Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
Go to Home Page
This work is out of copyright in countries with a copyright
period of 70 years or less, after the year of the author's death.
If it is under copyright in your country of residence,
do not download or redistribute this file.
Original content added by RGL (e.g., introductions, notes,
RGL covers) is proprietary and protected by copyright.
RGL e-Book Cover
Based on an image created with Microsoft Bing software
"Um die indische Kaiserkrone," Lieferung 1, 1905
"Um die indische Kaiserkrone," 1905
"Um die indische Kaiserkrone," Band I, 1905
"Um die indische Kaiserkrone," Band I
Verlag Dieter von Reeken, 2024
Die vorliegende Neuausgabe enthält in vier Bänden den ungekürzten Text der ersten Auflage des von Robert Kraft (1869-1916) verfassten Kolportageromans Um die indische Kaiserkrone. Erlebnisse eines Deutschen im Lande der Wunder. Illustrierte Ausgabe. Dresden-Niedersedlitz: H.G. Münchmeyer o. J. [1905/06], 42 Lieferungen mit je ca. 64 Seiten (Gesamtumfang 2692 Seiten) und insgesamt 156 Illustrationen von Adolf Wald.
Der Roman Um die indische Kaiserkrone ist eine überarbeitete Neufassung des 1896 erschienenen Romans Das Mädchen aus der Fremde(1), in dem Kraft sich an Texten seines Schriftstellerkollegen ›Sir John Retcliffe‹ (Hermann O.F. Goedsche, 1815-1878: Nena Sahib oder Die Empörung in Indien, 1858/59) nicht nur orientiert, sondern teilweise auch ›bedient‹ hatte.
(1) Das Mädchen aus der Fremde. Roman von Robert Kraft. Dresden: H. G. Münchmeyer 1896.
Auf der Umschlagrückseite des ersten Lieferungsheftes warb der Münchmeyer-Verlag für den neuen Roman:
Das gewaltige Ringen um die indische Kaiserkrone, der furchtbare Verzweiflungskampf der hochkultivierten Völker Indiens gegen Englands Habgier und Herrschsucht, das ist die hochinteressante Grundlage, auf der Robert Kraft den vorliegenden Roman aufbaut.
Aus dem Lande des Nebels und des Geschäftsinteresses führt er die Leser in das Reich der Sonne und der Märchenwunder, den nüchternen, kaltblütigen Briten stellt er dem edlen, leidenschaftlichen Indier gegenüber, den englischen Offizier dem eingeborenen Radscha. (...)
Sie alle aber reihen sich um die beiden Hauptpersonen, um einen jungen, mannhaften deutschen Gelehrten und um die stolze Begum von Schansi, für deren Haupt Indiens Kaiserkrone bestimmt ist (...)
Geschickt wie immer versteht Robert Kraft auch hier, die überaus spannende Handlung, die das Interesse des Lesers nie erlahmen läßt, zu würzen mit ungesuchtem, aber desto köstlicherem Humor, und da er auch dort das rechte Maß zu halten weiß, wo er das Liebesleben der heißblütigen Indier und ihre oft ausschweifenden Götterfeste schildert, so ist der Roman »Um die indische Kaiserkrone« ganz besonders geeignet, ein echtes deutsches Volksbuch zu werden, dessen Lektüre alt und jung, reich und arm gar manche genußreiche Stunde zu bereiten vermag. Es wird wegen seiner splendiden Ausstattung und der vielen künstlerischen Illustrationen entschieden eine Zierde jeder Hausbibliothek bilden.
Zu Robert Krafts Leben und Werk und weiteren Ausgaben des Romans verweise ich auf die umfassende reich farbig illustrierte Bibliografie von Thomas Braatz(2), die ebenfalls farbig illustrierte Biografie von Walter Henle und Peter Richter(3), ein umfangreiches Buch von Arnulf Meifert(4) und auf die Tagungsbände(5-7) zu den Robert-Kraft-Symposien.
(2) Thomas Braatz: Robert Kraft — Farbig illustrierte Bibliographie zum 100. Todestag. Leipzig, Wien: Edition Braatz & Mayrhofer, 3., erweiterte Aufl. 2016. — 1032 S. mit über 1000 farbigen Abb.
(3) Walter Henle, Peter Richter: Unter den Augen der Sphinx. Leben und Werk Robert Krafts zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Leipzig, Wien: Edition Braatz & Mayrhofer 2005. — Das Buch ist vergriffen; eine Neuausgabe ist für 2025 geplant.
(4) Arnulf Meifert: Robert Kraft. Avanturier und Selbstsucher. Eine Annäherung. Leipzig, Wien: Edition Braatz & Mayrhofer 2018.
(5) Robert Kraft 1869—1916. 1. Robert-Kraft-Symposium. 15.—16.10.2016. Mit Beiträgen von Thomas Braatz, Arnulf Meifert, Achim Schnurrer sowie historischen Texten von Dr. S. Friedlaender und Robert Kraft. Leipzig: Thomas Braatz im Rahmen des Freundeskreises Science Fiction Leipzig 2016;
(6) Wenn ich König wäre! Robert Kraft zum 150. Geburtstag. 3. Robert-Kraft-Symposium. 12.—13.10.2018. Mit Beiträgen von Jakob Bleymehl, Gerhard W. Bleymehl, Thomas Braatz, Matthias Käther, Walter Mayrhofer, Arnulf Meifert, Karlheinz Steinmüller und Hans Wollschläger. A. a. O. 2019;
(7) 4. Robert-Kraft-Symposium. 16.04.2022. Serienheld Nobody. 100 Jahre Kraft-Film von Thomas Braatz, u. a. mit Beiträgen von Michael Bauer, Aurel Lupastean und Franziska Meifert. A. a. O. 2022.
Der im Original in Fraktur gesetzte Text ist in Antiqua (Garamond Standard) umgewandelt und an die seit 1996 geltenden neuen Rechtschreibregeln angepasst worden. Offensichtliche Rechtschreibfehler und unübliche Schreibweisen sind stillschweigend berichtigt worden, z. B. ›Bharvati‹ in ›Parvati‹, ›Indier‹ in ›Inder‹, ›Phöbe‹ in ›Phoebe‹, ›Quai‹ in ›Kai‹, ›Siwa‹ in ›Shiva‹, ›Thags‹ (oder ›Thaks‹) in ›Thugs‹, soweit sie nicht (z. B. mundartlich bedingt) als beabsichtigt erscheinen.
Fußnoten mit Sternchen (*) stehen so auch im Originaltext, solche mit Zahlen (1) sind vom Herausgeber eingefügt worden.
Die Wiedergabequalität der Abbildungen war abhängig von der jeweiligen Druckqualität der Vorlagen.
Für freundliche Unterstützung durch den Originaltext der Erstausgabe, für Bilder, Informationen und Hinweise und die Textaufbereitung bedanke ich mich bei Thomas Braatz und Helmut Prodinger, für die Korrektur bei Ellen Radszat.
In einem der ersten Vergnügungslokale Londons produzierte sich seit einiger Zeit ein indischer Zauberkünstler, der sich Timur, der König der Gaukler, nannte. Seine Leistungen waren großartige; das Theater war infolge dessen jeden Abend gedrängt voll, und selbst die teuersten Plätze waren nur mit vieler Mühe zu bekommen.
Reiche Leute zogen es deshalb vor, sich gelegentlich eine Vorstellung in ihrer Wohnung geben zu lassen — eine zwar kostspielige, aber bequeme Art, den fingergewandten Inder ganz in der Nähe bewundern zu können.
Für heute Abend war Timur zu Sir Frank Carter, einem englischen Baronet, eingeladen. Er hatte für eine Stunde zugesagt und für diese kurze Vorstellung fünfzig Pfund Sterling (tausend Mark) verlangt, welche Summe ihm sofort übermittelt wurde. Außerdem machte Sir Carter noch zur Bedingung, dass der Gaukler die Giftschlangen, mit denen er auf der Bühne viele Kunststücke machte, nicht mitbrächte, und Timur hatte ihm dies versprochen.
Im Hause Sir Carters war eine kleine Gesellschaft versammelt, meist aus älteren und jüngeren Offizieren und deren Familienangehörigen bestehend.
Sir Frank Carter selbst war Captain (Hauptmann) der englischen Armee, ein sehr hoher Rang für den erst fünfundzwanzig Jahre alten Mann. Doch er hatte ihn nicht seinem Adelstitel zu verdanken, sondern allein seinen Leistungen in Indien. Er war zum Offizier geschaffen; seine Taten hatten dauernden Erfolg gehabt. Das schöne, von einer südlichen Sonne gebräunte Gesicht zeigte tiefe Narben, ebenso die von schwarzen Locken überschattete hohe Stirn, doch sie entstellten ihn nicht.
Trefflich passte dazu das feurig strahlende Auge, die schlanke, hohe und doch so kraftvolle Figur mit der gewölbten Brust und den schmalen Hüften, und ein kurzer Vollbart bedeckte die entstellende Narbe, wo das indische Flammenschwert eine schreckliche Wunde geschlagen hatte.
Lady Emily Carter war äußerlich das Gegenteil ihres Gemahls; klein, zierlich, mit aschblondem Haar und sanften, blauen Augen, die aber auch heiß aufblitzen konnten. Obgleich Mutter eines zwei Monate alten Töchterchens, lag doch noch ein jungfräulicher Reiz über ihr ausgebreitet. Emily gehörte zu den Frauen, welche mit jedem Kinde jünger zu werden scheinen.
Das Gespräch drehte sich natürlich nur um den erwarteten Gaukler. Den Offizieren waren derartige Vorstellungen nichts Neues; sie hatten in Indien oft Gelegenheit gehabt, solche zu sehen, die Damen dagegen zitterten förmlich vor Neugierde. Indien ist das Land der Wunder und der Zauberei, und seine eingeborenen Gaukler scheinen mit übernatürlichen Kräften ausgestattet zu sein. Es war das erste Mal, dass ein wirklicher indischer Gaukler Europa bereiste; er spielte vor Königen und Fürsten. Bei seinen Kunststücken sollte der Verstand des Aufgeklärtesten irre werden.
Ein Diener trat ein, ein alter Bursche mit verwittertem, durchfurchtem Gesicht. Man sah ihm sofort an, dass er sich in der Uniform wohler fühlte als in der Dienerlivree. Es war Jeremy, die beständige Ordonnanz des Captains, seinem Herrn getreu bis in den Tod.
»Der Gaukler ist da«, meldete er mit einem linkischen Versuch, eine Verbeugung zu machen.
»Timur? Ich habe ja seinen Wagen gar nicht vorfahren hören!«, entgegnete der Hausherr.
»Er kam zu Fuß.«
»Das ist merkwürdig. Ich habe gehört, Timur soll sehr verschwenderisch leben. Nun, führe ihn und seinen Gehilfen herein!«
»Er ist allein.«
»Dann bleibe bei ihm und sei ihm behilflich, wenn er deine Dienste braucht!«
Die Stühle wurden erwartungsvoll gerückt. Jetzt sollte der Mann kommen, der für eine Stunde Arbeit nicht weniger als fünfzig Pfund forderte und außerdem noch Geschenke erwartete.
Der Inder trat mit einer tiefen Verbeugung ein. Es war ein kleiner, schmächtiger Mann, das bartlose Gesicht voller Runzeln und Falten, die tiefliegenden, geschlitzten Augen listig blickend. Ein weites Gewand aus feinster gelber Seide hüllte ihn vollständig vom Hals bis zum Fuß ein; selbst die Hände verschwanden in den weiten Ärmeln.
Der Hausherr erhob sich, seinen Gast zu begrüßen.
»Es freut mich, Mister Timur, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind!«
»Mein Name ist Timur Dhar, nicht Timur!«, entgegnete der Inder. mit hoher, unangenehmer Fistelstimme, dem Blicke des Hausherrn ausweichend, aber dabei die Anwesenden mit scharfen Blicken überfliegend.
Carter beachtete diesen Einwurf nicht.
»Warum haben Sie keinen Wagen benutzt?«, fuhr er fort.
»Timur Dhar benutzt keinen Mietwagen!«, war die Antwort.
Der Hausherr empfand diesen Vorwurf; seine Stirn rötete sich etwas.
»Ich wusste allerdings nicht, dass Sie gewohnt sind, nur in privaten Equipagen zu fahren. Verzeihen Sie meine Vergesslichkeit, ich werde meinen Fehler nachher wieder gutmachen!«
»Sie irren; ich brauche überhaupt keinen Wagen, wollte ich sagen. Darf ich die Vorstellung beginnen?«
Der Gaukler ließ deutlich durchblicken, dass er auf keine Unterredung eingehen wollte; er durfte also nicht weiter belästigt werden.
»Es ist Ihnen ein Zimmer zur Verfügung gestellt, in dem Sie Ihre Vorbereitungen treffen können!«, sagte Carter. »Jeremy, führe den Herrn in das Zimmer!«
»Warum? Ich bedarf keiner Vorbereitungen!«
»Aber Ihre Apparate?«
»Ich habe keine.«
»Gar nichts?«
»Nichts als meine Hände!«
Das Erstaunen wuchs. Selbst die Herren wunderten sich nicht wenig.
Ganz ohne Apparate hatten sie noch keinen Gaukler experimentieren sehen.
»Sie wollen kein besonderes Zimmer?«
Der Gaukler blickte sich um. Der Raum, in dem er sich befand, war nicht groß, der Boden mit einem dicken Teppich bedeckt; an den Wänden waren indische Matten, Fächer, Jagdtrophäen und fremde Waffen angebracht, und dazwischen befanden sich Konsolen, auf denen indische und chinesische Vasen, Kästchen und Nippsachen aufgestellt waren. Am Tage wurde das Gemach durch Oberlicht erhellt; jetzt verbreitete eine Ampel mit roten Scheiben ein angenehmes Dämmerlicht.
»Darf ich meine Vorstellung hier geben«, fragte der Gaukler nach kurzer Musterung, »und Gebrauch von den an der Wand hängenden und ringsum aufgestellten Sachen machen?«
»Gewiss! Alles steht Ihnen zur Verfügung, auch mein Diener!«
»Danke, ich nehme seine Hilfe an. Nun bitte ich die Herrschaften, sich in einem weiten Halbkreis um mich zu setzen.«
Er selbst rückte die Stühle und verfuhr dabei sehr behutsam. Als er endlich zufrieden war, trat er so in den Halbkreis, dass er von jedem Zuschauer gleich weit entfernt war, etwa drei Meter, die beiden äußeren also links und rechts von sich hatte.
»Ich bitte, die roten Scheiben von der Ampel zu entfernen und mehr Licht im Zimmer zu machen.«
Jeremy erfüllte diesen Wunsch. Jetzt warf die Ampel ein grelles Licht; auf Schränken und Konsolen aufgestellte Lichter verstärkten es noch.
»Das Licht ist hell genug«, begann der Inder wieder, »um jede meiner Bewegungen genau zu erkennen. Die Herrschaften sehen mich von vorn und von der Seite, der Diener kann meinen Rücken beobachten, sodass es mir unmöglich ist, heimliche Bewegungen zu machen. Wollen die Herrschaften auch noch den Boden untersuchen?«
Der Hausherr verneinte lächelnd, er befand sich ja in seiner eignen Wohnung. Der Teppich konnte nichts verbergen, aber niemand zweifelte daran, dass der Gaukler unter dem weiten Gewand mancherlei Gegenstände trug, wie ja auch die großen Ärmel die Taschenspielerei begünstigten. Doch es sollte anders kommen.
»Meine Herrschaften, die Vorstellung beginnt. Ich gebrauche keinen einzigen Apparat, sondern nur die im Zimmer befindlichen Sachen, die ich mir von Ihrem Diener reichen lassen werde. Ich bitte Sie niemals zu erschrecken; meine Experimente sind ungefährlich, so gefährlich sie auch manchmal aussehen mögen. Während ich arbeite, kann man mit mir sprechen, ich bemerke aber, ohne unhöflich sein zu wollen, dass ich keine Frage, wie ich das mache, woher ich das bekomme, wie das kam, mit denen man mich oft quält, beantworten werde.«
Der Inder räusperte sich und blickte sich im Kreise um; überall begegnete er den erwartungsvollsten Gesichtern, die Damen waren sogar ängstlich.
Dann schlug er die Ärmel bis weit über die Ellbogen zurück, und ein paar Arme kamen zum Vorschein, so sehnig und muskulös, dass sie besser für einen Riesen als für die so schmächtige Gestalt gepasst hätten. Jeder Muskel trat an ihnen wie aus Marmor gemeißelt hervor. Die Hände waren klein und zierlich, aber wunderbar ausgebildet.
Am kleinen Finger der linken Hand trug er einen breiten Goldreifen mit einem Diamanten, der allein ein ansehnliches Vermögen repräsentierte. Einen Stein von solch wunderbarem Feuer und Farbenspiel hatte noch keiner der Anwesenden gesehen.
Der Inder änderte jetzt seine Stimme, sie nahm einen eigentümlich singenden Ton an.
»Ich bin Timur Dhar, der König der Gaukler, nur ich. Viele nennen sich König der Gaukler, es sind Lügner, denn mir allein gehorchen die Geister des Feuers, des Wassers, der Erde und der Luft; darum bin ich der König der Gaukler. Die Geister zittern vor mir, wenn ich ihnen zürne; sie folgen mir auf den kleinsten Befehl, um meinen Zorn nicht zu erregen.«
»Bescheiden ist der Bursche eben nicht«, flüsterte ein junger Leutnant namens Atkins einem hübschen Mädchen von etwa achtzehn Jahren zu. Es war Clarence, die Tochter des grauhaarigen Obersten Havelock.
So leise diese Bemerkung auch gemacht worden, der Inder musste sie doch vernommen haben.
»Man zweifelt an meinen Worten?«, fuhr er fort. »Dieser Ring hier«, er zog ihn vom Finger, »fesselt die Geister an mich. Es ist kein Diamant, der Stein ist zusammengeschmolzen aus Feuer, Wasser, Erde und Luft; die Geister hängen an ihm. Niemand kann ihn mir nehmen, ich kann ihn nicht verlieren, er kehrt immer zu mir zurück. Bitte, fangen Sie!«
Er warf den Ring in großem Bogen dem Leutnant zu, der die spöttische Bemerkung gemacht hatte. Man sah den goldenen Streifen in der Luft, aber der Offizier war nicht vorbereitet, er griff daneben, und der Ring fiel geräuschvoll zur Erde unter die Stühle. Atkins bückte sich, ihn aufzuheben.
»Bemühen Sie sich nicht! Hier ist er schon.«
Der Inder streckte die Hand aus, am kleinen Finger blitzte der wunderbare Diamant.
»Nicht möglich!«, erklang es von allen Seiten; ein Suchen unter den Stühlen begann. — der Ring war nicht zu finden.
»Fangen Sie diesmal besser«, sagte der Gaukler, zog den Ring abermals vom Finger und warf ihn dem Leutnant zu. Wieder war deutlich zu sehen, wie das Kleinod durch die Luft flog; Atkins griff danach und fing es.
»Haben Sie ihn?«
»Nein«, sagte der Leutnant mit ganz verblüfftem Gesicht.
»Hier ist er schon.«
Der Ring saß an der alten Stelle, und doch hatte der Inder die Hände gar nicht bewegt. Die, mit der er geworfen, war noch erhoben.
Die Damen waren außer sich vor Staunen; aber auch die Herren hatten so etwas noch nie gesehen.
»Eine optische Täuschung«, flüsterte der Oberst.
»Was der Mensch nicht begreifen kann, sucht er sich durch Redensarten zu erklären«, sagte der Inder mit einem höhnischen Lächeln um die schmalen, blutleeren Lippen, und warf den Ring vor sich auf den Teppich. »Ich habe behauptet, niemand könne mir den Ring nehmen. Wer will ihn aufheben?«
Die unruhige Clarence war die erste, die sich bückte.
»Halt!«, rief der Gaukler, sodass Clarence erschrocken zusammenfuhr.
»Ihre Finger sind zu zart. Jeremy, bitte, heben Sie den Ring auf.«
Der Diener bückte sich und fasste den Ring an, ließ ihn aber sofort wieder fallen und rannte unter lautem Schmerzgeheul im Zimmer umher, dabei wütende Blicke nach dem Inder werfend.
»Was ist denn los?«, lachten die Herren.
»O — au — verdammt!«, heulte Jeremy. »Die Finger habe ich mir an dem höllischen Ringe verbrannt!«
»Ist nicht möglich!«, erklang es wieder überall.
»Ich bitte um Ihr Taschentuch, Miss.«
Clarence gab dem Inder ihr kostbares Spitzentuch. Er faltete es vierfach zusammen, hob den Ring auf, legte ihn auf das Tuch; es stieg Rauch auf, ein brenzliger Geruch erfüllte das Zimmer, als ob der Ring glühend wäre, und schließlich fiel er durch das Tuch.
Timur faltete dieses auseinander, zeigte die vier großen Brandlöcher und händigte es unter einer Verbeugung der Eigentümerin wieder ein.
Überall sah man erstaunte Gesichter, nur Clarence machte ein betrübtes.
»Das Kunststück war ja recht schön, aber mein armes Spitzentuch«, sagte sie mit zuckenden Lippen.
»Die Feuergeister vernichten, die Erdgeister erzeugen, wenn Wasser ihnen zur Seite steht«, war die geheimnisvolle Antwort des Zauberers. »Nehmen Sie den Ring, nehmen Sie ihn nur, er brennt nicht mehr, das Wasser hat das Feuer besiegt. Ist er noch heiß?«
»Nein«, sagte Clarence, den Ring in der Hand haltend.
»Nun wickeln Sie ihn so in Ihr Tuch, dass die Brandlöcher nicht zu sehen sind. So ist es richtig. Fühlen Sie den Ring?«
Clarence bejahte.
»Fassen Sie einen Zipfel des Tuches und lassen Sie es dann fallen.«
So geschah es. In dem zarten Gewebe war kein Loch mehr zu sehen. Es war unversehrt wie zuvor.
»Aber der Ring?«
»Hier!«
Das Kleinod saß wieder an der linken Hand des Gauklers, und doch hatten sich die Herren überzeugt, dass es eben noch daran fehlte. Es war unbedingt im Tuche gewesen, und der Gaukler stand drei Meter davon entfernt.
»Das ist Zauberei!«, sagte die Hausfrau.
»Geschwindigkeit ist keine Hexerei«, entgegnete ihr Gemahl.
»Ich sehe, dass niemand an meine übernatürlichen Kräfte glauben will«, fuhr der Inder achselzuckend fort; »ich begegne diesem Unglauben in Europa überall, und doch versichere ich Ihnen, dass mir die Geister der vier Elemente dienstbar sind. Ich rufe jetzt die schnellen Luftgeister herbei, mir behilflich zu sein. Wenn ich dabei das allbekannte Schmetterlingsspiel treibe, so tue ich dies nicht, um Ihnen darin meine Kunstfertigkeit zu zeigen.
Sie werden sehen, dass ich zu den Experimenten nur eine Hand frei habe und dass ich meine ganze Aufmerksamkeit den papiernen Tieren zuwenden muss. Meine Arme sind entblößt; der gewöhnlichen Taschenspielerkniffe bediene ich mich also nicht.«
Er ließ sich von einem der Herren Zigarettenpapier geben, von einer Konsole ein leeres Deckelkästchen reichen und legte einige Blättchen des Seidenpapiers hinein.
»Was ist drin?«, fragte er, das geschlossene Kästchen hochhebend.
»Zigarettenpapier!«, rief eine Dame.
»Schmetterlinge!«, eine andre.
»Überzeugen Sie sich selbst!«
Der Kasten wurde herumgezeigt — eine Menge behaarter Raupen kroch darin umher.
»Ja, wie kommt denn das?«
Als der Inder auf seinen alten Platz zurückging, flatterten aus dem Kästchen, plötzlich weiße Schmetterlinge auf, natürlich nur papierne. Er warf den Kasten weg, nahm schnell einen Fächer von der Wand und setzte durch den Luftzug die papiernen Tiere in Bewegung.
In tollem Tanze wirbelten sie in der Luft umher, und der Gaukler wusste den Fächer mit wunderbarer Geschicklichkeit zu handhaben. Die Schmetterlinge blieben nicht zusammen, der eine flog hierhin, der andre dorthin, sie flogen gegen das Licht und prallten zurück, sie setzten sich auf den Schoß der Zuschauer; wollten diese aber nach ihnen greifen, so flatterten sie erschrocken auf — kurz, sie bewegten sich, als wären sie lebendig.
Einer von ihnen hatte es ganz besonders auf Jeremys Nase abgesehen, welche, an sich schon stattlich, noch an der Spitze einen mächtigen Haarbüschel trug. Das Tierchen glaubte wahrscheinlich, eine Blume mit Staubfäden vor sich zu haben, immer versuchte es, sich auf der Nase niederzulassen, und Jeremy konnte schlagen und wedeln, soviel er wollte, den kleinen, Störenfried vermochte er nicht wegzuscheuchen.
Die Zuschauer kamen aus dem Lachen gar nicht heraus, zugleich aber mussten sie auch staunen.
Der Gaukler ließ nämlich seine linke, freie Hand nicht untätig, Jeremy musste ihm Kästchen, Dosen, Schachteln, und so weiter von den Konsolen herabreichen; aus allen zog er etwas heraus, obgleich alle vorher leer waren, bald Apfelsinen, bald unzählige Meter buntes Band, einmal eine zappelnde und quiekende Maus, plötzlich flog ein Sperling durchs Zimmer, er lockte ihn zu sich, steckte ihn in einen Kasten, und er war wieder für immer verschwunden, ebenso wie die anderen Gegenstände. Er ließ sich eine Handvoll Geld geben, warf ein Stück nach dem andern in die Luft, es kehrte nicht wieder zurück, bis mit einem Male ein wahrer Goldregen von der Decke herabprasselte.
Der Inder sah gar nicht auf die arbeitende Hand, seine ganze Aufmerksamkeit galt den Schmetterlingen, und diese durch den Luftzug des Fächers in steter Bewegung zu halten, erforderte seine ganze Geschicklichkeit.
»Ich bitte um Ihre Schärpe«, sagte er dann zu Lady Carter, die eine solche von blauer Farbe trug. Das Band wurde gelöst und ihm gereicht.
Der Gaukler knitterte es in der Hand zusammen, eine hohe Flamme entfuhr derselben, und wieder zog ein brandiger Geruch durchs Zimmer. Der Seidenstoff musste unbedingt in der Hand des Mannes verbrannt sein; woher er aber das Feuer bekam, wie er die Hitze aushalten konnte, war allen ein Rätsel.
»Jeremy, einen Kasten mit zurückschlagbaren Deckel!«
Der Kasten wurde hingehalten, der Gaukler öffnete die Hand, und etwas schwarze Asche fiel in den Behälter.
»Setz den Kasten hin!«
Timur beachtete ihn nicht, er hatte nur Augen für die Schmetterlinge.
Da stieß die Hausherrin plötzlich einen furchtbaren Schrei aus, ihre Augen waren starr auf den Kasten gerichtet. Der Deckel hob uns senkte sich nämlich, und plötzlich kam der Kopf einer Kobra, der gefährlichen Brillenschlange, zum Vorschein. Züngelnd, die funkelnden Augen auf die junge Frau geheftet, kroch sie immer weiter heraus.
