Roy Glashan's Library
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"Um die indische Kaiserkrone," Lieferung 1, 1905
"Um die indische Kaiserkrone," 1905
"Um die indische Kaiserkrone," Band IV, 1905
"Um die indische Kaiserkrone," Band 4
Verlag Dieter von Reeken, 2024
"Um die indische Kaiserkrone," Band IV, 1905
Die Hafenstadt Bombay war von dem Aufstand nur wenig in Mitleidenschaft gezogen worden. Jetzt, da der wirkliche Krieg erst begann, herrschte in dieser Stadt im Gegensatz zu allen anderen Städten Indiens frohes, lärmendes Leben; denn es waren unterdes die Verstärkungen in Massen eingetroffen, und General Sir Hugh Rose traf Vorbereitungen zu einem Kriegszug nach Mittelindien.
Dass dieser ein Siegeszug werden und mit der völligen Vernichtung der Rebellen enden würde, daran zweifelte niemand. Selbst den hoffnungsvollsten Radschas wurde es nach und nach immer klarer, dass die Rebellen solch einer organisierten Armee, die imstande war, gegen ganz Asien siegreich vorzugehen, nicht lange standhalten könnten, und ein Radscha nach dem anderen unterwarf sich auf Gnade und Ungnade wieder dem englischen Gouvernement.
Führer der Rebellen waren nur noch Bahadur, Nana Sahib, die Begum von Dschansi, die mit Bahadur verwandten Prinzen und Tantia-Topi, ein ganz gewaltiger Feldherr, den wir noch kennen lernen werden.
In Bombay ging es also in Aussicht der kommenden Siege sehr heiter und lebhaft zu. Die Stadt wimmelte von Soldaten, denen es an nichts gebrach, die Einwohner fühlten sich vollkommen sicher, und eine gedrückte Stimmung lag nur auf denen, welche während des Aufstandes schon schwere Verluste an Familienangehörigen zu beklagen hatten.
Die Stadt und ihre Umgegend boten das Bild eines lustigen Lagerlebens, und es gab spekulative Köpfe genug, welche, während die Führer an dem Feldzugsplan arbeiteten, die mit Gold gefüllten Taschen der Soldaten auszubeuten verstanden.
Die Theater wurden wieder mit Personal besetzt, neben den schon bestehenden Restaurants und Erfrischungshallen wuchsen neue wie Pilze aus der Erde, eine Artistengesellschaft war auch plötzlich vorhanden, und so wurde für Offiziere wie für die Mannschaft gesorgt, dass sie im Quartier nicht Langeweile empfanden und beim Marsch durch den Dschungel das schwere Geld sie nicht in den tückischen Sumpf zog.
Bei dieser tumultartigen Bewegung einer mit Menschen überfüllten Stadt konnte es daher auch leicht geschehen, dass eines Nachts ein Trupp bewaffneter Reiter die Straßen passierte, ohne im Geringsten Aufsehen zu erregen.
Es waren zwölf Inder auf schönen Pferden, und in ihrer Mitte befand sich ein Maultier, welches eine verschleierte Dame trug.
Der Anführer, ein martialisch aussehender Krieger, dessen bronzefarbenes Antlitz eine furchtbare Narbe durchzog, schien in Bombay nicht gerade bekannt zu sein, denn er schaute sich, aber ohne sein Pferd einmal anzuhalten, fortwährend links und rechts um, musterte die Häuser, gab gut acht auf die Kirchen und Minarette und wusste so, vorher wahrscheinlich gut instruiert, seinen Weg durch das Straßenlabyrinth schnell und sicher zu finden.
Der Zug bog in eine schmale, dunkle Gasse ein, in welcher man einige betrunkene Soldaten und Dirnen johlen hörte, hielt am Eingang, der Anführer sprang ab und näherte sich der verschleierten Dame.
»Wir sind am Ziel, Missis«, sagte er unterwürfig. »Will meine Herrin absteigen und ihrem Diener einige Schritte zu Fuß folgen? Er führt dich zu den Deinen, die dich erwarten.«
Hinter dem Schleier fragte eine sanfte Mädchenstimme, wohin sie gebracht werden sollte, aber darauf konnte oder wollte der Mann keine direkte Antwort geben.
Der liebe Leser hat schon erkannt, dass die verschleierte Dame niemand anders als Franziska war.
Sie ließ sich aus dem Sattel heben und ging mit dem Anführer die dunkle Gasse hinunter, während die Übrigen zurückblieben.
Franziska wusste, dass Bombay von englischen Soldaten überfüllt war, und so glaubte sie wirklich, hier vollkommen sicher zu sein. Sie hielt es gar nicht für möglich, dass ihr, einer Engländerin, hier mitten im Hauptquartier der englischen Kriegsmacht irgend etwas Gefährliches zustoßen könnte.
Außerdem hatte sie während der langen Reise doch Zutrauen zu dem finsteren Anführer gefasst. Er war immer höflich und respektvoll gegen sie gewesen und hatte sie wie seinen Augapfel vor Gefahren und Reiseunbilden gehütet. So glaubte sie denn wirklich, zu einer mit Canning befreundeten Familie gebracht zu werden.
Der Inder ging an zwei Nebengassen vorbei und bog in die dritte ein, welche noch enger, schmutziger und verlassener war als die, welche sie verließen.
In tiefer, finsterer Ruhe lagen hier die kleinen Häuser da, alle in orientalischem Stile erbaut, also nach vornheraus fensterlos, höchstens mit kleinen, vergitterten Öffnungen versehen. Vor einem solchen Hause blieb der Inder stehen und klopfte mit dem Dolchgriff leise an die Tür. Nach einiger Zeit erscholl drinnen ein schlürfender Schritt, und das Tor ward geöffnet.
Ein altes Weib zeigte sich im Rahmen, zwar indisch gekleidet, doch dem Gesicht nach eine Europäerin, hob die Blendlaterne hoch und beleuchtete die draußen stehenden Gestalten.
»Endlich kommt ihr«, murmelte sie, und ihr lederfarbenes, mürrisches Gesicht verzog sich zu einem grinsenden Lächeln. »Tritt ein, mein Töchterchen, ich habe schon lange auf dich gewartet.«
Franziska folgte der Einladung, die Tür wurde hinter ihr geschlossen, und sie sah sich mit der Alten allein — der Inder hatte das Haus gar nicht betreten.
»Du wirst müde sein von der weiten Reise, armes Kind«, sagte die Alte mit ihrer unangenehm krächzenden Stimme, »folge mir hinauf und fürchte dich nicht. Du bist bei mir sicher aufgehoben und wirst den bald kennen lernen, welcher dich aus den Händen der Räuber hat retten lassen.«
Damit leuchtete sie Franziska die Treppe voran.
Sie war wirklich von den vielen Reisetagen, von denen sie an manchen zehn Stunden und länger im Sattel verbracht hatte, so unsagbar ermüdet, dass es ihr augenblicklich vollständig gleichgültig war, wohin sie gebracht wurde. Sie sehnte sich nur nach Ruhe, nach sicherem Schlaf in einem Bett unter Dach und Fach, und außerdem konnte sie, wie schon erwähnt, hier in Bombay unmöglich an eine Gefahr glauben.
Schon auf der Treppe und auf dem kleinen Korridor merkte sie, dass die Alte nicht die einzige Bewohnerin dieses Hauses war. Türen gingen auf, und Franziska sah in den Spalten einige neugierige Mädchengesichter. Ein zorniges Wort der Alten jagte sie zurück.
»Meine Dienerinnen!«, erklärte sie Franziska.
Dann sah diese sich in einem recht behaglich nach orientalischem Geschmack ausgestatteten Gemach. Freundlich übergoss das Licht der Lampe die Polsterdiwans, die vielen, dicken Teppiche mit darauf verstreuten Kissen, welche im Orient die Stühle vertreten, nichts fehlte, worauf die Bequemlichkeit einer Dame Anspruch machte, und das breite, hochaufgetürmte Himmelbett trug dem Bedürfnis der Europäerin Rechnung.
»Dies ist vorläufig dein Heim«, fuhr die Alte fort, und half Franziska, sich aus den vielen, indischen Oberkleidern zu schälen, die mit Staub bedeckt waren. »Tue nur, als wärest du hier zu Hause. Unter dem Polster jenes Diwans findest du Leibwäsche und Kleider, auch europäische, hast du einen Wunsch, so klingele, und es wird Bedienung kommen, sollte ich nicht zu Hause sein, und im Übrigen vertraue dich mir nur ruhig an. Ich habe den Auftrag, für dich wie eine Mutter zu sorgen, und werde dafür bezahlt. Aber ich würde es auch gern umsonst tun, denn mit einem so armen Kinde, das solches Unglück durchgemacht hat, muss man ja Mitleid empfinden. Nun will ich erst ein warmes Bad für dich herrichten lassen, das wird deinem müden Körper wohl tun und dir einen tiefen Schlaf geben.«
Franziska freundlich zunickend, verließ sie das Zimmer durch die mit einer Portiere verhangene Seitentür.
Das Mädchen fühlte immer mehr ein wohliges Behagen über sich kommen, wie der Schiffer, der nach langer Sturmesfahrt den sicheren Hafen erreichte. In wessen Auftrag sie hier aufgenommen wurde, das wollte sie schon noch von der geschwätzig scheinenden Alten erfahren.
Obgleich aber das Weib sehr freundlich sprach und ein mütterlich liebevolles Wesen zur Schau trug, machte sie auf Franziska doch einen unangenehmen Eindruck. Es schien, als ob dieses Wesen nur erkünstelt sei. Sie besaß falsche, listige Augen, aus denen Habgier sprach, die Züge waren hart wie die Stimme, und das ewige Lächeln, das freundlich aussehen sollte, war nichts weiter als ein widerwärtiges Grinsen.
Drüben erklang ein Brausen und Rauschen, heiße Wasserdämpfe drangen durch die Portieren. Die auf peinliche Sauberkeit haltenden Inder haben selbst in den ärmeren Häusern Badeeinrichtungen, ebenso wie die Mohammedaner, und die Reichen besitzen solche von uns ganz unbekannter Pracht und raffiniertem Geschmack.
Schon einige Minuten später stieg Franziska, sich allein überlassen, in das warme Wasser, und als sie, mit frischer Wäsche angetan, in dem weichen Bett lag, versuchte sie vergebens über die letzten Ereignisse nachzudenken und sich die Zukunft zu enträtseln — der Traumgott zog sie schnell in sein Reich hinüber und umgaukelte sie mit seinen schönsten, angenehmsten Bildern.
Was konnte das verfolgte Mädchen Schöneres träumen als ein Wiedersehen mit ihrem Geliebten! Und das tat sie denn auch, in jener Vollkommenheit, wie nur der Traum, nicht die Wirklichkeit sie gewähren kann.
An der Seite Lord Cannings wandelte sie einen mit Rosen bestreuten Weg, die Steine, an denen sich ihr Fuß gestoßen hätte, wichen auf sein Wort von selbst zur Seite; kamen sie an tiefe Klüfte, so umfasste der Geliebte sie, und wie von Engelsflügeln getragen schwebten sie darüber hinweg. Dann tauchte vor ihnen eine Stadt auf; die goldenen Zinnen und Dächer strahlten in der Sonne, und dies war ihre Heimat, der sie zustrebten, die Stadt mit den goldenen Toren, wo ewiger Friede und Glückseligkeit sie erwarteten.
Franziska erreichte dies Ziel nicht mehr, denn sie wachte darüber auf. War sie auch enttäuscht, sich in einem fremden Bett liegend zu finden und den Geliebten weit entfernt zu wissen, so tröstete sie sich doch mit dem Gedanken, wohlversorgt in Bombay zu sein.
Als sie sich angekleidet hatte, kam auf ihr Klingeln die Alte mit dem Frühstück herein, wünschte ihr mit möglichst herzlicher Stimme einen guten Morgen und tat überaus besorgt.
Jetzt musste Franziska vor allen Dingen erfahren, wo sie sich befinde und wer die Person sei, auf deren Veranlassung alles dies geschehe.
Doch die Alte konnte und wollte nur ganz ungenügende Auskunft geben.
Einen Namen wusste sie überhaupt nicht zu nennen. Ein Herr sei eines Tages, schon vor langer Zeit, zu ihr gekommen und habe sie gefragt, ob eine junge, feine Dame einige Tage oder Wochen bei ihr wohnen könne. Da sie sich nicht mit unsauberen Geschäften einließe — dies betonte die Alte mehrmals ausdrücklich — musste der ihr fremde Herr eine Erklärung geben.
Es sei eine Gefangene in Delhi welche hinterlistig fortgeschafft werden solle, wahrscheinlich auf den Sklavenmarkt. Dies habe ein Freund desjenigen erfahren, welcher auf Franziska als Bräutigam ein Anrecht habe, und sie zu retten beschlossen, wozu er einige Puharris warb.
Kurz, Franziska hörte aus der Erklärung das, was sie selbst glaubte. Lord Canning oder ein Freund hatte von ihrer heimlichen Fortschaffung aus Delhi erfahren, Inder geworben, sie befreit, und ließ sie nun nach Bombay, dem sichersten Platz in Indien, bringen.
Sie war glücklich darüber und genoss sorglos die ihr jetzt zuteil werdende Sicherheit. Ob der Herr bald wiederkommen würde, was nun ihr Schicksal sei, konnte sie nicht erfahren.
Die Alte unterhielt sie, so gut sie konnte, schmeichelte ihr plump und wiederholte öfters, dass es jetzt, da so viele rohe Soldaten sich in der Stadt befänden, sehr unsicher in den Straßen Bombays sei.
Es vergingen einige Tage, ohne dass Franziska in irgend etwas Misstrauen geschöpft hätte. Sie wurde höflich und aufmerksam bedient, es gebrach ihr an nichts, nur ließ die Alte, eine in Indien aufgewachsene Engländerin, nie zu, dass Franziska die Straße betrat. Mit keinem Fuße durfte sie das Haus verlassen.
Anfangs hielt ihr die Alte immer die Unsicherheit der Straßen durch die Soldateska vor, und dann, als Franziska diesen Grund immer mehr verwarf, gab sie ihr zu verstehen, dass ihr besorgter Geliebter ihr den ausdrücklichen Befehl erteilt hätte, Franziska auf keinen Fall aus dem Hause zu lassen.
Nun fügte sich das Mädchen in das Unvermeidliche und wartete mit Ungeduld der Stunde, da entweder Lord Canning selbst oder einer seiner Freunde zu ihr käme. Die Alte wusste sie immer wieder zu trösten.
Unterdessen beschäftigte sich Franziska damit, das Häuschen von oben bis unten zu durchstöbern und Bekanntschaft mit den beiden noch vorhandenen Inderinnen zu machen. Diese sagten, ebenso wie die Frau, sie seien deren weitläufige Verwandte und würden von ihr um Gottes oder Brahmas willen erhalten. Ein Gespräch war mit ihnen nicht anzuknüpfen.
Als des Mädchens Sehnsucht nach frischer Luft immer größer wurde, gestattete ihr das Weib, auf dem von Hausmauern ringsum eingeschlossenen Hof spazieren zu gehen. Diese Mauern bildeten sowohl das Haus, in welchem sie wohnte, als auch ein anderes. Niemals erblickte Franziska an den Hoffenstern des anderen Hauses ein Gesicht, die Tür war verschlossen, und sie erfuhr, dass dieses Haus schon seit langer Zeit leer stände und eines Käufers harre.
Ferner fand die beschäftigungslose Franziska, dass die Tür auf der anderen Seite ihres Gemaches, dem Badezimmer gegenüber, in das leere Haus führen müsse. Einmal aber war die Tür fest verschlossen und dann stand noch der Diwan, und zwar angenagelt, davor.
Es konnte nicht lange dauern, so musste des jungen Mädchens Neugier erschöpft sein, und die Langeweile, verbunden mit heller Verzweiflung, bemächtigte sich ihrer. Kein Buch vermochte sie mehr zu fesseln, sie saß den ganzen Tag an dem zum Hof hinausführenden Fenstern, blickte zu den blauen Himmel, seufzte und weinte.
Dann wieder wurde sie von Misstrauen erfasst; die Alte hörte ihre Gebete, sie vor den schwarzen Plänen böser Menschen zu schützen, und wusste schnell Abhilfe zu schaffen.
Eines Tages kam ein stattlicher Herr in das Haus und brachte von Lord Canning nicht nur Grüße, sondern auch einen Brief, in dem er seine unauslöschliche Liebe beteuerte. Aber es wäre ihm nicht möglich, den Schauplatz seiner Tätigkeit zu verlassen; hoffentlich könne er sie recht bald aufsuchen. Sollte etwas Wichtiges vorfallen, weswegen sie Schutz bedürfe — weiter ließ er sich darüber nicht aus — so würde er ihr seinen intimen Freund, Lord Edgar Westerly, schicken, dem sie sich vollkommen anvertrauen solle.
Franziska war vorläufig wieder glücklich. Sie wunderte sich zwar, dass John so herzlich von Westerly sprach, denn es war ihr, als hätte zwischen diesen beiden Männern ein Missverhältnis geherrscht, aber im Laufe des Krieges konnten sie ja intime Freundschaft geschlossen haben. Not und Gefahr machen oft aus Feinden Freunde.
Die Echtheit des Briefes bezweifelte sie nicht im Geringsten.
Ungefähr zehn Tage befand sich Franziska in ihrer Gefangenschaft, als etwas geschah, was sie als etwas ganz Unauffälliges ansah, was für sie aber von den größten Folgen war. Ohne dass sie es wusste, erhielt sie einen mächtigen Schutzengel.
Das Unauffällige bestand darin, dass sie in ein anderes Zimmer ausquartiert wurde, und zwar nach der entgegengesetzten Seite des Hauses.
Als sie später zufällig ihr altes Zimmer einmal betrat, sah sie dasselbe etwas verändert. Von der Tür, welche in das Nachbarhaus führte, war der Diwan fortgenommen und an seine Stelle war ein großer Kleiderschrank hingesetzt worden, der die Tür vollkommen verdeckte. Es fiel dies Franziska nur auf, weil dieses Möbel eigentlich gar nicht zu der orientalischen Einrichtung des Zimmers passte. Im nächsten Augenblick hatte sie es wieder vergessen.
Was aber hatte die Umquartierung zu bedeuten? Was für eine Bewandtnis hatte es mit dem Schrank? Dies bedarf einer Erklärung.
Die alte Frau hatte einen Brief erhalten, bei dessen Lektüre sie äußerst unruhig wurde, obgleich er nichts weiter enthielt als den Wunsch einer Dame, sie zu einer bestimmten Stunde in ihrem Hotel zu sprechen. Ein geheimes, kaum sichtbares Zeichen war dabei, das der Alten Schrecken einjagte und sie bewog, unverzüglich dem Wunsche zu gehorchen.
Zur festgesetzten Zeit befand sie sich in dem bezeichneten Hotel und stand vor einer Dame, in der wir Madame Phoebe Dubois erkennen.
Kriechend höflich begrüßte die Alte sie, war aber nicht gleich willig, auf den Vorschlag einzugehen, den Phoebe ihr machte.
Da zeigte diese ihr ein Pergamentpapier, von Timur Dhar unterschrieben, sowie eine Börse mit Goldstücken, und gebot der Alten, einen von den beiden Gegenständen zu wählen.
Beim Anblick der Schrift erschrak das alte Weib furchtbar, beim Anblick des Geldes leuchteten die Augen gierig auf. Sie wählte letzteres und schwor hoch und heilig, sich in alles, was von ihr gefordert würde, willig zu fügen.
Eine lange Besprechung erfolgte, wobei Phoebe zeigte, dass sie vollkommen mit dem Vorleben der Alten wie auch mit deren Wohnung und mit dem, was darin jetzt vorging, vertraut sei, und sie wurden handelseinig.
»Selbst wenn die Inder verlieren«, sagte Phoebe zum Schluss, »die Verbindung der Gaukler bleibt doch bestehen, und sie werden einen neuen Aufstand vorbereiten. Nach wie vor steht an ihrer Spitze Timur Dhar als König. Dass dieser Euch zu finden weiß, wisst Ihr, und wenn Ihr auch bis ans Ende der Welt fliehen würdet; und ebenso wisst Ihr, wie er Ungetreue und Verräter zu bestrafen pflegt. Ihr seht, ich handle in seinem Auftrag. Der, welcher Euch erkauft hat, ist ein Verräter, und wehe Euch, wenn Ihr ihn zu schützen sucht! Das Geld, das er Euch versprach, wird Euch doppelt zuteil werden, und alles, was man bei ihm findet, gehört Euch. Timur Dhar ist kein Knauser und hält sein Wort.«
Am nächsten Morgen fragte Franziska, ob über Nacht jemand in das nebenanstehende, leere Haus gezogen sei.
Die Alte verneinte verwundert.
»Ich hörte die ganze Nacht ein Gepolter und Rumoren, als zöge jemand hinein.«
»Du hast geträumt, Kind. Dieses Haus gehört mir, ich habe den Schlüssel dazu, und so müsste ich doch wissen, ob jemand hineingezogen ist.«
Franziska glaubte freilich nicht, geträumt zu haben. Aber die folgenden Tage belehrten sie, dass sie sich doch getäuscht haben müsse, denn sie hörte fernerhin weder das geringste Geräusch im Nachbarhause, noch erblickte sie jemals an den Hoffenstern desselben ein menschliches Wesen.
Endlich sollte Franziskas Sehnsucht gestillt werden, wenn auch gleich eine Enttäuschung nachfolgte. Eines Morgens trat die Alte mit freudigem Gesicht zu ihr herein und verkündete ihr, ›er‹ sei diese Nacht angekommen.
»John, mein Bräutigam?«, schrie Franziska auf. »Wo, wo ist er? O, führe mich gleich zu ihm.«
»Er ist schon hier, hier in diesem Hause, und wird dich gleich besuchen, mein Töchterchen.«
Franziska machte mit fieberhafter Eile Toilette und zählte dazwischen die Sekunden.
Da ward die Portiere zurückgeschlagen, sie wollte dem eintretenden Manne entgegenstürzen, sich jubelnd an seine Brust werfen, aber wie gelähmt sanken ihre Arme herab — es war nicht ihr John, sondern Lord Westerly.
Er bedauerte, dass sie sich getäuscht habe und dass er die Schuld daran hätte.
»O, wenn Sie mir wenigstens Grüße und die Nachricht bringen, Mylord, dass er Ihnen bald nachfolgt!«
»Ersteres kann ich, letzteres nicht, Miss. Lord Canning kann unmöglich den Kriegsschauplatz vor Delhi verlassen, wo jeden Tag einer Katastrophe zu erwarten ist. Er sendet aber Ihnen, seiner Braut, seine herzlichsten Grüße und diesen Brief. Ich kenne den Inhalt der Hauptsache nach und hoffe, dass Sie mit dem einverstanden sind, was der um Ihr Schicksal bekümmerte Lord Canning Sie zu tun bittet.«
Als Franziska den Brief las, wurde sie leichenblass, und ein misstrauischer Blick streifte den in ehrerbietiger Haltung vor ihr stehenden Westerly.
Canning schrieb ihr Grüße und Liebesbeteuerungen, schilderte seine Sehnsucht nach ihr, hoffte auf eine baldige Vereinigung, dann aber stellte er ein seltsames Verlangen.
Er hielt ihren ferneren Aufenthalt in Bombay für durchaus gefährlich, da man jetzt wusste, dass sie seine Braut sei, und ihr deshalb mit allen möglichen Listen nachstelle, um sich ihrer zu bemächtigen, weil man dann auf ihn, den Generalgouverneur, einen ungeheuren Druck auszuüben gedenke. Er wünsche, dass Franziska so bald wie möglich nach England reise, und wähle als ihren Reisebegleiter Lord Westerly, dessen treue Freundschaft zu erproben er in letzter Zeit öfters Gelegenheit gehabt hätte. Sie solle mit ihm reisen, sich niemandem zu erkennen geben, sich auch keiner Familie anvertrauen; denn in jeder Person müsse sie einen Verräter vermuten, der sie, die Braut des wichtigsten Mannes in Indien, den Feinden ausliefern könnte.
Wie sehr die Inder hinter ihr her wären, das hätte sie selbst schon erfahren, und noch immer erführe er, Canning, neue Anschläge auf ihre Freiheit. Das beste wäre, wenn sie vorderhand einige Zeit mit Westerly vollkommen unsichtbar bliebe und dann als dessen Frau die Reise nach England anträte.
Franziska war über diese Zumutung erst völlig erstarrt. Was für ein Vertrauen musste Canning zu diesem Manne haben!
Mit glatten Worten setzte Westerly ihr die Zweckmäßigkeit dieses Vorschlags auseinander. er wusste sich so zu benehmen, dass das junge Mädchen schon in der ersten Stunde vollkommenes Zutrauen zu ihm fasste und schließlich auf alles willig einging. Übrigens hätte sie sowieso den Rat ihres Geliebten befolgt; denn dass es sich um einen gefälschten Brief handeln könne, auf diese Vermutung kam sie nicht einmal.
Westerly blieb also in dem Hause der Alten. Er bewohnte das Zimmer, das früher Franziska innehatte, kam ebenfalls niemals ins Freie, höchstens in den Hof, nachdem er sich vergewissert hatte, dass das benachbarte Haus zwar möbliert, aber unbewohnt war, benahm sich Franziska gegenüber äußerst höflich und zuvorkommend und empfing nur manchmal die Besuche jenes Herrn, der seine Ankunft zuvor gemeldet hatte.
Dieser war sein Helfershelfer.
Westerly hatte keine andere Absicht, als sich den Verhältnissen, in die er hineingeraten war, durch die Flucht in ein fremdes Land, am allerwenigsten natürlich nach England, zu entziehen. Er hatte jetzt sowohl die Rebellen, als die Engländer zu fürchten. Seit er ersteren untreu geworden, indem er nach eigenem Ermessen handelte, musste er immer gewärtig sein, dass sie ihn furchtbar bestraften. Entweder sie marterten ihn auf grausame Weise zu Tode oder sie lieferten ihn an England aus, wo ihm der Prozess wegen Hochverrats gemacht wurde, was auch die Entziehung seines Titels und Vermögens zur Folge hätte.
Letzteres war freilich gar nicht mehr möglich; denn der Lord hatte bereits unter der Hand sein ganzes väterliches Erbteil, wie man zu sagen pflegt, flüssig gemacht, und die Summe, von deren Rente er fürstlich leben konnte, auf einer Bank in Konstantinopel deponiert.
In dieser Stadt konnte er leben, ohne Engländer oder Inder fürchten zu müssen. Die Türkei, diese Schmach Europas, bietet jedem Verbrecher einen sicheren Schlupfwinkel — wenn er reich ist; denn wenn die türkischen Beamten die Hände aufmachen, so machen sie dafür die Augen zu, auch die Ohren.
Zugleich dachte Westerly noch immer mit unversöhnlichem Hass an Lord Canning; der Hieb über die Hand, der eine Narbe hinterlassen, brannte manchmal wie Feuer. Lange hatte er an der Rache gearbeitet, jetzt endlich war er seinem Ziele nahe.
Die Braut Cannings musste mit ihm gehen, das schöne Mädchen seinen Harem bevölkern helfen, den er sich als künftiger Türke anzulegen gedachte, und vielleicht war es ihm möglich, Cannings Seele mit dem Bekennen seiner Schandtat zu quälen.
Er hatte Franziska die Vorgänge auf dem Schlachtfeld vor Delhi schildern müssen und ihr auch den Tod der Begum nicht verschwiegen; ja, er hatte sogar damit geprahlt, dass der Meuchelmörder speziell von ihm gedungen worden war.
Zwar hatte er den Erfolg des Persers nicht vernommen, er zweifelte aber nicht an dem Gelingen des Planes.
Als ihm eines Tages sein ihn täglich besuchender Vertrauter die Nachricht brachte, die Begum würde nach wie vor auf den Wällen Delhis gesehen, ärgerte er sich anfangs, vergaß es aber bald über dem Liebreiz Franziskas, für welche er eine von Tag zu Tag größer werdende Neigung empfand.
Nur die Gefahr, dass sein Aufenthalt in Bombay entdeckt werden könnte, wenn in dem Hause Hilferufe eines Weibes erschollen, hielt ihn davon ab, sich auf seine bekannte Manier von dem schönen Mädchen Liebe zu erzwingen.
Es trennten ihn nur noch wenige Tage von seiner Abreise nach Konstantinopel, als er eines Abends wie gewöhnlich in seinem Zimmer vor der rotbeschirmten Lampe am Tische saß und ein Buch studierte, welches die Verhältnisse seiner neuen Heimat mit glühenden Farben schilderte. Westerly sprach sowohl Türkisch als Arabisch perfekt, weil diese Sprachen auch viel in Indien gesprochen werden, und so gedachte er sich vollkommen in die Rolle eines Türken einzuleben.
Er hatte Franziska nach dem Abendessen eine herzliche Gutenacht gewünscht, sich aber wie gewöhnlich äußerst formell benommen, um sie ja nicht vor der Zeit scheu zu machen.
Da ward unten die Haustür zugeschmettert, ein eiliger Schritt kam die Treppe herauf, und herein stürzte die alte Frau mit allen Zeichen eines namenlosen Schreckens.
Westerly hatte sie zuerst gar nicht wiedererkannt. Ihre Augen blitzten gläsern und starr, wirr hingen ihr die Haare um den Kopf, und sie zitterte an allen Gliedern. Sie warf sich auf den Diwan und schnappte nach Luft.
Westerly war ein furchtloser Mann, frei von jeder Gespensterfurcht und von dem Aberglauben an übernatürliche Dinge, wie wir schon früher erwähnt hatten. Bei jeder Gelegenheit spottete er über dergleichen Sachen.
Aber es konnte etwas geschehen sein, was seine Sicherheit gefährdete.
So sprang er also doch erschrocken auf und fasste nach dem an der Wand hängenden Revolver.
»Was gibt's? Was ist geschehen?«
»Ich — ich habe — ein Gespenst gesehen«, keuchte die Alte.
»Dachte ich mir's doch!«, lachte Westerly ärgerlich. »Es ist doch merkwürdig, dass immer alte Weiber Gespenster sehen und mir niemals eins erscheinen will.«
»O, Herr, spottet nicht!«, flehte das Weib mit aufgehobenen Händen. »So deutlich, wie Ihr jetzt vor mir steht, habe ich es gesehen.«
»So, wo denn? Auf der Straße?«
»Hier im Nachbarhause.«
»Oho, dann könnte schon eher etwas Wahres daran sein. Sagtest du nicht, das Haus sei dein und unbewohnt?«
»Ja, Herr.«
»Was hast du, verdammte Hexe, aber bei Nachtzeit drüben in dem leeren Hause zu suchen?«
»Ich-ich sah ein Licht!«
»Wo?«
»An einem Hoffenster.«
»In dem leeren Haus?«
»Ja.«
»Und deshalb wärest du hinübergegangen? Höre, das klingt sehr unwahrscheinlich. Dann wärest du doch sofort sehr erschrocken gewesen und hättest um Hilfe geschrien.«
»Herr, ich habe mich noch nie vor Gespenstern gefürchtet, ich glaube überhaupt nicht daran.«
»Hm, das klingt aus deinem Munde wieder sehr unwahrscheinlich. Nun, als du hinüberkamst, was sahst du da?«
Das Weib wurde wieder von einem Zittern befallen.
»Eine — eine Lampe — mit einem roten Schirm.«
»Donnerwetter, das ist ja unheimlich«, lachte Westerly. »Geradeso wie meine?«
»Ja, Herr.«
»Und sie brannte?«
»Ja.«
»Dann hat wahrscheinlich das Gespenst sie angesteckt. Nicht wahr, sie schwebte frei in der Luft?«
»Nein, sie stand auf dem Tisch.«
»Das ist ganz ungespenstisch. Und wo bleibt denn nun das eigentliche Gespenst?«
»Das saß am Tisch.«
»Und las Zeitungen«, spottete Westerly.
»Nein, es hielt ein Papier in der Hand und las.«
»Also es las doch!«, lachte Westerly aus vollem Halse.
»Es war nur ein beschriebenes Blatt. Spottet nicht, Herr, sonst kommt es hierher.«
»Wäre mir sehr angenehm. Hatte dieses Gespenst eine Ritterrüstung an?«
»Nein, es...«
»Aber den Kopf trug es in der Hand?«
»Nein, der saß auf dem Halse, aber er war ganz schwarz.«
»Es hatte schwarze Haare.«
»Das Gesicht war ganz schwarz, und der Mantel...«
»Sicherlich rot.«
»Nein, alles war schwarz an ihm, der lange Mantel wie auch das Gesicht.«
»So so. Was tat denn dieser Gentleman sonst noch?«
»Er las und seufzte.«
»Natürlich, seufzen und stöhnen, klopfen und Kugel rollen gehört zu jeder Geistererscheinung. Lege dich zu Bett, schlafe aus und verschone mich ein andermal mit solchen Geschichten!«
»Ihr wollt mir nicht glauben?«, fragte die Frau ängstlich.
»Fällt mir nicht ein. Ich möchte dich gern überzeugen, dass du nur geträumt hast, mir fehlt jetzt aber die Zeit dazu. Ich könnte dir sogar ganz leicht die Erklärung geben, auf welche Weise das Phantom in deinem Kopfe entstanden ist. Da ist erstens einmal meine Lampe, die dein Augennetz aufgenommen, behalten und im dunklen Zimmer reflektiert hat. Dann komme ich selbst, ich bin heute ausnahmsweise dunkel gekleidet...«
»Aber das Licht«, unterbrach ihn das Weib.
»Welches Licht?«
»Das erleuchtete Fenster.«
»War nichts weiter als der reflektierte Strahl eines anderen erleuchteten Fensters, der sich in dieser Scheibe brach. Wir können uns ja gleich überzeugen, ob der Geist mit dem schwarzen Gesicht noch immer beim einsamen Lampenschein studiert.«
Spöttisch lächelnd begab er sich ans Fenster, wirbelte es auf und bog sich hinaus.
»Alle Wetter!«, entschlüpfte es seinen Lippen, und erschrocken fuhr er zurück.
Dann bog er sich noch einmal hinaus — es war keine Täuschung. Aus einem Fenster des Nachbarhauses strahlte ein mattes Licht, das Zimmer war erleuchtet.
Doch Westerly konnte noch nicht bewogen werden, an etwas Übernatürliches zu glauben. Nur um eine Schattierung bleicher, ergriff er kalt und mit fester Hand den Revolver und untersuchte ihn.
»Ein Zimmer ist drüben allerdings erleuchtet«, sagte er ruhig zu der Alten, »und ich werde feststellen, wer sich dort häuslich niedergelassen hat. Hast du Mut, mich zu begleiten?«
Die Alte zögerte eine Weile. Sie schien keine Lust zu haben, noch einmal das spukhafte Haus zu betreten.
»Was soll ich dabei? Ich kann Euch nicht helfen.«
»Doch. Ich will im Finstern vordringen, dann habe ich den Vorteil auf meiner Seite. Du sollst mir den Weg zeigen, die Türen öffnen und, wenn ich es dir sage, mir schnell Licht machen.«
»Gut, wenn Ihr es befehlt, so komme ich mit. Aber ich bleibe hinter Euch.«
»So nimm das Feuerzeug und dieses Wachslicht! Sollte es dem Geist einfallen, seine Lampe, oder vielmehr meine Lampe bei unserm Anblick auszupusten, so schlägst du Licht mit dem Feuerzeug — und ich mit dem Revolver. Das ist nämlich ein ganz ausgezeichnetes Mittel zum Geisterbannen.«
Das Weib fühlte durch diese Gleichgültigkeit ihren Mut wachsen, sie nahm die beiden Gegenstände und ging voran, bis sie von der Straße aus durch die benachbarte Tür das unbewohnte Haus betraten.
Jetzt übernahm Westerly die Führung. Sein Herz klopfte zwar, aber mehr vor Erwartung als vor Furcht, als er lautlos die Treppe erstieg und durch die Spalte einer nur angelehnten Tür einen Lichtschein herausfallen sah.
Es war also wirklich jemand in dieses unbewohnte Haus eingedrungen. Wer mochte das sein? Was wollte er hier?
Westerly riss die Tür auf und streckte die mit dem geladenen Revolver bewaffnete Hand aus.
Eine große Enttäuschung ward ihm zuteil. Auf dem Tische brannte zwar ein ärmliches Öllämpchen, aber sonst war das Zimmer leer.
Dagegen schrie die Alte laut auf und deutete mit der Hand nach dem Stuhle vor dem Tisch.
»Da — da«, flüsterte sie angstvoll, »seht Ihr den schwarzen Mann sitzen?«
»Keine Spur davon.«
»Da — jetzt hebt er die Hand!«
»Unsinn, du träumst.«
Westerly sprang vor, rückte den Stuhl und ergriff die Lampe.
»Nun, wo ist dein Gespenst?«
»Ich sehe nichts mehr.«
»Ich auch nicht.«
»Es ist plötzlich verschwunden, eben sah ich's noch.«
Westerly brach in lautes Lachen aus, das unheimlich widerhallte.
»Erst hast du nur ein Phantom deiner überspannten Phantasie gesehen, jetzt vielleicht meinen Schatten. Glaubst du noch, dass hier ein Gespenst ist?«
»Nein.«
»Siehst du wohl! Nun aber etwas anderes; wo ist denn die Lampe mit dem roten Schirm?«
»Ja, wo ist die?«
»Vielleicht hat der Geist mit dem schwarzen Gesicht sie mitgenommen. Aber was ist denn das für ein Öllämpchen?«
Zaghaft trat die Alte näher, betrachtete die Lampe von allen Seiten und schlug verwundert die Hände zusammen.
»Herrgott, das ist ja meine!«, rief sie dann.
»Aha, jetzt kommt die Erklärung! Weißt du das genau?«
»Freilich, ich werde doch meine Lampe kennen.«
»Und, nicht wahr, als du vorhin allein dieses Haus betratst, da hattest du diese Lampe mit?«
Ein pfiffiges Lächeln überflog das runzlige Gesicht der Alten; nachdenkend legte sie den Finger an die Nase, als käme jetzt eine Erleuchtung über sie.
»Ja, ich hatte eine mit.«
»Und du setztest sie auf diesen Tisch?«
»Ich glaube, ja. Als ich mich dann umdrehte, sah ich erst den bösen Geist.«
»Da ist ja alles aufgeklärt! Glaubst du nun noch an Gespenster?«
»Nein, aber das Licht im Fenster?«
»Das war eben die Spiegelung eines anderen erleuchteten Fensters. Du hast mir zwar viel Zeit geraubt, aber es ist doch immer gut, wenn man jemandem begreiflich macht, dass es keine Gespenster gibt.«
»An Gespenster habe ich freilich nicht geglaubt aber...«
»Was aber?«
»Aber die Geister von Toten, die uns im Leben angingen, erscheinen uns doch noch.«
»Jawohl, nun fange auch noch davon an!«
»Wahrhaftigen Gott«, beteuerte die Alte mit der Hand auf dem Herzen, »das habe ich selbst erlebt.«
»So, welcher Tote besucht dich denn manchmal?«
»Mein seliger Mann. Er kommt oft nachts zu mir, neckt mich, reißt mir das Bett vom Leibe und kitzelt mich.«
»So, das muss ein sonderbarer Kauz sein«, brummte Westerly, die zusammengeschrumpfte Gestalt von der Seite betrachtend. »Na, wenn er wieder einmal kommt, dann rufe mich. Ich will ihm zeigen, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat«
»Um Gottes willen! Er tut mir ja nichts. Dass uns Menschen nach ihrem Tod wieder erscheinen, weiß ich ganz bestimmt. Die, denen wir Gutes getan haben, necken uns nur harmlos, denen wir aber etwas Böses zugefügt haben, die legen sich wie ein Alp auf uns und würgen uns.«
»So so, das habe ich noch gar nicht gewusst. Danke für die Belehrung. Von wem hast du denn diese tiefen Geheimnisse erfahren?«
»Von meinem seligen Alten, er hat's mir im Traume gesagt. Neulich erschien mir auch unser kleiner Widdy.«
»Wer ist denn das?«
»Unser kleiner Hund. Er erstickte an einem Hühnerknochen. Als er mir erschien, hatte er den Knochen noch immer im Halse.«
»Der arme Kerl — muss auch noch als Geist mit dem Hühnerknochen auf Erden wandeln! Gott habe ihn selig!«
Westerly machte diesem törichten Gespräch ein Ende, indem er die Lampe ergriff und die Zimmer zu durchschreiten begann. Sie zeigten noch einige Überbleibsel einer europäischen Möblierung, wie Tische, Stühle und unter anderem einen Kleiderschrank, der nach der Aussage der Frau von den früheren Bewohnern zurückgelassen worden war.
Aber keine Spur fand sich davon, dass in letzter Zeit sich hier Menschen aufgehalten hätten. Überall lag dicker Staub, und Spinnengewebe hingen in den Winkeln. Daher begaben sich beide zurück; Westerly, die Lampe noch immer tragend, voran, die Alte folgte ihm. Sie folgte ihm auch, als er sein Zimmer betrat.
Da, was war das — — —?
Wie vom Schlage getroffen taumelte Westerly zurück und blieb dann wie gebannt stehen. Die Lampe fiel aus seiner Hand und verlöschte zischend, seine Glieder begannen zu beben, und das Haar sträubte sich ihm auf dem Kopfe.
Dort, vom roten Lampenlicht voll übergossen, saß vor dem Tisch auf seinem Stuhl eine menschliche Gestalt. Ein schwarzer Mantel verhüllte sie, eine schwarze Maske verdeckte vollkommen das Gesicht, und der Filzhut saß tief in der Stirn.
Mit zitternden Händen rieb sich Westerly die Augen, aber die unheimliche Erscheinung wich nicht.
Es war die schwarze Maske, wie sie leibte und lebte!
Ebenso hatte Lacoste damals in Westerlys Zimmer zu Greenwich gesessen, als dieser ihn beobachtete, während Aleen den Mord an ihm ausführen musste. Auch jetzt hielt er in der einen Hand, deren Arm sich auf den Tisch stützte, ein Papier und las es, die andere hing schlaff herab.
Die Erscheinung wich nicht; Westerly mochte Gott oder Teufel anrufen oder sich einen Narren schelten. Sein Entsetzen nahm vielmehr immer zu. Ja, das war auch das Gespenst, das die Alte vorhin beschrieben hatte. Jetzt fiel's ihm ein.
»Aber was habt Ihr denn nur?«, fragte neben ihm die Alte verwundert. »Jetzt tut Ihr ja gerade, als sähet Ihr ein Gespenst.«
»Dort — dort — siehst du es denn nicht?«, stammelte Westerly. Die Rollen waren gewechselt.
»Ich? Nein. Was denn?«
»Die schwarze — den schwarzen Mann!«
»Ach, geht, Ihr träumt! Wo denn?«
»Dort — an meinem Tisch — auf meinem Stuhl!«
»I, wo denn nur? Ich sehe ja nichts.«
»Das Gespenst — mit der schwarzen Maske — es wirft sogar Schatten« ächzte Westerly.
»Es gibt ja keine Gespenster, und sie werfen keinen Schatten.«
»Ihr habt recht!«
Zähneknirschend hob Westerly den Revolver, aber schnell drückte die Alte seine Hand herunter.
»Bedenkt, was Ihr tut«, flüsterte sie, »der Schuss ruft Polizei herbei!«
Gleichzeitig hatte der Schwarze den Kopf gewendet, hinter der Maske blitzten feurige Augen auf Westerly, er seufzte tief, fuhr mit der Hand, die das Papier fallen gelassen hatte, über den Nacken, auch die andere hob sich und zeigte einen mit Juwelen bedeckten Dolch, den Westerly wohl kannte.
Courage, mit seiner letzten Kraft vermochte er noch ins Nebenzimmer zu stürzen, wo er sich auf das Bett warf und sein Gesicht in die Kissen vergrub.
Es hätte nicht viel gefehlt, so wäre der starke Mann in Ohnmacht gefallen, so hatte ihn die Erscheinung desjenigen angegriffen, dessen Ermordung er veranlasst hatte.
Wieder zuckte er furchtbar zusammen, als er an der Hand gefasst wurde. Aber es war nur die Alte, die ihm einredete und ihm mit tausend Beteuerungen versicherte, dass er nur geträumt habe. Denn sonst müsse sie doch auch etwas von dem schwarzen Manne gesehen haben.
Westerly raffte seinen Mut zusammen, erhob sich und folgte der Alten in sein Zimmer. Es war leer, seine Papiere lagen so auf dem Tisch wie er sie verlassen hatte, keine Spur eines Geistes, kein Schwefelgeruch, kein Modergestank, nur der Ölfleck auf dem Teppich als sichtbarer Beweis von Westerlys Gespensterfurcht.
Nach einiger Zeit gelang es ihm, sich zu beruhigen. Er gestand, nur geträumt zu haben, und wusste sich schließlich dies selbst einzureden, und zwar abermals mit Hilfe der Reflexion.
Er hatte das geschilderte Bild des Gespenstes der Alten in sein Gehirn aufgenommen, sie hatte von einer Lampe mit rotem Schirm gesprochen, und als er diese nun erblickte, zauberte ihm sein Gehirn, mit der Schilderung noch beschäftigt, sofort dieselbe schwarze Gestalt mit Hilfe der Nerven vor die Augen usw. usw.
Es ist uns heute so sehr leicht geworden, uns alles das, was wir nicht gleich fassen können, auf sogenannte natürliche Weise zu erklären. Vielleicht bleibt es einem späteren Geschlecht vorbehalten, ein Brillenglas zu schleifen, durch das man auch wesenlose Geschöpfe im Weltenraum entdeckt. Dann wird man erst staunen, bis man sich daran gewöhnt hat, und über unsere heutige Kurzsichtigkeit lachen.
Was hätten die Leute vor tausend Jahren wohl gesagt, wenn vor ihren Augen eine Krupp'sche Vierzigzentimeter-Kanone abgefeuert worden wäre? Oder, um ein treffenderes Beispiel zu wählen, was hätten die Menschen vor zwanzig Jahren wohl gesagt, wenn ihnen ihr Gerippe im Leibe fotografiert worden wäre?
Also, Westerly war schließlich vollkommen überzeugt, dass er nur auf ganz natürliche Weise eine Vision gehabt habe. Trotzdem untersuchte er noch im Beisein der Alten die Kasten und Kisten, sah in den Kleiderschrank, fuhr mit einem Stock unters Bett — was gewisse Personen regelmäßig jeden Abend tun — und ließ sich dann Rum und heißes Wasser bringen.
Mit Hilfe dieser beruhigenden Mittel stellte er das Gleichgewicht seiner Kräfte wieder her, philosophierte noch etwas über Aberglauben und Realismus und ging dann mit der vollsten Überzeugung zu Bett, dass die schwarze Maske seinerzeit das große, unbekannte Land aufgesucht hatte, um nimmer wieder auf diese Erde zurückzukehren.
Das alles konnte aber sein Gehirn nicht hindern, ihm im Traume das schwarze Gespenst nochmals vorzuführen, und Westerly pries sich glücklich, als er am anderen Tage von der Morgensonne geweckt wurde und schweißgebadet erwachte.
Obgleich nun Westerly diesen Tag vollauf beschäftigt war, mit seinem Vertrauten, der die Fahrt als Helfer in der Not mitmachen sollte, die Reiseangelegenheit zu ordnen, so kam ihm die nächtliche Erscheinung doch nicht aus dem Sinn.
Wohin er auch blicken mochte, überall glaubte er die schwarze Maske zu sehen, die stets sofort schnell wie ein Schatten verschwand. Sie grinste hinter dem Kleiderschrank hervor, sie blickte ihm aus jedem Papier entgegen, und als sein Freund ihm einmal vorschlug, den Weg von hier zum Dampfer in schwarzen Masken zurückzulegen, prallte er förmlich entsetzt zurück.
Um diese Gespensterfurcht, die ihn beherrschte, so sehr er sie auch wegzuleugnen suchte, noch zu vermehren, kam noch verschiedenerlei hinzu.
Zuerst bei der Begrüßung Franziskas. Das Mädchen klagte, sie hätte vor Furcht die ganze Nacht nicht schlafen können, denn es hätte neben ihr in einem fort ganz schrecklich gestöhnt, geseufzt und gejammert.
Daneben stand die Alte und blinzelte Westerly verständnisvoll an.
»Ja ja, das kommt manchmal in diesem Hause vor«, sagte sie, »und dann musste jedes Mal — da ist es schon.«
Durch die Straße wurde eine leere Totenbahre getragen, was Westerlys Gemüt wieder niederdrückte.
»Ich habe es schon oft erlebt«, fuhr die Alte fort, »wenn es in diesem Hause so seufzt und wimmert, dann muss jedes Mal einer in der Gasse sterben. Als mein seliger Mann zum Beispiel...«
Der klugen Frau Ansicht wurde zwar nicht widersprochen, das Geräusch, welches Franziska gehört, fand aber auch Erklärung — die Bahre verschwand in dem benachbarten, bewohntem Hause, und das Todesröcheln des Sterbenden war also durch die Scheidewand an des Mädchens Ohr gedrungen.
Nachdem Franziska gegangen war, legte die Alte ihren Finger warnend auf den Mund und schaute Westerly an.
»Nun, was gibt's? Hast du Unglücksrabe vielleicht wieder ein Gespenst gesehen?«
»Es gibt keine. Aber es war heute Nacht bei mir.«
»Wer? Er?«
»Mein seliger Mann«
»Verdammt sei dein seliger Mann!«, knurrte Westerly. »Verschone mich mit solchen Ammenmärchen!«
»Er war aber bei mir, und diesmal habe ich ihn sogar gesehen. Das bedeutet für mich immer Glück.«
»So? Wie sah er denn aus?«
»Erst hörte ich an meinem Bette ein Klopfen und Kratzen, dann zupfte es an meiner Bettdecke, zog mir das Kissen unter dem Kopfe hervor, und plötzlich wurde es ganz hell im Zimmer. Da sah ich einen kleinen, roten Frosch herumhüpfen, der leuchtete wie die liebe Sonne. Ich hätte ihn gern angesprochen, aber ich getraute es mir nicht, denn dann wäre er vielleicht nie wiedergekommen.«
»Und du meinst, dieser rote Frosch war dein seliger Mann?«
»Wer denn sonst?«
»Du glaubst wohl an die Theorie der Seelenwanderung?«
»Es war mein seliger Mann«, beharrte die Alte.
»Nun, und was tat denn dieser kleine, liebe, rote, feurige, selige Frosch?«
»Er kletterte die Wand hinauf, bis er an seine Lieblingspfeife kam, aus der er im Leben so gern rauchte, machte den Deckel auf und kroch hinein, kam auch nicht wieder heraus, wenigstens sah ich es nicht mehr, denn ich schlief darüber ein. Und was meint Ihr, was ich in dem Pfeifenkopfe fand, als ich heute morgen nachsah?«
»Froscheier?«
»Spottet nicht! Der Kommodenschlüssel war drin, den ich seit dem Tode meines Mannes vergeblich gesucht habe. Die gute Seele wusste, wo er lag, und hat mir seinen Versteck gezeigt.«
»Ein wunderbarer Frosch, dein seliger Mann! Wenn er dir wieder erscheint, so sage ihm, er soll mir mein verlorengegangenes Notizbuch wiederbeschaffen; ich würde auch für seine selige Froschseele beten. So, nun verschone mich heute mit deinen Froschgeschichten!«
Die Alte schien noch mehr beichten zu wollen, aber Westerly gab ihr keine Gelegenheit dazu.
Dies alles, die Totenbahre, der Sterbende nebenan und die Gespenstergeschichte des Weibes, vermochte Westerlys aufgeregte Phantasie nicht zu beruhigen. Selbst die Anwesenheit eines Freundes konnte nicht hindern, dass er überall ein schwarzes Gesicht hervorblicken sah, obgleich er sich vollkommen überzeugt hielt, dass ihn noch immer keine Gespensterfurcht anwandeln könne.
Was der Vogel Strauß in der Sage tut, bei einer Gefahr den Kopf in den Sand stecken, um die Gefahr nicht zu sehen, wodurch er der Gefahr zu entrinnen glaubt — das tat Westerly im Geiste.
Eine unbestimmte Ahnung sagte ihm, dass ihm in diesem Hause noch verschiedenes Unheimliche begegnen solle, und seine Philosophie wollte ihn diesmal gar nicht schützen.
Als er am Abend allein war, beschlich ihn mit doppelter Heftigkeit die Furcht vor dem Unnatürlichen, welche bei bösen Menschen am stärksten ist.
Er konnte es sich nicht versagen, trotzdem er dabei eine lächelnde Miene machte, wie von einem Magneten angezogen musste er sich an das Fenster begeben und sich hinausbeugen, um zu sehen, ob ein Fenster des Nachbarhauses erleuchtet sei.
Dass dies nicht der Fall war, beruhigte ihn etwas; er lachte laut auf, sah noch einmal hinaus, lachte noch lauter und griff dann zu jenem Mittel, durch welches sich Feiglinge Mut einflößen, zu geistigen Getränken.
Nach einigen Gläsern Arrak fühlte er seine Stimmung ungemein gehoben. Als er vor dem Schlafengehen den Revolver untersuchte, begann es schon infolge des übermäßigen Alkoholgenusses vor seinen Augen zu tanzen; statt der sechs Patronenhülsen sah er deren zwölf, zugleich aber war ein solcher Mut über ihn gekommen, dass er sogar die Lampe auslöschte.
Sich im Innern einen Narren scheltend, vollkommen wieder überzeugt, dass es keine Geister gebe und dass Tote nicht wiederkommen könnten, legte er sich zu Bett, und der Arrak tat seine Wirkung.
Westerly schlief schnell ein.
Sein Schlaf war jedoch weder fest noch ruhig. Im Traume balgte er sich mit Gespenstern herum und schwitzte vor Todesangst. Er sah im Traume eine Gestalt vor sich stehen, nicht die schwarze Maske, eine andere, einen Inder, und plötzlich hörte er laut und deutlich eine Stimme fragen:
»Kain, wo ist dein Bruder Abel?«
Wie vom Blitz getroffen fuhr er mit der Hand nach der Narbe an seiner Stirn. Darüber wachte er auf, er hörte noch die unheimliche Stimme.
Obgleich er nicht wagte, die Augen zu öffnen, glaubte er durch die geschlossenen Lider doch einen Lichtschimmer wahrzunehmen.
Aber nein, er träumte ja nur!
Westerly suchte sich dies selbst einzureden, aber trotzdem fing er an zu beben.
Oder sollte wirklich in seinem Zimmer Licht brennen? Wer hatte es denn angesteckt? Da drang ein Stöhnen an seine Ohren. Es war keine Täuschung.
Furchtbar erschrocken, mit kaltem Schweiß bedeckt riss er die Augen auf und — erblickte wirklich Licht.
Die Lichtquelle konnte er nicht sehen, denn er lag mit dem Gesicht nach der Wand zu, aber diese war erleuchtet.
Es gelang ihm nicht mehr, sich einzureden, dass er nur träume. Er kniff sich, jedes Geräusch vermeidend, in den Arm und fühlte den Schmerz.
Wieder ein Seufzen — Papier raschelte. Kein Zweifel, es war jemand in seinem Zimmer. Wider Willen musste Westerly den Kopf wenden, und kaltes Entsetzen bemächtigte sich seiner.
Dort vor der Lampe stand regungslos eine Gestalt, in dunkle, indische Gewänder gehüllt, den kurzgeschorenen Kopf unbedeckt.
Sie beugte sich über den Schreibtisch und schien die Papiere Westerlys zu lesen.
Einen Moment wurde dessen Geisterfurcht gebannt. Er glaubte es mit einem Menschen zu tun zu haben, der sich in sein Zimmer geschlichen, um sich über die hinterlistigen Pläne des Verräters zu orientieren.
Schon wollte er nach dem Revolver greifen, schon öffnete er den Mund zum Anruf, als er wieder erstarrte. Die Gestalt hatte deutlich hörbar geseufzt und gestöhnt.
Wer sich aber heimlich in ein Zimmer schleicht, der verhält sich lautlos.
Da wendete sich die Gestalt langsam um, und mit einem gellenden Schrei sank Westerly in die Kissen zurück, unfähig sich zu bewegen, zugleich aber auch unfähig, seine starren Augen von der Gestalt abzuwenden.
Ein Mann stand mit über der Brust gekreuzten Armen vor ihm. Sein Gesicht, gelblichbraun, glich dem eines Toten oder vielmehr dem eines schon Verwesten. Die Augen lagen tief in den Höhlen und blickten erloschen und starr auf Westerly. Nur ein dem Grabe Entstiegener konnte so aussehen, das war kein Lebendiger. Auch das Gewand hing ihm in Fetzen vom Leib: ein eigentümlicher Modergeruch schien von ihm auszuströmen.
Und Westerly kannte ihn wohl.
»Abel!«, murmelten seine bleichen Lippen. Langsam nickte das Gespenst mit dem Kopfe.
»Ja, ich bin's, Abel!«, drang es röchelnd aus dem sich kaum öffnenden Munde. »Also erkennst du mich noch?«
Westerly war zum Reden unfähig. Er fühlte, wie sich seine Haare sträubten, fühlte sich dem Wahnsinn nahe.
»Ich bin dein Bruder, Edgar«, fuhr die hohle Grabesstimme fort, »uns hat eine Mutter geboren, nur verschiedene Väter haben wir gehabt. Entsinnst du dich noch, wie wir als Kinder zusammen spielten, obgleich wir damals nicht wussten, dass wir Brüder sind?«
Westerly wusste alles. Sein Vater hatte ihm auf dem Sterbebette gebeichtet, dass der kleine Inder, mit dem er in der Jugend zusammen erzogen wurde, sein Bruder, dass er selbst gar kein ehelicher Sohn sei, und legte es ihm ans Herz, sollte sein ältester Sohn, Lord Westerly, Edgars Bruder; sterben, für die Mutter zu sorgen.
Als Edgar Westerly nach dem Tode seines Bruders die Familienpapiere bekommen, fand er darunter auch ein Dokument, nach welchem aus dem hinterlassenen Vermögen der Inderin, die der Vater einst geliebt, Westerlys Mutter, eine jährliche Pension gezahlt werden sollte.
Westerly hatte dies einfach unterlassen, umso mehr, als er fürchtete, dadurch könne einmal seine wahre Abstammung verraten werden.
Was hatte er dagegen getan?
Er hatte seinen Bruder wie auch seine Mutter ermordet! Wenn auch unbeabsichtigt, er war doch ihr Mörder gewesen. Und nun kam der Geist des Toten zu ihm, um Rechenschaft zu fordern.
Aber klang das nicht, als ob der Geist etwas ganz anderes von ihm wolle?
Ob er wollte oder nicht, Westerly musste auf die zuletzt gestellte Frage antworten.
»Ich habe erfahren, dass du mein Bruder gewesen bist«, brachte er mit klappernden Kinnladen hervor, sich immer einredend, dass er nur träume.
»Und weißt du, dass ich ermordet worden bin?«
»Nein!«, hatte Westerly den Mut zu lügen.
»Ich wurde ermordet«, fuhr das Gespenst mit traurigem Kopfnicken fort. »Du sollst erfahren, was mich zu nächtlicher Zeit herumtreibt. Vielleicht kannst du mir helfen.«
»Du lügst! Die Toten können nicht auferstehen und in der Nacht die Lebenden schrecken«, schrie Westerly in furchtbarer Angst, hoffend, dadurch aufzuwachen.
»Du irrst, ich bin nicht tot.«
»Du wärst nicht tot? Nicht gestorben?«
»Ich bin nicht gestorben, man hat mich lebend begraben. Höre mich an, nur dir kann ich mich offenbaren, denn uns hat ein Weib geboren. Ich war Diener bei Lord Canning, dem Generalgouverneur von Indien, er traute mir, und ich stand mich gut bei ihm. Eines Nachts befand ich mich wachend im Vorzimmer meines Herrn. Ich stand am Tisch und las beim Schein der Nachtlampe einen Brief von deiner und meiner Mutter. Da plötzlich fühlte ich in meinem Nacken einen Stich, wie etwa von einer Biene, und augenblicklich erstarrte mein Blut, Atem und Herzschlag stockten, und ich fiel steif wie ein vom Schlage Getroffener zu Boden.«
»Du warst tot?«, heuchelte Westerly Verwunderung.
»Nein, ich war nicht tot. Scheinbar war allerdings mein Leben entflohen, ich war indes nur bewegungslos und glich einem Toten, aber ich war vollkommen bei Besinnung und sah und hörte alles.«
»Das ist nicht möglich!«, stöhnte Westerly.
»Es war so. Ein Weib fing mich auf und ließ mich zu Boden gleiten, dasselbe, welches Duchesse oder Signora Rosa Bellani genannt wurde.«
»Und sonst, was hast du sonst gesehen?«
»Einen Mann, der einen mit Diamanten besetzten Dolch entblößt in der Hand trug. Er beugte sich über mich und rief entsetzt: Ich habe meinen Bruder ermordet!«
Neuer Angstschweiß brach bei Westerly aus. Das Gespenst aber hob drohend die wachsfarbene, fleischlose Hand gegen ihn auf.
»Und dieser Mann warst du«, fuhr er mit unheimlicher Stimme fort, »ja, Edgar, du warst es, der mir die vergiftete Dolchspitze in den Nacken gestoßen hat!«
»Das ist nicht wahr!«, schrie Westerly in Todesangst wieder auf.
»Leugne es doch nicht, ich habe dich ja gesehen und dich sprechen hören, denn ich war bei vollkommener Besinnung. Ich hätte dich nicht gleich erkannt, wenn du dich nicht selbst als meinen Bruder bezeichnet hättest. Ich hörte ferner, wie man sich beriet, was wohl die Ursache meines Todes sei. Man glaubte auch an einen Mord, aber man wusste nicht, wie man mich getötet hätte. Niemand dachte daran, meinen Nacken mit einem Vergrößerungsglas zu untersuchen. Ach, ich konnte ja nicht sprechen, keine Bewegung machen, und so wurde ich denn bei vollständiger Besinnung begraben, nachdem die Ärzte meinen Tod beglaubigt hatten.«
Das Gespenst schwieg. Westerly wälzte sich wimmernd auf dem Bett, konnte aber dem Blick der eingesunkenen Augen nicht ausweichen, die unverwandt auf ihn gerichtet waren.
»Ich träume!«, jammerte er.
»Nein, du träumst nicht. Höre weiter, was mit mir geschah. Ich wurde in einem Sarge tief unter der Erde begraben. Aber ich war nicht tot, ich war bei Verstand, ich hörte die Maulwürfe und Käfer an meinem Sarge nagen. O, Bruder es war schrecklich! Wann wohl würden die Käfer das Holz durchbohrt haben und über meinen steifen Körper herfallen? Oder wann zerfiel das morsche Holz, und ich war Würmern und Larven preisgegeben?«
Westerly schauderte.
»Es ist nicht möglich, ich träume nur!«, schrie er abermals. »Du wärest in der ersten Stunde wegen Mangels an Luft unfehlbar erstickt.«
»Wegen Mangels an Luft?«, erklang es spöttisch zurück. »Ich konnte nicht atmen, also brauchte ich auch keine Luft. Tausendmal wünschte ich, sterben zu können, aber ich starb nicht, und so betete ich nur inbrünstig zu Gott, an den, als an den einzig wahren Gott mir zu glauben gelehrt worden war. Und mein Gebet sollte erhört werden. Ich weiß nicht, wie viele Tage und Nächte ich so bewegungslos dagelegen und dem schrecklichen Nagen und Pochen der Käfer gelauscht hatte, als ich plötzlich glaubte, der Sargdeckel öffne sich. Licht umgab mich, und vor mir stand ein Engel Gottes.«
»Du lügst«, stöhnte Westerly. »Es gibt weder einen Gott, noch Engel, noch Teufel.«
»Vor mir stand ein Engel in lichtverklärtem Kleide«, fuhr die Gestalt ruhig fort, »und sprach also zu mir: ›Deine Gebete sind erhört worden, und es soll dir ein Mittel gegeben werden, dein Leben wiederzuerhalten. Der Mensch, der dich morden wollte, also dein Bruder, besitzt zugleich das Mittel in dem Dolch, dich wieder lebendig zu machen. Drücke an dem größten Diamanten am Griff des Dolches, schraube den Griff ab, und du wirst in der Höhlung eine goldgelbe Flüssigkeit finden. Wenn die Stichwunde in deinem Nacken erweitert wird, und du lässt die goldene Flüssigkeit hineinlaufen, so wird dein erstarrter Körper wieder lebendig werden. Jede Nacht zwischen 12 und 1 Uhr soll dein Grab geöffnet sein, wünsche, wohin du gebracht werden willst, und im Augenblick sollst du dort sein. Aber deinen Bruder musst du selbst aufsuchen, du sollst ihm erscheinen, damit sein ruchloses Herz geängstigt wird, und nur von ihm soll deine Rettung vollzogen werden, damit er seine Schandtat sühnt. Besitzt er den Dolch nicht mehr, so soll er ihn sich wieder verschaffen und dir den Dienst erweisen.‹
Und so geschah es«, fuhr das Gespenst nach kurzer Pause traurig fort, »jede Nacht öffnete sich mein Grab, und ich erhielt die Beweglichkeit meiner Glieder wieder. Aber was half das mir Armen? Wohl brauchte ich nur den Wunsch zu denken, an einer beliebigen Stelle zu sein, so war ich dort, doch wünschte ich nur, direkt bei dir zu sein, so blieb ich festgebannt. Lange, lange Zeit habe ich dich gesucht, ganz Indien habe ich durchflogen, ich konnte dich nicht finden, bis ich mich aufs Lauschen legte. Da vernahm ich, du seiest hier in Bombay, ich erfuhr die Lage dieses Hauses, heute flog ich hierher und komme noch zur rechten Zeit. Ich habe dort am Schreibtisch gelesen, dass du Indien übermorgen verlassen willst. Doch ich wäre dir auch nach Konstantinopel gefolgt und hätte dich auch dort aus dem Schlafe geweckt. Wo ist der Dolch, dass du mich mit ihm dem Leben wiedergibst?«
Erwartungsvoll hingen die Augen des Gespenstes an den Lippen des Gefragten, der sich noch immer auf seinem Lager in wilden Qualen wand.
»Ich habe ihn nicht mehr«, ächzte er endlich.
»Ich dachte es mir«, seufzte der Geist. »So musst du ihn dir eben wiederverschaffen, denn nur du kannst die Operation vollziehen. Weißt du, wer ihn hat?«
»Ja, ich weiß es. Aber ich hole ihn nicht, es nicht wahr, ich träume nur«, schrie Westerly.
»Du träumst nicht. Verschaffe dir den Dolch, ich komme morgen und jede Nacht wieder. Denke nicht, dass du mir entschlüpfen kannst. Jetzt, nachdem ich dich einmal gefunden habe, werde ich dir immer wieder erscheinen, und entflöhest du bis ans Ende der Welt.«
»Nein nein, es ist nicht wahr!«
»Es ist doch wahr. Ich komme morgen wieder. Verschaffe dir den Dolch.«
»Ich kann nicht.«
»Wer hat ihn jetzt?«
»Das brauchst du nicht zu wissen.«
»Nein, aber du musst ihn dir wieder besorgen, sonst verfolge ich dich bis an deinen Tod, der auch den Tod für mich bedeutet, und dann klage ich dich beim ewigen Richter an.«
»Es gibt keinen Gott, keinen ewigen Richter.«
»Du wirst ihn noch kennen lernen, Brudermörder!«
»Hahaha«, lachte Westerly gellend, »du nennst mich deinen Mörder? Sagst du nicht selbst, dass du gar nicht tot bist?«
»Aber du wolltest mich töten, und bei Gott gilt die Absicht, nicht nur die Tat. Wehe dir, Verruchter, wenn du mir widerstrebst!«
Drohend hatte das Gespenst die Hand erhoben. Doch Westerly hatte sich einigermaßen gesammelt, oder vielmehr, ein teuflischer Gedanke war ihm gekommen.
»Nun denn«, schrie er, »lebst du Verfluchter wirklich noch, so will ich dich zum zweiten Male töten. Da — versuche das zu ertragen.«
Blitzschnell hatte er den Revolver ergriffen, auf die Brust des Gespenstes gezielt, und abgedrückt.
Der Schuss krachte, Pulverrauch verhüllte dem halb Wahnsinnigen die Aussicht. Westerly war ein vorzüglicher Pistolenschütze, er konnte sein Ziel auf so kurze Entfernung hin nicht verfehlen. Aber es ertönte nur ein kurzes, höhnisches Lachen, es war, als ob eine Kugel über den Boden rollte, und als sich der Rauch verzogen, sah Westerly das Zimmer leer.
Das plötzliche Verschwinden der Gestalt ergriff ihn mehr als alles andere, denn er hatte geglaubt, sie tot oder verwundet am Boden liegen zu sehen. Das neue Ereignis, das die Gestalt wirklich als Gespenst charakterisierte konnte er nicht ertragen — die Sinne schwanden ihm vor neuem Entsetzen.
Als er erwachte, war es Morgen, und seine Wirtin beschäftigte sich damit, ihm Stirn und Schläfe mit Essig zu reiben. Die Stube war voll Petroleumqualm, denn die Lampe war ausgebrannt.
Westerly besann sich sofort auf alles Geschehene; es war ihm, als habe er den Tod im Herzen, die Glieder versagten ihm den Dienst. Stier blickte er die alte Frau an.
»Ach Gott, ach Gott«, jammerte diese, »Ihr habt gewiss einen bösen Traum gehabt.«
»Ja, es war ein böser Traum«, murmelte er, »aber nein — habe ich denn nur geträumt?«
»Natürlich, was denn sonst? Oder ist Euch jemand erschienen, vielleicht ein toter Bruder oder Eure selige Mutter?«
Entsetzt fuhr Westerly empor und packte die Alte krampfhaft am Handgelenk.
»Weib, was weißt du davon?«, stöhnte er.
»Nichts, gar nichts!«, entgegnete diese erschrocken. »Ich dachte nur so. Dass so etwas passieren kann, habe ich Euch schon erzählt. Habt Ihr wirklich jemanden gesehen?«
»Torheit, ich habe nur geträumt. Hast du diese Nacht einen Schuss gehört?«
»Wo? Auf der Straße?«
»Hier in meinem Zimmer.«
»Nein.«
»Doch, du musst ihn gehört haben!«
»Um Gottes willen, in diesem Hause? Dann müssten doch Franziska und meine beiden Mädchen auch etwas davon gehört haben.«
»Hast du sie schon gesprochen?«
»Freilich. Als ihr nicht kamt, ging ich zu Euch und fand Euch ganz bleich und halb ohnmächtig im Bett liegen. Die Lampe habt Ihr auch brennen lassen. Ihr müsst einen schrecklichen Traum gehabt haben.«
»Ja, es war schrecklich.«
»Und geschossen habt Ihr im Traum?«
»Ja.«
»Das bedeutet immer Glück.«
»Und du hast den Schuss wirklich nicht gehört?«
»Ihr könnt doch nicht verlangen, dass ich hören soll, wenn Ihr im Traume schießt«, lachte die Alte.
»Es ist gut, du kannst gehen«, sagte Westerly erleichtert.
Wie eine Zentnerlast fiel es ihm vom Herzen. Da die Alte und keiner der anderen Hausbewohner den Revolverschuss gehört hatte, musste er auch nur geträumt haben.
Auch die ins Zimmer scheinende Morgensonne trug viel dazu bei, seine Gespensterfurcht zu verscheuchen; denn Sonne und Geister vertragen sich schlecht.
Er fühlte förmlich ein Behagen über sich kommen, als er überzeugt war, nur geträumt zu haben, aber dieses sollte nicht lange dauern.
Noch im Bett liegend, erblickte er plötzlich auf dem Zimmerboden ein Ding, das fast wie eine Revolverkugel aussah.
Mit einem Satz schnellte er aus dem Bett und — fand wirklich eine am Boden liegen. Verwirrt griff er sich an die Stirn, dann mit zitternder Hand nach der Waffe auf dem Nachttisch. Warum war es ihm nicht schon früher eingefallen, den Revolver zu untersuchen? Da musste sich gleich zeigen, ob er nur geträumt habe oder nicht.
Dem Manne versagte die Kraft, er brach fast auf die Knie zusammen, als er fünf Patronen unversehrt, noch mit Kugeln versehen, fand, die sechste aber, auf deren Zünder der Hahn noch ruhte, abgeschossen.
Westerly dachte nicht mehr daran, die Wirtin und die übrigen Hausbewohner zu rufen und sie nochmals auszuforschen, ob sie den Schuss nicht gehört hätten.
Wieder bemächtigte sich seiner die entsetzlichste Gespensterfurcht. Das sonst Unerklärlichste hielt er plötzlich für erklärlich.
Der Geist war ihm erschienen, oder vielmehr sein nur scheintoter Bruder, er hatte auf ihn geschossen, die Kugel war schadlos von der geisterhaften Gestalt abgeprallt, der Schuss war nur ihm hörbar gewesen, alle anderen Bewohner des Hauses waren mit Taubheit geschlagen worden, ja, es gab etwas, was der nüchterne Menschenverstand nicht begriff. Wehe, die Toten kehrten wieder, es gab einen Gott, der allmächtig war und Rechenschaft forderte!
Westerly kam nicht mehr dazu, seine Furcht mit philosophischen Gründen zu vertreiben. Die Tatsachen hatten ihn zu sehr erschüttert, und er konnte sie auch nicht leugnen.
Er wollte fort aus diesem Hause, sich eine andere Wohnung suchen; aber hatte ihm der Geist seines Bruders nicht gesagt, er würde ihn überall zu finden wissen, ihm keine Ruhe lassen, als bis er den Dolch wiederhätte? Daran, dass er nicht ohne Gefahr das Haus überhaupt verlassen durfte, dachte er im Augenblick gar nicht.
Der sonst so kaltblütige, über jede Geisterfurcht sich erhaben glaubende Westerly nahm sich vor, den Bruder diese Nacht zu erwarten, mit ihm zu sprechen, ihn um Schonung zu bitten und dann sein möglichstes zu tun, sich in den Besitz des Dolches zu bringen.
Er wusste ihn in den Händen der Rebellen zu Delhi; denn auf alle Fälle war der Mordanschlag des Persers vereitelt, die Waffe ihm entwunden worden.
Freilich, wenn er versuchte, sich dieser zu bemächtigen, so setzte er sich der Gefahr aus, in die Hände des furchtbaren Timur Dhar zu fallen, aber einmal wollte er lieber dessen Rache erdulden, als sein ganzes Leben lang von dem Schatten des toten Bruders gequält werden, und dann würde ihm der Geist sicher hilfreiche Hand leisten. Denn wie viel musste ihm daran gelegen sein, dass er, Westerly, die Waffe wiedererhielt!
Aus dem Ungläubigen war also plötzlich ein gläubiger Geisterseher geworden, und viele Menschen gibt es, denen es ebenso ergangen ist.
Da glaubt einer weder an Gott, noch an einen Teufel; er träumt, dieser oder jener stirbt, zufällig geschieht es, und plötzlich ändert sich die Denkweise des Zweiflers.
Aber das Haus zu verlassen, in dem es spukte, fiel Westerly nicht ein. Erst wollte er den Geist noch einmal sprechen. Diese letzte Erscheinung hatte die Erinnerung an die schwarze Maske ganz verwischt.
Franziskas Anwesenheit schien er ebenfalls ganz vergessen zu haben. Dem Freunde, der ihm meldete, dass morgen das Schiff ginge, sagte er, er solle die Billetts noch nicht lösen. Vielleicht wäre es möglich, dass er seinen Plan ändere.
So kam wieder die Nacht heran, und Westerly gebärdete sich wie einer, der Geister in gutem Glauben beschworen hatte und ihren Besuch nun erwartete.
Der Besuch sollte auch nicht ausbleiben. Mit klopfendem Herzen saß Westerly da und betrachtete den langsam vorrückenden Zeiger seiner Taschenuhr. Je mehr sich derselbe der Zwölf näherte, desto mehr schlug sein Herz, desto furchtsamer stierten seine Augen. Heute dachte er nicht mehr an den Revolver, der hinter ihm auf dem Nachttisch lag.
Jetzt stand der Zeiger auf der Zwölf, und gleichzeitig erscholl hinter Westerly ein leiser Seufzer.
Obgleich dieser darauf gewartet hatte, fuhr er doch tödlich erschrocken herum und befand sich wieder dem bleichen Geiste gegenüber, entweder dem Schatten seines Bruders oder diesem selbst, der nur zur bestimmten Stunde aus dem Scheintod erwachte und sein Grab verlassen durfte.
Wie war er hinter Westerly gekommen? Er musste die anderen Zimmer passiert haben, oder aber, was Westerly jetzt wahrscheinlicher fand, er war plötzlich erschienen. Er stand mit gekreuzten Armen vor dem Revolver.
»Hast du den Dolch?«, fragte die röchelnde Stimme.
»Nein, noch nicht«, stammelte Westerly.
»Weißt du wo er ist?«
»Ja.«
»So wirst du ihn dir verschaffen?«
»Ja, ich will es.«
»Gut, so habe ich noch andere Fragen an dich zu richten. Beantworte sie mir gleich wahrheitsgetreu, denn ich werde so lange zu dir kommen, bis ich alles weiß, was ich wissen will. In der Nähe des schwarzen Sees steht ein Bungalow, dort wohnte unsere Mutter. Ich war dort, ich wollte sie sprechen, sie fragen, aber da erfuhr ich, dass auch sie ermordet worden wäre. Kannst du mir sagen, von wem, damit ich ihn einst anklage?«
Wieder drohten Westerly die Sinne zu schwinden, neues Zittern befiel ihn. Vergebens versuchte er mit Anstrengung die Augen von dem schrecklichen Ankläger zu wenden — er vermochte es nicht; wie ein Magnet zog derselbe seine Blicke auf sich.
»Die Begum von Dschansi«, brachte er endlich hervor.
»Wer?«
Nicht diese Gestalt hatte dieses Wort gesagt, die Stimme kam aus einer anderen Richtung, und als Westerly seinen Blick dorthin richtete, sank er laut stöhnend in die Knie und verbarg sein Gesicht in den Händen.
Dort, in der Mitte des Zimmers, stand eine andere Gestalt, ebenfalls in weite, indische Gewänder gekleidet, wie die Frauen sie zu tragen pflegen, der Hals zeigte rote Flecke, wie von würgenden Fingern herrührend.
»Wer?«, wiederholte diese neue Gestalt.
»Meine Mutter!«, ächzte Westerly, ohne aufzublicken.
»Wer hat mich getötet, erwürgt?«, erklang es zum dritten Male leise.
»O Gott, o Gott, mache ein Ende!«, wimmerte der Gequälte.
»Glaubst du nun an einen Gott?«, fuhr die alte Inderin fort. »Zu spät, er wird dich nicht mehr hören. Hier steht dein Bruder, den du ermorden wolltest, und du glaubst auch, es getan zu haben, ohne besondere Reue über deine Tat zu empfinden. Gestehst du es ein?«
»Ja«, stöhnte Westerly, seiner Stimme kaum mehr mächtig.
»Gestehst du auch, mich erwürgt zu haben?«
»Ich kannte dich nicht.«
»Nein, du kanntest allerdings deine Mutter nicht, der du das Witwenscherflein versagtest, aber du begingst einen Mord an einem Menschen, und es war die Mutter, die des Sohnes Hände würgten.«
»Habe Erbarmen«, wimmerte Westerly, »ich will alles tausendfach gutmachen.«
»Was willst du gutmachen, Tor?«
»Ich will dir tausendfach geben, was ich dir verweigert habe.«
»Zu spät, ich brauche deine Gabe nicht mehr. Ich bin an einem Ort, wo man die Schätze der Erde verachtet, und noch mehr sind dort, die dich anklagen — hier bringe ich einen. Blicke auf, ich befehle es dir!«
Westerly hob den Kopf, senkte ihn aber schaudernd schnell wieder. Sollte dieses Gericht denn ewig dauern?
Neben seiner Mutter stand plötzlich eine dritte Gestalt — die schwarze Maske.
»Erkennst du diesen?«, fragte die Mutter.
»Ja, ja, ich kenne ihn«, jammerte er.
»Gestehst du, auch ihn mit dem Dolche getötet zu haben, welchen du meinem Sohne in den Nacken stießest?«
»Nein, das leugne ich — das tat ich nicht.«
»Du tatest es nicht?«
»Nein. Gott ist mein Zeuge, dass ich an seinem Blute unschuldig bin.«
»Rufe Gott nicht zum Zeugen an. Wer tat es sonst?«
»Aleen, mein Diener.«
»Ja, aber du gossest erst Gift in sein Herz, dass er es tun musste. Er fürchtete, von dir darauf aufmerksam gemacht, dass Lacoste ein Geheimnis von ihm wüsste, und deshalb ermordete er ihn. Ist es nicht so?«
Westerly sah, dass ihm sein Leugnen nichts half.
»Es ist alles so«, gestand er.
»Du hetztest Aleen nur darum gegen ihn auf, um dich seiner zu entledigen. Du fürchtetest ihn, weil er von deinem Hochverrat, den Sir Carter für dich büßte, und von deiner Verbindung mit Monsieur Francoeur wusste. Tatest du nicht also?«
Westerly gestand, dass die Ermordung Lacostes auf sein Geheiß geschehen sei, dass ihn von Aleen habe ins Wasser werfen lassen, und dass dieser selbst eigentlich in diesem Falle ganz unschuldig wäre.
Eine lange Pause trat ein. Zitternd lag Westerly auf den Knien, er hatte nicht einmal mehr den Mut, sich den Tod zu wünschen; denn dann kam er im Schattenreiche mit jenen Gestalten in noch engere Berührung.
Ach, wenn doch erst die Nacht vorüber wäre, wenn erst die Morgensonne schiene! Aber wohin sollte er denn fliehen, wo sich vor den Schreckgespenstern verbergen?
Unverwandt blickten drei Augenpaare auf ihn, er konnte es nicht länger ertragen, mit aller Anstrengung verbarg er das Gesicht in den Händen.
»Blicke auf!«, befahl es da aber schon wieder streng, und als er gehorchte, sah er mit Schaudern neben den drei Gestalten eine vierte ganz dicht vor sich stehen, jung und schön und aus den Augen sprühte dämonische Leidenschaft.
»Phoebe!«, schrie er da plötzlich.
Wie ein Blitz zuckte ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er nichts weiter als das Spielzeug von Betrügern, die die Rolle von Geistern spielten, sei, er wollte aufspringen, nach dem Nachttische zum Revolver eilen, doch das Weib schwang drohend in der Hand den vergifteten Dolch.
Bei dessen Anblick wagte Westerly nicht mehr, eine selbständige Bewegung zu machen. Er hatte die furchtbare Wirkung schon an anderen beobachtet.
»Ja, ich bin's, Phoebe Dubois«, kam es wie pfeifend, von maßlosem Hass erfüllt, über die Lippen des Weibes, »gut, dass du mich gleich erkennst, so brauche ich nicht erst deine Erinnerungen zu wecken. Wage nicht, dich zu rühren, Schurke, blicke nicht nach dem Revolver! Bei der ersten verdächtigen Bewegung trifft dich die Dolchspitze, und starr sinkst du nieder.«
Lacoste hatte die Maske abgenommen, ein Westerly bekanntes Gesicht war zum Vorschein gekommen. Doch er erinnerte sich nicht gleich, wem es gehöre, Lacoste jedenfalls nicht.
Ebenso trug die alte Inderin die Züge der Wirtin, nicht die der Mutter Westerlys, wie dieser jetzt erkannte.
»Ich schenke dir noch einige Minuten«, fuhr Phoebe wieder fort, »dann wirst du tot und doch lebendig sein. Bis dahin betrachte dir deine Gespenster aus Fleisch und Blut. Nicht wahr, du furchtloser Lord, du zitterst auch beim Anblick von Wesen aus Fleisch und Blut, wenn sie wie Gespenster vor dir auftauchen und dich an alte Schuld mahnen?«
Wie eine Rachegöttin, unerbittlich, stand Phoebe vor ihm, den Dolch zum Stoße erhoben. Westerly wagte sich nicht zu rühren, unstet wanderte sein Auge von einem zum anderen. Jetzt erkannte er auch den vorhin Maskierten. Es war niemand anders als Aleen, sein Diener. Wie kam dieser auf die Seite seiner Feindin?
»Ja, blicke ihn dir nur an«, fuhr Phoebe fort, »es ist Aleen, und er steht hier als Zeuge, dass nicht er, sondern du Lacoste ermordet hast. Er war nur ein Werkzeug in deinen Händen. Warum er dich mir verraten hat, denkst du? Frage ihn selbst, er wird dir antworten.«
Doch Westerly vermochte nicht zu fragen; angstvoll nur blickte er Aleen an.
»Warum ich dein und unser Geheimnis verraten habe?«, begann da dieser von selbst. »Weil ich erkannte, dass ich dir nichts war, wenn du mich nicht mehr brauchtest, ja, dass du mich hilflos sterben ließest, und sogar froh warst, mich tot oder dem Tode nahe zu finden. O, ich habe wohl gesehen und gehört, wie du dich freutest, als ich angeschossen im Dschungel am Flussrande lag, als sich die Krokodile mir näherten und mit den Rachen klappten. Du erhobst keinen Stock, die Bestien zurückzuscheuchen, du überzeugtest dich nicht, ob ich wirklich tot sei, du kümmertest dich nicht mehr um den Inder, der dir wirklich treu bis in den Tod war. Besser so, sagtest du und gingst. Da kam diese Dame. Sie hob mich auf, tränkte mich und ließ mich nach Delhi bringen, wo sie mich pflegte und wartete, bis ich gesund war. Dann habe ich ihr alles erzählt, was sie wissen wollte und bin bei ihr geblieben.«
»Und weißt du, über was ich ihn fragte?«, begann Phoebe wieder. »Dasselbe, was du jetzt, von Furcht getrieben, selbst gestanden hast. Ob du der Mörder von Lacoste, genannt die schwarze Maske, bist.«
Jetzt, da Westerly keine übernatürlichen Richter mehr über sich wusste, suchte er schnell nach Entschuldigungsgründen, die bei menschlichen Richtern Geltung gefunden hätten.
»Lacoste war ein vogelfreier Verbrecher!«, murmelte er.
»Er war mein Geliebter«, entgegnete Phoebe, scheinbar ohne Zusammenhang, aber vollkommen verständlich für Westerly.
»Das wusste ich nicht.«
»Doch, du wusstest es, Aleen hat gehört, wie er es dir sagte, und erzählte es mir wieder.«
»Kann ich dafür, dass er dein Geliebter war?«
»Danach frage ich nicht. Du, du hast ihn getötet.«
»Er drohte mir mit Verrat, ich konnte ihn nicht befriedigen, so musste ich ihn aus dem Weg räumen.«
»Und ich habe geschworen, den zu töten, der meinen Geliebten, meine einzige Hoffnung auf Erden, gemordet hat. Mache dich bereit, Lord Westerly, letzter deines Namens, du wirst von meiner Hand in ewigen Schlaf sinken. Wenn dir daran liegt, dein Leben etwas zu verlängern, so schreie nicht, versuche nicht, dich zu wehren, und ich will dir einigen Aufschub bewilligen. Ich weiß, Westerly, du bist ein Feigling.«
Er las keine Gnade, kein Erbarmen in den Augen des vor ihm stehenden Weibes, und dennoch begann er jetzt um Erbarmen zu flehen, zu betteln und zu winseln. Er war vollkommen gebrochen, noch mehr als vorhin, da ihn Gespensterfurcht beherrschte. Jetzt, angesichts des Todes, war es mit ihm vollkommen vorbei. Seine Glieder zitterten wie Espenlaub, seine Zähne klapperten, er verdrehte die Augen, rang die Hände und bettelte um Schonung seines erbärmlichen Lebens.
Als er kein Erbarmen fand, flehte er um Aufschub seines Todes, er führte tausend nichtige Gründe an; er hätte sein Testament noch zu machen, er wollte Verbrechen gestehen — die er gar nicht begangen hatte — er sprach von wichtigen Geheimnissen, von unermesslichen Schätzen, die er versteckt wüsste, und so schwatzte er angstvoll weiter, nur um seinen Tod zu verzögern. Dabei lauschte er, ließ die Augen umherwandern und drehte das von Todesangst verzerrte Gesicht hin und her, als erwarte er von irgendwo Hilfe.
Phoebe weidete sich an der Todesangst dieser Jammergestalt. Es war ihr ein Triumph, eine Genugtuung, diesen Mann, der ihr das Liebste geraubt, so leiden zu sehen.
Mit äußerster Schlauheit war sie zu Werke gegangen, um ihr Ziel zu erreichen.
Sie wusste wohl, dass Westerly nicht der Mann war, der unter gewöhnlichen Verhältnissen beim Anblick des Todes zitterte. Schritt für Schritt hatte sie ihn so weit gebracht.
Das erste war, sein Herz mit Furcht vor Übernatürlichem zu erfüllen, denn wem es vor wiederkehrenden Toten graust, der zittert auch vor dem Tode selbst, weil er im Jenseits jenen wieder zu begegnen glaubt.
Es war ihr gelungen, dies zu erreichen. Westerlys Trotz war gebrochen, jetzt zitterte er vor ihrem Dolche.
Sie hatte die alte Frau für sich gewonnen, wofür diese Verzeihung und spätere Sicherheit zu erwarten hatte, denn die Rebellen konnten wohl vernichtet, nicht aber die Macht der Gauklerkaste in Indien gebrochen werden.
Der Kleiderschrank vor der Tür hatte eine Hinterwand, die geöffnet werden konnte. So war es Phoebe möglich, aus dem Nachbarhause in dieses zu gelangen, ohne dass Westerly von einer Verbindungstür wusste.
Die erste Erscheinung der schwarzen Maske, wie die Alte sie im Nachbarhause gesehen haben wollte, war von dieser auf Phoebes Veranlassung nur vorgegeben worden, um Westerly schon vorzubereiten. Er fand das Nachbarhaus leer, denn Phoebe und ihre beiden Genossen hielten sich versteckt.
Während Westerly zurückging, begab sich Aleen, wie die schwarze Maske gekleidet, durch die Verbindungstür in Westerlys Wohnzimmer.
Jetzt gab die Alte an, niemanden zu sehen, was Westerlys Gespensterfurcht nur vermehren musste. Als er den Revolver hob, drückte sie ihn nieder, er hätte aber ruhig schießen können, denn der Patrone, auf welche der Schnepper fallen musste, war die Kugel schon entnommen. Auf ein Gespenst pflegt man aber nicht zweimal zu schießen, und von hinten kann man einer Patrone nicht ansehen, ob sie mit einer Kugel versehen ist oder nicht.
Die Rolle des ermordeten Abel, welcher schon längst verwest sein musste, spielte ein von Timur Dhar Phoebe mitgegebener Inder. Der Mann, an sich schon äußerst mager, war von ihr durch Schminke noch geisterhaft entstellt worden.
Westerly hätte, wenn er daran erinnert worden wäre, in jedem seinen von ihm ermordeten Bruder wiederzuerkennen geglaubt.
Als er geschossen, war es also nur ein blinder Schuss gewesen. Der Mann warf die der Patrone entnommene Kugel, die er von Anfang an in der Hand gehalten, auf den Boden und benutzte den Pulverrauch, durch den Kleiderschrank zu verschwinden.
Die Alte wollte den Schuss nicht gehört haben, ihre Mägde waren instruiert, und Franziska war, wie wir noch sehen werden, ebenfalls schon eingeweiht. Sie wusste jetzt, welch schändliche Absicht Westerly mit ihr vorhatte, und erhoffte Rettung von denen, welche Westerlys Untergang vorbereiteten.
Dies alles steigerte Westerlys Entsetzen ins Unglaubliche. Er hatte geschossen, den Schuss hatte niemand gehört, die Kugel musste dem Laufe entfahren sein, und doch lag sie unversehrt am Boden.
Die Erscheinung der toten Mutter gab ihm den Rest. Jetzt, da er den Betrug einsah, hatte er nicht mehr die Kraft, aus dem furchtbaren Schrecken zur Besinnung zurückzukehren. Mut und Todesverachtung waren dahin, er bettelte um sein Leben.
Phoebe hatte sich genug an den Seelenqualen ihres Opfers geweidet. Sie erhob den Dolch.
»Sprich dein letztes Gebet«, raunte sie ihm zu, »wenn du Elender noch beten kannst!«
»Gnade, Erbarmen!«, wimmerte der auf den Knien Liegende. »Verlange von mir, was du willst, ich will dir mein ganzes Vermögen geben, nur schone mein Leben.«
»Dein Leben will ich dir auch nicht nehmen.«
Verwundert, von einer Hoffnung zugleich erfüllt, blickte er auf. Aber mit unbarmherzigem Ausdrucke ruhten Phoebes Augen auf ihm.
»Nein, dein Leben will ich dir nicht nehmen«, fuhr sie fort. »Hast du nicht gehört, was für eine Bewandtnis es mit diesem Dolche hat?«
»Dass — dass —«, stammelte er.
»Dass er nur scheinbar das Leben raubt«, ergänzte sie, »ja, das Gift erstarrt nur dein Leben; man wird dich hier finden, dich für tot halten, dich in einen Sarg legen und begraben. Ha, das hattest du wohl nicht gedacht! Wie du erbleichst, wie du zitterst!«
»Es ist nicht wahr!«, schrie er in furchtbarer Angst.
»Ich werde es an dir selbst beweisen. Auch Lacoste war nicht tot...«
»Er war doch tot!«
»Er war nicht tot, sondern er ertrank erst in der Themse, in die du ihn selbst hineinwarfst — ja, du hast ihn hineingeworfen wie ein Aas; wenn du es auch durch einen anderen ausführen ließest, es war doch deine Tat. Ebenso war auch dein Bruder nicht tot, sondern nur starr, und erst im Sarge unter der Erde ist er gestorben, weil er nicht ins Leben zurückgerufen werden konnte. Dasselbe ist dein Los; auch du sollst lebendig begraben werden...«
»Das ist nicht wahr, das Gift wirkt nicht so«, jammerte der Unglückliche, der darin wie so viele einen Trost fand, dass er eine Gefahr einfach wegleugnete.
»Es wirkt doch so. Ich selbst war Zeuge einer Vergiftung durch diesen Dolch, die ebenfalls auf deine Veranlassung geschah. Ich sah, wie die Begum von Dschansi erstochen wurde. Auch sie wäre scheintot in den wirklichen Tod hinübergeschlummert, wenn Reihenfels nicht gekommen wäre...«
»Reihenfels ist tot!«
»Er lebt, verlass dich darauf. Er lebt noch, ebenso wie die Begum. Er kannte das andere Geheimnis des Dolches, seine rettende Eigenschaft, und wurde von Timur Dhar veranlasst, dadurch die Begum dem Leben wiederzugeben. Sieh, Lord Westerly, du sollst mit derselben Waffe dasselbe erleiden wie Lacoste. Ich werde dich ebenfalls in den Nacken stechen, starr sollst du hinfallen, dass man dich tot wähnt, aber du wirst alles sehen und hören, was um dich her vorgeht. Natürlich wird man dich nicht ins Wasser werfen, was dir eigentlich gebührt, sondern dich begraben, vielleicht sogar mit Pomp...«
»Höre auf, höre auf!«, schrie Westerly.
»Nein, ich höre noch nicht auf. Immer halte dir die Ohren zu, du vernimmst meine Worte doch. Bei vollem Bewusstsein wirst du in den Sarg gelegt und begraben. Was dir mein Diener, als Abel verkleidet, erzählt hat, sollst du selbst erleben. Du wirst die Käfer an deinem Sarge nagen hören, du wirst dir ausmalen, wie die Würmer über deinen starren Körper herfallen. Glaube aber nicht, dass ich dich sterben lasse...«
»Nicht? Was sonst?«
»Was ich sonst noch tun werde? O, ich kenne noch Schrecklicheres, um Rache an dir zu nehmen. Nein, du sollst nicht sterben. Ich kenne das andere Mittel dieses Dolches, dich dem Leben wiederzugeben, und ich werde Gebrauch davon machen. Genau weiß ich, wie lange du im Grabe als Scheintoter liegen kannst, und ehe diese Zeit abgelaufen ist, lasse ich dein Grab öffnen, wecke dich auf und pflege dich liebevoll, bis du so weit hergestellt bist, um ein zweites Begräbnis durchmachen zu können.«
»Du bist entsetzlich!«, stöhnte der Kniende.
»Ja, ich bin entsetzlich. Was Lacoste im Scheintode erlitten hat, als sich über ihm, dem noch Lebenden, das kalte Wasser der Themse zusammenschloss, das sollst du, sein Mörder, oftmals durchmachen, womöglich hundertmal.«
»Bei Gottes Barmherzigkeit, habe Mitleid!«
»Nein.«
»Denke an den ewigen Richter!«
»Ich fürchte ihn nicht«, triumphierte Phoebe, die in ihrem Hasse maßlos war.
Da donnerten unten Schläge an die Haustür, gleichzeitig erscholl es wie dumpfes Murmeln einer Menschenmenge.
Phoebes Begleiter wurde unruhig, hoffnungsvoll lauschte Westerly, nur Phoebe blieb kalt; kein Auge wandte sie von ihrem Opfer ab, der Dolch war zum Stoße bereit.
Noch einmal wurde unten gepocht, das Murmeln wurde lauter.
»Im Namen der Königin, öffnet die Tür!«, rief eine Männerstimme.
»Wir müssen fliehen«, flüsterte Aleen.
»Noch nicht«, entgegnete Phoebe.
»Zu Hilfe«, schrie Westerly, »Rebellen morden einen Engländer!«
Phoebe zögerte noch, zuzustoßen.
Die Alte stürzte herein, im Nebenzimmer sah man Franziska mit halb verstörtem, halb freudigem Gesicht stehen.
»Das Haus ist umzingelt«, flüsterte die Alte, »Soldaten und englische Constabler halten es besetzt. Es gilt Franziskas Befreiung.«
»Zu Hilfe!«, schrie Westerly nochmals, schnellte empor und wollte Phoebes Handgelenk ergreifen, um ihr die Waffe zu entreißen.
Dies war sein Verderben.
Kaum merkbar verletzte er sich mit der Hand an dem Stahle, und sofort sank er wie tot zu Boden.
»Legt ihn aufs Bett!«, befahl Phoebe, und als dies geschehen war, stellte sie neben ihm auf den Nachttisch ein leeres, offenes Fläschchen.
Dann dachte sie erst an ihren Rückzug.
Die Tür war unten geöffnet worden, hastige, laute Schritte stürmten die Treppe herauf.
In das Zimmer, in welchem Franziska, die Hand auf dem schwer atmenden Busen, stand, drangen uniformierte Männer, nur Engländer, voran ein jugendlicher Soldat, an seinen Abzeichen als Trommeljunge erkenntlich.
»Sie ist es! Miss Reihenfels!«, jubelte er auf, nach Franziska deutend. »Dachten wir's uns doch, Jim!«
»Sie sind in Sicherheit, Miss«, redete ein Polizeioffizier sie an und verschwand schon im nächsten Zimmer, gefolgt von einigen Constablern.
Dann stand er vor Westerlys Bett und rüttelte den regungslosen Körper.
»Verdammt, wir kommen zu spät!«, knurrte der Offizier. »Der Schuft hat sich seiner Strafe entzogen, er ist tot wie eine Ratte. Wahrscheinlich ein Schlagfluss. Aha, was ist das?«
Er nahm das Fläschchen vom Tische, roch daran und zog ganz erschrocken die Nase zurück.
»Laudanum — hat sich vergiftet! Du«, wendete er sich an einen seiner Leute, »läufst zum nächsten Arzt, er soll den Tod beglaubigen. Und du holst eine Totenbahre. Innerhalb vier Stunden muss jede Leiche begraben sein — Gräber sind immer genug vorrätig.«
»Captain«, sagte einer, »es ist ein Lord!«
»Ach, geh, ein Schuft ist er! Ich war auch dabei, als General Hopkins eingescharrt wurde, ohne Sang und Klang, nicht einmal in einem Sarge, nur in eine Decke gehüllt. Sein Denkmal wird freilich für immer in England stehen. Wenn Miss Reihenfels fähig dazu ist, möchte sie sich hierher bemühen. Sie soll bezeugen, dass er der Betreffende ist.«
Steif und bewegungslos lag Westerly da — und sah viel und hörte alles.
Als er sich mit der Dolchspitze an der Hand verwundete, war es ihm, als verwandle sich sein Herz plötzlich in einen Eisklumpen. Todeskälte packte ihn, er fühlte, wie sein Blut gerann, wie sein Herzschlag stockte.
Mit der furchtbarsten Verzweiflung bemühte er sich, einen Laut von sich zu geben, eine Bewegung zu machen — vergebens, vollständig gelähmt waren ihm Zunge und Glieder. Welch verzweifelte Anstrengungen er auch machte, weder im Gesicht noch am Körper zuckte auch nur ein Muskel.
Und alles, alles vernahm er; was in seinem Gesichtskreise geschah, konnte er sehen, denn die Augen konnten sich zwar nicht bewegen, wohl aber sehen. Er hörte die barschen Worte des Polizeioffiziers, wie er ,Schuft‹ genannt wurde, die Vermutung über seine wahrscheinliche Todesursache: Selbstmord durch Laudanum, ein schnell wirkendes Gift, wie nach dem Arzt geschickt und eine Totenbahre geholt wurde — für ihn, sie sollten ihn nach dem Begräbnisplatze bringen.
Innerhalb vier Stunden musste jede Leiche in dem von Menschen überfüllten Bombay bestattet sein, um Ansteckungen zu verhüten!
Wie Donnerhall klangen ihm diese Worte im Ohre nach.
Nur noch vier Stunden, dann ruhte er im Sarge unter der Erde! Lebendig! Wie er auch rang, seine Anstrengungen waren vergeblich.
Franziska erschien und machte über die Alte nicht entlastende, aber gute Aussagen. Sie hätte Mitleid mit ihr, der Gefangenen, gehabt und hätte auf ihrer Seite gestanden. Franziska sprach nicht ganz die Wahrheit, aber sie machte keine belastenden Aussagen, um die Alte, die ihr den wirklichen Sachverhalt offenbart hatte, zu schonen.
Wer ihre eigentlichen Retter seien, wusste Franziska nicht. Man belästigte das geängstigte Mädchen nicht weiter.
Der Offizier protokollierte, dass sich Lord Westerly, als sein Versteck entdeckt worden war, vergiftet habe um der Gerechtigkeit zu entgehen. Die gefundenen Papiere ergaben, dass er beabsichtigt hatte, mit Franziska nach Konstantinopel zu reisen, ohne Wissen Lord Cannings, man fand auch gefälschte Briefe vor. Alles übrige, was man von Franziska und der Alten nicht erfahren konnte, würde sich wohl aus den Papieren ergeben. Die Alte, eine stadtbekannte Kupplerin, die Mädchen hielt, war von Westerly bestochen worden, hätte aber Franziska ihre Hilfe zugesagt.
Alles dies vernahm Westerly. Ferner hörte er, wie der Arzt kam. Er sah ihn auch, als er sich über ihn beugte.
»Vollkommen starr!«, sagte er. »Das ist die Wirkung des Laudanums. Eine Untersuchung ist eigentlich gar nicht nötig, doch ich will ihn zur Ader lassen.«
Deutlich fühlte Westerly, wie ihm Schuh und Strumpf ausgezogen und das Messer an die Fußsohle gesetzt wurde.
Haltet ein, wollte er rufen, ich lebe, ich fühle alles, aber er vermochte nicht die Zunge zu bewegen, er konnte nicht einmal zucken, als der scharfe Stahl einen tiefen Schnitt in den Fuß machte, und doch fühlte er einen intensiven Schmerz.
»Nur wenig Blut und ganz dick«, lautete das Urteil des Arztes, »es beginnt sich schon zu zersetzen. Hier haben Sie die Beglaubigung, Captain der Mann ist tot! Gute Nacht, meine Herren!«
Westerlys Taschen wurden visitiert; mit monotoner Stimme nannte ein Constabler die Fundgegenstände, der Offizier nahm sie zu Protokoll und ließ sie zu dem übrigen legen.
»Die Bahre ist da«, meldete jemand.
Westerly hörte, wie sie abgesetzt wurde sie musste neben seinem Bett stehen.
»Fertig?«, fragte der Captain, und visitierte selbst noch einmal aufs genaueste die Taschen.
»Ja, gut! Die Kleider mag er anbehalten, das Totenhemd bekommt er auf dem Friedhof. Ladet ihn auf und dann fort mit ihm! Lasst die Miss sich zurückziehen, sie braucht dieses Scheusal nicht noch einmal zu sehen.«
Westerly fühlte sich von acht Händen erfasst und ziemlich unsanft auf die Bahre gelegt.
»Soll ich ihm nicht die Augen zudrücken?«, fragte einer.
»Versuch's, es wird aber wohl nicht gehen.«
Es ging auch nicht, die Lider waren steif.
Westerly glaubte, die Haare müssten sich auf seinem Kopfe sträuben. Ach, hätten sie sich doch gesträubt! Nur einen einzigen Seufzer, nur ein sichtbares Zucken, eine Atembewegung — und Westerly gelobte, sein Leben als Mönch zu beschließen oder Krankenpfleger zu werden oder alles zu verschenken und sich sein Brot zu erbetteln.
Vergeblicher Wunsch — er war ein Toter!
Die Bahre wurde aufgehoben, hinuntergeschafft, und mit langsamen, schweren Schritten trugen die zwei Männer dieselbe durch die Straßen Bombays, dem Friedhof zu. Ein Lebendiger wurde der Erde überliefert.
Bombay war der Sammelpunkt vieler, die während des Aufstandes von den Ihrigen abgeschnitten worden waren. Todkrank, halb verhungert, zerfetzt trafen sie in den vorgeschobenen Garnisonen ein und wurden entweder an Ort und Stelle gepflegt oder, wenn sie noch marschfähig waren, nach Bombay geschickt.
Selten einmal waren solche darunter, die neu gekleidet und ausgerüstet werden konnten, um den Feldzug mitzumachen, das heißt, selten gab es unter den Versprengten noch kräftige Leute. Märsche durch Wildnisse, Verfolgungen, Hunger und Hitze hatten meist aus den blühenden Soldaten Skelette gemacht.
Einmal kamen zwei an, die ein ganz anderes Aussehen hatten als die übrigen. Sie waren nicht nur gesund, wohlgenährt und gut bewaffnet, sondern sogar auch beritten und bei trefflicher Laune.
Es waren Jim und Bob, die ihren Einzug in Bombay hielten. Ersterer thronte auf einem Pferde, letzterer tummelte einen Esel. Woher sie die beiden Reittiere hatten, weiß der liebe Leser. Sie hatten einst Gholab und seinem Diener gehört, die vor dem roten Dick geflohen waren, während Bob seine ganze Wut an Mirzi ausließ.
Jims Vorschlag, das hinterlistige Weib als Gefangene mitzunehmen und vor das Kriegsgericht zu stellen, fand bei Bob keinen Anklang, denn bei dem Verhör wäre Bobs wahres Geschlecht sicher verraten worden, und dieser hatte noch immer keine Lust, seine Rolle aufzugeben.
So wurde denn beschlossen, die noch schlimmer als das vorige Mal zugerichtete Mirzi ihrem Schicksal zu überlassen. Sie warteten noch einen Tag, währenddessen sie das hinterlistige Weib nicht aus den Augen ließen. Als Dick nicht zurückkam, bestiegen sie die beiden vorgefundenen Reittiere und machten sich in beschleunigtem Tempo auf den Weg nach der Küste.
Dabei vermieden sie alle Städte, und womöglich auch alle größeren Ortschaften, denn sie wussten nie, ob sie dort Rebellen oder Engländer fanden. In den kleinen Dörfern kauften sie Nahrungsmittel, und dies wurde ihnen sehr leicht, da Jim Dicks goldgespickten Beutel besaß. Sie hatten sich, ohne nur an Aneignung zu denken, den Inhalt geteilt, denn sie konnten einmal getrennt werden.
Es war fast ein Wunder zu nennen, dass sie ohne jede Behelligung Bombay erreichten.
»Hei, ist das nicht Bob, der mit seiner Trommel Fußball spielte?«, lautete der erste Gruß, als sie in eine weit vorgerückte Garnison einritten.
»Wahrhaftig, Bob, der zu Delhi das große Alarmsignal auf den Händen blies, ohne den wir wie die Kälber abgeschlachtet worden wären«, fügte ein Offizier hinzu und streckte dem Jungen die Hand entgegen.
»Jim, der Corporal von der Nachhut! Er lebt wirklich noch!«, jubelte ein anderer.
Im Triumph hielten die beiden ihren Einzug, wurden nach Bombay gebracht, im Büro des Hauptquartiers vernommen, und als sie, gefragt, ob sie zum Dienst fähig wären, bejahend antworteten, der Armee von Sir Rose zugeteilt und sofort neu eingekleidet.
Schon am Nachmittag wanderten die beiden Freunde in funkelnagelneuer Uniform, Arm in Arm, den Spazierstock zwischen den Fingern drehend, das winzige Käppi links auf dem Hinterkopfe, unternehmungslustig durch die Straßen Bombays.
Dies hier entworfene Bild klingt für einen deutschen Soldaten vielleicht unglaublich, es ist aber das bei Tommy Atkins — so wird, wie schon erwähnt, der englische Soldat genannt — gewöhnliche Bild, und so sieht man ihn immer, wenn er nicht im Dienst ist. Tommy Atkins trägt außer Dienst kein Seitengewehr, sondern ohne Ausnahme einen Spazierstock — in der Brusttasche natürlich noch ein tüchtiges Messer — darf die Hände in die Hosentaschen stecken und mit seinen Kameraden Arm in Arm gehen.
Es war Jim und Bob einfach selig zumute. Nach den Märschen durch unendliche Wildnisse, nach mageren Tagen in Festungen wieder in einer Stadt, in der es wie auf einem Jahrmarkt zuging! Überall erscholl Musik, hier wurde geboxt, dort getanzt, auf jenem freien Platze ließ man Hunde um die Wette laufen, dort fand ein Hahnenkampf statt, hier traten Sängerinnen auf, das Schild an diesem Hause verkündete mit riesengroßen Lettern Beefsteaks frisch von der Pfanne, ein anderes gebratenen Speck und Eier — alles Dinge, ohne welche Tommy Atkins sich ein Paradies nicht denken mag, und durch welche man ihm in Bombay die vorgeschossene Löhnung ablockte.
Was wollte man auch im Kriege damit? Sollten die indischen Leichenplünderer das Gold den Toten und Verwundeten aus den Taschen nehmen?
Jim und Bob drängten sich durch die meist aus englischen und indischen Soldaten bestehende Masse, aber sie hielten sich nicht lange bei den Schaustellungen auf, denn ihr knurrender Magen schob sie förmlich nach einem Speisehaus hin.
Nachdem sie viele, viele Tage nur von Brotfladen, Käse und etwas magerem Gemüse gelebt, hatten sie heute auch noch die Kasernenkost verschmäht, um einmal mit Wollust die Delikatessen eines Hotels kosten zu können. So gingen sie denn in das erste hinein, das einen pompösen Namen trug und als Gäste nur Offiziere oder vornehme Zivilisten aufzuweisen hatte, saßen bald vor silbernen Platten, und es hätte nicht viel gefehlt, so hätten sie die Speisekarte von Anfang bis zu Ende abgegessen.
Als der Hunger endlich gestillt war, wurde ihnen freilich etwas beklommen ums Herz, denn jetzt kam der heikelste Punkt — das Bezahlen.
Und siehe da, welch gute Rechenmeister sie waren! Der Kellner bewies ihnen mit Bleistift und Papier haarscharf, dass die Rechnung ebenso viel betrug wie ihre vorgeschossene Löhnung; nur einige Pennies blieben übrig, die Bob dem befrackten Geist großmütig überließ.
Draußen erklang die Musik, das Zusammenschlagen der Becken, das Jauchzen der Menge; drinnen im Spiegelsaal des Hotels saßen die jungen Freunde und schauten sich mit wehmütigen Gesichtern an.
»Jim, wir sind Schafsköpfe!«, sagte Bob mit aus dem Herzen kommender Stimme.
Jim nickte zum Zeichen, dass er damit vollkommen einverstanden war.
»Wir hätten uns in der Kaserne satt essen sollen«, fuhr Bob fort, »dann wäre der Magen voll gewesen, und das Herz hätte auch noch etwas bekommen können.«
»So geht's in der Welt«, philosophierte Jim, »wenn man sich nur vorher alles recht überlegen wollte! Das Essen war überhaupt unverschämt teuer. Ich möchte mich ohrfeigen, dass ich gerade in so ein Hotel gegangen bin.«
»Ohrfeigen möchte ich mich nun gerade nicht. Was meinst du, Jim, ob uns jemand etwas borgt?«
»Kein Mensch. Wer etwas hat, bringt es so schnell wie möglich selbst durch. Und Durst habe ich auch noch.«
»Ich auch. Ob der Wirt uns wohl pumpt?«
»Jawohl, der und pumpen; und noch dazu einem Soldaten, der in den Krieg geht!«
»Nun, wir kämpfen doch auch für ihn, um sein Hab und Gut zu schützen!«
»Sag ihm das einmal!«, lachte Jim.
Ein Kuli trat ein, der indische Süßigkeiten zum Verkauf anbot.
»Ach«, seufzte Bob schmerzlich, die Leckereien betrachtend, »danach habe ich mich schon so lange gesehnt! Ich glaubte manchmal, das Herz müsste mir brechen, wenn ich nur an Kandiszucker dachte. Und keinen Penny mehr in der Tasche! Ich bin imstande und fordere vom Kellner mein Trinkgeld zurück.«
»Es ist doch merkwürdig, dass ihr — ihr —«
»Pst!«, machte Bob.
»Dass ihr Trommeljungen Kandiszucker so sehr liebt!«, fuhr Jim lachend fort. »Wenn ich aber wenigstens noch etwas zu rauchen bei mir hätte.«
Er wühlte in den Taschen; plötzlich nahm sein Gesicht einen eigentümlichen Ausdruck an.
»Donnerwetter, Geld hätten wir eigentlich!«, flüsterte er und brachte einen strotzenden Beutel zum Vorschein.
»Hei, daran habe ich noch gar nicht gedacht!«, rief Bob mit glänzenden Augen und zog einen ebensolchen Beutel hervor. »Wie dumm! Wir haben ja Geld in Hülle und Fülle!«
»Halt, Bob, das ist nicht unser!«
»Freilich, es gehört Dick! Aber was meinst du, Jim?«
Dieser schüttelte energisch den Kopf.
»Was, du hast Bedenken?«
»Es gehört Dick.«
»Er hat es uns geliehen«
»Wenn auch, wir könnten es nie zurückzahlen.«
»Das ist Dick egal, dem kommt's überhaupt nicht darauf an. Glaubst du, er würde uns sonst gleich den ganzen Beutel mit Gold gegeben haben, um einige Nahrungsmittel zu holen?«
»Das ist freilich wahr.«
»Dick ist überhaupt wahrscheinlich reich.«
»Aber dennoch!«
Eine lange Pause trat ein. Bob schien ärgerlich über seinen vorsichtigen Freund zu sein, Jim lauschte der Musik und kämpfte einen innerlichen Kampf durch.
»Na, etwas könnten wir ja vielleicht davon borgen«, meinte er dann.
»Weiter wollte ich ja auch nichts«, stimmte Bob bei. »Dachtest du etwa, das Ganze müsste gleich verjubelt sein?«
Nachdem sie so in ihrem Entschlusse übereingekommen waren, einige Goldstücke springen zu lassen, wollten sie sich erst überzeugen, wie groß denn ihr Schatz sei. Aber wie erstaunten sie, als sie auf den Tisch über hundert gute, englische Pfundstücke hinzählten.
»Diese hundert heben wir auf«, sagte Jim, »das beste ist, wir geben sie auf dem Büro ab, und in diese acht teilen wir uns. Damit können wir wie der liebe Gott in Frankreich leben.«
Sie strichen das Geld wieder ein und bemerkten dabei nicht, wie gierig die Augen eines feingekleideten Herrn am Nachbartische aufleuchteten, als er die blanken Goldstücke sah und klingen hörte.
Jim verbarg die ganze Summe in seiner innersten Rocktasche, dann brachen beide auf, um das Geld im Büro ihrer Kompanie gegen Quittung abzugeben.
Auf dem Wege dorthin kamen sie aber an den Vergnügungshäusern vorüber, und die leichtsinnigen jungen Leutchen konnten der Versuchung nicht widerstehen, schon jetzt einmal die Freuden der Zivilisation kennen zu lernen.
Ehe sie es sich versahen, war es Abend geworden. Jetzt drängte Bob zum Aufbruch, aber als sie das Büro erreichten, fanden sie dasselbe geschlossen.
»So tun wir's morgen«, entschied Jim, und Bob gab nach, »bei mir ist es auch sicher aufgehoben. Was kann uns denn hier weiter passieren?«
Sie stürzten sich von neuem in den Strudel der Vergnügungen, und da Bob für Jim gleich einem Talisman wirkte, der ihn hinderte, sich mit den zahlreich vorhandenen Vertretern des schönen Geschlechts einzulassen, so nahm das geliehene Geld nicht zu schnell ab. Denn auch dem Soldaten sind die Weiber der mächtigste Magnet für seine Tasche.
Zuletzt aber ließen sie sich verleiten, eine Glücksbude zu betreten, wie solche etwas außerhalb Bombays in Menge aufgeschlagen waren. Die Polizei verhinderte nur grobe Exzesse, sonst ließ sie dem Spieldurst der bald ins Feld ziehenden Krieger freien Lauf.
Es war eine bessere Spielhalle, in die Jim und Bob geraten waren, wenigstens insofern besser, als die Spieler meist feingekleidete Herren waren — auch viele junge Offiziere in Zivil, meist aber zweifelhafte Elemente.
Das Hasardspiel war das einfachste, was man sich denken konnte. Ein Spiel Karten wurde Blatt für Blatt aufgedeckt, links und rechts abwechselnd; die Zahlen verloren, die Figuren gewannen für den Setzenden, der, wenn er gewonnen, den gesetzten Betrag doppelt herausbekam, im anderen Falle ihn verlor. Natürlich wurde nur die Hälfte des Kartenspiels aufgedeckt, da sonst ein guter Kopf berechnen konnte, ob die letzten Karten gewannen oder verloren.
Unsere beiden Freunde sahen an einigen Tischen erst zu; der kleine Bob musste sich aber dabei auf die Fußspitzen stellen.
Da wurde ein neuer Tisch arrangiert, und ohne dass sie es eigentlich wollten, wurden sie von anderen sofort dahingedrängt.
Wie eine Mauer standen die Umstehenden um sie herum. Sie dachten aber auch gar nicht ans Fortgehen, denn der Engländer ist nun einmal fürs Spiel ungeheuer eingenommen, viel mehr als der heißblütige Südländer — sonderbarerweise! Schon die Lust am Wetten zeugt davon.
Ein Herr nahm als Bankier Platz, und das Spiel begann. Vorläufig schauten Jim und Bob zu und sahen, wie der Bankier einen Schilling nach dem anderen verlor. Das Glück war offenbar nicht auf seiner Seite. Ohne eine Miene zu verziehen, zahlte er das Geld aus seiner unerschöpflich scheinenden Tasche aus. Schließlich konnten sich auch Jim und Bob nicht mehr beherrschen, sie begannen mit ihrem übriggebliebenen Gelde zu setzen, verloren es zuerst fast völlig, gewannen es dann wieder, spielten mit abwechselndem Glück, gewannen abermals eine bedeutende Summe und verloren diese schließlich wieder bis auf die letzte Kupfermünze.
Das Zelt hatte sich unterdes geleert bis auf diesen Tisch, der noch von einigen Herren umdrängt wurde.
»Alles weg«, sagte Bob, »wir müssen gehen. Es ist jammerschade!«
Schon aber hielt Jim, dessen Augen zu glühen begannen, ein Goldstück von dem bisher noch nicht angerissenen Schatz in der Hand. Er hatte gesehen, dass man bei diesem Spiel, wenn man nicht unvernünftig spielt, eigentlich weder gewinnen noch verspielen kann, besonders wenn man den Einsatz verdoppelt und wieder von klein anfängt, d. h., wenn man aushalten kann.
Bob wusste, dass sein Gefährte mit Dicks Geld weiterspielen wollte, und sein englisches Blut vermochte der Versuchung nicht zu widerstehen.
»Nur das Verlorene müssen wir wiedergewinnen«, flüsterte er Jim zu, »dann hören wir auf.«
Jim gewann wohl anfangs mehr, als er verloren, dann verlor er aber bedeutend mehr.
»Verdoppeln Sie doch«, raunte ihm ein Herr zu, »immer den Verlust verdoppeln, dann können Sie ja gar nicht verlieren. Verstehen Sie das nicht?«
Dieselbe Aufforderung ging ihm von Bob zu.
Er hatte gesehen, wie jener Herr oftmals ganze Haufen von Silberstücken verlor, sie aber stets verdoppelte, und immer wieder verdoppelte, bis er schließlich gewann, wonach er natürlich den ursprünglichen Einsatz stets gewinnen musste.
Jetzt machte es Jim, besonders auf Bobs Zurede hin, ebenso.
Er verlor permanent, erst ein, dann zwei, dann vier, dann acht Goldstücke und so weiter, und mit Schrecken nahm er wahr, wie schnell sein Beutel leichter wurde. Da, als er zweiunddreißig Pfund stehen hatte, gewann er endlich. Er erhielt das doppelte.
Nun waren beide in dem leicht begreiflichen Irrtum, zweiunddreißig Pfund, das sind etwas über vierhundertsechzig Mark, gewonnen zu haben, während sie doch nur ein Pfund gewonnen hatten.
Durch diesen Irrtum richten sich die unerfahrenen Spieler stets zugrunde.
Das Spiel begann von Neuem; diesmal verlor Jim kaltblütig und verdoppelte stets den Verlust, bis er mit Schrecken wahrnahm, dass er diesmal den ganzen Inhalt des Beutels setzen musste, wollte er nicht verlieren.
Er teilte dies Bob mit.
»Setze!«, flüsterte dieser erregt zurück. »Diesmal muss die rechte Karte gewinnen, sie hat jetzt sechsmal hintereinander verloren, und alle Gewinne sind noch drin.«
»Bitte, setzen!«, sagte der Bankier.
Jim schüttete den Inhalt des Beutels, über fünfzig Pfund, auf die rechte Karte. Bob hatte seine Augen unverwandt auf die Hände des Bankiers geheftet.
Dieser zog die oberste Karte gewandt ab und deckte sie auf — es war eine acht.
»Verloren«, sagte er und griff nach dem Gelde.
Doch blitzschnell griff eine andere Hand auf den Goldhaufen, eine zweite auf das Kartenspiel des Bankhalters, und dieser, erschrocken aufblickend, sah in das vor Zorn dunkelgerötete Antlitz des Trommeljungen.
»Sie haben eine Karte von unten heraufgezogen, ich habe es wohl gesehen«, stieß er hervor, »zeigen Sie her; da — Coeur-Ass, die Karte hatte gewonnen. Wissen Sie, was Sie sind?«
Der Bankhalter war mit bleichem Gesicht und mit rollenden Augen aufgesprungen; seine Hand fuhr in die Brusttasche.
»Gentlemen, Sie sind Zeugen...«
»Natürlich, selbstverständlich!«, klang es sofort von allen Seiten. »Was will der Bursche überhaupt hier? Hinaus mit ihm!«
»Polizei!«, überschrie Bobs helle Stimme den entstehenden Tumult. »Polizei, das ist ein Falschspieler!«
»Hinaus mit dem frechen Burschen!«
Ehe sie sich's versahen, waren Jim und Bob gepackt und wurden trotz verzweifelter Gegenwehr dem Ausgange zugeschleppt.
»Halt, nicht mit Gewalt!«, mischte sich der Bankier selbst dazwischen. »Ich brauche die Gentlemen als Zeugen, dass alles ehrlich zugegangen ist. Ich bin beleidigt worden.«
»Wir alle sind Zeugen, hinaus mit dem Gesindel! Will noch Krakeel anfangen, wenn es seine paar Pennies verloren hat.«
Im Nu waren beide, wie man sagt, an die frische Luft gesetzt.
Zähneknirschend und mit geballten Fäusten standen sie draußen. Im ersten Augenblick hatten sie Lust, die hinter ihnen wieder geschlossene Tür mit Gewalt aufzubrechen, aber glücklicherweise besannen sie sich noch, dass sie allein gegen die Überzahl von Gaunern — denn jetzt sahen sie ein dass es nur solche waren — nichts ausrichten konnten.
»Diese Schufte!«, rief Bob empört, dabei von Tränen der Wut halb erstickt.
»Und es war nicht einmal unser.«
»Wir holen es wieder.«
»Ja, aber wie. Mit der Polizei?«
»Unsinn, die Kerls stecken alle unter einer Decke.«
»Wie denn sonst?«
»Er muss es wieder herausgeben.«
»Wir lauern ihm auf.«
»Ja, aber nicht allein. Du bleibst hier, Jim, und wenn sie herauskommen, so läufst du ihnen heimlich nach. Wenn du nur wenigstens einen dabei nicht verlierst. Womöglich aber fasst du den aufs Korn, der die Bank gehalten hat.«
»Und du?«
»Ich laufe nach Bombay und trommele alle Soldaten zusammen, die ich treffe.«
»Werden sie dir auch folgen?«
»Wenn sie mich kennen, kommen sie auch mit mir. Dann gibt es einen Sturm auf diese Spelunke.«
Damit rannte Bob schon spornstreichs davon, und Jim nahm seinen Lauscherposten ein. Er fand in der Holzwand ein Astloch, durch das er den ganzen Raum übersehen konnte. Ein Gebüsch schützte ihn vollkommen vor fremden Augen. Er sah die feingekleideten Gauner, die vom Spiel lebten, sich unterhalten. Zwar entfernte sich einer nach dem anderen, aber der, welcher ihnen das Geld abgenommen hatte, blieb; es schien, als erwarte er jemanden.
Als Bob in vollem Laufe um die erste Straßenecke bog, rannte er mit einem Manne zusammen, von dessen mächtiger Gestalt er wie ein Federball abprallte, während der andere wie angewurzelt stehen blieb und nur unwillig brummte.
Im nächsten Augenblick aber schon stieß Bob einen hellen Jubelschrei aus.
»Hallo, Charly, dich sendet der Himmel. Kennst du mich denn nicht mehr?«
»Nicht dass ich wüsste! Oder sind wir schon einmal irgendwo so gemütlich zusammengerannt?«
»Das nicht, aber in Moores Hütte haben wir uns gesehen.«
»Bei meinem Vater in Wanstead? Ach was, kann mich gar nicht entsinnen.«
»Na, bleibt sich auch gleich. Aber den Jim kennst du doch, weißt du, den Jim Green.«
»Der die kleine Nelly poussierte. Ja, den kenne ich.«
»Dann ist's gut. Du musst uns helfen.«
Mit fliegenden Worten teilte Bob dem Riesen mit, was ihnen passiert war.
»Dicks Geld war es also!«, brummte Charly. »Na, darum macht euch keine Sorge! Der denkt gar nicht mehr daran, wenn er's euch gegeben hat. Dick hat schon manchmal mehr als hundert Pfund auf einen Schuss gesetzt und hat es verloren.«
»Aber diese Schurkerei, dieser Falschspieler! Ich habe ganz deutlich gesehen, wie er eine Karte von unten herauszog, die er schon bereithielt. Er machte es auch noch ganz plump. Sollen wir dem das Geld lassen?«
»Nein, das dürfen wir natürlich nicht. Wir nehmen es ihm wieder ab, aber womöglich ohne viel Lärm dabei zu machen.
Beide gingen zurück, und Charlys scharfe Jägeraugen hatten bald das Versteck Jims gefunden, ehe dieser sie gesehen hatte.
Er legte den Finger auf den Mund und winkte ihnen, heranzukommen, schüttelte Charly die Hand und teilte flüsternd eine Neuigkeit mit.
»Gut, dass ihr jetzt kommt! Sie wollen eben gehen. Blicke hier durch, Bob, wer mag das sein?«
Bob sah nur noch einige Herren vor Spirituosen an Tischen sitzen. An dem improvisierten Schenktische stand der Bankhalter und unterhielt sich mit einem Inder, der gar nicht in dieses Lokal passte, viel eher in die Wüste oder in den Wald.
Es war eine wilde, kriegerische Gestalt, sein Gürtel mit Waffen gespickt, das Gesicht von einer furchtbaren Narbe entstellt.
Heftig gestikulierend, anscheinend erzürnt, aber leise, sprach er auf den Herrn ein, der sich abweisend verhielt und oft mit den Achseln zuckte, was den anderen nur noch mehr reizte.
Deutlich konnte Bob durch das Astloch sehen, dass des Inders linkes Ohr ein großes Loch hatte, als wäre es von einer Kugel durchbohrt worden, und dieses Zeichen, vereint mit der gewaltigen Narbe quer über dem Gesicht, brachte ihn sofort auf eine Vermutung.
»Jim, sollte das nicht der Mann sein, von welchem jener Franz oder jene Franzy schrieb?«
»Er ist es«, nickte Jim, »und schon, dass er von dem Falschspieler etwas zu fordern hat, wirft Verdacht auf ihn.«
Eilends teilten sie Charly ihre Erlebnisse in dem Dorfe mit, wenigstens insofern, als sie das vorgefundene Schreiben betrafen. Charly entwarf seinen Plan. Die beiden drinnen schienen doch handelseinig zu werden. Des Inders finsteres Gesicht hellte sich etwas auf, er folgte dem vorangehenden Herrn nach der Tür.
»Jetzt aufgepasst!«, flüsterte Charly. »Erst schleiche ich ihnen nach, ihr folgt mir, und am ersten dunklen und abgelegenen Ort überwältigen wir sie. Ihr nehmt den Engländer, ich den Inder. Mit einem Griffe muss alles geschehen sein.«
Seine Vorsicht war gar nicht nötig.
Die Herauskommenden entfernten sich nicht weit von dem Hause, sondern blieben gerade vor dem Gebüsch stehen, welches die drei verbarg. Die Unterhaltung fand in englischer Sprache statt, welche von dem Inder nur geradebrecht wurde.
»Ihr stellt ein unsinniges Verlangen«, sagte der Engländer mit unterdrückter Stimme, »das doppelte habe ich gezahlt, was Euch versprochen worden ist, und jetzt wollt Ihr schon wieder Geld haben. Was fällt Euch übrigens ein, mich hier aufzusuchen?«
»Ich wusste, dass Ihr hier seid.«
»Sieht man uns zusammen, so fällt Verdacht auf mich.«
»Ich bin kein größerer Spitzbube als Ihr.«
»Hütet Eure Zunge!«
»Bah, Euch fürchte ich nicht. Wollt Ihr mir Geld geben oder nicht?«
»Was tut Ihr, wenn ich es Euch verweigere?«
»Dann sage ich, dass Ihr ein Mädchenräuber seid.«
»Und was seid Ihr denn?«, lachte der Engländer höhnisch.
»Ich tat es auf Eure Veranlassung.«
Der Weiße knirschte mit den Zähnen.
»Wie viel wollt Ihr haben?«
»Fünfzig von den großen Goldstücken.«
»Ihr seid wahnsinnig. Gestern wolltet Ihr zwanzig, heute fünfzig, und morgen verlangt Ihr hundert.«
»Morgen früh verlassen wir Bombay.«
»Das habt Ihr schon einmal gesagt.«
»Ich schwöre es Euch bei der heiligen Kali, dass uns die morgige Sonne nicht mehr in Bombay erblickt.«
»Wo ist denn das übrige Geld, was Ihr schon bekommen habt?«
»Verspielt!«
Der Engländer überlegte. Da er heute einen guten Gewinn gemacht hatte, konnte er wohl zahlen. Es ging ja überhaupt auf Rechnung eines anderen.
»Nun gut, ich werde Euch noch einmal fünfzig Pfund geben, ein enormer Preis für Eure Dienste. Schwört mir indes, nie wiederzukommen.«
»Ich schwöre Euch bei der heiligen Spitzaxt der Kali, nie wieder von Euch Geld zu verlangen.«
Der Engländer war unvorsichtig genug, den vollen Geldbeutel zu ziehen. Dabei wandte er sein Auge von dem Inder ab.
In diesem Augenblick sah Charly, wie letzterer mit der einen Hand nach dem Geldbeutel griff, mit der anderen den Dolch aus dem Gürtel riss und ihn dem Manne in die Brust stieß.
