Roy Glashan's Library
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"Um die indische Kaiserkrone," Lieferung 1, 1905
"Um die indische Kaiserkrone," 1905
"Um die indische Kaiserkrone," Band III, 1905
"Um die indische Kaiserkrone," Band 3
Verlag Dieter von Reeken, 2024
"Um die indische Kaiserkrone," Band III, 1905
Unter dem Stamme einer Tamarinde lag in dem hohen Grase ein Mann. Die schwarze Hose und der rote Rock mit blanken Knöpfen ohne Abzeichen ließen in ihm einen gewöhnlichen englischen Soldaten erkennen, und zwar war er ein Engländer, kein Sepoy. Das Gesicht war von der Sonne schwarzbraun gefärbt, aber entsetzlich mager wie der ganze Körper. In völliger Ermattung lag er da und wünschte nichts sehnlicher als den Tod herbei.
Dieser Mann gehörte zu denen, welche der Meuterei entgangen waren. Es gelang ihm, aus seiner Garnison zu fliehen, als die Rebellen über die Engländer herfielen, und nun irrte er schon seit Wochen an den südlichen Abhängen des Himalaja in der Wildnis umher, waffenlos und des Weges unkundig.
Wagte er sich in ein Dorf, um etwas Brot zu betteln, so konnte er sicher sein, dass ihm bald die Verfolger wieder auf den Fersen saßen, und alle seine Kraft musste er aufbieten, diesen zu entkommen. Beeren und Früchte bildeten seine Nahrung, er trank aus Wasserlachen, und vergebens hoffte er, auf eine englische Truppenmacht zu stoßen, denn diese sammelte sich unten im Süden.
So wie dieser Soldat streiften noch hundert andere umher, und einer nach dem anderen fiel doch den die Wildnis durchsuchenden Sepoys in die Hände.
Jetzt konnte der Flüchtling nicht mehr weiter, die Glieder versagten ihm den Dienst. Fast wünschte er, dass ihn die Verfolger hier fänden und ihn mit ihren Säbeln in Stücke hieben. Aber dies hatte er schon oft gewünscht, und doch war er immer wieder geflohen.
Da war es ihm, als erschiene eine dunkle Linie vor seinen Augen, doch nur einen Augenblick behielt er überhaupt seine Besinnung, dann legte sich ihm eine Schlinge um den Hals, ein heftiger Ruck — und der Unglückliche hatte ausgelitten. Die Schlinge von Seidenschnur, von unsichtbarer Hand geschleudert, hatte ihn seitwärts von dem Tamarindenstamm, an den er den Rücken lehnte, zu Boden gerissen und ihm das Genick gebrochen.
»Dank sei der heiligen Kali!«, sagten zwei Stimmen gleichzeitig, und aus dem Kamelkraut, das den Baumstamm umgab, erhoben sich die wilden Gestalten zweier Inder.
In den Augen ihrer gelbbraunen Gesichter glühte ein fanatisches Feuer; triumphierend betrachteten sie ihr Opfer. Sie waren nackt bis auf die kurze baumwollene Hose, trugen im Gürtel ein langes Messer und um das schwarze Haar ein schmutzigblaues Tuch. Bei dem, der noch das Ende der Schnur in der Hand hielt, hatte sich dasselbe etwas verschoben, und ein anderes von schwarzer Seide, der Devy, kam darunter zum Vorschein, mit welchem die Thugs ihr Opfer ersticken.
»Dank sei der heiligen Kali«, wiederholte der Schlingenwerfer feierlich, »sie ist unersättlich, und sie sorgt auch dafür, dass ihre Diener immer für sie arbeiten können. Es ist heute der dritte den ich ihr opfere, der dritte, mein Bruder, den du begräbst, und die Göttin wird gnädig sein und uns auch noch den vierten senden. Ist das Bheel(*) fertig, Lugha?«
(*) Grab.
»Es ist gegraben, während du dich anschlichst, so wie es die Göttin liebt«, entgegnete der Lugha, der Totengräber, »der Boden war weich, es machte mir wenig Mühe.«
Sie untersuchten den Ermordeten, fanden aber gar nichts des Mitnehmens wert. Selbst die Uniform war zerrissen.
»Wann wird die Göttin unserer gedenken, dass auch wir Nutzen von den Toten haben?«, sagte der Bhutote, der Erdrosseler, niedergeschlagen. »Wohl kann sich die Göttin freuen, der Faringis streifen noch viele umher, welche in die Hände der Phansigars fallen werden, aber ihre Taschen sind stets leer, wie ihre Mägen.«
»Murre nicht, mein Bruder!«, erwiderte der Lugha. »Sie wird uns auch noch Opfer zuführen, an denen wir uns bereichern können. Ich sah vorhin, wie eine rote Schlange eine Maus verschlang, und nach diesem Zeichen habe ich stets Glück.«
Beide fassten den Toten an und trugen ihn seitwärts, nur wenige Schritte, wo eine lange Grube gegraben worden war, eben lang und breit genug, den Toten aufzunehmen, nur ganz flach.
So war also, während der Soldat mit offenen Augen dagelegen hatte, das Gehör geschärft, um etwa ankommende Verfolger noch rechtzeitig zu vernehmen, hier ganz in seiner Nähe schon sein Grab bereitet worden, und auf diese Weise arbeiten die Thugs immer. Das Opfer, welches erwürgt wird, bevor sein Grab gemacht worden ist, zählt nicht mit zu den Verdiensten, welche die Kali einst belohnen wird.
Sie legten den Soldaten in das Grab. Schon wollte der Lugha gleich einem Maulwurf mit den Händen Erde darüber schaufeln, als er sich noch einmal an den ihm übergeordneten Bhutoten wendete:
»Will mein Bruder, dass ich noch ein Grab daneben bereite, so wie es der Kali gefällt? Du hast Glück gehabt, ich habe gute Zeichen gesehen, vielleicht führt die Göttin dir ein neues Opfer zu.«
Am liebsten legen die Thugs ihre Opfer in ein Doppelgrab, so, dass die
Füße sich berühren. Deshalb suchen sie auch möglichst zwei Menschen gleichzeitig zu töten.
Der Gefragte schüttelte den Kopf.
»Schütte das Bheel zu. Lange ist es schon her, dass ich das Glück nicht
mehr gehabt habe, ein Doppelgrab zu füllen. Ich werde es auch hier nicht finden; diese Gegend ist einsam.«
Da ertönte in der Ferne das Wiehern eines Pferdes. Der Lugha sprang auf,
sein Begleiter spähte schon durch die Büsche.
»Grabe, Lugha, grabe, bis dir das Blut aus den Fingern spritzt!«, rief letzterer hastig.
»Wahrhaftig, ein Faringi kommt. Ich locke ihn heran.«
»Den Devy«, warnte der Lugha und begann schon mit Messer und Händen das Grab zu verlängern. Schneller konnte eine Schaufel nicht arbeiten.
Der Würger verbarg das schwarze Seidentuch unter dem blauen, wickelte die Seidenschnur fest in der rechten Hand zusammen und warf sich an den Boden, wo er sich unter Zuckungen hin und her wälzte. Dabei erschütterte sein Jammergeschrei die Luft.
Beide brauchten nicht erst eine Verständigung, jeder kannte die Rolle, die er zu spielen hatte, denn sie war nur eine Wiederholung von früher her. Schon oft hatten sie ihre Opfer an entlegene Ort gelockt, wo sie unbehindert erdrosselt und begraben werden konnten.
Das Zetergeschrei war gehört worden. Nicht lange dauerte es, so setzte ein brauner Hengst über das den Platz umgebende Buschwerk, und auf dem Rücken des Tieres saß Dick. Von der einen Seite des Sattels hing sein Gewehr herab, von der anderen ein Holzbauer mit einer Taube. Dass er nicht auf rechtliche Weise in den Besitz des stattlichen Rosses gekommen war, ist leicht begreiflich.
»Hallo, was gibt's hier? Wen schlachtet man hier ab?«, rief er, parierte das Pferd und überflog mit den Blicken den Platz.
Es sah freilich sonderbar genug darauf aus.
Ein Inder schaufelte mit den Händen an dem Loche, in welchem ein englischer Soldat als Leiche lag, und daneben wälzte sich ein anderer Inder, anscheinend in furchtbaren Schmerzen, am Boden. Sein Geheul war entsetzlich; vor den blauen Lippen stand Schaum.
Dick glitt aus dem Sattel, ergriff dabei seine Büchse, die er immer zur Hand hatte, und hing die Zügel des Pferdes über einen Baumzweig.
»Nun, was ist hier los? Du machst wohl ein Massenbegräbnis, Bursche?«
Der Lugha hatte sich erhoben, erzählte etwas, gestikulierte und deutete dabei bald auf den Toten, bald auf den sich krank Stellenden.
»Nix indisch«, sagte Dick kopfschüttelnd.
»O, Sahib«, begann jetzt der Inder in mangelhaftem Englisch, »alles tot, alles tot. Englisch Soldat tot, wir ihn begraben, nun mein Bruder auch bald tot.«
»Nanu, war denn dein Bruder vorhin noch gesund?«
»Ganz, ganz gesund. Soldat liegt hier, schreit wie jetzt mein Bruder, wir ihn finden, Soldat stirbt, wir wollen ihn begraben, bums, fällt mein Bruder auch hin und will sterben.«
Dick trat erschrocken einen Schritt zurück und ergriff die Zügel des Pferdes.
»Alle Teufel, dann ist der Soldat an der Cholera gestorben, und dein Bruder ist angesteckt worden.«
»Kein Cholera, ich das kennen«, versicherte der Inder.
»Oder an der Pest!«
»Nix Pest.«
»Dann an der Ruhr!«
»Auch nix Ruhr, böser Geist in ihn gefahren. Ich kann nicht helfen, aber du, du ein Faringi, du alles wissen und heilen.«
»Hm, sehr schmeichelhaft für mich, aber da werde ich wohl auch nicht helfen können. Sag mal, mein Junge, du machst wohl schon ein Grab für deinen Bruder?«
»Ja, Sahib.«
»Das ist liebenswürdig von dir, wo er noch nicht einmal tot ist.«
»Du ihn besehen, dann wird er gesund.«
Dick hatte keine Ahnung, dass er zusah, wie sein eigenes Grab gegraben wurde. Er fühlte Mitleid mit dem Unglücklichen, er wollte sich wenigstens überzeugen, was ihm fehlte, vielleicht konnte er ihm doch helfen, vielleicht schon mit einem Aderlass, denn er hatte in seinem vielbewegten Leben schon so manche Erfahrung betreffs Krankheiten gesammelt und verwertet. Dann hatte er manchen schon dicht neben sich an einer ansteckenden Krankheit verscheiden sehen, ihm Liebesdienste erwiesen und war selbst verschont geblieben.
Kurz entschlossen ging er auf den Schreienden zu, legte das Gewehr hin und beugte sich über ihn.
Dick hatte nicht den geringsten Argwohn, was die beiden mit ihm vorhatten, und so wusste er auch nicht, dass der Thug blitzschnell das Seidentuch hervorzog und sich ihm von hinten näherte.
Wäre damit Dicks Tod auch noch nicht beschlossen gewesen, obgleich ihm von hinten der Devy, von vorn die in der Hand verborgene Phansi, die Schlinge, drohte, so konnte er doch in eine kritische Lage kommen. Der Lugha warf ihm dann das Seidentuch über und suchte ihn zu ersticken. Drehte sich Dick um, so fiel die Schlinge um den Hals des Knieenden, ein Ruck und er war entweder tot oder doch völlig bewusstlos.
Aber das mörderische Bubenstück sollte nicht gelingen; über dem Ahnungslosen schwebte ein Schutzengel, der diesen Mann noch zu anderen Rettungswerken gebrauchte.
Man vernahm in der Ferne ein durchdringendes Schreien, es musste entweder von den Lippen eines Weibes oder eines Kindes kommen, gleich darauf erscholl ein schauerliches Grunzen, wie Dick es noch nie gehört hatte. Schnell kam es näher.
Seltsam, was für ein gutes Heilmittel dieses Grunzen war. Schnell wie der Blitz sprang der Kranke plötzlich auf und stürzte davon, dem Lugha nach, der beim ersten grunzenden Ton schon in panischem Schrecken die Flucht ergriffen hatte.
»Sambro, Sambro Mahadeo«, hörte Dick noch einmal schreien, dann war er allein und sah sich verdutzt um. Doch schnell besann er sich, sprang auf und machte die Büchse schussfertig.
Er hatte schon gehört, dass in Indien ein Bär existierte, welcher von den Eingeborenen Sambro genannt wird, auf Deutsch führt er den Namen Lippenbär. Nach dem Königstiger ist er das gewaltigste Raubtier Indiens und von den Eingeborenen noch gefürchteter als dieser, weil er seine Beute fast nur unter Menschen sucht und diese dann auf eine entsetzliche Weise quält. Er umschlingt sein Opfer, tötet es aber nicht, sondern saugt mit seinen beweglichen Lippen ein Glied nach dem anderen ab, zuerst die kleineren, also Nase und Ohren, selbst die Augen saugt er so aus. Hätten die Engländer nicht unter diesen Unholden tüchtig aufgeräumt, so würde Indien von ihnen wimmeln, weil die Inder den Lippenbären aus religiösem Aberglauben nicht töten, ebenso wenig wie Affen und Schlangen. Sie meinen, in jedem Lippenbär wohne ein böser Geist, und wer einen töte, der würde dazu verdammt, einst selbst als Bär zu leben und Menschen zu fressen. Wer aber einen tötet, der wird hoch verehrt, weil er das Land von einer Plage befreit hat.
Mahadeo bedeutet so viel wie Todesbote, so wird der Lippenbär auch manchmal genannt. Zugleich ist Mahadeo der anfeuernde Ruf für die Kriegselefanten, durch welchen sie in Wut versetzt werden.
Das schreckliche Grunzen rührte also von einem Lippenbär her, und das Hilfegeschrei von einem Menschen, den er verfolgte.
Schnell kam es näher, direkt auf Dick zu, der mit schussbereiter Büchse dastand, und da brach auch schon der Verfolgte durch die Büsche.
Dick hatte nur Zeit, zu erkennen, dass es ein ungefähr achtjähriger Knabe war, in überaus reiche indische Gewänder gekleidet, das schöne, von schwarzen Locken umrahmte Gesicht erhitzt und mit einem verzweifelten Ausdruck, als auch schon ein mächtiger Lippenbär nachgestürzt kam.
Dicks einläufiges Gewehr zielte nach dem Auge des Ungeheuers, er schoss und fehlte, denn in demselben Augenblick hatte sich der Knabe mit einem Freudenschrei auf den Jäger geworfen und sich an ihm hilfesuchend festgeklammert. Der Bär, nur am Kopf verwundet, stieß ein furchtbares Geheul aus, im Nu stand er vor Dick, erhob sich auf die Hinterbeine und umschlang ihn in tödlicher Umarmung.
Es war nicht das erste Mal, dass Dick einem Bären Brust an Brust gegenüberstand. Als die Bestie ihn erreichte, hatte er das Gewehr fortgeschleudert, sich von dem Knaben freigemacht, das Bowiemesser aus der Scheide gerissen, und der Bär hatte einen Gegner gefunden, der ihm gewachsen war.
Dick bückte sich, sein Kopf lag an der Brust des Raubtieres, und ehe dieses Zeit fand, die Rippen des Jägers zu zermalmen, wurde ihm blitzschnell dreimal hintereinander das Messer ins Herz gestoßen.
Wie ein Sack, nur mit einem kurzen Röcheln, stürzte der Bär tot zu Boden und riss den Trapper mit sich, doch im nächsten Moment hatte dieser sich befreit und erhoben.
Er wischte das blutige Messer an dem Fell ab und betrachtete jetzt den Knaben genauer. Dieser stand mit halbgeöffnetem Munde da; mit einem Ausdruck namenloser Bewunderung hing sein großes, glänzendes Auge an dem Faringi, der den Sambro mit dem Messer so leicht abgeschlachtet hatte, als wäre es ein Kaninchen gewesen. Selbst den eben überstandenen Schrecken vergaß er darüber. Dick musste sich gestehen, noch nie einen so schönen Knaben gesehen zu haben, noch nie solch regelmäßige Gesichtszüge an einem Kinde. Er war jedenfalls der Sohn eines sehr reichen Inders; alles an ihm war kostbar, der Gürtel mit Diamanten besetzt wie der kleine Dolch, der am Gürtel hing. Ferner bemerkte Dick, dass an den feinen Schnabelschuhen aus gelbem Leder lange, silberne Sporen befestigt waren, er musste also beritten gewesen sein.
Furchtlos ließ er Dick an sich herantreten. Dieser Mann hatte ihn ja gerettet.
»Nun Kleiner«, redete Dick ihn freundlich auf englisch an und tätschelte ihm den Kopf mit seiner rauen Hand, »das war wohl eine böse Jagd? Wie kommst du denn eigentlich allein hierher in die Wildnis?«
Der Knabe erfasste plötzlich die Hand des Trappers und führte sie an seine Lippen.
»Du hast mich vor dem Sambro geschützt und ihn getötet«, rief er in geläufigem Englisch. »Wenn du auch ein Faringi bist, so will ich doch dein Mayadar sein, von jetzt an, bis uns der Tod scheidet, und mein Vater, wenn er es erfährt, wird dir der zweite Mayadar sein.«
»Was ist denn das, Mayadar?«
»Weißt du das nicht? Was die Aya, die Amme, dem Kinde ist, von dem sie weder in Not noch im Tode scheidet, weil es ihre Milch getrunken hat, das ist der Mayadar seinem Herrn, der ihn gerettet hat. Du hast den Sambro getötet, du selbst musst nach deinem Tode als solcher durch die Wälder schweifen, aber von jetzt ab soll mein Auge über dich wachen, dass dein Leben nicht bedroht wird. Stirbst du, so sterbe ich mit dir, und dann werde ich dein Los erleichtern. Ich bin dein Mayadar. Befiehl über mich wie über deinen Sklaven!«
Dick konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als er den Knaben so sprechen hörte.
»Na«, schmunzelte er, »davor fürchte ich mich nun nicht so sehr, dass ich nach meinem Tode als Bär in den Büschen herumkriechen muss, schließlich muss das ja auch ganz hübsch sein, wenigstens hübscher, als unter der Erde zu liegen und von Würmern gefressen zu werden...«
»O, der Geist geht zu Brahma, wenn man gut war.«
»Hm, ich weiß noch nicht, ob ich zu ihm gehe, muss mir's erst mal überlegen. Und dass du von jetzt ab über mein Leben und meine Sicherheit wachen willst, dafür danke ich dir recht schön. Nun sag aber, wie kommst du hierher?«
»Mein Vater jagte mit seinem Gefolge auf den Grasebenen Gazellen und Antilopen. Er nahm mich mit. Als wir die Rudel umgingen, entfernte ich mich weit von den Jägern; bei einem Sprunge über ein Gebüsch stürzte mein Pferd und brach den Fuß. Als ich mich aufrichtete, sah ich einen Sambro auf mich zukommen. Ich hoffte, ihm durch Flucht zu entgehen, auf der Ebene wäre es mir auch gelungen, denn ich bin schnellfüßig, aber in diesen Gebüschen hinderten mich die Sporen, hier verließ mich meine Kraft, und hätte ich dich nicht getroffen, ich wäre verloren gewesen.«
»So so. Wie lange bist du denn gejagt worden?«
»Wohl über eine Stunde.«
»Das ist ein bisschen lange. Wird dich dein Vater nicht suchen?«
»Gewiss, er wird mich suchen und mich finden. Doch ich bin dein Mayadar, du kommst mit mir!«
»Hm, das werde ich wahrscheinlich nicht tun, aber allein lasse ich dich natürlich nicht hier. Wir suchen eben deinen Vater auf. Wer ist denn dein Vater?«
»Er ist ein edler und mächtiger Sirdar, der Bruder des Fürsten vom Pandschab, und wo man den Namen Akkallah hört, da verneigt man sich demütig.«
Über Dicks Lippen kam ein leiser Pfiff.
»Also Sirdar Akkallah ist dein Vater! So wohnst du auf der Burg Malangher?«
»Ja, dieses Schloss ist meine Heimat!«
Der Trapper betrachtete den Knaben misstrauisch, aber sofort ging die Wolke des Argwohns vorüber, diese großen, hellen Augen konnten nicht lügen; hinter dieser reinen Stirn konnte kein Verrat sein.
»Also Malangher! Dahin wollte ich nämlich auch.«
Die helle Freude, die bei dieser Äußerung bei dem Knaben ausbrach, hätte Dicks etwa noch vorhandenen Argwohn — nach Francoeurs Angaben war ja Malangher zugleich der Hauptsitz der Thugs — vollkommen zerstreuen müssen.
»O, wie herrlich, wie herrlich!«, rief der Knabe ein übers andere Mal. »Du kommst zu uns! Wie wird sich mein Vater freuen, den als Gastfreund bewirten zu können, der seinen Sohn dem Sambro entrissen hat. Komm, lass uns Akkallah aufsuchen, ihm entgegengehen!«
»Können wir nicht gleich nach der Burg reiten?«
»Ja, wenn du den Weg wüsstest!«
»Ich finde mich hin.«
»Woher weißt du ihn?«
»Ich weiß, wo die Burg liegt.«
Der Knabe schüttelte den Kopf. Er war in seiner Heimat, und doch hätte er sich nicht nach Hause gefunden. Da fiel sein Blick zum ersten Male auf den im Grabe liegenden, englischen Soldaten. Er erschrak.
»Was ist das?«
»Ja, wenn ich das wüsste!«
Dick erzählte ihm, was sich hier ereignet hatte, wie der anscheinend Todkranke beim Grunzen des Lippenbärs auf und davon gerannt wäre, aber auch der Knabe konnte ihm keine Erklärung geben. Der Soldat war tot, und Dick konnte nicht sagen, wann er gestorben war, vielleicht war er verhungert.
Dann bemerkte Suradscha — so war der Name des Knaben — Dicks Pferd, und je länger er den prächtiggebauten Hengst, der ängstlich mit zurückgeschlagenen Ohren und geöffneten Nüstern nach dem Bären witterte, betrachtete, desto größeres Erstaunen malte sich in seinen Zügen aus.
»Wer bist du, Faringi, dass dir dieses Ross zum Reiten durch die Wildnis anvertraut worden ist?«
Dick wurde etwas verlegen.
»Ich? Hm, ich bin Dick, Dick Red, auch der rote Dick genannt. Schönes Pferd, nicht? Ja, ich habe einen guten Geschmack.«
»Aber du musst ein Freund von Radscha Daulah sein, denn dies ist sein Leibross.«
»So, ist es? Das tut mir leid.«
»Hat er es dir geschenkt oder nur geborgt?«
»Nur geborgt, natürlich nur geborgt«, entgegnete Dick schnell, denn er scheute sich doch, diesem Kinde gegenüber zu gestehen, dass er das wertvolle Tier in der vergangenen Nacht mit der List und Gewandtheit eines amerikanischen Pferdediebes aus einer Hürde gestohlen hatte.
Der Knabe wollte den Toten gern erst beerdigt sehen; aber Dick hatte es plötzlich eilig, er wollte sich keiner ansteckenden Krankheit mehr aussetzen.
Mit einem bedauernden Blick auf das schöne Fell des Bären hob er Suradscha vor sich in den Sattel und schlug mit unfehlbarer Sicherheit die Richtung nach der Burg ein.
Dort also sollte, wenn Francoeur ihn nicht belogen hatte, der Schlupfwinkel der Thugs sein, dort auch sollte Nancy, Woodfields unglückliche Tochter, gefangengehalten werden.
Dick wusste noch nicht, dass er sich jetzt in das gefährlichste Abenteuer einließ, das ihm je begegnet war.
Der Platz war noch nicht lange verlassen, als sich die Gebüsche teilten und die beiden Thugs wieder erschienen. Als sie überzeugt waren, dass der Lippenbär tot sei, wagten sie sich hervor.
»Er hat den Sambro getötet«, sagte der Buthote, »er ist verflucht und muss seine Tat büßen.«
Der Lugha deutete nach dem Grab.
»Und wir?«
Scheu begegneten sich die Blicke beider.
»Das Grab ist fertig«, sagte der eine dumpf.
»Kali will Ersatz für das Opfer haben, das uns entgangen ist.«
»Sollen wir warten?«
»Wenn die Sonne sinkt und das leere Grab ist noch nicht gefüllt, so werden wir vor ihr zittern müssen.«
Ein drückendes Schweigen lag auf beiden, sie konnten zu keinem Entschluss kommen. Durch die Bereitung des zweiten Grabes hatten sie eine furchtbare Verantwortung auf sich geladen.
Da schraken sie zusammen; sie dachten abermals an Flucht, doch es war zu spät; ein prächtiger Schimmel drängte sich schon durch die Büsche, auf ihm ein Inder in Jagdrüstung. Außer der kostbar ausgelegten Flinte und den üblichen Pistolen und Dolchen trug er im Gürtel noch einen meterlangen Stock und eine Stahlscheibe, etwa fünf Zoll im Durchmesser haltend, in der Mitte mit einem Loch versehen und am Rande haarscharf geschliffen.
Es war dies die Wurfscheibe, deren Gebrauch unter den Bewohnern des Himalajagebirges verbreitet ist.
Die beiden Thugs duckten sich wie zum Sprunge und griffen nach den Messern, dieser fremde Mann musste sterben.
»Ehre sei der heiligen Kali«, rief dieser schnell »vor euch steht ein Cham, ein Priester der Spitzaxt.«
Der schon ältliche Reiter hatte das Grab gesehen, in den beiden Thugs erkannt und sich selbst als einen Priester der Sekte zu erkennen gegeben.
Die zwei Männer verneigten sich demütig.
»Wer seid ihr?«, forschte der Reiter.
»Ich bin Aram, der Sohn Faringheas, den die ganze Welt kennt«, entgegnete der Buthote, sich stolz aufrichtend; »weil er in den Gefängnissen der verfluchten Faringis geschmachtet hat, fehlten ihm 221 Seelen, sonst hätte er der Kali tausend geschenkt. Ich, sein Sohn, habe die fehlende Zahl bereits erreicht, heute habe ich den dreihundertsten in das Nebelland geschickt.«
»So bist du also ein Sohn des Landes Holkar?«
»Ich bin's, Herr, ein Buthote, und dieser ist der mich begleitende Lugha.«
»Was wollt ihr hier?«
»Wir hörten, dass im Tempel das Fest der Kali gefeiert werden soll, und machten uns auf den Weg, ihn zu suchen.«
»Habt ihr ihn schon gefunden?«
»Noch nicht. Noch hat uns sich niemand als Thug zu erkennen gegeben, so vielen wir auch die Hand drückten. Wir wollten den Sirdar Akkallah aufsuchen, welcher ein mächtiger Cham sein soll und seine Burg Malangher hier in der Nähe hat.«
»Ich bin der Herr von Malangher, ich bin Akkallah.« Die beiden verneigten sich noch tiefer.
»Die Kali sei dir gnädig, Vishnu erhalte dich, Shiva schenke dir Kinder.«
So war der Reiter also Suradschas Vater, und er sah dem Knaben auch sehr ähnlich. Er hatte dasselbe schön geschnittene Gesicht, dieselben großen, feurigen Augen, nur lag, wenigstens jetzt, ein Zug von Angst und Sorge darin. Man hätte nicht geglaubt, dass dieser Mann eine Seele besaß, die nach Menschenblut dürstete. Doch es wurde schon erwähnt, dass die Thugs das Morden als ein gottwohlgefälliges Werk betrachten, und wir Christen dürfen sie am allerwenigsten verdammen, wir brauchen nur an die Religionskriege zu denken, oder an die Gebete, welche vor der Schlacht aufsteigen zu dem, der da geboten hat: Liebet eure Feinde.
»Ich sehe ein Doppelgrab, doch nur ein Opfer liegt darin. Hast du, Lugha, es im Frevelmut gegraben? Ha, ein Sambro! Wer ist der Kühne, der es gewagt hat, die Schuld auf sich zu laden? Oder wolltet ihr ihn in das Grab legen?«
Die beiden erschraken vor solch einer Anklage. Sie erzählten, was sich ereignet hatte, soweit sie es aus dem sicheren Hinterhalt erspäht und erlauscht hatten. Des Sirdars Gesicht hellte sich bei dieser Erzählung immer mehr auf.
»Der rote Faringi, wie ich einen solchen noch nie gesehen habe«, schloss der Buthote, »wollte nach Malangher reiten und nahm den Knaben mit sich. Er bietet sich der Kali also selbst zum Opfer dar.«
»So hat dieser Faringi mein Kind gerettet!«, rief der Sirdar fast jubelnd.
»Dein Kind? Es war dein Kind?«
»Es war Suradscha, mein Sohn. Und der Faringi hat den Sambro in der Umarmung mit dem Messer getötet?«
»So ist es, Sirdar!«
Der Reiter sprang ab und untersuchte den Leichnam des Bären.
»Bei Brahma, er hat ihn nur am Kopf gestreift und ihm dann dreimal das Messer ins Herz gestoßen.«
»Der Sambro wollte sich auf den Knaben stürzen; der Faringi warf sich ihm jedoch entgegen und rettete dein Kind.«
»Bei Brahma, so will ich sein Mayadar sein!«, rief der Sirdar feierlich.
»Herr, er ist auf der Burg der Kali, wir wollten dich bitten...«
»Um was?«
»Liefere ihn uns aus!«
»Wozu?«
»Das Grab zu füllen. Die Kali zürnt uns, wenn wir sie um eine Seele betrügen.«
»Den soll ich töten, der mein Kind gerettet hat?«, brauste der Sirdar zornig auf. »Habt ihr nicht gehört, dass ich sein Mayadar sein will, und ihr verlangt, ich soll ihn euch ausliefern?«
»Was sollen wir tun?«, fragten die beiden kleinlaut. »Die Kali fordert Sühne.«
»Und sie soll die noch fehlende Seele haben. Ich bin ein Cham, ich habe zu bestimmen, ich ziehe das Los.«
Der Widerstand der beiden war sofort gebrochen, geduldig ergaben sie sich in das Schicksal, das nicht mehr zu umgehen war. Das Grab musste gefüllt werden, ein Opfer war nicht da, so musste einer von ihnen in den Tod gehen. So forderte es das unerbittliche Gesetz der Thugs.
»Wie du befiehlst, edler Sirdar, wir sind zum Sterben bereit. Was willst du gebrauchen?«
»Ich bin ein Cham der heiligen Spitzaxt, einer von euch stirbt durch den Stahl.«
Ohne eine weitere Aufforderung abzuwarten, knieten beide an dem offenen Grab nieder und beteten inbrünstig. Einer von ihnen musste in der nächsten Minute sterben, aber sie wussten nicht, wer es sein werde.
Der Sirdar nahm einen Stein auf und warf ihn empor. Er fiel mehr nach dahin, wo der Buthote auf den Knien lag. Doch ihm war die Entscheidung des Schicksals unbekannt, er sollte es auch nicht lebend erfahren.
Mit leisem, unhörbarem Schritt nahm der Inder etwa zehn Meter hinter den beiden Stellung, steckte den schon erwähnten Stock fest in die Erde, den Stahlring darüber, machte eine leichte, kaum merkliche Handbewegung, und blitzschnell wirbelte der Ring um den Stab.
Plötzlich schnellte der Inder das Ende des Stabes in die Richtung des knienden Buthotes. Wie ein Blitz sauste der Ring durch die Luft und trennte Hals und Kopf des Mannes durch einen haarscharfen Schnitt. Der Kopf fiel in die Grube, eine dunkle Blutwelle sprudelte aus dem Halse, dann stürzte der kniende Körper nach und füllte das Grab.
Der andere Inder erhob sich, das Los hatte ihn verschont.
»Die Kali wird ihren Dienern nicht zürnen«, sagte Akkallah, »wir haben ihr Gebot befolgt. Sie wird Arams Seele gnädig empfangen, denn er hat seine Schuld gesühnt. Begrabe deinen Bruder und den Faringi, Lugha! Durchstich die Leichen, dass die Gase den Boden nicht heben! Nun sage mir nochmals. Der Faringi wollte mit meinem Sohne nach Malangher reiten?«
»Er hätte es auch getan, wenn er deinen Sohn nicht getroffen hätte, so habe ich genau verstanden, obgleich ich nur wenig Englisch spreche.«
Der Sirdar neigte sinnend den Kopf.
»Ich werde versuchen, ihn einzuholen«, sagte er dann, sein Pferd besteigend. »Wenn es möglich ist, soll der Faringi, dem ein Mayadar zu sein ich geschworen habe, mein Schloss nicht betreten, denn er findet wohl den Eingang, doch nicht den Ausweg. Beeile dich, Lugha, und komme nach, denn heute Nacht wird das Fest des Devy gefeiert, die Kali wird sich an dem Geruche des Blutes von über zweihundert Menschen weiden können.«
Damit sprengte er davon. —
Diese Szenen hatten sich zur Mittagsstunde ereignet. Dick und sein neuer Freund ritten den ganzen Nachmittag. Suradscha konnte sich nicht genug wundern, wie der Faringi, der zum ersten Male hier sein wollte, den Weg nach der Burg seines Vaters ohne Führer fand.
Später lichtete sich der Wald, schwächer und schwächer ward die Vegetation, bis diese ganz verschwand und einer weißen, wellenförmigen Sandwüste Platz machte. Weit im Hintergrunde erhoben sich Bergesmauern, welche die Abendsonnenstrahlen blendend reflektierten.
»Wahrhaftig, du hast dich nicht geirrt!«, rief Suradscha erstaunt, während das Ross unter Dicks Faust zur schnellsten Karriere ausgriff. »Diese Wüste zieht sich vor dem Schlosse meines Vaters hin. Siehst du dort die Mauern?«
»Es sind wohl die Mauern der Burg?«
»Pass auf, wenn du hinkommst!«, lachte der Knabe. »Es sind himmelhohe Berge, und es gibt dort keinen Eingang!«
»Ja, wie kommst du denn hinein?«
»Ich muss dir als Führer dienen. Lenke mehr nach rechts, dort finden wir einen Engpass und haben wir den passiert, so sehen wir Malangher liegen.«
Dick hatte schon versucht, den Knaben auszuforschen, ob die Burg wirklich der Versammlungsort der Thugs sei, hatte aber bald erfahren, dass Suradscha gar nichts davon wusste.
Nach einer Stunde schnellsten Rittes konnte Dick wirklich erkennen, dass sich hier die Gebirgsmassen des Himalajas befanden. Jäh stiegen sie aus der flachen Wüste auf, fast ohne vorheriges Hügelland, steinerne, senkrechte Mauern von ungeheuerer Höhe, die das Gebirge selbst vor jedem Menschen abschließen zu wollen schienen.
Das Merkwürdigste war für Dick, dass er gar keine Schlucht, keinen Pass und nichts sah. Wie sollte man über diese Felswände hinweggelangen?
Es war ein Glück für ihn, dass er einen in der Gegend bekannten Menschen gefunden hatte.
Suradscha ergriff die Zügel des Rosses und deutete auf einen dunklen Strich in der weißen Mauer.
»Dort ist der Zugang zu Malangher, wenigstens von hier aus. Willst du den bequemen Weg gehen, so musst du noch zwei Tage reiten, ganz nach links, bis die Felsenmauer zu Ende ist.«
Nach einer Viertelstunde erreichte das dampfende Ross die Felsenspalte, die nicht einmal breit genug war, dass zwei Pferde nebeneinander gehen konnten.
»Wir werden angehalten werden!«, erklärte Suradscha vorher. »Doch wen ich einführe, der hat stets Zutritt zu Malangher.«
Als er den Pfad betreten wollte, geschah dies auch schon.
»Halt!«, rief eine Stimme. »Kein Fremder darf die Burg betreten!«
Hinter einem Felsvorsprung hervor trat ein Mann, er legte zum Schutze gegen die blendenden Sonnenstrahlen die Hand über die Augen und betrachtete die beiden Reiter.
»Suradscha!«, rief er dann überrascht. »Blendet mich denn die Sonne? Du allein mit einem Faringi?«
»Sende Boten aus, Randschit, meinem Vater entgegen und melde ihm, dass ich schon in der Burg bin. Gib den Weg frei, wir sind müde!«
Der Wächter zögerte.
»Ich habe den Befehl, keinen Faringi einzulassen.«
»Dieser Mann ist zwar ein Faringi, aber kein Fremder! Er ist der Gastfreund meines Vaters.«
Der Wächter trat zurück und ließ das Pferd passieren.
Dick sah in der langen Felsenspalte noch mehrere Wächter, er glaubte sogar hoch oben auf der Felswand Köpfe zu sehen, und es war ihm, als ob alle teils erstaunt, teils grimmig auf den Faringi blickten.
Wahrscheinlich hatte er überhaupt nur Zutritt, weil der Sohn des Burgherrn bei ihm war. Noch einmal trat ihnen ein Wächter, ein alter Mann, sehr energisch entgegen; er wollte den Faringi durchaus nicht weiterreiten lassen. Da beugte sich Suradscha herab, zog dem Manne mit dem Zügelende einige Hiebe über den Rücken, und nun wagte dieser nicht mehr, dem Willen seines kleinen Gebieters zu trotzen.
Zuletzt eröffnete sich vor Dick eine wunderbare Aussicht.
Er erblickte, rings eingeschlossen von hohen Felswänden, ein wahres Paradies. Es war ein Tal, besetzt mit Kokos- und anderen Palmen, Tamarinden, Bananen und Mangobäumen, darunter erhoben sich die Schilfhütten eines Dorfes, zwischendurch floss ein kleiner Bach, an dem Schafe und Ziegen von Weibern und Kindern getränkt wurden, während die Männer noch auf den Mais- und Reisfeldern beschäftigt waren.
Zur Linken führte eine Heerstraße in den mächtigen Talkessel, denselben Weg nahm auch der Bach, aber die Straße war durch einen Schlagbaum gesperrt, und zahlreiche Männer standen dort Wache.
In der Nähe des Tales erhob sich abgesondert ein terrassenartig ausgebauter isolierter Felsen, auf dessen Gipfel eine Burg stand, nach orientalischer Art nur mit wenigen Fenstern versehen. Die Abendsonne ließ die vergoldeten Zinnen erglänzen und fiel noch auf den breiten Weg, der im Zickzack zur Burg hinauf führte.
Eben wurden vier Elefanten diesen Weg hinaufgetrieben, die mit den Rüsseln schwere Holzstämme trugen.
Über allem lag ein so unbeschreiblicher Reiz von Glück und Frieden ausgebreitet, dass sich Dick heimlich fragte, ob denn dies wirklich das Nest der Thugs sein sollte. Nein, es war gar nicht möglich. Hier sollte eine Würgerbande hausen? Diese friedlichen Arbeiter sollten selbst Thugs sein oder doch wissen, was im Innern der Burg vorging? Freilich, es war eine Festung, und zwar eine fast uneinnehmbare. Den Engpass konnte eine Handvoll Leute verteidigen, und waren auf der Burg Geschütze, so konnten diese die ganze Heerstraße bestreichen.
»Dies ist Malangher, meines Vaters Schloss!«, sagte Suradscha. »Willkommen, Faringi, mein Mayadar, in meinem Heimattal! Wie wird sich Akkallah freuen, dich als Gast bewirten zu können, wenn er von mir erfährt, wie du seinen Sohn gerettet hast!«
Das Pferd erklomm den Burgpfad, sie ritten in den Hof, und überall erblickte Dick verwunderte oder drohende Gesichter. Das war eine schlechte Begrüßung, aber er traute dem Knaben. Dieser wenigstens meinte es ehrlich.
Was hätte er sonst wohl beginnen sollen? Hätte er erst die, welche in Eskandera auf ihn warteten, benachrichtigen sollen? Um Gottes willen! Die wollten dann mit, und Dick musste allein sein, wenn er etwas zu erreichen hoffte. Vor allen Dingen war ihm die Gegenwart Miss Woodfields immer hinderlich; er hatte sich schon oft über die alte Dame geärgert.
Wie er es allerdings anfangen musste, etwas zu erreichen, davon hatte er noch keine Ahnung. Wie schon so oft, ging er furchtlos direkt auf sein Ziel los, und das Glück hatte seine Tatkraft bis jetzt noch immer unterstützt.
Wenn er nur dort war, wo sich Nancy befinden sollte, so war das alles, was er wünschte, und unter dem Schutze Suradschas glaubte er sich, vorläufig wenigstens, sicher.
Der Knabe hatte sich, während Dick unter solchen Gedanken den Hof musterte, mit einem Inder leise unterhalten, der ihn zwar demütig empfing, aber fortwährend missbilligend den Kopf schüttelte.
Daraus schloss Dick, dass seine Anwesenheit hier allen sehr unangenehm war. Da nahm der Knabe ihn an der Hand und führte ihn ins Innere der Burg.
»Fürchte dich nicht!«, sagte er, als er ihn in ein Zimmer geleitete. »Bist du auch ein Faringi und zürnen auch die anderen, dass ich dich mitbringe, so bist du uns doch willkommen. Ich kann nicht allen erzählen, was du mir getan hast, erfahren sie es aber, so wird ihr Murren verstummen. Wie, du hast auch dein Gewehr mitgebracht? Ich will es dir abnehmen lassen, du brauchst hier keine Waffen, dein Leben ist sicher.«
Auf sein Klatschen erschienen einige Diener, denen er die Sorge für Dick übergab, von seinen Waffen wollte dieser sich aber auf keinen Fall trennen. Dass er auch die Taube mit sich herumschleppte, dafür fand er leicht eine Erklärung.
Draußen erschollen Hörnersignale. Mit einem Freudenschrei eilte der Knabe hinaus, den zurückkehrenden Vater zu begrüßen.
Als sich Dick allein sah, musterte er erst einmal das orientalisch ausgestattete Gemach, blickte durch das hochgelegene Fenster in den Hof und setzte sich dann auf den Diwan, um zu überlegen, was nun weiter zu beginnen sei.
Daran, dass er sorglos gehandelt hatte, als er sich so direkt in die Burg der Thugs begeben, dachte er gar nicht. Er musste eben hinein, das war ihm auch gelungen, und er hatte bis jetzt stets auch aus der schwierigsten Lage einen Ausweg gefunden. Was aber nun zu machen sei, das wusste er freilich nicht.
Er hatte nicht viel Zeit zum Nachdenken, denn hastig ward die Tür aufgerissen und Akkallah trat ein.
»Du bist der Faringi, welcher mir den Sohn gerettet hat?«, rief er in leidenschaftlicher Erregung und drückte Dicks Hand mit seinen beiden gegen die Brust. »Suradscha hat es mir schon erzählt, du bist es! O, Fremdling, wie soll ich dir dafür danken? Du hast mir das einzige erhalten, an dem mein altes Herz noch hängt, die Hoffnung meines Lebens, meinen einzigen Trost!«
»Ich habe nichts getan, was ich nicht jedem anderen getan hätte«, wehrte Dick ab, den solch ein Ausbruch von Dankbarkeit fast in Verlegenheit setzte. »Was ist denn auch Großes dabei? Ein paar Stiche, und fertig ist die Geschichte! Wer in Gefahr ist, dem muss man beistehen, ebenso, wie man keinem das Leben ohne Grund nimmt. Herrgott, Mann, beruhigt Euch nur.«
Der Inder sah ihn starr an.
»Das ist die Lehre der Christen!«, murmelte er wie geistesabwesend. »Ja, es ist etwas Wahres daran. Aber sprich doch«, fuhr er lauter und schneller fort, »wie kann ich dir dafür danken?«
»Nun, wenn ich einmal in Lebensgefahr bin, und du kannst mir heraushelfen, dann tu's«, lächelte Dick.
Der Sirdar blickte sich erst scheu um, als wäre er nicht der Herr der Burg, sondern ein Eindringling, als er sagte:
»Dann entferne dich schnell wieder von hier! Schnell! Jetzt kann ich dir noch sicheres Geleit geben. Zögere nicht, sonst kann ich dich nicht mehr retten, und ich habe in meinem Herzen geschworen, dein Mayadar zu sein.«
»Schon wieder ein Mayadar! Na, das geht ja heute gut. Was soll mir denn hier für eine Gefahr drohen?«
Er beobachtete scharf das Gesicht des Sirdars, das sichtliche Besorgnis ausdrückte. Der Inder begann plötzlich hastig im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Ich kann dir nicht sagen, was dir droht; aber du musst fort, auf der Stelle, oder ich kann dich nicht schützen.«
»Bist du nicht der Herr in dieser Burg?«
»Nicht lange mehr.«
»Ah, du hast sie wohl verkauft?«
»Nein, nein, ich kann es dir nicht erklären. In einigen Stunden habe ich hier nichts mehr zu sagen. Du musst fort, ich gebe dir sichere Begleitung mit.«
»Ich habe immer so viel von Akkallahs Gastfreundschaft erzählen hören, es scheint aber nicht sehr weit her mit ihr zu sein.«
Das war eine direkte Beleidigung, wenigstens für jeden Inder; der Sirdar achtete aber nicht darauf.
»Ein andermal sollst du eine unbegrenzte Gastfreundschaft kennen lernen, nicht heute. Du musst fort!«
»Wenn du mich zu deinem Hause hinauswirfst, muss ich natürlich gehen, sonst tu ich's nicht. Aus einer Gefahr mache ich mir nichts; im Übrigen bin ich etwas schwerhörig.«
»Heiliger Brahma, was soll ich beginnen!«, murmelte der Sirdar.
Lauschend blieb er stehen; durch das Schloss klang es wie Stimmengemurmel.
»Ich verlasse dich für wenige Minuten, dann sprechen wir nochmals darüber. Retten will ich dich wenigstens.«
Als der Sirdar das Zimmer verließ, stand vor der Tür eine hohe, dicke und herkulische Figur. Es war Radscha Gholab, der Oberguru der Thugs.
Ein furchtbar finsterer Blick traf den Sirdar, jener musste gelauscht haben.
»Was ist's mit diesem Faringi?«, grollte er.
»Er hat Suradscha aus den Klauen des Sambros gerettet. Suradscha brachte ihn hierher.«
»Das weiß ich alles. Ist das ein Grund, ihn der Kali zu entziehen?«
»Ich habe geschworen, sein Mayadar zu sein.«
»Töricht genug von dir! Auch er wird der Kali geopfert. Dies bringt ihm und dir Segen.«
Der Sirdar richtete sich stolz auf.
»Radscha, vergiss nicht, dass ich jetzt noch zu befehlen habe, nicht du, und solange dies ist, soll ihm kein Haar gekrümmt werden.«
»Wenn du das Feuer der heiligen Kali siehst, wenn dich die heilige Wut befällt, wirst du anders denken lernen. Jetzt geh, es sind neue Gefangene angekommen. Ich werde dem Faringi noch kein Leid zufügen, weil du es so willst.«
Während Akkallah schnell ging, begab sich Gholab nach der Tür zurück und spähte durch ein winziges Loch, durch welches er aber das ganze Zimmer übersehen konnte.
In diesem Augenblicke sah er, wie der Fremde die mitgebrachte Taube hoch hob und sie zum Fenster hinausflattern ließ. Wie der Blitz schoss das befreite Tier davon.
Eine furchtbare Wut verzerrte das Gesicht des Priesters, erst wollte er die Tür öffnen und den Mann zur Rechenschaft ziehen, aber Dick war stark bewaffnet und er hatte den Sambro mit dem Messer getötet.
Gholab traf Maßregeln, ihn unschädlich zu machen. Der Kali sollte er doch nicht entgehen.
Dick hatte die Brieftaube mit der untergebundenen Feder fliegen lassen, denn nach dem Gespräch mit dem Sirdar zweifelte er nicht mehr, dass er sich in der Burg der Thug befand; er wollte Francoeur gegenüber sein Wort halten.
Er begann abermals, sein Zimmer zu untersuchen, er machte sich auch an der Tür zu schaffen, und da fand er, dass sie von außen verschlossen war. Sie war massiv und aus dem stärksten Holz gefertigt, doch Dick hätte schon Rat gewusst, wenn er hinausgewollt hätte. Vorläufig hatte er noch keinen Grund dazu, so etwas ging auch nicht ohne Lärm ab.
Es ward dunkler und dunkler, die Sonne war schon längst hinter den Felswänden verschwunden, und den Gast schien man völlig vergessen zu haben.
Im Schlosse herrschte eine seltsame Aufregung; das Murmeln vieler Stimmen drang selbst bis zu den Ohren Dicks.
Jetzt war es ihm, als ob das Murmeln vom Hofe aus heraufklang, er sprang ans Fenster und spähte hinunter, konnte aber nichts weiter unterscheiden als ein Gedränge von dunklen Gestalten. Die Nacht brach schon an.
Da, was war das? Ein Schrei, von einem Weibe ausgestoßen, gellte zu ihm herauf.
»Der Herr erbarme sich unser!«, rief die Weiberstimme, »Euch Otterngezücht aber wird er...«
Die Stimme wurde erstickt, aber schon hatte Dick sie erkannt, sie konnte niemandem anders als Miss Woodfield angehören.
Wie? Sollten sich auch seine Gefährten hier befinden? Dann waren sie unbedingt Gefangene.
Dick fing an, zu begreifen, dass er sich in einer recht kritischen Lage befand. Wie konnte er seinen Freunden beistehen?
Er setzte sich abermals auf den Diwan, um nachzusinnen, er hoffte auf die Dankbarkeit des Schlossherrn und des Kindes. Plötzlich spürte er eine große Müdigkeit über sich kommen; mit aller Anstrengung suchte er sie zu verscheuchen, es gelang ihm nicht, und schon nach wenigen Minuten lag der sonst unermüdliche Trapper in tiefsten Schlafe da. Er war einer List der Thugs zum Opfer gefallen.
Ungehindert hatte Reihenfels unter der Führung Makallis die Burg auf schnellen Rossen erreicht, die sich die Bajadere noch im Schlosse Bahadurs zu verschaffen gewusst. Reihenfels war jetzt vollkommen eingeweiht. Er hatte verschiedene Male das Erkennungszeichen geben müssen, so durften die beiden Gestalten, welche dunkle Kapuzen mit Augenlöchern über dem Kopfe trugen, überall passieren.
»Ihr kommt spät«, flüsterte der Torwächter, »beeilt euch! Kennt ihr den Weg?«
»Wir kennen die Pagode«, entgegnete der verkleidete Inder.
Der Hof des Schlosses war wie ausgestorben, nicht das kleinste Geräusch war zu vernehmen, und doch hatte Makalli vorher versichert, dass schon jetzt die rasende Orgie von Hunderten halb wahnsinniger Inder begonnen haben müsste.
In der Mitte des Hofes stand ein zierliches Gebäude, an den vielen runden Türmchen als eine Pagode, das heißt, als ein Tempel erkennbar, in welchem die Schutzgötter des Hauses verehrt werden, also eine Art von Kapelle.
Die Pforten waren offen, die beiden traten ein.
Eine von der Decke herabhängende Lampe verbreitete einen geisterhaften, bleichen Schein, sie schwankte leise und ließ dadurch auch die schauerliche Dekoration der Wände sich scheinbar bewegen. Diese bestanden aus Mosaik, in den schreiendsten Farben zusammengesetzt, scheußliche Fratzen darstellend, im Luftzug klapperten überall Gerippe von Menschen und Tieren.
Reihenfels konnte einen Schauder nicht überwinden. Wenn schon der Vorplatz zum Eingange in das Reich der Thugs so beschaffen war, was mochte dann später erst kommen?
In der Mitte dieses Raumes erhob sich ein prächtiger, über und über mit erhabenen Figuren aus Diamanten bedeckter Sarkophag von kolossalen Dimensionen, wie man solche noch manchmal in uralten indischen Ruinen vorfindet. Er ruhte auf vier zusammengeringelten, schön gearbeiteten Schlangen, deren Augen aus großen Smaragden bestanden, die förmlich ein grünes Licht auszustrahlen schienen.
Am Kopfende des Sarges stand eine kleine Silberschale, in welcher eine weiße Flamme schwebte, scheinbar ohne Nahrung zu erhalten. Kein Öl, kein Docht war vorhanden — nur die leere Schale und darin die aufrecht stehende Flamme.
Die Bajadere zog unter ihrem weiten Gewande eine Lampe hervor und entzündete den Docht an der Flamme.
»Dies ist das heilige Feuer«, sagte sie, »und dass es wieder brennt, ist ein Zeichen, wie viele Menschen in letzter Zeit hier schon getötet worden sind. Lange schon reichte das Gas nicht mehr aus, um die Flamme zu nähren, jetzt brennt sie lichterloh.«
»Es ist Gas?«, fragte Reihenfels ungläubig.
»Das Gas, welches den verwesenden Leichen entweicht. Es strömt von unten durch Röhren hierher und wird in diesem Sarkophag gewaschen, dass es leichter brennt.«
Wie viele Menschen mussten schon getötet worden sein, dass die Zersetzungsgase eine solche Flamme nähren konnten!
Die beiden schritten der gegenüberliegenden Wand zu, und Reihenfels schrak plötzlich zusammen; denn ein Blitz zuckte durch die Finsternis, die hier herrschte. Er schien aus dem Rachen einer ungeheuren Schlange zu kommen, die halb aus der Wand hervorsah. Sie war nur von Erz und der Blitz ein Warnungszeichen gewesen.
»Wahret euern Fuß, wenn ihr hier fremd seid« sagte leise eine Stimme.
»Wir sind es nicht«, entgegnete Makalli.
Eine dunkle Gestalt trat zur Seite, Makalli senkte die Lampe und beleuchtete eine gähnende Tiefe, zu welcher steinerne Stufen hinabführten.
Sie begannen den Abstieg, der nimmer zu enden schien.
Fast eine Viertelstunde waren sie abwärts gestiegen, als Makalli stehen blieb.
»Dies ist erst die Hälfte des Weges, bald aber werden wir die Thugs heulen hören. Sage mir nochmals, Faringi, hast du Mut, mit mir in dieses unterirdische Reich hinabzusteigen?«
»Bin ich dir nicht schon gefolgt? Ich könnte ja auch nicht mehr zurück.«
»Doch, du könntest es. Ich habe dich die Formel gelehrt, die du sagen musst, solltest du durch irgend ein Ereignis von mir getrennt werden. ›O Kali! ›Ombra Nurheddin!‹ sagst du zu dem ersten dir Begegnenden, er wird dich für einen fremden Thug halten und dich hinausbegleiten. Besser ist es, du kehrst jetzt schon um, als dass dich nachher der Mut verlässt, wodurch du auch mich in Gefahr bringen würdest.«
»Geh voran, ich habe Mut.«
»Es ist leichter, einen Panther ohne Waffen entgegenzutreten, als den Anblick dessen ohne Zittern zu ertragen, was du zu schauen bekommst.«
»Ich werde nicht zittern.«
»Ich sah dich schon zweimal erschrecken.«
»Es soll nicht wieder geschehen.«
»So schwöre mir nochmals, nichts zu tun, was ich nicht gutheiße, und dich nie von deinen Gefühlen hinreißen zu lassen.«
»Ich schwöre es dir.«
Sie setzten den Weg fort. Reihenfels nahm an, dass sie sich schon längst unter dem Felsen befanden, auf welchem die Burg stand, und jetzt gingen sie auch noch einen langen Weg geradeaus, bewegten sich also unter dem Erdboden fort und mussten schon in den das Tal umgebenden Felswänden sein.
Dann stiegen sie wieder zahllose Stufen hinab. Plötzlich war es Reihenfels, als sähe er hier und da unten in der Finsternis Lichter zucken, und nicht lange dauerte es, so schlug ein sonderbares Murren und Brausen an sein Ohr, fast wie ein Wasserfall anzuhören.
Fragend schaute er die Bajadere an.
»Wir nahen uns dem heiligen Orte; es ist das Lärmen der versammelten Thugs.«
Welche Zahl Menschen musste sich hier eingefunden haben! Oder aber, jedes Wort wurde von den Wänden in zehnfachem Echo wiedergegeben.
Sie hatten einen engen Quergang erreicht, und hier begegneten sie den ersten Thugs. Alle trugen die dunkle Kleidung aus Baumwolle, die Kapuze mit den Augenlöchern über dem Kopfe, und um die Hüften entweder ein Seidentuch oder eine Schlinge aus Seidenschnur — ihr Handwerkszeug.
Jeder machte den beiden neuen Ankömmlingen eine Handbewegung und sagte eine Formel her, die erwidert wurde. Einmal gab auch einer Reihenfels die Hand mit einem eigentümlichen Druck. Dieser Mann trug ein weißes Gewand, seine Kapuze hatte auch einen Ausschnitt am Munde, wodurch er ein noch unheimlicheres Aussehen bekam, und im Gürtel steckte ein blitzendes Messer.
Die Hand war nass gewesen, und als Reihenfels die seine betrachtete, war sie ganz blutig.
»Es war ein Guru, er schlachtet die Opfer«, sagte Makalli.
So war es also Menschenblut gewesen, und Reihenfels musste alle Willenskraft zusammennehmen, sein Entsetzen nicht merken zu lassen.
Dann sah er Männer, welche eine Art von Hängematten trugen, in denen lange Pakete lagen. Einmal drang aus einem solchen ein Seufzen und Stöhnen.
Einem Manne in weißer Kleidung folgte ein erwachsener Königstiger, der mit seinen grünen Augen Reihenfels anblinzelte und ein behagliches Knurren ausstieß. Er bemerkte noch mehrere solche gezähmte Bestien.
»Auch sie sind der Kali geheiligt«, erklärte die Bajadere, »sie sind besonders die Begleiter der Chams und Gurus.«
Das vorher gehörte Murmeln verwandelte sich in ein donnerndes Gebrüll; ein Brausen erklang, als ob die Meeresflut gegen das felsige Ufer brandete.
Was würde Reihenfels wohl noch zu sehen bekommen? Schon jetzt zweifelte er nicht daran, Ähnliches zu erblicken, wie damals Kiong Jang, aber dieser hatte nur durch eine Mauerspalte sehen können, damals gab es auch keine Opfer, aber jetzt — jetzt, da von den Leichengasen Tag und Nach eine Flamme in Brand gehalten werden konnte.
Vor ihnen breitete sich Tageshelle aus, sie erreichten das Ende des Ganges und standen vor einem Abgrund von etwa fünfzig Metern Tiefe, einem Kessel, der gar nicht zu übersehen war, obgleich Hunderte von Fackeln und mächtigen Feuern darin aufloderten. Das Ganze war eine ungeheure Höhle; auch die Decke verlor sich in schwarzer Nacht.
An der Stelle, wo sie gestanden, führten terrassenartige Stufen hinab, Gestalten gingen hinauf und hinunter. Rund um den Kessel lief eine Galerie von mehreren Metern Breite, und diese betrat Makalli.
Hier war niemand, sie waren allein. Makalli führte den Begleiter hinter einen Vorsprung, von wo aus sie den Kessel und was in ihm vorging, übersehen konnten.
Reihenfels' Haare sträubten sich vor Entsetzen. Kiong Jang hatte unrichtig erzählt, oder aber, in jenem Tempel, wo der Chinese sich befunden hatte, war es anders zugegangen. Was er erzählt hatte, erschien noch harmlos gegen das, was Reihenfels jetzt zu sehen bekam.
Wohl tausend Menschen, alle in jener unheimlichen Vermummung, die Füße nackt, bewegten sich da unten in dem Kessel.
Ihnen gerade gegenüber, in der Nähe eines ungeheuren Holzfeuers, erhob sich das Standbild der furchtbaren Göttin in riesigen Dimensionen.
Es sah ganz anders aus als das von Kiong Jang Beschriebene.
Der Sockel war nur drei Fuß hoch, die Figur dagegen wohl zehn Meter.
Es war die Gestalt einer Furie, entsetzlich anzusehen, auf einem Tiger reitend. Das Antlitz war scheußlich, halb Wolf, halb Mensch; aus dem geöffneten Munde sahen spitze Reißzähne hervor, die Augen, aus kolossalen Rubinen bestehend, schossen im Scheine des Feuers Blitze. Statt der Füße und Hände hatte sie Adlerkrallen, um den Leib wanden sich Schlangen, keine lebenden, sondern ausgestopfte, und statt anderen Schmuckes trug sie Ketten von menschlichen, noch blutenden Köpfen. Überall waren diese angebracht, am Hals, an den Armen und Füßen.
Dagegen bestand ihr Haar aus lebenden Schlangen, die sich windend und züngelnd um den Kopf bewegten, jedoch mit dem Schwanze immer auf dem Scheitel blieben, als wären sie dort festgewachsen.
Die linke Adlerklaue der Göttin stützte sich auf den Kopf des Tigers, die rechte schwang drohend die blutige Kassy, die eiserne Spitzaxt, das heiligste Symbol der Verbrüderung, bei dem der höchste Schwur geleistet wird.
Die ganze Statue war von reinem Silber, aber mit Blut beschmiert und bespritzt.
Das war Kali, die Göttin der Vernichtung — Bharvati, die Tochter des Berges — oder Parvati, die Unnahbare, genannt.
Das Piedestal der Bildsäule war mit Blumen bestreut, zu ihren Füßen lag ein ehernes Bild der Schlange, der Eidechse und des Tigers, also der ihr geheiligten Tiere, daneben eine Schlinge, ein Seidentuch, ein Messer und eine Spitzaxt, die Werkzeuge der Thugs, von denen letztere das vornehmste ist, denn nur die Chams und Gurus dürfen dieselbe führen.
Um das Bild herum hatten weißgekleidete Männer Platz genommen, also Chams und Gurus. Unter ihnen erkannte Reihenfels auch den Radscha Tipperah, hier fand er ihn zum ersten Male wieder. Er war der einzige, dessen Gesicht nicht verhüllt war.
Einer, der sich abgesondert hielt, trug auf dem Kopfe einen von Diamanten blitzenden Schmuck. Reihenfels fragte, wer dies sei.
»Der Oberguru, das Oberhaupt sämtlicher Thugs, welche die Erde bewohnen und alles Lebendige zu vernichten trachten. Hätte er sein Gesicht nicht verhüllt, so würdest du ihn erkennen.«
»Es ist Radscha Gholab?«
»Ja, fast alle diese Chams sind Fürsten.«
»Wer ist der Unverhüllte?«
»Radscha Tipperah, der Obercham dieses Tempels.«
Also hatte sich Reihenfels nicht geirrt.
»Warum ist er nicht verhüllt?«
»Er muss als erster Priester dieses Tempels die Zeichen beobachten, ob die Göttin ihnen günstig gestimmt ist; er muss die Blicke überall haben, und deshalb hat Brahma ihm Augen geschenkt, die gleichzeitig nach verschiedenen Richtungen sehen können.«
Um diese Chams herum stand ein Kreis von Körben mit Backwerk und Früchten, auch mit Flaschen, aus denen die Priester manchmal tranken. Sie enthielten nach Makallis Erklärung geistige Getränke; die Priester berauschten sich, ehe die Opferung begann, damit ihre Wut nachher desto mehr durchbrach. Dieser Kreis von Körben trennte die Priester von der übrigen, tausendköpfigen Menge, aus Männern, Frauen und Kindern bestehend, die auf den Fersen hockten und leise zusammen flüsterten. Der Widerhall des Gemurmels aber erklang in der Höhle wie ein murrender Donner, das Flüstern wie das Brausen eines Wasserfalles.
»Siehst du die goldene Schale am Fusse des Bildes?«, fragte die Bajadere. »Es ist das ewige Opfer des Rakkat-Byj.«
»Was ist das?«
»Rakkat-Byj war ein Dämon, der die Kali hasste. Sie tötete ihn, aber aus jedem Blutstropfen, der zur Erde fiel, entstand ein neuer Dämon. Da schuf die Göttin den ersten Thug und gab ihm die Phansi und den Devy. Damit erwürgte er den Dämon, ohne Blut zu vergießen, und jetzt war dieser tot. Seitdem liebt die Kali das Blut über alles, das von Menschen duftet ihr am süßesten. Diese Schale darf nie leer von frischem Blut werden, immer wieder muss man sie füllen. Früher schlachteten wir deswegen Schafe und Ziegen, jetzt kann die Kali sich an Menschenblut satt riechen.«
Der Oberguru gab ein Zeichen; ein Priester nach dem anderen erhob sich, winkte in die Menge, und die Auserwählten der Versammelten traten vor und legten ihre Gaben zu den Füßen der Göttin nieder.
Ganze Berge von Goldstücken, Geschmeide, Arm- und Halsbändern türmten sich nach und nach auf, aber auch Haufen von Edelsteinen, Perlen, Rubinen, Smaragden und Topasen, von Saphiren aus Ceylon, von Türkisen, wie sie in den persischen Minen gefunden werden, roh und geschliffen, häuften sich auf. Andere brachten Ballen von Seidenwaren herbeigeschleppt, Kaschmirschale wurden aufgestapelt und so weiter.
Sie waren den Opfern der Thugs geraubt und so lange aufbewahrt worden, bis sie jetzt als Opferspende niedergelegt werden konnten.
Aus allen Ländern waren die Thugs zusammengeströmt. Jene kamen aus Meisur (1) und hatten den Diamantenträgern aufgelauert, die aus den westlichen Minen ins Innere des Landes zogen, diese aus Dschaipur (2), welches Land wegen seiner Fabrikation von Schmuckgegenständen berühmt ist.
(1) Bis 2014 Mysore, jetzt Mysuru.
(2) Jaipur.
Die Bajadere erklärte Reihenfels die einzelnen Volkstypen, woher sie kamen, und welche Leute sie besonders mordeten, woher die Eigenart ihrer Opferspende stammte.
Die Niederlegung der Schätze war beendet.
Der Oberguru bestieg die Stufe des Piedestals und küsste dreimal den Krallenfuß der Göttin. Dann hob er seine Augen zu ihr auf und rief laut:
»O, Kali, die du die Vernichtung liebst und uns befohlen hast, alles Lebendige zu hassen, wir sind bereit, dir zu dienen! Wir haben deinen Segen zu deinen Füßen niedergelegt. Wenn es dir gut dünkt, dass wir deine Schale erneut mit Blut füllen, so gib uns ein günstiges Zeichen!«
Sofort ward ein schwarzes Schaf herbeigebracht; der unverhüllte Priester, Radscha Tipperah, schnitt ihm den Hals durch und beobachtete die Zuckungen des sterbenden Tieres. Dann flüsterte er etwas zu dem Oberguru hinauf.
»Die mächtige Göttin ist uns günstig gestimmt«, rief dieser, jetzt zur Menge gewandt, »sie will Blut riechen. Freut euch, freut euch, ihr Diener der Vernichtung!«
Ein Geheul und ein Schauspiel begann jetzt, das Reihenfels Blut erstarren machte.
Ein wildes Delirium, ein Wahnsinn schien plötzlich alle Anwesenden zu befallen. Das waren keine Menschen mehr, das war eine Legion von Teufeln.
Gleich Besessenen sprangen sie auf, heulten und tobten umher, einzeln und in Gruppen, drehten sich wie Kreisel um sich selbst, prallten zusammen, stürzten nieder, rafften sich wieder auf und begannen von Neuem. Sie rissen sich die Kleider vom Leibe, Männer wie Frauen schlitzten sich Lippen und Ohren mit Messern auf, stießen die Klinge durch die Wangen und saugten ihr eigenes Blut.
Andere wieder, schon völlig nackt, sprangen um die Feuer und dann durch dieselben hindurch, kamen auf der anderen Seite mit verbrannten
Haaren heraus, stürzten aber immer wieder hinein, bis sie endlich halb verkohlt zu Boden fielen und liegen blieben. Einige erreichten auch die andere Seite gar nicht, sie verbrannten im Feuer.Ein alter Mann schlug sich zwei Haken in die Seiten und ließ sich von den anderen an einer Kette emporziehen, bis er über einem Feuer hing, an welchem er langsam zu Tode röstete.
Ein abscheulicher Geruch von verbranntem Fleisch erfüllte die Luft. Die Priester gossen wohlriechende Essenzen ins Feuer, um den Gestank zu verscheuchen.
Als der Tumult den Höhegrad erreicht hatte, als schon einige Leichen am Boden lagen, ertönten oben in der Wölbung der Höhle die Klänge eines Beckens und machten dem Rasen ein Ende.
Die Tänzer blieben stehen, mit Schweiß, Schmutz und Blut über und über bedeckt. Lautlose Stille war eingetreten.
Nochmals erscholl der Beckenton, und der Oberguru bestieg wieder die meterhohe Treppenstufe, drei andere Chams, darunter Tipperah, traten neben ihn.
Die übrigen Priester hatten sich während des Tumultes entfernt.
Als das Becken zum dritten Male ertönte, teilte sich die Menge, und zwischen ihr hindurch dem Altar zu, bewegte sich langsam ein Zug.
Voran gingen die weißgekleideten Chams, dann kamen fünf Bahren, ebenfalls von Chams getragen, und auf diesen Bahren lag je ein verhüllter, langer Gegenstand, wie Reihenfels sie schon vorher in den Hängematten hatte liegen sehen.
»Jetzt nimm deine Kraft zusammen, Faringi!«, flüsterte Makalli ihm zu. »Kannst du den kommenden Anblick ohne Zittern ertragen, dann bist du gegen alles andere gefeit!«
Aber Reihenfels konnte es nicht.
Den Zug beschloss eine koboldartige Gestalt, ein Zwerg, wie Reihenfels ihn hässlicher noch nie gesehen hatte.
Der Kopf war von abnormer Größe, der bucklige Oberkörper verschwindend klein gegen die langen Beine, obgleich er im ganzen nur drei Fuß hoch war. Von gleicher Länge waren die Arme, an ihnen saßen Hände wie die eines Riesen. Die Füße schienen einem Elefanten anzugehören, ebenso die herabhängenden Ohren.
Er war mit Kleidern in den schreiendsten Farben geschmückt; um seinen Leib, um Hals und Arme wanden sich dicke Schlangen.
»Es ist der Wächter der heiligen Schlangen«, erklärte Makalli. »Die, welche er trägt, sind die Lieblinge der Kali und dürfen sich an dem lebendigen Opfer weiden. Die übrigen bekommen nur die Überreste!«
Der Zug hielt vor dem Bildnis; die Bahren wurden auf die erste Stufe geschoben, sodass alles, was vorging, der Menge sichtbar war.
Auf ein Zeichen des Priesters flogen gleichzeitig die Umhüllungen der fünf Pakete davon — Menschen, alles Inder, darunter auch ein Weib, kamen zum Vorschein. Sie waren gefesselt und hatten im Munde einen Knebel. Dass sie lebten und bei Besinnung waren, konnte Reihenfels deutlich sehen, er bemerkte sogar, wie sie angstvoll die Augen rollten.
Kein Brahmane, kein Armer, keine Bajadere und kein Europäer darf das erste Opfer sein. Die hier lagen, waren zwei reiche Kaufleute, ein indischer Soldat, ein Beamter der indischen Kompanie, und schließlich eine schöne, junge Frau, die Witwe eines reichen Inders, die während der Reise zum Begräbnis ihres Gatten in die Hände der Thugs gefallen war.
Ein Priester nahm die goldene Schale, von welcher Makalli erzählt hatte, dass sie stets Blut enthalten müsse, tauchte den Finger hinein und malte unter Segenssprüchen auf der Stirn eines jeden Gefangenen ein blutiges Zeichen.
Der Oberguru trat noch eine Stufe höher, winkte, und vier Priester hoben eins der Opfer, einen schon bejahrten Kaufmann, empor und legten ihn zu Füßen der Kali nieder. In einem Augenblick flogen ihm die Kleider in Fetzen zerschnitten vom Leibe, die Banden wurden gelöst, der Knebel aus dem Munde genommen und der Mann an Händen und Füßen von den Priestern festgehalten.
Obgleich seiner Stimme jetzt mächtig, schrie er doch nicht, sondern erwartete gefasst den Tod. Er wusste, was ihm bevorstand, und als bejahrter Mann hatte er die Lehre der indischen Religion erfasst, dass man sich in das Unvermeidliche geduldig fügen müsse.
Er hatte bei seiner Gefangennahme den Thugs eine ungeheure Summe für seine Freilassung geboten, die schon geraubten Schätze wollte er ihnen schenken, sie weder verraten noch verfolgen lassen — alles vergeblich, darin waren die Thugs unbestechlich, er musste sterben.
Jetzt hatte er weder einen Ruf der Angst noch eine Bitte um Erbarmen, nur Hass sprühte aus seinen Augen, als sich ihm der Oberguru mit dem erhobenen Messer nahte.
Der Stahl blitzte im Scheine des Feuers, er senkte sich, und die Spitze tauchte genau in die Halsschlagader des Schlachtopfers.
In großem Bogen spritzte das Blut empor, aber geschickt wurde es von dem Cham, welcher das goldene Becken hielt, in demselben aufgefangen. Je schwächer der Blutstrahl wurde, desto mehr näherte der Priester es dem Halse, und war die Schale voll, so entleerte er sie in ein größeres Gefäß.
Im Todeskampfe machte der Gequälte unwillkürlich gewaltige Anstrengungen, die ihn Haltenden abzuschütteln, es warfen sich noch zwei andere auf ihn, aber als seine Bewegungen schwächer wurden und der Blutquell nachließ, bewegten sie ihm selbst Arme und Beine, damit das Blut noch flösse, ja, zuletzt sprang einer auf seinen Körper und trat ihn mit den Füßen, bis der letzte Blutstropfen heraus war.
Noch ein Zucken ging durch die Glieder des Gemarterten, dann streckten sie sich und wurden starr.
Schnell wurde der Körper auf die Bahre gelegt und fortgetragen.
Der Oberguru salbte erst seine Stirn mit dem Blute aus der Goldschale, dann die der Chams, worauf diese kleinere Gefäße nahmen, mit frischem
Blut füllten und sie unter die sich herzudrängende Menge verteilten, um jeden einzelnen auf gleiche Weise zu salben.
Das zweite Opfer, der indische Beamte, ließ sich nicht so willenlos hinschlachten. Er wehrte sich aus Leibeskräften, natürlich vergeblich, und schrie und wimmerte um Erbarmen, was nur das Entzücken der Menge steigerte. Wieder salbte sich der Oberguru, wieder gingen Chams umher und betupften eines jeden Stirn mit Blut. Auch der dritte und vierte der Unglücklichen hauchte sein Leben aus.
»Es ist genug!«, stöhnte Reihenfels. »Führe mich fort von hier, oder ich bin nicht fähig, dich bei deinem Vorhaben zu unterstützen.«
»Schwachherzige Männer«, spottete die Bajadere, »ihr maßt euch die Herrschaft über die Erde an, tut manchmal, als vermöchtet ihr durch eure Tatkraft selbst den Himmel zu erstürmen, und könnt nicht einmal den Anblick von etwas Blut ertragen. Stähle dein Herz! Dein Mut, nicht deine Standhaftigkeit, soll nachher noch auf eine harte Probe gestellt werden. Sieh! Jetzt wird das erste Weib geschlachtet! Jetzt muss auch Tilomma erscheinen.«
Reihenfels wollte fragen, wer Tilomma sei, aber er kam nicht dazu, etwas ganz Überraschendes und Furchtbares zugleich spielte sich vor seinen Augen ab.
Die junge, schöne Witwe war von rohen Fäusten gepackt und auf den Altar geschoben worden. Wie den Männern, so riss man auch ihr rücksichtslos die Kleider ab, bis sie völlig nackt dalag.
Da, durch eine Unachtsamkeit der Priester, gelang es ihr, deren Händen zu entschlüpfen. Sie glitt noch einmal vom Altar herunter und warf sich händeringend und mit fliegenden Haaren unter die Menge, um Erbarmen flehend.
Wo hätte sie dieses hier finden sollen!
Im Nu war sie wieder ergriffen und lag auf dem Altar.
Oben auf der Galerie rang Reihenfels mit der Bajadere. Außer sich vor Entrüstung hatte er den Revolver gezogen; vollständig von der Besinnung verlassen, wollte er dem Weibe zu Hilfe eilen, aber die Bajadere umklammerte ihn und hielt ihn mit der Kraft der Verzweiflung fest.
»Tor, der du bist!«, zischte sie ihm ins Ohr. »Was könntest du gegen diese Tausende ausrichten! Hältst du so deinen Schwur? Nur einmal erhebe Einspruch, und du selbst liegst im nächsten Augenblick auf dem Altar — und ich mit.«
Ächzend gab Reihenfels seine Bemühungen auf, denn er sah, dass jede menschliche Hilfe zu spät gekommen wäre.
Schon wand sich der herrliche Leib der jungen Frau zuckend unter den Händen der Priester, schon spritzte ein purpurner Blutstrahl durch die Luft.
Das Volk schrie und jauchzte toller als je; dabei aber sah es weniger nach dem sterbenden Weibe, als vielmehr nach der Göttin.
Reihenfels musste erst von Makalli aufmerksam gemacht werden, ehe er seine entsetzten Blicke von dem unglücklichen Weibe abwenden konnte.
»Die Tilomma«, sagte Makalli; »sie wohnt dem Tode ihrer Schwester bei und nimmt deren Seele mit.«
Jetzt erst erblickte Reihenfels die Verwandlung der Szenerie.
Neben dem Bildnis der Göttin stand plötzlich wie aus der Erde gewachsen — und aus einer Versenkung musste er auch aufgestiegen sein — ein goldener Thronsessel, auf welchem ein Weib saß.
Ihr Gewand schien aus Schmetterlingsflügeln zusammengesetzt zu sein, in solch bunter Pracht schimmerte es. Das Wunderbarste aber war das Antlitz dieses Wesens. Es war marmorbleich; frischgefallener Schnee konnte nicht weißer sein, und umhüllt wurde es wie von einem Mantel von einer unbändigen Fülle goldenen Haares. Von ebenso durchsichtigem Alabaster war der volle Arm, der sich auf die Lehne des Thrones stützte. Müde lehnte der prächtige, schöne Kopf in der Hand, müde blickten die blauen Augen auf die Frau, welche geschlachtet wurde.
Reihenfels war außer sich. Wer war dieses herrliche, vollbusige Weib mit der schneeweißen Haut und den blauen Augen? Unmöglich eine Lebende. Doch ja, jetzt schlug sie die Augen nieder; matt wendete sie den Kopf und blickte dahin, wo Reihenfels versteckt lag.
»Bei Gott, das ist Nancy, Woodfields Tochter«, murmelte er; »so hat Kiong Jang sie beschrieben.«
»Wer soll es sein?«, fragte die Bajadere, die etwas verstanden hatte. »Es ist Tilomma, das Weib mit den goldenen Haaren, welches zu den Füßen der schrecklichen Kali sitzt und sie bedient. Sie war bei der Niederkunft der Kali die Wehemutter und brachte das Kind dann auch zu uns; aber weißt du«, fügte sie dann leise hinzu, »die Priester selbst sind unter sich uneinig. Viele sagen, sie selbst sei die Mutter der Begum, denn die Kali ist ebenso wie Shiva unfruchtbar, Sewadschi liebte die Kali, aber das Kind erzeugte er mit Tilomma, die der Kali untergeschoben wurde, und so glaube ich auch.«
Verständnislos stierte Reihenfels die Bajadere an. Was schwatzte sie da für Unsinn? Tilomma — oder Nancy — sei Begas Mutter? Doch richtig, er war ja in einem indischen Tempel, und was das Mädchen da erzählte, war nichts weiter als die Geschichte von der unbefleckten Empfängnis, welche die Inder schon zweitausend Jahre früher kannten als wir, das heißt, zweitausend Jahre vor Christi Geburt.
Reihenfels hatte jetzt nur noch Augen für das unglückliche Mädchen.
Wie traurig sah sie aus, aber zugleich auch wie teilnahmslos! Ruhig blickte sie hin, wie die Inderin ihr Lebensblut verspritzte, ihr zu Ehren; ja, jetzt nahm der Oberguru einen Wedel, tauchte ihn in das Blut und spritzte damit die vermeintliche Göttin über und über voll. Die Blutstropfen flossen ihr über das Gesicht, wie von Schnee stachen sie ab, und das Weib zuckte mit keiner Wimper, es machte keinen Versuch, das Blut abzuwischen.
Ob sie wohl überhaupt noch eine menschliche Seele besaß? Reihenfels bezweifelte es. Oft schon mochte sie solchen Schauspielen beigewohnt haben, und entweder war ihr Geist vollständig vertiert oder vom Wahnsinn umnachtet.
Aber wiederum, ihre Augen hatten einen so unendlich traurigen, schwermütigen Ausdruck!
Reihenfels fühlte plötzlich etwas Bitteres in sich aufsteigen, was ihn zu ersticken drohte. Er wusste selbst nicht, was es war, er knirschte mit den Zähnen und umspannte den Revolverkolben so krampfhaft mit den Fingern, dass das Blut unter seinen Nägeln hervorspritzte.
Es war Hass, ein furchtbarer Hass, den er zum ersten Male in seinem Leben in sich aufsteigen fühlte, und zwar gegen jene gerichtet, welche sich berechtigt glaubten, ihre Mitmenschen zu Tode zu foltern, gegen jene, welche ein Kind aus einer glücklichen Familie rissen und es zwangen, Zeuge solcher Gräuelszenen zu werden.
Ja, dieser Hass kehrte sich selbst gegen das Mädchen neben ihm, welches ihm so gleichgültig alles erklärte. Auch sie war kein Mensch mehr, mochte sie noch so viel von Liebe sprechen. Dass sie jetzt ihr Leben und noch mehr, ihre vermeintliche Seligkeit wagte, den Geliebten zu retten, zählte bei Reihenfels plötzlich gar nichts. Das war nur ein tierischer Trieb, lieben doch selbst die Hyäne und die Wölfin ihr Junges mehr als ihr Leben.
»Keine Schonung mehr, Oskar!«, flüsterte ihm eine innere Stimme zu. »Du hast dich bis jetzt gescheut, die Waffe gegen einen Menschen zu erheben, weil du auch den Geringsten für deinen Nächsten, für das Ebenbild Gottes hieltest. Aber sind dies etwa Menschen? Nein, nein, und tausendmal nein! Wilde Tiere sind es. Jeder, der solch ein Scheusal tötet, erweist der ganzen Erde eine Wohltat, und Gott wird ihn einst dafür belohnen.«
Aber jetzt konnte Reihenfels nichts ausrichten; nur der Entschluss stand felsenfest in ihm, künftig, wenn er je das Tageslicht als Freier wieder zu sehen bekäme, keine Schonung mehr gegen solche Schurken zu üben. Mit kaltem Blut wollte er sie töten, und sein Gewissen sollte ihn nicht mehr anklagen.
Plötzlich fühlte er sich von hinten berührt. Wie Makalli drehte er sich um, und vor ihnen stand ein Cham mit einer Schale voll Blut.
Seine Hand lüftete die Kapuze des jungen Mannes, und Reihenfels fühlte, wie die feuchte Hand in Zeichen auf seine Stirn malte.
Er schauerte zusammen, das Blut der jungen, unglücklichen Witwe hatte auch seine Stirn befleckt.
Der Cham ging sofort wieder zurück.
»Wohlan«, murmelte Reihenfels ihm nach, »es soll das Blutzeichen sein! Hiermit habe ich die Weihe empfangen, und euer Blut, das ich vergießen werde, komme über euch selbst.«
»Heilige Kali«, rief Makalli jetzt entsetzt, »wir müssen uns beeilen, oder wir kommen zu spät! Schon werden die Faringis geopfert, so bald schon — das habe ich nicht gewusst.«
Reihenfels warf einen Blick hinunter und erstarrte.
Eine einzige Bahre war herbeigetragen worden, das Tuch war schon gefallen, und auf der Bahre lag ein rotbärtiger Mann, auf dem Kopfe eine Pelzmütze — Dick, gefesselt und geknebelt!
So war also auch er einer List der Inder zum Opfer gefallen. Dick, der brave, treue Dick, sollte wie ein Schlachtvieh unter Mörderhand enden — und Reihenfels konnte nicht helfen.
Die Bajadere ahnte, was in der Seele ihres Begleiters vorging, als er einen Landsmann am Altar erblickte, sie sah sein furchtbar entschlossenes Gesicht, und schnell riss sie ihn mit fort.
»So muss ich dich haben«, flüsterte sie, »sei furchtlos, entschlossen und hartherzig, und wir werden unser Ziel erreichen, hartherzig vor allen Dingen.«
Vor einem neuen Gang, der von dieser Höhle abzweigte, blieb sie stehen, löste die schon erwähnten Seidenschnüre, ein stattliches Bündel, von ihrem Leib, knüpfte das Ende an einen Felsvorsprung und gab die Rolle Reihenfels in die Hand.
»Kein Mensch findet sich aus dem Labyrinth, welches wir jetzt betreten wollen, zurück, wenn er darin nicht zu Hause ist. Sollten wir durch irgend einen Zufall getrennt werden, so hast du ein Mittel, dich hierher zurückzufinden und dann den ans Tageslicht Emporsteigenden nachzugehen. Nimm diese Rolle und wickele sie beim Gehen ab. Mit der anderen Hand fasse mein Gewand und folge mir.«
Sie eilte durch die völlige Finsternis dahin, bald geradeaus, bald abbiegend, ohne je zu zögern oder sich zu stoßen, musste also in diesen Gängen sehr bekannt sein. Reihenfels tat, wie ihm geheißen.
Bald hörte er ein Rauschen und Brausen und schwaches Donnern, er glaubte nicht anders, als er nähere sich wieder dem Versammlungsorte der Thugs, um so mehr, als es in der Ferne hell wurde.
Aber das Donnern und Brausen ward immer lauter, fast übernatürlich. Vor einem Felsvorsprung blieb Makalli stehen und näherte ihren Mund dem Ohre ihres Begleiters, denn ein Wort war sonst nicht mehr zu verstehen, ja, man hätte hier wohl nicht einmal einen Kanonenschuss vernommen.
»Jetzt zeige, dass du ein Mann bist«, schrie sie ihm ins Ohr, »es gilt, gleichzeitig zwei Menschen, die Wächter, zu beseitigen. Deshalb eben brauchte ich einen Gefährten. Zögerst du, einen Menschen von hinten zu töten?«
Reihenfels schüttelte finster den Kopf.
»Ehe wir unser Vorhaben beginnen, überzeuge dich, wie der Platz aussieht, auf dem wir es ausführen müssen«, fuhr die Bajadere fort. »Tritt getrost hervor, wir stehen im Finstern, und können nicht gesehen werden! Du kannst auch Gebrauch von deinem Revolver machen, der Schuss wird nicht gehört.«
Als Reihenfels mit der Bajadere hervorgetreten war, sah er, woher das donnernde Brausen stammte. Es war ein Schauspiel von imposanter Schönheit.
Zwanzig Meter von ihm entfernt, breitete sich ein weites Plateau aus, und im Hintergrund desselben stürzte aus einem Spalt der Wand ein mächtiger Wasserfall herab in einer Breite von wohl zehn Metern. Das Wasser verschwand in der Schlucht, die das Plateau begrenzte, ebenso rätselhaft, wie es gekommen war.
Der Raum war nicht leer.
In dem hier herrschenden Dämmerlicht, das der Wasserfall auszustrahlen schien, erkannte Reihenfels gegen hundert Menschen, alles Europäer, an Händen und Füßen gefesselt. Er fand hier viele englische Offiziere, Beamte und Kaufleute wieder, die er in Delhi kennen gelernt hatte, ebenso ihre Frauen und Kinder, und dort, dort an der Wand lag auch Kätchen, seine Schwester.
Wie bleich und mager sah das arme Mädchen aus! Was mochte sie durchgemacht haben, und ihr Los, von den Thugs geopfert zu werden, konnte ihr nicht unbekannt sein.
Aber seine andere Schwester, Franziska, konnte er nicht unter den Gefangenen gewahren, so sehr er auch seine Augen anstrengte.
Nun, so wollte er wenigstens Kätchen dem Leben erhalten und mit ihr alle anderen Gefangenen. Dies war sein fester Entschluss; lieber wollte er selbst sterben, ehe er einen dieser Mörderbande überließ.
Wie Makalli eine Rettung bewerkstelligen wollte, hatte sie ihm noch nicht erklärt. Es wartete seiner noch eine bittere Enttäuschung.
Der Bajadere Augen hingen glühend an einem jungen Offizier, der mit dem Rücken an der Wand lehnte. Reihenfels kannte ihn. Es war Mac Sulivan.
Dieser winkte eben mit den gefesselten Händen, und ein Inder trat hervor, der bis jetzt bewegungslos dagestanden hatte. Der stark bewaffnete Mann nahm einen Becher, ging dicht bis an den Abgrund, füllte den Becher an dem Gischt des Wasserfalles und führte ihn dem Dürstenden an die Lippen.
Also Durst brauchten die Gefangenen nicht zu leiden, ebenso wenig Hunger, denn in einer Nische stand ein großer Korb mit Brot.
Die furchtbare Göttin wollte ihre Opfer in voller Lebenskraft sterben sehen, damit das Blut schneller floss.
Reihenfels hatte keine Zeit, über das Schicksal Franziskas nachzudenken, andere Personen nahmen sein Interesse ein.
Dort lagen nebeneinander auch Charly und sein Diener August, nicht weit davon Jeremy, ferner bemerkte er Mister Woodfield, in einer Ecke, zwischen anderen Frauen, dessen Schwester, Miss Woodfield.
Sie alle, alle waren also den Menschenjägern in die Hände gefallen und bereiteten sich auf den grausamen Opfertod vor.
Die Bajadere trieb zum Handeln.
»Bist du bereit?«
»Ich bin es.«
»Siehst du die beiden Wächter?«
Reihenfels bejahte.
Der eine gab noch dem Leutnant zu trinken, der zweite drehte den Beobachtern den Rücken zu und stand neben einem Seil, das von oben bis in Schulterhöhe herabhing.
»Deine Aufgabe ist es«, fuhr die Bajadere fort, »diesen Wächter am Seil zu töten. Gebe ich dir das Zeichen, so näherst du dich ihm schnell von hinten, nur schnell, nicht leise, und schießt ihn durch den Rücken ins Herz. Wenn er noch nicht tot sein sollte, so biete alles auf, dass er das Seil nicht noch im Fallen erfasst; denn gelingt ihm dies, so läutet dort, wo die Thugs sind, eine Glocke in donnernden Schwingungen; sie wissen, dass die Gefangenen sich befreien können, und eilen hierher. Er darf also das Seil um keinen Preis erfassen, oder alles war umsonst.«
»Ich verstehe. Und du?«
»Ich werfe mich im geeigneten Moment auf den zweiten und stoße ihm den Dolch ins Herz, denn mit diesem weiß ich am besten umzugehen. Los jetzt!«
Der zweite Wächter bückte sich eben und beschäftigte sich mit den Fesseln des Offiziers. Im Nu schnellte Reihenfels vor, näherte die Mündung des Revolvers dem Rücken des Wächters am Seil, bis sie ihn fast berührte, und drückte los.
Nur ein Blitz und Rauch war zu sehen, kein Knall zu hören.
Tödlich getroffen sank der Mann zusammen, aber dennoch suchte er den Strang zu erhaschen. Es gelang ihm nicht, denn Reihenfels' Arm schleuderte den Sterbenden zur Seite.
Der zweite Wächter wusste nicht, was hinter ihm vorging. Da aber bemerkte er plötzlich ein freudiges Aufleuchten in den Gesichtern der Gefangenen. Blitzschnell drehte er sich um und sprang, alles andere vergessend, nach dem Glockenstrang.
Wohl hatte Makalli hinter ihm gestanden und auch zugestoßen, infolge der schnellen Wendung aber war der Stoß fehlgegangen. Der Dolch hatte dem Manne nur die Schulter durchbohrt.
Er sollte aber den Strang trotzdem nicht fassen können, auf halbem Wege schon traf ihn Reihenfels' zweite Revolverkugel durchs Herz.
Während dieser auf seine Schwester zueilte, sie ans Herz drückte, ihr die Freiheit mit mehr Zuversicht, als er selbst besaß, verkündete, ihr in einem Atem sagte, dass der Vater, die Mutter und Otto gerettet seien und er Franziska noch zu retten hoffe; überzeugte sich die Bajadere erst, ob es den beiden Wächtern nicht doch noch gelingen könne, den Glockenstrang zu ziehen.
Obgleich beide ihr Leben schon ausgehaucht hatten, bohrte sie ihnen doch noch mehrmals ihren Dolch ins Herz.
Dann wandte sie sich an Mac Sulivan. Der junge Schotte schien sie nicht als seine Retterin zu begrüßen, vielmehr ruhten seine Augen mit Abscheu auf ihr.
»Verräterin! Kommst du, dich auch noch an meinem Todeskampfe zu weiden, nachdem du mich den Thugs ausgeliefert hast?«, rief er ihr zornig zu.
Die Bajadere deutete auf die beiden Leichen.
»Hätte ich diese dann getötet, Faringi? Nein, ich komme, dich zu befreien!«
»Du hast mich verraten.«
»Ich musste es tun. Jetzt will ich es wieder gutmachen. Ich bringe dir die Freiheit!«
»Aus welchem Grunde tust du es?«
Seine Fesseln waren schon unter dem Dolch der Bajadere gefallen.
»Weil ich dich liebe, Faringi.«
»Du mich lieben?«
Der hübsche, blasse Offizier brach trotz seiner gefahrvollen Lage in ein spöttisches Lachen aus.
»Hahaha, sehr gut! Also du liebst mich! Nun, du musst wenigstens zugeben, ich habe dir deine Liebe stets redlich bezahlt.«
»Faringi«, sagte Makalli drohend und trat dicht vor ihn hin, »spotte meiner nicht! Ich wurde gezwungen, mich dir hinzugeben, und als du Gefallen an mir fandest, musste ich mich dir entziehen, bis ich dich in ein abgelegenes Haus locken konnte. Verstehe mich recht, ich musste dies auf Befehl eines Höheren tun, deshalb musste ich auch deine Geschenke annehmen. Wohl hast du recht, ich bin eine Bajadere, die sich auf dem öffentlichen Markte feilbietet; aber während ich mit dir spielen musste, streute mir Kama den Samen der Liebe ins Herz, er ging auf, und ich entbrannte zu dir in wahrer Liebe, wie ich sie früher nie gekannt hatte. Ich lieferte dich in Gefangenschaft; ich komme, dich wieder zu befreien; denn dich tot zu wissen, wäre auch mein Tod. Um dich retten zu können, habe ich meinen Eid gebrochen und muss dafür zur Strafe zehntausend Jahre lang unzählige Wandlungen als Tier durchmachen. Sage, willst du mich für dieses Opfer wiederlieben? Ha, wende dich nicht verächtlich ab! Du könntest es furchtbar bereuen.«
Der Offizier, in dessen Gesicht die ausgeprägteste Lebensfreude zu lesen war, streckte die lange gefesselt gewesenen Glieder.
»Mädchen, und selbst wenn du als Engel mit mir durch die Luft flögest, ich könnte dich doch nicht heiraten. Meine Frau würde mich vielleicht zum zweiten Male verraten.«
»Lieben sollst du mich!«
»Das kann ich tun; erst verschaffe aber mir und den anderen die Freiheit.«
»Nur dir kann ich sie geben.«
»Und der Mann, der mit dir gekommen ist?«
»Auch er darf eine Person mitnehmen, die er liebt. Nur vier können diesen Tempel lebendig verlassen.«
»So? Warum befreit er denn alle?«
Rasch drehte sich die Bajadere um und stürzte mit einem zornigen Schrei auf Reihenfels zu, der den meisten Gefangenen die Fesseln abgenommen hatte, wobei ihn die Befreiten schon unterstützten.
»Was tust du da, Wahnsinniger?«
»Entweder wir alle versuchen die Freiheit zu erlangen, oder auch ich verzichte auf sie«, entgegnete Reihenfels bestimmt.
Bestürzt stand die Bajadere da.
»Unglücklicher, was hast du getan! Nur vier können den Ausgang gewinnen, alle anderen sind dem Tode geweiht.«
Sagtest du nicht, auch ich könnte noch Gefangene befreien, wenn ich einen Gefährten mitbrächte?«
»Du hast ihn nicht mitgebracht.«
»Hier sind genug.«
Es sind weder Inder, noch sind sie als Inder verkleidet.«
»Du willst den Faringi retten. Wo ist für diesen der Ausgang?«
»Dort.«
Makalli deutete nach dem Wasserfall.
»Wie? Dort soll es einen Ausgang geben?«
»Ja, das Wasser hinunter. Weißt du, woher es kommt?«
»Nein.«
»Und niemand wird je erfahren, was die Götter mit undurchdringlichem Dunkel bedecken. Kennst du den schwarzen See?«
»Er liegt nicht weit von Delhi entfernt. Durch den dunklen Felsengrund erhält das Wasser eine schwarze Farbe. Er muss eine mächtige Quelle besitzen, denn ein breiter Fluss der sich dann in die Dschamna ergießt, strömt aus dem See. Wo diese Quelle liegt, ist allen ein Rätsel.«
»Dies ist die Lösung des Rätsels«, sagte die Bajadere, auf den Wasserfall deutend. »Das Wasser ergießt sich unter der Erde in den schwarzen See. Wir benutzen diesen Weg.«
»Der See ist wenigstens hundert Meilen von hier entfernt«, rief Reihenfels.
»Das Wasser reißt uns diesen Weg in wenigen Minuten fort. Wir sehen das Licht in der Mitte des Sees wieder.«
»Ich verstehe dich nicht.«
Statt aller Antwort sprang Makalli nach einer Nische und entnahm derselben einen runden, kreisförmigen Gegenstand. Sie zog ihn auseinander, und es entstand ein Fass, welches mit Guttapercha überzogen war, jenem Gummistoff, dessen Heimat Indien ist.
»Sieh! Drücke ich hier, so schließt sich die Öffnung, und zwar luftdicht. Der Behälter trägt vier Personen, aber dann kann Luftmangel eintreten, für nur drei reicht sie vollkommen, bis das Fass den Wasserweg zurückgelegt hat.«
»Den Wasserfall hinunter?«, fragte Reihenfels, und er fühlte förmlich, wie sich seine Haare vor Entsetzen sträubten.
»Ja, wir lassen uns hineinrollen. Dazu eben brauchte ich deinen Begleiter, dass er dies täte. Zitterst du? Hast du Furcht? Es gibt keinen anderen Ausweg für einen Faringi, denn beim Ausgang wird man genau untersucht.«
Reihenfels dachte im Augenblick an etwas anderes.
»Und mein Freund, der uns in das Wasser hinabstoßen sollte — was wäre denn aus ihm geworden?«
»Er wäre ja als Inder verkleidet worden.«
»Aber die Untersuchung?«
Die Bajadere zuckte die Achseln.
»Sein Los wäre eben kein anderes gewesen als das, was jeden Faringi in Indien noch erwartet«, entgegnete sie gleichgültig.
Reihenfels unterdrückte seinen gegen die Bajadere aufsteigenden Unwillen.
»Und nun?«
»Jetzt sind genug vorhanden, welche uns hinabstoßen können. Aber es war eine große Torheit, sie zu befreien. Komm, steige hinein; du, mein Freund und ich wollen die Fahrt unternehmen, und die Götter seien uns gnädig, dass wir in der Mitte des Sees empor geschleudert werden.«
»Wieso war es eine Torheit, die Gefangenen zu befreien?«
»Merken sie, um was es sich handelt, so kann um dieses Fass ein Kampf entstehen.«
»Um dieses Fass? Nimmermehr! Niemand wird wagen, sich ihm anzuvertrauen.«
»Vielleicht hielte die Furcht sie allerdings davon ab. Wüssten sie aber, dass es ihnen unmöglich ist, einen anderen Ausweg zu erlangen, sie würden dieses Fass doch benutzen. Denn, Faringi, in diesem Behälter droht uns keine Gefahr, die elastische Hülle wird nicht zerstoßen. Ich selbst habe den Wasserweg, vom Los dazu bestimmt, schon einmal zur Probe gemacht.«
»Aber wir sind sechzig starke, entschlossene Männer. Sollte es uns nicht gelingen, uns durch die Thugs durchzuschlagen?«
»Es geht nicht, Faringi, höre auf mich, es geht nicht! Ihr habt keine Waffen.«
»Auch die Thugs hatten keine.«
»Aber die Tiger sind bei ihnen; die Waffenkammer ist auch ganz in ihrer Nähe.«
»Wir versuchen es doch.«
»Törichter, du kennst die Geheimnisse dieses Tempels nicht. Ihr wäret alle verloren, du mit. Es gibt keinen anderen Weg zur Rettung als diesen Wasserfall. Der Behälter trägt drei, auch vier Personen; suche dir jemanden aus, den du mitnehmen willst. Aber schnell, beeile dich!«
»Nimmermehr, ich bleibe und befreie die anderen oder sterbe mit ihnen.«
Die Bajadere glaubte ganz sicher, Sulivan würde ihr Anerbieten sofort annehmen; aber in diesem hatte sie sich noch mehr getäuscht als in Reihenfels.
»Nein, Mädchen, ich folge dir nicht. Du scheinst keinen schottischen Offizier zu kennen. Merke dir, er lässt seine Kameraden nicht im Stich, wenn sie in Gefahr sind, und würden ihm noch so lockende Anerbietungen gemacht. Außerdem hast du mich schon einmal betrogen.«
»Wie? Du willst nicht? Ich habe mein Leben und meine Seligkeit aus Liebe zu dir geopfert.«
»Ich folge dir nicht!«
Der Bajadere Augen begannen in unheimlichem Feuer zu glühen.
»Du darfst dich nicht weigern, jetzt gehörst du mir.«
»Nicht mit meinem Willen! Tu, was du willst. Besteige das Fass und rette dich! Ich aber werde kämpfen, und wenn es nur mit den Fäusten ist.«
Reihenfels hatte den anderen schon mitgeteilt, um was es sich handelte, und alle waren sofort damit einverstanden, sich durch die Thugs zu schlagen. Sie hielten dies eher für möglich, als wie mit dem dünnen Fass aus Gummi hundert Meilen unter dem Wasser fortgeschleudert zu werden. Besonders Charly war Feuer und Flamme, als er hörte, auch Dick sei ein Opfer der Thugs und vermutlich schon geopfert worden. Selbst die Frauen und Mädchen wollten sich von dem Verzweiflungskampf nicht ausschließen, sogar Miss Woodfield rüstete sich zu einem solchen.
Von Nancy hatte Reihenfels noch nichts erwähnt; er fürchtete, Woodfield könne eine Unvorsichtigkeit begehen, wenn er davon erführe.
Er wandte sich an die Bajadere, während die stärksten und erprobtesten Männer sich die Waffen der beiden Wächter aneigneten.
»Du siehst, Makalli, wir alle sind bereit, eher zusammen zu sterben, als dass einer allein sich rettete.«
Die Bajadere stand wie gebrochen da, das Gesicht mit den Händen bedeckt.
»Ich hätte es mir denken können«, ächzte sie, »dass euch der Mut fehlen würde, euch diesem Behälter anzuvertrauen.«
»Durchaus nicht, keiner ist unter uns, der gerettet werden will, wenn die anderen um Leben und Tod kämpfen. Du sprachst von einer Waffenkammer, Makalli. Kannst du uns nicht den Zutritt verschaffen?«
»Es nützt euch nichts. Ihr seid verloren.«
»Zeig uns die Kammer!«
»Ihr kennt nicht die Geheimnisse des Tempels.«
»So kläre uns darüber auf!«
»Ich?«
Ihre Augen loderten plötzlich in gehässiger Glut auf, sie sah nach dem Schotten.
»Bist du bereit, mit mir die Fahrt zu unternehmen?«
»Fahre du allein, ich werde kämpfen.«
»So kämpfe, und ich werde das Anfangszeichen zum Kampfe geben.«
Mit diesen Worten eilte sie dem Glockenseil zu.
Im Nu ward Reihenfels klar, was die Folge sein würde, wenn die Thugs durch ein Alarmzeichen erfuhren, was hier vor sich ging, dass die Gefangenen frei waren. Sie würden sich bewaffnen, ihnen entgegeneilen, und was konnten die wenigen Befreiten mit den paar Waffen in den dunklen Gängen gegen die ausrichten, welche sich hier auch im Finstern zurechtfanden, wie Makalli bewiesen hatte.
Er war schneller als das Mädchen.
Mit einem Satze stand er unter dem Seil und hielt der vor Enttäuschung Rasenden den Revolver entgegen.
»Du berührst das Seil nicht!«
Makalli prallte zurück und eilte dem Gange zu, durch den sie gekommen waren.
Charly mochte geahnt haben, was das Mädchen vorhatte, und schnell vertrat er ihm den Weg. Die Bajadere besaß jedoch einen Dolch, verstand ihn zu gebrauchen und fürchtete den herkulischen Mann nicht Sie warf sich auf ihn.
Doch bei dem Pelzjäger kam sie an den Unrechten. Er fing ihr Handgelenk mit sicherem Griff und hatte sie sofort entwaffnet, gab sie aber frei.
Die Bajadere sah keine Möglichkeit den Plan der befreiten Faringis zu vereiteln, keinen, sich zu entfernen und die ahnungslosen Thugs zu warnen. So drückte sie sich an die Wand und beobachtete mit glühenden Augen den Schotten. Sie war verachtet, in ihrer Liebe beleidigt worden, und die Liebe der heißblütigen Inderin, die unter Mördern groß geworden, verwandelte sich sofort in Hass. Was galt ihr das Leben aller anderen? Wenn sie nur an diesem einen sich rächen konnte!
Reihenfels beriet sich, ohne seinen Posten unter dem Seil zu verlassen, mit den urteilsfähigsten Männern, wie man sich durch die Thugs schlagen könne. Den Weg wollte er schon finden, die Seidenschnur geleitete ihn. Dann hieß es, möglichst unbemerkt, so nahe, wie es nur ging, an die nach oben führende Treppe zu gelangen. Wurden sie vorher bemerkt, so mussten Frauen und Kinder in die Mitte genommen werden, die nächste Schutzwehr um diese bildeten die unbewaffneten, um diese wieder die bewaffneten Männer. Wer von letzteren fiel, dessen Waffen ergriff ein anderer. Es waren allerdings nur einige Dolche, zwei krumme Schwerter und zwei Pistolen vorhanden.
Die Bajadere hatte aus den Gesten den Kriegsplan erraten, und sie brach in höhnisches Lachen aus.
»Und die Tiger? Vergesst diese nicht! Springen sie nicht von selbst in eure Mitte, so wird sie der Oberguru hineinschleudern!«
Freilich daran hatte Reihenfels nicht gedacht, ebenso fiel ihm erst jetzt ein, dass der Ausgang oben vielleicht durch irgend etwas geschlossen werden konnte. Die Bajadere hatte von Geheimnissen des Tempels gesprochen, doch er verzichtete darauf, von dem schönen Mädchen, das eine hässliche Seele besaß, noch etwas darüber zu erfahren.
Es musste eben gehandelt werden, mochte es kommen, wie es wollte. Es gab keinen anderen Ausgang als den, den sie gekommen waren, oder durch das Wasser. Wo das Licht hereinfiel, wusste Reihenfels nicht, wäre aber da ein Ausgang gewesen, so hätte Makalli selbst ihn benutzt.
August hatte sich inzwischen eingehend mit der Gummitonne beschäftigt, hatte sie zusammengeklappt, wieder auseinandergezogen, den Verschluss probiert und war selbst einmal hineingestiegen.
Jetzt trat er zu Reihenfels.
»Herr Reihenfels«, sagte er auf Deutsch zu diesem, »die Sache, die Sie da vorhaben, kann kitzlig werden. Jeder von uns hat verdammt wenig Aussicht, mit heiler Haut davonzukommen.«
»Es muss gewagt werden, August! Sei ein Mann!«
»Hm! Lieber aber möchte ich ein lebender sein als ein toter Mann!«
»Gott wird uns schützen!«
»Das ist ja alles ganz hübsch, aber besser wär's doch, ich könnte von hier spurlos verduften. Was meinen Sie wohl, Herr Reihenfels, wie wär's, wenn Sie mir einen tüchtigen Tritt gäben?«
»Einen Tritt? Was meinst du damit?«
»Nu ja, ich stecke mir in diese Gummitrommel, und dann geben Sie mir einen Tritt.«
»Was? Du wolltest die Fahrt durch das Wasser wagen?«, rief Reihenfels in namenlosem Erstaunen.
»Zu wagen ist da gar nischt dabei. So oder so, dorten sind die Inder und dorten die Fische, und fressen wollen sie mir alle beide, und ehe ich mich mit den wilden Kerlen rumbalge und abschlachten lasse, da mache ich lieber so eine kleine Wasserpartie! Sie haben doch nischt dagegen, Herr Reihenfels?«
»Bedenke aber, es sind wohl hundert Meilen, die du unter dem Wasser zu machen hast.«
»Wie das Mädchen sagt, geht's ja mit Extrapost, in ein paar Minuten soll man an der Endstation angelangt sein. Na, und wenn ich nicht gar zu viel Luft schnappen tu, dann werde ich's wohl aushalten. Ist der schwarze See tief?«
»Sehr, sehr tief!«
»Und die Quelle kommt unten raus?«
»Sicherlich!«
»Herre, muss das aber ein Vergnügen sein, wenn da der Luftballon von unten nach oben raufschießt und dann auch noch zehn Ellen und mehr über das Wasser raushuppt! Das machen wir, Herr Reihenfels, Sie haben doch nischt dagegen?«
Dieser wusste noch immer nicht, ob August so mutig oder so dumm war, dass er dieses Unternehmen so gleichmütig antreten wollte. Aber wenn es ihm gelänge!
Am schwarzen See hatten vorgestern noch die Truppen General Wilsons gelegen. Hatten sie inzwischen auch das Quartier gewechselt, so konnten sie doch nicht weit sein. Dann konnte August zu ihnen eilen und erzählen, wie es den Gefangenen unter den Thugs gegangen war.
»So versuch's, August, und Gott sei mit dir!«
Zum Schrecken und Staunen der übrigen stieg der Held des Augenblicks in die Tonne.
»Na, Miss Woodfield«, sagte er, mit dem Kopf aus dem Fasse sehend, »wie wär's denn? Wollen Sie mir nicht bei der Rutschpartie Gesellschaft leisten? Platz ist noch genug hier. Das gäbe so ein gemütliches Tête-à-tête, wie die Franzosen sagen. Es ist ganz fein hier, sogar die Beene kann man ausstrecken.«
Die alte Dame näherte sich August, um gerührt Abschied von dem zu nehmen, mit dem sie schon so manches heiße Wortgefecht im Guten und im Bösen gehabt hatte.
Aber August fasste ihr Näherkommen falsch auf.
»Ne, ne, Madameken!«, rief er und winkte abwehrend mit der Hand. »Bleiben Sie man, wo Sie sind, da sind Sie am besten aufgehoben. Die Kutsche ist voll, für Sie ist kein Platz mehr! Sie sind, weiß Gott, imstande und halten mir in den paar Minuten noch eine Predigt von einigen Stunden! Adjäs, Madameken! Sehen wir uns nicht mehr in dieser Welt, dann ist auch nicht viel daran gelegen. So, Mister Reihenfels, die Fuhre kann abgehen; bezahlt ist schon!«
Dieser schüttelte ihm die Hand — Zeit war nicht mehr zu verlieren — August duckte den Kopf und schloss von innen den Überzug, wie er es vorher schon ausprobiert hatte.
»Fertig — fort!«, klang es dumpf aus der Tonne. Reihenfels stieß sie mit dem Fuße kräftig an, um sie gleich möglichst weit von dem Felsrand zu entfernen.
Mit Grausen sahen alle sie blitzschnell verschwinden, sie alle, ohne Ausnahme, hielten August für verloren.
»Vielleicht ist er der Klügste gewesen!«, murmelte Reihenfels. »Er kann wenigstens über sein Schicksal nicht im unklaren sein. Und doch, wenn es ihm gelänge! Die Bajadere schien ihrer Sache so sicher zu sein!«
»Er war schuld daran, dass wir in die Hände der Thugs fielen«, sagte Charly. »Wir waren auf dem Wege, Mister Woodfield aufzusuchen, bei dem wir auch Sie zu finden hofften. Ich sah, wie die Mörder ein Opfer überfielen, es töteten und vergruben, sie bemerkten uns nicht — da muss es August plötzlich einfallen, auf eine Taube zu schießen, die über uns hinwegstrich, und im Nu waren wir gefangen. Erst gestern Abend kam ich hierher. Nun, er hat seinen Übermut gebüßt; ich zürne ihm nicht mehr!«
Reihenfels wollte Charly sagen, dass er Nancy gesehen habe, als an dem Eingange ein Inder erschien, bei dessen Anblick natürlich alle furchtbar erschraken, denn sie glaubten sich schon verraten.
Aber auch der Inder, ein großer, starker Mann, stand, wie mit Blut übergossen, vor Schreck wie versteinert da, beide Hände über dem Kopf erhoben.
»Akkallah!«, schrie die Bajadere mit gellender Stimme, und es klang mehr wie Freude als wie Entsetzen.
Reihenfels hob den Revolver, um den vermeintlichen Feind zu töten.
»Halt!«, rief aber der Inder mit weitschallender, selbst noch das Brausen des Wasserfalles übertönender Stimme. »Ich komme nicht als Feind, sondern als euer Freund. Ich sehe, ihr seid schon frei und zum Kampfe bereit. Kommt, folgt mir, ich selbst führe euch an und siege oder sterbe mit euch. Schnell, ich will euch auch vorher bewaffnen. Der rote Mann, dessen Mayadar zu sein ich geschworen habe, ist in Gefahr, und um ihn zu retten, opfere ich mich selbst.«
Es gab keine Zeit zu weiteren Auseinandersetzungen und Fragen, man traute diesem Inder und ordnete sich schnell zum Zuge. Neue Hoffnung schwellte das Herz. Man hatte einen Freund unter den Thugs gefunden, man bekam Waffen.
Akkallah, der die Höhle schon verlassen wollte, blieb plötzlich erschrocken stehen; Entsetzen malte sich auf seinem Antlitz, und es befiel auch alle anderen.
Ein furchtbar gellender Ton erscholl, die Felsenmauern erbebten davon, und fort und fort wiederholte sich dieser Ton.
Nur einen Augenblick währte die Überraschung des Sirdars, dann machte er einen ungeheueren Satz rückwärts und hatte Makalli gepackt, welche die Alarmglocke in Schwingungen setzte.
Man hatte des Mädchens nicht mehr gedacht.
Der Inder riss es los und schleuderte es mit starkem Arm in den Abgrund, in den sich das zischende, schaumbedeckte Wasser ergoss.
Die Bajadere war ein Opfer ihrer guten und bösen Leidenschaften geworden.
»Zu spät!«, stöhnte der Inder. »Die Thugs sind gewarnt, mein Mayadar ist verloren. Ich kann nichts mehr tun.«
»Wir kämpfen dennoch gegen sie«, rief Reihenfels.
»Zu spät! Ihr erster Gedanke ist an die Waffenkammer, sie bewaffnen sich.«
»Dennoch bleiben wir nicht hier. Fort, fort, führe uns den kürzesten Weg. Können wir deinen Freund nicht mehr retten, so überraschen wir sie noch in der Waffenkammer und rächen ihn.«
Der Sirdar stürzte davon, die anderen ihm nach, entschlossen, zu sterben oder die Freiheit zu erlangen. Lebendig sollten die Thugs sie nicht wieder bekommen.
Es war wirklich Dick, der gebunden und geknebelt auf der Bahre lag, die Reihenfels gesehen hatte. Radscha Gholab hatte ihn durch ein narkotisches Mittel in Schlaf gebracht, und als Dick wieder zu sich kam, wurde er schon durch einen Gang an den Versammlungsort der Thugs transportiert. Viele Stunden mussten inzwischen verstrichen sein.
So hatte ihm also alle Freundschaft des Schlossherrn und Suradschas nichts genützt, und als er erst merkte, dass er sich wirklich zwischen Thugs befand, da hielt er alle diese Versicherungen der Freundschaft nur für Heuchelei, durch welche er in die Falle gelockt worden war.
Dick wusste freilich nicht, wie man sich gegen solche giftige Betäubungsgase schützen konnte; diese Mittel, einen Gegner unschädlich zu machen, waren ihm völlig unbekannt, und so ärgerte er sich nicht darüber, überwältigt worden zu sein, was er wohl sonst getan hätte.
Seine Bande an Händen und Füßen waren zu stark, als dass er sie hätte sprengen können; er mühte sich nicht erst damit ab. Er sah dem Tode nicht zum ersten Male ins Auge, er hatte schon oft am Marterpfahl gestanden, und so dachte er auch jetzt kaltblütig an sein nahes Ende. Bot sich ihm auch nur die kleinste Aussicht auf Rettung, irgendeine Gelegenheit zur Befreiung, nun, so ergriff er sie mit aller Kraft und versuchte wenigstens kämpfend unterzugehen.
Das Tuch wurde von der Bahre abgerissen. Dick sah nur ein Flammenmeer, Schatten an den Wänden huschen und hörte das Murmeln einer großen Menschenmenge. Auch den Geruch von frischem Blut nahm er wahr.
»O, Kali! Kankali! Bhudkali! Heilige Kali!«, rief der Oberguru in fanatischer Lust. »Du bist uns heute gnädig gestimmt. Hast du dich sattgerochen am Blute deiner braunen Kinder, die du hassest? Wir bieten dir jetzt einen von jenen Faringis zum Opfer an, die du noch mehr hassest. Ergötze dich an seinem Blute, wenn du nicht willst, dass deine heiligen Schlangen sein Gehirn verzehren.«
Beim Anblick des ersten weißen Gefangenen, zu deren Opferung es eigentlich noch nicht Zeit war, brach die Menge in ein dämonisches Heulen und Jauchzen aus.
Wie die bereits Genannten, so sollte auch Dick auf die Stufe gehoben werden, da aber sprang ein weißgekleideter Cham dazwischen und schleuderte die ihn Anfassenden zur Seite.
»Halte ein, Häuptling der Thugs!«, rief er. »Hältst du so dein Wort? Dies ist mein Mayadar, dem beizustehen ich bei der Kali geschworen habe! Du hast ihn ohne mein Wissen aus meiner Burg entführen lassen.«
Drohend richtete sich der Oberguru auf.
»Verfluchter, wage es, das heilige Opfer der Kali zu berühren, und sie wird mit ihrer Spitzaxt dein Haupt zu treffen wissen, wenn ich es nicht für sie tun muss.«
»Er ist mein Mayadar!«
»So stirb mit ihm, Narr!«
Ein unwilliges Gemurmel entstand, das gegen den aufsässigen Cham gerichtet war. Er verschwand unter der Menge, um wenigstens nicht dem Tode dessen beizuwohnen, dem er Treue versprochen hatte.
Dick hatte an der Stimme Akkallah, den Schlossherrn erkannt, und so viel war ihm klar geworden, dass dieser ihn wenigstens zu retten versucht hatte. Aber was nützte ihm dies?
Von Neuem wurde er gepackt und sollte auf den Altar gelegt werden. Der Jäger aber wollte ihnen wenigstens noch einmal zeigen, dass er auch gebunden ein ganz gefährlicher Gegner war. Obgleich ihm die Beine festgehalten wurden, vermochte er sie doch anzuziehen, schnellte sie wieder vor, dann noch einmal, und zwei der Priester, von den Füßen Dicks in den Leib getroffen, flogen weithin über den blutigen Estrich und wälzten sich im nächsten Augenblick jammernd in Blut und Schmutz am Boden.
Es gelang Dick zwar nicht mehr, dieses Manöver zu wiederholen, denn noch mehr Chams hatten sich auf ihn geworfen, aber bei den heftigen Beinbewegungen war ihm der Knebel aus dem Mund geschossen, und er machte nun den ausgiebigsten Gebrauch seiner freigewordenen Zunge.
»Ihr verfluchtes, braunhäutiges, schmieriges Lumpenpack«, brüllte er, »der Teufel soll euch alle lebendig massakrieren! Schämt ihr euch nicht, einen einzelnen Mann so zu behandeln, der auch noch gebunden ist? Ihr seid ja noch niederträchtiger als die niederträchtigsten Sioux! Da, nimm wenigstens das noch als Andenken von Dick.«
Ein Cham hatte sein Gesicht den Füßen des Gefangenen genähert. Dick machte eine kolossale Anstrengung, bekam seine Füße frei und stieß sie dem Inder ins Gesicht, dass er blutüberströmt rücklings zu Boden schlug.
Endlich lag Dick auf dem Altar. Jetzt mussten seine Fesseln gelöst werden, denn frei musste das Opfer sterben. Jeder Arm und jedes Bein wurde von vier der kräftigsten Inder gehalten. Dick strengte sich noch einmal mit aller Macht an, sich zu befreien. Als er seinen Zweck nicht erreichte, gab er die Bemühungen auf, blieb still liegen und erwartete gleichmütig den Tod, denn schon hob der Priester das spitze Messer.
Also geschlachtet sollte er werden.
Aber erst mussten ihm die Kleider genommen werden, und man begann damit, dass man ihm die Pelzmütze vom Kopfe nahm.
Rufe des Erstaunens entfuhren den Lippen der Priester, der Oberguru war so erschrocken, dass er hastig einen Schritt zurücktrat, die Stufe verfehlte, hinunterstürzte und gerade auf einen Tiger fiel, der heulend aufspringen wollte, aber auf dem blutigen Estrich ebenfalls ausglitt, sodass sich nun beide, Mensch und Tier, als blutige Massen am Boden wälzten.
Augenblicklich spürte Dick, der dies beobachten konnte, die größte Lust zum Lachen, und er lachte auch aus vollem Halse.
»Hahaha, ihr habt wohl noch nie einen Menschen ohne Haare und ohne Ohren gesehen? Wartet nur, wenn es mir noch gelingt, euch unterzukriegen, dann schneide ich euch auch die Nasen ab und damit ich das Skalpieren nicht verlerne, werde ich's ein bisschen an euch üben. Die Pest über euch Halunken, habe ich meinen Arm frei, dann...«
Es war ihm gelungen, einen Arm frei zu bekommen, während die Inder den haar- und ohrenlosen Mann erstarrt betrachteten, und im nächsten Augenblick sank schon einer von ihnen mit ausgeschlagenen Zähnen zu Boden.
»Haltet ihn, haltet ihn!«, kreischte der Oberguru, der sich wieder aufgerichtet hatte. »Lasst ihn nicht entkommen; er gehört den Schlangen! Zazetti, Zazetti!«
Mit neuer Wucht hatten sich die Priester auf ihn geworfen und den sich Wehrenden abermals überwältigt.
Dick hatte schon geglaubt, jetzt sei er dem Opfertod entronnen; denn schon einmal war er dem Martertod entgangen, als die Inder ihn skalpiert gefunden hatten. Auch der Kali durfte niemand geopfert werden, der ein sichtbares Gebrechen trug oder dem ein Glied fehlte, aber das rettete das Opfer nicht, seiner wartete dann nur ein noch entsetzlicheres Los.
Auf den Ruf ›Zazetti‹ kroch jener schon erwähnte, widerliche Zwerg hinter dem Altar der Göttin hervor; heiser kichernd machte er tanzende Bewegungen und schwang triumphierend die Schlangen hin und her. Jetzt gab es für ihn Arbeit.
»Freut euch, meine Lieblinge«, kicherte er, »freut euch, es gibt etwas für euch zu fressen! Ihr dürft das Gehirn des Faringis aussaugen!«
Dick hatte ihn noch nicht gesehen. Sechzehn Arme hoben ihn vom Altar herunter und stellten ihn aufrecht auf die erste Stufe.
Jetzt stand er dem Zwerge gegenüber, er sah das teuflische Grinsen des Scheusals, die Schlangenköpfe, wie die Zungen der Reptilien spielten und die schillernden Augen begehrlich auf ihm hafteten, und Dicks sonst so furchtloses Herz erbebte plötzlich.
»Meine Goldschlangen«, jubelte der Zwerg, »hei, jetzt könnt ihr euch weiden und mästen! Seht, wie er zittert! Beißt ihn! Beißt ihn in die Augen, und saugt, saugt, saugt, bis sein Gehirn aus dem Kopfe ist!«
Dick hatte diese Worte nicht verstanden, aber er wusste, was ihm bevorstand. Die Schlangen wiegten die Köpfe hin und her, immer länger wurden die Zungen, immer gieriger die Augen, und immer mehr näherten sie sich dem Gesicht Dicks.
Jetzt schoss eine vor, um ihre Zähne in das Auge des Opfers zu schlagen.
Da stieß Dick einen furchtbaren Schrei aus, so heftig fuhr er zurück, dass ihn die acht Männer nicht mehr zu halten vermochten, sie wurden mit zurückgerissen.
Mit einem Sprunge stand der Zwerg abermals vor ihm.
Plötzlich erscholl oben in der Luft ein heulendes und zugleich donnerndes Getöse, in regelmäßigen Schwingungen wiederkehrend. Einen Moment stand alles wie erstarrt da, selbst die Schlangen schienen zu erschrecken, sie zogen sich zurück und bargen ihre Köpfe an der Brust ihres Hüters.
»Die Alarmglocke«, schrie der unverhüllte Priester zuerst, »die Gefangenen haben sich befreit! Mir nach!«
Dick hatte gefühlt, wie beim Ertönen des Glockensignals die Arme der Inder, die ihn hielten, plötzlich erstarrten, wie ihre Griffe sich lösten und in demselben Moment flogen sie links und rechts beiseite, der erhielt einen Faustschlag, jener einen Fußtritt; Dick war frei, stand mit einem Satz hoch oben bei den Krallenfüßen der Göttin, ergriff die dort liegende Spitzaxt und schwang sie in der Rechten.
Die Spitzaxt war nur ein heiliges Symbol, nicht zum Gebrauch der Priester bestimmt, denn sie wog wohl über einen Zentner, war also viel zu schwer. Doch Dick schwang sie wie einen leichten Tomahawk und wusste sie auch ebenso zu gebrauchen.
Dieser Befreite musste zuerst wieder gebändigt werden, mochte kommen, was da wollte. Er befand sich im Besitz der einzigen Waffe, die es augenblicklich gab, denn das Opfermesser des Priesters war kaum zu zählen, ebenso wenig wie die Schlingen und Seidentücher — nur der Tiger war zu bedenken, und es konnten deren noch mehrere sofort herbeigeholt werden.
»Auf ihn!«, schrie der Oberguru, machte aber keine Miene, sich selbst der Spitzaxt auszusetzen, die der kleine Mann handhabte, als wäre er ein Riese. Er ergriff nur den Tiger beim Halsband, um ihn vorläufig zurückzuhalten.
Die Umstehenden dagegen folgten ohne Bedenken der Aufforderung.
Laut aufheulend warf sich die Menge, voran ein Cham, auf Dick. Dessen Spitzaxt sauste herab; mit gespaltenem Kopf sank der Cham zu Boden, ebenso ein zweiter, ein dritter, ein vierter; als wäre sie von Holz, so schwang der Trapper die stählerne Axt, hier war er in seinem Element, im Führen des Tomahawks war er Meister; keinem seiner Gegner gelang es, auch nur die erste Stufe zu betreten, und von Entsetzen erfasst, wichen sie zurück.
Wieder wurden sie von dem Oberguru zum Angriff angefeuert, nochmals stürmten sie auf Dick ein und wieder stoben sie auseinander; denn nicht weniger als vierzehn verstümmelte Leichen lagen schon vor dem Altar.
Dem war der Kopf gespalten, jenem hatte sich die Spitze der Axt in die Eingeweide gebohrt, den Arm, der sich nach dem furchtbaren Kämpfer ausgestreckt, hatte der schwere, scharfe Stahl glatt vom Rumpfe getrennt.
»Fass ihn, fass ihn!«, schrie der Oberguru und gab den Tiger frei.
Das Raubtier kroch, zum Sprunge bereit, mit vor Aufregung zitterndem Schweif, gegen den Altar vor, dann blieb es liegen und spannte die Muskeln an; es sprang, erreichte aber den Flüchtling nicht, denn wie ein Blitz sauste die blanke Axt durch die Luft und spaltete den Kopf des Tigers bis auf den Wirbelknochen in zwei Hälften.
Dick hatte gezeigt, dass er diese gewaltige Axt auch wie einen Tomahawk zu schleudern verstand.
Klirrend fiel die Waffe neben dem entseelten Tiger auf die Steinfliesen.
Gleichzeitig wollten sich die zunächst stehenden Inder auf die Axt werfen, denn jetzt war der Mann machtlos geworden; doch Dick war schneller als alle anderen.
Mit einem mächtigen Satz stand er neben der Axt; den Inder, der sich schon nach ihr bückte, traf ein Faustschlag in den Nacken, dass er hinfiel und nicht wieder aufstand. Dann blitzte wieder der Stahl durch die Luft, überall den Tod verbreitend.
Doch es wäre dem Trapper nicht wieder gelungen, den hohen Standpunkt zu erlangen, und im Saale wäre er von den auf ihn eindringenden Gegnern, die von hinten geschoben wurden, bald erdrückt worden, wenn ihm nicht Hilfe erschienen wäre.
Man hatte das Zeichen der Alarmglocke vergessen, auch das, was danach vielleicht kommen musste, und so befiel ein lähmendes Entsetzen die Thugs, als plötzlich eine Salve krachte und ungefähr dreißig Mann von ihnen zu Boden stürzten. Von der Terrasse, die in den Kessel führte, stürmten wohl sechzig Faringis, mit zerzausten Haaren und bleichen Gesichtern, in denen aber die furchtbarste Entschlossenheit zu lesen war.
Sie hielten große Pistolen, Schwerter, Dolche und kleinere Spitzäxte in den Händen, hatten sich also in der Waffenkammer ausgerüstet.
Wer aber hatte ihnen diesen versteckten Ort verraten?
An ihrer Spitze stand ein Inder; es musste ein Thug sein. Es war aber nicht Akkallah, dieser ließ sich nicht sehen, sondern der als Inder verkleidete Reihenfels.
Nur einmal konnten die Befreiten die vorgefundenen Pistolen abschießen, dann nicht wieder, denn mit einem furchtbaren Wut- oder Verzweiflungsschrei warfen sich die tausend Thugs auf die sechzig Männer.
Sie wollten ihnen den einzigen Ausgang aus dem Kessel versperren, und jetzt begann ein Kampf, oder vielmehr eine Schlachterei, die sich nicht beschreiben lässt.
Die Thugs, vollkommen unbewaffnet, suchten jenen die Waffen mit den bloßen Händen zu entreißen; sie griffen in den schneidenden Stahl; die Schwerter hieben, die Spitzäxte schmetterten, und die Dolche bohrten.
Kein Ruf ward mehr gehört, höchstens einmal das Röcheln eines zum Tode Getroffenen. Schweigend rangen alle Brust an Brust, die Waffen nur machten Geräusch, das Brechen und Malmen von Knochen.
Am härtesten wurde der vermeintliche Inder, der Verräter bedrängt. Immer wieder warfen sich von allen Seiten die Thugs mit erneuter Wut auf ihn, hundert Arme streckten sich nach ihm aus, doch wie ein Kriegsgott schwang der junge Mann die Spitzaxt, und war er doch einmal nahe daran, ergriffen und zu Boden gerissen zu werden, so hieben ihn die Freunde heraus.
Nur wenige der Engländer unterlagen den Thugs. Sie wurden niedergeworfen und von den Füßen zertreten oder erstickt.
Das Ganze war ein scheußliches Gemisch von Fleisch und Blut, dazwischen blanke Waffen und verzweifelte Gesichter.
Hinten wütete Dick mit seiner mächtigen Spitzaxt; immer mehr durchbrach er die Reihen der Thugs, und als er sich endlich mit den Engländern vereint hatte, ertönte zum ersten Male ein Jubelruf.
Unterdessen spielte sich im Hintergrunde der Höhle eine andere Szene ab. Der Oberguru hatte sich dem Kampfe nicht mit angeschlossen, er war sofort in einen Gang geeilt, der blind endete. Hier befand sich ein Zwinger, in dem noch ein gezähmter Tiger und ein Panther gehalten wurden.
Auch diese sollten sich an dem Kampfe mit beteiligen.
Da stieß der Radscha einen Wutschrei aus; denn der Zwinger war geöffnet, und in demselben beschäftigte sich eben Akkallah mit den beiden Tieren. Sie gehörten ihm als dem Besitzer der Burg, sie waren von ihm gezähmt und in den Dienst der Göttin gestellt worden.
»Meineidiger, nimm deinen Lohn!«, schrie der Oberguru, und ehe Akkallah, erschrocken auffahrend, nach seinen Waffen greifen konnte, wurde ihm schon das Opfermesser von hinten in den Rücken gestoßen.
Leblos brach der Getroffene zusammen. Wohl stieß der Königstiger ein drohendes Murren aus, aber er wagte nicht, den Tod seines Herrn an dem zu rächen, den er kannte, und dem er ebenfalls zu gehorchen gewöhnt war.
Ohne sich um den Gefallenen zu kümmern, ergriff Gholab das Halsband des Tigers, um ihn fortzuziehen, er befahl ihm, mit ihm zu kommen, aber vergebens — unbeweglich blieb das Tier liegen, ließ ein drohendes Knurren hören und wies dem Mann die Zähne, ohne sie jedoch zu gebrauchen.
Er ließ sich sogar schlagen und mit den Füßen treten, wild glühten die Augen, aber von der Stelle war er nicht zu bringen.
Gholab wusste sofort, dass das Tier von Akkallah, seinem Herrn, den Befehl bekommen hatte, hier zu bleiben, und der Tiger gehorchte diesem Befehl auch noch nach dem Tode des Herrn.
Die Zeit drängte, der Priester kümmerte sich nicht mehr um den Tiger, der ihm nichts nützen konnte. Dagegen hob er schnell den Panther mit seinen herkulischen Armen auf, gleichgültig, ob dieser wollte oder nicht, und eilte in den Kessel zurück, wo der Kampf Mann gegen Mann noch immer wütete.
»Hei, Rohil, schaffe uns mit deinen Tatzen und Zähnen einen Ausweg!«
Mit diesen Worten schleuderte er die fauchende und vor Kampfeswut schon bebende Katze mitten unter die Kämpfenden. Sie stürzte auf einen Inder, doch im nächsten Augenblick schon fiel sie einen Engländer an; sie brauchte nicht erst auf die Gegner gehetzt zu werden.
Wohl stoben die Engländer im ersten Schrecken auseinander, wohl trat eine momentane Verwirrung ein; aber schnell warfen sie sich mit Dolchen auf den Panther, und ehe dieser ein zweites Opfer anfallen konnte, war sein Leib von Dolchstichen durchlöchert.
Mehr als eine Verwirrung hatte Gholab auch nicht bezweckt, sein Ruf lenkte die Thugs, und jetzt gelang es diesen doch, durchzubrechen. Einer nach dem anderen erreichte die Terrasse, immer mehr schlossen sich an und eilten davon, nicht mehr an Kampf denkend, und den letzten folgten die Engländer nach, noch immer Gebrauch von den Waffen machend.
Die Thugs flohen in den Gang, den Reihenfels vorher mit Makalli gekommen war, der also nach der Treppe führte.
Aber hier herrschte vollkommene Finsternis, man stieß an die Mauern, oder aneinander, immer schwächer klang das Laufen der Fliehenden, und zuletzt überzeugten sich die Engländer durch Rufe, dass sie allein in dem Gang waren.
Vor ihnen die undurchdringliche Finsternis, hinter ihnen in weiter Ferne die Feuer der Holzstöße, auch schon dem Verglimmen nahe.
Reihenfels forderte einige der Freunde auf, ihn zu begleiten. Sie liefen zurück, holten flammende Äste und suchten bei deren Licht im Gange nach dem Ausweg oder nach der Treppe.
Aber waren sie denn nur verhext? Wie sie auch leuchteten und suchten, sie fanden wohl Nischen, andere Gänge und Gemächer, aber keinen einzigen Ausgang.
Reihenfels glaubte, noch bestimmt angeben zu können, wo er die Treppe verlassen und den Gang betreten hatte, aber nichts war mehr zu finden.
Überall starrte ihnen die nackte, kalte Felswand, aus einem Stück, entgegen, nirgends war auch nur eine Fuge zu sehen.
Nachdem man eine halbe Stunde vergebens mit Hilfe von brennenden Ästen gesucht hatte, kehrte man in den Kessel zurück, wo der Kampf stattgefunden hatte.
Es war ein schreckliches Bild, welches sich dort darbot, und es konnte sie nicht mit Genugtuung erfüllen, dass die Zahl der toten Engländer der der Inder gegenüber fast gar nicht zu rechnen war — alle waren zertreten, erstickt oder mit den Händen erwürgt.
Während einige ihre toten Freunde von den Leichen der Thugs absonderten, andere die noch versteckten Frauen und Kinder beruhigten und herbeiholten, versuchte Reihenfels von verwundeten Thugs zu erfahren, wo sich der Ausgang befände.
Schon der erste, den er fragte, brach in ein teuflisches Lachen aus.
»Sucht, immer sucht!«, rief er, seinen Schmerz vor Schadenfreude vergessend. »Nimmermehr werdet ihr Verfluchten das Licht des Tages wieder erblicken. Wenn diese Holzstöße erloschen sind, wird euch Nacht umgeben, und ihr werdet so lange hier verharren, bis der Hunger euch die Seele aus dem Leibe jagt, und dann wird euch die furchtbare Kali fragen, warum ihr ihre Diener erschlagen habt. Hahaha, fragt mich der Narr, wo der Ausgang ist! Bitte lieber die Göttin um Erbarmen, ehe du einen Thug danach fragst.«
»Mann, du bist schwer verwundet und stehst an der Pforte des Todes«, ermahnte Reihenfels.
»Heil mir, so wird mich bald die Kali mit Ehren empfangen.«
Auch von den übrigen Verwundeten erfuhr Reihenfels nichts anderes, als dass es ihm nie gelingen würde, einen Ausgang zu finden. Wenn er nach einem solchen suche, so könne er noch manches Heiligtum betreten, er könne sie auch jetzt ungestraft schänden, er würde vielleicht ungeheuere Schätze sehen, aber niemandem vermöge er das zu erzählen, was er geschaut, denn niemals erführe er das Geheimnis, welches ihm die Ausgangstür öffne.
Schließlich gab Reihenfels die Bemühungen auf, von den Thugs etwas zu erfahren. Wie er selbst, so wurden auch die übrigen immer besorgter, aber man gab sich Mühe, dies vorläufig den Frauen noch zu verbergen.
Unter den Toten befand sich weder Gholab noch Tipperah, obgleich Reihenfels glaubte, er hätte letzteren mit seiner Spitzaxt niedergeschmettert.
Er begab sich zu Dick und ließ sich in Kürze erzählen, wie dieser hierher gekommen.
»Und hast du nicht auch Nancy gesehen?«, fragte Reihenfels dann.
Schon aus Dicks Erstaunen entnahm er, dass dieser das Mädchen überhaupt nicht zu Gesicht bekommen hatte. So musste also das lebende Götterbild, als Reihenfels sich entfernt hatte, wieder verschwunden sein; denn Dick behauptete ganz bestimmt, als er auf den Altar gehoben wurde, sei nur das Standbild der Göttin, nichts Anderes vorhanden gewesen. Das Mädchen, welches er aus Kiong Jangs Schilderung so genau kannte, hätte er doch nicht übersehen können.
Unzweifelhaft war eine Versenkung benutzt worden. Reihenfels konnte noch genau bestimmen, wo der Thron gestanden hatte, aber er entdeckte keine Fuge, die auf das Vorhandensein einer Versenkung hin gewiesen hätte.
Und warum hatten die Thugs diese nicht benutzt? Die Erklärung war die, dass nicht alle sie zugleich benutzen konnten, aber vielleicht hatten Gholab, Tipperah und andere Priester davon Gebrauch gemacht, ohne dass die Engländer es merkten.
Wo war denn aber der Inder, der ihnen den Weg nach der Waffenkammer gezeigt, sie zur Rettung des roten Mannes aufgefordert hatte? Er sagte, als sie den Versammlungsort der Thugs erreicht hatten, er wolle den Hauptfeind unschädlich machen, und war verschwunden gewesen. Nur er konnte jetzt raten und helfen.
Da wurde nach Reihenfels gerufen, er begab sich mit Dick und anderen dahin, wo man nach ihm verlangte, und fand in einem dunklen Gange einige Engländer stehen, die ängstliche Zeichen machten, vorsichtig zu sein.
Schon hörte man ein unheilvolles Knurren, dazwischen aber auch eine menschliche Stimme, die anscheinend um Hilfe rief.
»Still«, flüsterte Reihenfels, »ich glaube, das sind englische Worte.«
Alles lauschte.
»Kommt hierher, Freunde«, ächzte es zwischen dem Knurren, »fürchtet euch nicht — vor dem Tiger — er schadet euch nicht. Hierher — oder ich — kann euch — nicht mehr retten.«
Jetzt schritten Reihenfels und Dick furchtlos voran, aber auch vorsichtig, falls ihnen eine Falle gestellt worden war.
Die Fackel beleuchtete einen grimmig blickenden Tiger, der sich jedoch beim Eintritt der fremden Männer nicht erhob, so sehr er auch knurrte und fauchte; neben ihm lag ein Inder in seinem Blut — der Mann, der sie hierher geführt hatte.
»Das ist Akkallah«, rief Dick erstaunt.
»Ich bin's«, hauchte der Sterbende. »Faringi du hast — meinen Sohn gerettet — ich habe meinen — Schwur gehalten — dich zu retten gesucht — es kostet mir viel —«
Reihenfels sah den Mann sterben, Schrecken befiel ihn.
»Um Brahmas Willen, sprich schnell, wo ist der Ausgang aus dem Tempel? Wir können ihn nicht finden.«
»So sind — die Thugs — besiegt — tot?«
»Ja, sie sind versprengt, sind verschwunden. Wir finden keinen Ausgang. Wo ist er? Sprich schnell!«
»Von der Terrasse aus — wendet euch...«
Ein dunkler Blutstrom stürzte aus dem Munde des Unglücklichen und erstickte seine Worte.
»Er stirbt«, schrie Reihenfels, kniete nieder und versuchte ihn noch einmal zum Sprechen zu bringen — zu spät, vor ihm lag schon ein Toter.
Als sich Reihenfels wieder erhob, drückte sein Gesicht die tiefste Sorge aus. Was nun? Dick warnte vor dem Tiger. Es wurde allen unheimlich zumute. Das Tier lag zum Sprunge bereit, seine Hinterschenkel zuckten, die Muskeln waren gespannt. Es kämpfte anscheinend mit seiner Wut beim Anblick der fremden Männer, auf die es sich gar zu gern gestürzt hätte, und mit dem Gehorsam gegen den Befehl seines Herrn, den Platz, auf den es lag, nicht zu verlassen. Lange konnte dieser Kampf nicht mehr dauern, dann siegte die Raubtiernatur.
Eilends verließ man die Zelle und schob vor die Tür den Riegel. Kaum war die schwere, aus Metall gefertigte Tür ins Schloss gefallen, als der Tiger mit Donnergebrüll dagegensprang.
In der Tür befand sich in Kopfhöhe ein kleines Loch, und bald erschien das grünleuchtende Auge des Tigers daran. Ohne Besinnen hob Reihenfels den Revolver, dessen Patronen er für den Fall der höchsten Not noch aufbewahrt hatte, und sandte eine Kugel in das funkelnde Auge.
Ein Brüllen, Heulen, Toben folgte, dann ein Fall und Röcheln, und es ward wieder still — der Tiger hatte neben seinem Herrn geendet.
Man dachte jetzt nicht daran, letzteren herauszuholen, die Sorge um die Zukunft beschäftigte die Gedanken aller.
Akkallah, der einzige, der hier bekannt war und das Geheimnis des Ausgangs sagen konnte, war tot. Makalli war auch nicht mehr.
Sollte man die Hoffnung allein darauf setzen, dass August das Wagestück gelungen sei, dass er die Oberfläche des schwarzen Sees lebendig erreichte?
Nein. Wenn es ihm geglückt war und er Freunde getroffen hatte, die er über das Schicksal der Zurückgebliebenen benachrichtigen konnte, desto besser, aber rechnen durfte man damit nicht. Solange es noch möglich war, musste man nach einem Ausgang suchen, das hieß vor allen Dingen — solange es noch hell war.
Immer mehr fielen die größten Holzstöße in sich zusammen, die kleineren waren schon längst aufgebrannt, es herrschte nur noch ein gespenstisches Zwielicht, und Holzvorrat war nicht zu finden.
Was dann, wenn vollkommene Dunkelheit sie umhüllte? Auch das unerschrockenste Herz wurde bei diesem Gedanken von Grausen erfüllt, schon jetzt bebte mancher zusammen, wenn sein Blick auf die vielen Leichen fiel, welche sich in dem flackernden Feuerschein zu bewegen schienen.
Reihenfels schlug vor, die Frauen und Kinder wieder nach dem Platz am Wasserfall zu bringen, dort herrschte eine frischere Luft, auch das Geräusch hatte schon etwas Anmutendes an sich. Die seidenen Schnüre Makallis dienten noch immer zum Führen.
Man riss die letzten brennenden Holzscheite aus dem Feuer und beleuchtete den Weg. Reihenfels allein schlug unterwegs manchmal andere Gänge ein, die Stimmen der Zurückbleibenden ließen ihn sich nicht verlaufen, ebenso machten es andere, aber die Stollen endeten entweder blind oder verloren sich ins Unendliche. Einen Ausgang hoffte man hier sowieso nicht zu finden, denn auch Makalli hatte keinen gewusst, man dachte wenigstens, auf den Platz zu stoßen, wo die zum Opfer für die Kali bestimmten Inder gefangengehalten wurden, fand ihn aber nicht, ebenso wenig wie ihr Rufen beantwortet wurde. Und doch war es kein Zweifel, dass sich hier unten auch noch viele Inder als Schlachtopfer befanden. Wo zum Beispiel war Kiong Jang geblieben, der mit Mister Woodfield zugleich hierher geschleppt und erst später von den übrigen getrennt worden war?
Als sie das Plateau am Wasserfall gemeinsam wieder erreichten, war das erste, was ihnen auffiel, dass auch hier jetzt vollkommene Finsternis herrschte, während nach der Aussage der Gefangenen früher Tag und Nacht von oben Licht hereingefallen war. Ferner lag ein langes Tau am Boden. Der Glockenstrang, welcher oben abgeschnitten worden war. Die entkommenen Thugs mussten dies getan haben.
Wenn die Eingeschlossenen nicht in so gedrückter Stimmung gewesen wären, hätten sie sich an einem prächtigen Anblick ergötzen können, den das Fackellicht hervorrief. Die Wände der Grotte glänzten und gleißten, als wären sie von Gold, und wirklich waren sie mit dicken Goldadern durchzogen und mit schiefrigen Blättchen von Goldquarz wie mit Schuppen bedeckt. In dem Zwielicht vorher war dies nicht aufgefallen.
Doch was nützte jetzt dieses Gold, was alle Schätze der Erde?
Die Holzscheite verbrannten, viele mussten schon weggeworfen werden. Der hübsche Schotte trat dicht an den Wasserfall und warf seine kleine Fackel hinein.
»Dies opfere ich dir, Makalli«, seufzte er, »erschienest du wieder und verlangtest meine Liebe, um den Preis der Freiheit würde ich sie dir wahrhaftig nicht abschlagen.«
Das Wasser füllte den Abgrund, in welches es stürzte, nicht vollständig oder wenigstens nicht sofort aus, es blieb noch ein Raum frei, der nur von Wassertropfen durchspült wurde.
Als Sulivan die Fackel hineingeworfen hatte und, sich etwas vorbeugend, dem feurigen Funken nachsah, der sich noch einen Augenblick hielt, glaubte er plötzlich im letzten Schein einige Meter unter sich einen dunklen Punkt wahrzunehmen. An der glatten Felswand, vom Wasser abgewaschen, war dies auffällig, er holte Reihenfels herbei, der noch die größte Fackel besaß, und als dieser sich auf den Knien weit vorbeugte und hinableuchtete, entschlüpfte ein Ruf des Erstaunens seinen Lippen.
Dann winkte er heftig seine Freunde heran, sein Gesicht strahlte vor Freude.
»Gerettet!«, schienen seine Lippen zu jubeln, hören konnte man die Worte hier nicht.
Dort unten kauerte auf einem schmalen, vom Wasser schon abgerundeten Felsvorsprung ein Weib, die indischen Gewänder klebten am Körper wie die langen, schwarzen Haare am Kopf; denn natürlich war die Gestalt von dem Sprühregen vollständig durchnässt.
Es war Makalli. Sie war also nicht in den Wasserfall selbst geschleudert worden, ein gnädiges Geschick hatte sie auf diesen Felsvorsprung gebracht.
Ihre großen Augen waren angstvoll nach oben gerichtet, sie rang die Hände; aber das war auch die einzige Bewegung, denn eine andere musste unfehlbar den Sturz in die schäumende Gischt herbeiführen. Auch bewegte sie die Lippen, rief also um Hilfe und musste wohl schon lange gerufen haben, als die Engländer wieder auf dem Plateau waren, denn der Lichtschimmer hatte deren Anwesenheit verraten.
»Jetzt gibt sie klein bei«, bemerkte Charly, »wenn sie aber nochmals so widerspenstig ist, dann werfe ich sie hinein, und dann gibt's keinen Vorsprung mehr, der sie auffängt.«
Das Heraufholen des Mädchens war nicht so leicht, denn entweder hatte durch die vielen Stunden der Todesangst ihr Geist gelitten oder sie wurde noch immer von Furcht und Schrecken beherrscht; als man ihr das Glockenseil herabließ, griff sie nicht danach, sondern hob noch immer die Hände bittend empor. Alles Zurufen war vergeblich, sie hörte es ja gar nicht.