Alles sprang erschrocken auf, nur Lady Carter blieb wie gelähmt vor Entsetzen sitzen.
»Ich bat Sie ausdrücklich, keine Schlangen mitzubringen«, rief der Captain unwillig.
»Sie irren, es ist keine!«
»Natürlich! Sie kriecht ja heraus.«
»Zurück! Gehorche deinem Meister!«
Die Schlange verschwand sofort im Kasten. Der Gaukler ließ die Schmetterlinge in die Flammen der Lichter fliegen, sodass sie verbrannten, und warf den Fächer fort.
»Es tut mir leid, den Damen solches Entsetzen eingejagt zu haben; sehen Sie hier«, sagte er, öffnete den Kasten, griff hinein und zog — keine Schlange, sondern die blaue Schärpe der Hausfrau unversehrt hervor.
»Ja, wie ist das nur möglich?«
Der Gaukler zuckte lächelnd die Schultern.
»Darauf gebe ich, wie ausgemacht, keine Antwort. Meine Absicht war, die Herrschaften zu überzeugen, dass ich völlig unverwundbar bin, weil meine Geister mich schützen. Kein Feuer kann mir schaden; zentnerschwere Mühlsteine würden eher zerspringen, als dass sie mich zermalmten, alles durch die Kraft meines Ringes. Zum Beweise meiner Unverwundbarkeit würde ich mich mit dem Degen durchbohren lassen, einen von Ihnen selbst geladenen Revolver gegen meinen Kopf abschießen, da ich aber die Schreckhaftigkeit der Damen sehe, will ich zum Schluss ein gefälligeres Experiment vornehmen. Ich bemerke, dass ich es das erstemal ausführe. Wenn ich das helle Licht jetzt dämpfen lasse, so tue ich dies nicht, um meine Bewegungen zu verbergen, sondern aus einem Grunde, der ihnen bald erklärlich erscheinen wird.«
Die Wachskerzen wurden verlöscht, die roten Scheiben in die Ampel wieder eingesetzt; doch es war noch vollkommen hell im Zimmer.
Der Gaukler nahm von der Wand ein großes gelbes Seidentuch herab, welches um ein Bild geschlungen war, das die glücklich lächelnde Hausfrau darstellte, auf dem Schoße ihr Kind haltend.
Timur breitete das Tuch auf dem Teppich glatt aus, ergriff den Fächer und stellte sich davor. Seine Stimme nahm wieder jenen sonderbaren, singenden Ton an.
»Der Mensch ist aus Erde gemacht und wird wieder zu Erde. Mächtige Erdgeister vollziehen diese Umwandlung, sie gehorchen Timur Dhar. Die Menschen begreifen diese Umwandlung nicht; vermöchten sie es, sie könnten Menschen aus Erde machen, Timur Dhar allein begreift es, darum gehorchen ihm die Erdgeister.«
»Donnerwetter«, flüsterte Oberst Havelock dem Hausherrn zu, »jetzt will er doch nicht etwa einen Menschen schaffen?«
»Es scheint fast so«, war die lächelnde Antwort.
»Ich bitte die Herrschaften, sich ganz still zu verhalten!«
Der Inder fing an, mit dem Fächer zu wedeln, sodass das leichte Tuch in eine wellenförmige Bewegung geriet. Gleichzeitig begann er zu singen, und zwar in einer schmelzenden, süßen Weise, wie man sie der quäkenden Stimme gar nicht zugetraut hätte. Es war eine einfache Melodie, aber bezaubernd, dass sie bis ins Herz drang.
»Ein indisches Wiegenlied!«, flüsterten die Herren, »Was soll das bedeuten?«
Die Neugierde stieg aufs Höchste, man wagte kaum zu atmen, und da geschah etwas, was die Anwesenden teils mit namenlosestem Erstaunen, teils mit Entsetzen erfüllte.
Der Inder sang das Wiegenlied weiter, das Tuch bewegte sich noch unter dem Luftzuge des Fächers, da aber nahm es plötzlich eine andre, selbstständige Bewegung an. In der Mitte entstand mit einem Male eine kleine Erhöhung, sie schwoll, sie wuchs in die Höhe und Länge, sie bewegte sich immer mehr, der Fächer brauchte nicht mehr zu wedeln, sie nahm eine Gestalt an, es zappelte unter dem Tuch.
Der Gaukler bückte sich, fasste eine Zipfel, schlug dasselbe zurück und —die Zuschauer wussten nicht ob sie ihren Augen trauen durften — auf dem Teppich lag ein kleines Kindchen, nur mit einem kurzen, weißen Hemdchen bekleidet.
Dieses Kunststück ging selbst über die Fassungskraft des Aufgeklärtesten, und doch konnte es nur auf Taschenspielerei beruhen.
Schnell hob Timur das Kind empor und setzte es auf den Schoß der Hausfrau.
»Ihr Sohn!«, sagte er mit höflicher Verbeugung, aber ein widerliches Grinsen verzerrte dabei sein Gesicht.
Einen Augenblick war Lady Carter bestürzt, besonders über die Bemerkung des Gauklers, dann aber stimmte sie mit in die allgemeine Heiterkeit ein.
Es war ein reizendes Kind von höchstens drei Monaten, wirklich schön zu nennen. Die samtartige Haut war gelbbraun, die dunklen Augen etwas geschlitzt und die Gliedmaßen äußerst zart, aber kräftig.
»Ein kleiner, indischer Junge«, lächelte die Hausfrau und, an ihr eigenes Kind denkend, herzte sie es mit mütterlicher Zärtlichkeit.
Das Kind ging von Schoß zu Schoß, die Damen herzten und küssten es, die Herren fassten es wie gewöhnlich mit der größten Ungeschicklichkeit an.
»Wo in aller Welt haben Sie das Kind nur verborgen gehalten?«, lachte Carter. Der Inder zuckte nur die Achseln.
»Aber es ist doch grausam, das kleine Geschöpf so lange irgendwo versteckt zu halten, ohne Nahrung und Wartung«, fügte Lady Carter vorwurfsvoll hinzu.
Diesmal antwortete der Gaukler, seine Stimme klang spöttisch.
»Wäre es hungrig, würde es schreien. Glauben Sie, das Kind würde sich stundenlang ruhig verhalten, wenn ich es bei mir gehabt hätte?«
»Woher haben Sie es denn?«
»Aus der Erde!«
Eine andre Erklärung gab er nicht.
»Wie heißt es denn?«, fragte Lady Carter dann.
»Eugenie.«
»Eugenie?«, wiederholte sie erstaunt. »Es ist ja ein Knabe!«
»So nennen Sie ihn Eugen!«
»Das ist kein indischer Name«, meinte Oberst Havelock.
»Seinen richtigen Namen nennt er von selbst, wenn er siebzehn Jahre alt ist.«
Man wusste schon, dass sich dieser Gaukler in dunklen Redensarten gefiel, und fragte nicht weiter.
Als das Kind genug geliebkost war, gab Carter es dem Inder zurück. Dieser hielt es noch einmal der Hausfrau hin.
»Wollen Sie das Kind nicht behalten?«
»Hat es keine Mutter?«
»Die Erde ist seine Mutter, Sie sind von Erde, also sind Sie auch seine Mutter.«
Carter sah, wie teilnahmsvoll das Auge seiner Gemahlin auf dem Kinde ruhte, er war kein Freund von Sentimentalität und machte der Szene kurz ein Ende. Vielleicht wollte der Inder das Kind los sein und hoffte, es gleich hier unterzubringen.
»Genug davon, Mister Timur! Schaffen Sie das Kind wieder fort.«
»Wohin?«
»Woher Sie es genommen haben.«
»So muss es sterben und wird wieder zu Erde.«
Das Kind machte noch einmal die Runde. Als es von Lady Carter zu den Inder zurückwandern sollte, machte es einen Versuch, mit den Armen den Hals der schönen, jungen Frau zu umschlingen. Alsbald aber lag es auf dem Teppich und über ihm das gelbe Tuch.
»Schwer ist es, Leben zu erzeugen; ein Leben zu töten ist sehr leicht«, sagte der Gaukler, wedelte mit dem Fächer, und mit feuchten Augen sahen die Damen, wie die Gestalt schnell zusammenschmolz, bis das Tuch wieder glatt dalag. Der Teppich war leer; wohin das Kind gekommen war, konnte sich niemand erklären.
Jetzt verabschiedete sich der Inder sehr schnell; man glaubte, er wolle das Kind nicht länger in seinem engen Verstecke schmachten lassen.
Die Zurückgebliebenen unterhielten sich noch einige Zeit über die gesehenen Wunder und suchten sich dieselben zu erklären, konnten sich aber nur in Vermutungen ergehen. So viel stand fest, dass dieser Timur sich mit Recht den König der Gaukler nennen durfte. Dann entfernten sich die Gäste, Carter blieb mit seiner Gemahlin allein.
»Und wie hat meiner kleinen Frau der heutige Abend gefallen?«, fragte er zärtlich und legte einen Arm um die schlanke Gestalt.
»Ach, Frank, es war ja wunderbar, aber ich wollte, du hättest den Gaukler nicht eingeladen.«
»Warum nicht?«
»Er hat mir Grausen eingeflößt.«
»Seine Kunststücke waren ja ganz unschuldiger Natur.«
»Ich erschrak so furchtbar vor der Schlange.«
»Eine optische Täuschung, weiter nichts, mein Herz.«
»Als sie den Kopf heraus steckte, blickte Sie mich so entsetzlich an. Hu, mir schaudert wenn ich daran denke! Ich weiß nicht, woher es kam, in jenem Augenblick glaubte ich das Gesicht und die hasserfüllten Augen Isabels auf mich gerichtet zu sehen, ich hörte ihren Fluch...«
Ihr Gemahl unterbrach die in seinen Armen zitternde Emily, sein fröhliches Antlitz hatte sich etwas verdüstert.
»Emily, ich habe dich so oft gebeten, davon nicht mehr zu sprechen.«
»Verzeihe mir!«, bat das junge Weib und hing sich an des Gatten Hals.
»Es war Torheit von mir. Komm, Frank, wir wollen unsrer Eugenie Gute Nacht sagen und schlafen gehen. War es nicht merkwürdig, dass der Gaukler das Kind Eugen und gar erst Eugenie nannte?«
»Er wird sich vorher, über unsere Familienverhältnisse erkundigt haben.«
Als sie auf den Korridor traten, erwartete Jeremy sie.
»Herr Captain, eine Glasscheibe des Oberlichtes ist durchgetreten worden«, meldete er.
»Des Oberlichtes? Wer hat denn auf den Dächern herumzukriechen? Wie ist das gekommen?«
»Die ganze Dienerschaft war oben, um durch das Oberlicht in das Zimmer zu sehen, wo sich der Zauberer produzierte.«
»Ach so. Na, schadet nichts. Lass morgen eine andre einsetzen!«
Das junge Ehepaar betrat das Zimmer, in dem Eugenie mit ihrer Amme schlief. Letztere erhob sich beim Eintritt ihrer Herrschaft.
»Schläft Eugenie?«, fragte Emily.
»Sie verhält sich ganz ruhig«, war die Antwort.
Alle drei traten zu dem Himmelbettchen. Leichte Vorhänge schützten die Augen des Kindes vor dem roten Dämmerlicht der Nachtampel. Die Mutter schlug den Vorhang zurück, zwei Ärmchen streckten sich ihr entgegen.
»Sie schläft nicht«, sagte Emily erfreut. »Wie ruhig und lieb sie heute ist!
Sonst schreit sie immer, wenn sie in der Nacht aufwacht. Nur einmal muss ich sie noch auf den Arm nehmen.«
Sie beugte sich hinab und fuhr entsetzt zurück.
»Was ist das?«, stammelte sie.
Tödliche Blässe hatte ihr Antlitz überzogen, und ein erschreckendes, beängstigendes Stöhnen drang aus ihrer Brust hervor.
Wieder beugte sie sich hinab, schlug die Bettdecke auf und taumelte abermals zurück.
Sie vermochte noch immer nicht für wahr zu halten, was sie doch mit ihren eignen Augen erblickte.
Ihr Kind war entführt — geraubt — an dessen Stelle ein fremdes eingeschmuggelt worden.
Nicht Eugenie, ihr Töchterchen, lag in dem Bett, sondern ein gelbbraunes Geschöpf mit geschlitzten Augen — das Kind des Gauklers war es, das sie hier erblickte.
Eugenie aber war verschwunden. — — —
»Das ist Isabels Rache!«, gellte es von den Lippen der unglücklichen Mutter, dann brach sie ohnmächtig in den Armen ihres erschrockenen Mannes zusammen.
Wir müssen in unserer Erzählung um zwei Jahre zurückgreifen.
Die siegreichen Truppen der englisch-indischen Armee waren in die Heimat eingeschifft worden. Sie hatten nach blutigen Schlachten die aufständischen Inder niedergeworfen, und ganz London, arm und reich, beteiligte sich an dem festlichen Empfang der Sieger.
Alle, die zur Gesellschaft zählen wollten, stritten sich um die Ehre, die heldenmütigen Offiziere bewirten zu können, und einer der ersten, dem dies gelang, war der pensionierte General Battinson.
In den glänzenden Sälen seines Hauses waren die Offiziere, alle in Zivil, versammelt; Einladungen waren auch an die angesehensten Familien Londons ergangen; das Licht der Kronleuchter beleuchtete blendend weiße Arme und Schultern und brach sich in den prächtigsten Juwelen.
Dass General Battinson, der kurz vorher noch vor dem Bankrott gestanden, ein solches Fest geben konnte, darüber wunderte man sich nicht. Seine schöne Tochter Isabel hatte vor einer Woche einen indischen Teehändler namens Sirbhanga geheiratet, und dieser hatte bereitwilligst die Schulden seines Schwiegervaters getilgt.
Derartige Heiraten mit Indern sind in England häufig, allerdings sind es meist politische oder geschäftliche Heiraten. Es war ein offnes Geheimnis, dass der General keinen Inder zum Schwiegersohn genommen, wenn er nicht Geld gebraucht hätte.
Das junge Ehepaar bildete den Mittelpunkt des Festes. Welch seltsamen Gegensatz stellten beide dar! Isabel war eine hohe, stolze, junonische Schönheit, deren Haar an Schwärze mit ihren glutstrahlenden Augen wetteiferte, Sirbhanga dagegen eine kleine, plumpe Gestalt mit einem Gesicht von abschreckender Hässlichkeit. Außerdem hinkte er auch noch stark.
Man bedauerte Isabel allgemein wegen dieser Geldheirat, mit Ausnahme vielleicht derer, die das stolze, erst so anspruchsvolle Mädchen mit ihrer Werbung zurückgewiesen hatte.
Konnte Isabel nicht mit der Erscheinung ihres Gatten prahlen, so tat sie es desto mehr mit seinem Reichtum; ihre kostbare Toilette war mit Diamanten förmlich übersät; wo sich nur ein Juwelengeschmeide anbringen ließ, an den Fingern und an den Armen, am Hals, im Haar, da brach sich auch das Licht in tausend Farben.
Den zweiten Mittelpunkt bildete ein junger Mann, dessen frischvernarbte Wunden im Gesicht bewiesen, welchen Anteil er an den letzten Kämpfen genommen. Der schlanke, kraftvolle Offizier war von einer ausgelassenen Lustigkeit, die jüngeren Herren und Damen suchten ihn auf, wo sie nur konnten, aber wenn er lachend zu einer andern Gruppe eilte, wurde ihm manch mitleidvoller Blick nachgesandt, und es war unverkennbar, dass die älteren Offiziere ihn mieden.
Dieser Mann war Frank Carter, damals nur einfacher Leutnant, und man wusste allgemein, dass seine Lustigkeit nur Galgenhumor war. Jeden Augenblick konnte ein Kurier eintreffen, der Carter von diesem Platz der Freude verbannte, ihn vielleicht hinter finstere Kerkermauern führte, ihm auf jeden Fall aber seine Entlassung aus der Armee brachte.
Frank Carter hatte sich nämlich des schwersten Vergehens schuldig gemacht, das ein Soldat begehen kann: er hatte den Befehl eines Vorgesetzten missachtet und nach eignem Ermessen gehandelt, und noch dazu im Kriege, dicht vor dem Feinde!
Es war in der Schlacht bei Nursingpur gewesen. Die Rebellen hatten sich auf Hügeln verschanzt, und ihre Kanonen spieen gehacktes Blei in die Reihen der anstürmenden Engländer.
Ging diesen die Schlacht verloren, so mussten sie Indien räumen, denn dann fielen auch noch alle bisher treugebliebenen indischen Stämme von ihnen ab. Und sie musste verloren gehen! Immer mehr schmolzen die englischen Regimenter zusammen; immer lauter erklang der Siegesjubel der Inder. Mit blutendem Herzen gab der kommandierende General den Befehl zum Rückzuge, oder besser gesagt, zur Flucht — er sah die Ehre Englands verloren. Wer aber konnte diese Tod und Vernichtung speienden Schanzen auch lebendig erreichen!
An einer Waldecke hielt Leutnant Carter an der Spitze von vierhundert roten Dragonern. Soeben hatte er durch die Feldpost einen Brief erhalten, als ihm eine Ordonnanz des Generals den schriftlichen Befehl überreichte, den Rückzug zu decken.
Mit todbleichem Antlitz steckte Carter den Brief aus England in die Tasche, richtete sich hoch im Sattel auf und — gab das Kommando zum Angriff auf die Schanzen.
Seine Leute hörten die Signale zum Rückzuge, sie wussten, dass ihr Führer eine eigenmächtige Handlung beging, aber nicht umsonst schwor jeder Soldat im Regiment, für Frank Carter, den liebenswürdigsten, lustigsten und besten Offizier, durch Feuer und Wasser zu gehen. Kein einziger blieb zurück; die vierhundert Dragoner stürmten ihrem Führer nach, den Schanzen entgegen.
Nur zehn Mann erreichten die Batterie, darunter auch Carter und der Unteroffizier Jeremy, alle übrigen tränkten das Feld mit ihrem Blute.
Aber diese zehn Mann erklommen die Hügel; im Nu waren sie bei den ersten Kanonen und ließen sie verstummen, ihre Pallasche säbelten die beturbanten Köpfe ab, und plötzlich änderte sich das Schlachtenbild. Die Engländer sammelten sich, sie hörten kein Kommando mehr, mit erneuter Wut stürmten sie vor, und nach einer halben Stunde war die feindliche Stellung in ihrem Besitze, dass Rebellenheer in wilder Flucht.
Im Triumph wurde Frank Carter zum kommandierenden General gebracht. Dieser tat seine Pflicht: er nahm dem Leutnant den Degen ab und verhaftete ihn. Die Waffe des jungen Helden wurde auch nicht mehr gebraucht — die Ruhe in Indien war wiederhergestellt.
Carter machte die Heimreise als Gefangener mit. In London, wurde er vorläufig auf freien Fuß gesetzt, aber vielleicht wurde jetzt eben der Königin vom Kriegsministerium seine Entlassung zur Unterschrift vorgelegt. Die Fürstin war zwar edel, war sie doch erst neunzehn Jahre alt, aber ihr zur Seite standen Ratgeber, die sich von Edelmut oder Bewunderung nicht fortreißen ließen. —
Während einer Tanzpause erregte eine sonderbare Szene teils Unwillen, teils Erstaunen. Jedenfalls gab sie viel zu denken.
Isabel ging am Arme ihres Gemahls durch den Saal und kam an Carter vorüber, der mit einem Herrn plauderte und die Ankommenden nicht sah.
Zufällig entfiel Isabels Hand der Elfenbeinfächer. Carter hörte den Fall, drehte sich um, bückte sich und wollte den Fächer schon aufheben, als sein Auge dem Isabels begegnete.
Sofort richtete er sich wieder empor, drehte der Dame kurz den Rücken und ging nach der andern Seite des Saales hinüber, wo er in einem Nebengemache verschwand. Sirbhanga musste seiner Gemahlin den Fächer aufheben. Als Isabel ihn aus seiner Hand empfing, pressten sich ihre Finger darum so fest zusammen, dass die Elfenbeinstäbe zersplitterten, und der Blick, den sie dem Fortgehenden nachsandte, war wie versengendes Feuer. Sonst blieb ihr Antlitz jedoch unbeweglich.
Alle, die dies beobachtet hatten, staunten, nur bei einer Person wurde ein anderes Gefühl erregt.
In einer Nische stand ein junges Mädchen von siebzehn Jahren. Ihre jungfräuliche Gestalt umschloss ein einfaches, weißes Kleid, so einfach, dass das stille Mädchen gar nicht unter die Geladenen zu gehören schien. Ihren einzigen Schmuck bildeten weiße Rosen, die züchtig den zarten Busen verhüllten.
Bis jetzt hatten ihre lieblichen Züge stets einen Anflug von Schwermut gezeigt; beständig waren ihre schüchternen Augen mit einem Ausdrucke von Traurigkeit auf Carter gerichtet gewesen, in dem Augenblicke aber, als sich der Leutnant so verletzend gegen Isabel benahm, verklärte ein Freudenschimmer ihr Gesicht, und die Augen leuchteten wie im Triumph auf.
Unbemerkt eilte das junge Mädchen an der Seite des Saales entlang in dasselbe Zimmer, das vorhin Carter betreten. Sie wusste im Hause gut Bescheid, war doch das so einfach gekleidete Mädchen keine andere als die zweite Tochter des Gastgebers, Isabels Schwester. Niemand achtete auf sie, nur Isabels Augen waren ihr mit unheilverkündendem Ausdrucke gefolgt Das Mädchen ging durch das leere Zimmer, dessen Hinterwand Portieren bildeten, die sie zurückschlug.
In dem kleinen Kabinett befand sich Carter. Er saß in einem Lehnstuhle, hatte den Arm auf ein Tischchen gestützt und das Gesicht in der hohlen Hand verborgen.
»Frank Carter!«, flüsterte da eine Stimme.
Erschrocken sprang er auf und sah sich einem jungen Mädchen gegenüber, das er zuerst nicht erkannte.
»Wie, Emily — Miss Battinson, ist es möglich?«, rief er dann und ging ihr mit ausgestreckter Hand entgegen. Über sein eben noch trauriges Gesicht flog ein heller Freudenschimmer.
Wortlos nahm sie seine Hand, seinem Blicke. ausweichend.
»Ich habe Sie vorhin nicht erkannt«, fuhr er fort. »Als ich Sie vor zwei Jahren verließ, waren Sie — verzeihen Sie — noch ein Kind, und nun —«
Er hielt verlegen inne. Das Mädchen kam ihm so seltsam vor. Was sollte dieses Aufsuchen, dieses Benehmen? Sie sah ihn jetzt fest an, und zwar mit einem so eigentümlichen Blicke, dass er befangen abbrach.
»Nein, ich bin kein Kind mehr«, kam sie ihm jetzt zu Hilfe, »und eben deswegen kann ich mit Ihnen etwas Ernstes besprechen, ohne dass Sie mich irgend einer Unschicklichkeit zeihen dürfen. Bitte, wollen Sie sich setzen?«
Mechanisch nahm Carter Platz; er war über diese Ansprache vollständig verblüfft.
»Etwas Ernstes?«, sagte er, nur um irgend etwas zu sagen. »An diesem Tage der Freude sollten wir uns lieber über etwas Lustiges unterhalten. Wir sind stets gute Freunde gewesen, Emily, und Sie können kaum glauben, wie sehr ich mich über dieses Wiedersehen freue.«
»Auch ich freue mich darüber, aber versuchen Sie mich doch nicht zu täuschen! Meinen Sie, ich glaube, dass Sie wirklich so lustig sind, wie Sie gern scheinen möchten?«
Mit immer größeren Augen schaute Carter das Mädchen an, das so zu ihm sprach.
»Sie haben vielleicht gehört, was mir bevorsteht« sagte er dann leichthin; »nun ja, ich weiß, dass ich meine Pflicht verletzt habe, und ich weiß auch, dass eine Strafe darauf folgen muss. Aber dies ist kein Grund, dass mich mein Humor verlässt. Ich bin nicht der Mann, der sich sofort verloren gibt, weil er sich aus einer Karriere, und wäre ihm diese auch noch so lieb gewesen, in eine andre begeben muss.«
Plötzlich trat Emily dicht vor Frank hin und legte ihm beide Hände auf die Schultern.
»Leutnant Carter«, sagte Sie mit bebender Stimme, »wissen Sie, dass mich Ihre Sprache schmerzt? Sie glaubten, in mir noch den lustigen Kobold —
wie Sie mich immer nannten — wiederzufinden, und wissen Sie, wer daran schuld ist, dass ich jetzt ein von Schwermut geplagtes Wesen bin?«
»Doch nicht etwa ich?«, lächelte Carter befangen.
»Ja, Sie! Sie sind daran Schuld. Die erste Freude habe ich vorhin wieder gehabt, als Sie ein so offenes Zeugnis abgaben, dass Sie meine Schwester verachten. Ach, wenn Sie wüssten, wie mir das wohlgetan hat!«
Erschrocken sprang der Offizier auf; er glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen.
»Was — was sagen Sie da?«, stammelte er. »Ich Ihre Schwester verachten?
Ich weiß nicht —«
»Aber ich weiß alles«, unterbrach ihn Emily fast heftig. »O, Frank, wenn Sie sich doch wenigstens mir gegenüber nicht verstellen wollten! Glauben Sie, ich sehe nicht, wie Ihr Herz blutet, wie Sie sich bemühen, lustig zu sein, während Sie sich am liebsten in die Einsamkeit zurückziehen und weinen möchten? O, Frank, tun Sie das nicht, freuen Sie sich, triumphieren Sie, dass Sie nicht in die Schlingen jenes Weibes gefallen sind, das ich meine Schwester nennen muss; denn Sie wären noch tausendmal unglücklicher geworden, als Sie es jetzt schon sind. Seitdem ich weiß, dass Sie Isabel verachten, bin auch ich wieder glücklich.«
Emily hatte mit wachsender Leidenschaft gesprochen. Carter war in den Stuhl zurückgesunken; seine Verstellungskunst konnte solcher Sprache gegenüber nicht standhalten.
»Sie wissen alles«, kam es stöhnend von seinen Lippen.
»Ja, ich weiß alles, und noch, mehr als Sie, und das sollen Sie auch noch erfahren. Hören Sie mir zu: Als Sie vor vier Jahren Abschied, nahmen, weil Sie nach Indien gingen, war ich noch ein Kind und besaß die Unarten eines solchen. Vor allen Dingen lauschte und spionierte ich gern, und so wusste ich auch sehr gut, wie sie zu meiner Schwester standen — Sie liebten sie und wurden wiedergeliebt, ohne dass jemand außer mir eine Ahnung davon hatte. Ich wohnte heimlich Ihrem Abschied bei, ich hörte euern Treueschwur und ich junges Mädchen tat damals ebenfalls einen Schwur; ich schwor, ich wollte über ihre Braut, über meine Schwester, wie über meinen Augapfel, wachen. Warum? Weil ich Sie liebte, wie eine Schwester ihren Bruder, ich verehrte Sie, betete sie an, Sie waren in allen meinen Kinderträumen und Spielen der Held. Mein Morgen- und Abendgebet aber galt nicht Ihnen, denn ich glaubte, Ihnen könnte nichts zustoßen. Sie erschienen mir selbst wie ein Gott, nein, es galt Isabel, dass sie Ihnen erhalten bliebe.«
Emily hielt inne. Carter hatte die Augen mit der Hand bedeckt, die Bewegungen seiner Brust verrieten den inneren Kampf.