Mit einem Wehrufe stürzte der Engländer zu Boden. Dem Inder sollte der Raubmord indes nicht gelingen. Schon hatte sich Charly auf ihn gestürzt, ihn niedergeschlagen, und in der nächsten Minute lag er hilflos gebunden da. Dies alles war nicht ohne Lärm vor sich gegangen. Doch nicht die Genossen des Verwundeten eilten herbei, diese verschwanden vielmehr schnell, dagegen nahte sich eine Patrouille Soldaten, und diesem Umstande war es zu verdanken, dass die dunklen Gestalten sich zurückzogen, welche vorhin aufgetaucht waren.
Es waren die Puharris gewesen, die zum Schutze ihres Führers sich in der Nähe befunden hatten.
Der jammernde Verwundete wurde die kurze Strecke nach Bombay getragen, ebenso der sich ganz teilnahmslos verhaltende Inder.
Nachdem die Polizei geholt worden war, legte der Engländer, dessen Leben nicht mehr gerettet werden konnte, ein unumwundenes Geständnis ab.
Er war der Vertraute Lord Westerlys und musst für ein geraubtes Mädchen Unterkunft in Bombay besorgen, ebenso für Westerly selbst, und alle dessen Geschäfte erledigen, also auch die Ablohnung der Puharris, welche im Auftrage des Lords Franziska geraubt hatten.
Er erklärte ferner, dass diese die Braut Lord Cannings sei, und dass Westerly die Absicht habe, sie nach Konstantinopel zu entführen, einmal, um an Canning Rache zu nehmen, und dann, um der Strafe zu entgehen, denn Westerly sei sowohl ein Verräter an den Engländern, als auch an den Indern, auf deren Seite er immer gestanden habe.
Dass er in letzter Zeit viel vom falschen Spiele gelebt habe, gab er zu, und als er Bob neben sich stehen sah, nannte er die Summe von 110 Pfund, die er diesem heute abgenommen habe.
Nachdem er noch Westerlys und Franziskas Wohnung beschrieben hatte, verschied er mit einem Fluche auf Westerly, Gott und die ganze Welt.
Der Inder verhielt sich wie die meisten seiner Landsleute. Als er sich überführt sah, tat er den Mund nicht mehr auf. Wegen Mädchenraubs, begangen an einer Engländerin, wartete seiner lebenslängliche Zwangsarbeit.
Charly sagte aus, wie Bob in den Besitz einer solch großen Summe gekommen wäre, dann begaben sie sich alle nach der bezeichneten Wohnung, wo sie Franziska lebend, Westerly tot fanden. Er hatte sich dem Anscheine nach selbst das Leben genommen.
Finstere Nacht lag über Delhi, kein Stern war am Himmel zu sehen, ängstlich schnürte sich das Herz jedes Bewohners der belagerten Stadt zusammen, nicht nur infolge des in der Atmosphäre schwebenden Druckes, sondern auch in Erwartung des Kommenden.
Die Kanonen schwiegen, denn die Breschen waren geschossen. Die Inder versuchten nicht mehr, sie zu vermauern — einige wohlgezielte Kanonenschüsse zerschmetterten das frische Mauerwerk doch wieder.
Jeden Tag, jede Stunde konnte der furchtbare Sturm beginnen, welcher entweder den Rebellen einen festen Stützpunkt nahm oder ihnen diesen erhielt. In ersterem Falle hatten sie keinen Zentralpunkt mehr, von dem der Aufstand geleitet wurde.
Aber wann begann dieser Sturm? Die Maschinerie des indischen Spionagedienstes versagte plötzlich vollkommen; die Anführer der Engländer hüllten sich in undurchdringliches Schweigen.
Wenn nun auch noch Delhi fiel, wohin zogen sich dann die geschlagenen Heere, die jetzt dieser Stadt zuflohen?
Nana Sahib war von General Havelock zweimal blutig aufs Haupt geschlagen worden, einmal bei Fattipur, dann auf der Straße nach Khanpur. In wilder Flucht jagten der stolze Maharattenfürst und sein aufgelöstes Heer nach Delhi zu, hinter ihm her Havelock wie der edle Jagdhund auf der Fährte des Wolfes.
In anderen Teilen des Landes zerstreuten Brigadegeneral Jakob, die Generäle Lloyd, Grant, Broke und andere die Rebellen nach allen Richtungen.
Delhi und die Provinz Gwalior waren noch die Hoffnung der Rebellen; ersteres unter dem Befehl von Radscha Skindhia — der noch immer als Freund der Engländer galt — und Tantia Topi.
Delhi sollte gehalten werden können. —
Auf dem freien Platz, auf dem einst August seine Amazonengarde exerzieren ließ, erscholl ein leichtes Geräusch. Es klang fast, als würden mit der größten Vorsicht Steine losgebrochen, auch hörte man manchmal ein Flüstern.
Die Nacht war zu dunkel, als dass jemand gesehen werden konnte, und der Ort, wo die heimliche Arbeit verrichtet wurde, lag, obwohl dicht an einem Haus, doch zu einsam, dass sie ruhig weniger vorsichtig sein durften.
Zwei Gestalten waren es, die mit Stemmeisen und Brechstange das schon vorhandene Loch in der Wand erweiterten, durch das einst Reihenfels verwundert dem Exerzieren der Amazonen unter dem Oberbefehl Augusts zusah.
Die eine Gestalt ließ die Brechstange sinken und stützte sich darauf.
»Wenn Sie sich aber nun in den unterirdischen Gängen nicht zurechtfinden?«, fragte eine Männerstimme. »Sie sagten selbst, da unten wäre ein förmliches Labyrinth, oder wie das Ding heißt.«
»Ich habe den Plan dieser Gänge bei mir, wir können uns nicht verlaufen«, entgegnete eine Mädchenstimme, »ich habe nichts mitzunehmen vergessen.«
»Gemütlicher wäre es doch eigentlich gewesen, wenn wir durch den Schacht im Hause der Duchesse hinuntergeklettert wären«, fuhr der Mann fort, der keine Lust mehr zum Arbeiten hatte.
»Dann hätte unser Vorhaben entdeckt werden können. Halte aus, August, nur noch eine Viertelstunde, dann ist das Loch groß genug! Vergiss nicht, dass es deinem Herrn gilt, und was ich dir versprochen habe, wenn du mir beistehst.«
»Na, dann wollen wir noch einmal in die Hände spucken«, sagte August, tat also und fuhr in der Arbeit fort, die das Mädchen nicht eine Sekunde unterbrochen hatte, obgleich dicke Schweißtropfen von ihrer Stirn perlten. Sie arbeitete mit fieberhafter Hast, als hinge von jeder Sekunde ihr Leben ab.
»Wie sich der Mensch doch manchmal verändert!«, begann August nach einer Pause wieder. »Vor einigen Wochen noch war ich dekorierter General mit Schleppsäbel, Sporen und Federhut, und jetzt arbeite ich mit der Brechstange. Na, Abwechslung muss nun einmal sein im Leben, das geht immer rauf und runter!«
»Und ich erst!«
»Freilich, Sie sind schrecklich tief gesunken, Fräulein — das heißt, ich meine nur dem Range nach, dass Sie nicht etwa denken tun, ich tu etwas Schlechtes von Sie denken.«
»Arbeit schändet nicht.«
»Das sagte auch der Spitzbube, als er beim reichen Bankier einbrach. Es ist hier überhaupt eine ganz gute Vorübung dazu. Sind Sie schon einmal eingebrochen, Fräulein?«
»Du scherzest! Doch recht so, bleibe nur bei gutem Mut.«
»Nicht? Ich bin schon mehrere Male eingebrochen.«
»Was?«
Das Mädchen blickte doch etwas misstrauisch auf.
»Natürlich, ich bin schon mehrmals eingebrochen«, wiederholte August kaltblütig.
»Und bist bestraft worden?«
»Aber feste!«
»Als Dieb?«
»Nee, als Junge.«
»Ich meine, du bist eingebrochen, um zu stehlen?«
»I Gott bewahre, wer spricht denn davon? Als Junge bin ich ein paarmal ins Eis eingebrochen, und dann gab's zu Hause tüchtig die Jacke voll. Ist Ihnen das auch schon einmal passiert? Hurrjeh, das ist eine Wonne und hinterher die Ehre — die Tracht Prügel selbstverständlich abgerechnet.«
»Hier gibt es kein Eis.«
»Aber auf's Eis wollen sie einen doch manchmal führen. Na, wollen wir's nun probieren?«, Sie legten die Brechstange hin, Bega fand, dass das Loch groß genug war, einen menschlichen Körper durchzulassen.
»Ich gehe voran«, sagte sie, »du reichst mir zuerst dieses Bündel. Es enthält alles, was wir brauchen. Dann gibst du mir die Brechstange, die wir mitnehmen, falls uns ein Hindernis in den Weg stößt. Zuletzt schaufelst du die Spuren unserer Arbeit auf dieses Tuch und wirfst es herab, damit möglichst wenig davon zu sehen ist.«
Sie schickte sich an, mit dem Kopf voran durchs Loch zu kriechen, wurde aber von August zurückgehalten.
»Halt, Fräulein, dabei gibt's noch etwas zu bedenken!«
»Was? Sprich schnell!«
»Das Loch liegt hoch über dem Boden.«
»Höchstens etwas über einen Meter.«
»Entschuldigen Sie, wenn ich behaupte, dass Sie noch niemals in ein Kellerloch eingestiegen sind, um Äpfel zu mausen. Sonst müssten Sie wissen, was ich meine. Wenn Sie nämlich mit dem Kopfe zuerst durch das Loch kriechen, dann kommen Sie auch mit dem Kopfe zuerst unten an, und Ihre Beine baumeln einstweilen oben, bis Sie sich entschließen, einen sogenannten Kegelpurzel zu machen. Das ist ein Faktum, wie mein Bruder sagt. Mit den Beinen müssen Sie voran.«
Bega sah die Richtigkeit dieser Meinung ein und schlüpfte wie angegeben hindurch. August tat, wie ihm geheißen, und folgte dann nach.
Undurchdringliche Finsternis umgab sie.
»Ist dein Revolver in Ordnung?«, flüsterte Bega.
»Brauche bloß zu knipsen, dann knallt's.«
»Und dein Messer?«
»Fix und fertig zum Stechen. Es kann losgehen.«
Das Mädchen entnahm dem Bündel einige Gegenstände, steckte sie zu sich und hieß August noch seine Brechstange nehmen. Beide hatten Stricke um ihre Hüften geschlungen.
»Jetzt müssen wir vorsichtig sein, denn dem Plane nach kommen wir bald an eine Treppe. Dass wir nicht hinabstürzen! Erst wenn wir weit genug unten sind, sodass es von außen nicht mehr gesehen werden kann, will ich Licht anzünden.«
»Bitte, ich kann auch ohne Licht die Treppe hinunterfallen.«
»Das sollst du eben nicht.«
»Wie Sie wünschen.«
Vorsichtig, die mit Filzsohlen belegten Schuhe schlürfend über den Boden setzend, bewegten sie sich Hand in Hand vorwärts und kamen bald an eine Treppe. Nachdem sie einige Meter hinabgestiegen waren, schlug Bega Licht und entzündete eine Laterne.
Es war eine Art Diebeslaterne. Je nachdem die Reflektoren, aus Spiegeln bestehend, gewendet oder niedergeschlagen wurden, verbreitete die Lampe entweder ein ganz schwaches Licht, eben nur die nächste Umgebung beleuchtend, oder ein ganz dünner Strahl fiel auf den Punkt, den man sehen wollte, während der Träger fast in Dunkelheit stand, oder aber ein sich stark verbreiternder Strahl ging von dem Licht aus.
Noch war alles dunkel rings um sie her, nur ein ganz dünner Lichtstrahl, nach unten fallend, beleuchtete einen auf Pergament gezeichneten Plan in der Hand Begas.
Die Zeichnung, die unterirdischen Gänge darstellend, musste dem Aussehen nach uralt sein.
»Die Treppe ist richtig angegeben. So wollen wir hoffen, dass auch alles andere noch erhalten ist. Neuerungen sind wohl nicht eingeführt worden. An der Hand dieses Planes können wir uns jedenfalls unmöglich verirren.«
»Na, schließlich verirren wir uns auch wieder raus. Denn man zu!«
Ohne die Gegend, welcher sie zustrebten, zu erleuchten, höchstens ab und zu die Seitenwände, schritten sie vorwärts, erst die tiefe Treppe hinab, dann auf ebenem Boden weiter.
Bega musste den Plan vollkommen im Kopfe haben, denn ohne zu zögern schritt sie geradeaus, bog links und rechts ab und wusste die Kanäle auch im Dunkeln anzugeben, die übersprungen werden mussten. Jedenfalls zählte sie die Schritte.
Unterhielten sich die beiden einmal, so geschah es flüsternd; besonders war es August, dem das lange Schweigen nicht behagte. Im übrigen vertraute er sich sorglos seiner Führerin an, obgleich er es an Räsonieren nicht fehlen ließ, besonders über die nassen und kalten Füße, die er sich auf dem feuchten Boden holte, und über den in Erwartung stehenden Stockschnupfen.
Nach langer Wanderung blieb August plötzlich stehen, sagte nichts und ließ sich auch nicht fortziehen.
Als Bega ein eigentümliches Geräusch hörte, von ihm ausgehend, leuchtete sie ihm ins Gesicht.
August stand mit erhobener Nase da und schnoberte in der Luft.
»Was gibt's, August?«
»Ei, hier riecht's aber gut. Gerade wie — wie na, nach was denn nur gleich? Warten Sie mal! Gerade, als wenn meine Mutter früher Fische in ranzigem Fett briet.«
»Torheit! Wer sollte hier Fische braten?«
»Es riecht aber hier so«, behauptete August. »Ich sehe die Fische ordentlich in der Pfanne liegen. Schnüffeln Sie nur einmal!«
Bega sog aufmerksam die Luft ein und musste bestürzt denselben Geruch bemerken.
»Wahrhaftig, du hast nicht unrecht.«
»Nein, recht habe ich. Meine Mutter sagte immer, ich hätte eine feine Nase für alles, was gut schmeckt. Da werden Fische in ranzigem Fett gebraten.«
»Es werden vermoderte Fische sein.«
»Vermoderte Fische gebraten? Brrr!«
Sie gingen weiter, und zur äußersten Bestürzung Begas nahm der Geruch immer mehr zu.
»Wer aber könnte hier Fische braten?«
»Jemand, der sie gern isst.«
».In diesen Gängen kann kein Mensch existieren.«
»Na, bei gebratenen Fischen kann man schon eine Weile exerzieren.«
Plötzlich blieben die beiden wie angewurzelt stehen. Menschliche Töne drangen an ihr Ohr, zusammenhängend, eine zauberhafte Melodie.
Es war ein trauriger, schwermütiger Gesang, sie hörten Worte, diese waren aber beiden fremd. Überhaupt klangen sie seltsam, als würden sie hinten in der Kehle gesungen, wie zum Beispiel die Araber zu singen pflegen, aber nicht rau, sondern tremolierend und schmelzend.
Sie sahen nichts, kein Licht, vermochten auch den Ort nicht zu bestimmen, woher die herzergreifende Melodie kam, denn die Akustik der Gänge konnte gewaltig täuschen.
»Sehen Sie, ich hatte recht«, flüsterte August, der ebenso wenig wie Bega besondere Furcht verriet. »Da ist ein Mensch, der sich Fische brät und dabei singt!«
»Es ist eine Mädchenstimme.«
»Aber sonst eine richtige Bierstimme.«
»Nein, es sind nur Kehllaute. Aber was für eine Sprache ist das? Es ist nicht Indisch, auch nicht Arabisch, noch weniger eine moderne Sprache. Und diese klagende Weise.«
»Es klingt gerade wie Jeremiä Klagelieder«, meinte August spöttisch.
»Wahrhaftig«, sagte Bega erstaunt, »du hast wieder recht. Jetzt erkenne ich die Melodie. Es ist das Klagelied der Kinder Israels: Sie saßen an den Wässern Babylons und weinten. Es ist Hebräisch, wenn ich es auch nicht verstehe.«
»Dann muss es eine Jüdin sein.«
»Es kann nicht anders sein. Wie kommt sie aber hierher? Was hat sie hier zu suchen?«
»Wir können sie ja fragen.«
Einen einzigen Lichtstrahl ließ Bega vorausfallen, und als sich der endlose Gang, durch den ein Kanal floss, leer zeigte, schritten sie noch vorsichtiger als vorher weiter.
Das Lied klang fort, die Töne wurden immer stärker, und als die beiden an eine Ecke kamen, strahlte seitwärts, höchstens zwanzig Meter entfernt, ein helles Feuer ihnen entgegen.
Ob der seltsamen Szene, die sich ihren Augen darbot, blieben sie wie versteinert stehen, zogen sich dann schnell hinter die Ecke zurück und lugten von da hervor.
Gesehen konnten sie so unmöglich werden, ebenso wenig gehört, wenn sie sich flüsternd unterhielten; sie dagegen konnten alles beobachten und hören.
Der Schein eines Holzfeuers beleuchtete Mirja und die beiden Missgestalten von Kulwa und Phangil.
Mirja briet nicht mehr wie früher die Fische, dies besorgte jetzt Kulwa.
Sein Gesicht war finsterer und starrer als sonst, ab und zu warf er einen besorgten Blick auf Mirja, welche, den Kopf auf den Arm gestützt, an dem Kanal auf einer Decke lag und mit schwermütiger Stimme das Klagelied ihres Volkes in der Gefangenschaft sang.
Wie bleich sah sie aus, wie abgezehrt, obgleich dies alles nichts von ihrer Schönheit rauben konnte und ach, wie gut passte das Lied auf ihre Lage!
Welch unnennbare Sehnsucht lag in diesen Augen! Es war derselbe Ausdruck, den man in denen des Albatros, des Kondors, des Adlers liest, wenn sie den sonndurchschwängerten Äther verlassen haben und matt und müde am Boden des düsteren Käfighauses im Tiergarten hocken. ,Gebt uns die Freiheit, gebt uns wenigstens Sonne‹, flehen sie jeden an, oder seid mitleidig und tötet uns!‹ Glücklich noch der kleine Sänger, der auch in der Gefangenschaft bei guter Pflege sein Los vergessen und singen kann.
Ja, Mirja verschmachtete vor Sehnsucht nach der Sonne, und was sie sang, war nur die Klage ihrer Seele.
Phangil rauchte wie gewöhnlich die kurze Holzpfeife. Seinem haarigen Gesicht konnte man zwar das Behagen nicht ansehen, wohl aber seiner bequemen Stellung, wie seine Augen nach der Pfanne mit Fischen blinzelten.
»Gottssapperlot!«, brachte August endlich hervor. »Sagen Sie, Fräulein, sehen Sie denn dasselbe wie ich oder spuken mir meine Augen nur etwas vor?«
»Auch ich sehe Wunderbares.«
»Der Kerl da am Feuer.«
»Es ist eine Missgeburt.«
»Schon mehr als eine Missgeburt. Wenn man dem seine Beine Spazierhölzer nennt, darf er sich nicht beleidigt fühlen. Und dieses Maul! Herrjeh!«
»Er ist halb Frosch, halb Mensch.«
»Vom Menschlichen ist gar nicht viel zu merken. Wenn ich den nach Berlin mitnehmen könnte, wäre ich in einem halben Jahre ein reicher Mann. Ob der wohl auf den dünnen Stelzen auch gehen kann?«
»Was für Geschöpfe sind denn das?«, flüsterte Bega mehr für sich. »Wohnen sie hier unten? Was machen sie?«
»Sie haben sich ganz häuslich niedergelassen, haben Töpfe, Pfannen, Decken und so weiter. Und da hinten liegen sogar alte Stiefel, Röcke, eingetriebene Zylinder und Gott weiß was. Der reine Trödlerladen! Sogar eine Frau hat diese Missgeburt, und was für eine schöne!«
»Und wie traurig sie aussieht! So, wie ihr Lied klingt.«
»Die wird er wohl auch nicht auf ehrlichem Wege bekommen haben. Am Ende gar eine verwunschene Prinzessin.«
»Es ist eine Jüdin.«
»Na ja, eine jüdische Prinzessin. Na, sagen Sie mal, ist denn das nur wirklich alles möglich?«
»Es ist keine Täuschung. Auch ich bin vor Staunen fast außer mir.«
»Dass aber so etwas in unserem aufgeklärten Jahrhundert möglich ist! So was lebt nicht und wackelt doch mit dem Schwanze. Solch ein Kerl sollte eigentlich polizeilich gar nicht erlaubt sein.«
»Und was ist denn das?«
Phangil hatte sich erhoben und lief auf allen vieren zu Mirja hinüber.
»Gottstrambach, nun bleibt mir mein bisschen Verstand bald stehen. Das ist ja ein junger Bär mit einem Menschenkopfe! Und hat der Kerl Haare! Und diese Arme, diese Beine! Herrjeh, dass so etwas erlaubt ist!«
Mirja schüttelte traurig den Kopf, und Phangil lief zurück.
Unterdessen waren die Fische fertig geworden. Kulwa füllte einen Zinnteller damit und schleifte sich, jetzt sich nur einer Hand zum Fortziehen bedienend, zu Mirja hin.
Dies erregte neues Erstaunen bei den beiden Beobachtern.
»Iss, mein Liebling«, hörten sie es quakend aus dem Froschmaule kommen. »Du stirbst, wenn du nicht isst.«
»Ach, wäre ich doch schon tot!«, seufzte das Mädchen.
»Sprich nicht so, du zermarterst mein Herz!«
»Hättest du eins, du würdest mich nicht hier schmachten lassen.«
»Lasse ich dich schmachten? Ich bringe alles, was du nur verlangst. Ich gehe dann, und komme ich wieder, so bringe ich dir Brot und Früchte mit.«
»Bringe mir nur einen goldenen Sonnenstrahl mit, und ich will nicht mehr klagen.«
»Du verlangst Unmögliches von mir.«
»Und du von mir.«
»Gabst du mir nicht freiwillig dein Wort, bei mir als Weib zu bleiben und mich in Liebe zu pflegen?«
»Du siehst, wie schwach ich bin. Nur die Sonne könnte mich wieder gesund machen.«
»Das meine ich nicht. Gern will ich auf dich warten, doch du sollst nicht klagen, dass dir dies Leben eine Last ist.«
»Ich klage nicht.«
»Doch!«
»Nur wenn du mich fragst, und ich darf es auch, denn du hast dein Wort nicht gehalten.«
»Ich tat, was du verlangst.«
»Du begannst es, aber vollendetest es nicht.«
»Dieser Reihenfels war ein Lügner und Verräter. Er wollte sich nur in Delhi einschleichen. Timur Dhar hat es mir gesagt.«
»Nein, er meinte es ehrlich«, rief das Mädchen heftig, »er wollte Franziska wirklich befreien. Aber Timur Dhar hat ihn zum Verräter gemacht und dich benutzt, um seiner habhaft zu werden.«
»Was tut's?«, entgegnete Kulwa gleichgültig. »Jedenfalls war er daran schuld, dass unser Hiersein entdeckt wurde. Seitdem bekommen wir Besuche, man stellt an uns allerlei Verlangen, und das stört mich. Ich mag nicht mit Menschen verkehren. Mirja, ich habe dir ein großes Opfer gebracht, als ich Lord Canning aufsuchen ging. Hätte ich es doch nicht getan!«
»Ach, Kulwa, du bist grausam und denkst nur an dich. Aber ich muss es dir verzeihen, denn du weißt nicht, wie es in den Herzen von Menschen aussieht, die unter der Sonne leben.«
»Wohl mir, dass ich dies nie kennen gelernt habe!«
»Und ich muss darunter leiden.«
»Ich kann nicht begreifen, was dich hinaufzieht wo dich die Menschen, wie du selbst sagst, geschmäht und verhöhnt haben.«
»Das ist es eben, du kannst es nicht begreifen.«
»Und warum sehnst du dich nach der Sonne zurück?«
»Ohne sie muss ich sterben, ich fühle es.«
»Und ich kann das nicht glauben. Weil du nicht isst, wirst du krank. Sieh, du kannst nicht einmal unverwandt in dieses helle Feuer blicken, du musst die Augen schließen, weil sie dich schmerzen. Wie denn kannst du den Feuerball am Himmel lieben, welcher die Augen erblinden lässt, wenn man ihn anzuschauen wagt?«
»Du hast andere Ideen, andere Empfindungen als wir unter der Sonne geborenen Menschenkinder. Lassen wir das. Weißt du nun, wo Reihenfels ist?«
»Sprich nicht von ihm!«
»Er leidet unschuldig. Ach, ich bin schuld an seinem Elend wie auch an dem seiner Schwester und an dem Lord Cannings! O, ich Unglückliche, wäre ich doch tot!«
Weinend verbarg sie das Gesicht in den Händen. Betrübt stand oder lag vielmehr Kulwa vor ihr, die Schüssel noch immer in der Hand.
»Iss, meine Liebe!«, bat er sanft.
»Nicht eher, als bis du Reihenfels befreit hast.«
»Ich kann es nicht. Timur Dhar hält ihn gefangen.«
»Fürchtest du diesen kleinen Mann, du, der du doch die Kraft eines Riesen hast?«
»Er sagt mir nicht, wo er sich befindet. Und wie darf ich mich überhaupt unter Menschen wagen? Sie würden mich wie ein wildes Tier mit Keulen erschlagen. Iss, Mirja!«
»Nicht eher rühre ich einen Bissen an, als bis du Reihenfels befreit und hierher gebracht hast.«
Halb mit finsterem, halb mit traurigem Gesicht schleppte sich Kulwa an das Feuer zurück. Er mochte den Tag verfluchen, da er sich mit den Menschen eingelassen. Sie hatten Unfrieden in sein Stillleben gebracht.
Mit namenlosem Erstaunen hatte Bega diese Unterredung angehört. Auch hier unten kannte man die Namen Reihenfels, Franziska und Timur Dhar, und das Schicksal dieser unterirdischen Bewohner war mit dem Schicksal jener verknüpft.
Auch August war verwundert, musste seinen Gedanken aber erst anderen Ausdruck geben.
»Mir scheint«, flüsterte er seiner Begleiterin zu, »die leben in nicht eben glücklicher Ehe, oder es hat nur so einen kleinen Zwist gegeben, wie er auch in der besten Familie mitunter vorkommen soll. Gott bewahre mich, ist das aber ein ungeschlachter Gatte solch einem reizenden Weibchen gegenüber! Hurrjeh, wenn das meine Frau wäre, keine Bitte würde ich abschlagen, das heißt, wir dürften nicht schon einige Jahre zusammen verheiratet sein, und so wird's hier wohl auch sein.«
»Sie sprechen von Reihenfels«, sagte Bega, dadurch an ihre Aufgabe sich wieder erinnernd, »wir dürfen ihn nicht vergessen. Die Zeit drängt.«
»Natürlich, erst holen wir den heraus, dann aber hole ich mir dieses Mädchen und heirate es. Nee, aber so ein hübsches Kindchen! Das heißt, wenn das haarige Wesen da meine Schwiegermutter ist, die kommt mir nicht ins Haus. Ich glaube, die hat sogar Haare auf den Zähnen und ist imstande mir den Hausschlüssel zu verweigern. Höchstens ausstellen könnte ich sie. Na, wollen wir gehen?«
»Der Weg nach unserem Ziele führt hier durch.«
»Machen wir! Da schlage ich diesem Froschscheusale gleich den Schädel ein. Aber freilich — gibt's denn keinen anderen Weg nach dorten hin?«
»Doch, ein furchtbarer Umweg, und leicht können wir uns dabei verirren. Auch steht zu erwarten, dass die meisten Gänge verschüttet sind.«
»Hm, das ist freilich fatal.«
»Wir müssen uns mit diesen Leuten verständigen.«
»Hm, sehr unangenehm! Der Kerl soll Kräfte wie ein Riese haben — sagte seine Frau selbst, und die muss es doch wissen.«
»Fürchtest du dich?«
»Fürchten? Gibt's nicht bei uns. Wir Deutschen fürchten Gott und die Schwiegermutter, sonst nicht's auf der Welt. Aber freilich, mit Riesen soll nicht gut Kirschenessen sein — das hat schon David gesagt, bevor er Goliath erschlug.«
»Sie machen keinen gefährlichen Eindruck.«
»Ist mir auch ganz egal. Wenn der Kerl beißen will, gebe ich ihm ein Brechmittel ein. Ich stoße ihm die Brechstange durch den Rachen in die Luftröhre, bis sie hinten wieder rauskommt. Übrigens ist ja auch das Mädchen da. Wenn die mich sieht, dann wird sie ganz futsch sein und mir beistehen. Nicht wahr, in Indien ist es doch auch so, dass die Frauen die Herren im Hause sind?«
»Ich weiß nicht. Wir gehen friedlich vor, zeigen keine Waffen, halten sie aber bereit. Die Eisen nehmen wir mit. Jedenfalls hat dieses Mädchen gleiche Absichten wie wir. Wir können ihr helfen, sie vielleicht uns.«
»Das wird das reine Abenteuer«, sagte August, während er sich den Revolver handbereit steckte, »gerade wie Siegfried, als er den Drachen erschlug und die Prinzessin befreite. Wenn die Geschichte nur erst glücklich vorüber wäre!«
Offen traten sie hervor und gingen direkt auf das Feuer zu.
Der Empfang war ein ganz anderer, als den sie erwartet hatten. Sie brauchten sich nicht zu fürchten, denn sie jagten Furcht ein.
Der erste, der sie sah, war Phangil.
Er stieß einen gellenden Schrei aus und wandte sich zur Flucht. Wie schützend sprang Kulwa vor Mirja, die mit erschrockenen Augen die Ankommenden anblickte und sich schnell aufrichtete. Kulwa rief Phangil einige Worte in einer fremden Gurgelsprache zu, der Maulwurf sprang zu Mirja hin und riss sie mit sich fort. Im Nu waren beide in der Finsternis verschwunden.
Noch einen Augenblick starrte Kulwa die beiden mit weit aufgerissenen Augen an, dann glitt er geräuschlos wie ein Schatten in das trübe Wasser, welches dabei kaum eine Bewegung zeigte.
Noch ehe Bega ein Zeichen des Friedens geben oder ein Wort sagen konnte, war alles verschwunden.
Nur das Feuer brannte noch und beleuchtete die Überreste des Essens und das alte Gerümpel. Bestürzt sahen sich die beiden an.
»Donnerwetter«, brach August zuerst das Schweigen, »wo ist denn die Bande mit einem Male hin? Ich glaube gar, der Kerl mit dem Froschkopf hat sich aus Schrecken gleich ersoffen.«
Er blickte in das dunkle Wasser.
»He, Herr Kulwa«, rief er hinab, »kommen Sie nur wieder zum Vorschein. Wir wollen Ihnen wahrhaftig nichts tun. Ne, aber so ein Kerlchen, hupft vor Schrecken mir nichts dir nichts gleich ins kalte Wasser rein! Pfui Deibel, was ist denn das nun wieder?«
Er hatte einen Satz rückwärts gemacht, denn aus dem Wasser vor ihm tauchte ein ungeheurer, beschuppter Kopf auf. Der geöffnete Rachen starrte non spitzen Zähnen.
»Ein Krokodil«, sagte Bega. »Dies Gewässer steht mit der Dschamna in Verbindung.«
»Na na, nun halte ich alles für möglich. Am Ende ist es ein Mensch mit einem Krokodilskopf.«
»Gleichgültig, der Weg ist frei und wir wollen ihn benutzen. Jetzt gilt es, Reihenfels zu befreien. Vielleicht fügt es das Schicksal, dass wir uns später einmal über diese rätselhaften, unterirdischen Geschöpfe Aufklärung verschaffen.«
»Und die soll euch gleich jetzt verschafft werden«, ertönte hinter ihnen eine quakende Stimme, und ehe sie sich noch umdrehen konnten, wurden sie schon von hinten gepackt und gleichzeitig zu Boden gerissen.
An den Gebrauch einer Waffe war nicht zu denken.
Ein schwerer Körper lag auf Augusts Brust ihm die Arme wuchtig niederdrückend, sodass er sich nicht zu rühren vermochte, selbst der Mund war ihm verstopft. Er fühlte nacktes Fleisch auf seinem Gesicht. Inzwischen wurde Bega mit zauberhafter Schnelligkeit an Händen und Füßen gebunden, und dann kam August an die Reihe. Kaum war ihm der Mund frei, als es mit dem Räsonieren los ging. Dass sich über ihn ein scheußliches Froschgesicht beugte, flößte ihm weniger Grausen als Entrüstung ein.
»Nee, aber so eine Gemeinheit«, wetterte er. »Drückt mir das Rabenvieh fast die Kehle ab! Kerl willst du runter mit deinem Kadaver? Was, du wagst, einen dekorierten General an Händen und Füßen zu binden? Der Deibel soll dich holen!«
Dies alles konnte nicht verhindern, dass August gebunden wurde, und aus den sonst ausdruckslosen Augen des Frosches leuchtete es wie dämonische Wut.
»Kommt auch ihr, unsere Ruhe zu stören?«, heulte er. »Ho, ihr denkt, weil euch Timur Dhar geschickt hat, habt ihr das Recht, unvermutet bei uns einzudringen. Habt ihr gelauscht? Wohl, ihr könnt es den Krokodilen wiedererzählen, was ihr gehört habt. Erst werde ich euch vernichten, dann suche ich mir einen anderen Schlupfwinkel, wo mich niemand finden wird.«
August brüllte laut auf, als ihn das Ungeheuer an einem Fuß fasste und dem Wasser zuzuschleifen begann.
»Halte ein, Kulwa«, rief jetzt auch Bega, »du irrst, mein Freund, wenn du glaubst, Timur Dhar, den du nicht leiden magst, sende uns hierher. Wir kommen eben, um uns mit dir gegen Timur Dhar zu verbinden.«
Bega schien das richtige getroffen zu haben. Der Froschmensch hielt wenigstens mit dem Fortschleifen Augusts ein.
»Was wollt ihr von mir?«
»Den befreien, welchen Timur Dhar gefangen hält.«
Aber Bega täuschte sich doch.
»Ist es das? Hohoho, ich lasse mich nicht wieder belügen. Ich habe einmal jemandem getraut, tue es aber nie wieder. Wie habt ihr den Weg in diese Gänge gefunden?«
»Wir haben einen Eingang gesucht.«
»Timur Dhar hat euch in das Geheimnis eingeweiht! Ins Wasser mit euch, und stört mich Timur Dhar in meinem neuen Versteck, so ist sein Los dasselbe.«
Wieder wollte er August dem Kanal zuschleifen, als er abermals daran gehindert wurde. Die mit Phangil zurückkehrte Mirja war es, die sich ins Mittel legte.
Sie waren alle geflohen, weil sie nicht anders glaubten, als jene unheimlichen Wesen erschienen ihnen, die schon mehrere Male ihre Ruhe gestört hatten, bis jetzt allerdings sich immer nur durch Laute bemerkbar machend.
Phangil und Mirja suchten ihr Heil in der Flucht auf dem Lande, Kulwa, dessen Element das Wasser war, in diesem, versäumte aber dabei nicht, die Erscheinung zu beobachten.
Das Gespräch der beiden verriet ihm, dass er es nur mit ihm verhassten Menschen zu tun hatte, und er überwältigte sie. Die beiden anderen hatten von der Ferne aus das Geschehene beobachtet und kehrten jetzt zurück.
»Du wirst sie nicht töten, Kulwa«, sagte Mirja mit Nachdruck, »nicht eher wenigstens, als bis du erfahren hast, was sie hier wollen.«
Die zarte Hand übte auf den herkulischen Arm doch eine gewaltige Wirkung aus. Er ließ ihn sinken.
»Dich sendet Brahma«, rief Bega sofort, »stehe uns bei, denn wir beabsichtigen nur, deinen Wunsch auszuführen, einen Mann namens Reihenfels zu befreien. Wir kennen auch seinen Aufenthaltsort.«
»Schweig!«, herrschte Kulwa sie an und forderte Mirja auf, sich mit ihm etwas abseits zu begeben.
Sie machte zu Bega hin eine ermutigende Handbewegung und folgte Kulwa. Ihnen schloss sich Phangil an, der über die Ruhestörung äußerst unwillig schien.
Fortwährend warf er den Gefangenen finstere Blicke zu, er sprach eifrig auf Kulwa ein, unterbrach Mirja immer, und es war, als ob er auf den Tod der Gefangenen dringe, und Kulwa ihm beistimmte.
»Wir sind in eine schlimme Lage gekommen«, seufzte Bega, »nur die Jüdin ist für unser Leben.«
»Hoffentlich hat sie ihren Mann unter dem Pantoffel, sonst steht's faul mit uns. So ein Scheusal, quetscht mir der Kerl fast die Kehle ab!«
»Du Glücklicher, dass du noch scherzen kannst!«
»Mir ist durchaus nicht scherzhaft zumute. Aber was hilft denn das Jammern und Heulen? Jetzt müssen wir die Suppe aufessen, die wir uns eingebrockt haben.«
»Und die Zeit, die kostbare Zeit«, klagte Bega, »sie verrinnt, und wir müssen untätig hier liegen!«
»Warten Sie mal, da naht die Entscheidung. Sehen Sie, das Mädchen hat die Oberhand behalten — wie gewöhnlich. Freilich trägt sie ein Messer, und es fragt sich nun, ob sie damit unsere Kehle oder unsere Stricke durchschneiden will.«
Mirja kam auf sie zu, begleitet von den finsteren Blicken Kulwas. Sie hatte ein Messer in der Hand, mit welchem sie die Bande der Gefangenen zerschnitt.
»Steht auf und folgt mir ans Feuer!«, sagte sie sanft. »Solange ich noch am Leben bin, werde ich nicht dulden, dass euch etwas Übles widerfährt.«
Als die beiden sich erhoben und dem Mädchen an das Feuer gefolgt waren, merkten sie, dass Mirja nicht ohne Grund so gesprochen hatte. Auch wurde es ihnen jetzt klar, auf welche Weise Mirja ihr Leben gesichert hatte. Vorher waren sie zu weit entfernt gewesen, um das Gespräch der drei verstehen zu können.
»Wage nicht, Kulwa, dich nochmals an diesen beiden zu vergreifen«, sagte die Jüdin; »denn wisse, dass sich in demselben Augenblick dieses Messer in meine Brust graben wird. Und würdest du es mir nehmen, so würde ich den Tod auf eine andere Art finden.«
Kulwa wie Phangil drückten sich missmutig auf den Boden nieder und beobachteten unverwandt die Fremdlinge, denen sie fluchten, weil sie sich hierher verirrt hatten.
»Wer seid Ihr?«, wandte sich Mirja an Bega.
Ehe diese antworten konnte, ließ schon Kulwa seine Stimme vernehmen.
»Was fragst du sie erst?«, sagte er höhnisch. »Weißt du noch immer nicht, dass die Menschen stets lügen, wenn sie gefragt werden?«
»Du beurteilst alle Menschen nach einem einzigen«, entgegnete Mirja, »und bedenkst nicht, dass auch ich zu ihnen gehöre. Du bestreitest ja, mit Menschen eines Ursprungs zu sein, weil du sie hassest. Wer also bist du?«
Bega hielt es für das beste, gleich die volle Wahrheit zu bekennen. Mit Recht schien man hier die Unwahrheit für eine große Sünde zu achten.
»Erfahre denn, wer ich bin. Hast du noch nicht zu lange die Oberwelt verlassen, so muss dir mein Name bekannt sein. Man nennt mich die Begum von Dschansi!«
Die Wirkung dieser Worte war die erwartete. Erstaunen prägte sich in allen Gesichtern aus, das von Kulwa zeigte zugleich etwas von Grimm, das von Phangil Furcht.
»Du wärest das Mädchen, welches die Inder anbeten, welches ihre Königin werden soll, und welches die Engländer mehr als Bahadur fürchten?«, fragte Mirja nach langer Pause.
»Dieses Mädchen bin ich. Ach, wäre ich es doch nicht geworden!«
»Du hast recht, dein Schicksal zu beklagen«, sagte Kulwa dumpf, »wehe dir! Seit man deinen Namen nennt, sind die Ströme und Bäche von Blut gerötet, und die Krokodile mästen sich an den Leichen.«
Mirja hatte das Mädchen gedankenvoll betrachtet.
»Ja, du bist die Begum von Dschansi«, sagte sie dann. »Ich habe sie zwar nie gesehen, aber so habe ich sie mir vorgestellt, als ich die Prophezeiung gehört; und wer ist dieser dein Begleiter?«
»August Hefter aus Potsdam, zu dienen«, nahm August für sich selbst das Wort, »früher Strumpfwirker, jetzt General in der indischen Armee.«
»Strumpfwirker? Was ist das?«
»Mir scheint, geehrtes Fräulein, Sie haben in Ihrem ganzen Leben ebenso wenig Strümpfe getragen wie irgendein Inder, und da ist eine Erklärung schwierig. Ich mache eben die Dinger, die in Indien von keinem Inder gekannt werden, und da ich infolgedessen bei meiner Profession verhungert wäre, so bin ich General geworden.«
»Das scheint mir ein spaßiger Gesell zu sein. Was hattet ihr hier zu suchen?«
»Wir wollen den befreien, der durch Kulwas Schuld in Timur Dhars, seines Feindes, Hände gefallen ist und von ihm ungerechterweise gefangengehalten wird.«
Mirja horchte hoch auf.
»Von wem sprichst du?«
»Von Oskar Reihenfels.«
»Ah, ist das dein Ernst?«
»Er ist der Mann, den ich liebe. Das muss dir alles sagen.«
Bega hatte die Jüdin richtig beurteilt. Sie hätte nicht nötig gehabt, das Gespräch vorhin zu belauschen.
»Dann will ich dir helfen, ihn zu befreien«, rief sie, Bega die Hand gebend. »Doch weißt du auch, wo Reihenfels gefangengehalten wird?«
»Ich weiß es.«
»Und auch, was ihn in Gefangenschaft gebracht hat?«
Was Bega nicht wusste, das konnte ihr scharfer Verstand kombinieren. Jetzt erst fiel ihr ein, wie Reihenfels damals von außen den Weg in das Haus der Duchesse gefunden hatte. Diese Gänge hatte er benutzt, und Kulwa war sein Führer gewesen.
»Reihenfels wollte seine Schwester Franziska befreien«, entgegnete Bega. »Ist dir bekannt, wer diese ist?«
»Lord Cannings Braut.«
»So ist es. Reihenfels kam zu mir und bat mich um Hilfe; ich sagte sie ihm zu, doch ich wurde für einige Zeit von ihm entfernt, und als ich zurückkehrte, fand ich ihn nicht mehr vor. Timur Dhar hatte, wie ich hinterher erfuhr, sich seiner bemächtigt. Durch vielfache Listen gelang es ihm, Reihenfels als Spion hinzustellen; dem Anscheine nach wurde er von den Engländern erschossen. Kulwa fing den ins Wasser Stürzenden auf und lieferte ihn Timur Dhar aus Rache wieder aus; denn Kulwa glaubte, Reihenfels habe ihm ein Märchen erzählt, um in das Innere Delhis zu kommen und dann das Geheimnis seines unterirdischen Aufenthalts preisgegeben. Reihenfels hatte dies nicht getan, er sagte die Wahrheit, aber Timur Dhar hetzte Kulwa auf und schonte nicht sein Geheimnis.«
Triumphierend wandte sich Mirja an Kulwa, der den Kopf hängen ließ.
»Nun, was sagst du jetzt?«
»Auch ich wusste, dass nicht Reihenfels der eigentliche Verräter sein konnte«, murmelte er dumpf. »Der alte Mann war es, der mir für meine Sachen Tabak gab. Er verriet mich an Timur Dhar und erhielt dafür das rote Metall.«
»Und das sagst du mir erst jetzt?«, stieß Mirja entrüstet hervor.
Kulwa fühlte sich schuldbewusst; er war zerknirscht.
»Den alten Mann konnte ich nicht bestrafen, denn er kam nicht mehr in seine Hütte; so ließ ich an Reihenfels meine Rache aus. Auch glaubte ich Timur Dhar, dass ebenso jener mich belogen hätte.«
»Du wirst deine Schuld dadurch wieder gutmachen, dass du uns jetzt hilfst.«
»Ich will es.«
»Wer war dieser alte Mann?«, fragte Bega.
Kulwa beschrieb ihn, und zwar sehr genau, ebenso das Innere der Hütte, in deren einer Ecke ein Wasserloch sich befand, welches mit dem unterirdischen Kanal in Verbindung stand.
»Es war mein Vater!«, stöhnte Mirja.
»Dein Vater?«, wiederholte Bega. »Also der alte Sedrack!«
»Du kennst mich?«
»Ja, Mirja, ich kenne dich. Ich trat einmal in deiner Gestalt auf, nannte deinen Vater den meinen. Nicht gleich erkannte ich dich, der Name erst brachte mich darauf. Doch lass das jetzt! Willst du uns beiden helfen, Reihenfels zu befreien?«
»Ich und Kulwa, auch Phangil, wenn er uns dabei von Nutzen sein kann. Wo finden wir ihn?«
»Er wird in einem dieser unterirdischen Gänge bewacht. Ich kenne nach einem Plane den Weg dorthin. Er führt hier vorbei.«
»Wie viele Wächter sind es?«
»Gleichgültig, wir haben sie nicht zu fürchten. Nach Mitternacht, die bald sein muss, kommt eine neue Wache. Sie erhält auf meine Anordnung Wein, in welchen ein starker Schlaftrunk gemischt ist. Wir werden sie in tiefem Schlafe finden.«
»Und wenn dein Anschlag vereitelt worden wäre?«
»So befreien wir den Gefangenen mit Gewalt.«
»Timur Dhar?«
»Ist abwesend.«
»Er soll überall sein.«
»Ja, so wie ich«, entgegnete Bega geringschätzend.
»Wie kommt es, dass du, die Höchste von Indien, nicht nach eigenem Willen handeln kannst?«
»Auch ich trage Ketten, und zwar sehr schwere. Ich werde nicht lange mehr die Begum von Dschansi sein.«
»Wie?«, rief Mirja erstaunt. »Die Inder, an ihrer Spitze Timur Dhar, sollten die Begum von Dschansi aufgeben, deren Erscheinen als die Befreierin Indiens schon vor hundert Jahren geweissagt wurde?«
»Nicht die Begum von Dschansi werden sie aufgeben«, erwiderte das Mädchen mit tiefer Stimme, »sondern nur mich. Denke daran, was ich dir gesagt habe. Es kommt vielleicht noch einmal die Zeit, da ich schutzflehend an die Hütte des Ärmsten anklopfe, und er gehört zu dem Volke, welches mich einst auf Händen trug.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Du wirst es verstehen lernen. Doch«, fuhr Bega mit leuchtenden Augen fort, »was kümmert's mich! Wenn ich nur den zur Seite habe, der gern mein Unglück teilen wird! Bin ich vereint mit ihm, kenne ich überhaupt kein Unglück. Bist du bereit, mir jetzt zu ihm zu folgen?«
»Ich bin's. Und sollte das, was du da sagst, und was ich nicht begreife, eintreten, und du solltest an meiner Hütte vorbeikommen, so vergiss nicht, anzuklopfen.«
Sie setzten sich in Bereitschaft, das Unternehmen anzutreten. Bega beschrieb den Weg nach dem Plane, und jetzt wusste Kulwa sofort, wo sich Reihenfels befand. Der Ort lag fast direkt unter dem Hause der Duchesse.
Mit Bewunderung sah August, wie Kulwa, gleich einem riesenhaften Frosche, voranhüpfte, Phangil hinterher trabte, und ließ es nicht an Ausdrücken seines Erstaunens fehlen.
Dann gab Kulwa das Zeichen zum Schweigen, Bega wiederholte es, denn man näherte sich dem Orte, wo nach des Mädchens Vermutung Reihenfels gefangengehalten wurde.
Der Weg war ein sehr langer gewesen, Mitternacht musste schon längst vorüber sein. Vielleicht dämmerte draußen der Morgen, und der Gedanke daran, ließ Bega zu immer größerer Eile antreiben.
Sie wusste noch nicht einmal, was sie beginnen solle, nachdem Reihenfels befreit worden war. Keine weiteren Vorbereitungen hatte sie treffen können. Nur einen Getreuen hatte sie noch, der in den Wein den Schlaftrunk mischte. Derselbe Mann war es auch, der jetzt an einem versteckten Orte ihrer harrte, Kantakana, ihren prachtvollen Falben, und ein anderes Pferd am Zügel haltend.
Als sie um die nächste Ecke bogen, fiel ihnen heller Lichtschimmer entgegen. In einer Nische des Ganges saßen ungefähr zehn bewaffnete Inder, teils um einen Tisch, teils am Boden, alle in festem Schlafe. Sie schienen eingeschlafen zu sein, ehe sie sich noch bequem hinlegen konnten; mitten in ihrer Bewegung mussten sie vom Schlafe überwältigt worden sein.
Der eine hielt noch die Hand ausgestreckt, um die Schachfigur zu fassen, mit welcher er des Gegners König angreifen wollte, aber matt lag sein Kopf auf dem Arme. Jener war wahrscheinlich eingeschlafen, als er den Becher an die Lippen führen wollte. Er hatte den würzigen Inhalt über seine Kleider gegossen und schnarchte.
Auch die Sanduhr sahen die Eintretenden, welche längst abgelaufen war. Ihr Hüter schlief davor. Sie enträtselten nicht den Zweck, sondern auf Begas Anordnung begannen sie mit fieberhafter Hast nach Schlüsseln zu suchen.
Nirgends waren solche zu sehen, auch in den Taschen der Männer fand man keine, vergebens untersuchte man die bewegungslosen Körper, kein Fach, kein Spind, kein Aufbewahrungsort von Schlüsseln war zu entdecken.
»Es ist ein geheimes Mauerloch vorhanden«, erklärte Bega, »doch ehe wir dieses suchen, wollen wir sehen, wo sich der Gefangene befindet. Hier in der Nähe muss er sein; genau kann ich die Lage seines Gefängnisses allerdings nicht bezeichnen. Vielleicht brauchen wir gar keinen Schlüssel.«
Sie nahmen das Licht vom Tisch und begaben sich in den dunklen Gang hinaus.
Schon nach wenigen Schritten bemerkten sie ein Loch in der Wand. Bega sah alles finster, als sie hineinblickte, auch Kulwa konnte nichts sehen. Auf seinen Rat wurde Phangil emporgehoben, dessen Augen auch im Dunkeln sehen konnten, und sofort erkannte er eine Gestalt, welche auf einem Ruhebette lag und anscheinend fest schlief.
»Wie sieht er aus? Beschreibe ihn«, drängte Bega, vor Erwartung zitternd.
»Ich kann es nicht«, grunzte Phangil. »Ich sehe nur einen Körper, der vollständig bedeckt ist. Er atmet tief und laut.«
Das konnte man selbst von hier draußen hören, obgleich es kein Schnarchen war.
»Siehst du sein Haar nicht?«
»Nein.«
»Seine Hände?«
»Auch nicht. Überhaupt gar nichts.«
Bega rief leise hinein, erhielt aber keine Antwort.
»Dort sind noch andere Löcher«, sagte August, »vielleicht hat Mister Timur Dhar hier eine ganze Gefängnisanstalt oder ein Zuchthaus angelegt.«
Da schallte ein langgezogener Seufzer durch das Gewölbe, halb ein Stöhnen, halb ein Wimmern. Es kam aus dem Raum nebenan, also war auch dort ein Gefangener.
Gleichzeitig erscholl ein anderer Schrei, wieder etwas entfernter. Diesmal klang es wie ein Jauchzen, es war nur ein einziges Wort.
»Bega.«
»Oskar!«, schrie das Mädchen; mit einem Sprunge stand sie an dem dritten Wandloch, und ihre Lippen berührten die bärtigen eines Mannes.
»Ich wusste, dass du kommen würdest«, flüsterte die Männerstimme.
»Ja, denn du hast mir erzählt, dass du noch lebst! Oskar, mein Oskar!«
Sie riss sich los von ihm. Noch konnten sich nur ihre Lippen berühren, noch trennte sie eine schwere, eiserne Tür. Ein Schloss war daran.
»Wo sind die Schlüssel?«
»Ich weiß es nicht.«
»Es gibt einen solchen?«
»Ja. Timur Dhar kam jeden Tag, brachte mir Essen und füllte die Lampe. Heute kam er zum ersten Male nicht; deshalb ist auch die Lampe verlöscht.«
»Oh weh, so besitzt Timur Dhar den Schlüssel selbst!«, sagte Bega. »Wir müssen das Schloss erbrechen.«
»Eine schwere Arbeit!«
»Nichts ist zu schwer für dich. Wir beginnen damit.«
»Wer ist noch bei dir?«
»August, Mister Reihenfels«, erwiderte sein Diener selbst.
»Also auch diese treue Seele lässt mich nicht im Stich. Wer sonst noch?«
»Kulwa und Phangil. Sie wollen das an dir verübte Unrecht wieder gutmachen. Zieh dich zurück, dass dich unsere Brechstange nicht verletzt.«
Bega beriet sich mit August, ob sie das Schloss oder die Mauer neben der Tür aufbrechen wollten, und sie entschlossen sich zu dem letzteren.
Vorher legte Kulwa seine Hände an die Tür und rüttelte mit ungeheurer Kraft daran, vermochte sie jedoch nicht aufzusprengen.
»Lockert nur etwas die Steine«, sagte er, »und sie wird mir nicht standhalten können.«
Mit fieberhafter Hast begannen Bega und August, das Mauerwerk da zu zerstören, wo das Schloss eingriff, während Kulwa ununterbrochen die Tür rüttelte. Phangil und Mirja standen Wache, sie sollten eine sich nähernde Gefahr anzeigen.
Wer sie überraschte, der musste unbedingt niedergemacht werden.
Noch war nicht einmal der erste Stein herausgebrochen, sondern nur gelockert, als unter Kulwas herkulischer Kraft die Tür unter donnerähnlichem Krachen aufsprang — und Bega und Oskar lagen sich in den Armen.
Sie hatten nicht lange Zeit, die Seligkeit des Wiedersehens zu genießen. Nicht die Gefährlichkeit ihrer Lage hinderte sie daran, etwas Anderes war es. Der Donner der aufsprengenden Tür schien ein tausendfaches Echo geweckt zu haben. Es donnerte ununterbrochen fort, ein gar nicht zu beschreibendes Getöse, zugleich zischte und sauste es, die Gewölbemauern zitterten, und zwar so heftig, dass Mörtel von der Wand herabfiel.
»Was ist das?«, fragte Reihenfels bestürzt und hob lauschend den Kopf. Phangil und Kulwas Gesichter drückten namenloses Entsetzen aus.
»Es ist nur das Echo«, entgegnete Bega.
»O, wie kann dies das Echo sein? Sieh Kulwa und Phangil, wie sie beben. Kulwa, was ist das?«
Kulwa war keiner Antwort fähig, er zitterte wie Espenlaub. Seine Augen drohten die Höhlen zu verlassen.
Das schreckliche Getöse nahm von Sekunde zu Sekunde zu, ein ununterbrochenes Donnern, und nach jedem Donnerschlage folgte ein furchtbares Zischen. Die Gewölbemauern bebten, als wollten sie einstürzen, den Menschen dort unten wollten die Trommelfelle fast zerspringen.
Entsetzt sahen sich alle an.
»Der Welt Untergang, anders kann ich es mir nicht erklären«, schrie Reihenfels.
Plötzlich schlug sich Bega vor die Stirn. Halb erschrocken, halb erfreut schaute sie den Geliebten an.
»Ich weiß, ich weiß«, schrie sie dann, »die Kanonade ist es, die hier unten so schallt. Die Stadt wird bombardiert, die Engländer stürmen Delhi!«
Als sollte die Richtigkeit ihrer Behauptung sofort bestätigt werden, so erklang in diesem Augenblicke, das Kanonengebrüll noch übertönend und so den Weg auch in das unterirdische Gewölbe findend, der brausende Hurraruf der Engländer. Ihm folgte der gellende, indische Schlachtschrei.
Gleichzeitig hörte man Waffengeklirr. Die dicken Mauern waren doch nicht stark genug, den Schall abzuhalten — so furchtbar musste der Zusammenprall gewesen sein.
»Und du, Bega?«
»Ich?«
Verwirrt schaute das Mädchen um sich. Wie suchend glitt ihre Hand über die Hüfte, wo sonst das breite Schwert hing.
»Bist du nicht mehr die Anführerin der Inder?«
»Ja, ich bin's noch — nein, nicht mehr«, stieß sie hastig hervor, »Oskar, rate mir; was soll ich tun? Man vermisst mich, man sucht nach mir — und Timur Dhar wird mich zu finden wissen.«
»So lass ihn kommen!«, rief Reihenfels mit blitzenden Augen und ergriff Augusts Brechstange.
In dem Gange, aus der Nische kommend, tauchten Gestalten auf. Es waren die durch den ungeheuren Lärm erwachten Inder; mit schlaftrunkenen Gesichtern, die zugleich namenloses Entsetzen ausdrückten, schauten sie um sich. Da sahen sie die Menschen, die zwei Missgestalten, und nur mechanisch griffen sie nach den Waffen; dann stürzten sie Hals über Kopf in wahnsinniger Flucht davon, nicht anders meinend, als diese vermeintlichen Geister erzeugten das unheimliche Getöse.
»Es ist zu spät!«, murmelte Bega. »Besser wäre es für uns gewesen, sie wären tot, denn jetzt verraten sie uns. Doch gleichgültig! Was nun, Oskar?«
»Ins Freie! Wir schließen uns den Engländern an. Wir sind in Sicherheit.«
»Und ich?«
»Für dich, Bega, hafte ich.«
»Ich glaube, Oskar, du kannst es nicht. Bedenke, ich bin die Begum von Dschansi.«
»Du hast recht«, entgegnete Reihenfels niedergeschlagen.
»Komm, ich will dich zu den Deinen führen. Den Weg, den die Wächter genommen, dürfen wir nicht benutzen, denn er bringt uns in das Haus der Duchesse, mitten nach Delhi hinein. Wir gehen dorthin zurück, woher wir gekommen sind.«
Reihenfels zögerte noch.
»Ich gehe nicht eher, als bis du mir sagst, was du dann zu tun gedenkst.«
»Ach, Oscar, was soll ich tun! Mir ist längst klar geworden, dass, wenn ich von der Sache der Rebellen abfalle, ich auf beiden Seiten keinen Schutz mehr finden werde, dann — bin ich vogelfrei.«
»Und meinetwegen!«
»Ja, deinetwegen. Wüsstest du doch, wie gern ich es tue! Soll ich dir erklären, Oskar, warum ich vogelfrei werde? Warum ich auch niemals bei den Engländern Schutz zu erwarten habe, und warum mich selbst die Inder, die mich jetzt noch anbeten, verfolgen werden?«
»Ich weiß — Timur Dhar wird dafür sorgen«, entgegnete Reihenfels dumpf, »du Unglückliche, du!«
»Nenne mich nicht unglücklich; ich bin glücklich, dich dem Leben wiedergegeben zu haben.«
»Was nützt mir das Leben, wenn ich das deine verloren weiß! Nein, Bega, entweder wir leben zusammen, oder wir gehen unter, oder wir tragen gemeinsam das Schicksal, mag es kommen, wie es will.«
»Ich wusste, dass du so sprechen würdest«, rief Bega unter Weinen und Lachen zugleich und warf sich an die Brust des Geliebten.
Noch einen Kuss, noch einen stummen Liebesschwur, dann machten sie sich auf den Rückweg.
Plötzlich blieb Reihenfels wieder stehen.
»Ich glaube hier sind noch andere Gefangene.«
Bega musste es bestätigen; sie hatte auch im Augenblicke nicht daran gedacht und zugleich erklang aus dem zweiten Mauerloch eine wimmernde Stimme:
»Mister Reihenfels, vergessen Sie in der Freiheit Ihres Dieners nicht.«
»Das ist Kiong Jangs Stimme!«, rief Reihenfels sofort.
»Ja, ich bin's.«
»Nein, wir lassen dich nicht zurück.«
»Auch Hira Singh muss in der Nähe sein, wahrscheinlich neben meiner Zelle.«
»So befreien wir auch ihn.«
Bega war sofort bereit, die Brechstange noch einmal zu handhaben, ebenso August, und die anderen mussten sich fügen. Als unter Kulwas nervigen Fäusten die zweite Tür aufsprang, stürzte Reihenfels eine blutige Gestalt entgegen.
Jetzt war es möglich, die Kammer zu erleuchten, und man sah den mit Glasscherben gepflasterten Boden und den in der Mitte befindlichen schmalen Weg.
Mit ganz kurzen Worten teilte Kiong Jang mit, wie er schon lange, lange Zeit hier unten schmachte. Wie die Art seiner Folter war, konnte man selbst sehen. Seine Lampe war vor einigen Stunden erloschen, er war gestrauchelt, in die Glasscherben gestürzt und hatte sich erst wieder aufgerafft, als er Reihenfels Stimme vernommen hatte.
Jetzt, da der Unglückliche wieder auf gangbarem Boden stand, konnte er sich auf den geschwollenen Beinen nicht mehr halten; der starke Blutverlust hatte ihn auch erschöpft, und so brach er zusammen.
Dennoch zeigte sein Gesicht einen verklärten Ausdruck, denn zum ersten Male nach vielen Monaten konnte er sich wieder hinlegen, ohne sich zu verwunden.
Man ließ ihn vorläufig liegen; Mirja verband ihm notdürftig die frischen Wunden, während die anderen die dritte Tür sprengten.
Reihenfels wunderte sich nicht, als er darin Hira Singh fand. Vergebens suchte man ihn zu wecken; der Fakir lag in einem todähnlichen Schlafe, der jedoch weit verschieden war von dem, welchen er früher nach einer Suggestion in hypnotischem Zustand unter der Erde hatte. Er atmete tief, und sein Puls ging regelmäßig. Als alle Bemühungen, ihn zu wecken, fruchtlos waren, erriet Reihenfels die Art seiner Tortur.
Er war jedes Mal, wenn er einschlafen wollte, von seinen Wächtern wieder aufgerüttelt worden, eine Marter, welche auch bei uns in der sogenannten guten, alten Zeit mit Vorliebe angewendet wurde, besonders zur Zeit der Hexenprozesse. Sie galt als die fürchterlichste Folter und ward Tormentum insomnii genannt, wie man noch jetzt in den Richterurteilen lesen kann. Indischen Ursprunges ist diese Strafe also nicht.
Es blieb nichts anderes übrig, als Hira Singh und Kiong Jang einstweilen zurückzulassen, und zwar sollten sie im Schutz der unterirdischen Bewohner bleiben. Diese suchten einen versteckten Platz aus, während sich Reihenfels, Bega und August an die Oberwelt begeben wollten.
Noch gab sich Reihenfels Mühe, Kulwa das Getöse zu erklären, das ununterbrochen fortwährte, als eine neue Person auf dem Schauplatze erschien.
Ein heftiges Laufen erscholl in dem dunklen Gange, eine Gestalt stürzte hervor, auf die Gruppe zu.
Bega richtete ihre Laterne so ein, dass der Fremde hell von dem blendenden Strahle getroffen wurde, während sie selbst im Dunkeln stand.
»Timur Dhar — die Begum!«, erklang es gleichzeitig, der erste Ruf bestürzt, letzterer erstaunt.
Es war wirklich Timur Dhar.
Er hielt sich die rechte Hand vor die Augen, weil der Lichtstrahl ihn blendete. Er konnte auch nichts sehen, musste aber sogleich ahnen, was vorgegangen war — denn was hatte die Begum hier zu suchen — und mit einem Wutschrei sprang er vorwärts.
»Die Begum — Verrat — fahre zur Hölle!«, schrie er mit heiserer Stimme.
Die rechte Hand noch immer über den Augen, riss er mit der Linken den Dolch aus dem Gürtel und stürzte — nicht auf Bega, sondern auf Mirja zu, die er wahrscheinlich, von dem Licht geblendet, für die Begum hielt.
Das Mädchen konnte dem Stoße nicht mehr ausweichen, es wäre verloren gewesen. Da aber saß plötzlich mit einem Sprunge Kulwa vor ihr, das Maul weit aufgerissen, die sonst glanzlosen Augen wie feurige Kohlen anzusehen.
»Ah, Kulwa, du«, knirschte Timur und zog den Dolch noch einmal zurück.
Doch im nächsten Augenblick stieß er zu, seine mit dem Dolche bewaffnete linke Hand verschwand tief in dem Schlunde des Froschmenschen.
Reihenfels hob das Brecheisen, den Gaukler niederzuschlagen, doch nun geschah etwas so Entsetzliches, dass es allen die Bewegung raubte.
Kulwa hatte den Stoß, der ihm Hals und Gaumen durchbohren musste, ohne zu wanken ausgehalten. Dann klappte sein Rachen — anders konnte man ihn wohl nicht bezeichnen — zusammen, das Handgelenk vermochte den furchtbaren Kiefern keinen Widerstand zu bieten, sie glichen haarscharfen Messern, es knackte und krachte, ein markerschütternder Schrei — und Timur Dhar taumelte zurück. Sein ausgestreckter, linker Arm besaß keine Hand mehr, aus dem Stumpf sprudelte ein Blutquell.
Alles dies war in einem Augenblicke geschehen. Die Umstehenden standen wie erstarrt da; niemand konnte an die Wirklichkeit des Geschehenen glauben.
Da ließ Bega die Lampe voll leuchten.
Der Gaukler war nicht mehr zu sehen. Nur einige Blutstropfen zeigten an, dass er den Weg zurück genommen hatte, den er gekommen war.
Und Kulwa?
Dieser saß wie gewöhnlich gleich einem Frosch mit langausgestreckten Beinen da, die blutleeren Lippen fest geschlossen, die Augen auf Mirja gerichtet.
Wortlos erhob er die Hand, den Weg anzeigend, nahm den schlafenden Hira Singh in den einen Arm und hüpfte schnell davon.
Die anderen folgten ihm, manchmal glaubend, dies alles nur geträumt zu haben.
Wo in aller Welt war nur die Hand des Gauklers mit dem Dolch geblieben? Äffte sie nur ein Trugbild? Musste Kulwa nicht den Dolch in der Gurgel stecken haben? Oder hatte er beides einfach verschluckt?
Die Frage konnte noch nicht gelöst werden. Jedenfalls war zu vermuten, dass der Froschmensch nicht verwundet worden, denn er hüpfte mit einer Schnelligkeit voraus, dass die anderen ihm kaum folgen konnten.
Reihenfels, dessen Kraft durch die Gefangenschaft nicht geschwächt worden war, hatte Kiong Jang in seine Arme genommen. Da wurde er von Phangil aufgefordert, ihm den Chinesen auf den Rücken zu setzen, und die bärenähnliche Missgestalt trabte davon, als hätte sie keine Last zu tragen.
Als sie das Quartier der lichtscheuen Wesen erreicht hatten, drehte sich Kulwa um und deutete, ohne den Mund zu öffnen, mit der Hand in die Richtung voraus. Seine Aufforderung war so dringend, dass sie nicht missgedeutet werden konnte: Flieht unverzüglich weiter, verlasst uns, wir wollen allein sein.
»Und dieser Unglückliche, dieser Schlafende?«, warf Reihenfels noch einmal ein. Heftig deutete Kulwa ihm mit Handbewegungen an, dass beide hier bleiben sollten. Mirja hatte ihn am besten verstanden.
»Geht, flieht!«, drängte sie. »Kulwa will allein sein. Ich will für diese Sorge tragen.«
Kulwa ließ ihnen kaum Zeit, Mirja die Hand zu geben. Reihenfels fühlte das Bedürfnis, der Jüdin, die unmöglich hier glücklich sein konnte, ein tröstendes Wort, eine Hoffnung zu hinterlassen. Doch Kulwa durfte davon nichts hören, und er sprach Indisch, vielleicht auch Englisch. Reihenfels hatte aber bei seinem früheren, kurzen Aufenthalt Mirja hebräisch beten hören.
»Wir danken dir, Mirja«, sagte er daher zu ihr in der Sprache ihrer Väter, »sind wir in Freiheit, so werden wir deiner gedenken. Du bist zu jung und zu schön, als dass es dein freiwilliger Wunsch sein könnte, hier unten zwischen feuchten Mauern zu verschmachten.«
Ehe Mirja noch das Staunen überwunden hatte, plötzlich im reinsten Hebräisch, das besser der gelehrteste Rabbiner nicht reden konnte, angesprochen zu werden, hatten sich Reihenfels, Bega und August, Kiong Jang noch einmal zuwinkend, schon entfernt. Das von Phangil schnell angeschürte Feuer flackerte auf, aber sein Schein reichte nicht weit. Schon nach einigen Schritten waren die drei in der Finsternis verschwunden.
Noch brüllten oben die Kanonen, erfüllten die Gewölbe mit donnerndem Echo und ließen die Mauern erbeben.
Es war, als teilten sie ihr Zittern dem Körper Kulwas mit, der bis jetzt regungslos dagesessen hatte, seine Augen wie gewöhnlich unverwandt auf die schlanke Gestalt Mirjas geheftet.
Dann wandte er sich langsam um, als wolle er etwas den Blicken seiner Genossen verbergen, und mit Schaudern sah Mirja plötzlich, wie er hinter sich in das trübe Wasser des Kanals eine blutige Hand warf, die noch einen Dolch umklammert hielt.
Es war die abgebissene Hand Timur Dhars; er hatte sie erst jetzt aus seinem Munde entfernt.
Gleichzeitig neigte Kulwas Körper sich schwer zur Seite, er brach zusammen, und aus seinem Munde stürzte ein Blutstrom.
Mit einem unartikulierten, nicht wiederzugebenden Schrei warf sich Phangil über ihn, rang die Hände, raufte die Haare und verfluchte die Fremden, die ihn seines Kameraden, des einzigen Wesens, dem er sich anschließen konnte, weil er von gleicher Missgestalt war, beraubt hatten.
Er wusste, wie auch Mirja, dass das Herausziehen des Dolches, der bis jetzt die Wunde verstopft hatte, Kulwas Tod bedeutete.
»Ich sterbe«, röchelte dieser, »lebe wohl Phangil — wir haben treu zusammengehalten — du hast mich großgezogen — als du mich aus dem Wasser fischtest — man wollte mich Scheusal töten — du wurdest mir Vater und Mutter — ich danke dir — lebe wohl!«
Er drängte fast heftig Phangil von sich und winkte Mirja zu sich heran. Tränenden Auges beugte sich das Mädchen über ihn und küsste ihm die unförmliche Hand. Als er sprechen wollte, trocknete sie seinen blutigen Mund.
»Ich habe Unrecht an dir begangen«, flüsterte er mit brechender Stimme, »jetzt, da ich sterbe, sehe ich es ein — ich durfte dich nicht hier unten festhalten — verzeihe mir, Mirja — ach, jetzt begreife ich, wie du die Sonne so sehr lieben kannst — du warst meine Sonne in finsterer Nacht — dich liebte ich — verzeihe mir, Mirja!«
»Ich habe dir nichts zu verzeihen«, schluchzte das Mädchen, »stirbst du doch für mich!«
»O, wenn du wüsstest, Mirja, wie gern ich für dich sterbe! Du sollst nicht hier unten verschmachten, gehe hinauf zur Sonne, die du liebst. Ach, dass ich dich davon abhalten konnte! Phangil«, wandte er sich wieder an diesen, »du wirst sie nicht daran hindern, du wirst sie ziehen lassen. Auch du bist alt und wirst bald sterben.«
Phangil nickte nur.
Eine lange Pause trat ein. Kulwa, auf dem Rücken liegend, blickte nach oben, und seine starren Augen nahmen einen immer verklärteren Ausdruck an.
»Mirja«, flüsterte er dann, »ist es wahr, was du mir einst erzähltest, als ich dir den behaarten Wurm zeigte? Ist es wahr, dass aus diesem, wenn er stirbt, der leichte, bunte Vogel wird, der sich auf Blumen wiegt, ohne sie zu beugen? Erzähle es mir noch einmal, ich kann es noch immer nicht glauben.«
»Es ist so. Wenn die hässliche Raupe stirbt, so entsteht aus ihr der prächtige Schmetterling.«
»Ich möchte auch solch ein Schmetterling werden.«
»Wenn deine Seele den Körper verlässt, wird sie wie der Schmetterling sein, noch schöner und leichter.«
»Mir ist, als könnte ich so fühlen, es wird mir so leicht«, flüsterte Kulwa. »Mirja, sing mir das Lied, von dem weisen Manne, der alles wusste und kannte. Du hast es mir manchmal erzählt. Damals glaubte ich nicht daran, aber jetzt kann ich es glauben.«
Mirja sah die Augen brechen, sie sang die Verse im 12. Kapitel des Predigers Salomo:
Es reißt die silberne Kette,
Die goldene Schale zerbricht;
Der Eimer der Quelle zertrümmert,
Das Rad am Brunnen zerschellt;
Der Staub kehrt wieder zur Erde,
Von der er gekommen ist,
Der Geist aber geht zum Allvater,
Der ihn gegeben hat.
Noch einmal gewannen die schon erloschenen Augen einen verklärten Ausdruck, wie sehnsüchtig breitete er beide Arme aus.
»Ich sehe eine Sonne«, flüsterte er leise, »ich kann fliegen — nach dieser Sonne fliegen — ich bin frei!«
Ein Zittern ging durch seinen Körper; aus der hässlichen Larve schlüpfte der Schmetterling und schwebte leichtbeschwingt zum Allvater zurück.
Wie schon erwähnt, galt als sicherster Platz Delhis während der feindlichen Kanonade der Residenzpalast des Großmoguls, weil sich in die winkligen Gänge, geschützt von einer dicken Mauer, nicht so leicht eine Granate verirren konnte.
So bewohnte auch die Duchesse einige Gemächer desselben, und als die Kanonade der Engländer für einige Tage schwieg, weil die Breschen geschossen waren, verließ sie doch das sichere Haus nicht, denn jede Stunde konnte der Sturm und damit wieder die Bombardierung der Stadt beginnen.
Man wartete sehnsüchtig auf eine Meldung Nana Sahibs, dass er einen Sieg über die Engländer erfochten hätte, aber der Radscha ließ nichts von sich hören.
Isabel kümmerte sich nicht viel darum, ob Siegesnachrichten eintrafen oder nicht. Es war ihr überhaupt ganz gleichgültig, wie es mit der Sache der Rebellen stand.
Sie beschäftigte sich vielmehr ganz allein mit ihren Privatinteressen; sie konnte vor Zorn rasen, wenn sie daran dachte, dass Emily durch den Tod, den sie selbst verschuldet, ihrer Rache entgangen war, denn ganz hatte sie diese noch nicht gestillt. Sie hatte es sich viel schöner ausgemalt, wie sie die verhasste Schwester demütigen wollte.
Ferner kochte Isabel vor innerlicher Wut, weil sie bemerkte, dass man sie von Tag zu Tag mehr als einen überflüssigen Gegenstand behandelte. Weder die Begum noch Timur Dhar noch Bahadur kümmerten sich jetzt um sie. Man fragte sie nicht mehr wie früher um Rat; man brauchte sie während der Belagerung nicht, sie schien einfach Luft zu sein.
Das ränkevolle Weib, das überdies an einer Krankheit litt, die ihre Nerven bis zum Wahnsinn aufregte, brauchte Zerstreuung, die Befriedigung ihres Rachegelüstes war bei ihr zur Sucht geworden, sie dürstete nach etwas, sie sehnte eine Person herbei, an der sie ihre maßlose Wut auslassen konnte.
Ihre Diener liefen sämtlich davon, weil sie dieselben unbarmherzig schlug; ja, sie konnte sich nicht einmal beherrschen, ihre Wut nicht an toten Gegenständen auszulassen.
Solchen Ausbrüchen folgten Zeiten tiefster Abspannung.
Musste sie nach dem Mittel greifen, sich aus der tödlichen Lethargie aufzuraffen, so brach auch sofort wieder die Leidenschaft hervor, ihren Hass an irgend etwas zu befriedigen.
Ha, wenn sie an Dollamore dachte!
Diesen Mann hatte sie geliebt und er sie verschmäht, eine andere ihr vorgezogen, eine Bajadere!
Sie wusste, dass diese Bajadere, Sakuntala, auf Befehl der Begum gefangengehalten, sonst aber gut gepflegt und behandelt wurde. Ihr Kerker befand sich ebenfalls in diesem Palaste.
Wenn Isabel diese in ihre Hände bekommen könnte! Wie wollte sie ihren Hass an der auslassen, derentwegen sie von Dollamore verschmäht worden war.
Isabel wusste ferner, dass Sakuntala streng bewacht wurde; denn die Priester Vishnus hatten einmal den Versuch gemacht, sich ihrer zu bemächtigen, um die Bajadere dem Scheiterhaufen zu überliefern, weil sie ihr Herz an einen Mann gehängt hatte. Das musste mit dem Feuertode bestraft werden.
Die rachedurstige Frau hätte Sakuntala also gar zu gern in ihrem Besitz gesehen, aber wie sollte sie das machen? Die Begum darum zu bitten, war natürlich nicht angängig, ebenso wenig Timur Dhar; denn dieser hatte mit jener einen Willen.
Sie dachte an Bahadur, bei diesem wollte sie einmal ihr Glück versuchen. Das früher so angesehene Weib durfte nicht mehr unangemeldet bei dem Peischwah eintreten, sie musste um eine Audienz bitten, und es dauerte einige Tage, ehe sie vorgelassen wurde.
Der fast neunzigjährige Großmogul unterhielt sich mit Francoeur, als Isabel eintrat. Er hielt es nicht für nötig, dem Weibe seines Neffen irgendwelche Beachtung zu schenken; er ließ sie stehen, drehte ihr nach kurzem Nicken den Rücken wieder zu und sprach weiter mit Francoeur, der Isabel ebenso wenig zu bemerken schien.
Eine Blutwelle übergoss Isabels Gesicht; sie grub die Zähne in ihre Unterlippe, bis rote Tropfen hervorsickerten.
Was die beiden besprachen, drehte sich um die Person Eugens, der jetzt aber Sirbhanga genannt wurde und den Titel Radscha von Dschansi führte.
Isabel war mit allem bekannt. Eugen war für die indische Sache gewonnen worden, er hielt die Begum für seine Geliebte und wusste nicht, dass Kalidafa, die der Begum sehr ähnlich sah, deren Stelle vertrat. Es war ein gefährliches Spiel, das man mit Eugen trieb, aber es führte zum Ziele.
Die Dschansinesen bildeten in Delhi eine bedeutende Macht, Eugen war von ihnen anerkannt worden, sie hatten ihm Treue geschworen und hingen ihm an. Er sollte einst König von Indien werden, ein Grund, dass sich die Dschansinesen als Elitetruppe fühlten und sich Mühe gaben, durch Tapferkeit ihr Ansehen aufrecht zu halten.
»Welchen Platz teilst du Sirbhanga zu?«, fragte eben Bahadur den Befehlshaber der Festung.
»Die südlichen Wälle«, entgegnete Francoeur. »Denn stürmen die Engländer, so rücken sie jedenfalls dort zuerst vor. Dort sind die meisten und größten Breschen, dort werden die tüchtigsten Leute gebraucht, und Sirbhanga hat englische Schule genossen. Die Dschansinesen gehen für den Sohn ihres ehemaligen, geliebten Fürsten durchs Feuer.«
Als die Unterhaltung kein Ende nehmen wollte, hustete Isabel vernehmlich. Bahadur wendete den Kopf.
»Nun?«, fragte er kurz.
»Du gewährtest mir eine Audienz«, sagte Isabel, ihren Zorn kaum noch beherrschen könnend.
»Ja. Aber siehst du nicht, dass wir jetzt Wichtigeres zu tun haben, als die Bitten von Weibern anzuhören?«
»Bahadur, ich bin die Gattin Nana Sahibs!«
»So gehörst du in seinen Harem!«
»Du hast mir eine Audienz gewährt, ich bin vorgelassen worden und bitte jetzt um Gehör.«
»Was willst du?«
»Ich habe eine Bitte...«
»Sprich schnell!«
»Früher, als ich gebraucht wurde, behandelte man mich ganz anders.«
»Die Zeiten ändern sich eben.«
»Ich werde kaum noch beachtet.«
»Das ist mit noch manchem anderen der Fall. Nur der, der etwas leistet, findet Beachtung. Nun, also?«
Isabel sah das höhnische Zucken um die Mundwinkel Francoeurs, und furchtbarer Grimm schnürte ihr Herz zusammen. Sie zerknitterte nervös das Spitzentuch in der Hand.
»Ehe ich dir mein Anliegen mitteile, bitte ich, dass dieser Mann sich entfernt.«
»Wen meinst du?«
»Diesen da.«
»Sahib Francoeur? Sprich mit mehr Achtung von ihm!«
»Lass ihn sich entfernen.«
»Warum? Er bleibt.«
»Ich möchte mit dir allein sprechen.«
»Er bleibt, ich habe kein Geheimnis vor ihm. Sprich schnell oder verlasse das Gemach!«
Isabel bebte vor Wut; sie sah Francoeur jetzt sogar höhnisch lächeln. Er gab sich nicht einmal mehr Mühe, es ihr zu verbergen.
Doch was half's? Sie musste nachgeben oder unverrichteter Sache wieder abziehen.
»Ich bitte um eine Person, welche du gefangen hältst!«
»Schon wieder einmal? Du hast eine merkwürdige Vorliebe für Gefangene.«
»Ich interessiere mich für sie.«
»Also abermals ein Weib? Nein, Ayda, die Gefangenen gehören als Geiseln Indien, nicht mir! Ich habe sie nicht zu verschenken.«
»Du irrst, es ist keine Geisel!«
»Wer ist es?«
»Sakuntala.«
»Ah, nun ist mir alles klar! Nein, Ayda, du erhältst die Geliebte Dollamores nicht.«
»Warum verweigerst du sie mir?«
Drohend, mit gerunzelter Stirn trat Bahadur einen Schritt auf sie zu.
»Warum? Das wagst du zu fragen? Weil ich nicht will! Verstehst du mich?«
Isabel setzte alle Willenskraft daran, sich zu beherrschen. Es gelang ihr nicht ganz.
»Ich glaube das Recht zu besitzen, eine solche Bitte zu stellen«, entgegnete sie mit vor Zorn bebender Stimme.
»Womit willst du dir dieses Recht verdient haben?«
»Durch meine Dienste. Ich war es, die hauptsächlich den Aufstand vorbereiten half.«
»Und bist du nicht belohnt worden?«
»Mit was?«
»Dir wurde Lady Carter ausgeliefert, damit du deine Rache an ihr befriedigen konntest.«
»Sie starb mir zu zeitig.«
»Durch deine Schuld, dafür kann ich nicht. Genug davon! Hast du sonst noch eine Frage?«
»Du willst mir Sakuntala nicht überlassen?«
»Nein, sage ich«, rief Bahadur heftig und deutete dabei mit nicht misszuverstehender Handbewegung nach der Tür.
Isabel entfernte sich ohne Gruß; sie zitterte, ihr Gesicht war feuerrot. Im Weggehen sah sie noch einmal die schadenfrohe Miene Francoeurs.
Auf ihrem Zimmer angekommen, brach ihre lange zurückgehaltene Wut mit maßloser Heftigkeit aus. Sie glich einer Wahnsinnigen. Sie drückte die Nägel ins eigene Fleisch, spie aus, knirschte mit den Zähnen, durchstach die Polster mit einem Dolche, zerschlug einige Marmorbüsten, riss die Bilder von den Wänden und trat mit den Füßen darauf.
Dann rief sie nach den Dienern, aber sie musste lange rufen, ehe eine junge Inderin mit ängstlichem Gesicht erschien. Sie schlug das arme Geschöpf mit Fäusten, riss es an den Haaren und misshandelte es sonst noch auf grausame Art, bis sich das Mädchen ihr durch Flucht entzog, um nie wiederzukommen.
Lieber wollte es sich draußen auf den Schanzen den indischen Soldaten hingeben, als hier solche Behandlung erleiden.
Endlich machte sich bei Isabel die tiefste Abspannung geltend. Sie fiel plötzlich zu Boden und lag wie leblos da. Ihr Busen hob sich kaum noch, alle Farbe hatte sie verloren.
Dann änderte sich abermals ihr Zustand. Zuckungen traten ein; in Krämpfen wälzte sie sich am Boden, und dabei stieß sie ein markerschütterndes Jammergeschrei aus. Es war, als würde sie von den fürchterlichsten Schmerzen gepeinigt. Sie wollte sich erheben, vermochte es aber nicht.
Diesmal rief ihr Geschrei Babur, ihren alten Diener, herbei. Auf ihr Rufen wäre er nicht gekommen.
Jedenfalls bot sich keine ihm neue Szene dar.
Er hob seine Herrin, die hilflos wie eine Puppe war, auf den Diwan und entnahm dem Toilettentischen das, wonach die krampfhaft verdrehten Augen Isabels schon lange blickten: eine kleine Glasspritze und ein Fläschchen.
Während ihr Jammern fortwährte, entblößte er ihr den Arm und bohrte die Spitze der Glasröhre, die er zuvor mit der dunkelbraunen Flüssigkeit des Fläschchens gefüllt hatte, in der Nähe des Handgelenks unter die Haut.
Als sich die Spritze entleert, hörte Isabels Jammern auf, die Brust wurde vom Krampf befreit, sie atmete ruhiger, und etwas Rot kehrte auf ihren Wangen wieder; auch die Augen begannen etwas zu glänzen.
»Danke dir, Babur«, sagte sie mit einem aus dem Herzen kommenden Seufzer, »es war wieder einmal die höchste Zeit. Ich hatte die Stunde verpasst.«
»Das Morphium wird alle«, murmelte Babur.
»Es gibt noch genug in Delhi. Schicke mir die Zofe zum Umkleiden für die Nacht.«
Babur zog die Fenstervorhänge zu, brannte die Ampel an und entfernte sich. An seine Stelle trat eine Inderin, welche der Herrin beim Umkleiden behilflich war.
Es galt nicht etwa, Bett-Toilette zu machen, sondern nur ein anderes Kleid anzulegen. In allen heißen Gegenden zieht man sich zu verschiedenen Tageszeiten vom Kopf bis zu den Füßen um; in Indien wechseln die Damen oft fünfmal und noch öfter ihre Toiletten, viele bringen ihre ganze Zeit damit zu. Auch die Männer kleiden sich oft am Tage um, weil die frischen Sachen kühlend wirken.
Isabel legte eine leichte und bequeme Abendtoilette an, für das Haus berechnet, aber dennoch elegant genug, um jeden Besuch empfangen zu können. Durch die Morphiumeinspritzung waren ihre Lebenskräfte wiederhergestellt, ihr Geist klar geworden. Die zaghafte Dienerin wunderte sich fast, heute weder gescholten noch geschlagen zu werden. Isabels Gedanken waren eben mit etwas anderem beschäftigt.
Zwar war ihr Herz noch immer mit Hass und Gram erfüllt über die Behandlung, die ihr, der stolzen Isabel, der Gattin des Maharadschas Nana Sahib, zuteil geworden war, aber sie ließ ihre Wut nicht mehr an anderen Personen aus, sondern brütete darüber nach, wie sie Rache nehmen könnte, ja, sie schwelgte schon in Rachebildern, und finster runzelte sich die weiße Stirn zusammen, wenn sie daran dachte, dass sie fast gar keine Möglichkeit hatte, an Bahadur jemals Vergeltung üben zu können.
Nach einer Stunde war die Toilette beendet, das Haar in anderer Form frisiert.
Vor dem Spiegel musste sich Isabel selbst sagen, dass sie noch immer schön, sogar sehr schön war. Das in allen Farben schillernde lila Seidenkleid umwallte in unzähligen Falten ihre volle Gestalt, der silberne Schuppengürtel umschloss die dennoch schlanke Taille, das tiefausgeschnittene Brustteil ließ den hochgewölbten, blendendweißen Busen sehen, und als sie sich anschickte, einen Diamantschmuck im Haar zu ordnen, entblößten die weiten Ärmel die runden, schneeigen Arme.
Aber für wen schmückte sie sich? Was hatte diese Toilette für einen Zweck? Jetzt, in dem belagerten Delhi, gab es keine Männer zu betören! Isabel hätte es auch nicht getan, wenn sie nicht einen besonderen Zweck dabei gehabt, und der wäre gewesen, ein Werkzeug zur Rache an Bahadur zu gewinnen.
Wer aber wäre dazu geeignet? Sie wusste niemanden. Stunde nach Stunde durchschritt sie das Gemach, musterte sich ab und zu im Spiegel und brütete über Rachegedanken. Sie fand keine.
Es wurde spät. Isabel konnte bald daran denken, sich abermals umkleiden zu lassen, diesmal für die Nachtruhe. Da trat nach schüchternem Anklopfen Babur herein.
»Ein Mann ist draußen, er wünscht dir vorgeführt zu werden, Herrin«, meldete er.
»Ein Mann? Wer ist es?«
»Er nennt nicht seinen Namen.«
»Wie sieht er aus?«
»Er ist sehr, sehr ärmlich gekleidet, fast wie ein Bettelfakir. Das Gesicht hat er verhüllt.«
Derartige Besuche waren jetzt im Kriege nichts Außergewöhnliches. Doch Isabel hatte keine Lust, sich mit solchen heimlichen Besuchen einzulassen. Da sah sie im Gesicht Baburs einen seltsamen Ausdruck. Sie trat auf ihn zu.
»Du weißt, wer es ist«, sagte sie streng, »sprich, Babur.«
»Nein, Herrin, ich weiß es nicht«, entgegnete Babur befangen, was seine Worte Lügen strafte.
»Doch, du weißt es. Belüge mich nicht!«
»Ja, ich weiß es.«
»Wer ist es?«
»Das — das darf ich nicht sagen.«
»Warum nicht?«
»Ich darf es nicht — er will nicht erkannt sein, Herrin.«
Es war also kein gewöhnlicher Besucher.
»Führe ihn herein!«, entschied Isabel.
Vor ihr stand ein kleiner Mann in schmutziger Bettlerkleidung, das Gesicht mit einem Lappen bedeckt. Der Mann benahm sich, als wäre er hier zu Hause, er ließ sich auf einen Diwan fallen, wobei ein dumpfes Stöhnen hinter dem Tuche hervordrang.
»Wer bist du?«, fragte Isabel, die noch keine Ahnung hatte, wer es sei, bestürzt. Das Tuch sank herab; sie erblickte ein hässliches Gesicht.
»Nana Sahib!«, flüsterte sie erstaunt. Ihn hatte sie am allerwenigsten hier vermutet.
»Ja, Nana Sahib!«, ächzte der Radscha. »Alles, alles ist vorbei; verflucht sei Allah und sein Prophet!«
»Nana Sahib«, wiederholte Isabel, noch immer fassungslos, »ich denke, du bist auf den Schlachtfeldern von Khanpur?«
»Verflucht, dass ich auf Bahadurs Rat gehört habe und so viel Reiterei mitnahm. Verflucht seien die Magazingewehre der Engländer!«
»Du bist geschlagen? Nun, tröste dich; es haben schon andere Männer als du Schlachten verloren! Aber wie kommst du hierher? Du als Bettler? Wo steht jetzt dein Heer?«
»Mein Heer?«, lachte Nana Sahib grimmig, »ich habe keins mehr!«
»Was?«
»Zersprengt, getötet — alles in Staub getreten! Verflucht sei dieser Havelock!«
Isabel hatte sich gesammelt. Sie wusste jetzt, wie es mit Nana Sahib stand, und sein Schicksal berührte ihr Herz gar nicht.
»Lass dein Fluchen«, sagte sie kalt, »es nützt dir gar nichts. Wo bist du geschlagen worden?«
»Auf der Straße nach Khanpur«, ächzte der geschlagene Fürst. »Havelock griff uns mit Übermacht an; meine Reiterei erwies sich als nutzlos, sie fiel unter dem Schnellfeuer, darauf ein Bajonettangriff, dann brach die englische Kavallerie vor.«
»Und dann?«
»Dann war alles vorbei.«
»Ihr zogt euch zurück?«
»Verflucht! Weib, reize mich nicht!«, fuhr er auf. »Wir zogen uns nicht zurück.«
»Ihr floht.«
»Ja, wir flohen. Zerrissen wurden wir, versprengt, zerstäubt — nicht fünf Mann blieben beisammen.«
»Kein Sammeln?«
»Nichts, nichts. Ich weiß nicht, wo sie sind. Der eine floh dahin, der andere dorthin — selbst ich, der Führer, war allein. Ich floh nach Delhi zu; als Bettler verkleidet, schlich ich mich heute Nacht durch das englische Lager in die Stadt. Ich wurde nicht erkannt, auch hier noch nicht. Ah, ich bin dem Tode nahe!«
Erschöpft ließ er sich zurücksinken.
Isabel musste tun, als interessiere sie sich doch für das Schicksal des Aufstandes, während sie schon wieder ränkevolle Pläne schmiedete.
»Bah, nimm dir's nicht zu sehr zu Herzen. Das ist einmal Unglück. Der Krieg hat erst begonnen, wir haben tüchtige Kräfte, die noch nicht ins Feuer geführt worden sind.«
»Wen?«
»Den König oder vielmehr Exkönig(*) von Oudh.«
(*) Ali-Khan war schon 1856 entthront worden.
»Ali-Khan?«, rief Nana Sahib verächtlich. »Das ist ein Weib.«
»Dafür rechnet mit seiner Mutter, der Begum von Oudh, welche Heynat Mahal, der einzige Mann ihrer Familie genannt wird. Wählt tüchtige Führer, aber keine Inder, sondern Faringis, Franzosen!«
»So wie Francoeur!«
»Bah, Francoeur ist kein Feldherr, sondern ein Schuster, der etwas von Geschützkunde versteht. Am Hofe von Oudh lebt Ventura, ein alter Napoleonide. Wählt ihn zum Führer, dann wird sich das Waffenglück bald ändern. Du musst einsehen, Nana Sahib, dass ihr Inder als Feldherren den englischen Generälen nicht gewachsen seid. Du sagst, du hättest dich unerkannt in Delhi eingeschlichen?«
»Niemand hat mich erkannt, höchstens Babur. Das Losungswort am Tore war das alte. Du bist die erste, die den Untergang meines Heeres erfährt.«
»Wie? Auch mit Bahadur hast du noch nicht gesprochen?«
Nana Sahib, der stolze Radscha, schämte sich nicht, sein Gesicht in den Händen zu verbergen und tief aufzustöhnen.
»Ich kann mir denken«, fuhr Isabel fort, »wie schwer es dir fällt, dich ihm zu offenbaren. Aber es muss geschehen.«
»Nicht jetzt, nicht diese Nacht. Ich bedarf der Erholung. Diese Kämpfe, diese Strapazen!«
»Daher auch diese vielen Wunden.«
Wütend fuhr er auf. Er fühlte den Spott; denn er sah wohl aus wie ein Flüchtling, mit Staub und Kot bedeckt, aber nicht wie ein Krieger, denn er zeigte nicht eine einzige Wunde.
»Weib, willst du mich verhöhnen?«
»Durchaus nicht — verzeih mir! Wann willst du dich Bahadur entdecken?«
»Morgen, nur nicht diese Nacht noch! Ich muss ruhen und überlegen, wie ich mein Unglück wende. Ayda, du bist klug, du wirst mir raten.«
»Gut, morgen früh sprechen wir darüber«, entgegnete sie, die vorhin angegebene Stellung vor dem Spiegel noch einmal annehmend, das heißt die Arme hochhebend, wodurch ihre prächtige Gestalt ins beste Licht kam. »Ich lasse dir jetzt ein Bad bereiten, dir bequeme Kleider bringen und ein Nachtzimmer zurecht machen. Nach einem gesunden Schlafe wird dir deine Lage weniger verzweifelt erscheinen.«
Sie begab sich in ein anderes Zimmer, nahm aus einem Wandschranke zwei Fläschchen und rief Babur.
»Weißt du, wer der Fremde ist?«, forschte sie.
»Ja, Herrin.«
»Gut! Bereite ihm ein Bad und sorge für seine Bequemlichkeit. Dies gießt du in das Bad, dies in das Sorbet, das er nach dem Baden zu trinken pflegt. Er braucht es nicht zu sehen. Verstehst du?«
Babur blinzelte nur mit den Augen und nahm die beiden Mixturen. Isabel ging zu Nana Sahib zurück, den sie in Brüten versunken noch auf dem Diwan sitzend fand.
»Soll ich dir noch Gesellschaft leisten, mein Freund?«, fragte sie schmeichelnd und strich mit ihrer weichen Hand über seine Stirn, als wolle sie die tiefen Falten verscheuchen.
»Tu, was dir gefällt!«, entgegnete er rau.
»Puh, bist du kurz! Nun denn, gute Nacht mein Freund, ich bin müde.«
Damit verließ sie das Zimmer, hatte aber, ehe sie ihr Schlafkabinett betrat, noch eine längere Unterredung mit Babur.
Als Nana Sahib dem aromatisch duftenden Wasser entstieg, fühlte er sich wie neu geboren, und nachdem er den vom Diener gereichten Trank geleert hatte, rann sein Blut feuriger durch die Adern. Schon sah er alles in freundlichem Lichte, aber noch diese Nacht zu Bahadur zu gehen, passte ihm nicht, etwas Anderes fiel ihm ein.
Während er sich die frischen Kleider überwarf, gedachte er Isabels, wie schön sie noch war, wie verführerisch sie in der Toilette ausgesehen hatte, und sein Entschluss stand fest, nach langen Kriegsstrapazen den Genuss des Wiedersehens völlig zu kosten.
Er kannte die Räumlichkeiten hier; ohne zu fragen, fand er den Weg zum Schlafkabinett seines Weibes. Die Tür war nur angelehnt, es brannte Licht darin. Ohne sich durch ein Geräusch anzumelden trat er ein.
Isabel saß in einem Lehnstuhle vor dem eleganten Pfeilerspiegel und machte Nachttoilette, und zwar allein, ohne fremde Hilfe. Eine Dienerin war nicht anwesend.
Das prächtige, schwarze Haar fiel entfesselt über die entblößten Schultern mit ihren runden, vollen Linien, der Pudermantel von weißer Wolle hing zurückgeschlagen um die volle, kräftigüppige Gestalt.
Sie sah den Eintretenden im Spiegel und fuhr hastig herum.
»Ach — du bist es«, rief sie gleichgültig, »ich glaubte dich schon schlafend. Ich finde es übrigens sehr unschicklich, ohne anzuklopfen mein Gemach zu betreten.«
Der Radscha machte, ihr im Spiegel bemerkbar, ein spöttisches Gesicht.
»Ich dächte, ich hätte das Recht, dich jederzeit und auch unangemeldet zu besuchen.«
»So, meinst du?«
»Denkst du anders, Ayda?«
»Nun, meinetwegen, obgleich ich seinerzeit mit dir ausgemacht hatte, dass du ohne meine Erlaubnis mein Schlafgemach nicht betreten darfst. Ich habe meine Dienerin zu Bett geschickt, sie klagte über Kopfschmerzen, und du hast immer Anlage zur Kammerzofe gehabt. So vertritt du sie denn.«
»Sehr schmeichelhaft! Seit wann bist du denn so zartfühlend gegen deine Dienerinnen geworden?«
»Ich bin's eben geworden.«
»Auch gegen mich?«
»Das kommt auf dein Betragen an. Ich hoffe, du weigerst dich nicht, die Kammerzofe zu vertreten.«
»Ich bin mit Vergnügen dazu bereit.«
»So schnüre meine Stiefel auf«
Sie hob nachlässig den mit einem gelben Schnürstiefelchen bekleideten kleinen Fuß und legte ihn auf ein nebenstehendes Taburett. Dabei fiel der gestickte Rand des kurzen Nachtrockes über die schöngeformte, kräftige Wade zurück.
Isabel kannte Nana Sahib ganz genau. Sie wusste, dass sie, wenn sie seine Sinnlichkeit reizte und ihm zugleich widerstand, alles, ja das Unmögliche erlangen, ihm seine wichtigsten Geheimnisse entreißen konnte. In den langen Jahren ihrer Ehe hatte sie nie davon Gebrauch gemacht, weil es nicht nötig gewesen. Sie verachtete diesen Mann übrigens im tiefsten Grunde ihres Herzens, sie ekelte sich sogar vor ihm.
Heute aber galt es, ihn zu benutzen.
Sie hatte sich auch nicht verrechnet, Nana Sahib war noch immer der alte, der sich als Kammerzofe gebrauchen und mit sich spielen ließ.
Seine Augen leuchteten beim Anblick des Fußes auf; wie elektrisiert stürzte er vor ihr auf die Knie und begann mit zitternden Fingern die Knoten der Bänder aufzulösen, die den kleinen Fuß bis hoch hinauf an die Wade einzwängten.
»Meine liebe Ayda!«, murmelte er berauscht.
»O, das dauert lange, bist du ungeschickt! Mach schnell!«
Sie stieß ihn mit dem Fuß ins Gesicht.
Er sprang nicht wütend über diese Behandlung auf, nein, der stolze Radscha nahm den Stoß wie eine Liebkosung hin und presste den Fuß an seine Lippen, ihn mit Küssen bedeckend. Er merkte daher auch nicht, welch ein Ausdruck von Verachtung und Widerwillen in dem schönen Gesicht lag, das sich über ihn beugte.
»Bist du endlich fertig? So, nun den anderen. Tue doch nicht, als führtest du mich erst heute ins Brautgemach. Wir sind so lange schon verheiratet, und die letzten Jahre haben wir uns höchstens einmal in Gesellschaft gesehen.«
»Eben darum!«
»Ach was, sei kein Tor. Das ist längst vorüber. Ziehe den Strumpf aus! O, so ungeschickt! Du musst doch erst das Band lösen.«
Kokett hob sie den Rock und ließ ihn das Samtband aufknüpfen, das nach französischer Art den seidenen, durchbrochenen Strumpf oberhalb des Knies umschloss.
Nana Sahibs Gesicht war mit einer dunklen Röte bedeckt, seine kleinen, stechenden Augen flammten, sein Körper wurde wie vom Fieber geschüttelt. Stürmisch umklammerte er plötzlich ihre Knie und drückte sie an sich.
Mit einer raschen Bewegung machte sie sich frei und schob den Stuhl so schnell zurück, dass er fast zu Boden gestürzt wäre.
»Ruhig Blut, edler Radscha, ruhig Blut!«, scherzte sie. »Ich möchte dich noch immer darauf aufmerksam machen, dass wir über die Jugendtorheiten hinaus sind. Gib mir die arabischen Pantoffeln dort.«
»O, Ayda, ich mache wahrhaftig Ernst.«
»Unsinn, du treibst dein Spiel mit mir.«
»Ich schwöre dir...«
»Was?«
»Ich liebe dich!«
»Hahaha, köstlich! Wie ein zwanzigjähriger Jüngling!«
»Ayda, du bist mein Weib!«
»Noch einmal: ruhig Blut! Zunächst habe ich mit dir ausgemacht, dass du mich nicht wie ein Haremsweib zu behandeln hast, sondern wie eine Engländerin, und dann weißt du, dass mit mir im Bösen nichts anzufangen ist.«
»Nicht im Bösen. Ich meine es gut!«
»Als englische Frau habe ich das Recht, dir die Tür zu weisen.«
»Das wirst du nicht tun!«
»Je nachdem du dich beträgst. Kammerzofe, stecke mir die Pantoffeln an die Füße!«
Gehorsam tat er es. Dann sprang er auf und begann mit funkelnden Augen im Zimmer umherzulaufen, während sie ihr Korsett aufnestelte.
»Himmel und Hölle!«, stieß er hervor. »Was für alberne Gedanken mache ich mir? Ich, Radscha Nana Sahib, soll Bahadur fürchten? Lächerlich! Morgen will ich mit ihm reden; ich werde doch noch Siege erringen; heute aber will ich dich haben!«
Er wollte sie umarmen, doch gewandt wich sie ihm aus, schlüpfte ihm unter dem Arm hindurch und drückte ihm dabei das Korsett in die Hand.
»Nicht so hitzig, mein Freund!«, lachte sie. »Wickle das säuberlich zusammen und lege es dort auf den Tisch. So ist es schön, so bist du artig. Erst musst du dich selbst besiegen lernen, ehe du andere besiegen kannst!«
Sie hüllte sich in den Nachtmantel und wickelte sich fest ein, dass sich das weiche Gewebe eng an ihren Körper anschmiegte. Sie ließ sich wieder in den Lehnstuhl sinken und wippte mit dem kleinen, nackten Fuße den zierlichen Pantoffel.
»Nun lass uns noch etwas plaudern. Setze dich dorthin auf das Taburett, lieber Freund. Halt, keinen Schritt weiter!«, sagte sie plötzlich mit eisiger Strenge. »Du kennst mich, ich erlaube keine Übergriffe, wenn ich dich nicht selbst dazu auffordere. Ich bin noch wie früher.«
Er taumelte auf das Taburett nieder.
»Weib, du marterst mich!«, stöhnte er.
»Findest du mich denn wirklich so schön?«
»Schön wie eine Houri im siebenten Himmel«
»Das hast du mir lange nicht mehr gesagt.«
»Weil ich mit Blindheit geschlagen war.«
»Sei artig, ich bin nicht so grausam. Da — fang!«
Wie ein Knabe fing Nana Sahib den ihm zugeschleuderten Pantoffel auf und steckte ihn an den Fuß zurück, immer wieder, und traf er ihn derb ins Gesicht, so lachte er mit ihr. Trunken hingen seine Augen an der verführerischen Gestalt, die sich schäkernd im Stuhle hin und her bewegte.
»Ayda, wenn du wolltest — du könntest von mir verlangen was du willst! Nur kürze meine Qual, mein Blut kocht! Teufelin, du hast kein Herz!«
Er wollte näher rücken — ihre Hand wies ihn gebieterisch zurück, und er gehorchte.
»Eine Gefälligkeit ist der anderen wert«, sagte sie. »Wenn du gefügig bist, bin ich es auch!«
»Was willst du? Sprich!«, stieß er hervor, ohne seine Blicke von ihr abwenden zu können.
»Willst du mir eine Bitte erfüllen?«
»Alles, alles!«
»Ich habe den Priestern Vishnus versprochen, ihnen ein Mädchen auszuliefern, eine Bajadere, die sich der verdienten Strafe durch Flucht entzogen hat.«
»Weiter nichts? Wo ist sie?«
»Sie steht unter dem Schutze Bahadurs oder der Begum.«
»O, verdammt!«
»Nun zauderst du wohl?«, sagte sie achselzuckend. »Ja, mein lieber Freund...«
»Nein, ich zaudere nicht! Aber wenn sie unter Bahadurs Schutz steht?«
»Sie wird nur von seinen Leuten bewacht. Dein Befehl würde genügen.«
»Wie heißt sie?«
»Sakuntala.«
»Sakuntala? Ah so, ich verstehe!«
Wild funkelten seine Augen. Er wusste, dass Dollamore einst der Geliebte seines Weibes gewesen. Damals war es ihm gleichgültig, jetzt wurde er sofort eifersüchtig. Er kannte auch die Umstände der Rettung Dollamores.
»Du brauchst nicht eifersüchtig zu sein, du weißt, du hast gar keinen Grund dazu. Nun, wenn du nicht willst.«
Ayda hüllte sich fester in den Mantel, lehnte sich zurück und wippte mit dem Fuße.
»Teufel, ja, ich will es tun!«, rief er heftig und sprang auf. »Was verlangst du?«
Sofort war auch sie aufgestanden, und es war vielleicht Zufall, dass sie nicht daran dachte, den Mantel festzuhalten, sodass er auf den Stuhl niederfiel.
»Nichts weiter als einen mit deinem Namen unterschriebenen Befehl, dem Vorzeiger desselben Sakuntala auszuliefern.«
Ayda eilte nach dem kleinen Damenschreibtisch, und mechanisch folgte ihr Nana Sahib, als würde er von einem Magneten mit unwiderstehlicher Kraft angezogen.
Papier wurde ausgebreitet, die Feder ihm in die Hand gedrückt.
»Was soll ich schreiben?«
»Dem Vorzeiger dieses wird Sakuntala ausgeliefert! Dein Name und Stempel darunter, und fertig!«
»Sie ist die Gefangene der Begum«, murmelte Nana Sahib. »Nein, es ist zu gefährlich!«
Da lehnte sich Isabel an ihn und stützte sich auf seine Schulter — die erste Vertraulichkeit heute Abend.
»Willst du mir nicht den Gefallen tun?«
Schon kratzte die Feder über das Papier.
»Nun noch den Stempel.«
Er nahm von der Brust ein an goldenem Kettchen hängendes Petschaft und drückte sein Wappen unter die Schrift.
»Danke, dies war meine erste Bitte.«
Sie verschloss das Schreiben.
»Deine erste?«, fragte Nana Sahib zweifelnd.
»Nun ja, ich habe noch mehr mit dir zu sprechen.«
Sie ging zu dem Lehnstuhl zurück, wickelte sich wieder in den Mantel und ließ sich nieder. Nana Sahib sah, dass er jetzt ebenso weit war wie zuvor.
»Weib, du machst mich rasend!«
»Kann ich dafür? Ich habe dir nicht geheißen, mein Zimmer zu betreten. Entferne dich!«
»Ich fordere jetzt meine Belohnung!«
»Welche?«
»Dich!«
»Ah so! Für was?«
»Für den Befehl!«
»Hahaha, du bist reizend. Du forderst für die paar lumpigen Federstriche einen enormen Preis! Nein, nein, Nana Sahib, so billig bin ich nicht.«
»Du hast es mir versprochen.«
»Ich habe dir nichts versprochen. Ein andermal musst du das vorher mit mir ausmachen — und mein Wort halte ich stets. Sieh, Nana Sahib, du hast dir wieder einen Sieg entgehen lassen. Ich sage es ja immer, ihr Inder versteht nie, die Gelegenheit nach besten Kräften auszunützen!«
Jetzt nahm Nana Sahib seine Zuflucht zum Zorn.
»Ayda, du bist mein Weib. Ich habe Rechte auf dich.«
»Gemach, mein Lieber, diesmal ist das Recht auf meiner Seite, nämlich das Recht des Stärkeren.«
»Oho!«
»Du würdest nichts mit Gewalt ausrichten.«
»Das käme darauf an.«
»Aber du würdest nichts erreichen. Blicke dich nicht um, du siehst keine Waffen, ich werde mich auch keiner bedienen wie damals, als ich dich nach einem Streit aus meinem Schlafzimmer jagte. Ich habe eine stärkere Waffe.«
»Und die wäre?«, fragte er höhnisch.
»In dem Augenblick, da du dich mir handgreiflich näherst, rufe ich um Hilfe; man wird kommen und Nana Sahib, den Schlachtenlenker von Khanpur, auf den in Delhi jetzt alles wartet, bei mir finden.«
»Schlange!«, zischte der Radscha.
»Nicht doch, mein Lieber! Setze dich und höre mir zu. Ich habe nur noch ein Verlangen, dann bin ich dein Weib und werde dir einen Rat geben, wie du Bahadurs Zorn bemeisterst.«
»Bah, Bahadur! Jetzt denke ich nur an dich.«
»Eben deswegen. Setze dich und höre mich an.«
Sie blendete ihn förmlich in ihrer Schönheit, und der Widerstand Nana Sahibs war gebrochen. Seufzend, das Gesicht vor Leidenschaft förmlich entstellt, ließ er sich auf dem Taburett zu ihren Füßen nieder. Sie duldete diesmal, dass er sich dicht an ihre Knie setzte.
»Ich will mich kurz fassen, um dein Warten abzukürzen. Im ersten Stock dieses Schlosses, nicht weit von den früheren Gemächern der Bajaderen, befindet sich ein Zimmer, in dem du Raritäten gesammelt hast. Kennst du es?«
Misstrauisch blickte Nana Sahib auf.
»Ich verstehe dich nicht.«
»Verstelle dich nicht. Nur du besitzt den Schlüssel dazu, vielleicht auch noch Bahadur.«
»Welchen Schlüssel?«
»Du trägst ihn auf der Brust.«
Immer schwerer atmete Nana Sahib.
»Ayda, was weißt du von diesem Zimmer?«, brachte er dann mühsam hervor.
»Das lass mein Geheimnis bleiben. Genug, ich weiß, dass es Raritäten enthält, und von solchen bin ich ein großer Liebhaber. Besonders zweierlei hat's mir angetan: das eine ist ein Tigerfell, das andere ein in Spiritus gesetzter Arm.«
Der Schrecken überwog diesmal die Begierde. Er sprang auf und durchmaß hastig das Zimmer.
»Weib, woher kennst du dieses Geheimnis?«
»Ist eins damit verknüpft? Das wusste ich noch gar nicht. Was denn für eins?«
»Verstelle dich nicht! Was hast du vor?«
»Nun, wenn du glaubst, ich habe etwas damit vor, so vernimm auch, dass ich es dir nicht verraten werde. Nur das eine schwöre ich dir zu, dass ich nichts zu deinem Schaden tun werde. Kurz und gut: verschaffe mir diese beiden Gegenstände, überlass sie mir, und ich bin die Deine.«
»Nimmermehr!«, keuchte Nana Sahib.
»Ah, du willst nicht? Das hättest du gleich sagen können. Dann bitte ich dich, mein Zimmer zu verlassen, ich will schlafen gehen.«
Sie erhob sich, warf den Mantel ab, trat vor den Spiegel und begann das aufgelöste Haar in einen Knoten zu schlingen.
»Wenn ich nur wüsste, wozu!«, stöhnte Nana Sahib. »Wozu willst du sie haben, liebe Ayda?«
»Verlasse mein Zimmer!«
»Ayda!«
»Du willst bleiben? Dann spiele meinetwegen die Kammerzofe weiter. Aber beim ersten Übergriff schreie ich, dass der Ruf an das Ohr Bahadurs dringt. Ganz Delhi soll dann erfahren, dass Nana Sahib in meinem Schlafkabinett ist. Reich mir den Turban dort, den roten.«
Nana Sahib rang die Hände, während Isabel fortfuhr, sich zu entkleiden.
»Es ist unser wichtigstes Geheimnis!«
»Das ist mir gleichgültig. Ich liebe solche Raritäten.«
»Du weißt, was damit zusammenhängt. Wenn Bahadur die fehlenden Gegenstände vermisst!«
»Immer und immer Bahadur. Geh, du bist ein Hasenherz; es muss Havelock sehr leicht geworden sein, dich zu zwingen, ihm den Rücken zu kehren.«
Nana Sahib war jetzt gegen Beleidigungen völlig unempfindlich, Isabel hätte ihm noch etwas ganz anderes sagen können. In ihm kämpfte nur die sinnliche Begierde mit der Angst vor den Folgen, wenn er die Gegenstände — der Leser kennt sie — diesem ränkesüchtigen Weibe übergab.
»Ich kann nicht, Ayda, ich kann nicht!«
»Warum nicht?«
»Meine Sicherheit hängt davon ab.«
»Siehst du, wie du dich fängst? Wenn die Gegenstände fehlen, so glaubt Bahadur natürlich am allerwenigsten, dass du sie genommen hast. Es hat irgend einem anderen daran gelegen, diese Sachen zu stehlen.«
»Aber was bezweckst du damit?«
»Das geht dich nichts an. Jedenfalls nichts zu deinem Schaden — das schwöre ich dir. Jetzt geh; du siehst, ich will mich ins Bett begeben.«
Nana Sahibs Augen verschlangen die Gestalt seiner Frau.
»Geh jetzt, ich befehle es dir, oder ich rufe alle Bewohner des Schlosses zusammen!«
»Hölle und Teufel, ja, ich gehe!«, rief Nana Sahib und stürzte hinaus.
Aber Isabel stieg nicht ins Bett, vielmehr warf sie einen leichten, verführerischen Schlafrock über, der sie jedoch vollkommen verhüllte; denn sie wusste, dass Nana Sahib nur gegangen war, um mit dem Verlangten wiederzukommen.
Ach, wenn jeder Nana Sahib so gut gekannt hätte wie sie!
Vorher jedoch ließ sie eine Klingel kurz ertönen.
Bald kam Nana Sahib auch zurück, in den Armen ein aus einer Decke hergestelltes Bündel tragend.
»Hier ist es, nun sei zufrieden! Verbirg es, und tu damit, was du willst.«
Sie beachtete den vor Verlangen Zitternden nicht, sie breitete erst die Decke auseinander. Sie enthielt ein Tigerfell, in dessen Rücken die indischen Buchstaben N. S. eingebrannt waren, ferner ein Glas mit einem in Spiritus eingesetzten menschlichen Arm, der am oberen Teile die Tätowierung Sirbhanga Brahma trug.
»Ich bin mit dir zufrieden, du sollst es nun auch mit mir sein«, sagte sie und verschloss die Gegenstände in dem unteren Hohlraum ihres Schreibtisches, wobei sie, zur größten Verzweiflung des Mannes, mit der äußersten Langsamkeit verfuhr.
Auch dann kam er noch lange nicht zum Ziel; doch er empfand keine Qual mehr, nur ein Anwachsen seiner Begierde. Sie scherzte und tändelte mit ihm und hielt ihn von Minute zu Minute hin.
Als er endlich energisch darauf bestand, seine Belohnung zu empfangen, suchte sie ihm schüchtern zu entfliehen, sie spielte mit ihm und wusste ihm immer wieder zu entkommen.
Schließlich konnte sie sich seiner nicht mehr erwehren. Als er sie mit zitternden Händen packte, bemerkte er nicht, wie sie fast angstvoll lauschte, welchen Abscheu vor seiner Berührung ihr Gesicht ausdrückte, er sah nicht den dämonischen Blick ihres Auges, dem des Panthers vergleichbar.
Da ertönte auf dem Korridor ein schneller Schritt, die Tür, welche Isabel anscheinend zu schließen vergessen hatte, wurde aufgerissen, und ein weißbärtiger Mann trat ein.
Isabel fuhr mit einem leisen Schrei auf und flüchtete sich in das Nebenzimmer, Nana Sahib aber stand wie vom Donner gerührt da. Der Eintretende war Bahadur.
»Du bist hier, Nana Sahib?«, sagte er, halb erstaunt, halb drohend. »Du hast Zeit, mit einem Weibe zu tändeln, während ich mit Schmerzen auf dich warte? Was bedeutet das?«
Nana Sahib fand vor Bestürzung keine Antwort.
»Folge mir, ich will deinen Bericht hören! Ich ahne, was du mir bringst.«
Nana Sahib biss die Zähne zusammen, raffte sich auf und folgte mit trotzigem Gesicht dem Vorausschreitenden. Er durchschaute alles — Isabel selbst hatte Bahadur rufen lassen, sie hatte ihn geprellt. Doch jetzt war es zu spät.
Als einige Minuten später Isabel ihr Boudoir betrat, in welchem sie Besuche anzunehmen pflegte, befand sie sich schon wieder in empfangsfähiger Abendtoilette. Nur das unfrisierte Haar war von dem roten Turban bedeckt, der ihr aber vorzüglich stand.
Eine kurze Besprechung mit Babur, ein Briefchen, die dringende Ermahnung, sich unter keinen Umständen abweisen zu lassen, Babur ging, und Isabel war ihrer Sache sicher. Der geheimnisvollen, eindringlichen Einladung konnte ein junger Mann nicht widerstehen.
Sie hatte sich nicht getäuscht.
Nach einer Viertelstunde stand der Erwartete vor ihr, ein Jüngling mit edler Haltung und Physiognomie, in ein leichtes, faltiges Gewand gekleidet, am Gürtel den krummen, indischen Dolch.
»Radscha Sirbhanga, ich danke dir, dass du meiner Einladung Folge geleistet hast«, sagte Isabel und verneigte sich, wie sie es ehrfürchtiger nie vor Bahadur getan hatte.
»Dein Diener fand mich schon schlafend«, entgegnete Sirbhanga — oder, wie wir ihn noch nennen wollen, Eugen, »und ich bin gespannt, welch wichtiges Rätsel, von dem du schriebst, mir enthüllt werden soll. Wir kennen uns bereits, Ayda, Nana Sahibs...«
»Ich bitte, nicht so!«, unterbrach ihn Isabel in einer Weise, als setze die Nennung dieses Namens sie in Zorn. »Ich wurde Duchesse genannt und bitte dich, diesen Namen beizubehalten. Warum, dies eben möchte ich dir erzählen.«
Beide nahmen Platz. Eugen kannte dieses Weib, er war schon mit Misstrauen hergekommen, und sein Argwohn wuchs von Sekunde zu Sekunde. Bestricken konnte Isabel ihn nicht durch ihre Reize, denn das Bild einer anderen war tief in sein Herz gegraben.
»Ja, ich bin das Weib Nana Sahibs«, begann Isabel, »leider bin ich an diesen Mann durch die Ketten der Ehe gefesselt, leider, denn ich verachte ihn unaussprechlich.«
Eugen machte eine abwehrende Handbewegung.
»Ich habe keinen Grund, Nana Sahib zu verachten, möchte ihn auch nicht verkleinert haben, wenigstens nicht, wenn er nicht selbst dabei ist und sich verteidigen kann. In diesem Falle wird er an mir seinen Verteidiger haben.«
»Sehr edel gesprochen, Radscha, doch du verteidigst einen Unwürdigen.«
»Das müsste erst erwiesen werden.«
»Dies zu tun, habe ich dich rufen lassen.«
»Ich habe keine Ursache, ihn verdächtigen zu hören.«
»Doch, du hast sie. Sirbhanga, dein edler Vater, fiel im Zweikampfe mit Nana Sahib.«
»Eben darum ist es meine Pflicht, diesen zu achten. Im anderen Falle müsste ich niedrig von meinem Vater denken, weil er sich mit einem Unwürdigen eingelassen hat.«
»Das hat er auch, allerdings unbewusst.«
»Wie, du schmähst meinen Vater?«
»Unbewusst, sage ich. Dein Vater, dessen Namen du führst, Sirbhanga Brahma, fiel nicht im Zweikampfe mit Nana Sahib; denn wie hätte sich dieser mit einem Krieger, wie Sirbhanga einer war, messen können?«
»Er fiel nicht im Zweikampfe?«, staunte Eugen. »Was sonst?«
Langsam, jedes Wort mit Nachdruck betonend, entgegnete Isabel: »Nein, Nana Sahib hat ihn hinterlistig ermordet.«
Sprachlos saß Eugen da und starrte die Sprecherin an.
»Das ist nicht möglich«, brachte er dann hervor. »Du hast etwas vor, willst mir Hass gegen Nana Sahib einflößen, mich zum Werkzeug deiner Pläne machen.«
»Ich werde dir die Beweise der Wahrheit meiner Behauptung bringen.« Sie holte das Tigerfell und den Arm herbei.
»Dieses Fell gehörte dem Tiger, den Nana Sahib auf Sirbhanga hetzte. Hier das eingebrannte Zeichen N. S. Hier der Arm Sirbhangas mit der Tätowierung. Wenn du die Geschichte des Zweikampfes gehört hast, so wirst du wissen, dass der linke Arm Sirbhangas nicht gefunden werden konnte — hier ist er, Nana Sahib war so unvorsichtig, ihn nicht zu vernichten, auch nicht dieses Fell.«
»Nein, ich kann es noch nicht glauben«, stieß Eugen hervor, »dies alles beweist mir noch gar nichts. Die Buchstaben können...«
»In ein anderes Fell eingebrannt worden sein, natürlich«, unterbrach ihn Isabel spöttisch; »dann habe ich jemandem den Arm abgeschnitten und den Namen eintätowiert, ihn in Spiritus gesetzt — das ist auch ganz natürlich. Glaubst du, Sirbhanga, ich würde dir ein Märchen aufbinden, wo du doch vor Nana Sahib treten und Rechenschaft fordern kannst?«
»Das werde ich tun.«
»Du wirst es nicht. Bist du nicht begierig zu erfahren, warum dies alles geschehen ist?«
»Ja, warum? Ich kann es nicht begreifen.«
»So lerne es begreifen!«
Sie begann zu erzählen und holte weit aus. Dabei zeigte sich, dass sie sehr gut unterrichtet war.
Sie erzählte alles, schonungslos, von der auf eine Königin von Indien hinzielenden Prophezeiung, wie dazu nötig war, den Radscha von Dschansi zu beseitigen, weil eine Begum von Dschansi den leeren Thron einnehmen sollte — so lautete die Prophezeiung, wie Nana Sahib eine gezähmte Tigerin auf Sirbhanga hetzte, wie er floh, wie Reihenfels dazu kam, den Arm, die tote Tigerin und den halbtoten Sirbhanga fand, wie er jedenfalls ganz richtige Schlüsse zog und das Gefundene aufbewahrte, wie ihm dieses im Hause seines Vaters wieder entwendet wurde, und so weiter, und so weiter.
Dass sich Isabel eine solch komplizierte Reihenfolge von Tatsachen, Listen und Folgerungen zurechtlügen konnte, war ganz unmöglich. Eugen musste an die Wahrheit glauben. Er war außer sich.
»Ich werde Nana Sahib zur Rede stellen, er soll seinen Mord zugeben, dann kläre ich Bahadur über seinen Charakter auf und werde den Mörder meines Vaters bestrafen.«
»Tu es nicht, Sirbhanga, es würde dir nichts nützen. Dies alles geschah auf Bahadurs Befehl, Timur Dhar lieh ihm die Hand dazu.«
»Was?«
»So ist es. Du bist ein Werkzeug der indischen Großen, deine Erziehung schon war geplant. Du bist von Timur Dhar geraubt und nach England entführt worden. Man ließ dich zum englischen Offizier erziehen, und als du reif warst und man dich brauchen konnte, machte man dich den Engländern wieder abtrünnig.«
»Ja, ich glaube dir«, stöhnte Eugen. »Es ist unerhört, schändlich. Was soll ich tun?«
»Sieh, ich teile dir dies alles mit, weil ich, obgleich anscheinend zur indischen Sache haltend, im Herzen doch eine Engländerin bin. Ich will dich, der guten Sache wegen, den Engländern wiedergewinnen.«
Selbst dies zu glauben, war Eugen jetzt geneigt. Finster brütend blickte er vor sich hin.
»Und Bega, wusste sie auch darum?«
»Welche Bega?«
»Die Begum.«
»Auch sie ist nur ein willenloses Werkzeug. Nein sie weiß nichts davon, nicht einmal, dass du sie liebst.«
Betroffen blickte Eugen auf.
»Du sprichst in Rätseln.«
»Ich spreche von der Begum von Dschansi.«
»Sie ist — ich darf wohl sagen, meine Braut.«
»So?«, erklang es spöttisch zurück. »Ich sage dir, die Begum kennt dich gar nicht, wie du nicht sie.«
Mit einem Zischen sprang Eugen auf, seine Hand fuhr an den Dolch.
»Genug nun, sprich nicht mehr davon!«
»Armer junger Mann, verzeihe mir, wenn ich dich so nenne«, sagte Isabel wie mitleidig, »hast du noch nie bemerkt, dass dich die Begum, wenn sie auf den Wällen steht, gar nicht beachtet?«
»Wohl, dann ist sie eine andere, dann muss sie ihr Ansehen als die kriegerische Führerin wahren. Das haben wir ausgemacht.«
»Nein, sie ist überhaupt eine andere. Die, welche du liebst, gibt sich mit Wissen der Fürsten für die Begum aus, sie sieht dieser ähnlich, das begünstigt die Täuschung. Sie ist indes nur eine Bajadere.«
Eugen war erstarrt.
»Was sagst du?«
»Armer junger Mann«, wiederholte Isabel mitleidig, »welch schändliches Spiel treibt man mit dir! Man hat dir Bega versprochen, oder sie verspricht dir vielmehr sich selbst, und sie ist doch nur eine Bajadere namens Kalidasa.«
Es dauerte lange, ehe Eugen eine Antwort fand.
»Sprichst du die Wahrheit?«
»Frage sie selbst! Gehe hin, frage sie, ob sie wirklich die Begum ist, oder ob sie Kalidasa, eine Bajadere Vishnus ist, und dann urteile!«
Zoll für Zoll sank Eugen zusammen, schlug die Hände vors Gesicht und fiel wie gebrochen auf den Stuhl zurück. Er bemerkte nicht den diabolischen Gesichtsausdruck des Weibes.
Isabel hatte den ersten Teil ihres Planes erreicht, das andere spielte sich nun ohne ihr Zutun ab.
Plötzlich sprang Eugen auf und stürzte aus dem Zimmer, ohne Isabel noch eines Blickes zu würdigen.
»Gelungen!«, triumphierte sie ihm nach. »Nun zerbrich Bahadurs Plan, junger Radscha — ich habe mich gerächt. Erst Bahadur, dann Dollamore, dann Nana Sahib — Schlag auf Schlag!«
Eugen eilte unterdes durch die erleuchteten Korridore nach jenem Viertel des Schlosses, in welchem er mit seiner Braut, der vermeintlichen Bega, so manche Kosestunde verlebt hatte.
Noch wusste er nicht, was er denken sollte. Noch war sein Herz nicht mit Zorn erfüllt — Klarheit wollte er haben, dann wollte er richten. Jetzt kämpfte er noch mit Zweifeln.
Er weckte einen Diener aus dem Schlafe, befahl diesem wieder, die Zofe zu wecken, und verlangte unverzüglich die Begum zu sprechen.
Schon betrachtete er finster die beiden Diener. Wehe ihnen, wenn sie wussten, was für ein Spiel mit ihm getrieben worden war.
Die vermeintliche Bega erschien im leichten Nachtgewand; verwundert betrachtete sie den mit verstörtem Gesicht vor ihr Stehenden, dann warf sie sich. an seine Brust.
»Was ist geschehen, Sirbhanga?«, fragte sie ängstlich. »O, teile es mir mit, damit ich dir beistehen kann!«
Er drängte sie von sich und hielt sie auf Armeslänge ab.
»Nur einige Worte, eine kurze Erklärung!«
»Was hast du?«, fragte sie verwundert, aber schon begann ihr Gesicht einen ängstlichen Ausdruck anzunehmen.
»Bist du das Mädchen, welches mich gepflegt hat, als ich verwundet lag?«
»Ja, warum...«
»Bist du die Begum von Dschansi?«
Ein Zittern ging durch ihren schlanken Körper.
»Man nennt mich so«, lispelte sie.
»Oder bist du Kalidasa, eine Bajadere Vishnus?«
Da war es vorbei. Mit einem Schreckensschrei wollte sie zusammenbrechen, doch Eugen fing sie auf und hielt sie.
»Noch eins«, fuhr er furchtbar drohend fort, und die Adern schwollen. »Was ist dir für deinen Betrug versprochen worden?«
»Sirbhanga!«, schrie sie auf.
Er zog den Dolch aus der Scheide und zückte ihn auf sie. Da trat sie einen Schritt zurück, riss das Brusttuch auf und schaute ihn furchtlos an.
»Stoß zu, ich habe den Tod verdient!«
Er stieß nicht zu, sondern wandte sich verächtlich ab und verließ das Zimmer. Sein Herz war mit einem unsagbaren Hass erfüllt, doch nicht gegen diese, welche dem Befehle Bahadurs und der anderen gehorcht hatte. Ohne sich umzusehen, ging er seinem Zimmer zu.
»Sirbhanga!«, tönte es ihm da nach. Jammer und Verzweiflung lagen in diesem einen Wort.
Einen Augenblick zögerte er, dann schritt er weiter.
Drinnen aber lag am Boden die Bajadere, schluchzte, jammerte und raufte sich die Haare. Als sich nach langer Zeit der Verzweiflungsausbruch gelegt hatte, erhob sie sich. Ihr Gesicht war jetzt wie aus Marmor.
»Vorbei!«, flüsterte sie.
»Die Priester klagen«, fuhr sie dann leise fort, den Blick ins Leere gerichtet, »dass Vishnu ihnen zürnt, weil er eines Opfers beraubt worden ist. Ich sehe, auch mir zürnt er, und was können wir armen Menschen tun, wenn die Götter nicht mit uns sind? Noch steht der Scheiterhaufen, seines Opfers wartend — ich will die Priester mit Vishnu versöhnen. Es war so schön, ach, ich träumte von einer noch schöneren Zukunft — vorbei!«
Sie horchte. Alles war still im Schloss. Da warf sie einen Mantel über und schlüpfte hinaus.
Der nächstfolgende Tag brachte nichts Neues für Delhi. Wie eine ungeheuere Schlange lag der Belagerungsgürtel in träger Ruhe da, alles starrte von Waffen, aber außer dem Ablösen und Aufziehen der Wachen war nirgends Leben.
Ebenso bewegungslos ging es auf den Wällen Delhis zu. Die Wachen schauten träumend auf die Schanzgräben, auf die Mündungen der ungezählten Kanonen, die jetzt schwiegen, und fragten sich, wann diese wohl ihren ehernen Mund öffnen und Tod und Vernichtung nach Delhi senden würden.
Es war jene unheimliche Ruhe, welche dem Gewittersturm vorausgeht. Das Herz zieht sich dabei krampfhaft zusammen.
