richtig, dort unten kräuselt sich das Meer, aber nur ganz gering, der braune Mann ist verschwunden...

Ich bin einfach sprachlos vor Staunen.

Man muss sich nur solch eine Höhe von mindestens sechzehn Metern vorstellen, und die Galerien waren doch nicht etwa übereinander, jede war wenigstens zwei Meter breit — was für ein Sprung dazu gehört! — und nun gerade in diese schmale Spalte hinein, gebildet von den beiden Dampfern, nur eine Idee falsche Berechnung, und der Kopf war in Trümmern, oder auch nur das Bein, nur die Hacke brauchte die Bordwand zu streifen, jedes Mal musste es Knochensplitter geben...

»Um Himmels willen, was war denn das?!«, rief ich, immer noch tödlich erschrocken ob solch einer Verwegenheit.

»Das war Hatschigagok, oder wie der Kerl heißt, der nimmt sein Morgenbad«, entgegnete Karlemann phlegmatisch.

Er war ausnahmsweise so gefällig, mir weitere Mitteilungen zu machen, aber doch immer noch verschweigend, wie er eigentlich zu dem Manne gekommen war.

Es war ein mexikanischer Indianer, der früher im Golf von Mexiko nach Perlen getaucht hatte. Den Namen Hatschigagok oder Fischmensch führte er mit Recht — besonders wenn man ihn im Wasser beobachtete, glaubte man eher einen Fisch, denn einen Menschen zu sehen.

»Er kann tagelang im Wasser zubringen, oder überhaupt immer, sein ganzes Leben lang, braucht das Land gar nicht zu betreten.«

»Das ist wohl nicht gut möglich.«

»Warum denn nicht?«

»Ich will nicht leugnen, dass es möglich sei, dass ein Mensch tagelang im Wasser aushalten kann, wenn durch die Kälte des Wassers seine Blutwärme nicht zu sehr vermindert wird, aber sein ganzes Leben lang, dass er des Landes überhaupt nicht bedarf — das ist wohl etwas zu viel behauptet.«

»Warum denn?«, wiederholte Karlemann in seiner faulen Weise.

»Das kann nur ein Fisch.«

»Der Wal und der Seehund sind auch keine Fische und leben dennoch ganz im Meer.«

»Aber das ist ein Mensch.«

»Jedoch ein Mensch, der so etwas eben kann.«

»Na, wovon sollte er sich denn dann ernähren?«

»Von Fischen.«

»Die er mit den Händen fängt?«, spottete ich.

»Jawohl.«

»Und gleich roh auffrisst?«

»Gleich roh. Sie glauben's nicht? Sie können ja zusehen, wie er sich Fische fängt. Lässt sich nur ein einziger Fisch im Hafen sehen, den hat er sofort, der Fisch kann ausreißen — dieser Fischmensch ist schneller, er kriegt ihn doch noch beim Schwanze — und dann frisst er ihn. Was wollen Sie denn? Der ist von New Orleans, oder von der Halbinsel, die dort ins Meer springt, quer durchs Meer bis nach Florida geschwommen, nach Kap Sable, so gegen 600 Seemeilen. Hat dazu vierzehn Tage gebraucht, hat täglich seine elf deutschen Meilen geschwommen, hat dazwischen natürlich immer einmal geschlafen. Dazu legt er sich einfach auf den Rücken, schlägt die Beine übereinander, die Arme als Kopfkissen unter den Schädel, und so schnarcht er. Wegen Trinkwasser? Der braucht niemals zu trinken. Das Fleisch der Fische genügt ihm. Wie das möglich ist, begreif' ich selber nicht, aber 's ist nun einmal so. Und wegen der Haifische? Dem tut keiner was. Ingenieur Schimmel meint, er hätte eine ganz eigentümliche Hautausdünstung, überhaupt schon eine eigentümliche Haut, die schwitzt etwas aus, dass kein Wasser daran hält.«

Wenn jetzt nicht, so musste ich später daran glauben, als ich diesen Wundermenschen näher kennen lernte.

Er war eben ein Fischmensch, mehr ist kaum zu sagen. Sein Äußeres war ganz normal, auch der Brustkasten, obgleich er fast zehn Minuten unter Wasser aushalten konnte. Nur seine Hände waren merkwürdig. Man konnte an Flossen oder eher an Schwimmhäute denken. Die Hände waren nämlich sehr groß und noch breiter, die Finger dagegen außerordentlich kurz, fast verkrüppelt.

Hierbei will ich gleich noch etwas anderes erwähnen, was ich aber auch erst später erfuhr.

Schillers Ballade ›Der Taucher‹ ist allgemein bekannt. Wie zu allen seinen Balladen hat Schiller auch zu dieser ein Vorbild, eine Anregung gehabt.

Anno dazumal, so geht in Sizilien noch heute die Sage, lebte ein Schwammtaucher, der sich auf dem Lande durchaus nicht wohl fühlen konnte, der sich immer mehr gänzlich ins Meer zurückzog. Bei Sonnenschein und beim furchtbarsten Wogengang trieb er sich darin umher, fing sich Fische, die er roh verschlang, er brauchte kein Trinkwasser — und so weiter, alles wie bei dem hier, und er soll auch richtige Schwimmhäute zwischen den Fingern gehabt haben.

Der König von Sizilien hörte von diesem menschlichen Wunder, beorderte es zu sich oder ging selbst an die Küste. Der Fischmensch musste sich produzieren. Der König ergötzte sich, und als ihm die einfachen Kunststückchen nicht mehr genügten, verlangte er, der Fischmensch solle in den fürchterlichen Strudel tauchen, der an der Ostküste Siziliens erzeugt wird, dort, wohin die alten Griechen ihre alles verschluckende Charybdis verlegten, der auch Odysseus nur durch eine List entgehen konnte.

Der König warf irgend etwas Kostbares hinein, vielleicht einen Beutel mit Gold, der Fischmensch tauchte hinab in den kochenden Strudel, brachte das Gold als sein Eigentum wieder herauf — der König warf noch mehr hinein — und zum zweiten Male ist der Taucher nicht wieder zum Vorschein gekommen.

Nach dieser Sage hat Schiller seinen ›Taucher‹ gedichtet.

Als ich dann nach Sizilien kam, habe ich davon aus vieler Munde erzählen hören, und ich glaube nicht, dass es sich hier nur um eine Sage handelt. Wenn man auch nicht mehr die Zeit angeben konnte, so war die Erinnerung an jenen Fischmenschen noch gar zu lebendig, es wurde auch gesagt, er habe nicht direkt Schwimmhäute oder gar Flossen gehabt, sondern nur sehr breite Hände mit ganz merkwürdig kurzen Fingern — alles wie hier bei unserem Hatschigagok — und, nun kommt vielleicht das Merkwürdigste, jener Sizilianer sei ein schrecklich fauler Mensch gewesen, das heißt nämlich, obgleich er doch zum Schwammtauchen am geschaffensten war, am meisten Geld hätte verdienen können, so zog er doch vor, zwecklos draußen im Meere herumzuschwimmen, lieber rohe Fische zu fressen, anstatt sich delikate Polenta zu verdienen — und das traf ganz genau auch bei unserem Hatschigagok zu!!

»Wie sind Sie denn zu dem gekommen?«

»Gott, das südamerikanische Schiff dort hat ihn mitgebracht — er war als Matrose darauf — aber der Kerl hält nirgends aus — zum Perlentauchen war er zu faul — dann hat ihn einmal ein Yankee engagiert, aber auch produzieren wollte er sich nicht — oder er hält eben nirgends aus — immer wieder hinaus ins Meer, so planlos herumschwimmen, das gefällt ihm am besten. Na, jetzt ist er bei mir, und bei mir wird er schon bleiben.«

So sprach Karlemann, und der wusste sicher nichts von jenem sizilianischen Taucher, so wenig wie ich damals.

Vor allen Dingen aber hörte ich jetzt heraus, wie mir der Junge ausweichen wollte, er wollte mir nichts weiter von diesem Dampfer mitteilen, und ich bin der letzte, der seine Nase in Dinge steckt, die ihn nichts weiter angehen.

Doch ich fühlte mich deswegen auch nicht gekränkt, meine erst aufsteigende Eifersucht war schnell wieder besiegt.

»Na, dann mal raus aus der Koje mit den Missgeburten!!«

Sie wurden geweckt, sie traten an. Oder vielmehr erst wollten sie Frühstück haben, und wie sie sahen, wo sie sich befanden, wurden sie entweder ganz kopfscheu oder rabiat — was sie hier eigentlich sollten, wie viel Gehalt sie denn bekämen — die meisten wollten wieder einmal nach New York zurück, die vierzentnerige Laura schrie schon wieder nach ihrem Schneiderlein.

Da bekam ich eine kleine Probe davon, wie Karlemann meine Passagiere hier ›dressieren‹ würde.

Er hatte einige seiner schwarzen Leute zu sich beordert, stämmige Burschen, und als der Cowboy wieder rabiat wurde, sich nicht an das Seil der Winde binden lassen wollte, nur einen Griff nach seinem Revolver machte, da bedurfte es seitens Karlemanns nur eines Augenwinkes, und der Cowboy bekam von einem Neger mit einem Gummischlauch eins über den Kopf, dass er wie ein Sack niederstürzte, und dann schwebte er schon in der Luft, immer noch bewusstlos.

»Verstanden? Aus diesem Tone pfeift's hier bei mir! Was ihr bekommt? Einen Hundedreck, ihr gottverd... Hinauf mit euch!!«

Himmelbombenelement! So donnerte dieser Wicht sie an, sogar meine vierzentnerige Riesendame. Ich war baff — und jene auch!

Als es noch einmal zu einem kleinen Tumulte kommen wollte, schlugen die Neger schon wieder auf Karlemanns Wink mit der Karbatsche drein.

Was dachte der Junge denn eigentlich über Menschenrecht und dergleichen? Ich wenigstens wusste nicht mehr, was ich von alledem denken sollte.

Dann sah ich auch meine vierzentnerige Laura wie eine Riesenblutwurst in der Luft baumeln, sie schaukelte empor — ich sollte sie nicht so bald wieder sehen.

»Na, mein lieber Jansen, wie sieht's mit Geld und mit Proviant aus?«

Mit diesen Worten wandte sich Karlemann wieder an mich. Ich sollte gar nicht auf das Plateau kommen. Hier unten an Bord meines Schiffes zahlte er mir den Rest von 80 000 Dollar aus, außerdem versah er mich noch mit fünfzig Tonnen Salzfleisch und mit noch mehr Hartbrot, ebenso ergänzte er unseren Wasservorrat, aus einer Höhlung brauchte nur ein Rohr über unsere Tanks geschoben zu werden, und das Regenwasser braucht ja nur mit etwas Kochsalz versetzt zu werden, um ihm den faden Geschmack zu nehmen.

Die Messervorrichtung hatte Karlemann unterdessen schon eingehend besichtigt.

»Sie glauben, so in die Mitte der Fucusbank vordringen zu können?«

»Ich zweifle nicht daran.«

»Haben Sie sich alles reiflich überlegt?«

»Ich glaube, alles.«

»Auf wie lange Zeit machen Sie sich gefasst?«

»Das kann ich freilich nicht sagen. Und Sie wissen wirklich nicht, was dort zu finden ist?«

Ein Festland, eine große Insel — mehr wollte Karlemann nicht wissen. Ich traute ihm nicht recht. Und ich sagte ihm nichts, dass auch mir schon die gleiche Bestimmung in die Hände gekommen war, an Bord meines Schiffes, also mein gutes Eigentum.

»Halbpart, nicht wahr?«

Ich bejahte.

»Und wenn Ihnen das Trinkwasser ausgeht?«

»Ich werde mir zu helfen wissen. Jetzt beginnt ja die Regenperiode.«

»Ja, und an Fischen wird dort kein Mangel sein.«

Das stimmte. Diese Fucusbank ist der Aufenthaltsort von zahllosem Seegetier aller Art.

»Es wird ihnen dort nur schwer beizukommen sein«, sagte ich.

»Den Fischen? Zwischen den dichten Schlingpflanzen?«

»Gerade wegen dieser Schlingpflanzen. Sonst würden ja auch die Fischer solche Fucusbänke aufsuchen, es gibt deren doch auch kleinere nahe den Küsten. Aber die Fischer bevorzugen gerade offene Stellen im Meere, allerdings Untiefen.«

»Dann kann ich Ihnen hierzu noch ein Mittel geben, um Sie und Ihre Mannschaft vor dem Hungertode zu schützen.«

Er reichte mir ein kleines Säckchen.

»Es enthält ein gelbes Pulver — machen Sie es jetzt nicht erst auf, es stiebt sehr und beißt fürchterlich in der Nase, Sie lassen einen Teig backen, vielleicht zehn Pfund, aus gewöhnlichem Mehl, und mischen hiervon nur einen Teelöffel bei — oder zerbröckeln einfach Hartbrot und mischen etwas von diesem gelben Pulver bei — diese Masse packen Sie dann in einen alten Sack, oder, wenn er aus festem Segeltuch ist, so machen Sie ein paar kleine Löcher hinein, beschweren ihn mit Steinen, und wo Sie Fische fangen wollen, da versenken Sie den Sack. Und sobald Sie an dieser Stelle, gleichgültig wie tief, die Angel mit einem Köder auswerfen, werden Sie einen Fisch dran haben, und ziehen Sie das Schleppnetz über diese Stelle weg, wird es ganz voll Fische sein.«

Ich starrte den Jungen mit großen Augen an. Ja freilich, der hatte ja nicht nur gewilddiebt, und niemals Feldhasen, nur Waldhasen, sondern er hatte auch in des Müllers Karpfenteich bei nächtlicherweile gefischt. Sollte er sich aber diesmal nicht irren? Wie die Flussangler, so wollen auch die Hochseefischer immer solche Lockköder für die Fische haben, gewöhnlich die absurdesten — nur schade, dass diese Mittel niemals wirken, die Fischer glauben es selbst nicht, nur die Neulinge werden immer so angeschmiert.

»Was ist das?«

»Mein Geheimnis. Es ist überall zu haben und billig genug. Mit dieser Portion reichen Sie aber jahrelang. Wie gesagt, ein Teelöffel voll genügt, und die Stelle, wo das Zeug versenkt ist, übt noch nach Jahren eine Anziehungskraft aus.«

»Haben Sie selbst es schon probiert?«

»Oft genug.«

»Auch hier?

»Auch hier. Es kommt natürlich darauf an, wie tief die Stelle ist.

Ziemlich an der Oberfläche fängt man nur Makrelen und dergleichen. Will man Schellfische haben, die sich in der Tiefe aufhalten, muss man den Köder auch an einer tiefen Stelle versenken.«

»Und das soll wirklich die Fische anziehen?«, zweifelte ich noch immer,

»Wenn ich es Ihnen sage! Wie der Baldrian die Katzen. Es übt übrigens auch eine ganz ähnliche Wirkung aus. Wundern Sie sich nicht, oder seien Sie nicht besorgt, wenn die Fische, besonders die im Netz gefangenen, wie besoffen sind. Sie sind es auch wirklich. Gerade wie die Katzen durch den Baldrian, sie wälzen sich immer auf dem Rücken.«

»Und sie sind nicht vergiftet?«

»Eben nicht! Sie können sie ganz sorglos essen.«

Wieder hatte ich etwas mir ganz Neues gehört. Der Junge zeigte sich mir immer wieder von einer anderen Seite, kramte ein Geheimnis nach dem anderen aus, von der die Menschheit noch gar nichts wusste.

»Wissen Sie denn nicht«, fuhr er fort, »dass jedes Tier auf der Erde sein Lockmittel hat, oder wie man es nun sonst nennen mag, hinter dem es her ist wie der Teufel hinter jeder Seele, und durch welches man es daher auch anlocken und in einen Taumel versetzen kann?«

Nein, das wusste ich noch nicht, das glaubte ich auch nicht so ohne Weiteres.

»Na, auch der Mensch hat doch so ein Reizmittel.«

»Welches?«

»Fragen Sie doch nicht so! Das ist doch einfach der Schnaps, der Alkohol, und es gibt doch keinen Völkerstamm auf der Erde, der sich nicht sein berauschendes Getränk selbst herstellen kann.«

Da hatte Karlemann allerdings recht.

»Und für die Katzenarten ist es der Baldrian, und für die Hirsche und Rehe ein gewisser Pilz, und für die Fische ist es das hier. Nun kommt es freilich darauf an, auch zu wissen, was es ist, womit man jede einzelne Tierart anlockt, und wer das kann, der ist Herr über alle Tiere.«

»Und Sie wissen alle?«

»I Gott bewahre!«, lachte Karlemann. »Ich kenne nur ein paar solche Kniffe — und das hier ist das Lockmittel für alle Fische.«

Ich war entlassen. Noch am Nachmittage stach ich wieder in See, dem geheimnisvollen Ziele entgegen, das noch nie ein Mensch erreicht haben sollte.

*

Hier verlassen wir vorläufig unseres Helden persönliche Erzählung und wenden uns einer anderen Episode zu.

— • —

31. Kapitel
Im Gottesasyl

Originalseiten II.3 — 21

Wir wollen den Namen des kleinen deutschen Hafenstädtchens, das aber zugleich Hauptstadt eines großen Bezirkes ist, nicht weiter nennen.

In der mondhellen Winternacht schritt ein Gendarm durch den Forst, der sich meilenweit um diese Stadt erstreckt.

Da sah er neben der Landstraße im Schnee etwas Dunkles liegen — anscheinend einen Menschen.

»Hallo! Wer liegt da?«

»Ich!«, war die prompte Antwort, von einer Kinderstimme gegeben.

»Was machst du da?«

»Nischt!«, wurde ebenso prompt erwidert.

»Wer bist du?«

»Karl tu ich heißen.«

»Bist du von B...heim?«, fragte der Gendarm, an einen Jungen aus der Stadt denkend, der sich hierher verirrt hatte und vor Kälte umgefallen war, obgleich die Antworten recht unverfroren klangen.

»Aus B...heim? Nee, kenne ich gar nicht.«

»Na, wie kommst du denn hierher?«

»Zu Fuß, von dorther.«

Und der Junge, der gar nicht ans Aufstehen dachte, machte wohl eine Armbewegung nach Süden hin.

»Ja, was machst du denn hier?«

»Ich habe mich hier hingelegt.«

»Wozu denn?«

»Ich wollte schlafen.«


Illustration

»Wo sind denn deine Eltern?«,

»Habe niemals Eltern gehabt.«

»Wo wohnst du denn?«

»Ich wohne gar nicht.«

»Wo wohnt denn dein Vater — wo wohnte er früher, als er noch lebte?«

»Habe nie nich einen Vater gehabt«, erklang es unverzagt zurück.

»Oder deine Mutter?«

»Habe nie nich eine Mutter gehabt.«

»Wo bist du denn geboren?«

»Bin nie nich geboren.«

Nun ging aber auch dem braven Gendarm die Geduld aus.

»Steh auf!«

Nicht eben schnell gehorchte der Junge, schälte sich langsam aus einer durchlöcherten Decke, dann sah der Gendarm im unsicheren Lichte der letzten Mondsichel eben einen halbwüchsigen Jungen vor sich stehen, wohl zerlumpt angezogen, eine Pelzkappe über den Ohren.

»Wo hast du denn die letzte Nacht geschlafen?«

»Im Schnee.«

»Frierst du denn gar nicht?«, erklang es etwas mitleidiger.

»Nee.«

»Wie hieß denn die letzte Stadt, das letzte Dorf, wo du warst?«

»Ich weeß nich.«

»Von dort unten kamst du?«

»Jawohl.«

»Hattest du keine Begleiter?«

»Ei ja.«

»Wen denn?«

»Nu, meinen Onkel und meine Tante und den Gottlieb und den Franz.«

»Und wo sind die denn jetzt?«

»Ich weeß nich.«

»Was machten die denn?«

»Kesselflicken taten sie.«

Endlich war das große Wort heraus! Der Gendarm hatte es schon geahnt. Er war erst heute früh einer Kesselflickerfamilie begegnet, freilich gestern auch einer, vorgestern ebenfalls einer.

Man wolle bedenken, dass unsere Erzählung zu einer Zeit spielt, da es in Deutschland noch ganz spärlich Eisenbahnen gab.

Da zogen solche Kesselflicker, die aber nebenbei auch noch alles andere machten, Ratten und Mäuse fingen, Pudel schoren, kranke Kühe und Menschen heilten und dergleichen mehr, noch massenhaft im Lande umher. Man rechnete sie zu den Zigeunern, obgleich es durchaus keine zu sein brauchten.

Der Gendarm brummte ärgerlich etwas in den Bart. Wenn es jetzt nicht gelang, die Eltern oder sonstigen Kumpane ausfindig zu machen, dann hatte den Bengel wieder die Stadtgemeinde auf dem Hals, denn er war noch im Stadtbezirk gefunden worden, was ganz ungerechtfertigter Weise wieder dem Gendarmen zum Vorwurf gemacht werden würde.

»Wie alt bist du denn?«

»Zwölf Jahre.«

Auch das noch! Dann konnte er noch nicht einmal in die Lehre gegeben werden, das geschah damals oder doch in jener Gegend erst mit dem vollendeten dreizehnten Jahre, vorher musste solch ein Findling in einer Anstalt untergebracht werden.

»Woher weißt du denn, dass du zwölf Jahre bist?«

»Das sagte doch immer mein Onkel, wenn er vom Gendarmen nach mir gefragt wurde.«

Dann war daran nicht einmal viel zu ändern!

»Komm mal mit!«

»Wohin denn?«

»Halt's Maul!!«, pfiff es jetzt aus einem anderen Tone.

Der Junge hing sich seine durchlöcherte Decke um und trabte neben dem Gendarmen her.

Nach einer halben Stunde erreichten sie die Stadt, in der noch volles Leben herrschte. War es doch auch erst acht Uhr, was man im Dezember aber schon Nacht nennen kann.

Es ging auf die Hauptpolizeiwache, der Leutnant selbst nahm den Jungen ins Gebet, brachte aber mit seiner Weisheit auch nichts weiter aus ihm heraus, es blieb bei dem, was wir schon gehört haben.

»Habe nie nich einen Vater, nie nich eine Mutter gehabt«, und so weiter.

Der Junge wusste absolut nichts von sich, war dabei erschreckend dumm, hatte nicht einmal die Namen der letzten Städte und Dörfer behalten. Nun ja, dass er selbst Karl hieß und die richtigen Kinder von Onkel und Tante Gottlieb und Franz — das war aber auch so ziemlich die einzige Wissenschaft, in der er perfekt war.

»Es ist ein Zigeunerjunge.«

»Seine Begleiter waren Kesselflicker.«

»Na ja, eben Zigeuner.«

»Ein Kesselflicker braucht nicht immer ein Zigeuner zu sein«, belehrte der Polizeileutnant seine Untergebenen, »und der Junge hier hat unverkennbar den kaukasischen Typus.«

»Ich habe keinen Typus, ich habe Hunger«, sagte der kleine Kaukasier mit weinerlicher Stimme.

Gut, er kam einstweilen in die Arrestzelle und wurde mit Kommissbrot gefüttert.

Eine halbe Stunde später meldete der Schließer, sein kleiner Arrestant sei gebadet worden, er sei ein gesunder, sehr kräftiger Junge, habe Läuse und habe zwei und ein halbes Kommissbrot aufgegessen oder vielmehr aufgefressen.

Nach drei Tagen hatte man durch Verschreiben von zwanzig neuen Gänsekielen und einer Flasche Tinte für zwei gute Groschen konstatiert, dass des fremden Jungen Eltern oder bisherige Begleiter auf amtlichem Wege nicht hatten ermittelt werden können, und als dies geschehen war, wurde der Junge wieder vorgeführt, und es fing von Amts wegen von vorne an.

»Wie heißt du?«

»Karl.«

»Wie heißt dein Vater?«

»Habe nie nich einen Vater gehabt.«

»Und deine Mutter?«

»Habe nie nich eine Mutter gehabt.«

»Gut! Schreiber, protokollieren Sie! Name Karl, hat keinen Vater und keine Mutter gehabt.«

Schließlich aber musste auch dieses Verhör einmal ein Ende nehmen. Doch das waren erst die allgemeinen Personalien gewesen. Jetzt fing man mit den intimen Angelegenheiten an.

»Welche Schule hast du besucht?«

Der Junge begnügte sich, sein Maul aufzusperren.

»Vielleicht ist er überhaupt niemals nich in einer Schule gewesen«, wagte sich ein Ratsdiener zu bemerken.

»Auch möglich. Hast du eine Schule besucht?«

»Nee.«

»Kannst du lesen?«

»Nee.«

»Kannst du schreiben?«

»Nee.«

»Du kannst weder lesen noch schreiben?«

»Ich kann nur Kessel flicken und Ratten fangen und blaue Milch wieder weiß machen.«

»Gut! Dann schreibe deinen Namen hierher unter das Protokoll!«

Na, drei Kreuze konnte der Junge wenigstens malen, und dann kam er in das Gottesasyl.

Wenn gesagt wird, dass in dieser deutschen Hafenstadt, jetzt eine ganz bedeutende, das ArmenHospital noch heute Kurhaus und die Waisenanstalt Gottesasyl genannt wird, so dürfte mancher Leser wissen, was für eine Stadt das ist, die wir hier Beheim nennen wollen.

Also in das Gottesasyl wurde der aufgelesene Junge gebracht. Aber in diesem war damals wenig von Gott zu spüren, wenigstens nicht von dem Gotte der Liebe des neuen Testamentes, eher hauste darin der des alten Testamentes: der Gott der Rache mit der Zuchtrute.

Zweiundvierzig Zöglinge befanden sich zurzeit in dem alten, dicht an der Küste gelegenen Gebäude, welches einst eine Seefestung gewesen war, und das waren durchaus nicht alle Waisenknaben, deren Eltern man einst gekannt, sondern es war auch eben solch aufgelesenes Chor, welches damals die Landstraße noch viel mehr bevölkerte als jetzt, Findlinge, dann aber auch professionelle Taugenichtse, welche der Magistrat den noch lebenden Eltern abgenommen hatte — kurz und gut: mehr Zwangserziehungsanstalt als Waisenhaus, haftete damals doch — für uns jetzt freilich ganz unbegreiflich — an einer mittellosen Waise ein gewisser Makel, nämlich insofern, als kein bemittelter Verwandter da war, der sich der Waise annahm, oder dies nicht tun wollte — und danach war die ganze Erziehung beschaffen, welche diese armen Jungen von ihrem sechsten bis zum dreizehnten Jahre laut Landesgesetz erhalten mussten, bis sie zu einem Meister in die Lehre gegeben wurden.

Sie verdienten sich ihr täglich Brot schon redlich.

Vom Frühjahr bis zum Herbst mussten sie den ganzen lieben langen Tag auf dem Felde arbeiten, das mit zu dem Gottesasyle gehörte, sie bauten sich ihr eigenes Brot, im Winter wurden sie mit Zerfasern von Schiffstauen beschäftigt, und in der Zeit, welche eigentlich zur Erholung dienen sollte, wurden ihnen von drei Lehrern einige dürftige Elementarkenntnisse eingepaukt.

Diese drei Lehrer, welche aber von Beruf Gärtner oder Bauern oder Schuster oder sonst etwas waren, standen unter einem Direktor. Es ist von diesen vier braven Männern nichts weiter zu melden, als dass drei von ihnen rote Nasen hatten. Der vierte hatte deshalb keine, weil er überhaupt keine Nase besaß. Sie war ihm abgebissen worden. Vielleicht aus Rache, vielleicht aus Liebe. Wenn sie nicht ihren täglichen Rausch ausschliefen, dann spielten sie Karten, und in der wenigen Freizeit, die ihnen zwischen diesen beiden Hauptbeschäftigungen noch blieb, verprügelten sie ihre Pflegebefohlenen und rissen ihnen die Haare aus, was sie dann ›Unterricht geben‹ nannten.

Das ganze Waisenhaus bestand aus drei nicht allzu großen Räumen — denn in dem ehemaligen Fort war kein anderer mehr bewohnbar, oder er hätte erst renoviert werden müssen, damit man nicht bei jedem Schritt durch die Diele eine Etage tiefer stürzte. In dem einen, vielleicht dem kleinsten, schliefen die zweiundvierzig Zöglinge auf fünfzehn Strohsäcken, im zweiten bekamen sie Prüg... wollte sagen Schulunterricht, und im dritten schliefen Lehrer und Direktor, und zwar hatten sie sich das größte Zimmer ausgesucht, weil dieses einen Ofen besaß.

Diese ganze Wirtschaft kam daher, weil die Bürger der Stadt eben sehr zufrieden mit ihr waren. Das kostete sie nämlich keinen Pfennig, im Gegenteil, sie sparten noch viele Groschen dabei, indem die vier Lehrer eigentlich Stadtpensionäre waren, welche diesen Posten aber einer festen Pension vorgezogen hatten, und sie konnten sich auch wirklich recht gut ernähren. So ging das Jahr für Jahr hin, ohne dass sich die Behörde irgendwie darum gekümmert hätte, bis sie einen dreizehn Jahre alt gewordenen Jungen dem Gottesasyl abnehmen mussten, um ihn in einer Lehre unterzubringen. Dann war der Junge aber gewöhnlich viel älter, die Lehrer wollten die Arbeitskraft doch möglichst lange ausnützen, nachdem sie ihn von schwachen Kindesbeinen an aufgefüttert hatten.

Es war am vierten Tage in der zehnten Morgenstunde, als ein Ratsdiener den neuen Findling in die Schulstube brachte, wo von zwei Lehrern gerade Unterricht erteilt ward, dass die Haare nur so herumflogen.

So viel Tinte zuerst wegen des Findlings geflossen war, so bündig ging es hier zu.

»Hier ein neuer«, sagte der Ratsdiener, »ist ein Zigeunerjunge, heißt Karl, zwölf Jahre.«

Und der Mann des Gesetzes ging wieder von dannen.

Die beiden Lehrer unterzogen den Jungen einer Besichtigung.

»Was hast du sonst noch mitgebracht?«

Außer seinen zerlumpten Kleidern nichts weiter als die durchlöcherte Decke, die er zusammengerollt unter dem Arme trug.

Backs — für diese strafwürdige Dürftigkeit gab's erst einmal eins an den Kopf. Da schoss aus des Jungen schwarzen Augen ein Feuerstrom hervor, er duckte sich wie ein Panther zusammen, der sich auf die erspähte Beute stürzen will — aber er sprang nicht, er hatte sich wohl nur zusammengeduckt, um einer zweiten Maulschelle zu entgehen, die er dann aber auch hinnahm, ganz geduldig.

»Es ist ein kräftiger Junge, den können wir gut gebrauchen«, schmunzelte die andere Rotnase, so der Kollegin einen Zaum anlegend.

Der neue Schüler bekam einen Griffel und ein Stück Schieferplatte, musste sich auf eine der Kisten setzen, die hinter langen Tafeln standen, und musste wie die anderen die Worte nachmalen, welche mit Kreide vorn auf die große Wandtafel geschrieben waren:

»Am Nordpol ist es sehr kalt, am Südpol ist es sehr heiß.«

Denn der Schreibunterricht wurde gleich mit der Geografiestunde verbunden, und wie diese Geografie, so war auch die Schreiberei beschaffen, die dort auf der Wandtafel stand, und wenn der Schüler auch zum ersten Male den Griffel in die Hand bekam, er musste es eben nachmalen, von einer vorherigen Einweihung in die Kunst der Haar- und Grundstriche gar keine Rede, und schließlich geht auch das, so hat schon mancher schreiben gelernt, und wer es schlecht nachmalte, der musste Haare lassen, und wer seine Sache ganz ausgezeichnet machte, der bekam zur Belohnung nur eins ins Genick. — — —

Sonst wollen wir uns nicht weiter damit befassen, wie es Anno dazumal in diesem ›Gottesasyle‹ zuging. Wir geben nur das wieder, was für die Folge unserer Erzählung unbedingt notwendig ist.

Der neue Zögling malte leidlich nach, schippte Schnee, faserte Taue auf, schlief mit vier anderen ohne Decke auf einem Strohsack, bekam wenig zu essen und desto mehr Prügel.

So ging alles seinen alten Lauf. Aber niemand ahnte, die guten Bürger von Beheim nicht und vielleicht noch weniger die vier Herren Lehrer, was für eine Verschwörung in dem Gottesasyl angezettelt worden war, was für eine gewaltige Revolution bevorstand.

Schnell hatten des neuen Zöglings schwarze, funkelnde Augen Umschau gehalten, hatten jeden einzelnen der Kameraden gemustert.

Es war ein Zufall, dass keiner unter acht Jahren war. Es war eben in letzter Zeit kein jüngerer hereingekommen. Die ältesten durften also das dreizehnte Lebensjahr nicht überschritten haben, und bei zweifelhaften Geburtsfällen musste man da eben nach der Größe rechnen. Im Grunde genommen waren es lauter gesunde, kräftige Bengels, trotz der kärglichen Kost. Dafür aber hatten sie immer tüchtige Arbeit, meist im Freien, oder doch in der ungeheizten Stube. Denn wenn es nach dem reichlichen und nach dem kärglichen Essen ginge, dann müssten die Millionärskinder ja immer vor Kraft und Gesundheit strotzen, während die Bauernjungen bleich und hohlwangig herumschlichen, und gewöhnlich ist es doch umgekehrt.

Aber gedrückt waren sie. Und das ist begreiflich. Hier wurden nicht solche Streiche ausgeführt wie im Mädchenpensionat Bumsfidel — wie sie wenigstens auf der Theaterbühne aus- und aufgeführt werden. Aller Übermut war den armen Jungen schon längst durch den Stock ausgeprügelt worden. Im Sommer kam es manchmal vor, dass einer floh — was half es? — der Gendarm brachte ihn doch bald wieder, und dann gab es ungesalzene Suppe mit anderem Salz, und bei solch strengem Winter dachte niemand an so etwas. Müde und gebrochen suchte jeder am Abend sein hartes Lager auf, und es war nur gut, dass im Winter die Nacht so lang war, fast sechzehn Stunden lang, weil das Licht gespart wurde.

Da mit einem Male sollte sich das ändern. Hier in der Schlafstube wurde nächtlicherweile ein zweiter Schulunterricht abgehalten.

Eines Abends, der also schon um fünf begann, schliefen die vier Magister drüben wie gewöhnlich im Fuselrausch, den sie sich regelmäßig beim Kartenspiele im letzten Dämmerlicht holten, auch die dreiundvierzig Jungen hatten sich zähneklappernd nach ihren Strohsäcken getastet.

Da mit einem Male flammte in dem finsteren Raume ein Licht auf. Schon dieses Licht war für die Knaben eine überirdische Erscheinung. Es war eine Ölfunsel, welche der Kesselflickerneffe in der Hand hatte, der erst seit zwei oder drei Tagen hier war.

»Jungens, soll ich euch etwas vorlesen?«

Keine Antwort. Eben schon das Licht war eine überirdische Erscheinung. Denn woher konnte der die Öllampe bekommen haben? Und jetzt brachte er gar noch ein Buch aus der Tasche zum Vorschein. Ein Buch, ein wirkliches Buch!

»Soll ich vorlesen?«

Keine Antwort. Es ging eben über ihre Begriffe.

»Nun hört mir zu!«

Und der Junge, der erst vor drei Tagen den Griffel in die Hand bekommen hatte, der erst beim Alphabet war, begann mit klarer, lauter Stimme vorzulesen, unbekümmert um die strengen Lehrer, welche dicht nebenan schliefen.

Und was war es, das er vorlas?

Das nach der Bibel weitest verbreitete Buch auf der Erde, übersetzt in sämtliche Sprachen, das alte und doch ewig junge, welches noch mit Freuden gelesen werden wird, wenn die preisgekrönten Romane unserer heutigen Dichter und Schriftsteller schon längst vergessen sein werden: Defoes ›Robinson Crusoe‹.

Und mit offenem Munde und strahlenden Augen lauschten die Knaben, sie bekamen ja etwas zu hören, wovon sie bisher noch nicht einmal etwas geahnt hatten, und erst als in der dritten Morgenstunde der erste Ruf des früherwachten Hahnes erscholl, klappte der kleine Vorleser sein abgegriffenes Buch zu.

»Für heute genug! Morgen lese ich euch weiter vor.«

Und die zweiundvierzig legten sich hin, ihre Träume hatten einen neuen Stoff bekommen — sie träumten von einer einsamen Insel, von Palmen und Pisangs und Bananen, und sie wären auf dieser einsamen Insel freie Menschen.

Am nächsten Morgen glaubten sie erst recht, sie hätten dies alles nur geträumt. Deshalb sprach keiner zum anderen davon, noch weniger dachte jemand daran, es den Lehrern zu verraten — aber mit scheuer Ehrfurcht blickten sie alle auf den neuen Kameraden, der sich so bescheiden benahm. Denn das wusste wenigstens jeder, dass dieser der Hexenmeister war, der ihnen solch schöne Träume erzeugt hatte.

Und der Abend kam wieder. Wieder schnarchten drüben die Lehrer, und wieder flammte das rätselhafte Öllämpchen auf.

Und wie den Jungen langsam zur Erkenntnis kam, dass dies gestern Abend doch nicht nur ein Traum gewesen sei, da gesellte sich diesmal der freudigen Erwartung auch etwas Furcht bei.

»Na, soll ich euch weiter vorlesen, was Robinson noch alles tat?«

»Aber die Herren Lehrer, wenn die erwachen, wenn die das merken, nur das Licht!«, wurde scheu geflüstert.

»Ohne Sorge«, entgegnete Karl mit lauter Stimme, »in den ihren Schnaps habe ich Opium gemischt, die erwachen vor morgen früh nicht, und wenn das ganze Haus abbrennt.«

Was wussten diese Jungen von Opium? Doch ihnen genügte, dass dieser kleine Kesselflicker hier ihnen solch eine Versicherung gab, und Robinsons Schicksale wurden weiter verfolgt, und so noch drei Nächte lang, bis das Buch zu Ende war.

»Heute nacht«, sagte Karl am vierten Abend, »muss ich mir erst ein neues Buch holen, auch das Öl und das Opium wird alle, ich muss mir erst neues besorgen.«

Und er verschwand. Wohin er ging, war in der Finsternis ja nicht zu sehen, und diese Jungen wussten nicht, dass ihr neuer Kamerad sie schon früher, ehe er ihnen vorgelesen, jede Nacht verlassen hatte, seinen Weg ganz einfach durch ein offenes Parterrefenster nehmend.

Am anderen Morgen, als sie erwachten, war er wieder da.

»Wo bist du denn gewesen?«, wurde ihm zugeflüstert.

»Willst du din Snut halten!!«, herrschte Karl den Neugierigen an.

Am Abend schnarchten die Lehrer mit verdoppelter Macht.

»Wo ich gewesen bin, wollt ihr wissen?«, erklang es da im Finstern.

»In meinem Königreiche bin ich gewesen, auf meinem Schiffe.«

Und die Stimme in der Finsternis fuhr fort zu sprechen, wohl vier Stunden lang, und der Leser kann nicht verlangen, dass dies alles wiedergegeben werden soll.

Wozu auch? Der Leser weiß ja schon längst, wer dieser Kesselflickerjunge ist, und dann kann er sich auch vorstellen, was er erzählt hat.

Kurz und gut, er schilderte den Jungen, wohin er sie bringen könne, wenn sie ihm folgen wollten, und dieser kleine Mann verstand ja nun mit glühenden Farben auszumalen.

»Wollt ihr mit mir kommen?«

»Ja, ach ja!!«, erklang es.

Da flammte die Ölfunzel wieder auf, sie beleuchtete vor Erregung glühende Gesichter und ebensolche Augen.

»Wer lieber hierbleiben will, der hebe die Hand hoch.«

Niemand tat es, aber Karl hob die seine hoch, mit der Öllampe, er brachte sie ans Fenster, beschrieb von oben nach unten einen Strich und dann von links nach rechts, so ein Kreuz bildend.

Dann lauschte er.

Und da ein dröhnender Pfiff!

Das war der große Dampfer, der seit einigen Tagen im Hafen lag und als ein Wundertier von alt und jung angestaunt wurde, dem aber auch geflucht wurde, besonders in Matrosenkneipen. Gab es doch alte Seebären genug, welche behaupteten, dass diese Dampfpfeife gewissermaßen das Sterbeglöcklein für die ganze Seemannschaft, mindestens für alle Segelschiffe bedeute.

Nun, es sei gleich einmal hier bemerkt, dass sich damals diese Unglückspropheten geirrt haben. Wohl hat der Dampfer der Segelschifffahrt kolossalen Abbruch getan, aber diese hat sich schnell wieder erholt, jetzt, da es in der Welt noch immer achtmal so viel Segelschiffe — keine Fahrzeuge oder gar Kähne — gibt als Dampfer, werden schon wieder ebenso viele Segler gebaut wie Dampfer, und wenn es auf der Erde kein Stückchen Kohle mehr gibt, werden die Schiffe noch immer mit stolz geschwellten Segeln die Ozeane durchfurchen, denn die kostenlose Kraft des Windes lässt sich einfach durch nichts ersetzen.

Aber damals wurde jeder Dampfer, der in einen kleineren Hafen kam, wie der mordende Tod angestarrt oder doch als das größte Wunder angestaunt, und das auch mit Recht.

Und nun behauptete dieser Kesselflickerjunge, dieser ganze Dampfer gehöre ihm, er gehorche seinem Winke, und auch sie sollten mit drauf.

War das ein Märchen? Oder eine Lüge? Oder...

Da wieder ein Pfiff, aber ein viel leiserer.

»Meine Dampfpinasse ist da, um mich abzuholen. Wollt ihr mit?«

Nun gab es keinen Zweifel mehr.

»Wir wollen mit.«

Und zweiundvierzig Jungen unter Führung des einen schlichen hinab.

In dem Zimmer, wo die Lehrer schliefen, durch welches sie mussten, war Karl an dem Bett des einen stehen, geblieben, hatte die geballte Faust erhoben, wie um jenem die rote Nase einzutreiben.


Illustration

Doch er schlug nicht. Festen Schrittes ging er weiter, die anderen schlichen ihm auf den Zehenspitzen nach. Mitzunehmen hatten sie absolut nichts gehabt.

Sie brauchten nicht durch das Fenster. Der kleine Führer hatte etwas in der Hand, steckte es ins Schloss, etwas Probieren, und das Schloss und die Tür waren offen. Er war ja Kesselflicker, der wohl auch davon etwas versteht. Oder vielleicht war er auch der Sohn eines Schlossers oder Schmiedes.

Nur wenige Schritte, dann standen sie an der sandigen Küste, an der das Meer leise rollte, und da waren die schwachen Umrisse eines großen Bootes zu erkennen, und jetzt sprühten einige Funken auf.

»Nun durchs Wasser, nur einige Schritte — mir nach!«

Starke Hände von erwachsenen Männern halfen den Zögernden nach, sie wurden in drei Boote verteilt, welche die Dampfpinasse zu schleppen hatte.

Fort ging es, nicht erst seitwärts nach dem Hafen, sondern gleich hinaus in die offene See.

Die Pinasse gab einen schrillen Pfiff, und da flammte vor ihnen eine Reihe Lichter auf, wie nur ein großes Segelschiff sie zeigt, wenn es sich auch mit Passagieren befasst und deren Kabinen erleuchtet.

Das hier aber war der große Raddampfer, der bisher im Hafen gelegen, diesen heute Abend verlassen hatte.

Die Boote wurden wie die Pinasse mit Haken befestigt, um gleich samt allem menschlichem Inhalt in die Höhe befördert zu werden.

»Kapitän Algots?«, rief da eine Stimme herab.

»Natürlich bin ich mit«, entgegnete der kleine Anführer der Ausreißerbande.

»Wie viele bringen Sie?«

»Alle zweiundvierzig.«

»Sie sind ein Teufelskerl!«

Es war ein noch junger Mann in Kapitänsuniform, dem jetzt Karlemann die Hand schüttelte. Schon aus jenen Worten konnte geschlossen werden, dass Karlemann nicht der eigentliche Besitzer dieses Dampfers war, sonst hätte ihn jener doch nicht Teufelskerl genannt. Wahrscheinlich hatte ihn Karlemann nur gechartert, denn sonst trat er dennoch ganz als Herr auf.

»Hier, Steuermann, leiten Sie diese kleinen Schäfchen an.«

Die Jungen bedurften auch sehr der Führung, zumal an Deck nur ganz schwaches Licht war.

Karlemanns erster Gang war nach der Kombüse — also nach der Küche. Hier überzeugte er sich, dass reichlich für zweiundvierzig verhungerte Wölfe Speck und Erbsen gekocht wurden, dann begab er sich in eine Kabine im Zwischendeck, wo ein Schreiber bei einer Petroleumlampe eifrig die Feder über das Papier gleiten ließ.

»Ist die Vereidigungsformel fertig?«

»Hier, Herr Kapitän.«

Karlemann nahm das lange Schreiben und las es.

Ja, das Schriftstück begann mit einer Vereidigungsformel, dann folgten die Paragrafen, welche eben zu beschwören waren.

Ich schwöre bei...

Ja, bei was sollten diese acht- bis zwölfjährigen Bengel schwören? Bei dem Gott, von dem sie soviel wie gar nichts wussten? Bei ihren Eltern, die sie nie gekannt hatten?

»... und jede Kaldaune soll mir einzeln aus dem Bauche gezogen werden, wenn ich eines dieser Versprechen...«

Das ist nur eine der Eidesformeln, welche da zu lesen waren. Es war eben Karlemann, der das aufgesetzt hatte.

»Niemals etwas verraten, hm. Sich niemals besaufen, hm. Mich niemals bemausen, hm... Da fehlt aber doch gerade die Hauptsache!!«

»Welche?«

»Na, dass keiner von den Kerlen heiraten tut!!«

*

Wir schließen hiermit diese Episode aus Karlemanns Leben, wie dieser deutsche Zigeunerknabe auch einmal in Deutschland eine Gastrolle gegeben hat, es dem Leser überlassend, sich selbst auszumalen, wie die erwachenden Lehrer das ganze Gottesasyl leer finden. Wir wenden uns wieder unserem Haupthelden zu.

— • —

32. Kapitel
In den Armen des grünen Todes

Originalseiten II.21 — 43

Der Weg nach dem unbekannten, geheimnisvollen Lande stand mir offen — der Weg dazu, noch nicht dieses Land selbst! — nur noch ein Hindernis war zu bedenken, und darüber konnte ich nur mit Blodwen sprechen.

Ich tat es. Zuerst verstand sie mich nicht, obgleich ich doch schon deutlich genug geworden zu sein glaubte, deswegen schon ganz rot geworden war. Ich war in so etwas ein kurioser Kauz. Ich konnte fluchen und schwören, mit jedem Mädel machte ich kurzen Prozess, aber... gerade bei so etwas haperte es immer mit den Worten, da wurde ich rot, und ich glaube, das gereichte mir nur zur Ehre. Wer in meiner Gegenwart mit so etwas Unsinn machte oder gar darüber spottete, dem verbot ich es, und ließ er nicht ab davon, dann fuhr ich mit ihm längs.

»Was willst du nur?«, fragte sie erstaunt, nachdem ich schon einige Zeit herumgestottert hatte.

»Na, du weißt doch.«

»Was denn nur?«

»Na ja — siehst du — das ist doch eben so — das ist doch nun einmal nicht zu ändern — und — wir sind doch alle einmal geboren worden — ich auch — du auch...«

Sie blickte mich etwas ängstlich von der Seite an.

»Richard, du bist doch nicht etwa — etwa — schon voll des süßen Weines, sintemal es erst die zehnte Stunde ist?«

Da endlich war für mich das erlösende Wort gesprochen.

»Nee, das bin ich nicht — aber weil du gerade selber davon anfängst — von wegen des süßen Weines — oder des süßen Geheimnisses — na, du weißt doch...«

Herrgott, kann so ein Frauenzimmer manchmal schwer von Begriffen sein! Aber jetzt hatte sie doch endlich kapiert, was ich eigentlich meinte. Und da fing sie auch noch zu lachen an!

»Na, da gibt's doch gar nischt zu lachen dabei«, versuchte ich mich jetzt ärgerlich zu stellen, »das ist doch eine furchtbar ernste Geschichte — und — und — ich selber hab's zwar noch nicht durchgemacht, aber — aber...«

Jetzt kam auch ich wieder in den Unsinn hinein!

»Also kurz und gut«, raffte ich mich dann wieder zusammen, »ich verstehe von so etwas nischt — ich bin Seemann — und — und — ich habe zwar Pastor werden sollen — aber — aber — ich weiß nicht, wie lange so eine Geschichte noch dauert — und — und — mir steht es ja ganz frei, erst noch einen anderen Hafen anzulaufen, ich bringe dich hin, wohin du willst, meinetwegen nach Peking, wo du die Geschichte ruhig abwarten kannst...«

Nun war es völlig heraus, ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Und dieses Frauenzimmer lachte noch immer.

Dann aber wurde sie ernst.

»Du meinst, ich soll dich verlassen? Du willst mich irgendwo an Land bringen? Du willst die abenteuerliche Fahrt allein machen?«

»Ja — das heißt nicht allein, sondern mit meinen Jungen. Aber dich bringe ich irgendwohin, wo — wo du — Herrgott, du weißt doch, was ich meine!«

»Ja, ich weiß es. Wie lange wird diese Fahrt dauern?«

»Ich bin Karlemann noch auf elf Monate verpflichtet, und im schlimmsten Falle muss ich auch so lange aushalten.«

»Ich komme mit dir.«

Sie hatte diese vier Worte in einem Tone gesprochen, die mehr sagten als hundert andere, da gab es keinen Widerspruch mehr.

Und ich war nur froh, diese Angelegenheit endlich erledigt zu haben — wenn die wollte, war es ja gut, da hat der Mann doch überhaupt gar nichts dreinzureden, da wird auch der größte Kriegsheld zum armseligen Duckmäuser, und an so etwas, wie aus irgendeinem Hafen erst so eine Frau zu holen, wenn's auch eine Schwarze war, die dergleichen überhaupt ganz ausgezeichnet verstehen sollen, dachte ich in diesem Augenblick gar nicht. Was wusste ich ungeschlachter Seebär denn von so etwas — wenn ich auch hatte Pastor werden sollen.

»Wenn du denkst, dann ist es ja gut — und wir sind doch genug Mann — vierundsechzig Hände, die schaffen schon etwas — und da ist der Fritze, der kann alles, wenn er auch etwas dämlich ist — und überhaupt, an Bord gibt's kein Unmöglich — und wenn auch alles bricht und reißt, da wird alles wieder geflickt...«

So stotterte ich noch, dann machte ich, dass ich schnellstens auf die Kommandobrücke kam, erst dort oben in meiner erhabenen Höhe wieder aufatmend, herzlich froh, diese delikate Geschichte endlich hinter mir zu haben.

Und nun nordwestwärts ahoi!! Der Südwind wurde nach besten Kräften ausgenutzt. Galt es doch auch, so viel wie möglich Kohlen zu sparen; sie bedeuteten für uns indirekt Trinkwasser, falls wir später destillieren mussten.

Am sechsten Tage, ziemlich auf dem 20. Breitengrade, kam die Fucusbank in Sicht, und nun gleich hinein mit voller Kraft in das grüne, zähe Gewinde, an einer Stelle, wo es freilich wohl noch kein Schiff gewagt hatte — mit Ausnahme jener einzelnen Menschen, die noch außer uns das Geheimnis kannten, von denen Karlemann es erst erfahren hatte.

Wegen des direkten Westwindes musste jetzt unter Dampf gefahren werden, und zwar zunächst ohne Messervorrichtung. Ich wollte erst einmal prüfen, wie weit man so unter normalen Verhältnissen kommen könnte.

Weit wurde das nicht. Zuerst häufte sich der Seetang am Bug auf, doch er konnte zunächst noch mit einer Stange abgestoßen werden. Das war also nicht anders als auf jenen Strecken, wo jedes Schiff auf diesen Fahrten die Fucusbank durchkreuzen muss — doch das sind eben nur Ausläufer, und auch hier an der äußersten Grenze war es nur schwimmender Seetang, der sich losgerissen hatte.

Ich zog einige grüne Schlingpflanzen an Deck und maß sie in ihrer ganzen Länge. Zweihundertsiebzig — sogar etwas über dreihundert Meter lange Seile! Das will gewiss etwas heißen! Der Fucus ist eben die längste Pflanze, welche es auf der Erde gibt. Man will schon welche über tausend Meter Länge gemessen haben, was ich aber zu bezweifeln wage. Die Verhältnisse seines Wachstums, wie lange der Seetang braucht, um solche Länge zu erreichen, das ist noch völlig unbekannt. Man weiß noch nicht einmal, ob er sich vom Meeresgrunde aus entwickelt, oder ob er nach unten treibt, bis seine Wurzeln festen Boden finden.