»Isabel hat ihren Schwur nicht gehalten!«, fuhr das junge Mädchen mit bebender Stimme fort. »Sie kommen in die Heimat zurück und finden Ihre Braut als das Weib eines andern.«
»Emily, beurteilen Sie Ihre Schwester nicht zu hart!«, sagte Frank leise.
»Sie ging diese Heirat aus Liebe zu ihrem Vater ein, um ihn vor Armut und Schande zu retten.«
»Wie? Sie wagen, Isabel noch zu verteidigen?«, entgegnete Emily mit schneidender Stimme, »aus Liebe zum Vater hätte sie Ihnen entsagt? Isabel hat weder Sie noch den Vater geliebt«, fuhr sie heftiger fort, »und wenn Sie Beweise dafür wollen, so werde ich solche bringen. Aus Liebe zu Pracht und Reichtum hat sie den Inder geheiratet! Ich, ich habe den Vater geliebt, ich wusste, dass er vor seinem Bankrott stand, ich habe nie von ihm Schmuck und Toiletten verlangt, ich habe mir meine Kleider durch nächtliche Arbeit meiner Hände selbst verdient, ich hätte für ihn auch gearbeitet, ich hätte für ihn gebettelt, aber nie würde ich den aufgegeben haben, den ich liebte, um meinem Vater die Mittel zu einem verschwenderischen Leben zu geben. Aber ich habe ja nun gesehen, dass Sie dieses Weib verachten, und das hat mich mit unsagbarer Freude erfüllt.«
»Ich verachte sie nicht, ich meide sie nur«, sagte Carter dumpf.
»Sie lügen! Sie verachten sie, und müssen sie verachten. Was hat sie Ihnen im letzten Brief geschrieben?«
»In welchem Brief?«
»Den Sie in der Schlacht bei Nursingpur empfingen.«
»Isabels Verlobungsanzeige.«
»Frank, warum wollen Sie mich immer täuschen?«, fragte Emily bitter.
»Sie teilte Ihnen allerdings mit, dass sie den Inder heirate, um den Vater zu retten, zugleich gab sie Ihnen aber deutlich zu erkennen, dass sie ihr als Liebhaber stets willkommen wären.«
»Emily!«
Der Leutnant war wieder aufgesprungen und starrte die Sprecherin entsetzt an.
»Sie sehen, ich weiß alles«, fuhr Emily mit erkünstelter Ruhe fort.
»Nachdem Sie jenen Brief gelesen, wussten Sie nicht mehr, was Sie taten.
Statt dem Befehle zu gehorchen, griffen Sie die Schanzen an, und so ist Isabel schuld daran, dass Sie unglücklich geworden sind und auch noch aus Ihrer Karriere gestoßen werden. Aber zu einem Triumph will ich Ihnen doch noch verhelfen, vielleicht ist es Ihnen ein Trost: Isabel hat einen Inder geheiratet.«
»Das ist nichts Neues und in England nichts Anstößiges.«
»Gewiss nicht, aber ehe die Engländerin einen Inder heiratet, verlangt sie, dass dieser seinen Harem auflöst.«
»Und Isabel?«, fragte Carter erschrocken.
»Sirbhanga nahm Isabel nur unter der Bedingung zum Weibe, dass er seinen Harem nicht aufzulösen brauche, und der Vater sowohl als Isabel gingen darauf ein. Meine Schwester kommt also in einen indischen Harem, vorläufig als Lieblingsfrau, bis sie einst von einer andern verdrängt wird.«
Carter war über diese Mitteilung so entsetzt und Emily so aufgeregt, dass beide den halberstickten Wutschrei überhörten, der draußen vor der Portiere erscholl.
Der Offizier kam erst wieder zur Besinnung, als hinter ihm ein Schluchzen ertönte; Emily lag auf dem Diwan, das Gesicht in den Händen vergraben, und weinte. Carter trat zu ihr und strich ihr sanft über das Haar.
»Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen«, tröstete er, obgleich er selbst Tränen in den Augen hatte, »Suchen Sie Isabel zu vergessen, wie ich sie schon aus meinem Herzen gerissen habe! Unter solchen Verhältnissen wird sie nicht lange mehr in England bleiben.«
»O, diese Schande, diese Schande!«, schluchzte Emily. »Der Vater verkauft sein Kind in den Harem eines reichen Inders! Er wird auch mich noch verkaufen.«
»Er kann nichts ohne Ihre Einwilligung tun.«
»Und sie hat auch Sie unglücklich gemacht«, fuhr das Mädchen weinend fort. »Ich habe Sie beobachtet, Ihre Fröhlichkeit ist eine erzwungene. Sie lieben Ihren Beruf, und nun müssen Sie ihn aufgeben, nein, Sie werden ausgestoßen, und daran ist nur meine schamlose Schwester schuld.«
»Ja, ich stehe vor meiner Entlassung, ich darf mich nicht darüber täuschen, und doch habe ich noch einige Hoffnung«, entgegnete Carter, setzte sich neben Emily und ergriff ihre Hand.
»Ich habe Freunde, die für mich sprechen; die Königin selbst hat sich für mich interessiert, sie ist edel und großmütig, und vor allen Dingen, Emily, ich habe Freunde, die mich auch nicht im Unglück verlassen.«
»Nein, nein, wenn das Urteil gesprochen ist, wird sich alles von Ihnen wenden.«
»Auch Sie würden, mich verlassen, Emily?« — —
Die beiden ahnten nicht, dass draußen an der Portiere ein mit Juwelen bedecktes Weib stand und sie belauschte. In Ihrem Gesicht war eine dämonische Wut zu lesen. Den Kopf vorgebeugt, die Hand. auf den wogenden Busen gepresst, lauschte sie, und ihre glühenden Augen schienen die dichten Vorhänge durchbohren zu wollen.
Jetzt sank das Sprechen zu einem Flüstern herab, man hörte Schluchzen und eine eindringliche Stimme, etwas später ließ das Weinen nach, ab und zu erklang ein leises Lachen, die Worte wurden wieder lauter — es waren Koseworte.
Das lauschende Weib zitterte; seine Zähne gruben sich so fest in die Unterlippe, dass Blutstropfen hervorsickerten.
»Ich muss jetzt gehen«, hörte es Carters Stimme, »man könnte uns finden, und das ist noch nicht nötig. Sei ruhig, mein Lieb! Ich danke dir, mehr kann ich nicht sagen. Du flößtest mir wieder Lebensmut ein; mag es kommen, wie es will, wir wollen zusammenhalten, in Armut und Reichtum, in Leid und Freud! Auf Wiedersehen, Emily!«
Schnell trat die Lauscherin in den Schatten eines Schrankes zurück, denn Carter verließ das Kabinett. An seiner Brust trug er eine weiße Rose. Er bemerkte das Weib nicht. Mit fröhlichem Gesicht eilte er in den Saal, aus dem Musik ertönte. Jetzt war seine Fröhlichkeit keine erkünstelte mehr.
Isabel warf ihm einen furchtbaren Blick nach, dann betrat sie das Kabinett. Emily saß mit einem glücklichen Lächeln auf dem Sofa, beim Anblick der Eintretenden aber sprang sie erschrocken auf und flüchtete sich hinter einen Tisch, so schreckenerregend war das Aussehen Isabels. Sie hatte den Kopf weit vorgebeugt und die funkelnden Augen starr auf die Schwester geheftet, sie glich dem Basilisken, dessen Blick vergiftet. Langsam, Zoll für Zoll näherte sie sich Emily, bis sie ihr am Tisch gegenüberstand.
»Schlange! Verräterin! Hündin!«, kam es zischend über die Lippen des Weibes.
Emily war erst sehr erschrocken gewesen, doch jetzt richtete sie sich plötzlich hoch auf, und ihre sonst so schüchtern blickenden Augen nahmen einen drohenden Ausdruck an.
»Ich fürchte dich nicht, Isabel, — verlass mich!«, sagte sie ruhig.
»Also auf diese Weise lockst du den Mann in das Garn«, fuhr Isabel fort, »dadurch, dass du mich schlecht machst!«
»Ich erzählte ihm nur die Wahrheit.«
»Und weißt du auch, warum ich dies alles tat? Warum ich Carter aufgab?
Meinem Vater zuliebe, um ihn nicht am Bettelstab zu sehen. Darum opferte ich meine Liebe zu Carter.«
»Sprich nicht von Liebe!«, fuhr Emily sie heftig an. »Du kanntest nie wahre Liebe. Ich durchschaue jetzt deinen abscheulichen Charakter. Geh fort ich verachte dich!«
»Hahaha« lachte Isabel höhnisch. »Wie sie sich so mutig fühlt, weil sie Carter sich zur Seite weiß! Wie lange gedenkt er denn sein Spiel mit dir zu treiben?«
Verächtlich wandte Emily sich ab.
»O, ich habe vorhin eure Zukunftspläne gehört«, fuhr Isabel fort, »aber ich bedaure, einen Dämpfer aufsetzen zu müssen. Eben erhielt ich die sichere Nachricht, dass Carter bereits mit der Pension eines Captains entlassen ist. Hahaha, ich gratuliere dir zu diesem Bettlerbräutigam!«
»Besser das Weib eines Bettlers als Sklavin in einem Harem!«
»Emily!«, rief Isabel drohend.
»Es ist so. Du bist nichts weiter als ein Haremsweib!«
»Du sollst deine Worte noch bereuen!«
»Niemals! fort von hier, treulose Verräterin an deinem Bräutigam!«
»Aus Liebe zu meinem Vater wurde ich's.«
»Nein, aus Liebe zum Reichtum! Du konntest keinen Mann gebrauchen, der dich knapp ernähren kann, aber du warst schamlos genug, Carter zu schreiben, dass er dir als Liebhaber stets willkommen sei. Ja, geh in deinen Harem, du passt hinein, denn du bist nichts Besseres wert.«
Ein Zischen kam über Isabels Lippen; es schien, als wollte sie sich auf die Schwester stürzen, die ihr furchtlos gegenüberstand, doch sie beherrschte sich.
»So ist es zwischen uns aus!«, keuchte sie endlich. »Nun nimm zu deiner Verlobung mit Carter noch meinen Glückwunsch entgegen.«
»Ich brauche ihn nicht. Geh, ich verachte dich!«
»Du verschmähst meinen Glückwunsch?«, sagte Isabel leise. »Wohlan, so sollt du etwas anderes bekommen!«
Ihre bisher noch verhaltene Wut brach plötzlich mit maßloser Heftigkeit hervor; wie eine Furie stand sie vor der Schwester und schleuderte ihr die Worte entgegen:
»Du verachtest mich, ich aber hasse dich, und du sollst meinen Hass zu fühlen bekommen! Ich will mich rächen, so furchtbar, wie sich nur je ein Weib gerächt hat. Verflucht sollt ihr sein, du, dein Mann, deine Kinder!
Mein Hass soll euch verfolgen, bis ihr alle vernichtet seid. Ich will dich in Armut verkommen sehen, allein, ohne Eltern, ohne Mann, ohne Kinder, und dann sollst du hilfesuchend zu mir kommen, sollst mich im Überfluss schwelgen sehen, ich aber will dich mit Hunden von meiner Tür hetzen und dir nicht den Abfall meines Tisches gönnen. Du spottest über mich, dass ich einen Inder geheiratet habe; gut, so wünsche ich dir, dass deine Kinder Bastarde werden, dir zum Spott und zur Schande. Mein Wunsch soll in Erfüllung gehen, mein Fluch ist mir schon vorausgeeilt: Ja, Carters Entlassung ist mein Werk; mein Brief brachte über euer Haus das erste Unglück, es soll euch nicht verlassen, und ich will mich daran erfreuen. Das ist mein Glückwunsch zu deiner Verlobung!«
Emily wollte auf diese keuchend hervorgestoßenen Worte antworten, doch Isabel wandte sich schnell um und rauschte hinaus.
In diesem Augenblick verstummte die Tanzmusik im Saal, die tanzenden Paare blieben stehen und blickten nach der Tür, von wo ein sporenklirrender Schritt kam. Lautlose Stille herrschte, nur einmal ging es noch flüsternd von Mund zu Mund:
»Wahrhaftig, das ist Lord Canning, der Günstling der Königin, ihre private Ordonnanz! Was will er hier?«
In Begleitung des Hausherrn trat ein junger, stattlicher Mann in der glänzenden Uniform der königlichen Leibgarde-Offiziere in den Saal. Der goldene Helm mit fliegendem Drachen beschattete ein ernstes, männlich schönes Antlitz, die Brust umschloss ein stählerner Panzer, und um diesen schlang sich eine weißseidene Schärpe, auf welcher in Gold die Worte standen: »On Here Majesty's Service — im Dienste Ihrer Majestät.«
Lord Canning war zwar nur ein Gardeleutnant und Ordonnanz der Königin, aber ein Mann, vor dem sich aus gewissen Gründen, wie wir später sehen werden, damals die mächtigsten Männer Englands demütig beugten.
Sporenklirrend schritt die schöne Erscheinung durch den Saal, ihr zur Seite der Hausherr, der jetzt nach einer Säule deutete und sagte:
»Leutnant Carter!«
Dort lehnte der schuldbewusste Offizier, er sah die Entscheidung kommen, doch er zitterte nicht.
»Herr Leutnant, Ihre Entlassung«, flüsterte neben ihm eine Stimme. Zur Seite sehend, blickte er in das schadenfrohe Gesicht Isabels.
Der Königsbote trat vor ihn hin, grüßte, streckte ihm die Hand mit einem versiegelten Schreiben entgegen und sagte so laut, dass man es in der entferntesten Ecke des Saales hören konnte:
»Sir Frank Carter, Baronet von Nottingham!«
Noch hielt der Überraschte sein Ernennungsschreiben zum Ritter in zitternden Händen, noch stand alles in sprachlosem Erstaunen da, als ein heller Jubelruf ertönte; eine weiße Gestalt flog an Isabel vorbei und stürzte sich in die Arme Carters — es war Emily.
»Ein doppeltes Glück?«, lächelte Lord Canning. »Sir Carter nehmen Sie meinen Glückwunsch als ersten entgegen.«
Dann hob er den Helm vom Kopfe und rief:
»Hoch lebe Ihre Majestät, die gnädige Königin! Hoch lebe Sir Carter, der Held von Nursingpur!«
Der Mann, der dieses Hoch ausbrachte, war der Jugendgespiele der Königin, er galt als ihr Heimlichgeliebter. Schmetternd fiel das Orchester, jubelnd die Gäste ein in den Ruf, mit Ausnahme zweier.
»Ihren Arm!«, flüsterte neben Sirbhanga eine heisere Stimme.
Der Inder blickte in das entstellte Gesicht seiner sonst so schönen Gemahlin. Beide verließen den Saal.
Diesmal hatte Isabel zu früh triumphiert.
Nach kurzer Zeit verschwand der indische Teehändler mit seiner Gemahlin aus England, man hörte auch nichts mehr von ihnen. Dann tauchte plötzlich das Gerücht auf, Sirbhanga sei ein indischer Spion gewesen, man hätte nach ihm gefahndet. Doch Indien ist groß, Sirbhanga und Isabel blieben verschollen. In indischen Städten kannte man weder ihn noch eine Firma mit seinem Namen.
Bald darauf heirateten Carter und Emily. Die junge Königin sorgte dafür, dass der Mann, dem sie mit eigner Hand den Ritterschlag erteilt hatte, seiner Würde entsprechend leben konnte; sie war sehr freigebig gewesen.
Die jungen Eheleute verbrachten den Sommer auf den Besitzungen zu Nottingham, im Winter in London. Ihr Glück wurde noch vergrößert, als Emily ihrem Gatten ein Töchterchen schenkte, das Eugenie getauft wurde.
Isabels wurde nicht mehr gedacht, ihr Name nicht mehr genannt.
Lange Zeit störte nichts des friedlichen Hauses Glück, bis es von einem sichtbaren Schicksalsschlage, durch den Raub des Kindes, betroffen wurde.
Der Fluch der Schwester machte sich zum ersten Male fühlbar.
Wir kehren zu Lady Carter und ihrem Gatten zurück, nachdem beide die Entdeckung gemacht hatten, dass ihr Kind entführt worden sei, und die Mutter ohnmächtig zusammengebrochen war.
Einen Augenblick stand Frank Carter wie erstarrt da, doch schnell hatte er sich wieder gefasst. Er ließ die Bewusstlose auf den weichen Teppich gleiten, sprang auf die Amme zu und packte sie am Arm.
»Weib, wo ist mein Kind? Wo ist Eugenie?«, donnerte er sie an.
Ihr erschrockenes Gesicht sagte ihm alles — sie wusste von nichts, auch sie hatte heimlich der Vorstellung mit beigewohnt. Carter eilte hinaus und rief die Dienerschaft zusammen; zuerst kam Jeremy.
Schon wollte der unglückliche Vater diesen nach der nächsten Polizeistation schicken, als ihn das Jammergeschrei der Amme in das Zimmer zurückrief. Seine Gattin wälzte sich dort in Krämpfen am Boden.
Doch Carter zeigte sich als tapferer Mann. Jeremy musste erst zum Arzt, dann nach der Polizeistation eilen, das weibliche Personal blieb bei der Erkrankten, und er selbst suchte, nachdem er die Ausgänge verschlossen hatte, mit den männlichen Dienern das ganze Haus durch. Es wurde nichts gefunden.
Verzweiflung im Herzen, kehrte Carter an das Bett seiner Frau zurück, die noch immer in Krämpfen lag. Er konnte ihr nicht helfen. Glücklicherweise kam der Arzt sehr bald, und dank seinen verständigen Anordnungen machten die Krämpfe bald einer tiefen Ohnmacht Platz.
Als Carter dem sich entfernenden Doktor selbst die Haustür öffnete, trat ein Mann mit eisenharten Zügen und klugen Augen durch dieselbe ein.
Carter kannte ihn, es war Mister Wilkens, einer der gewieftesten Detektive Londons, den Jeremy auf der Wache getroffen hatte.
»Lassen Sie die Tür offen!«, sagte er sofort, als Carter sie wieder schließen wollte. »Jeremy hat alles kurz, aber deutlich erzählt Ich bin vollständig orientiert.«
»Es könnte einer meiner Diener im Bunde sein und jetzt entfliehen wollen.«
33
»Desto besser, wenn er es täte, dann hätten wir den ersten Anhalt gefunden. Sir Carter, fassen Sie die Sache nicht zu tragisch auf! Dies Haus wird beobachtet. Niemand kann heraus. Sie kennen unsre Schnelligkeit. In diesem Augenblick sind bereits alle Bahnhöfe Londons und alle Häfen besetzt.
Der Kindesdieb kann nicht entkommen, es sei denn, er fliege mit seinem Raube durch die Luft, gehn Sie zu Lady Carter! Ich beginne die Untersuchung.«
Diese kurzen, mit größter Zuversicht gesprochenen Worte gaben Carter neuen Mut.
Auch der Detektiv konnte jedoch nichts anderes finden, als dass eine Glasscheibe im Oberlicht des Kinderzimmers zerbrochen war. Das Loch war kaum so groß, um einen Menschenkopf durchzulassen. War der Räuber hier eingedrungen, so musste er auf irgend eine Weise zuvor aufs Dach gelangt sein. Aber der Gaukler hatte doch noch in der letzten Minute das Kind gehabt, das jetzt in Eugenies Bett schlummerte! Der Detektiv schüttelte immer bedenklicher den Kopf. Hier versagte auch sein Scharfsinn.
Dann ließ Wilkens die Dienerschaft zusammenrufen. Es ergab sich, dass alle auf dem Dache gewesen waren; keiner hatte gefehlt. Des Detektivs Blick ruhte mit durchbohrender Schärfe auf jedem einzelnen, aber auf keinem länger als auf dem andern. Nachdem er an einige Fragen gestellt hatte, die mit der Sache scheinbar in gar keinem Zusammenhange standen, trat er auch vor eine junge Inderin von etwa sechzehn Jahren, die als Stubenmädchen angestellt war.
Sie schaute den Detektiven mit großen, offnen Augen an.
»Hast du den Gaukler gekannt?«, fragte dieser, und zwar, zur Verwunderung Carters, auf französisch. Noch seltsamer war die Antwort.
»Ich glaube an den lieben Gott, den Herrn Jesus und an den heiligen Geist«, plapperte das Mädchen. schnell.
»Sie ist erst seit einem Jahre in England«, erklärte Carter, »und spricht nur wenig Englisch, französisch gar nicht. Ich habe sie erst vor Kurzem aus einer Missionsanstalt genommen, wo man sie in unserer Religion unterrichtete. Sie ist der Meinung, Sie hätten sie nach ihrem Glauben gefragt, daher die Antwort.«
»Das Mädchen ist unschuldig«, sagte der Detektiv und wandte sich gleichgültig ab. Dabei hatte er aber doch einen Verdacht gefasst.
Ein Mann trat herein und überreichte ihm einen Zettel.
»Timur ist vor einer halben Stunde in seinem Hotel angelangt und befindet sich in seinem Zimmer«, sagte der Detektiv nach dem Lesen zu Carter.
»Wie?«, rief dieser halb erstaunt, halb freudig. »So haben wir Hoffnung, ihn noch heute Abend zu bekommen? Aber er wird sich nicht lange dort aufhalten, sondern sofort die Flucht ergreifen.«
»Ohne Sorge! Das Hotel ist bereits umstellt; Timur wird beobachtet.
Kommen Sie, ich habe den Haftbefehl schon in der Tasche.«
Carter wollte sich vorher noch nach dem Befinden seiner Frau erkundigen, zu der der Doktor bereits zurückgekehrt war. In der Tür trat ihm derselbe entgegen.
»Wie geht es ihr?«
»Gut, sehr gut!«
»Gott sei gedankt!«, rief Carter erleichtert. »Ist sie aus ihrer Ohnmacht erwacht?«
»Ja, doch leider zu früh!«
Carter sah den Arzt groß an. Da entdeckte er in dessen Gesicht einen sonderbaren Zug.
»Doktor, um Gottes willen. Sprechen Sie — Sie verheimlichen mir etwas!«
Da hörte er im Zimmer ein Lied erklingen; seine Frau sang so heiter wie immer, wenn sie mit ihrem Kinde spielte. Carter drängte den Arzt zur Seite und betrat den Raum; sein Herzschlag drohte zu stocken.
Emily ging auf und ab, hatte das gelbbraune Kind auf dem Arme, liebkoste es und sang ihm ein Schlummerlied. Bei dem Anblick des Gatten eilte sie auf ihn zu.
»Sieh nur, wie süß Eugenie schläft«, sagte sie fröhlich, »mein Töchterchen wird so artig. Nimm es doch einmal auf den Arm, Frank!«
Dem Manne war es, als griffe eine eiskalte Faust an sein Herz; er las im Auge des Arztes die ganze Wahrheit — seine Frau war wahnsinnig geworden, sie lebte in der fixen Idee, das fremde Kind sei das ihrige.
Carter erlag fast diesem neuen Schlage; stöhnend lehnte er sein Haupt an das Fensterkreuz.
»Mein Gott, mein Gott, womit habe ich das verdient!«
Eine Hand legte sich ihm auf die Schulter.
»Hadern Sie nicht mit Gott, Sir!«, sagte der Arzt. »Seien Sie ihm vielmehr dankbar. Ihre Gemahlin ist glücklich, sie erinnert sich nicht mehr der letzten Vorfälle und glaubt, ihr Kind noch zu besitzen. Ihr Wahnsinn ist vollkommen unschuldig, ich halte ihn für heilbar. Auf keinen Fall aber dürfen Sie ihr das Kind nehmen; Sie müssen vielmehr völlig auf ihre Gedanken eingehen, sonst stehe ich für nichts. Nennen auch Sie das Kind vorläufig Eugenie, später können wir es mit dem Namen Eugen versuchen.«
Carter griff sich an die Stirn. Was redete der Mann da? Wahrhaftig, alles, was der Gaukler gesagt, war in Erfüllung gegangen. Das braune Kind, ein Knabe, wurde erst Eugenie, dann Eugen genannt.
»Sind Sie bereit, mit mir zu kommen?«, fragte der Detektiv den Unglücklichen leise. Auch sein Herz, durch den steten Umgang mit Verbrechern erhärtet, war erschüttert.
»Ich bin's«, entgegnete Carter, sich aufraffend.
Wilkens sprach noch etwas mit dem Arzt, dann entfernten sich die beiden.
»Ihre Gemahlin wird jetzt eine Krankenpflegerin bekommen, ich habe mit dem Arzt schon gesprochen«, sagte der Detektiv unterwegs.
»Wozu?«, fragte Carter, über diese Bemerkung des Polizisten erstaunt.
»Solange wir von Ihrem Hause abwesend sind, ist es immer gut, wenn die Dienerschaft beobachtet wird. Ich habe auf die Inderin, die so unschuldig tut, einen starken Verdacht. Die Beobachtung derselben übernimmt die vorgebliche Krankenpflegerin, in Wirklichkeit ist sie eine Detektivin. Es muss alles ohne Aufsehen geschehen.«
Auf dem Wege zum Hotel Royal, wo selbst der Gaukler nebst zwei Dienern eine ganze Zimmerflucht bewohnte, erzählte Carter dem Detektiven noch einmal ganz ausführlich die Ereignisse des Abends.
Mister Wilkens hörte aufmerksam zu. »Wenn Timur diese Tat ausgeführt hat«, sagte er dann, »so ist es ganz unbegreiflich, dass er in seine Wohnung zurückkehrte. Jedenfalls haben wir es in ihm mit einem ganz geriebenen Gauner zu tun. Sie treten also in das Zimmer, in dem er sich befindet; schläft er, so wecken Sie ihn und schleudern ihm die Beschuldigung ins Gesicht. Ich begnüge mich vorläufig damit, den Eindruck Ihrer Worte zu beobachten. Wahrhaftig, ein so merkwürdiger Fall ist mir noch nie vorgekommen.«
Nach kurzer Zeit hatten die Männer das Hotel erreicht; Carter bemerkte im Schatten der Häuser dunkle Gestalten — aufgestellte Posten. Der Detektiv zog die Hotelglocke, der Portier öffnete.
»Wohnt hier der Gaukler Mister Timur, der in der ›Alhambra‹ Vorstellungen gibt?«
»Ja. Was wünschen Sie?«
»Ihn zu sprechen. Lassen Sie uns beide sofort nach seinem Zimmer führen.«
»Mister Timur ist erst seit kurzer Zeit aus einer privaten Vorstellung gekommen und will jetzt nicht gestört sein. Kommen Sie morgen am Tage wieder.«
Einige Worte des Detektivs genügten, den Portier seinen Entschluss ändern zu lassen. Ein herbeigerufener Kellner musste die beiden Herren nach den Zimmern des Gauklers führen.
»Hier ist sein Schlafzimmer«, sagte der Kellner. »Es ist noch Licht darin.
Wahrscheinlich arbeitet er noch.«
Auf Geheiß des Detektivs klopfte Carter an.
»Wer ist da?«, fragte eine hohe quäkende Stimme.
Jetzt konnte Carter sich nicht mehr beherrschen, er klinkte, die Tür war offen, und schnell trat er ein. Doch er blieb bestürzt stehen.