Die Tiefe betrug drei Meter; aufrichten konnte sich Makalli nicht, eine jede Bewegung musste den Absturz herbeiführen, man konnte sie auch nicht erfassen, und wenn man sich noch so weit hinabbeugte. Da war guter Rat teuer.
Dick gab seinem Freunde Charly einen Stoß in die Rippen, blinzelte ihn an und schrie ihm dann ins Ohr:
»Weißt du noch Charly, wie wir damals der Mutter Dixen durch den Schornstein herab die Beefsteaks aus der Pfanne stahlen?«
Charly nickte verständnisvoll, und der Plan beider war fertig.
Der riesenstarke Pelzjäger legte sich glatt am Rande der Schlucht hin, fasste seinen kleinen Gefährten an den Fußgelenken und ließ ihn so hinab, bis Dick das Mädchen fassen konnte. Es war ein schweres Stück, die Last von zwei Personen im liegenden Zustande nur mit den Armen emporzuheben, aber den Muskeln Charlys gelang es. Bald standen beide unversehrt auf dem Plateau.
Man umringte Makalli, und besonders Reihenfels fiel es auf, dass ihr Auge einen seltsamen Ausdruck angenommen hatte.
»Die Thugs sind zum Teil vernichtet, zum Teil geflohen, wir sind jetzt sicher, können aber den Ausgang nicht finden. Kannst du ihn uns zeigen, Makalli?«
Das Mädchen zeigte keine Spur von Erstaunen, hatte auch keine Frage übrig.
»Owh — kommt«, sagte sie nur und schritt voran.
Die tiefste Nacht umgab sie jetzt, Mann hinter Mann, die Frauen in der Mitte, folgte man ihr. Reihenfels hatte Dick und Charly zurückgehalten, ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, dass man nicht ohne jedes Misstrauen diesem Mädchen folgen dürfe, jedenfalls wäre es gut, wenn man den ganzen Zug beobachte. Sie schlossen sich den Letzten an.
Gleich im Anfang fühlte er nach der Seidenschnur, welche den vorigen Weg anzeigte, aber er bekam sie nicht zu fassen. Also hatte Makalli diesmal einen anderen Weg eingeschlagen, und auf gut Glück musste man dem Mädchen folgen.
Reihenfels eilte nach vorn, um die Inderin erst über ihre Absicht zu fragen.
In dem Häuschen des mohammedanischen Viertels, in welchem wir einst den verwundeten Eugen unter der Pflege einer Inderin zurückgelassen haben, war der alte Sedrack damit beschäftigt, ein Bündel zusammenzupacken. An dem wurmstichigen Tische, auf welchem wie damals die Lampe brannte, lehnte der Pilgerstock mit gekrümmtem Handgriff, und daran hing an einem Lederriemen die Kürbisflasche.
Allem Anschein nach wollte Sedrack eine lange Reise antreten, und die Vorbereitungen, die er dazu traf, die Gegenstände, die er dazu benutzen wollte, waren noch ganz genau dieselben, wie Joseph sie bei seiner Flucht nach Ägypten vor mehr als 1800 Jahren gebraucht hatte. Ruhelos und immer unverändert, das ist ja der Fluch der jüdischen Nation, charakterisiert durch den ›ewigen Juden‹.
Da wurde erst leise unten an der Haustür gepocht, und als Sedrack wartete, ob sich das Klopfen wiederholen würde, fiel der eiserne Klöppel schon donnernd gegen die Tür.
»Gott Israels, was hast du gegeben den Hunden für einen ungeduldigen Sinn«, murmelte er, als er das Fenster öffnete und vorsichtig hinunterspähte.
»Wer stört die nächtliche Ruhe des alten Sedrack, der müde ist von der schweren Arbeit des Tages?«, rief er dann.
Unten stand eine Gestalt; weiter konnte er nichts erkennen.
»Mach auf, alter Mann, ich will dich sprechen!«, entgegnete eine tiefe, weibliche Altstimme.
Der Jude erschrak fast; er glaubte die Stimme seiner Tochter zu vernehmen.
»Mirja, Tochterleben, bist du's? Hast du den Weg gefunden zurück zum Hause deines alten Vaters, der sich hat gesehnt nach dir?«
»Ich bin nicht Mirja; mach auf!«
»Wer ist es?«
»Ich komme vom Mächtigen!«
Schnell schlüpfte der Jude die Treppe hinab, öffnete die Haustür und ließ unter tiefen Verbeugungen, die kein Ende nehmen wollten, die Gestalt eintreten. So sehr er indes die Augen in der eben erst anbrechenden Nacht anstrengte, er konnte nichts weiter entdecken, als dass dieses grobe Tuch wahrscheinlich ein junges, schlankes Mädchen verbarg.
»Der Herr segne deinen Eingang! Wodurch habe ich die Gnade verdient, dass er deinen Schritt in mein armes Haus lenkt?«
Er führte die Person hinauf. Aber auch im Scheine der Lampe konnte er nichts weiter sehen als unter dem Kopftuch ein Paar dunkle, blitzende Augen, die sich neugierig in dem armseligen Gemache umblickten.
»Willst du nicht sagen, wer du bist und was dich führt hierher, dass du die Angst nimmst aus meinem Herzen?«, begann der demütig dastehende Jude wieder.
»Deine Angst lässt auf ein böses Gewissen schließen.«
»Nicht böses Gewissen, Sedrack ist rein wie ein neugeborenes Lamm, er kann nicht trüben ein Wässerchen. Aber du nanntest einen Namen, den man fürchten muss, denn er ist der mächtigste der Mächtigen.«
»Lassen wir das, du sollst mich noch kennen lernen. Du hast eine Tochter, Sedrack?«
»Die Mirja.«
»Wo ist sie?«
»Gott, fortgelaufen ist sie und hat gelassen mich alten Mann allein und ist gekommen nicht wieder.«
»Warum ist sie fortgelaufen?«
»Weiß ich es doch nicht. Hat sie gemacht wahrscheinlich eine Liebschaft mit einem Gauch.«
Die Fragerin überlegte sehr, sehr lange, ehe sie fortfuhr.
»Du weißt auch nicht, wo sie ist?«
»Nein.«
»Hat sie Delhi wohl verlassen?«
»Delhi ist groß, sie kann sich darin mit ihrem Gauch verstecken, kann es aber haben auch verlassen; denn Mirja hat geerbt die Schlauheit ihres Vaters und kann passieren überall da, wo andere werden festgenommen.«
Wieder erfolgte eine lange Pause.
»Zu wem hältst du?«, fragte sie dann weiter.
»Zu dem, auf dessen Seite ist die Gerechtigkeit«, rief der Jude, die Hand auf die Brust legend.
»Also zu den Engländern?«
Der Jude ließ sich nicht irre machen.
»Gott Israels, schicke den Indern einen Simson, dass er die Faringis möge schlagen mit dem Eselskinnbacken.«
»Aber du würdest nicht zögern, mit den Faringis auch Geschäfte zu machen?«
Diesmal war es der Jude, der lange überlegte, ehe er antwortete und dabei in den Augen der Fragerin zu lesen suchte. Der spöttische Ausdruck darin ermutigte ihn sichtlich.
»Wie heißt, kann man doch auch mit seinen Feinden machen Geschäfte, um ihnen zu schaden.«
»Ja, das versteht ihr Juden allerdings. Ihr könnt sogar euern Feind ruinieren, ohne Waffen zu gebrauchen. Bist du geneigt, ein Geschäft für mich zu machen?«
»Wenn ich habe davon ein Vorteil, warum, nicht?«
»Du sollst zufrieden sein. Könntest du dich unter die Faringis begeben?«
»Der alte Sedrack ist gesehen überall gern. Doch«, er kraulte sich in den Locken, »nichts von Spionieren, sonst ist der Ruf Sedracks hin, er darf sich nicht mehr lassen sehen und wird gehangen auf, wenn er wird erwischt.«
»Sei ruhig, du sollst nicht spionieren. Wohin wolltest du?«
»Nur in die Stadt.«
»Und dazu brauchst du die Kürbisflasche?«
»Und dann etwas hinaus vor die Stadt, um zu sehen, wo geblieben sind die Waffen von den Faringis, welche haben erbeutet die räuberischen Chams. Vielleicht lässt sich machen ein Geschäft.«
»So fürchtest du dich nicht, unter die Chams, diesen wilden und räuberischen Volksstamm, zu gehen?«
»Habe ich nicht gesagt, der alte Sedrack ist gesehen überall gern? In ganz Indien weiß man, dass er kauft alles zu den höchsten Preisen, und wenn es sollte sein sein eigener Schaden.«
»Was sagen aber die Faringis, wenn du aus Delhi, dem Sitz der Rebellen kommst und dich unter sie mischst? Sie werden dich doch für einen Spion halten.«
Der Jude blinzelte pfiffig mit den Augen.
»Sie werden machen mit mir Geschäfte, und werden mich forschen aus und mir binden allerlei auf, das ich wiedererzählen soll den Hindus. Ist doch der alte Sedrack so sehr dumm, wenn er macht Geschäfte.«
»Wohlan, so wollen auch wir jetzt unsern Handel abschließen. Du gehst morgen beim ersten Tagesgrauen nach dem schwarzen See. Kennst du diesen?«
»Er liegt zwei Tagereisen von hier.«
»Was weißt du von ihm sonst?«
»Sollen dort jetzt liegen 20 000 Mann unter General Wilson, und werden sie dort beraten, wie sie wollen ziehen einen eisernen Gürtel um die Stadt Delhi.«
»Du bist gut unterrichtet. In dieses Lager gehst du als Handelsjude.«
»Was für ein Geschäft soll ich dort abschließen?«
»Das bleibt dir überlassen. Der Zweck ist, dass du mich in das Lager einführst.«
»Waih geschrien!«, rief der Jude erschrocken. »Du willst gehen mit mir als Spion?«
»Ich gehe mit dir als deine Tochter Mirja.«
»Du willst mich stürzen ins Unglück! Wie willst du gehen als meine Tochter Mirja, wo ich dich kenne gar nicht?«
»So lerne mich kennen und gehorche!«
Sie schlug das Kopftuch zurück, und Sedrack sah ein Mädchengesicht, bei dessen Anblick er sich nicht verbeugte, sondern sich auf die Knie warf und mit der Stirn den Boden berührte.
»Nun, kennst du mich?«
»Wer sollte dich nicht kennen«, murmelte er, »dich, gegen die die Schönheit der Braut im hohen Liede erblasst, gegen deren Herrlichkeit die der Königin von Saba ein Nichts ist. Welch Wohlgefallen muss der Gott meiner Väter an mir haben, dass er deinen geweihten Fuß in mein Haus führt, sodass des alten Sedracks Hütte plötzlich zum Palast wird; wer sollte dich nicht kennen, dich...«
»Schon gut, schon gut!«, unterbrach ihn das Mädchen. »Steh auf, ich befehle es dir, und gib mir kurze und klare Antworten auf meine Fragen!«
Sedrack erhob sich.
»Kann ich mich für deine Tochter ausgeben?«
»Wie kannst du dich mit der Mirja, dieser elenden Tochter eines verachteten Volkes vergleichen?«
»Keine Umschweife und nenne keinen Namen! Könnte ich mich für deine Tochter ausgeben?«
Der Jude betrachtete aufmerksam das Mädchen. Die Juden und Inder haben große Ähnlichkeit miteinander, sind doch beide Orientalen; dieses Mädchen jedoch hatte nicht den eigentlichen indischen Typus, es war etwas Kaukasisches dabei, wahrscheinlich war sie ein Mischling, aber eben darum weil sie etwas Fremdländisches an sich hatte, hätte sie sich ohne Scheu für eine Jüdin ausgeben können.
Wir können uns die Juden gar nicht anders vorstellen, als mit mehr oder weniger gekrümmten Nasen und tiefschwarzen Haaren, überhaupt brünett. Dieser Typus wechselt aber mit den Ländern. So z. B. haben die Juden an der Nordküste Afrikas fast durchweg fuchsrotes Haar, eine lange, gerade Nase und durchsichtigen, meist sommersprossigen Teint, auch unter den Jüdinnen Polens findet man viele rothaarige.
»Du könntest wohl als meine Tochter gelten«, sagte der Jude zögernd, »das heißt, wenn...«
»Was befürchtest du noch?«
»Zürne mir nicht, ich will dir gehorchen, doch ich bin vorsichtig um deiner selbst willen. Es könnte unter den Faringis Leute geben, welche Mirja kennen.«
»Ich lasse mein Gesicht stets verhüllt.«
»Der Schleier ist den Jüdinnen kein Schutz, jede rohe Hand hat das Recht, ihn zu lüften.
»Du hast recht, ich dürfte mich nicht einmal wehren. Nun, sollte jemand finden, dass ich eine andere bin als Mirja, so gibst du mich für deine zweite Tochter aus. Vorläufig nennst du mich ebenfalls Mirja, und sollte jener Fall eintreten, so erklärst, du eben, dass du beide Töchter Mirja genannt hast. Es wird aber wohl niemand deine Tochter so genau kennen, dass er den Unterschied herausfindet.«
»Auch ich fürchte das nicht.«
»Bist du bereit, morgen früh nach dem schwarzen See zu reisen und mich mitzunehmen?«
»Wer sollte es wagen, deinem Befehl zu trotzen!«
»Gut, morgen früh denn! Wie bist du immer gereist?«
»Ich ritt meinen Esel, Mirja führte ihn.«
»Du meinst wohl umgekehrt!«
»Nein, denn das Alter zu ehren, werden unsere Kinder gelehrt.«
»Deinen Esel zu führen, habe ich wenig Lust.«
»Ich bin nie anders gereist.«
»So wirst du diesmal ein Kamel reiten, ich deinen Esel.«
»Herrin, dann hält man den armen Sedrack für reich!«
»Sorge nicht, das Kamel, welches morgen vor deiner Tür stehen wird, soll keinen reichen Eindruck machen, ebenso wenig wie der Esel, den ich schon in Augenschein genommen habe.«
»Ich kann nicht auf einem Kamel reiten«, klagte der Jude.
»So wirst du es lernen.«
»Das Schwanken und Schaukeln macht mich krank wie damals, als ich auf dem Schiff fuhr.«
»Diese Krankheit geht schnell vorüber, dann fühlt sich der Körper erst recht wohl. Du siehst kränklich aus, ein Kamelritt von zwei Tagen wird dir gut tun. Hast du noch Kleider von Mirja hier, die mich zur Jüdin machen?«
Sedrack öffnete den Blechkasten und entnahm ihm allerlei bunte Tücher und Schleier.
»Gut, so komme ich in der frühesten Stunde zu dir, und du wirst mir behilflich sein, mich zu deiner Tochter zu machen. Überlege dir unterdessen, was du als Grund des Besuches in dem Lager der Faringis angeben willst.«
»Du gehst als Spionin hin, Herrin?«
»Ja.«
»Du setzest mich Gefahren aus.«
»Es soll dir nichts zugefügt werden, und solltest du doch in Gefahr kommen, so werde ich dich daraus erretten. Du kennst mich, mein Wort muss dir genügen.«
Ohne Gruß verließ sie das Zimmer.
»Wunderbar!«, murmelte Sedrack und rieb sich vergnügt die Hände, als hätte er eben die freudigste Nachricht erhalten. »Habe ich mir doch eben den Kopf zerbrochen, wie ich gelangen kann in das Lager der Engländer, ohne dass die Inder Misstrauen gegen mich daraus schöpfen oder mich gebrauchen als Spion. Da kommt sie und befiehlt es mir selbst. Freilich sie geht als Spionin, und hängt man sie, so wird man mich hängen mit. Nein«, fuhr er nach einigem Nachdenken fort, »man wird mich nicht hängen, habe ich doch die Unterschrift von dem kleinen Täubchen, und ist doch der Gouverneur selbst im Lager am schwarzen See und wird stehen hinter mir.«
Sein Vergnügen wuchs; händereibend ging er auf und ab, und je längere Zahlen seine schmalen Lippen murmelten, desto mehr strahlte sein Gesicht vor innerer Freude.
»Hänge ich daran eine Null, hat es sich vermehrt ums Zehnfache, hänge ich daran zwei Nullen, hat es sich vermehrt ums Hundertfache, und hänge ich — nun, wird sich alles finden, alles finden. Gott, was für 'ne Freude, wenn er wird hören, sein Täubchen ist in Sicherheit und ist bei mir, und ich werde es ihm bringen, wenn er wird zahlen die Kleinigkeit von den Auslagen...«
Er blieb stehen, das Lächeln verschwand und machte der Sorge Platz.
»Au waih, wenn ich nur nicht müsste machen den Weg auf einem Kamel; werde ich lieber gehen zu Fuß. Aber sie hat es befohlen, und man muss ihr gehorchen, und Gott lenke ihr Herz, dass sie mir nicht schickt ein Tier, welches wankt wie das Schiff ohne Mast auf dem Meere.«
Im Tale des schwarzen Sees reihte sich Zelt an Zelt, überall flatterte das englische Banner, und selbst der breite Fluss, welcher dem schwarzen See entströmte, war hüben und drüben mit den braunen Leinewandhütten bedeckt.
Zwanzigtausend Mann lagen hier, darunter auch fünftausend Engländer, sonst aber Gurkhas, Sikhs und Truppen der Madras- und Bombay-Armee. Die einzelnen Regimenter hatten bereits schwere Kämpfe unter ihren Generälen zu bestehen gehabt, ehe sie sich hier vereinigt.
Jetzt führte General Wilson den Oberbefehl. Noch einige Tage Ruhe, und war bis dahin nicht General Nicholson, der siegreich in Pandschab kämpfte, mit seinen Scharen hier eingetroffen, so begannen diese zwanzigtausend Mann vorläufig allein die Belagerung Delhis.
Zur Sicherung des Lagers war nichts unterlassen. Jede einzelne Truppenabteilung lag für sich; weit vorgeschobene Vorposten umgaben sie, und der Patrouillendienst war so weitläufig, dass das Lager schon alarmiert worden wäre, wenn auch nur eine bewaffnete Abteilung Delhi verlassen hätte.
Nicht nur Soldaten, auch Zivilisten mit ihren Familien befanden sich in diesem Heerlager, desgleichen die Familien der Offiziere; denn nirgends war man in Indien sicherer als in der Mitte von Kanonen und bewaffneten Soldaten. So konnte es nicht wundernehmen, zwischen den Zelten viele Kinder, Damen und nicht uniformierte Herren zu erblicken.
Da es in dem weiten Gebiet, welches im Bereiche der Vorposten lag, einzelne Bungalows oder Landhäuser gab, so waren diese von den Offizieren bereitwilligst denen zur Verfügung gestellt worden, welche nicht als Soldaten an ein raues Leben im Zeltlager gewöhnt waren.
In der nächsten Nähe des schwarzen Sees lagen die Truppen der Bombay-Armee, deren Führer vor vierzehn Tagen auf dem Marsche in einer elenden Hütte an der Cholera gestorben war. Jetzt war Colonel Harquis sein Vertreter.
Eben stand dieser Offizier vor seinem Zelt und musterte mit besorgtem Ausdruck den im tiefsten Blau strahlenden Himmel, an welchem kein Wölkchen zu sehen war, als ein Reiter in Zivil, nur das Revolverfutteral im Gürtel, herangetrabt kam.
Sein Pferd war stark, jung und sonst wohl auch feurig, jetzt aber musste es von den Schenkeln des Reiters immer wieder genötigt werden, dass es aus dem Trab nicht in einen trägen Gang fiel.
»Plagt Sie denn der Teufel, Lord«, rief der Colonel dem Reiter zu, »dass Sie bei der heißesten Mittagszeit einen Spazierritt unternehmen? Oder glauben Sie, hier an diesen steinernen Ufern sei es kühler als drüben im Walde?«
Der Reiter, in dem wir Lord Westerly erkennen, sprang aus dem Sattel und schaute sich missmutig um, denn kein Soldat sprang herbei, ihm die Zügel abzunehmen. Das Lager war wie ausgestorben, keine Uniform zu sehen.
»Heißer mag es wohl hier sein«, entgegnete er dann, »aber jedenfalls auch gesünder als drüben in dem sumpfigen Wald, wo die Sikhs liegen. Eben sind wieder zwei an der Cholera gestorben, gerade in meinem Nachbarzelte.«
»Schon wieder?«, rief der Colonel erschrocken. »Das kann noch schlimm werden, wenn nicht bald ein Witterungswechsel eintritt. Diese glühende Sonnenhitze kann uns gefährlicher werden als alle indischen Rebellen zusammen. Sie möchten also wohl Ihr Quartier wechseln?«
»Ich bitte um die Erlaubnis, hierbleiben zu dürfen. Ich ziehe Hitze der Gefahr vor, von der Sumpfluft vergiftet zu werden. Darf ich mein Zelt hier aufschlagen lassen?«
»Mit dem größten Vergnügen. Aber vielleicht kann ich Ihnen einen noch größeren Gefallen erweisen. Sie wissen, dass Mister Leonard uns mit seiner Familie verlassen hat?«
»Hat er? Wohin ist er gezogen?«
»Er hat einen weiten, gefahrvollen Weg unternommen, er will versuchen, nach Kalkutta zu gelangen, um sich von dort nach England einzuschiffen.«
»Sie gaben ihm Begleitmannschaft mit?«
»Konnte ich nicht, wir brauchen hier jeden Mann. Nein, er schließt sich einem reisenden Radscha an, der uns freundlich gesinnt ist oder wenigstens zu sein vorgibt. Nun möge Gott ihn beschützen. Seine Absicht kam mir förmlich frevelhaft vor; aber er mag Grund haben, nach England zu gehen.«
»Nun, und wie hängt seine Abreise mit dem Vorschlag zusammen, den Sie mir machen wollen?«
»Sein Bungalow ist frei geworden, ein nettes, kleines Häuschen, nur von einer alten Inderin bewohnt. Wenn Sie keine großen Ansprüche machen, werden Sie sich darin die paar Tage, die wir noch hierbleiben, wohlfühlen.«
»Wo liegt es?«
»Freilich ziemlich weit entfernt von hier, an der äußersten Grenze der Vorpostenkette, aber noch im Bereiche derselben. Zu fürchten ist also nichts. Wollen Sie?«
Westerly schien nicht geneigt zu sein, den Vorschlag anzunehmen, wenigstens zögerte er.
»Ist denn hier niemand, der mir die Zügel abnehmen kann?«, fragte er, um Zeit zu gewinnen. »Selbst das Halten der Zügel ist bei dieser Glut für einen Europäer eine harte Arbeit.«
»Ich vermeide jeden unnötigen Wachtdienst. Die Burschen liegen im Schatten der Zelte und können trotzdem auf dem Posten sein. He, Archim.«
Ein eingeborner Soldat sprang aus dem Zelte, die Aussage seines Colonels bewahrheitend, aber es sollte auch noch anderes Leben entstehen.
In der Ferne erklang ein Trompetensignal, und im Nu standen zwischen den Zelten etwa hundert Mann unterm Gewehr da — die abgeteilte Lagerwache.
Einige Minuten später kam ein Reiter angetrabt und meldete dem Colonel, zwei Personen, ein alter Jude und seine Tochter, suchten die Vorpostenkette zu passieren. Der Jude wolle den Befehlshaber sprechen.
»Weiß schon«, knurrte der Colonel ärgerlich, »er will Fourage ver- und die Beute einkaufen. Woher kommt er?«
»Aus Delhi.«
»Also ein internationaler Händler. Was sich diese Juden hier erlauben dürfen, ist großartig. Wo ist er festgehalten worden?«
»Am kleinen Bungalow, welcher unter den Mangobäumen liegt.«
»So weise ihm den Schuppen daneben an; er hat ihn nicht ohne Erlaubnis zu verlassen, und die Vorposten sollen ihm nicht gestatten, weiter vorzudringen. Das Übrige wird sich finden.«
Die Ordonnanz ritt zurück.
»Diese Juden spielen hier doch eine merkwürdige Rolle«, wandte sich der Colonel wieder an Westerly, »der Krieg existiert für sie nur insofern, als sie Vorteil daraus zu ziehen suchen. Freund oder Feind, das ist ihnen gleichgültig, sie gehen beim einen wie beim anderen aus und ein, und das merkwürdigste ist, dass man sie duldet. Natürlich, man braucht sie manchmal auch sehr notwendig. Doch Sie, als ehemaliger Sekretär, wissen ja davon mehr zu erzählen als ich. Nun, Mylord, haben Sie sich überlegt, ob Sie den Bungalow bewohnen wollen?«
»Erlauben Sie mir, dass ich ihn mir erst ansehe?«
»Gewiss. Ich warte Ihre Entscheidung ab, ehe ich jemanden anderes das unbequeme Zelt mit dem hübschen Bungalow vertauschen lasse. Wollen Sie jetzt gleich hin?«
»Wenn Sie mir Begleitung mitgeben.«
Der Bursche des Colonels wurde beordert, Westerly zu führen.
»Nach dem Bungalow an den Mangobäumen«, befahl Colonel Harquis und fügte dann noch zu Westerly gewendet hinzu: »Sollte ich mit dem Juden doch einmal sprechen wollen, so müssten Sie mir schon erlauben, dass die Unterredung in Ihrem Bungalow stattfindet, denn die Juden sind Ihre Nachbarn geworden, hoffentlich keine unangenehmen.«
Westerly schien über das freundliche Anerbieten des Colonels nicht eben sehr erfreut zu sein. Missmutig blickte er vor sich hin, während er dem Führer folgte. Es war ein langer Weg, steinige Strecken wechselten mit sonnverbrannten Grassteppen ab, bis man endlich eine bewaldete Gegend erreichte.
Hier war die äußerste Vorpostenkette aufgestellt.
Noch ehe man zu derselben gelangte, tauchte vor Westerlys Blicken ein freundliches Häuschen auf, von den Zweigen der Mangobäume überschattet. Es ruhte auf Pfählen, wie man es häufig in Indien findet, um dem giftigen Gewürm keinen Einlass zu gewähren, auf allen Seiten zogen sich offene Veranden hin, scheibenlose Fenster sorgten für Licht und Luft, soweit letztere nicht schon durch die vielen Spalten der Holzwand einströmte, und vor Regen wurde das Häuschen durch meterlange Pisangblätter geschützt, welche das Dach wasserdicht bedeckten. Den Eintritt ermöglichte eine leiterähnliche Treppe.
»Wer wohnt hier?«, fragte Westerly den eingeborenen Soldaten.
»Eine alte Inderin.«
»Witwe?«
»Ja, Sahib.«
»Wie kommt Sie zu diesem Bungalow? Ich sehe keine Spur von Landwirtschaft, was darauf schließen ließe, dass sie den Witwensitz ihres Mannes, eines Bauern, einnimmt.«
»Ich weiß nicht, Sahib, sie soll schon lange hier wohnen und von dem Gouverneur in Delhi unterhalten worden sein.«
»Wahrscheinlich die Witwe eines im Kampfe gefallenen Offiziers«, dachte Westerly. Seine Aufmerksamkeit wurde von etwas Anderem gefesselt.
Sie passierten einen Schuppen, der früher als Stall gedient haben mochte. Jetzt war er das Quartier der eben angekommenen Juden. Ein klapperdürrer Esel weidete die spärlichen Grashalme ab, ebenso ein womöglich noch magereres Kamel, dessen Buckel nicht mehr aufrecht zu stehen vermochte und kläglich geknickt herabhing.
Nach diesen Transporttieren zu schließen, hätte man nicht für möglich gehalten, dass der Besitzer über eine so große Summe verfügte, wie sie nötig war, wollte er mit der lagernden Heeresabteilung in Verbindung treten. Doch er war ja ein Jude.
Vor der Tür im Freien hockte ein Weib, das den Schleier nur so weit gehoben hatte, um die Flammen eines Holzfeuers anblasen zu können. Danebenliegende Töpfe und Krüge zeigten die Vorbereitungen zum Essen an.
Ein merkwürdiges Unbehagen beschlich Westerly, als er den mageren Esel und das Weib, anscheinend ein Mädchen, erblickte. Wo war er ihnen schon einmal begegnet?
»Hast du verloren unterwegs das Kissen, Mirja? Sind doch meine Knochen wie zerschlagen von dem Beelzebub, dem Kamel!«, erklang es aus dem Innern des Schuppens, und die hagere Gestalt eines alten Juden trat heraus.
Schnell wandte Westerly den Kopf, er fühlte etwas wie Schamröte aufsteigen. Doch gleich hatte er sich wieder beherrscht und sah gleichgültig nach der Gruppe.
Auch Sedrack musste ihn wiedererkannt haben, ein unmerkliches Zucken ging über sein faltiges Gesicht, dann verbeugte er sich demütig vor dem Reiter.
Also Sedrack und dessen schöne Tochter Mirja waren Westerlys Nachbarn geworden!
Es war ihm gewesen, als hätte ihn auch ein scharfer Blick hinter dem Kopftuch des Mädchens hervor getroffen. Erinnerte sie sich noch seiner? Sicherlich! Zürnte sie ihm noch? Bah, diese Jüdin! Was war sie denn?
Wenn nur damals nicht jener Schurke, den Westerly seitdem glühend hasste, dazwischengekommen wäre!
Nachdem er sein Pferd an den Pfahl gebunden hatte, stieg er die Treppe hinauf und ward von einem eingeborenen Mädchen in das Innere des Bungalows geführt.
Man wusste hier schon, dass man sofort wieder eine neue Einquartierung erhalten würde. Eine alte, ehrwürdige Inderin mit schneeweißem Haar empfing ihn, und schon die Weise, mit der sie sich aus dem Schaukelstuhl erhob, verriet, dass sie mehr mit Europäern als mit ihren Landsleuten verkehrt hatte. Aber namenloses Erstaunen prägte sich in dem noch immer schönen Antlitz der Frau aus, als sie Westerly eintreten sah. Sie vergaß das Sprechen, blieb mitten in dem einfach ausgestatteten Gemach stehen und starrte den Lord mit allen Zeichen der größten Überraschung an.
Dieser hatte keinen Grund, ein gleiches Erstaunen zu äußern. Diese Person war ihm völlig fremd, eine Inderin, und wäre sie auch noch so gebildet gewesen, sie war eben nur eine Eingeborene, und Westerly war gewohnt, eine solche nicht völlig als Menschen zu betrachten.
»Mister Leonard und Familie haben diesen Bungalow verlassen, habe ich gehört?«, fragte er von oben herab.
Die alte Dame bejahte verwirrt.
»So werde ich vorläufig hier Quartier nehmen, das heißt, wenn es mir bei Ihnen behagt. Englisch?«
Die Frau bejahte wieder.
»Desto besser, wenn Sie Englisch sprechen. So sind Sie also auch schon im Hause eines Engländers angestellt gewesen und kennen unsere Ansprüche. Ich bin etwas verwöhnt, zahle aber gut. Archim, nicht wahr, so ist dein Name? Sage dem Colonel meinen Dank, ich würde hierbleiben. Dann reite in das Lager der Sikhs hinüber, lasse meine Burschen mit meinen Sachen hierherkommen. In einer halben Stund sollen sie dasein! Fort!«
Der wie der Herr hier auftretende Westerly wandte sich wieder an die Hausfrau, die ihn noch immer mit großen Augen betrachtete.
»Nun, haben Sie an meiner Persönlichkeit etwas auszusetzen?«
»Nein, Herr!«, stammelte die Frau.
»Ich dachte, weil Sie mich so groß ansehen. Mein Name ist Lord Westerly. Depeschen und Botschaften sind mir persönlich zu geben. Im Übrigen bin ich, wenn Sie es nicht wissen sollten, mit Mylord anzureden. Wie viele Zimmer sind in diesem Bungalow?«
»Fünf, Mylord.«
»So weisen Sie zwei für mich, eins für meine beiden Burschen an.«
Die Frau tat, wie ihr geheißen, und Westerly war mit den Zimmern zufrieden. Zwei Tage blieb das Lager sicher noch hier aufgeschlagen, es konnten aber auch noch Wochen vergehen, ehe der Aufbruch erfolgte, und der Lord war gewohnt, sich immer so bequem wie möglich einzurichten.
Nach einer Stunde war sein Reisegepäck bei ihm, und er fühlte sich vollkommen Herr im Hause.
Vorläufig stellte er sich ans Fenster und beobachtete das Treiben der beiden Juden, Vater und Tochter. Lebhaft bedauerte er, dass Mirja sich so peinlich verhüllt hatte und das Kopftuch trotz ihrer Arbeit niemals lüftete. Dass sie ihn manchmal mit einem Blick streifte, konnte er nicht bemerken, sie schien ihn gar nicht zu beachten, dagegen entging ihm nicht, dass der Alte oft nach ihm herüberschielte.
Je länger Westerly das Mädchen betrachtete, wie es anmutig und fürsorgend den Vater beim kärglichen Mittagessen bediente, desto mehr trat wieder jene Szene vor seine Augen, als er dieses Mädchen in seiner Gewalt gehabt hatte, und immer lüsterner ruhten seine Blicke auf ihr, zugleich aber dachte er auch mit wachsendem Hass an Lord Canning.
Sollte er noch einmal versuchen, die ihm damals entkommene Beute zu erjagen? Die Gelegenheit war günstig, denn die Jüdin galt hier unter den Engländern ergebenen Indern gar nichts.
Als der Nachmittag kühler wurde, ritt Westerly noch einmal nach dem Lager hinüber, fand aber keinen der Offiziere bereit, mit ihm eine längere gesellschaftliche Unterhaltung anzuknüpfen. Es musste irgend etwas vorgefallen sein, oder irgendeine Botschaft war eingetroffen, die Offiziere steckten die Köpfe zusammen, und Westerly versuchte vergebens, irgend etwas von der Neuigkeit zu erfahren. Die Soldaten, mit denen er auf vertrautem Fuße stand, wussten von nichts.
Es wurde schon dunkel, als er nach seinem Bungalow zurückkehrte, um sich das Nachtmahl vorsetzen zu lassen. Schon sah er die Lichter und hörte die Rufe der Vorposten, als er neben sich einen zischenden Laut vernahm und gleich darauf eine Gestalt auf sich zukommen sah.
Westerly parierte sein Pferd und erwartete, die Hand an dem Revolver, den Ankommenden.
»Habe ich die Ehre, zu sprechen den Lord Westerly?«, hörte er eine Stimme auf englisch mauscheln, und sofort wusste er, dass der alte Jude vor ihm stand.
»Bist du's, Jude?«, herrschte er ihn an. »Hast du, Hund, nicht den Befehl bekommen, dich nicht von dem Schuppen zu entfernen?«
»Wollen Exzellenz nicht schreien so laut!«, flehte der Alte. »Musste ich Euch doch sprechen um jeden Preis!«
Westerly wurde aufmerksam.
»Nun, was gibt's?«, fragte er leiser.
»Nicht hier, nicht hier! Bestimmen mir Eure Exzellenz eine Stunde, wo ich kann sprechen mit Euch ungehört, und wie ich kann kommen in den Bungalow ungesehen, den Eure Exzellenz geruhen zu bewohnen.«
Sonderbarerweise war Westerly sofort geneigt, sich mit dem schmutzigen Juden in eine solche heimliche Unterredung einzulassen.
»Du kommst aus Delhi?«
»Ja, Exzellenz!«
»Direkt?«
»Direkt, Exzellenz.«
»Warum nennst du mich Exzellenz?«
,,Hm, ich weiß, Euer Gnaden!«
»Warum bist du hier?«
»Um mit Eurer Herrlichkeit zu sprechen«, flüsterte der Jude jetzt kaum hörbar.
Westerly zuckte zusammen. Also seine Dienste als Spion wurden beansprucht. Musste man aber gerade solch ein erbärmliches Geschöpf aussuchen, um ihn auszuhorchen?
»Gut, ich erwarte dich! Komm in einer Stunde in den Bungalow, fordere Wasser, und ich erkenne dich als den wieder, mit dem ich einmal ein Geschäft gemacht habe. Ich werde dich zu mir rufen.«
Er ritt weiter; das Herz klopfte ihm in der Brust.
Der gutbereitete Reis schmeckte ihm ebenso wenig wie das gebratene Lammfleisch. Er hatte kein Auge für die Magd, welche das Essen auftrug und ihn scheu von der Seite betrachtete, er wünschte nur, die Stunde sei erst da, dass der Jude käme.
Endlich schloss er die Läden seines Zimmers, schickte die Burschen nach dem Lager mit einem Auftrag, der sie mehrere Stunden fernhielt, und wartete. Zur festgesetzten Zeit vernahm er die demütige Stimme des Juden, der im Vorraum nach Wasser fragte. Die Magd schrie auf und schimpfte, dass der unreine Jude wage, den Bungalow ihrer Herrin zu betreten.
Westerly öffnete die Tür.
»Wie, bist du das, Schmuhl? An deiner Stimme erkenne ich dich jetzt. Komm herein, ich habe ein paar Worte mit dir zu sprechen. Ruhe da, Weib, oder ich werde dir zeigen, dass ihr braunhäutigen Schufte keinen Heller mehr wert seid als ein Jude!«
Zum Entsetzen der Inderin betrat der Jude das Gemach Westerlys. Ehrerbietig verneigte er sich und blickte dann den Lord mit listigen Augen an.
»Sind wir allein, Exzellenz? Kann ich sprechen offen mit Euch?«, begann er.
»Ja, aber leise. Wer schickt dich?«
»Niemand, als mein gutes Herz. Kennt mich Eure Exzellenz noch?«
Erstaunt und misstrauisch zugleich betrachtete Westerly den Juden, und plötzlich ging ihm eine Ahnung auf. Doch er wusste sich zu beherrschen, Sedrack merkte nicht, was in ihm vorging.
»Warst du nicht jener Jude, welcher damals in der Karawanserei übernachtete, als ich durch das Dorf reiste?«
»Ja, Exzellenz!«
»Ich frage dich noch einmal, warum nennst du mich Exzellenz?«
Gebührt Euch der Name nicht?«, entgegnete der Jude mit unterwürfigem Lächeln. »Aber ich weiß, ich weiß, Ihr wollt nicht genannt werden der große Gouverneur, ich verstehe, verstehe.«
Westerly hatte sich also nicht geirrt, er wurde von diesem Juden noch immer für Lord Canning gehalten. Jetzt musste er seine Rolle freilich ändern, gleichzeitig fiel ihm eine Zentnerlast vom Herzen.
»Denke, was du willst. Für dich heiße ich Lord Westerly« entgegnete er barsch. »Was führt dich also hierher?«
»Ich komme aus Delhi extra hierher, um Euch zu sagen, dass Eure Braut gerettet ist!«
»Meine Braut?«
Doch schnell sammelte sich Westerly.
»Wo ist sie?«
»In Sicherheit, und zwar bei mir. Ich habe versucht, sie zu bringen hierher, aber es geht nicht, weil es mir fehlt an Mitteln, zu bestechen die Wächter und Torhüter und andere Leute, welche wollen, dass die Gefangenen sterben.«
Unruhig ging Westerly auf und ab, der Jude verfolgte ihn mit seinen Geieraugen.
»Dass Mylord nicht denken, der alte Sedrack lügt«, fuhr er dann fort und holte ein schmutziges Papier aus einer Falte seines Kaftans, »mögen sich Mylords Augen erquicken an den Buchstaben, welche ihm geschrieben hat seine Braut, die schöner ist, als die Rosenknospe am jungen Strauch zu Jericho.«
Westerly nahm das Papier und überflog es. Mit der größten Anstrengung gelang es ihm, sein namenloses Erstaunen dem Juden gegenüber zu verbergen.
Die von leidenschaftlicher Liebe diktierte Anrede lautete an Lord John Canning; es war der Ausbruch eines verzweifelten Herzens, dann die Hoffnung, die Freiheit zu erlangen und mit ihm vereint zu werden, ob in Not, Leben oder Tod. Er solle dem Überbringer dieses, dem Juden Sedrack, vertrauen, er habe sie mit eigener Lebensgefahr vor den sie verfolgenden Indern geschützt, und sie befinde sich noch jetzt bei ihm in Sicherheit. Wenn er, Canning, dem Sedrack 10 000 Pfund zahlen könne, sei es ihm möglich, sie ihm zuzuführen, denn die Inder seien bestechlich und so weiter.
Unterschrieben war nach tausend Liebesbeteuerungen mit Franziska Reihenfels.
Westerly glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Wunderbares Spiel des Schicksals! Was für eine furchtbare Waffe gegen seinen Feind, den er hasste, hielt er in der Hand! Es war ihm bekannt geworden, dass Lord Canning eine geheime Liebschaft pflegte.
Die meisten hatten behauptet, seine Erwählte sei Susan, Captain Atkins' Schwester, einige wenige dagegen behaupteten mit Bestimmtheit, es sei eine andere.
Also Franziska Reihenfels war es.
Westerly hatte dieses Mädchen auch schon kennen gelernt.
Er wandte sich ab und tat, als trockne er sich die Augen, und schleunigst machte es der Jude ebenso, nur dass er kein Taschentuch besaß, dessen Stelle, wie immer, die Zipfel seines Kaftans vertraten. Sein Gemurmel sollte das Mitleid ausdrücken.
»Ach, so ein schönes, junges Täubchen!«, murmelte er dann deutlicher. »Ich habe mir bald ausgerauft den Bart, als ich keine Hoffnung sah, sie zu bringen aus der Stadt des gottvergessenen Volkes, über die bald regnen wird Schwefel und Feuer.«
Westerly wandte sich wieder zu ihm.
»Sie ist noch bei dir?«
»Sie ist da und wird bleiben bei mir so sicher, wie in Abrahams Schoß, bis der Gott meiner Väter mir wird zeigen den Weg, wie ich sie kann führen heraus. Hat er doch auch Moses geführt durch das Rote Meer, als er ging voran den Auserwählten aus Ägypten.«
»Du kannst sie nicht zu mir bringen?«
Der Jude zuckte die Achseln und spreizte die Finger.
»Wie heißt, kann ich, kann ich nicht? Hat doch Eure Kalle geschrieben, wie ich sie kann bringen heraus.«
»Hm, zehntausend Pfund Sterling! Ich glaube, du bist nicht ganz richtig im Kopfe.«
»Gott, was sind zehntausend Pfund für so'n reichen Lord und für so'n schönes Täubchen? Habe ich doch keinen Profit dabei, wie die Braut selbst schreibt, wenn Ihr wollt lesen den Brief von ihrer Hand. Muss ich doch bestechen erst die...«
»Ja, ja, du hast recht, es ist eigentlich nicht viel. Zu wem hast du schon davon gesprochen, dass meine Braut bei dir versteckt ist?«
»Werde ich doch sprechen zu niemandem davon, würde es doch kosten mein Leben.«
»Zu gar niemandem?«
»Bei meiner Seligkeit, soll stürzen der Himmel auf mich, wenn ich gesprochen habe zu jemandem davon.«
Wieder ging Westerly nachdenkend im Zimmer auf und ab, dann blieb er vor Sedrack stehen.
»Höre, Jude, ich traue dir nicht.«
»Warum nicht?«, Bin ich doch ein ehrlicher Jüd.«
»Ich möchte dich dennoch nicht im Zimmer lassen, wenn nicht alle Kästen verschlossen sind. Also, wenn du zehntausend Pfund erhältst, willst du mir Franziska zuführen?«
»Kann ich, kann ich, wenn man mich bedenkt mit einer kleinen Belohnung.«
»Du kannst nicht verlangen, dass ich so viel Geld bei mir habe!«
»Was ist das für Eure Exzellenz, zehntausend Pfund aufzubringen?«
»Nichts da, davon ist überhaupt keine Rede! Das einzige ist, dass ich dir eine Anweisung gebe, die du einlösen kannst, wenn Franziska gerettet ist.«
»Soll ich geben dem Hindu, der die Häuser absucht, eine Anweisung, die er erheben kann in London?«, höhnte der Jude. »Wenn Ihr liebt das Mädchen, würdet Ihr mir wohl können geben das Geld in englischen Papiernoten.«
»Und deine Sicherheit?«
»Mein ehrlicher Name!«
»So viel für den. Ich will aber mit dir handelseinig werden. Ich will dir allerdings nur einen Scheck geben, der aber so gut wie bares Geld ist, wie ich dir begreiflich machen werde. Doch ich verlange Bürgschaft, dass du mich nicht betrügst. Du hast eine Tochter?«
Einen Augenblick blitzte dem Juden der Gedanke auf, ob dieser Mann, den er betrügen wollte, nicht schlauer als er wäre, doch er verwarf diesen Gedanken schnell wieder. Jedenfalls kamen für ihn jetzt peinliche Fragen.
»Die Mirja, welcher sich anzunehmen und vor den heidnischen Kulis zu bewahren der große Gouverneur nicht zu stolz war.«
»Ich denke, Mirja ist ihrem Vater gehorsam?«
»Sie ist ein gutes und braves Kind und wird nicht Schande bereiten dem weißen Barte ihres Vaters.«
»Gut, du sollst noch heute die zehntausend Pfund erhalten, wenn du mir dafür Mirja als Sicherheit gibst.«
Der Jude riss die Augen vor Schreck auf, die Hand unter dem Kaftan ballte sich. Dass es so käme, hatte er allerdings nicht gedacht. Wenn das Mädchen, das bei ihm war, seine Tochter gewesen wäre, so hätte er vielleicht nicht gezögert, aber wir wissen, dass es nicht seine Tochter war.
»Wie heißt, meine Tochter als Sicherheit?«, stieß er endlich hervor.
»Sehr einfach. Du erhältst das Geld, reist nach Delhi, bringst meine Braut dahin, wohin ich bestimme, und so lange bleibt deine Tochter bei mir als Bürgschaft, dass du mir mit den zehntausend Pfund nicht durchbrennst. Dann tausche ich sie gegen Franziska wieder ein.«
Immer listiger funkelten des Juden Augen.
»Und was wird das sein für ein Papierchen, das Ihr mir wollt geben anstatt des baren Geldes?«
»Ein Wechsel.«
»Gebt mir einen Wechsel, und ich bin's zufrieden«, rief der Jude schnell.
Westerly nahm ein Wechselformular aus seiner Brieftasche, setzte sich und füllte es auf die Summe von zehntausend Pfund aus. Dann blickte er auf.
»Lord Edgar Westerly? Genügt dir das?«
»Wie heißt, Lord Westerly. Schreibt den Namen, wie Ihr heißt, was hat das sonst für mich einen Wert!«
»So schreib erst deinen Namen.«
Der Jude tat es.
Mit fester Hand führte Westerly die Feder und schrieb: Lord John Canning. Er kannte die Schrift Cannings und konnte sie auch täuschend nachahmen wie jede andere.
»Zahlbar am?«
Sedrack zögerte etwas und überlegte.
»Wenn es Euch wird sein möglich, den Wechsel einzulösen.«
»Am ersten Januar des nächsten Jahres.«
»Bin ich zufrieden damit.«
»So, hier hast du den Wechsel! Wohin nun willst du meine Braut bringen?«
»Wohin der Lord belieben.«
»Kennst du die alte Burg in der Nähe von Akola, zum Besitze Nana Sahibs gehörend?«
Und ob Sedrack diese kannte! Er hatte ja schon einmal ein Mädchen dorthin gebracht.
»Mylord meinen Tokirha?«
»Ja, Tokirha heißt sie wohl. Sie ist jetzt verlassen.«
»Ich kenne sie.«
»So bringe meine Braut dorthin!«
»In dieses zerfallene Gemäuer?«
»Das geht dich nichts an, dort ist sie sicher. Bis wann willst du sie dorthin gebracht haben?«
Der Jude zuckte die Achseln.
Weiß ich's? Sobald wie möglich. Und werden der Lord einlösen dann den Wechsel sogleich?«
»Sogleich, wenn es mir möglich ist. Am ersten Januar muss ich dies tun. Du hast meine Bürgschaft, nun will ich die deine.«
»Was könnt Ihr fordern von einem armen Jüd?«
»Hör auf, deine Armut vorzuschützen, ich kenne dich. Du weißt es, deine Tochter will ich als Pfand haben.«
»Die Mirja? Gott der Gerechte, was seid Ihr für ein treuer Mann Eurer Braut!«
»Hüte deine Zunge, Jude! Ich nehme deine Tochter unter meinen Schutz, weiter nichts. Hältst du aber nicht dein Wort, so wirst du sie nie wiedersehen!«
»Dann wird sie sein der Ersatz für das blonde Täubchen!«, grinste Sedrack.
»Jude«, brauste Westerly auf, »es ist mir ein Leichtes, dir den Wechsel wieder zu nehmen! Willst du mir deine Tochter bringen oder nicht?«
»Muss ich doch erst sprechen mit ihr...«
»Tue das! In einer halben Stunde will ich entweder dich oder Mirja hier sehen, und wehe dir, wenn du nicht hier bist. Was du ihr zu sagen hast, brauche ich dir nicht erst anzudeuten. Marsch, hinaus!«
Der Jude schlüpfte hinaus, mit seinem Geschäft äußerst zufrieden.
»Der Stein ist im Rollen, ich kann ihn nicht mehr aufhalten«, murmelte Westerly. »Mag er rollen, bis er in der Tiefe zerschmettert. Ich unternehme ein furchtbar gewagtes Spiel, alles setze ich auf eine einzige Karte — gewinne ich, dann habe ich mein Ziel erreicht; verliere ich, so muss ich die Maske endlich fallen lassen und meine Rolle als Lord ist ausgespielt. Nur erst Mirja haben, durch sie muss der Vater vernichtet werden. Er wird nicht wagen, mir seine Tochter vorzuenthalten.«
Sedrack fand das Mädchen, das er für seine Tochter ausgeben musste, als es eben den Schuppen verlassen wollte. »Wo bist du gewesen?«, fragte sie ihn kurz. »Du hast mir nicht befohlen, dass ich dir soll geben Rechenschaft über die Schritte, die ich werde tun in diesem Lager«, war die demütige Antwort. »Ich habe also abgeschlossen ein Geschäft, und zwar über dich, Mirja.«
»Über mich?«
»Über dich, Tochterleben!«, kicherte der Alte. »Bin ich doch ein treuer, ehrlicher Jude und halte zu dem, dem ich versprochen habe Treue und Gehorsam. Kann ich dir verschaffen also eine Gelegenheit, auszuspionieren den Generalgouverneur von ganz Indien selbst, der sich befindet hier in diesem Lager.«
»Wie, Lord Canning wäre hier?«, stieß das Mädchen hervor.
»Ist er doch hier unser Nachbar, und habe ich doch eben selbst mit ihm gemacht ein Geschäft.«
»Dieser da?«
»Ja, der wohnt in diesem Bungalow.«
Das Mädchen unterdrückte eine Entgegnung.
»Hast du den Generalgouverneur schon früher einmal gesehen?«, fragte sie dann. Seltsam! Dieselbe Frage hatte schon einmal die richtige Mirja an ihn gestellt.
»Gewiss habe ich ihn schon gesehen.«
»Wie nennt er sich hier?«
»Lord Westerly.«
»Richtig, ich weiß jetzt. Was für ein Geschäft hast du mit ihm abgeschlossen?«
»Er gab mir einen Wechsel, dass ich soll befreien seine Braut, die gefangen war in Delhi und ist ermordet worden wie alle übrigen Gefangenen.«
»Also hast du ihn betrogen?«
»Nix betrogen! Ich habe nur geschadet den Faringis, welche Feinde sind Indiens, und die also auch sind meine Feinde.«
»Du sagtest, das Geschäft hätte auch mich betroffen.«
»Hat es auch. Du willst gehen auf Spionage unter den rotrockigen Soldaten und willst heften den Tod an deine Fersen, sehe ich doch den Dolchgriff aus deinem Gewand blicken. Sieh dich vor Töchterchen! Juden dürfen nicht tragen Waffen!«
Das Mädchen verdeckte dieselben.
»Was ist es nun mit mir? Fasse dich kurz!«
»Ich will dir zeigen einen Weg, auf dem du brauchst keine Waffen mitzunehmen und wo du erfahren wirst alles, was du willst wissen, wenn du bist zärtlich und willig. Höre; der Generalgouverneur will haben Bürgschaft, dass ich ihm bringe seine Braut aus Delhi, und solange er die nicht hat, soll bleiben meine Tochter bei ihm, dass sie ihm ersetzt seine Braut. Hihihi, die Faringis sind nicht wählerisch!«
Es war, als ob des Mädchens Zähne knirschten.
»Und du sagtest mich ihm zu?«
»Was sollte ich anders tun?«
»Hund von einem Juden, das wagtest du?«
»Zu deinem Vorteil! Weiß ich doch, wozu du hier bist.«
»Und du denkst, ich werde zu deinem Vorteil zu ihm gehen?«
»Zu meinem Vorteil weniger, als wie zu dem deinen. Er hat sich vernarrt in die Mirja, ich weiß es wohl, wenn es mir Mirja auch nicht hat gesagt.«
»Ah, so ist Mirja schon einmal bei ihm gewesen?«
»Er hat nicht geduldet, dass sie sollte schlafen in der Karawanserei unter rohen Männern und hat sie zu sich genommen in sein Zimmer. Der große Gouverneur ist ein edler Mann.«
Das Mädchen hörte den Hohn aus den letzten Worten heraus.
»So ist deine Tochter also nichts weiter als eine...«
»Eine Jüdin«, fiel ihr Sedrack ins Wort. »Bedenke, Herrin, was ein Jude ist, ehe du einen Stein auf sie wirfst, und was nun gar ist eine Jüdin. Breitet nicht ihr Gott seine Hände über sie schützend aus, sie selbst kann sich nicht schützen und darf sich nicht weigern.«
»Du hast recht«, flüsterte das Mädchen, »und ich bin entschlossen, Mirjas Rolle weiterzuspielen. Was hast du mit ihm ausgemacht?«
»Er sagt, in einer halben Stunde soll ich entweder kommen und ihm sagen, dass meine Tochter nicht will zu ihm, was aber nicht möglich ist in Indien, solange die Kompanie wird sammeln die Steuern, oder aber meine Tochter wird kommen, bei ihm zu sein, um ihn zu trösten über die Abwesenheit der Braut, und ich denke, du wirst das übernehmen.«
»Ja, ich werde es tun«, entgegnete das Mädchen dumpf hinter dem Kopftuch hervor ohne über die frechen Worte des Juden empört zu sein. »So muss ich ihn also Lord Canning anreden?«
»Ja nicht! Lord Westerly will er genannt sein. Doch sieh dich vor, verrate dich und mich nicht. Schon deine Waffen verraten dich. Eine Jüdin mit Waffen ist wie ein Kamel mit Hörnern.«
»Ohne Sorge, er soll mich nicht erkennen.«
Sie zog einen Dolch aus dem Gürtel und steckte ihn in den Busen. Den Revolver, der beim Auseinanderschlagen des Mantels sichtbar geworden war, entfernte sie aber nicht.
»Welche Maßregeln habe ich sonst noch zu beachten?«
»Nichts weiter! Nur benimm dich wie eine Jüdin, scheu und zaghaft, doch nicht ängstlich. Nimm deinen Vorteil wahr!«
»Ich verstehe. Und wie gelange ich zu ihm?«
»Die Magd des Hauses wird dich nicht lassen hinein, doch du brauchst nur zu rufen, und der Lord wird sie jagen davon. Die Faringis verachten nur die hässlichen und alten Juden, die jungen Weiber sind ihnen koscher. Hihihi.«
»Genug. Ich gehe.«
»Wann kommst du wieder?«
»Ich weiß nicht.«
»Stürze mich nicht ins Unglück!«
»Du weißt, wer ich bin, du stehst unter meinem Schutz.«
Sie schritt dem Bungalow zu.
»Lieber wäre es mir, Mirja ginge hin«, murmelte er ihr nach, »als dieses fremde Weib. Was nützt mir ihr Schutz, wenn ich werde hängen am Galgen? Doch eins ist gut, er sieht, ich halte mein Wort. Mag er sich abfinden mit diesem Weibe, das besessen ist vom Teufel und allen seinen Dienern.«
Mirja — wie wir sie nennen wollen — ging nicht direkt auf das Haus zu, sondern im großen Bogen, hielt sich sorgfältig im Schatten der Mangobäume verborgen und beobachtete unausgesetzt das leichte Holzgebäude. Als sie die Seite erreichte, nach welcher hinaus die Fenster erleuchtet waren, schwang sie sich mit der Leichtigkeit einer Katze auf einen hohen Ast und spähte von hier aus in das erleuchtete Gemach.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Es war, dem Bett nach zu urteilen, das Schlafzimmer Westerlys, und er selbst schritt rastlos in demselben auf und nieder. Mirja kannte ihn wohl, sie wusste sogar, was er hier für eine Rolle spielte, und je länger sie diesen Mann, der mit der größten Ungeduld auf die Jüdin wartete, beobachtete, ein desto größerer Grimm stieg in ihr auf.
Sie sprang vom Ast herab und näherte sich jetzt direkt der Haustreppe, unter deren ersten Stufe sie den geladenen Revolver verbarg.
Dann begab sie sich ins Haus, in welchem ihr sofort die indische Magd entgegentrat. Mirja fand nicht, wie vorhin der alte Jude, Widerstand, die Magd schlug sich nur mit allen Zeichen des Abscheus die linke Schulter und drückte sich gegen die Wand, um mit der verachteten Jüdin nicht in Berührung zu kommen.
Als Mirja ruhig in dem Vorraum stehen blieb, deutete sie nach Westerlys Tür.
»Besudele dieses Zimmer; aber entferne dich wenigstens von hier, Aussätzige!«
Es klang fast wie ein heiseres Lachen, als Mirja die Weisung befolgte, nach der Tür ging und leise daran klopfte.
Sie ward sofort geöffnet; Westerly stand vor dem Mädchen. Er ergriff ihren Arm, zog sie herein und schloss hinter sich erst die Tür, dann die noch offenen Fensterläden.
»Also dein Vater hat Wort gehalten, das freut mich«, begann er und drückte die Bewegungslose halb mit Gewalt auf den Diwan, sich ihr gegenübersetzend. »Entzieh mir nicht gleich deine Hand, Mirja! Ich weiß, du hast Grund, mir zu zürnen, ich war damals sehr heftig, aber du selbst warst daran schuld. Du reiztest mich durch deinen Widerstand. Dein freiwilliges Kommen sagt mir, dass du heute anders gesonnen bist. Ist es nicht so, Mirja?«
»Ja, Herr, ich muss.«
»Kein Muss, Mirja! Dieses Wort kennt die Liebe nicht. Nun schlage deinen Schleier zurück, dass ich dich bewundern kann.«
Er tat es selbst.
»Du hast dich seit jener Zeit verändert, Mirja, aber zu deinem Vorteil. Senke nicht so scheu die Lider, sieh mich an. Ich möchte dir in die Augen sehen.«
Langsam hob die Jüdin die langbewimperten Lider auf und blickte den vor ihr Sitzenden fest an.
»Mylord, warum hast du mich zu dir gerufen?«, fragte sie leise.
»Hat es dir dein Vater nicht gesagt?«
»Er hat mir befohlen, zu dir zu gehen, und ich gehorchte.«
»Warum warst du früher nicht so gehorsam?«
»Ich tat stets den Willen meines Vaters.«
»Aber damals nicht.«
»Damals hat er mir nichts befohlen.«
»Was für ein gehorsames Kind du bist!«, rief Westerly, sprang auf und setzte sich neben sie. »Also heute brauche ich nicht zu fürchten, dass du mich wieder beißt?«
Er wollte sie umschlingen, sie hielt ihm die Hände fest.
»Erst lass mich einige Fragen stellen, dann will ich gern die Deinige sein. Willst du?«
»Mädchen, was für eine Kraft hast du in den Händen«, staunte Westerly, dem die Finger schmerzten.
Er starrte sie an; es war ihm, als tauchten ihm plötzlich Züge auf, die er von früher her, vielleicht noch von England aus, sehr gut kannte. Doch nein, dies war ja Mirja, die Jüdin.
»Nun, willst du mir einige Fragen beantworten?«
»Lass mich erst los, Kind, du bist ja die reine Brunhilde. Nun, was willst du wissen?«
»Bist du wirklich der große Gouverneur von Indien?«
»Warum zweifelst du daran?«
»Du selbst sollst es mir sagen.«
»Ja, ich bin es.«
»Du heißt Lord Canning?«
»Ja.«
»Weißt du, wer ich bin?«
»Mirja, die ich liebe.«
Er umschlang sie wieder, diesmal sie ihn auch; aber er merkte sofort, dass sie es nicht in Liebe tat, denn plötzlich wurde er von ihren Armen wie in einem Schraubstock zusammengepresst.
»Lord Westerly«, flüsterte sie ihm jetzt ins Ohr, sich der englischen Sprache bedienend, »warum geben Sie sich für den Generalgouverneur aus, der Sie gar nicht sind? Geben Sie mir Antwort, ich will es wissen, oder fürchten Sie mich!«
Westerly war starr.
»Du — du — Mirja, wer bist du denn?«, stammelte er.
»Auch ich komme aus Delhi, ebenso wie Sie, und ich verfolge denselben Zweck wie Sie. Jetzt will ich Antwort haben: Warum geben Sie sich für Lord Canning aus?«
»Mädchen, du erdrückst mich«, ächzte Westerly, »ich schreie um Hilfe.«
»Das werden Sie wohl bleiben lassen. Sind Sie als Spion der Inder aus Delhi hier?«
Was sollte er antworten? Wer war dieses Mädchen? War das wirklich Mirja, die Tochter des alten Juden? Es war kein Zweifel, auch sie befand sich im Dienste der Inder als Spionin, als Jüdin passte sie vortrefflich dazu, und sie verstand ihre Rolle vorzüglich zu spielen.
»Ja denn, du hast's erraten. Wie du, so stehe auch ich auf der Seite der Inder.«
Hatte er sich geirrt, so schadete das weiter nichts. Die Aussage der Jüdin gegen ihn zählte nichts.
Mirja ließ ihn los.
»Ich dachte es mir. Nun können wir offen miteinander sprechen. Warum also geben Sie sich für Lord Canning aus?«
»Nur deinem Vater gegenüber tue ich's.«
»So, das genügt. Haben Sie wirklich eine Braut in Delhi?«
»Ja, sie ist gefangen. Doch sage, Mädchen, klärst du deinen Vater nun über seinen Irrtum auf?«
»Meinen Vater? Bah, er dient mir nur als Mittel, dass ich sicher reisen kann.«
Wie hatte sich Westerly früher in diesem Judenmädchen getäuscht. Aber damals war der Aufstand auch noch nicht ausgebrochen gewesen, damals musste sie sich vor jedem verstellen.
»So bist du gar keine Jüdin!«
»Doch.«
»Und ein Weib?«
Er umschlang sie; Mirja duldete es.
»Sie wollen mit Hilfe des alten Sedrack Ihre Braut befreien?«
»Ja.«
»Wie heißt Ihre Braut?«
»Franziska Reihenfels. Ah, kennst du sie auch?«
Das Mädchen war bei Nennung dieses Namens zusammengezuckt.
»Nein, ich kenne sie nicht, nur ihren Bruder.«
»Oskar Reihenfels?«
»Ja. Was verlangt Sedrack für die Rettung des Mädchens?«
Westerly zögerte, offen zu sein.
»Ich verrate nichts wieder an Sedrack. Er ist zwar mein Vater, doch ich halte nicht mehr zu ihm, als ich muss. Wie viel sollen Sie zahlen, oder haben Sie schon gezahlt?«
»Zehntausend Pfund.«
»Das ist viel.«
»Nicht zu viel für meine Braut.«
»So lieben Sie sie?«
Das war in diesem Augenblick eine verfängliche Frage.
»Hm, ja, ich habe sie einmal geliebt.«
»Nicht mehr?«
»Nein.«
»Warum nicht mehr?«
»Weil ich dich gesehen habe, Mirja.«
»Gehen Sie. Wenn Sie Ihre Braut nicht liebten, würden Sie nicht eine solch ungeheure Summe für Sie zahlen.«
»Das arme Mädchen dauert mich, und übrigens habe ich ihm einst geschworen, es soll mein Weib werden. Ich bin ein Mann von Wort, ich halte meinen Schwur.«
»Sie sind doch edler, als ich gedacht habe.«
»Sprechen wir nicht mehr von meiner Braut, in deiner Gegenwart ist mir dies unangenehm. Ach, Mirja, hast du denn gar kein Mitleid mit mir?«
»Vielleicht doch, wenn Sie sich anständig betragen.« Er drückte sie an sich, und sie duldete es.
»Aber ehe Sie etwas hoffen dürfen, müssen Sie mir noch die Frage beantworten, warum Sie sich Lord Canning nennen.«
»Sehr einfach. Ich habe mich nie so genannt, sondern Sedrack glaubt bestimmt, ich sei Lord Canning und Generalgouverneur von Indien. Du weißt selbst, das Versehen stammt von damals her, als ich durch jenes Dorf reiste. Dort wurde ich irrtümlich für den Gouverneur gehalten. Doch lassen wir das, es sind mir unangenehme Erinnerungen. Nun, Mirja?«
»Löschen Sie die Lampe aus!«
So schnell hatte Westerly noch nie eine Aufforderung befolgt. Er sprang an den Tisch, verlöschte das Licht und tastete sich nach dem Sofa zurück.
Hier musste Mirja gesessen haben, der Diwan war nicht groß, aber ihr Platz war leer. Seine Bestürzung sollte sich bald in den furchtbarsten Schrecken verwandeln.
In der Stube war es stockfinster, nichts war zu sehen. Aber ein Lauscher hätte hören können, dass hier ein heftiger Ringkampf stattfand, ein Stuhl wurde umgeworfen, das Polster des Diwans krachte, dazu ächzte es ab und zu aus einer heiseren Kehle, eine Stimme suchte zu schreien, aber eine Hand musste sie ersticken.
Schwächer und schwächer ward das Ringen, endlich war wieder alles ganz still in dem Zimmer.
Dann erklang es wie ein Suchen an der Wand, eine Hand fuhr darüber hin, wahrscheinlich wurde ein Bild abgenommen, noch einige Geräusche, die von einer körperlichen Anstrengung herrühren mochten, und wieder war es still, nur Papier knisterte noch einmal.
Die Tür öffnete sich, es huschte jemand hinaus, blieb auf dem Vorraume lauschend stehen und verließ dann das Haus.
Unter der letzten Treppenstufe holte die Gestalt den Revolver hervor und steckte ihn zu sich.
Es war Mirja.
Sie wandte sich nicht nach dem Schuppen zurück, sondern entfernte sich immer weiter von der Vorpostenkette ab, dahin, wo die Zelte der Bombay-Truppe standen.
Es war Neumond, nur Sterne strahlten in hellem Glanze am Himmel und übergossen die Erde mit schwachem Licht. Das Mädchen vermochte sich hier, wo noch Bäume und Büsche standen, unbemerkt fortzuschleichen. Es kam an einigen Wachen vorüber, ohne gesehen zu werden.
An das letzte Wachfeuer, welches am Rande der Grasebene und des Mangowäldchens brannte, schlich es sich vorsichtig heran und blieb in einem Busche liegen.
Um das Feuer gruppierten sich einige Soldaten, darunter nur ein Engländer. Davor stand ein blutjunger, englischer Leutnant, stützte sich auf seinen Degen und plauderte kameradschaftlich mit dem Landsmann.
Die Sepoys hörten aufmerksam zu, mengten sich aber nicht in das Gespräch der Europäer.
»Acht Tage können wohl noch vergehen, ehe wir von hier abrücken, und ist bis dahin Nicholson noch nicht eingetroffen, so werden wir lange Zeit untätig vor Delhi liegen müssen.«
»Aber was soll denn das Zaudern? Wir können doch gleich Delhi angreifen und im Sturm nehmen.«
»Geht noch nicht, unsere Verluste wären dabei zu groß, und wir müssen die Menschen schonen. In Delhi liegen noch zu viel Sepoys, aber sie müssen bald aus diesem Zentralpunkt abrücken, denn überall drohen die siegreichen Unsrigen den Aufstand völlig zu dämpfen. Lord Canning muss bald hier eintreffen, vielleicht ist er schon hier, und dann wird sich das Übrige finden.«
»Aber ich verstehe nicht, warum wir die Rebellen aus Delhi abziehen lassen«, sagte der englische Corporal am Feuer, »wir sollten die Stadt eben einschließen und verhindern, dass diese Rebellen den anderen zu Hilfe kommen.«
»Begreift Ihr das nicht? Das ist doch sehr einfach. Die Rebellen wollen den Kampfplatz nach Süden und nach den Küsten wie auch nach den Gebirgsgegenden des Himalaja verlegen und uns so einschließen. Wir gehen scheinbar darauf ein, das heißt, wir wollen uns in Delhi konzentrieren! Schon ist Sir Hugh Rose von Ägypten aus mit englischen Truppen unterwegs, auch Sir Colin Campbell muss bald eintreffen, na, und sind erst 100 000 reguläre Soldaten hier, dann geht's los. Wir sitzen in der Mitte, die anderen rücken von den Küsten aus heran. Wenn die Rebellen ihren lumpigen Götzentempel aufgeben wollten, so wäre Delhi schon ohne Schwertstreich in unseren Händen. Gute Nacht, Fred, ich mache die Ronde.«
Der junge Offizier ging in die Büsche.
Er hatte sich noch nicht weit von dem Lagerfeuer entfernt, als ihm von unsichtbarer Hand eine Art Sack über den Kopf geworfen wurde. In der nächsten Minute schon lag er gebunden und geknebelt am Boden, ohne auch nur den leisesten Schrei ausstoßen oder die geringste Gegenwehr leisten zu können. Mit einer zauberartigen Schnelligkeit und Kraft war er überwältigt worden.
Auf ihm kniete eine Gestalt, die er in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Die kalte Mündung eines Revolvers berührte seine Stirn.
»Willst du mir die Losung nennen?«, flüsterte eine Stimme.
Trotzig schüttelte der Engländer den Kopf.
»Wenn du sie mir nennen willst, so nicke mit dem Kopf, und ich traue dir, ich nehme den Knebel aus deinem Munde.«
Wieder schüttelte der Engländer den Kopf.
Sein Waffenrock wurde ihm aufgerissen, an der Herzgegend durchdrang die Spitze eines Dolches das Hemd und ritzte schon seine Haut.
»Ich zähle bis drei, besinne dich schnell. Eins — zwei —«
Der Offizier schüttelte noch energischer den Kopf.
»Drei.«
Der Dolch stieß nicht zu.
»Ich breche mein Wort, denn ich habe Achtung vor dir, dass du ein dir anvertrautes Geheimnis nicht verrätst. Merke dir aber, Faringi, ihr werdet Delhi nicht erstürmen, es sei denn, der letzte Inder fällt auf den Mauern oder die Stadt wird verraten. Und wenn du gefragt wirst, wer dir das gesagt hat, so antworte: Die Begum von Dschansi.«
Der Gefangene konnte sein Staunen nicht ausdrücken, er zuckte nur zusammen.
Die Wachtposten am Feuer waren nicht lange von dem Offizier alleingelassen worden, als dieser schon wieder aus dem Gebüsch heraustrat und in einiger Entfernung am Feuer in der entgegengesetzten Richtung als vorhin vorüberging.
Darüber wunderte sich der Corporal. Dort hatte der Offizier nichts zu suchen, sein Dienst band ihn an die Vorpostenkette.
»Leutnant Russell!«, rief der Corporal.
Der Offizier, die Mütze tief über den Augen, antwortete nicht, er machte nur mit der Hand ein Zeichen des Schweigens und schritt weiter, bis er sich in der Nacht verlor.
»Nanu«, dachte der Corporal, »wo will denn der hin? Da muss etwas Besonderes vorgefallen sein, dass er die Postenkette plötzlich verlässt. Na, meinetwegen, ich bin müde.«
Er drehte sich auf die andere Seite und schlief ein, bis ihn seine Stunde zum Dienst rief. Unterdessen hatte der junge Offizier das Zeltlager erreicht und schritt am Rande desselben hin. Auch hier waren Wachen ausgestellt, doch sie hielten den Mann in Offiziersuniform nicht an, solange er nicht das Lager selbst betrat.
Dann hätte auch er das Losungswort geben müssen.
Am Ufer des Sees erhob sich an einer Stelle auch ein Wäldchen von verkümmerten Orangenbäumen. Dieses betrat der Offizier, kam aber schon nach einigen Minuten wieder heraus und ging zurück.
»Halt, wer da!«, rief eine Stimme, als er in das Lager gehen wollte, und aus dem Schatten eines Zeltes löste sich die Gestalt eines Sepoys mit gefälltem Gewehr ab.
»Leutnant Russell!«, entgegnete der Offizier mit sonorer Stimme.
»Losung?«
»Havelock in Allahabad.«
Der Posten trat zurück, der Leutnant konnte passieren, blieb aber vor dem Manne stehen.
»Ist der Generalgouverneur schon eingetroffen?«, fragte er.
»Ich weiß nicht, Leutnant.«
»Ist heute Nachmittag oder gegen Abend kein Fremder mit Begleitung angekommen?«
»Hier nicht, aber im Lager der Sikhs, habe ich gehört.«
Der Offizier ging weiter, durch das Lager hindurch, kam oft über große Plätze, passierte Posten, denen er das Losungswort geben musste und blieb auch manchmal an den großen Zelten, in denen höhere Offiziere quartierten, stehen und beschäftigte sich mit der Leinewand, als ob er etwas daran befestigte.
Nach solch einer Wanderung von einer halben Stunde erreichte er ein anderes Lager, das der Sikhs.
Wieder erschollen die Anrufe.
»Losung?«
»Havelock in Allahabad.«
»Das kenne ich nicht«, entgegnete der Soldat.
»Es ist die Losung der Bombay-Truppe.«
»Aber nicht die der Sikhs.«
»Ich komme aus jenem Lager und will hier den Engländer sprechen, der heute angekommen ist.«
»Wenn du als Bote kommst, Leutnant«, erwiderte der Sepoy, »so muss dir das Losungswort gesagt worden sein.«
»Ich kenne es nicht.«
»Dann darfst du nicht passieren.«
»So sage du es mir!«
Eine Bewegung, ein blitzschneller Griff, und der Inder fühlte sich von einer stählernen Faust an der Brust gepackt und eine Revolvermündung an seiner Stirn.
»Einen Laut, und es ist dein Tod!«, zischte ihm der vermeintliche englische Offizier zu. »Wie ist die Losung der Sikhs?«
Dieser Soldat war kein besonderer Held. Er stand auf einem völlig einsamen Posten, weil von hier aus ein Überfall überhaupt unmöglich war. Sein Hilferuf konnte höchstens Schläfer wecken.
Vor Schreck ließ er das Gewehr fallen.
»Die Losung, oder stirb!«
»Bombay und Madras!«, stammelte er.
Der Offizier war etwas zur Seite getreten. Die Faust ließ die Brust los, und gleichzeitig wurde dem Soldat eine Kappe über den Kopf gestülpt. Lautlos, als wäre er von einem tödlichen Schlag getroffen, sank er nieder und bewegte sich auch nicht mehr.
Langsam zählte der Offizier bis zehn, nahm dem Betäubten die Kappe ab, steckte sie zu sich und setzte seinen Weg fort, ohne sich um den wie tot Daliegenden zu kümmern.
Das Lager war wie ausgestorben, nur an den Grenzen war Leben. Einmal aber begegnete dem Leutnant ein Mann, den er schon in der Ferne als englischen Offizier erkannte. Er versuchte sich zwischen den Zelten zu verlieren, war aber schon gesehen worden.
Der andere Offizier eilte auf ihn zu und hielt ihn fest.
»Hallo, wer sucht sich hier zu verstecken? Ah, Pardon, ein Kamerad. Ich glaubte, ein Sepoy hätte sich von der Wache entfernt.«
»Und ich glaubte erst, ich würde einem Sepoy begegnen«, lachte der Leutnant leise, »meine Augen haben in Indien etwas gelitten. Es wäre mir unangenehm gewesen, jetzt einem Sepoy zu begegnen. Er hätte mich erkennen können.«
»Unangenehm? Wieso?«
»Ich komme aus dem Bombaylager. Leutnant Russell.«
»Was, Leutnant Russell? Donner und Hagel, ich hätte Sie wahrhaftig nicht erkannt. Was aber wollen Sie hier?«
»Ja, da fragen Sie zu viel — geheime Order. Einen Gefallen können Sie mir tun. Trotz der genauen Instruktion scheine ich mich verlaufen zu haben. Wo ist das Zelt dessen, der heute hier angekommen ist?«
»Ah, also das ist es! Von wem kommen Sie?«
»Bedaure.«
»Gleichgültig. Ich bringe Sie hin.«
»Nicht zu weit, ich muss allein und unauffällig gehen, so ist mir streng befohlen worden. Im Vertrauen, es ist Lord Canning, nicht wahr?«
»Ja, er ist es.«
»Warum reist er in so strengem Inkognito?«
»Sehr einfach. Er hat einen weiten Weg zurückgelegt, fast ohne Begleitung, und erführen das die Rebellen, so würden sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um seiner habhaft zu werden. Nicht einmal jetzt, da er hier ist, und nicht einmal unsere Sepoys sollen womöglich davon erfahren. Er geht wieder fort von hier?«
»Ich weiß nicht. Jedenfalls«, entgegnete Russell.
Der andere blieb stehen und deutete auf das größte Zelt.
»Dies ist das Zelt von Whitlock, Canning wohnt bei ihm. Gute Nacht, Kamerad!«
»Halt, noch eins! Wissen Sie nicht, wo er schläft?«
»Nein, wahrhaftig nicht. Im Zelt ist Wache, fragen Sie nur.«
Er entfernte sich schnell, ohne sich umzusehen.
Russell schritt nicht dem Zelte zu, sondern beschrieb einen Bogen um dasselbe, hielt sich immer im Schatten und lauschte auf das geringste Geräusch. Seine Hand lag am Revolver, und er hätte wohl auch davon Gebrauch gemacht.
Das Zelt war bedeutend größer und höher als die übrigen, auch oben nicht spitz zulaufend, sondern ein richtiges Haus aus brauner Segelleinwand. Natürlich stand es gleichfalls auf ebener Erde, das Tuch war mit Stricken an Pflöcken im Boden festgebunden, die Türen wurden von Vorhängen gebildet, und zur Ventilation war oben rund um die Zeltstange herum eine Öffnung freigelassen worden.
Plötzlich, wie durch Zauberei, lag auf dem flachen Dach eine menschliche Gestalt und glitt schlangengleich über das Tuch hin, ohne dabei merklich tief einzusinken. Die Wache, welche im Vorraum bei der brennenden Lampe saß und einen Brief aus der Heimat las, merkte nichts von dem, was über ihr vorging.
Als die Gestalt die Öffnung erreicht hatte, blieb sie lange bewegungslos glatt liegen und spähte hinab. Dann rutschte sie zurück und glitt geräuschlos von der schiefen Wand hinab.
Nachdem sich der Leutnant — dieser war es — überzeugt hatte, dass er nicht beobachtet worden war, legte er sich an den Boden, der hier aus feinem Sand bestand, hatte im Nu mit den Händen eine Höhlung ausgeschaufelt und schlüpfte wie eine Schlange durch dieselbe unter der Leinwand hinweg.
Die vollkommenste Dunkelheit umgab ihn; tiefe, regelmäßige Atemzüge schlugen an sein Ohr. Ohne irgendwo anzustoßen, bewegte sich der nächtliche Besucher durch den Zeltraum, tastete auf dem Tisch herum und ging dann dahin, woher die Atemzüge erklangen.
Leise berührte seine Hand einen mit einem Hemdärmel bekleideten Arm. Er neigte den Kopf, bis er die warmen Atemzüge verspürte.
»Lord Canning!«, flüsterte er dann.
Der Schläfer erwachte nicht von dem schwachen Ton.
»Lord Canning, wenn Sie erwachen, erschrecken Sie nicht!«, fuhr der Ruhestörer eindringlicher fort und drückte gleichzeitig etwas den Arm.
Der Schläfer fuhr jäh empor.
»Wer da?«, fragte er, aber leise.
»Jemand, der es gut mit Ihnen meint«, flüsterte er hastig. »Keinen Laut, keine unvorsichtige Bewegung, oder ich muss fliehen.«
»Fliehen? Wer ist da, der fliehen muss?«
»Ruhig doch! Lord Canning, ich komme aus dem feindlichen Lager, um eine Frage an Sie zu richten.«
Er kam nicht weiter, mit verzweifelter Kraft suchte der Gouverneur sich aus den muskulösen Händen zu befreien, die ihn plötzlich mit eisernem Griff packten.
»Halt, wer da? Offen will ich mit dem sprechen, der mir etwas zu sagen hat. Verrat! Wache!«
»Tor«, zischte es, »ich hatte es gut mit dir vor! Wir sehen uns wieder.«
Canning konnte die Gestalt nicht halten, wie ein Aal entwand sie sich seinem Griff, nur ein Bekleidungsstück hielt er noch in den Händen.
Die Wache stürzte mit brennender Lampe herein, gleich danach General Whitlock. Sie fanden Lord Canning im Nachtgewand, einen englischen Offiziersrock in den Händen haltend.
»Was gibt's?«, schrie Whitlock. »Ein meuchlerischer Angriff von einem englischen Offizier? Bei Gottes Tod, das wäre das letzte Unglück, was uns passieren dürfte!«
Canning betrachtete in stummem Erstaunen das Uniformstück.
»Es war kein Mann, es war ein Weib, ich kann es bei meiner Seligkeit schwören,« murmelte er, »ich habe es gefühlt. Los, schlagt Alarm, sie darf nicht entkommen.«
Draußen ward es schon lebendig.
»Haltet ihn! Steh oder ich schieße«, klang es durcheinander, Schüsse krachten, ein silberhelles Lachen erscholl, dann noch einige Schüsse, man hörte Flüche und Verwünschungen und hastige Schritte.
»Was ist geschehen?«, rief Whitlock.
»Es hat sich ein Weib zu mir ins Zelt geschlichen, es wollte mit mir heimlich sprechen. Ich hatte es gepackt und konnte deutlich fühlen, dass ich ein Mädchen in meinen Händen hatte. Es entschlüpfte mir wie eine Schlange.
»Aber der Uniformrock.«
»Das weiß der Teufel! Sie kam aus dem feindlichen Lager, sagte sie selbst.«
Im Zelt war die betreffende Person nicht mehr. Die Wache behauptete, ihn hätte sie nicht passiert. Die Erklärung ergab sich bald, als man das Sandloch am Rande des Zeltes fand. Daneben lag ein Offiziersdegen. Whitlock entblößte ihn.
»Kurt Russell — empfangen 1854 aus der Hand der Königin Victoria von Großbritannien und Irland«, las der alte Krieger die auf den Stahl geätzte Inschrift vor.
Von einem plötzlichen Zorn befallen, setzte er den Degen mit der Spitze auf den Boden und wollte ihn zerbrechen.
»Halten Sie ein!«, rief aber Canning, ihn daran hindernd. »Ich versichere Ihnen nochmals, es war ein Weib! Beleidigen Sie nicht einen Unschuldigen.«
»Und dieser Degen?«
»Ich kann es nicht erklären.«
Soldaten kamen an, sie sagten, sie hätten eine Gestalt durch das Lager huschen sehen, auf sie geschossen, sie verfolgt, aber sie sei ihnen spurlos entkommen.
»Ich glaubte, mir müsste sie gerade in die Arme laufen«, sagte ein alter irländischer Sergeant, »als ich aber zugriff, da hatte ich eine abgetakelte Zeltstange in den Armen.«
Der abergläubische Irländer bekreuzigte sich.
»Wie sah denn der Verfolgte aus?«
»Es war ein Offizier, aber ohne Uniformrock, auch ohne Degen.«
»Nein, es war ein Mädchen«, sagte ein anderer.
»Hast du es gesehen?«
»Nein, aber lachen hören.«
Kopfschüttelnd gingen Whitlock und Canning in das Zelt zurück.
»Was wollte er oder sie eigentlich von Ihnen«, fragte ersterer.
»Ich kann mich nur undeutlich entsinnen, dass ich durch einen Händedruck am Arm aus dem Schlafe gerissen und von einer sonoren Stimme in flüsterndem Tone davor gewarnt wurde, laut zu sein. Sie sagte, sie käme aus dem feindlichen Lager und habe mir Mitteilungen zu machen. ›Wir sehen uns wieder‹, waren die letzten Worte. Ich bedauere fast, sie verscheucht zu haben.«
»Ich nicht. Um Gottes willen sich mit diesem Lumpenpack nicht in Heimlichkeiten einlassen, dabei wird man stets überlistet und betrogen. Zeigt ihnen im Frieden die Peitsche, im Kriege das Schwert, und man wird am besten mit ihnen auskommen. Ich habe schon eine Ordonnanz nach dem Bombay-Lager geschickt, Leutnant Russell soll sofort hierherkommen. Vielleicht können wir von ihm eine Erklärung erhalten. Führen Sie denn indische Visitenkarten?«
»Wie meinen Sie?«
»Visitenkarten, auf denen Ihr Name mit indischen Buchstaben gedruckt ist.«
Whitlock hatte ein Kärtchen vom Tisch genommen, auf denen krause indische Buchstaben standen. Canning verneinte die Frage des Generals und nahm ihm das Kärtchen aus der Hand.
»Wie kommt denn das hierher?«, rief er, und das größte Erstaunen prägte sich in seinem Gesicht aus.
»Ich weiß es nicht.«
»Sie haben es nicht hingelegt?«
»Nein. Was heißt es denn? Diese Schrift ist mir unbekannt.«
»Das heißt: Die Begum von Dschansi.«
»Was? Das ist ja die sagenhafte Königin von Indien!«
»Es scheint, als hätte sie mir einen Besuch abgestattet und dabei ihre Visitenkarte zurückgelassen.
Er überflog den Inhalt seiner Taschen, den er am Abend auf dem Tisch ausgebreitet hatte.
»Ich vermisse auch etwas; ein Medaillon.«
Bald liefen von allen Seiten Meldungen ein, die in allen Lagern immer größere Bestürzung verbreiteten.
Als die Morgensonne die Dunkelheit vertrieb, brachte sie zum Vorschein, was alles während der Nacht passiert war. In den Zeltlagern ging ein Gerücht von Mund zu Mund, die Engländer erzählten es ungläubig oder erstaunt, die Sepoys flüsternd, es machte die Runde durch die Vorpostenkette und fand auch den Weg zu den Familien, welche die Bungalows bewohnten.
Laut aufkreischend stürzte die Magd des Bungalows, in welchem Westerly Quartier genommen hatte, in das Zimmer ihrer Herrin.
Die alte Inderin saß vor einer Kommode mit aufgezogenen Schubfächern, hielt ein kleines Ölgemälde, einen jungen, englischen Offizier darstellend, auf dem Schoß und betrachtete es mit Rührung, als die Magd hereinkam.
Diese hatte den täglich am Morgen ausgegebenen Proviant geholt und alles brühwarm erfahren.
»O, Diatta(*), die Begum ist diese Nacht im Lager gewesen, und wohin sie gegangen ist, da liegen Leichen, Inder und Faringis. Das ganze Lager ist tot, und drüben bei den Sikhs hat sie die Cholera zurückgelassen.«
(*) So viel wie Mutter.
Die alte Frau lächelte ungläubig.
»Was für eine Begum meinst du?«
»Welche sonst, als die Begum von Dschansi.«
»Es gibt keine Begum von Dschansi. Das ist nur eine Person oder Göttin, welche sich die Inder selbst gemacht haben. In Wirklichkeit existiert sie nicht.«
»Aber die vielen Toten!«
»So ist die Cholera ausgebrochen?«, fragte die Alte ängstlich.
»Nur drüben bei den Sikhs. Nein, die Begum ist während der Nacht im Lager gewesen, und wem sie begegnet ist, den hat sie erst gebunden und dann totgemacht. Auch Leutnant Russell ist tot, und dann hat sie seine Gestalt angenommen. Ein Offizier von den Sikhs kann schwören, dass er Russell gesehen und mit ihm gesprochen hat, obwohl doch Russell schon lange tot war. Dann ist die Begum auch im Zelte vom großen Gouverneur gewesen und hat ihn zu morden versucht, der Gouverneur aber hat sich die Schulter geschlagen und Vishnu angerufen, und da musste sie fliehen. Man hat sie verfolgt, ein Sergeant hat sie auch schon gepackt gehabt, da hat sie sich aber plötzlich in eine Zeltstange verwandelt, und alle Kugeln, die sie getroffen haben, sind glatt zur Erde gefallen, und wo sie hingekommen ist, da hat sie ihren Namen hingelegt oder angesteckt. Hier, das habe ich an einem Zelte gefunden.«
Sie gab der Matrone ein Kärtchen aus indischem Reispapier, und auf demselben stand ebenfalls: Die Begum von Dschansi.
Die Alte sah aus dem Fenster, sie konnte in der Ferne die Zelte sehen, und dort herrschte ein zu so früher Morgenstunde ungewöhnliches Hin- und Herlaufen. Es wurde ihr doch unheimlich zumute.
»Ich glaube nicht, dass es solch ein böses Wesen aus der Hölle gibt«, sagte sie dann. »Gott würde wenigstens nicht erlauben, dass es sich auf der Erde herumtreibt und denen schadet, welche an ihn glauben. Geh an deine Arbeit und kümmere dich nicht mehr darum!«
»Aber sie ist ja die Tochter der Kali!«
»Es gibt keine Kali!«, entgegnete die christlich getaufte Inderin.
»Aber früher hat es eine gegeben. Als der Gott der Christen zu uns kam, hat sie sich nur versteckt, geradeso wie Vishnu und Shiva und die übrigen Götter, und nun schicken sie ihre Kinder, um uns zu schaden, weil wir nicht mehr an sie glauben.«
»Schlage dir solch dummes Zeug aus dem Kopfe. Alle diese Götter gibt es gar nicht!«
Die Magd verließ das Zimmer. Ihr von Missionaren mühsam eingeprägter Glaube an Gott und seinen Sohn war mit einem Male schwankend geworden, sie war geneigt, lieber wieder an ihre früheren Götter zu glauben, damit sie nicht deren Rache für ihren Unglauben ausgesetzt war.
Das sind die Früchte der christlichen Missionare überall da, wo eine tiefeingewurzelte, logische Religion herrscht, und hauptsächlich in Indien.
In amtlichen englischen Berichten kann man lesen, dass sich noch kein Missionar mit der Hand auf dem Herzen rühmen darf, einen Inder wirklich bekehrt zu haben. Die Leute, welche sich Christen nennen, sind durch Geschenke erkauft. Auch die Eingeborenen von Neuseeland sind ohne Ausnahme Christen, aber jeder frühere Gott hat noch eine Höhle, in der die Leute ihn anbeten, damit er ihnen nicht zürne. Vorsicht ist besser als Nachsicht! Sollte er doch existieren, dann haben sie wenigstens auf Verzeihung zu hoffen.
Nach dem ängstlichen Gesicht der alten Inderin zu schließen, war auch sie jetzt im Unklaren, was sie tun solle: dort den an der Wand hängenden gekreuzigten Christus um Schutz zu bitten oder die kleine, scheußliche Figur auf der Kommode zu küssen, dass die Kali ihre Töchter gnädig an dem friedlichen Bungalow vorbeigehen lasse.
»Die Jüdin«, seufzte sie, »die Jüdin! Wenn sie nur nicht Unglück über mein Haus bringt. Doch wie könnte mir noch größeres Unglück widerfahren, als schon geschehen ist! Der liebe Gott möge Erbarmen mit mir haben, und die heilige Kali möge mich nicht strafen in ihrem Zorn.«
Erschrocken schmiegte sie sich in den Lehnstuhl. Klang es da im Nebenzimmer nicht wie ein Röcheln?
Schon gestern Abend hatte sie sich teils bekreuzigt, teils die linke Schulter geschlagen, als im Nebenzimmer solch ein schrecklicher Lärm entstanden war. Wie konnte sich aber auch ein Christ mit einer Jüdin einlassen, die Gott selbst von sich gestoßen hatte und die Buddha vom Nirwana ausschloss! Wenn das nur ein gutes Ende nahm!
Sie sah zum Fenster hinaus, ob nicht Hilfe in der Nähe war, aber sie erblickte nur ihre Magd, wie sie das Haus in schnellem Lauf verließ, um im Lager noch mehr von der Begum von Dschansi zu erfahren, die aus dem fremden Lande auf die Erde gekommen sein sollte, dass sie die Engländer vernichte und Indien befreie.
Die Frau rief die Magd, doch diese hörte nicht.
So war sie jetzt ganz allein im Hause mit dem Engländer und der Jüdin. Da erklang wieder das Stöhnen.
Was war das nur? Drehte die Verfluchte dem Christen den Hals um? Sie hätte ihm so gern beigestanden, aber sie wagte es nicht. Und doch! Warum zog es sie nur mit solch unwiderstehlicher Macht zu dem Faringi hin, warum möchte sie ihn, der sie so kurz und hochmütig behandelte, doch stets in die Arme schließen? Die ganze Nacht hatte sie dieses alte, halbverblichene Bild betrachtet, und seit dem ersten Sonnenstrahl saß sie schon wieder hier und hielt immer noch das Bild in den Händen.
Ach, es war eine Erinnerung aus schöner Jugendzeit, es erzählte ihr von heimlicher Liebe und stillem Glück.
»Vorbei, vorbei!«, dachte sie seufzend.
Da, wieder ein Stöhnen nebenan, so unheimlich, dass ein Zittern die alte Frau befiel. Was in aller Welt war das?
Endlich besiegte sie ihre Angst. Entschlossen stand sie auf, ging an die Tür und lauschte. Jetzt konnte sie deutlich ein Ächzen und Stöhnen vernehmen.
Sollte die Jüdin —
Sie klopfte an, und das Ächzen ward lauter.
»Mylord!«
Keine Antwort, nur ein Grunzen erscholl.
Die alte Frau öffnete vorsichtig die Tür, steckte den Kopf durch die Spalte und fuhr erschrocken zurück.
Die Jüdin war nicht mehr darin, Bett und Schlafdiwan leer, aber da, wo sonst ein großes Bild an der Wand am Nagel befestigt war, hing wie ein Bündel eine menschliche Gestalt — Lord Westerly.
Hände und Füße waren mit Stricken eng zusammengebunden, und diese Bande waren über den Bildernagel gehängt. So hing der Mann da, Hände und Füße nach oben, Rücken und Kopf nach unten. Sein Gesicht war dunkelblau angelaufen, die Augen quollen aus den Höhlen, und aus dem Munde sah der Zipfel eines weißen Taschentuches hervor.
Er musste lange, furchtbare Stunden so zugebracht haben.
»Um Gottes willen, Mylord!«, brachte die alte Frau hervor, dann fiel es ihr ein, dass sie ihn vor allen Dingen befreien musste.
Sie rückte den Diwan darunter, zerschnitt mit einem Messer die Banden und ließ ihn mit Aufbietung aller ihrer schwachen Kräfte auf den Diwan gleiten.
Auch als sie ihm den Knebel, sein eigenes Taschentuch, aus dem Munde genommen hatte, vermochte Westerly noch nicht zu sprechen, obgleich er nicht bewusstlos war.
Was die alte Frau mit dem allergrößten Entsetzen erfüllte, war der Zettel, der auf die Brust des Mannes geheftet war, und auf welchem ebenfalls wieder ›die Begum von Dschansi‹ in hindustanischen Schriftzeichen zu lesen war.
So hatte das schreckliche Mädchen auch in ihrem Hause Einkehr gehalten, der Magd Erzählung beruhte auf Wahrheit!
Jetzt konnte sie nicht darüber nachdenken, wie die Begum mit dem Besuch der Jüdin zusammenhing, jetzt brauchte der Mann vor allen Dingen Hilfe!
Sie wusch sein Gesicht mit kaltem Wasser, rieb die blutrünstigen, vom Strick zurückgelassenen Striemen an Hand- und Fußgelenken erst mit Öl ein, dann machte sie auch da kalte Umschläge, und es dauerte nicht lange, so hatte Westerlys starke Natur sich wieder erholt.
Das Gesicht erhielt die normale Färbung wieder, die Augen traten zurück, er wurde der Sprache mächtig und konnte Gebrauch von Händen und Füßen machen.
»Die Jüdin!«, klagte die Frau. »Hätten Sie doch nicht die Jüdin zu sich genommen! Ich dacht mir gleich, dass ein Unglück geschehen würde. Es war niemand anderes als die Begum von Dschansi, die diese Nacht bei Ihnen war.«
»Wer?«
»Die Begum von Dschansi. Sie war diese Nacht im Lager, Hunderte von Soldaten hat sie hingemordet, auch viele Offiziere, sie ist selbst wie ein Offizier angezogen gesehen worden, und wo sie gewesen ist, da hat sie ihren Namen zurückgelassen, gerade wie bei Ihnen.«
»Wie bei mir?«
»Hier, sehen und lesen Sie!«
Westerly nahm das Kärtchen, und wieder quollen seine Augen fast aus den Höhlen, als er die Schriftzeichen las. Ein entsetzter Blick traf die alte Frau.
»Wo haben Sie das gefunden?«
»Das war mit einer Nadel an Ihre Brust geheftet.«
»Das ist nicht wahr!«, schrie Westerly plötzlich heftig und sprang auf, seiner schmerzenden Füße nicht achtend.
»Es ist schon so, wie ich Ihnen sage. Hier an diese Stelle der Brust war das Kärtchen geheftet, und ebensolche hat man noch viel gefunden, überall da, wo die Begum gewesen ist. Sie will zeigen, dass es wahr ist, was man von ihr gesagt hat: Sie kann überall hingehen, wohin sie will, niemand kann sie hindern oder halten, und wer sie anfasst, der fällt wie tot zu Boden, während ihr selbst keine Waffe etwas anhaben kann. Ach, Mylord, hätten Sie sich doch mit der Jüdin nicht eingelassen!«
Westerlys Schrecken schien immer mehr zuzunehmen.
»Was hat denn die Jüdin mit der Begum zu tun?«
»Es war natürlich die Begum; heißt es doch von ihr, dass sie jede beliebige Gestalt annehmen, ebenso jede Sprache reden kann.«
Ein furchtbarer Gedanke zuckte durch das Hirn des Mannes.
Er zweifelte selbst nicht mehr daran, dass die Jüdin und die Begum ein und dieselbe Person gewesen war, diese Kraft, mit der sie ihn überwältigt, gebunden und dort oben aufgehängt hatte, dann diese Karte mit ihrem Namen!
Er aber hatte die Jüdin in seinem Zimmer gehabt, er hatte mit ihr gesprochen, und wenn man nun wusste, dass die Begum und die Jüdin eins war? Dann wäre auch bekannt, dass er mit den Feinden der Engländer auf vertrautem Fuße stand. Der Begum war das natürlich gleich, sie hatte sich nur an ihm rächen wollen, weil er sie damals als Mirja so schmählich behandelte. Aber er, er!
Der Blick, den er der alten Frau von der Seite zuwarf, war der eines Raubtieres.
»Weiß sonst jemand, dass jene Jüdin, die hier im Schuppen mit ihrem Vater haust, die Begum ist?«
»Nein, nein, noch nicht, ich werde aber gleich hineilen und es Colonel Harquis melden!«
»Lassen Sie nur, ich werde es selbst tun!«
»Ja, tun Sie das!«
»Haben Sie mich zuerst in dieser Lage gefunden und gesehen?«
»Ich hörte Ihr schreckliches Stöhnen und Ächzen und dachte mir, dass so etwas vorgefallen sein musste. Mein Gott, dieser Schreck, als ich Sie da hängen sah!«
»Auch die Magd weiß nichts davon?«
»Nein, sie war fort. Sie muss gleich wiederkommen.«
»Sie ist noch nicht da?«
»Nein.«
»Sie sind allein im Hause?«
»Ganz allein.«
»Kommen Sie hierher, ich will Ihnen etwas sagen, so — so — wir brauchen nicht gesehen zu werden!«
Plötzlich legten sich zwei Hände um den Hals der alten Frau, kräftige Finger pressten und würgten die Kehle, einige schwache Bewegungen, einige Zuckungen, und entseelt glitt die Frau aus den Händen Westerlys auf den Diwan.
Westerly überzeugte sich sorgfältig, ob das Leben entflohen war.
»Tot!«, murmelte er. »Das zweite Opfer! Ich mache schnelle und gute Fortschritte, schon brauche ich keine Waffen mehr. Bah, eine alte Inderin, die schlage ich ebenso kaltblütig tot wie eine Fliege. Jetzt aber schnell, dass ich nicht verraten werde!«
Er heftete das Kärtchen auf die Brust der Toten und schleifte sie in die andere Stube, wo er sie auf den Diwan legte. Dann begab er sich in sein Zimmer zurück und schloss die Tür. Nach einigen Gängen auf und ab, hatte er seine momentane Regung niedergekämpft.
»So, diese kommt auch noch auf das Konto des teuflischen Mädchens«, dachte er dann, »ihren Stempel trägt sie ja. Ich habe außer etwas Geräusch natürlich nichts gehört, werde den Erschrockenen schon zu spielen wissen. Teufel noch einmal, das wäre eine schöne Geschichte gewesen, wenn man erfahren hätte, dass die Jüdin keine andere als die Begum von Dschansi und dass sie die Nacht, oder wenigstens den Abend bei mir gewesen ist! Und dass sie sich auch selbst als solche zuerkennen gibt...«
Er brach seinen Gedankengang ab, denn rascher Hufschlag näherte sich dem Hause. Westerly zog schnell Manschetten über die blutrünstigen Handgelenke, öffnete die Fensterläden und blickte hinaus, konnte aber den Reiter nicht mehr sehen.
Da erscholl draußen ein Männerschritt, er ging in das Nebenzimmer, ein Laut des Schreckens wurde hörbar, und Colonel Harquis stürzte zu ihm herein. Sein Gesicht war aschfarben.
»Was, auch hier ist sie gewesen?«, schrie er.
»Wer? Was haben Sie denn, Colonel? Sie sind ja furchtbar aufgeregt!«, fragte Westerly gleichmütig.
»Sie wissen noch gar nichts?«
»Das die Begum von Dschansi, dieses Phantasiegebilde von verrückten Köpfen, im Lager gespukt hat? Meine Wirtin hat es mir eben erzählt. Es ist natürlich alles Unsinn!«
»Eben hat Sie es Ihnen erzählt?«
Der erste Schreck des Colonels schien sich fast in Entsetzen zu verwandeln.
»Nun, vor vielleicht fünf Minuten.«
»Lord, ich beschwöre Sie, foppen Sie mich nicht! Vor fünf Minuten hätte Ihre Wirtin noch mit Ihnen gesprochen?«
»Sicherlich! Vor höchstens fünf Minuten war sie hier bei mir im Zimmer und war so freundlich, mir die neuesten Nachrichten zu erzählen. Aber wozu diese Fragen, Colonel?«
Der greise Oberst schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn.
»Noch immer geschehen Wunder, an denen unser schwacher Menschenverstand jämmerlich scheitert«, sagte er erschüttert. »Kommen Sie, Mylord, ich will Ihnen ein solches zeigen!«
Er führte ihn hinüber, und Westerly prallte vor der auf dem Diwan liegenden Inderin mit einem Schrecken zurück, der auch das geübteste Auge getäuscht hätte.
»Was — was — ist das?«, stammelte er. »Sie wollen doch nicht etwa behaupten, dass diese Frau tot ist?«
»Sie ist es. Überzeugen Sie sich davon!«
Er raffte sich zusammen. Nur Staunen, keine Furcht war in seinem Gesicht zu lesen, als er die schlaffe Hand der Toten in die seine nahm.
»Wahrhaftig, sie ist tot! Und vor fünf Minuten war sie noch bei mir und erzählte mir mit der größten Lebhaftigkeit, wie die Begum von Dschansi, dieses Phantom, im Lager umgegangen sei. Ein Schlaganfall?«
»Kein Schlaganfall, ebenso wenig, wie ihre Erzählung ein Hirngespinst war. Die Begum ist allerdings in unserem Lager gewesen, hier liegt ein Opfer von ihr. Lesen Sie!«
Er nahm die Karte von der Brust der Toten und gab sie ihm.
»Die Begum von Dschansi! Was? So wäre es wirklich wahr, dass die Begum bei nächtlicher Zeit Hunderte von Soldaten getötet, einen Mordanschlag auf Lord Cannings Leben gemacht und an jedem Opfer ihre Karte befestigt habe? Nicht möglich!«
»So schlimm ist es gerade nicht. Bis jetzt haben wir vier Soldaten, drei Sepoys und einen Engländer gefunden, die von ihr unschädlich gemacht worden sind. Darunter auch Leutnant Russell, der junge, mutige Russell.«
»Also auch Russell ist tot!«, rief Westerly schmerzlich.
»Nicht tot. Sie sind in völlig bewusstlosem Zustand gefunden worden, aber lebend, atmeten auch regelmäßig. Nach ihrer Angabe ist ihnen von einem englischen Offizier, der sich als Leutnant Russell ausgab, nach einem kurzen Gespräch eine Kappe über den Kopf gezogen worden, sie hätten einen intensiven Geruch wahrgenommen, und dann wäre ihnen das Bewusstsein auf der Stelle geschwunden. Auf der Brust eines jeden war eine ebensolche Karte wie diese befestigt.«
»Aber ich verstehe nicht! Leutnant Russell sollte...«
»Durchaus nicht! Russell selbst wurde von einer Person, die er nicht kannte, in einem Gebüsch, ganz nahe an einem Wachtfeuer, niedergeworfen und war gebunden und geknebelt, ehe er an Gegenwehr denken konnte. Nach Russells Aussage hat ihn die Person nach dem Losungswort gefragt, er verweigerte es, und sie führte die Drohung, ihn zu töten, trotzdem nicht aus. ›Wir sollten nicht denken‹, sagte sie, ›Delhi im Sturme nehmen zu können‹, und dann gab sie sich selbst für die Begum von Dschansi aus.«
»Merkwürdig! Und dann hat sie auch ihn betäubt?«
»Ihn nicht. Sie hat ihm die Uniform ausgezogen und ihn halbnackt liegen lassen.«
»Teufel! Warum das?«
»Gleich darauf ist einem Offizier im Lager der Sikhs Leutnant Russell leibhaftig erschienen, er wollte schwören, es sei Russell gewesen. Nach allem, was dann passiert ist, ist kein Zweifel, dass es eben wirklich ein Weib war. Lord Canning gelang es, sie zu fassen, und er behauptet bestimmt, es sei ein Mädchen gewesen. Sie hat also Russells Uniform angezogen.«
»Also ist sie gefangen?«
»Nein, sie hat aller Kugeln und aller Verfolgung gespottet — sie ist spurlos verschwunden.«
»Das klingt fast wie ein Märchen!«
»Ja, und das schlimmste ist, unsere eingeborenen Soldaten werden plötzlich rebellisch. Wir müssen diese Begum fangen und ihnen zeigen, dass es nur ein Weib ist, oder die braunen Schufte gehen uns alle durch die Lappen und treten zu den Feinden über.«
»Haben Sie schon eine Spur von ihr?«
»Keine einzige. Ja, doch, diese Tote ist wieder eine.«
Westerly wurde gezwungen, seine Aufmerksamkeit wieder der Toten zuzuwenden.
»Also getötet hat sie niemanden?«
»Nein, bis auf diese hier.«
»So ist anzunehmen, dass auch diese Frau nur betäubt ist.«
Harquis bewegte den Arm und deutete auf ihren Hals.
»Sie ist kalt und wird schon bald starr. Dann sehen Sie diese roten Flecken am Halse, von Fingern herrührend; sie ist erwürgt worden.«
Ihr Mörder beugte sich mit kaltem Gesicht über sie.
»Wahrhaftig, Sie haben recht!«
»Es sind große, starke Hände gewesen, welche sich um den Hals gelegt haben«, fuhr der Colonel fort.
»Woran wollen Sie das erkennen?«
»Sehen Sie, wie lang und breit die roten Stellen sind, wie groß die Nägelspuren. Fast könnte man auf eine Männerhand schließen.«
»Sie haben Anlagen zum Detektiv. Nun, wenn jenes Mädchen einen Offizier wie ein Kind zu Boden wirft und ihn im Umdrehen fesselt und knebelt, so muss es allerdings über eine ansehnliche Hand verfügen. Was beginnen Sie nun?«
»Auch hier muss ein Protokoll aufgenommen werden. General Wilson speit Feuer und Flamme, er will sich der Begum durchaus bemächtigen. Die ganze Vorpostenkette nimmt er in Verhör, selbst die überrumpelten Posten haben Strafe zu gewärtigen. Schade, dass wir keine Bluthunde hier haben; die der Offiziere, welche im Lager sind, wollen die Menschenspur nicht aufnehmen. Dann hat Wilson im ersten Zorn den etwas rücksichtslosen Befehl gegeben, alle weiblichen Mitglieder der Lager sollen sich ohne Ausnahme innerhalb zweier Stunden am schwarzen See versammeln.«
»Oho, das ist ein sonderbarer Verdacht.«
Harquis zuckte die Achseln.
»Wilson geht eben energisch vor. Es ist allerdings nicht anzunehmen, dass sich die Mörderin unter uns selbst befindet, diese Annahme beruht auf gar keiner Grundlage. Nein, wenn es wirklich eine Begum von Dschansi gibt, was sich im Laufe dieses unglückseligen Krieges wohl herausstellen wird, so muss es eben ein ganz raffiniertes, listiges, mutiges und starkes Weib sein, eine ganz gefährliche Gegnerin. Sie hat sich eingeschlichen, um zu spionieren, und ebenso heimlich die Vorpostenkette passiert. Wilsons Befehl muss aber befolgt werden, auch die Jüdin muss herbeigeschafft werden.«
»Was? Sie ist noch hier?«, hatte Westerly in furchtbarem Schrecken rufen wollen; denn an die Möglichkeit, dass Mirja oder die Begum noch hier sei, hatte er gar nicht denken können.
»Gott der Gerechte, ich bin ein geschlagener Mann!«, jammerte draußen die Stimme des alten Sedrack. »Was habe ich verbrochen, dass mich fassen die Häscher und führen mich ab wie einen, der hat gestohlen oder hat gemordet? Bin ich doch ein ehrlicher Jüd' und lebe vom Handel, der ist erlaubt. Mirja, Tochterleben, das ist der Fluch, den du mir hast gegeben, als du sagtest, ich sollte nicht gehen zu ihm und versprechen, ihm zu helfen, was ich nicht kann.«
Die beiden Männer sahen durch das Fenster, wie der alte Jude und seine Tochter von Soldaten nach dem Lager abgeführt wurden. Sedrack jammerte laut, für die Soldaten ganz unverständlich; Mirja, wie immer verhüllt, ging ergeben und schweigend neben dem Vater.
Westerly fühlte sein Blut gerinnen, als er die angebliche Jüdin erblickte.
War denn das Mädchen toll, dass sie sich ruhig nach dem Untersuchungsplatz führen ließ? Nach dem, was sie schon geleistet hatte, musste es ihr doch ein Leichtes sein, sich durch die Vorposten zu schleichen. Oder fühlte sie sich in ihrer Verkleidung so sicher, dass sie eine Untersuchung nicht fürchtete?
Harquis bestärkte ihn in dieser Annahme.
»Es ist fast eine Torheit zu nennen, auch diese Jüdin im Verdachte der Täterschaft zu halten«, sagte er; »wenn dies Mädchen mit der Begum von Dschansi identisch sein soll, so will ich zugeben, dass es auch meine Enkelin in England gewesen sein kann, die in der Nacht durch das Lager geschlichen ist. Doch nun wieder zu der Toten, ihr Blut komme auf das Haupt des Mörders! Lord, ich brauche Ihre Angaben.«
»Es ist kein Blut vergossen«, bemerkte Westerly etwas spöttisch.
»Hm! Wohl Ihnen, wenn Sie bei so etwas noch Humor haben! Dann habe ich mich allerdings auch versprochen, als ich ›Mörder‹ sagte. Ich meinte Mörderin.«
Westerly konnte nichts weiter sagen, als dass er ein schwaches Seufzen gehört habe, gleich, als ihm seine Wirtin verlassen hatte.
Dann blickte sich der Colonel im Zimmer um, ob etwas Verdächtiges zu bemerken sei, und trat auch an die geöffnete Kommode heran.
»Was ist das?«, rief er plötzlich erstaunt, nahm das Bild vom Lehnstuhl auf, sah erst dieses und dann den Lord an.
»Ah so, das ist Ihr Eigentum«, murmelte er, »aber dann müssen Sie doch auch hier gewesen sein, Sie hatten es doch vorhin nicht in der Hand, als Sie hereinkamen.«
Westerly warf einen Blick auf das Bild und erbleichte.
»Zei — zeigen Sie mir — das — das kommt — mir — so bekannt vor«, stotterte er.
Er nahm es, seine Hand zitterte wie Espenlaub. Er sah nicht, wie der Colonel ihn erst scharf anblickte und dann plötzlich emsig in den offenen Schubläden zu wühlen begann, wo er beschriebene Karten, Briefe und Bilderchen zum Vorschein brachte. Westerlys Blick ruhte mit wahrem Entsetzen auf dem Bilde in seiner Hand.
»Den — den kenne ich«, stammelte er unhörbar, dann traf ein Blick, in dem halber Wahnsinn lag, die Tote.
Der Colonel schob mit einem Ruck die Schublade zu, schloss sie ab und steckte den Schlüssel zu sich.
»Das glaube ich auch. So, wie er auf dem Bilde ist, kannte ich ihn: ein frischer lebenslustiger Leutnant, ein treuer Freund, ein wackerer Streiter im Kampfe. Ich war Kadett damals und stand in seinem Bataillon. Mylord, es ist Ihr Vater! Sie waren damals noch nicht geboren.«
Fast verwundert musterte er dann den noch immer furchtbar zitternden Mann.
»Wie? Sollten Sie noch mehr wissen?«
Er bemerkte, wie Westerlys scheuer Blick abermals die Tote streifte.
»Ich glaube fast, Sie wissen alles, obgleich mich das sehr wundert. Ja, Mylord«, der Colonel ging zu der Toten und ergriff ihre kalte Hand, »ich will Ihnen offen sagen, was bei Durchmusterung des Inhalts der Kommodenschublade in mir zur Überzeugung geworden ist, — Sie können nur eine Ahnung davon haben. Mögen Sie denken, was Sie wollen, mag mich die Welt verurteilen und verdammen, weder Ihren Vater noch diese Frau trifft eine Schuld. Ihr junger Vater war zwar schon hier in Indien mit einer Engländerin verheiratet, aber es war keine glückliche Ehe, und so konnte man es ihm nicht verdenken, wenn sein Herz sich nebenbei ein anderes Wesen aussuchte, an welches er sich schmiegte. Hier, diese Inderin, jetzt eine alte Frau, war es gewesen, mit der sich einst Ihr Vater in Liebe begegnete. Wir alle wussten darum, dass sie wie Mann und Frau zusammen lebten, aber wir alle hielten dieses Liebesverhältnis wie unser eigenes geheim. Ich selbst besorgte oft Briefe hin und her, ich wurde sehr vertraut damit, und, weiß es Gott, es war etwas Anderes, als nur eine Liebelei mit einer Inderin, wie sie hier bei Offizieren an der Tagesordnung ist, es war eine heilige Ehe, nur nicht vom Priester gesegnet. Dieser Ehe entsprang kein Kind, soviel wir wissen. Später, als Lord Westerly nach England gegangen war, heiratete sie einen Inder, der immer treu zu ihr gehalten hatte, den Gärtner vom Gouvernementsgarten zu Delhi. Diesem schenkte sie einen Sohn, der von christlichen Missionaren Abel getauft wurde. Und das ist die furchtbare Tragödie, dass diese Frau, wie ihr Sohn Abel, durch Mörderhände eines unnatürlichen Todes gestorben ist. Fluch ihrem Mörder!«
Westerlys Gesicht nahm mehr und mehr den Ausdruck eines Wahnsinnigen an.
»Meine Mutter!«, hauchten seine blutleeren Lippen.
»War es auch nicht Ihre leibliche Mutter, so dürfen Sie ihrer doch als Mutter gedenken, denn sie war Ihrem Vater wirklich eine Gattin. Ihre Mutter, Lady Westerly, starb bei Ihrer Geburt. Als Ihr Vater nach England ging, zögerte er nicht, Sie vorläufig der Obhut seiner Geliebten anzuvertrauen. Sie pflegte Sie wie ihr eigenes Kind. Später kamen Sie in eine militärische Erziehungsanstalt, Sie sollten von Jugend auf für den indischen Dienst herangebildet werden. Mylord, nehmen Sie die Hand der Toten, bitten Sie für die Seele derer, die Ihren Vater treu liebte, und die auch Sie liebte, obgleich Sie das Kind einer anderen waren, und versuchen Sie auch für den bei Gott zu bitten, der sie ermordet hat — ich kann es nicht. Nehmen Sie ihre Hand! Aber was ist Ihnen denn, Lord?«, rief der Colonel erschrocken.
Westerly begann plötzlich wie ein Trunkener zu taumeln, seine Augen wurden gläsern, er griff mit den Händen in der Luft umher und wäre gestürzt, wenn Harquis ihn nicht aufgefangen hätte.
»Bringen — Sie mich — fort von hier — fort — fort — fort — ich werde wahnsinnig!«, lispelte er erst, bis er fast zu toben begann. »Ich werde wahnsinnig — wahnsinnig — fort — — fort — dies wäre meine Mutter? Das ist nicht wahr! Das ist eine Lüge! Ich kenne das Weib nicht! Fort — bringen Sie mich fort!«
»Auch das noch!«, seufzte der Colonel und ließ den ganz Gebrochenen dann neben der Toten auf den Diwan gleiten, doch wie von einer Natter gebissen schnellte dieser von dort auf.
»Das ist nicht wahr!«, schrie er. »Das ist nicht meine Mutter! — Die Begum — — die Begum —«
Harquis konnte ihm nicht mehr beistehen.
Dort, wo das Lager sich befand, erscholl ein tausendstimmiger, gellender Schrei.
Einen Augenblick stand der Colonel erstarrt da, dann stürzte er dem Lager zu, nicht anders glaubend, als das Kriegsgeschrei der Feinde gehört zu haben, obgleich es sich nicht wiederholte. Jetzt erklang nur noch ein dumpfes Murmeln.
In der Stube saß Westerly im Lehnstuhl und stierte mit gläsernen Augen nach den roten Flecken am Halse der Toten. Dann tastete er an seiner Stirn herum, wo sich die Narbe vom Treppensturz befand.
»Kain«, murmelte er tonlos, »Kain, wo ist dein Bruder Abel? Du hast ihn erschlagen, das Zeichen des Brudermörders ist auf deiner Stirn, und dort, dort liegt deine Mutter, das Weib, das dich unter Schmerzen geboren hat, der du an der Brust gelegen hast. Auch deine Mutter hast du erschlagen, Kain! Siehst du die roten Stellen am Halse? Sie rühren von deinen Händen her, du hast sie erwürgt, Kain! Wehe, wehe, wenn das Gericht kommen wird!«
General Wilson, der Höchstkommandierende der am schwarzen See lagernden Truppen, bereute es bald, den Befehl gegeben zu haben, alle im Lager befindlichen Frauen und Mädchen sollten sich versammeln, um von ihm selbst verhört zu werden. Der erste Zorn darüber, dass die eingeborenen Soldaten durch den nächtlichen Besuch der Begum verschüchtert worden waren, hatte ihn dazu veranlasst, alles zu versuchen, dieses Weibes habhaft zu werden.
Aber die weiblichen Mitglieder des Lagers waren meist die Frauen und Töchter der Offiziere, auch an sie war der Befehl ergangen, doch es war ja lächerlich, diese mit der Begum in Verbindung zu bringen.
Schon waren alle am Ufer des schwarzen Sees versammelt, und Wilson musste aus seinem Lager zu ihnen hinüberreiten. Den Befehl einfach zurücknehmen durfte er nicht, es war auch schon zu spät, und so fand er schnell einen Ausweg.
Es wurde der Berufung eben ein anderer Grund untergeschoben.
Die Damen waren meist in Begleitung der dienstfreien Männer gekommen, um sie herum stand ein Kreis alter Soldaten, welche nicht auf Wache waren.
Höflich grüßend trat der General unter die ihn umringenden Damen.
»Ladies«, begann er, »mein Wunsch, Sie hier versammelt zu sehen, hat natürlich nicht den Grund, dass ich glaube, eine der Damen habe sich den Scherz erlaubt, ihre kriegerische Tüchtigkeit an einigen Posten zu beweisen. Es könnte aber leicht der Fall sein, dass mir von ihnen die eine oder die andere Dame Mitteilung macht...«
Er wurde unterbrochen.
Ein Soldat brüllte plötzlich laut auf, andere nach ihm, man folgte den Blicken und den ausgestreckten Armen der Schreier und sah mitten über dem Spiegel des Sees einen großen, dunklen Gegenstand, wie von einem Kanonenrohr ausgespien, in die Höhe fliegen, etwa zehn Meter hoch. Dann fiel er zurück, tauchte unter, kam wieder in die Höhe und schwamm nun im Wasser, nur etwas heraussehend, wie der Haifisch mit seiner Rückenflosse.
Man glaubte nicht anders, als der See beherberge in der Tiefe bis jetzt unbekannte Ungeheuer und ein solches sei nun an der Oberfläche erschienen, über dieselbe hinausgeschnellt und könne den Rückweg nicht finden.
Niemand konnte einen Ruf des Erstaunens unterdrücken. Dieser war es, welcher den Colonel Harquis bewog, das Opfer seiner Gefühle mitleidlos zu verlassen.
»Ein fliegender Fisch!«, brach das Erstaunen bei einem zuerst Bahn.
»Ein Meerungeheuer!«, rief ein zweiter.
»Ein vorsintflutliches Ungetüm!«, bemerkte ein dritter ebenso geistreich wie sein Vorgänger.
Vergessen war die Versammlung der Damen, vergessen die Begum von Dschansi und alles andere, die Aufmerksamkeit wandte sich nur der riesigen Flosse zu, die noch immer aus dem Wasser hervorsah.
Da konnte man von keiner Täuschung sprechen. Man hatte das unbekannte, dicke Tier aus dem Wasser springen, die meisten es aber auch wieder hinabfallen sehen, und es schwamm noch immer, der obere Teil allen sichtbar, darin umher. Eine Flossenbewegung konnte nicht wahrgenommen werden, das Phänomen schwamm überhaupt nicht, es lag still, nur dass es sich um sich selbst drehte.
»Es versucht sich durch schraubenartige Bewegungen hinunterzuarbeiten, aber es gelingt ihm nicht, weil die Dichtigkeit der oberen Schicht des Wassers zu gering ist, als dass sie der schraubenartigen Schwanzflosse genügenden Widerstand bieten könnte«, meinte ein Offizier der Artillerie.
»Sie scheinen diese schraubenartigen Tiere schon genauer zu kennen!«, rief General Wilson. »Los denn, dort liegt ein Boot! Wer von den unverheirateten Offizieren hat Lust, dieses schraubenartige Ungeheuer heranzuholen, wenn es sich nicht hinunterschrauben kann? Nicht schießen, meine Herren!«
Die letzte Aufforderung senkte die Gewehre, die schon nach dem fraglichen Gegenstand zielten, auf die erstere hin sprangen ebensoviel junge Offiziere vor, wie anwesend waren, denn welcher Offizier ließe sich, noch dazu in Gegenwart von Damen, eine Gelegenheit entgehen, eine Probe seines Mutes zu geben!
Schnell war das Boot mit einigen Gewehren, Seilen und Stangen ausgerüstet, von raschen Ruderschlägen getrieben schoss es über das Wasser dem fraglichen Tiere zu.
Dieses machte keine Miene zur Flucht, es bewegte sich nicht, und selbst die Drehungen hatten aufgehört. Schnell war der Plan gefasst, ihm eine Schlinge umzuwerfen. Das erste Mal fiel das schwere Tau hart darauf, ohne dass die Schlinge gefasst hatte, es gab einen hohlen Ton, aber die Flucht ergriff das Tier doch noch nicht.
»Ich kalkuliere, es ist tot!«, meinte ein Offizier.
»Das wäre freilich jammerschade!«
Beim zweiten Male gelang der Wurf mit der Schlinge, die Männer ruderten an und zogen das Ungeheuer nach sich.
»Verdammt leicht!«, dachten alle.
Die Zuschauer traten doch etwas ängstlich zurück, als die Offiziere Miene machten, das Tier an das Ufer zu ziehen. Wer wusste, was für eine ungeheuerliche Gestalt eines Fisches zum Vorschein kam, vielleicht mit riesigen Fangarmen, tellergroßen Augen und den fürchterlichsten Reißzähnen.
Wunderbar, wie federleicht das Ding den Uferrand hinaufrollte und dann auf dem Lande lag wie eine Art von Tonne, ganz glatt, ohne irgend eine Spur von Gliedern.
»Kein Zweifel, es ist eine Abart der Pikromagophagen, deren Abdrücke man jetzt noch in Kreidefelsen findet, nur dass hier die Saugarme fehlen, mit denen sie sich fortbewegen«, meinte einer, der mit der vorsintflutlichen Fauna der Erde vertraut war.
Einige Offiziere waren dicht herangetreten und befühlten es.
»Vorsicht, meine Herren, eine Berührung kann ein abscheuliches Brennen und Jucken hervorrufen!«
»Die Haut fühlt sich wie Gummi an!«
»Oder wie Guttapercha!«
»'s ist gerade wie ein Fass aus Gummi!«
Plötzlich stoben die Männer auseinander, denn das scheinbar tote Tier hatte ein unheimliches Brummen ausgestoßen.
»Es lebt! Es lebt!«
Da, o Wunder, sprang die obere Stelle der Hautoberfläche plötzlich wie ein Deckel empor, etwas Rotes, Haariges kam zum Vorschein, und dann folgte zum unermesslichen Staunen aller ein menschliches Gesicht. Es war wirklich und blieb ein rothaariger Menschenkopf.
»Guten Morgen, Ladies und Gentlemen — oder ist es schon Abend? Wie hoch ist sie denn gehuppt?«, fragte der rote Kopf in gemütlichem Tone und schaute sich im Kreise um.
General Wilson fand zuerst seine Fassung.
»He, ist das nicht ein Mensch?«, fragte er.
»Nu, natürlich bin ich einer.«
»Aber woher um Gottes willen kommst du denn?«
Der Mann deutete mit dem Daumen über die Schulter nach dem See.
»Von dorther.«
»Aus dem See?«
»Freilich.«
Das Staunen verringerte sich nicht bei dieser Erklärung, es wuchs vielmehr.
»Wie lange warst du denn unterm Wasser?«
»Nur so etliche Minuten.«
»Wir verstehen nicht!«
»Nu lassen Sie mich gefälligst einige Fragen stellen, dieweil ich keine Zeit zu verlieren habe. Ist hier ein General Nicholson?«
»Noch nicht, vielleicht trifft er noch hier ein. Ist deine Botschaft an ihn gerichtet, du Abgesandter des Wassergottes?«
»Mit dem Wassergott habe ich gar nischt zu tun, ich müsste gerade selbst einer sein. Oder ist nicht sonst so'n General zufälligerweise in der Nähe?«
»Es steht einer vor dir: General Wilson.«
»Sehr angenehm, August Hefter, Strumpfwirker«, sagte der Mann und legte zwei Finger dahin, wo die Mütze sitzen sollte. »Na, da komme ich ja gleich an den Richtigen. Ich komme nämlich direktemang aus dem sogenannten Felsentempel der Göttin Kali, der da oben im Pandschab liegt, und da drinnen sind so ungefähr hundert Männer und Frauen und Kinder, die alle von den Thugs abgeschlachtet werden sollen, wenn sie's nicht schon sind. Das ist der erste Teil meiner Berichterstattung.«
Man glaubte es mit einem nicht recht Geistesnormalen zu tun zu haben. Aber schon seine Erscheinung war so wunderbar.
»Woher kommst du?«, fragte Lord Canning.
»Aus dem Felsentempel der Göttin Kali, wo die Thugs sein tun.«
»Ah, Kali!«
»Ja, richtig, Kali heißt das Frauenzimmer. Also die Gefangenen, welche früher in Delhi gewesen sind, sind nun von den Thugs dahin gebracht worden, und meine Wenigkeit kam später auch noch dazu. Da wurden wir nun bei Wasser und Brot gehalten, und schließlich sollten wir auch noch für die Kali geschlachtet werden, ob wir wollten oder nicht. Mit einem Male kam Herr Reihenfels, das ist mein Herr, — kennt jemand unter Ihnen den Mister Oskar Reihenfels?«
»Ja, ich kenne ihn. Nun? Erzähle schnell, mir scheint, eine jede Minute ist kostbar.«
»Na, der kam also, um uns zu retten...«
»Er hatte sich in den Tempel eingeschlichen?«
»Ja, er war als Inder verkleidet, und eine indische Bajadere — Makalli, glaube ich, hieß wohl das Frauenzimmer — hatte ihn hineingeführt. Sie wollte einen schottischen Offizier retten, Mac Sulivan, aber der wollte nicht...«
»Mac Sulivan!«, erklang es fast aus aller Mund.
»Ja, so hieß er. Ich kann Ihnen auch noch andere Namen nennen, die ich gehört habe.«
Wenn nicht Canning zur Eile angetrieben hätte, würde August noch sehr lange und ausführlich erzählt haben. Schließlich hätte man alles erfahren, aber man würde ihm diese schier unmöglichen Begebenheiten sicher nicht geglaubt haben, wenn nicht August in Person den Beweis geliefert hätte, dass er wirklich in dieser Gummitonne den Wasserfall hinabgefahren und dann den Weg von fast hundert Meilen in einem unterirdischen Wasserlauf zurückgelegt hätte.
»Und nun noch eins«, schloss August endlich. »Wie hoch ist denn der Gummiballon übers Wasser gehuppt?«
»Zehn Meter auf jeden Fall.«
»Hui, das ist hoch.«
»Warum sahst du nicht gleich oben heraus?«
»Ja, das war eine fatale Geschichte. Die Tonne drehte sich nämlich in der Luft um, ich kam auf den Kopf zu stehen, und weiß der Deixel, ich konnte nicht wieder auf die Beine kommen. Offen machen konnte ich doch unten nicht, sonstens wäre ja das ganze Wasser zu mich ins Fass gelaufen gekommen.«
So gern August auch noch von seiner abenteuerlichen Fahrt erzählt hätte, augenblicklich fand er keine Zuhörer, denn alle beschäftigten sich mit dem eben Gehörten. Ihre Kameraden, Frauen und Kinder waren in der Burg Malangher, im Tempel der Thugs, sie sollten geopfert werden, wenn sie es nicht schon waren oder wenn es dem mutigen Reihenfels nicht gelungen war, sie zu retten!
»Auf denn«, erscholl der Ruf durch das ganze Lager, »auf nach Malangher! Zur Rettung oder zur Rache!«
Vergessen war die Begum von Dschansi, vergessen, warum die Damen sich hier versammelt hatten.
Diese Vergessenheit machte sich der alte Sedrack zunutze, er verduftete, wie man sagt, ohne dass jemand ihn aufgehalten hätte, ja, es gelang ihm sogar in der allgemeinen Aufregung, sich durch die Vorpostenkette zu schleichen. Er dachte nicht an die Mitnahme seines Esels und seiner Habseligkeiten, nur fort von diesem Ort, wo er bald in die unangenehmste Lage gekommen wäre, nämlich als Spion gefangen zu werden, und ebenso wenig dachte er daran das Mädchen mitzunehmen.
Dieses hatte sich dicht an das Fass gedrängt und lauschte der Erzählung Augusts mit der gespanntesten Aufmerksamkeit. Nicht genug damit, Mirja mischte sich dann auch unter die Offiziere, suchte in die Nähe von Lord Canning zu kommen, und kein Wort ging ihren Ohren verloren. Niemand achtete jetzt auch auf die Jüdin, die Aufregung war eine zu gewaltige.
»Sie können nicht mit«, sagte Wilson zu Canning, »Ihre Anwesenheit hier ist unbedingt nötig.«
»Ich weiß es«, sagte Canning, »aber Franziska!«
August hatte nicht sagen können, ob Franziska mit unter den Gefangenen gewesen war. Er vermutete es aber.
»Ihr Bruder ist bei ihr.«
»Was kann er helfen, ein einziger Mann? Sie haben keine Waffen — tausend Mann gegen sechzig — die Bajadere sagte selbst, es gebe keine Rettung!«
»Lord, bedenken Sie, Sie kämen auch zu spät. Es handelt sich nur noch um Aushebung dieses Würgernestes und um Rache.«
»Wahrscheinlich, wahrscheinlich nur! Nehmen Sie mir nicht allen Trost! O Gott, was soll ich tun!«
»Wenn geteiltes Leid halbes Leid ist, so sehen Sie um sich, sehen Sie diese niedergeschlagenen oder verzweifelten Gesichter. Mancher weiß den, den er liebt, ebenfalls in diesem Tempel, auch ihn glaubt er schon tot.«
»Wilson, Sie sind ein schlechter Trostspender: Franziska! Franziska!«
»Überlassen Sie alles unseren jungen Offizieren, die ich schnell abteilen werde, vertrauen Sie sich einem von ihnen an, und er wird handeln, als wäre er Sie selbst. Sie können nicht mit, Sie müssen hier bleiben.«
»Ich weiß es.«
Canning sah sich um. Die Offiziere ordneten sich. Wilson drückte sich noch einmal mit kurzen Worten aus, um was es sich handele. Er wählte zehn Offiziere, welche fünfhundert englische Dragoner im schnellsten Ritt nach Malangher führen sollten. Wie sie hineinkämen, das bliebe ihnen überlassen.
Die ausgewählten Offiziere jauchzten vor Freude fast auf, dass sie ihre Kameraden retten oder rächen durften, sie schworen allen Thugs, die sie fanden, unerbittlichen Tod. Die, welche von der Wahl nicht getroffen waren, fühlten sich zurückgesetzt, bis sie einsahen, dass nicht alle das Lager verlassen konnten.
Niedergeschlagen stand ein junger Offizier zur Seite, an seinem Bandalier hing kein Degen. Canning trat zu ihm.
»Leutnant Russell«, redete er ihn an und reichte ihm die Hand, »wollen Sie sich dem Zuge anschließen?«
Verwundert schaute der Leutnant auf.
»Und ob ich will, Exzellenz! Aber Sie wissen vielleicht noch nicht, ich bin nicht gerade Gefangener, aber...«
»Ich weiß, ich weiß. Wer kann dafür, wenn man überlistet wird? Wollen Sie den Zug mitmachen?«
»General Wilson...«
»Ist damit einverstanden.«
»Ich darf meinen Degen nicht...«
»Ich gebe Ihnen den meinen, Sie sollen ihn für mich führen. Hören Sie, unter den Gefangenen befindet sich ein Mädchen, es heißt Franziska Reihenfels und ist die Schwester desjenigen, der sich in den Tempel eingeschlichen hat. Franziska ist meine Braut. Vertreten Sie meine Stelle, führen Sie meinen Degen, wenn es ihre Rettung gilt, und — bringen Sie sie mir zurück. Russell, bringen Sie mir Franziska zurück!«
Der Leutnant sah in den Augen des Gouverneurs Tränen glänzen. Er drückte ihm leidenschaftlich die Hand.
»Und wenn mir dies nicht möglich ist, dann soll Ihr Degen in meiner Hand Ihre Braut rächen«, rief er begeistert.
»Verhüte Gott, dass dies nötig ist! Diesen Auftrag gebe ich Ihnen auch nicht, das überlasse ich Ihnen und Ihrem Gewissen. Eilen Sie, eilen Sie! Die Dragoner sitzen schon auf. Werfen Sie sich auf das erste Pferd und jagen Sie nach meinem Zelt im Lager der Sikhs. Hier, mein Siegelring, zeigen Sie ihn der Wache vor. Im Zelt hängt mein Degen, er wird Ihnen nicht zu schwer sein, auf dem Tisch liegen die Sporen, lassen Sie sich den schwarzen Hengst geben, er ist der schnellste.«
Russell sprang schon nach dem ersten an einem Zelt angepflockten Pferd, wechselte mit der Wache einige Worte und jagte davon. Die fünfhundert Dragoner sammelten sich, wurden geordnet, und die ausgewählten Offiziere stellten sich außer den Führern der Schwadron an die Spitze.
August, der seitdem unbeachtet geblieben war, machte jetzt seine Person geltend.
»Nun, Herr General«, wandte er sich an Wilson, »ich dächte, man könnte mich auch ganz gut bei diesem Spazierritt verwenden.«
»Dich, wozu?«
»Na, ich bin doch eigentlich der Mann der ganzen Mache!«, entgegnete August selbstbewusst.
»Das ist allerdings wahr, du hast uns wenigstens die Nachricht gebracht, für die wir dir sehr dankbar sind. Deine Belohnung soll dir auch zuteil werden. Aber den Weg nach Malangher wissen die Offiziere allein zu finden.«
»Nicht beleidigend werden, Herr General, dies gib's nicht bei mich. Ich denke, ich kann dabei ganz nützlich werden. Wie wär's so zum Beispiel, wenn ich das Fass mitnehme und es dann, wenn wir in der Burg ausgerichtet haben, was sich erreichen lässt, mit einem Briefe wieder in den Wasserfall hineinschmeiße? Dann wäre in ein paar Minuten gleich Nachricht da. Was, he? Der Gedanke ist nicht so ohne.«
»Wahrhaftig, da hast du einen glücklichen Gedanken!«, rief Wilson erfreut. »Aber das große Fass würde beim Reiten sehr hinderlich sein.«
»Nicht im Geringsten! Passen Sie mal auf!«
Er drückte oben auf den Deckel, und das Fass klappte plötzlich platt zusammen.
»Das ist herrlich, so geht's!«
»O, ich kenne noch mehr, was von Nutzen sein kann. So zum Beispiel hat Mister Reihenfels eine Schnur gelegt, an der man sich nach dem Wasserfall finden kann, was nämlich sonstens ganz unmöglich ist, weil man sich egal verlaufen würde.«
»Gut, du gehst mit! Kannst du reiten?«
»Nee.«
»Nicht? Ja, wie denn?«
»Ich setze mich einfach auf den Buckel von das Tier und halte mich mit Armen und Beinen krampfhaft fest.«
Gedacht, getan! Eine Minute später brauste die Schwadron unter Hurrarufen und den Segenswünschen der Zurückbleibenden davon, hinterher August, der wie ein großer Affe auf dem nur mit einer Decke belegten Rücken des Pferdes saß.
Auf seinem Rücken wieder war das zu einer Scheibe zusammengeschlagene Fass befestigt.
Kurze Zeit danach sprengte ein schwarzes Ross dem schon verschwindenden Zuge nach, und mit Erstaunen erkannte man in dem Reiter Leutnant Russell.
»Ich habe ihn als meinen Ersatzmann gewählt«, erklärte Canning, »er soll für mich handeln.«
Eine berittene Ordonnanz kam von der Vorpostenkette heran und machte an Wilson eine Meldung. Er wurde von diesem an Canning verwiesen.
»Die Vorposten haben einen Fakir angehalten, Exzellenz«, meldete er, »der Mann fragt nach Lord Canning.«
»Einen Fakir?«, fragte Canning kopfschüttelnd. »Hat er nicht gesagt, was erwill?«
»Nichts, als dass er Euer Exzellenz sprechen will.«
»So lass ihn hierher bringen und sorge dafür, dass er nicht spioniert und dann die Flucht ergreift.«
Die Ordonnanz schien mühsam ein Lächeln zu unterdrücken, als er sein Pferd wendete, um zurückzugaloppieren.
Dann sah man vier Soldaten mit geschultertem Gewehr ankommen, sie gingen merkwürdig langsam, und seltsam war es, dass man den nicht erblickte, den sie begleiten sollten. Anscheinend schlenderten sie nur so gemütlich einher, und beim Näherkommen bemerkte man auch, dass sie recht grinsende Gesichter zeigten.
»Ja, was ist denn das für eine merkwürdige Missgeburt?«, rief plötzlich ein Offizier ans. Jetzt endlich bemerkte man den Fakir. Einige wurden von Staunen, andere von Ekel ergriffen.
Zwischen den Soldaten schleppte sich ein Mann hin, der mit dem Bauche, auch noch mit dem unteren Teile der Brust platt auf der Erde lag und statt der Beine sich der Hände zur Fortbewegung bediente. Die Beine schleppte er langausgestreckt hintennach, oder sie waren überhaupt keine Beine mehr zu nennen, sondern nur mit Haut überzogene Knochen. Kein Lot Fleisch war mehr daran.
Im Gegensatz dazu waren die Arme ungeheuer stark entwickelt, ebenso war die Brust schön gebaut und gewölbt. Das Gesicht war ganz das eines Frosches; der Mund reichte fast von einem bis zum anderen Ohr, und die Augen quollen hervor. Von Haaren war keine Spur zu sehen.
Der nur mit einem Lederschurz bekleidete Mann stützte immer die Hände vor sich auf den Boden, stemmte sich etwas in die Höhe und zog sich so vorwärts. Konnte die Hand eine Wurzel erreichen, so zog er sich an dieser über den Erdboden hin, und dann ging es etwas schneller, aber natürlich immer noch langsam genug, fast schneckenartig.
Man konnte nicht urteilen, zu welcher Rasse dieses Individuum gehörte, dem Gesichtsausdruck nach überhaupt gar nicht. Die Hautfarbe war nicht an der Sonne gebräunt, sie wäre vielleicht weiß gewesen, aber der Körper war mit Staub und Schmutz bedeckt.
»Dies ist der Fakir?«, fragte Canning, nach dem er dieses Individuum lange genug betrachtet hatte.
Er übernahm die Verantwortung selbst.
»Ich bin der, welcher dich sprechen wollte, wenn du Lord John Canning, der Generalgouverneur von Indien bist«, kam es in einem Tone, der nur als quakend bezeichnet werden kann, aus dem breiten Munde. Dabei zeigte sich, dass er keinen einzigen Zahn besaß.
»Der bin ich. Beantworte erst meine Fragen, denn du bist fremd in diesem kriegerischen Lager. Bist du ein Fakir?«
»Nein, Herr, ich bin so geboren, wie du mich hier siehst«, quakte es aus dem Maul. Canning hatte wie die Übrigen geglaubt, es mit einem Fakir zu tun zu haben, der einst das Gelübde getan hatte, nie mehr seine Füße zu gebrauchen, sodass diese nun völlig verwelkt und vertrocknet waren.
Man begegnet in Indien manchmal Fakiren, welche ein solches Gelübde geleistet und gehalten haben; aber hier war ein ganz merkwürdiger Fall an sich vorhanden, denn der Mensch hatte das Aussehen eines Frosches, dessen Hinterbeine gelähmt und abgestorben waren, ebenso wie der Kopf der eines Frosches war.
»Du bist so geboren?«
»Ja, Herr, meine Mutter erschrak, als sie mit mir ging, vor einem gelähmten Frosch.«
»Bist du ein Inder?«
»Ich weiß nicht, Herr.«
»Woher kommst du?«
»Von da, wo ich wohne.«
»Wo wohnst du?«
»Ich weiß nicht, Herr.«
Die Umstehenden sahen sich erstaunt an. Ein Scherz von Seiten dieses Unglücklichen lag wohl nicht vor. Man hatte es eben nochmals mit einem Rätsel zu tun, und es schien nicht, als ob hier die Lösung wieder so bald folgen sollte, wie vorhin bei dem vermeintlichen Ungeheuer des schwarzen Sees.
Auch konnte man bei diesem unglücklichen Geschöpf vermuten, dass der Verstand nicht normal war, ein Grund mehr, ihm gegenüber rücksichtsvoll zu sein.
Canning wurde von Wilson gebeten, weiter zu forschen.
»Wie heißt du?«
»Mein Vater nennt mich Kulwa (*).«
(*) Frosch
»Wer ist dein Vater?«
»Das, was sein Name sagt — ein Phangil(*).«
(*) Maulwurf.
»Wo ist dein Vater?«
»In unserer Wohnung.«
»Wo lebt ihr denn nur?«
»Herr, das weiß ich nicht, aber du sollst es erfahren.«
»Ich«
»Ja, wenn du willig bist.«
Canning wusste nicht, was er davon denken sollte. Erst wollte er die Neugier der Umstehenden befriedigen.
»Und wovon lebt ihr?«
»Der Maulwurf lebt von Würmern, der Frosch von Fliegen.«
»Hm, keine appetitliche Nahrung. Also lebst du von Fliegen?«
»Ich ziehe Fische vor.«
Dabei schnalzte die Zunge in dem breiten Maule.
»Woher kennst du denn meinen Namen?«
»Meine Frau sagte ihn mir, auch, wo du zu finden bist, doch lange habe ich nach dir gesucht.«
»Wie, du hast eine Frau?«
Der Frosch ließ seine wässerigen, großen Augen im Kreise umherschweifen, ohne den Kopf dabei zu bewegen, schien besonders jede Dame zu mustern, schlug sie dann wie entzückt zum Himmel auf und sagte, eine Hand aufs Herz legend:
»Ob ich eine Frau habe? O!«
»Die möchte ich sehen«, lachte ein Offizier.
»Möchtest du? Das glaube ich. Sie ist schöner als irgendeine hier, und so jung, so jung!«
»Na na, Mister Kulwa! Wie alt bist du denn?«
»Mein Vater sagt, ich sei schon über vierhundert Jahre alt.«
»Puh, das ist alt! Und wie lange bist du schon verheiratet?«
»Die Ströme sind seit meiner Heirat erst achtmal gestiegen.«
Das sollte also acht Tage bedeuten, denn die Ströme Indiens schwellen jeden Tag einmal an.
»Also jung verheiratet. Wie heißt denn deine Gemahlin?«
»Ich weiß nicht.«
Lord Canning übernahm wieder das Verhör.
»Warum hast du nach mir gefragt?«
»Ich werde zu dir geschickt.«
»Von wem?«
»Von meiner Frau.«
»Kennt diese mich denn?«
»Sehr gut, und du kennst sie.«
»Ich?«, rief Canning fast erschrocken.
»Ja, du kennst sie sehr gut.«
»Und was will sie von mir?«
»Sie schickt dir etwas — hier das.«
Der Frosch öffnete sein Maul, griff mit der Hand in die Backentasche und brachte eine kleine, silberne Kapsel hervor, die er Canning hinhielt.
»Dies schickt dir meine Frau.«
Es war seltsam, mit welchem Nachdruck er immer das ›meine Frau‹ betonte, es lag darin etwas wie prahlerischer Stolz.
Canning musste erst eine Anwandlung von Widerwillen bekämpfen, ehe er die Kapsel nahm, welche in dem Maule dieses Froschmenschen aufbewahrt worden war. Aber seine Spannung war aufs höchste gestiegen, hier lag abermals ein Rätsel vor.
»Folge ihr, folge ihr, Lord Canning«, rief oder quakte der Froschmensch plötzlich laut, duckte sich, seine Muskeln schwollen wie Berge an, eine eigentümliche Bewegung mit dem Unterleib, und er schnellte in einem ungeheuren Satz über die ihn Umstehenden hinweg, noch einige Sprünge, jeder von vier Meter Länge, und er fiel plätschernd in das Wasser des schwarzen Sees.
Die Erstarrung, welche die Zuschauer ergriff, lässt sich denken. Wortlos blickten sie nach der Stelle der Oberfläche des Sees, wo dieses zweite Phänomen des heutigen Tages verschwunden war.
Auf dem Wasser trieben zitternd große Kreise auseinander, aber der Kopf dieses menschlichen Ungeheuers tauchte nicht wieder auf.
Minute nach Minute verstrich, ohne dass jemand fähig war, sich zu rühren oder zu sprechen, doch nichts erschien.
»Ja, wo ist denn der Kerl geblieben?«, brach endlich ein Offizier dieses drückende Schweigen.
Man sah sich an, man blickte nach der Stelle, man überflog den See mit den Augen, so weit man konnte, aber der Froschmensch tauchte nicht wieder auf.
»Träume oder wache ich?«, flüsterte jemand.
»Nein, nein, es ist Wirklichkeit! Wir alle haben doch dasselbe gesehen. Nicht wahr?«
Man bejahte, und jetzt kam wieder Leben in die Erstarrten. Man erging sich in allerhand Vermutungen — es waren eben nur Vermutungen, sie brachten das rätselhafte Geschöpf nicht wieder.
»Und da sage jemand, es passierten heutzutage keine Wunder mehr! Das ist heute schon das zweite.«
»Das erste hat sich erklärt.«
»Vielleicht finden wir auch noch die Lösung des zweiten.«
»Aber die Kapsel, Lord Canning, die Kapsel!«, rief Wilson.
Richtig, die Kapsel hatte man in der ersten Überraschung ganz vergessen! Vielleicht konnte sie Aufklärung geben.
Sie besaß die Gestalt einer Kugel, war aus Silber, und um sie herum lief eine Ritze, also musste sie hohl sein und geöffnet werden können. Canning brauchte nicht lange tastend zu drücken, so sprang sie auf, und er erblickte in dem Hohlraum ein Zettelchen.
Er faltete es auseinander, las die gekritzelte Schrift, fuhr sich mit der Hand über die Augen und blickte verwirrt im Kreise umher.
Alles sah gespannt nach ihm hin. Man wusste nicht, ob die Röte, die plötzlich in seinem Gesicht aufstieg, der Freude oder Sorge entsprang.
»Wie ist mir denn? War hier nicht eben ein alter Jude?«, fragte er.
Sedrack war nicht mehr zu sehen.