Nana Sahibs Unglücksbotschaften über die verlorenen Schlachten erfuhren nur die ersten Führer. Bahadur hütete sich, unter seinen Leuten Missmut und Niedergeschlagenheit zu verbreiten. Er machte es wie mancher andere, der kleinste Sieg wurde ausposaunt, der größte Verlust verschwiegen.
Deshalb wurden auch keine Überläufer mehr angenommen, Flüchtlingen, welche den Weg durch die Reihen der Engländer gefunden, blieben die Tore der Stadt versperrt.
Die Nachrichten dagegen, welche einige Brieftauben brachten, wurden verbreitet.
Eine Festung, in welcher sich mehrere Radschas befanden, darunter der schon einmal erwähnte Abdul Hammed, hatte unter der Bedingung kapituliert, dass das Leben aller geschont würde. Die Radschas wollten sogar zu den Engländern übertreten. Der englische General jedoch brach sein Wort und ließ die Radschas nach kurzem, ganz eigenwilligem Kriegsgericht erschießen. Das war Wasser auf die Mühle der Rebellen, hier hatten sie ein Beispiel, wie den Engländern zu trauen war.
Die zweite Botschaft kam von der Begum von Oudh. Jetzt ergriff auch sie das Schwert, nicht, wie sie schrieb, um für sich, sondern um für das Leben ihrer Kinder zu kämpfen.
Dies erweckte ungeheuren Jubel. Oudh war das mächtigste Reich Indiens, hatte sich aber bisher neutral verhalten.
Sein 1856 ganz willkürlich abgesetzter König, Wadschid-Ali, wurde in Kalkutta gefangengehalten, seine Mutter war die Begum Heynat Mahal, welche vom indischen Volke ›der einzige Mann ihrer Familie‹ genannt wurde und welchen Namen sie auch in der Geschichte beibehalten hat.
England hat schwer an dieser Frau gesündigt!
Man konnte der greisen, tugendhaften, heldenmütigen Königin keinen anderen Vorwurf machen, als dass ihr erster Sohn, der Exkönig, ein arger Wüstling war und dass sie ihre übrigen Kinder und Enkel zu sehr liebte.
Nach Niederwerfung des Aufstandes reiste sie nach England, und die alte Königin, deren Reichtum nach Milliarden gezählt wurde, warf sich vor dem Thron nieder und flehte um das Leben ihrer Kinder. Sie wurde ausgewiesen, starb einige Monate später in Paris, und gleich darauf endete einer ihrer Nachkömmlinge nach dem anderen auf geheimnisvolle Weise. Und wohin sind ihre Milliarden gekommen?
Es war kein Wunder, dass sie jetzt, als sie erfuhr, wie auch das Leben der sich unterwerfenden Radschas nicht geschont wurde, ebenfalls zu den Waffen griff, nicht für sich, nicht für die Freiheit Indiens, sondern zur Rettung ihrer Kinder und Enkel. Ihr Feldherr war General Ventura, einst Oberst Napoleons, ein gleich großer Preußen- wie Engländerhasser.
Diese Nachricht verbreitete solche Freude, dass das plötzliche Verschwinden Kalidasas gar nicht bemerkt wurde, wohl aber erfuhr Bahadur, dass Sakuntala von Priestern Vishnus aus ihrer Gefangenschaft geholt worden war, und zwar auf einen schriftlichen Befehl Nana Sahibs hin.
Dieser entschuldigte sich damit, er hätte nicht gewusst, dass an dieser Gefangenen etwas gelegen wäre. Bahadur forderte die Bajadere von den Priestern zurück, wurde aber mit eisiger Kälte abgewiesen. Er hätte sie höchstens selbst suchen können, doch wer kannte die verborgenen Verstecke in den Tempeln, die von den Priestern mit dem Schleier tiefsten Geheimnisses umgeben waren! Man fürchtete die Begum von Dschansi; doch diese ließ sich den ganzen Tag nicht blicken.
Dieser ging, die Nacht brach an, die Wachen wurden auf den Wällen verteilt, und die sich auf die Gewehre stützenden Krieger fragten sich, ob es ihnen vergönnt sein würde, den folgenden Morgen in Ruhe begrüßen zu können. —
Dicht an der Stadtmauer Delhis erhebt sich ein prächtiger und mächtiger Bau aus quadratischen Sandsteinblöcken. Der geräumige Hof ist von sehr hohen Mauern umringt. Jedes profane Auge wird von ihnen abgehalten.
Innerhalb des Hofes stehen noch viele kleinere Häuser, teils Wohnungen, teils Magazine, teils Ställe, letztere jedoch nicht zur Unterkunft von Pferden, sondern von Elefanten dienend.
In einem besonderen Stall steht der heilige weiße Elefant, unter welcher Spezies man irrtümlich gewöhnlich einen solchen von weißer Farbe annimmt, während er nur etwas grauer ist als seine ordinären Brüder.
Vom Hofe aus gelangt man in einen sorgsam gepflegten, schattigen Park, dem sich wiederum ein langgestrecktes Gebäude anschließt.
Alles verrät Solidität, Ruhe und Ordnung, man staunt schon über die Reinlichkeit und fast luxuriös zu nennende Einrichtung der Ställe; welche Pracht aber zeigt sich erst dem Auge, wenn man das palastähnliche Hauptgebäude betritt!
Um es kurz zu machen — es ist ein Tempel Vishnus, der größte Delhis, eine kleine Stadt für sich.
Ernst und würdevoll sitzen die Götter auf ihren Postamenten, den Hauptrang nimmt natürlich Vishnu, der Erhalter, ein. Sein ungeheurer Leib ist von Gold, seine Augen sind von Diamanten, seine Fingernägel aus schuppenartigen, anderen Edelsteinen. Ebenso zusammengesetzt sind die übrigen Gottheiten, welche in diesem Tempel zwar auch verehrt werden, doch hier sich vor Vishnu beugen müssen und daher kleiner sind.
Überall schimmert Silber, gleißt Gold, funkeln Diamanten. Da gibt es kein Gerät, welches nicht aus edlem Metall wäre, die Trinkbecher sind aus Gold, mit Perlen verziert, der Stuhl ist aus Gold, das Handtuch, an dem sich der Oberpriester abtrocknet, ist aus chinesischer Seide und mit Gold durchwirkt.
Man sagt, wie schon erwähnt, in früheren Jahrhunderten, unter der Herrschaft der Sonnenkinder, seien die Straßen Delhis mit Gold gepflastert, die Fußwege mit Diamanten abgesteckt gewesen.
Hier lernt man es fast glauben. Auch hier ist der Fußboden da, wo die Priester stehen, mit Diamanten gepflastert, alles Übrige ist Mosaik aus Gold und Edelsteinen.
Diese Schilderung der Tempelschätze stammt nicht aus dem Märchenbuche Tausendundeinenacht — so sind die indischen Tempel noch heutigen Tages.
Der Reichtum dieser Tempel wächst von Jahr zu Jahr; was sie schlucken, geben sie nicht wieder her, aber dies ist auch in einem anderen, sehr edlen Sinne zu verstehen.
Über dem Portal des langgestreckten Gebäudes, hinten am Park, steht mit großen Lettern ›Tat twam asi‹ — ›Das bist du‹.
Es ist ein Hospital. Tausende werden hier gepflegt, verbunden, erhalten Medizin, alles unentgeltlich. Sie brauchen dieses Hospital bis an ihr seliges Ende nie wieder zu verlassen, dürfen es überhaupt nicht.
Doch nicht Menschen, nein, kranke Tiere werden hier unentgeltlich geheilt. Diese Tierhospitäler, welche in den kultivierteren Staaten Europas neuerdings eingerichtet und als der größte Erfolg der Humanität gepriesen werden, existieren in Indien schon seit Jahrtausenden.
Ach, wie erbärmlich ist unsere Humanität gegen die der Priester Vishnus und ihrer Anhänger!
Bei uns heilt man Pferde, Hunde, Katzen und Kanarienvögel; die sentimentale, sogenannte alte Jungfer bringt wohl auch ihr Meerschweinchen zum Veterinär; in den indischen Tierhospitälern aber findet alles Aufnahme, was den Menschen in stummer Klage anblickt: Ochsen, Schweine, Schafe, sowie die Maus, welche den Klauen der Katze entkommen ist, und — das ist der Unterschied — das Tier muss in dem Hospital bleiben. Jeder darf sein krankes Tier in das Hospital bringen — aber er erhält es nach der Heilung um alles Geld der Welt nicht wieder zurück.
›Tat twam asi‹ — das bist du, sagt der Brahmane; in allem Lebendigen erkennt er sich selbst wieder, er sagt, das Leben dieser Fliege stammt aus derselben Quelle wie das seine, kein Tier darf er töten, nicht einmal den Floh knicken, sondern ihn nur verscheuchen.
Mit einer wahren Sucht späht der Priester Vishnus nach kranken Tieren, und wo er eins sieht, das trägt er in seinen Armen nach dem Tempel. Lasst den Menschen für die Menschen sorgen, wir wollen uns der schutzlosen Tiere annehmen.
»Liebe deinen Nächsten wie dich selbst; der Gerechte erbarmt sich seines Viehes«, lehrt unsere christliche Religion. Erbarmen — welch elendes Wort! Man erbarmt sich eines Unwürdigen, aber nicht eines uns bis zum Tode treuen Hundes, eines Pferdes, das in unserem Dienst den Fuß bricht. »Liebe auch jedes Tier wie dich selbst«, lehrt dagegen Buddha, und buchstäblich befolgen dies seine Anhänger.
Ist nun aber auch Mitleid gegen alle lebende Kreaturen der hervorstechendste Zug im Charakter der Priester Vishnus, so sind sie doch nicht gegen sich selbst mitleidig, im Gegenteil, gegen sich selbst sind sie unbarmherzig; ihre Ordensregeln sind ungeheuer streng, auf dem kleinsten Vergehen steht der Tod. Aber auch freiwillig töten sie sich, sie martern sich langsam zu Tode und sterben dabei unter Verzückungen, glückselig. Der wegen eines Vergehens zum Scheiterhaufen verurteilte Priester oder Tempeldiener besteigt ihn ungefesselt und verbrennt, indem er mit jauchzendem Munde seinen Gott preist.
Wer sich einer solchen Strafe durch Flucht entzieht — was aber selten vorkommt — der wird verachtet, man sucht seiner wieder habhaft zu werden, zwingt ihn jedoch nicht zum Tode sondern beredet ihn zur freiwilligen Opferung für die erzürnte Gottheit, und merkwürdig ist es, dass dies immer gelingt.
Die indischen Priester üben auf das Herz eben eine noch viel größere Macht aus als z. B. die katholischen —
Auch jetzt stand im Vorhof zum Tempel Vishnus ein Scheiterhaufen, er war schon längst, vor vielen Monaten, errichtet worden und schien seines Opfers zu warten. Die Strafbaren waren der Gerechtigkeit entzogen worden, doch man wusste, dass sie sich wieder stellen würden. Der Oberpriester prophezeite es, seine Amtsgenossen beteten dafür.
Der mächtige Holzstoß war zwischen vier eisernen Pfählen aufgetürmt, sodass er nicht umstürzen und auch nicht zusammenbrechen konnte, wenn ihn das Feuer verzehrte, und durch ihn hindurch, die Scheite haltend, zogen sich ebenfalls eiserne Stangen. Nach der Plattform hinauf führte eine Leiter.
Es war Mitternacht. Vermummte, schweigende Gestalten durchquerten ab und zu den Hof in langsamem Schritt und trafen noch Anordnungen. Im Tempel selbst, aus dessen Öffnungen helles Licht strahlte, erschollen feierliche Priesterchöre, dazwischen erklang das helle Jauchzen der Bajaderen, das Klappern ihrer Kastagnetten; sie tanzten um den Hochaltar.
Man bot Vishnu die ihm entflohenen Opfer an und erhoffte dafür seine Verzeihung.
Hier wusste man nichts von der Belagerung der Stadt durch die Feinde. Und wenn die ganze Erde in Flammen gestanden hätte, die Feierlichkeit wäre doch nicht unterbrochen worden. Die Priester Vishnus kümmerten sich nicht um das Getriebe der Welt; sie taten ihre Pflicht, erfüllten ihre Gelübde und beteten zu Gott.
Gestern Nacht hatten sich die beiden ungehorsamen Bajaderen bereiterklärt, den Scheiterhaufen zu besteigen. Es waren die beiden Freundinnen Kalidasa und Sakuntala.
Sakuntala war nicht freiwillig gekommen, Priester hatten sie, mit einem Auslieferungsbefehl versehen, aus dem Schlosse Bahadurs abgeholt. Das Mädchen wusste, dass man sie doch nicht mit Gewalt töten dürfe, wenn sie sich dagegen sträubte. Sie tat es und verschloss ihr Ohr den eindringlichen Worten der Priester.
Da klopfte es wieder, und vor dem Tore stand Kalidasa, reumutig und zerknirscht, um Wiederaufnahme in den Orden und um den Opfertod auf dem Scheiterhaufen bittend.
Die Priester nahmen sie ins Gebet, tadelten sie etwas, lobten ihre Reue aber um so mehr, und der Jubel der Bajaderen galt ihr. Sie priesen ihren Entschluss, ihren Mut und forderten andere zur Nachahmung auf.
Da sahen sich die beiden Freundinnen. Weinend warfen sie sich einander an die Brust; mit kurzen Worten erzählten sie sich ihr Schicksal, und jetzt beschloss auch Sakuntala, zu sterben.
Man muss begreifen, welche Macht die Priester auszuüben wissen, und wie ein Beispiel wirken kann.
Die Freundinnen wollten, von dem Triumphgesang der Bajaderen immer mehr begeistert, dieses Leben, dessen Freuden sie kaum gekostet hatten, mit himmlischer Seligkeit vertauschen.
Der Opfertod konnte erst in der folgenden Nacht stattfinden, denn der Scheiterhaufen musste vom Oberpriester in dem Augenblick angezündet werden, wenn im Osten das Morgenrot auftauchte.
Die Zeit bis dahin wurde mit Lobpreisungen der heldenmütigen Freundinnen und mit Danksagungen an Vishnu ausgefüllt.
Ach, die beiden Mädchen konnten nur in der momentanen Begeisterung scherzen und in den Lobgesang einstimmen. Hoffentlich kam es ihnen nicht zum Bewusstsein, dass sie nur in der Verzweiflung diesen furchtbaren Schritt getan hatten.
Jetzt trennte nur noch eine Stunde die Singenden vom Morgenrot.
Die Torflügel des Tempels öffneten sich, in feierlichem Zuge bewegten sie sich heraus, Kalidasa und Sakuntala in bräutlichem Gewand, ohne glänzenden Schmuck, aber mit Blumen übersät, umringt von Priestern und Bajaderen.
Es war, als ginge es zu einem Feste, zur Hochzeit, als nähmen die jungfräulichen Mädchen Abschied von den beiden, welche ihre Reihen verließen, um dem Geliebten zu folgen.
Sie schüttelten ihnen die Hände, herzten und küssten sie und wünschten ihnen Glück. Noch erwiderten die beiden die Glückwünsche, noch strahlten ihre Augen in Seligkeit, noch konnte ihr Mund lachen.
Durch die Priester drängte sich eine andere Gestalt, ebenso dunkel gekleidet wie diese, aber durch die Formen sich als Frau verratend. Ihr Gesicht war zur Hälfte verhüllt.
Auch sie schüttelte den beiden die Hand.
»Ihr Armen«, flüsterte sie aber im Gegensatz zu den frohlockenden Bajaderen Kalidasa zu, »wenn ihr wüsstet, was ihr begangen habt! Sirbhanga irrt durch die Gänge des Schlosses und sucht wehklagend seine Kalidasa. Wie konntest du ihm das antun, ihn heimlich zu verlassen.«
Erbleichend, die Hand aufs Herz pressend, taumelte das Mädchen zurück.
»Er sucht mich?«, murmelten die bebenden Lippen.
»Ja, denn er liebte dich wirklich, er verzeiht dir die Täuschung. Ach, könntest du seinen Jammer sehen!«
»Und du, Sakuntala«, wandte sie sich an die andere, »was hat dir Dollamore getan, dass du dich ihm durch den Tod entziehst? Er versprach, dich zu befreien, und er wird seine Braut nicht mehr vorfinden. So hältst du deinen Treueschwur?«
Der Stachel saß. Vorbei war es mit der Sterbefreudigkeit. Mit glanzlosen Augen blickten die beiden erst die Sprecherin, dann sich an und fielen einander weinend in die Arme.
Plötzlich wurde ihnen ihr Schicksal klar; Verzweiflung bemächtigte sich ihrer. Doch es war zu spät, es gab keine Rettung mehr. Sie mussten sich in das Unabänderliche fügen.
Das jauchzende Singen der Bajaderen erscholl von neuem und erstickte die Verzweiflungsrufe der Unglücklichen. Sie wurden auseinandergerissen und mit Liebkosungen bestürmt.
Ein greiser Priester hatte die Umwandlung bemerkt, welche die Worte des Weibes bewirkten.
»Wer ist diese Fremde? Wer hat ihr den Zutritt zum Opfer Vishnus erlaubt?«, fragte er in strengem Tone einen ihm untergeordneten Priester.
»Es ist Nana Sahibs Weib. Sie war es, welche uns Sakuntala verschaffte, und zur Belohnung mussten wir ihr erlauben, unserer Festlichkeit beizuwohnen.«
»Sie mag zusehen, doch sie darf nicht zu den Geheiligten Vishnus sprechen und weltliche Gedanken in ihr Ohr flüstern. Entferne das Weib!«
Mit kurzen Worten wurde Isabel befohlen, sich in den Hintergrund zurückzuziehen, und sie musste zu ihrem maßlosen Ärger gehorchen.
Doch mit Genugtuung sah sie wiederum, wie das Benehmen der beiden Freundinnen plötzlich ein ganz umgewandeltes war. Sie senkten die Köpfe und stimmten nicht mehr in den Jubel der Bajaderen ein; sie erinnerten sich der Geliebten — sie gingen trostlos in den Tod.
Der Oberpriester nahm von einem Tempeldiener die Fackel und schwang sie durch die Luft, so das Zeichen gebend.
Noch einmal wanderten die Opfer aus einem Arm in den anderen, dann erstiegen sie die breite, zum Scheiterhaufen führende Leiter.
»Es ist zu spät«, flüsterte Kalidasa tonlos.
»Nun müssen wir den Tod erleiden, denn wir haben ihn schon bejaht«, fügte Sakuntala ebenso hinzu.
Innig umschlungen standen die beiden auf der Plattform und schauten mit umflorten Blicken herab. Es war vorbei mit ihrer Kraft, sie zitterten, und doch gab es kein Mittel, den Tod abzuwenden.
Unten schritten die Priester in feierlichem Schritt um den Scheiterhaufen herum und murmelten Gebete. Die Bajaderen sangen jauchzend, tanzten und winkten hinauf.
Auch Isabel winkte den Unglücklichen zu; die höhnischen Gebärden des Weibes sprachen von Hass und Eifersucht, von befriedigter Rache.
Der Oberpriester stand mit erhobener, brennender Fackel da. Er wartete auf das Zeichen Vishnus, den Holzstoß zu entzünden. Dies geschah nur an einer Stelle ganz unten. Langsam musste der Scheiterhaufen verbrennen. Es vergingen Stunden, ehe die Märtyrer die Hitze zu fühlen begannen, und währenddessen ertönten weiter Lobgesänge zu ihrer und Vishnus Ehren, bis sie in das feurige Meer stürzten.
Die Tempeldiener umgaben die Tanzenden im Kreis und leuchteten mit Fackeln.
Jetzt zuckte ein blutigroter Strahl im Osten auf, gleichzeitig senkte der Oberpriester die Fackel und legte sie an das unterste Scheit. Laut jauchzten die Bajaderen; doch übertönt wurde ihr Jubel von einem doppelten, gellenden Schrei, der vom Scheiterhaufen herabkam.
Schnell wurde die Leiter entfernt — es gab keinen Rückzug mehr, und unten begann es zu knistern.
Da wurde die Stille der Nacht noch durch etwas anderes unterbrochen. Doch nur einen Augenblick stutzten die Tanzenden, dann fuhren sie fort; tödlich erschrocken dagegen war Isabel.
Plötzlich erklang in weiter, weiter Ferne, aber noch deutlich hörbar, die brausende Musik eines englischen Kriegsmarsches, das donnernde Hurra der Engländer erscholl, und dann schienen alle Teufel der Hölle entfesselt zu sein.
Geschütze krachten, sowohl außerhalb der Stadt wie in Delhi selbst; heulend und zischend sausten Kanonenkugeln, Bomben und Granaten über die Stadt hin, krepierten schon in der Luft oder beim Aufschlagen, dazwischen Wehegeschrei, die Hurrarufe, das antwortende Schlachtgeheul der Inder und der Kriegsmarsch.
Die Priester Vishnus und die Bajaderen kümmerten sich nicht darum, was jetzt draußen geschah — Vishnu wollte seine Opfer haben.
Nur Isabel dachte sofort an Flucht.
»Die Engländer stürmen — ich muss mich in Sicherheit bringen«, flüsterten ihre erbleichten Lippen.
Auch in den Hof fand eine Granate ihren Weg. Sie explodierte, Pulverdampf ausströmend, klatschend schlugen die Kugeln und Eisensplitter an die steinernen Wände, doch die ruhig Weitertanzenden blieben diesmal noch verschont.
Isabel stürzte an das Hoftor, es war verschlossen. Nach langem Bemühen gelang es ihr, einen Tempeldiener zu bewegen, ihr zu öffnen.
Wie von Furien gepeitscht stürmte sie davon, dem Residenzpalast zu, wo sie allein Rettung vor den Kugeln und Granaten zu finden hoffte, durch welche die Stadt wie mit einem Regengusse überschüttet wurde.
Der Sturm auf Delhi hatte begonnen.
Außerhalb des Tempelhofes fand Isabel eine furchtbare Unordnung. Es war, als ob überall die größte Panik herrschte, doch dies war nur scheinbar.
In den Straßen konnte man kaum sehen. Es herrschte eine fast vollkommene Finsternis; schon war alles in Pulverdampf gehüllt, welchen die Morgenröte nicht zu durchdringen vermochte.
Zum ersten Male in ihrem Leben fühlte Isabel wirkliche Todesfurcht. Immer und immer wieder musste sie an den Untergang von Sodom und Gomorrha denken; schlimmer konnte es damals auch nicht zugegangen sein.
Der undurchdringliche Pulverqualm, das unausgesetzte Donnern, das Platzen der Granaten, das Wehegeheul der Getroffenen, überall Leichen und Blut, die durch die Straßen nach den Wällen eilenden Krieger, das gellende Kampfgeheul ausstoßend — es war ein furchtbarer, unbeschreiblicher Tumult.
Nur mit Mühe gelang es Isabel, das Schloss zu erreichen.
Bald wurde sie fast erdrückt, bald überritten, bald war sie der Gefahr ausgesetzt, von Granatensplittern zerrissen zu werden.
Sie folgte dem Beispiele der im Kriege erfahrenen Inder. Wenn eine Granate nicht weit von ihr prasselnd aufschlug, so stürzte sie nicht fliehend fort, wobei sie von den Splittern noch erreicht werden konnte, sondern sie warf sich augenblicklich zu Boden und ließ die Granate erst explodieren.
Schon war ihr Kleid in Fetzen zerrissen, mit Kot bedeckt, schon war ihr Haar versengt. Dabei wusste sie nicht einmal, wie die Sache stand. Jedenfalls waren die Engländer schon an den Mauern und mit den Indern handgemein. Aber sie konnten auch schon im Innern der Stadt sein. O nein, noch wurde das ›Hip hip hurra!‹ der Engländer von den Indern gellend beantwortet.
Sie waren wachsam gewesen und nicht überrumpelt worden.
Einmal stieß Isabel mit einem Trupp Krieger zusammen, von denen sie beinahe niedergerissen und zertreten worden wäre. Nur indem sie sich an die Wand drückte, entging sie noch diesem Schicksal.
In diesem Augenblick jagte ein Reiter die Straße herauf, alles rücksichtslos überreitend, was ihm nicht auswich.
Beim Anblick des Führers des Trupps parierte er sein Pferd.
»Wo ist die Begum von Dschansi?«, schrie er mit heiserer Stimme. »Bahadur vermisst sie auf den Wällen.«
Da schlug nicht weit davon eine Bombe ein, zermalmte einen Mann und blieb mit brennendem Zünder liegen.
»Nieder«, erklang der Ruf des Führers, und alles warf sich zu Boden, ebenso Isabel. Der Reiter wollte davonsprengen, aber sein Pferd scheute vor der qualmenden Kugel.
Ein furchtbarer Knall, ein Prasseln! Verschwunden waren Reiter und Ross, ihre Fleischstücke waren umhergestreut, und Isabel war von unten bis oben mit Blut bespritzt.
Sie raffte sich auf und stürzte weiter — dem Schlosse zu. Zu dem Wege, welchen sie sonst in wenigen Minuten zurückgelegt hatte, brauchte sie diesmal über eine Stunde.
»Wo ist die Begum von Dschansi?«, klang es noch manchmal an ihr Ohr. Die Führerin der Inder war also nicht zur Stelle, und die Krieger verlangten doch stürmisch nach ihr.
Sollte sie ihr Volk im Augenblicke der höchsten Gefahr feig im Stiche gelassen haben? Endlich hatte Isabel das Schloss erreicht. Als sie den ersten Gang betrat, stieß sie mit Timur Dhar zusammen, den sie draußen auf dem Wall im Kampfe glaubte; sie fand ihn ungerüstet, ohne Waffen.
Und wie sah der sonst so eiserne Mann aus!
Das Gesicht war aschfahl, zugleich furchtbar verzerrt wie im Schmerz, sein Körper zitterte, er taumelte wie ein Trunkener.
»Wo ist die Begum von Dschansi?«, rief Isabel unwillkürlich.
»Mag sie zur Hölle fahren!«, schrie der Gaukler und schoss an ihr vorüber.
Isabel warf ihm einen Blick nach. Diese Antwort hatte sie vollkommen bestürzt gemacht. Timur Dhar fluchte der Begum, auf die er immer alle Hoffnung gesetzt hatte!
Auch hatte sie bemerkt, dass sein Gewand frische Blutspuren trug, ja, sogar auf dem Estrich zeigten sich Blutflecke. War Timur Dhar, der sich für unverwundbar ausgab, doch verwundet worden?
Gleichgültig! Jetzt musste Isabel an ihre eigene Sicherheit denken, zugleich aber wollte sie die Situation überschauen, falls schon jetzt Flucht nötig war.
Ohne sich um ihr Aussehen zu kümmern, griff sie in ihrem Gemach nach einem Fernrohr und eilte nach dem niedrigen Turm des Schlosses.
Die dicken Mauern boten vollkommen Schutz vor den Granaten, höchstens eine Gewehrkugel hätte sich durch die Aussichtslöcher verirren können, doch Isabel trotzte dieser Gefahr, um sich zu orientieren, wie es mit der Stadt stand.
Sie konnte nur sehr wenig sehen.
Alles war in Pulverdampf gehüllt; lediglich die nächste Umgebung, also einige Straßen Delhis, war zu überblicken, und in diesen herrschte augenscheinlich ungeheuere Verwirrung.
Ferner konnte Isabel auch die Umgegend östlich von Delhi überschauen, denn dort leuchtete das Morgenrot.
Wie sie schon aus dem unaufhörlichen Kanonendonner schloss, stürmten die Engländer nicht von Süden, wie die indischen Anführer geglaubt hatten, sondern von Westen an, und das war ihnen sehr günstig.
Sie sahen Delhi im Morgenschimmer daliegen und konnten es sicher bombardieren, ihre Batterien selbst aber befanden sich fast noch ganz im Dunkel und boten kein Zielobjekt. Über Nacht hatten sie sich dort konzentriert.
Keine andere Seite von Delhi griffen sie an.
Es dauerte fast eine Stunde, ehe Isabel die Mauern und Kampfplätze selbst erblicken konnte. Dann aber durchbrach die Sonne plötzlich die Dunkelheit, ein kräftiger Wind setzte ein und vertrieb die Pulverdämpfe. Wenn auch diese immer wieder durch neue ersetzt wurden, so bekam Isabel doch eine vollkommene Übersicht.
In demselben Augenblick änderte sich die Angriffsweise der Engländer ganz merklich. Eben musste die westliche Batterie noch gefeuert haben, denn der ganze Horizont war noch mit Pulverrauch bedeckt, jetzt schwieg sie, dafür brach unter brausendem Hurraruf ein Regiment mit gefälltem Bajonett hervor zum Sturm auf die Breschen, und die übrigen Batterien begannen die westliche Mauer mit einem Bombenhagel zu überschütten.
Die Kanoniere zielten gut; sie schossen über die Stadt hinweg und wussten ihr Ziel dennoch zu treffen oder Verwirrung in den Straßen anzurichten.
Die Inder erwiderten den Hurraruf und erwarteten die Anstürmenden mit blanker Waffe. Isabel sah hinter einer Verschanzung Francoeur, den Kommandeur sämtlicher Batterien, stehen, er gab ein Zeichen. Auf den Wällen wurden alle Geschütze herumgeschwenkt und schleuderten gegen die Anstürmenden einen furchtbaren Kartätschenhagel.
In Reihen stürzten die Engländer und die unter englischer Flagge kämpfenden Sepoys; neue traten in die Lücken; immer weiter ging es unter Hurraruf gegen die Mauern vor; die Offiziere stürzten einer nach dem anderen, noch ein Hurra ausstoßend, die Verwundeten richteten sich auf und feuerten ihre Leute noch an.
Da endlich hatte der letzte Offizier die Bresche erreicht. Ehe er noch seinen Degen gebrauchen konnte, sank er mit gespaltenem Kopfe zu Boden; auf seine Leiche trat ein Gemeiner, das Bajonett zum Stoße gefällt. Auch er stürzte nieder, höher und höher türmte sich der Leichenwall und versperrte die Bresche, aber die Stürmenden ließen nicht nach.
Englische Leichen an der Mauer verrieten Isabel, dass dies heute nicht der erste Sturm war. Einer oder vielleicht schon mehrere waren abgeschlagen worden.
Zwischen den feindlichen Schanzgräben und der westlichen Mauer war ein großes Leichenfeld, bedeckt mit Toten in englischen Uniformen.
Isabel sah ferner einen verschanzten Hügel, hinter dessen Brüstung Helmbüsche auftauchten. Dort befanden sich englische Generäle, die mit Ferngläsern den Sturm beobachteten und von hier aus Befehle erteilten.
Bahadur selbst stand auf dem Wall und leitete die Verteidigung. Der greise Großmogul schonte sich nicht. Wie der gemeinste seiner Krieger setzte er seinen Körper den feindlichen Kugeln aus. Isabel konnte deutlich sein von Pulver geschwärztes Gesicht erkennen; es drückte furchtbaren Grimm aus.
Nana Sahib konnte sie unter den indischen Anführern nicht entdecken, wohl aber Radscha Sirbhanga.
Er hielt mit seinen Dschansinesen die südliche Mauer besetzt und hatte vorläufig noch keine Gelegenheit, sich am Kampfe zu beteiligen.
Hatte er denn übrigens wirklich die Absicht, den Indern beizustehen, nach allem, was Isabel ihm mitgeteilt hatte? Das Weib konnte das Verhalten des Jünglings nicht begreifen; sie wurde an dem Charakter des heißblütigen, in seiner Ehre doch tödlich beleidigten Inders vollständig irre.
Nein, es konnte nicht anders sein; Sirbhanga hielt trotz alledem noch zu seinen Volksgenossen, Isabel ballte vor Wut die Hände — ihre List war nicht geglückt, Bahadur hatte nicht die Hauptkraft durch ihre Bemühungen verloren.
Auch die übrigen Anführer konnte sie erblicken, doch — wo war die Begum von Dschansi? Ihr Fehlen war einfach rätselhaft.
Es schien fast, als ob die Engländer die Mauer gewinnen würden.
Zwar türmte sich Leiche auf Leiche, doch immer neue erkletterten den Leichenhügel und schossen, stachen und hieben von dort oben auf die Rebellen herab, und schon begann Isabel zu überlegen, was sie tun sollte, wenn sich die Engländer über die Mauer schwängen und sich unter Siegesjubel in die Stadt ergössen.
Dann blieb nichts weiter als Flucht übrig.
Wieder erscholl ein donnerndes Hip hip hurra! Jetzt hatten sich die Stürmenden Eingang durch eine Bresche verschafft, ein anderer Teil stand auf der Mauer, kein Gewehrfeuer drängte sie mehr zurück, vielmehr warfen sie die Rebellen Schritt für Schritt mit Bajonett, Kolben und Degen zurück.
Doch es sollte abermals anders kommen.
Plötzlich sah Isabel zwischen den Rebellen eine Gestalt auftauchen; ihre Rüstung glänzte und gleißte in der Sonne, sie schwang in beiden gepanzerten Händen das breite Schwert, der wehende Helmbusch nickte, Isabel konnte sogar das lange schwarze Haar im Winde flattern sehen.
»Die Begum von Dschansi!«, pflanzte sich der Ruf auf beiden Seiten von Mund zu Mund fort; die Stürmenden stockten; mit erneuter Wut fielen die Rebellen sie an, voran die Begum, das schwere Schlachtschwert in beiden Händen wie eine Reitgerte schwingend, die Sepoys auf englischer Seite wandten sich zur Flucht — und die eben gewonnene Position war verloren gegangen.
Nicht genug damit! In unaufhaltsamer Flucht ging es rückwärts, die Engländer wurden von den Sepoys mit fortgerissen, und hinter ihnen her stürmten die ausfallenden Belagerten, an ihrer Spitze wie ein Würgengel die Begum.
Erst nachdem die Inder ihren Zweck vollkommen erreicht hatten, suchten sie wieder Schutz hinter den Mauern. Dafür wurden die Engländer, welche sich zum neuen Sturme sammelten, so bombardiert, dass sie den Versuch für diesmal aufgeben mussten.
Das Erscheinen und das Verhalten der Begum hatte dies bewirkt; sonst wären die Feinde wohl schon in der Stadt, und ein Straßenkampf hätte begonnen. Man kann sich denken, welche Gefühle jetzt das Herz eines jeden Inders schwellten, wie sie der jugendlichen, streitbaren Königin zujubelten, und selbst Isabel blickte mit unverhohlener Bewunderung nach der Gestalt, an welcher alles, selbst das Gesicht, mit Stahl bedeckt war.
Eine lange Pause trat ein, ausgefüllt von der Musik der Kanonen, dann schritten die Engländer zum neuen Sturm.
Man sah, wie sie sich immer mehr nach Westen zusammenzogen, um immer neue Mannschaften ins Feuer führen zu können. Nur ein schwacher Gürtel, meist Reiterei, lag noch um Delhi herum, und ein energischer Durchbruchsversuch der Rebellen nach einer anderen Seite hin wäre vielleicht geglückt. Doch man wollte sich ja nicht durchschlagen, sondern nur das Zentrum der Rebellenmacht erhalten.
Stunde nach Stunde verstrich; die Sonne stieg höher und wurde heißer und ermattete die Engländer, ohne dass sie Erfolg hatten.
Doch immer von neuem wurden sie von frischen Offizieren vorgeführt, jeder Gefallene wurde ersetzt.
Es war, als sollte ihr Vorhaben doch scheitern, und daran war die Begum schuld, unter deren Leitung die Inder den größten Heldenmut zeigten. Ihr Anblick wirkte auf sie wie ein Talisman.
Unter rauschender Kriegsmusik machten die Engländer noch einen Angriff; alle verfügbaren Truppen hatten sich konzentriert; mussten sie diesmal zurück, so war ihre Kraft erschöpft, dann konnten sie nur an eine langwierige Belagerung denken, durch welche sie die Festung aushungerten.
Wieder erreichten sie die Mauern, und Isabel war vor Staunen außer sich, als sie in dem führenden Offizier, dessen weißes Haar im Winde flatterte, der aber noch die Kraft und Behändigkeit eines Jünglings besaß, General Nicholson selbst erkannte.
Um die Stürmenden zu begeistern, bot er wie jeder Soldat seine Brust den Kugeln dar, und das Schicksal wollte, dass er die Mauer gesund erreichen sollte — dann allerdings gebot es ihm ein mächtiges Halt.
Mit geschwungenem Degen stürzte der greise, feurige Führer in die Bresche, er wollte das Innere der Stadt als erster betreten, oder doch die seinen zur Nachfolge entflammen — siegen oder sterben.
Die Begum selbst warf sich ihm entgegen; Isabels Atem stockte. Wie würde der Ausgang des Zweikampfes sein?
Mit einer blitzschnellen Bewegung fiel Nicholson gegen das Mädchen aus, doch schon beim ersten Hieb zersplitterte sein Degen bis ans Heft an dem Schwerte oder Harnisch. Wahrscheinlich hatte er kein Waffe mehr bei sich, oder er wollte die gefürchtete Anführerin lebendig fangen, kurz, mit einem Satze stand er vor der Begum und hatte sie gepackt.
Beide strauchelten, stürzten zu Boden, im nächsten Augenblick aber sprang die Begum wieder auf; Isabel sah, wie sie Helm und Visier ordnete, dann schwang sie wieder das Schwert in beiden Händen; während Nicholson liegen blieb.
Einen Augenblick standen die Stürmenden wie erstarrt; sie wussten ihren heldenmütigen General tot; dann jedoch warfen sie sich mit doppelter Wut, diesmal ohne Hurraruf, auf die Rebellen, sie wollten den Tod ihres geliebten Führers rächen.
Es war vergebens — die Verteidiger ließen sich keinen Fuß breit abgewinnen, auf der einen Seite feuerte Bahadur seine Leute durch sein eigenes Beispiel an, auf der anderen mähte der Begum Schwert die Engländer nieder wie der Schnitter das reife Getreide.
Da trat eine neue Person auf, die dem ganzen eine andere Wendung geben sollte.
Mit Entsetzen sah Isabel plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, eine Gestalt mitten unter den Verteidigern auftauchen, die sie schon längst unter den Toten wähnte, die sie durch ihre eigene Hand dem Tode überliefert zu haben glaubte.
Standen denn die Toten auf?
Die wilde, in Felle gehüllte Gestalt gehörte nicht unter Soldaten; es war ein verwahrloster Waldmensch. Sein muskulöser Arm schwang mit ungeheurer Kraft eine mächtige Keule; jeder Schlag mit ihr streckte einen Mann nieder, und auf die er einschlug, waren die Verteidiger der Mauer.
War es denn Wirklichkeit? fragte sich Isabel schaudernd. War dies jener Mann, den sie fürchtete und getötet hatte, oder hatte er einen Doppelgänger?
»Das wandernde Feuer!«, erscholl gellend in namenlosem Entsetzen der Ruf, die Rebellen dachten nicht mehr an Verteidigung, sondern nur an Flucht. Mit Menschen, aber nicht mit Geistern wollten sie kämpfen.
Die Begum brachte die Weichenden noch einmal zum Stehen; sie selbst sprang der wilden Gestalt entgegen.
Da sauste die Keule herab, ein schmetternder Schlag auf den Helm, so laut, dass selbst Isabel ihn hören konnte, und die Begum brach zusammen.
Isabel sah nur noch, wie alle Rebellen flohen, wie sich die Engländer durch die Bresche ergossen, über die Mauern schwangen, und, sich schon schnell ordnend, unter Hurraruf in die Straßen stürmten — da dachte sie selbst an Flucht.
Delhi war für die Rebellen verloren. Höchstens entstand noch ein kurzer Straßenkampf, dann wurde die englische Flagge auf den Wällen aufgezogen. Aber es sollte für die Engländer, die von dem langen Sturm bis zum Tode erschöpft waren, zu keinem Straßenkampfe kommen. Ein anderer übernahm dies für sie.
Auf der südlichen Mauer wurde es plötzlich lebendig, Trompetensignale ertönten, und die dort postierten Dschansinesen gingen vor, nicht so, wie Bahadur ihnen befohlen, gegen die Engländer, um den Fliehenden den Rücken zu decken, sondern gegen ihre eigenen Landsleute.
Die Krieger warfen sich, Sirbhanga an der Spitze, auf die Fliehenden und vermehrten die Verwirrung ins Unglaubliche. Jetzt gab es keinen Halt mehr.
Zähneknirschend erkannte Bahadur, dass er sich in dem jungen Radscha, den er herangezogen, vollkommen getäuscht hatte. Er war ein Verräter. Jetzt, da man seine Hilfe brauchte, wandte er sein Schwert gegen die Landsleute.
Doch Bahadur hatte auch schon vorher an eine eventuelle Flucht aus der Stadt gedacht. Aus dem nördlichen Tore brachen, an der Spitze Nana Sahib, gegen tausend Reiter hervor, dann noch einmal eine gleich starke Abteilung.
Wohl eröffnete die betreffende Batterie ein anhaltendes Feuer gegen die Anstürmenden, da sie aber nur noch schwach besetzt war, konnte sie dem Angriffe der schwergepanzerten Reiter nicht widerstehen.
Sie wurde genommen; der Weg war frei; den Reitern nach jagten in zügelloser Flucht die von Sirbhanga und den Engländern Verfolgten, zu Pferd und zu Fuß; jede Ordnung war aufgelöst, jeder dachte an seine eigene Rettung, und wer eingeholt ward, wurde erbarmungslos niedergemacht.
»Nach Lucknow!«, war das Losungswort der Fliehenden.
Den Stürmenden war streng verboten worden zu plündern, es stand aber zu erwarten, dass die Sieger sich dennoch an den reichen Tempelschätzen vergriffen. Daher waren Gurkhas beordert, für die Ordnung zu sorgen; in Patrouillen durchstreiften sie die Straßen; andere löschten die brennenden Häuser.
»Im Tempel Vishnus sind Plünderer!«, rief ein Offizier dem Führer solch einer Patrouille zu, der an seinem Helmschmucke als Häuptling kenntlich war; und schon die riesenhafte Gestalt verriet, dass es niemand anders sein konnte als Dollamore.
Er warf sein Pferd herum und jagte nach dem Tempel, gefolgt von seinen Leuten.
Es war wirklich eine Meute von Plünderern, englischen Abenteurern, die sich hatten anwerben lassen, um sich im Kriege zu bereichern, in den Hof eingedrungen. Sie hatten das Tor gesprengt, standen aber nun erstarrt über den Anblick, der sich ihnen bot.
Sie achteten nicht der drohenden Worte und Gebärden des Oberpriesters, der das Verderben seines Gottes auf sie herabrief, sie hatten nur Augen für das schreckliche Schauspiel, das hier vor sich ging.
Der hohe Scheiterhaufen brannte schon bis zur Hälfte, und oben standen zwei Mädchen, rangen verzweifelt die Hände und flehten um Erbarmen.
Noch immer tanzten die Bajaderen und schritten die Priester unter Gesang um den Holzstoß; die Plünderer konnten sie in ihrer heiligen Handlung nicht stören. Sie bauten auf Vishnus Hilfe, der frevlerische Hände schon von seinem Heiligtume abhalten würde.
Da sprengte Dollamore in den Hof.
»Sakuntala! schrie er in furchtbarem Schrecken.
Auch sie hatte den Geliebten erkannt, breitete sehnsüchtig die Arme nach ihm aus und brach auf der Plattform zusammen. Die Hitze musste dort oben schon unerträglich sein, noch wenige Minuten, dann schlugen die Flammen hinauf und begannen die Leiber der Unglücklichen zu rösten.
Dollamore raste. Mit entblößtem Schwerte wollte er die Priester zwingen, das Feuer zu löschen, doch das ging ja nicht mehr, er konnte auch seine Leute nicht dazu gebrauchen; denn wurden die unteren Scheite auseinandergerissen, so brach das Ganze zusammen und die auf der Plattform Stehenden stürzten in die Glut.
Da raffte sich Sakuntala wieder auf, taumelte an den äußersten Rand, stieß einen Schrei aus und stürzte sich in weitem Sprunge dort hinunter, wo Dollamore stand.
Sie wollte wenigstens zerschmettert zu seinen Füßen sterben.
Aber des Inders sicheres Auge irrte sich nicht; mit festem und doch nachgiebigem Arme fing er die leichte Gestalt auf, wurde zwar weit zurückgeschleudert und selbst zu Boden gerissen, doch mit seinem Körper schützte er die Geliebte; unverletzt hielt er Sakuntala in seinen Armen.
Jetzt wagte auch Kalidasa den Sprung, und dieser verlief ebenso glücklich.
Während die Gurkhas die Engländer mit gezogenem Schwerte und Revolver aufforderten, die Waffen niederzulegen und sich als Plünderer gefangenzugeben, brachte Dollamore die beiden Mädchen in Sicherheit. —
Dort, wo der Kampf um die Bresche gewütet hatte, suchte man vergebens nach dem toten oder verwundeten Körper der Begum von Dschansi. Viele Soldaten und Offiziere behaupteten bestimmt, gesehen zu haben, wie die in Felle gehüllte Gestalt das Mädchen mit der Keule niedergeschlagen habe.
Jetzt war sie spurlos verschwunden. Wahrscheinlich hatte sie sich aus ihrer Betäubung erholt und war geflohen, oder sie war von den Ihrigen mit fortgeschleppt worden; wunderbar aber war es, dass dies nicht bemerkt worden war, denn ihre Erscheinung war durch die glänzende Rüstung doch äußerst auffällig.
Ebenso war das sogenannte wandernde Feuer nicht mehr zu sehen. Einige sagten aus, der unheimliche Mann, dem man die Einnahme von Delhi fast allein zu verdanken hatte, wäre vor ihren Augen förmlich im Boden versunken.
An der Bresche befand sich auch Lord Canning mit seinem Gefolge.
Er dachte jetzt nicht an das rätselhafte Verschwinden jener beiden, er kniete neben dem bewusstlosen Nicholson, welcher aus einer am Boden ausgebreiteten Decke lag.
Ein Dolch- oder Messerstich hatte ihm den Hals durchbohrt, und diese Verletzung war tödlich. Es war bekannt, dass die Begum ihn geführt hatte.
Ein Arzt kniete zur anderen Seite des Sterbenden und legte ihm einen Verband an. Nicholson schlug die Augen auf; sein Blick fiel auf Canning, und er musste bei voller Besinnung sein, denn er drückte dem Freunde die Hand und lächelte schmerzlich. Er fühlte sein Ende nahen.
Er bewegte den Mund und machte die größten Anstrengungen zu sprechen, brachte aber keinen Laut hervor, denn das Stimmorgan war verletzt worden.
Aus seinen heftigen Handbewegungen nahm man an, dass er schreiben wolle, man gab ihm Bleistift und Papier, legte ihn bequemer, und mit zitternder Hand schrieb der Sterbende einige Zeilen.
Lord Canning sah, dass Nicholson des Schreibens gar nicht mehr fähig war. Doch dieser Mann nahm wohl kein Geheimnis mit ins Grab hinüber, es galt nur noch einen Abschiedsgruß an Freunde und die Seinen.
Aber Canning wurde bestürzt, als er die deutlich geschriebenen Anfangsworte las.
»Die Begum«, war leserlich geschrieben, »von« war schon undeutlich, »Dschansi« konnte bloß noch erraten werden, die übrigen Zeilen bestanden aus unenträtselbaren Hieroglyphen.
Der Sterbende wies auf das Papier in Cannings Hand, hob wie zum Schwure zwei Finger zum Himmel auf, deutete nach dem Festungsturme, auf welchem schon die englische Flagge gehisst war, drückte Lord Canning noch einmal die Hand, und General Nicholson, der Held von Sealcote, Lahore und von Najafghar, der Eroberer von Delhi, war verschieden — am 20. September 1857.
»Er forderte uns zur Rache an dem auf, der ihn getötet hat«, sagte neben Canning ein Offizier, der den Zettel ebenfalls gesehen hatte, »er verlangt von uns den Schwur, seinen Mörder, die Begum von Dschansi, zu bestrafen, und das wollen wir tun.«
»Ich glaube, Sie irren«, entgegnete Canning ruhig und steckte das Papier ein, »General Nicholson war nicht der Mann, der gegen den zur Rache auffordert, der, der ihn im offenen Kampfe besiegte. Gott mag der Begum wie General Nicholson ein milder Richter sein — und uns allen.«
Die Engländer, welche sich den die Flüchtlinge verfolgenden Dschansinesen anschlossen, brauchten diesen nicht erst zu sagen, dass kein Rebell mehr zu schonen war, mit Ausnahme der Weiber und Kinder.
Sirbhanga hatte seinen Stammesgenossen mitgeteilt, wie sein Vater, der vom Volke geliebte Fürst, von Nana Sahib mit Wissen Bahadurs, Timur Dhars und der anderen Radschas meuchlings ermordet worden war, und sie brannten nun darauf, seinen Tod zu rächen.
Die Eingeholten wurden niedergehauen, ebenso diejenigen, welche mit erhobenen Armen auf den Knien um Erbarmen flehten. Die Wütenden konnten sogar kaum verhindert werden, ihre Wut auch an den geflohenen Weibern und Kindern auszulassen.
Von letzteren waren viele so töricht gewesen, ebenfalls Delhi zu verlassen und sich den flüchtigen Kriegern anzuschließen. Sie blieben bald zurück, und viele endeten unter den Schwertern und nachgesandten Kugeln.
Die ganze Ebene am Ufer der Dschamna war ein buntes Gewirr von Reitern und Fußgängern; alles drängte rücksichtslos vorwärts.
Manchmal fand noch da ein kurzer Kampf statt, wo sich ein Trupp Inder gesammelt, besonders, wenn sie sich um einen Führer geschart hatten, der sie zum Widerstand anfeuerte und den sie nicht verlassen wollten.
Auch heroische Beispiele kamen vor, wo Getreue nicht von der Seite ihres toten Herrn wichen und bis zum letzten Atemzuge an seiner Leiche kämpften.
Fast allen voran, nur einen kleinen Trupp Dschansinesen hinter sich, war Sirbhanga. Er kümmerte sich weniger um die zurückbleibenden Flüchtlinge, an denen er vorüberjagte, sein Auge spähte nur nach Nana Sahib oder nach sonst einem der Rebellenführer.
Da sah er in der Ferne einen Reiter stürzen. Es musste ein hoher Führer sein, vielleicht ein Fürst; denn im Nu sammelte sich alles um ihn und setzte mit ihm die Flucht fort. Sirbhanga stieß seinem Rosse die Sporen in die Weichen und jagte vorwärts, Dschansinesen und englische Kavalleristen ihm nach. Vielleicht gab es dort einen Fang zu machen.
Als der Trupp sah, dass er den Reitern nicht mehr entkommen konnte, hielt er, und immer mehr Flüchtlinge gesellten sich ihm bei, die Verfolger erwartend.
Es entwickelte sich eine kleine Schlacht. Die Inder fochten mit der größten Verzweiflung; sie schienen ihren Führer decken zu wollen.
»Bahadur!«, jauchzte da Sirbhanga auf und sprengte mitten ins Gewühl.
Rechtzeitig sprang er noch vom Pferde, ehe es sterbend niederstürzte, und setzte den Kampf zu Fuß fort.
Er hatte den Großmogul erkannt; zu ihm wollte er, ihn wollte er töten oder gefangen nehmen.
Wie ein Raubvogel stieß er auf ihn zu; immer mehr lichteten sich die Reihen der Rebellen; schließlich griff der greise Großmogul selbst zum Schwerte und focht wie ein verwundeter Löwe um seine Freiheit.
Dann hatte Sirbhanga ihn erreicht; Auge in Auge standen sie sich gegenüber.
Ein Wutschrei entfuhr Bahadur, als er Radscha Sirbhanga erkannte; mit furchtbarem Ungestüm drang er auf den Jüngling ein, und dieser hätte dem gestählten Arm des alten Kriegers nicht widerstanden, wenn ihm nicht Hilfe erschienen wäre.
Ein breiter Pallasch mähte Köpfe ab, hieb und stach und brach sich Bahn bis zu Bahadur durch. Es war Captain Atkins, jetzt Colonel.
»Ergib dich, Bahadur!«, rief er, auf diesen eindringend.
Statt aller Antwort stieß derselbe einen Fluch aus und wandte sich, im Fechten Meister, gegen den neuen Gegner. Wie ein Eber hieb er um sich.
Da ersah Sirbhanga eine günstige Gelegenheit. Schnell ließ er den Degen fallen, sprang von der Seite hinzu und umklammerte Bahadur mit sehnigen Armen, ihn am Gebrauche des Schwertes hindernd.
Schon waren die letzten Rebellen niedergemacht, der mit den Zähnen knirschende Bahadur sah sich überwältigt.
»Ergib dich, Widerstand ist nutzlos«, wiederholte Colonel Atkins.
Mit einem fürchterlichen Fluche warf der alte Fürst sein Schwert zu Boden.
Atkins übergab ihn einigen Offizieren zur Bewachung. Der Gefangene sollte mit nach Delhi zurückkehren. Dann wandte der Colonel sich mit lauter Stimme an Sirbhanga, der seine Waffe wieder aufgenommen hatte:
»Leutnant Carter, im Namen der Königin von England fordere ich Ihnen den Degen ab. Sie sind mein Gefangener.«
Der Angeredete zuckte zusammen und erbleichte bis in die Lippen. Seine wenigen Leute machten unwillige Gebärden; sie griffen nach den Waffen. Jetzt erst merkten sie, dass sie von englischen Soldaten vollständig umzingelt waren.
»Colonel, Sie verkennen mich«, stieß Sirbhanga hervor, »ich focht für England.«
»Wohl; aber Sie hielten sich als Anführer der Dschansinesen in der belagerten Festung auf. Sie sind Rebell geworden.«
»Ich war's der Bahadur gefangen nahm.«
»Sie zählten zu den Rebellen, das können Sie nicht leugnen.«
»Ein unglückseliger Irrtum...«
»Verantworten Sie sich nicht vor mir, ich verlange keine Erklärung. Ich tue nur meine Pflicht — Ihren Degen. Leutnant Carter«, fuhr er hastig fort, als er die drohenden Bewegungen der Inder sah, »beruhigen Sie Ihre Leute, oder ich muss Gewalt anwenden. Streckt die Waffen, ich nehme euch als Rebellen gefangen!«
Sirbhanga gelang es, seine Leute zu bereden, jeden Widerstand aufzugeben. Er sagte, es müsse sich bald aufklären, dass sie mit den Engländern gemeinsame Sache gemacht hätten, dass ihnen dazu nur nicht gleich Gelegenheit geboten worden wäre.
Sie lieferten die Waffen aus, dann band man ihnen die Hände auf dem Rücken zusammen, auch Sirbhanga. Selbst Bahadur wurde gefesselt, wogegen der stolze Maharatte vergebens wütete.
Als er aber Sirbhangas Schicksal sah, lachte er höhnisch und triumphierend auf.
»Sie haben gute Hoffnungen, Leutnant Carter«, redete ein junger Offizier ihn ebenfalls spöttisch an. »Kennen Sie noch nicht den neuesten Erlass Ihrer Majestät? Jeder, der es mit den Rebellen hält oder auch nur einmal gehalten hat, wird gehängt, und wenn er uns später durch Verrat auch noch so gute Dienste leistet. Es gibt überhaupt keine Ausnahme mehr, unerbittlich...«
Eine scharfe Bemerkung Atkins' schnitt dem vorlauten Sprecher das Wort ab.
Die Gefesselten wurden unter scharfer Bewachung nach Delhi transportiert. Wohin sie blickten, überall sahen sie drohende Gesichter ohne Teilnahme, überall furchtbaren Ernst.
Ihr Weg führte nach dem früheren Gouvernementspalast. Auf dem großen Platze vor diesem Hause wurden schon Gerüste aufgebaut, deren Konstruktion keinen Zweifel ließ, wozu sie dienen sollten — es waren Galgen.
»Es geht schnell«, flüsterte ein Soldat dem anderen zu, »schon heute oder morgen baumeln sie.«
Dann ging es in den Palast, wo die Gefangenen in einem Saale unter der strengsten Bewachung einstweilen gelassen wurden, bis sie vor Lord Canning geführt werden würden.
Hochfahrend verlangte Bahadur, sofort den Generalgouverneur zu sprechen, aber kurz wurde ihm bedeutet, dass er jetzt nichts weiter sei als ein gefangener Meuterer. Er musste sich in sein Schicksal fügen.
Lord Canning, umgeben von seinem Stabe, hielt Kriegsgericht ab. Noch niemals wurde ein solches kürzer oder strenger gehandhabt, es sei denn über Seeräuber, welche nach englischen Gesetzen an demselben Tage öffentlich aufgehängt werden müssen, an welchem das Schiff, dessen Besatzung sie fing, in den nächsten Hafen läuft. Noch niemals wurden von England solche vornehme Fürsten verurteilt.
Es waren schon viele Anführer und Radschas abgeliefert worden. Sie wurden nach Namen und Titel gefragt und kurz und bündig zum Tode am Galgen verurteilt — wegen Meuterei gegen die Regierung, welcher sie Treue geschworen hatten.
Nur die zu Bahadurs Verwandtschaft gehörenden Prinzen, die sogenannten Baburiden, wurden, weil sie von dem Großmogul abstammten, zur späteren Verurteilung zurückgestellt.
Es sei schon hier erwähnt, um die Strenge der Engländer zu kennzeichnen, dass auch diese Prinzen später samt und sonders erschossen wurden. Die Übrigen hörten schon ihre Galgen unten zimmern.
Mit finsteren Blicken, aber sonst kalt, folgten die Anführer und Häuptlinge nach der Aburteilung ihren Wächtern hinaus.
Ein englischer Offizier nach dem anderen trat ein und meldete den Namen eines Gefangenen.
Jetzt kam Atkins herein.
»Der Großmogul Bahadur«, meldete er.
Eine Bewegung ging durch die Versammlung, ein Flüstern entstand.
»Und Leutnant Carter.«
Finster wurden alle Gesichter.
»Sie mögen warten«, entschied Canning und konnte eine zornige Erregung nicht unterdrücken.
Da trat oder vielmehr stürzte ein Offizier in den Saal. Er war nicht einmal imsande, eine vorschriftsmäßige Meldung zu machen.
»Wir haben sie gefangen!«, rief er noch im Laufen.
»Wen?«
»Die Begum von Dschansi.«
Alles fuhr wie erschrocken auf, ganz fassungslos schien Canning zu sein.
»Wo?«, fragte er dann leise.
»Ich rückte mit einer Abteilung zum Löschen eines Gebäudes in die Nähe des Residenz-Palastes vor. In einer einsamen, versteckten Straße, mehr einem Schlupfwinkel ähnlich, sah ich zwei Pferde stehen, von einem Inder gehalten, der sich ängstlich umblickte, und eins dieser Pferde war von wunderbarer Schönheit. Ich dachte mir gleich, dass hier Pferde zur Flucht von Radschas bereitgehalten würden, welche den Anschluss verpasst hatten. Ohne uns zu zeigen, verteilte ich meine Leute und wartete. Richtig, bald kam ein Mädchen in Begleitung zweier Männer, alle drei mit von Schutt bedeckten Kleidern, als wären sie durch unterirdische Gänge gekrochen. Schon der Beschreibung nach erkannte ich in dem Weibe die Begum; ihr Kleid war zerrissen, und darunter hervor schimmerte ein Panzer, wie sie ihn gewöhnlich tragen soll. Im Begriff, auf ihr Pferd zu steigen, brachen wir hervor und nahmen sie gefangen. Anscheinend ließ sie geduldig alles mit sich geschehen.«
Es dauerte eine Zeit, ehe Canning seiner Erschütterung Herr wurde.
»Wer sind ihre Begleiter?«
»Der eine mag ein Engländer sein, den anderen halte ich nicht dafür, eher für einen Franzosen. Nur fluchen konnte er auf englisch gut, sonst nicht sprechen. Beide waren der Begum also auf der Flucht behilflich.
»Sind sie hier?«
»Zu Befehl!«
»Führen Sie sie vor!«
Unter starker Bewachung traten das Mädchen und hinter ihr die beiden Begleiter ein. Ihr Anzug war so, wie der Offizier ihn beschrieben. mit Kalk bestäubt und zum Teil zerrissen.
Unter den Fetzen, die den Körper des Mädchens bedeckten, schimmerte ein glänzendes Stahlpanzerhemd hervor. Das schwarze Haar hing ihr lang aufgelöst wild um den Kopf. Traurig waren die Augen auf Lord Canning geheftet. Allen dreien waren die Hände auf dem Rücken gefesselt. Lord Canning trat einen Schritt auf sie zu, und seine Stimme zitterte, als er sagte:
»Unglückliche, warum konntest du dich nicht durch Flucht retten?«
Die Begum blieb die Antwort schuldig. Sie wendete den Kopf zu ihrem Begleiter hin.
»Du hattest recht, Oskar. Mein Schicksal will nicht, dass ich glücklich werden soll. Es ist das Beste, ich mache es kurz und ende auch eines schnellen Todes.«
Diese Anrede veranlasste Canning, seine Blicke ihrem Begleiter zuzuwenden, und wie vom Blitz getroffen, taumelte er zurück, fuhr sich sogar mehrmals mit der Hand über die Augen, als glaube er eine Vision zu sehen.
»Was — Reihenfels — Mister Reihenfels — Sie sind es?«, brachte er stammelnd hervor.
»Ja, ich bin Oskar Reihenfels, und ich bin dem Leben wiedergegeben worden, um zu bezeugen, dass diese gar nicht die vermeintliche Begum von Dschansi ist!«
Diese mit lauter, fester Stimme gesprochenen Worte brachten unter den Versammelten natürlicherweise große Aufregung hervor. Der eine glaubte, nicht richtig gehört zu haben, der andere forderte sofort Beweise. Die meisten kannten Reihenfels, hielten ihn für tot, hatten sein Ende mit eigenen Augen gesehen, und jetzt stand er lebendig vor ihnen.
»Aber, Mister Reihenfels, wie kommen Sie denn hierher?«, begann Canning, als die Ruhe wiederhergestellt war.
»Es würde zu weit führen, wollte ich jetzt meine ganze wundersame Geschichte erzählen. Man würde mir auch keinen Glauben schenken. Genug, ich lebe und stehe hier, zu bezeugen, dass dieses junge Mädchen nicht die Begum von Dschansi ist, wenigstens nicht die, welche Sie, meine Herren, unter dieser Bezeichnung verstehen.«
»Gewiss — sie ist es — ich kenne sie — natürlich ist sie es«, erklang es durcheinander.
»Wie, das wäre nicht die Begum von Dschansi?«, ließ sich eine höhnische Stimme vernehmen. »Wer wagt dies zu behaupten?«
Bahadur war es, der infolge eines missverstandenen Befehles ins Zimmer geführt worden war.
»Nein, sie ist es nicht, erwiderte Reihenfels mit starker Stimme, »du und deine lügenhaften Freunde, ihr seid es gewesen, die sie zur Begum von Dschansi gestempelt haben.«
»Hohoho«, hohnlachte Bahadur, »fragt sie doch selbst, ob sie nicht als Begum von Dschansi durch das englische Lager geschlichen ist und spioniert, ob sie nicht die Wachen betäubt, jeden Tag auf dem Wall gestanden und alles geleitet hat! Fragt sie doch selbst! Und wenn sie es leugnet, so führt alle gefangenen Fürsten einzeln vor und fragt sie, ob diese nicht die Begum von Dschansi, die zukünftige Königin von Indien ist.«
Aller Augen waren auf das Mädchen gerichtet; man sah, wie sie unter den Worten Bahadurs fast zusammenbrach, und dies war der größte Beweis ihrer Schuld.
»Lass mich, Oskar!«, flüsterte sie tonlos. »Verteidige mich nicht länger! Du vergrößerst nur mein Leiden. Mir kann nicht mehr geholfen werden, mein Schicksal hat sich erfüllt. Ja denn«, fuhr sie laut fort, »ich bin die Begum von Dschansi.«
»Unglückliche, du redest dich ja selbst in den Tod«, rief Reihenfels verzweifelt. »Glauben Sie ihr nicht, meine Herren, sie hat nichts gemein mit der Begum von Dschansi, welche...«
»Wir wollen jetzt keine Erklärung«, unterbrach ihn Lord Canning bestimmt, »befreit diesen Herrn von den Fesseln, ich bürge für ihn als treuen Untertanen Englands. Diese ist meine Gefangene, sie steht unter meinem persönlichen Schutze.«
Als Bega gefesselt abgeführt werden sollte, wollte Reihenfels, ganz außer sich, sich dazwischenwerfen. Da bemerkte er an Lord Canning ein leichtes Augenblinzeln, und er beherrschte sich, von einer neuen Hoffnung beseelt.
»Ich bitte, noch eine Frage an die Begum stellen zu dürfen«, nahm ein hoher Offizier das Wort.
»Hat es nicht Zeit bis zum persönlichen Verhör?«
»Die Frage, wenn sie ehrlich beantwortet wird, dürfte gleich Licht in die Sache bringen.«
»So fragen Sie.«
»Standest du nicht heute auf dem Walle und nahmst Anteil am Kampfe?«, fragte der Offizier das Mädchen.
»Nein«, entgegnete sie bestimmt.
»Nein? Wir haben dich ja kämpfen sehen.«
»Das ist nicht wahr«, stieß Bega hervor; »es war überhaupt die Begum von Dschansi nicht bei der Verteidigung zugegen, es ist gar nicht möglich.«
»Oho! General Nicholson hat von ihr den Todesstoß bekommen.«
»Das ist nicht wahr«, wiederholte Bega, und auch Reihenfels verneinte es entschieden.
»Was wissen Sie davon?«, fragte ihn Canning.
»Ich kann hier nicht alles erzählen, ich kann nicht«, entgegnete er zögernd.
»So führt die Gefangene ab!«
Er flüsterte einem Offizier etwas zu, und dieser brachte die Gefangene hinaus.
»Bega!«, rief Reihenfels schmerzlich. Sie wandte sich noch einmal um.
»Lebe wohl, Oskar, und versuche nicht mehr, mich zu retten, du kannst es doch nicht. Es hat sich alles so erfüllt, wie wir es uns gedacht hatten.«
»Verzage nicht, deine Unschuld muss noch an den Tag kommen!«
»Nimmermehr, denn ich bin schuldig.«
Mit verzweifelter Gebärde schaute Reihenfeld ihr nach, bis sie seinen Blicken entschwand.
»Wer ist dieser?«, fragte Canning, auf August deutend.
»Mein Diener.«
»Ah, ich kenne ihn ja. Befreit ihn von den Fesseln! Nicht wahr, Sie werden nicht fliehen, sondern sich auf ein Gebot freiwillig hier einfinden?«
»Nu allemal, natürlich!«, entgegnete August stolz.
»So wohnen sie der Verurteilung der Gefangenen bei, Mister Reihenfels, dann sprechen wir zusammen, und«, fügte er leise hinzu, »fassen Sie Mut! Mir ist ein rettender Gedanke gekommen.«
Ein Radscha nach dem anderen ward vorgeführt. Mit wenigen Ausnahmen lautete das Urteil auf Tod am Galgen.
»Auch dein Los ist kein anderes, Meineidiger«, redete Canning den Großmogul an.
Dieser verschränkte die Arme über der Brust und lachte trotzig.
»Oho, ich möchte wissen, ob ihr verfluchten Anglisis, ihr Landesräuber, es wagt, den Großmogul des Landes zu hängen, das ihr ausgesogen habt. Oder glaubt ihr, weil ihr dies tatet, ihr dürftet mich wie einen Verbrecher behandeln?«
»Ein meineidiger Meuterer ist ein Verbrecher.«
»Ein Mann bin ich, der sein Vaterland liebt und dessen Unterdrücker hasst«, fuhr Bahadur auf.
»Genug, du wirst dein Urteil später erfahren!«
Er wurde abgeführt. Man verurteilte ihn zu lebenslänglichem Gefängnis, in welchem er bald starb.
Als Sirbhanga gebracht wurde, entstand ein unwilliges Gemurmel im Saale.
»Leutnant Carter«, sagte Canning streng, »Sie haben den Eid gebrochen, den Sie der Königin von England geschworen haben. Sie sind schlimmer als ein Meuterer, Sie sind ein Verräter.«
»Ich weiß es«, entgegnete Eugen ruhig, »und bitte nur, mich nicht eher zu verurteilen, als bis man meine Erklärung gehört hat.«
»Es soll geschehen.«
Mit tiefem Mitleide blickte Reihenfels dem Jünglinge nach, mit welchem das Schicksal so grausam gespielt hatte. Auch er sollte an ihm einen Verteidiger haben.
Schließlich waren alle gefangenen Anführer abgeurteilt oder in vorläufige Untersuchungshaft abgeführt worden. Am kommenden Morgen sollte die öffentliche Exekution stattfinden, zum abschreckenden Beispiel für alle Inder.
Aber es fehlten viele, darunter Nana Sahib, ferner sein Weib, dessen Charakter man jetzt kannte, die französischen Kapitäne und einer, den besonders Reihenfels gern unter den Gefangenen gesehen hätte — Timur Dhar.
Es war Abend geworden, ehe Lord Canning Zeit fand, Reihenfels die Unterredung zu gewähren. Dann saß er diesem in einem Zimmer des ersten Stocks im Gouvernements-Palast gegenüber und hörte ihm zu.
Reihenfels erzählte seine Erlebnisse und das, was Bega anbetraf. Obgleich er sich möglichst kurz fasste, vergingen doch Stunden darüber.
Wenn auch Canning manchmal wie ungläubig den Kopf schüttelte, so konnte er doch nicht an der Wahrheit des Berichtes zweifeln.
Endlich war Reihenfels zu Ende.
»Also Sie sind nicht im Geringsten im Zweifel darüber, dass Bega die geraubte Tochter Sir Carters ist?«
»Nicht im Geringsten. Hat es mir doch jener Schurke Timur Dhar selbst gestanden.«
»Nun, so erfahren Sie denn vor allen Dingen, dass, wenn das wandernde Feuer und Sir Carter ein und dieselbe Person ist, er auch noch lebt.«
Jetzt erst hörte Reihenfels von dem Wiederauftauchen des wandernden Feuers.
»So lebt auch seine Gemahlin noch«, rief er dann und führte die wahrscheinlichen Gründe dafür an.
Im Anschluss daran erzählte Canning, was während seines Freundes Abwesenheit passiert war, und vergaß nicht hinzuzusetzen, dass er die Nachricht von Franziskas Rettung in Bombay erhalten habe.
Gern hörte Reihenfels diesen längeren Bericht an.
»Spannen Sie mich nicht länger auf die Folter«, bat er dann flehend, »Sie sagten, Sie wüssten einen Rat, um Bega zu retten.«
»Ja, lassen Sie uns überlegen. Vor allen Dingen erfahren Sie, dass ich die strenge Order habe, mit allen Rebellen so kurzen Prozess wie möglich zu machen. Ich habe sogar den Befehl, niemanden vom Tode zu begnadigen, nicht einmal die Vollstreckung der Exekution zu verschieben, mit Ausnahme bei Bahadur. Seine Begnadigung zu lebenslänglichem Gefängnis habe ich schon schriftlich von der Königin.«
»Und Bega?«
»Sie wird, wenn sie auch als sagenhafte Person hingestellt wird, sofort gehängt, wenn sie ergriffen wird. Das heißt, ich meine die Begum von Dschansi.«
»Aber sie ist nicht die Begum von Dschansi.«
»Sie haben wohl insofern recht, als in Wirklichkeit Bega — oder Eugenie — alle jene Taten nicht ausgeführt hat, welche ihr zugeschrieben werden. Doch was hilft's? Sie selbst hat sich die Begum von Dschansi genannt, alle, welche sie jemals gesehen haben, erkennen sie wieder, auch ich, und sämtliche indische Gefangene, die ihr einzeln vorgeführt wurden, sagten dasselbe aus. Nein, das Todesurteil ist für sie bereits ausgestellt.«
»Wir bringen Beweise, dass Bega eine ganz andere Person ist.«
»Zu spät! Das von ihr vergossene Blut fordert Sühne. Sie haben es doch heute gesehen. Hat das schöne, so unschuldig blickende Mädchen besonderen Eindruck in der Versammlung gemacht? Einen zum Mitleid führenden jedenfalls nicht. Alles dürstet nach Rache; fast jeder hat einen Freund, den sie getötet, andere hat sie wie Kinder überwältigt, sie hat Spionage getrieben, und dieses hat sie — auch das müssen Sie zugeben — in eigener Person wirklich getan.«
»Es sind zwei ganz verschiedene Personen«, seufzte Reihenfels, »sie haben nichts Gemeinsames.«
»Wohl, aber beweisen Sie das! Wir leben in einem ungläubigen Jahrhundert. Wir haben zwar alle öfter die zwei gleichen Gestalten an verschiedenen Orten zugleich gesehen, aber niemand glaubte daran; jeder versuchte sich das als eine Sinnestäuschung auszureden — oder als Betrug einzureden. Jetzt haben wir eine von jenen Gestalten, die sich für die Begum von Dschansi ausgibt, und diese eine muss nun für beide leiden.«
»So muss die andere Gestalt herbeigeschafft werden.«
»Tun Sie das, aber bald, sonst ist das Leben unserer Bega doch verwirkt; das ist indes wahrscheinlich auch dann noch der Fall, wenn die Andere gefangengenommen wird. Bedenken Sie: Bega war stets auf Seite der Rebellen, hat alle ihre Kraft von vornherein, schon als sie auf dem Götterwagen fuhr, dem indischen Aufstand gewidmet; wir wurden im Fort Oliver in ihrem Namen aufgefordert, uns zu ergeben, und nun frage ich Sie, ob es auch nur möglich ist, ihre Hinrichtung hinauszuschieben, wo das ganze Heer nach ihrem schleunigsten Tode schreit. Die meisten Offiziere hassen sie, die Soldaten fürchten sie. Sie war das Haupt des Aufstandes...«
»Wahrhaftig, Sie haben recht, Mylord«, rief Reihenfels hastig, sprang auf und durchmaß einige Male das Zimmer, »es ist gar nicht möglich, ihre Hinrichtung auf längere Zeit hinauszuschieben. Wenn wir nur ihre Doppelgängerin hätten!«
»Ja, wenn uns die wenigstens nicht entgangen wäre! Ich zweifle ja nicht daran, dass Bega heute nicht auf den Wällen gestanden und General Nicholson getötet hat, aber es war ihre Erscheinung. Sie hat sich in ein gefährliches Spiel eingelassen.«
»Timur Dhar, dieser Schurke!«, murmelte Reihenfels.
»Ein ganz gefährlicher Mensch, zugleich muss man ihn aber auch bewundern. Wissen Sie ganz genau, dass er seine linke Hand verloren hat?«
»Ich versichere Sie; mit eigenen Augen haben wir es gesehen.«
»Und eine Stunde später steht er wieder auf dem Wall und kämpft wie ein Löwe. Wir haben allerdings auch noch andere Beispiele, wo Männer ihre verlorene Hand durch eine eiserne ersetzt haben, aber doch nicht eine Stunde schon nach dem Verlust. Ein furchtbarer Mensch, dieser Timur Dhar!«
»Sie bewundern ihn auch noch.«
»Ich kann ihm meine Bewunderung nicht versagen. Schon sich das Aussehen eines Mädchens zu geben, die Rolle immer geschickt durchzuführen, will etwas heißen. Also jener Timur Dhar war es, welcher stets mit geschlossenem Visier erschien, während Bega selbst das Gesicht offen zeigte. Man sollte ein solches Spiel eigentlich kaum für möglich halten. Nun, es war ihr eigenes Verderben.«
»Mylord«, sagte Reihenfels bitter, »bestellten Sie mich darum hierher, um mir zu sagen, dass Begas Tod unabwendbar ist?«
»Allerdings! Ich musste Sie aus dem Glauben reißen, dass Sie die Unschuld Ihrer Geliebten — verzeihen Sie, wenn ich so spreche — beweisen könnten.«
»Ja, ich liebe sie«, stöhnte Reihenfels schmerzlich auf.
»Und sehen Sie ein, dass Sie nichts tun können, sie vor dem Urteil zu retten?«
»Nein, ich kann es nicht! O, Mylord, Sie sind ein grausamer Tröster!«
»Ein grausamer Tröster ist nicht immer ein schlechter. Von dem Arzte halte ich nicht viel, der den Kranken vollständig über seine Krankheit im Dunkeln lässt. Er muss sie ihm vielmehr schildern und die Folgen ausmalen, wenn er die Vorschriften des Arztes nicht genau befolgt.«
Das klang ganz anders. Reihenfels Gesicht leuchtete hoffnungsfreudig auf.
»Also Sie glauben an eine Rettung?«
»Natürlich, zwecklos habe ich Sie nicht um eine Unterredung gebeten. Erst aber musste ich Ihnen ein für allemal die Hoffnung aus dem Herzen reißen, dass Sie die Unschuld Begas beweisen können.«
»Ich glaube auch nicht mehr daran. O, sprechen Sie schnell!«
»Ich habe ein Mittel, Bega zu befreien.«
Lächelnd schaute Canning Reihenfels an, und dieser glaubte plötzlich zu wissen, was der Gouverneur wollte.
»Ich werde den nicht verlassen, dessen Schwester ich, so Gott will, freien werde«, fuhr Canning fort.
»Sie würden wirklich...«
»Was? Wissen Sie, worauf ich hinziele? Das sollte mich wundern.«
»Ich glaube, allein kann sich Bega nicht retten.«
»Allerdings nicht.«
»Aber durch mich.«
»Wenn Sie willig sind.«
»Ich bin machtlos.«
»Ganz und gar nicht, soviel ich glaube.«
»Ohne Hilfe.«
»Zählen Sie auf die meine.«
Reihenfels erfasste des Freundes Hand.
»Wie? Mir zuliebe würden Sie ihr beistehen? Mylord, nach dem, wie wir Begas Person als Begum von Dschansi charakterisiert haben, setzen Sie sich einer großen Gefahr aus.«
»Nicht im Geringsten.«
»Doch, doch! Man weiß, Sie sind mein Freund, lieben meine Schwester; und wenn Bega verschwunden ist, vielleicht auch ich, wird der Verdacht auf Sie fallen. Leicht könnten Sie sich den größten Unannehmlichkeiten aussetzen.«
Canning sah den Freund mit großen Augen an, dann zog er langsam die Hand zurück.
»Ah«, sagte er gedehnt, »jetzt verstehe ich Sie erst. Sie denken an eine Flucht Begas? Und ich soll Ihnen dabei meine Hand leihen?«
»Ich. verlangte es nicht, Sie deuteten es an.«
»Dann haben Sie mich allerdings falsch verstanden, ganz und gar. Ich, unter dessen Aufsicht die Gefangenen sich befinden, kann Ihnen nicht zur Flucht verhelfen.«
»Ich bemerke ausdrücklich, dass ich es nicht von Ihnen verlangt habe, Mylord«, entgegnete Reihenfels gereizt.
»Aber ich sehe mit Bedauern, lieber Freund, dass Sie noch immer nicht die Stellung Begas erfasst haben.«
»So klären Sie mich darüber auf.«
»Sie sind noch immer der Meinung, Bega brauche nur freigelassen zu werden, dann wäre sie eben frei. Das ist aber nicht der Fall. Nach dem, was Sie mir über Timur Dhar und die letzten Begebenheiten erzählt haben, hat sich die Begum — wie man sagt — unmöglich gemacht.«
Bestürzt musste Reihenfels zugeben, dass er sich wirklich getäuscht habe.
»Angenommen«, fuhr Canning fort, »ein Fluchtversuch gelänge wirklich, wohin wollte sie da? Sie dürfte sich nirgends sehen lassen, wie ein wildes Tier müsste sie sich versteckt halten. Die Engländer würden ihr sicher keinen Schutz angedeihen lassen, sie vielmehr wie ein Wild jagen, und jetzt, da Timur Dhar mit ihr gebrochen hat, Ihretwegen, wird er Vorkehrungen treffen, dass sich auch die Inder Begas zu bemächtigen suchen. Nicht einmal in ein fremdes Land könnte sie flüchten; auch dort würde die Hand Englands sie erreichen, und wüsste sie wirklich ein Asyl, dann gilt es erst, dorthin zugelangen, ohne gefangen zu werden.«
»Sie haben abermals recht«, seufzte Reihenfels, »Bega ist vogelfrei.«
»Und derjenige, welcher ihr beisteht, ebenfalls.«
»Die einzige Rettung wäre, man wüsste, dass Timur Dhar nicht mehr am Leben wäre! Der Keulenschlag des wandernden Feuers, der ihn zu Boden streckte...«
»Vergebliche Hoffnung! Man hat seine Leiche nicht gefunden. Timur Dhar scheint nicht der Mann zu sein, der sich durch einen Keulenschlag töten lässt. Und dass er es wirklich war, ist mir jetzt klar geworden. General Nicholson hat dem Kämpfer das Visier abgerissen — das ist beobachtet worden — er hat ein anderes Gesicht gesehen als das der Begum von Dschansi. Dies wollte er uns, des Sprechens nicht mehr fähig, schriftlich mitteilen, doch der Tod lähmte seine Hand. Also keine solche Hoffnung mehr.«
»Ich habe keine mehr!«, murmelte Reihenfels dumpf.
»So will ich Ihnen wieder welche machen, und zwar eine viel schönere als Sie sich träumen lassen.«
Wieder blickte Reihenfels verwundert auf. Canning setzte sich gelassen an den Tisch, schrieb einige Zeilen auf einen Brief, kuvertierte ihn, klingelte und übergab der Ordonnanz das Schreiben zur sofortigen Bestellung an den Adressaten.
Dann wandte er sich um und schaute Reihenfels voll an, wobei ein Lächeln um seinen Mund zuckte.
»Sie lieben Bega?«
Diese Frage war angetan, Reihenfels in Erstaunen zu setzen.
»Das wissen Sie selbst.«
»Haben Sie nie daran gedacht, Bega zu heiraten?«
»Mylord, Sie scherzen. Die Gelegenheit ist jetzt nicht dazu geeignet.«
»Ich spreche im Ernst zu Ihnen. Ich frage Sie: sind Sie gewillt, Bega — oder nennen wir sie jetzt Miss Carter — zu heiraten?«
Erstarrt blickte Reihenfels den Sprecher an. Er war geneigt, an dessen Vernunft zu zweifeln.
»Ich sehe, Sie verstehen mich nicht. Kennen Sie die Geschichte der Herzogin von Berry?«
»Der ältesten Tochter König Franz I.?«
»Derselben.«
»Ja, aber...«
»Sie war eine unglückliche Frau. Sie machte Anspruch auf den Thron, die Bourbonen unterstützten sie. Ihre Pläne scheiterten, sie wurde verfolgt, verraten, sie floh in allerhand Verkleidungen, musste sich sogar für einen gewöhnlichen Matrosen ausgeben, versteckte sich in einem Rauchfang, bis sie durch das Feuer herausgetrieben wurde, und schließlich wurde die Herzogin Berry, die Königstochter, lebenslänglich eingekerkert.«
»Sie irren«, unterbrach ihn Reihenfels, »sie wurde entlassen und blieb seitdem unbeachtet.«
»Ganz recht. Und wodurch geschah dies?«
»Weil — weil die Krinoline ihren Zustand verdeckte.«
»Nun, wir können offen sprechen. Weil sie im Kerker ganz unerwartet eines Kindes genas.«
»Sie gestand, mit dem neapolitanischen Marchese Lucchesi-Palli vermählt zu sein.«
»Sie sind gut unterrichtet. Mit dem Geständnis, verheiratet zu sein, hatte sie jeden Anspruch auf den Thron verloren, sie besaß keine politische Bedeutung mehr.«
Lange saß Reihenfels da und starrte den Lord sprachlos an.
»Jetzt werden Sie mich verstehen«, fuhr dieser dann fort. »Nach der uralten Prophezeiung soll eine Begum von Dschansi Königin von Indien werden, auf die jetzige bezieht jene sich. Ihre Vermutungen, die Sie mir früher einmal mitteilten, waren ganz richtig: Sirbhanga Brahma ist dazu auserwählt, die Begum zu freien; alle Vorbereitungen waren schon getroffen, man arbeitete mit allen Kräften und Mitteln darauf hin. Nun können Sie nicht verlangen, dass ich die freigebe, die Königin von Indien werden soll, ich, der ich die Interessen Englands in diesem Lande vertrete. Flöhe sie wirklich, so würde man doch immer auf sie fahnden, sie wäre ihr ganzes Leben unglücklich, ja, es würden sich genug fanatische Patrioten finden, die auch ihr Leben nicht schonten. Die Königin von Indien ist eine Unmöglichkeit. Entweder muss sie sterben, oder sie wird lebenslänglich eingekerkert, oder — sie heiratet einen Mann, welcher einmal keine Ansprüche auf einen Fürstenthron machen kann.«
»Und Sie meinen?«
»Ja, wollen Sie sie heiraten?«
»Aber...«
»Kein aber. Wollen Sie oder wollen Sie es nicht?«
»Und ob ich will! Und dann ist sie frei?«
»Vollkommen frei.«
»Wann?«
»Sofort!«
»Dann müsste ich sie erst geheiratet haben.«
»Nun ja, es geschieht jetzt sofort, diese Nacht noch.«
Reihenfels wusste nicht, wo ihm der Kopf stand.
»Sprechen Sie denn nur wirklich im Ernst?«
»Mit solchen Dingen treibt man keinen Scherz. Es fragt sich nur, ob Miss Eugenie Carter will.«
»Aber gewiss«, rief Reihenfels mit solch einer Überzeugung, dass Canning herzlich lachen musste.
»Dann steht ja der Trauung nichts im Wege.«
»Und nach dieser soll ich mit ihr fliehen?«
»Durchaus nicht. Sie reisen als Ehepaar; sie hat den Trauschein, lautend auf Eugenie Carter, sonst braucht eine englische Dame keine Papiere; Sie haben alle übrigen Ausweise, die Ihnen Schutz gewähren und den Weg nach jeder Hafenstadt öffnen. Das Beste ist, Sie gehen nach einem fremden Erdteil, nach Australien oder Amerika und warten, bis über die Geschichte der Begum von Dschansi Gras gewachsen ist, schließlich aber könnten Sie sich auch in England aufhalten, sogar den Prozess zum Beweise Ihrer Unschuld anhängig machen. Als Ihre Gemahlin ist Bega vollkommen sicher. Nur zum bleibenden Aufenthalt in Indien rate ich Ihnen nicht. Ich gebe Ihnen genügende Bedeckung mit; die Rache der Eingeborenen sollen Sie nicht zu fürchten brauchen. Hier sind Ihre bereits ausgefertigten Papiere, Geleitsbriefe und Empfehlungen an andere Gouverneure. Brauchen Sie Geld? Verfügen Sie über mich.«
Er reichte ihm ein Paket Briefe.
»Und der Trauschein?«, fragte Reihenfels, der noch immer zu träumen glaubte.
»Ja, Sie müssen doch erst getraut werden«, lachte Canning heiter.
»Wann?«
»Jetzt sofort!«
»Dazu braucht man — braucht man...«
»Einen Priester. Gewiss, wir haben solche genug im Lager. Während Sie glaubten, ich dächte nicht mehr an Sie, habe ich schon alles geordnet. Jeden Augenblick erwarte ich einen Missionar, der aus der Begum von Dschansi eine Missis Reihenfels macht.«
»Darf er denn das?«
»Sie sind ganz verwirrt«, lachte Canning, »Sie müssen doch wissen, dass dies jeder von der englischen Regierung im Ausland angestellte Missionar tun darf.«
»Und Trauzeugen? Wer wird sich dazu hergeben?«
»Ist auch schon alles bestellt. Sie kennen meine treue Freundin, Miss Susan Atkins, die Schwester des Colonel Atkins. Sie war von ganzem Herzen und sofort dazu bereit, für Sie zu zeugen.«
»Und der andere Trauzeuge?«
»Bin ich selbst.«
Wie ein Trunkener taumelte Reihenfels im Zimmer umher. Das unerwartete Glück hatte dem sonst so kaltblütigen Manne die Fassung geraubt.
Dann aber warf er sich dem Lord an die Brust und schluchzte.
»Wie soll ich Ihnen danken?«
»Gar nicht. Ich tue nur, was ich für gut finde, und doppelt gern tue ich es für meinen Schwager.«
»Setzen Sie sich aber nicht selbst Gefahren aus?«
»Durchaus nicht!«
»Wann sollen wir Delhi verlassen?«
»Noch vor Tagesanbruch.«
»Und wenn dann die Begum vermisst wird?«
»Beruhigen Sie sich darüber. Ich werde die Herren zusammenrufen und klar und deutlich ihnen wenigstens das auseinandersetzen, was sie wissen müssen, um den getanen Schritt zu begreifen. Der Königin werde ich einen ausführlichen Bericht schicken. Sie ist edel und wird meinen Schritt billigen; wenn nicht, kann sie Ihnen doch nichts anhaben. Die Begum von Dschansi existiert nicht mehr. Nur bitte ich Sie, rühren Sie die alten Geschichten nicht wieder auf; es ist genug, dass wir von Eugenies Unschuld überzeugt sind.«
»Ach, mir eröffnet sich ein Himmel von Glück! Wo befindet sie sich?«
»Im zweiten Stock, gerade über uns. Sie ist zwar gefangen, aber sie vermisst nur die Freiheit.«
»Wie? Sie ist mir so nahe? Lassen Sie mich zu ihr eilen!«
»Noch einen Augenblick Geduld, dann begeben wir uns alle zu ihr und verkünden ihr die Freiheit.«
»In meinem Glücke hätte ich bald vergessen«, begann Reihenfels nach einiger Pause wieder, »an andere Personen zu denken. Sir Carter ist wieder aufgetaucht.«
»Hoffentlich finden wir ihn und Lady Carter noch, dann sind die Glücklichen alle beisammen.«
»Es sind die Eltern Eugenies.«
»Denken Sie nicht daran, sie zu suchen; überlassen Sie dies mir. Verschwinden Sie nur möglichst schnell aus Indien; denn ich fürchte Timur Dhars List, ich habe allen Respekt vor dem Manne bekommen. Unser Stab schlägt seinen Sitz in Delhi auf, so kann ich die intensivsten Nachforschungen anstellen, und dann lassen Sie Eugenie in dem Glauben, ihre Eltern wären tot, bis ich eine freudige Nachricht übersende.«
Reihenfels war beruhigt.
»Und Mirja? Ich gedenke des Mädchens mit Rührung.«
»Und ich erst! Die edle Jüdin hat meinetwegen so großes Elend auf sich genommen. Es soll mein heiligstes Bestreben sein, ihr das fernere Leben schön zu machen.«
»Auch an Eugen muss ich Sie noch erinnern.«
»Es ist nicht nötig: seine Sache steht überdies nicht so schlimm, wie einige annehmen, und wie ich mich selbst stellte. Leutnant Carter oder Sirbhanga ist im Grunde genommen kein Rebell, nicht einmal ein Eidbrüchiger. England braucht auch indische Fürsten, die treu an ihm hängen, und einen solchen wird Sirbhanga abgeben.«
Es wurde geklopft, ein Herr und eine Dame traten ein. Letztere kannte Reihenfels schon, es war die bereits erwähnte Susan Atkins, welche früher als die Braut Lord Cannings gegolten; aber nur den heimlichen Liebesverkehr zwischen Canning und Franziska vermittelt hatte.
Ernst streckte sie ihm die Hand entgegen; er fühlte ihren innigen, herzlichen Druck. Eine Auseinandersetzung war nicht nötig, sie war bereits in alles eingeweiht.
Der Herr wurde als Doktor Morrison, Missionar und Dolmetscher in Diensten der englischen Regierung, vorgestellt.
Es war ein noch junger Mann mit intelligentem, bartlosem Gesicht, dessen Züge zugleich etwas wie einen immerwährenden, gutmütigen Spott ausdrückten. Sein Tropenanzug war von einer gewissen Eleganz, überhaupt lag etwas Kavaliermäßiges in ihm, wie man es bei englischen Pastoren ungemein häufig findet, weil ihre Erziehung eine ganz eigentümliche ist.
Die Sicherheit und Gewandtheit der Bewegungen des kräftigen, schlanken Körpers, die tiefe, sonore Stimme, und das ganze übrige Aussehen mussten jeden Menschen sofort für den Geistlichen einnehmen.
»Die Hochzeit kann vor sich gehen«, sagte Canning. »Mister Reihenfels, getrauen Sie sich, noch vor Tagesanbruch die Hochzeitsreise anzutreten?«
»Noch in dieser Stunde, wenn es nötig ist!«
»Desto besser! Für Ausrüstung, Kleider und Wäsche habe ich gesorgt, wenigstens für Sie. Miss Atkins tat dasselbe für Eugenie. So kommen Sie!«
Sie sollten noch einmal gehindert werden, das Zimmer zu verlassen. Auf dem Platze vor dem Palaste wurde noch immer gehämmert, die Zimmerer setzten bei Fackellicht ihre unheimliche Arbeit, das Bauen von Galgen, fort.
Jetzt erscholl draußen Pferdegetrappel und Wiehern: die in Delhi erbeuteten Pferde wurden vorbeigeführt. Einen Augenblick blieben die vier Personen noch am Fenster stehen.
»Kantakana!«, erklang da direkt über ihnen ein langgezogener Ruf, dann ein schriller Pfiff.
»Das war Begas Stimme«, rief Reihenfels sofort, »sie hat ihr Pferd gesehen.«
»Ja, sie wohnt hier über uns«, ergänzte Canning.
Plötzlich wurde ein Pferd der Herde, ein Falbe vom herrlichsten Gliederbau, wild; es bäumte sich und schlug aus, warf seinen Führer zu Boden, war im Nu frei und galoppierte nach der Richtung des Fensters zu.
In demselben Augenblicke sauste an dem Kopfe von Reihenfels, welcher sich aus dem Fenster beugte, ein dunkler Gegenstand vorbei, so dicht, dass er fast sein Haar berührte, schlug unten mit einem dumpfen Krach auf und blieb bewegungslos liegen. Mit weit vorgestrecktem Halse beschnoberte ihn das Pferd. Es war eine menschliche Gestalt.
»Um Gott«, schrie da Canning auf, »es ist Bega! Sie hat sich aus dem Fenster gestürzt.«
Noch lehnte sich Reihenfels sprachlos vor Schrecken, das Entsetzliche noch nicht glauben könnend, hinaus, als die Gestalt plötzlich wie eine Feder in die Höhe schnellte, mit einem Satze auf dem Rücken des Pferdes saß und dieses schon wie ein Pfeil davon schoss.
»Nicht schießen, fangt sie lebendig!«, schrie Canning außer sich.
Er wurde nicht gehört, die Posten hatten die Flucht der Gefangenen bemerkt, überall krachten Schüsse nach ihr.
Doch schon war Kantakana mit seiner Bürde wie ein Wirbelwind davongestoben; die Begum von Dschansi war in Freiheit.
Endlich war dem fremden Mädchen eine Heimat geboten worden, nur wenige Minuten noch, dann durfte sie an der Seite ihres geliebten Mannes durch das Leben schreiten, da musste sie durch ihre Flucht der Heimat wieder verlustig gehen.
Jetzt war sie eine Vogelfreie, Engländer wie Inder machten auf sie Jagd.
In derselben Nacht noch taten die Engländer ihr Möglichstes, die beim Sturm auf Delhi gefallenen Kameraden, welche nach Tausenden zählten, zu begraben. Fern, fern von den Ihren, im fremden Lande fanden sie ihr Massengrab.
Das zwischen der westlichen Batterie und der Mauer gelegene Feld war ein einziger, großer Leichenplatz. Lichter wandelten hin und her, sie begleiteten die Totenträger, und immer wurden auch noch Verwundete gefunden, welche in ihrer Ohnmacht erst für Tote gehalten worden waren und jetzt mit schwacher Stimme um Hilfe riefen. Diese wurden vor allen Dingen nach Delhi in die Hände der Ärzte getragen.
Ab und zu erscholl auch ein Schrei oder ein Röcheln, der letzten Todesnot eines Sterbenden.
Als der Mond aufging, machte er die Fackeln unnötig. Jetzt ging die Arbeit schneller vonstatten.
Zu dieser Zeit schritt über das ungeheure Leichenfeld eine weibliche Gestalt, ein Mädchen, wie eine Inderin gekleidet, aber mit verhülltem Gesicht.
Mit Entsetzen wendete sie sich oft von dem Anblick ab, den die von Granatsplittern zerfetzten Leichname ihr boten; dann drückte sich in ihrem schönen, aber wachsbleichen Gesicht wieder das tiefste Mitleid aus, wenn ein Verwundeter aufstöhnte und die Näherkommende mit röchelnder Stimme um Wasser bat.
Sie konnte nicht helfen. Weder trug sie Wasser bei sich, noch hatten die stürmenden Engländer Trinkflaschen gehabt, mit deren Inhalt sie die lechzenden Gaumen der Verschmachtenden hätte erfrischen können.
Es war nicht auffallend, dass die einsame Wanderin den Totenträgern mit der größten Vorsicht auswich, denn es konnte ihr nicht daran gelegen sein, mit englischen Soldaten zusammenzutreffen.
Je näher sie der Stadt kam, desto langsamer wurde ihr erst eiliger Schritt und desto furchtsamer ihr Gesicht.
Einmal, als der Mond eben hinter einer Wolke verschwunden war, vernahm sie in der Ferne einen Hilfeschrei, dem ein schmetternder Schlag folgte. Dann ward es wieder still. Erschrocken blieb das Mädchen stehen. Als der Mond wieder zum Vorschein kam, konnte sie jedoch noch nichts sehen, und da sie auch nicht wusste, woher der Ruf gekommen war, so schritt sie in ihrer ersten Richtung weiter.
Dann bemerkte sie einen englischen Soldaten, dessen Schädel eingeschlagen war. Das unerfahrene Mädchen dachte nicht daran, wie eine solche Todesart durch Erschlagen hier möglich gewesen war, wo doch nur Kugeln und Granatensplitter getötet haben konnten, es fiel ihr nur auf, weil dieser Leichnam eben eine andere Verwundung als die bisher gesehenen hatte. Ebenso wenig wunderte sie sich darüber, dass dem Manne ein Finger von der linken Hand anscheinend abgeschnitten worden war, dass er neben der Hand lag, und dass aus dem Stumpfe noch Blut floss.
Wie schon oft, so war sie auch jetzt beim Weitergehen genötigt, über einen leblosen Körper zu steigen, der ihr quer über den Weg lag.
Aber sie stutzte, als sie den Fuß heben wollte. Was für eine Kleidung war das? Jedenfalls nicht die von einem englischen Soldaten.
Ein langer, schmutziger Kaftan hüllte die hagere Gestalt ein, unter dem Käppchen quollen silberfarbige Locken hervor.
Kein Zweifel, es war ein Jude.
Der Mann lag mit dem Gesichte auf dem Boden und war anscheinend tot.
Wenn wir erfahren, dass das Mädchen eine Jüdin war, so ist es begreiflich, dass sie mit dem Toten Teilnahme hatte.
Zugleich schauderte sie ahnungsvoll zusammen.
Sie nahm die Hand, an der Blut klebte. Sie war bewegungslos, aber warm.
Mit vieler Anstrengung gelang es ihr, den Leblosen auf den Rücken zu wälzen.
»Vater!«, flüsterte sie entsetzt.
Da schlug der Mann plötzlich die Augen auf; sein Gesicht nahm einen ganz anderen Ausdruck an, halb lag darin Schrecken, halb Misstrauen, er richtete sich in sitzende Stellung auf.
»Gott meiner Väter«, murmelte er, »Mirja, Tochterleben, bist du's? Hast du mich erschreckt!«
»Ich dich erschreckt? Wie kommst du hierher?«
»Wie heißt, wie kommst du hierher? Werde ich kommen hierher auf meine zwei Beine.«
»Aber was machst du hier auf dem Schlachtfelde?«
Der Alte erholte sich sichtlich von seinem ersten Schrecken, als er nur seine Tochter vor sich stehen sah. Aber er musste sich doch sammeln, er war überrascht worden.
Nachdenkend rieb er sich die Stirn.
»Gott der Gerechte«, mauschelte er dann, »bin ich auch nur ein armer Jud, habe ich doch ein Herz im Leibe und gehe zu tränken die Durstigen und zu suchen die Verwundeten.«
»Du?«, erklang es gedehnt.
»Was hast da zu sagen duuuhh?, als bekämst du bezahlt nach der Elle. Sind doch noch andere angestellt, zu suchen die Verwundeten und stehen sich gut dabei.«
»Ah so! Wo ist denn deine Flasche?«
»Da, wo sie ist, unter'm Mantel. Wirst du nu aufhören, zu examinieren deinen alten Vater?«
»Ich wundere mich natürlich, dich hier wie einen Toten liegend zu finden, und nun bist du ganz munter.«
»Gott, hab' ich doch auch gemacht einen schweren Fall, dass ich wurde ganz meschugge im Kopfe und habe verloren meine Besinnung.«
»Ich hörte vorhin etwas wie einen Schlag.«
»Das war ich, das war ich«, versicherte der Jude schnell; »bin ich doch hingeschlagen, dass es mir hat getönt wie Donner in den Ohren.«
»So warst du es, der so schrie?«
»Nu, soll ich etwa singen Halleluja, wenn ich schlage hin, dass mir das Feuer spritzt aus den Augen? Wirst du mir nu endlich helfen auf?«
Mirja reichte ihm die Hand.
Der Jude sah sich wie scheu um und wollte nun seinerseits wissen, was Mirja hier zu suchen hätte. Sie wich indessen seinen Fragen aus und sagte, sie sei außerhalb der Stadt gewesen und kehre nun nach Delhi zurück.
»So bist du gewesen drinnen, als die Engländer haben umzingelt gehabt die Stadt und haben hineingeschossen mit eisernen Kugeln?«
»Immer.«
»So — hm hm. Haben sie auch geschossen zusammen unser Haus, das du sollst erben von mir?«
»Es steht noch«, entgegnete Mirja, obgleich sie das gar nicht wissen konnte; aber sie wollte dem Alten, zu dem sie keine Liebe mehr fühlte, nicht mitteilen, wo sie die letzte Zeit gewesen war.
»So — hm hm. Nun, wenn es stünde nicht mehr, würde es schaden auch nichts weiter. Mirjaleben, du bist meine Tochter.«
Seine Stimme wurde plötzlich zärtlich.
»Ich weiß es nicht.«
»Wie kannst du sprechen so, Mirjaleben? Hast du mich nicht genannt deinen Vater?«
»Es wurde mir so gelehrt.«
»Hast du keine Liebe mehr zu mir? Sagt nicht dein Herz, dass ich bin dein Vater?«
»Verlange kein solches Geständnis!«, entgegnete Mirja dumpf.
Sie wollte Vergangenes nicht auffrischen. Diesen Mann liebte sie nicht mehr, aber sie fühlte doch noch etwas Pietät gegen ihn.
»Wie siehst du denn aus so bleich!«, begann Sedrack wieder in zärtlichem Tone. »Bist du gewesen krank? Will ich dir geben Geld zu kaufen Arznei.«
»Ich war nicht krank, ich brauche kein Geld.«
»Du bist so kurz gegen deinen armen, alten Vater. Was hat er dir getan?«
»Frage nicht. Du musst es selbst wissen«.
»Nichts weiß ich, gar nichts. Ich war weit weg, in Bombay, wohin ich habe gebracht Franziska, das Täubchen, in Schutz, dass es sich freuen kann auf ihren Schatz, den großen Gouverneur.«
»Lüge nicht«, fuhr Mirja auf, »das hast du nicht getan.«
»Habe ich getan das doch. Was soll ich getan haben das nicht? Hat mir doch bezahlt der Lord Canning, welcher ist ein sehr nobler Herr und ein reicher Mann, zehntausend Pfund in Gold und hat mir gegeben dazu noch extra für meine Mühe, weil er war so sehr glücklich. Denkst du, Mirja, die Franziska hat ihm gesagt, dass ich habe gehängt eine Null hinter die Tausend? Gelacht haben sie und gegeben mir das Geld.«
Dadurch, dass der Alte seine Betrügerei ganz ruhig eingestand, wurde Mirja irre. Sie war geneigt. an seine Worte zu glauben.
»So hast du Franziska wirklich nach Bombay gebracht?«
»Soll meine Hand doch auf der Stelle verdorren, wenn ich nicht spreche die lautere Wahrheit.«
»Für Lord Canning?«
Soll ich sie geben dem armen Schnorrer, dem Westerly?«
Mirja atmete tief auf.
»Ich glaube dir, Vater. Aber früher dachtest du anders.«
»Wusste ich damals doch nicht, dass Lord Canning hat gerettet mein Tochterleben aus dem Ganges.«
Jetzt war jeder Zweifel bei Mirja verschwunden.
»Mirja, willst du tun einen Gefallen deinem alten Vater, der ist so schwach geworden in letzter Zeit?«, bat Sedrack wieder schmeichelnd.
»Was soll ich tun?«
»Tragen das Geld, welches ich habe bekommen von Lord Canning, in mein Haus, wo ich dir sagen werde das Versteck.«
»Hast du es denn hier?«
»Werde ich es doch haben hier, wenn ich es will geben dir.«
»Wo hast du es?«
»Mich verließ die Kraft, und da habe ich es geworfen in eine Grube, wo ich es wollte holen morgen.«
»Bis hierher hast du es getragen und es dann versteckt?«
»Wie kannst du so fragen. Wurde ich doch so schwach, dass ich gefallen bin hin wie ein Toter.«
»Ist es auch dein Geld?«, fragte Mirja misstrauisch.
Der Alte versicherte es ihr, und nach einigem Zögern willigte Mirja ein.
Darauf hin beschrieb der Alte ganz genau ein Versteck im Keller seines Häuschens, wie sie es zu öffnen hatte, eine sehr komplizierte Einrichtung, und wie sie das Geld, das er ihr einhändigen würde, dort verstecken solle.
Mirja wunderte sich, dass ihr Vater sie in das Geheimnis des selbstgegrabenen Kellers einweihte. Sie wusste allerdings auch, dass er darin Schätze verborgen hatte, aber nicht, wie und wo. Sedrack hatte zu seiner Tochter viel Vertrauen gefasst, der geizige, alte Jude war ganz anders als sonst — oder es steckte etwas Besonderes dahinter, was Mirja nicht ahnen konnte.
Als Mirja eingewilligt hatte, führte er sie eine Strecke abseits, wo das Feld mit Büschen besetzt war, kroch hinein und kehrte bald mit einem großen, ziemlich schweren Bündel zurück. Für den alten Mann, der schon bedenklich humpelte, war es allerdings eine bedeutende Last, die jugendkräftige Mirja konnten sie aber bis nach der Stadt tragen.
Der Sack war fast einen halben Meter hoch; war er voll Gold, so musste er Zentner wiegen, und so schwer war er nicht.
Als Mirja ihn wieder zur Erde gleiten ließ, gab es einen Klang, als enthielte er hölzerne Kugeln.
»Was ist denn drin?«
»Kokosnüsse, verstehst du?«, schmunzelte Sedrack schlau. »Die ersten reifen, ganz kleine. Wenn du wirst angehalten vor den Mauern von den Wachen, so sagst du, sie seien für jemanden bestimmt, vielleicht für Lord Canning. Verstehst du?«
»Lass diesen aus dem Spiele!«
»Nun, mein Mirjaleben ist schon schlau. Nur darfst du verkaufen keine Nüsse davon, zeigen kannst du sie. Lass dich nicht halten auf; die Untersuchung wird nicht sein strenge, weil sie nicht brauchen zu fürchten Spione; ist doch in Delhi alles gefangen mit Mann und Maus. Vergiss das Versteck nicht, setze gleich den Sack hinein.«
Mirja nahm den Sack auf den Rücken und ging, gar nicht sehr erbaut von ihrem Auftrage. Sedrack blickte ihr nach, bis sie verschwunden war, rieb sich dann schmunzelnd die Hände, schaute sich vorsichtig um und schritt oder huschte vielmehr einem buschreichen Teile des Schlachtfeldes zu.
Aufs sorgfältigste vermied er, mit Leichenträgern zusammenzustoßen. Oft verkroch er sich ohne jede Scheu hinter einer Leiche, schmiegte sich dicht an dieselbe, dann schlüpfte er wieder wie eine Schlange über den Boden.
Als er sich wieder einmal im Schatten einer Leiche verbergen musste, blieb er länger als nötig liegen. Es war ein Offizier, der die Todeswunde im Herzen trug. An seinen Fingern glänzten einige Ringe, an denen Sedracks Augen gierig hingen.
»Gott meiner Väter«, murmelte er, »was hat gesündigt der alte Sedrack, dass du ihm gibst so schwache Augen, zu übersehen diesen Offizier. Wie schade um das schöne Gold und um die schönen Steine, dass sie trägt solch ein verfluchter Goi. Werde ich tun ein gutes Werk, wenn ich sie nehme dem Christenhunde; gehören doch die Schätze der Erde dem Volke Gottes.«
Er untersuchte erst die Taschen des Toten, machte eine gute Beute an Geld, nahm die Uhr, ein silbernes Petschaft und zog dann die Ringe vom Finger.
Den wertvollsten davon, welcher einen großen Diamanten trug, konnte er nicht abstreifen. Er gab sich auch nicht lange Mühe damit, sondern zog ein Messer hervor und schnitt den Finger ab, worauf er den Ring bald ablösen konnte.
Der Leichenschänder kannte weder Scheu noch Gewissensbisse. Sein Auge hing nur mit unbeschreiblicher Gier an dem Diamanten, den er im Mondscheine funkeln ließ.
»Gott, welch schöner Diamant! Wie schade, dass Mirja schon ist gegangen fort! Doch ich kann auch nicht bringen mehr beiseite, sonst wird sagen der Levi, ich sei ein Gauner. Wird er mich wohl schon nennen Schnorrer; werd ich ihn nennen wieder Schnorrer — alle guten Geister!«
Der letzte Ausruf, in Schrecken ausgestoßen, bezog sich auf eine Erscheinung, die gespensterhaft an ihm vorüberjagte. Es war ein Pferd, ein Falbe, der, mit dem Bauche fast die Erde berührend, lautlos vorbeisprengte.
Sedrack sah auf dem Rücken des Tieres noch eine Gestalt sitzen oder vielmehr hängen, wahrscheinlich ein Weib, denn langes Haar flatterte in der Luft, dann war alles verschwunden.
Mit aufgerissenen Augen starrte der Jude ihr nach, und als nichts wieder erschien, murmelte er einen gegen böse Geister schützenden Spruch und setzte seinen Weg nach dem Gehölz fort.
Unbemerkt hatte er es erreicht. Dass er vorhin Mirja nicht ausweichen konnte, daran war die Wolke vor dem Monde schuld gewesen, und ein Glück für ihn war es, dass Mirja und kein Engländer ihn gefunden hatte.
Auf dem Bauche fast kroch er durch das dichte Gebüsch, bis er einen kleinen, freien Platz erreichte. Knurrend erhob sich eine Gestalt, die der Sedracks sehr ähnlich war. Auch sie trug Käppchen und Kaftan, nur zeigten die Locken noch die Schwärze der Jugend.
So wie diese beiden blicken sich zwei Hyänen an, die sich vereinigen, gemeinsam ein Stück Wild zu jagen.
Dass hier im fernen Indien auf deutsch gemauschelt wurde, war kein Wunder. Wenn man unter einer Weltsprache die versteht, welche man überall antrifft, man mag hinkommen, wohin man will, so ist es nicht Englisch, sondern Deutsch. Gleichgültig, ob man in Spanien, China oder in dem entlegensten Winkel von Afrika ist, trifft man einen Juden dort — und wo findet man keine Juden — so rede man ihn auf deutsch an, und er wird auf Jüdisch-Deutsch antworten. Der Engländer hat bei weitem nicht so oft Gelegenheit, sich in jedem Lande einen Dolmetscher zu verschaffen wie der Deutsche.
Die Wiege des würdigen Kollegen Sedrack hatte entweder in Böhmen gestanden, oder seine Vorfahren stammten von dort.
»Wo ist sich geblieben so lange?«, knurrte der Kumpan. »Hat sich gewartet hier, bis sich gewachsen sind bald Schwämmchen auf dem Leibe.«
Sedrack entschuldigte sich damit, er habe eine sehr gute Beute gemacht, was den Levi tröstete.
Beide kauerten sich im Schatten eines Busches nieder, breiteten je ein Tuch beim Lichte des Mondscheines aus und schütteten darauf den Erwerb ihrer nächtlichen Arbeit.
Es war ein Haufen von Wertgegenständen, Ringe, Uhren, Ketten, silberne und goldene Petschafte, Bleistifthülsen, Streichholzbüchsen, Etuis und andere Taschenutensilien. Dass etwas aus Messing oder Tomback sei, war nicht zu erwarten, denn dieser Jude konnte echt und unecht auch im Finstern unterscheiden.
Besonders groß war der Ertrag an Ringen, denn die englischen Soldaten verwenden ihr Geld, wenn sie bei Kasse sind, mit Vorliebe für Ringe, wie in England überhaupt auch der gewöhnlichste Mann viel auf Schmucksachen hält.
Mit Argusaugen musterten die Juden die blitzenden Haufen, jeder den des anderen.
Es zeigte sich sofort, dass der Haufe Levis bedeutend größer war als der Sedracks, auch zeigte der von jenem viel Ringe mit wertvollen Diamanten, während Sedracks Ringe nur wenige und geringere Steine aufwiesen.
»Waih geschrien, wie haisst«, begann Levi sofort zu jammern, »hat sich gesteckt das beste und Schainste in die Taschen und will sich mir geben das Plunder, was ist sich nix wert bei keinem ehrlichen Jüd.«
»Nix Taschen«, entgegnete Sedrack und wies mit Entrüstung jeden Verdacht von sich, vor der Teilung schon etwas beiseite gebracht zu haben.
Levi überhäufte ihn mit Schmähungen, mit Schimpfworten, wie ihrer nur die jüdische Sprache fähig ist, jammerte, nannte sich einen ruinierten, geschlagenen Mann, doch Sedrack blieb fest dabei, ein ehrlicher Mann zu sein, der seinen Partner nicht betrüge.
Die Teilung ging dann schließlich vor sich unter endlosem Zanken, Streiten, Vorwürfen, Beteuerungen der Ehrlichkeit und unter Schimpfworten. Dabei stellte sich heraus, dass Sedrack der Hauptmacher war, weil nur er imstande war, die Schmucksachen, die leicht zum Verräter werden konnten, an den richtigen Mann zu bringen. Sonst hätte sich Levi die Übervorteilung nicht gefallen gelassen und auf eigene Faust und Rechnung gearbeitet.
Jeder bekam immer einen Ring von gleichem Werte, jeder Tausch rief erneuten Zank hervor. Der Mond beschien das saubere Paar.
»Was hast de zu greifen in meine Taschen, Levi?«
»Gott der Gerechte, hat sich geglaubt, es wären sich Taschen meinige.«
Nach einer Weile begann Sedrack abermals. »Was hast de zu greifen in meine Taschen?«
»Gott, was ist sich heute zerstreut. Hat sich geglaubt, es wären sich meine. Waih geschrien, hat sich gekauft 'nen goldenen Ring aus Taschen meiniges.«
Während sie so teilten, suchten sie sich gegenseitig wieder zu bestehlen, und ertappte einer den anderen dabei, so schimpften sie, waren sich aber nicht weiter böse.
Viele der Ringe waren blutig, besonders solche von Sedrack.
»Hat sich geschnitten zu viel Finger ab...«
»Und hat sich genommen beim Kragen und hat sich gehalten fest«, ertönte hinter ihnen eine Stimme, zwei Hände legten sich wie eiserne Klammern um die Hälse der beiden bis zum Tode Erschrockenen.
Mit unwiderstehlicher Kraft wurden sie niedergedrückt, und ehe sie noch die unbekannte Person gesehen, waren ihnen schon wie durch Zauberei die Hände mit Schlingen auf dem Rücken zusammengeschnürt, wobei ihre Gurgeln nur für einen Augenblick losgelassen worden waren.
»Und hat sich gefangen die Leichenplünderer, und wird sich hängen gleich am nächsten Baume — he, hallo, ho, hierher, Leichenräuber, Leichenschänder!«
So ertönte es laut durch die Nacht, und jetzt trat vor die beiden, denen die Zähne im Munde klapperten, eine rote Gestalt — Dick Red.
Die Juden sahen, dass es mit ihnen vorbei war; ihre letzte Stunde, vielleicht ihre letzte Minute war gekommen. Sobald sie in die Hände englischer Soldaten gerieten, wurden sie, ohne ein Wort zu verlieren, aufgehängt, und sie konnten noch von Glück sagen, wenn ein Offizier dabei war, der nach Vorschrift handelte, sonst war zehn gegen eins zu wetten, dass man sie erst mit ledernen Säbelscheiden schlug, bis ihnen die Haut in Fetzen abfiel, oder dass sie erst anderen Grausamkeiten ausgesetzt waren.
So legten sie sich denn schnell aufs Bitten für ihr Leben, versprachen Dick ihre ganze Beute, tausend Pfund, schließlich alles, was sie besaßen, sie wollten für ihn ihr ganzes Leben lang beten und arbeiten.
Dick achtete ihrer Worte nicht; immer lauter ließ er seine Stimme erschallen, und jammernd knickten die Elenden zusammen, als Menschen durch die Büsche brachen. Jetzt war es um sie geschehen.
»Wie, Leichenräuber?«, rief der hervortretende Offizier sofort. »Wahrhaftigen Gott, da liegt noch die Beute! Wartet, Schurken! Natürlich wieder zwei Juden! Einen haben wir schon erwischt und gehängt.«
»Gehängt, das ist schade!«, sagte Dick.
»Wie meinen Sie?«
»Die Finger solltet ihr ihnen erst abschneiden. Ich kam eben dazu, wie sie sich vom Fingerabschneiden wie vom Nägelputzen unterhielten.«
»Ich weiß, haben genug Kameraden mit abgeschnittenen Fingern gefunden. Auf, ihr Hunde!«
Er gab dem jüngeren Juden einen Fußtritt, dass er sich wimmernd am Boden krümmte.
»Den da kenne ich«, sagte einer der Soldaten, welche die Gefangenen umringt hatten, »das ist der alte Sedrack, ein bekannter Blutsauger.«
»Der Name tut nichts zur Sache. Macht die Stricke bereit und an den nächsten Baum mit ihnen!«
»Sedrack — Sedrack«, murmelte Dick nachdenkend, »es ist doch gerade als ob — halt«, rief er plötzlich, stieß die Soldaten beiseite und ergriff Sedrack, »dieser Mann gehört mir!«, Der Offizier maß ihn mit großen Augen.
»Er ist ein Leichenplünderer, eine Hyäne des Schlachtfeldes, und nach den Kriegsgesetzen jedes Landes muss er hängen.«
»Was gehen mich eure Kriegsgesetze an?«
»Mich desto mehr.«
»Das ist mir gleichgültig. Dieser Mann gehört mir und damit basta!«
»Ich denke, Sie werden diesen Schuft nicht in Schutz nehmen wollen.«
»Denkt, was ihr wollt. Dieser Mann gehört mir, sage ich zum letzten Male; den anderen mögt ihr meinetwegen hängen, ich habe nichts dagegen.«
Dick legte dabei die Hand auf die Schulter Sedracks und blickte sich im Kreise der Soldaten, welche angesichts des einzelnen Mannes spöttische Gesichter machten, mit entschlossener Miene um.
Der Offizier war vernünftig genug, einzusehen, dass er es hier mit einem Original zu tun hatte, und versuchte es mit Milde, kam aber nicht weit dabei.
»Haben Sie ein besonderes Interesse an diesem Manne?«
»Das geht Euch nichts an.«
»Sind Sie Engländer?«
»Das geht Euch wieder nichts an.«
Jetzt schwand dem Offizier die Geduld.
»Dieser Jude ist beim Leichenraub erwischt worden, lieber Freund...«
»Oho, kommt mir nicht so«, entgegnete Dick grob, »erstens habt Ihr den Kerl nicht erwischt, sondern ich fing ihn. Zweitens bin ich nicht Euer Freund. Verstanden? Basta, dieser Mann gehört mir, ich beanspruche ihn für mich! Fangt Euch die Leichenräuber selber, und nun schert Euch zum Henker.«
»Nehmt die Gefangenen in die Mitte!«, kommandierte der Offizier kurz.
Die Soldaten wollten Hand an Sedrack legen, wurden aber von Dick wie Federbälle links und rechts in die Büsche geschleudert. Mit blitzenden Augen, den Revolver in der Hand, stand er vor dem Juden und schlug auf den Offizier ein.
»Bei Gottes Tod, wagt, dem roten Dick das zu nehmen, was ihm gehört! Ein Befehl noch, mich oder den Juden anzutasten, und Ihr seid eine Leiche!«
Der Offizier prallte doch zurück, denn in den Augen dieses kleinen Mannes stand felsenfest geschrieben, dass er seine Worte buchstäblich erfüllen würde.
Kaum hatte Sedrack den Namen ›roter Dick‹ gehört, als er wusste, wer dieser Mann war.
»Gott der Gerechte, Herr Offizier«, rief er jammernd und zitternd, »lasst mich nicht in den Händen dieses Roten, welcher schlimmer ist als Pharao, der gepeinigt hat die Kinder Israels! Es ist der Mahanloggi, der Menschenjäger, der abzieht den Menschen die Haut samt den Haaren und hängt sie hinein mit dem Kopfe in die Ameisenhaufen. Knüpft mich auf, nur macht mich frei von diesem Roten; lieber will ich essen mein ganzes Leben lang Schweinefleisch.«
»Seht Ihr, wie gut mich der Kerl kennt?!«, lachte Dick. »Er hat allen Grund, ängstlich zu sein.«
»Du sollst kein Schweinefleisch zu essen brauchen Bursche«, entgegnete der Offizier, der sich gesammelt hatte, »und Sie werden ihn auch nicht behalten. Ich befehle Ihnen jetzt, uns den Juden auszuliefern. Ich fürchte Ihre Waffe nicht, Sie könnten doch nur einen Schuss tun.«
»Vielleicht auch mehrere. Aber gut«, Dick hatte sich anders besonnen, »ich will Euch den Burschen überlassen, wenn Ihr mir versprecht, ihn nicht aufzuhängen, sondern als Gefangenen nach Delhi zu transportieren.«
»Warum?«
»Das geht Euch nichts an.«
»Er wird gehängt.« entschied der Offizier.
»So hängt ihn denn!«
Mit einem Satze war Dick verschwunden, aber nicht allein, sondern er hatte Sedrack dabei wie im Sprunge gepackt und ihn mit in die Büsche gerissen. Als er eingesehen, dass er die Soldaten weder einschüchtern noch umstimmen konnte, hatte er zu einem andern Mittel gegriffen.
Wie aber der kleine Kerl die schwere Last des großen Mannes so ohne weiteres, als wäre er eine Feder, mit sich fortreißen und im Nu verschwinden konnte, das war allen unbegreiflich, es wirkte verblüffend, und ehe die Soldaten wieder zur Besinnung kamen, hatte auch schon das Krachen im Gebüsche aufgehört.
Der Offizier befahl schnell, das Gebüsch zu durchstöbern. Man musste sie doch wieder fangen, der Rote konnte mit seiner Last doch nicht weit fliehen, und dann musste der Jude doch auch schreien.
Aber es war als seien Dick und sein Gefangener plötzlich verzaubert, als hätte er sich unsichtbar gemacht.
Das Gebüsch wurde umstellt, soweit dies mit den wenigen Soldaten möglich war, man durchsuchte jeden einzelnen Strauch, aber alles war vergebens.
Die Soldaten riefen sich gegenseitig zu, und verschiedene Male erklang auch der Ruf:
»Hierher, hier ist er!«
Kam man aber dorthin, so war niemand da, ebenso wenig wollte jemand gerufen haben. Ohne Zweifel hielt sich der Rote doch noch versteckt und foppte die Leute.
Das Suchen ging nicht ohne viel Lärm ab, und dies zog wahrscheinlich die Reiter an, welche sich von Delhi aus dem Gehölze näherten.
Der erste sprengte direkt auf die Soldaten zu, welche, als sie den Reiter im Mondscheine erkannten, wie auf Kommando Honneurs machten.
»Was geht hier vor?«, fragte er.
Der Offizier meldete kurz, wie sie zwei Leichenräuber gefangen hätten, von denen der eine ihnen entführt worden wäre.
»Das ist nicht wahr, Mylord«, sagte eine Stimme, »ich war's, der die Schufte gefangen hat.«
Plötzlich stand Dick wieder unter den Soldaten, so unbefangen, als wäre nichts geschehen, aber ohne den Juden.
»Wie, ist das nicht Dick Red?«
»Dick Red und kein anderer.«
»Der frühere Begleiter von Reihenfels?«
»Derselbe.«
Nachdenklich betrachtete der Reiter den kleinen Mann.
»Hat jemand diese Nacht«, fuhr er dann fort, »vor etwa zwei Stunden, einen auffälligen Reiter wahrgenommen?«
Ich«, entgegnete Dick, und war klug genug, nur andeutend fortzufahren, »es war jene Person, welche ich oft in Wanstead und mit Mister Reihenfels zusammen gesehen habe.«
Überlegend blickte der Reiter vor sich hin.
»Nun, es hilft doch nichts«, seufzte er, »und was ist es nun mit dem Marodeur? Ich vermute, dass ihr ihn gefangen habt und nun nicht herausgeben wollt?«
»Allerdings nicht, Mylord. Der Jude gehört mir, und ich gebe ihn um keinen Preis her.«
»Ein Jude ist es?«, fragte der Reiter hastig, »Doch nicht etwa der alte Sedrack?«
»Gerade der.«
»Er lebt?«
»Ja, und soll auch leben bleiben.«
»Gott sei Dank, dass er noch nicht gehängt ist!«, rief der Reiter wie erleichtert. »Wo ist er? Ich sehe ihn nicht.«
Dick war in das Gebüsch gekrochen und kehrte bald mit dem alten Juden zurück, den er wie ein Kind in seinen Armen trug; es zeigte sich, dass Sedrack einen Knebel in den Mund bekommen hatte.
Lord Canning — das war der Reiter — befahl, den Juden auf ein Pferd zu nehmen und nach Delhi zu bringen. Nachdem er Dick versprochen hatte, dass das Leben des Juden geschont und derselbe ihm überlassen werden würde, nachdem er ein Geständnis abgelegt habe, ritt der Trupp ab.
Jetzt aber betrachteten der Offizier und die Soldaten Dick mit ganz anderen Augen, und dieser war noch so gefällig, ihnen zum Hängen Levis sein Lasso zu leihen.
Nach einigen Minuten hatte der schwarzgelockte Schurke im Kaftan sein Leben ausgehaucht.
An einem der westlichen Tore Delhis war in einem Häuschen eine Wachstube improvisiert worden, in welcher die zur Torwache bestimmten Soldaten, die nicht auf Posten waren, sich durch Kartenspiel munter hielten.
Als das Spiel zu Ende war, gab ein nicht mehr junger Soldat, dem die Verschmitztheit aus den Augen sah, einige Kartenkunststückchen zum Besten und erregte durch seine Fingergewandtheit das Erstaunen seiner Kameraden. Dann, dazu ausgefordert, unterhielt er sie auch durch Taschenspielertricks.
»Ich glaube, du bist früher Zauberkünstler gewesen, Ben«, sagte ein Soldat.
»Oder Taschendieb«, ergänzte ein anderer.
Der Zauberer nahm die letzte Bemerkung nicht übel, er lachte darüber.
»Jedenfalls könnte ich es als Taschendieb zu etwas bringen, Anlage habe ich dazu, und das Handwerk des Taschendiebes hat einen besonders goldenen Boden. Ja, ich war allerdings einmal, es ist schon lange her, Mitglied bei einer Zaubergesellschaft in England.«
»Als Hexenmeister?«
»Nein, als Lampenputzer.«
»Und dazu sind solche gelenkige Finger nötig?«
»Zum Lampenputzen gerade nicht, aber abgesehen habe ich dabei manches Kunststück, wie es gemacht wurde, und mich, ich war damals noch ein Junge, darin geübt. Wenn man so ganz vorn bei dem Zauberer ist, da erscheint einem alles nicht mehr so wunderbar, man sieht, wie er etwas in seinen Ärmel rutschen lässt, und was er alles auf seinem Rücken hängen hat. Aber einmal war einer da, dem konnte ich gar nichts absehen, und noch heute weiß ich nicht, wie er's eigentlich gemacht hat.«
»Wer war das?«
»Ihr kennt ihn alle. Er nannte sich Timur.«
Nun kam das Gespräch auf Timur Dhar, dessen Ruf sich auch schon unter den Soldaten verbreitet hatte. Man wusste, dass er Carters Kind geraubt hatte, dass er mit der Begum von Dschansi gemeinsame Sache machte, auch, wie sein Grab leer gefunden worden war, und so konnte jeder etwas anderes von ihm erzählen.
Ein Ruf der Wache ließ das Gespräch abbrechen. Es wurde ein Mädchen hereingeführt, welches vom Corporal kurz über das Woher und Wohin befragt werden musste.
Es war Mirja.
Die Soldaten tauschten Bemerkungen über das schöne Mädchen aus, dessen Gesicht so merkwürdig wachsbleich aussah, und welches sich so furchtsam umblickte.
»Kokosnüsse? Jetzt schon?«, ließ sich jemand vernehmen. »Da kaufe ich welche.«
»Sie sind nicht zu verkaufen, Herr«, entgegnete Mirja.
Es folgte ein Wortwechsel, welcher nur den Zweck hatte, das schöne Mädchen noch länger aufzuhalten. Die Soldaten wollten Kokosnüsse kaufen, Mirja verweigerte es unter allerhand Ausflüchten.
Der Mann, der sich vorhin als Taschenspieler gezeigt hatte, war hinter das Mädchen getreten und blinzelte seinen Kameraden mit pfiffigem Lächeln zu; infolgedessen hielten diese das Mädchen durch Fragen auf, denn sie ahnten, was der zu Streichen immer aufgelegte Ben vorhatte.
Er klappte leise sein Taschenmesser auf und begann vorsichtig, ohne dass Mirja das Geringste davon merkte, einen Schnitt in den Boden des Sackes zu machen, den sie auf dem Rücken trug, eine Kokosnuss fiel in seine Hand, zwei andere legten sich vor den Schnitt, ihn so verstopfend.
Aber Ben machte ein förmlich bestürztes Gesicht im Gegensatz zu den anderen, welche lachten, als er die Nuss in seiner Hand wog.
»Donnerwetter, das ist aber eine schwere Kokosnuss.«
Mirja drehte sich um, erbleichte und konnte sogar einen Schreckensschrei nicht unterdrücken.
Der Corporal war hinzugetreten und prüfte die Nuss.
»Hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu. Haltet das Mädchen einmal fest!«
Nach mehreren Versuchen gelang es, die Schale der Nuss in zwei Hälften zu zerlegen. Man fand sie mit kostbaren Diamantringen gefüllt, welche zum Teil blutig waren. Einen Augenblick standen die Soldaten bei dieser Entdeckung wie erstarrt da, dann wurde die Wachtstube in Aufregung versetzt.
»Eine Leichenschänderin!«, erklang es von allen Seiten im Tone der höchsten Entrüstung, und Mirja schien es selbst einzugestehen, denn bleich und mit geschlossenen Augen lehnte sie an der Wand.
Sie hatte den Inhalt der Kokosnuss ebenfalls gesehen und wusste, woher die Ringe stammten und auch, dass ihr Vater sie gestohlen hatte.
Es hätte nicht viel gefehlt, so richtete sich der leicht begreifliche Zorn der Soldaten gegen die schöne, vermeintliche Sünderin. Der Corporal musste sie vor Faustschlägen schützen, sparte aber selbst auch keine Schmähungen, um seiner Entrüstung Ausdruck zu geben.
Der Offizier wurde gerufen, der Sack untersucht und noch eine Kokosnuss mit gleichem Inhalte gefunden. Infolge ihrer Schwere waren beide zu unterst gekommen, darum musste Ben eine davon herausziehen. An einigen Ringen klebten sogar noch blutige Fleischteile.
»Canaille!«
Mit diesen Worten wandte sich auch noch der wegen seiner Schroffheit bekannte Offizier an die arme Sünderin.
Das also war der Empfang Mirjas bei ihrem Wiedereintritt in die schöne Welt, nach der sie sich so sehr gesehnt. Ach, warum war sie nicht in den unterirdischen Gängen geblieben!
»Du hast den Leichen, wahrscheinlich auch Verwundeten die Finger abgeschnitten, Judendirne!«, fuhr der Offizier sie an. »Hier der untrügliche Beweis, an diesen Ringen klebt blutige Haut! Du Scheusal, gemartert solltest du werden, ehe man dich aufhängt! Gib die Buben an, welche dir dabei geholfen haben!«
Groß schlug Mirja die Augen auf. Nein, sie war nicht mehr das duldende Judenmädchen. Sie wusste jetzt, dass sie ein Herz besaß, das in Gefahr nicht zitterte, das lieben konnte, und sie wollte sich nicht länger Unrecht zufügen lassen, wenn sie sich verteidigen konnte. Was hatte sie denn verbrochen?