Vor einem mit Papieren bedeckten Tisch saß ein in weite, indische Gewänder gehüllter Mann. Er war offenbar ein Inder, klein, mager und bartlos, aber sein Gesicht war ein anderes als das von Timur.
Carter überflog mit seinen Blicken das luxuriös ausgestattete Schlafzimmer, es war niemand weiter darin, und kurz entschlossen trat er auf den Inder zu.
Dieser hatte sich erhoben.
»Wer wagt es, in solcher Weise in mein Zimmer einzudringen?«, rief er dem Eintretenden drohend entgegen und ergriff einen auf dem Tische liegenden Revolver.
»Wo ist Timur Dhar?«, fragte Carter hastig welcher einen andern als den Gesuchten vor sich sah.
Als hätte der Schlag ihn getroffen, so brach der Inder plötzlich im Stuhle zusammen; seine Glieder zitterten wie Espenlaub, und die Carter anstarrenden Augen schienen aus den Höhlen treten zu wollen.
»Wo ist Timur Dhar?«, wiederholte dieser.
»Ti—Timur — Dhar — Dhar!«, stotterte der Inder unter hörbarem Zähneklappern. »Woher — kennen — Sie —«
»Mensch, sprechen Sie!«, rief Carter außer sich. »Wo ist er?«
»Halt«, sagte da der Detektiv und trat heran, den Inder scharf fixierend,
»hier waltet ein Irrtum ob. Ich kenne diesen Herrn, es ist Mister Timur, welcher in der ›Alhambra‹ spielt. Jedes Kind kennt ihn.«
Jetzt war es an Carter, vor Schrecken sprachlos zu werden. Er sah sich vor einer Reihe von furchtbaren Verwicklungen stehen.
Des Inders Aussehen wurde immer entsetzlicher, die untere Kinnlade hing herab, und doch stammelte er immer wieder:
»Timur — Dhar — Dhar, wo—woher — kennen Sie ihn?«
»Und doch kann er es sein!«' rief Carter. »Diese Gaukler verstehen es, ihre Gesichtszüge zu ändern!«
»Das werden wir gleich sehen!«, entgegnete Wilkens. »Mister Timur, wo sind Sie heute Abend gewesen?«
Der, Inder antwortete nicht, nur die vorigen Worte stammelte er. Der Kellner hatte draußen gelauscht; er trat jetzt herein und übernahm die Antwort.
»Mister Timur war heute Abend zu einer privaten Vorstellung bei Lord Gray, Regents Park Nummer 9, eingeladen. Dort liegt noch das Schreiben.
Er verließ das Hotel um acht Uhr und kam erst vor einer Stunde zurück.«
»Gut«, sagte der Detektiv, »ich werde mich sofort überzeugen. Suchen Sie den Mann mit Hilfe des Kellners zum Bewusstsein zu bringen, ich komme gleich wieder!«
Der Kellner rieb den Kopf des Inder mit kaltem Wasser, Carter half dabei nur mechanisch.
»Ist dies wirklich Timur?«, fragte er.
»Gewiss ist es Mister Timur; er wohnt ja hier im Hotel!«
»Wo sind seine Diener?«
»Sie schlafen nebenan, es sind zwei Chinesenjungen!«
Als der Detektiv nach fünf Minuten wieder eintrat, hatte sich der Inder etwas erholt, aber noch immer saß er wie gebrochen im Lehnstuhl und stierte den Baronet mit gläsernen Augen an.
Wilkens schickte den Kellner hinaus und setzte sich dem Inder gegenüber.
»Mister Timur, sind Sie fähig, mich zu verstehen und mir zu antworten?«
Der Inder nickte.
»Wo sind Sie heute Abend gewesen?«
»Bei Lord Gray«, antwortete er mit schwacher Stimme.
»Nur dort?«
»Ja.«
»Sir Carter, wie nannte sich der Gaukler, der heute Abend bei Ihnen spielte?«
»Timur Dhar, der König der Gaukler!«, war die Antwort.
»Timur Dhar, er ist es!«, schrie der Inder mit gellender Stimme, sprang auf, warf sich auf den Fußboden, zerriss seine Kleider und raufte sich die Haare. Dabei sprach er bald Englisch, bald einen fremden Dialekt, nannte sich einen unglücklichen Menschen, einen Narren, einen Dummkopf und so weiter.
Die beiden Männer wussten nicht, was sie dazu sagen sollten. Schließlich, als Timur sich ausgetobt hatte, gelang es ihnen, ihn wieder zur Vernunft zu bringen.
»Sie nennen sich nur Timur?«, setzte Wilkens das Verhör fort.
»Ja!«
»Warum erschrecken Sie so, wenn Sie von Timur Dhar sprechen hören?
Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich Polizist bin, dass Sie Ihre Aussagen vor Gericht zu wiederholen und dass Sie dieselben zu beschwören haben! Also sprechen Sie die Wahrheit! Warum zittern Sie bei der Nennung des Namens Timur Dhar?«
Der Gaukler blieb lange die Antwort schuldig.
»Weil ich ihn fürchte!«, stöhnte er endlich.
»Warum fürchten Sie ihn?«
»Timur Dhar war in Indien mein Lehrmeister. Als ich nach Europa ging, legte ich mir in törichter Eitelkeit seinen Namen bei. Ich wusste, dass er sich rächen würde, wenn er diesen Betrug erführe, aber ich glaubte, in Europa wäre ich sicher vor ihm!«
»Das sind Sie auch. Wer ist dieser Timur Dhar?«
»Er ist der König der Gaukler, ich dagegen bin nichts weiter, als ein einfacher Taschenspieler!«
Das war ein offenes Bekenntnis, aber rätselhaft.
»Wieso ist Timur Dhar mehr als Sie?«
»Ihm gehorchen die Geister des Wassers, des Feuers, der Erde und der Luft, denn er besitzt den Geisterring.«
Die beiden Männer sahen sich erstaunt an. Was sollte man davon denken? Sie selbst glaubten nicht an einen mit übernatürlicher Macht begabten Menschen, aber dieser Inder tat es, und daraus erwuchsen ihnen unübersteigbare Hindernisse. Ein vernünftiges Gespräch scheiterte an diesem Aberglauben.
»Jetzt, Sir Carter, erzählen Sie die Vorfälle in Ihrem Hause, vergessen Sie nichts dabei!«, sagte Wilkens.
Carter begann zu erzählen; aber schon nach den ersten paar Worten sprang der Inder auf und wollte wieder zu rasen beginnen. Doch der Detektiv drückte ihn in den Stuhl zurück und gebot ihm schroff Ruhe. Dies wirkte. »Timur Dhar ist hier, hier in London?«, stöhnte er. »Ich bin verloren, ich muss mich töten!«, Es gelang wieder, ihn zu beruhigen, und Carter erzählte.
Teilnahmslos hörte der Inder zu; nur ab und zu lief ein Zittern durch seine Glieder«
»Was haben Sie dazu zu sagen?«, fragte am Schlusse Wilkens.
»Nichts, gar nichts weiter, als dass ich unschuldig bin!«
»Ich habe noch einige Fragen zu stellen!«, nahm Carter wieder das Wort und zog einen Brief hervor. »Haben Sie, Mister Timur, gestern einen Brief von mir erhalten, durch den ich Sie zu heute Abend in mein Haus einlud?«
»Nein!«
»Nicht? Das ist ja gar nicht möglich! Er trug die Unterschrift Frank Carter und war an Sie hierher adressiert!«
»Ich habe ihn nicht erhalten!«
»Haben Sie mir diesen Brief geschrieben?«
Er reichte ihm denselben hin.
Mit sichtlicher Scheu las der Inder das Schreiben, Schrecken spiegelte sich in seinem Antlitz wider.
»Es ist meine Handschrift, aber ich habe ihn nicht geschrieben!«, ächzte er. »Auch steht hier als Unterschrift Timur Dhar, während ich mich nur mit Timur unterzeichne. Sehen Sie alle meine Papiere nach!«
»Haben Sie auch keine Fünfzigpfundnote von mir erhalten?«
»Nein!«
Ein Mann trat ein und überreichte dem Detektiven ein Schreiben.
»Mister Timur hat die Wahrheit gesprochen!«, sagte dieser nach dem Lesen. »Lord Gray hat trotz der späten Nachtstunde die Güte gehabt. selbst zu bescheinigen, dass Mister Timur sich heute Abend bei ihm produziert hat, und zwar ist die Zeit dieselbe, während der Timur Dhar bei Ihnen war.
Mister Timurs Alibi ist erwiesen, meine Rolle als Polizeiperson ist daher hier ausgespielt.«
»Wie? Sie geben die Sache auf?«, rief Carter halb verzweifelt.
»Durchaus nicht! Wir wollen uns jetzt jedoch nicht mit dem Lösen von Rätseln abgeben, sondern daran denken, wie wir Ihr Kind wiederbekommen, denn das ist doch die Hauptsache. Mister Timur wird so freundlich sein, uns dabei mit seinem Rat zu unterstützen.«
Der Detektiv hatte den Inder unbemerkt, aber scharf beobachtet, doch diesem war nicht das Geringste anzusehen, dass der Beweis seiner Unschuld ihn beruhige.
»Wie soll ich Ihnen denn helfen?«, fragte er kläglich.
»Es gilt, Timur Dhar aufzuspüren. Es ist schwerlich anzunehmen, dass er mit seinem Raube aus London herauskann, denn alle Land- und Wasserwege sind besetzt, jede Kiste, jedes Fass, jeder Koffer, die die Stadt verlassen, wird visitiert.«
Der Inder stieß ein kurzes Lachen aus. »Wie können Sie Timur Dhar fangen! Er fliegt durch die Luft. Heute ist er hier, morgen in Indien, er ist überall, aber man sieht ihn nicht — er ist Luft!«
Auf diese Weise konnte man mit dem Inder nichts anfangen.
»Kennen Sie in Indien einen Mann namens Sirbhanga, einen Teehändler?
Er war vor zwei Jahren hier in London, heiratete eine Engländerin namens Isabel Battinson und wollte diese Dame in seinen Harem nach Indien führen. Er war mohammedanischen Glaubens, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, klein, dick, hässlich und hinkte stark auf dem linken Fuße.«
»Ich kenne ihn nicht«, entgegnete der Inder kopfschüttelnd.
Carter staunte über diese Frage des Detektivs. Hier bekam er ein Beispiel dafür, wie viel sich die englische Polizei mit Familienverhältnissen beschäftigt. Allerdings war damals Sirbhanga als Spion verdächtig gewesen und nach ihm geforscht worden.
»Können Sie uns denn gar keinen Rat geben, wie wir uns dieses Kindesräubers bemächtigen können?«
»Suchen Sie eher den Wind zu fangen als Timur Dhar. Ich rate Ihnen, unterlassen Sie jede Verfolgung, sonst könnten Sie noch seine mächtige Hand zu fühlen bekommen.«
Geringschätzig lächelnd erhob sich der Detektiv, trostlos Frank Carter.
Nach kurzer Entschuldigung gegen den Inder verließen sie das Hotel.
Auf der Straße blieb Wilkens stehen und atmete tief auf.
»Eine ungeheure Reihe von Rätseln sind zu lösen«, sagte er, »und ich will alle meine Kraft daransetzen. Verzagen Sie nicht, Sir Carter! Wenn wir nur erst eine Spur haben, dann ist schon viel erreicht. Ich bin zwar ein geschickter Detektiv, aber es gibt welche, die noch geschickter und erfahrener sind als ich. An diese wollen wir uns wenden, denn Selbstüberschätzung und Ehrsucht kenne ich nicht. Die Hauptsache ist, einen in Indien geborenen Mann zu finden, welcher Timur Dhar kennt, aber nicht an seine Allmacht glaubt, und ich denke, ich habe schon einen solchen.«
»Mein Kind! Verschaffen Sie mir nur mein Kind wieder!«, bat der unglückliche Vater, in dessen Brust noch immer der erste Schmerz wühlte.
»Verlangen Sie von mir jedes Opfer, ich will es bringen, wenn ich nur mein Kind wiederhabe!«,
Mit tiefem Bedauern betrachtete der Detektiv den Mann an seiner Seite.
Was hatte doch eine Stunde aus diesem gemacht! Vor einer Stunde noch ein heiterer Gesellschafter, ein glücklicher Familienvater, jetzt der Verzweiflung nahe.
»Verlassen Sie sich darauf, dass alles getan wird, den Kindesräuber zu fangen!«, sagte er dann. »Die englische Polizei gebietet über mächtige Mittel, die nur selten versagen, und sie besitzt Diener, welche nicht so leicht zu überlisten sind. Nach dem, was wir schon erfahren haben, ist dieser Timur Dhar allerdings ein ganz geriebener Betrüger, doch mit Gottes Hilfe werden wir ihm sein Handwerk legen! Ich begebe mich jetzt zum Polizeidirektor, um ihm Bericht zu erstatten. Gehen Sie nach Hause und versuchen Sie zu schlafen, Sie bedürfen der Ruhe. Morgen bin ich beizeiten bei Ihnen, und wir sprechen weiter. Gute Nacht, Sir Carter, Gott sei mit Ihnen!«
Carter wurde zu Hause von Jeremy auf dem Korridor empfangen. Der treue Diener hielt ihm einen Brief entgegen, und er riss ihm denselben aus den Händen — er hatte die Handschrift Timurs erkannt. Der Brief lautete: Sir! — Seien Sie um das Leben Ihrer Tochter ohne Sorgen, sie befindet sich bereits in Indien. Die Gründe ihrer Entführung verschweige ich, denn Sie würden dieselben nicht verstehen oder daran zweifeln, ebenso wie an meiner übernatürlichen Kraft. Hundert Jahre nach der Schlacht bei Plassy werden Sie und Ihre Gemahlin Ihre Tochter wiedersehen; einstweilen nehmen Sie den indischen Knaben als Ersatz, er wird Ihre Gemahlin über den Verlust vollständig trösten. Nennen Sie ihn, wie ich schon andeutete, erst Eugenie, dann Eugen, und lassen Sie ihm eine ebenso gute Erziehung angedeihen, wie Ihre Tochter sie erhält. Wenn er siebzehn Jahre alt ist, wird er Ihnen seinen Namen selbst nennen. Ob Sie mich verfolgen wollen oder nicht, steht in Ihrem Belieben, doch ich versichere Ihnen, dass alle Ihre Bemühungen, mich einzufangen, erfolglos sein werden. Vergessen Sie nicht: Hundert Jahre nach der Schlacht bei Plassy werden Sie Ihre Tochter wiedersehen.
Timur Dhar.
Mit einem heiseren Lachen steckte Carter den Brief ein, jetzt begannen sich fast seine Sinne zu verwirren. Er hielt das Schreiben für die Ausgeburt eines halb wahnsinnigen Gehirns, und doch war er andererseits nicht abgeneigt, an seinen Inhalt zu glauben.
»Wer brachte den Brief?«, fragte er Jeremy.
»Herr Captain, das ist ein neues Rätsel!«, entgegnete dieser niedergeschlagen. »Kaum war der Arzt gegangen, als ich das Schreiben plötzlich dort auf dem Tische fand.«
»Es ist niemand mehr zur Haustür hereingekommen?«
»Nein, die Türen waren verschlossen.«
»Dann steht jemand von meiner Dienerschaft mit diesem Schurken in Verbindung, murmelte Carter und begab sich in das Zimmer seiner Gemahlin.
Diese schlief sanft, eine Krankenwärterin wachte an ihrem Bett.
»Lady Carter befindet sich wohl«, empfing letztere den Eintretenden. »Sie scheint vollkommen heiter und gesund zu sein, sie spricht vernünftig, nur der letzten Vorfälle erinnert Sie sich gar nicht mehr.«
»Und das Kind?«, fragte Carter leise.
»Wird von ihr als das ihrige betrachtete Sir, seien Sie darüber glücklich.«
Mit einem schweren Seufzer beugte Carter sich über sein Weib, das im Schlaf heiter lächelte, und küsste es. Er konnte diese gütige Fügung nicht anerkennen, er war gegen das grausame Schicksal mit unsäglicher Bitterkeit erfüllt.
»Sie wissen, ich bin Detektivin«, flüsterte ihm die noch jugendliche Krankenwärterin plötzlich zu. »Ich habe Ihre indische Dienerin stets in meiner Nähe gehabt und Sie beobachtet. Mit meiner Kunst ist es jedoch zu Ende, das Erscheinen des Briefes ist mir ein unlösbares Rätsel.«
Carter suchte sein Schlafzimmer auf, ohne das braune Kind noch einmal gesehen zu haben. Er fürchtete seinen Anblick förmlich. So erregt sein Gemüt auch war, seine abgespannte Natur forderte doch ungestüm ihre Rechte, und er fand in einigen Stunden Schlaf ein wohltuendes Vergessen seines Schmerzes.
Am nächsten Morgen, sehr frühzeitig, verlangte der Detektiv Wilkens den Hausherrn zu sprechen.
»Ich habe eine schlaflose Nacht gehabt«, begann er, »es haben sich weitere wichtige Vorfälle ereignet. Timur hat diese Nacht, kurz nach unserer Entfernung einen Fluchtversuch gemacht.«
»Dann ist er auch schuldig!«, fuhr Carter auf. »Er ist doch nicht entkommen?«
»Nein, er wurde dabei gefasst, und ich habe ihn in Haft genommen. Auf seinem Schreibtisch ist ein an Sie adressierter Brief gefunden worden; die Verhältnisse zwangen mich, ihn zu erbrechen. Hier ist er.«
In dem Schreiben versicherte der Gaukler, er sei an dem Kindesraub vollkommen unschuldig, er müsse aber fliehen, um der Rache Timur Dhars zu entgehen. Unterzeichnet war das Schreiben nicht mehr mit Timur, sondern mit Sinkolin. Eine Untersuchung seiner Briefschaften hatte ergeben, dass dies der wahre Name des Gauklers war, Timur hatte er sich erst nach Eintritt seiner europäischen Gastreise genannt.
»Und er ist doch schuldig!«, rief Carter.
»Nein, er hat seine Unschuld noch deutlicher bewiesen. Bei seiner Verhaftung benahm sich Timur oder Sinkolin wieder schrecklich, er raufte sich das Haar, verfluchte sich und sprach von Timur Dhar wie von seinem bösen Dämon. Nachdem er in einer Zelle untergebracht worden war, hatte ich eine Unterredung mit dem Polizeidirektor. Timur sollte sofort zum Verhör vorgeführt werden, aber als ich zu ihm zurückkehrte, fand ich ihn leblos am Boden liegen — er hatte seine Zunge verschluckt.«
»Tot?«, rief Carter erschrocken.
Die indischen Fakire sind religiöse Schwärmer, die Priester und die Gaukler verstehen es, durch ein seltsames Zusammenrollen der Zunge sich selbst die Luft abzuschneiden, sie können sie sogar hinunterschlucken und sich so töten. Merkwürdigerweise kommt das Verschlucken der Zunge auch bei einigen Negerstämmen vor, besonders gefesselte Sklaven gebrauchen es als Mittel, durch Selbstmord dem Sklavenleben zu entgehen.
»Er war tot, die ärztliche Untersuchung ergab es«, fuhr der Detektiv fort. »Und an die Kalkwand hatte er mit einem Nagel die Worte eingekratzt: ›Ich bin an dem Kindesraub unschuldig, ich töte mich, weil sonst Timur Dhar mich töten würde.‹«
»So glauben Sie jetzt an seine völlige Unschuld?«
»Unbedingt!«
»Und was nun?«
Der Detektiv blieb vorläufig die Antwort schuldig.
»Ich glaube natürlich nicht an eine Allmacht des Gauklers«, sagte er nach langem Überlegen, »aber fast will es mir scheinen, als ob es Timur Dhar doch gelungen sei, zu entfliehen. Derselben Ansicht ist der Polizeidirektor.«
Carter überreichte Wilkens den Brief von gestern Abend. Mit unerschütterlicher Ruhe las dieser ihn, man wusste nicht, was in ihm vorging.
»Dies bestätigt meine Ansicht, dass Timur Dhar sich nach Indien begibt.«
»Wie? Merken Sie nicht, dass dies nur eine Falle ist, um uns auf eine falsche Spur zu lenken? Timur Dhar befindet sich noch hier; wir aber sollen glauben, er sei schon in Indien, und ihn dort suchen.«
»Dass er schon dort ist, ist unmöglich, oder wir, das heißt, der Polizeidirektor, ich und alle meine Kollegen, welche ich darüber gesprochen habe, sind der unumstößlichen Überzeugung, dass Timur Dhar sich nach Indien begibt, weil nämlich Isabel, die Schwester Ihrer Gemahlin, auf alle Falle die Hand bei dem Kindesraube im Spiele hat. Dieser Brief befestigt noch mehr meine Ansicht. Um Ihnen die Erklärung dafür zu geben, müsste ich eine lange Reihe von Kombinationen anführen. Wir sind eben in derartigen Sachen erfahren, und ich bitte Sie, sich unserer Ansicht anzuschließen. In Indien müssen die hauptsächlichsten Nachforschungen nach ihrer Tochter gehalten werden; jetzt gilt es, Sirbhanga und Isabel nachzuspüren; deshalb kann indes auch in der ganzen Welt gesucht werden.«
»So gehe ich selbst nach Indien«, rief Carter, von der Wahrheit der Worte des Detektivs überzeugt.
»Ja, das wird das beste sein. Der Polizeidirektor wird Ihnen einen Mann zur Verfügung stellen, dessen Rat Ihnen sehr wertvoll sein wird. Ihre Vaterliebe soll die Triebfeder sein, durch welche die Tatkraft und der Scharfsinn dieses Mannes, eines äußerst schlauen Burschen, aufs Äußerste angespannt werden. Sind Sie bereit, mit mir zum Polizeidirektor zu fahren?«
Nach einer halben Stunde standen beide vor dem alten, grauhaarigen Mann, nach dessen Winken die gewaltige Maschinerie der Londoner Polizei arbeitete. So wichtig diese Sache auch für Carter, eine so angesehene Person er auch war, der Polizeidirektor gewährte ihm nur zehn Minuten, denn draußen harrten schon unzählige Menschen, welche ihn sprechen wollten.
Der Beamte empfing zuerst den Brief von gestern Abend.
»In der Schlacht bei Plassy wurden die Inder von den Engländern geschlagen«, sagte er, »Indien kam unter englische Hoheit. Seitdem sind zweiundachtzig Jahre vergangen. Also sollten Sie Ihre Tochter in achtzehn Jahren wiedersehen. Was mit der Selbstnennung des indischen Knaben nach siebzehn Jahren gemeint, ist mir unerklärlich. Sir Carter, aus Mister Wilkens Munde haben Sie meine Meinung gehört, und dass Sie selbst nach Indien gehen wollen, heiße ich gut. Sie bekommen als Begleiter einen chinesischen Jungen mit, in Indien unter Gauklern aufgewachsen, listig, mutig und treu.«
»Einen Jungen?«, fragte Carter verwundert.
»Er ist sechzehn Jahre alt und vor zwei Jahren nach London gekommen, wo man ihn zum Detektiv ausbildete. Er eignet sich sehr gut dazu, besonders weil jeder Chinese dem andern ungemein ähnlich sieht und diese Zopfträger in London keine auffällige Erscheinung sind.«
»Nur wir Europäer können die Chinesen nicht voneinander unterscheiden, wohl aber die Bewohner jener Länder.«
»Trotzdem eignet er sich wie kein zweiter für unseren Zweck. Besprechen Sie sich mit Kiong Jang im Beisein Mister Wilkens', dass dieser mir Bericht erstatten kann. Sobald Sie Ihre Vorbereitungen getroffen haben, bitte ich um Ihren Besuch. Bis dahin werde ich Ihnen Vollmachten für die englische Polizei in Indien, Schutzbriefe und so weiter, ausstellen lassen.«
Sir Carter musste sich verabschieden, auch den Chinesen konnte er heute nicht sprechen. Wilkens tröstete ihn deshalb. Der Polizeidirektor konnte sich unmöglich mit seiner Sache länger befassen, die Einzelheiten mussten dem Personal überlassen bleiben, und der Detektiv versicherte nochmals, dass nichts unversucht bleiben würde, das geraubte Kind wiederzubekommen.
Carter wurde in seinem Hause von einem Herrn erwartet, der sich ihm als königlicher Kurier legitimierte und ihm den Befehl brachte, sich sofort dem Minister des Auswärtigen vorzustellen.
Mit Bestürzung las Carter diese Aufforderung.
»Haben Sie keine Ahnung, was ich dort soll?«
»Doch! Ich würde sonst natürlich nicht gesprochen haben, da ich aber von Ihrem Unglücke gehört habe und Sie nicht in erneuter Unruhe verlassen möchte, will ich mein Schweigen brechen. Sie sind auserwählt, mit geheimen Depeschen nach Indien zu gehen.«
Carter war angenehm überrascht, diese Mission begünstigte seine Unternehmung. Hätte er geahnt, dass jetzt erst sein Unglück besiegelt war!
Tief im Innern Indiens liegt die Provinz Berar mit der Hauptstadt Akola.
Baumwoll-, Reis- und Teefelder bezeugen den Fleiß der Bewohner.
Längs der von Krokodilen wimmelnden Flüsse ziehen sich undurchdringliche Wälder hin, und in den mächtigen Dschungeln lauern Königstiger und Panther auf Beute.
Etwa eine Meile von der Hauptstadt erhob sich in idyllischer Lage ein Bungalow, ein großes Landhaus, der Lieblingsaufenthalt des Radschas* von Berar. Es war das Serail des Fürsten; hier verträumte er mit seinen Weibern in träger Ruhe sein Dasein, denn die mohammedanische Religion Buddhas lehrt, dass Nichtstun vor dem Bösen schütze, und Nana Sahib war ein Anhänger des Propheten.
* Radscha ist die Bezeichnung der indischen Fürsten, über mehrere Radschas herrscht ein Maharadscha.
Die Umgebung des prächtigen Landhauses forderte aber auch geradezu zum Träumen auf. Duftende Jasminspaliere bildeten Lauben, durch die dichten Haine rieselten murmelnd klare Quellen, die an ihnen Ruhenden in Schlaf wiegend, und wo die Natur nicht selbst solche Ruheplätze geschaffen, da waren künstliche Grotten, leichte Häuschen und Pavillons ausgeführt.
Die indische Sonne, durch ihre furchtbare Hitze alles lähmend und doch wieder so gewaltig zeugungskräftig, brütete über diesen paradiesischen Gärten und ließ Blumen, Büschen und Bäumen laufend betäubende Wohlgerüche entströmen.
Auf der Landstraße, die von Akola nach dem Bungalow führte, sprengte eine glänzende Reiterkavalkade dahin, voraus einige Vorreiter, hinterher eine Unmenge von berittenen Dienern, die ständige Begleitung jedes indischen Fürsten, und in der Mitte der Schar auf einem kostbaren Rappen Nana Sahib, der Herrscher des Landes.
Der Radscha sah nicht die Schönheit der Umgegend; finster blickte er vor sich nieder, und immer wieder stieß er dem edlen Tiere die silbernen Sporen in die Weichen, dass es schmerzlich aufwieherte und in größerer Eile dahinsprengte. Ein furchtbarer Grimm lag auf dem abschreckend hässlichen Gesicht des jungen Fürsten; nur ab und zu blitzte es in seinen Augen wie Triumph auf.