»Er scheint sich während dieser Szenen unsichtbar gemacht zu haben«, entgegnete Colonel Harquis. »Befehlen Exzellenz, dass ich ihn suchen lasse?«
»Nein, nein, es war auch ein Mädchen, ganz verhüllt, bei ihm.«
»Das war seine Tochter, Exzellenz. Diese Juden hielten sich hier auf, um Handel anzuknüpfen.«
»Wo waren sie untergebracht?«
»An der äußersten Grenze der Vorpostenkette.«
»Es war seine Tochter?«
»Jawohl, Exzellenz. Der alte hieß Sedrack, seine Tochter Mirja.«
»Mirja, Mirja«, rief Canning; »aber wo ist sie? Es ist nicht möglich!«
Es konnte festgestellt werden, dass Sedrack schon verschwunden war, als man sich mit der Gummitonne beschäftigte; das vermummte Mädchen dagegen war noch lange inmitten der Gesellschaft gesehen worden. Einige der Offiziere und der Damen konnten bestimmt behaupten, dass sie noch beim Abritt der Dragoner mitten zwischen ihnen gewesen war, dann aber konnten sie sich nicht mehr entsinnen, sie noch einmal erblickt zu haben. Wie der Vater, so war auch sie jetzt verschwunden.
»So versucht sie zu finden, rief Canning hastig, »ich muss sie sprechen, oder — ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht, ich irre von einem Rätsel zum andern.«
Niemand konnte sich diese furchtbare Erregung Cannings erklären. Jedenfalls aber musste sie mit dem Zettel in der Kapsel zusammenhängen.
Als er sich etwas gesammelt hatte, wandte er sich an Wilson.
»Ich muss das Lager verlassen, ich muss. Ich sehe keinen anderen Ausweg, ich muss wenigstens einige Tage auf eigene Faust handeln.«
»Verzeihen Sie, Lord«, entgegnete Wilson sehr ernst, »wenn ich Sie zur Mäßigung Ihrer Aufregung ermahne. Ich bin bedeutend älter als Sie und darf mir daher wohl so etwas erlauben.«
»Sie dürfen es überhaupt!«, rief Canning etwas pikiert. »Führe ich auch noch den Titel eines Generalgouverneurs, trotz des Krieges, so habe ich doch nichts mehr zu sagen; denn es sind ja keine Handelsinteressen mehr für England zu wahren. Sie brauchen mich nicht erst daran zu erinnern, dass ich den Kriegführenden nur meinen Rat zur Verfügung zu stellen habe, weil ich das Land am besten kenne, dass ich aber sonst ihren Befehlen, soweit sie den Kriegsplan betreffen, zu gehorchen habe, also auch Ihrem Befehl, Herr General!«
»O, Lord, ich sprach von keinem Befehl.«
»Ich nehme es als eine Andeutung an, dass Sie Ihren Wunsch, ich soll mich so lange hier aufhalten, bis General Nicholson eingetroffen ist, von mir befolgt haben wollen. Sie sind auch vollkommen im Recht.«
»Lord, Sie gehören nicht sich selbst. Ich ahne, Sie haben etwas vor, wovon England keinen Nutzen hat.«
»Sie haben wieder recht: Nein, ich gehöre nicht mir selbst an, sondern dem, dem ich zu dienen geschworen habe, und meinem Vaterlande. Aber es können Gelegenheiten kommen, wo man im tiefsten Herzen empfindet, dass man anderen Personen mehr gehört als denen, welchen man Treue geschworen hat — für ihren Vorteil.«
Wilson zog finster die Brauen zusammen, zuckte die Achseln und wendete sich ab. Auf schaumbedecktem Pferde kam ein Reiter herbeigejagt, ein Offizier. Die weiße Schärpe bezeichnete ihn als Ordonnanz. Hinter ihm tauchten noch mehrere schwerbewaffnete Gurkhas auf, denen er wahrscheinlich vorausgeeilt war, als er das sichere Lager vor sich sah.
»Hurra für England«, jubelte er schon von weitem und schwang die Mütze. »Sieg bei Lahore, General Nicholson hat die Rebellen zum zweiten Male vollständig geschlagen!«
Die Engländer stimmten mit ein in den Hurraruf, doch die eigentliche Depesche der Ordonnanz war diese Siegesnachricht nicht.
Er sprang vom Pferd und trat zu Wilson.
»An den kommandierenden General der Bombay- und Madrastruppen«, sagte er, und überreichte ihm ein Schreiben, denn er wusste, dass Wilson diese Stellung jetzt einnahm.
»Wie? Lord Canning selbst?«, rief er dann erstaunt.
Er entnahm seiner Brusttasche ein Kuvert in Wachstuchverpackung und gab es dem Lord.
»Ich habe Euer Exzellenz schon in verschiedenen Lagern vergebens gesucht.«
Als Wilson sein Schreiben gelesen hatte, zuckte es verräterisch um seine Mundwinkel. Dann trat er, die Hand an der Mütze, in militärischer Haltung vor Canning hin.
»Melde mich Euer Herrlichkeit als dem Kommandeur der Bombay- und Madrastruppen.«
Lächelnd nahm Canning ihm die Hand von der Mütze und schüttelte sie.
»Ich konnte wahrhaftig nicht wissen, dass im nächsten Augenblick ein solcher Wechsel stattfand, der mich zu Ihrem Untergebenen macht«, fügte Wilson hinzu.
»Vergessen wir, was vorhin vorgefallen ist, ich war sehr erregt und bin es noch jetzt. Nehmen Sie meine erste Anordnung entgegen: Morgen rücken wir von hier ab, übermorgen liegen wir vor Delhi, auch wenn Nicholson noch nicht eingetroffen ist. Heute und diese Nacht werde ich den Belagerungsplan ausgearbeitet haben. Bitte, machen Sie die Herren mit den Veränderungen bekannt, die stattgefunden haben. Colonel«, rief er dem herbeikommenden Harquis entgegen, »hat man das Mädchen noch nicht finden können?«
»Nein, Exzellenz. Einige Wachen behaupten, sie hätten es schon jenseits der Vorpostenkette laufen sehen.«
Canning bestieg sein Pferd und ritt nach seinem Zelt. Für ihn begann jetzt eine fieberhafte Tätigkeit.
»Meine Herren«, wandte sich Wilson an die versammelten Offiziere, »auf Befehl Ihrer Majestät der Königin ist für den am 27. Mai zu Kalkutta verstorbenen Lord Unsom als Feldzeugmeister des Anglo-Indischen Reiches Sir Colin Campbell ernannt worden. Seine Exzellenz Lord Canning, Generalgouverneur von Indien, übernimmt die Leitung des Kriegsrates zu Kalkutta. Dies zur Kenntnis, meine Herren, dass Lord Canning nicht mehr Beamter mit Generalsrang, sondern Ihr direkter und höchster militärischer Vorgesetzter ist.«
Jetzt brauchte Canning niemandem mehr Rechenschaft von seinen Handlungen zu geben, er hatte über die kriegerische Macht Indiens zu befehlen; aber das, was er vorhatte, um das ihm gegebene Rätsel zu lösen, forderte nur seine eigene Person auf Tod und Leben heraus.
Wir nehmen den Faden unserer Erzählung wieder da auf, als Franziska von Mirja den nach Flüchtlingen suchenden Indern ausgeliefert wurde. In wildem Triumphe schleppte man sie davon; man hatte nicht geglaubt, noch so spät eine Faringi zu finden, denn längst schon waren alle gefangen oder niedergemetzelt worden.
Das unglückliche Mädchen, das die Freiheit schon in der Nähe gewähnt, das bald mit dem Geliebten vereint zu sein gehofft hatte, sah sich um alles betrogen. Der einzige Trost war ihr dass sie als Gefangene Mutter und Schwester zu sehen bekommen und mit ihnen sterben würde, denn der Zorn hatte ja Mirja veranlasst, ihr die ungeschminkte Wahrheit zu sagen.
An den Brief, den sie auf Veranlassung des Juden an ihren Geliebten geschrieben hatte, dachte sie nicht mehr. Sie wusste nicht, dass Sedrack auch noch jetzt davon Gebrauch machen könnte.
In den Straßen war es schon still geworden. Der aus etwa zehn stark bewaffneten Indern bestehende Trupp begegnete nur wenigen Menschen; das fanatische Jauchzen und Schreien der sich frei wähnenden Rebellen war verstummt, dagegen erscholl manchmal aus Häusern, besonders aus ihren Kellern, wildes Gejohle, Lachen und Kreischen.
Heute war der Tag des Aufstandes, der Pöbel von Delhi glaubte nicht anders als das, was er mit beschränkten Augen sah, wäre nun in Indien geschehen, das heißt, die Engländer seien ein für allemal aus Indien vertrieben, und dieser Tag der Freiheit musste durch einen festlichen Abend beschlossen werden.
In den Häusern und Kellern wurden Orgien gefeiert, die öffentlichen Bajaderen spielten heute eine große Rolle, die Fürsten hatten dem Volke Vorräte überlassen, und in den Häusern hatten die Inder selbst Wein und Lebensmittel in Hülle und Fülle gefunden.
Je mehr sich der Trupp dem europäischen Viertel näherte, desto seltener kam er an solchen Höhlen mit vor Wein und Liebe Trunkenen vorüber; aber Franziska merkte auch, dass der Schritt ihrer Wächter immer zögernder wurde.
Sie besprachen sich lebhaft, hatten anscheinend einen Streit unter sich, und Franziska lauschte zum ersten Male dem Gespräch.
»Dass wir Narren wären und das Mädchen als Gefangene ablieferten!«, sagte eben einer.
»Wie haben sie es denn in Mirat gemacht? Auf offener Straße hat man sie aufgehalten, und welche einem gefiel, die hat man auf der Stelle zu seiner Frau gemacht. Hahaha!«
»Es ging dem Befehl der Begum entgegen.«
»Nun, siehst du, und man hat es doch getan.«
»Die Begum wird die Ungehorsamen strafen.«
»Ach was, die Fürsten haben dasselbe getan! Übrigens, wer weiß denn, dass wir noch eine Gefangene haben? Kommt, lasst uns zurückgehen an unseren Versammlungsort, wo die andern schon lange schmausen und zechen. Diese Faringi soll uns das Fest verschönen. Wir losen, wem sie zuletzt gehören soll. Erst aber wollen wir einmal sehen, ob die weißen Mädchen so gut tanzen können wie die Bajaderen.
Sie standen eben im Lichte einer Laterne und betrachteten begehrlich das schöne Mädchen.
»Nun, ist sie nicht wert, dass wir sie mitnehmen?«, fuhr der Versucher fort. »Ich sehe nicht ein, warum die Radschas allein die Faringis haben und wir uns mit den gewöhnlichen Bajaderen wie immer begnügen sollen.«
»Auch die Radschas dürfen die Gefangenen nicht anrühren, die Begum hat es verboten.«
»Ah bah, das kann mir niemand weismachen, dass sie das nicht tun. Wer aber hat die Faringis aus der Stadt vertrieben, wir oder die Radschas? Wir sind es gewesen, wir haben gekämpft, und daher darf man uns auch die weißen Mädchen nicht vorenthalten.«
»Er hat recht, die Faringis gehören eigentlich uns«, stimmte einer der Sprecher nach dem anderen ein, der Mahner wurde nicht mehr gehört, und er musste sich den Kameraden anschließen, die nun in schnellem Schritt zurückgingen.
»Nehmt sie in die Mitte! So! Ich hänge ihr den Mantel um, und wenn uns ein Führer anhält, so sagen wir, wir hätten eben noch Gefangene im Palast abgeliefert und gingen nun zurück. So, nun sieht das Weib gerade wie einer der Unsrigen aus. Hei, das soll ein Fest werden; wir wollen auch einmal eine Faringi tanzen sehen, nicht immer braune Haut.«
Er hatte ihr seinen Mantel umgehängt, und zwar auch über den Kopf, sodass von den blonden Haaren nichts mehr zu sehen war.
Franziska hatte begriffen, was man mit ihr vorhatte, und eine furchtbare Angst schnürte ihr das Herz zusammen. Gegen dieses Los war der Tod noch ein Glück zu nennen, besonders wenn sie mit Mutter und Schwester vereint sterben konnte. Ein Spielzeug dieser Inder werden? Nimmermehr!
»Ihr dürft mich nicht behalten, ihr müsst mich als Gefangene ausliefern«, stieß sie hervor.
»Schweig, Mädchen! Wir tun, was wir wollen, denn wir sind die Herren«, sagte einer rau.
»Eure Anführer werden euch strafen. Ihr müsst mich ausliefern, ich verlange es.«
»Hahaha, immer verlange du.«
»Ich werde euch anzeigen.«
»Das wirst du wohl nie können, dafür werden wir schon sorgen.«
»Hilfe, Hilfe!«, rief Franziska plötzlich mit aller Anstrengung ihrer Lungenkraft. »Man will eine...«
Eine Hand verschloss ihr den Mund, gleich darauf wurde ihr ein Tuch vorgebunden, man fasste sie links und rechts am Arm, und mit verdoppelter Schnelligkeit wurde sie weitergeschleppt.
Einige Gässchen noch, dann hörte Franziska ein wildes Lärmen, das aus einem Keller drang. Die Inder waren am Ziele.
Vor Franziskas Blicken eröffnete sich ein Gewölbe, von Öllampen und Fackeln notdürftig erhellt; gegen vierzig Männer lagen und hockten auf Teppichen umher, dazwischen leichtgeschürzte Mädchen, Bajaderen; man aß, trank, lachte und machte rohe Scherze, die Weiber tanzten in trunkener Lust, sie balgten sich, wälzten sich umher — kurz, die indischen Rebellen feierten eine Orgie nach ihrer Art.
Ein teuflisches Johlen empfing die Eintretenden; einen Augenblick entstand ein drückendes Schweigen, ein dumpfes Murmeln, als man die Faringi unter ihnen sah, als aber die Besorgnis beschwichtigt worden war, brach der Jubel in noch höherem Maße aus. Franziska wurde von den Bajaderen in die Mitte genommen, man tanzte um sie, riss sie an den Haaren und zog sie so immer mehr in den Hintergrund des Gewölbes.
Dann gebrauchte man noch die Vorsicht, die Kellerfenster zu verhängen, und die Orgie, welche man nicht tierisch nennen konnte, weil nur Menschen solcher Ausschreitungen fähig sind, nahm ihren Fortgang.
Franziskas Hilferuf war nicht ungehört verhallt. Der liebe Leser wird sich entsinnen, dass Mirja das Haus ihres Vaters verlassen hatte, nachdem es ihr furchtbar zum Bewusstsein gekommen war, dass sie die Braut des Mannes, den sie mehr liebte als sich selbst, verraten und den Häschern ausgeliefert hatte.
Ziellos war sie durch die Straßen gejagt, bis der Hilferuf an ihr Ohr drang.
Wenn sie die Stimme Franziskas auch nicht erkannt hatte, so ahnte sie doch, dass dies die Gesuchte sei.
Was sie eigentlich beabsichtigte, wusste sie selbst noch nicht. Nur retten, befreien wollte sie die Unglückliche, an deren neuem Unglück sie schuld war, und wenn sie, Mirja, dabei selbst ihren Tod fand, desto besser.
Da kam ihr der Trupp entgegen, es war derselbe, den sie in ihr Haus gerufen, und sofort wusste sie, dass die vermummte Gestalt in der Mitte Franziska war.
Ferner wusste sie auch sofort, warum man sie zurückführte; die Inder wollten die so spät gefangene Faringi nicht als Gefangene ausliefern, sondern für sich selbst behalten.
Mirja schmiegte sich in eine Ecke, ließ den Trupp passieren und folgte ihm. Das Haus, in dem er sich verlor, kannte sie durch ihren Vater, dem kein Schlupfwinkel, keine Lasterhöhle Delhis unbekannt war, denn er versorgte die Besitzer mit Wein, Opium und Mädchen.
Der trunkene Lärm, das Licht, das aus den Kellerfenstern drang, sagte ihr alles. Sie fand einen Spalt, wo der Vorhang das Fenster nicht völlig deckte, und sah, wie die Bajaderen das blondlockige Mädchen in wirbelndem Rasen umtanzten, und wie die Männer in die Hände klatschten und Beifall brüllten. Hier konnte Mirja allein nicht helfen; fort, nur fort und Hilfe herbeischaffen! Aber wie? Woher? Wer half jetzt einer Faringi?
Ja, doch, eine Rettung gab es! Das Mädchen musste erst vor diesen Indern gerettet werden, sie war die Braut von Mirjas Gott, den sie anbetete, und wenn auch Franziska vorläufig in Gefangenschaft kam, besser war's, als hier zu verderben. Die Begum hatte befohlen, alle Gefangenen auszuliefern und zu schonen.
Blitzschnell jagten diese Gedanken durch den Kopf des Mädchens, und schon eilte sie wie auf den Flügeln des Windes durch die Gassen und Straßen, dass ihre Fußspitzen kaum das Pflaster berührten. War sie doch eine Jüdin und besaß den scharfen Verstand ihres Volkes, und dieser war, da sie als indische Jüdin jeder Willkür ausgesetzt, durch fortwährende Abwehr böswilliger Absichten noch besonders geschärft.
Ihre Gedanken waren nicht planlos, schon waren sie geordnet, ihr Entschluss gefasst.
Eine Patrouille begegnete ihr. Sie rief den Anführer nicht zur Hilfe herbei, denn konnte er Franziska, anstatt sie zu retten, nicht ebenfalls zum Opfer seiner Leidenschaften machen? Nein, sie wollte sich direkt an die Quelle wenden, aus der die Befehle zur Schonung der Gefangenen entsprang.
In der Ferne tauchten hohe, erleuchtete Häuser auf; mit Sturmeseile flog sie dem europäischen Viertel zu. Die Grenze desselben musste sie wenigstens erreichen.
»Haltet das Mädchen, eine Faringi!«, schrieen die Soldaten der Patrouille und suchten sie zu halten.
Vergebens! Wie ein Windspiel huschte Mirja zwischen ihnen hindurch und war schnell hinter der nächsten Ecke verschwunden.
Dort jenes Haus war es, wo sie Hilfe suchen musste — nicht die Befreiung, sondern die Gefangennahme Franziskas, aber doch die Rettung aus der Höhle des Lasters.
»Das ist das Haus«, hatte einst Sedrack zu ihr gesagt, »in welchem geschmiedet werden die Gegenpläne zu denen im Gouvernementspalast, und die, welche es bewohnt, heißt die Duchesse, ist das Weib des Nana Sahib und ist ebenso schön wie klug. Und das Mädchen, welches werden soll die Königin von Indien, wird gemacht hier drin dazu von der Duchesse. Diese ist es, welche macht jedes und alles, und welche kann wickeln den mächtigen Nana Sahib um ihren kleinen Finger. Aber verrate nicht, was dir gesagt hat der alte Sedrack, weil er ist klug und weiß mehr als alle anderen.«
Das Haus war von oben bis unten erleuchtet, die Pforten standen auf. Auch hier wurde das Siegesfest gefeiert. Mirja flog an dem Torhüter vorbei, wurde aber auf das Schreien des getäuschten Mannes auf der Treppe von einigen eingeborenen Dienern festgehalten.
»Eine Jüdin!«, riefen diese erstaunt und entrüstet, das Mädchen an der eigenartigen, bunten Kleidung als solche erkennend.
»Es ist Mirja, des alten Sedracks Tochter«, sagte einer. »Judendirne, wie kannst du wagen, hier einzudringen und durch deine verfluchte Gegenwart das Haus zu beschmutzen?«
Man hatte das als unreine Jüdin erkannte Mädchen schnell losgelassen, hielt es aber noch umringt, und es stand zu erwarten, dass es mit Faustschlägen hinausgejagt wurde.
Mirja benutzte die noch freie Minute.
»Ich will zu der Dame, welche man Duchesse nennt«, rief sie, so laut sie nur konnte, »ich muss die Duchesse sprechen!«
Unwillig über dieses Lärmen, wollte man sie zum Hause hinaustreiben, doch Mirja widersetzte sich mit Aufbietung aller ihrer Kräfte und rief nur um so lauter, dass sie der Duchesse eine Mitteilung von der größten Wichtigkeit zu machen habe.
»Was ist mit dem Mädchen? Warum wird sie mir nicht vorgeführt?«, rief eine Stimme, und auf der ersten Treppenstufe stand Isabel in Gesellschaftstoilette.
»Herrin, eine Jüdin«, sagte der Torhüter, »sie ist ohne Erlaubnis in dein Haus eingedrungen und verunreinigt es.«
Isabel brauchte das Mädchen nicht erst zu sich zu rufen, Mirja war den Indern schon entschlüpft, war hinaufgeeilt und hatte sich der Dame zu Füßen geworfen.
»Wenn du die Duchesse bist, auf deren Befehl die mächtigsten Radschas achten, o, so höre mich an«, flehte sie; »dein Befehl, die Gefangenen zu schonen, wird nicht befolgt, die Sepoys behalten sie für sich selbst.«
»Mein Befehl?«, fragte Isabel verwundert. Dann schloss sie ganz richtig, dass hier ein besonderer Fall vorliegen müsse.
»Komm in das Zimmer! Du sollst mir erzählen, um was es sich handelt.«
In dem Raume befand sich Nana Sahib, denn er hatte mit Isabel eben eine Unterredung gehabt.
»Nun, was für ein Anliegen hast du?«
Mit fliegenden Worten erzählte Mirja, dass einige Inder ein Mädchen gefangen hätten und nicht abliefern würden, sondern bei einer ihrer Orgien verwenden wollten; der Befehl der Begum würde also nicht befolgt.
Die beiden Zuhörer sahen erstaunt erst das Mädchen, dann einander an und brachen dann gleichzeitig in spöttisches Lachen aus.
»Ja, wer bist du denn, dass du solchen Anteil an einer Faringi nimmst und so gewissenhaft darauf achtest, dass die Befehle der Begum, die du gar nicht kennst, befolgt werden?«, fragte Isabel.
»Ich bin eine Jüdin und hasse die Faringis.«
»Nun, das Los der Faringi ist wenig beneidenswert.«
»Mein Vater ist ein schlauer Mann und hat mich eingeweiht in manches, was nur die Inder wissen. Jenes Weib, welches das Fest im Keller verherrlichen soll, ist die Braut des Lords Canning.«
»Wessen?«, schrien die beiden gleichzeitig.
»Des großen Gouverneurs von Indien, ich weiß es bestimmt.«
»Ah, und das sagst du erst jetzt?«, rief Nana Sahib, riss einen Mantel von der Wand und warf ihn über sein von Gold und Edelsteinen strotzendes Festgewand. »Wo ist der Keller?«
»Ich werde dir den Weg zeigen.«
»Schnell, schnell, jede Minute ist kostbar!«
»Halt!«, rief aber Isabel und hielt den Radscha zurück. »Bewahre dir den klaren Verstand, Nana Sahib!«
Sie flüsterte ihm, für Mirja unverständlich, etwas zu; er sah sie erstaunt an, sein Gesichtsausdruck wurde ein ganz seltsamer, überraschter, und dann nickte er verständnisvoll mit dem Kopfe.
»Bei Brahma, Weib, deine Klugheit überrascht mich immer wieder! Mädchen«, wandte er sich dann an Mirja, »wissen die ungehorsamen Inder, dass es die Braut Cannings ist?«
»Ich weiß nicht, Herr.«
»Hast du es ihnen gesagt?«
»Nein.«
»Kein anderer Mensch weiß darum, dass die Braut Cannings in dem Keller ist?«
»Jedenfalls kein anderer als ich und jener Inder, das kann ich beschwören«, entgegnete Mirja.
Wieder flüsterten die beide zusammen; Mirja wurde ängstlich.
»Komm, Herr, ich will dich führen«, sagte sie, mit Gewalt ihre heimliche Angst so niederdrückend, dass es nicht wie ein Flehen klang, »die Inder sind trunken, und was ist das Mädchen noch, wenn wir zu spät kommen?«
»Du hast recht, fort denn! Führe mich!«
Nana Sahib folgte dem Mädchen, der Maharadscha hielt es nicht für unter seiner Würde, zu rennen, denn das, was ihm Isabel gesagt, hatte er als richtig erkannt. Die Gefangennahme Franziskas war für sie beide, nicht für Indien, von der weitesttragenden Bedeutung.
Einmal entstand eine Verzögerung.
Sie begegneten einer Abteilung regulärer uniformierter Sepoys. Nana Sahib gab sich dem Führer zu erkennen, der Trupp machte kehrt und fiel in Laufschritt.
Mirja überkam plötzlich ein unheimliches Gefühl, als sie den finsteren Führer leise Kommandos geben hörte und wie die Soldaten ihre Gewehre knacken ließen.
Bald hatte man den Keller erreicht.
Der Radscha spähte durch die ihm von Mirja gezeigte Fensterspalte und erblickte das sich verzweifelt wehrende weiße Mädchen, dem eben die Kleider vom Leibe gerissen werden sollten. Die Gier der Männer, das jubelnde Heulen der betrunkenen Bajaderen war unbeschreiblich; im Gesicht der Unglücklichen war mehr als Todesangst zu lesen.
Plötzlich stand mitten unter der lebenden Menge eine kleine, breitschultrige Gestalt, ein donnernder Ruf erscholl, man sah das hässliche Gesicht eines Mannes, und furchtbares Entsetzen befiel alle, das sie zu Bildsäulen machte.
Unter ihnen stand Nana Sahib, genannt der Tiger.
Er streckte die Hand nach Franziska aus, und sie nahm dieselbe; denn eine Ahnung sagte ihr, dass dieser Mann ihr wenigstens Rettung vor Schande brachte.
»Wer ist der Besitzer dieses Kellers?«, grollte der Radscha.
Ein alter Mann kam oder kroch vielmehr auf ihn zu.
»Wo sind die Ausgänge?«
Es gab außer dem nach der Straße nur noch einen.
Nana Sahib winkte; taktmäßige Schritte erschollen, zwanzig Sepoys marschierten mit geschulterten Gewehr durch den Raum und stellten sich vor der zweiten Ausgangstür auf.
Der Radscha verließ, an der Hand noch immer Franziska haltend, das Kellergewölbe. An den Stufen drehte er sich noch einmal nach den Indern um, denen eine furchtbare Ahnung den Rausch plötzlich verjagt hatte.
»Auf euer Verhalten steht der Tod«, rief Nana Sahib, »ihr habt ihn verdient!«
Als Franziska auf der Straße war, hörte sie zwei indische Kommandos, den Befehl zum Chargieren und Feuern, Salve auf Salve krachte donnernd in dem Kellergewölbe, sich vermischend mit dem Schmerzgeheul der Getroffenen.
Kein Mensch verlässt diesen Keller lebendig, hatte Nana Sahibs Befehl an den Führer gelautet, und dieser gehorchte willenlos; seine Soldaten sandten Schuss auf Schuss unter ihre braunen Brüder und Schwestern; zuckend wälzten sich die Leiber der Männer und Bajaderen auf dem blutigen Estrich.
»Wo ist die Jüdin?«, murmelte Nana Sahib auf der Straße und sah sich vergebens nach dem Mädchen um.
Er konnte Mirja nicht erblicken, aber es musste ihm viel an ihr gelegen sein, denn lange spähte er nach ihr.
»Sie war es, die mich erst retten, dann aber den Indern ausliefern wollte«, erklärte Franziska. »Hast du mich nun auch wieder gerettet, um mich neuer Schande auszusetzen? Ich kenne dich, Nana Sahib, und wenn du ein edler Fürst sein willst, so habe Erbarmen mit mir und stoße mir deinen Dolch ins Herz!«
»Fürchte nichts! Du kommst zwar in Gefangenschaft, doch in eine solche, wie sie der Braut des Generalgouverneurs gebührt.«
»Wie? So weißt du schon, wer ich bin?«
»Durch die Jüdin. Aber wo ist sie nur?«
Schließlich eilte er mit Franziska davon und dem Hause der Duchesse zu.
Isabel hatte ungeduldig gewartet und empfing Franziska mit möglichster Freundlichkeit. Von dem Mädchen unbemerkt, tauschte sie mit Nana Sahib einen verständnisvollen Blick aus.
»Sie sind wirklich die Braut Lord Cannings?«, fragte Isabel, das Mädchen scharf fixierend, und ihr Gesicht nahm immer mehr einen überraschten, zugleich aber auch bösartigen Ausdruck an.
»Ja, ich bin seine Braut vor Gott und der Welt«, entgegnete Franziska, hoch aufatmend, sich ebenso jetzt der englischen Sprache bedienend. »Sie sind keine Inderin, wie ich sehe, ich halte Sie eher für eine Engländerin, und obwohl ich mir nicht erklären kann, wie Sie als solche so vertraut mit unseren Feinden verkehren können, so wage ich doch, Sie um Hilfe und Schutz zu bitten.«
»Beides soll Ihnen zuteil werden. Irre ich mich, wenn ich Sie mit Franziska Reihenfels anrede?«
»Woher kennen Sie meinen Namen?«
»Kennen Sie mich nicht?«
Franziska musterte die vor ihr stehende Dame und schüttelte den Kopf. Sie konnte sich nicht besinnen.
»Kennen Sie auch nicht das Haus, in welches Nana Sahib Sie geführt hat?«
»In der Verwirrung habe ich nicht darauf geachtet.«
»Sie sind im Hause der Duchesse.«
Franziska trat wie erschrocken einen Schritt zurück.
»Wie, so wären Sie selbst die — die — Duchesse?«
»Ja, ich bin's. Warum erschraken Sie deshalb«
Immer drohender hafteten Isabels Augen auf dem jungen Mädchen; sie wusste recht gut, warum Franziska erschrak. Das war das Mädchen, wegen dessen sie, Isabel, von Lord Canning vernachlässigt, durch welches sie in ihrer Eitelkeit maßlos beleidigt worden war. Doch schnell zwang sie sich, wieder freundlich auszusehen.
»Sie — Sie haben einst als — als...«, stotterte Franziska.
»Als Spion gegolten«, ergänzte Isabel, »sprechen Sie es nur aus. Nun staunen Sie, dass man sich damals wirklich nicht getäuscht hat, und ich kann Ihren Schrecken begreifen. Seien Sie beruhigt, bin ich auch eine Feindin Englands, so bin ich doch nicht der Feind eines jeden, der in England geboren worden ist. Miss, wollen Sie sich meinem Schutze anvertrauen?«
Die letzte Frage war ganz leise gestellt worden, Isabel war noch näher zu ihr getreten. Was sollte Franziska denn anders antworten.
»Gewiss, ich will es, und ich danke Ihnen!«, rief sie.
»Nicht so laut«, warnte Isabel, scheinbar erschrocken, »Sie müssen mich verstehen. Ihr Los ist eigentlich das der anderen Gefangenen, das heißt, der Tod. Aber ich besitze vor Lord Canning eine zu große — eine zu große — nun, nennen Sie es meinetwegen Hochachtung — als dass ich zulassen könnte, dass seine Braut eines elenden Todes stirbt. Im Gegenteil, ich will versuchen, Sie mit ihm zu vereinen, nur müssen Sie mir versprechen, sich unter meinen Schutz zu stellen.«
Franziska war außer sich vor Freude. Aber ein zweifelnder Blick traf Nana Sahib, der schon lange als blutdürstiger Mensch gegolten hatte.
»Da ich vor Nana Sahib kein Geheimnis habe«, fügte Isabel schnell hinzu, »so müssen Sie schon daraus schließen, dass er mit meiner Absicht einverstanden ist.«
»O, wie soll ich Ihnen danken!«, flüsterte Franziska und warf sich dem Weibe zu Füßen. »Und dennoch wage ich, um mehr zu bitten. Wenn Sie die Macht haben, mich zu schützen, dann können Sie auch etwas für meine gefangenen Angehörigen tun, sie befreien.«
»Sie verlangen viel, auch überschätzen Sie meine Macht«, lächelte Isabel, »doch will ich sehen, was sich tun lässt. Die Gefangenen stehen unter der Aufsicht der Begum von Dschansi, welche ihnen den Tod geschworen hat. Sie müssen mir also versprechen, sich ganz ruhig in diesem Hause in den Ihnen angewiesenen Gemächern zu verhalten, ohne auch nur das geringste Zeichen Ihrer Gegenwart zu geben; denn erfährt die Begum von Ihrer Anwesenheit, so verlangt sie Ihre Auslieferung, Sie sind unwiderruflich verloren, und ich habe mich der größten Gefahr ausgesetzt.«
»Ich will mich geduldig in alles fügen. O, wie habe ich mich in Ihnen getäuscht!«
»Ich verzeihe Ihnen«, lächelte Isabel; »geben Sie ein andermal nichts auf die öffentliche Meinung. Kommen Sie, ich selbst will Ihnen die Zimmer anweisen, die Sie fernerhin nicht verlassen dürfen, und Ihnen den treuen Diener vorstellen, der Sie bedienen wird und der in diesem Hause allein um Ihre Anwesenheit weiß!«
Franziska folgte dem vorausschreitenden Weibe, Nana Sahib nahm von ihr mit einer höflichen Verbeugung Abschied.
Schon wenige Minuten später trat Isabel wieder ein, ihre Augen strahlten in wilder Glut.
»Jetzt gehört sie uns, Nana Sahib, und wir haben in ihr ein Mittel, durch welches entweder wir uns selbst einmal retten oder durch welches wir uns an dem stolzen Canning furchtbar rächen können. Ich sage dir, Nana Sahib, wir haben jetzt gegen den stolzen Gouverneur eine furchtbare Waffe.«
»Sie bleibt hier?«
»Sie verlässt dieses Haus nicht.«
»Findest du das sicher?«
»Innerhalb der Mauern Delhis gibt es kein sichereres Versteck als dieses Haus, und fallen jene, so wird mich dieses Haus dennoch schützen. Franziska muss unbedingt hierbleiben. Wie unglaublich harmlos doch dieses Mädchen ist, hahaha! Nun noch eins, Nana Sahib! Wussten jene Männer im Keller, dass sie die Braut von Lord Canning ist?«
»Ich weiß es nicht.«
»Was? Du hast dich nicht danach erkundigt?«
»Nein.«
»Es darf aber niemand anders wissen als wir, dass sie es ist. Begreifst du denn das nur gar nicht?«
»Doch, und ich habe dafür gesorgt, dass jene Inder nicht plaudern können.«
»Wie das?«
Nana Sahib machte eine Handbewegung, und das Weib hatte ihn verstanden. Keiner lebte mehr, der davon hätte sprechen können. Sie forschte nicht weiter.
»Und die Jüdin?«
»Ja, das ist es. Diese fehlt.«
»Sie fehlt?«, rief Isabel erschrocken. »Und gerade sie weiß alles. Warum überhaupt nimmt sie solch einen Anteil an der Braut Lord Cannings? Das kommt mir verdächtig vor. Ha, wer hat uns hier zu belauschen?«
Die letzten Worte galten der Gestalt, welche an der Portiere stand und vielleicht alles gehört hatte.
Es war Mirja, die Nana Sahib gefolgt und der nichts von dem Gespräch entgangen war. Mit furchtbarer Klarheit wurde ihr plötzlich bewusst, dass Franziska auch hier verloren, dass aber auch sie selbst verloren war, denn sie war Zeuge eines Gesprächs geworden, das sie nicht hätte hören dürfen.
Ihr Schreck war so groß, dass sie keine Antwort fand. Ihre großen Augen ruhten erschrocken auf dem Weibe, das mit zornigem Antlitz vor ihr stand.
»Ah. das ist ja die Jüdin!«, rief jetzt Isabel.
»Gut, dass du kommst! Ich habe allerdings noch einige Fragen an dich zu stellen, jetzt aber ist keine Zeit dazu. Ich will dir einstweilen eine Unterkunft anweisen, wir sprechen uns noch. Babur!«
Der schon oft erwähnte eingeborene Diener mit dem vertierten Gesicht trat ins Zimmer.
»Führe dieses Mädchen in eins der Zimmer für fremde Diener. Du bürgst mir mit deinem Leben dafür, dass ihr nichts geschieht, wenn sie auch eine Jüdin ist.«
Babur unterdrückte ein Grinsen. Der Befehl hatte ein Stichwort enthalten, das den Befehl in einen ganz anderen verwandelte.
»Geh, folge meinem Diener!«, sagte Isabel freundlich zu Mirja. »In Delhi ist es nicht sicher, bei mir aber bist du gut aufgehoben.«
Willenlos folgte Mirja dem Vorausschreitenden. Sie war vollkommen davon überzeugt, dass man etwas Böses gegen sie vorhabe, dass wahrscheinlich ihr Leben bedroht war, wusste aber nicht, wie sie dem vorbeugen sollte.
Flucht konnte ihr nicht helfen, denn auf den winkligen Gängen wimmelte es von Dienern, und Babur hatte sie fest am Handgelenk gepackt.
Sie musste einige Treppen hinabsteigen, es ging in einen Keller, und Babur leuchtete mit einer Lampe.
»Folge mir nur sorglos«, beruhigte er sie, »das Haus ist arg verbaut. Um in den anderen Flügel zu kommen, muss man erst durch den Keller. Ist der Baumeister nicht verrückt gewesen?«
Mirja konnte auf den Scherz nicht eingehen. Immer furchtbarer wurde ihr bewusst, dass man sie töten wolle. Vielleicht schloss man sie in ein Kellergewölbe und ließ sie verhungern. Wie unbedacht war sie doch gewesen, als sie sich beim Lauschen ertappen ließ!
Babur hielt sie nicht mehr fest, aber wie hätte sie fliehen können in diesem dunklen Kellergang? Sie wäre sofort wieder eingeholt worden.
Doch was hatte man mit ihr vor? Was mit Franziska?
Jetzt wurde der Gang sehr schmal, Babur ging schneller und forderte das Mädchen mit gutmütig klingenden Worten auf, ebenfalls etwas schneller zu gehen.
Plötzlich fühlte Mirja den Boden unter ihren Füßen nachgeben, eine Art Klappe schlug nieder, und sie stürzte jäh hinab in eine Tiefe, viele Meter tief. Sie fiel in kaltes Wasser; infolge des Sturzes tauchte sie tief unter, und ehe sie wieder in die Höhe getrieben wurde, war ihr die Besinnung geschwunden.
Was mit ihr vorgegangen war, wusste Mirja nicht. Sie glaubte aus einem langen, tiefen Schlaf oder aber aus dem Tode zu einem anderen Leben zu erwachen. Die erste Empfindung war eine wohltuende Wärme des ganzen Körpers, ein seliges Gefühl überkam sie, wie den, der nach langer Todesgefahr endlich einen sicheren Ort erreicht hat. Wieder lag sie lange in einem solchen Zustande da, ohne sich an irgend etwas erinnern zu können. Mit vollem Behagen genoss sie die Wärme, die ihren Körper umgab.
Nach und nach kam ihr zum Bewusstsein, dass sie dem Tode des Ertrinkens entgangen war. Sie konnte sich besinnen, wie das Wasser sie zu ersticken drohte, wie sie gegurgelt hatte.
Aber wo in aller Welt war sie jetzt? Gab es nach dem Tode ein anderes Leben? Wahre Juden wissen weder etwas von einem Paradies noch von einem Fortleben der Seele nach dem Tode, denn im alten Testament steht nichts davon. Abraham, Isaak, Jakob, Moses und alle anderen ›starben und wurden begraben‹, kein Wort davon, dass Gott ihre Seelen zu sich nahm. Diese Lehre findet man erst im neuen Testament, das für die Juden nicht existiert.
»So gibt es also doch ein Paradies?«, dachte Mirja.
Weiter konnte sie aber auch vorläufig nichts denken, sie gab sich ganz dem seligen Gefühle hin.
Schade nur, dass, wenn sie mit den Augen blinzelte, diese ein solch greller Lichtschein traf. Das musste die Sonne sein, in deren unmittelbarer Nähe sie sich wahrscheinlich befand. Also auch im Himmel konnte man sich doch über etwas ärgern.
Mirja seufzte leicht und wendete sich etwas um, sodass der Lichtschein nicht mehr ihre Augen traf, und dies befriedigte sie wieder.
Bei dieser Bewegung wurde sie aber zugleich inne, dass sie in Decken gehüllt war, und zwar kam ihr nackter Körper mit diesen in Berührung. Jetzt erschrak sie zum ersten Male, denn Mirja war ein unschuldiges Mädchen und besaß Schamgefühl.
Es war dies der beste Beweis, dass sie noch unserer Erde angehörte, doch daran dachte sie im Augenblick nicht.
Mit Zentnerschwere fiel es ihr sofort aufs Herz, dass fremde Hände sie entkleidet und hier gebettet hatten.
Und was war denn das? Roch es hier nicht wie nach gebratenen Fischen oder nach ausgelassenem Fett? Im Himmel?
Erschrocken schlug sie die Augen auf, und ihr Blick fiel sofort auf eine Gestalt, die ihr gegenüberlag.
Um Gottes willen, was für ein Geschöpf war das? Wohin war sie denn nur geraten? Wieder glaubte sie fast, nicht mehr den Lebenden anzugehören.
Hinter ihr und ihr gegenüber zogen sich lange, schwarze Mauern hin, die sich in Dunkelheit verloren. In ihrer Nähe steckte in einer Spalte der Wand eine brennende Fackel und verbreitete ein unsicheres, flackerndes Licht. Ein anderes Feuer, von Holzscheiten genährt, brannte in einiger Entfernung von ihr, Stäbe waren davor aufgesteckt, und an denselben hingen ihre dampfenden Kleider, selbst ihr Hemd.
Sie selbst lag, weich gebettet in wollene Decken, dicht an der Wand, auf ihrer anderen Seite waren große Holzblöcke aufgebaut, und sie erkannte den Zweck derselben, als sie den Kopf etwas hob und über sie hinwegschaute.
Ihr Blick fiel in ein Gewässer, welches in einer Breite von etwa zwei Metern in einem gemauerten Kanal dahinfloss, und der Platz, auf dem sie lag, war also nur so eine Art von Galerie, nicht breiter als einen Meter. Die Holzblöcke sollten ein etwaiges Herabfallen des schlafenden Mädchens verhindern.
Jenseits des Wassers befand sich ein ebensolcher Uferrand, und auf diesem brannte das Feuer. Im Scheine desselben konnte Mirja einige Hausgerätschaften erkennen, wie Töpfe, einzelne Felle und abgetragene Kleider, und in einer Ecke lag ein Haufen von Gegenständen, bei deren Anblick man sich in einem Trödlerladen versetzt glaubte. Alles nur Denkbare war dabei vertreten, alte Hüte und Stiefel, verrostete Degen, Schwerter, Dolche, Pistolen, und Revolver, Kleidungsstücke aller Art, Ballen von Lumpen, Kisten und Kästen usw. usw.
Was aber bei Mirja Furcht und Grausen hervorrief, war die Gestalt, welche langausgestreckt vor dem Feuer lag, sich daran wärmte und einer Holzpfeife dichte Tabakswölkchen entlockte.
Es war wohl ein Mensch; aber welche Missgeburt!
Der große Kopf war über und über mit langen, schwarzen Haaren bedeckt, selbst das Gesicht, aber nicht etwa in Form eines Bartes. Das Haar ließ nur wulstige Lippen und kleine, schlitzförmige Augen erkennen, welche beständig zwinkerten.
Ebensolche Haare bedeckten den ganzen Körper, die Brust, wie die Glieder, und infolge dieses natürlichen Felles bedurfte der Mann nicht der geringsten Bekleidung. Von Gliedern konnte man übrigens fast nicht sprechen, denn auch diese waren ganz abnorm.
Den Beinen fehlten die Schenkel, die Füße saßen dicht am Unterleib, ebenso waren die Arme höchstens einen Viertelmeter lang. Auch ihnen fehlte das Gelenk, und dadurch sah es fast aus, als hätte er Mühe, die Pfeife nach dem Munde zu führen. Jede Bewegung musste er mit dem ganzen Arme ausführen.
Die Hände waren ungeheuer groß und unförmig, Finger gab es nicht, nur Stumpfe zwischen die die Pfeife geklemmt war. Sie hatten fast ganz das Aussehen von Schaufeln, und Mirja, die an einen Affen geglaubt hätte, wäre der Gesamteindruck nicht doch ein menschlicher gewesen, war zuerst geneigt, dieses Ungeheuer für das Mittelding zwischen einem Menschen und einem Bären zu halten, wenn sie nicht schnell gefunden hätte, dass diese Gestalt eher einem Maulwurf ähnelte.
Besonders die schaufelartigen Hände erinnerten an einen solchen.
Richtete sich die Gestalt in die Höhe, so mochte sie vielleicht einen Meter hoch sein; denn nur die Länge des Oberkörpers kam dabei in Rechnung. Aber es war sehr die Frage, ob die Missgeburt überhaupt sich aufrichten und gehen konnte.
Der Mann hatte gemerkt, dass Mirja erwacht war, und richtete jetzt seine zwinkernden Augen auf sie. Das Licht schien seinen Augen zu schmerzen; man kam auf die Vermutung, dass sie wie die des Maulwurfes nur im Finstern sahen, im Lichte blind waren.
Als er nach dem Mädchen hinüberblinzelte, machte sein Gesicht unbedingt einen gutmütigen Eindruck.
Doch welche Seele konnte denn solch eine scheußliche Missgeburt beherbergen!
Mirja schrie plötzlich entsetzt auf, denn dicht unter ihr tauchte aus dem Wasser der ungeheuere, gepanzerte Kopf eines Krokodils auf, das sie mit seinen großen Augen wie neugierig anstarrte.
»Fürchte dich nicht«, grunzte es da drüben von den bärtigen Lippen, »unser Liebling tut dir nichts. Komm, Tausendzahn, der du unser Haus besser als ein Hund bewachst, ich habe etwas für dich.«
Das Tier schwamm langsam hinüber und öffnete den von spitzen Zähnen starrenden Rachen, sodass man sah, wie der Name Tausendzahn recht treffend gewählt war.
Der Mann griff hinter sich, wobei er sich seines ungelenken Armes wegen halb umwälzen musste, und brachte einen großen, rohen Fisch zum Vorschein, den er mit der Hand in den ungeheuren Rachen schob, wie man einen Hund füttert.
Das Tier verschlang den Leckerbissen und tauchte wieder unter.
»Tausendzahn hat ihn zwar erst selbst gefangen und uns gebracht, aber er freut sich, wenn man ihn etwas davon abgibt«, grunzte es drüben weiter. »Nun, mein Töchterchen, hast du ausgeschlafen?«
Der Mann sprach Hindustanisch. Seine Worte waren schwer zu verstehen, sie klangen nur wie ein Grunzen, aber es lag darin etwas so Wohlwollendes, dass Mirja plötzlich alle Furcht verlor.
»Wo bin ich denn nur?«, fragte sie leise.
»Wo du bist, kann ich dir eigentlich selbst nicht sagen. Du bist unter der Erde und bei Menschen, die weder dir noch irgendeinem anderen etwas Böses zufügen wollen. Damit musst du zufrieden sein. Es ist schon lange her, seit ich hierher kam, dass ich gar nicht mehr weiß, wo ich mich eigentlich befinde. Hier ist es sicher, hier ist es schön, ach, so schön!«
Mirja hatte wohl die Worte, doch nicht den Sinn verstanden. Was sollte hier so schön sein?
»Also ich lebe noch?«, fragte sie weiter.
Der Mann stieß ein kurzes, gemütliches Lachen aus und wendete die Kleidungsstücke am Feuer um.
»Natürlich lebst du noch, mein Töchterchen«, entgegnete er, »die Sonne scheint freilich nicht hierher, aber auch hier unten gibt es viel Leben.«
»Wie kam ich hierher?«
»Weißt du das nicht selbst? Kulwa brachte dich hierher, er hat dich da gefunden, wo er schon manchmal Leichen gefunden hat, die er dann stets schnell forttreiben lässt, damit sie nicht die Luft hier verderben und uns krank machen. Kulwa glaubt ebenso wie ich, dass es da oben böse Menschen gibt, welche andere in das Loch werfen. Ist der Fluss nicht hoch, dann stürzen sie auf die Steine und sind gleich tot, ist das Wasser aber hoch, so fallen sie dahinein und ertrinken, auch wenn sie schwimmen können, denn das Loch ist zu eng. Erst neulich fand Kulwa ein totes Mädchen, es war auf den Steinen zerschmettert. Du bist ins Wasser gefallen, und Kulwa kam gerade noch dazu, um dich zu retten.«
Im Nu hatte sich Mirja alles dessen erinnert, was mit ihr geschehen war.
»Wer ist denn Kulwa?«
»Mein Sohn.«
Es klang fast wie ein Seufzer.
»Warum heißt er denn Frosch? Das ist ein hässlicher Name.«
»Er sieht wie ein Frosch aus, darum habe ich ihn so genannt. Wie sehe ich denn aus?«
Mirja zögerte, bis sie noch einmal aufgefordert wurde, ihre Meinung auszusprechen.
»Fast wie ein Maulwurf«, entgegnete sie dann.
Der Mann stieß wieder jenes kurze Lachen aus, welches an das gemütliche Brummen eines Bären erinnerte.
»Da hast du auch ganz recht, ich bin ein halber Maulwurf, und deswegen nennt mich Kulwa auch so — ich heiße Phangil.«
»Und Kulwa hat mich gerettet?«
»Ja.«
»Du sagtest vorhin, in dem Bache, in den ich stürzte, könnte niemand schwimmen. Wie konnte mich Kulwa denn dann retten?«
»O, Kulwa ist ein Frosch, und der kann überall schwimmen. Wie bist du denn hinabgestürzt? Wir sind sehr neugierig, zu erfahren, warum wir dort schon so viele Leichen gefunden haben.«
»Ich wurde hinabgeworfen.«
»Hinabgeworfen?«, rief der Mann erschrocken. »Von wem denn?«
»Von denen, die meinen Tod wollten, weil sie mich fürchteten. Sie ließen mich ahnungslos in jenes Loch stürzen.«
»Es war oben?«
»Wo oben?«
»Da, wo noch die Sonne scheint, oben auf der Erde?«
»Ja.«
»Und sind denn dort die Menschen so böse, wo die schöne Sonne immer scheint? Ach ja, ich weiß, ich weiß«, fügte er seufzend hinzu, keine Antwort auf seine Frage mehr erwartend. »Warum wollten sie dich denn töten? Hast du ihnen etwas getan?«
»Gar nichts.«
»Ich weiß, ich weiß. Erzähle mir nichts mehr davon. Hier ist es schön, hier bist du sicher, hier gibt es keine bösen Menschen.«
Er befühlte mit seinen unförmlichen Fingern Mirjas Kleidungsstücke und nickte befriedigt mit dem haarigen Kopfe.
Dann zog er ein langes Brett hervor und legte es mit einer Kraft über das dunkle Gewässer, die man den kurzen Armen gar nicht zugetraut hätte.
Mirja wurde wieder etwas ängstlich, denn jetzt schien er ihr über die so hergestellte Brücke hin einen Besuch abstatten zu wollen. Dem schüchternen Mädchen fiel auch wieder ein, dass es nackt war, und wer hatte es ausgezogen?
Der Mann nahm die Kleider von den Stöcken, drückte sie mit der einen Hand gegen seine zottige Brust und lief wie ein Tier, der freien Hand sich als Stütze bedienend, über das Brett.
»Komm, Töchterchen«, sagte er gutmütig, »die Kleider sind trocken. Ich will sie dir anziehen helfen, du sollst es gut bei uns haben, und es wird dir schon hier gefallen.«
Das klang, als sollte Mirja in dieser ewigen Nacht für immer bleiben.
»Nein, nein«, rief sie und wickelte sich noch fester in ihre Decken, »bleibe drüben, bleibe nur!«
»Aber warum denn? Ich tue dir nichts!«
»Ich mag nicht, dass du mir hilfst!«
»Warum denn nicht? Ich tue es gern, so schwer es mir auch wird. Wir wollen dich auch gut pflegen, wenn du uns manchmal behilflich bist. Ach, du sollst es so gut bei uns haben!«
»Ich mag aber nicht! — Und wer hat mich ausgezogen?«
»Kulwa und ich.«
Das Mädchen schauderte, wenn es an die schaufelförmigen Hände dachte. Und wie mochte wohl jener Frosch erst aussehen! Während sie bewusstlos gewesen, hatten diese menschlichen Ungeheuer sie also völlig entkleidet.
»Ich mag nicht!«, schrie Mirja. »Bleibe drüben! Wenn ich mich ankleiden soll, so will ich es selbst tun, aber du darfst nicht hiersein!«
Der Mann schien ihre Weigerung gar nicht zu verstehen, er lachte wieder so gemütlich.
»Warum soll ich dich denn nicht anziehen?«
»Schäme dich, mir solche Schande zu bereiten!«
»Ich verstehe dich gar nicht...«
»Lass das, Vater!«, erklang da eine quakende Stimme. »Du kannst das eben nicht verstehen, weil du hier unten alt geworden bist. Ich aber weiß, wie es auf der Erde unter der Sonne zugeht. Verschone also das Mädchen, Phangil!«
Mit neuem Schaudern sah Mirja einen Kopf aus dem Wasser auftauchen, der halb einem Menschen, halb einem Frosch anzugehören schien.
Es war Kulwa, jenes missgestaltete Wesen, dessen Äußeres dem Leser schon beschrieben wurde.
Zugleich erschien auch das Krokodil wieder neben ihm und schmiegte sich wie liebkosend an seinen Herrn.
Vorläufig konnte Mirja noch nichts weiter als den Kopf des Mannes und seine Hände sehen, die er auf den steinernen Rand des Ufers gelegt hatte.
Dann schnellte er plötzlich in die Höhe und lag auf dem Leibe am Ufer, die abgestorbenen Beine wie Stangen weit ausstreckend. Jetzt machte er noch mehr den Eindruck eines Frosches, er sah, wie das Mädchen schauderte, und es war, als ob ein bitteres Lächeln um seinen ungeheuer breiten Mund schwebte.
In ihrer Furcht bemerkte Mirja nicht den seltsamen Umstand, dass von seinem Körper nur wenige Tropfen Wassers das Ufer netzten, gerade, als könne das nasse Element überhaupt nicht an seiner Haut haften. Er schien ein vollkommener Wasserlurch zu sein.
Wie vorhin Phangil, so erkundigte auch er sich jetzt, ob Mirja gut geschlafen habe, und ob sie sich wohlfühle, und das Mädchen hörte aus seiner quakenden Stimme eine tiefe Teilnahme heraus.
Auch vor diesem neuen, unheimlichen Geschöpf verlor sie plötzlich alle Furcht.
»Wie heißt du?«, fragte es dann.
»Mirja.«
»Mirja? Den Namen habe ich nie bei den indischen Mädchen gehört, die ich belauscht habe, wenn sie badeten.«
»Ich bin eine Jüdin.«
»Was ist das?«
»Wie, das weißt du nicht?«
»Nein.«
»Das kann ich dir erklären«, sagte Phangil in wichtigem Tone. »Die Juden sind jene Menschen, die von anderen verachtet oder gar nicht für Menschen gehalten werden. Ist es nicht so, mein Töchterchen?«
»Ja«, gab Mirja kleinlaut zu, in der Meinung, nun sei es auch mit der Freundlichkeit dieser Geschöpfe vorüber. Doch sie hatte sich getäuscht.
»Ich weiß nicht, was für ein Unterschied dabei ist«, sagte Kulwa kopfschüttelnd. »Komm, Phangil, wir wollen uns entfernen; denn ich weiß, dass die Weiber auf der Erde schamhaft sind, oder sie glauben wenigstens, man dürfe sie ohne Kleider nicht sehen. Kleide dich ruhig an, Mirja, und rufe, wenn du fertig bist.«
Der Froschmensch glitt ins Wasser zurück und schwamm mit einer Schnelligkeit davon, die der des ihn begleitenden Krokodils an nichts nachstand. Die beiden schienen sich gut zu kennen.
Der andere dagegen trabte wie ein Tier auf allen vieren den Uferrand entlang und verschwand in der Dunkelheit. Mirja wartete noch eine Zeit ängstlich, dann warf sie schnell ihre trockenen Kleider über und merkte nun, wie ihr Sicherheitsgefühl immer mehr zurückkehrte.
Von diesen beiden hatte sie anscheinend nichts zu fürchten! Was für Menschen aber waren das eigentlich? Wie kamen sie hierher? Wovon lebten sie? Diese Fragen beschäftigten Mirja nur insofern, als es sich um ihre eigene Person handelte, denn sie wollte doch nicht für immer hier unten bleiben.
Ein dunkles Gefühl sagte ihr nämlich, dass die beiden es als ganz selbstverständlich betrachteten, dass ihre neue Genossin bei ihnen ausharren werde, und sie schauderte bei diesem Gedanken zusammen. Auch fiel ihr wieder Franziska ein, Lord Canning, wie sie diesem die Braut geraubt hatte, und von Neuem nahm sie sich vor, die Rettung des Mädchens doch noch zu versuchen.
Konnten ihre neuen Freunde sie dabei unterstützen? Vorläufig wusste sie noch nicht, auf welche Weise dies möglich sei.
In solche Grübeleien versunken, kauerte sie da und blickte in das zu verlöschen drohende Feuer. Sie hatte vergessen, dass sie rufen sollte, wenn sie fertig sei.
Mit einem Male fiel ihr ein, dass es dunkel würde, wenn das Feuer ausging, wie dies mit der Fackel schon längst der Fall war. Und wenn sie nun hier im Dunkeln allein war, und die beiden kamen nicht wieder? Eine Angst überfiel sie. So hässlich gebaut jene auch waren, es waren doch Menschen, und zwar keine bösen.
Mirja schritt zaghaft über das schwankende Brett. Auf dem anderen Ufer, wo das Feuer brannte, fand sie viel kleines Holz, sie warf es auf die glimmenden Scheite und brachte die Flammen bald wieder zum lustigen Flackern.
Ob sich die beiden nicht freuten, wenn sie sahen, wie sie unterdessen für die Bequemlichkeit dieser unglücklichen Geschöpfe gesorgt hatte?
Sie erblickte einen kupfernen Kessel mit toten, aber frischen Fischen gefüllt, ferner einen Topf mit gutriechendem Fett und eine Pfanne, und sofort beschloss sie, auch noch mehr für die neuen Genossen zu sorgen, die sich ihrer angenommen hatten. Anscheinend waren schon Vorbereitungen zum Braten der Fische getroffen, aber nicht beendet worden, und nun wollte sie dieselben mit geschickter Hand vollenden.
Mirja schuppte die Fische ab, nahm sie aus, stellte die Pfanne mit Fett über das Feuer und legte jeden fertigen Fisch hinein. Bald erfüllte ein angenehmer Duft den unterirdischen Gang. Die Jüdin war so in die Arbeit vertieft, dass sie nicht merkte, was um sie her vorging.
Plötzlich schrak sie furchtbar zusammen, neben ihr hatte es geklappert, sie kannte dieses Geräusch, es waren die Kiefern von beutegierigen Krokodilen, und wie sie unter sich blickte, sah sie das ganze Wasser, so weit ihr Auge reichte, von gezähnten Krokodilsrachen starren. Die Tiere waren entweder von dem Geruch oder von den ins Wasser geworfenen Abfällen herbeigelockt worden, und dass dieses Gewässer mit einem Flusse Delhis, vielleicht mit der Dschamna, in Verbindung stand, daran war ja kein Zweifel.
Die Tiere begnügten sich nicht damit, die Rachen aufzusperren und zu warten, bis ihnen Fischabfälle hineingeworfen wurden, einige machten auch Miene, das Ufer zu erklettern.
Mirja sah sich förmlich von den gefräßigen Reptilien umzingelt und stieß einen gellenden Hilfeschrei aus.
Da kam Bewegung unter die Tiere, sie stießen und drängten sich, tauchten unter oder schwammen schnell davon, und gleichzeitig erhob sich mitten unter ihnen der Kopf des Froschmenschen, seine muskulösen Arme kamen zum Vorschein und teilten unter Schimpfen links und rechts kräftige Fausthiebe auf die Köpfe der Krokodile aus.
Diese dachten nicht daran, sich gegen den Menschen zur Wehr zu setzen, ihren Hunger an ihm zu stillen, sie ergriffen schleunigst die Flucht.
Zu ihrem namenlosen Erstaunen sah Mirja, wie sich die gefürchteten Krokodile von diesem Geschöpfe behandeln ließen. Auch sie hatte schon gezähmte Krokodile gesehen, in Tempeln werden oft solche gehalten, aber man muss ihnen doch immer noch mit Vorsicht begegnen. Diese Tiere dagegen waren entweder wie Hunde, oder aber es waren doch wilde Bewohner der Flüsse und fürchteten dieses Zwischengeschöpf von Mensch und Reptil.
Da kam auch schon Phangil angetroddelt, und Kulwa schnellte wieder mit dem Satze eines Frosches ans Ufer.
»Hei, was hast du denn da gemacht, Töchterchen?«, rief ersterer in heller Freude. »Du hast das Feuer geschürt und die Fische gebraten?«
»Ich bin noch dabei. Aber die Krokodile — sie haben mich erschreckt.«
»Sie sind manchmal zudringlich«, entgegnete Kulwa, »doch du brauchst dich nicht zu fürchten vor ihnen.«
»Sie sind gezähmt?«
»Nein, nur Tausendzahn ist zahm.«
»Und ich brauche sie trotzdem nicht zu fürchten?«
»Nein; denn sie wissen, dass sie uns nichts tun dürfen; eins sagt es dem anderen.«
»Aber ich bin fremd.«
»Wenn du hier bei uns bist, werden sie auch dir nichts tun, sonst würde ich sie bestrafen, und wenn sie zu dreist werden, so brauchst du nur ein Scheit Holz zu nehmen und ihnen zu drohen. Oder du gibst ihnen eins über den Kopf, wenn sie noch nicht hören wollen.«
Phangil hatte sich wieder bequem neben das Feuer hingelegt und begann in mächtigen Zügen zu rauchen, ebenso Kulwa, nur dass dieser sich nicht anders hinlegen konnte als auf die Brust.
Beide schauten mit dem größten Interesse dem Mädchen zu, welches wieder Fische zum Braten fertig machte. In ihren Gesichtern malte sich, soweit dies darin auszudrücken war, eine ungemeine Freude, zugleich aber auch Staunen. Phangil grunzte erst einige Male, ehe er endlich fragte:
»Aber warum kratzt du denn erst die Fische ab und wirfst das Innere ins Wasser?«
Erstaunt ließ Mirja das Messer sinken.
»Ja, muss man denn nicht erst die Schuppen und die Eingeweide entfernen?«
»Wir tun das nie«, entgegnete der Maulwurf kopfschüttelnd.
Mirja änderte natürlich ihre Zubereitungsweise nicht, und bald stand vor jedem ein Teller mit dampfenden, braunen Fischen, die ohne Benutzung von Messer und Gabel hinuntergeschlungen wurden. Dabei wurde Mirja fortwährend genötigt, besonders von Phangil, selbst zuzulangen, und der Hunger gebot ihr dies auch.
Kulwa aß langsamer, er schien zerstreut, und hatte seine großen, wässerigen Augen beständig mit einem Ausdruck von Ehrfurcht und Bewunderung zugleich auf das braune Mädchen geheftet, das mit Anmut ihre Beschäftigung vollzog.
Nach dem Essen wurde wieder schweigend geraucht, den einzigen Luxus, den diese unterirdischen Wesen von der Oberwelt akzeptiert hatten, und Mirja wurde doch wieder unruhig, als sie bemerkte, wie der Froschmensch sie unausgesetzt beobachtete.
Sie wusste nicht, woher es kam, plötzlich glaubte sie, die Nacht bräche an und es sei für sie Zeit, diese Gesellschaft zu verlassen.
»Wie fandest du mich eigentlich, Kulwa?«, begann sie, um das drückende Schweigen zu brechen.
»Ich war da, wohin ich oftmals schwimme, wenn das Wasser hoch ist, denn schon manchmal habe ich dort Leichen gefunden, zerschmettert oder ertrunken. Auch du warst nicht weit mehr davon entfernt, zu ertrinken.«
»Und wie rettetest du mich?«
»Ich hob dich zuerst hoch, und als ich merkte, dass du wieder genug Luft hattest, tauchte ich schnell unter mit dir, schwamm durch den Zufluss und brachte dich ans Ufer.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Später werde ich dir einmal zeigen, Mirja, wie die Gänge dort beschaffen sind.«
»Später?«, fragte Mirja, und es ward ihr wieder unheimlich zumute.
»Ja, später, wenn ich wieder einmal hingehe, nehme ich dich mit.«
»Aber soll ich denn hierbleiben?«
»Gewiss! Gefällt es dir denn nicht hier?«
Mirja blickte sich ängstlich um.
»Bleibe bei uns, Töchterchen!«, sagte jetzt Phangil. »Wenn du wieder hinaufkommst, könnte man dich töten wollen. Hier hast du so etwas nicht zu fürchten, hier lieben dich selbst die Krokodile, wie du noch erfahren wirst.«
»Aber ich mag nicht hierbleiben.«
»Warum nicht?«
»Ich fürchte mich.«
»Ich weiß nicht, wovor man sich hier fürchten sollte. Ja, doch manchmal.«
Ein scheuer Blick traf Kulwa, der ihm ein abwehrendes Zeichen machte, worauf der Maulwurf schnell abbrach.
»Mirja wird hierbleiben, wenn wir sie recht darum bitten«, sagte auch der Froschmensch.
»Ich mag nicht.«
»Wir werden dich nicht halten, wenn du gehen willst, doch da ich so gern möchte, dass du hierbleibst, so werde ich dich nicht selbst wegbringen. Bleibe hier, Mirja!«
Die letzten Worte waren in einem rührend bittendem Tone gesprochen.
»Kann ich denn den Ausgang nicht selbst finden?«
»Nein, es sei denn, du kannst schwimmen und tauchen wie ein Fisch.«
So sah Mirja keine Hoffnung, jemals wieder von hier fortzukommen. Doch sie verzagte noch nicht. Diese Geschöpfe waren gutherzig, und es würde ihr wohl gelingen, sie umzustimmen.
»Wenn du satt bist, so gehe schlafen, mein Töchterchen«, sagte der Maulwurf, rollte sich zusammen, verbarg den Kopf an der zottigen Brust, und ein fast augenblickliches Schnarchen zeigte an, dass ihn die reichliche Mahlzeit sehr müde gemacht hatte.
Kulwa warf einige große Holzklötze, die Stunden anhalten mussten, ins Feuer, hüpfte mit dem Satze eines Frosches über das Gewässer und machte sich mit Mirjas Decken zu schaffen.
»Dein Bett ist bereit«, sagte er dann, »schlafe gut und gewöhne dich an den Gedanken, dass du hier bei uns bleibst. Bleibe hier, Mirja!«
Nachdem das Mädchen hinübergegangen war, sprang er zurück und nahm das Brett weg, als wolle er den Weg zu der jungfräulichen Lagerstatt unmöglich machen.
Mirja warf sich angekleidet auf die Decken und überließ sich ihren Gedanken, die jetzt mit Macht und beunruhigend auf sie eindrangen.
Lange, lange lag sie so da, eine Beute ihrer qualvollen Gedanken. Als sie die Lider wieder aufschlug, begegnete ihr Blick dem des Froschmenschen.
Kulwa saß in seiner alten Lage da, den Unterkörper auf den Boden, die Brust auf die Arme gestemmt, und hatte seine großen, wässerigen Augen unverwandt auf das Mädchen gerichtet.
So lag er auch noch da, als Mirja nach einigen Stunden erwachte; er schien sie beschützen zu wollen, nie sah sie diese Augen geschlossen, und erst später erfuhr sie, dass er sie überhaupt nicht schließen konnte, weil die Lider nicht über die geschwollenen Augäpfel gingen.
Als sie ihn so betrachtete, dünkte ihr, er sei ein treuer Wächter, der über ihre Sicherheit Tag und Nacht wache, wieder kam über das arme, verachtete, fort und fort verfolgte Judenmädchen plötzlich ein unbeschreibliches Behagen.
Hatte sie jemals jemanden gekannt, der so sorglich über sie gewacht hatte? Hatte sich jemals ein Mensch überzeugt, ob ihr Lager weich sei, und ob die Decke richtig liege? Vielleicht ihre Mutter hatte es getan, aber die war gestorben, als Mirja kaum erst aus dem Traumleben des Kindes erwacht war.
Sonst gab es wohl keinen Menschen, der ihr je in Liebe begegnet war, nicht einmal ihr Vater. Und diese unglücklichen Missgeburten zeigten sich so besorgt um sie. Waren sie denn überhaupt unglücklich zu nennen? Mirja bezweifelte es immer mehr. Sie hatten Schutz vor Nässe, Kälte und Hunger, und was brauchte denn der Mensch mehr?
Mirja wickelte sich behaglich in ihre Decken, ihr Entschluss stand plötzlich fest, hier zu bleiben. Hier hatte sie endlich Schutz vor Verfolgung gefunden.
Einmal noch tauchte das Bild Franziskas vor ihr auf, sie schien ihr hilfesuchend zu winken; Schmerz und Verzweiflung drückte das Gesicht aus, dann erschien auch Lord Canning, ihr Lebensretter, auch er flehte Mirja an, seine Braut zu retten. Aber dunkler und undeutlicher wurden die Traumbilder.
»Ich bleibe hier«, dachte sie noch zuletzt, ehe sie in Morpheus Arme sank, »draußen ist Not und Verfolgung, hier ist alles da, was ich brauche, und ich habe hier kein Unglück, keinen Spott, keine Verachtung zu fürchten. Ihr dort draußen habt mich nie geachtet, mich höchstens gebraucht, und so denke ich auch nicht mehr an euch!«
Damit schlief sie ein — und Mirja blieb wirklich im Reiche der ewigen Nacht unter den Missgeburten.
Sie spielte die Wirtschafterin, sie bereitete das Essen, sorgte für Reinlichkeit und wurde nach und nach immer mehr vertraut mit den Sonderbarkeiten ihrer Genossen.
Phangil führte ein Schlafleben, das heißt, er lag fast immer zusammengerollt und schlafend oder doch träumend da, blinzelte mit den Augen ins Feuer und klagte manchmal, dass dasselbe auch hell sei. Die Wärme behagte ihm, aber der Lichtschein schmerzte seinen Augen. Nur manchmal entfernte er sich; anfangs glaubte Mirja, er bliebe sehr lange aus, aber bald ward ihr die Zeit immer kürzer, bis er aus der Nacht ans Feuer zurückkehrte.
Wenn er dann wieder bei Mirja anlangte und er fand gebratene Fische und ein weiches Lager, so überschüttete er das Mädchen mit Kosenamen der seltsamsten Art, und Mirja freute sich darüber. Es ist so schön, wenn man Anerkennung und Dankbarkeit findet.
Kulwa blieb oft sehr lange aus, viel länger als sein Vater. Er benutzte als Weg stets den Kanal, während Phangil sich nicht einmal seine Fingerstumpfe benetzte. Kehrte Kulwa zurück, so brachte er stets Fische mit, und seine Ledertasche, die er auf dem Rücken trug und die wasserdicht schloss, enthielt stets alle jene Sachen, welche man auf dem Grunde von Flüssen zu finden pflegt, also jene Gegenstände, die als abgenutzt ins Wasser geworfen werden.
Der Inhalt der Tasche vermehrte stets den Haufen von Trödlergegenständen, einmal aber, als Mirja aus langem Schlaf erwachte, hatte er sich sehr vermindert, die besseren Sachen fehlten, und der abwesende Kulwa blieb lange aus.
Als er zurückkehrte, enthielt die Ledertasche einige Pfund Tabak, daraus schloss Mirja, dass Kulwa doch mit einem Menschen an der Oberfläche der Erde in Verbindung stand, die Sachen wurden ihm abgekauft oder gegen Tabak eingetauscht. Auch Apfelsinen und andere Früchte brachte er dem Mädchen mit und sagte, er habe sie gepflückt.
»So gehst du auch im Freien ans Land wie andere Menschen?«, fragte sie erstaunt.
»Wie andere Menschen?«, entgegnete er bitter. »Nein, nur die Flüsse und Bäche, überhaupt nur Wasser kann ich benutzen; doch ich darf mich nicht sehen lassen, sonst würde man mich töten wie die Krokodile.«
»Und die Krokodile, von denen die Flüsse wimmeln? Tun sie dir denn nichts?«
»Diese habe ich nicht zu fürchten, sie fürchten sich vielmehr vor mir, und wenn sie mich nicht kennen, so ergreifen sie bei meinem Anblick die Flucht. Nein, Mirja, nur die Menschen habe ich zu scheuen.«
Mirja kam immer mehr zur Überzeugung, dass Kulwas innerer Bau dem eines Reptils gleichen musste. Sein liebster Aufenthalt war ihm das Wasser, er lag mehr darin als auf dem Lande, steckte nur den Kopf heraus und sprach viel mit Mirja, wenig mit Phangil. Als ihr einmal ein Messer in das Wasser gefallen war, tauchte er danach und blieb wohl zehn Minuten unter Wasser ohne Atem zu holen.
Zugleich musste sie seine enorme Sprungkraft bewundern; ohne die Beine benutzen zu können, waren ihm Sätze von vier bis sechs Meter Länge eine Kleinigkeit. In den Armen besaß er eine Riesenkraft, und obgleich er keine Zähne hatte, sah sie ihn doch einmal eine kleine Kokosnuss mit dem eisenharten Zahnfleisch aufknacken. Er schob diese Nuss in den breiten Mund, wie Mirja es höchstens mit einer Haselnuss tun konnte, präsentierte dann die aufgeknackte Nuss dem Mädchen, und dieses hatte sich schon so eingelebt, dass sie den Kern ohne Widerwillen nahm und aß.
Doch manchmal hatte sie noch unter den ekelhaften Gewohnheiten ihrer beiden Genossen zu leiden.
Wie war sie erschrocken, als Phangil ihr zum ersten Male von einem Ausflug eine große Ratte mitbrachte und dieselbe ihr unter der stillschweigenden Voraussetzung gab, dass das Mädchen dieses Tier ihm zur Mahlzeit bereite.
Mirja, obgleich als Jüdin in Indien für unrein geltend, war als solche nach altem Brauch doch eben im Essen überaus wählerisch. Sie aß lieber trockenes Brot als das bestaussehende Fleisch, wenn sie nicht wusste, woher es stammte. Sie wies die Zumutung, die Ratte zu braten, mit Entrüstung zurück. Kopfschüttelnd nahm Phangil das Tier, warf es einfach ins Feuer und verzehrte es dann mit Haut, Haaren und Eingeweiden mit dem besten Appetit zum namenlosesten Entsetzen Mirjas.
Seit jener Zeit scheute sie sich nicht mehr, auch Ratten und ähnliche Tiere zuzubereiten; schließlich gewöhnt man sich ja an alles. Aber zum Mitessen war sie nicht zu bewegen, vielmehr sorgte sie dafür, dass nach und nach eine andere Lebensweise eintrat. Mit vieler Mühe machte sie Kulwa begreiflich, was Mehl sei, und er brachte, nachdem er mehrmals mit leeren Taschen zurückgekehrt war, doch endlich solches mit; die Brotfladen schmeckten auch diesen Geschöpfen, die sonst nicht einmal Früchte anrührten, und wurden seitdem ihre Lieblingsspeise.
Auch die Quelle, aus der die meisten Fische stammten, die ihr geliefert wurden, blieb Mirja nicht unbekannt.
Einige fing Kulwa selbst mit der Hand, die meisten aber lieferte Tausendzahn als Tribut ab.
Das Zusammenleben der drei Wesen war ein äußerst harmonisches.
Schlief Phangil nicht, so war er gegen Mirja immer freundlich, er konnte sich ihr gegenübersetzen, sie ansehen und dabei in einem fort knurrend lachen.
Kulwa bezeigte dem Mädchen eine rührende Vorsorglichkeit. Er aß nicht, wenn sie nicht aß, er gab ihr die besten Bissen, er ließ nicht zu, dass sie Holz zerkleinerte, vielmehr biss er die härtesten Stücke in kleine Teile, und Mirja konnte ihn ansehen, wann sie wollte, immer ruhten seine großen Augen wie erstaunt auf ihr, selbst wenn sie ihn schlafend glaubte.
Von einer Zudringlichkeit war nicht zu reden; überhaupt schien bei diesen beiden Geschöpfen jeder andere Trieb als der des Schlafes und des Hungers erloschen. Und doch kam es Mirja manchmal so vor, als wäre dem nicht so, dann verwarf sie aber schnell solch einen Gedanken.
Einmal hatte Phangil ihr Gesicht mit seiner plumpen Hand streicheln wollen, doch noch ehe sie sich dieser Liebkosung widersetzen konnte, hatte Kulwa einen so zornigen Laut ausgestoßen und zugleich ein Scheit Holz zum Wurfe erhoben, dass Phangil erschrocken von seinem Vorhaben abstand.
Über das Vorleben der beiden konnte die Jüdin nichts erfahren, denn die Antworten, die sie erhielt, waren vollkommen konfus. Mirja sah bald ein, dass den beiden jede Zeitberechnung durchaus abging, aber sie wusste nicht, dass es mit ihr ebenso der Fall war.
Sie glaubte, erst einige Tage hier unten zu sein, und war dabei schon viele Wochen in der Gesellschaft der Missgeburten.
Es ist eine durch die Erfahrung bestätigte Tatsache, dass die Zeit vorwärts schreitet, aber die Menschen nicht mit ihr, wenn sie nicht die durch die Zeit hervorgerufenen Verwandlungen beobachten. So zum Beispiel glaubt der Mensch, der in völliger Einsamkeit altert, es müsse draußen noch immer so aussehen, wie damals, als er sich in die Einsamkeit zurückzog, er denkt sich die Leute und ihre Gewohnheiten noch immer so wie früher, und tritt er nun ins Leben zurück, so glaubt er sich in eine andere Welt versetzt. Es dauert lange, ehe er begreift, dass alles anders geworden ist.
So ging es auch Mirja.
Als sie hier heruntergekommen war, wusste sie, dass sich Franziska im Hause der Duchesse befand, vielleicht gerade über ihr. Sie selbst hatte gehört, dass Franziska hierbleiben sollte. Nun war sie der Meinung, ihr Aufenthalt unter der Erde währe erst einige Tage; viel Schlaf und keine Abwechslung von Tag und Nacht vervollständigte die Täuschung, und so war sie auch der festen Überzeugung, Franziska müsse noch immer dort oben gefangen sein.
Mehr und mehr begann sich Mirja wieder mit dem Schicksal des unglücklichen Mädchens zu beschäftigen; ihr früheres Wohlbehagen schwand, sie machte sich Vorwürfe, weil sie an Franziskas Unglück schuld war, und so kam ihr auch immer wieder von neuem der Gedanke, ob sie dem Mädchen nicht noch helfen könne.
Sie erschien ihr im Traum, wie sie verzweifelt die Hände rang. Mirja erblickte Lord Canning, wie er sie erst bat, seine Braut zu retten, wie er ihr dann Vorwürfe machte, dass sie ihm, der sie aus Todesgefahr gerettet, solches Leid zufügen könne, und schließlich erschienen Mirja die beiden Gestalten nicht nur im Traum, sondern überall, wohin sie nur blickte, und aus allen Winkeln tönte ihr Seufzen und Wehklagen entgegen.
Vergebens suchte Mirja von Kulwa zu erfahren, was draußen in der Welt vorginge. Sie bekam wohl Antworten, aber diese waren zu unklar.
So sprang einmal der Froschmensch schneller als sonst aus dem Wasser und schüttelte sich wie mit Abscheu die wenigen Tropfen ab.
»Das Wasser der Flüsse und Bäche ist rot von Blut«, sagte er dabei, »die Krokodile brauchen nicht mehr zu fressen, sie trinken das blutige Wasser und werden dabei satt. Auch wimmelt es darin von Leichen, mich ekelt davor.«
»So ist noch Krieg?«, fragte Mirja.
»Krieg? Was ist das?«
»Die Menschen töten einander.«
»Ja, sie töten sich gegenseitig. Ich war heute im Sumpf und habe gesehen, wie die weißen Menschen die braunen überfallen haben und sie töteten mit jenen langen Rohren, welche dort liegen.«
Er meinte die Gewehre.
»Ein Brauner hatte einen Weißen gefangen und ihn an eine Palme gebunden. Der Braune schlug ihn, der Gebundene riss einen Arm los und schlug wieder. Da zog der Braune einen Dolch aus dem Gürtel, aber plötzlich fiel er tot hin. Der weiße Mann hieß Lord Canning. Mehr habe ich nicht gesehen und gehört.«
»Lord Canning?«, schrie Mirja. »Er ist tot?«
»Nein, er wurde von einem großen Mann, der ganz in Stahl gehüllt war, gerettet. Der andere war tot.«
So wurde in Mirja mit erneuter Gewalt die Erinnerung geweckt.
Das Glück und die Sicherheit waren hier doch nicht so standhaft, wie sie erst geglaubt hatte.
Einst wurde sie durch ein jämmerliches Heulen aus dem Schlafe geweckt. Die klagenden Töne kamen aus der Ferne, es klang so schauerlich, dass sich Mirjas Haare sträubten.
Aber auch die beiden Missgeburten wurden von gleichem Entsetzen befallen; angstvoll flüsterten sie in einer Sprache zusammen, die Mirja nicht verstand. Sie warfen erst mit Vermeidung jeden Geräusches Holz ins Feuer, machten Mirja Zeichen, sich ganz still zu verhalten, und dann schüttete Kulwa die ganzen Essvorräte ins Wasser. Dadurch wurden die Krokodile angelockt, das Wasser starrte bald von Köpfen, und die beiden schienen ruhiger zu werden. Das Geheul ließ nach, oder es entfernte sich vielmehr, und die beiden atmeten sichtlich erleichtert auf.
»Was war das?«, flüsterte Mirja.
»Wir wissen es nicht«, entgegnete Phangil dumpf; »es ist ein böser Geist, glauben wir. Ach, wenn er nur nicht einmal hierher kommt und uns aus unserer Wohnung vertreibt!«
Mehr erfuhr Mirja nicht, obgleich sich jenes Jammern und Heulen noch einmal wiederholte.
Mehr und mehr bestärkte sich des Mädchens Entschluss, Franziska doch noch zu retten, und endlich hatte sie einen Plan gefasst. Jene befand sich über ihr, das Loch war noch durch dasselbe hinauf in das Haus der Duchesse zu gelangen? Sie befragte darüber Kulwa, der das Mädchen seit einiger Zeit immer eindringlicher beobachtete.
»Warum?«, entgegnete er.
Mirja erzählte offen, was sie beabsichtigte. Sie wolle das gefangene Mädchen, eine Freundin, befreien, und sie zähle dabei auf die Hilfe ihrer neuen Kameraden.
»Wäre es möglich, durch das Loch hinaufzuklettern?«
»O ja, es ginge wohl, besonders wenn das Wasser angeschwollen ist, denn dann braucht man nur noch einige Meter zu klettern.«
»Willst du mich nicht einmal dorthin führen?«
Kulwa schüttelte den haarlosen Kopf.
»Der Weg dorthin ist sehr beschwerlich, für dich ganz unmöglich. Du müsstest lange schwimmen und oftmals lange, lange durch Höhlungen tauchen.«
»Ich würde mich nicht davor fürchten!«
»Aber ich würde dir dies nicht erlauben; denn du könntest dabei dein Leben einbüßen.«
»So tue du es für mich.«
»Deine Freundin befreien?«
»Ja«
»Nein, ich tue es nicht.«
Dieses Nein war in sehr bestimmtem Tone gesprochen.
»Warum nicht?«, fragte Mirja kleinlaut.
»Wir sind deine treuesten Freunde, du brauchst keine anderen. Alle Menschen sind falsch, nur wir nicht.«
»Aber ich bin daran schuld, dass meine Freundin gefangen worden ist, und ich muss sie wieder befreien, ich muss, ich muss!«, rief Mirja leidenschaftlich.
»Du musst? Nein, ich erlaube es dir nicht. Wenn du sie befreit hast, dann verlässt du uns schließlich.«
Mirja antwortete nicht.
»Nicht wahr, du würdest uns wieder verlassen?«, fragte Kulwa nach einer kleinen Pause leise.
»Ach, ich möchte ja so gern wieder hinauf in die Sonne, ach so sehr gern! Aber nein«, fuhr sie schnell fort, »gern will ich immer, immer hier unten bleiben, nie euch mehr verlassen, Zeit eures Lebens euch hier pflegen, wenn ihr nur jenes Mädchen befreien wollt.«
Kulwa wurde nachdenklich. Er schürte das Feuer, und als er seine Augen wieder auf Mirja richtete, strahlte zum ersten Male etwas wie Freude darin.
»Ich habe schon längst gemerkt, dass du dich von hier fortsehnst, und ich mag dich doch nicht gern fortlassen. Du würdest freiwillig hierbleiben, wenn ich dir deine Freundin befreien helfe?«
»Ja, freiwillig. Du dürftest alles verlangen, wenn du mir hilfst.«
»Alles dürfte ich verlangen?«
»Alles, alles, selbst das Unmöglichste. Ich würde wenigstens versuchen, es zu erfüllen.«
»Wohlan, ich werde dir beistehen. Wir werden deine Freundin retten.«
»Kulwa!«, rief Mirja, eilte über die Brücke und auf den Froschmenschen zu. Dieser breitete die Arme aus, als wolle er sie an seine Brust drücken.
Da blieb sie schaudernd stehen und wich dann zurück. Kulwa beschäftigte sich wieder mit dem Feuer.
»Ehe ich dir die Bedingungen stelle, unter denen ich dir helfe, müssen wir den Plan besprechen. Es ist mir nicht möglich, in das über uns liegende Haus zu dringen.«
»Kannst du nicht hinaufklimmen?«
»Doch, aber ich bin kein Mensch, der sich sehen lassen kann. Bei meinem Anblick würde man schreien, man wurde mich zu töten suchen, und deine Freundin selbst würde vor mir erschrecken und mir nicht folgen.«
»Du hast recht. So muss ich es eben selbst wagen. Es wird schon gelingen, das Loch zu erklettern.«
»Das lasse ich nicht zu, dein Leben ist mir zu lieb.«
»Aber wie sonst?«
»Es muss ein Mann sein, furchtlos, stark und gewandt und gewohnt, mit Menschen zu verkehren. Er dürfte sich nicht scheuen, in das Haus zu dringen, selbst wenn darin seine Feinde wären. Kennst du einen solchen Mann?«
»Ich kenne einen. Doch die Frage ist, wie du ihn finden solltest.«
»Ist er nicht hier in der Nähe?«
»Ich weiß nicht. Er kann vielleicht weit, weit von hier sein. Aber ich kenne keinen anderen, der sonst helfen würde.«
»Wenn du wüsstest, wie er heißt, und wenn dir sein Name bekannt wäre!«
»Das ist er! Es ist der Generalgouverneur von Indien, und sein Name ist Lord Canning.«
»Den Namen habe ich auch schon gehört.«
»Es ist derselbe, von dem du mir einst erzählt hast.«
»Ja, ich entsinne mich. Er ist stark und kühn, ich habe es selbst gesehen. Warum aber würde er das Mädchen wohl befreien helfen?«
»Weil meine Freundin seine Braut ist.«
»Braut? Was ist das?«
»Sie ist seine Geliebte.«
»Ah, er liebt sie! Und sie liebt ihn?«
»Gewiss!«
Das Gesicht des Froschmenschen nahm einen wahrhaft melancholischen Ausdruck an, dessen man es gar nicht für fähig gehalten hätte. Doch gleich blitzte darin wieder Freude auf.
»Sie wollen sich heiraten«, fügte Mirja hinzu.
»Heiraten!«, seufzte Kulwa. »Es ist schon sehr lange her, ich weiß nicht mehr, wie lange schon, da mordeten sich die Menschen noch nicht unter der schönen Sonne. Einmal lag ich in einem Bach zwischen den Krokodilen und sah durch die Büsche auf eine blumige Wiese. Weiße Häuser waren darauf gebaut, und dazwischen spielten, tanzten und sangen viele buntgekleidete Männer und Frauen. Es war sehr schön und sah sehr lustig aus. Zwei Menschen kamen nahe an den Bach heran, und da hörte ich, es hätten sich zwei geheiratet, und das würde nun gefeiert.«
»Ja, es war eine Hochzeit.«
»Auch dieses habe ich gehört, und dann vernahm ich ferner, nun gehörten sich die, welche sich verheiratet hatten, fürs ganze Leben an, nur der Tod könne sie trennen, sie seien von jetzt ab ein Leib und eine Seele, und wenn der eine sterbe, so müsse der andere auch sterben.«
»Das sagten die beiden?«
»Es waren die, welche sich geheiratet hatten. Ist das wahr, was sie sagten?«
»Ja, so sollte es wenigstens sein, und bei denen, welche sich wirklich lieben, ist es auch so.«
»Sie sagten auch, dass sie sich so sehr liebten.«
»Dann wird es ein glückliches Ehepaar geworden sein. Doch, Kulwa, wir wollen über die Rettung meiner Freundin sprechen!«
»Das wollen wir! Also der, den du Lord Canning nennst, wird seiner Braut helfen?«
»Auf alle Fälle! Er würde vor nichts zurückschrecken. Wie aber kannst du ihn finden? Ich weiß nicht, wo er ist.«
»Ich kenne einen Menschen, mit dem ich heimlich verkehre. Er nimmt mir die Sachen ab, die ich am Grunde des Wassers finde, auch manchmal Fische und er gibt mir dafür Tabak. Dieser Mann weiß sehr, sehr viel, er wird auch Lord Canning kennen.«
»Sicherlich, jeder in Indien kennt den Generalgouverneur!«
»Er wird mir auch sagen können, wo ich ihn finde.«
»Und dann? Wie willst du zu ihm gelangen?«
»Ich habe schon das ganze Land durchstreift, ich kenne alle Gewässer, überallhin kann man in ihnen gelangen, nur manchmal muss ich von einem Wasser zum anderen übers Land kriechen, was ich dann des Nachts tue. So werde ich zu ihm gelangen. Was soll ich ihm sagen?«
»Ich werde es dir aufschreiben, erst erkundige dich über seinen Aufenthalt« rief Mirja freudig. »O, Kulwa, wie soll ich dir danken!«
»Dadurch, dass du freiwillig bei mir bleibst.«
Die Freude Mirjas wurde schnell gedämpft.
»So bestehst du wirklich darauf?«
»Ja, du hast gesagt, ich dürfte von dir verlangen, was ich wollte.«
»Ich habe es gesagt und nehme es nicht zurück. Wohlan, so werde ich hier bei euch bleiben, wenn meine Freundin durch dich gerettet worden ist!«
»Sie soll gerettet werden, und dann musst du mich heiraten!«
Entsetzt fuhr Mirja zurück. Sie glaubte falsch verstanden zu haben.
»Was — was — sagtest du da?«, stammelte sie.
»Wir wollen uns heiraten. Wir wollen auch ein Leib und Seele sein fürs ganze Leben, nur der Tod kann uns trennen, und wenn der eine stirbt, so stirbt der andere auch. Mirja, wenn du mich heiratest, so will ich deine Freundin retten, und du könntest noch viel mehr von mir verlangen. Dann soll mein Leben nur noch dir gehören.«
Minute nach Minute verstrich, und noch starrte Mirja sprachlos das froschähnliche Ungeheuer mit den knöchernen, abgestorbenen Beinen an. Geduldig wartete Kulwa auf eine Antwort.
Was mochte in ihrem Herzen wohl vorgehen? Es war ein furchtbarer Kampf, der in ihr wütete.
»Ich will es!«, hauchte sie dann, sank aber, von dem Seelenkampf vollständig erschöpft, bewusstlos nieder.
Wir haben schon gesehen, dass Kulwa die schriftliche Botschaft Mirjas Lord Canning richtig überbrachte, wir hörten auch, wie er begeistert von seiner jungen Frau sprach.
Nur, weil Lord Canning in der vermummten Jüdin Mirja zu erkennen glaubte, zögerte er mit der Ausführung des Vorhabens, wozu er aufgefordert wurde.
Auf einem bewaldeten Terrain brannten Wachtfeuer, und um dieselben lagen die 500 englischen Dragoner, welche am Morgen vom schwarzen See aufgebrochen waren, ihre Genossen aus den Händen der Thugs zu retten oder ihren Tod furchtbar mit der Degenklinge zu rächen.
Den ganzen Tag hatten sie ihre Pferde in Karriere oder Galopp gehalten und die Tiere nur einmal im Tritt verschnaufen lassen, während die Reiter aus der Hand etwas aßen.
Bei Anbruch der Nacht ließ Captain Smith, der Führer dieser Dragoner, seine Leute halten, absatteln und abkochen; denn einige Stunden Ruhe waren unbedingt erforderlich. Man war nur noch einige Meilen von der Burg Malangher entfernt, mit dem ersten Morgenstrahl wollte man unter Hurra vor die Tore stürmen.
Den Offizieren war der Weg vollständig aus Karten bekannt; man näherte sich der Burg also nicht, wie seinerzeit Dick, von der Sandwüste aus, wo die Felsenmauern jedem größeren Trupp ein Halt geboten, sondern von der Heerstraße aus. Diese Felsspalte war den Offizieren übrigens auch gar nicht bekannt.
Einen Verlust hatte man schon zu verzeichnen.
Der nachkommende Russell erzählte, er hätte August vom Pferde stürzen sehen, und es ergab sich sofort, dass Roß und Reiter fehlten. August wurde als Opfer des Krieges weniger bedauert als die auf seinen Rücken geschnallte Gummitonne. So konnte den am See Wartenden nicht sofort die Nachricht übermittelt werden, wie die Expedition ausgefallen war. Während die Soldaten noch aßen, berieten sich die Offiziere, ohne zu einem besonderen Resultat zu kommen, wie der Angriff vorzunehmen sei.
Das Lager war sehr klein, die Soldaten lagen dicht nebeneinander, in der Mitte die Offiziere; in kleinem Umkreis standen einige Wachen an besonderen Feuern. Es galt ja nur, einen etwaigen feindlichen Überfall abzuschlagen, nicht selbst den Feind zu erspähen. Daher hörte man jetzt auch einen Hufschlag ganz in der Nahe, ohne dass die Posten schon angerufen hätten.
»Wer da?«, erscholl aber jetzt ihr Ruf.
»Die Begum von Dschansi«, erklang es ebenso laut und klar durch die Nacht zurück.
Wie elektrisiert sprang alles auf, die Soldaten griffen nach den Karabinern, die Offiziere nach den Revolvern, als wäre die Antwort der Mädchenstimme ein furchtbarer Schlachtruf gewesen.
Früher hatte man an die Existenz einer Begum von Dschansi überhaupt nicht geglaubt, seit den Ereignissen in der letzten Nacht zweifelte man nicht mehr an ihr. Sie hatte sich in wenigen Stunden einen gefürchteten Namen gemacht.
Der Posten war so erschrocken, dass er den ankommenden Reiter nicht anhielt, und plötzlich sprengte in die Mitte des Kreises ein sattelloses Pferd, auf dessen Rücken ein Mädchen saß.
Ein sich enganschmiegendes Kleid aus Panzerschuppen, wie es in solcher Gediegenheit und Geschmeidigkeit nur in Indien noch heute gemacht wird, umschloss die schlanke und doch vollentwickelte Gestalt. Es reichte nur bis etwas über die Knie, die kräftigen, wohlgeformten Waden, wie auch die Arme freilassend, den Oberkörper dagegen bis an den Hals verhüllend. Trotzdem konnte dieses Gewand aus Stahl nicht lästig sein, denn es machte selbst die Bewegungen des hochatmenden Busens mit. Wurde darüber ein Frauenkleid geworfen, so hätte man wohl nie geahnt, dass es einen Schuppenpanzer verbarg. Die Hüften umschloss ein silberner Gürtel, an dem ein langer Dolch hing. Sonst zeigte sie keine Waffe.
Entgeistert blickten alle auf das junge, schöne Mädchen, auf das stolz geschnittene Gesicht, um das wild die schwarzen Locken flatterten. Das Antlitz, schon an sich braun, war vom heftigen Ritt dunkel gerötet.
Im Galopp kam sie in den Kreis gesprengt und brachte das Pferd mit einem Ruck zum Stehen.
Das also war die Begum von Dschansi, die vorige Nacht die Posten, darunter einen besonnenen Offizier, lautlos überwältigt und dann spioniert hatte? Und sie wagte sich offen mitten unter die Feinde? Nein, sie musste Schutz hinter sich wissen.
»Wer ist der Führer dieser fünfhundert Dragoner?«, rief sie sofort, als das Roß stand, und ließ ihre blitzenden Augen im Kreise fliegen.
»Ich«, rief der Captain, vortretend, »Captain Smith, und ist es wirklich wahr, dass die, welche sich die Begum von Dschansi nennt, vor mir steht?«
»Ich nenne mich nicht so, sondern ich bin die Begum von Dschansi«, war die stolze Antwort.
»Die Begum, die Königin von Indien?«
»Diesen Namen werde ich mir noch verdienen.«
Unter den Offizieren entstand die erste Bewegung. Die Soldaten sammelten sich, das Kommando erwartend, ein Karree zu bilden, jenes feuerspeiende Viereck, in dessen Bildung das englische Militär hauptsächlich geschult wird.
Doch der Captain zögerte, das betreffende Kommando zu geben.
»Bei Gott«, rief er, »du bist kühn, Begum, dich unter uns zu wagen, und wenn du auch eine noch so große Macht hinter dir hast; lebendig würdest du uns doch nicht verlassen können.«
»Ich bin allein.«
»Wie, du wärest allein?«
»Auf mein Wort, ich bin's. Oder glaubst du, ich würde mich, wenn ich meine Krieger zum Angriff führen wollte, allein und waffenlos unter die Feinde begeben?«
Das leuchtete allen ein.
»So bist du jene Begum von Dschansi, welche gestern im Lager am schwarzen See spioniert hat?«
»Es gibt nur eine Begum von Dschansi.«
»Also du warst es?«
»Ich war es.«
»Und fürchtest dich nicht, dich unter uns zu begeben?«
»Du solltest lieber fragen, warum ich zu Euch komme.«
»Wahrhaftig, Begum, du hast recht. Lehre mich alten Mann auch noch Vernunft. Dennoch muss ich einige Fragen an dich richten. Sieh die gespannten Gesichter meiner Offiziere! Bist du auch unser Feind, bei Gott, auch an diesem bewundern wir Tapferkeit und Tüchtigkeit. Du warst allein, als du in unser Lager schlichst?«
»Allein.«
»Und hast die vier Posten allein überwältigt?«
»Ja.«
»Du hast sie nur betäubt.«
»Frage jenen, ob ich ihn betäubt habe.«
Sie deutete auf Russell, der erbleichte und sich auf die Lippen biss.
»Begum, ich muss dich bewundern«, rief der exzentrische Captain feurig, »und es sollte mich freuen, wenn ich mit dir einmal im Kampfe zusammenträfe, dass wir die Degen kreuzen können. Ich denke, du kannst auch fechten.«
»Du würdest mich bald kennen lernen.«
»Schade, dass wir es nicht gleich jetzt probieren können. Doch du bist bei uns geschützt, du sollst nicht sagen, wir hätten dich heimlich gefangen, als du dich kühn in unsere Mitte wagtest.«
»Es wird euch nicht gelingen, mich zu fangen.«
»Oho!«
»Ich bin bereit, es darauf ankommen zu lassen. Aber willst du nicht erst erfahren, was mich veranlasst, hierher zu kommen?«
»Das ist die Hauptsache. Nun, schöne Begum?«
»Ihr habt einen Zug gegen die Burg Malangher vor?«
»So ist es. In Delhi haben die Inder uns heimtückisch überfallen, sie haben Gefangene gemacht, und nun sollen diese von den verfluchten Thugs ihrer Göttin geopfert werden. Retten oder rächen ist unser Losungswort.«
»Auch das meine.«
Unter den Offizieren entstand eine Bewegung. Verwundert schaute man auf das Mädchen, das sich mit drohend blitzenden Augen höher aufgerichtet hatte.
»Wie? Du, die du die Meuterer befehligen sollst?«
»Ich soll sie nicht befehligen, sondern ich befehlige sie wirklich, und es sind keine Meuterer, sondern es sind Rebellen.«
»Meuterer sind es, elende Feiglinge, die uns heimtückisch überfallen haben.«
»Captain Smith, denke daran, wie England sich in den Besitz Indiens gebracht hat!«
Eine verlegene Pause trat ein. Wie manches andere, so ist auch die Machtstellung Englands in Indien ein dunkler Fleck, der im Buche der Weltgeschichte nie wegzulöschen geht.
»Hast du die Gefangenen nicht selbst den Thugs übergeben?«, fuhr Smith dann fort.
»Nimmermehr! Fluch dieser Würgerbande, und doppelter Fluch denen, die die Gefangenen den Thugs gegen mein Wissen ausgeliefert haben. Retten oder sie rächen! das ist auch mein Wahlspruch.«
»Du wolltest nicht den Tod der Gefangenen?«
Das Mädchen zögerte etwas.
»Nein«, sagte sie dann bestimmt; »in einer Anwandlung von Heftigkeit, als man meinen Langmut zu stark auf die Probe setzte, gab ich wohl zu verstehen, dass ich die Gefangenen nicht mehr, wie anfangs, zu schonen gedachte, doch den Befehl, sie zu töten, gab ich nicht, und noch weniger den, sie von den Thugs opfern zu lassen. Wer zweifelt an der Aufrichtigkeit meiner Worte?«
»Niemand. Dein Hiersein bestätigt sie schon allein. Was gedenkst du nun zu tun?«
»Euch anzuführen gegen die Burg Malangher; wir wollen dieses Würgernest ausheben.«
Das war das letzte gewesen, was man erwartet hatte.
»Du, unsere Feindin? So sind wir schlecht berichtet worden, du hältst zu uns, nicht zu den Rebellen?«
»Nicht doch, ich bin Eure geschworene Feindin und kämpfe für die Unabhängigkeit Indiens. Wollt ihr mir folgen?«
»Wir verstehen dich nicht, Begum.«
»Gegen meinen Willen sind die Gefangenen den Thugs ausgeliefert worden, man hat mich belogen und betrogen, mir allerlei verheimlicht. Der Tod soll die treffen, welche mich hintergangen haben und meiner Befehle spotten!«
Immer zorniger sprühten die Augen des Mädchens, die feinen Nasenflügel zitterten in leidenschaftlicher Erregung.
»Und unserer willst du dich dazu bedienen?«
»Ja, auch wenn ihr meine Feinde seid. Würde ich auf meine Truppen stoßen, würde ich euch nicht fragen, ob ihr mir folgen wollt. Doch diese Gegend ist von den Rebellen entblößt.«
Unter den Offizieren entstand ein hastiges Flüstern; es schien zwei Parteien mit entgegengesetzter Meinung zu geben. Die größere, an ihrer Spitze Kapitän Smith, siegte.
»Nein, Begum, wir rücken nicht unter deiner Führung gegen die Burg vor. Wir sind Engländer und haben nicht nötig, uns von unseren Feinden anführen zu lassen.«
Für diese Antwort hatte die Begum nur ein spöttisches Lachen übrig.
»So meinst du, es würde den Dragonern gelingen, unter deiner Führung die Burg zu erstürmen?«, fragte sie dann.
»Gewiss, wenn nicht unter meiner, so unter der Führung jedes anderen Offiziers. Wir danken dir aber für deine Bereitwilligkeit, Begum, uns zu helfen, und werden stets laut und offen bekennen, dass du den Tod der Gefangenen nicht nur nicht wolltest, sondern sie selbst aus den Händen der Thugs mit unserer, deiner Feinde Hilfe zu retten versuchtest.«
»Mit eurer Hilfe? Hahaha! Bedenkt euch, ehe ihr so anmaßend sprecht. Wer von euch kennt die Burg Malangher?«
»Wir alle.«
»Ihr wart schon darin?«
»Wir kennen genau ihre Lage und ihre Bauart.«
»Aus den Zeichnungen, die ihr von jedem neuen, festen Bau verlangt, ich weiß es. So lasst euch denn sagen: Ihr könnt die Burg nicht mit List angreifen, könnt euch nicht heranschleichen, sondern müsst die freie Heerstraße heranstürmen.«
»Das werden wir tun!«
»Und ehe das erste Pferd seinen Kopf in das Tal steckt, werden die fünfhundert Dragoner eine blutige, zuckende Masse sein. Ihr habt die in den Ketten hängenden Kanonen vergessen, welche die ganze Heerstraße beherrschen.«
Eine Pause trat ein.
»Die Burg hat nur wenige Kanonen«, sagte Russell, »ich bin der einzige von uns, der dort war, und habe die Geschütze gesehen.«
»Wo standen diese?«
»Auf Rädern hinter der Verschanzung.«
»So hast du also nicht die Fünfzigpfünder gesehen, welche überall im Felsen in Ketten hängen. Ich glaube es dir; denn sie sind vor fremden Augen sehr gut versteckt.«
»Begum, sprichst du die Wahrheit?«, fragte Smith erregt.
»Ich spreche sie. Hört auf mich, Faringis, und ich liefere euch die Burg in die Hände. Erst wenn ihr innerhalb der Burgmauern seid, sollt ihr das Schwert brauchen, und das meine soll euch unterstützen, es wird sich gegen die wenden, welche mich verspottet haben. Ich werde meine Landsleute nicht schonen, denn sie sind Verräter.«
Wieder entstand unter den Offizieren ein Geflüster.
»Gut, Begum, führe uns an! Wir folgen dir«, war dann die Antwort, »und wir glauben, dass du uns nicht in einen Hinterhalt locken wirst.«
»Denkt, was ihr wollt, die Folge wird lehren, ob meine Worte wahr gewesen sind oder nicht.«
»Dann dürfte es zu spät sein.«
»So misstraut ihr mir und wollt mir nicht folgen?«
»Doch, wir wollen es!«, riefen die Offiziere einstimmig.
»So sattelt die Pferde!«
»Eine Minute, Begum, wir sind den ganzen Tag in Karriere geritten. Die Leute sind erschöpft, sie brauchen Erholung, wenn sie den Pallasch führen sollen.«
»Und ich? Habe ich nicht denselben Weg zurückgelegt? Ich habe den schwarzen See viel später als ihr verlassen.«
»So muss ich deine Widerstandskraft bewundern, Begum. Unsere Leute bedürfen indes der Ruhe, noch mehr die Rosse.«
»Dann verstehen die Engländer nicht zu reiten. Mein Pferd musste schneller ausgreifen, und sieh, wie es unter mir tänzelt.«
»Mich deucht, das ist ein englisches Dragoner-Pferd«, sagte Captain Smith nachdenklich.
Die Begum lächelte.
»Wahrhaftig, das ist das Pferd von dem Deutschen, der aus dem Sattel geworfen wurde«, rief Russell, mit dem Deutschen August meinend.
»Du irrst dich nicht. Ich sah, wie der Mann, der wie ein Affe auf dem Rücken des Tieres hockte, abgeschleudert wurde, und ich fing das Pferd für mich. Doch genug davon! Wollt ihr meinen Plan hören?«
»Nenne ihn!«
»Wann können deine Leute reiten?«
»Noch vor dem ersten Sonnenstrahl; mit der Morgendämmerung werden sie im Sattel sitzen.«
»So können sie mit aufgehender Morgensonne vor der Burg sein. Haltet euch an der Biegung der Heerstraße versteckt, wo ihr von der Burg aus nicht gesehen werdet, von wo aus aber ihr die Turmspitze sehen könnt...«
»Und wenn Posten aufgestellt sind, die uns melden?«
»Das schadet nichts. Macht keine Miene, die Wachen zu überrumpeln; denn entkommt nur einer der Thugs, so schadet euch das mehr, als ihr ahnt. gebt acht auf die Flaggenstange des Turmes. Solange die Flagge nicht weht, verhaltet ihr euch ruhig; weht sie am halben Stock, so kommt in langsamem Trab und gemächlich angeritten — das Tor werdet ihr offen finden; flattert die Fahne oben am Knopf, so gebt den Pferden die Sporen und kommt herangebraust, den Degen in der Faust — auch dann werde ich euch das Tor offen halten, und keine Granate soll in eure Reihen schlagen. Habt ihr alles verstanden?«
»Ja, aber...«
Das Roß sank etwas in die Hinterfesseln und flog, von der Hand des Mädchens angetrieben, mit plötzlichem Sprunge aus dem Kreise. Im Nu waren die Hufschläge verklungen. Die Begum hatte deutlich zu verstehen gegeben, dass sie kein Aber hören wollte.
»Seltsames Mädchen!«, staunten die Offiziere ihr nach. »Doch wir werden ihrer Aufforderung nachkommen. Hält sie es denn eigentlich mit uns oder mit den Rebellen? Warum hat sie denn gestern nacht die Wachen nicht getötet die sie überwältigte? So viel ist aber gewiss, wenn sie gegen uns kämpft, dann haben wir eine gewaltige Feindin zu fürchten.«
Die Offiziere wussten noch nicht, dass die Leiche der alten Inderin gefunden worden war, und dass der Mord nach dem Zeichen unbedingt der Begum zugeschrieben werden musste. Colonel Harquis hatte keine Gelegenheit gehabt, noch vor dem Abritt der Dragoner davon Mitteilung zu machen.
Burg Malangher glich einem aufgestöberten Ameisenhausen.
Die Hunderte von Thugs, welche den Ausgang ins Freie genommen hatten, mussten bis zum Anbruch der Nacht in den Mauern verweilen; denn im Schatten der Dunkelheit sollte die heimliche Abreise der von nah und fern herbeigeströmten Fremden erfolgen, nicht, weil man wie früher die Polizei der englischen Gouvernements zu fürchten hatte, sondern weil es eben ein althergebrachter Brauch war.
Was unten im tiefsten Innern der Felsen vorging, wussten sie nicht direkt, nur so viel, dass die Gefangenen trotz allem dem sicheren Untergange geweiht waren. Sie verirrten sich in den dunklen Gängen, stürzten in Tiefen oder verhungerten. Den Ausgang fanden sie sicherlich nicht.
Noch kämpften Nacht und Tag um die Herrschaft, die schwächste Dämmerung war über das freundliche Tal gebreitet, in den Gängen der Burg war es noch vollkommen dunkel, als ein Knabe von acht Jahren, im Nachtgewand und die brennende Lampe in der Hand, aus einem Gemach auf den Korridor trat.
Das eilige Laufen auf den Gängen hatte ihn aus dem Schlafe geweckt, und die Worte, die er zurückrief, ließen darauf schließen, dass er sich von den Dienern nicht mehr durch leere Ausflüchte zurückhalten lassen wollte.
Er erschrak sofort; denn in diesem Augenblicke kam die große, herkulische Gestalt des Radschas Gholab vorüber, und die Lampe des Knaben beleuchtete ein um dessen Schultern gewickeltes, blutignasses Tuch.
»Was ist denn geschehen? Du bist verwundet! rief der Knabe entsetzt.
Der Oberguru der Thugs zog beim Anblick des Knaben ein finsteres Gesicht.
»Nichts weiter!«, entgegnete er rauh. »Was aber veranlasst dich, Suradscha, zur nächtlichen Zeit deine Gemächer zu verlassen?«
Der Sohn des Schlossherrn fühlte sich durch diese Frage beleidigt.
»Darüber habe ich dir keine Rechenschaft zu geben«, erwiderte er stolz, »ich bin nicht mehr unter der Obhut der Frauen und kann meine Schritte lenken, wie mir beliebt.«
»Geh hinein! Ich bitte dich darum.«
»Nun erst recht nicht! Es ist ein Lärmen, Laufen und Hasten im Schloss, das ich mir nicht erklären kann. Was ist geschehen? Ich will es wissen!«
»Nichts von Bedeutung!«
»Du verheimlichst es mir.«
»Ich bin nicht verpflichtet, deine Neugier zu befriedigen.«
Der Radscha trat dicht vor den Knaben hin.
»Geh in dein Zimmer zurück!«, herrschte er ihn jetzt mit gedämpfter Stimme an. »Du bist noch zu jung, um zu begreifen, dass du uns jetzt im Wege bist.«
»Wie? Mir das?«, rief der Knabe zornig. »Aly, Assam!«
Zwei Inder kamen aus dem Zimmer gestürzt, sie mochten dem Gespräch schon gelauscht haben.
»Radscha, es ist der Sohn dessen, der hier zu befehlen hat«, sagte einer von den Dienern, ein alter Mann. »Du hast wohl unten zu herrschen, nicht aber hier oben.«
Suradscha hörte nicht weiter zu, er eilte davon, wahrscheinlich um sich selbst von dem Grunde des ungewöhnlichen Lärms zu überzeugen. Dagegen gerieten nun die Zurückbleibenden scharf aneinander.
»Assam, du wagst es, mir so entgegenzutreten?«
»Die Rechte des mir Anvertrauten zu wahren, ist meine Pflicht.«
»Du weißt, Akkallah ist nicht mehr unter uns.«
»Wehe uns, dass es so ist. Um so mehr aber müssen wir jetzt Suradscha achten. Wäre es denn nicht möglich, ihn zu retten?«
»Tor, wolltest du den Tempel jetzt betreten? Akkallah war ein Verräter an uns.«
»Er hielt sein Wort, das er dem roten Mann als Mayadar gegeben hatte.«
»Ich habe ihn im Verdacht, die Gefangenen befreit zu haben.«
»Du lügst!«, schrie der Diener, der an der nächtlichen Orgie teilgenommen zu haben schien. »Das hätte Akkallah nimmermehr getan.«
Da kam der Knabe zurück, er schien außer sich zu sein.
»Wo ist der rote Mann, der mich gerettet hat?«, rief er leidenschaftlich. »In seinem Zimmer sind die Sachen, die er mitbrachte, er selbst ist nicht darin.«
»So suche ihn doch!«, entgegnete Gholab gleichgültig.
»Du weißt, wo er ist.«
»Ich? Wie sollte ich?«
»So werde ich meinen Vater fragen.«
Er wollte davoneilen, Gholab ergriff ihn aber beim Arm.
»Gib dir keine Mühe«, sagte er rau, »auch deinen Vater wirst du nicht mehr finden.«
»Was?«, schrie der Knabe entsetzt. Der Oberpriester schien Lust zu haben, den Unschuldigen gleich völlig in das einzuweihen, was in der Nacht vorgefallen war, er achtete nicht der warnenden Blicke des alten Dieners.
Da kam ein Mann hereingestürzt, ebenfalls mit verbundenen Wunden bedeckt. Es war Radschah Tipperah. Sein Gesicht drückte Angst aus, seine Augen wanderten ruhelos hin und her. Er sah nicht den Knaben, er sah nur den Oberguru, den er suchte.
»Dreimal verflucht sei dieser neue Tempel!«, schrie er. »Das Unglück ist gekommen und bleibt bei uns! Gholab, rate uns! Was sollen wir sagen, wo Akkallah geblieben ist?«
Erschrocken ließ Gholab den Arm des Knaben fahren.
»Wer fragt nach ihm?«
»Ein Bote der Begum von Dschansi ist da, sie fordert Akkallah sofort zu sich nach Delhi.«
»Die Begum von Dschansi?«, sagte Gholab, sichtlich erleichtert. »Bah, deshalb brauchst du mir nicht einen solchen Schrecken einzujagen. Wer ist der Bote?«
»Ein mir unbekannter Mann.«
»Wie kam er in die Burg? Die Wachen an der Straße hatten den Befehl, keinen Fremden mehr einzulassen.«
»Das eben ist das Rätsel. Er ist plötzlich auf dem Burghof, steht vor mir und zeigt mir das Siegel der Begum.«
»So hat er sich eingeschlichen.«
»Wahrscheinlich, oder die Wachen sind nachlässig gewesen.«
»Den Tod über sie!«
»Ja, was nun? Der Bote ist da, er will Akkallah sprechen, und wir können ihn doch für tot halten.«
Ein unterdrückter Schrei erklang hinter den beiden. Sie achteten jetzt nicht darauf.
»Sicherlich ist er tot. Gab der Mann das Zeichen der Thugs?«
»Nein.«
»Du weißt, was er will?«
»Er sagte selbst, die Begum wolle Akkallah sofort in Delhi sprechen. Ohne Verzug solle er dem Boten folgen.«
»So wundert er sich, dass die Burg so viele Menschen beherbergt?«
»Nicht im geringsten, er sieht sich nicht um.«
»Kennst du ihn denn nicht?«
»Er hat sein Gesicht verhüllt und will es mir nicht zeigen.«
»Mir soll er es enthüllen.«
»Aber was dann?«
»Bah, ich werde ihn ausforschen und dafür sorgen, dass er die Burg nicht wieder verlässt!«
»Wie, Gholab?«, rief Tipperah erschrocken.
»Mit anderen Worten, es soll überhaupt kein Bote hier eingetroffen sein, wir wissen wenigstens nichts davon. Das Reisen in Indien ist sehr gefährlich. Wo ist er?«
»Der Schlossvogt hat ihm bereits ein Zimmer angewiesen.«
Gholab begab sich dorthin und stand bald einem kleinen Manne gegenüber, dessen Gesicht, wie bei einem Weibe, mit einem Kopftuch verhüllt war.
Nur einen Blick warf Gholab auf ihn, dann schlug er sich vor die Stirn.
»Sinkolin!«, rief er. »Konnte ich mir nicht gleich denken, dass es kein anderer ist als du?«
»Wieso?«
»Deine geheimnisvolle Art, zu kommen! Kommst du wirklich, Akkallah zur Begum zu holen?«
»So ist es. Wo ist er?«
Gholab zögerte mit der Antwort.
»Er ist tot«, fuhr Sinkolin fort, »ich habe es bereits erfahren.«
»Von wem?«, rief der Radschah bestürzt.
»Von diesem da!«
Sinkolin deutete nach einer Ecke, aus welcher sich mit geisterbleichem Gesicht und stieren Augen Suradscha erhob.
»Leugnest du auch noch jetzt, dass mein Vater ermordet worden ist?«, rief derselbe. »Ich verlange, dass du mir den Mörder nennst, du kennst ihn, damit ich den Toten rächen kann.«
Gholab hatte nur ein Achselzucken.
»Ich weiß alles«, fuhr Sinkolin fort, »und was ich nicht weiß, kann ich mir ergänzen. Ihr, und ganz besonders du, habt nicht auf meinen Rat gehört, solange mit der Opferung der Gefangenen zu warten, bis ich die Einwilligung der Begum dazu habe. In vermessener Eile hast du sie hierherbringen lassen, um sie zu opfern, und ich glaube, sie haben sich befreit.«
»Befreit wohl, doch dem Tode entgangen sind sie nicht«, entgegnete der Radscha gedrückt.
»Wohlan, Gholab«, sagte Sinkolin mit erhobener Stimme, »merke dir, die Begum wird kommen und Rechenschaft von dir fordern.«
»Bah, wer ist denn diese Begum von Dschansi?«
»Deine Gebieterin.«
»Ich erkenne sie nicht an.«
»Du musst!«
»Ich will es aber nicht!«
»So bist du ein Feind Indiens. Wir werden darüber noch rechten. Solange ich hier verweile, verlässt keiner der Thugs die Burg.«
»Ergeht dieser Befehl auch an mich?«, fragte Gholab hochmütig.
»Ich sprach nicht von dir, sondern von den Leuten.«
»Du tust, als hättest du hier zu befehlen.«
»Frage unten die Leute, ob einer nicht gehorchen will. Geh, ich will mit Suradscha allein sein! Dass du nicht versuchst, dich meiner zu entledigen!«
Sinkolin hatte recht gehabt. Keiner der Thugs verließ im Laufe des Tages die Burg; denn den geheimnisvollen Mann fürchteten sie mehr als alles andere, sein Befehl galt so viel, als hätte die Göttin Kali selbst zu ihnen gesprochen, um so mehr, als er der Bote der Begum war, die als Tochter der Kali galt.
Eine drückende Schwüle lag den ganzen Tag über der Burg, es wurde nur in flüsterndem Tone gesprochen, die Chams und Gurus führten geheime Unterredungen; Sinkolin und Suradscha ließen sich nicht sehen.
Erst gegen das Ende der zweiten Nacht wurde es in der Burg plötzlich lebendig, flüsternd ging es von Mund zu Mund, die Begum von Dschansi selbst sei eingetroffen und verlange Rechenschaft von den Führern, wo die Gefangenen, ihre Gefangenen, geblieben seien.
Die einen glaubten, sie spreche schon mit den Führern, andere, die Begum würde erst am anderen Tage öffentlich Fragen stellen.
So war es auch.
Als der Tag begann, ertönten Signale, welche die Bewohner der Burg auf deren Hof zusammenriefen.
Unter dumpfem Murmeln sammelte sich die nach Hunderten zählende Menge um ihre Führer, und dort am Eingang zum Turmhaus, an dessen Spitze die Fahnenstange befestigt war, stand die Begum und besprach sich leise mit ihrem Boten und Suradscha.
Die meisten sahen dieses Mädchen zum ersten Male, denn sie waren Fremde; aber alle, alle hatten von ihr gehört, wussten, dass sie als die Tochter Kalis zur Befreiung Indiens ausgewählt sei, und beteten sie an.
Von jenem Manne an ihrer Seite gingen die abenteuerlichsten Gerüchte, er sollte der König der Gaukler, der Fürst der Geister sein, und so wanderten die Augen der Versammelten ehrfürchtig bald zu dem kleinen, vermummten Manne, bald zu dem kriegerischen Mädchen im Stahlschuppenkleid, welches jetzt auch ein langes Schwert an der Seite trug.
Die Augen der Chams, besonders die des Radschas Gholab, ruhten finster auf den beiden. Sie waren nicht gewillt, sich in ihre priesterlichen Rechte eingreifen zu lassen, und wäre es auch durch die Hand der Tochter der Kali selbst. Sie glaubten eben selbst nicht an die von ihnen verbreitete Lehre.
»Man hat mir bis jetzt verheimlicht«, begann die Begum mit klarer, weithinschallender Stimme, »dass dies der Ort ist, wo die Opferfeste der Göttin Kali, der euer Kultus gilt, stattfinden. Wer ist der Oberpriester von euch?«
»Ich, Radscha Gholab!«, entgegnete dieser und trat vor. »Zürne uns darum nicht, Begum! Es war noch nicht das Zeichen von der Göttin gegeben worden, dass wir dich, ihre Tochter, in die Geheimnisse der Phansigars einweihen sollen.«
»Es bedarf keiner Entschuldigung, ich habe gar keine Neigung, sie kennen zu lernen.«
»Begum, du bist die Tochter Kalis, die wir verehren.«
»Eben darum ist deine Mahnung ganz unnötig; Behalte derartige Worte für dich, Gholab! Ich höre, dass in der gestrigen Nacht Gefangene geopfert worden sind.«
»Fragst du als die Begum von Dschansi oder als die Tochter unserer Göttin?«
Drohend runzelte das Mädchen die Stirn.
»Ich frage dich als deine Gebieterin.«
»Ich will antworten«, entgegnete Gholab, sich eines anderen besinnend; »ja, es wurden Gefangene geopfert, denn wir feierten das Fest der Devy.«
»Unter den Gefangenen waren auch jene, welche mir gehörten?«
»Dir gehören alle Bewohner Indiens, o, Begum.«
»Ich meine die Faringis, welche meine Leute in Delhi bei dem Aufstande gefangennahmen.«
»Du sagst es.«
»Ich gab den Befehl, sie nach einem verborgenen Schlupfwinkel im Pandschab zu führen, wo sie als Geiseln festgehalten werden sollten.«
»Du widerriefst den Befehl.«
»Ja, sie sollten zurückgebracht werden.«
»Weil du sie nicht mehr schonen wolltest...«
»Das dachte ich damals. Ich gab den Befehl, sie nach Delhi zurückzubringen. Du aber, Gholab, hast sie nach Burg Malangher schleppen lassen, um sie zu opfern, wenn sie nicht schon gleich im Anfange hierher gebracht wurden. Wo sind sie nun?«
»Geopfert!«
Das Mädchen trat heftig einen Schritt auf ihn zu.
»Und das sagst du mir so gleichgültig? Wo sind sie, frage ich dich noch einmal?«
»Geopfert!«, erklang es ebenso gleichgültig wieder.
»So will ich dir etwas anderes sagen. Jene Gefangenen, die mir gehörten, haben sich selbst befreit, sie sind zum Kampfe gegen euch gezogen...«
»Woher weißt du das?«, unterbrach sie Gholab bestürzt.
»Ich weiß es, lass dir das genügen. Nun aber will ich dich zur Rechenschaft für deine Handlungsweise ziehen. Du hast meinem Befehl getrotzt, hast die Thugs aufgewiegelt, meiner zu spotten, und so will ich auch offen sagen, dass ich euch Thugs hasse, die ihr in fanatischer Verblendung glaubt, durch Töten von Menschen die Kali zu ehren. Ja, ich hasse euch, denn ihr hasst auch alle die, welche nicht zu euch gehören und nicht die Vernichtung alles Lebendigen lieben, und zu letzteren gehöre auch ich. Ich habe beschlossen, die Thugs auszurotten mit Stumpf und Stiel, und ich werde es ausführen. Der Tod ist euer aller Los, macht euch bereit zum Sterben.«
Wie versteinert stand alles da nach diesen mit erhobener Stimme gerufenen Worten. Der erste, der sich wieder fasste, war Gholab.
»Hört, hört!«, schrie er. »Sie hasst die Thugs und will sie vernichten. Und das soll die Tochter der Kali sein? Eine Betrügerin ist sie! Auf sie! Wir wollen ihr zuvorkommen!«
Er hatte gesehen, wie das Mädchen an den vom Turm herabhängenden Seilen gezogen hatte, und plötzlich flatterte hoch oben am Knopfe der Fahnenstange die Flagge der Burg.
Die Thugs begriffen, um was es sich handelte. Sie wurden von einem Feinde bedroht; der Trieb der Selbsterhaltung war stärker als die Ehrfurcht; sie folgten den Chams, die sich auf die beiden Gestalten stürzen wollten; zwischen denen der Knabe stand. Überall blitzten blanke Waffen auf.
Noch einmal trat eine Pause ein.
»Die Faringis kommen!«, erscholl der Ruf, aller Augen wendeten sich der Heerstraße zu, und da kam auch schon eine Schwadron von Dragonern herangebraust.
»Verrat!«, schrie Gholab. »Die Tore zu!«
Er wollte auf die Begum stürzen, doch er sah in ihrer Hand das zweischneidige Schwert und wich zurück.
»Begum, du eine Verräterin?«, keuchte er.
»Eure Richterin! Kämpft!«
Ein furchtbarer Tumult entstand. Die Eingeschlossenen wollten nach dem Tore dringen, um es zu schließen, doch davor standen Sinkolin und das Mädchen, beide Schwerter in den Händen, und hielten die von Angst Gejagten mit tödlichen Streichen ab.
»An die Kanonen!«, überschrie Gholab das Lärmen und eilte selbst nach der Pforte, die in den Turm und von da in die Felsengänge führte, wo zahlreiche Geschütze in Ketten hingen — die Pforte war geschlossen, und eben schleuderte Suradscha den großen Schlüssel in weitem Bogen über die Burgmauer hinab in die Tiefe.
»Auch du, kleine Natter!«, rief Gholab. »So stirb wie dein Vater!«
Mit diesen Worten ergriff er den Knaben bei den langen Locken und stieß ihm den Dolch in die Brust.
Die Begum hatte die Szene gesehen. Wild schrie sie auf und suchte sich mit dem Schwerte Bahn durch die Menge zu brechen.
Da donnerten schon die Rosseshufe über die Zugbrücke; die Dragoner, an der Spitze die Offiziere, stürmten herein, und nun begann eine Metzelei, welche der im Tempel der Kali an nichts nachstand.
Mitten unter den Kämpfenden war die Begum, auch sie schonte derer nicht, welchen sie Führerin sein wollte, denen sie die Freiheit versprochen hatte.
Nur Sinkolin beteiligte sich nicht an dem Kampfe, er nahm für keinen der beiden Teile Partei. Ruhig stand er neben dem Tore und sah gleichgütig der Vernichtung seiner Landsleute zu; sie waren der ungehorsam gewesen, die er, Sinkolin, auf den Thron Indiens setzen wollte.
Schwächer und schwächer wurde das Jammergeschrei der eingeschlossenen Thugs. Diejenigen, welche sich in den Kiosk, der den Zugang zum unterirdischen Tempel enthielt, geflüchtet hatten, fielen erst recht den Pallaschen der Engländer zum Opfer, sie standen wie zusammengepferchte Schafe da und ließen sich wie solche abschlachten; plötzlich aber geschah ein Knall, als wäre eine Tür gesprengt worden, und ebenso schnell verschwanden die letzten der Thugs, darunter die meisten Priester, im dunklen Hintergrund.
»Ihnen nach!«, schrie die Begum. »Hier gibt es einen geheimen Ausgang! Lasst sie nicht entkommen!«
Sie wäre beinahe die Treppe hinabgestürzt, die sich plötzlich vor ihr auftat, und welche die Fliehenden unter Führung des Obergurus benutzt hatten. Wohl stürmten die abgesessenen Dragoner mutig dem Mädchen nach, um die letzten der Thugs niederzumachen, aber hier umgab sie vollkommene Finsternis, und ehe Fackellicht herbeigeschafft ward, war keiner der Flüchtlinge mehr zu sehen.
Es mochten etwa hundert Thugs gewesen sein, welche sich so gerettet hatten.
Man versuchte, die Begum an der Spitze, den Ausweg zu entdecken, den die Fliehenden genommen hatten, fand aber keinen. Überall starrte ihnen die nackte Felswand entgegen; sie verfolgten die Treppe bis zum Ende hinunter, aber keine Öffnung war vorhanden.
»Es gibt aber doch einen anderen Weg, den Tempel zu verlassen«, rief das Mädchen, »und die Thugs haben ihn benutzt. Zurück denn, umzingelt die Burg, keiner darf uns entgehen.«
Die Dragoner gehorchten; sie stürmten zurück, und unter der Leitung Captain Smiths und des Mädchens waren bald das Tal und die Zugänge zu demselben besetzt. Nur ein kleiner Teil der Schwadron blieb in den Burgmauern selbst.
Stunde nach Stunde verging, aber es tat sich kein geheimer Ausgang auf, aus dem die noch fehlenden Thugs gekommen wären. Die Offiziere berieten und konnten zu keinem Resultat kommen, die Begum wusste nichts von dem inneren Bau des Tempels, und wenn man ihren vermummten Begleiter fragte, so zuckte dieser nur die Achseln. Dennoch beschloss man zu warten.
Es war fast schon Abend geworden, als endlich etwas geschah, was mit der Flucht der Thugs zusammenhängen musste.
Die Luft wurde plötzlich von einer furchtbaren Detonation erschüttert, der Luftdruck war so gewaltig, dass die Soldaten wie von Kugeln getroffen zu Boden sanken, man hörte Steine prasseln, aber den Ort und den Effekt der Explosion selbst sah man nicht.
»Da laufen sie«, schrien mit einem Male die Dragoner von der Burgmauer herab und deuteten nach der Heerstraße.
Alles stürzte dahin, von wo aus man dieselbe übersehen konnte.
Am Ende der glatten Felswand, welche die Straße am Eingange des Tales einschloss, war plötzlich eine Bresche entstanden, und durch dieselbe waren die noch übrigen Flüchtlinge gekommen. Sie mussten sich also den Ausgang erst geschaffen haben.
Jetzt befanden sie sich schon in vollem Laufe, sie eilten der freien Gegend zu, und erreichten sie diese, so konnten sie sich zerstreuen und in dem dichten Gebüsch verschwinden.
Es brauchte nicht erst ein Befehl gegeben zu werden, die Engländer auf der Burg richteten schon die kleinen Geschütze, die man geladen fand, die übrigen griffen nach den Karabinern, aber sie kamen nicht zum Schießen.
Aus derselben Bresche stürzten plötzlich Leute hervor, in denen man die Gefangenen der Thugs erkannte, Engländer; vorläufig waren es nur Männer, und sie verfolgten die Thugs.
Sie nahmen die ganze Breite des Hohlweges ein, die Karabinerkugeln hätten sie getroffen, die Granaten sie vernichtet.
»Die Thugs haben ein Weib geraubt!«, schrie Captain Smith.
Es musste so sein. Die Fliehenden schleppten eine weibliche Gestalt mit sich, welche durch ihr wundervolles, goldenes Haar auffiel, das wie ein Mantel sie umhüllte. Sie versuchte sich zu widersetzen, rang die Hände und schien die folgenden Engländer zu ihrer Rettung herbeizurufen.
Letztere kamen auch schnell näher, denn das mitgeschleppte, sich sträubende Weib hinderte die Fliehenden.
Da geschah etwas, was erst Entsetzen, dann eine wilde Wut bei allen hervorrief.
Die im Tempel befindlichen Engländer, die frei und doch noch gefangen waren, hatten der Bajadere geglaubt, als sie sich zur Führerin angeboten, denn auf ihr ruhte ja die einzige Hoffnung, das Tageslicht je wiederzusehen.
Nur in Reihenfels stiegen Zweifel auf, hatte doch Makalli einige Stunden vorher selbst gesagt, es gäbe keinen anderen Ausgang von hier, als den an der Treppe und den durch den Wasserfall. Sie aber schlug einen anderen Weg ein als jenen, der noch durch die Schnur bezeichnet war.
Es wurde schon gesagt, dass keine Fackeln mehr vorhanden waren. Man folgte also der Führerin, indem man sich gegenseitig an den Händen gefasst hielt, durch die vollkommenste Finsternis. Reihenfels wechselte mit Dick und Charly schnell einige Worte und tastete sich nach vorn, bis er die Bajadere erreicht hatte. Als er sie am Arm fasste, blieb sie stehen.
»Wohin führst du uns?«, fragte er.
»In die Freiheit!«, entgegnete sie, aber ihre Stimme klang merkwürdig dumpf.
»Nach der Treppe? Du weißt, wir haben sie nicht offen gefunden, der Ausgang ist durch irgendeine geheime Einrichtung verschlossen worden. Verstehst du sie zu öffnen?«
»Nein!«
»Nein?«, rief Reihenfels erschrocken.
»Nur die Oberpriester sind in diese Geheimnisse eingeweiht.«
»Aber warum bringst du uns denn nach der Treppe?«
»Ich will euch nicht dorthin bringen.«
»So kennst du doch noch einen anderen Ausgang?«
»Nein.«
»Aber ich verstehe dich nicht, sprich doch deutlicher. Du sagtest, du wolltest uns in die Freiheit führen.«
»Ja, in den Tod, denn hier ist nur der Tod die Freiheit!«
Die nächsten, die diese Worte gehört hatten, stießen Rufe des Entsetzens aus. Sie waren also von der Bajadere getäuscht worden.
»Weib, du hast uns belogen!«, rief Reihenfels heftig und schüttelte ihren Arm.
»Ich habe euch nicht belogen! Ich will euch die Freiheit geben, doch die ist jetzt nicht mehr anders zu erlangen, als durch den Tod. Früher hätte ich dich und den, den ich liebte, retten können, ich wollte es auch; jetzt ist es zu spät! Folgt mir, ich will euch den Ort zeigen, wo schon so mancher der Thugs freiwillig geendet hat.«
Reihenfels ließ ihren Arm los, er sah sich und alle verloren. Jetzt brach bei der Inderin das religiöse Phlegma, die Ergebenheit ins unvermeidliche Schicksal durch, und damit war alles zu Ende.
Die Kunde davon pflanzte sieh von Mund zu Mund, bis sie zum Schlusse auch Dick erreichte, der nur einen Fluch ausstoßen konnte.
»So führe uns wenigstens nach dem Wasserfall zurück!«, brach Reihenfels dann das drückende Schweigen.
»Warum?«
»Von dort können wir nach der Treppe gelangen und von Neuem versuchen, den Ausgang zu finden.«
»Es wird euch nicht gelingen!«
»Aber wir müssen es versuchen, solange wir können!«
»Tut es allein, ich gehe weiter!«
»So zeige uns wenigstens den Ort, wo sich Holz befindet, damit wir nicht im Dunkeln zu irren brauchen.«
»Besser, ihr gewöhnt euch schon jetzt an die Nacht des Todes!«, erklang es zurück, und zwar schon aus der Ferne.
Alle erschraken furchtbar. So hatte sich Makalli inzwischen unbemerkt entfernt, sie ging ihren eigenen Weg. Einige wollten ihr nacheilen, doch Reihenfels vertrat den Unbesonnenen den Weg.
»Es entferne sich niemand, denn er würde sich verirren!«, warnte er. »Müssen wir sterben, dann wenigstens vereint. Makalli«, rief er laut, »habe Erbarmen mit uns! Bleibe wenigstens bei uns, verlass uns nicht!«
»Hat man mit mir Erbarmen gehabt?«, erklang es in noch weiterer Ferne. »Und wenn ich auch wollte, ich könnte euch doch nicht helfen.«
Finsternis umgab die Verlassenen, tiefe Stille herrschte unter ihnen. Jeder fühlte schon jetzt den Flügelschlag des Todes.
»Es ist wie damals, Mister Reihenfels«, flüsterte neben diesem eine Stimme. »Ob es diesmal wohl wieder ein solch gutes Ende nimmt?«
Reihenfels hatte an der Stimme den alten Jeremy erkannt.
»Wir müssen uns in Gottes Willen fügen!«
In dumpfem Schweigen verstrich Stunde um Stunde. Sie kauerten oder lagen am Boden und nahmen Abschied voneinander. Anderes konnten sie nicht tun. Alles Suchen und Tasten hatte man aufgegeben, um so mehr, als dies eine Trennung herbeiführen konnte.
Schon machten sich Hunger und Durst fühlbar, als ein zischender Laut erklang, der das Sprechen und die Trostworte der Unglücklichen verstummen ließ, wenigstens für einen Moment, dann wurde gefragt, was es gebe, worauf der mahnende Zischlaut noch energischer ertönte.
Niemand wusste, was das zu bedeuten habe.
»Wo ist Mister Reihenfels?«, flüsterte dann jemand.
Nach längerem Suchen hatte der Warner Reihenfels gefunden. Es war Dick.
»Es nähern sich uns menschliche Tritte!«, flüsterte er ihm ins Ohr.
»Ich höre nichts!«
»Wartet, dann werdet Ihr es auch hören!«
Die übrigen wurden unterrichtet, um was es sich handelte, und warteten in beklommenem Schweigen der kommenden Dinge.
Jetzt vernahmen fast alle, dass sich wirklich Schritte näherten, und zwar anscheinend viele.
Dann erblickte man den Feuerschein von mehreren Fackeln, und in diesem einen dicht zusammengedrängten Haufen von Indern. Es konnten keine anderen sein als Thugs.
Im leise geflüsterten Tone gab Reihenfels den Befehl, sich zurückzuziehen und, wenn möglich, sich in dem nächsten Seitengang zu verstecken, aber es war nicht nötig, denn die Fackeln bogen schon seitwärts ab.
»Jetzt ihnen geräuschlos nach!«, hallte es in der Brust eines jeden, und ohne Aufforderung folgten alle den flackernden Lichtern.
Sie hielten immer eine große Entfernung ein, um ja nicht bemerkt zu werden, denn dann erfolgte abermals ein Kampf, und siegten auch die Engländer, so war doch wiederum nichts gewonnen. Diese Leute strebten einem Ausgang zu, man musste ihnen also folgen.
Nur Dick, Charly und Reihenfels wagten, sich näher heranzuschleichen. Sie sahen, dass die etwa hundert Inder gut bewaffnet und außerdem mit Spitzhacken und anderen bergmännischen Werkzeugen versehen waren. Es war also zu vermuten, dass sie sich erst einen Ausgang verschaffen wollten.
Als sich der Zug bei einer Ecke etwas auseinanderzog, blieben die drei Verfolger plötzlich betroffen stehen. Täuschten sie denn ihre Augen? Unter den Indern war eine fremde Gestalt, dunkle Gewänder umhüllten sie, aber unter dem Kopftuch quollen goldene Haare hervor.
»Nancy!«, flüsterte Dick.
»Um Gottes willen, dass Woodfield nichts davon erfährt!«, entgegnete Reihenfels. »Er wäre imstande und versuchte, seine Tochter schon jetzt zu befreien.«
Also führten die Thugs diese Gefangene mit fort. Aber warum nur? Warum zeigten sie für diese eine so große Sorgfalt?
Der letzte Teil des Zuges hielt, mit ihm Nancy, nur der erstere ging weiter; folglich mussten die Engländer ebenfalls halten. Sie konnten dies ohne Sorge tun, denn zurückgelassen sollte die eine Hälfte der Thugs wohl nicht werden. Da erblickte Woodfield in dem von Fackeln beleuchteten Trupp die Gestalt mit dem goldblonden Haar, er sah ein marmorblasses Gesicht, große, blaue, traurige Augen — und er hatte seine Tochter erkannt.
Es war ein Glück, dass Dick und Reihenfels ihn beobachtet hatten. Auf den zum Jubelruf geöffneten Mund legte sich fest eine Hand; Woodfield konnte nicht mit ausgestreckten Armen vorstürzen, denn er wurde kräftig zurückgehalten und sogar niedergezogen.
»Mister Woodfield, nehmen Sie Vernunft an!«, raunte ihm Reihenfels zu. »Eine Unvorsichtigkeit von Ihnen, und wir sind verloren! Wollen Sie schweigen oder nur flüsternd sprechen, wenn ich meine Hand von Ihrem Mund nehme?«
Woodfield nickte, und die Hand entfernte sich.
»Sie ist es!«, keuchte er. »Warum stürzen wir nicht vor und schlagen die paar elenden Inder zu Boden? Endlich, endlich habe ich sie gefunden, sie ist in meiner Nähe und weiß es nicht. Dick, lass mich los, wir haben sie im Nu überwältigt.«
Es gelang, ihm begreiflich zu machen, dass man die Inder erst den Ausgang finden oder herstellen lassen müsste. Was nützte es dem alten Mann, wenn er seine Tochter umschlingen konnte und dann mit ihr in dieser schrecklichen Nacht verhungerte?
Ein Klopfen und Hämmern wie in einem Bergwerk erscholl — kein Zweifel, die Thugs meißelten einen Ausgang in die Felswand. War ihnen nicht eine dünne Stelle bekannt, so konnte die Bergwerksarbeit allerdings lange Zeit in Anspruch nehmen, es sei denn, sie verstanden Pulver zum Sprengen zu benutzen.
Letzteres musste der Fall sein, denn bald kehrte der erste mit Spitzhacken ausgerüstete Teil der Inder zurück, alle legten sich dicht an den Boden, und so taten auch die Engländer.
Nach fünf Minuten erfolgte eine furchtbare Detonation, die in dem engen Gange noch schrecklicher wirkte. Die Wände bebten, der Luftdruck war ungeheuer, die Trommelfelle wollten zerspringen, und wer nicht gelegen hätte, der wäre an die Wand geschleudert worden.
»Jetzt!«, schrie Woodfield, der sich nicht mehr halten konnte, und stürmte allen anderen voran auf die Inder zu.
Diese sahen, wer ihnen gefolgt war; mit Entsetzen erkannten sie die gefangenen Engländer, und mit der Schnelligkeit der Verzweiflung stürzten sie vorwärts, das goldhaarige Mädchen mit sich reißend.
Vor ihnen glänzte durch eine große Öffnung das Tageslicht, sie erreichten sie eher als die nachsetzenden Engländer, und nun begann eine Jagd auf Tod und Leben.
Die Inder hatten das Freie erreicht, sie befanden sich auf der Heerstraße und sahen den Weg nicht versperrt. Jetzt hieß es, den nachsetzenden Engländern zu entkommen.
Der letzte war der Radscha Gholab. Der herkulische Mann hatte das Mädchen auf den Arm gehoben, und es wäre ihm auch ein Leichtes gewesen, mit den übrigen gleichen Schritt zu halten, wenn sich das Mädchen nicht gewehrt hätte.
Sie hatte den alten Mann erkannt, der ihr in einer Entfernung von zwanzig Metern nacheilte. Es war ihr Vater; die vielen verflossenen Jahre hatten nicht vermocht, sein Bild bei ihr zu verwischen.
»Mein Vater, mein Vater!«, rief sie, nicht jammernd, sondern in unermesslichem Jubel, und versuchte sich aus den Armen des sie Haltenden zu winden. Sie stemmte sich vergebens gegen seine Brust; der riesige Inder spürte nichts von seiner Bürde.
»Nancy!«, entgegnete Woodfield, ebenfalls in heller Freude, und der alte Mann hatte plötzlich jugendliche Kräfte zurückerlangt. Er überholte die schnellsten Läufer, alle anderen blieben weit hinter ihm zurück.
Der Inder konnte ihm nicht entgehen — oder mochte er ihm entgehen, nur seine Nancy wollte er wiederhaben.
Gholab wendete im Laufen den Kopf, er sah, dass ihn der alte Mann, der ein Messer in der Hand hielt, einholen musste, und er dachte an seine eigene Sicherheit.
Schnell setzte er das Mädchen nieder, fasste es am Handgelenk und suchte es mit Gewalt fortzureißen. Nancy sträubte sich und vermochte ihn selbst zum Stehen zu bringen.
Nur noch einige Meter trennten Vater und Tochter.
»Mein Vater, endlich kommst du!«, jauchzte sie auf.
»So plündert den Tempel der Kali, verfluchte Faringis«, brüllte Gholab, den Dolch aus dem Gürtel reißend, »doch lebendig sollt ihr das ihr geweihte Heiligtum nicht bekommen.«
Ein wilder Schrei des Entsetzens erscholl; blitzend fuhr der Stahl herab und bohrte sich in die Brust des Mädchens.
Gholab entfloh und holte mit einigen langen Sprüngen die Übrigen wieder ein, nur wenige der Engländer setzten die Verfolgung fort, die meisten umringten Vater und Tochter, die sich wiedergefunden hatten; doch eine furchtbare Ahnung schnürte allen das Herz zusammen.
Aus den Armen Gholabs war Nancy in die ihres Vaters gesunken. Ihr schönes Antlitz war marmorblass wie immer; lange, lange Jahre mochte es nicht mehr von dem Strahle der Sonne getroffen worden sein, aber eine himmlische Freude war daraus ausgebreitet.
»Endlich, Vater, endlich!«, hauchte sie lächelnd. »Ich habe so lange auf dich gewartet, ich weiß nicht, wie lange, aber ich wusste bestimmt, dass du kommen und mich aus dem Tempel befreien würdest.«
Woodfield beugte sich hinab und küsste das wiedergefundene Kind, seine Augen sprachen von Freude und furchtbarer Besorgnis zugleich. Hatte er sich denn getäuscht, hatte sich denn der Stahl nicht in ihre Brust gegraben? Er sah kein Blut, Nancy schien keinen Schmerz zu fühlen.
»Bist du verwundet worden, Nancy?«, waren die ersten Worte, die er hervorbringen konnte.
Noch ehe sie den Mund öffnete, sah er ihr erstauntes Gesicht über diese Frage, und von seinem Herzen fiel ein Zentnergewicht.
»Verwundet?«, flüsterte sie, immer lächelnd. »Ich weiß nicht, warum du so fragst. Wie lange bin ich denn von euch fortgewesen? Wie hast du mich gefunden? Du hast weißes Haar bekommen, aber ich habe dich doch erkannt. O, es war schrecklich, ich musste...«
Der alte Mann hatte sein Kind an sich gedrückt.
»Das ist Blut!«, schrie plötzlich seine Schwester, welche unterdes herbeigeeilt war, um das Kind des Bruders zu sehen.
Nicht allein dieser Ruf, schon der Druck der Umarmung hatte das Mädchen in ihren Worten unterbrochen. Sie neigte plötzlich den Kopf; auf die Lippen trat leichter Blutschaum, und da, wo das Herz lag, drang unter dem baumwollenen Busentuch ein Strom hellen Blutes hervor. Die Umarmung hatte die verschlossen gewesene Wunde geöffnet.
Der alte Woodfield hatte keinen Ruf des Schrecks übrig; erstarrt blickte er auf sein Kind, er vermochte es nicht aus seinen Armen zu lassen. Er sollte es wiedergefunden haben, um es für immer zu verlieren? Schrecklicher Gedanke! Er konnte ihn nicht fassen.
Aber auch Nancy schien keine Ahnung zu haben, wie es mit ihr stand. Sie hatte den Kopf an die Brust des Vaters gelehnt, hielt die Augen geschlossen und lächelte selig. Es war das Lächeln eines verklärten Engels.
Reihenfels war der erste, der einsah, dass hier etwas geschehen musste.
Er nahm das Mädchen aus den Armen des alten Mannes; ohne eigenen Willen, nur von seinen Händen gehalten, glitt sie zu Boden. Reihenfels entfernte mit leiser Hand das Tuch, und jetzt sah man, dass der Blutstrom aus der linken Seite quoll. Tief war der Dolch in das zarte Fleisch gedrungen.
»Sie stirbt!«, schrie da der unglückliche Vater, und außer sich vor Schmerz, vor enttäuschter Hoffnung, warf er sich neben seine Tochter nieder Miss Woodfield rief um Verbandzeug, sie wollte das Blut vor allen Dingen stillen, doch da sah sie das verstörte Gesicht von Reihenfels, der sich eben aufrichtete, und sie wusste alles.
»Zu spät!«, flüsterte er tonlos. »Das Blutstillen hieße nur den Todeskampf verlängern.«
Nur wenige konnten Zeuge dieses Wiedersehens werden, die meisten gingen zurück, um sich den Dragonern bei der Verfolgung anzuschließen. Mit starren Augen, die Hände gefaltet, wohnte Miss Rachel dieser Szene bei, die ein Wiedersehen und Abschiednehmen zugleich bedeutete; aus Reihenfels' Augen tropften große Tränen, und er wusste nicht, dass neben ihm Bega stand.