So waren wir kaum eine Stunde gefahren, als der sich häufende Seetang sich nicht mehr entfernen ließ. Man musste ihn mit der Stange immer hoch heben und zur Seite werfen, das ging jetzt nicht mehr, er leistete Widerstand — hier reichten die Wurzeln eben schon bis auf den Meeresgrund, wo sie festen Halt hatten. Das Gewinde auszureißen, war ganz unmöglich, es gelang mir nicht einmal mit einer einzigen Pflanze, und als ich sie um die Winde legte, riss die Schlingpflanze selbst. Die Elemente, Sturm und Strömung, vermögen eben mehr als schwache Menschenkräfte.

Dass wir hier in eine andere Region der Meerwiese kamen, war auch gleich äußerlich zu sehen. Bisher hatte das grüne Zeug wirklich nur auf dem Wasser geschwommen, sich nur mit wenigen hellgrünen Trieben über dasselbe erhebend. Hier war die Erhebung der frischen Triebe eine viel bedeutendere, an manchen Stellen standen die lederartigen Blätter einen halben Meter über dem Wasser.

Das machte eben, dass die Pflanzen hier noch im Boden wurzelten. Die Tiefe konnte ich nicht messen, das Lot versagte, es erreichte in dem Gewirr den Grund gar nicht, und es gelang mir nicht, eine Pflanze mit der Wurzel auszureißen. Ebenso wenig konnte man noch loggen. Das Logbrett blieb hängen, verstrickte sich, die Leine riss.

Jedenfalls kamen wir immer langsamer vorwärts. Und das ging gar rasch. Schon nach fünf Minuten, nachdem der Seetang nicht mehr entfernt werden konnte, blieb der Dampfer, obgleich die Schraube noch immer arbeitete, ganz einfach stehen, und der Seetang hatte sich vorn so aufgehäuft, dass der Berg bereits das Deck überragte.

So, nun konnte man sich in aller Gemütlichkeit einmal vorstellen, in welcher Lage man sich befand, wenn so etwas einmal im Ernstfalle eintrat, wenn ein Segelschiff zufällig in die Fucusbank geriet und eingeschlossen wurde.

Alle Bedingungen zu dieser Vorstellung waren gegeben. Wir waren bereits so tief eingedrungen, dass vom freien Wasser nichts mehr zu sehen war. So weit das Auge reichte, nichts als eine grüne Wiese. Vollständige Windstille. Glühende Sonnenhitze, unter welcher das grüne Zeug schon einen ganz unangenehmen Duft ausströmte.

Ich hatte die Maschine abgestellt, was man gleich daran merkte, dass die Planken nicht mehr zitterten.

»Na, Jungens, was meint ihr — wenn wir jetzt hier festsäßen — so bis in alle Ewigkeit?«

Ich sah den Leuten an, was sie dachten. Diesen handfesten, unerschrockenen Männern, die sich sonst vor Gott und Teufel nicht fürchteten, weder vor Brandung noch vor Felsenriffen zurückbebten, sondern kaltblütig die Gefahr erwogen und dann daran gingen, sie zu besiegen — ihnen allen war plötzlich ganz unheimlich zumute. Und mit mir war ganz genau derselbe Fall.

Was es eigentlich war, was so furchtbar aufs Gemüt schlug, kann ich nicht weiter schildern. Eben diese Totenstille — wirklich die Stille des Todes, von dessen grünen Armen man sich umschlungen sah — das Bewusstsein, um was es sich hier handelte — vielleicht auch der faulende Dunst, der Geruch der Verwesung.

»Kiek, wie das grüne Zeug schon heraufklettert, um uns noch ganz einzuspinnen.«

So flüsterte ein Matrose, auf den das Deck überragenden grünen, nassen Berg deutend.

Wahrhaftig! Ich wollte es erst gar nicht glauben, und doch war es so!

Aus diesem Berge ragten frische Triebe hervor, durch hellere Färbung abstechend. Da war nichts weiter dabei, solche sah man auch auf dem Wasser — aber gar kein Zweifel, diese Triebe wurden immer größer, sie wuchsen zusehends, sie schlangen sich um den Klüverbaum und um jedes Tau!

Man brauchte nur fünf Minuten solch einen Trieb im Auge zu behalten, um mit Gewissheit konstatieren zu können, dass dem tatsächlich so war!

Ich beobachtete einen fingerlangen Trieb, der mit seiner Spitze ein Tau berührte, und nach genau fünf Minuten hatte er sich einmal um das Tau herumgelegt, und nach weiteren zehn Minuten hatte der Trieb, jetzt schon mindestens dreißig Zentimeter lang, das Tau bereits viermal umschlungen.

Wie war das möglich? Konnte eine Pflanze wirklich so schnell wachsen? Ein solch rasches Wachstum kennt nicht einmal der Pilz, auch kein Bovist.

Wuchsen denn auch die im Wasser befindlichen Schlingpflanzen so ungeheuer schnell? Ich beobachtete — nein, ich konnte dies nicht konstatieren, und ich hatte später ja noch genügend Zeit, solche Beobachtungen anzustellen.

Nein, für gewöhnlich wuchs dieser Seetang nicht so ungeheuer rasch. Aber sobald er aus seiner normalen schwimmenden Lage gebracht wurde, dass er sich empor häufte, so suchte er sich an alles zu klammern. Doch schien das weniger ein direktes Wachsen zu sein, vielmehr dehnte sich die ganze Pflanze aus, gummiartig, wozu sie nach der Beschaffenheit ihres Zellengewebes ja auch ganz geeignet war. Dann allerdings mochte der überschüssige Saft in die so ausgedehnten Zellen schleunigst nachströmen, und so fand dann schließlich doch noch ein ungewöhnlich rasches Wachsen statt.

Wir staunten noch dieses Wunder an, wie der Seetang unser ganzes Schiff zu umschlingen begann. Mit sichtbarer Schnelligkeit. Nun fehlte bloß noch, dass wir das Gras auch wachsen hören konnten.

»Richard, wenn jetzt die Maschine versagt!«, flüsterte da Blodwen neben mir.

Ich kann nur sagen, dass mich ein gelinder Schreck durchzuckte.

»Torheit«, lachte ich dann, »weshalb sollte denn jetzt gerade etwas an der Maschine brechen?«

»Und warum soll das nicht gerade jetzt geschehen können?«

»Freilich, ein Gegengrund ist nicht vorhanden. Aber einen so bösen Streich wird uns der Himmel doch nicht spielen.«

»Und wenn es nun doch einmal geschähe?«

»Blodwen, du kennst doch die alte Geschichte von dem Mann, der das Wenn und Aber erdacht hat. Wir alle haben schon vorher gewusst, auf was für eine Fahrt wir uns begeben.«

»Ja, wie kommen wir denn jetzt frei, wenn sich der Seetang schon nicht mehr entfernen lässt?«

»Einfach dadurch, dass ich den Dampfer rückwärts gehen lasse. Umwunden hat uns der Tang doch noch lange nicht, die paar dünnen Pflänzchen haben doch gar nichts zu bedeuten, und der Berg ist doch nur vor uns angehäuft, wir gehen einfach vor ihm zurück, dann umfahren wir ihn — natürlich mit schon eingesetztem Messer.«

Ich ging auf die Kommandobrücke. Dieselbe besaß noch keinen solchen elektrischen Apparat, wie er jetzt allgemein auf Dampfern üblich ist, durch welchen man die einzelnen Kommandos in den Maschinenraum hinabklingelt.

Hier war noch ein Sprachrohr vorhanden, außerdem aber noch eine einfache elektrische Klingel, welche eben damals ihren Siegeszug um die Welt hielt. Das Klingeln machte nur das Maschinenpersonal aufmerksam, dass jetzt durch das Sprachrohr ein Kommando erfolgen würde.

Also ich klingelte und rief hinab:

»Halbe Kraft rückwärts!«

Im nächsten Augenblick musste sich das bekannte Geräusch hören lassen, die Schiffsplanken würden zu zittern beginnen.

Beides geschah nicht.

Ich klingelte nochmals — »Halbe Kraft rückwärts!«

Nichts wollte sich ändern in dieser Stille des Todes. Nur mein Herz begann mit einem Male stark zu klopfen.

»Ist jemand am Sprachrohr?«, rief ich hinab.

»Ja, der erste Maschinist«, erklang es zurück.

»Na, was ist denn da los?«

»Herr Kapitän, die Maschine gehorcht nicht dem Hebeldruck.«

Es war geschehen! Blodwen hatte es gleichsam geahnt. Zum ersten Male versagte die Maschine!

Ich hinab in den Maschinenraum. Das ganze Personal war bei der Arbeit, den Fehler zu suchen. Ein Bruch oder dergleichen war nicht zu bemerken.

Die Versicherung der Ingenieure, dass es nichts von Bedeutung sein könnte, beruhigte mich wenig. Gerade hier unten befiel mich ein neuer Schrecken, ich dachte an die Schraube, an die wuchernden, alles umstrickenden Schlingpflanzen...

Ich wieder hinauf, beugte mich über Bord.

Wahrhaftig, von allen Seiten begannen schon die frischen Triebe an den glatten Schiffswänden empor zu klettern, sichtbar wachsend! Die Schraube war nicht zu sehen. Aber da hing hinten ein Seil herab, und an diesem waren die Schlingpflanzen schon bis zur Höhe des Decks emporgeklettert.

Also gar kein Zweifel, jetzt waren auch schon die Schraubenflügel so umstrickt, und wenn das nun immer so weiter ging, würde die Maschinenkraft dann noch ausreichen, die grüne Umstrickung wieder zu zerreißen?

Eine halbe Stunde verging. Ich kann nicht schildern, was ich während derselben alles durchgemacht habe.

Da ein Dröhnen, ein Ruck, wir drangen noch etwas tiefer in den schon aufgehäuften Berg hinein, und dann klingelte es auf der Kommandobrücke, vom Maschinenraum aus.

»Der Fehler ist gefunden und beseitigt — an der Kuppelung hatte sich eine Schraube gelöst.«

»Alles funktioniert wieder?«

»Ich glaube.«

»Halbe Kraft rückwärts!«

Glatt ging das Schiff zurück, vor seinem Bug klatschte der aufgehäufte Berg ins Wasser zurück, die frischen Triebe konnten seine Last nicht tragen, sie rissen, wir waren frei.

Selten habe ich so erleichtert aufgeatmet wie damals! Wie ich dann später konstatierte, umwucherten die Schlingpflanzen überhaupt nichts, was sich unter Wasser befand, also auch nicht die Flügel der Schiffsschraube. Es ist eben eine Eigentümlichkeit des Seetangs, nur alles außerhalb des Wassers Befindliche umspinnen zu wollen.

Jedenfalls hatte ich eine Lektion erhalten, unnötigerweise nicht wieder solche Experimente anzustellen, es war wie ein Wink des Himmels gewesen, und nun wurde schleunigst das Messer eingefügt — Vollkraft voraus, und wir durchschnitten die grünen Stränge wie Spinnenfäden.

Aber die dunkle, beängstigende Frage blieb fortan dennoch in mir bestehen und wohl in jedem meiner Leute: Was dann, wenn die Maschine noch einmal versagt und der Fehler nicht gefunden werden kann, wenn etwas bricht?

Bisher war diese Frage gar nicht so nahe an uns herangetreten. Nun, es schien alles gut gehen zu wollen. Am zweiten Tage traten tropische Regengüsse ein, die uns die Hitze nicht so fühlen ließen, auch schlugen sie die Dünste nieder, welche die Luft manchmal unatembar machten.

Mit dem aufgefangenen Regenwasser wurde jedes leere Fass und jedes andere Gefäß gefüllt, wie auch schon immer der kondensierte Abstoßdampf als Trinkwasser verwendet worden war.

Nach diesem Regenwetter kam Ostwind, der die Maschine ganz überflüssig machte.

Am vierten Tage, nur noch zweihundert Seemeilen von unserem Ziele entfernt, hatten wir einen wundersamen Anblick.

Vor uns erhob sich mitten aus der grünen Ebene ein Hügel von derselben Farbe, kegelförmig ansteigend, aber mit drei Spitzen.

»Das sieht gerade aus wie ein Schiff, wie ein Dreimaster, der von dem grünen Zeuge eingesponnen ist«, meinte der zweite Steuermann.

Das hatte auch ich mir schon gedacht und wohl jeder andere. Dass unter dem grünen Überzuge ein dreimastiges Schiff steckte, war zu deutlich erkennbar.

In dieser Fucusbank mochten ja schon zahllose Schiffe verschwunden sein, noch zahllose andere mochten ebenso umstrickt darin liegen, doch wir brauchten uns nicht zu wundern, noch keines gesehen zu haben. Es handelte sich eben um ein Gebiet von mindestens 200 000 geografischen Quadratmeilen, da ist es doch ein außergewöhnlicher Zufall, wenn man einmal solch eine grüne Schiffsmine zu Gesicht bekommt.

Dieses Schiff zu besichtigen, war bei mir natürlich sofort beschlossen. Wenn ich mit meinen Offizieren etwas noch besprach, so war es nur das, wie dieses Fahrzeug so weit in das undurchdringliche Gewirr hatte vordringen können.

War es vielleicht mit einer ähnlichen Schneidevorrichtung versehen gewesen? Doch es hatte gar keinen Zweck, sich darüber in Vermutungen zu ergehen.

Also den Kurs etwas geändert und darauf zugehalten!

Wir waren kaum noch hundert Meter davon entfernt, immer noch nichts weiter als einen grünen Hügel mit drei Kegelspitzen sehend, als ich plötzlich ein eigentümliches Geräusch vernahm, wie aus dem Innern meines Schiffes kommend, dann ruckte es auch manchmal...

Mit einem Satze stand ich am Sprachrohr und donnerte hinab, volle Kraft rückwärts zu geben.

Wir waren auf Grund geraten. Dass es ein ganz anderes Geräusch war, dass das Knirschen auf Sand oder Felsen fehlte, war begreiflich. Hier schusselte der Kiel eben über den am Grunde wachsenden Seetang hinweg. Aber das war deutlich zu bemerken gewesen, dass sich das Schiff auch schon etwas auf die Seite legte, und da war die höchste Eile geboten gewesen, aus dieser gefährlichen Nähe zu kommen.

Das Schiff gehorchte sofort, wir waren wieder frei.

Doch was nun? Deswegen gleich auf die interessante Besichtigung jenes Schiffes verzichten?

Als ich die Wassertiefe mit einer langen Stange maß, auch immer noch Grund findend, hatte ich eine Idee.

Sollte ich es nicht einmal mit einem Boote versuchen? An Gebrauch der Ruder war wohl nicht zu denken, aber sollte sich nicht ein Boot mit Stangen fortschieben lassen? Wenn ich ein solches betrachtete, es mit der Bauart eines Schiffes verglich, so kam ich zu der Überzeugung, dass ein Boot, mit der Stechstange getrieben, ganz leicht durch und über diese Schlingpflanzen schusseln müsse.

Gedacht, getan! Eine Jolle wurde ausgesetzt, ich ging mit drei Matrosen hinein, ich selbst bediente die Stechstange — und wirklich, ganz leicht schusselte das Boot über die sonst so verderblichen Schlingpflanzen hinweg.

Der Unterschied zwischen einem Boote und einem Schiffe ist wohl jedem begreiflich, da brauche ich nicht erst fachmännisch zu werden.

Die Hauptsache ist die, dass beim Schiffe der vordere Teil des unteren Kiels immer etwas hervorragt, dadurch wird der Seetang gewissermaßen wie mit einer Gabel gefasst und an sich schon etwas in die Höhe gehoben, dann kommt noch hinzu, dass das durch Wind oder Maschinenkraft getriebene Schiff sich immer etwas hebt und senkt, so dem Seetang noch besser Gelegenheit gebend, sich vorn aufhäufen zu können.

Dies alles fällt bei einem Boote weg, welches ja auch ganz anders gebaut ist. Natürlich ist es ganz ausgeschlossen, nun in Booten die Fucusbank befahren zu wollen. Solche Untiefen, wo man die Stange benutzen kann, sind doch nur Ausnahmen, und die Riemen kann man eben unmöglich benutzen, die hängen sofort voll Schlingpflanzen, und beim Segeln taucht auch ein Boot immer tief mit der Schnauze ins Wasser, hebt sich wieder, hätte also ebenfalls bald alles voll Seetang hängen.

Anders wäre es schon, ein großes Schiff vorn ganz flach zu bauen, mit einer schiefen Fläche, da könnte man vielleicht über die Schlingpflanzen hinwegschusseln, das schräge Brett kann ja auch von Zeit zu Zeit entfernt und von dem Seetang befreit werden.

Doch lassen wir jetzt solche Erwägungen. Wir konnten nur das benutzen, was uns zu Gebote stand.

Also mein Boot befand sich in voller Fahrt.

»Richard, nimm doch auch mich mit!«, rief da Blodwen mir nach.

Gut, ich kehrte noch einmal um. Es war nur erst ein Versuch gewesen.

Blodwen stieg ein. Bis sie saß, waren einige Minuten vergangen, und da bemerkten wir, dass die Schlingpflanzen unterdessen ihre Arbeit getan hatten.

Die frischen Triebe hatten sich emporgereckt, hatten sich besonders bereits um die Rudergabeln gewickelt, aber auch sonst um alles, was sie nur erreichen konnten. Selbst den einen Matrosen, der ruhig gesessen, hatten sie bereits festgenommen, nämlich hinten an seinem im Gürtel steckenden Scheidemesser.

Allerdings konnte das kein dauerhafter Halt sein. Mit Leichtigkeit konnten wir die zarten Triebe noch losreißen, sonst half das Messer nach, wir waren wieder frei.

Immerhin, wir hatten wiederum gesehen, was für ein Teufelszeug das war! Kaum drei Minuten hatten genügt, um das Boot und uns selbst zu umwickeln. Wahrhaftig, ein einziger Tag, eine einzige Nacht, die man regungslos auf dem Wasser liegend verbrachte, musste genügen, um rettungslos eingewickelt zu werden — der grüne Tod hatte seine Arbeit getan.

Wir fuhren ab. Es ging vortrefflich. Das Boot mit seinem flachen Steven schusselte nur so über die Wiese dahin. Als ich aber einmal mit der Stange keinen Grund mehr fand, war es auch gleich vorbei. Ein einziger Schlag mit dem Riemen genügte, um ihn unbrauchbar zu machen, sofort war er haufenweise mit Seetang bedeckt, der sich auch gleich darauf festklammerte.

Doch war das nur eine kleine Stelle gewesen. Das Boot befand sich noch etwas in Fahrt, als meine Stange schon wieder Grund fand, und dann lagen wir längsseit des grünen Berges.

Auch nicht das Geringste von einer Schiffswand war mehr zu sehen. Ich stieß mit der Stange hinein und fand erst ganz hinten einen festen Widerstand.

Ich verwandelte mich in eine Riesenspinne; so kletterte ich, das Messer zwischen den Zähnen, in dem grünen Gewebe empor. Als ich die Höhe erreichte, wo ich die Bordwand vermuten konnte, begann ich zu schneiden und zu sägen.

»Richard, lass dich nicht einspinnen!!«, erklang es ängstlich unter mir.

Wahrhaftig, ich hatte solch einen grünen Strick schon wie eine Schlange am Beine, er hielt mich fest.

Doch ich darf die Gefahr nicht übertreiben. Dass dieses grüne Seil mich etwa festhalten konnte, davon war keine Rede. Ein Schnitt, und ich war frei.

Immerhin, man sieht, wie diese Schlingpflanzen energisch vorgingen. Und wenn man nun kein Messer zur Hand hatte?

Nun, wir besaßen Messer. Ich hatte förmlich einen Tunnel geschnitten, in dem ich mich gegen zwei Meter tief befand, als ich eine Holzplanke erreichte. Noch einen Fuß höher, und ich fühlte die Bordwand.

Man sollte meinen, besonders nach dieser zwei Meter dicken Schicht, die ich erst durchschneiden musste, auch innen sei alles mit einem grünen Wirrwarr ausgefüllt gewesen. Aber dies war nicht der Fall, und nach allem, was ich von dem Wachsen dieses Seetangs außerhalb des Wassers schon beobachtet, hatte ich für meinen Teil das auch gar nicht vermutet.

Die ersten Seetangpflanzen kletterten eben an dem stilliegenden Schiffe empor. Diese dienten wieder den nächsten Trieben als Stützpunkt, und so ging das weiter, so entstand die dicke Schicht. Aber etwa wie die Schlingbohnen, die ihre Klettertriebe suchend weit hinausschicken, wuchs dieser Fucus nicht; wo er nichts sofort fassen konnte, da kam er als Wasserpflanze auch nicht fort, und so war über dem Deck hier auch ein ganz freier Raum.

Sehen konnte ich freilich zunächst nichts davon, ich griff zuerst nur in diesen freien Raum hinein. Sonst herrschte eine undurchdringliche Finsternis, dieses grüne Gewebe ließ auch nicht den geringsten Lichtstrahl hindurch, und die Fensteröffnung, die ich geschnitten, füllte mein eigener Leib fast völlig aus.

So kroch ich zurück und forderte die Petroleumlampe, mit welcher jedes Boot ausgerüstet sein muss. Dann beorderte ich, dass die drei Matrosen zurückbleiben und das Boot immer hin und her bewegen und die grünen Fesseln immer gleich losschneiden sollten, während mir Blodwen gleich folgte.

Dann befanden wir beide uns innerhalb der grünen Umhüllung an Deck. Die Laterne beleuchtete eine Umgebung, welche gleich das hohe Alter dieses Schiffes erkennen ließ.

Die Wanten waren noch vorhanden, auch alles andere Tauwerk, doch alles total morsch, nur von den grünen Schlingpflanzen noch gehalten, welche ihre Nahrung aus dem Wasser nahmen.

Doch das war es nicht, woraus ich ein Schiff aus einem früheren Jahrhundert erkannte. Das lag eben im ganzen Bau, in der Anordnung der Deckplanken, wie die Poller eingelassen waren usw. usw., was eben nur das Auge des Seemanns erkennt, der auf der Steuermannsschule auch etwas von der Geschichte des Schiffbaus studiert hat, wozu dann noch praktische Erfahrung kommt.

Scheu deutete Blodwen auf ein menschliches Skelett, welches dort an der Bordwand lag, bar jeden Kleidungsstückes. Nun, wir sollten noch mehr solcher menschlichen Skelette entdecken.


Illustration

Im Übrigen will ich alles kurz zusammenfassen, was wir fanden, und was wir nicht fanden.

Es war ein dreimastiger Segler, den ich für aus dem 17. Jahrhundert stammend schätzte. Doch das konnte ich nur aus der Bauart beurteilen.

Kein gemalter Name, kein Papier war mehr vorhanden. Dabei mochten mehr noch als die modernde Feuchtigkeit Ratten und Mäuse aufgeräumt haben, deren zahllosen Skelette wir dann besonders in den unteren Räumen fanden. Weshalb sie zuletzt nicht auch die Wanten und die übrige Takelage aufgefressen hatten, ehe sie des Hungers sterben mussten, weiß ich nicht. Höchst wahrscheinlich war das Tauwerk von dem Seetang bald mit diesem eigentümlichen Safte durchtränkt worden, der stark jodhaltig sein mochte, wodurch dieser letzte Fraß für das Nagetier ungenießbar wurde.

Sonst hatten die Ratten das ganze Schiff radikal ausgefressen — ratzenkahl, wie man dieses Fremdwort treffend verdeutscht hat.

Gegenstände aus Metall waren natürlich verschont geblieben, aber da waren herzlich wenig vorhanden.

Im Zwischendeck stand hinter der geschlossenen Stückpforte eine alte Kanone aus Bronze, mit gesprungenem Rohr. Am Schlussstück stand eingeätzt: Liverpool, 1652.

Daraus hätte man schließen dürfen, dass es ein englisches Schiff war, und auch meine Ansicht über das hohe Alter bestätigte sich.

Von einem Leck oder dergleichen fand ich nichts. Zur Zeit, als dieses Schiff von dem grünen Tode in die Arme genommen worden war, musste es völlig intakt gewesen sein, war es schließlich noch jetzt. Es saß eben auf Grund fest, sonst hätte die grüne Last es hinabgezogen, und somit erkannten wir, dass man innerhalb der Fucusbank überhaupt kein Schiff mehr finden würde, das einmal umsponnen worden war. Diese zwei Meter dicke Schicht, bis zu den Mastspitzen hinaufreichend, musste so ungeheuer schwer sein, um auch das größte Schiff in das feuchte Element hinabzuziehen, und je größer das Schiff, desto größer wurde ja auch die Last. Hier hatte eben nur die Untiefe das Sinken verhindert.

Sollte sich denn innerhalb von zwei Jahrhunderten keine dickere Schicht bilden, als nur eine solche von zwei Metern? Ich hatte doch schon zur Genüge beobachtet, mit welch fabelhafter Geschwindigkeit der Fucus wächst, wenn er außerhalb des Wassers einmal einen festen Halt hat.

Nun, der liebe Gott will nicht, dass Bäume in den Himmel wachsen, und das gilt auch von allem anderen, was da wächst und sich sonst ausbreitet. Jede Wüste wandert. Immer weiter rückt der Flugsand vor, alljährlich um viele Meter, und auf dem Papier kann man sich ausrechnen, welcher Zeit es bedarf, um die ganze Erde in eine Wüste zu verwandeln. Das würde gar nicht so lange dauern.

Da aber hat die Natur Grenzen bestimmt, für das menschliche Auge ganz unsichtbare, welche der Sand eben nicht überschreiten darf. Bis hierher und nicht weiter! Ebenso ist es mit der indischen Dschungel, welche gleichfalls mit Schnelligkeit wandert, und mit noch vielem anderen. Aber überall bestimmt die Natur eine Grenze. Bis hierher kommt der Wald, hier gedeiht nur Präriegras — basta!

Also gar kein Zweifel, auch die Stärke dieses grünen Fucusgewebes, das sich um ein festsitzendes Schiff ausbreitete, hatte ihre gewisse Grenze. Anderenfalls hätte sich ja um dieses Schiff ein Berg bilden müssen, welcher mit der Zeit die ganze Fucusbank, das ganze Sargassomeer ausfüllte!

Was das umwachsende Fucuskraut bewog, nicht mehr an der grünen Wand empor zu klettern, konnte mein menschlicher Verstand natürlich nicht erfassen. Oder kletterte die Nachbarschaft dennoch immer empor — was ich dann später auch wirklich erkannte — so ging das Abrüstungsgeschäft eben von innen vor sich, wenn wir davon auch nichts gewahrten.

Doch wir hielten deswegen jetzt gar keine Umschau. Unsere Gedanken waren mit etwas ganz anderem beschäftigt, als mit der Lösung von solch naturwissenschaftlichen Problemen.

Wir befanden uns noch immer in dem Zwischendeck mit der einen Kanone und blickten uns mit gar scheuen Augen um. Die menschlichen Skelette, der schwüle, modernde Dunst, das unsichere Licht — unsere scheuen Blicke waren begreiflich.

»Weißt du, Richard, woran ich denke?«, flüsterte Blodwen. »An unser holländisches Wrack.«

Ich hatte ihre Gedanken nur deshalb erraten können, weil ich im Augenblick wirklich an eben dasselbe gedacht hatte.

»Und weißt du, Blodwen, was ich fast glauben möchte?«

»Nun?«

»Dass hier schon vor uns jemand gewesen ist und ausgeräumt hat.«

»Und dass auch jenes holländische Wrack einst hier in grüner Umstrickung gelegen hat und davon befreit worden ist.«

Ganz meine Ansicht! Jawohl, auch jenes Wrack hatte einst hier so gelegen!

»Woran erkennst du, dass hier jener geheimnisvolle Kapitän gewesen ist?«, fuhr Blodwen im Flüstertone weiter fort.

»Dass es derselbe Mann gewesen, ist ja nicht unbedingt nötig, aber — aber... wo sind denn die anderen Kanonen?«

An jeder Bordseite hätten nämlich vier Geschütze stehen sollen. Alle die Ringe waren im Deck eingelassen, an denen sie befestigt gewesen, auch sonstige Spuren waren zu bemerken, dass sie wirklich hier gestanden hatten.

Und hätte dieses Schiff etwa nur ein einziges Geschütz an Bord gehabt, auf Backbordseite stehend, eines mit einem gesprungenen Lauf? Wegen der acht Kanonen brauchte es noch kein Kriegsschiff gewesen zu sein, damals musste wegen Seeräubern noch jedes Handelsschiff mehrere Kanonen mit sich führen, wie ja schließlich auch heute noch, nur dass man sie nicht so offen aufstellt.

»Die Kanonen sind entführt worden, daran ist gar kein Zweifel. Nur das hier mit dem gesprungenen Rohre hat man zurückgelassen.«

»Sind denn noch die Boote vorhanden?«, fragte Blodwen.

Ich hatte vorhin ein solches in den Davits an Deck unter grüner Umhüllung gesehen. Wenn die Besatzung versucht hatte, ihre Rettung vor der grünen Umstrickung in Booten zu bewerkstelligen, so war ihnen das eben nicht gelungen, sie hatten das Boot wieder hochgezogen und eingeschwungen. Oder sie brauchten ja auch nicht gerade dieses benutzt zu haben.

»Mit was mag das Schiff denn befrachtet gewesen sein?«

Wir hielten weitere Umschau, ohne etwas zu finden. Ja, einige Fässer und dergleichen. Als ich eines, welches noch verschlossen war, aufschlug, fand ich es leer. Wahrscheinlich hatte es Salzfleisch enthalten. Aber innerhalb von 200 Jahren war alles zu einigen unerkennbaren Brocken zusammengetrocknet, da hilft auch das dichteste Fass nichts, auch keine zugelötete Blechbüchse.

Was sonst offen dagelegen, hatten eben Ratten und Mäuse gefressen — und was deren Zähnen widerstanden, war von menschlichen Händen ausgeladen worden.

Wir besichtigten Kajüte und Kabinen, in denen einst Kapitän und Offiziere gehaust hatten. Mehrere Türen mussten verschlossen gewesen sein, sie waren aufgesprengt worden — wieder ein sicheres Zeichen, dass jemand noch nachträglich hier gewesen war, nachdem schon der grüne Tod seine Ernte gehalten hatte.

Kein Möbel, gar nichts! Wohl aber konnte man noch sehen, wo einst ein Teppich gelegen, wo ein Bild an der Wand gehangen hatte.

Sollten die Ratten wirklich all das aufgenagt haben? Nein. Die Tiere hatten doch auch bald aus Mangel an Wasser krepieren müssen, als sie noch ihren Hunger hätten stillen können.

Hier war eben von Menschen ausgeräumt worden.

»Richard!!«, erklang es da angstvoll.

Blodwen deutete vor sich auf den Boden, und ich erkannte alles sofort.

Ein Stück zusammengeknülltes Zeitungspapier war es, das ihr solchen Schreck eingeflößt hatte, und das mit Recht.

Ich hob es auf, fühlte noch etwas darin, wickelte es aus und... es war ein Stückchen Speckschwarte. Allerdings schon ganz ausgetrocknet, aber sicher nicht schon zweihundert Jahre alt. Außerdem erkannte ich eine englische Zeitung, ein politischer Artikel trug am Kopfe das Datum des sechzehnten Februars. Aus dem Inhalt erkannte ich sofort, dass es sich nur um dasselbe Jahr handeln konnte, welches wir noch immer schrieben. Also am Anfange dieses Jahres hatte dieses Schiff Besuch von lebendigen Menschen erhalten.

Zum Überfluss entdeckte ich dann noch auf dem Boden Brotkrümel. Ein Matrose hatte hier gegessen.

Ich habe über unseren Aufenthalt auf diesem Schiffe nichts mehr zu sagen. Sonst fanden wir nichts Neues, wir verließen es wieder.

An Deck forschte ich noch einmal danach, auf welche Weise unsere Vorgänger hier eingedrungen waren. Denn auch sie hatten sich doch erst durchschneiden müssen.

Ich fand nichts, keine Öffnung, nicht einmal eine hellere Stelle in dem undurchdringlichen Gewirr von Schlingpflanzen.

War irgendwo eine große Öffnung gewesen, so hatten zehn Monate eben genügt, um alles wieder zuwachsen zu lassen, so dick wie zuerst, bis die Natur aus irgendeinem Grunde kein weiteres Zunehmen der Stärke gestattete.

Wir krochen durch unsere Öffnung zurück, ich musste schon wieder tüchtig schneiden, und ich atmete tief auf, als mich wieder die warme Sonne begrüßte, als ich dort mein Schiff und unten unser Boot liegen sah.

Ein Matrose schob es immer hin und her, die beiden anderen rissen und schnitten beständig die jungen Triebe ab, welche das Boot in ihre Umklammerung nehmen wollten. Diese Gier der Pflanzen, den Gegenstand in ihre Umschlingung zu nehmen, hatte wirklich etwas Unheimliches an sich, man dachte gar nicht mehr an Pflanzen, es wurden lebendige Schlangen daraus.

Wir kletterten hinab, und nach zehn Minuten befanden wir uns wieder an Bord. Die Schraube begann zu arbeiten, sofort durchschnitt das haarscharfe Messer die Schlingpflanzen, die sich schon an dem Stahl empor gerankt hatten — wir setzten unsere Fahrt nach Westen ungehindert fort.

— • —

33. Kapitel
Schwimmendes Gold

Originalseiten II.43 — 63

Am nächsten Tage gewahrten wir einige Vögel, welche von Norden nach Süden strichen, und ihre Scharen nahmen immer mehr zu. Wenn wir nichts von Land gewusst hätten, brauchten wir diese Vögel noch nicht als Verkünder von Land zu betrachten, aber wir hatten eben schon eine Ahnung, und noch am Abend desselben Tages konnte ich mit Sicherheit konstatieren, dass diese Vögel wirklich ein nahes Zentrum hatten, von dem sie sich entfernten, und dem sie wieder zuflogen, und nun konnte auch jeder Matrose beurteilen, dass vor uns festes Land liegen musste.

Und wieder am nächsten Tage, in der zweiten Mittagsstunde, sahen wir vor uns in weiter, weiter Ferne etwas Mächtiges aufsteigen, wie ein dunkles Wolkengebilde am blauen Firmament, was aber der Seemann sehr wohl zu unterscheiden weiß.

Denn gerade bei den nebligen Wolken fehlen die schattenhaften, unbestimmten Umrisse, welche immer das Land kennzeichnen, von der Ausdünstung herrührend.

Land!!!

Niemand hatte es gerufen. Wir alle hatten es zugleich gesehen, wie durch Zauberei hob sich das zackige Gebilde plötzlich vom blauen Himmel ab, und ein jeder hatte schon längst angestrengt danach ausgespäht.

Denn ich hatte meine Leute unterdessen schon eingeweiht, was ich hier finden sollte — Land — nur dass ich selbst noch nicht wusste, was wieder auf diesem Lande zu finden sei.

Es war ein feierlicher Moment, als wir es nun plötzlich vor uns liegen sahen. Ein jungfräuliches Eiland, vielleicht ein ganzer Erdteil, noch von keinem menschlichen Fuße betreten!

Für mich und Blodwen musste diese hehre Empfindung etwas beschränkt werden. War nicht mit Sicherheit anzunehmen, dass auch schon jener geheimnisvolle Unbekannte mit seiner Mannschaft dieses Land betreten hatte?

Doch diese Empfindung war nur ganz gering. Auch in Amerika waren vor Kolumbus schon andere Europäer genug gewesen, vor allen Dingen Isländer, und in prähistorischer Zeit wahrscheinlich auch Chinesen. Und Kolumbus' Ruhm ist dadurch nicht geschmälert worden, wie er selbst ja auch gar keinen neuen Erdteil zu entdecken gehofft hatte, sondern er glaubte ja, er habe von Westen her das schon längst bekannte Indien erreicht.

Meinen Leuten hatte ich übrigens von meiner Entdeckung im Innern des umsponnenen Schiffes noch gar nichts gesagt, nichts von Doktor Selos Hinterlassenschaft, auch den Offizieren nicht, da hatte ich mich einmal in das Schweigen des unnahbaren Kapitäns gehüllt, und so konnten sich diese erst recht dem Gedanken hingeben, hier die ersten Menschen zu sein, welche dieses jungfräuliche Land im grünen Sargassomeer nun zu Gesicht bekamen.

Also auch gebirgig war dieses Land! Denn das dort war ein ganz stattliches Gebirge.

Aber heute sollten wir es nicht mehr erreichen. Die Nacht brach an, und ich schätzte das Gebirge noch immer gute fünfzig Seemeilen von uns entfernt.

Nun aber war guter Rat teuer. Es war doch sehr zweifelhaft, ob dieses Gebirge bis dicht an die Küste herantrat. Diese konnte vielleicht viele Meilen weit ganz flach sein, und wir befanden uns schon in ihrer dichten Nähe.

Auf Karlemanns geografische Ortsbestimmung konnte ich jetzt gar nichts mehr geben, ebenso wenig auf die von Doktor Selo niedergeschriebene. Von diesen Punkten waren wir noch immer weiter entfernt, und ich wusste ja gar nicht, was für Bogen die Küste sonst beschrieb, wohin sie sich eigentlich ausdehnte.

So durfte ich in der mondlosen Nacht nicht wagen, weiter westwärts zu gehen. Ich ließ also während der ganzen Nacht den Dampfer langsam vor- und rückwärts fahren, um mich nicht einspinnen zu lassen, und setzte erst mit Anbruch des Morgens den Weg fort.

Immer deutlicher trat das Gebirge hervor, dann aber konnten wir auch schon unterscheiden, wie sich darunter hügeliges und zuletzt flaches Land fortsetzte, und ich ließ bereits die Peilstange gebrauchen.

Es war in der neunten Morgenstunde, als wir sagen konnten, dass wir jetzt das Land direkt vor uns hatten.

Eine Küste mit vielen Ausbuchtungen zog sich vor uns entlang, sich gleichsam wie ein Wall aus der grünen Wiese emporhebend, von einer mehr grauen Färbung.

Das war einfach losgerissener Seetang, der sich hier längs der Küste angehäuft hatte, der schon vertrocknet war.

Für uns war nun die Hauptsache, wo wir landen konnten, und dann gab es noch etwas Besonderes zu bedenken.

Einen Landungspunkt würden wir schon finden, und wenn wir nicht dicht herankommen konnten, so mussten wir uns eben in Booten an Land begeben.

Was würde dann aber unterdessen aus dem Dampfer werden? Wir wussten ja, sobald er still lag, begannen sich die jungen Triebe des Seetangs empor zu ranken, ihn in ihre Umarmung nehmend. Dann also durfte der Dampfer mindestens niemals still liegen, musste immer in Bewegung gehalten werden.

»Aber es ist doch merkwürdig«, meinte Blodwen, »dass der aufgehäufte Seetang dort den jungen Trieben gar nicht als Anhaltepunkt dient, denn die Wälle sind doch offenbar schon alt, vom letzten Sturm aufgetürmt, deshalb sehen sie so grau aus.«

Blodwen sprach dasselbe aus, was ich schon früher auseinandergesetzt habe. Hier hatte die Natur der Kletterei auf irgendeine Weise eben Schranken gesetzt. Denn würde der Wall den Schlingpflanzen als Stützpunkt gedient haben, so müsste sich diese Insel doch nach allen Seiten ins Endlose ausbreiten. Dann war es nicht anders zu erklären, als dass der frische Seetang den schon vertrockneten als Halt verschmähte. Wenn aber nun immer wieder frische Triebe kamen, musste denn da überhaupt ein ausgetrockneter Fucuswall entstehen?

Doch vergebliches Mühen, mit unserem schwachen Menschengeiste das Walten der Natur verstehen zu wollen.

Dann machte ich noch eine andere eigentümliche Entdeckung.

Dort mehr nach rechts wurde der Fucuswall offenbar von Felsen unterbrochen, welche bis dicht an die Küste herantraten.

Gewiss, das war eine hohe Felsformation, ziemlich bizarr, aus schwarzem Gestein bestehend. Warum hatte sich nun an diesem kein Fucus empor gerankt, wo die spitzen Steine den Schlingpflanzen doch vortreffliche Anhaltepunkte hätten geben müssen? Durch das Fernrohr hätte ich schon die einzelnen, hellgrünen Pflanzen unterscheiden können, und auch nicht das geringste war davon zu merken.

Da machte der Matrose, den ich als Ausguck auf die oberste Rahe des vordersten Mastes postiert hatte — den vielberühmten Mastkorb gab es schon damals nicht mehr, erst die modernen Passagierdampfer haben ihn in allerletzter Zeit wieder eingeführt — durch ein lautes Hallo auf sich aufmerksam.

Ich schwenkte ein Tuch, zum Zeichen, dass ich auf seine Mitteilung warte.

»Dicht an der Küste ist ganz freies Fahrwasser!«, schrie er herab. Ich enterte hinauf. Schon von der Marsrahe konnte ich dieselbe Wahrnehmung machen.

Ja, längs des Walles, mit dem die ganze Insel umsäumt schien, glänzte ein breiter Wasserstreifen, scharf begrenzt von der Fucuswiese, und der Matrose ließ sich durch die Entfernung täuschen, das war nicht nur dicht an der Küste, sondern die Breite dieses freien Fahrwassers betrug mindestens eine Seemeile. Wir waren doch noch ziemlich weit entfernt.

Was ich sonst hinter dem Grenzwalle erblickte, war grünes Land, prärieartig, etwas hügelig, ab und zu mit Bäumen bestanden, weiter hinten wohl ein ganzer Wald, im Hintergrund das schon früher gesehene Gebirge.

Von einer Insel darf ich jetzt gar nicht mehr sprechen; denn eine jenseitige Küste war nicht zu erblicken, obgleich das Gebirge sich nicht endlos hinzog, sondern mehr mit einem isolierten Berge zu vergleichen war, der sich aus dem Hügellande erhob.

Ich glitt wieder an Deck und bestimmte sofort die Richtung nach einem Landungspunkte, den ich ebenfalls oben erspäht hatte. Ob wir mit dem Dampfer so nahe heranfahren konnten, das war freilich erst abzuwarten.

Noch eine halbe Stunde unter emsigem Peilen mit der Stange, ohne dass Grund zu erreichen war, dann hörte die grüne Fucusbank plötzlich wie abgeschnitten auf. Auch nicht ein einziges Pflänzchen trieb auf der Wasserfläche, die uns noch in einer Breite von mindestens tausend Metern von der Küste trennte.

Woher kam diese scharfe Grenze? Nun, das ließ sich schon erklären. In der Nähe der Küste war der Meeresboden eben von einer Beschaffenheit, welche dem Fucus nicht zusagte, sein Wachstum hinderte.

Das hundertmetrige Lot fand noch keinen Grund. Wir dampften in das offene Wasser hinein, dasselbe wie einen alten, lieben Bekannten begrüßend. Wahrhaftig, wir hatten uns auch lange genug nach seinem Anblicke gesehnt, wir hatten das Gefühl, wie wenn man in klarem Wasser ein erquickendes Bad nimmt.

Bis gegen dreihundert Meter dampfte ich noch an die Küste heran, ohne Grund zu finden, dann aber hielt ich es für geratener, die weitere Peilung doch lieber vom Boote aus zu machen. Denn wenn wir hier auf Grund gerieten, dann saßen wir vielleicht für immer fest.

So ließ ich die Jolle aussetzen, um jene Bucht auszukundschaften, die ich schon von der Rahe aus erspäht hatte.

Von einem Tierleben hatte ich bisher noch nichts bemerkt. Auch die Vögel, die wir zuerst so massenhaft gesehen, schienen verschwunden zu sein. Nachträglich zu erwähnen habe ich nur noch, dass wir schon immer zwischen dem Seetang zahlreiche Muscheln, Schnecken, Mollusken, Spinnen und andere Wassertiere niederer Art beobachtet hatten, und diese grüne, schwimmende Wiese musste ja auch für diese das geeignetste Revier abgeben. Von Fischen dagegen war in dem grünen Brei niemals etwas zu bemerken gewesen.

Hier nun, am Rande der Fucusbank, beobachtete ich zahllose kleine und große Fische, welche zwischen den senkrecht stehenden Halmen hin und her schossen, und ich sollte alsbald noch etwas ganz anderes zu sehen bekommen.

Das Boot, außer mir mit vier Matrosen und dem zweiten Steuermann besetzt, wozu dann noch Blodwen kam, welche gern als erste dieses Land betreten wollte, hatte sich erst wenige Ruderschläge von dem stilliegenden Dampfer entfernt, als das bisher ganz glatte Wasser in heftige Bewegung geriet, und pustend und spritzend kam aus der Bucht, die ich mir als Ziel ausersehen hatte, eine große Herde Walfische heraus.

Es waren Pottwale, die größte Sorte, in allen Meeren verbreitet, außerdem wohl der einzige Wal, der verwundet absichtlich das Boot und sogar ein großes Schiff angreift, diesem durch Schwanzschläge auch wirklich gefährlich werdend.

Und nun kam diese ganze Herde riesenhafter Wale, deren Zahl gar nicht schätzbar war, dazwischen auch viele Junge, direkt auf uns zu, im Nu waren wir mitten zwischen ihnen.

Da darf man ruhig gestehen, dass einem das Herz in die Hosen rutscht, deshalb braucht man kein Feigling zu sein. Übrigens befanden wir uns schon in anderer Weise in direkter Gefahr. Wenn schon der große Dampfer ganz tüchtig zu schlingern begann, so erst recht unsere Nussschale von Boot, das sich im Nu mit Wasser füllte. Doch die Wale kümmerten sich sonst gar nicht um uns, wir waren nur so zufällig in ihren Weg gekommen, sie tauchten unter dem Schiffe hinweg und waren verschwunden, während wir eiligst daran gingen, unser Boot leer zu schöpfen.

Es waren nicht die einzigen Wale gewesen, die wir hier erblicken sollten. Waren die Tiere durch die Fucusbank auf diese Region hier beschränkt? Dadurch, dass sie uns nicht weiter beachtet hatten, konnten wir darauf noch nicht schließen. Der Wal ist ja an sich ein ganz harmloses Tier, außerdem ein sehr dummes.

Jedenfalls aber hatten sie hier ein Gewässer, wo sie sich ungehindert von den Nachstellungen des Menschen, des fürchterlichsten Raubtieres der Erde, vermehren konnten, und außerdem hatten sie hier die besten Weidegründe.

Denn der Wal lebt bekanntlich nicht von Fischen, nicht einmal von den kleinsten, verschluckt er solche, so geschieht dies nur zufällig. Sonst bilden sein Futter ausschließlich Mollusken und andere Weichtiere, jedenfalls sind seine Hauptnahrung überhaupt mikroskopische Lebewesen, indem das eingeschlürfte Wasser, das er wieder ausspritzt, erst durch ein ganz feines Filter gehen muss, sodass alles andere zurückbleibt, was dann verschluckt wird, und an solch kleinen Lebewesen, die nicht gerade Infusorien zu sein brauchen, konnte ja nun hier an der Grenze der Fucusbank kein Mangel sein.

Wir ruderten in die geräumige Bucht ein. Ihre Küsten wurden also von Felsen gebildet, die aber ein dichtes Heranfahren und Landen gestatteten, ebenso wie die Wälle von faulendem Fucus, der sich ebenfalls hier angehäuft hatte.

Auf Felsvorsprüngen lagen einige Seehunde und Seelöwen — allerdings eine etwas andere Art wie die der arktischen und antarktischen Zone — welche uns neugierig anblickten, sonst aber ruhig liegen blieben — ein Zeichen, dass sie den Menschen noch nicht kennen gelernt hatten, wenigstens noch nicht von Robbenschlägern verfolgt worden waren. Als wir freilich näher kamen, ergriffen sie die Flucht, und das tut ja jedes Tier vor dem zweibeinigen Ebenbilde Gottes.

Ich hatte konstatiert, dass der Dampfer bis dicht an das Land heranfahren konnte. Die Felsen fielen steil in das Meer hinab. Günstiger also hätten wir es gar nicht finden können.

Und dann kam der feierliche Moment, da wir dieses jungfräuliche Land betraten. Ich ließ Blodwen den Vortritt. Zuerst aber mussten wir über den Wall von Seetang hinweg, der eben keinen angenehmen Geruch ausatmete, wenn er auch erträglich war, dann ging es über Felsformation hinweg, auch zwischen Felsen hindurch, und dann berührte Blodwens Fuß grasigen Boden.

»Einen Namen, Richard!«, flüsterte sie.

»Blodwenia sollst du heißen!«, rief ich sofort, dabei aber den Gedanken zurückdrängen müssend, dass wahrscheinlich schon vor uns jemand diesem Lande einen Namen gegeben hatte.

Immerhin, es war ein der übrigen Welt noch unbekanntes Festland, wie groß oder wie klein es nun auch sein mochte — wir kannten seinen Namen noch nicht, deshalb hatten wir ein Recht, dieses Land zu taufen, und so manche Insel führt ja ebenfalls zwei und noch mehr Namen.

Im übrigen hatte ich keinen anderen Anblick, als den ich schon von der Rahe aus gehabt. Prärie, oder richtiger afrikanische Steppe, hier und da ein Baum, der einen recht dürftigen Eindruck machte — ich verstehe von Botanik sehr wenig, ich hielt sie für Lebensbäume, die Blätter waren so halb Laub, halb Nadeln, im Hintergrunde immer noch der Berg, — und kein einziges lebendes Wesen.

»Ui je«, erklang da hinter mir der Ruf eines Matrosen, »was für ein großes Stück Bernstein — ganz weißer Bernstein!«

Ich drehte mich schnell um. Hein, ein Ostfriese, stand auf dem grauen Wall und hielt das kopfgroße Stück einer weißen Masse in der Hand, und in diesem Augenblick zuckte es durch mein Hirn: Bernstein ist es, was sich hier im Laufe der Jahrtausende angesammelt hat!!

Nun, dann konnten wir uns gratulieren. Bernstein ist ein gar kostbares Material, zumal wenn er sich in solch mächtigen Stücken vorfindet.

Aber gibt es denn solch weißen Bernstein?

Dann hatte ich das Stück selbst in der Hand und...

»Ambra!«, rief ich. »Bei Gott, es ist Ambra!!«

»Und hier ist ja noch ein Stück — und hier — und hier — na, nu kiek mal hier!!«

Die Matrosen brauchten in dem losen Seetang nur etwas zu wühlen, überall kam solches weißes Zeug zum Vorschein, in kopfgroßen Stücken, zuletzt hoben zwei Matrosen einen Klumpen hoch, vielleicht einen Viertelmeter im Durchmesser. Und immer wieder, wo man mit dem Fuße den Seetang zur Seite räumte, kamen solche Stücke zum Vorschein.

Die Matrosen fingen schon an zu jubeln. Denn die wussten bereits, was Ambra zu bedeuten hat. Ich selbst musste erst meine furchtbare Erregung niederkämpfen, ehe ich Blodwen eine Erklärung geben konnte.

Seit uralten Zeiten haben Schiffer auf dem Meere ab und zu weiße Stücke schwimmen sehen, von der Größe einer Erbse bis zu ganz gewaltigem Umfange. Kleine Stückchen kommen nie allein vor — dann würde man sie auf bewegter und selbst auf ruhiger See wohl schwerlich entdecken — sondern dann sind immer viele beisammen, man spricht sogar von einem milchigen Brei, der aber in allen Farben schillert, sich dadurch verrät, und jedenfalls ballt sich diese milchige oder richtiger ölige Masse bald zusammen, auch noch die kleinen Stücke kleben zusammen, bis sie ein großes Ganzes bilden.

Von unendlichem Jubel wird das Schiffsvolk erfüllt, welches diese Masse entdeckt und auffischen kann.

Es ist Ambra.

Was ist Ambra?

Ja, du lieber Gott — das weiß man heute noch nicht. Denn wenn in jedem Jahrzehnt jeder Gelehrte eine neue Theorie aufstellt, was Ambra ist, so gibt man doch zu, es nicht zu wissen.

Dem Äußeren nach ist es eine Art von Harz, am besten vergleichbar mit Bernstein, nur dass es weiß aussieht. Es lässt sich auch wie Harz kauen, schmeckt sehr aromatisch, riecht beim Erhitzen und Verbrennen noch aromatischer.