Seine kleine, plumpe, aber große Muskelkraft verratende Gestalt umhüllten weite seidene Gewänder, der weiße Turban war in die Augen gerückt, die im Gürtel steckenden Waffen funkelten von Juwelen.
Vor dem Hauptportal, das zum Hofe führte, hielt der Zug; nur der Radscha sprengte hinein, sprang ab und trat ins Haus, während Diener das Tier fortführten. Der Tross verschwand in einem Seitenflügel.
Einige Minuten später durchschritt Nana Sahib in einfacher Kleidung ein weites, luxuriös ausgestattetes Gemach. Beim Eintritt in dasselbe glaubte man sich in das Paradies versetzt, das Mohammed seinen Gläubigen als den Sitz der ewigen Seligkeit verheißt.
In der Mitte des Raumes schleuderte eine Fontäne kristallklares Wasser zur Decke empor; plätschernd stürzte es in ein marmornes Becken zurück, in dem sich Goldfische tummelten. Um die Säulen des Gemachs rankten sich blühende Gewächse, die Wände schienen nur aus Laubgeflecht zu bestehen, und mächtige Palmengruppen bildeten natürliche Lauben.
Um das Marmorbassin und an den Wänden entlang zogen sich Diwans mit seidenen Kissen, auf denen fünf reizende Weiber lagen. Es waren Hindumädchen, wunderbar schöne Wesen mit samtartiger, weicher Haut und großen schüchternen Augen. Halb durchsichtige Gazegewänder verhüllten knapp die ebenmäßigen Glieder, deren Schönheit verratend.
Dies war der Harem Nana Sahibs, und das waren seine Weiber, welche ihm als Sklavinnen mit Leib und Seele gehörten.
Die Frauen beachteten nicht weiter den Eintritt des Gebieters, ein scheuer Blick streifte ihn, dann führten sie wieder den Schlauch des Nargilehs zum Munde, stießen süßlich riechende Tabakwölkchen aus, wedelten sich Kühlung und naschten aus silbernen Schalen Konfekt.
Auch der Radscha hatte kein Auge für die Schönheiten seiner Frauen; mit stolzem, aufrechtem Gange schritt er achtlos an ihnen vorüber. Er verlangte keine Liebe, sondern nur unbedingten Gehorsam.
In einer Laube befand sich ein Wesen, das eigentlich nicht in einen orientalischen Harem passte, und das man doch in jedem findet. Auf dem Diwan lag ein Mann mit tierischem Gesicht und fetter, aufgedunsener Gestalt.
Bei dem wohlbekannten Tritte seines Gebieters sprang er erschrocken auf, denn als Eunuche, als Haremswächter, gehörte er an die Tür.
Mit auf der Brust verschränkten Armen verneigte sich dieses seiner Mannbarkeit beraubte Geschöpf tief.
»Ayda?«, fragte Nana Sahib im Vorbeigehen kurz.
»In ihrem Gemache«, antwortete der Wächter mit übermäßig hoher Stimme, dem Kennzeichen des Verschnittenen.
Noch mehrere Gemächer hatte der Radscha zu durchschreiten, bis er die Gesuchte fand.
In dem kleinen, fast nach europäischem Geschmack eingerichteten Zimmer lag eine Frau auf dem Diwan, der man ansah, dass sie keine Inderin war. Wohl war sie in einheimische Gewänder gehüllt und ihr Antlitz von südlicher Schönheit, aber ihre Gestalt besaß jene Eleganz, die man im Orient nicht findet.
Was dort nicht zierlich ist, ist plump oder fett, dieses Weib dagegen besaß den üppigsten und dabei herrlichsten Gliederbau; das weite, aber sehr dünne Gewand schmiegte sich eng an die wunderbar vollen Formen an, ein Gürtel umschloss die schlanke Taille, und der zurückfallende Ärmel enthüllte den schönsten, blendendweißen Arm. Fürwahr, sie war das schönste der Haremsweiber, keins derselben konnte ihr das Wasser reichen, und deshalb nannte Nana Sahib sie auch seine Lieblingsfrau; die übrigen gehorchten ihr.
Träge lag sie auf dem Diwan und las — auch wunderbar für ein Haremsweib — einen englischen Roman. Der Eintritt des Radschas ließ sie nur matt aufblicken. Erst als sie seinen seltsamen Gesichtsausdruck bemerkte, stutzte sie und erhob sich halb.
»Was war es, das dich nach Akola zum Gouverneur rief?«, fragte ihre wohltönende Stimme.
»Nichts von Bedeutung«, entgegnete er rau, »auch alle andern Radschas waren dahin beschieden. Wir unterzeichneten den Glückwunsch zur Verlobung der englischen Königin mit dem Prinzen von Sachsen-Coburg und mussten erklären, den zukünftigen Prinz-Gemahl anerkennen zu wollen.«
Es lag ein verletzender Spott in seinen Worten.
»Gut, dass dich der Gouverneur jetzt nicht hört.«
»Es wird die Zeit noch kommen, da er mich hören soll, und wie Kanonendonner werden meine Worte in seine Ohren hallen. Doch etwas anderes führt mich zu dir!«
»Die Liebe?«, fragte sie spöttisch.
Um des Inders Mund zuckte ein fast verächtlicher Zug.
»Ich bin nicht eifersüchtig, das weißt du«, fuhr sie fort, »sonst würde ich mich schon längst erkundigt haben, was dich seit langer Zeit oft schon Tag und Nacht von mir entfernt hält.«
»Glaubst du, es sei ein anderes Weib?«
»Was sonst?«
»Glaube, was du willst, ich bin dir keine Rechenschaft schuldig. Doch es ist gut, dass du nicht eifersüchtig bist. Kennst du Lord Canning?«
»Er ist Gouverneur von Oudh.«
»Ich meine seinen Sohn.«
»Ich habe ihn nur einmal flüchtig gesehen, aber viel von ihm gehört. Er galt allgemein als der heimliche Verlobte der Königin, und nun hat sich erwiesen, dass er nichts weiter als ihr Günstling war, weil er ihr Jugendgespiele gewesen. Der arme Mann wird viel Spott zu ertragen haben.«
»Wann hast du ihn gesehen?«
»Nur einmal, bei jenem Abschiedsfest in London.«
»Weib, du lügst!«, fuhr der Radscha sie heftig an. »Du hast ihn erst gestern gesehen, als du in Akola warst, du weißt, dass er sich hier befindet, und hast sogar ein Zusammentreffen mit ihm gehabt. Die Tragstange deiner Sänfte brach, du stürztest heraus, und ehe ein Hindu dir Hilfe leisten konnte sprang ein Mann, ein Europäer, hinzu und richtete dich auf, dein Schleier hatte sich verschoben, er sah dein Gesicht.«
Ayda hatte sich aufgerichtet.
»Du verstehst es ja vorzüglich, mich beobachten zu lassen«, sagte sie höhnisch. »Es ist dies zwar ein Zeichen von Eifersucht, die der Liebe entspringt, doch angenehmer wäre mir, du liebtest mich weniger, damit ich nicht von Spionen bewacht werde.«
»Hast du den jungen Lord erkannt?«
»Sofort!«, gestand Ayda nun offen, ihre vorige Worte dadurch Lügen strafend.
»Und er dich?«
»Wie sollte er wohl!«
»Du hast einen großen Eindruck auf ihn gemacht, er blickte dich lange entzückt an und behielt deine Hand länger als nötig in der seinen.«
»Du bist gut unterrichtet worden.«
Nana Sahib ging, die Hände auf dem Rücken, mit großen Schritten in dem Gemache auf und ab. Plötzlich vergrößerten sich des Weibes Augen; aufmerksam blickte es den Radscha an.
»Antworte mir«, fragte dieser, »glaubst du, dass du auf Lord Canning Eindruck gemacht hast?
»Ich antworte nicht eher, als bis du mir sagst, was deine Frage bezweckt.«
Nana Sahib wusste, dass seine Macht bei Ayda ein Ende hatte. Jeder Mann, jede Frau beugte sich seinem Willen, dieses Weib nicht.
»Es gilt, Lord Canning ein Geheimnis zu entlocken, und deine Schönheit soll das Mittel dazu sein.«
Ayda hatte sich erhoben; mit zornsprühenden Augen stand sie vor dem Radscha, der sie kalt ansah.
»Nimmermehr!«, rief sie mit starker Stimme. »Deinen Zwecken als Mittel zu dienen, dazu gebe ich mich nicht her!«
»Oho! fühlst du dich beleidigt, weil ich von dir verlange, dass du dem Lord eine Kosestunde gewährst?«, fragte er höhnisch.
»Ich bin dein Weib!«
»Aber was du diesem Manne verweigerst, hättest du einem anderen gern gewährt!«
»Nana Sahib, hüte dich!«, rief das Weib außer sich. »Von wem sprichst du?«
»Von Sir Carter!«
Ayda sank plötzlich auf den Diwan zurück; sie sah den Radscha im Besitze eines Geheimnisses, durch das er über sie eine furchtbare Macht erlangte.
»Nun? Willst du auch jetzt noch zögern, dem Lord eine Unterredung zu gewähren, von der das Heil Indiens abhängen kann?«
»Ja. Ich tue es dennoch nicht«, rief sie und sprang wieder auf, »denn du hast das nicht gehalten was du mir versprachst!«
»Und du? Du gelobtest mir, dich meinem Willen zu fügen und auf meine Pläne einzugehen, welche die Befreiung Indiens betreffen.«
»Gewiss; aber unter der Bedingung, dass du mir beiständest, den heißesten Wunsch meines Herzens, meine Rache zu befriedigen.«
»Auch ich dürste danach, Rache zu nehmen an dem, der durch dich auch mich beleidigt!«, sagte der Radscha mit einem furchtbaren Gesichtsausdrucke. »Zwei Jahre habe ich über Racheplänen Tag und Nacht gebrütet...«
»Was nützt mir das?«, unterbrach Ayda ihn. Erfolge will ich sehen, dass sich mein Herz daran laben kann. Dann will ich dir zu Willen sein, und verlangtest du das Unmöglichste von mir.«
»Wohlan, so lies dies!«
Er reichte ihr ein englisches Zeitungsblatt. Ein Artikel enthielt die Erzählung des in Sir Carters Hause ausgeführten Kindesraubes, darunter stand die Beschreibung der beiden Kinder, und dann folgte die Aufforderung an jeden, der etwas darüber sagen konnte, sich an die nächste englische Behörde oder an den englischen Konsul zu wenden. Zwei Belohnungen waren ausgesetzt, die eine für den, der nur Angaben machen konnte, die zweite, sehr große, für den, welcher Eugenie den Eltern zurückbrachte.
Erst glaubte Ayda ihren Augen nicht trauen zu dürfen, dann brach sie in einen unermesslichen Jubel aus. Sie klatschte in die Hände, lachte, lief im Zimmer umher, warf sich Nana Sahib an die Brust — kurz, benahm sich wie jemand, der die erfreulichste Botschaft erhalten hat.
»Triumph, Triumph«, rief sie einmal über das andere, »mein Fluch ist in Erfüllung gegangen! Das Kind ist verschwunden, einen Bastard hat Emily dafür bekommen, und sie selbst ist wahnsinnig. Das ist eigentlich schade, sie hätte den Schmerz ganz auskosten sollen; aber sie hat doch meine Rache einen Augenblick furchtbar zu fühlen bekommen, ihr Ausruf beweist das, und außerdem schreibt das Blatt, sie wird wieder zur Vernunft kommen. Hahaha, der stolze Frank, die tugendhafte Emily — sie einen indischen Jungen auf ihrem Arme, den beide Eugenie nennen! Ha, wie wird Sir Carters Herz bluten! Immer zu, es soll noch viel schlimmer kommen; ich will nicht eher ruhen, als bis sie mir zu Füßen liegen und um Erbarmen betteln.«
»Du hast bis jetzt wenig zur Rache beigetragen«, unterbrach Nana Sahib die Aufgeregte, »nur ich!«
»O, wie danke ich dir dafür! Aber gönne auch mir, mich daran zu beteiligen; es ist für mich ein noch größerer Genuss.«
»Du kannst es, es steht in deiner Macht, wenn du dich meinem Willen fügst!«
»Verlange, was du willst, ich tu's! Selbst meine Ehre gebe ich preis, um Rache ausüben zu können.«
Der Radscha lachte spöttisch.
»Was soll ich tun?«
»Lord Canning mit deiner Liebe umstricken.«
»Ich will ihn mit meinen Küssen ersticken. Aber wozu das?«
»In Indien wird ein Aufstand vorbereitet.«
»Ich weiß das. Was hat es mit meiner und deiner Rache zu tun?«
»Sehr viel, wie du später hören wirst. Du bist nicht reif genug, um alles zu erfahren; ich fürchte deine Heftigkeit, sie könnte einmal alles verraten.
Jetzt höre: Noch viele Radschas halten zu den Engländern, und unsere Sache ist hoffnungslos, solange jene nicht die Unsrigen sind. Es gilt, sie aufzureizen. Wie ich erfuhr, erwarten die englischen Gouverneure einen Kurier, welcher ihnen eine geheime Botschaft bringt, und zwar handelt es sich auf alle Fälle entweder um eine Schmälerung der Rechte der Radschas oder um eine Annektierung von noch selbstständigem Gebiet, vielleicht um eine Besitzergreifung von Bengalen. Jetzt werden diese Pläne noch nicht ausgeführt, denn die Inder sind noch zu aufgeregt, aber es soll für spätere Jahre schon vorgearbeitet werden. Diese Papiere des geheimen Kuriers müssen wir haben, dann können wir alle Radschas aufwiegeln; denn nimmermehr werden sie dulden, dass ihre Rechte noch mehr von diesen verdammten Engländern geschmälert werden.«
Nana Sahib stampfte heftig mit dem Fuße auf. Er gedachte jener Zeiten, da jeder Radscha der Kaiser seines Landes war, der über Tod und Leben zu entscheiden hatte, als er in seinem Reiche noch mit unumschränkter Gewalt herrschte, einem Gotte gleich. Die Engländer hatten den Radschas ihre Würde zwar gelassen, aber sie waren nur noch Puppen, die nach der englischen Pfeife tanzen mussten, ihre Macht war nur noch eine scheinbare.
»Ich soll dem Kurier die Papiere abnehmen?«, fragte Ayda.
»So weit ist es noch nicht! Derselbe reist als Privatmann. Niemand als die Gouverneure und das Personal, das die geheimen Sachen erledigt, weiß, wer er ist. Lord Canning hat, als die Verlobung seiner Königin proklamiert wurde, seine Entlassung aus der Armee genommen und die diplomatische Karriere in Indien angetreten, wahrscheinlich, um spöttischen Reden aus dem Wege zu gehen. Er kam nicht zu seinem Vater nach Oudh, sondern arbeitet unter dem Gouverneur von Berar, und zwar im geheimen Kabinett. Er also weiß, in welcher Verkleidung der Kurier Indien bereist, und dies von Canning zu erfahren, soll deine Aufgabe sein; wie, wird später erörtert werden, es ist noch Zeit. Du siehst, ich bin nicht eifersüchtig.«
»Und ich weiß auch, aus welchem Grunde«, lachte Ayda; »ich habe schon längst erfahren, mit welchen Plänen du umgehst.«
»Schweig!«, fuhr der Radscha sie an.
»Warum? Ich wünsche dir viel Glück zu deiner neuen Frau, die du wie ein Räuber versteckt hältst. Ich will sie nicht sehen, bin nicht eifersüchtig auf sie und mache dir keine Vorwürfe, dass du mich nicht mehr deine Favoritin nennst, bin sogar darüber froh. Kannst du mehr von mir verlangen?
Zwei lange Jahre habe ich hier in der Einsamkeit gelebt.«
»Ich habe dich nicht dazu gezwungen«, fiel ihr Nana Sahib ins Wort.
»Ich hätte dies auch nicht geduldet. Nein, meine Verbannung aus der menschlichen Gesellschaft war eine freiwillige, ich verkehrte nur mit stumpfsinnigen Dienern. Das Leben der Stadt sah ich nur hinter den Vorhängen der Sänfte hervor, und dennoch konnte ich diese Einsamkeit ertragen, denn ich fand in ihr Muße, mich mit Racheplänen zu beschäftigen.
Endlich, endlich sehe ich einen Erfolg meines Planes, der Himmel hat ihn gehört, und nun will ich wieder zu leben beginnen. Ja, Nana Sahib, ich gehe auf deinen Plan ein, ich will diesen Canning umgarnen, dass er sich im Paradiese wähnt, und dabei will ich ihm das Geheimnis entlocken. Fürchte nicht, dass ich zu weit gehe, nur mein Spiel will ich mit diesem stolzen, tugendhaften Lord treiben.«
»Geh so weit, wie du willst, ich gebe dich frei. Nur komme zum Ziel«, entgegnete Nana Sahib kurz und wollte gehen, doch Ayda, in welcher der liebe Leser längst schon Isabel Battinson erkannt haben wird, hielt ihn zurück.
»Scheide nicht so schnell von mir. Es ist das erste Mal, dass ich dich zum Bleiben nötige, und so wirst du meiner Bitte willfahren.«
»Was willst du von mir? Ich habe keine Zeit!«
»Nicht deine Liebe«, sagte Ayda spöttisch, »nur von dem Racheakt möchte ich noch mehr erfahren. So warst du es also, der Timur Dhar zum Ausführen dieser Tat bewogen hat? O, wie danke ich dir dafür! Wer aber ist eigentlich dieser Timur Dhar? Ich möchte ihn gern einmal sehen; das muss ja ein Prachtkerl sein. Glaubst auch du an die Fabel, dass er allmächtig ist, sich unsichtbar machen kann und manchmal urplötzlich, wie aus der Erde gewachsen, vor einem steht?«
Der Radscha hörte den Spott in den Worten und er war zu eitel, um seinen Aberglauben einzugestehen, den er wie jeder andere Inder besaß. Er bekam den überlegeneren Geist der gebildeten Isabel oftmals zu fühlen.
»Selbstverständlich ist er nichts weiter als ein äußerst geschickter Gaukler, vielleicht der Geschickteste von allen, weswegen er sich ihren König nennt«, sagte er achselzuckend; »aber das ist es nicht allein, jedenfalls ist Timur Dhar auch ein mächtiger...«
Der Radscha brach kurz ab und wandte sich um, Ayda stieß einen Schreckensschrei aus, beider Gesichter bedeckten sich mit Aschfarbe.
»Nana Sahib, wahre deine Zunge!«, hatte es hinter ihnen gerufen, und plötzlich stand mitten im Zimmer eine über und über von schwarzen Tüchern verhüllte Gestalt. Auch das Gesicht war nicht zu sehen.
»Wer bist du?«, stammelte der Radscha, die Hand an den Dolch legend.
»Einer, dem dein Dolch nicht schaden könnte!«, war die Antwort. Das Tuch wurde zurückgeschlagen, und ein mageres, faltiges Gesicht kam zum Vorschein.
»Timur Dhar!«, murmelte der Radscha bestürzt und verbeugte sich so tief, als stände er vor dem Großmogul von Indien.
»Nana Sahib«, fuhr der Gaukler fort, »wahre deine Zunge, höre auf die klugen Ratschläge deiner Gattin und verschließe deine Ohren gegen das Gift des Unglaubens. Ayda«, wandte er sich an diese, »du bist von mir willig befunden worden, für Indien, unser Land, das deine zweite Heimat geworden ist, Opfer zu bringen. So soll auch deine Rache befriedigt werden.
Meine Ohren haben deine Flüche gehört, ich werde sie erfüllen, bis du nichts mehr zu begehren hast. Hier ist der Anfang!«
Er schlug das den Oberkörper verhüllende Tuch zurück; auf seinem Arm lag ein kleines Kind, dessen Äußeres seine europäische Abstammung verriet.
»Eugenie!«, schrie Ayda und stürzte auf den Gaukler zu, als wollte sie ihm das Kind entreißen. Timur Dhar streckte den Arm aus und schleuderte das Weib mit furchtbarer Kraft auf den Diwan zurück.
»Glaubst du, ich habe das Kind nur deinetwegen entführt?«, zürnte er.
»Närrin, so wenig du weißt, wie weit der Himmel von der Erde entfernt ist, so wenig kennst du meine Pläne, die ich mit diesem Kinde vorhabe. Noch einmal. Nana Sahib, wahre deine Zunge oder du bist nicht mehr Radscha von Berar! Du, Ayda, gehe auf die Pläne deines Mannes ein, denn ich heiße sie gut, und du wirst dich einst am Ziele deiner Wünsche sehen. Die, welche dich beleidigt haben, sollen dich noch bitten, dir den Staub von den Füßen wischen zu dürfen. Aber sei treu oder fürchte mich!«
Er schlug den Mantel um das Kind und schritt hinaus, Ayda in Bestürzung, den sonst so stolzen Radscha in der größten Furcht zurücklassend.
»Wer war das, der mich so zu behandeln und dir so zu drohen wagte?«, brachte Ayda endlich hervor.
»Timur Dhar, der König der Gaukler«, entgegnete Nana Sahib fast demütig, »frage nicht weiter! Ich muss ihm gehorchen, und ich ermahne dich, dass auch du dich ihm willenlos fügst. Du hast gesehen, ich kann ihn nicht einmal aus deinem Gemach zurückhalten, welches außer mir sonst keines Mannes Fuß betreten darf. Wo du auch seiest, was du auch tust, bei Tag und Nacht, und lägest du auch in meinen Armen, er hat Zutritt zu dir, wenn er dich zu sprechen verlangt. Lass dir damit genügen; über unser Vorhaben sprechen wir später!«
Ayda wollte noch viele Fragen an ihn stellen, doch der Radscha verließ sie. Aufrecht, wie er gekommen, durchschritt er die Gemächer, von dem starken Hinken, welches er als Sirbhanga in London gezeigt war nichts mehr zu merken.
Kommen Sie mit auf die Pantherjagd, Lord? Soeben habe ich, der unersättliche Jäger von Akola, die Nachricht erhalten, dass in einem Dorfe, eine halbe Meile von hier, ein Panther zwei Schafe zerrissen hat. Die hasenherzigen Hindus beten, die Weiber zetern und die Kinder wimmern; alles schreit nach mir. Kommen Sie, machen Sie sich fertig, es gibt einen Anstand bei mondheller Nacht.«
Mit diesen Worten trat eines Abends ein junger Mann in Lord Cannings Zimmer, das im Gouvernementsgebäude lag. Es war Edgar Westerly, der zweite Sohn eines englischen Lords, und konnte als solcher nur die Anrede Mister mit dem Zusatz Honourable beanspruchen. Doch Westerly machte sich aus Würden nichts, Hauptsache war ihm, dass er außer seinem Gehalt als Angestellter im geheimen Kabinett von seinem Vater einen tüchtigen Zuschuss bezog, mit dem er sich alle Freuden des Lebens verschaffen konnte.
Er war der tüchtigste Arbeiter im Büro und genoss das vollständigste Vertrauen des Gouverneurs. Dass Westerly ein großer Freund von Vergnügungen war, welche manchmal sogar ausschweifend wurden, kümmerte den Vorgesetzten nichts — während der Bürostunden tat er ja seine Pflicht.
Lord Canning war Westerlys Mitarbeiter und erhielt von ihm, der seit seinem siebzehnten Jahre in Indien war und der einst die Stelle eines Gouverneurs erwarten durfte, manche treffliche Lehre. Auch seinen Vergnügungen schloss er sich an, nur konnte Westerly ihn nie bewegen, an seinen nächtlichen pikanten Abenteuern mit teilzunehmen, deren man in den indischen Städten zahlreiche erleben kann.
Der junge Mann war in ein elegantes, aber zweckmäßiges Jagdkostüm gekleidet, sein Gürtel mit Patronen gespickt, und unter dem Arm trug er die schwere, doppelläufige Büchse.
Lord Canning saß noch angekleidet auf seinem schon zum schlafen fertiggemachten Bett und verrührte in einem Glas Wasser ein weißes Pulver.
Trübe lächelnd schüttelte er den Kopf.
»Nicht? Wollen Sie etwa schon schlafen gehen und machen sich vorher Zuckerwasser?«
»Blicken Sie mir ins Auge und lesen Sie dann die Aufschrift dieser Büchse, dann wissen Sie, was mir fehlt.«
Westerly sah die Augen seines Freundes im Scheine der Lampe verräterisch leuchten, die dicke Flasche mit dem weißen Pulver trug die Aufschrift Chinin.
»Was Teufel«, rief Westerly erstaunt, »Sie haben ja das Fieber! Wie in aller Welt kommen Sie in dieser Jahreszeit dazu, wo kein Mensch es hat!«
»Ich werde mich etwas erkältet haben. Mit einigen Dosen Chinin hoffe ich eine gute Nacht zu haben und morgen gesund aufzustehen. Ans Mitgehen ist natürlich nicht zu denken.«
»Das ist schlimm, auch für mich, denn so werde ich die Jagd aufgeben müssen. Allein gehen mag ich nicht, und einen anderen Begleiter kann ich nicht mehr finden.«
Westerly rückte einen Stuhl heran und setzte sich, das Gewehr zwischen den Knien haltend. Lächelnd betrachtete er seinen Freund.
»Lord«, begann er dann, »Sie werden hier so lange am Fieber leiden, bis Sie sich akklimatisiert haben.«
»Ich tue mein Möglichstes, dies zu erreichen.«
»Ja, im Essen und Trinken, aber nicht in den Gewohnheiten.«
»Ich richte mich nach der Lebensweise der Eingeborenen.«
»Nein, das tun Sie nicht. Sonst könnten Sie unmöglich jetzt, in der gesündesten Jahreszeit, Fieber haben. Wissen Sie, warum Sie es bekommen?
Das hübsche Mädchen mit der kleinen Hand — Sie wissen, in der zerbrochenen Sänfte — ist daran schuld; Sie malen sich den Augenblick, als Sie es in die Sänfte hoben, und als sie so zärtlich angeblickt wurden, immer wieder aus, und solche platonischen Liebesgedanken sind hierzulande unter der heißen Sonne nicht gut, sie machen krank und reiben den Menschen schließlich auf.«
»Torheit!«, lachte der Lord ärgerlich. »Wenn mich das Weib auch einen Moment fesselte, so habe ich es doch längst vergessen.«
»Desto schlimmer für Sie!«
»Wieso?«
»Das Weib wird diese Vergesslichkeit rächen. Nicht ungestraft wird hier eine Leidenschaft, und wenn sie auch nur einen Augenblick währt, erregt, ohne dass sie befriedigt wird.«
»Hebe dich weg von mir, Versucher!«, lachte Canning. »Übrigens haben Sie mir selbst einmal gesagt, dass man mit Haremsdamen nicht anbinden darf, einmal, weil mit den heißblütigen Gatten nicht gut Kirschenessen ist, zweitens, weil man die Inder ja nicht zur Eifersucht aufregen darf, da dieselbe die törichtesten Streiche erzeugt.«
»Wahr gesprochen!«, rief der als Wollüstling bekannte Westerly. »Aber wenn Sie sich auch aus diesen Gründen das schöne Haremsweib aus dem Kopfe schlagen müssen, so hätten Sie der einmal erregten Leidenschaft —
und entflammt waren Sie, das können Sie nicht leugnen — auf anderem Wege einen Ausgang verschaffen müssen. Ein Weib ähnelt dem anderen, und in Indien stehen einem die schönsten immer bereitwilligst zur Verfügung.