»Ich wusste nicht, dass diese Kokosnüsse Ringe enthielten«, erwiderte sie fest.
»Ah, also auch noch leugnen? Hilft dir gar nichts.«
»Ich leugne nicht. Ich wusste nichts davon.«
»Gleichgültig, gefangen — gehangen! Hast du nicht selbst geplündert, so bist du Helferin von Leichenräubern, du solltest die Ringe nach der Stadt in ein Versteck schmuggeln. Wer ist deine Sippschaft? Gestehe!«
»Ich habe nichts zu gestehen.«
Da sie nicht auf frischer Tat ertappt worden war, musste Mirja auch erst ihrer Mitschuld überführt werden.
»Von wem hast du diesen Sack mit Kokosnüssen erhalten?«
Mirja gedachte ihres Vaters.
»Von einem Manne.«
»Aha, gewiss ein Unbekannter.«
»Nein, ich kannte ihn.«
»Wer war es?«
»Das — sage ich nicht.«
»Du wirst es noch gestehen müssen, wenn dir dein Leben lieb ist. Solche Geschichten von dem großen Unbekannten kennen wir. Du wusstest auch nicht, dass jener Mann Leichen geplündert hatte?«
»Nein.«
»Natürlich!«, höhnte der Offizier. »Und du wusstest auch nicht, dass die Kokosnüsse Ringe enthielten?«
»Beim heiligen Gott schwöre ich, dass ich es nicht wusste.«
»Dein Schwören nützt gar nichts. Ihr Gesindel schwört für eine Kleinigkeit jeden Meineid. Du glaubtest also, verstehe ich recht, dieser Sack enthielte nur einfache Kokosnüsse?«
Er sah, wie Mirja plötzlich zusammenzuckte, errötete und verlegen wurde, und jetzt wusste er bestimmt, dass wenigstens eine Mitschuldige vor ihm stand.
»Canaille«, brauste er auf, die Hand zum Schlage erhoben, »willst du nun die Wahrheit gestehen?«
Als Mirja nicht antwortete, glaubte er jenes Mittel gebrauchen zu müssen, mit dem man indische Diener zum Sprechen bringt — er schlug das Mädchen ins Gesicht.
Geduldig nahm sie den Schlag hin, nur Tränen füllten ihre Augen.
»Warum schlagen Sie das Mädchen?«
Der Offizier fuhr herum und stand Lord Canning gegenüber.
»Mirja!«, rief dieser, wie freudig überrascht, sie erst jetzt erkennend.
Wie Sonnenschein leuchteten des Mädchens Augen plötzlich auf, doch dann nahmen sie wieder den traurigen Ausdruck an. Auch dieser Mann musste ja nun an ihre Schuld glauben und sie verachten.
Man meldete Canning den Vorfall; er prüfte die vorgefundenen Ringe, und Mirja sah, wie er schauderte und ihr einen drohenden Blick zuwarf.
»Hat sie gestanden?«
»Nein, Exzellenz.«
»Und Sie wollten ihr das Geständnis durch Schläge abzwingen?«
Der Offizier schwieg verblüfft. Das hatte er nicht erwartet.
»Was gibt sie an?«
Es wurde ihm erzählt.
»Das klingt gar nicht so unwahrscheinlich. Leicht möglich, dass ein Mann, ein Leichenräuber, das unerfahrene Mädchen benutzen wollte, seine Beute in die Stadt zu schmuggeln.«
»Aber sie zuckte zusammen, als ich sie fragte, ob sie wusste, dass der Sack etwas anderes als nur Kokosnüsse enthielte.«
»Natürlich muss sie zusammenzucken, wenn Sie sie schlagen. Wenn sich ihre Unschuld herausstellen sollte, dürfte Ihnen Ihre Voreiligkeit teuer zu stehen kommen, Herr Leutnant. Haben Sie denn schon gefragt, wohin sie den Sack bringen sollte?«
»Nein«, gestand der Offizier, welcher immer unruhiger wurde.
»Das war die Hauptfrage.«
»Sie kennt auch den Mann, der ihr ihn übergeben hat, aber sie will nicht sagen, wer es ist.«
»Ah, das ist etwas Anderes!«
Er wendete sich an Mirja, die ihn mit traurigen Blicken ansah.
»Ob er wohl weiß, ein wie großes Opfer ich ihm bringen wollte, um meine Schuld wieder gutzumachen?«, dachte sie.
»Du hast den Mann gekannt, der dir den Sack gab?«
»Ja«, antwortete sie niedergeschlagen.
»Und willst seinen Namen nicht nennen?«
Statt aller Antwort schlug sie die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.
Canning nahm den Offizier beiseite, fragte ihn, ob eine Reiterin auf einem Falben dieses Tor passiert hätte, und als es verneint wurde, sprach er längere Zeit mit ihm über Mirja.
Dann entfernte er sich.
Die Jüdin hielt sich für verloren. Anfangs glaubte sie, Canning nähme für sie Partei, es schien fast, als ob er mit dem Offizier unzufrieden sei, besonders, weil er sie geschlagen hatte; der Ruf von Cannings Gerechtigkeitsliebe und Unparteilichkeit war auch bis in ihr Ohr gedrungen.
Nein, er ließ der Gerechtigkeit freien Lauf, er gab sie auf, ohne sich weiter um sie zu kümmern. Sie starb den Tod am — Galgen.
Selbst wenn sie ihren Vater verraten hätte, würde es ihr nichts genützt haben, und eben deswegen schwieg sie.
Sie wurde von zwei bewaffneten Soldaten in die Mitte genommen und vom Offizier selbst nach einer Kammer des Hauses gebracht, wo sie eingeschlossen wurde.
Sie war so in traurige Gedanken versunken, dass sie nicht Obacht gab, ob sich das Benehmen des Offiziers verändert hatte oder nicht. Er war allerdings nicht freundlicher geworden, aber erlaubte sich auch keinen Missbrauch seiner Gewalt mehr. Stumm und finster tat er seine Pflicht.
Mirja saß in der nur vom Vollmonde erleuchteten Kammer, die außer Stuhl und Bett nichts enthielt, und hing ihren Gedanken nach.
Warum war sie nicht in den unterirdischen Gängen bei Phangil geblieben? Dort war sie wenigstens keinen Misshandlungen ausgesetzt.
Ja, warum nicht?
Warum flattert der Schmetterling gegen das Licht, prallt zurück, weil es heiß ist, und warum fliegt er doch endlich in die Flamme und sinkt verbrannt zu Boden?
Auch Mirja dachte an einen solchen Schmetterling, und dadurch gerieten ihre Gedanken auf Kulwa.
Als er starb, ließ er sich vom Schmetterling erzählen, der aus der hässlichen Raupe kriecht, und leicht schwang sich dann seine unsterbliche Seele zum Äther empor.
Hatte sie nicht ihre Schuld gutzumachen gesucht, sie sogar gesühnt? Hatte sie nicht ihr Leben, nein, mehr als ihr Leben darangesetzt, dem sein Liebstes wiederzugeben, den sie — — Liebte sie ihn wirklich?
Ach, und wie sehr! Es war keine eifersüchtige Liebe, keine begehrende; sie sah zu ihm wie zu einem Gott empor und hätte gern der gedient, welche er liebte.
Aber hätte sie dies auf die Dauer ertragen? Nein, sie glaubte es nicht.
Und warum musste denn gerade sie so unglücklich sein, warum musste sie so verachtet werden, und auch noch von dem, an dessen Achtung ihr gelegen war?
»Ich bin eine Judendirne«, murmelte sie tonlos, »mein Vater plündert Leichen und verkauft Mädchen, und ich, seine Tochter, muss ihm dabei geholfen haben. Wie gut hat es Kulwa! Sein Schicksal war dem meinen gleich, jetzt hat er das bessere Los erwählt. Ach, wäre ich doch dort, wo er ist!«
Konnte sie denn dieses Ziel, welches jedem Menschen gesteckt ist, nicht schon früher erreichen? Was hinderte sie daran?
Dort in der Wand, hoch oben, beleuchtete der Mondschein einen starken Nagel. Wenn sie sich auf einen Stuhl stellte, konnte sie ihn erreichen.
Ob sie jetzt starb oder einige Stunden später, was lag daran? Besser von eigener Hand sterben, als von der des Henkers.
Sie nahm das Tuch, welches sie nach indischer Sitte turbanartig um den Kopf gewunden hatte, und drehte es zu einem Stricke zusammen. Dann rückte sie den Stuhl unter den Nagel und befestigte an diesem die Schlinge, überzeugte sich auch, dass sie ihr Gewicht ertragen würde.
Mirja dachte nicht daran, vor ihrem Scheiden aus dieser Welt ihre Unschuld zu beteuern. Sie hätte ja einen Nagel aus der Wand reißen und mit diesem in den Kalk kritzeln können, dass sie unschuldig in den Tod gehe. Doch was hatte dies für einen Zweck? Sie wollte nur diese jämmerliche Welt verlassen, gleichgültig, was man später von ihr dächte. Und dann war auch noch sehr die Frage, ob man ihr glauben würde.
Jetzt stand sie auf dem Stuhle, zum Sterben bereit. Ein Sprung noch, und mit gebrochenem Genick hing sie entseelt da.
Noch einen Augenblick nur, noch einen Gedanken für den, an dem ihr Herz auf dieser Erde gehangen hatte.
»Lebe wohl, vielleicht sehen wir uns in einem Lande wieder, wo auch die Judendirne nicht verachtet wird!«
Sie hob sich zum Sprunge auf die Fußspitzen empor. Es wurde ihr plötzlich so selig zumute —
»Mirja, um Gottes willen!«
Die Tür war aufgegangen, mit einem einzigen Satze stand ein Mann vor ihr, umklammerte sie mit dem Arme; die andere Hand erfasste das Tuch und riss daran, dass der Haken aus der Wand sprang.
»Mirja, bist du denn wirklich schuldig, dass du freiwillig in den Tod gehst?«, fragte Lord Canning mit vor Erregung bebender Stimme und hob das Mädchen wie ein Kind herab.
Mirjas Sinne begannen sich plötzlich zu umnachten; es flimmerte ihr vor den Augen, sie schloss dieselben und legte den Kopf an die Brust des Mannes.
Als sie wieder erwachte, saß oder lag sie vielmehr noch immer auf seinem Schoße. Hastig sprang sie auf und floh in die äußerste Ecke der Kammer, ihre Glieder flogen wie im Fieber.
Canning trat vor sie hin; sie konnten sich beide im Mondschein deutlich sehen.
»Sage mir, Mirja«, bat er weich, »warum wolltest du diesen Schritt tun? Bist du wirklich schuldig?«
Statt aller Antwort brach sie in Tränen aus und verhüllte das Gesicht in den Händen. Mit sanfter Gewalt entfernte er dieselben und blickte ihr ernst und. doch mild ins Auge.
»Willst du mir nicht antworten? Es ist eigentlich eine törichte Frage, denn nimmermehr kann ich glauben, dass du, die ein so edles Herz bewiesen hat, einer so schändlichen Handlung fähig wärst, einer Handlung, die noch den gemeinsten Raubmord übertrifft. Höre mich an, Mirja, wir wollen uns aussprechen.«
Er begann in der Kammer mit auf dem Rücken verschlungenen Händen auf und ab zu gehen. Seine kräftige Gestalt war etwas gebückt, seine Augen lagen tief, er sah leidend aus, wie ein Mensch, der seit langer Zeit des Schlafes entbehrt hat.
»Ich kann mir denken«, hob er dann an, »dass dich schon meine Frage, ob du schuldig bist oder nicht, kränkt. Ist es nicht so? Sei offen gegen mich.«
»Ja«, hauchte sie.
»Deine Unschuld ist schon erwiesen, wir haben den alten Sedrack gefangen.«
»Ich dachte es mir«, sagte sie tonlos.
»Er ist dein Vater.«
»Nein, er ist es nicht!«, rief sie fast heftig.
»Ich verstehe dich. Du willst ihn nicht mehr Vater nennen, und du tust recht daran. Ich hoffte schon, er würde gestehen, dass du nicht seine Tochter wärest, aber er blieb bei seiner Behauptung. Du glaubtest, einige der Kokosnüsse enthielten Geld.«
»So sagte er.«
»Kam dir dies nicht schon auffällig vor?«
Mirja erzählte, was der Vater ihr angegeben hatte. Canning unterdrückte seinen Unwillen, glaubte ihr aber vollkommen. Auch die Beschreibung des Versteckes vernahm er und ließ sie sich wiederholen, was Mirja auch tat. Er wollte nachforschen lassen.
»Sprechen wir nicht mehr über diese Sache! Deine Unschuld gilt bei mir für erwiesen, und ich werde Sorge dafür tragen, dass man dir nichts anhaben kann.«
»Und Sedrack?«
»Kümmere dich nicht mehr um ihn, reiße jedes Gefühl für ihn, jeden Gedanken an ihn aus deinem Herzen! Mirja«, er trat vor sie hin, ergriff ihre beiden Hände und drückte sie, »Mirja, du hast viel für mich getan, ich danke dir.«
»Nichts, gar nichts habe ich getan, und was ich tun wollte, geschah nur, um mein Unrecht wieder gutzumachen.«
»Ich wüsste nicht, was für Unrecht du mir zugefügt hättest.«
Mit stockender Stimme, ohne ihn anzuschauen, erzählte sie, wie sie es gewesen, die Franziska in die Hände der Rebellen geliefert hatte.
Für Canning war dies nichts Neues, denn Mirja hatte dasselbe schon Reihenfels mitgeteilt, als er sie zum ersten Male in den unterirdischen Gängen traf, und von diesem hatte Canning es gestern erfahren. Er legte seine Hand auf ihren Kopf, wobei ihm entging, wie sie zusammenzuckte.
»Dies alles weiß ich schon«, sagte er sanft, »und auch, weshalb du es tatest. Es war ein Irrtum. Du hieltest Lord Westerly für den Generalgouverneur, Franziska für seine Braut, und ich schwacher Mensch fühle mich nicht berufen, Richter über die geheimsten Gefühle eines Mädchenherzens zu sein. Mirja, ich verzeihe dir vollkommen, hast du doch deine durch Irrtum entstandene Schuld wieder gutzumachen gesucht, hast du sie doch bitter gesühnt. Ich werde dir nie, nie vergessen, dass du, um meine Geliebte zu retten, entschlossen warst, dein Leben unter der Erde zu beenden und dich sogar an eine Missgeburt zu binden. Kulwa ist tot?«
»Er starb für mich eines schönen Todes. Ich beneide ihn darum.«
»Das sollst du nicht. Mirja, willst du dich aller traurigen Gedanken entschlagen und ein neues, schönes Leben beginnen?«
»Ach, wie wäre das möglich!«, seufzte sie.
»Nichts leichter als das. Franziska ist in Bombay in Sicherheit...«
»Wirklich?«, unterbrach sie ihn freudig.
»Ja, jedoch nicht durch die Bemühungen deines — Sedracks. Er hatte vielmehr ihr Verderben beschlossen, um sich zu bereichern. Franziska wird nun nach England gehen und dort bleiben, bis ich ihr nachfolge. Ist dieser leidige Krieg beendet, so eile auch ich nach der Heimat, verbinde mich mit Franziska fürs Leben, und befiehlt meine Königin, dass mein Aufenthaltsort wieder Indien sei, so wird sie mir auch hierher folgen. Mirja, willst du bei meiner Braut bleiben, wenn sie allein ist, willst du ihr eine treue, liebende Gesellschafterin sein?«
Die Jüdin antwortete nicht. Erst hatten ihre Augen vor Freude aufgeleuchtet, doch schnell brach die alte Schwermut wieder hervor. Ihre Lippen bewegten sich zwar, aber kein Laut ward hörbar.
»Willst du nicht? Glaubst du nicht, dass ich es gut mit dir meine?«
»Ich bin eine Jüdin«, murmelte sie endlich.
»Komme mir nicht mit einer solchen Entschuldigung. Nicht die Religion, das Herz macht den Menschen aus, und das deine habe ich als edel kennen gelernt. Nicht Franziskas Gesellschafterin, nein, ihre Schwester sollst du sein, und auch ich will dich wie eine Schwester behandeln. Ziehe nicht deine Hände aus den meinen, ich habe es gut mit dir vor. Ich will dir eine neue Heimat geben; du sollst erfahren, wie schön das Leben ist, wenn man sich unter guten Menschen befindet. Wir wollen eine Familie bilden; du sollst keine ausgestoßene Jüdin mehr sein; was dir noch fehlt, das sollst du lernen, und vor allen Dingen sollst du unsere Liebe empfinden. Ich will dir...«
Da riss sich Mirja plötzlich heftig los, stürzte vor dem Stuhl hin, verhüllte ihr Gesicht und begann heftig zu weinen. Ein innerer Kampf erschütterte ihren zarten Körper.
»Ich kann nicht, ich kann nicht!«, schluchzte sie herzzerreißend. »Verlass — lass mich allein! O, warum musstest du kommen! Jetzt wäre ich schon tot!«
»Aber Mirja...«
»Verlass mich, verlass mich! O, ich Unglückliche, ich kann nicht deine Schwester sein!«
Da mit einem Male ging Canning eine Ahnung auf. Erschrocken trat er einen Schritt zurück.
War es möglich, sollte Mirja Liebe zu ihm gefasst haben? Es war nicht anders möglich. Dann freilich...
»Mirja!«
»Verlass mich«, flehte sie immer wieder, »ich bin unglücklich. Wäre ich doch nie geboren!«
Er zog sie mit Gewalt empor und hielt sie aufrecht. Sie blickte ihn nicht an und zitterte in seinem Arme.
»Gut, ich gehe, wenn du es verlangst. Nur versprich mir das eine, nie wieder selbst Hand an dein Leben zu legen. Weißt du, dass ich mir dann ewig Schuld beimessen würde?«
Er hörte nicht eher mit Bitten auf, als bis sie ihm das versprochen hatte. Dann ging er.
Mirja warf sich wieder auf die Erde nieder und begann von Neuem zu weinen. Sie bemerkte nicht, wie der Offizier eintrat, entsprach aber gleich seiner Aufforderung, sich zu erheben und ihm zu folgen.
Unten stand eine von Kulis getragene Sänfte, welche sie besteigen musste. Einige Soldaten wurden ihr beigegeben, die sie begleiteten.
In dumpfem Brüten saß Mirja in den Kissen. Es war ihr ganz gleichgültig, wohin sie gebracht wurde. Sie wunderte sich auch nicht, als sie, zum Aussteigen aufgefordert, vor dem Gouvernements-Palast stand und hineingeführt wurde.
Man wies ihr ein Zimmer an; die bedienende Inderin benahm sich sehr ehrfürchtig gegen sie und sagte, bei irgendeinem Wunsche solle Mirja klingeln.
Wenn diese auch weniger anspruchslos gewesen wäre, hätte sie doch nichts zur Bequemlichkeit Gehöriges vermisst. Aber auch nicht die Neugier konnte sie aus dem teilnahmslosen Brüten reißen, in das sie, nach orientalischer Art, gesunken war.
Das ihr vorgesetzte Nachtessen rührte sie kaum an; sie hörte, wie man, als sie die Frage nach Wünschen verneint hatte, die Türen verschloss, dann streckte sie sich angekleidet auf dem Ruhebett aus und war bald in einen tiefen Schlaf gefallen.
Am nächsten Tage wurde sie aufmerksam bedient; doch niemand kam, der ihr eine Erklärung für diese Gefangenschaft brachte, und Mirja fragte auch nicht danach. Wieder saß sie den ganzen Tag in stillem Brüten da; nur ihre Gedanken arbeiteten dabei unaufhörlich.
War es Zufall oder nicht, dass dabei ihre Augen unausgesetzt auf den Rücken eines Buches gerichtet waren, das mit anderen in einer Reihe auf dem Regal stand? Die goldenen Lettern des Rückentitels bannten sie, es war die Bibel, welche im englischen Leben eine viel größere Rolle spielt als bei uns.
Man mag ein Zimmer in England und in englischen Kolonien betreten, welches man will, im Familienhaus, Geschäft oder Amt, immer leuchten einem die goldenen Buchstaben von einem Sims herab entgegen.
Mirja nahm schließlich das Buch, das aus der Feder ihrer Ahnen stammte, dessen ersten Teil sie aber nur anerkennen. Diesen kannte sie, viele Seiten davon sogar auswendig, aber das neue Testament war ihr noch nie in die Hände gekommen. Ihr Vater, der nach seiner Weise auch fromm war, hatte davon gesprochen, als enthielte es Gift.
»Mein Vater — und er; es ist sein Glaube drin!«, murmelte sie, legte sich auf den Diwan, schlug den zweiten Teil des Buches auf und begann zu lesen.
Stunde um Stunde verrann, und Mirja las noch immer; einige Seiten las sie sogar wiederholt; ihr Finger glitt über die Zeilen, und ihre Wangen röteten sich nach und nach vor Eifer.
Es war schon gegen Abend, die Sonne begann zu sinken, als wieder der Schlüssel draußen umgedreht wurde.
Als wäre sie auf einer unrechten Tat ertappt worden, so hastig sprang sie auf, schob das Buch in die Reihe und erwartete den Eintretenden, mitten in der Stube stehend.
Doch es war nicht, wie sie glaubte, die indische Dienerin, sondern Lord Canning selbst. Sein Gesicht blickte düster und mitleidig zugleich.
Er reichte Mirja die Hand, und es entging ihm nicht, wie sie errötete.
»Verzeihe mir, dass ich dich so lange warten ließ. Meine Zeit ist beschränkt. Ich hoffe, du betrachtest diesen Aufenthalt hier nicht als eine Gefangenschaft.«
»Kommst du nun, mir mein Urteil zu verkünden?«
»Davon ist keine Rede. Eine Schuld auf deiner Seite kann nicht bewiesen werden, du bist frei. Ich selbst war dein Rechtsanwalt und hatte wenig Mühe mit deiner Verteidigung. Ich komme vielmehr, mit dir über deine Zukunft zu sprechen.«
»Meine Zukunft?«, wiederholte Mirja schmerzlich.
»Ich habe meinen Entschluss von gestern geändert«, fuhr Canning fort, sie scharf beobachtend, »denn ich habe eingesehen, dass die Stellung, die ich dir bieten wollte, dich doch nicht befriedigen würde, weil...«
Verlegen brach er ab, er wusste nicht, was er sagen sollte. Zugleich bemerkte er, wie die Jüdin jäh erbleichte.
»Ich weiß«, flüsterte sie tonlos. »Es ist auch besser so.«
»Nein, beurteile mich nicht falsch, ich meine es noch ebenso gut wie vorher mit dir, und mein sehnlichster Wunsch ist es, dich glücklich zu sehen. Kann ich etwas für dich tun? Wünschest du irgendwo Aufnahme? Verstelle dich nicht, Mirja, ich sah, dass du vorhin in der Bibel last. Ich will dir nicht besonders zureden, aber ich frage dich, ob du vielleicht Neigung hast, als Schülerin in einer christlichen Mission untergebracht zu werden? Es steht dir dann ein schönes, dich befriedigendes Leben bevor.«
»Es wäre das Beste. Aber nein«, fuhr sie hastig fort, »nein, nicht das! Ich bitte dich um weiter nichts, als um die Freiheit.«
»Die hast du sowieso.«
»Dann lebe wohl!«
Sie streckte ihm schüchtern die Hand hin und wandte sich schon der Tür zu.
»Wie, so schnell, so kurz?«
Jetzt begegneten ihre Augen zum ersten Male den seinen, zugleich übergoss wieder eine Blutwelle ihr Antlitz. Canning wusste warum, und zugleich musste er sich gestehen, dass Mirjas Gesicht wirklich klassisch schön war.
Nein, sie durfte nicht in seiner und Franziskas Nähe bleiben, besser für ihn und für sie.
»Lass mich jetzt gehen«, entgegnete sie. »Aber bevor ich scheide, will ich dir eins gestehen, ich muss es dir sagen. Ich weiß, dass du meine Gedanken kennst.«
»Hältst du mich wirklich der Kunst des Gedankenlesens fähig?«, suchte er zu lächeln. »Du irrst, du traust mir zu viel zu.«
»Nein, du kennst meine Gedanken und das, was in mir vorgeht, versuche dich nicht zu verstellen. Aber sage, ist das etwas Schlimmes?«
Es hätte nicht viel gefehlt, so hätte Canning das Mädchen, das ihn so traurig mit ihren unschuldigen Augen anblickte, an sein Herz gedrückt.
»Nein, meine arme Mirja, dabei ist nichts Böses!«, rief er herzlich. »Ich bedaure dich und kann dir doch nicht helfen. Nicht einmal meine Freundschaft wage ich dir anzubieten, denn ich kenne dich...«
»Nein, du kennst mich nicht.«
»Doch, doch, ich meine eure Nation in diesem Lande! Doch solltest du einmal einen Freund brauchen, so wende dich an mich.«
»Dann bitte ich noch um eins.«
»Verlange, was du willst.«
»Sprich nicht zu deiner — zu deiner Geliebten von dem, was du von mir erfahren hast, ohne dass ich es wollte.«
»Warum nicht? Franziska denkt zu edel, als dass sie...«
»Ich bitte dich darum.«
»Gut, wie du willst!«
»Dann lebe wohl — und auf Wiedersehen!«
Ehe er sie halten konnte, war sie zur Tür hinausgeschlüpft und kam auch nicht wieder.
Dieser schnelle Abschied war nach allem, was vorausgegangen, rätselhaft; bestürzt blickte Canning nach der offenen Tür, als erwarte er, Mirja würde noch einmal zurückkehren.
Und was sollte das bedeuten, dass sie »Auf Wiedersehen« sagte?
Es hatte so bedeutungsvoll geklungen! Doch der Generalgouverneur hatte jetzt anderes zu tun, als über das seltsame Wesen und über die unglückliche Leidenschaft der armen Jüdin nachzudenken.
Wir überspringen einen Zeitraum von einigen Monaten und wollen nur ganz kurz erwähnen, was sich in Indien unterdessen ereignet hatte.
In Mittelindien war der Aufstand so gut wie niedergeworfen, die Ordnung wiederhergestellt, und schon begannen die dazu aufgeforderten indischen Bauern, den Frühling dazu zu benützen, um das verwüstete Land von neuem zu bestellen.
Wo die Rebellen noch einmal festen Fuß fassten, da eilten von allen Seiten die Engländer, die in immer neuen Massen eintrafen, herbei, besonders unter der Führung von Campbell, Sir Hugh Rose, Havelock und anderen, und schlugen die Gegner in blutigen Schlachten.
Anführer der Rebellen waren nach wie vor Nana Sahib, ein aus Delhi entkommener Baburide namens Firos-Schah, die Königin von Oudh, und noch immer tauchte überall da, wo eine Schlacht heftig wütete, die stahlgepanzerte Gestalt der Begum von Dschansi auf.
Am 19. März fiel das starkbefestigte Lucknow durch den Sturm unter General Campbell, welcher den auf Delhi noch an Furchtbarkeit übertraf. Es gelang jedoch nicht, die Rebellen zu vernichten, sondern diese entflohen samt und sonders nördlich in die Ausläufer des Himalajagebirges, und jetzt entstand hier ein sogenannter Guerillakrieg, das heißt, eine ununterbrochene Kette von Kämpfen und Schlächtereien, wie sie etwa zwischen Gebirgsräubern und Miliz vorkommen mögen.
Hier im Himalajagebirge konnte an ein Zusammenhalten eines starken Truppenteiles nicht gedacht werden; in Streifkorps durchzogen die Engländer die wilden Gebirgsmassen, die mit Urwäldern und Sümpfen abwechselten, in denen noch Tiger, Löwen, Elefanten, Nashörner und Büffel in zahllosen Mengen hausten. Auf alles, was eine braune Haut hatte, wurde rücksichtslos Jagd gemacht; man spürte die Rebellen in den Höhlen auf und räucherte sie aus, aber die Engländer hatten einen schweren Stand, denn die Inder waren hier zu Hause, und Nana Sahib zeigte, dass er es ausgezeichnet verstand, einen solchen Bandenkrieg zu leiten.
Heute hoben die Engländer ein Rebellennest aus, morgen brach Nana Sahib aus dem Hinterhalt hervor und machte eine Abteilung Engländer bis auf den letzten Mann nieder. Etwaige Gefangene marterte er mit eigener Hand auf die grausamste Weise.
Bevor wir den Schauplatz der Erzählung in diese wilde Gegend verlegen, wollen wir uns noch einmal nach Delhi begeben.
Reihenfels hielt sich noch immer hier auf und marterte sein Herz mit vergeblichen Hoffnungen, von Bega wieder etwas zu hören. Sie blieb verschollen.
Um jene Begum von Dschansi, die hier und da auftauchte und das mörderische Schwert wie früher unter den englischen Reihen schwang, kümmerte er sich gar nicht mehr. Auch vertraute er sich niemandem an; denn er wurde doch nicht verstanden. Lord Canning war die meiste Zeit von Delhi abwesend.
Wie aber sollte Reihenfels erfahren, wo sich Bega aufhielt? Ob sie überhaupt noch am Leben wäre? Er wusste sich keinen Rat. Wo sollte er sie in dem ungeheuren Indien suchen?
Er hätte gewünscht, mit Dick sprechen zu können; vielleicht hätte der erfahrene Trapper Rat gewusst, wie man eine Person in einem wilden Lande aufspürt, aber dieser war ebenfalls verschwunden und hatte den gefangenen Sedrack mitgenommen, den ihm Canning überlassen hatte.
So benutzte Reihenfels die Zeit wenigstens, um nach Sir Carter und seiner Gemahlin zu spähen — ebenfalls vergeblich. So weit er sich auch in den unterirdischen Gängen vorwagte, er bekam keine Spur eines menschlichen Wesens zu sehen, auch Phangil nicht.
August nahm sich das Unglück seines Herrn zu Herzen, konnte ihm aber nicht helfen, und Reihenfels verbat sich jeden Trost.
So schlenderte August untätig in Delhi umher, vernahm die neuesten Kriegserfolge, disputierte mit englischen Soldaten, die darin Großes leisten, und langweilte sich gründlich.
Eines Tages rückte Campbell mit einer kleinen Kriegsmacht in Delhi ein. Er hatte nicht weit von der Stadt einen Rebellenhaufen mit leichter Mühe geschlagen und einige wichtige Anführer gefangengenommen, die sofort jene Galgen vor dem Gouvernements-Palaste schmücken sollten, an denen einst die Radschas ihr Leben ausgehaucht hatten.
Natürlich befand sich auch August unter der Menge, die die Delinquenten umstanden, und zwar hatte er sich in die vorderste Reihe zu drängen gewusst.
Aber seine Aufmerksamkeit wurde weniger von den am Galgen Zappelnden gefesselt als vielmehr von einer Person, die dicht neben ihm stand und deren Ansehen sowohl wie ihre Beschäftigung allerdings sehr auffällig waren.
Die lange, magere und sehnige Gestalt war mit einem großkarierten Staubmantel bekleidet, unter dem nur die gelbledernen Stiefel bis zu den Knöcheln hervorsahen. Das Gesicht war ein solches, wie man es bei reisenden Engländern oder Amerikanern öfter findet; gelb und faltig wie Pergamentpapier, eine scharfe, gerade Nase, graue Augen und an beiden Seiten, nur das Kinn und die Lippen freilassend, ein wohlgepflegter, sogenannter Kotelettenbart.
Zwischen den Lippen hatte der Mann eine schwarze Zigarre, aus der er blaue Wölkchen blies, unter dem linken Arm einen roten Sonnenschirm und in den Händen ein dickes Notizbuch und Bleistift.
Bald beobachtete er die Zuckungen des am nächsten Galgen baumelnden Inders, bald schrieb er wieder ins Buch, als notiere er dort seine Beobachtungen. Er glich einem Naturforscher, der ein ihm bisher unbekanntes Tier charakterisiert.
Das ist ja ein merkwürdiger Kauz, dachte August und versuchte, einen Blick in das Notizbuch zu werfen, was ihm aber nicht gelang, weil ihn der Große um Haupteslänge überragte.
Derselbe fuhr fort, Notizen einzutragen, einen der Gehängten nach dem anderen beobachtend, bis der letzte bewegungslos dahing. Dann steckte er sein Notizbuch ein, sog an der Zigarre und fand, dass diese ausgegangen war.
Ohne ein Wort zu sprechen, wandte er sich an den neben ihm stehenden August und deutete nur mit dem hageren Finger auf die erloschene Zigarre, es als ganz selbstverständlich findend, dass sein Wunsch sofort verstanden würde.
Über diese stumme Zumutung war der sonst eben nicht auf den Mund gefallene August so verblüfft, dass er wirklich sofort in die Tasche griff, sein Feuerzeug hervorholte und dem Fremden die Zigarre anzündete.
Ohne auch nur mit einem Kopfnicken für die Gefälligkeit zu danken, wendete sich dieser phlegmatisch um, und dabei war es fast unvermeidlich, dass er mit dem unter den Arm geklemmten Sonnenschirm August den Hut vom Kopfe herunterwarf.
Das war dem Deutschen denn doch etwas zu toll. Erst die Zigarre anzünden, keinen Dank davon haben und sich dann auch noch den Hut vom Kopfe werfen lassen!
August stieß einen kräftigen, deutschen Fluch aus, hob schnell den Hut auf und wollte dem Fremden nacheilen.
Doch da wendete sich dieser, welcher den Fluch gehört haben musste, schon um, wobei er abermals einem Inder den Turban vom Kopfe riss.
»Ah, Sie sprecken deitsch? Serr, serr gut das«, redete er August an, und fixierte ihn durch ein Monokel.
August, den über diese unvermutete Anrede schon wieder die Fassung zu verlassen drohte, raffte sich schnell wieder zusammen.
»Herr, wessen unterstehen Sie sich?«, fuhr er den Fremden wütend an. »Erst fordern Sie mich ganz unverschämt auf, Ihnen Ihre Zigarre anzuzünden, dann bedanken Sie sich nicht, als wäre ich Ihr Sklave, und dann werfen Sie mir noch den Hut vom Kopfe. Da«, er schleuderte seinen Hut auf die Erde, »nun heben Sie ihn mir gefälligst einmal auf.«
Wie ein gebietender Feldherr stand August vor dem Fremden und deutete mit dem Finger auf den Hut zu seinen Füßen; aber der Karierte, dem gebrochenen Deutsch nach unverkennbar ein Yankee, das heißt, ein Amerikaner, fixierte nur den Burschen mit äußerstem Interesse, als hätte er irgendein Phänomen vor sich.
»Nun, wollen Sie mir den Hut gleich aufheben? Sie haben ihn mir vom Kopfe geworfen.«
»Weil mir das macht Spaß. Was soll ick nix haben meinen Spaß?«, war die kaltblütige Antwort.
»Aber mir macht das keinen Spaß!«, schrie August, immer wütender werdend. »Wollen sie mir den Hut aufheben?«
»No.«
»Denken Sie etwa, ich werde ihn aufheben?«
»Yes.«
»Das werde ich wohl bleiben lassen.«
»Dann werden Sie sich kaufen einen anderen«, entgegnete der Amerikaner mit dem größten Gleichmut.
Eine Menge englischer Soldaten hatten die beiden umringt, August sah überall lachende Gesichter, und er war klug genug, einzusehen, dass er sich durch seinen Zorn nur lächerlich machte. Er zog zum bösen Spiel eine gute Miene.
»Gut, aber ich habe kein Geld.«
»Dann werde ich Ihnen geben Geld.«
»Ah, das lässt sich hören! Her damit!«
»Her damit — serr gut das! Sie sprecken serr gut deitsch. Wollen Sie werden mein Diener?«
»Als Ihr Sprachmeister?«, lachte August, der nur an einen Spaß glaubte.
»No zu laden mein Buchs.«
Das war natürlich vollkommen unverständlich.
»Wollen Sie mir nun meinen Hut aufheben oder mir Geld für einen neuen geben?«
»Ick werde Ihnen geben Geld. Kommen Sie!«
Wieder wandte sich der Amerikaner kurz herum, wobei er einer ganzen Reihe von Soldaten die Mützen vom Kopfe warf, was aber nur Gelächter hervorrief, und schritt mit seinen abnorm langen Beinen schnell davon.
August überlegte einen Augenblick, dann fand er es für das Beste, hinterher zu troddeln.
Der Amerikaner ging direkt dem Gonvernements-Palaste zu, stieg eine Treppe hinauf und betrat ein Zimmer, das einiges Gepäck enthielt, darunter auch zwei für Maultiere oder Esel bestimmte Sättel und Zaumzeuge. Auf dem Tische lagen zwei Repetiergewehre, deren Magazine 16 Patronen fassen, von vorzüglicher Arbeit, auf dem Bette ein Revolverfutteral und andere kurze Waffen.
Da der Amerikaner in diesem Palaste einquartiert worden war, schloss August, musste er einen gewissen Rang einnehmen. Er war dem Fremden ins Zimmer gefolgt, und das erste war, dass er mit dem Regenschirme eins gegen den Kopf erhielt, weil wieder das schnelle Umdrehen erfolgte.
Der Amerikaner klemmte das Monokel ins Auge und betrachtete den rothaarigen Burschen von Neuem wie ein Wundertier.
»Wo haben Sie gelassen Ihren Hut?«
»Da, wo er vorhin lag.«
»Sie haben ihn nix gehoben auf?«
»Fiel mir nicht ein.«
Des Amerikaners faltiges Gesicht verzog sich zu einem vergnügten Grinsen; wohlwollend klopfte er August auf die Schulter.
»Serr, serr gut das! Wollen Sie werden mein Diener?«
»Erst den versprochenen Hut, dann wollen wir weitersprechen.«
»Sie werden bekommen einen Hut. Wollen Sie werden mein Diener?«, Dabei blieb der Amerikaner hartnäckig.
»Ich bin schon Diener bei einem Herrn.«
»So werde ick ihm kaufen ab.«
»Oho, ich bin kein Sklave, den man verkaufen kann!«
»Wenn Sie sind Diener, so werden Sie gehen zu dem, der Ihnen gibt das meiste Geld.«
»Hm, das ließe sich eigentlich hören. Wie viel wollen Sie mir geben?«
»Einen Dollar für den Tag.«
Donnerwetter, dachte August, das ist viel, aber sofort entgegnete er: »Das ist zu wenig. Unter zwei Dollar tue ich's nicht.«
»So werde ick Ihnen geben zwei Dollar für den Tag und fünf Dollar Schussgeld.«
»Was für Schussgeld?«, fragte August, der schon bereute, nicht mehr gefordert zu haben.
»Für jeden Inder, den ick treffe so, dass er wird sterben, werde ick geben Ihnen fünf Dollar.«
Mit aufgerissenem Mund starrte August den Sprecher an. Er zweifelte an dessen Verstand.
»Macken Sie den Mund zu«, sagte der Amerikaner phlegmatisch, »ick bin kein Doktor, der sehen tut in den Hals.«
August klappte den Mund zu.
»Na, denn man zu. Ich muss aber erst mit meinem Herrn sprechen.«
»All right, sprecken Sie mit Ihrem Herrn.«
Erschrocken sprang August einen Schritt zurück; denn der Mann drehte sich wieder so schnell um, dass ihm die Spitze des Regenschirms dicht an der Nase vorübersauste.
»Halt, Mister — Mister —«
»Mister Bulwer.«
»Also, Mister Pulver, was habe ich denn bei Ihnen zu tun?«
»Nix, als zu putzen mein Buchs und... «
»Was ist denn das für ein Buchs? Ein Zündholzbuchs?«
»Das Eisenbuchs, Kamel«, sagte Mister Bulwer ungnädig und wies nach den Gewehren auf dem Tische.
»Aha, ach so, das Ding da ist ein Buchs bei Ihnen, und mit Kamelen schmeißen Sie auch um sich! Na, denn man zu! Was sonst noch?«
»Und Sie werden immer tun Patron in das Buchs und ihn mir geben geladen, zu schießen die Inder.«
»Schön, wird gemacht! Sie sprechen aber ein merkwürdiges Deutsch, weiß der Teufel.«
»Teufel ist serr gut! Und Sie werden mir lehren Deitsch.«
»Auch gut, das konnte ich schon als kleiner Junge. Sonst noch etwas, Mister Pulver?«
»Werden Sie können reiten?«
»Wie ein Kunstreiter! Wenn's weiter nichts ist! Sonst Stiefel wichsen, Zeug ausklopfen?«
»Nix wichsen, nix klopfen.«
»Desto besser, bin kein Freund davon. Also ich bin Ihr Diener. Einverstanden?«
»Very well, Sie werden sein mein Diener. Putzen Sie das Buchs.«
»Das Buchs scheint bei ihm die Hauptsache zu sein«, dachte August, und laut sagte er: »Dann darf ich mir wohl noch die Frage erlauben, wohin die Reise gehen soll.«
»Ick werde reisen in die Gebirg.«
»In die Gebirg, schön. In die Schweiz?«
»In die Himalaja.«
»Zum Jagen?«
»Nix jagen, ick werde schießen die Inder, welche sind da zum Totschießen, und ick werde sehen, wie sie werden sterben.«
»Auch eine schöne Beschäftigung! Sie sehen wohl gern jemanden sterben?«
»Serr, serr gern, das mir großen Spaß macken. Der eine sieht gern Tanz, der andere sieht gern Theater, ick sehe gern Menschen sterben. Warum soll ick nix haben meinen Spaß für mein Geld?«
»Natürlich, Mister Pulver, ein jedes Tierchen hat sein Pläsierchen, wenn nur das nötige Pulver dazu da ist.«
»Ah, serr gut, wie war das mit die Tierchen?«
August musste ihm wie einem Schuljungen das Sprichwort so lange vorsagen, bis er es ohne Anstoß nachsprechen konnte. August lachte innerlich und glaubte, er würde mit seinem neuen Herrn schon ganz gut auskommen.
»Und wie steht's nun mit dem neuen Hute? Kein Mann ohne Hut!«
»Serr gut das, goddam, Sie werden aufschließen dort das Koffer.«
»Welches Koffer werde ich aufschließen?«, äffte August ihm nach.
»Jenes Koffer dort.«
August tat, wie ihm geheißen, und fand zu oberst aufliegend eine englische Mütze.
»Das Mütze wird Ihnen passen, es hat gepasst schon vier Dienern.«
»Donnerwetter, Sie haben schon vier Diener gehabt?«, fragte August misstrauisch.
»Viel mehr schon. Vier Diener erst, seit ick in Indien sein.«
»Alle davongelaufen?«
»Goddam, bei mir wird kein Diener laufen davon, sie haben es serr gut bei mir.«
»Wohin sind sie denn?«
»Gestorben, sie starben serr schön.«
»Nanu!«
Des Amerikaners Augen leuchteten ordentlich auf, als er vom Tode seiner Diener erzählte. Der erste fiel bei der Landung vom Schiffe und zerschmetterte sich den Hirnkasten — er hätte nur acht Minuten im Todeskampfe gelegen. Der zweite starb an der Cholera — viel zu schnell, als dass Mister Bulwer genaue Untersuchungen hätte anstellen können. Der dritte erhielt eine Kugel ins Herz und war augenblicklich tot — was Mister Bulwer mit vielem Bedauern erwähnte.
»Und dem vierten habe ick den Hals durchgeschnitten!«
»Sie?«, stieß August entsetzt hervor und prallte einen Schritt zurück.
»Yes, ick«, war die unerschütterliche Antwort.
»Aber das ist ja ein Mord!«
»Nix Mord, es war nur ein Inder.«
»Das ist auch ein Mensch.«
»Nix Mensch, es war ein Inder«, entgegnete der würdige Mann, zornig werdend.
»Und Sie haben ihm einfach mir nichts dir nichts den Hals durchgeschnitten?«
»Nix mir nix dir nix, ick sein kein Schlächter. Tom fiel hin und brach ein Bein, da habe ick ihm die Kehle zerschnitten, weil er wollte nicht sterben. Alle meine Diener hießen Tom, Sie werden auch heißen Tom.«
»Hm, und wenn der fünfte Tom nun auch stirbt?«
»So werde ick beobachten und beschreiben Ihren Tod, und er wird stehen in dem Buche, welches ick werde herausgeben nach meiner Reise.«
»Danke schön für die Ehre!«, entgegnete August und überlegte, ob es nicht doch besser wäre, sich von solch einem gefährlichen Menschen fernzuhalten.
Doch schon gab ihm Mister Bulwer zwei Dollar und versprach, jeden Tag weitere zwei zu bezahlen. August nahm sie vorläufig als Handgeld an, er wollte mit seinem früheren Herrn sprechen.
»Sie schießen wirklich nur so zum Zeitvertreib auf Menschen?«, fragte er Mister Bulwer noch einmal, ehe er ging.
»Ick habe geschossen mit mein Buchs die roten Indianer in Amerika«, entgegnete der Yankee stolz, »ick habe geschossen im Unionskriege die weißen Menschen, ick habe geschossen die Schwarzen in Afrika, ick habe geschossen die gelben Arabs in Ägypten, und nun uerde ick schießen die braunen Inder. Uarum soll ick nix schießen alles, uas mir kommt vor mein Buchs, uenn es mackt mir Spaß? Ick habe schon bezahlt viel Geld, um zu schießen auf die Inder, uelche uaren vor die Kanons gebunden, und jetzt habe ick mir gekauft eine Schießkarte vom General Campbell.«
August ging; es war ihm ganz wirr im Kopfe. Reihenfels kannte den Mister Bulwer schon dem Hörensagen nach.
»Es ist ein Schlachtenbummler, aber einer von der gefährlichsten Sorte, eigentlich sogar ein ganz verachtungswertes Subjekt. Er reist in der ganzen Welt umher, überall da, wo Kriege ausgefochten werden, und schließt sich irgendeinem der beiden Gegner an, natürlich am liebsten dem, bei dem er Schutz zu erwarten hat. Auf den Preis kommt es diesen Amerikaner gar nicht an, wenn er das Recht erlangen kann, auf den Gegner schießen zu dürfen. Er jagt den Menschen eben wie ein Wild, nur aus Sportlust, und sein größtes Vergnügen ist, die von ihm Geschossenen sterben zu sehen. Jede Todeszuckung notiert er sorgfältig, um, wie er sagt, darüber später ein Buch herauszugeben. Es ist eben eine amerikanische Manie. Ich rate dir nicht, mit solch einem herzlosen Menschen zu reisen.«
Doch Augusts Entschluss stand schon fest. Nicht nur der hohe Lohn, auch das Abenteuerliche lockte ihn.
»Nun, meinetwegen tu, was du willst, ich gebe dich frei und kann es dir schließlich auch nicht verdenken, wenn du dir eine andere Stellung suchst. Nur gerade dieser —«
»Hat er denn wirklich von General Campbell einen Schießschein bekommen?«
»Er hat sich in einer Schlacht sehr tätig für die Engländer verwendet und erhielt deshalb die Erlaubnis, auf ihrer Seite zu kämpfen. Die im Gebirge verstreuten Rebellen sind übrigens vogelfrei.«
»Na, Mister Reihenfels, da leben Sie recht herzlich adieu, und wenn ich bei meiner Streiftour Bega sehen sollte, was gar nicht so unmöglich ist, dann renne ich schnurstracks hierher und melde es Ihnen.«
»Wollte Gott, dass du das könntest! Lebe wohl, lieber August! Du warst mir immer ein treuer, wenn auch manchmal etwas eigenwilliger Diener. Doch ich war stets zufrieden mit dir und bin dir großen Dank schuldig. Aber halt, August, du nimmst Abschied und denkst gar nicht an deinen rückständigen Lohn.«
»O«, sagte August verschämt, »wenn Sie's nicht haben.«
»Doch, ich habe es. In Geldsachen muss immer Ordnung sein.«
»Es ist gar nicht gut, wenn ich viel Geld bei mir habe, weil — Sie wissen schon warum. Mir brennt das Geld immer wie Schwefelsäure in der Tasche.«
»Das mach mit dir selbst aus.«
Er gab ihm einige Goldstücke, die ganz bedenklich in Augusts Hand klirrten. Dann trennten sie sich. August war ganz wehmütig ums Herz, als er seinen früheren Herrn so sorgenvoll und niedergeschlagen sah; zugleich aber tauchten im Hintergrunde seiner Gedanken Bilder auf, die er mit dem erhaltenen Gelde verwirklichen konnte.
Sein Herr lag, noch immer mit dem langen Mantel und der Reisekappe angetan, lang ausgestreckt auf dem Bett und hielt die schwarze Zigarre zwischen den Lippen.
»Uah, goddam, Sie blueiben lange«, sagte er in seinem Amerikanisch-Deutsch, dessen seltsame Aussprache wegen der Umständlichkeit nicht vollkommen wiedergegeben, sondern nur angedeutet werden kann, »sein Sie frei uorden?«
»Yes, Sir.«
»Verry well. Feuer!«
August hielt ein brennendes Streichholz an die Zigarre. Der Amerikaner kreuzte die Arme unter dem Kopfe, legte die unheimlich langen Beine über die Bettstelle, dass die Füße herabhingen, schloss die Augen und begann in mächtigen Zügen zu dampfen.
Jetzt hielt August die Zeit für günstig, um Urlaub für diesen Tag zu erbitten; er führte alle möglichen Gründe an, bis er endlich merkte, dass der Amerikaner gar nicht antwortete — weil er nämlich schlief obgleich er nach wie vor rauchte.
»Ein seltsamer Kauz!«, dachte August und ging seiner Wege.
Wir wollen ihn nicht weiter auf seinen Fahrten begleiten, die er in Delhi ausführte, zuerst allein, dann zusammen mit einigen englischen Soldaten, erwähnt sei nur, dass, je mehr das Geld in seiner Tasche schwand, ihn ebenso die Besinnung verließ, bis er endlich nichts mehr von sich, Gott und aller Welt wusste.
Als er aus seinem Rausche erwachte, merkte er vor allen Dingen, dass ihn ein ungeheurer Durst quälte, ferner, dass es vollkommen Nacht um ihn war, und drittens, dass er auf einer harten Holzpritsche lag.
»Arretiert!«, war sein erster Gedanke. »Na, denn man zu, das erste Mal ist es nicht!«
Es gelang ihm, noch einmal, einzuschlafen, bis der Brand in der Kehle das nicht mehr zuließ. Er erhob sich, tappte herum, fand, dass er in einer Zelle allein war, aber nicht das, was er suchte — nämlich ein Gefäß mit Wasser.
All sein Pochen an der Tür war vergeblich, nur ein Grunzen in der Nebenzelle antwortete, er begann von neuem nach Wasser zu suchen, und war endlich so glücklich, einen Krug mit Wasser — umzustoßen.
»Och das noch! Gerechter Strohsack!«, wimmerte August und wollte auf die Pritsche niedersinken, verfehlte aber diese und kam in die Wasserpfütze zu sitzen.
»Und nun badet sich ooch noch eener.«
Als er die Pritsche wiedergefunden, ließ er sich in dumpfem Brüten darauf nieder, belegte sich wegen seines Streiches mit allerlei nicht eben schmeichelhaften Namen und malte sich aus was die Folge davon sein würde.
Er war arretiert, kein Zweifel. Was würde sein neuer Herr dazu sagen? Jedenfalls gar nichts, das heißt, er würde sich nicht mehr um ihn kümmern, und mit Schaudern dachte er daran, wenn er Mister Reihenfels wieder unter die Augen träte. Was sollte er nun beginnen?
Schließlich kam er auf den jetzt ganz seltsamen Gedanken, dass es das beste für ihn sei, wenn er heirate, ganz gleichgültig, wen, wenn sie ihn nur tüchtig in die Zügel nähme.
Und dieser Durst. Sein Anzug musste ganz zerrissen sein, und nebenbei war es ihm, als wäre sein linkes Auge wie zugeklebt.
Endlich öffnete sich die Tür, die helle Morgensonne strahlte ihm entgegen.
August warf einen mitleidigen Blick an seiner zerfetzten Kleidung hinunter und folgte dem Constabler nach dem Büro, wo ihn ein Richter zum Verhör erwartete. Auch einige Soldaten hatten sich schon eingefunden, aus deren Gesichtern er auf das eigene schließen konnte.
Nun erfuhr er, dass er sich mit diesen Soldaten gestern Nacht herumgeprügelt haben sollte, und zwar in äußerst betrunkenem Zustande. Von einem Constabler zur Ruhe aufgefordert, hatte er sich auch an diesem vergriffen.
Die Soldaten waren ihm ganz fremd, und doch sollte er stundenlang mit ihnen zusammen getrunken haben.
»August Hefter — ein englisch Pfund Sterling Strafe«, lautete das Urteil. »Können Sie es bezahlen?«
August fand, dass seine Taschen auch nicht einen Pfennig enthielten.
»Kennen Sie jemanden, der für Sie zahlt oder bürgt?«
»Vielleicht — vielleicht mein Herr — Mister Bulwer«, brachte er stotternd hervor, jedoch ohne Hoffnung.
Er musste dessen Wohnung angeben, es wurde nach Mister Bulwer geschickt.
Die Soldaten wurden entlassen, denn sie sollten sofort mit ihrem Bataillon in die Sümpfe abgehen und gegen die Rebellen fechten — fürwahr eine schwerere Strafe, als hinter Schloss und Riegel zu sitzen.
August musste warten, und mit böser Ahnung tat er das. Er war fest überzeugt, dass Mister Bulwer nichts mehr von ihm wissen wolle.
Aber siehe da! Nach noch nicht einer halben Stunde trat der Yankee, gelassen wie immer, die schwere Zigarre zwischen den Lippen, in das Büro.
»Mister Bulwer?«, fragte der Beamte.
»Yes.«
»Das Rauchen ist hier verboten.«
»All right, rauchen Sie nicht.«
Der Beamte warf dem Amerikaner einen prüfenden Blick zu und hielt es für das Beste, sich nicht näher mit diesem Manne einzulassen.
»Das Rauchen hier kostet zehn Schilling Strafe.«
»Verry well, werde bezahlen.«
»Hm — kennen Sie diesen Mann?«
»Yes.«
»Ist es Ihr Diener?«
»Yes.«
»August Hefter?«
»No, Tom.«
»August Hefter ist sein Name.«
»No, Tom.«
»Meinetwegen. Er ist arretiert worden wegen Trunkenheit und Schlägerei.«
Bedächtig nahm der Amerikaner die Zigarre aus dem Munde.
»Uarum soll er nix sein betrunken, uenn es ihm mackt Spaß? Ein jedes Tierchen hat sein Pläsierchen.«
»Hm, Sie nehmen die Sache leicht«, musste der Beamte doch lächeln. »Er hat auch einen Constabler geprügelt.«
»Uarum soll er nix prügeln Constabler, uenn es ihm mackt Spaß?«
»Sie haben eigentümliche Ansichten.«
»Ueil es mir mackt Spaß. Uenn ich uerde bezahlen, kann ich mir macken Spaß, uelchen ich uill.«
»Wollen Sie seine Strafe bezahlen?«
»Yes«, sagte der Yankee, bezahlte Augusts Strafe und seine und entfernte sich, den Diener mitnehmend.
Der Beamte, der den Amerikaner schon vom Hörensagen kannte, war froh, ihn los zu sein, und recht war es auch August, so schnell und so gut aus der Klemme gekommen zu sein. Er hätte seinen Herrn am liebsten umarmen mögen.
»Uir uerden reiten jetzt fort«, sagte dieser.
»Wohl, Mister Pulver, aber sehen Sie, meine Sachen, ich bin gar nicht darauf vorbereitet.«
»Uir uerden reiten jetzt fort!«, wiederholte Mister Bulwer nachdrücklich.
Dagegen war nichts zu machen, August musste sich ins Unvermeidliche fügen, obgleich es ihm heute gar nicht nach Arbeiten und Reiten zumute war.
Er hatte eben noch Zeit, seinen Durst mit einem halben Eimer Wasser zu löschen, dann ging es schon fort, so, wie August war und stand.
Mister Bulwer hatte jedoch schon von anderen Leuten die Reittiere satteln und packen lassen, sie brauchten nur noch aufzusteigen.
Halb lachend, halb staunend musterte August die beiden kleinen Esel, deren Rücken sie sich anvertrauen sollten. Für ihn mochte es wohl gehen, aber wie in aller Welt konnte denn der lange Amerikaner auf solch einem winzigen Tierchen reiten? Er brauchte nur die Beine auszustrecken, so lief das Tier unter ihm weg.
Nun ja, er musste gerade die Beine rechtwinklig anziehen, kurz genug waren die Steigbügel geschnallt worden. Der Amerikaner schritt denn auch über den Esel hinweg, der wirklich unter ihm fortlaufen konnte, zog die Beine hoch, spannte den roten Sonnenschirm auf und war reisefertig.
»He, holla, go on, goddam!«, rief er und setzte das Tier in Bewegung.
August folgte ihm auf seinem Esel, den Gürtel mit Waffen gespickt, auf dem Rücken die zwei Büchsen, an jeder Seite einen Sack mit Patronen, während der Amerikaner gar keine Waffe bei sich trug. Außerdem führte August noch ein vollgepacktes Maultier am Zügel.
So ging es fort in die Urwälder, Sümpfe und Berge, und zwar in schnellem Tempo, um die militärische Abteilung einzuholen, die heute morgen schon zeitig abgerückt war, und dann, um Inder zu schießen und sterben zu sehen.
»Um Brahmas willen, erbarme dich meiner, edler Faringi!« Der so angebettelte Reihenfels blieb vor dem halbnackten Fakir stehen und betrachtete ihn.
Der schon alte Mann war, wenn auch sehr abgezehrt, doch wohlgebaut, nur der rechte Arm war verkrüppelt. Er trug ihn über den Kopf gelegt, das Glied war vollkommen abgestorben, die Hand klein wie die eines fünfjährigen Kindes.
Das Gesicht des Mannes trug den Stempel der Intelligenz, zugleich aber sprach auch religiöser Wahnsinn daraus.
Reihenfels machte ihn erst durch ein kleines Geldgeschenk mitteilsamer.
»Bist du so geboren oder erfüllst du ein Gelübde?«
»Es ist ein Gelübde, Sahib.«
»Wie lange trägst du den Arm schon über dem Kopf?«
»Schon seit dreißig Jahren. Ach, Herr, ich habe eine heilige Schlange getötet.«
»Und bist noch nicht erlöst?«
»Wäre ich auch erlöst, ich könnte den Arm doch nicht mehr herabnehmen. Er ist mit der Zeit so gewachsen und völlig erstarrt.«
»Die Priester Shivas, dem die Schlangen heilig sind, verurteilten dich?«
»Ja, Sahib!«
»Wie lange musst du noch büßen?«
»Bis an meinen ersten Tod, und auch dann noch muss ich viele Verwandlungen durchmachen und als Schlange leben. Die Priester Shivas sind streng. Wenn ich erlöst sein will, muss ich dem Tempel eine goldene Schlange schenken.«
»Warum tust du das nicht?«, Der Fakir lächelte bitter.
»Ich bin arm, Herr!«
Reihenfels gab ihm noch eine Silbermünze und wollte gehen, der Fakir hielt den äußerst freigebigen Mann, wie er einem solchen wohl noch nie begegnet war, noch einmal zurück.
»Herr, fühlt meine Hand an!«
Reihenfels tat es. Sie war weich und schlaff, aber kalt wie Eis, also ohne jedes Leben. Plötzlich nahm des Fakirs Gesicht einen geheimnisvollen Ausdruck an.
»Sahib Faringi«, flüsterte er, »gibst du mir ein Goldstück, so sollst du fühlen, wie diese Hand warm wird.«
»Bist du solch ein Tausendkünstler?«, lächelte Reihenfels. »Wie machst du das?«
»Wenn ich wahrsage.«
»Ah so, du bist ein Wahrsager!«, entgegnete Reihenfels enttäuscht.
Er hatte schon von Fakiren und Brahmanen gehört, die in die Ferne und in die Zukunft sehen konnten. Er glaubte nicht daran, es waren seiner Meinung nach Betrüger, die mit gegebenen Faktoren schlau zu rechnen wussten und in geheimnisvollen Andeutungen ihre Unwissenheit verbargen. Auch Kiong Jang und Hira Singh glaubten so.
»Soll ich dir sagen, was du wissen möchtest? Gib mir ein Goldstück, und ich sage dir, was in der Ferne geschieht, und was die Zukunft dir verhüllt.«
»Mein lieber Freund«, lächelte Reihenfels, »wenn du in die Zukunft sehen könntest, du hättest den Priestern Shivas schon hundert goldene Schlangen opfern können.«
»Ach, Sahib«, entgegnete der Fakir mit traurigem Kopfschütteln, wobei die tote Hand hin und her schlenkerte, »man glaubt mir ja nicht. Man hält mich für einen Betrüger und verspottet mich.«
Dieses Geständnis überraschte Reihenfels.
»Wenn du in die Ferne sehen kannst, und die, denen du geweissagt hast, überzeugen sich von der Wahrheit deiner Aussagen, so werden sie an deine Sehergabe glauben.«
»Nein, Sahib, da täuschst du dich. Die Leute geben sich nicht die Mühe, zu prüfen, ob ich wahr gesprochen oder nicht, und wenn es sich später doch herausstellt, so denken sie nicht mehr an mich, denn was ich ihnen sage, ist immer etwas ganz anderes, als das, woran sie denken. Du lachst und glaubst es nicht? Sieh, Sahib, wenn ich jemandem die Zukunft enthülle, und diese ist nicht so, wie er sie sich ausmalt, so schilt er mich von vornherein einen Betrüger. Ereignet es sich dann aber so, wie ich vorausgesagt habe, so findet er das alles ganz natürlich, und er erinnert sich nicht mehr meiner Voraussage. Sieh, Sahib, so schwach und befangen ist unser Verstand.«
Wieder war Reihenfels vollkommen überrascht über diese Äußerung des armen, unwissenden Fakirs. Es lag eine große Wahrheit in seinen Worten.
Wenn uns gesagt würde, in zehn Jahren steht es so und so mit uns, wir würden es nicht glauben, es gar nicht für möglich halten, weil jener Zustand unserem jetzigen nicht angepasst ist. Blicken wir aber nach zehn Jahren, wenn jener Zustand wirklich erreicht ist, auf das vergangene Leben zurück, so sehen wir nur eine zusammenhängende Kette von Folgen, wo eine Notwendigkeit aus der anderen entspringt, und es erscheint uns alles ganz natürlich.
Wie, wenn dieser Fakir wirklich wahrsagen oder fernsehen konnte? Wenn er etwas über Bega und ihren Aufenthaltsort zu sagen vermochte?
»Soll ich dir die Zukunft enthüllen?«, fragte der Fakir nochmals.
»Wann kannst du dies tun?«
»Jetzt, sofort.«
»Auch in meiner Wohnung?«
»Überall.«
»Ohne dass du etwas nötig hast?«
»Ich sehe durch meine Hand, wenn sie sich wieder belebt.«
»So folge mir!«
Unterwegs wurde Reihenfels wieder unschlüssig, er nahm sich zum mindesten vor, auf seiner Hut zu sein. Wie leicht war es möglich, dass dieser Fakir von Timur Dhar geworben war, ihn betreffs Begas auf eine falsche Spur zu lenken!
Angenommen, der Fakir beschrieb Bega, wie er sie geschildert bekommen hatte, er beschrieb auch irgendeinen Aufenthaltsort, unter rätselhaften Nebenbegebenheiten, so musste Reihenfels natürlich dorthin wandern und fiel vielleicht in einen Hinterhalt. Schenkte er hingegen dem Fakir keinen Glauben, so wurde er doch von Vorwürfen geplagt.
Aber Reihenfels wusste Rat.
Es galt, den Fakir erst auf seine Sehergabe hin zu prüfen, und zwar an einer Person, die Reihenfels nahe stand und deren Aufenthalt er gut kannte, welche dem Inder dagegen sicherlich unbekannt war.
Auf seinem Zimmer angekommen, gab Reihenfels dem Manne das versprochene Goldstück und hieß ihn, sein Experiment zu beginnen.
Der Fakir hockte sich mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden nieder, Reihenfels musste sich neben ihm auf einen Stuhl setzen und die tote Hand bequem fassen.
»Nun denke an die Person, von welcher ich dir sagen soll, was sie jetzt tut«, begann der Fakir. »Je fester du an sie denkst, desto deutlicher sehe ich sie. Du musst alle deine Gedanken auf sie richten.«
»Du kannst mir nur sagen, was sie jetzt tut?«
»Zuerst, ja. Dann musst du mir irgendeine Zeit sagen, später, wenn ich sie sehen soll, und ich kann dir sagen, was sie dann tun wird.«
»Und das trifft immer ein?«
»Meine Hand täuscht nie. Ich schließe die Augen, und wenn meine Hand Leben bekommt und du meine Augen siehst, und es sind doch keine, dann magst du fragen, dann lese ich in meinem Innern.«
»Du sprichst jetzt schon rätselhaft.«
»Ich werde ganz deutlich erzählen, was ich sehe. Jetzt denke an die Person. An wen denkst du?«
»Ja, lieber Freund«, lachte Reihenfels, »das sollst du mir eben sagen.«
»Ich sehe, du traust mir auch nicht«, sagte der Fakir traurig, »und doch ist das nötig, soll ich die Bilder in meinem Inneren deutlich erblicken. Aber ich werde die Person auch so sehen. Wenn meine Hand warm wird, so frage!«
»Was soll ich fragen? Du sollst mir erzählen.«
»Du sollst nur fragen: was siehst du? Denn ich würde nicht sagen, was ich sehe, weil ich schlafe.«
»Kann ich sonstige Fragen stellen?«
»Was du willst.«
»Gut, so beginne!«
Der Fakir schloss die Augen.
Nun glaubte Reihenfels allerdings an eine Gedankenübertragung, das heißt, eine Person kann die Gedanken einer anderen wissen, mit der sie in Berührung steht, ja, selbst wenn dies nicht einmal der Fall ist, nur durch den festen Willen allein. In neuerer Zeit werden solche Experimente in überraschender Weise ausgeführt, besonders mit nervösen Personen.
Besaß nun dieser Fakir eine solche Eigenschaft, so hielt es Reihenfels wohl für möglich, dass derselbe die gleichen Bilder sah, welche er sich dachte, aber nichts anderes.
Nach etwa zehn Minuten schweigsamen Dasitzens durchlief den Körper des Fakirs ein Zittern, welches sich auch dem steifen Arme mitteilte; seine Stirn wurde nass; Schweißtropfen entstanden darauf, und erstaunt fühlte Reihenfels plötzlich, wie die abgestorbene Hand nach und nach immer wärmer wurde, als kehre das Blut in sie zurück. Dann schlug der Fakir die Augen auf, aber es waren, wie er gesagt, wirklich keine Augen, denn man sah keine Pupille darin, nur Weißes. Er hatte sie vollständig verdreht.
»Was siehst du?«, fragte Reihenfels.
»Ich sehe nichts«, war nach langer Pause die mit röchelnder Stimme gesprochene Antwort.
Daran konnte Reihenfels Schuld sein; denn er hatte im Augenblick nicht an die Person gedacht, an welche er denken wollte. Jetzt tat er es mit Aufbietung aller seiner Energie, und selbstverständlich war es, dass dabei auch die Umgebung vorkommen musste, in welcher er die Person zur Zeit glaubte.
»Was siehst du jetzt?«
Die Antworten blieben lange aus. Die Sätze selbst waren von Zwischenpausen unterbrochen, die oft Minuten und länger währten.
»Ich sehe — — — einen alten Mann.«
»Wie steht er aus? Beschreibe ihn!«
Die Hand wurde wärmer und zitterte heftiger.
»Er ist alt — langes, weißes Haar — weißen — großen Bart — vor den Augen — blaue Gläser — einen Rock, ganz schwarz — mit weißen Ärmeln — — ich sehe nichts mehr.«
Die Antworten waren richtig. Reihenfels hatte an seinen Vater gedacht, den er mit seiner Familie — Franziska ausgenommen — in Kalkutta wusste. Das Aussehen war richtig beschrieben, er trug gewöhnlich eine blaue Brille. Nur der schwarze Rock mit weißen Ärmeln war Unsinn.
Reihenfels fand gar nichts Sonderbares dabei, es war eben Gedankenübertragung. Weil er sich dies alles überlegt hatte, dachte er nicht mehr an seinen Vater, und sofort war auch das Bild verschwunden.
Er konzentrierte wieder seine Gedanken. Da nun sein Vater sicherlich in eines Freundes Hause wohnte, welches auch Reihenfels ganz genau kannte, so dachte er an jenes Zimmer, in dem gewöhnlich sein Vater logierte. So wollte er noch einmal die merkwürdige Gedankenübertragung prüfen.
»Was siehst du jetzt?«
Die Antwort blieb sehr lange aus.
»Ich sehe — — — nichts. Du denkst an etwas Anderes.«
Das war merkwürdig. Reihenfels vergegenwärtigte sich wieder die Gestalt des alten Vaters.
»Was siehst du?«
»Ich sehe ihn — den alten Mann.«
Richtig, das stimmte!
»Was tut er?«
»Er geht — in dem Zimmer auf und ab — jetzt bückt er sich — richtet sich wieder auf.«
Daran dachte Reihenfels allerdings nicht, das machte sich der Fakir selbst zurecht.
»Siehst du das Zimmer?«
»Ja.«
»Beschreibe es!«
»Klein — eng — ein Diwan — ein Bett — darüber ein Bild — sehr groß — auf Diwan — und Bett — und Stühlen — und am Boden — viele Kisten — und Schachteln — alles offen — weißes Zeug — liegt umher — ganz zerstreut — dort ein Tisch — davor ein Stuhl — der Alte — wirft alles von diesem Stuhle — auf die Erde —«
Dieser Fakir besitzt eine lebhafte Einbildungskraft, dachte Reihenfels, aber er täuscht sich. Meine Mutter würde eine solche Unordnung im Zimmer nicht dulden, das ist um so weniger möglich, als sie schon lange in diesem Hause wohnen. Die Beschreibung des Zimmers ist übrigens ganz allgemein gehalten.
»Beschreibe das Bild!«
»Es ist sehr groß.«
»Nichts weiter?«
»Eine goldene Leiste ist darum.«
»Ja, der Rahmen. Was stellt es dar?«
»Es ist bunt.«
»Natürlich, die Farben. Beschreibe es genauer.«
»Es sind Männer darauf — und Frauen — ein Mann — mit einer Krone — und einem Schwert — ganz in Eisen — eine Rüstung — und viele Schiffe — sehr klein — sehr hohe Mastbäume — viel Krieger darauf — alle mit Schwertern — sie freuen sich —«
Reihenfels wusste ganz bestimmt, dass ein solches Bild in jenem Hause gar nicht vorhanden war. Doch die Türen dort waren samt und sonders mit aufgelegten Arabesken verziert. Daraufhin wollte er den Fakir prüfen.
»Beschreibe die Tür.«
»Eine Tür — aus Holz!«
»Ist sie glatt?«
»Ganz glatt.«
»So. Bemerkst du nichts darauf?«
»Nein — ja — etwas Schwarzes — draußen — nicht inwendig — es ist —«
»Was ist es?«, fragte Reihenfels ungeduldig, als der Fakir eine zu lange Pause machte.
»Es ist — eine — eine Zahl — eine Vier — ganz schwarz.«
Seit wann tragen denn Wohnstubentüren Zahlen?, dachte Reihenfels lächelnd.
»Siehst du noch andere Türen?«
»Ja — undeutlich — wie im Nebel.«
»Mit Zahlen?«
»Nein — ja — im Nebel — links eine — mit einer drei — rechts — eine — mit einer fünf — gegenüber eine — mit einer neun.«
Das ist Unsinn, sagte sich Reihenfels, aber es könnte ja sein, dass mein Vater doch in einem anderen Hause wohnt.
»Welche Stadt ist es, in welcher mein Vater ist?«
»Das — sehe ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich sehe — nur da — wo der alte Mann ist.«
»Ah so! Du siehst aber doch die Zahlen auf dem Korridor.«
»Nur wie im Nebel.«
»Was tut der alte Mann jetzt?«
»Er sitzt — am Tische — und schreibt.«
»Was schreibt er?«
»Auf — Papier.«
»So. Was schreibt er?«
»Buchstaben.«
»Leicht begreiflich. Kannst du es nicht lesen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Es sind — mir fremde Buchstaben.«
Da war freilich nichts zu machen.
»Aber halt«, fuhr der Fakir von selbst fort, »ganz oben — auf dem Papiere — steht ein Wort.«
»Kannst du das lesen?«
»Nein — aber es ist — ganz einfach — die Buchstaben — sind — ganz gerade — gib mir — etwas — ich kann es — nachmalen. Lass meine Hand — nicht los.«
Mit der linken Hand nahm Reihenfels Bleistift und Papier aus der Tasche, gab ersteren in die gesunde Hand des Fakirs, ohne die andere loszulassen; das Papier legte er auf den Stuhl, und sofort begann der Fakir zu malen, ohne dass ihm Reihenfels dabei im geringsten die Hand führte.
Zu seinem Erstaunen reihte sich ein großer, lateinischer Buchstabe in Druckform neben dem anderen aufs Papier, bis das Wort ›Telegramm‹ entstanden war. Doch nein, Reihenfels brauchte nicht zu staunen. Entweder kannte der Fakir dieses Wort und es entstand nun mit in seinem Phantasiegebilde oder er war ein Betrüger und wollte Reihenfels' Kopf nur verwirren.
»Dieses Wort steht oben auf dem Papiere?«
»Ja.«
»Und was hat der alte Mann darunter geschrieben?«
Der Fakir versuchte es ohne Aufforderung nachzumalen, es entstand aber nur ein undeutliches Gekritzel. Die gehaltene Hand wurde dabei sehr warm, fast heiß, und zitterte heftig.
»Ich kann nicht«, sagte er und warf den Bleistift weg.
»Was tut der Alte jetzt?«
»Er steht auf — öffnet den Mund — er ruft etwas — die Tür geht auf — ein Mädchen tritt ein —«
»Wie sieht das Mädchen aus?«
»Groß — schlank — dem Manne sehr ähnlich — dir noch viel mehr —«
Das hätte eventuell seine Schwester Käthchen sein können.
»Beschreibe sie näher!«
»Sie ist — sehr schön — volles Haar — wie Gold —«
Da, das war eine Unmöglichkeit. Käthchen war schwarz; das hätte höchstens Franziska sein können, aber diese befand sich in Bombay, sein Vater dagegen in Kalkutta, also weit, weit davon entfernt.
»Was macht sie?«, fragte er nur, um weitere Unwahrscheinlichkeiten zu hören zu bekommen.
»Sie nimmt — von der Wand — einen grauen Rock — zieht ihn dem alten Manne an — er nimmt das Papier — zeigt es dem Mädchen — faltet es zusammen — steckt es in den Rock — sie küssen sich —«
»Und nun besorgt er das Telegramm, nicht wahr? —«
»— er setzt einen Strohhut auf — nimmt die Brille ab — putzt sie — sie fällt ihm aus der Hand — er bückt sich — sie auch — beide suchen — das Mädchen hebt sie auf — hält sie dem Alten hin — da — sie ist zertreten — sie lachen —«
»Eine rührende Familienszene. Weiter!«
»Das Mädchen wühlt in einem Koffer — sie hat eine kleine, schwarze Schachtel — zieht daraus eine andere Brille hervor — mit blauen Gläsern — er setzt sie auf — und geht.«
»Wohin?«
»Durch einen langen Gang — viele — Menschen — eine Treppe hinunter — jetzt ist er auf der Straße — er winkt einen Wagen — steigt ein.«
»Lass das jetzt! Beschreibe die Straße! Was siehst du?«
»Ein großes Haus — viele Menschen — die — Sonne scheint — dort ein anderes, sehr, sehr großes Haus — ein Tempel der Faringis — das Dach ist flach — an jeder Seite ein Turm.«
»Ah, beschreibe einmal das große Tor dieser Kirche!«
»Sehr groß — aus Holz — geschnitzt — darüber ein Ungeheuer — ein Reiter — mit langer Lanze — ersticht es —«
Reihenfels ließ die Hand los und sprang heftig auf.
»Das ist die Kirche von Bombay, aber nicht die von Kalkutta, und mein Vater ist in Kalkutta. Alles ist Lüge!«
Der Fakir blieb noch einige Minuten regungslos sitzen; er war wie in Schweiß gebadet. Nach und nach hörte das Zittern seiner toten Hand auf, er schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete, hatten sie ihre normale Lage. Er war wieder bei Besinnung.
»Nun, Sahib, bist du mit mir zufrieden?«
»Ja und nein«, lachte Reihenfels ärgerlich, »du hast deine Sache ganz gut gemacht, aber ein Pfund Sterling war das Kunststückchen doch nicht wert.«
»Du glaubst also nicht, dass ich nur die Wahrheit gesagt habe?«, fragte der Fakir wehmütig.
»Glaubst du denn etwa selbst daran?«
»Ich weiß, wenn ich erwache, nicht, was ich in jenem Zustande gesprochen habe.«
»Ich will dir etwas sagen, mein Bursche! Ich will zu deinem Vorteile annehmen, dass du kein Betrüger bist, der auf Anstiften anderer bei mir seinen Hokuspokus macht, ich will nur glauben, dass du ein ganz geriebener Kerl bist. Deine Kombinationen sind überraschend, einmal — glaubte ich schon, ich hätte dir unrecht getan, weil du von einem schwarzen Rock mit weißen Ärmeln sprachst, bis sich herausstellte, dass der alte Mann sich in schwarzer Weste und Hemdsärmeln befand. Zuletzt aber hat es sich. klar und deutlich erwiesen, dass alle deine Bilder — bescheiden ausgedrückt — auf deiner eigenen Phantasie beruhen. Wir wollen nicht näher auf die Sache eingehen.«
»Also auch du hältst mich für einen Betrüger?«
»Schon gut, entferne dich!«
»Ich wusste es schon, und ich werde nie wieder in die Ferne sehen. Man glaubt mir doch nicht.«
Mit niedergeschlagenem Gesicht verließ der Fakir das Zimmer.
Reihenfels sah nach der Uhr. Es war zwanzig Minuten nach elf Uhr, für zwölf war er ins Offizierskasino zu einem Frühstück geladen, und er konnte sich schon auf den Weg machen.
Er war ärgerlich, so getäuscht worden zu sein, zugleich aber auch froh, erst eine Prüfung des Fakirs vorgenommen zu haben. Was wäre das geworden, wenn er ihn direkt über Bega gefragt hätte! Was hätten diese Leute, die sogar so gut von Personen, die ihm ganz genau bekannt, ihnen dagegen unbekannt waren, erzählen konnten, ihm erst über Bega mitgeteilt!
Natürlich würde er irgendwohin gelockt worden sein, nur nicht dahin, wo sich Bega befand — jedenfalls dagegen in sein Verderben.
Eine fröhliche Gesellschaft englischer Offiziere und Beamter empfing ihn, darunter auch Doktor Morrison, der Missionar und Dolmetscher.
»Mister Reihenfels.« sagte dieser bei der herzlichen Begrüßung, »bei Gelegenheit ein Wort unter vier Augen!«
Unter den heiteren Tischgenossen hatte Reihenfels den Vorfall fast schon vergessen, als sein Diener atemlos ankam und ihm eine eben eingelaufene Depesche überreichte. Die zerstörten Telegrafen- und Eisenbahnverbindungen zwischen den Hauptstädten waren wiederhergestellt worden.
Es ging Reihenfels wie ein Stich durch den Kopf, als er den Stempel ,Bombay‹ auf der Depesche las. Die Unterschrift? Wahrhaftig, sie war von seinem Vater!
Er teilte dem Sohne in vor Freude überschwänglicher Weise mit, dass die ganze Familie von Kalkutta nach Bombay übergesiedelt und heute morgen dort eingetroffen sei; er habe die wiedergefundene Franziska an sein Herz drücken können, alles sei wohl; Adresse: ein bekanntes Hotel in Bombay.
Reihenfels wusste nicht, was er denken sollte. Heute früh erst in Bombay eingetroffen — das im Zimmer umhergestreute Reisegepäck — die Nummern an der Zimmertüre — und die Aufgabe des Telegramms? Wahrhaftig, elf Uhr, also nur wenige Minuten später, als der Fakir ihm das Niederschreiben des Telegramms schilderte. Hier war gar kein Betrug möglich, und dennoch wollte sich Reihenfels noch mehr überzeugen.
Leichenblass erhob er sich von der Tafel, ließ sich durch keine Fragen der bestürzten Gesellschaft aufhalten, beantwortete auch keine, sondern stürzte fort nach der Telegrafenstation.
Wenn der Fakir fernsehen konnte! Dann konnte er ihm auch sagen, wo sich Bega befand. Er überlegte einen Augenblick, dann schrieb er nieder:
»Welches Bild hängt über deinem Bette? Welche Nummer hat dein Zimmer? Welche Nummern sind links, rechts und gegenüber davon? Hast du eine Brille zertreten? Antworte sofort!«
Der Telegraf sendete die Depesche nach Bombay. Der alte Reihenfels wusste, dass sein Sohn keine unnützen Fragen stellte.
Mit fieberhafter Ungeduld wartete Reihenfels gleich auf der Station auf die Antwort. Er machte sich schon Vorwürfe, nicht genauer gefragt zu haben, ob er heute eine Brille zertreten habe.
Die Zeit verstrich schrecklich langsam; unverwandt war sein Blick auf die Uhr gerichtet. Die Antwort — der Fakir — und Bega — das waren seine einzigen Gedanken.
Nach etwa zwei Stunden wurde er an den Schalter gerufen. Die Antwort lautete:
»Normannenherzog Wilhelm landet in England. Meine 4, links 3, rechts 5, gegenüber 9. Ja, heute morgen.«
Man kann sich denken, welche Gefühle es waren, die sich jetzt Reihenfels' bemächtigten. Der Fakir war kein Betrüger gewesen; seine Phantasie hatte ihm auch keine Bilder vorgegaukelt, sondern er hatte eben die Wirklichkeit in der Ferne gesehen, und zwar gerade das, was Reihenfels wissen wollte.
So konnte der Mann also auch mit der größten Bestimmtheit sagen, wo sich Bega befand, was sie tat, und Reihenfels schauerte vor Entzücken zusammen, als er daran dachte, dass er sie in der nächsten halben Stunde mit Hilfe des fernsehenden Fakirs beobachten könne.
Also zu ihm, ihm Abbitte tun und ihn gleich einem Fernrohre gebrauchen!
Aber halt, wie hieß denn der Mann? Ach, Reihenfels hatte nicht einmal für nötig gefunden, den vermeintlichen Betrüger nach dem Namen zu fragen, wusste nicht, wo er ihn suchen sollte.
Da hieß es schnell handeln und Erkundigungen nach ihm einziehen; denn war er ein Wanderfakir, so konnte er Delhi wieder verlassen haben. Doch heute war er sicherlich noch in der Stadt zu finden, und die Bettler und Fakire kennen sich untereinander.
Reihenfels begann zu suchen. Er wechselte sich kleine Münzen ein und wanderte durch die Straßen, keinen Platz überging er, er betrat die Vorhöfe der Moscheen, wo sich die Bettler in ganzen Reihen aufhalten, aber weder erblickte er seinen Mann, noch konnte er etwas von ihm erfahren, obgleich er freigebig Geschenke verteilte.
Es wurde Abend, und Reihenfels irrte noch immer trostlos suchend umher. Endlich hatte er ein Mittel erhalten, etwas über Bega zu erfahren, und er musste es mit mutwilliger Hand von sich weisen!
Am anderen Morgen begann er sein Suchen von Neuem. Delhi ist sehr groß und weitläufig gebaut, und die Bettler des einen Viertels kennen die des anderen nicht. Endlich kam Reihenfels eine Idee, über die er sich ärgerte, weil sie so lange auf sich hatte warten lassen.
Die Bettler nahmen sein Geschenk, stellten sich sehr eifrig, kümmerten sich aber sonst nicht viel um seine Angelegenheit, wenn sie das Geld in der Tasche hatten.
Nun wählte er aus jedem Stadtviertel einen Bettelfakir mit möglichst klugem und ehrlichem Gesichte, gab ihnen kein Geld, aber versprach eine reiche Belohnung, wenn sie ihm einen Fakir brächten, dessen rechter Arm abgestorben über dem Kopfe läge, und schickte sie nach allen Richtungen aus.
Siehe da! Bald sah Reihenfels, aus dem Fenster blickend, einen der Bettler wiederkommen, und neben ihm schritt der Mann mit dem verkrüppelten Arme. Doch leider erkannte er, dass es ein anderer war, der dasselbe Gelübde getan hatte.
Ebenso brachte der zweite und der dritte je einen solchen Mann, und der vierte rückte schließlich mit einer wahren Legion von Leuten an, welche alle den rechten Arm über dem Kopfe trugen. Der Richtige war aber nicht darunter; viele hatte Reihenfels sogar im Verdacht, dass sie den Arm nur zum Scheine über den Kopf hielten, und es bestätigte sich, als sie gingen. Sie nahmen den Arm herunter und verschwanden.
Reihenfels suchte sich den mit dem ehrlichsten Gesichte aus und vertraute sich ihm an. Jener Fakir habe in die Ferne sehen können, und einen solchen Mann suche er nun wieder.
Der Fakir versicherte zur unaussprechlichen Freude Reihenfels sofort, derartig Begabte kenne er mehrere, und ging, einen solchen zu holen.
Ein Inder mit pfiffigem Gesicht erschien und gab sich für einen Hellseher und Wahrsager aus, ließ sich aber mit Reihenfels nicht eher ein, als bis er von ihm drei Pfund Sterling erhalten hatte. Mit diesen verschwand sein Begleiter.
Der neue Wahrsager machte es ebenso wie jener frühere. Er kauerte sich nieder, Reihenfels musste seine Hand fassen — welche bei ihm nicht verkrüppelt war — und schloss die Augen. Nach einigen Minuten begann er zu zittern, öffnete die Augen aber nicht wieder.
Nun, die Verhältnisse, unter denen die prophetische Gabe erschien, konnte ja bei den einzelnen Menschen verschieden sein.
Reihenfels war vorsichtig genug, erst an eine andere Person zu denken, ehe er über Bega fragen wollte.
»Was siehst du?«
»Einen Mann, eine Frau und ein Kind«, war die geläufige Antwort. »An wen von diesen denkst du?«
»Kannst du mir denn das nicht sagen?«
»Nein so weit bin ich in meiner Kunst noch nicht vorgeschritten.«
Reihenfels wurde misstrauisch und beschloss, sich gleich Gewissheit zu verschaffen.
»Es ist meine Mutter, welche ich seit langer Zeit nicht gesehen habe. An die denke ich. Beschreibe sie.«
»Ah, welch schöne Frau«, begann der Inder entzückt, »wie herrlich, die Augen, diese Nase dieser Kopf, und dieses Haar... «
»Welche Farbe hat das Haar?«
»Es sieht aus, als ob es grau wäre. Gewiss es ist deine Mutter; wie sieht sie dir ähnlich!«
»Du irrst, meine Mutter hat tiefschwarzes Haar.«
»Richtig, jetzt sehe ich deutlich, es ist ganz schwarz; nie habe ich solch schönes, schwarzes Haar gesehen... «
»Wie groß ist sie?«
»Sie ist nicht groß, nicht klein... «
»Bemerkst du nicht, dass ihr das linke Ohr fehlt?«
»Natürlich, das linke Ohr fehlt ihr, aber das rechte sehe ich ganz deutlich. Welch schöne Frau, so stolz... «
Reihenfels packte den Burschen am Kragen und setzte ihn an die frische Luft. Von den drei Pfund sah er nichts wieder.
Seit es unter den Bettlern und Fakiren bekannt geworden, dass Reihenfels einen Hellseher suche, meldeten sich noch viele Individuen, welche diese Gabe besitzen wollten; ja, er wurde von ihnen geradezu überlaufen. Er ließ es sich nicht verdrießen, sie zu prüfen, fand aber in ihnen immer Betrüger. Teils benahmen sie sich geschickt, leiteten das Experiment so ein wie jener Mann mit der toten Hand, teils machten sie erst allerlei Hokuspokus, verrenkten die Glieder und ließen sich dann mit leichter Mühe entlarven.
Reihenfels gab ihnen das Geld nicht mehr im Voraus, sondern deponierte es, und dann kam niemand mehr, nur einmal noch einer, ein alter Mann mit Gliedern, die um den Körper schlenkerten, als wären sie mit Bindfäden daran befestigt. Aus seinem Blicke sprach tierischer Stumpfsinn.
Da er indes kein Geld forderte, so erweckte dies Vertrauen zu ihm. Er forderte eine große Schale mit Rum, denn in diesem würden sich die Bilder abspiegeln, die der Faringi zu sehen wünsche.
Man gab ihm die Schale mit Rum, aber kaum hielt er sie in den Händen, als er sie an die Lippen setzte und den Rum in den Schlund goss. Dann nickte er dem Faringi schmunzelnd zu und ließ sich vergnügt hinauswerfen.
Seitdem ließ Reihenfels keine hellsehende Fakire mehr vor. Er war außer sich. So nahe dem Ziele, etwas von Bega erfahren zu können, und nun diese Misserfolge! Warum, warum hatte er dem Fakir mit der toten Hand nicht trauen oder ihn wenigstens nach Namen und Aufenthalt fragen können!
Er wandte sich an Brahmanen — man wies ihn mit seiner Frage, ob es fernsehende Fakire gäbe, ab; alle europäischen Kolonisten lachten ihn aus.
Viele Tage waren schon verstrichen, als Reihenfels eines Abends auf eine seltsame Idee kam.
Jener Fakir musste ein äußerst feines Nervensystem besitzen, um der Gedankenübertragung und sogar des Fernsehens fähig zu sein. Wäre es nun nicht möglich, dass auch ein anderer aus der Ferne auf ihn durch Gedanken und Willen wirken könnte? Es war ein kühner Schluss, aber der Versuch kostete nichts.
Den ganzen Abend dachte Reihenfels unausgesetzt und mit der angespanntesten Willenskraft an ihn, wünschte ihn herbei, und die Folge davon war, dass er dasselbe während der Nacht träumte.
Er befand sich bei dem Fakir, sprach mit ihm, bat ihn um Verzeihung, weil er ihn für einen Betrüger gehalten habe, und wünschte, seine Gabe noch einmal zu gebrauchen.
Am Morgen wurde Reihenfels durch die laute Stimme seines Dieners geweckt, der einer Person den Eintritt verweigern wollte.
»Er will keinen von euch Schurken mehr sehen.«
»Aber er hat mich hierher bestellt«, entgegnete jemand.
Mit einem Satze war Reihenfels aus dem Bett, in fünf Sekunden bekleidet, er riss die Tür auf und stand dem richtigen Fakir gegenüber. Kaum konnte er sich beherrschen, den Krüppel zu umarmen.
»Ich habe von dir geträumt, du seiest bei mir und fordertest mich auf, zu dir zu kommen«, begann der Fakir. »Ich träumte so lebhaft, dass ich glaubte, du begehrst mich wieder.«
Reihenfels erzählte ihm kurz seine Versuche, ihn zu finden.
»So glaubst du mir nun?«, fragte der Fakir freudig.
»Ich wurde schon zwei Stunden später überzeugt, dass du die Wahrheit gesprochen hattest. Vergib mir meinen Unglauben und die vielleicht harten Worte, die du zu hören bekamst.«
Er teilte dem Inder den Wunsch mit, noch einmal eine fremde Person beobachten zu können, und der Fakir war sofort bereit.
Die Vorbereitungen wurden wie beim ersten Male getroffen; Reihenfels konzentrierte seine Gedanken auf Bega, der Fakir schlief ein, die tote Hand wurde warm, zitterte, und die Augen verdrehten sich.
»Was siehst du?«
Nach langer Pause wiederholte Reihenfels die Frage.
»Nichts!«, erklang es endlich. »Ich bin — in Nacht!«
Fast eine Viertelstunde verstrich, und der Fakir wollte nichts als finstere Nacht sehen.
»Wecke mich auf!«, röchelte er dann.
Reihenfels ließ enttäuscht seine Hand los, und der Inder erwachte.
»Was sagte ich?«
»Du sähest nichts, es wäre Nacht um dich. Eine Viertelstunde wartete ich vergebens.«
»Weißt du denn, ob die Person noch lebt?«
Der Gefragte erschrak furchtbar.
»Nein, das weiß ich nicht.«
»Dann wird sie tot sein.«
Das mochte Reihenfels nicht fassen. Sollte denn seine ganze Hoffnung vernichtet sein?
»Kannst du auch Tote sehen?«, fragte er mit erstickter Stimme.
»Nein, das kann ich nicht, und ich danke Brahma dafür. Aber verzage noch nicht, edler Faringi! Du warst vorhin sehr aufgeregt, beruhige dich erst! Vielleicht auch ist es dort, wo sie sich aufhält, finster, und ich sehe nicht gleich, oder ein anderes Hindernis ist zwischen ihr und mir. Denke fest an sie, und habe ich die Person erst einmal gesehen, so entgeht sie mir nicht wieder.«
Reihenfels schöpfte neue Hoffnung; das Experiment wurde wiederholt.
»Was siehst du?«
»Nichts — es ist Nacht.«
Nach einer Weile jedoch legte der Fakir den Oberkörper vornüber, als wolle er mit größerer Aufmerksamkeit spähen.
»Es ist Nacht — aber — ich sehe etwas — ich weiß nicht — was es ist — ein weißer Strich — in schwarzer Nacht.«
»Ein weißer Strich?«
»Ja — er ist weiß — er beginnt — zu leuchten — es wird — immer heller — um ihn herum — es ist — eine Flamme — aber sie gibt — nur wenig Licht — es ist kalt hier — hu — wie mich friert!«
Der Fakir schauderte wie im Frost zusammen. Dies alles war für Reihenfels völlig unverständlich. Ein weißer Strich in der Nacht? Eine Flamme? Es war kalt dort?
Plötzlich nahm das Gesicht des Fakirs einen Ausdruck grenzenlosen Erstaunens an.
»Ich höre — ich höre wirklich — seit wann kann ich hören?«
»Was hörst du?«
»Es singt — es pfeift — es heult — was ist das?«
»Siehst du einen Menschen?«
»Nein — keinen Menschen — es ist noch Nacht — und der weiße Strich — leuchtet nur schwach — und dieser singt so — er pfeift — es ist eine Flamme — ein Feuer — und es ist doch keins.«
Reihenfels wusste sich die seltsame Vision nicht zu deuten.
»Ein Mensch wird singen.«
»Nein — die Flamme singt — oder pfeift — sie sieht aus — als wäre sie ein Strich — und es ist — so kalt.«
»Siehst du denn sonst nichts?«
Nach langem Warten begann er wieder mit sichtlichem Zagen.
»Ja — ich sehe — es sieht — hässlich aus — eine Höhle — überall — dunkle Wände — und dort hinten — ein Haufen Knochen — von Menschen und Tieren — dort auch — und dort — alles mit Menschenknochen — bedeckt — und in der Mitte — die singende Flamme — nein — es ist ein weißer Strich — er schraubt sich in die Höhe — er verschwindet — in einem Loche — an der Decke — und er pfeift.«
»Siehst du denn keinen Menschen?«
»Ja — es kommt jemand — er trägt —«
»Beschreibe den Menschen erst«, drängte Reihenfels hastig.
»Denke an ihn — fest — so — es ist ein Weib — ein Mädchen — sie ist jung — schön schwarze Locken — schwarze Augen — sie sieht traurig aus —«
»Sie ist es, es ist Bega!«, jauchzte Reihenfels auf.
»Sie hat — in der einen Hand — ein Gewehr — es ist alt — sehr alt — und verrostet — mit der anderen Hand — schleift sie — ein Tier — hinter sich her — es ist — eine Antilope — ein Kalb —«
»Wie ist sie gekleidet?«
»— ein brauner Mantel — zerrissen — darunter — glitzert es — es ist — wie ein Panzerhemd —«
»Es ist Bega, sie lebt!«, wiederholte Reihenfels mit vor Freude überströmendem Herzen.
»Was tut sie jetzt?«
»Sie hat — ein Scheit Holz — in der Hand — hält es — in den weißen Strich — es brennt — sie entzündet — einen Holzstoß — nun ist es — ganz hell.«
»So kannst du sehen. Wo befindet sie sich?«
»Es ist — eine Höhle — alles Wände — kein Ausgang — überall Menschenknochen — Totenschädel.«
»Wie sieht die Umgebung dieser Höhle aus?«
»Das — weiß ich nicht.«
Da hätte Bega die Höhle verlassen müssen, damit der Fakir ihr folgen konnte; aber sie tat es nicht, sie bereitete sich eine Mahlzeit. Reihenfels wartete wohl eine halbe Stunde, dann wollte er den Fakir wecken, weil dieser sichtlich ermattet wurde.
»Kannst du mir sagen, wie weit die Höhle von hier entfernt ist?«, fragte er erst noch.
»Nein — das kann ich nicht.«
Er weckte ihn. Der Fakir war wie in Schweiß gebadet und durch die lange Anstrengung äußerst erschöpft. Während er sich erholte, ging Reihenfels im Zimmer auf und ab und überlegte.
»Willst du noch einmal beginnen?«, fragte er dann.
»Sahib, du strengst mich zu sehr an.«
»Aber ich muss wissen, wo sich die Höhle befindet, in der sich das Mädchen aufhält. Sie verließ sie noch nicht.«
»Indien ist groß, und warum willst du die Lage dieser Höhle, von der du sprichst, wissen?«
»Warum? Weil ich das Mädchen dort suchen will.«
Der Fakir lächelte überlegen.
»Sahib, du würdest mich unnötig anstrengen. Wenn du das Mädchen finden sollst, so wirst du es finden; soll es nicht geschehen, so kannst du nichts daran ändern.«
»Ah so, du glaubst an ein Verhängnis!«
»Es gibt auch eins, das über uns und selbst über den Göttern waltet.«
»Nun gut. Du besitzt die Gabe, auch in die Zukunft zu sehen. So sage mir, ob, wo und wie ich das Mädchen wiedersehe.«
Der Fakir schien zu erschrecken und zögerte.
»Ich kann es, Sahib, doch ich habe Mitleid mit dir. Du bist ein edler und guter Mensch, ich will dich nicht unglücklich machen. Lüfte den Schleier nicht, den Brahma vor die Zukunft gehängt hat.«
»Er kann mir Gutes enthüllen.«
»Das Gute ist nur im Nirwana, die Erde beherrscht das Böse. Du würdest unglücklich sein so lange, bis du die geschilderte Zukunft hinter dir hast.«
»Trotzdem, ich will sie sehen. Ich verspreche dir, dich bei Shivas Priestern mit einer goldenen Schlange auszulösen.«
Der Fakir erklärte sich schließlich bereit. Reihenfels sollte an ein Wiedersehen mit jener Person denken. Gab es ein solches, dann würde der Fakir es ihm schildern.
Das Zittern wurde stärker als früher, auch sprach er schneller.
»Es ist Wald — und Gebirge. Ich sehe vier Männer, darunter dich — das Mädchen noch nicht —«
»Beschreibe die anderen vier Männer«, sagte Reihenfels schnell, denn er wollte möglichste Klarheit haben.
»Der neben dir ist ein junger, schöner Man, schlank und kräftig gebaut, schwarze Locken, feurige, Blitze schießende Augen. Er hat auf dem Kopfe einen breiten Filzhut, am Gürtel ein Revolverfutteral, seine Stiefel sind gelb und sehr, sehr lang, sie reichen ihm bis an den Leib hinauf. Der andere Mann hat rote Haare, ist klein, breitschultrig, mit rotem Bart. Der dritte hat einen ganz komischen, langen Rock an, er sieht aus, als bestände er aus lauter großen Würfeln. Er ist lang und hager, links und rechts im Gesicht einen großen, blonden Bart, am Kinn und an den Lippen keinen.«
»Das sind Mister Bulwer und August«, staunte Reihenfels. »Weiter, was geschieht nun?«
»Ihr geht vorwärts, sprecht zusammen, steigt über Baumwurzeln und Felsgeröll. Dort kommt sie, das Mädchen aus der Höhle, sie stutzt, sie will fliehen. Du winkst ihr, läufst, rennst hin; sie bleibt stehen. Der Mann in dem gewürfelten Mantel hebt sein Gewehr, legt an, zielt nach dem Mädchen, ich sehe Pulverrauch aufsteigen, das Mädchen stürzt «
»Halt ein«, rief Reihenfels, »das ist nicht möglich!«
»Das Mädchen stürzt hin«, wiederholte der Fakir, »der Mann im gewürfelten Mantel hat sie erschossen. Der andere mit den schwarzen Locken hebt die Faust gegen ihn auf, er schlägt ihn zu Boden. Der Mann bleibt liegen — — —«
»Und ich?«, fragte Reihenfels atemlos.
»Du eilst zu der Gefallenen, kniest neben ihr nieder, beugst dich über sie, du ringst die Hände und — — —«
Der Fakir brach plötzlich ab.
»Und was dann?«, fragte Reihenfels mit gepresster Stimme.
»Du ringst die Hände, du bist deinem Gesicht nach wie verzweifelt — das Mädchen ist tot — du ringst die Hände, und — — — alles ist steif, niemand bewegt sich mehr.«
»Es muss doch noch etwas kommen.«
»Nein; still, wie aus Steinen gehauen, steht alles da und wird sich nicht mehr bewegen; wecke mich, Sahib!«
Diese Beschreibung von Begas Tod hatte allerdings Reihenfels' Herz tödlich getroffen. Seine einzige Zuflucht lag darin, dass er dieser Prophezeiung keinen Glauben schenkte.
»Weißt du, was du mir erzählt hast?«, fragte er den erweckten Fakir.
»Nein, Sahib.«
Er teilte es ihm kurz mit.
»Was ich gesehen habe, wird geschehen, ganz ebenso, und du kannst es nicht ändern. Das Verhängnis will es.«
»Aber warum fährst du nicht fort? Du lässt die Traumgestalten sich plötzlich nicht mehr bewegen, sie ständen wie steinerne Bilder unbeweglich da.«
»Kann ich dafür, Sahib? Es wird seinen Grund haben.«
»Sie müssen sich doch noch einmal bewegen.«
»Ich will wieder einschlafen, vielleicht sehe ich diesmal mehr.«
Der wieder in Schlaf gesunkene Fakir erzählte ganz genau denselben Vorgang wie vorhin, auf Reihenfels' Fragen hin noch ausführlicher, und behauptete auch jetzt wieder, in dem Augenblick, da Reihenfels neben der regungslos am Boden liegenden Bega niederknie, stände alles wie erstarrt da. Die Menschen bewegten sich nicht mehr, die Blätter der Bäume wären steif, ja, eine Quelle sei plötzlich zu Eis geworden.
Etwas anderes sagte der Fakir nicht aus, obgleich Reihenfels wohl eine Viertelstunde wartete. Das Bild, welches der Inder beschrieb, war immer das gleiche: das Mädchen lag tot da; neben ihr, halb über sie gebeugt, kniete Reihenfels mit gerungenen Händen, Verzweiflung in den Zügen; ebenfalls am Boden lag, Arme und Beine von sich gestreckt, der Mann im gewürfelten Überzieher — Mister Bulwer; neben ihm stand, die Faust noch zum Schlage erhoben, mit vor Zorn funkelndem Auge, der Mann in den langen, gelben Stiefeln — diesen kannte Reihenfels nicht; nicht weit davon stand August, wie im Schrecken beide Arme zum Himmel aufhebend. Alle waren wie zu Salzsäulen erstarrt und wollten sich auch nicht wieder bewegen.
Was sollte Reihenfels davon denken?
»Wecke mich, ich sterbe sonst!«, wimmerte der Fakir.
Von seinem Gesicht flossen dicke Schweißtropfen herab, er brach fast in der hockenden Stellung zusammen.
Nachdem er geweckt worden, bedurfte es langer Zeit, ehe er sich erholt hatte. Reihenfels schritt einstweilen aufgeregt im Zimmer auf und ab. Der Tod Begas war ihm verkündet worden oder wenigstens ihr Hinstürzen nach dem Schusse aus dem Gewehre des Engländers.
Sollte er daran glauben? Nein und abermals nein, es gab kein blindes Walten des Zufalls. Der Fakir konnte wohl in die Ferne sehen und schildern, was zur Zeit geschah, aber nicht in die Zukunft blicken. Er täuschte sich selbst.
Was sollte das, dass sich die Menschen mit einem Male nicht mehr bewegen wollten? Er schilderte den sonderbaren Schluss der Vision dem Fakir.
»Es ist so, wie ich schon vorhin glaubte«, entgegnete dieser mit schwermütigem Kopfnicken. »In jenem Augenblick, da du händeringend neben der Leiche des Mädchens knien wirst, wird meine Seele den Körper verlassen, und über meinen Tod hinaus kann ich nicht weissagen, dann bleibt das Bild immer dasselbe. Es ist mir schon einmal Ähnliches passiert.«
»Was sprichst du von einer Leiche?«, fuhr Reihenfels ihn unwillig an.
»Herr, zürne mir nicht! Du erzähltest mir, was ich im Traume gesehen und gesagt habe. Vielleicht ist das Mädchen nicht tot.«
»Das wollen wir hoffen. Ich glaube auch gar nicht daran.«
»Du zweifelst noch immer, hältst mich noch immer für einen Betrüger?«
»Nein, das nicht. Aber dem Menschen ist die Zukunft verschlossen, sie ist überhaupt nicht vorausbestimmt.«
»Ich habe dich gewarnt, in die Zukunft zu blicken«, entgegnete der Fakir feierlich, »du wolltest nicht hören. Du wirst nun sehen, dass sich alles erfüllen wird. Dem Verhängnis entflieht man nicht, ebenso wenig wie dem Tode.«
»Wohlan, ich trotze diesem Verhängnis. Ich glaube, dass du in die Ferne, aber nicht in die Zukunft schauen kannst. Wann würde sich denn die geschilderte Szene abspielen?«
»Dies anzugeben bin ich nicht fähig. Du könntest es aber dadurch erfahren haben, dass du mich fragtest, ob die Personen, welche du kennst, älter aussahen, als sie jetzt sind.«
»Das habe ich freilich unterlassen, du musst es mir noch sagen.«
»O Herr, verschone mich, ich bin furchtbar angegriffen!«
»Eins aber muss ich noch erfahren, ich will es dir lohnen. Wie werde ich jene Höhle, in welcher du die seltsame Flamme und das Mädchen zum ersten Male sahest, auffinden? Kannst du mir den Schlüssel dazu geben?«
»Warum willst du das wissen? Wenn du dorthin gelangen sollst, um das Mädchen zu finden, so wirst du es sowieso.«
»Ich glaube aber nicht an ein Verhängnis.«
»Dann brauchst du erst recht nicht in die Zukunft zu blicken.«
Der Gaukler hatte recht, Reihenfels wurde ganz irre. Gar zu gern hätte er an die prophetische Gabe des Inders geglaubt, weil ihm aber das Geschilderte nicht mehr passte, wollte er nun nicht daran glauben.
»Ich will es trotzdem erfahren. Versetze dich noch einmal in den Schlaf und sage mir, bei welcher Gelegenheit ich erfahren werde, wo ich die Höhle mit dem singenden Licht oder wo ich Bega suchen soll. Kannst du das?«
»Gewiss. Aber ich tue es zum letzten Male. Denke deinen Wunsch recht fest, ich schlafe nochmals ein.«
»Was siehst du?«, fragte Reihenfels, als der Fakir wieder in Verzückungen gefallen war.
»Ich sehe dich — du reitest — neben dir ein anderer Reiter — auf einem schwarzen Pferde —«
»Beschreibe den anderen.«
»Er ist jung — schlank — schwarze Locken — feurige Augen — lange, gelbe Stiefel — sie reichen ihm bis an den Leib hinauf — breiten Hut —«
»Wieder derselbe, den ich gar nicht kenne. Wer könnte das sein? Beschreibe ihn genauer.«
»Er hat keinen Bart — gar keinen — edle, schöne Züge — jetzt lächelt er — ihr sprecht zusammen — sein Pferd tänzelt — er reitet sehr gut — so sicher — so leicht —«
»Genug von ihm, ich kenne ihn nicht. Wo sind wir?«
»Am Ufer eines Stromes — ihr reitet durch Schilfgegend — durch kleine Haine — in der Ferne Wälder —«
Der Fakir machte eine lange Pause.
»Jetzt taucht eine Hütte auf«, fuhr er dann fort, »sie ist aus Schilf — liegt unter einer Dattelpalme — ihr haltet — steigt vom Pferd — ein alter Mann begrüßt euch — er hat einen langen, weißen Bart — er sieht ehrwürdig aus wie ein Brahmane — tretet in seine Hütte — sprecht mit ihm—«
Der Fakir hörte auf zu erzählen, begann auch nicht wieder. Ein furchtbares Zittern befiel ihn.
»Herr, weckt mich, oder ich sterbe!«, wimmerte er.
Reihenfels teilte ihm nach dem Erwachen mit, was er ausgesagt hatte.
»So wirst du dort erfahren, wo du das Mädchen suchen sollst. O, Sahib, mir ist, als müsse ich sterben.«
»Und du glaubst an ein Verhängnis? Sagtest du nicht selbst, du würdest erst sterben, wenn jener Zeitpunkt eintritt, da ich das Mädchen wiedersehe?«
»Ich kann wohl jetzt sterben, doch die Seele würde erst dann den Körper verlassen, wenn es im Buche des Lebens —«
»verzeichnet steht«, wollte er sagen, brachte es aber nicht mehr hervor, weil er ohnmächtig zu Boden sank.
Jetzt wurde Reihenfels besorgt. Er ließ den Mann in ein anderes Zimmer auf ein Lager tragen, untersuchte ihn, und als er nur eine dem Manne wahrscheinlich wohltätige Ohnmacht konstatieren konnte, überließ er ihn der Pflege einiger Inder, die ihn zu behandeln wussten.
Er selbst ging in sein Zimmer zurück und vergegenwärtigte sich das Gehörte.
Sollte er daran glauben? Nein und abermals nein, es konnte nicht sein, dass man in die Zukunft sehen durfte. Aber der Fakir hatte recht, man sollte nicht so vermessen sein und auch nur den Versuch machen, den geheimnisvollen Schleier derselben zu lüften, denn man beschwor sein eigenes Unglück herauf.
Wie ein drohendes Gespenst trat immer wieder der Gedanke an Reihenfels heran: Und wenn es nun doch wahr wäre? Wenn sich nun das alles erfüllte? Er sollte an der Leiche Begas knien.
Aber nein, von einer Leiche hatte der Fakir nicht gesprochen, sondern nur davon, wie Bega nach dem Schusse zusammengebrochen sei.
Dies ist der Strohhalm, an dem ich mich wie ein Ertrinkender klammere, sagte Reihenfels zu sich selbst. — — Ach was, es gibt überhaupt kein Verhängnis, der Fakir ist ein Schwarzseher.
Wie Reihenfels so am Fenster stand, eine Beute der widerstreitenden Gedanken, erweiterten sich plötzlich seine Augen.
Die Straße herauf kam ein schwarzes Pferd gesprengt, und auf dem Rücken saß in der elegantesten Haltung ein schöner, junger Mann in geschmackvollem Jagdkostüm. Der breite Filzhut beschattete das bartlose Gesicht mit dem spöttischen Zuge um den Mund, die langen, gelben Jagd und Reitstiefel reichten ihm bis an den Leib hinauf.
Reihenfels glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen.
Das war der Mann, von dem der Fakir in seiner Verzückung erzählt hatte, ganz genau so war er beschrieben worden, und Reihenfels kannte ihn auch — es war Doktor Morrison, der Missionar und Dolmetscher, welcher ihm hatte Bega antrauen sollen.
Und es kam noch viel wunderbarer.
Der Reiter grüßte zu Reihenfels hinauf, parierte sein Pferd mit einem Ruck, sprang mit der Gewandtheit eines Parforcereiters aus dem Sattel, warf die Zügel einem herbeispringenden Diener zu und eilte in den Hausflur.
Reihenfels hörte den sporenklirrenden Schritt den Gang heraufkommen und wusste, dass der Besuch ihm galt.
Er war nicht fähig, auf das Klopfen zu antworten, so hatte ihn dieses Zusammentreffen überrascht.
Morrison klopfte noch einmal und trat dann ein. Mit herzlichem Gruße streckte er Reihenfels die Hand entgegen; seine Augen nahmen aber einen besorgten Ausdruck an, als er in dessen Gesicht blickte.
»Was fehlt Ihnen, Mister Reihenfels? Sie sehen leidend und angegriffen aus, und mich blicken Sie an, als sei ich ein Gespenst.«
»Wirklich wunderbar!«, murmelte Reihenfels.
»Lieber Freund«, sagte Morrison, die Reitpeitsche auf den Tisch werfend und Reihenfels' beide Hände erfassend, »verzeihen Sie mir, dass ich Sie so freimütig anrede — Ihr Schicksal, dem ich leider keine günstige Wendung zu geben vermochte, hat mir Teilnahme eingeflößt, ich fühlte mich mächtig zu Ihnen hingezogen. Seit unserer ersten Begegnung habe ich Sie nicht aus den Augen gelassen, ich wollte Sie vor einigen Tagen nach dem Frühstück sprechen, Sie entzogen sich mir aber durch eine hastige Flucht. Hatte Ihnen die Depesche eine traurige Kunde gebracht?«
»Gott sei Dank, nein, aber eine merkwürdige, die mich erschütterte. Doktor, es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen lässt«, zitierte Reihenfels.
Morrison lächelte.
»Es ist nämlich in Delhi schon bekannt geworden, was Sie seit einigen Tagen aus dem Kasino und aus Freundeskreisen fernhält. Sie suchen einen Fakir, der Ihnen die Zukunft offenbart.«
»So ist es«, gestand Reihenfels, »und ich habe ihn gefunden.«
»Er hat Ihnen die Zukunft gezeigt.«
»Ja.«
»Und Sie glauben ihm?«
»Ich muss. Es hat sich schon einiges erfüllt.«
»Zufall, lieber Freund.«
»Glauben Sie an ein Fernsehen?«
»Ja, ich wurde gläubig.«
»An ein Zukunftssehen?«
»Nein. Auch ich beorderte einst einen Fakir. Er lieferte mir vom Fernsehen überraschende Beispiele; ich ließ mir die Zukunft offenbaren, einiges erfüllte sich auch wirklich, aber nur das Nebensächliche. Die Hauptsache gestaltete sich total anders.«
Wie eine Zentnerlast fiel es von Reihenfels' Herzen.
»Doktor, Sie sagen mir das nicht nur um mich aus einem Wahn zu reißen? Es ist wahr?«
»Auf mein Ehrenwort.«
»Dann danke ich Ihnen, Sie befreien mich von einer großen Bürde.«
»Der Dichter hat allerdings ganz recht, wenn er sagt: ›es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen lässt.‹ Aber ein unwissender, in Aberglauben versunkener Fakir könnte sie uns jedenfalls nicht offenbaren.«
»Daraufhin«, entgegnete Reihenfels, »könnte ich Ihnen mit Lukas antworten: Ich preise dich, Gott, dass du solches verborgen den Weisen und Klugen, und hast es offenbart den Unmündigen.«
»Dieses Zitat, lieber Herr — es ist der 21. Vers im 10. Kapitel Lucae — passt nicht hierher, denn es bezieht sich auf den Glauben, nicht auf Tatsachen. Ich bitte Sie indes, lassen wir dies Thema fallen.«
»So wurden Sie nur von der guten Absicht zu mir geführt, mich aus einem Wahne zu reißen? In der Tat, es ist Ihnen gelungen, und ich danke Ihnen sehr dafür.«
Morrison setzte sich bequem auf einen Stuhl und streckte die Beine von sich.
»Meine Absicht war, Sie auf andere Gedanken zu bringen. Wären Sie nicht der Mann der Sie sind, ich hätte es diplomatischer angefangen, doch bei Ihnen dünkte mir Offenheit das Beste. Trotzdem führte mich noch etwas anderes her, was auch Sie interessieren und Ihren Gedanken eine andere Bahn geben wird. Sie sind ein Kenner der Sprachen Indiens, und zwar ein vorzüglicher; ich habe von Ihnen nicht nur gehört, sondern auch gelesen.«
»Mein Vater gilt als anerkannte Autorität darin; ich habe seine Neigung geerbt.«
»Sie sind zu bescheiden, Sie haben schon wichtige Aufschlüsse über die toten Sprachen Indiens geliefert. Auch ich beschäftige mich viel mit diesen, wenn auch nur als Dilettant. Mein Feld erstreckt sich auf die neueren Sprachen Indiens und des nördlichen Asiens, weil ich als Missionar für China ausgebildet wurde. Jetzt bin ich Missionar ohne Land und Leute und von der Regierung als Dolmetscher angestellt. Nun zur Hauptsache; kennen Sie die Pali-Sprache?«
»Sie ist eine Tochtersprache des Sanskrit, das heißt gewesen, aus ihr entwickelte sich das Prakrit, das ebenfalls ausgestorben, in dem wir aber noch viele Inschriften haben. Auch die im dritten Jahrhundert vor Christi verfassten Inskriptionen des Ashoka sind in Prakrit geschrieben.«
»Und das Pali?«
»Diese Sprache ist uns nicht überliefert worden. Im britischen Museum zu London sind zwei Pergamentrollen, mit Sanskrit-Buchstaben beschrieben, aber in einer Sprache, die wir nicht kennen. Der Bearbeitung nach mögen die Rollen aus dem fünften Jahrhundert vor Christi stammen, und man vermutet, dass sie in Pali abgefasst sind. Sie bieten jedoch keine ausreichende Unterlage, dass man nach ihnen ein Schema oder gar eine Grammatik aufstellen könnte.«
»Dies alles ist auch mir bekannt. Nun habe ich erfahren, dass ein Mann existiert, welcher die Kenntnisse in der Pali-Sprache besitzt.«
»Das wäre!«, rief Reihenfels und sprang hastig auf.
Seine bleichen Wangen hatten sich vor Begeisterung gerötet; hier war er in seinem Elemente.
»Es gilt erst«, fuhr Morrison fort, »uns zu überzeugen, ob dies auf Wahrheit beruht. Leicht kann es auch eine andere, schon bekannte Sprache sein. Gegebenenfalls nun, es wäre Pali, würden Sie, Mister Reihenfels, mein Mitarbeiter sein?«
»O, Doktor, Sie sind zu großmütig.«
»Durchaus nicht«, lächelte dieser, »vielmehr eigennützig; ich bin in den toten Sprachen doch nicht sattelfest genug, und erst alle zu lernen, dazu habe ich keine Lust. Schließlich quäle ich mich auch mit der Sprache ab, die ich für die Pali-Sprache halte, und zuletzt stellt sich heraus, dass es eine schon ganz bekannte ist.«
»Gut, ich nehme Ihren Vorschlag dankend an. Wer ist der Besitzer dieses vermeintlich wertvollen Buches?«
»Ein alter Brahmane, der einige Meilen von Delhi entfernt in einer Hütte ein beschauliches Dasein führt.«
Wie Schuppen fiel es Reihenfels von den Augen; neue Beklemmung befiel sein Herz. Kein Zweifel, dies war die Hütte des Brahmanen, von dem ihm der Fakir prophezeit. Dort sollte er erfahren, wo sich die Höhle befände, und der Mann mit den gelben Stiefeln, sollte ihn dorthin begleiten.
Es war wunderbar.
»Was ist Ihnen? Sie sehen so verstört aus.«
Reihenfels beschloss, seine Gedanken für sich zu behalten. Doktor Morrison war doch ein Ungläubiger.
»Nichts, ich bin nur von dem Unternehmen begeistert. Wann können wir aufbrechen?«
»Sofort. Der Weg ist frei und sicher, ich habe mir die Lage der Hütte genau beschreiben lassen. Wenn Sie bereit sind, so kleiden sie sich zu dem Ritt an, während ich für einigen Proviant Sorge trage.«
Reihenfels erklärte sich einverstanden, Morrison ging, nachdem sie einen Zusammenkunftsort ausgemacht hatten.
Ersterer griff sich an die Stirn. Vergebens bäumte er sich dagegen auf, an ein Verhängnis, das notwendig eintreten musste, und an die prophetische Gabe des Fakirs zu glauben.
Da kam der Mann in den gelben Stiefeln; da tauchte schon vor seinen Augen die Schilfhütte des Brahmanen auf. Ja, wenn sie nur aus rohen Baumstämmen oder Zweigen bestand, dann wollte er ungläubig werden.
Nun, er würde ja sehen.
Der Fakir hatte sich erholt. Reihenfels ließ sich von ihm den Namen und den gewöhnlichen Aufenthaltsort angeben und versprach, ihn bei den Priestern Shivas durch eine goldene Schlange auszulösen. Dann traf er Vorbereitungen zum Ausfluge.
Der geistliche Stand genießt in England eine ganz andere Erziehung als bei uns. Der Lord oder der Landpächter will auf seiner Pfarrei einen Mann haben, der von der Kanzel herab das Wort Gottes ohne Anzüglichkeiten predigt, der seine Gäste zu unterhalten weiß, Klavier spielt, singt, deklamiert, mit den Freundinnen seiner Tochter tanzt und Ball spielt, der ein Pferd zu reiten versteht und mit ihm den Fuchs hetzt, der den Vogel im Fluge trifft und die Forelle angeln kann, der sich am Wettrudern beteiligt und unter Umständen auch einmal bei einem Wettlaufe. Der Pfarrer begleitet den Landlord beim Pferdeeinkaufe, und dieser fragt ihn um Rat, er bespricht mit ihm die Chancen beim nächsten Pferderennen und will von ihm den Derbysieger für das kommende Jahr wissen.
Kurz, ein englischer Landpfarrer muss ein Mann Gottes, ein Kavalier und ein Sportsmann sein, sonst hat er wenig Aussicht, dereinst die Kanzel in einer Stadt zu besteigen oder gar sich die Bischofmütze aufzusetzen, denn dann fehlt ihm die unerlässliche Protektion.
Wie sich der deutsche Student im Fechten mit Schlägern übt, so wird auf englischen Universitäten der Sport gepflegt: Rudern, Wettlaufen, Boxen und die verschiedenen Ballspiele.
Die englischen Studenten halten zum Beispiel in jedem Jahre Ruderregatten ab; bis auf den heutigen Tag kämpfen die Universitäten Oxford und Cambridge noch um die Meisterschaft, die Namen der Sieger werden in die Welt hinausgesandt; aus allen Teilen der Erde erhalten sie Glückwunschtelegramme, und der Meisterschaftsspieler im Kricket hat sogar ein Denkmal gesetzt bekommen.
Man mag sagen was man will, dieses Üben von Körperkraft und Gewandtheit auf den Universitäten ist eine schöne Sitte, und man soll bedenken, dass, als in Griechenland Kunst und Wissenschaft auf einer Stufe standen, wie wir sie jetzt noch nicht wieder erreicht haben, dort auch die olympischen Spiele stattfanden, in denen die ersten Männer des Landes als Mitbewerber auftraten, und wo die Sieger mit den höchsten Ehren ausgezeichnet wurden und wertvolle Privilegien erhielten. Die olympischen Spieler wurden von den berühmtesten Dichtern besungen, ihre Büsten bekamen einen Platz im heiligen Hain; sie wurden von allen Staatslasten entbunden.
So ist das Sportwesen der englischen Studenten nicht nur zu entschuldigen, sondern sogar zu loben; auf alle Fälle ist es der Unsitte vorzuziehen, dem Mitmenschen wegen einer geringfügigen Beleidigung oder sonst aus einem an den Haaren herbeigezogenen Grunde das Gesicht zu zerfetzen.
Nun sind achtzig Prozent jener studentischen Sieger Theologen, und dies mag wohl eben darin seinen Grund haben, dass man von einem englischen Landpfarrer ritterliche Eigenschaften verlangt.
Als Missionar in den Kolonien darf man überhaupt kein pedantischer Bücherwurm sein. Eine solche Schule hatte auch Doktor Morrison durchgemacht; gar oft war er aus den akademischen Wettkämpfen als Sieger hervorgegangen, aus den leiblichen sowohl, wie auch aus den geistigen.
Sie wundern sich, dass ich Missionar geworden bin?«, fragte Morrison Reihenfels, während beide ihre Pferde in scharfem Trabe am Ufer der Dschamna ausgreifen ließen. »Es war nicht mein freier Wille, aber es ist wirklich ein schöner Beruf, wenn auch gerade hier in Indien sehr undankbar. Mein Vater war Stahlwarenfabrikant in Manchester, und wenn ich hinzufüge, dass er reich war, so will ich damit nicht prahlen, sondern nur sagen, dass ich mir einen ganz anderen Beruf hätte wählen können. Sie wissen übrigens, dass in England ein armer Kandidat wenig Aussicht hat, dereinst eine Kanzel zu besteigen. Ich war ein wilder Junge, und mein höchster Wunsch war, mein Leben unter den Rothäuten zu beschließen. Sie lachen, ich jetzt auch. Meine Eltern waren fromm, meine Onkels und Tanten frömmelten alle stark, und da mein Bruder schon für das Geschäft bestimmt war, so hatten alle keinen größeren Wunsch, als mich einst von der Kanzel herunterdonnern zu hören. Es gab einige Kämpfe; schließlich willigte ich ein unter der Bedingung, meine Laufbahn als Missionar anzutreten. Ich stieß dabei auf keinen Widerstand; einige alte Tanten, welche für arme Negerknaben Strümpfe strickten, waren sogar entzückt darüber und vermachten mir bei ihrem Tode ihr Vermögen. Man schickte mich auf ein Institut für zukünftige Missionare, ich studierte asiatische Sprache, besuchte die Universität Oxford, bestand meine Examen mit Auszeichnung, erruderte mir Ehrenpreise, boxte meine Kollegen von Cambridge in Grund und Boden, sodass man mir sogar den Vorschlag machte, für einen Jahresgehalt von 500 Pfund Boxlehrer zu werden. Ich wurde aber Missionar und ging nach China, wo ich zwei Jahre lang Chinesen dem christlichen Glauben zuführte und langbezopften Kindern den Katechismus einbläute. Vor einem Jahre wurde ich nach Ostindien versetzt; bei Ausbruch des Krieges verwendete man mich als Dolmetscher.«
»Der Beruf eines Missionars befriedigt Sie?«
»Gewiss, aber nur der eines Heidenmissionars, die Rolle eines Evangeliumspredigers unter einem christlichen Volke möchte ich nicht spielen. Diese Heiden sind wie die Kinder, sie bringen dem Prediger ein unschuldiges Herz entgegen, selbst wenn sie Menschenfresser sind; aber ach, lieber Herr, welche Enttäuschung erlebt man, wenn man Christen das Wort Gottes verkünden soll! Ich kann es nicht, denn ich kann nicht heucheln und keine Heuchelei sehen.«
»Es ist viel Wahres dabei. Haben Sie schon trübe Erfahrungen gemacht?«
»Und was für welche! Lassen Sie mir nur eins erzählen, was mir in China passiert ist. Zu den Betstunden, die meine Eltern arrangierten, kam auch immer ein alter, reicher Porzellanfabrikant, der besonders nach Asien expedierte. Er war der Frömmsten einer, sprach nur in Bibelversen, hatte die Augen immer zum Himmel aufgeschlagen, zahlte namhafte Summen besonders für die Heidenmission, und er hauptsächlich war schuld daran, dass meine Eltern auf den Gedanken kamen, mich unbändigen Jungen Theologe werden zu lassen.
Als ich mich dann entschloss, nach China zu gehen, war dieser Mann gar nicht recht damit einverstanden. Er wollte mir einreden, Indianer-Missionar zu werden oder unter die Kaffern zu gehen, ich hatte aber nun einmal eine Vorliebe für die Söhne des himmlischen Reiches und blieb standhaft.
Nun denken Sie, was mir in China passierte! Mit einem wahren Feuereifer ging ich ans Werk; erfüllt von heiligem Zorne, selbst mein Leben aufs Spiel setzend, stürzte ich die porzellanenen Hausgötter von den Postamenten, Christus predigend, ich wagte mich sogar als Bilderstürmer in den Tempel. Ach Gott, wie wurde mir da, als ich sah, dass alle diese porzellanenen Götter den Fabrikstempel jenes Mannes trugen, den ich für so fromm hielt, der so viel für die Heidenbekehrung zahlte und mich zum Missionar bestimmt hatte. Wie ich dann erfuhr, verfertigte dieser dunkle Ehrenmann fast nur chinesische Götzen; aus diesem Export stammt sein Reichtum. Was sagen Sie dazu?«
»Solche Heuchelei ist eine Niederträchtigkeit, der Fall steht aber nicht allein da. Haben Sie den Mann wieder einmal gesprochen?«
»Ja, als ich einmal nach England kam, und ich war töricht genug, ihn zur Rede zu stellen.«
»Wie entschuldigte er sich?«
»Er tat ganz erstaunt, er sagte, er hätte geglaubt, diese Figuren würden nur als Zierde in Gärten und Treppenfluren aufgestellt — und dort taucht die Hütte des Brahmanen auf.«
Wieder zog eine bange Ahnung Reihenfels' Herz zusammen. Diese Hütte bestand weder aus Baumstämmen noch aus Zweigen, sondern aus Schilf, wie der Fakir ihm gesagt hatte.
Anmutig lag sie unter Dattelpalmen, ein Bach floss vorbei, der sich in einen Nebenfluss der Dschamna ergoss; eine Kuh und eine Ziege mit strotzenden Eutern weideten die saftigen Gräser ab. Die Brahmanen essen kein Fleisch, sie leben von Milch, Früchten, Brot und Gemüse, aber auch allen an Brahma oder Buddha glaubenden Indern dient das Rind nur als milchgebendes Tier, der Genuss des Rindfleisches ist ihnen verboten, und das wichtigste Fleischnahrungsmittel liefert das Schwein. Bei den mohammedanischen Indern ist es gerade umgekehrt: diese verschmähen das Schwein als unrein, essen dagegen Rindfleisch.
Schwein und Rind waren schuld daran, dass damals in Mirat die Meuterei unter den Sepoys zeitiger ausbrach, als es beschlossen worden war. Die Engländer hatten neue Patronen eingeführt, welche mit Schweinefett und Ochsentalg bestrichen waren. Beim Laden musste das hintere Ende der Patrone abgebissen werden, um den Zünder bloßzulegen, und Buddhisten wie Mohammedaner waren über die Zumutung entrüstet, etwas solch Unreines in den Mund zu nehmen. Die Engländer erkannten die drohende Gefahr, sie befahlen sofort, das neu eingeführte Gewehr — die Enfieldbüchse — wieder abzuschaffen, aber es war schon zu spät — auf die bloße Zumutung hin meuterten schon die fanatischen Inder.
Also hier sollte Reihenfels erfahren, wo er Bega finden würde! Sein Herz begann stürmisch zu schlagen.
Vor der Hütte kauerte ein ehrwürdiger Greis mit langem, weißem Barte, in ein sackähnliches Gewand gekleidet. Er hatte in einem dicken Buche gelesen und erhob sich beim Anblick der beiden Reiter, die direkt der Hütte zustrebten.
Sie sprangen ab, warfen die Zügel über Baumäste und verneigten sich vor dem Priester, welcher freiwillig die äußerste Armut auf sich genommen hatte, dessen Ansehen und Macht aber die eines Maharadschas bei Weitem überstieg.
»Brahma sei mit euch, Vishnu erhalte euch, und Shiva schenke euch Kinder! Tretet ein bei mir und ruht euch aus von der Reise! Willkommen sollt ihr sein, auch wenn ihr Brahma noch nicht kennen gelernt habt, denn er kennt euch.«
Sie traten in die niedrige Hütte, in welcher Dämmerlicht herrschte, und setzten sich auf Baumstümpfe, deren Wurzeln sich noch in der Erde befanden. Der Brahmane brachte ihnen einen Napf mit Milch und Brot und aß selbst die ersten Bissen mit ihnen. Die kühle Milch wirkte nach dem heißen Ritt auch erfrischend.
Schweigend aßen sie. Reihenfels konnte nicht unterlassen, den Brahmanen von der Seite zu mustern. Wie war es wohl möglich, von ihm etwas über den Aufenthaltsort Begas zu erfahren? Sollte er den Alten fragen oder diesen beginnen lassen? Er beschloss, das Verhängnis nochmals zu prüfen.
Da rückte Morrison mit seinem Anliegen heraus. Er fragte, ob der Brahmane wirklich die Veden in der Pali-Sprache besäße.