Die Hauptsache ist, dass Ambra stets viel kostbarer als Gold gewesen ist. Damals, zu meiner Zeit, wurde rohe Ambra von jedem Händler, der sich auf so etwas einließ — das tut aber wohl jeder, denn dabei ist dann noch schweres Geld zu verdienen — das Pfund zum festen Satze von 112 Pfund Sterling oder 800 Taler angekauft. Da ein Pfund gediegenes Gold etwa 1000 Mark kostet, so ist Ambra also mehr als doppelt so viel wert — wobei freilich zu bedenken ist, dass es zwanzigmal leichter als Gold ist. Immerhin, es wird mit der mehr als doppelten Menge Goldes aufgewogen, und da es immer seltener gefunden wird, wird es auch immer kostbarer.

Denn Ambra ist seit undenklichen Zeiten für den ganzen Orient bis ins innerste China hinein ein unersetzbares Material gewesen. Bis heute noch gilt sie als ein Mittel, das Leben zu verlängern, überhaupt als kosmetisches Mittel, wird gekaut, geschnupft, geraucht, in zahllosen Elixieren innerlich und äußerlich angewendet, es gibt im ganzen Orient keine Medizin, in der nicht Ambra die Hauptrolle spielt.

Wer die Bedeutung des Moschus für unsere Parfümfabrikation kennt, für den möchte man Ambra mit Moschus vergleichen. Denn ohne Moschus ist keine Parfümfabrikation möglich. Besser aber noch könnte man die Notwendigkeit der Ambra für den Orient mit der unserer Seife vergleichen.

Die Größe des Handels mit Ambra lässt sich gar nicht taxieren. Denn am meisten wird doch in den chinesischen Gewässern gefischt, dann weiter oben und unten im Norden und Süden, das ist ja überhaupt nur so ein Gelegenheitsgeschäft, und so viel weiß man, dass die Ambra immer seltener auf dem Meere schwimmend angetroffen wird, weswegen ihr Preis also immer mehr steigt.

Auf alle Fälle, so viel hat man nun doch herausbekommen, ist die Ambra ein Produkt des Walfisches, speziell des Pottwales. Man hat in der Harnblase dieses Seesäugetieres eine ölige Flüssigkeit und wohl auch Stückchen gefunden, welche Ähnlichkeit mit der Ambra haben. Deshalb hat man die Ambra für einen krankhaften Blasenstein des Pottwales gehalten, dessen er sich von Zeit zu Zeit entledigt.

Das richtigste wird wohl sein, dass der Walfisch die Ambra zur Zeit des Begattungstriebes erzeugt und während der Paarung von sich gibt. Und daher auch diese Unmenge von Ambra hier! Seit ungezählten Jahrhunderten hatten die Wale in dieser Region ungestört ihrem Fortpflanzungsgeschäft nachgehen können, diese Küste war von jeher der Sammelpunkt der verliebten Männchen, hier gaben sie sich mit den schöneren Hälften Rendezvous; daher hatte sich seit ungezählten Jahrhunderten die kostbare Ambra hier so angehäuft.

Ich war noch immer äußerst erregt, während ich Blodwen dies erklärte.

»Ich zweifle nicht, dass diese Ambra hier einfach unerschöpflich ist — da, man braucht ja nur mit dem Fuße den Seetang oberflächlich fortzustoßen — da schon wieder ein mächtiges Stück — und je tiefer man gräbt, desto mehr wird man finden. Wir werden schiffsladungsweise ausführen können. Und weißt du, Blodwen, was das bedeutet?«

»Dass wir wieder reich geworden sind«, entgegnete sie ohne besondere Freude.

»Und wie! Ich will in meinem Schiffe nur Platz haben für dreihundert Tonnen, wobei ich Raumtonnen meine, oder nach Wassergewicht berechnet. Die Tonne hat zwanzig Zentner oder zweitausend Pfund, für das Pfund rohe Ambra bekomme ich überall mindestens hundert Pfund Sterling — Blodwen, das sind allein schon sechzig Millionen Pfund Sterling, was ich an dieser einen Fahrt verdienen kann!!«

Blodwen blickte mich mit großen Augen an. Sie rechnete offenbar nach, und stimmen musste das.

»Das hätten wir mit Karlemann zu teilen«, sagte sie dann.

»Na, wenn man so viel hat, da kommt es nicht drauf an«, lachte ich, »da bleiben für uns immer noch dreißig Millionen Pfund Sterling — das ist ein hübscher Feng Geld, sagt Karlemann.«

»Und der Bedarf an Ambra wäre wirklich so groß? Das könnte man mit einem Male verkaufen?«

»Na, mit einem Male will ich nicht gerade sagen. Aber jedenfalls haben nur hier eine unerschöpfliche Goldquelle. Ein paar Millionen können wir sicher jedes Jahr ausgeben.«

»Und der andere Mann, der ebenfalls schon um dieses Festland weiß?«

Das war ein kleiner bitterer Tropfen in meine Freude.

»Der bezieht seine Geldmittel sicher ebenfalls von hier«, entgegnete ich dann, »mit dem müssen wir dann eben Kompanie machen, dass wir nicht gegenseitig konkurrieren, den Preis für die Ambra nicht zum Sinken bringen.«

Zunächst aber wurde ich wieder der Kapitän. Ich ließ die ›Sturmbraut‹ herandampfen, sie wurde dicht am Ufer an den Felsen vertaut.

Als die Leute hörten und sahen, um was es sich handelte, wurden sie ebenfalls von einer Art Taumel erfasst. Denn diese Seeleute wussten durchweg, was Ambra zu bedeuten hat, und dass ich nicht etwa phantasierte, das bewies, dass auch der nüchternste Kopf, wie z. B. der des zweiten Ingenieurs, ganz genau dieselbe Berechnung anstellte wie ich.

Nein, dass wir uns jetzt zu den reichsten Menschen der Welt zählen konnten, dass wir hier wenigstens eine unerschöpfliche Goldquelle besaßen, das war und blieb eine reelle Tatsache.

Sofort wurde mit dem Ausgraben der Ambra begonnen. Dazu brauchte ich die Leute ja nicht erst anzustellen, jeder wollte erst einmal sehen, ob denn wirklich überall solche zu finden sei. Und der Traum zerrann nicht. So weit sich die Matrosen und Heizer auch zerstreuten, wo sie in dem graugrünen Seetang auch gruben, überall brachten sie kleine und große Stücke zum Vorschein, und je tiefer sie kamen, desto größer wurden die Stücke, einfach aus dem Grunde, weil die klebrige Ambra sich immer zu vereinigen sucht, und in den tieferen Schichten stand sie nun auch schon unter einem Drucke.

Ab und zu ward auch weiter drinnen auf dem Lande ein Stück gefunden, welches aber nur durch irgendeinen Zufall dorthin gelangt sein konnte, vielleicht von einer Woge aufs Land geschleudert.

Zunächst war noch genug Raum vorhanden, um die gefundene Ambra gleich im Schiffe unterzubringen, schon so eine enge Kabine fasst doch gewaltig viel, wenn sie ausgefüllt werden soll, und ich dachte zuerst daran, dieses jungfräuliche Land weiter zu untersuchen.

Wirklich, dies reizte mich mehr noch, als der Anblick der Ambra, die sich bald in Gold verwandeln sollte, und mehr noch vielleicht schien Blodwen so zu denken.

Wir aßen Mittag und waren fertig zur Expedition. Der Berg sollte unser erstes Ziel sein, von seinem Gipfel wollten wir Umschau halten. Galt es doch auch die Wasserfrage zu lösen.

Als Träger für Proviant und Wasserschläuche dienten vier Matrosen, den ersten Maschinisten nahm ich mit, weil er etwas von Geologie verstehen wollte, und wir marschierten ab, alle wohlbewaffnet, Blodwen im kurzgeschürzten Kleide.

Ich habe über diese Expedition eigentlich gar nichts zu melden. Hügelige Steppe, ab und zu ein trostloser, kaum schattenspendender Baum, nichts weiter. Tiere schienen gänzlich zu fehlen. Insekten, wie Fliegen, Bienen, Hummeln und dergleichen, ja — aber keine solchen Tiere, die man essen kann. Auch von Vögeln war gar nichts mehr zu sehen.

»Das sieht nicht gerade aus, als ob die Wasserverhältnisse besonders günstig wären«, meinte ich.

»Und ich glaube«, setzte der Ingenieur hinzu, »in der heißen Jahreszeit stirbt hier selbst die ganze Pflanzenwelt ab; denn das sind solche Bäume, die zu ihrer Existenz nur der Feuchtigkeit der Luft bedürfen.«

Zunächst also wollten wir dort den isolierten Berg erklimmen. Dann aber und nicht nur nebensächlich kam die geografische Ortsbestimmung in Betracht, welche wir auf Doktor Selos hinterlassenem Papier gefunden hatten. Denn diese bezog sich auf einen Punkt, der schon auf dieser Insel lag, mochte sie auch noch so klein sein, daran war nun kein Zweifel. Jedenfalls, das konnten wir schon ungefähr berechnen, lag er noch hinter jenem Berge, und umsonst war dieser Punkt doch wohl nicht bestimmt worden, da war sicher etwas Besonderes zu finden.

Bis zu dem Berge, d. h. ehe nur der Aufstieg begann, war es noch eine bedeutende Strecke, die wir unterschätzt hatten. Bis auf den Abend konnten wir uns gefasst machen.

Beobachtungen waren also kaum anzustellen. Ich forderte meine Leute auf, nur Obacht zu geben, ob sie Spuren entdeckten, dass schon Menschen vor uns hier gewesen seien. Es wurde nicht das geringste davon bemerkt.

Immer hügeliger wurde die Gegend, die Bäume traten näher zusammen, bis ein Wald daraus wurde.

Der Anbruch der Dunkelheit gebot uns, Halt zu machen. Wir suchten Äste zusammen, bemerkten sofort, dass diese beim Brennen entsetzlich stanken, wärmten unser mitgenommenes Abendbrot, ich teilte Wachen ab, und bald lag ich selbst neben Blodwen in Morpheus' Armen, träumte von Ambrabergen, die sich aber nicht in Gold, sondern bei meiner Berührung immer in ganz ordinäre Misthaufen verwandelten, welche die Freude jedes Bauern erweckt hätten, nur die meine nicht.

Beim ersten Sonnenstrahl waren wir wieder auf den Beinen, die Wanderung wurde fortgesetzt.

Der Wald trat zurück, vor uns erhob sich ein sonnenverbranntes Gestein, das wir auf gut Glück zu erklimmen begannen.

Nach einiger Zeit kam wieder Wald, welcher fast bis zum Gipfel anhielt, sodass wir bis zuletzt fast gar nichts vom Meere zu sehen bekamen.

Es war gegen Mittag, als die Bäume wieder aufhörten, wir hatten den Gipfel erreicht, hatten freie Umschau.

Das heißt, das will ich hier gleich bemerken, wenn man so einen fremden Berg besteigt, kann man natürlich nicht wissen, ob das auch gerade der Gipfel ist, den man erreicht hat. Da gibt man doch immer nur acht, dass man aufsteigt, nicht abwärts, oder doch mehr aufwärts als abwärts, und wir hatten manche Schlucht mühsam zu umgehen gehabt.

Kurz, wir befanden uns auf einer freien Stelle, von welcher wir nach allen Seiten Umschau halten konnten, und zwar war überall das Meer oder vielmehr eine grüne Wiese zu erblicken — eben die Fucusbank.

Nein, da hatte Karlemann übertrieben, als er von einem ganzen Erdteil sprach, mindestens so groß wie Großbritannien. Ich schätzte den Durchmesser dieser ziemlich kreisrunden Insel auf höchstens acht geografische Meilen.

Doch was heißt das, ein ›ganzer Erdteil‹? Mit welchem Rechte bezeichnen wir denn Europa als einen selbstständigen Erdteil? Hierüber habe ich schon früher gesprochen. Übrigens war ja gar nicht gesagt, dass es in der Fucusbank nicht noch ein weit größeres Festland gab, von dem dies hier im Verhältnis nur eine kleine Insel war.

Anderes Land war von hier aus nicht zu erblicken. Vier geografische Meilen, die ich nach jeder Seite überschauen konnte, indem dieser Berg, ziemlich in der Mitte der Insel lag, sind doch schon eine beträchtliche Entfernung. Wäre der Unterschied zwischen der hellgrünen Farbe des Seetangs und der grauen Steppe nicht so auffallend gewesen, ich hätte die Grenzen des Landes überhaupt nicht unterscheiden können. So erkannte ich auch erst nach längerem Beobachten durch das Fernrohr den freien Wasserstreifen, der sich im grünen Grunde wie ein Silberfaden um die ganze Insel herumzog, obgleich er doch mindestens einen Kilometer breit war. Dass ich da etwa auch noch mein Schiff hätte erkennen können, daran war bei solch einer weiten Entfernung natürlich nicht zu denken.

Unser nächstes Ziel war der geografisch angegebene Punkt aus Doktor Selos Hinterlassenschaft, von dem wir höchstens noch eine halbe Meile entfernt waren. Um ihn zu erreichen, mussten wir, wie gleich zu erkennen war, noch tüchtig über Berg und Tal klettern.

Ein erfreulicher Anblick erwartete uns, als wir die nächste Bergspitze erklommen hatten. Unter uns flatterten ungeheure Scharen von Vögeln, zum größten Teil wohl Möwen. Hier in der Nähe hatte uns bisher der Gebirgskamm ihren Anblick entzogen.

Ich will mich kurz fassen. Die halbe Meile gestaltete sich für uns Seeleute zu einer fürchterlichen Tour. Schluchten hinab und wieder hinaufklettern, mit Geröll bedeckte schräge Stellen überwinden — für einen Gemsjäger mochte das ja Spaß sein, für einen Bergfex, der jede Sommerferien mit dem Kraxelstock in die Alpen macht, immer noch eine Lust — wir aber waren Seeleute, nur gewohnt, das glatte Deck unter den Füßen zu haben, und das Klettern in den Wanten und in der Takelage ist denn doch etwas ganz anderes.

Zudem hatten wir wirklich auszustehen. Mehr als die Hälfte des mitgenommenen Wassers durften wir doch unter keinen Umständen verbrauchen, so lange wir nicht wenigstens ein Gerinnsel gefunden hatten, und danach sah es in dieser schrecklichen Einöde, wo kaum noch ein Grashalm gedieh, gar nicht aus. So mussten wir bereits seit heute früh mit jedem Schlucke geizen, und dabei brannte die Sonne fürchterlich, und der Schluck Wasser, der manchmal verteilt wurde, war eine warme Tunke.

Außerdem hatten wir schon längst anstatt der Stiefel nur noch Lederfetzen an den Füßen, die spitzen Steine stachen uns direkt in die nackten Sohlen.

Doch Mut! Wenn nicht alles trog, so musste sich dort unten das Ziel befinden. Wenn meine letzte Sonnenberechnung ergab, dass wir kaum noch hundert Meter davon entfernt waren.

Vor uns ging eine ziemlich schräge Fläche hinab, auch wieder mit solch verteufeltem Geröll bedeckt, und dort unten war auch eine ganz andere Felsbildung, so grottenähnlich, die gleich etwas Besonderes vermuten ließ.

Außerdem wimmelte es dort unten von Möwen und anderen Seevögeln, welche sich doch sonst nicht gern in enge Tiefen begeben. Ich ahnte gleich etwas, doch wollte ich es laut lieber nicht zu hoffen wagen, und so mochten auch die anderen denken. Hier klebten auch überall Vogelnester an den Wänden, die unteren in erreichbarer Höhe, auch zwischen Spalten im Boden waren sie geklemmt, alle mit Eiern gefüllt, an denen wir uns hätten delektieren können, wenn irgendwie Appetit vorhanden gewesen wäre.

Also hinab diesen letzten Weg!

Wir haben kaum, mehr auf dem Rücken liegend, die ersten Schritte gemacht, da knickt Blodwen mit einem leisen Schrei zusammen, um nicht wieder aufzustehen. Sie hatte sich den rechten Fuß verrenkt oder verstaucht, das Gelenk schwoll gleich ganz unförmlich an.

»Lasst mich einstweilen hier liegen, ihr müsst ja gleich am Ziele sein«, bat sie.

Daran war nicht zu denken. Blodwen hatte sich während des zweitägigen Marsches wie ein ganzer Mann oder meinetwegen auch wie ein tüchtiges Weib benommen. Kein Seufzer war über ihre Lippen gekommen.

Weshalb sie hier liegen lassen? Zurücktragen mussten wir sie doch nun sowieso, da konnte sie auch erst dort hinab, und ich dachte, dort unten Wasser zu finden. Jetzt wurde das doch ausgesprochen.

Hans, der sich gleich zu der Expedition freiwillig gemeldet hatte, war der erste, der Rat wusste, wie die Verletzte zu transportieren sei. Als ich Blodwen einmal auf meinen Arm genommen hatte, musste ihr Fuß doch mit meinem Körper in Berührung kommen, und da hatte sie schmerzlich gestöhnt.

Hans gab einem anderen, gleichgroßen Matrosen die Hand, auf diese von zwei Armen gebildete Bahre ward Blodwen gesetzt, so ging es hinab, die Lastträger von uns anderen vorn und hinten unterstützt, dass sie nicht strauchelten.

Und wie sollte das nun auf dem Rückweg werden? Wir wollten lieber noch gar nicht daran denken. Jedenfalls durfte Blodwen nicht der geringste Vorwurf gemacht werden, das hätte auch jedem von uns passieren können.

An einer flacheren Stelle wurde sie einmal abgesetzt. Als sie die Arme um meinen Hals schlang, ging es ihr einmal recht nahe.

»Richard, mir ist recht elend zumute«, flüsterte sie mit weinerlicher Stimme.

Armes Weib! Wir konnten ihr ja nicht einmal den Fuß mit Wasser kühlen. Das warme Zeug, das wir noch in den Schläuchen hatten, nützte nichts.

Weiter ging es hinab, kreischend flohen die Möwen davon, und dann konnten wir aufjubeln.

Aus einer Grotte sprang in dickem Strahle eine klare Quelle hervor und ergoss sich in ein selbstausgehöhltes Bassin, daraus abfließend und bald wieder in einer Bodenspalte verschwindend.

Ringsherum war wohl alles sehr von den Vögeln verunreinigt, aber das ziemlich große Bassin war durch den ständigen Zufluss ganz klar. Es war ein herrliches, kaltes Wasser, vergessen war mit einem Male alles.

Eine geografische Berechnung konnte ich nicht mehr machen, wir standen schon im Sonnenschatten, ich musste erst die nächtlichen Gestirne abwarten, aber gar kein Zweifel, das hier war der angegebene Punkt.

Nichts weiter als eine Quelle? Nun, in der Wüste ist Wasser manchmal kostbarer als Gold, und da war es schon wert, diese Quelle, vielleicht die einzige auf der sechzig Quadratmeilen großen Insel, durch eine geografische Ortsbestimmung festzunageln.

Doch für wen mochte das besonderes Interesse haben?

Das war für uns jetzt ganz gleichgültig.

— • —

34. Kapitel
Schrecken und Jammer

Originalseiten II.63 — 79

In der Abenddämmerung hatten wir uns in dem Bassin gebadet. Es war eine herrliche Plätscherei gewesen. Dann flammte ein Feuer auf, in den beiden mitgenommenen Kesselchen wurden Eier gekocht. Blodwen saß mit nass eingepacktem Fuße neben mir, jetzt sprachen wir von dem Rückmarsche, aber hier angesichts des plätschernden Wassers war gar nichts mehr dabei.

»Es sind ja höchstens zwei Tage, statt des schon verzehrten Proviantes nehmen wir jetzt Wasser...«

»Still, Richard!!«, unterbrach mich da Blodwen mit erhobenem Finger.

Ich lauschte, wie sie, konnte nichts hören, blickte sie an, und da erkannte ich in dem unsicheren Feuerschein, wie leidend Blodwen plötzlich aussah, außerdem so blass, obgleich sie doch heiße Tage genug hinter sich hatte, daher sonst auch eine gesunde, sonnenverbrannte Farbe besaß.

»Ich höre nichts. Was hast du denn...«

»Da — da — jawohl — ich täusche mich nicht!«

Bei Gott, jetzt hörte ich es auch — ein Heulen! Und jetzt ein heiseres Bellen!

»Das ist Achilles! Er ist mir auf der Spur gefolgt!«, rief Blodwen, und sie sollte recht behalten.

Hierzu bemerke ich, dass wir die beiden Bullenbeißer noch immer an Bord hatten, und die Mannschaft hatte nun schon so ziemlich Freundschaft mit ihnen gemacht. Die fünf Jungen, welche während der ersten Tage an Bord geboren worden, waren bald eingegangen, weil die Mutter, welche aber auf den männlichen Namen Achilles hörte oder vielmehr gewöhnlich nicht hörte, zu wenig Milch gehabt hatte.

Man konnte Blodwen nicht verdenken, dass sie die beiden Köter so in ihr Herz geschlossen hatte. Ihrer Herrin wenigstens waren sie ungemein anhänglich, sie kannten eben keinen anderen Menschen als Blodwen, wir anderen waren in ihren Augen schließlich immer noch Nullen, auch ich hätte nicht wagen dürfen, in Gegenwart eines der riesigen Tiere Blodwen nur so einen scherzhaften Schlag auf die Schulter zu geben.

Und nun war einer von Bord geschlüpft und hatte die zwei Tage lange Spur bis hierher verfolgt?

Es musste wohl sein, es war ein Hundegeheul gewesen, und Blodwen konnte sogar die Stimme ihrer beiden Lieblinge unterscheiden.

Und da kam es auch schon die schräge Fläche herabgepoltert, in Begleitung von rollenden Steinen, dann sah ich in dem unsicheren Lichte, das von unserem Feuer ausging, eine riesige Bulldogge herabgeschossen kommen, ein unfreiwilliger Salto mortale, und er war zwischen uns — ein Schnappen mit dem keuchenden Maule, aus dem die rote Zunge weit heraushing, nach der Herrin Gesicht, eine flüchtige Begrüßung, so eine Art Kuss im Vorbeistreifen, und Achilles hatte sich in das Bassin gestürzt und leckte und schleckte und schluckte.

»Das arme Tier. Wie lange mag er's wohl ohne Wasser bis hierher... da kommt auch Diomedes!«

Jawohl, ein neues Poltern, wieder kam in großen Sprüngen eine Gestalt an, aber...

Wir trauten unseren Augen nicht. Und dann durchzuckte uns alle ein furchtbarer Schreck.

Kein Hund war es, sondern eine menschliche Gestalt!

Goliath!! Goliath, nur mit einer zerfetzten Hose bekleidet, der nackte Oberkörper in Schweiß gebadet, wie aus dem Wasser gezogen, furchtbar keuchend, und hinter sich eine Blutspur ziehend!

»Goliath, um Gottes willen...«

Er schnappte, er griff in die Luft, seine blutunterlaufenen Augen rollten umher — und dann sprang er nach dem Bassin, wollte wohl bloß niederknien, konnte sich nicht halten, stürzte ins Wasser und trank mit vollen Zügen, trank, trank.

»Goliath, sprich, was ist geschehen?!«

Da hob er den triefenden Mund, hob die Arme empor.


Illustration

»Die ›Sturmbraut‹ ist gesunken!!«, schrie er mit röchelnder Stimme, und dann beugte er sich wieder hinab, um weiter zu trinken.

Es ist eigentümlich. Manchmal können einem Stunden wie Minuten vergehen, und manchmal werden Sekunden zu Ewigkeiten.

Die ›Sturmbraut‹ gesunken! Jetzt ist es mir, als hätte ich damals eine Stunde gebraucht, um überhaupt erst zu verstehen, was damit eigentlich gemeint sei, und als hätte der nackte Neger eine Stunde so bis an die Brust im Wasser gestanden, immer trinkend, trinkend.

Mit einer Stunde war da natürlich nichts. Vielleicht war ich nur fünf Sekunden so wie gelähmt.

»Die ›Sturmbraut‹ gesunken!?«, schrie ich dann.

Mit einem Male stand Goliath wieder am Rande des Bassins, mit etwas weniger keuchender Brust, und neben ihm schüttelte sich Achilles.

»Gesunken«, wiederholte Goliaths tiefe Stimme, »rettungslos gesunken.«

»Wann?«

»Heute Vormittag in der elften Stunde.«

» der Bucht?« — »Ja.«

»Durch was?«

»Unerklärlich. Ich selbst war an Bord — in meiner Kabine — da ein Stoß, gar nicht so heftig — aber sofort begann der Dampfer zu sinken — in fünf Minuten war er weggesackt, in eine für uns unerreichbare Tiefe. Die Mastspitze ist noch drei Meter unter Wasser.«

Ich stierte den schwarzen Unglücksraben noch immer wie ein Gespenst an, wollte es gar nicht glauben.

»Es — ist — nicht — möglich! Wodurch soll er denn gesunken sein? Ein Leck?«

»Es ist nur anzunehmen, dass ein Walfisch hart gerammt hat. Es trieben sich gerade Walfische in der Bucht herum.«

»Was, ein Walfisch soll solch einen eisernen Dampfer leck rammen?!«

»Er kann eine Eisenplatte eingedrückt haben, deren Nieten nicht mehr ganz fest waren. Massa, Massa, die ›Sturmbraut‹ ist gesunken!!«

Der letzte Ton hatte mich belehrt, dass es jetzt keine Zeit war, nach Ursachen zu forschen. Erst jetzt sprang ich empor.

»Und meine Jungen?«

»Alle sind gerettet!«

»Gelobt sei Gott!«

»Aber sie sind dem Tode verfallen — denn sonst konnte nichts mehr an Land geschafft werden — jetzt stehen sie dort an der Küste ohne Proviant und ohne Wasser und warten auf Eure Rückkehr!!«

Fast heulend war dies aus des Negers Munde gekommen, und plötzlich wusste ich, wie es mit denen dort stand!

Blitzschnell jagten mir Zahlen durch das Hirn.

Heute früh um elf war es geschehen, jetzt war es sieben Uhr — also schon acht Stunden vergangen — am ersten Tage waren wir sieben Stunden marschiert, allerdings sehr langsam — heute mindestens zehn Stunden Kletterweg — macht zusammen siebzehn Stunden — ich wollte im Eilmarsch nur die Hälfte gelten lassen: neun, nur acht Stunden — so weit waren wir voneinander getrennt — nun kamen aber noch die schon vergangenen acht Stunden hinzu — und dann mussten die an der Küste Wartenden doch auch erst benachrichtigt werden, hierher zu marschieren — und so lange in dieser Sonnenglut, ohne Wasser...

»Auf, die Wasserschläuche gefüllt und nach der Küste gerannt, was uns unsere Füße tragen, oder wir finden unsere Kameraden nur noch als ausgetrocknete Leichen wieder!!!«

So schrie ich, und wie jeder verstand, dass hier mit jeder einzelnen Sekunde gegeizt werden musste, das zeigte am besten, wie die vier Matrosen mit den Wasserschläuchen sofort ans Bassin sprangen, alles andere gleich stehen und liegen lassend.

»Heute früh um elf, sagst du?«, wandte ich mich noch einmal an Goliath.

»Ja.«

»Wie kannst du da schon hier sein?«

»Ich bin unaufhaltsam gerannt, so schnell wie Achilles — wie der Hund, meine ich.«

Ja freilich, dieser athletische Neger besaß auch die Schenkel eines Hirsches, er konnte sich recht wohl mit dem göttlichen Achilles vergleichen, der ja besonders auch wegen seiner Schnellfüßigkeit berühmt war.

Dann aber hatte ich auch die Zeit vorhin viel zu niedrig taxiert, wenn ich nur mit acht oder neun Stunden gerechnet hatte, da schon dieser Neger sieben gebraucht, hinter dem Hunde her.

»Einen Wassersack!«, sagte Goliath, immer noch mit heiserer Stimme. »Ich laufe sofort zurück, hole sie, dass sie schon entgegenkommen.«

Allerdings, das wäre vortrefflich gewesen.

»Das hältst du nicht aus.«

Ein trotziges Lächeln trat auf den pechschwarzen Zügen hervor.

»Ich nicht?«

»Findest du den Weg bei Nacht?«

»Ich finde ihn.«

»Sonst nimm den Hund mit, er führt dich die Spur zurück.«

»Und Ihr?«

Er hatte recht. Wir gebrauchten die Spürnase des Hundes jedenfalls nötiger als dieser Neger, der mir jetzt ganz wie ein wilder Zulu vorkam, der nichts weiter kennt als Krieg und Jagd und aus jeder Fährte zu bestimmen weiß, wie alt das betreffende Tier ist.

Nun aber waren auch Worte genug verschwendet gewesen. Goliath hing sich einen gefüllten Wassersack auf den Rücken, und mit leichten Sätzen, als wäre er noch ganz frisch, sprang er schon die Böschung hinauf, war in der Nacht verschwunden.

Auch wir hatten schon jeder einen der ziemlich gewichtigen Wassersäcke auf dem Rücken. Dazu kamen noch drei leer gewordene Proviantsäcke, die ebenfalls wasserdicht waren.

Da fiel mein Blick auf Blodwen.

Mein Gott, wie hatte ich das nur vergessen können?

»Bei der Lady muss natürlich jemand bleiben!«

Schon machte Hans eine Bewegung, als wolle er sich der beiden Säcke wieder entledigen, aber er tat es nicht, bekam einen ganz roten Kopf.

Er sollte auch nicht dazu kommen.

»Auf keinen Fall bleibt jemand bei mir«, sagte Blodwen, und dabei beharrte sie, da war an gar keinen Widerstand zu denken.

Die Gründe, welche sie anführte, waren ja allerdings auch stichhaltig.

Einmal kam es jetzt darauf an, den uns Entgegenkommenden soviel wie möglich Wasser zuzuführen, denn das würde nicht lange dauern, dann mussten sie dem Verschmachtungstode nahe sein. Und zweitens mussten sie das Wasser eben so schnell wie möglich bekommen, vielleicht handelte es sich nur um einen einzigen Becher, der konnte schon ein Menschenleben retten, und blieb einer zurück, so hätte ein anderer drei Wasserschläuche tragen müssen, und das war eine große Last, der kam dann nicht mit uns fort... kurz und gut, hier handelte es sich um Leben und Tod von sechsundzwanzig Menschen, und eine Gefahr für die zurückbleibende Blodwen gab es hier ja nicht.

So trug ich sie schnell noch unter einen Felsvorsprung, falls es regnen sollte, wonach der Himmel nämlich fast aussah, was den Schiffbrüchigen ja nun allerdings ausgezeichnet zupasse kommen würde, ein anderer trug schon die noch brennenden Äste herbei, die anderen sammelten Holz, einen Revolver und Patronen hatte sie selbst, ich ließ noch mein Gewehr zurück, und nun fort, fort!!

Was für einen Marsch wir in dieser stockfinsteren Nacht gemacht haben, kann ich gar nicht schildern. Es war ein fortwährendes Straucheln und Stürzen. Ein Glück nur, dass der Hund, den ich am Halsband hielt, meiner Aufforderung gehorchte und Goliaths Spur willig rückwärts verfolgte. Für diesen Neger hatten die beiden bissigen Köter überhaupt eine gewisse Neigung gewonnen. Ferner ein Glück, dass der Bullenbeißer eine ziemlich feine Nase besaß, und dass er mich nicht mehr direkt biss. Schlagen oder nur unfreundlich ansprechen hätte ich ihn freilich nicht dürfen.

Nein, war das ein Marsch in dieser stockfinsteren Nacht! Noch heute wundert mich, dass ich damals nicht sämtliche Knochen brach. Immer auf den blutigen Knien und auf der einen blutigen Hand, die andere am Halse des Hundes, und der riesige Köter schleifte mich wie ein Kind über die spitzen Steine weg.

Dabei hatte mich Beyer auch noch hinten gepackt, und der lag wohl auch mehr auf dem Bauche als er auf den Füßen stand, und so mochte es allen anderen gehen, die sich so Hand in Hand fortbewegten.

Mehrmals stürzte ich auch wirklich, verlor gleich den Boden unter den Füßen, schlug mit dem Kopfe auf, die hinter mir Gehenden auf mich drauf. Aber alles never mind!

»Aufgepasst auf die Wassersäcke!!«

»All right, Käpten!«

Das war unsere einzige Sorge.

Endlich, endlich brach die Morgendämmerung an. Wir konnten uns betrachten. Na, wie wir aussahen, das ist gar nicht zu schildern. Am Körper nur noch ein paar Fetzen, und sonst alles eine blutige Schmiere, der ganze Körper schon mit Grind bedeckt. Ingenieur Beyer hatte überhaupt keine Hose mehr, nicht mehr eine Andeutung davon, der schon ältliche Knabe paradierte mit seinen nackten Storchbeinen, und dabei versicherte er, dass er auch Unterhosen angehabt hätte. Und das Hemd war ihm bis zur Brust abgerissen.

Das sagt mehr als alles andere, was für ein Marsch das gewesen war!

Aber die Hauptsache war doch, dass wir sonst noch intakt waren, noch marschieren konnten — und mehr noch, dass die Wassersäcke unverletzt waren. Noch keiner hatte einen Schluck davon genommen.

Jetzt, da es hell wurde, lag vor uns die freie Ebene, zwischen den Hügeln hindurch bequem zu begehen. Dafür aber begann die Sonne wieder zu brennen. Aus dem Regen war nichts geworden.

Wir marschierten unverdrossen in der Sonnenglut weiter, und wenn jemand seinen Durst unbedingt löschen musste, so tat er es offenbar mit einer gewissen Scham, weil er dabei an seine Kameraden dachte.

Da, es war in der Mittagsstunde, vielleicht noch drei Stunden von der Küste entfernt, brach Achilles in ein röchelndes Heulen aus, es wurde beantwortet, noch röchelnder, hinter einem Hügel brach Diomedes hervor, dem man gleich an dem klappernden Felle ansah, wie es mit ihm stand, und dann kamen die ersten des Zuges, von Goliath geführt.

Auch ihnen sah man an, was sie schon ausgestanden hatten, nur dass sie nicht wie die Hunde die Zunge heraushängen ließen.

Auch den Klabautermann hatten sie schnell von dem sinkenden Schiff heruntergebracht; der Bootsmann, der seit einiger Zeit wieder völlig hergestellt war und sich mit dem zweiten Bootsmann, Goliath, ganz gut vertrug, hatte ihn sich auf den Buckel geschnallt. Ich unterdrückte jetzt und später jede Bemerkung, dass dieser heilige Klabautermann ja doch nicht das Schiff vor dem Untergang hatte bewahren können, und die Matrosen, wie ich dann hörte, legten sich das einfach so aus, dass sie ohne den Klabautermann eben noch einen ganz anderen Untergang erlebt hätten. Denn was untergehen muss, philosophierte mir dann der Bootsmann vor, das muss eben untergehen, und die Hauptsache ist nur, dass man dabei selbst mit heiler Haut davonkommt — und da hatte er ja auch ganz recht.

Zunächst wurden natürlich die Wasserschläuche geöffnet. Ich will nicht gerade von einem Tropfen auf den heißen Stein sprechen, jeder Mann bekam eine tüchtige Portion — aber zu einer zweiten langte es nicht, und jeder hätte gern mehr getrunken.

Ich hatte zuerst die Absicht, mich allein nach der Bucht zu begeben, die Unglücksstelle zu besichtigen. Das gesunkene Schiff sollte in dem klaren Wasser deutlich zu erkennen sein.

Aber wir waren von der Bucht noch gut drei Stunden entfernt, und ich ohne einen Tropfen Wasser hin und dann die Weitermarschierenden wieder einholen? Die hatten ja allerdings auch kein Wasser mehr — und eben deswegen gab ich meine Absicht auf, wir hatten noch längst nicht den Tod des Verschmachtens hinter uns.

Vorwärts, den Bergen zu! Unterwegs ließ ich mir von den Steuerleuten und wer sonst noch ausführlich erzählen konnte, Bericht erstatten. Aber ich bekam nichts anderes zu hören, als was mir schon Goliath mitgeteilt hatte, so kurz sich dieser damals auch gefasst.

Über die Hälfte der Mannschaft war an Land gewesen, mit Ausgraben von Ambra beschäftigt, mit der sie schon ein gut Teil des Zwischendecks gefüllt hatten, als sie plötzlich das Schiff sich senken sahen, bis es ganz verschwunden war — und wer nicht gerade hingesehen hatte, durch das Schreien der an Bord Befindlichen nicht aufmerksam gemacht worden war, der hatte überhaupt nichts davon bemerkt. Es sollte nicht einmal fünf Minuten gedauert haben.

Und die an Bord Befindlichen konnten auch nichts weiter sagen, als dass sie eine starke Erschütterung verspürt hatten, von einem heftigen Stoß kaum zu sprechen, nur ein Ruck — und zusehends sank das Schiff. Auch nicht das Geringste war zu retten gewesen, kein Kleidersack, von Schiffspapieren, wozu der erste Steuermann, dem ich die Schlüssel übergeben, erst den Panzerschrank hätte öffnen müssen, gar nicht zu sprechen.

Die Schuld schoben sämtliche auf die Walfische, welche sich, heftig spielend, wahrscheinlich der Liebe nachgehend, in der Bucht aufgehalten hatten, und dann weiter, dass sich eine Platte gelockert hatte, wenn sie sonst auch noch wasserdicht gewesen war. Diese große Platte war von einem Walfisch eingedrückt worden, daher das so furchtbar schnelle Sinken, das Wasser war in mächtigem Strome eingedrungen.

Ein Glück war gewesen, dass sich niemand im Heiz- und Maschinenraum aufgehalten hatte, er hätte schwerlich Zeit gehabt, sich nach oben zu retten.

»Jungens«, sagte ich, »die Hauptsache ist, dass wir alle noch mit heilen Knochen beieinander sind.«

»Un dat jeder sien Piep un Tobak un Rietstück hädd«, entgegnete ein Matrose schmunzelnd, und wie auf Kommando zeigte mir jeder seine Pfeife und mehr oder weniger Tabak und wohl auch solchen zum Kauen und außerdem Streichhölzer. Eine Stunde zuvor hatte der Steuermann nämlich Tabak und Streichhölzer verteilt, für eine Woche.

Für eine Woche? Würde da der Tabak ausreichen?

Ich hatte unterwegs Zeit, unsere Lage zu überlegen. Ja, heile Knochen hatten wir noch, aber sonst... es sah verdammt trostlos aus!

Unser Aufenthalt konnte nur dort an der Quelle sein. Eier hatten wir ja zu essen — vorläufig! und schließlich ist auch das tranige Möwenfleisch zu verdauen.

Das schlimmste war, dass wir gar keine Umschau halten konnten. Ja, wir konnten wohl immer eine Wache auf einen Berggipfel postieren, aber von dort war auch mit dem besten Fernrohr kein nahendes Schiff zu erspähen, und Posten an der Küste konnten wieder kaum mit Wasser versehen werden, abgesehen davon, dass es sich um eine Küstenlänge von zirka dreißig geografischen Meilen handelte.

Und nach was für einem Schiffe sollte denn hier in der Fucusbank ausgespäht werden?

Karlemann! Das war unsere einzige Hoffnung, dass, wenn wir nicht zurückkamen, er sich selbst auf die Suche machen würde.

Aber hatten wir für die Expedition nicht ein ganzes Jahr angesetzt? Ich hatte mit ihm deswegen überhaupt gar nichts ausgemacht.

O, o, das sah böse, böse für uns aus!

Durch eigene Kraft forthelfen? Ein Fahrzeug bauen? Bäume gab es ja genug, schließlich musste man auch mit Messer und Feuer und ohne Nägel fertig werden, wir wollten schon einen Kahn zusammenflicken — aber um uns herum war die verdammte schwimmende Graswiese, deren zärtliche Anhänglichkeit wir doch schon zur Genüge kennen gelernt hatten.

Es begann zu regnen. So angenehm das auch für uns war, so ermahnte mich dies doch, nicht nach der Taube zu greifen, wenn man einen Sperling in der Hand hält.

»Um Gottes willen, Jungens, schont und sichert eure Streichhölzer!«

Mit diesem Regen war nicht viel anzufangen, in den ausgebreiteten Öljacken, die einige Matrosen getragen hatten, wollte sich nichts ansammeln. Er hörte auch bald wieder auf, die Sonne kam von neuem hervor — wir litten ganz schmählichen Durst.

Ich hätte ja gern einmal geruht, ich selbst war ja todmüde, aber ich dachte an Blodwen.

Vorwärts, vorwärts! Bald gab es ja Wasser und Eier und Fleisch genug, dann konnten wir vielleicht wochenlang schlafen, gleich bis ins späte Alter in den Tod hinüber, konnten einander hier begraben. —

Am Abend, schon zwischen den Bergen, schleppten wir uns nur noch so hin. Und mit Anbruch der Nacht kam es endlich, was schon lange in der Atmosphäre gelegen hatte: Orkan und Wolkenbruch.

Es war schauderhaft schön. Gewiss, dieses Heulen und Pfeifen und Blitzen und Donnern und Prasseln von hühnereiergroßen Regentropfen — das war alles ganz imposant.

Aber so etwas muss man sich lieber auf einem Gemälde oder im Theater ansehen, wenn hinter den Kulissen der Donner mit der großen Pauke markiert wird, und der Regisseur bläst mit Kolophonium ellenlange Blitze.

Für uns, die wir alle auf einem Klumpen zusammengeballt dalagen, war dies weniger imposant, noch weniger schön. Und ich dachte an Blodwen.

Am nächsten Morgen brannte natürlich kein einziges Schwefelhölzchen mehr. Aber dafür brauchten wir auch keinen Durst mehr zu leiden. Wenn wir nicht die gelbe Brühe trinken wollten, die überall herabrieselte, brauchten wir uns nur gegenseitig die nassen Kleider auszulutschen. Das heißt vorausgesetzt, wer noch Kleider hatte! Bei mir war nur wenig noch auszulutschen, bei Herrn Beyer überhaupt nichts mehr, der hatte sich aus seinem letzten halben Hemdchen einen Turban gemacht, hatte es sich zum Schutze seiner Glatze um den Kopf gewickelt.

Ich weiß nicht — gerade bei solchen Gelegenheiten, wenn es mir einmal recht schlecht geht, kann ich lustig werden. Wirklich, da sehe ich alles mit humoristischen Augen an. Ich suche mit Absicht Komik, finde sie, und so weiß ich mich immer zu trösten, werde wieder lustig.

Nur damals wollte es mir nicht recht gelingen. Ich dachte an Blodwen.

Und es goss noch immer in Strömen. Am Mittag hatte ich an der Quelle zu sein gehofft, aber der Weg war so schlüpfrig, dass wir nur wie Schnecken vorwärts kamen.

So brach schon wieder die Dämmerung herein, ehe ich mich als erster des Zuges der Quells näherte. Und jetzt quatschte es wieder mit Macht vom Himmel herab, wenn auch ohne Sturm.

»Blodwen!!«

Ein leises Wimmern.

Mein Herzschlag setzte plötzlich aus.

Da lag sie. Am Rande des Wasserbassins. Der Regen prasselte auf sie herab.

»Blodwen, um Gottes willen, was machst du da?«

Da bewegte sie sich etwas.

»Richard, ach, mein Richard!«, wimmerte sie mit schwacher Stimme.

Gelobt sei Gott, sie lebte wenigstens noch!

Ich stand neben ihr, beugte mich zu ihr herab.

»Aber Blodwen, was liegst du hier? Warum bist du nicht in der...«

Das Wort erstarb mir.

Warum hatte sie denn ihre Brust ganz entblößt?

Und was hatte sie denn da an der Brust für ein kleines Bündel, das sie mit beiden Händen festhielt?


Illustration

Und das kleine Bündelchen bewegte sich, und jetzt ein piepsendes Stimmchen...

Da ging mir die Erkenntnis auf!

Und ich griff in die Luft, um mich an etwas zu halten, und da ich nichts fand, taumelte ich.

O, Jammer, o, grenzenloser Jammer!!

Die stolze Blodwen — die Lady von Leytenstone — die Erbin von Millionen und Abermillionen und noch Besitzerin derselben — aufgewachsen in einer Frauenkemenate, vor jedem Luftzug beschützt — hier in, Sturm und Wolkenbruch, auf der nackten Erde liegend, ohne jede menschliche Hilfe — so hatte sie einem Kinde, meinem Kinde das Leben geschenkt!

— • —

35. Kapitel
Der Stern von Bethlehem

Originalseiten II.79 — 87

Erlasse mir der Leser jede Schilderung, jede Erwägung, was da vorangegangen war, wie das geschehen, wie das unerfahrene Weib fertig geworden.

Mit ihrer letzten Kraft hatte sie sich nach dem Bassin geschleppt, in der Nacht, im Wolkenbruch, hier hatte sie stundenlang gelitten, hier hatte sich der Fluch des Paradieses an ihr erfüllt — dann war sie mit ihrem verrenkten Fuße nicht fähig gewesen, sich zurückzuschleppen — hier hatte sie im strömenden Regen die ganze Nacht und auch noch den ganzen Tag verbracht, das Kind an der Brust... genug!

Der Fluch des Paradieses! Dieses stolze Weib hier hatte ihn bis zur letzten Neige auskosten müssen, die Wölfin beneidend, die sich doch wenigstens noch im Schnee zu betten weiß!

Genug!

Es war ein Mädchen.

Es konnte nur ein Siebenmonatskind sein. Es war lebensfähig und blieb am Leben, obgleich wir ihm anfangs nur Eier einflößen konnten. Denn eine Woche rang die Mutter, mein Weib, mit dem Tode. Dann erholte sie sich wieder. Auch sie sollte am Leben bleiben. Und dann konnte sie es selbst stillen.

Auch wir sollten unser Leben fristen können.

Aber ach, was habe ich in diesen vier Wochen durchgemacht.

Und jeder meiner Jungen hat mit mir gelitten — nicht körperlich, sondern seelisch. Aber das äußert sich auch körperlich, im Gesicht. Ich bin in diesen vier Wochen um vier Jahre gealtert, obgleich wir uns täglich mit kräftiger Nahrung sättigen konnten.

Über unsere Lebensweise habe ich wenig zu erzählen.

Nach dem Trocknen zeigten sich einige Streichhölzer noch gebrauchsfähig. An Holz war hier kein Mangel, es wurde ein beständiges Feuer unterhalten, und sonst wurden eben Baumstämme von weiter her geschleift, die zerschnittenen Stücke am Feuer schon vorher getrocknet.

Ja, mit den Messern fällten und zersägten wir die Baumstämme, die stärksten. Wir hatten ja Zeit dazu.

Dann dienten als Feuerungsmaterial auch die vielen Holzspäne, welche beim Schiffbau abfielen. Denn wir bauten emsig an einem Boote, ohne noch zu wissen, wie wir es in dem grünen Wiesenmeere dereinst verwenden könnten. Aber so untätig herumzulungern, als Seeleute, auf einer Insel, wo es Bäume gab, das wäre doch schmachvoll gewesen.

Auf der höchsten Bergspitze war ständig ein mit Wasser versehener Matrose postiert — zwecklos. Bei dieser Entfernung war ja auch nicht das größte

Schiff zu sehen. Dennoch, wir taten, was wir tun konnten.

Unmöglich aber war, Wachen an der Küste zu postieren, einmal wegen deren Länge, dann wegen der Wasserfrage.

Wie sollte das enden? Durften wir auf Karlemann hoffen? Wir wussten es nicht, dachten nicht daran, sprachen wenigstens nicht darüber. Wir arbeiteten am Boote und vollbrachten da mit Holzpflöcken anstatt Nägeln eine kleine Kunstleistung.

An Nahrung war also kein Mangel. Die uns nächsten Vögel wurden allerdings scheu, aber da gab es noch viele Tausende von anderen Nestern, wenn diese auch schwerer zu erreichen waren oder einen weiteren Weg erforderten. Als die Möwen zu legen aufhörten, machten sich andere Seevögel ans Brutgeschäft, und war ihr Fleisch völlig ungenießbar, weil mit den Zähnen nicht zu zerreißen, so gab es doch eine kräftige Bouillon. Aber das lässt sich alles machen, da wurde es einfach mit Messern zu Ragout zerhackt, und schmeckte es tranig, so versicherten wir gegenseitig, dass Walfischtran noch viel, viel traniger schmecke.

Ich machte mich einmal mit Goliath auf den Weg nach der Bucht, jeder mit einem Wassersack behangen.

Ja, da lag die ›Sturmbraut‹, handgreiflich. Boote, Wasserfässer — alles in tadelloser Ordnung. Aber durch Tauchen hätte ich höchstens die Mastspitze erreichen können. An Deck wäre auch kein professioneller Perlentaucher gekommen.

Ja, hätten wir unsere Taucherkostüme hier gehabt. Aber die lagen wohlgeborgen dort unten. —

Es war in der dritten Woche. So genau kann ich das ja nicht bestimmen, wir waren ganz aus dem Kalender gekommen. Da hörte ich eines Nachts im Traume einen Schuss fallen.

Darob erwachte ich. Und es war kein Traum gewesen, oder auch die anderen Schläfer hätten so träumen müssen.

»Die Wache hat einen Signalschuss abgegeben!«

Ich Hals über Kopf in der Stockfinsternis hinauf.

Hierbei muss ich bemerken, dass die Quelle nicht etwa im Tale lag. Man könnte auf diese Vermutung kommen, weil ich erzählt habe, wir hätten zu ihrer Erreichung erst tief hinabklettern müssen.

Das war aber nur eine Schlucht gewesen, welche schon auf dem Gebirgskamm lag. Wie hoch wir uns befanden, kann ich nicht sagen, ich hatte kein Barometer bei mir. Tausend Meter mindestens. Und so war der Berggipfel, auf dem die Wache postierte, gar nicht mehr so hoch, in einer Viertelstunde hatte man ihn erklommen, wobei noch die vielen Umwege in Betracht zu ziehen sind, sodass man einen Schuss aus dem Revolver, mit dem der Posten ausgestattet war, noch recht gut hören konnte.

Ich kannte den Weg auch im Finstern, holte mir nur einmal ein blutiges Knie, und ich war auf der freien Höhe.

Und da — und da — ich war von dem Matrosen noch entfernt, er hatte mir noch nichts zugerufen — da sah ich es schon allein — da sehe ich in weiter, weiter, nordwestlicher Ferne aus dem Meere majestätisch eine grüne Leuchtkugel zum nächtlichen Himmel emporsteigen — und nach einer Weile folgt eine gelbe — und dann eine weiße — und dann gleichzeitig zwei blaue — und dann wieder eine rote...

Karlemann!! Er kommt, er sucht uns!

Ja, hatten wir denn aber Karlemann von Westen zu erwarten?

Es hätte ja sein können, dass er schon die ganze Insel umfahren...

»Käpt'n, seid Ihr hier?«, rief mich jetzt der Posten an.

»Hier!«

»Die signalisieren!«

»Das merke ich!«

»Die signalisieren mit einem anderen Schiffe. Dort — dort — jetzt fangen die wieder an!«

Bei Gott! Dort, wohin ich blickte, setzten die Leuchtkugeln aus, dafür aber stieg weiter südlich davon, viel weiter, vielleicht, wenn ich irgendwie schätzen durfte, zehn Seemeilen davon entfernt, eine rote Rakete zum Himmel empor, platzte, und wie ein Stern blieb am Firmament eine Leuchtkugel schweben.

Es war das Antwortzeichen gewesen. Hier signalisierten zwei Schiffe.

Das Antwortzeichen! So klügelte ich nüchtern aus. Dieser einfache Matrose wusste mich sonst so phantastischen Gesellen diesmal zu übertreffen.

»Heute ist Weihnachten«, sagte er, als die weiße Leuchtkugel noch immer am finsteren Himmel schwebte, minutenlang.

»Weihnachten?«, wiederholte ich erstaunt.

»Ja, ich habe es mir vorhin ausgezählt — ich hatte eine Marke — am dritten ist das Mädel geboren, und heute ist es gerade drei Wochen alt — heute ist heiliger Abend.«

Er hatte es mit etwas zitternder Stimme gesagt, und mir stieg es plötzlich siedend heiß zum Herzen empor.

Ich Narr hielt es für Schwäche, wollte es von mir schütteln.

»Aber Karlemann kann das nicht sein«, sagte ich.

»Nein, das ist der Stern von Bethlehem.«

Da weinte ich leise.

Und es war einer der rohesten Matrosen gewesen, der dies gesagt.

Doch vorbei! Gewiss, für uns war es der Stern von Bethlehem, der Stern des Heils, uns mit stummer Sprache Rettung zuflüsternd.

Er war endlich verloschen. Und kein neues Signal wollte kommen, hier nicht und dort nicht.