Es war seltsam! Nancy glaubte noch immer nur an ein Wiedersehen.
»Warum meinst du denn, Vater, dass ich sterbe?«, flüsterte sie, und in dem Lächeln malte sich Staunen. »Mir ist so wohl, ach, so wohl! Und nun wird es immer so bleiben, Vater, nicht wahr, nun werden wir uns nie wieder trennen?«
»Nie wieder, Nancy, nie wieder!«, entgegnete der Vater, die Tränen zurückdrängend und mit einem Tuch die blutbenetzten Lippen der sterbenden Tochter abwischend.
Ach, er war nur zu gut in so etwas erfahren, er wusste, dass es hier keine Rettung mehr gab.
Sein wiedergefundenes Kind starb in seinen Armen! Ein Weib, unter gewöhnlichen Verhältnissen schon verblüht oder überreif, hier ein Wesen, welches das Leben nie kennen gelernt hatte und daher am Geist wie am Körper fast ein Kind geblieben war. Und doch, was mochte sie alles erzählen können! Ach, warum konnte er sie nicht am Leben erhalten, sie die Freuden des Lebens kennen lehren?
»Und was macht die Mutter? Sehnt sie sich nach mir?«, lispelte das Mädchen weiter.
»Sie lebt und freut sich auf deine Heimkunft«, musste der Vater antworten, der schon längst keine Frau mehr besaß.
»Und was macht der kleine Georg? Er war drei Jahre alt, als ich von ihm fort musste; ich weiß alles noch sehr wohl. Was macht er?«
»Er ist groß geworden und erwartet seine Schwester.«
»Er fing stets an zu weinen, wenn ich mich auf seinen Stuhl setzte, den er zu Weihnachten bekommen hatte«, fuhr sie lächelnd fort, »und ich tat es doch so gern. Ach, Vater, es war schrecklich, aber nun soll es schön werden. Weißt du, ich sollte auch getötet werden, aber da fand man bei mir eine Eidechse, die sich verkrochen hatte, und man überschüttete mich mit Ehren. Es war schrecklich, Vater, ich habe so viel Menschen töten sehen, für mich, denn man glaubte, ich sei der Tempelschutz, wie sie sagten. Doch nun ist ja alles vorüber, ich gehe mit dir nach der Heimat zurück, zu Mutter und Bruder, nicht wahr?«
»Gewiss, Nancy!«
»Ja, Vater, ich gehe in die Heimat, in meine Heimat, und wenn ich die Mutter sehe, dann — dann —«
Ein leises Zittern lief durch ihre Glieder, die Seele löste sich ab von dem irdischen Leib und floh nach der himmlischen Heimat, wo sie die Mutter wiedersah, und deshalb lächelte auch noch das Antlitz so freudig.
Die Nacht war angebrochen, die Dragoner hatten Feuer angezündet und lagerten darum. Man hatte den jetzt offenen Tempel durchsucht; mit Fackeln und Schnuren, sodass ein Verirren unmöglich gemacht wurde, war man eingedrungen, hatte Hunderte von gefangenen Indern gefunden und befreit und sonstige Entdeckungen gemacht. Zu einer genaueren Durchsuchung des Tempels, der jedenfalls Schätze und Merkwürdigkeiten in Fülle barg, war jetzt keine Zeit. Die Dragoner wurden zu anderen Sachen gebraucht als zum Sammeln von Antiquitäten und zum Heben von Schätzen.
Die Dragoner und die früheren Tempelgefangenen, welche sich der Verfolgung angeschlossen hatten, waren zurückgekehrt. Noch mancher der Thugs war auf der Flucht niedergemacht worden, aber Gholab, auf den man es besonders abgesehen hatte, war nicht mit unter den Toten, ebenso wenig Radscha Tipperah.
Auch Hira Singh und Kiong Jang hatte man nicht unter den indischen Gefangenen gefunden. Entweder waren sie gar nicht im Tempel oder an einem ganz versteckten Ort, deren der Tempel unzählige barg. Es herrschte keine trübe Stimmung. Die Inder freuten sich laut über die wiedererhaltene Freiheit und konnten ihren Rettern nicht genug danken, auf englischer Seite fanden ebenfalls rührende und zugleich freudige Szenen des Wiedersehens statt.
Der eine fand seinen Kameraden oder Freund, der andere Schwester oder Braut wieder. Laut erscholl der Jubel durch die warme Nacht; man kampierte im Freien, denn niemand hatte Lust, noch eine Stunde in dem unheimlichen Gemäuer zuzubringen. Dass die warmfeuchte Witterung zahlreiche Moskitos mitbrachte, konnte die Freude nicht beeinträchtigen.
Man hütete sich nur, dass das Jubeln nicht zu laut in der Nähe eines Feuers erklang, man hielt sich möglichst davon entfernt und warf nur scheue und bedauernde Blicke hinüber.
Dort lag ein Mädchen mit schneeweißem Antlitz, die Augen geschlossen, um die Lippen ein so seliges Lächeln, dass man bei ihrem Anblick nur an eine Schlafende denken konnte. Das schien auch der alte Mann zu glauben, der an ihrer Seite kniete.
Er wedelte ab und zu mit einem Tuche über sie hin, um die Moskitos zu verscheuchen, die sich auf die Schlafende setzen wollten. Tot und kalt war sein Antlitz, steinern sein Blick, die blutleeren Lippen murmelten unverständliche Worte.
Neben ihm saß die Schwester und las ihm aus einer kleinen Bibel vor, die sie von einem Offizier bekommen hatte. Ihre Trostsprüche hatten wenig Wirkung, Woodfield schien sie gar nicht zu hören. Fort und fort verscheuchte er die großen Mücken, als könnten diese die Schlafende, seine Nancy, wecken.
»Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn sei gepriesen!«, sagte die alte Dame, das Buch schließend. »James, hadere nicht wieder mit Gott, füge dich in seinen Willen!«
Auch jetzt hatte der Alte keine Antwort.
Ein Räuspern ließ Rachel den Kopf wenden; sie sah Charly in bescheidener Entfernung stehen. Auch Woodfield sah ihn, und bei dem Anblick des Mannes heiterten sich seine eingefallenen Züge etwas auf.
»Was willst du, Charly?«, fragte Rachel.
»Nur fragen, ob Dick noch nicht wieder hier gewesen ist.«
»Nein. Du kehrst erst jetzt von der Verfolgung zurück?«
»Ich bin schon lange zurück und habe bis jetzt Dick gesucht. Ich möchte doch gern wissen, ob er den schurkischen Gholab gefunden hat.«
»Was hätte das denn jetzt für einen Zweck?«
Charly machte ein verblüfftes Gesicht.
»Was das für einen Zweck hätte? Na, wir wollten den Kerl doch bei einem Feuer langsam schmoren, wie er's nie wieder erleben sollte, und wenn der Schuft schon tot wäre.«
»Pfui, Charly, die Rache ist mein...«
Rachel wurde bei dem Bibelspruch unterbrochen.
»Nein, mein ist die Rache«, rief der hinzukommende Dick, der die Worte Rachels anders auslegte, »und ich werde sie mir nicht nehmen lassen! Was wollt Ihr denn dabei erreichen?«
»Dick!«, rief Rachel entsetzt, als sie die Gestalt des kleinen Trappers im Scheine des Feuers deutlich erblickte.
Er sah aus wie ein Schlächter, der von der Ausübung seines Handwerks kommt, sein Gürtel war ringsum mit blutigen und haarigen Lappen bedeckt, die zum Teil noch rauchten.
»Was ist denn das da?«
»Skalpe, gnädige Miss! Leider ist der von Gholab noch nicht darunter, aber ich werde nicht eher ruhen, als bis er mit am Gürtel hängt.«
»Das ist eine Sünde, die Toten so zu verstümmeln!«
»Sünde hin, Sünde her! Als die Schlangen in meine Augen beißen sollten, das war auch keine Wohltat. Von jetzt an sind die Thugs meine Feinde, ich mache auf sie Jagd, und sie sollen den roten Dick kennen lernen. Madame, ich möchte Mister Woodfield sprechen. Er scheint nicht zu hören.«
»Was wollt Ihr von ihm?«
»Abschied nehmen. Unsere Wege trennen sich von jetzt ab.«
»Wie? Ihr wollt ihn in seiner schwersten Stunde verlassen?«
»Kann ich ihm helfen?«, entgegnete Dick rau. »Kann ich sie ihm lebendig machen? Nein, aber den, der ihm dies zugefügt, und den, von dem alles dies Unglück stammt, diese Meuterer züchtigen, das kann ich. Wollt Ihr mich begleiten?«
»Unser Werk hier ist getan. Wir gehen zurück in die nordische Heimat meines Bruders, ich begleite ihn. Und Charly?«
Auch der andere Trapper schüttelte finster den Kopf.
Die beiden konnten nicht einmal Abschied nehmen von ihrem Herrn; denn in vollkommener Teilnahmslosigkeit saß dieser da, nur mit der Toten beschäftigt, sorgend, dass keine der Mücken sie belästigte. Dick drehte sich hastig um und verlor sich in den Büschen, um die Tränen nicht sehen zu lassen, die ihm in den roten Bart rannen.
Von dem Hügel aus, der sich eine Meile vor Delhi erhob, konnte man fast die ganze Stadt überschauen, und in diesen Anblick war auch der junge Mann versunken, der auf dem Hügel unter dem Schatten eines großen Baumes lag.
Dem Berliner Gassenhauer nach, den er aus voller Lunge pfiff, musste er sich in recht guter Laune befinden, dagegen drückten die Züge Missmut aus. Auch das Funkeln der vergoldeten Dächer der Minaretts und der prächtigen Paläste Delhis konnten diesen griesgrämigen Ausdruck nicht verwischen. Er merkte nicht, wie sich ihm jemand von hinten näherte, erschrak aber auch nicht, als sich ihm eine Hand auf die Schulter legte. Er stellte nur das Pfeifen ein, wendete langsam den Kopf und blickte ohne Zeichen von Staunen in das Gesicht einer jungen Inderin, die einfach wie eine Bäuerin gekleidet war.
»Was tust du hier?«, fragte sie.
Der Mann gähnte erst einmal herzhaft, ehe er, aber nicht auf Indisch, sondern auf Englisch erwiderte.
»Wenn du nichts weiter als dieses Kauderwelsch von Indisch kannst und nicht etwas Essbares bei dir hast, dann sei so gut und mach' dass du fort kommst, damit ich dich von hinten bewundern kann. Denn wenn man Hunger hat, ist man nicht im geringsten zu Liebesabenteuern aufgelegt, und wenn du auch eine noch so schöne Nymphe wärst.«
Der Mann hatte dies in der Meinung gesagt, von dem Bauernmädchen nicht verstanden zu werden, aber er hatte sich getäuscht.
»Ihr seid nicht sehr höflich«, entgegnete sie lächelnd, wobei zwei Reihen schneeweißer Perlenzähne zum Vorscheine kamen.
»Alle Wetter, Sie sprechen Englisch?«
»Etwas besser als du.«
»Dann haben Sie wohl in einem Mädchenpensionat für höhere Töchter Ihre Erziehung genossen?«
»Beinahe erraten! Ihr dagegen scheint nicht etwa bei einem Haushofmeister in die Schule gegangen zu sein.«
»Bei einem Haushofmeister nicht, aber Hausdiener bin ich schon selbst gewesen. Nun sagen Sie einmal, wertes Fräulein, wollen wir uns eigentlich Siezen, Ihrzen oder Duzen? Das geht ja alles durcheinander.«
»Schlagen wir den Mittelweg ein.«
»Also es geht per Ihr. Dann möchte ich vor allen Dingen mitteilen, dass ich vor Hunger bald sterbe und das kann der Zehnte nicht vertragen.«
»Das Hungern?«
»Nein, das Sterben.«
»Das glaube ich, dass das der Zehnte nicht vertragen kann«, lachte das Mädchen. »Mir scheint, Ihr seid ein Witzbold.«
»Ach, mit leeren Magen ist es äußerst schwer, witzig zu sein. Wenn Eure Hütte oder Euer Palast nicht gar so weit ist, wäre es doch eigentlich ganz hübsch, wenn Ihr mich zu Euch einlüdet und mir was vorsetztet.«
»Das tut mir leid; meine Behausung haben die Faringis abgebrannt, ich bin obdachlos.«
»Jawohl, immer die Faringis, und deine braunen Brüder sind natürlich die reinen Tauben an Unschuld. Also könnt Ihr mir wirklich gar nichts Nahrhaftes verschaffen? Gras habe ich schon gekaut, aber ein wie großer Esel ich auch manchmal gewesen bin, einen Eselmagen besitze ich doch nicht.«
»Esel lieben Disteln, Ochsen fressen Gras.«
»Na, Ihr könnt aber auch schön grob werden.«
»Dafür will ich Euch entschädigen.«
Das Mädchen brachte unter dem Mantel ein wohlverschnürtes Bündel zum Vorschein, öffnete es, und das freudige Erstaunen des hungrigen Mannes lässt sich begreifen, als vor ihm im Grase auf einem weißen Tuche plötzlich ein großer, gebratener Vogel und Brot lag.
»Herrjeses, das ist ja das reine Tischchendeckdich! Blitzmädel, wo hast du denn das her?«
»Es ist mein Reiseproviant, und ich will ihn Euch opfern, wenn Ihr nicht mehr aus der Rolle fallen wollt.«
»Aus welcher Rolle?«
»Ihr habt mich eben wieder du genannt.«
»O, Ihr seid aber kitzlich! Na, denn man zu, ich werde es auf Eure Gesundheit verzehren. Messer und Gabel habe ich nicht nötig, führt Ihr aber zufälligerweise etwas Salz bei Euch?«
»Das tut mir leid.«
»Mir auch. Nun setzt Euch zu mir und seht zu, wie's mir schmeckt. Darf ich Euch einladen?«
»Danke, ich habe keinen Hunger. Übrigens seid Ihr sehr liebenswürdig, mich zu meinem Essen einzuladen.«
Lachend setzte sich das Mädchen ins Gras und schaute zu, wie der Mann heißhungrig über den gebratenen Vogel herfiel.
»Wenn Ihr so sehr hungrig seid, hättet Ihr Euren Hunger schon längst stillen können«, begann sie dann wieder. »Dort wachsen Apfelsinen, dort ist ein Busch mit Bananen. Ihr hättet nur zuzulangen brauchen.«
»Hm, so«, entgegnete der Mann mit vollen Backen. »Wenn hier also das Essen einem vor der Nase hängt, warum versorgt Ihr Euch denn mit Reiseproviant?«
»Wenn ich es haben kann, so ziehe ich Fleisch Früchten vor.«
»Mir geht's genau so.«
»Aber Ihr habt nichts gehabt.«
»Erstens war ich zu faul, aufzustehen, zweitens bin ich kein Vegetarianer, und drittens habe ich immer das Glück, dass mir die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Ich habe darauf gewartet, und sind mir etwa die gebratenen Vögel nicht auch jetzt wieder in den Mund geflogen?«
»Ja, wenn ich aber nun nicht gekommen wäre?«
»Dann wäre es jemand anderes gewesen.«
»Ihr seid ein seltsamer Kauz, manchmal übrigens nichts weniger als bescheiden. Dann will ich Euch etwas anderes fragen.«
»Bitte! Nur verlangt keine Indiskretion. Ich frage auch keine Dame nach ihrem Alter — das kann der Zehnte nicht vertragen.«
»Ihr seid doch der Mann, welcher sich im Tempel der Kali in den Wasserfall stürzen ließ und einige Minuten später mitten im schwarzen See auftauchte?«
Erstaunt ließ der Gefragte den Geflügelknochen sinken und fuhr sich mit der fettigen Hand durch das brandrote Haar.
»Woher wisst Ihr denn das?«
»Ich war mit unter denen, welchen Ihr Euer Abenteuer erzähltet.«
»Unter den versammelten Herren?«
»Nein, unter den Damen.«
»Ihr? Eine Inderin?«
»Natürlich, es waren auch eingeborene Damen darunter.«
»Aber nur solche aus den feineren Kreisen.«
»Warum sollte ich nicht zu denen gehören?«
August musterte die Gestalt neben sich von der Seite und fand, dass das Mädchen trotz des groben Bauernrockes recht hübsch, sogar schön, dabei fein gebaut und anmutig war. Bei dieser Musterung vergaß er nicht die Bearbeitung des Hühnergerippes.
»Hm, selbst der scharfsinnigste Mensch kann sich täuschen. Also gehört Ihr auch zu den Offiziersdamen?«
»Ja, ich bin beim Aufbruch von ihnen getrennt worden.«
»Dann geht's mir ebenso wie Euch. Ihr habt doch gesehen, dass ich mit der Gummitonne auf dem Rücken der Schwadron nachritt?«
»Ich sah Euch. Ihr saßt wie angegossen auf dem Rücken des feurigen Tieres.«
»Richtig, det stimmt, aber es war ein Biest von einem Racker, schlug vorn und hinten zugleich aus, bockte und stellte sich auf den Kopf, buchstäblich auf den Kopf, und da dachte ich, Mensch ärgere dich nicht, stieg gemütlich ab und ließ das Vieh laufen. Aber Ihr habt recht, ich bin der Mann in der Gummitonne. Ihr wollt nun wohl gern erfahren, wie's mir unterwegs bei der unterirdischen Reise unter Wasser erging? Schrecklich, sage ich Euch, ich musste mit Messer und Revolver gegen die schauerlichen Bestien kämpfen, die mich anfielen.«
»Was Ihr sagt!«
»Es waren grausige Ungetüme, einfach scheußlich, mit meterlangen Zähnen und Saugrüsseln, gegen die Elefantenrüssel die reinen Lämmerschwänzchen sind. Mit dem einen lag ich wohl eine halbe Stunde im Kampfe, es hatte die Gummitonne...«
»In den wenigen Minuten, die Ihr zu der Fahrt gebraucht habt, kämpftet Ihr eine halbe Stunde?«
»Faktisch, ich will an dem Hühnerknochen ersticken, wenn ich nicht die Wahrheit rede! Da unten gab es lauter Wunder, und das ist eben auch eins. Ein Ungeheuer hatte meine Gummitonne mit seinen Armen umklammert, und ich musste ihm jeden Arm einzeln mit dem Dolch abschneiden, ehe ich weitersegeln konnte.«
»Ich denke, Ihr wart in der Tonne?«
»Natürlich, wo denn sonst?«
»So konntet Ihr doch nicht heraus.«
»Warum denn nicht? Ich machte sie immer einstweilen auf, wenn ich mich gegen so ein Scheusal wehren sollte.
»Und dabei drang kein Wasser hinein?«
»Etwas wohl, aber das schöpfte ich schnell wieder heraus, wenn der Kampf beendet war. Ja ja, zu so etwas gehört Mut und Geistesgegenwart, und die könnt Ihr bei Augusten finden.«
»Ihr seid der Diener des Mister Reihenfels, nicht wahr?«
»Nur sein Freund, nichts weiter als sein Freund. Denkt Ihr, so ein Mann wie ich spielte den Diener? Hat sich was! Die Sache ist die, Reihenfels braucht mich, braucht mich unbedingt; denn wenn er auch manche gute Eigenschaft besitzt, so hat er doch immer einen Mann nötig, der ihn mit starker Hand und mit Umsicht leitet, denn Oskar ist ein bisschen leichtsinnig. Er huppt immer gleich drauf, ohne zu überlegen. Oskar, habe ich ihm erst neulich gesagt, Oskar, Selbstbeherrschung ist die erste Tugend des Mannes, danach Nüchternheit, und wo diese fehlen, da...«
»Wie lange seid Ihr schon der Freund von Mister Reihenfels?«, unterbrach ihn das Mädchen.
»Na, das ist aber nicht gerade hübsch von Euch, dass Ihr mich egal unterbrecht«, entgegnete August gekränkt; »wenn Ihr nicht aus besserer Familie wärt, dann setzte es bei so etwas Backpfeifen. Ich bin erst bei ihm, seit er in Indien ist, ich erkläre ihm die Eigentümlichkeiten des Landes.«
»Länger nicht?«
»Na, wenn es Euch weiter nicht geniert!«
»Seid Ihr denn in Indien bekannt?«
»Wie ein bunter Hund. Wo ich einmal gewesen bin, da kennen sie mich alle und schreien; der August kommt.«
»Ich meine, ob Ihr Indien kennt.«
»Wie meine Hosentasche.«
»Ihr seid schon lange hier?«
»Das nicht, ich habe in England Indien studiert. Ich war nämlich Direktor der indischen Ausstellung zu London in der Alhambra.«
»In der Alhambra?«
»Ja, ja. Kennt Ihr die auch?«
»Nein.«
»Wart wohl einmal als Bajadere dort engagiert?«
»Nein.«
»Na, woher kennt Ihr sie denn da?«
»Ich kenne sie gar nicht.«
»So, ich dachte, weil Ihr so aufjauchztet. Gegen die Alhambra in Berlin ist das aber doch nischt, dorten geht's viel fideler zu. Wart Ihr schon einmal in Berlin?«
»Nein. Lerntet Ihr Euren Freund in der Alhambra kennen?«
»Den Oskar? Natürlich! Wo denn sonst?«
»Er verkehrte viel dort?«
»Na, so manchmal. Dabei ist mein lieber Oskar einmal eklig reingesenkt worden, der arme Kerl!«
»Wieso denn?«
»Es war eine heikle Geschichte mit einem Mädchen — Mirzi hieß die Dirne. Man hatte Oskar in ein Hinterstübchen gelockt, indem man ihm vorspiegelte, die Mirzi könnte ihm etwas über die Fakire erzählen, aber daderbei sollte er nur blamiert werden. Na, und das ist denn auch gründlich gelungen, so ein Halunke, der alles erst arrangiert hatte, verriet das Rendezvous, die Polizei kam dazu, und man überraschte Oskarn, der sich bei dem Mädchen bald zu Tode schrie. Aber es half ihm nischt, mitgefangen, mitgehangen hieß es, und man machte dem armen Kerl den Prozess wegen Unzucht — na, Ihr braucht nicht gleich so rot zu werden, ich kann das Kind wahrhaftig nicht bei 'nem andern Namen nennen.«
»Es ist schrecklich!«
»Ach, piepst doch nicht! Was ist denn daderbei?«
»Euer Freund war verlobt, sagtet Ihr?«
»So, sagte ich das? Ist mir nichts mehr bewusst dadervon, aber wahr ist es. Na, und ob er verlobt war! Bis an den Halskragen!«
»Und dennoch ließ er sich in so etwas ein?«
»Herrgottsdonnerwetter, habe ich Euch nicht schon gesagt, dass es gar nicht wahr gewesen ist?«, fuhr August zornig heraus; denn er aß den letzten Bissen des Bratens, und damit hörte auch seine Liebenswürdigkeit auf. »Man hat ihm ganz infam eine Schlinge gestellt, um ihm seine Braut abspenstig zu machen, und mein Oskar in seiner Duseligkeit sprang natürlich auch gleich mit beiden Beinen in die Falle. Nu hat er das Nachsehen.«
»Mit wem?«
»Mit seiner Braut.«
»Wer ist das?«
»Früher hieß sie Bega, jetzt Begum, und adelig ist sie auch gleich geworden; von Dschansi hat sie hinten drangehängt. Na, Ihr als weibliche Inderin wisst doch auch ganz genau, wer die Begum von Dschansi ist.«
»Gewiss kenne ich sie; sogar sehr gut. Ihr also könnt den Beweis liefern, dass Oskar nicht schuldig gewesen ist, dass er seiner Braut die Treue nicht gebrochen hat?«
»Den kann ich allemal liefern.«
»Wodurch?«
»Durch meine Aussage.«
»Sonst durch nichts weiter?«
»Nee, und darum gehe ich ja eben mit Oskarn; er will die Begum, seine verlobte Braut, aufsuchen, und ich soll ihr dann sagen, dass er gar nicht dadervor kann, dass er unschuldig wie ein neugeborenes Kind ist. Den Gefallen hab ich ihm auch getan; nu ziehe ich schon lange mit ihm herum, aber wir können das Blitzmädel nicht finden. Und dann ist noch sehr die Frage, ob sie meiner Aussage glaubt — ich zweifle nämlich etwas daran.«
»Daran, dass Oskar unschuldig ist?«
»I Gott bewahre. Ich habe ja selbst gehört, wie der Plan ausgemacht worden ist, Oskar in das Hinterstübchen zu locken, ihn mit der Mirzi zusammenzubringen und beide dann zu überraschen und Oskarn an den Pranger zu stellen, wie man sagt. Ich meine eben, die Begum wird wohl meine Erzählung nicht gleich glauben, denn es soll ein verdammt misstrauisches Mädel sein. Ja, wenn uns die Mirzi nicht wieder entkommen wäre!«
»Ihr habt sie schon einmal gehabt?«
»Freilich, ich sah sie in Delhi wieder.«
»In Delhi?«
»Ja, im Hause der sogenannten Duchesse. Sie mochte dort wohl so eine Art von Kammerzofe gewesen sein.«
»Gewesen?«
»Als ich nähere Bekanntschaft schließen oder vielmehr erneuern wollte, war sie verschwunden, und ich habe sie nie wieder gesehen.«
»Was war sie in der Alhambra?«
»Sie spielte eine indische Bajadere, obgleich sie eine Malteserin ist. Ich hatte sie schon immer auf dem Strich, weil sie mir zu viel mit jenem Franzosen kokettierte.«
»Mit welchem Franzosen?«
»Nu, der eben die gemeine Sache mit Oskarn eingefädelt hatte. Er bestimmte Mirzi dazu, Oskar anscheinend zu verführen, und das ist denn auch glänzend gelungen. Ja, wenn wir diesen Halunken hätten, dann würde es meinem Freunde leicht sein, seine Unschuld zu beweisen.«
Das Mädchen schaute träumend vor sich hin, ihre Augen hatten einen seltsamen Ausdruck angenommen. August reinigte sich die fettigen Hände an den Haaren und an Blättern und begann dann, in den Taschen zu wühlen.
»Raucht Ihr nicht?«, fragte er, als sein Suchen erfolglos blieb.
»Danke!«
»Bitte! So war das auch nicht gemeint. Ich meine, ob Ihr nicht ein bisschen Tabak bei Euch habt.«
»Nein.«
»Kautabak?«
»Nein.«
»Hm, es gehört sich aber eigentlich, dass man seinem Gast nach dem Essen eine Havanna vorsetzt. Ihr Inder lebt überhaupt in einem ganz heidnischen Lande. Ich würde nicht hier bleiben.«
Es trat eine lange Pause ein. Das Mädchen blickte noch vor sich hin; August pfiff wieder Gassenhauer und sah seine Nachbarin manchmal von der Seite an.
»Ihr indischen Mädchen seid doch eigentlich zu bedauern«, nahm er das Gespräch wieder auf.
»Warum?«
»Weil Ihr hier in der reinen Wildnis lebt.«
»Indien ist ein schönes Land, nur muss es frei sein.«
»Ich danke für Obst und Freiheit. Da will ich lieber in Berlin Tagelöhner sein als hier der Großmogul.«
»Ist denn Berlin so schön?«
»Na, ich sage Euch, da kann man sich amüsieren. So zum Beispiel im Orpheum — au! Und was habt Ihr Mädchen denn hier in Indien? Nichts, rein gar nichts! Apfelsinen könnt Ihr essen und Kokosnüsse auslutschen und dabei Kinder warten, ja, aber nach Berlin müsst Ihr kommen! Wisst Ihr was schwofen ist?«
»Nein.«
»Dann verrate ich's auch nicht. Ach Gott, mein schönes Berlin«, seufzte August, der plötzlich vom Heimweh befallen wurde, »wenn ich an dich denke, dann wird's mir allemal ganz wapplig ums Herz. Diese Theater, Kroll, das Orpheum, die Alhambra — aber eine andere als die in London — diese Tingeltangels, diese Tanzlokale mit vollem Orchester — und hier, hier dagegen! Der Affe könnte einen beißen!«
»Was ist das, Tingeltangel?«
»Das kann man nicht beschreiben, da muss man selbst hineingehen. Sehen, hören, lachen und staunen ist eins! Ach Gott, wenn ich daran denke, als ich das letzte Mal in so einem Dinge war! Da waren die Balletteusen wie Amazonen angezogen, und sie mussten wie Soldaten exerzieren, und wie nun die Weibsbilder so unter dem Kommando von einem Offizier herummarschierten und der tat, als säße er auf einem Pferde und galoppierte immer um die Soldaten herum — na, war das aber possierlich!«
August lehnte sich zurück und lachte, in Erinnerung versunken, aus vollem Halse.
»Es waren Amazonen?«, fragte das Mädchen, das sich plötzlich für dieses Gespräch zu interessieren schien.
»Ja, das heißt, eigentlich waren es Balletteusen, solche Mädchen, die auf einem Beine stehen und mit dem anderen in der Luft Buttermilch quirlen wollen.«
»Also Bajaderen!«
»Hier heißen sie Bajaderen, aber an unsere Balletteusen können die lange nicht tippen.«
»Und sie mussten exerzieren?«
»Wie die Soldaten. Und Schmiss lag da drinne, Donnerwetter!«
»War denn das so komisch?«
»Natürlich, die Frauenzimmer mit die kurzen Höschen und die dicken Beine! Aber das komischste war der Offizier — das war ein Mann — wie der die Mädchen kujonierte und wie er den schneidigen Gardeoffizier nachmachte. Herrgott, das Publikum hat sich den Bauch gehalten vor Lachen.«
»In Delhi gibt es auch solche Amazonen, welche exerzieren.«
»Ach nee!
»Gerade wie Soldaten.«
»Ich glaube, Ihr flunkert. Ich müsste doch auch davon wissen, ich bin ja lange in Delhi gewesen.«
»Diese Truppe wurde erst eingerichtet, nachdem die Faringis vertrieben worden waren.«
»Die Mädchen haben sich freiwillig dazu gemeldet?«
»Nein, die Bajaderen des Großmoguls, welche jetzt nicht mehr den Fürsten durch Tanz zu ergötzen brauchen, denn es gibt genug Kriegstanz, sind dazu herangezogen worden.«
»Also ausgehoben? Ach nee! Wer ist denn auf diese gottvolle Idee gekommen?«
»Die Begum von Dschansi.«
»Warte, die wird diese faulen Biesters schon ordentlich drillen! Die soll ja auch die reine Amazone sein. Das möchte ich einmal sehen, wenn sie diese Bajaderen einexerziert!«
»Sie tut es nicht selbst.«
»Wer denn sonst?«
»Ein französischer Offizier ist dazu auserwählt.«
»Donnerwetter, der möchte ich auch sein!«
»Warum denn?«
»Na, solche Mädchen als Soldaten auszubilden, das wäre so mein Fall.«
»Das ist nicht so leicht; die Bajaderen sind widerspenstige Geschöpfe.«
»Also hartmäulig! Schadet nichts, ich würde sie schon kriegen.«
»Wart Ihr Soldat?«
»Nee.«
»Warum nicht?«
»Weil ich — weil ich rotes Haar habe. Das ist so bei uns in Deutschland, Rothaarige werden nicht genommen.«
In Wirklichkeit war August wegen Plattfüßigkeit zum Dienste untauglich gewesen.
»Dann wäret Ihr freilich nicht geeignet, die Bajaderen einzuexerzieren. Ihr kennt ja keine Kommandos.«
»Oho, und ob! Soll ich Euch einmal militärische Haltung beibringen? Hab's oft genug gesehen und gehört, um es nachmachen zu können. Donnerwetter, das wäre so etwas für mich, solche Mädchen einzudrillen! Da könnten sie einmal preußische Unteroffiziersflüche zu hören bekommen.«
»Wollt Ihr diese Stellung annehmen?«
August riss den Mund vor Staunen auf.
»Hört mal, foppen lasse ich mich von keinem Menschen nicht.«
»Ich spreche im Ernst.«
»Ihr?«, Ihr wäret gerade die Rechte, eine solche Stelle zu vergeben. Da muss Euch das Haar, das Ihr auf dem Kopfe habt, unter der Nase wachsen, dann könnt Ihr mir so etwas weismachen.«
»Wenn ich diese Stelle aber wirklich zu vergeben habe?«, lächelte das Mädchen belustigt.
»Wer seid Ihr denn? Wie kommt Ihr denn überhaupt hierher? He? Hier ist feindliches Terrain, morgen oder noch heute besetzt diesen Hügel die englische Artillerie und bombardiert Delhi mit Pfeffernüssen, und Ihr seid eine Inderin mit Leib und Seele, wie ich immer deutlicher merke.«
»Und ich merke, dass Ihr nicht gerade einen Feldherrnblick habt. Seht Ihr hinter den Schanzen die schwere Batterie?«
»Nee, keene Spur davon.«
»Dann habt Ihr überhaupt schwache Augen. Wenn hier Artillerie auffahren sollte, so ist sie in fünf Minuten in Grund und Boden geschossen. So dumm werden die englischen Offiziere wohl nicht sein.«
August kratzte sich hinter den Ohren. Es lag etwas in der Stimme des Mädchens, was keinen Widerspruch duldete.
»Ihr habt ja die reinen Feldherrnaugen«, meinte er. »Da seid Ihr wohl gar eine von den Amazonen?«
»Und wenn ich's nun wäre?«
»Dann ist's meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Euch festzunehmen und den Engländern als Gefangene auszuliefern, denn ich kämpfe und sterbe auf ihrer Seite.«
»In diesem Falle würde ich Euch diesen Dolch ins Herz stoßen, denn ich bin eine Feindin der Engländer.«
Plötzlich blitzte ein Dolch in ihrer Hand, der August jedoch nicht besonderen Schreck einjagte.
»Was wollt Ihr denn tun?«, fragte er gelassen.
»Euch den Dolch ins Herz stoßen.«
»Donnerwetter, das kann der Zehnte nicht vertragen.«
Lachend steckte das Mädchen den Dolch ein. Sie amüsierte sich über den Burschen immer mehr.
»Wollen wir Waffenstillstand schließen, bis unsere Unterhandlung zu Ende ist?«, fragte sie.
»Wenn's Euch nicht weiter geniert, wie mein Bruder sagt, mir soll's recht sein.«
»Wollt Ihr also die Stellung annehmen?«
»Welche?«
»Als Kommandeur der Amazonentruppe.«
»Ach, geht, Ihr treibt Scherz!«
»Ganz und gar nicht.«
»Gehört Ihr denn zu denen dort?«
Er deutete nach Delhi.
»Ja.«
»Was, Ihr seid doch nicht etwa gar...?«, rief August, diesmal wirklich erschrocken.
»Die Begum von Dschansi? Nein, nur ihre Freundin, und bin von ihr beauftragt, die Amazonen auszubilden.«
»Oho, und das will Euch wohl nicht gelingen?«
»Ich habe keine Zeit, mich selbst mit ihnen zu beschäftigen, ich soll sie der Begum nur einexerziert vorführen. Zum Instruktor habe ich einen Offizier erwählt, doch ich bin nicht mit seinen Leistungen zufrieden. Es sind nur noch drei Tage, bis ich sie vorführen soll, und die Mädchen können noch nicht links und rechts unterscheiden.«
»Dann ist der Kerl schlapp, da würde ich schon Dampf dahinter machen. Drei Tage ist freilich etwas wenig, aus Rekruten Soldaten zu machen.«
»Acht Tage würden noch zugegeben werden.«
»O, das genügt!«
»Ihr würdet nur die Aufsicht übernehmen, der Offizier bedarf derselben. Ihr müsstet eben Dampf dahinter machen, wie Ihr vorhin sagtet.«
»Ich verstehe, verstehe vollkommen. Was für ein Offizier ist denn das? Ein Inder?«
»Ein Franzose.«
»Hei, das sollte mir Freude machen, den Kerl zu kujonieren. Alle Hagel, wollte ich dem und seinen Mädels warm machen.«
»Nun, wollt Ihr?«
»Was?«
»Seid Ihr aber manchmal unbeholfen. Eben jene Aufsicht über die Amazonen übernehmen.«
»Na, wenn Ihr es denn durchaus wollt, so nehme ich diesen Posten an. Aber umsonst ist der Tod.«
»Natürlich werdet Ihr bezahlt.«
»Wie viel?«
»Das kommt darauf an, welche Charge Ihr bekleidet.«
»Unter einem General tue ich's nicht.«
»Gut, so erhaltet Ihr täglich vierzig Rupien.«
»Teufel, Ihr seid freigebig!«
»Wir bezahlen unsere fremden Offiziere gut.«
»Aber eine Generalsuniform will ich auch haben.«
»Sollt Ihr bekommen.«
»Und einen Schleppsäbel.«
»Den tragen unsere Offiziere nicht.«
»Wenn ich einen Säbel habe, dann muss er auch schleppen.«
»So wird er eben schleppend gemacht.«
»Und wie steht's mit langen Stiefeln und Orden?«
»Sollt Ihr alles haben. Sagen wir also, in zwölf Tagen müsst Ihr mit den Bajaderen so weit sein, dass ich sie der Begum vorführen kann. Für jeden Tag, den Ihr erspart, erhaltet Ihr tausend Rupien extra.«
»Donnerwetter, das lässt sich hören!«
»Zeit ist Geld. Doch Ihr sollt die Mädchen nicht selbst einexerzieren, sondern das den Captain tun lassen. Ihr führt nur die Aufsicht über diesen.«
»Also er steht unter mir?«
»Vollkommen.«
»O, dann will ich ihn schon zwiebeln. Ja so, wenn er mir aber nun nicht parieren will?«
»Ihr habt über Leben und Tod zu verfügen.«
»Na, dann kann's gut werden. So kann man mich wohl auch einmal einen Kopf kürzer machen?«
»Ihr habt keinen Vorgesetzten und steht unter dem persönlichen Schutz der Begum. Eure Aufgabe ist nur, die Bajaderen unter dem Befehl des Captains — Duplessis heißt er — auszubilden. Ihr seid also damit einverstanden?«
»Nu, allemal!«
»Gelingt es Euch nicht, so werdet Ihr nach Verlauf der zwölf Tage sofort auf freien Fuß gesetzt, respektive unter sicherem Geleit nach dem Lager der Engländer gebracht.«
»Das lässt sich alles hören. Nun habe ich noch einige Bedingungen zu stellen.«
»Stellt, welche Ihr wollt, sie sollen Euch alle gewährt werden. Selbst ein Reitpferd soll Euch als General geliefert werden — rein arabischer Rasse.«
»Nee, ich reite nur Karussellpferde, aber Sporen nehme ich dankbar an. Die Amazonen sollen doch nicht etwa beritten sein?«
»Nein, es sind Amazonen zu Fuß.«
»Dann geht alles gut. Also nun noch einige Bedingungen. Wenn ich die Mädels einexerziert habe, muss ich die Bescheinigung bekommen, dass ich in der indischen Armee als General gedient habe.«
»Auch das gestehe ich Euch zu.«
»Und die Mädels müssen dann, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, mit mir kommen.«
»Wozu das?«
»Ich will sie im Berliner Panoptikum auftreten lassen, und Ihr sollt auch mit mir kommen, und nun merkt Euch das: wenn Ihr noch einmal einen Dummen braucht, mit dem Ihr Euren Jux treiben wollt, dann sucht Euch nicht wieder August Hefter aus; denn ehe Ihr den verhonibeln könnt, da müsst Ihr freilich etwas früher aufstehen.«
Damit sprang August lachend auf, aber im Nu erstarb ihm das Lachen. Soweit sein Auge reichte, erblickte er in der Ferne indische Soldaten marschieren, wohl einige Regimenter, direkt auf Delhi zu, und in demselben Augenblick stürmten von allen Seiten Sepoys auf den Hügel zu.
Im Nu waren August und das Mädchen umzingelt. August war wirklich erschrocken, er sah sich zum zweiten Male in den Händen der Inder.
Das Mädchen dagegen war ruhig aufgestanden und besprach sich mit einem der Sepoys, der seiner Uniform nach ein Offizier war. Er gab ihr ein Fernrohr, durch welches sie den Horizont nach allen Richtungen musterte.
August hatte die Unterredung nicht verstanden, weil sie auf Indisch geführt worden war. Als er jetzt mechanisch der Richtung des Fernrohrs folgte, sah er überall am fernen Horizont ein Blitzen und Gleißen im Sonnenlicht, und an einigen Stellen stiegen Rauchwölkchen auf.
Dort mussten Kämpfe stattfinden.
»General Hefter«, wendete sich das Mädchen lächelnd an August, »wissen Sie, was das bedeutet?«
»Ich? Nicht im Mindesten.«
»Als General der Amazonengarde müssen Sie sich nach und nach einen militärischen Blick angewöhnen. Die englischen Truppen suchen Delhi einzuschließen, wir hindern sie so lange daran, bis sich unsere Sepoys in die Festung zurückgezogen haben. Wir sind nicht stark genug, eine Schlacht zu beginnen, aber Delhi sollen die Engländer nimmermehr bekommen.«
»I — ich — soll — sollte —«, stotterte August.
»Wie?«
»Ich sollte wirklich General werden?«
»Ich hoffe, Sie werden Ihr Wort nicht brechen. Sonst würde ich mich genötigt sehen, Sie zu zwingen, die Ausbildung der Amazonen zu übernehmen.«
August schaute sie mit großen Augen an, er sah sich von den Sepoys umzingelt, eine Flucht war nicht möglich, er wusste überhaupt nicht, wo ihm der Kopf stand.
»Aber, allerschönstes, gnädigstes, liebstes Fräulein, Sie erlauben sich doch nur ein kleines Späßchen mit mir?«, sagte er dann in kläglichem Tone.
»Ganz und gar nicht, es ist mein völliger Ernst, wie ich Ihnen schon oft wiederholt habe. Kommen Sie! Wir schließen uns den nach Delhi marschierenden Truppen an. Bei den Bedingungen bleibt es.«
»Aber gnädiges Fräulein...«
Das Mädchen legte ihm freundlich die Hand auf die Schulter.
»Sie haben mir vorhin so viel erzählt, wie die Amazonen in Berlin exerzierten, dass ich dergleichen selbst einmal sehen möchte. Es wird eine langwierige Belagerung werden, Sie können uns dabei die Zeit etwas vertreiben.«
»Na, dann mal los!«, schrie August plötzlich und richtete sich stramm aus. »Ja, ich will Ihre Amazonen wohl dressieren und den Franzosen mit, aber die Hundepeitsche zu gebrauchen müssen Sie mir erlauben.«
»Oho, ich merke schon, für so etwas scheinen Sie sich zu eignen. In Ihnen schlummert ein Feldherrntalent.«
»Und ob ich mich dazu eigne! War ich doch früher einmal in einem Affentheater und habe Hunde und Affen dressiert.«
»Dann versuchen Sie Ihre Kunst an den Bajaderen. Der Gebrauch der Peitsche ist Ihnen erlaubt.«
Stolz aufgerichtet marschierte August mit.
Die Belagerung Delhis hatte begonnen. Noch außer Schussweite der indischen Kanonen in den Forts lagen die englischen Truppen unter General Wilson; sie waren zu schwach, um schon jetzt den Sturm zu wagen; nicht einmal ein Bombardement versprach Erfolg, und so begnügten sie sich damit, vorläufig die umfassendsten Schanzarbeiten vorzunehmen, den Eingeschlossenen die Zufuhr abzuschneiden, etwaige Ausfälle zurückzuschlagen und den Feind zu beobachten.
In jeder Nacht rückten die Pioniere näher an die Stadt heran und warfen Schanzen auf, sie wurden zwar immer von feindlichen Kugeln belästigt, doch zu jener Zeit kannte man noch nicht die Hilfsmittel unserer heutigen Artillerie, welche bei Nacht ebenso sicher schießt wie am Tage.
Die Kugeln und Granaten aus Delhi schadeten den verwegenen Pionieren nur wenig. Beim Morgengrauen zogen sie sich in sichere Entfernung zurück, und dann begannen die feindlichen Geschütze erst recht zu spielen, um die nächtliche Arbeit zu zerstören. Doch die englischen Pioniere verstanden ihre Sache, die Kugeln vermochten den aus Weidengeflecht und Erde hergestellten Schanzen nichts anzuhaben, und wollten die Inder mit Hacken und Schaufeln die Arbeiten zunichte machen, so überschütteten die englischen Kanonen sie mit tödlichem Hagel.
Näher und näher zogen sich die im Zickzack laufenden Graben und Schanzen an Delhi heran, man wartete nur noch auf General Nicholson, in dessen Begleitung schwere Artillerie war, dann erst begann die eigentliche Belagerung. Es sei schon jetzt erwähnt, dass diese Belagerung fast drei Monate dauerte und schließlich mit einem heldenmütigen Sturm endete, heldenmütig sowohl für die Engländer wie auch für die Inder.
Es war im Anfange der Belagerung. Kleine Erdhaufen und andere Merkmale bezeichneten erst die Richtung, welche die Schanzgräben nehmen sollten.
Die englischen Anführer waren sich vollkommen klar darüber, welche schwere Aufgabe sie ausführen wollten. Sie wussten recht gut, dass an ein Aushungern Dehlis fast gar nicht gedacht werden konnte, die größten Vorräte von Lebensmitteln lagen darin aufgespeichert, das Abschneiden des Wassers war ebenso unmöglich, man hätte dann den breiten Strom, der dicht an Delhi vorüberfloss, die Dschamna, ableiten müssen. Es wurde schon erwähnt, dass aus diese hinaus Wassertore führten. Sonst gab es keinen Zu- und Ausgang. Die hohen Mauern erhoben sich jäh aus dem Wasser, durch die Scharten schauten drohend die Mündungen schwerer Geschütze, bereit, jeden Übergang über den Strom, sei es in welcherlei Weise, zu vereiteln. In sicherer Entfernung vor den Kanonenkugeln hatten die Engländer südlich von Delhi eine schwimmende Brücke hergestellt, nördlich davon schwang sich eine steinerne über den Strom, ein uraltes Bauwerk, die Brücke Tail-Nasrab. Es kam den Engländern sehr gelegen, dass auch diese nicht im Bereiche der feindlichen Geschütze lag. So hatten sie eine sichere Verbindung über den Strom, welche von Artillerie und Kavallerie benutzt werden konnte.
Jenseits der Dschamna stand neben dem Zelte des General Wilson das Lord Cannings, und wir finden außer diesem noch Reihenfels darin, der staunend der Erzählung des Gouverneurs gelauscht hatte.
»Sind Sie nun gewillt, das auszuführen, was mir aufgetragen und eigentlich meine Pflicht ist?«, fragte Lord Canning, nachdem er geschlossen, und betrachtete mit besorgter Miene den vor ihm sitzenden jungen Mann.
»Wie können Sie denn so fragen?«, entgegnete dieser begeistert. »Ist es doch meine Schwester, deren Befreiung ich mich weihen will. Ich habe nichts zu verlieren als mein Leben, Ihr Leben dagegen ist wertvoll und gehört nicht nur Ihnen, sondern ganz England; Ihr Rat ist unentbehrlich, und ist Franziska auch Ihre Braut, so dürfen sie dennoch nicht sagen, dass es Ihre Aufgabe ist, sie zu retten. Es warten Ihrer noch andere, höhere Pflichten.«
»Hundertmal habe ich mir dasselbe gesagt, ich habe es in den Augen der pflichttreuen Freunde gelesen, besonders in denen des alten Wilson; er ahnt vielleicht, was ich vorhabe, und hat es mir sogar direkt zu verstehen gegeben, aber alle meine Vernunftgründe wurden übertönt von einer inneren Stimme, die mir fort und fort zuflüsterte: der beizustehen, die du liebst, ist deine erste und höchste Pflicht. Wehe dir, wenn du mir nicht folgst, denn ich bin ein göttlicher Befehl.«
Canning schaute Reihenfels gespannt an, und dieser senkte wie beschämt den Kopf.
»Ja, es ist eine göttliche Stimme«, sagte er dann leise; »ihr müssen wir vor allen Dingen gehorchen, wollen wir ihre Anschuldigungen nicht Zeit unseres Lebens hören.«
»Von Ihnen wundert mich am allermeisten, dass Sie mir widersprachen und mich an die Pflicht mahnten, die ich gegen das Vaterland habe.«
»Mylord, ich will offen sein. Meine Absicht war, Sie zum Danke gegen mich zu verpflichten. Sie sollten es als ganz selbstverständlich betrachten, dass Sie von dem Versuche abstehen, ich mich dagegen demselben unterziehe. Es ist mir misslungen.«
»O, Mister Reihenfels, Sie sind zu edel. Ist nun aber nicht alles gut? Ich stehe davon ab, denn ich habe einen Ersatzmann gefunden, der mich vertreten kann und wird. Sie haben schon oft Proben Ihres Mutes und Ihrer Tatkraft abgelegt, dass ich Ihnen alles anvertrauen würde, und Franziska ist Ihre Schwester, Sie sind mein Schwager. mein Herz ist übervoll, weil ich Gottes Walten wieder einmal in seiner ganzen Herrlichkeit erkannt habe. Herr, führe mich nicht in Versuchung, habe ich noch gestern aus tiefstem Herzen zum Himmel aufgeschrieen; denn heute ist schon der Tag, dass ich mit Pflicht und Gewissen einen furchtbaren Kampf ausfechten sollte; da kamen Sie gestern Abend an, Sie brachten die gefangenen Freunde mit, Sie berichteten von der Vernichtung der Thugs; das Gerücht, dass Sie, der unscheinbare Gelehrte, der Held gewesen seien, dem man alles verdanke, der nichts gescheut habe, die Unglücklichen zu befreien, durchflog wie ein Lauffeuer das ganze Lager, und da erkannte ich mit Staunen, dass Gott mir einen Retter gesandt hatte. Sie waren der Mann, der mich vertreten sollte; ich sprach mit Ihnen, und nun sagen Sie mir Ihre Hilfe zu.«
»Es ist dies ganz selbstverständlich«, entgegnete Reihenfels; »lassen Sie uns nur noch das Für und Wider überlegen. Sie würden also ohne jedes Bedenken der Aufforderung folgen?«
»Ohne Zögern. Schon allein das rätselhafte Erscheinen und Verschwinden jener froschähnlichen Missgeburt hat mich so ergriffen, dass ich das Rätsel lösen möchte.«
»Sie denken an keine Falle der Inder, Sie in Gefangenschaft zu bekommen?«
»Es könnte sein — aber nein, diese Falle wäre denn doch zu eigentümlich und kompliziert! Nein, und abermals nein! Die Feinde würden sich wohl anderer Listen bedienen, um sich meiner zu bemächtigen, wenn ihnen daran überhaupt so viel gelegen wäre, was ich nicht glaube.«
»Das Schreiben stammt von Mirja, es muss aus Delhi kommen. Sie aber meinten, die Jüdin, deren Bekanntschaft Sie schon zweimal unter solch seltsamen Umständen gemacht, im Lager am schwarzen See gesehen zu haben?«
»Ich meinte es allerdings. Die Gestalt und Tracht war die Mirjas.«
»Nun, wenn Sie nicht ihr Gesicht gesehen haben, können Sie nicht bestimmt urteilen. Die Jüdinnen ähneln sich alle im Wuchs und in der bunten Tracht.«
»Sie war in Begleitung des alten Sedrack, den ich ganz genau erkannt habe.«
»Das wäre der einzige Umstand, der zu bedenken ist. Doch was hilft jetzt das Zögern? Glauben Sie, dass jene Jüdin Mirja gewesen ist?«
»Dann will ich mit nein antworten.«
»Ich glaube es auch nicht. Vielmehr vermute ich, dass dieses vermummte Wesen jenes gewesen ist, welches während der Nacht im Lager spioniert hat.«
Erstaunt blickte Canning auf.
»Die Begum von Dschansi?«
»Ich denke es«, entgegnete Reihensfels achselzuckend; »doch lassen wir das, es gehört nicht hierher, nachdem wir uns darüber geeinigt haben, dass die Briefschreiberin Mirja und diese in Delhi gewesen ist. Ich habe noch andere Fragen.«
Er nahm vom Tisch ein Zettelchen und las dasselbe nochmals. In mit Bleistift gekritzelter Frauenschrift stand darauf:
Mirja, die Jüdin, welche du einst aus Feuer, Wasser und aus den Rachen der Krokodile zugleich gerettet hast, welche du vor Schande bewahrtest, schreibt dir dies:
Sei in der Nacht des nächsten Neumonds am Pfeiler der Brücke Tail-Nasrab jenseits von Delhi mit einem Boot. Komm allein. Kulwa, der Froschmensch, welcher
dir diese Kapsel bringt, erwartet dich dort. Folge ihm, er bringt dich zu mir! Über
mir, im Hause des Weibes, welches man die Duchesse nennt und welches die
Gattin Nana Sahibs ist, wird ein Mädchen gefangengehalten, das sich nach dem
Geliebten sehnt. Sie heißt Franziska Reihenfels, und der, nach dem sie sich sehnt,
bist du. Wir können sie retten, wenn du nicht zweifelst an der Wahrheit meiner
Worte. Wenn du nicht kommst, so wisse, dass es besser gewesen wäre, du hättest
mich nicht gerettet. Doch du wirst kommen und mich nicht zum unglücklichsten aller Geschöpfe machen.
Reihenfels legte den Zettel wieder hin.
»Was meint sie mit dem Letzten?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sollte Mirja nicht, um dem einen Gegendienst zu leisten, der sie gerettet hat, sich auf eine ungeheuerliche Weise geopfert haben?«
Es war fast, als ob Canning den forschenden Augen seines Gegenübers ausweichen wolle.
»Nicht wahr, auch Sie haben eine Ahnung?«, fuhr Reihenfels fort.
»Es wäre zu schrecklich!«, seufzte Canning endlich. »Die Missgeburt machte allerdings Andeutungen, dass er erst seit einigen Tagen mit einer jungen, sehr schönen Frau verheiratet sei, und Mirja ist wirklich eine Schönheit. O, Gott, wenn sie mir solch ein Opfer gebracht hätte!«
»Nun, es wird sich finden; machen Sie sich deshalb keine Vorwürfe. Setzten nicht auch Sie Ihr Leben für sie aufs Spiel?«
»Das hier ist etwas anderes, etwas Unnatürliches.«
»Nicht doch«, wehrte Reihenfels ab, »es ist eben eine Tatsache, dass das Weib, wenn es darauf ankommt, zu heroischeren Leistungen fähig ist als der Mann. Ein Weib kann für den, den es liebt, mehr opfern als selbst das Leben. Nun aber, Lord, Sie sind aufgefordert, zu kommen, und es wird ein anderer Ihre Stelle einnehmen.«
»Mirja wird die Gründe einsehen, aus denen der Tausch erfolgte.«
»Und Kulwa?«
»Er kann mich nur einmal gesehen haben, vielleicht merkt er die Verwechslung gar nicht.«
»Und wenn, so muss ich ihm eben begreiflich machen, warum sie nötig war. Sie hielten die Missgeburt nicht für schwachsinnig?«
»Nein, sie war nur sehr unbewandert mit unseren Verhältnissen. Sonst gab sie klare Antworten.«
Reihenfels erhob sich.
»So haben wir nichts mehr zu besprechen. Der Abend wird mich am bezeichneten Brückenpfeiler finden.«
»Brauchen Sie keine Hilfe von mir?«
»Nein. Nur sorgen Sie dafür, dass ein kleines, schmales Boot mir zur Verfügung steht, und dass ich auf dem Wege nicht von Posten angehalten werde. Ich verstehe mit guten Waffen und solchen leicht zu handhabenden Instrumenten umzugehen, wie Einbrecher sie verwenden. Vielleicht könnte ich sie gebrauchen. Alles andere müssen wir dem Zufall überlassen.«
Als die anbrechende Nacht das Zeichen zum Wiederbeginn der Pionierarbeiten gab, glitt ein schlankes, schmales Boot am östlichen Ufer der Dschamna dahin. Der Ruderer saß im Hinterteil und bediente sich eines sehr langen Ruders, das an beiden Seiten mit Schaufeln versehen war. Er tauchte es abwechselnd links und rechts in die Flut, und so kräftig die Schläge auch waren, so konnte dieses Ruder doch so lautlos bewegt werden, dass nicht einmal das Quaken der Frösche im Schilf verstummte.
Einmal rannte das Boot gegen einen dunklen Gegenstand, der wie ein Baumstumpf aus dem Wasser hervorsah, doch der Gegenstand verschwand gleich, es plätscherte, andere dunkle Punkte tauchten auf — es waren aufgescheuchte Krokodile.
Das Boot fuhr durch die weitgeschweifte Steinbrücke und legte an einem Pfeiler an. Hier musste der Versammlungsort der Frösche sein; das Quaken war fast ohrenzerreißend. Der Mann lenkte das Boot direkt ins Schilf hinein, tauchte das Ruder ganz ins Wasser, fand Grund und hielt sich an der Stange fest.
In weiter Ferne krachten Kanonenschüsse; die Inder beschossen aus Delhi die Pioniere, doch keine Kugel konnte sich hierher verirren. Dagegen waren die Krokodile unangenehme Nachbarn; der Ruderer überlegte, ob er nicht lieber aus dem Schilf herausfahren sollte, ehe er einen Schlag von einem beschuppten Schwanz erhielt, der ihn ins Wasser und in einen bezahnten Rachen schleuderte.
Hier aber musste ihm wiederum das Rascheln der Pflanzen die Annäherung eines Krokodils ankündigen, und so blieb er liegen.
Es war eine stockfinstere Nacht; weder Mond noch Sterne standen am bewölkten Himmel.
Da verstummte plötzlich das Quaken der Frösche einige Sekunden; es setzte wieder ein und hörte wieder auf. Ein Rascheln erscholl, und der einsame Ruderer dachte bereits an Flucht.
Doch er zögerte noch einmal; denn er glaubte aus dem Quaken eine menschliche Stimme zu vernehmen. So hatte ihm Lord Canning die des Froschmenschen beschrieben.
»Die silberne Kapsel!«, quakte es.
»Ich habe sie. Bist du's, Kulwa?«, entgegnete Reihenfels schnell.
Neben dem Boot tauchte etwas Dunkles auf, ein Kopf, und von diesem kam die Stimme.
»Es ist Kulwa. Bist du Lord Canning?«
»Ich bin's!«
»Der General-Gouverneur von Indien?«
»Ja«, erwiderte Reihenfels abermals, der Ort und Gelegenheit noch nicht für passend hielt, die Wahrheit zu sagen.
»Kennst du ein Mädchen?«
»Franziska Reihenfels, meine Braut.«
»Gut, so hat Mirja die Wahrheit gesprochen. Kennst du diese?«
»Mirja ist eine Jüdin, die Tochter des alten Sedrack. Ich habe sie einst aus dem Ganges gerettet.«
»Es ist alles richtig.«
»Und hier ist auch die silberne Kapsel.«
»Gib sie mir wieder!«
Eine Hand streckte sich über den Bootsrand, nahm die dargereichte Kapsel und steckte sie in den Mund.
»Bist du allein?«, fuhr der Kopf fort.
»Allein.«
»Du wirst nicht beobachtet?«
»Nein.«
»So wollen wir fort. Du bist klug gewesen, dass du solch ein kleines, schlankes Boot ausgesucht hast. Bist du auch so mutig wie klug?«
»Ich fürchte nichts.«
»Auch nicht, mit mir durchs Wasser zu schwimmen?«
Reihenfels zögerte doch, er dachte an die Krokodile, und Kulwa erriet, warum er zögerte.
»Du fürchtest dich vor den Krokodilen?«
»Sie lieben Menschenfleisch.«
»Bist du bei mir, so werden sie dir nichts tun. Pass auf und gib mir deine Hand!«
Es war Reihenfels schon gewesen, als ob neben dem Kopfe noch ein anderer erschienen wäre. Er streckte die Hand aus, sie wurde auf den dunklen Gegenstand geführt, und mit Schaudern fühlte Reihenfels den beschuppten Kopf eines Krokodils.
So lag der Froschmensch also ganz sorglos neben solch einem furchtbaren Reptil im Wasser.
»Die Krokodile aller Gewässer kennen und lieben oder fürchten mich, und der, welcher bei mir ist, ist ebenfalls vor ihren Zähnen sicher. Fürchtest du dich noch, mit mir durchs Wasser zu schwimmen?«
»Nein, ich glaube dir.«
»Kannst du tauchen?«
»Ja.«
Es klang fast wie ein spöttisches Lachen.
»Wie lange?«
»Eine halbe Minute, denke ich.«
»So lange musst du es auch aushalten können. Der Weg, den ich dabei zurücklege, ist ziemlich lang.«
»Gut, ich bin mit allem einverstanden. Wir schwimmen also durch den Strom? Wozu dann aber das Boot?«
»Wir benutzen es, um dann deine Braut herüberzubringen. Doch du brauchst dasselbe auch jetzt noch nicht zu verlassen, ich werde dich darin hinübergeleiten. Bist du bewaffnet?«
»Ja.«
»Es wäre nicht nötig gewesen. Lege jetzt das Ruder und dich selbst flach auf den Boden des Bootes, nur den Kopf darfst du etwas heben, damit du siehst, wohin ich dich führe. Du traust mir doch?«
»Ich traue dir«, entgegnete Reihenfels und tat, wie ihm geheißen, obgleich er nicht wusste, wie das Boot hinübergelangen sollte, denn der Strom war in der Mitte überaus reißend; dass ein Mensch dagegen anschwimmen konnte, schien gar nicht möglich.
Und doch geschah es.
Plötzlich nahm das Boot eine selbstständige Bewegung an, es fuhr nicht, es schoss über das Wasser. Reihenfels konnte nicht begreifen, wie ein Mensch so schnell schwimmen konnte. Zog Kulwa das Boot? Oder schob er es, oder trug er es gar auf dem Rücken? Reihenfels wusste es nicht, konnte den Kopf des Mannes aber auch nicht sehen.
Das Boot strebte einer direkten Richtung zu, und auch mitten im stärksten Strom wurde diese nicht im mindesten geändert. So konnte höchstens ein Fisch schwimmen.
Nach zehn Minuten erreichte das Boot das jenseitige Ufer. Hier erhob sich nicht nur die Mauer des Walles, sondern die hohe Wand eines fensterlosen Gebäudes, jedoch mit Scharten versehen.
Dieses Haus war einst eine Getreideniederlage gewesen, das wusste Reihenfels. Als Schutzwehr benutzten die Inder es wohl nicht; denn, wurde Delhi bombardiert, so fiel es zu allererst.
Gesehen konnte das Boot nicht worden sein, denn kein Ruf war erschollen. Doch nicht weit fort auf der eigentlichen Flussmauer ging es lebhaft zu; ein Geschütz sandte seine Kugeln zu den arbeitenden Pionieren am jenseitigen Ufer.
An diesem hohen Gebäude hielt das Boot, und neben Reihenfels tauchte Kulwas Kopf auf. Obgleich die Strömung hier stark war, vermochte er das Boot doch ohne scheinbare Schwimmbewegungen und ohne sich irgendwo anzuklammern, auf einem Punkte zu halten.
»Wir sind am Ziel«, flüsterte er, was aber bei seiner Stimme wie ein Röcheln klang, »von hier aus geht der Weg unter Wasser weiter.«
»Ich bin bereit. Was soll ich tun?«
»Nichts, als still liegen bleiben.«
»Im Boot?«
»Ja. Höre mich an, und du wirst mich begreifen! Wir müssen das Boot mitnehmen. Lasse ich dich zurück, so kannst du fortgetrieben werden, denn es ist hier nichts, woran du dich festhalten kannst, ebenso würde es dem Boote ergehen. Deshalb nehme ich euch beide zugleich mit hinab in die Tiefe und tauche durch das Loch. Wirst du es auch aushalten können? Ich weiß, ihr Menschen könnt nicht lange ohne Luft leben.«
Drückend fiel Reihenfels aufs Herz, dass dieser froschähnliche Mensch nicht mit den Verhältnissen gerechnet hatte. Ehe dieser durch das Loch getaucht, war Reihenfels vielleicht schon erstickt, während das für Kulwa eine Kleinigkeit war.
»Eine halbe Minute kann ich es ohne Luft aushalten.«
»Ich weiß nicht, wie lange das ist. Pass auf: wenn ich sage ›jetzt‹, so hältst du den Atem an, und wenn du nicht mehr kannst, so seufzt du laut. Dann weiß ich, wie lange du es aushältst. Reicht es nicht, so nehme ich einen kürzeren, aber auch gefährlicheren Weg. Also — jetzt!«
Es vergingen fast drei Viertelminuten, ehe Reihenfels wieder Atem holen musste.
»Es war viel, viel länger, als nötig ist«, sagte Kulwa befriedigt; »nun erschrick nicht über das, was ich verlange. Wenn man tief Atem geholt hat, so kann man viel länger unter Wasser bleiben, als wenn man den Atem vorher ausgestoßen hat. Begreifst du das?«
Reihenfels bejahte, er wusste auch, warum. Es ist dann eben noch Sauerstoff vorhanden, welchen die Lunge verbraucht. Der Froschmensch kannte diese Tatsache nur aus Erfahrung.
»Bist du aber voll Luft«, fuhr er fort, »so treibst du nach oben, und das darfst du nicht. Deswegen werde ich dich in dem Boote festbinden, ehe ich mit demselben untertauche.«
Es kostete einige Sekunden, ehe Reihenfels einen Schauder überwunden hatte. Er sollte also im Boote festgebunden und dann unter das Wasser gezogen werden.
»Tue mit mir, was du willst, ich traue dir.«
Sofort brachte Kulwa einen Strick zum Vorschein den er wahrscheinlich um seinen Leib getragen hatte, und umschlang damit das Boot nochmals, sodass Reihenfels sich nicht mehr erheben konnte.
»Bist du bereit?«, flüsterte Kulwa.
»Ich bin's. In Gottes Namen!«
»Halte den Atem an — jetzt!«
Reihenfels holte noch einmal möglichst tief Atem und schloss die Augen.
Er fühlte, wie das Boot in waagerechter Lage hinabgezogen wurde, wozu eine riesige Kraft nötig war, Wasser umspülte ihn, und dann schoss er in die Tiefe, mit einer Schnelligkeit, als würde er von Zentnergewichten hinabgezogen.
Nur einige Sekunden, für Reihenfels aber eine Ewigkeit, mochte diese Bewegung dauern. Wäre er nicht festgebunden gewesen, er wäre wie ein Ballon wieder empor geschleudert worden.
Dann war es ihm, als würde er horizontal fortgezogen, das Boot stieß mehrmals an, und er fühlte, wie er wieder nach oben getrieben wurde. Er spürte Luft an seinem Gesicht, er konnte atmen.
Dies alles mochte nur eine Viertelminute gedauert haben, für Reihenfels aber eben lange genug, obgleich er noch vollkommen bei Atem war. Nirgends vergeht die Zeit langsamer, als beim Tauchen unter Wasser.
Reihenfels konnte wieder atmen und war sich bewusst, mit Blitzeseile durch einen langen, unterirdischen Wasserkanal fortgezogen worden zu sein. Es umgab ihn undurchdringliche Finsternis, sein Körper lag noch im Wasser.
»Sprich zu mir!«, flüsterte es neben ihm.
»Wo bin ich?«
»Im Innern der Erde, unter der Stadt.«
Das Boot wurde gehoben, zur Seite geneigt, sodass das Wasser herauslief, und wieder niedergesetzt. Jetzt schwamm es wieder. Zu alledem musste eine übermenschliche Kraft gehören.
Die Seile wurden gelöst, und Reihenfels konnte sich aufrichten.
Ein Feuerschein flammte auf, er wurde hin und her geschwenkt, und bald leuchtete eine Fackel.
Reihenfels sah sich in einem ähnlichen Gang, wie ein solcher schon beschrieben wurde. In der Mitte floss ein zwei Meter breites, dunkles Gewässer, hüben und drüben erhoben sich wie Galerien die Ufer. Erst betrachtete Reihenfels aufmerksam die froschähnliche Missgeburt, die auf dem einen Ufer lag und eben die Fackel in ein Loch der Wand steckte. So war Kulwa ihm von Canning beschrieben worden.
Der Durchnässte sprang ans Ufer, um das Wasser etwas abfließen zu lassen, was Kulwa nicht nötig hatte.
Nachdem der Froschmensch die Fackel befestigt hatte, wandte er sich schwerfällig um und heftete seine hervorquellenden Augen auf den Mann, den er hierher in seinen Schlupfwinkel gebracht hatte, und sonderbar war es: diese Augen schienen immer mehr hervorquellen zu wollen.
»Du bist Lord Canning?«, fragte er dann.
»Nein«, entgegnete Reihenfels, der nach seinen nassen Revolverpatronen sah, jetzt der Wahrheit gemäß, »ich will dir offen sagen, dass ich...«
Er kam nicht weiter, denn mit einem Sprunge schnellte Kulwa auf ihn zu, packte ihn, riss ihn rücklings zu Boden und warf sich mit voller Wucht auf seinen Körper. Dabei umklammerten die froschähnlichen Finger die Kehle des Opfers.
»So hast du mich betrogen, du bist nicht Lord Canning, du kennst das Mädchen nicht, du willst etwas anderes. Aber ich will dich — du musst sterben.«
Reihenfels war diesem riesenstarken Ungeheuer gegenüber vollkommen machtlos, er konnte auch keine Erklärung geben, denn die umstrickenden Finger schnürten ihm die Kehle zu. Seine Anstrengungen waren vergebens, mehr und mehr schwanden ihm die Sinne.
»Nein, nicht hier«, murmelte Kulwa, sich eines anderen besinnend, »hier soll kein Mord geschehen. Die Fische und Krokodile will ich draußen mit dir füttern.«
Er hob Reihenfels an den Armen wie ein Kind auf und machte Miene, sich mit ihm ins Wasser zu stürzen.
Reihenfels sah ein, es war die höchste Zeit, dieses Ungetüm eines anderen zu belehren, sonst war er verloren.
»Franziska Reihenfels ist meine Schwester«, rief er schnell, »Lord Canning selbst kann nicht kommen. Ich will sie befreien.«
Diese Worte verfehlten nicht ihre Wirkung. Kulwa ließ nach im eisernen Griff und legte ihn wieder hin. Sein Gesicht drückte Erstaunen aus.
»Du willst die Freundin Mirjas retten?«
»Ja, sie ist meine Schwester.«
»Schwester? Was ist das?«
»Wir haben einen Vater und eine Mutter gehabt.«
»So liebst du sie?«
»So, als wäre sie meine Braut«, entgegnete Reihenfels, mit der Unerfahrenheit dieses Geschöpfes schnell und richtig rechnend. »Lord Canning kann nicht selbst kommen, darum schickt er mich.«
»Er kann nicht kommen?«
»Nein.«
»Ist Franziska nicht seine Braut?«
»Doch.«
»Er liebt sie?«
»Mehr als sein Leben.«
»Und er kann nicht selbst kommen, die zu retten, die er liebt?«
Dies war es, was Kulwa nicht begreifen konnte, und Reihenfels musste abermals zu einer Notlüge greifen, denn er taxierte dieses Geschöpf ganz richtig. Den wahren Grund hätte Kulwa doch nicht eingesehen.
»Lord Canning ist krank, verwundet, deshalb kann er nicht kommen und schickt mich.«
Kulwa überlegte, ohne die Hände seines Gefangenen loszulassen.
»Ich würde dir glauben, wenn du mich nicht schon einmal belogen hättest.«
»Ich tat es, weil vorhin keine Zeit zu längeren Auseinandersetzungen war. Du bist zu misstrauisch, Kulwa, du hättest vielleicht gezögert, mich mitzunehmen. Und dann bedenke. Lord Canning gab mir die silberne Kapsel, er weihte mich in alles ein, und hätte ich mich solchen Gefahren unterzogen, wenn ich nicht willens wäre, Mirjas Freundin, meine Schwester, zu befreien? Habe ich dich nicht hier gleich über den Irrtum aufgeklärt?«
»Du hast recht, du kannst mich nicht betrügen wollen. Mirja soll entscheiden, ob du der bist, welcher ihre Freundin befreien darf. Komm ins Boot!«
Er ließ Reihenfels los, der sich erhob, die Glieder nach dem schmerzhaften Sturze dehnte und das Boot bestieg. Kulwa gab ihm die Fackel, glitt ins Wasser und schob das Boot vor sich her.
Reihenfels sah, wie er gleich einem Frosch schwamm, jedoch nur mit den Armen. Die Beine schleppten untätig hinten nach. Sein ungeheuer breiter Mund hielt das spitze Hinterteil des Bootes gefasst.
Es war ein langer Weg. Die Beschaffenheit änderte sich nicht, immer dasselbe dunkle Gewässer mit den beiden, meterbreiten Rändern.
»Wo sind wir hier?«, fragte Reihenfels einmal. Kulwa ließ das Boot für eine Minute los.
»Ich weiß es nicht. Es ist ein Kanal, der unterhalb der Stadt hinfließt.«
Reihenfels konnte nicht mehr erfahren, als dass sich derartige Kanäle, oft teilend und wieder zusammentreffend, unter der ganzen Stadt erstreckten, oft aber vollkommen trocken waren, und dass das Wasser in ihnen steige und falle. Jetzt stand es hoch.
Die Fahrt wurde fortgesetzt; bald sah Reihenfels in der Ferne Lichter blinken, und da kam auch schon eine weibliche Gestalt auf dem Ufer herbeigeeilt. Es war Mirja.
»Lord Canning, ich wusste, dass du kommst!«, rief sie frohlockend, blieb aber dann erschrocken stehen.
»Wer ist das?«, schrie sie. »Das ist nicht der, dem ich geschrieben habe.«
»Nein«, entgegnete Reihenfels, »ich bin der Freund Lord Cannings. Franziska ist meine Schwester, und ich komme, sie zu befreien, wenn es möglich ist.«
»Ihr Bruder, wahrhaftig, ich erkenne dich als solchen an der Ähnlichkeit der Züge.«
Reihenfels sprang ans Ufer, und es ward ihm nicht schwer, Mirja zu überzeugen, dass er dieselbe Pflicht wie Canning habe, Franziska zu retten. Doch bei seiner Aussage, dieser sei verwundet und deshalb verhindert, blieb er, einmal um sich Kulwa gegenüber nicht nochmals eine Blöße zu geben, und dann, weil er zweifelte, dass Mirja, ebenso wie Kulwa das Pflichtbewusstsein eines Mannes, der eine verantwortliche Stelle hat, begreifen könne.
Die Jüdin bestürmte den Ankömmling mit Fragen, fast nur Canning betreffend, sie schien vor Angst über seine Verwundung vergehen zu wollen, bis es Oskar gelang, sie darüber zu beruhigen. Die Wunden seien nicht von Bedeutung.
Mit Staunen sah Reihenfels die häusliche Einrichtung der beiden Missgeburten, und er brauchte nicht erst wie Mirja viel zu fragen, um das Vorleben und die jetzige Existenz der beiden beurteilen zu können.
Ferner sah er, wie der aus dem Wasser gesprungene Kulwa die Jüdin begrüßte. Er schloss sie in seine Arme, küsste sie wieder und wieder, und Mirja duldete nicht nur seine Liebkosungen, sondern erwiderte sie sogar.
Doch es entging Reihenfels nicht, dass sie mit der größten Energie ihren Widerwillen zu besiegen wusste, als sie ihre rosigen Lippen auf das breite Froschmaul des Ungeheuers drückte, wie scheu sie dabei den Beobachter anblickte, und wie schnell und verschämt oder zerknirscht sie die Augen senkte, als sie sich beobachtet sah.
Reihenfels wurde von einer tiefen Rührung ergriffen. Es war kein Zweifel, diese Jüdin hatte sich dem Froschungeheuer als Frau hingegeben, um die Braut des Mannes aus der Gefangenschaft zu befreien, dem sie das Leben verdankte, sie hatte ihm also sich selbst und mehr als das geopfert.
Was für Kämpfe mochte das junge Mädchen durchgemacht haben, ehe es sich dazu entschlossen hatte! Fürwahr, sie brauchte sich nicht zu schämen; hoch stand sie in seinen Augen da; es war ihm, als habe ein Engel dieses Reich der Nacht aufgesucht und verscheuche die Finsternis.
Während Mirja Fische für den lange fern gewesenen Kulwa briet, erzählte sie offen und ehrlich, ohne den kleinsten Umstand zu vergessen, ihre Schicksale, die Gefangennahme Franziskas. Reihenfels hörte gespannt zu, aber neue Zweifel und Besorgnisse stiegen in ihm auf.
»Du weißt nicht, ob Franziska noch in dem Hause der Duchesse ist?«, fragte er.
»Wie sollte ich das wissen?«
»Der Aufstand in Delhi fand vor vier Wochen statt.«
»Vor wie viel Wochen?«
»Vor vier Wochen.«
»Und so lange wäre ich schon hier unten?«
»Gewiss!«
Mirja ließ vor Schreck die Pfanne fallen.
»Mein Gott, und ich denke, ich bin höchstens vier Tage hier.«
»Ich kann deinen Irrtum leicht begreifen, nimm ihn dir nicht zu Herzen. Ich werde versuchen, in das Haus der Duchesse zu gelangen und Franziska zu befreien. Wir wollen uns nicht mit Vermutungen quälen, ob sie noch drin ist oder nicht. Also das Loch ist leicht zu erklettern, Kulwa?«
»Ich war schon oben und habe dafür gesorgt, dass es noch leichter ist. Du brauchst dir nicht einmal die Kleider nass zu machen. Ich habe aus Stricken eine Leiter gemacht und sie oben gut befestigt, sodass du bequem hinaufsteigen kannst.«
»Das ist vorzüglich. In diesem Falle ist es vielleicht nicht einmal nötig, mit Franziska diesen Weg zurück zu wählen.«
»Ich verstehe dich nicht«, sagte Mirja, »oder würdest du wagen, mit Franziska offen das Haus zu verlassen? Bedenke, ihr Fehlen würde bald entdeckt, ihr würdet angehalten werden, und die Tore Delhis könnt ihr nicht passieren.«
»Du magst recht haben, um so mehr, als Delhi eine belagerte Festung ist. Ich dachte an etwas anderes. Müsste ich wieder Wasser passieren, so könnte ich mich nur bei Nacht in das fremde Haus schleichen; gelange ich trocken hinein, so wäre mein Auftreten ganz anders. Ich sehe dort die Uniform eines indischen Offiziers liegen, mit derselben bekleidet, könnte ich mich wohl einige Zeit frei in der Stadt bewegen. Nun, kann ich meine Schwester nicht anders entführen, so benutze ich eben wieder den Wasserweg.«
»Dann erfahre ich aber gar nicht, ob dir die Rettung gelungen ist«, klagte Mirja.
»Das sollst du auf jeden Fall erfahren, und auch der Dank soll dir nicht entgehen, verlass dich darauf! Wann können wir uns nach dem Loch begeben, Kulwa?«
»Sofort, wenn du willst.«
»Kommen wir trocken hin?«
»Nicht eher, als bis das Wasser gefallen ist.«
»Wie lange dauert das noch?«
Darauf wusste niemand eine Antwort zu geben.
»Steigt und fällt dieses Wasser mit dem des Stromes?«, forschte Reihenfels auf andere Weise weiter.
Kulwa bejahte.
»Dann sind bis dahin noch acht Stunden. Nun noch eins, Kulwa: Ist es nicht möglich, von hier unten an die Oberfläche der Erde zu kommen, ohne das Wasser passieren zu müssen?«
»Ich kenne ein Loch, von dem aus du die Häuser sehen kannst. Bist du geschmeidig, wird es dir gelingen, hindurchzuschlüpfen.«
»Es wird mir gelingen, wenn es sein muss. Willst du mir dieses Loch jetzt schon zeigen?«
»Ruhe dich noch aus, es ist Nacht. Wenn wir nach der Grube gehen, in welche Mirja gestürzt ist müssen wir an dem Loch vorbei.«
»Gut, so warte ich.«
»Es gibt auch noch andere Gänge, die ich nicht kenne«, fuhr Kulwa von selbst fort; aber es entging Reihenfels nicht, dass er zögernd sprach.
»Warum kennst du sie nicht?«
»Es ist kein Wasser darin, und ich bewege mich ungern auf trockener Erde.«
»So warst du drin, Phangil?«
Auch dieser wollte nicht recht mit der Sprache heraus.
»Nur früher, jetzt lange nicht mehr«, grunzte er endlich; »die Gänge führen weit, ich habe nie ihr Ende erreicht, und immer kommen andere dazwischen.«
»Warum gehst du jetzt nicht mehr hinein?«
»Es sind nicht mehr viele Ratten drin.«
Reihenfels sah Mirja an.
»Warum sagt ihr nicht die Wahrheit?«, fragte sie. »Dieser Mann muss alles wissen. Ja, Herr, es geht hier manchmal nicht mit rechten Dingen zu. Kulwa und Phangil fürchten sich, diese Gänge zu betreten, weil von dort manchmal ein jämmerliches Geheul hierher schallt; es klingt, als ob man einen Hund schlägt, aber doch wieder mehr wie das Weinen eines Kindes.«
Reihenfels wurde nachdenklich.
»In diesen Gängen? Wie sehen sie aus?«
»Sie sind groß«, erklärte Phangil, »viel größer als diese, und trocken. Nur ab und zu steht Wasser da, das aus der Erde dringen muss.«
»Es klingt wie Heulen?«
»Wie Heulen und Winseln, dann aber wieder wie ein heiseres Lachen gleich dem der Hyänen; einmal war es mir auch, als hörte ich eine Frauenstimme rufen. Es sind...«
Plötzlich sprang Reihenfels auf. Doch gleich ließ er sich kopfschüttelnd wieder nieder.
»Was mag es sein?«
»Kilwa und Phangil meinen, es sind böse Geister, und ich glaube es auch«, fuhr Mirja fort.
»Waren sie schon hier?«
»Um Gottes willen!«
»Habt ihr sie schon gesehen?«
»Wie sollen wir sie gesehen haben?«, sagte Phangil. »Dann würden wir ja auch nicht mehr leben.«
Also auch bis hierher hatte sich der Geisteraberglaube verirrt! Natürlich! Je geringer die Geistesbildung eines Menschen ist, desto mehr ist er geneigt, an überirdische Wesen zu glauben, die ihm nützen oder schaden.
»Hast du noch manchmal Menschen in jener Grube gefunden, Kulwa?«, fragte er.
»Gewiss, aber nur tote.«
»Einmal vielleicht gleich zwei?«
Kulwa besann sich und schüttelte den Kopf.
»Nein, nie. Ich gehe sehr oft hin, um die Leichen zu entfernen, denn der Ausfluss ist zu schmal, als dass sie von selbst weggespült werden könnten.«
»Die Krokodile werden sie holen.«
»Diese gehen gar nicht in das Loch.«
»Warum nicht?«
»Weil sie sich in demselben nicht umdrehen können.«
»Hast du nicht einmal die Leiche eines alten, graubärtigen Mannes gefunden?«
»Nein, ganz sicher nicht.«
Reihenfels bedauerte, dass diesen Leuten ganz die Zeitrechnung abging, sonst hätte er genauer fragen können.
Dann traf er ebenso wie die anderen Vorbereitungen zum Schlafen; denn es war hier unten doch nichts anderes anzufangen. Phangil schnarchte schon wie ein Murmeltier, und Kulwa schien ebenfalls zu schlafen, obgleich er mit offenen Augen dasaß.
Reihenfels beobachtete ihn lange und musste immer mehr gestehen, dass er schlief. Da berührte jemand seine Schulter, Mirja stand hinter ihm.
»Was willst du, Mirja?«
»Sprecht Englisch«, flüsterte das Mädchen, »und wenn Kulwa aufwacht, was Ihr an dem Zucken seiner Augen bemerken könnt, so sprecht wieder Indisch und über irgend etwas anderes.«
»Ich werde es tun. Was wollt Ihr?«
»Ihr kennt Lord Canning?«
Er ist mein Freund, meine Schwester seine Braut.«
»Da er nicht selbst gekommen ist, so kann ich ihn auch niemals wiedersehen.«
»Warum denn nicht?«
»Ich werde diese Gänge nie wieder verlassen.«
»So habt Ihr Euch wirklich geopfert, um Lord Canning Eure Dankbarkeit zu beweisen? Ich kann es nicht fassen.«
Ein leichtes, aber glückliches Lächeln huschte über Mirjas Antlitz.
»Ich tat es gern und bereue es nicht. War ich doch auch schuld, dass Franziska wieder in Gefangenschaft kam.«
»Und Ihr hättet diesen Froschmenschen wirklich geheiratet?«
»Ich tat es.«
»Mirja, Mirja, Ihr tatet mehr, als Ihr durftet. Lord Canning hätte so etwas nimmermehr zugegeben.«
»Er würde mir zürnen, wenn er es erfährt?«
»Nein, das nicht. Er wird erst darüber traurig sein und dann Euren Edelmut segnen.«
»So möchte ich wenigstens, dass er es erfährt.«
»Ich verstehe Euch, es ist so schön, zu wissen, dass man auf Dankbarkeit rechnen darf, wenn diese auch nicht ausgedrückt werden kann.«
»Wollt Ihr ihm sagen, wie Ihr mich gefunden habt?«
»Nicht nur er, alle Welt soll erfahren, was Ihr, Mirja, eine Jüdin, an Eurem Freund getan habt. Doch ich hoffe, dass Ihr nicht immer hier unten bleiben werdet. Ich werde, wenn ich selbst wieder in Sicherheit bin, Mittel und Wege finden, Euch dem Leben unter dem Sonnenlicht wiederzugeben.«
Traurig schüttelte Mirja den Kopf.
»Ich bitte, lasst dies!«
»Wie, Ihr wollt freiwillig dieses Leben auf Euch nehmen?«
»Ja, denn ich —«
»Was, Mirja?«
»Denn ich bedaure Kulwa. Er liebt mich, er kann ohne mich nicht mehr leben.«
»Mirja, sagt mir nur das eine! Ihr seid wirklich Mann und Frau?«
»Nein, ich werde als Mädchen sterben. Gute Nacht, schlaft wohl, edler Herr, Gott gebe Euch Kraft!«
Sie ging über das Brett hinüber und legte sich angekleidet auf die Decke, gerade dorthin, wohin Kulwas Augen glotzten.
Reihenfels hatte sie verstanden. Kulwa wusste nicht, was die Ehe war, er war einer solchen nicht fähig. Anfangs war dies für Reihenfels ein Trost, dann aber überkam ihn nur ein um so größeres Mitleid mit dem Mädchen, das hier wie eine Blume aus Mangel an Luft, Licht und Liebe verdorren sollte. Er hatte es stets als eine Sünde betrachtet, auch nur einer Pflanze das zur Existenz Nötige zu entziehen, und war es nicht seine Pflicht, dieses junge Mädchen dem Leben wiederzugeben?
Unter solchen Gedanken schlief er ein. —
Das Wasser im Kanal war tief gesunken, als Reihenfels und Kulwa ihre unterirdische Expedition begannen. Ersterer hatte die vorgefundene indische Offiziersuniform eingepackt, auch einen Offiziersdegen hatte er entdeckt und konnte sich so ganz gut verkleiden. Seine Waffen waren in bester Ordnung, den eingefetteten Revolverpatronen hatte das Wasser nichts zu schaden vermocht.
Unter den Segenswünschen Mirjas bestieg er das Boot, das mit Stricken und Brechstangen ausgerüstet war, und wurde von Kulwa auf dem Wasser davon geführt.
Das Haus der Duchesse lag durchaus nicht über dem Gange, den die Missgeburten bewohnten. Ein weiter Weg war bis zu ihm zurückzulegen. Der Kanal wurde von einem anderen gekreuzt, dann mündete auch einmal ein hochgelegener, trockener Gang hinein.
Kulwa hielt an und deutete nach oben.
»Dort befindet sich eine Treppe, und steigst du sie hinauf, so stößt du auf das Loch, durch welches du die Häuser schon sehen kannst.«
Reihenfels wollte jetzt erst sein eigentliches Ziel erreichen und fuhr also weiter. Er gelangte schließlich, nachdem man lange über trockenes Land gegangen war, wobei er Kulwas Sprünge bewundern konnte, an einen meterlangen Tunnel, den er auf Händen und Füßen passieren musste, und stand dann in jener Grube, in welche Mirja gestürzt war.
Sie mochte einen Meter breit und drei Meter lang sein, wie hoch sie war, konnte er nicht sagen, denn es herrschte hier Dunkelheit, und die Kerze, welche er anzündete, langte nicht, die obere Decke zu beleuchten.
Wieder musste er bedauern, dass auch Kulwa nichts von Ellen oder Metern wusste, doch dieser konnte bestimmt behaupten, dass sie zehnmal die Größe von Reihenfels betrüge. Kam das Wasser durch den Kanal, so stand es hier ungefähr vier Meter hoch, die Marke konnte man genau erkennen.
An der Wand hing eine Strickleiter, sie war von Kulwa oben befestigt worden. Ob der Deckel von unten zurückzuschlagen ging, konnte er nicht sagen, denn er hatte es nicht probiert.
Reihenfels machte gleich selbst den Versuch, er stieg ohne Mühe hinauf, stieß an einen eisernen Deckel, etwa einen Quadratmeter groß, aber wie er auch daran hob oder hauptsächlich zog, er konnte ihn nicht herabschlagen. Ebenso fand er weder Schloss noch Riegel noch sonst einen Mechanismus, der den Deckel zum Herabfallen brachte.
Da war nun freilich guter Rat teuer. Der Deckel konnte nur von oben bewegt werden wahrscheinlich mit Hilfe eines geheimen Mechanismus.
Unbefriedigt stieg Reihenfels wieder hinunter.
»Es geht so nicht, ich bringe den Deckel nicht herab.«
»Ich will es versuchen, ich bin stark.«
»Es ist kein Loch und keine Handhabe daran. Nein, es muss erst jemand ins Haus dringen und dafür sorgen, dass der Deckel offen ist, wenn eine Flucht durch diese Grube nötig wird. Das Wasser steigt hier mit dem des Stromes?«
»Ja.«
»So ist die Grube also am Tage trocken und während der Nacht mit Wasser gefüllt; um Mitternacht ungefähr hat es den höchsten Punkt erreicht. Gut, damit müssen wir rechnen. Nun brauche ich deinen Rat, Kulwa. Gesetzt den Fall, ich benutze bei einer Flucht aus dem Hause, in welches ich von der Straße aus eingedrungen bin, diese Grube am Tage, so ist dabei keine Schwierigkeit. Ich klettere eben die Strickleiter hinab. Wie nun aber während der Nacht, wenn hier Wasser steht?«
»So springst du hinunter ins Wasser. Ich warte hier.«
»Der Zufall könnte wollen, dass du nicht hier bist. Dann würde ich ertrinken und meine Schwester ebenfalls. Bedenke, dass diese aller Wahrscheinlichkeit nach den Sprung mit wagen müsste. Nein, mir müssen wenigstens etwas haben, worauf wir stehen können.«
»Das Boot.«
»Ja, aber wie kann es hier hereinkommen?«
»Ich werde es hereinschleppen.«
Kulwa machte sich sofort an die Arbeit, während Reihenfels überlegte, wie er diese Gänge auf einem anderen Wege verlassen könne. Die einzige Hoffnung blieb das von Kulwa beschriebene Mauerloch, und er ließ sich von ihm sofort den Weg dorthin zeigen.
Es zeigte sich erst, wie tief er sich unter der Erde befand, als er die Treppe emporstieg. Dann stand er in einem Gewölbe, das er zu seiner Verwunderung als einen gewöhnlichen Hauskeller erkannte.
Türen waren nicht zu sehen, dagegen ein kleines Fenster dicht über dem Erdboden, durch welches das Tageslicht hereinfiel. An ein Durchschlüpfen war gar nicht zu denken, darin hatte sich Kulwa verrechnet.
Reihenfels wusste nicht, dass er sich unter einem vollständig zerfallenen Hause befand, nach dessen Abtragung niemand gelüstete. Daher kam es, dass niemand den verschütteten Keller betrat, denn wenn dies geschah, so war das Geheimnis dieser unterirdischen Gänge bloßgelegt.
Reihenfels trat an das Fenster, das sich in Augenhöhe befand, und spähte hindurch. Er überblickte einen freien Platz, der von alten, baufälligen und unbewohnten Häusern eingefasst war. Delhi ist ja so reich an solchen verlassenen Stätten, in denen nur Raubvögel und Ratten nisten.
Es war vollkommen hell; es mochte später Morgen sein.
Er vernahm eine Stimme, unterschied Kommandos in englischer Sprache und hörte Gewehre klirren.
Es wurde also exerziert, dies war ein militärischer Übungsplatz. Die indischen Sepoys exerzieren nach englischen Kommandos, und die Rebellen hatten dieselben beibehalten.
»Abteilung — marsch«, hörte Reihenfels rufen, aber sonderbar war es, dass er keine Schritte vernahm.
Ja, doch, es erklangen welche, aber sie waren für Soldaten merkwürdig leicht und kurz, trippelnd.
Der Beobachter konnte den Kopf wenden, wie er wollte, die Abteilung bekam er nicht zu sehen.
Da fuhr er plötzlich zurück, um nicht gesehen zu werden; denn über den Platz ging langsam, mit gravitätischem Schritt ein Offizier in der Generalsuniform der anglo-indischen Armee: in rotem, goldgesticktem Waffenrock, dunkelblauer Hose mit breiten, roten Streifen, auf den Achseln Epauletten mit Goldstreifen, ein Helm mit Rossschweif und die hohen Kniestiefel mit Sporen.
Doch bald merkte Reihenfels, dass es eine Phantasieuniform war. Auf dem Rock war mehr Goldstickerei als nötig, der Rossschweif hatte eine übermäßige Länge, die silbernen Sporen glichen denen der nordamerikanischen Cowboys an Gewicht und Größe, und schließlich, was das auffälligste war, der Degen in blanker Scheide, schleppte an langem Riemen nach.
»Wahrscheinlich ein neuer Rang mit dementsprechender Uniform«, dachte Reihenfels; »die Inder lieben das Auffällige und Phantastische. Wenn mich der Kerl nur nicht sieht!«
Er brauchte keine Angst zu haben, dieser Offizier hatte für das Kellerloch kein Interesse. Gravitätisch schritt er auf und ab, rauchte eine lange, schwarze Zigarre, deren Rauch er behaglich in Ringelchen von sich blies, und hatte überhaupt etwas Selbstbewusstes, Unnahbares an sich.
Wenn er einmal stehen blieb, so stützte er sich auf den Säbel, schlug ein Bein übers andere, setzte den an einer Schnur herabhängenden Klemmer auf die Nase, schob die zwei mittelsten Finger der linken Hand in den Brustschlitz des Waffenrocks und schaute dann mit einer unnachahmlichen Miene von Hochmut und Stolz dahin, woher die Kommandos erklangen.
Wo hatte Reihenfels dieses Gesicht nur schon einmal gesehen? Nein, nicht einmal, er kannte es sogar sehr gut. Aber wem in aller Welt gehörte es nur an?
Das Haar bedeckte der Helm, das Gesicht war das eines Europäers, unbedingt das eines Germanen, sommersprossig, und unter der Nase ein kleiner, brandroter Schnurrbart, dessen Enden wie Dolchspitzen ausgedreht waren. Wurde die Hand aus dem Brustschlitz gezogen, so beschäftigte sie sich sofort mit dem Schnurrbart.
Reihenfels war mit den Verhältnissen der Rebellen recht gut vertraut, er wusste, dass die fremden Offiziere Franzosen und Italiener waren, kein Deutscher befand sich darunter, und dass dieser Mann ein solcher war, darauf hätte er schwören können.
Aber ein Deutscher als General der indischen Armee in Delhi? Davon hätte er wissen müssen.
Woher kannte er nur dieses Gesicht? Reihenfels zermarterte sein Hirn vergebens. Plötzlich tauchte vor ihm sein Diener August auf. Heiliger Himmel, das war ja —
Ach, Unsinn, August als indischer General! Reihenfels hätte bald laut aufgelacht, so komisch kam ihm dieser Gedanke vor.
Der Offizier schritt wieder gravitätisch wie ein Storch über den Platz. Dann blieb er abermals stehen und räusperte sich. Eben hatten die Gewehre der unsichtbaren Soldaten gerasselt.
»Das war schlapp, Captain, ganz schlapp«, sagte der General mit schleppender, schnarrender Stimme, »und dann treten Sie gefälligst mal aus dem Schatten raus. Glauben Sie etwa, derselbe sei dazu da, dass Sie drin rumtrampeln können? Und Ihren kaffeebraunen Hottentottenteint brauchen Sie auch nicht weiter zu schonen. raus aus dem Schatten!«
Reihenfels war beim Klange dieser Stimme zusammengefahren, abermals tauchte sein Diener vor ihm auf. Torheit, es war ja eine ganz andere Stimme! So schnarrte August niemals.
Dieser General sprang mit seinen Offizieren übrigens sehr scharf um; den Captain, einen Hauptmann, behandelte er wie einen gewöhnlichen Soldaten.
»Zu Befehl, Exzellenz«, klang es zurück.
August eine Exzellenz, das wäre köstlich! Warum musste Reihenfels nur immer wieder an seinen ehemaligen Diener denken, wo gar kein Grund dazu vorhanden war?
»Nu hören Sie auf mit den Gewehrgriffen«, schnarrte die Exzellenz weiter, »lassen Sie die Leute ein bisschen Marschübungen vornehmen. Aufmarschieren, Sektionen bilden und so weiter, aber vergessen Sie nicht, dass Sie zu Pferde sitzen, mein Wertester, sonst lasse ich Sie hundertmal über den Platz reiten, bis Ihnen der Schweiß wie ein Wasserfall übers Gesicht rauscht und Sie den Himmel für einen Dudelsack ansehen. He, du da mit die Schmachtlocken, klappere nicht so mit die Augen! Captain, passen Sie auf die Leute auf, Sie sind hier nicht in der Alhambra und kokettieren mit Mirzy.«
Ehe noch Reihenfels sein Staunen über die letzten Worte bemeistern konnte, bekam er schon etwas Neues zu sehen, was ihn glauben machte, er wohne einer Maskerade bei, auf der sich Harlekins tummelten.
Ein Offizier in Captainsuniform kam vorübergerannt, den blanken Degen in der Hand, und seltsam, wie er sich benahm. Entweder hatte er eben einen Sonnenstich bekommen oder er war überhaupt vollständig verrückt.
Er rannte in vollem Laufe herum, schlug mit den Beinen um sich, sprang und bockte wie ein Kind, das sich einbildet, auf einem Pferde zu sitzen und zu reiten. Dabei hielt er auch die Hände, als ob er Zügel führe.
Reihenfels griff sich an die Stirn. Er wusste nicht, ob er wache oder träume. Das Staunen über diese Seltsamkeit war vorüber, aber jener Mann dort, der sich so unsinnig benahm, den kannte er. Das war niemand anders als Monsieur Giraud, der ihn in die Alhambra gelockt hatte. August hatte ihn auch als den bezeichnet, der...
»Captain Duplessis«, schrie die Exzellenz, »wollen Sie Ihrem Pferde nicht immer die Sporen geben. Das ist keine Biertonne, auf der Sie sitzen, das ist königliches Eigentum und mehr wert als hundert solcher Kreaturen, wie Sie eine sein tun.«
Der Mann galoppierte wie ein Wilder auf dem Platze herum.
»In Sektionen abmarschiert«, schrie der Captain in heiserem Kommandotone, »rechts — schwenkt — marsch!«
Leichte Tritte erschollen, sie kamen näher, und vor Reihenfels' erstaunten Augen marschierten acht Sektionen vorüber, nicht aus Soldaten, sondern aus Weibern bestehend, die aber in Männerkleidung staken und Waffen trugen.
Sie hatten kurze, blau und weiß gestreifte Höschen an, rote Jäckchen mit goldenen Knöpfen, auf den offenen Haaren Turbane, über den Schultern Flinten, und an dem Gürtel mit Patronentasche hingen Seitengewehre.
Es waren für Reihenfels keine unbekannten Gestalten. Er konnte beschwören, dass dies die Bajaderen waren, die er an jenem Abend, als er sich für den Bengalesen ausgegeben, gesehen hatte.
Das dicke Mädchen von damals erkannte er sofort wieder; aber ihre Körperfülle hatte sich schon bedeutend vermindert, überhaupt sahen alle aus, als wäre ihnen übel mitgespielt worden.
Sie marschierten stramm wie Soldaten, zuckten nicht mit den Augen, trugen die Gewehre regelrecht, und der Captain galoppierte dabei immer um sie herum, als säße er zu Pferde.
Es war eben eine Posse, die hier gespielt wurde.
Trotzdem war die Exzellenz nicht mit den Leistungen zufrieden.
»Is nischt, is nischt«, rief er, »zurück mit der Bande, die Beine höher heben! Braucht eure Spazierhölzer durchaus nicht zu schonen.«
In aufgelöstem Schwarm jagten die Mädchen zurück und begannen ihre Evolutionen von Neuem.
Dann durften sie sich rühren, und Reihenfels merkte, dass sie wirklich erschöpft waren. Die Exzellenz rief den Captain zu sich. Er stand im Schatten dicht vor dem Kellerloch, so die Aussicht versperrend. Reihenfels sah nur die schwarzen Stiefelschäfte und hörte die Stimmen.
»Nun, Captain«, schnarrte der General, »die Sache macht sich. Ich denke, in vier Tagen kann ich die Jungens vorstellen.«
»Zu Befehl, Exzellenz!«
»Im übrigen bin ich zufrieden mit den Leistungen, nur bilden Sie sich ja nicht ein, dass Sie daran schuld sind. Wenn ich nicht gekommen wäre, so wären die Mädels noch eine Bande wilder Kaffern.«
»Zu Befehl, Exzellenz!«
»Im Übrigen bin ich wie gesagt zufrieden. Nur bei Ihnen hapert's noch hier und da. Ihre Haltung zu Pferde ist ganz miserabel, und dann muss ich mir auch ausbitten, dass Sie sich von jetzt ab nicht mehr den Schnurrbart wichsen. Hier hat niemand anders den Schnurrbart zu wichsen als ich. Verstanden?«
»Zu Befehl, Exzellenz!«
»Wozu tragen Sie überhaupt einen Schnurrbart, he? Sie sind hier nicht in der Alhambra und können mit den Bajaderen scharwenzeln. Morgen werden Sie ohne Schnurrbart erscheinen, blankrasiert wie ein Teller, und wenn ich nur ein einziges Härchen in Ihrem schafsdämlichen Gesicht sehe, dann — na, dann wissen Sie, was ich mit Ihnen mache. Dann haue ich Sie Ihren Rindsschädel ab und lasse die Kerls damit Fangball spielen.«
»Ich möchte Exzellenz bitten —«
»Nichts haben Sie zu bitten«, donnerte ihn der General an, »nur zu gehorchen!«
»Zu Befehl, Exzellenz!«
»Morgen glattrasiert erscheinen. Verstanden?«
»Zu Befehl, Exzellenz!«
Die Exzellenz stützte sich auf den Säbel.
»Wissen Sie«, fuhr er in gemütlichem Tone fort, »wenn ich mir so Ihr Schafsgesicht ansehe, dann spüre ich immer Lust, so weit auszuholen, wie ich nur kann, und Ihnen ein paar Saftige runterzuhauen. Verdient haben Sie sie doch eigentlich, nicht? Na, wird's bald?«
»Zu Befehl, Exzellenz!«
»Sie sind doch ein ganz gemeiner Lump.«
»Zu Befehl, Exzellenz!«
»Und mit der Mirzy haben Sie auch unter einer Decke gespielt.«
»Zu Befehl, Exzellenz!«
»Und die Gemeinheit mit Reihenfels, das war auch Ihr Werk.«
»Zu Befehl, Exzellenz!«
»Dafür verdienten Sie doch Ohrfeigen. Was verdienten Sie dafür?«
»Ohrfeigen, Exzellenz!«
»Was sind Sie in meinen Augen?«
»Ein Lump, Exzellenz!«
»Das reicht nicht.«
»Ein ganz infamer Lump, Exzellenz!«
»Das könnte so ungefähr reichen. Lacht mal Leute!«
Die Mädchen brachen unisono in Lachen aus.
»Lauter!«
Das Lachen wurde stärker.
»Ausgelacht!«, kommandierte der General. »Marsch, mit eingetreten ins Glied, ich will euch noch etwas dressieren, und zwar höchst eigenhändig.«
Der Captain trat mit ins Glied, und so ward für Reihenfels die Aussicht wieder frei. Er sah das halbverzweifelte Gesicht des Captains, die niedergeschlagenen Augen der Mädchen und die Stiefelschäfte der Exzellenz.
»Stillgestanden!«, kommandierte der General selbst. »Richt' euch — Augen geradeaus — links um — rechts um — kehrt — front! Das klappt nicht! Passt auf! Kehrt — front — kehrt — front — kehrt — front!«
Die Kommandos kamen kurz hintereinander, dass die schwarzen, langen Haare der Mädchen um die Köpfe wirbelten. Schließlich konnten sie den Kommandos nicht folgen und drehten sich planlos im Kreise umher.
»Himmelkreuzschockschwerenot!«, fluchte der General. »Das ist ja eine saubere Zucht. Da stehen sie wie die Ochsen am Berge, oder vielmehr wie die Kühe da. Na, wollt ihr Kanaillen gleich lachen!«
Wieder erscholl das kommandierte Lachen.
»Ordnen — einzeln vorbeimarschieren — mir die Hand küssen.«
Die Mädchen zogen vorbei, voran der Captain, und das Schmatzen verriet Reihenfels, dass der Befehl wirklich wortgemäß ausgeführt wurde.
Dann bauten sich die Soldaten wieder auf, der General ließ Wendungen machen. Einmal, als er kehrt kommandiert hatte, fühlte er ein Kratzen an seinem Stiefel.
Erschrocken hob er den Fuß und machte einen Sprung vorwärts.
»Heiliges Donnerwetter, was ist denn das?«
Er bückte sich und sah den Kopf am Fenster, der Finger auf dem Munde bedeutete Schweigen. Über das Gesicht des Generals flog es wie namenloses Erstaunen, doch gleich hatte er sich wieder gefasst.
»Abteilung marsch!«, kommandierte er und ließ seine Truppe bis an das gegenüberliegende Haus marschieren. »Halt! So, nun bleibt stehen, bis ihr schwarz werdet, und wer sich auch nur muckst, aus dem lasse ich heute Abend Frikassee machen.«
Die Abteilung stand wie eine Mauer, von dem Kellerloch wohl hundert Meter entfernt. Der General bückte sich noch tiefer und schaute Reihenfels gerade ins Gesicht.
»Nee, sind Sie's denn nur wirklich, Mister Reihenfels, oder beißt mich nur der Affe?«, staunte er.
»Ich bin er schon, aber ist denn das wirklich August?«
»August Hefter, General der Amazonengarde Ihrer Majestät der Begum vom China — Dschansi wollte ich sagen. Aber wie um Gottes willen kommen Sie denn da in das Loch, da geht ja kaum mein Kopf durch?«
»Ich bin eben auf einem anderen Wege hereingekommen. Nun erkläre mir du erst. Was treibst du denn hier eigentlich? Wie kommst du hierher? Mir bleibt der Verstand bald stehen.«
»Ja, da staunen Sie wohl«, entgegnete August stolz, obgleich er sofort das Untergeordnetenverhältnis wieder annahm; »meine militärischen Talente sind eben endlich anerkannt worden, und nun bin ich auf dem besten Wege, den höchsten Gipfel des irdischen Ruhms zu erklettern.«
»Mir scheint, du exerzierst die Bajaderen ein?«
»Ist so, natürlich. Die Kerlchen exerzieren schon ganz gut, nicht? Aber Haue hat's auch genug gekostet, ehe ich die Schwefelbande so weit gebracht habe. Das war eine Rotte Korah, du meine Güte. Aber nun sagen Sie bloß mal, was Sie hier eigentlich machen?«
»Lass das noch! Du bist wirklich General?«
»Na und ob! Gucken Sie bloß mal meine Uniform an! Alles nach Maß gemacht!«
»Ich werde daraus nicht klug und habe keine Zeit, weiterzuforschen —«
»Was die Zeit anbetrifft, da machen Sie sich keine Sorge nicht. Meine Mädchen stehen wie die Puppen, bis sie umfallen, und auch dann drehen sie die Köpfe noch nicht um. Nur dass ich mich beim Sprechen bücken muss, gefällt mir nicht. Aber sprechen Sie nur ruhig weiter, können's auch ganz laut tun. Die da dürfen nischt hören, wenn ich's nicht will. He, Mister Reihenfels, haben Sie schon den Kerl gesehen, der sich Captain schimpft?«
»Ja.«
»Das ist der Monsieur Giraud, jetzt heißt er aber Duplessis. Wissen Sie, der damals in der Alhambra —«
»Ich weiß es. Wer hat dich hier angestellt?«
»Die Begum von Dschansi selbst. Ich kriege einen Haufen Gehalt und freies Essen und Saufen, so viel ich will, nur die Pension fehlt noch. Wissen Sie, ich soll ihr eine Amazonentruppe nach Berliner Muster ausbilden.«
»Ich glaube, ich bin in ein Narrenhaus geraten.«
»Nicht wahr? Mir kommt's nämlich auch manchmal so vor. Aber es wird eben lustig mitgemacht. Ja, woher kommen Sie denn aber nur eigentlich, mein gutester Reihenfels?«
»August, ich glaube, dich schickt mir der Himmel.«
»Das ist leicht möglich.«
»Meine Schwester ist hier gefangen.«
»Ach nee! Wo denn?«
»Wir vermuten, im Hause der Duchesse.«
»Machen Sie keinen Sums. Da bin ich ja Hausfreund geworden.«
»Du?«
August fühlte sich beleidigt, er richtete sich stolz auf.
»Warum denn nicht? Figur und Brust habe ich doch zum General und die Uniform auch, was nämlich immer die Hauptsache ist. Warum soll ich denn da nicht in dem Hause der Duchesse mit den übrigen Generälers verkehren?«
»Du treibst also wirklich keinen Scherz?«
»Ich will auf die Stelle lang hinschlagen und verenden, wenn ich nicht die Wahrheit sagen tu'.«
»Hast du nicht erfahren, ob in diesem Hause ein Mädchen gefangengehalten wird?«
»Keine Silbe nicht. Ich kann ja aber einmal heute abend so nebenbei anfragen.«
»Um Gottes willen nicht!«
»Kann ich Ihnen sonst nicht irgendwie nützlich sein? Ich tue es gern für Ihnen.«
»Du bist heute Abend auch in diesem Hause?«
»Allemal! Die Begum selbst hat mich dorten eingeführt. Der habe ich übrigens schon erzählt, dass Sie ganz unschuldig an der Geschichte sind, und sie glaubt's auch. Den Kerl, den Giraud, soll ich ordentlich zwiebeln, bis sie selbst mit ihm spricht.«
Reihenfels konnte das Gespräch nicht fortsetzen, so leid dies ihm auch tat; denn ein Ton erscholl, der ihm Kulwas Nahen verriet, und dieser sollte nicht merken, dass die Verbindung mit der Außenwelt hier möglich war.
»Wo bist du zu finden?«, fragte Reihenfels. Schnell, ich muss mich entfernen.«
»Ich wohne in unserer alten Villa, Sie wissen schon, in welcher — gegenüber von der Duchesse! Warum denn aber plötzlich so eilig? Meine Mädels...«
»Und deine Amazonen?«
»Auch da.«
»Auf Wiedersehen, August. Ich rechne auf deine Hilfe, wenn ich sie brauche. Vielleicht komme ich noch einmal hierher.«
Reihenfels war verschwunden, und August ging zu seinen Leuten zurück.
Als Reihenfels die Treppe hinabgestiegen war, fand er Kulwa seiner wartend.
»Du hast die Tür geöffnet? Ich sehe es dir an.«
»Ja, sie ist offen. Ich konnte sie nicht herabziehen, aber ich habe sie mit Gewalt aufgestoßen.«
»Sie ist nun entzwei?«
»Sie geht nicht mehr zu schließen.«
»Wenn es nicht gehört worden ist, so schadet es nichts.«
Reihenfels war damit zufrieden. Nun stand ihm der Weg in das Haus der Duchesse offen, und er war entschlossen, ihn zu benutzen. Er schickte Kulwa unter einem Vorwand weg und stieg wieder die Treppe hinauf, um nochmals mit August zu sprechen, wenn dies möglich war. Er wusste nun, dass August nichts weiter als die Rolle eines Possenreißers spielte, wie solche noch jetzt an indischen, überhaupt an orientalischen Höfen gehalten werden. Vielleicht war ihm dies nicht einmal bewusst, er hielt sich selbst für eine wichtige Persönlichkeit. Aber konnte er mit seinen Amazonen, die so gehorsam waren, Reihenfels nicht doch vielleicht einen großen Dienst erweisen?
Es war nicht unmöglich, dass August auch im Hause der Duchesse aus- und eingehen durfte, eben als Possenreißer.
Reihenfels sah seinen Diener wieder als General einherstolzieren und die Exerzitien seiner Gardeamazonen überwachen. Der Captain ritt noch immer auf Schusters Rappen über den Platz und musste seinen vermeintlichen Gaul ausschlagen lassen, dass ihm der Schweiß über die Stirn tropfte.
Was hatte August vorhin gesagt? Er hatte der Begum alles erzählt, also die Wahrheit, wie jener verrückte Captain dort die Zusammenkunft mit Mirzi herbeigeführt, und die Begum hätte ihm geglaubt.
Dann war die Rolle, welche Giraud oder Duplessis spielen musste, auch nur eine Strafe, aber immerhin, wie konnte die Begum wagen, einen französischen Offizier so zu beleidigen? Oder aber ihr Hass war grenzenlos!
Es wurde Reihenfels nicht schwer, August wieder zu sich heranzurufen; denn derselbe hatte das Kellerloch immer in der Hoffnung im Auge behalten, sein Herr, dem er aus vollem Herzen zugetan war, möge wieder daran erscheinen.
»Kehrt — marsch — halt — stillgestanden und nicht gemuckst!«, kommandierte der General beim Anblick von Reihenfels und bückte sich dann wieder, um mit ihm zu sprechen.
»Wie lange bist du denn schon General?«, fragte Reihenfels.
»Fünf Tage erst; und sind diese Mädels ausgebildet, was in etwa vier Tagen der Fall ist, dann bin ich wieder entlassen, dann habe ich aber auch einige Rupien in der Tasche.«
»Mich wundert, dass sie dir so gehorchen.«
»Was wollen sie denn anders machen? Erst war Giraud ihr Kommandeur, dem tanzten sie aber auf der Nase. Dann kam ich, ich konnte hauen, so viel ich wollte, und da brachte ich ihnen schnell Räson bei.«
»Sie sind bewaffnet?«
»Natürlich, wie Sie sehen.«
»So würden sie also eventuell auch im Kampf verwendet werden?«
»I, Gott bewahre, die bekommen keine Patrone in die Hand.«
»Nicht? Ich denke!«
»Nu nee! Die Seitengewehre sitzen in der Scheide fest. Na, das wäre was Schönes, wenn die Patronen hätten! Die erste schössen sie mir in den Bauch.«
»Ah, also so steht es!«
»Nu freilich, ich muss aufpassen wie ein Heftelmacher, dass sie nicht wie die Furien über mir herfallen und mir zerreißen. Es ist die reine Tierbändigerei.«
»Und der Captain?«
»Wenn der nur könnte wie er wollte. Ich muss auch ihn scharf in den Augen behalten.«
»Aber er hat doch einen Degen?«
»Wissen Sie was eine optische Täuschung ist, Mister Reihenfels?«
»Ja.«
»Jener Degen ist so eine. Der ist aus Pappe und darübergeklebtem Silberpapier. Hier gibt's keinen anderen Säbel als meinen, und wenn ich Lust hätte, so könnte ich den Kerlchen allen die Köpfe abhacken.«
»Also du bist hier alleiniger Machthaber?«
»Vollkommener! Ha, Mister Reihenfels, das labt, wenn man so kommandieren kann! Wer hätte gedacht, dass aus dem Strumpfwirker noch einmal ein General würde!«
»Der Captain tut ja gerade, als ob er auf einem Pferde säße.«
»Muss er auch, Mister Reihenfels, auf allerhöchsten Regimentsbefehl. Und das ist ja eben der Hauptjux, 's ist eigentlich Kinderei, aber Spaß macht's doch, und die Hauptsache ist, dass ich dabei etwas profitiere.«
»Du verkehrst wirklich im Hause der Duchesse?«
»Ja doch, ich hab's Sie nun schon hundertmal gesagt.«
»Was machst du denn da?«
»Ich schlage da die große Trommel.«
»Was?«
»Na, ich führe da das große Wort, und die anderen amüsieren sich dabei köstlich. Was kann denn der Mensch anders verlangen, als sich amüsieren?«
»So kann ich also auf deine Hilfe rechnen, wenn ich sie brauche?«
»Allemal! Aber wie?«
»Höre, August! Meine Schwester Franziska, die auch du kennst, ist allem Anschein nach im Hause der Duchesse gefangen.«
»I, der Deibel soll die Kerls holen! Dann befreien wir sie ganz einfach.«
»Also mit dieser Uniform hast du nicht auch dein Herz gewechselt?«
»Mister Reihenfels, was glauben Sie denn, wer ich bin?«
»Ich dringe heute nacht in das Haus ein.«
»Dann müssen Sie aber erst einmal durch dieses Loch kommen.«
»Ist nicht nötig, ich gehe einen anderen Weg. Du bist in dem Hause gut bekannt?«
»So ziemlich.«
»Ich glaube, es wird dir nicht schwerfallen, zu spionieren. Oder lass das lieber, es könnte Verdacht erregen. Hauptsache ist mir, dass du während der Zeit, in welcher ich das Haus durchsuche, alles beschäftigst, damit ich nicht gestört werde.«
»Das kann gemacht werden. Nur mit den Dienern ist es eine faule Sache. Wie soll ich die beschäftigen, wenn ich drinnen sitze und erzähle?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Reihenfels nach einigen Überlegen, »das muss ich dir überlassen.«
»Na, werden's schon besorgen, Mister Reihenfels; Sie wissen doch, der August ist nicht auf den Kopf gefallen, und sollte es darauf ankommen, dann können Sie auf mich rechnen, auch wenn es mich mehr als meine Uniform kosten sollte. Wo ist denn der Eingang, den Sie benutzen wollen?«
»Wahrscheinlich im tiefsten Keller des Hauses. Kannst du unauffällig in diesen gehen?«
»Natürlich, mich beobachtet da drinnen niemand, ich kann hingehen, wohin ich will; nur wenn ich in der zweiten Etage herumschnobere, da wird mir die Tür vor der Nase zugeworfen.«
»Das ist wichtig für mich; ich werde wahrscheinlich dort suchen müssen. Wenn es möglich ist, halte die Kellertüren offen, sollte dieses Haus nach europäischer Art gebaut worden sein. Und nun noch eins: du sprachst davon, dass auch die Begum in dem Hause der Duchesse verkehrt?«
»Sie wohnt ja sogar drin, in der ersten Etage.«
»Und sie nimmt an den Gesellschaften teil?«
»Das nicht, ich habe sie nur am Tage mit der Duchesse und den Generälers sprechen sehen.«
Reihenfels wusste genug, er hielt es auch für angebracht, August nicht weiter in seine Pläne einzuweihen. Mit der Ermahnung, heute Abend Auge und Ohr offen zu halten, trennte er sich von August.
»Vishnu, der göttliche Erhalter hat Gnade mit dir gehabt und dir Leben und Gesundheit wiedergeschenkt. Danke mir nicht, denn ich war nur sein Werkzeug. Wenn ein irdisches Wesen noch Dank verdient außer ihm, so ist es die, welche dich im fieberwirren Schlaf bewacht hat. Aus ihren Händen strömte warmes Blut, aus ihrem Munde neues Leben zu dir über, auch ihr verdankst du deine Rettung. Lebe, wohl, Jüngling, mögest du nie wieder einen Priester Vishnus als Arzt gebrauchen! Lebe wohl!«
Mit diesen Worten verneigte sich der Greis, an dem weißen Stirnband als Priester Vishnus und Arzt kenntlich, vor dem auf dem Diwan sitzenden, blassen, jungen Mann und wandte sich zum Gehen.
Der, dem eben die Genesung nach langer Krankheit verkündet worden, ergriff die Hände des Priesters und drückte sie warm.
»Nein, auch dir habe ich zu danken, edler Mann!«, sagte er lebhaft. »Du hast dich in unermüdlicher Sorgfalt um mich bemüht. Habe Dank dafür, mehr kann ich nicht tun, nicht eine Kleinigkeit dir zum Andenken geben, denn ich bin ein Gefangener, und selbst mein Leben gehört mir nicht mehr!«
»Die Priester Vishnus verlangen nichts für geleistete Dienste. Dass sie Vishnu dienen dürfen ist ihnen Belohnung übergenug. Doch du irrst, wenn du sagst, als Gefangener gehöre dein Leben nicht dir selbst. Es gehört dir, denn du kannst es jeden Augenblick verschenken, den Göttern oder den Menschen.«
»Mein Leben kann ich dir, der du es erhalten, nicht anbieten.«
»So schenke es dieser!«, entgegnete der Priester, auf die weiße Gestalt deutend, die im Hintergrunde des orientalischen Gemaches stand, und entfernte sich. Der junge Inder hatte sich erhoben und ging mit ausgestreckten Händen, aber mit zögerndem Schritt, auf diese Gestalt zu.
»Bega«, sagte er leise, »hast du gehört? Wenn ich mein Leben verschenken darf, so soll ich es dir geben. Willst du es annehmen?«
Die Gestalt verließ die dunkle Ecke, im Dämmerlicht der Ampel warf sich ein junges Mädchen, eine Inderin, dem Entgegenkommenden an die Brust und umschlang ihn mit beiden Armen.
»Endlich, endlich sagst du mir das, worauf ich schon so lange gewartet habe, Eugen!«, lispelte sie. »Wohl wusste ich, dass du mich liebtest, denn im Fiebertraum hast du oft davon gesprochen, doch erwachtest du, so waren deine Lippen stumm, nur deine Augen sprachen.«
»Bega!«, jauchzte Eugen auf und drückte das Mädchen leidenschaftlich an sich. »So habe ich mich nicht getäuscht, so liebst du mich wirklich?«
»Wie kannst du so fragen? Was anderes als meine Liebe fesselte mich an dein Krankenbett?«
»Ich hielt es nur für Mitleid. Im Fieber verlangte ich stets nach dir. Ich weiß wohl, dass der Arzt angeordnet hatte, dem Verlangen des Kranken, der eine leidenschaftliche Natur besitzt, in jeder Weise nachzukommen. Sonst könnte er nicht an meine Genesung glauben. Ich verlangte stürmisch nach dir, und du kamst.«
»Ich kam so gern, Eugen!«
»Im Traume war es mir oft, als sprächst auch du von Liebe zu mir.«
»Es war kein Traum, Eugen, ich tat es.«
»Wie? So gabst du mir deine Liebe schon zu verstehen?«
»So gern hätte ich es auch im Wachen getan, doch vergebens wartete ich, dass du zuerst davon begannest. Was du im Fieber sprachst, das hielt ich für eine andere geltend.«
»Es galt nur dir! Und, Bega, habe ich nicht schon einmal zu dir von meiner Liebe gesprochen?«
»Ich törichtes Mädchen schlug sie damals aus, und darum glaubte ich, du zürntest mir.«
»Im Gegenteil, dein Zorn war es, der mich betrübte und unglücklich machte.«
»O, sprich nicht mehr davon! Schwer habe ich für meine Torheit damals büßen müssen. Jetzt ist alles wieder gut! Nicht wahr, du zürnst mir nicht mehr, dass ich dich damals verkannte?«
»Kein Wort mehr davon! Bega, ich bin aus langer Krankheit zu neuem, fröhlichem Leben erwacht.«
Eugen zog das Mädchen an sich, führte sie auf den Diwan und blickte ihr zärtlich ins Antlitz, das von dem Ampelschein hell beleuchtet wurde.
»Warum entzogst du mir deine Nähe gerade in der letzten Zeit, als ich mich am meisten nach dir sehnte?«, fragte er.
Es war fast, als ob das Mädchen ihr Antlitz den hellen Strahlen entziehen wollte, sie wendete es ab und schmiegte sich an die Brust des Geliebten.
»Weil ich mich vor deinen ersten Worten fürchtete«, flüsterte sie. Er hob ihr Kinn sanft empor.
»Du hast dich verändert, Bega.«
»Ich habe schwer zu leiden gehabt, ich litt mit dir.«
»Du gefällst mir noch mehr als früher.«
»Schmeichler!«
»Ich schmeichle nicht. Wie könnte ich das überhaupt dir gegenüber? Deine Züge sind sanfter geworden, aus deinen Augen bricht ein sanfterer Strahl
als früher, da sie in wilder Glut auflodern konnten. Oder können sie das auch noch jetzt?«
»Weißt du nicht, wer ich bin?«
Eugen zuckte etwas zusammen; er wollte das Mädchen etwas von sich entfernen, doch dieses umschlang ihn heftig und presste ihn an sich.
»Eugen, liebst du mich nicht?«
»Bega!«
»So sage es mir.«
Er gab ihr die Antwort dadurch, dass er sie wiederholt und leidenschaftlich küsste.
»Nun, weißt du, wer ich bin?«
»Die Begum von Dschansi?«, flüsterte er wie zaghaft.
»Du sagst die Wahrheit.«
Ein Schauer ging durch den noch schwachen Körper des eben erst Genesenen.
»Ich habe den Namen gehört, es war der Schlachtruf der Rebellen in jener schrecklichen Nacht; ja, ich habe sie selbst in Stahl gepanzert auf dem schwarzen Ross sitzen sehen, wie sie das Schwert schwang. Und das wärest du gewesen?«
»Ich war es.«
»Bega, du, die Königin von Dschansi! Ich kann es nicht fassen.«
»Warum nicht? Die Engländer sind meine Feinde, und ich bin eine Inderin.«
»Du, an meinem Krankenlager!«
»Die Liebe kennt nicht Freund und Feind in diesem Sinne. Der, den ich liebe, ist mein Freund.«
»Du, das streitbare Mädchen, an meinem Krankenlager!«, wiederholte Eugen ungläubig.
»Nicht immer war ich bei dir, oft blieb ich tagelang entfernt, ohne dass du es wusstest. Dann führte ich die Meinen an, und war der Kampf beendet, so kehrte ich zu dir zurück.«
»So verstehst du nicht nur Wunden zu heilen?«
»Ich muss auch denen solche zufügen, welche Indien in Knechtschaft halten wollen.«
»Ich kann es noch nicht begreifen. Du, das ernste und doch wieder manchmal so lustige, mutwillige Mädchen, das ich in Wanstead als die Tochter des Radscha Tipperah kennen lernte, du bist wirklich die Begum von Dschansi? O, gib mir Klarheit!«
»Ich kann es, denn es ist so. Ich bin nicht nur die Begum von Dschansi, ich bin die Königin von Indien; alle Radschas und Maharadschas müssen mir gehorchen, und tun sie es nicht, so sind sie meine Feinde und werden ihren Abfall dereinst büßen müssen. Selbst Nana Sahib und Großmogul Bahadur zollen mir Gehorsam.«
Ungläubig schaute Eugen sie an.
»Glaubst du nicht meinen Worten? Ich kann es dir beweisen, ich werde die hier versammelten Fürsten rufen; sie sollen sich vor mir beugen.«
Sie streckte die Hand nach dem Klingelzug aus, doch Eugen hielt sie davon ab.
»Nein, nein, tu es nicht! Du rufst meine Feinde. Ich kann es nicht ertragen, wenn sie sich an dem Anblick des Gefangenen weiden.«
»So glaubst du mir?«
»Ich muss es, du sprichst zu überzeugend.«
Er wollte sich von ihr losmachen, sie aber presste ihn nur noch leidenschaftlicher an sich.
»Was willst du tun, Eugen? Warum sträubst du dich?«
»Bega, lass mich, du bist für mich nun doch verloren«, kam es ächzend über seine Lippen.
»Verloren für dich?«
»Du bist eine Gegnerin Englands.«
»Und deine Geliebte!«
Es darf nicht sein. Ich bin dein Gefangener.«
»Du bist ein Inder. Sprich ein Wort, und du bist frei.«
Eugen schien zu erstarren. Plötzlich wusste er, was von ihm gefordert wurde.
»Wie meinst du das?«, stammelte er.
»Du bist ein Inder und wirst fernerhin für Indien kämpfen.«
»Ich schwor der englischen Königin Treue. Bega ich beschwöre dich, verlange nichts Unmögliches von mir.«
»Der Schwur ist durch den Tod ungültig.«
»Ich starb nicht.«
»Nein, denn ich erhielt dir das Leben. Denke an das Wort des Priesters. Dein Leben gehört diesem Mädchen.«
»Ich kann nicht, Bega.«
»Wenn du nicht für Indien kämpfen willst, so kämpfe für die, welche du liebst — für mich.«
»Bega, Bega!«, stöhnte der junge Mann.
»Du zögerst noch?«
»Ich kann nicht.«
»Dies ist das einzige, was mich hindert, dir jemals anzugehören«, rief das Mädchen und wollte sich aus seinen Armen heftig lösen.
Diesmal war es Eugen, welcher sie daran hinderte.
»O, sei nicht so schroff, Bega!«, flehte er. »Lass uns überlegen, ob es keinen anderen Weg gibt, dass du die Meine wirst.«
»Es gibt keinen anderen. Ich bin die Beherrscherin Indiens, auf mich sieht das Volk als auf seine Befreierin, von mir verlangt es die Rettung, die Freiheit Indiens, und verlasse ich dieses Land, so ist es für immer der Knechtschaft anheimgefallen. Verlange alles von mir, Eugen, ich will es aus Liebe zu dir tun, nur verlange nicht, dass ich aus Egoismus mein Vaterland den Feinden opfere.«
»Bega, du überschätzest dich.«
»Von jedem anderen würde das eine Beleidigung für mich sein, doch nicht von dir. Du warst krank und weißt nicht, was sich draußen ereignet hat.«
»So wären die Engländer wirklich vertrieben?«
»Ist es auch noch nicht so weit, ja, scheint es auch fast, als ob die Sache der Rebellen schlecht stände, so ist es doch nicht so. Noch hat der Kampf um die Herrschaft Indiens gar nicht begonnen, noch sind nur Plänkeleien vorgefallen. Aber der Sieg wird doch unser. Eugen, bist du der Unsrige? Indien ist dein Vaterland.«
»Ich kenne meine Heimat nicht.«
»Sagt dir nicht dein Herz, dass du ein Inder bist?«
»Wohl, ich fühle mich als solcher. Aber doch — wer bin ich? Ich kenne Vater und Mutter nicht; edle Engländer haben diese vertreten und mir ihre Ansichten eingeprägt.«
»Fluch ihnen, dass sie dies taten!«, rief das Mädchen heftig. »Ich werde sie wieder aus deinem Herzen reißen.«
»Das wirst du nicht können.«
»Geh, Eugen, geh zu den Engländern zurück und kämpfe gegen die, welche du zu lieben vorgabst! Nicht nur im Wachen, selbst im Traume hast du mich belogen. Geh, ich gebe dich frei.«
Eugen umklammerte sie noch fester.
»Ich tat es nicht«, rief er außer sich, »ich liebe dich, Bega! O Gott, was soll ich tun?«
»Rufe den Christengott nicht an, der dir nie helfen wird. Eugen, du sagtest, du kennst deine Eltern nicht. Soll ich sie dir wiedergeben, und wirst du dann erkennen, dass es deine heilige Pflicht ist, für dein Vaterland zu kämpfen, zu leben und zu sterben?«
»Wie? Meine Eltern lebten noch?«
»Sie leben nicht mehr auf Erden, aber sie leben noch in den Herzen aller Inder.«
»Wie meinst du das?«
»Dein Vater war ein Held, der für seine Ehre starb. Frage die Fürsten, und sie werden dir sagen: Dein Vater war der Mann, aus dessen Blut der König Indiens hervorgehen soll.«
Sprachlos staunte Eugen das Mädchen an.
»Wer sollte das sein?«, flüsterte er.
»Du!«
»Ich habe dich nicht verstanden. Aus meines Vaters Familie sollte der König von Indien hervorgehen?«
»So lautet die Prophezeiung: Deines Vaters Sohn soll die Königin von Indien freien, so wird er König. Du, Eugen, bist dieser Auserwählte, dir gebührt die Krone von Indien, von allen wirst du anerkannt werden, wenn du dich in unsere Pläne fügst.«
Bega war aufgestanden, hatte ihm die Hände auf die Schultern gelegt und schaute ihn mit glänzenden Augen an.
Eugen glaubte zu träumen.
»Eugen«, fuhr das Mädchen mit erhobener Stimme fort, »weigere dich nicht mehr, sei der Unsrige! Du gewinnst dabei mich und durch mich die Krone Indiens.«
»Aber wer bin ich denn?«
»Ich will es dir nicht länger verhehlen. Vor allen Dingen erfahre, dass ich nicht nur die Begum von Dschansi bin. Ich bin die verheißene Königin von Indien; aber noch ist nicht die Zeit, mich auf den Thron zu heben. So hat man mir den Titel der Begum von Dschansi gegeben; denn der Thron von Dschansi steht leer. Der Radscha von Dschansi fiel heldenmütig im Zweikampf mit Nana Sahib, und weißt du, wie dieser Radscha, in dessen Familie der Brahmanenrang erblich ist, hieß?«
»Wie sollte ich das wissen?«
»Er hieß Sirbhanga.«
»Sirbhanga?«
»Ja, es ist der Name, der dir von Brahmanen auf den Arm tätowiert wurde, und du bist sein Sohn — Sirbhanga Brahma, der zukünftige König von Indien!«
Eugen war aufgesprungen.
»Bega, sprichst du die Wahrheit?«, stieß er hervor.
»Wenn du mir nicht glaubst, so kann ich Beweise bringen. Aber genügt dir nicht schon die Tätowierung auf deinem Arm?«
»Ich, der Sohn Sirbhangas, des Radschas von Dschansi, der König von Indien!«
»Du bist es. Sei der Unsrige, der Meine! Hand in Hand wollen wir für unser schönes Indien kämpfen, und haben wir es befreit, dann wollen wir auch zusammen die Früchte genießen!«
»Nein, nein, ich kann es nicht fassen!«, rief Eugen.
»Du kannst dieses Glück nicht fassen?«
»Das Glück, ach, das Glück! Nein, du zauberst mir phantastische Bilder vor die Augen, ich werde umgarnt.«
Eine Glocke ertönte; Bega hatte sie gezogen. Die Portiere wurde zurückgeschlagen, und ein reichgekleideter, alter Mann mit schneeweißem Haupt- und Barthaar trat herein. Eugen kannte ihn, es war Bahadur, der Großmogul von Indien.
Er verneigte sich tief vor dem Mädchen, führte deren ausgestreckte Hand an die Lippen und wandte sich dann an Eugen:
»Du bist genesen, sagt der Arzt, und stark genug, die Freudenbotschaft ertragen zu können. Ja, Sirbhanga Brahma, erfahre es denn, du bist wirklich der Radscha von Dschansi, die Begum hat dir deinen Thron bewahrt, solange er leer stand, und sie wird dich noch zu einer anderen Höhe geleiten, die zu erklimmen ich von den Göttern nicht würdig befunden bin. Komm, mein Sohn, ich will dir erzählen, wer dein Vater gewesen ist, was du bist, und was die Götter von dir verlangen, damit du der Befreier Indiens wirst.«
Traumverloren erhob sich Eugen und wurde von Bahadur am Arme hinausgeführt. Noch einmal warf sich das Mädchen an seine Brust.
»Geh«, flüsterte sie ihm zu, »sei groß und stark, überzeuge dich von der Wahrheit, und dann bebe vor nichts zurück, was auch von dir verlangt wird. Bedenke, wir gehen Hand in Hand! Was deine Aufgabe ist, ist auch die meine, und so werden wir gemeinschaftlich das Ziel erreichen, die Befreiung Indiens und — unsere Vereinigung.«
»Bega, ich werde alles befolgen«, rief Eugen feurig, »sehe ich doch ein herrliches Ende vor Augen. Auf Wiedersehen, Bega!«
Er verließ mit Bahadur das Gemach. Seltsam, wie sich das Mädchen benahm, als sie sich selbst überlassen sah.
Heftig warf sie sich auf den Diwan und verhüllte das Gesicht mit den Händen.
»Verloren für mich, verloren für immer«, murmelte sie fast unhörbar, »und ich kann ihn doch nicht warnen, denn ich werde immer belauscht, wenn ich mit ihm allein bin. Tod und Verrat umlauerten mich immer, und habe ich meinen Zweck erfüllt, so werde ich als nutzlos fortgeworfen — gerade wie er. Eugen, Eugen, den ich liebe, könnte ich dich doch warnen. dass du nicht in den Abgrund stürzt, in dessen Tiefe du zerschmettern wirst. Könnte ich dich doch retten!«
Lange saß sie so da, das Gesicht in den Händen verhüllt.
Dann blickte sie auf, sah sich scheu um, als fürchtete sie, auch jetzt in der Einsamkeit belauscht zu werden, sprang auf und huschte durch eine andere Portiere zum Gemach hinaus.
Einsam und still lag das orientalische Zimmer da, in welchem eben von Liebe und Ruhm gesprochen worden war.
Da raschelte und knisterte es, die Tür eines Schrankes öffnete sich leise knarrend, und ein menschlicher Kopf sah durch die Spalte. Als er das Zimmer leer fand, folgte die Gestalt eines Mannes nach, mit der Uniform der Sepoyoffiziere bekleidet.
Also hatte das Mädchen doch einen Lauscher gehabt, aber keinen freiwilligen. Reihenfels musste sich hier verstecken, als er, während er das Zimmer suchte, in dem möglicherweise seine Schwester war, Stimmen sich nähern hörte.
Er hatte die Unterhaltung zwischen Eugen und dem Arzt, zwischen Eugen und Bega vernommen, er hatte auch noch gehört, wie letztere nach Entfernung Eugens geseufzt und leise gesprochen hatte, aber nicht den Inhalt des Selbstgesprächs.
Er sah bleich aus, als hätte er ein Gespenst gesehen, als er so im Zimmer stand und sich umschaute.
Nein, er hatte nichts gesehen, aber desto mehr gehört. Und was hatte er gehört! War es denn nur Wirklichkeit? Bega sollte solch eine Schlange sein?
Ach, Reihenfels wusste nur zu gut, um was es sich handelte. Eugen sollte für die Sache der Rebellen gewonnen, sollte auf alle Fälle als Spion gebraucht werden. Und war er nicht schon dafür gewonnen? Sicherlich, der List des Mädchens war es geglückt.
War es denn aber eine List? Nein, sie sprach offen, sie liebte Eugen also, und ihn, Reihenfels, ihn hatte sie zum besten gehabt. Kein Wort über ihn war gefallen, Eugen hatte nicht an ihn gedacht in seinem Glück, Bega seiner nicht erwähnt, und das mit Absicht.
Diese Schlange, die er an seinem Busen getragen hatte!
Wie war ihm in dem Versteck zumute gewesen, als er das Zwiegespräch vernahm! Erst hatte er nicht glauben wollen, dass es Bega sei, aber Eugen nannte sie ja so, sie selbst nannte sich Bega, gab sich als die Begum von Dschansi dem Ahnungslosen zu erkennen. Reihenfels wusste auch, was das frühere Ereignis war, an welches sie beide nicht mehr denken wollten.
Er hatte versucht, die Tür des Schrankes mit den Augen zu durchbohren, er wollte sie öffnen, wenn er nicht noch so viel Vernunft besessen hätte, sich zu sagen, dass er dann verloren sei.
Bega war von jetzt ab seine Feindin, und er wollte sie auch als solche behandeln.
Ach, er hatte sie verloren, die er liebte, und an deren Gegenliebe er doch noch immer geglaubt hatte, was auch alles dazwischengekommen, wie ihm das erbarmungslose Schicksal auch feindlich gesinnt gewesen war.
Verloren, verloren, diesmal für immer verloren! klagte es in seinem Innern.
Er hörte noch die Liebesworte, die Küsse, und eine Blutwelle übergoss sein Gesicht.
Alles, alles war umsonst gewesen, alles, wonach er gestrebt und gerungen. Im Augenblick dachte er nicht mehr an seine Schwester, er dachte nur an sein namenloses Elend.
Fort, nur fort aus diesem Hause, wo ihm sein Schicksal zum Bewusstsein gekommen war. Er lauschte — es war alles still. Dann öffnete er die Tür, die nach dem Korridor führte, und schritt schnellen Schrittes der Treppe zu. Dicke Teppiche dämpften den Tritt.
Als er den Korridor der ersten Etage erreichte, fiel ihm plötzlich ein, was er hier eigentlich gewollt hatte. Es galt ja seine Schwester zu befreien. Ja, war seine Liebe auch verloren, so wollte er doch die anderen Menschen schirmen, er wollte für das Glück Lord Cannings kämpfen, und sollte er auch dabei zugrunde gehen. Was lag ihm noch am Leben? Dem Schicksal seiner Schwester und des Geliebten seiner Schwester wollte er es weihen.
Schon wollte er umkehren, die Treppe wieder zu ersteigen, als er bestürzt stehen blieb. Über ihm erklang die Stimme Eugens, der jetzt sein Feind geworden war, vor ihm die Stimme Begas. Er konnte also weder vor- noch rückwärts, wollte er nicht gerade denen begegnen, die ihn trotz seiner Kleidung erkennen mussten.
Schnell entschlossen öffnete Reihenfels die erste Tür, vor der er stand und trat ein. Allen anderen wollte er begegnen, nur diesen beiden nicht.
Gott sei Dank, dieses Zimmer war leer!
Aber da, da erklang wieder die Stimme Begas, nicht mehr aus dem Korridor, sondern in einem der Nebenzimmer, die nur durch Portieren voneinander getrennt waren, und ein leichter Schritt näherte sich dem Gemach, in welchem sich Reihenfels befand.
Kein Zweifel, sie wollte es betreten oder doch passieren, und Reihenfels durfte von ihr nicht gesehen werden.
Schon zum zweiten Male musste er ein Versteck suchen, er, der Offizier der Sepoys, und er tat es. Mit einem Sprunge stand er hinter einer spanischen Wand und zog den Schirm, der noch geöffnet war, dicht an sich. Derselbe verdeckte ihn vom Kopf bis Fuß vollkommen; gesehen konnte er nicht werden, wenn nicht jemand die Wand brauchte und auseinander schlug; dagegen konnte Reihenfels durch die Ritzen, welche von den einzelnen Feldern gebildet wurden, das ganze Zimmer übersehen. Wie die übrigen, so wurde auch dieses durch eine Hängeampel aus rotem Glas erleuchtet. Noch ehe die sich nähernde Person eingetreten war, hatte Reihenfels mit Bestürzung erkannt, dass er sich in einem Schlafzimmer befand, und zwar in einem, welches seinen Bewohner erwartete.
Auch hier war die Ausstattung eine sehr reiche, die Polster und Bezüge der Möbel waren von rotem Samt, das Bett mit Spitzen besetzt, aber nicht wie gewöhnlich von einem Baldachin mit Vorhängen überdacht.
Obgleich alle jene Nippsachen, Tischchen mit Toilettengegenständen, Vasen mit wohlriechenden Blumen usw. fehlten, die, wie überall, auch in Indien die Damenzimmer charakterisieren, so konnte doch Reihenfels an den Garderobestücken, die nach dem Kleiderwechsel über den Diwan geworfen worden waren, schließen, dass er in einem Boudoir war.
Um Gottes willen, wenn jetzt die Besitzerin kam und sich zur Ruhe begab, wenn es Bega war! Reihenfels Herzschlag drohte zu stocken.
Doch nein, hinter der Portiere kam nicht Bega sondern ein ihm unbekanntes Weib, ein junges Mädchen hervor.
Aber dennoch, wenn dieses jetzt schlafen ging, wenn es ihm nicht gelang, sich lautlos zu entfernen!
Es war ein Mädchen, durchaus nicht indisch gekleidet. Es trug ein kurzes, rotes Röckchen, etwas über die Knie reichend, gelbe Schuhe, deren Riemen die Waden kreuzweise umgaben, ein schwarzes Mieder, aus dem die Puffärmel und das Busentuch in verführerischer Weise blickten, und langes, schwarzes, offenes Haar.
Reihenfels hätte sie den dunklen Augen und dem Profil nach für eine Italienerin gehalten, aber ihre Hautfarbe war sehr blass. Sie wäre hübsch, sogar schön zu nennen gewesen, wenn nicht ihr Gesicht von roten Flecken entstellt gewesen wäre, von denen einige sogar blau umrändert waren. Sogar der Hals zeigte einen solchen Fleck, und hätte der Kragen nicht so weit heraufgereicht, so hätte man wohl noch mehr dieser Flecke sehen können.
Einen Augenblick zuckte durch Reihenfels' Kopf die Frage, ob er nicht diesem Mädchen schon einmal irgendwo begegnet sei, doch er hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Beobachtung dessen, was das Mädchen vornahm, nahm ihn ganz in Anspruch.
Die Vorbereitungen waren allerdings besorgniserregend; denn sie traf offenbar Anstalten zur Nachtruhe, doch nicht für die ihre, sondern für die einer anderen.
Schon ihr Benehmen war das einer Dienerin.
Mit mürrischem Gesicht räumte sie die abgeworfenen Kleider in einen Schrank, nachdem sie vorher jedes von allen Seiten und wie geringschätzend betrachtet hatte; sie befühlte den Stoff, griff in die Taschen eines nach europäischem Schnitt gefertigten Kleides, das sie in dem geöffneten Schrank hängen sah, zog ein Lederetui hervor, öffnete es und steckte es, als sie es leer fand, mit unbefriedigter Miene wieder in die Tasche zurück.
Ebenso untersuchte sie die einzelnen Gegenstände auf dem Nachttischchen, zog die Schubfächer auf, kramte darin herum, legte aber sorgfältig wieder alles auf seinen alten Platz.
Dann rückte sie die Stühle und Sessel zurecht und machte sich daran, die Bettdecken zurückzuschlagen, als draußen auf dem Korridor ein doppelter Schritt ertönte.
Sofort änderte sich das Benehmen der Dienerin. Ihre missmutige Miene hellte sich auf und war bereit, jeden Ausdruck anzunehmen, den die Gelegenheit verlangte. Vor allen Dingen war jetzt Dienstwilligkeit darin zu lesen, und ebenso schnell arbeiteten jetzt auch die Hände; sie strichen die Decken glatt, zupften hier und da, strichen wieder über das weiße Linnen, und zögerten absichtlich, mit der Bettbereitung aufzuhören, bevor die draußen vor der Tür stehenden Personen das Zimmer betraten.
Sie hätte es nicht so eilig zu haben brauchen, denn draußen fand noch ein Gespräch statt.
»Es ist zu schade, dass die Sprengtonnen nass und so unbrauchbar geworden sind«, hörte Reihenfels eine Stimme sagen, welche er zu seinem neuen Schreck wieder als die Begas erkannte. »Die Nacht ist dunkel, und in einer Stunde können wir den heftigsten Sturm haben, er setzt schon stoßweise ein. Diese Nacht wäre zu einem Ausfall besonders geeignet.«
»Die Sprengtonnen werden noch diese Nach durch neue ersetzt«, entgegnete eine männliche, dem Lauscher unbekannte Stimme in unterwürfigem Ton, »Wir werden morgen das Versäumte nachholen müssen.«
»Wer weiß, ob uns da die Witterung wieder so günstig ist. Eine Nacht mit Sturm und Regen ist die beste, da sucht jeder, der nicht durch den Dienst gebunden ist, das trockene Zelt auf, und selbst die Wachen ziehen den Mantelkragen höher, träumen von der Heimat und schlafen mit offenen Augen. Nun, es geht nicht zu ändern. Sorge also dafür, dass morgen mit Anbruch der Nacht die Bohrungen beginnen. Schlag zwölf Uhr muss die Brücke in die Luft fliegen. Wir stürmen aus dem zweiten Tor gegen die Überraschten vor, die sich in Verwirrung befinden werden, und beschäftigen sie so lange, bis wir die Schanzarbeiten zerstört haben.«
»Wie du befiehlst, Begum. Wem überträgst du die Führung des Ausfallkorps?«
»Ich selbst werde es führen!«
Du selbst? Schone deine Person, Begum!«
»Ist sie zum ersten Male der Gefahr ausgesetzt? Bin ich mehr als der Kuli, der für die Freiheit Indiens kämpft? Gute Nacht! Höre, wie der Sturm wieder einsetzt!«
»Gute Nacht, Begum, Brahma segne dich, Vishnu erhalte dich!«
Die Tür ward geöffnet, ein heftiger Luftzug fuhr durchs Zimmer und drohte die Ampel zu verlöschen.
»Schließe das Fenster, Besra!«, rief die Begum sofort.
Da stand sie im Zimmer, sie, die Reihenfels mit aller Kraft seiner Seele geliebt hatte und nicht mehr liebte, wie er sich wenigstens unausgesetzt zuflüsterte. Ja, wenn sie ihn nicht wiedergeliebt, ihm ausgewichen, ihn sogar verachtet hätte, er würde sie dennoch fort und fort geliebt haben, aber so — sie hatte sich einem anderen in Liebe ergeben, sie gedachte seiner nicht mehr.
Was er eben erlauscht hatte, machte seine Rückkehr in das Lager nötig. Es handelte sich um eine Sprengung der Brücke und einem gleichzeitigen Ausfall der Inder unter der Begum selbst. Sie wollten die Schanzarbeiten der Engländer zerstören.