Verschmähen Sie nur meine Warnungen, trotzen Sie den Forderungen der Natur, und Sie werden es dereinst an Ihrem Körper zu büßen haben!«
Das, was Westerly seinem Freunde jetzt sagte, ist die Ansicht der größeren Hälfte der Ärzte, welche Indien kennen, während die kleinere Hälfte eine völlige Entsagung zur Erhaltung der Gesundheit predigen. Für die Mäßigkeit im Genuss hört man selten eine Stimme sprechen.
»Wollen Sie etwa, dass ich mich in meinem fieberhaften Zustande auf die Suche nach Abenteuern begebe?«, fragte Canning.
»Das natürlich nicht; wenn Sie aber wiederhergestellt sind, dann vergessen Sie nicht, dass Sie in einem Lande leben, wo alles in der Natur gebieterisch zur Liebe auffordert.«
Westerly erhob sich und stellte sein Gewehr, an dem statt des Kornes ein leuchtender Diamant funkelte, in die Ecke.
»Aus meiner Jagdpartie wird also nichts«, sagte er, »ich werde mich dafür entschädigen. Borgen Sie mir Ihren Mantel und Ihren Schlapphut; denn in diesem Kostüm kann ich unmöglich auf galante Abenteuer ausgehen.«
»Sie wollen sich akklimatisieren?«, fragte Canning lachend.
»Ja, ich will dafür Sorge tragen, dass ich nicht gleich Ihnen ohne Grund vom Fieber befallen werde.«
Er hing sich des Lords langen Staubmantel um und setzte statt der Jagdkappe dessen Filzhut auf, der sein Gesicht beschattete. Da er die Größe und Gestalt des Lords hatte, ähnelte er diesem fast vollkommen.
»Gute Nacht, lieber Freund! Hoffentlich sehe ich Sie morgen früh gesund im Büro.«
Westerly warf noch einen spöttischen Blick auf das Porträt an der Wand, das die junge Königin von England darstellte, und verließ das Zimmer.
»Der Narr ist doch noch liebeskrank, mag er sagen was er will«, murmelte er, »Sonst würde er nicht so lange der Natur Indiens trotzen. Freilich, es war ein Sturz aus schwindelnder Höhe, und ich kann mir schon vorstellen, dass Canning ihn nur schwer verschmerzen kann. Wäre dieser Prinz von Coburg nicht gekommen, so säße Canning vielleicht schon auf dem Thron von England, während er Indisch lernen und Amtsbriefe schreiben muss. Ja, die Liebe, die Liebe, sie ist unberechenbar!«
Drinnen aber lag Lord Canning mit erhobenen Händen vor dem Bildnis der schönen Königin. Der Fieberanfall war jetzt mit voller Kraft ausgebrochen, seine Augen strahlten, und seine Stimme zitterte wie sein Körper.
»Gespielin meiner Jugend, du meine treueste Freundin, bete für mich im fernen Vaterlande, dass ich ein guter Mensch bleibe, wie ich stets für dein Glück beten will. Wir beide allein wissen, dass uns von Kindheit auf nur die edelste Freundschaft verband, und als in mir ein anderes Gefühl für dich entstand, da riss ich es in dem Augenblicke aus meinem Herzen, als du mir dein süßes Geheimnis gestandest. Es war eine schwere Stunde für mich, doch die wahre Liebe zu dir überwog alles andere — ich wollte dich ja nur glücklich sehen. Zwei Jahre hütete ich dein Geheimnis und spielte selbst den Vermittler zwischen euch. Mag die Welt auch aus Neid über mich spotten, dir ist es doch bekannt, welch aufopfernden Freund du an mir hast, und das soll mich trösten. Glück und Segen dir und deinem zukünftigen hohen Gemahl, ihr habt in mir euern treuesten Untertan.«
Sichtlich beruhigt legte sich Lord Canning schlafen, morgen hoffte er mit klarem Kopfe aufzustehen. Wie sein Schutzengel schaute die schöne Königin auf ihn nieder.
Als Westerly die Treppe hinunterschritt, stellte sich ihm plötzlich ein halbnackter Hindu entgegen.
»He, was gibt's, was hast du hier herumzuspionieren? Hinaus mit dir!«, herrschte ihn Westerly an.
Der Inder zog ein grinsendes Gesicht, brachte aus einer Falte seines Brusttuches eine Karte zum Vorschein und überreichte diese dem jungen Manne.
Eine Treppenlampe machte das Lesen der in korrektem Englisch von einer Frauenhand geschriebenen Karte möglich.
Endlich ist es mir gelungen, Ihre Adresse ausfindig zu machen. Vielleicht entsinnen Sie sich, einst einer Dame, deren Sänfte auf der Straße zerbrach, behilflich gewesen zu sein; diese Dame hat in dem Blicke, den Sie auf ihr zufällig entschleiertes Gesicht warfen, Teilnahme für sie gelesen. Wenn Sie gewillt sind einer Unglücklichen eine Stunde ihrer Zeit zu kürzen, so folgen Sie möglichst unbemerkt dem Überbringer dieser Karte.
Eine Unterschrift war nicht vorhanden.
Fast augenblicklich blitzte im Gehirn des jungen Engländers ein nichtswürdiger Gedanke auf. Diese Karte war für Lord Canning bestimmt; wie wäre es, wenn er selbst von dieser Einladung Gebrauch machte? Aber das war eigentlich eine Unterschlagung, und überdies wünschte die Schreiberin Lord Cannings Gesellschaft.
»Bah, Lord Canning hat Fieber«, dachte Westerly schnell. »Diese Karte würde ihn aufregen, und so handle ich nur als ein guter Freund, wenn ich sie ihm vorenthalte. Die Schreiberin ist ein einigermaßen gebildetes Haremsweib mit etwas europäischem Blut, ihr strenger Gemahl ist auf der Tigerjagd, und so hält sie die Gelegenheit für günstig, ein Abenteuer anzuknüpfen! Wer zu ihr kommt, ist ihr ganz gleichgültig, nur hübsch muss er sein. Ich habe sie auch gesehen — sie ist eine imposante Schönheit. Ein Narr wäre ich, ließe ich mir diese Gelegenheit entgehen. Solch ein pikantes Abenteuer habe ich noch nie erlebt, ein Haremsweib — Teufel, ich gehe hin!«
»Ist es weit?«, fragte er den Inder.
Dieser schüttelte den Kopf.
»So führe mich! Halte dich hundert Schritte vor mir und sorge, dass ich dich nicht aus den Augen verliere. Hier, dein Lohn im Voraus!«
Grinsend steckte der Inder das große Silberstück ein und lief voraus, Westerly folgte.
»Ja, ich will die Unglückliche trösten«, lachte er in sich hinein; »ich hätte doch nicht geglaubt, dass dieser Abend noch so ein gesegneter für mich würde. Lord Canning wird mir meinen Streich ebenso wenig übel nehmen wie das Weib, übrigens braucht er gar nichts zu erfahren; die Inder sind verschwiegen wie — wie — nun eben wie ein Harem.«
Der Bote schien gut instruiert zu sein; er vermied alle belebten Straßen und bewegte sich nur in engen, von Eingeborenen bewohnten Gassen.
Westerly versicherte sich, dass er seinen scharfgeladenen Revolver in der Tasche hatte, denn das Abenteuer konnte vielleicht gefährlich werden.
Doch durch so etwas ließ sich der junge Engländer nicht abschrecken, es wurde dadurch nur um so interessanter.
Als er um eine Ecke bog, prallte er mit einem Herrn zusammen, den er sofort als einen seiner Freunde, einen leichtlebigen Offizier, erkannte.
»Hallo, Lord Canning, rief dieser, »wandeln Sie auch einmal auf Abwegen? Kommen Sie mit mir, wir lassen zwanzig Bajaderen tanzen! Es wird köstlich!«
»Habe keine Zeit«, entgegnete Westerly mit verstellter Stimme und eilte weiter.
»Der bleibt immer derselbe Tugendheld«, murmelte der Offizier ihm nach. »Schade um den Mann, der passte in unsere fidelen Kreise!«
Westerly hatte die Sachlage sofort erkannt.
»Vortrefflich«, sagte er, »ich werde für Lord Canning gehalten! Wenn mich das schöne Haremsweib auch in Gnaden statt seiner annimmt, so geht alles gut. O, ich kenne die Neugier dieser Weiber. Sie hören von uns nur als von Barbaren sprechen, die mit Vorliebe indische Säuglinge verspeisen; wenn sie aber in ihren Sänften durch die Straßen getragen werden, sehen sie doch, dass die Engländer ganz hübsche manierliche Kerls sind, und sie brennen vor Verlangen, mit ihnen in nähere Berührung zu kommen. Ja, meine arme Unglückliche, ich will dich für eine Stunde und hoffentlich noch länger trösten und deine Neugier befriedigen. Ich will dir zeigen, dass wir Engländer auch Menschen von Fleisch und Blut sind und ein fühlendes Herz in der Brust tragen.«
Am Eingange einer schmalen Gasse blieb der Führer stehen und erwartete den Engländer.
»Sind wir am Ziele?«
»Gleich, Sahib(*), in dieser Gasse ist es.«
(*) Sahib ist ein hoher indischer Titel, bedeutet aber im Grunde genommen nur ›Herr‹, z. B. Nana Sahib ist: ›Herr Großvater‹, also ein Kosename. Mit ›Sahib‹ reden die Inder alle besser aussehenden Fremden an.
»Wer ist deine Herrin?«
»Eine mächtige, mächtige Frau.«
»Und wohnt in solch einer Gasse?«
»Sie besucht eine Freundin.«
Westerly wusste genug. Die Haremsweiber machen ihre Besuche bei Anbruch der kühlen Nacht. Die, welche ihn zu sich beschieden, hatte in ihrem Hause angegeben, eine Freundin besuchen zu wollen, und sich durch
ihr ergebene Diener hierher tragen lassen. Vielleicht dienten diese kleinen Gebäude öfter zu solch verbotenen Zusammenkünften.
Nach einigen Schritten hielt der Inder vor einem kastenähnlichen fensterlosen Hause und klopfte in seltsamer Weise an die Tür. Diese öffnete sich, und beide traten in einen völlig finsteren Raum.
»Einen Augenblick, Sahib«, flüsterte der Inder, und ließ Westerly allein.
Es wurde dem jungen Engländer doch etwas unheimlich zumute, als er sich so in einem fremden Hause von Dunkelheit umgeben sah. Er konnte nicht die Hand vor den Augen erkennen. Sollte er in eine Falle gelockt worden sein? Die Ermordung von Engländern war in Indien nichts Neues, eine Sorte von religiösen Schwärmern, die der Thags oder Thugs, machten es sich zur Lebensaufgabe, so viele Engländer wie möglich heimlich zu ermorden, denn sie dienten der Kali, der Göttin der Vernichtung.
Noch einmal fühlte Westerly nach dem Revolver — er war am Platze und schon schussfertig gemacht.
Jetzt hörte er undeutlich einige Stimmen sprechen, dann ertönte neben ihm ein Hüsteln, seine Hand wurde gefasst und er fortgezogen. Eine Tür wurde geöffnet, Licht strahlte ihm entgegen, und Westerly stand in einem nur schwach erleuchteten Gemach. Es war eben hell genug, dass er den raffinierten Luxus erkennen konnte, mit dem es ausgestattet war; nie hätte er solchen in dem alten Gemäuer vermutet.
Noch stand der junge Mann in voller Verwunderung da, als sich in einer Ecke eine weiße Gestalt erhob und auf ihn zugeschwebt kam. Sie war zwar tief verschleiert, aber schon konnte Westerly an den herrlichen Formen, die durch das leichte Gewand schimmerten, erraten, dass er vor der Gesuchten stand.
»Sie sind gekommen«, sagte unter dem Schleier eine volltönende Altstimme in erfreutem Tone, »ich wusste beim ersten Blick, dass ich bei Ihnen kein erbarmungsloses Herz finden könnte. Buddhas Ratschlüsse sind unerforschlich, endlich hat er mir einen Freund geschickt, der mir Teilnahme erweisen wird.«
Westerly war entzückt. So leichtes Spiel zu haben, hätte er nicht geglaubt.
Schnell war er entschlossen, Lord Cannings Rolle weiterzuspielen. Das Weib hatte diesen nur eine halbe Minute gesehen, er sah ihm nicht unähnlich, und wurde der Betrug entdeckt — nun, der Gouverneur war nicht umsonst so oft mit der Schlauheit seines Sekretärs zufrieden.
»Wer könnte Ihrer Bitte widerstehen, wenn er einmal Ihr Antlitz erblickt hat?«, entgegnete er. »Es müsste ein Mensch mit dem Blute eines Fisches und einem Herzen von Stein sein. Befehlen Sie über mich, Schönste aller Schönen, ich bin Ihr gehorsamer Sklave!«
Die Dame war vor ihn hingetreten und betrachtete ihn aufmerksam im matten Scheine der Lampe, deren Öl einen berauschenden Duft verbreitete.
»So haben Sie unser Zusammentreffen nicht vergessen?«
»Wie sollte ich! Tag und Nacht habe ich nur an dich gedacht, ich habe nach dir geschmachtet, ich habe von dir geträumt, und ich fühle, dass ich vergehen müsste, wenn ich nicht noch einmal in dein herrliches Antlitz schauen dürfte!«
Der in Liebesszenen erfahrene Westerly hatte sich auf ein Knie niedergelassen und schaute das Weib mit schwärmerischen Augen an. Sie legte beide Hände auf seine Schultern und beugte sich zu ihm herab, als wollte sie ihn küssen.
Doch plötzlich sprang sie zurück und stieß einen gellenden Schrei aus.
»Sie sind nicht Lord Canning!«, rief sie.
Schnell stand der junge Engländer auf, warf Hut und Mantel weg und sagte mit fester Stimme:
»Nein, ich bin nicht Lord Canning, aber ich stehe an seiner Stelle hier, weil ich dich Herrliche mehr liebe als er!«
Diese Worte brachten nicht die beabsichtigte Wirkung hervor, sondern eine ganz entgegengesetzte, furchtbare.
Das Weib klatschte in die Hände, Portieren wurden zurückgerissen, eine Menge dunkler Gestalten sprangen von allen Seiten hervor, und ehe Westerly noch an Widerstand denken konnte, war er schon gepackt und an den Händen gebunden. Doch er verlor den Mut nicht, im Angesicht einer Gefahr wuchs dieser ihm stets. Nie verlor er die Besinnung.
Das Weib rief den Indern einige Worte zu, diese verschwanden, und wieder stand der junge Engländer ihr allein gegenüber, diesmal aber gebunden.
Sie trat auf ihn zu, in ihrer Hand blitzte ein Dolch, ihre Augen funkelten hinter dem Schleier hervor.
»Sprich, wer bist du?«, herrschte sie ihn an, ihm den Dolch auf die Brust setzend.
»Stoß zu, ich kenne kein größeres Glück, als von deiner Hand zu sterben!«, war die freudige Antwort. Der Dolch sank herab, das Weib schien erstaunt.
»Wie kommst du hierher? Wer bist du?«
»Ich folgte deinem Diener.«
»Nicht möglich!«
»Es ist so! Kennst du mich nicht?«
»Nein!«
»Als deine Sänfte brach, sprangen zwei Männer vor, dir zu helfen. Lord Canning war schneller als ich, er kam mir zuvor. Konnte ich auch deine Hand nicht berühren, so hatte ich doch das Glück, einen Blick auf dein himmlisches Antlitz zu erhaschen. Tag und Nacht verfolgte mich dein Bild, und ich wusste, dass ich dich noch einmal wiedersehen müsste. O, schlage deinen Schleier zurück, gönne mir noch einmal einen Blick in deine sonnigen Züge, und dann stoße mir den Dolch ins Herz — dann will ich dir sterbend noch die Füße küssen.«
»Wie aber kommst du in den Besitz meiner Karte? Erzähle! Du bist in meiner Gewalt, und weigerst du dich, mir zu antworten, so mache ich Gebrauch davon.«
»Deine Drohungen schrecken mich nicht, du brauchst nur zu befehlen, und nichts wird dir versagt bleiben. Nicht ich, sondern Lord Canning empfing deine Karte; wahnsinnige Eifersucht erfüllte mein Herz, wusste ich doch, von wem sie kam. Ganz anders verhielt sich der Lord. Mit einem verächtlichen Lachen warf er die Karte hin, erklärte, an solchen Affären keinen Geschmack zu finden, und. statt dir zu Hilfe zu eilen, spottete er deiner.«
»Wie? Sprichst du die Wahrheit? Er hat mich wegen der Aufforderung verspottet?«, klang es schneidend hinter dem Schleier hervor.
Sie ist eifersüchtig, dachte Westerly, das zeugt von Leidenschaft, und so stehen meine Chancen gut.
»Wie könnte ich in deiner Gegenwart anders als die Wahrheit sprechen?«, sagte er laut.
»Mir blutete das Herz, als ich seine teilnahmslosen Worte hörte; ich sah dich im Geiste verzweiflungsvoll die Hände ringen, weil niemand kam, der dir die quälende Langeweile des traurigen Haremslebens verkürzte, und so eilte ich hierher. Wusste ich doch, die herrlichste der Frauen hier zu finden.
Ist es mein Tod, wohlan, ich sterbe glücklich, nur lass mich noch einmal dein Antlitz schauen!«
Der Schleier wurde zurückgeschlagen. Westerly erblickte ein wirklich wunderschönes Gesicht mit feurigen Augen, die durchaus nicht finster den jungen Engländer anschauten, und dieser wusste sofort, dass er ein Haremsweib vor sich hatte, in dessen Adern nur sehr wenig, vielleicht gar kein indisches Blut floss.
Er täuschte sich nicht, es war Isabel.
»Kennst du mich?«, fragte sie.
»Ja, ich kenne dich, du bist die, nach deren Nähe mich verlangte.«
»Und wer bist du?«
»Dein Diener, über den du befehlen sollst!«
»Sprich deutlicher! Bist du ein Freund Lord Cannings?«
»Ich nannte ihn meinen Freund, doch seitdem er dich verspottet, ist er mein Feind!«
»Wohnst du bei ihm?«
»Nein. Ich bedaure schon, dass ich gezwungen bin, den ganzen Tag neben ihm zu arbeiten. Ha, wie verhasst er mir jetzt geworden ist! Nun zögere nicht mehr — entweder liebe mich oder stoße mir den Dolch ins Herz, dass ich zu deinen Füßen sterbe!«
Bei den ersten Worten Westerlys hatten die Augen des Weibes aufgeleuchtet, jetzt blitzte wieder der Dolch in ihrer Hand, Sie näherte sich dem Gefesselten, doch nicht um ihn zu töten. sondern um seine Bande zu durchschneiden.
Der Befreite sank wieder vor der schönen Frau nieder und umschlang leidenschaftlich ihre Knie. Seine schlaue Berechnung hatte gesiegt, dieses Weib gehörte jetzt ihm!
Unser Roman führt uns wieder nach London zurück, und zwar diesmal in die Kreise der äußersten Armut.
Im Distrikt Whitechapel liegen jene Straßen, in denen die Armut in ihrer furchtbarsten Gestalt zu sehen ist. Kein anderer Ort der Welt weist etwas Ähnliches auf, keine Feder vermag das haarsträubende Elend zu schildern, unter dem hier Menschen ihr Dasein fristen.
Es ist eine leere Stube, absolut leer, kein Tisch, kein Stuhl, kein Bett, nicht einmal eine Schütte Stroh ist darin, und doch wohnt hier ein Ehepaar mit vier Kindern. Die Fenster sind zerschlagen, aber nicht mit Papier verklebt, der offene Kamin starrt vor Kälte. Was hatte die Familie hier suchen sollen? Die Frau ist eben von einer Nachbarin aufgefordert worden, bei ihr ein Glas Whisky zu trinken, die barfüßigen Kinder, von denen zwei nichts weiter als zerrissene Hemden anhaben, tanzen draußen auf dem mit halbzerschmolzenem Schnee bedecken Trottoir nach den Klängen eines Leierkastens.
Lustig, nur immer lustig! Heute ist Sonnabend Nachmittag, da wird der Vater ausgezahlt. Er ist ein geschickter Arbeiter und verdient die Woche vierzig Mark, welche für die Familie zwei Tage reichen, um in Hülle und Fülle zu leben, für den Vater, um wenigstens vier Abende in der Woche sinnlos betrunken nach Hause zu kommen. Für die übrigen Tage lässt man den lieben Herrgott sorgen.
Das nennt man in London Armut. Wer gar keinen Verdienst hat, lebt ebenso, nur die zwei guten Tage gehen ab.
Jetzt trat die Frau ins Zimmer, eine wüste Erscheinung mit ungekämmten Haaren und eingefallenen Wangen. Was ihren Anzug betrifft, so mag die Erklärung genügen, dass er von einem in Deutschland unbekannten Aussehen war. Er bestand kaum noch aus Lumpen. Trotzdem musste diese Frau einst schön gewesen sein, ein gewisses Etwas verriet dass sie früher in besseren Verhältnissen gelebt hatte.
Sie hatte den richtigen Moment abgewartet, denn gleich nach ihr kam der Mann, hinter ihm die vier Kinder im Alter von drei bis acht Jahren. Er war in offenbar angetrunkenem Zustande, aber die Frau war nur froh darüber; denn je betrunkener er war, desto freigebiger spendete er Wochengeld.
Fünf Hände streckten sich nach ihm aus, alle wollten Geld haben, selbst das dreijährige Kind.
Schmunzelnd griff der Vater in die Westentasche und gab jedem Kinde einen Penny, worauf diese verschwanden, um sich Zuckerzeug zu kaufen.
»Kommt gleich wieder! Ihr müsst mir dann mit tragen helfen!«, rief die Mutter ihnen nach, und sich an den Mann wendend, der sich mit gläsernen Augen in dem nackten Zimmer umsah, fragte sie: »Wie viel bringst du mit?«
Mit schlauem Lächeln hielt er ihr die geballte Faust entgegen, in ihre Hand fielen zwei Goldstücke, vierzig Shilling.
»Was, du gibst mir alles?«, fragte sie halb freudig halb misstrauisch.
»Fällt mir nicht ein. Ich bin aber heute freigebig gestimmt.«
»So hast du noch mehr?«
»Natürlich.«
»Du hast aber keine Überstunden gemacht.«
»Ist auch nicht nötig.«
»Woher hast du denn das Geld?«
»Abbezahlen habe ich mich lassen!«, platzte der Mann heraus. »Glaubst du denn, unsereins ist so dumm und plackt sich immer für andere?«
»Du hast die Arbeit niedergelegt?«
»Freilich, was denn sonst?
»Du hast andere in Aussicht?«
»Unsinn, ich nehme überhaupt keine mehr an.«
»Und wovon sollen wir leben?«
»Ich mache mit meinem Freund Patrick Kompanie, entweder ich gewinne und kann wie ein Fürst leben oder aber, ich führe auch kein schlechteres Hundeleben als bis jetzt.«
Einen Augenblick war die Frau bestürzt. Patrick lebte von Pferdewetten, bald wie ein Gentleman, bald schlief er wochenlang auf offener Straße. Diesen Beruf also wollte jetzt auch ihr Mann ergreifen, darum hatte er die sichere Arbeit niedergelegt und sich den ausständigen Lohn auszahlen lassen.
Doch die Bestürzung der Frau währte nur einen Augenblick, dann war sie wieder die alte. Mochte es kommen wie es wollte, jetzt hatte sie etwas Geld und durfte noch mehr erwarten.
Zwischen Mann und Frau begann ein wütender Kampf; sie forderte, er verweigerte, schließlich war sie noch um ein Goldstück reicher.
Der Mann ging nebenan ins Bierhaus, während Frau und Kinder die Anstalten wie jeden Sonnabend Nachmittag trafen: die Ausmöblierung der Stube und die Bereitung des Abendessens oder vielmehr der Mittagsmahlzeit, denn in England isst man erst gegen Abend zu Mittag.
Nach einer Stunde brodelte auf dem glühenden Ofen ein mächtiges Stück Fleisch und die Stube hatte ein anderer Aussehen angenommen. Betten, Stühle, Tische, Schränke, Spiegel — alles war wieder vorhanden, für einige Shillinge waren sie aus dem Pfandgeschäft geholt worden, aber wie gesagt, diese Herrlichkeit dauerte nur einige Tage. Schon am Montag war das bare Geld verbraucht, ein Stück nach dem andern wanderte zurück ins Pfandhaus, und am Dienstag oder Mittwoch war die Stube wieder leer.
Die Kinder mussten tragen, dass ihnen der Schweiß von der Stirn perlte.
»Sieh, Mutter, was ich gefunden habe«, sagte Charly, der älteste Sohn, und hielt der Frau ein schmutziges Stück Papier hin.
Die Mutter hatte mit dem Braten zu tun und gönnte dem Sohn mit dem aufgeweckten. schmutzigen Gesicht nur einen Blick.
»Was soll's mit dem Wisch?«
»Es ist ein Brief.«
Jetzt wurde ihr Interesse erregt. Sie wischte die Hände am Kleide ab, nahm das Papier und besichtigte es beim Scheine des Feuers von allen Seiten.
Der Brief trug zwar eine englische Marke, kam aber aus Indien. Adressiert war er an Mister Timur, Hotel Royal, Oxford Street.
»Wo hast du ihn gefunden?«, examinierte die Mutter.
»Er lag in der Gosse vor dem Pfandgeschäft. Ich sah die Briefmarke und wollte sie abmachen, aber der Brief war noch zu.«
Derselbe war allerdings ganz mit Schmutz bedeckt, man konnte kaum noch die Adresse lesen.
Die Frau hatte schon lange keinen Brief mehr bekommen, sie kannte einen solchen kaum noch, und einem augenblicklichen Impulse folgend, öffnete sie ihn.
Das Kuvert enthielt nichts weiter als ein Blatt Papier, welches mit krausen, ihr unbekannten Schriftzügen bedeckt war.
»Das ist Indisch oder Chinesisch«, sagte sie, »Schade, dass ich es nicht lesen kann! Will dann den Vater fragen, der ist früher als Soldat in Indien gewesen.«
Als der Mann später von einem Kinde zum Essen geholt wurde, zeigte sie ihm den Brief.
»Was? Du hast den Brief aufgemacht?«, fragte er sie hastig.
»Ist denn da weiter etwas dabei?«
»Weißt du nicht, dass das Öffnen eines fremden Briefes streng verboten ist?«
»Bah, er lag ja im Rinnstein!«
»Ganz egal, die englische Polizei spaßt mit so etwas nicht.«
»Ach, wer erfährt denn davon?«
Der Mann hatte sich schnell wieder beruhigt. Er studierte den Brief aus Neugierde, konnte die Schriftzeichen aber ebenso wenig entziffern wie seine Ehehälfte. Dann las er die Adresse.
»Timur, Timur«, murmelte er, »den Namen sollte ich doch kennen!«
»So hieß der Zauberkünstler, der in der Alhambra spielte«, sagte Charly.