»Haben sie schon vorher signalisiert?«

»Als ich schoss, ging die dritte Leuchtkugel empor, und dann kamen noch viele nach, bis ich Euch bemerkte.«

»Dort im Norden?«

»Nein, erst fing's im Süden an, wo jetzt zuletzt die weiße Kugel kam.«

»Auch mit farbigen Kugeln?«

»Ja. Ich zählte neun Kugeln. Aber die Reihenfolge kann ich nicht mehr sagen.«

»Und dann?«

»Dann antwortete der Norden mit dreizehn Kugeln. Da wart Ihr schon oben. Und jetzt hat der Süden wohl das Schlusszeichen gegeben — nein, doch nicht!!«

Das Leuchtkugelspiel fing auf beiden Seiten noch einmal an, dann zwei weiße Doppelzeichen, und dann kam nichts mehr, obgleich ich noch über eine Stunde wartete.

Ich hatte die farbigen Leuchtsignale ziemlich gut im Kopfe, hatte aber kein Wort bilden können. Dann war es also eine Geheimsprache.

»Wie weit schätzest du die Entfernung?«, fragte ich den Matrosen, einen ausgewitterten Seebären, der sich auf so etwas verstand.

»Käpt'n, das ist schwer zu sagen. Die beiden Stationen sind mindestens zehn Meilen auseinander.«

»Und von hier entfernt?«

»Die nördliche mindestens dreißig, die andere mag etwas näher sein.«

Genau so hatte auch ich geschätzt.

Ich hieß den Matrosen gut aufpassen und begab mich wieder hinab. Obgleich der Untergang des Schiffes den Musterkontrakt aufhebt — allerdings noch nicht in den Rettungsbooten — herrschte bei uns noch eine stramme Disziplin, wozu meinerseits kein Wort nötig gewesen war. Das mag mancher selbstverständlich finden, ist es aber doch nicht. Gesetzlich war ich gar nicht mehr der allmächtige Kapitän.

Indes ein anderer Gedanke war bei meinen Jungen gar nicht aufgestiegen, auch nicht bei den Offizieren, und so hatten sie ruhig gewartet, bis ich zurückkam.

Denn es wäre doch sehr verzeihlich gewesen, wenn alle, sobald der Posten den Signalschuss abgegeben, den Berg hinaufgestürmt wären, um zu sehen, was es gäbe.

Nichts von alledem. Ich hatte niemanden zum Mitgehen aufgefordert, und sie warteten — allerdings innerlich wohl nicht so ruhig.

Ich teilte das Erlebte mit lauter Stimme mit, war bereit, eines jeden Meinung zu hören.

»Das sind Schiffe.«

»Es kann auch noch eine andere Insel geben, vielleicht gar bewohnt.«

Vermutungen, nichts weiter. Sie hatten keinen Zweck. Eher konnte ich mich mit Blodwen im Geheimen darüber unterhalten. Die Leute brauchten nichts davon zu wissen, dass ich hier schon einen Vorgänger vermutete, der ab und zu dieser Ambrainsel einen Besuch abstattete, wenn wir auch noch keine Spur davon bemerkt hatten.

»Richard, da wir nun einmal darüber sprechen — mir ist schon manchmal ein Verdacht aufgestiegen.«

»Welcher?«

»Du sagtest doch damals, als wir die geografisch bestimmten Punkte aufsuchten, wo wir etwas versenkt vermuteten, aber keinen Grund fanden — dieser rätselhafte Mann könnte vielleicht imstande sein, dort hinabzutauchen.«

»Nun, und?«

»Könnte ein Taucher nicht unser Schiff angebohrt haben, um uns untergehen zu lassen oder uns hier auf dieser Insel gefangen zu halten, auf dass der Wisser dieses Geheimnisses keine Mitwisser hat, oder dass wir den Schatz doch nicht ausbeuten können?«

Sie sprach aus, woran auch ich schon gedacht hatte!

Das wäre aber furchtbar für uns, dann wäre das kein Stern des Heils gewesen, er wäre von unseren Feinden ausgegangen!

Doch das waren ganz leere Vermutungen, auf die ich mich niemals einlasse.

Immerhin, es war doch besser, die Leute lieber nicht in alles einzuweihen, eben aus diesen Gründen, welche nur die Hoffnung vernichten konnten, und wer noch Hoffnung hat, geht nicht zuschanden.

Wichtiger war die Beratung, ob ein Feuer oben auf dem Berge und während des Tages eine Flagge Zweck habe.

Für ein an der Küste vorüberfahrendes Fahrzeug sicher nicht. Von der Küste aus konnte man kein Feuer mehr erkennen, das hier auf dem in der Mitte der Insel liegenden Berge brannte, wenigstens nicht solch ein Feuer, wie wir es zu nähren vermochten, und wenn wir auch ganze Baumstämme hineinwarfen.

Raketen, das ist etwas ganz anderes, das ist eine besondere Brandmischung. Schon damals hatte man etwas Ähnliches wie das heutige Magnesium, es wurde Leuthocin genannt, der Hauptbestandteil war übrigens ebenfalls Magnesium, welches damals nur noch sehr teuer war.

Aber wenn die Insel nun doch schon bekannt war und einmal betreten wurde?

Ja, wir hatten etwas versäumt. Von jetzt an sollte bei Nacht auf der Bergspitze ein großes Feuer unterhalten werden, bei Tage eine Flagge oben wehen, außerdem immer noch ein Offizier oben sein.

So geschah es. Zwecklos! Bis zur übernächsten Nacht! Da bekamen wir wenigstens wiederum etwas zu sehen.

Ich selbst hatte gerade die Offizierswache übernommen, als ich abermals eine blendendweiße Leuchtkugel aufsteigen sah.

Gleich beim ersten Male hatte ich mir die Richtungen mittels des Kompasses äußerst genau gemerkt, auch durch gedachte Linien und andere Hilfsmittel markiert — Sterne waren damals nicht zu sehen gewesen — und so wusste ich jetzt ganz bestimmt, dass die Leuchtkugel diesmal noch südlicher aufstieg.

Und da kam nördlich das weiße Gegenzeichen, und das stieg genau von derselben Stelle auf, wo ich damals zuerst das bunte Leuchtkugelspiel beobachtet hatte.

Aus der Verrückung des einen Punktes und dem Stehenbleiben des anderen auf ein Schiff und auf festes Land zu schließen, wäre allerdings voreilig gewesen.

Genug, wiederum begann zwischen den beiden Signalstationen das farbige Leuchtkugelspiel. Sehr interessant anzusehen, sehr tröstlich für uns, in diesem sonst so toten Wiesenmeere noch andere Menschen zu wissen, welche sogar schon mit Leuchtfeuern signalisieren konnten — im Übrigen aber ganz nutzlos für uns.

Dies war das zweite Mal gewesen, und ein drittes Mal sollten wir nichts von dieser nächtlichen Signalisiererei gewahren.

Wir bauten mit Emsigkeit an unserem Boote. Solange dies nicht fertig war, hatte es gar keinen Zweck, über einen Befreiungsversuch zu sprechen.

— • —

36. Kapitel
Wir werden entdeckt

Originalseiten II.88 — 102

Jener Matrose hatte mich wieder in den Kalender hineingebracht. So wusste ich, dass es Ende der vierten Woche unseres Insellebens oder der einunddreißigste Dezember war, als ich eines schönen Morgens Vogelnester nach Eiern absuchte.

Ich hatte es auf eine besondere Art von Möwen abgesehen, welche die schmackhaftesten Eier liefern, dafür aber ihre Nester an schwer zugängliche Stellen kleben, das heißt, mehr die freie Luft lieben.

Doch lebensgefährlich war meine Kletterei durchaus nicht. Nur unangenehm. Nämlich deshalb, weil meine Haut auch gar nichts mehr vor den spitzen Steinen schützte, welche auf dieser gesegneten Insel reichlich wuchsen.

Denn schon seit zwei Wochen bestand mein ganzer Anzug aus einer defekten Bauchbinde. Und ich war der Kapitän! Das sagt wohl genug, wie es mit unserer Garderobe aussah. Wir gingen alle noch viel tiefer dekolletiert als die Hofdamen. Sagen wir gleich: wie Adam. Nur dass Adam ein Feigenblatt anhatte, meine Jungen ein Stück Holz vorzogen. Von wegen Blodwens. Und eine Grasflechterei wäre doch gleich wieder in die Brüche gegangen.

Dieser Kleiderschwund kam eben durch die ständige Suche nach Eiern und durch die verdammten spitzigen Steine, die sich in jedes Fetzchen, das noch auf dem Körper flatterte, verliebten.

Wir hatten ja im Kleiderschrank noch ein paar gute Sonntaglumpen hängen, aber die sollten eben für bessere Zeiten aufgehoben werden, wenn wir wieder in die Gesellschaft eingeführt wurden.

Dann war doch auch das Kind zu versehen gewesen, mit solchen Dingern, welche immer nass sind, wenn sie nicht auf der Leine hängen. Auch Kleidchen hatten geliefert werden müssen, und Blodwen selbst hatte mit ihrer eigenen Garderobe nicht viel aushelfen können, weil ihr Unterrock schon als Flagge dort droben auf dem Berge wehte.

Die ersten beiden warmen Kleidchen hatte der Koch geliefert. Dieser besaß nämlich ein Paar unverschämt dicke Waden, und der Mann der Kombüse trug trotz seines warmen Aufenthaltsorts auch unterm Äquator immer die dicksten Wollstrümpfe.

Nun brauchte von diesen Strümpfen bloß unten die Socke abgeschnitten zu werden, und die Erstlingskleider waren fertig, unser Kindchen brauchte nur hineingesackt zu werden. Der linke Strumpf war für Alltags, der rechte Strumpf war das Sonntagskleid.

Aber dabei blieb es nicht. Der Segelmacher schneiderte für unser Kindchen aus einem Hosenboden, einem Jackenärmel und einem Westenrückenstück ein perfektes Kleidchen zurecht, besetzt mit Bändchen und Schleifchen, deren Ursprung mir ein Rätsel geblieben ist, und der dämliche Fritze lieferte unserem Kindchen aus Lederfetzen ein Paar Schuhchen, die er in jedem Schaufenster hätte ausstellen können.

Für kritische Leser und mehr noch Leserinnen sei hierzu bemerkt, dass unser Kindchen nach englischen Sitten aufgebracht wurde, und in England weiß man nichts von Wickelbett oder Steckkissen oder dergleichen. Das Wurm kriegt sofort ein Tragkleid und Stiebeln. Tatsache, das ist nicht etwa Scherz. Freilich wird so ein englischer Säugling, wie ich erst später erfuhr, fest gewickelt, was wir vergaßen, weil wir eben nichts davon wussten.

Nun, unser Kindchen bekam deswegen noch keinen Buckel. Der Leser dürfte es schon herausgehört haben, unser Kindchen.

Einen Namen hat das Mädel niemals bekommen. Es war und blieb Unserkindchen. Und wenn man das in ein Wort schreibt, so ist das schließlich doch ebenfalls ein Name.

Was mich anbetrifft, so konnte ich mich niemals recht als Vater fühlen. Ich hatte immer eine Heidenangst, wenn ich das gebrechliche Dingelchen einmal anfassen musste. Das überließ ich lieber den anderen. Es war ja auch ›unser Kindchen‹. Wirklich, ich glaube nicht, dass ich mich jemals zum Familienvater geeignet hätte. Deshalb war ich ja auch nicht Pastor geworden.

Im übrigen war es ein sehr hübsches Mädchen, trotz der frühen Geburt ganz stramm. Und klug! Matrose Pieplack war der einzige, der noch mit einer Teerjacke einherstolzierte — freilich ohne Hosen — und als Pieplack unser Kindchen zum ersten Male auf seinen nackten Knien reiten ließ, da hatte unser Kindchen sofort weg, was eine Tasche zu bedeuten hat, gleich hatte es das Händchen in der Tasche, und seitdem gab es sich beständig Mühe, auch bei den anderen Taschen zu finden, was bei unserer Garderobe nun freilich schwierig war.

Schließlich hier gleich noch ein Wort über Blodwen.

Sie ging natürlich ganz in der Pflege ihres Kindes auf. Natürlich? Nun, es soll Mütter genug geben, bei denen dies nicht so natürlich ist. Und ich hatte mir die Lady von Leytenstone nie als Mutter vorstellen können, ja, ich hatte gleich direkt zu zweifeln gewagt, dass Blodwen sich viel um ihr Kind kümmern würde.

Ich hatte ihr schweres Unrecht getan. Sie war die treueste, aufmerksamste Mutter. Ja, das war sie, aber...

Die treueste, die aufmerksamste Mutter, sagte ich. Aber auch die zärtlichste?

Man konnte nicht das Gegenteil merken; was ist denn mehr zu verlangen, als dass eine Mutter Tag und Nacht um ihr Kind besorgt ist? Aber...

Ich kann mich nicht ausdrücken. Es war ein Unterschied dabei. Es fehlte doch etwas. Mit lachenden Augen blickte sie das Kind nie an, nur immer mit tiefernsten, oder mit traurigen, oder mit feuersprühenden, und das war keine Liebe, die daraus sprühte.

Blodwen hatte sich überhaupt recht verändert. Sie war wortkarg geworden, auch gegen mich. Sie beschäftigte sich eben nur noch mit dem Kind. Sie selbst nannte es Darling — Liebling.

Einmal beobachtete ich sie zufällig, wie sie oben auf dem Berge stand.

Das Kind auf dem linken Arm, streckte sie den rechten gegen Norden aus und schüttelte die geballte Faust, und dazu hatte sie schon längere Zeit etwas gemurmelt.

»... mögen dich tausend Flüche...«

Mehr hörte ich nicht. Ich zog mich gleich wieder zurück. Ich wusste ja, woran sie dachte. Sie konnte es eben nicht vergessen.

Ich ließ sie in Ruhe.

Aber bekömmlich konnte solche Milch nicht gerade sein. Und doch gedieh unser Kindchen. — — —

Ja, wo war ich stehen geblieben? Wie ich, angetan mit meiner Bauchbinde, an der Felswand klebe und Vogelnester ausnehme.

Ich habe in meinem Beutelchen, das früher zu Augusts Hemd gehörte, schon ein Dutzend Eier — da muss ich daran denken, dass ich auf einem Felsgrat stehe, und wenn der auch breit genug ist, sodass man keine Gämsenfüße zu besitzen braucht, so darf man darauf doch auch keine Bocksprünge ausführen.

Da sehe ich aus meiner luftigen Höhe unter mir in einem Tale sich zwei Menschlein bewegen, und sie sind mir nahe genug, dass ich erkennen kann, wie die beiden vollständige Anzüge tragen, sogar Hüte auf den Köpfen.

Dann konnten das natürlich auch nicht zwei von meinen Leuten sein. Denn sonst war es doch noch zu weit, um etwas näher unterscheiden zu können.

Alle Wetter, wie mir der Anblick dieser beiden nach allen Regeln der Schneiderkunst gekleideten Menschlein in die Knochen fuhr!

Schnell hinab! Mein Kriegsplan war sofort entworfen. Diese Fremdlinge musste ich zuerst allein sprechen. Und ich wusste sie abzufangen. Durch das Eiersammeln auf Bergeshöhen hatte ich doch immer einen allgemeinen Überblick bekommen, kannte jedes Tal und jede Schlucht.

In zehn Minuten war ich unten, wo ich frei ausschreiten konnte, nun um ein paar Felsen herum, und ich wusste bestimmt: durch diese hohle Gasse muss er kommen!

Ich hatte von einem entworfenen Kriegsplan gesprochen. Wirklich, ich dachte an eine eventuelle Begegnung mit Feinden. Aber mir erst einen Revolver zu holen und ihn in meine Bauchbinde zu stecken — welche, nebenbei bemerkt, um schamhafte Leserinnen nicht zu verletzen, genügend lang war — daran dachte ich nicht. Meine ganze Bewaffnung bestand in dem Säckchen mit dem Dutzend Eiern — und in der Faust, welche sie trug. Sonst aber rechnete ich auch noch mit anderen Angriffsweisen, z. B., mit der Überraschung. Doch ich konnte mich ja auch irren — hoffentlich.

Hinter einem Felsen geduckt, spähte ich mit der Nasenspitze hervor. Richtig, da kamen sie schon anpromeniert. Der eine war ein Germane, der andere offenbar ein Inder. Beide trugen weiße Tropenkostüme, der Germane nach Seemannsschnitt, der Inder hatte im Gegensatz dazu recht enge Hosen an, welche die Inder seit alters her geliebt haben.

Jeder hatte einen Bergstock und über der Schulter ein Seilbündel, an der Seite Korbflasche und Proviantbeutel, Waffen sah ich nicht. Doch viel geklettert konnten sie noch nicht haben, das merkte man an ihren noch tadellosen Anzügen und Stiefeletten, hatten es auch noch nicht nötig gehabt; denn von der Seite, von wo sie kamen, führte bis hierher ein ganz bequemer Aufstieg.

Am meisten erkannte ich aus ihrem ganzen Benehmen, wie sie sich so mit behaglichen Spaziergängergesichtern umsahen, dass sie von unserer Anwesenheit hier nichts ahnten.

»Wir können doch nicht mehr weit von der Quelle entfernt sein, Kapitän Simmer?«, sagte jetzt der Inder, sich des Englischen bedienend.

»Ich werde gleich einmal eine Bestimmung machen. Es ist schon lange her, dass ich die Quelle besuchte, ich kenne mich doch nicht mehr recht aus.«

»Nicht wahr, es war Kapitän Berkins, welcher inzwischen manchmal hierher fahren musste, um Ambra zu holen?«

»Kapitän Berkins«, bestätigte der andere.

Hallo, ich hatte schon recht viel zu hören bekommen!

Nun aber musste ich hervortreten, sonst sahen sie mich in meinem Versteck.

»Good morning, gentlemen!«

Ach, du großer Schreck! Erst zwei Statuen, dann ein Zurückprallen, dann griff der Kapitän in seine Rocktasche und brachte eine silberne Streichholzschachtel zum Vorschein, hatte sich offenbar vergriffen — Feuer wollte er mir vielleicht geben, nur anderes — also er ließ die Streichholzschachtel wieder verschwinden und brachte dafür ein Etui heraus, das offenbar eine Tabakspfeife barg — war auch hiermit noch nicht zufrieden, steckte die Piep wieder ein und hatte jetzt endlich den gesuchten Revolver gefunden, ein niedliches Dingelchen.

Das war natürlich schneller gegangen, als ich hier erzähle. Nur drei Griffe. Aber hübsch hatte es doch ausgesehen.

»Lassen Sie mal ruhig stecken«, sagte ich gutmütig, »ich tu' Ihnen nichts.«

Der Kapitän hatte sich wieder zusammengerafft.

»Wer sind Sie?«, fragte er, und das war allerdings von einem kolossal misstrauischen Blicke begleitet, obgleich der Mann sonst ganz offene, sympathische Züge hatte.


Illustration

»Ein Mann«, entgegnete ich, »von dessen Besitztümern nach seinem Schiffbruche nichts weiter übrig geblieben ist als diese Bauchbinde, wegen deren Abgetragenheit ich um Entschuldigung bitte.«

Doch die beiden hatten nur eines herausgehört.

»Schiffbruch haben Sie gelitten?!«

»Yes. Perfectly.«

»Wo?«

»An dieser Insel, auf der ich Sie zu begrüßen die Ehre habe.«

»Mann, wie kommen Sie hierher?«

»Eben auf meinem Schiffe, welches jetzt an der Ostküste dieser Insel in mir unerreichbarer Wassertiefe liegt.«

»Was für ein Schiff war das?«

»Die ›Sturmbraut‹ von New York — zuerst von London.«

Herr du Gott, machte die Nennung dieses Schiffsnamens auf die beiden einen Eindruck! Sie gerieten ganz aus dem Häuschen.

»Sie sind — Sie sind — doch nicht — der Kapitän der ›Sturmbraut‹?«

»Yes, bin ich.«

»Kapitän Richard Jansen?«

»Bin ich.«

Der Blonde machte einen Schritt mit ausgestreckten Händen, als wollte er mich umärmeln, blieb aber noch vorher stehen, hob dafür die Arme in die Luft.

»Wunder, o, Wunder über Wunder — hier müssen wir ihn finden!! — Mahmud, das ist der Mann, das ist der Kapitän, um den sich seit einiger Zeit unser ganzes Interesse dreht!«

Der Inder, Mahmud angeredet, blieb ziemlich ruhig, betrachtete mich nur mit seinen brennenden Augen.

»Wissen Sie«, wandte sich der Blonde wieder an mich, »dass Sie in aller Welt gesucht werden?«

»Nee. Von wem denn?«

»Von uns.«

»Ja, wer sind Sie denn?«

Es war fast, als ob der Blonde in Verlegenheit käme.

»Das... darf ich Ihnen nicht sagen.«

»Nanu! Welcher ehrliche Mensch muss seinen Namen verschweigen?«

»Meinen Namen? Kapitän Simmer.«

»Den habe ich schon vorhin aus dem Munde Ihres Begleiters gehört. Und Sie suchen mich schon lange in aller Welt? Ich kenne Sie nicht.«

Wieder raffte er sich gleichsam auf.

»Nicht ich suche Sie, sondern... ich handele in einem Auftrage.«

»In wessen Auftrage?«

»Haben Sie nicht damals, als Sie von Monrovia aus dem entführten Wrack nachjagten, einen Matrosen aus dem Wasser gefischt?«

Meine Ahnung hatte mich nicht betrogen!

»Ja.«

»Er machte Ihnen einige Andeutungen, nicht wahr?«

»Sehr spärliche. Dann erhielt ich in Kapstadt auch einen Brief, in dem sich der Schreiber, der mir für das Wrack und für...«

»Richtig, richtig, das ist der beste Anknüpfungspunkt!«, fiel mir der blonde Kapitän lebhaft ins Wort. »Der Schreiber dieses Briefes, der sich als einen Mann bezeichnete, welcher zwar noch lebt, sonst aber nicht mehr der Welt angehört — der ist mein Herr, dem ich diene, und in dessen Auftrage werden Sie seit einiger Zeit in aller Welt gesucht.«

»Und wer ist dieser Mann?«

»Darüber darf ich nicht sprechen.«

Das konnte ich begreifen. Sonst hätte mir doch auch schon jener Matrose erzählen können.

»Aber darf ich wenigstens fragen, weswegen er mich sucht?«

»Um Sie in seine Dienste zu nehmen.«

»In seine Dienste? Ich bin ein freier Kapitän, überhaupt ein freier Mensch.«

Der andere musste gleich etwas herausgehört haben.

»Um sich mit Ihnen zu verbinden«, lenkte er schnell ein.

Das war etwas anderes. Also ich sollte wieder einmal ›Kumpe‹ machen.

Übrigens war das ja Unsinn von mir gewesen. Ich war nur so ein Starrkopf. Ich war doch überhaupt ein Mensch, der von jeher für andere gearbeitet hatte und noch ferner dazu bereit war. Aber ich war eben keine Landratte, sondern Seemann. Ich wollte nichts von ›Dienst‹ und von ›dienen‹ hören. Bei mir dienten nur Dienstmädchen, Hausknechte und dergleichen. Hätte jener von ›Heuer‹ oder ›mustern‹ gesprochen, da hätte ich keine solche protzige Bemerkung gemacht.

»Und Sie sind der einzige Überlebende Ihres Schiffes?«

»O nee. Wir alle leben noch und sind kreuzfidel.«

»Wie«, rief da Simmer, wie ich ihn nun gleich nennen will, in heller Freude, »Ihre ganze Mannschaft ist gerettet?!«

»Bis auf die letzte Hand.«

»Vortrefflich, vortrefflich!«, jubelte der Kapitän immer mehr auf.

»Und die Dame, die Sie an Bord hatten — die Lady Blodwen von Leytenstone?«

»Die ist unterdessen Mutter geworden.«

»Was?!«

»Ein Kind hat sie gekriegt — von mir«, erklärte ich, etwas voreilig — aber ich war damals nun einmal so.

»Und sie ist im Wochenbett gestorben?«, erklang es betrübt zurück.

»Ganz im Gegenteil. Die ist so fidel wie unser Kindchen. Nur mit dem Wochenbett war's mau.«

»Und sie ist hier auf dieser Insel?«

»Nu natürlich. Wir sind alle beieinander und lutschen Eier aus.«

»Dann ist ja alles gut, dann ist ja alles gut!!«, ertönte es jetzt mit einem Jubel, wie nur ein Mensch jubeln kann. »Die Lady von Leytenstone war uns ja mit die Hauptsache!!«

»Aber erlauben Sie mal gütigst — warum interessieren Sie sich denn eigentlich so für meine Lieb... für diese englische Dame?«

»Nun, mein Herr will diesem unglücklichen Weibe, dem man die Heimat genommen, eine ihrer würdige Freistatt gewähren!«

Da wurde mir plötzlich — ich weiß selbst nicht warum, dies alles kam eben so herzlich heraus — mein eigenes Herz ganz weit und ganz heiß, ich sagte nur ein Wort — ›Top!!‹ — und ich schlug in die Hand, die jener so zufällig offen hingehalten hatte.

»Wo sind die Leute?«

»Gar nicht weit von hier. Unser Lagerplatz ist an der Quelle, wohin doch auch Sie wollen.«

»Woher wissen Sie das?«, staunte der andere, jetzt aber ohne das geringste Misstrauen.

»Ich hörte Sie vorhin mit Ihrem Begleiter darüber sprechen — nur die letzten Worte.«

»Ach so! Ja, und wie kommen Sie eigentlich... doch darüber wollen wir uns später aussprechen. Kapitän Richard Jansen, zunächst habe ich Ihr Ehrenwort zu fordern.«

Er hatte sein Wesen geändert, ernst blickte er mich an, hielt mir schon die Hand hin.

»Worüber?«

»Dass Sie absolutes Stillschweigen bewahren.«

»Worüber Stillschweigen?«, musste ich doch immer wieder fragen.

»Über — über — dass Sie nicht — dass Sie zu keinem Menschen über — über...«

»Ich weiß, ich weiß«, kam ich dem Stockenden zu Hilfe, »ich weiß, weswegen Sie mein Ehrenwort fordern — hier haben Sie es.«

Unsere Hände kamen noch einmal zum Drucke zusammen. Ich selbst konnte eigentlich gar nicht sagen, woraufhin ich denn mein Ehrenwort gab. Auch Simmer hatte es nicht mit Worten ausdrücken können. Das lag eben im Gefühl, gewissermaßen in der Luft.

»Mein Herr hat mir befohlen, Ihrem Ehrenwort unbedingt zu trauen.«

»Nu natürlich, dieser Befehl wäre gar nicht nötig gewesen.«

»Nein, denn Ihnen braucht man nur ins Auge zu sehen, nur Ihren Händedruck zu fühlen, um nicht daran zweifeln zu können.«

»Und ein Herr«, entgegnete ich, »dem ein Mann wie Sie dient, den will auch ich gern meinen Herrn nennen, der wird nie etwas Unbilliges von mir verlangen.«

Man wird gestehen müssen, dass wir beide uns da ganz schneidige Komplimente sagten, aber das waren keine leeren Phrasen, sondern aus offenstem Herzen kommend.

Was mich betrifft, so hatte ich wegen meiner Fähigkeiten ja Pastor werden sollen — in diesem jetzt ganz patent gekleideten Kapitän aber lernte ich noch einen tüchtigen Seebären kennen, der auch lieber aus der Pulle als aus einem Gläschen trank und mit rabiaten Matrosen umzuspringen wusste, dass es nur so seine Art hatte. Ich meine also: das war nicht etwa sonst so ein geschniegelter Zieraffe, der sich immer gedrechselte Redensarten ausklügelte.

Kurz, hier auf dieser einsamen Insel im Sargassomeere hatten sich zwei wackere Männer getroffen — das darf ich wohl sagen, obgleich ich selber mit dabei war.

Wir gingen langsam unseres Weges, der Quelle zu.

»Sie leiden mit Ihrer Mannschaft keine Not?«

»Nein. Bis auf Kleidung und Tabak, der bei uns nun einmal zu den unersetzlichen Lebensbedingungen gehört. Und dann die Lady — und das Kind...«

»Natürlich. Es muss fürchterlich sein. Nun, ich bin mit meiner Jacht hier, die Lady kann sofort darauf untergebracht werden, alle Ihre Leute können sofort hinmarschieren.«

»Und wohin geht die Jacht?«

»Dorthin, wo mein Herr sein Domizil aufgeschlagen hat... bitte!«

Ich hatte verstanden. Dann allerdings würde ich noch weiter fragen.

»Und wo ist Ihr Schiff gescheitert?«

Ich gab für den Seemann eine geografische Ortsbestimmung. »Aber es ist nicht gescheitert, nur gesunken, liegt sonst scheinbar ganz unbeschädigt auf dem Meeresgrunde.«

»Auf welche Weise ist es denn gesunken?«

Ich teilte ihm unsere Vermutungen mit.

»Seltsam! Doch es könnte sein. Ich habe schon einmal von einem ganz ähnlichen Falle erzählen hören, allerdings nicht hier passiert, obgleich hier die engere Heimat von zahlreichen Walfischen ist. Ich möchte das gesunkene Schiff einmal besichtigen. Vielleicht ist eine Hebung möglich. Wollen wir beide uns hinbegeben, während Sihdi Mahmud, mein Begleiter hier, Ihre Mannschaft und die Dame nach meiner Jacht bringt?«

»Selbstverständlich werde ich mitkommen.«

»Da können wir uns unterwegs auch aussprechen — soweit ich darf.«

Wir hatten die Grottenformation mit der Quelle erreicht. Das Staunen meiner Leute beim Anblick der beiden fremden Männer lässt sich eher denken als beschreiben.

Kapitän Simmer sagte der Lady einige Artigkeiten, die aber gar nicht so geschickt ausfielen, wie vorhin seine offenen Worte gegen mich, der Inder erwies ihr Ehrfurcht in seiner morgenländischen Weise, und ich teilte unterdessen meinen Leuten mit, dass wir gerettet seien, an der Küste läge eine Jacht, sie sollten diesem Inder folgen.

Mehr brauchte ich ihnen nicht zu sagen. Vor Blodwen bangte mir etwas. Da aber hatte schon Kapitän Simmer vorgearbeitet.

»Ich bin bereit«, sagte sie gerade, als ich mich ihr näherte, sie hatte unser Kindchen im Arm, und sie war reisefertig. Einzupacken war ja nichts.

Nur unser schon ziemlich fertiges Boot, dessen Konstruktion Kapitän Simmer mit allem Rechte bewunderte, mussten wir zurücklassen — vielleicht für die nächsten Schiffbrüchigen.

Gleichgültig hatte Blodwen es gesagt, mit finsterem Gesicht. Ich wagte gar nicht mehr, zu ihr zu sprechen.

Seit der Geburt des Kindes war etwas zwischen uns getreten. Vielleicht eben dieses Kind? Ich konnte es nicht ändern und — offen gestanden! — mir ging es nicht einmal besonders zu Herzen.

Den Inder an der Spitze marschierte der Zug ab, Blodwen und der Klabautermann in der Mitte, der westlichen Küste zu, wo die Jacht liegen sollte.

— • —

37. Kapitel
Offenbarungen

Originalseiten II.102 — 115

Mit zwei kleinen Wasserschläuchen beladen, waren wir beide nach der anderen Richtung aufgebrochen, um noch einmal das gesunkene Schiff zu besichtigen.

»Bitte, erzählen Sie mir ganz offen, wie und weshalb Sie nach dieser Insel gekommen sind«, hatte Simmer gesagt, und ich war der Aufforderung nachgekommen.

So habe ich nichts weiter darüber zu berichten, als was ich mitteilte. Der Leser weiß alles. Es war so ziemlich der Inhalt der bisherigen Erzählung — Kleinigkeiten natürlich ausgenommen. Vor allen Dingen hatte ich über Karlemann und über Doktor Selo berichtet, wie ich also auf doppelte Weise zu der Kenntnis dieser Insel im Sargassomeer gekommen war.

Höchst selten einmal unterbrach mich Simmer.

»Woher hatte denn dieser Junge die Kenntnis bekommen?«

Das war einmal so eine Zwischenfrage.

Nun, dann erzählte ich eben wieder.

Wir hielten unter einem Baume Nachtlager, ein Feuerchen mit trockenen Ästen nährend und wir selbst hartgekochte Eier verzehrend, als mein Bericht total erschöpft war. Simmer kannte jetzt so ziemlich meinen ganzen Lebenslauf.

»Hm. Ich werde hierüber meinem Herrn Bericht erstatten.«

»Das können Sie tun. Und darf ich nun erfahren, wer dieser Ihr Herr ist?«

»Ich habe Ihr Ehrenwort.«

»Das haben Sie.«

»Sollte das Verhältnis nicht zustande kommen, so werden Sie zu keinem Menschen von dem sprechen, was ich Ihnen jetzt berichte.«

»Das ist es eben, weswegen ich Ihnen mein Ehrenwort gegeben habe. Aber meine Leute, haben die noch nichts erfahren?«

»Woher denn? Die würden auch ganz vergeblich fragen. Die gingen doch ganz einfach mit.«

»Und die Lady?«

»Von der gilt genau dasselbe.«

»So habe ich nichts mehr zu sagen.«

»Dann will ich Sie etwas fragen: haben Sie von Ghasna Dschalip Subuktadscha gehört, dem Maharadscha von Radschputana?«

Mir war es, als ob ich diesen zungenbrechenden Namen vor einigen Jahren gehört oder gelesen hatte. Doch ich durfte verneinen.

»Ein indischer Fürst, nicht wahr?«

»Ein Großfürst, ja.«

Und Simmer gab mir nähere Aufklärung über diesen Mann. Nach Niederwerfung des großen indischen Aufstandes im Jahre 1858 hatte England noch mehrere, bisher selbstständige Provinzen oder Fürstentümer annektiert, darunter auch das Großfürstentum Radschputana. Wer sich für dessen Lage interessiert, mag auf der Karte nachsehen.

Der damalige Maharadscha von Radschputana war Ghasna Dschalip. Den anderen Namen wollen wir weglassen, der ist schon zu schwer zu schreiben.

In gewissem Sinne ist England immer nobel.

Besonders wenn es muss. Alle diese abgesetzten Fürsten behielten dem Anscheine nach ihre sämtlichen Rechte, und anstatt der bisherigen Einkünfte, welche nun England selber einsteckte, erhielten sie eine Apanage, die für denjenigen schauderhaft hoch klingt, der nicht weiß, was England hierbei verdient.

So ein kleiner indischer Fürst erhält von England eine höhere Apanage, als es seinem eigenen Könige gibt.

Dem Maharadscha von Radschputana um den Bart zu gehen, hatte England den allermeisten Grund.

Bekanntlich gab es früher auch Könige von Indien, nämlich eingeborene Könige, und diese standen wieder unter einem Großkönig oder Kaiser. Der letzte derselben war Dschalip, ein gewaltiger Kriegsheld. Doch das war schon vor Jahrhunderten.

Nun aber hat das Geschlecht derselben, Radschputen genannt, immer Anspruch auf den Titel eines indischen Kaisers gemacht, und nachdem ganz Indien von England unterworfen ist, sind die Inder wenigstens darin einig geworden, dass sie hoffen, ein Radschpute, also der Maharadscha von Radschputana, würde noch einmal Kaiser und die Fremdherrschaft wieder abschütteln.

»Außerdem«, fuhr Simmer fort, »ist dieser Radschpute immer zugleich Mahabrahmane, der Oberste aller Oberbrahmanen, der indische Papst, und Sie können sich also denken, was für eine Rolle der da in Indien spielt, wenn sein Land auch gar nicht so reich ist.

Nun, Maharadscha Ghasna hat ohne Kampf entsagt — der ist viel zu klug, es gegen England aufnehmen zu wollen, wie es die anderen dummen Luder getan haben — hat die ihm gebotene Apanage dankend akzeptiert — wie viele Millionen Rupien er jährlich bekommt, weiß ich gar nicht — aber... in seiner geknechteten Heimat konnte er nicht mehr bleiben. Der Maharadscha von Radschputana ist seit vorigem Jahre verschwunden.«

»Verschwunden? Wohin?«

»Dorthin, wohin wir uns dann begeben. Er hat sich eine neue Heimat gegründet.«

»Und wo ist diese seine neue Heimat?«, wurde ich jetzt einmal beharrlich.

»Überall und nirgends.«

Jetzt wurde es wieder geheimnisvoll — und ich satirisch.

»Ist er nach dem Monde ausgewandert?«

»Nein«, lachte Simmer, »auf der Erde ist er noch. Na, ich kann es Ihnen ja sagen. Mich wundert nur, dass Sie nicht selbst draufkommen...«

»Der lebt wohl auch ganz auf einem Schiffe?«

»Sie haben es erraten. Und wissen Sie, auf was für einem Schiffe?«

»Wie soll ich das wissen?«

»Aber von der ›Great Eastern‹ haben Sie doch gehört?«

Ja, von der hatte ich schon genug gehört und gelesen. Da muss ich aber erst einiges einschalten.

Es ist alles schon einmal da gewesen! Auch unsere modernsten Riesendampfer haben vor mehr denn vierzig Jahren schon einmal ein Vorbild gehabt.

Im Jahre 1860 wurde in England die ›Great Eastern‹ gebaut oder vielmehr fertig abgeliefert, ein Dampfer, der damals zu den Weltwundern gerechnet wurde, und das mit Recht.

Die Länge vom Stern bis zum Steven betrug 681 Fuß oder rund 230 Meter, die mittlere Breite fünfundzwanzig die Höhe vom Kiel bis zum Deck achtzehn Meter. Man suche sich ein Bild zu machen!

Der Dampfer war vollständig aus dreiviertelzölligen Eisenplatten konstruiert, und zwar mit doppelten Wandungen in einem Zwischenraum von zwei Fuß zehn Zoll, das Innere war in zweiundzwanzig wasserdichte Abteilungen geteilt. Bei einem eigenen Gewicht von 8000 Tonnen konnte er 30 000 Tonnen tragen, war eingerichtet zur Aufnahme von 4000 Passagieren. Kann man denn von einem unserer modernsten Riesendampfer mehr verlangen? Und man muss nur die ausführlichen Beschreibungen lesen, mit was allem die ›Great Eastern‹ ausgestattet gewesen ist!

Mit der Maschinerie freilich haperte es etwas — das heißt nach unseren heutigen Begriffen. Als Triebkraft dienten sowohl zwei Schaufelräder, als eine Propellerschraube, letztere von vierundzwanzig Fuß oder sieben Metern Durchmesser, zu deren Gesamtantrieb acht Maschinen von zusammen 2500 Pferdekräften dienten.

Das ist nun freilich etwas wenig. Heute wird ein solcher Koloss mit zehnmal soviel Pferdekräften ausgestattet. Aber das waren eben frühere Verhältnisse. Über sechs Knoten in der Stunde hat es die ›Great Eastern‹ nie gebracht, und damit war man damals zufrieden.

Trotzdem bewährte sie sich ausgezeichnet. Aber sie wurde vom Unglück verfolgt, lief mehrmals auf; der große Koloss konnte stets nur mit großer Mühe wieder flott gemacht werden, man verlor das Zutrauen. Die größten Dienste leistete sie beim Legen des ersten transatlantischen Kabels. Ohne die ›Great Eastern‹ wäre das damals gar nicht möglich gewesen.

Dann erlitt sie im Hafen von New York eine schwere Havarie, man gab sie auf, sie blieb dort liegen, diente einige Jahre als schwimmendes Vergnügungsetablissement.

Ihr ferneres Schicksal ist mir unbekannt. Ich bin dann der Welt ganz entfremdet worden, wie der Leser noch erfahren wird.

Aber, wohlverstanden, die ›Great Eastern‹ wurde erst im Jahre 1860 fertig zur Probefahrt abgeliefert, vielleicht im Juni, und heute schrieben wir noch den 31. Dezember 1859!

Damals berichteten nur die Zeitungen über sie, von den Fortschritten im Bau dieses Ungetüms, immer die größten Zweifel in seine einstige Gebrauchsfähigkeit setzend.

Dies alles dürfte dem belesenen Publikum so ziemlich bekannt sein. Oder ist das gar nicht so sehr der Fall?

Dann darf man sich nicht wundern, dass noch weniger bekannt ist, wie auch schon diese ›Great Eastern‹ eine Vorgängerin gehabt hat, mit ganz demselben Namen. Die Welt vergisst eben schnell.

Dieselbe Schiffswerft hatte bereits im Jahre 1858, also ein Jahr vor meiner damaligen Zeit, solch einen Riesendampfer gebaut und abgeliefert, von ganz denselben Dimensionen, das war also die ursprüngliche ›Great Eastern‹ gewesen — — aber die bestellende Schiffskompanie hatte die Abnahme des Dampfers verweigert.

Er sollte verbaut gewesen sein. Tatsächlich betrug die Tragkraft trotz derselben Dimensionen nur 26 000 Tonnen, da musste irgendein kolossaler Irrtum unterlaufen sein, und die 2500 Pferdekräfte entwickelten sogar nur fünf Knoten Geschwindigkeit.

Die Maschinen wurden wieder herausgenommen, die ganze innere Einrichtung — dies alles wurde für die neue ›Great Eastern‹ verwendet. Über den Verbleib des so ausgeweideten ersten Riesendampfers ist man ganz im unklaren geblieben. Eine Schiffsreederei kaufte ihn wohl, verschacherte ihn aber gleich wieder weiter, dann erstand ihn wohl ein Eisenhändler — ins alte Eisen!

In Aktion ist er wenigstens nie getreten. Es wurde damals viel darüber von den Zeitungen phantasiert. Ich hatte einmal gelesen, die chinesische Regierung hätte ihn gekauft, als Flusswohnung für Fischer, weil doch in China in den bevölkerten Distrikten überhaupt viele Menschen ganz auf dem Wasser wohnen — — ich hielt es für ein Märchen, für eine Zeitungsente. Für solche phantastische Unternehmungen hat das konservative China doch niemals Sinn gehabt.

Außerdem richtete sich damals die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf den drohenden Konflikt zwischen den amerikanischen Nord- und Südstaaten, der zum Bürgerkrieg führte — da hatte man kein Interesse für solch einen alten, ausrangierten Kasten, der doch einen lebendigen Nachfolger bekommen hatte. — — —

»Nun, diese verpfuschte ›Great Eastern‹ ist jetzt Eigentum dieses Radschputenfürsten.«

»Was Sie nicht sagen!«, rief ich erstaunt. »Auf der fährt er jetzt in der Welt umher?«

»Nicht so ganz. Vorläufig liegt er in der Fucusbank mit ihr fest.«

»Eingesponnen?«

»Nein, das nicht.«

»Hat er denn Maschinen?«

»Alles. Aber die geeignete Mannschaft fehlt ihm, ein führender Kapitän, und... dazu hat Maharadscha Ghasna Sie und Ihre Leute erkoren.«

Ich war ob dieser Erklärung so überrascht, dass ich gar nicht an die Frage dachte, wie denn der Riesenkoloss dort hingekommen sei, woher er die Maschinen habe usw. usw.

»Mich?!« — »Ja.«

»Ja, wie komme ich dazu?«

»Sie sind lange genug beobachtet worden.«

»Von wem denn?«

»Mein Gott, die Zeitungen berichteten doch genug über die ganze Affäre mit der englischen Lady, dabei spielten Sie doch auch eine große Rolle, so erwachte das Interesse für Sie, und dann hat dieser Radschpute in jedem Hafen seine Spione — aus Gründen, die Sie später erfahren werden — an Bord befinden sich sogar genug Leute, auch Kapitäne und Steuerleute die Sie persönlich kennen — — kurz und gut, Sie sind zum Kapitän ausersehen worden. Der Maharadscha wünscht es eben. Um das zu begreifen, dazu müssen Sie erst zu uns an Bord kommen, das geht ja bei uns ganz eigentümlich zu. Dieser Oberbrahmane ist so eine Art von Herrgott, den ich manchmal selber für allwissend halten möchte. Jedenfalls ein großartiger Kerl! Und ich sage Ihnen: das ist etwas für Sie! — Nun, werden Sie die Führung der ›Indianarwa‹ übernehmen?«

»Indianarwa heißt der Dampfer jetzt?«

»Ja. Die Freiheit von Indien. Der ins Exil gegangene Fürst hat sich ein neues, sein eigenes Indien geschaffen. Oder sagen wir: auf diesem Riesendampfer, eine ganze Welt für sich, will er die indische Freiheit wahren. Also auch der verfolgten Lady will er auf seinem schwimmenden Königreiche ein Asyl bieten.«

Simmer erzählte mir am Lagerfeuer viel davon, wie es auf diesem Riesendampfer zuging, jetzt schon, und was dieser unermesslich reiche Maharadscha noch alles vorhabe.

Ich lauschte wie ein Mäuschen und sperrte, mit Respekt zu sagen, vor Staunen Maul und Nase auf.

Aber was ich jetzt zu hören bekam, davon will ich hier nicht das Geringste wiedergeben. Sonst würde ich mich später in der Beschreibung ja wiederholen.

Und außerdem sollte, als ich dann selbst sah und erlebte, alles in den Schatten gestellt werden, was ich hier zu hören bekommen hatte.

Ich hatte dann einen fieberhaften Traum, Simmer hatte mir den Kopf ganz verwirrt, ich träumte mit einer glühenden Phantasie — und selbst dies, was mir der Traumgott vorgaukelte, sollte durch die Wirklichkeit noch immer übertroffen werden! —

Am anderen Morgen beim ersten Sonnenstrahl wurde die Wanderung fortgesetzt.

»Hören Sie auf, hören Sie auf«, hatte ich gesagt, als Simmer wieder von seinem indischen Schiffe anfangen wollte, »ich muss selber hin, muss selber sehen — Ihre Märchen will ich nicht mehr anhören.«

Simmer verstand mich, wie ich das meinte, und wir sprachen von etwas anderem. Stoff war ja genug vorhanden.

»Also Sie wissen, wie ich damals den Mann aufgefischt habe?«

»Ich weiß alles.«

»Wie ich ihm den Kopf rasierte?«

»Und wie Sie die sonderbare Tätowierung auf der Kopfhaut sahen.«

»Was hat die zu bedeuten?«

»Ja, Kapitän, da fragen Sie mich zu viel!«, lachte Simmer. »Aber Ihnen ist es bekannt?« — »Gewiss.«

»Wissen Sie, wie mein schwarzer Diener Goliath von dem großen Vogelberge im polynesischen Archipel anfing...«

»... und wie sich Ned verschnappte oder doch durch seinen Schreck verriet. Er hat alles erzählt.«

»Ist dieser Vogelberg bewohnt?«

»Ja. Sie können es erfahren, ich habe Ihr Ehrenwort.«

»Ist dieser Mann im Vogelberge identisch mit dem Maharadscha?«

»Nein, wohl aber steht er zu diesem in einem abhängigen Verhältnis. Ich will Ihnen etwas sagen, Kapitän: Es existiert in der Welt eine geheime Verbrüderung von Seeleuten. Aber ehe ich Ihnen darüber etwas Näheres mitteilen kann, müssen Sie selbst dazugehören — und dann brauchen Sie wieder mich nicht.«

»Und der Zweck dieser geheimen Verbrüderung?«

»Ist ebenso sittlich wie der der Freimaurer. Bitte, lassen Sie sich das genügen.«

Betreffs dessen war mir nun allerdings der Mund verschlossen, aber andere Fragen waren noch erlaubt.

»Der Maharadscha bezieht von hier Ambra?«

»Manchmal, obgleich er es nicht nötig hätte, er hat andere kolossale Einkünfte. Er ist wahrscheinlich der reichste Mann der Welt. Er verbraucht das Ambra wohl nur für sich selbst.«

»Woher hat dieser Inder denn von dieser Insel im westlichen Sargassomeere Kenntnis bekommen?«

»Das weiß ich wahrhaftig nicht. Oder aber — ich sagte es Ihnen schon vorhin — ich möchte diesen Maharadscha fast für allwissend halten.«

»Nanu«, lachte ich, »glauben Sie an so etwas, dass ein Mensch allwissend sein kann?«

»Ich will nicht gerade allwissend sagen, aber... Herr, halten Sie mich für einen phantastischen Träumer? Sehe ich so aus?«

Nein, danach sah dieser Mann mit den intelligenten, offenen und dennoch energischen Zügen gar nicht aus.

»Kommen Sie an Bord! Sie werden Dinge erleben, die Sie nicht begreifen können.«

Ich wollte meinem neuen Freunde eine kleine Falle stellen.

»Also der Maharadscha hat mich schon seit langer Zeit gesucht?«

»So ist es. Seitdem Sie als der Beschützer der Lady von Leytenstone von sich reden machten, hat er sein Augenmerk auf Sie gerichtet.«

»Und er wusste mich nicht zu finden?«

»Sie waren ja plötzlich mit Ihrem Schiffe verschwunden.«

»Nun, wenn dieser Oberoberbrahmane allwissend ist — oder so ziemlich, mehr weiß, als andere Menschen — wusste er denn da nicht, dass ich hier auf dieser Insel Schiffbruch erlitten hatte, dass ich mit meiner Mannschaft hier festgenagelt saß?«

Simmer blieb plötzlich stehen und blickte mich starr an.

»Ja, Mann, wer sagt Ihnen denn, dass er das nicht gewusst hat?

Warum schickte er mich denn mit einem Male hierher, mit dem Auftrage, nachzusehen, ob an der Quelle noch alles in Ordnung sei? Von Ihrem Schiffbruche, dass ich Sie hier finden würde, davon sagte er mir natürlich nichts, das geht ja bei uns überhaupt alles so geheimnisvoll zu, das geht auch alles durch dritte und vierte Hand, der Maharadscha selbst spricht überhaupt nie, der ist eine versteinerte Statue. — Ja, Mann, habe ich Sie hier denn nicht gefunden?«

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Mir kam es fast vor, als wenn ich in meine eigene Falle gegangen wäre.

»Für was halten Sie das?«, fragte dann einmal mein Begleiter, mit seinem Arm einen Kreis beschreibend, als wolle er die ganze Insel umfassen.

»Nun, für was soll ich das halten? Für eine Insel.«

»Für festes Land?«

»Was, das sollte kein festes Land sein?!«, stutzte ich schon.

»Nein. Dort der Berg wohl, aber nicht alles andere hier. Das ist nur angeschwemmter Fucus, der sich oben in Humus verwandelt hat. Auch alle diese Hügel. Graben Sie nach — im Innern finden Sie nichts weiter als vermoderten Seetang. Dass Bäume darauf gewachsen sind, das ist nur ein Zeichen, dass diese angeschwemmte Bank schon seit langen Jahren nicht gestört worden ist. Und das geht nicht etwa bis auf den Meeresgrund. Hier unter uns ist Wasser, in gar nicht so tiefer Schicht, dieses ganze vermeintliche Festland wird noch immer von den Wurzeln des Seetangs gehalten.«

Ich bekam etwas zu hören, was ich mir auch nicht hätte träumen lassen.

»Aber an der Küste sind doch auch Felsen, z. B. gerade dort, wo mein Schiff gesunken ist.«

»Das ist einfach eine RiffFormation, noch zu dem kahlen Berge dort gehörend. Diese Insel kann einmal vollkommen wieder verschwinden. Dazu ist nur ein außergewöhnlicher Sturm nötig, der hier allerdings selten vorkommt, oder die Wogen werden von dem vorgelagerten Seetang abgehalten. Und glauben Sie, dass man diese Insel auch künstlich mit all ihren Ambraschätzen vernichten kann?«

»Künstlich vernichten?«

»Ja. Man braucht nur die trockene Jahreszeit abzuwarten.

Dann brennt alles wie Zunder, auch das brennbare Ambra wird verschwinden. Wer weiß, wie viele solcher Revolutionen schon im Laufe der Jahrhunderte oder Jahrtausende durch Blitzzündungen vorgekommen sind. Ich glaube sogar, der Maharadscha besitzt noch ein anderes Mittel, um diese Insel verschwinden zu lassen, denn seitdem er sie kennt, wird er niemals zugeben, dass diese Unmasse von Ambra hier abgeholt wird, wodurch zahllose Existenzen vernichtet werden.«

Unter solchen Gesprächen verging uns die Zeit, bis wir das gesunkene Schiff erreicht hatten.

»Das wird sich heben lassen«, meinte Simmer nach der Besichtigung, »wir haben an Bord der ›Indianarwa‹ die tüchtigsten Ingenieure und alle Hilfsmittel, um so etwas zu bewerkstelligen.«

Bei diesen Worten fiel mir etwas ein, was ich noch vergessen hatte.