»Man hat dich falsch berichtet«, entgegnete der Brahmane, »ich habe nie gesagt, dass es das Pali sei, welche Sprache uns nicht überliefert worden ist. Es ist eine Schrift, welche ich nicht entziffern kann.«
»Hast du sie schon anderen vorgelegt?«
»Ja, Brahmanen, aber ihnen war sie unbekannt.«
»Keinem Engländer?«
»Einem — er kannte die Schrift nicht.«
»Das Buch enthält die Veden?«
»Auch das weiß ich nicht.«
»Können wir das Buch sehen?«
»Gewiss.«
Der Brahmane ging in eine Ecke und kam mit einem Felle zurück, aus welchem er ein starkes, in Schweinsleder gebundenes Buch wickelte.
Neugierig klappte Morrison es auf, Reihenfels sah ihm über die Schulter. Schon dem ganzen Aussehen des Buches nach konnte er urteilen, dass es nicht indischen Ursprungs war.
»Holla, was für eine Schrift ist denn das? Die kommt mir bekannt vor«, rief Morrison erstaunt, die steifen, krausen, mit Tinte auf Pergamentpapier geschriebenen Buchstaben betrachtend.
»Kennen Sie die Schrift und Sprache?«, fragte Reihenfels lächelnd.
»Ja, ich glaube doch — ist das nicht — ist das nicht Deutsch?«
»Allerdings.«
»Aber ich beherrsche doch Deutsch —«
»Wahrscheinlich nur das moderne, und dieses hier stammt der Schrift und dem Stile nach aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Lassen Sie uns sehen!«
Er schlug das erste Blatt auf.
»Ah, das ist ein interessanter Fund. Es ist das Tagebuch von Wilhelm Gotthelf Kühne aus Herrnhut in Sachsen, welcher am 14. August 1738 als Missionar nach Ostindien ging.«
»Die Herrnhuter sind eine religiöse Sekte. Ich kenne sie und habe vor ihnen alle Hochachtung. Ganz besonders in Amerika und Afrika haben sie bedeutende Erfolge gehabt.«
»Diese Brüdergemeinde entstand aus der Religionssekte der böhmischen und mährischen Brüder, welche im Anfang des 18. Jahrhunderts wegen Verfolgung ihr Vaterland verließen. Sie fanden Aufnahme bei dem Grafen Nikolaus von Zinzendorf; ihr Hauptsitz wurde Herrnhut bei Bautzen. Im Jahre 1732 begannen sie die Mission unter den Heiden; zurzeit haben sie im heidnischen Auslande nicht weniger als 90 Missionen mit ungefähr 200 000 Mitgliedern. Ich werde das Buch schnell durchblättern und Ihnen das Hauptsächlichste mitteilen, zum besseren Verständnis in englischer Übersetzung.«
Es war ein Gottesmann gewesen, der hier seine Erlebnisse mitteilte. Ein wahrhaft frommer, warmer Ton, frei von jedem Selbstlob und jeder Gehässigkeit gegen Andersdenkende, lag in jedem Worte.
Gotthelf Kühne wird von seiner Gemeinde nach Pandschab in Ostindien geschickt, um dort den wilden Gebirgsvölkern die Botschaft von dem blutigen Versöhnungstode Jesu zu verkünden. Er geht allein, nur eben so viel in der Tasche, dass er seinen Bestimmungsort erreichen kann.
Die Reise wird beschrieben, überall und immer ist Gott die Hauptsache; Kühne bewundert ihn in jedem Wellenschlage, an etwas Anderes denkt er nicht. Endlich ist er im Pandschab angekommen. Man glaubt, der Missionar habe eine Lustreise gemacht, aber nicht eine Tour mit unendlichen Gefahren und Strapazen; denn er weiß nur die Wunder Gottes zu preisen, nichts von Beschwerlichkeit, höchstens von einer angedeuteten Gefahr, aus der Gott ihn gnädig und unverdient errettet hat.
Er will sich unter den von Jagd und Krieg lebenden Dschads niederlassen, ladet die mitgenommenen Ackergerätschaften von dem Esel, neben welchem er hergelaufen ist, baut sich eine Hütte und beginnt den unkultivierten Boden zu bestellen; in seinen freien Stunden verkündigt er das Evangelium.
Die wilden Dschads hören nicht auf ihn, sie dulden aber den harmlosen Mann unter sich; neugierig sehen sie ihm zu, wie er sich sein Brot selbst baut, sie essen davon, es schmeckt ihnen, und sie lernen von ihm ebenfalls den Ackerbau, ohne noch an sein Wort zu glauben. Eine Krankheit bricht unter ihnen aus, der Missionar tröstet und heilt, und die erstarrten Herzen schmelzen.
Jubelnd preist der Missionar Gott; er hat den ersten Heiden bekehrt, eine Gemeinde entsteht um ihn herum. Aber er hat auch viele Feinde, die ihm alles Böse zufügen.
Schlimmere Feinde als die hartherzigen Dschads sind die Bewohner eines Dominikaner-Klosters, von dessen Vorhandensein er bei seiner Ankunft nichts gewusst hatte. Es liegt einige Meilen von seiner Hütte entfernt auf einem Berge; es sind spanische Dominikaner, welche hier ebenfalls Missionsversuche anstellten, die aber gescheitert sind.
Von den Mönchen hat Kühne viel zu leiden; der Prior, eifersüchtig auf die Erfolge des Deutschen, legt ihm alle nur möglichen Hindernisse in den Weg.
Das Tagebuch klagt nicht über diese feindlichen Angriffe, der Schreiber bittet immer für seine Feinde. er jammert nicht, wenn man ihm böswillig sein Feld verwüstet hat, er beginnt von Neuem, er schmäht nicht über die feindlichen Angriffe der Mönche, er begegnet ihnen in Liebe, ohne sich selbst zu loben. Er erhält die Nachricht von zu Hause, dass seine Schwester im Kapland den Negern zum Opfer gefallen ist, und er preist ihren Tod in einem Lobliede zu Gottes Ehre. Aber wehmutsvoll klagt er, dass gerade der Bekehrte, auf den er seine größte Hoffnung gesetzt, dem er am meisten getraut, ihn bestohlen und betrogen hat.
Immer mehr blüht und wächst seine Gemeinde, auch mit den Dominikanern lebt er jetzt in Frieden. Er hat den Prior, der ihn hasst, in einer wüsten Gegend halb verschmachtet, von Insekten schon angefressen, gefunden. Er nahm ihn mit in seine Hütte, pflegte ihn, benachrichtigte das Kloster, und das harte Herz des Priesters war gerührt. So verstrichen zwei Jahre.
Reihenfels blätterte eine von den vergilbten Seiten nach der anderen um, überflog die Zeilen und las die denkwürdigsten Stellen vor. Morrison saß mit gefalteten Händen da und hörte andächtig zu, ebenso der Brahmane; denn dass dieser Mann für den Christengott gewirkt hatte, störte ihn nicht. Gott ist ein persisches Wort und bedeutet etwas Unfassbares, ebenso wie Brahma.
»Das Buch bricht plötzlich ab«, sagte Reihenfels, einige Seiten überschlagend. »Ich will das letzte lesen.«
Er las, und sein Gesicht verfärbte sich, ein Zittern befiel ihn.
»Ist der Schluss so schrecklich?«, fragte Morrison. Sie werden ja ganz blass, Mister Reihenfels.«
»Ja, er erschüttert mich«, entgegnete Reihenfels, die Worte kaum hervorbringend, aber etwas anderes, als die Erlebnisse des Mannes, ergriff ihn so.
»Hören Sie den Schluss! Ich werde immer das Wichtigste vorlesen. Es ist also zwei Jahre nach der Gründung der Missionsgemeinde, die Kühne Emmaus genannt hat.«
Es geht das Gerücht um, die Afghanen sollen die Gebirge überschritten und einen Einfall in das Nachbargebiet gemacht haben — — —
Das Gerücht hat sich bestätigt. Die räuberischen Afghanen haben das Nachbarvolk besiegt; an der Grenze haben schon Kämpfe zwischen Dschads und Afghanen stattgefunden — — —
Die Dschads fliehen oder sterben auf dem Kampfplatze, die räuberischen Horden nähern sich uns immer mehr. Auch die Männer meiner Gemeinde greifen zu den Waffen, die ich ihnen erst aus den Händen nahm. Ich hindere sie nicht daran, sie kämpfen für ihren Herd, für Weib und Kind — — —
Ach, mein schönes Emmaus, ich muss dich als Flüchtiger verlassen, die Feinde werden dich mit Feuer und Schwert verwüsten! Doch wie Gott will, er weiß es am besten — — —
Die Dominikaner haben sich in ihrem Kloster verbarrikadiert. Sie haben schon einige Engländer aufgenommen, auch mir wollen sie die Tore öffnen, aber nicht den Schutzbedürftigen meiner Gemeinde. Es fehle ihnen an Nahrungsmitteln für so viele. Ich will nicht mit ihnen streiten, vielleicht haben sie recht — — —
Die Dschads ziehen den einstürmenden Afghanen entgegen, ich fliehe mit den Weibern, Kindern und Greisen nordöstlich in die Gebirge. Ein alter Mann ist unser Führer; er ergeht sich in geheimnisvollen Andeutungen, dass er einen Ort wisse, wo wir ganz sicher seien. Nun, Gott wird unser Hirte sein — — —
Wir sind geborgen, gelobt sei Gott! Er wird nicht wollen, dass wir uns täuschen. Wir befinden uns in einer Höhle, und wunderbar ist es hier.«
Reihenfels' Stimme begann wieder vor Erregung zu zittern.
Von den Afghanen verfolgt, führte uns der Alte durch Schluchten und Pässe; unwirtlich ist die Gegend, ich könnte mich nicht wieder zurückfinden. Ich glaube, wir sind höchstens drei Meilen vom Kloster Bernardo entfernt. Nachdem wir den beschwerlichsten Weg überwunden, gelangten wir in eine kaum passierbare Schlucht. Der Alte hieß uns in ein Loch der Felswand kriechen, welches dem Blicke sonst entging. Ich war der erste, der ihm folgte. Nachdem ich wohl hundert Meter auf Händen und Füßen gekrochen war, wurde der Gang höher. Gleichzeitig vernahm ich ein eigentümliches Singen, Pfeifen oder Heulen. Ich kann es jetzt noch nicht beschreiben, obgleich es neben mir ertönt. Es mag etwa mit dem Singen eines Teetopfes verglichen werden, nur ist es viel stärker. Dann sah ich in der Finsternis einen weißen Strich, welcher, je länger ich hinsah, immer heller wurde.
Schließlich erkannte ich eine Flamme, sie stand kerzengerade auf dem Boden und schlug in die Höhe, wo sie in der Decke verschwand. »Was mag das gewesen sein?«, murmelte Morrison, während der Brahmane nickte.
Der Führer hielt einen der mitgenommenen, trockenen Äste hinein, er fing sofort Feuer. Jetzt kann ich alles deutlich erkennen. Wir befinden uns in einer geräumigen Höhle mit nur einem Eingang, durch den wir gekommen sind. Es ist trocken und kalt hier. Die singende Flamme — anders kann ich es nicht nennen — hat anscheinend keine Nahrung, sie quillt aus einer Erdspalte. Ich glaube, es entströmt dieser ein Gas, ich kann sie nicht verlöschen. Oben verschwindet sie in einem kaminähnlichen Schacht; sie zieht sich so weit hinauf, wie ich sehen kann; sie ist in eigentümlich zitternder oder schwingender Bewegung, und daraus erkläre ich mir das Singen.
»Er hat ganz recht«, bemerkte Morrison. »Diese Erscheinung beruht auf einem physikalischen Gesetz, das jener Mann noch nicht kannte. Hält man eine kleine Flamme unter ein langes, aufrecht stehendes Rohr, so zieht sie sich sofort in dieses hinein, gerät in Schwingungen, teilt der Luft im Rohre die Schwingungen mit und erzeugt so einen eigentümlich singenden Ton. Hier hat sich die Natur selbst solch eine Spielerei geschaffen.«
»Ja, die Erscheinung beruht auf diesem Prinzip«, bestätigte Reihenfels, der sichtlich nach Fassung rang, »die kalte Luft wird erhitzt und steigt schnell in die Höhe. Dadurch entsteht der Ton. Nun hören Sie das Fernere.«
Wir haben genügend Proviant, aber kein Wasser — — —
Der Wassermangel macht sich bemerkbar. Ich schicke drei Männer mit Wassergefäßen aus — — —
Es sind nur zwei zurückgekommen, der alte Schibolet hat sich von seinen Kameraden entfernt und ist bis jetzt noch nicht wieder eingetroffen — — —
Herr, sei gnädig mit uns! Es wird geflüstert, dass Schibolet uns verraten könnte.
Ach, auch ich kann ihm nicht trauen; er besitzt ein falsches Auge und fiel schon mehrmals von seinem Glauben ab — — —
Schibolet ist noch immer nicht zurück. Wir beten für ihn und für uns — — — Gott, wir flehen um deine Barmherzigkeit! Die Afghanen kommen, Schibolet führt sie. Rechne ihm dies nicht an!«
Reihenfels klappte das Buch zu und blickte düster vor sich hin. Was der Schreiber nicht mehr mitteilen konnte, was dann geschah, lag klar auf der Hand. Morrison war der erste, der das Schweigen brach.
»Hut ab vor diesem Manne!«, sagte er mit tiefer Stimme und entblößte das Haupt. »Wir wollen für ihn beten und handeln wie er; wir wollen auch für seine und unsere Feinde beten.«
Zu dem, der das Weltall erfüllt und für den es weder Namen noch Bezeichnung gibt, stieg aus drei Herzen ein Gebet für den auf, der, fern von der Heimat, unbekannt, unbeweint, im Dienste seiner Pflicht den schönsten Heldentod gestorben war, und auch ein Gebet für seine Mörder und für den Verräter.
Fragend blickte Reihenfels den Brahmanen an.
»Wo hast du dieses Buch, in dem ein Landsmann von mir seine Erlebnisse aufgezeichnet hat, gefunden?«
»In der Höhle, wo die Flamme singt.«
»Ah, so warst du selbst dort?«
»Ja, vor vier Jahren.«
Reihenfels konnte seine Erregung kaum bemeistern. Wunderbar, wie sich alles erfüllte.
»Kannst du die Lage dieser Höhle bezeichnen?«
»Lass mich's dir erzählen. Vor vier Jahren durchwanderte ich das Pandschab, den Dschads Brahmas Güte lehrend. Es war in der Regenzeit, oft wurde ich durchnässt. Eines Nachmittags gelangte ich unter strömendem Regen an ein Kloster (*), auf einem Berge gelegen, und bat um Einlass. Nicht Brahma, sondern euer Gott wurde drinnen verehrt. Man fragte mich, wer ich sei, und ich antwortete: ein Priester Brahmas. Da verschloss man mir das Tor, ich musste weiterwandern. Es regnete immer stärker, ich kam in Gefahr zu ertrinken. Vergebens spähte ich nach einem Obdache — keine Hütte, keine Höhle konnte ich entdecken, und die Bäume vermochten das Wasser nicht abzuhalten. Ich irrte zwischen Felsen und durch Schluchten, da öffnete mir Brahma die Augen und ließ mich ein Loch in der Felswand sehen. Ich kroch hinein und gelangte in die Höhle, von welcher in diesem Buche steht. Auch die singende Flamme sah und hörte ich; ich lobte Brahmas Allmacht und fürchtete mich nicht. Auf dem Boden der Höhle lagen viele Menschenknochen umhergestreut, ich fand gespaltene Schädel, also musste hier ein Kampf stattgefunden haben, obgleich ich keine Waffen fand. Da sahen meine Augen dieses Buch, ich hielt es für eine unbekannte Abart des Sanskrit und nahm es mit, nachdem der Regen aufgehört und ich für die Toten gebetet hatte. Jetzt weiß ich, wem die Knochen in der Höhle gehörten. Dieser Mann, der Gott und seinen Propheten, der ein Buddha war, predigte, besaß ein edles Herz; ich werde seiner gedenken, wenn sich mir Brahma offenbart.«
(*) Auch die Buddhisten haben Klöster und Mönche.
»Weißt du, wie das Kloster hieß, in dem du vergeblich Einlass begehrtest?«
»Nein.«
»Wie war die Farbe des Rockes der Bewohner?«
»Schwarz, darunter sah ein weißer Rock hervor. Sie trugen auf dem Kopfe eine schwarze, spitze Kapuze.«
»So waren es Dominikaner. Wie weit war die Höhle von diesem Kloster entfernt?«
»Ich bin wohl zwei Stunden noch umhergeirrt.«
»Beschreibe die Lage des Klosters!«, bat jetzt Morrison. Der Brahmane tat es, so gut er sich entsinnen konnte.
»Es war das Dominikanerkloster zum heiligen Bernardo«, sagte Morrison bestimmt, »ich bin einmal vorübergekommen.«
Reihenfels bat den Brahmanen, ihm das Buch zu überlassen; ohne Bedenken willigte dieser ein, und nach herzlichem Abschiede traten die beiden
Freunde ihren Rückweg nach Delhi an. Es lässt sich leicht denken, wie erschüttert Reihenfels von dem Gehörten war. Wieder hatte sich eine Prophezeiung des Fakirs erfüllt, und drohend wie ein Gespenst trat ihm das Bild vor die Augen, wie er händeringend an der Leiche Begas kniete. Was half's? Er musste dem Schicksale seinen Lauf lassen. Dass Bega nicht tot war, darauf beruhte seine einzige Hoffnung. Wenn der Fakir ihm nur noch mehr hätte sagen können! Oder nein, es war besser so!
»Ich glaube, ich kann Ihre Gedanken erraten«, nahm Morrison das Wort, um Reihenfels aus seinem Brüten aufzuwecken.
Dieser schrak zusammen. Er mochte seine Gedanken nicht preisgeben, auch seinem Freunde nicht.
»Ich glaube, ich habe dieselben«, fuhr der Missionar fort. »Wie wär's, wenn wir diese Höhle aufsuchten und jenem Braven und seiner gemordeten Gemeinde ein Begräbnis bereiteten? Auch die singende Flamme ist interessant. Kommen Sie mit mir, Mister Reihenfels? Ich gehe entschieden und Ihnen wird ein solcher Ausflug gut tun.«
Da also bot sich ihm der Mann mit den hohen, gelben Reitstiefeln als Begleiter an. Reihenfels tat, als ob er der Aufforderung nachgebe. Sie berieten sich und machten aus, sich einer bald in die Gebirge abgehenden Truppenabteilung anzuschließen. Bis dahin wollte Reihenfels die Zeit benutzen, nach Herrnhut einen Bericht und das Tagebuch zu schicken.
»Die Lage des Klosters Sankt Bernardo kenne ich genau«, sagte Morrison. »Auf einen besonders freundlichen Empfang dürfen wir nicht rechnen, aber eine Auskunft werden sie uns nicht versagen. Die Klosterchronik muss über die Ansiedelung Emmaus und über Gotthelf Kühne berichten, welcher den Prior gerettet hat. Dann machen wir uns auf die Suche nach der merkwürdigen Höhle, wir werden sie schon finden.«
Als sie durch die Straßen Delhis ritten, begegnete ihnen Susan Atkins, die die Reiter freundlich grüßte; denn in England begrüßt die Dame den Herrn zuerst, er darf den Gruß erwidern.
Morrison schwenkte ehrerbietig den breitrandigen Sombrero, und Reihenfels bemerkte, dass sich sein schönes, männliches Gesicht wie vor Freude dunkel rötete.
In mitternächtlicher Stille lag der Urwald da. Nur ab und zu erschollen das langgedehnte Gebrüll des Tigers, das Heulen des Schakals, der klagende Laut eines Nachtvogels und das blökende Schreien einer aus dem Schlafe aufgeweckten Antilope.
Hier im Pandschab war das Paradies der Raubtiere, sie hatten nicht nötig, Menschen zu überfallen und sich der Kugel der Feuerwaffe auszusetzen. Die Natur bot ihnen alles in Hülle und Fülle, und wenn ein Leckermaul Geschmack an Menschenfleisch gewonnen hatte, für den gab es genug waffenlos umherirrende Inder.
So umstreiften die Raubtiere auch nicht das kleine Zelt, das sich unter dem dichten Blätterdach eines Affenbrotbaumes erhob. Witterten sie, dass es Menschen beherberge, zogen sie sich schnell zurück, ehe der große Hund, der vor dem Eingange des Zeltes lag, anschlagen konnte.
Dieses bestand aus brauner Segelleinwand und war von modernster Konstruktion, wie man sie nur in den großen Geschäften von Hauptstädten für Sport- und Jagdliebhaber kaufen kann. Es war wohl für drei Personen eingerichtet, zusammengeschlagen aber mochte es in einen Tornister gehen, und dennoch hätte es Schutz vor dem stärksten Regenguss geboten.
An dem offenen Eingange lag einer jener großen Hunde mit kurzen Ohren und wenig intelligentem Gesichte, wie sie im Pandschab gezogen werden. Das Tier war als Begleiter durch die Wildnis überhaupt zu dick; faul lag der Kopf auf den Vorderpfoten, die Augen blinzelten nicht, und die Stumpfohren bewegten sich nicht, wenn das Geheul des Tigers ertönte.
Dennoch wäre der Hund sofort wach gewesen, wenn sich solch ein Raubtier genähert hätte. Der Pandschab war seine Heimat, er wusste, wann Gefahr drohte.
An dem Stamme des Affenbrotbaumes waren zwei Esel und ein Maultier angekoppelt. Sie schliefen im Stehen und ließen wie auf Kommando die langen Ohren gleichmäßig hin und her gehen.
Aber der Hund war ein schlechter Wächter, wenn ihm das Leben der Zeltbewohner anvertraut worden war.
Ruhig schlief er weiter und bemerkte nicht, wie etwas das Zelt in großem Bogen umkreiste. Man wusste nicht, was es war. Unhörbar bewegte es sich, ein dunkler Schatten, bald richtete er sich auf bald wand er sich schlangengleich durch die Büsche, kein Rascheln verriet ihn, immer enger wurden die Kreise um das Zelt.
Da, als das Unbekannte eine Stelle passierte, wo ein Mondstrahl seinen Weg durch das Laubdach fand, blitzte es auf, es schillerte wie die Haut einer Schlange, und da auch die Bewegung entsprechend war, so lag die Vermutung nahe, dass es wirklich eine große Schlange war.
Jetzt bewegte es sich nicht mehr um das Zelt herum, es kroch vielmehr in den Windungen einer Schlange direkt auf den Eingang zu.
Kein trockener Zweig krachte, kein Blatt raschelte, starr waren zwei funkelnde Augen auf den ahnungslosen Hund geheftet.
Jetzt hatte es diesen erreicht, es huschte über ihn hinweg und verschwand in dem Zelte. Und noch lag der Hund, auf den sich die Menschen im Zelte vertrauensvoll verließen, schlafend da.
Nach einer Minute kam das Unbekannte wieder heraus, kroch über den Hund, ohne ihn zu berühren, und verschwand im Walde. Nur einmal noch leuchtete die schillernde Haut auf. So wusste weder Mensch noch Tier, dass ein lebendes Wesen ihnen in dieser Nacht einen Besuch abgestattet hatte.
Die Nachtstunden verstrichen; noch vor Anbruch der Dämmerung hörte das Geheul der Raubtiere auf, und die Tagtiere ließen dafür ihre Stimmen erschallen.
Schon piepste es in den Zweigen, und beim ersten Aufzucken der Morgenröte begann das gewöhnliche Konzert: die Vögel lärmten und zwitscherten, je nachdem ihre Kehlen beschaffen waren, die Affen kreischten, und auch die Esel erhoben ihre Stimmen zum Morgengruß.
Dann benagten sie die Büsche, soweit die Koppel ihnen das erlaubte, während der ebenfalls erwachte Hund sich erst leckte. Mit einem Male musste ihm etwas nicht in Ordnung erscheinen; er blickte sinnend vor sich hin, erhob sich, schnoberte an der Erde herum, heulte auf und lief laut bellend in großem Bogen um das Zelt herum, entfernte sich jedoch nicht von diesem.
»Verdammte Bestie!«, knurrte eine Stimme, und aus dem Zelteingang sah August mit verschlafenem Gesicht und struppigen Haaren hervor.
Dann kroch er völlig heraus, gähnte, dehnte und streckte sich und gab dem Hunde, der, das Suchen ganz vergessend, freudig bellend an ihm aufsprang, einen Fußtritt.
»Da, das dafür, dass du mich aus dem Schlafe geweckt hast! Und ihr«, er warf einen wütenden Blick zu den schnatternden Affen hinauf, »wenn ich euch hätte, verdammte Bande, ich würde euch alle bei den Ohren aufhängen.«
August ging an seine erste, tägliche Beschäftigung, an die Teebereitung, wozu er nicht erst ein Feuer anzuzünden hatte. Der Amerikaner war mit allen möglichen Patentartikeln ausgerüstet, und so führte er auch eine Teemaschine mit sich, die so lange zu gebrauchen war, wie Spiritus vorhanden war.
Da die Blechflasche glücklicherweise noch solchen enthielt, hatte August geringe Mühe. Er brachte den Apparat in Ordnung, eine kleine Arbeit, aber ohne Räsonieren ging auch dies nicht ab.
»Uah«, gähnte es hinter ihm, und hörbar klappten zwei Kinnladen wieder zusammen.
»Goddam! Tom!«
»Sir!«
»Haben Sie gesehen nix Riesenschlange?«
»Ne, keine Spur davon.«
»Well, geben Sie mir mein Buchs!«
»Soll denn das Knallen in aller Herrgottsfrühe schon wieder losgehen?«, murrte August.
»Mein Buchs, mein Buchs und nichts anderes bekommt man zu hören; und nun noch von der Riesenschlange, von der Ihnen so ein brauner Halunke was vorgeflunkert hat. Riesenschlangen, Unsinn, die gibt's in Menagerien, laufen aber nicht wild mang die Brombeeren rum.«
»Sie werden mir geben mein Buchs«, sagte der Amerikaner ruhig, als hätte er nichts gehört und blickte, das Monokel im Auge, aufmerksam in die Zweige des Affenbrotbaumes hinauf.
»Was wollen Sie denn schon wieder schießen? Ich habe es nun wahrhaftig bald satt, nach jedem Schuss ihre verfluchte Buchs zu putzen.«
»Ich uerde schießen einen Affen, den da mit die ueiße Schnauz, und Sie uerden mir geben mein Buchs.«
Schließlich gab August immer nach, er war ja der besoldete Diener, der seinen Lohn täglich und pünktlich erhielt, und so holte er auch jetzt das vielgeliebte Gewehr des Amerikaners.
»So, Mister Pulver, nu uerden Sie schießen das Affe mit die ueiße Schnauz.«
Der Amerikaner hatte für Spott und Gegenrede gar kein Gehör; liebäugelnd betrachtete er das ausgezeichnete und gutgehaltene Gewehr.
»Tom.«
»Donnerwetter, was gibt's denn nun schon wieder?«, ließ sich August an seiner Teemaschine grimmig vernehmen.«
»Sie uerden mir geben das andere Buchs.«
»Wozu denn?«
»Sie uerden mir geben das andere Buchs.«
»Ist die Ihnen nicht gut genug?«
»Ick uerde schießen mit das andere Buchs. Goddam!«
Wenn der Amerikaner zu fluchen anfing, hörte Augusts Widerrede sofort auf. Er ging in das Zelt, kam aber nach einigen Sekunden mit leeren Händen wieder heraus.
»He, Mister Pulver, wohin haben Sie denn die andere wieder gepaddelt?«
»Geben Sie mir das andere Buchs.«
August durchstöberte noch einmal das Zelt und erschien mit ganz bestürztem Gesicht am Eingang.
»Ne, aber so was lebt doch nicht«, rief er verblüfft, »das andere Buchs ist weg — futsch.«
»Uerden Sie mir nun geben das andere Buchs? Goddam!«
»Sie haben gut fluchen. Sehen Sie gefälligst selbst mal nach, ob Sie das Buchs finden können! Ich kann's nicht.«
Der Amerikaner zog die Augenbrauen hoch und blickte August an. Er war unwillig.
»Nee, nee, Mister Pulver, da brauchen Sie gar nicht so ein Gesicht zu schneiden. Wenn Sie das Gewehr nicht haben, ich hab's auch nicht.«
Die beiden sahen sich an.
»Suchen Sie mein Buchs«, sagte Mister Bulwer dann. August kroch noch einmal ins Zelt.
»'s ist nichts zu finden«, rief er drinnen, »und — wahrhaftig — auch der Patronenbeutel fehlt.«
»Goddam Tom!«
Augusts Gesicht drückte deutlich genug aus, dass er die Wahrheit sagte.
»Uo uird sein mein Buchs?«
»Das weiß der Teufel, ich nicht.«
»Sie uerden haben verkauft mein Buchs.«
August steckte die Hände in die Hosentaschen und lachte aus vollem Halse.
»Ich? Ihre Buchs verkauft? Wo soll denn hier der Trödler wohnen, zu dem ich sie hingetragen habe?«
»Ick spreche von keine sie, ick spreche von mein Buchs. Mein Diener zuvor hat auch verkauft meine Jagdstiefel und hat sick gekauft dafür Halsbänder.«
»Na, Männecken, mit solchem Unsinn da verschonen Sie mir. Da, der Köter ist schuld daran, die faule Bestie hat geschlafen. Ich möchte aber doch wissen, wer sich in unser Zelt geschlichen und das Gewehr mit Patronen gestohlen hat. So eine hinterlistige Gemeinheit!«
»Sie uerden uiederschaffen mein Buchs. Stellen Sie sick hin, ick uerde schießen den Affen mit die ueiße Schnauz.«
Gewehres erst auf die Schulter, dann auf den Kopf des Dieners, konnte aber natürlich noch nicht in den Wipfel des Baumes visieren.
Hätten die Affen schon nähere Bekanntschaft mit den Menschen gemacht, sie würden nicht ruhig auf sich haben zielen lassen. So aber schnatterten sie zusammen und schnitten Grimassen herunter.
»Macken Sie sick größer«, befahl Bulwer, »so — noch etwas größer — noch einen halben Meter höher.«
»Ne, Mister Pulver, so etwas hat meiner Mutter jüngster Sohn nicht gelernt. Auf die Fußspitzen kann ich mich wohl stellen, aber mich wie einen Fotografenapparat in die Höhe zu schrauben, das bringe ich nicht fertig. He, Mister Pulver, wissen Sie, wer die Buchs gestohlen haben wird?«
»No.«
»Einer von den Affen da oben.«
»Sie uerden haben können recht. Gehen Sie ueg, Sie sein zu klein.«
August entfernte sich, während der Amerikaner die Büchse hob, lange nach einem Affen zielte und dann schoss.
Ob er einen getroffen hatte oder nicht, konnte man nicht sagen, jedenfalls stürzte keiner herunter; aber etwas anderes geschah, was der Yankee nicht vorausgesehen hatte.
Der Affenbrotbaum, ein Baum mit sehr dickem Stamm, dessen Äste sich aber schon tief unten zu verteilen beginnen, trägt spannenlange Früchte, bestehend aus einer breiigen Masse, welche, besonders auf heißen Steinen gebacken, wie süßes Brot schmeckt. Die Früchte bilden die Lieblingsspeise der Affen.
Die langgeschwänzten Bewohner da oben hatten nun auch jeder eine solche Frucht in den Händen, bissen davon ab und drückten durch Schnattern ihr Wohlbehagen aus.
Kaum knallte der Schuss, kaum fuhr die Kugel durch Äste und Blätter, als ein Höllenlärm entstand, und im selben Moment sauste ein Hagel von den breiigen Früchten auf den Kopf des Schützen herab. Fast keine verfehlte ihr Ziel, und im Nu war der Kopf des Yankees mit einer klebrigen Substanz zolldick bedeckt.
Mister Bulwer dachte nicht mehr ans Schießen. Er hatte das Gewehr fallen lassen und stand mit gespreizten Fingern da, wie der Lehrjunge, der beim Naschen mit dem Kopfe ins Sirupfass gefallen ist.
August, der als Unschuldiger von den Wurfgeschossen verschont geblieben war, lehnte an einem Baume und lachte, dass ihm die Tränen über die Backen kugelten.
Der Yankee blieb nicht lange so stehen; hastig begann er mit den Händen die Schmiere vom Gesicht abzureißen, denn wahrscheinlich konnte er keine Luft bekommen, und als sich August von seinem Lachkrampf erholt hatte, unterstützte er seinen Herrn dabei.
Es war keine leichte Arbeit; das süße Zeug klebte wie Sirup; Mund, Ohren und Nasenlöcher waren förmlich verstopft, und August musste mit Wasser, Seife und Bürste arbeiten.
»Goddam«, war das erste Wort, als der Yankee den Mund öffnen konnte, »uas uar das?«
»Ja, ja, Mister Pulver«, lachte August, »diese Affen können besser schießen als Sie.«
Jetzt erst erfuhr der Amerikaner, was eigentlich geschehen war, und weit entfernt, darüber ärgerlich zu sein, rieb er sich vielmehr vergnügt die Hände.
Eine halbe Stunde dauerte es, ehe er wieder menschenähnlich aussah, aber auch dann noch starrten der Kotelettenbart und das Kopfhaar, soweit es nicht von der Kappe bedeckt gewesen, von dem schmierigen Brei. Da jedoch jetzt das Wasser kochte und der Yankee auch auf der Reise durch den Urwald genau nach seiner Gewohnheit lebte, so wurde erst der Tee eingenommen, zu welchem man trotz der frühen Morgenstunde Rum genoss. Der Amerikaner hatte sich vorzüglich verproviantiert; August trug ein leckeres Frühstück auf, bestehend aus Fleischkonserven und Biskuits.
»Tom, uarmes Wasser, ick uerde mick rasieren«, erscholl wie jeden Morgen so auch jetzt der gewöhnliche Befehl. August, der die letzte Winchesterbüchse auf dem Rücken trug, damit ihm nicht auch diese gestohlen würde, schlug in einem Becken Seife zu Schaum, und Mister Pulver begann mit pedantischer Genauigkeit die wichtige Arbeit des Rasierens.
Er selbst lehnte den Spiegel an die Baumwurzel, setzte sich davor, und da er wie mancher andere keine fremde Hand an seinem Bart duldete, seifte er sich selbst ein, und zwar gleich recht tüchtig, auch den Bart und das Kopfhaar, um die Schmiere daraus zu entfernen, während August das Rasiermesser auf der Lederschale abzog.
Mister Bulwers Kopf sah wie ein Schneeball aus, über und über mit Seifenschaum bedeckt, als plötzlich ein Grunzen erscholl, ein Donnern, ein Krachen von brechenden Ästen und Zweigen.
»Rette sich, wer kann!«, schrie August, warf das Rasiermesser fort und kletterte mit der Geschwindigkeit eines Affen am nächsten Baum hinauf.
Des Amerikaners angeborenes Phlegma konnte nicht so schnell überwunden werden.
»Uas das sein?«, fragte er und wandte langsam den Kopf, aber kaum sah er das haarige Ungeheuer mit mächtigem Kopf, in dem die Augen wie Kohlen glühten, wie es sich auf ihn zustürzte, als er wie eine Feder empor schnellte, im Nu auf dem untersten Ast des Affenbrotbaumes saß und rasch noch höher hinaufretirierte.
Da unten stand nämlich ein wirkliches Ungeheuer, ein Arni oder Riesenbüffel mit außergewöhnlich langen Hörnern.
Die tückischen Augen funkelten vor Wut, sie schielten nach dem Amerikaner hinauf, den er so gern mit den Hörnern in die Luft geschleudert und dann mit den Hufen zu Brei zerstampft hätte. Das haarige Fell der Bestie war mit einer Kruste von getrocknetem Schlamm bedeckt.
Wer solch einen ostindischen Riesenbüffel im Tiergarten sieht, der wünscht sich keine Begegnung mit ihm im Freien, und der Inder fürchtet ihn auch ebenso sehr wie den Königstiger, ja, dieser Büffel ist das einzige Tier, dem dieser selbst aus dem Wege geht.
An Stärke dem Elefanten, an Kühnheit und List dem Panther gleich, kennt die Wut des indischen Büffels keine Grenzen, wenn sie erst einmal geweckt ist. Mensch wie Tier jagt er so lange, bis er sie unter seinen Füßen hat; durch junge Wälder stürmt er ohne Hindernis; wie Schilf zerknickt er die kleineren Bäume; nichts vermag ihn aufzuhalten, und wagt einmal ein unerfahrenes Raubtier, ihn zu überfallen, so wirft er sich wuchtig an den nächsten Stamm oder auf die Erde, im nächsten Augenblick hängt der Räuber schon mit aufgeschlitztem Leib an den Hörnern, fliegt in die Luft wie ein Federball, wird wieder aufgefangen und endet unter den Hufen.
Auf dem Rücken solch eines Tieres wagt der furchtsamste Kuli ganz allein durch die Dschungeln zu reiten, eben weil sich kein Raubtier an den Büffel heranwagt; trotz seiner Wildheit ist er nämlich zähmbar und wird als Reit- und Zugtier benutzt, ist überhaupt das einzige Zugtier der Inder; höchstens der Elefant wird noch zum Pflügen des einstigen Urwaldbodens benutzt.
Ein solches Ungeheuer stand jetzt da unten, peitschte mit dem Quastenschweif die Flanken, grunzte, stampfte den Boden und rollte die Augen; oben aber saß Mister Bulwer und wischte sich fortwährend die Augen, in welche ihm der Seifenschaum lief.
»Mein Buchs, Tom, mein Buchs«, schrie er dabei in einem fort, »ick uill mein Buchs haben.«
»Den Teufel auch«, lachte August, der sich auf seinem Baumstamm ganz sicher fühlte, »holen Sie sich Ihre Buchs! Ich werde mich hüten, sie Ihnen zu bringen.«
»Sie uerden bringen mir mein Buchs.«
»Dass ich ein Narr wäre!«
»Ick gebe Ihnen fünfzig Dollar, uenn Sie uerden bringen mir mein Buchs.«
»Ne, Männeken, das machen wir nicht, auch nicht für etliche tausend Dollar. Holen Sie sich Ihre Buchs gefälligst selber, wenn Sie schießen wollen.«
Die an den Stamm gebundenen Reittiere zogen unterdessen mit der Kraft der Verzweiflung an ihren Halftern. Der Stier hatte vorläufig nur Augen für den Menschen, seinen ärgsten Feind.
Da sprengte das Maultier die Koppel, gleich darauf einer der Esel, beide jagten davon; auf den andern Esel aber stürzte sich jetzt der Büffel, schlitzte ihm mit einem Ruck den Leib auf und stampfte ihn in Grund und Boden.
»Goddam sonofabitsch«, brüllte der Yankee, »uollen Sie bringen mein — ha — ha — hazzih.«
»Prosit, Mister Pulver, die Seife kommt Ihnen wohl in die Nase? Sie sehen jottvoll aus; unten wie 'ne Ziehfigur, oben wie ein Schneemann.«
»Ick uerde Sie — ha — ha — hazzih — goddam!«
Der Körper des Esels war ein blutiger Fleischbrei; der Büffel witterte Blut; der Geruch vermehrte seinen Zerstörungswahnsinn, wild blickte er um sich und rannte mit gesenkten Hörnern auf das Zelt zu.
Wie ein Kartenhaus brach es zusammen, und der Unhold trampelte nach Herzenslust darauf herum.
Glas zerkrachte, Blechbüchsen wurden zusammengetreten, kein Stück blieb heil, alles wurde zertrümmert oder zerquetscht, selbst die Leinwand musste mit den Hörnern zerfetzt werden.
Der Yankee schrie nach seinem Gewehr, nieste und wischte sich den Seifenschaum immer mehr in Nase und Augen; er bot auf seinem Ast eine Jammergestalt dar. August lachte bald über seinen mit Seife bedeckten Herrn, bald verwünschte er den tollen Stier.
»Meine Zigarren!«, jammerte Mister Bulwer.
»Und allen Rumflaschen hat dieses räudige Vieh den Hals gebrochen«, klagte August, »da fließt der Rum hin. Hätte ich das eher geahnt, dann — —«
Er hob das Gewehr und zielte nach dem Büffel.
»Nix schießen, nix schießen«, schrie sofort sein Herr, »das sein mein Buchs, ick uerde schießen auf das Büffel.«
»Ja, da schießen Sie doch!«
»Sie uerden mir geben mein Buchs.«
»Zum Teufel noch einmal, sind Sie verrückt?«
August knallte mehrmals hintereinander ab, die kleine, stählerne Spitzkugel, von großer Pulverkraft getrieben, mochte sich aber höchstens eben in das dicke Fell einbohren. Er war nicht Schütze genug, um das Auge zu treffen, was vielleicht den Tod des Büffels herbeigeführt hätte.
Der Yankee schimpfte, dass sein Diener auf den Büffel schoss, denn nach seiner Meinung waren alle Tiere Indiens nur für ihn zum Schießen da, und der Büffel stampfte nur mit erneuter Wut auf dem wüsten Haufen herum.
Da krachte es unter seinen Hufen, einmal, zweimal, Blitze zuckten auf; der Büffel stieß ein Gebrüll aus, machte einen meterhohen Satz und stürmte davon.
»Hip hip hurra!«, schrie August auf seinem Baum und schwang die Büchse, als hätte er das Tier in die Flucht getrieben.
»Ha — ha — hazzih — uas uar das?«
»Prost; das war, der Ochse hat auf Patronen getreten, und die haben sich entzündet.«
Der Yankee nieste noch einige Male, wischte sich die Seife aus den Augen und verlangte dann von August, jetzt solle er herunterklettern und ihm das Gewehr geben.
»Nee, nee, mein Bester, ich sitze hier ganz gut. Sie denken wohl, Sie können da oben zusehen, wenn das Vieh zurückkommt und mich in den Grund trampelt.«
»Er uird nix zurückkommen.«
»Wenn Sie das so genau wissen, dann steigen Sie gefälligst zuerst vom Baum. Ich esse vom Ochsen nur die Beefsteaks gern, sonst mag ich nichts mit ihm zu tun haben.«
»Uenn Sie hätten gegeben mir mein Buchs, könnten uir jetzt essen Beefsteaks.«
»Ja, uenn! Vielleicht hätten wir aus unserem eigenen Fleisch Beefsteaks machen können.«
So stritten sie sich noch lange herum, wer von ihnen zuerst seinen Baum verlassen sollte. Beide hatten keine Lust dazu, beide fürchteten noch die Rückkehr des wütenden Tieres, und auch dass der entflohene Hund sich wieder anmeldete, konnte ihnen keinen Mut einflößen.
August knurrte und murrte, der Yankee nieste und wischte sich den vom Kopf herabfließenden Schaum aus den Augen.
Da erschien eine neue Gestalt auf der Bildfläche.
»Tom, mein Buchs, ick uerde schießen den Inder«, schrie der Yankee in höchster Ekstase, als sich die Büsche etwas teilten und ein Gesicht herausblickte, das wenigstens der Farbe nach allerdings einem Inder angehören konnte.
Der breitrandige Strohhut, der auch etwas sichtbar wurde, beschattete ein Gesicht so kupferbraun, wie die Sonne es gar nicht gebrannt haben konnte. Eine gleiche Farbe findet man höchstens bei alten Seeleuten.
Eine ganz andere Färbung zeigte wiederum die breite, dicke Nase, ein wahres Monstrum von Unförmlichkeit. An der Wurzel war sie hellblau, wurde dann aber immer dunkler, bis sie an der Spitze im tiefsten Blau strahlte.
Die kleinen, listigen Augen des Mannes musterten den Platz, sie sahen die beiden Männer auf den Bäumen hocken; Erstaunen flog über das seltsame Gesicht, und dann trat die ganze Gestalt heraus, die hier im indischen Urwald allerdings Verwunderung erregen musste.
»Herrjeh, das ist ja ein Mönch!«, schrie August.
»Yes, ein Mönik«, bestätigte Mister Bulwer und klemmte das Monokel in sein Auge, nachdem er die Seife daraus entfernt hatte.
Der Mann besaß eine lange, hagere Figur mit richtigen Pferdeknochen und Stierkopf. Seine Füße staken in schweren, mit Nägeln beschlagenen Schuhen, über die Waden waren lederne Gamaschen gewickelt, um den hageren Körper schlotterte eine schwarze Kutte, unter der noch der Saum eines hochgeschürzten, schmutzigweißen Rockes hervorsah, um den Leib schlang sich ein Strick mit einem Täschchen, auf dem Rücken hing die spitze Kapuze herab, die jetzt von dem breitrandigen Strohhut vertreten wurde.
Wenn nicht schon dadurch der Mönch charakterisiert worden wäre, so hätte dies sicherlich das goldene Kreuzchen getan, das auf der Brust an einer unförmlich dicken, zum Führen eines Ochsen bestimmten Stahlkette hing.
Doch das Aussehen des Mönches war durchaus kein friedliches, ganz abgesehen von der knochigen, herkulischen Gestalt und dem wenig Vertrauen einflößenden Gesicht, einer sogenannten Galgenphysiognomie. In dem Täschchen trug er jedenfalls weder Rosenkranz noch Brevier, vielmehr Patronen mit sich; denn unter dem linken Arm hielt er eine starke, solide Doppelbüchse von großem Kaliber, ferner hing auch an der linken Seite des Leibstrickes ein schweres Jagdmesser in lederner Scheide.
»Tom«, schrie der Yankee abermals, sich wie immer der deutschen Sprache bedienend, »mein Buchs, mein Buchs; ick habe noch nie geschossen und sterben sehen einen Mönik, ick uerde schießen diesen Mönik.«
»Der Teufel soll dich holen!«, fluchte der heilige Pater auf gut Deutsch. »Eher knalle ich dich vom Baume herunter. Hahn in Ruh da oben«, rief seine Bassstimme zu August hinauf, »oder es gibt eine blaue Bohne in den Magen!«
»Herrjeh, das ist ja auch ein Deutscher!«
»Das gerade nicht, aber so was Ähnliches.«
Jetzt erst sah der Mönch, in welch seltsamem Zustande sich der Amerikaner befand; schon der großkarierte Überzieher erregte seine Lachlust, erst recht das Gesicht und der Kopf, die beide noch immer mit Seifenschaum bedeckt waren. Er bog sich hintenüber und lachte, dass ihm der Hut abfiel und die von einem Haarkranz umrahmte Tonsur sehen ließ.
August stieg zuerst hinunter, ihm folgte der Amerikaner. Jetzt war die Luft rein.
»Heiliger Dunstan«, lachte der Mönch in dröhnendem Bass, »steigt der Kerl erst auf den Baum, wenn er sich rasieren will! Und mit Seife hat er sich eingeschmiert! Hol' mich der Henker, wenn ich so was jemals gesehen habe.«
Da fiel sein Blick auf das zertrümmerte Zelt und den umhergestreuten, zertretenen Inhalt.
»Donner und Doria, das sieht ja gerade aus, als hätte hier ein Arni gehaust! Richtig, da hat er was zusammengetreten, den langen Ohren nach einen Esel! Na, proste Mahlzeit, dem seid Ihr schönen Dank schuldig.«
Er wendete seine Aufmerksamkeit wieder dem Amerikaner zu, der sich mit einem aufgefundenen Handtuch den Seifenschaum abtrocknete, soweit dies ohne Wasser ging. August war ihm dabei behilflich gewesen. Das lange Seifenbad hatte den Bart und das Haar wenigstens von dem Brei befreit, Mister Bulwer sah wieder ganz manierlich aus.
»Na, he, und du?«, fragte der Kuttenträger grob. »Wer bist du? Was machst du hier? Wohin? Woher?«
Der Amerikaner fühlte sich nicht beleidigt, dass der Mönch auftrat, als wäre der Wald sein, und als hätte er hier auszufragen.
»Yes«, entgegnete er ruhig.
»Aha, Engländer?«
»No.«
»Türke?«
»No.«
»Zum Teufel, aus welchem Lande stammst du denn?«
»Uenn Sie sein ein Mönik, uerden Sie nicht dürfen fluchen.«
August hatte hinter seinem Herrn gestanden und immerfort mit dem Zeigefinger an seine Stirn gepocht, dann wieder auf den vor ihm Stehenden gedeutet — ein nicht misszuverstehendes Zeichen.
»Ach so, also ein Amerikaner?«
»Yes.«
»Hm hm«, brummte der fromme Mann, »dann erklärt sich alles. Du gehörst zu jener Sorte, die nach Indien kommen, um Elefanten und Tiger zu schießen.«
»Yes, und Menschen.«
»Warte mal, lieber Freund, ehe ich mich näher mit dir einlasse, muss ich erfahren, wes Geistes Kind du bist! Bist du Katholik?«
»No.«
»Also Ketzer?«
»No.«
»Nanu. Doch nicht Buddhist?«
»No.«
»Hol mich der Geier! Feueranbeter?«
»No.«
»Dann Heide?«
»No.«
»Was in drei Teufels Namen bist du denn eigentlich?«
»Protestant.«
August machte wieder hinter seinem Herrn das Zeichen der Dummheit, und der Mönch lächelte grimmig, dass er wie ein Bullenbeißer aussah, während er sich auf sein Gewehr stützte.
»Sein Sie nun fertig mit Fragen?«
»Ich verzichte auf weitere. Aus dir bekommt man doch nichts Gescheites heraus.«
»Sie sein serr, serr merkwürdiges Mönik«, sagte Bulwer, das Monokel ins Auge klemmend, »uenn Sie uirklich ein Mönik sein.«
»Oho, zweifelst du daran?«, entgegnete der Mann stolz. »Ich gehöre zum Orden der vom Papste eingesetzten Dominikaner. Frage nur nach Bruder Valentin, den kennt im Pandschab jeder.«
»Ualentin? Ein serr schöner Name!«
»Valentin.«
»Yes, Ualentin.«
»Zum Henker, Valentin, nicht Ualentin.«
»Yes Ualentin, ick verstehen.«
»Wenn dem nicht eine Schraube im Kopfe locker ist, dann weiß ich nicht.«
»Und Sie sein Dominikaner?«
»Ja; das könntest du mir überhaupt ansehen.«
»No, Sie sein Benediktiner.«
»Oho, willst du das besser wissen als ich?«
»Yes. Einmal gehen die Dominikaner fußbar, «
»Barfuß, meint er«, sagte August hinzu.
»Gehe du einmal in Indien fußbar, die Schlangen würden sich freuen. Und zweitens?«
»Yes, Schlangen serr gut. Und zueitens machen die Dominikaner keinen Schnaps, aber die Benediktiner machen einen serr guten und serr viel Schnaps.«
Bruder Valentin runzelte die buschigen, schon ergrauten Augenbrauen, die einzigen Haare, die er im Gesicht hatte.
»He, was soll das mit dem Benediktiner und dem Schnaps?«
»Ueil Sie haben eine so blaue Nase.«
Unwillkürlich griff sich Bruder Valentin an die Nase, Mister Bulwer rieb sich über seinen Witz vergnügt die Hände, und August lachte.
Der Mönch schien kein Spaßverderber zu sein, er lachte schließlich selbst mit.
»Nee, mein Bruder, da bist du weit ab von der richtigen Fährte. Bei uns sieht man das ganze Jahr nicht einen Tropfen Schnaps, nicht einmal Dünnbier. Wir leben von Wasser, Wurzeln und Gemüse.«
»Danach siehst du auch gerade aus«, lachte August.
»Die rote Nase ist ein angeborener Erbfehler. Und nun Gott befohlen, zieht in Frieden weiter!«
Er hatte sein Gewehr geschultert und wollte gehen, aber schnell vertrat ihm der Yankee den Weg.
»Heda, Ualentin. Uenn Sie sein ein guter Mönik, uerden Sie uns nix lassen allein. Uir sein überfallen von einem Büffel, all unser Gepäck ist zum Teufel, auch das Buchs ist uorden gestohlen. Sie uerden uns nix lassen hier allein, sondern uns mitnehmen nach dem Kloster.«
»So, uerde ich?«, machte der Mönch nach und ließ nachdenkend die Augen von einem zum anderen schweifen.
»Hm«, sagte er nach längerer Pause, »was hat denn der Büffel eigentlich übriggelassen?«
Das war freilich sehr wenig. Man fand nur Glasscherben, breitgetretene Blechdosen und sonstige, unbrauchbar gewordene Gegenstände; aller Proviant war untauglich geworden, die Flüssigkeiten waren im Sande verlaufen, und Mister Bulwers Zigarrenvorrat bestand nur noch aus Tabakskrümeln.
Letzteres war das einzige, was der Amerikaner, der die Zigarre am liebsten nie aus dem Munde nahm, äußerst bedauerte; August dagegen war untröstlich über das Verschwinden der mitgenommenen Spirituosen, die ihn ganz besonders an seinen Herrn gefesselt hatten.
Die beiden befanden sich allerdings in einer schlimmen Lage, wenn ihnen niemand den Weg nach einem Orte zeigte, wo sie sich neu ausrüsten konnten. Sie hatten den Truppenteil, dem sie sich angeschlossen, infolge der Sorglosigkeit des Amerikaners verloren, jetzt befanden sie sich ohne Proviant, ohne Wasser, ohne Reittiere und ohne Kenntnis des Weges in einer ihnen wildfremden Gegend.
Jedenfalls wusste der Mönch hier recht gut Bescheid, und es war gar nicht möglich, dass er sie im Stich lassen durfte. Er wollte nur erst etwas genötigt sein.
Aber es war, als ob er sich doch nicht entschließen könnte, die beiden mitzunehmen. Brummend schüttelte er den Kopf, betrachtete den Amerikaner mit misstrauischem Blick und blinzelte August mit den Augen zu, wenn dieser über den verloren gegangenen Rum jammerte.
»Ihr Kloster wird sein nix weit von hier«, meinte der Yankee. »Sie uerden uns bringen dahin, und ick uerde gut bezahlen dafür.«
»Hm, alles recht schön! Aber Ketzer? Nein, das geht nicht. Da würde der Prior schöne Augen machen, wenn ich die mitbrächte.«
Indem bückte er sich, und durch die Bewegung fiel unter seiner Kutte klirrend ein Gegenstand zu Boden.
»Hei, was ist das?«, rief Mister Bulwer und hob eine Flasche, verkapselt und etikettiert, auf. »Das ist eine Buttel Portuein, aus der Ueinhandlung Clark und Kompanie zu London!«
Der Mönch bemeisterte so schnell seine Verlegenheit, dass sie gar nicht bemerkt wurde, obgleich August große Augen machte.
»Die hat der Büffel eben nicht zertrampelt.«
»Uas? No, no. Ick gesehen haben, uie sie ist gefallen aus Ihrem Rock. Tom?«
»Yes, Sir, ich hab's auch gesehen.«
»Na, da will ich euch was sagen. Ja, die Flasche gehört mir. Her damit, und nun Gott befohlen!«
Aber der Amerikaner war durchaus nicht dumm, hatte er doch sein vieles Geld erst durch seine Schlauheit erworben. Er litt nur etwas an der transatlantischen Krankheit, dem Spleen.
»All right, good bye«, rief er dem Fortgehenden nach. »Im Kloster San Bernardo sehen uir uns uieder!«
Wie vom Blitz, getroffen drehte sich der Kuttenträger um.
»Was, zum Teufel, sagst du da?«
»Yes, ick ueiß«, grinste der Yankee, »du sein Bruder Ualentin vom Kloster San Bernardo.«
»Wer hat dir das gesagt? Ich doch nicht!«
»No, aber ick ueiß, San Bernardo ist nix ueit von hier.«
Der Mönch änderte sein Benehmen plötzlich vollkommen.
Er trat vor den Amerikaner hin, schüttelte erst ihm, dann August die Hand, als wolle er ihnen den Arm aus dem Gelenk renken, und nahm eine väterliche Miene an.
»Nichts für ungut, ich hätte euch überhaupt nicht im Stich gelassen. Ich wollte nur eure christliche Geduld prüfen, und ihr habt die Probe glänzend bestanden. Der Herr wird's euch dereinst anrechnen. Und was die Flasche Portwein anbetrifft, wisst, die habe ich vorhin im Walde gefunden, so wie sie da ist, gekapselt und etikettiert. Es ist doch närrisch. Wer mag die wohl verloren haben?«
»Und alles so gut erhalten!«, fügte August hinzu.
»Ja, 's ist ein Wunder. Aber passierten früher Wunder, warum sollten denn jetzt keine mehr vorkommen? Also, begleitet ihr mich nach dem Kloster? Ich werde ein gutes Wort beim Prior für euch einlegen und ihm von eurer christlichen Geduld erzählen. Wenn ihr auch Ketzer seid, das macht nichts; bezahlen werdet ihr freilich müssen.«
Das klang ganz anders als vorhin; es schien, als habe der Mönch kein gutes Gewissen, und als wolle er es mit den beiden nicht verderben.
Mister Bulwer untersuchte nicht erst, was noch des Mitnehmens wert war, er ließ alles liegen, so wie es war. Nur die noch brauchbaren Patronen ließ er von August aufsammeln, wobei Bruder Valentin diesen unterstützte.
Dann verlangte er von dem Mönch, er solle ihm einen Wasserplatz zeigen, denn er litte an Durst, und sein Wasservorrat sei vernichtet.
Valentin kratzte sich hinter den Ohren und schüttelte den Kopf.
»Hierherum gibt's keinen, und bis zum Kloster sind's noch gut vier Meilen. Verdammt — wollte sagen, Jesus und Maria — was ist da zu machen?«
Sein Blick fiel wie zufällig auf die Flasche, die August in der Hand hielt. Es war ein schmerzlicher Blick gewesen.
»Ist denn da nichts zu trinken drin?«
»Yes, Portwein.«
»Löscht der nicht den Durst?«
»Yes. Sie haben noch keinen getrunken?«
»Gott verd... — segne mich, ich habe noch nie einen Tropfen davon über meine Lippen gebracht.«
August sollte die Flasche öffnen und hatte keinen Korkzieher bei sich. Unter dem Gerümpel musste wohl einer liegen, aber um ihn zu finden, wäre langes Suchen nötig gewesen.
»Vielleicht geht's hiermit!«, meinte Valentin und zog ein Instrument hervor.
»Das ist ja ein Korkzieher!«, rief August.
»Was ist das?«, fragte Valentin unschuldig.
»Ein Ding, womit man die Stöpsel aus den Flaschen zieht. Sieh, so wird's gemacht.«
»Nanu, das habe ich noch gar nicht gewusst. Ich habe das Ding einmal gefunden und geglaubt, es wäre ein Gärtnerinstrument.«
Der Yankee trank zuerst und wollte dann die Flasche dem Mönch reichen, aber mit Abscheu schüttelte dieser den Kopf.
»Was ist denn das eigentlich für Zeug?«, fragte er dann, als August getrunken hatte.
»Alter Portwein, ausgezeichnet!«
»Na, ein Schlückchen wird mich wohl nicht gleich um die Seligkeit bringen, und zu beichten brauch ich's wohl auch nicht. Zeig her, Bruder!«
Mit zitternder Hand führte er die noch halbvolle Flasche unter die blaue Nase, ein Schluck, ein Druck, und der Inhalt war in der Kehle verschwunden.
»Serr gut!«, sagte Mister Bulwer, und August grinste. Der Mönch dagegen schüttelte sich.
»Pfui Teufel — wollte sagen, Gott bewahre mich, dass ich jemals wieder solches Zeug saufe! Das schmeckt ja gerade wie Gift und Galle!«
Sie brachen nach dem Kloster auf. August schloss sich dem vorausgehenden Valentin an, der Yankee folgte, wie immer schweigend, sich nicht umsehend und sich über nichts wundernd, nach.
Während sie so über Baumwurzeln stiegen und sich durch dichtes Gebüsch zwängten, erfuhr August von dem redselig gewordenen Klosterbruder, dass er von Geburt ein Schweizer sei. Ohne sich zu genieren, erzählte er, dass er die Gemsjagd zu sehr geliebt habe, und dass er, als er einmal beim Wildern erwischt wurde, den Forstgehilfen über den Haufen geschossen habe.
Er musste fliehen, wurde steckbrieflich verfolgt und fand zuletzt Aufnahme in einem Dominikanerkloster. Über vierzig Jahre war er nun schon Dominikaner, hatte es aber nie zum Pater, das heißt zum geweihten Priester gebracht, sondern war immer dienender Bruder geblieben. Trotzdem hatte Valentin — seinen eigentlichen Namen verschwieg er — stets eine Rolle gespielt. Man schickte ihn mit den Missionaren ins Innere Asiens, wo er in wüsten Gegenden mit seinem Gewehre für den Unterhalt der ganzen Gemeinde sorgte; der ehemalige Wilderer war noch immer Jäger geblieben.
Sobald aber eine neue Klostergemeinde emporgeblüht war, dann musste Valentin wieder mit anderen Missionaren fort, in eine andere Wildnis hinein, und zuletzt, in seinem Greisenalter, steckte man ihn in das entlegenste Kloster im Pandschab, wo er von aller Zivilisation abgeschlossen war.
Warum er eigentlich nie in der Nähe einer Stadt bleiben durfte, warum er sofort versetzt wurde, wenn sich die Kultur in der Nähe des Klosters bemerkbar machte, das blieb August vorläufig noch ein Rätsel. Er sollte es erst später zur Genüge erfahren.
»Hier aber bleibe ich«, schloss Valentin seine Erzählung, »von hier werden sie mich nicht wieder fortjagen; denn ich bin der einzige, der mit einem Gewehre umzugehen weiß. Wäre ich nicht hier und hätte unter dem Raubgesindel aufgeräumt, man könnte keinen Fuß vor die Klosterpforte setzen. Als ich hierher kam, wimmelte es noch von Tigern und Panthern, jetzt habe ich tüchtig unter ihnen aufgeräumt, und«, fügte er listig blinzelnd hinzu, »hier gefällt es mir auch ganz besonders gut. Weißt du, ich bin der Revierförster vom Kloster; in der Umgegend ist mir meilenweit kein Baum, kein Felsen und keine — keine«, er stockte, als fürchte er, sich zu verplaudern, »und keine Pflanze unbekannt; den ganzen Tag streife ich mit der Büchse umher. Niemand fragt, wenn ich einmal nachts nicht ins Kloster komme, ich finde allemal eine Entschuldigung dafür.«
Es raschelte neben ihnen; August machte einen Seitensprung, denn vor ihm erhob sich der Kopf einer giftigen Schlange, die glitzernden Augen auf ihn gerichtet. Blitzschnell bückte sich Bruder Valentin; ein sicherer Griff, seine Faust legte sich um den Hals des Reptils, der meterlange Körper sauste pfeifend durch die Luft, ehe er sich um den Arm ringeln konnte, und zerschmetterte am nächsten Baume.
Kaltblütig zog Valentin sein Bowiemesser, schnitt der Schlange den Kopf ab, wickelte ihn in ein Tuch und steckte ihn ein.
»Wieder ein Vaterunser gespart! Möchte mir gemerkt haben, wie viel Hundert Schlangen ich schon getötet habe.«
»Was ist das mit dem Vaterunser?«
»Für jeden giftigen Schlangenkopf«, schmunzelte Valentin, »den ich dem Prior abliefere, wird mir ein Vaterunser geschenkt. Solltest dabeigewesen sein, als ich einmal im Kloster selbst ein ganzes Schlangennest aushob. Den Schreck, Herr du meine Güte! Ja ja, Bruder Valentin kann noch etwas anderes als Gebete plärren und den Rosenkranz drehen.«
»Bravo, das uar serr gut«, sagte der Yankee, dem das Schlangengreifen imponiert hatte, »die Schlange war jedenfalls nicht giftig.«
»Nicht giftig? Was meinst du wohl? So eine hat mir einmal in den Stiefel gebissen, und ehe ich nach Hause kam, war der mir schon in Stücken vom Fuße gefallen. Das Leder war richtig verfault, die Nägel ganz verrostet. Ja, kommt mir nur mit Giftschlangen!«
»Eh, Leder uar verfault, Nägel verrostet?«
»Glaubst du, ich flunkere dir etwas vor?«, sagte der Nimrod, der, wie fast alle Jäger, auch der Tugend des Lügens huldigte. »Da habe ich einmal gesehen, wie eine Kobra einem Soldaten in den Rock biss. Nun pass auf, du kannst etwas lernen. Nach zwei Minuten liefen die blanken Knöpfe blitzblau an, dann sprang einer nach dem anderen ab; nach fünf Minuten wurde das Futter des Rockes rot, als wäre es verbrannt, roch auch sengrig, und eine Viertelstunde später fiel dem Soldaten der Rock wie Zunder vom Leibe.«
»Möglich!«, nickte der Yankee. »Dann hat wohl auch eine Schlange Sie in den Rock gebissen?«
»Warum?«
»Weil Ihre Nase sein blitzblau angelaufen.«
»Lass diese faulen Witze, Freund! Wenn du erfährst, dass ich sie mir in Sibirien erfroren habe, wirst du nicht mehr spotten.«
Der Dominikaner wurde stets verstimmt, wenn man auf seine blaue Nase zu sprechen kam. Es schien dies seine schwache Seite zu sein.
Nach einiger Zeit tötete er abermals eine Schlange, und dies veranlasste den Amerikaner, sich wieder zu ihm zu gesellen.
»Ick habe gehört«, begann er, »bei das Kloster Bernardo soll gesehen uorden sein eine Riesenschlange.«
»Aha, daher kennst du also das Kloster?«
»Ist das wahr?«
»Das mit der Riesenschlange? Ja. Willst du sie vielleicht jagen?«
»Yes«, nickte der Amerikaner.
Der Kuttenträger betrachtete ihn wie spöttisch von der Seite.
»Hast du schon einmal eine Riesenschlange gesehen?«
»Yes, in Brasilien.«
»Ich weiß nicht, wie sie dort sein mögen, wenn du aber hier einmal eine gesehen hast, dann gehst du nicht mit solch einem Blaserohr, wie du da hast, aus, um sie zu jagen.«
»Yes, ich weiß, die Riesenschlangen sein hier viel größer als in Brasilien, auch uerden die Riesenschlangen in Indien verspeisen gern Menschen.«
»Das tun sie mit Vorliebe aus dem einfachen Grunde, weil sie so einen schlanken Menschen leichter hinunterschlucken können als etwa eine Antilope, die alle viere von sich streckt und ein Geweih hat.«
»Haben Sie die Schlange schon gesehen?«
»Ja, ich war nahe daran, in ihrem Magen zu verschwinden.«
»Ah, ah, wie lang war sie?«
»So dreißig bis vierzig Meter!«
»Goddam, das ist lang«, sagte der Amerikaner, obgleich er solch eine Aufschneiderei nicht glaubte.
»Ja, dreißig bis vierzig Meter und etwa einen Meter dick. Sie hatte eben einen Elefanten verschlungen und war satt, sonst würde ich wohl heute nicht mehr leben.«
»Goddam, einen Elefanten!«
»Der Rüssel des Elefanten sah noch aus dem Rachen, dadurch wurde sie noch länger.«
»Uo hält sie sick auf?«
»Im Dschungel an einem Sumpf, ganz nahe am Kloster. Die Brüder beten, dass Gott sie von dem Ungeheuer befreie, aber wenn nicht ein Mann kommt, der sie schießt oder fängt, so kann sie noch manchen Klosterbruder verspeisen. Ich tu's nicht.«
»Ick uerde dieser Mann sein.«
»Du? Mit dem Zuckererbsengewehr da?«
»Ick habe gefangen in Brasilien Riesenschlangen, ick uerde auch fangen diese.«
»Du streust ihnen wohl Salz auf den Schwanz?«
»No, nix Salz auf die Schuanz, ick baue eine Falle, uo sie sick uird fangen.«
»Da wünsche ich dir gut Glück. Wenn der Prior hört, dass du sie fangen willst, und er merkt, dass es dein Ernst ist, dann bist du bei ihm Hahn im Korbe, dann kannst du so lange im Kloster bleiben, wie du willst. Der Prior getraut sich nicht mehr aus der Tür, seitdem die Riesenschlange gesehen worden ist.«
»Dreißig bis vierzig Meter — goddam«, murmelte der Yankee nachdenklich, wieder zurückbleibend.
Jetzt teilte der ehrwürdige Bruder August mit, dass er dem Amerikaner nur etwas vorgeflunkert habe, was August allerdings nicht neu war.
Aber etwas Wahres war doch daran; Valentin hatte wirklich in der Nähe des Klosters ein solches Ungetüm gesehen, wie es eine erwürgte Antilope mit Speichel bestrich; auch von anderen war es gesehen worden und hatte wegen seiner furchtbaren Größe Schrecken in der ganzen Gegend verbreitet; nur dass Valentin es auf dreißig bis vierzig Fuß, nicht Meter, schätzte.
Riesenschlangen von dreißig Metern Länge gibt es überhaupt nicht, wohl aber in Ostindien solche von dreißig Fuß, also zehn Metern, und darüber.
Hat der liebe Leser Gelegenheit gehabt, Riesenschlangen im Tiergarten oder in Schaubuden zu sehen, so waren es jedenfalls immer brasilianische oder javanische, deren größte Länge sieben Meter beträgt. Die von den Vorzeigern gewöhnlich geschilderte Gefährlichkeit dieser Reptile beruht auf Übertreibung, sie greifen den Menschen nicht an. Überdies machen die halberstarrten Schlangen meist einen recht traurigen Eindruck.
Etwas ganz anderes ist es mit der ostindischen Riesenschlange, Schlinger oder Python genannt.
Bei denen ist zehn Meter Länge und darüber keine Seltenheit, sie sind mannesdick, der Rachen starrt von Zähnen und oft genug erküren sie sich ihre Beute unter Menschen.
Giftig sind sie nicht, wie überhaupt keine Riesenschlange, wohl aber entströmt ihrem Rachen ein widerwärtiger, betäubender Geruch, der ihnen aber insofern selbst schadet, als er ihr Nahen schon ankündigt und das Opfer warnt.
Valentin wusste viel von derartigen Reptilien zu erzählen und sagte offen, er habe keine Lust, sich mit solch einem Ungeheuer einzulassen. Was vermochte eine Gewehrkugel viel auszurichten! Man konnte sich der Schlange nur gefahrlos nähern, wenn sie eben eine Beute verschlungen und infolgedessen steif dalag, dann aber hielt sie sich sorgfältig verborgen. Im anderen Falle schoss sie auf den Jäger los und hatte ihn bald eingeholt; gewöhnlich aber bemerkte sie ihn früher als er sie und überfiel ihn plötzlich, und dann gab es kein Entrinnen mehr.
Bei derartigen Erzählungen, mit reichlichen Beispielen gewürzt, sträubte sich Augusts Haar auf dem Kopfe. Hinter jedem Baume glaubte er die Riesenschlange vorschießen zu sehen, jedes Rascheln jagte ihm Furcht ein, in jedem krumm gewachsenen Baume vermeinte er das Ungeheuer zu erblicken.
Dass Mister Bulwer die projektierte Menschenjagd nun aufgeben und dafür die Riesenschlange von dreißig bis vierzig Metern zu erbeuten suchen würde, davon war August felsenfest überzeugt, denn den Triumph, in seiner Heimat mit einer selbsterlegten, ausgestopften Riesenschlange zu glänzen, ließ sich der Amerikaner nicht entgehen.
Die Reise nach dem Kloster San Bernardo hatte ja auch keinen anderen Grund gehabt. Mister Bulwer erfuhr, dass dort eine Riesenschlange gesehen worden wäre, und sofort stand sein Entschluss fest, diese zu erlegen.
Schon seit einigen Tagen träumte der Yankee von nichts weiter als von Riesenschlangen, ebenso August, zugleich nahm sich dieser aber fest vor, seinen Herrn auf keinen Fall auf eine solche gefährliche Jagd zu begleiten.
»He, mein Freund«, begann der joviale Klosterbruder wieder, »du sagst doch nichts wegen der Portweinflasche?«
»Gott bewahre.«
»Und jener — jener verrückte Amerikaner?«
»Der denkt schon längst nicht mehr daran.«
»Das ist gut, 's wäre mir fatal, du weißt schon warum, und dass ich so manchmal ein bisschen fluche, davon brauchst du auch nichts zu erwähnen. Es steckt mir eben so in den Knochen, das Beten und Geplärre bekommt man auch manchmal satt. Und, weißt du, wenn wir uns gut vertragen, wenn du so zu mir passt, dann sollst du noch etwas ganz anderes erfahren.«
»Was denn?«
»Jetzt noch nicht«, schmunzelte der Mönch und blinzelte mit den Augen, »erst muss ich dich auf die Probe stellen. Vielleicht erfährst du noch, dass diese Gegend ein Paradies ist.«
Weiter ließ er sich nicht aus.
Der Wald verschwand; eine kleine Sandwüste, wie man solchen im Pandschab auch von größerem Umfange begegnet, ja solchen, in denen selbst ein Reiter ohne Wasservorrat verschmachten kann, breitete sich vor ihnen aus. Das Spiel der Natur aber hatte es gewollt, dass sich in der Mitte dieser ebenen Fläche ein Hügel erhob, welcher mit üppiger Vegetation bedeckt war. Fleißige Hände hatten daraus einen waldigen Garten gemacht, aus dem nahen Felsengebirge Steine herbeigeschafft und auf dem Hügel ein kleines, aber festes Gebäude aufgeführt — das Dominikaner-Kloster zum heiligen Bernardo, dessen Bewohner im Pandschab die Eingeborenen zum katholischen Glauben bekehren sollten, allerdings bisher ohne nennenswerten Erfolg.
Freundlich lag die Mittagssonne auf dem Hause; sie schien in die scheibenlosen Fenster der Zellen; freundlich war auch der Eindruck des großen Gartens. Alles Düstere, was einem sonst beim Anblick eines Klosters befällt — dunkle, hohe Mauern, uralte Bäume — fiel hier weg.
Beim Näherkommen erkannte man, dass es sowohl einen Gemüsegarten wie auch einen Obstgarten gab, und dass auch diese von einer Mauer, freilich nur einer niedrigen, umfriedet waren, um so die sogenannte Klausur herzustellen, welche ohne die Erlaubnis des Priors von keinem Mönch überschritten werden darf.
Von dem hochgelegenen Kloster konnte man die Gärten übersehen, es hätte für den Kriegsfall auch eine gute Festung abgegeben. An das Kloster schloss sich noch ein anderes Gebäude, in welchem Kühe brüllten; also konnte diese Einsiedelei seine Bewohner zur Not wohl selbst ernähren. Die Kühe gaben Milch, die Gärten Obst und Gemüse, Holz musste freilich aus dem nahen Walde herbeigeschafft werden, und woher die Mönche Wasser bekamen, war auch nicht zu erkennen. Wahrscheinlich besaß das Kloster einen Brunnenschacht.
Die drei Wanderer schritten durch den Obstgarten; auf Valentins Klopfen öffnete sich die eisenbeschlagene Klostertür; er ging hinein, während seine Begleiter draußen warten mussten.
Nach einer Viertelstunde öffnete der Bruder Pförtner auch ihnen die Tür, der Circator, in Klöstern eine Art von Hausmeister, hieß sie im Namen des Priors willkommen und führte sie, ohne vorläufig nach Namen, Religion, Stand oder Zweck ihres Besuchs zu fragen, in zwei nebeneinanderliegende Zellen, die nur mit je einem harten Lager, Stuhl, Tisch und Kruzifix ausgestattet waren.
Dann zeigte ihnen derselbe Mann im gemeinsamen Waschraum eine abgesonderte Stelle, wo sie sich reinigen konnten, und als sie nach Besorgung dieses Geschäftes zurückkehrten, fanden sie jeder einzeln für sich, das Mittagessen aufgetragen, bestehend aus einem Krug Wasser, einer Schüssel mit in Wasser gekochtem Reis und einem Stück Hartbrot, sogenanntem Schiffszwieback, über welche Delikatessen August große Augen machte und den Kopf hängen ließ.
Die Klosterglocken hatten das Vesper geläutet, als zwei Reiter an dem Tore hielten und den Klopfer in Bewegung setzten. Wieder waren es zwei Fremde, welche die Gastfreundschaft des Klosters beanspruchten.
Da sie nicht, wie die beiden Vorhergehenden, durch Valentin angemeldet worden waren, so wurden sie nach ihrem Begehr gefragt.
Sie baten um Obdach für die Nacht und um eine Unterredung mit dem Prior.
Da diese beiden einen ganz anderen, gesetzteren Eindruck machten als die am Morgen Angekommenen, so wurde ihnen auch Einlass gewährt, und nachdem die Pferde und das wenige Gepäck untergebracht und die Reiter ein wenig Toilette gemacht hatten, wurden sie in das geräumigere Gemach des Priors geführt.
Dieser, ein schon bejahrter Mann mit strengen, aber einnehmenden Zügen, hieß die Eintretenden im Namen des Herrn willkommen und sicherte ihnen die Gastfreundschaft des Klosters zu, obgleich er schon erfahren, dass er Andersgläubige vor sich hatte.
Die Unterhaltung wurde auf Englisch geführt, und auch in dieser Sprache bediente sich der Prior des ›du‹, welches sonst nur in der Bibel und in der Poesie gebraucht wird.
Wir kennen die beiden Männer — es sind Reihenfels und Doktor Morrison.
Ersterer stellte sich als Privatgelehrter, letzterer als amtlich angestellter Dolmetscher vor, denn der Titel eines protestantischen Missionars hatte hier sicherlich keinen guten Klang.
Dann teilte Reihenfels unter Vorlegung des mitgenommenen Tagebuchs dem Prior kurz die niedergeschriebenen Erlebnisse des Herrnhuters mit, übersetzte ihm wörtlich den Schluss der Aufzeichnungen und fügte hinzu, er und sein Begleiter hielten es für ihre Pflicht, die Gebeine eines solchen ehrenwerten Mannes aufzusuchen.
Der Prior interessierte sich nicht nur sichtlich für den Herrnhuter — hatten diese Ereignisse doch in dieser Gegend unter einem seiner Vorgänger stattgefunden — sondern er erkundigte sich auch lebhaft nach der singenden Flamme in der Höhle.
Daraus konnte Reihenfels schon schließen, dass ihm eine solche nicht bekannt war — oder, nur eine einfache Höhle in welcher jene Flamme erloschen war. Dann aber hätte er etwas von den Knochen wissen müssen.
»Nein«, entgegnete der Prior, »ich kenne überhaupt keine Höhle in dieser Gegend. Allerdings bin ich auch nicht weit aus den Mauern des Klosters gekommen. Soviel mir indes bewusst ist, bietet die Umgegend hier wohl wildzerklüftete Felsen, jedoch existiert keine einzige Höhle. Lass dich dadurch nicht gleich entmutigen, wir wollen erst sehen, ob die Angaben in diesem Tagebuche auf Tatsache beruhen. Vieles davon habe ich schon gelesen, wir wollen nur noch die Daten vergleichen.«
Er holte vom Regal ein dickes Buch herab, eine Chronik, und schlug nach.
Die Angaben des Herrnhuters fanden Bestätigung; das Emporwachsen der Gemeinde Emmaus unter dem protestantischen Geistlichen, wie dieser den damaligen Prior des Klosters vor dem Verschmachten gerettet hatte, der Überfall durch die Afghanen, wie dem Herrnhuter der Eintritt in die Klostermauern verweigert werden musste, weil er durchaus die Frauen und Kinder seiner Gemeinde mit hineinbringen wollte — alles stimmte, ebenso die Daten.
Dann wurde nur noch gesagt, dass der Herrnhuter mit den Kriegsunfähigen seiner Gemeinde geflohen sei, und es wurde seiner nicht mehr erwähnt; die Chronik beschrieb die Belagerung des Klosters durch die Afghanen.
Auch späterhin war von dem Herrnhuter nichts mehr zu lesen.
»Wissen Sie, wo sich die Ansiedlung Emmaus befand?«
»Drei Meilen von hier aus südlich. Ich kann dir die Lage genau beschreiben, oder auch, wenn du es verlangst, dich hinführen lassen. Da nun jener Mann angibt, er sei ungefähr drei Meilen nordöstlich geflohen, so müsste die Höhle östlich, also in einem sehr gebirgigen Teile liegen.«
»Und es ist Ihnen gar keine Höhle bekannt?«
»Nein; auch die, welche die Umgegend kennen, wissen von keiner. Doch der Herrnhuter sagt, der Eingang zu dieser Höhle sei ganz versteckt gewesen, so wäre es noch möglich, sie zu finden, und ich werde mich anstrengen, auch dabei behilflich zu sein.«
Die beiden Herren verneigten sich dankend, wussten aber nicht, was der Prior ihnen helfen könnte.
Er selbst gab sofort die Erklärung.
»Unter den Klosterbrüdern ist einer, welcher sich mehr im Wald und im Gebirge aufhält als in der Zelle, auch gebrauche ich ihn nicht zur Mission. Dennoch ist er uns sehr nützlich; denn einmal säubert er die Umgegend von reißenden Tieren, und zweitens ist er den Missionaren ein sicherer Begleitmann. Schon seit zehn Jahren hier und Jäger gewesen, kennt er jeden Weg und Steg, jede Kluft und jede Schlucht, und weiß die Büchse trefflich zu handhaben. Wir Menschen sind ohne Gottes Barmherzigkeit allesamt Sünder; ein jeder hat sein Laster, klein oder groß, und so lag auch Bruder Valentin lange Zeit in den Ketten des Teufels. Er hat sich durch Christus mit Gott versöhnt, jetzt ist er ein gläubiges Kind Gottes, ich bin mit ihm zufrieden. Bruder Valentin hat mir zwar einst gesagt, es existiere in der ganzen Umgebung keine einzige Höhle, doch es wäre ja möglich, dass er unterdessen eine entdeckt hat. Es war vor vielen Jahren, als ich ihn darum fragte. Und sonst, wenn ihr danach suchen wollt, so stelle ich ihn euch als Führer zur Verfügung. Es sollte mich freuen, wenn ihr die Gebeine des Mannes, der euer Herz, wie auch das meine gerührt, finden solltet. Muss ich auch ein Feind eurer Religion sein, so heiße ich doch Euer Unternehmen gut und edel.«
Der Prior klingelte und befahl dem aufwartenden Bruder, Valentin herbeizurufen.
Der Nimrod in der Mönchskutte erschien. Mit seiner blauen Nase konnte er kein frommes Gesicht machen, so gab er sich ein klägliches Aussehen. Er sah aus wie der arme Sünder, der sich seiner Schuld vollkommen bewusst ist und sie gern wieder gutmachen möchte.
Diesen Eindruck machte er auf Morrison. Reihenfels war der einzige, dem ein geheimer Instinkt sagte, dass sich dieser Mann verstellte.
»Bruder Valentin«, redete der Prior ihn in seiner salbungsvollen Weise an, »du hast mir einst gesagt, dass sich in der Umgebung dieses Klosters keine Höhle befände, die wir für uns nutzbar machen könnten. Entsinnst du dich?«
Wieder war es nur Reihenfels, dem es nicht entging, wie Valentins Augenbrauen bei dieser Frage gezuckt hatten, wie sein Blick ein anderer wurde. Es war kaum merklich gewesen, sonst hatte sich keine Muskel in dem kupferroten Gesicht bewegt.
»Ich entsinne mich, ehrwürdiger Vater«, entgegnete Valentin, seine raue Stimme möglichst zu mildern suchend.
»Hast du inzwischen auch keine Höhle gefunden?«
Diesmal zuckte keine Miene, aber Reihenfels hätte schwören können, dass der Mönch sich Mühe gab, seinen Gesichtsausdruck beizubehalten, und zugleich einen Seitenblick auf die beiden Fremden zu werfen.
»Welche Höhle meinst du, ehrwürdiger Vater?«
»Überhaupt irgendeine Höhle.«
»Nein, ehrwürdiger Vater. Gott hat nicht gewollt, dass ich eine Höhle finde, welche wir in Zeiten der Not als Versteck benutzen können.«
»Valentin weiß also nichts davon«, wandte sich der Prior an die beiden Freunde. »Es ist ja leicht möglich, dass ihn der Weg nie in jenen Teil des wilden Gebirges geführt hat. Verliert den Mut also nicht, meine Freunde!«
»Kannst du mir die Lage der Höhle und ihre Beschaffenheit nicht näher angeben, ehrwürdiger Vater?«, fragte jetzt seinerseits der Mönch, der den kurzen Moment, als er nicht beachtet wurde, dazu benutzt hatte, die Fremden zu mustern.
Diese Frage machte Reihenfels stutzig. Was sollte sie? Was für einen Zweck hatte sie, wenn der Mönch überhaupt keine Höhle kannte? Entweder entsprang diese Frage der Neugier, der Geschwätzigkeit, der Wichtigtuerei, oder aber einem Hintergedanken. Kurz, Reihenfels hatte plötzlich Argwohn gefasst, er allein.
Der Prior antwortete bereitwilligst:
»Die Höhle, welche diese beiden Freunde suchen, liegt allem Vermuten nach östlich von hier. Sie ist geräumig, ein schmaler Gang führt in sie hinein, und der Eingang liegt versteckt.«
Bruder Valentin schüttelte wie nachdenkend das Haupt.
»Nein, ich kenne keine Höhle.«
»Oder hast du einmal ein singendes oder pfeifendes Geräusch gehört, welches dir rätselhaft erschien?«
Der Mönch stützte erst das Kinn in die Hand, bedeckte dann sein ganzes Gesicht mit derselben und tat, als sinne er angestrengt nach.
Morrison konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Für ihn unterlag es keinem Zweifel, dass sich dieser Mönch einen Anstrich von Wichtigkeit geben wollte, wie überhaupt in solch einem öden Ort wie in diesem Kloster die kleinste Sache mit der größten Wichtigkeit behandelt wird.
Der Doktor stieß Reihenfels an; dessen Misstrauen war aber plötzlich erwacht, obgleich er sich noch keine Rechenschaft abgeben konnte, warum eigentlich. Er hatte gemerkt, dass das Vorlegen der Hand vors Gesicht nur ein Grund war, um zwischen den Fingern hindurch bequem und unbeobachtet nach den Fremden schielen zu können.
»Ja, ehrwürdiger Vater«, entgegnete Valentin, die Hand sinken lassend, »ich entsinne mich, einmal ein Singen oder Pfeifen vernommen zu haben.«
»Wo war das, lieber Bruder?«
»Es war allerdings westwärts von hier.«
»Erzähle!«
»Ich lag unter einem Baume und träumte von der Seligkeit des Paradieses. Die Müdigkeit übermannte mich, ich schloss die Augen, und da sah ich ihn sitzen in seiner Herrlichkeit, zu der Rechten seinen Sohn, und ich hörte ein Singen und Flöten und Jubilieren von Engelsstimmen, und als ich erwachte, da weinte ich, dass ich noch auf der Erde war.«
Valentin hatte die Hände gefaltet, seufzte und verdrehte die Augen.
»Nein, dieses Singen und Flöten meinte ich nicht. Hast du niemals eine Flamme gesehen, anzusehen wie ein Strich in finsterer Nacht, von der ein solches Singen und Pfeifen ausgeht?«
Der Mönch machte ein erstauntes Gesicht.
»Eine Flamme? Die singt? Nein, ehrwürdiger Vater! O, blutiger Heiland, das wäre etwas für unser Kloster!«
»Trage dich nicht mit weltlichen Gedanken! Hast du auch nie eine Ansammlung von Menschenknochen gefunden?«
»Gott sei's geklagt«, seufzte Valentin, »oft genug finde ich die gebleichten Gebeine von Menschen! O, Wehe, o, Jammer, die Brüder richten das Schwert untereinander auf die Brust, der Sohn schont nicht mehr den Vater, der ihn erzeugt, der Säugling nicht mehr die Mutter. Wehe, wehe, welch Klagegeschrei wird dereinst erschallen!«
»Beherrsche jetzt deinen Schmerz«, ermahnte ihn der Prior liebevoll. »Da dir also eine Höhle unbekannt ist und diese beiden Freunde eine solche suchen, in welcher eine Flamme singt und viele Totengebeine liegen, so wirst du ihnen dabei behilflich sein, sie zu suchen. Unterrede dich morgen früh mit ihnen; heute ist es schon zu spät.«
Der Prior schlug das Kreuz gegen den sich verneigenden Mönch; an der Tür blieb dieser aber noch einmal stehen.
»Was wünschest du noch, Valentin?«
»Ach, ehrwürdiger Vater, ich habe vergessen, mir vor der Vesper die Erlaubnis einzuholen. Heute Morgen spürte ich einen Panther auf, ich jagte ihm seine Beute ab und legte sie als Köder. Er wird diese Nacht wiederkommen und sie sich holen, 's ist ganz dicht hier in der Nähe.
»Es ist gut, du darfst das Kloster verlassen.«
Valentin ging; doch was hätten die Gäste des Priors gesagt, wenn sie ihn jetzt gesehen, wie er draußen auf dem nur schwach erleuchteten Gange stand.
In seinem Gesicht kämpften Schreck und eine tierische Gier miteinander; seine Zähne knirschten, aufeinander, er ballte die Faust, dann aber verzog sich sein Gesicht zu einem widrigen Grinsen; er hob die Hände und machte gegen die Tür eine lange Nase.
»Dass ich ein Narr wäre und euch die singende Flamme zeigte!«
Auch die beiden Freunde wurden kurz verabschiedet. Der Circator wies ihnen zwei Zellen zu, welche ebenso einfach wie alle anderen waren; hatte doch auch in der geräumigen Zelle des Priors kein weicheres Lager gestanden.
Dass das Kloster noch andere Gäste beherbergte, wussten Morrison und Reihenfels nicht; man hielt es nicht für nötig, ihnen dies mitzuteilen. Auch August hatte keine Ahnung, dass er mit seinem früheren Herrn unter einem Dache schlief.
Reihenfels bestand darauf, mit seinem Freunde noch zusammenbleiben zu dürfen, worauf der Circator bemerkte, dass in einer Stunde die Zellen geschlossen würden. Wären die beiden noch in einer Zelle, so müssten sie während der ganzen Nacht das schon für eine Person sehr schmale Lager teilen.
»Warum sollen wir denn eingeschlossen werden?«, fragte Morrison, seinen Missmut unterdrückend.
»So schreibt die Klosterordnung es vor.«
»Und wenn nun einmal in der Nacht Feuer ausbräche?«
»Wir stehen alle in Gottes Hand«, entgegnete der Circator und entfernte sich. Morrison konnte seiner Unruhe nicht Herr werden.
»Wollen Sie es glauben«, sagte er, vor Reihenfels stehen bleibend, »ich fürchte mich, wenn ich in einem Zimmer allein eingeschlossen werde. Einmal ist ein naher Verwandter von mir verbrannt, weil man ihn eingeschlossen hatte, und dann sind mir als Kind grausige Begriffe von katholischen Klöstern beigebracht worden. Wenn ich das Wort Kloster höre, tauchen in mir gleich eingemauerte Nonnen und gespenstische Mönche auf, und nun noch allein eingeschlossen!«
»Die Jugenderziehung hat den größten Einfluss auf das spätere Alter«, stimmte Reihenfels bei; »aber wir können ja dem Übelstand, allein eingeschlossen zu werden, abhelfen.«
Lächelnd rückte er an der Bettstelle, sie war unbefestigt.
»Was wollen Sie tun?«
»Sehr einfach. Wir tragen ihr Bett hier herein.«
Morrison schlug sich vor die Stirn.
»Dass ich nicht auf so etwas Einfaches gekommen bin! Aber wenn wir dann auch wieder gegen die Klosterordnung verstoßen?«
»Wir haben auch unsere Ordnung, wir schlafen eben zu zweien. Überdies wird man uns wohl nicht mehr belästigen, der Mann tut nur seine Pflicht, das heißt, er schließt zu.«
In fünf Minuten war der Umzug vollendet, Reihenfels' Zelle enthielt zwei Betten.
»Nun, was sagen Sie zu unserem Erfolg?«, begann er.
Morrison zuckte die Achseln.
»Wir sind wohl nicht weit ab von der Höhle, einen Erfolg haben wir aber nicht zu verzeichnen. Wir müssen eben die Umgegend durchstreifen, und ich denke, jener Valentin wird uns dabei von Nutzen sein.«
»Wie gefiel Ihnen der Bruder?«
»Ein sonderbarer Kauz; er mag eine dunkle Vergangenheit hinter sich haben. Sonst machte er keinen üblen Eindruck auf mich. Wissen Sie, wie er mir vorkommt? Pardon, wenn ich mich etwas derb ausdrücke — wie ein versoffener Seemann, der nichts tun kann, ohne sein Glas Halb und Halb hinterzustürzen.«
»Die blaue Nase kann eine Folge von Krankheit oder Kälte sein. Aber er machte überhaupt einen seltsamen Eindruck auf mich. Warum ließ er sich die Höhle beschreiben, da er doch behauptete, er kenne keine, und es existiere auch keine?«
»Diese Frage entsprang der Dummheit. Auch mich machte sie einen Augenblick stutzig, dann lachte ich darüber. Überhaupt war die Fragerei des Priors ganz unlogisch. Er sagte etwa: Ist in jener Höhle, die du nie gesehen hast und deren Vorhandensein dir unbekannt ist, vielleicht eine Flamme, welche singt? Oder hast du in dieser Höhle Totengebeine gesehen? Verrücktes Zeug, was in solchen Köpfen hinter Klostermauern entspringen kann.«
»Ich will offen mit Ihnen reden: Ich habe den Valentin in Verdacht, dass er um diese Höhle weiß.«
Reihenfels war schon damit beschäftigt, sich zu entkleiden, während Morrison, der sich nur der schweren Stiefel entledigt hatte, wie in nervöser Unruhe auf und ab wanderte. Jetzt blieb er erstaunt vor seinem Freunde stehen.
»Wie in aller Welt kommen Sie darauf?«
»Es ist nur eine Vermutung.«
»Und woraus schöpfen Sie diese?«
Reihenfels teilte ihm mit, was für Veränderungen er während der Unterhaltung mit Valentin an diesem im Gesicht und Verhalten beobachtet hatte.
Der Missionar schüttelte ungläubig den Kopf.
»Sie sind zu vorsichtig und zu misstrauisch, lieber Freund. Was für einen Grund sollte Bruder Valentin denn haben, uns das Vorhandensein dieser Höhle zu verhehlen?«
»Wenn ich das wüsste!«
»Nein, nein. Das einzige wäre, dass der Prior selbst diese Höhle kennt und sie keinem verraten will. Doch wir teilten ihm unsere Absicht mit, ehe er Valentin hätte Schweigen auferlegen können.«
»Oder es ist hier überhaupt ausgemacht, von dem Vorhandensein dieser Höhle nicht zu sprechen, jeden Fremden darüber zu täuschen.«
»So glauben Sie wirklich, auch der Prior weiß darum? Sie geben der Sache einen ganz anderen Anstrich.«
»Mein Verdacht erstreckt sich vorläufig nur auf Bruder Valentin, und ich bekenne offen, dass mein Verdacht auf sehr schwachen Füßen steht. Wie es auch sei, ich hielt es für gut, Ihnen meinen Argwohn mitzuteilen, denn Valentin soll unser Führer sein, und da heißt es, ihn scharf beobachten, ohne bei ihm Argwohn zu erregen. Er scheint mir ein schlauer Bursche zu sein, so schlau, dass er sich dumm stellt. Ich hoffe aber, dass mein Verdacht falsch ist; denn kennt Valentin die Höhle wirklich, dann haben wir ein schweres Spiel, wenn er sie uns nicht zeigen will. Gehen Sie noch nicht schlafen, Doktor?«
Der Missionar durchwanderte noch immer rastlos die Zelle, welche vom Vollmond hell erleuchtet wurde.
»Mir ist ganz sonderbar zumute, ich weiß nicht, woher es kommt. Ich habe so eine — so etwas wie eine böse Ahnung in mir. Was ist das nur?«
»Die Erzählungen von den unheimlichen Klöstern werden daran schuld sein.«
»Möglich.«
Draußen wurde ein Schlüssel umgedreht.
»Jetzt sind wir eingeschlossen«, sagte Morrison«, »merkwürdig, wie mich dieser Gedanke angreift! Ich möchte, ich läge draußen unter einem Baume.«
Reihenfels hatte sich schon einmal ans Fenster gestellt und blickte hinaus in die vom Mond beschienene Landschaft. Es war ein friedliches Bild; sein Herz wurde mächtig davon ergriffen. Er musste sich einmal gegen einen Freund aussprechen, jetzt fühlte er sich dazu aufgelegt.
»Doktor«, sagte er, als Morrison neben ihn trat, »Sie versuchten mich einst aus trüben Gedanken zu reißen; jetzt will ich dasselbe bei ihnen versuchen.«
»Ist es mir damals nicht gelungen?«
»Damals wohl, es hat aber nicht Stich gehalten.«
»Es handelte sich um die Zukunft, die Ihnen ein Fakir offenbart haben will.«
»Ja, und bis jetzt ist alles eingetroffen.«
»Das wäre! Vielleicht Kleinigkeiten, Nebensachen.«
»Nach solchen habe ich nicht gefragt; alles ist bis jetzt geschehen, wie mir prophezeit worden ist. Lassen Sie mich Ihnen mein Herz ausschütten, mir wird es gut tun, und Ihre Gedanken werden auf einen anderen Gegenstand gelenkt.«
Nun erzählte Reihenfels zum ersten Male einem Menschen, was der Fakir ihm offenbart hatte, Er verschwieg nichts, auch nicht, unter welchen Umständen er Bega wiedersehen, wie er an ihrem leblosen Körper knien und die Hände ringen sollte.
Diesmal war Morrison weniger ungläubig; besonders die Tatsache, wie Reihenfels dem Manne mit den gelben Jagdstiefeln begegnete, erschütterte ihn tief.
»Da bleibt einem der Verstand stehen«, sagte er endlich, »ich weiß nicht, was ich denken soll. Armer Freund, jetzt kann ich mir Ihre Niedergeschlagenheit erklären. Aber Mut, versuchen Sie dennoch, dem Verhängnis zu trotzen, versuchen Sie nicht, ihm aus dem Wege zu gehen. Der Fakir sagte nicht, dass Bega tot wäre.«
»Das ist auch meine einzige Hoffnung!«, seufzte Reihenfels. »O, dass ich ihn nie gehört und ihn nicht um die Zukunft gefragt hätte!«
»Auch der Mann in dem gewürfelten Überrock fehlt noch. Ich kenne ihn wohl, es ist Mister Bulwer, ein spleeniger Amerikaner.«
»Nach allem, was ich schon erfahren habe, zweifle ich nicht, dass ich ihm noch begegne.«
Morrison schritt nachdenklich im Zimmer auf und ab, ein Lächeln umspielte seinen Mund.
»Wissen Sie was?«, begann er dann wieder. »Wir wollen diesem Verhängnis mit kecker Hand einen Strich durch die Rechnung machen.«
»Wie das?«
»Ihnen zuliebe werde ich diese abenteuerliche Fahrt, die ganz nach meinem Geschmack ist, aufgeben. Übrigens sind Sie selbst Mann genug, das Unternehmen durchzusetzen und die Höhle aufzuspüren.
»Sie wollen mich verlassen?«
»Ja, morgen in aller Frühe werde ich das Kloster verlassen und mich nach Delhi begeben. Dann ist es nicht möglich, dass ich bei dem Schlusstableau mitwirke, dann muss die ganze Prophezeiung hinfällig werden.«
Reihenfels schüttelte trübe den Kopf.
»Reisen Sie meinetwegen nach England, ich will nach Afrika reisen, und ich bin doch fest überzeugt, dass wir im bestimmten Moment zusammentreffen. So tief ist bei mir schon der Glaube an die Erfüllung der Prophezeiung eingewurzelt.«
»Das ist freilich schlimm, und wenn meine Abreise nichts nützt, Sie von bangen Gedanken zu befreien, so wäre sie auch umsonst. Gut, ich bleibe!«
Reihenfels entkleidete sich vollends, während Morrison noch immer auf und ab wanderte. Es lag etwas äußerst Unruhiges in seinem Wesen: Reihenfels beobachtete ihn aufmerksam.
»Fühlen Sie sich krank, Doktor?«
»Nein, es wäre das erste Mal, dass mich das Klimafieber ergriffe. Das Kloster, die alten Geschichten, das Eingeschlossensein und Ihre Erzählung ist es, was mich aufgeregt hat. Es wird sich indes bald legen.«
Sie sprachen noch zusammen von diesem und jenem, als beide plötzlich zusammenfuhren, denn es war leise an ihre Tür gepocht worden. —
Vor dieser Tür hatte schon längere Zeit Bruder Valentin gestanden und zu lauschen versucht, aber vergebens, er konnte nichts vernehmen. Er war der einzige der Klosterbewohner, der noch durch die Gänge schlich. Alle Übrigen waren in ihren Zellen eingeschlossen, nur der Bruder Pförtner hielt unten am Tore Wache, bis ein anderer ihn ablöste.
Valentin war in seiner gewöhnlichen Kleidung, die schwere Büchse lehnte hinter ihm an der Wand. Er wollte also seine nächtliche Pirschjagd auf den Panther antreten, zögerte aber vor dieser Tür.
In seinem Gesicht lag ein Gemisch von Furcht und Verlegenheit, die ihm gar nicht stand.
»Hm, wenn ich nur wüsste, was sie sprechen«, dachte er; »es ist verdammt, dass der Horcher stets glaubt, man rede über ihn. Es hilft nichts, ich muss hinein zu ihnen. Sie will ihn haben, und bringe ich ihn nicht, dann ist mein häufiges Kommen auffällig. Eine verdammte Geschichte! Der Amerikaner und sein Diener haben keinen; sie frugen selbst nach einem, als sie sich wuschen, aber der Kerl mit den schwarzen Locken besitzt einen, das habe ich selbst gesehen. Oder ob ich es bleiben lasse? Ich würde ihr freilich eine große Freude machen. Hölle und Teufel, Valentin, bist du denn ein altes Weib? Gott verdamme mich, ich tu's!«
Der ehrwürdige Mönch, der lieber fluchte, als betete, hatte sich zusammengerafft und klopfte an. Als Herein gerufen wurde, zeigte sich, dass er nicht im Besitze des Zellenschlüssels war, wohl aber die verschlossene Tür ohne Mühe öffnen konnte.
Seine Hand fuhr unter die Kutte, sie hielt einen Haken, und geräuschlos und im Nu versah dieser die Dienste eines Schlüssels.
»Bruder Valentin!«, sagten beide gleichzeitig.
»Bst, bst«, warnte dieser, »die Klosterordnung verbietet jetzt Besuch und Sprechen. Verratet mich nicht; die Teilnahme, die mir der Herr für euch in mein Herz gegeben hat, treibt mich zu euch.«
»Das ist recht hübsch von dir«, sagte Morrison »Besitzt denn du einen Schlüssel zu den Zellen?«
»Nein, nur der Circator«.
Valentin hatte den Dietrich schon wieder verborgen.
»Und wie kommst du denn herein?«
»Die Tür war nicht verschlossen.«
»Oho, ich hörte doch, wie sie abgeschlossen wurde.«
»Der Riegel ist nicht in Ordnung, er schließt vorbei.«
»Ich selbst überzeugte mich, dass die Tür zu war.«
»Du drücktest nicht genug. Wenn du mir aber misstraust«, sagte Valentin in gekränktem Tone, »so will ich mich wieder entfernen. Ich wollte euch eine wichtige Mitteilung machen. Nur bitte ich euch im Namen des Herrn, nichts von der ungeschlossenen Tür zu erzählen, sonst würde der Prior dem Circator auf den Kopf kommen. Pax vobiscum — das heißt, wenn ihr kein Lateinisch versteht, schlaft gesund und lasst euch keine grauen Haare wachsen.«
Reihenfels brauchte seinem Freunde nicht erst ein Zeichen zu geben, den nächtlichen Besucher zurückzuhalten.
»So war das nicht gemeint, Freund Klausner«, sagte Morrison schnell, »ich wunderte mich nur, dass du so frank eintratest, während ich mich vorhin vergebens bemühte, die Tür zu öffnen. Du hast aber recht, ich wendete keine Kraft an. Mache uns deine Mitteilungen, wir sind gespannt und werden dir dankbar sein.«
Der Mönch, dessen blaue Nase im Mondschein förmlich funkelte, machte einen unheimlichen Eindruck; in seinem Gesicht lag ein geheimnisvoller Zug, nach welchem man jetzt das Unerwartetste vermutete.
»Ich wollte nur sagen, dass mir doch etwas eingefallen ist, und da ich merkte, wie viel euch an der Höhle gelegen ist, so wollte ich es nicht bis morgen aufschieben.«
»Können wir darüber erfahren, so sind wir stets für dich zu sprechen, Tag und Nacht. Was ist es?«
»Da ist mir eingefallen, dass ich doch einmal so etwas Ähnliches wie eine Höhle gesehen habe, wenigstens ein Loch in der Wand. Hineingekrochen bin ich freilich nicht, denn in solchen Höhlen stecken gewöhnlich Schlangen, und mit denen mag ich nichts zu tun haben.«
»Wo befindet sie sich?«, fragte Reihenfels atemlos.
»So vielleicht drei bis vier Meilen westlich von hier.«
»Sie könnte es schließlich doch sein.«
»Ob es eine Höhle ist oder nur ein Loch, wusste ich damals nicht, ich bin eben nicht hineingekrochen.
»Damals? Würdest du dich zurückfinden?«
»Natürlich. Das Loch ist zwar sehr versteckt, es ist kaum zu bemerken, aber zurückfinden werde ich mich allemal.«
Die beiden Freunde sahen sich mit hoffnungsvollen Gesichtern an.
»Eine bessere Botschaft hättest du uns als Gutenachtgruß nicht bringen können«, sagte Reihenfels, »wir bitten dich, uns gleich morgen hinzuführen.«
»Gern, ich werde euch abholen —«
»Und wenn wir dir auf irgendeine Weise unsere Dankbarkeit ausdrücken können, so sage es. Ich weiß, ihr Dominikaner seid zur Armut verpflichtet, aber vielleicht hast du doch einen stillen Wunsch, den wir dir erfüllen können.«
Bruder Valentin wurde scheinbar verlegen, er trampelte von einem Fuß auf den anderen, rieb die Hände und besah sich die Nägel.
»Hab' ich's erraten?«, lächelte Reihenfels. »Sprich nur, wir sind dankbare Menschen.«
»Es ist — ich möchte — ach — ihr lacht mich aus«, murmelte Bruder Valentin.
»Durchaus nicht. Was für einen Wunsch hast du auf dem Herzen? Sprich es dreist aus.«
»Ach, es ist kindisch!«
»Schadet nichts.«
»Und wenn der Prior oder ein anderer Bruder es erfährt —«
»Wir plaudern nicht. Ist es denn ein sündiger Wunsch?«
»Sündig gerade nicht, aber —«
»Aber was?«
»Aber es geht gegen die Ordensregel.«
»Wir drücken die Augen gern bei so etwas zu«, nahm Morrison das Wort »und unser Mund ist stumm, wenn es sein muss. Ich nehme an, dass dein Wunsch im Grunde genommen ganz harmlos ist.«
»Ja, das ist er«, sagte Valentin, wie einen Anlauf nehmend. »Seht, ich bin schon vierzig Jahre Dominikaner, ich habe ganz Asien durchwandert und bin niemals wieder mit richtigen Menschen, ich meine mit solchen, die in den Städten leben, zusammengekommen. Da habe ich nun manchmal eine ganz heillose Sehnsucht nach etwas, was bei den Städtern gar nichts gilt.«
»Leicht möglich und was ist es?«
»Es gehört dir«, sagte der Mönch, wieder den Verschämten spielend und zwar meisterhaft.
»Ah, so ist es! Nun, da kannst du ruhig sprechen«, entgegnete Morrison lächelnd; »was ich irgendwie entbehrlich finde, will ich dir gern überlassen, mit Ausnahme des Hemdes auf dem Leibe.«
»Nein, das ist es nicht. Als du dich wuschst, hattest du so einen glitzernden Gegenstand.«
»Einen glitzernden Gegenstand?«
»Ja, du blicktest hinein.«
»Weißt du nicht, wie das Ding heißt?«
»Nein, der Name ist mir entfallen. Ach Gott, das ist schon so lange her, seit ich so ein Ding nicht mehr gesehen und seinen Namen nicht mehr nennen gehört habe.«
Fragend blickte Morrison nach Reihenfels.
»Was könnte das sein? Ein Ding, welches glitzert, auf welches ich beim Waschen gesehen habe?«
»Vielleicht ein Spiegel?«
»Richtig, Spiegel, heißt das Ding!«, rief Valentin erfreut. »Ja, ein Spiegel ist es!«
Die beiden Männer konnten kaum ein Lachen unterdrücken.
»Und diesen Spiegel möchtest du haben?«
»Schrecklich gern!«
»Du sollst ihn haben, nur erlaube mir zu fragen, wozu du ihn begehrst.«
»Ach, Herr — Bruder wollt ich sagen — seht, ich war auch früher einmal ein schmucker Bursche und sah gern in den Spiegel, aber in den letzten vierzig Jahren habe ich nie wieder einen zu sehen bekommen. Der Spiegel wird bei uns Dominikanern zu dem eitlen Tand gezählt, er ist verachtet und verboten. Nun möchte ich doch zu gern wissen, wie ich eigentlich aussehe. 's ist doch gar nicht möglich, dass meine Nase so blau geworden ist, seit ich sie mir in Sibirien erfroren habe. Ich weiß es nämlich daher, weil ich in jedes klare Wasser hineingucke, aber so blau, nein, so blau kann sie doch wirklich nicht sein. Und dann, wisst, es ist überhaupt ganz hübsch, wenn man manchmal in einen Spiegel gucken kann; darin bin ich gerade wie ein Mädchen.«
Morrison konnte sich doch nicht enthalten, über den eitlen Fant zu lachen. War der doch begierig, zu erfahren, wie er mit seiner blauen Gurke im Gesicht aussah!
Lachend zog er einen kleinen Taschenspiegel hervor und gab ihn dem Mönch.
Dieser stellte sich so, dass der Vollmond gerade in den Spiegel schien und besah sich. Eine halbe Minute blickte er stumm hinein, dann machte er eine Grimasse, die ihm kein Zirkusklown hätte nachahmen können.
»Gottsapperlot«, brachte er endlich hervor, »wollte sagen Jesus, Maria und Joseph, bin ich denn mit meiner Nase in einen Farbentopf gefallen? Ist denn das überhaupt eine Nase oder ein Pfannkuchen? Jesus Christus, da möchte man sich doch gleich aufhängen! Na, vergelt's Gott, morgen früh also auf Wiedersehen!«
Damit steckte Valentin den Spiegel ein, machte mit den Händen eine Bewegung, etwa wie der Papst das Volk segnet, und verließ die Zelle.
»Dem Bruder Valentin ist es ungefähr so wie Ihnen gegangen«, sagte Morrison zu dem im Bett liegenden Freund. »Sie befragten die Zukunft und wurden enttäuscht, Valentin befragte den Spiegel und wird bereuen, es getan zu haben.«
Reihenfels schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Mir gefällt der Bursche nicht.«
»Was haben Sie gegen ihn? Dass er einmal fluchte? Er ist einer von jenen, den die Not in die Mönchskutte getrieben hat; ist er nicht mit seinen Genossen zusammen, wird er auch ein anderer Mensch. Es gibt Leute, welche sich durch Fluchen einen gemütlichen Anstrich geben wollen, und zu diesen gehört auch Valentin, der nur seiner Kleidung nach Dominikaner ist.«
»Derartige Charaktere gefallen mir nicht.«
»Ach was, es sind noch lange nicht die schlimmsten. Welchen Gefallen hat uns Valentin mit seiner Botschaft getan! Noch in der Nacht sucht er uns auf.«
»Ich traue ihm nun einmal nicht, und mein Misstrauen wächst immer mehr, je öfter ich ihn sehe. Wir sind in einem spanischen Kloster.«
»Was hat das zu sagen?«
»Ich denke an ein spanisches Sprichwort. Es lautet: Detras de la cruz está el Diablo.«
»Ich verstehe nicht Spanisch.«
»Das heißt: Hinter dem Kreuze steht der Teufel.«
»Sie tun diesem Manne unrecht«, sagte Morrison leichthin, »wie ein Teufel sieht er durchaus nicht aus! Mag die Mönchskutte auch nur ein Maskenanzug sein, einen Teufel bedeckt sie sicherlich nicht. Es ist ein naturwüchsiger Bursche, der den falschen Beruf ergriffen hat. Da, jetzt geht er, die Büchse über der Schulter, mit großen Schritten dem Walde zu. Es ist eigentlich, von hinten gesehen, eine prächtige Gestalt, so markig wie ein alter Held.«
Reihenfels war emporgefahren.
»Wie, er verlässt noch bei Nachtzeit das Kloster?«
»Schon wieder misstrauisch?«, lachte Morrison. »Sie waren ja dabei, als er den Prior um Erlaubnis bat, einen Panther zu schießen.«
»Richtig, Sie haben recht. Das hatte ich vergessen. Trotzdem, Doktor, ich bitte Sie, bei unseren Streifzügen ein wachsames Auge auf ihn zu haben.«
»Das werde ich nicht unterlassen, wenigstens Ihnen zu Gefallen.«
Auch Morrison entkleidete sich und legte sich nieder. Vorher hatte er noch einmal versucht, die Tür zu öffnen; es gelang ihm aber nicht, trotz aller Kraftanstrengung. Dies war allerdings merkwürdig; jedenfalls gehörte ein eigentümlicher Griff dazu.
Reihenfels hörte den Freund noch lange sich unruhig umherwälzen und als er einmal erwachte, im Schlafe laut, aber unverständlich sprechen.
Am anderen Morgen fand sich die Erklärung dafür, warum Morrison am Abend so nervös gewesen war und warum er im Traume so laut phantasiert hatte.
Als Reihenfels erwachte, fand er seinen Freund besinnungslos liegen; das heftigste Fieber jagte sein Blut durch die Adern, Puls und Schläfe hämmerten.
Der Missionar hatte bisher allen Klimakrankheiten getrotzt, gestern noch hatte er sich dessen gerühmt, doch das Sumpffieber lässt nicht mit sich spotten, besonders wenn man seine Region bereist — jetzt stürzte es sich auf den Frevler mit doppelter Gewalt.
Das Pochen Reihenfels' an der Tür blieb ungehört, die Mönche sangen die Frühmesse. Glücklicherweise führte der junge Gelehrte genügend Chinin mit sich, dieses Mittel, welches in den Tropen nicht mit Gold oder Edelstein aufgewogen werden kann, und auch Wasser war vorhanden. So konnte er dem Kranken die erste Hilfe leisten, ihn zur Besinnung bringen und seine Hitze durch kühle Umschläge lindern.
Eine große Dosis Chinin verminderte dann auch das Phantasieren. Was hatte Morrison gestern Abend vorgehabt?
Er wollte Reihenfels verlassen, um dem Verhängnis einen Strich durch die Rechnung zu machen, und nun lag er da, hilflos wie ein Kind, unfähig, sich anders zu rühren als im Fieberwahn.
Auch Reihenfels war nun an ihn gebunden; denn er hätte den Begleiter auf keinen Fall verlassen. Er konnte, seinem Gewissen nach, nicht einmal die Streifzüge unternehmen, denn er kannte die Bösartigkeit eines solchen Fiebers.
Das Chinin musste mit minuziöser Pünktlichkeit gegeben werden, die Dosen nach dem Grade des Fiebers stärker oder geringer gemacht werden, sollten sie Erfolg versprechen, und Reihenfels hätte sich durch keinen Mönch vertreten lassen. Ein solcher war imstande, den Kranken zu verlassen, wenn ihn die Glocke oder sein geknechtetes Gewissen — eine innere Stimme — in die Kapelle rief.
Als die Tür geöffnet wurde, trug er dem Mönch auf, den Prior von dem Krankheitsfalle in Kenntnis zu setzen, bat zugleich um ein Thermometer, und da sah er schon, wie im Kloster für eine solche Krankheit vorgesorgt war — ein Thermometer existierte überhaupt nicht.
Der Prior kam, bot Klosterbrüder zur etwaigen Unterstützung an, betonte aber hauptsächlich, dass er für den Kranken beten lassen würde; denn alles andere, was es auch sei, Umschläge oder Chinin, helfe doch nichts, wenn Gott nicht um Genesung angefleht würde.
Reihenfels ließ den Prior beten; er behandelte den Kranken nach seiner Weise.
Als er einmal über den Korridor ging, um frisches Wasser zu holen, prallte er vor einer ihm begegnenden Gestalt zurück.
Es war Mister Bulwer im langen, großkarierten Überrock, der aus dem Gemach des Priors trat.
»Mister Bulwer, Sie hier?«, stieß Reihenfels hervor.
Der Anblick dieses Mannes wirkte wie ein Gespenst auf ihn. Dieser war es, der Bega erschießen wollte. Gab es denn gar kein Entrinnen vor dem Schicksale?
Der Amerikaner hatte eine längere Unterredung mit dem Prior gehabt, nach welcher er sich, nachdem er sich einen großen Bogen Papier ausgebeten, wieder auf seine Zelle begab.
Hier begann er, ohne sich um etwas anderes zu kümmern und ohne seinen Diener zu rufen, mit unermüdlicher Tätigkeit allerlei seltsame Figuren auf das Papier zu malen, überlegte, korrigierte und zeichnete immer wieder.
Auch das kärgliche Essen konnte ihn nicht in seiner Tätigkeit stören. Mit der einen Hand führte er den Bleistift auf dem Papier, mit der anderen den Löffel zum Munde.
Unterdessen hatte auch August erfahren, dass zwei andere Fremde im Kloster sich befänden, von denen der eine sehr erkrankt sei; er suchte ihre Zelle auf, und wie groß war sein Erstaunen und seine Freude, als er in dem Krankenpfleger Reihenfels erkannte!
Dieser hatte keine Lust, Augusts Abenteuer anzuhören, schlug auch dessen Anerbieten ab, sich mit ihm in die Pflege des Kranken zu teilen. August hatte seinen Herrn, es waren noch genug Mönche da, und die Hauptsache war, dass Reihenfels die Person von dem Fiebernden fernhalten wollte, von welcher er gestern Abend ihm erzählt hatte.
Schon jetzt phantasierte Morrison von jener Schlussszene, wie der Fakir sie gesehen; er sprach auch schon von dem Manne mit den roten Haaren, und hätte er diesen wirklich erblickt, so waren üble Folgen zu fürchten.
Etwas gekränkt zog sich August in seine Zelle zurück und unterhielt sich vorläufig damit, die schöne Umgegend vom Fenster aus zu bewundern. Er war der Meinung, dass sie weniger schön zu durchreisen als anzusehen sei.
Eine angenehme Abwechslung glaubte er zu haben, als das Mittagessen gebracht wurde. Die Mönche konnten doch nicht bloß von in Wasser gekochtem Reis und Hartbrot leben, es musste doch einmal etwas Nahrhaftes auf den Tisch kommen. Eine Abwechslung war es allerdings: In den Napf, den August dann am Brunnen selbst reinmachen durfte, wurde aus einem Bottich grünes, dünnflüssiges Gemüse geschöpft und darauf wieder ein Stück Schiffszwieback gelegt. Trübselig saß August vor der Schüssel und rührte mit dem Löffel darin herum. Ein Bissen hatte ihm verraten, dass es Schmalz oder Fleischbrühe im Kloster nicht gab.
»Was stocherst du denn so in dem Gemüse herum?«, fragte eine Stimme hinter ihm.
Bruder Valentin war es, der unbemerkt hereingetreten war.
»Ich suche die Bratwurst«, erwiderte August kleinlaut.«
Der Mönch lachte leise.
»Da wirst du wohl lange suchen können; hier gibt's keine Bratwürste, überhaupt kein Fleisch. Ach, Bratwurst, ich gäbe meine Seligkeit für eine Bratwurst hin!«
»Mach mir nicht den Mund wässerig! Mir will schier das Herz brechen, wenn ich an einen deutschen Fleischerladen denke. Ach Gott, ich Einfaltspinsel, dass ich nach Indien gehen musste, um hier solches Gras zu fressen! Bin ich denn ein Ochse? Ach, Bratwurst!«
»Ach, Bratwurst!«, seufzte Valentin nach.
»Und Grützwurst! Hol' mich dieser oder jener, wir malen uns hier die paradiesischsten Bilder aus, und ich sitze vor einer Schüssel mit gekochtem Gras! Unsinn!«
Valentin legte ihm die Hand auf die Schulter, sah nach der geschlossenen Tür und neigte den Mund an Augusts Ohr.
»Komm mit mir!«, flüsterte er.
»Wohin?«, fragte August, aufmerksam werdend, ebenso leise.
»Hinaus in den Wald.«
»Ich habe doch Hunger, ich will das erst essen.«
»Bah, Gras fressen kannst du draußen auch.«
»Ja, aber da ist's nicht gekocht.«
»So kochen wir es eben.«
»Nee, nee, da ist mir das grüne Zeug doch noch lieber.«
»Komm mit mir!«, flüsterte der Mönch wieder eindringlich. August blickte auf.
»Aha, du hast was im Schilde. Gibt's draußen etwas Besseres zu essen?«
»Ich weiß etwas.«
»Freilich, du schießt einen Braten. Dass mir das nicht schon eher eingefallen ist.«
»Still, nicht so laut! Ich darf kein Fleisch essen. Nimm deine Schüssel und schütte das Luderzeug in den Wasserkrug, da guckt kein Mensch hinein.«
Das ließ sich August nicht zweimal sagen.
»So, nun nimm dein Gewehr; wir tun, als gingen wir auf die Jagd. Ich habe gesagt, ich hätte ein Wildschwein gesehen, das unsern Garten verwüsten könnte.«
»Mitgehen will ich wohl, aber ein Gewehr habe ich nicht. Das lässt mein Herr nicht aus den Händen.«
»Du brauchst auch keins, du begleitest mich eben. Ich erzähle dir vom Heilande, verstehst du, hihihi! Komm!«
Wer war froher als August! Er sah sich schon vor einem fetten, gebratenen Wildschwein sitzen.
Bruder Valentin wechselte mit dem Pförtner einige salbungsvolle Worte und verließ mit August das Kloster, dem Walde zuschreitend.
»Ich denke natürlich, du verrätst mich nicht. He?«, begann der Mönch, als sie das Kloster hinter sich hatten.
»Gott bewahre mich, wie sollte ich? Sehe ich denn aus wie ein Schuft? Ich kann es dir gar nicht verdenken, wenn du den Reis und das elende Gemüse satt bekommst. Du lebst wohl hier so im Geheimen ganz gut?«
Der schlaue Bursche schmunzelte.
»Weißt du, wenn ich nicht so viel auf den Beinen wäre, hätte ich schon einen Bauch.«
»Nanu!«
»Ja, ich lebe nicht schlecht, pass nur auf.«
»'s ist ja wahr, hier in Indien kann man sich manchen Braten schießen, aber das Richtige ist es doch nicht. Du kannst das Wildschwein wohl braten, aber keine Wurst daraus machen.«
»Warum denn nicht?«
»Was, das könntest du?«
»Pass nur auf, ich sage dir, extrafeine. Sag mal, Freund, du kennst den Mann, welcher den Kranken pflegt?«
»Freilich, er war ja früher mein Herr.«
Während August über Wurzeln stieg und stolperte, bemerkte er nicht, wie scharf und misstrauisch ihn der Mönch von der Seite beobachtete.
»Ach was, dein Herr? Ist wohl ein Kaufmann?«
»Keine Spur. Er ist so ein gelehrtes Tier, das alle Sprachen versteht und am liebsten wissen möchte, wie es vor zehntausend Jahren auf der Erde aussah.«
»Aber der andere ist wohl ein Kaufmann?«
»Der Kranke? Nee, das ist Doktor Morrison, ein Missionar, der auch furchtbar klug ist.«
»So, so, ein Missionar! Ich dachte, es wären Kaufleute?«
»Was hast du denn eigentlich mit den Kaufleuten? Solche Kerls sollten dich doch gar nichts angehen?«
»Hm, ich kannte früher einmal — 's ist schon lange her — ein paar Kaufleute, die sahen gerade so aus wie die hier.«
»Wie lange ist denn das schon her?«
»So vielleicht fünfundzwanzig Jahre.«
August blieb stehen und lachte.
»Da lagen ja die noch in den Windeln.«
»Freilich, es war Dummheit von mir. Also du weißt ganz bestimmt, dass sie nicht zu einem Geschäft gehören?«
»Ganz und gar nicht, es sind Gelehrte, die auf eigene Faust herumreisen.«
»Was mögen sie wohl hier wollen?«
»Ja, wenn ich das wüsste! Das Land und die Leute wollen sie kennen lernen.«
Valentin teilte ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit, was er über den Zweck des Kommens dieser beiden wusste, und richtete es so ein, dass August glauben musste, als ob Valentin und der Prior an der Redlichkeit der beiden zweifelten.
»Ich will ihnen ja ganz gern beim Aufsuchen der Höhle behilflich sein«, schloss er, »aber, weißt du, heutzutage darf man niemandem trauen. Sie können vielleicht erfahren haben, dass in der Höhle etwas steckt, was jemand anderem gehört, und das wollen sie sich holen. Denn du musst doch zugeben, dass die Geschichte mit der singenden Flamme recht unwahrscheinlich klingt.«
»Nee, nee«, versicherte August, »diese beiden sind die Ehrlichkeit selbst. Du musst solche Gelehrte nur erst kennen lernen. Nach einem Sack mit Gold laufen die keine Stunde, wenn sie aber wo einen Totenschädel oder gar ein altes Buch liegen wissen, da laufen sie gleich hundert Meilen in einem Hundetrab.«
»Nun, ich will dir glauben und ihnen beim Suchen helfen. Aber, nicht wahr, du sprichst nicht von dem Verdacht zu ihnen. Es ist wegen des Priors.«
»I wo; die Zunge würde ich mir eher abbeißen, ehe ich klatschen tu.«
»Zunge, hm. Isst du gern Zunge?«
»Ei ja, das heißt, meine eigene nicht. So eine geräucherte Rinds- oder Kalbszunge ist doch ein herrliches Geschenk der Natur.«
»Sollst sie haben, mein Freund.«
»Was, die Natur oder die Zunge?«
»Die Zunge.«
»Du willst sie wohl schießen?«
»Das wäre nicht möglich.«
»Aber du willst mir weismachen, dass hier die Tiere gleich mit gepökelten Zungen herumlaufen?«
»Freilich! Bei euch zu Hause nicht?«
»Geh, du bist ein Spaßvogel.«
»Du wirst es erfahren.«
»Na, da bin ich aber begierig. Übrigens knurrt mein Magen wie ein verstopfter Dudelsack, und ein paar Stunden werden wohl noch vergehen, ehe wir vor einem Braten sitzen. Hätte ich wenigstens das Hartbrot mitgenommen!«
»Pfui Deibel, sprich nicht von dem Zeug. Ich bekomme schon Magendrücken, wenn ich nur daran denke. Sag mal, August, liebst du auch Kaviar?«
»Na und ob, um so mehr, als ich noch nie welchen gegessen habe.«
»Und eingemachten Hummer?«
»Den liebe ich hier nur platonisch. Was zum Teufel aber soll diese Fragerei? Mir läuft das Wasser im Munde zusammen, und dabei habe ich keine andere Aussicht, als nach einigen Stunden auf ein zähes Stück Wild.«
»So, meinst du? Wenn ich dir nun sage, dass du in einer Viertelstunde vor all diesen Herrlichkeiten sitzen wirst?«
»Das wäre! Du hast wohl ein Bilderbuch für kleine Kinder, wo solche Sachen abgemalt sind?«
»In Lebensgröße werde ich sie dir zeigen und, nicht zu vergessen, einige Flaschen Wein dazu.«
»Ha, Wein?«
»Rheinwein und französischen Rotwein, Sherry und Portwein, Rum und Arrak, alles, was dein Herz begehrt.«
August blieb stehen und legte den Finger an die Nase.
»Was willst du? Komm, die Tafel ist gedeckt.«
»Mir geht eine Ahnung auf«, sagte August langsam und mit erstauntem Gesicht. »Jetzt fällt mir plötzlich ein, dass du schon gestern eine Flasche verloren hast.«
»Unsinn, gefunden hatte ich sie, aber nicht verloren.«
»Na ja, das meine ich auch. Und jetzt weiß ich auch plötzlich, dass du deine Nase nicht in Sibirien erfroren hast, sondern —«
Der Mönch ließ ihn nicht aussprechen, er zog ihn mit sich fort, wobei er dröhnend auflachte.
Sie stiegen noch einige hundert Meter über Felsgeröll; immer wilder wurde die Gegend, ein förmliches Labyrinth von Spalten und Schluchten zeigte sich dem Auge, und in eine solche Spalte, eben breit genug für einen Menschen, führte der Mönch seinen neuen Freund hinein.
Plötzlich hielt Valentin einen großen Spaten in der Hand, August wusste nicht, woher er ihn bekommen hatte. Er mochte ihn aus irgendeinem Versteck hervorgezogen haben.
Die Spalte erweiterte sich zu einem kleinen Kessel, umgeben von himmelhohen Felswänden, doch der Boden selbst war hier nicht steinig, sondern mit lockerem Humus bedeckt, Samen hatte hier Wurzeln gefasst, und so glich dieser kleine Talkessel einer Laube, überschattet von dichten Zweigen, eingezäumt von duftenden, blühenden Büschen. Welch schöneren Platz konnte es geben als in diesem weichen Gras!
Es war ein lauschiges Fleckchen, das die Natur hier für sich selbst geschaffen hatte. Alles verriet, dass sich noch nie, oder nur ganz selten, der Fuß eines Menschen hierher verirrt hatte. Die Felsspalte führte noch weiter, also musste es noch einen anderen Zu- und Ausgang geben.
»Herrjesses, das ist ja hier gerade wie in Olympia!«, rief August überrascht. »So waren dort auch die Lauben, wo die feinen Herren mit den Damen speisten.«
»Und wir werden hier auch speisen und trinken dazu«, schmunzelte Valentin. »Hei, das soll einmal ein Fest werden! Aber das sage ich dir gleich, vor morgen früh kommen wir nicht ins Kloster zurück.«
Ungläubig blickte August nach dem Mönch, der in seiner Kutte, und wie er sich so auf den Spaten stützte, wie ein Berggnom aussah.
»Ist denn das nur wirklich dein Ernst?«
»Mit dem Speisen? Sicherlich! Ich werde dir etwas vorsetzen, wie du es besser in keinem Hotel bekommst. Nur darfst du kein Spaßverderber und keine Plaudertasche sein. Könnte ich dir es nicht gleich ansehen, dass du beides nicht bist, so hätte ich dich gar nicht erst mitgenommen.«
»Und morgen früh willst du erst nach dem Kloster zurück?«, staunte August.
»Gewiss, und du gehst auch nicht eher hin.«
»Um Gottes willen! Warum?«
»Ja, willst du etwa heute Abend die Mönche zusammenrufen, wenn du vielleicht auf allen vieren in deine Zelle kriechst? Geradbeinig kommen wir auf keinen Fall nach Hause. Ich kenne das schon. Nee, nee, Brüderchen, unseren Rausch müssen wir erst hier ausschlafen, sonst bin ich die längste Zeit Klosterbruder gewesen, und ich habe keine Lust, gepeitscht und von hier fortgejagt zu werden, denn hier ist das Himmelreich schon auf Erden. Los denn, Brüderchen, jetzt wollen wir wie die Fürsten leben.«
Er ging nur einen Schritt abseits, August erblickte einen Platz, auf welchem das Gras fehlte, als wäre es ausgerissen worden, einige Stiche mit dem Spaten, und August sah den Deckel einer Kiste in der Erde.
Auf des Mönchs Veranlassung musste er mit Hand anlegen, dieselbe zu öffnen, und wie staunte er, als der Deckel fiel und sich eine Menge von Glasbüchsen und Blechdosen zeigte, welche alle, entweder schon an sich kenntlich oder der gut erhaltenen Aufschrift nach die leckersten Delikatessen enthielten, wie man sie nur in Geschäften für Feinschmecker bekommt. Darunter lagen die verschiedensten Weinsorten und Spirituosen. Valentin hatte nicht übertrieben.
Mit offenem Munde starrte August bald auf diese Herrlichkeiten, bald auf den Mönch.
»Nicht wahr, da staunst du!«, schmunzelte dieser.
»Aber wie in aller Welt kommt denn das hierher? Hast du das aus dem Kloster gestohlen?«
»Nein, Brüderchen, wenn so etwas dort zu stehlen wäre, dann würde jeder Mönch ein Dieb sein. Ich habe nicht nötig, davon zu beichten, das ist mein ehrliches Eigentum.«
»Dein — Eigentum — ehrlich?«, echote August nach.