Mit Zorn und Wehmut zugleich betrachtete Reihenfels das schöne Mädchen. Jenes andere Gefühl, welches plötzlich so beängstigend warm in seinem Herzen aufstieg, wollte er nicht empfinden.
Wie wunderbar schmiegte sich der schwere, dunkle Seidenstoff an die herrlichen, schlanken Formen an; wie hoch und regelmäßig ging dieser volle Busen, wie scharf und kühn blickten die dunklen Augen, der kleine, rote Mund, dessen Wölbung ihr jetzt einen so bitteren Zug gab. Ach, damals, als er ihn küssen durfte, so oft und so lange er wollte, damals hatte er so fröhlich lachen können, damals, als dieser Busen an seiner Brust gewogt, als die schwarzen Augen ihn so fröhlich angefunkelt hatten, als er sich selbst in ihnen wiederfand.
Vorbei, vorbei für immer!
Die lange Schleppe des indischen Gewandes graziös über den linken, halbentblößten Arm gelegt, die Rechte ungezwungen herabhängend, wartete die Begum, bis die Dienerin die Fenster geschlossen hatte, an welche sofort schwere Tropfen schlugen. Das Heulen des Windes begleitete das monotone Geräusch, das dieselben auf den Scheiben hervorbrachten.
Dann wendete sich die Dienerin um und machte, rückwärtsgehend, vor ihrer Herrin eine tiefe Verbeugung. Sonst mochte dieses Mädchen in dergleichen Grüßen sehr bewandert sein, diesmal aber, anscheinend durch die ruhige Majestät der vor ihr Stehenden verlegen gemacht, fiel die Verbeugung linkisch aus, sie stieß dabei an einen Stuhl.
Es war schon seltsam, dass die Begum nicht nach indischer, sondern nach abendländischer Art begrüßt wurde.
»Warum ist Besra nicht hier?«, fragte die Begum.
»Besra ist heute morgen erkrankt, gnädige Begum«, entgegnete das Mädchen in nicht besonders geläufigem Indisch.
»Was fehlt ihr?«
»Sie klagt über heftigen Kopfschmerz.«
»So vertrittst du ihre Stelle?«
»Die Duchesse wünscht, dass ich dich, o, Begum, bediene.«
»Welche Duchesse?«
»Ich versprach mich«, verbesserte sich die Dienerin errötend, »Ayda wollte ich sagen.«
»Ich habe dich noch nie in diesem Hause gesehen.«
»Und doch bin ich Ayda seit Langem eine treue Dienerin gewesen.«
»Wie heißt du?«
»Mirzi.«
Reihenfels wäre bald plötzlich vorgestürzt; denn jetzt erkannte er das Mädchen, es war die Verführerin aus der Alhambra.
»Ah, jetzt weiß ich, wer du bist«, sagte auch die Begum, »jetzt kann ich mir auch die Flecken auf deinem Gesicht erklären, welche mir sehr auffielen! Du bist das arme Mädchen, welches so unglücklich von der Treppe herabstürzte und auf groben Kies fiel.«
»Dein Bedauern, o, Begum, ist mir der beste Trost für diese Flecken, die mich entstellen.«
»Es gibt Flecken, die man nicht sieht, und die doch mehr entstellen als die sichtbaren.«
»Ich verstehe nicht den tiefen Sinn deiner Worte, Begum. Verzeihe meinen schwachen Verstand!«
»Ich meine, es ist besser, man hat Flecken im Gesicht, durch unverschuldetes Unglück erzeugt, als Flecken auf dem Herzen, die man sich stets selbst zugezogen hat. Wenn sie dich also nicht schmerzen, bist du nicht weiter zu bedauern. Du warst lange im Krankenhaus?«
»Ja, Begum.«
»Ayda spricht gut von dir.«
»Ich war ihr immer treu; deshalb gab sie mich dir als Dienerin.«
»Ich brauche wenig Bedienung. Was ist deine Heimat?«
»Das sonnige Malta im Mittelländischen Meer.«
»So hast auch du eine schöne Heimat, welche aber ebenfalls die Sklavenkette Englands tragen muss.«
»Deshalb hasse auch ich die Engländer.«
»Wie kommst du hierher?«
»Der Zufall trieb mich vor einigen Jahren nach Indien. Früher war ich in England.«
»Als was?«
»Ich musste als Tänzerin in der Alhambra mein Brot verdienen — ein hartes Brot!«
»Ah!«, kam es überrascht von den Lippen des fragenden Mädchens. »Mirzi, nicht wahr, so ist dein Name?«
»Mirzi, gnädige Begum.«
Bisher hatte die Inderin bewegungslos wie eine Statue dagestanden, jene Stellung, welche der Hoheit und Majestät eigen ist, jetzt wurde sie von Erregung ergriffen. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, fixierte die Dienerin scharf und ging dann mit kurzen Schritten und öfteren Wendungen auf und ab.
»Es ist gut, Mirzi, ich will schlafen gehen.«
»Darf ich dir helfen?«
»Nein, nein, ich kann mich selbst entkleiden, ich brauche nie Hilfe.«
Sie ging an den Nachttisch und zog aus dem Busen ein Etui, um es in die Schublade zu legen.
Ein unwilliger Blick traf die Dienerin, welche sich noch nicht entfernt hatte, weil sie gewohnt war, indischen Damen beim Entkleiden alle mögliche Hilfe zu leisten. In dem Blicke lag aber zugleich auch etwas wie Abscheu oder Widerwillen.
»Es ist gut, Mirzi«, sagte sie nochmals kurz, »du kannst gehen, brauchst auch nicht zu wachen. Wo schläfst du!«
»Im Nebenzimmer.«
»Ist nicht nötig. Du wirst unten im Bedientenzimmer schlafen.«
»Begum, ich...«
»Ich will es haben.«
»Wie du befiehlst, Begum!«
Die Dienerin verneigte sich und entfernte sich, während Bega in der Schublade suchte.
»Mirzi!«, rief sie wieder.
Die Dienerin kam zurück.
»Mirzi, ich wünsche nicht, dass du in dieser Schublade Untersuchungen anstellst.«
»O, Begum, wie sollte ich wagen...«
»Geh!«
Das Mädchen biss sich auf die Lippen, den scharfen Augen ihrer neuen Herrin war ihre Neugier nicht entgangen. Sie musste aber wahre Argusaugen besitzen, so etwas zu entdecken. Reihenfels sah, wie die Dienerin beim Hinausgehen hinter dem Rücken Begas eine Grimasse schnitt.
»Mirzi!«, erklang es sofort wieder.
»Was befiehlst du, Begum?«
»Behagt dir der Dienst bei mir nicht?«
»O doch, Begum.«
»So geh.«
Diesmal machte Mirzi beim Hinausgehen das freundlichste Gesicht, denn mit solch einer Herrin, die auch hinter dem Rücken sehen, die die kleinste Unordnung sofort entdecken konnte, war nicht zu spaßen, um so weniger, als es einmal ihrer Laune belieben konnte, jemanden wegen eines kleinen Vergehens einen Kopf kürzer machen zu lassen. Man lebte ja zur Zeit eines Aufstandes.
Aber ob die Herrin ihre Dienerin schikanieren wollte, oder ob sie nach einer Gelegenheit suchte, ihr ihren Unmut fühlen zu lassen, kurz, sie rief Mirzi zum dritten Male zurück.
Die Begum hatte sich auf einen Sessel gleiten lassen, stützte den runden Arm auf das Nachttischchen, den Kopf auf die Hand, und schaute die demütig vor ihr stehende Mirzi mit solch durchbohrendem Blicke an, dass diese scheu die Augen zu Boden senken musste.
Doch Mirzi wusste ganz genau, was jetzt kommen würde, und sie hatte sich auch sonst nicht getäuscht. Es war kein Zufall, dass sie hier als Dienerin angestellt worden war.
»Du warst in der Alhambra zu London als Tänzerin angestellt?«, begann die Begum mit leiser, aber fester Stimme, und sonderbar war es, wie ihre Nasenflügel zitterten, was stets heftige, innere Erregung bei ihr verriet.
Auf diese Frage hatte Mirzi nur gewartet.
»Die Not zwang mich dazu, die Fertigkeit, die wir Malteserinnen im Tanzen besitzen, zum Broterwerb zu benutzen. Die tiefste Scham ergreift mich, wenn ich an jene Zeiten zurückdenke. Ach, Begum, wäre ich damals doch lieber verhungert, ehe ich mich zu so etwas hergab.«
Wie verschämt senkte Mirzi den Kopf.
»Es ist kein ehrlicher Beruf, Tänzerin in England zu sein?«
»Ich war in England das, was in Indien eine öffentliche Bajadere ist.«
»Nun, mache das mit dir selbst aus, ich will und darf mich nicht zur Richterin erheben. Nur eine Frage. Lerntest du in der Alhambra einmal einen Mann namens Reihenfels kennen?«
Mirzi überlegte, dann flog es wie ein zorniger Zug über ihr Gesicht.
»Gewiss, Oskar Reihenfels! Es war jener Elende, der mich, der mich — Begum, ich wage es nicht in deiner Gegenwart auszusprechen.«
»Sage es, ich befehle es dir!«
»Er war daran schuld, dass ich London plötzlich verlassen musste, denn er stellte mich öffentlich an den Pranger. War ich auch ein gefallenes Mädchen — ich muss es gestehen — so besaß ich dennoch Schamgefühl. Dieser Reihenfels war es, der mich mit roher Gewalt zu überwältigen suchte, und meine Hilferufe lockten die Polizei herbei. Wir wurden wegen Unzucht verhaftet.«
Es lässt sich denken, wie es Reihenfels zumute war. Es hätte nicht viel gefehlt, so wäre er hervorgestürzt und hätte die freche Dirne gezüchtigt. Er vermochte sich kaum noch zu beherrschen.
Auch die Begum wurde von Erregung ergriffen. Sie war aufgesprungen und durchmaß das Zimmer mit heftigen Schritten, bis sie mit drohend gefalteter Stirn vor dem Mädchen stehen blieb.
»Sprichst du die Wahrheit, Weib?«, fragte sie in herrischem Tone.
»Begum, was sollte mich dazu verleiten, dir unwahre Geschichten zu erzählen?«
»Ich kenne den Verlauf jenes Prozesses. Deine Aussage damals lautete ganz anders, du gabst zu, dass Reihenfels durch deine Hilfe in eine Falle gelockt worden war. Er glaubte, eine indische Bajadere kennen zu lernen, er wollte mit ihr über Fakire sprechen, du hieltest dies nur für einen Vorwand und wolltest dich ihm hingeben, aber sofort als er den wahren Sachverhalt erkannte, wendete er sich von dir ab und begehrte, du solltest ihn verlassen. So lautete damals deine Aussage, die jedoch wenig Wert besaß, denn du warst eine Bajadere, und so konnte Reihenfels nur wegen Mangels an Beweisen freigesprochen werden, denn der Hauptzeuge fehlte. Sage, wie kommt es, dass deine jetzige Aussage der damaligen völlig widerspricht? Die Spitzaxt der heiligen Kali soll dich von meiner Hand treffen, wenn du mir die Wahrheit verhehlst.«
Die Dienerin bebte doch bei diesen Worten und besonders bei dem furchtbaren Blick zusammen.
»O, Begum, zürne mir nicht! Du weißt nicht, dass wir Tänzerinnen nichts weiter als willenlose Sklavinnen in der Hand derer sind, die uns bezahlen. So wurde ich damals beeinflusst, für Reihenfels günstig auszusagen, obgleich er doch schuld war. Er hat mich wirklich zu überwältigen gesucht.«
»Wer hat dich beeinflusst?«
»Ein Beamter der Alhambra. Er gab mir Geld und versprach mir, mich sofort nach Frankreich zu schaffen, damit ich nicht weiter mit den Gerichten in Konflikt käme, wenn ich anders als nach meiner Überzeugung aussagte, und ich musste gehorchen.«
»Wie hieß dieser Beamte?«
Mirzi nannte irgendeinen englischen Namen.
»Kanntest du einen Franzosen namens Giraud?«
»Es war jener, welcher mir zu Hilfe kam. Damals war er noch mein Geliebter. Er rettete mich aus den Händen Reihenfels' und überlieferte diesen der Polizei. Er tat recht daran.«
»Er fehlte, als er als Zeuge geladen wurde.«
»Ich weiß nicht, warum er nicht erschien.«
»Hast du ihn seitdem einmal wieder gesehen?«
»Nie!«
»Würdest du ihn wiedererkennen?«
»Sicherlich.«
»Also du bleibst dabei, dass Oskar Reihenfels dich zu überwältigen suchte?«
»Begum, ich schwöre, dass ich die Wahrheit spreche.«
»Schwöre nicht! Auch damals wurdest du vereidigt, und jetzt gestehst du offen, dass du eine falsche Aussage gemacht hast.«
»Ach, Begum, ich war nichts weiter als eine arme Sklavin!«
»Es ist gut, du kannst gehen!«
Mirzi ging und wurde nicht wieder zurückgerufen.
Der Dienerin Gewissen schlug ängstlich, sie fühlte heraus, dass nicht alles richtig war. Sie musste sobald wie möglich mit ihrer Herrin, der Duchesse, in deren Auftrag sie handelte, sprechen, das Haus verlassen und die Begum meiden.
Wehe ihr, wenn letztere weitere Untersuchungen anstellte und die ungeschminkte Wahrheit erfuhr!
Heftig peitschte der Regen die Fensterscheiben, wild heulte der Sturm um die winkligen Häuser Delhis, und dazwischen erklang die Kanonade.
Diese Musik der Elemente und der menschlichen Zerstörungskunst passte zu dem seelischen Zustand des Mannes, der noch immer hinter der spanischen Wand stand.
Mirzi hatte ihn wider ihr besseres Wissen verleumdet, dort saß das Mädchen mit plötzlich glanzlosen Augen, sie musste der Lügnerin Glauben geschenkt haben. Sie gehörte ja schon einem anderen an, sie hatte sich nur noch einmal überzeugen wollen, ob Reihenfels wirklich ein so schlechter Mann sei, damit sie sein Bild für immer mit Recht aus ihrem Herzen reißen konnte.
Aber seltsam, wie sie die Fragen gestellt hatte!
War es nicht gewesen, als ob sie doch noch an die Unschuld Reihenfels glaube? Als ob sie das Lügengewebe Mirzis durchschaue und das Mädchen noch zur Rechenschaft ziehen wolle?
Was half das? Bega war für Reihenfels doch verloren; er hatte gehört, dass sie Eugen liebe. Aber sich so geschmäht zu hören, brachte sein Blut in empörte Wallung. Gern wäre er vorgestürzt und hätte seine Unschuld beteuert, doch einmal wusste er, dass dies wie früher vergeblich sein würde, und dann dachte er an Franziska. Was bürgte ihm dafür, da Bega ihn nicht festnehmen ließe, und dass ihm der Prozess als Spion gemacht würde?
Bega hatte den Kopf wieder in die hohle Hand gestützt. Sie sah nicht zornig aus, vielmehr lag ein trauriger, schwermütiger Ausdruck über ihr schönes Antlitz gebreitet. Dann seufzte sie tief auf und entnahm der Tischschublade eine Karte, die sie lange und mit traurigen Augen betrachtete.
Reihenfels konnte nicht erkennen, was dieselbe enthielt.
Endlich warf sie die Karte heftig auf den Tisch, ging einige Male auf und ab und begann, sich zu entkleiden.
Sie löste die Heftel und Schlingen, streifte das dunkle Obergewand ab und stand in dem silberglänzenden Schuppenpanzer da, den sie ebenfalls fortwährend trug, wie die Radschas und andere in angesehener Stellung, weil sie sich niemals vor heimtückischen Dolchstichen und Kugeln sicher glauben. Sind doch diese geschmeidigen Panzer aus solch gutem Stahl gefertigt, dass sie selbst Kugeln abzuhalten vermögen.
Auch die Kettchen, welche den Panzer zusammenhielten, wurden gelöst, Bega streifte ihn ab. Durfte Reihenfels Zeuge dieser Toilette werden?
Er wollte den Blick abwenden, die Augen schließen, aber er vermochte es nicht. Wie gebannt hingen seine Augen an dem schönen Mädchen.
Bega, eine Inderin, und diese weiße Haut! Nur Gesicht, Hals und die Unterarme waren gebräunt, alles andere schneeweiß. Doch Reihenfels wunderte sich nicht darüber.
Er machte sich Vorwürfe, dass er hinsah, aber er konnte nicht anders. Ein Zeichen seiner Anwesenheit durfte er nicht geben, und wegzusehen war ihm nicht möglich.
So wurde er Zeuge aller ihrer Toilettengeheimnisse, bis sie endlich im leichten Nachthemd vor ihm stand. Wenn sie ahnte, dass hinter der spanischen Wand ein Mann sie belauschte, dessen Blut heißer und heißer zu wallen begann, und dass dieser Mann jener war, den sie einst liebte und jetzt verachtete, weil sie glaubte, er hätte sich ihrer unwürdig benommen!
Bega stieg ins Bett und setzte sich aufrecht, mit dem Rücken an das erhöhte Kissen gelehnt. Ihr Blick verweilte wieder auf dem Karton, den sie vor sich hinhielt, und wieder nahmen ihre Augen einen solch schwärmerischen Ausdruck an.
Sie seufzte, sie atmete schwer, der Beobachter sah das Heben und Senken ihres Busens. Da, was war das? Jetzt drückte sie die Lippen auf den Karton zum langen, langen Kuss.
Kein Zweifel mehr, es war ein Bild, und wessen Bild sollte es anders sein, als das Eugens? Von ihm, von Reihenfels, besaß sie kein Bild — seltsamer Gedanke überhaupt! Wie konnte er glauben, sie küsse das Bild des Mannes, den sie hasste? Besäße sie eins von ihm, so würde sie es sicherlich vernichtet haben.
Der Sturm heulte, der Regen klatschte an die Fensterscheiben. Wie traulich war es hier!
»Es wäre mein, mein, mein!«, schrie es in dem Innern des jungen Mannes.
Er wünschte, er wäre tot, um nicht mehr dieses Antlitz, diese Schultern, diesen Busen sehen, um nicht mehr an die herrlichen, schwellenden Glieder denken zu müssen, die er geschaut hatte.
Und Bega küsste Eugens Bild!
Jetzt sauste eine Windsbraut um das Haus, dass es in seinen Grundfesten erbebte. Wie erschrocken sprang Bega auf und aus dem Bett. Sie eilte zu der Portiere an der Tür, Reihenfels glaubte, sie wolle das Gemach verlassen, um ein menschliches Wesen zu sich zu rufen, doch sie schob nur aus der Türfüllung eine Seitentür, sodass der Ausgang besser als nur durch die Portiere verschlossen war.
Ebenso machte es Bega mit dem Ausgang auf der anderen Seite und verriegelte auch noch die Korridortür. Dann schritt sie auf die spanische Wand zu. Reihenfels drohte der Atem zu stocken. Doch sie nahm nur die Mandoline, welche davor auf dem Diwan gelegen. Sie war dem Lauscher so nahe gewesen, dass er ihren heißen Atem gespürt hatte.
Bega setzte sich wieder aufrecht ins Bett, stellte das Bild vor sich hin, indem sie es an ihre Knie lehnte, und begann die Saiten der Mandoline zu schlagen.
Es waren erst nur wilde, abgerissene Akkorde, eine Begleitung zu dem Konzert des Sturmes, dann wurden sie zusammenhängend, eine leidenschaftliche Phantasie, und endlich gingen sie in eine schöne, herzergreifende Melodie über.
Was war das für eine Weise? Sie kam Reihenfels sehr bekannt vor, doch er konnte sich nicht gleich besinnen, welche. Vergebens zermarterte er sein Hirn. Offenbar musste es ein deutsches Lied sein, jede Nation hat ihre eigentümliche Melodie, wie ihre eigene Sprache.
Die Melodie schloss ab, sie wiederholte sich, setzte von vorn ein, und zu den Klängen der Mandoline begann das Mädchen zu singen.
Und ob Reihenfels dieses Lied kannte!
Er ist gekommen
In Sturm und Regen,
Ihm schlug beklommen
Mein Herz entgegen.
Wie konnt' ich ahnen,
Dass seine Bahnen
Sich einen sollten meinen Wegen?
So klang es in süßen Tönen von den Lippen des Mädchens; wie in trunkenem Glanze hingen ihre Augen an dem auf ihren Knien liegenden Bilde, das Reihenfels nicht sehen konnte.
Ja, wachte oder träumte er denn? Bega sang jenes Lied, sein Lied, das er sie gelehrt, dass sie zusammengeführt hatte, und sie sang es vor dem Bilde Eugens! Bega sang weiter:
Er ist gekommen
In Sturm und Regen.
Er hat genommen
Mein Herz verwegen.
Nahm er das meine?
Nahm ich das seine?
Die beiden kamen sich entgegen.
Ja, so war es. Beide waren sich in Liebe entgegengekommen. Aber das Lied passte nur auf frühere Zeiten, nicht mehr auf die jetzigen. Merkte denn Bega das gar nicht? Der dritte Vers erklang, der Schlussvers:
Er ist gekommen
In Sturm und Regen,
Nun ist entglommen
Des Frühlings Segen.
Der Freund zieht weiter —
Jäh brach das Lied ab, die Mandoline entsank den Händen, sie glitt mit einer gesprungenen Saite zu Boden, das Bild rutschte von den Knien, und den Augen des Mädchens entstürzte ein Tränenstrom. Laut jammernd verhüllte sie ihr Gesicht in den Händen.
Das Bild hatte sich so gedreht, dass Reihenfels es sehen konnte — es war das seine, in bunten Farben gemalt.
Furchtbar erschrocken fuhr das Mädchen auf, ihr erster Griff war nach dem auf dem Nachttisch liegenden Revolver gewesen; denn vor ihrem Bett stand ein Mann in indischer Offiziersuniform, doch auch die schon ausgestreckte Hand sank wie gelähmt herab — sie hatte Reihenfels trotz seiner Verkleidung erkannt.
Sie vermochte sich nicht zu bewegen, sie dachte nicht, dass sie sich den Augen eines Mannes im Nachtgewand zeigte, wie eine Geistererscheinung starrte sie den einstigen Geliebten an.
»Bega!«, sagte Reihenfels in flehendem Tone und streckte ihr die Hände entgegen. Was nicht in dem Tone dieses einen Wortes lag, das konnte sie in seinen Augen lesen. ›Vergeben, vergessen, wir wollen wieder einander gehören!‹, hieß es.
Da kam Leben in ihre bewegungslose Gestalt.
Das war nicht mehr die kriegerische Begum, das war das vor Scham erglühende, jungfräuliche Mädchen.
Sie zog die Decke mit einem Ruck über sich, dass nur der Kopf aus den weißen Kissen hervorsah.
»Oskar, flüsterte sie wie geistesabwesend, »bist du es wirklich?«
»Ich bin es, Bega. Lass wieder Eintracht zwischen uns herrschen, sei wieder die Meine!«, Sie kam zur Besinnung. Ihr Gesichtsausdruck wechselte; nicht mehr Furcht und Schrecken, sondern Zorn schien sie zu beherrschen.
»Tollkühner, wie wagst du hier einzudringen!«
»Ich war schon hier, als du kamst. Ich glaubte, es sei ein Feind, und versteckte mich.«
»Was, du wärst schon hier gewesen?«
»Jene Wand verbarg mich. Ich hörte dein Gespräch mit Mirzi — ein jedes Wort aus ihrem Munde war eine Lüge.«
»Du warst hier, als ich mich entkleidete?«
»Verzeihe mir, ich durfte mich nicht verraten! Konnte ich doch nach allem Vorangegangenen nicht wissen, dass du mich noch liebst. Jetzt aber weiß ich es, und ich bin glücklich. O, Bega, meine Bega!«
Eine tiefe Glut übergoss ihr Gesicht, die Hand schlüpfte unter der Decke hervor und streckte sich dem abwehrend entgegen, der sich über sie neigen und sie küssen wollte.
»Zurück, Vermessener!«, herrschte sie ihn zornig an. »Was bildest du dir ein, zu glauben, dass ich dich liebe? Was du getan, hat eine unübersteigbare Kluft zwischen uns geöffnet.«
»Du liebst mich nicht und singst mein Lied?«
»Es gefällt mir.«
»Und dieses Bild, mein Bild?«
Sie nahm es und schleuderte es mit einer hastigen Bewegung von sich.
»So viel halte ich von dir und deinem Bilde. Fort, du Vermessener, oder ich rufe Leute herbei.«
»Bega, ich flehe dich an, lass deinen Trotz, du marterst mich und dich, du machst uns beide unglücklich!«
Er ergriff ihre noch immer ausgestreckte Hand; sie riss sich wie mit Widerwillen los.
»Fort, sage ich noch einmal, oder ich rufe um Hilfe. Ja, wäre ich nicht in solch einer Lage, ich würde aufspringen und dich selbst züchtigen, wie es ein Bube verdient, der in ein Mädchengemach dringt, sich versteckt und die Bewohnerin beim Entkleiden beobachtet. Ha, diese Schande! Doch was anders kann man von jemandem erwarten, der Mädchen mit Gewalt schändet und hinter dem Rücken seiner Braut mit Freudendirnen buhlt? Fort, elender Wicht, oder ich kenne keine Schonung mehr!«
Bei diesen mit maßloser Heftigkeit hervorgestoßenen Worten taumelte Reihenfels zurück, als hätte er einen Schlag ins Gesicht erhalten.
Todesblässe überzog sein Antlitz, dann knirschte er mit den Zähnen. Auch bei ihm, dem ernsten, gelassenen Manne, konnte der Zorn einmal zum Durchbruch kommen
»Mir das, mir, der ich mich stets bemüht habe, der Wahrheit die Ehre zu geben, mein Gewissen reinzuhalten?«, rief er mit heiserer Stimme. »Bega, wahre dich! Auch meine Geduld hat Grenzen. Schweig! Jetzt rede ich, nicht du, jetzt verantworte dich vor mir! Ich war dir treu, ich kann mir keine Vorwürfe machen, alle Anschuldigungen gegen mich sind erlogen. Ja, jetzt sehe ich, du liebst mich nicht mehr; denn hättest du auch nur noch ein Fünkchen Liebe zu mir, so etwas würdest du nicht zu mir sagen. Ich weiß nicht, was dich veranlasste, das Lied unserer Liebe zu singen, während du mein Bild betrachtest, das du selbst gemalt haben musst. Aber nie soll es dir gelingen, Eugen, den unverdorbenen Jüngling, zu umgarnen und ihn zum Verräter an denen zu machen, denen er Treue geschworen hat. Nie soll es dir gelingen, solange ich noch lebe; denn so lange will ich noch reden und ihn warnen. Schamloses Weib, das den aufgibt, der es liebt, um einen anderen zum Werkzeug des Verrates zu machen! Ich gehe, um Eugen zu warnen, dass er dir nicht ferner Glauben schenkt, dass jedes Wort, was du zu ihm vorhin von Liebe gesprochen hast, Lüge gewesen ist. Ich gehe. Als Gefangenen wirst du mich wiedersehen. Du bist an meinem Tode schuld.«
Bega hatte sich aufgerichtet, achtlos ließ sie die Decke wieder herabgleiten, und ihr Blick war ein so erstaunter, dass Reihenfels bewogen wurde, noch zu bleiben.
»Was sagst du da? Ich hätte mit Eugen gesprochen?«
»Leugnest du es etwa?«
»Ich weiß nicht, was — ich soll mit Eugen gesprochen haben?«, wiederholte sie, immer erstaunter werdend.
»Also du leugnest es mir wirklich ins Gesicht, dass du Eugen vorhin deine Liebe gestanden hast?«, sagte Reihenfels bitter. »Für so verdorben hätte ich dich nicht gehalten. Ich glaubte dich bisher nur von Irrtum befangen, nicht wirklich schlecht; denn ein Lügner ist in meinen Augen ein niederträchtiges Geschöpf, wenn er nicht bereut.«
»Oskar«, rief das Mädchen und richtete sich noch höher auf, »ich habe nicht mit Eugen gesprochen! Welchen Eugen meinst du denn?«
»Wen anders als jenen, der über uns, in diesem Hause, seine Genesung unter deiner Pflege abgewartet hat.«
»Eugen Carter?«
»Den Pflegesohn des unglücklichen Sir Carter.«
»Oskar, du träumst!«, rief Bega erschrocken, alles Übrige vergessend. »Eugen ist ja gar nicht hier.«
»Recht so, häufe Lüge auf Lüge!«, entgegnete Reihenfels, den Hohn nicht mehr unterdrücken könnend. »Sage mir noch ins Gesicht, ich hätte vorhin nicht gehört, wie ihr euch die Liebe gestanden habt, wo mir doch kein Wort von eurer Unterhaltung verloren ging.«
»Oskar, ich beschwöre dich, hier waltet ein Irrtum ob.«
»Etwa wieder solch ein Irrtum, wie in der Alhambra mit mir? Hahaha, hier versteht man es vortrefflich, die Worte zu verdrehen und seine Unschuld zu beteuern. Aber Gott wird euch ein Ziel setzen, er wird nicht zulassen, dass du auch noch Eugen zum Verräter machst. Und dennoch wage ich es, Bega, dich um etwas zu bitten«, fuhr Reihenfels fort, ohne das Erstarren des Mädchens zu beobachten. »Du bist mir durch teuflische Hinterlist geraubt worden. ich glaube fast, es war dein Wille, und ich verzichte darauf, dich noch zu dem zu machen, was ich mit dir vorhatte: zu einem glücklichen Wesen, das Heimat und Geschwister kennt. Ich sehe, meine Kraft reicht nicht aus dazu, ich gebe die Hoffnung auf. Bega, ich habe dich geliebt, das Schicksal will nicht, dass wir einander gehören, so raube mir wenigstens nicht das noch, an dem mein Herz hängt, hilf mir vielmehr, es zu retten. Du hast die Macht dazu. In jener Nacht, als die Sepoys in Delhi die Faringis vernichten wollten, entfloh ein Mädchen ihren Wächtern; Nana Sahib bemächtigte sich ihrer abermals und brachte sie, deinem Befehl zum Trotz, nicht zu den übrigen Gefangenen, welche du schirmen wolltest, sondern hierher, um sie zu einer Privatrache gegen Lord Canning oder als Geisel für seine eigene Sicherheit zu benutzen. denn jenes Mädchen ist die Braut Lord Cannings, und, Bega, es ist meine Schwester! O, wenn du noch ein Herz besitzt, hilf mir wenigstens, Franziska zu retten, meine Schwester, die ich liebe! Bega, entziehe mir nicht deine Hand, ja, du hast noch ein Herz, du hast es gezeigt, als du den Gefangenen der Thugs zu Hilfe kamst, obgleich es doch deine Feinde waren. Bega, verzeihe mir meine vorige Heftigkeit, sieh mich hier auf den Knien liegen, mich, der ich sonst die Knie vor keinem Menschen gebeugt hätte, es sei denn vor dem Mädchen, das ich liebe, ich liege hier und flehe dich mit erhobenen Händen an: hilf mir, meine arme Schwester zu befreien, die wahrscheinlich noch in diesem Hause gefangengehalten wird!«
Reihenfels hatte sich vor dem Bett niedergeworfen, hatte des Mädchens Hand erfassen wollen, als sie ihm aber entzogen wurde, die seinen flehend aufgehoben.
Bega dachte nicht mehr daran, den Eindringling in ihr Schlafgemach auszuliefern. Es war zu Neues, Wunderbares, was sie jetzt plötzlich zu hören bekam.
»Ich kann nicht fassen, was du alles sagst. Eugen soll hier sein? Auch deine Schwester?«
»So ist es. Bega, hilf mir, sie retten! Ich opfere umsonst mein Leben, wage ich Franziskas Rettung allein. Wie ein Dieb schleiche ich durch dieses Haus; vor jedem, dem ich begegne, möchte ich mich verstecken!«
»Aber Eugen, Eugen soll hier sein?«
Reihenfels erhob sich; er schien erstaunt.
»Wie? So hättest du wirklich nicht mit ihm gesprochen?«
»Kein Wort!«
»Nicht ihm gesagt, dass du ihn liebst?«
»Hüte deine Zunge! Dies ist eine Beleidigung, und noch weiß ich nicht, ob ich dich nicht gefangen nehmen soll. Es ist meine Pflicht!«
»So erfülle sie! Du hättest nicht Eugens Liebesbeteuerung vorhin, vor einer Stunde etwa, angehört?«
»Nein. Ich war im Gesellschaftszimmer!«
»Nicht über uns in der zweiten Etage?«
»Mit keinem Schritt habe ich diese betreten.«
Mehr erschrocken, als erstaunt sah Reihenfels das Mädchen an. Sie konnte nicht lügen, nein, diese Augen trogen nicht.
»Bega, so liegt hier ein Missverständnis vor!«, rief er endlich.
»Wie schon so manches.«
»Welches andere?«
»Dein Zusammentreffen mit Mirzi in der Alhambra.«
Reihenfels sah, wie sie plötzlich lächelte; eine Ahnung ging in ihm auf, eine glückliche Zukunft wollte sich vor ihm eröffnen. Doch er beherrschte sich noch, er warf sich ihr nicht abermals zu Füßen und umschlang sie. Nein, nein, er täuschte sich wieder, Bega besaß kein Herz, sie war grausam und unberechenbar.
»Bega, ich weiß nicht mehr, was ich denken soll«, stöhnte er. »Beantworte mir nur diese eine Frage: Du hast vorhin nicht mit Eugen gesprochen?«
»Ich will dir offen antworten, wenn du mir ebenso die Wahrheit sagen willst!«
»Frage, Bega! Ich kann nicht lügen, selbst die kleinste Notlüge ist mir unerträglich, und doch ist sie oft nicht zu vermeiden. Aber dich belügen könnte ich nimmermehr!«
Das Mädchen richtete sich wieder auf, hüllte sich aber in die Decke ein. Ihre Augen strahlten in früherem Glanze.
»Was hast du mit jener Bajadere, Makalli, in der Nacht gehabt, als ich sie dir zuteilte?«
Also das war es; wieder Eifersucht!
»Sie teilte mir mit, dass ihr Geliebter, ein gewisser Mac Sulivan, im Felsentempel der Kali von den Thugs gefangengehalten würde und geopfert werden sollte. Makalli verriet mir die Geheimnisse der Sekte, bat mich, den Geliebten retten zu helfen, sagte mir ihren Plan, und ich ging darauf ein, weil ich so Aussicht hatte, die anderen Gefangenen zu befreien, unter denen ich meine beiden Schwestern wähnte. Das Wagnis gelang mir auch, wie du weißt.«
»Wo ist jene Makalli geblieben?«
»Ich weiß es nicht. Du hast gewiss auch gehört, wie es uns in dem Tempel ergangen ist?«
»Ich habe es aus Gesprächen, die ich belauschte, ehe ich mich entfernte, erfahren, doch nichts von Makalli.«
»Sie verschwand in den dunklen Gängen, um sich selbst den Tod zu geben, wie sie sagte.«
»Sie starb nicht, ich habe sie gesprochen.«
»Ah! Was sagte sie?«
»Davon später! In jener Nacht lauschte ich an dem Zimmer, das euch beide barg, und ich hörte Koseworte.«
»Sie waren nötig, um einen etwaigen Lauscher zu täuschen.«
»Ich hörte Küsse.«
»Makalli verlangte es, ich musste es tun, um ebenfalls den Lauscher zu täuschen, während sie mir den Plan mitteilte. Ach, dass es mir gelungen ist! Und doch, ich musste es tun!«
»Du liebtest eine andere und gabst dich doch dieser elenden Bajadere hin? Pfui!«
»Ich tat es nicht!«, rief Reihenfels in halber Verzweiflung. »O Gott, wie soll dies enden! Ich tat mein Bestes, um anderen zu helfen, und verscherzte mein eigenes Glück!«
Er verbarg sein Antlitz in den Händen.
»Ich habe Makalli gesprochen«, wiederholte Bega nach einer kleinen Pause leise.
»So wird auch sie mich verleumdet haben, um sich an mir zu rächen, weil ich ihr nicht behilflich war, ihre Absicht, die auf eine Schändlichkeit hinauslief, auszuführen.«
»Du irrst, Oskar, Makalli gab mir, als sie in meinen Armen starb, der Wahrheit gemäß Antwort. Du bist unschuldig, ich kann dir keinen Vorwurf machen.«
Reihenfels hob den Kopf. Was sollte das heißen? Begas Augen ruhten wie verklärt auf ihm.
»Und nun die zweite Frage«, fuhr sie schnell fort; »ich frage dich nicht, ob du mich damals in der Alhambra wirklich betrogen hast, sondern ich frage dich: Liebst du mich noch immer, Oskar?«
Reihenfels antwortete nicht, mit einem unartikulierten Freudenruf sank er in die Arme, die sich ihm öffneten, an die Brust, in der ein Herz für ihn schlug, und Mund presste sich auf Mund.
Es dauerte lange, ehe beide die Sprache wiederfanden. Die Stunde des Wiedersehens, der Wiedervereinigung war nicht so schnell ausgekostet.
»Bega«, flüsterte Reihenfels dann, während er auf ihrem Bett saß und sie umschlungen hielt, »wie konntest du mir das antun?«
»Ich litt nicht weniger als du. Zweimal glaubte ich mich von dir getäuscht, hatte ich da nicht Grund, dir nicht mehr zu trauen? Und sahen wir uns wieder, so warst du so kalt.«
»Konnte ich denn anders, da ich kein Entgegenkommen von dir fand? Und vorhin diese bösen Worte!«
»Die Entrüstung darüber gab sie mir ein, dass du, von dem ich nicht geliebt zu werden glaubte, in mein Schlafzimmer drangst und mich beobachtetest. O, Oskar!«
Verschämt barg sie den Kopf an seiner Brust.
»Not kennt kein Gebot!«, lachte er zum ersten Male wieder. »Ich durfte doch nicht verraten, dass ich mich hier versteckt hatte.«
»Aber du konntest doch die Augen schließen!«
»Wer sagt dir denn, dass ich das nicht getan habe?«
»Das würde ich nicht glauben«, lächelte sie an seiner Brust.
»Aber wie konntest du mir solche Betrübnis bereiten?«, fuhr er dann fort.
»Ach, Oskar, die meine war nicht kleiner! Bedenke, ich musste mehr als Argwohn haben.«
»Du kanntest mich nicht genug, sonst hättest du keinen gehabt. Böse Menschen machten dir Einflüsterungen, ich verzeihe dir!«
»Und dann Makalli!«
»Sie gab der Wahrheit die Ehre. Was aber sollte vorhin dein Gespräch mit Mirzi? Ich bekam dabei von neuem die Vermutung, dass du der Verleumdung Glauben schenktest.«
»Im Gegenteil, ich wollte ihr nur Gelegenheit geben, noch einmal sich in Lügen zu verwickeln, damit ich sie dafür züchtigen kann. Von August, deinem Diener, wurde mir der Beweis deiner Unschuld.«
»So brachte er mir also doch Nutzen. Er soll seinen Dank dafür haben.«
»Er hat ihn schon, er ist General geworden«, lachte Bega.
»Ja, Narrengeneral.«
»So weißt du es? Woher?«
»Ich habe ihn gesehen und gesprochen. Bega, meine Bega, so liebtest du mich also doch noch?«
»Ich suchte das Andenken an dich mir aus dem Herzen zu reißen, doch es gelang mir nicht.«
»Ebenso mir nicht. Wer war es denn, der dem Brahmanen damals zu einem Pferd und zur Flucht verhalf?«
»Ich; denn ich hatte dich erkannt.«
»Und wer befreite mich aus den Ketten?«
»Ich konnte dich nicht sterben sehen.«
»Und wer küsste mich, den Gefangenen, so heiß und innig?«
»Schweig«, lispelte Bega errötend, »was ich damals tat, war unnatürlich. Forsche nicht weiter!«
»So haben wir uns also endlich in Liebe wiedergefunden!«
»Endlich, Oskar!«, Brust an Brust, Mund an Mund hielten sie sich umschlungen. Dann schreckte Bega zusammen.
»Wir dürfen nicht so sorglos sein«, flüsterte sie angstvoll, »du hast dich hier eingeschlichen, du bist mein Feind.«
»Nicht mehr!«
»Doch, doch, wir müssen bereden, was wir tun. Schnell! Die Zeit drängt, du darfst nicht hier bleiben.«
Reihenfels raffte sich zusammen. Es fiel ihm ein, was ihn überhaupt hierher geführt hatte.
»Du weißt nicht, dass meine Schwester hier ist?«
»Ich habe davon gehört, doch ich glaubte es nicht.«
»Jedenfalls wurde sie zuerst hier heimlich von der Duchesse und von Nana Sahib gefangengehalten.«
»Von wem weißt du das?«
»Von Mirja.«
»Von Mirja, der Tochter des alten Juden Sedrack?«
»Ja.«
»Merkwürdig!«, sagte Bega nachdenklich. »Was für einen Grund hatte sie, dir dies zu sagen?«
»Sie ist Lord Canning zu Dank verpflichtet; Franziska ist seine Braut, sie will sie ihm retten.«
»Merkwürdig!«, wiederholte Bega.
»Kannst du mir behilflich sein, sie zu retten? Erspähe wenigstens ihren Aufenthalt!«
Bega fuhr aus ihren Träumereien auf.
»Das kann ich und will ich tun, und die sollen ihrer Strafe nicht entgehen, die mir die Gefangene entzogen haben. Die Engländer haben in letzter Zeit viele Gefangene gemacht, wir werden sie austauschen.«
»Gott sei Dank«, jubelte Reihenfels auf, »so nimmt mein so gefahrvoll begonnenes Abenteuer ein friedliches Ende! O, Bega, wie bin ich glücklich!«
»Und was sagtest du vorhin von Eugen?«
»Es ist mir ein Rätsel. Ich hörte dich vorhin mit ihm sprechen.
»Von Liebe?«
»Ihr gestandet euch eure Liebe!«
»So habe ich eine Doppelgängerin, und ich werde sie ausfindig machen. Wehe denen, die hinter meinem Rücken ein solches Spiel mit mir treiben!«
»Du wirst überhaupt hintergangen. Weißt du noch nicht, Bega, dass du keine Inderin bist?«
»Das vermutete ich schon längst; aber gleichgültig, ich habe Grund, die Engländer zu hassen, und ich werde daher für Indien kämpfen. Auch du, Oskar, bist kein Engländer. Tritt zu uns über! Nichts hindert dich, und wenn du noch nicht weißt, dass wir Rebellen für eine gerechte Sache kämpfen, so will ich es dir beweisen.«
»Halte ein, Bega«, rief Reihenfels erschrocken, »du weißt nicht, wer du bist, sonst würdest du nicht so sprechen! Du sollst es erfahren. Wohl weiß ich, dass die Inder allerdings Grund genug haben, die Herrschaft der Engländer von ihren Schultern abzuschütteln, aber nimmermehr darfst du, Bega, deine Hand gegen sie aufheben.«
»Nicht ich? Wer sonst?«, rief Bega. »Oder ist es eine Lüge, als man mir erzählte, dass meine Eltern durch die Eigenmächtigkeit elender Kreaturen, englischer Beamten, schmählich zugrunde gingen?«
»Ich weiß nicht, was man dir erzählt hat; keinesfalls war es die Wahrheit. Erfahre denn, wer du bist, bejammere dein Schicksal und das deiner unglücklichen Eltern, und dann versuche, das wieder gutzumachen, was du in Verblendung begangen hast...«
»Ich habe nichts begangen, was ich nicht vor Gott und den Menschen verantworten kann.«
»Erfahre erst, wer deine Eltern sind. Du bist...«
Reihenfels kam nicht zur Erklärung.
Bisher hatten nur zeitweise die Kanonen gefeuert, jetzt erschütterte ein furchtbarer Donner die Luft, so schrecklich, das das Haus erzitterte und die beiden meinten, die Mauern fielen über ihnen ein.
»Was war das?«, stammelte Bega, zum Sprunge bereit im Bett sitzend. Da näherten sich schnelle Schritte.
»Erfahre erst, wer du bist, ich muss es vollenden, denn du wirst anders denken«, flüsterte Reihenfels, wurde aber wieder unterbrochen.
»Nicht jetzt, Oskar, ich kenne diesen Schritt!«
Schon wurde heftig an die Tür geklopft.
»Öffne, Begum, wach auf, wenn du schläfst«, ertönte draußen eine Stimme im Tone der Verzweiflung. »Wir brauchen deine Hilfe. Der Pulverturm hat Feuer gefangen! Die Feinde rüsten sich zum Sturm!«
Bega drängte Reihenfels zurück, sie verschloss ihm den Mund; denn immer wieder wollte er zu sprechen beginnen.
»Nicht jetzt!«, wiederholte sie. »Verbirg dich, oder du bist verloren. Zum dritten Male darf ich dich nicht retten.«
Reihenfels gehorchte, drehte sich um, und da ward er schon von Bega selbst nach der spanischen Wand geschoben und dahintergedrängt. Als er durch die Ritzen blickte, hatte sie schon mit zauberhafter Schnelligkeit ihr Panzerhemd umgeworfen, stand an der Korridortür und öffnete sie.
Ein kleiner, bärtiger Mann stürzte herein.
»Was gibt es?«
»Der Pulverturm ist in Gefahr, in die Luft zu fliegen, der südliche Teil brennt, und die Engländer rüsten sich zum Sturm«, stieß der Mann atemlos hervor.
Das Mädchen gürtete ein Schwert um.
»Woher die Meldung?«
»Sie geht von Mund zu Mund.«
»Was war das für ein Knall?«
»Nur eine Tonne explodierte.«
»Wie? Auch du kannst die Fassung verlieren?«
»Schrecken hat sich der Unseren bemächtigt, sie wollen dich sehen, wenn die Feinde stürmen.«
»So komm! Es wird wohl nichts daran sein.«
Beide eilten hinaus; Reihenfels war allein. Verzweiflung erfüllte ihn, dass ihm der Zufall die Gelegenheit genommen, seine Erklärung abzugeben, doch dagegen war jetzt nichts zu machen. Der einzige Trost war ihm der, dass Bega ihm versprochen, sich seiner Schwester anzunehmen, und er baute auf ihr Wort; er wusste, welche Macht sie besaß. Ihr die Gefangene vorzuenthalten, nachdem sie von deren Existenz erfahren, würde man wohl nicht wagen.
Vorläufig verhielt er sich ruhig in seinem Versteck, des Kommenden wartend.
Die Kanonen donnerten nach wie vor; nichts Ungewöhnliches war zu hören, nur einmal war es, als ob er lautes Jauchzen und Siegesrufe vernehme.
Bega würde ihn doch hier nicht vergessen? Sicherlich nicht! Und wie gewann er den Ausweg? Das war so leicht, wenn er die Begum auf seiner Seite wusste. Vielleicht behielt sie ihn auch hier, und er konnte seine Schwester gleich selbst nach dem Lager und dem Geliebten zuführen.
Ach, er war so glücklich! Endlich, endlich hatten sie sich wieder in Liebe gefunden.
Hastig trat eine Gestalt ein, in dunkelbraunes Tuch gehüllt, auch das Gesicht von jenem Mantel bedeckt, den die Inderinnen beim Ausgehen über die Kleidung zu werfen pflegen.
Sie war schlank und zierlich, der Tritt schnell, leicht und kurz, es war ein Weib, ein Mädchen, und ohne sich umzuschauen oder zu zögern, schritt sie nach der spanischen Wand, schob sie zur Seite und ergriff Reihenfels' Hand. Dieser wusste nicht, wie ihm geschah. Doch schnell löste sich das Rätsel.
»Du musst fort, schnell fort von hier«, flüsterte es hinter dem Kopftuch, »man weiß, dass du in dieses Haus gedrungen bist, dass du dich hier befindest, und man fahndet auf dich.«
O, wie gut kannte er diese weiche, tiefe Stimme, es war die Begas, er fühlte die kleine, volle und doch so kräftige Hand.
»Um Gott, was ist geschehen?«, fragte er bestürzt, während sie ihn schon fortzog.
»Ich habe es dir gesagt, ich kann dich nicht schützen, auch meine Macht ist beschränkt. Aber den Weg zu den Deinen kann ich dir öffnen. Wir sehen uns wieder.«
Sie ließ ihm keine Zeit zu neuen Fragen, sie zog ihn mit sich fort, ob er wollte oder nicht, die Treppe hinunter, zum Haus hinaus.
»Folge mir«, flüsterte sie ihm zu und ging ihm mit schnellem Schritt voran, sodass Reihenfels, aufs äußerste bestürzt, kaum folgen konnte.
Die breiten Straßen, in denen einst Equipagen mit schönen Damen rollten, hatten ein kriegerisches Gepräge bekommen, nur Inder, Männer, alle bewaffnet, drängten sich in ihnen.
Es war etwas Besonderes vorgefallen, die Menge war von Erregung ergriffen, man schrie und jubelte.
Jetzt vernahm Reihenfels auch einen bestimmten Ruf.
»Dollamore, Dollamore!«, erklang es plötzlich von allen Seiten, misstönend, höhnend.
Die Leute bückten sich und hoben Steine auf, Kinder rafften den Kot der Straße zusammen.
In der Mitte der Straße entstand ein Gedränge, und da sah Reihenfels den kommen, der diesen Namen führte, Dollamore. Der Mann, den die Königin von England einst den Treuesten der Treuen in Indien genannt hatte, wurde gefangen einhergeführt.
Trotzig schritt der hünenhafte Mann zwischen den zahlreichen Wächtern; an den Füßen trug er schwere Ketten mit Kugeln, auch die Hände waren mit Ketten umschlungen; denn man kannte die ungeheure Kraft des jungen Riesen. Aber hochaufgerichtet trug er das Haupt, als hätte er auch noch als Gefangener zu befehlen; Hohn und Verachtung sprachen aus seinen blitzenden Augen, und weder durch die schweren Gewichte, noch durch die zahlreichen Wunden konnte sein Gang an Elastizität verlieren.
Es musste einen harten Kampf gegeben haben, ehe man ihn überwältigt hatte, wahrscheinlich war er einer Hinterlist zum Opfer gefallen.
Sein Blick traf den vorbeieilenden Reihenfels, den er kannte, und dunkles Feuer sprühte ihm aus dem Auge. Wie verächtlich wandte er sofort den Kopf und spuckte aus.
Was sollte das heißen? Galt das ihm, oder war es nur Zufall?
Von dem Mädchen konnte er nichts erfahren, dieses hielt sich nicht auf. Jetzt bog es ab und wandte sich in dunkle Gässchen, wobei es wieder Reihenfels' Hand ergriff.
»Bega, ich bitte dich, was soll dies alles bedeuten?«, fragte er; denn es wurde ihm unheimlich zumute.
»Ich gebe dir später die Erklärung, wir sehen uns wieder«, klang es hastig zurück, »wir können das Tor jetzt nicht passieren, ich muss dich einstweilen woanders verstecken. So, wir sind am Ziel! Verhalte dich ruhig, du wirst gut verpflegt, ich besuche dich öfter.«
Das Tor eines kleinen, fensterlosen und sehr stark gebauten Häuschens wurde geöffnet, düsteres Licht fiel ihm entgegen, und schon wurde er von der kräftigen Hand des Mädchens hineingeschoben.
Doch Reihenfels setzte Widerstand entgegen.
»Ich gehe nicht eher, als bis du mir sagst, um was es sich handelt. Was soll mit mir geschehen?«
»Ich muss dich hier einstweilen verbergen, dein Hiersein ist verraten worden, man sucht dich. Oder misstraust du mir, Oskar?«
Sie umschlang ihn und drückte ihn an sich. Er fühlte das harte Panzerhemd an seiner Brust.
»Nein, ich traue dir, Bega, und will dir gehorchen. Vergiss meine Schwester nicht!«
»Mit dir soll sie den Rückweg ins englische Lager antreten, verlass dich darauf.«
»Bega, jetzt vollende das Lied, welches du vorhin abbrachst!«
Der Freund zieht weiter,
Ich seh' es heiter
Denn er bleibt mein auf allen Wegen,
erklang es zurück, er fühlte zwei Lippen auf den seinen, dann trat er ein, und sofort fiel die Tür hinter ihm ins Schloss, durch den Klang verratend, dass sie aus Eisen bestand.
Reihenfels war nicht allein in dem quadratischen Gemach, welches das ganze Haus einnahm; eine dunkle Gestalt erhob sich in einer Ecke und enthüllte sich, als sie in den Schein der Öllampe trat, als ein alter Mann, der Reihenfels mit ehrfürchtigen Grüßen bewillkommnete, wobei aber zugleich ein widriges Grinsen sein faltiges Gesicht verzerrte.
Wäre Reihenfels nicht durch die letzten Worte des Mädchens überzeugt gewesen, dass er Bega als Begleiterin gehabt hatte, er würde geglaubt haben, man hätte ihn mystifiziert und ihn in eine Falle gelockt.
»Gegrüßet seist du mir, edler Faringi!«, sagte der Alte, immer hässlich lächelnd. »Die mächtige Begum von Dschansi hat mir, ihrem treuesten Diener, den Befehl gegeben, dich während einiger Tage zu verpflegen. Siehe, nichts wirst du hier vermissen. Dein Bett ist weich, dort stehen Wein, Brot und Früchte, und was du begehrst, wird dir sofort werden; du brauchst nur zu verlangen.«
Reihenfels sah sich um und fühlte sich als Gefangener. Das Gemach war fensterlos, die Tür aus Eisen, innen ohne Schloss und Riegel, die Decke ziemlich hoch und oben mit einem Loch versehen, welches wahrscheinlich in die obere Etage führte. Doch eine Treppe oder Leiter fehlte.
Fragen an den Alten hatten keinen Erfolg, er wiederholte nur in einem fort seine Unterwürfigkeit. Seufzend fügte sich Reihenfels in das Unvermeidliche; er wurde von bösen Ahnungen erfasst. Lange sollte seine Gefangenschaft übrigens nicht dauern.
Während sich Reihenfels mit Sorgen abquälte, wie das alles enden sollte, wie er Bega diesen politischen Wirren entreißen und ihr den Platz geben könnte, der ihr gebührte, und vor allen Dingen daran dachte, dass er die Engländer nicht warnen konnte, die Sprengung der steinernen Brücke und den Ausfall zu verhüten, gingen in Delhi Sachen vor sich, die ihn mit noch größerer Bestürzung, ja, mit Verzweiflung erfüllt hätten, wenn er sie auch nur geahnt hätte.
Das stahlgepanzerte Mädchen wusste nämlich nichts davon, dass ihr Geliebter von jemandem aus ihrem Zimmer und in das verlassene Haus einer fast unbekannten Gasse geführt worden war. Bega war es nicht gewesen; denn sie stand noch auf dem Hauptplatze Delhis und hörte die Berichte der Anführer an, welche von Mirat aus mit einigen tausend Indern vorgedrungen waren, in kühnen Angriffen die Reihen der Engländer durchbrochen und sich mit den Belagerten in Delhi vereinigt hatten.
Sie waren dabei mit Gurkhas handgemein geworden; aber die sonst als unüberwindlich geltenden Krieger waren sorglos gewesen, waren im Schlaf überrascht worden und hatten eine Niederlage erlitten. Heiß hatte der Kampf getobt, besonders um die Person ihres Führers, des Leutnants Dollamore, und dieser selbst war, von der Übermacht überwältigt, in die Hände der feindlichen Inder gefallen.
Es waren keine regulären Sepoys gewesen, sondern Freibeuter, von indischen Abenteurern gesammelt. Die Begum war mit dem Tun dieser Leute durchaus nicht zufrieden, sie hätten lieber sich mit den draußen befindlichen Truppen vereinigen sollen, anstatt zu helfen, den Proviant in Delhi zu verbrauchen.
Doch sie unterdrückte ihre Vorwürfe, denn das Volk jubelte laut den Siegern zu, welche den gefürchteten und verhassten Dollamore als Gefangenen mitbrachten, und im Triumph wurde dieser durch die Straßen geführt.
In der Nähe des Pulverturms war allerdings Feuer ausgebrochen, doch schnell gelöscht worden. Die Detonation war die Folge der Explosion einer entfernt liegenden Pulvertonne gewesen, die zur Sprengung der Brücke hatte dienen sollen. Einige Inder waren dabei getötet worden, sie hatten ihre Unvorsichtigkeit mit dem Leben büßen müssen.
Froh, dass die Störung vorüber war, kehrte Bega schnell nach dem Hause der Duchesse zurück. Bisher hatte sie sich vergeblich nach Sinkolin umgeschaut, der ihr die so unheimlich klingende Meldung zugebracht hatte. Sie konnte ihren Ratgeber nicht sehen.
Im Begriff, durch den Flur des Hauses zu gehen, erblickte sie eine weibliche Gestalt, die sich, ein Bündel im Arm, bei Eintritt der leicht erkenntlichen Begum angstvoll an die Wand drückte.
Mit einem Sprunge stand Bega vor ihr und hatte sie am Arm gepackt.
»Ah, Mirzi, bist du es? Dachte ich mir doch, dass dir der Dienst bei mir nicht gefiele. Wohin noch in so später Nacht?«
»Ich wollte nur nachsehen, was für ein Lärmen das sei«, stotterte das ertappte Mädchen.
»Und dazu nimmst du deine Kleider mit? Denn dieses Bündel enthält doch solche.«
»Ich wollte — ich hatte —«
»Es ist gut, verteidige dich nicht!«, unterbrach Bega sie scharf. »Du fürchtest mich und hast allen Grund dazu. Ich habe meine Finger noch nicht mit dem Blute eines Weibes besudelt und mag es auch nicht tun. Das ist dein Glück. Geh, entferne dich, Lügnerin, elendes Weib, und lass dich nie wieder erblicken, sonst —«
Bega vollendete ihre Drohung nicht. Froh, mit dem Leben davongekommen zu sein, schlüpfte Mirzi hinaus. Sie sah ihre Erbärmlichkeit entdeckt.
Mit leichtem Schritt sprang Bega die Treppe hinauf; es war ihr so wunderbar fröhlich ums Herz. Sie betrat ihr Zimmer, versicherte sich erst, dass die Türen geschlossen waren, und eilte dann nach der spanischen Wand.
Sie sank vor Schreck fast in die Knie, als sie niemanden dort sah. Einen Augenblick blieb sie erstarrt stehen, dann durchsuchte sie hastig das Zimmer, schaute sogar unter den Diwan, als vermutete sie, Reihenfels habe sich darunter versteckt.
Wohin war er? Was hatte ihn veranlasst, sich zu entfernen? Oder sollte er etwa gar...?
Ein taktmäßiges Klopfen in Zwischenpausen an der Tür unterbrach ihren Ideengang. Das war ihr Vertrauter, Sinkolin, sie öffnete sofort, und der Alte trat auch ein. Diesmal zeigte er sein bartloses, faltiges Gesicht mit dem schlauen Zug um die schmalen Lippen unverhüllt.
Er fand seine Gebieterin in furchtbarer Aufregung.
»Sinkolin«, rief sie ihm entgegen, »rate mir, hilf mir!«
Verwundert betrachtete Sinkolin die Aufgeregte.
»Was ist es, das dir solche Sorge einflößt?«, fragte er. »Es war nicht gut, dass die Aufständischen sich nach Delhi durchschlugen, doch wir können sie schließlich...«
»Schweig davon«, unterbrach ihn das Mädchen heftig, »es ist etwas Anderes. Sinkolin, ich kann dir trauen?«
»Begum, habe ich dir je Veranlassung zum Misstrauen gegeben?«, entgegnete Sinkolin vorwurfsvoll. »Allerdings war vorhin meine Bestürzung groß, das Gerücht war übertrieben worden.«
»Ich spreche ja nicht davon. Sinkolin, wo bist du gewesen?«
»Ich sprach mit den Anführern.«
»Meine Augen sahen dich nicht.«
»Die meinen aber dich.«
»Gleichgültig! Sinkolin, ich will dir etwas gestehen.«
»Meine Ohren hören, doch mein Mund wird nicht wieder sprechen. Vertraue mir dein größtes Geheimnis an!«
»Ich will es tun. Du weißt, ich liebe einen Mann.«
»Ich weiß es, und ich fluche ihm deswegen. Er ist unser Feind, und zwar einer unserer größten.«
»Fluche dem nicht, den ich liebe. Du warst mir schon mehrmals behilflich, ihn zu retten.«
»Weil du es wolltest, und ich gehorche dir unbedingt.«
»Nun, er war hier, hier in diesem Zimmer, als du kamst, und jetzt ist er fort.«
Obgleich sich der schlaue Sinkolin verstellte, denn er wusste ja alles, hatte alles belauscht, so tat er doch nicht erschrocken, weil das gegen seine sonstige Natur gewesen wäre. Er blickte nur die Sprecherin an.
»Hier wäre er gewesen?«
»Ja, hier, hier, ich hatte ihn versteckt!«
»Was wollte er?«
»Er schlich auf einem mir unbekannten Wege in dieses Haus, um seine Schwester Franziska zu retten, die gegen meinen Willen gefangengehalten wird. Doch davon ein andermal! Ich versteckte ihn, als du kamst, sagte, er sollte warten, und nun — wo ist er hin?«
Angstvoll sah Bega ihren Vertrauten an, von dessen Schlauheit sie schon manche außerordentliche Probe erhalten hatte, grenzte seine Kenntnis von geschehenen Dingen doch manchmal an Allwissenheit.
Diesmal aber wusste er nichts, bedauernd zuckte er die Schultern.
»Hättest du mir davon gesagt, so würde ich ihn in meinen Schutz genommen haben. Sieh, Begum, du bist nicht aufrichtig gegen mich, davon hast du Schaden.«
»Du hassest ihn, verstelle dich nicht.«
»Ich hasse ihn als meinen Feind, doch als deinen Freund liebe ich ihn, und nur dein Wille gilt, ich ordne den meinen dem deinen unter.«
»So schaffe ihn mir wieder! Fort! Und was ich von ihm gehört habe, was in diesem Hause hinter meinem Rücken vorgeht, darüber werde ich noch später Rechenschaft fordern.«
Sinkolin hielt es für das Beste, der Aufforderung schleunigst nachzukommen.
»Ich werde tun, wie du befiehlst«, entgegnete er, »nur sage mir noch, welche Verkleidung er zu seinem Besuche gewählt hatte.«
»Er trug die Uniform der indischen Sepoyoffiziere, Degen und Mütze. Ich erwarte dich in einer Stunde zurück, ich vergehe vor Ungeduld.«
Sinkolin entfernte sich.
»Jetzt späht sie selbst nach Franziska, Eugen und ihrer Doppelgängerin«, murmelte er, während er die Treppe hinabstieg, »allein sie wird dieselben nicht finden, dafür habe ich gesorgt, und was ihr dieser verfluchte Reihenfels erzählt hat, werde ich ihr als einen Traum einreden. Doch nun ans Werk, jetzt ist mir die Gelegenheit günstig, den einen zu vernichten, die andere zum Würgengel der Engländer zu machen, so, wie es die Anführerin von Indien sein muss.«
Ehe er das Haus verließ, verhüllte er sein Gesicht mit der auf dem Rücken herabhängenden Kapuze, und plötzlich, als wären seine Knochen dehnbar, wuchs seine Gestalt um einige Zoll, sodass er für einen mittelgroßen Mann gelten konnte. Nimmermehr hätte man in ihm den kleinen, gebückt gehenden Sinkolin, den Berater des Großmoguls, oder Timur Dhar, den König der Gaukler wiedererkannt.
Dem ihn gegebenen Auftrag ging er durchaus nicht nach, vielmehr wandte er sich direkt nach dem mohammedanischen Viertel, wobei ihn auch der Weg an dem Häuschen vorüberführte, in welches Reihenfels gebracht worden war.
Lauschend blieb Sinkolin eine Minute an der eisenbeschlagenen Tür stehen, nickte befriedigt mit dem Kopfe, warf einen Blick nach dem platten Dach hinauf und setzte seinen Weg fort.
Die Straßen oder Gassen fielen hier schräg ab, sodass eine Art Tal entstand, und es war anzunehmen, dass diese Senkung noch unter dem Niveau der Dschamna lag oder mit diesem abschnitt.
Hier gab es viele Brunnen, welche nie versagten, es sei denn, die Dschamna trocknete einmal aus; sonst stieg und fiel ihr Wasser mit dem des Stromes, also mussten sie mit ihm in Verbindung stehen, um so mehr, als der schöpfende Eimer oftmals Fische und andere Flusstiere mit in die Höhe brachte, ja, es kam sogar vor, dass in solch einem Brunnen ein junges Krokodil gefangen wurde.
Im tiefsten Teile dieser Senkung stand ein Häuschen, in welchem ein Trödler seinen Laden hatte, und der Besitzer dieses Geschäftes, in welchem arme Kulis und Juden Kleidungsgegenstände und andere abgelegte Sachen kauften, war niemand anders als der alte Sedrack.
Sinkolin klopfte leise an die wurmstichige Tür und trat schnell ein, ohne die Aufforderung dazu abzuwarten.
Er befand sich in einem Raume, der mit alten, abgenutzten Sachen angefüllt oder vielmehr überfüllt war, wie man sie in den ärmsten Läden solcher Art findet.
In der Mitte des Raumes brannte ein Feuerchen, darüber hing ein Kessel mit siedendem Wasser, und davor saß ein alter Mann, der die Hände nach Art der Juden zum Gebet gefaltet hielt und vor sich hinmurmelte. Es war Sedrack, dessen Trödlerbude der liebe Leser kennen lernt. Er ließ sich nicht in die Karten sehen, er gab vor, von diesem Trödelhandel zu leben; um Sachen zu kaufen, unternähme er oftmals so lange Reisen, und er war auch bereit, diese seine Angabe beim Gott seiner Väter, bei seinem grauen Haar, bei dem Haupte seines teuren Kindes und bei sonst etwas zu beschwören.
Beim Eintritt des Fremden erhob sich der Jude, er wendete nur den Kopf und musterte die Gestalt scharf, die ihm unbekannt war, und deren Gesicht er nicht sehen konnte. Es kam oft vor, dass der Trödler Personen empfing, die nicht erkannt sein wollten. Dafür sah er später oft Gegenstände, die bei ihm gekauft waren, an solchen Leuten, deren Kleidung nach man nicht vermutete, dass sie bei einem Trödler kauften. Es war versteckte Armut. Noch mehr aber wurde ihm von solchen verhüllten Personen verkauft; denn Sedrack kaufte alles, ohne nach dem Namen und dem Woher zu fragen.
»Was gefällig?«, fragte Sedrack, aus einer Blechbüchse Tee in einen Kessel abmessend.
Er war der Meinung, diese schlanke, wohlgewachsene Person müsse eine Frau oder ein Mädchen sein, obgleich er in letzter Zeit wenig Besuche von solchen empfing.
»Was gefällig?«, wiederholte er. »Was zu verkaufen? Zeige her, ich zahle die höchsten Preise und kaufe, wenn ich auch nichts dabei verdiene. Kaufe nur so zu meinem Vergnügen.«
»Kaufst du auch dieses?«
Der oder die Unbekannte streckte den Arm aus; eine kleine, zierliche Hand schlüpfte aus dem groben Gewand, und kaum erblickte Sedrack den breiten Goldring, dessen Diamant ein wunderbares Feuer ausstrahlte, als er mit einem Ausruf der Überraschung aufsprang.
»Sinkolin?«, rief er, »Timur Dhar! Gott meiner Vater, wie konnte ich ahnen, dass du kämest zu mir, in meine elende Hütte?«
Er verneigte sich wiederholt mit über der Brust gekreuzten Armen.
»War ich nicht schon öfters hier?«
»Ja doch, aber ganz anders. Wahrhaftig, man hat recht. Du kannst geben deiner Gestalt eine jede Größe und ein jedes Aussehen. Dachte ich doch, als ich dich sah, ist das aber ein großes Weib, die könnte heiraten den Riesen Goliath. Gott, was bist du für'n mächtiger Mann!«
»Hast du je daran gezweifelt, dass ich allmächtig bin?«
»Nicht mehr, seitdem du mir hast verhandelt deinen Ring, welcher ist besessen vom Teufel und hat mir gebrannt ein Loch durch den Kasten, in welchen ich ihn gelegt hatte, und als du kamst zu mir, saß er doch wieder an deiner Hand.«
Mit scheuen Augen betrachtete der Jude den Mann, der wieder zusammenschrumpfte, weil eine Verstellung hier nicht nötig war. Er setzte sich gemächlich am Feuer nieder und zog dann unter seinem Mantel einen schweren Beutel hervor, den er Sedrack reichte.
»Hier, dein Lohn.«
Mit gierigen Händen griff der Jude danach.
»Tausend Rupien.«
»Tausend Rupien, in Gold abgewogen. Zähle sie nach, wenn du es für nötig hältst.«
»Wie würde ich glauben, dass Timur Dhar könne beschummeln? Bleiben die Goldstücke auch bei mir?«
»Sie sind dein.«
»Brennen auch kein Loch in Tasche oder Kasten?«, fragte der misstrauische Jude weiter, dem der Gaukler einmal, vielleicht schon mehrere Male einen Streich gespielt hatte.
»Sie sind dein und bleiben dein, denn deine Angaben sind wahr gewesen. Lerne kennen, dass Timur Dhar sein Wort hält.«
Schmunzelnd steckte Sedrack. den schweren Beutel ein und setzte sich dem Gaukler am Feuer gegenüber.
»Sagte ich nicht, dass Sedrack ist ein alter, ehrlicher Jüd' und sein Wort echt wie das Gold, welches er verkauft als solches? Also hat es gehabt Zweck, dass ich dir habe mitgeteilt, wie der Kulwa ist gekommen zu mir und hat mich gefragt, wo zu finden ist Lord Canning, der Generalgouverneur von Indien, den Gott möge verfluchen.«
»Du verfluchst nur den, der abwesend ist, und den, an dem du nichts verdienst. Ja, es hat Zweck gehabt; deshalb hast du den versprochenen Lohn erhalten. Ich hätte nicht nötig gehabt, ihn dir zu versprechen, denn ich hatte dein mir angedeutetes Geheimnis durch die Folter erpressen können.«
»Sinkolin wird mich nicht foltern zu Tode, denn er weiß, dass ich ihm kann leisten noch manchen wichtigen Dienst.«
»Deshalb bin ich auch hier.«
»Dachte ich doch, dass der Herr will abschließen mit dem alten Sedrack ein neues Geschäft.«
»Du bist schlau, Sedrack, das muss man dir lassen, doch allzu große Schlauheit führt oft ins Verderben. War jener Froschmensch, der dich nach dem Aufenthalt Lord Cannings fragte, seitdem wieder hier?«
»Ich bin zurückgekommen von meiner Reise und habe Kulwa nicht wiedergesehen seitdem.«
»Ich möchte gern einmal nähere Bekanntschaft mit ihm machen. Kannst du ihn nicht rufen?«
»Es gibt kein Mittel dazu; er kommt, wenn er will, zu holen Tabak und anderes, wofür ich aus Gefälligkeit eintausche wertlosen Plunder.«
»Armer Mann, du ruinierst dich noch aus purer Gefälligkeit! Sag, Sedrack, wo ist deine Tochter?«
»Hab' ich sie doch nicht wiedergesehen seit jenem Tage, da sie hat verlassen ihren armen Vater im Zorn.«
»War sie nicht mit dir im Lager am schwarzen See?«
»O, Herr, spotte nicht des alten Sedrack, ehre sein weißes Haar, das in Ehren verloren hat die Schwärze. Du weißt so gut wie ich, dass meine Begleiterin nicht war Mirja, sondern die mächtige Begum von Dschansi.«
»Ich gebe es zu. Was hat die Begum im Lager getan?«
»Herr, frage mich, was ich für geheime Todsünden begangen habe, und ich will es dir gestehen«, entgegnete Sedrack, sich verneigend, »aber frage mich nicht aus über die Wege der Begum. Lieber will ich unter der Folter sterben, als dies verraten.«
»Das war gut gesprochen, Sedrack, ich werde immer zufriedener mit dir. Kennst du den Generalgouverneur selbst?«
»Ich kenne ihn.«
»Du hast mit ihm verkehrt?«
»Geschäftlich, Herr.«
»Hast du einen Mädchenhandel mit ihm abgeschlossen?«
So getroffen sich Sedrack auch fühlte, wagte er dennoch nicht, den Frager auch nur von der Seite anzuschielen.
»Nein, Herr. Ich musste aber doch einen Vorwand haben, dass ich ins Lager kam. Ich wollte abschließen ein Geschäft mit alten Stiefeln, welche die Soldaten haben abgelegt, ist doch eingetroffen ein Transport aus England mit neuem Schuhzeug.«
»So so. Und auch die Begum ist bei ihm gewesen?«
»Herr, frage mich nicht darüber.«
»Gut, du bejahst es.«
»Nein, das tue ich nicht«, rief der Jude hastig.
»Auch gut, ich weiß genug. Musst du auch über die Begum schweigen, so doch nicht über andere. Was hat Kulwa mit Canning zu tun gehabt?«
»Ich weiß es nicht. Was ich dir mitgeteilt habe, ist wahr und alles, mehr kann ich nicht aussagen.«
»Also er fragte nur nach dem Aufenthaltsort Lord Cannings? Was wollte er wohl von ihm?«
»Herr, ich weiß es nicht.«
»Jude«, sagte der Gaukler leise, aber drohend, »mache deine Zunge geschmeidig, oder — du kennst mich. Sage mir deine Meinung, was er wohl von ihm gewollt hat.«
»Herr, verwirre durch deinen Zorn nicht meinen Verstand!«, sagte Sedrack, ängstlich werdend. »Ich denke, Kulwa ist zum Spion zu dumm, ja, was sollte er wohl wollen von Lord Canning, den er nicht einmal kannte?«
»Du betonst das ›er‹, so meinst du, er wurde von einem andern geschickt?«
»Das ist meine Meinung.«
»Auch die meine. Lord Canning hat eine Braut.«
Der Jude fühlte, wie die Augen des Gauklers durchbohrend auf ihm ruhten, und er hatte nicht den Mut, Unwissenheit zu heucheln, wenn das auch sehr leicht gewesen wäre, falls Sinkolin nichts davon wusste, sondern ihn nur ausforschen wollte. Es fehlte Sedrack eben der Mut.
»Ja, Herr, er hat sich verliebt in ein Mädchen.«
»Wie heißt dieses?«
»Franziska Reihenfels.«
»Hm, du kennst sie genauer?«
Sedrack erzählte offen, als wäre er in einem Bann, wie er Franziska einst zum Schutze vor den meuternden Indern in sein Haus aufgenommen hatte, wie sie aber selbst wieder entflohen sei und gleich darauf auch seine eigene Tochter.
Nachdenkend hatte der Gaukler ihm zugehört, sein scharfer Verstand sagte ihm auch das, was ihm der Jude noch verhehlte.
»So ist dir eine reiche Beute entgangen. Oder du willst doch nicht etwa behaupten, dass du dieses Mädchen uns ausgeliefert hättest?«
»Uns armen Juden traut man nur Schlechtigkeiten zu.«
Der Gaukler schwieg lange, er überlegte, arbeitete an einem neuen Plane, der seinen Zweck förderte, und Sedrack bereitete unterdessen mechanisch seinen Tee; denn er wusste, dass Sinkolin nicht umsonst seine arme Hütte aufgesucht hatte, sondern dass es etwas für ihn auszuführen gab, wobei er verdienen konnte. Gespannt wartete er, bis sein mächtiger Gast wieder zu reden begann.
Das Anbieten einer Tasse Tee riss diesen aus seinem Brüten, und nun fing er an zu sprechen. Sedrack hatte sich nicht getäuscht, er war von Sinkolin auserkoren worden, ein Netz zu weben, dessen Fäden aus Lug und Trug, aus Hinterlist und Verrat, aus falschen Schwüren und gefälschten Briefen bestand.
Sedrack fand die an ihn gestellte Forderung ungeheuer, er bebte davor zurück. Der Gaukler kannte die Schwäche des Juden, und doch wusste er, dass dieser Mann für Gold alles tat, für Gold war er jeder Schandtat fähig, für Gold verkaufte er sein Kind, für Gold konnte aus dem Feigling selbst ein Held werden.
So musste es etwas anderes sein, was Sedrack für seine Dienste forderte.
»Ich habe angeboten bis jetzt«, sagte schließlich der Gaukler, der seinen Gleichmut nie verlor, »du hast abgeschlagen. So stelle du nun deine Forderungen, und ich will sehen, ob ich sie bewilligen kann.«
Sedrack führte die Tasse an seine Lippen, um das schlaue Lächeln zu verbergen, das der dichte Bart nicht ganz verdeckte.
»Gut, ich will sie stellen. Du hattest vorhin allerdings recht, als du sagtest, ich hätte die Franziska gern behalten für mich. Schade, dass sie mir ist entgangen! Wäre gewesen ein schönes Geschäft für mich! Ich denke, sie ist nun bei dir.«
»Und wenn du nicht irrst?«
»So erbitte ich mir das Mädchen für meine Dienste.«
»Wie viel zahlt dir Lord Canning dafür?«
»Ich bin offen; zehntausend Pfund.«
»Es ist viel. Hast du eine Sicherheit von ihm?«
»Ich habe sie.«
»Zeige sie mir!«
Sedrack machte eine Handbewegung.
»Du glaubst, ich würde sie dir nehmen? Lord Canning ist ein Mann, der sein Versprechen auch ohne etwas Schriftliches halten würde.«
»Es mag sein.«
»Hast du seine Unterschrift?«
»Ja.«
»Gut, ich will sie nicht sehen. Also das waren die alten Schuhe, um welche du mit Lord Canning handeltest! Bist du bereit, die Aufgabe zu lösen, wenn ich dir dafür Franziska gebe?«
»Wenn ich bekomme Sicherheit!«
Sinkolin musste sie ihm geben, und nach längerer Unterredung trennten sich die beiden. Der Gaukler wollte am anderen Tage zur selben Zeit zur nochmaligen Besprechung wiederkommen.
Im Hause der Duchesse angelangt, empfing Bega ihn mit der größten Ungeduld. Achselzuckend bedauerte er, nichts von dem falschen Sepoyoffizier gesehen zu haben.
»Aber wohin soll er sein? Er kann Delhi nicht verlassen!«
»So wird er denselben Weg benutzt haben, auf welchem er hierher gelangt ist. Hast du ihn nicht gefragt, wie er sich in dieses Haus geschlichen hat?«
Das hatte Bega unterlassen. Und wüsste sie es auch, sie hätte es Sinkolin doch nicht gesagt.
Es war schon spät in der Nacht und keine Zeit mehr für sie, wegen Eugens und Franziskas Fragen zu stellen, der morgende Tag sollte ihr alles offenbaren. Da aber brachte Sinkolin solch wichtige Nachrichten über die Feinde, dass die Anführer der Rebellen in Aufregung gebracht und gehalten wurden.
Doch Sinkolin vergaß darüber sein Versprechen nicht; am Abend fand er sich wieder in der Trödlerbude ein, um mit Sedrack weiterzuhandeln. Beide waren im eifrigsten Gespräche vertieft, als hinten aus der dunkelsten Ecke der Hütte ein quakender Ton erscholl.
Sofort verstummte Sedrack und lauschte.
»Es ist ein Frosch«, sagte Sinkolin.
»Sinkolin«, flüsterte Sedrack, »verstecke dich!«
Wie ein Schatten huschte der Gaukler hinter die aufgehängten Kleider und Mäntel und war im Nu dort verschwunden, ohne dass sie sich aufgebauscht oder bewegt hätten.
Das Quaken wiederholte sich. Sedrack nahm die Öllampe und begab sich nach der Ecke. Dort lag am Boden der Deckel eines Fasses, er hob ihn auf. Ein fast bis an den Rand mit Wasser gefülltes Loch zeigte sich, und aus dem Wasser tauchte der froschähnliche Kopf Kulwas auf.
Er legte die Hände auf den Rand und ließ seine glotzenden Augen durch die Hütte schweifen.
»Nun, Kulwa«, begann der Jude, »ist dein Tabak zu Ende? Ich habe dich nicht so bald wieder erwartet. Zeige her, was du mir hast mitgebracht heute, ob ich es kann gebrauchen.«
»Ich habe nichts mitgebracht, ich brauche keinen Tabak.«
»So willst du nur besuchen mich alten Mann? Das ist schön.«
»Bist du allein?«
»Wie du siehst.«
Kulwa hatte etwas auf dem Herzen; angstvoll ließ er seine Augen umherwandern.
»Weißt du, wo ich wohne?«, fragte er dann.
»Wie soll ich das wissen? Habe ich doch oft genug gefragt dich deswegen, und kannst du mir doch geben keine Antwort.«
»Mein Aufenthalt ist unter dem Hause, welches von der Duchesse bewohnt wird. Kennst du diese?«
Sedrack schien erstaunt.
»Kulwa, Kulwa«, sagte er dann lächelnd und mit dem Finger drohend, »es scheint mir doch nicht so, wie du immer sagst, dass du allein da unten wohnst mit deinem Vater, den du Maulwurf nennst. Wen hast du genommen zu dir? Ein Frauchen hast du geheiratet, he?«
Sedrack machte nur Scherz, Kulwa aber glaubte, sein Geheimnis sei verraten worden.
»Woher weißt du das?«, rief er zornig.
»Nun, hast du doch gefordert von mir in letzter Zeit Nadel und Zwirn und allerhand Sachen, die immer haben müssen die Frauensleute, verheiratete und unverheiratete.«
Kulwa murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, sein Gesicht nahm einen recht bösartigen Ausdruck an, und nichts entging dem beobachtenden Sinkolin.
»Was führt dich denn zu mir?«, forschte Sedrack weiter, der dies übrigens schon wusste.
»Kennst du das Haus der Duchesse?«
»Und ob! Was soll's damit?«
»Ich möchte etwas erfahren, aber ich weiß nicht...«
»Du kannst mir altem Mann trauen, habe ich doch niemals verraten dein Geheimnis, habe vielmehr dich immer unterstützt und dir gegeben teuren Tabak und dafür genommen von dir wertlosen Plunder. Hier die ganze Hütte ist schon voll.«
»Nicht alles ist von mir.«
»Weil ich andern auch so helfe wie dir. Was willst du wissen aus dem Hause der Duchesse, die ist eine mächtige Dame in Indien?«
»Nicht wahr, du weißt alles? Du kanntest auch Lord Canning und seinen Aufenthalt?«
»Weiß ich auch nicht alles, so weiß doch der alles, den ich frage, wenn ich etwas wissen muss.«
»Wer ist das?«
»Es ist kein Mensch, sondern ein Geist, der alles sieht und hört und überall ist.«
Kulwa glaubte an Gespenster und Geister, und er glaubte auch, vollständig unerfahren, leicht den Worten eines Lügners. Erst riss er den Mund weit auf, dass man eine Kegelkugel hätte hineinwerfen können, dann machte er ein ängstliches Gesicht und zeigte Lust unterzutauchen, um aus der Nähe des Menschen zu kommen, der mit Geistern verkehrte.
»Fürchte dich nicht«, rief jedoch der Jude schnell, »es ist ein guter Geist. Würde ich doch sonst nicht mit ihm verkehren. Wenn du ihn willst sprechen und fragen etwas, so rufe ich ihn.«
Blitzschnell tauchte der Frosch unter; denn plötzlich stand vor ihm, wie aus dem Boden gewachsen, eine kleine, kaum mittelgroße, vermummte Gestalt.
Doch Sinkolin vermutete ganz richtig, dass das Ungeheuer wiederkommen würde. Schon nach einer Minute tauchte der Kopf wieder auf und betrachtete ängstlich das unheimliche Wesen.
»Ich tue dir nichts«, klang es hinter dem Tuche hervor, »du hast mich gerufen, was willst du von mir wissen?«
Es dauerte lange, ehe der erschreckte Kulwa eine Antwort fand.
»Wer bist du?«, brachte er dann hervor.
»Einer, der alles weiß, ein Geist, der überall sein kann. Ich war auch unten bei dir und habe dich und deinen Vater gesehen. Du hast eine junge, schöne Frau, die dich liebt, aber du sollst etwas für sie tun. Deshalb kommst du jetzt hierher, wir sollen dir helfen. Lord Canning kam nicht, wie deine Frau ihm geschrieben hatte, sondern ein anderer, Reihenfels, und nun wartest du vergeblich auf seine Rückkehr. Glaubst du nun, dass ich allwissend bin?«
Kulwa staunte, nicht minder aber Sedrack. Woher in aller Welt wusste der Gaukler alles?
»So bist du wirklich ein Geist?«, fragte ersterer.
»Ich will dir noch mehr Beweise geben.«
»Nein, nein, tue das nicht. So bist du der Geist, der manchmal zu uns kommt und so jammert und heult?«
»Der bin ich«, entgegnete Sinkolin, obgleich er nicht wusste, was Kulwa damit meinte.
»Was willst du nun sonst von mir wissen?«
»Der Mann, den ich zu uns brachte und in das Haus der Duchesse führte, ist nicht zurückgekommen. Einmal ist darüber schon das Wasser geschwollen. Wo ist er jetzt?«
»Es ist der Mann, welcher Franziska, die Braut Lord Cannings befreien wollte?«
»Er ist es. Ich sehe, du weißt alles.«
»Er hat dich belogen.«
»Wieso?«
»Er kannte Franziska gar nicht, er gibt nur vor, ihr Bruder zu sein. Er trat an Lord Cannings Stelle, um euer Geheimnis, wie ihr in den finsteren Gängen lebt, zu erforschen und es dann anderen zu erzählen. Dies tut er jetzt im Hause der Duchesse und lacht euch aus, da ihr ihm geglaubt habt.«
Ein Wutschrei drang aus dem Munde des Ungeheuers.
»Aber er gehört zu denen, welche draußen vor der Stadt liegen und nicht herein dürfen.«
»Du irrst. Er ist ein Verräter, er verrät die Pläne der Engländer an die Inder. Deshalb auch ließ er sich von dir unbemerkt in die Stadt bringen. Du solltest ihn hören, wie er jetzt über dich und Phangil und besonders über deine Frau spottet.«
»Über meine Frau?«
»Er machte sie lächerlich, er kann nicht begreifen, wie sie eine solche Missgeburt wie dich heiraten konnte, er machte vor, wie du herumkriechst, und wie du sie mit deinem breiten Maule küsst, während du nicht ihren Abscheu gegen dich bemerkst. Das hat er gesagt.«
Kulwa schnappte mit dem Maule, wie der Frosch nach der Fliege. Sein Aussehen wurde vor Wut ein fürchterliches.
»Wenn er wiederkommt, dann — dann«, stieß er hervor.
»Beruhige dich, er wird nicht wiederkommen.«
»Sollte er mir entgehen?«
»Du musst ihn aufsuchen.«
»Wie kann ich das?«
Sinkolin wusste Rat, und er teilte dem unerfahrenen, aber mit Vernunft begabten Geschöpf mit, wie es an dem, der es angeblich belogen hatte, Rache nehmen könnte, und hatte an Kulwa einen aufmerksamen Zuhörer.
Drei Tage hatte Reihenfels' Gefangenschaft gewährt, als ihm die Stunde der Erlösung schlug. Während dieser Zeit hatte er ängstlich darauf gewartet, dass eine Detonation erfolge, welche von der Sprengung der steinernen Brücke herrühre. Weder eine solche vernahm er noch Waffenlärm und Kriegsgeschrei.
So war der Plan, den er belauscht, entweder aufgeschoben, oder aufgehoben worden, und seine Gefangenschaft hatte weiter keine üblen Folgen gehabt. Was Franziskas Befreiung anbetraf, so baute er auf Begas Wort.
Von seinem Wärter konnte er nichts erfahren, denn es war ein blödsinniger Alter, wenn er sich nicht so stellte. Er versorgte ihn mit allem, was er verlangte. Die Sachen wurden von unsichtbarer Hand an einem Strick im Korbe durch das Loch in der Decke herabgelassen.
Am Abend des dritten Tages öffnete sich zum ersten Male wieder die eiserne Tür, und Bega trat ein. Reihenfels sah ihre Gestalt, die er nicht zu verkennen glaubte, er hörte ihre Stimme und fühlte ihre Lippen auf den seinen. In dem Gemach herrschte ein mattes Dämmerlicht; sehen konnte er dabei das Gesicht nicht, vor welchem nur für einen Augenblick der Schleier gelüftet wurde.
Das Wiedersehen war nur äußerst kurz; das Mädchen ließ sich auf keine Unterhaltung ein; sie drang darauf, dass Reihenfels ihr sofort und ohne Zögern folge, denn nur jetzt, sei es möglich, die Torwache zu passieren.
Die Wächter hielten die beiden nicht an, sie waren wahrscheinlich vorher instruiert worden.
Reihenfels stand vor dem Tor und glaubte sich auf der Seite, wo die Brücke liegen musste. Seine Begleiterin bestätigte es.
»Wird man dich nicht, wenn du nun bei den Deinen anlangst, als Spion festnehmen, weil du aus Delhi kommst?«, fragte sie.
»Die Nennung meines Namens wird jeden Irrtum aufklären.«
»Dennoch kannst du in Gefahr kommen, es kann nach dir geschossen werden.«
Bega hatte recht, er war in indischer Uniform.
»Ich habe schon daran gedacht«, fuhr sie fort, ihm das Bündel gebend, das sie mitgebracht hatte, »hier ist ein europäisches Gewand, ziehe es an, sobald du in der Nähe des Lagers bist. Vorläufig bist du in dieser Uniform sicherer; denn auch in der Umgegend von Delhi streifen unsere Patrouillen umher. Solltest du dennoch in Unannehmlichkeiten kommen, so schützt dich diese Karte. Doch suche jedem auszuweichen. Vergiss das nicht.«
Reihenfels nahm sie und versuchte zu lesen, was darauf geschrieben stand, konnte aber in der Finsternis nichts erkennen.
»Du gehst also von hier aus nach der Brücke. Erst hinter den Schanzgräben kleidest du dich um.«
»Erst hinter ihnen? Ich denke, bevor ich in das englische Revier komme, muss ich dies tun.«
»Ach so! Du kannst ja nicht wissen, dass diese Schanzgräben sich in unseren Händen befinden.«
»Wie?«
»Wir zerstören sie nicht, sondern benutzen sie gegen die Engländer. Brahma und dein Gott segne dich! Lebe wohl, und auf Wiedersehen, Geliebter!«
Reihenfels konnte sie nicht mehr zurückhalten; denn schon war sie verschwunden, und er hätte sich so gern mit ihr unterhalten, ihm lag so viel auf dem Herzen, das er ihr sagen musste.
Abermals war ihm die Gelegenheit dazu geraubt.
Über ihm waltete ein grausames Schicksal. Stets, wenn er sich mit Bega vereint glaubte, wurde er wieder von ihr getrennt, Irrtum folgte auf Irrtum, und nie kam er dazu, ihr das zu sagen, was ihm das Wichtigste erschien. Entweder hinderten ihn seine augenblicklichen Gefühle oder ein Zufall daran.
Unter solchen Gedanken schritt er, das Bündel unter dem Arme, dahin, ohne angehalten zu werden. Er trug die vollständige Uniform der indischen Sepoy-Offiziere, nur der Säbel fehlte, den Bega ihn nicht hatte umschnallen lassen.
Da war es ihm, als hörte er Stimmen flüsternd sprechen, und der Ermahnung eingedenk, einer Begegnung möglichst auszuweichen, blieb er stehen.
Bega hatte vollkommen recht gehabt. Wurde er hier festgenommen, so konnte er leicht eine üble Behandlung erfahren, ehe er seine Legitimation vorzeigen konnte, und wer weiß, ob man ihm auch dann Glauben schenkte.
Die Stimme näherte sich; Reihenfels schritt leise zur Seite und verbarg sich hinter einem Busch, um die Patrouille vorbeizulassen. Er befand sich noch weit entfernt von den Schanzgräben, und diese waren ja im Besitz der Rebellen, wie Bega ihm gesagt hatte, und sie wusste es sicher bestimmt.
Die Stimme entfernte sich wieder, schon wollte sich Reihenfels wieder erheben, als sich plötzlich jemand auf ihn warf und ihn mit Gewalt am Aufstehen verhinderte.
»Zu Hilfe, ein Spion!«, gellte der Ruf durch die Nacht, und im Nu sah sich Reihenfels von dunklen Gestalten umringt.
Ehe er sich versah, war er gebunden und stand in der Mitte der ihn Umringenden, in denen er Inder erkannte. Natürlich hielt er sie für Rebellen, doch zu unterscheiden von denen, welche den Engländern treu geblieben, waren sie nicht, denn die Sepoys beider Mächte trugen dieselbe Uniform.
»Ein Sepoy-Offizier!«, rief einer und trat vor den Gefangenen. »Wen haben wir da? Zu wem hältst du, zu den Rebellen, oder zu den Engländern?«
»Zu keinem von beiden, ich bin weder das eine, noch das andere«, entgegnete Reihenfels.
»Oho, das ist eine seltsame Antwort! Du kommst aus Delhi?«
»Ja.«
»So bist du ein Rebell!«
Das Wort Rebell täuschte Reihenfels.
»Ich komme aus Delhi und will allerdings in das englische Lager. Wenn ihr Rebellen seid, so gebt mir die Hände frei, und ich will euch zeigen, dass ihr mich ungehindert ziehen zu lassen habt.«
Ein Hohngelächter schnitt ihm das fernere Wort ab.
»So hältst du uns wohl für Meuterer?«, lachte ein anderer als der vorige Sepoy.
Reihenfels erschrak. Doch war er unter zu den Engländern Gehörenden geraten, so schadete das ja auch nichts weiter.
»Seid ihr Engländer?«
»Nicht Engländer, aber wir halten zu diesen.«
»So bringt mich zu eurem Kommandeur.«
»Oho, Bursche, du trittst auf, als hättest du hier zu befehlen! Wir treffen dich, wie du dich vor uns verstecken willst, obwohl du dich auf englischer Seite befindest. Was willst du hier? Was hast du hier zu suchen? Antwort, Bursche, oder wir hängen dich sofort auf. Wir haben das Recht dazu, dies merke dir.«
»Ich verlange, vor euren Kommandeur geführt zu werden.«
»Du kannst viel verlangen. Antwort: Bist du ein Spion?«
»Nein.«
»Was hast du hier zu suchen?«
»Das werde ich eurem Kommandeur sagen.«
Unter den Männern entstand ein Geflüster, nach dessen Beendigung sie Reihenfels in die Mitte nahmen und fortführten.
Erst nach längerem Marsch erreichten sie die Schanzgräben, an denen gearbeitet wurde, und jetzt erst erkannte Reihenfels, dass Bega ihm, jedenfalls unwissentlich, eine Unwahrheit gesagt hatte. Sie befanden sich noch immer in den Händen der Engländer, diese arbeiteten nach wie vor an ihnen, wenigstens auf dieser Seite. Vielleicht waren sie ihnen auf anderen Stellen verloren gegangen.
Ferner erkannte Reihenfels im Scheine der Fackeln, welche den Arbeitern leuchteten, dass er Inder von der Burani-Armee vor sich hatte, und dies erfüllte ihn mit neuer Besorgnis.
Die Buranis gehörten einem westlich an den Abhängen des Himalaja-Gebirges wohnenden Volksstamm an, wild, verwegen und beutelustig, ein Räubervolk, und es war bekannt, dass es sich die Engländer viel Geld hatten kosten lassen, diese Krieger für ihre Zwecke zu werben. Wer sie bezahlte, dem dienten sie, ohne sich um weiteres zu kümmern. Sie besiegten den Feind, dann nahmen sie die Beute und stillten ihre Wut an den Gefangenen. Es waren tüchtige Krieger, aber sie gingen über, wenn der Feind mehr bezahlte. An Grausamkeit und Selbstsucht übertrafen sie alle anderen Inder.
Wachfeuer flackerten auf, andere Soldaten kamen ihnen entgegen, und mit Freuden sah Reihenfels unter ihnen auch einen englischen Offizier.
»Ein Sepoy-Offizier ohne Degen«, rief dieser. »Was soll das heißen? Es ist kein Inder.«
»Wir haben ihn gefangen, wie er einer ihm begegnenden Patrouille ausweichen wollte, indem er sich versteckte«, meldete ein Burani, »es ist ein Spion, wir wollten ihn hängen, aber vielleicht kann er etwas gestehen.«
»Sie sind kein Inder, mein Herr?«, redete der Offizier Reihenfels auf Englisch an.
»Nein, wenn Ihnen aber der Name Oskar Reihenfels bekannt ist, ich bin dieser. Genügt Ihnen das, um zu beweisen, dass ich kein Spion bin?«
Die Wirkung dieser Worte war eine ganz andere, als Reihenfels erwartet hatte.
»Oskar Reihenfels? Ah, das passt ja vortrefflich! Einen solchen Fang zu machen, hatte ich heute Abend nicht mehr vermutet. Sie kommen aus Delhi?«
Reihenfels kannte den Offizier nicht. Er war nicht jung und hatte aller Wahrscheinlichkeit nach indisches Blut in seinen Adern, wie die Buranis überhaupt nur ungern ein fremdes Kommando duldeten.
»Sie scheinen sich in meiner Person zu täuschen«, entgegnete er. »Wenn ich Ihnen meinen Namen genannt habe, so kann Ihnen das keinen Anstoß geben. Bitte, melden Sie mich dem Kommandeur dieser Truppe und senden Sie nach General Wilson oder Lord Canning, dass sie von meinem Hiersein erfahren.«
»Der Kommandeur der Buranis bin ich«, entgegnete der Offizier, seinem Abzeichen nach ein Captain, stolz, »und wenn Sie sich auf Lord Canning und General Wilson berufen, so begehen Sie ein Versehen. Vom Generalstab ist mir der Befehl zugegangen, Oskar Reihenfels zu verhaften, wenn er unser Lager betritt.«
»Nicht möglich!«, stieß Reihenfels hervor.
»Sie stehen im Verdacht der Spionage; jeder englische Offizier ist beauftragt, Sie zu durchsuchen. Lassen Sie sehen, was Sie bei sich tragen!«
Als hätten die Soldaten nur darauf gewartet, so begannen sie sofort mit der Untersuchung des Gefangenen. Das erste war das Bündel, und bestürzt sah Reihenfels, wie die Soldaten vor seinen Augen dieselbe Kleidung auspackten, die er bei seiner abenteuerlichen Unternehmung im Anfang getragen hatte.
»Ist dies Ihre Kleidung?«, fragte der Offizier scharf.
»Ja, aber...«
»Genug, kein Aber, Sie haben bejaht. In derselben Kleidung sind Sie gesehen worden, als Sie unser Lager verließen. Wie kommen Sie eigentlich zu der Uniform der Sepoy-Offiziere?«
Reihenfels stieg plötzlich das Blut zu Kopf. Wie, man behandelte ihn wirklich als Spion?
»Ihre Fragen sind unerhört«, rief er mit starker Stimme, »ich verlange, augenblicklich vor Lord Canning geführt zu werden, in dessen Auftrag ich gehandelt habe!«
»Sparen Sie solche Verteidigungsmittel für später auf, wenn sie Ihnen überhaupt noch etwas nützen können. Lord Canning werden Sie wohl nicht wiedersehen. Leutnant Sulivan!«
Zum freudigen Erstaunen von Reihenfels trat Mac Sulivan, der seine Rettung aus dem Felsentempel der Thugs hauptsächlich ihm zu verdanken hatte, in den Kreis. Doch der sorglose Zug in dem Gesicht des leichtlebigen, jungen Offiziers war verschwunden, Trauer war jetzt darauf ausgedrückt.
»Untersuchen Sie den Gefangenen«, befahl der Captain, »visitieren Sie seine Taschen.«
Die Karte kam zum Vorschein, welche Bega ihm eingehändigt hatte, und noch andere Papiere, von deren Vorhandensein er gar nichts gewusst hatte.
Schon die Art, wie der Captain die Karte las, war besorgniserregend, immer wieder schüttelte er den Kopf und warf dem Gefangenen misstrauische Blicke zu.
Dann nahm er ein Federmesser, schabte an den Rändern der Pappe und zog zur größten Bestürzung von Reihenfels aus der ersten Karte eine zweite hervor, die voll beschrieben war.
»Das ist ein alter Witz!«, lachte der Captain. »Wenn die Rebellen keine andere List kennen, um Spionage zu treiben, so ist es schlecht mit ihnen bestellt. Nun wollen wir die andern Lumpen untersuchen.«
Er beschäftigte sich mit den früheren Kleidern von Reihenfels, die zusammengepackt gewesen waren, und tat dabei gerade, als hätte er es mit den Kleidern eines Aussätzigen zu tun.
Reihenfels Blut kochte, aber sein Zorn über diese Behandlung verwandelte sich in neuen Schrecken, als er die Kleider unter den Händen des Captains knistern hörte, als dieser das Futter aufschnitt und ein Papier nach dem anderen hervorbrachte.
»Aha, immer mehr Beweise! Das bricht dir vollends den Hals, Schurke! Schade, dass du nur eines Todes sterben kannst! Hörst du, wie sie dort drüben aufheulen? Das sind die Gurkhas, die soeben erfahren, dass der Schuft gefangen worden ist, der ihren Führer verraten hat. Gnade dir Gott, wenn du denen in die Hände fällst.«
»Das ist nicht wahr«, brauste Reihenfels auf, »hier waltet ein Irrtum oder ein furchtbarer Betrug ob. Diese Papiere — ich weiß gar nicht, was sie enthalten — sind ohne mein Wissen in meine Kleider praktiziert worden. Mein Name ist Oskar Reihenfels, ich verlange, vor den Generalgouverneur oder vor den Oberbefehlshaber dieser Truppenmacht geführt zu werden. Dann wird sich der Irrtum sofort aufklären, und Sie, Captain, werden sich genötigt sehen, mir Abbitte für die schmachvolle Behandlung zu leisten, die Sie mir zuteil werden lassen.«
»Gemach, mein Bursche, setze deine Worte anders, oder auch ich rede anders, handgreiflicher zu dir. Mit solchen Gesellen, wie du einer bist, macht man wenig Federlesens. Ja ja, mit deiner Liebschaft mit der Begum wird es nun wohl ein Ende haben. Dich holt der Teufel, wie er auch bald das tolle Mädchen holen wird. Fort mit dem Schuft! Leutnant Sulivan, Sie bürgen mir für den Gefangenen.«
Reihenfels wusste nicht, ob er wache oder träume. Er ein Spion? Sein Verhältnis zu Bega war selbst dem Anführer dieser wilden, rohen Buranis bekannt?
Er ward in die Mitte genommen und nach einem Zelt gebracht, das ihm vorläufig als Aufenthalt dienen sollte. Ehe er es betrat, sah er noch, wie Sulivan ringsum einen Gürtel von Posten aufstellte, und hörte die scharfe Instruktion, beim Fluchtversuch des Gefangenen auf diesen zu schießen. Fehlschüsse würden schwer bestraft werden.
Dann wurden Reihenfels die Fesseln gelöst, und er war allein.
Lange Zeit lag er in dumpfem Brüten auf dem Teppich des Zeltes. Er konnte seine Lage noch gar nicht fassen, es kam ihm alles wie ein Traum vor. Nur das strahlte wie ein helles Licht in dem dunklen Gewirr, welches seine Seele umnachtete, dass Lord Canning und jeder andere Offizier, der die Sache zu entscheiden hatte, von seiner Unschuld überzeugt sei.
Der einzige, welcher in Indien über Leben und Tod zu entscheiden hatte, war der Generalgouverneur, früher im Frieden, nach dem neuen, königlichen Erlass auch jetzt im Kriege. Doch etwas anderes war es mit Spionen. Jeder Offizier, der jemanden bei Spionage, bei Verräterei oder im Begriff, zum Feinde überzugehen, fand, hatte das Recht und die Pflicht, ihn einfach zu untersuchen, zu verhören und aufzuknüpfen, wenn er es nicht für gut hielt, ihn wegen genaueren Verhörs dem Kriegsgericht, an dessen Spitze Lord Canning stand, vorzuführen.
Dies alles wusste Reihenfels. Sollte es dem Captain etwa einfallen, ihn so ohne weiteres zu verurteilen? Nein und abermals nein, er konnte diesen Gedanken nicht fassen.
Es mochte gegen Mitternacht sein, als jemand das Zelt betrat. Es war Mac Sulivan.
»Armer Freund«, redete er den schlaflos Daliegenden an, »ich kann mir denken, wie Ihnen zumute ist. Was in aller Welt kann Sie aber auch veranlassen, ein so tolles, waghalsiges Spiel zu treiben? Freilich, Sie stehen auf keiner von beiden Seiten; aber trotzdem, Sie hätten Ihre Finger doch nicht so der Gefahr des Verbrennens aussetzen sollen. Ich sage es ja immer: diese verfluchten Weiber!«
Halb erstaunt, halb entrüstet richtete sich Reihenfels auf.
»Wie, auch Sie, Leutnant Sulivan, halten mich für einen Spion? Es ist nicht möglich.«
Er sah nicht das ungläubige Achselzucken des Offiziers.
»Wissen Sie, heutzutage ist alles möglich; es ist alles schon dagewesen, sagte Ben Akiba. Sie sind wirklich unschuldig?«
»Ich antworte gar nicht auf solche Fragen. Aber ich bitte wenigstens um die Erklärung, was mich denn eigentlich in den schrecklichen Verdacht bringt.«
»Die Papiere, die man bei Ihnen gefunden hat.«
»Kenne ich nicht, man hat sie mir untergeschoben.«
»Was haben Sie denn in Delhi zu suchen gehabt? Sie verstehen, ich frage nicht etwa als Richter, sondern nur, damit Sie sich auf das Verhör präparieren können.«
»Ich muss verhört werden?«
»Nun, das ist nicht gerade nötig, es ist schon lange über Sie disputiert worden.«
»Über mich? Himmel, ich begreife das alles nicht!«
»So antworten Sie mir doch! Was haben Sie denn in Delhi zu suchen gehabt?«
»Lord Canning hat mich hingeschickt.«
»Hören Sie, den lassen Sie aus dem Spiele! Ich glaube, Reihenfels, Sie sind ein ehrlicher Kerl, aber mit Ihrer Sache steht es verflucht faul, und vor allen Dingen rate ich Ihnen, nicht noch andere mit hereinzureißen. Im ganzen Lager herrscht eine wahre Empörung gegen Sie, man dürstet förmlich nach Ihrem Blute.«
»Gegen mich, der ich gezeigt habe, dass ich mein Leben für die Sache der Engländer gern opfere? Habe ich mich nicht, als Brahmane verkleidet, durch die Reihen der Feinde geschlichen und General Nicholson benachrichtigt? Habe ich nicht ganz allein versucht, den Gefangenen der Thugs zu Hilfe zu kommen? Es ist mir unbegreiflich, wie mir jemand die Spionage vorwerfen kann.«
»Es ist alles wahr, was Sie da sagen. Ja, Sie haben Großes vollbracht, und ich muss Ihnen meinen Dank zollen; denn mir haben Sie schließlich auch das Leben gerettet. Aber man ist zu der Ansicht gekommen, dass Sie das alles nur aus Egoismus getan haben.«
»Aus Egoismus?«
»Nun ja, nicht direkt aus Egoismus. Es galt ja immer, Ihre Familienangehörigen zu retten, einmal Ihre ganze Familie, dann Ihre Schwestern.«
»Schändlich!«, knirschte Reihenfels.
»So geht das Gerücht, und dann heißt es auch, Sie hätten sich nur darum so um England — denn im Grunde genommen sind Sie doch kein Engländer — verdient zu machen gesucht, um desto besser und sicherer die Spionage betreiben zu können.«
»Schändlich!«, stieß Reihenfels abermals hervor. »Ich bitte Sie, Leutnant, mich in Ruhe zu lassen, wenn Sie mich für einen Spion halten.«
»Nicht doch, es kann ja sein, dass Sie unschuldig sind, oder dass die Sache gar nicht so schlimm ist, wie man sie macht. Gott, ich habe manchen harmlosen Streich begangen, weswegen man mich gleich aus der Armee stoßen wollte. Freilich, die Liebelei mit der Begum hätten Sie nicht anknüpfen sollen.«
»Was weiß man denn davon?«
»Gestern ist ein indischer Offizier aufgeknüpft worden, der sich als Spion entpuppt hat. Vor seinem Tode machte der Schuft Geständnisse; er verriet seine Kollegen, und unter diesen waren auch Sie.«
»Das war eine Lüge«, schrie Reihenfels wild auf; »der Mann war bestochen, mich zu verdächtigen!«
»Ja, er hat aber gesagt, Sie versuchten mit der Begum eine Liebelei anzuknüpfen, und um ihre Gunst zu erwerben, hätten Sie ihr Ihre Dienste als Spion angeboten. Sie wären schon längst als solcher tätig; er, der Gehangene, stände mit Ihnen in innigem Verkehr.«
Reihenfels ächzte, er sah sich als Opfer einer Intrige. Dieser Verleumder hatte sein Geständnis sogar mit dem Tode bestätigt.
»Daraufhin nahm man Ihre Sachen in Beschlag, untersuchte die Koffer und fand Aufzeichnungen der englischen Truppenmacht, Stellungen, Festungspläne, von Ihnen gezeichnet, ein Notizbuch, welches gegen Sie ungeheuer belastend wirkt, und schließlich auch die Korrespondenz mit Führern der Meuterer.«
»Es ist erbärmlich. Und was sagen die Richter, was Lord Canning?«
»Die Generäle, denen die Beweise Ihrer Schuld vorgelegt wurden, und welche Sie alle hoch achteten, zuckten die Schultern und meinten, man könne nicht eher etwas machen, als bis Sie zur Stelle wären; denn Sie waren mit einem Male spurlos verschwunden. Niemand wusste, wohin, und das war für Sie auch nicht gerade günstig.«
»Und Lord Canning?«
»Der hat gestern das Lager verlassen, ich weiß nicht, wohin er gereist ist. Es wurde ihm sofort Meldung von dem Vorgefallenen nachgeschickt, nun erwarten wir seine Antwort.«
»Wenn er davon erfährt, wird er sofort hierher eilen, mich auf freien Fuß setzen und meine Ehre wiederherstellen. Auch die Übrigen werden es tun, sobald sie hören, dass ich hier bin.«
»Na, na, bauen Sie nicht zu sehr darauf. Wie in aller Welt kommen Sie denn nur zu der Karte, die man bei Ihnen fand?«
»Welche Karte?«
»Die Sie in der Brusttasche trugen.«
Es war also die, welche ihm Bega mit dem Bemerken gegeben hatte, er könne sich mit ihr legitimieren. Ein furchtbarer Verdacht stieg plötzlich in dem Unglücklichen auf.
»Was stand darauf?«
»Wissen Sie es wirklich nicht?«
»Bei allem, was mir heilig ist, bei den Häuptern meiner Eltern, ich weiß es nicht.«
»Merkwürdig! Die Karte war an jenen Offizier adressiert, der gestern gehängt worden ist, aber sie war doppelt, man konnte noch eine andere herausziehen — übrigens ein schon sehr alter Kniff — und diese andere Karte enthielt für den Offizier die Aufforderung, Ihnen, dem Überbringer, den Plan der Schanzgräben zu geben. Man hat auch bei jenem Offizier eine Kopie des Belagerungsplanes vorgefunden.«
Reihenfels wagte kaum noch zu atmen, der Verstand wollte ihm versagen. So hatte ihn also Bega selbst auf solch erbärmliche Weise verraten, nein, nicht verraten, sondern — es gab keinen Ausdruck dafür.
»Und was enthielten die anderen Papiere?«, fragte er dann leise.
»Ähnliche Aufforderungen, Befehle, Fragen und so weiter, immer an jene gerichtet welche jetzt an Ästen baumeln.«
»Keiner lebt mehr von ihnen?«
»Nein, jener Offizier hat sie alle angegeben, sie sind sofort gelyncht worden.«
»Nun, ich lasse den Mut nicht sinken; wenn mir das Herz auch gebrochen ist, meine Ehre will ich doch wiederherstellen, und leicht soll es mir auch werden. Wenn nur erst Lord Canning erscheint! Haben Sie sonst noch eine Hiobsbotschaft? Sprechen Sie sich aus, damit ich alles erfahre.«
»Nun, es ist auch noch ein Überläufer ins Lager gekommen, der bringt einen Zettel von dem gefangenen Dollamore. Dieser schreibt, Sie, Mister Reihenfels, hätten wahrscheinlich den verräterischen Überfall möglich gemacht, durch den er in die Hände der Feinde fiel, er hätte Sie auch in Delhi gesehen, wie Sie mit den indischen Heerführern freundlich sprachen, und er warnt uns vor Ihnen, wir sollen Sie dingfest machen, sobald Sie sich wieder zeigen.«
»Schändlichkeit über Schändlichkeit!«, stöhnte Reihenfels. »Alles Lug und Trug, wohin ich auch sehe! Allerdings hat mich Dollamore in Delhi erblickt; aber warum dieser Verdacht? Ha, ich entsinne mich, wie er sich verächtlich von mir abwandte; aber warum nur? Nur darum, weil er mich in Delhi sah?«
»Ja, warum waren Sie denn nur in Delhi? Was hatten Sie denn dort zu suchen?«
»Ich war dort auf Veranlassung von Lord Canning.«
»Um Gottes willen, stürzen Sie sich nicht durch solche haarsträubende Aussagen in noch größeres Unglück.«
»Kann denn mein Unglück überhaupt noch größer werden als es schon ist?«, lachte Reihenfels bitter. Ich nehme nichts zurück, ich war auf Veranlassung von Lord Canning dort, und er selbst wird es bezeugen.«
»Auch ein alter Jude ist im Lager erschienen, der Sie als Spion bezeichnet. Er sagte, um Ihre Schwester zu befreien und hauptsächlich, um die Gunst der Begum, die Sie leidenschaftlich liebten, zu gewinnen, hätten Sie sich erboten, gegen die Engländer für die Rebellen zu arbeiten.«
»Ein alter Jude? Ist sein Name Sedrack?«
»Ja, so heißt er. Er will Sie ganz genau kennen und ist erbötig, gegen Sie aufzutreten und die schlagendsten Beweise für Ihre Verräterei zu geben.«
»O weh, diese Intrige ist fein geknüpft, und ich glaube, ich selbst könnte nichts dagegen machen. Was aber bezweckt man nur damit? Es scheint, als ob man mich vernichten wollte, aber nicht einfach durch den Tod, sondern man will mich ehrlos sterben lassen. Lord Canning, wann kommst du, mich zu retten!«
Reihenfels versank in verzweifeltes Grübeln, und der leichtsinnige Offizier war so erschüttert, dass er ihn lange nicht zu stören wagte.
»Sie hoffen wirklich auf Lord Canning?«, fragte er dann.
»Ich sehe, nur er kann mir jetzt noch Rettung bringen. Wohin ist er gereist?«
»Das ist nur dem Generalstab bekannt. Die erste Ordonnanz wird ihn schon erreicht haben.«
»Dann wird er sofort umkehren und mich rechtfertigen. Was ist mein vorläufiges Los?«
»Jetzt sind die Sachen, die man bei Ihnen gefunden hat, nach dem Hauptlager hinübergebracht worden. Der Kriegsrat wird sie wohl untersuchen und an Lord Canning darüber Meldung machen.«
Nach längerem Überlegen ergriff Reihenfels des jungen Offiziers Hand.
»Sprechen Sie offen, Leutnant, halten Sie mich für einen Spion?«
»Der Teufel soll mich holen, wenn ich's im Innern meines Herzens tue! Aber was soll man machen? Alle Welt sagt, Sie seien ein Spion, meine Vorgesetzten behaupten es, und kann ich gegen den Strom schwimmen, wo ich keine Gegenbeweise zu bringen vermag?«
»Sie haben recht, Ihre Beteuerungen meiner Unschuld würden mir gar nichts nützen, vielmehr würden Sie sich nur Unannehmlichkeiten aussetzen. Glauben Sie, dass meine Lage wirklich so schlimm ist, wie sie aussieht?«
»Leider muss ich das bejahen.«
»Kann man mir ohne weiteres den Prozess machen?«
»Ja, den Kriegsgesetzen nach.«
»So könnte mich Ihr Captain schon zum Tode verurteilen?«
»Nein, das kann er nicht. Ihre Sache ist schon vors Kriegsgericht gekommen, dessen Vorsitzender Lord Canning ist. Dieser muss Ihr Todesurteil unterschreiben, wenn er nicht einen Stellvertreter während seiner Abwesenheit ernannt hat, was diesmal nicht geschehen ist, soviel ich weiß.«
»Nun, dann bin ich nicht verloren. Lord Canning wird mir sofort beistehen, wenn er von meiner Lage erfährt. Aber trotzdem, es kommt mir fast vor, als wäre von mächtiger Seite aus mein Tod beschlossen worden, und die Intrigen sind so fein eingefädelt, dass ich meinen Feinden alles zutraue. Leutnant Sulivan, wollen Sie mir einen Dienst erweisen?«
»Wenn ich kann, natürlich. Haben Sie doch Ihr Leben nicht geschont, um meins zu erhalten.«
»Ich will Ihnen jetzt keine Geständnisse machen — denn ich hoffe leben zu bleiben — indem ich Ihnen erzähle, was mich nach Delhi geführt, dass mich also nicht der verurteilen wird, in dessen Auftrag ich gehandelt habe. Dem will ich dann das gestehen, was ich in Delhi gesehen und gehört habe. Verstehen Sie mich?«
»Nicht ganz.«
»Nun, sollte doch mein Leben bedroht werden, dann bitte ich Sie, Einsprache dagegen zu erheben. Dann bitte ich Sie, die Vollstreckung meines Urteils so lange hinzuhalten, bis mir die Möglichkeit verschafft ist, vor das Kriegsgericht und besonders vor Lord Canning selbst zu kommen; denn sollte ich zum Tode verurteilt werden, ohne vorher vernommen zu sein — was bei den Spionen der Fall ist — so handelt das Kriegsgericht in einem Irrtum, der von meinen Feinden künstlich hervorgerufen worden ist; Lord Canning dagegen weiß gar nichts von meiner Lage.«
»Sie meinen, Sie sind das Opfer einer Intrige?«
»So ist es. Meine Erzählung soll Ihnen erklären, wie Lord Canning nimmermehr ein Urteil über mich fällen kann, ehe er mich nicht gesprochen hat. Hören Sie mich an.«
Reihenfels erzählte mit kurzen Worten, ohne Einzelheiten zu berühren, wie Franziska, seine Schwester, Lord Cannings Braut, in Delhi gefangen sei und wie er mit der Einwilligung Lord Cannings ihre Befreiung unternommen habe. Unter ungeheuren Schwierigkeiten sei er, als Sepoy-Offizier verkleidet, in die belagerte Stadt eingedrungen, auch in das Haus, in welchem er die Schwester vermutete, habe diese aber nicht darin gefunden. Auf der Straße sei er allerdings von Dollamore gesehen worden. Dann habe er den Rückweg angetreten. Wie er zu den Papieren gekommen sei, wisse er nicht. Er habe den Anzug öfters wechseln müssen, und dabei seien sie ihm wahrscheinlich zugesteckt worden.
Alles Andere ließ er unberührt, er erwähnte nichts von Eugen und Bega noch von den unterirdischen Bewohnern Delhis, denn er hielt Sulivan nicht für die geeignete Person, der er alles anvertrauen konnte. Nur, falls er seinen unvermeidlichen Tod vor Augen sah, hätte er ihm und jedem anderen und noch vieles mehr erzählt.
»Sie können sich denken, mit welcher Ungeduld nun Lord Canning auf mich, seinen zukünftigen Schwager, wartet«, schloss Reihenfels, »und er sollte meine Verurteilung bestätigen, ohne mich vorher gesprochen zu haben? Ich glaube, ich habe nichts weiter hinzuzusetzen!«
»Wenn es so ist, dann haben Sie allerdings große Hoffnung, sich aus dieser heiklen Sache glücklich herauszuwickeln«, rief Sulivan herzlich und drückte ihm die Hand. »Verlassen Sie sich auf mich; was ich tun kann, werde ich tun, um die voreilige Vollstreckung eines Urteiles zu verhindern. Es ist verdammt, dass die Spione so ohne weiteres abgefertigt werden. Na, bei Ihnen wird's schon etwas anderes sein, einem Oskar Reihenfels schickt man das Todesurteil nicht einfach auf einem aus dem Notizbuch gerissenen Blatt Papier durch einen gemeinen Soldaten. Ich will schon dafür sorgen, dass Sie nicht eher exekutiert werden, als bis Lord Canning davon erfährt, und wenn ich dabei zehn Pferde tot reite.«
Reihenfels gab auf die Versicherung nicht viel, er sah den leichtsinnigen Offizier nicht mit günstigen Augen an, aber jetzt war er sein letzter Hoffnungsanker, der sein von der Strömung fortgerissenes Fahrzeug hielt.
Sulivan trennte sich von ihm mit der Versicherung seiner wärmsten Freundschaft. Auf den Captain, Barber hieß er, sei gar nicht zu zählen, er habe mehr indisches als englisches Blut in den Adern und sei wegen seiner Hartherzigkeit bekannt.
Reihenfels verbrachte noch einige schlaflose, bange Stunden in Sorgen und Grübeln, bis durch die Ritzen der Zeltleinwand die Morgensonne drang. Als er den Vorhang zurückschlug, sah er die Posten in wachsamer Haltung um sein Zelt stehen; bei seinem Anblick legten sie die Gewehre schussbereit an die Hüften. In einiger Entfernung standen der Captain und Sulivan zusammen und besprachen sich, jedenfalls über den Gefangenen, denn ihre Blicke streiften öfters das Zelt.
Sulivan redete eifrig auf seinen Vorgesetzten ein; dieser zuckte fortwährend die Achseln und strich den Schnurrbart. Sein Anzug und besonders die taunassen Reitstiefel trugen den Anschein, als hätte er heute Morgen schon einen weiten Weg zurückgelegt.
Dann entfernte sich Sulivan, bestieg sein Pferd und ritt davon. Wahrscheinlich revidierte er die Wachen.
Als Reihenfels noch unter dem Zelteingang stand, erblickte er in der Ferne einen Reiter, der dem Lager der Buranis zustrebte. Sein Pferd war infolge des hastigen Rittes schaumbedeckt.
Bei Captain Barber, der ihn erwartete, sprang er aus dem Sattel und überreichte ihm ein Schreiben von dem ein kleines Siegel herabhing. Der Captain löste die Schnur, wobei das Siegel zerbrach, las das Schreiben, steckte es kopfschüttelnd ein und sah nach Reihenfels hinüber, dem plötzlich — er wusste selbst nicht, warum — ein Schauer durch den Körper lief, und der fühlte, wie er bis in die Lippen erblasste.
»Es ist gut«, hörte er den Captain zu der Ordonnanz sagen. »In einer Stunde wird drüben die Meldung eintreffen, dass das Urteil vollzogen worden ist.«
Die Ordonnanz, ein Inder, saß auf, der Captain schritt dem Zelte zu und sprach unterwegs mit zwei der Posten, die ihre Gewehre den Kameraden übergaben und ihm folgten.
Reihenfels wurde von einer furchtbaren Ahnung befallen. Er merkte gar nicht, wie die beiden Soldaten hinter ihn traten, und ehe er sich versah, waren ihm die Arme abermals gefesselt.
»Marsch ins Zelt!«, sagte der Captain rau und stieß den Gefangenen vor die Brust, dass er zurücktaumelte.
Die beiden Soldaten entfernten sich wieder.
Der Captain hielt nicht für nötig, einem Spion sein Urteil erst vorzulesen.
»Oskar Reihenfels«, sagte er in einem Ton, in den er einiges Mitleid zu legen versuchte, »Sie sind dabei betroffen worden, wie Sie aus Delhi auf Schleichwegen in unser Lager dringen wollten, und man hat bei Ihnen Papiere gefunden, die Sie zum Spion stempeln...«
»Ich bin kein Spion, ich weiß nichts von diesen Papieren«, unterbrach ihn Reihenfels, der seinen Blick nicht von der Rolle in des Captains Hand abwenden konnte.
»Schweigen Sie, jede Verteidigung ist unnütz; denn das Urteil ist bereits gefällt und bestätigt. Außerdem können Ihnen noch andere Ankläger gegenübergestellt werden, die Sie als Spion bezeichnen. Ihre Schuldrechnung ist ganz unglaublich. Also hören Sie Ihr Urteil. Es lautet auf Tod durch Erschießen. Sie können noch von Glück sagen, dass Sie dem Stricke entgehen, denn ein Spion ist keinen Schuss Pulver wert.«
Leichenblass taumelte Reihenfels zurück.
»Ich — ich — soll — erschossen werden — ich?«, stammelte er.
»Das Urteil ist bestätigt.«
»Nicht möglich — von wem?«
»Von seiner Exzellenz dem Generalgouverneur Lord Canning.«
Sprachlos starrte Reihenfels den Sprecher an.
»Das ist nicht wahr!«, schrie er dann.
»Hier ist die Bestätigung.«
Der Captain hob die Rolle.
»Das ist nicht wahr!«, wiederholte Reihenfels in gesteigerter Heftigkeit. »Lord Canning hätte mein Todesurteil unterzeichnet?«
»Ich hätte nicht nötig, Ihnen dasselbe zu zeigen, aber ich will es tun, damit Sie sehen, dass ich nach meinem Rechte handle. Hier, überzeugen Sie sich.«
Er entrollte das Papier und hielt es Reihenfels vor die Augen.
Dieser sah die wenigen mit Tinte geschriebenen Worte, als Aufgabeort ein einige Meilen von hier entferntes Dorf, das Datum, er las seinen Namen — zum Tode verurteilt — durch die Kugel — wegen Spionage — Lord John Canning. Es war die rechte Unterschrift, er kannte sie nur zu gut.
Reihenfels konnte nicht alles lesen, die Buchstaben tanzten ihm plötzlich vor den Augen, und dumpf stöhnend brach er in die Knie zusammen.
Nicht die Ankündigung seines Todes war es, was dem starken Manne plötzlich alle Kraft raubte, nein, sondern die furchtbare Erkenntnis, wie er plötzlich von dem, den er für seinen Freund gehalten, schmählich verlassen wurde, und das nur wegen eines Verdachtes. Dann lachte er gellend auf, es war ein furchtbares Lachen. Freundschaft, Liebe, alles Gute, Schöne und Edle, alles war nur Lug oder Schwärmerei — die Lüge, das Betrügen, Verräterei und herzloser Egoismus beherrschten die Welt!
»Bereiten Sie sich vor. In einer Viertelstunde werden Sie nicht mehr leben«, sagte der Captain wieder rau. »Was Sie Ihrer Familie mitzuteilen haben, können Sie mir mündlich sagen; es wird bestellt. Die Hände bekommen Sie nicht wieder frei, denn Sie sollen ein ganz verzweifelter Bursche sein.«
Er verließ das Zelt.
Der Unglückliche richtete sich auf. Es war ihm, als wäre sein Herz plötzlich zu Eis erstarrt, so kalt und regungslos. Aber, nein, es war ja gar nicht möglich! Doch sollte man solch einen Scherz mit ihm treiben? Hatte er nicht Lord Cannings Unterschrift gelesen?
»Lord Canning — Bega!«, stöhnte er schmerzlich auf. Er hatte den Glauben an die Menschen verloren.
Noch ein anderer wollte nicht an sein Verhängnis glauben. Reihenfels hörte die Galoppsprünge eines Pferdes, es hielt vor seinem Zelte, und Sulivans Stimme fragte in hastigem Tone:
»Was, Captain, Lord Canning hat das Todesurteil des Mister Reihenfels bestätigt?«
»Allerdings!«, entgegnete Barber gleichgültig. »Finden Sie das so wunderbar? Er ist ein Spion.«
»Höchst sonderbar! Ich kann es gar nicht glauben, nein, es kann gar nicht sein.«
»Glauben Sie etwa, ich missbrauche den Namen des Generalgouverneurs?«, fragte der Captain scharf.
»Das nicht, aber ich kann es mir nicht erklären. Ich reite sofort hinüber ins Hauptlager...«
»Was wollen Sie da?«
»Melden, dass das Urteil bestätigt worden ist und...«
»Hahaha«, lachte Barber rücksichtslos, »Sie sind ein sonderbarer Kauz, wollen dorthin melden, woher das Urteil kommt.«
»Herr Captain, ich verbitte mir dergleichen Ausdrücke«, brauste Sulivan plötzlich auf.
»Vergessen Sie nicht, dass ich Ihr Vorgesetzter bin.«
»Sie irren, nicht in diesem Augenblick«, entgegnete Sulivan spöttisch. »Wie Sie sehen, trage ich die Schärpe, ich reite die Ronde, und kein anderer ist für diese mir vom Wachtdienst vorgeschriebene Stunde mein Vorgesetzter als der Höchstkommandierende und die über diesem Stehenden. Captain Barber, ich reite nach dem Hauptlager, und ich ersuche Sie, so lange mit der Exekution zu warten, bis ich zurück bin.«
»Reiten Sie zum Teufel!«
»Sie warten nicht?«
»Fällt mir nicht ein, ich handele nach Instruktion.«
»Das Blut des Gefangenen komme auf Ihr Haupt, wenn es unschuldig vergossen ist, und wegen Ihres sonderbaren Kauzes werde ich mir noch einmal mit Ihnen zu sprechen erlauben.«
Reihenfels hörte lange Galoppsprünge; Sulivan jagte davon. Er war brav und meinte es gut, aber was nützte das ihm dem unglücklichen Delinquenten?
»Gut, dass er fort ist!«, brummte der Captain und rief dann einen Leutnant herbei, dem Namen nach einen Inder, ebenso sechs Soldaten, und Barber musste ein gutes Gedächtnis besitzen, denn er nannte jeden Einzelnen bei Namen.
»Untersuchen Sie Gewehr und Patronen«, sagte er laut, »diese sechs Mann schießen. Es sind eigentlich zu viel für einen Spion, da er aber nun einmal ganz gegen sonstige Sitte erschossen werden soll, so mag es geschehen. Das Grab ersparen wir uns. Was braucht ein Spion die Erde zu verpesten. Er kniet auf dem Uferdamm rechts neben dem Brückenpfeiler nieder, dicht am Strom, so fällt er gleich ins Wasser, und wir sind ihn los. Sie übernehmen das Kommando, ich wohne der Exekution selbst bei. Sonst alles wie gewöhnlich!«
»Zu Befehl, Captain!«
Die Leute entfernten sich. Reihenfels merkte, man machte Ernst. Es befiel ihn kein neues Entsetzen; nur noch mehr Bitterkeit, ein wahrer Hass stieg in ihm auf. Wenn nur erst alles vorbei wäre! Er ein Spion! Er wollte dem Captain nichts hinterlassen; mochte sich Lord Canning denen gegenüber verantworten, die nach ihm fragten, hier oder dort, wo alles ans Licht kam.
Immer mehr bemächtigte sich seiner eine gewisse Gleichgültigkeit. Undank ist doch einmal der Welt Lohn, er war nicht der erste, der ihm zum Opfer fiel. Aber auch seine Geheimnisse wollte er nun mit ins Grab nehmen.
Da ward der Vorhang zurückgeschlagen, und der Captain trat wieder ein.
Sein Gesichtsausdruck wie auch sein Benehmen war ein ganz seltsames. Er überzeugte sich sorgfältig, dass der Zeltvorhang den Eingang gut verschloss und wandte sich dann an Reihenfels, der ihn mit Spannung betrachtete. Die veränderten Züge entgingen ihm nicht.
Der Captain schien förmlich verlegen zu sein; er räusperte sich, ehe er zu sprechen begann. — — —
Zu derselben Stunde, da Reihenfels sein Urteil zu hören bekam, betrat General Wilson das Beratungszelt, in welchem alle die zum Kriegsgericht gehörenden Offiziere versammelt waren.
Die Herren hatten schon in der Nacht alles zu erfahren bekommen, wie man Reihenfels gefangen und bei ihm verräterische Papiere gefunden hatte, und die Meldung war nebst Angabe des Inhalts der Papiere sofort durch eine Ordonnanz mit Bedeckung dem abwesenden Lord Canning nachgesandt.
Wilson hatte diese frühe Stunde zur Versammlung bestimmt, weil er um diese Zeit die Ordonnanz zurückerwarten konnte. Man unterhielt sich über alles Andere, nur nicht über den Fall Reihenfels, dagegen ließen sich viele der Offiziere, welche ihn nicht persönlich kannten, von dem jungen Manne erzählen, und wer ahnungslos in das Zelt getreten wäre und zugehört hätte, der hätte geglaubt, man spreche von einem edlen Helden, der eben nach Vollführung großer Taten zurückgekehrt wäre, und für dessen Empfang man den Bau von Triumphbogen plane.
Keine Spur von Misstrauen brachte man ihm hier entgegen. Dennoch herrschte eine gewisse Schwüle unter den Herren, es war ihnen, als ob über Reihenfels eine gewitterschwangere Wolke hinge, die jeden Augenblick sich entladen könne.
Niemand zweifelte, dass alles eine abgekartete Sache war, die Aussagen der indischen Spione, die Behauptungen des Juden Sedrack, die vorgefundenen Papiere und so weiter, selbst der Zettel von Dollamore wurde bezweifelt, aber diese Einheit in den Aussagen war geradezu verblüffend.
Man konnte sie nicht ohne Weiteres unterdrücken, die Gerechtigkeit musste ihren Lauf gehen. Wäre das überhaupt freundschaftlich gehandelt, dass man die Unschuld des Angeklagten dadurch bewies, indem man die Ankläger einfach vernichtete? Wahrlich, damit wäre Reihenfels, dessen Charakter man kannte, wohl nicht einverstanden gewesen.
Untersucht musste der Fall wenigstens werden, und gelang es doch nicht, das Lügengewebe aufzudecken, nun, so musste die Untersuchung einfach niedergeschlagen werden; denn an die Schuld Reihenfels wagte niemand zu glauben.
Wir sehen also, dass Reihenfels Freunde in Fülle besaß, dass aber auch seine Feinde gesorgt hatten, in anderen Teilen des riesig großen Lagers eine ganz entgegengesetzte Meinung zu verbreiten, von der zum Beispiel auch Mac Sulivan angesteckt worden war.
»Sedrack ist in Ihrer Verwahrung, Colonel Harquis?«, wandte sich Wilson, der bisher schweigsam eine Zigarre geraucht hatte, an den greisen Oberst.
»Ja, Exzellenz. Ich habe ihm ein Zelt zum Aufenthaltsort angewiesen mit dem strengen Befehl, es nicht zu verlassen.«
»Er steht doch unter Bewachung?«
»Nein, Exzellenz.«
»Das hätten Sie tun sollen.«
»Ich habe dafür gesorgt, dass er scharf und von allen Seiten beobachtet wird, ohne dass er es merkt. Auf diese Weise ist es vielleicht möglich, ihn dabei zu erwischen, wenn er mit irgend jemandem Verbindung unterhält oder Zeichen empfängt.«
»Ah so, das ist gut! Ich glaube auch, dass wir noch viele Spione in unserem Lager haben. Freilich, bei Miettruppen lässt es sich nicht anders erwarten, um so weniger, wenn Sie gegen ihre eigenen Landsleute kämpfen. Es sind traurige Zustände.«
»Der Überläufer, welcher das Schreiben Dollamores brachte, ist in meiner Verwahrung«, nahm ein anderer Colonel das Wort, »und zwar sehr fest, denn der Bursche ist glatt und schlüpfrig wie ein Aal.«
Wilson nahm einen Zettel von dem mit Papieren bedeckten Tisch.
»Es ist also kein Zweifel, dass diese Schrift von der Hand Dollamores stammt?«
»Exzellenz«, entgegnete ein in Zivil gekleideter Herr, der jedoch ebenfalls Degen und Revolver trug, »ich behaupte niemals auf meinen Diensteid, dass eine Schrift aus der Feder dessen und dessen stammt, sondern dass es genau die des Betreffenden ist. Dollamores Schrift ähnelt dieser Zug für Zug.«
»Ware es möglich, eine solche Schrift genau nachzumachen?«
»Wenn Talent und Übung vorhanden sind, warum nicht? Ich getraue mir zwar auch, jede Schrift nachzumachen, und keiner der hier anwesenden Herren würde einen Unterschied herausfinden, ich selbst könnte mich jedoch nicht täuschen.«
Wilson sah nach der Uhr.
»In einer halben Stunde können wir die Ordonnanz erwarten. Der Weg ist von keinem Hindernis gesperrt, und dieser Bursche ist wegen seiner ausgezeichneten, fast wunderbaren Pünktlichkeit bekannt. Deshalb habe ich ihn auch ausgesucht.«
Trompetensignale ertönten.
»Eine Stabsordonnanz wird gemeldet«, riefen die Herren und sprangen auf, »das muss er sein!«
Alle eilten nach dem Ausgang und blickten ins Freie. Zwischen den patrouillierenden und herumschlendernden Soldaten, Infanteristen und Reitern, auf und ab geführten Pferden, welche im Verein mit den Zelten und dem zur Belagerung nötigen Material ein buntes Lagerbild boten, erschien eine Figur, die nicht zu der augenblicklich herrschenden Ruhe passte.
Ein Reiter jagte durch die Zeltgassen; das Pferd, hinter den Zelten auftauchend und wieder verschwindend, wurde zu den längsten Karrieresprüngen genötigt, sodass sein Bauch fast den Boden berührte, und die Soldaten eilends aus dem Bereiche der sandauswerfenden Hufe flüchteten.
Die Entfernung war noch eine sehr große, den Reiter konnte man noch gar nicht erkennen, das Pferd schien ein edles Tier zu sein, schwarz und weiß in einem prachtvollen Muster gefleckt.
»Es ist das Lieblingsross Lord Cannings«, rief ein Offizier.
»So hat er es der Ordonnanz gegeben, damit sie noch schneller hierher kommt.«
»Was ist das? Das ist kein Soldat!«
»Nein, es ist ein Zivilist.«
»Aber er reitet Lord Cannings Pferd.«
»Meine Herren, es ist Lord Canning selbst.«
»Wahrhaftig«, rief Wilson erstaunt, »es ist Lord Canning selbst! Er unterbricht seine Reise und kommt zurück, um selbst über Reihenfels zu entscheiden. Never mind, was geht's mich an! Lord Canning weiß besser als ich, was er zu tun hat.«
Es war wirklich Lord Canning. Welchen Ritt er hinter sich hatte, das zeigten sein Anzug und sein Gesicht; die Flanken des edlen Tieres dagegen waren kaum nass geworden, und es tänzelte noch immer, als der Reiter es parierte und aus dem Sattel glitt. Canning schüttelte Wilson die Hand und trat in das Zelt, wo die Herren ihn erwartungsvoll umringten.
»Ich sehe das Kriegsgericht hier versammelt«, begann er hastig und wendete sich dabei, als wollte er schon wieder das Zelt verlassen, dessen Vorhang er noch in der Hand hielt, »es handelte sich um Mister Reihenfels. Hat einer von den Herren ihn wirklich im Verdacht, Spionage getrieben zu haben? Glaubt jemand, er habe von den bei ihm gefundenen Papieren wirklich gewusst?«
»Niemand bezweifelt, dass Reihenfels absichtlich als Spion verdächtigt worden ist«, entgegnete Wilson; »es handelte sich jetzt hauptsächlich darum, zu erfahren, aus welchem Grunde Reihenfels sich heimlich nach Delhi begeben hat, ohne jemandem etwas von seinem Vorhaben zu sagen. Sehen wir die Zweckmäßigkeit dieses Grundes ein, so haben Euer Exzellenz zu bestimmen, auf welche Weise wir am schnellsten Mister Reihenfels von dem entehrenden Verdachte reinigen.«
»Deshalb eben komme ich selbst. Ich selbst, meine Herren, habe ihn dazu veranlasst, sich in Delhi einzuschleichen. Warum, das werde ich Ihnen später erklären, jetzt drängt es mich, Reihenfels persönlich zu sprechen, um zu erfahren, was er in Delhi erreicht hat. Ich habe die Minuten bis zu seiner Rückkehr gezählt. Den Herren, welche jener Szene am schwarzen See beiwohnten, als mich die froschähnliche Missgeburt aufsuchte und mir die silberne Kapsel gab, will ich gleich jetzt sagen, dass der Inhalt dieser Kapsel mich nach Delhi rief. Ich ersuchte Mister Reihenfels, mich zu vertreten, er tat es und verdiente damit meinen innigsten Dank. Mister Reihenfels ein Spion«, fügte er fast fröhlich hinzu, »ebenso gut kann jemand mich der Spionage verdächtigen!«
Er erkundigte sich noch schnell, wo sich Reihenfels befinde, und ohne die Neugier der Offiziere zu befriedigen oder sonst eine nähere Erklärung zu geben, wollte er das Zelt verlassen, um zu Reihenfels zu eilen.
Da wurde der Zeltvorhang schon zurückgerissen, und mit erhitztem Gesicht trat ein junger Offizier stürmisch herein. Sein Aussehen, wie die Schärpe, die verschoben war, der Waffenrock halb aufgerissen, wie er den Degen unvorschriftsmäßig trug, war so seltsam, dass Canning noch eine Minute zögerte. Mac Sulivan war in der Absicht hergekommen, die Vollstreckung des Todesurteils Reihenfels zu hindern, aber wie, das hatte sich der junge Offizier vorher nicht überlegt. Das Urteil war von den Mitgliedern des Kriegsrates ausgestellt, und diese alle sah er hier versammelt. Lord Canning bemerkte er anfangs nicht weil dieser in Zivil war.
Was sollte er denn nun sagen? Hatte er nicht eine Tölpelhaftigkeit begangen? Verlegen knöpfte er seinen Rock zu, und als ihn sein Degen daran hinderte, klemmte er diesen zwischen die Beine.
»Hol mich der Geier, das ist Leutnant Sulivan!«, rief der barsche, aber auch joviale Wilson, der Sulivans Onkel war und seinem leichtsinnigen Neffen schon manchen Streich verziehen, ihm aber auch manchmal den Daumen aufs Auge gedrückt hatte. »Plagt Sie denn wieder einmal der Teufel? Können Sie das ruhige Lagerleben nicht vertragen, dass Ihnen gleich eine Schraube im Kopfe locker wird?«
Der Leutnant verfärbte sich, raffte sich zusammen, nahm eine militärische Haltung an und legte die Hand an die Mütze.
»Wollte nur melden, Onkel — wollte sagen Exzellenz, dass Captain Barber das Todesurteil des Kriegsrates empfangen hat.«
Die Herren sahen bald einander, bald den jungen Offizier erstaunt an.
»Junge, mit dir ist es wirklich nicht ganz richtig, rief endlich Wilson. »Welches Kriegsgericht ist zum Tode verurteilt worden?«
»Ich meine das vom Kriegsgericht ausgestellte Todesurteil.«
»Wessen Todesurteil?«
»Das von Mister Reihenfels; Captain Barber hat es empfangen, er lässt es soeben ausführen, wenn es nicht schon vollzogen ist. Freilich, wenn...«
Der wieder verlegen werdende Offizier wurde unterbrochen. Plötzlich stand Lord Canning vor ihm und maß ihn mit durchbohrenden Augen.
»Was sagen Sie da?«, fragte er mit heiserer Stimme.
»Ah, Exzellenz selbst! Ich wollte melden, dass Ihr Todesurteil soeben vollzogen wird.«
»Wessen Todesurteil?«
»Das von Ihnen unterschriebene.«
»Für wen?«
»Für Mister Oskar Reihenfels. Als ich fortritt teilte Captain Barber eben die Leute ab.«
Alle waren erstarrt, am meisten Lord Canning.
»Ich — ich soll Reihenfels' Todesurteil unterschrieben haben?«
»Gewiss, Exzellenz«, stotterte Sulivan.
»Ich — ich?«, rief Canning, sich vor die Brust schlagend.
»Ich habe es selbst gesehen und gelesen.«
»Reihenfels' Todesurteil?«
»Jawohl, Exzellenz«, entgegnete Sulivan, der seine Fassung sofort wiedergewonnen hatte, als er sah, dass er doch nicht umsonst gekommen war, »Dorf Makobo bei Delhi, das Datum war das heutige, unterzeichnet nachts zwei Uhr, die Unterschrift die Ihrige: Lord John Canning, Generalgouverneur.«
Das Gesicht Lord Cannings nahm einen eisernen Ausdruck an.
»Es ist noch nicht vollstreckt?«
»Als ich fortritt, noch nicht, Exzellenz.«
Jetzt kam Leben in die Gruppe.
»Betrug, Verrat!«, schrie Lord Canning und stürzte hinaus. »Hier liegt eine Schurkerei vor! Ich habe nichts unterschrieben. Mir nach! Einer muss zuvorkommen.«
Man begriff, um was es sich handelte. Gleichzeitig mit Lord Canning saßen die jüngeren Offiziere im Sattel, auch die älteren stiegen zu Pferd und ritten nach. Mit den jüngeren konnten sie allerdings nicht Schritt halten; denn diese brausten wie der Wirbelwind davon, voran Lord Canning. Sein gefleckter Schimmel konnte nur die Spitze halten, er war den anderen nicht mehr an Schnelligkeit überlegen; denn die Pferde benutzten die Gelegenheit, nach langem Stehen ihre Muskeln bis zum äußersten anzuspannen, während jener schon einen weiten Weg hinter sich hatte.
Wie Schatten huschten Menschen, Zelte, Bäume und Büsche an den Dahinstürmenden vorbei. Jetzt bogen sie um einen Hügel; die Dschamna lag vor ihnen; sie schwenkten links ab, mussten über einen Hügel, und das ganze Lagerpanorama, Delhi und das Flusstal der Dschamna lag vor ihnen ausgebreitet. Da stieß Canning einen gellenden Schrei aus, schwenkte die Mütze, hieb dann wie ein Rasender auf das Pferd ein und gab ihm die Sporen, dass ein blutiger Streif seinen Weg bezeichnete. Das edle Tier, vor Angst und Schmerz außer sich, flog wie ein Pfeil dahin, ihm nach die Übrigen.
Vergebens, sie kamen zu spät! Cannings Armschwingen und die Schreie seiner Begleiter nützten nichts mehr.
Dort neben dem Brückenpfeiler, wo das gemauerte Ufer jäh ins Wasser fiel, stand auf dem äußersten Rande ein Mann aufrecht. Seine Augen waren nicht verbunden, weder Hände noch Füße gefesselt, frei schaute er in die Gewehrläufe der sechs Soldaten, die einige Meter vor ihm standen und unter der Aufsicht von zwei Offizieren luden.
Der frische Morgenwind spielte in den blonden, lang gewachsenen Haaren, die Morgensonne wob einen goldenen Schein darum.
Es war Reihenfels, der dort stand. Canning erkannte ihn nicht nur an der stolzen, aufrechten Haltung, an dem hochgetragenen Kopf, er konnte in der klaren Luft sogar jeden Zug des Gesichts erkennen. Weder Fluch noch Hass lagen darin, nur Stolz und Gleichgültigkeit.
Zu spät, Cannings Rufen und Winken nützte nichts mehr!
Die beiden Offiziere traten zurück, einer von ihnen entblößte den Degen und hob ihn, die Soldaten führten den Kolben an die Backen.
»Haltet ein«, schrie Canning außer sich, »haltet ein!«
Der Degen senkte sich, sechs Feuerstrahlen fuhren aus den Gewehrläufen.
Eine Sekunde blieb Reihenfels aufrecht und bewegungslos stehen, dann fuhr er mit beiden Händen nach dem Herzen und stürzte rücklings in das Wasser, das hoch aufspritzte und ihn verschlang.
Ein Schrei, halb aus Wut, halb aus Verzweiflung, entfuhr den Lippen Cannings, er riss den Degen aus der Scheide, als gelte es, gegen den Feind zu stürmen oder den Tod seines Freundes zu rächen. Unaufhaltsam jagte er weiter.
»Das Urteil«, schrie er, »das Urteil will ich wenigstens haben!«
Da geschah etwas Furchtbares. In ihrem Schrecken brauchten die Reiter die Pferde nicht erst zu zügeln, die Tiere stemmten sich von selbst mit den Vorderfüßen in den Boden, mancher Offizier wurde Hals über Kopf abgeschleudert. Gab es denn noch Wunder? In weiten Bogen über den Strom war die steinerne Brücke gespannt, und plötzlich hob sich diese an beiden Seiten zugleich in die Höhe, als würde sie wie die Brücken im Theater an Drähten zum Himmel aufgezogen. Doch nur einige Sekunden währte diese Bewegung, dann zerbrach der Bau, nach allen Richtungen hin wurden die Bruchsteine geschleudert, und gleichzeitig brach aus dem Wasser, da, wo die Brücke gestanden, eine mächtige Feuergarbe empor.
Ein furchtbares Getöse, ein Luftdruck, der alles zu Boden warf, ein Schmerz- und Angstgeheul, und alles war wieder still.
Lord Canning war der einzige der Reiter, der noch im Sattel saß. Das Tier stand da, die Vorderfüße weit von sich gestreckt, die Hinterbeine geknickt und am ganzen Körper zitternd.
Links und rechts von ihm rollten Pferde und Reiter am Boden, die sich wieder mit verdutzten Gesichtern erhoben.
Lord Canning rieb sich die Augen.
Die Brücke war fort, daran war kein Zweifel. So weit er sah, erblickte er nur liegende Menschen, und viele davon standen nicht wieder auf, röchelten den letzten Seufzer, andere schrieen und krochen mit zerschmetterten Gliedern unter den Steintrümmern hervor. Der sonst ruhige Strom warf riesige Wellen.