»Sie wissen doch, wie ich das alte holländische Wrack fand, und wie es mir wieder entführt wurde.« —»Ich weiß alles.«

»Woher stammte das eigentlich?«

»Hier aus der Fucusbank. Es war auf einer Untiefe eingesponnen worden, vielleicht vor 200 Jahren.«

»Warum war es damals verlassen worden?«

»Herr, so genau bin ich allerdings nicht in alles eingeweiht. Es wurde wohl vom Schlepptau verloren.«

»Und was für eine Bewandtnis hat es mit dem alten Holländer, den meine Leute für den leibhaftigen Klabautermann halten? Sie haben ihn ja vorhin gesehen.«

»Auch das weiß ich nicht. Aber da Sie an alledem selbst beteiligt sind, werden Sie, wenn Sie erst einer der Unsrigen sind, schon von kompetenter Seite Auskunft erhalten.«

»Gut. Aber nun etwas anderes. Wissen Sie etwas von einem Dokument, das mir von meinem Schiffsarzte entwendet worden ist?«

»Ja, das weiß ich, und auch, dass man von unserer Seite aus alle Hunde hinter diesem Doktor Selo gehetzt hat.«

»Ist man seiner schon habhaft?«

»Weiß ich nicht. Ich glaube kaum. Aber der entgeht uns nicht, und dass er von seinem Diebstahl, falls er die Geheimschrift zu entziffern gewusst, keinen Vorteil hat, dafür ist eben schon gesorgt. — Ja, Herr Kapitän, wie haben Sie es eigentlich ermöglicht, mit diesem Schiffe durch den festgewachsenen Seetang zu kommen?«

Ich merkte deutlich, wie Simmer nicht mehr gefragt zu werden wünschte über Sachen, die ihm nichts angingen, und ich gab nach.

— • —

38. Kapitel
Der Stall des Augias

Originalseiten II.115 — 143

Noch an demselben Tage traten wir den Rückweg an, den wir wegen des Wassers über die hochgelegene Quelle nehmen mussten, um noch einmal unsere Schläuche zu füllen.

Dann hatten wir auf dieser Seite, nach Westen, nur noch fünf Stunden zu marschieren, dann war der grüngraue Wall erreicht, der die ganze Insel rings umsäumte, und wie ich ihn erstiegen, lag vor mir an einer Felsformation ein Fahrzeug.

Ich wusste gar nicht, was ich daraus machen sollte. Zuerst dachte ich an so eine Art von Elbkahn, nur schlanker gebaut war es. Bis ich erkannte, dass die ganze Takelage, aus zwei Masten bestehend, niedergelegt war, und diese Masten waren für solch eine schlanke Jacht, die für Renn- oder Sportzwecke erbaut zu sein schien, außerordentlich kurz.

»Sie wundern sich? Sie haben solch einen Schiffstyp noch nie gesehen?«, sagte denn auch Simmer gleich. »Das Fahrzeug ist extra zur Durchquerung der Fucusbank gebaut. Außerdem irritieren Sie auch nur die umgelegten Masten. Draußen auf offenem Meere mit geschwellten Segeln ist es eine ganz gewöhnliche Privatjacht, deren Besitzer sich nicht auf allzu hohe Masten hat einlassen wollen.«

An Deck befanden sich einige meiner Leute und zwei Inder. Im übrigen fasse ich alles kurz zusammen.

Raum war in dem niedrigen Zwischendeck gerade genug vorhanden, um alle meine Leute aufzunehmen, dass sie sich wenigstens bequem nebeneinander ausstrecken konnten.

»Es ist nur eine Fahrt von sechs Stunden«, sagte Simmer, »die Leute können sich meistens an Deck aufhalten.«

Simmer hatte Blodwen seine eigene Kabine angewiesen, zwerghaft klein, eine Kajüte gab es überhaupt nicht, ich selbst brauchte keine Unterkunft. Dann wurden von einigen Indern, die aus einer Luke auftauchten, an die Leute Decken aus Kokosbast verteilt, in die sie wenigstens ihre nackten Glieder einhüllen konnten. Simmer trat ans Sprachrohr, ein mir unverständliches Kommando, und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung.

Ich weiß nicht — ich war ganz kopfscheu geworden. Das war alles so schnell gegangen, und nun schusselte das doch ganz stattliche Fahrzeug, mindestens zwanzig Meter lang, über den Seetang nur so hin.

Ja, wie kam denn das eigentlich alles?

Warum der Seetang diesem Fahrzeug nicht hinderlich sein konnte, das hatte ich sofort heraus. Hier war jene schräge Fläche angewendet, an die ich schon selbst gedacht hatte, welche vielleicht noch praktischer war als die schneidende Messervorrichtung.

Es war vorn eben ein großes Brett angebracht, es schien unter dem Schiff hinwegzugehen, da konnte sich kein Seetang festsetzen, und das ganze große Fahrzeug schusselte mit einer Leichtigkeit über die grüne Wiese hin, wie so eine polierte Holzplatte über die spiegelglatte Eisfläche.

Ich war erstaunt. Dass eine schiefe Fläche solch einen Erfolg haben könnte, hätte ich nimmer geglaubt. Dagegen war ja meine Messervorrichtung ein ganz plumpes Mittel.

Da aber konnte auch nur eines hier in Betracht kommen.

»Dieses Fahrzeug ist doch nicht auf Kiel gebaut«, wandte ich mich an Simmer, welcher hinten das kleine Steuerrad bediente.

»Nein, es ist ganz flach — flach wie ein Flusskahn. Es ist eben nur zum Befahren der Fucusbank bestimmt. Kommen wir einmal auf offene See, und ist diese nur etwas unruhig, so muss ein Kielschwert angebracht werden, sonst würden wir sofort kentern.«

Ja, aber wodurch wurde die Jacht denn eigentlich vorwärtsgetrieben? Ich stellte noch keine Frage, sondern schaute mich um. Wenn ein Fahrzeug durch Maschinenkraft getrieben wird, so muss mit Kohlen geheizt werden, und dazu gehört ein Schornstein. Das mag jetzt nicht unbedingt nötig sein, aber damals wusste man noch nichts von Petroleummotoren und dergleichen. Damals kannte man nur Kohle, oder meinetwegen auch, wie auf den Mississippidampfern, Holz; aber unbedingt gehörte ein Schornstein dazu, sonst brannte das Feuer unter dem Kessel nicht.

Und hier? Von Schornstein gar keine Spur. Das Deck war überhaupt ganz glatt. Ein winziges Boot, das war alles.

Plötzlich lauschte ich. Was für ein eigentümliches Summen war das, das an meine Ohren klang? So eine schwermütige Melodie, zugleich aber doch faszinierend, taktmäßig — und das Summen schien wie aus dem Innern der Jacht zu kommen.

»So«, sagte Simmer, das Steuerrad einem halbnackten Inder übergebend, »nun wollen Sie wohl erst einmal das Innere der Galeerenjacht besichtigen.«

»Wie nennen Sie dieses Fahrzeug? Eine Galeerenjacht?«

»Ja, es ist eine Galeere. Nur dass die Menschen nicht, wie in früheren Zeiten, Riemen oder Ruder hin und her bewegen.«

Ich folgte ihm durch das niedrige Zwischendeck, in dem ich nicht aufrecht stehen konnte, in den untersten Raum hinab, so niedrig, dass ich kaum gebückt stehen konnte.

Hier saßen auf Bänken zwei Dutzend Inder, auf jeder Seite zwölf, bewegten sich im Rudertakt hin und her, dazu mit leiser Stimme ein Lied singend, jeder hatte auch scheinbar einen Rudergriff in der Hand, aber das war kein eigentliches Ruder, nur ein Griff, eine kurze Stange, die mit einer langen Zahnradwelle verbunden war, welche durch das ganze Schiff lief.

Eine technische Beschreibung, wie die Ruderbewegung in eine rotierende übertragen wurde, sei mir erlassen. Das würde so kompliziert werden, wie es in Wirklichkeit einfach war.

Ich staunte nicht schlecht. So etwas hatte ich eben noch nie gesehen. Sonst aber war mir alles gleich klar. Die Ruderer trieben eine Schiffsschraube, regelrecht hinten angebracht.

»Wir haben noch mehrere solche Galeerenjachten«, meinte Simmer.

»Wessen geniale Erfindung ist denn das?«

»Mata, Sahib«, entgegnete Simmer.

»Was sagen Sie da?«

»Weiß nicht, Herr. An dieses Hindustanische ›mata‹ müssen Sie sich noch gewöhnen, das werden Sie noch oft genug zu hören bekommen.«

Da sollte Simmer allerdings recht haben. Außerdem schien es mir schon jetzt, als sei auch dieser germanische Kapitän bereits etwas von dem indischen Phlegma, das wohl erschrecken kann, sich aber über nichts wundert, angesteckt worden.

Er konnte mir auch später wirklich nicht sagen, wer diese Erfindung eigentlich ausgegrübelt hatte. Diese Galeerenjachten waren schon da gewesen, als er in den Dienst des Maharadschas trat, und damit basta. Wenn sie einmal da waren, dann war es ja gut.

Ich betrachtete die Rudernden, lauter prachtvoll gewachsene, athletische Burschen, und das kam nun alles so zum Ausdruck, wie sie sich mit ihren nackten, braunen Körpern auf den Bänken hin und her bewegten, und dazu der leise, melancholische, und dennoch faszinierende Gesang — es machte einen gewaltigen Eindruck auf mich, vor mir stieg die alte Römerzeit auf, ich sah die Galeere, von nubischen Sklaven bemannt. Nur die Fesseln fehlten.

Und doch, indische Verhältnisse...

»Das sind doch keine Sklaven?«, fragte ich Simmer leise.

»Wie man's nimmt. Leibeigene des Maharadschas sind es jedenfalls, ohne freien Willen. Doch beruhigen Sie sich, die leiden keine Not, sind auch äußerst zufrieden mit ihrem Schicksal. Sehen Sie nur, wie die sich ins Zeug legen, die brauchen keinen Taktschläger.«

Wir begaben uns wieder nach oben. Über die Fahrt selbst habe ich sonst nichts weiter zu sagen.

Blodwen verließ ihre Kabine nicht, meine Leute lungerten an Deck herum, manchmal löste einer zum Spaß einen braunen Ruderer ab, auch ich tat es einmal.

Unser Essen bestand während dieser sechs Stunden nur aus Hartbrot, Datteln und Feigen. Diese Inder waren Vegetarier. Sonst lebten sie meistenteils von Reis, den zu kochen hier aber die Gelegenheit fehlte.

Bemerkt sei, dass in alten Zeiten, von den Phöniziern an bis zu den Römern, welche schon nach Großbritannien fuhren, aber auch um Afrika herum, der Schiffsproviant ausschließlich aus getrockneten Datteln und Feigen bestanden hat. Etwas anderes verstand man gar nicht zu konservieren, und Feuerungsmaterial mitzuführen, um Hülsenfrüchte zu kochen, daran dachte man nicht, das hätte auch seine Schwierigkeiten gehabt, da hätte man doch eine Unmenge von Holz mitführen müssen. Damals kannte man noch nicht einmal das Brot. Das Mehl wurde als Mus genossen. Die Kunst der Brotbäckerei soll zuerst im Jahre 170 vor Christi Geburt in Athen ausgeübt worden sein, allerdings aus Ägypten kommend.

Also nur getrocknete Datteln und Feigen. Und das werden damals auch tüchtige Seeleute gewesen sein, die Mark in den Knochen hatten, ganz abgesehen von den Galeerenknechten, welche die zwanzig Meter langen Riemen bewältigen mussten. — —

Es war in der vierten Nachmittagsstunde, als vor uns die Insel lag, von welcher mir Simmer nun unterdessen schon zur Genüge erzählt hatte.

Auch sie hatte in der Mitte einen Berg, alles übrige scheinbare Land war nur eine Ansammlung von Seetang, der sich in der obersten Schicht in Humus verwandelt hatte.

Wie der Berg viel kleiner war als jener, auf dem wir gehaust, so auch die ganze Insel, etwa sieben geografische Quadratmeilen umfassend.

Wie mir Simmer erzählte, war sie vor anderthalb Jahren abgebrannt worden, und nun hatte sie einen Ackerboden von unerschöpflicher Fruchtbarkeit. Drei und vier Ernten im Jahre, wobei natürlich das Klima zu bedenken ist. Heute schrieben wir den ersten Januar und konnten noch im Freien schlafen — ohne Kleider, freilich immer mit einer Gänsehaut.

Und das wurde benutzt. Diese schwimmende Insel wurde bebaut. Selbst Reis konnte in Masse erzeugt werden, indem der Wasserreichtum dieses Inselberges die für den Reisbau unumgänglich notwendigen Überschwemmungen zuließ, und am meisten waren es denn auch Chinesen, welche ich ernten und düngen und mit primitiven Pflügen die weiche Erde ritzen sah.

Der Maharadscha hätte sich und alle Menschen, die er hier zusammengebracht, unabhängig von aller Welt ernähren können, wenn er gewollt.

Doch was interessierte mich dies alles jetzt? Ich sah nur den ungeheuren Eisenkasten, aufgetakelt und mit zwei Schornsteinen, der dort in der geräumigen Bucht auf dem Wasser schwamm. Daneben lag ein anderer Dampfer, mindestens so groß wie meine ›Sturmbraut‹, und es sah nicht anders aus, als ob ein kleines Beiboot neben meiner ›Sturmbraut‹ gelegen hätte.

Eine ganz gewaltige Aufregung packte mich. Der Grund hierzu ist nicht so leicht zu erklären.

Von der größten Spannung dürfte wohl jeder befallen sein, der zum ersten Male ein Kriegsschiff oder solch einen modernen, riesigen Salondampfer betritt, um ihn zu besichtigen, und sein Herz wird ihm auch weiter schlagen, wenn er die ungeheuren Maschinen sieht, wenn er aus einem Luxussaal in den anderen, durch die zahllosen Räume geführt wird.

Hat der Betreffende nur einigermaßen Phantasie, so wird er dabei träumen, er sieht, dass er sich tatsächlich in einer eigenen, ihm ganz fremden Welt befindet, von der ihm bisher auch der Traumgott nichts vorgegaukelt hat — und so werden sich seiner eben ganz eigentümliche Empfindungen bemächtigen.

Nun, ich war Seemann. Aber man schrieb damals den ersten Januar 1860. Und ich hatte bisher von dem Bau der ›Great Eastern‹ immer nur erst gelesen, Fabelhaftes — und ich besaß eine gute Dosis Phantasie — und nochmals: ich war Seemann!

Versteht der Leser, woher meine gewaltige Aufregung beim Anblick des mächtigen Eisenkolosses, der damals das achte Weltwunder genannt wurde?

Man könnte zum Vergleich, auch aus damaligen Zeiten, einen kleinen Dorfschlosser heranziehen, der aber in seinem Werkstättchen schon ab und zu eine kleine Maschine herstellt, etwa für den landwirtschaftlichen Betrieb, oder solche doch zur Not repariert — es ist eben ein fähiger Kopf, der ohne Schule etwas gelernt hat — und dieser kleine Schlosser weiß, dass er hier nicht am richtigen Platze ist, er könnte etwas ganz anderes leisten — und er erschwingt das Reisegeld, um einmal nach Chemnitz zu fahren, um sich dort die damals unvergleichliche Hartmann'sche Maschinenfabrik mit Tausenden von Arbeitern anzusehen — oder er ist gar entdeckt worden, er hat die Aufforderung erhalten, hinzukommen, er soll in dem Riesenwerke die Stelle eines Werkmeisters bekommen, mit dreihundert Arbeitern unter sich — und nun kommt er hin und sieht die ungeheure Fabrikanlage, ein ganzes Stadtviertel, er sieht die zahllosen Schlote rauchen, so etwas ist ihm noch nie im Traume erschienen, und nun soll er mit einem Male als Vorgesetzter darin mitwirken...

Das ist ein Gegenbeispiel. Versteht der Leser nun? Ich hielt solch ein ausführliches Gleichnis für nötig, damit man mir wirklich glaubt, dass ich beim Anblick dieses Riesendampfers von einer kolossalen Aufregung befallen wurde.

Sechsundzwanzigtausend Tonnen!! Zweitausendfünfhundert Pferdekräfte. Eingerichtet für viertausend Passagiere!!!

Mensch, versuche die Götter nicht!! Ich hatte davon ja schon genug gelesen, aber hier, wo der Riese handgreiflich vor mir lag, dieser Koloß von mehr als zweihundert Meter Länge, wie ein vieretagiges Haus aus dem Wasser ragend, da legte es sich mir auf die Brust, ich bekam wirklich gar keine Luft mehr.

Und dann stieg ich eine Falltreppe hinauf. Und da plötzlich hatte ich meine Ruhe wieder. Ich war Kapitän — wenn nicht von diesem Riesendampfer — never mind, ich war Seemann, Kapitän, und ob der Schwimmer in einem Teiche oder im Ozean schwimmt, ob unter ihm eine Tiefe von zwei oder zweitausend Metern — ihm ganz gleichgültig, er ist in seinem Element, das er beherrscht — er schwimmt.

Das messingene Treppengeländer war blitzblank geputzt. Bravo!

So denkt eben der Seemann, der Kapitän. Denn was soll man von einem Schiffe halten, in dessen Messingteilen sich die Sonne nicht spiegelt?

Ich war zufrieden. Wenn dies ein Seemann liest, wird er mich sofort verstehen, es braucht nur ein Matrose, nur ein Schiffsjunge mit einer Reise zu sein.

Aber wie ward mir, als ich an Deck stand! Ich wurde wieder ganz verwirrt.

Dass es an Deck von Menschen wimmelte, hatte ich schon von unten gemerkt. Jetzt, mit einem Male mitten drin, verlor ich ganz die Besinnung — genau so, als wenn ich ungeschlachter Seebär plötzlich auf das Parkett eines glänzenden Hofballes versetzt worden wäre.

Das war ein Gewimmel von phantastischen Gestalten, von braunen Männern und braunen Weibern und braunen Kindern, das flatterte um mich herum von buntseidenen Tüchern und Turbanen und Gott weiß was, und das stank nach Moschus und nach anderem Teufelszeug...


Illustration

Ich war fertig. Mit dem selbstbewussten Kapitän war es schon wieder vorbei.

Ich stand da wie der Ochse am Berge und glotzte hinein in das bunte Durcheinander. Maskerade im Elbschlösschen in St. Pauli.

»Ich glaube, die kochen hier gleich an Deck Kaffee«, sagte hinter mir einer meiner Leute, wohl ein Steuermann.

Ja, ich sah es auch. Da an Deck brannte ein Holzfeuerchen, darüber hing ein Kesselchen — gleich direkt an Deck brannte das Feuer, in die Holzplanken war schon ein anständiges schwarzes Loch hineingekohlt.

Heiliger Klabautermann!! Na, kann man denn nun verstehen, wie mir da zumute ward? Ich glaube, so ein alter pensionierter Major oder ein alter Knasterbart von Wachtmeister kann mich verstehen, wenn er sich vorstellt, die ganze Kompanie träte zum Appell mit ungeputzten Stiefeln an.

Ich wurde immer kopfscheuer, ich stierte jetzt nur noch das Brandloch an Deck an, das Feuerchen, an dem ein Dutzend brauner, mehr oder weniger nackter Weiber kauerten.

»Das ist ja das reine Zigeunerlager«, sagte Beyer.

Jawohl, da hatte er das richtige Wort gefunden.

Aber an Bord eines Schiffes, an Deck — — Himmel, brich ein, Sonne, verlösche...

»Der Sahib und seine Begleiter möchten mir folgen.«

Wer das zu mir gesagt hat, weiß ich nicht mehr. Ich war ganz chloroformiert. Aber ich folgte.

Ich hatte mich doch in eine Decke gehüllt, aber unterwegs war ich mit einem Male nackt, bis auf meine Bauchbinde. Die Decke hatte sich irgendwo festgehakt, sie war mir von den Schultern geglitten, und ich merkte es gar nicht, spazierte so in meiner Bauchbinde hinter dem führenden Inder her — wäre so auch immer weiterspaziert, hätte mir nicht einer meiner Matrosen die Decke wieder über die Schultern gehängt.

Übrigens hatte das hier gar nichts zu sagen. Hier liefen die Männer haufenweise herum, die nicht einmal so eine schöne Bauchbinde hatten, wie ich, nur eine kleine Andeutung von einem Schurze, und den nicht einmal!! Dort stand ein brauner Kerl, der war überhaupt ganz splitterfasernackt, so wie man geboren wird, er drängte sich zwischen eingemummte Weiber, und niemand kümmerte sich um ihn — und nicht etwa alle Frauen waren so eingemummt — dort spazierten ein paar braune Jungfrauen herum, die hatten auch kaum so ein kleines Feigenblättchen an — und wahrhaftig, dort stand eine holdselige Maid aus Schokolade, bei der fehlte sogar dieses Feigenblättchen.

»Du, Wilm«, sagte einer hinter mir, »dat is 'n Karnickelstall, hier blievn wi.«

Ich stolperte weiter — stolperte nämlich deshalb, weil an Deck überall menschliche Beine herumlagen, männliche und weibliche, behoste und unbehoste, und da lag auch noch vieles andere herum, über das man stolpern konnte. Einmal hätte ich bald einen Säugling totgetreten.

Es ging Treppen hinab, durch Korridore, wieder Treppen hinab, immer tiefer. Aber von alledem weiß ich nichts mehr. Ich war chloroformiert. Auch das Bewusstsein war mir ganz geschwunden, mich im Innern eines Schiffes zu befinden. Ich hatte einmal die Londoner Börse besichtigt, und die Erinnerung an dieses Labyrinth tauchte mir jetzt immer auf.

Und dann war ich in einem großen Saale. Und da kam mir plötzlich das Selbstbewusstsein zurück. Denn mehr als das, was ich im ersten Augenblick sah, flüsterte mir eine innere Stimme zu: Richard, halte die Ohren steif, jetzt kommt's drauf an! — und da war ich eben plötzlich wieder der Kapitän Richard Jansen.

Ei, hier war's fein! Pikfein! Auf einem Passagierdampfer war ich noch nicht gefahren, hatte aber schon ein paar besichtigt, und wenn sich die damaligen Passagierdampfer, was ihre Einrichtung betrifft, auch nicht im Entferntesten mit den heutigen Luxusdampfern vergleichen konnten, so suchte man doch schon damals den Passagieren möglichsten Komfort zu bieten, die einzelnen Reedereien machten sich da schon Konkurrenz.

Also auch ich hatte schon etwas von Kajütenluxus gesehen, aber so etwas wie hier noch nicht. Überhaupt war es ganz anders.

Alles orientalisch. Teppiche und Decken und Polster und Kissen — aber nun alles Seide und Samt und Atlas, und dann alles strotzend von Silber, Gold und Edelsteinen.

Faktisch, auf so ein Kissen, wie hier neben mir lag, durfte man sich nicht ohne Hosen setzen, sonst wurde der fleischigste Teil des Körpers gemustert, als hätte man sich auf Erbsen gesetzt. Das Muster bestand aus lauter erbsengroßen Edelsteinen. Ob die echt waren? Nu sicher! Von so einem indischen Maharadscha hatte ich doch schon gehört, in Bombay und Kalkutta, auch selbst schon etwas von indischer Pracht gesehen, wenn so die Radschas auf Elefanten und Rossen ihre Umzüge hielten.

Und dann dort die mächtige Wasserpfeife — Himmeldonnerwetter, so ein Gefunkel von Diamanten! Nee, da waren mir ein ausgesessener Großvaterstuhl und meine Kalkpiep doch lieber.

Und so alles Gold und Silber und Elfenbein und Edelgestein, wohin man nur blickte.

Dann aber fesselte mich die menschliche Gruppe, welche den Mittelpunkt des Ganzen bildete. Denn da waren noch eine Unmenge von weißen und schwarzen, braunen und roten und gelben Männern und Weibern, die so in dem Saale herumlungerten.

Ich dachte lebhaft an Blodwen, oder vielmehr an die römische Villa, wo sich vor einem Throne mein Leben plötzlich so ändern sollte.

Das hier war nämlich auch wieder so ein Thron, der in der Mitte des Saales stand, aber alles mit Edelsteinen gespickt, dass man von dem Golde fast gar nichts sah, und in der Mitte dieses Steinhaufens saßen drei Personen.

In der Mitte saß der Maharadscha. Das sagte man mir nicht, sondern das wusste ich gleich allein. Wer sich auf solch einen funkelnden Steinhaufen setzen kann, das kann nur so ein indischer Nabob sein.

Alle Wetter, der imponierte mir! Es war ein schöner Mann, das tiefbraune Gesicht ernst, edel, und nun dazu ein mächtiger, langer, schwarzer Vollbart.

Die übrige Beschreibung seines Aussehens erlasse man mir. Ich kann Physiognomien und überhaupt die Äußerlichkeiten von Menschen nur schwer beschreiben. Das ist mir nicht gegeben. Oder ich muss reden, wie mir der Schnabel gewachsen ist.

Kurz, dieses Männchen imponierte mir wirklich. Nein, dieser Mann!! Jeder Zoll wahrhafte Majestät! Wenn ich den als meinen Herrn annahm, und er befahl mir, meine Hand oder meinen Kopf auf den Henkersblock zu legen — ich tat's, denn dann musste das irgendeinen triftigen Grund haben, irgendeiner großen, guten Sache zum Nutzen sein.

Ich glaube, besser kann ich mich nicht ausdrücken.

Auf dem Kopfe hatte er einen mächtigen Turban mit ein paar Pfauenfedern, und eingewickelt war er in eine ganze Masse von goldstrotzenden Lumpen. Und auch alles wieder solche blitzende Steine.


Illustration

Nun aber das, was zu beiden Seiten neben ihm saß! Für diese beiden Personen weiblichen Geschlechtes interessierte ich mich nämlich zunächst am allermeisten. Warum nicht? Verheiratet war ich ja noch nicht.

Und die waren auch wirklich des Anguckens wert.

Da war zunächst die Linke — von mir aus gerechnet. Ein prachtvolles Weibsbild! Eine majestätische Juno! Aber aus schwarzbrauner Schokolade. Wenigstens dem Gesichte nach. An den Händen hatte sie so viele Ringe, dass gar nichts davon zu sehen war. Sogar auf dem Handrücken hatte sie solche funkelnde Pflaster. Und ein stolzes Gesicht! Aber hübsch! Oder meinetwegen auch schön. Sogar sehr schön, wunderbar, herrlich, entzückend schön! Ich schätzte sie auf mindestens 150 Pfund — ohne die ganze bunte und goldene Kladderasche, in die sie eingemummelt war.

Das war ganz sicher die allererste Lieblingsfrau des Maharadschas von Radschputana. Mit der hätte ich einmal tanzen mögen.

Ich liebe solche dralle Frauenzimmer — das heißt mit Abwechslung.

Und nun die Zweite, die rechte.

Die war gerade das ganze Gegenteil von der da. Schlank, aber doch sonst appetitlich rund am ganzen Körper, was ich nämlich beurteilen konnte, weil sie zwar angezogen war, aber nur mit so einer Art von ganz durchsichtigem Hemde. Faktisch — eigentlich hatte sie eine ganze Menge Zeug an, lauter solches Gewebe, in das sie eingewickelt war, dreifach oder vierfach, aber das Zeug war wie geschmeidiges Glas, und hätte sie irgendwo am Körper ein Leberfleckchen gehabt, ich hätte es sehen können. Natürlich nur vorn, sie drehte mir doch das Gesicht zu.

Und dieses Gesicht war einfach reizend, lieblich — oder, um mich einmal ganz poetisch auszudrücken; feenhaft. Sie hatte so etwas Holdseliges an sich, und so blickte sie mich auch gleich von vornherein an. Ich glaube sogar, sie lächelte mich an.

Vor allen Dingen aber hatte sie eine weiße Haut, und zwar am ganzen Körper, was ich vollständig beurteilen konnte, und trotzdem musste ich sie den Gesichtszügen nach für eine Inderin halten.

Wirklich eine schneeweiße Haut! Und den ganzen Körper konnte sie sich doch nicht gepudert haben. Und warum soll es denn nicht auch Inderinnen mit weißer Haut geben? In Zentralafrika, gerade im heißesten Strich, gibt es eine weiße Negerrasse, ich hatte schon solche gesehen. Krauses, wolliges Haar, aber die Haut wie bei einem Norddeutschen im Winter, nicht einmal gebräunt. Und nicht etwa Kakerlaken.

Hinter diesen dreien standen noch ein paar Schokoladenmädchen und wedelten mit Fächern aus bunten Federn — alles so, wie es in Tausendundeiner Nacht sein muss und wie man auf Zigarrenkistendeckeln abgebildet sieht.

Ferner saß noch auf den Thronstufen, zu Füßen des Maharadschas, ein Unikum von einem Kerl. Ich habe eigentlich nichts weiter von ihm zu erwähnen, als dass es ein lebendiger Totenschädel war. Von Gesicht gar keine Spur, alles nur Knochen, mit einer gelbbraunen, schrumpligen Haut überzogen. Auch die Nase fehlte, das war nur so ein zersplitterter Knochen — keine Ohren, keine Haare — — kurz und gut, ein perfekter Totenschädel, den man soeben aus der Erde gepaddelt hat. Nur dass darin ein paar lebendige Augen ganz unheimlich glühten. Von seinem Körper konnte ich nichts sehen, auch er war ganz in bunte Decken eingewickelt — nur eine Hand guckte hervor, und nach dieser musste auch der ganze übrige Kerl nur aus Haut und Knochen bestehen, und das ist nicht nur so gemeint, wenn man mit Haut und Knochen einmal einen recht mageren Menschen bezeichnen will. Hier war offenbar kein Quäntchen Fleisch vorhanden.

Mein Arm wurde berührt, der Kuli, der mich schon hierher geführt, winkte mir, ich solle ihm folgen. Dann ergriff er auch meine Hand.

Um nun einmal zu sehen, ob ich auch unter wirklichen Menschen war, nicht nur unter Geschöpfen aus einem Märchen, nahm ich diese braune Hand etwas fester als eigentlich nötig war zwischen meine Tatze.

Der Inder stieß ein Wort hervor, welches ins Deutsche übersetzt, jedenfalls ›Autsch‹ bedeutete, riss seine Hand schnell aus der meinen — so, es war ein Mensch, nun folgte ich ihm willig.

Ich hatte überhaupt schon bemerkt, dass ich nur einen Schritt näher auf den Thron zutreten sollte. Ich sollte vorgestellt werden.

So geschah es denn auch. Doch erst kam noch etwas dazwischen.

Wie ich diesen Schritt tun wollte, trat mir jemand — natürlich war's wieder der dämliche Fritze, der dann aber die Schuld auf Pieplack schob — trat der mir von hinten auf meine Decke, welche infolgedessen abermals von meinen Schultern glitt, und wie ich mich schnell bücke, rutscht mir auch noch meine Bauchbinde herunter.

Na, ich konnte mir nicht helfen. Ich konnte mich nur, die treulose Bauchbinde aufhebend, wieder in meine Decke hüllen.

Übrigens hatte das hier gar nichts zu sagen. Die Fächerwedler dort oben waren doch auch ziemlich ganz nackt, und die Lieblingsfrau an der rechten Seite eigentlich noch viel nackter. Und die lächelte mich nach wie vor holdselig an, während die Dicke an der anderen Seite keine Miene verzogen hatte, so wenig wie die anderen.

So stand ich vor dem Thron. Die holdselige Fee lächelte mich an, und der Maharadscha blickte über meinen Kopf hinweg ins Leere. Und dabei schien es bleiben zu wollen.

Simmer hatte es mir schon gesagt: dieser Maharadscha spräche kein Wort, er sei eine steinerne Statue. Das merkte ich jetzt. So etwas Regungsloses habe ich selten gesehen. Wenn so lebende Bilder gestellt werden, merke ich immer gleich, dass das Menschen sind. Das heißt, ich kann mich nicht in die Vorstellung hineintäuschen, dies seien Statuen; sie können sich noch so sehr mit Kreide beschmiert haben. Ich sehe die Brust gehen, ich sehe immer etwas zucken — ich fühle förmlich aus der weitesten Entfernung die Lebenswärme. Anderen mag es auch so gehen.

Diesen Maharadscha hier aber hätte ich, je länger ich ihn betrachtete, um so eher für eine wirkliche Statue gehalten. Nicht aus Stein, eher aus Holz geschnitzt. Wie er so dasaß, beide Hände auf den Knien, so abgezirkelt, kerzengeradeaus blickend — wirklich, ich dachte einige Augenblicke, es sei doch nur eine Statue.

Da senkte er langsam den Kopf, richtete ihn wieder auf — und mein Inder führte mich wieder einige Schritte seitwärts.

Dann kamen die anderen daran. Es war eine Defiliercour. Jeder meiner Leute musste vor den Thron, ein langsames Nicken, und er konnte beiseite treten. Er war in Gnaden angenommen. Ob der Maharadscha auch einmal den Kopf schütteln konnte, wusste ich nicht.

Sonst kein einziges Wort. Der Bootsmann brachte den alten Holländer angeschleppt, ein Nicken, fertig!

Wir waren durch. Nur Blodwen mit dem Kinde fehlte noch. Aber sie sollte überhaupt nicht kommen.

Mein Führer winkte mir, ich folgte ihm. Es ging wieder Treppen hinauf und durch Korridore, in denen es von braunen Männern und Weibern wimmelte, und unterwegs merkte ich, dass meine Leute nicht mehr hinter mir waren.

»Wo sind meine Matrosen und die andern?«, fragte ich den Führer, ihn einmal am Rockzipfel haltend.

»Mata, Sahib — weiß nicht, Herr.«

»Wohin bringt Ihr mich?«

»Mata, Sahib.«

Wusste der nicht einmal, wohin er mich führen wollte!

Aber ich ahnte schon etwas. Der spanische Kreole hat so eine verdammte Redensart, mit der er einen totmachen kann — Quien sabe? — Wer weiß es? — Hier schien etwas Ähnliches vorzuliegen.

Er kannte sein Ziel doch. Es war eine große Kabine — ein Zimmer, hätte ich bald gesagt, denn mir schwand das Bewusstsein wieder, mich auf einem Schiffe zu befinden — in der eine Menge gelber, brauner und schwarzer Burschen längs der Wände auf Kissen kauerten, neben sich Papier und Rohrhalter zum Schreiben — das taten sie aber nicht, sondern sie rauchten sämtlich lange Pfeifen oder sogen den Qualm aus Papierröllchen — jetzt Zigaretten genannt, die damals aber in Deutschland noch ganz unbekannt waren — und hiermit waren sie so beschäftigt, dass sie höchstens noch Zeit hatten, ihre Fingernägel zu betrachten oder sich einmal an der Fußsohle zu kratzen.

Dann aber war noch ein anderer Mann vorhanden — ein holländischer General! Faktisch, das gelbe, zusammengeschrumpelte Männchen, das mir gleich von vornherein einen recht wehmütigen Eindruck machte, trug die große Generalsuniform der holländischen Fremdenlegion — ich war in Batavia gewesen, daher kannte ich das — goldstrotzend, der Dreimaster mit silbernen Klunkern, die Brust voll funkelnder Orden, und dazu einen Schleppsäbel — wenn er ihn aufrecht stellte, musste er ihm bis an die Brust gehen.

Der hatte mich offenbar erwartet. Denn er rückte noch an dem Dreimaster herum und zog sich noch schnell weiße Handschuhe an, und das ging sehr fix, denn sie waren ihm viel zu groß.

Er klappte die Hacken zusammen, an denen er sogar ganz gewaltige Sporen hatte, und legte den baumelnden Zeigefinger an den Klunkerhut.

»Radscha Ridschar Dschanschan?«

»Bin ich.«

Denn meinen Namen hatte ich herausgehört, so pfiffig war ich.

»Hoble boble radschadadschaquatscha dschai dschai dschai.«

Nein, so pfiffig war ich nicht, um dies verstehen zu können.

»Ich spreche weder Hindustanisch noch Sanskrit noch Malaiisch.«

»Parlezvous français?«

»Nee. Speak english?«

»Yes.«

Er sprach's nicht gut, aber jedenfalls besser, als wenn ich mit meinem bisschen Französisch losgelegt hätte.

Wir gingen in eine kleine Kabine hinüber, die außer vielen Kissen einige Schränke besaß.

Ich merkte mehr und mehr, dass dieses Generälchen überaus nervös war. Sein Gesicht zuckte wie seine Finger, und wenn er nicht mit diesen in der Luft herumzappelte, drehte er sich Zigaretten, mit einer fabelhaften Fixigkeit, pumpte sich die Lunge voll Rauch und warf die halbe Papierrolle weg, und während er den Qualm wieder von sich pustete, aus Mund, Nase und sogar aus den Ohren, drehte er sich schon wieder eine neue.

Er war schon so weit fertig, dass er nicht einmal einen zusammenhängenden Gedanken aussprechen konnte.

»Endlich bin ich... den Göttern sei Dank, dass Sie gekommen sind, um hier... ich bin hier... ich war früher in der holländischen Fremdenlegion, habe es bis zum... Administrator — Sie verstehen, ich habe hier alles unter... bitte...«

Er hatte wieder eine Portion feingeschnittenen gelben Tabak auf ein Seidenblättchen gelegt, reckte die Zunge weit zum Halse heraus, fuhr mit der Rolle über den Fleischlappen, klebte sie zu, bot sie mir an.

Ich dankte. Der Kerl hatte obendrein die galoppierende Schwindsucht.

»Ja, das Zigarettenrauchen ist sehr... aber hier ist es sehr gesund wegen des Jods... ich weiß hier weder aus noch... nehmen Sie doch Platz und... endlich sind Sie...«

Man verlange nicht, dass ich unser Gespräch ausführlich wiedergebe. Ich dachte an Karlemann und wurde gewissermaßen zum Raubtierbändiger. So brachte ich nach und nach heraus, was ich eigentlich sollte.

Ordnung schaffen! Diesen Riesenkasten wieder flott machen. Denn hier herrschte eine heillose Wirtschaft, dass der Dampfer, obgleich sonst alles intakt war, Kohlen und alles vorhanden, nicht wieder von hier weg konnte.

Wie das zu verstehen ist, wird man bald erkennen.

Die Hauptsache war: man hatte die Zügel aus der Hand verloren, und keine Faust war da, die sie wieder packen konnte. Das Staatsschiff war führerlos, es gehorchte nicht mehr dem Ruder, es stand überhaupt kein Mann am Ruder.

»Wie ist denn dieser mächtige Dampfer überhaupt hierher gekommen?«

Ein Kapitän Sawade hatte ihn vor einem halben Jahre hierher bugsiert, damals war noch eine weiße, geschulte Mannschaft an Bord gewesen, die wieder gegangen war, auf einem anderen Schiffe ihren Untergang gefunden hatte.

Um diese Auskunft zu erlangen, war mindestens eine Viertelstunde nötig gewesen. Der Administrator in Generalsuniform — er war wohl bei der Fremdenlegion Büroschreiber gewesen, dann hatte er sich hier gleich selbst zum General ernannt, die Dekorationen waren Jahrmarktsorden, allerdings alles echt — dieses Männchen also fing dazwischen immer wieder von seinen Zigaretten an, von Sonne, Mond und Sternen und anderem Teufelskram.

Wo da das Schiff früher gelegen hatte — solche weitzurückgreifende Fragen durfte ich natürlich gar nicht wagen.

»Kam denn der Koloss durch den Seetang? Besaß er eine Vorrichtung?«

Nach einer weiteren Viertelstunde hatte ich heraus, dass der Kapitän Sawade mitten durch die Fucusbank einen schmalen Weg gekannt hatte, nur mit treibendem Fucus gefüllt, der den Dampfer nicht gehindert hatte.

»Ist dieser Weg immer offen?«

»Mata, Sahib Kapitän. Ich weiß nur, dass... sehen Sie, ich rauche den Tag mindestens sechzig... nicht wahr, heute beginnen die Christen das Jahr achtzehnhundertundsech... wo habe ich doch meine Zünd... wir sind auch mit Zündnadelgewehr... da muss ich Ihnen einen famosen Spaß erzählen...«

Und weil er von seiner Zündholzschachtel auf Zündnadelgewehre gekommen war, dachte er nun weiter daran, dass heute eine seiner Frauen eine Nadel verschluckt haben sollte, verirrte sich dabei nach Java zu einer Tigerjagd und dann wieder zu Pariser Stiefeletten, und so konnte das immer weitergehen, wenn ich das Männchen nicht gewissermaßen beim Kragen nahm und es in diese Kabine zurückbrachte.

Himmelbombenelement noch einmal! Mit dem sollte man nun fertig werden! Der sollte mich in alles einweihen! Dabei aber war er nicht etwa wahnsinnig. Er musste nur richtig behandelt werden, und das gelang mir immer mehr.

Also auch das brachte ich heraus; dieser offene Weg existierte wohl noch, aber niemand an Bord kannte ihn mehr, ich sollte ihn finden oder sonst wie das Schiff, die Freiheit von Indien, in wirkliche Freiheit bringen.

Aber nicht etwa, dass dies meine einzige Aufgabe war. Nicht etwa, dass nur deshalb das Schiff hier festlag. O, das sollte alles noch viel besser kommen.

»Also ich soll hier als Kapitän das Oberkommando übernehmen?«

Das war es!

»Gibt es hier an Bord noch andere europäische Seeleute?«

»Mata, Sahib.«

»Zum Teufel, Sie müssen doch wissen, ob hier noch andere Europäer drauf sind.«

Nein, er wusste es faktisch nicht. Dieser Herr Administrator, der über alles Buch zu führen hatte, konnte mir nicht einmal angeben, ob sich an Bord zweitausend oder viertausend Menschen befänden.

»Alles voll, alles voll«, sagte er, mit den Händen Kreise in der Luft beschreibend und seine vollgepumpte Lunge auspustend, »voll wie meine... der arabische Hakim sagt, ich hätte die Schwind... da muss ich Ihnen erzählen, wie mich neulich der Portugar beschwind... wo habe ich denn nur...«

»Da war aber doch ein Kapitän Simmer, der mich abholte.«

»Dschimmer? Dschimmer? Kenne ich nicht. Aber kennen Sie das Kunststück, wie man...«

Dann, als ich ihn fest gepackt hatte, musste er zugeben, dass einige europäische Kapitäne und Matrosen vorhanden wären, aber wo zur Zeit — ›mata, Sahib‹.

Es gab noch andere kleine Schiffe, Galeerenjachten, die seien zum Teil mit europäischer Besatzung bemannt, die kämen manchmal her, brächten Proviant und was man sonst brauche, die bekämen auch Befehle, wo sie hinzufahren hätten...

»Von wem bekommen Sie solche Befehle?«

»Von Seiner Herrlichkeit dem Maharadscha Ghasna Dschalip Subuktadscha«, deklamierte der General geläufig und verbeugte sich dabei.

»Der gibt direkt Befehle?«

»Nein, durch Toghluk.«

»Wer ist denn das, Toghluk?«

Nach tausend oder hundert Fragen erfuhr ich, dass dies der Totenschädel auf den Thronstufen war, und jetzt wurde die Sache mysteriös.

An Bord dieses Schiffes wohnte der allwissende und allmächtige Brahma selbst, da Brahma aber doch ein wesenloser Geist ist, hatte er sich in dem Mahbramanen Ghasna, der zugleich Maharadscha von Radschputana war, verkörpert, mindestens besaß dieser Brahmas Augen, sodass er alles sehen konnte, was in der Welt passierte, sogar im Stockdustern, und seine ausführende Hand war Rala Toghluk, ein heiliger Fakir, der noch viel mehr konnte als Brot essen.

So, nun wusste ich es. Mir wurde die Geschichte nach und nach langweilig. Außerdem wurde es dunkel. Und noch mehr, außerdem wurde ich langsam hungrig.

»Also ich bin hier Kapitän mit unumschränkter Vollmacht, nicht wahr?«

»Ja, das sind Sie.«

Es war der erste zusammenhängende Satz gewesen.

»Wer ernennt mich dazu?«

»Der Maharadscha Ghasna.«

Die Dunkelheit wirkte auf die Nerven dieses Männchens offenbar beruhigend, er konnte mit einem Male präzise Antworten geben.

»Kann ich da nicht etwas Schriftliches bekommen?«

»Die Urkunde ist schon ausgefertigt.«

Und der Herr Administrator begann denn auch gleich in einem Aktenschranke zu wühlen. Das hatte freilich wieder einige Schwierigkeit, er fand das Schriftstück nicht gleich und erzählte inzwischen von Zigaretten, Hosenträgern und anderen schönen Dingen, die insofern zusammengehören, als sie vom Äther des Weltalls eingeschlossen werden, also gewissermaßen in ein und derselben Schatulle liegen.

Dann aber hatte er es gefunden. Als er das Schriftstück auseinander faltete, war es ein Viereck von gut anderthalb Meter Durchmesser, kaum in den ausgestreckten Armen zu halten.

Als ich es hatte, fühlte es sich wie Seidenpapier an, schien aber zäh zu sein. Wahrscheinlich war es chinesisches Reispapier.

In der Dämmerung kam es mir vor, als ob Ameisen darauf herumkröchen.

»Was für eine Schrift ist das?«

»Hindustanisch. Hier wird nur Hindustanisch gesprochen.«

»Und das ist das Dokument, welches mich als Kapitän dieses Schiffes beglaubigt?«

»Ja, mit unumschränkter Vollmacht. Jeder, dem Sie diese Urkunde, vom Maharadscha selbst unterzeichnet und gesiegelt, vorzeigen, muss sich zu Boden werfen und Ihnen die Füße küssen.«

Das war es nun nicht, was ich hier verlangte. Außerdem stellte ich mir im Geiste vor, wie ich bei jeder Gelegenheit diesen mächtigen Bogen aus der Tasche zog, ihn hundertmal auseinander faltete und ihn dem Betreffenden, der mir irgendeinen kleinen Handgriff tun sollte, erst mit ausgestreckten Händen unter die Nase hielt. Ich habe nun einmal solche Einfälle.

»Lesen Sie mir das Ding einmal vor.«

Der Herr General brachte seine Nase auf das mit kleinen Ameisen bedeckte Papier.

»Ich kann die Schrift nicht mehr erkennen, es ist schon zu dunkel.«

»So machen Sie doch Licht.«

Der General wollte mit Streichhölzchen anfangen.

»Gibt es hier denn keine Lampe?«

Nein, im ganzen Schiffe nicht. Wenn jemand eine Kerze hatte, so war das nur Zufall. Hier wurde mit den Hühnern zu Bett gegangen.

Das heißt, Schiffslampen mussten wohl vorhanden sein, auch eine ganze Menge Fässer Petroleum, aber... ›mata, Sahib‹ — Aufenthaltsort unbekannt.

»Wo bekommt man denn hier etwas zu essen? Ich habe mächtigen Hunger.«

»So essen Sie.«

»Ja, wo denn?«

Mensch, bist du Gottes Sohn, so hilf dir selber. Diener gab's haufenweise, aber keinen Steward, hier musste jeder sehen, wo er blieb. In der Küche wurde gekocht, da konnte man sich Essen holen.

Wie das eigentlich alles gemacht wurde, wer z. B. den Koch anstellte, woher dieser den Proviant bezog, oder was daraus wurde, wenn der Koch einmal erkrankte, das blieb mir vorläufig noch ein Geheimnis, welches mir auch dieser Administrator nicht aufklären konnte.

Nun, später fand ich, dass dies alles überaus einfach war, der Administrator hätte mir nur ein einziges Wort zu sagen brauchen: Gütergemeinschaft.

Aber dass es so etwas auch an Bord eines Schiffes geben könnte, daran dachte ich damals nicht.

Jetzt fragte ich noch, woher ich Kleider bekommen könne. Der General wollte mir seine Garderobe zur Verfügung stellen, nicht daran denkend, dass mir seine Hosen nur bis an die Knie gingen.

Ich verzichtete. Ich hatte genug. Ich verließ die Kabine. Ich würde mir zu helfen wissen. Jetzt sollten die sofort kennen lernen, was ein Kapitän mit unumschränkter Vollmacht zu bedeuten hat. —

Bevor ich schildere, wie es mir an demselben Abend noch weiter erging, will ich hier erst etwas einschalten.

Der Leser dürfte mit Recht fragen: Wo bleibt denn das Fabelhafte, was mir der Kapitän von diesem indischen Riesenschiffe erzählt hatte, dem ich mit solch glühendem Entzücken gelauscht, dass es meine Phantasie selbst im Traume verwirrt hatte?

Ja, auch ich war grenzenlos enttäuscht. Aber ich befand mich ja kaum erst zwei Stunden an Bord, ich konnte mir ja noch gar kein Bild machen, und später sollte ich erkennen, dass mir Kapitän Simmer doch nichts vorgeflunkert hatte. Ich sollte an Bord dieses Schiffes noch Märchenhaftes genug erleben.

Was man sonst von mir hier verlangte, das war mir schnell genug klar. Es galt, den Stall des Augias zu reinigen.

Was das bedeutet, ist wohl bekannt. Sonst soll es noch einmal gesagt werden.

Herkules war zur Sühne einer Schuld verpflichtet, zwölf Arbeiten zu verrichten, welche ihm sein Stiefbruder Eurystheus auferlegen würde.

Als siebente Arbeit bekam er den Auftrag, den Stall des Königs Augias zu reinigen, in dem seit vielen Jahren dreitausend Rinder gestanden hatten, ohne einmal gereinigt worden zu sein, und infolgedessen hatte sich der Mist derartig aufgehäuft, dass eine Reinigung außerhalb der Menschenmöglichkeit zu liegen schien. Schon viele hatten sich an die Arbeit gemacht, aber die dreitausend Rinder waren immer fixer gewesen als die Leute mit den Mistgabeln, es kam nur immer mehr hinzu.

Nun also erhielt Herkules den Auftrag, diesen Stall innerhalb eines einzigen Tages zu reinigen.

Bei dieser Arbeit zeigte sich der Göttersohn mehr als pfiffiger Ingenieur denn als Held — er leitete einfach das Wasser zweier Ströme durch den Stall und schwemmte auf diese Weise den ganzen Mist innerhalb eines Tages fort. Die Heldenarbeit mag nur darin bestanden haben, die beiden Ströme erst abzuleiten, wobei Herkules sicherlich tüchtig mit der Schaufel geschafft haben muss.

Wirklich, für mich lag hier eine ähnliche Aufgabe vor. Ich sollte Ordnung an Bord dieses Riesenschiffes bringen, auf und in dem vollkommene Anarchie herrschte — wenn auch im mildesten Sinne dieses Wortes.

War ich denn hierzu überhaupt befähigt?

Auch der Leser wird schon empfunden haben, dass ich mich bisher, seitdem ich mich Kapitän nannte, nicht besonders mit Ruhm bedeckt hatte. Zumal bei jeder geschäftlichen Angelegenheit hatte ich Fiasko gemacht. Ständig war ich von vorn und von hinten übers Ohr gehauen worden. Kurz und gut, ich eignete mich durchaus nicht zum Geschäftsmann, da war ich naiv und hilflos wie ein kleines Kind, und was man hier von mir verlangte, das hatte doch verzweifelte Ähnlichkeit mit einem geschäftlichen oder organisatorischen Unternehmen.

Eignete ich mich also hierzu wirklich, dass die Wahl des Maharadschas — für mich ebenfalls noch ganz rätselhaft — auf mich gefallen war?

Nun, ich will hier gleich vorausschicken, dass ich diese Aufgabe glänzend gelöst habe. Ja, ich habe diesen neuen Stall des Augias gereinigt, und das in kürzester Zeit. Ich habe vollbracht, was schon manch anderem misslungen war. Denn wie ich später erfuhr, hatte ich schon drei Vorgänger gehabt, ebenfalls Kapitäne, welche Ordnung in diese heillose Verwirrung hatten bringen sollen. Aber alle drei hatten bald die Mistgabel verzweifelt hingeworfen.

Ja, in mir hatte der Maharadscha den rechten Mann gefunden. Denn hier wurden keine geschäftlichen Fähigkeiten, kein Finanzgenie gebraucht, sondern ein Mann, der meine urwüchsige Natur besaß, der genau so auftrat, wie ich es dann tat, was ich nun des weiteren schildern werde.

— • —

39. Kapitel
Die ›Freiheit von Indien‹

Originalseiten II.144 — 179

Ich hatte also schnell die Kabine verlassen, hatte auf dem Korridor schon einige Schritte getan, ehe ich mir bewusst wurde, dass ich hier ja ganz fremd war, und hier herrschte schon eine Stockfinsternis.

Das zusammengefaltete Dokument hatte ich zwischen Leib und Bauchbinde geschoben, sonst hatte ich absolut nichts bei mir. Ich hatte ja aus dem Schiffbruch verschiedene Gegenstände gerettet, die ich eben damals bei mir gehabt — Messer, Bootsmannspfeife und dergleichen, auch meinen silbernen Zahnstocher nicht zu vergessen — aber diese Sachen hatte ich dann, als die Kleider durch die spitzen Steine immer weniger wurden, in den gemeinsamen Sack getan, der alle unsere Habseligkeiten barg, weil wir sie eben wegen Mangels an Taschen nicht mehr bei uns tragen konnten.