»Herrgott, richtig!«, fuhr der Mann auf. »Das ist ja der Kerl, der das Kind von Sir Carter raubte. Weib, was hast du da gemacht!«, herrschte er seine Frau an. »Wenn ich diesen Brief abgebe, werden mir zehn Pfund Belohnung ausgezahlt, und nun hast du ihn erbrochen.«
Erstaunt ließ die Frau die Gabel sinken.
»Du bist nicht recht bei Sinnen. Zehn Pfund Belohnung für diesen lumpigen Brief?«
»Ja. Jeder, der irgend eine Aussage über diesen Timur macht, die auf eine Spur führt, erhält mindestens zehn Pfund. Vielleicht aber kann ich auch zum reichen Manne werden.«
»So liefere ihn doch ab!«
»Dann werde ich bestraft; der Brief ist erbrochen.«
»Wenn du zehn Pfund bekommst, kannst du schon ein paar Tage dafür sitzen.«
»Das ist allerdings wahr«, sagte der Mann, sich hinter den Ohren kratzend; »wäre mir freilich verflucht unangenehm.«
»Ach ja, jetzt entsinne ich mich«, fuhr die Frau fort, »aber jener Timur soll doch gar nicht der richtige Räuber gewesen sein, er soll sich doch selbst getötet und somit seine Unschuld bewiesen haben.«
Der Mann ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab und überlegte. Es fielen ihm die Einzelheiten jenes Ereignisses ein, die Zeitungen hatten darüber lang und breit berichtet, und in England liest jeder Arbeiter seine eigene Zeitung.
Seine Frau hatte recht. Timur war tot, die ausgesetzte Belohnung galt nicht ihm, sondern dem mit dem Kinde entschwundenen Timur Dhar, seinem Doppelgänger. Aber immerhin, konnte der Brief nicht doch zehn Pfund wert sein? Vielleicht brachte er irgend eine Aufklärung.
»Wenn du dich vor einer Strafe fürchtest, so sagen wir einfach, Charly hat ihn geöffnet«, nahm die Frau wieder das Wort, »dem Kinde kann man nichts anhaben.«
»Ich habe ihn nicht geöffnet«, rief Charly.
»Schweig!«, fuhr ihn der Vater an. »Du hast den Brief erbrochen, wenn wir es sagen. Es wird das beste sein, Frau, wir sehen erst einmal nach, was da in dem Briefe steht. Handelt er von dem Kindesraub, so riskiere ich es und liefere ihn ab, ist er ohne Bedeutung, so verbrennen wir ihn.«
»Das ginge; aber wer kann ihn lesen?«
»Indisch zu lesen ist freilich nicht so einfach, wir Soldaten haben es drüben nicht gelernt. Da müsste man schon zu einem Gelehrten gehen.«
»Das kostet viel Geld.«
»Es gibt unter solchen Leuten arme Schlucker, die billig arbeiten.«
»Da fällt mir etwas ein. Meine Nachbarin hat neulich bei einem Deutschen gescheuert, weil seine Frau krank ist. Das ist so ein Mann, der fremde Sprachen übersetzt; es steht an seiner Tür geschrieben.«
»Dann gehst du nachher zu ihm, nimmst aber nur den Brief mit, nicht das Kuvert, und lässt dich auf keine weiteren Fragen ein.«
»Geh doch selbst, ich habe zu tun.«
»Und ich muss dann mit Patrick über das Pferderennen am Montag sprechen. Du gehst, verstehst du? Ehe du dich aber mit ihm einlässt, machst du den Preis mit ihm ab, sonst betrügt er dich.«
Die Frau war teils selbst neugierig, zu erfahren, was der Brief enthielt, teils hoffte sie auf die etwaige Belohnung. Schnell machte sie den Esstisch fertig, auf dem die gefüllte Branntweinflasche heute nicht fehlen durfte, aß und begab sich dann nach dem nicht weit entfernten Hause, wo der Gesuchte wohnen sollte.
Es stand auf einem kleinen Platze und gehörte auch zu den Hütten der Armut. An der Tür war ein Porzellanschild angebracht, auf dem die Worte standen: Friedrich Reihenfels, Lehrer der modernen und alten Sprachen.
Auf das Klopfen der Frau wurde geöffnet und sie in das Dachzimmer verwiesen.
Auch hier herrschte Armut, sonst stand es aber im Gegensatze zu dem, welches die Frau eben verlassen.
Es enthielt nichts weiter als zwei Betten, einen Tisch und zwei Stühle, von denen einer noch dazu den Waschtisch vertreten musste. Unter einem aufgebauschten Tuche hing wahrscheinlich die spärliche Garderobe — es war der Kleiderschrank, das Kochgerät neben dem Ofen war fein und sorgsam geordnet, wie überhaupt alles vor Sauberkeit glänzte. Die hellen Fensterscheiben wurden von weißen Gardinen verhüllt, und darüber hing ein Vogelbauer mit einem Zeisig, der die Eintretende mit seinem jubelnden Rufe begrüßte.
Sonst sah es ernst in der Dachstube aus; dickleibige Bücher in ledernen Einbänden bedeckten fast die ganzen Wände; zu ihnen passte der noch jugendliche Mann, der, eine blaue Brille vor den Augen, an dem einzigen Tische saß und schrieb. Seine Gestalt und sein Antlitz drückten Kummer und Entbehrung aus, und er hatte Grund zur Trauer, denn dort im Bett lag ein krankes, junges Weib mit blassem, eingefallenem Gesicht. Doch ihre lieblichen Züge lächelten freundlich; neben ihrem Bett saß ein ärmlich, aber sauber gekleideter Knabe von etwa fünf Jahren, der in einem Buche las oder vielmehr buchstabierte, denn sein Finger glitt langsam über die Zeilen, und nur abgebrochen kamen die Worte über seine Lippen.
Der Knabe mit den goldenen Locken las der kranken Mutter vor, der Vater arbeitete fürs tägliche Brot.
Aller Augen wandten sich der eintretenden Frau zu; unangenehmes Erstaunen prägte sich in den Zügen der Frau aus.
Der Mann nahm die Brille ab, und jetzt zeigte sich der energische Zug in seinem blassen, ernsten Gesicht noch deutlicher. Er glaubte, wieder einmal einer lästigen Nachbarin, die für seine Frau Teilnahme heuchelte, um ab und zu mit einer Tasse Tee aufgewartet zu werden, die Tür weisen zu müssen.
»Was wünschen Sie?«, fragte er kurz, ohne aufzustehen. Die Frau trat an den Tisch.
»Können Sie Indisch lesen?«
»Es gibt sehr viele indische, durchweg verschiedene Sprachen. Was haben Sie?«
»Einen Brief.«
Sie händigte ihm das Schreiben ein.
»Von wem haben Sie das?«
»Von einem Verwandten von mir, der in Indien lebt«, log die Frau.
Der Sprachgelehrte prüfte das Schreiben, und plötzlich flog ein Ausdruck des Erstaunens über sein Gesicht. Er sah die Frau scharf an.
»Dies Schreiben gehört Ihnen?«
»Natürlich; wem denn sonst?«, entgegnete Sie keck; aber es wurde ihr plötzlich ängstlich zumute.
»Was ist Ihr Verwandter?«
»Er schreibt im Büro der ostindischen Kompanie.«
»So. Und haben Sie schon öfter solche Briefe bekommen?«
»Gewiss, oft schon.«
»Von wem ließen Sie sich dieselben übersetzen?«
»Von einem Soldaten, der Indisch verstand.«
»Und warum gehen Sie nicht wieder zu diesem?«
»Ich war bei ihm, aber diese Schrift kann er nicht lesen«, sagte das Weib, einer Eingabe folgend.
»Es ist richtig; dieser Brief ist in einer Geheimschrift geschrieben. Was soll das bedeuten?«
»Mein Schwager wird sich wohl einen Spaß gemacht haben.«
Kaltblütig gab der Gelehrte den Brief der Frau zurück.
»Wollen Sie ihn nicht übersetzen?«, fragte diese erstaunt. »Warum nicht?
Können Sie es nicht?«
»Ich kann es, aber ich gebe mich nicht damit ab, eine Geheimschrift zu enträtseln, die ein Narr erfunden hat.«
»Friedrich!«, ließ sich die Frau vom Krankenbett mit flehender Stimme vernehmen.
Das Weib wusste, das hier die Armut zu Hause war, also verlangte dieser Mann auch weniger als ein bessergestellter Gelehrter. Sie wollte sich nicht so leicht abfertigen lassen.
»Ich bezahle Sie ja dafür.«
»Zeigen Sie her!«
Nicht die Versicherung der Bezahlung, sondern der bittende Ruf seiner Frau hatte den Gelehrten zur Änderung seines Entschlusses bewogen. Er prüfte das Schreiben nochmals oberflächlich.
»Bis wann wollen Sie es übersetzt haben?«
»So bald wie möglich.«
»Vor Mittwoch kann ich nicht damit beginnen.«
»Das ist zu spät..«
»Dann nehmen Sie es wieder.«
»Nein, nein!«, rief die Frau rasch, als er es ihr abermals zurückgeben wollte. »Gut, bis Mittwoch!«
»Ich sage, am Mittwoch kann ich erst damit beginnen, weil ich bis dahin wichtigere Arbeiten zu erledigen habe.«
»Ist mir auch recht. Wie viel verlangen Sie dafür?«
»Das kann ich Ihnen nicht vorher sagen.«
»Nennen Sie irgend einen Preis!«
»Das kann ich nicht, weil ich nicht weiß, wie lange ich zum Übersetzen brauche. Es ist eine Geheimschrift, und eine solche lässt unzählige Kombinationen zu. Ich will einmal nachsehen, wes Geistes Kind der Verfasser gewesen ist.«
Mit einem verächtlichen Lächeln begann er die einzelnen, verschiedenen Schriftzeichen zu zählen und ihre Summe zu notieren. Schlug dann ein dickes Buch auf und verglich die Zahlen mit einer Tabelle.
Je länger er so zählte, ein desto freudigeres Erstaunen malte sich in seinem Gesicht wieder, bis seine Augen etwa wie die eines Altertumsforschers glänzen, der einen Jahrtausende alten Gegenstand gefunden hat.
Jede Geheimschrift lässt sich entziffern, gleichviel, in welcher Sprache sie geschrieben worden ist, denn jeder Buchstabe kommt in jeder Sprache nach einem gewissen Prozentsatz immer wieder vor. Aber es gibt unzählige Kombinationen, durch welche die Lösung erschwert wird. Die einfachste ist die, dass man die Geheimschrift von hinten lesen muss, ehe man überhaupt an eine Lösung gehen kann.
»Wer hat diese Geheimschrift erdacht?«, rief der Gelehrte endlich. Seine blassen Wangen waren von einem zarten Rot gefärbt.
»Ich sagte es Ihnen schon, mein Schwager«
»Dann ist Ihr Schwager ein Genie, der zu etwas anderem besser passte als zum Schreiber in einem Büro.«
»Wollen Sie die Schrift lösen?«
»Ja, ich will es.«
»Und wie viel fordern Sie dafür?«
Der Gelehrte ließ seinen Blick über die zerlumpte Gestalt gleiten.
»Ich werde es sehr billig machen, denn diese Arbeit bereitet mir Freude.«
»Nennen Sie einen Preis!«, bat die Frau.
»So mache ich es Ihnen umsonst. Kommen Sie am Mittwoch wieder vor, vielleicht bin ich dann schon fertig.«
Nachdem die Frau das Zimmer verlassen, wandte sich der Gelehrte mit freudestrahlenden Augen nach der Kranken um.
»Das ist endlich einmal eine Arbeit, die ich mit Vergnügen mache. Jetzt will ich Tag und Nacht arbeiten, damit ich diese elenden Geschäftsbriefe fertig übersetze; vielleicht kann ich schon am Montag Abend mit der Enträtselung beginnen. Das soll mir eine Erholung sein.«
»Was ist es denn so Besonderes?«, fragte lächelnd die Frau, während der Knabe mit halbgeöffnetem Munde den Vater anblickte.
»Allem Anscheine nach ist der Brief in einer alten, indischen Sprache geschrieben, die früher in der Provinz Oudh geredet wurde und jetzt ausgestorben ist. Jedenfalls enthält sie wunderbare Kombinationen, und ich freue mich schon darauf, an dieser Nuss zu knacken. Weiß der liebe Himmel, wie der Schwager dieser zerlumpten Frau zu solch einer Kenntnis kommt! Oskar, öffne die Tür, das Weib hat einen abscheulichen Branntweingeruch zurückgelassen.« —
Wieder hatte in der Zeitung gestanden, jeder, der auch nur die kleinste Andeutung über das geraubte Kind oder über Timur Dhar machen könne, solle sich unverzüglich an einer gewissen Stelle melden; die geringste Hilfe würde belohnt werden. Dadurch fiel dem Manne der Brief wieder ein. Er war ja an Timur adressiert — das Kuvert besaß er noch — und stand also immerhin mit dem Kindesräuber in Beziehung. Der Brief musste enträtselt werden, das war nicht so einfach, wie seine Frau von dem Gelehrten erfahren, es verging Zeit darüber, und der Bevollmächtigte des reichen Sir Carter gab dem Überbringer eines solch wichtigen Schreibens sicher einen guten Vorschuss.
Der Mann ging also mit der Absicht zu dem Sprachgelehrten, ihm den Brief wieder abzufordern.
Reihenfels saß eben über das geheime Schreiben gebeugt und machte die ersten Lösungsversuche, als er durch den Arbeiter unterbrochen wurde. Unwillig blickten die von anstrengender Nachtarbeit geröteten Augen des Gelehrten den Störenfried an.
»Was wünschen Sie?«, erklang es kurz.
Der Arbeiter verlangte das Schreiben zurück.
»Welches Schreiben?«
»Das da vor Ihnen liegt.«
»Das haben Sie mir nicht gebracht!«
»Aber meine Frau.«
»Sie müssten erst nachweisen, dass jene Frau die Ihrige war.«
Der Arbeiter brach in ein höhnisches Lachen aus.
»Kurzum«, fuhr trotzdem der Gelehrte kaltblütig fort, »ich gebe dieses Schreiben keinem anderen als jener Frau, die es mir gebracht hat.«
Der große. starke Arbeiter fixierte den schmächtigen Gelehrten und stemmte dann seine beiden ansehnlichen Fäuste auf den Tisch.
»Ich will das Schreiben haben, jetzt sofort! Verstehen Sie?«, rief er drohend.
»Und ich will, dass Sie mein Zimmer verlassen, jetzt sofort! Verstehen Sie?«, war die ruhige Antwort, zugleich aber schaute der Arbeiter direkt in die Mündung einer großen Reiterpistole, auf deren Piston das Zündhütchen nicht fehlte.
Eine Pistole dicht vor den Augen ist ein merkwürdiges Ding, man kann unter solchen Umständen plötzlich ein ganz anderer Mensch werden. Der Arbeiter murmelte eine Entschuldigung und entfernte sich.
Doch es gelang ihm, seine Frau zu überreden, den Brief zu holen, und ihr händigte der Gelehrte das Schreiben auch ein, nicht ohne vorher den Versuch gemacht zu haben, die Geheimschrift, auf deren Lösung er sich so gefreut, dass er ihr den nächtlichen Schlaf geopfert, in seinem Besitz zu behalten. Es gelang ihm nicht, er musste den Brief herausgeben.
»Sie werden in London keinen anderen Menschen finden, der Ihnen diese Geheimschrift übersetzen kann«, waren seine letzten Worte.
Das Verhängnis wollte aber nicht, dass der Brief dahin kam, wo er vielleicht Aufklärung brachte. Die Frau hatte einen weiten Umweg gemacht und viel Zeit vertrödelt, um ihrem Manne so wenig Gelegenheit wie möglich zu geben, eine etwaige Belohnung durchzubringen. Sie fand ihn nicht zu Hause, sondern im Wirtshaus und zwar vom Scheitel bis zur Sohle als vollkommenen Gentleman. Das Pferd, auf das er gewettet, hatte gewonnen, und wenn der Rennplatz auch hundert Meilen von London entfernt war, so erhielt der Gewinner doch schon fünf Minuten später seinen Einsatz fünffach ausbezahlt. Das Pferderennen ist ein Sport, dessen Kultus nach der Religion in England am meisten gepflegt wird.
Jetzt fragte der Mann nicht mehr nach dem Brief, ebenso wenig die Frau — er wurde zur Seite gelegt. Nach einigen Tagen indes war die Herrlichkeit wieder zu Ende, man erinnerte sich des Briefes; aber der war verschwunden. Die Mutter behauptete, sie habe Charly zuletzt mit ihm spielen sehen; der Junge bekam Prügel, blieb jedoch bei der Aussage, er wisse nicht, wo der Brief sei.
Schließlich wurde dieser ganz vergessen. Das Ehepaar wurde von dem Spielfieber ergriffen, das Glück war launisch, bald gewann, bald verlor man, Letzteres am häufigsten, die Möbel konnten sonnabends nicht mehr aus dem Pfandhaus geholt werden, und eines Tages merkte die Frau, dass sie verfallen waren.
Sie bekam die Sachen nie wieder zu sehen, ebenso wenig wie den Brief.
Nur Charly wusste, wo dieser war, denn er selbst hatte ihn versteckt. Weil er aber die Briefmarke abgemacht hatte, fürchtete er sich, ihn hervorzuholen, und als er hörte, dass die Möbel nicht mehr seinen Eltern gehörten, atmete der schuldbewusste Junge förmlich erleichtert auf.
Wieder wurde an die Tür des Sprachgelehrten geklopft, und der kleine Sohn desselben öffnete, diesmal aber einem gut gekleideten Herrn.
»Ist Herr Reihenfels zu sprechen, mein Junge?«
»Ich bin kein Junge und deiner nun gleich gar nicht«, klang es trotzig von den roten Lippen zurück.
»Entschuldige, wenn ich dich in deiner Ehre gekränkt habe!«, lächelte der Herr. »Also, kleiner Mann, ist Herr Reihenfels zu Hause?«
»Ja, aber er muss jetzt arbeiten.«
»Hat er lange zu tun?«
»Mit dem Kartoffelschälen ist er gleich fertig, dann muss er aber die Suppe ansetzen.«
»Gib ihm diese Karte und sage ihm, ich möchte ihn sprechen.«
Der Knabe nahm die dargereichte Visitenkarte nicht.
»Ich lasse mir von niemandem befehlen, nur von meinen Eltern, von einem Fremden gar nicht.«
»Bist du der Sohn des Herrn Reihenfels?«
»Ja, ich bin Oskar Reihenfels.«
»Bitte, übergib deinem Vater diese Karte.«
Jetzt nahm das Kind sie und sprang die Treppe hinauf.
»Wenn der Sohn den Charakter vom Vater geerbt hat, so werde ich eine schwere Mission zu erfüllen haben«, murmelte der Herr und schüttelte nachdenklich den Kopf.
Schon kam Oskar wieder die Treppe herab und führte den Fremden in das Zimmer. Der Gelehrte war eben dabei, das Mittagessen zu bereiten; denn seine Frau lag hilflos im Bett.
Der Fremde überflog das Zimmer, er sah hier zwar Armut, aber auch Sauberkeit und Fleiß. Über sein steinernes Gesicht zuckte ein verräterischer Zug, als er die bleiche Frau im Bett liegen sah.
Der Gelehrte stand wie erstaunt da, die Augen bald auf die Karte in seiner Hand, bald auf den Eingetretenen heftend.
»Ich weiß nicht, wie ich mir Ihren Besuch erklären soll, Mister Wilkens«, sagte er, »Sie sind Detektiv und ich...«
»Seien Sie ohne Sorge«, unterbrach der Detektiv ihn lächelnd, »mich führt nicht der Dienst zu Ihnen, Herr von Reihenfels.
Der Gelehrte richtete seine etwas gebeugte Gestalt plötzlich hoch auf.
»Ich bin auch völlig ohne Sorge, denn ich habe ein reines Gewissen!«, entgegnete er stolz. »Sie nannten mich eben Herr von Reihenfels, und jetzt weiß ich, was Sie zu mir führt. Bitte, setzen Sie sich, Mister Wilkens! Entledigen Sie sich Ihres Auftrages, ich bemerke aber gleich, dass Ihre Mission zwecklos ist.«
Oskar wischte einen Stuhl ab und bot ihn dem Detektiven an. Ein Blick der Frau rief den Gatten zu sich.
»Sei nicht so hart, Friedrich!«, flüsterte sie ihm bittend zu.
»Ich bin nicht hart, ich tue und sage nur, was ich für recht erachte.«
Er nahm neben dem Bett der Frau Platz, Oskar setzte sich zur Seite auf einen Schemel nieder und blickte den Mann mit dem bartlosen Gesicht misstrauisch an. Das war ein Detektiv, der Verbrecher aufspürt und verhaftet. Was wollte er von seinem Vater?
»Herr von Reihenfels«, begann Wilkens.
»Mein Name ist Friedrich Reihenfels«, unterbrach ihn gleich der Gelehrte. »Wie Sie wünschen. Bereits vor zwei Monaten hat Ihr Herr Vater die Londoner Polizei beauftragt, Sie aufzusuchen und heimlich beobachten zu lassen...«
»Sehr freundlich von meinem Vater«, erklang es. bitter.
»... und das ist geschehen. Daraufhin ist er entsprechend benachrichtigt worden, und jetzt ist er hier, um sich mit Ihnen zu versöhnen.«
»Hier in London?«
Ja, er wohnt im Hotel.«
»Warum kommt er nicht zu mir?«
»Das weiß ich nicht. Er will, dass Sie zu ihm kommen.«
Keine Muskel zuckte im Antlitz des Gelehrten, in den Zügen der Frau dagegen war eine halb ängstliche, halb freudige Spannung zu lesen, und Oskar runzelte die Stirn.
»Wissen Sie, wodurch das zwischen uns herrschende Zerwürfnis entstanden ist?«, fragte er leise nach langer Pause.
»Ihr Vater hat sich nur wenig darüber ausgesprochen.«
»Weil er Grund zum Schweigen hat.«
»Und Sie keinen?«
»Nicht den geringsten.«
»Wollen Sie Ihren Vater aufsuchen?«
»Nein.«
»Bedenken Sie, es ist Ihr Vater.«
»Und er soll bedenken, dass ich sein Sohn bin, den er in höchst ungerechter Weise von sich gestoßen, dem er schon als Kind sein Haus verboten, dem er die Vaterliebe aus dem Herzen gerissen hat!«, rief Reihenfels fast heftig. »Ich bin nicht abgeneigt, mich mit ihm zu versöhnen, aber zu mir muss er kommen.«
»Er verlangt, dass Sie den ersten Schritt tun.«
»Ich komme nicht zu ihm!«
»Das war Ihr letztes Wort?«
»Mein letztes!«
Reihenfels nahm die Hand seiner zitternden Gattin und presste sie in der seinen, der Detektiv rieb sich mit seinem Taschentuche nachdenkend die hohe Stirn.
»So ist also kein Ausgleich möglich?«, begann er wieder.
»Auf diese Weise nicht.«
»Wollen Sie nicht erfahren, warum Ihr Vater eine Versöhnung anbahnen will?«
»Es ist mir gleichgültig.«
»Seine zweite Gemahlin ist vor einem Vierteljahre gestorben.«
»O, das ist also der Grund!«, rief Reihenfels und sprang auf. »Also nun, da der Rausch verflogen ist, denkt er wieder an seinen Sohn! Jetzt fühlt er sich einsam, jetzt verlangt er nach anderer Liebe, als die, die ihm jenes Weib, das ich nie Mutter nannte, bieten konnte. Nein, jetzt verlange ich erst recht, dass er selbst mich in meine Heimat zurückführt, wie er mir einst mit dürren Worten erklärt hat, ich müsse aus dem Hause — weil seine zweite Frau es so wünsche.«
»Sie ist tot«, flüsterte seine Gattin ihm zu, »versöhne dich mit ihm! Bringe das Opfer, vielleicht ist es zum Glück unseres Kindes.«
»Und an dich denkst du gar nicht?«, fragte Reihenfels mit schneidender Stimme. »Nein, Hannchen, ich weiß es, auch du würdest aus Liebe zu mir, aber mit Widerwillen das Haus betreten, in welchem man von dir mit Verachtung gesprochen hat, dessen Betreten dir unter Androhung von Strafe verboten worden ist. Mister Wilkens, hat mein Vater auch meiner Frau gedacht?«
»Nein«, entgegnete der Detektiv zögernd, »er schien überhaupt zu vermeiden, von ihr zu sprechen. Einmal sagte er sogar, ich solle Sie überreden...«
»Genug, genug!«, unterbrach Reihenfels den Sprecher. »Du siehst, Hannchen, betreff deiner hat der Tod seiner Frau die Ansichten meines ahnenstolzen Vaters nicht geändert, und glaubst du, ich würde da eintreten, wo man dir den Zutritt verweigert oder man dich auch nur scheel ansieht?«
»So gedenke unseres Kindes!«
»Was der Vater an mir gesündigt hat, mag er an meinem Kinde gutmachen, wenn ich nicht mehr bin. Solange ich gesund bin, kann ich Oskar allein erziehen.«
»Ich werde mir mein Geld bald selbst verdienen«, ließ sich Oskars helle Stimme vernehmen, »ich bin ja bald so groß, dass ich an den Schrank hinauflangen kann, und dann bekomme ich viel, viel Geld.«
»Was willst du denn werden?«, fragte Wilkens.
»Reich!«, war die schlagfertige Antwort.
»Mit Geldverdienen ist uns nicht geholfen«, sagte Reihenfels lächelnd,
»man muss mit dem Gelde auch umzugehen gelernt haben.«
»Das kann ich, ich habe mir ja schon bald ein halbes Pfund gespart.«
»So muss ich also Ihrem Herrn Vater die Nachricht bringen, dass Sie sich mit ihm nicht aussöhnen wollen?«, begann der Detektiv wieder das Gespräch mit Reihenfels.
»Wohl will ich, aber ich verlange, dass er zu mir kommt und meine Frau und mein Kind anerkennt, denn ich bin der beleidigte Teil.«
»Dann war mein Kommen zwecklos. Mit schwerem Herzen gehe ich zu Ihrem Vater und teile ihm Ihren Entschluss mit. Herr Reihenfels, ich bin Menschenkenner und weiß, dass alle Vorstellungen an Ihrem Willen scheitern würden.«
»Das würden sie, und ehe Sie gehen, hören Sie noch, dass ich nicht ohne Unrecht hart bin.«
Der Detektiv blieb noch. Er hörte die alte Geschichte von der Stiefmutter, die es fertig gebracht hatte, den Erstgeborenen aus dem Vaterhause in Not und Elend zu stoßen, und begann sich immer mehr für diesen Mann zu interessieren.
Reihenfels hatte geendet.
Wortlos hatte Wilkens den Lebenskampf dieses stolzen und edlen Menschen vernommen, und unwillkürlich fragte er:
»Sie leben auch jetzt noch in keinen glänzenden Verhältnissen?«
»Es reicht zum Sattwerden, und ich bin zufrieden. Was können Sie mehr vom Leben verlangen? Ich habe Arbeit, wenn Sie mir auch manchmal etwas bitter schmeckt, ich fühle mich kräftig, mein Kind ist gesund, und dem größten Glück sehe ich in kurzer Zeit entgegen.«
»Sie haben eine feste Anstellung in Aussicht?«
»Das würde mich wohl freuen, aber mein Glück nicht ausmachen. Nein, meine Frau ist von einem bösartigen Lungenleiden bald völlig wiederhergestellt.«
Der Detektiv sah den zärtlichen Blick, den die beiden wechselten, und er wusste, dass der Zeisig über dem Fenster hier mit Recht solche luftige Triller schlagen konnte — hier lebte ein sich innig liebendes Menschenpaar.