»Ja, das hat mir der liebe Gott geschenkt.«
»Gott — geschenkt?«
»Er hat es mich finden lassen.«
»Ach so, gefunden! Geh weg oder ich finde dich!«
»Mach keine Torheiten, Brüderchen. Wir wollen uns an dem freuen, was uns der liebe Gott beschert hat. Sieh, vor einigen Tagen kam ich zufällig hierher und bemerkte mit meinem Jägerauge gleich, dass hier an diesem Ort etwas nicht in Ordnung war. Das Gras war kürzer, der Boden zu fest gestampft und etwas erhöht. Auch kam es mir vor, als läge etwas in der Luft, denn für Schnäpse und etwas Feines zu essen habe ich eine verdammt scharfe Nase, das wittere ich wie der Hirsch das frische Wasser. Ich besorge mir also einen Spaten, grabe nach, und da, hol mich der Satan — gepriesen sei Gott, wollte ich sagen — da kommt diese Kiste zum Vorschein, und wie ich sie öffne, finde ich sie mit Konserven, Wein und Schnaps vollgepfropft.«
»Merkwürdig! Wer mag die wohl da vergraben haben?«
»Blicke mich nicht so misstrauisch an! Glaubst du etwa, ich stehle, vergrabe die Kiste und führe dich dann hin? Strenge dein bisschen Gehirn einmal an, wie die Kiste wohl hierher gekommen sein mag.«
»Ich kann's mir nicht erklären.«
»Das ist doch sehr einfach! Gesetzt den Fall, der Büffel hätte gestern nur eure Esel verjagt oder zerstampft, eure Vorräte aber verschont — was hättet ihr dann mit ihnen wohl gemacht, he? Vielleicht auf den Buckel genommen und fortgeschleppt? Oder gar auf einen Sitz etwa aufgefressen?«
»Wahrhaftig, du hast recht! Wir hätten sie sicher auch vergraben.«
»Siehst du wohl! Reisende mussten wahrscheinlich diesen Vorrat zurücklassen und haben ihn vergraben. Hurra, August, jetzt wollen wir auf das Wohl dieser edlen Wohltäter schmausen und zechen, bis die Därme platzen, und bis wir voll wie die Schläuche sind!«
Sie trafen die Vorbereitungen zum üppigen Mahl, öffneten Büchsen und Gläser mit Messern und entkorkten die Flaschen. Die Speisen waren zwar kalt, aber nichtsdestoweniger leckerhaft, und das Fehlen von Trinkgläsern störte die beiden ebenso wenig wie das Fehlen von Brot.
Nicht nur die verschiedensten konservierten Fleisch- und Fischwaren waren vertreten, ausschließlich Leckereien, sondern sogar Butter war vorhanden, und August, der sich auf das Buttergeschäft verstand, machte doch wieder ein verblüfftes Gesicht, als er die Butter in den Blechdosen nicht nur ganz frisch, sondern sogar fest fand, obgleich es sehr warm war.
»Ist es doch gerade, als ob das alles in einem Eiskeller gestanden hätte und erst vor einigen Stunden hier vergraben worden wäre«, murmelte er.
Es entging ihm, wie Valentin ihm von der Seite einen bösen Blick zuwarf.
»Lass nun endlich dein Staunen und Murmeln. Greif herzhaft zu und nimm es, wie's ist.«
»Freilich, den Kopf will ich mir nicht zerbrechen. Aber lange können die Sachen noch nicht hier liegen, das Holz ist ja noch nicht im Geringsten angefault. Und nicht wahr, Valentin, der Portwein von gestern stammte auch aus dieser Niederlage?«
»Woher denn sonst anders.«
»Und nun wirst du auch nicht mehr leugnen wollen, dass deine blaue Nase vom Sprit ihre Farbe bekommen hat?«
»Zum Teufel«, rief Valentin ärgerlich, »verschone mich endlich mit solchen Anspielungen! Ich will auf der Stelle krepieren, wenn das gestern nicht die erste Flasche gewesen ist, die ich der Kiste entnommen habe. Du Heupferd kannst natürlich auch nicht begreifen, warum ich dich in mein Geheimnis eingeweiht habe. Ja, sieh mich nur erstaunt an; das fällt dir wohl jetzt erst ein?«
In der Tat, dies fiel August erst jetzt ein. Was bewog diesen groben Pfaffen, einen ihm ganz Fremden zur Teilung seines Fundes einzuladen?
»Ich will es dir erklären, der Grund ist auch wieder sehr einfach. Selber essen macht zwar fett, und diesem Sprichwort huldige auch ich, aber zum Trinken gehören unbedingt zwei. Wenn ich allein dasitze, dann nehme ich die Bulle gar nicht vom Munde weg; denn was hätte ich sonst anderes zu tun? Nein, zum Trinken gehören mindestens zwei, und du, Herzensbruder, sollst mein Zechkumpan sein. So, nun ist alles fertig, und nun soll's losgehen, dass die Heide wackelt.«
Wer war damit zufriedener als August!
Sie lagerten im grünen Gras, hieben mit ihren Messern auf den Inhalt der Konservenbüchsen ein und reichten sich gegenseitig die Flaschen, ohne eine Reihenfolge der Sorten einzuhalten.
Immer animierter wurde die Stimmung, und je mehr ihnen der Wein in die Köpfe stieg, desto lauter schrien die beiden Zechgenossen. Liebes- und Trinklieder stiegen zum Himmel auf, und der fromme Bruder Valentin riss Zoten und fluchte ungeheuerlich.
Es war, als hätten sich schon seit langer Zeit die Flüche bei ihm aufgespeichert, und als ob ihnen der Wein nun freie Bahn bräche. Wie ein Quell sprudelten aus seinem Munde, die schauderhaftesten Flüche und Verwünschungen.
Dabei zeigte sich, dass beide tüchtige Zechbrüder waren; aber auf die Dauer konnte August es mit dem Dominikaner nicht aushalten, denn dessen Kehle schien ein Schlauch zu sein und sein Magen ein durchlöchertes Fass. Bald strahlte die Nase in violetten Schein, der feuerrote Kopf glühte.
Ja, nur in Deutschland, ja nur in Deutschland,
Da muss mein Schätzchen wohnen...
sang oder brüllte August vielmehr mit heiserer Stimme, brach plötzlich ab, stieß einen Fluch aus, warf eine leere Flasche an die Felswand, dass sie in tausend Scherben zersplitterte, und sagte mit schwerer Zunge:
»Unsinn, was hilft's, dass wir von Mädchen und Liebe singen? Trinken zu zweit ist ja ganz hübsch, aber ein Kerl und ein Mädchen müssen die zwei sein. Zum Wein gehört auch ein Weib.«
Valentin entkorkte eine neue Flasche und zwinkerte mit den Augen nach seiner gewöhnlichen Weise schlau von der Seite den Kollegen an.
»Hast's auch schon gemerkt, Bruderherz? Ja, ein Liebchen muss jeder Mensch haben, sogar der Papst, wie jeder Pfaffe. Hast du auch ein Schätzchen?«
»Gehabt, mehr als eine, habe sogar noch eine Braut, die in Deutschland auf mich wartet.«
»Und hier in Indien? Es gibt hier verdammt hübsche Mädchen!«
»Freilich, aber hier in diesem verdammten Felsenwinkel!«
Der Mönch blinzelte noch schlauer.
»Hahaha«, kicherte er, »ich sage dir, Bruderherz, der Valentin ist so schlau, ach, so schlau, der hat die Schlauheit mit Löffeln hintergeschluckt! Sage dir, Bruderherz, der Valentin hat das schönste Mädchen zum Schatz.«
»Hier?«
»Hier«
»Wo denn?«
Valentin kicherte, schwieg aber.
»Die möchte ich sehen, das mag ein schönes Kuliweib sein, das du hier aufgegabelt hast! Die Sorte kenne ich. Wenn die jemandem einen Kuss geben, mausen sie dabei das Schnupftuch, und nach Zwiebeln stinken sie immer. — Pfui, Deibel!«
»Kuliweib?«, spottete der Mönch. »Na, Bruderherz, mit so etwas lässt sich Valentin nicht ein! Der hat immer das pikfeinste auf Lager.«
So tat Valentin geheimnisvoll und spielte deutlich darauf an, dass er in der Umgegend eine Liebschaft mit einem wunderschönen Mädchen unterhielt.
Manchmal schien es, als fürchtete er, zuviel gesagt zu haben, er wollte das Gespräch abbrechen oder ihm eine andere Wendung geben; weil August ihm aber nicht glaubte, ihn sogar auslachte, fühlte er sich beleidigt und fing immer wieder von selbst davon an.
August glaubte ihm auch wirklich nicht. Wie sollte dieser geradezu abschreckend hässliche Mönch eine Liebelei mit einem hübschen Mädchen unterhalten können, und wo sollte dieses denn überhaupt sein?
Er hielt Valentins Behauptungen oder vielmehr Andeutungen für Aufschneiderei. Sonst hätte er sich ja deutlich aussprechen können; dies aber wollte Valentin durchaus nicht.
Augusts Sinne begannen sich schon zu verwirren; so merkte er auch nicht, wie dem fast noch nüchternen Valentin dieses Gespräch unangenehm wurde, wie er bereute, es überhaupt begonnen zu haben. Auch die Zunge fing August zu versagen an, er stammelte nur noch und erreichte jenes Stadium der Trunkenheit, wo das, was man hundertmal gesagt hat, immer noch einmal wiederholt wird.
»Magst du's glauben oder nicht«, schrie Valentin ärgerlich, »es läge nur an mir, und auf der Stelle könnte ich das schönste Mädchen der Welt heiraten! Hahaha, die habe ich im Sack; wenn die mich nicht hätte, die wäre verraten und verkauft!«
»Na, dann bring sie doch einmal her; sie kann mit uns lustig sein, hei, lustig, lustig, hoch lebe der Wein und die Liebe!«
August setzte die Flasche an die Lippen, bog sich hintenüber und richtete die gläsernen Augen zum Himmel auf, sodass sie die Felskanten sehen mussten. Da ließ er plötzlich die Flasche fallen, sprang mit einem Satze auf und starrte nach oben.
»Bomben und Granaten, die Begum, das ist...«, stieß er hervor, kam aber nicht weiter; denn er verlor das Gleichgewicht und schlug schwer rückwärts zu Boden, wo er wie tot liegen blieb.
Auch Valentin blickte erschrocken empor und sah nur noch, wie oben von dem Felsgrate eine Gestalt verschwand, die sich darüber gebeugt hatte. Er glaubte, auch noch schwarze Haare flattern gesehen zu haben.
Doch Valentin war nur im ersten Augenblick erschrocken gewesen, und zwar nicht über die Gestalt, die die Zechgenossen beobachtet haben mochte, sondern nur über den Ausruf seines Freundes.
Sorgfältig untersuchte er ihn und fand, dass er in unbeholfenem, sinnlos trunkenem Zustande dalag. Beim Versuch, aufzustehen, war ihm die Besinnung geschwunden, und vor dem nächsten Morgen erwachte er sicherlich nicht aus dem tiefen Schlaf.
Unterdessen war es später Nachmittag geworden; die Sonne sank, dunkle Schatten fielen in den Talkessel hinein, und nicht lange konnte es mehr dauern, so musste hier vollkommene Finsternis herrschen. Bekanntlich gibt es in den tropischen Gegenden keine Abenddämmerung; der Übergang vom Tage zur Nacht erfolgt innerhalb einer Minute.
Valentin bettete seinen Freund, ihn nur ein Kopfkissen von ausgerupftem Gras machend, leerte auf einen Zug noch eine Flasche Wein als Schlaftrunk, legte sich ohne Umstände neben August, und bald schnarchten beide im Duett.
Friedlich verlief die Nacht. kein wildes Tier, kein böser Mensch störte die Ruhe der beiden Müden, die nach schwerer Arbeit sanft schliefen.
August war der erste, welcher die Augen aufschlug, als die Sonne ihm endlich trotz der hohen Felsen ins Gesicht schien. Also es musste schon spät am Vormittag sein.
Verstört blickte er zur Seite, sah Glasbüchsen, Blechdosen und geleerte Weinflaschen um sich herumliegen, konnte aber noch nichts begreifen.
Nur dessen entsann er sich, dass ihm ähnlich zumute gewesen war, als er vor einigen Wochen im Gefängnis zu Delhi erwacht war. Aber hier lag er ja herrlich gebettet im Grünen, die Vögel zwitscherten um ihn.
Ein lautes Schnarchen lenkte seinen Blick nach der anderen Seite hin, er sah den mit einer Mönchskutte bekleideten Mann liegen, und nach und nach kehrte ihm die Erinnerung an den gestrigen Tag zurück.
Richtig, Bruder Valentin hatte ihn hierher geführt, als ihm das Grünkraut im Kloster nicht schmeckte, ihm den Ort gezeigt, wo Reisende einst ihren Proviant vergraben; sie hatten sich beide an dem Zurückgelassenen delektiert, und dann wusste August nur noch, dass sie fröhlich gewesen waren und gesungen hatten. Über allem anderen lag ein dichter Schleier.
Ein Rippenstoß brachte Valentin zum Erwachen; er schlug die Augen auf, gähnte und — schmunzelte August vergnügt und selbstzufrieden an.
Dieser war doch nicht ohne Sorge, was man im Kloster über ihr Ausbleiben sagen würde, aber Valentin beruhigte ihn vorläufig damit, dass er sagte, im Kloster sei man schon an sein Ausbleiben gewöhnt.
Während August noch wie zerschlagen dalag und über Durst klagte, vergrub der viel widerstandsfähigere Mönch die noch vollen Flaschen und Büchsen, nur einige der letzteren behielt er bei sich. Wie August auch bitten mochte; er erhielt keinen Wein mehr zu trinken.
»Denn«, erwiderte ihm Valentin, »alles hat seine Zeit. Das hat schon der Prediger Salomon gesagt, und der gute Mann hat ganz recht gehabt. Gestern haben wir uns toll und voll getrunken, jetzt müssen wir sehen, dass wir wieder ein vernünftiges Aussehen bekommen. Du musst nämlich bedenken, Geliebter in Christo, dass du wie eine tote Leiche aussiehst. Augen hast du nicht mehr im Kopfe, dein Haar klebt an der Stirn, und deine Hände zittern, als wenn Gott zum jüngsten Gericht geblasen hätte.«
»Eine Flasche Wein würde mich wiederherstellen«, sagte August kleinlaut.
»Nichts da, das ist eine ganz falsche Ansicht! Nein, ein kaltes Bad frischt Seele und Körper auf, und ein eiskalter Trunk macht deine jetzt wie ein Reibeisen raue Kehle wieder glatt, dass du wie eine Nachtigall schlagen kannst. Alles zu seiner Zeit: es kommt wieder ein Tag, an dem wir Gott Bacchus opfern.«
»Hast du denn noch mehr Wein?«
»Hier liegt ja noch welcher vergraben.«
»Ach, die paar Flaschen!«
»Sie würden für uns reichen, Bruder Saufaus, und wenn uns der liebe Gott gnädig gesinnt ist, so lässt er uns wieder welche finden.«
Er nötigte August, nachdem er alles vergraben und einige Konservenbüchsen zu sich gesteckt hatte, aufzustehen, verbarg den Spaten, schulterte die Büchse, und beide verließen die Laube, in welcher sie ein vergnügtes Zechgelage gemacht hatten.
Es war noch ein weiter Weg, den der Mönch August führte. Dieser klagte maßlos und wollte sich immer setzen, aber der Mönch erlaubte es nicht, und schließlich fühlte auch August, wie ihm das Gehen in der frischen Gebirgsluft, die hier herrschte, gut tat.
Die Gegend wurde noch wilder, kaum passierbar. Es war, als hätte hier ein Erdbeben alles aufgewühlt, und jedenfalls hatte auch einst eine vulkanische Kraft dieses bizarre Bild geschaffen.
»Hast du eine gute Nase?«, fragte Valentin, der schon seit längerer Zeit scharf umhergeblickt hatte.
»Wozu denn?«
»Zum Riechen. Du weißt doch, die Riesenschlangen verbreiten einen scharfen Geruch.«
August blieb wie angewurzelt stehen.
»Was, Riesenschlangen?«, schrie er entsetzt.
»Ja, Riesenschlangen. In dieser Gegend ist sie auch einmal gesehen worden.«
»Keinen Schritt gehe ich weiter.«
»Besser tust du aber, wenn du mit mir kommst. Ich habe auch keine Lust, der Schlange gerade in den Rachen zu laufen, und so bist du bei mir am sichersten.«
Was blieb August anderes übrig, als dem Begleiter zu folgen? Valentin blickte sich aber nicht nach der Schlange um, die sich in einer solch steinigen Gegend sicher nicht aufhielt, sondern nach etwas ganz anderem. Er wollte nur August einen Grund angeben, warum er sich immer nach allen Richtungen umblickte, manchmal auch lauschend stehen blieb oder ein Loch in der Wand beobachtete.
Endlich hatte er sein Ziel erreicht: einen klaren Quell, der aus einer Spalte hervorsprang und erst ein kleines Bassin bildete, ehe er als schmaler Bach über die Steine davonplätscherte.
In langen Zügen tranken beide das köstliche Nass, und August war erstaunt, denn das Wasser war wahrhaftig kalt wie Eis.
Dann warf Valentin ohne weiteres die Kleider ab und sprang in das Bassin, August auffordernd, das gleiche zu tun. Dieser zögerte doch, mehr als die Fußspitzen in das eiskalte Quellwasser zu stecken, als ihn aber Valentin, der sich wie ein Wassernix benahm, mit einer Flut überschüttete, war die Scheu überwunden, und beide plätscherten mit Hochgenuss in dem Bassin herum.
Als sie sich dann auf dem Heimwege befanden, fühlte sich August wieder wohl und frisch, und jetzt kam ihm auch eine deutliche Erinnerung an das zurück, was sie gestern während des Trinkens gesprochen hatten.
Erst fiel ihm ein, wie sie Liebeslieder gesungen hatten, wie er, August, beklagt hatte, dass nicht weibliche Gesellschaft vorhanden wäre, wie sich der hässliche Mönch mit einer Liebschaft rühmte, und dann war es August auch, als könnte er sich noch entsinnen, plötzlich über sich, auf dem Felsgrat freistehend, die Begum von Dschansi gesehen zu haben, und zwar unter ganz eigentümlichen Verhältnissen.
»Ist es wahr«, fragte er Valentin, »dass du hier ein hübsches Mädchen als Liebste hast?«
»Wer, ich?«, rief Valentin erstaunt, blieb stehen und blickte den Frager wie verblüfft an.
»Nun ja, du hast doch gestern damit geprahlt.«
»Ich?«, wiederholte Valentin.
»Ach geh, du verstellst dich! Du hast mir lang und breit erzählt, wie du ein wunderschönes Mädchen hier wüsstest, das ganz vernarrt in dich wäre. Du besuchtest sie fast jeden Tag, und ihr lebtet wie Mann und Frau zusammen.«
Valentin brach in ein Gelächter aus, dass es zwischen den Felswänden dröhnte.
»Du hast geträumt, Herzensbruder, aber wie! Das ist schon mehr Delirium gewesen, wenn du mich so deutlich hast erzählen hören, wo ich doch kein Wort über so etwas gesprochen habe. Liebeslieder haben wir Narren freilich gesungen — Teufel, ich war auch einmal jung und hübsch und hatte an jedem Finger ein Mädel hängen — aber jetzt und hier? Köstlich! Wie soll man in dieser von Gott und aller Welt verlassenen Gegend wohl eine Liebschaft haben, wo es kein Weib gibt? Mit Tigern, Panthern und Schlangen, wohl, mit denen könnte man liebeln, aber dafür danke ich. Nee, Bruder, da hast du dir was Schönes zurechtgeträumt.«
Er brach noch einmal in herzliches Lachen aus, und August wurde an sich selbst irre. Er musste doch geträumt haben, der Mönch konnte sich doch nicht so verstellen.
Dann erzählte er, wie er sich entsinne, ein Mädchen gesehen zu haben, als er die Flasche zum Trinken erhob. Das Mädchen hätte auf dem Felsgrate gestanden. Dann verließ ihn die Besinnung.
»Sie wird dich wohl etwas eher verlassen haben, mein Bruder. Wie sah denn das Weibsbild aus?«
»Das ist eben das Merkwürdigste. Sie trug einen Schuppenpanzer und darüber ein braunes, zerrissenes Gewand.«
»Was? Du bist wohl verrückt?«
»Ja, was weiß ich. Habe ich dir von dem Winchestergewehr erzählt, das uns vorgestern Nacht gestohlen worden ist?«
»Das Weibsbild hat es wohl gehabt?«
»Ja, sie hatte es in der Hand, und ich sah sie ganz deutlich oben auf dem Felsen stehen.«
Abermals brach der Mönch in ein Gelächter aus; es klang allerdings krampfhaft, und wäre August ein besserer Menschenbeobachter gewesen, so hätte er vielleicht bemerken können, dass dieses Lachen erkünstelt war.
»Gottsblitz«, brachte Valentin endlich hervor, »was für eine Vision hast du gehabt! Ein Mädchen im Schuppenhemd, mit der Winchesterbüchse deines Herrn! Hahahaha!«
»'s ist sonderbar«, murmelte August, »ich habe sie ganz deutlich gesehen. Freilich ist es nur Unsinn. Weißt du auch, wen ich in dem Mädchen zu erkennen glaubte?«
»Wie soll ich das wissen?«, entgegnete der Mönch gleichgültig, angelegentlich die Umgegend musternd, als wolle er den Augen seines Begleiters ausweichen, was jedoch August nicht bemerkte.
»Die Begum von Dschansi.«
»Die Begum von Dschansi? Der Name kommt mir doch bekannt vor.«
»Natürlich wirst du sie kennen, das ist die...«
»Die Königin von Indien, richtig«, fiel Valentin, wieder lachend, ein, »das ist das verrückte Weib, das sich für die Tochter der Kali und Sewadschis ausgibt. Nee, mein Bruder, da bist du in großem Irrtum, wenn du die hier gesehen haben willst. Erst diese Nacht kam ein auf Mission gewesener Pater ins Kloster und erzählte, dass die Begum von Dschansi sich bei Haiderabad herumtreibt und den Engländern tüchtig die Köpfe wäscht. So aussehen tut sie freilich auch, wie du sie beschrieben hast; sie trägt immer einen Kettenpanzer oder ein Stahlhemd, aber eine Winchesterbüchse hat sie nicht, sondern ein riesenlanges Schwert.
Lass dir nur raten, Schätzchen, erzähle deine Vision niemandem anders, sonst machst du dich lächerlich, und man könnte dich fragen, wie du in einen solchen Grad von Erregung gekommen bist. Die Mönche versetzen sich nämlich auch manchmal in Ekstase, wo sie dann Visionen haben, das heißt durch Fasten, Beten und Geißeln, und die wissen also mit so etwas Bescheid.«
Valentin verwandte noch längere Zeit darauf, seinem Freunde einzureden, dass er nur geträumt, und dass die Vision eine Folge seiner Trunkenheit gewesen sei, sowie ihm ferner anzuraten, ja niemandem etwas davon zu erzählen.
August sah das ein und ließ den Kopf hängen.
Da aber das Gespräch nun einmal auf die Begum von Dschansi gekommen war, so erzählte er Valentin, während er neben ihm herstolperte, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass die Begum von Dschansi niemand anderes sei als die Geliebte und Braut seines früheren Herrn, eben jenes Mannes, welcher jetzt im Kloster den Fieberkranken pflegte. August musste seine Aufmerksamkeit zu sehr auf den äußerst schlechten Weg richten, um das Gesicht seines Begleiters zu beobachten. Sonst hätte er eine interessante Entdeckung machen können. Bei diesen Mitteilungen drückte Valentins Gesicht nämlich die verschiedensten Gefühle aus.
Bald war darin Schrecken, bald Hass zu lesen, bald blickten die Augen furchtsam, bald rachgierig, und die Hand in dem weiten Kuttenmantel ballte sich zur drohenden Faust.
»Also dieser Reihenfels ist der Geliebte der Begum! So so, das habe ich noch nicht gewusst. Dann will er sie wohl gar hier suchen und schleppt gleich den ketzerischen Priester mit sich, um sich mit ihr trauen zu lassen?«
»Gott bewahre, er weiß ja gar nicht, wo die Begum ist! Er könnte wohl lange in Indien suchen, wenn er das nicht weiß. Aber seine Braut ist sie doch.«
Valentin strengte sich mit aller Kraft an, das zornige Blitzen seines Auges zu unterdrücken.
»Warum ist er denn wohl hier?«
»Weißt du das noch nicht? Er will die Knochen von einem Landsmann in einer Höhle suchen. Er hat es mir kurz erzählt und mir auch gesagt, dass du ihm dabei helfen wollest.«
»Ja, das hat er mir auch gesagt, aber weißt du, ich hielt ihn für etwas verrückt, denn das mit der Flamme, welche singen soll, ist doch ein zu großer Unsinn. Also dieser Reihenfels ist der Geliebte der Begum von Dschansi! Das ist ja merkwürdig!«
Augusts Fehler war Plauderhaftigkeit, und so schilderte er Reihenfels' Liebschaft mit Bega, so viel er davon wusste. Bei einigen Liebesszenen war er ja selbst dabeigewesen.
Nachdenkend hörte Valentin zu; er fragte zerstreut, und einen immer größeren, entschlosseneren Hass drückte dabei sein Gesicht aus.
Erst als das Kloster sichtbar wurde, unterbrach er den Gefährten und gab ihm ein, was er, etwa befragt, wegen des nächtlichen Ausbleibens sagen sollte. Der Entschuldigungsgrund war ein Jagdabenteuer, wie man es leicht zurechtlügen kann. Der Mönch verleitete August also zur Lüge, und August war nicht der Mann, der so etwas empört von sich gewiesen hätte.
August war kein Mensch, der einem anderen absichtlich etwas zuleide tat; er konnte seinem Freunde oder dem, dem er Treue versprochen hatte, auch wirklich bis zum Tode treu sein, aber er war leichtsinnig, gegen sich selbst schwach, kurz das, was man charakterlos nennt.
Er wusste nicht, dass er durch sein Schweigen seinem früheren Herrn, an dem er noch immer in größter Liebe hing, unermesslichen Schaden zufügte, und dass er zugleich einem elenden, durch und durch verworfenen, von den schmutzigsten Leidenschaften beherrschten Menschen half.
Wie behilflich wäre August Reihenfels gewesen, wenn er ihm erzählt hätte, wie er mit dem Mönch gezecht, und was er gesehen, denn Reihenfels hätte ganz andere Schlussfolgerungen gezogen als er.
Ungehindert wurden sie ins Kloster gelassen; August brauchte sich dem Amerikaner gegenüber, der noch immer verworrene Figuren zeichnete, nicht zu entschuldigen; Valentin verließ nach kurzem Verhör das Gemach des Priors und begab sich in seine Zelle.
Was hätten Reihenfels und August gesagt, wenn sie in dem Herzen des Mannes lesen gekonnt hätten, der mit geballten Fäusten und mit grimmigem Gesicht vor dem Kruzifix stand! Nicht Gebete, sondern Flüche der scheußlichsten Art murmelten die blutleeren Lippen dem Erlöser am Kreuze zu.
Dank Reihenfels' sorgfältiger Eingabe der Chinindosen war das Fieber Doktor Morrisons schon so weit gebannt, dass eine Krisis auf Tod und Leben nicht mehr zu befürchten war. Nun galt es nur noch, eine Wiederkehr der schleichenden Sumpfkrankheit zu verhüten, und dafür konnte der Kranke, der nicht mehr in Delirien fiel, wohl selbst sorgen.
Reihenfels durfte also daran denken, allein Ausflüge in die Umgegend zu machen, um die rätselhafte Höhle aufzuspüren.
Schon am zweiten Tage seines Aufenthalts im Kloster, als das Fieber dem Chinin zu weichen begann, hörte er innerhalb der sonst so stillen Klostermauern ein heftiges Lärmen, gerade als ob Eisen geschmiedet würde, und als er sich nach der Ursache des Geräusches erkundigte, sah er, dass er sich nicht getäuscht hatte.
Auf dem Klosterhof stand eine Feldschmiede, daneben ein Amboss. Ein Mönch, die Kuttenärmel über die sehnigen Arme emporgeschlagen, machte lange Eisenstäbe in dem flackernden Feuer weißglühend und bearbeitete die Enden dann kunstgerecht auf dem Amboss. War dieses abgelegene Kloster doch ganz auf sich selbst angewiesen, also befanden sich unter den Mönchen auch Handwerker aller Art.
Diese Schmiedearbeit leitete Mister Bulwer in eigener Person. Eine große Papierrolle enthielt den Plan, den er nach langem Grübeln entworfen hatte; aus ihm gab er dem hämmernden und zusammensetzenden Schmied seine Anweisungen.
Auch August musste mithelfen, bald die Stangen ins Feuer halten, bald mit einem großen Hammer zuschlagen und sonstige Hilfsleistungen verrichten. Er benahm sich dabei zwar nicht ungeschickt, tat aber alles mit einer sauren und geringschätzenden Miene, als wollte er sagen: Das ist alles unnütze Arbeit; wenn's nach mir ginge, würde alles anders und besser.
Der Amerikaner ließ sich indes nicht beirren; unerschütterlich gab er seine Befehle und sah mit Genugtuung aus den zusammengesetzten Stäben ein eisernes Gitter emporwachsen, das schließlich die Form eines großen Käfigs annahm.
Ferner erblickte Reihenfels den Prior, wie er an einem Fenster stand und tiefernst wie immer, aber mit Interesse der fortschreitenden Arbeit zusah.
Auch Bruder Valentin lehnte unten in einem Torweg, so, dass der Prior ihn nicht sehen konnte; wahrscheinlich vermochte dies überhaupt kein anderer als Reihenfels. Der Mönch schnitt nach August hinüber Grimassen und lachte geräuschlos, wobei er die Hände auf den Leib legte und sich bückte.
Reihenfels wollte Valentin wegen einer heutigen Expedition sprechen und begab sich hinunter zu ihm.
Der Mönch erklärte sich bereit, wenn der Prior damit einverstanden wäre.
»Also die Höhle, welche du einst gefunden hast, liegt westlich von hier?«, fragte Reihenfels nochmals.
»Direkt westlich.«
»Und östlich hast du nie eine gesehen?«
»Habe ich dir das nicht schon gesagt?«, entgegnete der Mönch durchaus nicht liebevoll, wie es die Klosterregel vorschrieb, und blickte dabei Reihenfels an, als wollte er ihn auffressen.
»Gut, mein lieber Freund, wenn der Prior zusagt, so bitte ich dich, mich heute Nachmittag nach dieser westlichen Höhle zu führen, obgleich ich ziemlich bestimmt weiß, dass es ein vergeblicher Gang ist.«
»Dann schone lieber deine Knochen!«
»Ich darf nichts unversucht lassen. Wenigstens orientiere ich mich über die Felsformation, ob diese überhaupt eine Höhlenbildung zulässt.«
Valentin blickte auf.
»So, kann man das?«
»Allerdings kann man das. Höhlen sind durch Wasser ausgewaschen oder durch Eruptionen entstanden...«
»Lass das, so etwas verstehe ich nicht«, unterbrach ihn Valentin. »Wenn du später den Osten nach deiner sonderbaren Höhle mit dem pfeifenden Licht absuchen willst, so kannst du dich uns anschließen. Ich muss auf Befehl des Priors den Mister Dingsda begleiten.«
»Wozu?«
»Weißt du das noch nicht?«, lachte Valentin leise. »Die Riesenschlange will er fangen, hahaha!«
»Und der Prior befiehlt dir, ihn zu begleiten, nicht mich?«
»Dieser Plan geht vor; der Prior ist ganz Feuer und Flamme für die Idee des Misters Dingsda, die Riesenschlange in einer Falle zu fangen. Ein solcher Narr, hahaha!«
Jedes Mal, wenn Reihenfels mit Valentin zusammenkam, wuchs seine Antipathie gegen diesen. Er sah ein, dass der Klosterjäger ihn gar nicht gern begleitete, auch, dass dem Prior mehr daran gelegen war, die Umgegend von dem Ungeheuer befreien zu lassen, als ihm beim Aufsuchen der Gebeine eines Ketzers behilflich zu sein, und so beschloss Reihenfels, lieber ohne Hilfe Valentins die Ausflüge zu unternehmen, wenigstens solange Morrison noch krank war.
Aber zu der schon gefundenen Höhle sollte Valentin ihn erst führen.
Reihenfels hatte auch ganz recht. Der Amerikaner hatte den Prior mit seiner Absicht bekannt gemacht, die Riesenschlange zu fangen oder zu töten, und der Prior hatte ihm seine Hilfe und besonders Valentin als Führer zugesagt.
Die Gebeine des Herrnhuter Missionars waren ihm ganz gleichgültig; höchstens die Höhle mit der singenden Flamme hatte für ihn Interesse, denn daraus war für das Kloster in späteren Zeiten etwas zu machen.
Aber diese Höhle konnte Valentin auch allein auffinden, dazu brauchte er keinen Fremden, der das Geheimnis dann vielleicht zu früh erfuhr.
»Also eine Falle soll das werden!«, sagte Reihenfels, das entstehende Gitterwerk jetzt mit mehr Interesse musternd.
»Ja, denke nur, der Kerl will eine Riesenschlange in der Falle fangen. So etwas Hirnverbranntes! Ich glaube, dieser Amerikaner ist fähig dazu, sich selbst als Köder hineinzusetzen.«
»Nun, ich wüsste nicht, warum dies gerade unmöglich sein sollte.«
»Ich sage ja eben, ich halte ihn für fähig, sich selbst als Köder hineinzusetzen. Er blökte ja gerade wie ein Schaf.«
»Ich meine, ich halte es nicht für unmöglich, eine Riesenschlange in einer Falle zu fangen.«
»Ach was, wie schlau du bist!«, entgegnete Valentin höhnisch. »Hast wohl als Junge Mäuse und Maulwürfe gefangen und denkst nun, du kannst auch über Riesenschlangen mitsprechen?«
»Freund«, sagte Reihenfels ruhig, den Spötter fest ansehend, »was ich früher getan habe, geht dich nichts an, und ob ich über Schlangen sprechen kann, weißt du nicht.«
Er drehte ihm kurz den Rücken und begab sich an das Krankenlager. Valentin sandte ihm einen bösen, gehässigen Blick nach.
Am Nachmittag schritten die beiden, welche sich so wenig vertragen konnten, in westlicher Richtung vom Kloster fort, aber Valentin hatte sein Betragen vollkommen geändert, er war freundlich, ohne kriecherisch zu sein, schwatzte unaufhörlich und bat Reihenfels sogar um Verzeihung wegen seines Betragens ihm gegenüber am Vormittag.
»Ich passe eigentlich nicht fürs Klosterleben; es macht mich misslaunig und gereizt. Es ist zwar ein schöner Beruf, Gottes direkter Diener zu sein, aber die Natur der übrigen Mönche passt nicht zu der meinen, ich bin offener als sie, möchte manchmal gern scharf gegen sie werden, wenn sie mir zuweilen Vorwürfe machen, dass ich nicht pünktlich in der Kapelle bin, und da ich das nicht gegen sie darf, so bin ich's manchmal gegen Fremde, die unser Kloster besuchen. Nimm mir's nicht übel, Bruder, ich will auch alles tun, dass wir die Höhle finden.«
Aber solche Worte konnten Reihenfels' Misstrauen nicht verscheuchen. Er las es dem Mönche an den Augen ab, dass er anders dachte, als sprach.
Da er jedoch andererseits keine Ahnung davon haben konnte, dass der Mann ein direkter Feind seiner Pläne und Hoffnungen war, so fragte er ihn, ob er vielleicht einmal in der Umgegend ein weibliches Wesen umherstreifen gesehen habe.
»Ein Weib? Oder ein Mädchen?«
»Ein Mädchen.«
»O ja, es gibt ja hier noch versteckt liegende Dschaddörfer, und ab und zu trifft man auch noch einen Bewohner an. Aber Weiber oder gar Mädchen gehen niemals allein in den Wald.«
Reihenfels machte noch deutliche Anspielungen, die sich auf Bega bezogen, aber da Valentin sie nicht im Geringsten zu verstehen schien, so schwieg er.
Sie erreichten eine gebirgige Gegend, welche sehr tief lag, und Reihenfels erkannte aus verschiedenen Anzeichen, dass hier einst ein See gestanden hatte.
Hier sollte die Höhle sein, und bald deutete Valentin auf ein dunkles Loch, das sich in der Ferne scharf von der Felswand abhob.
Die Freude wurde schnell gedämpft, als Reihenfels beim Näherkommen nur ein einfaches Felsenloch fand, das nicht einmal Ähnlichkeit mit einer Höhle hatte. Die Sonne schien hinein, man konnte den Hintergrund erkennen.
»Und das nennst du eine Höhle?«, fragte er den Mönch misstrauisch.
»Ist es vielleicht keine?«
»Und du wagtest nicht einmal, dich hineinzubegeben?«
»Was für einen Zweck hätte das gehabt? Außerdem war, wenn ich hier weilte, nie so heller Sonnenschein wie jetzt, und so konnte ich auch nicht wissen, dass dieses Loch nicht weiterging.«
Sie traten den Rückweg an. Reihenfels ersah schon aus der Gebirgsformation, dass hier gar keine Höhle existieren konnte; alles Gestein war morsch und verwittert, und außerdem befanden sie sich in einer ganz anderen Richtung, als der Herrnhuter in seinem Tagebuche angegeben hatte, auch dem Kloster viel zu nahe.
Als sie so durch das meterhohe Gras dahinschritten, raschelte es vor ihnen heftig, und ein Rudel zierlicher, rehartiger Tiere sprang auf, schnell das Weite suchend.
»Gorals«, rief Valentin und hob das Doppelgewehr, doch wie der Blitz waren die Tierchen verschwunden.
»Verdammt«, knurrte der Mönch, »wollte sagen: ›s ist merkwürdig, es gibt so viele Gorals hier, und doch habe ich in den zehn Jahren, die ich hier bin, noch keine einzige geschossen. Willst du glauben, dass die Tiere keine dreißig Meter von hier ruhig im Grase liegen und uns wieder bis auf einen Schritt herankommen lassen?«
Reihenfels lächelte. Ihm waren die Zwergantilopen oder Gorals, deren Heimat nur der Himalaja ist, sehr gut bekann, und er kannte auch ihre Angewohnheiten.
»Du hast also schon oft versucht, eine zu schießen?«, fragte er.
»Und wie oft! Aber diese Bestien sind schnell wie der Blitz, sie äffen einen, und dabei kann man sich auch nicht anschleichen, denn man sieht sie nicht eher, als bis sie dicht vor einem aufspringen.«
»Es hat zwar keinen Zweck, eins von den niedlichen Tierchen zu schießen, es ist eigentlich eine Sünde, aber wenn du mir behilflich sein willst, die Höhle zu finden, so werde ich deinen Jägerstolz befriedigen.«
»Wie meinst du?«
»Ich werde dich auf eine Goral zum Schuss kommen lassen.«
»Du?«, fragte Valentin, und schon wieder lag Hohn in seiner Stimme.
»Ja, ich. Ich bin zwar kein großer Freund der Jagd, aber ich habe den Charakter der Tierwelt Indiens studiert.«
»Hahaha, du bist wohl auch so einer wie der Prior, der mich einmal gefragt hat, ob man den Tiger nicht mit Leim fangen kann?«
»So unrecht hat dein Prior nicht, lieber Freund. Jedenfalls hat er gelesen, wie man den Löwen in Afrika fängt, indem man nämlich seinen Wechsel mit Leim bestreicht. Er wälzt sich, um sich von den klebrigen Blättern zu befreien, hüllt sich dadurch in eine Schicht von Blättern und steht endlich, auch die Augen zugeklebt, hilflos da. Ich werde dir zeigen, wie man eine neugierige Goral bis auf drei Schritte an sich heranlockt, du wirst sehen, wie sie das Geweih aus dem Gras herausstreckt, und dann kannst du ihren Kopf nicht fehlen.«
Ungläubig blickte Valentin den jungen Gelehrten an, den er für keinen Schützen hielt, obgleich auch er das Gewehr über der Schulter trug. Reihenfels wühlte in den Taschen und schien etwas nicht finden zu können.
»Schade«, murmelte er, »ich muss ihn im Kloster liegen gelassen haben.«
»Was brauchst du denn dazu?«
»Einen Spiegel.«
»Einen Spiegel?«
»Ja, um die Antilope durch das Glitzern anzulocken — ach so, du musst ja einen haben.«
Valentin, vom Jagdeifer befallen, wollte in die Tasche am Gürtel greifen, zog die Hand aber schnell zurück.
»Ich einen Spiegel?«, fragte er mehr erschrocken und verwirrt, als erstaunt.
»Nun ja, den von Doktor Morrison, er gab dir doch den seinen.«
»Richtig — ja — ich hatte — ich habe — ich hatte es vergessen«, stotterte der Mönch, der sichtlich mit seiner Verlegenheit kämpfte, suchte erst in seiner Tasche, dann an verschiedenen Stellen unter der Kutte.
Sein Suchen war vergeblich; mit einem bestürzten Gesicht blickte er auf, es war dunkelrot geworden, und den scharfen Augen Reihenfels' entging nicht, dass dieser Ausdruck ein erkünstelter war. Aber er ließ sich nichts merken, tat, als fiele ihm nichts auf.
»Wo hast du ihn denn?«
»Verloren, Gott verdamm... heilloses Pech, verfl... heiliger Himmel, ich habe den schönen Spiegel verloren!«
Was sollte diese Verlegenheit, dieses Ringen nach Fassung?
Gleichmütig griff Reihenfels in die Brusttasche und zog ein kleines Bild hervor, das zum Schutz mit Glas bedeckt war.
»Das wird's auch tun, es glitzert ebenso in der Sonne. Jetzt pass auf, mach die Büchse schussfertig! Aber was hast du denn? Kennst du dieses Mädchen?«
Starr, mit hervorquellenden Augen blickte der Mönch nach dem Bilde in Reihenfels' Hand. Es stellte Bega dar, nicht als Amazone in Panzerrüstung, sondern in moderner Kleidung, wie sie solche in Wanstead getragen hatte.
»Nichts, nichts«, stotterte Valentin, sich aufrichtend, »ich dachte nur — ich hatte auch einmal — einen Schatz — hm, eine Liebste — sieht ihr verdammt ähnlich! Los, Freund, ich bin zum Schuss bereit.«
Aber seine Hand zitterte noch heftig, und in ihr der Büchsenlauf, und Reihenfels wusste nicht, was er davon denken sollte.
Sie knieten beide nieder, dass das Gras sie verdeckte, Reihenfels hob das Bild hoch und ließ das Glas in der Sonne funkeln. Schon nach einigen Minuten raschelte es, das Gras teilte sich, ein Geweih ward sichtbar, dem ein zierliches Rehköpfchen folgte; kluge Augen blickten unverwandt nach dem blitzenden Glas. Valentin senkte den Lauf nach dem nur drei Schritt von ihm entfernten Kopf und schoss, aber mit einem großen Sprunge war die Antilope verschwunden.
Er hatte das so nahe Ziel verfehlt, was fast unmöglich gewesen war.
Gleichzeitig schnellte Reihenfels mit einem wilden Lachen und einem hohen Satze empor; im Sprunge hatte er das Gewehr an die Backe gerissen, ein Krach, und mit funkelnden Augen stand er vor dem Mönch, der über diese Schnelligkeit, über diese plötzliche Veränderung des sonst so gesetzten Gelehrten so erschrocken war, dass er sein Gewehr fallen gelassen hatte.
»Du Tölpel«, rief Reihenfels in beißendem Spott, »was denkst du, wer ich bin?«, Valentin, noch immer auf den Knien liegend, starrte ihn wie ein Gespenst an.
»Herr — ich weiß nicht — was denn?«, stotterte er.
Reihenfels hatte sich schnell gesammelt, er zwang sich zu einem Lächeln.
»Glaubst du, dass ich die Goral noch getroffen habe?«
»Nein — das ist — das ist ja gar nicht möglich!«
»Wettest du mit mir, dass ich sie durch das linke Auge geschossen habe?«
Auch der Mönch hatte sich wieder gefasst, er richtete sich auf.
»Das ist nicht möglich, du konntest sie nicht mehr sehen.«
»Doch, indem ich hochsprang, sodass ich weit übers Gras sah.«
»Und da hättest du noch Zeit gehabt, nicht nur das Gewehr zu heben, sondern auch noch nach dem linken Auge des Tieres zu zielen?«
»Ersteres hast du gesehen; von letzterem kannst du dich überzeugen. Komm mit!«
Sie brauchten nur zwanzig Schritt zu gehen, da fanden sie die Antilope verendet am Boden liegen. Der Mönch untersuchte sie, schlug ein Kreuz und blickte mit namenloser Ehrfurcht, ja, mit Angst zu Reihenfels empor. Die Kugel hatte das linke Auge des Tieres durchbohrt.
»Aber es ist gar nicht möglich, das ist Hexerei!«, lispelte er, sich nochmals bekreuzigend.
»Was ist Hexerei?«
»Die Goral wandte dir den Rücken zu, und du schießt sie ins Auge.«
»Du zeigst eben wieder, dass du die Tiere Indiens nicht kennst, sonst müsstest du wissen, dass die Zwergantilope im Zickzack flieht. In dem Augenblick, da ich hochsprang und auf sie zielte, schlug sie einen Haken, ich sah das linke Auge und schoss hinein. Sieh, es ist auch dieselbe; denn dieses Stückchen vom Geweih hast du ihr abgeschossen.«
»Nein, nein, das war ein Zufall!«, rief der Mönch in Überzeugung. »So kann kein Mensch schießen, es ist gar nicht möglich.«
Reihenfels deutete nach einem fünfzig Meter entfernten Baume.
»Siehst du das Kreuz dort?«
»Welches Kreuz?«
»Geh hin, du wirst es sehen. Ich werde es dicht, ganz dicht abschießen.«
Ohne zu wissen, was Reihenfels eigentlich meinte, ging Valentin nach dem bezeichneten Baume. Es wurde ihn plötzlich unheimlich vor diesem Manne, den er so völlig verkannt hatte.
Aber auch dicht vor dem Baume konnte er nichts von einem Kreuze bemerken, auch nichts, was einem solchen ähnlich sah.
Er drehte sich um, damit er Reihenfels fragen konnte und im Augenblick dieser halben Wendung hörte er den Schuss knallen, er hörte die Kugel pfeifen, es war ihm auch, als hätte etwas geklirrt, aber er sah nur die Kugel im Baumstamm sitzen und dort Reihenfels im Pulverrauch stehen, den Kolben noch an der Wange, auf ihn zielend.
»Bleibe dort!«, rief Reihenfels und eilte selbst zu ihm hin.
»Nun, habe ich das Kreuz nicht abgeschossen, wie ich es dir gesagt habe?«
»Welches Kreuz denn?«
»Dein Kreuz!«
Etwas wie Entsetzen befiel den Mönch, als er sein goldenes Kreuz vor sich am Boden liegen sah. Das letzte Glied, welches es mit der stählernen Kette verband, war zerschossen worden, und Reihenfels hatte in dem Augenblick geschossen, als der Mönch sich umdrehte. Einen Zoll weiter, einen Viertelzoll nur, und die Kugel wäre ihm in den Leib gegangen, ebenso, wenn der Schütze nur eine Viertelsekunde später geschossen hätte.
»Das ist Zauberei — Du hast Freikugeln!«, hauchte der Mönch.
»Eine sichere Hand habe ich, ein gutes Gewehr und sonst ein gutes Gewissen«, entgegnete Reihenfels ernst, den Mönch scharf fixierend. »Befestige dein Kreuz wieder, den offenen Ring habe ich verschont; die Kette ist nur ein Glied kürzer und wird deshalb deiner Seligkeit nichts schaden.«
Mit zitternden Händen gehorchte Valentin; sein Haar sträubte sich unter dem Strohhut.
»Willst du noch mehr Beweise dafür, dass ich das Ziel zu treffen weiß, das im Bereiche meiner Kugel liegt?«
»Nein, Herr, ich glaub's. Gegen dich bin ich nur ein erbärmlicher Stümper.«
Sie gingen dem Kloster zu; Valentin jetzt immer wieder mutig einen halben Schritt hinter Reihenfels. Dieser überlegte, was er von dem Gebaren des Mönches halten sollte. Er war fest überzeugt, dass Valentin von der Lage der fraglichen Höhle wusste, ja, dass er vielleicht auch den Aufenthalt Begas kannte; aber er hütete sich, ihn darum zu fragen.
Er traute ihm nun einmal nicht, er blickte ihm durchs Auge hindurch ins Herz und sah es dort finster, ein Herz, betrügerisch, lügnerisch, der schmutzigsten Leidenschaften fähig. Der Mann hatte einen Grund, die Kenntnis der Höhle zu verschweigen, und Reihenfels glaubte nicht, dass er sein Geheimnis deshalb preisgeben würde, weil er sich bei ihm in Respekt gesetzt hatte. Da musste eine andere Gelegenheit erwartet oder herbeigeführt werden, wenn diese Frage gestellt und beantwortet werden sollte.
Reihenfels hielt es indes für sehr gut, dem Burschen Respekt einzuflößen.
Wer bürgte ihm dafür, dass dieser Mensch, den er zu allem für fähig hielt, nicht an einen Mord an dem dachte, den er im Besitze seines Geheimnisses wusste?
Nichts ist so sicher, will man sein Leben vor jemandem schützen, als ihm seine Überlegenheit fühlbar zu machen: dem Rohen durch körperliche Kraft, dem Hinterlistigen durch größere Schlauheit, demjenigen, der mit Pulver und Blei umgeht, durch Treffsicherheit.
Reihenfels bewies dem Mönch, dass er in Indien tausendmal besser Bescheid wusste als dieser. Jedes Tier, jede Pflanze nannte er nicht nur bei dem im Pandschab gebräuchlichen Namen, er sagte auch, wie sie in anderen Zungen hießen, er beschrieb ihre Eigentümlichkeit, ihre Jagdweise, ihre Heilkraft; keine Gelegenheit ließ er sich entgehen, um den Mönch seine geistige Überlegenheit und seine praktische Kenntnis im Jägerleben fühlen zu lassen, und Valentin hörte ihm mit vor Staunen aufgerissenem Munde zu.
»Ich habe Durst«, sagte Reihenfels einmal; »befindet sich hier irgendwo eine Quelle oder sonst ein Gewässer?«
Valentin bedauerte, dass sein Begleiter diesen Wunsch nicht schon früher geäußert hätte. Jetzt wären sie schon weit entfernt von der einzigen Quelle in dieser Gegend und müssten nun bis zum Kloster warten.
»Siehst du denn nicht, dass Wasser in der Nähe ist?«, fragte Reihenfels lächelnd.
»Nein, wo denn? Ich versichere dir, es befindet sich kein einziges Gewässer hier.«
»Siehst du den Baum dort?«
Er deutete auf einen akazienähnlichen Baum; sie gingen hin; Reihenfels machte in der Nähe des Stammes einige Stiche mit dem Messer in die fette Tonerde, und sofort floss aus dem Loch ein kleines Bächlein hervor.
Valentin schlug vor Staunen die Hände über dem Kopf zusammen.
»Moses schlug den Felsen und es sprang Wasser daraus«, schrie er auf.
»Ein ähnliches Kunststück wird Moses wohl auch gemacht haben — doch lassen wir das. Dieser Baum hier sammelt bei jedem Regenfall einen ansehnlichen Wasservorrat, der sich in dem fettigen Boden, in welchem der Baum nur wächst, sich gut hält. Selbst in der trockensten Jahreszeit findet man immer so viel, dass einige Personen den Durst löschen können, in einer Zeit wie jetzt kann aber eine ganze Karawane hier ihre Wasserschläuche füllen. Merke dir das, Freund, sonst könntest du einmal verschmachten, während du auf einem Brunnen liegst.«
Solche Proben seiner Kenntnisse gab Reihenfels noch mehrere ab, und Valentins Staunen wuchs von Minute zu Minute. Jetzt sah er den jungen Gelehrten mit ganz anderen Augen an, jetzt erst bemerkte er, was für einen muskulösen Hals und für sehnige Hände dieser Mann besaß, was für einen sicheren, elastischen Gang, und was für einen scharfen, durchdringenden Adlerblick.
Im Kloster angekommen, grübelte Reihenfels noch lange darüber nach, was für eine Bewandtnis es wohl mit Valentin habe. Warum erschrak er beim Anblick des Bildes? Warum, als er den Spiegel vermisste? Hier gab es ein Rätsel zu lösen, aber vorsichtig.
Auch Valentin saß brütend in seiner Zelle. Finstere Gedanken waren es, die ihm durch den Kopf jagten. Nein, und wäre dieser Mensch Gott selbst gewesen, wenn er nur nicht allwissend war, dann sollte er sein Geheimnis nicht erfahren. Aber das stand auf dem Spiele, es konnte verraten werden; jener Mann schien dazu befähigt, jedes Rätsel zu lösen; nichts schien seinen Falkenaugen entgehen zu können.
Was aber war das Leben hier noch für Valentin, wenn ihm die Mittel genommen wurden, seiner Leidenschaft zu frönen? Lieber, hatte er beschlossen, wollte er dem Kloster den Rücken kehren, doch er wusste auch, dass er ohne solch einen Rückhalt für dieses Leben verloren war.
Er musste ein Mittel ersinnen, einen Verrat zu verhindern, und er fand auch nach stundenlangem Brüten ein solches.
Die Vesperglocke ließ das Hämmern des Schmiedes auf dem Hofe verstummen; sie rief auch Valentin in die Kapelle.
Der grauhaarige Sünder in der Mönchskutte, der Wolf im Schafsfell, kniete wohl andächtig mit gefalteten Händen, wie die anderen Mönche, nieder, aber seine Lippen bewegten sich nur, sie murmelten keine Gebete, er hörte auch nicht die salbungsvollen Worte des Priors; denn seine Gedanken waren mit dem beschäftigt, was er diese Nacht vorhatte.
Nach der Abendandacht stand er wieder am Fenster seiner Zelle und blickte hinaus in den Wald, nach den Bergen, deren schneebedeckte Gipfel im letzten Abendrot erglühten.
Sonst, wenn den ehemaligen Gemsjäger die Lust anwandelte, um diese Zeit noch durch den Wald zu streifen oder auf nächtliche Abenteuer auszugehen, hatte er, sich weit zum Fenster hinausbiegend, mit täuschender Ähnlichkeit das Geheul des Panthers ertönen lassen.
Dann war er zum Prior gegangen, hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass ein Panther ums Kloster schliche, und er war zur Vertilgung des Raubtieres hinausgeschickt worden. Meist kehrte er dann wirklich mit einem blutigen Raubtierfell zurück; hatte er keins erbeutet, so schadete es auch nichts, dann war seine Mühe eben vergeblich gewesen.
Heute aber wagte er es nicht, diesen Betrug, einen Panther nachzuahmen, auszuführen. Er fürchtete den jungen Gelehrten, er glaubte, dieser müsse sofort hören, dass das Geheul aus einer menschlichen Kehle stamme.
Valentin bog sich zum Fenster hinaus, legte schon die Hände trichterförmig vor den Mund, brachte aber keinen Laut hervor. Die Furcht vor dem allwissend scheinenden Fremden schnürte ihm die Kehle zu.
Und doch musste er heute nacht noch hinaus, unbedingt, er musste sein Geheimnis schützen.
Da rollte es dumpf wie ferner Donner; ein furchtbares Gebrüll folgte, dass die Luft erzitterte; es wurde im Walde lebendig, als befände sich alles auf der Flucht, und das langgezogene Gebrüll endete wieder in einem dumpfen Murren. Ein Königstiger hatte gesprochen, er hatte angekündigt, dass der Fürst der Dschungeln und der Wälder jetzt auf Raub ausginge.
Valentin hätte bald einen Jubelschrei ausgestoßen; jetzt waren ihm die Klosterpforten geöffnet. Den Tiger fürchtete er nicht, er ging ihm aus dem Wege. Mit der Büchse in der Hand betrat er das Gemach des Priors, der ihn schon zu erwarten schien.
»Hast du gehört, Bruder Valentin?«, fragte der alte Mann, und Entsetzen lag in seinem Gesicht.
»Ich habe den Tiger brüllen hören, und sieh, ich bin schon bereit, ihm den Weg zum Kloster zu vertreten.«
Mit einem Segen entließ der Prior ihn, und Valentin eilte dem Walde zu, nachdem er sich noch von einem dienenden Bruder die Tasche mit Hartbrot hatte füllen lassen.
Aber Valentin hatte durchaus keine Lust, das gefährliche Raubtier bei Nachtzeit aufzusuchen, was er übrigens auch noch nie getan hatte, sondern er machte einen großen Bogen um die sumpfige Niederung, wo sich der Tiger sicher aufhielt, und schlug den Weg nach dem Gebirge ein.
Es war immerhin ein gefährlicher Weg, der Tod lauerte hinter jedem Busch auf ihn. Doch einmal war Valentin schon an solche nächtliche Spaziergänge gewöhnt, und dann, wessen ist der Mensch nicht fähig, der von irgendeiner Leidenschaft nach einem Ziele getrieben wird!
Der Mönch durchquerte dieselbe Gegend, in der er vor einigen Tagen mit August das Zechgelage abgehalten hatte; er schlug auch den Weg nach dem Badebassin ein, hielt sich aber dann mehr links, und kam nach einer Stunde schnellen Wanderns in eine womöglich noch unwirtlichere Gegend.
Nur schwach schien der Mond, ein hier Unbekannter hätte jeden Augenblick Gelegenheit gehabt, Hals und Beine zu brechen, aber Valentin schien jeden Fußbreit des Bodens zu kennen.
Er sprang über Spalten im Boden, die gar nicht sichtbar waren, wand sich durch schmale Gänge, vermied die Felsen, die ihm den Weg versperrt hätten, und kletterte wie ein Steinbock über das gefährlichste Steingeröll. Zwar hatte er von dem Bassin aus noch eine Stunde zu marschieren, doch bewegte er sich stetig im Bogen, sodass es schien, als müsse er nach dem Bassin zurückkommen. Aber er gelangte so nur auf die andere Seite der Felsenmasse, ans welcher der kalte Quell entsprang, und hier war er endlich am Ziel.
Auf Händen und Füßen kroch er einen schrägen Abhang hinauf, der mit losem Geröll, das aber aus mächtigen Blöcken bestand, bedeckt war. Es war ein Aufstieg auf Tod und Leben; kam nur ein einziger Block über ihm ins Rollen, so stürzte sich der ganze Abhang auf ihn, ihn zerschmetternd und begrabend; aber auch schon wenn der Block, auf den er trat, ins Gleiten kam, wurde er mit in die Tiefe gerissen.
Doch wie eine Katze verstand der alte Gemsjäger zu klettern; eine solche Geschmeidigkeit hätte man dem anscheinend plumpen Körper wahrlich nicht zugetraut.
Endlich hatte er einen festen Absatz erreicht. Jäh türmte sich von hier an die Felswand auf, während der Absatz wie eine schmale Galerie, höchstens einen halben Meter breit, sich die Wand entlang fortsetzte.
Diese Galerie benutzte Valentin. Nachdem er die steile Böschung hinter sich hatte, öffnete sich links neben ihm ein unermesslich tiefer Abgrund, während sich rechts die Wand erhob, und auf dem schmalen Pfade lief der Mönch wie eine Katze, furchtlos und schwindelfrei.
So erreichte er ein dunkles Loch, das dicht über dem Grate lag. Hier hatte seine gefährliche Wanderung ein Ende, dafür aber nahm ihn geheimnisvolle Nacht auf.
Wieder musste er auf Händen und Füßen kriechen, bis sich der enge Gang erweiterte, und gleichzeitig drang, als er sich aufrichtete, ein eigentümlicher, gleichmäßig singender Ton an sein Ohr.
Es war dies Valentin etwas Bekanntes, schon oft Gehörtes. Ohne sich aufzuhalten, schritt er weiter, brauchte auch nicht zu tasten, denn er kannte den Weg.
Dann leuchtete ihm aus der Nacht ein weißer Strich entgegen, der immer heller wurde, je länger das Auge darauf ruhte. Dies also war die Höhle, in welcher der Fakir im somnambulen Zustand Bega gesehen hatte, und der lügnerische Mönch wusste den Weg zu ihr recht gut zu finden, ja, er wusste noch mehr.
»Begum!«, rief er leise.
Ein Rascheln wie von trockenem Laub erscholl, dann zuckte ein Lichtstrahl durch die Nacht, und vor Valentin stand, ein brennendes Scheit in der Hand, Bega, ebenso gekleidet noch wie damals, als sie aus dem Gouvernements-Palast geflohen war, nur dass das Übergewand stark gelitten hatte.
»Bist du's, Bruder Valentin?«, fragte sie mit trauriger Stimme. »Ach, ich habe so lange auf dich gewartet, mit solcher Sehnsucht, und immer vergeblich!«
Der Mönch war wie umgewandelt. Seine Bewegungen waren jetzt gemessen, seine Stimme klang sanfter, er sprach langsam und feierlich, und nie gebrauchte er einen Fluch, desto mehr schmückte er seine Rede mit frommen Sprüchen und dem Namen Gottes aus.
»Armes Kind«, sagte er bedauernd, »wie schmerzlich berührt es mich, dich traurig zu finden! Hast du noch immer nicht mit der Welt gebrochen? Ich weiß, es ist schwer, dem zu entsagen, was man liebt, aber Gott will es, und wen Gott liebt, den züchtigt er. Was ist es, das dein Herz betrübt, und was dich auf mich warten ließ?«
Das Mädchen hatte inzwischen einen Reisighaufen in Brand gesetzt, auf den es einige große Scheite Holz warf. Das Feuer war nötig hier, sonst war es vor Kälte kaum erträglich, das heißt, im Gegensatz zu der draußen herrschenden, warmen Temperatur.
Der Rauch des Feuers zog durch den Kamin ab, in den auch die Flamme hineinschlug. Diese hatte ganz die Beschaffenheit, wie sie der Fakir und der Missionar in seinem Tagebuch beschrieben. Sie war in beständig zitternder Bewegung, stand kerzengerade wie eine dünne Säule, entquoll einem Spalt im Boden und strahlte wenig Licht aus. Es war eine jener sogenannten ewigen Flammen, wie man sie in Asien mehrfach findet. Die Priester des umwohnenden Volkes, gleichgültig welcher Religion, stempeln sie zu einem heiligen Wunder und machen Geschäfte mit ihr. Diese Flammen werden durch ein aus der Erde strömendes Gas genährt und können überhaupt nicht verlöschen, weil sich das Gas, wenn es sich mit dem Sauerstoff der Luft vermischt, von selbst entzündet.
Hier war die Erscheinung um so wunderbarer durch den singenden Ton, der durch die Schwingungen der Flamme in dem kaminartigen Schacht erzeugt wurde.
Valentin mochte es nicht ganz geheuer zumute sein, er war unsicher und betrachtete das Mädchen mit misstrauischen Blicken, während es den Holzstoß in Brand setzte.
»Nimm Platz«, sagte es dann, auf ein Bündel Felle deutend, »ich habe dich viel zu fragen. Ach, wenn du wüsstest, wie ich dein Kommen herbeigesehnt habe, und du kamst so viele Tage nicht.«
Bega setzte sich dem Mönch gegenüber und blickte ihn mit gespannter Erwartung an. Sie sah frisch und gesund aus, aber trauriger als je zuvor.
»Sage, guter Vater«, begann sie wieder, »mit wem bist du vor zwei, drei Tagen zusammen auf der Jagd gewesen?«
Valentin tat, als überlege er, um seiner Unruhe Herr zu werden.
»Ich weiß es nicht gleich, es sind so viele Fremde jetzt im Kloster —«
»So viele? O, wenn er dabei wäre!«
»Wo hast du mich gesehen?«
»Jenseits dieses Felsens. Ich folgte einer Berggazelle und verstieg mich sehr hoch. Da, als ich auf dem äußersten Grat stand und hinabblickte, sah ich dich und einen Mann in einem Talkessel sitzen, oder es war nur ein Loch, und wenig nur konnte ich zwischen den Bäumen hindurch sehen.«
»Wenig nur?«
»Ja, doch euch beide sah ich —«
»Einen Augenblick«, unterbrach sie der Mönch. »Sahst du nicht, was wir machten?«
»Das konnte ich nicht sehen. Jenen Mann aber kannte ich; er ist ein Freund von mir.«
»Ein Freund von dir?«, sagte Valentin wie vorwurfsvoll. »Lernst du noch immer nicht begreifen, dass du keinen anderen Freund hast als den lebendigen Gott und mich, den Gott dir gesandt hat, als du Schutz suchtest in dieser Höhle? Vertraue vor allen Dingen Gott und nenne mich deinen Freund, mich allein, denn ich bin dein wahrer Freund! Ja, Weib, nenne mich deinen Geliebten in Jesu Christo, Amen.«
Er hatte ihre Hände ergriffen und sie inbrünstig gedrückt, seine Augen hingen begehrlich an der geschmeidigen Gestalt des Mädchens, überhaupt hatte sich sein Wesen verändert, seit er erfahren, dass sie damals in dem Talkessel nicht gesehen hatte, was er tat, dass sie also nichts von der Zecherei wusste.
Bega war zu sehr mit etwas anderem beschäftigt, als dass sie seiner geachtet hätte, auch kannte sie ihn nur als einen fanatischen Priester, der sie dem katholischen Glauben zuführen wollte. So ließ sie ihm die Hände, die er drückte und streichelte.
»Ich weiß, dass du mein Freund bist, und ich danke dir dafür, dass du an mir Armen Anteil nimmst. Aber sieh, jener Mann, den du bei dir hattest, war ein Freund von mir! Er kommt sicher, um mich aufzusuchen.«
Valentin schüttelte ungläubig den Kopf.
»Das Kloster beherbergt nur Engländer, welche dich, die Begum von Dschansi, fangen oder töten wollen. Dir dies zu sagen, komme ich heute zu dir.«
»Nein, nein, jener Mann gehört nicht zu diesen.«
»Wie sah er aus? Beschreibe ihn! Ich muss oft Engländer einzeln oder in Trupps führen, um dich zu suchen. Natürlich führe ich sie immer irre, denn Gott will nicht, dass ein Schaf verloren geht, wenn es noch ihm zufallen kann. Wie sah er aus?«
»Er hatte rotes Haar.«
Erschrocken sprang Valentin auf.
»Wie? Der mit dem roten Haar? Der von Gott Gezeichnete? Der Judas? Wehe, wehe, dreimal wehe, das ist ein Verruchter! Gottes Zorn möge ihn niederschmettern; denn er trachtet dir nach dem Leben oder vielmehr sein Herr. Tag und Nacht ist sein Herr...«
»Halte ein«, unterbrach Bega erfreut den Mönch, der in Ekstase mit ausgebreiteten Armen dastand, wie der Blitze schleudernde Zeus, »du sprachst von seinem Herrn. Das ist ja der, den ich liebe und suche, der auch mich bis an seinen Tod suchen wird. Nenne seinen Namen, beschreibe ihn!«
»Du liebst ihn? Diesen verruchten Amerikaner mit dem langen Bart und großkarierten Rock? Unglückliche, der Teufel hat dich verblendet. Knie nieder, dass ich dir die Hände auflege und den bösen Geist im Namen des Gekreuzigten banne.«
»Ich kenne keinen Amerikaner mit langem Rock. August ist Reihenfels' Diener.«
»Ja, August ist der Name des Verfluchten, der seinem Herrn für schnödes Geld den Weg zu dir zeigen will. Aber ich werde es hindern; denn als Kind Gottes bist du meine Himmelsbraut.«
»Nein, August ist Reihenfels' Diener.«
Wie zufällig wandte Valentin den Kopf und sah an der Felswand ein Winchestergewehr lehnen.
»Ha, wie kommst du zu dieser Büchse?«
Begas Gesicht wurde rot.
»Diese gehört dem Amerikaner«, fuhr Valentin schnell fort, »er sagte, dass sie ihm gestohlen worden wäre.«
»Ich nahm sie aus seinem Zelt.« gestand Bega leise.
»Ja, so sagte er. Ah, nun bekomme ich Klarheit; richtig, meine Tochter, du bist im Recht! Höre mich an: ich entsinne mich, dass dieser August mir einst den Namen seines früheren Herrn gesagt hat, und dieser war Reihenfels. August kannte dich gut, nicht wahr?«
»Ja.«
»Dies hatte ein Amerikaner namens Bulwer erfahren, der vom Satan ganz und gar besessen ist und im Frevelmut geschworen hat, nicht eher seinen karierten Rock abzulegen und nicht eher seinen Bart abzuscheren, als bis er die Begum von Dschansi erlegt hat. Erlegt, hat er geschworen, dich, meine Himmelsbraut, will er wie ein wildes Tier erlegen! Für schweres Geld hat er August geworben, mit ihm zu gehen; denn er kennt dich nicht, wohl aber August. Dieser also soll den Judas spielen. Er meinte, wenn du ihn siehst, würdest du dich wohl offen zeigen, und dann will dich der Amerikaner wie einen tollen Wolf niederschießen.«
Mit starren Augen blickte das Mädchen den Sprecher an.
»Nein, das kann ich nicht glauben. Dessen ist August nicht fähig.«
»O, liebe Tochter, der Mensch, so er nicht vom Geiste Gottes erleuchtet ist, ist für Geld zu allem fähig. August hat es ja im Kloster selbst erzählt.
Es freut mich nur, dass du dem Amerikaner wenigstens ein Gewehr genommen hast, freilich hat er noch ein anderes ebensolches. Weine nicht, mein Engel, das ist kein Diebstahl; es war ganz recht von dir, ihm eine solch gefährliche Waffe, die gleich sechzehnmal schießt, zu nehmen, und dann bedenke, dass Gott denen, welche er lieb hat, alles im Schlafe schenkt, das heißt mit anderen Worten, er lässt die schlafen, denen die von Gott Geliebten etwas nehmen dürfen. Also darum weine nicht, mein Engel!«
Aber Bega weinte wegen etwas ganz anderem, und das wusste der alte Sünder recht wohl.
»Ist Oskar — Mister Reihenfels denn nicht mit im Kloster?«, schluchzte sie.
»Nein. Soviel mir August sagte, will er sich verheiraten, ich glaube in Bombay.«
Bega schnellte empor.
»Du lügst!«
»Wie, du zeihst mich der Lüge, mich, der ich Gott ewigen Gehorsam geschworen habe, der ich mich ein Kind Gottes nenne und nennen darf? Kind, der Teufel spricht aus dir, knie nieder und bete mit mir!«
Weinend sank Bega wieder nieder.
»Sieh«, fuhr der Mönch fort, »erst jetzt erfahre ich, dass du zu diesem Reihenfels eine unzüchtige, unheilige Liebe im Herzen trägst — denn jede Liebe, die nicht zu Gott ist, nenne ich unzüchtig — und es freut mich, dass ich sie dir wie Unkraut aus dem Herzen rotten kann. Reihenfels' Eltern, glaube ich — nicht wahr, er hat Eltern?«
Bega nickte.
»Und er ist ihnen gehorsam?«
»Ich glaube.«
»Nun, seine Eltern wollten, dass er ein Mädchen heiraten sollte, und er war ihnen gehorsam. Dieser Gehorsam gegen seine Eltern ist das einzige, was ihm Gott einst anrechnen wird. Wenn ich fleißig für ihn bete, so wird Gott ihn vielleicht nicht zu lange im feurigen Pfuhl braten lassen. Soll ich für ihn beten?«
Er streichelte ihr das Haar.
»Soll ich für ihn beten?«, wiederholte er zärtlich. »Ich tu's gern, weil ich dich liebe in Jesu Christi Namen, Amen.«
Doch Bega war jetzt nicht dazu gestimmt, auf ihn zu hören. Die lange Einsamkeit, der Wahn, immer verfolgt zu werden, geschaffen durch die Angaben des schurkischen Mönchs, hatten ihre Nerven aufs höchste angegriffen.
»Lass ihn fahren dahin! Besser, dein Herz bricht, als dass deine Seele verloren geht; aber es soll nicht brechen, dafür lass nur mich sorgen. Also höre; dieweil im Kloster viel Engländer sind, die beschlossen haben, die Begum von Dschansi zu fangen oder zu töten, darunter ganz besonders hervorzuheben der Amerikaner, der sogar eine Falle hat bauen lassen, um dich darinnen lebendig zu fangen — ja, ja, sieh mich nur an, es ist wirklich wahr; er hat einen eisernen Käfig wie eine Mausefalle gebaut — angesichts dessen also ist es besser, du verlässt diese Höhle nicht mehr, lässt dich überhaupt nicht mehr sehen; denn wirst du nur einmal erblickt, so kann ich dich nicht mehr schützen. Jetzt weiß noch niemand von dieser Höhle, und ich will dafür sorgen, dass niemand von ihr erfährt. Trotzdem: verlass die Höhle nicht, zeige dich auch nicht am Eingang, und du bist unter Gottes und meinem Schutze wohl geborgen. Es mangelt dir an nichts, du hast Fleisch im Überfluss; Bibel und Gesangbuch habe ich dir mitgebracht, einen Spiegel auch, damit du dich besehen kannst; denn das Gesicht ist der Spiegel der Seele, und nur lass dir raten, niemals von jener höllischen Flüssigkeit zu trinken, die dort hinten in Flaschen liegt.«
Der Mönch räusperte sich und blickte in den Hintergrund der Höhle.
»Ach ja, dass ich es nicht vergesse. Der Prior hat mir aufgetragen, Abendmahlsweine mitzubringen und auch ein paar Flaschen heißeren Wein; denn wir haben wieder viele Kranke im Kloster. Verhüte Gott, dass ich jemals krank werde, damit meine reinen Lippen nicht mit jenem höllischen Stoff in Berührung kommen, den der Teufel im Pfuhl der Hölle gebraut hat. Wüsste ich nicht, dass der liebe Heiland selbst es befohlen hätte, ich würde gar nicht einmal das heilige Abendmahl nehmen; denn der Wein ist mir zuwider.«
Valentin leckte mit der Zunge die Lippen und warf wieder einen Blick in den Hintergrund, der vorläufig noch vollkommenes Dunkel einhüllte.
»Ferner vernimm, meine Geliebte im Herrn, dass dir auch noch von anderer Seite Gefahr droht. Nicht nur die Engländer dürsten nach deinem Blut, nein, auch indische Krieger sind hier erschienen, die auf dich Jagd machen wollen.«
»Ich weiß es«, seufzte das Mädchen. »Hast du schon welche gesehen?«
»Wie ein Heuschreckenschwarm haben sie sich hier niedergelassen; selbst mit ihren Feinden, den Engländern, haben sie sich vereinigt; denn es gilt ja die Begum von Dschansi zu fangen.«
»Ich dachte es mir. Wie heißt ihr Anführer?«
»Ich glaube — Lena — Lina — Nina —«
»Nana Sahib.«
»Nana Sahib, richtig! Ein ganz gefährlicher Mensch, er hat mir schon hundert Pfund Sterling geboten, wenn ich dich ihm ausliefere. Doch fürchte nichts, ich bin dein Vater, dein Bruder, dein Geliebter, natürlich nur in Jesu, alles, was du willst. Und vor allen Dingen zürne deinen Feinden nicht, sondern vergib ihnen in Jesu Christi Namen; denn sie wissen nicht, was sie tun, Amen. Vergiss nicht, mich an den Wein zu erinnern, den ich für den Prior mitnehmen soll.«
»Und wenn sie diese Höhle nun doch finden?«
»Dies, Geliebte, fürchte nicht, ich werde es verhindern; nur folge mir. Sollten sie aber doch auf deine Spur kommen...«
»Dann werde ich mich zu verteidigen wissen«, rief Bega mit blitzenden Augen; »diese Höhle liegt wie eine Festung, und wenn sie auch keine Kanonen besitzt, so doch etwas anderes. Dann stelle ich mich an der Böschung auf und sende Stein auf Stein den Feinden entgegen, und rückten sie in hellen Scharen heran, sie könnten doch nichts ausrichten; dann bringe ich den Abhang ins Rollen, und sie alle, alle werden unter den Steinen begraben.«
»Ja, aber nicht die Nachkommenden. Dies, meine Himmelsbraut, sei dein letztes Mittel. Ehe es so weit kommt, werde ich dich warnen, dass du von hier fliehen sollst.«
»Fliehen? Wohin? Soll ich wieder wie ein wildes Tier im Walde leben? Ach, ich bin schon unglücklich, dass ich hier wie ein Höhlenbär leben muss! Zwei Ausgänge habe ich, und keinen darf ich benutzen.«
»Du bist doch nie durch den anderen gegangen?«, fragte Valentin besorgt.
»Nie.«
»Das ist gut, man könnte nämlich Bluthunde benutzen, und diese würden deine Spur bald finden. Auch ein Mensch schon, und wäre er noch so kurzsichtig, würde sie entdecken, wenn die Büsche und das Gras zertreten wären.«
»Wohin aber sollte ich denn fliehen?«
»Ich würde dir mit meinem Rate zur Seite stehen, dich wahrscheinlich auch begleiten. Also, nicht wahr, du kommst allen meinen Bitten nach?«
»Ich muss, so schwer es mir auch fällt.«
»Du bist ein gehorsames Kind, Gott wird es dir dereinst lohnen, dass du seinem Priester folgsam gewesen bist. Lass dich küssen, meine Tochter, ziere dich nicht; ich bin kein gewöhnlicher Mensch, nächstens wirst du um meinen Kopf einen Heiligenschein sehen, und jeder Kuss, den ich dir gebe, bringt dich einen Schritt dem Himmel näher.«
Aber Bega schien keine Lust zu haben, in diesen zu kommen, oder sie hatte die Worte des Mönchs gar nicht gehört. In Gedanken versunken saß sie da und schnellte wie von einer Schlange gebissen auf, als Valentins Lippen ihren Mund berührten.
Im nächsten Augenblick flog Valentin wie ein Ball gegen die Wand, dass ihm die Rippen krachten.
»Hallo, he, verd... — verzeihe, so war das nicht gemeint. Wir Priester küssen jeden, das ist so gut wie ein Segen.«
»Dann verzeihe mir, das wusste ich nicht. Soll ich dir nach der Ecke leuchten?«
»Ja, tue das, ich muss gehen. Auch einen Trunk Wasser kannst du mir reichen. Aber erst den Abendmahlswein für den Prior, das ist das Wichtigste.«
Bega ergriff einen brennenden Ast und führte den Mönch tief in die Höhle hinein. Da sah man, woher Valentin seinen Wein bezog.
In einer Ecke standen viele Kisten und Körbe, alle mit Londoner, aber verschiedenen Firmen signiert. Die eine war die Firma einer Weinhandlung, die andere die einer Londoner Konservenfabrik, welche Reisende und besonders Militär und Marine mit Konserven versorgte, auch viel nach den Kolonien expedierte.
Es war ein so ungeheurer Vorrat, dass man auf die Vermutung kam, hier handele es sich nicht um den Proviant eines oder mehrerer Reisenden, sondern um eine ganze Frachtsendung ins Ausland.
Wie aber kamen diese Sachen hierher?
Bega steckte das brennende Scheit in eine Wandspalte und ließ den Mönch allein, der ein grobes Tuch hervorzog, es am Boden ausbreitete und darauf aus Kisten und Körben, von denen nur erst ein ganz kleiner Teil angebrochen war, Weinflaschen und Konservenbüchsen in leckerer Auswahl aufhäufte.
Valentin hatte Bega gesagt, diese Höhle wäre wegen ihrer kühlen und trockenen Beschaffenheit der Vorratsort des Klosters, und Bega hatte keinen Grund, diese Aussage zu bezweifeln.
Während der Mönch seinen Sack füllte, beobachtete er zugleich das Mädchen, welches in einer anderen Ecke einen Stein abgehoben hatte, unter welchem ein Loch zum Vorschein kam. Sie ließ an einem langen Strick einen Tonkrug hinab und zog ihn, mit Wasser gefüllt, wieder heraus. Also war in dieser Höhle auch Wasser zu haben, was der Herrnhuter Missionar nicht gewusst hatte.
Valentin hielt gerade eine Flasche in der Hand, als Bega den Krug auf und nieder spielen ließ, um ihn mit Wasser zu füllen. Diese Minute benutzte der Mönch, blitzschnell in die Tasche zu fahren, den Korkzieher hervorzuholen; wie durch Zauberei und ohne Geräusch öffnete er die Flasche, in langen Zügen sog er am Hals, und als Bega ihm den Trunk Wasser anbot, war er schon wieder so gleichgültig mit dem Packen des Bündels beschäftigt, als wenn nichts geschehen wäre.
Ehe er ging, nahm er den brennenden Ast und schritt noch tiefer in die Höhle hinein. An der hintersten Wand befand sich dicht am Boden ein Loch, der Eingang zu einem Tunnel, dem anderen Eingange gerade gegenüberliegend, und soviel man sehen konnte, führte der Tunnel schräg abfallend in die Felswand hinein.
Als Valentin nichts Auffälliges fand, begab er sich nach dem vorderen Raume zurück. Erst jetzt, da er die Fackel hochhielt, bemerkte er das noch blutige Fell eines Königstigers, das mit kleinen Pflöcken ausgespannt war.
Ein triumphierendes Lächeln zog über sein Gesicht.
»Ah, hast du den geschossen?«
»Heute Morgen. Es wird wohl für lange Zeit das letzte Jagdvergnügen gewesen sein, wenn nicht für immer.«
»Das ist brav, du hast der Menschheit einen großen Dienst erwiesen, solch ein gefräßiges Raubtier, eine Schöpfung des Teufels, vernichtet zu haben, und der liebe Herrgott wird es sich notieren — ja, das wird er tun. Was willst du aus dem Fell machen?«
»Mir eine weiche Decke.«
»Ach geh, das macht viel Mühe, und das Fell wird hier in der kalten Höhle überhaupt nicht weich. Überlass es mir, ich nehme es mit, gerbe es im Kloster, wo wir alles Nötige dazu haben, schön weich und bringe es dir dann mit.«
Bega war's zufrieden. Er wickelte das schwere Fell zusammen, erkundigte sich väterlich, ob es dem Mädchen an nichts gebräche, ob noch genug Holzvorrat da sei, schärfte ihr nochmals ein, die Höhle nicht mehr zu verlassen, weil nicht nur Engländer, sondern auch Inder auf sie fahndeten, und trat nach Hinterlassung von vielen Segensprüchen und geschlagenen Kreuzen den gefährlichen Rückweg an, doppelt gefährlich jetzt, da er die gewichtige Bürde zu tragen hatte.
Doch in dem knochigen Körper des Mönchs steckte nicht nur eine außerordentliche Gewandtheit, sondern auch Kraft, und so gelang es ihm, den Abhang hinabzusteigen, ohne ins Rutschen zu kommen.
Höhnisch kicherte er vor sich hin, als er den Abstieg begann, beide Bündel auf dem Rücken.
»Die werde ich mir schon noch zahm machen, das verrückte Weibsbild. Hahaha, wie sie tat, als ich ihr einen Kuss gab. Es war der erste, aber wie der schmeckte! Ein verdammt schönes Mädchen! Na, stecke nur erst ein paar Wochen in deiner dunklen Höhle, dann findest du mich vielleicht auch noch recht hübsch und spielst gern mit mir! Lehrt doch den Valentin die Mädchen nicht kennen! Hahaha, sie die Braut von diesem Reihenfels! Aber Vorsicht, Valentin, Vorsicht, auch August darf nichts davon erfahren, und dann, Valentin, hussa, dann gibt's ein Leben wie die Götter, hussa, Wein und Liebe!«
Er machte einen mächtigen Luftsprung, trotz des gefährlichen Weges und der schweren Last, aber erschrocken blieb er stehen.
Dort in der Ferne, wo er von seinem Standpunkte aus in eine Schlucht blicken konnte, sah er viele leuchtende Punkte schimmern.
Wäre er hier nicht vollständig bekannt gewesen, er hätte sie sich nicht erklären können, so aber wusste er, dass sich dort eine Schlucht befand. und dass die leuchtenden Punkte nichts anderes als Feuer sein konnten.
Wer aber lagerte dort?
Nun, jedenfalls englische Soldaten, welche diese Gegend nach Rebellen absuchen wollten. Bis jetzt hatten sich hier allerdings weder Engländer noch Rebellen sehen lassen.
Wenn es nun aber Inder waren? Dann hatte Valentin den Teufel an die Wand gemalt. Bah, was kümmerte ihn das? Er verfolgte seine eigenen Absichten.
Er vollendete den Abstieg und machte sich auf den Rückweg, der etwa zwei Stunden beanspruchte. Als er ungefähr das Bassin erreicht hatte, welches von der Quelle gebildet wurde, sank er plötzlich lautlos hinter einem Steinblock zusammen und schmiegte sich ins Gras.
Dort ging schnellen Schrittes ein Mann; Valentins scharfe Augen erkannten in ihm einen Inder. Er bewegte sich schnell, aber vorsichtig vorwärts und blickte sich scheu um.
Doch Valentin sah noch etwas anderes, was ihn bewog, die Büchse schussbereit zu machen.
Aus dem hohen Grase tauchte plötzlich noch eine andere dunkle Gestalt auf und schlich raubtierähnlich dem Wanderer nach, ja, Valentin hätte die Gestalt erst für einen Panther gehalten, wenn nicht das Blitzen von Waffen den Menschen verraten hätte.
Ahnungslos schritt der einsame Wanderer dahin, schleichend näherte sich ihm der andere von hinten.
Da, ein Satz, ein Fall, und der Vorausschreitende lag am Boden, der Angreifer kniete auf ihm, das Messer zum Stoß erhoben.
»Wer bist du? Wohin willst du?«, hörte Valentin deutlich den obersten Mann fragen. Nur ein Röcheln erscholl, die Hand schnürte wahrscheinlich die Kehle zu.
»Ich bin — Babur«, stöhnte er. »Du erwürgst mich!«
»Babur? Kenne ich nicht! Wohin willst du?«
»Ich bin Rebell.«
»Das sagt jetzt jeder, der gefangen wird. Besser, zehn sterben unschuldig, als dass der Verräter geschont wird. Stirb, ich sende deine Seele zu Brahma.«
Das gezückte Messer schwebte in der Luft.
»Halt ein!«, schrie der Unterlieger in Todesangst. »Nana Sahib...«
»Was ist mit ihm?«
»Ich muss zu ihm.«
»Warum?«
»Wichtige Meldung.«
»Kennst du Nana Sahib?«
»Sehr gut.«
»Hund, jetzt musst du sterben!«
»Halt, jetzt erkenne ich dich!«, vermochte Babur unter der würgenden Faust noch einmal hervorzubringen. »Du selbst bist Nana Sahib! Halte ein! Ayda...«
»Was ist mit Ayda? Kennst du sie?«
»Ich bin der treue Diener deines Weibes.«
»Ha, jetzt entsinne ich mich auch deiner. Wo ist Ayda?«
»Nicht weit von hier. Sie konnte nicht mehr gehen; ich sah Feuer und wollte hin, um Hilfe zu holen.«
»Gut, führe mich zu ihr.«
Beide standen auf und verloren sich in der Finsternis.
Valentin wartete noch eine Weile und setzte dann so vorsichtig wie möglich den Heimweg fort. Viel hatte er nicht erfahren, er wusste nur, dass nun Rebellen in der Nähe waren; er hatte den Teufel also wirklich an die Wand gemalt, und es galt, auf der Hut zu sein.
Er musste den Prior unbedingt warnen, damit Wachen aufgestellt würden.
Als ihn der Weg an jener Schlucht vorbeiführte, in der er einst mit August gezecht hatte, holte er den versteckten Spaten und vergrub seine Schätze wieder, aber an einem anderen Ort.
Im Kloster schlug er trotz der späten Nacht noch Lärm und brachte durch seine Nachricht Entsetzen hervor. Also Nana Sahib zeigte sich in der Umgegend! Da war zu erwarten, dass er dem Kloster einen Besuch abstattete, entweder nur in räuberischer Absicht, oder aber, um sich in dem Gebäude festzusetzen.
Die Furcht vor dem Rebellenfürsten war daran schuld, dass Valentin für den getöteten Tiger nicht den verdienten Lohn erntete; denn natürlich erzählte er stolz, das blutige Fell stamme von dem von ihm geschossenen Tiere. Daher aber kam es auch, dass niemand bemerkte, wie der Tiger, den der Mönch geschossen hatte, draußen noch weiterbrüllte, denn es war nicht die Zeit, wo Männchen und Weibchen zusammen gingen, und zwei Tiger dulden sich nicht in ein und demselben Jagdrevier.
Valentin legte sich mit dem Entschluss schlafen, bei einem Angriffe der Inder das Weite zu suchen, und zwar sich dort zu verstecken, wo er in Hülle und Fülle und bedient von schönen Händen leben konnte.
Einige Tage waren vergangen, ohne dass sich das Gerücht bestätigt hätte — von den Rebellen ließ sich keine Spur sehen. Valentin nahm seine gewöhnlichen Jagdausflüge, besonders im Auftrage Mister Bulwers, wieder auf und brachte immer die Nachricht mit, dass in der Umgegend alles ruhig sei.
Der Klosterjäger musste nämlich den Aufenthalt der Riesenschlange ausspionieren, und zur unendlichen Freude des Amerikaners, dessen komplizierte Falle eben fertig geworden war, kam er eines Mittags mit der Meldung ins Kloster gestürzt, er habe die ungeheure Schlange abermals am Rande der sumpfigen Dschungeln erblickt, wie sie eben mit dem Verschlingen eines großen Affen beschäftigt gewesen sei.
»Der fast menschengroße Affe rutschte hinter, als wenn wir eine Pille verschluckten«, fügte Valentin hinzu, »und dabei spähte sie mit ihren gierigen Augen schon nach einer anderen Beute.«
Der Amerikaner war wie elektrisiert.
»Sie uerden doch nix haben geschossen auf sie?«, war seine erste Frage.
»Gott soll mich bewahren! Ein Kreuz habe ich geschlagen, und dann lange Beine gemacht.«
»Serr, serr gut!«, schmunzelte der Yankee, sich vergnügt die Hände reibend. »Sie uerden mich bringen noch heute dahin, wo Sie haben gesehen die Schlange.«
»Zeigen will ich Ihnen wohl den Ort, aber gar zu nahe gehe ich nicht hin.«
»Makt nix, ick und mein Diener uerden bauen allein auf das Falle.«
»He, he«, rief August, der daneben stand, »da suchen Sie sich gefälligst einen anderen Diener!«
»Uarum? Ick sein serr zufrieden mit Ihnen.«
»Aber ich nicht mit Ihnen, wenn Sie mit Riesenschlangen Brüderschaft machen wollen. Da ist mir meine Haut doch zu lieb.«
»Ick uerde Sie bezahlen dafür.«
»Und ick uerde es nicht tun für alles Gold der Welt.«
Da stand Mister Bulwer vor einer neuen Schwierigkeit. Er hatte wohl die Falle und alles, was dazu gehörte, auf einem ihm vom Prior zur Verfügung gestellten Ochsenwagen, wie man sich solcher im Pandschab ausschließlich bediente, selbst nach dem Lagerplatz der Schlange fahren können, aber wer war ihm dann beim Abladen und Aufstellen der Falle behilflich?
In diesem Augenblick traten Reihenfels und Morrison im Jagdanzug, die Flinten über dem Rücken, auf den Hof. Letzterer zeigte wieder den früheren, elastischen Schritt, nichts an ihm verriet, dass er am Abgrund des Todes gestanden hatte.
Der Amerikaner begrüßte die Herren, was er sonst nie tat, und rückte ohne weiteres mit der Bitte heraus, ob sie ihm behilflich sein wollten, die Falle aufzustellen.
Nachdem sie sich nach allem umständlich erkundigt hatten, sagten sie beide zu, denn der Dschungel lag dicht am Rande des Gebirges, und von dort aus wollten sie das Suchen nach der Höhle beginnen, und zwar ohne Valentin mitzunehmen.
Morrison wusste, was Reihenfels an dem Burschen bemerkt hatte, und auch er misstraute ihm jetzt.
Sie traten an die Falle, die ungefähr das Aussehen eines Sarges hatte, also ganz langgestreckt war, aber etwa sechs Meter lang und ziemlich zwei Meter hoch und breit, aus eisernen Stäben bestehend, ein ganz kolossales Ding.
Der Amerikaner erklärte den beiden mit Genugtuung die Einrichtung.
Die Falltür war kompliziert genug, sie machte der Erfindungsgabe des Yankees alle Ehre; aber wozu die Rolle mit Kurbel ganz hinten angebracht war, das schien allen ein Rätsel; denn Mister Bulwer hatte sich vorher noch nicht ausgesprochen, und bei seiner Erklärung schüttelten Reihenfels und Morrison den Kopf; Valentin und August stießen sich an und lachten.
Gesetzt den Fall, die Schlange wäre acht Meter lang gewesen, so würde der Kasten doch schon zu klein sein; denn es stand nicht zu erwarten, dass das Reptil dem Amerikaner zuliebe ganz hineinkröche, aber diesen Umstand hatte der schlaue Yankee schon mitgerechnet, dafür war die drehbare Blechtrommel mit der großen Kurbel da.
Der Köder wurde hinten an der Trommel befestigt, die Schlange sollte hineinkriechen, den Köder verschlingen, und war dies geschehen, so war sie, das wusste der Yankee wohl, wie ein Fisch am Angelhaken gefangen. Dann drehte er die Kurbel, die Schlange wurde wie ein Tau auf der Trommel so weit aufgerollt, bis auch der Schwanz im Käfig war, dann nur ein Zug an der Eisenstange, und die Tür schlug zu.
»Hm«, meinte Reihenfels, »die Theorie ist ganz gut, aber ob es in der Praxis auch so glatt abgehen wird?«
»Yes.«
»Ich möchte es doch bezweifeln.«
»Es uird gehen. Ick habe es schon gemakt.«
»Ah, wo denn?«
»In Brasilien bei einer Anakonda.«
»Nun, dann haben Sie allerdings mehr Erfahrung als ich. Werden Sie die Kurbel auch allein drehen können? Sie müssen bedenken, solch ein Ungetüm hat eine fabelhafte Kraft.«
»Yes, uenn sich die Schlange kann halten fest, sonst nicht. Ick und mein Diener...«
»Nee, nee«, rief August dazwischen, »da leiern Sie mal allein, Männecken, ich gehe nicht mit.«
»So uerde ick drehen allein, goddam!«
»Welches Tier werden Sie als Köder benutzen?«, fragte Reihenfels weiter.
»Ein Tier, uelches quiekt, ick uerde erst fangen einen jungen Affen und ihm schneiden das Schuanz ab.«
Der Amerikaner ließ sich nicht irremachen.
Schon kam ein starker Wagen in den Hof gerollt, bespannt mit zwei Ochsen, und der auseinanderschraubbare Käfig konnte mit leichter Mühe daraufgehoben werden.
Unter den Mönchen fand sich kein Kutscher; schließlich aber erklärte sich Valentin bereit, den Wagen wenigstens so weit zu fahren, bis er ihnen den Ort zeigen konnte, wo er die Schlange gesehen hatte.
»Sei kein Narr«, raunte August ihm zu, »Riesenschlangen sollen gerade die Dominikaner mit Vorliebe verschlingen.«
»Ich gehe auch nicht mit, aber du doch?«
»Fällt mir nicht ein. Ich will mit heiler Haut noch einmal in meine Heimat kommen.«
»Geh nur getrost mit!«, kicherte Valentin leise. »Dort, wohin ich die Narren schicke, ist gar keine Schlange.«
»Was, du hast gar keine gesehen?«
»Gott bewahre, wenigstens nicht dort.«
»Wo sonst?«
»Vor einigen Tagen, aber viele Meilen von jener Stelle.«
»Und warum gehst du dann nicht mit?«
»Weil ich etwas Anderes vorhabe.«
Nachdem Valentin ihm noch mehrmals versichert hatte, dass die Schlange sich nicht dort habe sehen lassen, erklärte sich August bereit, selbst den Wagenlenker spielen zu wollen und seinem Herrn bei seinem Unternehmen behilflich zu sein, nicht ohne dabei mit seinem Mute zu prahlen.
Nach einer Stunde Fahrens tauchte eine mächtige Ebene auf, mit Bambusrohr bewachsen — der Dschungel, der Aufenthaltsort der Raubtiere und der Schlangen.
Der Boden war hier durchaus nicht sumpfig. Valentin sagte, erst in der Mitte der Dschungeln sei der Sumpf; aber an jenem Baume dort, der so einsam auf der Grasfläche stand, abgesondert von dem hundert Meter entfernt beginnenden Walde, habe er die Riesenschlange hängen sehen.
»Hängen?«, fragte August.
Es wurde ihm erklärt, dass sich die Schlangen gern an Äste hängen, den Kopf nach unten, wobei sie sich mit dem Schwanze festhalten.
Links von dem Dschungel erhoben sich jäh und schroff die Ausläufer des Himalaja, wie dieses Gebirge überhaupt dadurch charakterisiert wird, dass es vom ebenen Lande keinen Übergang durch Hügel bildet; rechts von dem Dschungel zog sich der unermessliche Urwald hin.
Der Wagen hielt, Reihenfels, Morrison und der Amerikaner näherten sich vorsichtig dem bezeichneten Baume, besonders aufmerksam die Luft in die Nase ziehend; denn die Anwesenheit der Schlange musste vor allen Dingen ein scharfer, unangenehmer Geruch verkünden. Aber weder nahm man diesen wahr, noch konnte man die Schlange erblicken.
»Serr gut«, sagte der Amerikaner, das Terrain musternd, »ganz richtiger Ort, wo Anakondas sick gern aufhalten.«
Er hatte nicht unrecht. Die Grasebene war von dem Dschungelgebiete scharf durch ein schmutziges Gewässer getrennt, dicht an dem Dschungel erhob sich der mächtige Baum, und einen solchen in der Nähe des Sumpfes und dem Dschungel, ihrem Lieblingsaufenthalte, sucht sich die Riesenschlange gern aus. An den Baum sich schmiegend, lauert sie den Tieren auf, wenn sie zur Tränke kommen, schießt auf sie zu und schleppt sie in das dichte Rohr, wo sie mit Muße die umständlichen Vorkehrungen treffen kann, die zum Verschlingen der Beute nötig sind, nämlich das Überziehen derselben mit Speichel.
Reihenfels betrachtete den Baumstamm und den Boden rings umher und blickte seinen Freund kopfschüttelnd an.
»Wie meinen Sie?«
»Keine Spur von einer Riesenschlange.«
»Desto besser!«, lächelte Morrison. »Lassen Sie den Amerikaner seine Falle nur hier aufschlagen, fangen wird er doch sowieso nichts. Nun, Mister Bulwer, gedenken Sie hier zu bleiben?«
»Yes, der Platz ist gut!«
»Wo werden Sie sich einstweilen verbergen?«
»Auf dieses Baum.«
»Was? Wissen Sie nicht, dass die Riesenschlange die höchsten Bäume bequem ersteigt?«
»Yes.«
»Und Sie fürchten sich nicht?«
»No, uenn Schlange hört das Quieken des Affen und sieht ihn angebunden, uird sie mich verschonen und sick holen den Affen, der uird nix laufen davon.«
»Hm, es liegt Logik darin. Na, Gott schütze Sie, ich möchte aber nicht dabeisein.«
Auf Bulwers Wink fuhr August den Wagen heran, während Valentin zurückblieb. Er tat, als fürchte er sich, dem Baume zu nahe zu kommen, wo er die Schlange gesehen hatte.
Die vier machten sich an die Arbeit, die Falle zusammenzusetzen, was ohne viele Mühe vonstatten ging; denn der Konstruktion nach hatte der findige Amerikaner wirklich etwas Vorzügliches geleistet.
Dann entfernten sich Reihenfels und Morrison, den Zurückbleibenden viel Glück wünschend. Valentin fuhr mit dem Wagen zurück.
Aber August hatte durchaus keine Lust, zu bleiben, er wollte sich lieber den Davongehenden anschließen, und wenn er auch deswegen den Dienst quittieren müsste. Reihenfels nahm ihn schon wieder auf; wenn nicht, so war es doch immer noch besser ohne Stelle zu sein, als sich mit einer Riesenschlange einzulassen.
»Ich dachte, Mister Bulwer, Sie brauchen mich nicht mehr?«
»Yes, ick brauche Sie noch.«
»Das Ding da leiere ich nicht herum, das sage ich gleich, und denken Sie denn etwa, ich setze mich mit Ihnen auf den Baumstamm hinauf und warte, bis die Schlange die Güte hat, in den Käfig zu kriechen? Nee, so dumm bin ich nicht.«
Der Amerikaner erklärte ihm, dies verlange er auch gar nicht von ihm, er brauche ihn nur noch dazu, einen Affen zu fangen.
Damit war August einverstanden; denn er war doch begierig, zu erfahren, wie dies der Yankee eigentlich beginnen würde. Einen Affen fangen ist nicht so leicht.
Sie brauchten nicht weit zu gehen; denn dort, wo sich die am Fuße bewaldeten Felsen erhoben, krächzte und kreischte es, dass man es schon von hier aus vernehmen konnte. Doch dieses bewaldete Terrain verließen die Affen nicht, höchstens sprangen sie von einem Felsvorsprunge auf den anderen, nie wagten sie sich auf die Grasebene.
Der Amerikaner machte unter einem Baume Halt. Eine Unmenge von großen und kleinen Affen trieb in den Zweigen ihr Wesen, sie haschten, bissen und balgten sich, stürzten eng verschlungen von dem Zweige, erreichten aber nie den Boden; denn im Fallen ergriffen sie einen anderen Ast und rasten weiter.
Die säugenden Mütter hielten ihre Sprösslinge liebevoll im Arme — die Affenliebe ist ja sprichwörtlich — der alte Herr, der Vater, Großvater, Urahne, Ur-Urahne und so weiter, diese ganze Familie saß, würdevoll und mit griesgrämigem Gesichte auf dem breitesten Ast und ließ sich von seinen Lieblingsfrauen die kleinen Tierchen aus dem Felle suchen, die ihnen das Leben verkümmerten. Es waren zwar noch andere Männchen dazwischen, aber nur kleine; denn wenn sie groß waren, so wurden sie von dem Familienvater unbarmherzig ausgestoßen, auch gar getötet, wenn sie sich lange widersetzten. Der Ahnherr wurde nur durch den Tod oder durch einen Stärkeren von seinem Throne gestürzt.
Hatten die Ausgestoßenen bereits eine heimliche Liebschaft geschlossen, so folgten ihnen die treu gebliebenen Bräute in die Verbannung, und auf dem Nachbarbaume entstand eine neue Affenfamilie.
Der Amerikaner musterte die Tiere, die die Menschen kreischend, aber furchtlos begrüßten, und sein Blick blieb mit Wohlgefallen an dem Stammvater haften, der seinen Schwanz herabhängen ließ und sich nicht um den neugierigen Menschen kümmerte.
Ja, wenn er so einen Kerl in der Falle hätte!
»Mister Pulver, sie wollen wieder schmeißen!«, rief August, und mit einem Sprunge war der langbeinige Amerikaner außer dem Bereiche des Baumes.
Erst jetzt sah er, dass es ein Affenbrotbaum war, und er erinnerte sich noch recht gut jenes Abenteuers, als sein Gesicht von den Affen mit einer klebrigen Hülle bedeckt worden war.
»Diesmal uerde ick euch ankleben«, sagte er phlegmatisch und ging unter einen anderen Baum, an dem nicht solche gefährliche Früchte, sondern eine Art von Kirschen wuchsen.
Hier war dasselbe Bild wie dort: die gleiche Affenfamilie, der gleiche, majestätische Ahnherr mit herabhängendem Schwanze.
Der Amerikaner lehnte sich an einen Baumstamm und wandte mit gewöhnlicher Langsamkeit seinen Kopf nach August.
»Setzen Sie sich dorthin«, sagte er, nach einem großen Stein deutend.
August, an die Schrullen seines Herrn schon gewöhnt, gehorchte und schlug die Beine übereinander.
»Sie uerden ziehen Ihre Stiefel aus«, lautete der zweite Befehl.
»Nee, das uerde ick nicht tun«, entgegnete aber August. »Mich sollen wohl die Schlangen in die Füße beißen? So blau!«
»Sie uollen nicht?«
»Nee, ick uill nicht.«
»Sie uerden bekommen für jeden Stiefel einen Dollar, den Sie ziehen aus.«
Das ließ sich hören.
»Und dann? Dann soll ick barfuß herumlaufen?«
»Nix fußbar, Sie uerden die Stiefel uieder anziehen.«
»Wie lange soll ich ohne Stiefel sein?«
»Stiefeln aus- und uieder anziehen, nix ueiter. Für jeden Stiefel einen Dollar.«
Wenn's weiter nichts ist, dachte August, untersuchte erst, ob der Platz um ihn herum frei von Schlangen, Eidechsen und Insekten war, schnürte dann seine gelben Stiefel, wie sie in Indien allgemein getragen werden, auf, zog sie aus und blickte fragend auf Mister Bulwer, der ruhig am Baume lehnte und Tabak kaute; denn seit seine Zigarren vernichtet worden waren, benutzte er ausschließlich seinen reichlichen Vorrat an Kautabak.
»Serr gut«, nickte er, »ziehen Sie die Stiefel uieder an.«
Wenn ich nicht schon wüsste, dass der einen Spleen im Kopfe hat, dann erführe ich's jetzt, dachte August, zog die Stiefel an und schnürte sie zu.
»Und nun? Zwei Dollar wären verdient.«
»Dasselbe nock einmal.«
»Wieder für zwei Dollar?«
»Yes.«
August gehorchte und musste das sinnlose Experiment sechsmal wiederholen, wofür ihm der Amerikaner zwölf Dollar schuldete.
Die Affen waren dabei stumm gewesen; doch aufmerksam hatten sie das An- und Ausziehen der Stiefel beobachtet.
Dann hieß Mister Bulwer seinen Diener sich entfernen.
August wählte einen Standpunkt, von welchem aus er alles deutlich sehen konnte.
Auch der Amerikaner trat etwas zur Seite, zog unter seinem Mantel einen großen, gelben Schnürstiefel, wie solche die Mönche trugen, hervor und warf ihn unter den Baum, auf welchem die Affenfamilie thronte.
Die Affen interessierten sich außerordentlich für den Gegenstand der menschlichen Zivilisation, schnatterten miteinander, und blickten hinunter, wagten aber noch nicht, den sicheren Baum zu verlassen.
Endlich fasste ein kecker, hagerer Geselle einen Entschluss. Von Ast zu Ast springend, näherte er sich dem Boden, blickte nochmals nach dem Amerikaner, der gar nicht hinsah, und ließ sich schließlich auf den Boden fallen.
Auf allen vieren kroch er zu dem Stiefel — der Amerikaner rührte sich nicht.
Das machte den langschwänzigen Burschen dreist. Er nahm den Stiefel in die Hand, betrachtete ihn von allen Seiten und griff einmal hinein. Dann setzte er sich und zog den Stiefel ebenso an seinen Hinterfuß, wie er es von August gesehen hatte.
Der Stiefel war zwar viel zu groß, aber da der Affe die bewegliche Hinterpfote ausstreckte, so blieb er doch am Fuße sitzen.
Als er dies erreicht, stieß der Affe ein helles Kreischen aus und kletterte im Nu den Stamm wieder hinauf, ohne dass der Stiefel ihn dabei gehindert hätte, ja, er konnte noch ebenso gewandt wie früher damit von Ast zu Ast springen.
August lachte schadenfroh den schlauen Amerikaner aus, wenn er es auch nicht laut tat. Der hat gedacht, sagte er zu sich selbst, so ein Affe könnte nicht klettern, wenn er einen Stiefel an der Pfote hat. Proste Mahlzeit, da hast du dich nun freilich geirrt! Nee, Männeken, so leicht sind Affen nicht zu fangen!
Den Amerikaner schien es aber durchaus nicht zu verdrießen, dass ihm die Sache nicht geglückt war. Er betrachtete die Affenfamilie, in welcher es jetzt sehr lebhaft zuging. Der bestiefelte Affe fand viele Neider, alles jagte hinter ihm her, um sich des Stiefels zu bemächtigen, aber der hagere Bursche war schnell; immer wusste er sich seinen Verfolgern zu entziehen.
Zu Augusts Erstaunen zog jetzt der Amerikaner noch einen Stiefel unter dem Mantel hervor und warf ihn vor sich hin. Diesmal brauchte er nicht lange zu warten, ein ganzes Dutzend der beschwänzten Gäste sauste herab, der erste hatte ihn, im Nu saß er am Fuße, er wandte sich dem Baume zu und — brach in ein jämmerliches Zetern aus, denn er konnte nicht weiter, er war gefangen.
August hatte gar nicht bemerkt, dass dieser zweite Stiefel an einem Stricke befestigt war, den der Amerikaner in der Hand hielt. Wodurch der Stie
fel so fest an der Hinterpfote saß, dass ihn der Affe nicht wieder losbekam, er mochte ziehen und reißen, wie er wollte, das wusste August noch nicht. Schusterpech hätte nicht so fest sitzen können.
Gemächlich zog der Yankee den kreischenden, Grimassen schneidenden und sich wie außer sich gebärdenden Affen, ein Tier mittlerer Größe, an sich heran. aber seiner habhaft zu werden, war doch nicht so leicht. August hielt sich als vorsichtiger Mann überhaupt von ihm entfernt, der Amerikaner wurde einmal tüchtig in die Hand gebissen, dann lag das Tier hilflos in einem bereitgehaltenen Sack, den Stiefel immer noch am Fuße.
August bekam doch Achtung vor seinem Herrn. Wenn er beim Fangen der Riesenschlange auch solche Kunstkniffe kannte, dann war es möglich, dass er die Spötter noch stumm machte.
Wie der Amerikaner nur immer an das dachte, was er gerade vorhatte, so kümmerte er sich nicht weiter um August, würdigte ihn überhaupt keines Blickes, nahm den Sack auf den Rücken und schritt in der Richtung davon, wo seine Schlangenfalle stand.
August blickte ihm nach, bis er seinen Augen entschwunden war, und dachte dann an den Rückweg nach dem Kloster. Es war ihm sehr fatal, sich allein nach Hause finden zu müssen. Einmal gab es hier weder Weg noch Steg, man musste sich nach Merkmalen richten, und dann besaß August keine anderen Waffen als ein Messer und einen Revolver.
Zum Glück hatte er während der Fahrt gut auf den Weg geachtet, und glaubte, sich zurückfinden zu können. Links musste der Wald, rechts das Gebirge liegen bleiben, dann kam ihm das hochgelegene Kloster wohl bald in Sicht.
Der Amerikaner hatte seine Falle erreicht und beschäftigte sich damit, den Affen an die Trommel zu binden. Es war keine leichte, vielmehr eine gefährliche Arbeit; denn das Tier, das der Schuh drücken musste, wehrte sich und biss. Letzteres verhinderte Mister Bulwer dadurch, dass er ihm sein Taschentuch um den Kopf band, wobei er abermals gebissen wurde. Doch dies alles störte ihn nicht.
Endlich war das Tier befestigt; Bulwer nahm das Tuch ab, sprang schnell zurück, um aus dem Bereiche der Nägel und Zähne zu kommen, und verließ den Käfig, vollständig überzeugt, dass ihm nun alles gelingen müsse.
Noch eins hatte er vergessen. Er trat, das Messer in der Hand, von außen an das Tier, neckte es, wartete, bis ihm Gelegenheit geboten wurde, den Schwanz desselben zu erfassen, ein Schnitt, und er hielt den halben Schwanz in der Hand.
Der gequälte Affe stieß ein entsetzliches Zetergeschrei aus, was dem hartherzigen Amerikaner, dessen Passion war, Menschen zu schießen und sterben zu sehen, nur Freude bereitete.
Schon wollte sich Mister Bulwer das Winchestergewehr über den Rücken hängen, um den Baum zu ersteigen und sich oben den bequemsten Platz auszusuchen, als sein Blick auf eine Schraube des Gitters fiel, die noch zu weit hervorsah.
Noch einmal lehnte er das Gewehr an den Baum und betrat wieder den Käfig; denn das Anziehen der Schraube konnte nur von innen geschehen.
Bei seinem Eintritte befiel den Affen eine furchtbare Wut, er heulte auf, fletschte die Zähne, und packte nach der Art seines Geschlechts die nächste Eisenstange, um an ihr durch Rütteln seine Wut auszulassen.
Es war gerade die Stange, welche den Mechanismus der Falltür in Bewegung setzte. Bulwer hörte hinter sich ein Krachen. Als er sich umsah, war die Tür zugeschlagen.
Das hatte wenig zu bedeuten, denn natürlich war eine Vorrichtung vorhanden, um die Tür wieder zu öffnen. Bulwer versuchte erst das Anziehen der Schrauben, das heißt nur mit den Fingern, denn zu seinem Ärger entdeckte er, dass Valentin auf dem Wagen alles Handwerkszeug mitgenommen hatte. Es gelang ihm aber nicht, die Schraube zu drehen.
Nun, sie war fest genug darin.
Dann drückte er an dem Mechanismus, der den Türriegel zurückschieben sollte, drückte wieder und immer wieder, stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür, rüttelte hin und her — alles vergeblich, die Tür öffnete sich nicht.
»Goddam!«, brachte der Amerikaner nur hervor. Es eröffnete sich ihm plötzlich eine schöne Aussicht.
Noch einmal versuchte er mit Kraft und Geduld, die Tür zu öffnen — der Riegel schob sich nicht zurück, die Tür hob sich nicht.
So verging eine Stunde, ehe der hartnäckige Yankee diesen Versuch aufgab. Dann probierte er, ob er vielleicht einen Teil des Käfigs auseinander legen könnte, allein die plump gearbeiteten Schrauben spotteten seiner Fingerkraft.
Es half nichts, Mister Bulwer musste gestehen, dass er sich in seiner eigenen Falle gefangen hatte. Dies war doch dazu angetan, sein Phlegma zu vernichten.
Fluchend ging er in dem geräumigen Käfig hin und her, der gemarterte Affe schrie und heulte, er schien den Amerikaner verspotten zu wollen.
Stunde nach Stunde verrann, der Abend brach an, und kein Freund, und kein Mensch ließ sich sehen, der dem Gefangenen Befreiung gebracht hätte.
Nur die Tiere des Waldes kamen und äugten neugierig nach dem seltsamen Kauz im Käfig. Sie zeigten keine Furcht, sie schienen zu wissen, dass der Mann eingeschlossen war und jenes todbringende Gewehr nicht ergreifen konnte, welches dort am Baume lehnte.
Auch Raubtiere traten aus den Dschungeln, von dem Geschrei des Affen angelockt und heulten heiser nach dem Käfig hin.
Die Sonne sank, die Nacht brach an, und Mister Bulwer lag stöhnend, nach Wasser jammernd, auf dem Boden des Käfigs, den die Riesenschlange hatte ausfüllen sollen.
Es war doch nicht so einfach, wie August es sich dachte, ohne Kenntnis des Weges und ohne mit dem Instinkt eines Eingeborenen ausgerüstet zu sein, sich in einer wilden Gegend zurechtzufinden.
Nachdem er eine Stunde in der Richtung marschiert war, in welcher er das Kloster liegen wähnte, wunderte er sich, plötzlich zwischen Felsmassen zu kommen, die er vorhin doch nicht passiert hatte; er schwenkte etwas nach links ab, aber das Terrain wurde nur immer gebirgiger, und zwar wild, zerklüftet und schluchtenreich.
Schon umgaben ihn hohe, jäh aufsteigende Wände, durchzogen von Spalten, und August musste sich gestehen, dass er sich gründlich verirrt habe.
Das war nun freilich eine schlimme Lage; ohne mit der Örtlichkeit vertraut zu sein, ohne Proviant und Wasser und so gut wie ohne Waffen in einer wilden Gebirgsgegend.
Doch August wusste sich immer ins Unvermeidliche zu schicken, er suchte sich zu orientieren und marschierte weiter, ohne aus dem Gebirge herauszukommen.
An einer Felsspalte blieb sein Auge nachdenklich hängen.
Sah dieser Eingang zu der Spalte nicht bald wie jener aus, durch den er einst mit Valentin gegangen war?
Wahrhaftig, dort hing ein Felsklumpen, welcher fast das Aussehen eines riesigen Menschenkopfes hatte.
August frohlockte im ersten Augenblick auf, dann schwand seine Freude wieder. Er hatte an die vergrabenen Flaschen gedacht, nicht minder an die Konservenbüchsen, doch es war wohl anzunehmen, dass Valentin sie dort nicht nutzlos hatte liegen lassen. August hatte er seit jener Zeit nicht wieder zu solch einem Gabelfrühstück eingeladen. Nun, er konnte ja einmal probieren. Er ging also durch die Spalte und war von der Laube nicht mehr weit entfernt, als er erschrocken stehen blieb.
Es schlugen Stimmen an sein Ohr. Die sprachen laut, und durch das Echo, welches die Felswände wiedergaben, klangen die Töne so verschwommen, dass er sie nicht unterscheiden konnte.
Dennoch schlich er weiter, und jetzt unterschied er die Worte, es war Englisch; dann erkannte er auch die Stimmen, er sprang vor und stand vor Reihenfels und Morrison, welche lang ausgestreckt im grünen Grase lagen und sich unterhielten.
Nachdem sie bemerkt, dass sie umsonst nach ihren bereitliegenden Büchsen gegriffen hatten, ließen sie sich von August erzählen, wie er hierher gekommen sei. Sie lachten, als er ihnen den Affenfang in humoristischer Weise schilderte, und mussten doch zugeben, dass dieser Yankee Haare auf den Zähnen hatte.
»Was hast du dort?«, fragte Reihenfels. »Warum blickst du so aufmerksam nach jener Stelle?«
»Haben Sie dort etwas eingegraben?«
Reihenfels richtete sich halb auf.
»Wo?«
»Dort an dem Baume. Das Gras ist niedergetreten und der Boden erhöht.«
»Du hast ja wahre Indianeraugen bekommen, August«, lachte Reihenfels.
Dieser stand auf, zog sein Jagdmesser und begann den Boden aufzuwühlen.
»Wahrhaftiger Gott«, rief er plötzlich, »ich steche auf etwas.«
»Gewiss, auf felsigen Boden.«
»Nein, es ist weich, oder wie Holz.«
August grub weiter, arbeitete wie ein Maulwurf mit den Händen und stieß einen Ruf des Erstaunens aus.
Die beiden sprangen auf, traten näher und sahen unter der Erde gelbliches Holz hervorschimmern, wie es in solcher Farbe im natürlichen Zustande nicht vorkommt.
Jetzt gruben auch sie mit, und bald konnten sie eine Kiste herausheben, welche auf dem Deckel eine Londoner Weinfirma trug.
Man öffnete sie und fand eine Kiste mit Flaschen und Büchsen, welche aber nur noch zum geringen Teil gefüllt waren.
Morrisson betrachtete aufmerksam die Etiketten der Flaschen und die Kiste, Reihenfels roch in die leeren Blechbüchsen, und August, welcher sich vor Staunen wie außer sich gebärdete, merkte dabei nicht, wie Reihenfels ihn prüfend und misstrauisch von der Seite betrachtete.
»Wer mag das wohl vergraben haben?«, begann August.
»Du vielleicht?«, entgegnete Reihenfels.
»Ich?«, fuhr August auf.
»Ich meinte nur so, brauchst nicht gleich so zu erschrecken. Ja, wer mag die Kiste wohl hier vergraben haben, und vor allen Dingen, wer mag wohl — — wissen Sie etwas davon, Doktor? Mir scheint fast so.«
Morrisson, der immer sinnend bald die Kistenfirma, bald die Etiketten der Flaschen und Büchsen betrachtete, hatte sich mit der Hand vor die Stirn geschlagen.
»Ja, ich glaube es zu wissen.«
»In der Tat?«
»Vor etwa drei Jahren schrieb mir mein Vater, dass ein Londoner Exporthaus, welches besonders Wein und Konserven in die Kolonien expedierte, einen großen Verlust erlitten habe. Es hatte den Auftrag, an irgend solch einen großen asiatischen Fürsten — ich weiß nicht mehr an welchen — der sich einige tausend Frauen hält, und dessen Hof aus zahllosen Faulenzern besteht, eine Ladung von Wein und allerhand Leckereien im Werte von etwa tausend Pfund zu liefern. Der Landweg durch Russland war nicht sicher, auch kostete es zu viel Zoll, und so ging die Fracht über Indien. Von Delhi aus meldete der die Fracht begleitende Kommis, dass er diese jetzt auf Lasttieren weitertransportieren müsse, durch das Pandschab und dann durch die Pässe des Himalajagebirges. Es war das letzte Zeichen von dem Kommis, man hat nie wieder etwas von ihm, von seinen Begleitern und von der Fracht gehört. Der asiatische Fürst verweigerte natürlich die Zahlung, denn er hatte die Sachen nicht bekommen.«
»Merkwürdig!«, brummte Reihenfels und roch wieder in eine leere Konservenbüchse.
»Tausend Pfund«, staunte August, »das sind 7000 Taler! Herrje, da könnte sich ja ein ganzes Regiment Soldaten den Magen verderben.«
»Und woraus schließen Sie, dass diese Kiste zu jener Fracht gehörte?«
»Mein Vater schrieb mir alles sehr ausführlich. Die Firma wollte sich mit der Weinhandlung und der Konservenfabrik in den Verlust teilen, diese aber weigerten sich, Schaden tragen zu wollen, und nicht mit Unrecht. So erfuhr ich die Namen der beiden Firmen — ich entsinne mich ganz deutlich, es waren die, welche hier auf den Flaschen und Büchsen stehen. Dies ist eine Weinkiste, hier das schwarze Glas, zur Vorsicht mahnend. Mein Vater, mit den indischen Verhältnissen ganz unbekannt, stellte an mich die Zumutung, ich sollte, wenn ich nach Indien käme, unter der Hand bei Gelegenheit nach dem Verbleib der Sachen forschen. Der Zufall hat mich sie wirklich finden lassen.«
»Nur eine Kiste.«
»Graben und suchen wir weiter!«
»Wir wollen uns keine Mühe geben!«, lächelte Reihenfels, der immer wieder in verschiedene Dosen roch.
»Warum nicht? Was haben Sie eigentlich?«
»Vor drei Jahren, sagten Sie, ist die Sendung nach Asien abgegangen?«
»Ja. Die Karawane ist jedenfalls vernichtet worden — allerdings, ja, es ist merkwürdig!«
»Dass die Dosen geöffnet und gleich den Flaschen geleert worden sind, nicht wahr?«
»Nun, das hätten die Räuber tun können, jedenfalls sogar.«
»Und einige Flaschen und Dosen hätten sie übriggelassen und wieder vergraben?«
»Sie können überrascht worden sein, hatten aber noch so viel Zeit, ihre Beute zu verstecken.«
»Hm, Augusts scharfe Augen haben entdeckt, dass das Gras hier niedergetreten war, die Stelle brachte ihn überhaupt gleich auf den Gedanken, dass hier etwas vergraben war. Ich bemerkte es nicht, wahrscheinlich, weil ich nicht solch scharfe Augen habe wie er. Ich glaubte nicht daran, er aber grub nach, und siehe da, er hatte recht gehabt.«
»Unerklärlich!«, sagte Morrison kopfschüttelnd.
»Nach drei Jahren müsste man doch von dem Eingraben gar nichts mehr merken.«
»Das denke ich auch.«
»Das nennt man eben Ahnungen im menschlichen Leben«, schaltete August ein, der nur mit Mühe seiner Unruhe Herr wurde.
»Nein, nein, du hattest ganz recht«, sagte aber Reihenfels. »Einmal darauf aufmerksam gemacht, erkannte auch ich, dass hier eine Hacke oder ein Spaten gearbeitet habe. Ja, sehen Sie einmal hier! Was ist das?«
Er bückte sich und hob einen Kork auf.
»Der ist vorhin aus der Kiste gefallen«, erklärte August, »das habe ich gesehen.«
»Dann bitte ich um Verzeihung«, sagte Reihenfels mit Ironie, »dieser Kork hätte mich bald auf eine falsche Vermutung gebracht. Nun aber, Herr Doktor, haben Sie die Güte und riechen Sie in diese Büchse.«
Er gab ihm die Blechdose, Morrison roch hinein.
»Das riecht nach Hummer«, sagte er.
»Nicht wahr? Und fällt Ihnen nichts auf?«
»Dass ich nicht wüsste.«
»Nun, glauben Sie, dass, wenn die Büchse auch nur einige Monate offen dagelegen hätte, sie noch nach ihrem einstigen Inhalt röche?«
»In der Tat, Sie haben recht!«, staunte Morrison.
»Dann sehen Sie auch hinein. Man erblickt noch die Fasern des Hummerfleisches, sie fühlen sich sogar noch ganz weich an.«
»Ja. Was soll das bedeuten? Das sieht fast aus, als ob sie erst vor kurzer Zeit geöffnet worden wäre. Oder sollten sich die Fleischteile unter der Erde so gut konservieren?«
»Nimmermehr! Sehen Sie, hier war Butter drin, hier Kaviar, hier Corned Beef, hier irgendeine Pastete, hier vielleicht Zunge, und alles, was noch an den Seiten klebt, ist frisch, es riecht angenehm — ich habe mich nicht gescheut, es zu kosten — es schmeckt frisch. Also behaupte ich, dass diese Büchsen erst vor einigen Tagen geöffnet, geleert und hier vergraben worden sind; der Rest hat sich unter der kühlen Erde gehalten, und sehen Sie hier, aus den Flaschen fließt noch etwas Wein, die Neigen haben noch das vollständige Aroma.«
»Was soll man dazu sagen?«, staunte Morrison.
»Vielleicht kann uns August eine Erklärung geben«, sagte Reihenfels, und heftete seine Augen durchdringend auf den Burschen, der die Röte, die ihm im Gesicht aufstieg, nicht mehr verbergen konnte.
»Ich, Herr Reihenfels?«, stotterte er.
»August, gib der Wahrheit die Ehre. Du kannst uns einen großen Dienst leisten, wenn du erzählst, was du von dieser Kiste weißt.«
Was war da zu machen? August hatte sich schon durch seine Verlegenheit verraten, denn er war kein guter Schauspieler. Aber er schämte sich, zu gestehen, dass er geheuchelt hatte. Er hatte gehofft, die beiden glauben machen zu können, die Kiste nur zufällig gefunden zu haben, um sich dann an den Gaumenherrlichkeiten zu delektieren.
Unmöglich konnte er noch leugnen. Sollte er sich denn aber als Heuchler überführen lassen? Halt, da kam ihm ein Gedanke. Er räusperte sich und richtete sich in die Höhe.
»Meine Herren«, sagte er, die Hand aufs Herz legend, »mein Ehrenwort bindet meine Zunge!«
»Siehe da«, rief Morrison verblüfft, »da haben wir ja einen Wissenden!«
»Ja, ich wusste von dem Vorhandensein dieser Kiste. Das darf ich gestehen, sonst nichts weiter.«
»Wie? Sie waren dabei, wie die Räuber die Warensendung überfielen?«
»Aber, geehrtester Herr Doktor, wofür halten Sie mich denn? Sehe ich denn aus wie ein Wegelagerer und Strauchdieb? Allerdings wusste ich, dass diese Kiste hier vergraben war, aber ich habe mein Ehrenwort gegeben, es nicht zu verraten. Da ich jedoch Durst hatte und die Herren ebenfalls schmachten sah, so tat ich, als fände ich die Kiste zufällig.«
»August«, nahm Reihenfels das Wort, »ich glaube dir gern, dass du auf keine unehrliche Weise zu dieser Kenntnis gekommen bist, doch gib der Wahrheit die Ehre. Wer hat es dir verraten?«
»Herr Reihenfels, mein Ehrenwort!«
»Ah bah, jedenfalls Valentin, der Schurke!«
»Schurke? Was?«
»Gewiss, Valentin ist schon jetzt in meinen Augen ein Schurke, und dies zu beweisen, werde ich mich bemühen. August, sei du mir dabei behilflich!«
»Na, wenn Valentin ein Schurke ist! Dachte mir überhaupt, dass bei dem nicht alles in Ordnung ist.«
»Nicht wahr, er hat dich in das Geheimnis dieser Kiste eingeweiht?«
»Wenn Mister Reihenfels sagt, Valentin ist ein Schurke, dann ist er auch einer, und einem Schurken gegenüber habe ich mein Wort nicht zu halten. Nicht wahr nicht?«
»Nein, wenn man dadurch anderen einen Nutzen gewähren kann, was hier der Fall ist.«
»Gut denn, ja, Valentin war es.«
Nun erzählte August alles der Wahrheit gemäß, was zwischen ihm und dem Mönch vorgefallen war, er verschwieg nichts mit Ausnahme jener Erscheinung Begas; denn diese hielt er doch für eine Ausgeburt seiner vom Wein erhitzten Phantasie, und wenn man Menschen deutlich vor sich sieht, so kann man schon auf Delirium schließen. Deshalb erwähnte August dieses Umstandes nicht.
Die beiden Zuhörer sahen sich mit großen Augen an.
»Hat Valentin dich noch einmal zu solch einem Zechgelage mitgenommen?«, fragte Reihenfels.
»Nein, nur dieses eine Mal. Aber — hm.«
»Aber was?«
»Er sprach davon, dass wir noch manches solches Fest feiern könnten, oder er deutete es wenigstens an.«
»Aha, also muss Valentin noch mehr solche Verstecke kennen.«
»Hier war auch noch Wein vorhanden.«
»Valentin sieht nicht aus, als ob er sich mit ein paar Flaschen begnügte. Überhaupt, umsonst hat der nicht so eine blaue Nase und so ein kupferfarbenes Gesicht. Hast du keine Ahnung, August, woher er diese Vorräte beziehen mag?«
»Nein.«
»Mich deucht«, nahm Morrison das Wort, »dieser Bursche weiß etwas davon, wo die Warensendung geblieben ist.«
»Sicherlich.«
»Aber warum vergräbt er denn die Kisten einzeln?«
»Sehr einfach, um seinem Zechgenossen nicht alles gleich zu verraten. Er wird wohl noch mehrere solche Niederlagen eingerichtet haben. Ein famoses Jägerleben, in der Tat! Wohin der fromme Klosterbruder, ermüdet von der Jagd, kommt, buddelt er den Boden auf, trinkt edle Rheinweine und speist die feinsten Delikatessen.«
»Es fragt sich nun«, sagte Morrison, »ob wir berechtigt sind, Valentin wegen seines Treibens zur Verantwortung zu ziehen.«
»Auf jeden Fall! Er eignet sich etwas an, was ihm nicht gehört.«
»Hören Sie, da sind Sie wohl im Irrtum«, warf August ein, »Valentin sagte, das Gefundene wäre ihm von Gott geschenkt.«
»Richtig, an diese Moral habe ich nicht gedacht. Wenn wir aber die Sache dem Prior anzeigen, würde dem Bruder wohl der Garaus gemacht werden, denn er hat sicherlich nicht gebeichtet, welch Schlemmerleben er hier führt.«
»Man würde ihn bis aufs Blut geißeln, ja, bis zum Tode, das heißt, wenn sich der Bruder Valentin nicht durch Flucht der Strafe entzöge, und was hätten wir damit erzielt?«
Reihenfels sann nach.
»Gar nichts, ganz recht, mit Ausnahme, wenn er gesteht, wo der Warenvorrat verborgen ist. Dann haben wir wenigstens der geschädigten Firma in London Vorteil verschafft. Den ganzen Vorrat kann er doch noch nicht in den Magen geschlagen haben.«
»Für siebentausend Taler, wo denken Sie hin!«, rief August.
»O, Mister Reihenfels«, lachte Morrison, »Sie vergessen das Beichtgeheimnis. Der ehrwürdige Prior würde uns nie sagen, wo sich der Wein befände, ihn vielmehr für sich verwerten.«
»Sie haben wieder recht; trotzdem müssen wir dem Bruder auf den Zahn fühlen, aber vorsichtig, denn er ist schlau. August«, wandte sich Reihenfels an diesen, »ich hoffe, du machst mit uns gemeinschaftliche Sache.«
»Nu natürlich. Seit ich weiß, was für ein Halunke Valentin ist, der tausend Pfund Wein und Konserven allein alle machen will, mag ich nichts mehr mit ihm zu tun haben.«
»Gut also. Hast du nicht sonst aus Valentin etwas herausgehört oder an ihm gemerkt, dass er noch irgendein Geheimnis in sich verborgen hat?«
»Nee, welches denn?«
»Dass er vielleicht etwas von einem Mädchen weiß?«
August riss plötzlich die Augen weit auf. Reihenfels hatte das Richtige getroffen; auch Morrison wusste schon, worauf dieser anspielte. Er hatte ihm erzählt, wie Valentin beim Anblick von Begas Bild erschrocken gewesen war.
Als Reihenfels das Gebaren von August sah, stürzte er förmlich auf ihn zu und rüttelte ihn an der Schulter.
»Sprich, August, was weißt du davon?«, schrie er mit vor Aufregung bebender Stimme.