So fehlten mir jetzt vor allen Dingen Streichhölzer, um erst einmal das ›Wo bin‹ zu erkennen.

Ich machte die paar Schritte, die ich schon gegangen, ohne sie gezählt zu haben, zurück, fand einen Türgriff, schob die Tür auf und blickte in den Raum, in dem es jetzt ebenfalls vollständig finster geworden war, in dem ich aber mit Sicherheit den kleinen General vermutete.

»Geben Sie mir doch eine Portion Streichhölzer, und dann müssen Sie doch wenigstens eine Kerze haben, sonst kommen Sie mit, ich muss unbedingt Licht haben.«

Keine Antwort.

»He, Herr Administrator, Herr General!!«

Keine Antwort. »Schlafen Sie schon?«

Ich hörte nämlich bereits ein leises Schnarchen.

»He, Herr General, Sie müssen noch einmal auf, da hilft nun alles nichts!«

Ich tat einige Schritte hinein, wollte mich nach der Koje tasten, die ich vorhin gesehen — da stolperte ich über ein Bein, das auf dem Boden lag.

Na ja, es war ja ebenfalls ein Inder gewesen, oder doch ein Mischling, jedenfalls verschmähte er so ein europäisches Schiffsbett, hatte sich an den Boden auf Teppiche gelegt.

Ich bückte mich und hatte ein nacktes Bein in der Hand. Der Herr General hatte sich schon ausgehost.

Ohne daran zu denken, dass dies doch eigentlich recht fix gegangen war, packte ich erst das Bein und schüttelte es, dann griff ich weiter und bekam die nackte Schulter.

»Heh, Herr Administrator, geben Sie mir noch ein paar...«

»Radschadadaschdadschdascha«, erklang es.

Da fühlte ich einen langen Bart. Nein, das war mein Generalchen nicht. Zugleich trat ich noch auf ein anderes Paar Beine, was ebenfalls ein radschadadscha erzeugte, wohl etwas verstimmt hervorgestoßen, aber nicht zornig, und wie ich weiter tastete, bekam ich ein unbekleidetes Frauenzimmer zwischen die Hände, das hatte ich sofort durchs Gefühl heraus, und nun begann es bei mir zu dämmern, dass ich in eine andere Kabine geraten war.

Gleichgültig, die mussten doch auch Streichhölzer haben, hier rauchte ja alles. Aber mein Wunsch sollte sich nicht erfüllen. Die Männlein und Weiblein, mit denen wohl die ganze Kabine vollgepfropft war, wurden wach, ich forderte Streichhölzer auf englisch, deutsch, französisch, italienisch, spanisch, portugiesisch und holländisch — das Streichholz ist doch so ein Bedarfsartikel, welches der Seemann, der mit vielen Nationen in Berührung kommt, in allen Sprachen kennt — allein vergebens, diese Menschen verstanden mich nicht, die sprachen alle nur Hindustanisch — und was Streichholz auf Hindustanisch heißt, das wusste ich nun freilich nicht.

Kurz und gut, ich wurde mit den Leutchen nicht fertig, bekam kein Streichholz und kein anderes Licht — ich tastete mich über nackte Beine hinweg wieder zur Tür.

Mit dieser Gesellschaft war sonst wirklich gar nichts anzufangen. Nicht die geringste Aufregung, dass sich ein Fremder zwischen sie verirrt hatte. Kein Übelnehmen, kein zorniges Wort, wenn ich so auf Beine und Zehen trat. Höchstens ein kleiner Schmerzensruf, der Fuß wurde zurückgezogen — aber nicht einmal ein Aufstehen gab's.

Ich war wieder draußen. Da musste es wohl die nächste Kabine gewesen sein, wo ich den Administrator verlassen hatte, mit dem ich mich wenigstens verständigen konnte. Aber hier genau dasselbe. Wiederum nichts als unbekleidete Beine, die sich, wenn ich weitertastete, in unbekleidete Oberkörper fortsetzten, Männern und Weibern angehörend, und immer nur ein ›Mata, Sahib‹ oder ein sonstiges Gequatsche.

Ich abermals hinaus. Nun aber war es mir klar, dass ich die Kabine des Administrators schon hinter mir hatte. Ich war zu weit gegangen. Noch zwei Versuche machte ich, sie zu finden, geriet immer in vollbesetzte Kabinen, trat auf Beinen herum, erhielt unverständliche Antworten, nur kein Streichholz.

Jetzt gab ich die Hoffnung auf, den Administrator noch zu finden. Ich tastete den endlosen Korridor entlang, nach einem Lichtschein spähend. Auch hier ab und zu zwei unbekleidete Beine, quer über dem Korridor liegend.

»Speak english? Parlezvous français? Parla italiano?«, examinierte ich jedesmal, nachdem ich den Schläfer wach bekommen hatte.

»Radschadadschaquatsch.«

Und dabei blieb es. Keinem einzigen konnte ich mich verständlich machen. Und wegen des Nachtwandlers niemals die geringste Aufregung. Ich brauchte nur einen Schritt weiter gemacht zu haben, so hörte ich es hinter mir schon wieder schnarchen.

Dann kam ich an eine nach unten führende Treppe, stieg sie hinab, in der Hoffnung, in dieser Region ein Licht oder einen mich verstehenden Menschen zu finden.

Nichts war es! Auf diesem Korridore genau dasselbe! Ab und zu unbekleidete Beine und die freundliche Versicherung, dass man mich nicht verstände. Dagegen waren hier die Kabinen, die ich untersuchte, leer.

Himmelbombenelement! Wie lange irrte ich denn nun schon so umher? Außerdem hatte ich unterdessen meine Decke wieder einmal verloren, hatte mir auch gar keine Mühe gegeben, sie wiederzufinden.

Doch ungehalten wurde ich nicht. Im Gegenteil, mir hätte dieses nächtliche Abenteuer rechten Spaß gemacht, so etwas hatte ich denn doch noch nicht erlebt, wenn... mich nicht schon seit einiger Zeit etwas Menschliches gequält hätte.

Nach diesem Orte suchte ich jetzt. Ich fand ihn nicht. Das wäre ja auch ein großer Zufall gewesen. Ich fühlte Teppiche, Polster, andere Gegenstände — nur den einfachen Sitz nicht, den ich suchte. Und dann kam auch keine Treppe mehr, auf der ich hätte wenigstens das Deck erreichen können.

Himmel Herrgott!! Was nun tun? Bei mir wurde es nach und nach die höchste Zeit. Ich bekam eine wahre Todesangst.

Na, weshalb sich denn da zu Tode ängstigen.

In solch einer verzweifelten Lage soll sogar bei jeder Hofdame der Anstand aufhören. Ich hatte gerade einen Smyrnateppich unter meinen nackten Füßen, und ich hatte keine Zeit mehr, erst eine andere Bodenart aufzusuchen.

Also los! Und als ich aufstand, hatte ich auch meine Kapitänsurkunde zurückgelassen. Jetzt war mir alles schnuppe. Und die Urkunde war gerade so hübsch weich gewesen.

So, da lag die ganze Geschichte. Und die Wanderung im Finstern wurde fortgesetzt, jetzt in größter Seelenruhe, und jetzt konnte ich lachen.

Wo mochten meine Jungen stecken? Die zu finden, durfte ich nicht hoffen. In diesem riesigen Schiffe hätte wohl auch schwerlich eine Bootsmannspfeife etwas genützt.

Da stieß mein Kopf an etwas, und es gab einen Ton von sich. Eine Glocke, eine außerordentlich große. Am Klöppel hing ein Riemen.

Sollte ich? Jawohl! War doch gespannt, was für einen Erfolg das hatte. Und ich fing an zu bimmeln. Die Glocke hatte einen ganz mächtigen Klang. Und ich läutete aus Leibeskräften, mit Zwischenpausen ein paar Minuten lang.

Nicht der geringste Erfolg. Kein einziger Mensch kam, weder mit noch ohne Licht.

Was die hier eigentlich dachten, das mochte ich auch wissen. Erhaben über alles, was um sie her vorging. Schon nach wenigen Schritten stolperte ich wieder über ein Paar Beine. Der Kerl war wach, hatte aber gar nicht daran gedacht, wegen der Bimmelei aufzustehen. Ich glaube, das Schiff hätte brennen können.

Und dass dem wirklich so war, dass wirklich das ganze Schiff hätte brennen können, ohne dass hier irgendwie die Seelenruhe gestört worden wäre, das sollte ich später in einer fürchterlichen Situation noch als Tatsache erfahren.

Nun aber hatte ich dieses Nachtwandeln satt. Meine langen Beine sehnten sich nach Ruhe. Hier der Korridor hatte Holzboden, das war nichts — in der nächsten Kabine, in der ich wieder Teppiche und Polster fand, wollte ich meine müden Glieder ausstrecken.

Aber gerade jetzt wollte auf dem Korridor keine Tür mehr kommen, wie ich auch die Wand entlang tastete.

Endlich doch! Es war eine sehr große, hohe Tür, die ich aufschob. Gleich schlug mir ein Parfümdunst entgegen, den ich nicht leiden mag. Doch der Teppich, den ich unter meinen nackten Füßen fühlte, war sehr mollig.

Also hier geblieben! Aber gleich neben der Tür brauchte ich mich nicht hinzulegen. Ich tat einige Schritte hinein, verlor an einer Ecke die Fühlung mit der Wand, warf beim Tasten einige Gegenstände um, deren Ursprung oder Beschaffenheit ich nicht erraten konnte, ging weiter — plötzlich verlor ich den Boden unter den Füßen.

Es waren zwei Stufen, die ich hinabstolperte, und so etwas ist im Finstern bekanntlich sehr unangenehm, man weiß nicht, ob man nur zwei Stufen oder zwei Etagen hinabfallen wird — und in meinem begreiflichen Schreck verlor ich nun völlig die Balance und schlug der Länge nach auf etwas Weiches.

Gott sei getrommelt und gepfiffen, dass du so schnell gelandet bist, dachte ich, und dann konstatierte ich, dass das weiche Polster, auf das ich der Länge nach gefallen, ein Frauenleib war, nicht ganz nackt, aber doch so ziemlich.

Wie ich noch so dachte, was nun tun, ob hier eine Entschuldigung angebracht wäre, mich vor allen Dingen noch dem fröhlichen Bewusstsein hingebend, dank dieses menschlichen Polsters nichts gebrochen zu haben — da umschlangen mich plötzlich zwei dicke, nackte Arme, die gleich meinen Kopf herabzogen.

»Radschadaschaquatscha.«

So wurde mir mit heißem Atem ins Ohr geflüstert. Himmeldonnerwetter!! Was sollte ich tun?

Na, ich will's kurz machen. Ich blieb gleich hier liegen. Die ganze Nacht.

Es war ein strammes Frauenzimmer, das mich nicht mehr aus den Armen ließ. Ich dachte einmal an Blodwen... aber nur sehr flüchtig.

Gott, ich war doch nicht verheiratet, und überhaupt, was hätte ich denn machen sollen? Ich konnte doch nicht um Hilfe schreien.

Das Weibsbild war verliebt bis über die Ohren. Merkwürdigerweise wusste sie, wer ich war. Sie nannte mich mehrmals ›Sahib Kapitana‹. Von ihrer sonstigen Quatscherei, die sie mir oft ins Ohr flüsterte, verstand ich nichts. Jedenfalls war's ein prachtvolles Weib. Und dann musste es etwas Vornehmes sein. Sie hatte eine Unmenge von Ringen auf den Fingern.

Herrgott, dachte ich einmal, das wird doch nicht etwa gar... Da schlief ich ein.

Als ich erwachte, drang durch die Bullaugen schon der Tag herein. Zuerst wusste ich gar nicht, wo ich war. Ich hielt alles für einen kuriosen Traum.

Wie ich mich so mit halbgeöffneten, schlaftrunkenen Augen umschaute, sah ich eine sehr geräumige Kabine, prachtvoll eingerichtet, aber nach orientalischer Art, also statt der Möbel mit Polstern und Kissen, dabei alles strotzend von Goldstickereien — dann wurde ich gewahr, dass ich ziemlich tief lag, auch nur auf so einem Teppichbett — und was hatte denn der dicke, braunschwarze Arm zu bedeuten, der da quer über meiner Brust lag?

Da kam langsam die Erinnerung, ich wendete den Kopf zur Seite — jawohl, da lag sie noch an meiner Seite, so ziemlich in paradiesischer Unschuld, ich konnte ihr Gesicht sehen, und... weiß Gott, die erste Lieblingsfrau, die auf dem Throne rechts neben dem Maharadscha gesessen hatte!!

Was ich in diesem Augenblicke gedacht habe, kann ich gar nicht schildern. Ich sollte auch gleich etwas anderes zu denken bekommen.

Da höre ich neben mir, auf der anderen Seite, ein Murmeln, ich drehe den Kopf dorthin, schon von einer bösen Ahnung erfüllt, und... da kniet neben dem Teppichbette, nur zwei Schritte von mir entfernt, der Maharadscha in höchst eigener Person auf dem Boden, das Gesicht gegen das Bullauge gewendet, verbeugt sich immer — verrichtet sein Morgengebet!

Na, was daraus noch werden sollte, darauf war ich doch wirklich gespannt. Hatte der mich denn noch gar nicht gesehen? Doch unbedingt! Ja, aber...

Ich dachte überhaupt gar nichts mehr. Mir blieben Herzschlag und Denkfähigkeit und alles stehen.

Wenn der jetzt fertig ist mit Beten und steht auf und sieht dich hier neben seiner Lieblingsfrau... du kannst ja gar nischt dafür, aber... Ehebruch, Mord, Folterqualen... sollst du ihn zuerst niederschlagen oder lässt du ihm den Vorrang... und dabei glotze ich den Maharadscha, der schon in vollständigem Ornat ist, immer an.

Er ist noch nicht fertig, murmelt noch immer seine Sprüche, da wird das Weib neben mir lebendig, sie ist erwacht — ›radschadadschaquatscha, Sahib Kapitana‹ sagte sie zu mir im zärtlichsten Tone und drückt mich an ihr Herz — und wie ich noch überlege, ob ich jetzt aufspringen und das Weite suchen oder dem da eins über den Kopf geben oder mir eine Decke über die Nase ziehen soll, dass er mich vielleicht nicht sieht, da erhebt sich der Maharadscha, baut sich vor unserem Bett auf, und während sich seine Lieblingsfrau gar nicht in ihren Gunstbezeugungen stören lässt, macht der vor mir eine höfliche Verbeugung, mit der Hand auf dem Herzen, murmelt etwas, jedenfalls wünscht er mir einen gesegneten Morgen, wendet sich und verlässt mit majestätischem Schritte die Kabine.

Ich starrte ihm nach. In meinem Kopfe drehte sich noch immer alles. Ich konnte es nicht fassen. Das braune Weib belehrte mich, dass es noch immer neben mir lag.

Aber da gab es nun nichts. Aufklärung konnte die mir doch nicht geben, wir verstanden ja einander nicht — nur in der Sprache, die alle Welt versteht — und damit war mir jetzt nicht mehr gedient, ein ganz undefinierbares Gefühl packte mich plötzlich, ich sprang auf und floh davon wie weiland... wie der keusche Joseph vor Potiphars Weib, hätte ich beinahe gesagt.

Nein, diesen Vergleich durfte ich nun freilich nicht herbeiziehen. Nicht einmal meinen Mantel konnte ich in ihren Händen zurücklassen, ich hatte ja gar keinen mitgebracht. Aber ich floh.

Auf dem Korridor strömten wieder Menschen hin und her, lauter braune und schwarze und gelbe, ganz verschieden angezogen, nur nicht in europäischer Tracht, manchmal auch gar nicht angezogen.

Deshalb fiel auch meine lange Wenigkeit nicht im Geringsten auf. Und doch, es war merkwürdig, dass man mich blonden Jüngling mit dem schneeweißen Körperteint so wenig beachtete.

Nun, mein Entschluss war gefasst. Ich hatte mich wiedergefunden. Und wenn ich auch meine seidenweiche Vollmachtsurkunde zu anderen Zwecken benutzt hatte — ich fühlte mich als der Kapitän, der über alle diese Leute und über dieses ganze Schiff gesetzt worden.

Das erste war, dass ich einen Kerl anhielt, der in einen prachtvollen roten Mantel gehüllt war.

»Sprechen Sie Deutsch, Englisch, Französisch? Nee? Tut mir leid, dann geben Sie mir mal Ihren Mantel her.«

Schon hatte ich dem Mephisto den roten Mantel von den Schultern genommen — ich weiß nicht, was er dabei dachte, er schien etwas fassungslos zu sein — als ich eine mir jetzt viel interessantere Gestalt erblickte.

Es war ein Gelber, der an mir vorübergehen wollte, wahrscheinlich ein Araber, baumlang und... vollständig modern nach europäischen Begriffen gekleidet, in einen dunkelblauen Jackettanzug, nur ein rotes Fes tragend.

Es war der erste europäische Anzug, den ich hier erblickte, und der kam mir gerade recht zu passe, zumal er meine Größe besaß.

Ich trat ihm in den Weg, fragte diesmal nicht erst, ob er Deutsch oder Englisch oder Französisch könne, sondern ich griff gleich zu, streifte ihm zunächst die Jacke ab.

Der Mann war sichtlich erschrocken. Sollte er auch nicht!

»Aber, mein Herr«, fing er auf englisch an, »was wollen Sie denn von...«

»Ihre Weste will ich haben«, sagte ich und begann ihm diese abzuknöpfen.

»Ich bin — ich habe...«

»Sie sind mein Mann, den ich jetzt brauche, weil Sie gerade die richtige Länge haben«, sagte ich und streifte ihm die Hosenträger über die Schultern. »So, nun ziehen Sie mal Ihre Hosen aus.«

»Aber, Herr Kapitän, ich bin...«

»Sie wissen also, wer ich bin? Dann her mit der Hose!«

Und weil er mir zu langsam war, stellte ich ihm ein Bein, und als er auf dem Boden saß, zog ich ihm erst die Stiefel aus und dann die Hose und dann das Oberhemd.

Er trug noch Unterhosen, die wollte ich ihm großmütig lassen, ebenso wie die Strümpfe. Von zweiter Hand Strümpfen bin ich kein Freund.

Er hatte die Sprache verloren, glotzte mich an, wie ich jetzt Hosen, Stiefel, Hemd, Weste und Jacke anzog. Kragen und Schlips brauchte ich nicht, die konnte er sich dann wieder umbinden.

»Sehen Sie, geehrter Herr«, sagte ich während dieser Beschäftigung, »ich bin es überdrüssig, hier als Kapitän im Adamskostüm herumzulaufen, und dass hier Gütergemeinschaft herrscht, das habe ich nun schon heraus, also nehme ich mir die Freiheit...«

»Aber Sie brauchen doch nur nach dem Garderobenraum zu gehen, da können Sie sich alles aussuchen...«

»Wenn Sie den Garderobenraum kennen, so gehen doch lieber Sie hin, ich bin mit Ihren Sachen gerade recht zufrieden, sitzt alles wie angegossen. Doch da wir uns verständigen können, werden Sie mir jetzt gleich als Führer dienen...«

»Ich bin in den Harem des Maharadschas befohlen«, stieß der Entkleidete hervor, sprang schnell auf und rannte davon, und nachlaufen konnte ich nicht, weil ich noch mit meiner Hose beschäftigt war.

Wie ich später erfuhr, war es der arabische Arzt gewesen, den ich ausgezogen hatte. Und das merkte ich sofort, dass es hier absolut kein Übelnehmen gab. Der Mann war nur überrascht gewesen, dass ihm jemand so ohne Weiteres die Hosen auszog, nichts weiter. An der Weste baumelte noch eine goldene Kette, daran eine goldene Uhr — es hat sehr lange gedauert, ehe sie Effendi Abdallah von mir zurückerbat, in aller Bescheidenheit, und hätte ich nein gesagt, so wäre die Uhr mein Eigentum gewesen. Hier herrschte perfekte Gütergemeinschaft, die freilich nur zwischen solchen Indern möglich war, welche absolut nichts von Egoismus und dergleichen wussten.

Nun aber war ich wiederum allein. Kein Mensch konnte mich verstehen. Doch jetzt, in ordentlichen Sachen, wieder feste Ledersohlen unter den Füßen, fühlte ich mich ganz bedeutend sicherer.

Um meine Lebensfröhlichkeit völlig wiederzugewinnen, fehlte jetzt nur noch eines — und da kam dieses auch schon anmarschiert, nämlich eine Reihe von Männern, Weibern und Kindern — doch die waren Nebensache, Hauptsache hingegen, dass sie alle Holz- oder auch Porzellannäpfe trugen, aus denen es gar lieblich duftete.

Sie hatten sich ihr Frühstück geholt, bestehend aus Reis mit Curry. Curry ist ein pfefferartiges Gewürz, aus einer Wurzel hergestellt, und der Inder will alles mit Currypulver angerührt haben, auch wirklich ausgezeichnet schmeckend. Nur gehört dazu eigentlich noch in Würfel geschnittenes Hammelfleisch — und siehe da, nicht alle waren hier Vegetarier, da schwammen wirklich schon die Hammelfleischwürfel in dem rotbraunen Reis.


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Diejenigen, welche solche Schüsseln trugen, ließ ich nicht an mir vorbeigehen, nur der Löffel fehlte, doch ich wusste mir zu helfen, ohne wie die Inder und Araber mit den Fingern essen zu müssen, ein Weib hatte ein Näpfchen mit Zucker, dieses Näpfchen diente mir als Löffel, und schmunzelnd sahen mir die Beraubten zu, wie ich vier solcher ansehnlichen Schüsseln leerte.

So, nun fühlte ich mich wieder als Mensch.

Diejenigen, deren Schüsseln ich geleert, gingen wieder zurück, und ich folgte ihnen, in der Aussicht, wenn nicht an Deck, so doch nach einer Küche zu gelangen, wodurch sich meine Kenntnis des Schiffes doch wenigstens in etwas erweiterte.

So war es denn auch. Erst hatte ich noch zwei Treppen hinaufzusteigen. Überall wurde von braunen Männern gereinigt, gefegt, geputzt. Also ein Arbeitsplan herrschte dennoch hier. Nur wer diesen entwarf, wer hier anstellte, das war mir noch ein Rätsel. Verständigen konnte ich mich mit keinem einzigen.

Die Quelle, wo die Schüsseln gefüllt wurden, befand sich im Zwischendeck, deren es allerdings mehrere gab. Doch so ausführlich will ich nicht werden.

Es war eine regelrechte Küche, in dem vier braune Köche hantierten, aus großen Töpfen die Näpfe der Vorübergehenden mit Schöpflöffeln füllten. Es ging ganz ruhig zu, jeder trat hinten an und wartete geduldig, bis er an die Reihe kam. Kein Stoßen, kein Schieben, noch weniger eine Spur von Zank. Nichts weiter als ein fröhliches Schwatzen. Gefeuert wurde mit Steinkohlen.

Alles blickte nach mir, neugierig, aber ohne Scheu, vielmehr wurde gelacht, und der eine braune Koch winkte mir kollegial zu, heranzukommen.

»Du Kapitän?«, grinste er vergnügt, sich eines gebrochenen Englisch bedienend.

»Woher weiß du das?«

»Fango uns erzählt.«

»Wer ist Fango?«

»Fango Teppiche poch poch machen.«

Nun, dieser Teppichausklopfer schien nicht die richtige Person zu sein, an welche ich mich zu wenden hatte.

»Wer hat dich hier angestellt?

»Angestellt?«

Der Koch verstand mich gar nicht.

»Wer ist hier der erste Koch, wer der zweite, der dritte, der vierte?«

»Nix zweiter und dritter und vierter Koch — wir alle erster Koch.«

Ich will gleich sagen, was für ein Verhältnis hier herrschte; mir ging schon jetzt eine Ahnung davon auf.

Hier herrschte vollkommener Anarchismus. Aber im edelsten, im idealsten Sinne gemeint. Denn eigentlich hat der Anarchismus ja gar nichts mit der Bombenwerferei zu tun. Doch da man dies mit dem Worte Anarchismus nun einmal immer verbindet, so wollen wir dieses Wort lieber nicht gebrauchen und dafür sagen: hier herrschte die idealste Gütergemeinschaft und Arbeitsteilung — einer für alle und alle für einen.

Solch ein idealer Zustand war freilich nur unter diesem indischen Völkchen möglich, und dann hatte das auch seine bedeutenden Schattenseiten.

Dieses Riesenschiff war vor einem Jahre nach einem kleinen, fast unbekannten indischen Inselhafen gekommen, hatte hier die in Europa angefertigte Maschinerie und die ganze übrige Einrichtung erhalten — doch über die Einzelheiten konnte ich niemals etwas Richtiges erfahren, zuletzt wurde ich auch so, dass ich alles nahm, wie es nun einmal war — der Maharadscha war mit seinem ganzen damaligen Hofstaat an Bord gekommen, der Kapitän Sawade, der mir ebenfalls immer eine mysteriöse Figur blieb, hatte die ›Freiheit von Indien‹ hierher gebracht, und nun hatte auf dem festgefahrenen Schiffe alles seinen alten Lauf genommen.

Dieser Koch hier hatte schon im Palaste des Maharadschas die Bedientenküche unter sich gehabt. Und schon am Hofe dieses Maharadschas hatte solch ein ideales Arbeitsleben geherrscht.

Ging einmal ein Koch durch Tod oder aus einem anderen Grunde ab, so kam von selbst ein anderer Mann, dem es Vergnügen machte, für die anderen das Essen zu bereiten, und so war das hier bei allem und jedem, jede Aufsicht, jede Anstellung fehlte, und dennoch wickelte sich das ganze Leben aufs beste ohne jeden Zank und Streit ab.

Freilich hatte das auch seine Schattenseiten. Dazu kam überhaupt das ganze indische Dienstbotenwesen in Betracht.

Bekanntlich sind in jedem indischen Hause, welches etwas gelten will, eine ganze Menge von dienstbaren Geistern angestellt, bei denen die Arbeitsteilung mit lächerlicher Akkuratesse durchgeführt ist.

Wenn ich in solch einem indischen Hause zu Gaste bin, liege ich auf dem Diwan, ein Diener fächelt mir Kühlung zu, ich will Feuer für meine Zigarre haben, sage es dem Diener, er soll mir dort das Feuerzeug geben — fällt dem Kerl gar nicht ein, der hat nichts weiter zu tun als mit dem Fächer zu wedeln — da aber mein Wunsch dennoch erfüllt werden soll, so läuft er hinaus und sucht im ganzen Hause den Mustapha, denn dessen Amt, ist es, mir Feuer zu geben — und wenn es auch eine halbe Stunde dauert, bis er den Mustapha gefunden hat — so lange muss ich eben warten, wenn ich zu faul oder wie der Inder zu stolz bin, mir dort das Feuerzeug selbst zu holen — und wenn ich wissen will, wie viel Grad Wärme heute sind, so ist da wieder ein besonderer Diener angestellt, welcher das Thermometer unter sich hat, und in sehr großen Häusern hat so ein brauner Kerl überhaupt nichts weiter zu tun, als das Thermometer zu beobachten und auf Befragen die Zahl der Grade abzulesen.

Das ist tatsächlich so. Jeder, der in Indien gewesen ist, wird dasselbe erzählen.

Hier war es insofern etwas anders, als jeder gern dem andern half. Aber im Grunde genommen doch genau dasselbe.

Da hatten z. B. zwei braune Männer täglich das Messinggeländer einer Treppe zu putzen, der eine das linke, der andere das rechte. Eines Tages kam der Linke nicht mehr, hatte eine andere Anstellung erhalten, war sonst wie verschwunden. Der andere putzte jeden Tag sein rechtes Geländer aufs gewissenhafteste — aber um das linke kümmerte er sich nicht, das konnte erblinden und verrosten. Bis ein neuer erschien, der sich wieder des linken Geländers annahm.

Aber ob dies der Mann freiwillig tat, oder ob er da von irgend jemandem den Befehl dazu erhielt, das sollte mir noch lange ein Geheimnis bleiben.

»Woher bekommst du den Proviant, den du kochst?«

»Den bringt mir Rahal.«

»Und die Kohlen?«

»Die bringt mir jeden Abend Nilikan.«

»Wo ist dieser Nilikan jetzt?«

»Mata, Sahib.«

»Was machen die beiden sonst?«

»Mata, Sahib.«

Da war es immer die alte Geschichte. Keiner wusste vom anderen etwas.

»Du essen willst?«, schmunzelte der Koch, mir einen Napf hinhaltend. »Deine Diener auch schon Essen von mir.«

»Wie, meine Leute waren schon hier und haben sich Essen geholt?«

»Ja, Sahib, viel, viel Essen.«

Na, endlich doch eine Kunde, dass sich meine Leute noch an Bord befanden! Aber wie viel und wer es gewesen, dass konnte ich durch Beschreibung nicht herausbringen, hatte ja auch gar keinen Zweck.

»Nix essen wollen?«, schmunzelte der braune Koch, mir noch immer die Schüssel vorhaltend, und jetzt griff er mit den Fingern in den dicken Reis, formte eine Kugel und wollte sie mir in den Mund schieben, der ich nur ausweichen konnte, indem ich schnell einen Schritt zurücktrat. Na, warte, du sollst noch kennen lernen, was ein Kapitän zu bedeuten hat!

»Hallo, Käpt'n!«, erklang es da nicht weit von mir.

Ich hätte in dem Türkenkostüm bald meinen Bootsmann nicht erkannt, obgleich der Kaftan die krummen Beine nicht ganz verbergen konnte.

Endlich eine verwandte Seele!

»Wo sind die anderen?«

»Mata, Sahib«, war die vergnügte Antwort.

»Höre«, sagte ich und hob die Faust, musste aber dabei doch lachen, »wenn du jetzt auch mit dieser nichtswürdigen Antwort anfängst, dann... Wo sind die anderen, die Offiziere?«

Er wusste es wirklich nicht. Er hatte sie ebenfalls schon gestern Abend verloren.

»Wo hast du geschlafen?«

»Habe gar nicht geschlafen, Käpt'n.«

Dabei aber zwinkerte der Kerl so verdächtig mit den Augen.

»Was soll das heißen? Wo bist du denn die ganze Nacht gewesen?«

»Bei einer Japanerin — o, eine lütte seute Deern, Käpt'n.«

Und der krummbeinige Bootsmann schnalzte mit der Zunge, schnalzte mit den Fingern und verdrehte die Augen.

Ich konnte ihm keine Vorwürfe machen.

»Du hast überhaupt heute keinen gesehen?«

»Ja, den Moritz — ich guckte in eine Kabine — aber der hatte eine Schwarze — da war ich überflüssig — da bin ich gleich wieder gegangen.«

»Hast du die Lady gesehen?«

Nein, von Blodwen wusste der Bootsmann erst recht nichts.

»Wir wollen an Deck gehen.«

Diesen Weg wussten wir bald zu finden. Unterwegs kamen wir noch an einer anderen Küche vorbei, in der offenbar nur Kaffee gebraut wurde.

Dann befanden wir uns an Deck, auch schon wieder mit Menschen gefüllt, die meistenteils Toilette machten, sich wuschen, Männlein und Weiblein in paradiesischer Unschuld.

Da sah ich zwischen den halb und ganz nackten Gestalten einen Menschen spazieren, der einen grau und schwarz gewürfelten Anzug an hatte, und unter der Mütze quollen blonde Haare hervor.

Wieder jemand, an den ich mich halten konnte. Aber wie er sich herumdrehte, war es Mahlsdorf, mein erster Steuermann.

»Was machen Sie denn hier?«

»Ich suche Sie und unsere Leute.«

Auch Mahlsdorf hatte alle Fühlung verloren.

»Weiß der Teufel, wie man sich aber auch hier verkrümeln kann!«, sagte er.

»Wie haben Sie denn die Nacht verlebt?«

»Fein!«, war die prompte Antwort. Dann aber kratzte er sich wie verlegen hinter den Ohren.

»Wissen Sie, Herr Kapitän — als ich fünfzehn Jahre alt war — ich ging noch zur Schule, ins Gymnasium, bin erst später zur See gegangen — da kratzte ich einmal von zu Hause aus. Hatte eine Dummheit gemacht. Und da geriet ich zwischen so eine Zigeunerbande, bin ein paar Wochen mit ihr herumgezogen, bis man mich aufstöberte und zurücktransportierte. Aber hübsch war's doch gewesen, damals zwischen den Zigeunern und zwischen diesen braunen Mädeln und Frauen. Aber da gibt's ja überhaupt gar keinen Unterschied. Na, was ich da alles erlebt habe. Und ich war erst fünfzehn Jahre alt. Und — wissen Sie, Herr Kapitän — ich muss immer daran denken — das hier ist nämlich auch so ein Zigeunerlager. Nur auf dem Wasser.«

Ja, da hatte der Steuermann recht. Das war ein richtiges Zigeunerlager. Nur zur See. Seezigeuner. Aber sonst stimmte alles. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit — Gütergemeinschaft und... Weibergemeinschaft. Und das alles in der holdseligsten Unschuld. Wie im Paradiese!

»Woher haben Sie denn diesen famosen Anzug, auf dem man Schach spielen kann?«

Mahlsdorf hatte das Garderobelager entdeckt! Das war schon etwas. Wenn jeder so etwas fand, dann wollten wir im Laufe einiger Jahre hier schon zurechtkommen.

»Alles vollgepfropft von Wäsche und Kostümen, freilich mehr für Inder und Türken, nur ein paar europäische Anzüge waren da, ich fand den hier am passendsten.«

»Und wo ist dieses Garderobelager?«

Der Steuermann kratzte sich wieder hinterm Ohre.

»Kapitän — wenn ich offen sein soll — tief, tief unten im Schiff — aber wieder hinfinden könnte ich mich nicht. Dieser Bienenstock ist mir gar zu riesenhaft.«

Also da war es wieder nichts mit meiner Hoffnung gewesen.

»Jetzt«, sagte ich, »müssen wir erst einmal eine feste Position gewinnen, und das kann nur die Kommandobrücke sein.«

Diese befand sich ziemlich weit vorn — das musste ja auch auf dem über 200 Meter langen Schiffe sein — war ein mächtiges Ding, ein ganzes Gerüst mit vielen Etagen, obendrauf das Kartenhaus war dementsprechend groß, so eine ansehnliche Villa, und dann noch eine ganze Menge Nebengebäude — wenn sich ein Seemann so ausdrücken darf.

Schon von unten bemerkte ich eine Menge brauner Menschen dort oben. Richtig, selbst auf der Kommandobrücke wurde ein gemütlicher Kaffeeklatsch abgehalten, und Weiblein waren nicht minder zahlreich vorhanden als Männlein und Kinderlein.

Dann aber bemerkte ich gleich, dass hier alles blitzblank war, und da lagen ja auch noch die Putzlappen und was sonst noch dazu gehört.

Der Steuermann hatte wohl vor, die ganze braune Gesellschaft hinabzujagen, aber ich wehrte ihm. Wir konnten sie vielleicht doch noch ganz gut gebrauchen. Denn ich kannte die indischen Verhältnisse schon einigermaßen, war ja auch schon auf einem indischen Passagierschiffe gefahren, zwischen Singapur und Batavia, und da hatte die Kommandobrücke und jeder andere Teil des Schiffes ebenfalls seine speziellen eingeborenen Arbeiter gehabt, und ich hatte dieses System ganz vortrefflich gefunden.

Nix Englisch, nix Französisch, nix Deitsch. Und die Kaffeetrinker ließen sich gar nicht stören. Sie hatten ihre Pflicht getan, und damit basta. Nun, ich ließ sie in Ruhe.

Dieser Riesendampfer hatte für den Maschinenapparat schon so einen elektrischen Signalapparat, von dem uns auf der Steuermannsschule ein Modell erklärt worden war. Drehen ließ sich der Hebel, aber es klingelte nicht, und auch die elektrische Klingel am Sprachrohr versagte. Sonst aber war alles in tadelloser Ordnung. Im Kartenhaus lagen die Seekarten vorschriftsmäßig in den Regalen, in dem Instrumentenschrank war alles blitzblank.

Die Besichtigung der anderen Häuserchen ergab, dass diese zur Aufnahme von Offizieren und wohl auch für den Kapitän bestimmt waren, eine hübsche Kajüte war vorhanden, hier war auch alles noch mit europäischen Möbeln ausstaffiert.

»Es ist von vornherein damit gerechnet worden, dass der Dampfer von europäischer Mannschaft bedient wird«, meinte der Steuermann, eigentlich ganz überflüssig. Oder hat man schon einmal ein Schiff gesehen, welches den Ozean befährt und eine andere als europäische Besatzungen hat? Abgesehen von nordamerikanischer. Die Japaner machten damals von sich noch nicht reden, und auch die Türken konnten ohne geschulte Mannschaft aus dem Abendland nicht auskommen.

In einem besonderen Häuschen erkannte ich, dass hier der spezielle Feuerwerksraum war, in dem die Raketen und die anderen Lichtmittel aufbewahrt werden, und da fiel mir und wohl auch den anderen sofort ein, dass dieses Schiff doch nicht so ohne alle jede seemännische Aufsicht sein könnte; denn wir hatten ja bei Nacht regelrecht mit Raketen signalisieren sehen, und die nördliche Station konnte nur hier gewesen sein.

In dem Feuerwerksraum war ein alter Inder, der Raketenhülsen putzte. Er sprach leidlich Englisch.

»Weißt du, wer ich bin?«

»Der neue Kapitän.«

Das musste doch schon bekannt gegeben sein. Von Achtung war freilich keine Spur zu merken. Doch das war indisch.

»Ist euch gesagt worden, dass ihr mir zu gehorchen habt?«

»Ja, Sahib.«

»Wer hat euch das befohlen?«

Der Alte schien beim besten Willen keine Antwort geben zu können.

»Wird hier manchmal mit Raketen signalisiert?«

»Ja, Sahib.«

»Mit wem?«

»Mata, Sahib.«

»Mit Schiffen?«

»Mata, Sahib.«

»Kommt dann immer ein Schiff?«

»Manchmal, manchmal auch nicht.«

»Und wer feuert dann die Raketen hier ab?«

»Radscha Dschraf Adschel.«

»Wer ist denn das?«

»Der Radscha Madadscha.«

So wenigstens ungefähr klang es. Was aber nun wieder das bedeutete, Radschamadadscha, das konnte ich nicht erfahren. Ja, doch: der hier über alles zu befehlen hat.

»Ich denke, das ist der Maharadscha selbst, der hier nur zu befehlen hat.«

»O nein, Sahib. Der Maharadscha ist Gott selbst — er ist der Gedanke — Toghluk ist das sprechende Wort — und der Maradschadadscha ist die Tat.«

Dies alles klang mir gar nicht so sinnlos. Gedanke, Wort, Tat — wenn ich den Mann der Tat nur selbst kennen gelernt hätte!

»Ist das der Administrator?«

Durch Beschreibung der Generalsuniform konnte ich dem Alten klar machen, wen ich meinte.

»O nein, Sahib, der zahlt nur Geld, wenn etwas zu bezahlen ist, und schreibt.«

»Da kommt Goliath«, riefen der Steuermann und Enoch.

Er hatte uns schon gesehen, kam herauf.

»Hast du die Lady gesehen, Goliath?«, war meine erste Frage. Nein, auch Goliath hatte sie noch nicht gesehen.

»Goliath, kannst du Hindustanisch?«

»Ja, Massa.«

Ich war etwas verdutzt. Diese Bejahung hatte ich nicht erwartet.

»Dann frage einmal diesen alten Burschen, wer hier manchmal des Nachts mit farbigen Lichtern signalisiert, und übersetze es mir dann.«

Goliath machte den Dolmetscher, und ich merkte gleich, dass er sich mit dem Inder perfekt verständigen konnte. Dieser Neger schien eben alles zu können.

Wiederum hörte ich mehrmals den zungenbrechenden Namen Radscha Dschraf Adschel, wozu jetzt noch immer der Beiname zschum Dscheine kam.

»Es ist der Geschäftsführer des Maharadscha«, wandte sich Goliath dann an mich, »welcher hier den Titel Madadscha führt, und sein Name ist Graf Axel zum Steine, oder vom Steine.«

Wie Schuppen fiel es mir von... den Ohren! Dschraf Adschel dschum Dscheine — Graf Axel zum und vom Steine — und war es mir doch, als hätte ich von einem Manne dieses Namens schon einmal gehört oder gelesen, ein deutscher oder ein schwedischer Abenteurer, der sich dem Mystizismus ergeben hatte, so eine Art von Cagliostro.

Doch genau konnte ich mich nicht mehr erinnern, sollte auch nicht zum Weiterfragen kommen.

»Sahib Kapitana!«

Es war ein Inder, der mich anredete, außer durch sein luxuriöses, goldstrotzendes Kostüm auch sonst sich von den anderen Indern unterscheidend, die sich an Deck herumtrieben.

»Suchen Sie mich?«

»Graf Axel vom Steine, der erste Minister Seiner Majestät des Maharadscha, bittet den Herrn Kapitän Richard Jansen um eine Unterredung«, meldete der Inder in tadellosem Englisch.

»Ich soll zu ihm kommen?«

»Er lässt Sie bitten, ich soll Sie führen.«

»Sofort!«

Ich sah gerade einige Matrosen und Heizer kommen, auch Beyer war darunter, und so gab ich dem ersten Steuermann noch einige Verhaltungsmaßregeln, die Matrosen sollten ausgeschickt werden, um die noch fehlenden zu suchen, sich immer wieder hier auf der Kommandobrücke zusammenfinden, und ich folgte dem Führer.

Endlich also sollte ich an die richtige Quelle kommen!

Der Leser dürfte sich wundern, dass ich von diesem Graf Axel noch gar nichts gehört, wo mir Kapitän Simmer doch während zweier Tage so viel von diesem indischen Schiffe erzählt hatte.

Aber ich habe auch gesagt, dass er von einer geheimen Gesellschaft gesprochen, deren Mitglied ich erst werden müsse, ehe ich in alles eingeweiht werden könne. So hatte mir Simmer eigentlich nur immer erzählt, wie man sich auf diesem indischen Riesendampfer amüsieren könne, von den täglichen Festlichkeiten und dergleichen, von der paradiesischen Unschuld, die hier herrsche, von der Pracht und dem Luxus usw., alle internen Angelegenheiten dagegen hatte er niemals berührt, z. B. auch keinen Namen genannt, und ich wusste noch nicht einmal, ob sich sonst noch ein anderer Europäer an Bord befinde.

Jetzt also kam ich jedenfalls an die richtige Quelle. Ein deutscher oder schwedischer Abenteurer, der sich zum Minister des Maharadscha aufgeschwungen hatte, jedenfalls dessen rechte Hand. Der Kerl in Generalsuniform, der sich Administrator genannt hatte, war doch nur ein Harlekin gewesen, wer weiß, durch welchen Zufall ich zuerst zu diesem geführt worden war.

Dann muss man bedenken, dass ich spät abends an Bord gekommen war, in der Nacht erlosch hier jedes Leben, diese Zeit war also für mich gar nicht in Betracht gekommen, und jetzt war noch immer frühe Morgenstunde, sodass ich sagen konnte, ich hätte soeben erst das Deck dieses Schiffes betreten.

Es waren mir schon in den Gängen und auch an Deck mehrmals Gesichter aufgefallen, die ich für europäische hielt. Jetzt sah ich wieder solch eine Physiognomie, die ich unbedingt für eine irländische hielt, da konnte mich weder Turban noch Kaftan irre machen, ganz abgesehen von rotblondem Haar und heller Haut.

»Na, Sie sind doch kein Inder«, redete ich ihn jovial an.

»Radschadadschaquatscha.«

Der Kerl hatte sein Englisch verlernt oder wollte mich nicht verstehen. Natürlich bemühte ich mich nicht weiter.

»Gibt es hier noch mehr Europäer an Bord?«, fragte ich meinen Führer.

»Mata, Sahib.«

Er hatte recht. Mit solchen Fragen hatte ich mich nicht an einen Diener zu wenden, der mich zu seinem Herrn führte.

Ein dichter Menschenknäuel, die ganze Breite des Schiffes füllend, sperrte unseren Weg. Es mochte da irgend etwas los sein.

Mein Führer blieb stehen und blickte sich zögernd um.

»Können Herr Kapitän hier auf der Bordwand balancieren?«, fragte er mich. »Wir kommen sonst nicht durch.«

Ja, auf der Bordwand balancieren konnte ich, und wir taten es. Dabei bemerkte ich, dass in der Mitte der Menschenmenge ein Gaukler seine Vorstellung gab.

Ich schenkte ihm keine Aufmerksamkeit, ich dachte an etwas anderes.

Was, weil hier so ein nackter Jahrmarktskerl seine Faxen machte, deshalb musste der Kapitän auf die Bordwand klettern, um das hochverehrliche Publikum nicht zu stören?

Na wartet! Jetzt war ich nur noch nicht Kapitän. Unterdessen hatte ich nämlich meinen Beschluss gefasst.

Durch den Kajüteneingang ging es einige Treppen hinab — ich bemerkte, dass es hier schon Aufzüge gab, allerdings keine elektrischen; sie funktionierten aber nicht — durch einige Korridore, auf denen es wieder von Indern und Türken und Arabern wimmelte, auch von Frauen, die aber hier keine Kinder auf den Armen trugen, und dann befand ich mich in einem Raume, wo ich mir wieder ins Bewusstsein rufen musste, dass dies eine Schiffskabine war und nicht das Laboratorium eines Alchimisten aus den früheren Jahrhunderten in irgendeinem verwunschenen Hause.

Denn ein solches Laboratorium war dieses, angefüllt mit Retorten und Phiolen und allem anderen Krimskrams, der zu so etwas gehört, mit wunderlichen Maschinen, mit Holz- und Eisengerippen, mit Blasebälgen, und da brannte auch das Feuer, in dem wahrscheinlich der Stein des Weisen destilliert werden sollte. Der Rauch des Feuers wurde durch ein Rohr zum Bullauge hinausgeleitet, doch war noch Qualm genug in dem Raume, und außerdem stank es darin wie in einer Apotheke — oder so, wie es eben in solch einem alchimistischen Heiligtums stinken muss — nach atemversetzenden Giften aller Art.

An dem Feuer, über dem ein eiserner Destillierkolben hing, der sich in einen endlosen gläsernen Apparat mit Retorten und Flaschen fortsetzte, hantierte ein Mann mit dem Blasebalg.

Es war ein schon älterer Mann mit langem, grauem Barte — ein Alchimist, wie er im Buche steht. Also dazu gehörte zunächst der lange, schwarze Kaftan, zwar nicht mit schauderhaften Zauberformeln bedeckt, aber Säuren hatten doch schon genug abenteuerliche Figuren hineingefressen, statt der hohen chaldäischen Mütze wenigstens ein phantastisches Großvaterkäppchen, und nun das Gesicht des Alten selbst mit der Habichtsnase und den faltigen, asketischen Zügen erst recht das eines Wunderdoktors.

Außerdem war noch eine zweite Person anwesend: das Wort des Maharadscha, personifiziert in einem Totenschädel mit dem dazu nötigen Untergerüst, nur aus Knochen und Haut bestehend — Toghluk, der Fakir.

Er kauerte auf einem Bündel Pergamente und glotzte mich mit seinen so seltsam glühenden Augen an. Jetzt war er nicht so dicht in Teppiche gewickelt, trug nur ein dünnes, durchscheinendes Gewand, und ich sah das vollendetste menschliche Skelett, an dem jeder Knochen zu erkennen war, sogar am Brustkasten. Wirklich nichts weiter als Knochen mit einem dünnen Hautüberzug — sagen wir: ein Hautsack voll Knochen.

Der Kuli hatte hinter mir wieder die Tür zugeschoben, der alte Alchimist pustete noch ein paarmal mit dem Blasebalge, dann legte er ihn hin und wandte sich mir zu, und es waren gar scharfe, kluge Augen, die mich musterten.

»Kapitän Richard Jansen?«

»Bin ich.«

»Haben Sie schon von mir gehört?«

»Ich weiß ja noch gar nicht, wer Sie sind, wie Sie heißen.«

Diese Entgegnung musste den beiden etwas unerwartet kommen. Doch sie hatten sich wohl äußerst in der Gewalt. Nur ihre Augen änderten sich etwas, und auch die nachfolgende Pause sprach davon.

»Graf Axel vom Steine.«

»Angenehm.«

»Sie befinden sich in meinem Allerheiligsten.« — »So.«

Ganz offenbar schien den beiden meine Ausdrucksweise nicht recht zu gefallen. Aber sollte ich etwa bei jedem Wort, das der alte Knasterbart da sagte, einen Bückling machen?

»Sie dürfen es betreten, weil Sie jetzt einer der Unsrigen sind.«

»Einer der Ihrigen? Wie soll ich das verstehen?«

Abermals eine unangenehme Überraschung.

»Nun, haben Sie Kapitän Simmer nicht Ihr Ehrenwort gegeben?«

»Ja — daraufhin, dass ich nichts verraten werde von dem, was ich hier erlebe, zu sehen und zu hören bekomme.«

Das schien die beiden wieder etwas zu befriedigen.

»Dass Sie einer der Unsrigen sein wollen«, setzte der Graf aber hinzu.

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Sie haben zugesagt, hier die Stelle eines Kapitäns anzunehmen.«

»Doch nicht so ohne Weiteres.«

»Nicht?!«

»Nein. So schnell geht das denn doch nicht. Ich habe wohl zugesagt, aber... da muss ich erst die Bedingungen hören. Das ist doch ganz selbstverständlich, selbst wenn ich dies nicht ausdrücklich gesagt haben sollte. Ich bin doch kein Mann, der sich so blindlings mit Haut und Haaren verkauft.«

»Der Administrator hat Ihnen doch die schon ausgefüllte Vollmacht gegeben, Sie haben dieselbe angenommen.«

»Mit dem Wisch habe ich etwas anderes gemacht, und nun will ich Ihnen etwas sagen: ja, ich bin bereit, die Führung dieses Dampfers zu übernehmen; aber nur unter gewissen Bedingungen — oder eben zu denjenigen, unter welchen man überhaupt die Rolle eines Kapitäns spielt, wobei ganz gleichgültig ist, wie klein oder wie groß das Schiff ist. Vor allen Dingen will ich also auch als Kapitän behandelt sein...«

Und auf diese Weise sprach ich noch weiter, was ich hier nicht ausführlich wiedergeben will. Kurz, ich hatte bald den Spieß herumgedreht und das Heft in der Hand.

Denn wie die beiden Zauberkünstler mich hier hatten behandeln wollen, das lag ja ganz klar auf der Hand. Wie so einen Dienstboten, der engagiert werden sollte, der so nebenbei in der Küche seine Instruktionen erhielt, während der Küchenmeister noch den Blasebalg handhabte.

Dass ich mir dies aber nicht gefallen lassen wollte, das hatten die beiden nun schnell heraus, und sie gaben nach. Es blieb ihnen auch gar nichts anderes übrig; denn ich wäre bald genug wieder meine Wege gegangen, was ich ihnen auch sagte.

»Einer Ihrer Leute, der ja wohl auch den Rang eines Kapitäns einnimmt, hat mich und die Besatzung meines gesunkenen Schiffes auf einer Insel gefunden — nicht so ganz hilflos; denn wir hätten uns auf dieser Insel bis an unser Lebensende ernähren können und hatten auch schon Mittel und Wege gefunden, die Insel wieder zu verlassen, durch eigene Kraft. Dass uns Kapitän Simmer gleich in seiner Jacht mitnahm, dafür sind wir ihm dankbar — und ich gab ihm mein Ehrenwort, alles zu verschweigen, was ich hier auf diesem Schiffe, wovon er mir schon erzählte, sehen und erleben würde. Ja, ich wäre auch bereit, hier die Stelle eines führenden Kapitäns anzunehmen; aber, wie gesagt, das muss alles in seiner regelrechten Weise vor sich gehen, wobei mir ganz gleichgültig ist, unter welcher Flagge dieses Schiff segelt.«

Das war nur ein kleiner Teil von alledem, was ich sprach, und die erste Folge davon war, dass unsere Unterhaltung in einem anderen Raume stattfand, welcher schon eher den Namen einer Kajüte verdiente, wenn auch immer noch nach orientalischer Art ausgestattet, und auch eine weitere Andeutung meinerseits wurde jetzt sofort verstanden, indem man mir ein regelrechtes Frühstück vorsetzte, bei dem ich nichts weiter vermisste als Wein oder Bier, welche Getränke durch Limonadenkram ersetzt wurden. Doch das musste ich mir gefallen lassen, ich befand mich eben auf einem indischen Schiffe,

Jetzt wurden wir schnell handelseinig.