War denn das nur ein Traum gewesen?
Die Kriegstüchtigkeit der englischen Armee wird vielfach bezweifelt, und das nicht mit Unrecht. Man mag aber Bücher der Weltgeschichte aufschlagen, welche man wolle, immer wird man Verwunderung darüber ausgedrückt finden, wie sich die Engländer zur Zeit des Ausbruches des Aufstandes in Indien gehalten haben.
Die Beamten und Offiziere in Indien galten allgemein für verweichlicht, und sie waren es auch, als es aber sein musste, da entwickelte John Bull(*) eine Energie, die im höchsten Grade Bewunderung verdient.
(*) Spitzname für den Engländer.
Eine Handvoll englischer Soldaten weiß nicht nur den Aufstand in einem Lande von vierzig Millionen Seelen in Schranken zu halten, bis Unterstützung eintrifft, sondern ergreift auch gleich die Offensive und entreißt dem Gegner eine Beute nach der anderen, und die Gegner waren nicht etwa unzivilisierte Wilde, mit Bogen und Pfeilen ausgerüstet, sondern reguläre Soldaten, in englischer Kriegstaktik ausgebildet.
Da ist so recht bewiesen worden, wie berechnende Besonnenheit fanatischer Wut überlegen ist; keine Schlacht ist geschlagen worden, in der der Engländer nicht einem wenigstens dreifach stärkeren Feind, ganz genau so ausgerüstet, gegenüberstand; oftmals war derselbe aber auch zwanzigmal so stark.
Das muss man den Engländern lassen, dass sie damals heldenmütig gefochten haben. Wie die Löwen haben sie gekämpft, und Taten haben sie vollbracht, die denen der Kriegshelden keiner Nation nachstehen.
Es ist auch dafür gesorgt worden, dass das Andenken an diese Männer und ihre Taten dem Volke erhalten bleibt und die Nachkommen begeistert, diesen Helden nachzueifern. Dichter haben dafür gesorgt, Volkslieder sind aus sich selbst entstanden. Niemand weiß, wer sie zuerst gesungen hat.
Geht man in England an Kasernen vorüber, am Tower, an Wachlokalen, oder auch da, wo Mädchen und Militär zu Tanz und Spiel versammelt sind, dann hört man immer wieder ein und dasselbe fröhliche Lied erschallen. Einige singen es, besonders Mädchen, die Anderen machen mit Hand und Mund die Trommelbegleitung dazu, und dieses Lied wird so lange ertönen wie es ein England gibt. Ja, diesem Liede ist ein Tag im Jahre geweiht — es ist das Lied vom Trommeljungen —
Doch wir wollen nicht vorgreifen, der liebe Leser wird es noch später kennen lernen. — Ein Zeuge britischer Tapferkeit war auch die Stadt Agra geworden. Beim Ausbruch des Aufstandes zog sich die Besatzung der Stadt in die Festung zurück; Kommandeur war Captain Spleen. Spleen heißt zwar nun so viel wie Verrücktheit, Wahnsinn, doch Captain Spleen war durchaus nicht spleenig, vielmehr besonnen, mutig und ausdauernd, und als ihn die Rebellen zur Übergabe aufforderten, entgegnete er, er wolle ihnen den Schlüssel zur Festung wohl geben, aber sie sollten ihn sich selbst holen, und als man ihn darauf aufmerksam machte, dass in der Festung kein Wasser sei, erwiderte er: aber Pferdeblut genug.
Er hielt sich denn auch mit seinen wenigen Mann und schlug jeden Sturm zurück, bis General Lloyd mit seinen Truppen zum Entsatz heranrückte.
Dieser General Lloyd hatte ein ganz eigentümliches Schicksal gehabt. Um der Besatzung von Agra zu Hilfe zu eilen, musste er einen über zwanzigmal stärkeren Feind angreifen. Er tat es auch zu wiederholten Male, wurde aber immer in die Flucht geschlagen, seine Truppen versprengt, wenigstens anscheinend, doch immer wieder wusste er die Leute um sich zu sammeln und führte sie von neuem gegen die siegreichen Inder vor, bis diese endlich in heller Verzweiflung den Versuch aufgaben, dem unverwüstlichen Lloyd Widerstand entgegenzusetzen. Obgleich siegreich, waren die Inder schließlich doch vollkommen verzweifelt.
Endlich war der Weg frei; die tapferen Streiter zogen unter den Klängen der Trommeln und Pfeifen in die befreite Festung ein und wurden natürlich hier mit enthusiastischem Jubel empfangen.
Solange die einziehenden Truppen noch durch die Straßen und durch die Zugänge der Festung marschierten, hielt die militärische Disziplin sie davon ab, einander um den Hals zu fallen. Dies geschah erst, als sie den Burghof erreichten, wo sich die Ordnung löste.
Nur einer konnte die Zeit des Auseinandertretens nicht erwarten. Am Eingange zur Festung waren die Trommeljungen aufgestellt welche so oft ihre Instrumente hatten ertönen lassen, wenn der Feind zu neuem Sturm heranrückte. Jetzt bearbeiteten sie das Kalbfell und bliesen die Pfeifen zur Ehre ihrer Kameraden.
Plötzlich stürzte aus der Reihe dieser kleinen Burschen einer hervor, ein Trommeljunge, und fiel dem jungen Unteroffizier um den Hals, der, das Gewehr über der Schulter, im vollen Bewusstsein seiner hohen Stellung, zur Seite der ihm untergeordneten Kameraden schritt. Die zwei Winkel auf dem linken Arm kennzeichneten ihn als Corporal.
Das Gesicht des jungen Mannes färbte sich dunkelrot, als er den ihn Umschlingenden erkannte. Hastig zog er ihn vorwärts, bis sie den Hof erreichten, wo sich die Ordnung löste. Der Trommeljunge ließ jedoch schon jetzt, alles andere vergessend, seiner Freude vollen Lauf.
»Jim, mein lieber Jim!«, rief er ein übers andere Mal. »Also du lebst wirklich noch, sie haben dich in Delhi nicht massakriert? Ach, wenn du wüsstest, was ich bisher für Sorgen durchgemacht habe. Es hieß, die Inder hätten selbst die Kranken im Hospital nicht geschont, alles wäre niedergemacht worden. Ich habe es schon hundertmal bereut, Delhi überhaupt verlassen zu haben, die Haare hätte ich mir ausraufen können, und ich musste immerwährend nur an dich denken.«
So sprudelte es von den frischen Lippen des Jungen, und jetzt, als er den gefundenen Freund dem Gedränge entzogen hatte, fiel er ihm abermals um den Hals und küsste ihn sogar herzhaft.
Das vorige Erröten Jims war nicht der Scham entsprungen; denn er schämte sich auch jetzt nicht, dass er, der Unteroffizier, von einem Trommeljungen, der noch nicht einmal im Range eines Gemeinen stand, vor den Augen seiner Kameraden so geherzt und geküsst zu werden. Er ließ sich die Liebkosung vielmehr ruhig gefallen und schaute dabei halb mit Zärtlichkeit, halb mit Scheu auf den Jungen.
Dieser trat einen Schritt zurück und betrachtete den Freund mit vor Glück lachenden Augen.
»Was, der Tausend«, rief er dann erstaunt, »man hat dich zum Corporal befördert?«
»Bob, ich bitte dich«, entgegnete Jim mit gepresster Stimme, »sprich nicht davon; denn niemand als du und ich weiß, was vorgefallen ist, und was ich getan habe, habe ich wieder gutzumachen gesucht. Man gab mir den Wink nicht umsonst.«
»Aber, Jim, wie kannst du so sprechen? Glaubst du, mir macht es Freude, daran zu denken? Nein, wir reden nicht mehr davon, wir haben es vergessen. Armer Kerl, die Gedanken mögen dich auf dem Krankenbett schön gequält haben.«
»Das haben sie«, sagte Jim dumpf, »und noch jetzt bin ich manchmal im Zweifel, ob es nicht besser gewesen wäre, der Dolch des Meuchelmörders hätte mein Herz, nicht nur die Schulter getroffen. Bob, ich habe dir viel zu danken. Ich habe auch gehört, wie es dir ergangen ist. Du bist aus dem Arrest entflohen, meinetwegen, und man hatte dich mit Schimpf und Schande fortgejagt, weil du mir zuliebe nicht den Grund zu deiner Flucht angeben wolltest. Bob, ich habe dir viel zu danken.«
»Ach, lass das nur!«, sagte der Junge leichthin. »Das war auch ganz gut, dass man mich in die höchste Kammer des Turmes einsperrte. Weißt du warum?«
»Ich habe im Krankenhaus alles erfahren. Du warst der erste, welcher die Meuterei der Inder entdeckte, und veranlasstest den Hornisten, Alarm zu blasen.«
»Na ja, so ungefähr war es, wenn auch nicht ganz so. Ich schlug mich unter der Führung Leutnant Carters mit durch, ich erreichte das Freie und vereinigte mich mit Truppen, welche nach Agra zogen. So kam ich hierher und habe wacker mitgeholfen, die Festung gegen die Inder zu verteidigen. Aber Leutnant Carter habe ich nicht wiedergesehen, er verschwand vor meinen Augen im Getümmel des Straßenkampfes.«
»Er wird gefallen sein, wie so mancher brave Engländer.«
»Aber wie in aller Welt kommst du denn hierher? Ist denn Delhi schon eingenommen worden, dass die Gefangenen, kranke und gesunde, freigekommen sind?«
»Nein, das nicht. Die Begum von Dschansi hat Gefangene und Kranke unter ihren Schutz genommen und betreibt ganz im Gegensatz zu den anderen Fürsten den Austausch von Gefangenen. So wurde auch ich, als ich genesen war, gegen einen gefangenen Inder eingetauscht. Alle anderen Fürsten schlachten die Gefangenen erbarmungslos hin, nur die Begum von Dschansi handelt edler und klüger; jedoch glaube ich, in ihrem Charakter wird jetzt ein Wechsel eintreten.«
»Die Begum von Dschansi!«, lachte Bob. »Immer hört man von diesem Mädchen, und es existiert doch nur in der Einbildung der abergläubischen Inder.«
»Ich glaube das Gegenteil. Es existiert ein solches Mädchen, und wenn wahr ist, was ich von ihm habe erzählen hören, so wollen wir nicht wünschen, dass wir es näher kennen lernen.«
»Na, wollen 's abwarten. Und du meinst, es würde die Gefangenen jetzt nicht mehr schonen?«
»Ich glaube, ich bin der letzte der gewöhnlichen Soldaten gewesen, der eingetauscht worden ist. Kanntest du Oskar Reihenfels?«
»Gewiss, von Wanstead aus.«
»Er ist wegen Spionage erschossen worden.«
»Reihenfels ein Spion?«, rief Bob erschrocken. »Wie konnte er sich auch den Engländern zu so etwas hergeben?«
»Du irrst, er ist von den Engländern — als indischer Spion erkannt und erschossen worden.«
Bob schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
»Aber das ist ja gar nicht möglich!«, brachte er dann hervor. Jim zuckte die Schultern.
»Ich und wir alle, die wir hier sind, können nicht viel mehr davon erzählen, denn wir mussten an demselben Tage, da Reihenfels erschossen wurde, noch nach Agra marschieren, um uns mit General Lloyd zu verbünden. Es soll nicht alles in Ordnung sein. Lord Canning will das Todesurteil nicht unterschrieben haben, die Ordonnanz aber beschwört es, und wie man den Mann verhören will, findet man ihn tot. Jeder, der wegen einer Aussage vernommen werden soll, stirbt eines jähen und gewaltsamen Todes, und als Urheber wird immer Lord Canning bezeichnet, natürlich nur heimlich. Ganz außer sich soll aber die Begum sein. Bei einem Ausfall hat sie das Lager der Buranis vollständig vernichtet, nicht ein Mann ist da, der uns etwas erzählen kann, alle Offiziere sind gefangen. Als wir abmarschierten, verlangte die Begum Aufklärung; denn sie sagt, Reihenfels wäre kein indischer Spion gewesen, er wäre unschuldig gestorben. Sie will das Todesurteil sehen, das aber ist spurlos verschwunden, sie bezeichnet Lord Canning als einen Schurken, der Reihenfels' Tod aus irgendeinem Grunde gewollt habe, und wenn er es nicht gestehe, so würden die Gefangenen samt und sonders auf den Mauern Delhis erschossen werden. Ich weiß nicht, was sie sonst noch androht, es sind schreckliche Sachen. Es sieht überhaupt traurig aus im Lager der vereinigten Truppen. Reihenfels' Tod hat böses Blut gemacht. Im westlichen Lager wütet die Pest, sie ist von den Indern künstlich eingeschleppt worden, die steinerne Brücke ist gesprengt, Verrat lauert überall, General Wilson erhielt einen Brief aus Bombay, er lässt ihn durch seinen Schreiber öffnen, und als dieser das Kuvert aufreißt, geschieht eine Explosion, ein Knall, und der Schreiber fliegt in lauter kleinen Stückchen davon. Im südlichen Lager sind an unserem Abmarschtage siebenundzwanzig Mann an der Cholera gestorben; ein Brunnen ist vergiftet worden, einer ganzen Schwadron sind die Pferde verendet...«
»Höre auf, höre auf!«, sagte Bob. »Das sind traurige Zustände. Wenn das nur ein gutes Ende nimmt!«
Sie gingen ins Innere der Festung, wo in den Baracken für die eingezogenen Krieger Essen hergerichtet war. Die Baracken waren aber nur klein und konnten die doppelte Besatzung nur fassen, wenn die Stuben dicht gedrängt voll waren. Ebenso reichten die Betten und improvisierten Lagerstätten nicht.
Captain Spleen war in mancher Hinsicht sehr genau und ordnungsliebend. Voraussehend, dass mancher Zank entstehen würde, wenn die Soldaten bei Wahl ihres Aufenthaltes sich selbst überlassen blieben, ließ er schon jetzt während des Essens von Unteroffizieren die Namen der neuen Soldaten aufschreiben, Listen der Stubenbesatzung machen und je zwei Mann ein Bett zuteilen.
Da waren Zank und Streit ausgeschlossen, die Vorgelesenen mussten die Stube und das Bett teilen, gleichgültig, ob sie Freunde waren, oder ob Uneinigkeit zwischen ihnen herrschte.
Vorläufig saßen sie noch in den Stuben, wie Zufall oder Bekanntschaft sie zusammengeführt hatte. Da gab es viel zu erzählen, man fragte nach den letzten Erlebnissen und sprach von der unsicheren Zukunft.
Auch früherer Zeiten wurde gedacht, wie immer, wenn man sich bei guter Laune befindet, und dies war jetzt bei allen ohne Ausnahme der Fall. Die Leute der eigentlichen Besatzung genossen das Glück der Sicherheit nach langer Belagerung, die neuen Ankömmlinge das der Ruhe nach vielen Strapazen und Beschwerden. Auch Jim und Bob saßen noch zusammen und sprachen über dies und jenes, nur nicht von dem Abenteuer mit Mirzi.
»Wie sagtest du eigentlich vorhin?«, fragte Jim. »Du kenntest Oskar Reihenfels von Wanstead aus?«
Bob sah nicht auf, während er die gebratene Banane, die in Indien die Rolle unserer Kartoffel spielt, schälte.
»Freilich kenne ich ihn von Wanstead aus«, entgegnete er gleichgültig, »das heißt, ich habe ihn dort einmal gesehen und seinen Namen gehört. In Indien traf ich ihn später wieder, und hier kennt ihn ja jeder.«
»Ach was, so bist du in Wanstead bekannt? Ich denke, du bist Irländer; du sprichst ja auch den irländischen Dialekt.«
Bob warf ihm einen prüfenden Blick zu.
»Ich bin Irländer, aber durch ganz Großbritannien gekommen. Ich verlor meine Eltern früh, man wollte mich ins Waisenhaus stecken, ebenso wie meine Schwester, ich aber ließ mir das nicht gefallen, rückte aus und schlug mich nach London durch, wo ich mich unter die Trommeljungen werben ließ. Auf dem Wege nach London kam ich auch durch Wanstead.«
Jim hatte Messer und Gabel sinken lassen und den Sprecher unverwandt angeblickt. Dieser senkte die Augen nicht unter dem forschenden Blick, er schaute den Kameraden recht dreist an.
»Sage einmal, Bob, was ist denn dein Vater gewesen?«, begann dann Jim bedächtig.
Doch der Junge war nicht geneigt, sich über seine Familienverhältnisse ausforschen zu lassen, was in England überhaupt als unschicklich gilt, selbst unter Freunden.
»Mein Vater? Er war ein Irländer, der sehr gern Whisky trank, am allerliebsten, wenn er ihn nicht zu bezahlen brauchte, und das kam daher, weil er ein Irländer war.«
»Das ist bei einem Irländer leicht zu begreifen«, lachte Jim. »Na, nimm's nicht gleich übel, du fingst ja erst an zu spotten. War dein Vater vielleicht Tambourmajor?«
»Hei, hast du ihn denn gekannt?«, rief Bob erstaunt.
»Das nicht. Aber wenn du eine Schwester hast, so werde ich die wohl kennen und sogar sehr gut.«
»Und ob ich eine Schwester habe — die Nelly! Aber woher in aller Welt kennst du denn die? Das arme Mädel sitzt ja im Waisenhaus und muss Wolle zupfen.«
»Ne ne«, lachte Jim, »die zupft keine Wolle, sondern hat es ebenso gemacht wie du, sie ist ausgerissen und verdient sich ihr Brot selbst. Und weißt du, wo ich sie getroffen habe?«
»Na?«
»In Wanstead bei London.«
»Ach was! Wann denn?«
»Kurz nach der Abreise des Bataillons nach Indien.«
»Heiliges Kreuz«, schrie Bob, »zu jener Zeit war ich ja auch gerade in Wanstead. Donnerwetter, dass ich sie nicht getroffen habe. Das hätte eine Freude gegeben! Was machte die Nelly denn dort?«
»Sie diente bei einer Familie Namens Moore, und es ging ihr sehr gut. Sie war aus dem Waisenhause geflohen, war überall umhergewandert, und an einem Morgen nach einer grausig kalten Winternacht fand der alte Moore das arme Mädchen halberfroren vor seiner Hüttentür liegen. Er nahm sie zu sich, und sie blieb bei ihm. Also du bist der Bruder Nellys?«
»Ja, ich bin ihr Bruder. Wenn du aber Nelly kennst, so hättest du mich doch auch gleich erkennen müssen, denn wir beide sind uns sehr ähnlich. Du kennst sie wahrscheinlich nur so oberflächlich.«
Jim schmunzelte.
»Im Gegenteil, ich kenne sie nicht nur bloß so. Du nimmst es doch als Bruder nicht übel, wenn ich dir sage, dass Nelly meine Braut war?«
»Hei, ist das wahr?«, rief Bob erstaunt. »Gott, nun kennen wir uns schon so lange, und ich erfahre das erst jetzt! I wo nehme ich das übel! Tommy Atkins muss seine Braut haben, das heißt, er muss ihr auch treu bleiben, sonst soll ihn der Teufel holen.«
Der Corporal besaß vor dem Trommeljungen einen gewaltigen Respekt, sonst hätte er eine solche Meinungsäußerung betreffs der Soldatentreue nicht ruhig angehört. Bob war durchaus Idealist, und es vergingen wohl noch einige Jahre, ehe er anderer Meinung wurde. Jetzt war er noch zu jung dazu. Verlegen kraute Jim sich in den Haaren.
»Nun ja, seiner Braut muss man treu bleiben«, entgegnete er zögernd, »aber so ganz richtig war es zwischen uns beiden auch nicht.«
Bob machte ein sehr finsteres Gesicht.
»Wieso nicht?«
»Wir kannten uns ja nur einige Tage, dann musste ich schon wieder fort.«
»Das bleibt sich ganz egal; habt ihr euch geküsst?«
»Na und ob!«
»Habt ihr euch auch als Verlobte getrennt?«
»Ja.«
»Hat sie dir die Treue versprochen?«
»Ja, leider.«
»Warum denn leider?«, fragte Bob zornig.
»Siehst du, Bob, das verstehst du nicht«, begann Jim vorsichtig, wurde aber sofort unterbrochen.
»Ach was, Papperlapapp, so viel wie du verstehe ich allemal von der Geschichte. Wenn sie dir die Treue versprochen hat, so hast du sie ihr doch auch versprochen.«
»Freilich, ich musste...«
»Ruhe da! Keine unnützen Worte! Hast du ihr die Treue versprochen? Ja oder nein?«
»Ja.«
»Siehst du, so ist es auch deine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, dass du ihr Treue hältst; denn sie ist deine Braut, und ganz besonders ein Soldat muss treu sein, oder die schwere Not soll über ihn kommen. Verstanden?«
Jim ließ die Ohren hängen. Dieser Trommeljunge hätte ihn um den Finger wickeln können.
»Na, ich glaub's schon, dass du ihr treu geblieben bist«, begann Bob wieder, der seinem Freunde nicht wehtun wollte. »Nicht wahr, du hast meine Schwester doch auch lieb?«
Jetzt wusste Jim einen Rat, sich bei dem Bruder seiner Braut wieder in Gunst zu setzen.
»Ich will offen mit dir sprechen, Bob. Freilich sind wir beide verlobt, die Nelly und ich, und was ich vorhin mit dem ›leider‹ meinte, das ist etwas ganz anderes. Die Nelly ist wirklich ein gutes Ding, so hübsch und freundlich und gut. Nun hat sie mich einmal gesehen und sich gleich in mich vernarrt. Ich war's freilich auch gleich, aber das ist bei uns etwas anderes. Mit einem Wort: Ich bin die Nelly gar nicht wert, sie ist viel zu gut für mich, und es ist jammerschade, dass sie keinen anderen gefunden hat als einen Tommy Atkins, und besonders einen solchen, der gleich nach der Verlobung fort nach Indien muss.«
Bobs Antlitz hatte sich aufgehellt, doch den strengen Ton behielt er bei.
»Höre, Jim, mache mir die Soldaten nicht schlecht, das dulde ich auf keinen Fall. Mein Vater war Soldat, mein Großvater auch, die Großmutter war die Tochter eines Hellebardiers, meine Mutter war Marketenderin, die hat meinen Vater kennen gelernt, als er ihren Karren aus dem Graben ziehen half — damals lebte ich aber noch nicht — und ich bin deshalb auch Soldat geworden, und wenn ich Nelly wiedersehe, und sie hat einen anderen Schatz als einen Soldaten, dann gnade ihr Gott, dann haue ich ihr die Knochen entzwei.«
Hierdurch fühlte sich Jim doch etwas beleidigt.
»Da hätte ich wohl auch ein Wort mitzusprechen«, meinte er, »und wenn du gleich ihr Bruder bist, anrühren solltest du Nelly doch nicht.«
»So ist es recht. Nun sehe ich doch, dass du etwas auf deine Braut hältst. Was hast du denn überhaupt an dir auszusetzen? Bist du nicht ein hübscher, schmucker Bursche?«
»Na ja, mir ist es ja auch ganz lieb, ein solch hübsches Mädchen als Braut zu haben, aber eben, weil ich sie gern hatte, wäre es mir noch lieber gewesen, sie hätte sich einen anderen Schatz genommen, so einen Mann, der eine feste Anstellung hat.«
»So etwa den Schreiber von einem Advokaten der wöchentlich acht Schillinge bekommt?«, warf Bob geringschätzend ein.
»Du, so einer bin ich auch gewesen, ehe ich Soldat wurde.«
»Und warum gabst du denn diese sichere Stellung auf?«
»Weil ich dabei verhungert wäre«, lachte Jim.
»Siehst du, und ebenso denkt Nelly. Ich kenne meine Schwester. Die hätte den höchsten Beamten ausgeschlagen, und wenn er Briefträger gewesen wäre. Einen Soldaten wollte sie haben, das hat sie schon gesagt, als sie noch im Wickelbett lag. Das heißt aber, wenn du sie nicht magst, dann ist es besser, du schreibst an sie.«
»Ich möchte sie schon haben, aber sie?«
»Du, das darfst du nicht sagen. Was Nelly versprochen hat, das hält sie auch, und wenn alles bricht. Oder zweifelst du an ihrer Treue?«
»Es war ein so merkwürdiges Ding; unsere Verlobung ging so schnell vor sich, und als wir uns eben etwas kennen gelernt hatten, da musste ich wieder fort. Ach ja, es wäre recht hübsch gewesen, hätte ich drüben bleiben können, 's war wirklich ein reizendes Ding!«
»Desto schöner wird das Wiedersehen. Gab sie dir nicht ein Andenken mit? Das muss der Soldat immer von seiner Braut haben.«
Jim brach in ein lautes Lachen aus und erzählte seine ganze Liebesgeschichte, vergaß auch nicht, wie sie auf den Händen getrommelt und geblasen hätte.
»Ja, das konnte sie immer«, nickte Bob. »Aber wo bleibt denn nun das mit dem Andenken?«
»Sie hatte nichts bei sich oder wollte mir keins geben; denn das Geld, das sie mir in die Tasche gesteckt hatte, konnte ich doch nicht als Andenken betrachten. Sie versprach, mir noch eins zu schicken, und gerade, wie ich aufs Schiff gehen wollte, bekam ich auch noch einen Brief von ihr. Was meinst du, was da drin war?«
»Ich weiß nicht.«
»Ihre Haare, die sie sich abgeschnitten hatte. Ist das nicht rührend?«
Jim hatte dies wirklich als ein Andenken betrachtet und aufgehoben; Bob machte ein erstauntes Gesicht, als der Corporal seinen Rock aufknöpfte, ein Lederbeutelchen öffnete und aus diesem einige Dutzend dünner, schwarzer Haarsträhnen hervorzog. Sie waren noch geflochten, aber die ominösen Papierwickel, ohne welche man sich ein englisches Mädchen in den Morgenstunden nicht denken kann, waren nicht mehr vorhanden.
»Ist das nicht rührend?«, fragte Jim nochmals.
Der Trommeljunge sah ihn groß an, denn so heimlich Jim auch tat, er konnte doch nicht verbergen, wie er mit dem Finger das Nasse aus den Augen wischen wollte.
»Weiß der Teufel«, sagte er, sich entschuldigend, »wenn ich die Haarsträhnen sehe, dann kommt mir immer das Wasser in die Augen, und ich weiß doch eigentlich gar nicht, warum.«
»Ich will dir's sagen, warum«, entgegnete Bob ernsthaft, »und du brauchst dich deshalb auch gar nicht zu schämen. Das kommt eben daher, weil du Nelly wirklich lieb hast.«
»Ja, du hast recht, ich habe sie wirklich lieb gehabt und habe sie noch immer lieb, und was ich dir vorhin sagte, das war alles nur dummes Zeug. Es ist nun einmal so, wenn wir Soldaten untereinander von Liebe sprechen, dann muss man immer tun, als sei das alles nur Unsinn. Du aber bist anders, du kannst die Wahrheit hören. Ja, ich habe Nelly wirklich lieb, und mein größter Wunsch ist, dass ich sie wiedersehe und sie so wiederfinde, wie ich sie verlassen habe, und was ich einmal für eine Dummheit gemacht habe, na, das...«
Seine letzten Worte verklangen in einem unverständlichen Murmeln, Bob sah, wie er sich nochmals mit der flachen Hand über die Augen wischte.
»Hast du ihr kein Andenken gegeben?«, fragte er nach längerer Pause.
»Ein kleines Taschenmesser, das ich mir ganz neu gekauft hatte. Ob sie es wohl auch gut aufhebt und an mich denkt, wenn sie es ansieht?«
»Sicherlich! Mädchen sind überhaupt treuer als Männer.«
»Nanu! Woher hast du denn solche Erfahrung?«
»Ich dachte an meine Schwester und an — an mich«, sagte Bob, hatte aber etwas anderes sagen wollen, stand hastig auf und verließ das Zimmer.
Nach dem Essen wurden die Leute zum Appell gerufen, man las ihnen vor, wie sie sich in der Festung zu verhalten hätten, machte ihnen bekannt, dass anderentags nach Freiwilligen gefragt werden würde, die nach Delhi marschieren und an der Belagerung teilnehmen sollten, und verlas die Verteilung. Da die Namen der Leute in den Stuben aufgeschrieben worden waren, war es ganz natürlich, dass sie auch so zusammenkamen. Ein merkwürdiger Zufall war dagegen, dass Jim und Bob ein und dasselbe Bett angewiesen erhielten.
»Jim«, sagte der Trommeljunge, als sie die Stube wieder betreten hatten, »willst du mir einen Gefallen tun?«
»Da brauchst du wohl nicht erst zu fragen.«
»Dann frage nicht erst lange, wieso und warum, wenn ich dir hiermit ausdrücklich erkläre, dass ich mit keiner anderen Person in einem Bett schlafe.«
Erstaunt blickte Jim den Jungen an. Hätte dieser ihm erklärt, er dulde nicht, dass sein Kamerad ihn du nenne, wäre er nicht weniger erstaunt gewesen, und merkwürdig war, dass Bob plötzlich hochrot im Gesicht wurde.
»Aber warum denn nicht?«, fragte Jim sofort.
»Habe ich dir nicht gesagt, du sollst nicht fragen?«, zürnte Bob.
»Na, das finde ich denn doch etwas zu komisch.«
»Ich gar nicht.«
»Soldaten, und nicht zusammen in einem Bett schlafen, und noch dazu im Krieg! Da muss man ja glauben, du seist ein Mädchen!«
»Unsinn! Mach keine Dummheiten! Wenn du darauf bestehst, so soll es denn meinetwegen sein. Mein Grund war ein ganz anderer, du würdest ihn doch nicht begreifen.«
»Ich würde dir schließlich auch den Gefallen tun, aber dann müsste ich geradezu auf der Diele schlafen.«
»Du könntest dich auf Wache melden.«
»Dazu habe ich verdammt wenig Lust.«
»Oder ich täte es. Aber nein, du sollst nicht denken, es wäre irgendeine Heimlichkeit dabei. Gut, wir schlafen zusammen.«
»Warum wolltest du denn das nicht gleich?«
»Den Grund erzähle ich dir später einmal, und dann pass auf, Jim, wie ich dich auslachen werde.«
Weiter ließ sich Bob nicht ausfragen, er gab keine Antwort, war aber dafür von einer ausgelassenen Lustigkeit. Die ganze Stubenbesatzung wurde von diesem Mutwillen angesteckt, das Bewusstsein, in Ruhe und Sicherheit hinter festen Mauern, bewacht von treuen Kameraden, eine Nacht und hoffentlich noch viele verbringen zu können, trug auch noch dazu bei, die gute Laune zu erhalten.
Bis zum Zapfenstreich währte das Scherzen und Lachen, und als den strengen Festungsbefehlen gemäß je zwei und zwei die zwar harten, aber doch bequemen Lager aufgesucht hatten, wollte das Schwatzen auch noch lange nicht aufhören und als endlich die Müdigkeit die Augen den meisten doch zudrückte, da erklang noch immer Bobs helles Lachen.
»Worüber freust du dich eigentlich so?«, fragte Jim, der sich dieses Lachen nicht erklären konnte; denn der Junge hatte absolut keinen Grund dazu.
»Ach, wenn du wüsstest!«, war immer die einzige Antwort, und Bob lachte weiter, bis auch er darüber einschlief.
Das ruhige Leben auf der Festung von Agra konnte nicht von langer Dauer sein, denn man war im Krieg. Schon einige Tage später finden wir Jim und Bob bei der Truppenabteilung, welche Agra verlassen hatte und nach Delhi marschierte.
Welch ein beschwerlicher Marsch, solch ein Zug einer ganzen Truppenabteilung durch die indische Wildnis! Vor einigen Monaten gab es noch bequeme Heerstraßen, doch seit dem Beginn des Krieges waren auch diese wie durch Zauberei verschwunden. Die Vegetation im heißen Indien ist so außerordentlich fruchtbar, dass sie die Arbeit des Menschen in wenigen Tagen unkenntlich macht, das heißt, die Heerstraßen waren schon wieder verwildert; Kanonen hatten Risse von Metertiefe eingefurcht, Regengüsse hatten sie überschwemmt; sie waren also Sümpfe, und so zog man vor, mitten durch die Wildnis zu ziehen.
Im Gänsemarsch drang man vorwärts, einer hinter dem anderen; die ersten hieben mit Beilen Bahn, die mittelsten beobachteten ihre vorderen Kameraden und die hintersten deckten ihnen den Rücken.
Wehe, wenn jetzt der Kampfruf der Inder erscholl! Dann galt es für den führenden Offizier, zu zeigen, dass er verstand, seine Leute sich schnell und dem Terrain gemäß entwickeln zu lassen.
Er sollte die Prüfung bestehen müssen!
Die letzten des Zuges fast bildeten Jim und Bob. Der Corporal hatte die zehn Mann zu leiten, Bob war ihm als Hornist beigegeben. Diese Deckung war von dem Mitteltrupp einige hundert Schritt entfernt, man konnte die Vorausschreitenden nicht sehen, sondern folgte nur den deutlich sichtbaren Spuren.
Es war am späten Nachmittag. Die beiden Freunde hofften jeden Augenblick, das Signal zum Sammeln zu hören, welches zur Lagerarbeit rief. Dann gab es noch eine Stunde harte Arbeit, und man hatte für die Nacht Ruhe.
Da erklang auch das Signal zum Sammeln, aber es war ein ganz anderes Sammeln damit gemeint. Die langgezogenen Hörnertöne sagten: Zusammenziehen nach der Mitte und ausschwärmen zur Schützenlinie!
Noch war das Hörnersignal nicht verklungen, als sich schon die Ursache dazu zeigte. Kommandos erschollen, Schüsse knallten, im Walde rasselte und knackte es, als ob ein Trupp wilder Ochsen durchbräche, dann riefen die Offiziere die Kommandos zum Salvenfeuer.
Seltsam, dass nicht das gellende Kriegsgeschrei der Inder erklang. Aber es kam etwas Anderes.
»Ram ram mahadeo!«, heulte plötzlich der Ruf von allen Seiten, ein Trompetenton erschütterte die Luft, und der Boden erbebte unter wuchtigen Tritten.
Es war der Schlachtruf, durch welchen die Kriegselefanten in Wut versetzt werden; den Trompetenton gaben die gereizten Dickhäuter von sich, die sich jetzt blindlings auf den Feind warfen, alles niederstampften und niederschlugen, was ihnen vor die Füße oder vor die Rüssel kam.
Ihnen gegenüber waren Infanteriegewehre unnütz; um sich dieser Angreifer zu erwehren, musste man zu anderen Mitteln greifen.
Die zehn Mann unter Jims Führung wussten sofort, dass der Vortrupp eine Blöße erreicht hatte und dort von Indern mit Kriegselefanten angegriffen worden war. Was in diesem Falle zu tun war, wussten alle auch ohne des Corporals Befehl.
Das Gewehr schussfertig im Arm, stürmten sie vorwärts, um sich mit dem Haupttrupp zu vereinigen und am Kampfe teilzunehmen.
Doch es war schon zu spät; die Inder, in der Wildnis zu Hause, hatten sie überlistet, waren ihnen zuvorgekommen.
Einige Schüsse krachten; links und rechts neben Jim sanken die Kameraden zu Tode getroffen nieder, und ebenso schnell warfen sich auch die Unverwundeten zu Boden, womöglich hinter Bäume, denn vor ihnen tauchten wilde Gestalten auf, die, Gewehre, Lanzen und Schwerter schwingend, auf sie einstürmten.
Ein schnelles Einzelfeuer bewog die Feinde noch einmal zur Umkehr. Aber was half das? Immer mehr gesellten sich zu denen, welche die Engländer im Rücken hatten angreifen wollen; als sie nun den kleinen Trupp bemerkten, wendete sich ihr Angriff erst gegen diesen.
Jim war von den Kameraden ein für allemal abgeschnitten, es sei denn, diese behielten sogleich siegreiche Hand und gingen nun auch rückwärts vor. Doch daran war jetzt nicht zu denken, um so weniger, als das Kriegsgeheul der Inder und der Schlachtruf der Elefanten, das scharfe Knattern der Gewehre mit immer erneuter Heftigkeit erklangen.
Nein, Jims Aufgabe konnte jetzt nur sein, sich und die Seinen durch die Flucht zu retten.
Zwei seiner Leute waren schon gefallen, man konnte sich nicht einmal um sie kümmern. Während die Inder noch unter lebhaften Gestikulationen schwatzten, besprach man sich flüsternd und versuchte sich durch Kriechen am Boden den Augen jener zu entziehen.
Aber ihr Plan wurde entdeckt, wieder stürmten die Feinde vor und wurden durch eine neue Salve zurückgescheucht. So ging es fort. Die Engländer versuchten sich zurückzuziehen, wurden aber beharrlich verfolgt. Wohl schmolzen dabei die Feinde zusammen, aber auch einer der Engländer verlor nach dem andern sein Leben, besonders wenn es freie Stellen zu überspringen gab. Zuletzt sah Jim, dass man ihn von allen Seiten einschließen wollte, und ehe es so weit kam, musste er eilig flüchten.
Hinter ihm eröffnete sich ein Wald, dessen Bäume so dicht nebeneinander standen, dass eine schnelle Flucht möglich war. In der Ferne erhob sich der Boden, dort fand man vielleicht eine Stelle, wo man sich nach allen Seiten hin verteidigen konnte. Hier war das nicht möglich, hier war ihr Tod gewiss.
»Auf, marsch, marsch!«, schrie Jim und sprang auf.
Ach, außer Bob konnten ihm nur noch vier Mann folgen, und einer von diesen brach schon bei den ersten Schritten zusammen.
Furchtbar erklang das Geheul der Feinde, als sie die Engländer durch den Wald stürmen sahen. Sie hatten gar nicht gewusst, dass es nur so wenige waren, sonst hätten sie sich nicht zurückhalten lassen, sie durch einen Anlauf zu überwältigen.
Kugeln wurden ihnen nachgesandt, Speere sausten zischend um sie her und blieben mit zitternden Schäften in den Bäumen stecken. Noch eine Blöße musste überschritten werden, ehe die Soldaten den Hügel erreichten, und wieder stürzten zwei von ihnen getroffen nieder.
Jim sah, wie auch Bob zusammenbrach; da riss er das Gewehr hoch und blieb stehen. Seinen kleinen Freund wollte er auch im Tode nicht verlassen.
Doch im selben Augenblick schnellte Bob wieder auf und rannte mit unverminderter Eile weiter. Er konnte nur gestrauchelt sein. Jim holte ihn bald ein.
Sie erreichten wieder den dichten Wald und den Hügel, um welchen sie bogen, wodurch sie den Feinden aus den Augen kamen. Aber ach, von jetzt ab dehnte sich eine Steppe, nur mit kurzem Gras bedeckt, vor ihnen aus. Setzten sie ihre Flucht hier fort, so wurden sie auf der Stelle niedergeschossen. Da erblickten sie etwas, was dem Zugang zu einer Höhle oder doch zu einem Erdloch ähnlich sah. Am Fuße des Hügels öffnete sich eine Spalte, meterlang und eben breit genug, um einen Menschen hineinzulassen, und von großen Steinen wie eingerahmt.
Das wäre ein Versteck gewesen, oder, wenn die Feinde sie hineinkriechen gesehen hätten, doch ein Ort, wo die beiden sich lange erfolgreich verteidigen konnten. Aber es war auch zu bedenken, dass solch ein Erdloch der Schlupfwinkel von Raubtieren oder von Schlangen sein konnte.
Doch lieber solchen zum Opfer fallen, als den fanatischen Indern, die ihre Gefangenen stets entsetzlich marterten.
Die Büchse von Jim fand Grund, er sprang hinein, Bob ihm sofort nach, und letzterer konnte eben noch mit dem Kopfe heraussehen. Wie weit sich das Loch unter der Erde erstreckte, wie es am Ende aussah, konnte jetzt nicht untersucht werden.
Der dritte und letzte der noch lebenden Soldaten zögerte, in das Loch zu springen; denn eben ertonte aus demselben ein Fauchen und Miauen wie von kleinen Katzen. Das Zögern sollte des Mannes Tod werden. Aus dem Walde fiel ein Schuss; durch den Kopf getroffen brach der Soldat neben dem Loch zusammen.
Jim und Bob waren die letzten, beide unverwundet. Da kamen die Verfolger schon angestürmt.
Ohne Aufforderung zog Bob des gefallenen Soldaten Gewehr an sich heran — denn die Trommeljungen tragen in Kriegszeiten nur Pistolen — und ebenso die Patronentasche. Sie enthielt noch etwa vierzig Patronen.
»Abwechselnd du und ich«, schrie Jim und sandte den ersten Schuss, den zweiten Bob, und so ging es in regelmäßigen Zwischenpausen weiter.
Die Inder standen schnell von dem Versuche ab, diese kleine, improvisierte Festung im Sturm zu nehmen. Bei jedem Schritt fiel einer von ihnen, während ihnen durchaus kein Ziel geboten wurde, denn die Köpfe der beiden verschwanden hinter dem Steinwall vollkommen.
Schnell zogen die Angreifer sich wieder hinter die schützenden Bäume zurück, wahrscheinlich beratend, wie sie sich der beiden Überlebenden bemächtigen könnten, womöglich lebendig.
Es war Jim, sowohl auch Bob bekannt, dass die Inder wohl Außerordentliches an Tapferkeit zu leisten vermochten, wenn ihnen Gewinn oder viele Gefangene in Aussicht standen, dass aber ebenso wenig wegen dieser beiden Engländer jemand ohne weiteres sein Leben aufs Spiel setzen würde. Dagegen war auch nicht daran zu denken, dass sie sie laufen lassen würden. Nein, mit List wollten sie ihrer habhaft werden; Zeit hatten sie ja dazu.
In der Ferne erklangen noch Schüsse, anscheinend fand ein Handgemenge statt, und hatten es die Inder erst zu einem solchen kommen lassen, und sie waren nicht zu sehr in der Überzahl, dann stand ihre Sache schlimm; denn im Nahkampfe, mit Bajonett und Säbel, waren ihnen die Engländer stets überlegen.
»Wir sitzen hier wie die Maus in der Falle«, flüsterte Jim, nach dem Walde spähend, ohne einen Feind erblicken zu können.
»Höre nur dieses gräuliche Fauchen«, fügte Bob hinzu, »es kommt hinten aus der Höhle! Was mag das sein?«
»Etwas Gutes sicherlich nicht. Ich halte es für das Fauchen von jungen Katzen, manchmal miauen sie auch.«
»Junge Katzen?«
»Ja, das heißt junge Panther oder Tiger.«
»Jesus Christus und General Jackson«, schrie Bob plötzlich entsetzt und schmiegte sich an den Rand; denn in diesem Augenblick huschte eine große, grünliche Schlange an ihm vorbei ins Freie.
Der Junge war aber doch nicht so erschrocken, wie er tat, jedenfalls besaß er große Geistesgegenwart. Im Nu hatte er sein Seitengewehr gezogen und der Schlange einen Hieb versetzt, der den Kopf vom Rumpf trennte.
Es dauerte lange, ehe der kopflose Leib zur Ruhe kam, und die Zuckungen und Windungen, das Rollen der Augen im abgehackten Kopf waren ganz schrecklich.
»Um Gottes willen, Bob, wohin sind wir geraten?«, hauchte Jim, der die Farbe verloren hatte. »Hier bleibe ich nicht.«
»Ich glaube, wenn wir hinausklettern, erwartet uns auch kein besonders angenehmes Los«, bemerkte Bob sehr richtig.
»Lieber eine Kugel durch den Kopf, als von Schlangen aufgefressen werden! Hu, ich fühle schon, wie sie mir die Beine heraufkrabbeln.«
»Unsinn, wir haben ja Gamaschen an, und unsere Schnürschuhe schließen gut. Übrigens glaube ja nicht, dass die jetzt nach uns schießen werden. Sie werden uns so sicher lebendig fangen wollen, wie zweimal zwei vier ist.«
»Da hast du recht, so sicher, wie mir jetzt eben eine Schlange am Bein heraufkriecht.«
»Tritt sie doch tot!«
»Und die Pantherkatzen beißen mich schon in die Waden. Au — verflucht, ist das eine höllische Lage!«
»Sei froh, wenn du Waden hast! Tritt das Ungeziefer tot!«
»Du hast gut spotten.«
»Nun, bin ich etwa besser daran als du?«
»Wie kannst du denn aber jetzt spotten?«
»Wird's vom Weinen etwa besser? Mut, Jim, Mut! Wenn wir sterben müssen, dann wollen wir's wenigstens froh und heiter tun. Zum Teufel mit dem Geplärre! Da, du Canaille!«
Bei den letzten Worten hatte der Junge das Gewehr hochgerissen und dahin abgedrückt, wo zwischen den Bäumen eine braune Gestalt sichtbar geworden war. Der nachfolgende Schmerzensschrei verriet, dass der Schuss sein Ziel nicht verfehlt hatte.
»Mach's auch so, Jim! Wenn sie uns hier noch zu fangen gedenken, wollen wir ihnen wenigstens noch etwas Tüchtiges auswischen, solange Zeit dazu ist.«
Jim fühlte sich durch die Courage seines jungen Gefährten ermutigt. Jetzt beobachtete auch er die Inder, und wo sich einer sehen ließ, wurde geschossen, größtenteils mit Erfolg. Dabei war noch immer Zeit, sich zu unterhalten.
Freilich, sie waren in einer verzweifelten Situation, und nur dadurch, dass sie die Sache leicht nahmen, konnten sie sich den Mut erhalten. Vor ihnen die Inder, die sich beredeten, wie sie den beiden zu Leibe rücken konnten, ohne sich selbst dem Tode auszusetzen; unter ihnen die kleinen Tigerkatzen, welche die Eltern erwarteten, womöglich auch noch giftige Schlangen.
Es war wahrlich kein Wunder, wenn sie immer von einem Fuße auf den anderen tanzten, in der Meinung, Schlangen abzuschütteln, die sie schon an den Beinen zu fühlen glaubten.
»Wenn nun der Panther von hinten gekrochen kommt und beißt uns alle vier Beine ab?«, versuchte Jim zu scherzen, während er nach einem Inder zielte, der sich unvorsichtig zeigte.
»Wäre einer hier unten, dann hätten wir seine Zähne schon zu fühlen bekommen.«
»Wenn die Mutter aber nun kommt, um nach ihren Jungen zu sehen?«
»Nun, dann brennen wir ihr einfach eins auf den Pelz — au!«
Bob machte doch ein bestürztes Gesicht, es mochte unter ihm nicht alles mit rechten Dingen zugehen; er trampelte hin und her, ein Miauen erscholl, er bückte sich und brachte eine kleine Pantherkatze am Fell zum Vorschein.
»Verdammt, also doch eine Pantherhöhle!«, rief Jim erschrocken.
»Das hübsche Tier!«, sagte Bob dagegen. »Da, geh wieder hinunter zu deinen Geschwistern!«
Dabei warf er den kleinen Panther wieder in die Höhle.
Doch dieser Galgenhumor schwand nach und nach. Was mochte wohl ihr Los sein? Darüber waren sie sich nicht im unklaren, und sie durften es sich auch nicht länger verhehlen.
Die Absicht der Inder begriffen sie, als sie dieselben Baumstämme fällen sahen. Die Gegner wollten also mit Schutzwehren auf sie zudringen. So waren den beiden die vielen Patronen, die sie noch besaßen, also unnütz.
»Jim«, sagte Bob mit einem schweren Seufzer, »ich halte es für das Beste, wir nehmen schon jetzt Abschied.«
»Ja, unser Schicksal wird bald entschieden sein. Armer Bob, es ist traurig, so jung sterben zu müssen.
»Na, einmal müssen wir schließlich doch daran glauben, und da ist es immer besser, wir sterben jung und kräftig, als im Alter ohne Zähne und von Gicht geplagt.«
»Die Inder werden uns den Tod auch nicht leicht machen.«
»Und wir ihnen nicht unsere Gefangennahme. Erhalten wir einen Hieb oder Stich dabei, desto besser. Ah, sieh da, diese schlauen Schufte!«
Die Inder hatten unterdessen zwei Baumstämme von Mannesdicke gefällt, und plötzlich rollten diese beiden wie durch eigene Kraft auf das Erdloch zu. Den beiden Belagerten war diese List nicht unbekannt. Einige geschmeidige Inder hielten sich hinter den Stämmen genug, so sprangen sie hervor und hatten sich der Feinde bemächtigt, ehe diese Gebrauch von ihren Schusswaffen machen konnten.
»Wollen wir sie herankommen lassen?«, fragte Jim.
»Gott bewahre! Auf fünf Meter Entfernung springen wir vor und schießen noch einmal, oder wenn du keine Zeit mehr dazu hast, schlägst du wenigstens mit dem Kolben noch einem den Schädel ein. Lebe wohl, Jim, und nun will ich dir noch schnell etwas gestehen...«
Der verwunderte Jim bekam das Geständnis nicht mehr zu hören. Die beiden waren doppelt überlistet worden.
Während sie früher auch die Hügelfläche im Auge behalten, hatten sie ihre Aufmerksamkeit jetzt nur noch auf die beiden schnell nebeneinander daherrollenden Baumstämme gerichtet gehabt. So bemerkten sie nicht, wie den Hügel hinab einige Inder geschlichen kamen.
Ihre früheren Versuche waren mit Schüssen zurückgewiesen worden, der diesmalige gelang.
Plötzlich ertönte Geschrei neben Jim und Bob; zwar drehten sie sich blitzschnell um und schlugen die Gewehre an, aber schon waren die braunen Gestalten vor ihnen, und ebenso schnell sprangen die hinter den Stämmen verborgen gewesenen Inder vor und hatten die beiden von hinten gepackt.
Noch zwei stürzten getroffen nieder, dann waren Jim und Bob in der Gewalt der Feinde. Sie wurden aus der Grube gezogen, an Händen und Füßen gebunden, auf die Erde geworfen und erst einmal mit Fausthieben und Fußtritten misshandelt.
Nun war es vorbei mit ihnen. Ach, hätte man ihnen doch den krummen Dolch ins Herz gestoßen, dann hätten sie wenigstens schnell ausgelitten! Aber die Inder verstanden es, ihre Gefangenen auf eine entsetzliche Art zu quälen. Schon die früheren Aufstände können von derartigen Schandtaten erzählen; doch niemals sollte man unterlassen, hinzuzusetzen, dass auch die Beamten der ostindischen Kompanie schreckliche Torturen beim Steuereintreiben anwendeten, wenn sie glaubten, die Steuern würden unterschlagen. Es gab ganze Gegenden, wo die Brüste der Weiber vom Krebs zerfressen waren, weil man die Torturschrauben an sie gesetzt hatte. So vergalten die Inder schließlich nur Gleiches mit Gleichem.
Die Sonne sank mit der in den Tropen eigentümlichen Schnelligkeit, die Inder schwatzten, wiesen auf die Gefangenen und berieten sich anscheinend, was mit diesen nun zu beginnen sei, ob man sich gleich an ihren Qualen weiden, oder ob man sie mitschleppen sollte.
Die Sprache der Eingeborenen konnten die beiden nicht verstehen, es war ein ihnen unbekannter Dialekt.
Zuletzt hatte man sich geeinigt. Jim und Bob wurden an zwei einander gegenüberstehende Palmbäume gebunden. Dann sahen sie, wie einige trockenes Holz sammelten, andere dieses zuspitzten, und es war ihnen kein Zweifel mehr, dass sie gemartert werden sollten. Spitze, glühende Holzstäbchen wurden ihnen ins Fleisch, besonders unter die Nägel gebohrt, bis sie endlich dem Verbrennungstode verfielen.
Zu gleicher Zeit nahmen andere Inder die Pantherhöhle aus, denn das Miauen der Jungen war gehört worden. Einstweilen band man die vier gefundenen Tierchen zusammen und legte sie neben der Höhle hin. Solange so viele Menschen hier versammelt waren, Stimmen laut wurden und die Waffen blitzten, war ein Überfall durch die Pantherin nicht zu fürchten, wenn sie durch den Anblick ihrer geraubten Jungen auch noch so in Wut versetzt wurde.
Da, als man schon Feuer anzündete, kamen neue Inder an; einer von ihnen trat sehr befehlshaberisch auf; lautes und heftiges Geschnatter erfolgte, die neuen deuteten in die Ferne, die, welche die Vorbereitungen zur Tortur trafen, auf die Gefangenen, und schließlich brachen alle in Lachen aus.
Seltsam, was jetzt vorgenommen wurde! Die Gefangenen konnten es sich anfangs nicht erklären.
Die Reisigstöße wurden zur Seite geschoben, dafür legte man die vier Katzen, nachdem man sie nochmals fest mit den Schwänzen zusammengebunden hatte, zwischen die beiden Gefangenen. Dann untersuchte man deren Fesseln, verdoppelte sie, band jeden Arm einzeln fest, und gab ihnen noch einige Fußtritte. Die Inder nahmen die gefundenen Waffen mit und entfernten sich in der größten Eile in der Richtung der Sonne, die eben noch über dem Horizont stand.
Erstaunt sahen sich Jim und Bob an. Neue Hoffnung loderte in ihren Herzen auf. Sie waren allein, die Inder hatten sie verlassen und kehrten nicht wieder.
»Was soll denn das heißen?«, unterbrach Bob zuerst das Schweigen.
»Ich glaube fast, die Inder fürchten, von den Unsrigen verfolgt zu werden und nehmen Reißaus. Sollte der Haupttrupp umgekehrt sein und uns suchen?«
Jim ließ plötzlich wieder den Kopf hängen.
»Ach, Bob, bei deinen Worten sinkt mir gleich wieder der Mut«, sagte er. »Wenn sie wirklich fliehen mussten, so hätten sie uns wohl nicht im Stich gelassen, sondern uns wenigstens vorher getötet.«
»Du hast recht. Aber was soll das?«
Sein Blick fiel auf die Pantherkatzen zu seinen Füßen.
»Mir geht eine Ahnung auf«, fuhr er dann fort, »umsonst haben sie die angebundenen Tiere nicht hierher gelegt.«
»Sicher nicht. Sie sollen durch ihr Schreien die Mutter anlocken.«
»Die uns dann in aller Gemütlichkeit frisst.«
»Oder vielmehr erst ihre Wut an uns auslässt, wenn sie die Jungen von Menschen geschändet sieht. Es ist schrecklich.«
»Aber warum sind die Inder fort?«
»Ich weiß nicht. Der große schien ein Häuptling zu sein und die anderen aufzufordern, mit ihm zu kommen. Es ist besser, wir töten die Tiere, dann können sie nicht mehr schreien. Mein Fuß kann sie erreichen, ich ersticke sie.«
»Tu es nicht, Jim. Die Tierchen haben uns nichts getan, und vielleicht verschont uns die Panthermutter, wenn wir ihre Jungen schonen.«
Jim lachte bitter auf.
»Du hast sonderbare Begriffe von Panthern. Ebenso gut hättest du die Inder um Mitleid anflehen können.«
»Trotzdem, töte die armen Tiere nicht, nimm deinen Fuß zurück. Ich bitte dich darum.«
»So wird uns die Mutter dafür fressen«, sagte Jim dumpf, zog aber doch den Fuß zurück, den er schon auf die Kehle einer der Katzen gesetzt hatte.
»Das tut sie sowieso; 's ist fatal!«
Die infolge der Entfernung der Inder entstandene Hoffnung hatte diese neue Lebenslust erzeugt — sie sank schnell wieder.
Auge in Auge standen sie sich gegenüber, Arme und Hände an die Stämme gefesselt, die etwas über einen Meter voneinander entfernt waren.
Stunde nach Stunde verstrich schweigend, jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Die Sonne war schon längst gesunken, Nacht umgab sie, und die Raubtiere des Waldes begannen ihr Konzert. Die Füchse und Schakale bellten, die Wölfe heulten, die Hyänen lachten heiser, und in noch weiter Ferne erscholl ab und zu das scharfe, fauchende Geheul des Panthers. Die jungen Katzen zu ihren Füßen miauten dann stets lauter und suchten fortzukriechen, da aber jedes eine andere Richtung einschlagen wollte und sie mit den Schwänzen zusammengebunden waren, so kamen sie nicht von der Stelle.
Wie lange würde es noch dauern, und das von dem Lärm und den Schüssen fortgescheuchte Pantherweibchen würde zurückkehren, um nachzusehen, ob seine Jungen verschont geblieben wären? Und was würde die Mutter mit den Gebundenen machen, zu deren Füßen sie die Jungen fand, von Menschenhänden berührt?
Der Mond schien hell und ließ manchmal zwei nebeneinanderstehende Punkte grün aufleuchten — es waren Augen von Raubtieren, welche die beiden Gefangenen gierig betrachteten. Sie gehörten Füchsen, Wölfen und Schakalen an, welche nicht so leicht wagen, die Menschen anzugreifen, denn auch der Wolf braucht in Indien keinen Hunger zu leiden, sodass er sich nicht an dem Herrn der Schöpfung vergreift. Ebenso wenig greift die Hyäne den Menschen an, und alle Erzählungen, welche dies behaupten, sind Fabeln.
Aber das Pantherweibchen war nicht unter den Tieren, denen die grünleuchtenden Augen angehörten; denn dieses hätte die kleinen Katzen nicht ungerächt schreien und wimmern lassen.
Da ertönte, etwas schwächer als vorhin, das Heulen eines Panthers. Vielleicht war es die Mutter der Jungen; sie näherte sich.
Noch blieb Bob standhaft, weniger Jim. Er legte sich so weit wie möglich nach vorn und stöhnte tief auf.
»Woran denkst du, Jim?«, fragte Bob.
»An Nelly, deine Schwester.«
»Und darum stöhnst du so?«
»Ich dachte an sie und versuchte zugleich, die Bande zu sprengen. Tief schnitten dabei die Stricke in das Fleisch ein.«
»Auch ich habe mich bemüht, an den Stricken zu reißen. Sie halten wie Eisen. Lass das nur, Jim!«
»Nein, nein«, rief dieser leidenschaftlich, »ich fühle, dass sich mein rechter Arm lockert. Und mögen die Stricke mein Handgelenk durchschneiden, ich bekomme ihn doch frei.«
Er legte sich wieder nach vorn, riss, ruckte und stöhnte doch manchmal, obgleich er die Lippen fest zusammengepresst hatte, und plötzlich mit einem Jubelruf hielt er Bob frei den rechten, ausgestreckten Arm entgegen, von dem im Mondschein das Blut herablief.
Auch Bob war außer sich vor Freude, er feuerte den Gefährten an, nichts unversucht zu lassen, um auch den anderen Arm freizubekommen.
Jim tat sein möglichstes, er schonte sein eigenes Fleisch und Blut nicht, er schob die Finger der rechten Hand unter die Stricke und riss, er tastete vorsichtig, um den Knoten zu finden und zu lösen, aber es gelang nicht, und das Heulen des Panthers klang immer näher und lauter.
»Es geht nicht«, seufzte Jim, »ich habe auch gleich im Anfange gespürt, dass der rechte Arm lockerer als der linke gefesselt war. Dieser ist mir abgestorben, ich habe keine Kraft mehr darin.«
»So versuchen wir es auf andere Weise!«, ermutigte Bob. »Strecke deinen Arm aus, ob du mich erreichen kannst.«
Jim tat es und konnte mit den Fingerspitzen eben die Brust seines Gefährten berühren.
»Du musst meinen Rock fassen, aufknöpfen oder aufreißen können«, rief Bob energisch.
»Pass auf, ich lege mich vor.«
Er biss die Zähne zusammen und legte sich schwer in die schneidenden Banden, sodass sein Körper zwei Zoll näher an Jim herankam.
»Reiß mir den Rock vorn auf!«
Jim packte den Drillichrock und riss ihn mit einem Ruck von oben bis unten auf. Unter ihm tragen die englischen Soldaten noch Weste und Hemd.
»Nun schiebe die Hand unters Hemd, ich trage auf der nackten Brust ein Messer.«
Jim tat, wie ihm geheißen, aber erschrocken fuhr er zurück und starrte seinen Gefährten an.
»Bob, du — du bist ja ein Mädchen«, stammelte er.
»Und wenn ich ein Mädchen bin, so wundere dich jetzt nicht darüber! Hör den Panther! Nimm das Messer, es hängt an einer Lederschnur.«
Die zitternde Hand tastete wieder unter das Hemd, fasste ein kleines Messer und zog es hervor. Die Lederschnur war lang genug, dass sich Bob wieder aus seiner schmerzenden Stellung zurücklehnen konnte, ohne das Messer dem Genossen aus der Hand zu reißen. Jim hielt das Messer noch immer in der Hand und besah es. Die Perlmutterschale glänzte im Mondschein. Er kannte dieses Messerchen noch sehr gut.
»Das ist das Messer, welches ich Nelly gab«, fauchte er, »und jetzt, jetzt endlich erkenne ich dich. Du selbst bist Nelly.«
»Ja, ich bin Nelly, die dir gefolgt ist.«
»Wie konnte ich dich nicht erkennen?«
»Die abgeschnittenen Haare, die Uniform, wie konntest du überhaupt ahnen — doch, lieber Jim, lass das alles jetzt! Noch sind wir nicht dem Tode entronnen. Das Messer musst du erst von meinem Halse lösen, und ich glaube, das ist noch die schwerste Arbeit.«
Es war auch so. Beide neigten sich so weit wie möglich nach vorn, und Jim versuchte, die Lederschleife über den Kopf Nellys zu streifen, aber so unzählige male er es auch versuchte, es gelang ihm nicht. Die Lederschnur blieb entweder an den Ohren oder am Hinterkopf hängen.
Bob — oder Nelly, wie wir jetzt wenigstens sagen wollen — stöhnte, sie konnte die Stellung nicht mehr aushalten.
»So wird es nichts, lieber Jim«, klagte sie, »versuche die Schnur zu zerreißen.«
»Die Lederschnur? Das geht nicht.«
»Es muss. Rucke, ziehe, reiße tüchtig, schone mich nicht, und wenn mir auch der Kopf dabei abbricht. Wenn du nur das Messer frei bekommst, damit du deine Stricke zerschneiden kannst.«
Jim zog denn auch, ruckte und riss, Nelly forderte ihn auf, sich immer mehr anzustrengen, sie nicht zu schonen, sie biss die Zähne immer fester zusammen, um ihren Nacken musste ein blutiger Streifen entstanden sein, aber es ging nicht.
»Nichts! Ich gebe die Hoffnung auf«, sagte Jim und ließ das Messer mutlos fallen.
»Nun, so wollen wir uns auf den Tod vorbereiten. Hör, wie der Panther jetzt schnell näherkommt«, entgegnete Nelly. »Sage, liebst du mich wirklich Jim?«
»Ach, Nelly, wie kannst du fragen! Ich habe dich gleich von Anfang geliebt, als ich dich gesehen, aber du weißt jetzt selbst, wie wir Soldaten die Mädchen zu behandeln gewohnt sind; ich habe viel und oft an dich gedacht, mich gesehnt, dich wiederzusehen, und jetzt, da ich dich erkannt habe, möchte ich weinen, dass du mir wieder verloren gehst.«
»Weine nicht, Jim! Wenn wir sterben, so sterben wir ja zusammen und werden ja gleich wieder vereint. Du hast mich wirklich nie erkannt?«
»Wenn ich dich sah, so musste ich immer an Nelly denken, aber wie konnte ich ahnen, dass du diese selbst seiest?«
»Ich ließ mich kurz vor der Abreise, verkleidet als Trommeljunge anwerben. Vorher schnitt ich mir die Haare ab und schickte sie dir.«
»So warst du wohl jener Trommeljunge, der neben mir stand, als ich den Brief öffnete?«
»Ja, ich fragte dich noch, ob du ihn von einer Braut bekämst, die du treulos verlassen hättest.«
»Und ich sagte, da wären schon Löcher drin.«
»Weil du ein Mädchen bist, wusstest du auch so bestimmt, dass man dich nicht schlagen würde, als du aus Unmut die Trommel fortwarfst und mit ihr Fußball spieltest.«
»Natürlich! Wenn man mich schlagen wollte, hätte ich mich als Mädchen zu erkennen gegeben, aber dann hätte ich dich nicht mehr begleiten können.«
»So wurdest du nur Trommeljunge, um mich zu begleiten?«
»Einmal das; aber weißt du, lieber Jim, dann wollte ich auch zeigen, dass ein irisches Mädchen ebenso wie ein Mann alle Strapazen in den Kolonien durchmachen kann. Du hattest es damals bezweifelt.«
»Du warst es auch, der dem Hornisten im Turm das Zeichen zum Alarmsignal gab?«
»Ich gab es ihm nicht, sondern ich blies es selbst auf der Hand, als ich die Meuterer anrücken sah. Ach, hätte ich doch jetzt nur eine Hand frei, vielleicht würde mein Signal gehört.«
»Arme Nelly, was hast du alles für mich gelitten!«
»Gar nichts, ich tat es gern. Was hat mir es damals für Freude gemacht, als ich das schändliche, schamlose Weib so prügeln konnte!«
»O, Nelly, erinnere mich nicht in meiner letzten Stunde daran, in der Stunde des Wiedersehens und des Abschiedes! Die Scham würde mir noch im Todeskampf zu Kopf steigen, dächte ich daran, was ich damals getan habe.«
»Du brauchst es dir nicht so zu Herzen zu nehmen, lieber Jim; das Weib hatte es nur darauf abgesehen, dir die geheimen Papiere abzunehmen, und wie ihr Männer seid, wenn ein Weib etwas von euch haben will, na, das wissen wir ganz genau.«
»So zürnst du mir nicht, Nelly?«
»Ganz und gar nicht. Ein scharfes Auge muss man auf euch Männer eben immer haben.«
»Du hast es auch stets auf mich gehabt.«
»Ja, lieber Jim, du warst immer etwas leicht.«
»Du bist mir auf Schritt und Tritt gefolgt.«
»War auch sehr nötig bei dir. Weißt du, eifersüchtig bin ich überhaupt ein bisschen, und das hat dir gar nichts geschadet.«
»Im Gegenteil! Ach, nun weiß ich auch, Nelly, warum du neulich in der Festung nicht mit mir in einem Bett schlafen wolltest.«
»Weißt du es nun endlich? Darum musste ich auch immer so furchtbar lachen. Wenn der wüsste, dachte ich, dass ich ein Mädchen, und dass ich sogar die Nelly bin!«
»Sag mal, Nelly, wie lange wolltest du nun eigentlich den Trommeljungen spielen?«
»Bis wir wieder nach England kamen. Dann wollte ich mich dir und allen anderen zu erkennen geben und sagen: Seht, ihr denkt immer so schlecht von uns Mädchen, aber wir können ebensoviel wie ihr Männer, und wenn es der Königin einmal an Soldaten fehlt, dann lasst mich als Werbetambour durch die Straßen ziehen, und aus allen Teilen Großbritanniens werden die Mädchen zusammenströmen und mir folgen. Na, nun ist's zwar schon verraten, wer ich bin, aber du darfst es niemandem sagen, Jim, ich bleibe nach wie vor Bob, der Trommeljunge, und wir bleiben Kameraden wie vorher.«
»Gott bewahre, ich verrate nichts, und ich werde auch nie Nelly zu dir sagen...«
Die beiden hatten ganz vergessen, in welch furchtbarer Lage sie sich befanden. Da erscholl dicht neben ihnen ein donnerndes Geheul, sie sahen einen mächtigen Panther, lang ausgestreckt, zum Sprunge bereit, auf sich zuschleichen, und sie kamen wieder zum Bewusstsein ihrer Lage.
»Gott sei uns gnädig, Nelly!«, stammelte Jim.
»Lebe wohl, mein lieber, lieber Jim!«
Kehren wir zurück zu der Katastrophe von Delhi! Die Folgen der Brückensprengung, welche unter Wasser vorgenommen sein musste und eine bedeutende technische Fertigkeit voraussetzte, waren furchtbar.
Alles, was sich in nächster Umgebung befunden hatte, war vollkommen vernichtet, die Zeltstangen gebrochen, Menschen und Pferde von den umhergeschleuderten Steinen zerschmettert oder doch verwundet. Der Luftdruck war so stark gewesen, dass auch die weit entfernten Personen zu Boden geworfen wurden, darunter die Begleiter Lord Cannings.
Dieser war der einzige, der seinen Platz im Sattel behalten hatte, und kaum war diese erste Bestürzung vorüber, so dachte er schon wieder an das Todesurteil und an die Hinrichtung Reihenfels'.
Ohne sich um etwas anderes zu kümmern, sprengte er dahin, wo die Exekution vorgenommen worden war, und nach und nach gesellten sich ihm auch seine Begleiter bei.
Sein Auge erblickte sofort die sechs Soldaten, welche auf Reihenfels geschossen hatten. Sie lagen unter Steinen, zerquetscht und zermalmt, keiner mehr am Leben. Selbst ihre Gewehre waren von Steinen breitgedrückt worden. Ferner sah er den Leutnant, ebenfalls tot, aber wo war Captain Barber, den Canning vorhin mit dem Degen in der Hand das verhängnisvolle Kommando hatte geben sehen? Lord Canning sprang ab, ebenso die Übrigen; sie wollten das Terrain absuchen.
»Ich will das Todesurteil haben, das von mir unterzeichnet worden sein soll«, rief Canning, immer noch außer sich.
Da richtete sich hinter einem Felsblock eine blutige Gestalt auf, der Waffenrock zerfetzt, das Haar wirr um den Kopf hängend. Es war der Gesuchte.
»Lord Canning«, rief Captain Barber mit schwacher Stimme, »hierher, zu mir! Schnell, ich werde es nicht mehr lange machen.«
Mit gleichen Füßen sprang der Gerufene über die ihm im Wege liegenden Steine und eilte auf Barber zu, der ihm auch noch heftig mit der Hand winkte. Hier lag ein Geheimnis vor, dieser Mann wollte ihm ein Geständnis machen.
Noch ehe Canning ihn erreicht hatte, fiel hinter ihm ein Schuss, und gleichzeitig brach Barber wieder zusammen.
Canning glaubte, die Kraft habe den Verwundeten nur verlassen, wie er den Schuss und das Zusammenbrechen überhaupt noch nicht in Zusammenhang brachte. Als er sich aber über den unbeweglich Daliegenden beugte, fand er einen Toten. Ein Bein war ihm abgequetscht, eine Hand vollkommen abgerissen, und der Boden war mit Blut überschwemmt.
»Auch hier zu spät!«, stöhnte Lord Canning. »Er hat sich bereits verblutet.«
»Nein, Mylord«, rief der eben hinzugekommene Colonel Harquis, »haben Sie den Schuss nicht eben gehört? Er ist im letzten Augenblick von unsichtbarer Hand erschossen worden.«
Ungläubig blickte Canning den Sprecher an.
»Sehen Sie doch dieses Loch im Waffenrock! Die Kugel ist ihm gerade ins Herz gegangen.«
Canning riss dem Toten Rock und Hemd auf. Wirklich, aus der Herzgegend drang ein Blutquell; Rock und Hemd zeigten ein kleines Loch. Doch Lord Canning war damit noch nicht zufrieden, er scheute sich nicht, den Wundarzt zu spielen, und nach einigem Suchen brachte er aus dem Fleische eine kleine Kugel zum Vorschein.
»Eine Revolverkugel!«, rief er in namenlosem Erstaunen. »Wer hat sie abgefeuert?«
Er blickte sich um, er sah in die Gesichter der unterdes herbeigekommenen Offiziere, die ihn umringten, begegnete aber überall nur ernsten oder staunenden Mienen.
»Meine Herren, wer hat diese Kugel abgefeuert?«
Niemand meldete sich.
»Der Schuss fiel hinter mir«, versetzte Harquis, »ich blickte mich um, sah aber niemanden.«
»Mir ging es ebenso«, sagte ein zweiter.
»Mir auch«, ein dritter.
Canning erklomm einen Trümmerhaufen und blickte sich um. Nichts war zu sehen als Leichen, jammernde Verwundete und sonst angerichtetes Unheil.
»Captain Barber ist stumm gemacht worden, als er mir ein Geheimnis gestehen wollte«, sagte er, als er die Trümmer herabstieg, und sein Antlitz sah furchtbar ernst aus. »Wer mag es getan haben? Dieser könnte wohl alles erklären.«
»Er hätte wohl auch etwas über die Brückensprengung aussagen können«, meinte einer. Canning zuckte die Schultern und begann mit eigner Hand die Taschen des toten Captains zu untersuchen. Er fand Briefe von persönlichem, unschuldigem Inhalt, dienstliche Befehle, sonstige Schriftsachen, aber nicht das gesuchte Todesurteil. Und wo hätte dieses anders sein können als bei dem Toten?
»Haben Sie das Schriftstück wirklich gesehen?«, wandte der Generalgouverneur sich an Mac Sulivan.
»Exzellenz, ich versichere bei meiner Ehre, dass ich das Todesurteil des Mister Reihenfels in dieser meiner Hand gehabt habe. Als ich es Barber zurückgab, steckte er es in seine Brusttasche.«
»Es ist nicht mehr darin.«
»Das ist mir unbegreiflich, Exzellenz!«
»Colonel Harquis, begeben Sie sich nach dem Zelte Captain Barbers, wenn dieses noch stehen sollte, und halten Sie jeden fern. Die übrigen Herren bitte ich, mir beim Durchsuchen der Toten, welche bei der Exekution tätig waren, behilflich zu sein. Es ist dies nötig, um jeden Unberufenen fernzuhalten.«
Das Todesurteil wurde nicht gefunden. Mit verstörtem Gesicht richtete sich Lord Canning auf, wischte sich die blutigen Hände an einer Uniform ab und strich sich die Haare aus der Stirn.
»Meine Herren«, sagte er dumpf, »Mister Reihenfels ist erschossen worden, haben Sie auch das gesehen?«
Die Offiziere bejahten einstimmig.
»Und zwar auf ein von mir geschriebenes Todesurteil hin. Dieses Urteil kann nicht gefunden werden. Was haben Sie dazu zu sagen?«
»Rätselhaft! Seltsam!«, klang es durcheinander.
»Und in dem Augenblick, da mir der noch lebende Barber etwas sagen will, trifft eine Kugel ihn ins Herz. Das ist mehr als rätselhaft, dahinter steckt eine Schurkerei. Aber was hat man mit mir vor?«
Es lag in den Augen Lord Cannings etwas wie Irrsinn, als er sich scheu im Kreise der Offiziere umsah.
»Mylord«, sagte Wilson mit tiefer Stimme, »ich bitte Sie, regen Sie sich nicht zu sehr auf! Keiner von uns zweifelt auch nur im Geringsten daran, dass Sie von dem Todesurteil gar nichts wissen. Lassen Sie...«
»Wirklich nicht? Zweifelt wirklich niemand daran, dass ich das Urteil von Mister Reihenfels nicht unterschrieben habe?«, unterbrach Canning ihn mit bitterer, verletzender Ironie. »Das finde ich hübsch von den Herren!«
General Wilson nahm es ihm nicht übel.
»Lassen Sie uns nach dem Hauptlager zurückreiten und die Ordonnanz vernehmen, welche von Ihnen das Urteil empfangen haben will«, fuhr er ruhig fort.
»Ja, das wollen wir; irgendwo muss doch Klarheit werden. Halt, meine Herren!«
Er blieb noch einmal stehen.
»Was sagen Sie nun, wenn diese Ordonnanz behauptet, ich hätte es doch getan, und bereit wäre, seine Aussage zu beschwören? Nach allem Vorangegangenen halte ich nämlich nichts mehr für unmöglich.«
»Dann binde ich den Kerl an den Schwanz meines Pferdes und reite eine Stunde spazieren«, entgegnete Wilson.
Die Offiziere ritten zurück, begaben sich ins Beratungszelt und schickten nach der Ordonnanz, welche am Morgen mit dem unterschriebenen Todesurteil bei Barber eingetroffen war.
Während die Herren warteten, ging Canning ungeduldig im Zelte auf und ab.
»Teufel«, schrie er endlich wild auf, als eine halbe Stunde vergangen war, »schmiedet man denn einstweilen neue Pläne? Wird die Ordonnanz schnell noch instruiert? Wo steckt der Kerl?«
»Der Mann ist noch nicht aufgefunden worden«, meldete ein Offizier.
»Alarmiert das ganze Lager, ich will ihn sehen, tot oder lebendig.«
Das letzte Wort war noch nicht gesprochen, als ein anderer Offizier ins Zelt trat.
»Exzellenz«, meldete er, »der Gefreite Mark Harrison ist gefunden worden. Er wird unter Führung eines Leutnants und Mannschaft hierher gebracht.«
»Gefunden worden? Was soll das heißen? Hat er sich versteckt gehabt? Aber wie sehen Sie denn aus? Schnell, sprechen Sie, was ist geschehen?«, Der meldende Offizier sah erschüttert aus.
»Mark Harrison, Gefreiter in meiner Kompagnie, Stabsordonnanz, ist allein in seinem Zelt gefunden worden«, dem Offizier begann die Stimme zu versagen, »mit durchschnittenem Hals — Selbstmord!«
»Was?«, schrie es von allen Seiten. Da wurde eine Bahre herbeigetragen, ein Offizier begleitete sie. Auf ihr lag ein junger Engländer mit frischem Gesicht, aber durch Todeskampf entstellt. Bahre und Uniform waren mit Blut bedeckt, das noch jetzt aus dem durchschnittenen Halse quoll. Alles war so gelassen worden, wie man den Toten gefunden, nur dass man ihn auf die Bahre gehoben hatte. Die rechte Faust umklammerte noch krampfhaft ein geöffnetes Rasiermesser, aus der linken Faust sah ein Papier hervor.
Lord Canning stand unbeweglich da, seine Augen waren stier auf den Toten gerichtet.
»Woraus schließen Sie auf Selbstmord?«, fragte er mit heiserer Stimme.
»Exzellenz, ich weiß nicht — wie kann es anders sein?«
»Ah, richtig, Sie haben recht. Wie kann es anders sein? Natürlich, der Mann muss sich selbst den Hals durchschnitten haben — wahrscheinlich aus Lebensüberdruss. Man öffne ihm die Hand.«
Es war nicht schwer, dies zu tun. Lord Canning nahm das mit Bleistift beschriebene Papier und las es. Keine Muskel zuckte in seinem Gesicht.
»Ja, es ist wirklich ein Selbstmord; begangen aus beleidigtem Ehrgefühl. Hören Sie, was der Mann schreibt:
Ich mache meinem Leben freiwillig ein Ende, weil ich merke, dass mir Schlingen gestellt werden, durch welche meine Ehre gebrandmarkt wird. Ich habe das Todesurteil für Reihenfels zu Captain Barber gebracht auf Befehl Lord Cannings hin, ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen, dass ich gesehen habe, wie Lord Canning das Urteil mit eigener Hand unterzeichnet hat. Nun streitet er es ab, wie ich gehört habe, er will nichts davon wissen, und so steht zu erwarten, dass meine Aussage nichts gelten wird, wenngleich sie auch auf Wahrheit beruht. Was ist meine Aussage gegen die des Generalgouverneurs? Was gilt es ihm, einen ehrlichen Mann als Schurken und Meineidigen hinzustellen? Ich werde als von den Feinden Lord Cannings erkauft bezeichnet, meine Schuld ist so gut wie erwiesen. Deshalb greife ich zum Selbstmord, nachdem ich zuvor nochmals bei allem, was mir heilig ist, schwöre, dass ich Lord Canning das Urteil mit eigener Hand habe unterzeichnen sehen, Dorf Makobo, nachts zwei Uhr. »Reiten Sie direkt zu Captain Barber, lassen Sie sich von niemandem aufhalten, er soll das Urteil sofort, hören Sie, sofort vollziehen!« Das waren seine letzten Worte. Ich sterbe unschuldig, und wenn jemand mir glaubt und Mitleid mit mir hat, so bitte ich, dieses meinen Eltern in Bradford zuzuwenden, dasselbe bitte ich Lord Canning, und weil ich weiß, dass er im Innersten seines Herzens sein Unrecht doch eingestehen muss und es zu sühnen suchen wird, wenigstens an meinen Eltern, deshalb verzeihe ich ihm — Mark Harrison.
»Nun ist es ja erwiesen, dass ich das Urteil doch unterschrieben habe und dass ich nur nichts davon wissen will«, sagte Lord Canning anscheinend gleichgültig und gab das Papier an General Wilson. »Oder zweifelt jemand noch an dieser Aussage, welche der Mann mit seinem Tode bekräftigt hat? So kurz vor dem Ende pflegt man nicht zu lügen.«
Alles stand wie erstarrt da, bald auf die Leiche, bald auf Lord Canning blickend. Wilson war der erste, der die Sprache wiederfand.
»Mylord, was tun Sie?«, rief er außer sich. »Sie klagen sich ja selbst an.«
»Durchaus nicht, nur treten von allen Seiten Ankläger gegen mich auf, ebenso wie vorher gegen Mister Reihenfels. Hahaha, es ist köstlich, erst Sir Carter, dann Reihenfels, dann Lord Canning, Generalgouverneur von Indien. Ah, ich durchschaue ihre Absicht sehr wohl.«
»Ich bitte Sie, Mylord, fassen Sie sich! Und wenn Sie die Pläne durchschauen, so teilen Sie es uns mit. Es fällt uns ja gar nicht ein, gegen Sie Verdacht zu hegen.«
Plötzlich richtete sich Lord Canning auf und blickte sich majestätisch im Kreise um.
»Allerdings müssen Sie Verdacht gegen mich hegen, meine Herren, Sie müssen, sage ich, denn ich werde angeklagt. Als Generalgouverneur bin ich der höchste Richter in Indien, und ich werde ein ebenso vorurteilsfreier und unerbittlicher Richter gegen mich selbst sein wie gegen jeden anderen. Glauben Sie deshalb ja nicht, dass ich nun zerknirscht mein Amt niederlege und nach England hinüberschreie, wie unrecht mir geschehen ist und dass ich die Königin frage, ob sie mich einer solchen Tat für fähig hält. Solange sie mich nicht abberuft, werde ich als ihr Vertreter in Indien stehen und unnachsichtlich nach meinem Urteil handeln — auch gegen mich. Leutnant, was für einen Leumund geben Sie dieser Ordonnanz?«
»Mark Harrison war in jeder Hinsicht ein tüchtiger Soldat und Mensch, brav und ehrlich, und nie hätte ich ihm zugetraut, dass er einen Selbstmord begehen könnte.«
»Sie sehen, meine Herren, dieser Mann, der vor uns als Leiche liegt, besaß einen ehrenwerten Charakter«, sagte Canning, »wie dürfen wir also wagen, das zu bezweifeln, was er kurz vor seinem Tode geschrieben? Warum glauben Sie nicht, Leutnant, dass er hätte einen Selbstmord begehen können?«
»Ich weiß wohl, Exzellenz«, entgegnete der Offizier offen, »dass es auch ehrenwerte Menschen gibt, welche den Selbstmord gutheißen, und vielleicht nicht mit Unrecht. Ich will nicht darüber streiten. Ich bin ein Soldat, kein besserer als Mark Harrison, doch ich würde mich nie töten, wenn ich meine Ehre unverschuldet in Gefahr sähe. Ja, sie kann beschmutzt werden, ich will mich verachtet sehen, aber zum Selbstmord würde ich nicht greifen, wenn ich mich unschuldig weiß.«
»Was würden Sie tun?«
»Ich würde so lange meine Unschuld beteuern, wie ich noch ein Wort sprechen könnte, und meine Strafe würde ich fortwährend als ungerecht bezeichnen. Ich würde nicht den Kopf senken, sondern ihn noch stolzer als sonst tragen, denn auch im Erleiden von Unrecht kann man Grund zum Stolz finden. O, Exzellenz, glauben Sie nicht, dass sich ein Soldat Ihrer Majestät wegen eines erlittenen Unrechts töten würde!«
»Was würde Mark Harrison tun?«
»Er war ein braver Soldat, ich kenne ihn seit langer Zeit. Er hat keine andere Ansicht als ich.«
»Aber da liegt er ja als Leiche vor uns, hat sich selbst gemordet, weil er Unannehmlichkeiten entgegensah, die er nicht zu bestehen glaubte, oder vor denen er sich fürchtete.«
Im Augenblick hatte der Leutnant nicht daran gedacht, dass er sich widersprochen hatte.
»Exzellenz, das verstehe ich nicht. Harrison soll sich wirklich aus einem so erbärmlichen Grunde getötet haben? Und er gesteht es auch noch offen ein? Das begreife ich nicht.«
»Aber ich begreife es«, rief Lord Canning mit blitzenden Augen. »Die Intrige gegen mich ist sehr fein eingefädelt, warum und von wem, mag Gott wissen. Der Anstifter ist entweder ein weißer Schurke oder einer meiner indischen Feinde, und beiden verzeihe ich, denn durch ihre Kurzsichtigkeit geben sie mir schon den Schlüssel zum Rätsel. Dieser Leutnant hat recht, kein braver Soldat würde sich töten, wenn er seine Ehre bedroht sieht und sich seiner Unschuld bewusst ist. Nein, nur ein Schurke kann so handeln oder, meine Herren, nur ein Inder, dessen Denkungsart durch seine Religion eine ganz andere ist als die unsrige. Der Inder geht Unannehmlichkeiten lieber durch den Tod aus dem Wege, als dass er sie erträgt. Also, meine Herren, sage ich: Dieser Gefreite ist ermordet worden, dann erst hat man ihm in die rechte Hand das Rasiermesser, in die andere den beschriebenen Zettel gedrückt.«
Laute Beistimmungsrufe wurden hörbar; das, was Canning sagte, war von allen schon geahnt worden. Die Schrift war wie noch viele andere gefälscht. An ein Untersuchen des Zeltes, in welchem der Mord stattgefunden, wollte man nicht erst gehen, denn es waren unterdessen so viel Menschen darin gewesen, dass eine etwaige Spur schon vernichtet worden sein musste.
»Was aber hat das alles zu bedeuten, Mylord?«, fragte Wilson. »Gegen Sie wird ein Komplott geschmiedet, man hat es darauf abgesehen, Sie bestimmt als den zu bezeichnen, welcher das Todesurteil unterschrieben hat.«
»Mag das Gott im Himmel wissen, ich weiß es nicht. Aber wir werden es wohl noch erfahren, umsonst werden solche großartige Vorbereitungen nicht getroffen.«
»Und alles dies dreht sich um die Person von Reihenfels«, fuhr Wilson kopfschüttelnd fort, »ist es doch gerade, als messe man ihm eine große Bedeutung bei. Hat er denn eine solche?«
»Dass ich nicht wüsste. Nein, er ist nur das Mittel, mich zu verdächtigen. Und doch nicht, Sie haben recht. Die Feinde müssen doch ganz genau wissen, dass das Unsinn ist. Nein, Reihenfels ist es, um den sich alles dreht. Aber warum? Nun, hören wir die anderen Ankläger an! Wer will noch gegen Reihenfels auftreten?«
»Der Überläufer, welcher den Zettel von Dollamore gebracht hat oder vielmehr gebracht haben will. Er sagt ebenfalls, er hätte Reihenfels in Delhi gesehen.«
»Leicht möglich, denn ich habe ihn selbst dorthin geschickt. Noch einer?«
»Der Jude Sedrack. Er sagt, er könne, wenn man ihn bezahle, die schlagendsten Beweise von Reihenfels Schuld bringen, und noch vieles mehr.«
»Natürlich, wenn man ihn bezahle.«
»Das vergisst er nie hinzuzusetzen.«
»Ich werde ihn anhören.«
In das Beratungszelt ward Sedrack geführt. Lord Canning trat etwas zurück, um ihn erst zu beobachten, ehe er von ihm gesehen wurde.
Der Jude trug wie immer sein ehrwürdiges und doch listiges Gesicht zur Schau, das Lächeln sollte ihm einen gemütlichen, wohlwollenden Ausdruck geben, die stechenden Augen wanderten fortwährend von einem der Herren zum anderen.
»Der Gott Israels und Jakobs ist mir gnädig, das er mich führt unter ein Dach, wo versammelt sind so viele schöne Leit, gekleidet in Gold und Silber, zu hören den armen Sedrack«, begann er mit schnarrender Stimme, sich eines Kauderwelsches aus Indisch und Englisch bedienend.
»Bist du der Jude, welcher Zeugnis über Mister Reihenfels ablegen will?«, fragte Canning und trat plötzlich vor.
Seltsam, wie sich der Jude benahm! Bei Anblick Cannings erweiterten sich seine Augen um das Doppelte, den Mund halb geöffnet, so starrte er den Frager an.
»Nun, willst du mir antworten?«
Der liebe Leser wird sich noch aller früheren Ereignisse entsinnen können. Sedrack sah hier den Mann zum ersten Male wieder, der einst seine Tochter gerettet hatte. Canning dagegen kannte ihn. Andererseits hielt ja Sedrack Lord Westerly für den Generalgouverneur.
Der Jude verstand sich zu beherrschen, er raffte sich zusammen.
»Ja, ich bin der Jude Sedrack, welcher ist gekommen hierher, um Handel zu treiben mit den Sepoys und zu verkaufen ihnen, was sie haben nötig. Habe ich nun gehört, dass Mister Reihenfels soll sein ein Spion, wogegen andere sagen wieder, er sei kein Spion. Werde ich doch sagen können, ob er ein Spion ist oder nicht, wo ich ihn doch habe gesehen in Delhi und habe gehört, wie er hat gehandelt mit der Begum und den Radschas, um ihnen abzukaufen seine Schwester, die Franziska, welche ist die Braut von Lord Canning, dem großmächtigen Generalgouverneur von Indien.«
Todesstille herrschte im Zelt. Die Augen Cannings ruhten durchbohrend auf dem Juden, doch dieser hielt den Blick aus.
»Jude, kennst du mich?«
»Soll ich dich nicht kennen? Bist du doch ein edler Mann, ein guter Mann, welcher hat gerettet mein Tochterleben aus dem reißenden Strome, wo es wimmelt von Salamandern.«
»Kennst du meinen Namen?«
»Wie heißt Namen? Der Name ist Schaum, welcher schwimmt oben und hat nichts Wert. Gott wird dich nennen nach deinen Taten und nicht nach dem Namen.«
»Was du bis jetzt gesagt hast, lässt noch gar nicht erkennen, dass Reihenfels als Spion in Delhi gewesen ist.«
»Hat er doch auch nicht gesagt, dass er als Spion dort war, wollte er doch nur unterhandeln im geheimen mit den Indern im Auftrage Lord Cannings.«
»Lord Cannings?«, fragte Canning langsam. »Woher weißt du das, Jude?«
»Weil ich habe es gehört. Der Sedrack ist schlau und wird herangezogen, wenn es gilt, abzuschließen einen Handel.«
»Was für ein Handel ist abgeschlossen worden?«
»Nu, wegen der Franziska. Es ging alles glatt vonstatten. Reihenfels zahlte und hat unterschrieben, wie war ausgemacht worden vorher, und ist gegangen zurück. Viel spioniert haben mag er nicht.«
Canning griff sich an die Stirn, es wurde ihm immer unklarer im Kopf. Plötzlich sah er fast wie erschrocken auf.
»Weißt du, dass Reihenfels erschossen worden ist?«
Der Jude prallte zurück.
»Nein.«
»Was soll Reihenfels gewesen sein?«
»Ein Spion, welcher gekommen ist nach Delhi auf eigene Rechnung und im Einverständnis mit Lord Canning.«
»Reihenfels ist als indischer Spion erschossen worden.«
Sedrack riss die Augen auf und brach dann, zum Staunen aller, in ein herzliches Lachen aus.
»Gott, was wollt Ihr aufbinden dem alten Sedrack?«, lachte er. »Habe ich doch gesehen, wie Reihenfels hat gegeben dem Radscha Soundso einen ganzen Stoß Papiere, und mir hat gegeben Lord Canning einen Wechsel von 10 000 Pfund Sterling, dass ich soll bringen lassen die Franziska nach der Burg Tokirha, was wird kosten natürlich viel Geld. Wird aber alles besorgt. Das Mädchen ist schon unterwegs und kann eintreffen morgen oder übermorgen in Tokirha, welche Burg liegt in der Nähe von Berar. Was soll da sein Reihenfels ein indischer Spion, wenn er macht Geschäfte in Delhi für seinen Herrn?«
Wieder trat Todesstille in dem Zelt ein. Es war, als ob Canning mit sich ringen müsste, um seine Ruhe zu behalten. Es gelang ihm.
»Du besitzt von Lord Canning einen Wechsel?«
»Ja, lautend auf 10 000 Pfund, fällig am ersten Januar 1858. Er ist gut, der Wechsel von Lord Canning.«
»Hast du ihn hier?«
»Werde ich tragen so viel Geld bei mir!«
»Ich möchte ihn gern sehen.«
»Werde ich ihn dir zeigen.«
»Wessen Unterschrift trägt er?«
»Wessen? Natürlich die von Lord Canning.«
»Er selbst gab ihn dir?«
»Gewiss!«
»Und was gab Reihenfels dem Radscha, mit dem er unterhandelte.«
»Einen Stoß Papiere.«
»Was für Papiere waren es?«
»Wie soll wissen ein armer Handelsjüd das?«
»Also du glaubtest, Reihenfels sei als englischer Spion, der keine Erlaubnis zum Spionieren hatte, hier festgenommen worden?«
»So glaubte ich, und ich wollte es beweisen, denn Lord Canning hat an mir gehandelt unehrlich. Er wollte überlassen die Befreiung Franziskas mir allein, hat mir aber nicht getraut und hat geschickt den Reihenfels nach Delhi, zu spionieren, ob seine Braut ist auch wirklich darin.«
»Ah, die Sache nimmt eine ganz andere Wendung! Nun aber sage ich dir, Jude, dass Lord Canning Reihenfels hat festnehmen und erschießen lassen, als er aus Delhi hierher zurückkam.«
»Tat er das wirklich?«
»Reihenfels ist bereits tot, erschossen auf Befehl Lord Cannings.«
Der Jude blinzelte mit den Augen und machte ein überaus dummschlaues Gesicht, wie solche Leute, welche ihre Dummheit dadurch verstecken wollen, dass sie eine kluge Miene aufsetzen.
»Gott der Gerechte, was ist dieser Lord für ein schlauer Mann. Wie heißt, hat er gemacht ein unsauberes Geschäft und will nun haben keinen Menschen, der — hm, hm.«
Sedrack hustete, und er hätte auch nicht weiter sprechen können, denn ein Sturm der Entrüstung unterbrach ihn.
Eine gebieterische Handbewegung Cannings brachte die Offiziere wieder zur Ruhe.
»Sprich dich aus, Jude! Was wolltest du sagen?«
Doch Sedrack schüttelte den Kopf und machte die abwehrende Handbewegung, wie sie Leuten seiner Rasse eigentümlich ist.
»Sprich, Jude!«
»Wie heißt, werde ich mir doch nicht verbrennen den Mund.«
»Sprich, Jude, was wolltest du sagen?«, donnerte ihn Canning jetzt an. »Ich habe die Tortur in Indien zwar abgeschafft, aber deinetwegen würde ich die Marterwerkzeuge noch einmal hervorholen lassen.«
Sedrack tat, als erschrecke er furchtbar, er knickte förmlich zusammen und verstand sogar zu zittern.
»Es darf nicht mehr gemartert werden«, stotterte er.
»Bei Juden gibt's Ausnahmen. Was hätte Lord Canning gemacht?«
»Ein unsauberes Geschäft sagte ich, aber...«
»Nicht aber. Was für eins?«
»Es war edel von ihm, er wollte seine Braut retten.«
»Vorhin sagtest du kaufen.«
»Hat er auch. Er gab mir einen Wechsel über 10 000 Pfund.«
»Ja, für dich. Aber er traute dir nicht und trat auch direkt mit den indischen Anführern in Unterhandlungen.«
»Gott, was hast du für einen scharfen Verstand!«
»Bleib bei der Sache. Du meinst, Lord Canning hat den Anführern seine Braut abgekauft?«
»So ist es«, gab Sedrack kleinlaut zu.
»Die indischen Radschas sind reich.«
»Ja, Geld hätten sie wohl nicht genommen.«
»Ah, jetzt kommt's. Was sonst?«
»Was weiß ich?«
»Deine Meinung, Jude, deine Meinung! Denk an die Folter.«
»Nun, was wird er haben gegeben den Indern?«, lispelte Sedrack, während die Offiziere atemlos lauschten. Etwas, was ihnen wird bringen Nutzen. Vielleicht so einige Plänchen, Kärtchen und ähnliches, damit sie wissen, was sie nicht wissen dürfen, und möchten es doch so gern wissen. Doch was weiß ich, bin ich doch ein ehrlicher Jüd und sehe nur zu, wie ich kann machen mein Leben und sorgen für meine alten Tage.«
»Hund von einem Juden!«, brauste Wilson auf.
Lord Canning brachte ihn abermals zur Ruhe.
»Also Lord Canning hätte den Indern Kriegsgeheimnisse verraten?«
»Wenn ich nicht spreche aus meine Meinung, werde ich gefoltert. Ja, ich denke so.«
»Und als Zwischenhändler hätte er sich dieses Reihenfels bedient?«
»Sicher.«
»Und um keinen Mitwisser seines Verrates zu haben, ließ er diesen töten?«
»Gott, sieh mich nicht an so schrecklich. Meine Väter haben getan ähnliches und waren doch Gott angenehm.«
»Kannst du uns irgendeinen Beweis bringen, dass du deine Behauptungen nicht aus der Luft gegriffen hast?«
»Wenn mir die Herren schenken wollen einige Minuten Gehör, werde ich es können beweisen. Ich habe versprochen Lord Canning, zu bringen seine Braut nach der Burg Tokirha, wofür er mir hat gegeben einen Wechsel über 10 000, Pfund. Ich hätte gern gehabt mehr, aber der Lord hat direkt verhandelt mit den Radschas, welche haben seine Braut als Gefangene und wollen sie nicht geben frei, eben weil sie ist die Braut des Generalgouverneurs...«
»Das heißt mit anderen Worten«, unterbrach Canning ihn, »du hättest dein Versprechen nicht halten können, du wusstest es, und hättest den Gouverneur also betrogen.«
»Wie heißt betrogen? Ich hätte gefordert noch mehr und hätte versucht mein möglichstes, bis es mir wäre gelungen.«
»Du hättest ihn also bis zum letzten Blutstropfen ausgesaugt. Weiter!«
»Dass Lord Canning hat gegeben den Indern etwas sehr Wertvolles, kann man sehen daraus, dass die Inder mir haben ausgeliefert die Braut, damit ich sie bringe oder bringen lasse nach Tokirha.«
»Und du hättest das getan?«, fragte Canning ungläubig. Der Jude verneigte sich.
»Herr, ich bleibe dir zum Pfand, und ich selbst will meinen Kopf dir zu Füßen legen, wenn übermorgen Franziska nicht ist in der Burg Tokirha. Reise hin und überzeuge dich!«
Canning fuhr auf, er konnte es nicht fassen.
»Sprichst du die Wahrheit?«
»Herr, ich bleibe hier als Pfand. Geh und überzeuge dich. Schon sind meine Leute unterwegs, Franziska zu bringen nach Tokirha, und Bahadurs Krieger werden schützen ihren Weg.«
»Also das wäre der Lohn für Lord Cannings Verrat!«
Sedrack zuckte wie bedauernd die Achseln.
»Ich kann nicht sagen etwas anderes, als was wahr ist.«
Canning sah sich im Kreise der Offiziere um, er begegnete teils erstaunten, teils unwilligen Gesichtern, einige waren auch dabei, welche offenbar Misstrauen zeigten.
»Colonel Harquis«, sagte Canning mit tiefer Stimme, »lassen Sie eine Schwadron Dragoner aufsitzen, Sie reiten nach Burg Tokirha. Wenn Sie marschfähig sind, melden Sie sich bei mir. Ich gebe Ihnen Befehle und Vollmacht mit.«
Der Colonel salutierte und verließ schweigend das Zelt.
»Nun noch eins, Sedrack«, wandte sich Canning wieder an den Juden, »ich will nicht weiter fragen, denn ich weiß, dass du für Geld lügst. Eins aber will ich noch erfahren. Für wen hältst du mich?«
»Für einen edlen Mann, der hat viel Macht und welcher wohl gleich kommt nach dem Generalgouverneur.«
»Ich bin Lord John Canning, Generalgouverneur von Indien.«
Diese Worte waren ganz ruhig gesprochen und hatten keine andere Wirkung, als dass Sedrack ungläubig lächelte.
»Du scheinst mir nicht zu glauben. Meinst du, ich würde mir in Anwesenheit dieser hohen Offiziere einen falschen Namen und einen Rang beilegen, der mir nicht gebührt? Ich, der ich deine Tochter aus dem Ganges gerettet habe, ich bin Lord John Canning, Generalgouverneur von Indien, Franziska Reihenfels ist meine Braut, und sieh, verdammter Jude«, Cannings Stimme wurde drohend, »so schlau deine Pläne auch eingefädelt sind, sie werden doch zuschanden, weil du selbst von vornherein betrogen worden bist, indem du einen anderen für Lord Canning gehalten hast. Nun?«
Das war es, was Canning bis zuletzt aufbewahrt hatte; das war es womit er das ganze Lügengewebe plötzlich aufdeckte.
Er hatte sich nicht verrechnet.
Sedrack glich einem Menschen, der ein Gespenst erblickte. Er sah sich um, überall die finsteren, grimmigen Gesichter der Offiziere, welche die Wahrheit des Gesagten bestätigten, und alles, alles, was er mühsam aufgebaut hatte, sah er plötzlich unaufhaltbar zusammenbrechen.
Er war in die Knie gesunken und starrte Lord Canning wie ein Gespenst an, Mund und Augen weit aufgerissen.
Der Gouverneur hatte seine Fassung wiedergewonnen.
»Ich will dich jetzt nicht weiter verhören, denn du bist momentan deines Verstandes nicht mächtig. Ich gebe dir einige Stunden Bedenkzeit; überlege, ob du dann willig bist, auf alle Fragen wahre Antworten zu geben, und vergiss nicht, dass ich sonst die Folter anwenden lassen werde. Ich verabscheue diese Barbarei, aber bei solchen Schurken, wie du, ist sie am Platze.«
Auf seine Veranlassung wurde Sedrack von zwei herbeigerufenen Soldaten aufgegriffen und unter Begleitung eines Offiziers hinausgeführt. Wie ein Bündel Wäsche hing der Jude an den Armen der beiden Soldaten; seine Kinnladen klapperten hörbar, so groß war der Schreck über das eben Gehörte.
»Es hat jetzt keinen Zweck, mehr über die Sache zu sprechen«, fuhr dann Canning, zu den Offizieren gewendet, fort, »der Jude wird uns schon noch alles enthüllen. Sie sehen wenigstens, dass ich verstehe, den Punkt zu finden, von dem man ausgehen muss. Warum dies alles gegen mich arrangiert wird? Ich weiß es nicht. Sprechen wir jetzt über die Sprengung der Brücke, es ist uns damit ein ganz empfindlicher Schaden zugefügt worden.«
Während man dieses Thema behandelte, warf sich in Cannings Kopfe immer wieder die Frage auf: Warum, warum mir alles das? Was hat man mit mir vor? Umsonst fädelt man doch nicht solche ungeheuer verwickelte Intrigen ein.
Diese Gedanken beunruhigten ihn so, dass er nur mit halbem Ohre den Berichten und Ratschlägen der Offiziere zuhören konnte.
Trompetensignale ertönten; gleich darauf trat ein wachhabender Offizier ins Zelt mit der Meldung, aus dem Festungsturm von Delhi wehe eine weiße Flagge, und schon sei ein Parlamentär auf dem Wege nach dem Hauptlager. Er halte noch weit außerhalb der Schanzwerke.
»Er wird als Parlamentär behandelt«, sagte Lord Canning, »führen Sie ihn direkt hierher!«
»Mit verbundenen Augen?«
»Nein, es scheint hier wenig mehr zu geben, was noch verraten werden könnte.«
Einige Minuten später stand vor den höheren Offizieren, welche Canning zurückbehalten hatte, ein junger, schöner Inder, weißgekleidet, waffenlos, die weiße Parlamentärsflagge in der Hand. Er hatte keinen Gruß für die Herren, mit edlem Anstand stand er da und wartete auf die Anrede.
»Wenn du als Parlamentär kommst, so ist deine Person heilig«, begann Canning, »wessen Botschaft hast du auszurichten?«
»Ich komme, die Worte zu sagen, welche mir die Begum von Dschansi für den in den Mund gelegt hat, welcher Lord Canning heißt, Oberbefehlshaber dieses Lagers ist und sich Generalgouverneur von Indien nennt.«
»Er steht vor dir, ich bin Lord Canning.«
»So lässt dich die Begum von Dschansi fragen, ob du gewillt bist, ihr eine Unterredung zu gewähren.«
Canning zögerte.
»Ja oder nein?«, sagte der Inder kurz.
»Wo soll sie stattfinden?«
»In diesem Lager, wo du befiehlst. Sie kommt mit einigen ihrer Offiziere und will dich sprechen, in einem Zelte allein.«
»Was für Bürgschaft verlangt sie?«
»Keine für sich.«
»Dann denkt sie edel von mir.«
»Du irrst, die Begum fürchtet sich nicht, in dein Lager zu gehen und mit dir zu sprechen. Doch für ihre Begleiter verlangt sie Bürgschaft.«
»Wer sind diese?«
»Mächtige Fürsten.«
»Wie viele?«
»Sie verlangt sechs Offiziere von dir als Bürgen.«
»Sie sollen ihr werden. Um was handelt es sich?«
»Ich weiß es nicht. So bittet dich denn die Begum, ein Zelt herrichten zu lassen, welches dicht an ein anderes, großes stößt, sodass man von einem ins andere gehen kann, ohne gesehen zu werden. Bist du damit einverstanden?«
»Wozu diese Vorsicht?«
»Die Personen, welche die Begum mitbringt, wollen von niemandem erkannt werden als nur von dir.«
»Ich gehe auf alles ein. Wann wird die Begum kommen?«
»Bis wann kannst du das Zelt hergerichtet haben?«
»In einer Stunde.«
»So wird die Begum in einer Stunde vor deinem Lager stehen.«
»Sie soll mir willkommen sein, auch wenn sie meine Feindin ist. Ich werde sie in diesem Zelt empfangen.«
Nur leicht das Haupt neigend, verließ der Parlamentär das Zelt und begab sich nach Delhi zurück. Lord Canning ahnte, dass der Besuch der Begum mit dem Vorhergegangenen zu tun hätte.
Die Sprengung der Brücke Tail-Nasrab war in Delhi von einem einstimmigen Jubelschrei begleitet, der sich jauchzend unzählige Male wiederholte. Die Inder hatten das Bauwerk ihrer Väter nicht geschont, als es galt, den Feinden einen Schaden zuzufügen, und dieser war auch ganz empfindlich. Die Engländer mussten eine neue Brücke konstruieren, denn die schwimmende war kaum imstande, Kavallerie, viel weniger Artillerie über den Strom zubringen. Zeit war auf jeden Fall gewonnen worden.
Alles freute sich über die gelungene Sprengung, nur das Mädchen nicht, welches in einem Gemache im Hause der Duchesse auf und ab wanderte. Als die Detonation erscholl und die Feuergarbe zum Himmel aufschlug, hatte sie nur einen flüchtigen Blick zum Fenster hinausgeworfen und dann ihren ruhelosen Gang fortgesetzt.
Ein Mann trat mit demütigem Gruß ins Zimmer.
»Endlich kommst du, Sinkolin! Ich habe dich schon seit einigen Tagen ungeduldig erwartet. Nun?«
»Es ist gelungen, Begum«, entgegnete der kleine Mann, »des Franzosen technische Kenntnis hat uns einen Triumph bereitet. Die Brücke ist verschwunden.«
»Ich spreche nicht davon. Hast du ihn gefunden?«
Sinkolin wollte etwas anderes nicht hören oder war so begeistert, dass er diese Frage ganz überhörte.
»Es dürfte den Engländern schwer werden, eine feste Brücke in Kürze über den Strom zu schlagen«, fuhr er fort, »dafür wollen wir wohl sorgen.«
»Ja doch! Was weißt du von Mister Reihenfels? Was hast du, Sinkolin?«,
Des Gauklers Gesicht hatte sich plötzlich verändert. Erst vor Triumph und Freude strahlend, drückte sich jetzt Niedergeschlagenheit, ja, sogar Furcht darin aus. Er zögerte sichtlich, eine Antwort zu geben.
Das Mädchen trat schnell vor ihn hin und sah ihn ängstlich fragend an.
»Sinkolin, was ist?«, flüsterte sie, wie von einer schlimmen Ahnung erfasst. »Sprich, ich will es erfahren, ich lese Schreckliches in deinen Zügen!«, rief sie jetzt hastig und schüttelte den Gaukler dabei am Arm.
Sinkolin zuckte bedächtig die Schultern.
»Begum, ich weiß nicht, ob ich es jetzt wagen darf.«
»Sprich, ich befehle es dir! Was ist mit Reihenfels?«
»Fasse dich, Begum! Dein Freund zählt nicht mehr zu den Lebenden.« Das Mädchen taumelte zurück.
»Was — was sagst du da?«, stammelte sie.
»Dein Freund ist tot! Ich sah ihn sterben, ohne ihm helfen zu können.«
Die Begum schien es noch nicht glauben oder noch nicht fassen zu können; mit geisterhaften Augen starrte sie ihren Ratgeber an.
»Nein, nein, Sinkolin, es ist nicht wahr!«, schrie sie dann auf. »Du sagst es nur, um mich zu erschrecken. Es ist nicht möglich, er ist nicht tot!«
»Doch, Begum! Was nützt es, dir die Wahrheit zu verhehlen? Ich sah, wie er erschossen wurde.«
Über die Lippen des Mädchens kam ein ächzender Laut. Sie warf sich auf den Diwan und verhüllte das Gesicht in den Händen, hinter denen hervor leises Schluchzen erklang. Dabei wurde ihr Körper wie vom Krampf erschüttert.
Sinkolin verweilte teilnahmslos an der Tür.
Als sie sich aufrichtete, hatte sie ihre Fassung wiedererlangt. Das Gesicht war ruhig, kein Kummer oder Schmerz war darin zu lesen, es war wie aus Marmor gemeißelt, nur das Auge blickte müde.
»Bist du noch da, Sinkolin?«, sagte sie leise und wie verwundert. »Du hast lange hier gewartet!«
»Nicht doch, Begum, es war nur ein Augenblick.«
»Mich dünkte es viele Stunden. Erzähle, was du gesehen hast! Wie ist er gestorben?«
»Er ist erschossen worden.«
»Von den Unsrigen?«
»Nein, von den Engländern.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Als er aus Delhi kam, trug er die Uniform der Sepoyoffiziere, die Engländer nahmen ihn als Spion fest, und trotzdem er seinen Namen nannte und sich als Oskar Reihenfels legitimierte, zögerte Lord Canning keinen Augenblick, sondern unterschrieb sofort sein Todesurteil. Kurz vor der Sprengung ist Reihenfels an der Brücke von sechs Buranis als indischer Spion erschossen worden. Ich sah, wie er nach dem Herzen griff und dann rücklings in den Strom stürzte. ›Die Begum wird mich rächen!‹ waren seine letzten Worte.«
Das Mädchen hatte sich halb erhoben, es blickte den Sprecher mit einem furchtbaren Ausdruck an.
»Sinkolin«, flüsterte sie, »erzähle mir keine Fabel.«
»Nichts als die Wahrheit, Begum. Erkundige dich bei anderen Spionen, ob sie nicht dasselbe sagen. Ich, der ich mich, als Sepoy verkleidet, im englischen Lager aufhielt, habe alles selbst gesehen und gehört und weiß noch viel mehr.«
»Lord Canning war Reihenfels' Freund.«
»So sagte er stets und sagt es noch jetzt.«
»Und er sollte Reihenfels Tod nicht verhindert haben?«
»Er hat ihn sogar veranlasst.«
»Hat er ihn nicht selbst nach Delhi geschickt?«
»Er tat es, gesteht es auch zu. Dass er aber seines Freundes Todesurteil unterzeichnet habe, leugnet er ab, und doch hat er es getan. O, alles ist Lug und Trug!«
»Erzähle, Sinkolin, damit ich klar sehe! Verheimliche mir nichts!«
»Wann Reihenfels als Spion verhaftet worden ist, weiß ich nicht, jedenfalls aber ist es geschehen, als er, als Sepoyoffizier verkleidet, das englische Lager betrat. Er war ja von Lord Canning selbst nach Delhi geschickt worden, um die Rettung seiner Schwester, Cannings Braut, zu versuchen. Dies alles habe ich jetzt im Lager erfahren. So glaubte er, nach erfolgter Legitimation würde man ihn sofort auf freien Fuß setzen. Lord Canning aber ist ein Schurke. Ohne dass Reihenfels darum wusste, hat er durch Vermittlung eines Juden mit uns Unterhandlungen angeknüpft, um seine Braut zu erkaufen, den Juden mit 10 000 Pfund bestochen und uns Versprechungen gemacht. Dann bekam er Furcht, Reihenfels könnte hier von seinem heimlichen Tun erfahren, und ließ ihn einfach ermorden...«
»Aber er hat das Todesurteil unterschrieben!«
»Er leugnet es. Drüben im englischen Lager herrscht jetzt nur die Lüge. Die Ordonnanz, welche Canning das Todesurteil zur Unterschrift gebracht hat, hat sich selbst getötet, weil er fürchtete, man würde ihn durch die Folter zu einer falschen Aussage zwingen; jeder, der etwas zugunsten Reihenfels sagen will, stirbt eines unnatürlichen Todes...«
»Halt, genug davon! Bringe mir Beweise, dass Lord Canning an Reihenfels Tode schuld ist!«
Sinkolin blickte prüfend in das Gesicht des Mädchens, das plötzlich dunkelrot geworden war, und in die wieder blitzenden Augen.
»Ich kann dir Beweise bringen. Einmal den Wechsel, den Lord Canning dem Juden gab.«
»Das ist nichts!«
»Dann das Todesurteil.«
»Ah, wie kommst du zu diesem?«
»Die sechs Soldaten, welche Reihenfels erschossen, sind, wie ihre beiden Offiziere, bei der Sprengung durch umhergeschleuderte Steine getötet worden, kurz nach der Exekution. Ich wusste schon, dass Lord Canning leugnete, das Todesurteil unterschrieben zu haben; er eilte sofort hin, dem Offizier das Schreiben abzunehmen, ich aber kam ihm zuvor und bemächtigte mich des Papiers. Lord Canning untersuchte vergebens die Taschen des toten Offiziers.«
»Sinkolin, deine Behauptungen klingen ungeheuerlich.«
»Und doch ist alles so. War Reihenfels als Spion bei dir?«
»Nein.«
»Aber man hat in seinen Taschen Papiere gefunden, die ihn als Spion verdächtigten.«
»Woher kamen diese? Reihenfels war kein Spion!«
»Die Leute, welche ihn untersuchten, mussten sie erst in seine Taschen stecken — natürlich auf Veranlassung Lord Cannings.«
»Du häufst Schuld auf Schuld auf diesen. Du bezeichnest ihn als Verräter.«
»Ebenso, wie er Reihenfels' Tod veranlasste, hat er auch Verrat begangen, um seiner Braut habhaft zu werden. Soll ich dir den Beweis bringen, dass Lord Canning schon einmal Hochverrat begangen hat, und dass ein anderer für ihn büßen musste? O, Begum, es ist nicht das erste Mal, dass er einem anderen die Schuld zuschiebt und sich unschuldig stellt. Wie er Reihenfels hingemordet hat, so musste schon einmal ein anderer für ihn unschuldig büßen.«
So träufelte Sinkolin Gifttropfen auf Gifttropfen in das Ohr des Mädchens, und dieses glaubte ihm.
Das Zelt zum Empfange der Begum war bereit. Flüsternd unterhielten sich die Offiziere und betrachteten den Zug, der sich aus den Toren Delhis dem englischen Lager zu bewegte. Heute sollten sie alle das kriegerische Mädchen sehen, an dessen Existenz man jetzt nicht mehr wie früher zweifelte.
Auch Lord Canning war gespannt. Dieses Mädchen hatte ihm einmal während der Nacht einen geheimnisvollen Besuch abgestattet, sonst hatte er es noch nicht gesehen.
Aber man hatte sich getäuscht, als man glaubte, dass die Begum im Stahlpanzer auf feurigem Pferde geritten kommen würde. Es nahten sich einige Sänften, nur einige Männer waren zu Pferde, aber so verhüllt, dass man sie nicht erkennen konnte.
Der Herold versprach ihnen an der Grenze des Lagers vollkommene Sicherheit ihrer Person und geleitete sie weiter. Die Reiter sprangen ab, die Sänften wurden in das große Zelt getragen, welches sich an das Beratungszelt lehnte, dann traten die Sänftenträger heraus und hielten sich in einiger Entfernung auf. Es war nicht nach Namen gefragt worden, wie es vorher ausgemacht worden war.
In dem Beratungszelte befanden sich Lord Canning und alle jene Offiziere, welche zum Stabe gehörten und um das Vorgefallene wussten. Man glaubte allgemein, die Begum oder ihre Räte würden Kriegsunterhandlungen betreiben wollen, nur Lord Canning ahnte etwas anderes, was ihn persönlich betraf.
Dennoch dachte er nicht daran, die Offiziere zu entfernen.
Der Zwischenvorhang ward zurückgeschlagen, und ein Weib, das Gesicht unverhüllt, betrat das Zelt. Einige der Offiziere erkannten in der völlig schwarz gekleideten Gestalt die Begum von Dschansi, man flüsterte dies Canning zu.
Das Mädchen trat an den in der Mitte stehenden Tisch, stützte sich darauf und schaute sich schweigend im Kreise der Offiziere um. Wie früher, so loderte auch jetzt eine seltsame Glut in den Augen, aber sie blickten wie drohend, die Stirn war finster gerunzelt, das ganze Gesicht hatte einen strengen Ausdruck. Lord Canning trat auf sie zu.
»Bist du es, welche sich die Begum von Dschansi nennt, welche die Rebellen gegen uns anführt, und die gewünscht hat, eine Unterredung mit mir zu haben?«
»Ich bin die Begum von Dschansi, eure Feindin!«, entgegnete des Mädchens Altstimme. »Wo ist Lord Canning, der Generalgouverneur von Indien?«
»Er steht vor dir. Ich bin Lord Canning!«
Wie ein zuckender Blitz traf ihn der Blick des Mädchens.
»Ich wollte dich allein sprechen.«
»Für meinen Feind bin ich nur in Anwesenheit meiner Offiziere zu sprechen, nicht, weil ich ihn fürchte, sondern weil meine Offiziere wissen müssen, was ich zu unterhandeln habe.«
»So fürchtest du nicht, dass sie erfahren, was ich mit dir zu sprechen habe?«
»Nein, denn ich habe ein reines Gewissen. Willst du mich anklagen? Sprich die Anschuldigung aus, ich werde mich verteidigen. Fürchte nicht für dein Leben und für das der Deinen, ich werde mich nur durch mein Wort verteidigen.«
Die Begum machte eine geringschätzende Handbewegung und atmete tief auf.
»Ich bin hier«, begann sie dann, »um dich zu fragen, wo sich Mister Reihenfels befindet.«
Also das war es! Immer und immer wieder Reihenfels! Hatte man doch nicht gelogen, als gesagt wurde, dieser sei der Geliebte der Begum? Dann lag allerdings Grund zum Verdacht gegen ihn vor. Kam das Mädchen hierher, um Rechenschaft von den Engländern zu fordern?
»Mister Reihenfels, mein Freund, ist nicht mehr«, sagte Canning niedergeschlagen. »Er ist tot!«
»Wie hat er seinen Tod gefunden?«
»Frage nicht, wenn du es schon weißt!«
»Er ist erschossen worden!«
»Ja, durch ein unglückseliges, uns völlig rätselhaftes Missverständnis!«
»Rätselhaft? Missverständnis?«, klang es schneidend zurück. »Mister Reihenfels ist nach kriegsgerichtlichem Erkenntnis, unterzeichnet von dir, Lord Canning, als indischer Spion erschossen worden.«
»So hat sich also diese Lüge auch schon nach Delhi gefunden? — Ein sicheres Zeichen, dass es in unserem Lager von Spionen wimmelt. Nun, ich hebe meine Hand auf, sie ist rein an dem vergossenen Blute und mag verdorren, wenn ich das Urteil unterschrieben habe!«
Die Begum lächelte verächtlich.
»Wo ist die Ordonnanz, welche dir das Urteil zur Unterschrift brachte?«
»Sie ist tot.«
»Sie ist auf deinen Befehl ermordet worden.«
Lord Canning fuhr auf, ebenso die Offiziere. Das war zu viel, das durfte er sich nicht sagen lassen, wenn die Person des Mädchens auch heilig war, solange sie sich im Lager befand.
»Begum von Dschansi«, sagte er leise, »hüte dich, deine Freiheit zu missbrauchen!«
»Die Ordonnanz ist von dir oder auf deinen Befehl ermordet worden«, wiederholte die Begum, als ob sie den Hergang nicht völlig wüsste, »und ich kann beweisen, dass du mit uns, deinen Feinden, allerdings ohne mein Wissen, Unterhandlungen angeknüpft hast, um deine Braut zu retten, sie aus ihren Händen zu erhalten, du hast Reihenfels nach Delhi geschickt, aber nicht, damit er deine Pläne ausführe, sondern damit du ihn als Spion verdächtigen kannst. Du tatest es auch, aber damit du dich selbst freisprechen konntest, leugnest du, das Urteil unterschrieben zu haben.«
Canning beherrschte sich noch.
»Auch du bist von demselben Irrtum befangen«, sagte er ruhig; »ich will noch einmal versuchen, dich von demselben zu überzeugen.«
»Gib dir keine Mühe, es wird dir nicht gelingen, dich reinzuwaschen. Beantworte mir nur noch einige Fragen.«
»Ich will es der Wahrheit gemäß tun.«
»Hast du Reihenfels nach Delhi geschickt?«
»Ja.«
»Warum?«
»Er sollte versuchen, seine Schwester zu befreien.«
»Und du selbst hast ohne sein Wissen dich bemüht, dasselbe zu erreichen, hast mit deinen Feinden Unterhandlungen gepflegt?«
»Ich tat es nicht.«
Das Mädchen zog unter ihrem Mantel ein kleines Papier hervor, legte es auf den Tisch und deckte ihre Hand so darüber, dass nur eine Zeile sichtbar blieb, und zwar die Unterschrift Lord Cannings.
»Ist dies deine Unterschrift?«
Canning beugte sich darüber und konnte eine Unruhe nicht verbergen.
»Es ist mein Name, anscheinend von mir geschrieben.«
Die Begum nahm die Hand von dem Papier.
»Sieh, dies ist der Wechsel über 10 000 Pfund, den du dem Juden Sedrack ausgestellt hast, damit er Franziska Reihenfels nach Tokirha bringt. Leugne nicht, es steht alles hier.«
Sie gab ihm das Papier, Canning glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen.
»Ich habe diesen Wechsel nicht ausgestellt; meine Handschrift ist gefälscht worden«, stieß er hervor, »und zwar meisterhaft gefälscht.«
»Natürlich«, spottete das Mädchen, »ich konnte mir lebhaft denken, dass du etwas Derartiges vorbringen würdest.«
»Weib«, brauste Canning jetzt auf, »beleidige mich nicht länger! Ich sage, diese Unterschrift ist gefälscht worden.«
»Ebenso wie dieses vielleicht?« Sie hielt ihm ein anderes Schreiben hin —
das Todesurteil Reihenfels, die Unterschrift Lord John Cannings tragend.
Canning wollte danach greifen, sich des Schreibens bemächtigen, aber schnell entzog es ihm das Mädchen.
»Lies es, doch in deine Hände kommt es nicht.«
Er las es; Zornesröte stieg in seinem Gesicht auf.
»Es ist nicht von mir unterschrieben, nicht von mir ausgefertigt worden. Alles ist Lug, Trug und Fälscherei. Wie kommst du zu diesem Papier?«
»Es wurde bei Captain Barber gefunden; einer meiner Leute untersuchte seine Taschen, noch ehe du hinzukamst und Gelegenheit fandest, dich des Urteils wieder zu bemächtigen, das dich des Mordes an Reihenfels anklagte. Ja, Lord Canning, du hast diesen ermorden lassen, weil er dir unbequem wurde. Er wusste von deiner Verräterei, die du hinter seinem Rücken getrieben, er wusste vielleicht noch mehr von dir, du fürchtetest ihn, und so hast du dich seiner entledigt, indem du ihn erst als Spion verdächtigtest und dann schnell erschießen ließest. Damit du etwaigen Vorwürfen entgingst, leugnetest du, das Urteil unterschrieben zu haben, stelltest dich unschuldig. Doch ich durchschaue dich und deine Pläne — du hast Reihenfels ermordet.«
»So ungeheuerlich auch deine Anschuldigungen sind, sie lassen mich ruhig«, entgegnete Canning kalt, »und sieh, alle diese Offiziere, an deren Treue niemand zweifelt, glauben dir ebenso wenig. Mich des Verrats zu beschuldigen, ist einfach lächerlich.«
»Wie kommt es dann, dass Franziska nach Tokirha gebracht worden ist?«
»Ist sie es? Das freut mich. Schon sind meine Leute nach dort unterwegs, sie abzuholen. Wird sie gefunden, so werde ich glücklich sein. Erklären kann ich mir nicht, was dich veranlasst hat, sie freizugeben. Höchstens das trieb dich dazu, damit du ein Mittel hast, gegen mich als Ankläger aufzutreten. Gib dir keine Mühe mehr, es gelingt euch trotz aller Intrigen nicht, mich als Verräter hinzustellen. Was überhaupt soll ich verraten haben? Dieser gefälschte Wechsel beweist gar nichts.«
»Deine Verräterei ist hinter meinem Rücken betrieben worden, ich weiß nichts davon und gehe auf solche Sachen nicht ein.«
»Nun, es kann ja sein, dass vielleicht Pläne vorgelegt werden, die ich dem Feinde ausgehändigt haben soll. Zeige sie, man wird dir doch nicht glauben.«
»Es scheint allerdings, als ob du über jeden Verdacht erhaben daständest. Doch nicht in meinen Augen. Der Jude ist in deinen Händen, wie ich gehört habe. Führe ihn hierher, lass ihn dir gegenübertreten. Wir wollen hören, was er mit dir ausgemacht hat.«
»Das ist es ja, was ich haben wollte. Du wirst aus seinem Munde erfahren, dass ich diesen Wechsel gar nicht unterschrieben habe. Eure Intrigen waren zu fein gesponnen. Der Jude hat die Fäden selbst nicht gesehen und hat sich daher selbst in den Schlingen gefangen. Du wirst hören, dass der Jude jetzt etwas ganz anderes sagen wird.«
Ein Offizier wurde abgeschickt, Sedrack zu holen.
Die Begum war unruhig geworden, Canning hatte so sicher und überzeugend gesprochen. Es verging einige Zeit, ehe der Offizier zurückkam — allein mit verstörtem Gesicht.
»Sedrack ist fort — verschwunden — seinen Wächtern entflohen!«
Bestürzung ergriff die Offiziere, am allermeisten Canning.
»Ah, sieh da«, ergriff die Begum spöttisch das Wort, »also auch des Juden hat man sich entledigt, ebenso wie der Ordonnanz, damit er nicht mehr gegen dich auftreten kann.«
»Keine Beleidigung mehr«, brauste Canning auf, »nun ist es genug. Nicht von mir, sondern von den Deinen oder von dir selbst werden die Ankläger beseitigt, damit es nur bei ihrer Anklage bleibt. Genug davon, sage ich, ich werde mich gar nicht mehr verantworten.«
»Das sollst du auch nicht. Mir ist es gleichgültig, ob du ein Verräter bist oder nicht, das mache mit deinen Offizieren aus. Etwas anderes will ich wissen, nämlich, ob ich dich richtig beurteilt habe. Ich will erfahren, ob man dich bei mir nur verleumdet hat oder nicht, und danach werde ich mein Verhalten richten. Lord Canning, du bist beschuldigt, schon einmal einen Hochverrat begangen zu haben!«
»Mich wundert nichts mehr«, lächelte Canning, »wann soll dies gewesen sein?«
»Damals, als du Sekretär im geheimen Kabinett zu Akola warst.«
»Ah, also damals. Das ist mir neu. Nun, und?«
»Kennst du diese?«
Als wäre ihr ein Zeichen gegeben worden, so trat plötzlich durch den Zwischenvorhang eine weibliche Gestalt ein, ebenfalls in schwarze, indische Gewänder gekleidet. Lord Canning erkannte sie sofort.
»Ah, das ist ja Signora Rosa Bellani, die Duchesse«, rief er, mehr höhnisch als verwundert, »so hatte ich doch recht, als ich sie für eine französische Spionin hielt! Übrigens weiß ich auch, dass sie die Schwester der Lady Carter und das Weib oder vielmehr die Lieblingsfrau Nana Sahibs ist. Madame, Sie spielen eine vielseitige und ganz erbärmliche Rolle.«
Die letzten auf englisch gesprochenen Worte verfehlten nicht ihre Wirkung. In gehässigem Feuer sprühten die Augen des Weibes auf.
»Ihre Worte beleidigen mich nicht!«, entgegnete sie, sich zur Ruhe zwingend. »Ich bekenne mich offen als Feindin der Engländer.«
»Ihre Offenheit kommt allerdings etwas spät«, spottete Canning weiter. »Sie haben jahrelang sich ehrlich bemüht, Ihren wahren Charakter zu verbergen. Nun, gnädigste Begum, Königin von Indien, was soll diese ehrenwerte Dame gegen mich aussagen? Was für einen Plan hat sie in ihrem Harem ausgeheckt?«
»Spare deinen Hohn!«, entgegnete die Begum. »Den Beweis, den das Weib Nana Sahibs bringen soll, gilt nicht für die Deinen, sondern allein für mich. Also du kennst sie?«
»Gewiss kenne ich sie. Leider stammt sie aus meinem Heimatlande und ist die Schwester einer Dame, die ich hoch verehre!«
»Gestehst du, die Bekanntschaft dieser Dame gemacht zu haben, als du noch Sekretär in Akola warst?«
»Ich kann das nicht gestehen, denn ich entsinne mich nicht mehr.«
»So will ich deinem Gedächtnis zu Hilfe kommen. Sie war es, deren Sänfte einst auf der Straße umstürzte, sodass sie herausfiel. Du sprangst hinzu, reichtest ihr die Hand und warst ihr behilflich.«
Canning betrachtete Isabel — wie wir sie jetzt nennen wollen — näher; er schien dabei zu überlegen.
»Ah, in der Tat!«, rief er dann überrascht. »Ja, ich entsinne mich!«
»Siehst du, ich habe mich nicht getäuscht«, fuhr die Begum triumphierend fort, »ich bin auch nicht belogen worden. So bist du es gewesen, der an Ayda verraten hat, dass Sir Carter als geheimer Kurier durch Indien reiste.«
Canning wurde doch etwas verblüfft, das hatte er nicht erwartet.
»Wie? Bis in jene alten Zeiten soll meine Verräterei zurückreichen?«, rief er dann wie belustigt. »Ich kann mich nicht entsinnen, darüber mit Ayda ein Wort gewechselt zu haben!«
»Ich konnte mir denken, dass du leugnen würdest. Doch dies gilt mir gleich, ich weiß, dass ich recht berichtet worden bin. Leugnest du auch, mit Ayda eine Zusammenkunft gehalten zu haben?«
»Ganz entschieden!«
Isabel streckte die Hand gegen ihn aus.
»Dieser war es, dem ich die Einladung schrieb«, sagte sie mit Betonung, »und er kam. Er verriet mir, dass Sir Frank Carter als geheimer Kurier durch Indien reise, ja, er sagte mir sogar auch, dass die Order die Unterdrückung der militärischen Macht der Radschas vorschreibe.«
Immermehr fand Canning die Anschuldigungen spaßhaft.
»So sagst du selbst, schöne Ayda, dass du, das Weib Nana Sahibs, das Geheimnis durch deine Liebe erkauft hast. Ich finde, du bist ebenso offenherzig wie — schamlos!«
»Ich tat es nur scheinbar; denn du weißt, als du erwachtest, lagst du in den Armen einer stadtbekannten Bajadere!«
»Ach was! Du enthüllst mir Sachen, von denen ich gar nichts weiß. Merkwürdig! Du bist ja über mein Vorleben besser orientiert als ich!«
Die Offiziere lachten, und nicht nur Aydas, auch der Begum Antlitz färbte sich dunkelrot.
»Ich werde dir noch andere Zeugen vorführen, die meine Aussagen bewahrheiten sollen, so zum Beispiel deinen damaligen Diener, den Kuli, der dich führte, und andere«, sagte Ayda und wollte den Zwischenvorhang zurückschlagen, doch die Begum hinderte sie daran.
»Es ist genug!«, sagte sie mit dumpfer Stimme. »Wir haben uns vergeblich bemüht, diesen Mann zu überführen; es wird uns nicht gelingen!«
»Gut, wenn du es einsiehst!«, entgegnete Canning lächelnd.
»Freue dich noch nicht!«, fuhr das Mädchen fort, richtete sich stolz auf und blickte den Lord mit drohenden Augen an. »Ich frage dich noch einmal. Ist Reihenfels erschossen worden?«
»Leider habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie er von sechs Buranis unter dem Kommando eines Offiziers ordnungsgemäß erschossen worden ist. Mit tiefer Trauer erfüllt sein Tod mein Herz, denn er war mein Freund. Wie es gekommen ist, weiß ich nicht. Es ist ein Rätsel und wird wohl auch für immer ein Rätsel bleiben, denn die, welche die Exekution ausführten, sind tot!«
»Es ist kein Rätsel für mich!«, rief die Begum mit starker Stimme, und ihre Nasenflügel begannen zu beben. »Du, nur du hast seinen Tod veranlasst!«
»Denke, was du willst! Ich kann dich doch nicht eines Besseren überzeugen!«
»Nein, das kannst du nicht! Und nun vernimm noch eins: Oskar Reihenfels war der Mann, den ich liebte!«
Eine stumme Pause trat ein. Alle blickten nach dem Mädchen, dessen Aufregung von Sekunde zu Sekunde wuchs. Eine Ahnung sagte allen, dass diese Unterredung noch einen gewaltsamen Abschluss finden würde.
»Dann tut mir sein Tod doppelt leid — deinetwegen!«, entgegnete Canning ruhig.
Das Mädchen atmete tief auf.
»Ja, er war mein Geliebter! Du, du hast ihn gemordet, und von dir fordere ich ihn zurück!«
»Du verlangst Unmögliches! Könnte ich ihn lebendig machen, ich würde Jahre, die Hälfte meines Lebens dafür hingeben!«
»Das sind Redensarten! Ich verlange Reihenfels von dir zurück!«
Wie drohend war sie einen Schritt auf ihn zugetreten und streckte die Hand nach ihm aus.
»Wie kann ich ihn dir wiedergeben? Nimm Vernunft an, Begum!«
»Du hast ihn mir genommen, von dir verlange ich ihn zurück!«
»Begum, aus deinen Worten wie aus deinen Augen spricht der Wahnsinn! Du verlangst Unmögliches!«
»Wahnsinn? Hahaha! Soll man denn nicht schließlich wahnsinnig werden? Verrat, wohin man blickt, und glaubt man, endlich einen Freund gefunden zu haben, so wird er getötet, und zwar von dem, der sich seinen Freund nennt!«
»Ich bin unschuldig an seinem Blute!«
»Schweig, Verruchter!«, stieß das Mädchen leidenschaftlich hervor. »Alle deine Entschuldigungen mögen dich bei den Deinen reinwaschen, bei mir helfen sie nichts. Du hast Reihenfels ermordet, und mit ihm alle, die für ihn sprechen konnten! Ich gehe jetzt, denn du kannst ihn mir doch nicht zurückgeben; aber ich werde wiederkommen und ihn nochmals von dir fordern, und immer wieder, und wehe dir, wenn du deine Schuld, die du von jetzt ab bei mir hast, nicht bezahlen kannst!«
Canning wollte antworten, doch die Begum verließ schnell das Zelt, gefolgt von Ayda.
Die Offiziere blickten den beiden spöttisch nach. Dies alles betrachteten sie als ein Theaterstück, von einem leidenschaftlichen, etwas überspannten und exzentrischen Mädchen in Szene gesetzt. Eine Bedeutung maß diesem Wortgefecht niemand bei.
Nur Canning blickte dem aufgeregten Mädchen mit Besorgnis nach. Es wäre ihm viel, viel lieber gewesen, er hätte die Begum von seiner Unschuld überzeugen können, als dass sie ihn im Zorn verließ; denn der Hass eines Weibes ist nie zu unterschätzen, selbst wenn es eine noch so untergeordnete Stellung einnimmt, und die Begum war die Höchste der Rebellen. Dass sie ihm an seiner Ehre und an seinem Ansehen nichts schaden konnte, musste sie gesehen haben, aber er bezweifelte nicht, dass sie zu anderen Mitteln griff.
Außerdem hätte er so gern mit ihr in Ruhe gesprochen, sie über Franziska gefragt, und darüber, was ihr geheimnisvoller Besuch während der Nacht in seinem Zelt zu bedeuten gehabt hatte.
Es war zu spät. Schweigend und ohne Gruss verließen die Feinde in Sänften und auf Pferden das englische Lager. Die Begum hatte wahrscheinlich noch andere belastende Zeugen mitgebracht, die sie aber nicht gebraucht hatte, weil sie von der Schuld Cannings allein überzeugt wurde, hauptsächlich als Sedrack plötzlich verschwunden sein sollte.
Auf halbem Wege zwischen Delhi und dem Lager wurden die als Geiseln gestellten englischen Offiziere wieder eingetauscht.
Im Artilleriepark zu Delhi befanden sich unter den erbeuteten Geschützen nach modernem System auch noch sechs von jenen alten, ungeheuren Kanonen, mit denen die Radschas ihre Burgen auszurüsten pflegten. Sie hatten keinen Zweck mehr, sie waren zu schwerfällig, sie mussten von vorn geladen werden, und zwar mit Kugeln von enormem Gewicht oder aber mit gehacktem Blei. Die modernen Granatengeschütze hatten sie längst verdrängt.
Dennoch spielten sie auch in diesem Aufstande wie schon in den früheren eine Rolle. Vor ihre Mündungen wurden die Gefangenen gebunden und mit einer tüchtigen Pulverladung weggeblasen, wie der Ausdruck dafür lau-tete, und zwar mit Recht, denn die Körper der Unglücklichen zerstoben in Atome. Diese Todesart war schließlich an sich nicht grausam, aber man ließ die Opfer stunden-, ja tagelang vor den Mündungen der Geschütze stehen und die Todesangst gründlich auskosten.
Man versetze sich nur in die Lage eines solchen Gefangenen. Er steht vor der Mündung, hinter sich im Rohre weiß er einen Zentner Pulver; ein Inder mit brennender Lunte steht daneben und fährt immer mit dem glühenden Schwamm wie spielend über dem Zündloch hin und her. Wann wird der Funke in das Pulver fallen? Wann wird der Körper in hunderttausend Stücke zerrissen werden?
Auf einer indischen Festung standen fünf junge englische Gefangene vor den Kanonenmündungen. Im letzten Augenblick kapitulierte die Festung, die Gefangenen wurden befreit und den Ihrigen ausgeliefert — als Wahnsinnige. Vier von diesen fünf lebten noch lange in einem Irrenhause in der Nähe von London. Sie litten an einem harmlosen, aber unheilbaren Wahnsinn; bei allen vieren war dieser vollkommen gleich. Sie waren in beständiger Angst, in die Luft gesprengt zu werden. Ehe sie sich setzten, sahen sie unter den Stuhl, unter das Sofa, unter den Tisch; eine darunter stehende Fußbank jagte ihnen namenloses Entsetzen ein, desgleichen der Anblick eines Ofenloches, einer Röhre usw. Sie hatten zwei Nächte und einen Tag vor den Mündungen des Geschützes gestanden, jeden Augenblick gewärtig, weggeblasen zu werden. Zweien von ihnen war in dieser Zeit das Haar schneeweiß geworden.
Der Schuppen, in welchem die riesigen Kanonen standen, war dicht umdrängt, man jauchzte, schrie und wartete mit Ungeduld, bis eine derselben von einigen Sepoys und Pferden auf die Straße bugsiert würde.
Dollamore, der Anführer der Gurkhas, den die Rebellen mehr fürchteten und hassten als die Engländer selbst, sollte heute Nacht weggeblasen werden, und der Schuss war zugleich das Signal für ein anderes, waghalsiges Unternehmen.
Die Begum, die bisher die Gefangenen geschont, hatte dies angeordnet, sie selbst wollte auch das Unternehmen, einen Ausfall, als Führerin leiten.
Das Geschütz war fix und fertig, sogar schon mit der Pulverkartusche geladen. Die Pferde brauchten nur noch vorgespannt zu werden. Dann ging es hinaus auf den Wall, Dollamore wurde vorgebunden, und im Scheine der Nachmittagssonne konnte er nochmals das Lager seiner Freunde sehe, ebenso wie diese ihn sahen, ohne helfen zu können.
So, angesichts seiner Freunde, sollte jeder Verräter sterben.
Ein Sepoy nahm den Verschlussdeckel vom Geschützrohr ab und blickte in dieses, das ihm in einem Durchmesser von einem halben Meter finster entgegengähnte. Ein Schauer durchlief den Körper des Mannes, seine Hand zitterte, als er den Deckel wieder aufsetzte.
Die zehn Pferde wurden vorgespannt und langsam setzte sich das schwere Geschütz in Bewegung, dass die Steinfliesen ächzten und einige zerbrachen.
Wüstes Geschrei empfing die Kanone, die jetzt über die Straßensteine rollte und sie zu Staub zermalmte. Unbarmherzig mussten die Pferde angetrieben werden, obgleich sie schon ihr Möglichstes taten, als freuten sie sich ebenfalls darauf, den Verhassten vor die Mündung gebunden zu sehen.
Endlich stand das ungeheuere Geschütz oben auf dem Wall, dem Hauptlager zugekehrt. Mit Fernrohren, ja, schon mit bloßen Augen mussten die Engländer sehen können, was hier oben vorging.
Außer den zum Geschütz gehörenden Sepoys und den Offizieren durfte niemand den Wall betreten. Das Volk war unten versammelt; man reckte sich auf den Fußzehen empor, und die Frauen hielten die Kinder in die Höhe. Sie sollten sehen, welchem Tode ein Verräter an Indien verfallen war.
Jetzt verwandelte sich das Jubelgeschrei in ein Wutgeheul; denn den Wall entlang wurde Dollamore geführt. Schwere Ketten hielten den riesenstarken Mann in Banden. Noch immer ging der junge Hüne aufrecht einher; bedeckten ihn jetzt auch nur Lumpen, der königliche Anstand war noch derselbe, noch blickte das Auge ebenso feurig und trotzig wie früher.
Als er zuerst und dann noch später durch die Straßen Delhis geführt worden war, musste er stets von einer starken Wache umgeben sein, weil er sonst vom Volke zu Tode gesteinigt worden wäre. Jetzt, da er den letzten Gang antrat, der ihn vor die Mündung der Kanone führte, war ein Schutz seiner Person nicht mehr nötig. Aber Spott, Hohn und Schmähungen bekam er genug zu hören, die seine stolze Haltung jedoch nicht zu beugen vermochten.
Da verstummte das Volk für einen Moment. Von zahlreichen Offizieren begleitet, kam die Begum zu Pferde angesprengt. Der Panzer, den sie wieder angelegt hatte, schimmerte im Sonnenglanze.
Ihr Handwink befahl, die Prozedur fortzusetzen; sie stellte sich und ihre Begleiter aber so auf, dass der Gefangene im englischen Lager gesehen werden konnte.
Ein vierfacher Strick aus bestem Hanf band Dollamore mit dem Rücken an die Kanone; derselbe Strick fesselte auch hinten seine Hände, denen man vorher die Ketten abgenommen hatte, aber nicht eher als bis sie wieder unschädlich gemacht waren. Und hätte Dollamore die Stärke von zehn Riesen besessen, diesen Strick hatte er nicht zerreißen können. Die Hände lagen so, dass sie sich gerade in der Mündung des Geschützes befanden; die Füße blieben frei.
Die Umstehenden hofften vergebens, dass der junge Nabob Zeichen von Angst von sich geben würde. Ruhig stand er da, niemanden beachtend, die großen, glänzenden Augen unverwandt auf das englische Lager geheftet, das sich im Sonnenschein vor ihm ausbreitete.
Den scharfen Augen Dollamores entging es nicht, wie man ihn von dort aus beobachtete. Zahlreiche Fernrohre und Feldstecher waren nach ihm gerichtet, andere hielten die Hand über die Augen, während sie nach dem Festungswall spähten, ja, der junge Krieger glaubte sogar, deutlich Lord Canning erkennen zu können, wie er im Kreise von Offizieren sprach und nach ihm deutete. Für diese starb er — und er starb gern; denn obgleich er nicht in der Feldschlacht seinen Tod fand, wusste er doch, dass ihm auch diese Hinrichtung als Heldentod angerechnet würde.
Die Begum drängte ihr Pferd vor ihn hin und sah ihn lange an, als er sie aber nicht einmal anblickte, sondern gleichgültig den Kopf wendete, unterdrückte sie die Frage oder Worte, die sie für den Gefangenen gehabt hatte.
Gleich darauf sprengte ein Reiter aus dem Lager und näherte sich dem Festungswall, eine weiße Flagge schwingend. Die Begum selbst winkte ihn heran und unterhandelte mit ihm.
Es war ein Abgesandter Lord Cannings und bot für Dollamore drei der gefangenen indischen Offiziere, welche man sich auswählen könne.
»Sage Lord Canning, er soll seine Gefangenen ebenso vor die Kanonen binden lassen, wie das mit diesem Verräter geschieht«, entgegnete das Mädchen.
»Bei uns sind solche barbarische Gebräuche nicht im Gange«, sagte der Abgesandte unklugerweise.
»Richtig, ihr wendet nur die Folter bei Weibern an, wenn die Männer die Steuern nicht aufbringen können; ihr nehmt die Kinder von der Mutter Brust und lasst sie hungern, bis Klagegeschrei die Mütter wahnsinnig macht, und ihr erschießt Unschuldige, die ihr der Verräterei beschuldigt, weil ihr euch ihrer entledigen wollt. Dollamore ist mir nicht feil.«
»Verlange einen Preis für ihn, an Geld oder an Gefangenen, so viel du willst — es soll alles gewährt werden.«
»Gut denn, so sage Lord Canning, er soll mir den Mann senden, dessen Todesurteil er letzte Nacht um zwei Uhr unterschrieben hat, dann wird Dollamore euch ausgeliefert. Geh und melde das deinem Herrn, und wenn du in fünf Minuten nicht außer Schussweite bist, dienst du uns als Zielscheibe.«
Der Abgesandte warf sein Pferd herum, sprengte zurück und — kam nicht wieder. Dollamore hatte diese Verhandlung gleichgültig mit angehört.
»Heute Mitternacht werde ich dich in das Lager hinübersenden«, wandte sich das Mädchen an ihn, »sieh zu, dass du es lebendig erreichst. Man sagt ja, du sollst einen stählernen Körper besitzen, nun, so wird dir das Pulver auch nichts schaden. Und dieser Schuss wird das Signal sein, dass wir wie Heuschrecken über die Faringis herfallen und sie mit dem Schwerte züchtigen.«
Dollamore lachte laut und verächtlich auf. Diesmal öffnete er seinen Mund zur spöttischen Antwort.
»Willst du, Mädchen, das Schwert gegen die Engländer erheben? Dann lass dir erst solch ein Spielzeug anfertigen, welches du nicht mit beiden Händchen zu heben brauchst.«
Dunkle Röte übergoss das Gesicht des Mädchens, aber sie unterdrückte ihre heftige Antwort.
»Es ist schade, dass ich dich nicht mehr eines Besseren belehren kann. Hast du von der Begum von Dschansi schon gehört?«
»Wohl habe ich schon von ihr gehört, von jenem Mädchen, welches die Tochter der Kali und des Sewadschi sein soll. Bist du dieses Mädchen?«
»Ich bin es.«
»Und du willst Indien befreien?«
»Wenn Brahma es will, ja.«
»O, du unglückliches Indien«, rief Dollamore wehmütig aus, »wann wirst du begreifen, dass du, dir selbst überlassen, hoffnungslos verloren bist? Du brauchst einen fremden und strengen Herrn, der dich lehrt und zugleich knechtet; denn wehe dir, wenn du unter deine Radschas verteilt wirst. Sie werden dich schinden und treten, bis sie den letzten Blutstropfen aus dir gesaugt haben, und dann werden sie sich selbst auffressen. Mädchen, ich stehe vor meinem Tode und bettele nicht um mein Leben. Aber höre mich an, ich beschwöre dich. Ich, ich sterbe für die Freiheit Indiens, nicht ihr, die ihr mit Feuer und Schwert gegen eure Unterdrücker kämpft. Ihr müsst Unterdrücker haben, die euch knechten, aber sie lehren euch zugleich, und wenn ihr genug von ihnen gelernt habt, dann wird sich von ganz allein das Blatt wenden; denn ihr seid doch die Herren in diesem Lande, steht den Faringis an nichts nach, und dann wird eine ganz andere Macht befehlen, dass die Engländer Indien verlassen. Ihr Wahnsinnigen, die ihr glaubt, durch Gewalt euch unabhängig zu machen von jenem Inselreich im Norden! Mädchen, ebenso, wie alles Fabel ist, was man von dir sagt, dass du ein überirdisches Wesen, dass du unverwundbar und unwiderstehlich seist, dass du dich unsichtbar machen und an verschiedenen Orten zugleich sein könntest, ebenso unmöglich ist es, Indien durch Gewalt zu befreien. Die Zeit wird kommen, da es frei sein wird, aber nicht durch Gewalt und Kampf.«
Ein unwilliges Gemurmel folgte diesem leidenschaftlichen Ausbruch, einer der Offiziere hob die Säbelscheide, um dem Lästerer ins Gesicht zu schlagen, doch des Mädchens drohender Blick lähmte seinen Arm.