»Au, au, mein bester Reihenfels, lassen Sie mich los, Sie zerbrechen mir den Arm! Ja, natürlich hat er mir davon erzählt, wollte es aber dann abstreiten.«
»Von Bega?«
»Von Bega?«, echote August nach, und wieder drückte sein Gesicht namenloses Erstaunen aus.
Plötzlich dämmerte ihm eine Ahnung auf, dass er damals doch nicht nur mit offenen Augen geträumt habe.
Er begann noch einmal von dem Zechgelage zu erzählen und gab, so gut er sich noch entsann, die Äußerungen wieder, welche Valentin damals getan, wie er sich gerühmt hatte, eine Liebschaft mit einem wunderschönen Mädchen zu unterhalten, und zwar nicht etwa mit einem Kuliweibe.
Schon wurde Reihenfels' Antlitz dunkelrot vor Zorn; sein Auge glühte unheimlich; wie aber wurde ihm, als August in seiner Erzählung fortfuhr:
»Ich setzte eben die Flasche an den Mund, wobei ich mich zum Trinken hinten überlehnen musste, als ich plötzlich — hol mich der Henker — da oben auf dem Felsrande Miss Bega zu sehen glaubte, so wie sie leibte und lebte. Sie war in das stählerne Schuppenhemd gekleidet, hatte das Winchestergewehr von meinem Herrn, das uns in der Nacht zuvor aus dem Zelt gestohlen worden war, in der Hand, ja, ich konnte sogar ihr Gesicht ganz deutlich sehen, und ich hätte auf der Stelle geschworen, dass es Bega oder die Begum von Dschansi war —«
»August, und das hast du mir nicht früher gesagt?«, unterbrach ihn Reihenfels mit leiser Stimme.
»Bitte um Verzeihung. Vor Schrecken sprang ich auf, und das ist aber auch das Letzte, was ich von mir weiß. Als ich erwachte, war die Sonne unterdessen schon einmal um die Erde herumgekrochen, das heißt, es war ein anderer Morgen, und als ich Valentin erzählte, was ich gesehen hätte, da lachte er mich aus: kein Wort sei davon wahr, er wüsste nichts davon, ich hätte das alles nur in meiner Betrunkenheit geträumt.«
»Und du glaubtest ihm?«
»Natürlich, ich musste ja«, entgegnete August; »denn, nehmen Sie's mir nicht übel, ich muss mordsmäßig besoffen gewesen sein.«
»Der Wein löst des Menschen Zunge«, sagte Morrison, »ich denke, August hat die Wahrheit gesprochen, er hat nicht geträumt und hat auch Bega wirklich oben stehen sehen.«
»Es ist so«, rief Reihenfels, dessen Blick immer an dem Felsrande gehangen hatte, als hoffe er, dort wieder Begas Gestalt erscheinen zu sehen. »Was sagen Sie nun, Doktor?«
»Das, was ich Ihnen erst nicht glauben wollte, worauf ich zuletzt aber doch kam, dass Valentin ein Schurke ist, der es hinter den Ohren hat. Sicherlich weiß er, wo Bega sich aufhält, ja, seinen Worten nach, sollte man fast glauben, dass er — —«
»Dass er mit ihr ein Verhältnis unterhielte?«, fiel ihm Reihenfels spöttisch ins Wort. »Nein, lieber Doktor, das war nur Prahlerei von dem Pfaffen.«
»Natürlich. Doch Sie dürfen auch die Macht dieser Menschen nicht unterschätzen, welche sie auf die Herzen erlangen.«
»Bega ist Buddhistin.«
»Eben deswegen; sie kannte den christlichen Glauben nicht, sie weiß nichts von den Hilfsmitteln eines Priesters.«
»Gehen Sie, Doktor. Sie können die Begum von Dschansi nicht beurteilen, wenn Sie glauben, dieser blaunasige Mönch könnte auf sie irgendeinen Einfluss ausüben.«
»Halt, Mister Reihenfels, beurteilen Sie den Fall nicht vorschnell, erwägen Sie alles, oder Sie laufen Gefahr, immer weiter von Ihrem Ziele entfernt zu werden.«
»Sie meinen?«
»Dass Valentin ihren Aufenthalt kennt und sich wenigstens in ihr Vertrauen einzuschleichen gewusst hat.«
»Das ist allerdings möglich.«
»Und dass er ihr Vertrauen benutzt, sie glauben zu machen — nun, irgend etwas, zum Beispiel, dass sie von aller Welt verfolgt würde.«
»Ah, Sie haben recht. August, weiß Valentin, dass du früher mein Diener gewesen bist?«
»Ja, ich erzählte es ihm.«
»Hast du sonst noch etwas von mir erzählt?«
»Wir kamen auf die Begum von Dschansi zu sprechen, und da sagte ich ihm allerdings, dass Sie — dass Sie — der — der —«
»Dass die Begum meine Geliebte ist?«
»Ja.«
»Und da?«
»Er erstaunte sehr.«
»Erschrak er nicht?«
»Das weiß ich nicht mehr. Aber er fragte mich noch ganz genau aus — richtig, ich entsinne mich, dass er dann höhnisch auflachte. Vor allen Dingen sollte ich Ihnen gegenüber meinen Mund halten, denn es wäre sonst mein eigener Schaden.«
»Spielte er nicht auf die Höhle an, die wir suchen?«
»Er tat, als wäre das mit der Höhle Unsinn, fragte aber zu gleicher Zeit so hinterlistig lauernd, ob Sie darin nichts weiter zu suchen hätten als nur die Totenknochen.«
»Da haben wir's.«
Reihenfels sprang auf und ging erregt hin und her.
»Doktor Morrison«, begann er dann, »es ist kein Zweifel mehr; dieser Mönch weiß den Aufenthaltsort von Bega, er will sie vor uns verbergen.«
»Und um die Höhle weiß er auch.«
»Sicherlich. In eben dieser Höhle hält sich Bega verborgen.«
»Ein kühner Schluss, doch es ist möglich. Jetzt gehen wir hin zu Valentin, setzen ihm die Pistole vor die Stirn und sagen: ›Schuft‹, gestehe oder stirb.'«
»Nicht so rasch«, wehrte Reihenfels, »ich nehme nämlich auch an, dass in der Höhle jener Warentransport aufgestapelt ist.«
»Was hat das zu sagen?«
»Ohne allen Zweifel ist Valentin der Leidenschaft des Trunkes ergeben. Glaubst du nicht auch, August?«
»Ja, ich glaube«, sagte dieser kleinlaut.
»Und wenn ihm durch den Verrat seines Geheimnisses das Mittel genommen wird, seine Leidenschaft zu befriedigen, so wird ihm kein Preis der Welt dieses Geheimnis entreißen, auch nicht die Drohung mit dem Tode.«
»Wie wollen wir es sonst von ihm erfahren? Wir müssten ihm gerade den ganzen Weinvorrat als Entschädigung versprechen, das heißt, wenn er wirklich in der Höhle ist.«
»Das dürfen wir nicht, er ist nicht unser.«
»O, die Firma in London wird sich schön freuen, wenn wir ihr den verloren gegangenen Posten bezahlen.«
»Über solche Summen verfüge ich nicht.«
»Es würde mir eine Freude bereiten, wenn ich Ihnen die Summe, wenn sie nötig sein sollte, anbieten dürfte.«
»Sehr edel von Ihnen, aber —«
»Bitte, kein Aber! Ich weiß auch, was ich Ihnen schuldig bin. In der Tat, ich kann diese tausend Pfund leicht entbehren.«
»Nun, sollte es der Fall sein, so würde ich sie dankbar annehmen. Doch ich glaube, wir streiten uns um des Kaisers Bart. Wir haben, dank Augusts Mitteilungen, Wichtiges erfahren, wir wissen, an wen wir uns zu wenden haben, wenn es uns nicht aus eigener Kraft, gelingt, die Höhle aufzuspüren. August, deinen Mund gehalten! Um Gottes willen, plaudere nicht: Eine Andeutung, und alles ist verloren. Lassen Sie uns den Nachmittag noch benutzen, Doktor, uns in der Gegend zu orientieren.«
»Wäre es nicht einfacher, uns direkt an Valentin zu wenden, um ihm das Anerbieten zu machen?«
»Überlegen wir erst. Ich glaube, es muss eine besondere Gelegenheit herbeigeführt werden. Es wird nicht so leicht sein, dem Mönch sein Geheimnis zu entreißen, unser Anerbieten wird er nicht für Ernst nehmen.«
Sie erhoben sich und streiften durch Schluchten und Pässe, aufmerksam die Felswände musternd, ob sich in ihnen kein Loch oder keine Spalte zeigte, die den Eingang zu einer Höhle bilden könnte.
Drei Meilen, hatte der Missionar in sein Tagebuch geschrieben, sei die Höhle vom Kloster entfernt, und nach anderen dem Tagebuch entnommenen Angaben meinte er drei englische Meilen, die einem Wege von dreiviertel, höchstens einer Stunde gleichkamen. Die Gegend wurde August bekannter, und als sie ein von einer Quelle gebildetes Bassin erreichten, erzählte er, dass er hier gewesen sei, wie er sich mit —
Ein zischender Laut aus Reihenfels' Mund unterbrach den Sprecher so nachdrücklich, dass dieser augenblicklich verstummte. Sofort begann Reihenfels von etwas ganz anderem zu sprechen, und man wusste, was er damit bezweckt hatte, als einige Schritte vor ihnen hinter einem Steinblocke Valentin auftauchte.
Da er dem Amerikaner nicht mehr behilflich zu sein brauchte, erklärte er, hätte der Prior ihn den beiden Engländern nachgeschickt, damit sie sich nicht etwa verliefen. Er hätte schon ziemlich lange nach ihnen gesucht.
Valentin warf August einen vielsagenden Blick zu, und dieser war schlau genug, ihn ebenso zu erwidern.
»Wo mag sich die Höhle nun wohl befinden?«, fragte Reihenfels den Mönch harmlos.
»Ja, wenn ich das wüsste!«
Die Gegend hier zeigte eine reiche Vegetation; besonders zur Seite des Baches wucherte üppiges Gras und Buschwerk. Die Quelle floss in eine enge Schlucht hinein, welche von weitem den Eindruck machte, als könne man vor Laubwerk gar nicht in sie eindringen.
Reihenfels, der Führer der kleinen Expedition, wollte aber gerade dem Laufe des Baches folgen. Dem widersetzte sich Valentin.
»Die habe ich schon oft untersucht;« sagte er, »es sind ganz glatte Felswände. Dann kommt man in ein riesiges Tal.«
»Ich habe dir schon bewiesen, dass ich schärfere Augen besitze als du. Vielleicht entdecke ich etwas, was dir entgangen ist.«
»Das Strauchwerk steht dicht, es ist kaum möglich, einige Schritte einzudringen.«
»Und dennoch hast du die Schlucht zu wiederholten Malen passiert? Freund, du widersprichst dir!«
Jetzt stand Reihenfels' Entschluss, diese Schlucht zu untersuchen, erst recht fest. Er hatte bemerkt, dass Valentin verlegen und unruhig geworden war, so sehr er sich auch bemühte, dies zu verbergen, und eine Ahnung sagte Reihenfels, dass er vielleicht nicht weitab vom Ziele sei.
Mürrisch folgte Valentin ihnen. Reihenfels flüsterte Morrison einige Worte zu, dann blieb dieser hinter dem Mönch.
»Glaubst du, ich sei ein Strauchdieb, der euch von hinten niederschießt, dass du mich mit gesenktem Gewehre beobachtest?«, redete der Mönch ihn grimmig an.
»Der Führer gehört voran, ich folge dir also«, entgegnete Morrison gelassen.
Es war allerdings sehr schwer, in der Spalte vorwärts zu kommen. Zähe Zweige und Schlingpflanzen setzten ihnen Widerstand entgegen, scharfe Dornen wollten sie an sich ketten, und wären die Jagdkleider nicht aus Leder gewesen, sie würden bald als Fetzen um den Körper gehangen haben. Auch waren sie oft genötigt, im Wasser des Baches zu waten.
Vergebens musterte Reihenfels die glatten Steinwände, kein Loch, keine Spalte war zu sehen, und über dem Boden hinderte das dichte Buschwerk den Blick.
Erst kam Reihenfels, das Gewehr schussbereit, dann August, den Revolver in der Hand, dann Valentin, der sich sorglos benahm, und zuletzt Morrison, ebenfalls mit schussfertigem Gewehr. Reihenfels hatte außerdem noch die mühsame Aufgabe, Bahn zu brechen, wobei er das schwere Jagdmesser handhaben musste. Auch die Nachfolgenden waren noch manchmal genötigt, sich von den sie umstrickenden Schlingpflanzen loszuschneiden.
Plötzlich blieb Reihenfels wie angewurzelt stehen, er sog die Luft durch die Nase ein.
»Die Riesenschlange!«, schrie da auch schon Valentin und wandte sich zur Flucht, verwickelte sich aber in demselben Augenblick mit beiden Füßen in Schlingpflanzen und kam zu Fall.
Ein durchdringender Geruch verbreitete sich in der Luft und nahm von Sekunde zu Sekunde zu.
»Helft mir, befreit mich«, schrie Valentin, der sich nicht selbst losschneiden konnte, »die Schlange kommt!«
Die entsetzten Männer sahen ab und zu einen schillernden, mannsdicken Leib auftauchen, bald hier, bald da; in Windungen bewegte er sich am Bachrande vorwärts, den Männern entgegen. An eine Flucht war nicht zu denken. Der Schlange boten die Büsche kein Hindernis, schnell kroch sie vorwärts; aber Menschen konnten hier nur Schritt für Schritt gehen, obgleich sie schon einen Weg gebahnt hatten.
Was hätte es genützt, auf das Tier zu schießen? Den Kopf musste man treffen, und auch dann war der Tod noch sehr zweifelhaft; aber man sah keinen Kopf. Und wenn sich die ungeheure Schlange auch in Todeszuckungen wälzte, sie hätte die winzigen Menschen doch noch zu Brei drücken können.
Furchtlos war Morrison an Reihenfels Seite gesprungen, wie dieser den Gewehrkolben an die Wange legend. August hatte Valentins Büchse ergriffen, er gesellte sich den Herren bei.
»Den Kopf«, flüsterte Reihenfels, »oder wir sind verloren!«
Näher und näher kam der schillernde Körper, immer unausstehlicher wurde der Gestank, kaum konnte man ihn noch ertragen.
Jetzt tauchte, nur einige Meter von ihnen entfernt, ein ungeheurer, spitzer Kopf auf, die boshaft funkelnden Augen auf die Menschen geheftet.
»Nach den Augen!«, schrie Reihenfels.
Die Schlange stockte in ihrer Bewegung. Man sah, wie sie den Körper an sich heranzog und ihn wie zum Sprunge zusammenkrümmte.
Morrison schoss zuerst, aber seine Spitzkugel prallte wie von einer schiefen Stahlebene ab; denn im gleichen Moment hatte sich die Schlange mit einer blitzartigen Bewegung aufgerichtet und schwebte nun mit dem weit aufgerissenen, von Zähnen starrenden Rachen in einer Höhe von zwei Metern über den Köpfen der Entsetzten, bereit, sich auf sie zu stürzen und den Nächsten zu fassen.
Ein Krach aus Augusts Gewehr, ein Blutstrom floss aus dem Rachen des Ungeheuers, die Kiefern klappten zusammen, der Kopf fiel herab, und in furchtbaren Zuckungen wand sich die Schlange hin und her. Augusts Kugel hatte ihr den Schlund durchbohrt.
Dann traf noch ein Schrotschuss von Reihenfels den Kopf, der die Augen erblinden ließ, und die drei Männer mussten ihre äußerste Gewandtheit aufbieten, den Schlägen des sich krümmenden Körpers zu entgehen.
Schnell wurde der an allen Gliedern zitternde Valentin befreit, man zog sich zurück und konnte nun ohne Gefahr die Schlange beobachten, die ihren Todeskampf auskämpfte.
Es war ein entsetzliches Schauspiel. Sie krümmte den ungeheuren Leib zusammen, sprang dann wieder in die Höhe, und wohin sie fiel, da brachen die stärksten Zweige wie Rohr ab. In einigen Augenblicken war das Gebüsch in der Schlucht auf viele Meter Länge niedergeworfen, und auf der Unterlage von Zweigen und Blättern wälzte sich das Ungeheuer in scheußlichen Zuckungen. Blut und Geifer tropften aus dem Rachen, die Kinnladen klappten auf und zu.
Schuss auf Schuss wurde nach dem Kopfe gesandt, schwächer und schwächer wurden die Bewegungen des Reptils, dann noch ein gewaltiger Satz, einige Meter hoch, eine kriechende Bewegung, die Schlange streckte sich, den Kopf aber in einem Loche der Wand vergrabend, lang aus, zitterte noch einmal und war tot.
Die Männer warteten noch lange Zeit, ehe sie sich ihr zu nähern wagten. Doch sie war tot. Die Länge der Schlange betrug wohl mehr als zehn Meter, an ihrer stärksten Stelle hatte sie einen halben Meter im Durchmesser.
»Dein Schuss, August, hat uns gerettet!«, sagte Reihenfels mit vibrierender Stimme. »Hättest du nicht im geeigneteren Moment geschossen als wir, einer von uns wäre der Schlange sicher zur Beute gefallen oder von ihr zum Krüppel gemacht worden.«
»Und Mister Pulver sitzt nun vergeblich auf seinem Baume und lauert darauf, dass ihm die Riesenschlange in die Falle geht«, lachte August, der sich am schnellsten gefasst hatte.
»Ist es dieselbe, welche du an jenem Baume gesehen haben willst?«, wandte sich Reihenfels an den Mönch.
Dieser wischte sich noch immer den Schweiß vom Gesicht und blickte nach jenem Loch, in welchem der Kopf der Schlange verborgen lag.
»Ich weiß nicht, die Schlangen sehen sich alle ähnlich. Es mag auch eine andere sein.«
Da wurde Reihenfels' Aufmerksamkeit zuerst nach diesem Loch gelenkt. Er stieß einen Ruf der Überraschung aus. Ein solches hatte er ja gesucht.
Es war etwas über einen Meter hoch. Gras und Büsche hatten es vorher bedeckt; die Schlange hatte es bloßgelegt.
»Das ist ein Fingerzeig von Gott«, rief Morrison, »er hat uns die Riesenschlange geschickt, damit wir den Eingang zu der Höhle finden können!«
War diese Annahme auch etwas voreilig, so war es doch wunderbar, dass gerade die Schlange solch ein Loch, wie es mit der Beschreibung des Herrnhuters übereinstimmte, bloßgelegt hatte.
Valentin protestierte eifrig, als man den Kopf der Schlange herausziehen wollte. Sie lebe wahrscheinlich noch, habe sich nur zwischen Steinen festgeklemmt; aber sein Widerwille, das Loch geöffnet zu sehen, bestärkte nur Morrison und Reihenfels in ihrer Vermutung. Der Mönch hatte Grund, die Entdeckung der Höhle zu fürchten.
Schlingpflanzen gaben die besten Stricke ab, sie wurden hinter dem Kopf um den Hals des toten Reptils gelegt; der Leib war zwar glatt, doch die Schuppen hinderten ein Abgleiten; mit vereinten Kräften, Valentin ausgenommen, zogen sie, und der von Schrot durchlöcherte Kopf der Schlange lag außerhalb des Loches.
»Ich warne euch noch einmal, da hineinzukriechen«, sagte Valentin, »es wird der Schlupfwinkel der Riesenschlange gewesen sein. Wahrscheinlich ist es ein Paar, die andere ist noch darin.«
»Du willst zehn Jahre in Indien sein und weißt noch nicht einmal, dass Riesenschlangen nicht in Höhlen leben? Bleibe indessen nur zurück.«
Es war Reihenfels nicht entgangen, welche Unruhe Valentin zeigte, wie seine Augen ängstlich rollten, und er hätte vor Freude aufjubeln mögen. Kein Zweifel, dies war der Eingang zu der gesuchten Höhle.
»Folgen Sie mir, Doktor«, rief er und kroch hinein.
Er wusste nicht, dass Valentin es so einzurichten verstanden hatte, ihm direkt zu folgen. Reihenfels musste sich bald auf Hände und Füße niederlassen, so niedrig wurde der Gang, welcher steil nach oben lief, dann wurde er wieder höher und an Reihenfels' Ohr drang der ihm schon zweimal geschilderte, singende Ton.
»Vorsicht!«, schrie da hinter ihm Valentin mit Aufbietung aller Lungenkraft.
Wie der Blitz hatte sich Reihenfels umgedreht und den Mönch mit eiserner Hand an der Kehle gepackt. Vergebens suchte sich der starke Mann von diesem Griff zu befreien.
»Wen hast du gewarnt, Schuft?«, donnerte ihn Reihenfels an.
»Wen anders als dich?«, ächzte Valentin. »Hörst du nicht das Pfeifen? Es ist eine andere Riesenschlange. Lass mich los, ich ersticke.«
Reihenfels kümmerte sich nicht mehr um ihn, er stürmte trotz der Dunkelheit den steilen Weg hinauf, er stieß sich, strauchelte, aber nur vorwärts, vorwärts! hallte es in seinem Innern. Er sah in der Ferne einen Lichtschein, der Weg wurde beleuchtet, dorthin jagte er in vollem Lauf.
»Bega, meine Bega!«, schrie er, und donnernd, in unzähligen Echos, die Stimmen ganz verschwimmen lassend, wiederholte sich der Name.
Dann stand Reihenfels in der Höhle vor einem brennenden Holzstock. Er riss ein Scheit heraus, hell wurde die Höhle beleuchtet. Sie wurde bewohnt, aber der Bewohner war nicht zu sehen. Reihenfels hatte den zweiten Ausgang entdeckt. Ohne sich um seine Begleiter zu kümmern, die noch nicht die Höhle erreicht hatten, eilte er diesem zu; er gelangte ins Freie auf den schmalen Felsgrat, lief erst nach rechts, dann nach links, kam an den mit Felsgeröll bedeckten Abhang, aber obgleich er von hier aus einen weiten Umblick hatte, konnte er doch niemanden, keine flüchtende Gestalt sehen.
So kehrte er wieder in die Höhle zurück; vielleicht erhielt er dort Aufschluss über Begas Verbleib, vielleicht fand er sie dort noch selbst.
Reihenfels fand seine Begleiter schon mit der Untersuchung der Höhle beschäftigt. Sie staunten die singende Flamme an, und Valentin tat, als sehe er sie zum ersten Male. Er schlug vor Staunen die Hände über dem Kopfe zusammen. Man fand die Totenknochen, welche in einer Ecke zusammengehäuft waren, man fand einen von Kisten und Körben aufgetürmten Berg, alle die Signatur der Londoner Firma tragend, einen Vorrat von Brennholz, Töpfe, Tiegel, Felle, ein Lager von Moos und Fellen, kurz alles, was darauf hindeutete, dass die Höhle von jemandem bewohnt wurde, der sich hier für längere Zeit eingerichtet hatte.
Reihenfels legte die Hand auf das Lager — es war noch warm, ja, er konnte noch die Eindrücke der Gestalt wahrnehmen, welche darauf geruht hatte.
Er nahm einen Gegenstand auf und hielt ihn Morrison hin.
»Doktor kennen Sie das?«
»Herrgott im Himmel«, rief für diesen Valentin, sich erstaunt stellend, »das ist ja der Spiegel, den ich neulich verloren habe.«
Ein vernichtender Blick traf ihn, der ihn jedoch nicht einschüchterte. Mit einem schnellen Griff hatte sich Reihenfels der Büchse des Mönchs bemächtigt.
»August«, befahl er, »stelle dich hinter ihn. Bei der geringsten verdächtigen Bewegung jagst du ihm eine Kugel in den Rücken.«
Valentin hatte allerdings eine Bewegung gemacht, als wolle er sich auf Reihenfels stürzen, um ihm das Gewehr zu entreißen. Jetzt starrte er ihn mit weitaufgerissenen Augen an.
»Was soll das heißen?«, stammelte er.
»Das soll heißen, dass wir deine Schurkerei durchschaut haben.«
»Meine Schurkerei? Du bist wahnsinnig, der Teufel spricht aus dir, bin ich doch ein Diener Gottes —«
»Lass Gott und den Teufel aus dem Spiele«, unterbrach ihn Reihenfels, und eine furchtbare Entschlossenheit war in seinem Antlitz ausgeprägt. »Ich frage dich, wie kommt dieser Spiegel, der sich in deinem Besitze befand, hierher?«
»Ich sagte dir schon, ich habe ihn verloren.«
»Lügner, elender Schurke!«, donnerte ihn Reihenfels an. »Du hast ihn der Bewohnerin dieser Höhle gegeben, warum, weiß ich nicht, jedenfalls, um dich bei ihr einzuschmeicheln. Sie, ein Mädchen, begehrte von dir einen Spiegel; im Kloster gab es keinen, so benutztest du die Anwesenheit Fremder, dir einen zu verschaffen.«
»Du besitzt eine wunderbare Phantasie«, spottete Valentin kaltblütig. »Von welcher Bewohnerin und von welchem Mädchen sprichst du eigentlich?«
»Deine Verstellung nützt dir nichts. Du wusstest, dass sich die Begum von Dschansi hier verborgen hielt.«
»Dass hier jemand wohnt, sehe ich jetzt, dass es aber die berüchtigte Begum von Dschansi ist, ist mir neu. Da ließe sich ein guter Fang machen. Richtig, August, welcher hinter mir mit geladenem Revolver steht, hat mir erzählt, dass sie deine Braut ist! Ich gratuliere dir zu deiner Höhlenbewohnerin und bin gern bereit, die Trauung zu vollziehen.«
»Schurke«, knirschte Reihenfels, »August, den du zu einer Zecherei verführt hast, hat mir noch andere Sachen erzählt.«
»So, was denn?«
»Du rühmtest dich, eine Liebschaft in dieser Gegend zu unterhalten, eitler Narr!«
»Hahaha«, lachte der Mönch laut, »sehr gut das! Allerdings sagte er mir auch Ähnliches, dann aber war er überzeugt, dass er nur geträumt habe.«
»Er hat nicht geträumt.«
»Beweise das!«
»Was sollen hier Beweise? Du bist überführt.«
»Bist du etwa mein Richter?«, sagte Valentin trotzig. »Und wessen soll ich eigentlich überführt sein?«
»Du wusstest um das Vorhandensein dieser Höhle.«
»Oho! Ist mir nicht bewusst.«
»Die Weinflaschen, die du mit August leertest, stammten von jenem Vorrat dort.«
»Leicht möglich! Möchte nur wissen, wer jene Kiste in den Felsenkessel vergraben hat.«
»Du versprachst August, ihn noch mehrmals zu solch einem Gelage mitzunehmen.«
»Das hätte ich auch gekonnt; denn einmal war jene Kiste nicht leer, und dann weiß ich einen Platz, wo noch eine andere Kiste vergraben ist.«
»Du hast sie von hier genommen und dann vergraben.«
»Unsinnige Behauptungen! Beweise will ich haben. Sonst kannst du mich meinetwegen morden lassen, mein unschuldig vergossenes Blut wird dereinst auf dein Haupt kommen.«
»Beweise willst du haben? Dies ist noch einer.«
Reihenfels hatte einige Stücke Hartbrot aufgehoben und hielt sie dem Mönch hin.
»Hartbrot«, sagte Valentin ruhig, »ich kenne das Zeug, habe es oft genug gekaut. Es stammt aus dem Kloster. Es hat wenigstens dasselbe Aussehen. Jene Kisten mögen welches enthalten.«
»Siehst du hier nicht das Kreuz und die Buchstaben D und B? Dasselbe Zeichen tragen die Brote im Kloster, sie sind für dieses gebacken worden.«
»In der Tat, ich entsinne mich. Der Proviantmeister beklagte sich, dass ihm in letzter Zeit viel Hartbrot gestohlen worden wäre.«
»Und du meinst, die Begum hätte es gestohlen?«, fragte Reihenfels mit bebender Stimme.
»Es ist nicht anders möglich. Wir haben solches Brot ja hier gefunden.«
»Du bist es gewesen, der es gestohlen und dem Mädchen gebracht hat. Mag Gott wissen, was dich veranlasst, dich so um die Begum zu kümmern.«
»Ja, Gott mag es wissen«, spottete Valentin, »ich weiß es nicht, weiß überhaupt nicht, was du von mir willst.«
Aufgeregt schritt Reihenfels auf und ab. August ließ den Revolverhahn knacken, und Valentin blieb bewegungslos stehen.
»Valentin«, begann Reihenfels dann mit sanfter Stimme, »ich will dir alles verzeihen, wenn du die Wahrheit sagst!«
»Ich spreche immer die Wahrheit.«
»Dann sage sie auch jetzt; denn Leugnen würde dir doch nichts nützen. Bei mir und bei meinem Freunde ist es vollständig erwiesen, dass du von dieser Höhle wusstest, und dass dir auch bekannt war, dass sich in derselben die Begum von Dschansi aufhielt oder noch aufhält. Du hast die hier aufgestapelten Vorräte für dich selbst verwendet — das geht mich nichts an — der dir gegebene Spiegel ist hier gefunden worden, desgleichen Hartbrot, wie du es auf deine Jagdausflüge mitzunehmen pflegst. Du hast von einem schönen Mädchen gesprochen, mit welchem in einem Verhältnis zu stehen du dich rühmtest. Als wir in die Höhle drangen, riefst du so laut wie du konntest. ›Vorsicht‹ Das war eine Warnung für die Bewohnerin der Höhle, sie ist auch geflohen. Nun beschwöre ich dich, Valentin, weißt du, ob sie wieder hierher zurückkommt? Weißt du, wohin sie geflohen ist?«
»Ich weiß gar nichts«, entgegnete der verstockte Sünder, »ich weiß überhaupt nicht, was du von mir willst. Deine Fragen sind ganz unsinnig.«
»Valentin, es ist meine Braut, die ich suche.«
»Dann gratuliere ich dir zu solch einer Braut, die vor dir in eine Höhle flieht, hahaha!«
Drohend richtete sich Reihenfels auf.
»Bube, dein Leben liegt in meiner Hand!«
»So nimm es!«
»Ich will mich nicht mit deinem Blute besudeln. Aber vernimm etwas anderes: Wenn du nicht geständig bist, so melde ich diesen Vorfall deinem Prior.«
»Und dann?«
»Dann wird er wohl Mittel finden, aus dir ein Geständnis herauszulocken.«
»Ich habe nichts zu gestehen.«
»Auch nicht, dass du dich in Wein berauscht hast? Dass du vor deinem Prior ein Geheimnis bewahrt hast? Ich brauche dir wohl nicht erst zu sagen, was deiner wartet.«
»Und was wäre das?«
»Die Geißel, wenn nicht noch Schlimmeres.«
»Du irrst«, entgegnete Valentin so spöttisch, dass Reihenfels stutzig wurde. »Wo kein Kläger ist, da ist auch kein Richter.«
»Oho, August kann es bezeugen, wir anderen auch.«
»Ihr? Ihr Ketzer? Ihr meint, eure Aussage gilt bei dem Prior etwas? Narren, die ihr seid! Geht hin zu ihm, erzählt ihm alles, was euch der Wahnsinn eingibt, dann werdet ihr sehen, ob er mehr mir, der die wilden Tiere vom Kloster fernhält, oder mehr euch Ketzern glaubt. Hahaha, versucht es doch!«
Morrison hatte etwas Ähnliches erwartet; Reihenfels knirschte mit den Zähnen. Gegen eine solche Hartnäckigkeit war er ohnmächtig. Noch einmal wollte er es in Güte versuchen.
»Sage mir, Valentin, ob die Begum hierher zurückkommt, vielleicht auf dein Zeichen hin, oder wo sie sich versteckt hält, und ich verspreche dir Folgendes: Ich weiß, wem diese Waren, bestehend in Wein und Konserven, gehören — einer Londoner Firma; dies alles, alles schenke ich dir, niemand soll etwas davon erfahren, und ich darf es verschenken, denn ich werde die Londoner Firma dafür bezahlen; aber du musst mir meine Fragen beantworten.«
Die Augen des Mönchs hatten aufgeleuchtet. Er überlegte lange.
»Sehr gütig von dir«, sagte er dann spöttisch, »aber ich kann nicht antworten, denn ich weiß nichts.«
Sollte Reihenfels zu gewaltsamen Mitteln greifen? Er glaubte, diesem Manne, der von einer teuflischen Leidenschaft, der Trunksucht, besessen wurde, doch nichts entlocken zu können.
»Wohlan, ich werde deinem Prior Anzeige erstatten und dafür sorgen, dass er mir glaubt. Du willst mir nicht behilflich sein, das Mädchen zu suchen?«
»Ich weiß von keinem Mädchen.«
»So überlasse ich dich deinem Schicksale.«
»Bindet den Hund und züchtigt ihn, bis er gesteht«, sagte da Morrison.
»Es wäre vergebens. August, gib acht, dass er keinen Mordanschlag auf uns macht. Dem Schurken ist alles zuzutrauen.«
Er untersuchte mit Morrison die Höhle. Alles verriet, dass sie erst vor kurzem von der Bewohnerin verlassen worden war. Mit tiefer Wehmut betrachtete Reihenfels die armseligen Gegenstände, welche zum Gebrauch seiner Braut gedient hatten.
»Warum machen Sie mit dem Heuchler nicht kurzen Prozess?«, fragte ihn der Missionar. »Beim Prior können Sie doch nichts gegen ihn ausrichten.«
»Ich weiß auch, dass ich überhaupt nichts aus ihm herausbekommen kann, und dann, Herr Doktor, vergessen Sie nicht: noch ist die Zeit nicht gekommen, da ich Bega begegnen soll. Es geschieht in freier Gegend, im Walde, und der Amerikaner muss dabei sein, nicht aber der Mönch in der Kutte.«
»Um Gottes willen, Freund, geben Sie sich nicht ganz dem Glauben an ein Verhängnis hin!«
»Nein, ich will tun, was ich für das beste halte. Gehen Sie mit dem Mönche nach dem Kloster, erstatten Sie Anzeige von dem Vorgefallenen — gleichgültig, ob der Prior Ihnen glaubt oder nicht — bestehen Sie aber unbedingt darauf, dass Valentin in sicheren Gewahrsam genommen wird, drohen Sie sonst mit Bekanntmachung beim englischen Gouvernement. Leise, dass Valentin nichts davon hört! Der Bursche fühlt sich zwar sicher, denn es kann ihm wirklich nichts anderes bewiesen werden, als dass er Wein getrunken und sein Geheimnis nicht gebeichtet hat; aber er hat ganz recht, seine Aussagen gelten mehr als die unseren.«
»Und was wollen Sie tun?«
»Ich untersuche etwas die Umgegend. Erblickt sie mich, so wird sie nicht fliehen. Dann kehre ich hierher zurück und warte, ob sie wiederkommt, und sollte es Tage dauern. Geben Sie acht auf den Burschen, dass er Ihnen nicht von hinten einen Schuss beibringt, oder lassen Sie das Gewehr lieber durch August tragen.«
Sie gingen zu dem Mönch zurück.
»Du gestehst nicht, wir können nichts dagegen machen«, sagte Reihenfels zu ihm, »so werden wir uns ohne dich zu behelfen wissen.«
»Meinetwegen denke, was du willst, meinetwegen zeige mich auch beim Prior an. Dann wirst du ja erfahren, wem er mehr glaubt, mir oder einem Ketzer!«
»Ich weiß noch nicht, ob ich das tue. Jetzt wirst du uns nach dem Kloster begleiten.«
»Ich wäre sowieso dorthin gegangen«, knurrte Valentin; »ich will dem Prior schon erzählen, was für saubere Gäste er aufgenommen hat. Ich hoffe, wenn ich mich jetzt umdrehe, wird mir der rothaarige Kerl, der von bösen Träumen geplagt wird, nicht in den Rücken knallen.«
August trat zurück, aber der Mönch verlangte vergeblich sein Gewehr.
»Meinetwegen«, sagte er, »ihr sollt schon sehen, was für eine Suppe ihr euch eingebrockt habt. Man nimmt einem Dominikaner nicht ungestraft die Sachen, die ihm gehören.«
Er schritt dem Ausgange zu, aber jenem, welcher nach dem Abhange führte. Die anderen folgten ihm.
Man sah, welch gefährlichen Abstieg man vor sich hatte, da aber Valentin ihn sorglos begann, so kletterten auch die anderen vorsichtig über die Steine.
Valentin tat, als bereitete ihm diese Kletterei die äußersten Schwierigkeiten. Er stöhnte, setzte Schritt vor Schritt, sah sich angstvoll um, klammerte sich an jeden Halt krampfhaft an, und da er sich rückwärts hinab bewegte, so blieb er bald zurück.
Morrison war den Anderen weit, weit voraus, fast hatte er den Talgrund schon erreicht. Reihenfels misstraute dem Mönch, er beobachtete ihn und hielt sich in seiner Nähe auf.
Da plötzlich machte Valentin einige Sätze wie ein Steinbock bergauf, verschwand hinter einem Felsblocke, und im nächsten Augenblicke kam dieser ins Rollen, seine ganze Umgebung mit sich reißend.
Gellend schrie Reihenfels auf. Nur seiner Gewandtheit gelang es, dem rollenden Felsen, der auf ihn loskam, durch einen Sprung auszuweichen. Dann hatte er schon die herabsausende Lawine unter sich. Wohl sah er den Mönch aufwärts fliehen, ein Schuss hätte den Frevler bestraft, aber Reihenfels' Augen richteten sich jetzt nur auf die Freunde, welche verloren sein mussten.
August tat das Törichtste, was er hätte tun können, er versteckte sich hinter einem großen Stein. Donnernd prasselten die mächtigen Blöcke dagegen, aber siehe da, ob der Stein mit dem Untergrund in fester Verbindung stand, oder ob ihn sonst eine Kraft festhielt, kurz, der im Gegensatz zu den herabpolternden Stücken kleine Stein hielt dem Riesen stand; auch August hatte die Lawine hinter sich.
Morrisons Schicksal schien jedoch besiegelt zu sein. Er stand an der Seite des Abhangs; nur ein einziger, mächtiger Felsblock sauste auf ihn zu, aber diesem konnte er nicht entgehen, von diesem musste er zu Brei zerquetscht werden.
Morrison war in die Knie gesunken. Er sah seinen Tod kommen und sprach das letzte Gebet.
Da kam der Block durch eine Unebenheit des Bodens ins Springen, immer höher wurden die Sätze, und auch über Morrison sprang er in großem Bogen hinweg, ihm noch mit der Kante den Hut vom Kopfe reißend.
Die Hand Gottes hatte die drei wunderbar erhalten.
Reihenfels dachte jetzt noch nicht an den schurkischen Mönch, der den Entdeckern seines Geheimnisses den Tod schicken wollte, er blickte den Abhang hinab, welcher jetzt eine glatte, schräge Fläche war, mit Ausnahme des großen Steins, hinter welchem August noch immer halb betäubt lag, er sah die unten aufgehäuften Felsmassen, den noch knienden Missionar, und er dankte Gott für seine Hilfe.
Nachdem sie sich gegenseitig überzeugt, dass sie unverletzt waren, begaben sich Morrison und August nach dem Kloster, mit dem Entschluss, den Prior über den Charakter des Klosterjägers aufzuklären.
Reihenfels aber schlich sich, die Büchse zum Schusse bereit und seinen Augen nichts entgehen lassend, was sich oben auf dem Felsgrate zeigen würde, wieder hinauf. Er war jedoch keinem neuen Mordversuch ausgesetzt. Weder, als er den Grat betrat, noch als er, um in die Höhle zu gelangen um die Ecke bog, blitzte ihm das Messer des Mönchs entgegen.
Auch in der Höhle war er nicht zu finden. Valentin hatte es für das Beste gehalten, zu verschwinden, wozu er den anderen Ausgang benutzte. Er wusste, dass seine Absicht missglückt war; nun war alles verloren, er wagte sich auch nicht mehr ins Kloster zurück; sein Geheimnis, seine unselige Leidenschaft waren entdeckt worden.
Als er einst als Wilddieb einen Förster erschossen hatte und steckbrieflich verfolgt wurde, war er, um der Strafe zu entgehen, Dominikaner geworden. Jetzt, da ihm das Kloster keine Zuflucht mehr bot, beschloss er, ein Räuber und Mörder zu werden.
Indien hatte Raum für Abenteurer, welche sich durch Raub bereichern wollten. Als die Nacht anbrach, beschloss der sich während des Tages versteckt haltende Mönch, erst einmal dem Amerikaner einen Besuch abzustatten. Er hoffte, dass dieser noch auf dem Baume neben der Falle hockte.
Leicht konnte er dem Ahnungslosen das Gewehr abnehmen, ihn unschädlich machen und berauben. Er wusste, dass Mister Bulwer viel Geld bei sich trug.
Reihenfels hatte unterdes die Umgegend ausgekundschaftet, ohne eine Spur von Bega zu finden. Dann kehrte er nach der Höhle zurück, hier abwartend, ob sie vielleicht die alte Wohnung wieder aussuche. Er wartete vergebens einige Tage; Bega kam nicht zurück. — —
Fluchend schritt der Amerikaner in seiner Falle auf und ab. Als er gesehen, dass er sich nicht selbst befreien konnte, war über den so phlegmatischen Mann doch etwas wie Verzweiflung gekommen, besonders, als sich bei ihm ein heftiger Durst fühlbar machte. Dann begann er zu fluchen über sein Missgeschick, und dieses Fluchen erleichterte ihn, er vergaß dabei den Durst.
Schließlich setzte er sich hin, lehnte sich an das Gitter und gedachte ruhig die Nacht abzuwarten. Am nächsten Morgen musste doch jemand aus dem Kloster kommen, um zu sehen, ob er die Schlange gefangen habe. So brauchte er nur eine Nacht in solch trauriger Lage zu verbringen. Eine Scham bei dem Gedanken, dass man ihn selbst in der Falle gefangen finden würde, empfand er nicht. Mister Bulwer war über Scham und Gewissensbisse erhaben.
Er sah die Antilopen und Gazellen an den Wassertümpel kommen. Mehr neugierig als furchtsam äugten sie nach dem gefangenen Menschen, als wüssten sie, dass er jene todbringende Waffe nicht erreichen konnte, welche dort am Baume lehnte.
Dann aber flohen diese Tiere davon; lautes Brüllen hatte ihnen verraten, dass jetzt die Raubtiere sich der Tränke näherten. Bulwer hörte, wie auch diese das Wasser plätschernd einsogen und er konnte nichts anderes als fluchen. Er saß da mit trockener Zunge und brennender Kehle, nur wenige Meter von ihm entfernt stillten die Tiere ihren Durst. Hätte er das Gewehr bei sich gehabt, dann hätte er wenigstens aus seinem sicheren Käfig nach dem furchtbarsten Tiger ruhig schießen und die Wirkung des Schusses beobachten können.
Eine Gelegenheit gab es noch, seinen Unmut auszulassen. Der verstümmelte Affe zeterte nach wie vor, es war ein ohrenzerreißendes Gekreisch. Mister Bulwer zog unter seinem Mantel ein Bowiemesser von acht Zoll Länge hervor und brachte dem Affen einen Stich bei, der ihn augenblicklich verstummen machte.
Ach, hatte er doch noch etwas anderes gehabt, an dem er seinen Zorn auslassen konnte! Sein liebstes Vergnügen wäre es jetzt gewesen, einen Menschen zu Tode zu martern. Die Qualen des Gemarterten hätten ihm gut getan.
Der Mond beleuchtete den Amerikaner, der das blutige Messer an der Stiefelsohle abwischte und dann damit ein Stück Kautabak abschnitt — ein vorzügliches Mittel gegen den Durst.
Bewegte sich dort nicht etwas über die Grasfläche? Diese aufgerichtete Gestalt gehörte keinem Tiere an, es war ein Mensch.
Mister Bulwer konnte einen Jubelruf nicht unterdrücken, er hatte Valentin erkannt.
»Was, Teufel, ich denke, du sitzt auf dem Baume, und steckst in der Falle?«
Valentin hatte schnell die Lage erkannt, der Amerikaner hatte sich selbst gefangen. Sonst wäre wohl der schadenfrohe Mönch in ein unauslöschliches Gelächter ausgebrochen, jetzt stieg nur eine grimmige Freude in ihm auf, dass er so leichtes Spiel mit seinem Opfer habe.
Mit kurzen Worten erzählte Bulwer ihm, was ihm passiert sei; die Schrauben könne er nicht lösen, ebenso wenig Valentin, er sollte also schnell nach dem Kloster laufen und das Handwerkszeug holen, welches er, Valentin, dummerweise auf dem Wagen wieder mit fortgenommen habe.
»Du hast dich wie ein unbeholfenes Kind angestellt«, sagte Valentin mit erzwungenem Lachen. »Hast du denn keinen Revolver bei dir?«
»No, und uas soll ick mit dem Revolver?«
»Wie, du gehst auf die Schlangenjagd und hast nicht einmal einen Revolver?«
»No, und uie soll ick damit kommen hier heraus?«
»Also keinen Revolver, dann ist's gut!«
Valentin blieb die Antwort schuldig, was ihn zu der sonderbaren Frage veranlasst hatte. Er ging an den Baum, schnallte sich den über dem Gewehr hängenden Patronengürtel um, nahm das Gewehr selbst, untersuchte es und trat wieder an den Käfig.
»Nun will ich dir etwas sagen, Narr elender!«, begann Valentin vielverheißend. »Vor allen Dingen erfahre, dass die Riesenschlange bereits heute Nachmittag von den Engländern getötet worden ist.«
»Goddam!«
»Ja, fluche nur, du wirst noch mehr fluchen. Dass du dich selbst in deiner Falle gefangen hast, freut mich ungemein; so können wir gemütlicher plaudern. Nach dem Kloster zu laufen und Hilfe herbeizuholen, dazu habe ich nicht die geringste Lust.«
»No? Uarum nicht?«
»Der Weg ist mir zu weit.«
»Ick uerde bezahlen.«
»Das lässt sich schon hören. Umsonst ist der Tod, für Geld tue ich aber alles. Wie viel gibst du mir?«
»Einen Dollar.«
»Bah, ich bin kein Laufbursche.«
»Fünf Dollar.«
»Sagen wir fünfzig Dollar.«
»Well, fünfzig Dollar!«
»Hast du sie bei dir?«
»Yes«, sagte der Amerikaner und zog eine Brieftasche hervor.
»Du scheinst eine ansehnliche Summe bei dir zu führen.«
Der Yankee antwortete nicht, er zählte grüne Scheine. Ein drohender Ruf ließ ihn aufblicken.
Dort stand Valentin, die Büchse im Anschlag auf den Gefangenen gerichtet.
»Ich denke, wir machen die Sache einfacher«, lachte er heiser, »du wirst die Güte haben und mir sofort deine Brieftasche geben, überhaupt alles, was du bei dir hast. Dafür verspreche ich dir zwar nicht, dir vom Kloster Hilfe zu holen, wohl aber verspreche ich, dir keine blaue Bohne durch den Kopf zu jagen. Also mach's kurz, ja oder nein, willst du mir dein Geld geben oder nicht?«
»Goddam, Sie sein ein Räuber«, sagte der Amerikaner, mehr überrascht als erschrocken, und riss seine kleinen Augen weit auf.
»Not kennt kein Gebot, ich brauche Geld.«
»Sie sein ein Mönck, und Möncks brauchen nix Geld.«
»Manchmal mehr als andere Menschen; frag nur den Papst. Also her damit, oder du bist eine Leiche! Ich könnte dich ja gleich niederschießen, dann hätte ich aber die Arbeit, erst das Gitter aufzubrechen.
»Sie sein ein unverschämter Mensch.«
»Her mit dem Gelde! Eins — zwei —«
»Stop! Sie sollen haben das Geld. Uas aber geben Sie mir für eine Garantie, dass Sie mich nix schießen tot, uenn ick Ihnen habe gegeben das Geld?«
»Das will ich dir sagen. Ich werde dich leben lassen, damit du später im Kloster erzählen kannst, was für ein Kerl ich eigentlich bin. Die Gesichter der Pfaffen möchte ich sehen, wenn sie hören, dass der fromme Valentin mit der blauen Nase aus einem Mönch ein Raubmörder geworden ist, hahaha!«
»Well, hier haben Sie die Brieftasche!«
Hätte Valentin nicht schon den phlegmatischen Charakter des Amerikaners gekannt, er würde gestutzt haben, als ihm dieser so gleichgültig die Hand mit der Brieftasche entgegenstreckte.
»Das sein ein köstlicher Spaß.« sagte auch noch Mister Bulwer, »das uerde ick schreiben morgen an den New Yorker Herald, und man uird mich bewundern.«
Begierig griff Valentin nach der Brieftasche. Da aber ließ Bulwer diese fallen, blitzschnell legten sich die Finger wie ein Schraubstock um das Handgelenk des Mönchs, ein Ruck, Valentin wurde mit unwiderstehlicher Gewalt an das Gitter gerissen, seine Nase schlug sich an den Eisenstäben breit, und vor seinen Augen blitzte das lange Messer des Amerikaners.
Valentin konnte sich nicht rühren, sich nicht von dem eisernen Griffe befreien, wie er auch zog und riss. Bulwer hatte den Arm des Schurken in den Käfig hereingezerrt und presste den Mönch so fest an das Gitter, dass dieser auch den anderen Arm nicht bewegen konnte.
»Sie sein ein Schuft«, sagte Mister Bulwer, und ein grimmiges Lächeln umspielte seinen Mund. »Sie uollten mich berauben, aber ick uerde mir es nicht lassen gefallen.«
Mit Entsetzen sah der zitternde Mönch, wie der Amerikaner das Bowiemesser hob; eine Todesahnung durchschauerte ihn. Er hatte nicht lange Zeit, über seine Lage nachzudenken; denn mit einer Ruhe, wie er vorhin den Affen getötet hatte, stieß der grausame Yankee seinem Opfer das Messer bis ans Heft ins Herz.
Nur ein schwaches Röcheln stieß Valentin aus, dann brach er zusammen. Er hatte geendet. Mister Bulwer kümmerte sich nicht mehr um ihn. Er schnallte ihm nur den Patronengürtel ab, holte das Gewehr in den Käfig, brachte sich wieder in den Besitz der Geldtasche und beschäftigte sich dann mit der größten Seelenruhe damit, den aus den Dschungeln tretenden Raubtieren aufzulauern. Ließen sich zwei leuchtende Augen sehen, so schoss er danach, und das schmerzliche Gebrüll verriet ihm oft genug, dass er sein Ziel nicht verfehlt, der Todesschrei, dass er ein Raubtier niedergestreckt habe.
Für den toten Mönch, der in seinem Blute neben dem Käfig lag, hatte er keinen Blick übrig.
So fanden ihn auch am andern Morgen Morrison und August, wie er noch immer mit seinen Kugeln alles Lebendige bedrohte, um sich die Zeit zu vertreiben.
Schaudernd erkannten sie in dem blutigen Leichnam Valentin, noch mehr schauderten sie, als ihnen der Amerikaner mit trockenen Worten erzählte, wie er sich nicht habe ausrauben lassen wollen, sondern dem Räuber, der ihm das Leben bedrohte, zuvorgekommen sei.
Mister Bulwer hörte nicht auf die Warnung, das Kloster lieber jetzt nicht zu betreten. Er ging doch sofort hin, um den versäumten Schlaf nachzuholen, nachdem man ihn befreit hatte.
Der Prior hatte unterdessen schon erfahren, was für einen Wolf das Kloster beherbergt hatte. Er musste es glauben; Morrison war ein Engländer, stand in englischen Diensten, und Indien befand sich unter englischer Oberhoheit. Mit Entsetzen hörten der Prior und die Mönche nun auch von dem Tode des Verruchten, der auf seiner neuen Verbrecherlaufbahn nicht weit gekommen war.
Man verschloss dem Amerikaner das Tor nicht, aber scheu wich man ihm aus. An seinen Händen klebte Blut.
Die Mönche dachten nicht daran, ihren gemordeten Bruder zu begraben, war er doch ohne Beichte und Absolution gestorben. Morrison und August verrichteten diesen letzten Dienst, den man einem Toten erweisen kann.
In der Mitte des Halbkreises, den die Vorgebirge des Himalajas bilden, liegt die Ruine einer ganzen Stadt. Wenn die steinernen Häuser, Paläste und Tempel auch zerfallen sind, so kann man ihre Architektonik doch noch erraten, und man muss sich sagen, dass hier einst eine Kultur geblüht hat, welche Indien heutzutage, unter der Herrschaft der Engländer, nicht mehr aufweisen kann.
Wie wir, die hochzivilisierten Europäer, die architektonische Kunst der alten Griechen und Römer anstaunen und noch immer von ihr lernen, so zeugen auch diese alten indischen Ruinenstädte von einstiger Pracht, märchenhafter Herrlichkeit und hohem Kunstsinn.
Da sieht man die kompliziertesten Wasserleitungsanlagen, Kanäle, welche die Stadt durchquerten, Schienengleise auf den Straßen, als hätte man schon damals Pferdebahnen gehabt, und sonstige Einrichtungen, die erst in neuerer Zeit in unseren Städten eingeführt worden sind.
Jetzt sind die Häuser eingefallen, die Kanäle verschüttet, man findet auch keinen Gegenstand mehr, der uns von den hässlichen Sitten der Bewohner erzählen könnte. Die Eingeborenen haben alles fortgeschleppt. Wo aber sind die einstigen Bewohner geblieben? Die wilden Völker, welche ringsumher wohnen und von Jagd und Raub, höchstens von Viehzucht leben, können doch nicht dieselben sein, welche einst solch hohe Kultur besessen haben? Solche Fragmente einer vergangenen hohen Blüte findet man überall auf der Erde, die Bewohner aber fehlen oder sind wieder verwildert.
Hier mochte ein Naturereignis vor einer langen Reihe von Jahren den Verfall der Stadt verschuldet haben. Denn wenn man sich auf den Gipfel eines hohen Schutthaufens stellte, konnte man, soweit das Auge reichte, nichts anderes sehen als eine eintönige Sandwüste, im Norden die schneeigen Gipfel des Himalajagebirges, zu den Seiten unwirtliche, graue Felsmassen, im Süden aber weiter nichts als gelben Sand und wieder Sand, keinen Baum, keinen Strauch keinen Grashalm, an dem das suchende Auge einen Ruhepunkt gefunden hätte. Und diese Wüste erstreckte sich viele, viele Meilen nach Süden hinab.
Man muss bedenken, dass die Provinz Pandschab eine Fläche von 3470 Quadratmeilen einnimmt, dass es also darin Wüsten gibt, welche ohne genügenden Wasservorrat nicht zu durchreisen sind.
Diese Stadt nun wurde jedenfalls nicht in der Wüste angelegt, sondern inmitten eines lachenden Gefildes. Viele Meilen entfernt begann erst die Wüste. Doch auch die Steine können marschieren, je kleiner sie sind, desto schneller. So kroch der Sand langsam nach der Stadt zu, kaum merklich, aber er bewegte sich doch. Die Bewohner achteten wahrscheinlich erst gar nicht dieser Gefahr.
Vielleicht kam dann der Wüste ein Sturm oder eine Überschwemmung zu Hilfe. Wie Pompeji und Herculaneum durch die Lava des Vesuvs verschüttet wurden, so ging diese Stadt durch den Sand der kriechenden Wüste zugrunde. Die blühenden Felder versandeten, und damit war die Lebensfähigkeit der Stadt vernichtet.
Spuren im Sande zeigten noch, dass sie versucht hatten, durch Wasserkanäle den Sand zu entfernen, als ihnen dies nicht gelang, hatten sie zum Wanderstab gegriffen und sich ein anderes Heimatland gesucht, wahrscheinlich mit dem Schwert in der Hand.
Die versandete, zerfallene und namenlose Stadt, von welcher wir sprechen, hatte dennoch einen Nutzen für die Menschheit. Es existierte darin noch ein Brunnen, der vor dem Untergange durch eine gute Bedeckung geschützt worden war und noch immer Wasser spendete.
Daher lagerten hier auch manchmal Karawanen, welche von Ostindien nach Afghanistan zogen. Erst mussten dann aber die wilden Tiere aus dem Gemäuer vertrieben werden.
Auch jetzt befanden sich viele Menschen innerhalb der Mauern der Stadt. Doch sie konnten zu keiner friedlichen Karawane gehören, denn es fehlten die Warenballen. Die Leute besaßen vielmehr ein kriegerisches Aussehen, waren mit Waffen bespickt und zeigten viele kaum vernarbte oder noch frische Wunden.
Es waren Rebellen, die in diesem Gemäuer eine Zuflucht gesucht hatten und sich von den letzten Strapazen erholten. Ein finsteres Schweigen lag auf all diesen Unglücklichen, die zur Befreiung ihres Vaterlandes die Waffen ergriffen hatten und nun wie die wilden Tiere gehetzt wurden.
Stumm tränkten sie die wenigen Pferde und Kamele am Brunnen, bereiteten sich zum Mittagessen ein wenig Reis und suchten dann den Schatten auf, wo sie ihre zerrissenen Sandalen ausbesserten oder in dumpfem Brüten dalagen.
Nur einige Inder mussten auf erhöhten Stellen der Sonne Trotz bieten, Wachen, welche den heranrückenden Feind, die verfluchten Faringis, erspähen sollten. Dann ging es wieder zum Kampf oder zur Flucht, je nach der Anzahl der Feinde.
Auf der höchsten Stelle der Mauer stand die gedrungene, herkulische Figur eines Mannes, der die Hand über die Augen gelegt hatte und scharf in die Wüste spähte. Die Hand beschattete ein Gesicht von abschreckender Hässlichkeit; furchtbar drohend blickten die Augen. Er trug einen Schuppenpanzer von bester Arbeit, die in dem Gürtel steckenden Dolche und Pistolenkolben waren mit Edelsteinen besetzt, das war aber auch das einzige, woraus man schließen konnte, dass dieser Mann einst ungeheure Reichtümer besessen und über Leben und Tod von Millionen Menschen zu befehlen gehabt hatte.
Es war Nana Sahib, nur noch dem Namen nach Radscha von Berar und Maharadscha von Oudh, in Wirklichkeit nichts weiter als ein armer, verfolgter Flüchtling, auf dessen Kopf ein Preis stand. Er musste sich ebenso wie der gemeinste seiner Leute mit einer Schüssel Reis begnügen, weil es etwas Anderes nicht gab. Doch eine einzige Annehmlichkeit hatte er seinen Leuten voraus: Er führte seine einstige Lieblingsfrau mit sich.
Ein Schuss krachte in seiner Nähe. Er wendete den Kopf und sah, wie eine Taube mit zerschmettertem Flügel aus der Luft herabflatterte. Ein Inder, das rauchende Gewehr in der Hand, ergriff sie, riss ihr den Kopf ab, saugte das warme Blut aus dem Körper und verschwand mit seiner Beute, sie triumphierend schwenkend, in einem Hause oder vielmehr in einem Schutthaufen.
Gleich darauf eilte ein anderer Mann hinein — es war Babur — Nana Sahib hörte einen heftigen Wortwechsel, dann erschien Babur wieder, die Taube in der Hand haltend.
Ein verächtliches Lächeln umspielte Nana Sahibs dicke Lippen, als er sich abwendete und wieder unverwandt in die Wüste hinausspähte, als erwarte er sehnsüchtig von dort eine Hilfe in seiner bedrängten Lage.
Eine halbe Stunde mochte er so gestanden haben, dann verließ er die Mauer und schritt durch die Straßen einem großen Hause zu, dem besterhaltenen in der ganzen Stadt.
Die Wände zeigten noch farbenprächtige Gemälde, Szenen aus dem indischen Götterleben darstellend; der Boden war in buntem, kunstvollem Mosaik gehalten, aber von wilden Tieren beschmutzt, öde lagen die Säle da, kein Möbel, kein Gerät war mehr zu sehen, Sonne und Wind konnten ungehindert eindringen.
Hier hatte Nana Sahib sein Quartier aufgeschlagen. Der Flüchtige hielt es nicht erst für nötig, den Saal reinigen zu lassen; selbst sein verwöhntes Weib genierte der Schmutz nicht mehr.
Isabel saß auf einem Ochsenschädel, der die Stelle eines Stuhls vertrat, und nagte an einer über offenem Feuer gerösteten Taube. Das Tier musste zäh sein, denn sie riss das Fleisch mit Zähnen und Fingern los.
In einem Winkel des Saales hatte Babur, ihr treuer Diener, ein Feuer angefacht, über welchem er in einem Töpfchen Reis kochte. Es waren noch Spuren vorhanden, welche verrieten, dass das Feuer mit trockenem Kamelmiste genährt wurde.
»Allah gebe deinen Zähnen die Schärfe von Dolchen und deinem Gaumen Geschmacklosigkeit«, spottete Nana Sahib, zu dem Weibe tretend.
Mit einer heftigen Bewegung schleuderte Ayda die Taube von sich. Ein verhungerter Hund schoss darauf zu, doch noch schneller war Babur. Mit einem Satze sprang er vor, ergriff den Vogel und verzehrte ihn mit vergnügtem Grinsen.
Ayda schüttelte sich schaudernd.
»Man schmeckt, worauf er gebraten ist. Es ist, als ob man auf Leder kaute.«
»Du tust unrecht, Ayda. Wenn du wüsstest, welche Mühe Babur gehabt hat, die Taube dem Jäger abzunehmen! Das Blut hatte dieser allerdings schon weggetrunken.«
»Ein jedes Wort, das aus deinem Munde kommt, ist Spott und Hohn. Verlass mich! Mein Unglück ist schon groß genug.«
»Kann ich dafür?«
»Meine Torheit war es, dich nicht verlassen zu wollen.«
»Bah, du hättest besser getan, mich nicht aufzusuchen.«
»Ich möchte mir fluchen, dass ich's getan habe.«
»Ayda, du heuchelst. Als ich dich oder du mich damals fandest, warst du außer dir vor Entzücken. Du wärst in der Wildnis doch zugrunde gegangen, verhungert, und hättest du Babur nicht bei dir gehabt, du würdest schon damals nicht mehr gelebt haben. Ayda, verstelle dich nicht. Du hattest Grund, zu entfliehen; freiwillig wärst du mir nie in die Verbannung gefolgt.«
»Was soll diese Rederei?«, rief das Weib ärgerlich und sprang auf. »Bin ich dir zur Last oder nicht?«
»Ein Weib ist Kriegern, deren Leben und Tod von ihrer Schnelligkeit abhängt, stets hinderlich.«
»So möchtest du, dass ich dich wieder verlasse?«
»Von Herzen gern.«
Boshaft funkelten die Augen des Weibes auf. Nana Sahib sagte ihr offen, dass er sich ihrer entledigen möchte.
»Gib mir einige deiner Leute mit, welche mich über das Himalajagebirge bringen. Ich habe Diamanten bei mir, ich bezahle die Begleitung. Von sicherer Grenze aus lasse ich dir Unterstützung zukommen.«
»Du bist gütig und aufopfernd«, spottete Nana Sahib, »doch ich verzichte auf deine Unterstützung.«
»Unterschätze mich nicht. Leicht kann es mir gelingen, einen asiatischen Fürsten zu gewinnen, für dich gegen die Engländer Partei zu greifen.«
»Womit willst du dies erreichen? Durch Feilbietung deiner Reize? Ach, arme Ayda, ich finde nichts Begehrenswertes mehr an dir.«
»Schamloser!«, brauste das Weib auf, dessen einstige Schönheit allerdings durch Leidenschaften und besonders durch die letzten Strapazen und Entbehrungen geschwunden. Isabel war nur noch ein Schatten von dem, was sie früher gewesen. Das Gesicht zeigte scharfe Züge, um den Mund tiefe Falten; die Gestalt war hager geworden.
»Es wäre nicht das erste Mal, dass du etwas Ähnliches versuchtest«, entgegnete Nana Sahib ruhig. »Wer ist wohl schamlos zu nennen, ich oder du? Nein, Ayda, auf deine Hilfe zähle ich nicht im Geringsten mehr. Versuche es meinetwegen, ein neutrales Gericht zu erreichen, benutze deine Künste, dir eine Existenz zu verschaffen, werde Bajadere, werde Straßendirne, meinetwegen!«
Isabel biss sich bei diesen Schmähungen auf die Lippen, dass Blutstropfen hervorsickerten. Doch was half jetzt ihr Zorn — damit konnte sie nichts erreichen.
»Nana Sahib, ich bin dein Weib!«
»Gewesen!«
»Du sagst selbst, ich sei eine Last für euch. Gib mir zwei Männer, nicht mehr, als Begleiter mit.«
»Nicht einen einzigen kann ich entbehren, höchstens Babur, er ist überhaupt dein Diener.«
»So wäre es dir wohl am liebsten, wenn ich allein ginge und wie ein angeschossenes Wild verendete?«
»Es wäre mir wenigstens gleichgültig.«
»Du bist ein liebenswürdiger Gatte.«
»Das weiß ich. Genügt dir Babur als Begleiter nicht? Du rühmtest immer seine Treue. In der Tat, er hat auch treu zu dir gehalten.«
»Ja, aber jetzt —«
»Hahaha, siehst du ein, worauf Baburs Treue sich gründet? Er wie alle anderen Inder — hofft noch, dass ich dereinst wieder zur Macht gelange, sie hoffen auf Belohnung, und nur weil du mein Weib bist, hält Babur zu dir. Fliehe von mir und sieh, ob Babur dir noch folgen wird. Ich bin der Magnet, der alles anzieht und in Bewegung hält. Mach, was du willst, ich gebe dich frei; aber verlange nicht, dass ich dich unterstütze.«
Nana Sahib eilte hinaus; denn ein Lärmen verriet, dass etwas Besonderes vorgefallen sein müsse.
Ayda sandte ihm einen Blick des furchtbarsten Hasses nach. Mit geballten Fäusten, am ganzen Körper zitternd, stand sie lange da, nur mit dem Grimm in ihrem Herzen beschäftigt.
Sie dachte jetzt weniger daran, wie sie von hier fortkäme, als vielmehr daran, wie sie sich an Nana Sahib rächen konnte. Er hatte sie geschmäht, hatte sie Bajadere und Straßendirne genannt oder sie doch aufgefordert, etwas Ähnliches zu werden.
Wie konnte sie sich an ihm rächen, ihn demütigen?
Sie bemerkte nicht, dass neue Rebellen angekommen sein mussten. Deshalb staunte sie, als sie plötzlich Nana Sahib in Begleitung zweier Männer eintreten sah, welche sie tausend Meilen entfernt glaubte.
Es waren Radscha Gholab und Tipperah. Ersterer hatte unterdessen sein linkes Auge verloren, eingesunken lag das Lid über einer Höhle. Wir wissen, dass der Trommeljunge Bob, oder vielmehr Nelly, es ausgestochen hatte.
»Kein Wort erfährst du, bevor ich meine Gurgel in frischem Wasser gebadet habe«, sagte eben Gholab mit heiserer Stimme; »es soll einen kühlen Brunnen hier geben. Das war ein furchtbarer Ritt; es ging um Leben und Tod.«
Wie Tipperah, so warf auch er sich auf den ausgebreiteten Teppich, ohne seine Umgebung zu beachten. Ein tiefer Zug aus dem dargereichten Krug frischte die eingetrockneten Lebensgeister wieder auf; erst jetzt bemerkten die Flüchtlinge, dass ein Weib anwesend war.
»Wie, Ayda, du hier?«, riefen sie beide wie aus einem Munde.
»Ihr seht, mein treues Weib verlässt mich selbst auf der Flucht nicht«, sagte Nana Sahib, »aber ich bitte euch, ich brenne vor Verlangen, zu erfahren, wie es in Indien aussieht. Ich denke, das ist wichtiger als ein Weib.«
»Deine Treue soll dennoch belohnt werden, Ayda. Auch dir bringe ich eine Nachricht, welche dich mit Jubel erfüllen wird. In Indien sieht es schlimm aus für uns, Nana Sahib, doch es sieht nur so aus. Die Engländer glauben sich schon vollkommen Sieger und wissen nicht, dass ihr furchtbarster Feind nur noch schlummert. Weißt du, wer das ist?«
»Radscha Skindia von Gwalior.«
»Dieser selbst nicht, aber seine Häuptlinge und sein ganzes Volk. Skindia, dieser elende Star, hält zu den Engländern und weiß nicht, dass sein Volk sich gegen ihn selbst empört. Die Häuptlinge warten nur einen günstigen Moment ab, dann bricht der Aufstand von Neuem los, und bis dahin hofft man von dir, Nana Sahib, dass du alle Flüchtigen um dich versammelt hast.«
»Beim Barte des Propheten, das ist viel verlangt«, lachte Nana Sahib grimmig, »du siehst; wie das Land beschaffen ist, wo wir uns aufhalten. Doch ich werde mein Möglichstes tun. Wie nun kommt ihr hierher?«
»Wir wollten dich aufsuchen, wir wussten auch, dass wir dich ungefähr hier treffen könnten. Unsere Krieger waren eine stattliche Anzahl, über zweihundert—«
»Ihr habt Gefechte bestanden? Man sieht es euch an.«
»In der Nähe des christlichen Klosters — Bernardo heißt es wohl — überfiel uns die doppelte Anzahl Engländer. Colonel Atkins war ihr Führer; ich kämpfte mit ihm, aber es gelang mir nicht, ihn zu töten. Wir mussten uns zurückziehen und verloren viele Leute. Und weißt du, wen ich unter den englischen Reitern fechten sah? Dich wird es besonders interessieren, Ayda. Ich kenne seinen Namen nicht mehr, weiß aber, dass er als der Geliebte der abgedankten Begum von Dschansi galt.«
»Reihenfels!«, zischte das Weib.
»Ja, so hieß er wohl. Ich sah ihn kämpfen und hätte ihm gern einen Hieb beigebracht. Noch immer macht die Begum von Dschansi von sich sprechen, wir wissen aber, was für eine Bewandtnis dies hat. Wo mag nun wohl die richtige Begum sein, die Tochter der Kali und Sewadschis, hahaha, jenes verrückte Weibsbild, auf welches der manchmal kindlich naive Timur Dhar all seine Hoffnungen gesetzt hatte, jenes Mädchen, das uns einst wie Sklaven zu behandeln gewagt hat? Wo mag diese sein?«
»Ha, wenn ich das wüsste!«, knirschte Nana Sahib. »Mit der hätte ich noch einige Wörtchen zu sprechen.«
»Wenn sie hier wäre«, fügte Ayda hinzu, »mein Leid würde ich darüber vergessen. Sie sprang mit mir um, als wäre ich ihr gegenüber eine Null. Jetzt wollte ich sie demütigen!«
»Sie ist in meinen Händen!«, sagte Gholab mit Nachdruck.
Wie elektrisiert sprangen Nana Sahib und Ayda auf.
»Du hast sie gefangen?«
»Gefunden habe ich sie. Wir wurden von den Engländern scharf verfolgt — lass gut Wache halten, Nana Sahib — entkamen aber in diese Wüste. Da sah ich einen Körper auf dem Sande im glühenden Sonnenbrande liegen. Es war die Begum. Sie hatte gewagt, zu Fuß und ohne Wasser die Wüste zu durchqueren; schon war sie halbtot; als sie Wasser trank, bereitete es ihr Schmerzen. Jetzt hat sie sich erholt und erwartet die kommenden Dinge.«
»Wo, wo ist sie?«, riefen die Zuhörer zugleich.
»Ihr sollt sie sehen.«
Gholab erhob sich.
»Noch einen Augenblick«, rief Nana Sahib, ihn zurückhaltend. »Was sagen die Leute dazu?«
»Sie spotten ihrer.«
»Recht so, sie hat auch Spott verdient.«
Gholab ging hinaus, und nicht lange dauerte es, so hörte man draußen ein wüstes Geschrei, Gelächter und Schmähreden.
»Die Begum von Dschansi — Sewadschis Tochter — die Lumpenkönigin, hahaha«, klang es durcheinander, »sie hat das Nirwana verlassen, um auf der Erde betteln zu gehen — sie ist unsterblich, und wir haben sie vor Durst halbtot gefunden — sie ist eine Betrügerin, steinigt sie.«
Sie kam herein, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Gholab führte sie wie ein Schlachtvieh am Stricke, der um ihren Hals lag. Doch aufrecht schritt sie einher, trotzig blickten ihre Augen im Kreise.
Ayda brach bei ihrem Anblick in ein gellendes Hohngelächter aus. Das war die Tochter der verhassten Schwester! Wie hatte ihr das Schicksal mitgespielt! Und sie, Isabel, hatte dieses Schicksal herbeigeführt.
Aber war sie selbst denn besser daran als Bega? Mitnichten, vielleicht schlimmer! Das Schicksal, das sie heraufbeschworen, hatte sich gegen sie gewendet, die Flüche waren auf sie selbst zurückgefallen.
Dies alles kam ihr zur Besinnung, als sie Bega vor sich stehen sah; eine furchtbare Wut, die sich in Hohn Luft machte, bemächtigte sich ihrer, und zwar deshalb hasste sie das junge Mädchen gerade jetzt so unsäglich, weil dieses noch immer in jungfräulicher Schönheit prangte, nichts hatte ihm dieselbe rauben können, während Isabel eine Ruine war, die nicht einmal übertüncht werden konnte.
»Die Begum von Dschansi!«, sagte das Weib, sich zur Ruhe zwingend, und machte mit vor Wut und Hass verzerrtem Gesicht eine tiefe Verbeugung. »Sei mir gegrüßt, edle, großmächtigste Königin von Indien, deren Macht reicht vom Nirwana bis über die Erde. Nimm Platz auf diesem köstlichen Purpursessel«, sie deutete auf den Ochsenschädel, »dass ich dir die Füße küssen kann.«
Verächtlich schaute Bega über sie hinweg und schwieg.
»Du bist wohl schwerhörig?«, zischte Isabel und trat mit geballten Fäusten und zornsprühenden Augen vor sie hin. »He, heilige Tochter der Kali, ist dein Rang auf der Erde ein so hoher, dass du mich gar nicht bemerken zu brauchen glaubst?«
Sie fasste ihr in die Haare an den Schläfen und riss mit aller Gewalt daran. Niemand kam dem gemarterten Mädchen zu Hilfe. Als gebe es ein interessantes Schauspiel zu sehen, hatten sich die Männer um die beiden gruppiert und lachten Beifall. Sie waren sogar bemüht, den Hass des Weibes durch spöttische Bemerkungen noch zu steigern.
Wohl musste das an den Haaren gerissene Mädchen den heftigsten Schmerz empfinden, doch kein Laut kam über seine Lippen, die es nicht einmal zusammenpresste; es zuckte mit keiner Miene, wohl aber füllten sich die Augen mit Tränen.
»Hahaha, kannst du auch weinen, du Heldin du?«, frohlockte Isabel. »Seht, ihr Männer, die tapfere Begum von Dschansi weint wie ein Kind, weil ich ihr etwas wehgetan habe.«
Zum ersten Male öffnete Bega die Lippen.
»Du irrst dich«, sagte sie mit ruhiger, klangvoller Stimme, »ich verachte dich; den Schmerz, den du mir bereiten willst, werde ich nie fühlen. Wenn du mich an den Haaren reißt, so ist es eine natürliche Folge, dass sich meine Augen mit Tränen füllen.«
»Eine ausgezeichnete Entschuldigung! Doch gut, du hast wenigstens die Sprache wieder gefunden. Erkennst du deine gehorsame Dienerin, großmächtige Königin von Indien? Weißt du, wer vor dir steht?«
»Ich weiß, dass du ein Scheusal in Menschengestalt bist, eine Meineidige, eine Verräterin, ein Weib, das seinem Geschlecht Schande bereitet, vor dem man ausspucken muss.«
Isabel hatte die Faust zum Schlage erhoben, doch sie schlug nicht. Sie knirschte nur mit den Zähnen. Um sie herum standen Zuschauer, Männer, und somit wollte sie sich vor diesen nicht erniedrigen, eine Wehrlose zu schlagen. Ja, wenn sie mit ihr allein gewesen wäre! Jetzt musste sie den Kampf mit gleicher Waffe fortsetzen!
»Dein Schmähen ist wie das Geheul des Schakals«, entgegnete sie. »Man beachtet es nicht. Diese Männer wissen, was ich geleistet, was sie mir zu danken haben —«
Nana Sahib und Gholab brachen ungeniert in ein höhnisches Lachen aus; Isabel warf ihnen einen giftigen Blick zu. Sie hätte wieder die Wehrlose ins Gesicht schlagen mögen, als auch diese eine spöttische Miene zog.
»Du aber bist eine Betrügerin gewesen«, fuhr Ayda schnell fort, »mit fremden Federn hast du dich geschmückt, die Taten, die andere verrichtet, dir zugeschrieben. Das nennt man Betrug! Ja, Begum von Dschansi, Beherrscherin von Indien, du hast es weit in deiner Herrlichkeit gebracht. Wäre dein Stahlhemd nicht unzerreißbar, du würdest schon längst nackt durch die Wälder flüchten. Und weißt du, wer es ist, der dir dies sagt?«
»Eine von Buddha Verfluchte!«
»Ich bin Isabel, die Schwester deiner Mutter, die ich glühend gehasst habe. Erfahre denn, dass ich es war, die deinen Vater und deine Mutter getötet; ich war es, die dich geraubt hat, nach Indien bringen ließ und dich zu dem machte, was du jetzt bist — eine falsche Fürstin, die wie ein wildes Tier gehetzt wird!«
»Du sagst mir nichts Neues, Isabel, das weiß ich alles.«
»Desto besser, wenn du es schon von anderer Seite erfahren hast. So weißt du auch, dass du Eugenie, die Tochter Sir Carters, des Hochverräters, bist?«
»Ich weiß es.«
»Und dass Sir Carter und Lady Carter durch meine Hand ihren Tod gefunden haben?«
Isabel hoffte bestimmt, das Mädchen wisse nicht, wie das wandernde Feuer auf der Mauer bei der Erstürmung gesehen worden war.
»Du prahlst vergebens mit deiner Schlechtigkeit«, versetzte aber Bega, und etwas wie Freude verklärte ihr Gesicht, »dein Hass war ohnmächtig, deine Rache ist vereitelt worden. Wohl hast du, Schändliche, einen Anschlag auf das Leben meiner Eltern gemacht, wohl kann man dich Schwestermörderin nennen, aber geglückt ist der Mord nicht. Meine Eltern leben! O, Isabel, ich kenne den Grund deines Hasses, ich weiß, was für Flüche du gegen deine Schwester ausgestoßen hast! — Brahma sei gepriesen, die Flüche haben sich gegen dich selbst gewendet!«
Isabel zwang sich mit aller Gewalt zu einem verächtlichen Lächeln. Sie hätte das Mädchen in den Staub treten mögen.
»Deine Eltern sind doch tot, von mir gemordet. Nachträglich ist es geschehen, nachdem sie wieder aufgetaucht waren.«
»Du lügst! Seit jener Zeit, als Sir Carter auf der Mauer erschien, zum zweiten Male den Engländern den Sieg verschaffend, irrst du selbst flüchtig durch die Gebirge! Spotte nicht meiner, beklage lieber dich selbst.«
»Ich habe sie doch morden lassen!«
»Du lügst!«, wiederholte Bega triumphierend. »Ich durchschaue dich, du willst mir Schmerz bereiten, aber es gelingt dir nicht! Eins nur kann ich nicht begreifen; wie du dich zu rühmen wagst, deine Schwester ermordet zu haben!«
»Bah, meine Schwester!«
»So sprich nicht mehr von ihr. Deine Lippen sind nicht wert, ihren Namen zu nennen. Das nur freut mich, dass die, denen du geflucht hast, jetzt glücklich und im Überfluss leben, während du darben musst und wie ein Raubtier gehetzt wirst—«
>Isabel konnte sich nicht mehr mäßigen, wieder hob sie die Faust, diesmal, um wirklich zu schlagen, Gholab jedoch packte ihren Arm und hielt ihn fest.
»Du tust dir Zwang an, Ayda«, sagte er, »weil wir dabei sind. Das sollst du nicht, wir lassen dich mit der edlen Begum von Dschansi allein. Ja, Mädchen«, wandte er sich an Bega, »auch ich habe Grund, dich zu hassen. Weißt du noch, wie du einst befehlerisch mir gegenübertratest, wie du mit dem Fuße stampftest und mich Feigling und Memme nanntest, der statt Waffen zu tragen mit der Kinderflasche sich beschäftigen sollte? Hahaha, sieh, wie die Zeiten sich geändert haben! Ich kenne keine bessere Waffe, als dich diesem Weibe zu überlassen. Was meine Phantasie nicht erdenken konnte, das wird sie an dir ausführen. Radschas, verabschiedet euch von der Begum von Dschansi, zollt ihr den ihr gebührenden Abschiedsgruß und seht sie euch noch einmal genau an. Ich denke nämlich, wenn sie aus Aydas Händen kommt, wird sich ihr Aussehen etwas geändert haben! Hahaha!«
»Lebe wohl, Begum von Dschansi!«, sagte auch Nana Sahib, sich spöttisch verneigend.
»Ich wünsche dir, Tochter des Himmels, eine angenehme Stunde im Beisammensein mit meiner Frau, deiner Mutter lieben Schwester!«
Die Männer entfernten sich unter höhnischen Bemerkungen. Bega war mit ihrer unversöhnlichsten Feindin allein.
Vor maßloser Wut am ganzen Körper zitternd, beide Fäuste erhoben, trat Isabel wie eine Furie auf sie zu.
»Hündin«, keuchte sie, »jetzt bist du mein, und ich will dir keine Zeit mehr geben, mir zu antworten! Mit diesem Schlage schon will ich dich stumm machen.«
Ihre Faust sauste herab, nach dem Gesicht der Gefangenen zielend — wurde aber von Begas Hand — aufgefangen, diese war frei. Gleichzeitig riss Bega mit der anderen Hand Isabel den Dolch aus dem Gürtel. Zum Stoße erhoben blitzte er in der Luft; doch mehr noch funkelten des Mädchens Augen die entsetzt Zurückweichende an.
»Elendes Weib«, stieß Bega hervor, »diese Fesseln können mich nicht halten! Der erste Schlag wäre dein Tod gewesen, und jetzt sprich dein letztes Gebet —«
Bega stockte, die Hand sank herab. Draußen erscholl ein furchtbares Geschrei, Schüsse fielen, alles war in Aufregung.
Isabel hatte den Augenblick der Unentschlossenheit des Mädchens benutzt, der drohenden Waffe zu entfliehen. Im Nu war sie zur Tür hinausgeschlüpft.
»Zu Hilfe, die Begum von Dschansi hat sich befreit, sie ist bewaffnet!«, gellte ihr Ruf durch das öde Haus; sie wiederholte ihn auch draußen im Freien, doch niemand achtete ihrer, man fürchtete jetzt etwas anderes als die Begum.
»Mahanloggi, Radscha Sirbhanga, die Dschansinesen!«, klang es erschrocken durcheinander, alles griff nach den Gewehren und eilte auf die Mauern.
Wie ein Wetter kam eine Reiterschar von einigen Hundert Mann angebraust; niemand hatte sie in der Ferne bemerkt, sie waren plötzlich da, wie aus dem Boden gewachsen.
An der Spitze jagte ein junger Krieger im Häuptlingsschmucke, es war Eugen oder Radscha Sirbhanga. Er hatte die Rebellen aufgestöbert und eilte mit seiner Schar zur Vernichtung herbei. Von den Mauern krachten Schüsse, aber sie hatten wenig Wirkung, die Entfernung war noch zu groß.
Schnell hatte Nana Sahib erkannt, dass hier nur Flucht helfen konnte. Was nützte es ihm, wenn die Hälfte der Feinde niedergeschossen wurde, die übrigen aber dann doch in die Stadt eindrangen und die Rebellen zusammenhieben oder gefangen nahmen? Die Mauern, überall eingefallen, boten den Pferden kein Hindernis; die eingestürzten Häuser keine Schutzwehr, sodass sich ein regelrechter Straßenkampf hätte entspinnen müssen.
Er hatte eine solche Menge von Verfolgern nicht in der Nähe geglaubt; auf solch einen Kampf war er noch nicht eingerichtet. Noch war es möglich, die nahen Berge vor der Reiterschar zu erreichen, nur dort war Rettung möglich, dort konnten die Rebellen aus sicherem Hinterhalt schießen.
Nana Sahib gab das Signal zur Flucht, im Nu waren alle vorhandenen Kamele und Pferde besetzt. Alles stürzte aus der Stadt den Bergen zu, darunter auch Isabel.
Der letzte, der die Mauern verließ, war Gholab. Mit aschgrauem Gesicht stand er neben seinem Pferde, einem prachtvollen, aber stark mitgenommenen Renner, hatte den Gewehrlauf auf die Mauer gelegt und zielte nach einem Reiter, der sich zur Seite der heranbrausenden Abteilung hielt.
»Mahanloggi«, hatten die Inder erschrocken gerufen, mit bebender Stimme wiederholte Radscha Gholab dieses Wort; denn jener Reiter, auf den er zielte, führte diese Bezeichnung. Auf dem weit ausgreifenden Pferde hing mehr, als sie saß, eine kleine, in rotes Leder gekleidete Gestalt — Dick, in der Faust die außergewöhnlich lange Büchse, auf dem Kopfe die struppige rote Pelzmütze.
Gholab schoss; die Pelzmütze flog in weitem Bogen davon, und Dick Red sank vom Rücken des ungesattelten Pferdes.
Der glückliche Schütze stieß ein lautes Triumphgeschrei aus und eilte den Fliehenden nach. Sein schlimmster Feind, von dem er wochenlang mit furchtbarer Hartnäckigkeit verfolgt worden war, den er mehr fürchtete als alle anderen Feinde zusammen, war von ihm beseitigt worden.
Es war ihm, als wäre er von einer Zentnerlast befreit worden; wie der Wind setzte er mit seinem Rosse den fliehenden Genossen nach, aber auch wie diese von Zeit zu Zeit sich umkehrend und den Verfolgern einen Schuss zusendend. Man konnte noch bequem die Berge erreichen, selbst die, die ihr Heil zu Fuß suchen mussten; jetzt hieß es, noch so viel Gegner wie möglich schadlos zu machen und dann von sicherem Felsen aus auf die Reiter ein verderbliches Schnellfeuer zu eröffnen.
Niemand achtete des reiterlosen Pferdes, das, seiner Bürde entledigt, mit verdoppelter Eile der Reiterschar vorausstürmte. Gholab wusste zwar, auf diesem hatte Dick gesessen, doch was schadete ihm dessen Pferd?
Jetzt jagte dieses Tier an Gholab vorüber.
Da plötzlich erschien auf dem Rücken wieder die kleine Gestalt, eine Lederschlinge wirbelte in Dicks Hand, sie flog durch die Luft, legte sich um den Körper des Radschas, ein Ruck, und mit furchtbarer Gewalt ward Gholab aus dem Sattel geschleudert.
Auf ihm kniete im nächsten Augenblick Dick, und als Gholab nach dem Sturze wieder zu sich kam, nützte ihm seine Riesenkraft nichts mehr; denn schon war er an Händen und Füßen mit Lederstreifen gebunden.
»Habe ich dich endlich!«, lachte Dick grimmig. »Du glaubtest wohl, mein Püppchen, du hättest mich vom Pferde geschossen? Nein, deine Kugel riss mir nur die Mütze vom Kopfe, ich ließ mich an der Seite des Pferdes herabgleiten und blieb hängen. So wird's gemacht, und nun gnade dir Gott, jetzt wollen wir uns etwas über Nancy unterhalten und miteinander abrechnen.«
Radscha Sirbhanga hatte sich nicht den Verfolgern angeschlossen. Als er durch die Straßen der Stadt jagte, sah er eine Mädchengestalt, die erst fliehen, dann aber sich verstecken wollte.
Sie kam nicht dazu; denn im Nu hatte Sirbhanga sie erreicht, sprang im vollen Galopp vom Pferde und stellte sich ihr mit vorgestrecktem Schwerte und in Fechtpositur gegenüber, als erwarte er einen sofortigen Angriff.
»Begum von Dschansi, ergib dich!«, rief er ihr zu. Der Name pflanzte sich blitzschnell von Mund zu Mund. Erst schien es, als wollten die wilden Dschansinesen schon beim Klange dieses Namens sich zur Flucht wenden; war es doch die Begum, unter der sie früher gefochten, deren Unüberwindlichkeit und Furchtbarkeit sie selbst geschaut hatten. Als sie indessen ihren jungen Häuptling sahen, wie er sich dem schrecklichen Weibe furchtlos gegenüberstellte, da umringten auch sie ihre einstige Anführerin, die Schwerter zum Hieb und Stich bereit. Die Begum aber stand ruhig da; sie hatte auch noch den Dolch fortgeworfen, blickte Sirbhanga an, und ein wehmutsvolles Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Ergib dich, Begum!«, rief Sirbhanga nochmals.
»So sehen wir uns wieder, Eugen«, lispelte sie.
»Ergib dich, Begum!«, wiederholte er zum dritten Male. »Widerstand würde dir nichts nützen; ich glaube nicht an deine Unbesiegbarkeit. Oder dein Weg würde über meinen Leichnam gehen.«
Wieder lächelte Bega bitter. Dann streckte sie beide Hände aus und sagte:
»Wehre ich mich denn? Nimm mich gefangen; ich weiß aber nicht warum.«
Sirbhanga selbst legte ihr Handschellen an, er glühte vor Begeisterung.
»Ich nehme dich, die du dich betrügerischer Weise die Begum von Dschansi nennst, im Namen der englischen Königin als Rebell gefangen!«
»Im Namen der englischen Königin — als Rebell — ich dachte es mir«, seufzte Bega und ließ sich willig fesseln.
Sie wurde unter scharfer Bewachung in das Haus gebracht, das sie eben verlassen; Sirbhanga setzte den Flüchtigen nach.
Bega kauerte teilnahmslos am Boden, sie hörte nicht die in der Ferne unaufhörlich rollenden Gewehrsalven, nicht das Kampfgeschrei der ums Leben kämpfenden Inder, der braunen Brüder eines Volkes. Als sie vernahm, dass die Rebellen von Feinden angegriffen würden, hatte sie gezögert.
Sollte sie fliehen oder bleiben? Die Rebellen waren jetzt ihre Feinde, von ihnen durfte sie keine Schonung erwarten. Und die Engländer oder die auf deren Seite kämpfenden Inder? Sie wusste nicht, ob sie nicht von diesen ebenfalls verfolgt würde, ob die Engländer nicht vielleicht gar einen Preis auf ihren Kopf gesetzt hatten.
Bega besaß eine kräftige Natur und einen widerstandsfähigen Charakter, und wer diesen besitzt, der denkt auch dann noch nicht, wenn alles verloren scheint, an Selbstmord, oder sieht dem herannahenden Untergange entgegen, ohne die Hand zu regen. Vielmehr sucht er bis zum letzten Augenblick sein Leben zu erhalten; denn solange er noch lebt, ist auch die Möglichkeit vorhanden, sein Schicksal zu ändern.
Schon einmal war Bega geflohen, obgleich sie alle Hoffnungen hinter sich ließ und den Tod schon im Herzen fühlte. Aber sie wollte leben und für sich kämpfend untergehen. So floh sie auch wieder; doch sie hatte zu lange gezögert; es war zu spät. Wäre es nicht Eugen gewesen, der ihr gegenübertrat, man hätte sie nicht zum zweiten Male lebendig gefangen.
Der Anblick Eugens jedoch, der einst um ihre Liebe geworben, entwaffnete sie, und jetzt klangen wie Donnerhall die Worte in ihren Ohren wider: »Im Namen der Königin von England.«
So hatte sie in Indien auf keinen Schutz mehr zu hoffen, ja, in der ganzen Welt nicht mehr. Überall hätte man nach ihr gefahndet, sie war eine politische Verbrecherin. Jetzt, da sie vernahm, dass England den Bannfluch nach ihr geschleudert, durfte sie auch nicht mehr an Reihenfels denken, und das brach ihre Willenskraft.
Also ihre Hoffnung, dass sich Lord Canning, von ihrer Unschuld durch Reihenfels überzeugt, für sie verwenden würde, hatte sich nicht erfüllt — jetzt war sie verloren, jetzt gab es nichts weiter als ein erbärmliches Leben zu retten, und vorläufig hatte Bega, wenn es ihr überhaupt möglich gewesen wäre, keine Neigung dazu.
Empfindungslos kauerte sie am Boden, ein dumpfer Schmerz wirkte wie betäubend auf sie.
Aber dennoch schreckte sie empor, als sie gegen Abend von einer tiefen, sanften Stimme beim Namen genannt wurde. Diese Stimme kannte sie; wie ein Blitz war ihr ein Bild aus schöner Jugendzeit aufgestiegen, sie hörte Eichen rauschen und Finken schlagen. Doch nein, sie war noch in Indien, als Meuterin gefangen, und der, welcher sie gefangen und in Ketten gelegt hatte, stand vor ihr — Eugen, um den Kopf einen blutigen Verband.
»Vergib mir, Bega!«, sagte er leise und wie bittend. Das Mädchen richtete sich langsam auf.
»Was soll ich dir vergeben? Dass du mich gefesselt hast? Du tatest deine Pflicht.«
»Ach, dass ich sie tun muss! Und dass ich dir nicht helfen darf! Vergib mir, Bega!«
»Ich habe dir nichts zu vergeben, wenn du deine Pflicht tatest.«
»Bega, ich liebte dich einst.«
»Was erinnerst du mich daran? Oder willst du mich nun deine Rache fühlen lassen, weil ich dich damals nicht erhörte? Das ist nicht edel.«
»Um Gott, sprich nicht so! Ich habe eine schwere Schuld gegen dich auf meinem Gewissen.«
»Dass ich nicht wüsste!«
»Ja, Bega, ich liebte dich damals, und ich liebte dich noch immer, auch hier in Indien. Ach, Bega, ich kann dir nicht schildern, du begreifst es nicht, was für ein teuflisches Spiel mit mir getrieben worden ist.«
»Ich weiß es allerdings. Du wurdest nach deiner Verwundung von einer Bajadere gepflegt, welche mir etwas ähnlich sah. Du hieltest sie im Fieberwahne für mich, und auch dann noch, als du genesen warst, musste sich Kalidasa für mich ausgeben. Die Täuschung war nicht schwierig.«
»So wusstest du es?«
»Alles.«
»Und hindertest den Betrug nicht?«
»Ich wollte es tun, doch es war zu spät. Es war gerade damals, als Delhi gestürmt wurde, einige Tage zuvor.«
»Warum wolltest du es hindern?«, fragte Sirbhanga mit bebender Stimme.
»Solltest du mich noch lieben, Eugen? Vergebens, ich gestehe offen, dass ich dich nie geliebt habe, mein Herz gehört schon immer einem anderen.«
»Ich weiß es. Du Unglückliche!«
»Ich wollte dir den Betrug aufdecken«, fuhr sie fort, »um dich nicht zum Verräter an den Engländern zu machen. Kalidasa, oder deiner Meinung nach Bega, also ich, war der Preis, für welchen du übertreten solltest. Doch ein Manneswort zu brechen, das ist ein Weib nicht wert.«
»Das sagst du?«
»Allerdings. Du bist ja deiner Sache treu geblieben.«
»Ich bekenne die Wahrheit. Ich war doch abgefallen, nicht um Kalidasas willen, sondern weil ich erfuhr, dass mein Platz an der Spitze der Rebellen war.«
»Auch dies habe ich hinterher erfahren; hätte ich eher gewusst, was für ein frevelhaftes Spiel man mit mir trieb, ich hätte dich sofort gewarnt. Jetzt bedaure ich nur Kalidasa.«
»Warum?«, fragte Sirbhanga, und sein Auge blitzte freudig auf.
»Sie liebte dich wirklich, und du—«
>»Und ich liebte sie wieder und liebe sie noch jetzt. Bega, verzeih mir!«
»Nichts habe ich dir zu verzeihen, sei glücklich mit ihr, dies wünsche ich dir aus ganzem Herzen. Dein Ansehen bei den Engländern scheint nicht gelitten zu haben, ich sehe dich als Anführer einer kriegerischen Macht, welche einst meinem Befehle gehorchte, welche mich anbetete, und da du nun die gefährliche Begum von Dschansi, diese Intrigantin und politische Abenteurerin gefangen und schadlos gemacht hast, so wird deine Stellung wohl bestätigt werden.«
»Bega, sprich nicht so! Ich musste, ich konnte nicht anders handeln.«
»Warum entschuldigst du dich überhaupt? Du sprichst für mich in Rätseln. Und dennoch, mit welchem Feuereifer warst du bereit, mir die Handfesseln anzulegen.«
»Es war mir so oft eingeprägt worden, mich unter allen Umständen der Begum von Dschansi zu bemächtigen, tot oder lebendig.«
»Lord Canning sagte dir das?«
»Nein, ich kam von Delhi fort nach einer anderen Stadt in Haft. Dort wurde ich begnadigt, ich erhielt die Freiheit und musste wieder England Treue schwören. Man sah ein, dass über mir ein furchtbarer Irrtum gewaltet hatte. Ich tat mich in mehreren Schlachten als Häuptling der Dschansinesen, meines Volkes, hervor, dann schickte man mich in die Gebirge, um die flüchtigen Rebellen aufzureiben. General Havelock gab mir ausdrücklich den Befehl, ich sollte mich der ebenfalls in den Bergen auf der Flucht befindlichen Begum, deiner, auf alle Fälle bemächtigen; tot oder lebendig sollte ich ihrer habhaft werden, und was blieb mir anders übrig, als zu gehorchen, hatte ich doch auch eine große Schuld zu sühnen.«
»Also von Havelock ging dieser Befehl aus, nicht vom Generalstab, dessen Vorsitzender Canning ist?«
»Seit vielen Wochen schon halte ich mich in den Bergen auf und erhielt keinen Befehl vom Generalstab. Außerdem, Bega, ich zürnte dir wirklich, dass du die Rolle spieltest, welche mir bestimmt war. Ich bin Radscha von Dschansi. Etwas wie Zorn stieg in mir auf, als ich dir vorhin mit dem Schwerte in der Hand gegenübertrat.«
»Eugen, glaubst du, ich wusste, dass meine Rolle eine falsche war? Ich war mir nie eines Betrugs bewusst, aber man betrog mich ebenso wie dich.«
»Ich glaube dir, Bega. Man verwandelte deinen Namen in Begum. Doch nenne mich nicht mehr Eugen, wir wollen die Betrüger nicht unterstützen.«
»So nenne auch du mich nicht mehr Bega sondern Eugenie. Dies ist mein richtiger Name.«
»Wie? Du hast deine wahre Abstammung erfahren?«
»Leider. Dass ich sie nicht erfahren hätte!«
»Und Eugenie ist kein indischer Name, sondern eher ein englischer.«
»Ich bin eine Engländerin.«
»Wie?«
»Ich bin Eugenie, die Tochter Sir und Lady Carters, deiner Pflegeeltern. Ja, Sirbhanga, wir können uns keine Vorwürfe gegenseitig machen, wir beide hatten unsere Rollen getauscht. Du genossest die Liebe, die mir gebührte; mir zollte man die Achtung, welche dir gehörte. Du hast gewonnen, ich verloren, du darfst dich deines Rechts jetzt freuen, aber ich? Ich werde meine armen Eltern nie wiedersehen!«
Sirbhanga war bei diesem Geständnis zurückgeprallt; er glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen, er hielt das Mädchen für wahnsinnig, doch Bega gab ihm noch die deutlichsten Beweise, dass sie wirklich die geraubte Eugenie sei. Sie erzählte, wie Reihenfels dies zuerst herausgebracht, wie Isabel es vorhin bestätigt habe.«
»Um Gott, hätte ich das gewusst!«, stieß er hervor.
»Was hättest du dann getan?«
»Ich hätte — ich hätte dich dann nicht — o Gott, ich musste es ja doch tun, ich musste meine Beute — ich durfte dich nicht entschlüpfen lassen — ich bräche zum zweiten Male mein Wort.«
»Nein, du durftest mich nicht entkommen lassen«, stimmte das Mädchen dem Stammelnden bei, aber Bitterkeit lag in ihrer Stimme; »das hätte dich deine neugewonnene Stellung gekostet. Sirbhanga, höre mich an: Ich liebe dennoch mein Leben, ich zittere vor dem Gedanken, als Rebell am Galgen zu sterben. Hast du Mitleid mit mir, gedenkst du noch jener Zeit, da du vor mir auf den Knien lagst, so flehe ich dich an, mir zur Flucht zu verhelfen.«
Bittend streckte sie ihm die gefesselten Hände entgegen, eine stumme Mahnung, ihr die Ketten abzunehmen. Sirbhanga lehnte sich an die Wand, stöhnte und bedeckte sich die Augen.
»Ich kann nicht, ich darf nicht«, murmelte er dumpf.
»Du darfst es nicht, nein, aber ich flehe dich darum an. Gib mich nicht frei, aber gewähre mir eine Gelegenheit zur Flucht.«
»Ich darf es nicht«, ächzte er, »ich breche mein Wort. Du bist die Begum von Dschansi.«
»Ich bin sie nicht.«
»Aber die Person bist du, welche man verfolgt.«
»Nein, auch das nicht.«
»Wie?«
»Auch darin waltet ein Irrtum ob. Wärest du nicht abgeschnitten von dem Kriegsschauplatz, du würdest hören, dass die Begum von Dschansi noch immer überall als stahlgepanzerte Amazone gesehen wird, wie sie gegen die Engländer das Schwert schwingt.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Und schwer wird es mir werden, dir die Wahrheit begreiflich zu machen. Wohl nannte man mich die Begum von Dschansi, wohl habe ich Rüstung und Schwert getragen, wohl bin ich durch das Lager am schwarzen See geschlichen, habe spioniert und Wachen überwältigt — ich musste, mich für eine Inderin haltend, die Engländer doch bekämpfen — wohl habe ich ihren Ungehorsam gegen den von mir gegebenen Befehl, die Gefangenen zu schonen, bestrafte, aber jenes Weib, welches mit dem Schwert in den Reihen der Engländer wütete und noch wütet, bin ich nicht. Jenes andere Weib, meine Doppelgängerin ist es, welche eueren Hass verdient, und ihrer habhaft zu werden, wird man auch bemüht sein, du aber, der du schon lange in den Bergen weilst, weißt nichts davon. Daher bist du auch der Meinung, ich sei wirklich jene gefürchtete Begum von Dschansi — Lord Canning aber wird wissen, dass ich sie nicht bin. An meinen Händen klebt kein englisches Blut.«
Ungläubig schaute Sirbhanga das Mädchen an.
»So meinst du, Lord Canning hielte dich für unschuldig und ließe dich gar nicht verfolgen?«
»Er weiß, dass ich unschuldig bin«, seufzte sie, »aber er muss mich dennoch als Feindin betrachten und mich verurteilen. Ich bin der Spielball eines furchtbaren Verhängnisses.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Ich wiederhole, dass ich dich schwerlich aufzuklären vermag.«
»Was du von deiner Doppelgängerin sprichst, glaube ich nicht. Es ist nicht möglich, dass sich ein Mensch zerteilen und an zwei Orten zugleich erscheinen kann, und übrigens —«
»O, Sirbhanga, du sprichst von dem Gerücht, dass ich als göttliches Wesen göttliche Eigenschaften besäße. Diese Meinung von mir wurde verbreitet, und ich war leider so töricht, sie nicht als Lüge zu klären. Aber ich besitze wirklich eine Doppelgängerin, und diese ist es, welche unter meiner Gestalt die Kriegstaten verrichtet.«
»Wer sollte das sein?«
»Ein Mann.«
»Ein Weib — ein Mann — in deiner Gestalt? Du sprichst in Rätseln.«
»Es ist Timur Dhar. Im Panzerhemd mit herabgelassenem Visier, das Schwert in der Faust, hatte er meine Gestalt angenommen und kämpfte gegen die Engländer; er tut es wahrscheinlich noch jetzt. Ich war die Begum von Dschansi — jetzt bin ich ein unglückliches, verfolgtes Weib und leide unschuldig. Sirbhanga, habe Erbarmen, löse die Fesseln, sieh nicht hin, wenn ich fliehe!«
»Ich kann nicht«, wiederholte er, der das Gehörte nicht begreifen konnte, gedrückt. »Wie soll ich das glauben, was du mir da erzählst!«
»Du selbst bist Zeuge davon geworden, wie man meine Person missbrauchte. Nicht nur Timur Dhar gab sich für mich aus, weil ich die prophezeite Königin von Indien war und er mein Ansehen durch kriegerische Taten, die ich nie ausführte, erhöhen wollte, auch Kalidasa musste sich für mich ausgeben, um dich der Sache der Rebellen zuzuführen, und wurdest du nicht ein Opfer dieses Betrugs? Sieh, so wusste Timur Dhar auch alle anderen zu täuschen.«
»Du hast recht, Bega, aber ich darf dich doch nicht freigeben, muss dich vielmehr ausliefern. Ich fand dich im Rebellenlager, wie du mit den Übrigen fliehen wolltest.«
»Ein böser Zufall! Auch von den Rebellen wurde ich gefangengehalten.«
»Beweise das!«
»Ich kann es nicht, Rebellen müssen vernommen werden.«
»So muss ich dich deinem Schicksal überlassen, ich kann wahrhaftig nicht anders handeln. Beweise deine Unschuld vor dem Kriegsgericht, dem ich dich ausliefern muss, und du wirst milde beurteilt werden.«
Sirbhanga drehte sich kurz um und verließ langsam und mit gesenktem Haupt das Gemach.
»Sirbhanga, ich zürne dir dennoch nicht, ich kann dich begreifen!«, rief Bega ihm nach und versank dann wieder in dumpfes Brüten.
Ja, sie konnte begreifen, was in dem Jüngling vorging.
Es blieb ihm nichts Anderes übrig, als sie gefangen zu halten und auszuliefern, oder er ward abermals ein Verräter, diesmal ein wirklicher Meineidiger, und zertrümmerte sein Glück für immer.
Er liebte Kalidasa, sie war in Delhi, und nur dadurch, dass er treu zu den Engländern hielt, konnte er sich einst seines Glückes mit ihr freuen.
Die Sache der Rebellen war rettungslos verloren. Was war Sirbhanga als Radscha von Dschansi, wenn er nicht zu, sondern gegen die Engländer stand? Dasselbe, was jetzt Nana Sahib war — ein verfolgter Verbrecher.
Dagegen erwartete ihn andererseits der Thron eines reichen, blühenden Landes, auf dem er unter dem sicheren Schutze der englischen Krone regieren durfte.
Aber wie sah es jetzt in seinem Herzen aus! Das Mädchen, welches er geliebt hatte, welches er lange zu lieben geglaubt — nur dass es eine andere gewesen — musste er als Rebellin gefangen ausliefern, und er glaubte fest, dass man kurzen Prozess mit ihr machen würde, dass sie gehenkt würde.
Auch an Reihenfels dachte er, an seinen einstigen Hauslehrer, an dem er mit bewundernder Liebe gehangen hatte.
Diese Gedanken waren es, die Sirbhanga beschäftigten, und Bega konnte nicht anders, sie musste ihn bedauern. An ihrer jetzigen Lage war er nur ganz indirekt Schuld.
Die Nacht brach an, und Bega kauerte noch immer mit gefesselten Händen am Boden. Man schien sie vergessen zu haben, aber sie spürte weder Hunger noch Durst.
Als Sirbhanga den Raum betreten, hatte er die Wächter hinausgehen heißen, in seinem Schmerz aber nicht daran gedacht, sie wieder hereinzurufen. So war Bega allein und unbewacht, und sie war froh darüber.
Dennoch bezweifelte sie nicht, dass die Dschansinesen, welche draußen waren, sie bewachten. Die Leute, welche sie einst als ihre Fürstin geliebt, hassten sie jetzt, denn sie hielten sie für eine Betrügerin. Der Gestürzte behält im Unglück überhaupt nur Feinde, selbst die früheren Freunde werden solche.
Da ertönte draußen ein furchtbarer Schmerzensschrei, Wehgeheul erscholl. Es wiederholte sich mehrmals, dann wurde es wieder still. Bega dachte nicht darüber nach, was da wohl vorgefallen sein mochte. Es war ihr alles gleichgültig.
Die lagernden Leute hatten kleine Feuer zur Bereitung des Abendessens angemacht. Ein flackerndes Licht fiel auch durch das offene Fenster herein und erhellte das Gemach in unsicherem Zwielicht.
Vor der Tür erfolgte ein kurzer Wortwechsel, einige Scherze wurden laut, dann blickte ein mit einer roten Pelzmütze bedeckter Kopf durch die Tür; zwei glühende Augen schweiften durch das Gemach, und Dick Red trat herein.
»Alle Hagel, hier also ist die berühmte Begum von Dschansi«, sagte er erstaunt, »und unbewacht? Blitzmädel, du brauchst ja nur davonzulaufen!«
Er war vor sie hingetreten und musterte sie neugierig.
»Man hat nicht vergessen, mir die Hände zu fesseln«, entgegnete sie, und zugleich tauchte eine Hoffnung in ihrem Herzen auf.
»Denkst du, ich sehe nicht, dass du gefesselt bist? Dick Red hat gute Augen. Aber du läufst doch nicht auf den Händen, sondern auf deinen Füßen. Wenn es dich nicht weiter geniert, werde ich deine zierlichen Füßchen ein bisschen binden, mein Schatz. Das hat man vergessen.«
Er zog eine Lederschnur hervor und begann ihre Füße zu binden. Bega duldete es ruhig und fragte nur mit trauriger Stimme:
»Liegt dir denn so viel daran, dass ich nicht entfliehe?«
»Du hast böses Blut genug gemacht, mein Schatz, es wird nun endlich Zeit, dass die Begum von Dschansi gehenkt wird. Lieber wäre es mir freilich, ich könnte dich draußen noch einmal fangen; denn, offen gestanden, du bist sonst ein ganz tüchtiges Mädchen, sollst damals unter den Thugs wie ein Teufel gehaust haben.«
»Du bist Dick Red?«
»Ja, wenn es dich nicht geniert.«
»Reihenfels ist dein Freund?«
»Reihenfels? Das ist ein braver Kerl. Natürlich ist er mein Freund.«
»Er ist mein Geliebter.«
»So? ›Er ist mein Geliebter‹ — das klingt ausgezeichnet, kurz und bündig. Habe schon so etwas Ähnliches gehört, hoffentlich ist er unterdessen zur Vernunft gekommen.«
»Er wird dir zürnen, wenn er erfährt, dass du mich, anstatt mir zu helfen, an der Flucht gehindert hast!«
Erstaunt blickte Dick auf.
»Donnerwetter, das klingt ja gerade, als sollte ich dir zur Flucht verhelfen! Du bist verrückt!«
»Das sollst du auch, und du wirst es tun.«
Mit flüsternder Stimme erzählte Bega. Dick erfuhr jetzt dasselbe, was vorhin Sirbhanga erfahren hatte, und das Erstaunen des Jägers war grenzenlos. Er setzte in ihre Erzählung sogar weniger Zweifel als jener.
»Das ist ja großartig«, sagte er, als Bega schwieg. »Also du bist gar nicht das Mädchen, das so zu fechten versteht und den Engländern die Köpfe spaltet?«
»Man nennt mich nur die Begum von Dschansi; ich bin unschuldig an dem vergossenen Blute.«
»Und jenes Weib im Stahlpanzer wäre wirklich ein Kerl?«
»Es ist Timur Dhar.«
»Der dich geraubt hat?«
»Derselbe.«
»Und du hast ihm keins auf den Kopf gegeben, so einem Schuft und Halunken?«
»Hätte ich es eher gewusst! Ich musste an dem Tage fliehen, als ich es erfuhr. Warum ich fliehen musste, hast du von mir erfahren.«
»Sonderbare Geschichten!«, brummte Dick und betrachtete Bega mit ganz anderen Augen.
»Mein sehnlichster Wunsch war es immer, dieser Begum von Dschansi, die wie der Teufel fechten und schießen können soll, einmal gegenüberzutreten und mich mit ihr zu messen. Da wäre ich nun freilich bei dir an die Unrechte gekommen. Also die Begum von Dschansi ist ganz wo anders zu suchen, und sie lebt noch. Na, da habe ich ja noch nichts versäumt. Ich finde sie dennoch, und dann will ich einmal sehen, ob sie nicht davon hinfällt, wenn ich ihr sechs Zoll kaltes Eisen in den Bauch stoße.«
»Timur Dhar ist ein gewaltiger Kämpfer.«
»Und Dick Red ist auch nicht von Pappe. Gut, ich werde zurückgehen und nach der Begum forschen.«
»Und ich?«
»Du bist wirklich die Braut Mister Reihenfels'?«
»Wir lieben uns.«
»Ja, warum reißt du denn dann immer aus?«
»Weil ich mein Urteil zu fürchten habe.«
»Vielleicht steht es gar nicht so schlimm mit dir.«
»Wenn es aber nun doch so ist? Weder Cannings Edelmut, noch Reihenfels' Liebe können mich dann retten, der Gerechtigkeit muss freien Lauf gelassen werden. Ich gab mich für die Begum von Dschansi aus, ich stand auf der Seite der Rebellen.«
»Freilich, du hast ganz recht, du musst fort!«
»So willst du mich befreien?«, jauchzte Bega leise auf.
»Ich begreife nicht, warum du dich darüber freust. Was ist dein Los, wenn du nun frei bist?«
»Allerdings kein beneidenswertes, aber ich bin doch frei. Ich werde über das Himalajagebirge gehen und dann weiter nach Europa. Eine Zuflucht werde ich schon finden, wo ich ruhig abwarten kann, was über mich beschlossen wird. Vielleicht stellt sich meine Unschuld noch heraus. Nur hier in Indien, wo die Engländer herrschen, darf ich nicht bleiben. Wenn ich ihnen in die Hände falle, bin ich verloren.«
»Vielleicht auch nicht, denn wir wissen ja nicht, wie dein Urteil ausfällt.«
»Da wir dies nicht wissen, muss ich vorläufig nur an Flucht denken.«
»Nun, wie wäre es denn, wenn du Reihenfels herbeiriefest und dich unter seinen Schutz stelltest? Der würde seine Braut wohl sicher schützen können.«
»Wie soll ich ihn rufen? Ehe er käme, könnte ich schon verurteilt sein, und dann bin ich für ihn verloren.«
Dick kratzte sich da, wo andere Menschen die Ohren haben.
»Freilich, es ist eine verdammte Geschichte. Wenn nur ein Mensch sagen könnte, ob du verfolgt wirst oder nicht! Aber niemand hier kann darüber etwas Bestimmtes behaupten, denn wir stecken schon lange in den Bergen. Wir sind natürlich der Meinung, du bist die Begum von Dschansi, und wer dich fängt oder tötet, der hat den Engländern einen großen Dienst erwiesen. Man hasst dich wie den Gottseibeiuns. Hast du Geld bei dir? Ohne Geld würdest du in bewohnten Gegenden nicht weit kommen.«
»An meinem Körper sind Diamanten verborgen.«
»Dann ist's gut, dann kannst du fliehen. Aber nimm dich in acht, dass du den versprengten Rebellen nicht in die Hände fällst, sie sind nach Norden tiefer in die Berge geflohen. Wie ich gehört habe, möchten sie dir nur gar zu gern den Garaus machen, sie nennen dich eine Verräterin.«
»Ich fürchte sie nicht, höchstens Gholab ist ein nicht zu unterschätzender Gegner, und dann fürchte ich Isabels Hinterlist.«
»Den Gholab brauchst du am wenigsten zu fürchten«, lachte Dick leise.
»So ist er tot?«
»Gefangen habe ich ihn. Hast du vorhin das Schreien gehört?«
»Ja.«
»Ich nahm mir die Freiheit, ihm beide Ohren abzuschneiden, weil er einmal über meine Ohrenlosigkeit gelacht hat. Dann habe ich ihn noch ein bisschen hier und da gezupft und gezwickt, und da hat der unverschämte Kerl die Frechheit, mir nichts, dir nichts zu sterben. So ein Schuft, mir solch einen Streich zu spielen! Ich hatte es noch so gut mit ihm vor, aber der Gauner hatte nicht ein bisschen Ehre im Leibe!«
»So ist er tot?«
»Mausetot!«
»Brahma sei Dank dafür!«, seufzte Bega erleichtert.
»Höre du, den Brahma musst du nun aus dem Spiele lassen. Du bist eine Engländerin und keine Heidin, und die Engländer beten oder fluchen nur zu Gott, meistenteils letzteres. Brahma ist ein alter Ölgötze.«
Bega hatte jetzt kein Interesse für diese sonderbaren Ansichten über Religion.
»Und Radscha Tipperah?«, fragte sie.
»Der Hund ist leider auch krepiert; er hat die blaue Bohne nicht vertragen, die ihm durch den Kopf fuhr!«
»Und Isabel?«
»Wer ist das?«
»Lady Carters Schwester, die —«
»Ach so, die alte Schraube, hm, habe von ihr gehört! War die auch mit hier?«
»Sie wollte ihre Wut an mir auslassen, nachdem sie mir mit Worten zugesetzt hatte. Euer Angriff nötigte sie zur Flucht. Ist sie gefangen oder tot gefunden worden?«
»Bis jetzt noch nicht, sie wird aber ihrem Schicksal nicht entgehen. So steht also deiner Flucht nichts im Wege. Ich wünsche dir viel Glück; es ist ein verdammt weiter Weg, den du vorhast. Und wenn ich Reihenfels sehe, so will ich ihm sagen, dass du — ja, wohin willst du eigentlich fliehen, wo dich aufhalten?«
»Das weiß ich noch nicht, ich werde Reihenfels schon Kunde zukommen lassen. Jetzt nur fort von hier!«
Die Knoten des Lederriemens wurden gelöst, auch zur Befreiung von den Handschellen wusste der erfahrene Dick Rat. Er brachte einen krummen Nagel aus der Tasche zum Vorschein, drehte ihn einige Male in der für den Schlüssel bestimmten Öffnung, die Feder ging zurück, und die Schellen fielen ab.
»So, nun bist du frei. Aber halt, die Kerle draußen könnten und würden dich anhalten. Warte noch eine Minute! So, lege die Fesseln anscheinend wieder an!«
Schon war Dick hinausgeeilt und kehrte mit einem Bündel zurück. Bega musste den baumwollenen Überwurf eines Inders anlegen, wand ein Tuch als Turban um den Kopf, sodass ihre langen Haare verdeckt wurden, und konnte nun in der dunklen Nacht recht gut für einen Mann gelten. Auch leicht zu verbergende Waffen hatte ihr der Jäger mitgebracht.
»Pferde sind überall angebunden. Nun geh mit Gott und vergiss den alten Dick nicht. Ich werde Reihenfels alles erzählen.«
Noch ein Händedruck, dann huschte Bega hinaus, nahm aber draußen einen festen, aufrechten Gang an. Niemand hielt sie an, niemand vermutete in dem ruhig dahinschreitenden Manne die verkleidete Begum.
Dick sah sie in der Dunkelheit verschwinden, dort wo die Pferde angepflockt standen. Er lauschte, hörte auch einen leichten Hufschlag, aber sonst keinen Lärm, der sicher entstanden wäre, wenn auch nur einer der Leute Argwohn geschöpft hätte.
Befriedigt schritt Dick dem Feuer zu, wo sein Topf mit Reis und getrocknetem Fleisch ihn erwartete. Dem Mädchen war die Flucht geglückt.
Die Leute sollten sich nach heißem Ritt nicht lange der Ruhe erfreuen können. Noch hockten sie dicht gedrängt um die spärlichen Feuer und wärmten die erstarrten Glieder — die Nächte in der Provinz Pandschab sind durch eisige Kälte ausgezeichnet — als ein weit vorgerückter Posten in das Lager geeilt kam und die Aufregung hervorrufende Nachricht brachte, eine starke Abteilung von bewaffneten Leuten nähere sich der zerfallenen Stadt.
Er hätte in der Ferne Rosse wiehern und Waffen klirren gehört; wer die Krieger und wie viele es seien, könne er nicht sagen. Nach seiner Instruktion durfte er nicht anrufen, sondern musste nur die Meldung sofort nach dem Lager bringen.
Nun war es die Frage, ob Feinde oder Freunde im Anzug seien. Schnell wurden die Feuer gelöscht, alles in Kampfbereitschaft gesetzt, und zehn der gewandtesten Inder, von Sirbhanga selbst angeführt, machten sich auf, um sich über den Charakter der Anrückenden Aufklärung zu verschaffen.
Flüsternd erteilte Sirbhanga seine Befehle. Die zehn Männer mussten eine langgestreckte Kette bilden und ihm in einer Entfernung von hundert Metern folgen. Er selbst wollte spionieren, die anderen waren nur zu seiner Unterstützung da, falls er solche brauchen solle. Ein Pfiff rief sie zu sich, der Kriegsruf führte alle Übrigen in den Kampf.
Schlangengleich glitt der geschmeidige Sirbhanga, Revolver und Yatagan im Gürtel, den Dolch in der Faust, über den sandigen Boden. Wie sehr er indes auch die scharfen Augen anstrengte, er konnte die Finsternis nur bis auf wenige Schritte vor sich durchdringen. Nichts war zu sehen, nichts zu hören.
Eine halbe Stunde war er schon so vorwärts gekrochen, und er gewann die Meinung, der Posten müsse sich getäuscht haben.
Aber der junge Krieger hatte seine Gewandtheit und List überschätzt, ein Schlauerer kam ihm zuvor.
Ohne dass Sirbhanga es wusste, war er an einer menschlichen Gestalt vorübergekommen, aber diese hatte ihn gesehen. Allerdings trug der Fremde einen dem Sande gleichfarbenen Anzug, Sirbhanga dagegen war in dunkle Gewänder gehüllt.
Plötzlich fiel auf den am Boden liegenden Inder ein schweres Gewicht, im Nu war ihm der Dolch aus der Hand gerungen, das Gesicht wurde ihm in den Sand gedrückt. Sirbhanga war unfähig, sich zu bewegen, er konnte nicht mehr die Genossen herbeirufen.
»Rebell oder Anglisi?«, flüsterte ihm eine Stimme ins Ohr.
Sirbhanga konnte ja nicht antworten, und der Gegner sah dies schnell ein.
»Rebell? Bewege den Kopf!«
Er schüttelte ihn, so gut es gehen wollte.
»Hältst du zu den Anglisi?«
Sirbhanga nickte, die Last löste sich von ihm, er sprang auf und stand einer Gestalt gegenüber, blickte zugleich aber auch in die Mündung eines blitzenden Revolvers.
»Eugen — Sirbhanga«, sagte da der Fremde überrascht.
»Mister Reihenfels«, flüsterte der Inder erstaunt, jetzt den Mann erkennend.
Wäre es nicht so dunkel gewesen, hätte man sehen können, wie eine dunkle Blutwelle über sein Gesicht schoss. Er war von seinem ehemaligen Lehrer, den er einst als einen Bücherwurm verspottet hatte, wie ein Kind überwältigt worden — er, Radscha Sirbhanga, der Häuptling eines Kriegervolkes.
Einige Worte verschafften Aufklärung, Reihenfels gab ein Signal, plötzlich tauchten überall dunkle Gestalten auf und eilten herbei. Es waren abgesessene Dragoner unter Colonel Atkins. Von der anderen Seite erschienen die Gefährten Sirbhangas. Diese freuten sich, statt auf Feinde auf Freunde gestoßen zu sein; letztere ärgerten sich. Sie hatten erfahren, dass in der Ruine Rebellen versteckt lägen, hatten vor Begierde gebrannt, sie anzugreifen und zu vernichten, und nun erfuhren sie, dass ihnen schon andere zuvorgekommen waren.
Reihenfels meldete Atkins kurz, dass er den anschleichenden Sirbhanga sofort erkannt habe. Sirbhanga wusste ihm Dank für diese Lüge, konnte aber ein Schamgefühl nicht überwinden, das ihn zwang, die Wahrheit zu gestehen.
»Mister Reihenfels kam mir zuvor, und wäre er mein Feind gewesen, so wäre es mir übel ergangen.«
Man achtete nicht auf die Erklärung, sondern ließ sich Aufschluss über das stattgefundene Gefecht geben. Eine starke Abteilung Dragoner erschien, die im Hintergrund sich versteckt gehalten hatte, und begleitete Sirbhanga nach der Stadt.
Nana Sahib war entkommen, desgleichen sein Weib, Tipperah war erschossen gefunden worden, Dick hatte Gholab gefangen und auf brutale Weise zu Tode gemartert.
Dann vernahm Reihenfels, dass auch die Begum sich in den Händen Sirbhangas als Gefangene befände. Sirbhanga erzählte dies nicht mit Stolz, sondern mit gesenkten Augen. Der, dem er es erzählte, war der Geliebte der Begum.
»Bega?«, schrie Reihenfels auf. »Den Himmel sei Dank, sie ist gefangen, sie lebt!«
Er flog mehr, als er ging, der Stadt zu und nötigte auch Sirbhanga zur Eile. Morrison folgte ihnen. Sirbhanga erfuhr zu seinem Erstaunen, dass Bega recht gehabt hatte. Sie war nicht jene Begum von Dschansi, diese focht vielmehr noch jetzt auf den Kampfplätzen Indiens, Bega aber wurde nicht verfolgt, sondern gesucht, damit man ihr verzeihen könnte. Havelock hatte von diesen Umständen ebenfalls keine Ahnung gehabt.
Reihenfels hörte nicht mehr auf die Erklärung, wie sich Dick mit der Truppe der Dschansinesen vereinigt hatte, weil er Gholab suchte, er dachte nur an Bega.
Endlich bezeichnete Sirbhanga ein Haus, in dem diese gefangengehalten würde, aber das Gemach, wo er sie verlassen, war leer. Der Radscha erschrak, als ihm einfiel, wie er vergessen hatte, bei der Gefangenen wieder Wächter anzustellen. Die Handfesseln konnten sie an der Flucht nicht hindern.
»Wo ist Bega?«, fragte Reihenfels mit gepresster Stimme und wollte Sirbhanga mit seinen Augen durchbohren.
»Sie scheint fort zu sein«, stammelte dieser.
»Fort?«, schrie Reihenfels. »Was soll das heißen?«
Wächter waren nicht da, niemand wollte etwas von einer Flucht wissen. Mit Blitzesschnelle verbreitete sich die Nachricht, die Begum sei entflohen, durch das Lager. Alle Dschansinesen glaubten aber noch, dies sei für Sirbhanga, der sie als Feindin gefangen, ein unersetzlicher Verlust.
Die zitternden Wächter beriefen sich darauf, von Sirbhanga keinen Befehl erhalten zu haben, bei der Begum zu bleiben, und ohne diesen hätten sie das Gemach der Gefangenen nicht zu betreten gewagt. Niemand hatte das leicht erkennbare Mädchen durch die Straßen gehen sehen; die Handfesseln und die langen Haare, auch das Panzerhemd, hätten es sofort verraten müssen, eine Verkleidung besaß es nicht. Höchstens blieb die Vermutung übrig, dass es sich versteckt hielt und eine Gelegenheit, etwa die Mitte der Nacht, zur Flucht abwartete.
»Gebt euch keine Mühe«, sagte der in diesem Augenblick eintretende Dick, »die Begum ist fort, und wenn sie es nicht nötig gehabt, zu entfliehen, so hättet ihr das ein bisschen eher sagen müssen. Fliehen war das Gescheiteste, was sie so tun konnte.«
Ein Sturm der Entrüstung erhob sich, als Dick offen sagte, dass er die Begum befreit und ihr die Mittel zur Flucht verschafft habe. Ruhig wartete er, bis die Ruhe wieder eintrat und er sich verteidigen konnte.
»Der da ist daran schuld, dass sie floh«, sagte er, auf Sirbhanga deutend; »seinen Reden musste sie entnehmen, dass sie sofort aufgehängt würde, man erwarte nur ihr Todesurteil. Eine Närrin wäre sie gewesen, wenn sie nicht geflohen wäre, und ein Schuft wäre ich gewesen, wenn ich ihr dabei nicht geholfen hätte. Sie sagte, sie sei unschuldig, ich hielt sie auch dafür, und so einem helfe ich immer, wenn ihn andere, die seine Richter zu sein sich anmaßen, auch zehnmal verurteilen. Das ist meine Ansicht, so werde ich immer handeln; wem es nicht passt, der mag es mir sagen und mit mir anbinden, und ich werde ihm zu antworten wissen.«
»Dick, wir wissen ja, dass sie unschuldig ist!«, rief Reihenfels verzweifelt. »Ich komme, um ihr die Verzeihung und noch viel mehr zu bringen, und nun erfahre ich, dass sie wieder entflohen ist! Du weißt, wie wir zusammen stehen. Wann ist sie fort? Gibt es keine Möglichkeit, sie noch einzuholen?«
Dick legte dem Frager die Hand auf die Schulter und sah ihm bedauernd ins Auge.
»Es tut mir herzlich leid, gerade Euch einen solchen Streich gespielt zu haben. Aber Flennen hilft nichts, bringt sie nicht wieder her. Ich bin schuld daran, dass sie entkommen ist — ich will auch mein Möglichstes tun, sie Euch wiederzuschaffen.«
Das war ein Trost; Reihenfels beruhigte sich. Beim ersten Morgenstrahl wollte Dick mit dem Aufsuchen von Begas Spur beginnen, und dem Trapper war wohl zuzutrauen, dass er sie fand und zu verfolgen vermochte, zumal, da jetzt die regenlose Zeit herrschte.
Reihenfels und Morrison suchten ihr gemeinsames Lager auf.
»Die Zeit ist noch nicht erfüllt, Doktor«, seufzte ersterer, »aber es ist wunderbar, wie alles zutrifft. Konnte ich sie jetzt nicht finden? Nein, es stimmte nicht mit der Prophezeiung des Fakirs überein. Wolle Gott, jene Zeit sei nicht mehr weit entfernt, und dann — was werde ich dann erleben, wenn ich mit gerungenen Händen neben Bega knie? Herr, erbarme dich ihrer und meiner!«
Feierlich wiederholte Morrison die letzten Worte. Auch der Amerikaner und August waren mit bei den Dragonern. Letzterer hatte Dick getroffen, es gab viel zu erzählen. Der Amerikaner hielt sich, wie gewöhnlich, schweigend, hatte keine Aufmerksamkeit für seine Umgebung, aber wie ein Panther sprang er auf einen Inder zu, der sein zweites, einst gestohlenes Winchestergewehr in den Händen hielt und damit prunkte.
Es war der Begum abgenommen worden, als man sie, halb verschmachtet, im Sande liegend gefunden hatte.
Der Amerikaner legitimierte sich als Besitzer, August musste ›das Buchs‹ sofort einer gründlichen Reinigung unterziehen, während der Yankee sich eingehend nach der Begum von Dschansi, deren Namen er von den Indern hatte nennen hören, erkundigte. Die Leute glaubten noch immer, die Begum habe sich ihrer Strafe durch die Flucht entzogen, man fahnde auf sie, und so erfuhr es auch der Yankee. Dann hörte er auch noch von August, dass die Begum die Besitzerin der Büchse gewesen sei, also musste sie dieselbe auch gestohlen haben.
August glaubte ganz sicher, sein Herr wisse, dass man die Begum jetzt nicht mehr als Feind verfolge, sondern sie einzuholen gedenke, um sie als Freund zu schützen und ihr Verzeihung zu verkünden. Dem war aber nicht so, der Yankee hielt sie für vogelfrei.
»Well«, sagte er zu sich selbst und rieb sich vergnügt die Hände, »die Begum von Dschansi sein eine ganz gefährliche Ueib, ich uerde es schießen tot, uenn ick sie uerde sehen. Die Anakonda hat ein anderer gemackt tot, ick uerde die Begum fangen und habe noch mehr Ruhm. Goddam, ick uerde sie schießen.«
Mit dem Entschluss, morgen sich zur Jagd auf dieses edle Wild aufzumachen, legte er sich schlafen. Wie gewöhnlich, so teilte er auch diesmal niemandem etwas von seinem Vorhaben mit.
Einige Tage später finden wir Reihenfels, Morrison und Dick in einer gebirgigen und zugleich bewaldeten Gegend wieder. Überall liegen mächtige Felsblöcke verstreut umher; tiefe und breite Erdspalten durchziehen den Grund.
Bis hierher hatte Dick die Spur Begas oder vielmehr die ihres Pferdes verfolgt. Wie ihm dies möglich gewesen, konnten sich die beiden Freunde nicht erklären; sie hatten wohl im Sande der Wüste unzählige Pferdehufe abgedrückt gesehen, aber nicht mehr hier auf dem felsigen Boden. Wie konnte Dick überhaupt wissen, dass auf dem Pferde, dem er folgte, gerade ein Mädchen, die Begum, gesessen hatte?
Er behauptete es und wiederholte es, als er die ersten Bäume erreichte und die untersten Zweige aufmerksam geprüft hatte, und dann konnten sich auch einmal die beiden anderen von der Richtigkeit seiner Annahme überzeugen.