Nein, ich war nicht bereit, mit in die Geheimverbindung einzutreten, wodurch ich mich und meine Leute mit Haut und Haaren für alle Zeiten verpflichtete, ganz gleichgültig, ob wir auf den Schädel eine Tätowierung bekamen oder nicht.

»Sie haben mein Ehrenwort, und ich garantiere für die Verschwiegenheit jedes einzelnen meiner Leute, und damit basta.«

»Gut, so bin ich im Namen des Maharadschas hiermit einverstanden«, sagte hierauf der Stellvertreter.

»So sagen Sie mir, was ich tun soll.«

»Diesen Dampfer in den Hafen von Bombay bringen.«

Endlich eine präzise Erklärung, was man eigentlich von mir forderte!

»Was Sie dazu brauchen«, fuhr der Graf gleich fort, »um die ›Indianarwa‹ manövrierfähig zu machen, ist alles vorhanden. Proviant genug, Trinkwasser können wir in jeder Menge von der Insel erhalten, die Bunker sind noch voll Kohlen, die Maschinen sind in tadelloser Ordnung.«

»Wahrhaftig!«, rief ich mit zweifelndem Staunen.

»Gewiss. Unten im Maschinenraum ist noch Signor Pavacci, ein italienischer Ingenieur, der einige Dutzend Inder unter sich hat, welche er fortwährend putzen lässt, und er versichert, mit diesen Indern als Heizern und Kohlenziehern die Fahrt sofort antreten zu können, d. h., die Maschinen spielen zu lassen. Alles sei in tadelloser Ordnung.«

Wiederum starrte ich den Sprecher fassungslos an. Hier lag offenbar ein Rätsel vor, dessen Eigentümlichkeit ich noch nicht einmal begriff.

»Und die Maschinen sind immer so aktionsfähig gewesen?«

»Immer — seit einem halben Jahre und noch länger — seitdem die ›Indianarwa‹ hier liegt.«

»Ich denke, der Dampfer ist hier festgebannt.« — »Ist er auch.«

»Ja, weshalb denn da in aller Welt, wenn sonst alles in Ordnung ist?!«

»Einfach aus dem Grunde, weil uns die nötigste Deckmannschaft fehlt. Wir wären kaum imstande, die Anker wieder zu lichten, welche Kapitän Sawade damals hier hat fallen lassen, von allen anderen Arbeiten, welche zur Steuerung solch eines Riesendampfers über den Ozean doch nötig sind, gar nicht zu sprechen.«

»Sie meinen also, diesem Schiffe fehlen geschulte Deckoffiziere und Matrosen.«

»Das ist es. Deshalb liegen wir wie gefesselt hier.«

»Ich habe aber doch auf den kleineren Schiffen, welche neben der ›Indianarwa‹ liegen, schon europäische Matrosen gesehen.«

»Diese dürfen aber die ›Indianarwa‹ nicht betreten.«

»Weshalb denn nicht?«

»Sie verstehen das nicht?«

»Durchaus nicht.«

Da schenkte mir der alte Graf reinen Wein ein. Ich bekam etwas ganz Seltsames zu hören. Und doch — nun verstand ich das große Rätsel, das mit diesem Schiffe verbunden war.

Nachdem jener Kapitän Sawade es mit seiner Mannschaft hierher gebracht, es dann aber, wohl in einem besonderen Auftrage, wieder verlassen hatte, bei welcher Zwischenreise er mit seinen Leuten den Untergang gefunden, waren schon zu wiederholten Malen europäische Seeleute an Bord genommen worden, Kapitän, Offiziere und Matrosen, um das Schiff wieder aus der Fucusbank herauszubringen.

Niemals war das gelungen. Weshalb nicht? Nach spätestens einer Woche, noch ehe die eigentliche Reise hatte angetreten werden können, da ja doch noch viele Vorbereitungen getroffen werden mussten, waren diese Leute regelmäßig total versumpft, entnervt gewesen, der Kapitän und die Offiziere hatten die Macht über ihre Leute stets schon vollkommen verloren gehabt, diese waren in den indischen Kemenaten des Zwischendecks auf Nimmerwiedersehen verschwunden gewesen — und die Kapitäne und Offiziere überhaupt immer selber mit, später oder schon vorher — wiederum hatte der Riesendampfer führerlos wie ein hilfloses Wrack dagelegen.

Fürwahr, es dauerte doch einige Zeit, ehe ich dies begreifen konnte. Dies klang ja fast unglaublich. Aber dieser alte Graf sprach viel freier, als ich es hier tun kann, und so musste ich es wohl zuletzt glauben.

»Aus diesen ehemaligen Europäern sind jetzt Inder geworden, die Sie höchstens noch durch die Hautfarbe unterscheiden können.«

»Ja, zum Donner noch einmal«, fand ich endlich Worte, »ist denn nur wirklich jeder Kapitän so ein Schwächling gewesen?«

»Wie ich Ihnen erzähle.«

»Konnte denn da der Maharadscha nicht selbst einmal tatkräftig eingreifen?«

»Tatkräftig? Gewiss, auch wir sind tatkräftig; aber in ganz anderer Weise, als Sie das verstehen. Lernen Sie nur erst die Verhältnisse kennen. Der Maharadscha hat hier ein Reich geschaffen, in dem vollkommene Duldsamkeit herrscht. Allerdings ist jeder Ungehorsam ausgeschlossen, jeder weiß von allein, was er zu tun hat; aber hier herrscht nur die Liebe, ein gewaltsames Vorgehen gibt es hier nicht, und... ich glaube doch, nun verstehen Sie, weshalb wir auch gegen die fremden Matrosen so ohnmächtig sind.«

Ja, ich verstand, musste verstehen, so schwer es mir auch ward.

»Und bei Ihnen«, fuhr der Graf fort, »wissen wir, dass Sie Ihre Mannschaft derartig in Zucht haben, dass so etwas nicht zu fürchten ist, und außerdem auch, dass Sie die Ihnen gegebene Gewalt nicht missbrauchen.«

»Wieso missbrauchen?«

»Dass Sie sich nicht etwa zum Herrn dieses Schiffes aufwerfen.«

»Woher verdiene ich denn solch ein Vertrauen? Sie kennen mich doch gar nicht.«

»Doch, die ›Sturmbraut‹ ist von uns lange genug beobachtet worden, Sie und Ihre ganze Mannschaft, und wir wissen, dass wir Ihnen unbedingt vertrauen können.«

Es war Schmeichelhaftes genug, was ich zu hören bekam, so wenig ich mir auch alles zusammenreimen konnte, und was für Instruktionen ich sonst noch von dem Manne, den ich jetzt definitiv als meinen Vorgesetzten betrachtete, erhielt, brauche ich hier nicht wiederzugeben, da der Leser dies dadurch erfährt, wie ich alles ausführte.

Erwähnen will ich nur, dass wegen der Unbestimmtheit der ganzen Fahrt die Heuer tageweise geregelt werden sollte, und zwar erhielt ich selbst pro Tag zwanzig Dollar, dementsprechend hoch waren auch die Heuern meiner Leute dem Range nach angesetzt. Dass wir alle nötigen Sachen sofort erhielten, dafür würde der Radadscha, wie er sich selbst nannte, was ungefähr Sekretär bedeutete, selbst sorgen, desgleichen, dass wir regelmäßig mit Essen versehen würden.

»Sie sind mit alledem einverstanden, Herr Kapitän?«

»Mehr als das. Nur noch eins macht mich schwankend, diesen Posten anzunehmen.«

»Was für ein Hindernis wäre das?«

»Ich bin eigentlich schon einem anderen verpflichtet, und ich weiß noch gar nicht, wie ich jetzt dieses Verhältnis lösen soll...«

»Sie meinen Ihren jungen Freund, den Kapitän Algots?«

»Ja. Woher aber wissen Sie...«

»Sie haben doch schon Kapitän Simmer darüber berichtet und dieser mir.«

»Ja, wie soll ich nun mit diesem fertig werden? Kapitän Algots wird sogar bald meine Spur verfolgen, wenn ich zu lange...«

»Ohne Sorge«, fiel mir der Graf abermals ins Wort, »Kapitän Simmer ist bereits unterwegs nach der Goldküste, um Ihren jungen Freund auf seiner Leuchtturminsel aufzusuchen, er wird mit ihm alles arrangieren.«

»Und wenn das dem Kapitän Simmer nun nicht gelingt?«

»Verlassen Sie sich darauf, es wird ihm gelingen — wir bringen alles fertig.«

Ich blickte den Sprecher an, und dieser mochte meine Gedanken lesen, was in diesem Falle auch nicht allzu schwierig war.

»Sie meinen, ich hätte zu viel gesagt, weil wir ja nicht einmal imstande sind, uns durch eigene Kraft von hier fortzuhelfen? Wie kann ich da behaupten, dass wir alles fertig brächten — mit anderen Worten: dass uns nichts unmöglich wäre?«

»In der Tat...«

»Nun, haben wir Sie nicht zu finden gewusst, den wir für fähig halten, uns hier fortzubringen? Befinden Sie sich jetzt nicht an Bord? Haben Sie nicht Ihre Zusagen gegeben?«

Ich hätte wiederum nichts anderes als ein ›In der Tat‹ sagen können — aber ich schwieg, ich dachte in diesem Augenblick nur nach, ob dieses faltige Gesicht mit den asketischen Zügen eines Weltentsagers wohl eines Lächelns oder sonst einer Bewegung fähig sei.

Da neigte er seinen Kopf, ich war entlassen — und er war jetzt mein Vorgesetzter, ich hatte ihn als solchen anerkannt — ich verließ die Kajüte.

— • —

40. Kapitel
Wo ist Blodwen?

Originalseiten II.179 — 192

Es war mir äußerst wirr im Kopfe. Doch was ich zu tun hatte, wusste ich jetzt genau. Es war einfach genug. Mein Gebiet sollte das Deck sein, auf dem ich von der Kommandobrücke durch meine Leute ausschließlich zu herrschen hatte. In den unteren Räumen hatte ich nichts zu suchen, wenn mir dieselben auch durchaus nicht verschlossen waren, da es ein solches Verbieten hier überhaupt nicht gab. Hier war alles erlaubt, absolut alles, ohne jede geringste Ausnahme — freilich war so etwas eben nur in solch einem indischen Idealstaate möglich, der auf dem Wasser lag, dass nicht die schwersten Ausschreitungen vorkamen — und wer sich dem fügte, der musste eben zum Inder werden, wenn er das noch nicht war — und dass dieser Fall nicht auch bei meinen Leuten eintrat, dafür hatte ich zu sorgen.

So musste mein nächstes Ziel wieder die Kommandobrücke sein. Hoffentlich hatten sich dort unterdessen alle meine anderen Jungen eingefunden.

In dem unentwirrbaren Labyrinth von Gängen verirrte ich mich abermals gründlich. Menschen waren genug da, die ich fragen konnte, wo sich eine an Deck führende Treppe befände, aber entweder verstand man mich überhaupt nicht, oder ich erhielt zur Antwort das stereotype ›mata, Sahib Kapitan‹.

Dieses Phlegma, wo man doch schon wusste, wer ich sei, wurde mir immer unerklärlicher. Nun, ich würde meinen Weg schon allein finden.

Vorher aber, als ich das Ende eines Korridors erreichte, geriet ich in einen Raum, in dem mich noch eine große Überraschung erwartete — eine seltene Sehenswürdigkeit.

Früher war das offenbar eine große Kajüte für die Passagiere gewesen, ein Salon, sehr hoch, durch Oberlicht erhellt. Jetzt war das Ganze dadurch bedeutend niedriger geworden, dass man hier ein Wasserbassin angelegt hatte, den ganzen Raum einnehmend, aus Marmorplatten, und da die Tiefe des Bassins etwa anderthalb Meter betrug, so mussten die Ränder doch um so viel über den früheren Boden erhöht worden sein, wie denn auch gleich von der Tür aus die offenstehenden Stufen hinaufführten.

Ich war grenzenlos überrascht, hier in einem Schiffe ein vollkommenes Schwimmbassin zu finden, mit Wasser gefüllt! So ein gedecktes Schwimmbassin mit gewärmten Wasser hatte man damals ja überhaupt noch gar nicht. Vielleicht in türkischen Bädern oder indischen Palästen — ich aber hatte so etwas eben noch nicht gesehen. Und nun gar im Innern eines Schiffes! Auch die ursprünglich geplante ›Great Eastern‹ hatte so etwas nicht gehabt, das wusste ich bestimmt!

Und nun diese Pracht, dieser Glanz, dieser Marmor, zum Teil mit Mosaik! Diese Tier- und Götterfiguren in allen möglichen Gestalten, die aus ihren geöffneten Mäulern rauschendes Wasser in das Bassin spien!

Und dann diese Gesellschaft, die sich hier zusammengefunden hatte!

Auf den ziemlich breiten Marmorrändern hockten Inder herum, alte und noch mehr junge, alle höchst kostbar gekleidet, rauchten und naschten von den silbernen und wohl sogar goldenen Tellern, welche von Dienern und Dienerinnen herumgereicht wurden, und... ergötzten sich an dem spielenden Treiben von mindestens einem halben Hundert junger Mädchen, welche da ganz munter im Evakostüm im Wasser herumplätscherten, vor Vergnügen kreischend!

Na, ich dachte natürlich zuerst, ich wäre hier plötzlich in ein Märchenreich versetzt worden. Ich hatte ja schon etwas an Deck zu sehen bekommen, in den Korridoren, auf dem Throne, dann mein nächtliches Abenteuer — — das hier aber war doch immer noch etwas ganz anderes!

»Ist etwas gefällig, Herr Kapitän?«, sagte da ein junger Hindu, der neben mir kauerte, und reichte mir lächelnd eine goldene Schale mit überzuckerten Früchten.

Ich glaube, ich habe etwas genommen. Im Übrigen aber muss ich gestehen, dass mir keuschen Jüngling, der ich trotz alledem damals noch immer war, ganz blau und grün vor den Augen wurde. Denn es waren wirklich reizende Mädels, die ich da zu sehen bekam, alle wie gedrechselt, auch gar nicht so braun, mehr gelb, und nun dieses nackende Gliederspiel...

»Die baden sich hier wohl?«, stotterte ich.

»Ja, unsere Bajaderen — wir haben fünfzig mit.«

»Und — und — da darf man hier so zugucken?«

»Warum denn nicht?«, lautete die sichtlich erstaunte Gegenfrage.

Ja, warum auch nicht? Die plätschernden Mädels genierten sich vor mir so wenig wie gestern die Lieblingsfrau in ihrem Glasgewande auf dem Königsthrone.

Dann tauchte in mir auch sofort eine andere Frage auf.

»Woher kommt denn dieses viele warme Wasser?«

In diesem Augenblick sah ich nicht weit von mir meinen Pieplack stehen, den durchtriebensten Schlingel von Matrosen, den ich je an Bord gehabt, und der verzog sein breites Maul soeben zu einem vergnügten Grinsen und wandte sich, schon die Hände an seiner Jacke, als wolle er sie ausziehen, in seinem schönsten Platt an so einen herumlungernden Inder.

»He jü, da kann man sick wohl mit dee Deerns baden, wat?«

Das gab mir die Besinnung wieder. Alles, was mir der Graf erzählt, fiel mir wie ein Blitz ein, meine Verantwortung — und ich schnell hin, packte den Schlingel beim Kripse und zog ihn mit hinaus.

Glücklich erreichte ich mit meinem Begleiter das Deck und die Kommandobrücke. Unterdessen hatten sich hier oben wirklich auch alle anderen eingefunden, ich brachte den letzten mit.

Zuerst nahm ich die Steuerleute und die beiden Ingenieure vor, dann hielt ich vor der versammelten Mannschaft eine kleine Rede.

Ihr steht jetzt eigentlich nicht mehr in meinen Diensten, aber wollt ihr euch zu den und den Bedingungen wieder unter mein Kommando stellen, das mir hier angeboten wird?

»Jawohl, Käpten!«, erklang es einstimmig und recht vergnügt. Gut — aber so und so — hier muss rein Schiff gemacht werden — so und so ist es schon anderen europäischen Mannschaften ergangen — alle versumpft — davon kann bei uns natürlich keine Rede sein — — also ihr habt in den unteren Räumen, überhaupt zwischen diesem braunen Gesindel absolut nichts mehr zu suchen, euer Aufenthalt ist ausschließlich das Deck — — einverstanden?

Nachdem sie einmal A gesagt hatten, mussten sie natürlich auch B sagen — so schwer ihnen das auch fallen mochte. Denn eine kleine Enttäuschung war es ja doch für alle.

Schließlich waren sie indes alle so vernünftig, um die Gefahr einzusehen, die ihnen drohte, und ich hatte mir kein Blatt vor den Mund genommen, als ich ihnen alles geschildert.

»Na, Urlaub wird es schon auch geben«, setzte ich noch tröstend hinzu, und der neue Pakt war wieder geschlossen, ebenso ohne jede schriftliche Abmachung, wie ich so etwas stets gemacht hatte. Denn das mit dem Administrator war ja doch nur eine Harlekinade gewesen.

Unsere erste Aufgabe musste darin bestehen, das Deck von Menschen zu säubern, dass wir uns darauf frei bewegen konnten. Mit Güte und freundlichem Zureden war hier nichts zu erreichen, das sahen wir gleich ein. Die Leutchen verstanden ja überhaupt gar nicht, was wir eigentlich von ihnen verlangten, wenn es Goliath einigen auch noch so deutlich verdolmetschte, und es allen mitzuteilen, das war ja gar nicht möglich, denn das ging hier eben genau wie in einem Ameisenbau zu.

Ich schickte die beiden Ingenieure und sämtliche Heizer fort, den Maschinenraum aufzusuchen, unterdessen hatten wir anderen auf der Kommandobrücke zu tun, und es dauerte gar nicht lange, bis der Signalapparat klingelte, die elektrische Batterie musste mit leichter Mühe wieder in Funktion gebracht worden sein, und ich konnte mich mit Beyer durch das Sprachrohr unterhalten.

»Die Maschinen sind in tadelloser Ordnung«, meldete er.

»Dann stellen Sie die Dampfpumpe an!«, kommandierte ich. Zehn Minuten später flohen die braunen Männlein und Weiblein kreischend vor dem dicken Wasserstrahle davon, der sich mit Macht über das Deck ergoss. Natürlich operierte ich diesmal nicht mit heißem Wasser. Es war einfach See wasser, wir wuschen das Deck. Aber es half. Nur durften wir keine große Rücksicht üben, auch das gemütlichste Kaffeekränzchen wurde von meinen Jungen mit fortgescheuert. —


Illustration

Ich überspringe acht Tage. Wir waren Herren des Decks. Schließlich hatten all diese Inder begriffen, was wir wollten, und sie hatten sich gefügt.

Ungefähr die hintere Hälfte des Decks blieb ihnen eingeräumt, dass sie sich an frischer Luft bewegen konnten; aber wer sich auf die vordere Hälfte verirrte, und er verstand die Aufforderung nicht, der wurde mit sanfter Gewalt oder besser mit einem Kübel Wasser entfernt, und bald war so etwas eben gar nicht mehr nötig. Sie brauchten diesen Teil ja auch nicht zu betreten; denn die Haupteingänge zum Innern des Schiffes lagen hinten.

Wir hatten während dieser acht Tage alle Hände voll zu tun gehabt. Denn mochten die Maschinen auch in Ordnung, mochten Kohlen und alles vorhanden sein, so war bei solch einem Riesendampfer doch nicht daran zu denken, ihn so ohne weiteres die Fahrt antreten zu lassen, ehe man seine Beschaffenheit nicht bis ins allerkleinste kannte, und schließlich gilt das auch von jedem anderen Schiffe, mag es noch so klein sein. Untersucht man doch selbst erst das kleinste Boot, ehe man sich ihm anvertraut, ob das Steuerruder in Ordnung ist, dass es sich nicht aushaken kann, usw. usw.

Was wir nun hier alles zu untersuchen hatten, ehe wir wagen durften, die vier Anker zu lichten, davon kann ich kaum eine Andeutung machen.

Wenn nun eine Ankerkette brach, waren denn ReserveAnker und Ketten vorhanden? Wo befanden sie sich? Wo war die Segelkammer, in der man die Korkfänder gewöhnlich aufbewahrt? Durfte man noch dem Chronometer trauen? Musste das Schiff nicht erst ausbalanciert werden?

So gab es viele Hunderte von Fragen, welche zu beantworten waren, und jede einzelne setzte unsere Arme und Beine in Bewegung.

Die kolossale Schwierigkeit lag besonders auch darin, dass kein Plan des Schiffes existierte. Vorhanden war alles, was wir brauchten, nur mussten wir jedes einzelne mit eigenem Spürsinn aufsuchen. Denn niemand konnte uns dabei führen — ›mata, Sahib‹.

Auch Graf Axel ließ sich nicht sehen, und ich glaubte auch nicht, dass er mir irgendwie hätte helfen können.

Zuerst hatten, wenn ich nicht irre, neben dem Riesendampfer fünf größere Fahrzeuge gelegen, jedenfalls lauter solche Galeerenjachten. Während der ersten Nacht waren davon zwei verschwunden, am vierten Tage fuhr die dritte ab.

Wer hatte ihr dazu den Auftrag gegeben? Ich wusste es nicht. So lagen neben der ›Indianarwa‹ jetzt noch zwei solcher Galeerenjachten. Ich sah an ihren Decks außer Indern manchmal auch Europäer, außer dem Kapitän doch sicher Matrosen, aber es war, als wäre der schmale Wasserraum, der uns trennte, eine meterdicke Mauer, oder richtiger, da wir von hoch oben auf sie herabblickten, als wären die dort unten gleich den Erdensöhnen von den himmlischen Heerscharen getrennt. Eine Verbindung zwischen uns existierte absolut nicht.

Es kam ja einmal vor, dass wir sie anrufen mussten — ein ausgefahrenes Tau hatte sich etwa an solch einem Fahrzeug verfangen — die Leute dort unten, ob Inder oder Weiße, machten es frei — aber sonst kein Wort, nicht einmal ein Blick zu uns herauf.

Ja, hier herrschte irgendein Geheimnis vor. Es war mehr zu fühlen als zu sehen.

Einmal aber bekam ich doch etwas zu sehen.

Als ich einmal an der Bordwand lehnte und auf solch eine Jacht hinabblickte, stand gerade unter mir ein Matrose mit einem Strohkopf, das Haar ganz kurz geschnitten, die Sonne schien darauf, und da sah ich ganz deutlich zwischen den hellen Haaren auf der Kopfhaut jene Tätowierung, welche damals auch der aufgefischte Matrose auf seinem Schädel gehabt hatte.

Als der Kerl dann dort unten einige Inder und auch andere Europäer kommandierte, merkte ich, dass es der Kapitän, mindestens ein Offizier dieser Jacht war.

Also auch hier diese Tätowierung! Ob auch Simmer eine solche auf dem Kopfe gehabt? Ganz sicher!

»Seien Sie erst einer der Unsrigen, dann werden Sie alles erfahren.«

So hatte er damals gesagt.

Aber ich hatte keine Lust, mir das Haar scheren und meine Kopfhaut tätowieren zu lassen. Nein, wenn ich das Geheimnis ergründen wollte, dann... auf andere Weise, durch eigene Kraft.

Übrigens plagte mich die Neugier sehr wenig. Ich beobachtete nur, soweit meine Zeit das zuließ.

Und dennoch, ich kann gar nicht schildern, wie eigentümlich hier alles zuging.

Wir wurden aufs beste verpflegt. Es waren acht männliche Inder, vierzehn weibliche und neun Kinder gewesen, die ich damals auf der langausgedehnten Kommandobrücke, ein ganzes Reich für sich, vorgefunden hatte, und ich hatte sie also darauf gelassen, denn diese große, gemeinsame Familie betrachtete das Reich der Kommandobrücke nicht nur als Herberge, sondern als wirkliche Heimat, welche sie pflegten, gewissermaßen schmückten. Das heißt, sie waren den ganzen Tag über am Putzen und Scheuern.

Es mochte sein, dass ihnen diese Arbeit dereinst zugeteilt worden war, vielleicht von dem mysteriösen Kapitän Sawade, aber das war jetzt gar nicht mehr von ihnen zu ergründen, das war ihnen schon längst in Fleisch und Blut übergegangen, oder man konnte es auch mit einer Art von Kultus vergleichen — in dieser Hinsicht war es eine Familie von Tempeldienern, welche Heiligtum und Hof und Garten pflegten — alles echt indisch.

Ich ließ die Leutchen also gewähren, war durchaus zufrieden mit ihnen. Des Nachts suchten sie irgendeinen Winkel auf, wo sie sich in Decken wickelten, am Morgen verwischten sie die Spuren ihres Nachtlagers — wiederum alles ganz wie in Indien, wo ja auch der Bürodiener mit Frau und Kindern im Büro schläft.

Gleich am ersten Tage, nach meiner Unterredung mit dem Grafen, hatten sich einige von ihnen entfernt und waren mit großen Packen zurückgekommen, welche europäische Kleider enthalten hatten, meist Arbeitszeug, für Matrosen bestimmt.

»Woher habt ihr die?«, ließ ich durch Goliath fragen. Eben aus der Garderobekammer.

»Wer hat euch den Auftrag gegeben, uns diese zu holen?«

Da aber fingen die braunen Leute etwas zu quatschen an, was auch Goliath nicht verstand. Sie hätten den Auftrag vom Radadscha bekommen, also von jenem Grafen, aber auf welche Weise, das war aus ihnen nicht herauszubringen, da verloren sie sich in die Mystik.

Dann brachten sie uns auch Schüsseln mit Speisen, wir konnten Table d'hôte speisen, wenigstens zehn Gänge, freilich etwas eintönig, die meisten Gerichte bestanden aus Reis, Fisch und Hammelfleisch, aber eben auf zehnerlei Weise zubereitet, und zwar alles delikat, und so wurden wir von ihnen jetzt regelmäßig fünfmal am Tage mit solchen Schüsseln versehen, ferner mit Kaffee und Tee, desgleichen brachten sie große Pakete Tabak — kurz alles, was unser Herz nur begehrte, soweit es nicht Ankerketten, Taue und dergleichen, was mit dem Schiffe zusammenhing, betraf.

Immer wieder hätten wir fragen mögen: Woher bekommt ihr das? Wer hat euch beauftragt, so für uns zu sorgen? Aber fragt man denn so den aufwartenden Diener, wenn man in einem fremden Hause zu Gaste ist?

Denn in diesem Verhältnisse befanden wir uns, das mussten wir immer vor Augen haben, dann brauchten wir uns über nichts mehr zu wundern.

Wir waren eben die Handwerker, welche dieses schwimmende, etwas baufällig gewordene Haus wieder in Ordnung zu bringen hatten und dafür außer unserem Gehalt auch volle Beköstigung erhielten. Was hatten wir uns da sonst die Köpfe zu zerbrechen?

Wie dieses schwimmende Haus verproviantiert wurde, sahen wir ja täglich. Auf der Insel wurde emsig gebaut, Landwirtschaft getrieben.

Wir sahen mächtige Herden von Schafen weiden — aber nur solche, Rindfleisch wird ja von den Indern verschmäht — täglich wurden Schafe an Bord getrieben und im Innern des Schiffes geschlachtet, lange Züge von Kulis brachten Säcke mit Reis und Korn. Ihren Weg brauchten sie nicht über Deck zu nehmen, sie verschwanden gleich in einer Seitenpforte, in die ein Brett hineinführte.

Wie viele Arbeiter sich auf der Insel befanden, konnten wir nicht erfahren, und schon am zweiten Tage, nachdem wir unser Verhältnis richtig aufgefasst hatten, kümmerten wir uns um so etwas ja auch gar nicht mehr.

Nun, einige tausend waren es sicher, ihre Hütten lagen zerstreut in einzelnen Gehöften, am meisten schienen sie dort an dem Berge angesiedelt zu sein, und dann kam ich auch zu der Überzeugung, dass das Schiffsvolk von dem Landvolk durchaus getrennt war.

Die anderen Lebensmittel, wie Kaffee, Tee, Zucker, Tabak und dergleichen, wurden eben durch solche Galeerenjachten herbeigeschafft, diese Fahrzeuge signalisierten, wenn sie bei Nacht kamen, ihre Ankunft vorher, die Gegensignale besorgte Graf Axel, der aber sonst wohl von Seemannschaft weiter nichts verstehen mochte, und war jetzt nur nicht gerade die Zeit, dass solch ein Proviantschiff kam.

Jedenfalls war alles, was man zum behaglichen Leben brauchte, in Hülle und Fülle vorhanden.

Aber zwischen Handwerkern und Hausbewohnern bestand eine strenge Scheidewand. Doch das lag wohl nur an dem Handwerksmeister, an mir.

Die Inder allerdings mischten sich in unser Treiben an Deck, soweit dieses von der Kommandobrücke beherrscht wurde, durchaus nicht mehr. Wir sahen sie auf dem anderen Teile des Decks nach wie vor ihrem gemütlichen Treiben nachgehen, wir hörten aus offenen Luken und anderen Zugängen Flötentöne und Gesang, dort unten sollte ja, wie Simmer mir schon erzählt hatte, ein Fest das andere ablösen, aber eine Einladung dazu erhielt ich nicht.

Doch das lag, wie schon gesagt, nur an mir. Eigentlich hätte jeder von uns, auch der geringste Matrose, dort unten ständig Zutritt gehabt. Uns sollte ja alles offen stehen, ein Verbot gab es hier überhaupt nicht. Aber ich machte keinen Gebrauch davon, und meine Leute hielt ich davon zurück.

Ja, ich gab der Freiwache jeden Abend zwei Stunden Urlaub, da mochten sie sich auf dem Hinterdeck zwischen dem braunen, nackten Gesindel herumtreiben, wie sie sich da amüsierten, das kümmerte mich nicht, aber den Zutritt zu den unteren Räumen, wo das eigentliche indische, üppige Leben herrschte, hatte ich ihnen streng verboten, und ich wusste, dass mir jeder einzelne gehorchte, da brauchte ich keine Spione nachzuschicken.

Ich selbst hielt mich davon fern. Auf dem Wege zum Maschinenraum kam ich ja mehrmals durch die unteren Korridore, da bekam ich vielerlei Interessantes zu sehen, aber... ich wusste selbst nicht recht, was mich eigentlich so davon abhielt... ich blieb eben immer separiert, wurde niemals einheimischer Gast.

Es war einfach der Gedanke an Blodwen.

Ja, wo war eigentlich Blodwen mit ihrem Kinde?

»Mata, Sahib Kapitan.«

Das war die regelmäßige Antwort, die ich erhielt, wo ich anfragte, ganz gleichgültig, an wen ich mich wandte, ob es der einfachste Kuli oder ein gold- und diamantenstrotzender Hindu war.

Das heißt, von diesen letzteren erhielt ich höflichere, ausführliche Auskünfte. Aber der Inhalt war doch immer der gleiche. Sie wussten eben nicht, wo sich die weiße Lady mit ihrem Kinde aufhalte.

»O, die ist hier gut aufgehoben, die ist sicher in einem Harem bei Hindufrauen!«

»In welchem Harem?«

»Ja, das allerdings kann ich Ihnen nicht sagen, Sahib Kapitan.«

»Wie viele Harems gibt es denn hier?«

»Nun, jeder Große hat seinen eigenen Harem.«

»Und wie viele sogenannte Große oder Radschas gibt es denn hier?«

»Das... kann ich auch nicht bestimmt sagen.«

So war es immer dasselbe. So geht es eben in einem anarchistischen Staate zu — bei aller Gemütlichkeit.

Dann schickte ich Goliath aus, mit dem Befehl, nicht eher wiederzukommen, als bis er mir sagen könnte, wo sich Blodwen befinde.

Goliath ging und... kam nicht wieder! Jetzt war auch der verschwunden! Auch er konnte es eben nicht erfahren, und er hatte meinen Befehl wörtlich genommen, obgleich ich das doch natürlich gar nicht so gemeint hatte.

Erst zwei Tage später erwischte ich ihn zufällig auf einem Korridor.

»Ich kann es nicht erfahren, Massa.«

Und ich wollte gar nicht erst hören, wo er während der zwei Tage und zwei Nächte überall herumgekrochen war, ich war ja nur froh, dass ich wenigstens Goliath wieder hatte, den ich als Dolmetscher gar nicht vermissen konnte.

— • —

41. Kapitel
Der letzte Tag

Originalseiten II.192 — 206

So waren also acht Tage vergangen. Wir wären bereit gewesen, abzufahren, wenn... zum Beispiel der Seetang nicht gewesen wäre, wenn wir eben nicht in der Fucusbank gelegen hätten. Denn zunächst fehlte uns noch die Vorrichtung, um durch oder über den Seetang zu kommen, und das so schnell anzubringen, dazu war ich mit meinen Leuten nicht imstande.

Aber das war nur das eine Beispiel dessen, was uns alles noch fehlte, um die Anker zu lichten. Zunächst fehlte mir auch noch die Order, abzufahren. Denn dieser Radadscha, oder wie der Kerl sich nannte, ließ nichts mehr von sich sehen und hören. Und nun fiel es mir auch gar nicht mehr ein, nach ihm zu fragen. Ich hatte überhaupt schon etwas von dieser phlegmatischen Bummelei in mein Blut aufgenommen, wenn ich dadurch auch nichts an meiner Tatkraft verlor.

Und wo in aller Welt war denn nur Blodwen mit dem Kinde, auf das ich doch auch einigen Anspruch zu machen hatte?

Und dann hatte doch auch mein Schiff wieder gehoben werden sollen!

Über alles dies sprach ich mit dem ersten Steuermann am Abend des achten Tages, und als diese letzte Frage berührt wurde, wegen der gesunkenen ›Sturmbraut‹, da lachte ich hell auf, und wohl auch etwas wild.

»Die hier wären die rechten, dieses gesunkene Schiff zu heben!«, lachte ich also spöttisch. »Dieses lumpige Zigeunergesindel hier, das nicht einmal etwas von Lampen weiß, sondern einfach, sobald es dunkel wird, unter die Decke kriecht!«

»Aber hat Kapitän Simmer nicht gesagt, es sei ihnen ein Leichtes, das gesunkene Schiff wieder zu heben?«

»Wem, ihnen?«, fragte ich gereizt, wie ich nun einmal gestimmt war.

»Nun, er konnte wohl niemanden anders damit gemeint haben als die Leute von diesem indischen Schiffe hier...«

»Hahahaha«, unterbrach ich ihn lachend, »diese Seezigeuner hier, das wären gerade die rechten, solch eine Ingenieurarbeit zu verrichten, wie ein gesunkenes Schiff zu heb...«

Mit dem Lachen erstarb mir das Wort im Munde. Denn plötzlich stand der alte Alchimist vor mir, Graf Axel.

Es war nicht nur sein unvermutetes Erscheinen, das mich so bestürzt machte — ich sah ihn ja zum allerersten Male wieder, und nun gar auf der Kommandobrücke hätte ich ihn am allerwenigsten erwartet — aber er sah auch so geisterhaft aus, dieses totenblasse Gesicht mit den schmerzverzerrten und dennoch versteinerten Zügen — und jetzt hatte er auch wirklich solch ein Magierkostüm mit bunten Figuren an — und dann erst bemerkte ich, dass dieses grünlichweiße Licht von einer Laterne ausging, die er in der Hand trug — und schon diese Laterne war ja zu den Raritäten zu zählen.

Allerdings hatten wir ja unterdessen die nötigen Schiffslampen gefunden, auch das massenhaft vorhandene Petroleum — und das war auch wieder so eine zeitraubende Arbeit gewesen! — aber nun eine Lampe in der Hand eines anderen... kurz und gut, dies alles zusammen wirkte auf mich hier nach Art einer Geistererscheinung, dass ich zuerst ganz baff war.

Und wie der Kerl mich nun ankiekte! Mit richtigen Geisteraugen. Und dabei so höhnisch! Und hinter ihm grinste auch der Totenschädel des Fakirs, der keine Laterne brauchte, dessen glühende Augen leuchteten schon genug.

Auch noch ein paar andere Inder standen hinter ihm, lauter solche phantastische Gestalten, dem Geisterreiche entstiegen, sie trugen verschiedene Gegenstände... doch zunächst war ich noch viel zu verwirrt, um etwas deutlicher unterscheiden zu können.

»Du zweifelst?«

Der alte Graf hatte die beiden Worte an mich gerichtet. Ich wusste keine Antwort, hatte ihn überhaupt nicht verstanden. Ich betrachtete mir nur immer den Schlafrock mit den vielen bunten Figuren, Ungeheuer und dergleichen darstellend, und dann wieder dieses ausgemergelte und doch so eiserne Gesicht, und dabei dachte ich: Gott, wie sieht der blass aus! Was will der eigentlich hier? Wie kommt der bei Nacht auf die Kommandobrücke? Und woher hat der die Laterne?

»Du zweifelst?«, wiederholte er, und jetzt hatte ich ihn verstanden.

Der hatte uns belauscht. Gut, dann sollte er es zu hören bekommen. Wer lauscht, hört immer seine eigene Schande. Und von Bangigkeit gab's bei mir natürlich nichts. Das war ja nur so eine blitzähnliche Empfindung gewesen.

»Dass ihr imstande seid, mein gesunkenes Schiff zu heben? Ja, daran zweifle ich allerdings ganz bedeutend.«

»Und warum zweifelst du daran?«

»Warum? Nach alledem, was ich hier kennen gelernt habe, habe ich wohl einen Grund dazu.«

»So blicke dorthin!«

Er deutete mit ausgestrecktem Arm nach Osten, und ich blickte in die finstere Nacht hinaus.

»Was siehst du?«

»Nichts als Nacht und einige Sterne«, entgegnete ich, und mir ward nur etwas humoristisch zumute.

»Kennst du die heilige Zahl?«

»Nee.«

»Auch ihr Christen habt doch eine heilige Zahl.«

»Hm. Das ist wohl die drei. Oder wohl auch die sieben.«

»Bei uns Brahmisten ist es die zehn. So zähle bis zehn und blicke dorthin nach Osten.«

»Soll ich langsam oder schnell zählen?«

»Wie du willst.«

Ich tat ihm den Gefallen, fing sekundenweise zu zählen an.

»... sechs — sieben... was will der Kerl eigentlich nur?... acht... der kann mir doch nicht bange machen... neun — zehn...«

Und ich hatte diese Zahl noch nicht ganz ausgesprochen, da stieg in weiter, weiter, östlicher Ferne vom Meere aus zum nächtlichen Himmel ein weißer Stern empor — wie damals, als der Matrose vom Stern von Bethlehem gesprochen hatte — eine Rakete entfaltete sich zur weißen Leuchtkugel, welche einige Zeit schweben blieb, bis sie verlöschte.

Ja, ich gestehe, ich war etwas baff. Wie hatte es dieser Hokuspokusmacher einrichten können, dass die Rakete gerade emporstieg, als ich bis zehn gezählt hatte? Die Entfernung musste doch eine ganz bedeutende sein, da konnte ein schnell gegebenes, geheimes Signal wohl nicht in Betracht kommen.

»Hast du gesehen?«

»Es ist ein Schiff, welches seine Ankunft signalisiert.«

»Was für ein Schiff?«

»Wohl wieder solch eine Galeerenjacht, die euch Proviant bringt.«

»Mitnichten. Es ist deine ›Sturmbraut‹.«

Ganz ruhig hatte er es gesagt, ich aber glaubte, meinen Ohren nicht trauen zu dürfen.

»Was?!«, schrie ich. »Mein Schiff wäre das, welches dort die Rakete abgeschossen hat?«

»Dein Schiff.«

»Welches zwanzig Meter unter Wasser auf dem Meeresboden liegt?!«

»Nicht mehr. Morgen früh wirst du es hier neben der ›Indianarwa‹ liegen sehen, es ist unterdessen gehoben worden, und du... wirst es morgen mit deinen Leuten besteigen und uns wieder verlassen.«

Sprach's und wandelte, von seinen Begleitern gefolgt, an mir vorüber, dem Raketenhause zu. Und ich konnte ihm nur nachstarren, bis ich die Sprache wiedergefunden hatte.

»Mahlsdorf, haben Sie's gehört?«, wandte ich mich an den Steuermann.

»Was sagte der?«

»Das sollte die ›Sturmbraut‹ sein, die dort die Rakete abgefeuert hat.«

»Also habe ich doch recht gehört. Und morgen soll sie hier liegen, nicht wahr?«

»So sagte er.«

»Und das glauben Sie, Mahlsdorf?«

»Wir werden ja sehen, ob's wahr wird. Da, jetzt signalisiert er ebenfalls mit Raketen!«

Wir schlichen uns näher, obgleich wir das Schleichen doch gar nicht nötig hatten.

Wirklich, der alte Graf feuerte bunte Raketen ab, benahm sich ganz geschickt dabei, und dann stiegen auch dort in östlicher Ferne farbige Leuchtkugeln auf, bis auf beiden Seiten das weiße Schlusszeichen gegeben wurde.

Vor der offenen Tür des Raketenhäuschens war ein Tisch aufgeschlagen worden, und auf diesem breiteten jetzt die Inder mehrere Karten oder andere Pläne aus, legten blitzende Messinginstrumente darauf, halb wie Fernrohre aussehend, zum Teil aber auch ganz anders; kuriose Dinger waren dabei, das eine glich einem durchlöcherten Globus, und sie begannen nach dem Himmel zu kieken und in dem Globus herumzustochern und auf den Karten mit Zirkeln zu messen und Linien zu ziehen, dabei manchmal zusammen sprechend, was wir nur leider nicht verstanden.

»Die treiben Astrologie«, flüsterte mir der Steuermann zu.

Das hatte ich mir auch schon gedacht. Astrologie? Ich hatte noch nie an solchen Mumpitz geglaubt. Doch ich beobachtete.

Wir standen beide etwas im Finstern, mussten aber von den anderen gesehen worden können, was sie jedoch nicht störte.

Dann schien die Geschichte fertig zu sein. Instrumente und Karten wurden wieder zusammengepackt. Der alte Graf trat auf mich zu.

»Weißt du, was wir jetzt gemacht haben?«

Das heißt, er sprach Englisch, und die englische Sprache kennt kein ›du‹. Ich muss aber dieses gebrauchen, um die Art zu kennzeichnen, wie er jetzt zu mir sprach — so würdevoll, so herablassend — er machte mir jetzt überhaupt einen ganz anderen Eindruck, als vor acht Tagen, als ich ihn zum ersten Male in seinem Laboratorium sah, obgleich er sich da doch auch für so einen Geheimniskrämer hatte ausgeben wollen. Jetzt aber imponierte er mir wirklich.

»Weißt du, was wir jetzt getrieben haben?«, wiederholte er, als ich nicht gleich antwortete.

»Das nennt man wohl Astrologie?«

»Ja, wir haben deinem Schiffe das Horoskop gestellt, das zukünftige Schicksal deines Schiffes bestimmt. — Du glaubst nicht an so etwas?«

»Nein«, antwortete ich ganz offen.

Es war mir, als ob ein spöttisches Zucken über sein Gesicht ging. »Du nanntest uns, die wir dieses Schiff bewohnen, vorhin Seezigeuner.«

Ja, das hatte ich allerdings getan, und das war sehr voreilig von mir gewesen; denn die allergrößten Seezigeuner waren wir ja selbst. Aber dieses Wort war nun einmal neu entstanden — Doktor Selo hatte es damals erfunden — es wurde jetzt öfters gebraucht; die Seemannssprache war durch ein neues Wort bereichert worden.

»Du nanntest uns vorhin Seezigeuner, nicht wahr?«

»Ich gestehe es, aber das sollte keine Beleidigung sein, sondern...«

»Wir wissen hier überhaupt nichts von Beleidigungen«, fiel er mir ins Wort. »Nur wer uns vernichten will, dem kommen wir zuvor. Du kennst doch auch die richtigen Zigeuner?«

»Natürlich kenne ich die.«

»Woher stammen sie?«

»Darüber ist schon viel gestritten worden. Wohl aus Ägypten.«

»Nein, ihre Urheimat ist Indien. Was treiben diese braunen, heimatlosen Gesellen?«

»Sie flicken Kessel, stehlen Pferde, sagen aus der Hand wahr...«

»Glaubst du, dass solch ein Zigeuner oder ein Zigeunerweib die Vergangenheit und die Zukunft aus den Handlinien ersehen kann?«

»Nein, an so etwas glaube ich nicht.«

»Zeige mir deine Hand!«

Ich hielt ihm meine Rechte hin; er ergriff sie. Wirklich, mir ward etwas unheimlich zumute — schon wie er sie ergriff, die innere Handfläche spannte, sich mit seiner Hakennase darüber beugte — und nun überhaupt das ganze Gebaren dieses alten, ausgemergelten Kerls in dem Magierkostüm.

»Du bist in deinen Kinderjahren, vielleicht im zehnten bis zwölften, einmal in großer Lebensgefahr gewesen.«

Ich starrte den Sprecher an. Weshalb ich so bestürzt war, wird man gleich hören.

»Und zwar«, fuhr er fort, »war es Wasser, was dein Leben bedrohte.«

»Herr, woher wissen Sie das? Wie können Sie das wissen?«, vermochte ich nur hervorzustoßen.

Denn es stimmte. In meinem elften Jahre war ich einmal beim Schlittschuhfahren eingebrochen, war unters Eis gekommen, war unter unsäglichen Schwierigkeiten von einem älteren Kameraden, der bei mir gewesen, wieder hervorgeholt worden.

Weshalb ich da zu staunen brauchte? Konnte dieser Hokuspukusmacher nicht genaue Auskünfte über mich eingezogen haben, schon früher in der bestimmten Absicht, mich später einmal an sich zu fesseln?

Nein, so einfach war das eben nicht! Mich machte so leicht keine Kartenlegerin dumm. Hier lag etwas ganz anderes vor.

Es war damals niemand anders bei mir gewesen, als jener Schulkamerad namens Emil Wünsche, und niemand hatte gewusst, dass wir Schlittschuh gefahren und eingebrochen waren, sonst hätten wir beide zu Hause jämmerliche Prügel bekommen — so schwiegen wir — und Emil Wünsche starb zwei Monate später am Typhus — und hätte er es noch nachträglich ausgeplaudert, vielleicht im Todesfieber, so hätte doch auch ich etwas davon erfahren müssen — in unserem Kuhdorfe brach doch niemand ins Eis ein, ohne dass dies tagelang das Gespräch gebildet hätte — und ich selbst halte niemals, auch später, bis zum heutigen Tage nicht, darüber gesprochen, der Tod meines Gespielen, der sich jene Krankheit offenbar durch mich zugezogen, hatte mir immer etwas auf dem Gewissen gelegen — kurz und gut, außer Gott und mir konnte unmöglich jemand etwas von dieser Affäre wissen.

Und dieser Mann hatte wenigstens aus meiner Hand gelesen, dass ich zwischen meinem zehnten und zwölften Jahre in einer großen Gefahr geschwebt, die Wasser mir gebracht hatte!

»Wie können Sie davon wissen?«, stieß ich hervor.

Da hatte er sich schon zum Gehen gewandt, aber er winkte mir, und ich folgte der ganzen Gesellschaft. Es ging über Deck, durch einen Kajüteneingang in die Korridore hinab, nur von dem grünlichen Scheine der Laterne erleuchtet, welche jetzt ein anderer trug, die übrigen verloren sich nach und nach, nur der Graf und der Laternenträger schritten mir noch voran; ich folgte ihnen in eine geräumige Kabine.

»Warten Sie hier noch einen Augenblick!«

Die beiden verschwanden hinter einem Vorhang. Nur wenige Minuten brauchte ich im Finstern zu stehen.

»Treten Sie hier ein!«, hieß es dann.

Der Vorhang war wieder zurückgeschlagen worden, helles Licht flutete mir entgegen. Dies hier war eine mit europäischen Möbeln ausgestattete Kajüte, die erste, die ich im Innern des Schiffes zu sehen bekam, und drei Petroleumlampen sorgten für Licht.


Illustration

Nur der Graf befand sich darin; er hatte sein groteskes Kostüm mit einem schwarzen Anzuge vertauscht, in dem er sich in jeder Gesellschaft hätte sehen lassen können, und hiermit war er auch sonst ein ganz anderer, wieder ein gewöhnlicher Mensch geworden, wenn auch das eiserne, asketische Gesicht blieb.

»Nehmen Sie Platz, Herr Kapitän!«

Wir saßen einander gegenüber.

»Erwarten Sie keine Fortsetzung von dem, was Sie soeben von mir auf der Kommandobrücke zu hören bekamen. Nicht wage der Mensch den Schleier der Zukunft zu lüften, und unglücklich der, der diese Gabe besitzt.«

Feierlich hatte er es gesagt, ich blickte ihn an. Ja, unglücklich sah dieser Mann aus, wie vom schwersten Seelenschmerz geplagt — erst jetzt fiel es mir auf.

»Ich spreche jetzt ganz geschäftsmäßig zu Ihnen«, fuhr er gleich fort, sich auch solch eines geschäftsmäßigen Tones bedienend. »Ich will mich ganz kurz fassen. Wir wollten also diese Gegend, wo wir unfreiwillig festgebannt lagen, verlassen, der Maharadscha hatte Sie und Ihre Mannschaft dazu ausersehen, uns von hier fortzubringen. Der Maharadscha ist äußerst zufrieden mit Ihnen. Sie haben mit Ihrer Mannschaft etwas fertig gebracht, was Ihnen so leicht keiner nachmacht. Sie selbst bei Ihrer Bescheidenheit — bitte, unterbrechen Sie mich nicht — erkennen die Größe Ihrer tatkräftigen Leistungen wahrscheinlich gar nicht an. Auch die nötige Vorrichtung würden Sie treffen, dass wir durch die Fucusbank kommen, Sie würden dieses Schiff, wie ursprünglich geplant, sicher nach Bombay führen. Aber für uns selbst ist etwas dazwischengekommen. Wir dürfen noch nicht wagen, unser Versteck hier zu verlassen, um wieder hinauszutreten in die Welt.

Maharadscha Ghasna beabsichtigte, Sie und Ihre auserwählte Mannschaft für immer an sich und an dieses Schiff zu fesseln. Aber auch hierzu ist die Zeit noch nicht gekommen, die Sterne wollen es noch nicht — oder lassen wir die Sterne ganz aus dem Spiele, Sie glauben doch nicht daran, und wohl Ihnen, dass Sie es nicht tun — also mit anderen Worten: Sie könnten ja einstweilen hier bleiben, doch wir haben Sie beobachtet und zur Genüge erkannt, dass solch ein tatenloser Aufenthalt auf diesem Schiffe nichts für Sie und Ihre Mannschaft ist. Sie müssen wieder selbstständig werden.

Ihr Schiff, die ›Sturmbraut‹, ist tatsächlich wieder gehoben worden. Gleich am nächsten Tage, nachdem Sie hier angekommen waren, wurde diese Arbeit in Angriff genommen, und Sie unterschätzten uns, wenn Sie glaubten, wir hätten nicht die geeigneten Kräfte dazu. Nach allem, was Sie hier schon beobachtet, hätten Sie aber wissen können, dass hier alles in der Stille vorgenommen wird. Doch davon ganz abgesehen.

Morgen steht Ihnen Ihr Schiff wieder zur Verfügung. Wir hatten für Ihre Dienste ein tägliches Honorar, oder, wie Sie es nennen, eine Heuer verabredet. Das war natürlich nur pro forma. Sie wollten eben so behandelt sein, wie wir es taten. Sie müssen diesen Radschputenfürsten erst näher kennen lernen. Er ist gewohnt, ihm geleistete Dienste auch fürstlich zu bezahlen. Zunächst gibt er Ihnen das Schiff zurück. Die Hebung ist vollständig gelungen; die eingedrückte Platte ist wieder eingenietet worden, und da die Luken geschlossen gewesen, ist im Innern kaum ein nennenswerter Schaden entstanden. Mit Kohlen und Proviant waren Sie ja noch genügend versehen. Nur die schon eingenommene Ambra ist wieder entfernt worden. Den Grund dazu wissen Sie wohl, nicht wahr?«

»Das Geheimnis der Ambrainsel soll nicht verraten werden.«

»Ja, und da ist es besser, wenn überhaupt keine größere Menge Ambra auf dem Markte feilgeboten wird, das könnte gleich Aufmerksamkeit erregen. Nun haben wir bereits Ihr Ehrenwort...«

»Dann ist darüber auch kein Wort mehr zu verlieren«, fiel ich ein.