Sie war die einzige, welche still blieb, ja, sie wurde sogar nachdenklich. Ohne Antwort ritt sie davon, die Begleiter ihr nach.
Dollamore stand wieder allein und blickte unverwandt nach dem Lager, in welchem die Feinde seines Vaterlandes waren, das er liebte, und gegen welches er doch gekämpft hatte. Er tat es in der besten Überzeugung und mit gutem Gewissen, denn er hatte recht. Wehe dem indischen Volke, wenn alle diese kleinen Fürsten die Herrschaft wieder in die Hände bekämen!
Ja, der Traum von einem König oder einer Königin war ganz gut, aber es war nur ein Traum — wenigstens jetzt noch. England, oder vielmehr die anglo-indische Kompanie, war nichts weiter als eine von Gott gesandte Zuchtrute für Indien.
Das begriffen die unten versammelten Hindus, Kulis und Parias nicht, ihr Unwille wurde immer lauter, sie griffen nach Kot und Steinen, und Dollamores Leben wäre vielleicht um einige Stunden noch verkürzt worden, wenn die Wache die Menge nicht mit Hieben der flachen Klinge auseinandergetrieben hätte.
Die Erwartung, den Gehassten sterben zu sehen, hielt die Menge selbst von den sonst so heiligen Waschungen ab, welche bei Sonnenuntergang stattfinden. Dichtgedrängt, Kopf an Kopf, standen sie unten am Wall.
Da plötzlich ward eine Stimme in der Menge laut.
»Hütet euch, man wird ihn doch noch befreien«, krächzte jemand.
Als wäre dies eine Prophezeiung gewesen, die in Erfüllung gehen musste, so brach der Unwille wieder los. Das Volk hatte Lust, den Gefangenen selbst zu töten und verlangte wenigstens stürmisch, die verhängnisvolle Lunte sollte schon jetzt dem Zündloch genähert werden.
Statt aller Antwort ließ der wachhabende Offizier, der wahrscheinlich sehr strenge Instruktion hatte, die Leute zurücktreiben und die nächsten Straßen besetzen. So war jetzt niemand anders bei Dollamore als die Wache.
Die Sonne sank tiefer und tiefer, es wurde Nacht, und noch stand er vor der Mündung. Was war ihm gesagt worden, was hatte er aus den vielen Rufen des Volkes herausgehört? Zu Mitternacht würde er in Atomen in die Luft hinausgeschleudert werden, hinüber in das Lager, vielleicht wurde es noch von einem blutigen Fetzen erreicht, und der Schuss sollte zugleich das Signal für einen Ausfall sein, der unter der Führung der Begum stattfand.
Trotzig lachte Dollamore auf, als er an die schlanke, zartgebaute Gestalt des Mädchens im Panzerhemd dachte. Sie unverwundbar und unüberwindlich! Eher glaubte er, sie könne sich unsichtbar machen und an verschiedenen Orten zugleich erscheinen. War doch er, der löwenstarke Mann, von der Übermacht, allerdings von einer gewaltigen und hinterlistigen, überwunden worden.
Er strengte einmal die schwellenden Muskeln zum Zerspringen an, gab aber bald den Versuch auf. Jetzt war es vollkommen Nacht. Friedlich schauten die Sterne auf das Gefilde, von welchem bald Schlachtgeschrei, Schwerterklang und Schmerzgeheul widerschallen sollte.
Auf dieser Seite schwiegen die Geschütze, dagegen spielten sie nach wie vor auf der nördlichen Seite, den Pionieren die Arbeit zu erschweren. Die Schanzgräben waren übrigens bald fertig, man wartete nur noch auf General Nicholson und seine schwere Artillerie.
Da erklang taktmäßiger Schritt; eine Patrouille näherte sich auf dem Festungswall der Riesenkanone. Voran schritt ein in einen langen Mantel gekleideter Offizier. Dieser schien mit dem wachthabenden Kameraden einen Wortwechsel zu haben, schließlich entfernte sich letzterer mit seinen Leuten. Dollamore hatte gar nicht darauf geachtet.
Der neue Offizier, anscheinend eine schlanke, mittelgroße Figur, trat auf Dollamore zu. Die Sepoys hielten sich entfernt.
»Leutnant Dollamore«, flüsterte eine unterdrückte Stimme.
Des Inders Feuerauge durchdrang die Finsternis und erblickte ein bartloses Gesicht, doch konnte er es nicht genauer erkennen, weil der Mann mit der Hand einen Mantelzipfel davor hielt. Aber diese Stimme kam ihm merkwürdig bekannt vor. Vorläufig schwieg er.
»Erkennst du mich?«, erklang es weiter, sehr leise.
»Nein. Wenn du ein Freund der Rebellen bist, so sprich nicht mit mir.«
»Ich bin dein Freund.«
»Beweise es!«
»Ich will dich befreien. Wagst du, diese sechs Meter hohe Mauer hinabzuspringen?«
Ein Hoffnungsstrahl blitzte in der umnachteten Seele des unglücklichen Mannes auf. Aber verkaufen wollte er seine Ehre nicht.
»Ich wage es. Und wo bleibst du?«
»Ich bleibe vorläufig in der Stadt und treffe später wieder mit dir zusammen.«
»So bist du ein Freund der Rebellen.«
»Nicht mehr.«
»Du hältst zu den Engländern?«
»Nein.«
»Zu wem sonst?«
»Zu dir allein.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Dollamore, ich opfere alles, alles, was ich besitze, und was ich noch zu hoffen habe, um deinetwillen, um dich zu retten, um mit dir vereint zu leben; denn — ich liebe dich.«
Jetzt wusste er, wen er vor sich hatte, und ein bitteres Gefühl stieg in ihm auf. Nein, man verkannte ihn völlig.
»Verrat!«, rief seine dröhnende Stimme. »Wo ist die Wache?«
»Tor, Wahnsinniger! So fliege denn ins Jenseits, und ich werde mich an diesem Anblick ergötzen!«, zischte es noch einmal, dann huschte die Gestalt im Mantel davon und ebenso schnell stoben die mitgebrachten Soldaten auseinander.
Dafür stürmten der wachthabende Offizier und seine Leute herbei.
»So bin ich doch betrogen worden!«, schrie ersterer. »Ich dachte mir gleich, dass der Befehl gefälscht war. Was gab es?«
»Ayda, Nana Sahibs Weib, bot mir die Freiheit an, wenn ich zusammen mit ihr entflöhe«, entgegnete Dollamore laut.
Furchtbar erschrocken zuckte der Offizier zusammen.
»Schweig, Unseliger!«, herrschte er den Gefangenen rau an. »Ehe du mich unglücklich machst, renne ich dir den Degen durch den Leib.«
Dollamore wusste, woran er war.
Der Offizier durfte den Gefangenen nicht entfliehen lassen, sonst war sein Tod gewiss, aber ebenso, wenn Nana Sahibs Weib ihren Zorn an ihm ausließ, dass er sie verriet.
Der Wachhabende konnte froh sein, dass Dollamore den Anschlag selbst und absichtlich verraten hatte. Warum, dies den Gefangenen zu fragen, hielt er unter seiner Würde.
Wie früher patrouillierten die Soldaten auf und ab, immer näher kam die Stunde heran, da das Geschütz ihn hinaus in die Ewigkeit schleudern sollte. Er berechnete am Stand der Sterne, dass bis zur Mitternacht höchstens noch eine Stunde fehlen könne.
Eine Stunde noch von der Ewigkeit getrennt! Wem mochte er dann wohl gegenübertreten? Einer Kali? Einem Brahma? Irgendeinem Gott oder einem Nichts? Und wann begann wohl das Spiel mit der Lunte, die über das Zündloch fuhr?
O, Dollamore fürchtete nicht, dass er erbeben würde. Da, was war das?
Seine auf dem Rücken gebundenen Hände waren von etwas Weichem, Warmem berührt worden, fast wie von einer menschlichen Hand. Torheit, ein Mensch! Aber was war es gewesen?
Da, noch einmal; kleine Finger legten sich in sanftem Druck um sein starkes Handgelenk.
»Dollamore!«, flüsterte es, so leise, dass er es eben noch vernehmen konnte.
Wahrhaftig, in dem Kanonenrohre war ein Mensch — oder nein, ein Engel, der ihn auf die Ewigkeit vorbereiten wollte.
»Dollamore, kennst du mich? Nein, antworte nicht«, fuhr es hastig fort, »du kennst mich nicht mehr. Ich bin Sakuntala, die Parsin, eine der Töchter von Beludschistan, welche sterben, wenn sie lieben und nicht wiedergeliebt werden.«
Der junge Inder stand wie versteinert da, er glaubte seinen Sinnen nicht trauen zu dürfen. Er kannte die Sage von den Mädchen von Beludschistan, doch eine Sakuntala kannte er nicht.
»Dollamore«, flüsterte es fort, »erinnere dich, wer ich bin. Es war zu Shivas Fest, am Tage des großen Aufstandes. Da wollte sich eine Bajadere Vishnus nicht unter die Räder des Götterwagens werfen. Ein Fakir ergriff sie und schleuderte sie vor die Räder. Doch ein Mann sprang aus der Menge, riss sie zurück und brachte sie in ein Haus. Dieser Mann warst du, die Bajadere war ich. Erkennst du mich nun?«
Wie Schuppen fiel es von Dollamores Augen.
Ja, jetzt kannte er dieses Mädchen. Was aber sollte dies alles bedeuten? Wie kam sie in das Kanonenrohr? Er hatte Sakuntala längst für tot gehalten, des Feuertodes gestorben, denn sie hatte sich dem empörten Volke selbst ausgeliefert, um sein, Dollamores, Leben nicht in Gefahr zu bringen. Es war eine hochherzige Tat gewesen, wie sie nur der Liebe entspringen kann; hatte doch Sakuntala, als sie sich unter die Menge warf, selbst mit ihrem letzten Schrei gestanden, dass sie ihn liebe.
Dollamore hatte das heldenmütige Mädchen noch lange betrauert, es gab noch jetzt Stunden, da ihm die Tränen in die Augen kamen, dachte er an sie.
Aber lebte sie denn wirklich noch?
Er umschlang mit den Fingern eine kleine, weiche Hand und drückte sie leise. Ja, das war Fleisch und Blut.
Das Mädchen schwieg, wahrscheinlich, weil eben ein Sepoy vorüberging, dessen Schritt sie hörte.
Als der Mann sich etwas entfernt hatte, fuhr sie fort:
»Wenn du mich erkannt hast, so drücke meine Hand nochmals, aber sprich nicht!«
Er drückte ihre Hand innig, und sie erwiderte den Druck.
»Ich wurde gerettet durch meine Freundin, ich kann dir nicht erzählen, wie alles kam — man stieß mich aus dem Tempel — gestern hörte ich, du solltest vor die Kanonenmündung kommen — ich versteckte mich in dem Schuppen und kroch dann unbemerkt in das Rohr — ich wollte mit dir sterben —«
Der Soldat näherte sich wieder, sie brach ab. Dollamore drückte ihr dankbar die Hand. Es ist doch schön, in der Not, in Leben und Tod, eine treue Seele zu wissen.
Als die Schritte verklungen waren, begann sie abermals:
»Ja, ich wollte mit dir sterben, dich nicht befreien, denn ich glaubte, du liebtest — jetzt weiß ich es besser — jetzt will ich dich befreien, ich kann es, ich habe meinen Dolch bei mir. Willst du, so drücke mir die Hand, willst du lieber sterben, so drücke sie nicht.«
Dollamore zögerte lange. Wie gern hätte er mit dem Mädchen gesprochen, aber es war unmöglich.
Seine Befreiung war nicht allzu schwierig. Der Sprung von der sechs Meter hohen Mauer war für ihn eine Kleinigkeit, in der Finsternis wollte er schon entkommen. Dann war er frei, wieder vereinigt mit den Engländern.
Aber Sakuntala?
Mit Zentnerschwere fiel ihm dieser Gedanke aufs Herz. Dann war das Mädchen verloren, sie, die ihr Leben für ihn gewagt. Entweder sie wurde beim Herausschlüpfen bemerkt und festgenommen, oder sie fand ihren Tod beim Signalschuss — mit ihm zugleich.
Das Mädchen ahnte, was in ihm vorging.
»Entschließe dich schnell«, flüsterte sie, »und nimm keine Rücksicht auf mich. Ich sterbe gern, ach so gern für dich, wenn ich weiß, dass du mir dankbar bist und mich in deiner Erinnerung behalten willst.«
Er drückte ihr zärtlich die Hand.
»Soll ich deine Bande durchschneiden?«
Noch ein Händedruck, und sofort begann ein scharfes Messer an dem Strick zu sägen und zu schneiden.
Dollamore spannte die Muskeln an, er schloss die Augen und blinzelte nach dem auf und ab gehenden Offizier, er blinzelte nur, damit man nicht seinen glänzenden Blick wahrnehmen konnte, der an dem Degen des Offiziers hing, denn diese Waffe musste er haben. Wohl wollte Dollamore den Sprung von der Mauer machen, aber nicht allein, sondern mit Sakuntala, und dazu war es nötig, dass er die Wachmannschaft niedermachte. Das war eine Kleinigkeit für Dollamore.
Das Messer hörte auf zu schneiden, obgleich erst der erste der zähen Stricke durchschnitten war. Wie die übrigen, so hatte auch das Mädchen im Geschützrohr ein näherkommendes Pferdegetrappel gehört.
Schon vorher war es Dollamore gewesen, als vernehme er in der Ferne, vielleicht in einem weit abgelegenen Viertel Delhis, leises Waffengeklirr und dumpfes Stimmengemurmel. Auch das Volk begann sich wieder heranzudrängen.
Es war wieder die Begum, welche mit ihren Offizieren geritten kam. Diesmal sprang sie vom Pferd.
Sie war ganz in Stahl gehüllt, auf den schwarzen Locken saß der goldene Helm mit dem fliegenden Drachen, und an der Seite hing ein Schwert, welches für ihren Arm viel zu schwer schien. Sie vermochte es wohl mit einer Hand zu heben, dass sie es aber regieren konnte, war ganz unmöglich.
Seltsam, wie sich das Volk verhielt!
Einige waren vor Erstaunen ganz außer sich, die Begum hier zu sehen.
»Sie ist es nicht«, rief sogar einer, »die Begum befindet sich am zweiten Tor an der Spitze der Reiter. Eben sah ich sie noch dort.«
Der Mann wurde verlacht und zum Schweigen gebracht.
Die Begum ergriff selbst die Lunte und ließ sie in Brand setzen.
»Nun, Dollamore, zeige, dass du, wenn du auch an deinem Vaterland zum Verräter geworden, doch noch ein Mann geblieben bist. In fünf Minuten wirst du in Atome zersplittert sein. Oder wünscht du, leben zu bleiben und zuzuschauen, wie ich über die Engländer herfalle?«
Dollamore lachte nur verächtlich, antwortete aber nicht. Er fühlte, wie das Messer wieder mit doppelter Schnelligkeit schnitt. Bald musste er frei sein — und dann wehe denen, die ihn hindern wollten!
Das Mädchen gab die Lunte einem Offizier und trat selbst zurück. Sie wollte Zeuge des Schauspiels werden, das sie zum ersten Male zu sehen bekam.
Der Offizier trat hinter die Kanone, hob die Lunte und sah nach der Begum, ein Kommando erwartend.
Da plötzlich vernahm man einen Knall wie vom Bersten von zähen Stricken, Dollamores Arme flogen mit einem Ruck seitwärts, die Stricke um seinen Leib fielen von selbst ab, im nächsten Augenblick stand er neben dem Offizier, riss dessen Säbel aus der Scheide, und mit gespaltenem Kopfe sank der Mann zu Boden.
Alles dies war das Werk eines Augenblickes gewesen.
Wohl zogen die Umstehenden ihre Degen, aber sie griffen den jungen Riesen nicht an, der im Besitz einer Waffe war. Dagegen schlugen die Soldaten die Gewehre an.
»Zurück«, rief die Begum und drang mit gezücktem Schwert auf Dollamore ein.
»Willst du wirklich probieren, ob du unverwundbar bist?«, lachte dieser wild auf. »Nun, so beweise es!«
Das Fechten war Dollamores Handwerk; blitzschnell und von allen Seiten sausten die Hiebe auf das Mädchen ein, aber gleich im Anfang erlahmte seine Hand vor Staunen; denn das schlanke Madchen schwang das starke Schwert, als wäre es ein Strohhalm; sie selbst griff nicht an, sie parierte nur, und ehe sich's Dollamore versah, schlang sich die Schwertspitze um sein Degengefäß, es ward ihm aus der Hand gerissen mit unwiderstehlicher Kraft, und in weitem Bogen flog seine Waffe durch die Luft.
Dollamore war über diese Fechtkunst des Mädchens völlig erstarrt. Er merkte nicht einmal, wie sie sich von hinten auf ihn warfen und ihn abermals banden.
War dieses Weib wirklich ein übernatürliches Wesen, die Tochter der Kali, dass sie ihn, Dollamore, wie ein des Fechtens unkundiges, schwaches Kind, ohne Schwierigkeit entwaffnen konnte? Das Mädchen weidete sich augenscheinlich an dem Schrecken des Besiegten.
Triumphierend ergriff sie die Lunte.
»Du sollst noch nicht sterben, Dollamore«, rief sie, »du sollst mich vor deinem Tode erst noch völlig kennen lernen. Dass ich unbesiegbar bin, hast du an dir selbst gesehen, nun erkenne auch, dass mich weder Raum noch Zeit zu binden vermögen.«
Sie näherte die Lunte dem Zündloch, da aber schrie Dollamore so schrecklich auf, dass sie betroffen den Arm senkte.
»Halte ein«, rief er, »oder binde mich erst wieder vor, ehe du die Kanone abfeuerst!«, Verwundert blickten alle nach ihm diese Worte konnte sich niemand erklären. Doch die Erklärung fand sich von selbst, als aus dem Geschützrohr eine weibliche Gestalt, phantastisch gekleidet, einen Dolch in der Hand, schlüpfte und auf Dollamore zueilte.
»Sakuntala, die Bajadere!«, erklang es einstimmig.
»Sie war es auch, welche die Stricke zerschnitten hat, denn sie sind zerschnitten«, fügte die Begum hinzu, einen davon aufhebend und betrachtend. »Wie ist das zugegangen? Wie kommt die Bajadere in das Geschützrohr? Nicht eher sollt ihr beide sterben, bis ich dies erfahren habe.«
»Dollamore muss sterben, jetzt sterben«, erklang eine Stimme drohend aus der Menge. Ein Blitz zuckte aus den Augen der Begum über die Umstehenden.
»Wer war es, der das sagte?«
Ehe er sich's versah, wurde schon ein Mann von hinten gepackt und vorgeschoben. Er war der Unzufriedene gewesen.
»Vor die Mündung mit ihm«, befahl die Begum hart; »wer mich wortbrüchig machen will, der verdient den Tod! Nicht eher sollen diese beiden sterben, als bis ich erfahren habe, was hier vorgegangen ist. Vor die Mündung mit diesem Mann!«
Gehorsam ergriffen die Sepoys den sich Sträubenden und um Erbarmen Heulenden und banden ihn an das Geschütz. Ein Offizier nahm die Lunte.
In der Ferne ertönte das Waffenklirren lauter.
»Es ist Zeit — Feuer!«, kam das Kommando von den Lippen des Mädchens, während die Menge, aus deren Mitte der Unzufriedene gerissen worden war, von stummem Entsetzen ergriffen war.
Ein feuriger Strahl, ein furchtbarer, die Ohren betäubender Donner, die Kanone sauste zurück, wie die Umstehenden von dem Luftdruck zurückgeschleudert wurden, und verschwunden war der Mann vor der Mündung. Was er gewünscht, das hatte er an sich selbst erfahren müssen.
Das Gesicht des Mädchens war geisterhaft bleich geworden; zugleich drückten die Züge aber auch eiserne Strenge aus. Erschüttert stand der gefesselte Dollamore daneben, die Bajadere hatte wie schützend die Arme um ihn geschlungen, die Zwergin um den Riesen.
Im gleichen Moment sah man einen Zug von dunklen Gestalten ein Tor Delhis verlassen. Nach der Schnelligkeit, mit der er über das offene Feld eilte, musste er aus Reitern bestehen. Sie jagten der Richtung zu, in welchem sich das Lager der Buranis befand.
Doch die Begum beobachtete nicht den Erfolg ihrer Krieger, welche einen Ausfall unternahmen, um den Feind zu schädigen. Als wäre nichts geschehen, wandte sie sich wieder an die beiden.
»Nun zu euch«, begann sie, »ich will erfahren, wie dieses Mädchen in das Kanonenrohr kommt. Du heißt Sakuntala und bist eine Bajadere, wie ich gehört habe. Was veranlasst dich, die du das Gelübde der Keuschheit abgelegt hast, dein Leben für einen Mann aufs Spiel zu setzen?«
Sie erhielt keine Antwort, weder Dollamore noch Sakuntala öffneten den Mund.
»Sie ist aus Vishnus Tempel gestoßen worden, weil sie sich vor den Rädern des heiligen Wagens geflüchtet hat«, rief einer aus der Menge, und der Mann hätte vielleicht noch mehr erzählt, wenn ihm nicht von der Begum Stillschweigen geboten worden wäre.
»Von dir selbst, Sakuntala, will ich es erfahren. Mich deucht, du liebst diesen Mann.«
Die Bajadere fand die Sprache wieder, aber sie gab keine Antwort.
»Du sagst, Begum, du brächest dein Wort nie«, begann sie ohne Furcht und schaute das Mädchen, welches hier allein und unumschränkt zu befehlen hatte, fest an.
»Sahst du nicht eben, wie schnell ich das ausgeführt wissen will, was ich gesagt habe? Nein, ich breche mein Wort nicht. Doch wozu diese Frage?«
Wie freudig richtete sich Sakuntala auf und rief:
»Nun, so darfst du auch weder mein Leben noch das Leben dieses meines Freundes bedrohen.«
»Ich dürfte es nicht?«, fragte die Begum erstaunt. »Da täuschst du dich. Euer beider Leben gehört mir, denn auch das deine ist verwirkt, weil du den Verräter zu befreien gesucht hast.«
»Du darfst es nicht, Begum, oder du bist wortbrüchig. Nicht eher sollen diese beiden sterben, hast du vorhin gerufen, als bis ich alles erfahren habe, und weder von mir noch von meinem Freunde sollst du ein Wort darüber hören. Dies ist das letzte, was ich sprach.«
Über das Gesicht des kriegerischen Mädchens huschte ein schwaches Lächeln, die Inder dagegen wollten in ein unwilliges Murmeln ausbrechen, weil die Bajadere durch eine List den Willen der Begum zu ändern und sich zu retten suchte.
Doch der Unwille wurde im Keime erstickt; denn in diesem Augenblick erscholl in der Ferne das Kriegsgeheul der Inder, ihr Schlachtruf, dem alsbald ein Schreckensgeschrei folgte. Erst nach und nach hörte man auch die anfeuernden Rufe der Engländer. Diese waren von den Ausfallenden jedenfalls überrascht worden.
Schon jetzt beeilten sich die meisten, einen Ort zu erreichen, von dem sie dem Kampfe zuschauen konnten.
»Geht und seht, wie eure Königin ficht«, sagte noch die Begum, für Dollamore ganz unverständlich, und bewirkte somit, dass auch noch die letzten den Platz verließen, wo sich die Szene abspielte, die für sie jetzt weniger Interesse hatte als der nächtliche Kampf auf offenem Felde.
»Du nimmst mich beim Worte«, sagte dann die Begum zu der Bajadere, »so erfahre denn, dass ich es auch halte. Vielleicht habe ich es gut mit euch vor. Versprecht ihr beide, mir willig zu folgen, ohne an Flucht zu denken?«
»Wir versprechen es dir — auf mein Wort«, entgegnete Dollamore.
Die Begum zögerte nicht, sie durchschnitt seine Bande und schritt voraus, den Wall hinunter und durch die Straßen. Die beiden folgten ihr, Dollamore hielt die Bajadere an der Hand. Die wachhabenden Sepoys blickten den Davongehenden mehr erstaunt als unwillig nach, sonst war niemand mehr da, welcher die Begum an der Ausführung ihres Vorhabens gehindert hätte, was diese wohl auch nicht geduldet haben würde.
In den Straßen begegnete ihnen niemand, ganz Delhi war wie ausgestorben. Alles befand sich auf den Wällen und schaute dem vor dem englischen Lager wütenden Kampfe zu. Das Toben der Streitenden wurde immer lauter; es musste auch irgendwo brennen, denn der Himmel war von einem Feuerschein gerötet. Das Ziel der drei war das Haus der Duchesse, welches ebenfalls völlig verlassen dalag. Die Begum führte ihre Begleiter in das Gemach, von dem aus man den Söller des Aussichtsturmes betreten konnte.
»Wir sind allein«, begann sie, »willst du mir nun erzählen, wie du dazu kommst, diesen Mann, den du als Inderin hassen müsstest, zur Freiheit zu verhelfen? Denn etwas anderes hattest du doch nicht vor, als du dich in das Kanonenrohr verstecktest. Bei Brahma, ich bewundere deinen Mut.«
»Ich werde nicht sprechen, ich halte dich beim Wort«, erwiderte die Bajadere.
»Dein Leben soll gesichert sein, ich verspreche es dir.«
»Und dieser Mann, mein Freund?«
»Er ist ein Abtrünniger.«
»Wenn er stirbt, so mag auch ich nicht länger leben!«
»Also liebst du ihn?«
Die Bajadere errötete und senkte den Kopf.
»Ja, ich liebe ihn«, hauchte sie dann kaum hörbar.
Die Begum wandte sich um blickte durch das kleine Fenster, von welchem aus man die dem Kampfplatz gegenüberliegende Gegend übersehen konnte.
Als sie sich wieder umdrehte, hatte der starre Ausdruck ihr Gesicht verlassen. Fast freundlich ruhte ihr Auge auf der jungen, schönen Bajadere.
»Weil du ihn liebst, will ich auch seiner schonen«, sagte sie leise, »deiner Liebe halber schenke ich ihm das Leben.«
Das lag nicht in Dollamores Absicht. Lieber tot als gefangen!
»Was nützt mir das Leben ohne Freiheit?«, rief er fast zornig. »Töte mich, wenn du mich frei zu fürchten hast.«
»Ich dich fürchten?«, erklang es spöttisch zurück. »Ich dächte, ich hätte dir gezeigt, dass ich dies nicht nötig habe. Nimm eine Waffe welche du willst, ich überlasse dir die Wahl, und vermagst du mich zu besiegen, so will ich Zeit meines Lebens deine Sklavin sein.«
Dollamore wurde etwas beschämt.
»Wohl, Begum, ich gestehe ein, dass ich dich unterschätzt hatte. Wahrlich, ich glaubte nicht, dass jemand mit mir fechten könnte, und du schlägst mir fast sofort die Waffe aus der Hand. Ich kann es noch jetzt nicht fassen.«
»So glaube daran, dass ich nicht deinesgleichen, aber auch, dass ich edel bin; ich schenke dir die Freiheit.«
Erstaunt trat Dollamore einen Schritt zurück.
»Mir, deinem Feind? Verlange nicht von mir, dass ich dem Kampfe entsage!«
»Ich verlange es nicht. Höre meine Bedingungen! Wie ich vernommen habe, liebt Sakuntala dich. Sie soll mir nachher noch erzählen, was euch beide verbunden hat. Sakuntala bleibt bei mir als Gefangene, ihr Leben ist gesichert. Bist du bereit, dein Leben daranzusetzen, sie durch Waffengewalt, nicht durch List, zu befreien?«
»Sie wagte das ihre, um das meine zu retten. Ich werde für sie auf Tod und Leben kämpfen.«
»Nur darum?«
Dollamore sah, wie die Bajadere erbleichte, wie ein schmerzlicher Blick aus ihren Augen ihn traf. Sie wollte ihm die Hand entziehen, da aber umschlang er sie und zog sie an sich.
»Nein«, rief er leidenschaftlich, »nicht aus Dankbarkeit will ich für sie kämpfen, nicht um ihr einen Gegendienst zu erweisen, sondern um sie für immer an mich zu ketten. Sakuntala«, wandte er sich an diese, »ich habe verstanden, was du mir damals zuriefst, als du zum ersten Male für mich in den Tod gehen wolltest. Einst glaubte ich, ich hätte viel verloren; jenes Weib war es, dessen Stimme du vorhin gehört hast. Sie wollte mich retten, ich schlug es ab, denn ich verachte sie. Sakuntala, ich habe dich gefunden, und jetzt strömt wieder neues Leben durch meine Adern. Ja, für dich will ich kämpfen, bis ich dich besitze. Und von dir, Begum, sollen die Engländer durch mich zu hören bekommen, dass du nicht nur ein tapferes Weib bist, welches die Waffe zu führen versteht, sondern auch, dass du ein edles Herz besitzt. Möchtest du doch zu der Erkenntnis kommen, dass dieser Krieg nie die Freiheit, wohl aber neues Unglück für Indien bringen wird, damit du dein und aller Inder Blut schontest.«
»So nimm Abschied von dem Mädchen, das du von heute ab deine Braut nennen sollst!«, erwiderte die Begum. »Die Straßen Delhis sind jetzt menschenleer, das zweite Tor ist offen. Ich kann dir nicht mehr geben als Waffen und einen dich verhüllenden Mantel. Genügt dir dies, um das englische Lager zu erreichen?«
»Mehr brauche ich nicht. Begum, wie soll ich dir für deinen Edelmut danken?«
»Gar nicht! Sei glücklich in der Erinnerung, ein Wesen auf Erden zu wissen, das dich liebt, und das du befreien darfst — sei glücklicher als ich. Sakuntala soll hier gut aufgehoben sein, verlass dich darauf. Und kommst du nach dem Lager, so erzähle, was du hier erlebt hast.«
»Ich will deinen Edelmut preisen! Ja, ich will auch erzählen, welche Gegnerin die Engländer in dir haben. Wisse, Begum, in unserem Lager wurde oftmals über dich gespottet, weil du ein Weib bist, von mir aber sollen sie hören, dass du wirklich ein Schwert zu schwingen verstehst.«
»Auch das genügt mir noch nicht, du sollst noch mehr von mir erzählen. Doch erst nimm Abschied!«
Dollamore presste die in seinen Armen zitternde Bajadere an sich, sie flüsterten einige Minuten miteinander.
»Ich bin bereit«, sagte er dann einfach, das Mädchen freigebend.
»Hörst du das Siegesgeschrei der Unsrigen?«, fragte die Begum.
»Leider vernehme ich es. Es scheint schlimm mit den Engländern zu stehen. Du kannst mir nicht verwehren, dass es mein erstes ist, wenn ich die Freiheit habe, an dem Kampfe teilzunehmen.«
»Es steht dir frei. Doch hüte dich, mir zu begegnen.«
»So eilst du jetzt auch dorthin?«
»Nein, ich bin schon dort.«
»Wie das? Ich verstehe dich nicht«, entgegnete Dollamore verwundert.
»Sieh mich an!«
Dollamore gehorchte, er wusste nicht, was jetzt kommen sollte. Das Mädchen tat so seltsam, so geheimnisvoll.
Die Begum fasste mit der einen Hand die der Bajadere, die andere legte sie an den goldenen Helm, der ihr Haupt krönte, und sofort siel ein Visier über das Gesicht, welches dieses bis auf die schmalen Augenschlitze vollständig verdeckte.
Derartige Helme sind in Indien nichts Seltenes; die Inder tragen sie noch heutzutage bei den Kämpfen unter sich, wo die blanke Hieb- und Stichwaffe die Hauptrolle spielt.
Nicht ohne Scheu betrachtete Dollamore das jetzt ganz in Stahl gehüllte Mädchen mit dem langen, breiten Schwerte an der Seite. Wie unschuldig und lieblich dagegen war die Bajadere neben ihr, wie reizend dieses Gesichtchen aus Fleisch und Blut gegenüber der stählernen Maske, welche im Scheine der Wandlampe glänzte. Aber dieser Glanz ward noch verdunkelt von den Blitzen, die aus den Augenlöchern hervorzuckten.
Es war die Allegorie von Frieden und Krieg.
Das stahlgepanzerte Mädchen deutete mit der Hand nach der Ausgangstür zum Söller.
»Tritt hinaus, sieh dorthin, wo meine Scharen gegen die Engländer siegreich kämpfen, und berichte den Deinen, was du erlebt und gesehen hast«, erklang es dumpf hinter der Stahlmaske hervor, »rede dir nicht ein, dass du nur geträumt hast. Jetzt geh, bei deiner Rückkunft findest du Mantel und Waffen vor.«
Gehorsam befolgte Dollamore die Aufforderung. Er glaubte, dann auch noch einmal die Begum und Sakuntala sehen zu können. Als er den Söller betrat, empfing ihn fast Tageshelle.
Dort, wo die Zelte der Buranis standen, brannte es lichterloh; teils die Zelte selbst mit ihrem Inhalt dienten dem Feuer als Nahrung, teils auch die aufgestapelten Vorräte. Das Feuer erhellte den Kampsplatz, und heiß ging es überall zu. Da, wo die Brücke mit ihren westlichen Pfeilern gestanden, wogte das Handgemenge am heftigsten auf und ab.
Die ausfallenden Inder, einige Hundert an der Zahl, alle beritten, hatten das Lager der Buranis vollkommen vernichtet. Der Boden war ringsum mit Toten bedeckt. Natürlich waren schnell englische Truppen zur Hilfe herbeigekommen, meist Dragoner und Ulanen, und suchten die Ausfallenden zurückzuwerfen.
Die Inder zogen sich auch zurück, führten aber zahlreiche Gefangene mit sich und erwehrten sich nur noch ihrer Angreifer. Ab und zu knatterten Infanteriegewehre, sonst arbeiteten nur Säbel, Schwerter und Lanzen. Der Rückzug musste vollkommen gelingen, eben brachen die Inder durch eine Reihe von Ulanen, die ihnen heldenmütig den Weg versperren wollten.
Aber Dollamore hatte kein Auge für die Situation, es hing nur an einer einzigen Gestalt im Kampf, an der, welche den Kampf leitete.
Er fühlte, wie sich seine Haare sträubten, seine Knie schlotterten, der sonst so kühne Mann wurde von einem panischen Entsetzen ergriffen.
Dort, wo die Schlacht am heißesten tobte, dort kämpfte ein Weib, und es konnte niemand anders sein, als die Begum von Dschansi selbst. Ebenso, wie jetzt, höchstens einige Sekunden vorher, hatte er sie vor sich stehen sehen. Da gab es keine Täuschung, sie war es.
Die brennenden Zelte im Hintergrunde ließen alles an ihr und jede Bewegung deutlich erkennen. Das waren dieselben schwarzen Locken, welche wild unter dem goldenen Helm mit fliegendem Drachen flatterten, sie trug denselben Schuppenpanzer, der sich eng an die schlanke Taille schmiegte, Arm- und Beinschienen, vor dem Gesicht das Visier. Nach Art der Männer, oder auch nach Art der indischen Frauen, saß sie rittlings im Sattel, und wie konnte sie das lange, breite Schwert führen!
Dollamore durfte sich nichts von einer Täuschung einreden, erkannte er doch von hier aus den vom Schuppenpanzer umspannten Busen, ja, er glaubte die Augenblitze hinter der Stahlmaske vordringen zu sehen.
Es war die Begum von Dschansi, keine andere. So, wie sie jetzt focht, hatte sie auch vorhin das Schwert gehandhabt, dass ihr nicht einmal Dollamore widerstehen konnte.
Jetzt drang ein Dragoneroffizier auf sie ein. Dollamore erkannte ihn, er war von der Madonsarmee und sowohl wegen seiner herkulischen Kraft, als wegen seiner Fechtkunst berühmt. Links und rechts sanken die Inder unter seinen gewaltigen Säbelhieben von den Rossen, dem Mädchen galt es jetzt, mit ihr wollte er den Pallasch kreuzen, sie unschädlich machen.
Die Begum sah ihn; unverzüglich sprengte sie ihm entgegen, nachdem sie noch einem Soldaten den Kopf gespalten hatte. Pallasch und Schwert prallten aneinander, einen Augenblick nur, dann wurde der Pallasch wie von unwiderstehlicher Gewalt emporgeschlagen und — Dollamore griff sich selbst nach dem Herzen — das Schwert bohrte sich tief in die Brust des jungen Offiziers. Er hob die Hände und stürzte vom Pferd — ein neues Opfer des kriegerischen Mädchens.
Doch ihr Schicksal schien besiegelt zu sein.
In voller Karriere kam ein Ulan mit eingelegter Lanze auf die Begum zugestürmt. Es war ein alter, weißhaariger Unteroffizier, das verwitterte Gesicht mit Narben bedeckt. Schon manchem Feinde Englands mochte er den Garaus gemacht haben. Die knöcherne, markige Gestalt weit vornüber gelegt, fast in den Bügeln stehend, die lange Lanze mit Stahlspitze fest in die Seite eingelegt, stürmte er einher. Er wollte den Tod des Offiziers rächen, und er konnte es auch, denn es war für das Mädchen zu spät, auszuweichen. Die Ulanen hatten gezeigt, dass ihre Lanzenspitzen die indischen Panzer wie Butter durchstachen. Jetzt erfolgte der furchtbare Anprall.
Aber war dieser Panzer aus einem noch unbekannten, undurchdringlichen Metall? War dieses Weib wirklich die Tochter einer Göttin und daher begabt mit übernatürlicher Kraft?
Wie Glas zersplitterte die Lanze; das Mädchen wankte wohl im Sattel, es schien einen Augenblick, als müsse sie den Halt verlieren, dann aber saß sie wieder fest. Sie hatte den furchtbaren Stoß wahrhaftig ausgehalten.
Nicht so der Ulan selbst.
Er schoss vornüber, gerade auf die Begum zu, die er wie ein Liebender mit beiden Armen umfing. Was nun geschah, konnte Dollamore nicht erkennen. Entweder bediente sich die Begum eines Dolches, oder sie erwürgte den Mann mit den Händen, kurz, im nächsten Augenblick fiel dieser leblos unter die Hufe ihres Pferdes.
Unmittelbar danach war die Begum wieder an der Spitze ihrer Leute; die letzten, welche die Inder zurückhalten wollten, fielen, und die Schar stürmte nach Delhi zurück, die Gefangenen in der Mitte. Die nachgesandten Schüsse forderten nur wenige Opfer.
Dollamore griff sich an die Stirn, er glaubte wirklich, alles nur geträumt zu haben.
Dort hatte er die Begum kämpfen sehen, jetzt sah er sie im glänzenden Waffenschmuck angesprengt kommen, näher und näher brauste die königliche, ritterliche Gestalt auf dem wundervollen Ross.
Aber hatte er nicht noch vor wenigen Minuten mit ihr selbst gesprochen? Sie stand vor ihm, er trat nur durch die Tür, und sofort sah er sie einige Kilometer entfernt in einen wütenden Kampf verwickelt.
Das war Zauberei!
Doch was erzählte man sich von ihr? Was hatte sie von sich selbst gesagt? Unwiderstehlich, unverwundbar, sich weder an Zeit noch an Raum bindend, jetzt hier, im nächsten Augenblick hundert Meilen entfernt, zugleich an verschiedenen Orten.
Dollamore war ein Inder, ein Buddhist, und, so aufgeklärt er auch sein mochte, in seinem Kopfe spukte es doch von Wasser-, Feuer- und Erdgeistern, von Nixen und Kobolden.
Er schauderte zusammen, er dachte an Flucht, denn näher und näher kam das dämonische Weib.
Ja, er musste fliehen, ihm fiel alles wieder ein.
Die Begum hatte ihr Wort gehalten. In dem Zimmer fand er einen langen Mantel und Waffen. Die Flucht musste ihm gelingen, wenn nicht durch das Tor, so über die Mauer. Nur den heimkehrenden Siegern durfte er nicht begegnen. Und dann wollte er im Lager erzählen, dass die Begum mit ihm gesprochen habe, während sie draußen kämpfte.
Dollamore hätte nicht nötig gehabt, seine Erlebnisse zu schildern. Im englischen Lager herrschte sowieso die größte Panik, und zwar nicht nur unter den abergläubischen Indern, sondern auch unter den englischen Soldaten. Wussten doch nicht einmal die Offiziere, wie sie sich die letzten Vorkommnisse erklären sollten, und wenn sie ihre Leute beruhigten, so taten sie es gegen ihre Überzeugung. Sie selbst waren mit Besorgnis, ja, einige mit Furcht erfüllt.
Dass die rätselhafte Begum, deren Herkunft niemand kannte, ihre bisherige Rolle nun aufgab und gewillt war, mit Feuer und Schwert gegen die Feinde zu kämpfen, hatte sie schon in jener Nacht gezeigt, und was für eine furchtbare Gegnerin sie war, wurde immer klarer. Die Ausfälle wiederholten sich, und gelang es den Indern auch niemals, durchzubrechen — was sie wahrscheinlich auch nie beabsichtigten — so fügten sie den Engländern doch stets empfindlichen Schaden zu, töteten viele, machten Gefangene, schleppten Vorräte weg, und was sie nicht erbeuten konnten, das vernichteten sie durch Feuer. Immer war an der Spitze die Begum auf ihrem Falben, kein Schwert, keine Kugel, keine Lanze konnte ihr etwas anhaben, dagegen wütete sie wie ein Würgengel unter den Feinden.
Was Wunder, wenn es keinen Inder mehr im englischen Lager gab, der gegen die Ausfallenden kämpfen wollte. Der Ruf »die Begum von Dschansi!« genügte für alle Sepoys, die Waffen wegzuwerfen und zu fliehen.
Aber nicht allein diese unwiderstehliche Tapferkeit war es, welche Schrecken und Entsetzen verbreitete. Es kam noch viel mehr hinzu.
Dollamores Erzählung, er hätte mit der Begum gesprochen, während sie doch einige Kilometer weit entfernt gekämpft, fand höchstens bei den Indern Glauben, natürlich nicht bei den Engländern. So aufgeklärt waren doch selbst die Soldaten, welche sonst an kugelfeste Briefe, Talismane und so weiter glauben. Nein, dass ein Mensch durch die Luft fliegen oder an verschiedenen Orten zugleich erscheinen könnte, das ging nicht an.
Da wurde das Wunder bestätigt, die Begum war an verschiedenen Stellen zugleich gesehen worden.
Auf der einen Seite des Lagers kämpfte sie, auf der anderen machte sie Gefangene, ja, dann wurde sie an einem dritten Orte beobachtet, wie sie die Schanzarbeiten zerstören ließ. Man konnte sagen was man wollte, es blieb eine Tatsache. Es war dieselbe Figur, dasselbe Stahlgewand, der Helm mit dem Visier, jede Bewegung war dieselbe, und wer die Stimme hörte, konnte schwören, dass sie ein und derselben Person gehörte. Zugleich wurde es ruchbar, dass sich die Begum unter allerhand Verkleidungen durch das Lager schlich, um zu spionieren, die schwächsten Punkte zum Angriff auszukundschaften, man fand Posten mit durchschnittener Kehle, erwürgt, einmal lag die Mannschaft eines ganzen Wachfeuers entseelt am Boden, und stand man noch starr vor Entsetzen bei den noch warmen Toten, da stürmte schon die Begum aus den Toren Delhis und trug Tod und Vernichtung in das englische Lager.
Das waren keine Gerüchte, sondern Tatsachen, aber es kann nicht gesagt werden, dass die Offiziere selbst an die überirdische Kraft des Mädchens glaubten. Sie versuchten es den Abergläubischen so zu erklären, dass es mehrere Weiber gab, welche die Rolle einer Begum von Dschansi spielten, doch diese Erklärung kam zu spät und fand keinen Boden. Die Inder, wie die englischen Soldaten hielten eben die Begum von Dschansi seit dieser Zeit für ein übernatürliches Wesen. Letztere wurden durch die verschärfte Disziplin daran verhindert, etwa ihre Waffen wegzuwerfen und gegen die Ausfallenden nicht zu kämpfen, bei den Indern indes hatte man schweren Stand.
Diese weigerten sich nicht nur, gegen solch ein diabolisches Weib zu kämpfen, sie gaben sogar offen ihre Absicht kund, jetzt lieber unter die Rebellen zu gehen, weil sich das Waffenglück auf deren Seite wandte. Man konnte es den Leuten auch wahrlich nicht verdenken, wenn sie lieber für als gegen solch ein übernatürliches Wesen fochten.
Sie machten ihre Absicht zur Tat, das heißt, sie liefen in hellen Scharen zu den Rebellen über. Als Lord Cannings strenge Ermahnung nichts half, ließ er eine solche überlaufende Truppe von einigen hundert Mann in Grund und Boden schießen. Die Folge davon war, dass man nur noch bei Nacht und Nebel zu fliehen wagte, aber es war gefährlich, denn die Engländer hielten gut Wache und schossen jeden Überläufer nieder.
Unterdessen kam General Nicholson mit Verstärkung und schwerer Artillerie, die Schanzgräben wurden besetzt, und das Bombardement begann, welches von Delhi aus lebhaft und nicht ohne Erfolg erwidert wurde.
Fast jeden Tag sah man die Begum auf dem Wall neben einer kleinkalibrigen, aber langgezogenen Kanone stehen und Schuss auf Schuss mit eigener Hand abfeuern. Diese Schießübung schien ihr Spaß zu machen. Sie nahm weniger Menschenmassen aufs Korn, wie sie auch nicht mit Granaten schoss, sondern entfernte und schwierige Ziele, etwa eine Zeltstange oder eine verlassene Kanone, und zerschmetterte sie mit unfehlbarer Sicherheit durch eine Spitzkugel.
Dann erglänzte ihr Panzer im Sonnenlicht, man konnte durch ein Fernrohr deutlich erkennen, wie die schönen Züge vor Vergnügen strahlten, wenn die Kugel das Ziel zerschmetterte, und man vermochte beim Anblick dieses lieblichen Gesichts nicht zu begreifen, dass es dem Weibe gehörte, das in der Nacht wieder wie ein Würgengel im englischen Lager erschien; denn General Nicholsons Ankunft verhinderte diese Ausfälle nicht.
Man machte riesige Anstrengungen, um bald zum Sturm schreiten zu können. Einer war schon riskiert worden und von den Indern mit Leichtigkeit, ja, mit höhnender Spielerei zurückgeschlagen worden. Jetzt galt es, Breschen zu schießen.
Die Belagerer hatten einen schweren Stand. Außer mit einem verzweifelten Feinde hatten sie mit glühender Sonnenhitze, Cholera, Ruhr und gelbem Fieber zu kämpfen. Sie hatten schon mehrere Generäle und gute Führer verloren.
Aber alles dies war nichts gegen die Furcht, welche die Person der Begum von Dschansi hervorzauberte.
Endlich traten einige Offiziere zusammen, welche sich zur Aufgabe machen wollten, diese Gespensterfurcht zu verbannen. Das erste war, dass sie tausend Pfund dem versprachen, der die Begum von Dschansi, tot oder lebendig im englischen Lager ablieferte. Dieses Versprechen war daran schuld, dass nicht alle Offiziere der Vereinigung beitraten. Lord Canning erklärte als erster, er halte es für Unrecht, auf den Kopf der tapferen Begum, der man Edelmut nicht absprechen dürfe, eine Belohnung wie auf den eines Räubers und Mörders zu setzen. Schnell wurden seiner Ansicht noch viele andere Offiziere, besonders durch die Schilderung Dollamores, und so kam es, dass schließlich nur noch ein kleiner Kreis von Offizieren übrig blieb, welche der Ansicht waren, dass zur Vernichtung des Aberglaubens und zur Aufklärung jedes Mittel erlaubt sei; gegebenenfalls sogar ein Wortbruch.
Diese Herren hatten nicht so ganz unrecht. Vielleicht erinnert sich der liebe Leser noch jener spiritistischen Gesellschaft, welche einst die ganze Welt verdummen wollte und auch verdummt hat. Ein näherer Einblick in ihre Mysterien war daher nicht möglich, weil jeder Zuschauer sein Ehrenwort abgeben musste, in die Vorstellung nicht tätlich einzugreifen. Der Mann nun, welcher den erschienenen Geist packte und ihn der Polizei auslieferte, war ein Offizier aus fürstlichem Geblüt, und niemand machte ihm einen Vorwurf, dass er sein Ehrenwort gebrochen, denn er hat der Menschheit einen großen Dienst dadurch erwiesen, er hat Hunderttausende vor Verrücktheit gerettet, als er den Schwindler entlarvte.
Einer, welcher am eifrigsten auf Enthüllung des Geheimnisses drang, das die Begum mit einem mysteriösen Schleier umhüllte, war Lord Westerly, welcher dem Leser schon öfters als ein Aufgeklärter vorgestellt wurde.
Lord Westerly gehörte zu den Schlachtenbummlern, die sich den englischen Truppen anschlossen, sich auch manchmal am Kampfe beteiligten, und ab und zu sogar die Rolle eines Anführers spielten, ohne Militär zu sein.
Er hatte sich an jenem Tage aus dem Lager entfernt, als die Begum schwere Anklagen gegen Lord Canning erhoben hatte, zugleich mit dem Colonel, der von Canning ausgeschickt worden war, Franziska von Burg Tokirha abzuholen. Dieser war noch nicht zurückgekehrt, er schien mit seinen Leuten verschollen zu sein, dagegen war Westerly vor einigen Tagen wieder eingetroffen. Von dem Colonel und den hundert Dragonern wollte er nichts wissen, er hätte sie nicht begleitet.
Also Westerly drang hauptsächlich darauf, die Begum tot oder lebendig zu fangen, um endlich dem Aberglauben ein Ende zu machen, und zu den tausend Pfund zeichnete er den größten Teil.
Er schien sich überhaupt ganz ungemein für die Person der Begum zu interessieren. Stundenlang konnte er an einem verborgenen Orte stehen und sie auf dem Wall beobachten, wie sie das kleine Geschütz bediente. Er hatte Infanteristen aufgefordert, sich an den Wall zu schleichen und diesem verfluchten Weibe eins auf die Rippen zu brennen, ja, er hatte einmal selbst eine Kanone dahin gerichtet, wo die Begum stand, und abgeschossen, freilich ohne Erfolg.
Mit dem Preise auf den Kopf des Mädchens war es überhaupt eine eigentümliche Sache. Es musste doch ganz leicht sein, sie zu töten, es konnte ja im Kampfe mit Gewehr oder Revolver auf sie geschossen werden, der Platz, wo sie stand, konnte mit Kartätschenhagel überschüttet werden, und man tat dies auch alles, aber sonderbar — das Mädchen musste wirklich gegen Tod und Wunden gefeit sein, nichts vermochte ihr etwas anzuhaben. Rings um sie her stürzten die Inder nieder, sie blieb aufrecht stehen.
Daher kam es, dass sich niemand fand, der sich den Preis von tausend Pfund verdienen wollte. Was konnte man mit jemandem anfangen, dessen Körper gegen Schuss, Hieb und Stich gefeit war! So dachten nicht nur die Sepoys, sondern selbst die englischen Soldaten.
Der nächste Vorschlag eines Offiziers aus dem Bunde war, das Mädchen durch Meuchelmord aus der Welt zu schaffen. Man erhöhte den ausgesetzten Preis, man lauschte herum, ob sich jemand fände; aber wer hätte gewagt, sich nach Delhi zu schleichen, dicht in die Nähe der Begum, und ihr den Dolch ins Herz zu stoßen?
»Sie hat ja drei Leben und ist an drei verschiedenen Orten zugleich, sonst würde ich's wagen«, entgegnete der verwegenste Inder, ein verkommenes Subjekt, der für Geld sonst alles tat.
Lord Westerly war es, der hier Rat wusste. An einem Morgen fand man wieder sieben Posten mit durchschnittenem Halse; an jedem Toten war die Karte befestigt, welche das Zeichen der Begum trug.
Wie gewöhnlich, sollten auch diese sieben Leichen in einem gemeinsamen Grabe bestattet werden.
Da widersetzte sich ein eingeborener Soldat, ein junger, schöner Mann mit feurigen Augen und herabhängendem Schnurrbart, dass einer der Toten von den Leichengräbern fortgeschafft würde.
»Es ist mein Bruder«, sagte er mit dumpfer Stimme, »ich möchte ihn selbst begraben.«
»Man bestattet deinen Bruder mit allen Ehren«, entgegnete man ihm. »Ist er auch nicht im offenen Kampf gefallen, so ist er doch den Tod für die englische Nation gestorben.«
»Aber wir sind Perser und beten die Sonne und das Feuer an. Mein Bruder darf nicht an der Seite von Buddhisten liegen.«
Ohne weiteres wurde dem Manne seine Bitte gewährt, aber nur unter der Bedingung, dass die Leiche innerhalb vier Stunden außerhalb des Lagers begraben sein müsse, denn in Indien haucht der tote Körper schon am ersten Tage giftige Gase aus.
Der Mann schien bei dieser Bedingung zu erschrecken.
»Herr, vier Stunden sind zu wenig«, sagte er zu dem Offizier.
»Dann kommt er ins Massenbegräbnis.«
»Gib mir zwölf Stunden Zeit, zehn Stunden. Ein Feueranbeter darf nicht einfach in die Erde gelegt werden.«
»Vier Stunden, nicht länger.«
Der Perser überlegte einen Augenblick.
»Gut, in vier Stunden soll er begraben sein«, entgegnete er dann.
Doch der Offizier traute dem Manne nicht auf sein Wort hin, weil er so lange gezögert hatte.
»Natürlich muss jemand dabei sein, der aufpasst, dass du die Beerdigung in vier Stunden vollzogen hast. Wir achten zwar die Religion eines jeden, ob Buddhist oder Feueranbeter, doch die Gesundheit ist die Hauptsache jetzt.«
»Nur ein Feueranbeter dürfte der Beerdigung beiwohnen«, sagte der Perser finster.
»Unter den englischen Offizieren befindet sich bis jetzt leider noch kein solcher. Nun also, entweder — oder.«
Westerly hatte dieses Gespräch mit angehört, und mehr aus Neugier als aus Wissbegier hätte er gern solch einer Beerdigung eines Feueranbeters, also eines Anhängers des mysteriösen Zoroasters beigewohnt. Ohne geheimnisvolle Zeremonien ging es dabei wohl nicht ab.
Kurz entschlossen trat er zu dem Offizier und bat um Erlaubnis, diese Beerdigung überwachen zu dürfen, und zu dem Perser gewendet, fuhr er fort:
»Verlass dich darauf, ich werde dich weder stören noch verlachen, noch darüber plaudern. Ich interessiere mich für die Jünger Zoroasters, dessen Verehrer ich bin. Willst du mich als deinen Begleiter annehmen?«
Mit scharfem Blick musterte der Perser Westerly und bejahte nach einigem Zögern. Der englische Offizier nahm das Anerbieten des Lords nicht nur an, sondern bedankte sich auch noch für dessen Zuvorkommenheit.
Die Leichenträger entfernten sich mit den sechs Toten, der letzte, der Bruder des Persers, fast noch ein Knabe, blieb liegen. Der Perser stand vor ihm mit gekreuzten Armen, Wehmut sprach aus seinem Blick, nach und nach aber wurde dieser immer finsterer und furchtbarer.
Westerly erinnerte ihn mit schonenden Worten daran, dass er nur noch vier Stunden Zeit habe.
Der Mann fuhr jäh aus seinem Brüten auf.
»Was heißt das?«, fragte er, Westerly das Kärtchen zeigend, das auf die Brust des Toten geheftet worden war.
»Das heißt: Die Begum von Dschansi. Es ist der Name des Weibes, das deinen Bruder gemordet hat.«
»Gemordet, gemordet!«, wiederholte der Perser mit zuckenden Lippen.
»Du musst das Weib doch kennen, das schon so viele der Unsrigen gemordet hat. Man spricht ja jetzt nur von ihm.«
»Ein Weib? Ha, ein Weib hat ihn gemordet!«, knirschte der Mann.
Westerly wurde aufmerksam. Dieser Mann, ein Perser, sprach ganz anders von der Begum als die Buddhisten und die Mohammedaner.
»Du hast doch sicher auch schon von der Begum gehört, die die Tochter einer Göttin ist, nicht verwundet werden kann und an verschiedenen Orten zugleich erscheint?«, fragte er prüfend.
Was Westerly gedacht, das erfuhr er jetzt aus dem Munde dieses Mannes selbst.
»Ich bin kein Buddhist oder Mohammedaner, der an Götter und Gespenster glaubt!«, stieß er wild hervor. »Ich bin ein Feueranbeter und glaube das, was Zoroaster lehrt, an die allmächtige Sonne und an das belebende und tötende Feuer. Aber ich bin auch kein Tadschick, sondern ein Ihlat, und weiß daher, was ich zu tun habe.«
Westerly war in der persischen Völkerkunde erfahren genug, um den angedeuteten Unterschied zu verstehen. Die Perser scheiden sich in die Stämme der Tadschicks und der Ihlats. Erstere sind die Ureinwohner und von letzteren unterjocht worden. Die Tadschicks sind lebhaft und klug, aber auch ihre schmeichlerische Falschheit, Hinterlist und Feigheit sind in ganz Vorderasien sprichwörtlich. Die Ihlats, ihre Unterdrücker, sind wilde Nomaden, von Jagd und Viehzucht lebend, aber wegen ihrer Selbständigkeit, Sittlichkeit und vor allem wegen ihrer Tapferkeit bekannt: die Blutrache ist ihnen heilig.
Dachte dieser Mann an Blutrache? Das musste von Westerly benutzt werden.
»Du hast recht, die Begum ist nur ein menschliches Weib und feig dazu, dass sie den Feinden bei Nacht die Kehle durchschneidet; und außer dir sind alle anderen Narren, sie für ein überirdisches Wesen zu halten. Dieser arme Knabe! Wie schändlich, von der Hand eines Weibes zu fallen!«
»Herr, reizt mich nicht noch mehr!«, fuhr der Perser auf. »Mein Blut kocht schon! Bedenkt, ich bin ein Ihlat!«
Er ging davon und kehrte mit einer Decke und einer Schaufel zurück. Nachdem er den toten Bruder in erstere eingeschlagen und ihn sorgsam in seine sehnigen Arme genommen hatte, schritt er dem Walde zu. Westerly folgte ihm in einiger Entfernung, ihn aber nicht aus den Augen verlierend.
Als er wieder zu dem Perser stieß, grub dieser schon ein Grab, und zwar ein sehr tiefes. Obgleich Westerly sich ganz in der Nähe aufhielt, wehrte jener ihn doch nicht ab, ja, wenn er mit seiner Arbeit einmal innehielt, blickte er nach dem Lord hin. Er schien zu überlegen und mit einem Entschluss zu kämpfen. Er verbat sich auch die Anwesenheit eines Fremden nicht, als Westerly dicht an das Grab trat.
Das Begräbnis war zwar ungewöhnlich, aber einfach genug.
Der Perser füllte erst die Grube mit einer hohen Schicht von kleingehacktem, trockenem Holze aus, dann legte er den Toten darauf, warf wieder Holz über die Leiche, und schüttete nun erst Erde darüber. Dabei ließ er einige Kanäle offen, sowohl in den Holzschichten als auch in der Erddecke, sodass er also etwa einen Meiler wie der Köhler baute.
Nach zwei Stunden war die Arbeit beendet.
»Diese offenen Kanäle musst du jedenfalls erst verstopfen«, sagte Westerly, »sonst hat die ganze Beerdigung gar keinen Zweck, denn die Leichengase treten durch dieselben an die Luft.«
Der Perser blickte finster auf das Grab.
»Er darf auch nicht beerdigt werden, wenigstens jetzt noch nicht.«
»Warum denn nicht?«
»Weil der noch lebt, der ihn gemordet hat.«
»Ach so, du denkst an Blutrache.«
»Die Blutrache ist uns heilig!«
»So töte doch die Begum. Du weißt ja, dass du dir damit tausend Pfund verdienen kannst.«
»Was schert mich das Geld!«, sagte der Perser verächtlich. »Blut fordert Blut! Der Tote ist mein Bruder, ich muss ihn rächen!«
»So tu's! Was hindert dich daran?«
»Nichts!«, stieß der Mann rau hervor. »Ich werde es auch tun, und sei sie auch ein Geist! Ich will doch sehen, ob mein Dolchstoß sie nicht niederstreckt!«
»Das war brav gesprochen!«, rief Westerly erfreut. »Nun, so lass denn meinetwegen die Kanäle offen; ich will nichts verraten.«
Der Perser trat einen Schritt auf ihn zu.
»Herr, ich glaube, du meinst es gut mit mir!«
»Ich wünsche dir sicherlich nichts Böses. Was willst du von mir?«
»Einen Dienst sollst du mir leisten. Ich werde die Begum töten, und du erhältst das Geld dafür, das ich nicht annehmen darf.«
»Danke!«, lachte Westerly. »Was für einen Dienst soll ich dir leisten?«
»Sieh, wir Feueranbeter verbrennen die Körper unserer Toten; wer aber ermordet worden ist, der darf nicht eher verbrannt werden, als bis der Mörder seine Strafe gefunden hat, und sollte die Leiche auch inzwischen verwesen. Ich darf meinen Bruder hier nicht liegen lassen; ich begrub ihn, ließ aber Luftlöcher, sodass das Holz von außen angesteckt werden kann. Er ist so nur scheinbar begraben.«
»Ah, und wenn du den Mörder bestraft hast, so kehrst du zurück und setzt das Holz in Brand.«
»Und wenn ich nicht zurückkehre?«
»Nun, so tut es eben ein anderer für dich.«
»So ist es! Willst du dieser andere sein?«
»Gewiss. Hoffentlich aber kommst du gesund wieder und meldest uns den Tod dieser Mörderin!«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Doch diese Nacht fällt sie noch so sicher von meiner Hand, wie die Sonne am Himmel steht. Und bin ich morgen nicht zurück, so bitte ich dich, das Holz für mich in Brand zu setzen, damit die Seele meines armen Bruders Ruhe findet.«
»Gern will ich dies tun. Ich verspreche es dir auf mein Wort. Aber hältst du es denn für so leicht, dich an die Begum zu schleichen und sie zu töten?«
»Es muss sein; und ich werde es vollbringen! Sie ist kein Geist, denn es gibt keinen.«
»Davon ist natürlich keine Rede. Doch die Begum wird von Vertrauten umgeben sein, die dich festnehmen können.«
»Ich schwöre, dass sie morgen nicht mehr leben soll«, sagte der Perser feierlich.
»Gut, ich glaube dir«, entgegnete der Lord, der im Innern entzückt war. »Wie heißt du?«
»Ardschir.«
»Warum dienst du hier in Indien?«
»Mein Bruder und ich gingen nach Indien, um Geld zu verdienen. Wir arbeiten für unsere alten Eltern. Der Sold, den die Engländer zahlen, ist hoch; wir ließen uns werben und sind unserem Versprechen treu geblieben.«
»Nun, Ardschir, lass dir noch etwas sagen. Du musst einsehen, wie viel uns Engländern daran gelegen ist, diese Begum tot zu wissen. Deshalb setzten wir tausend Pfund aus für den, der sie tötet. Ich selbst gab viel dazu. Und wenn du dein Vorhaben glücklich ausführst, so sollen die tausend Pfund deinen Eltern zukommen.«
Des Persers Augen leuchteten einen Augenblick auf.
»Ich werde sie ihnen wohl nicht bringen können. Ich steche die Begum nieder, und man wird auch mich töten.«
»Dennoch sollen deine Eltern das Geld erhalten, ebenso wie die Nachricht, dass du den Tod des Bruders an seinem Mörder gerächt hast, und dass die Leiche nach Vollstreckung der Rache verbrannt worden ist.«
»Das wolltest du wirklich für mich tun?«, rief Ardschir erfreut.
»Gewiss, ich verspreche es dir! Komm dann in mein Zelt, dort sollst du mir sagen, wo wir deine Eltern finden können, und wir können dir auch Ratschläge geben, wie du am leichtesten nach Delhi und in die Nähe der Begum gelangst.«
»O, nichts leichter als das! Auch ich werde heimlich nach Delhi gehen wie so viele andere, und keine Wache soll mich fangen. Eine Gelegenheit, in die Nähe der Begum zu kommen, werde ich finden, und ehe sie mich fassen, steckt mein Dolch schon im Herzen der Verruchten.«
»So suche mich dann wenigstens auf, damit ich den Wohnort deiner Eltern erfahre.«
Westerly beschrieb ihm die Lage seines Zeltes, entfernte sich und hatte nichts Eiligeres zu tun, als die Offiziere des Aufklärungsbundes bei sich zusammenzurufen.
Triumphierend verkündigte er ihnen das Vernommene, und die Offiziere waren nicht minder erfreut, endlich einen Mann gefunden zu haben, der sich nicht scheute, dem Mädchen ernstlich zu Leibe zu gehen.
»Nicht zu voreilig, meine Herren!«, warnte ein Besonnener. »Bedenken Sie wohl, dass die Begum kein gewöhnliches Mädchen ist, das in Ohnmacht fällt, wenn es sich mit der Nähnadel in den Finger sticht. Wer unseren Dollamore zu entwaffnen versteht und einen unserer besten Fechter beim ersten Hieb aus dem Sattel sticht, der hat auch nicht den ersten besten Meuchelmörder zu fürchten.«
Die Übrigen stimmten ihm bei.
»Deshalb eben habe ich Ardschir hierher bestellt«, nahm Westerly wieder das Wort, »er denkt sich die Sache viel zu leicht, wir müssen ihm raten, wie er den Mord am sichersten vollführt.«
»Ein Stich von hinten ins Herz, sehr einfach!«
»Die Begum hat stets kampfgeübte Berater um sich, die sie wie ihren Augapfel bewachen. Wir haben ja davon erzählen hören.«
»Dann wird der Dolch vergiftet.«
»Die Inder verstehen sich aus Gifte und Gegenmittel.«
So wechselten die Reden hin und her, es wurden noch viele Vorschläge gemacht.
»Und was ist Ihre Meinung, Mylord?«, fragte einer Westerly, der schweigend, überlegend zugehört hatte.
»Ich bin für den vergifteten Dolch. Wir geben einen solchen unter einigem Hokuspokus dem Perser in die Hände, sagen, gerade mit diesem müsse die Begum getötet werden, und sorgen, dass er unbelästigt nach Delhi kommt.«
»Das war schon unsere Meinung. Doch das Gift tötet nicht so schnell, und die Inder kennen für jedes Gift ein Gegenmittel.«
»So, kennen Sie es?«, fragte Westerly, und ein höhnisches Grinsen verzerrte dabei sein Gesicht. »Nein, es gibt ein Gift, das augenblicklich tötet, sodass ein Gegenmittel nichts mehr hilft. Der kleinste Ritz von der Waffe, die mit diesem Gift imprägniert ist, hat den augenblicklichen Tod zur Folge.«
»Ein indisches Gift?«, riefen die Herren.
»Aus einer indischen Pflanze gewonnen.«
»Und die Inder sollten dieses Gift nicht kennen?«
»Einmal ist die Pflanze sehr selten, und dann gibt es kein Gegenmittel dafür.«
»So müssten wir uns dieses Gift erst verschaffen.«
»Ist nicht nötig, ich besitze einen damit imprägnierten Dolch.«
Dabei zog Westerly die Waffe, mit der er schon einen Mord vollführt hatte, aus der Tasche. Wie viel mochte diesem Manne an dem Tod der Begum liegen, dass er das Geheimnis des furchtbaren Dolches preisgab!
Die Offiziere bewunderten die außerordentlich kostbare Waffe, bezweifelten aber die sofortige Wirkung.
»Der Tod träte sofort ein?«
»Augenblicklich, schon beim leisesten Ritz oder Stich, ja, fast schon bei einer Berührung. Nehmen Sie sich in acht, meine Herren, wenn Sie den Stahl entblößen!«
»Haben Sie die Wirkung schon probiert?«
»Einmal bei einem Pferd, das den Fuß gebrochen hatte«, log Westerly, »es fiel augenblicklich tot nieder.«
»Kaum glaublich!«
»Ich werde Ihnen eine Probe geben.«
Er lockte einen Pariahund, wie solche die Inder überall begleiten, ins Zelt, berührte nur leicht die Schnauze des Tieres, und ohne Röcheln, ohne Zuckungen stürzte es nieder und war sofort tot.
Die Offiziere konnten sich eines Schauderns nicht erwehren. Die Waffe wurde jetzt mit Scheu betrachtet und nur mit den Fingerspitzen angefasst.
Westerly stieß den Stahl in die Scheide zurück und zog ihn wieder heraus.
»Frisch geladen!«, sagte er mit hässlichem Lächeln. »Das zweite Opfer ist die tapfere Begum von Dschansi.«
»Bei Gott«, sagte ein Offizier leise und erschüttert, »ich wünschte meinem ärgsten Feinde nicht einen solchen Tod. Das Mädchen hat einen anderen verdient.«
Westerly zuckte kaltblütig die Achseln.
»Was wollen Sie? Tod bleibt Tod, und je schneller er eintritt, desto besser für jeden, ob Mensch oder Tier. Diese Begum ist ein gefährliches Weib, und wir haben die Sache genug besprochen. Einer einfachen Waffe sich zu bedienen, ist bei ihr nicht so leicht, sie wird, wie wir erfahren haben, von Männern bewacht, die jede Art von Meuchelmord und dessen Abwehr förmlich studiert haben. Ein Gift, das nicht sofort wirkt, hat keinen Zweck. Aber dieser Dolch hier— ein Ritz, nur ein leiser Stich, ein Zuck der Hand, und tot ist sie.«
»Meine Herren«, fügte ein anderer hinzu, »bedenken Sie, es handelt sich nicht nur darum, den Glauben zu vernichten, dass es kein überirdisches Wesen gibt, sondern auch darum, unseren Soldaten, Indern und Engländern, wieder Mut einzuflößen, denn sonst steht es wahrhaftig schlimm mit uns. Wir blamieren uns ja ganz unsterblich, weil wir uns von solch einem Weibe ins Bockshorn jagen lassen.«
Die übrigen stimmten ihm bei, es gab keine Rücksicht — und der Tod der Begum von Dschansi war beschlossen.
Man wartete, bis Ardschir kam. Inzwischen teilte Westerly seine Absicht mit, bald das Lager wieder zu verlassen. Nur den Tod der Begum wolle er noch erfahren. Wohin er zu reisen beabsichtigte, darüber drückte er sich nicht deutlich aus.
»Sie befinden sich ja fortwährend auf Reisen. Wenn Sie nur nicht einmal den Rebellen in die Hände fallen. Warum schließen Sie sich nicht einem Regiment fest an? In diesem Kriege gibt es noch Lorbeeren genug zu erwerben.«
»Nicht wahr, nach Bombay reisen Sie?«, fragte ein anderer.
»Nach Bombay?«, rief Westerly wie erschrocken. »Nein«, setzte er dann so nachdrücklich hinzu, dass man glauben musste, eben Bombay sei sein Ziel.
»Ich glaubte nur, Sie wollten sich dort auch wie so viele andere, die in diesem Feldzug noch eine Stellung annehmen möchten, Sir Hugh Rose anschließen. Er soll stark zu einem Siegeszuge durch Mittelindien rüsten.«
»Leicht möglich, dass ich in seine Dienste trete«, entgegnete Westerly gleichgültig, »noch möglicher aber, dass ich mich nach England einschiffe.«
Diese Unterhaltung musste abgebrochen werden, denn der Perser kam.
Nach Anhören der Ratschläge der Offiziere sah er die Richtigkeit derselben ein und versprach, sie auf's genaueste zu befolgen. Wenn er während der Nacht nach Delhi ging, wurde ihm keine Schwierigkeit in den Weg gelegt, er meldete sich drüben als Überläufer, und wieder gab ihm Westerly den besten Rat, wie er in die Nähe der Begum käme.
Ein düsteres Lächeln umspielte die Lippen des Bluträchers, als er den vergifteten Dolch in den Busen steckte — jetzt war der Begum Tod unabwendbar.
Monsieur Francoeur hatte sich ebenso wie die meisten Führer der Rebellen in den Residenzpalast des Großmoguls zurückgezogen, denn es war fast eine Unmöglichkeit, dass eine feindliche Granate ihren Weg in das Innere dieses winkligen Gebäudes fand.
Eben war der General der Artillerie Delhis, obgleich allein, noch sehr vergnügt gewesen, doch schnell zog er sein gleichgültigstes Gesicht, als er eine sehr elegant in Schwarz gekleidete Dame mit blassem Gesicht eintreten sah.
Langsam erhob er sich und verbeugte sich formell.
»Ah, Madame Dubois, was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs?«, näselte er, als mache ihm jedes Wort Mühe.
Die Dame machte eine abwehrende Handbewegung.
»Lass diese Höflichkeit, Francoeur, sie steht dir mir gegenüber nicht. Übrigens sollte es mich sehr wundern, wenn du nicht wüsstest, was mich zu dir führt.«
»Du willst Abschied nehmen? Mich verlassen?«
»Sieh, wie gut du orientiert bist!«, entgegnete sie spöttisch. »Aber etwas irrst du dich doch. Einmal könnte ich dich nicht verlassen, denn das ist ganz auf deiner Seite. Nun, ich wünsche dir Glück zu deiner neuen Eroberung. Zweitens komme ich nicht, um Abschied zu nehmen, sondern um dich zu bitten, mir den Abschied zu ermöglichen.«
Phoebe hatte sich gesetzt, Francoeur ihr gegenüber. Er fixierte seine einstige Kurtisane und fand, dass sie sehr gealtert war. Das Gesicht war eingefallen, die Haut mehr grau als blass, und Phoebe tat nichts, durch künstliche Mittel die einstige Schönheit wiederherzustellen, nicht einmal durch eine etwas kokette Kleidung.
So hatte er nicht zu bereuen, Phoebe schon seit langer Zeit aufgegeben zu haben. Der General der Artillerie war vielumschwärmt und liebte die Abwechslung.
Nachdenklich spielte er mit einem auf dem Tisch liegenden Federmesser, er hielt es nicht einmal wie sonst für nötig, seiner früheren Geliebten den Zigarettenbecher, der in Indien eine ebenso wichtige Rolle spielt wie im Orient, anzubieten.
»Lässt Sinkolin dich nicht gehen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Er fürchtet Verrat.«
»Und nicht ohne Grund.«
»Bah, ich habe einen anderen Zweck, Delhi zu verlassen, als Sinkolins Taschenspielerkünste zu verraten.«
»Du, das lass Sinkolin nicht hören. Und was ist dein Zweck?«
»Den behalte ich für mich.«
»Wenn du nicht offen bist, kann und darf ich dir ebenso wenig helfen. Doch wende dich an die Begum, sie wird dir nichts abschlagen.«
»Es wird mir keine Möglichkeit geboten, zu Bega zu gelangen. Stets schiebt sich Sinkolin dazwischen.«
»Nicht?«, rief Francoeur mit gut erkünsteltem Erstaunen, in dem zugleich Hohn lag. »Das ist ja sonderbar. Zu einer von den drei oder vier Begums, die wir jetzt haben, musst du doch Zutritt erhalten; denn Sinkolin, als eine einzige Person, kann doch nicht überall sein.«
»Verschone mich mit solcher Narretei«, entgegnete Phoebe ärgerlich, »wir beide brauchen uns doch nicht gegenseitig etwas weismachen zu wollen.«
»Oho, da irrst du. Ich glaube fest daran.«
»So glaube und werde selig. Willst du mir behilflich sein, dass ich Delhi verlassen kann? Freilich«, setzte sie bitter hinzu, »einen Gegendienst wie damals, als du mir dieselbe Gelegenheit verschafftest, kann ich dir nicht mehr bieten.«
»Hm, du denkst an die Renaissance der Liebe«, meinte Francoeur nachdenkend. »Weißt du, indem du mich daran erinnerst, fällt mir plötzlich etwas ein. Jetzt weiß ich, weshalb du durchaus Delhi verlassen willst.«
Phoebe konnte eine Unruhe nicht unterdrücken.
»Und das wäre?«
»Weißt du, dass Lord Westerly die Absicht hat, nach Bombay zu gehen?«
Phoebe wechselte die Farbe, aber sie wurde nicht rot, sondern noch um einen Schein fahler.
»Siehst du, ich habe richtig geraten!«, lachte Francoeur. »Als du damals die Flussexpedition mitmachen wolltest, da war Westerly auch im Boot, und jetzt, da er nach Bombay geht, willst du sofort auch mit. Vielleicht als seine Gemahlin nach England?«
»Westerly nach Bombay?«, flüsterte Phoebe wie geistesabwesend. »Wozu denn?«
Francoeur hustete verlegen. Er hatte Phoebes Kenntnis überschätzt, das hatte sie offenbar noch gar nicht gewusst. Aber auch sie täuschte sich in Francoeur vollkommen.
»Ja, er geht nach Bombay, wie wir von Spionen erfahren haben«, entgegnete er gleichgültig. »Ob er in Diensten reist oder auf eigene Faust, weiß ich nicht, wahrscheinlich ersteres, denn dieser Mensch hat ja überhaupt keinen eigenen Willen mehr.«
Phoebe war aufgesprungen, hatte einen Gang durchs Zimmer gemacht und sich wieder gesetzt.
»Du musst, du musst mir helfen, aus Delhi zu kommen!«, rief sie leidenschaftlich.
»Warum willst du denn nur fort?«
»Was soll ich noch hier? Meine Mission ist erfüllt, ich bin kein kriegerisches Weib wie Bega.«
»Bah, mach keine Geschichten! Westerly ist der Grund, dass du uns verlassen willst.«
»Ja denn, meinetwegen.«
»Du liebst ihn«, sagte Francoeur lauernd.
»Ja, du hast's erraten.«
Francoeur machte ein überaus schlaues Gesicht, beugte sich vor, legte die Hand auf Phoebes Knie und schaute sie blinzelnd an.
»Phoebe, du täuschst dich in mir. Ich durchschaue dich.«
»Wieso?«
»Du liebst Westerly nicht«, flüsterte er, »sondern du hasst ihn.«
Das Weib schien erstarrt zu sein.
»Woher weißt du das?«, stammelte sie nach langer Pause.
»Ich habe etwas gehört, das andere habe ich mir dazu kombiniert. Nicht wahr, du hasst Westerly?«
»Ja, ich gestehe es.«
»Und warum?«
»Weil — weil — ich darf es nicht sagen.«
»Ich will dir behilflich sein. Hängt dein Hass gegen Westerly mit einem vergifteten Dolch zusammen?«
Phoebe war aufgesprungen und starrte den Sprecher wie versteinert an.
»Du weißt mehr, als mir gut ist«, stieß sie hervor.
»Beruhige dich, ich wusste nichts, sondern habe es nur erraten«, lächelte Francoeur, »ich erhielt einst Andeutungen.«
»Von wem?«
»Von der Duchesse.«
»Ich konnte ahnen, dass ich ihr schon zu viel gesagt hatte«, stöhnte Phoebe auf.
Der Franzose drückte sie auf ihren Stuhl zurück. »Beruhige dich, deine Besorgnis ist ganz grundlos! Warum überhaupt hast du solche Angst, wenn jemand weiß, dass du Delhi verlassen willst, um deine Rache an Westerly zu kühlen?«
»Weil er im Dienste der Rebellen steht.«
»Wohl, wenn ich dir aber nun sage, dass das die längste Zeit gedauert hat, dass Sinkolin sich bald seiner für immer entledigen wird, wie er sich schon so manches entledigt hat?«
»Ah, sprichst du die Wahrheit, oder ist es nur eine Vermutung?«
»Vorläufig nur das letztere, so viel aber weiß ich bestimmt, dass Sinkolin ihn im Verdacht der Verräterei hat.«
»Er hielte es mit den Engländern? Das glaube ich nicht.«
»Nein, auch das nicht. Sinkolin argwöhnt sehr stark, dass Westerly uns hintergeht, indem er seine eigenen Pläne verfolgt, und ich vermute dasselbe.«
»Kläre mich auf, ich bitte dich! Das wäre allerdings günstig für mich.«
»Höre mich an!«, Er dämpfte seine Stimme bis zum leisesten Flüstern herab. »Was den Indern verborgen ist, kann uns aufgeklärten Europäern doch nicht verborgen bleiben, so sehr man sich auch Mühe gibt, uns zu verdummen. Auch du weißt, welch spitzfindiges Spiel Sinkolin getrieben hat, um die Begum aus ihrer Teilnahmslosigkeit aufzurütteln und sie dazu zu bringen, dass sie alles gestattet, was der Krieg erlaubt. Die Intrigen kennst du doch auch?«
»Die, welche die Tötung Reihenfels' beabsichtigten?«
»Ja.«
»Der Mord an Reihenfels war ja nur Nebensache, Hauptsache war, die Rachsucht der Begum anzustacheln, und zwar gegen den Anführer der Engländer, gegen Lord Canning, und das ist Sinkolin glänzend gelungen. In den Augen der Begum ist jener an Reihenfels' Tod schuld; sie fordert den Geliebten von ihm zurück, oder sie droht ihm Vernichtung.«
»Was hat das mit Westerly zu tun?«
»Sehr viel. Sinkolin, diesem geschickten Taschenspieler ist es wirklich gelungen, die Begum mit einem Zaubernimbus zu umgeben. Unsere Chancen sind jetzt die besten; der Ruf: Die Begum von Dschansi kommt, veranlasst Inder, wie Engländer, die Waffen wegzuwerfen und zu fliehen. Das würde etwas Schönes werden, wenn die jetzt einen Sturm wagten! Sinkolin oder Timur Dhar ist nicht nur ein Gaukler, sondern auch ein politischer Hexenmeister.«
»Aber Westerly? Wo ist Westerly?«, drängte das Weib ungeduldig.
»Gleich, gleich, warte nur, er kommt schon! Freilich ist auch zu bedenken, dass Sinkolin ein äußerst gewagtes Spiel riskiert hat; denn die Buranis, die Reihenfels erschossen, waren von dem Gaukler dazu geworben, die Ankläger von ihm bestochen, die Schriften von ihm gefälscht. Reihenfels starb ganz unschuldig, ebenso wie Lord Canning völlig unschuldig an seinem Blute ist. Es galt für Sinkolin ja nur, den Hass der Begum auf Lord Canning zu lenken.«
»Der arme Reihenfels!«, sagte Phoebe mitleidig. »Von allen Opfern dieses Krieges bedauere ich ihn am allermeisten.«
»Ach was bedauern! Krieg ist Krieg! Mich wundert nur, dass Sinkolin ihn einfach töten, ihn nicht lebendig verschwinden ließ, denn soviel ich weiß, hat der Alte mit dem jungen Mann noch ein Hühnchen zu rupfen gehabt, und sonst lässt er seine Rache nicht so leicht unbefriedigt.«
»Aber ich bitte dich, wo bleibt denn nur Westerly?«
»Unterbrich mich nicht immer! Du musst alles hören, um mich verstehen zu können. Ein Hauptzeuge gegen Canning sollte der Jude Sedrack sein, natürlich auch von Sinkolin bestochen. Da aber ist irgendein Versehen unterlaufen, das mir nicht bekannt ist, und das sich, wie mir scheint, Sinkolin ebenso wenig erklären kann. Ich glaube fest, Sedrack wäre bald als Entlastungszeuge für Canning aufgetreten, es war etwas mit einer Wechselunterschrift, von welcher Sinkolin glaubte, Canning hätte sie wirklich geschrieben, was sich aber nachher als unrichtig erwies. Ich sehe in dieser Sache nicht klar. Kurzum, Sinkolin hielt es für gut, Sedrack schnell verschwinden zu lassen, er will nach seinem Zelt, wo er gefangen war, und — fand es leer, Sedrack war schon von einem anderen befreit.«
»Von wem?«
»Ja, von wem? Jedenfalls von dem, der den Wechsel gefälscht hatte ohne Wissen Sinkolins.«
»Und der Verdacht lenkte sich auf Westerly?«
»Natürlich.«
»Ah, nun beginne ich zu verstehen.«
»Es kommt noch mehr. Um Cannings Schuld in den Augen der Begum zu vergewissern, war seine Braut, Franziska, wirklich nach Tokirha gebracht worden. Wie man vorbedacht, so geschah es. Als Canning dies aus des Juden Munde erfuhr, hatte er natürlich nichts Eiligeres zu tun, als Leute dorthin zuschicken, seine Braut abzuholen. Diese konnten Franziska vielleicht noch unterwegs einholen. Zu gleicher Zeit verließ auch Westerly das Lager; wohin er sich wandte, weiß niemand, auch keiner von unseren Spionen. Franziska aber hat Tokirha nie erreicht, ebenso wenig einer ihrer Begleiter. Alle sind spurlos verschwunden und die ausgesandten Dragoner noch nicht zurück, dagegen traf Westerly bald wieder im Lager ein und sagte mit harmloser Miene, er sei da und da gewesen, was sich aber als eine Unwahrheit herausstellte. Nun, was denkst du?«
»Man glaubt, Westerly habe Franziska beseitigt.«
»So ist es, das nimmt Sinkolin wenigstens an, und ebenso, dass er schon vorher Sedrack bestochen hatte, ihm Franziska zu verschaffen. Wir wissen nämlich auch warum; es handelt sich um eine Privatrache. Aber eine solche duldet Sinkolin nicht.«
»Nun, bei dir lässt es sich vielleicht machen. Sinkolin späht nach einem Beweis von Westerlys Schuld, und dann gibt er ihn preis. Willst du mir nicht sagen, warum du ihn hasst?«
»Ja, wenn du mich dafür aus Delhi entlassen kannst.«
»Das kann ich nicht. Aber, Phoebe, ich will dir doch noch einen Gefallen tun, ehe wir uns trennen, vielleicht für immer. Ich will dir eine Unterredung mit der Begum verschaffen.«
»O, bitte, tue das!«, Francoeur sah nach der Uhr.
»Du musst nämlich wissen«, fuhr er dann noch leiser fort, »dass Sinkolin manchmal der Begum selbst lästig wird mit seiner ewigen Geheimtuerei und vor allen Dingen, weil er sie nicht aus den Augen lässt. Er und wir alle sitzen auf einem Pulverfass...«
»Wieso?«
»Bedenke doch, wenn die Begum einmal erfährt, dass Reihenfels nicht von Canning, sondern auf Befehl Sinkolins getötet worden ist! Himmel und Hölle, was gäbe das für einen Aufruhr! Dann würde sich bald alles hier ändern. Dies zu verhüten, ist natürlich Sinkolins heiligste Aufgabe. Nun hat sich ein Perser hier gemeldet, ein Überläufer, der behauptet, er könne über Reihenfels' Tod wichtige Aussagen machen. Die Begum hat davon gehört, sie will ihn selbst vernehmen, und zwar ohne Beisein von irgend jemandem. Ich kenne das Zimmer, wo das Verhör stattfinden soll. Dorthin werde ich dich führen, dort sollst du die Begum sprechen.«
»Ich danke dir. Ihr werd ich alles erzählen, und sie wird mir helfen. Noch eine Frage: wie nun, wenn der Perser wirklich richtige Aussagen über den Sachverhalt macht?«
»Dass er die Wahrheit weiß, glaube ich nicht Und dann brauchst du keine Angst zu haben...«
»O, ich habe keine, ich will nur fort von Delhi.«
»... Sinkolin hält sich doch in der Nähe auf und lauscht, und spricht der Überläufer auch nur ein verdächtiges Wort, so stirbt er von Sinkolins Hand. Eine Entschuldigung findet dieser dann schnell, er sagt einfach, er habe erfahren, dass der Überläufer einen Meuchelmord vorgehabt. O Sinkolin ist so schlau!«
»Und wann kann ich die Begum sprechen?«
»Jetzt sofort«, entgegnete Francoeur und erhob sich, »nur das eine lass dir noch gesagt sein, Phoebe. Ich glaube nämlich zu wissen, woher dein Hass zu Westerly entspringt. Du hast nicht umsonst seinen Diener so aufopfernd gepflegt. Sollte er dir etwas verraten haben?«
Phoebe antwortete nicht, und Francoeur fragte nicht weiter. Er führte seine einstige Geliebte, deren er jetzt überdrüssig geworden, durch mehrere Gänge und Korridore.
Die ihnen begegnenden Diener verneigten sich tief vor dem Kommandeur der Festung, tiefer als vor jedem noch so herrisch und prahlerisch auftretenden Radscha, denn man wusste jetzt, dass Delhi nicht durch die Großsprecherei der indischen Fürsten, sondern nur durch die Kenntnis dieses artilleristisch ausgebildeten Franzosen gehalten werden konnte.
Vor einem Gemach stand ein indischer Diener; er hatte den strengen Befehl, niemanden eintreten zu lassen, aber dem Franzosen wagte er nicht den Eintritt zu verbieten. Doch Francoeur trat auch nicht ein, er schlug nur die dichten Portieren zurück, schob Phoebe sanft hindurch und ging selbst zurück.
In diesem Gemach stand die Begum sinnend am Fenster, von dem aus sie das Hauptlager der Engländer übersehen konnte. Von den Schanzgräben stiegen Rauchwölkchen auf, man sah die Kugeln wie große Vögel mit Singen und Pfeifen einhergeschwirrt kommen, manche fuhr sausend in die viele Meter starke Mauer, dass Kalk und Steine herumspritzten, bohrte sich ein Loch, und die nächste vergrößerte es. Eine dritte Kugel fuhr unter die ersten beiden; so entstand nach und nach ein Spalt, und wie lange mochte es dauern, so war in die Mauer eine Bresche geschossen.
Die Engländer schonten zwar die Stadt selbst, aber manche Kugeln verirrten sich auch in die Straßen und richteten Unheil an. Ging es zum Sturm, ja, dann war es wohl mit der Schonung vorbei, dann spieen die Schanzgräben Granaten über die Stadt.
Dazu donnerten die Geschütze Delhis, welche die Schanzwerke zu zerstören und die feindlichen Kanonen zum Schweigen zu bringen versuchten. Selten einmal gelang ihnen das, die englischen Pioniere waren im Schanzbau zu erfahren.
Das Mädchen am Fenster war in schwarze indische Gewänder gekleidet, unter denen sie aber wie gewöhnlich ein Panzerhemd trug. Die Fülle der schweren Locken hielt ein schwarzes Band aus der Stirn zurück, und zu dieser Trauerkleidung passten auch die Züge: das Gesicht drückte Schwermut aus, traurig blickten die dunklen Augen auf die Fluren und Gefilde, die einst im Ährenschmuck geprangt hatten, jetzt von Hufen und Tritten zerstampft waren, und wo statt des Schnitterliedes das Brüllen der Kanonen ertönte.
Hastig wendete sie sich um, als sie jemanden eintreten hörte. Beim Anblick Phoebes nahm ihr Gesicht einen enttäuschten Ausdruck an. Doch gleich änderte er sich; wie Freude leuchtete es in ihren Augen auf, und mit ausgestreckten Armen eilte sie auf die einstige Erzieherin zu.
»Ich habe dich lange nicht gesehen!«, rief sie herzlich und gab ihr beide Hände. »Hältst du dich von mir fern, seit ich meinen Sinn geändert habe? Dir gegenüber bin ich noch die selbe. Ach, was können wir Armen gegen das Schicksal! Wir müssen die Rollen spielen, die es uns zugeteilt hat, und sträuben wir uns dagegen, so zermalmt es uns; wir sind doch nur seine Sklaven. Auch du hast doch nicht freiwillig die Sklavenketten genommen.«
Wäre Phoebe nicht von etwas ganz anderem erfüllt gewesen, sie hätte den Schmerz fühlen müssen, der in den Worten des Mädchens lag. Doch sie war zu sehr mit ihrer eigenen Angelegenheit beschäftigt.
»Ich habe oft versucht, dich zu sprechen, aber ich fand keinen Zugang zu dir«, entgegnete sie; »stets hieß es, die Begum habe keine Zeit, mich zu sehen.«
»Ich weiß, ich weiß, man will mich von allem fernhalten, an dem ich früher hing. Und ich bin auch wirklich fortwährend beschäftigt. Doch nun, da ich weiß, dass du noch an mich denkst, soll es anders werden. Meinem direkten Wunsch, dass du zu jeder Zeit mir willkommen bist, darf sich niemand widersetzen. Nicht wahr, du machst Gebrauch davon?«
»Begum, ich wollte...«
»Nenne mich nicht so, sondern wie früher.«
»Ich komme eben, Bega«, entgegnete Phoebe zögernd, »dich um Erlaubnis zu bitten, mich für immer von dir entfernen zu dürfen.«
»Für immer?«, rief Bega bestürzt.
»Ich möchte fort von Delhi, frei sein.«
»Den Wunsch kann ich begreifen«, sagte Bega langsam, »und warum solltest du nicht frei sein?«, fuhr sie lebhafter fort. »Deine Anwesenheit ist hier nicht mehr nötig, seitdem du dein möglichstes getan hast, den Aufstand in Indien vorzubereiten. Du tatest auch dies nicht freiwillig, ich weiß es wohl, nun aber sollst du den Dank für deine Bemühungen haben, mein Wort soll deine Ketten brechen, die dich etwa noch an Francoeur binden...«
Sie brach kurz ab, und auch Phoebe schwieg verlegen. Bega war längst darüber aufgeklärt worden, dass Francoeur und Phoebe nicht Bruder und Schwester waren. Doch Bega war zu edel, um Rechenschaft für diese Lüge zu fordern.
»Wer hält dich noch zurück?«, fuhr Bega fort.
»Sinkolin.«
»Er fürchtet Verrat von dir?«
»Es kann nicht anders sein.«
»Meine Bürgschaft muss seinen Zweifel brechen. Ich traue dir, dass du uns nicht verrätst. Doch was willst du draußen? Hast du noch etwas, was dein Herz anzieht?«
»Ja.«
»Du Glückliche«, hauchte das Mädchen.
»Der Hass treibt mich aus den Mauern Delhis.«
Bega schaute die Sprecherin mit großen Augen an.
»Der Hass? Nun ja, er kann ein mächtiger Magnet werden, ich wäre wohl auch fähig, glühend zu hassen wenn — — — — Phoebe, auch du hast mich hintergangen; doch ich verzeihe dir, denn du handeltest nicht nach freiem Willen. Mache es wieder gut, indem du mir die Wahrheit sagst.«
»Von Reihen — —«
»Nicht, nicht«, unterbrach das Mädchen sie heftig, erzähle von dir, von deinem Leben, was dich hinaustreibt, warum du hasst und wen. Vielleicht bringt es mir Beruhigung, fremdes Leid zu hören, und vielleicht — vielleicht lerne ich etwas dabei.«
Phoebe, welche vor dem Mädchen eine Art Scheu empfand, die sie vorher nie gekannt hatte, begann ohne weitere Umstände zu erzählen; sie holte weit aus.
Natürlich verhehlte sie, als sie zum Beispiel von der schwarzen Maske, ihrem Geliebten, sprach, das was sich nicht für die Ohren eines Mädchens schickte, und wäre es noch so selbständig gewesen.
Dann erzählte sie, was der Grund ihres Wunsches, fortzugehen war:, also der Tod der schwarzen Maske, und wie sie auf die Vermutung gekommen wäre, Westerly sei sein Mörder, was ihr schließlich aus Aleens Munde bestätigt wurde. Hatte Aleen ihn auch gestochen, Westerly war dennoch sein Mörder, Aleen nur das Werkzeug gewesen.
Sie beschrieb ganz genau, was sie von Aleen vernommen hatte, sie schilderte lebhaft die Mordszene, und sie geriet so in Erregung dass sie dabei heftig gestikulierte. Sie schien, auf den Zehenspitzen schleichend, den Dolch zu heben und zuzustoßen; plötzlich brach sie zusammen.
Bega war eine unaufmerksame Zuhörerin gewesen, fortwährend sie nach der Tür, als hoffte sie, die Portiere würde jeden Augenblick zurückgeschlagen, und es träte jemand ein. Erklang ein Schritt auf dem Korridor, so zuckte sie zusammen, und ihre Augen erweiterten sich.
Erst bei dem letzten Teil von Phoebes Erzählung wurde sie aufmerksamer; sie begann sich zu interessieren, da sie aber vorher nur halb zugehört hatte, so musste sie nach Vorangegangenem fragen, wollte sie das Ganze verstehen.
»Der Dolch war vergiftet, sagtest du?«
»Mit einem furchtbaren Gift. Aleen berührte fast nur den Hals des unglücklichen Alphons, und wie vom Blitz getroffen brach dieser zusammen.«
»Tot?«
»Augenblicklich tot.«
»Ein solches Gift gibt es nicht.«
»Ich versichere es dir. Aleen selbst kennt es; die Pflanze aus der es bereitet wird, ist aber sehr selten. In ganz Indien soll es nur zwei Dolche geben, die damit vergiftet sind, sagte er.«
»Kaum glaublich«, wiederholte Bega kopfschüttelnd.
»Doch; in Wanstead kam auch zufälligerweise, als wir von Giften sprachen, Mister —«
Phoebe brach verlegen ab.
»Mister Reihenfels, sprich es aus!«
»— auch Mister Reihenfels sprach davon, es gäbe in Indien ein Pflanzengift, welches, ins Blut gebracht, augenblicklich das Leben erstarren mache. Ein Ritz, ein Stich, eine Berührung genüge, und der Herzschlag stockt. Ich entsinne mich noch genau seiner Worte.«
»Das ist ein merkwürdiger Dolch. In wessen Besitz ist er jetzt?«
»Aller Wahrscheinlichkeit nach ist er in Westerlys Händen.«
Auf dem Korridor ertönten Schritte. In Begleitung einiger Sepoys trat ein junger, schöner Mann ein, mit herabhängendem Schnurrbart und gelblichem Gesicht die Hände in den weiten Ärmeln verborgen.
Bega wurde von leidenschaftlicher Erregung ergriffen, als sie den Mann musterte, der vor ihr stand. Dann drehte sie sich schnell nach Phoebe um und ergriff ihre beiden Hände.
»Verzeihe, ich muss jetzt...«
Da zuckte es hinter ihr wie eine blaue Flamme durch die Luft; der Mann hatte einen Dolch aus dem Ärmel gezogen und auf ihren Hals zum Stoß gerichtet.
Phoebe schrie laut auf — und noch eine andere Stimme.
Ein kleiner Mann mit faltigem Gesicht stürzte ins Zimmer und stieß dem Meuchelmörder — dem Perser — in dem Augenblick das Messer ins Herz, als dessen Dolchspitze den Nacken des Mädchens berührte. Röchelnd brach der Perser zusammen, den vergifteten Dolch in der Faust.
Einen Moment stand die Begum noch aufrecht, beide Hände noch ausgestreckt, um die Phoebes zu fassen, den Mund noch zum letzten Wort geöffnet, dann schlug auch sie der Länge nach auf den Boden nieder — eine Leiche!
Unter dem mächtigen Baum, welcher sich mit seinen mannesstarken Zweigen alle anderen Bäume fernhielt und so mitten im sonst undurchdringlichen Urwald eine kleine Lichtung geschaffen hatte, brannte in der Nacht ein zu verlöschen drohendes Feuer. An diesem lag schlafend ein Mensch; ob Mann oder Weib, ob jung oder alt, konnte man nicht unterscheiden, denn unter der Decke sah nichts weiter hervor als zwei Soldatenstiefel, eine Mütze und der Lauf einer Büchse.
Wenn wir aber noch hinzufügen, dass die Mütze aus fuchsfeuerrotem Pelzwerk bestand, wie es in Indien niemand trägt, so wird der liebe Leser sofort wissen, dass dieser sorglose Schläfer den Namen Dick Red führt, es sei denn, diese Mütze hätte jemand ihm gestohlen und sich aufgesetzt.
Doch Dick ließ sich nichts stehlen, er war es wirklich, und sehr sorglos und müde war er auch, sonst hätte er wahrhaftig nicht so ruhig hier im Grase geschlafen, wo Schlangen mit ihm unliebsame Bekanntschaft machen konnten, und wo ab und zu laut und vernehmlich das Geheul eines blutdürstigen Panthers erklang.
Möglich, dass Dick einen sehr leisen Schlaf hatte und sich sagte: Wenn der Panther hier ist, so habe ich noch immer Zeit genug, mich zu erheben, und raschelt es neben mir, so schlage ich die Schlange tot. Jetzt regte und rührte er sich noch nicht, obgleich das Geheul des Panthers immer drohender und hungriger klang.
Dick merkte auch nicht, wie sich die Büsche teilten und ein beturbanter Kopf mit glühenden Augen zum Vorschein kam. Einige Minuten waren diese Raubtieraugen im menschlichen Kopf unverwandt auf den Schläfer geheftet. Als sich dieser nicht rührte, schlüpfte ein bis auf den Schurz nackter, brauner Mensch hervor, schlangengleich, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. In seiner Hand hielt er eine kurze Schlinge, unter dem Turban hing ein schwarzes Seidentuch. Ein Thug also hatte sich Dick zum Opfer ausersehen.
Nicht genug damit, auch auf der anderen Seite der Lichtung schlüpfte ein halbnackter Inder hervor und bewegte sich ebenso geräuschlos auf den Schläfer zu, nur dass dieser Mann in der Hand keine Schlinge trug, sondern ein blitzendes Messer.
Langsam, Zoll für Zoll glitten sie auf den Schläfer zu. Kein Zweig knackte, kein Blatt raschelte. Armer Dick, jetzt hat deine letzte Stunde geschlagen, wenn du nicht bald erwachst! Er erwachte nicht, er merkte nichts. Nun hatten ihn die beiden Thugs von den zwei verschiedenen Seiten zu gleicher Zeit erreicht, und diesmal war ihr Verfahren, ein auserkorenes Opfer zu töten, ein ganz anderes als sonst. Sie mussten wissen, was für einen gefährlichen Gegner sie vor sich hatten.
Der eine hob das Messer und richtete es auf die Herzgegend des Schläfers zum Stoß. Der andere kroch noch etwas mehr herum und machte die Schlinge bereit, sie dem Ahnungslosen um den Kopf zu legen und zuzuziehen. Gelang es nicht, ihn mit der Schlinge zu töten, so fuhr ihm das Messer in das Herz. Dann war das Opfer zwar nicht mehr für die Kali gefallen, aber die Thugs waren doch einen ihrer grimmigsten Feinde losgeworden.
Leise, vorsichtig schickte sich der Bhutote, der Erdrosseler, an, dem Schläfer die Schlinge unter den Kopf zu schieben, wozu er erst die Pelzmütze etwas heben musste.
Da plötzlich sauste aus den Zweigen des Baumes etwas Großes, etwas Unbeschreibliches auf sie herab, ein Gespenst, oder etwas, wie eine riesige Fledermaus mit ausgebreiteten Flügeln anzusehen. Während es durch die Luft sauste, konnte man es nicht erkennen.
Es fiel direkt auf die beiden Thugs; die Fänge des Ungeheuers packten gleichzeitig deren Genicke und drückten sie wuchtig zu Boden. Im Sturz bohrte der eine Thug sein Messer noch in den Körper des Schläfers, doch dieser schrie weder, noch röchelte er; denn das Ungeheuer, das sich von dem Baume herabgestürzt hatte und wie ein Vampir auf ihnen lag, war niemand anders als Dick selbst, nur mit Hemd und Hose bekleidet, barfuß und ohne Mütze.
»Habe ich euch endlich erwischt!«, rief er grimmig und schüttelte die beiden am Kragen. »Das hattet ihr Halunken wohl nicht gedacht, dass ich da oben sitze und euch beobachte, wie ihr herumschleicht. Mein Grab habt ihr auch schon gegraben; ja, wartet, da kommt ihr selbst hinein. Beguckt euch nur das Ding da ordentlich, das ist nichts weiter als meine Stiefel, mein Rock, meine Mütze und darüber meine Decke. Ja, beguckt's euch nur ordentlich — da — da.«
Dabei stieß er die Gesichter der beiden immer und immer wieder kräftig auf die Stiefelschäfte, und die Thugs konnten zappeln wie sie wollten, von diesen eisernen Fäusten kamen sie nicht los.
Endlich kniete er auf dem einen und presste ihn zu Boden, während er den anderen mit den von seinen Hüften gelösten Lederriemen band. Ebenso verfuhr er mit dem zweiten, dann packte er die beiden an ihren Gürteln und trug sie, als wären es Bündel Wäsche, seitwärts hinter den Baum, wo sich wirklich ein ganz frisch gemachtes Grab befand.
»So, da legt euch beide einstweilen hinein und denkt über eure Schandtaten nach«, sagte er und warf sie in das Grab, aber so, dass des einen Kopf zu den Füßen des anderen zu liegen kam; »morgen sprechen wir noch miteinander, und dann sollt ihr noch etwas erleben. Diesmal aber mache ich's anders.«
Ohne sich noch weiter um die Thugs zu kümmern, ging Dick an das Feuer zurück und begann sich hastig anzukleiden. Als er die Decke zurückschlug, zeigte sich ein Haufen Gras und Zweige, der zu einem menschlichen Körper geformt war. Der Gürtel, den Dick jetzt umschnallte, war rings mit pergamentähnlichen, vertrockneten Kopfhäuten bedeckt, von denen noch die schwarzen Haare herabhingen.
»Was heult der Panther so?«, murmelte er, während er sich ankleidete. »Er will etwas anschleichen und wird durch Furcht zurückgehalten. Doch wovor fürchtet sich denn der Panther? Höchstens vor dem Tiger oder vor dem Menschen. Es müssen Menschen sein. Ich habe mir da oben lange genug den Kopf über dieses sonderbare Geheul zerbrochen.«
Dick untersuchte die lange Büchse und wanderte mit unhörbaren Schritten der Richtung zu, aus welcher das Panthergeheul erscholl. Bald merkte er dass das Tier Kreise beschrieb; einmal kam es ihm so nahe, dass Dick das gelbe Fell durch die Blätter schimmern sah, und da der Panther jedenfalls ebenso gut in der Nacht sehen konnte wie Dick selbst, diesen aber, der sich nicht einmal duckte, doch nicht erblickte, so musste er seine ungeteilte Aufmerksamkeit nur auf einen Punkt richten, er musste von irgend etwas völlig beherrscht werden.
Die Kreise, die er zog, wurden immer enger, und Dick näherte sich dem Zentrum ebenfalls.
Da sah er endlich, was den Panther anzog; er hatte es auch schon vorher manchmal zu hören vermeint.
Es klang wie das Miauen von kleinen Pantherkatzen; sie riefen die Mutter, aber diese wagte sich noch nicht heran, weil dort, von woher das Miauen kam, zwei Menschen standen. Der Panther hatte noch kein Menschenblut gekostet, er fürchtete noch den aufrechtgehenden Herrn der Schöpfung. Hatte er sich aber erst einmal überzeugt, dass er dieses auf zwei Beinen umherstolzierende Wesen mit dem leichtesten Sprunge über den Haufen warf, dann war es mit seiner Scheu vor dem Menschen für immer vorbei.
Dicks Augen sahen, dass die beiden Menschen einander gegenüber an zwei Palmen gebunden waren, unfähig, sich zu rühren; zu ihren Füßen lagen vier kleine Katzen, ja, er konnte sogar erkennen, dass diese mit den Schwänzen zusammengebunden waren. Die Gesichter der beiden Menschen vermochte er freilich noch nicht zu unterscheiden, er hörte sie aber flüstern. Sie nahmen wahrscheinlich Abschied von der Welt; denn das näher und näher kommende Heulen des Panthers konnten sie nicht missdeuten.
Die Gefesselten waren englische Soldaten, und das genügte Dick. Er hob die Büchse und legte den Kolben an die Wange.
Der Panther hatte seine Furcht besiegt, die Kindesliebe hatte sie verdrängt. Ehe er seine Jungen freudig umspringen und belecken durfte, musste er diese beiden Menschen vernichten, denn diese hielt er natürlich für die Störer seines Familienglücks.
Den Körper dicht auf den Boden geschmiegt, die glühenden Augen auf den größeren der beiden Gefangenen gerichtet, schlich er mit zitterndem Schwanz vorwärts.
Jetzt duckte er sich zum Sprunge.
»Lebe wohl, mein lieber, lieber Jim!«, hörte Dick eine helle Stimme auf Englisch sagen.
Ein Feuerstrom, ein Knall, nicht lauter als ein Peitschenschlag, der Panther sprang — und fiel mit erloschenen Augen zwischen den beiden Gefangenen nieder. Die sichere Kugel aus Dicks Büchse war ihm durchs Auge ins Gehirn gedrungen und hatte den sofortigen Tod herbeigeführt.
Dicks Messer durchschnitt des englischen Soldaten Fuß und Handfesseln; der Mann wusste noch nicht, wie ihm geschah.
»Alle Wetter, das ist ja Jim Green.«
»Dick Red!«, rief der Befreite und fiel dem rotbärtigen Mann halb weinend vor Freude um den Hals.
»Und hier ist auch noch einer«, erklang es von der anderen Seite.
»Hol' mich der Teufel, das ist ja — das ist...«
»Bob, der Trommeljunge. Nun sei so gut, und mache auch mich los.«
»Wer wäre das? Das ist ja...«
»Bob, der Trommeljunge, mein Kamerad«, fiel Jim ein.
»Ich dachte — na, meinetwegen!«
Damit schnitt Dick auch Bobs Banden durch, und jauchzend fielen sich die beiden Befreiten an die Brust, wobei Bob aber nicht vergaß, dem Gefährten ins Ohr zu flüstern, ihn nicht zu verraten.
»Was macht ihr denn eigentlich hier?«, examinierte Dick. »Nehmt ein Panthernest aus, koppelt die Jungen mit den Schwänzen zusammen und bindet euch dann selbst gegenüber an Bäumen an! Habe doch in meinem ganzen Leben nicht solche Dummheiten gesehen!«
»Das wäre allerdings ein Kunststück«, lachte Bob.
»Nein, wir sind von dem Haupttrupp abgeschnitten worden und...«
»Weiß schon, weiß schon!«, fuhr ihn Dick grob an. »Halte mich nur nicht für gar zu dumm. Was ich noch nicht weiß, das könnt ihr mir später in aller Gemütlichkeit erzählen. Erst wollen wir einmal diesen Katzen den Hals umdrehen.«
»Die armen Tiere«, sagte Bob bedauernd. »Sie haben schon die Mutter verloren.«
»Ja, und wenn diese armen Tiere größer werden, dann lieben sie Menschenfleisch über alles, und die liebe Mutter hätte euch bald mit Haut und Haaren verspeist. Na, wenn ich nicht gekommen wäre, hätten euch diese Schufte bald einen schönen Streich gespielt.«
Dick tötete die Jungen, ließ alles liegen und führte die beiden an das Feuer zurück. Zuerst mussten sie erzählen, wie sie hierher und an die Palmen gekommen waren. Dicks Augen blickten beim Zuhören drohend, und seine Faust ballte sich.
Dass in der Nähe ein Kampf stattgefunden hatte, wusste er schon; er konnte auch aus den hinterlassenen Toten und Fährten mit Bestimmtheit behaupten, dass die Engländer zwar nicht Sieger geblieben wären, sich aber die Feinde vom Leibe gehalten und ihren Weg ungehindert fortgesetzt hätten.
Die Inder ließen endlich vom Kampfe ab und wendeten sich einer anderen Richtung zu. Wahrscheinlich hatten sie den heimlichen Überfall noch einmal mit besserem Erfolg versuchen wollen.
Dann begann Dick so kurz und schnell wie möglich seine Erlebnisse zu erzählen, denn er war kein Freund vom Reden. Die beiden Freunde erfuhren von dem verzweifelten Kampf in der Burg der Thugs, von der Befreiung der Gefangenen, und Dick vergaß nicht, hinzuzufügen, mit welcher Bravour sich sein Bruder August dabei benommen hatte, ebenso verweilte er länger bei Reihenfels.
»Mister Reihenfels ist tot!«, unterbrach ihn Jim.
Es dauerte lange, ehe Dick dies glauben wollte, und dass Canning ihn habe erschießen lassen, glaubte er überhaupt nicht.
»Das ist wieder solch eine niederträchtige Hinterlist von den braunen Schuften gewesen!«, zürnte er. »Na, gnade ihnen Gott, nun nehme ich noch weniger Rücksicht auf diese Kerle. Bisher war ich ehrlich bemüht, Nancys Tod zu rächen, nun treibe ich's doppelt schlimm, denn Reihenfels' Tod kommt auch noch auf ihr Kerbholz. Ich ruhe nicht eher, als bis ich dieser sogenannten Begum von Dschansi gegenüberstehe. Und dann will ich doch einmal sehen, ob sie sich unter meinen Händen in drei Teile zerlegen kann.«
Dick hatte also die jüngsten Ereignisse von Delhi schon gehört, das wunderbare Auftreten der Begum, und machte nun auch seine Gefährten damit bekannt.
»Unsinn ist's!«, murrte er. »Eine Schwindlerin ist sie; ebenso wie jener Gaukler. Aber ich will ihnen diese Schwindelei schon austreiben. Mein Weg führt mich jetzt nach Delhi, dort will ich einmal die Begum zum Kampf herausfordern.«
»Und wo sind Mister und Miss Woodfield?«
»Auf dem Wege nach Bombay, Charly begleitet sie. Von dort wollen sie sich nach England einschiffen. Ob letzterer mitgeht, weiß ich noch nicht. Wenn sie nur Bombay glücklich erreichen! Den einzelnen Reisenden lauert die braune Bande hier überall auf.«
»Warum bist du nicht mit Mister Woodfield gegangen?«
»Warum nicht? Weil ich mir etwas anderes vorgenommen habe. Nancys Tod will ich rächen, und ebenso die Enttäuschung des alten Vaters. Nicht eher will ich ruhen, als bis ich diesen schurkischen Gholab gefunden habe, der Nancy im letzten Augenblick erstochen hat, und habe ich ihn, dann gnade ihm Gott!«
Dick hatte wie zum Schwure die Hand aufgehoben.
»Unterdessen beschäftige ich mich mit den übrigen Indern, besonders mit den Thugs. Ich mache förmlich Jagd auf diese. Jeden, den ich treffe, werde ich töten — und noch mehr. Anfangs habe ich sie skalpiert, damit ich wusste, wie viele ich auf dem Konto hatte, aber der Gürtel ist voll; nur die Burschen, die mich besonders interessieren, werden noch skalpiert. Dann machte ich bei jedem Toten einen Ritz in den Büchsenkolben — er ist voll, es geht kein Einschnitt mehr darauf, dann auf den Messergriff — er ist schon ganz gerieft.«
Nicht ohne Schaudern blickten die beiden auf den Mann, der so kaltblütig von solch einer Sache sprach. Dick war kein Soldat, der von seinen Führern das Kommando bekam, sich auf die Feinde zu stürzen, sondern er beschlich den Gegner und tötete ihn. Erst jetzt bemerkten sie, dass seine Hose wie sein lederner Rock von Blut förmlich starrten — von Menschenblut.
»Du kamst zur rechten Zeit«, begann Jim wieder. »Nur eine Minute, eine Sekunde später, und wir wären eine Beute des Panthers geworden. Was führte dich hierher?«
»Ich wollte nach Delhi, gab aber Mister Woodfield erst noch ein tüchtiges Stück das Geleite, wodurch ich viel weiter südlich kam. Wir hatten ordentliche Kämpfe zu bestehen, denn die Gegend, durch die wir kamen, wimmelte von feindlichen Indern. Als wir eine bessere Gegend erreichten, trennte ich mich von meinen Gefährten und wollte direkt nach Delhi, habe mich aber, ich muss es offen gestehen, gründlich verlaufen. Wo mögen wir uns hier befinden?«
»Südwestlich von Delhi, aber weit ab.«
»Das weiß ich auch«, brummte Dick. »In der Richtung und in der Himmelsgegend irre ich mich nie. Ich meine, wie die Gegend hier wohl heißt. Es muss doch alles einen Namen haben.«
»Vielleicht sind wir in Berar, vielleicht zwischen Delhi und Berar. So genau können wir das nicht bestimmen. Du musstest doch unterwegs Dörfer passieren, wo du fragen konntest. Die Dorfbewohner halten mehr zu den Engländern, als den Rebellen.«
»Jawohl, das Fragen hat sich was. Es ist ganz merkwürdig. Wohin ich kam, da schrieen sie immer ein Wort und rissen aus, was das Leder hielt. Sie fürchteten sich wahrscheinlich vor meinem roten Bart oder vor meiner Pelzmütze, kurz, wohin ich kam, da rannte alles in voller Flucht davon. Oft bin ich durch ein Dorf gewandert, das von den Bewohnern völlig verlassen war. Ich konnte aus den Hütten nehmen, was ich wollte, niemand hinderte mich daran, weil niemand da war. Das Dorf war aber niemals verlassen, sondern die Bewohner hielten sich im Walde versteckt und lugten mit ängstlichen Gesichtern nach mir. Ich konnte noch so viel winken und freundliche Grimassen schneiden, sie kamen nicht; und erst nachdem ich das Dorf verlassen hatte, schlichen sie wieder nach ihren Wohnungen. Dabei riefen sie, wo ich nur gesehen wurde, mir immer dasselbe Wort zu.«
»Was für eins war es?«
»Es klang ungefähr wie Mahanloggi.«
»Das heißt so viel wie Menschenjäger.« sagte Jim.
»So so, hm, den Namen könnte ich mir wohl verdient haben. Aber woher kennt man mich da, wo ich noch gar nicht gewesen bin?«
»Deine Erscheinung ist sehr auffällig, die Leute kannten dich schon der Beschreibung nach.«
Es entstand eine Pause. Die beiden konnten sich eines Grausens nicht erwehren, bei diesem Mann zu sein, der sich in kurzer Zeit den Namen eines Menschenjägers erworben hatte.
»Nun merke ich schon lange, dass die Thugs sich förmlich verschworen haben, mich zu töten«, fuhr Dick dann fort. »Wahrscheinlich, weil ich ihnen damals im Felsentempel so zugesetzt habe. Sie verfolgen mich auf Schritt und Tritt, und natürlich mache ich sie auch kalt, sobald ich sie erwische. Den ganzen Tag heute beobachtete ich wieder zwei von diesen Burschen, die sich die möglichste Mühe gaben, auf meiner Spur zu bleiben. Am Abend lief ich schneller, um einen Vorsprung zu gewinnen, machte hier ein Feuer an, bereitete aus Laub einen Haufen, legte eine Decke darüber, schob Stiefel und Mütze so darunter, dass sie nur etwas hervorsahen, als ob ich im tiefsten Schlafe neben dem Feuer läge. Ich selbst kletterte auf diesen Baum und beobachtete. Nicht lange dauerte es, so kamen auch die beiden Burschen und buddelten hier nebenan in aller Stille ein Grab aus, das auszufüllen ich später die Ehre haben sollte. Höflich sind die Kerle, das muss man ihnen lassen: sie machen dem, den sie erwürgen wollen, vorher ein Grab und tragen ihn selbst zur Gruft. So erspart der Tote wenigstens die Begräbniskosten.«
Dick erzählte weiter, was wir schon wissen.
»Wo sind denn die beiden?«, riefen die Zuhörer nach Beendigung der Erzählung erschrocken.
»Ich will sie euch zeigen, bevor wir ans Essen denken.«
Er führte sie hinter den Baumstamm. Die beiden Thugs lagen noch immer bewegungslos in dem Loche, in derselben Lage, wie Dick sie hineingeworfen, und hatten die Augen geschlossen. Aber dieser ließ sich nicht täuschen.
»Hei, wie sie sich abgearbeitet haben, die Lederriemen zu zerreißen und abzustreifen«, lachte er, »der eine hat sich die Handgelenke halb zerschnitten, und der andere hat zu beißen versucht. Ja ja, meine Püppchen, reißt und beißt nur, das ist Büffelleder und keine Baumwolle. He, du«, er gab dem einen Thug einen derben Fußtritt, »schlafe nicht, jetzt ist noch keine Zeit dazu.«
Der Mann zuckte nicht mit den Augenlidern.
»Na, wartet, morgen werdet ihr schon sprechen lernen, wenn euch die Ameisen in den Magen kriechen.«
Diese letzten, für Jim und Bob unverständlichen Worte wirkten bei den beiden Thugs. Plötzlich schlugen sie die Augen auf und starrten den Sprecher erschrocken an; dem einen entfuhr sogar ein Laut des Schreckens.
»Ja ja, starrt mich nur an. Der eure sauberen Gefährten immer in die Ameisenhaufen hängt, das bin ich. Morgen soll aber nur einer hineinkommen, der andere sieht zu, damit er erzählen kann, wie ich mit den Thugs verfahre. Einen nach dem anderen hänge ich noch in den Ameisenhaufen.«
»Wohin?«, fragte Jim bestürzt.
»In den Ameisenhaufen. Das muss ein angenehmes Gefühl sein, wenn man, die Beine nach oben, mit dem Kopfe in einem Anreisenhaufen hängt, und die Ameisen kriechen durch die Nase ins Innere und fressen sich durch die Eingeweide.«
»Das ist grausam«, schauderte Bob.
»Bah, grausam! Von Schlangen sich in die Augen beißen und sich dann das Gehirn aussaugen zu lassen, ist auch nicht gerade hübsch. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Marter um Marter, so habe ich's unter den Indianern gelernt und finde es auch ganz gut.«
Sie kehrten an das Feuer zurück, Dick breitete vor seinen Gefährten getrocknetes Fleisch und harte Brotfladen aus, welche er wahrscheinlich schon vor längerer Zeit selbst zwischen zwei heißen Steinen gebacken hatte, und sah, langhingestreckt eine Pfeife rauchend, den hungrigen Gästen mit gemütlichem Augenblinzeln zu.
Obgleich es den beiden anfangs in Gesellschaft dieses unheimlichen Mannes, den sie erst jetzt richtig kennen lernten, nicht recht schmecken wollte, so nötigte doch der Hunger sie zum Zulangen.
»Nun, Bob«, begann Dick nach einer Pause, behaglich an der schmutzigen Holzpfeife ziehend, »hast du nicht Appetit nach Eierkuchen?«
Verwundert blickte der Gefragte auf.
»Ich nach Eierkuchen?«
»Bist du nicht ein Liebhaber von Eierkuchen?«
»Nee.«
»Höre, du flunkerst. Früher aßt du sie gern.«
»So, woher weißt du denn das?«
»Ich sehe es dir an.«
Dick blinzelte so schlau nach dem Burschen hinüber, dass Jim, wie Bob nicht anders glaubten, als Dick wüsste um des Letzteren wahren Charakter, er erinnere sich noch jenes Zusammentreffens zu Wanstead in der Hütte des alten Moore. Was selbst Jims verliebte Augen nicht entdeckten, das hatten die scharfen Augen des Trappers sofort bemerkt.
Schon wollte Bob ihn bitten, seine Entdeckung nicht auszuplaudern, als Dick in seiner gemütlichen Weise schon fortfuhr.
»Ich fragte nur so, weil ich nämlich Eier habe. Eierkuchen kann ich nun freilich nicht machen, aber essen wollen wir sie doch.«
Den beiden war noch nicht recht klar, was Dick eigentlich vorhabe, als er aufstand und sich den Gürtel ein Loch enger schnallte. Dann kletterte er mit der Schnelligkeit eines Affen den Baumstamm hinauf und verschwand in den Zweigen.
»Esst ihr auch Vogelnester gern?«, klang es von oben herab.
»Nein, danke!«, lachten die beiden.
»Es ist aber ein indisches, und indische Vogelnester soll man doch essen können.«
»Aber nicht von dieser Sorte. Lass es nur oben!«
Nach einer Minute kam Dick wieder am Stamme herabgerutscht, stülpte vorsichtig die Mütze vom Kopfe und entnahm dieser acht ziemlich große Eier.
»Die habe ich vorhin in Nestern liegen sehen, während ich die beiden Kerls beobachtete«, erklärte er; »einige habe ich in jedem Nest liegen lassen. Wie steht's nun, hart oder weich kochen?«
»Hast du denn einen Topf?«
»Nein.«
»Oder eine Pfanne?«
»Auch nicht.«
»Womit willst du sie denn kochen? Auf Feuer legen?«
»Da würden sie bald platzen.«
»Ja, worin denn sonst?«
»In meiner Mütze.«
»Ach, geh du willst uns foppen.«
»In dieser Mütze«, sagte Dick feierlich, die Kopfbedeckung zärtlich betrachtend, »habe ich schon manches Ei gekocht. oftmals heißes Wasser gemacht, um Wunden auszuwaschen, ja, ich habe mir sogar Grog darin gebraut.«
»Dann ist sie mit Blech gefüttert«, lachte Bob.
»Naseweiser Bursche, lerne erst die höhere Kochkunst kennen! Von so etwas versteht ihr Stadtmenschen nun freilich nichts, nicht einmal die Soldaten, und die Mädels nun gleich gar nichts. Eierkuchen ohne Eier, nur aus Butter, Brot und Käse machen und in Schmierseife backen, das kann ich allerdings auch nicht, das verstehen nur die irischen Mädels mit Papierwickeln in den Zöpfen, weißen Strümpfen und Holzpantoffeln, wie man aber Eier in der Mütze kocht, das will ich euch jetzt zeigen.«
Er entfernte sich vom Feuer. Die Zurückgebliebenen sahen sich an.
»Er ist verrückt geworden«, flüsterte Jim.
»Er weiß, wer ich bin«, entgegnete Bob ebenso leise.
»Nein, sonst hätte er's schon gesagt.«
»Er stichelt immer.«
»Aber nur für mich. Ich war ja damals auch dabei, seine Rederei gilt nur mir. Ruhig, er kommt zurück!«
Dick brachte seine Mütze mit Wasser gefüllt und setzte sie neben das Feuer hin. Dann stöberte er in dem Feuer, und es zeigte sich, dass auf dem Boden und in der Mitte desselben eine Menge Steine aufgebaut waren, die weiß glühten.
»Die habe ich schon hineingelegt, als ich das Feuer anbrannte«, erklärte Dick, »denn gleich als ich hierher kam, sah ich oben die Nester. So, nun passt auf, wie's gemacht wird.«
Der Trapper schien für Hitze ganz unempfindliche Hände zu besitzen, denn er holte mit der bloßen Hand einen nach dem anderen von den weißglühenden Steinen heraus und warf ihn in die Mütze, dass das Wasser aufzischte. Der Mütze selbst schadete diese Prozedur nichts. Die erkalteten Steine entnahm er dem schon heiß gewordenen Wasser und legte sie wieder ins Feuer, und nicht lange dauerte es, so begann das Wasser Blasen zu werfen.
Da nahm Dick einen trockenen Zweig, brach ihn in zwölf Teile und gab diese Jim. Dann räusperte er sich und blickte feierlich nach Bob hinüber.
»Bob, warst du schon in deinem Leben einmal in der Kirche?«
»Ja, als ich getauft wurde, aber darauf kann ich mich nicht mehr recht besinnen«, lachte Bob.
»Pst, nicht lachen, das verdirbt die Eier. Sonst nicht?«
»Oft genug, weil ich musste!«
»Kannst du das Vaterunser beten?«
»Vorwärts und rückwärts.«
»Dann kannst du's noch weit bringen. Also jetzt wirst du das Vaterunser zwölf mal beten, ohne Anstoß, nicht zu schnell und nicht zu langsam, gerade wie der Pastor in der Kirche. Und du, Jim, legst jedes Mal, wenn Bob Amen sagt, ein Hölzchen an die Erde, und wenn du das zwölfte hinlegst, dann rufst du so laut, wie du kannst: Halt! Dann sind die Eier hart.«
Er brachte das Wasser wieder zum Kochen und legte die Eier hinein.
»Jetzt kann's losgehen, bete!«, Bob fing an.
»Haaalt, nicht so schnell«, ermahnte der Koch, »so ist's recht. Die Augen brauchst du dabei nicht zu verdrehen, das wird hier nicht bezahlt.«
Geschickt wusste er das Wasser im Kochen zu halten, indem er noch immer die erkalteten Steine herausnahm und heiße wieder hineinlegte, jetzt aber sehr vorsichtig und sich zweier Hölzer bedienend, damit er nicht die Eier zerbrach.
Beim zwölften Amen rief Jim ein Halt, und Dick entnahm der Mütze die acht Eier, die sich wirklich als hartgekocht erwiesen. Salz war vorhanden, und so setzten die drei sich bald um das Feuer, die Eier verzehrend, wobei Dick seinen Gefährten den Löwenanteil überließ.
Nach dieser Mahlzeit traf man Vorbereitungen zur Nachtruhe, Dick schürte das Feuer, überzeugte sich noch einmal, dass die Fesseln seiner Gefangenen in Ordnung waren und legte sich dann ebenfalls nieder.
Die beiden jungen Freunde schliefen die ganze Nacht hindurch den festesten Schlaf; sie hörten nicht die Stimmen der Wildnis, das Heulen der wilden Tiere; Dick dagegen hob bei jedem verdächtigen Geräusch den Kopf und lauschte, sank aber immer gleich zurück und schlief wieder ein. Er schlief eben nur mit einem Ohre.
Beim ersten Morgengrauen, als die Tagesvögel den ersten Laut von sich gaben, erhob sich Dick schon und begab sich zu den beiden Thugs. Diese lagen noch immer so wie gestern, aber sie stellten sich nicht mehr schlafend und teilnahmslos, sondern schauten mit allen Zeichen der Furcht auf den kleinen roten Mann.
»Nun schlägt wohl euer Gewissen? Ja, die Rache kommt.«
Er ließ sich jetzt nicht weiter mit ihnen ein, packte jeden bei seinem Leibgurt und trug die Hilflosen in den Wald hinein. Er hatte sich wahrscheinlich schon gestern in der Umgebung des Lagerfeuers orientiert, denn er schritt geradeswegs dahin und stieß bald auf einen Ameisenhaufen, von dem er schon gestern gesprochen hatte.
Es war ein mittelgroßer Bau. Diese kleinen, schwarzen, indischen Ameisen, deren Biss an Schmerzhaftigkeit den unserer deutschen noch übertrifft, waren schon fleißig bei der Arbeit. Sie räumten die während der Nacht herabgefallenen Blätter und Ästchen aus dem Wege, welcher nach der benachbarten Kolonie führte, einige waren bemüht, einen in seiner Ruhe überrumpelten Grashüpfer zu bändigen, und eine Unzahl der schwarzen Tiere war gar damit beschäftigt, einen großen, toten Frosch nach dem Bau zu schleppen. Ruckweise rückte der Kadaver, dessen Gewicht das einer Ameise millionenfach überstieg, Millimeter nach Millimeter dem Bau näher, und immer mehr Ameisen strömten hinzu, um dieses Frühstück dem Lager zuzuführen. Einige Schritte davon sah man das gleiche Manöver sich an einem toten Vogel wiederholen.
Die indische Ameise ist wegen ihrer Gefräßigkeit nicht nur bekannt, sondern berüchtigt, sie kann der Schrecken eines ganzen Dorfes werden, es gibt kein Mittel, sie bei ihren Wanderungen aufzuhalten, Ströme überbrücken sie mit ihren eigenen Körpern, Feuer wird von ihnen erstickt, und das Haus, welches von ihnen überfallen wird, Palast oder Hütte, muss von den Bewohnern verlassen werden, denn was nicht gerade von Stein oder Metall ist, das fällt den eisernen Kauwerkzeugen der Ameisen zum Opfer; sie verschlingen sowohl die Gardinen am Fenster als den zurückgelassenen Vogel im Bauer. Selbst Menschen werden ihnen oftmals zur Beute.
Finster deutete Dick nach dem wimmelnden Ameisenhaufen und blickte dann abwechselnd die beiden Männer an. Diese überfiel plötzlich ein Zittern.
»Wisst ihr, wer ich bin?«
Er musste die Frage noch einmal wiederholen.
»Mahanloggi«, stammelte der eine.
»Diese Antwort rettete dir das Leben, dir wenigstens, denn ich habe beschlossen, dass nur einer von euch leben bleiben soll, und zwar der, der am schnellsten antwortet.«
»Du bist der Mahanloggi«, sagte jetzt auch der andere.
»Zu spät, mein Freund, das hättest du eher sagen sollen. Nur du wirst sterben, und dein Genosse soll erzählen, wie du geendet hast. Sage«, wandte er sich wieder an den anderen, »hast du schon Leichen gesehen, welche in Ameisenhaufen hingen?«
»Schon sehr, sehr viele.«
»Und was dachtest du, wer sie hineingehängt hätte?«
»Ein böser Geist.«
»Warum nicht ein Mensch?«
»Weil — weil kein Mensch es sein konnte.«
»Warum nicht?«
»Die Bäume, an denen die Leichen hingen, waren oft so dick, dass kein Mensch hinaufklettern kann. Und dann — dann waren die Leichen stets die von Thugs.«
»Stimmt!«, nickte Dick. »Nur Thugs hänge ich in die Ameisenhaufen. Versteht ihr eure Gefangenen zu martern, so verstehe ich es nicht minder.«
Der Inder richtete sich mit einem Anflug von Stolz auf.
»Faringi, wir opfern der heiligen Kali.«
»Gut, und meine Opfer sind auch heilig. Nun, Bursche, ich will dich schonen, sogar leben lassen, und das aus dem Grunde, damit du erzählen kannst, dass ich es bin, der jedem ihm begegnenden Inder, der mich für einen Engländer hält und mich töten will, zuvorkomme, indem ich ihm den Schädel einschlage.«
»Das weiß ich; du bist bei einer solchen Tat gesehen worden, und deshalb heißt du Mahanloggi.«
»Ja, ich bin ein Menschenjäger, und noch manchen werde ich zu seiner Kali schicken.«
»Bis die Kali dich strafen wird, wenn du nicht in die Hände der Begum fällst.«
»Schweig davon!«, sagte Dick verächtlich. »Höre mich vollends an. Ich lasse dich also leben, damit du auch allen Thugs erzählen kannst, dass ich es bin, der ihre Genossen in die Ameisenhaufen hängt; denn bis jetzt konnte noch niemand davon Zeugnis geben.«
»Die Thugs werden dir doch einmal die Schlinge über den Kopf werfen.«
»Oho, Bursche, du wirst übermütig, seitdem du weißt, dass du den Ameisen entgehen sollst.«
»Bleibe ich leben, so werde ich dich auch weiter verfolgen.«
»Mit der Schlinge?«
»Mit der Schlinge!«
»Gut, dass du es gleich sagst. Ich werde dir die Möglichkeit nehmen, dass du noch Schlingen werfen kannst. Aber leben bleibst du doch. Nun sieh zu, wie angenehm es ist, von Ameisen gefressen zu werden. Ja, ja, von mir könnt ihr lernen.«
Der andere Thug konnte ein Angstgeheul nicht unterdrücken, als Dick auf ihn zuging und er so sein letztes Stündchen kommen sah. Er wäre jederzeit bereit gewesen, freiwillig in den Tod zu gehen, er hätte seinen Kopf sofort dargeboten, falls ihm ein Opfer entgangen wäre, aber die Aussicht, gemartert zu werden — das ertrug er nicht.
Dick weidete sich an seiner Angst.
»Elender Wicht«, donnerte er ihn dann an, »wenn du einen anderen martern willst und bist nicht imstande, selbst eine Marter zu ertragen, so müsstest du eines hundertfachen Todes sterben. Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz — das will ich jetzt einmal an dir beweisen, Bestie du.«
Wieder stieß der Thug ein Jammergeschrei aus, als er Dick Ernst machen sah. Der Trapper löste von seinen Hüften den wohl zwanzig Meter langen Lasso, befestigte die Schlinge um die Füße des Mannes, legte ihn lang auf den Boden hin und schritt mit dem anderen Ende des Lassos dem Baume zu, an dessen Fuß sich der Ameisenhaufen befand. Der Baum war allerdings viel zu dick, als dass ein Mensch ihn hätte ersteigen können, der niedrigste Ast über dem Bau so hoch, dass er nur mit einer hohen Leiter zu erreichen gewesen wäre.
Beim Anblick des ihnen unbekannten Lassos wussten die Thugs sofort, wie der Menschenjäger seine Opfer in die Schwebe brachte.
»Dick, das darfst du nicht, das ist unmenschlich grausam!«, erscholl eine Stimme, und Jim und Bob traten aus dem Buschwerk. Das Geschrei des Thugs hatte sie geweckt und herbeigeführt.
Als sich Dick an Bob, der dies gerufen hatte, wendete, war sein Gesicht nicht mehr das gemütliche von gestern Abend. Eine furchtbare Entschlossenheit, ja, blutdürstige Grausamkeit war darin zu lesen.
»Was dürfte ich nicht?«, herrschte er den Jungen an. »Durften diese da Menschen quälen? Durften sie Nancy ihr ganzes Leben lang gefangenhalten für nichts und wieder nichts, nur damit sie um das Mädchen herumtanzen konnten, und durften sie sie dann auch noch niederstoßen? Pack dich fort, Weibsbild, wenn du den Anblick nicht ertragen kannst!«
Dick hatte zu verstehen gegeben, dass er Bobs Geschlecht kenne, und dass er keine fremde Einmischung in seine Absichten dulden würde.
Die beiden wollten sich abwenden, um das kommende grässliche Schauspiel nicht anzusehen, aber wie von einer geheimen Macht wurden sie an den Platz gefesselt und mussten der Vollstreckung beiwohnen.
Es war dies dieselbe Macht, welche die Volksmenge zum Richtplatz zieht, wobei das schöne und schwache Geschlecht am stärksten vertreten ist, dieselbe Macht, welche den Zuschauer zwingt, die Augen auf den Seiltänzer auf dem Turmseil zu richten. Ob er wohl herunterfällt? denkt angstvoll jedes Herz, und stürzt er, dann ist es erst interessant. Ein Seiltänzer drei Fuß über dem Boden würde wohl wenig Zuschauer haben; dann tut er sich ja nicht weh, wenn er stürzt.
Dick warf das Ende des Lassos über den Ast hinweg, dass er es wieder in die Hand bekam, und kletterte an dem jetzt doppelten Lederriemen auf den Ast, auf welchen er sich rittlings setzte.
Trotz allen Wehegeheuls wurde der Thug über den Boden geschleift, ein Ruck, er flog über den Ameisenhaufen hinweg, sodass er ihn vorläufig noch nicht berührte, und Dick zog ihn zu sich herauf.
Aber dies hatte keinen anderen Zweck, als dass ihm nun ein Strick an die Füße gebunden wurde, an welchem er so weit herabgelassen wurde, bis das lange Haar eben den Ameisenhaufen berührte.
Noch war Dick nicht wieder an dem Lasso herabgerutscht, als die Zuschauer schon mit Schrecken sahen, wie die in ihrer Ruhe gestörten Ameisen in hellen Haufen die Haare zu erklimmen begannen. Sie verbreiteten sich über das Gesicht, über den Körper, und die die Nase passierten, verschwanden in deren Löchern. Das Schmerzgeheul gellte durch den Wald — die Ameisen begannen ihre Arbeit.
»Geht an das Feuer, nehmt eure Waffen und schlagt den Weg nach Norden ein! Ich komme nach!«, befahl Dick den beiden Soldaten, und diese gehorchten schweigend.
Sie sahen noch im Fortgehen, wie Dick die Fesseln des anderen Thugs löste, als wollte er ihm die Freiheit geben, und hörten, wie er zu ihm sagte: »Frei sollst du sein, dass du wieder zu den Deinigen gelangen kannst, aber deinem Freunde da wirst du nicht helfen, auch niemals wieder die Schlinge werfen können. Dafür will ich sorgen.«
Wie Dick dies anfangen wollte, wussten sie nicht, besprachen sich auch nicht darüber, denn sie waren erschüttert von dem eben Gesehenen.
Es schien, als ob Dick schon mehrere Thugs solch einem fürchterlichen Tode überliefert hätte.
Schweigend ergriffen Jim und Bob ihre Sachen und schlugen die angegebene Richtung ein. Noch drang an ihr Ohr das Heulen des Aufgehängten, aber es wurde schwächer und schwächer, er kreischte nur noch. Wie mochte es dem anderen Thug zumute sein? Ob ihn dieses Schauspiel wohl von weiteren Mordtaten abschreckte? Oder ob es ihn nur zu noch grimmigerer Rache aufforderte? Was hatte Dick mit ihm vor? Die Antwort sollte sofort auf diese stumme Frage erfolgen. Ein furchtbarer, nicht zu beschreibender, markerschütternder Schrei, dann noch einer, nur etwas schwächer als der erste, ein nachfolgendes Jammern, und alles war wieder still, selbst die Tiere des Waldes vergaßen erschrocken ihr gewöhnliches Lärmen.
Jim und Bob sahen sich an; Entsetzen spiegelte sich in ihren Gesichtern wider. Dick hatte auch mit dem anderen Thug etwas Schreckliches vorgenommen, aber was? Er hatte doch gesagt, er schenke ihm die Freiheit, damit er seinen verbrecherischen Genossen erzählen könne, wie Dick die Thugs bestrafe.
Da gesellte sich dieser zu ihnen und versuchte ein möglichst gemütliches Gesicht zu machen.
»Hast du auch den anderen getötet?«, fragte Jim leise.
»Getötet? Gott bewahre, dann könnte er ja seinen Kameraden nichts erzählen.«
»Aber er hat doch geschrien.«
»Der Kerl ist eben ein Waschlappen, wie alle anderen Inder.«
»Du hast ihn wirklich freigegeben?«
»Gewiss, er kann hinlaufen, wohin er will.«
»Dann wird er wohl zuerst seinen Genossen befreien?«
»Das wäre einmal zu spät, denn die Ameisen kann er doch nicht wieder herauspusten, und dann kann er ihn auch gar nicht losknüpfen, obwohl er vollkommen frei ist. Lasst's gut sein, Kinder, erzählen wir uns von etwas anderem. So z. B. kannst du, Bob, mir zum Besten geben, wie du so verrückt sein konntest, dir die Haare abzuschneiden, die Röcke auszuziehen und unter die Soldaten zu gehen. Ihr irischen Mädels habt doch den Teufel im Leibe.«
Bob sah sein Geheimnis verraten und erzählte alles offen, was den Trapper höchlichst ergötzte. Er versprach, es für sich zu behalten.
Nach einigen Stunden Weges beschloss Dick Halt zu machen, da es Zeit zum Frühstücken wäre. Dann wollte er versuchen, ein Dorf zu erreichen, denn seine Nahrungsmittel reichten für die drei höchstens noch für eine Mahlzeit aus, und auch diese schon versprach dürftig genug zu werden.
Da lichtete sich vor ihnen der Wald; sie erreichten eine Art von Hohlweg, und aus den vielen Spuren, und auch aus solchen von den Rädern der schweren, indischen Fuhrwerke, konnte man annehmen, dass er nach einem Dorfe führte.
Nun war aber schwer zu entscheiden, ob man links oder rechts gehen musste, denn schlug man den falschen Weg ein, so konnte man vielleicht noch tagelang marschieren, in der entgegengesetzten Richtung dagegen nur kurze Zeit.
»Wir müssen uns aufs Raten verlegen«, sagte Dick. »Wohin wollen wir gehen, Bob, links oder rechts?«
»Rechts«, entgegnete der Trommler auf gut Glück.
»All right, dann gehen wir links.«
»Warum fragst du mich denn erst, wenn du doch nicht auf mich hörst?«, sagte Bob gekränkt.
»Das will ich dir erklären. Ehe ich etwas beginne, wobei ich zwei Wege einschlagen kann, frage ich gern erst ein Frauenzimmer um Rat. Dann aber tue ich immer gerade das Entgegengesetzte, und bis jetzt bin ich noch immer gut dabei gefahren.«
Nach dem Frühstück, bei welchem die letzten Vorräte verzehrt wurden, schlugen sie also den Weg nach links ein, aber erst am Nachmittag erblickten sie die ersten Häuser eines Dorfes.
Jim und Bob hatten während der letzten Tage schon tüchtige Strapazen durchgemacht, das letzte Abenteuer hatte sie auch stark mitgenommen, und so war es kein Wunder, wenn sie sich nach Ruhe sehnten, und zwar nach einer Nacht unter Dach und Fach.
Dazu war aber Dick nicht zu bewegen. Seit er in der Burg der Thugs durch Gase betäubt worden war, hatte er geschworen, sein Haupt nie wieder unter dem Dache irgendeines Hauses niederzulegen, wenigstens hier in Indien.
Seine beiden Gefährten sollten jedoch keine Rücksicht auf ihn nehmen, sie sollten sich ins Dorf begeben, zuerst vorsichtig, falls Rebellen dort lagen, sich ein Quartier suchen, am anderen Morgen hierher zurückkehren und die Vorräte mitbringen, die sie bekommen könnten.
»Wenn Hilfe nötig ist«, schloss Dick, »bin ich immer bei der Hand. Machen wir ein Haus aus, in welches ihr euch einquartiert.«
»Jedes größere Dorf wie dieses dort«, sagte Jim, »hat zwei größere Häuser, die sich gegenüberliegen: das, in welchem der Ortsvorsteher wohnt und die Karawanserei. In einem von diesem sind wir sicher.«
»Gut, so weiß ich euch zu finden.«
»Warum kommst du denn aber nicht erst selbst mit?«, fragte Bob. »Du kannst dann ja wieder umkehren?«
»Die Erklärung habe ich dir schon einmal gegeben, Kind«, entgegnete Dick. »Wenn ich in einem Dorfe gesehen werde, so ist hundert gegen eins zu wetten, dass alle Bewohner die Flucht ergreifen, als käme der Teufel in eigener Person. So ist es bis jetzt immer gewesen, und so würde es wohl auch diesmal sein.«
Jim und Bob begaben sich, die Gewehre auf den Schultern, nach dem Dorfe. Solche einzelne, gut bewaffnete Soldaten, welche durch Wildnisse und kultivierte Gegenden marschierten, waren nicht selten; es waren Flüchtlinge oder Versprengte. Dick blieb zurück und hütete sich, vom Dorfe aus gesehen zu werden.
Der liebe Leser entsinnt sich noch jenes Dorfes, in welchem Lord Westerly einst als Generalgouverneur empfangen wurde und von dem wirklichen Gouverneur, Lord Canning, eine derbe Züchtigung empfing.
Dasselbe Zimmer im Hause des Mankdrallah, des Ortsvorstehers, wo sich einst Mirja gegen Westerly nicht ohne Erfolg gewehrt hatte, wurde seit zwei Tagen von einer Dame bewohnt, von einer wirklichen Dame, die eines Tages im kurzen Reitkleid, eleganten Stiefelchen und einigem Gepäck in der Hand zu Fuß angekommen war und von dem Mankdrallah irgendein Reittier zur Fortsetzung ihrer Reise gefordert hatte. Ihr Maulesel habe sich nur noch bis einige Meilen vors Dorf schleppen können, dann sei er hingefallen und verendet, wahrscheinlich an einer Eingeweidekrankheit, von welcher in Indien besonders die Zugtiere oft befallen werden.
Der höfliche Mankdrallah hätte der feinen Dame sicher keinen Wunsch abgeschlagen, umso weniger, als sie sagte, sie würde das Tier mit barem Gelde bezahlen, aber er konnte ihn nicht erfüllen, denn das ganze Dorf besaß weder ein Pferd noch sonst ein Reittier.
Das Aussehen des Dorfes und der Umgegend hatte sich geändert. Die Felder waren zerstampft; nur hier und da war ein kläglicher Rest von Feldfrucht zu sehen; nur wenige Schafe weideten noch auf den Wiesen, und Rinder gab es überhaupt nicht mehr. Der Mankdrallah klagte, dass die Engländer ihnen erst den Zehnten weggenommen, und als eine Rebellenschar durchs Dorf zog, wäre alles mit ihr gegangen, was nicht niet- und nagelfest gewesen wäre. Nur einige Schafe konnten gerettet werden, indem sie, unbemerkt von den Plünderern, in den Wald getrieben wurden.
Man hörte dem Manne an, dass er viel feindlicher auf seine Landsleute als auf die Engländer gesinnt war, welche nicht geplündert, sondern nur furagiert hatten. Der Mankdrallah hatte Grund zur Sorge: sein Dorf stand vor einer Hungersnot.
So gern er auch das bare Geld der Dame genommen hätte, er konnte ihr doch kein Tier verschaffen. Aber zu feig, ihr, der Faringi, das ohne weiteres zu gestehen, schien er sich die größte Mühe zu geben, ein Reittier aufzutreiben. Er schickte Kulis aus, welche in der Umgegend suchen sollten, und entschuldigte sich dann, wenn die Leute mit leeren Händen zurückkamen.
Wer war nun die Dame, welche allein durch Indien reiste, durch das vom Krieg heimgesuchte Land? Fürchtete sie denn nicht, eine Beute der umherstreifenden Rebellen zu werden?
Es war offenbar eine Italienerin, jung und von guter Figur, in einem einfachen, aber modernen Reiseanzug, zum Reiten geeignet, gekleidet; ihr Gesicht wäre recht hübsch zu nennen gewesen, wenn es nicht von merkwürdigen, blauen Flecken, die gelb umrändert waren, entstellt worden wäre.
Der liebe Leser erkennt in ihr Mirzi, die Malteserin, wieder.