Auf einem grasigen Platze waren Abdrücke eines kleinen Fußes wahrzunehmen, an einem Busche hing ein kleiner Fetzen eines feinen indischen Gewandes, nicht von dem groben Stoff, wie die Krieger ihn trugen, und man glaubte Dick, als er sagte, der Fetzen gehöre zu jenem Gewand, dessen Reste Bega über ihrem Stahlhemd getragen habe. Der Abdruck des kleinen Fußes war für alle sichtbar.
Ferner erzählte der Platz noch in seiner stummen Sprache, dass Bega hier an einem Feuerchen einen Vogel gebraten habe, dessen Federn noch umher lagen.
Dick berechnete aus verschiedenen Anzeichen, dass Bega am Morgen nach der Flucht hier gewesen sei.
Am zweiten Tage gegen Mittag erreichten die drei berittenen Männer eine Gegend, in welcher es für die Pferde nicht möglich war, fortzukommen, so zerrissen war der Boden. Die vielen kleinen Löcher, von spitzen Steinen eingefasst, boten für die Hufe förmliche Fallen.
Schon vorher hatte Dick gesagt, dass Begas Pferd hinke, und dass sie sich ihr von Stunde zu Stunde näherten. Woraus er dies schließen wollte, war den anderen ein Rätsel, aber Dick behauptete es ganz bestimmt.
Am Ausgang dieser zerklüfteten Gegend verlangte Dick, man sollte vorläufig die Pferde verlassen und den Weg zu Fuß fortsetzen. Man wollte den Grund hierfür wissen.
»Das Pferd des Mädchens kann hier nicht durchkommen, kaum ein gesundes und starkes, und jenes hinkt, es ist überhaupt ein elendes Tier. Wetten wir, Mister Reihenfels, dass wir es mit gebrochenem Fuße hier auffinden?«
Das war mit solcher Sicherheit gesprochen, dass man daran kaum zweifelte.
»Aber warum sollen wir unsere Tiere zurücklassen?«
»Weil wir zu langsam vorwärtskommen. Untersuchen wir erst einmal, wie lange der schlechte Weg dauert! Ist Bega zu Fuß weitergeflohen, so müssen wir das auch tun, wenn der Weg sich nicht bessert.«
Man musste seinem Rate folgen, Dick war eigensinnig. Die Pferde wurden an Bäume gebunden, es ging zu Fuß weiter. Der Weg wurde immer schlechter, er war nur mit dem Weg zu einem Krater zu vergleichen, welcher mit erkalteter Lava bedeckt ist. Wer über solch eine Lavamasse schon einmal geschritten ist, verlangt nicht zum zweiten Male danach. Die Lava bildet unregelmäßige Löcher und Erhöhungen; es ist, als ginge man auf Messerschneiden und Dolchspitzen, und ein gewöhnlicher Schuh fällt schon nach wenigen Minuten zerfetzt vom Fuße.
So war die Beschaffenheit des Bodens auch hier, ein Pferd hätte nur Schritt für Schritt, jeden Moment der Gefahr ausgesetzt, den Fuß zu brechen oder sich die Hufe zu verletzen, gehen können. Dick zeigte auf glänzende Striche, welche hier und da an den Steinspitzen funkelten — sie waren von den Hufeisen des Pferdes erzeugt worden.
»Das Pferd ist hin«, sagte Dick, »hier sind Blutstropfen. Es hat sich den weichen Huf verletzt.«
»Und die Blutstropfen sind noch ganz frisch«, rief Reihenfels, »sie sind noch rot und feucht.«
»Natürlich; habe ich denn nicht gesagt, dass wir dem Mädchen ganz nahe sind. Passt gut auf, in ein paar Minuten können wir es sehen, wahrscheinlich steht es neben dem zusammengebrochenen Pferde.«
Wahrhaftig, dort in der Ferne lag ein großer Gegenstand am Boden. Die Männer eilten so schnell darauf zu, als der Weg ihnen erlaubte, und fanden ein verendetes Pferd.
Ein Hinterhuf steckte festgeklemmt in einem Loche, der Fuß war geknickt, im Halse zeigte das Tier eine tiefe Stichwunde, welche, am richtigen Orte angebracht, den schnellen Tod herbeigeführt hatte.
Das Tier war noch warm, das Blut rauchte noch.
»Vor fünf Minuten hat sie dem Tiere erst den Gnadenstoß gegeben«, sagte Dick; »jetzt schnell, dass wir sie einholen. Nicht laut sein, sonst könnte sie uns für Verfolger halten und mit Aufbietung aller ihrer Kraft fliehen. Weiber können verdammt schnell sein, wenn sie wollen.«
Stumm eilten sie über den unebenen Boden hin, voraus Reihenfels. Sein Gesicht war dunkel gerötet, seine Brust keuchte, ruhelos irrten die Augen in die Ferne, sahen aber nicht die fliehende Geliebte. Jetzt trat ihnen ein mächtiger Felsen entgegen, den Weg teilend. Links und rechts führte je einer entlang.
Ratlos blieb Reihenfels stehen und erwartete Dick.
»Verdammt!«, knurrte dieser, die Augen am Boden suchen lassend. »Auf den Steinen kann ich wohl die Spuren der Hufeisen erkennen, aber nicht die eines flüchtigen Mädchenfußes. Kein Aufenthalt! Ihr beide rennt links hinauf, ich rechts. Wer sie sieht, der schießt, und der andere geht zurück. Schnell, kein Wenn, kein Aber, jede Sekunde ist kostbar!«
Schon rannte er den rechten Weg hinauf, Reihenfels und Morrison schlugen den linken ein. Wortlos eilten sie nebeneinanderher. Noch war nichts zu sehen.
Bald änderte sich die Gegend. Die Felsen traten zurück; nur Steingeröll lag noch herum; der Boden wurde erdiger; es kam wieder Vegetation; zuletzt sah man auch Büsche und Bäume. Die Felswand zur rechten Hand setzte sich noch fort; aus einer Spalte sprang ein munterer Quell und floss murmelnd über die Steine.
Eine unheilvolle Ahnung ergriff Reihenfels beim Anblick dieses Landschaftsbildes; kräftig drängte er sie zurück. Jetzt galt es, nicht zu ahnen und zu träumen, sondern zu handeln.
Plötzlich prallten die beiden erschrocken zurück — hinter einem Felsblock war ein Mann mit großkariertem Überrock, im Arm das Gewehr, hüben und drüben im Gesicht einen Bart, getreten — Mister Bulwer. Gleich darauf erschien auch August, seinen früheren Herrn mit einem Jubelruf begrüßend.
»Mister Bulwer«, stieß Reihenfels hervor, »wie kommen Sie hierher?«
»Yes, ick sein auf der Jagd.«
»Haben Sie ein Mädchen gesehen?«, war jetzt die wichtigste Frage.
»No, was für eine Mädchen?«
»Sie trug wahrscheinlich eine Stahlrüstung, die Begum von Dschansi, wenn Sie dieselbe kennen.«
Der Yankee zog die Augenbrauen hoch.
»Ah, die Begum von Dschansi! Ick sie auch suchen, ick uerde Ihnen helfen.«
»Da — da ist sie«, schrie August, die Hand ausstreckend. Dort, auf einer Erhöhung stand sie wirklich.
Halb abgewendet hielt sie wie abwehrend die Hand vor sich hin, zur Flucht bereit, aber sie floh nicht, wie gebannt hing ihr Auge an Reihenfels.
»Bega, meine Bega!«, jauchzte dieser auf und stürzte mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Sie floh nicht; ein unsägliches Glück verklärte ihre Züge, auch sie breitete ihre Arme dem in großen Sprüngen auf sie Zustürmenden entgegen.
Da krachte hinter ihm ein Schuss, ein Fluch, ein dumpfer Fall folgten. Begas linke Hand griff nach dem Herzen, lautlos glitt sie zu Boden, mit der Rechten noch einmal Reihenfels einen Abschiedsgruß zuwinkend.
Reihenfels stieß ein Brüllen aus wie der verwundete Tiger. Jetzt hatte er Bega erreicht. Lang ausgestreckt lag sie im Gras, die Hand auf dem Herzen, und zwischen den Fingern drang ein dunkler Blutstrom hervor.
Jammernd stürzte der Unglückliche neben ihr auf die Knie und rang die Hände. Er untersuchte sie nicht, hier gab es keine Rettung mehr — die Kugel war ihr ins Herz gegangen.
Verwirrt schaute Reihenfels auf, auch sein Herzschlag wollte stocken.
Dort stand August, die Hände entsetzt zum Himmel aufhebend, dort lag der Amerikaner am Boden, Beine und Arme weit von sich gestreckt, und neben ihm stand Morrison, die Faust, mit der er den Yankee niedergeschlagen, noch aufgehoben.
Der Fakir hatte die Zukunft richtig gesehen und geschildert.
Aber das Laub der Bäume erstarrte nicht, die sprudelnde Quelle verwandelte sich nicht in Eis, die Menschen wurden auch nicht zu Salzsäulen, wie es der Fakir im Traume gesehen, sondern Laub und Gräser bewegten sich noch und flüsterten; der Bach murmelte weiter, und in die Menschen kam wieder Leben.
Hatte der Fakir Recht, so musste er in diesem Augenblicke viele Hundert Meilen südlicher seinen Geist aushauchen — so wollte es das Verhängnis.
Morrison raffte sich zuerst auf. Er verließ den ohnmächtig am Boden liegenden Yankee und eilte zu Reihenfels; August folgte ihm unter Lamentationen.
Reihenfels rang noch immer mit verzweiflungsvollem Gesicht die Hände; er mochte das Schreckliche nicht fassen.
»Tot, tot« schrie er dem Freunde entgegen. »Das furchtbare Verhängnis hat sich erfüllt.« Auch Morrison blieb entsetzt stehen. So schlimm hatte er sich das Unheil, welches Bulwer mit seinem Schuss angerichtet, doch nicht gedacht. Ein Blick überzeugte ihn, was er zu erwarten hatte — aus dem Herzen, dem Sitze des Lebens, floss der Blutstrom unter der Hand hervor.
»O Gott, du kannst furchtbar streng sein!«, murmelte er und bedeckte die Augen, aus denen Tränen hervorstürzten. Reihenfels war in seinem Schmerze solcher nicht fähig.
»Aber sie hat ja ein Hemd aus Stahl an, ließ sich August vernehmen, »da kann doch gar keine Kugel nich durchgehen.«
»Einer Spitzkugel aus dem Winchestergewehr hält kein Panzer stand«, entgegnete Morrison. »Baue nicht auf Hoffnungen, sondern überzeuge dich, sieh hin!«
August kniete nieder und nahm die Hand von der Brust der Leblosen, als wolle er sich wirklich überzeugen.
»Nanu, hat denn der verrückte Kerl zweimal geschossen?«
»Einmal, und der verhängnisvolle Schuss genügte.«
»Das ist aber komisch. Dadervon ist die Hand auch gleich mit getroffen worden. Das Blut kommt nämlicherweise aus der Hand, aber hier«, er wischte über die Herzgegend, »herjeh, hier ist Sie ja gar kein Loch nich drin!«
Ungläubig blickten ihn die beiden an. Sie wussten nicht, was August wollte.
»Nu hört sich aber doch die Gemütlichkeit auf!«, fuhr dieser fort. »Die ist ja gar nicht tot, der ihr Puls schlägt ja so fidel wie ein Lämmerschwänzchen, und nu macht sie auch die Guckaugen auf. Was wollen Sie denn noch mehr?«
Bega hatte wirklich die Augen geöffnet, seufzte und wollte sich aufrichten. Da fiel ihr Blick auf den rothaarigen August; sie schrie erschrocken auf.
»Bega«, jauchzte Reihenfels auf und schloss die Erwachte in seine Arme, drückte sie an seine Brust und küsste sie auf Mund, Auge und Stirn.
Erst verwundert, dann misstrauisch schaute sie sich um. Sie konnte noch nicht glauben, dass dies Wirklichkeit war.
»Wo bin ich?«, flüsterte sie.
»Bei mir, bei deinem Oskar! O, Bega, nun ist alles wieder gut, nun sollst du nie wieder von mir getrennt werden. Ich schließe dich in meine Arme und nie, nie wieder lasse ich dich aus ihnen.«
»Für immer würde das wohl nicht gut gehen«, meinte August, wurde aber nicht gehört. Bega lebte. Die Kugel hatte das Panzerhemd in der Herzgegend getroffen, war abgeglitten und hatte die linke Hand gestreift. Die Wunde hatte nichts zu bedeuten, so stark sie auch blutete; nur durch den heftigen Schlag war Bega bewusstlos geworden.
»Ist es wirklich wahr, ich bin bei dir, und du bleibst bei mir?«, flüsterte sie, und immer mehr wich der Ausdruck des Schreckens dem der Glückseligkeit.
»Es ist wahr, du bist bei deinem Oskar, und nie wollen wir uns wieder trennen. Arme Bega, was hast du gelitten!«
Sie seufzte, erzitterte und wollte hastig aufstehen, Reihenfels aber hielt sie, noch immer vor ihr kniend, fest umschlungen.
»Ich muss fort.«
»Warum?«
»Wohin ich komme, bringe ich Unglück! Wer sich an mich bindet, den ziehe ich mit in die Tiefe.«
»Nein, nein, Bega, zu neuem Glück will ich dich führen.«
»Du weißt es nicht? Ich werde verfolgt.«
»Von wem?«
»Von Rebellen, wie von Engländern.«
»Du irrst; man weiß, dass du nicht jene Begum von Dschansi bist, welche zu fürchten und schadlos zu machen man alle Ursache hat.«
»Man weiß es?«
»Alles, alles!«
»Aber trotzdem werde ich noch verfolgt.«
»Nur, um dich zurückzubringen, und ich nur bin es, der dich verfolgt.«
»Sirbhanga...«
»Hat im Irrtum gehandelt, oder vielmehr Havelocks Befehl beruhte auf Irrtum. Er konnte noch nicht wissen, dass Canning dich, die falsche Begum von Dschansi, unter seinen Schutz genommen hat. Man weiß auch, dass du Eugenie, die Tochter Sir Carters bist.«
»O, Oskar, und man glaubt es?«
»Es ist schon bewiesen. Bega, ich bringe dir Verzeihung und Freiheit, ich bringe dir noch vielmehr. Gedenkst du noch jener Stunde, da du mir sagtest, dass du mich liebtest?«
»Wie kannst du so fragen!«
»Und du liebst mich noch immer?«
»Oskar!«
»Willst du mein Weib sein?«
Sie lehnte sich an seine Brust und verbarg ihr Gesicht. Ohne dass sie es gemerkt, war ihr von Morrison unterdessen die Hand verbunden worden.
Reihenfels wiederholte die Frage.
»Oskar, bedenke, wer ich bin!«
»Eugenie, Sir Carters Tochter! Willst du mein Weib sein? Schnell, jede Sekunde ist kostbar.«
»Kostbar? Warum? Was hängt davon ab? Noch werde ich von vielen für die Begum von Dschansi gehalten, noch steht mein Leben auf dem Spiele. Lass mich erst in Sicherheit sein. Noch eine schwere Zeit steht mir bevor.«
»Eugenie, höre mich«, flehte Reihenfels eindringlich, »du kannst die jetzigen Verhältnisse noch nicht erfassen, weil sie so ganz andere geworden sind. Schon einmal bist du mir entflohen, als ich dir den Namen Begum von Dschansi für immer nehmen wollte — damals in Delhi, als du aus dem Fenster sprangst. Eugenie, ich kenne ein Mittel um dich sofort in Sicherheit zu bringen, kein Engländer kann dir dann noch etwas anhaben, und wenn du auch noch von England aus verfolgt würdest.«
»Und welches ist das?«
»Sei mein Weib — jetzt — sofort!«
»Jetzt? Sofort? Du spaßest, Oskar.«
»Wie könnte ich mit so etwas Spaß treiben! Noch könnten dir Unannehmlichkeiten in den Weg treten, wenn du englischen Offizieren begegnest, welche in dir die Begum von Dschansi erkennen und nicht wissen, dass man in Delhi jetzt anders über dich denkt. Indien ist groß, die Truppen sind zu zerstreut. Doch nach der Trauung bist du Missis Reihenfels, nicht mehr die Begum von Dschansi, du hast keine politische Bedeutung mehr.«
»Trauung? Missis Reihenfels?«, wiederholte Bega — oder nennen wir sie jetzt Eugenie — träumend.
»Ja, alles ist dazu bereit«, frohlockte Reihenfels und zog sie zu sich empor, wieder in seine Arme.
»Oskar, es ist nicht möglich!«, staunte sie, aber es war ein freudiges Erstaunen.
»Nichts ist unmöglich, Miss Carter«, sagte da Morrison. »Ich bin Missionar, amtlich befugt, in den Kolonien Ehen zu schließen, den Eheschein habe ich bei mir, Tinte und Feder ebenfalls, er kann ausgefüllt werden. Nichts steht im Wege.«
»Oskar!«, konnte sie nur rufen.
»Doch, eins ist noch erforderlich, ehe wir soweit sind«, lächelte Reihenfels. Erschrocken blickte sie auf Morrison.
»Immer wieder etwas?«
»Dein Jawort. Gezwungen sollst du nicht vor den Traualtar treten, den ein Baumstumpf vertreten wird.«
»Hochzeit, jetzt wird Hochzeit gemacht!«, schrie August, dem plötzlich klar wurde, um was es sich handelte, und gebärdete sich wie ein Besessener. »Wo steckt denn nun meine Brautjungfer?«
»Sie haben wirklich einen Trauschein bei sich?«, fragte Reihenfels den Missionar. »Das geht einfacher, als ich erwartete.«
»Als ich Sie begleitete, nahm ich ihn mit, denn mir ahnte fast, dass es solch einen Abschluss geben würde, und meine Ahnung hat mich so wenig betrogen wie den Fakir seine Prophezeiung bis zum gewissen Punkte...«
»Aber Trauzeugen fehlen...«
»Bitte mich als solchen zu nehmen«, sagte August mit einer Verbeugung. »Weiße Handschuhe habe ich freilich nicht, die könnte ich aber vielleicht durch meine Strümpfe ersetzen. Und sehen Sie, Mister Pulver geruht sich zu erheben, das ist die fehlende Trauzeugin. Wir hängen ihm ein Betttuch um, was freilich nicht vorhanden ist, reißen ihm den Kotelettenbart aus, und das Mädchen ist fertig. Aber das sage ich gleich, heiraten tue ich meine Brautjungfer nicht, denn die ist imstande, mir die Kehle durchzuschneiden und aufzuschreiben, was für Grimassen ihr Mann beim Sterben schneidet. Pfui Deibel!«
»Wir haben dies alles nicht nötig«, wandte sich Morrison lächelnd an Reihenfels, »ehe ich von Delhi fortging, unterschrieben sich schon, wie ausgemacht, Lord Canning und Miss Atkins als Trauzeugen. Müssten sie eigentlich auch dabeisein, und ist es auch nicht ganz in der Ordnung, sich schon im Voraus zu unterzeichnen, so kennt doch Not kein Gebot. Wir sind in Indien, das Land ist im Kriegszustande, und was wir tun, können wir verantworten — ich als Missionar, Lord Canning wird wohl nicht zur Verantwortung gezogen werden, ebenso wenig Miss Atkins. Mister Reihenfels, Miss Carter, Baroness von Nottingham, bereiten Sie sich vor.«
Es legte ihm jemand die Hand auf die Schulter — der Amerikaner, der sein Notizbuch in der Hand hielt. Sein Gesicht war so gleichgültig wie sonst, kein Zorn, keine Erregung darin zu lesen.
»Goddam. Sir, Sie haben mich geschlagen uie einen Ochsen zu Boden.«
»Ich bin gern bereit, dasselbe nochmals zu tun.«
»Sie seien grob. Ick fordere Genugtuung.«
»Ich verweigere sie Ihnen.«
»Sie sein kein Gentleman.«
»Ich bin Engländer, ich verwerfe das Duell als eine Albernheit.«
»Uir uerden losen, uer von uns beiden sich uird schießen tot.«
»Halt, stop«, mischte sich August ein, »erst lassen Sie die Hochzeit vorübersein, dann dürfen Sie sich totschießen das heißt, nur Sie, Mister Pulver.«
»Hochzeit, he? Der Kerl ist verrückt. Uo ist die Ueib, die Begum von Dschansi? Ick habe sie geschossen tot, und ick uill sie sehen sterben. Ick habe noch nie gesehen sterben ein Ueib.«
»Dort steht sie.«
»Uah«, brachte nur der Amerikaner hervor, als er die beiden liebevoll umschlungen stehen sah, was er vorher noch nicht bemerkt hatte.
»Uah«, äffte ihm August nach, »das sein die Braut von Mister Reihenfels und uird ihn direktemang auf der Stelle heiraten. Passt Ihnen das nicht, dann heben Sie sich gefälligst von hinnen.«
Der Amerikaner staunte doch, als ihm Morrison jetzt die nötige Aufklärung gemacht.
»Goddam, ick denke, Mister Reihenfels uill die Begum schießen tot, und er uill sie nur heiraten. Goddam, das ist serr schade!«
»Was ist schade?«
»Dass ick kann sie nicht sehen sterben, ick hätte sie so serr gern gesehen sterben. Ick habe mich so gefreut darauf, die Begum zu schießen tot.«
»Wusstest du denn nicht, August«, fragte Morrison diesen, »mit welchen Absichten Mister Bulwer umging?«
»I Gott bewahre! Ich denke, er will nur Rebellen oder Wild jagen. Hätte ich dadervon etwas geahnt, dass er auf die Begum lauert, da hätte ich ihm doch das Gewehr weggenommen oder die Patronen gelegentlich im Wasser aufgeweicht.«
»Das ist mir serr, serr fatal!«, sagte der Amerikaner und steckte niedergeschlagen das Notizbuch ein.
»Sie bereuen also, auf das Mädchen geschossen zu haben? Das freut mich wenigstens.«
»O no, ick hätte sie zu gern sterben sehen.«
Reihenfels und Eugenie hatten von dieser Unterhaltung nichts vernommen. In träumender Seligkeit lagen sie einander in den Armen, blickten sich ins Auge, und ihre Lippen suchten und fanden sich. Ein Himmel voll Glück eröffnete sich ihnen, Eugenie sah ihn offen, auch wenn Reihenfels ihr nicht zugeflüstert hätte, dass sie nun nichts mehr zu befürchten habe.
Was konnte ihr geschehen, wenn sie an seiner Seite war! Und was auch geschehen wäre, sie hätte keinen Schmerz, kein Unglück gefühlt, wenn sie es mit ihm teilte!
Morrison störte und trennte sie, um sie nur fester zu verbinden.
Sie fanden einen Baumstumpf, der den Altar vertreten sollte. Es waren keine Trauzeugen nötig, Bulwer und August folgten aber dem Priester und dem vorausschreitenden Paare, das hier unter freiem Himmel vorschriftsmäßig zum heiligen Bunde vereint werden sollte.
Es wurde schon einmal erwähnt, dass in England zwischen der Trauung in der Kirche und der auf dem Standesamt fast gar kein Unterschied ist. Beides sind feierliche Handlungen, hier wie da dieselben langen Formeln, welche nachgesprochen werden müssen — auf dem Standesamt fällt nur die Predigt fort, aber die Trauung selbst vollzieht ebenfalls ein Priester. Mit den Worten: Put the ring on her finger — steck den Ring an ihren Finger — ist die Handlung beendet, sie sind Mann und Frau. Der Ring kann ein ganz beliebiger sein, nur der Mann steckt der Braut einen solchen an den Goldfinger der linken Hand, wo sie ihn immer trägt.
Hand in Hand traten sie vor den natürlichen Altar. Morrison hielt keine einleitende Predigt. Was diese beiden durchgemacht hatten, war nicht in Worte zu kleiden, sie brauchten auch keine Belehrung darüber, was die Ehe zu bedeuten hatte.
Nachdem Morrison gefragt hatte, ob sie beide Mann und Frau werden wollten, was sie nicht mit Ja, sondern mit I will — ich will — beantworteten, sprach er erst Reihenfels, dann Eugenie die Formeln vor, welche Satz für Satz wiederholt werden mussten.
Reihenfels versprach, seiner Frau stets Liebe und Treue zu wahren, sie nie zu verleugnen und nie zu sagen, dass er unverheiratet sei.
Eugenie versprach dasselbe in Bezug auf Reihenfels und fügte noch hinzu, dass sie ihm gehorsam sein wolle.
»So steck den Ring an ihren Finger!«, schloss Morrison.
Reihenfels zog den einzigen Ring, den er trug, einen Siegelring, ab und steckte ihn Eugenie an. Hiermit waren sie rechtlich Mann und Frau; den vom amtlich angestellten Missionar zusammengefügten Ehebund musste jeder respektieren.
»So steck den Ring an ihren Finger!«, hatte Morrison gesagt, und gleichzeitig erscholl ein wildes, dämonisches Lachen.
Niemand von den fünfen hatte bemerkt, dass noch ein Beobachter zugegen war.
Hinter einem Busch blickte das Gesicht eines Weibes hervor, ein Gesicht, entstellt von furchtbaren Schmerzen und grenzenlosem Hass. Sie hatte Zähne und Lippen fest zusammengepresst, als ob sie dadurch verhindern wolle, vor Schmerz laut aufzuschreien, aber ihre Augen leuchteten vor Hass. Eben hatte sie noch wie im Fieber gebebt, jetzt, als sie nach den letzten Worten des Priesters so grell auflachte, hob sie einen Revolver, und plötzlich zitterte die Hand nicht mehr.
»Und dies ist mein Glückwunsch zur Vermählung!«, schrie sie gellend und schoss den auf die junge Frau gerichteten Revolver ab.
Die Kugel hätte den Kopf Eugenies wohl nicht verfehlt, wenn nicht im gleichen Moment die bewaffnete Hand hochgeschlagen worden wäre. Sie wurde mit festem Griff gepackt, der Revolver der Hand entwunden.
»Dachte ich mir doch, dass wieder eine Teufelei dahinter steckte!«, rief drohend der Mann, der das versteckte Weib lange beobachtet und ihre Schandtat zur rechten Zeit vereitelt hatte.
Es war Dick Red, der durch den Schuss des Amerikaners herbeigerufen wurde. Wohl wunderte er sich darüber, was für Veranstaltungen dort zwischen Reihenfels und dem endlich gefundenen Mädchen getroffen wurden — für ihn ganz rätselhaft — aber sein scharfer Blick bemerkte auch das von Wut verzerrte Gesicht hinter dem Busch, und die Besitzerin desselben durfte er vor allen Dingen nicht aus dem Auge lassen. Unbemerkt schlich er sich ihr näher, und wie gut war das gewesen! Sonst hielte Reihenfels die Braut — oder vielmehr die junge Frau — jetzt tot in seinen Armen.
Niemand anderes aber war jenes Weib als die während der Flucht von den Ihrigen abgeschnittene Isabel.
Sonderbar, wie sie sich verhielt!
Nur einen Blick voll unsäglicher Wut warf sie auf den kleinen Roten, einen anderen voll Hass auf das herbeieilende Paar, dann öffnete sie den Mund, aber nicht, um Flüche und Verwünschungen auszustoßen, sondern um in ein gellendes Schmerzgeschrei auszubrechen. Gleichzeitig wälzte sie sich wie in Krämpfen am Boden; ihre Glieder zuckten, vor dem Munde stand Schaum.
Den Umstehenden sträubten sich die Haare vor Entsetzen. Noch nie hatten sie einen Menschen sich so schrecklich gebärden sehen. Ein innerer Schmerz musste ihr alles durchwühlen. Niemand wusste, was ihr fehlte, was ihr solche Schmerzen verursache, niemand kannte das magere, entstellte, mit Lumpen bedeckte Weib — mit Ausnahme Eugenies.
»Oskar, kennst du sie?«, flüsterte sie, die Unglückliche mit erschrockenen Augen anstarrend.
Dieser schüttelte den Kopf.
»Es ist Isabel, meiner Mutter Schwester — die Duchesse!«
Reihenfels prallte einen Schritt zurück. Das also war das Ende der Herrlichkeit, wahrscheinlich das Ende des prachtliebenden, stolzen, ehrsüchtigen Weibes selbst, dies die Folge ihrer Intrigen.
»Um Gottes willen«, sagte er erschüttert, »was ist hier geschehen? Ich weiß nicht, wie ich ihr helfen soll!«
»Vor fünf Sekunden hatte sie noch die ruhigste Hand«, erwiderte Dick. »Wäre ich nicht gekommen, sie hätte wie ein Kunstschütze dem Mädchen da den Kopf mit der Kugel zerschmettert, und nun ist sie mit einem Male nur noch ein Häufchen Unglück. He, Frau, wo tut's Euch denn weh?«
Er bückte sich und fasste sie so zart wie möglich an, aber sie entwand sich seinen Händen unter konvulsivischen Zuckungen, als bereite ihr jede Berührung nur noch furchtbarere Schmerzen. Ihr Geschrei war entsetzlich.
»Serr gut!«, sagte der Amerikaner dagegen vergnügt, zog sein Buch hervor und begann Notizen zu machen.
»Hier muss geholfen werden!«, meinte Morrison. »Wir können sie nicht hilflos sterben lassen. Dick, wir wollen sie erst einmal zur Ruhe zwingen!«
Vergebliche Mühe — man durfte sie nicht anfassen; Isabel schrie wie eine Wahnsinnige auf und kratzte und biss wie ein wildes Tier um sich, allerdings unabsichtlich. Ihr Ärmel war bei den heftigen Bewegungen von oben bis unten aufgerissen, ein magerer, fast fleischloser Arm kam zum Vorschein, am Gelenk eine hohe, rote Geschwulst zeigend, die wie aus lauter einzelnen Punkten zusammengesetzt war.
»Das ist die Ursache ihrer Schmerzen!«, rief Morrison. »Was ist das? Ein Krebsgeschwür?«
Reihenfels schlug sich plötzlich vor die Stirn. »Ich weiß. Sie hat sich Morphium eingespritzt. Es ist eine Morphiumsüchtige.«
Das Wort musste Isabel ans Ohr gedrungen sein; in ihr Schreien mischten sich verständliche Silben.
»Morphium — gebt mir Morphium — oder tötet mich!«, heulte sie und fuhr fort, um Morphium zu flehen oder sich von der Hand der Umstehenden den Tod zu erbitten.
»Wir kommen zu spät, hier ist keine Rettung mehr möglich, es sei denn, es führe jemand Morphium bei sich.«
Reihenfels sah sich vergebens im Kreise um; wer hätte auch dieses höllische Mittel, das nur in der Hand des erfahrenen Arztes zur segenbringenden Arznei wird, bei sich getragen?
Aus Isabels Reden, so irrsinnig sie auch klangen, vernahm man noch mehr.
Sie hatte ihren Vorrat von Morphium, den sie mehr als ihr Leben gehütet, vor zwei Tagen auf der Flucht verloren. Schon seit gestern litt sie an Anfällen, die dadurch entstehen, dass dem einmal an das Gift gewöhnten Körper solches nicht mehr zugeführt wird; immer häufiger wurden die Anfälle, immer furchtbarer die Schmerzen — sie wollte sterben, und sie konnte noch nicht, wimmernd flehte sie das Mitleid der Umstehenden an, ihr den Tod zu geben.
»Dies wird ihr letztes Leiden sein«, sagte Reihenfels erschüttert. »Ich kenne das Ende der Morphiumsüchtigen.«
Isabel raste, sie sah Visionen.
»Dort — dort steht er — Dollamore — er hat es mir prophezeit — das ist seine Rache — verflucht sei er!«, keuchte sie. »Tötet mich — tötet mich!«, jammerte sie dann wieder. »Eine Kugel durch den Kopf — um Christi Barmherzigkeit willen — eine Kugel—«
>Dick hob den Revolver, aber energisch wehrte Mister Bulwer, der mit begierigen Blicken die Zuckungen des Weibes beobachtete, ihn ab.
»Nix schießen«, sagte er drohend, »serr gut das! Ick habe noch nie eine Ueib so sehen sterben. Ick uerde es beschreiben im New Yorker ›Herald‹.«
»Zum Teufel«, rief Dick, »man erschießt jeden Hund und jedes Pferd, das man leiden sieht, da will ich auch an der keine Kugel sparen, wenn sie auch keinen Schuss Pulver wert ist!«
Aber Morrison fiel ihm in den Arm.
»Haltet ein, Dick, bedenkt, was Ihr tun wollt. Ihr dürft keinen Menschen töten, das ist Gottes Gebot!«
»Nanu! Auch nicht, wenn er sich so in Schmerzen krümmt?«
»Auch dann nicht! Ja, nicht einmal die Waffe dürft Ihr ihm in die Hand geben, wenn er sie zum Selbstmord begehrt.«
»Das ist eine verdammte Grausamkeit! Ist dies wirklich wahr, Mister Reihenfels?«
»Auch ich denke so«, sagte dieser ernsthaft.
»Dann spare ich den Schuss! Aber diesem schuftigen Amerikaner möchte ich am liebsten eins aufbrennen, dass er so gleichgültig daneben sitzt und alles aufschreibt.«
»Lass ihn gewähren. Wenn seine Beschäftigung auch nicht unsere Achtung verdient, so ist sie doch nicht unnütz. Mister Bulwer wird berichten, wie eine Morphiumsüchtige stirbt, wenn sie nicht mehr in den Besitz von Morphium gelangen kann, und denen, die diesem Laster frönen, wird ein furchtbares Exempel statuiert. Lass ihn nur jede Zuckung und jeden Seufzer notieren — wir können nicht helfen.«
»Es ist zu furchtbar!«, hauchte Eugenie.
»Komm fort von dieser Unglücksstelle, mein Lieb!«, sagte Reihenfels zärtlich zu ihr, sie umschlingend und beiseite führend. »Beginnt unser Gang durchs gemeinsame Leben auch nicht mit Scherz und Tanz, wie es sonst bei Hochzeiten üblich ist, sondern mit einem entsetzlichen Schauspiel, so wollen wir dies doch nicht als schlimme Vorbedeutung auffassen.«
»Im Gegenteil, es ist ein Fingerzeig des Himmels. Das Gute siegt, das Böse geht zugrunde!, ruft uns eine allmächtige Stimme vernehmlich zu, wir wollen es beherzigen — und Gott für seine Güte danken!«
Sie ruhten Brust an Brust und sprachen von einer herrlichen Zukunft. Was hätte es geholfen, wenn sie neben der Sterbenden standen? So hatte es kommen müssen, denn alles Böse rächt sich schon hier auf Erden. Die, welche ihr Unglück gewollt hatte, trat jetzt einen weiten Weg an, der sie vor den ewigen Richter brachte.
Morrison störte die beiden zuerst.
»Es ist vollbracht!«, sagte er. »Sie hat ausgelitten. Mit einem Fluche schied sie von dieser Welt — er galt Nana Sahib, ihrem Manne. August und Dick sind schon dabei, ihr die letzte Ruhestätte zu bereiten.«
Als dies geschehen war, wurde die Tote in das einfache Loch gelegt, so, wie sie war, denn was konnte man hier für sie anderes tun, und die Erde wurde mit den Händen über die Entseelte geworfen, deren ganzes Leben auf die Befriedigung ihrer Herrschsucht, ihres Hasses und ihrer Rache gerichtet gewesen. Ein kurzes, stummes Gebet, dann war die Feierlichkeit beendet; ein aus zwei Ästen zusammengebundenes Kreuz bezeichnete die Stelle, wo Isabel, die Tochter des Generals Bettinson, Ayda, die Gemahlin des allmächtigen Maharadschas Nana Sahib, den ewigen Schlaf schlief.
Jetzt erst schenkte Dick dem wiedergefundenen Mädchen seine Aufmerksamkeit und war nicht wenig erstaunt, sie so zärtlich von Reihenfels behandelt zu sehen, und nun gar erst, als er erfuhr, dass die beiden vor wenigen Minuten getraut worden waren.
»Potztausend, Ihr habt's aber eilig gehabt. Na, wenn's Euch nicht geniert, mich geniert's nicht. Da war's nur gut, dass ich noch rechtzeitig dazukam, ehe Euch die alte Hexe ihren Glückwunsch brachte.«
Pferdegetrappel erscholl; eine Schwadron Reiter erschien, stutzte beim Anblick der bewaffneten Männer und kam dann vorgesprengt. Es waren Engländer, und an ihrer Spitze ritten Mac Sulivan und Russell. Sie hatten die Freunde erkannt und umringten sie.
»Wir kommen von Delhi«, erzählte Russell, »um die zerstreuten Truppen zusammenzuholen. Hier gibt's doch nicht mehr viel zu tun; aber in Gwalior ist der Aufstand von Neuem ausgebrochen, Radscha Skindiah hat sich von seinen Leuten täuschen lassen. An der Spitze steht die Begum von Dschansi, sie verbreitete überall Schrecken. Ja, wenn erst die einmal ins Gras gebissen hätte! Alle Teufel, was ist das?«
Die letzten Worte bezogen sich auf Eugenie. Er hatte erst jetzt die sich hinter den anderen haltende Eugenie bemerkt, und alte Erinnerungen wurden in ihm wach.
»Die Begum von Dschansi!«, schrie er dann, den Degen ziehend, und wie elektrisiert griffen alle Reiter nach den Waffen.
»Wo?«, fragte Reihenfels gleichmütig. Fassungslos starrte Russell ihn an.
»Wenn das nicht die Begum ist, welche mich einst überwältigte und mich wie ein kleines Kind auszog, so will ich hängen.«
»Hängen Sie sich lieber nicht auf! Das ist Missis Reihenfels, meine Gattin.«
»Mister Reihenfels, wenn ich Sie nicht so genau kennte, ich würde Sie — seit wann sind Sie denn verheiratet?«
»Seit meiner Hochzeit. Glauben Sie mir nicht? Sehen Sie, hier ist mein Trauschein.«
Sulivan und Russell blickten in das ihnen unter die Nase gehaltene Dokument. Reihenfels benahm sich so sonderbar, er war so gut aufgelegt.
»Lord Canning und Miss Atkins als Trauzeugen — wahrhaftig. Was aber in aller Welt machen Sie denn hier?«
»Ich bin auf der Hochzeitsreise.«
»Hier zwischen den Rebellen, in den Bergen?«
»Die Luft ist in den Bergen sehr gesund.«
Die beiden Offiziere wussten, dass Reihenfels nur Scherz trieb, aber der Trauschein — dann wieder das Mädchen, oder vielmehr die junge Frau im Panzerhemd. Sie war ohne Zweifel die Begum.
Plötzlich stieß Russell einen Schrei der Überraschung aus und deutete auf eine Stelle im Trauschein.
»Eugenie Carter — nun weiß ich alles.«
»Sie ist es, welche Lord Canning suchen lässt, freilich nicht hier«, fügte Sulivan hinzu.
»Das wird sie wohl sein«, sagte Reihenfels, »früher hieß meine Frau Eugenie Carter, Baroness von Nottingham.«
Mit offenem Munde staunten die beiden Offiziere Eugenie an. Es war in Delhi schon ziemlich alles bekannt. Das war das geraubte Kind Sir Carters, das Weib, welches die Rolle der Begum von Dschansi gespielt hatte, jedoch nicht zu verwechseln war mit jenem Weibe, welches im Innern Indiens noch immer wie ein Löwe kämpfte, und dessen Person noch immer vom Dunkel umhüllt war.
»Goddam!«, brachte Russell hervor, »und Sie sind doch jenes Weib — jene Dame, wollte ich sagen, welche mich damals im Lager überwältigte?«
»Ich war es«, lächelte Eugenie.
»Und die mich auszog. Es war verdammt hart für mich.«
»Ich will's nicht wieder tun.«
»Das wollen wir hoffen«, lachte Reihenfels. »Glauben Sie denn nun, dass dies Eugenie Carter und meine Frau ist?«
»Ja, nun glauben wir's, und wir bringen unseren Glückwunsch dar, zugleich unser Hochzeitsgeschenk. Wissen Sie was?«
»Nun?«
»Eine frohe Nachricht, Wir bringen wirklich etwas.«
»Und das wäre?«
»Wir bringen Ihnen zum Hochzeitsgeschenk, Missis Reihenfels, Ihre Eltern. Sir und Lady Carter sind von den Toten auferstanden, befinden sich gesund und wohl aufgehoben in Delhi und hoffen nur auf Nachricht von ihrer wiedergefundenen aber sich versteckt haltenden Tochter.«
Mit einem Jubelruf warf sich Eugenie dem Geliebten an die Brust, ihr Glück war jetzt vollständig.
Reihenfels hatte mit seinem Freund Morrison Delhi noch nicht lange verlassen, als Lord Canning zwei Personen gemeldet wurden, die sich durchaus nicht abweisen lassen wollten.
»Es sind zwei Fakire, glaube ich«, meinte der Diener, »der eine sieht zwar mehr wie ein Chinese aus, ist aber ebenso mager, elend und zerfetzt wie sein Gefährte.«
»Haben sie keine Namen genannt?«
»Sie sagten sie zwar, aber es sind ja Fakire, da hörte man nicht darauf.«
Der vielbeschäftigte Canning fand dennoch Zeit, Bittende zu empfangen, und so wurden auch die beiden vorgeführt.
Es waren allerdings elende Gestalten, nur noch Knochen und Haut, mit tiefliegenden Augen und mit Fetzen bedeckt. Einer davon war unverkennbar ein Chinese, der andere ein Inder, doch seine Haut war nicht mehr braun, sondern aschgrau.
»Was wollt ihr?«, fragte Canning kurz, die ihm Unbekannten musternd.
»Hat dir dein Diener nicht unsere Namen genannt?«
»Nein, er hat sie sich nicht gemerkt.«
»Wenn du sie gehört hättest, würdest du uns vor Ungeduld entgegengeeilt sein. Wir sind Kiong Jang und Hira Singh.«
Wie elektrisiert sprang Canning auf. Das war allerdings eine Nachricht, die er nicht erwartet hatte. Wohl hatte man die beiden, ebenso wie das wandernde Feuer in den unterirdischen Gängen gesucht, aber vergebens.
Er sagte, wie er schon von Reihenfels ihre Befreiung aus Timur Dhars Gefangenschaft durch die Begum und August, wobei Kulwa und Phangil behilflich waren, erfahren hätte, nun wollte er das Andere wissen.
»Wir haben noch eine schwere Zeit durchgemacht«, begann Kiong Jang zu erzählen. »Nach Kulwas Tod war mit Phangil nichts mehr anzufangen, er antwortete nicht mehr, schien überhaupt nichts zu hören. So erfuhren wir nicht, wo sich der Ausgang aus den unterirdischen Gängen befände. Übrigens lag ich krank an den erlittenen Verletzungen, Hira Singh verfiel in ein heftiges Fieber, und so mussten wir beiden Kranken uns gegenseitig pflegen. Nur an Nahrung fehlte es uns nicht, denn wenn dir Reihenfels alles erzählt hat, so weißt du auch, wie jene unterirdischen Bewohner von Krokodilen mit Fischen versorgt wurden.
Als wir gesund waren und in Phangil dringen oder ihn unter Umständen zwingen wollten, uns den Ausgang zu zeigen, starb dieser, und nun waren wir ganz auf uns selbst angewiesen. Wir begannen zu suchen. Aus zerschnittenen Lumpen machten wir uns Stricke, um uns nicht zu verirren. Doch wir wollen nicht von uns sprechen. Dass es uns gelungen ist, den Ausgang zu finden, siehst du.
Während wir so in den Gängen hin und her irrten — wir wissen nicht, wie viele Tage oder Wochen — hörten wir manchmal dasselbe Geräusch, was wir schon während unserer Krankheit zu vernehmen geglaubt hatten. Es war ein Heulen und Schreien, manchmal wie das Wimmern eines Kindes, und Phangil fürchtete sich jedes Mal davor. Dann bekamen wir auch einmal das Wesen zu sehen, welches solche unheimliche Laute ausstieß. Es war — — —«
»Das wandernde Feuer«, ergänzte Canning, dessen Augen erwartungsvoll an den Lippen des Erzählers hingen.
»Ja, es war Sir Carter, fast ebenso aussehend, wie damals, als ich ihn im Felsentempel der Kali zurückließ, nur noch verwilderter und schrecklicher. Der Wahnsinn sprach aus seinen Augen, und wir hüteten uns, von ihm erblickt zu werden, sonst wäre wohl die Keule, die er trug, auf unsere Köpfe geschmettert.«
»Und sahst du kein Weib bei ihm?«
»Nein, damals nicht.«
»Aber später?«
»Ich komme gleich dazu. Oftmals kehrten wir unverrichteter Sache zurück; denn jeder abzweigende Gang musste einzeln untersucht werden, von diesem abzweigende wieder einzeln. Niedergeschlagen machten wir uns heute — oder es mag auch gestern gewesen sein — daran, den letzten zu verfolgen. Führte uns dieser nicht dem Ausgang zu, so waren wir verloren. Als wir vordrangen, hörten wir in der Ferne wieder die seltsamen Laute, doch diesmal klang es mehr wie ein Stöhnen. Es wurde immer lauter, je weiter wir schritten, daher bewegten wir uns darauf zu. Aber den Tod hatten wir doch vor Augen, also gingen wir, nachdem wir die Fackeln gelöscht, tastend weiter.
Da leuchtete uns plötzlich seitwärts ein Licht entgegen. Es war kein Gang, sondern nur eine Nische, eine Fackel steckte in der Wand, beleuchtete nicht nur einen, sondern zwei Menschen; der, welcher am Boden lag und so schrecklich stöhnte, war das wandernde Feuer, über ihn aber bog sich ein bleiches Weib...«
»Lady Carter!«, rief Canning außer sich.
»Es kann wohl niemand anders sein. Erkannt habe ich sie freilich nicht, denn sie sah geisterhaft bleich aus, nicht mehr so wie früher. Was sie machte, konnte ich nicht sehen, wir hielten uns auch nicht auf. Wir dachten, der Mann wäre von einem Anfall heimgesucht worden; im nächsten Augenblick konnte er ja aufspringen, uns sehen und niederschlagen. Wir eilten weiter, erreichten eine Treppe und fanden ein erweitertes Kellerloch, das auch die Begum benutzt hatte, und waren im Freien.«
»Findet ihr euch dahin, wo ihr die beiden gesehen habt?«
»Mit Leichtigkeit. Dazu wollen wir dich und einige Männer holen; denn wahrscheinlich gilt es, einen Tobsüchtigen zu überwältigen.«
»Wenn er aber nun immer seinen Aufenthaltsort wechselt?«
»Soviel wir in dem Augenblick sehen konnten, war die Nische mit Fellen und Decken belegt, auch Krüge und sonstige Gerätschaften standen herum, Holz war aufgespeichert, also musste dort sein ständiger Aufenthalt sein.«
»Sie leben und können gefunden werden, dem Himmel sei Dank dafür!«, rief Canning aus.
Eine halbe Stunde später krochen unter Führung Hira Singhs und Kiong Jangs Lord Canning und einige starke, entschlossene Männer durch das bezeichnete Loch. Sie waren weniger mit Waffen als vielmehr mit Stricken versehen.
Ein langes Band aus zerschnittenen Kleidungsstücken hergestellt, bezeichnete den Weg, den die beiden genommen hatten, und nicht lange dauerte es, so drang an ihre Ohren ein schwaches Wimmern und Stöhnen.
Große Lichter in die Höhe haltend, näherten sich die Männer furchtlos dem Ort, woher die Laute kamen. Lichtschein fiel ihnen entgegen, und da sah Canning das von dem Chinesen geschilderte Bild.
Ein in Felle gehüllter Mann mit langem, weißem Haupt und Barthaar lag am Boden, neben ihm kniete ein Weib, auch nur mit Fellen und Decken bekleidet, tauchte einen Fetzen Tuch in einen Napf mit Wasser und legte den kühlenden Umschlag auf die Stirn des Wimmernden.
Was Kiong Jang nicht bemerkte, das sah Canning. Wohl mochte dieser Mann wahnsinnig sein, augenblicklich lag eine äußerliche Verletzung vor. Umherliegende Fetzen waren blutig; die Frau wollte das aus der Stirn hervorquellende Blut stillen.
Sie hatte ein Geräusch gehört, wendete den Kopf, erblickte die Männer und stieß einen Schrei aus. Schrecken und Freude lagen zugleich darin.
Im Nu war Canning vor sie hingetreten.
»Lady Carter!«
Ein Schrei nur war die Antwort.
»Kennen Sie mich? Ich bin der Freund Ihres Gatten, ich bin Lord John Canning.«
Emily griff nach dem Herzen; doch schnell hatte sie sich wieder aufgerafft.
»Gelobt sei Gott, wir sind gerettet!«, flüsterte sie. »Aber erst helft ihm, er stirbt mir unter den Händen.«
Von Wahnsinn war bei ihr keine Spur zu merken, und jetzt war keine Zeit, Fragen zu stellen und Erklärungen zu geben. Hier musste geholfen werden. Man trug den Verwundeten, welcher zwar ohnmächtig war, jedoch wie aus innerem Schmerz stöhnte, dem Kellerloch zu, transportierte ihn vorsichtig hinaus und hob ihn in den unterdes schon herbeigeholten Wagen. Ehe Emily diesen mit Canning bestieg, stürzte sie auf die Knie, hob die Hände zum blauen Himmel auf, küsste die Erde, lachte jubelnd auf und brach dann in Tränen aus.
Eine staunende Menge umstand das Portal des Gouvernementspalastes, als vier Männer die seltsame Gestalt aus dem Wagen hoben und die Stufen hinauftrugen; staunend betrachtete man das folgende, sich auf den Arm des Gouverneurs stützende Weib, dessen Antlitz die Weiße des Marmors besaß, und dessen Aussehen und Kleidung ebenso verwildert waren wie die des Mannes.
Ebenso verwundert trat der schon anwesende Arzt an das Bett des Ohnmächtigen.
»Das wandernde Feuer!«, flüsterte Canning, und der Arzt hatte sich schnell gefasst.
Die Wunde an der Stirn rührte von einem Sturz her, wie Emily bestätigte; sie war an sich unbedeutend, was aber im Innern des Kranken vor ging, konnte der Arzt nicht sagen — er hatte es mit einem Wahnsinnigen zu tun. Carter lag in tiefer Ohnmacht da, doch entquollen dem halbgeöffneten Munde noch immer wimmernde Töne.
»Es wird eine Krisis eingetreten sein«, meinte der Arzt. »Wenn eine Gehirnerschütterung vorliegt, so wird der Kranke bei vollem Verstande erwachen, oder — er erwacht überhaupt nicht mehr.«
Doch das Letztere bekam nur Canning zu hören, nicht Emily. Diese war voll froher Hoffnung, ihren Gatten geheilt und geistig normal in die Arme schließen zu können, und der Gedanke daran, bewog sie, das Krankenbett zu verlassen und aus sich wieder einen Menschen zu machen.
Als Canning sie nach einigen Stunden wiedersah, erkannte er wieder Lady Carter, wenn auch die letzte Zeit ihr schrecklich mitgespielt hatte. Das Haar war nicht mehr aschblond, sondern silbern, sie hatte in dem letzten Jahr um zehn gealtert, am meisten in den letzten Monaten.
Canning bekam eine grausige Leidensgeschichte zu hören. Er fragte sich, ob die Erzählerin dies nicht alles nur geträumt habe.
Sie sah ihren Gatten zum ersten Male wieder, und zwar in jener Gestalt, wie er jetzt auf dem Bett lag, als sie an der Wand gefesselt, dem Gastmahl im Hause der Duchesse beiwohnen musste. Die Gäste flohen; er erwürgte die auf ihn einspringenden Hunde; mit einem Ruck riss er den Ring aus der Mauer, hob Emily auf seinen Arm und entfloh in den Keller. Vor ihm her jagte eine Inderin, die sich von einem Feuergeist verfolgt glaubte.
Sie nahm den Weg durch den Keller, ein Schrei, und plötzlich war das Weib verschwunden, Carter aber sprang mit einem Satze über das Loch, welches sie verschlungen hatte. Wäre das Weib nicht zuvor auf die Falltür getreten, so wäre Carter mit seiner Last hinabgestürzt.
Wie Emily in die unterirdischen Gänge, die sie nie wieder verließ, gekommen war, wusste sie nicht zu sagen. Als sie aus ihrer Betäubung erwachte, lag sie auf den Knien des wilden Mannes, der sie herzte und küsste. Ihrer Freude folgte bittere Enttäuschung. Allerdings musste sie diesen Mann nach Reihenfels' Aussage für ihren unglücklichen Gatten halten, ja, sie vermochte ihn noch zu erkennen, aber keine Spur wies daraufhin, dass er sich selbst oder sie noch gekannt hätte. Er konnte nicht mehr sprechen, nur grunzen und schreien, wusste nichts mehr von Sir Carter und seiner Gattin. Nur den Namen Eugenie sprach er manchmal traurig aus; wenn sie ihn nannte, so überhäufte er sie mit noch stürmischeren Zärtlichkeiten.
Sie war der Ansicht, dass er sie für Eugenie hielt; aber es war leicht möglich, dass er auch jedes andere weibliche Wesen dafür angesehen hätte. Sonst behandelte er Emily wie ein Kind, seine liebste Puppe, schleppte sie mit überallhin, versteckte sie, wenn er fortging, spielte mit ihr und herzte sie. Selbst in seinen Anfällen von Tobsucht vergriff er sich nie an ihr.
Er brachte immer Nahrung mit, Brot, Fleisch und Früchte. Woher er dies bekam, wusste sie nicht. Auch Holz schaffte er herbei; Wasser war in den Gängen vorhanden. Emily glaubte, nie mehr das Tageslicht wiederzusehen. An Flucht dachte sie nicht, denn die Gänge bildeten ein Labyrinth. Manchmal glaubte sie, es wären noch andere menschliche Wesen hier unten; gern hätte sie sich mit ihnen ins Einvernehmen gesetzt, aber der Wahnsinnige floh vor ihnen und schleppte Emily mit sich.
Heute nun hörte sie ihn absonderlich schreien, dann stöhnen, und fand den Unglücklichen, aus tiefer Kopfwunde blutend, am Boden liegen. In Tobsucht mochte er mit dem Kopfe gegen die Wand oder auf einen Stein gefallen sein. Mit Aufbietung aller ihrer Kräfte zog sie ihn nach dem Lagerplatz, der oft gewechselt wurde, und suchte die Blutung zu stillen.
Das andere wusste Canning; auf seine Frage erfuhr er noch, dass Carter einst mit leuchtenden Augen und aufgeregt zu ihr zurückgekehrt sei, nach längerer Abwesenheit; seine Kleidung wie seine furchtbare Keule seien mit Blut bedeckt gewesen, und er hätte sich etwas vernünftiger gezeigt, auch das Wort, ›Nursingpur‹ öfters wiederholt, in welcher Schlacht er sich vor vielen Jahren so ausgezeichnet hatte. Doch bald fiel er wieder in seinen früheren Wahnsinn.
Canning wusste, was das zu bedeuten hatte. Damals war Carter auf der Mauer erschienen und hatte mit seiner Keule den stürmenden Engländern die Bresche geöffnet. Ein Lichtblick mochte in sein dunkles Gehirn gefallen sein, als er die Kämpfenden sah. Er hatte für die Engländer gegen die Inder gekämpft. Ohne Sir Carter wäre damals die Erstürmung wohl schwerlich gelungen; denn die Begum war erschienen und flößte den Indern neuen Mut ein, er aber schlug sie nieder.
Als sie an das Bett des Kranken zurückkehrten, war Emily freudig erstaunt. Er war von vorsichtigen Händen behandelt worden, man hatte den Bart entfernt, das Haupthaar gekürzt, und jetzt war Sir Carter zu erkennen, freilich zum Greis gealtert. Äußere, wie innere Mittel des Arztes hatten geholfen; er schlief jetzt, ohne zu stöhnen. Emily wollte seine Krankenwärterin sein, aber sie durfte es nicht, konnte es auch nicht, denn ihre erschöpfte Natur forderte gebieterisch Ruhe.
Tagelang dauerte der Schlaf des Kranken; er wurde nur von fieberhaften Anfällen unterbrochen, die zuletzt in Delirien ausarteten. Immer bedenklicher wurde das Gesicht des Arztes, immer verzweifelter das Herz Emilys. Sollte sie nun auch den wiedergefundenen Gatten noch verlieren?
Dass ihr Kind entdeckt worden war, davon schwieg Canning, denn es war sehr die Frage, ob Eugenie je wieder auftauchte. Warum hätte er der Mutter Hoffnung einflößen sollen, der wieder die größte Enttäuschung folgen konnte?
Von Bega war jede Spur verloren gegangen; von Reihenfels und seinem Freunde fehlte jede Nachricht.
Endlich wurden die Delirien schwächer. Der Kranke kam zwar nie zum Bewusstsein, aber er schlief sanft, oder er führte vielmehr ein Traumleben. Doch der Arzt versprach sicher seine Genesung; freilich konnte er nicht versichern, dass er auch geistig gesund erwachen würde.
Eines Morgens schlug Carter zum ersten Male die Augen auf und blickte unwirsch die Umstehenden an.
»Sir Carter!«, sagte Canning laut und ergriff seine Hand.
»Sir Carter?«, wiederholte der Erwachte erstaunt. »Sir Carter? Ja, wie ist mir denn? So hieß ich doch früher. Ich weiß nicht — —«
Canning hielt Emily zurück, sie musste sich verborgen halten.
»Kennen Sie mich?«
Der Kranke musterte Canning mit großen Augen.
»Nein.«
»Ich bin Lord Canning, Ihr Freund.«
»Richtig, mein Freund, John — —«, schrie Carter auf, wollte die Arme nach ihm ausstrecken und fiel wieder in Fieber.
Emily musste mit Gewalt hinausgebracht werden; jetzt durfte sie sich ihrem Gatten nicht zu erkennen geben, er hätte sie auch schon nicht mehr erkannt. Welche Gefühle bewegten die arme Frau für einige Stunden! — Freude und Leid, Hoffnung und Trostlosigkeit! Würde er auch sie wiedererkennen, sie in seine Arme schließen?
Endlich kam Canning.
»Er ist wieder erwacht. Seine erste Frage war, ob seine Gattin, seine Emily noch lebe, und als ich sagte, Sie seien hier, hat er nach Ihnen begehrt.«
Sie hörte die letzten Worte schon nicht mehr, sie eilte in das Krankenzimmer und warf sich vor dem Bett auf die Knie nieder. Ja, er erkannte sie sofort, trotz der langen Trennung, und drückte sie beglückt an seine Brust. Sie sprachen nichts, es war ihnen genug, dass sie sich sahen.
»Was ist aber nur mit mir geschehen?«, wandte er sich dann an Canning, der sich die Augen trocknete.
»Wissen Sie es nicht?«
»Mir ist, als wäre ich aus langem Schlaf erwacht — doch ja — ich wollte mein Kind suchen — Canning«, schrie er plötzlich, »ich bin kein Hochverräter — ich habe die Order nicht abgeliefert sondern sie verbrannt, als sie mir genommen werden sollte.«
»Beruhigen Sie sich, Ihre Unschuld ist bewiesen!«
»Und Eugenie, mein Kind?«
»Auch dieses wird noch gefunden werden. Jetzt freuen Sie sich des Wiedersehens mit Ihrer Gattin!«
Man ließ die beiden allein.
Wochen verstrichen, und Carter wurde unter Emilys Pflege völlig wiederhergestellt. Wenn auch sein Haar weiß blieb, das Feuer in den Augen kehrte zurück.
Er konnte sich noch auf seine Gefangenschaft im Felsentempel besinnen, er wusste, wie er nach der Flucht seines Dieners selbst entflohen war, und zwar offen mit der Waffe in der Hand, er habe sich durch den Ausgang geschlagen, als dieser einmal geöffnet wurde, dann aber wusste er nichts mehr.
Nur ab und zu tauchte eine Erinnerung in ihm auf, oder er glaubte es wenigstens. So behauptete er steif und fest, seiner Tochter Eugenie als erwachsenem Mädchen einmal begegnet zu sein, aber wie und wo, konnte er nicht sagen. Man hielt es für eine Vision, die ihm ins Bewusstsein herübergefolgt war. Aber dann sagte er auch, es sei ihm, als habe er die Schlacht bei Nursingpur nochmals durchlebt, den Wall mit Kanonen gestürmt, die Feinde niedergeschmettert, und das musste allerdings bestätigt werden.
Zwischen Carters und Emilys Seelenstimmung war ein merkwürdiger Unterschied. Emily hatte den Schmerz über ihres Kindes Verschwinden längst überwunden, bei Carter dagegen war es, als sei die Zeit spurlos an ihm vorübergegangen, er sehnte sich nach Eugenie noch ebenso wie damals, als er in die Hände der Thugs gefallen war.
Unterdessen war in Gwalior der Aufstand von neuem ausgebrochen, die Truppen des Radschas Skindiah hatten sich empört. Der treu gebliebene Radscha wurde unter britischen Schutz genommen. Bei Gwalior, der gleichnamigen Hauptstadt des Reiches, bereitete sich eine Schlacht, die Entscheidungsschlacht des ganzen Aufstandes vor. An der Spitze der Rebellen stand die Begum von Dschansi, an der der Engländer Sir Hugh Rose.
So beschäftigt Canning auch war, er fand doch immer noch Zeit, sich mit dem wieder vereinigten Paare zu beschäftigen, und Carter nahm regen Anteil an der Entwicklung des Aufstandes, besonders wollte er von der Begum von Dschansi erzählen hören. Ungläubig schüttelte er den Kopf, als man sagte, er selbst habe sie einmal niedergeschlagen, und wehmütig dachte Emily daran, dass dieses furchtbare Mädchen dasselbe sei, welches sie einst in Wanstead in ihr Herz geschlossen hatte.
Einmal kam Canning in sichtlicher Aufregung zu ihnen, so sehr er sie auch zu unterdrücken suchte. Es galt eine vorsichtige Vorbereitung.
»Lady, Sie kannten einst eine Dame namens Bega, nicht wahr?«
»In Wanstead, ja. Ich möchte, ich hätte sie nicht kennen gelernt. Ich liebte das Mädchen. Ach, Erinnerungen stiegen stets in mir auf, wenn ich sie ansah! Sie hatte solche Ähnlichkeit mit — —. Und sie ist die berüchtigte Begum von Dschansi geworden.«
»Nein, das ist sie nicht geworden.«
»Nicht?«
»Es war ein Irrtum, sie wurde nur lange für diese gehalten. Das arme Mädchen hat ein schreckliches Schicksal gehabt; man hat sie betrogen, ihr die Heimat und Eltern geraubt. Wollen Sie sie sehen?«
Noch ehe die Antwort erfolgte, trat ein junger Mann ein, am Arme eine Dame führend.
»Mister Reihenfels!«, rief Emily zuerst, überrascht. »Bega, wahrhaftig, das ist sie!«
»Nein, das ist die Begum von Dschansi«, fuhr sie dann erschrocken fort und wich zurück. Reihenfels führte die junge Dame zu ihr.
»Lady Carter, es ist die Dame, welche sie in Wanstead unter dem Namen Bega kennen lernten«, sagte er mit bebender Stimme, »jetzt ist sie meine Frau.«
»Ihre Frau?«
»Meine Frau, und dass sie nicht die Begum von Dschansi ist, können Sie nun also glauben. Betrachten Sie sie aber näher! Entdecken Sie nicht noch andere Züge?«
Die Dame hatte sich von ihm freigemacht; Tränen entstürzten plötzlich ihren Augen, sie breitete die Arme aus und wollte auf Emily zueilen, aber ein anderer kam ihr zuvor.
Niemand hatte Sir Carter beobachtet. Dieser stand, am ganzen Körper zitternd, da; seine Augen wollten die schlanke Gestalt verschlingen.
Jetzt stürzte er vor und fing sie in seinen Armen auf.
»Ich aber kenne dich, du bist Eugenie, meine — unsere Tochter!«
»Ich bin Eugenie«, flüsterte sie an seiner Brust und wanderte aus seinen Armen in die der Mutter.
Was soll das Wiedersehen noch geschildert werden? Alle hatten sich entfernt, nur Reihenfels stand bewegt in einer Fensternische und ließ seinen Gefühlen freien Lauf.
Dann ging Eugenie zu ihm und führte ihn den Eltern zu.
»Diesem habe ich es zu verdanken, dass ich euch gefunden habe.«
»Bist du denn wirklich dieselbe, welche ich in Wanstead Bega nannte?«, fragte Emily.
»Dieselbe!«
»Meine Ahnung schon damals! Aber ich hielt sie für töricht. Und Mister Reihenfels?«
»Er war damals der, den ich liebte. Du wusstest es.«
»Und jetzt?«
»Jetzt ist er mein Gatte, seit einigen Tagen erst, und nachträglich bitten wir um euren Segen.«
Sie knieten nieder, sie empfingen den Segen, dann zog Emily Reihenfels an ihre Brust und küsste ihn als den Retter ihrer Tochter und als ihren Schwiegersohn. Sie konnten nichts mehr sagen, sie konnten nur noch weinen — Freudentränen!
Die Schlacht bei Gwalior war geschlagen worden und zugunsten der Engländer ausgefallen, aber ungeheure Opfer hatte der Sieg gekostet. Vom Morgen bis zum Abend wütete der Kampf, oder vielmehr das furchtbare Handgemenge — denn ein solches war es — und die dabei beteiligten Rebellen waren fast buchstäblich bis zum letzten Mann niedergemacht worden.
Die Engländer hatten einen schweren Stand gehabt. Am Nachmittag war ihre Sache fast verloren. Die Rebellen hatten in den Seitenflügeln gesiegt, das Zentrum war umzingelt, darunter auch der Generalstab.
Die Begum von Dschansi war es, die ihre Krieger zu immer kühneren Taten entflammte. Wie eine Kriegsgöttin schwang sie ihr Schwert vom schwarzen Ross herab, die Häupter wie Mohnköpfe abmähend; wo der Streit am heißesten entbrannte, da flatterte ihr wehender Helmschmuck; wo die gepanzerte Gestalt erschien, da wich alles zurück, und wer ihrem herabgelassenen Visier gegenüberstand, der sank im nächsten Augenblick von ihrem Schwert getroffen zusammen. Keine Waffe, keine Kugel schien ihr etwas anhaben zu können.
Unaufhaltsam drang sie gegen den Hügel vor, den General Rose mit seinem Stabe besetzt hielt. Erst standen diese Offiziere außerhalb des Kugelregens, jetzt mitten drin, und so beteiligten sie sich lieber selbst am Kampf. Ein Leiten der Schlacht war nicht mehr möglich; jeder schoss und stach, soviel er konnte, und lieber wollte Sir Rose sterben, ehe er diese Entscheidungsschlacht für England verloren gehen sah.
Da änderte sich das Schicksal; zweierlei trug dazu bei.
Plötzlich war der hohe Helm der Begum verschwunden, man sah ihn auch nicht wieder. War sie gefallen? Lag sie unter ihrem gestürzten Rosse begraben? Die Inder schworen, dass sie unverwundbar sei. Sie musste wieder auftauchen, aber sie kam nicht.
Die Rebellen stockten in ihrem siegreichen Vordringen.
Da erscholl auf dem rechten Flügel ein gellender Kampfesruf, eine unabsehbare Reiterschar von Indern stürmte mit geschwungenem Pallasch herbei — eine neue Truppe, die noch gar nicht im Kampf gestanden hatte — und an ihrer Spitze jagte Radscha Sirbhanga.
Gleichzeitig führte auf dem linken Flügel Dollamore seine Gurkhas von Neuem gegen die Feinde vor; aber die Dschansinesen waren frisch und ausgeruht, sie brannten vor Kampfbegierde, sie entschieden die Schlacht.
Jetzt sind die Rebellen die Eingeschlossenen — und die Begum hat sie verlassen.
Sir Rose hat den geeigneten Moment erkannt, der Einzelkampf muss aufhören. Aber vergebens blickt er sich nach einem Trompeter um, der seinen Befehl der ganzen Linie mitteilt.
Da sieht er einen kleinen Burschen, der sich gegen einen riesigen Inder verteidigt. Er hat einen Yatagan aufgerafft, so lang wie er selbst, er muss ihn in beiden Händen halten, und kaum kann er die wütenden Streiche des Riesen parieren. Es ist ein Kampf zwischen Goliath und David. Der Kleine ist ein Trommeljunge, auf dem Rücken hängt noch die Trompete.
Jetzt bückt er sich blitzschnell, er hat einen Revolver aufgehoben. Nicht wissend, ob er geladen, drückt er ab, ein Knall, und mit zerschmetterter Stirn stürzt der Riese.
Sir Rose ruft ihn, gibt ihm einen Befehl, und laut erschallt das Signal, das von allen Trompeten wiederholt wird, die es hören. Der Kleine ist zum Stabstrompeter avanciert, er verlässt den General nicht mehr.
Die einzelnen Truppen sammeln sich, sie stehen scheinbar vom Kampfe ab, um sich dann mit vereinten Kräften auf die Feinde zu werfen. Die Rebellen stehen, wanken, wenden sich zur Flucht — aber sie sind eingeschlossen.
Als die Sonne sinkt, erschallt der brausende Siegesruf der Engländer. Das Schlachtfeld gehört ihnen.
Suwanreka heißt der Fluss, an dem Gwalior liegt; seine Ufer sind mit dichtem Gebüsch besetzt, und auch in diesem hatte der Kampf Mann gegen Mann gewogt, wie die niedergetretenen Büsche, die zahlreichen Toten und Verwundeten bewiesen.
Schon zogen die Krankenträger mit Bahren über das Schlachtfeld, die Verwundeten, die der notwendigsten Hilfe bedurften, nach Gwalior in das improvisierte Lazarett zu bringen.
Eine Sektion befand sich in diesen Büschen. Ein Arzt kniete mit zwei Gehilfen neben einem Offizier, dessen Bein durch eine Kugel zerschmettert war, und legte ihm einen Notverband an, um ihn wenigstens transportfähig zu machen.
Daneben stand ein in rotes Leder gekleideter Mann und ließ sich von einem der Bahrenträger den Verlauf des Kampfes erzählen. Dick wetterte und fluchte, dass er so spät hier eingetroffen sei, am meisten aber darüber, dass die Begum von Dschansi, auf die er es besonders abgesehen hatte, ihm entgangen war.
»Sie ist tot, darüber ist kein Zweifel«, sagte der Krankenträger. »Viele haben sie samt ihrem Pferde stürzen sehen. Wahrscheinlich liegt sie unter diesem begraben, denn man hat ihren Leichnam bis jetzt noch nicht finden können.«
Ein Inder, dessen Eingeweide aus dem Leibe heraushingen, richtete sich bei diesen Worten auf und brach in ein heiseres Lachen aus.
»Tot ist die Begum von Dschansi? Hahaha, ihr Narren, wie könnt ihr einen Geist töten? In die Nirwana ist sie zurückgegangen, woher sie gekommen ist! Fluch den Verrätern! Aber sie wird wiederkommen, und dann wehe euch!«
Der Mann sank ohnmächtig zurück.
»So sagen sie alle«, erklärte der Krankenträger. »Niemand glaubt an den Tod der Begum. Es ist eine hinterlistige Bande, sogar die Sterbenden schießen noch auf die Krankenträger. Man muss sich vorsehen.«
»Schlagt ihnen den Schädel ein!«
»Jawohl, wenn die Unsrigen verpflegt sind, dann kommen auch diese Canaillen ins Lazarett. So lautet der Befehl. Es ist ein gar nicht angebrachtes Mitleid.«
In der Nähe zeigte sich ein Reitertrupp. Die Krankenpfleger gaben sich mit Eifer ihrer Beschäftigung hin, denn an der Spitze ritt Lord Canning, das Schlachtfeld musternd.
Nur Dick hatte kein Auge für den sich nähernden Trupp; wie ein Raubtier hatte er sich zusammengeduckt und blickte nach einem Busch, dann schnellte er vorwärts, verschwand in dem Gestrüpp, und gleich darauf erfolgte darinnen ein heftiges, stummes Ringen.
Verblüfft schauten die Leute von ihrer Arbeit auf. Was ging da in den Büschen vor sich? Es war, als ob zwei Bären miteinander rängen.
Dann trat Dick wieder heraus, und entsetzt sprangen die Männer auf. Er führte eine in Stahlschuppen gepanzerte Gestalt mit sich, deren Arme auf dem Rücken zusammengebunden waren. Es war ein Inder, aber war das ein Weib oder ein Mann?
Die Figur war die eines Weibes, schlank, mit breiten Hüften, das Panzerhemd schmiegte sich eng an einen zartgewölbten Busen.
Aber das Gesicht war das eines Mannes — oder aber das eines alten Weibes, faltig, scharfmarkiert und mit hervorstehendem Kinn. Die schwarzen Haare waren halblang, eine Kopfbedeckung fehlte.
Dick keuchte vor Anstrengung, das Mannweib dagegen war sehr ruhig, die Lider lagen halbgeschlossen über den kleinen Augen.
»Die Begum von Dschansi!«, riefen alle erschrocken.
»Die Begum von Dschansi!«, erklang es von den Lippen der herankommenden Reiter, Lord Canning sprang vom Pferde.
»Was? Das ist also die Begum von Dschansi?«, staunte Dick.
»Das ist ja ein Kerl, vielleicht auch ein altes Weib, aber kein Mädchen. Zu schaffen hat er mir allerdings genug gemacht. Und das wäre wirklich die Begum von Dschansi?«
Der Gepanzerte stieß ein verächtliches Lachen aus. Canning war vor ihn hingetreten.
»Nennst du dich die Begum von Dschansi?«
Der andere lachte nur wieder höhnisch, ohne ihn anzusehen. Er hatte die Augen geschlossen.
»Oder bist du Timur Dhar, der Minister Bahadurs und der König aller Gaukler?«
»Ich bin Timur, du sagst es!«
»Und gabst dich für die Begum von Dschansi aus?«
»Bah, wie kann ich die Begum sein! Sie ist aus Zorn über den Verrat Sirbhangas in die Nirwana gegangen und wird wiederkommen, wenn die Inder einig sind, euch zu vernichten.«
»Wir glauben nicht an solchen Unsinn. Du selbst stelltest die Begum vor. Gibst du dir doch ein weibisches Aussehen.«
»Timur Dhar, der König der Gaukler, kann sich das Aussehen geben, welches er will. Wäre ich aber die Begum, ihr hättet mich nicht gefangen. Timur Dhar ist zwar unverwundbar wie sie, aber er kann gefangen werden.«
»Am Galgen kannst du deine Unsterblichkeit beweisen!«
»Und du auf der Stelle!«, schrie Timur Dhar. Seine Hände, ebenfalls mit Stahl bedeckt, waren plötzlich frei, ein Dolch funkelte in seiner Rechten und sauste nach dem Herzen des ahnungslosen Canning.
Dieser wäre verloren gewesen, wenn nicht Dick mit blitzschnellem Griff die mörderische Hand so fest gepackt hätte, dass sie den Dolch fallen lassen musste; zugleich aber stieß er sein Bowiemesser in die Brust des Gauklers. So gut war der Stahl des Messers und so wuchtig der Stoß, dass der Schuppenpanzer keinen Schutz bieten konnte — bis zum Heft grub sich das Messer in die Brust.
»Nun zeige deine Unverwundbarkeit!«, rief Dick dabei.
Der Gaukler war wohl zurückgeprallt, aber er stürzte nicht. Ein verächtliches Lächeln umspielte vielmehr seine Lippen.
»Weder Stahl noch Blei vermag den Körper des Königs der Gaukler zu verletzen. So wahr ich unverwundet bin, so wahr werdet Ihr mich und die Begum von Dschansi wiedersehen.«
Damit zog er das Messer aus seiner Brust, schleuderte es Dick vor die Füße und verschwand in den Büschen, der Richtung des Flusses zueilend.
Niemand dachte daran, ihn aufzuhalten, ihm zu folgen — alle waren vor Staunen starr, am meisten Dick selbst.
»Der Kerl steht, weiß Gott, mit dem Satan im Bunde!«, brachte er endlich hervor. »Der läuft mit acht Zoll kaltem Eisen noch wie ein Hirsch davon.«
Ein verwundeter Inder brach in ein triumphierendes Gelächter aus. Dick hob sein Messer auf.
»Aber er ist doch verwundet, an dem Messer klebt Blut. Ihm nach, wir finden ihn doch verendet!«
Dick verfolgte die Spur, die anderen schlossen sich ihm mit gespannter Neugier an. Timur hatte den Weg nach dem Flusse genommen; bis dicht an das Ufer führte die Spur. Wollte er denn hinüberschwimmen? War er wirklich nicht verwundet worden? Hier lag ein Rätsel vor.
Dicht am Ufer war ein fast undurchdringliches Gebüsch. In diesem verschwand die Spur und kam auf der anderen Seite, wo sich schon der Wasserspiegel des Flusses befand, nicht wieder heraus. Dick kroch hinein und erschien mit dem entseelten Körper Timur Dhars im Arm.
»Er hat uns ein Märchen aufbinden wollen, solch einen Messerstich kann niemand ertragen.«
»Ich errate seine Absicht«, sagte Lord Canning, »er wollte seinen Tod im Wasser des Flusses vor menschlichen Augen verbergen, damit niemand seinen Leichnam fände und es hieße, er sei überhaupt nicht getötet worden. Eins hat er jedenfalls erreicht, nimmermehr werden wir die Inder überzeugen können, dass die Begum von Dschansi tot ist; denn dieser Mann hier gab sich für sie aus, den Leichnam der Begum werden wir also nicht finden, und dies hier ist Timur Dhar.«
Dick befreite den Leichnam von seiner Stahlumhüllung. Zuerst zeigte es sich, dass die linke Hand überhaupt fehlte, ein eiserner Handschuh vertrat sie, der mittels einer Vorrichtung geöffnet und geschlossen werden und wohl auch recht gut ein Schwert führen konnte. Dann zeigte es sich, dass der Körper ausgestopft war, um ihm die Gestalt eines Weibes zu geben. Mitten in der Brust war die tiefe, blutende Wunde von Dicks Messer, es hatte edle Teile verletzt, und dennoch hatte Timur die Kraft gehabt. aufrechten Ganges fortzugehen und fast noch den hundert Meter entfernten Fluss zu erreichen. Dazu gehörte eine fabelhafte Energie.
Dass er nicht unverwundbar war, verriet sein ganzer Körper. Dieser war über und über mit Narben bedeckt, einige davon mussten von furchtbaren Wunden herrühren. Der Körper war förmlich zerfetzt, Kugeln hatten ihn durchlöchert, Schwerter zerschnitten und zerstochen.
In stummer Bewunderung, auf seinen Schwertgriff gestützt, schaute Canning auf den nackten Leichnam herab.
»Dieser Mann war ein Held, wie es in Indien keinen zweiten gibt, noch geben wird«, sagte er dann erschüttert; »er war an Kraft und Klugheit, an List und Schlauheit, an Mut und an Energie ein Phänomen. Er hat sein Vaterland geliebt wie kein zweiter. Dass er uns als die Feinde seines Vaterlandes hasste und bekämpfte, können wir ihm nicht verargen. In seinem Sinne hat er ganz recht gehandelt. Er ist ein Held gewesen, ist wie ein Held gestorben und soll auch wie ein Held mit allen Ehren bestattet werden.« — —
Die Nacht hatte sich herabgesenkt und hüllte das grausige Schlachtfeld in Finsternis ein. Mit Fackeln suchten die Krankenträger nach Verwundeten; aber ach, es waren deren so unermesslich viele, dass die Bahren nur langsam vorrückten, und gar mancher starb unterdessen, der noch gerettet worden wäre, wenn ihn die Samariter zeitig genug erreicht hätten, um ihm die Blutung zu stillen. Selbst vor Wassermangel verschmachteten viele.
Da, wo sich die Leichen zu Bergen aufgetürmt hatten, wo es ringsum stöhnte und wimmerte, hielt General Rose zu Pferde, umgeben von einigen Begleitern.
»Hier war es, wo ich die Wendung der Schlacht erfuhr, hier ließ ich zum Sammeln blasen. Was für ein Kampf hier gewütet hat, können Sie an den hinterlassenen Spuren sehen. Wir standen uns Auge in Auge gegenüber.«
Er sah sich um; sein Ruf und seine Hand lenkten die Blicke der Offiziere auf einen der Verwundeten, einen jungen Burschen, fast noch einen Knaben, der in einer Blutlache lag, in der einen Hand den indischen Yatagan, in der anderen die Trompete fest umklammert. Sein totenblasses Haupt ruhte auf einer anderen Leiche; aus der Brust sickerte Blut, aber er lebte; denn seine Lippen bewegten sich, seine starren Augen schienen auf die Reiter zu sehen.
»Da ist der Brave«, sagte der General, »dessentwegen ich hauptsächlich hierherkam. Der Junge wurde mein Stabstrompeter; aber nicht nur die Trompete, auch seinen Yatagan wusste er zu handhaben. Mehrmals lenkte er meine Angreifer auf sich ab, wir fochten gemeinschaftlich, zuletzt warf er sich einem Häuptling entgegen und empfing den Schuss, der mir gegolten hatte. Er verließ mich nicht, jetzt will auch ich ihn nicht verlassen.«
»Soll ich eine Bahre holen?«, fragte dienstbereit ein Offizier. Die Fackeln der Krankenträger tanzten noch in weiter Ferne.
»Nein, auch andere bedürfen ebenso der Pflege, es darf kein Unterschied gemacht werden. Sehen Sie zu, ob er noch lebt!«
Der Leutnant sprang ab und beugte sich über den Kleinen, seinen Abzeichen nach ein Trommeljunge.
»Er verlangt Wasser; mehr verstehe ich nicht.«
»Reichen Sie ihn mir herauf, in ein paar Minuten kann ich im Lazarett sein.«
Zwei Männer hoben ihn hinauf, General Rose schlang die Arme um den blutigen Körper und ließ seinen edlen Hengst in weit ausgreifendem Trabe der erleuchteten Stadt zueilen. Die wiegende Gangart des Pferdes brachte weniger Erschütterungen hervor, als dies eine Tragbahre getan hätte.
Man nahm dem General im Lazarett den Verwundeten ab, im geheimen sich wundernd, dass er gerade einen Trommeljungen gebracht hatte, und trug ihn einem der verbindenden, schneidenden und sägenden Ärzte zu. Die Reihe der Hilfsbedürftigen wurde unterbrochen, der vom General gerettete Trommeljunge wurde zuerst auf den Tisch gehoben. Während des Rittes war er ohnmächtig geworden.
»Ein kleiner Held, für den ich mich interessiere«, sagte Rose, »bitte, Doktor, offenbaren Sie mir wenigstens, wie es mit ihm steht.«
Der Arzt knöpfte dem Verwundeten Rock und Weste auf, das Hemd zerschnitt er mit dem Messer und schlug die Hälften zurück. Eine von Blut befleckte, sonst schneeweiße Brust zeigte sich den Blicken.
Erstaunt ließ der sonst so kaltblütige Arzt das Messer sinken, erstaunt blickten alle auf die entblößte Brust.
»Ein Weib — ein Mädchen!«, erklang es von allen Lippen.
»Ein Mädchen!«, wiederholte General Rose, der erst seinen Augen nicht glauben wollte. Ein am Kopfe verbundener Offizier — Colonel Atkins — war hinzugetreten.
»Das ist Bob, der Trommeljunge, der übermütige Bob — — und ein Mädchen! Nun kann ich mir sein Betragen, seine Scham und Furcht vor der Prügelstrafe, wobei er sich entblößen muss, erklären.«
»Darum liebte er Kandiszucker mehr als Kautabak«, fügte ein graubärtiger Soldat hinzu,
›s' ist ein Frauenzimmer, daher also!«
Der Arzt hatte sich gesammelt. Gleichgültig, ob Weib oder Mann, er untersuchte Bob — oder vielmehr Nelly.
»Die Wunde hat nicht viel zu sagen, aber ein starker Blutverlust hat die Ohnmacht herbeigeführt. Die Kugel ist oberhalb des Herzens in die Brust gegangen und hinten wieder heraus, edle Teile sind nicht verletzt, der Schlüsselbeinknochen ist zerschmettert. In ein paar Wochen ist sie wieder auf den Beinen.«
Er wusch die Wunde, befeuchtete sie mit einer scharfen, zusammenziehenden Flüssigkeit, und durch den dabei entstehenden Schmerz erwachte Nelly aus ihrer Ohnmacht.
»Jim — wo ist Jim?«, flüsterte sie. »Wasser!«
»Wer ist Jim?«, fragte der General, während der Arzt dem Mädchen das Glas an den Mund führte.
»Das ist Jim Green, Bobs bester Freund«, erklärte ein Soldat; »die beiden halten wie Kitt und Kleister zusammen.«
»Jim liegt nebenan«, fügte ein anderer hinzu.
»Was fehlt ihm?«
»Jim — Jim!«, schrie in diesem Augenblick Nelly unter den Händen der Ärzte.
Der Soldat flüsterte es dem General zu, einen scheuen Blick nach Nelly werfend. Rose entfernte sich mit trauriger Miene, nachdem er das tapfere Mädchen der besonderen Obhut des Arztes empfohlen hatte.
Er ahnte, dass zwischen Jim und Nelly ein inniges Verhältnis vorlag, vielleicht hatte sie ihn nur aus Liebe in das Kriegsgetümmel begleitet. — — — —
Es war einige Wochen später, der Aufstand niedergeworfen, die Ruhe wiederhergestellt. Nur in den Bergen wurden die einzelnen Rebellenhäuptlinge und ihr Anhang noch immer gejagt.
Gar mancher der in den Lazaretten zu Gwalior Befindlichen war gestorben, mancher genesen, mancher verließ es ohne Arm und Bein, einzelne schwebten noch zwischen Tod und Leben.
An der Seite des Colonels Atkins, dessen Schädelbruch zu verwachsen begann, schritt ein Mädchen durch die mit Krankenbetten angefüllten Säle des größten Hauses zu Gwalior. Sie trug die Kleider der Krankenwärterinnen, welche meist aus Offiziersdamen bestanden, aber sie selbst war eine Kranke gewesen.
Ihr Antlitz hatte schon die braune Farbe etwas verloren, es sah blass aus, aber eitel Sonnenschein lag darauf.
Wohin sie kam, flüsterten die barmherzigen Schwestern ihren Pflegebefohlenen etwas zu, aller Köpfe drehten sich dem Mädchen zu und folgten ihm mit den Blicken, so lange sie konnten. Manchmal blieb das Mädchen auch stehen und schüttelte dem und jenem die Hand.
»Das ist sie — die Nelly — sie hat als Bob, der Trommeljunge, den ganzen Feldzug mitgemacht«, ging es von Mund zu Mund, »sie ist heute zum ersten Male auf — jetzt geht sie zu ihrem Jim. Weißt du noch, Kamerad, wie sie damals mit der Trommel Fußball spielte? Wie sie aus dem Arrest entwischte? Wie sie auf den Händen das große Alarmsignal blies und dadurch die englische Besatzung Delhis vor dem Untergang rettete?«
Man hätte in den Weiberkleidern nicht gleich Bob, den Trommeljungen, wiedererkannt. Jetzt erschien sie größer, mädchenhafter. Wie hatte man sich von ihr nur so täuschen lassen können?
Doch Nelly hatte keine Zeit, solche Fragen zu beantworten, sie musste zu ihrem Jim. Heute erlaubte man ihr zum ersten Male, ihn zu besuchen; all ihr Flehen und ihre Tränen hatten nicht vermocht, vorher diese Erlaubnis zu erlangen.
Jim war schwer verwundet worden und war auf dem Wege der Besserung, das hatte man ihr gesagt, weiter nichts.
Er lebte, was wollte sie denn mehr! Nun aber musste sie ihn sehen, sich in seine Arme werfen, oder das Herz brach ihr vor Sehnsucht.
Sie eilte dem Colonel voraus in das Zimmer für Schwerverwundete. Dort sah sie ihn liegen, nur das Gesicht sah hervor, bleich und abgezehrt; aber er lächelte glücklich, denn er hatte Nelly sofort erkannt.
Schluchzend und lachend zugleich umhalste sie ihn und küsste ihn wieder und wieder, sie dachte gar nicht daran, ihn zu fragen, was seine Verwundung wäre, sie war ja nur froh, ihn lebend zu finden.
General Rose war anwesend; er trat hinter die beiden und beobachtete sie mit Atkins und einem Arzt.
»Und du bist wiederhergestellt, Nelly?«, fragte Jim schließlich.
»Ganz und gar; ich könnte gleich wieder von vorn anfangen. Aber 's ist doch besser, ich höre auf und werde — werde — nun, du weißt schon, Jim. Denn nach England gehen wir doch nun, und Sergeant wirst du auch, vielleicht gar noch mehr — aber warum weinst du eigentlich, Jim? Komm, gib mir deine Hand, du hast sie mir noch nicht einmal gegeben.«
Eine magere, blasse Hand kam unter der Decke hervor und ergriff die ihre.
»Ach Gott, bist du aber abgemagert, armer Jimmy! Wohin bist du denn eigentlich geschossen? Warum gibst du mir die linke Hand? Die andere will ich haben. Ach so, du hast wohl eine Kugel in den Arm bekommen?«
»Ich habe keine rechte Hand mehr«, sagte Jim wehmütig, und Tränen entstürzten seinen Augen.
Nur einen Moment war Nelly bestürzt, dann sagte sie ganz ruhig:
»Das ist freilich hart für dich, aber was macht's? Es laufen viele nur mit einer Hand herum. Das kann man verschmerzen. Zeig mir den Arm einmal.«
Er wehrte vergebens ab, sie zog die Bettdecke herab und — fuhr erschrocken zurück.
Jim besaß überhaupt keinen rechten Arm mehr, dicht an der Achsel lag ein dicker Verband.
Wieder schossen dem Unglücklichen die Tränen in die Augen.
»Glatt ab!«, seufzte er. »Was sagst du nun?«
Sie drückte den Kopf an seine Brust.
»Wenn du nur lebst, weiter nichts!«
»Und das Bein —«
»Das Bein?«
»Ist auch weg, ganz weg!«
Diesmal erschrak sie nicht, sie nahm den Kopf des Weinenden in ihre Arme und küsste ihn. Mit Macht drängte sie ihre Tränen zurück, sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Hast du noch Schmerzen, Jim?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nun, dann ist ja alles gut! Du bleibst am Leben; die Ärzte versichern es, du könntest noch hundert Jahre alt werden.«
»Nur einen Arm, nur ein Bein!«, schluchzte er. »O, Nelly, ich bin ein Krüppel.«
»Warum nimmst du dir das so zu Herzen, mein Jimmy? Sieh, die Sache ist ganz einfach, jetzt legen wir zusammen, was wir haben. Du hast eins, ich zwei, da haben wir zusammen drei Arme und drei Beine, damit lässt sich schon arbeiten und laufen. Na, habe ich nicht recht?«
Jim lächelte unter Tränen.
»Du wolltest — du könntest wirklich noch...«
»Was könnte ich noch?«
»Mich lieb haben?«
»Aber, Jimmy«, sagte Nelly, sich entrüstet stellend, »das ist eine Beleidigung! Nun heiraten wir uns erst recht, oder vielmehr ich dich, wenn du auch nicht willst. Pass auf, Jimmy, was wir mit unseren drei Armen und drei Beinen für ein herrliches Paar abgeben! Sie werden uns alle beneiden. Vielleicht ist's auch ganz gut; nun bist du kein Soldat mehr und bleibst hübsch zu Hause bei mir, und dass es dir da gefällt, dafür will ich schon sorgen. Weißt du, 's ist doch eigentlich nichts mit der Soldatenspielerei. Das habe ich schon damals gedacht, als ich die Trommel dem Leutnant vor die Füße warf. Am liebsten hätte ich den Atkins ohrfeigen mögen, weil er uns gar so drillte. Nein, mein lieber Jimmy, so ist es am allerbesten. Und wenn wir nur beide leben, das andere hat alles nichts zu sagen.«
So tröstete sie ihn; lächelnd hörte Jim auf ihr Schwatzen und kam sich zuletzt selbst wie der glücklichste Mensch vor.
Eine Hand klopfte auf Nellys Schulter. Sich umschauend sah sie Sir Rose vor sich stehen.
»Sie wollen diesen braven Corporal also heiraten, Miss?«
»Ganz gewiss, und Sie geben doch Ihre Einwilligung dazu, Exzellenz?«, entgegnete das kecke Mädchen.
»Mehr noch als das. Nur eins bedaure ich.«
»O, wir sind nicht zu bedauern, im Gegenteil.«
»Das meine ich nicht. Ich bedauere nur, dass durch diese Heirat England einen solch tüchtigen Trommeljungen verliert.«
Nelly hatte sich vom Bette, auf dem sie gesessen erhoben.
»Exzellenz«, rief sie mit blitzenden Augen, »ich bin kein Soldat mehr. Wenn Sie aber einmal Soldaten brauchen und es fehlt England an Männern, dann sagen Sie's mir. Dann hänge ich die Werbetrommel um und ziehe durch Großbritannien — und ich werde ein ganzes Regiment von Mädchen zusammenbringen. Denn solcher Mädchen, wie ich bin, gibt es in England noch Tausende.«
Diese Worte sind historisch. Sie wurden von Nelly Hutton, einer Irländerin, gesprochen, welche als Trommeljunge den indischen Aufstand mitmachte, bei Gwalior verwundet und im Lazarett als Mädchen erkannt wurde.
Für schweres Geld war es Phoebe gelungen, Leute zu werben, welche vor einem Leichenraub nicht zurückschreckten. Schwierigkeit bereitete es schon, überhaupt einem Manne begreiflich zu machen, dass es sich um die Ausgrabung eines schon seit längerer Zeit bestatteten Menschen handle; denn im heißen Indien gehen die Leichen ja schon nach einem Tage in Verwesung über.
Als aber erst der eine Mann gefunden war, brachte dieser noch andere herbei, welche nicht nur den bezeichneten Sarg ausgraben und nach einem bestimmten Hause bringen wollten, sondern welche für eine besondere Summe auch Stillschweigen versprachen — ein Plaudern hätte ihnen überhaupt selbst den Hals gebrochen, sagte sich Phoebe.
Sie wohnte mit ihrem Diener Aleen außerhalb Bombays in einem gemieteten Häuschen; niemand beobachtete die beiden Leute.
Pünktlich zur verabredeten Nachtstunde erschienen die vier Männer, einen länglichen, nicht besonders schweren Kasten zwischen sich tragend.
Phoebes Augen leuchteten triumphierend auf, sie zitterte vor Erregung. Jetzt kam der zweite Genuss ihrer Rache. Sie überzeugte sich, dass der Sarg gut vernagelt war.
»Alles in Ordnung, Missis«, sagte der Anführer der Leichenräuber, ein verkommener, englischer Matrose; »wir haben wahrhaftig keine Lust gehabt, die Nase in den Kasten zu stecken, und da, wo der oder die verscharrt lag, da gibt's auch sicher nichts Wertvolles zu nehmen.«
Phoebe zahlte ihnen den bedungenen Lohn; die Männer entfernten sich mit dem Versprechen, reinen Mund zu halten. Sie würden wohl nicht so dumm sein, zu plaudern.
Hoch atmete Phoebe auf, als sie mit Aleen und dem Sarg allein war. Sie erbrachen den Deckel, wobei Aleen meinte, die Nägel gingen merkwürdig leicht heraus. Das Weib achtete nicht der misstrauischen Worte, es hatte nur Augen für den Sarg.
Siehe da, Westerly lag noch so da, wie man ihn hineingelegt hatte, unverwest, unversehrt, mit demselben Gesichtsausdruck, wie man ihn gefunden.
»Den Dolch, Aleen!«, flüsterte sie.
Sie vollführte die Operation mit dem Gegenmittel an der verwundeten Hand, der Tote seufzte, öffnete die Augen, richtete sich auf und sah sich erst mit starren, entsetzten Blicken um, dann Phoebe an.
»Nun, Lord, wie ist Ihnen der Schlaf unter der Erde bekommen?«, spottete das Weib. Ein Zittern ging durch den Körper des Unglücklichen.
»Töte mich!«, brachte er nur mit klappernden Kinnladen hervor. »Töte mich oder ich werde wahnsinnig!«
»So wird Alphons — du weißt schon, die schwarze Maske — auch gedacht haben, als du ihn im Starrkrampf in das eisige Wasser der Themse warfst. Hast du den Totenwurm ticken hören? Hast du die Würmer nagen hören?«
»Töte mich!«, wimmerte Westerly.
»Mitnichten. Du wirst noch einmal lebendig der Erde überliefert, dann wieder ausgegraben werden, und so immer wieder, bis ich dich einst von den Würmern angefressen finde. Hast du Hunger? Ich will dich erst pflegen, denn du sollst nicht — Aleen, was machst du da?«
Aleen hatte die Schraube des Heftes gelöst, die goldgelbe Flüssigkeit auf den Erdboden gespritzt und wischte die Höhlung auch noch sorgfältig mit einem Tuche aus.
Wie eine Tigerin war Phoebe auf ihn zugesprungen.
»Einmal ist genug. Du kannst mit deiner Rache zufrieden sein«, sagte er ruhig. »Wenn du ihn wieder tötest, sollst du kein Mittel haben, ihn wieder zum Leben zu erwecken. Es ist nicht gut, dass dieser Dolch in der Hand eines rachgierigen Weibes ist, denn die Rache des Weibes ist maßlos.«
»Schurke!«, knirschte Phoebe.
»Tötet mich ganz — oder lasst mich ganz leben, das Leben ist so schön!«, flehte der Erwachte.
Phoebe streckte die Hand nach dem Dolche aus.
Da flogen die Scheiben des Fensters klirrend zu Boden; ein Constableroffizier sprang in die Stube, durch das andere Fenster blickten die Mündungen einiger Revolver.
»Im Namen des Gesetzes, ich verhafte euch wegen Leichenraubes — vorläufig wenigstens!«, setzte der Beamte hinzu.
Hinter dem Constabler kam das grinsende Gesicht des englischen Matrosen zum Vorschein, er war der Verräter gewesen.
»Wirf den Dolch weg! Hebt beide die Hände!«
Versteinert stand Phoebe da; ihr Blick ruhte voll unsäglichen Hasses auf Westerly, welcher beide Hände aufhob. Das Opfer war ihr entgangen; doch sie hatte ihre Rache genug befriedigt, sie konnte zufrieden sein.
Aleen dagegen hob den Dolch, stieß ihn sich in den Arm und brach zusammen. Gleichzeitig hatte einer der Constabler, an Widerstand denkend, auf ihn geschossen. Im Fallen noch entriss ihm der Offizier den Dolch.
»Ich widersetze mich nicht, ich lasse mich gefangen nehmen, um gegen diesen hier als Anklägerin aufzutreten«, sagte Phoebe, auf Westerly deutend.
Ihre Hände wurden gefesselt wie die Westerlys, trotz seiner Lamentationen. Man hüllte den nur mit dem Totenhemd Bekleideten in einen Militärmantel, ein Bote wurde in die Stadt nach dem Arzte geschickt, denn Aleen schien tot zu sein, es musste bestätigt werden.
Dann nahm der Offizier das Protokoll des Tatbestandes auf. Es musste hier etwas Grausiges vorliegen; doch der Beamte hatte nicht das Recht, nach der Ursache zu fragen; er hatte Übertreter des Gesetzes zu verhaften, und er tat seine Pflicht.
»Sagte ich nicht, dass es sich um etwas ganz Besonderes handelt?«, frohlockte der Matrose.
»Ich dachte es mir doch gleich, als ich den Sarg öffnete und den Scheintoten darin liegen sah. Das Frauenzimmer hat ihn wahrscheinlich scheintot gemacht oder ihn gar —«
»Schweigen Sie!«, herrschte ihn der Beamte an. »Die Untersuchung wird alles ans Licht bringen.«
Phoebe und der zeternde Westerly wurden abgeführt, die Leiche Alleens aufgehoben. — — — —
Franziska war noch nicht lange in Bombay mit ihren Eltern und Geschwistern vereint, als ihr eines Abends gemeldet wurde, im Portale des Hotels stehe ein verschleiertes Mädchen, wahrscheinlich eine Inderin, welche sie zu sprechen begehre.
Empfangen und anhören wollte Franziska sie zwar, doch nicht allein, denn sie war misstrauisch geworden.
Otto bot sich ihr als Beschützer an, und den tapferen Jungen, der, mit der Waffe in der Hand das Fort, welches Frauen und Kinder barg, verteidigt und sich dann durch die Reihen der Inder geschlagen hatte, abzuweisen, wäre für ihn eine Beleidigung gewesen.
Kein Auge wendete Otto von der eintretenden Gestalt. Vielleicht konnte es ein gedungener Meuchelmörder sein. Doch es war die Gestalt eines zartgebauten Mädchens, sie schlug das Tuch zurück, und schöne, sanfte Züge kamen zum Vorschein; große, mandelförmige Augen schauten traurig auf Franziska.
Dennoch fuhr diese erschrocken zurück und streckte abwehrend die Hände aus.
»Bist du nicht jenes — jenes —«
»Ich bin Mirja, die Jüdin, welche dich einst den Rebellen auslieferte. O, glaube mir, es war ein unheilvoller Irrtum, ich hielt dich für eine Andere. Verzweiflung hat mein Herz zermartert, als ich den Irrtum erkannte, und ich habe ihn wieder gutzumachen versucht. Verzeihe mir, stoße mich nicht von dir! Höre mich an, und du wirst mir verzeihen, sonst bin ich die Unglücklichste aller Unglücklichen!«
Nur widerstrebend befolgte Otto den Wunsch, sie allein zu lassen. Er hielt an der Tür Wache, um im Falle der Not gleich bei der Hand zu sein. Seine Hilfe wurde nicht gebraucht. Nur leises Sprechen, Weinen und Schluchzen drang an sein Ohr, es war ihm, als ob auch seine Schwester weine.
Dann, nach einer halben Stunde, führte Franziska die Jüdin an der Hand in den Kreis der Familie.
»Dies ist Mirja, von welcher ich euch, liebe Eltern, schon längst erzählt habe. Erschreckt nicht; ihre Tat damals beruhte auf einem Missverständnis; sie hat es wieder gutgemacht, als sie den Irrtum gewahrte. Ihr habe ich es hauptsächlich zu verdanken, dass ich von Delhi fortkam; denn sie verriet meinen geheimen Aufenthalt an John und Oskar und fand sonst Mittel und Wege, mich befreien zu lassen.
Sie hielt mich für die Braut Westerlys, und ich weiß nun, was für Unrecht dieser an ihr verübt hat.
Mirjas Vater ist tot, sie steht allein in der Welt, sie bittet mich, sie als Dienerin anzunehmen; da wir eine suchen, so denke ich, wir nehmen sie an. Ich bitte euch darum, gewährt meinen Wunsch — Mirja ist eine Leidensgefährtin von mir.«
So blieb die Jüdin in der Familie Reihenfels als Dienerin Franziskas, doch wurde sie bald mehr als das, sie wurde ihre Freundin, ihre Gesellschafterin, ohne welche sie nie ausging.
Mirja wusste sich unentbehrlich zu machen, alle waren von ihr entzückt, man betrachtete sie wie ein Familienglied, aber sie war immer bemüht, sich die Stellung einer dienenden Person zu geben. Sie war liebenswürdig, sah ihrer Herrin die Wünsche an den Augen ab und dankte für jede neue Gunstbezeugung wie für eine unverdiente Gnade. Alle Vertraulichkeit, alle Bitten konnten sie nicht von diesem unterwürfigen Benehmen abbringen, auch das traurige Wesen wich nicht von ihr. Man schrieb es dem schrecklichen Tode ihres Vaters zu; denn es war bekannt geworden, dass dieser sein Leben unter den Händen des rächenden Dick Red gelassen hatte.
Zu jener Zeit beschäftigte ein furchtbares Ereignis ganz Bombay. Ein Weib hatte aus Rache den Mann, der ihren Geliebten gemordet, durch ein ins Blut geflößtes Gift scheintot gemacht. Im Begriff, in ihrer unersättlichen Rachgier zum zweiten Male die fürchterliche Prozedur an dem Unglücklichen zu vollziehen, wurde sie vom Gesetz dingfest gemacht.
Einer der von ihr gedungenen Leichenräuber hatte das Geheimnis der Polizei verraten, in der Hoffnung, als Constabler angestellt zu werden, denn er hatte den Sarg geöffnet und gesehen, dass ein Scheintoter darin lag, also musste es ein ganz besonderer verbrecherischer Fall sein.
Der Diener des Weibes tötete sich; die beiden wurden in Gewahrsam gebracht, und nun erhob das Weib gegen den Mann die Anklage des Hochverrates. Er habe, scheinbar auf der Seite der Engländer stehend, zu den Rebellen gehalten und diesen die Pläne seiner Freunde verraten. Ferner habe er Bruder und Mutter ermordet und führe wissentlich einen falschen Namen und Titel und anderes mehr.
Der Name des Weibes war Phoebe Dubois, der des Mannes Lord Edgar Westerly.
Es lässt sich denken, welche Sensation diese Enthüllungen in Bombay hervorriefen, und nicht zum Mindesten im Hause von Reihenfels. In Mirjas Augen glühte ein dunkles Feuer, als sie von Westerlys Entlarvung erfuhr; Franziska dachte mit Schrecken an den Mann, dem sie bald zum Opfer gefallen wäre.
Dann einige Wochen später ging ein neues Gerücht durch Bombay. Westerly sei gut verpflegt worden, denn er wäre halb verhungert gewesen. Neuer Lebensmut müsse in ihm erwacht sein — als man ihn zur ersten Untersuchung vorführen wollte, wäre seine Zelle leer gewesen, er sei auf eine ganz unerklärliche Weise ausgebrochen.
Das Gerücht bestätigte sich, Westerly war verschwunden und wurde nicht wieder ergriffen. Eine bange Furcht bemächtigte sich der Bevölkerung Bombays. Es hieß, Westerly hätte auch in der Zelle nur das Totenhemd getragen, so wie er gefunden wurde, und nun streife er so nachts durch die Straßen Bombays und gehe auf Raub aus. Einige Morde, welche in der mit Soldaten und Abenteurern gefüllten Stadt vorkamen, beglaubigten nur dieses Märchen.
Doch die Familie Reihenfels hatte jetzt an Anderes zu denken; Freude war in ihr Haus eingekehrt. Jede Depesche, jeder Brief brachte immer freudigere Nachrichten.
Oskar hatte Bega gefunden; sie war die Tochter Sir Carters; beide waren schon ein vermähltes Paar. Sir und Lady Carter waren den Lebenden als glückliche, gesunde Menschen wiedergegeben, sie hatten den Bund selbst gesegnet, Oskar und Eugenie blieben vorläufig in Delhi, — bis sie Lord Canning nach Bombay begleiteten.
Oskar, Eugenie und John kamen nach Bombay!
Endlich, endlich traf die Nachricht ein, Lord Canning käme mit den siegreichen Generälen mit dem und dem Zuge in Bombay an. Der Aufstand galt für beendet, andere Maßnahmen mussten getroffen werden.
Ganz Bombay war in Aufregung; es galt, die Sieger zu empfangen. Und was für eine Stellung würde nun England zu Indien nehmen? Mit der Bundesgenossenschaft, wie das Verhältnis zwischen England und den Radschas früher genannt wurde, war es jetzt vorüber.
Herrlicher konnte der Blumenschmuck nicht gewesen sein, in welchem damals zum Feste Shivas Delhi geprangt hatte, zum Ausbruch des Aufstandes, als der, welchen jetzt nach seiner Beendigung Bombay aufwies. Die Straßen waren mit Blumengirlanden überspannt, die Häuser damit bedeckt, und aus allen Fenstern flatterte das englische Banner.
Noch festlicher war der Bahnhof dekoriert; eine tausendköpfige Menge füllte die Räume an. Es war dem alten Reihenfels nicht schwer geworden, für sich und seine Familie einen Platz auf dem der Menge verschlossenen Perron zu erhalten, wo die Aussteigenden von den hohen Offizieren und Beamten Bombays empfangen wurden. War doch schon das Verhältnis von Miss Franziska Reihenfels zu dem Generalgouverneur stadtbekannt geworden; die Anklagen Phoebes gegen Westerly hatten dies bewirkt.
Dicht umringte die Menge den nur durch Schnüre abgesteckten freien Platz; Constabler und Militär bildeten Spalier für den freigelassenen Gang.
Franziska stand mit Mirja dicht neben dem ausgespannten Seil. Eine Schutzwehr bildete dieses nicht, es brauchte nur etwas gehoben zu werden, so lag es am Boden. Sie wusste nicht, dass sie von zwei glühenden Augen beobachtet wurde; denn aller Augen waren dahin gerichtet, wo in der Ferne eine Rauchwolke sichtbar wurde — der ankommende Zug.
Die Augen, welche das ahnungslose Mädchen so unheimlich anstarrten, gehörten einem Manne, dessen Erscheinung nicht zu der Feststimmung passte, oder aber, sein patriotisches Gefühl war so groß, dass er, kaum genesen, das Bett verließ, um dem Empfang der siegreichen Generäle beizuwohnen.
Dieser Mann musste eine schwere Verletzung im Gesicht davongetragen haben, vielleicht Brandwunden. Sein Gesicht war ganz mit Watte bedeckt, auch das eine Auge. Nur die Nase, die Lippen und das andere Auge waren zu sehen. Er war gut gekleidet; man hatte dem Unglücklichen, der sich durch seine Wunden nicht von dem Feste fernhalten ließ, willig Platz gemacht, bis er die Umzäunung erreichte. Wie er, so stand auch Franziska dicht an der Grenze des Perrons, vor ihnen lagen die Schienen.
Näher und näher kam der Zug gebraust; schon wehten Tücher, zwei gellende Pfiffe, und er fuhr in den Perron ein.
Da, als die Lokomotive eben an dem Empfangsplatze vorüberdampfen wollte, wurde Franziska von hinten von zwei kräftigen Armen gepackt und den tiefliegenden Schienen zugedrängt.
Ein Stoß hätte genügt, Franziska wäre hinabgestürzt und von den Rädern der Lokomotive zermalmt worden. Es schien aber, als ob der Mann mit ihr sterben wollte.
»So wollen wir beide zusammen deinen Geliebten freudig empfangen!«, schrie er und stürzte vorwärts.
Es wäre ihm gelungen, denn niemand hatte der Szene Beachtung geschenkt, wenn nicht Mirja gewesen wäre.
Noch rechtzeitig erreichte sie den Mann, riss ihn zurück; er drehte sich um und ein kurzer Ringkampf begann.
»Mirja, Schlange!«, knirschte er.
»Westerly — zu Hilfe —«, schrie sie, ihn trotz der Verhüllung erkennend.
Der Empfang der Angekommenen war nicht der geplante. Statt einer jauchzenden Menge fanden die Aussteigenden ein stürmisch wogendes, aufgebrachtes Durcheinander. Constabler hatten einen Mann gepackt, rissen ihm den Verband ab, und ein totenbleiches Gesicht kam zum Vorschein; wild rollten die Augen umher; und dort wurde ein Weib fortgetragen, den Weg bezeichnete eine Blutspur.
Franziska warf sich dem Geliebten nicht jauchzend in die Arme, sondern laut jammernd, sie zog ihn mit sich in einen Wartesaal.
Dort lag Mirja, in der Brust die den unvermeidlichen Tod bringende Wunde. Man machte keinen Versuch mehr, sie zu verbinden. Mirja war bei Bewusstsein, sie fühlte das Ende nahe und lächelte glücklich, Lord Canning und Franziska ansehend.
»Mirja!«, rief der mit Eugenie hinzugetretene Reihenfels schmerzlich.
Canning hatte erfahren oder doch herausgehört, was sich ereignet. Der verkleidete Westerly wollte Franziska unter die Räder der Lokomotive werfen, sich wahrscheinlich auch; Mirja hatte die Tat vereitelt und dafür einen Messerstich in die Brust erhalten.
»Sie stirbt für mich«, weinte Franziska an der Brust des Geliebten.
»Nein, für mich«, sagte dieser ernst.
»Sie wollte mich für dich retten.«
»Ja, so ist es. Gib ihr die Hand, Franziska«, er ergriff die andere Hand der Sterbenden. »Lebe wohl, Mirja. Nimm unseren Dank mit hinüber in das unbekannte Jenseits — wir können dir nicht mehr helfen. Weißt du, Franziska, warum sie dich gerettet hat, warum sie für dich sterben musste? Jetzt darfst du es erfahren. Sie hat mich lange geliebt, ohne dass ich es wusste, und ohne dass sie Gegenliebe forderte. Sie wollte der dienen, welche ich liebte; so groß und uneigennützig war ihre Liebe zu mir, und sie tat es, obgleich ich es nicht haben wollte.«
»Lebe wohl, Mirja!«
Er beugte sich zu ihr herab und küsste sie; unter diesem Kusse hauchte die edle Jüdin ihre Seele aus, ohne noch ein Wort gesprochen zu haben.
Als sich Lord Canning wieder aufrichtete, war ihr Antlitz wie verklärt.
»Sie ist tot!«, jammerte Franziska.
»Es ist das beste für sie — vielleicht auch für uns. Sieh, wie glücklich und zufrieden sie aussieht! Ich glaube, sie ist in ihrem Tode glücklicher geworden, als es ihr auf Erden möglich geworden wäre. Arme Mirja, schlummere sanft!«
Er drückte ihr leise die Augen zu.
Westerly wurde nach seiner erneuten Gefangennahme in ein Gewahrsam gebracht, aus dem es kein Entweichen mehr gab. Phoebe wiederholte ihre Anklagen, und Westerlys frühere Energie war gebrochen; er gestand alle seine Verbrechen ein, auch, dass er gar nicht den Namen Lord Westerly verdiene.
Ferner machte er noch andere Mitteilungen. Er erzählte, wie er nach seiner Flucht aus dem Gefängnis sich in geheimen Winkeln versteckt gehalten habe und dort mit früheren gleichgesinnten Kameraden, auch mit Frauenzimmern, die einst eine wichtige Rolle gespielt hätten, zusammengetroffen sei. Unter der Bedingung, dass er sein Besitztum mit ihnen teilen wolle, hätten sie ihm ihre Unterstützung zugesagt, ihn auch in ihre Pläne eingeweiht.
Aber als Westerly von Lord Cannings Triumpheinzug hörte, überwog die Rachgier alle anderen Empfindungen. Canning sollte bei seiner Ankunft die Braut unter den Rädern des Zuges hervorziehen sehen. Er selbst wollte sich dabei töten, um seinem elenden Leben ein Ende zu machen.
Jetzt gab er, seinem erbärmlichen Charakter entsprechend, den Schlupfwinkel seiner verbrecherischen Genossen an; man hob das Nest aus und fand eine ganze Menge Männer und Weiber, welche im Solde der Rebellen gestanden hatten und noch immer hofften, ihre Kräfte für die indische Sache gegen die Engländer verwenden zu können — natürlich gegen Bezahlung. Es waren teils frühere Spione, Helfershelfer von solchen, oder auch ehemalige Offiziere, meist Franzosen und Italiener, aber alles ausgemachte Schurken.
So zum Beispiel war auch Duplessis unter ihnen, der sich früher Giraud nannte und der sich als ein Individuum entpuppte, nach dem die Polizei manches Landes fahndete. Ebenso fand man einige andere französische Offiziere, viele jedoch fehlten noch, so Francoeur und Montpassier.
Unter den Weibern befand sich Mirzy, ferner auch die fromme Hedwig, und die Beweise lagen klar zu Tage, dass man samt und sonders indische Verräter und Spione vor sich hatte, die unter heuchlerischer Maske gegen England zugunsten der Rebellen operiert hatten.
Eines Morgens wurde eine lange Reihe von Menschen mit Ketten belastet dem Hafen zutransportiert, in welchem ein Dampfer mit gehisster englischer Flagge unter Dampf lag, zur Abfahrt bereit.
Viele Soldaten begleiteten mit aufgepflanztem Bajonett die Gefesselten.
Keiner empfand Mitleid für die Gefangenen, nicht einmal für die weiblichen, welche schwer an den Ketten zu tragen hatten. Phoebe fehlte — sie hatte ihrem Leben ein Ende gemacht, sich mit den eigenen Haaren erwürgt.
Am Kai stand eine Gruppe von Menschen; alle alte Bekannte von uns. Es galt Abschied zu nehmen von Lord Canning, welcher in Indien zurückblieb, während seine Braut unter der Obhut ihrer Eltern nach England reiste. Er allein blieb noch hier, alle anderen bestiegen das Schiff, das sie nach England bringen sollte, auch der von langer Krankheit genesene Woodfield und seine Schwester, begleitet von Charly und Dick.
Sie wollten ihren Herrn, der in Indien das gesuchte Glück gefunden und im nämlichen Augenblick wieder verloren hatte, in seine Eiswüsten begleiten, ebenso die Schwester. Die Ruhe würde sein gebrochenes Herz wieder heilen.
August begleitete vorläufig Reihenfels nach England, dann würde er wohl nach Deutschland zu der Mutter gehen, die sehnsüchtig den verschollen geglaubten Sohn erwartete.
Da kam der Zug der Gefesselten.
Scheu senkte Westerly die Augen vor den auf ihn gerichteten Blicken. Dort stand sein Feind, liebevoll hielt er den Arm um Franziska geschlungen. Die Beute und die Rache waren dem Schurken entgangen; seiner wartete lebenslängliche Zwangsarbeit in der Tretmühle oder in den Steinbrüchen zu Pentonville der Hölle der Verbrecher, aus der es kein Entrinnen gibt. Westerly hatte nicht mehr die Macht, mit den Zähnen zu knirschen: stumm schritt er vorüber — ein gebrochener Mann.
Miss Woodfield fuhr erschrocken zurück, als sie Hedwigs Blicken begegnete. Auch diese senkte schnell die Augen.
»Gott ist gerecht und lässt nicht ungestraft seiner spotten!«, murmelte die alte Dame.
»Auch ihre Schuldlast ist groß«, bemerkte Canning zu ihr, »sie war nicht nur eine ganz raffinierte Spionin in indischen Diensten, von Anfang an, als sie in Carters Dienste trat, sie war auch bei dem Kindesraub behilflich.«
Wie ein Gespenst starrte Duplessis die junge Dame an Reihenfels' Arme an. War das nicht die Begum von Dschansi? Doch was ging das ihn an? Auch mit ihm war es jetzt vorbei. Zehn Jahre in der Tretmühle — zehn Minuten treten, fünf Minuten Pause — untergruben auch die kräftigste Gesundheit.
Mit dunkelgerötetem, tief gebeugtem Gesicht schritt er vorüber. Am Schiffsmast wurde eine Flagge gehisst, die Glocke ertönte.
Mit einem Wunsch auf ein fröhliches Wiedersehen nahm man Abschied von dem am Lande bleibenden Lord Canning, von den übrigen Freunden; noch einmal warf sich Franziska weinend dem Geliebten an die Brust.
Ach, warum konnte er nicht gleich mitkommen! Warum durfte sie nicht bei ihm bleiben!
»In einigen Wochen komme ich nach; ich habe noch viel hier zu erledigen. Bereite den Empfang in England vor; ich freue mich auf ihn und werde mit doppelter Kraft an meine Arbeit gehen, um sie so schnell wie möglich zu beenden. Lebe wohl, mein Lieb! Gott schütze dich!«
Gegen Ende des Jahres 1858 war der indische Aufstand, welcher England außer ungezählten Menschenleben noch die Summe von 24 Millionen Pfund Sterling gekostet hatte, als niedergeschlagen zu bezeichnen.
Die sich im Gebirge versteckt haltenden Rebellen waren aufgerieben, von den Kanonen ›weggeblasen‹ oder gehenkt worden, so zum Beispiel auch Tantia Topi, Verrat hatte die Schlupfwinkel der Anführer preisgegeben; alle Radschas wie auch Sepoy-Offiziere hatten ihren Treubruch mit dem Leben büßen müssen; oft genug fand man in Höhlen Verhungerte. Bahadur war zu lebenslänglichem Gefängnis in Rangoon verurteilt; die königlichen Prinzen, die Baburiden, waren ohne Ausnahme erschossen worden, was aber aus Nana Sahib wurde, konnte man damals und kann man auch jetzt noch nicht sagen. Über seinen Verbleib herrscht ein geheimnisvolles Dunkel.
Die einen sagen, er sei vor der Mündung der Kanone, die anderen, er sei zu Haidarabad in Gefangenschaft als alter Mann gestorben.
Der Königin von Oudh gewährte man in Paris eine Zuflucht; von der Begum von Dschansi wurde nichts wieder gehört. Man fand ihren Leichnam nicht, obgleich die Sepoys eifrigst danach suchten; es hieß, ihre göttliche Mutter habe sie der Schlacht entrückt und wieder zu sich genommen, aus Zorn darüber, dass die Inder uneinig und verräterisch gewesen seien, aber sie würde wiederkommen und den Kampf gegen die Engländer von Neuem aufnehmen, und seien die Inder dann einig, dann würde ihr Land frei von der englischen Herrschaft werden.
So hofft der Inder noch jetzt auf das Wiedererscheinen der Begum von Dschansi; der niedrigstehende Kuli glaubt an ihr persönliches Kommen, der hochgebildete Hindu sieht in ihr eine Allegorie, wie wir Deutschen etwa an das Erwachen des Kaisers Barbarossa glaubten.
Allerdings wird der Engländer Indien einst räumen müssen. Entweder erwürgt der asiatische Bär, Russland, den britischen Löwen in furchtbarer Umarmung, oder China und Japan können die Waffen nach Indien tragen, dann aber wird die Zeit kommen, wo ein internationales Schiedsgericht das schöne Land frei von aller Fremdherrschaft erklärt.
Die aber, welche von den Anführern des Aufstandes zur Rolle der Begum bestimmt gewesen, das fremde Mädchen ohne irdische Heimat und Eltern, wird sich nicht mehr an diesen Kämpfen beteiligen. Sie hat ihre Eltern und Heimat wiedergefunden in den Wirren des Aufstandes und noch etwas Anderes, das schönste auf Erden — ein treues Herz. —
Es war Winter. Graue Wolken hingen über London und drohten mit Schnee. Vor demselben stattlichen Hause, in welchem einst Timur Dhar, der König der Gaukler, seine Vorstellung gab und das kleine, rosige Mädchen mit dem braunen indischen Knaben vertauschte, stand ein Mann, hielt die Hand des einzigen Armes, den er noch besaß, über die Augen und spähte die wenig belebte Straße des vornehmen Häuserviertels hinab. Dieser einzige Arm stützte sich zugleich auf eine Krücke, welche das fehlende Bein ersetzen musste.
War der Mann auch ein Krüppel, so war in seinem pausbäckigen Gesicht doch nichts zu lesen, dass er darüber besonderen Kummer empfand, vielmehr eine behagliche Zufriedenheit, ein stilles Glück.
Ein Parterrefenster öffnete sich; das hübsche, vor Anstrengung hochrote Gesicht einer jungen Dame sah heraus. Ihre Haarfrisur war eine ganz seltsame. Wie die Borsten eines Stachelschweins stand das halblange, schwarze Haar nach allen Richtungen vom Kopfe ab und war von Papierwickeln durchflochten.
»Noch nichts zu sehen, Jim?«, fragte sie in breitem irischem Dialekt.
»Noch nichts zu sehen und zu hören, Missis Green;« entgegnete der Gefragte.
»Das ist gut, bin auch noch nicht ganz fertig der Plumpudding...«
Das andere verlor sich schon im Innern des Zimmers.
»Nelly!«
Sie erschien nochmals am Fenster.
»Vergiss die Papierwickel nicht.«
Die junge Frau fuhr erschrocken mit der Hand nach den Haaren.
»Jesus Christus und General Jackson«, kreischte sie auf, »die hätte ich bald vergessen!«
Das Fenster wurde zugeworfen; das Rennen und Hasten im Hause, das schon den ganzen Morgen, ja, seit einigen Tagen gewährt hatte, vermehrte sich noch. Für Missis Nelly Green, der Wirtschafterin im Hause Sir Carters, war heute ein heißer Tag. Wie gut hatte es dagegen ihr Mann, der nur die männlichen Diener anzustellen brauchte! Sie glaubte seiner Behauptung nicht, dass solche Kopfarbeit mehr anstrenge als alles andere.
Jetzt bog um die ferne Ecke ein zweispänniger Wagen, ein zweiter, ein dritter — mit einem Satze stand Jim am Fenster und klopfte daran, dass die Scheibe zu springen drohte, dann war er schon im Hofe, rief mit Kommandostimme die uniformierten Stalldiener zusammen und baute sie vor dem Tore in doppelter Reihe auf, mit seiner Krücke wie ein Feldherr winkend, wobei er stets auf einem Beine balancieren musste.
Ein Wagen nach dem anderen fuhr vor; die Insassen stiegen aus und betraten das Haus. Die erste war eine alte Frau in weißer Haube, sie trug ein weißes Bündel sorgsam unter den Armen, das noch mit einem Gazeschleier umhüllt war, und da das Bündel eine viereckige Form hatte und mit Spitzen besetzt war, so lag die Vermutung nicht ferne, dass es ein Wickelbett mit menschlichem Inhalt war.
Hinterher folgten Arm in Arm der freudestrahlende Oskar Reihenfels und die glücklich lächelnde Eugenie, die Mutter des Neugetauften, dann Sir Carter und Emily, der alte Reihenfels mit der Großmutter, Lord Canning mit der ihm erst vor einigen Wochen angetrauten Franziska, Colonel Atkins mit seiner Familie, darunter Doktor Morrison mit Susan als ein Ehepaar, Käthchen und Otto Reihenfels, letzterer in der Uniform der englischen Volunteers, und noch viele andere, mit denen man Freundschaft in Indien geschlossen oder die man in England als Freunde zurückgelassen hatte, so der Leutnant Mac Sulivan, der unterdessen Captain gewordene Russell und der alte, pensionierte Detektiv Wilkens.
Die Hand an der Mütze, ließ Jim die Gesellschaft an sich vorüberziehen; nur ab und zu einem säumigen Diener einen wohlgemeinten Stoß mit der Krücke gebend.
Dann aber kümmerte er sich nicht um das Abspannen der Pferde, sondern eilte ins Haus, überholte die letzten und erreichte atemlos das Zimmer, in welches die Amme mit dem Kindchen und die Eltern eingetreten waren.
Dort hatte Nelly, im schöngelockten Haare prangend und so bunt wie möglich gekleidet, sie erwartet.
Sie schlug die Schleier zurück und betrachtete den schlafenden Knaben.
»Sieht er nicht aus wie ein kleines, weißes Schäfchen, Jim?«, sagte sie.
»Ganz wie der Vater!«, bestätigte dieser zum Ergötzen der Eltern.
»Darf ich?«
Eugenie nickte lächelnd.
»Nelly!«, wollte Jim erschrocken rufen, aber es war schon geschehen — Nelly hatte das Kind geküsst.
Entsetzt betrachtete sie das ebenso engelgleiche Gesichtchen — jetzt zeigte es an Stirn und Backen große Rußflecken.
Einen Blick nur warf Nelly in den Spiegel, dann stürzte sie schamdurchglüht hinaus. Ihr Unstern hatte gewollt, dass ihre kleine Stulpnase noch im letzten Augenblick mit einem rußigen Topfe oder mit sonst einem schwarzen, abfärbenden Gegenstand in Berührung gekommen war.
Das schlafende Kind, auf den Namen Eugen Frank getauft, wurde der Obhut der Wärterin übergeben. Kein Gaukler sollte wiederkommen und es vertauschen; dafür wollten schon Hira Singh und Kiong Jang sorgen. Dem kleinen Chinesen war ein stattlicher Zopf gewachsen; er hatte sich eine andere Porzellanfigur angeschafft, die er je nach Laune küsste, anbetete oder an die Wand warf und mit Füßen trat. Seine Magerkeit war verschwunden. Er teilte das Schicksal aller seiner Landsleute, das heißt, in Kürze konnte er über einen stattlichen Schmerbauch verfügen.
Die Gäste sammelten sich um die Tafeln, zu Ehren des getauften Kindes unter Nellys Aufsicht hergerichtet. Oskar Reihenfels, der zukünftige Direktor des britischen Museums, war der Gastgeber. Er und Eugenie teilten der Eltern Haus; im Sommer zog man wieder hinaus nach Wansteads grünen Wäldern, begleitet von des alten Reihenfels' Familie. Welch glückliche Zukunft lachte ihnen entgegen!
Zahlreiche Glückwünsche in Telegrammen und Briefen liefen ein, hauptsächlich aus Indien. Ihre Absender bildeten das Gesprächsthema bei Tisch.
Da war Dollamore. Der junge Nabob, von der Königin zum Baronet ernannt, verwaltete an der Seite seiner Sakuntala, die ihn einst von der Kanone losgeschnitten, die unermesslichen Besitzungen seines Vaters. Eine ernste Stimmung ergriff alle, als auf langen Umwegen ein Glückwunsch, aber für die Geburt des Kindes bestimmt, aus der Provinz Dschansi ankam.
Dort herrschte Radscha Sirbhanga Brahma, Kalidasa teilte den Thron mit ihm. Eugen hatte man das Kind genannt, nicht nur nach der Mutter, sondern auch nach ihm, der seine Jugend im Hause Carters verbracht hatte.
Ein Kuvert mit mehreren Briefen stammte aus den eisigen Gefilden Kanadas, von Mister und Miss Woodfield, von Dick und Charly. Der alte Mann hatte sich über den Tod seiner geliebten Tochter getröstet; bei seiner Rückkunft fand er in den Armen seiner Schwiegertochter ein Kind, an dem er jetzt mit ganzem Herzen hing.
Charlys Eltern in England waren gestorben, er nahm das Töchterchen seiner Schwester mit sich, er wollte ihm der Vater sein.
Dick hatte August nach Deutschland begleitet, die Mutter in die Arme geschlossen, ihr gegeben, was er sich in so langen Jahren erworben, und war dann seinem geliebten Herrn wieder nach Amerika gefolgt.
Von Mister Bulwer hörte man nichts mehr; er mochte es einmal an sich selbst studiert haben, wie das Sterben schmeckt.
Halb freudig, halb wehmütig las Oskar einen aus Potsdam erhaltenen, unorthografisch geschriebenen Brief — er kam von August, der als ehrsamer Strumpfwirkermeister sein Handwerk betrieb.
Er hatte der Exportfirma die Lage der Höhle angegeben, wo das Gepäck der von afghanischen Räubern überfallenen Karawane verborgen lag, und zur Belohnung die Hälfte des Wertes erhalten.
Eugenie sandte ihrem einstigen General der Amazonengarde einen Glückwunsch ins ferne Deutschland.
Gar mancher Person wurde noch im Stillen gedacht; man wechselte leise Worte und stieß unter sich auf ihr Wohl an. Einer erinnerten sich Lord Canning und Franziska wehmutsvoll — Mirja.
Die Kronleuchter wurden angezündet, und noch immer war der Sitz neben Lord Canning frei. Ein Gast fehlte, Lord Cannings Freund. Heute war Versammlung des Unterhauses, der Fehlende wohnte dieser bei.
Etwas Wichtiges wurde heute im Parlament besprochen, etwas, das die ganze Welt in Aufregung bringen würde. Und Lord Canning blickte oft sinnend vor sich hin.
Endlich erschien der Erwartete, ein kleiner, alter Mann mit scharfer Habichtsnase, der Schatzkanzler Disraeli.
Schnell begrüßte er die Anwesenden, beglückwünschte die Eltern des Taufkindes und begab sich an seinen Platz.
Lord Canning merkte, dass er eine Ansprache halten wollte, er winkte ihm abwehrend zu, aber der kleine Mann schüttelte den Kopf.
»Meine Damen und Herren«, begann er, »noch zwei Stunden trennen uns von dem morgenden Tag, und da niemand dieses Haus vorher verlassen wird, jetzt nicht mehr darf, so kann ich mein Geheimnis preisgeben. Morgen wird eine inhaltsschwere Depesche die Erde umlaufen: Die ostindische Kompanie ist aufgelöst, morgen wird sich Ihre Majestät Viktoria von Großbritannien und Irland zur Kaiserin von Indien proklamieren. Die Inder haben sich einen König und eine Königin gewünscht, sie haben sie bekommen. Erheben Sie sich, meine Damen und Herren, denn unter uns weilen zwei königliche Majestäten. Seine Herrlichkeit, der Lord John Canning, der Vizekönig von Indien, und seine hohe Gemahlin — sie leben hoch!«
Die Gläser erklangen, jubelnd umringte man das neue Herrscherpaar — Lord Canning und Franziska.
Eugenie aber schmiegte sich an Oskar, und er schlang beide Arme um sie und schaute sie leuchtenden Auges an.
»Du hast den Thron verloren, Eugenie, der für dich bestimmt war«, flüsterte er zärtlich, »aber ich will dir einen anderen geben — du sollst die Königin meines Herzens sein.«
Roy Glashan's Library
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