»Doch! Zu holen ist hier allerdings nichts mehr, der Maharadscha wird noch heute diese Ambrainsel vernichten lassen, also auch Sie könnten nichts mehr davon holen. Aber Sie müssen entschädigt werden. Anders tut es dieser Radschputenfürst nicht. Maharadscha Ghasna bietet Ihnen eine jährliche Leibrente von 100 000 Pfund Sterling. Sind Sie damit zufrieden?«

Ich konnte weder bejahen noch verneinen, ich war sprachlos. Eine herrliche Perspektive eröffnete sich vor meinen Augen.

»Sind Sie damit zufrieden?«, wiederholte der Graf. »Sie können diese Summe alljährlich erheben oder auch ratenweise, ganz wie Sie wollen, irgendwo in der Welt, wo und wann Sie bestimmen, und bei uns brauchen Sie keine Sorge zu haben, dass man Ihnen das Geld vorenthalten kann, wie es etwa der Lady von Leytenstone ergangen ist. Wie wir dies arrangieren, werden Sie noch erfahren. Also einverstanden?«

Na und ob! Ich schlug in die dargebotene Hand ein.

»Und was für eine Verpflichtung habe ich dagegen?«

»Nicht die geringste. Sie sollen gänzlich frei sein. Der Maharadscha, den Sie eben noch näher kennen lernen müssen, will es: Sie sollen absolut frei sein! Nur eine Bitte habe ich in seinem Namen noch auszusprechen.«

»Sprechen Sie!«

»Wenn der Maharadscha Sie ruft, dass er Ihre Hilfe braucht — werden Sie kommen?«

»Na, sicherlich!«, rief ich in meiner alten Weise, und ich schlug nochmals in die Hand ein.

Dann stand Graf Axel auf, ich musste wohl seinem Beispiel folgen.

»So haben wir nichts mehr zu besprechen. Vielleicht sehen wir uns auch gar nicht wieder. Sie werden morgen von dem Administrator ein versiegeltes Schreiben bekommen, das Sie erst in einer gewissen Entfernung von diesem Schiffe, wenn Sie sich schon auf dem Ihren befinden, erbrechen dürfen, daraus werden Sie alles ersehen, auch betreffs des Geldes.«

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll...«

»Keine Ursache, und... Sie müssen eben diesen edlen Radschputen noch kennen lernen.«

»Das hoffe ich, und ebenso, ihm noch dienstbar sein zu dürfen. Dann aber habe ich noch eine für mich brennende Frage.«

»Bitte.«

»Wo hat sich denn nur immer die Lady von Leytenstone aufgehalten, von der ich doch sicher annehme, dass auch sie von alledem in Kenntnis gesetzt worden und mit allem einverstanden ist?«

»Die Lady von Leytenstone?«

Das hatte schon so merkwürdig geklungen, dass ich gleich dachte: die wird doch nicht etwa hier bleiben und mich allein fahren lassen wollen?

»Der Lady«, fuhr dann der Graf fort, »ist von dem Maharadscha gleichfalls eine fürstliche Apanage ausgesetzt worden, sodass sie vorläufig von ihren Widersachern unabhängig ist.«

»Sie bleibt also hier an Bord?«, stieß ich hervor, denn der Atem stand mir etwas still.

»Hier an Bord? Ja, das war ihr allerdings angeboten worden, aber sie lehnte leider ab.«

»Also auch sie verlässt dieses Schiff — natürlich, sie kommt doch wieder mit mir.«

»Nein, sie hat uns bereits verlassen.«

Was in diesem Augenblick in mir vorging, kann ich gar nicht schildern.

»Sie hat — dieses Schiff — bereits — verlassen?«

»Jawohl. Gleich am andern Tage. Oder in der Nacht. Eine unserer Jachten hat die Lady und ihr Kind nach New York gebracht, wohin sie sich zu begeben wünschte.«

— • —

42. Kapitel
Wieder auf der ›Sturmbraut‹

Originalseiten II.206 — 216

Wie ich an Deck und auf die Kommandobrücke gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ich muss die Offiziere in unser zukünftiges Schicksal eingeweiht haben, wie wir dieses Schiff wieder verlassen würden, wie unsere ›Sturmbraut‹ wieder gehoben sei, und so weiter und so weiter — aber auf dies alles konnte ich mich später gar nicht mehr recht besinnen. Ich muss dies alles ganz gedankenlos gesprochen haben.

Ja, meine Gedanken waren auch mit etwas anderem beschäftigt.

Den ganzen Rest der Nacht habe ich im Kartenhause verbracht, auf einem Klappstuhl sitzend, die Ellbogen auf die Knie gestützt und den Kopf in die Hände.

So habe ich gesonnen und gesonnen. Und manchmal habe ich geweint, bitterlich geweint.

Sie hatte mich verlassen! Ohne Abschied war sie von mir gegangen!

Es soll im menschlichen Leben einen elendiglichen Zustand geben, den man für gewöhnlich Katzenjammer nennt. Von dergleichen wusste ich nichts. Ich habe schon sechs Punschterrinen allein ausgetrunken und bin am anderen Morgen mit klarem Kopfe erwacht.

Und was für meine körperliche, das gilt auch für meine geistige oder richtiger seelische Konstitution. Ich hatte in meinem Seemannsleben schon gar viel durchgemacht. Meine schlimmste Fahrt war einmal um Kap Hoorn herum, zur Winterszeit, ohne im Besitze von Seestiefeln zu sein. Aber auch im Hagelwetter und Schneesturm, statt Zehen Eiszäpfchen an den Füßen — für mich lachte immer die Sonne.

Dann soll es ja auch noch eine Menge anderes Leid in der Welt geben, Liebesweh und dergleichen. Ich aber hatte von alledem noch nichts gewusst.

Ja, einmal — damals, als ich in der römischen Villa zunächst die Rolle eines Hausmeisters spielte, wo ich es für besser hielt, zwischen mich und das rothaarige Weib mit den trotzigen Zügen tausend Meilen Salzwasser zu bringen.

Doch was war das gewesen gegen den jetzigen Schmerz, der mein Herz zerfraß?

»Sie hat mich verlassen! Ohne Abschied ist sie von mir gegangen!«

So schluchzte ich unausgesetzt.

Ach, ich habe in diesen Stunden viel, gar viel durchgemacht! Dann fing ich an über das Warum nachzugrübeln.

Hatte ich ihr gegenüber nicht immer meine Pflicht erfüllt? War ich gegen all ihre Launen nicht immer nachgiebig gewesen? War ich ihr untreu geworden?

Da fiel mir jene erste Nacht an Bord dieses indischen Schiffes ein.

Hatte sie davon erfahren?...

Ich kann nicht alles schildern, was ich mir zurechtgrübelte. Zuletzt packte mich etwas wie Trotz.

War ich denn etwa mit ihr verheiratet gewesen? Hatte ich ihr denn auch nur so etwas wie Treue gelobt? War ich nicht ein freier Mann?

Als ich noch so dasaß im Finstern, den Kopf in die Fäuste gestemmt, leckte mir plötzlich eine heiße Zunge übers Gesicht, gleichzeitig schnubberte mir eine kalte Nase mit heißem Atem in das linke Ohr.

Es waren die beiden Hunde, die mich aufgesucht. Wohl zum ersten Male bezeugten mir die beiden Köter, mit denen ich sonst nie auf einem guten Fuße gestanden hatte, solch eine Zärtlichkeit.

Merkwürdig, was für Kleinigkeiten es manchmal sind, die den Menschen gleich auf andere Gedanken bringen, alles gleich in ganz anderem Lichte erscheinen lassen.

Ich umschlang die Köter und zog sie an meine Brust.

»Also auch euch beide hat sie im Stich gelassen! Ja, dann freilich — ja, dann freilich...«

In diesem ›ja, dann freilich‹ liegt wohl alles ausgedrückt, für was ich auch damals keine Worte fand.

Und als ich das noch so sagte, die beiden winselnden Köter liebkosend streichelnd, da plötzlich flammte es im Osten blutigrot auf, und wie eine Feuerwoge kam der neue Tag über die grüne Wiesenfläche herangerückt — und als ich noch so denke, dass dies wirklich ein neuer Tag für mein ganzes Leben bedeutet, da sehe ich ein stolzes Segelschiff mit geschwellter Leinwand herangerauscht kommen, der Seetang kann ihm kein Hindernis bieten, ein am Bug angebrachtes Messer durchschneidet die grünen Seile... es ist mein Schiff, die ›Sturmbraut‹!

Da sprang ich auf, da überkam mich eine Erkenntnis, und wie von einem Alp befreit, breitete ich beide Arme aus, und so jauchzte ich der Sonne und meinem Schiffe entgegen: »Frei!!! Endlich wieder ein freier Mann!!!«

Ja, in diesem Augenblick überkam mich die Erkenntnis, dass ich bisher in den Banden eines launenhaften Weibes gelegen hatte, für das ich nicht einmal mehr besondere Liebe empfand. Ja, in diesem Augenblicke ward mir alles klar, das muss ich gestehen. Und als zärtlicher Vater hatte ich mich eben nie fühlen können.

Hinter mir versammelten sich meine Matrosen. Sie erkannten die ›Sturmbraut‹. War ihr Staunen nicht so grenzenlos, so kam das eben daher, weil ich schon die Offiziere in alles eingeweiht hatte; diese hatten den Leuten gesagt, was uns bevorstände, wie unser Schiff wieder flottgemacht worden sei.

Ich rief den wachehabenden Ingenieur im Maschinenraum ans Sprachrohr und befahl ihm, mit unseren Heizern alles im Stiche zu lassen und heraufzukommen, und dann blickten wir mit gespannter Erwartung dem schnell näherkommenden Schiffe entgegen.

An Deck befand sich eine große Anzahl von Menschen, in der Takelage arbeiteten Matrosen. So nahe war die ›Sturmbraut‹ schon, dass wir erkennen konnten, dass es ausschließlich kleine, breitschultrige Männer waren. Sie bedienten mein Schiff nach allen Regeln der Kunst, meine eigenen Jungen hätten nicht fixer arbeiten können, im Nu rollten sich die Segel zusammen, mich überkam fast etwas wie Eifersucht.

Und dann war das letzte Segel fest, dicht neben dem Riesendampfer lag der stattliche Segler, jetzt freilich einem Zwerge gleichend, und wie Katzen kletterten die kleinen Kerle mit den gelben, schlitzäugigen Gesichtern an den Planken hinauf und schlangen die Taue um die Poller.

Es waren ausschließlich Japaner oder Japanesen, wie man damals sagte, das erkannte ich nun sofort.

Hierbei sei bemerkt, dass die Japaner damals noch ganz außerhalb aller kulturellen Interessen standen. Japan war ein kleines Inselreich, so halb zu China gehörend. Man warf überhaupt Chinesen und Japaner in einen Topf. Auch für die Seemannschaft kamen die Japaner gar nicht in Betracht.

Ich für mein Teil — und das galt damals für alle Seeleute — konnte mir unmöglich einen japanischen Matrosen in der Takelage vorstellen, noch weniger etwa solch einen schlitzäugigen Mongolen auf der Kommandobrücke eines modernen Schiffes, und nun war ich schon erstaunt, dass diese Japaner hier keine solchen heimatlichen Schlafröcke trugen, sondern regelrechte Arbeitsanzüge, und dann erst recht wurde ich verblüfft, als ich sah, was für fixe Matrosen das sogar waren, welche dem schlitzäugigen Kapitän auf meiner eigenen Kommandobrücke auf jeden Pfiff gehorchten.

Doch sonst ging es jetzt zu wie immer auf diesem indischen Schiffe, wo sich niemand um den anderen kümmerte.

Ich befand mich schon an Deck meines Schiffes, die Planken küssen mögend. Meine Jungen folgten mir alsbald nach, aber wir wurden nicht im geringsten beachtet.

An Deck waren außer einer Unmenge von Fässern auch viele Maschinenteile aufgestapelt, offenbar einem riesigen Pumpwerk angehörend, welches auseinandergeschraubt worden war, und schon begannen die kleinen Japaner, die Fässer und die einzelnen Maschinenteile mit Handwinden empor zu leiern.

Wie? Hatten etwa gar diese Japaner die Hebung meines Schiffes bewerkstelligt? Aber ich sah doch ausschließlich mongolische Gesichter, nicht ein einziger Europäer war dazwischen. Und verstehen diese asiatischen Japaner denn etwa auch etwas von der Ingenieurkunst? Das wäre doch lachhaft.

Da trat auf mich zu solch ein Kerlchen mit lange herabhängendem Schnurrbart, ein Wicht von fünf Fuß Größe, aber mit fast meterbreiten Schultern, ganz adrett in ein weißes Tropenkostüm gekleidet, nach allen Regeln der Schneiderkunst, und grinsend zeigte er mir sein prachtvolles Gebiss.

»Kapitän?«

»Der bin ich.«

»All right, all right«, grinste er mit Fingerbewegungen.

»Haben Sie das gesunkene Schiff gehoben?«

»Nix Englisch.«

»Sie sind doch nicht etwa gar Ingenieur?«

»Yes, ChefIngenieur.«

Ein schriller Pfiff, und ich konnte dem gelben Männchen nachstaunen.

Die letzten Fässer wurden nach oben befördert, nicht gewunden, sondern von nervigen Armen gleich empor geschleudert — es waren die Fässer, mit welchen man durch Auspumpen das Schiff gehoben hatte — das Deck leerte sich von den Japanern, dagegen bevölkerte es sich mit meinen Leuten.

Ich öffnete den Kajüteneingang, stieg hinab, eilte aus einer Kabine in die andere, besichtigte alle Räume — ich merkte überhaupt gar nicht, dass das Schiff fünf Wochen unter Wasser gelegen hatte.

Dabei ist zu bedenken, dass ja alle Schiffstüren hermetisch abschließen, unsere hier waren mit Gummileisten versehen, und da brauchte gar nicht erst geschraubt zu werden, sobald sie geschlossen, waren sie auch wasserdicht, und ein Glück war es, dass zur Zeit der Katastrophe alle Türen geschlossen gewesen oder dass die Matrosen bei ihrer Flucht alle Türen hinter sich zugeschmettert hatten.

Ach, mit welchem Jubel begrüßte ich jeden einzelnen Raum, in den ich blickte! Nur, als ich die erste von Blodwens drei Kabinen öffnete, durchzuckte ein gelinder Schmerz meine Brust, doch sofort war das wieder vorüber, die anderen beiden konnte ich mit prüfenden Augen besichtigen.

Als ich wieder an Deck war, hielten schon meine Leute wieder ihren Einzug unter der Back die gleichfalls durch Türen abgeschlossen werden konnte, und da saß ja auch schon wieder unser Klabautermann auf seiner alten Stelle auf der Kleiderkiste und rauchte aus seiner langen Kalkpfeife.

Aber wenn auch alles geschlossen gewesen, durch den Schornstein musste doch Wasser in den Heizraum gedrungen sein, diesen ganz ausfüllend. Nun, das war eben von diesen famosen Japanern unterdessen alles wieder beseitigt worden, sie hatten sogar gedampft, die Kessel zeigten noch eine hohe Spannung.

Ich stand auf der Kommandobrücke. Es war, als ob die letzten zehn Tage ganz aus meiner Erinnerung gestrichen wären, auch der Riesendampfer, neben dem wir lagen, existierte nicht mehr für mich. Das war jetzt einfach das Hindernis, von dem wir uns freimachen mussten.

»Auf die Stationen, klar zum Manöver!!!«

Die Bootsmannspfeifen schrillten. Die Heizer verschwanden, die Matrosen rannten.

»Maschine!«, rief ich ins Sprachrohr hinein, nachdem ich auf den elektrischen Knopf gedrückt hatte, und ich selbst hörte es klingeln.

»Ay, ay«, antwortete mir Beyers Stimme durch das Sprachrohr. Wirklich, jeder einzelne musste von derselben Empfindung beseelt sein, dass es jetzt unbedingt sofort weggehen müsse.

Und ich gab Kommando nach Kommando. Die Taue wurden gelöst, die Schraube begann zu arbeiten, um das Schiff erst einmal abzusetzen, dann entfaltete sich ein Segel nach dem anderen, und von dem frischen Südwind gefasst, zog die ›Sturmbraut‹ mit mindestens acht Knoten Fahrt durch die grüne Wiese eine Ackerfurche, nur dass sich diese gleich wieder schloss.

»Herr Kapitän, wie weit dehnen wir die Probefahrt aus?«, fragte der neben mir auf der Kommandobrücke stehende Mahlsdorf.

Ich blickte zurück. Der Riesendampfer war schon recht klein geworden. Aber die Menschen darauf waren auch ohne Fernrohr noch deutlich zu erkennen, also auch, dass unsere plötzliche Abfahrt dort nicht das geringste Aufsehen erregte. Ein buntes Gewimmel wie sonst, ich glaubte, kein einziger blickte uns auch nur nach.

Zuerst hatte ich mich überlegend hinter den Ohren gekratzt. Ja freilich, ich musste doch Abschied nehmen, mindestens von dem Grafen, dann wollte mich doch auch noch einmal der Administrator...

Da stampfte ich plötzlich mit dem Fuße auf, doch es war wie ein überschäumender Jubel.

»Zum Teufel, vorwärts!! Hier gibt's ja überhaupt so etwas wie ein Begrüßen und Abschiednehmen gar nicht. Man hat uns das Schiff wieder zur Verfügung gestellt, und damit basta, und wir haben es ja auch verdient. Ostwärts ahoi!!«

»Aber der Administrator sollte Ihnen doch noch Anweisungen geben, wegen der jährlichen 10 000 Pfund Sterling...«

»Woher wissen Sie denn das?«, fragte ich erstaunt.

»Sie haben mir doch gestern Abend alles ausführlich erzählt,« entgegnete der erste Steuermann nicht minder erstaunt.

Ach so! Ja, das konnte sein. Mir kam das alles wie ein Traum vor. Und ich sprach es auch aus.

»Vorwärts, vorwärts!! Es ist ja alles nur ein kurioser Traum, den wir hinter uns lassen. Nicht anders als ein abscheulicher Traum soll dieses ganze Schiff fernerhin in meiner Erinnerung existieren.«

Und es ging weiter ostwärts mit geschwellten Segeln, bis auch der Riesendampfer außer Sicht kam. Nur der Berg erhob sich noch.

Was machte ich mir in diesem Augenblicke aus den 10 000 Pfund! Das war ja überhaupt nur ein Traum. Aber, dass ich mein Schiff wiederhatte, das war kein Traum! Und jetzt war ich wirklich ein freier Mann, dem die ganze Welt offen stand! Ich wollte mich schon durchschlagen! Und fürs erste musste ich in meinem Geldschranke doch auch noch fast 80 000 Dollar haben. Allerdings gehörten die eigentlich Karlemann, bei dem saß ich nun überhaupt tief in Schulden; aber mit Karlemännchen wollte ich schon fertig werden...

Zunächst dachte ich an die 80 000 Dollar, und da durchzuckte mich ein gelinder Schreck.

Wir waren doch gleich so von Deck zu Deck gesprungen, mitzunehmen hatten wir ja allerdings nichts gehabt, wenigstens nichts, auf das wir Anspruch als auf unser Eigentum hätten machen können, und die uns zur Verfügung gestellte Wäsche und Kleidung, die wir nicht auf dem Leibe getragen, hatten wir einfach zurückgelassen.

Aber wir hatten doch Verschiedenes aus dem Schiffbruch gerettet gehabt, was an den spitzen Steinen nicht in Fetzen gehen konnte — ich will nur mein Schlüsselbund und meine Uhr erwähnen, und so hatte doch jeder etwas bei sich gehabt.

Wie früher geschildert, waren diese Gegenstände in einen Beutel getan worden, als deren Hüter dann Goliath angestellt worden war. Meine Uhr und anderes hatte ich mir unterdessen wieder angeeignet, aber um das Schlüsselbund hatte ich mich, als belanglos für das gesunkene Schiff, vorläufig nicht mehr gekümmert.

»He, Goliath!«

»Massa!«

»Wo sind die Sachen, die du aufheben solltest?«

»Die habe ich schon verteilt, hier sind die Ihren.«

Prachtvoller Kerl! Aber auch den Tod über ihn, hätte er den Beutel vergessen gehabt! Dann hätten wir unbedingt wieder umkehren müssen, wenn der Panzerschrank nicht anders aufzubringen war.

Ich erhielt außer meinen anderen Kleinodien, um die ich mich noch nicht wieder gekümmert, auch das umfangreiche Schlüsselbund, begab mich in meine Kabine hinab, schloss den Panzerschrank auf.

Die Schiffspapiere waren in Ordnung. Das war ja auch ganz selbstverständlich, da hätte ich gar nicht erst nachzusehen brauchen.

Ich zog einige Kassetten auf, die mit Gold- und Silberstücken gefüllt waren, dann die Kassette für Papiergeld... was für ein Paketchen war denn das? Konnte mich doch gar nicht entsinnen, ich hatte doch die amerikanischen Noten ganz offen...

Ich packte es aus — — starrte die englischen Hundertpfundnoten an, von deren Existenz mir gar nichts bekannt war — zählte nach — hundert Stück!

Nun freilich ging mir eine Ahnung auf! Das war meine erste Leibrente von 10 000 Pfund!

Ja aber, wie war denn das Geld in den Panzerschrank gekommen, für dessen Sicherheitsschlösser die Fabrik jegliche Garantie übernommen hatte? Waren die Japaner solche Hexenmeister gewesen, bei denen keine Garantie etwas nützte? Aber der alte Graf hatte mir dieses Geld doch erst gestern Nacht versprochen, und die Japaner hatten das Schiff sofort verlassen.

Doch mir ganz schnuppe! In dieser Hinsicht bin ich nun gar kein grübelnder Kopf.

Ich suchte gleich auch noch nach der Anweisung, welche mir der Administrator hatte geben sollen, dass ich die Leibrente jährlich abheben konnte, wie oder wo ich wollte.

Doch außer dem englischen Gelde fand ich nichts.

»Nun«, sagte ich mir vergnügt, »wenn mir der Maharadscha jedes Jahr 10 000 Pfund Sterling in meinen verschlossenen Geldschrank hineinhext, dann will ich schon zufrieden sein, und für diese Hexerei brauche ich mich nicht einmal besonders zu bedanken.«

So sagte ich mir damals.

Ich unschuldiger Jüngling ahnte nicht, wie mich ein Mächtigerer dadurch in seine Bande schlagen wollte, dass er mir unverdientes Geld in die Tasche schmuggelte.

— • —

43. Kapitel
Karlemanns neue Pläne

Originalseiten II.216 — 233

Wir hatten die grüne Fucusbank hinter uns, vor uns lag wieder das offene Meer. Ach, war ich glücklich bei seinem Anblick! Ich war überhaupt glücklich. Tag und Nacht konnte ich pfeifen und trällern.

Denn den Kummer, den mir Blodwen verursacht, hatte ich schon längst überwunden. Was Kummer! Wahrhaftig, es hatte doch nicht die echte Liebe sein können! Und sie hatte es ja nicht anders gewollt — meinetwegen — und nun war sie in New York gewiss gut versorgt. Der Graf hatte ja von einer fürstlichen Apanage gesprochen, die ihr der Maharadscha gewähren wolle. Mochte sie mit dem vielen Gelde neue Torheiten begehen!

Auch ich ging mit neuen Plänen um. Was nun? Doch sicher Fracht nehmen. Jetzt würde man sie mir nicht mehr verweigern. Sonst ging es einfach auf den Robbenschlag oder Walfischfang.

Zunächst aber natürlich nach Karlemanns Leuchtturminsel! Mit dem musste ich mich erst auseinandersetzen. War ich doch auch äußerst gespannt. Der Graf hatte ja gesagt, dass Kapitän Simmer bereits hingesegelt sei, um meinen Kompagnon zu verständigen.

Und nach siebenwöchiger Abwesenheit tauchte sie wieder auf, die Leuchtturminsel, wie eine hohe Schachtel auf dem Wasser liegend.

Aber ob Karlemann auch noch darauf sein würde? Seine Tiere und menschlichen Raritäten mussten doch nun bald so weit sein, um mit ihnen die Kunstreise antreten zu können, und ich dachte lebhaft an das mexikanische Schiff, welches damals im Hafen gelegen hatte. Dieser schlaue Junge, der sich niemals in die Karten blicken ließ, schien eben noch andere Kompagnons zu haben.

Da, noch ehe ich Schiffsname und Nationalität hatte zeigen lassen, ging an dem Maste des Leuchtturms eine grüne Flagge mit einem Knoten hoch — das einfache Begrüßungszeichen der Seeleute — und nun wusste ich auch ganz bestimmt, dass Karlemann anwesend war.

Diesmal kam mir kein Dampfboot entgegen, aber als ich um die Insel herumgefahren war, sah ich ihn schon am äußersten Rande der Barriere stehen, lustig seine Mütze schwenkend, und als ich die ›Sturmbraut‹ mit Vierteldampf hineindirigierte, hatte er sich am ersten ausgeworfenen Tau an Deck geschwungen.

»Na, da sind Sie ja wieder!«, waren seine ersten Worte, und mit Herzlichkeit wurde meine Hand geschüttelt.

»Mein Ziel habe ich erreicht.«

»Ich weiß es.«

»Sie wissen alles?«

»Alles. Vorgestern war hier eine Jacht, dessen Kapitän sich Simmer nannte, der hat mir alles erzählt. Dieses indische Schiff muss ich noch kennen lernen. Sonst aber weiß ich auch, dass Ihre Zunge gebunden worden ist. Nur eins möchte ich gern noch wissen...«

Der Junge warf aus seinen schwarzen, pfiffigen Augen einen schnellen Blick um sich. Wir standen allein, die Matrosen hatten unter dem Kommando des ersten Steuermanns alle Hände voll zu tun, doch die Hauptarbeit taten ja jetzt die Neger auf den Barrieren, welche das Schiff an Tauen hereinschleppten.

»Für wie viel haben Sie sich die Zunge binden lassen?«, flüsterte mir Karlemann jetzt vertraulich zu.

»Für 10 000 Pfund.«

Ein erstaunter Blick traf mich.

»Aber Sie meinen doch wenigstens jährlich!«, meinte er dann. »Jawohl, ich soll jährlich 10 000 Pfund Sterling erhalten, dafür, dass ich die Ambrainsel nicht ausbeute und sonstiges Schweigen beobachte über alles, was ich zu sehen und zu hören bekommen habe.«

Wieder war es ein halb pfiffiger, halb spöttischer Blick der mich traf.

»Jährlich, na, das lässt sich wenigstens hören. Übers Ohr haben Sie sich freilich noch genug hauen lassen. Mir wollte der bevollmächtigte Kapitän nämlich auch mit so einer jährlichen Leibrente kommen — mit 10 000 Pfund durfte er da nun freilich gar nicht erst anfangen, ich hätte ihn doch gleich kopfüber den Felsen hinabgeworfen — hier, pinkpink — ein für allemal, oder morgen sind mindestens hundert Schiffe auf dem Wege nach der Ambrainsel — hier, bare Asche her — und nicht zu knapp — man ist doch nicht umsonst so ein indischer Heiducke, der die braune Butter mit Suppenlöffeln isst — na, was meinen Sie wohl, was sich Herr Kapitän Karl Algots als Abfindungssumme hat bar auszahlen lassen — oder was er doch schon so gut wie bar in der Tasche hat?«

Und listig blinzelte mich der Knirps von der Seite und mehr noch von unten an, und mir kam wieder einmal zum Bewusstsein, wie hundert- oder tausendfach mir dieser zwerghafte Schlingel überlegen war, wie der wieder einmal das Fett abgeschöpft hatte, wie sich der jetzt über meine armselige Leibrente von 10 000 Pfund belustigte, für die ich doch überhaupt gar keine Garantie hatte.

Aber da war nun nichts mehr zu machen. So etwas wie Neid kannte ich überhaupt nicht, wenigstens nicht in Geldsachen.

»Na, wie viel haben Sie denn bekommen?«

Karlemann tippte mir mit der Fingerspitze auf den Bauch.

»Ja, so fragt man die Dummen aus.«

Er war noch ganz genau derselbe. Ob sich so etwas aber auch ein anderer gefallen ließ?

»Doch Scherz beiseite«, fuhr er gleich fort. »Ich darf überhaupt nicht darüber sprechen. Ich habe Sie vorhin nur einmal ausgeholt. Seien Sie vorsichtiger. Never mind. Na, wie geht's denn sonst?«

Wir haben niemals wieder über diese ganze Affäre gesprochen. Karlemann wollte nicht — und dieser Junge konnte jeden Menschen wie am Gängelbande leiten, ohne dass der Betreffende es eigentlich merkte. Anders kann ich mich nicht ausdrücken. Es war eben ein Wunderkind ganz besonderer Art.

»Alles wohl an Bord«, entgegnete ich auf seine letzte Frage. »Was macht Ihre Liebste, die Lady Dingsda?«

Alles wusste er doch nicht. Kapitän Simmer schien eben sofort abgeschickt worden zu sein, mochte aber schon berichtet haben, dass die Hebung meines gesunkenen Schiffes in Angriff genommen würde.

»Die Lady Leytenstone? Die — die — die ist nach New York gereist«, würgte ich heraus.

»Sie haben sich wohl von ihr getrennt?«

»Ja.«

»Na, da gratuliere ich.«

Und fertig war die Geschichte — wenigstens für Karlemann! Nur ein Bedenken stieg ihm noch auf.

»Haben Sie sich auch geschäftlich von ihr losgesagt?«

»Ich denke.«

»Offen heraus mit der Sprache! Sind Sie ihr Geld schuldig?«

»Nein.«

»Wirklich nichts?«

»Gar nichts.«

»Und das Geld, was Sie so verpulvert haben?«

»Das war gemeinsame Angelegenheit. Ich bin ihr faktisch nichts schuldig.«

»Und wem gehört dieses Schiff?«

»Hm. Schließlich gehört auch das mir. Es ist rechtlich auf meinen Namen geschrieben.«

»Na, sonst wird sie eben ausgezahlt«, lenkte Karlemann jetzt gemütlich ein. »Ich hab's ja jetzt dazu. Die Hauptsache ist, dass ich Sie wiederhabe. Mit Kapitän Tarras, mit diesem mexikanischen Schweinehund, bin ich nämlich mächtig hineingefallen — hm, mächtig bin ich da hineingefallen«, setzte er sinnend hinzu.

»Wieso?«

»Lassen wir das. Ich hab's aber auch dem Schweinigel mächtig gegeben — wenn die von dem Wasser trinken, das sie hier zuletzt einnahmen — da kriegen sie noch etwas ganz anderes als nur die Cholerine... lassen wir das. Bin froh, dass ich Sie wiederhabe, jetzt halte ich allein zu Ihnen, und wir beide wollen schon Geld zusammenwichsen — hm.«

Unterdessen hatten wir das schmale Tor passiert. In dem Kesselhafen lagen noch immer Fahrzeuge und kleine Dampfboote, nur eben jenes mexikanische Schiff fehlte, und auf den Galerien kratzten noch immer zahllose Neger an den Felswänden herum, welche aber auch schon viele Tunnellöcher aufwiesen.

Vor allen Dingen aber wurde meine Aufmerksamkeit durch ein Haus gefesselt, welches da im Wasser schwamm.

Es war ein Haus, anders lässt es sich nicht bezeichnen, aus Brettern gezimmert, mit Türen und Fenstern — ich wurde lebhaft an eine Arche Noah erinnert. Mehrere Neger zimmerten noch auf dem Dache herum, strichen die Fensterläden grün an, waren sonst beschäftigt.

»Was für eine Arche Noah ist denn das?«

»Ganz richtig, eine Arche Noah. Da sollen Tiere hinein. Aber auch zum Wohnen eingerichtet. So eine richtige Zirkusbude, so ein Wagen, nur dass der hier nicht fährt, sondern schwimmt.«

»Aha, da sollen die dressierten Tiere...«

»Nee nee«, fiel er mir gleich ins Wort, »das, was Sie denken, dazu ist die Arche nicht bestimmt. Ich erzähle es Ihnen später. Kommen Sie, wir wollen hinaufgehen.«

Wir traten auf der ersten Galerie in eine geräumige Grotte, in welcher sich eine aufwärtsführende Treppe zeigte. Es sei die erste, welche fertiggestellt sei, bis nach oben aufs Plateau führend, erklärte Karlemann. Später würde auch ein Aufzug angebracht, aber so weit wäre man noch nicht.

Wir erstiegen die Treppe, welche hin und wieder von Fenstern erleuchtet wurde, wie sich auch Gänge abzweigten oder Korridore, und es war nicht gesagt, dass diese sich immer in gleicher Höhe mit den Galerien befanden. Überall arbeiteten noch Neger, meißelten und bohrten; ein dumpfer Knall sagte mir, dass auch gesprengt wurde.

Dieser Knabe setzte durch, was er sich vorgenommen, er schuf eine wirkliche Seeburg.

»Was machen denn meine Missgeburten?«, fragte ich einmal unterwegs.

»Die machen Zigarren.«

»Was machen sie?«, staunte ich.

»Zigarren. Sie werden schon sehen. Na ja, irgend etwas müssen sie doch machen, ich kann die Ludersch doch nicht nur so füttern.«

Wir kamen in den letzten und obersten Gang, dessen Decke also das Plateau bildete und der sich jetzt um die ganze Felseninsel herumzog, aus einer offenen Tür schlug mir ein starker Geruch von Tabaksblättern entgegen, und da sah ich in dem geräumigen Saale richtig meine mir wohlbekannten Missgeburten sitzen, samt und sonders mit Anfertigen von Zigarren beschäftigt.

Da saß meine dicke Laura und sortierte Deckblätter, der chinesische Riese feuchtete gerade einen Haufen von Blättern mit der Gießkanne an, und alle anderen wickelten oder waren mit den anderen Arbeiten beschäftigt, die zur Zigarrenfabrikation gehören.

Nur einige vermisste ich so beim ersten Überblick, z. B. den Cowboy und den einen Indianer, es mochten noch mehr fehlen, so genau hatte ich sie gar nicht mehr alle in der Erinnerung. Aber auch das armlose Frauenzimmer war in der Zigarrenfabrikation tätig, die hatte die Beine auf den Tisch gelegt und wickelte mit den beweglichen Zehen schneller als ihre Nachbarin, die kreolische Bauchtänzerin, mit den Fingern.

Mein Staunen lässt sich denken. Ich hatte doch alles andere erwartet, als diese Leute, doch lauter solch faules Gesindel, hier bei der Zigarrenfabrikation beschäftigt zu finden. Und nun überhaupt dieses Rätsel, das hier vorlag!

Wir waren unbemerkt eingetreten, blieben auch längere Zeit unbemerkt, und so konnte ich beobachten, mit welcher Emsigkeit hier gearbeitet wurde, und dabei unter heiterem Geschwätz mit fröhlichen Gesichtern.

War das nicht bei solch einem fahrenden Volke, aus lauter Tagedieben bestehend, die ihr Geld nur dadurch verdienten, dass sie sich angaffen ließen, ein wirkliches Rätsel? Ich hatte sie doch selbst an Bord gehabt, hatte ihren nichtsnutzigen Charakter zur Genüge kennen gelernt.

Und nun hier heiter und emsig bei der Arbeit!

Da sah man mich, einer machte den anderen aufmerksam, man lachte und winkte mir zu, freute sich, mich wiederzusehen. Aber in der Arbeit ließ sich dadurch niemand stören.

Ich ging auf das Riesenweib zu, das im ganzen Gesichte lachte.

»Nun, Madam Laura, wie geht's?«

»O, sehr gut, vortrefflich! Wir erzählen uns immer von Ihnen, dass Sie uns hierher gebracht haben. Wir leben hier wie der liebe Gott in Frankreich.«

Und sie zählte auf, ohne dabei ihre Finger ruhen zu lassen, was sie hier täglich zu jeder Mahlzeit zu essen bekämen.

Und viel war das nicht etwa. Durramus und immer wieder Durramus — das ist Hirse, die in dieser Gegend Afrikas die Hauptnahrung bildet — und durchaus nicht jeden Tag ein Stückchen Fleisch.

Und die Riesendame, deren Appetit und ziemlich verwöhnten Gaumen ich kennen gelernt, leckte beim Aufzählen dieser täglichen Gerichte mit der Zunge über den Mund.


Illustration

Und als ich zu einigen anderen trat, hörte ich immer dasselbe. Alle überaus zufrieden mit ihrer Beschäftigung, mit dem ganzen Leben hier. Und wenn es nun erst auf die Reise ginge!

Ich muss gestehen, dass mich eine Art von Grauen überkam, ohne richtig den Grund hierfür zu erkennen. Jedenfalls war hierbei etwas Unnatürliches.

»Nun sagen Sie mal bloß, wie haben Sie denn das angefangen?«, wandte ich mich an Karlemann, als wir wieder draußen waren.

»Was denn?«

»Sie wissen doch genau, was ich meine. Dass sich diese Tagediebe so zufrieden fühlen.«

»Dressur!«, war seine lakonische Antwort.

Ich wusste nicht, was ich davon denken sollte. Durch diese Antwort wuchs nur die Größe des Rätsels und Geheimnisses.

»Aber«, fuhr Karlemann fort, »das ist nicht meine eigene Dressur — hier«, er hielt einen uns entgegenkommenden Neger an, »das ist der Menschenbändiger. Mister Beelzebub. Eigentlich heißt er anders, aber es klingt ungefähr so, und da habe ich ihn Beelzebub genannt.«

Grinsend zeigte mir der Neger seine gewaltigen Eckzähne. Er war gar keine so kräftige Gestalt, hatte aber etwas überaus Brutales an sich, wie er so vor mir stand, die baumwollenen Hemdärmel hochgekrempelt und die Faust, die eine gewichtige Peitsche hielt, in die Hüfte gestemmt. Und nun auf dem schwächlichen Körper dieser Stierkopf, dieser Raubtierblick, diese Zähne, dieses Grinsen — ich habe selten etwas so Widerwärtiges gesehen.

Ja, das war ein richtiger Beelzebub. Mehr noch. Wenn ich als Jäger diesem Kerl im Walde begegnet wäre, ich hätte ihn ohne jeden besonderen Grund gleich als wildes Tier niedergeschossen.

»Wohin willst du, Beelzebub?«

»Meine lieben Tierchen füttern, Massa«, grinste das Scheusal. »Marsch, weiter!«

»Um Gottes willen«, sagte ich, als jener verschwunden war, »dieser Mensch ist es, der meine früheren Schutzbefohlenen so fügsam gemacht hat, dass sie sich hier so wohlfühlen?

»Jawohl. Aber Sie denken wohl, mit der Peitsche? Gott bewahre! Da hätten wir wohl auf die Dauer nicht viel ausrichten können.«

»Ja, wie in aller Welt hat der das aber sonst fertig gebracht?«

»Geheimnis, lieber Freund. Ich weiß es überhaupt selber nicht. Wissen Sie, das ist ein Ukangara, so ein Zauberer und Regenmacher bei den Schwarzen. Die verstehen allerhand Hexenkünste. Faktisch, die wissen manchmal mehr, als wir uns träumen lassen. Aber eigentlich habe ich den erst entdeckt. Der wusste bisher seine Fähigkeiten gar nicht richtig zu gebrauchen. Da sah ich ihn einmal, wie er... doch das ist meine Sache. Kurz, ich habe ihn engagiert, und wenn hier jemand einmal aufsässig wird, da braucht ihn nur Beelzebub eine Viertelstunde vorzunehmen — aber nicht etwa mit der Knute, keine Spur, in aller Freundlichkeit — und der wildeste Wolf wird wie ein Lämmchen. Aber das ist nun wieder das Merkwürdige dabei: nur mit Menschen wird er fertig, bei Tieren versagt seine Kunst. Als Raubtierbändiger kann ich ihn gar nicht gebrauchen.«

Ich konnte mir dazu denken, was ich wollte. Karlemann hatte eben wieder sein Geheimnis.

»Haben Sie das Fischpulver angewendet?«, fragte er dann, als wir weiterschritten.

»Nein, ich hatte keine Gelegenheit... ach«, eine Idee kam mir plötzlich, »der hat wohl auch so ein Lockmittel für Menschen, das er ihnen etwa unter das Essen mischt, weil die alle so zufrieden damit sind?«

»Möglich. Ich weiß es nicht. Kommen Sie hier herein.«

Was ich zu sehen bekam, ließ mich alles andere vergessen.

Es war ein sehr geräumiger Saal, dessen viele Fenster nach der Seeseite gingen, auch außergewöhnlich hoch — wir hatten erst einige Stufen hinabsteigen müssen — eine Turnhalle, versehen mit den modernsten Turngeräten aller Art, an denen in fröhlichem Wettstreit, aber dennoch in geordneten Riegen, sich halbwüchsige Jungen übten.

Wie viele es waren, konnte ich so nicht schätzen. Es wimmelte alles. Vielleicht hundert. Schwarze sowohl wie weiße, letztere in der Mehrzahl. Und diese letzteren waren dem Gesichtsausdruck nach unverkennbar deutscher Abstammung. Meine Verblüffung lässt sich denken. Wir befanden uns doch an der afrikanischen Goldküste, im Innern einer Felseninsel, von der die Handbücher nichts weiter als ›wasserlos‹ zu melden wussten.

»Karlemann, das sind doch lauter deutsche Bengels!?«

»Nur die weißen. Jawohl. Einundvierzig Stück. Dazu kommen noch die früheren, die Sie schon kennen, die jetzt vorturnen und überhaupt das Ganze leiten.«

»Woher haben Sie denn diese Jungen bekommen?«

»Die habe ich mir selber geholt.«

»Woher denn?«

»Nu, aus Deutschland.«

»Aus Deutschland?«, konnte ich nur wiederholen.

»Jawohl. Das sind die Zöglinge des Gottesasyls von Beheim — ich habe sie sämtlich ausgespannt — nur einer ist draufgegangen — schon an Bord — hat sich totgefallen. Sie wissen noch nicht, dass ich unterdessen oben in Deutschland gewesen bin? Ach so, woher sollen Sie denn das wissen.«

»Sie waren unterdessen in Deutschland?!«

»Jawohl. Ich bin erst seit vier Tagen wieder hier. Kommen Sie, ich erzähle Ihnen alles!«, —

Es war Mittagszeit, und in einem behaglich eingerichteten Felsenzimmer, bei einem saftigen Beefsteak mit Ei, welches auch meine Leute vorgesetzt bekamen, erzählte mir Karlemann seine Abenteuer als Zögling des Waisenhauses von Beheim.

»Ich habe die Jungen schon an Bord während der ganzen Reise tüchtig vorgenommen, um etwas aus ihnen zu machen, und hier wird nun das Exerzieren fortgesetzt.«

»Karlemann, was haben Sie eigentlich vor?«

»Etwas zu schaffen, was die Welt noch nicht gesehen hat.«

Diese Antwort musste mir genügen. Das lässt sich ja auch gar nicht weiter erklären.

»Wollen Sie aus den Jungen Seeleute für Ihre Schiffe machen?«

»Je nachdem. Wie sie sich eignen. Ein starke Besatzung muss immer auf der Seeburg bleiben.«

»Und diese Jungen sollen immer so klein bleiben, auch wenn sie alte Männer werden — so wie Sie, nicht wahr?«

Er blickte mich mit einer schnellen Kopfbewegung an.

»Wie meinen Sie?«

»Na, nun machen Sie mir nichts mehr vor. Sie besitzen das Rezept, um das Wachstum zu verhindern. So unmöglich mir das auch früher dünkte — jetzt muss ich den Tatsachen glauben. Ich hatte mir nämlich ein Maß markiert, und Sie sind während der sieben Wochen nicht im mindesten gewachsen.«

»Meinetwegen denn, ja.«

»Sie kennen solch ein Mittel?«

»Ja.«

»Die grüne Flüssigkeit?«

»Ja.«

»Was für ein wunderbares Mittel ist das, von dem die Welt noch gar nichts weiß?«

»Das Rezept stammt aus Großmutters Handkörbchen, und mehr sage ich nicht, sonst wird es entwertet, so wie die Ambra nichts mehr kosten würde, wenn man sie von dort schiffsladungsweise holen würde, und so schlau wie jener Maharadscha bin ich auch.«

Es war immer dasselbe. Er ließ sich nicht in die Karten blicken.

»Und was für schwarze Bengels sind das?«, wandte ich mich so einem anderen Thema zu.

»Bengels? Oho! Die meisten sind Prinzen. Mindestens Söhne der angesehensten Krieger des Aschantireiches. Auch Seine Königliche Hoheit Aquassi Hara ist dabei, der jüngste Sohn des Königs Aquassi Aquatuh, und einen anderen bekomme ich noch.«

»Zur Erziehung?«

»Natürlich! Zu was denn sonst? Das heißt, ich soll ihnen die Turnerei beibringen, die dem König und allen anderen dieser schwarzen Geister bei mir so imponiert hat.«

»Und dafür werden Sie bezahlt?«

»Na, aber anders, als so wie bei uns, wenn jemand ein Mädchenpensionat hat, wo die Frauenzimmer kochen und solchen Krempel lernen sollen. Das kostet bei mir alles schwere Pinkepinke. Und alles muss einzeln bezahlt werden. Schon allein der einfache Bauchaufschwung wird mit Gold aufgewogen.«

Wie man einen Bauchaufschwung mit Gold aufwiegen kann, war mir schwer erklärlich. Jedenfalls wusste dieser deutsche Zigeunerknabe wieder einmal gehörig zu schröpfen.

»Ja, sehen Sie, und jetzt will ich einen Ausflug ins Innere des Landes machen, in die Urwälder und Steppen, um selber neue Tiere zu fangen, die ich mir für meine späteren Ausstellungszwecke wieder zähme und dressiere. Denn was ich bisher geliefert bekam, das dressierte ich doch immer auf Bestellung, musste es wieder abliefern, verstehen Sie?«

»Sie hatten aber doch auch einige Tiere, die Ihnen gehörten, zum Beispiel den kleinen Elefanten.«

»Ja, den, und einige wenige Affen und Schakale, aber zum Beispiel keinen einzigen Löwen. Die waren alle Privateigentum. Denn einen Löwen fangen, das geht denn doch nicht so wie's Fliegenhaschen, auch hier hat ein gefangener Löwe einen ganz ansehnlichen Wert, nur Häuptlinge können sich so etwas leisten. Dann gibt es Tiere, welche diese Neger überhaupt nicht fangen wollen, weil sie ihnen heilig sind, oder weil sie eine Scheu davor haben, zum Beispiel das Nilpferd, oder wohl richtiger Flusspferd, dann das Rhinozeros — diese armseligen Neger sind ja gar nicht imstande, solch ein Vieh zu fangen — beim Elefanten ist das etwas ganz anderes, der ist ja viel harmloser — und dann vor allen Dingen gilt das vom Gorilla, und solch ein paar Waldmenschen muss ich unbedingt haben. Also da will ich mich selber auf die Beine machen, und Sie begleiten mich, was?«

Und ob ich bei so etwas war!

»Die Jahreszeit ist jetzt gerade die denkbar günstigste«, fuhr Karlemann fort, »kurz nach der Regenzeit die gesündeste — obgleich ich überhaupt mit dem Fieber fertig werde — aber vor allen Dingen haben jetzt die Flüsse am meisten Wasser. Denn etwa so den ganzen Tag im Busch herumkriechen, auf einem Baume in der vierten Etage zu schlafen, dazu hat Karl Algots keine Lust. Nur immer so gemütlich wie möglich. Sie wissen doch, dass der Hauptstrom des Aschantireiches, an dem auch Kumasi liegt, hier Legala ja auch, der Lomate ist. Für selbst kleine Schiffe ist er freilich nicht befahrbar, man kann keine Meile weit hinaufkommen, das heißt mit einem Seefahrzeug, das einen Kiel hat. Aber mit einem richtigen Flussdampfer, ganz flach gebaut, mit einem Meter Tiefgang, soll man bis fast zur Quelle gelangen können, die noch weit hinterm Gebirge liegt. So heißt es wenigstens. Der Lomate ist ja noch von gar keinem Europäer befahren worden, er ist schon immer gesperrt gewesen. Bei mir ist das etwas anderes. Und ich brauche nur einen kräftigen Dampfer zum Schleppen, verstehen Sie...«

»Ah, dazu die Arche! Die wollen Sie von dem kleinen Dampfer schleppen lassen.«

»Nicht nur diese eine, sondern noch drei andere. Eine für uns zum Wohnen, eine für unsere Begleitmannschaft, eine für die gefangenen Tiere und eine für den Proviant und fürs Futter, oder wie ich das sonst anordne. Vielleicht werden es auch noch mehr. Das spielt keine Rolle. Ich habe hier nur ein Muster machen lassen — Sie haben's unten liegen sehen — sonst werden in Monrovia die Bretter geschnitten, die jeden Tag kommen müssen, und die brauchen dann nur zusammengesteckt zu werden.«

Die Idee packte mich immer mehr. Das war wieder so etwas Romantisches, wovon ich schon als Kind geträumt hatte. Na ja, das war eben Karlemann.

»Und wegen der Sicherheit?«

»Na, Sicherheit! Aber Sie haben recht. Ich habe auch schon daran gedacht und alles erwogen. Ich habe mit dem König Aquatuh bereits deswegen verhandelt. Es ist ihm ganz recht, es ehrt ihn sehr, wenn ich sein Land bereise; sämtliche Häuptlinge haben schon wegen meines Schutzes Anweisung erhalten, und der König freut sich sehr, mich in seiner Residenz begrüßen und bewirten zu können. Aber der Teufel traue diesem fetten Schweine! Einen Hängebauch nämlich hat dieser Kerl — na, Sie werden sehen. Nun habe ich ja alle die jungen Prinzen bei mir, die bleiben auf der Seeburg, und meine Jungen bekommen ihre Instruktionen. Und trotzdem, ich habe schon etwas munkeln hören — — es ist doch besser, wenn Sie mit der Hälfte Ihrer Leute mit mir kommen.«

»Selbstverständlich bin ich dabei! Sie haben schon etwas bemerkt, dass man Feindseligkeiten gegen Sie im Schilde führt?«

»Hm. Lassen wir das. Ich spreche nicht gern von etwas, was ich nicht ganz bestimmt weiß. Jedenfalls, das ist doch ganz offenbar, wenn ich das so gemacht hätte, wie ich erst wollte, dann wäre ich schon längst noch einen ganzen Kopf kleiner als ich schon bin.«

»Sie meinen, wenn Sie im Aschantireiche solch eine Station angelegt hätten.«

»Jawohl, wo ich die Tiere dressieren und die schwarzen Jungen ausbilden sollte. Sobald ich hiermit fertig geworden, und sobald mir die Neger meine Kniffe abgelauscht hätten, wäre ich doch ganz sicher einen Kopf kürzer gemacht worden, man hätte mir alles, was ich verdient, wieder abgenommen. Denn, mein lieber Jansen, das können Sie mir glauben«, Karlemann musste von seinem steinernen Stuhle aufstehen, um mir schmunzelnd auf die Schulter klopfen zu können, »ich habe dieser schwarzen Bande schon bannig viel von ihren Goldsachen abgeluxt.«

Wenn das Karlemann selber sagte, der den ganzen Goldschmuck Kididimos doch nur so als Kleinigkeit betrachtet hatte, dann allerdings musste es sich um bedeutende Schätze handeln.

»Na«, fuhr er fort, »wir wollen schon mit ihnen fertig werden, und zwar im guten. Ich möchte es mit den Aschantis nicht verderben. Wenn ich auch selber nicht mein ganzes Leben hier bleiben werde — nich in de Hand — so soll die Seeburg doch mein fester Wohnsitz sein, wo ich alles zusammenstapele, was ich in aller Welt sammeln werde. Deshalb will ich mit den Aschantis doch lieber gute Nachbarschaft halten. Und wissen Sie, was ich deshalb tun werde?«

»Nun?«

»Diplomatie, mein Lieber, Diplomatie!«, schmunzelte Karlemännchen.

»Und was für einen diplomatischen Schachzug haben Sie vor, wenn ich fragen darf?«

»Sie wissen doch, wie ich für gewöhnlich über die Frauenzimmer denke?«

»O ja, das habe ich so ziemlich erkannt.«

»Jedes Frauenzimmer ist meiner Ansicht nach auf der Welt ein ganz unnötiges Möbel.«

»Nun, und?«

»Aber es gibt Ausnahmen.«

»Hören Sie Karlemännchen, Sie wollen doch nicht etwa heiraten?«

Da nickte der Dreikäsehoch gravitätisch.

»Erraten! Ich werde die älteste Tochter des Aschantikönigs heiraten — oder vielleicht auch seine einzige Schwester, weil die nämlich auch ein Wort mitzureden hat — oder, da Sie doch wissen, dass ich immer gern mindestens zwei Fliegen mit einem Schlage klatsche, werde ich wahrscheinlich gleich alle beide heiraten.«

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ENDE VON BAND 1

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Non sibi sed omnibus
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