Diese brauchte die Rebellen also nicht zu fürchten, denn sie hatte jedenfalls Beweise bei sich, durch welche sie sich als Freundin jener legitimierte. Als Europäerin durfte sie andererseits auf den Schutz der ihr begegnenden Engländer rechnen.
Mirzi bewohnte also dasselbe Zimmer, welches einst Westerly innegehabt hatte, und dieser hatte damals in der Eile seines schnellen Aufbruchs ein kleines Tischchen zurückgelassen. Mit weiblicher Neugier hatte Mirzi sofort die Schublade aufgezogen, welche sie leer fand. Schon wollte sie dieselbe wieder zuschieben, als sie aus einer Ritze etwas Weißes hervorschimmern sah.
Mit dem Fingernagel zog sie es hervor, ein Stück Papier, und zwar mit englischen Schriftzeichen bedeckt. Nun konnte die ehemalige Tänzerin zwar recht gut auf englisch schwatzen und schimpfen, aber es weder lesen noch schreiben. Sie rief den Mankdrallah.
Dieser kam in jener gebückten Haltung herein, die schon einmal beschrieben wurde. Es sah aus, als liefe er auf allen vieren, und er richtete sich auch nicht auf, denn Mirzi benahm sich ihm gegenüber äußerst herrisch; die Reitpeitsche lag auf dem Tisch immer zum sofortigen Gebrauch bereit.
»Kannst du Englisch lesen?«, fragte sie.
Der Mankdrallah verneinte ängstlich, als fühle er diese Unkenntnis wie eine Schuld auf seinem Gewissen ruhen.
»Warum nicht?«, fragte Mirzi sehr geistreich weiter.
Der Ortsvorsteher stammelte eine Entschuldigung und wünschte im Innern alle Faringis in die indische Hölle.
»Gehört dieser Tisch dir?«
»Nein.«
»Wem sonst?«
»Ein edler Faringi hat ihn einst zurückgelassen, ein mächtiger Sahib, der uns viele, viele Ochsen und Schafe und Hühner zum Schlachten und Essen geschenkt und sie dann nicht bezahlt hat. Es war der große Gouverneur von Indien; Brahma sei mit ihm!«
Überrascht vernahm Mirzi diese Mitteilung und ließ sich von dem Manne mehr von jenem Besuche erzählen, bekam aber nur ganz konfuses Zeug zu hören, in welches sie trotz aller Fragen keine Ordnung zu bringen vermochte. Schließlich gab sie den Versuch auf.
»Kehrte in diesem Hause sonst noch einmal ein Faringi ein?«
»Nein.«
»Oder vielleicht eine Faringi, ein Weib?«
Mirzi verstand zwar nicht die englischen Buchstaben zu entziffern, aber sie hatte doch schon genug Briefe in Händen gehabt, um beurteilen zu können, dass diese mit Bleistift geschriebenen Worte von der Hand eines Weibes stammten.
Seltsamerweise wurde der Ortsvorsteher bei dieser letzten Frage plötzlich furchtbar unruhig.
»Nein«, stammelte er, »es war — es war — niemand hier.«
Mirzi ergriff schnell die Reitpeitsche und hob sie zum Schlage aus.
»Hund, willst du mich belügen?«, fuhr sie den Zitternden an. »Ist hier ein Weib eingekehrt?«
»Ich darf es nicht sagen, Herrin.«
»Was darfst du nicht sagen?«
»Dass hier eine Faringi gewesen ist. Sonst werde ich gehängt.«
»Ah, sieh da! Willst du mir antworten?«
»Ich darf nicht, Herrin.«
»Was darfst du nicht?«
»Ich darf niemandem sagen, dass vor einigen Tagen viele bewaffnete Inder hier gewesen sind und eine weiße Dame mit sich führten.«
Nach und nach erfuhr Mirzi, dass vor einigen Tagen, eines Abends ein Trupp von zehn bis zwölf stark bewaffneter, mit Lanzen versehener, wilder, indischer Reiter im Dorfe eingetroffen wären und übernachtet hätten. Sie führten eine junge, weiße Dame mit sich, die sehr, sehr traurig ausgesehen hatte. Aber widersetzt hätte sie sich ihren Begleitern nicht. Sie schlief in diesem Zimmer; der Anführer des Trupps hielt Wache vor der Tür, benahm sich aber sonst sehr höflich gegen sie. Der Mankdrallah konnte nicht sagen, zu welchem Stamme die Reiter gehört hatten. Es wäre ein ihm ganz fremder Menschenschlag gewesen. Beim Weiterritt am nächsten Morgen nahm der Anführer den Ortsvorsteher scharf ins Gebet und sagte ihm, wenn er wieder hier durchkäme und erführe, der Mankdrallah hätte von diesem Besuche zu irgend jemandem geplaudert, so würde er ihn erst peitschen und dann aufhängen. Dasselbe gelte für die anderen Dorfbewohner. Dann seien die Männer mit der Dame fortgeritten. Mehr konnte Mirzi nicht erfahren.
»Wie sah die Dame aus?«, examinierte sie.
»Sehr, sehr traurig und bleich.«
»War sie hübsch?«
»Wunderschön — aber nicht so schön wie du«, setzte der Ortsvorsteher, der nicht so dumm war, wie er aussah, vorsichtig hinzu.
»Lass mich allein, und wenn du mir heute im Laufe des Tages kein Reittier verschaffst, so lege ich den Sattel auf deinen Rücken und reite auf dir weiter. Deine Figur passt dazu.«
Der Mankdrallah warf sich auf den Hinterbeinen herum und trabte hinaus.
Der Tag verging, der nächstfolgende auch, und Mirzi saß noch immer ohne Tier in dem Zimmer. Bald weinte sie vor Wut, bald machte sie ihrem Ärger in italienischen, spanischen und englischen Schimpfwörtern und Flüchen Luft. Sie, des Gehens überhaupt ganz ungewohnt, konnte doch nicht auf durch Wildnisse führenden, holprigen Landstraßen zu Fuß marschieren! Ihre gelben Stiefelchen wären bald in Fetzen abgefallen.
Am Morgen des dritten Tages wurde Mirzi durch ein Geschrei aus dem Schlummer geweckt, das ihr sonst sehr misstönend, diesmal aber wie Sphärenmusik klang. Es war das krächzende, melancholische Y-y-y-ah eines Esels.
Sie warf die Kleider über, sprang ans Fenster und sah wirklich auf dem Hofe einen Grauschimmel stehen, der die über den Zaun hereinragenden Distelbüsche beknusperte.
Ihr Ruf holte den Ortsvorsteher herbei.
»Ich hatte dir zwar zehn Rupien für einen Esel versprochen«, sagte sie, sich ungnädig stellend, »da ich aber zwei Tage und die Nächte habe warten müssen, so ziehe ich dir von dieser übrigens enormen Summe fünf Rupien ab. Fünf erhältst du, mehr nicht.«
Mirzi verleugnete nicht, dass ihre Heimat Malta war. Die Malteser sind das gaunerhafteste Handelsvolk Europas.
Der Mankdrallah drückte und schluckte, ohne eine Antwort herausbringen zu können.
»Nun, bist du mit den fünf Rupien etwa nicht zufrieden? Jetzt bekommst du gar nichts, verstehst du?«
»Verzeihe, Herrin, der Esel ist gar nicht mein.«
»Nicht? Wem sonst?«
»Dein Schlummer war süß, o, Herrin, und so hörtest du nicht, wie diese Nacht ein vornehmer Inder an meinem Hause anklopfte und Einlass begehrte.«
»Der Esel gehörte ihm?«
»Er ritt ein Pferd, sein Diener den Esel.« Ärgerlich stampfte Mirzi mit dem Fuße auf.
»Ist er ein Rebell oder hält er zu den Engländern?«, fragte sie dann vorsichtig mit gedämpfter Stimme.
»Ich durfte nicht fragen, und gesagt hat er es mir nicht.«
»Er ist ein vornehmer Inder?«
»Er tritt sehr vornehm auf; am liebsten begleitet er jedes Wort mit einem Fausthiebe.«
»Wie sieht er aus?«
»Groß und dick, Augen hat er, die sind so schön wie die eines Ochsen und ganz rot, und essen kann er — ach, Herrin, wenn der lange hier bleibt, so muss ich verhungern!«
»Weiß er, dass ich hier bin?«
»Er fragte, und ich musste antworten.«
»Was sagte er?«
»Er wollte dich sprechen.«
»Warum sagst du mir das nicht früher? Dummkopf! Geh hin und melde ihm, ich wünsche ihn zu empfangen.«
»Er schläft jetzt noch, Herrin, und er hat mir befohlen, ich soll dich rufen, wenn er ausgeschlafen hat.«
»Oho, dieser große und dicke Inder scheint sich ungemein viel einzubilden. Wo ist sein Diener? Schläft er auch noch?«
»Nein, er ist bei dem Pferd.«
»So rufe ihn zu mir!«
Es dauerte sehr lange, ehe der Diener es für gut fand, sich bei der Faringi einzufinden. Es war ein noch junger, starkgebauter Inder mit pfiffigem Gesicht.
»Wer ist dein Herr?«, wollte Mirzi ihn ausforschen.
»Ein Sohn Indiens«, sagte der Kuli mit schlauem Lächeln.
»Das kann ich mir denken. Hier, nimm, vielleicht macht dies deine Zunge geläufiger.«
Sie gab ihm eine kleine Silbermünze, der Inder nahm sie, wog sie in der Hand und warf sie dann verächtlich auf den Tisch. Das war für einen Inder unerhört, denn sonst bedanken sie sich für die kleinste Kupfermünze unzählige Male.
»Bah, zu leicht! Behalte dein Silber. Ich bin gewohnt, von meinem Herrn in Gold bezahlt zu werden, und nicht von jedem nehme ich etwas an.«
Das Blut stieg Mirzi zu Kopfe; sie nahm die Reitpeitsche.
»Lege die Peitsche hin!«, sagte der Inder kaltblütig. »Es wäre dein letzter Schlag gewesen.«
»Mein letzter? Du drohst mir?«
»Mein Herr würde dich sofort erdrosseln. Er duldet nicht, dass man seinen Diener schlägt, und am wenigsten duldet er es von einer Faringi.«
Schnell senkte Mirzi die Peitsche.
»So ist dein Herr ein Rebell?«
»Er liebt die Freiheit Indiens.«
»Das sagt genug. Auch ich halte zu denen, welche ihr Vaterland nicht von Fremden geknechtet sehen wollen. Kann ich deinen Herrn sprechen?«
»Er schläft noch. Was willst du von ihm?«
Mirzi hielt es nicht für angemessen, den Diener über ihre Wünsche aufzuklären, um so weniger, als sie den Esel in ihren Besitz haben wollte, der doch dem Diener als Reittier diente. Gewährte der Herr ihre Bitte, so musste der Diener ihn während seiner weiteren Reise zu Fuß begleiten, wenn er ihn nicht gar entließ.
»Ich weiß, du möchtest den Esel haben«, fuhr der Diener von selbst fort, »nun, ich glaube, mein Herr ist nicht abgeneigt, ihn dir zu überlassen. Ich werde dir sagen, wenn er erwacht ist.«
Mirzi musste noch einige Stunden warten, ehe sie gerufen wurde. Sie verbiss ihren Unmut und machte ihr freundlichstes Gesicht; denn es lag ihr vor allen Dingen daran, ein Reittier zu bekommen. Sonst konnte sie zeitlebens im Dorfe sitzen bleiben, wenn sie sich nicht entschloss, zu Fuß weiterzugehen.
Der vornehme Inder tat, als wäre er hier zu Hause, und noch mehr. Obgleich er wusste, dass eine europäische Dame sein Zimmer betrete, hatte er es nicht einmal für nötig gehalten, sein Bett zu verlassen. Die Decke verhüllte nur den Unterkörper, das vorn offene Hemd ließ die zottige Brust sehen. So lag er bequem auf einem Arm gestützt und rauchte mit mächtigen Zügen aus der vor dem Bett stehenden Wasserpfeife.
Mirzi erschrak, als sie diesen Mann erblickte. Wo hatte sie diese mächtige, herkulische Figur, diesen Büffelkopf, dieses sinnliche Gesicht mit den hervorquellenden Augen und der herabhängenden Unterlippe schon gesehen?
Auch der Mann schien sie zu erkennen; ein Zug des Erstaunens glitt über sein brutales Gesicht; dann schienen seine dicken, blutunterlaufenen Augen die schöngebaute, üppige Gestalt des Mädchens im kurzen Reitkleid förmlich zu verschlingen.
»Hei, ist das nicht die Kammerzofe von Ayda?«, rief seine grobe Stimme sichtlich erfreut.
»Du täuschst dich nicht, ich bin es allerdings«, entgegnete Mirzi, keineswegs davon erbaut, einen Bekannten zu treffen. »Wer aber bist du? Ich kenne dich nicht.«
»Ist auch gar nicht nötig, mein Schätzchen. Hier, setze dich. Das ist hübsch, dass ich dich getroffen habe.«
Mit immer größerem Abscheu wurde Mirzi gegen diesen Mann erfüllt, der sich gleich im Anfang so vertraulich gegen sie benahm. Ja, wenn sie wenigstens gewusst hätte, wer er war! Aber vergeblich zermarterte sie ihr Hirn.
»Nun, willst du dich nicht setzen?«
Er rückte den Schemel näher zu sich ans Bett heran.
»Nicht eher, als bis ich erfahre, wer du bist.«
»Sollst du. Nur setze dich erst, und erzähle mir, wie du eigentlich hierher kommst.«
Es blieb Mirzi nichts Anderes übrig, als zu gehorchen. Jedenfalls hatte sie einen Anführer der Rebellen vor sich; dieser Mann war gewohnt, zu befehlen. Sie erzählte, ohne einen besonderen Grund anzugeben, dass sie sich mit der Begum von Dschansi überworfen hätte, und dass diese verlangte, Mirzi sollte sofort das Haus der Duchesse verlassen.
Grimmig nickte der Mann mit dem Stierkopf.
»Ja, diese verfluchte Begum!«, murrte er. »Die Pest mag über sie kommen und über alle jene Narren, welche an dieses Weib glauben.«
Gott sei Dank, er war auch ein Feind der Begum!
»Ich machte nicht nur Gebrauch von der Erlaubnis, das Haus der Duchesse zu verlassen«, fuhr sie dann fort, »sondern ich verließ auch heimlich das belagerte Delhi; die Inder hinderten mich nicht daran, die Engländer bekamen mich nicht zu fassen, und so bin ich jetzt auf dem Wege nach der nächsten Hafenstadt. Meine Rolle ist hier ausgespielt, ich werde mich in Sicherheit zurückziehen. Unterwegs...«
»Warum hast du dich mit der Begum gezankt?«, unterbrach der Mann sie, gerade als sie auf das Wichtigste zu sprechen kam.
»Wegen ihres Geliebten, eines Engländers oder Deutschen, mit dem ich sie in einer höchst intimen Situation überraschte.«
Wild fuhr der Inder empor.
»Wegen Reihenfels?«, stieß er heiser hervor.
»Ja, so hieß er.«
»Nun, der Schurke hat schon seinen Lohn, er ist tot.«
Er ließ sich wieder zurückfallen.
»Er ist tot?«, fragte Mirzi, neugierig werdend.
»Ja, die Engländer haben ihn als Spion erschossen. Was wolltest du also weiter erzählen?«
»Unterwegs erkrankte mein Maultier; einige Meilen vor diesem Dorfe fiel es und verendete. Mit vieler Mühe schleppte ich den schweren Sattel und mein Gepäck hierher und versuchte ein anderes Reittier zu bekommen — bis jetzt vergeblich. Dein Pferd und der Esel sind die einzigen, die ich seit drei Tagen zu sehen bekomme.«
»Du möchtest nun eins von diesen haben?«
»Gern! Ich bitte dich darum.«
»Ich kann meinen Diener nicht entbehren.«
»Überlass mir den Esel wenigstens bis zur nächsten größeren Stadt. Ich werde deinen Diener für die Mühe des Fußgehens reichlich entschädigen.«
»Und wenn ich nun nicht darauf eingehe?«
»Dann wüsste ich mir keinen Rat. Ich würde verzweifeln.«
»Nun, das sollst du nicht. Frage heute Abend noch einmal, dann wollen wir wieder darüber sprechen. Ich bin lange gereist und will heute Rasttag halten.«
Er gähnte, wobei er den Mund übermäßig aufriss. Mirzi bekam ein Wolfsgebiss zu sehen.
»Ich möchte aber bald abreiten, die Zeit drängt.«
»Heute Abend sprechen wir darüber, nicht eher.«
Er winkte ihr mit der Hand zur Entlassung, wie einem Sklaven.
»Sage mir wenigstens deinen Namen, damit ich weiß, dass man deinen Worten trauen kann.«
Der Mann wälzte sich auf die Seite und sah das Mädchen mit lüsternen Blicken an.
»Weißt du wirklich nicht, wer ich bin?«
»Nein.«
»Ich verkehrte oft in jenem Hause, wo das Kammerzöfchen feurige Blicke nach den jüngeren Männern warf«, grinste er; »mich Alten beachtete es natürlich nicht.«
»Ich kenne dich nicht.«
»Auch nicht, wenn du dir den Vollbart wegdenkst?«
Einen Augenblick glaubte Mirzi, ihn zu erkennen, doch gleich verschwand die Gestalt wieder, die in ihrer Erinnerung traumartig aufgetaucht war. Sie hatte im Hause der Duchesse zu viele Männer aus- und eingehen sehen.
»Nein, ich entsinne mich nicht. Der Vollbart entstellt dich zu sehr.«
»So so, er entstellt mich! Du findest mich also hässlich?«
»Ich meinte, er verändert dich.«
»Auch du hast dich sehr verändert, mein schönes Schätzchen. Ich glaube fast, die Begum hat dir beim Abschied ihr Andenken ins Gesicht geschrieben.«
Mirzi färbte sich dunkelrot.
»Nein, da täuschst du dich. So etwas würde sich eine Malteserin nicht bieten lassen. Ich tat einen unglücklichen Sturz von der Treppe herab und fiel mit dem Gesicht auf Kies.«
»Also sie hat dich die Treppe hinuntergeworfen!«, lachte der Mann spöttisch. »Na, es tut dir keinen Abbruch in meinen Augen — bei Nacht sind alle Katzen grau. Heute Abend sprechen wir, wie gesagt, nochmals eingehender zusammen, jetzt will ich schlafen.«
Mirzi war entlassen. Sie kochte im Innern vor Zorn über diese Behandlung, aber was konnte sie dagegen tun? Sie verstand des Alten Anspielungen nur zu gut, sie wusste, was er von ihr verlangte, wenn er ihr den Esel abließ. Dieser alte, hässliche, ekelhafte Kerl mit den blutigen Ochsenaugen und der herbhängenden Unterlippe, der zottigen Brust und den plumpen Fingern! Pfui, sie ekelte sich, wenn sie nur an ihn dachte, und sie sollte — — — —
Unruhig ging sie in ihrem Zimmer auf und ab, nagte an ihren Lippen und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Was sollte sie tun, um diesem scheinbar Unvermeidlichen auszuweichen und doch in den Besitz des Esels zu kommen?
Halt, musste es denn gerade ein Esel sein? Ein Gedanke blitzte durch ihren Kopf.
Sie trat ans Fenster. Der Hof war leer, der Esel wahrscheinlich von dem Diener in den Stall geführt worden. Im Hause war alles still.
Mit fieberhafter Schnelligkeit packte Mirzi ein Bündel mit alledem zusammen, was sie am notwendigsten brauchte. Das Paket legte sie an das offene Fenster, welches so niedrig war, dass ein Reiter es mit der Hand erlangen konnte.
Mirzi wollte versuchen, sich eines der Tiere mit List zu bemächtigen, womöglich des Pferdes. Sie konnte gut genug reiten, um sich auch im Herrensattel oder auf dem bloßen Rücken des Pferdes zu halten. Einmal darauf, war sie schnell um die Ecke der Dorfstraße verschwunden, schneller noch, als eine Pistole nach ihr abgefeuert werden konnte.
Mit der harmlosesten Miene begab sie sich hinunter, sah dahin und dorthin, lockte das einzige, magere Huhn, welches auf dem Hofe noch gackerte, und öffnete die Hoftür, als wolle sie einen Blick ins Freie genießen.
Dann ging sie zurück, betrat den Stall und — wurde von dem Diener empfangen, der auf einem umgestülpten Eimer saß und rauchte. Der Mann lächelte ganz eigentümlich und legte die Hand auf den aus dem Leibtuche hervorblickenden Pistolenkolben.
»Ein schöner Tag heute«, begann Mirzi.
»Ja, schön zum Reiten, jedoch nicht für dich.«
»Wie meinst du?«
»Ich meine, der Tag ist nicht schön für dich zum Reiten, weil du kein Pferd hast, und damit du nicht eins loskettest, sitze ich hier und werde den Stall nicht verlassen.«
Diese Antwort war deutlich. Ärgerlich warf Mirzi die Tür hinter sich zu und begab sich wieder auf ihr Zimmer, das sie Stunde für Stunde mit Schritten maß.
Auch das gefundene Schreiben fiel ihr wieder ein. Sie bedauerte, den Inder nicht gefragt zu haben, ob er Englisch lesen könne. Die weibliche Neugier ließ ihr keine Ruhe. Als ihr der Mankdrallah das Mittagessen brachte, über dessen Dürftigkeit sie redlich schimpfte, fragte sie, ob der Inder jetzt zu sprechen sei, und empfing abermals den Bescheid, er schlafe und schnarche.
Es war gegen Abend, als sie zu ihm gerufen wurde. Sie fand den Dicken mit gekreuzten Beinen auf einem dicken Teppich sitzen, vor sich eine einfache, aber reichliche Mahlzeit, bestehend aus Brotfladen und einer Art von gekochtem Gemüse. Es erfüllte Mirzi mit neuem Ekel, als sie diesen Mann essen sah. Er riss ein Stück von dem dünnen Brote ab, häufte darauf von dem Kraute und schob dann den übermäßig großen Bissen schmatzend und schnalzend in den weit geöffneten Mund, wobei ihm der Saft in den Bart lief.
Energisch schlug sie die Einladung ab, an dem Gastmahl teilzunehmen.
»Kannst du Englisch lesen?«, fragte sie.
»Ich verschmähe, die Sprache der verfluchten Faringis zu lernen«, entgegnete er.
»Aber du musst doch Englisch sprechen können.«
»Auch nicht«, entgegnete der Inder, erhob sich nach dem letzten Bissen und wusch seine Hände in dem bereitstehenden Becken mit Wasser.
Dann wandte er sich mit grinsendem Lächeln an Mirzi.
»Nun, mein Schätzchen«, begann er, »hast du dir überlegt, ob du deine Weiterreise erst morgen antreten willst?«
»Was bleibt mir denn anderes übrig? Hast du dir aber überlegt, ob du mir deinen Esel ablässt oder nicht? Ich will ihn nicht umsonst haben; fordere, und ich werde zahlen.«
»Wie viel willst du für den Esel geben? Es ist ein schönes Tier.«
»Der durchschnittliche Preis ist fünf Rupien.«
»Ja, früher, aber jetzt nicht mehr.«
»Wie viel verlangst du?«
»Ein Esel ist für Geld überhaupt nicht verkäuflich, wenigstens hier nicht, denn es gibt nur einen, und der gehört mir.«
»Das heißt mit anderen Worten, du willst ihn mir nicht verkaufen. Das hättest du gleich sagen sollen.«
»Doch, er ist verkäuflich, jedoch nicht für Geld.«
Unter dem Fenster erscholl ein Stimmengemurmel, gleich darauf trat der Mankdrallah ins Zimmer, wie immer in gebückter Haltung.
»Herr, die Mädchen des Dorfes sind unten versammelt«, meldete er, »keine fehlt. Möge dein Auge gnädig auf ihnen ruhen und die auswählen, welche würdig ist, dein Lager zu teilen.«
Der Dicke trat ans Fenster, ebenso Mirzi. Die Frau des Mankdrallah, welche an Körperfülle sehr verloren hatte, stellte die Dorfschönen der Reihe nach auf; aber ach, die armen Geschöpfe sahen so verhungert aus, sie waren mit Lumpen bedeckt, und scheuer denn je senkten sie die Blicke zu Boden. Sie mochten im Laufe des Krieges, wo die schon gelockerte Zucht vollständig aufhörte, trübe Erfahrungen gemacht haben.
»Führe sie weg«, befahl der Dicke, »meine Wahl ist schon getroffen. Nicht wahr, Mirzi?«, Mit Abscheu wollte das Mädchen den Arm von sich stoßen, der sie umschlang; aber ein so furchtbarer Blick traf sie aus den blutunterlaufenen Augen, dass sie es willenlos duldete.
»Dies ist der Preis des Reittieres«, sagte er mit heiserer Stimme.
»Du bist nicht billig«, versuchte sie zu lächeln.
»Ich hoffe, du sträubst dich nicht.«
»Was würde es mir helfen?«
Da leuchtete ihr Auge plötzlich auf; mit zusammengezogenen Brauen spähte sie durch das Fenster scharf ins Weite, und dann flog ein namenlos gehässiger Ausdruck über ihr Gesicht.
Der Dicke war ihrem Blicke gefolgt. Ein zischender Laut fuhr über seine Lippen, er wechselte die Farbe und ließ das Mädchen frei.
»Faringis!«, keuchte er.
»Zwei Soldaten!«, fügte Mirzi hinzu. »Ob es noch mehr sind?«
Es kamen nicht mehr als die zwei, ein großer und ein kleiner, die Gewehre über die Schulter — Jim und Bob.
Triumphierend wandte sich Mirzi an den Dicken, der seine Fassung noch immer nicht zurückerlangt hatte.
»Nur zwei Soldaten; was fürchtest du dich, was zitterst du?«
»Ich — ich — sie müssen sterben!«, stieß er atemlos hervor.
»Sie müssen sterben«, wiederholte sie mit grimmiger Miene. »Gholab — in diesem Augenblicke erkenne ich dich — Gholab, du bist ein Phansigar, ich weiß es, erwürge diese beiden, langsam, lass sich meine Augen an ihrem Tode ergötzen, und ich will die ganze Nacht dir gehören, ich will dir diese Stube zum Paradiese machen, und nichts Anderes von dir verlangen.«
»Ja ja, erst diese Verfluchten tot, dann sollst du mich lieben, und wir wollen nicht mehr an sie denken. Mankdrallah!«
Der Gerufene kam.
»Siehst du die beiden Faringis dort? Wenn sie von dir ein Nachtlager fordern, so gewährst du es ihnen, sowie alles, was sie verlangen, und wollen sie vorübergehen, so nötigst du sie, bei dir zu bleiben. Aber der Tod soll über dich und dein Haus kommen, wenn du verrätst, dass du schon Gäste hast.«
»Halt«, warf Mirzi dazwischen, welche ebenfalls von furchtbarer Aufregung befallen worden war, »ich will erst mit ihnen sprechen.«
»Du? Warum?«, fragte Gholab misstrauisch.
»Ich will erst erfahren, was sie hierher führt. Vielleicht sind sie nur der Vorposten eines größeren Trupps, vielleicht können wir etwas Wichtiges erkunden.«
»Aber sterben müssen sie.«
»Sie müssen sterben, ich hasse sie.«
»Du kennst sie?«
»Ja, aber sie sollen mich nicht erkennen. Mankdrallah, führe mich in den Raum, wo deine Weiber sind. Ich will mich als Inderin ankleiden. Die Faringis leitest du in ein Zimmer, in welchem ich sie gut belauschen kann. Wehe dir, Mann, wenn du anderer Gesinnung bist als wir!«
Dem Mankdrallah fiel es gar nicht ein, eine eigne Meinung zu haben. Vor allem fürchtete er sich vor dem Dicken ganz entsetzlich, er hätte jeden Befehl desselben befolgt.
Einige Minuten später, als die Soldaten das Haus erreichten, lag dieses in tiefer Stille da. Wie gewöhnlich zeigten sich einige neugierige Weibergesichter am Fenster, die schnell verschwanden, um verschleiert wieder zu erscheinen und die Fremden zu mustern. Niemand kam, die beiden zu begrüßen; sie mussten ihre Anwesenheit erst bemerkbar machen.
Gott sei's getrommelt und gepfiffen, dass der Alte den glücklichen Einfall gehabt hat, uns allein gehen zu lassen«, sagte Bob, als er sich außer Hörweite von Dick befand. »Ich weiß nicht, mir ist immer, als säße mir ein Frosch in der Luftröhre, wenn ich mit ihm spreche. Er treibt's doch ein bisschen zu toll mit der Menschenjägerei.«
»Ja, man kann sich gar nicht aussprechen, wenn er dabei ist. Er ist uns doch immer ein Fremder. Was, Bob, dich freut's doch hauptsächlich, dass wir nun einmal allein sind? Und nun erst da im Dorfe, hurrjeh, das soll eine Nacht werden!«
Bob blieb stehen und sah seinen Gefährten ernsthaft an.
»Höre, Jim, du hast doch nicht etwa böse Nebengedanken?«
»Was denn für Nebengedanken?«, fragte Jim unschuldig.
»Nun, von wegen — das gibt's nicht. Ich bin Soldat und trage der Königin Rock.«
»I wo, Bob, wo denkst du hin? Ich freue mich nur, dass wir allein sind, nun können wir uns einmal ordentlich aussprechen. Komm, gib mir den Arm!«
»Unsinn, die Bauern können uns ja hier schon sehen. Du darfst nicht vergessen, dass ich Bob, der Trommeljunge, bin.«
Schwatzend und lachend wendeten sie sich dem Dorfe zu und ließen an ihren Augen noch einmal die kurze Vergangenheit vorüberziehen, das Liebesglück in Wanstead und die treue Kameradschaft in Indien. Beide aber vermieden sorgfältig, dabei jener Szene Erwähnung zu tun, in welcher Jim durch die Verführungskunst eines Weibes um ein Haar Ehre und Leben verloren hatte.
Die wenigen Bauern, die ihnen im Dorfe begegneten, wichen den beiden Soldaten scheu aus. Als sie einen anhalten und fragen wollten, ergriff er schleunigst die Flucht. Sie brauchten auch nicht lange zu suchen, die zwei sich gegenüberstehenden größeren Bambushäuser waren bald gefunden. Das eine war leer — die Karawanserei; aus dem Fenster im ersten Stock des anderen Hauses lugten einige Frauengesichter.
Bob hatte nichts Eiligeres zu tun, als Kusshändchen hinaufzuwerfen, worauf die Weiber lachten — wahrscheinlich weil der Soldat so klein war — und verschwanden, aber gleich mit Schleiern vor den Gesichtern wiederkamen.
»Sieh, wie verliebt die sind!«, sagte Bob. »Ich glaube, ich hab's ihnen angetan. Wie sie lachen, wie die eine mit dem Finger auf mich deutet!«
»Weil du so klein bist und schon ein Gewehr hast.«
»Sooo?«, sagte Bob gedehnt und schnitt nun eine Grimasse hinauf, was erneutes Gelächter hervorrief.
»Hier scheint's ja lustig herzugehen, wenn es sonst auch traurig aussieht. Aber wenn die mich als komische Person ansehen, das will ich mir stark verbitten.«
»Dort steht auch eine andere, die scheint nicht zum Hause zu gehören.«
Aus einem abseits gelegenen Fenster schaute ebenfalls eine Frauensperson heraus, tief verschleiert, und zwar durch jenes Kopftuch, welches die indischen Weiber tragen, wenn sie sich im Freien aufhalten.
»Vielleicht schon Einquartierung«, meinte Bob. »Die Tür ist verschlossen; freiwillig will uns niemand Einlass gewähren. Nun, ich will sie einmal auf uns aufmerksam machen.«
Er setzte die Hände vor den Mund, und wie aus einer Trompete erklang schmetternd ein langes Signal.
Drinnen entstand hastiges Laufen; ein männlicher Kopf sah aus dem Fenster, dann wurde die Haustür geöffnet, und der Mankdrallah erschien auf der Schwelle. Beim Anblick der beiden Uniformierten knickte er wie gewöhnlich zusammen, blieb so stehen und murmelte etwas Unverständliches.
»Bist du der Mankdrallah?«, fragte Bob, der die Rolle des Sprechers übernahm; denn als weibliches Wesen hatte er die indische Sprache bedeutend schneller und besser erlernt als Jim.
Der Mann bejahte murmelnd.
»Du, der hat vor Schreck einen Hexenschuss bekommen. Also, mein lieber Mann, Stall und Futter für zwei Personen.«
Verstand auch der Ortsvorsteher diese Ausdrucksweise nicht, so wusste er doch, was die beiden fremden Gäste wollten, und lief ihnen die Treppe hinauf voran.
Er führte sie in ein Zimmer, welches ein sehr breites Bett enthielt.
»Bist du so krumm gewachsen?«, fragte der neugierige Bob, während er sich den Patronengurt abschnallte.
»Nein, Sahib.«
»Na, da bring uns erst einmal etwas zu essen.«
»Wir sind arm, Sahib, die durchziehenden Soldaten haben uns nichts mehr gelassen.«
»Bring, was du hast. Wir wollen nichts umsonst, wir bezahlen alles gut.«
Während der Inder das Gewünschte besorgte, entledigten sich die beiden ihrer Waffen, machten es sich bequem, und Jim legte sich ausgestreckt und sich dehnend auf das Bett.
»Ah, das ist besser als die vorige Nacht am Palmbaum. Bob, was haben wir da nicht durchgemacht! Einen Augenblick länger, und wir hätten uns gegenseitig sterben sehen.«
Der Mankdrallah brachte dasselbe Gericht, wie Radscha Gholab es zum Abendessen gehabt hatte.
»Wo ist mein Zimmer?«, fragte Bob.
Der Mann starrte ihn verständnislos an. Als Bob die Frage wiederholte, deutete er auf das Bett.
»Breit genug für vier«, schmunzelte er.
»Ja, wenn sie übereinanderliegen. Du hast doch noch ein anderes Zimmer?«
»Ja, aber kein Bett.«
»So musst du mir eins herrichten.«
»Dort ist ja eins.«
»Ich will ein anderes in einem anderen Zimmer haben, verstehst du? Lass eins herrichten!«
Der Mankdrallah konnte dies nicht verstehen. Er hatte schon manchmal Soldaten beherbergt, und ein solcher Anspruch war ihm noch nie vorgekommen. Er musste dies seinen beiden anderen Gästen mitteilen, die sich vor den Soldaten unsichtbar hielten.
»Das ist sonderbar«, sagte Mirzi, »und was meinte der Große dazu?«
»Gar nichts, er sagte kein Wort.«
»Nun, besorge für den kleinen ein Bett im Zimmer nebenan und sage ihnen, wenn sie mit Essen fertig sind, eine vornehme Inderin, welche sich hier auf der Durchreise befindet, bäte sie um eine kurze Unterredung.«
Eine halbe Stunde später betrat Mirzi, wie eine reisende Inderin gekleidet, unkenntlich verschleiert, das Zimmer, in welchem sich noch die beiden zusammen befanden. Sie entschuldigte die Störung in geläufigem Indisch und kam sofort auf den Zweck ihres Besuches zu sprechen. Bob bejahte lächelnd die Frage, ob er Englisch lesen könnte.
»Willst du mir auf Indisch sagen, was mir meine Freundin hier geschrieben hat? Sie glaubte, ich wäre der englischen Sprache mächtig.«
Es war Mirzi vollkommen gleichgültig, ob ihr dies geglaubt würde oder nicht, der Tod dieser beiden, die sie zu hassen alle Ursache hatte, war doch unwiderruflich beschlossen.
Bob empfing aus ihrer Hand, die sie unter dem weiten Ärmel zu verbergen suchte, ein Blatt Papier. Er las es, und Erstaunen prägte sich auf seinem Antlitz aus.
»Was heißt es?«, fragte Mirzi mit Spannung
Bob räusperte sich, warf der Verschleierten einen durchdringenden Blick zu und sagte: »Hier steht:«
Ich bitte denjenigen, welcher dieses Papier in seine Hand bekommt, es in die
Rocktasche zu stecken und es keiner anderen Person zu zeigen, am wenigsten
einer Inderin, die nicht Englisch lesen kann. Mit vielen Grüßen und Küssen Deine Dich liebende Freundin! Damit steckte Bob das Papier gelassen in die Brusttasche seines Waffenrocks. Hinter dem Schleier drang ein Zornesruf hervor.
»Was soll das heißen?«
»Ich habe es ja eben vorgelesen.«
»Willst du mir das Schreiben nicht wiedergeben?«
»Augenblicklich nicht.«
»Du bist ein Unverschämter.«
»Danke, gleichfalls!«
»Her mit dem Papier!«
»Fällt mir nicht im Traume ein.«
»Was für einen Zweck hat es für dich?«
»Ich handle nur strikte nach dem Wunsche der Schreiberin. Wo hast du es gefunden?«
»Das geht dich nichts an. Du hast mich betrogen; es steht etwas Anderes darauf.«
»So? Na, dann lerne erst Englisch lesen, dann kannst du wieder einmal vorfragen.«
Als die Verschleierte sah, dass ihre Bemühungen nichts nützten, drehte sie sich kurz um und verließ das Zimmer. Sie wollte den eigentlichen Inhalt trotzdem erfahren.
»Nun höre, was ich hier zu erfahren bekomme«, wandte sich Bob an Jim, zog das Schreiben wieder hervor und las leise vor:
Wolle Gott, dass diese Zeilen ein Engländer findet. Wer es aber auch sei, wenn er ein Herz besitzt, so bitte ich ihn, dies Lord John Canning, Generalgouverneur von Indien, oder einem seiner Freunde zu übermitteln. — Ich wurde in Delhi gefangengehalten. Vor sechs Tagen verkündete man mir die Freiheit; acht Sepoys sollten mich nach der Burg Tokirha, in der Nähe von Attola, Berar, bringen, wo ich, wie man mir sagte, mit Lord Canning vereinigt werden würde. Zwei Tage nach der Abreise überfielen uns zwölf berittene Inder, welche die Sepoys bis auf den letzten Mann niedermachten. Sie redeten in der Sprache der Puharris. Der Anführer sagte mir, die Sepoys hätten mich in die Sklaverei bringen sollen, er aber und seine Leute hätten von einem Manne der mir näher stände, die Aufforderung bekommen, mich zu befreien und in Sicherheit zu bringen. Wohin, kann ich nicht erfahren. Der Anführer hatte quer über das Gesicht eine tiefe Narbe, sein linkes Ohr ist durchschossen. In diesem Dorf, wo man das Papier hoffentlich findet, gelingt es mir, diese Zeilen zu schreiben. Ich lege es in den Tischkasten. Den Namen des Dorfes kenne ich nicht, der Mankdrallah verbeugte sich immer sehr tief und richtete sich nicht wieder auf. Ich glaube den Puharris nicht, ich fürchte Unheil. Das Datum ist mir unbekannt, es wird Anfang September 1857 sein. Franz...«
»Hier bricht das Schreiben ab, gerade wie er seinen Namen schreiben wollte«, schloss Bob, »ein Punkt ist nicht dahinter.«
Mit überlegenem Lächeln las Jim das Schreiben.
»Ein Franz ist das nicht, das hat ein Mädchen geschrieben. Ich bin nicht umsonst Schreiber bei einem Advokaten gewesen. Wenn das kein Frauenzimmer geschrieben hat, so will ich dich niemals heiraten.«
»Geh, mach jetzt keine Dummheiten. Aber hier steht doch Franz, nur der Zuname fehlt.«
»Sie brach mitten im Worte ab, Franzy oder Franziska wollte sie schreiben. Den Zettel heben wir jedenfalls auf und geben ihn an die gewünschte Adresse ab. Vielleicht ist es die Liebste Lord Cannings.«
»Oder seine Schwester.«
»Hat er nicht; es muss seine Liebste sein. Die Verschleierte hat den Zettel hier gefunden und will uns nun aushorchen. Die Inderin soll aber lange nichts zu sehen bekommen.«
»Weißt du, ich glaube fast, es ist gar keine Inderin«, meinte Bob nachdenkend.
»Warum nicht?«
»Als sie den Zettel wiederhaben wollte, steckte sie die Hand aus dem Ärmel, und da sah ich, dass diese fast weiß war.«
»Inderinnen haben manchmal fast ganz weiße Hände. Aber diesen Mankdrallah wollen wir doch einmal aushorchen.«
Eben kam dieser herein und meldete, dass im Nebenzimmer ein gutes Bett hergerichtet worden sei. In diesem Augenblicke ertönten unten die Klänge von Tamburins, und der Mankdrallah nötigte die beiden, ans Fenster zu treten.
In der eintretenden Dämmerung sahen sie unten einige Mädchen stehen, welche Tamburins schwangen und nach dem Fenster die freundlichsten Blicke hinaufwarfen, die ihnen zu Gebote standen. Hätten die beiden sich hinausgebogen, so würden sie auch die würdige Ehehälfte des Mankdrallahs gesehen haben, wie sie in der Türe stand, eine Peitsche in der Hand, und die armen Mädchen mit den Blicken und Gebärden einer Tierbändigerin aufforderte, ihre Kunststücke zu zeigen.
Die geknechteten Geschöpfe taten denn auch ihr Bestes, den herabblickenden Soldaten zu gefallen. Ihr Tanzen, Lachen und Schäkern kam ihnen aber wahrlich nicht von Herzen.
Sie waren jetzt viel mehr herausgeputzt als vorhin, da sie sich dem dicken Inder präsentieren mussten, und zwar hatte Mirzi den Befehl hierzu nebst einem beigefügten Geschenk an die Frau Ortsvorsteherin ergehen lassen. Was von den Lumpen nicht gesehen werden sollte, das verhüllte die Dämmerung, und so machten die Mädchen wirklich einen ganz hübschen Eindruck, umso mehr, da sie jetzt lustig waren.
»Ist es nicht ein Skandal, dieser Mädchenhandel?«, flüsterte Bob. »Ich möchte den Ortsvorsteher ohrfeigen, dass er uns so eine Vorführung bietet und von uns eine Wahl verlangt.«
»Ländlich sittlich!«, entgegnete Jim achselzuckend. »Der Ortsvorsteher ist unschuldig, wurde ihm doch erst von englischen Beamten geheißen, jedem Durchreisenden solch eine Gefälligkeit zu erweisen. Nun, Bob, wie wird's, willst du dir nicht eine aussuchen?«
Bob lachte und trat vom Fenster zurück.
»Und du?«
»Du kränkst mich, Bob.«
»Haben die Sepoys ihre Wahl getroffen?«, fragte hinter ihnen der Mankdrallah.
»Nein, führe sie fort!«
»Es sind aber die schönsten.«
»Wir wollen überhaupt keine.«
Der Mankdrallah machte ein ganz verblüfftes Gesicht. Es war wahrscheinlich das erste Mal, dass er von Soldaten solch eine abschlägige Antwort bekam.
»Ich weiß nicht — soll ich — sollen sie...«, stammelte er.
»Wir wollen überhaupt keine!«, herrschte Bob ihn an. »Hast du uns nun endlich verstanden?«
Der Mann verließ kopfschüttelnd das Zimmer. So etwas war ihm noch nie vorgekommen. Bob warf den Mädchen ein Geldstück hinab und sagte ihnen selbst, sie sollten sich entfernen. Noch fröhlicher, als sie gekommen, zogen sie wieder ab.
Da öffnete sich die Tür, und der Mankdrallah kam nochmals in derselben Angelegenheit.
»Ich habe auch noch Töchter und...«
»Hinaus, Schurke!«, donnerte Bob ihn entrüstet an. »Wage nicht, uns nochmals zu belästigen!«
In einem abseits gelegenen Zimmer empfingen Gholab und Mirzi die wunderbar klingende Nachricht, dass die beiden Soldaten sich durchaus weigerten, Mädchen in ihr Zimmer zu nehmen.
»Dahinter steckt etwas«, sagte Mirzi. »Schon der Umstand, dass der Kleine darauf besteht, in einem anderen Zimmer zu schlafen, ist verdächtig. Ehe wir uns ihrer bemächtigen, wollen wir uns darüber klar werden. Vielleicht findet sich ein anderer Plan.«
Sie erfuhren, dass man die beiden Soldaten durch einen Schlitz in der baufälligen Wand sehr wohl beobachten könnte, und sofort nahm Mirzi ihren Lauscherposten ein.
Das Zimmer war noch hell genug erleuchtet, um alles erkennen zu können. Jim und Bob standen sich gegenüber und hielten einander bei den Händen gefasst.
»Warum denn nicht, Bob?«, hörte Mirzi den größeren in bittendem Tone fragen.
»Weil ich nicht will«, entgegnete der Kleine mutwillig, »es sähe ja zu komisch aus, wenn sich zwei Soldaten küssten.«
Mirzi horchte hoch auf. Das klang seltsam.
»Nur einen einzigen«, bat Jim wieder; »es sieht ja niemand.«
»Nein, Jim, nicht eher, als bis wir wieder in England sind.«
»Du bist grausam.«
»Ach, Jim, tu doch nicht so weinerlich, das steht einem Corporal gar nicht. Hast du denn früher auch immer so gefleht und gebettelt, wenn du von einem Mädchen einen Kuss haben wolltest?«
»Du hast recht, ich benehme mich ungeschickt. Du, was ist denn das?«, unterbrach er sich plötzlich erschrocken und deutete nach dem Dache der gegenüberliegenden Karawanserei.
Bob war natürlich ebenfalls erschrocken und blickte nach der angedeuteten Richtung. Diesen Augenblick der Regungslosigkeit benutzte Jim nach besten Kräften. Ehe sich der Kleine wehren konnte, hatte Jim ihn umschlungen und drückte den Mund auf seine Lippen.
Da war das Eis gebrochen. Bob duldete nicht nur den Kuss, er erwiderte ihn sogar, und Kuss nach Kuss erklang an das Ohr der Lauscherin.
»Nelly, meine Nelly, warum wehrst du dich denn jetzt nicht mehr?«, lachte Jim fröhlich immer wieder Küsse auf die frischen Lippen drückend.
»Weil ich ein Mädchen bin«, entgegnete Nelly, welche ihre Natur nicht mehr verleugnen konnte ebenfalls lachend.
Also das war es! Die lauschende Mirzi staunte nicht mehr, sie schloss die Augen, und im Nu war in ihrem Kopfe der Plan entstanden, auf welche Weise sie diese beiden nicht nur fangen und vernichten, sondern auch noch quälen konnte. Mirzi war ein Weib und wusste, womit sie noch mehr martern konnte als mit spitzen Waffen und Feuer.
Vorläufig musste sie noch lauschen und beobachten.
»Geh jetzt«, sagte Nelly, den Geliebten sanft von sich drängend.
»Ach, Nelly, du verlangst viel.«
»Es muss sein.«
»Warum denn? Es muss nicht sein.«
»Geh, verlass mich, ich bitte dich. Bedenke doch, wir sind im fremden Land, im Kriege, ich bin Soldat. Lass mir doch die Freude, meine Rolle durchzuspielen.«
»Du gehorchst mir auch nicht, wenn ich dir als Corporal befehle, bei mir zu bleiben?«
»Dann erst recht nicht. Nur Bob, der Trommeljunge, kennt Vorgesetzte, nicht Nelly. Nicht wahr, du versprichst, mir die Ruhe der Nacht nicht zu stören? Ach, Jim, ich bedarf so sehr des Schlafes.«
»Dann schlafe wohl, meine Nelly, und träume von mir!«
Diesmal war es das Mädchen, welches ihn mit Liebkosungen fast erdrückte; er konnte sie gar nicht erwidern, nur dulden, und als er endlich frei kam, da schlüpfte Nelly wie ein schüchternes Reh zur Tür hinaus. Jim hielt sein Wort, er folgte ihr nicht und nahm sich vor, sie unbelästigt zu lassen.
Der Lauscherin Blut war bei dieser Szene in Wallung gekommen; ein furchtbarer Hass stieg auf gegen die, welche sie einst geschlagen, nein, nicht geschlagen, misshandelt hatte. Es war ein Weib, ein Mädchen, und der, den sie liebte, vor dem hatte sie sich einstmals maßlos erniedrigt. Das Mädchen liebte diesen Mann; das war der Grund gewesen, warum sie ihn aus den Armen der Verführerin gerettet hatte. Ha, wie wollte sie sich jetzt rächen, an ihr und an ihm, und sie konnte es!
Während Mirzi sinnend auf dem finsteren Flur stand, schmiedete sie in ihrem Kopfe schurkische Pläne. Jetzt wusste sie, so ging es.
Sie schlüpfte in ihr Zimmer, wühlte in ihrem Gepäck, steckte etwas zu sich und begab sich zu Gholab, der ihrer in kaum zähmbarer Ungeduld wartete.
»Kommst du endlich?«, empfing er sie. »Warum lässt du mich so lange warten, bis ich die beiden erdrossele? Ja, ich bin ein Phansigar. Da du es weißt, gestehe ich es. Ich bin sogar ein Oberguru, und glaubst du, ich brauche erst lange Vorbereitungen, sie zu töten? Ja, wenn ich sie aus der Mitte ihrer Kameraden holen müsste, aber so — sie sind allein.«
»Deshalb eben können wir mit Ruhe operieren. Wir wollen sie qualvoll sterben lassen, qualvoller, als du je einen Menschen gemordet hast, und ich will dabei dein Schamsias sein. Nicht wahr, so heißt der Mann, der dem Opfer die Hände hält? O, ich habe schon etwas von der Sprache der Thugs gelernt.«
»So sprich, wie wollen wir sie töten? Ich glaube nicht, dass du mich eine neue Todesart lehren kannst.«
»Doch, ich töte den einen, während du dich mit dem anderen ergötzest. Denkst du nicht mehr an den Preis des Esels?«
Die Mordgedanken hatten jetzt, da Gholab sein Opfer sicher wusste, nicht vermocht, die sinnliche Begierde zu unterdrücken. Seine Augen leuchteten lüstern auf.
»Du bist ein gutes Mädchen. Lass uns sie schnell töten, dann bist du mein.«
»Ich werde dir nicht gehorchen.«
»Nicht? Oho, dann werde ich dich zwingen.«
»Du wirst mir nicht viel tun«, lächelte Mirzi. »Hast du den kleineren der Soldaten gesehen?«
»Ein Milchgesicht. Ich erwürge ihn mit zwei Fingern.«
»Sprich nicht von ›ihm‹. Es ist ein Mädchen.«
»Was sagst du?«, rief Gholab ungläubig.
»Ein achtzehnjähriges Mädchen, als Soldat verkleidet, frisch und unberührt. Ich sah, wie der andere, ihr Geliebter, gute Nacht zu ihr sagte. Vergebens drang er in sie, die Gelegenheit nicht unbenützt vorübergehen zu lassen — sie schlug es ihm energisch ab, und er gab endlich ihren Bitten nach — bis zur Hochzeit mit der Teilung des Lagers zu — warten. Hahaha!«
»Es ist nicht möglich«, staunte Gholab.
»Du selbst kannst und sollst dich davon überzeugen, übernimm du die Rolle des Bräutigams, sie spielt die meine. Kannst du dir nun erklären, warum sie die Mädchen abschlugen und warum der Kleine darauf bestand, in einem besonderen Zimmer zu schlafen?«
»Ja, du hast recht, es ist ein Mädchen — und es gehört mir.«
»Gemach, gemach! Bedenke, sie haben Waffen bei sich...«
»Bah, was fürchte ich von diesen beiden.«
»Wir wollen sie aber nicht mit Gewalt überwältigen, sondern mit List. Sie sollen in Verzweiflung sterben. Verstehst du denn nicht? Der Große ist der Geliebte des Mädchens, das ihm als Soldat verkleidet folgt. Wahrscheinlich befinden sie sich auf der Flucht, und die Verkleidung ist ganz gut gewählt. Ich hasse beide. Wie groß muss die Verzweiflung des Mannes sein, wenn er die, welche er liebt, und die ihm noch nicht angehören will, sich in den Armen eines Fremden vergebens winden sieht. Ja, er muss der Szene beiwohnen, gefesselt, und die ihn bindet, bin ich.«
»Du?«
»Es ist mir ein Leichtes. Sieh hier diese Fesseln.«
Sie zog unter dem Mantel zwei Handschellen hervor, die durch einen kurzen, starken Strick verbunden waren. Die Handschellen selbst bestanden aus Stahl oder Eisen, waren aber viel zu weit, als dass sie sich um die Handgelenke festgelegt hätten. Auch war kein Schloss oder sonst eine Öffnungsvorrichtung daran zu sehen — einfache, geschlossene, und sehr weite Ringe.
»Strecke deine Hände aus, ich will dir den Mechanismus zeigen.«
Unwillkürlich streckte Gholab seine Hände vor; im Nu hatte Mirzi die beiden Ringe übergestreift, es knackte etwas, und wie angegossen saßen plötzlich die beiden Ringe um die Handgelenke — Gholab war gefangen.
»Das ist eine sinnreiche Vorrichtung!«, sagte er.
»Nicht wahr? So werde ich den Großen fangen. Nun versprich mir, dich nicht eher an dem Mädchen zu vergreifen, als bis ich das Zeichen dazu gebe.«
»Ich lasse mir nicht gern Vorschriften machen.«
»Ich verlange es aber von dir.«
»Du von mir?«, lachte Gholab höhnisch auf. »Weib, was bildest du dir denn ein?«
»Ich verlange deinen Schwur, dass du mich ruhig gewähren lässt, bis das Mädchen dein Eigentum ist.«
»Unsinn, das habe ich zu bestimmen. Befreie mich von den Handschellen!«
»Nicht eher, als bis du geschworen hast; du bist mein Gefangener.«
»Was?«, brauste Gholab auf und wollte sich auf das Mädchen stürzen, da aber blickte ihm der Lauf des Revolvers entgegen.
»Du bist in meiner Hand!«, sagte Mirzi kaltblütig. »Schwöre bei dem Heiligsten, was du kennst, schwöre mir bei der Spitzaxt der Kali, dass du dich meinen Anordnungen fügen willst. Du bist in meiner Hand, und mein Leben gefährden kannst du nicht, eher nehme ich dir das deinige.«
Gholab schäumte vergebens, er musste nachgeben.
»Gut denn! Was verlangst du?«
»Nichts anderes, als was in deinem eigenen Interesse ist. Ihr Thugs habt Mittel, den Menschen zu betäuben.«
»Die haben wir.«
»Es gibt verschiedene, so zum Beispiel eins, durch welches man nur einen Augenblick betäubt wird, eben so lange, dass man gefesselt und geknebelt werden kann.«
»Das werde ich anwenden«, grinste Gholab.
»So hast du es also bei dir?«
»Ja.«
»Gut. Schwöre mir, dass du das Mädchen zwar fesseln und knebeln wirst, dich aber nicht eher an ihm vergreifst, — als bis ich es dir heiße.«
»Ich schwöre es dir bei der heiligen Spitzaxt der Kali — und nun befreie mich von den höllischen Ringen.«
Mirzi tat es, aber so, dass sie den Revolver immer zum Gebrauche bereit hatte. Doch Gholab dachte nicht an sie, sondern nur an das bevorstehende Abenteuer, das für ihn ein Fest nach seinem Geschmack zu werden versprach.
»Und was willst du tun?«, fragte er Mirzi.
»Das lass meine Sorge sein. Ich werde dir den Großen, welcher Jim heißt, gefangen abliefern, er soll zuschauen, wie Nelly — so heißt das verkleidete Mädchen — von dir überwältigt wird. Das soll meine Rache sein, die für die beiden fürchterlicher als der Tod ist. Diesem entgehen sie nachher doch nicht.«
»Sterben müssen sie, und zwar von meinen Händen«, setzte Gholab grimmig hinzu.
Mirzi ging, um sich zu überzeugen, ob die beiden schliefen, während Gholab Vorbereitungen traf, um Nelly in Betäubung zu versetzen und sie unschädlich und stumm zu machen. Sein Diener, ebenfalls ein Thug, half ihm dabei.
Bald kam Mirzi wieder und brachte die Nachricht, dass die beiden, von langer Reise und Strapazen völlig erschöpft, in todähnlichem Schlafe lägen.
Die Zeit des Handelns war gekommen; auf den Zehenspitzen schlichen die drei den Zimmern ihrer Opfer zu.
Jim wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er von seinem Bette empor fuhr, weil sich eine Hand wiederholt und nachdrücklich auf seine Schulter gelegt hatte. Traumbefangen blickte er um sich; er konnte nichts sehen, denn die undurchdringlichste Finsternis herrschte um ihn herum, aber die Hand fuhr wieder wie liebkosend über seine Wange und ergriff dann auch seine Hand.
»Jimmy, mein lieber Jim«, flüsterte es dicht neben ihm, dass er den warmen Hauch des Atems spürte, »verzeihe mir, dass ich dich aus dem besten Schlafe geweckt habe.«
Und ob Jim verzieh! Das war Nellys Stimme, dies ihre Hand, jetzt sah er auch etwas Weißes leuchten.
»Bist du es, Nelly?«
»Ja, ich bin's. Ich konnte trotz aller Müdigkeit nicht schlafen, ich musste erst noch einmal zu dir, dich noch einmal küssen.«
Zwei Lippen pressten sich auf die seinen, er umschlang die Gestalt und umfasste die schlanken, weichen Formen Nellys, die nur leicht verhüllt waren.
Es war kein Wunder, dass der junge Mann nicht mehr an sein Versprechen dachte; er brauchte es auch nicht mehr zu halten, denn Nelly kam ja zu ihm. Des Mädchens Sehnsucht war stärker gewesen als die seine; sie hatte ihrer Kraft zu viel zugetraut.
Sie ließ es geschehen, dass er sie zu sich zog, bis sie neben ihm lag, sie ließ es geschehen, dass er sie küsste und mit ihr koste; ihre schüchternen Widersprüche erstickte er mit Küssen, heiß drangen seine Liebesworte in ihr Ohr. Doch als sich ihre Glieder enger und enger aneinander schmiegten, als das armselige Lager in dem indischen Bambushause zum Brautbett werden sollte, da ergriff sie mit kräftiger Hand seine Gelenke und hielt sie fest.
»Nicht jetzt!«, rief sie.
»Nelly, diese Versuchung kann ich nicht ertragen«, keuchte er.
»Ich führe dich nicht in Versuchung.«
»Wie kannst du so sprechen?«
»Bitte, habe Mitleid mit mir.«
»Mitleid? Du liebst mich nicht.«
»Ob ich dich liebe, Jim. Aber ich denke jetzt an etwas Anderes, beruhige mich erst darüber!«
»Über was?«
»Ich muss immer an den Brief denken.«
»An welchen Brief?«
»Den die verschleierte Inderin dir vorhin gab. Wohin hast du ihn gesteckt?«
»Ich begreife nicht, wie du jetzt an den Brief denken kannst«, sagte Jim vorwurfsvoll.
»Auch ich weiß es nicht, aber der Brief liegt wie ein Zentner auf meinem Herzen. Wohin hast du ihn gesteckt? Nicht, Jim — antworte mir erst.«
»In meine Brusttasche. Wie ein Zentner liegt dieser dumme Brief auf deinem Herzchen?«
Jim benutzte diese Worte, um seinen Liebkosungen eine neue Wendung zu geben. Seine heißen Lippen küssten den weichen, elastischen Busen, und Nelly setzte ihm nur schwachen Widerstand entgegen. Mechanisch beantwortete Jim alle an ihn gestellten Fragen, er dachte an etwas ganz anderes, und so merkte er nicht, dass Nelly doch eigentlich alles das wissen musste, was sie fragte.
»Wer mag das Mädchen wohl gewesen sein?«
»Mir ging schon vorhin eine Ahnung auf, als ich mich schlafen legte. Vielleicht ist es Franziska Reihenfels, die Schwester des toten Reihenfels. Man sagte ja, sie sei mit Lord Canning verlobt.«
»Sie wurde aber von den zwölf Puharris streng bewacht. Hier gelang es ihr, unbeobachtet einige Zeilen aufs Papier zu werfen.«
»Was beginnen wir nun mit dem Schreiben?«
»Wir geben es, wie Franziska wünscht, entweder Lord Canning selbst oder einem seiner Freunde. Wenn sie nur gewusst hätte, wohin sie gebracht wird.«
»Ja, das ist schlimm. Was schrieb sie sonst noch?«
»Aber, Nelly, hast du denn ein so kurzes Gedächtnis!«
»Ja, mir ist so komisch zumute.«
»Ach, denke doch nicht mehr an den dummen Brief. Sag, Nelly, willst du mich nur zum Narren haben? Warum kommst du erst zu mir, weckst mich aus dem besten Schlaf und willst nun die Spröde spielen?
»Ihr Männer seid doch ganz närrisch. Du darfst nicht glauben, dass ich so eine bin wie die Mirzi, mit der du machen konntest, was du wolltest.«
»O, Nelly, sprich nicht mehr davon!«
»Warum denn nicht? Ich bin dir deswegen nicht mehr böse.«
»Das sind unangenehme Erinnerungen.«
»Ach was! Oder ziehst du Mirzi mir vor?«
Er drückte seine entgegengesetzte Meinung dadurch aus, dass er sie an sich presste und sein Gesicht an ihrer Brust vergrub. Doch das Mädchen war damit noch nicht zufrieden.
»Hattest du Mirzi eigentlich wirklich lieb?«
»Ich bitte dich, höre von diesem Weibe auf. Du quälst mich«, stöhnte er. »Sonst erwähntest du niemals jener Stunde, und gerade jetzt, da ich dich besitze, erinnerst du mich daran.«
»Eben dadurch will ich dich im Zaume halten; die Erinnerung an deine Sünden sollen dich hindern, mich zu besitzen. Ich bin nicht willens, mich dir hinzugeben. War Mirzi nicht ein ganz hübsches Mädchen?«
»Du bist grausam.«
»War Mirzi nicht wirklich hübsch?«
»Nein, nein doch, sie war grundhässlich. Ich kann nicht begreifen, wie ich sie je hübsch gefunden habe.«
»Ach, geh, du warst ja ganz vernarrt in sie!«
»Das eben ist mir unbegreiflich. Der Satan muss mit ihr im Bunde gewesen sein. Er verblendete meine Augen.«
»Oder Gott Amor. Ich glaube fest, du hattest damals wirkliche Absichten auf Mirzi.«
»Torheit! Es war nur ein ganz abgefeimtes Weib.«
»Du sprachst zu ihr vom Heiraten.«
»Das ist nicht wahr.«
»O, ich habe euch ja öfter belauscht.«
»Ich habe nie vom Heiraten gesprochen, ein Soldat denkt überhaupt selten ans Heiraten.«
»Aber ich habe es doch gehört. Mirzi fing davon an; sie wollte dich wahrscheinlich ins Garn locken.«
»Nein, nein, du kannst nichts gehört haben, denn wir haben nie darüber gesprochen. Mirzi war nur ein Werkzeug politischer Verbrecher, ich war von ihr als Opfer auserkoren worden. O, Nelly, dass du mich daran erinnern musst!«
»Ich glaube, es tat dir leid, dass ich deine Geliebte damals so züchtigte«, fuhr das Mädchen unbarmherzig fort. »Sei aufrichtig, Jim! Nicht wahr, es wäre dir lieber gewesen, Ihr wäret ungestört geblieben?«
»Nelly, Nelly, so habe doch Erbarmen!«
»Du machtest ein so wehmütiges Gesicht, als sie braun und blau geschlagen am Boden lag. Freilich, du warst dir einer bösen Schuld bewusst und durftest deswegen nicht mucksen.
Unter anderen Umständen hättest du wohl den kleinen Trommeljungen an die frische Luft gesetzt. Oder kam er überhaupt unerwünscht?«
»Nelly, du zerreißt mir das Herz.«
»Ach geh, so schlimm ist es nicht. Du zerreißt mir das Kleid. Wie, hättest du Mirzi gern geheiratet?«
Wenn Jim nicht an etwas anderes gedacht hätte, er wäre entrüstet gewesen. So beteuerte er nur immer seine Unschuld und das Gegenteil von dem Behaupteten.
»Heiraten? Die? Wo denkst du hin! Du weißt, wie wir Soldaten sind. Hätte ich aber gewusst, dass sie eine Spionin war, dann wäre ich anders mit ihr umgesprungen. Komm, meine süße Nelly!«
»Was hättest du denn mit ihr gemacht?«, forschte das unerbittliche Mädchen weiter, ihn abwehrend.
»Dann hätte sie meine Fäuste zu fühlen bekommen.«
»Du hättest das schöne Mädchen geschlagen?«
»Schön? Bah! Ein eitles, aufgeputztes Ding war es, weiter nichts. Ich hasse sie jetzt. Ha, wenn sie mir noch einmal zwischen die Finger käme!«
»Du würdest sie wirklich nicht mehr ansehen?«
»Verachten würde ich sie, anspucken, prügeln, mit Füßen treten. Ja, das würde ich tun.«
»Gott, du machst mir bange!«
»Das will ich nicht, dir gegenüber bin ich ganz zärtlich.«
»Viel zu zärtlich. Ich darf es gar nicht dulden. Aber sag, Jim, willst du mich später auch einmal heiraten?«
Nun bekam das Mädchen die üblichen Schwüre zu hören, dass er sie heiraten würde. Er rief Gott und alle Heiligen zu Zeugen seiner Ehrenhaftigkeit und schwor bei den unglaublichsten Dingen, bei seiner Seligkeit und beim heiligen Kanonenrohr. Auch die englischen Soldaten haben stets Heiratsschwüre auf Lager.
»Was war das?«, unterbrach sich Jim plötzlich. Er hatte etwas Eisernes rasseln hören.
»Ich habe den Verlobungsring gleich bei mir«, kicherte das Mädchen.
»Auch gleich den Trauring?«, fragte Jim, einen Scherz vermutend und darauf eingehend, um so mehr, als er dadurch an das Ziel seines Verlangens zu kommen glaubte.
In England tragen die Frauen sowohl einen Trauring, als auch einen Verlobungsring, beide am Goldfinger der linken Hand. Ersterer ist glatt, letzterer mit einem Muster graviert.
»Gewiss, auch gleich den Trauring! Bist du nun mit mir zufrieden?«
»O, Nelly, du machst mich zum glücklichsten Menschen. Donnerwetter, der ist aber ein bisschen groß!« Sie hatte ihm einen Ring gegeben, den er bequem über die Hand streifen konnte.
»Das ist der Verlobungsring, komm, lass ihn dir anstecken! Bitte, verdirb mir den Spaß nicht!«
»Aber ich sollte ihn dir anstecken, nicht du mir.«
»Bei uns ist eben alles umgekehrt. Ich war's ja auch, der zu dir kam. So, hiermit sind wir verlobt.«
»Und da hängt ja noch ein anderer dran!«
»Natürlich, das ist gleich der Trauring.«
»Die sind ja mit einem Strick zusammengebunden!«
»Damit sie nicht verloren gehen. Siehst du, was für ein ordnungsliebendes Frauchen du bekommst!«
»Halt, du steckst mir den Trauring ja an die rechte Hand. An die Linke muss er kommen.«
»Ach was, wir kehren uns nicht an die Mode.«
»Woher hast du die Dinger denn?«
»Sie lagen in meiner Kammer. So, pass auf, was nun kommt. Das sind nämlich Zauberringe.«
Knips! ging es, und die durch einen Strick verbundenen Ringe schlossen sich plötzlich eng um Jims Handgelenke.
»Nanu, was ist denn das?«, rief Jim verwundert. »Ich bin ja gefesselt!«
»Natürlich, willst du mich denn nicht heiraten?«
»Von Herzen gern, aber dabei wird man doch nicht gefesselt?«
»Das verstehst du nicht, mein lieber Jim, aber du wirst's schon noch lernen. Hast du noch niemals von den Fesseln der Ehe gehört? Siehst du, jetzt liegst du drin. Euch Männern schadet's überhaupt gar nicht, wenn euch in der Ehe die Hände etwas gebunden werden, und manchmal auch die Beine, sonst geht ihr durch. Nun, wie gefällt's dir denn in der Ehe?«
»Ich merke schon, dass ich unter den Pantoffel komme. Lass mich nur nicht zu lange gebunden.«
Wie ein Kind ließ Jim mit sich spielen. Er hatte es nur zu gern, dass sich die kleinen Hände mit ihm beschäftigten.
»Und hier habe ich noch etwas«, fuhr Nelly scherzend fort. »Fühlst du, was das ist?«
»Was für ein Ring ist denn das? Der ist ja schrecklich weit.«
»Das ist die Myrtenkrone, welche nur die Unschuld tragen darf. Du darfst sie tragen, denn du bist die Unschuld selbst — wenn du schläfst.«
»Und wenn mir die Hände gebunden sind«, fügte Jim lachend hinzu. Gutmütig ging er auch noch auf diesen Scherz ein, er ließ sich den großen Ring nicht auf den Kopf setzen, sondern über den Kopf stülpen.
»Was machst du denn jetzt wieder?«
Es war ihm, als befestige das Mädchen den Strick an diesem neuen Ring.
»Nun bloß noch das, dann gebe ich dich frei. Hebe die Hände! So! Siehst du, nun bist du völlig mein Gefangener.«
Sie hatte ihm die Hände dicht an den Halsring gezogen, er konnte sie kaum noch bewegen.
»Treibe den Scherz nicht zu weit, Nelly! So feiert man keine Hochzeitsnacht.«
»Nur noch eine Frage, dann sollst du sie feiern können. Was machtest du denn nun, wenn hier statt Nelly Mirzi läge?«
»Komische Frage! Ich würde sie aus dem Bett werfen.«
»Ich denke, du wolltest sie anspucken und dann prügeln?«
»Natürlich, das würde ich vor allen Dingen tun.«
Das Mädchen lachte plötzlich wild auf.
»Haha, denkst du denn wirklich, ich bin deine vielgeliebte Nelly? Erkennst du mich nun?«
Jim war vor Schrecken starr. Das war ja mit einem Male eine ganz andere Stimme! Da gellte ein furchtbarer Schrei durch das Haus.
»Jim, zu Hilfe, Jim!«, erklang es einige Zimmer entfernt.
Jim wusste nicht, ob er wirklich wache. Das war Nellys Stimme gewesen, die ihn gerufen hatte. Er sollte nicht lange im Unklaren bleiben.
Mit gellendem Gelächter sprang seine Gefährtin aus dem Bett, ein Licht flammte auf, und der entsetzte Jim blickte in die vor Hass verzerrten, von blauen Flecken entstellten Züge Mirzis. Im Nu war ihm alles klar, mit einem Schreckensschrei sprang er auf, aber unfähig, die Hände zu bewegen.
»Hörst du sie schreien?«, hohnlachte das listige Weib. »Sie ruft nach dir! Komm, du sollst zusehen, wenn deine Braut ihre Hochzeitsnacht mit einem anderen feiert.«
Sie warf einen bereitliegenden Mantel über, ergriff das Licht und riss den vor Entsetzen halb bewusstlosen Jim an dem Strick mit sich fort, welcher seine Hände an den Halsring schnürte. — —
Auch Bob — oder wir wollen jetzt wieder Nelly sagen — sollte beim Erwachen aus tiefem Schlafe Schreckliches erleben.
Es kam ihr wie im Traume einmal vor, als würde ihr ein Tuch über das Gesicht gedeckt. Sie wollte sich umdrehen und das Störende mit den Händen entfernen, doch mitten in dieser Bewegung schlief sie wieder ein, und zwar sehr fest.
Wie ward ihr aber, als sie endlich erwachte und sich an Händen und Füßen gefesselt fand, im Munde einen Knebel, der sie an jeglichem Laute hinderte. Im ersten Augenblicke konnte sie gar nicht daran glauben, bis ihr die schmerzenden Stricke deutlich bewiesen, dass sie wache und nicht träume.
Sie befand sich in einem anderen Zimmer als dem ihrigen, lag auf einem fremden Bette, nur mit einem Hemd bekleidet, wie sie sich schlafen gelegt hatte, und im Scheine der Kerze auf dem Tische sah sie vor sich einen Mann stehen, der halb höhnisch, halb lüstern auf sie herabblickte.
Beim Anblick dieses ungeschlachten Mannes mit den rot unterlaufenen Augen ging ein Schaudern durch ihren Körper. Sie sah ihr Geschlecht verraten und sich selbst in der Gewalt dieses Inders. Sie konnte sich nicht verhehlen, was seine Absicht war; es stand schon in seinem Gesicht geschrieben. Sie war unfähig, sich zu wehren, um Hilfe zu rufen! Konnte ihr wohl jemand Hilfe bringen? Wo war Jim?
Ohne Zweifel war sie betäubt und dann gefesselt worden, sonst hätte sie doch etwas von alledem merken müssen. Jims Los war jedenfalls das gleiche, vielleicht war er schon tot. Er war ein Mann; der Inder, der Feind der Engländer, konnte an ihm nur seinen Blutdurst, seine Rache befriedigen, aber sie...
Nelly hatte gehört und selbst gesehen, wie die Rebellen mit den Weibern verfuhren, wenn diese in ihre Gewalt fielen.
»Hast du gut geschlafen?«, fragte der Inder spöttisch.
Das Mädchen konnte nicht antworten; entsetzt starrte sie die unheimliche Gestalt an. Sie erschien ihr wie ein Nachtgespenst, wie der Vampir, der sich nachts auf Menschen wirft und ihnen das Herzblut aussaugt.
»Du sollst nicht die ganze Nacht gefesselt bleiben«, fuhr der Mann fort, »auch den Knebel nehme ich dir dann aus dem Munde. Dann, wenn du bei mir liegst, kannst du zetern und zappeln so viel, wie du willst, das tun solche junge Mädchen, wie du eines bist, immer; das verliert sich schon mit der Zeit. Jetzt aber musst du noch bleiben, denn Mirzi — du kennst sie doch — ist im Zimmer deines Gefährten. Während er sie umarmt und sie ihn küsst, legt sie ihm die Handschellen an. Nun, ich bin nicht eifersüchtig, ich habe ja Ersatz gefunden. Du bist doch nicht etwa eifersüchtig auf deinen Jim?«
Er setzte sich mit widrigem Lächeln neben sie aufs Bett und kitzelte sie mit dem Finger unterm Kinn. Nelly wünschte, an dem Knebel ersticken zu können. Ein Stöhnen kam aus dem Munde.
»Nun, nun, du brauchst nicht lange zu warten. Hätte ich nicht bei der heiligen Spitzaxt geschworen, Mirzis Rückkehr zu erwarten, ich würde dich schon längst auf meinen Schoß genommen haben. Du gefällst mir, Kleine. Wie kommst du eigentlich dazu, dich in Soldatenuniform zu stecken? Bist wohl auf der Flucht und fürchtest dich, als Mädchen zu reisen? Ja, wir haben aber scharfe Augen. Also der Soldat ist dein Geliebter! Der Arme! Warum hast du ihm deine Liebe versagt? Nun werde ich seinen Platz einnehmen und dich die Freuden der Liebe lehren. Nicht wahr, du kennst sie noch nicht, Kleine? Wie solltest du? Bist ja kaum reif, dir sieht man die Unschuld noch an.«
Ach, hätte sie ersticken können! Sie wünschte sich den Tod, gleichviel, in welcherlei Gestalt. Nur tot, tot wollte sie sein, damit sie nichts mehr zu hören brauchte, nicht mehr diesen scheußlichen Kerl sah.
Er beschäftigte sich wieder mit ihr. Sie riss an den Stricken, sie strengte die Lunge zum Zersprengen an, um den Knebel entfernen zu können, sie wälzte sich und wand sich — vergebens, sie konnte nicht verhindern, dass seine Hände tastend über sie fuhren.
Jetzt bückte er sich und küsste sie mit seinen widerlichen Lippen. Noch einmal strengte sie alle ihre Kraft an; Schaum trat ihr vor den Mund, und dann befiel sie ein schrecklicher Husten. Er drohte sie zu ersticken.
»Oho, mit dir werde ich meine Not haben«, kicherte Gholab, »aber desto bester! Es ist mal etwas anderes als eine Bajadere.«
Der Husten wurde immer schlimmer; die Augen drohten die Höhlen zu verlassen.
Gholab wurde von Besorgnis ergriffen, nicht etwa von Mitleid. Diesem Husten konnte ein Lungenschlag ein Ende machen; Nellys zarter Busen flog auf und nieder. Kurz entschlossen nahm er ihr den Knebel aus dem Munde.
Mit der äußersten Energie vermochte sie sofort den Husten zu bändigen, und »Jim, zu Hilfe, Jim!«, kam es schrill und gellend von den Lippen.
»Schrei nur, schrei nur zu!«, lachte Gholab. »Dein Geliebter wird schon kommen. Sieh, da ist er schon!«
Die Tür ward aufgerissen; Mirzi trat triumphierend ein, Jim wie ein Schlachtvieh am Stricke führend. Gleichzeitig kam auch Gholabs Diener herein, in der Spalte der anderen Tür wurden einige Köpfe sichtbar, dem Mankdrallah und dessen Weibern gehörend.
Jims Blut stockte vor Schrecken. Nelly war in der Gewalt dieses rohen Wüterichs. Er hob sie wie ein Kind auf seinen Schoß, doch liebkosen, wie er es wollte, konnte er sie jetzt nicht, denn das Mädchen versuchte die einzige Waffe, die sie noch besaß, zu benutzen — sie versuchte zu beißen. Er musste ihren Kopf mit beiden Händen von sich abhalten.
Jim sah im Geiste schon alles kommen. Das war eine teuflische Rache an ihm, dem Engländer; sein Gefährte war als Weib erkannt worden, man wusste auch, dass sie seine Braut war, und nun sollte sie, die Engländerin, nicht nur in seiner, sondern noch in anderer Gegenwart, ganz öffentlich und schamlos entehrt werden.
Mit einem Wutschrei wollte er vorstürzen. Gholabs Diener jedoch erfasste ihn von hinten beim Halsring und hielt ihn so mit Leichtigkeit zurück. Jims Anstrengungen waren vergebens, er hätte sich höchstens selbst erwürgt.
»Sieh, deine Braut«, rief Mirzi frohlockend, »sieh, wie sie sich sträubt! Geradeso, wie du, als ich von dir die Brieftasche forderte. Erkennst du mich nun? Erkennst auch du mich, mein heldenmütiger Trommeljunge? Ja, sieh mich nur an! Ich bin's, die du damals geschlagen hast. Rache ist süß, Rache, Rache, Rache! Hahaha, wie sie zu beißen versucht.«
In Blick und Worten des Weibes lag halber Wahnwitz, sie konnte sich nicht sättigen an dem Anblick, der sich ihr bot. Bald blickte sie auf Jim, bald auf die sich windende Nelly. Ersterer wusste nicht, ob er vor Zorn oder vor Scham vergehen sollte. Unfähig, zu helfen, stand er mit erloschenen Augen da und wünschte, der Himmel möge über ihn und über diese Schändlichen herabstürzen.
Auch Nelly wusste nicht, was sie tat. Sie wehrte sich aus Leibeskräften und schrie und flehte Jim um Hilfe an.
»Das ist meine Rache, das ist meine Rache!«, wiederholte das Weib in einem fort. »Ah, das labt mich, das stärkt mich, sättigt mich! So habe ich es mir immer ausgemalt, das ist meine Rache! Sieh deine Braut an, Jim! Sieh mich an, süße Nelly! Ich bin es, die an alledem Schuld ist.«
Gholab sah ein, dass er so mit dem Mädchen nicht fertig werden konnte. Er hob sie auf und warf sie wuchtig auf das Bett, sich dabei aber in acht nehmend, dass seine Hände nicht von ihrem Munde erreicht werden konnten.
»Ich mache ein Ende!«, keuchte er.
»So ist es recht, mache ein Ende!«, jubelte Mirzi und sprang hinzu. »Den Knebel! Steck ihr den Knebel in den Mund! Ich habe dir versprochen, ich will heute dein Schamsias sein; ich selbst halte ihr die Hände fest. So, so ist es recht!«
Die Stricke waren durch Gholabs Messer zerschnitten worden, Mirzi ergriff des Mädchens Hände an den Gelenken; mit tierischer Brutalität warf sich Gholab über sie hin.
Jim heulte laut auf; er erwürgte sich fast an dem Halsring.
Da vermischte sich sein Schreien mit dem Schmerzgeheul Gholabs.
Dieser hatte sich aufgerichtet, über sein Gesicht floss Blut, aus dem einen durchbohrten Auge kommend.
Es war Nelly gelungen, eine Hand dem Griffe zu entwinden. Blitzschnell hatte sie unter das Hemd gegriffen, ein an einer Lederschnur hängendes Messerchen ergriffen und dasselbe mit der geschlossenen Klinge dem auf ihr Liegenden ins Auge gestoßen.
Zwar bemächtigte sich Mirzi sofort wieder der freien Hand, doch mit Gholab war es vorbei, und außerdem verwandelte sich die Szene vollkommen.
Plötzlich stand ein Mann im Zimmer, man wusste nicht, ob er durchs Fenster oder durch die Tür gekommen war; mit einem gellenden Schlachtrufe stürzte er auf Gholab zu.
Der Inder hatte die fremde Gestalt in der roten Pelzmütze, in der Hand ein langes Messer, zuerst gesehen, und schneller konnte der Blitz nicht sein, als Gholab zur nächsten Tür hinausschoss, Dick wie sein Schatten ihm nach.
Ebenso ergriff auch Gholabs Diener sofort die Flucht.
Auf Mirzi aber stürzte sich mit einem Wutschrei das misshandelte Mädchen. Mit einem Ruck lag sie am Boden, auf ihr kniete Nelly, und nun wiederholte sich jene Szene, in welcher sich die junge Irländerin als Meisterin der Boxerkunst gezeigt hatte, in verstärktem Grade.
Wir kehren nach Delhi zurück und begeben uns durch die bekannte geheime Tür im Hause der Duchesse in die unterirdischen Gänge. Es ist nicht mehr so einsam wie früher dort unten. In einer Grotte sitzt im Scheine einer trübebrennenden Öllampe eine Gruppe von bewaffneten Indern zusammen. Sie unterhalten sich in flüsterndem Tone und spielen mit verschieden geformten Steinen auf einem Brett. Nur einer sitzt abgesondert und beobachtet unausgesetzt eine Sanduhr. Sobald der feine Sand aus der einen Glaskugel in die andere gelaufen ist, was ungefähr eine Viertelstunde in Anspruch nimmt, erhebt sich der Mann und verlässt die Grotte. Sofort nimmt ein anderer seinen Platz ein, dreht die Sanduhr um und beobachtet wieder das Ablaufen, bis auch er abgelöst wird.
Der Fortgegangene kommt nach fünf Minuten wieder und darf nun an der Unterhaltung teilnehmen, bis die Reihe wieder an ihm ist.
Zweimal des Tages werden auch Krüge mit Wasser und Teller mit Essen in den Gang getragen. So geht es Tag für Tag, regelmäßig läuft die Sanduhr ab, und regelmäßig entfernt sich der jeweilige Beobachter.
Wohin geht er? Was soll dieses geheimnisvolle Gebaren? Folgen wir einem der Männer!
Er geht nur wenige Schritte in den Gang und bleibt stehen, unter einem Händedruck öffnet sich in der Mauer eine Tür, und schwacher Lichtschimmer fällt ihm entgegen.
In der Ecke steht ein bequemes Lager, und auf demselben liegt ein Mann, ein Inder. Seine Gestalt ist entsetzlich abgemagert, das Gesicht, der Kopf scheinen einem Gerippe anzugehören, die Augen verschwinden fast in den Höhlen. Der Mann liegt im tiefsten Schlummer.
Da tritt der Gefangenwärter an ihn heran und schüttelt ihn so lange, bis er wach ist. Es ist nicht so leicht, der Wächter muss tüchtig schütteln; er sticht ihn auch mit dem Messer in die nackten Fußsohlen oder macht einen Draht über der Lampe heiß und brennt ihn damit. Jedenfalls ruht er nicht eher, als bis der Gefangene völlig wach und bei Besinnung ist. Dann entfernt er sich wieder.
Nicht lange dauert es, so ist der Gefangene, der entsetzlich müde zu sein scheint, wieder eingeschlafen, aber schon kommt ein anderer Wärter und reißt ihn abermals aus dem Schlafe.
So geht es Tag und Nacht, Woche für Woche schon.
Wirklichen Schlaf findet der Unglückliche nimmer. Kaum schließen sich die müden Augen, so wird er wieder gezwungen, sie zu öffnen, und glanzlos stieren sie den Ruhestörer an.
Schlaflosigkeit ist wohl die schwerste Strafe, die man überhaupt über einen Menschen verhängen kann.
Aber kein Klagelaut entschlüpft den Lippen des Unglücklichen, geduldig erträgt er sein Schicksal. Er denkt auch nicht an Selbstmord.
Jeden Tag betritt die unterirdischen Gänge ein kleiner, alter Inder, dessen Gestalt gebückt ist, und dessen Gesicht wie faltiges Pergament aussieht.
Die Wächter springen bei seinem Eintritt auf und verneigen sich vor ihm wie vor einem Gott. Seine durchbohrenden Augen wandern schnell von einem zum andern, und wird ihm keine Meldung gemacht, so besichtigt er sofort die Gefangenenzellen.
Zuerst betritt er die Zelle des Schlaflosen. Er selbst weckt diesmal den Müden.
»Kannst du noch nicht den ewigen Schlaf finden?«, fragt seine hohe, unangenehme Stimme, und sein Auge leuchtet in boshaftem Triumph auf. »Warum schläfst du denn nicht? Warum blickst du mich immer an, wenn ich in deine Zelle trete, obwohl deine Augen doch vor Müdigkeit zufallen? Du hast dich ja in England ausgeschlafen, Hira Singh, du hast ja vor den Faringis manches Mal vier Wochen lang unter der Erde und im Glassarge geschlafen, womit du dir viel Geld verdient hast. Nun kannst du nicht schlafen, vielleicht lässt dir auch der erworbene Schatz keine Ruhe. Also wache denn, Hira Singh, wache!«
Der Angeredete beachtet nicht den beißenden Spott. Es ist Hira Singh, der hier zur Strafe gemartert wird, weil er die Geheimnisse seiner Kaste verraten hat. Es ist ihm angedroht worden, er solle an Schlaflosigkeit sterben, aber nicht zu bald. Hira Singh ist ein Fakir, er gehört zu denen, die den Selbstmord verabscheuen, und so trägt er geduldig sein Schicksal und wartet nur sehnsüchtig des Augenblicks, da seine Seele den toten Körper verlassen und sich mit Brahma vereinigen wird. Jede Stunde bringt ihn seiner Erlösung näher.
Timur Dhar — das ist der kleine Mann — geht einige Schritte weiter und bleibt vor einem Mauerloche stehen, das ihm Einblick in eine andere Zelle gewährt.
Der Boden derselben ist mit Ausnahme eines schmalen Weges dicht mit spitzen, an der Erde befestigten Glasscherben bedeckt. Keine Stelle ist da, wo sich ein nackter Fuß unverletzt hätte hinstellen können. Der mitten durch diese Glasscherben führende Weg ist eben breit genug, dass ein menschlicher Fuß darauf Platz hat, und dieser Weg nur dient zum Aufenthalt des die Zelle bewohnenden Mannes.
Er war klein und ebenso mager wie Hira Singh, aber die Beine waren angeschwollen, denn entweder musste er den Weg auf und ab wandern, oder er konnte sich höchstens am Ende des Weges an die Wand lehnen, einen nackten Fuß vor den anderen stellend. Hier konnte er auch nur schlafen, an ein Hinlegen war nicht zu denken.
Am Rande des Steges waren die Scherben mit Blut gerötet, ein Zeichen, dass der ruhelos auf und ab Wandernde schon manchen Fehltritt getan, was stets eine Wunde an dem nackten Fuße zur Folge hatte.
Der Gesichtsform nach war der Mann ein Chinese, doch kein Zopf zierte sein Haupt, der Kopf war vielmehr vollständig kahl rasiert. Also hatte dieser Chinese der Ansicht seiner Religion nach das Anrecht auf den Himmel verloren.
Mit Hass ruhten Timur Dhars Augen auf dem Mann, der, als er das Gesicht an dem Mauerloche bemerkte, sich an die gegenüberliegende Wand lehnte, die Arme übereinander legte und trotzig den Blick erwiderte.
»Hast du den Felsentempel bei deiner langen Wanderung noch nicht gefunden?«, höhnte Timur Dhar. »Ich dächte doch, du müsstest dieses Wanderns endlich einmal müde sein. Warum legst du dich denn nicht hin und ruhst dich aus, Kiong Jang?«
»Es wird die Zeit noch kommen, da ich mich zur Ruhe legen werde und deiner endlosen Wanderung zuschaue. Vergiss nicht, dass ich Gleiches mit Gleichem vergelten werde!«, erwiderte der Chinese, dessen Mut noch nicht gebeugt worden war.
»Aber das geschieht wohl nicht mehr in dieser Welt, Kiong Jang? Wo hast du denn deinen Zopf gelassen?«
»Es ist nicht nötig, dass du mich jeden Tag an meine Schmach erinnerst. Unausgesetzt grübele ich darüber nach und rufe mir ins Gedächtnis zurück, von wem ich einst meinen Zopf zu fordern habe.«
»Wann wirst du mit deiner Forderung wohl hervortreten?«
»Wenn die Zeit gekommen ist. Dann werde ich von dir, Timur Dhar, und von dem Priester der Thugs, der Radscha Tipperah genannt wird, meinen Zopf und meinen Gott wiederfordern.«
»Diese Zeit wird wohl niemals kommen.«
»Sie wird kommen.«
»So hoffe denn, und einstweilen kannst du hier spazieren gehen, zopfloser Chinese, Ausgestoßener aus dem himmlischen Reiche!«
Machte Timur Dhar bei diesen beiden seinem Hasse in solcher Weise Luft, so verhielt er sich ganz anders bei dem dritten, den er ebenfalls regelmäßig zu besuchen pflegte. Auch diese Zelle betrat er nicht, er blickte nur durch das Mauerloch hinein, aber sein Gesicht strahlte jedes Mal förmlich vor befriedigter Rache.
Diese Zelle enthielt einen jungen Mann, einen Europäer, keinen Eingeborenen. Der Gefangene wurde durch nichts gequält, keine Strafe war über ihn verhängt worden, mit Ausnahme der Freiheitsberaubung. Die Zelle war sogar komfortabel ausgestattet, nichts fehlte hier zur Bequemlichkeit, die Wächter brachten die besten Speisen herein, und doch drückte das Gesicht des jungen Mannes das tiefste Elend und Unglück aus, und gerade diesen Mann hasste Timur Dhar, wie er noch nie gehasst hatte.
Sonderbar, wie sich die beiden verhielten! Erschien des Gauklers Gesicht an dem Mauerloch, so trat ihm der Mann sofort gegenüber, und beide sahen sich stumm an. Der eine schien vor Hass zu kochen und zugleich vor Triumph zu strahlen, der andere begegnete fest dem gehässigen Blick. Keine Miene zuckte in dem Gesicht, das namenlosen, inneren Schmerz verkündete. Nur Vorwurf konnte man in dem Blick lesen.
Selten einmal wechselten die beiden einige Worte.
»Sie hat deinen Tod gerächt«, sagte der Gaukler einmal. »Achtzehn gefangene englische Offiziere hat sie mit eigener Hand erschossen; dann hat sie sich eingeschlossen, und ich hörte, wie sie um dich geweint und gejammert hat.«
Langsam hob der Angeredete die Hand und drohte dem Gaukler.
»Hüte dich, Timur Dhar«, sagte er mit dumpfer Stimme, aber nachdrucksvoll. »Wehe dir und allen denen, die mit dir im Bunde sind, wenn sie einmal von deinem Betrug erfährt!
Wehe dir, Timur Dhar, wenn diese Mauern einmal fallen und das Verborgene an das Tageslicht kommt! Du wirst dein kühnes Spiel einst noch bereuen — denke an mich!«
»Sie wird es nicht erfahren, du aber sollst noch lange leben und als Toter von ihr beweint werden. Ja, du selbst sollst sie noch einmal um dich klagen hören. Vernimm, was ich ersonnen habe, um dein Herz, mit neuen Qualen zu erfüllen. In wenigen Tagen soll dein Leichnam gefunden werden, in welchem Zustande, kannst du dir selbst ausmalen. Größe, Haare und ganz besonders deine Kleider und der Ring, den ich dir abgenommen habe, kennzeichnen dich. Du wirst in einem Katafalk aufgebahrt, begraben, und von einem Verstecke aus sollst du deiner eigenen Trauerfeierlichkeit beiwohnen. Du sollst sehen, wie man dich nach deinem Tode ehrt, und wie sie sich die Haare rauft und die Hände ringt, du sollst die Worte hören, die sie dir ins Grab nachruft. Hahaha!«
»Verruchter, elender Lügner«, brauste da der Mann auf, »der du mich mit Lug und Trug ins Unglück gelockt hast, der auch noch zahllose andere Menschen namenlos unglücklich macht! Die Strafe Gottes wird dich noch treffen — mehr habe ich dir nicht zu sagen, dir Ausgeburt der Hölle!«
Höhnisch lachend, mit seinem Erfolge vollständig zufrieden, verließ Timur Dhar das Mauerloch.
Einige Tage später, es war noch am Morgen, welcher hier unten jedoch nicht bemerkbar war, schraken die spielenden und schwatzenden Wächter jäh in die Höhe; denn Timur Dhar kam in die Grotte geeilt oder vielmehr gestürzt, hielt sich diesmal nicht bei den Wächtern auf, sondern stürmte weiter, jener Zelle zu, welche den jungen Engländer barg.
Noch niemand hatte den mächtigen Gaukler, der sich sonst so zu beherrschen wusste, in solcher Aufregung gesehen. Um sie zu verbergen, hatte er auch wahrscheinlich das Gesicht verhüllt, aber schon seine Bewegungen verrieten die furchtbare Erregung.
Zum ersten Male auch betrat er die Zelle des Engländers, und zwar ebenfalls mit äußerster Hast.
Der Gefangene schaute verwundert und misstrauisch auf.
»Du bist ein Arzt in deinem Heimatlande, nicht wahr?«, stieß Timur Dhar atemlos hervor.
Der Gefangene zögerte entweder mit der Antwort, oder er wollte überhaupt nicht antworten. Mit noch größerer Erregung wiederholte der Gaukler seine Frage; seine Stimme bebte, die Ärmel, welche die Hände verbargen, zitterten, ja, selbst sein ganzer Körper. Es musste etwas Außergewöhnliches, etwas ganz Ungeheuerliches passiert sein, was den Gaukler so außer Fassung brachte.
»Ich habe keinen Grund, dir zu antworten«, entgegnete der Gefangene ruhig.
»Sprich, sprich, bist du ein Arzt? Du musst mir antworten, es ist ein Menschenleben in Gefahr.«
»Die Menschen, welche du am Leben erhalten willst, sind sicher nicht des Lebens wert. Mögen sie sterben!«
»Weißt du, wessen Leben und Tod es gilt?«
»Was kümmert's mich.«
Obgleich der Gefangene ihm ausweichen wollte, näherte der Gaukler den Mund seinem Ohre und flüsterte ihm etwas zu, als dürften selbst diese kalten Mauern nichts von dem Geheimnis erfahren.
Wie vom Blitze getroffen taumelte der Gefangene zurück, er zitterte, erbleichte und stützte sich auf den Tisch.
»Du willst mir nur von neuem Schmerz bereiten; ich kenne dich, Timur Dhar.«
»Nein, nein, ich spreche die Wahrheit. Merkst du es denn nicht?«
»Ja, ich glaube dir. Sie ist tot.«
»Anscheinend tot, vergiftet! Bist du ein Arzt?«
»Nein.«
»Nicht? Aber du kennst die Gifte dieses Landes und noch andere, die nicht einmal ich kenne.«
»Allerdings, ich verstehe mich auf Gifte und ihre Gegenmittel. Wie ist sie vergiftet worden?«
Auch der Gefangene wurde von derselben Erregung ergriffen. Schnell wechselten die Reden hin und her.
Der Gaukler zog unter dem Mantel einen Dolch hervor.
»Hier, durch diesen Dolch.«
»Sie ist erstochen worden?«
»Nein, die Spitze berührte nur ihren entblößten Nacken, bloß ein winziger Stich ist zu sehen, und leblos brach sie zusammen.«
»Das ist nicht möglich. Schurke, du stellst mir eine neue Falle.«
»Was ist nicht möglich?«
»Es gibt kein Gift, welches sofort tötet.«
»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. In derselben Stellung, wie sie eben stand, den Mund noch zum Sprechen geöffnet, so fiel sie zu Boden und war steif.«
»Steif?«
»Steif wie ein Toter, kein Herz- oder Pulsschlag mehr zu fühlen, es fließt kein Blut.«
Es war fast, als ob mit dem Gefangenen eine Änderung vor sich ginge. Seine leicht gebückte Gestalt richtete sich auf, wie ein Zucken huschte es über sein Gesicht. Es war vielleicht zum ersten Male, dass Timur Dhar solch eine Verwandlung an einer Person, mit der er sprach, entging. Er war eben zu sehr von einem anderen Gedanken eingenommen.
»Ich kenne allerdings ein Gift, welches so wirkt«, sagte der Gefangene langsam, »aber es ist schwer zu bekommen, hier in Indien wohl gar nicht, obgleich die Pflanze hier wächst.«
»Und kennst du ein Gegenmittel?«, fragte der Gaukler hastig.
»Gibt es denn überhaupt ein Mittel gegen den Tod? Und dennoch — zeig mir den Dolch!«
Der Gaukler zögerte unschlüssig, ob er dem Gefangenen die furchtbare Waffe in die Hand geben dürfe.
»Wenn du mich fürchtest, so hättest du nicht erst zu mir kommen sollen.«
Er erhielt den Dolch.
Der Gefangene verfuhr ganz so seltsam wie Aleen, als er seinen Herrn zum ersten Male über die Eigenschaften des Dolches aufklärte. Er zog den Stahl heraus, hielt ihn gegen das Licht und schwibbte ihn dann durch die Luft, als wolle er einen an der Spitze hängenden Tropfen abschleudern. Dasselbe Manöver wiederholte er nochmals.
Gespannt, ja, fast angstvoll hatte ihm der Gaukler zugeschaut.
»Kennst du ein Mittel, welches den durch dieses Gift herbeigeführten Tod verhindert?«
»Ich denke, sie ist schon tot?«
»Ja. Kannst du sie wieder lebendig machen?«
»Fürwahr, Timur Dhar, König der Gaukler«, sagte der Gefangene mit Ironie, »du verlangst viel von mir. Wann ist der Tod eingetreten?«
»Sofort, sagte ich.«
»Ich meine, wann erfolgte die Vergiftung?«
»Vor höchstens fünf Minuten.«
»Nicht länger?«
»Nein.«
Der Gefangene sann nach, ab und zu den Dolch prüfend betrachtend.
»Ich muss mich erst überzeugen, ob dies das Gift ist, dessen Eigenschaften ich kenne. Ist es dasselbe, so ist eine Wiederbelebung nicht unmöglich, ist es ein anderes, so möge Gott dir gnädig sein, denn du hast ein neues Opfer auf deinem Gewissen. Sprich nicht, sie ist doch dein Opfer! Jetzt schaffe mir ein Tier herbei, einen Hund oder besser eine Katze. An ihnen will ich die Eigenschaften dieses Giftes probieren.«
Der Gaukler stürzte mehr davon, als er lief, und während seiner Abwesenheit schritt der Gefangene mit verschränkten Arnien in der Zelle auf und ab. Er war in tiefes Sinnen versunken, man sah ihm an, dass sein Gehirn hinter der hohen, freien Stirn mächtig arbeitete. Dann huschte ein freudiger, hoffnungsvoller Zug über das sonst so traurige Antlitz.
Timur Dhar kam mit einer Katze im Arm zurück. Der Gefangene drückte das Tier mit der einen Hand fest auf den Tisch, wobei er sich bemühte ihm eine möglichst unnatürliche Stellung zu geben, stach ihm mit der Dolchspitze ins Ohr und fühlte sofort, wie das Leben unter seiner Hand erstarrte. Wie er die Katze gehalten hatte, so lag sie da, bewegungslos, steif und ohne eine Spur von Leben. Aus einer Schnittwunde floss kein Blut, die Glieder ließen sich nur mühsam biegen.
»Sie ist tot«, sagte der Gefangene.
»Wer?«, schrie der Gaukler entsetzt auf.
»Sie ist tot, das Leben ist entflohen«, wiederholte der Gefangene und blickte den Gaukler scharf an.
»Es ist nicht möglich, es kann nicht sein!«
»Überzeuge dich selbst.«
Der Gaukler tat es mit zitternden Händen, dann wendete er sein Auge angstvoll nach dem Gefangenen. »Keine Rettung mehr möglich?«
»Führe mich zu ihr!«
»So hast du noch Hoffnung? Dann ist sie auch nicht tot. Es ist nur ein Scheintod.«
»Du sagst es, es ist nur ein Scheintod, ein Erstarren des Lebens. Aber sie stirbt doch, wenn sie nicht bald wieder zum Leben erweckt wird. Ich kenne das Gift und seine Eigenschaften. Nur ich bin imstande, sie dem Leben zu erhalten — wenn es noch nicht zu spät ist.«
»So komm schnell, komm!«, drängte der Gaukler, fasste ihn beim Arm und zog ihn mit sich. »Komm, keine Minute ist zu verlieren.«
Wie sehr hatte sich der Gaukler dem Gefangenen gegenüber, den er sonst in seinem Hasse höhnte, verwandelt! —
Im Turmzimmer lag eine Leiche aufgebahrt, die der Begum von Dschansi. Nichts als die Bewegungslosigkeit, das Fehlen des Atemholens und Pulsschlages verriet ihren Tod. Die Wangen zeigten noch unter der braunen Haut ein leichtes Rot, die Lippen waren noch halb geöffnet und ließen die weißen Zähnchen hervorblitzen.
Timur Dhar hatte, als sie zu Boden gestürzt war, schnell einen Mantel über sie geworfen und sie selbst dann hierher getragen, wo kein Lauscher zu fürchten war. Phoebe musste ihm folgen und behilflich sein, auch bei der Leiche bleiben, während er davoneilte zu dem einzigen, von dem er noch Hilfe erhoffte. Kein anderer Mensch sollte erfahren, dass die Begum von Dschansi tot war, wenigstens jetzt noch nicht.
Tränenden Auges bog sich Phoebe über das so plötzlich in der blühendsten Jugend dahingeraffte Mädchen. Ach, auch Bega war einer Tücke zum Opfer gefallen. Phoebe dachte im Augenblick nicht daran, welche Rolle dieser vergiftete Dolch auch in ihrem Leben gespielt hatte — denn dass es derselbe war, durch welchen Lacoste fiel, daran zweifelte sie nicht — sie beschäftigte sich nur mit dem unglücklichen Mädchen. Was hatte sie von ihrer Jugend gehabt? Wie kurz waren die Jahre gewesen, in denen sie das Leben mit heiterem Auge sah, und auch da hatte sie keine Elternliebe gekannt. Fürwahr, das Schicksal hatte grausam mit ihr gespielt, und noch grausamer böse Menschen. Eine fast freudlose Kindheit, als Jungfrau für den Krieg erzogen! Sie hatte nie gewusst, welches Land sie ihre Heimat nennen sollte. Wohin sie kam, wurde sie als eine Fremde angesehen. In England galt sie als eine Inderin, und als sie nach Indien kam, nannte man sie ebenfalls eine Fremde. So wurde dem Mädchen aus der Fremde der Himmel, die Nirvana, als Heimat zugewiesen, und in diese war sie jetzt zurückgekehrt.
Trübe schüttelte Phoebe den Kopf. Sie wusste besser, wo sich die Heimat dieses fremden Mädchens befand, sie hätte ihr zu einer solchen verhelfen können, aber ihre Zunge war gebunden, und jetzt war es auch zu spät — überall zu spät, wohin Phoebe blickte. Lebte sie noch, und Phoebe würde sie nach ihrer Heimat führen, sie käme doch wieder in eine Fremde, denn niemand lebte mehr, der sie liebend empfangen hätte.
Und das alles war Timur Dhars Werk — und Phoebe selbst hatte dabei mitgeholfen.
Mit zarter Hand versuchte sie der Toten die Augen zuzudrücken, sie vermochte es nicht. Die Lider blieben starr und unbeweglich. Kaum konnte sie die Glieder zurechtlegen, die Arme strecken, denn Bega hatte erst mit in die Höhe gereckten Armen dagelegen. Phoebe musste Gewalt anwenden, ehe sie die Glieder in eine richtige Lage zu bringen vermochte.
Da kamen Schritte herbei, Timur Dhar trat herein, und mit ihm noch eine andere Person, in einen langen Mantel gehüllt, der bis zu den Füßen reichte und Gesicht und Kopf vollständig bedeckte.
Beim Anblick Phoebes stutzte der Gaukler einen Moment, als hätte er sie nicht hier zu finden erwartet, dann wandte er sich hastig an den Vermummten.
»Betrachte sie, untersuche sie und gib dein Gutachten!«
Der Vermummte trat an das leblose Mädchen und legte ihm eine Hand auf den Busen. Nicht dieser bewegte sich, wohl aber die Hand. Sie zitterte; ein innerer Kampf erschütterte den Körper, und hinter dem Kopftuch hervor klang es wie Schluchzen.
»Sie ist tot!«, sagte eine Stimme, bei deren Klang Phoebe verwundert aufhorchte.
»Scheintot nur!«, fügte Timur angstvoll hinzu.
»Nein, nicht eigentlich scheintot. In diesem Körper hat das Leben aufgehört, die Seele hängt nur noch an einem schwachen Faden. Kein Teil funktioniert mehr, alles ist tot. Hier sind Geist und Körper in zwei Teile getrennt.«
»So halte sie zusammen, mache sie wieder lebendig, wenn du kannst!«
»Ich kann es, aber ich stelle Bedingungen.«
»Bedingungen? Wie?«
»Ja, Timur Dhar. Nur ich kann diesem schon kalten Körper das warme Leben wiedergeben, aber ich tue es nicht eher, als bis...«
»So werde ich dich dazu zwingen«, unterbrach Timur ihn heftig.«
»Mich zwingen?«, wiederholte der Vermummte spöttisch. »Lass dir gesagt sein, Timur, dass ich mich durch keine Gewalt oder Folter der Erde zwingen lasse, etwas zu tun, was gegen meinen Willen ist. Ich tue es nur, wenn du gewillt bist, meine Fragen zu beantworten.«
Timur schien nicht dazu geneigt zu sein.
»Überlege schnell, Timur! Der Faden, der die Seele an den Körper noch bindet, ist dünn und zerreißt bald.«
»Welche Fragen?«
»Die ich an dich stelle, gleich viel welche!«
»So frage denn!«
Er wollte den Vermummten, der die Hand an das Kopftuch legte, schnell daran hindern, dieses zurückzuschlagen, aber schon war es geschehen.
War Phoebe schon erstaunt über das Gespräch gewesen, welches sie gehört, besonders darüber, dass Bega gar nicht tot sein sollte, so prallte sie vor dem enthüllten Antlitz mit Entsetzen zurück.
»Reihenfels!«, schrie sie auf.
»Ja, ich bin's. Timur Dhar, fürchte nicht, dass diese deine Pläne verrät! Ich glaube, gar viele ahnen, dass ich nicht tot bin, denn du willst den, den du hasst, weil er schlauer war als du, sicher nicht einfach töten. Ja, Phoebe, ich bin Reihenfels, Oskar Reihenfels, und ich war nie tot. Dieser Mann hat mich mit schurkischen Listen dazu bestimmt, mich selbst für einen Toten auszugeben, und dann, als ich anderen Sinnes wurde, weil ich seine Schurkerei durchblickte — leider zu spät — sorgte er dafür, dass ich auch ferner noch für tot gehalten wurde.«
Der Gaukler war aschfahl geworden; mit furchtbar drohendem Blick trat er auf Reihenfels zu.
»Dein Leben liegt in meiner Hand«, zischte er, »bei der heiligen Kali, hüte deine Zunge, oder — —«
»Und dieses Leben hier liegt in meiner Hand. Nimmst du mir das meine, so ist auch dieses verloren, denn kein anderer wird wieder Leben in diesen toten Körper bringen können. Timur Dhar, ich weiß, wie viel dir an der Erhaltung der Begum liegt.«
Timur war entwaffnet, er knickte förmlich zusammen.
»Willst du also meine Frage beantworten?«, fuhr Reihenfels mit lauter, klarer Stimme fort.
»So frage denn!«
»Wer ist dieses Mädchen?«
Er deutete mit dem Finger nach Bega und blickte dabei den Gaukler scharf an. Wie ein Rachegott stand er vor ihm.
Timurs Blick streifte scheu zu Phoebe hinüber; noch antwortete er nicht.
»Fürchte dich nicht vor Madame Dubois! Was du zu sagen hast, das weiß sie schon längst, ebenso wie ich, war sie es doch, welche Bega erzogen hat. Offene, wahre Antwort will ich haben.«
»Wenn du es weißt, warum fragst du?«
»Es soll mir eine Genugtuung sein, aus deinem eigenen Munde zu hören, dass ich immer das Rechte erraten habe, die einzige Genugtuung, die mir im Leben für langes Leiden zuteil wird. Denn dass du mich wieder gefangensetzen wirst, daran zweifle ich nicht. Ich rette dieses Mädchen nicht, um es dir zu erhalten, sondern weil ich es liebe. Also, wer ist sie?«
»Eine Engländerin!«, entgegnete Timur gepresst.
»Das genügt mir nicht, antworte ein anderes Mal deutlich. Diesmal will ich dir behilflich sein, weil ich mir denken kann, wie schwer dir dieses Geständnis wird. Ist das hier liegende Mädchen Eugenie, die geraubte Tochter...«
»Halt ein«, rief der Gaukler mit allen Zeichen des namenlosesten Entsetzens, »wenn sie nur scheintot ist, wenn sie hören kann!«
»Dadurch verrätst du, Timur, dass du nichts weiter als ein Barbier bist«, entgegnete Reihenfels verächtlich, »von ärztlichen Kenntnissen hast du keine Spur. Sonst müsstest du wissen, dass, wenn der Herzschlag stillsteht, auch jede Funktion der Sinne erloschen ist. Willst du mir nun antworten oder nicht?«
»Ich will alles rückhaltlos gestehen, nur rette sie!«, rief Timur in fast flehendem Tone.
»Ist die Begum von Dschansi Eugenie, die geraubte Tochter Sir Frank Carters?«
»Ja.«
»Wer half dir dabei?«
»Hedwig, Sir Carters indische Dienerin.«
»Warst du es auch, welcher die öffentliche Vorstellung gab?«
»Ja. Ich wartete auf eine Gelegenheit, dass ich in Carters Haus gerufen würde.«
»Und wer war der Gaukler, welcher zu gleicher Zeit bei dem Lord die Vorstellung gab?«
»Ein mir ähnlicher Mann.«
»Du verschlucktest im Gefängnis die Zunge und ließt dich begraben?«
»Ja. Der andere Gaukler grub mich mit seinen Genossen wieder aus.«
»Dann reistest du mit dem geraubten Kind nach Indien?«
»Ja.«
»Wozu hattest du es geraubt?«
»Es ging unter den Indern eine Sage, dass 100 Jahre nach der Schlacht bei Plassy ein fremdes Mädchen kommen würde, welches das Volk vom englischen Joche befreien würde. Dazu brauchte ich ein Kind. Ich wählte eine Engländerin aus guter Familie, mit gesunden und kräftigen Eltern, mit einer intelligenten Mutter und einem willensstarken, etwas jähzornigen Vater. Denn die Mutter gibt dem Kinde den Geist, das Gefühl, der Vater ihm den Willen. Die Familie Carter schien mir geeignet dazu, und ich habe mich nicht getäuscht.«
Reihenfels atmete hoch auf und strich sich über die Stirn. Sein Auge ruhte dabei auf dem bewegungslosen Gesicht der Begum.
Phoebe hatte sich noch immer nicht von ihrer Bestürzung erholt, hier den totgeglaubten Reihenfels wiederzusehen. Und nun sollte auch Bega zum Leben wieder erwachen! So war Alphons damals auch nicht wirklich tot gewesen, sondern erst hinterher in der Themse, in die man ihn geworfen, ertrunken?
»Wo ließt du Eugenie erziehen?«, fuhr Reihenfels in der Examinierung fort.
»In Bengalen. Monsieur Francoeur, ein gebildeter Franzose, war ihr Erzieher, später auch diese Dame.«
»Was hatte Radscha Tipperah, der Priester der Thugs, dabei zu tun, als die Erziehung Eugenies in Wanstead fortgesetzt wurde?«
»Einmal sollte er die französischen Erzieher überwachen und uns Bericht erstatten, und dann brauchten wir eine indische Person, um Eugenie für eine Inderin ausgeben zu können.«
»Und alles dieses geschah auf deine Veranlassung hin?«
»Ja.«
»Du sorgtest auch dafür, dass Eugenies Herz mit Hass gegen die Engländer erfüllt wurde?«
»Nach besten Kräften.«
»Wer ist an dem Unglück Sir Carters schuld?«
»Ich nicht.«
»Aber Nana Sahibs Weib, Ayda, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ayda ist Lady Carters Schwester?«
»Ja.«
»Weil sie von Sir Carter, dem sie als Braut die Treue gebrochen hatte, verachtet wurde, hasste sie ihn und ebenso ihre Schwester, weil diese ihn glücklich gemacht hatte, und Ayda war es, welche deine Aufmerksamkeit auf das Kind der verhassten Schwester lenkte.«
»Du sagst es.«
»Sie war es auch, welche durch verschiedene Intrigen den unschuldigen Carter zum Hochverräter stempelte.«
»Ja, und ich lieh ihr meine Hilfe dabei.«
»Sie wusste, dass er im Felsentempel der Kali schmachtete?«
»Ja, und sie freute sich darüber.«
»Und wo ist Sir Carter jetzt?«
»In diesem Hause befindet sich eine Falltür, welche in eine Schleuse führt. Sir Carter wurde hier manchmal gesehen, nachdem ihm seine Flucht aus dem Felsentempel geglückt war. Er war halb oder völlig wahnsinnig, man nannte ihn das wandernde Feuer, wegen des brennenden Zweiges, den er bei sich trug. Ayda oder Isabel, wie sie früher hieß, hatte ihre Schwester gefangen und kühlte ihren Hass damit, dass sie dieselbe in diesem Hause bei einem Gastmahl, dem Emily in Ketten beiwohnen musste, schmachten ließ. Da kam das wandernde Feuer, trieb die Gäste davon und befreite Emily, seine Gattin. Carter wollte sich, Emily auf dem Arme, wieder zurückziehen, da öffnete Ayda die Falltür und ließ beide in die Schleuse hinabstürzen. Sie müssen dabei ihren Tod gefunden haben.«
»So hat Ayda, Nana Sahibs Weib, oder die Duchesse, wie sie auch genannt wurde, ihre Schwester und den Schwager ermordet?«
»Sie hatte es ihnen geschworen.«
»Und um alles dies wussten auch Bahadur und Nana Sahib?«
»Sie wussten nur die Hauptsache.«
»Wer ist Eugen, der indische Knabe, der an Stelle von Eugenie untergeschoben wurde?«
»Radscha Sirbhangas Sohn.«
»Erkläre mir näher, was du mit diesem vorhattest!«
Timur Dhar überwand sein Zögern.
»Es wurde die Prophezeiung verbreitet, aus Dschansi sollte Indiens König hervorgehen, nachdem das fremde Mädchen Indien befreit hätte. Wir wollten es so einrichten, dass der Sohn Sirbhangas die Begum heirate. Es kann dir nicht unbekannt sein, dass wir uns redliche Mühe gaben, eine Verbindung zwischen beiden herbeizuführen.«
»Dass Bega aber mich liebt, war euch hinderlich.«
»Natürlich.«
»Deshalb verdächtigtet ihr mich auch bei ihr«, wandte sich Reihenfels an Phoebe.
»Ja«, gestand diese.
»Und wo ist Sirbhanga nun?«
»Er ist tot!«, entgegnete Timur.
»Sein Vater, das weiß ich. Statt sich mit ihm zu messen, arrangierte Nana Sahib einen Zweikampf mit einem Tiger, und verwendete dabei einen gezähmten Tiger, den er auf Sirbhanga hetzte. Dass ich dies erfuhr, das hat mir besonders deinen Hass zugezogen, Timur Dhar.«
»So ist es.«
»Wo ist Eugen jetzt?«
»Er kämpft auf Seite der Inder.«
»Also übergetreten! Wie hast du dies erreicht?«
Timur warf erst Phoebe wieder einen scheuen Blick zu, ehe er antwortete.
»Eugen wurde verwundet, und während seiner langen Krankheit wurde er von einer Bajadere gepflegt, die der Begum sehr ähnlich sah. Eugen glaubte, es sei die Begum selbst, die Bajadere musste dies auf meinen Befehl auch zugeben; sie umstrickte ihn mit Liebe, und auf das Versprechen, sie einst zu besitzen, trat er zu den Indern über.«
»Die Bajadere gab sich fälschlich für die Begum aus! Wie heißt sie?«
»Kalidasa.«
»So ist auch Eugen ein Opfer deiner Schurkerei!«
»Er ist ein Inder und gehört zu uns.«
»Er hat seinen Schwur gebrochen!«
»Der Schwur war ein erzwungener.«
»Wir wollen nicht darüber streiten. Noch etwas anderes will ich von dir erfahren, hier neben dem Mädchen, das ich mit aller Kraft meines Herzens liebe, ehe du mich wieder in den dunklen Keller zurückführst, den ich wohl nie verlassen werde.«
»Mache es kurz. Du sagtest selbst, nicht lange ließe sich das Leben in diesem starren Körper halten.«
»Es ist noch Zeit genug. Jetzt sollst du hier offen gestehen, auf welch schändliche Weise du veranlasstest, dass ich auf deinen Plan, mich für einen Toten auszugeben, einging.«
»Siehst du ein, dass ich dich überlistete?«, fragte Timur mit höhnischem Triumph.
»Ja, durch Lug und Trug gelang es dir. Du hattest uns belauscht, als ich mich im Zimmer der Begum aufhielt, um von ihr die Befreiung meiner Schwester zu erbitten. Du wusstest, dass wir uns liebten, und das kam dir ungelegen. Dein Entschluss, mich zu vernichten, aber nicht zu töten, war sofort gefasst, du wolltest erst deinen Hass an mir auslassen. Als Bega verkleidet, kamst du zu mir, gabst dich für dieselbe aus, locktest mich in ein Gefängnis und hieltest mich dort so lange fest, bis du deinen teuflischen Plan ausgeheckt und vorbereitet hattest. Ahnungslos ließ ich mich von dir ins Freie führen, ich hielt dich immer für die Begum selbst.«
»Du hast mich sogar geküsst«, unterbrach ihn Timur spöttisch.
»Wenn du diesen Judaskuss nur nicht noch einmal sühnen musst! Am Lager angekommen, nahmen mich Buranis, die in deinem Dienste standen, fest, sie untersuchten mich und fanden bei mir verdächtige Papiere vor, die du mir erst heimlich zugesteckt hattest. Außer meinem Verschwinden galt es dir hauptsächlich, Lord Canning als den Schuldigen hinzustellen, als hätte er mich erschießen lassen, weil er mich als Mitschuldigen fürchtete.«
»Ist mir nicht alles gelungen?«
»Dadurch erregtest du den Zorn und Hass der Begum, du lenktest ihn auf Lord Canning, auf die ganze Nation, welche meinen Tod herbeigeführt hatte. Ja, es ist dir leider gelungen; du verstandest es vortrefflich, die Liebe eines Mädchens zu benutzen und sie in Rachsucht zu verwandeln. Wie du es angefangen hast, weiß ich nicht, jedenfalls hast du viele dir ergebene Subjekte veranlasst, mich als Spion zu bezeichnen. Das Todesurteil, welches Canning unterschrieben haben soll, hast du selbst ausgestellt, du selbst hast es mir gestanden, um mich niederzuschmettern.«
»Wenn du es schon weißt, warum wiederholst du alles noch einmal?«, fragte Timur Dhar.
»Weil es mir so gefällt. Die Buranis unter Captain Barber waren von dir erkauft. Ich sollte von ihnen erschossen werden. Natürlich wusste ich, dass alles dies eine teuflische List der Rebellen war, und im Hintergrund sah ich dich stehen. Doch ich beschloss, mich in das Unvermeidliche zu fügen. Da trat Captain Barber zu mir ins Zelt«, fuhr Reihenfels mit erhobener Stimme fort, »und sagte folgendes zu mir: Du, Timur Dhar, habest zwar meine Erschießung befohlen, doch von anderer Seite sei ihm der Befehl zugegangen, mein Leben zu schonen! Barber tat geheimnisvoll, er ließ durchblicken, dass er auf Befehl der Begum selbst handle. Nun aber dürfe er Timur Dhar doch nicht trotzen, und so griff er zu einer List. Er würde den Soldaten nur Platzpatronen in die Gewehre geben, ich aber müsse mich stellen, als wäre ich wirklich erschossen, denn Timur Dhar solle getäuscht werden. Um mein Leben brauche ich nicht besorgt zu sein. Wenn ich ins Wasser stürzte, würde mich sofort Kulwa, der Froschmensch, der in den unterirdischen Gängen dieses Gebäudes haust, fassen und mich in Sicherheit bringen. Der Mann sprach so, dass ich ihm glauben musste. Ich wurde am Uferrande der Dschamna aufgestellt, ich sah die Soldaten anlegen, sah die Schüsse blitzen, fühlte mich aber von keiner Kugel getroffen. Der Verabredung eingedenk, griff ich nach meinem Herzen und ließ mich rücklings in den Strom fallen. Kulwa nahm mich wirklich sofort in Empfang, brachte mich vorläufig in ein Schilfversteck, und von hier aus wurde ich noch Zeuge der Sprengung der Brücke. Dann führte mich Kulwa weiter fort, brachte mich aber nicht zu der Begum, sondern in ein unterirdisches Verlies, wo erst die Missgeburt ihren Zorn an mir ausließ, ich weiß nicht warum — wahrscheinlich hast du ihn gegen mich aufgehetzt — dann erschienst du und brachtest mich in meine bisherige Zelle. Voll Gift und Geifer schildertest du mir deine Intrigen, du spartest keine Worte, mein Herz zu zerreißen. Ich hörte von dir, wie auch Barber nur in deinem Auftrag gehandelt hatte; denn du wolltest mich lebendig haben, zugleich sollte Lord Canning als mein Mörder gelten, um die Begum gegen ihn aufzureizen. Alle Zeugen deines doppelten Spieles vernichtetest du; teils kamen sie sofort beim Sprengen der Brücke um, teils tötetest du sie mit eigener Hand. Du verstandest es vortrefflich, mir den Jammer der Begum zu schildern, als sie meinen Tod erfuhr, du zerfleischtest mein Herz. Ja, Timur Dhar, du hast deinen Zweck vollkommen erreicht.«
»Siehst du es ein?«, entgegnete Timur mit unterdrücktem Triumph.
Gern hätte er noch das volle Maß seines gehässigen Hohnes über Reihenfels ausgegossen, allein die Zeit drängte. Vor allem lag ihm daran, der Begum Leben zu erhalten; denn ohne sie glaubte er alle seine Hoffnungen für verloren.
»Wenn du noch eine Frage hast, so stelle sie schnell, und ich will sie beantworten. Dann aber zögere nicht länger, der, welche du liebst, das Leben wiederzugeben. Sonst bist du schuld an ihrem Tode, und immer würde ich dich daran erinnern.«
Timur wusste ganz genau, dass Reihenfels nicht zu denen gehörte, welche, wenn sie den Tod vor Augen sehen, am liebsten auch alles das mit sich ins Grab nehmen möchten, an dem sie während des Lebens gehangen haben, nicht nur die zusammengescharrten Schätze, sondern auch ihre Lieben, wie unsere Vorväter und die Krieger anderer Nationen bei ihrem Tode ihre Lieblingspferde schlachten ließen, viele sogar ihre Weiber.
Reihenfels zog den Dolch hervor, den er noch immer besaß, betrachtete aufmerksam den Griff, drückte hier und da, schraubte daran, und nach Entfernung einer Platte zeigte sich, dass der Griff hohl war. Er roch hinein und nickte befriedigt mit dem Kopfe.
Sofort, als er den Dolch zur Hand genommen, hatte er ihn als eine ganz eigentümliche Art erkannt. Von Aleen wissen wir schon, dass es nur zwei solche Dolche in Indien gab; dieser kannte indes nur seine vernichtende, nicht auch seine rettende Wirkung, wohl aber Reihenfels. Schon, als er ihn vor Timur hin und her schüttelte, merkte er, dass der Griff eine Flüssigkeit barg, und jetzt bestätigte sich seine Vermutung.
Der Dolch war noch nicht viel benutzt worden, oder höchstens zum tötenden Zweck. Die rettende Eigenschaft besaß er noch vollkommen.
Vorsichtig verdeckte Reihenfels die entstandene Öffnung mit dem Finger, ließ Bega von Phoebe und Timur etwas zur Seite wälzen, sodass der Nacken frei wurde und setzte die Spitze auf die schon etwas entzündete Verwundung.
»Was tust du?«, rief Timur erschrocken.
»Sie retten«, entgegnete Reihenfels gelassen, machte einen ziemlich tiefen Schnitt in die gerötete Haut und betupfte die Schnittwunde, aus welcher noch kein Blut floss, mit dem am Finger hängenden Tropfen der goldgelben Flüssigkeit.
Sofort begann Blut zu fließen, fast schwarz aussehend, noch einige Sekunden, dann lief ein Zittern durch den erstarrten Körper, und die Finger begannen zu zucken.
»Nun tüchtig reiben und kneten«, sagte Reihenfels, »und in einer Minute wird sie die Augen wieder aufschlagen, als wäre nichts geschehen.«
Timur war hinter ihn geschlüpft; mit einem Griff entriss er ihm die furchtbare Waffe und ließ sie in seiner Brust verschwinden. Er glaubte, jetzt, da Reihenfels die Geliebte gerettet hatte, könne er an seine eigene Flucht denken, und der vergiftete Dolch hätte ihm wirklich den Weg durch jede Menschenmenge gebahnt.
Gleichzeitig packte er ihn mit eiserner Faust am Handgelenk.
»Hast du dein Werk getan, so gehe wieder dahin, wohin du gehörst«, zischte er und riss ihn mit sich fort.
»Das andere besorgst du, Phoebe«, klang es noch einmal zurück.
Ohne sich zu widersetzen, ließ sich Reihenfels fortziehen und befand sich schon einige Minuten darauf wieder in seinem unterirdischen Kerker.
»Hahaha, du Narr«, höhnte Timur Dhar, »du wirst wenig Früchte deiner Bemühungen genießen. Noch immer werde ich Tag für Tag kommen und dir erzählen, wie sich deine Geliebte um dich härmt, und deinem Begräbnis sollst du noch mit eigenen Augen zusehen.«
Damit schmetterte die Tür hinter dem Gaukler zu. Er eilte zurück, die Wiedererwachte zu beglückwünschen, vielleicht auch Hand zum Beleben mit anzulegen.
Reihenfels aber sank auf die Knie nieder und hob zum Gebet inbrünstig die Hände zu der steinernen Decke empor, welche Gottes Auge nichts verbergen konnte.
»Mein Gott«, murmelte er mit schluchzender Stimme, »ich danke dir, ich danke dir! Du gabst mir die Mittel, sie zu retten. O, lass mich hier schmachten, bis du mich durch den Tod erlöst, nur gib jetzt dem armen Mädchen Klugheit, dass sie sich beim Erwachen nicht verrät! Denn sie hat unser Gespräch ja hören können und weiß nun alles, alles. Und wenn es dir, allgütiger Gott, dienlich erscheint, so gib du ihr die Mittel, mich zu befreien, jetzt, da sie weiß, dass ich noch lebe. Vielleicht wandeln wir beide noch einmal Hand in Hand ein Leben nach deinem Wohlgefallen.«
Nur mechanisch verrichtete Phoebe ihre Wiederbelebungsbemühungen. Während sie den noch immer erstarrten Körper, der sich aber immer mehr belebte, knetete, rieb und bewegte, verweilten ihre Gedanken bei Lacoste und dem vergifteten Dolch.
So war Alphons de Lacoste, der Mann, den sie wirklich geliebt hatte, damals gar nicht tot gewesen. Er war erst im Wasser, unfähig sich zu rühren, ertrunken. Ach, dass sie damals bei ihm gewesen wäre und das Geheimnis des Dolches gekannt hätte! Dann wäre er am Leben geblieben — dann hätte vielleicht auch noch für sie das Glück auf der Erde geblüht.
Der liebe Leser hat schon längst erkannt, dass Phoebe im Grunde genommen kein schlechtes Herz besaß. Sie war nur eine arme Verführte, im lasterhaften Pariser Leben groß geworden, und das Schicksal hatte sie unter Verbrecher geführt, sie musste diesen gehorchen, ohne mit ihnen zu sympathisieren. Was blieb ihr nun, da sie das Liebste verloren, noch übrig? Nur eins: Rache!
Wer hatte Lacoste gemordet? Aleen? Nein, er hatte dies nur auf Westerlys Veranlassung getan. Und wer hatte den Erstarrten ins Wasser geworfen, wodurch er erst wirklich den Tod fand? Aleen? Erst recht nicht. Dies war auf Westerlys speziellen Befehl geschehen, ohne dass Aleen einen Vorteil davon gehabt.
Westerly war der Mörder! Ach, hätte sie den Verhassten doch eines hundertfachen Todes sterben lassen können! Wie herrlich wäre es zum Beispiel, wenn der Dolchstich den Körper nur erstarren ließe, die vollkommenste Geistesklarheit aber erhalten bliebe, und sie könne ihn dann in einen Sarg legen, aber mit Luftlöchern. Das wäre ein furchtbarer Zustand für den Betreffenden, für Phoebe aber eine furchtbare und süße Rache.
Doch Reihenfels hatte ja gesagt, dass mit diesem Scheintode zugleich die Tätigkeit der Sinne, also des Gehirns, aufhöre, und dieser erfahrene Gelehrte kannte ganz sicher die Wirkung des Giftes.
Phoebe brauchte nicht lange, um diese hier geschilderten Gedanken zu verarbeiten. In einigen Momenten waren sie ihr durch den Kopf gejagt.
Da seufzte Bega, schlug die Augen auf und richtete sich ohne alle Anstrengung empor. Sonderbar! Sie schaute sich nicht verwundert um, wie jemand, der aus langer Ohnmacht erwacht, auch pries sie nicht Gott, dass sie dem Scheintod, dessen sie sich vielleicht bewusst, entgangen war. Prüfend blickte sie auf Phoebe, und finster zog sich dabei ihre Stirn zusammen. Selbst Phoebe erschrak darüber; Begas Benehmen war zu unnatürlich. Wenigstens musste die aus langem Schlafe Erwachte doch ahnen, dass etwas Seltsames, Außergewöhnliches mit ihr passiert war. Aber nichts von alledem!
»Arme Bega, weißt du, was mit dir vorgegangen ist? Dass dein Leben nur an einem Faden hing?«, fragte Phoebe teilnahmsvoll und umschlang sie.
Wie in unsagbarem Widerwillen stieß das Mädchen sie zurück, sprang auf und durchmaß einige Male das Zimmer. Dann trat sie vor die erschrockene Phoebe, welche nicht anders glaubte, als Begas Verstand habe gelitten, hin und flüsterte ihr hastig zu:
»Phoebe, du bist nicht schlecht, auch du bist nur ein Opfer gleich mir. Erfahre es denn, dir will ich es anvertrauen. ich habe alles gehört!«
Phoebe konnte den wahren Sachverhalt noch nicht verstehen.
»Was meinst du, Bega?«, fragte sie verwundert.
»Fliehe, fliehe von hier, so schnell du kannst, ich gebe dir die Freiheit: denn alle, die hier sind, sind dem Verderben geweiht. Nur deinen Untergang will ich nicht, du bist unschuldig.«
»Ich verstehe dich nicht«, stammelte das Weib.
»Begreifst du noch immer nicht?. Ich habe alles gehört, was Reihenfels gesagt hat; Timur Dhar, dieser Schurke, hat alles gestanden. Ich war bei Vernunft von dem Augenblicke an, da ich umfiel, bis jetzt. Mit mir ist ein ruchloses Spiel getrieben worden, ich werde mich rächen. Jetzt ist es aus. Ich weiß, wer ich bin — still, er kommt!«
Timur Dhar hatte in der Erwartung, ob er seine Schutzbefohlene als Lebende oder Leiche wiederfinden würde, ganz vergessen, seinen Schritt wie gewöhnlich zu dämpfen. Sofort sank Bega auf das Lager und stützte den Kopf in beide Hände. Phoebe raffte sich zusammen und gab sich, alle ihre Energie aufbietend, das Aussehen, welches die Situation erheischte. Sie war fest entschlossen, sich sowohl des Vertrauens, das ihr Bega gezeigt, würdig zu erweisen, als auch von einer etwaigen Unbedachtsamkeit Begas keinen Gebrauch zu machen. Überhaupt hatte sie mit allen diesen Verhältnissen gebrochen. Timur Dhar konnte seine Freude schlecht unterdrücken, als er seinen Liebling lebend fand, und Bega spielte ihre Rolle meisterhaft.
Sie sagte, dass sie sich nur entsinnen könne, wie sie einen leisen Schmerz im Nacken in dem Augenblick verspürt habe, als sie Phoebe zum einstweiligen Abschied die Hände reichen wollte. Weiter wisse sie nichts.
Ehe ihr Timur Dhar den Vorgang erzählte, warf er einen fragenden Blick nach Phoebe hinüber, und als diese eine fast unmerkbare, verneinende Bewegung mit dem Kopfe machte, begann er zu schildern, wie sich ein Überläufer gemeldet habe, der die Begum sprechen wolle, wie er, Timur, ihm nicht getraut habe, ihm nachgeschlichen sei und gerade dazukam, wie der Perser ihr den Dolch in den Nacken stoßen wollte. Er hätte nicht mehr verhindern können, dass die Spitze die Haut ritzte, und die furchtbare Wirkung des Giftes habe sich sofort geäußert.
»Wie aber wurde ich denn wieder zum Leben gebracht?«, fragte Bega, welche tat, als wäre ihr dies nicht alles selbst bekannt.
»Ich wusste um die Eigenschaft dieses Dolches«, log Timur, »sowohl die tötende als auch die rettende, und so preise ich Brahma und Vishnu, den Erhalter, dass ich befähigt war, dich, o, Begum, dem Leben wiedergeben zu können.«
»Sagte der Perser nicht, er wollte mir Nachrichten über Reihenfels bringen?«
»Natürlich nur ein Vorwand, um in deine Nähe zu kommen. Die Engländer wissen, dass du — verzeihe deinem Diener, wenn er dein Herz martert — dass du zu Reihenfels in nahem Verhältnis standest, und gaben dem gedungenen Meuchelmörder den Rat, wie er dich persönlich sprechen konnte. Was für Nachrichten hätte er dir über einen Toten bringen können? Ach, der, den meine Herrin liebte, ist durch die Hinterlist seiner Freunde gefallen, auf die er so fest baute.«
»Zeige und erkläre mir nun diesen sonderbaren Dolch!«
Timur tat es. Prüfend betrachtete ihn Bega und blickte dann fragend Phoebe an.
»Sollte dies nicht derselbe Dolch...«
»Er ist es, er ist es!«, rief Phoebe und streckte die Hand nach der Waffe aus. »Durch dieselbe Waffe fiel auch Lacoste, ebenso meuchlings in den Nacken gestochen wie du. Gewähre mir nur eine Bitte, Begum. Für alle meine Dienste, die ich Indien geleistet habe, und für welche ich eine Belohnung fordern darf, verlange ich nur diesen Dolch, nur ihn, ich bitte dich, Begum.«
Timur Dhar wollte die Übergabe verhindern, aber schon hatte Phoebe ihn aus der Hand Begas empfangen und verbarg ihn an dem Busen.
»Ich begebe mich in meine Gemächer«, sagte Bega, aufstehend, »und möchte heute nicht mehr gestört werden, gar nicht, was auch geschehen mag. Ich bin bis zum Tode erschöpft.«
Sie ging hinaus; Timur und Phoebe waren allein.
Ersterer tat sich keinen Zwang mehr an, seine Freude über der Begum Rettung zu unterdrücken; finster blickte Phoebe drein.
»Ich habe von der Begum die Erlaubnis«, begann sie dann, »Delhi verlassen zu dürfen und frei meinem eigenen Willen folgen zu können. Ich hoffe, Timur Dhar, du wirst meinem Wunsche nicht entgegen sein, sondern ihn unterstützen.«
»Wozu?«, fragte der Gaukler.
»Timur, verstelle dich nicht! Ich habe oft bewundert, wie schnell und sicher du Menschen durchschaust, und was du nicht in ihrem Herzen liest, das spionierst du aus. Sicher kennst du auch den Beweggrund, der mich aus Delhi treibt.«
Timur war gegen Schmeichelei nicht unempfänglich.
»Ja, ich weiß es«, gestand er, »dich zieht es nach Bombay.«
»Warum gerade dorthin?«
»Weil du dort Westerly treffen wirst. Genug, Phoebe, ich kenne dein Schicksal und weiß, warum du alle Ursache hast, Westerly zu hassen. Fürchtest du, ich würde ihn deiner Rache nicht überlassen? Bis vor einer Stunde hätte ich es auch nicht getan, jetzt aber, jetzt, da ich weiß, dass der Mordanschlag auf der Begum Leben von ihm ausgeht, übergebe ich ihn dir zur Bestrafung.«
»Ja, jetzt überlasse ich ihn dir«, fuhr er mit vor Hass funkelnden Augen fort, »er war schon lange meiner Rache verfallen, und ich wartete nur auf den Moment, da ich ihn am empfindlichsten für seine wiederholte Verräterei strafen könnte. Nicht mit Unrecht nennst du mich einen Menschenkenner. So weiß ich denn auch, dass der Hass eines Weibes gegen den, der ihm den Geliebten geraubt hat, tausendmal leidenschaftlicher ist als der eines Mannes. Ein Mann, und wäre er noch so raffiniert, könnte seine Rache nicht so furchtbar befriedigen, wie ein Weib. Deshalb übergebe ich Westerly dir zur Bestrafung. Du wirst dein möglichstes tun.«
»Das werde ich«, entgegnete Phoebe mit bebender Stimme, »und dazu gebrauche ich den Dolch.«
»Ich will dich nicht erst ermahnen, den Dolch nicht einfach zum Töten anzuwenden. Ihr Weiber versteht es ja, jemanden eines hundertfachen Todes sterben zu lassen. Dennoch will ich dir Ratschläge geben, wie du ihn martern kannst.«
»Sie nützen mir nichts. Ich weiß selbst, wie ich sein Herz treffen kann.«
»So? Weißt du auch, was Westerly wie Feuer auf seinem christlichen Gewissen brennt?«
»Der Mord an seinem Bruder.«
»Ah, du hast es schon erfahren! Ja, das ist es! Ich kenne die christliche Religion; er fühlt sich als Kain, der seinen Bruder Abel erschlagen hat, und das Zeichen, das Jehova dem Brudermörder aufdrückte, trägt er ebenfalls auf der Stirn. Vergebens sucht er es durch fleischfarbenes Pflaster und Schminke zu verbergen, es kommt doch immer wieder zum Vorschein; und ich habe ihn beobachtet, mit welchem Entsetzen er sich manchmal im Spiegel betrachtet, wie er zittert, stöhnt und ächzt. Eure Religion spricht im Gegensatz zu unserer von Todsünden, die sich nicht abbüßen lassen, und Westerly fühlt, dass er eine solche begangen hat. Vergebens sucht er sich durch Genüsse zu betäuben, es gelingt ihm nicht, um so weniger, als er — eine noch furchtbarere Sünde gegen seine Religion begangen hat.«
»Eine noch größere?«, fragte Phoebe verwundert. »Es gibt keine größere als den Brudermord.«
»Setze dich dorthin, ich will dir alles mitteilen und dir die Mittel geben, wie du sein Gewissen bis zur Verzweiflung quälen kannst. Wie ein Wurm wird er sich im Staube winden —«
Unterdessen saß Bega, in Brüten versunken, in ihrem Gemach und verbarg ihr Gesicht in beiden Händen.
Manchmal sprang sie auf, ging einige Male heftig auf und ab und fiel dann wieder in Brüten.
Wurde ihr Antlitz sichtbar, so hatte es jedes Mal den Ausdruck gewechselt. Bald drückte es namenlosen Hass aus, bald erstarrte es in Traurigkeit, und dann war es wieder vor Freude wie verklärt. Was für Gedanken mochten ihr durchs Hirn jagen?
Zorn und Hass beherrschten sie, wenn sie an die Vergangenheit dachte; denn jetzt wusste sie, was für ein frevelhaftes Spiel mit ihr getrieben worden war; eine unsagbare Traurigkeit überkam sie, dachte sie an den Schmerz, den Reihenfels, der noch Lebende, ihretwegen erduldete. In freudigen Farben malte sie sich die Zukunft aus, die sie sich jetzt mit fester Hand und unbeugsamem Willen schaffen wollte, und der Weg zu dieser Zukunft ging über den, der sie so grenzenlos getäuscht hatte — über Timur Dhar.
Eine Art von Wut befiel sie fast, dachte sie an diesen Mann, der stets vorgegeben hatte, ihr Freund zu sein. Was für ein gewissenloser Schurke war dieser Mann!
Er selbst hatte gestanden, dass er sie als Kind geraubt; er hatte ihre Eltern unglücklich gemacht und sie selbst; er hatte sie ihrer Heimat entrissen und sie zum Werkzeug seiner Absichten erzogen.
Ha, wie hasste sie diesen Mann; wie wollte sie vor ihn hintreten, ihn anklagen und sich an ihm rächen! Aber wie?
Wieder begann sie zu grübeln.
Ein leichtes Geräusch ließ sie aufblicken. Vor ihr stand Phoebe.
»Ich weiß, an was du denkst, arme Bega«, begann ihre einstige Pflegemutter. »Lebhaft kann ich mir vorstellen, was in dir vorgeht. Ach, Bega, kannst du mir verzeihen, was ich an dir Schweres gesündigt habe?«
»Ich verzeihe dir«, antwortete die Gefragte dumpf und ergriff ihre Hand, ohne sie anzusehen, »bist doch auch du nichts weiter als ein Opfer von Betrügern. Ich weiß, du hast es nie böse mit mir gemeint, andere desto mehr. Lebe wohl, Phoebe, verfolge du deinen Weg, wie ich den meinen!«
»So möchte ich dir noch eine Warnung mit auf den Weg geben, ehe wir scheiden.«
»Und das wäre?«
»Handle nicht voreilig.«
»Ich überlege reiflich. Du störtest mich darin.«
»Ach, Bega, ich glaube, du bist nicht imstande, die ganzen Verhältnisse zu überblicken!«
»Doch, doch! Ich kenne sie gut genug. Was habe ich übrigens weiter zu tun? Ich weiß, wer ich bin, und damit genug. Offen gebe ich die Rolle auf, die mir nur aufgezwungen worden ist. Ich fordere Timur auf, mir Rechenschaft abzulegen, mir Reihenfels auszuliefern, ich gebe den Engländern die Erklärung, und ungehindert und mich bedauernd werden sie mich in Frieden ziehen lassen.«
»Darin eben irrst du. Glaubst du nicht, Bega, dass Timur Dhar alles aufbieten wird, deinen Übertritt zu verhindern?«
»Er soll es wagen!«, fuhr Bega auf.
»Er wird alles wagen, wenn es gilt, sein Ansehen zu behaupten und seine Pläne durchzusetzen.«
»So mag er es. Ich will ihm zeigen, dass ich ihm in jeder Hinsicht gewachsen bin!«
»Bega, vergiss nicht, dass Timur Dhar ein äußerst schlauer Mann ist, ein wie schlauer, wissen wir gar nicht. Unerschöpflich sind seine Listen; scheitert die eine, so hat er hundert andere vorrätig.«
»Nicht mit List, offen will ich ihn und seine Schurkerei bekämpfen. Er wird mich ziehen lassen.«
»Vielleicht tut er dies auch, weil er sich dir gegenüber doch etwas fürchten dürfte.«
»Nun, und?«
»Liebe Bega — verzeihe mir, wenn ich dich so nenne.«
»Nicht anders«, fiel Bega hastig ein. »Ich will das Wort Begum nicht mehr hören; es klingt wie Hohn, und es ist auch nichts weiter als grausamer Hohn!«
»Also, liebe Bega, du unterschätzt Timur vollkommen. Es ist sehr leicht möglich, dass er dich unbehindert von dem Schauplatze deiner Tätigkeit abtreten lässt; aber das glaube mir, nimmermehr wird er zugeben, dass du das Resultat deines Erkennens, sein auf Aberglauben und List beruhendes Spiel Indern oder Engländern mitteilen kannst.«
»Ich verstehe wohl, was du damit meinst; aber wie sollte er mich daran hindern?«
»Ich weiß nicht, zu welchen Mitteln Timur Dhar greifen wird. Eins davon ist zum Beispiel die Verleumdung.«
Nachdenklich blickte Bega vor sich hin und schüttelte den Kopf.
»Es dünkt mir unmöglich, mich verleumden zu können. Durch meine Erklärung muss sein Lügengewebe zusammenbrechen. Vergiss nicht, dass ich auch unter den Engländern, wenn nicht Freunde, so doch Bewunderer habe, die mich achten. Den Indern mag er wohl bald das Vertrauen zu mir rauben; aber auch darauf würde ich es schließlich ankommen lassen.«
»Tue es nicht!«, rief Phoebe fast flehend. »Mir ist, als könne ich in die Zukunft sehen; ich sehe dich desselben Schicksals sterben wie den Gründer unserer christlichen Religion. Dem Manne, der sich nicht scheute, sein Leben hinzugeben, um die Welt zu erlösen, rief sein eigenes Volk zu: ›Kreuziget, kreuziget ihn!‹ Die Römer, damals seine naturgemäßen Feinde, wollten ihn vor seinem eigenen Volke schützen, aber die Juden forderten von ihnen das Blut dessen, der ihr Retter war. Römische Söldlinge waren es, die ihm die Knochen zerschlugen. Und wo steht jetzt der Stuhl dessen, der im Namen Christi spricht? In Rom. Sieh, Bega, dies ist das Los aller derer, die sich in den Lauf des Schicksals nicht fügen, und Timur hat durch seinen Verstand wohl die Macht, es so zu lenken, dass du sowohl von den Indern, wie von den Engländern gehasst und verfolgt wirst.«
»So lass dem Schicksal seinen Lauf. Ich will kämpfen, wenn es auch mein Untergang ist. Du warnst mich nur, vermagst mir aber keinen Rat zu geben. Was soll das?«
»Einen Rat weiß ich doch. Ich glaube fast, Timur Dhar hat dich lieb, du bist ihm ans Herz gewachsen. Bitte ihn, dich freizulassen, vielleicht gibt er nach.«
»Ihn bitten?«, rief Bega mit höhnischer, schneidender Stimme. »Ihn, der mein ganzes Leben zerstört hat, alle meine Hoffnungen zu vernichten suchte? Nein, lieber will ich mit ihm kämpfen und untergehen!«
Die beiden, die lange Zeit zusammen gelebt und sich immer gut verstanden hatten, nahmen Abschied. Es war Bega unmöglich, dem Weibe zu zürnen, das sich ihr als Tante ausgegeben hatte und ihr wirklich eine sorgende Mutter gewesen war. Sie dachte nicht mehr an die Täuschungen, die Phoebe ihr einst bereitet.
»So lebe wohl«, sagte sie, »vielleicht sehen wir uns wieder — und sind dann glücklich!«
»Mögen das Glück und die Liebe dir noch blühen«, entgegnete Phoebe, »für mich haben sie geblüht — es ist vorbei. Ich kenne nur noch eine Pflicht.«
Nachdem Phoebe Bega verlassen, blieb diese noch lange in Gedanken versunken sitzen. Aber wie sie auch grübelte, sie vermochte keinen Plan zu finden, wie sie die Fesseln von sich abstreifen könnte. Ein Trost war es ihr, Reihenfels in Gefangenschaft sicher zu wissen, zugleich sehnte sie sich jedoch danach, ihn wiederzusehen, mit ihm zu sprechen und ihn an ihr Herz zu drücken.
Wie sollte sie die Bande sprengen? Ach, Timur Dhar besaß Argusaugen und würde sicher jeden Versuch, mit den Engländern heimlich zu verkehren, unmöglich machen.
Draußen donnerten die Kanonen, Granaten schlugen in die Stadt ein, und nach gar manchem Schuss erschollen Jammer und Wehklagen.
Da erblickte Bega durch das hochgelegene Fenster eine seltsame Gestalt auf der Straße. Sie war in eine Uniform gekleidet, die einst einem General gehört haben mochte, jetzt aber sah sie recht zerlumpt aus. Der Mann trug einen Dreimaster, an dem nur noch einige spärliche Rosshaare flatterten, an der Seite einen Schleppsäbel, hohe Stiefel und riesig lange Sporen.
Plötzlich brach Bega in ein helles Lachen aus. Sie hatte diesen Mann schon längst vergessen — es war August, Reihenfels' Diener, der General der Amazonengarde, die sich noch immer in Delhi umhertrieb.
Zugleich aber durchbrach ihr trübes Gemüt ein sonniger Lichtstrahl. Dieser Mann musste ihr helfen.
Roy Glashan's Library
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