»Sie beschäftigen sich mit indischen Studien?«, fragte er, die vielen Bücher bemerkend, welche über Indien handelten, darunter auch solche in indischer und chinesischer Sprache.
»Ja, es ist mein Lieblingsstudium geworden. Schon in meiner Jugendzeit schwärmte ich für dieses Wunderland, auf der Universität studierte ich Indisch, Chinesisch und Japanisch, und seitdem ich hier bin, widme ich meine ganze freie Zeit diesem Fache.«
»Waren Sie in Indien?
»Nein, diese Gelegenheit wurde mir noch nicht geboten, und ich bedaure es sehr.
»Dann dürfte Ihnen eine gründliche Unterlage für Ihre Studien fehlen.«
»Verzeihen Sie, ich bin anderer Ansicht. Ich habe mit berühmten Männern gesprochen und korrespondiert, die Indien wie ihr Vaterland kennen wollten, die dort ihr halbes Leben zugebracht haben, und ich habe dabei gefunden, dass ich im Ganzen und Großen mehr von Indien weiß als sie.«
Diese Worte waren zwar bescheiden, aber bestimmt gesprochen und machten auf Wilkens einen seltsamen Eindruck.
»Wie wäre das wohl möglich?«
»Ich lese in Büchern und halte mich sehr viel im Britischen Museum auf.
Die dort angesammelten Antiquitäten sind für mich keine toten Gegenstände; sie erzählen mir deutlicher, als ein Mensch es könnte, wie es vor Jahrtausenden in Indien ausgesehen hat und wie es jetzt dort aussieht; sie erzählen mir sogar von den Leidenschaften der damaligen Bewohner des Landes.«
Der Detektiv schüttelte ungläubig den Kopf.
»Ich will Ihnen einen Beweis geben, dass ich besser orientiert bin, als mancher indische Forscher!«, fuhr Reihenfels fort. »Ich habe den Fall Timur Dhars mit dem größten Interesse verfolgt und gesehen, dass sich alle Gelehrten Londons mit ihm beschäftigt haben, welche die indischen Verhältnisse kennen, aber keiner hat den Zweifel geäußert, den ich hege.«
Wilkens spitzte die Ohren; jetzt kam man in sein Fahrwasser.
»Und das wäre?«
»Könnte nicht Timur, der Zauberer aus der Alhambra, der Kindesräuber sein?«
»Nein, denn dieser Timur hat an demselben Abend bei Lord Grey gespielt.«
»Timur könnte zu Grey einen Ersatzmann. geschickt haben, der ihm ähnlich sah.
»Wie kommen Sie auf diese Vermutung?«
»Es ist eben nur eine Annahme!«
»Sie ist unhaltbar. Timur hat sich selbst getötet; dies bezeugt seine Unschuld am besten!«
»Timur hat sich selbst getötet?«, wiederholte Reihenfels langsam. »Können Sie das beweisen?«
»Mein Gott!«, rief Wilkens erstaunt. »Timur hat seine Zunge verschluckt, derselbe Timur, den ich verhaftete, er ist erstickt. Der Arzt hat ihn in den Fuß geschnitten, es floss kein Blut, er wurde auf dem Kirchhof der Selbstmörder begraben, ich selbst habe gesehen, wie man Erde auf den Sarg warf.«
»Schön; wissen Sie aber auch bestimmt, dass er jetzt noch drin liegt?«, Der Detektiv glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen.
»Wie? Sie meinen, Timur sei von Leichenräubern gestohlen worden?«, brachte er endlich hervor.
»Vielleicht war er gar nicht tot und hat sich selbst aus der Erde geholfen oder sich von Freunden herausscharren lassen.«
»Sir, das ist eine kühne Kalkulation!«, rief der Detektiv.
»Ich behaupte nicht, dass es so ist, es könnte aber so sein!«
»Die Ärzte erklärten Timur für tot.«
»Nicht die Ärzte, sondern die gelehrten Kenner von Indien hätten den Tod beglaubigen sollen!«
»Auch diese haben die Leiche untersucht!«
»Und keiner hat einen Verdacht ausgesprochen?«
»Welchen meinen Sie?«
»Ich sehe wieder, dass allen Gelehrten eine Tatsache unbekannt ist, von welcher ich allein zu wissen scheine. Die indischen Fakire verstehen sich durch Abschneiden der Luft in eine Art von Starrkrampf zu versetzen, in dem sie wochenlang Toten gleichen können.«
»Sie könnten sich auch begraben lassen?«, fragte der Detektiv ungläubig.
»Als wären sie tot; nur müssen sie vor Ablauf einer bestimmten Frist wieder ausgegraben werden.«
»Woher haben Sie dieses Wissen geschöpft?«
»Von einem alten, indischen Schriftsteller, dessen Werken kein Glaube geschenkt wird, weil er sich zu viel mit übernatürlichen Sachen beschäftigt.«
»Sie aber glauben an ihn?«
»Ja, der Mann bezeichnet durch eine bestimmte Ausdrucksweise stets, ob er das Geschilderte selbst gesehen oder nur gehört hat. Insofern halte ich ihn für glaubwürdig. Ferner sagt der chinesische Religionslehrer Konfuzius, welcher im sechsten Jahrhundert vor Christus lebte, wiederholt in dem Abschnitt, der von solchen Sachen handelt, die er als frevelhaft bezeichnet: Du sollst deine Zunge nicht verschlucken und sollst dich auch nicht tot stellen und begraben lassen, nicht dreißig Tage, nicht zwanzig Tage, nicht zehn Tage, auch nicht einen Tag, damit du das Volk nicht aufsässig machst. Diese dunkel erscheinende Stelle ist mir klar; sie bestätigt die Behauptung des Inders.«
»So sind Sie also der Meinung, dass Timur sich gar nicht getötet hat und vielleicht nicht mehr im Grabe liegt?«
»Halt!«, rief Reihenfels schnell. »Sie schieben meiner Aussage einen anderen Grund unter. »Ich wollte nicht behaupten, dass Timur nicht unschuldig ist und sich nicht getötet hat, sondern ich wollte nur sagen, dass ich mich wundere, wie hervorragende Kenner von Indien gar nichts von der eben erzählten Tatsache wissen. Auf meine Veranlassung hin soll das Grab nicht geöffnet werden, denn, liegt Timur noch drin, so setze ich mich dem Gespötte aus, ist er aber daraus verschwunden. so bringt dies Sir Carters Kind auch nicht zurück. Tun Sie, was Sie für gut finden, mich aber lassen Sie aus dem Spiele.«
Der Detektiv sah lange sinnend vor sich hin und fragte dann wieder:
»Möchten Sie Indien gar nicht persönlich kennen lernen?«
»O doch, das wäre mein höchster Wunsch. Ich habe aber wenig Aussicht, dass er jemals in Erfüllung geht.«
»Vielleicht kann ich Ihnen dazu verhelfen. In wenigen Tagen begibt sich eine Gesellschaft nach Indien, welche das Land kreuz und quer durchstreifen wird. Die Auswahl der Mitglieder liegt meist in meiner Hand; Sie wissen, um was es sich handelt?«
»Um die Aufsuchung des geraubten Kindes!«, rief Reihenfels in heller Freude, da begegnete er dem Blick seiner Frau, und das Lächeln erstarb sofort.
»Diese Expedition wird von der Regierung ausgerüstet, denn sie verfolgt noch einen anderen Zweck.«
»Ich kann nicht an ihr teilnehmen, Mister Wilkens«, sagte Reihenfels ruhig.
»Warum nicht? Es ist Ihr Wunsch, und Ihre Kräfte können gut gebraucht werden.«
»Ich kann meine Frau nicht verlassen.«
»Geh, Friedrich!«, bat die Frau. »Es war immer dein Wunsch, Indien kennen zu lernen!«
»Ja, wenn du mich begleiten könntest! Unter solchen Verhältnissen geht es nicht. Ich bleibe und danke Ihnen für Ihr freundliches Anerbieten, Mister Wilkens.«
Der Detektiv verabschiedete sich bald, er hatte mit seiner Mission nichts erreicht. An dieses Mannes hartem Kopfe scheiterten alle Versuche einer Versöhnung, und Wilkens musste zugeben, dass Reihenfels nicht im Unrecht war.
»Ihr Herr Vater hat Ihnen bei einem Bankier unbeschränkten Kredit eröffnet«, sagte Wilkens zum Schluss, »und er hofft, dass Sie wenigstens davon Gebrauch machen werden. Morgen wird Ihnen ein Scheckbuch übermittelt werden.«
»Es wird unberührt in meinem Schreibtisch aufbewahrt werden!«, war die Antwort. »So lange wenigstens, wie ich die Erziehung meines Sohnes aus eigenen Mitteln bestreiten kann, und ob ich dann den Kredit benutze, bedarf noch der Überlegung.«
»Trotz alledem ist es eine glückliche Familie!«, murmelte der Detektiv für sich, als er sich wieder auf der Straße befand. »Jeder ist seines Glückes Schmied, das hat dieser Mann bewiesen. Aber es gibt im Menschenleben feindliche Mächte, denen gegenüber der unbeugsamste Mann ohnmächtig ist. Wolle Gott, der Glücksstern ginge auch für das Haus wieder auf, dem mein jetziger Weg gilt.«
»Friedrich«, sagte unterdes die Frau zu Reihenfels, »warum kannst du dich nur gar nicht beugen! Du wirst nie aus deinen jetzigen, drückenden Verhältnissen herauskommen, wenn du alle hilfsbereiten Menschen zurückstößt.«
Der Gelehrte, der schon wieder vor dem Tische saß, wandte sich um.
»Auch du machst mir Vorwürfe?«, fragte er leise. »Von dir hatte ich sie am allerwenigsten erwartet. Du nennst meine Verhältnisse drückend; habe ich dir aber jemals etwas abgehen lassen? Hast du während deiner Krankheit irgendwelcher Pflege entbehrt?«
»Nein, mein Friedrich«, unterbrach ihn die Frau mit tränenden Augen,
»nicht an mich dachte ich, sondern an dich. Du arbeitest vom frühen Morgen bis in die späte Nacht, jede Stunde, welche du zur Erholung, aber auch auf die Arbeit verwendest, musst du von deinem Schlaf erkaufen. Du verdientest ein anderes Leben, deine Kenntnisse und deine Fähigkeiten berechtigen dich dazu.«
»Wenn dies der Fall wäre, so würde mir das Schicksal auch eine Stellung bescheren, welche ich ausfüllen kann. Und ist das übrigens nicht eine verantwortliche Stellung, der Ernährer einer Frau und der Erzieher eines Kindes zu sein? Wenn dies jeder als seine Hauptaufgabe im Leben betrachtete, fürwahr, es würde anders aussehen. Nein, Hannchen, grolle nicht mit dem Schicksal und nicht mit mir, weil ich so handle, wie mein Gewissen es mir vorschreibt. Wissen wir denn überhaupt, was das Schicksal in diesem Augenblick für uns vorbereitet? Wir Menschen sind so kurzsichtig, wir jammern über ein Unglück und wissen nicht, dass es zu unserem Besten dient.
Vielleicht ist es für Oskar gut, dass er nicht in Pracht und Reichtum heranwächst; die Armut ist oft die beste Schule. Wir wollen arbeiten und Gott für die Zukunft sorgen lassen.«
Reihenfels sollte wahr gesprochen haben. Einige Tage später wurde ihm die längst ersehnte Stellung eines Kurators der indischen Antiquitäten im britischen Museum angeboten.
Wer war froher als Reihenfels! Er nahm das Anerbieten sofort an. Dieser Stellung fühlte er sich vollkommen gewachsen.
Nach einigen Tagen siedelte Reihenfels mit Weib und Kind nach dem britischen Museum über; eine Beamtenwohnung stand ihm darin zur Verfügung.
Nana Sahib hatte Grund, auf seine schöne Gemahlin Ayda nicht eifersüchtig zu sein; er empfand jetzt für sie ebenso wenig Neigung wie für die anderen Haremsweiber, denn er hatte sich eine neue Lieblingsfrau erkoren.
Während er glaubte, Ayda benutze ihre Verführungskünste, dem Lord Canning ein Dienstgeheimnis zu entlocken, hielt er sich in einem halb verfallenen Schlosse auf, das etwa eine englische Meile von Akola entfernt im Gebirge lag.
Es war eine befestigte Burg gewesen; in ihr hatten vor vielen Jahrzehnten die Inder unter der Führung des alten Radschas den Engländern energischen Widerstand geleistet; sie war dann verwüstet worden, und Nana Sahib hatte sie nicht wieder aufbauen lassen. Einige wenige Schlossbewohner hüteten das alte Gemäuer, es wurde von niemandem besucht, und was für einen Beweggrund hätte der prachtliebende Radscha gehabt, sich hinter den düsteren Mauern zu verstecken. Niemand ahnte, dass er sich heute hier befand, wie er schon manche Nacht in letzter Zeit hier zugebracht hatte.
Unermüdlich schritt er beim trüben Scheine einer Öllampe in dem Turmgemache auf und ab, das nur verstaubte Spuren einer einstigen Herrlichkeit aufwies. Kam er an das offene Fenster, so blieb er einen Augenblick stehen, lauschte und blickte in die dunkle Nacht hinaus und setzte dann seinen Weg fort.
»Er muss diese Nacht kommen«, murmelte er einmal über das andere,
»und kommt er nicht, so gebe ich die Hoffnung auf. Dann ist ihm ein Unglück zugestoßen oder der Kauf ist ihm nicht gelungen. Mein Körper verzehrt sich vor Aufregung, wenn ich mir die Sache nicht endlich aus dem Kopfe schlage.«
So hatte er jeden Tag gesagt, und doch fand ihn jede Nacht wieder in derselben Erwartung hier.
Da ließ ihn ein Geräusch zusammenschrecken; er sprang ans Fenster und sah, wie ein kleiner Trupp von Männern, zwischen sich eine Bahre tragend, eben das Hoftor passierte.
»Sie kommen!«, jubelte Nana Sahib und wollte aus dem Zimmer dem Zuge entgegeneilen, als schon in der Tür eine vermummte Gestalt erschien.
»Sedrack, bist du's?«
»Ich bin's, Sahib«, entgegnete die Gestalt mit schnarrender Stimme unter einer tiefen Verbeugung, und hinter dem Kopftuch kam ein schlaues Gesicht mit starker Hakennase und listig blickenden Augen zum Vorschein. Es war unverkennbar ein Jude.
»Du bringst die Rose von Kaschmir mit?«, rief der Radscha, seine Ungeduld kaum bemeistern könnend; seine Augen hingen mit verzehrendem Feuer an den bärtigen Lippen des Juden.
»Nein, Sahib, der alte Sedrack kam trotz seiner Schnelligkeit zu spät.«
»Hund von einem Juden«, brauste der Inder auf, »du hast mich betrogen, du hast das Mädchen einem anderen verkauft!«
»Greife nicht nach dem Dolch! Was würde mein Leben dir nützen!«, rief der Jude erschrocken, als er die drohende Handbewegung des Enttäuschten sah. »Ich betrüge nie, und am allerwenigsten würde ich es bei dir, dem mächtigsten Radscha, wagen. Der persische Sklavenhändler reiste sehr schnell, weil er den Verfolgungen der Engländer entgehen wollte; in Mahur hatte ich ihn fast eingeholt, als mir ein Hindernis in den Weg gelegt wurde, das mich tagelang aufhielt. Die Engländer sind daran schuld, dass ich das Mädchen nicht mitbringe. Doch ich komme nicht mit leeren Händen.«
Der Jude hatte diese Worte hastig hervorgestoßen, der Radscha kaum darauf gehört. Zähneknirschend rannte er im Zimmer hin und her, er sah sich um eine Beute betrogen, und er besaß die Natur eines Tigers, der vor Wut aufbrüllt, wenn ihm die Gazelle durch einen schnellen Sprung entgangen ist. Nana Sahib hatte vor einigen Wochen einen persischen Sklavenhändler gesprochen, der mit seinen Opfern, die er einem fernen asiatischen Stamme abgekauft, durch Indien reiste. Der Radscha erblickte dabei ein Mädchen von etwa zwölf Jahren, und seine Leidenschaft für dasselbe wurde sofort erregt, er hätte im Augenblick alles geopfert, nur um in dessen Besitz zu kommen.
»Die Mädchen von Kaschmir sind berühmt wegen ihrer eigenartigen Schönheit, solange sie jung sind. Auch in Indien, Arabien und anderen exotischen Ländern findet man Jungfrauen, sogar Mütter von Zehn bis zwölf Jahren, aber sie gleichen schon erwachsenen Frauen — die südliche Sonne reift schnell. Die Töchter von Kaschmir dagegen behalten ihre Kindlichkeit, und doch sind sie schon vollkommen entwickelt. So hat die Natur ein sonderbares Verhältnis geschaffen; man glaubt ein Kind vor sich zu sehen, und doch ist es eine entwickelte Jungfrau, es ist also eine Art von Zwergin, und deshalb werden die Mädchen von Kaschmir in einigen Ländern vor allen bevorzugt.
Es war Nana Sahib nicht gelungen, die Schöne zu kaufen. Der Sklavenhändler ließ sich vorläufig nicht auf einen Handel ein, er fürchtete die Engländer, welche scharf hinter dem Sklavenhandel her waren, und bestimmte die Hafenstadt Madras als Treffpunkt. Dort kannte er versteckte Plätze, wo sorglos gefeilscht werden konnte, und wurde er ertappt, so war für ihn schon ein Schiff zur Flucht bereit.
Nana Sahib hatte Sedrack als Käufer dorthin geschickt; der Jude hatte für ihn schon oft ähnliche Geschäfte abgeschlossen, er sollte jeden Konkurrenten überbieten, und nun stand er mit leeren Händen vor seinem Auftraggeber.
Der Radscha raste vor Wut.
»Wer war es, der das Mädchen erwarb?«, fragte er endlich.
»Ein Bevollmächtigter des Radschas von Mysore.«
»Ah, schon zum zweiten Male ist er mir zuvorgekommen!«, knirschte Nana.
»Als ich in Madras eintraf, war das Mädchen schon verkauft, und der Käufer wollte es mir um keinen Preis der Welt ablassen.«
»Warum kamst du zu spät nach Madras, verfluchter Hund?«, fuhr ihn der Radscha an.
Der Jude nahm solche Bezeichnungen nicht übel, er war sie gewöhnt.
Auch in Indien wird der Jude verachtet, doch man bedient sich seiner Schlauheit.
»Ich bin als ein Mann bekannt, der sich mit unsauberen Geschäften abgibt«, entgegnete der Jude mit zynischem Lächeln, »wenn man mich auch noch nie fassen konnte, denn Sedrack ist schlau. In Mahur stellten mich die Engländer und führten mich vor einen Mann, der mich kreuz und quer ausfragte. Die Untersuchung dauerte einige Tage. Darum, Sahib, zürne mir nicht — ich bin unschuldig.«
»Was fragte man dich?«
»Ob ich etwas über den Verbleib eines Kindes müsste, das man in England geraubt und wahrscheinlich nach Indien entführt hat.«
Der Radscha horchte auf.
»Wie hieß der Mann, der dich ausfragte?«
»Ich hörte nur einmal seinen Namen nennen.«
»Und der war?«
»Sir Carter.«
Des Radschas Lippen entfuhr ein zischender Laut.
»So ist also dieser Schurke, der mich einmal tödlich beleidigte, auch schuld, dass mir dieses Mädchen entgangen ist. Er ist in Indien, und so soll er meiner doppelten Rache nicht entgehen. Sag, Sedrack, weißt du etwas über den Verbleib dieses Kindes?«
Diese Worte waren lauernd gesprochen, und sofort wusste Sedrack, dass der Radscha bei dem Kindesraub seine Hand im Spiele hatte.
»Ich habe nichts davon gehört, Sahib.«
»Die Zeitungen schreiben doch davon.«
»Sedrack rührt nicht jene Blätter an, welche der Teufel erfunden hat.«
Nana Sahib schritt wieder überlegend im Zimmer auf und ab. Seine Gedanken galten jetzt nicht mehr dem Mädchen aus Kaschmir, sondern Sir Carter. Dieser war in Indien und suchte sein Kind; der Radscha überlegte, wie er ihm von neuem Schaden zufügen konnte.
Ein Hüsteln ließ ihn aufsehen, der Jude stand noch demütig an der Tür.
»Was willst du noch?«, herrschte ihn der Radscha zornig an. »Verlangst du etwa gar Bezahlung dafür, dass ich durch deine Dummheit des Mädchens verlustig gegangen bin?«
»Der Gott meiner Väter weiß, dass Sedrack ein ehrlicher Mann ist, der nur für das bezahlt sein will was er geleistet hat.«
»So scher dich von hier fort, und lass meine Augen nicht noch einmal dein verfluchtes Gesicht erblicken.«
»Hat der Radscha nicht geruht, zu hören meine Worte, die ich vorhin zu ihm gesprochen?«, fragte der Jude ruhig.
»Was hast du gesagt?«
»Sedrack ist nicht mit leeren Händen gekommen.«
»Was soll das heißen?«
»Du hofftest deine Augen heute an dem lieblichen Mädchen aus Kaschmir weiden zu können. Gott hat es nicht gewollt; aber er gab dem Sedrack Schlauheit, dass er den mächtigen Radscha doch befriedigen wird.«
»Ah, du hast ein Mädchen gekauft?«
»Ja, Sahib.«
»Ich mag es nicht sehen«, entschied Nana kurz.
»Herr, verwirf nicht, was Gott dir beschert. Was war die Rose aus Kaschmir? Ein Kind, nicht würdig, dem mächtigsten Radscha Indiens die Stunden zu kürzen. Was war Besonderes an ihr? Ihre Haare waren schwarz wie die der Frau eines Kulis, die Augen waren geschlitzt, die Lippen zu dick, die Nase zu klein — es war, o Herr, ein Geschöpf, wie es dir jeden Tag tausendfach zur Verfügung steht.«
Der Jude suchte die Schönheit des Mädchens herabzusetzen, und Nana Sahib wurde aufmerksam. Doch nein, der Jude wollte ihm nur eine andere Ware anpreisen; aber sie konnte gegen die Rose von Kaschmir nicht aufkommen.
»Will der Radscha die Tochter des Nordens nicht sehen?«
»Nein, nimm sie mit fort, wenn du sie hergebracht hast. Deine Mühe war vergebens.«
»Ich gehe nicht, bevor du sie nicht gesehen. Hast du schon von der Mitternachtssonne erzählen hören?«
»Von einer Sonne um Mitternacht? Geh, Sedrack, du bist ein Narr!«
»Es gibt eine Sonne, die um Mitternacht scheint. Reisende, die aus dem kalten Norden kommen, wo der Regen in weißen Körnern vom Himmel fällt und das Wasser hart wird, sodass es den Fuß trägt, haben mir davon erzählt. Es ist weit bis dorthin, wir können diese Erscheinung nicht sehen, doch die Mitternachtssonne ist zu uns gekommen. Gib acht es ist jetzt tiefschwarze Nacht, kein Stern steht am Himmel, die Lampe vermag die Finsternis kaum zu durchdringen, doch auf meinen Befehl soll dir die Sonne die Nacht zum Tag machen.«
Als hätte der letzte Satz ein Stichwort enthalten, so traten plötzlich vier vermummte Männer ins Zinnner, setzten eine Bahre nieder und entfernten sich stillschweigend wieder.
Auf ihr lag ein schwarzes Tuch, das eine Gestalt verhüllte.
»Es ist ein Mädchen«, sagte Nana Sahib, »doch du irrst, wenn du glaubst, ich kaufe es dir ab.«
Der Jude schlug das Tuch zurück.
»Die Sonne um Mitternacht!«, sagte er, den Radscha fixierend.
Dieser konnte einen Ruf der Überraschung nicht unterdrücken; wie geblendet stand er vor der holdseligen Erscheinung, die sich seinen Blicken darbot.
Auf der Bahre lag ein Mädchen von höchstens fünfzehn Jahren, keine voll entwickelte Südländerin, eine eben aufgebrochene Knospe, ihre Heimat musste der Norden sein. Sie glich einer Toten, wenn nicht das leise Heben und Senken des zarten Busens Leben verraten hätte. Das Antlitz mit den Zügen eines Engels war von der Weiße des Alabasters, es wurde von einer unbändigen Fülle goldener Haare umrahmt; eine Locke schlang sich kosend um die kleine Hand mit den rosigen Fingernägeln, die auf dem Busen lag, die andere ruhte unter dem Haupte. Die schneeige Weiße der Haut wurde noch dadurch gehoben, dass ein Gewand von schwarzem Tuch die ganze Gestalt bis hinauf zum Hals umschloss, die zarten Formen eben erkennen lassend. Unten sah ein nacktes Füßchen hervor, ebenfalls weiß wie frisch gefallener Schnee.
Die Wangen zeigten ein leichtes Rot; es schimmerte nur durch die durchsichtige Haut hindurch, wie wenn die Morgensonne die schneeigen Gipfel der Berge vergoldete und wunderbar waren die bläulichen Linien, welche sich längs des Halses erstreckten.
Wie mochte der Anblick erst sein, wenn sich die langbewimperten Augen öffneten; welch blauer Himmel mochte aus ihnen lachen!
Nana Sahib war außer sich, er war vor der Bahre auf die Knie gestürzt, wagte aber nicht, das Mädchen zu berühren. Er glaubte, ein Wesen aus himmlischen Höhen vor sich zu haben.
»O, wecke sie auf«, flüsterte er keuchend. »Lass mich in ihre Augen schauen!«
»Sie ist leicht betäubt!«, entgegnete der Jude. »Ich wollte nicht, dass sie erführe, wohin ich sie brächte, und so gab ich ihr vor wenigen Stunden einen Schlaftrunk
»Du Scheusal, wie kannst du bei diesem reinen Wesen solche Mittel anwenden!«
Der Jude unterdrückte ein widerliches Lächeln; sonst fragte dieser Radscha nicht viel, wie er seine Opfer bekam, dieses Mädchen aber hatte es ihm angetan.
»Nicht lange mehr dauert es, so wird sie erwachen, und du kannst dich am Blick ihrer Augen erfreuen. Dann erst wirst du die Mitternachtssonne im vollsten Glanze schauen. Hatte ich nicht recht, als ich sie so nannte?«
»Ja, es ist hell um mich geworden, es ist eine leuchtende Sonne in der Nacht. Wie konnte mich Narren je ein anderes Weib fesseln sprich, Sedrack, woher kommt dieses Wesen? Ist es eine überirdische Erscheinung, die beim Erwachen in Nebel zerrinnt?«
»Es ist ein Wesen aus Fleisch und Blut, eine ungebrochene Knospe, welche die Liebe noch nicht kennt. In stiller Zurückgezogenheit ist sie aufgewachsen, noch kein Mensch hat sie berührt, ihre Lippen sind keusch. Sie hat das Wort Liebe noch nie aussprechen hören, sie weiß nicht, was es ist, aber wunderbar wird es sein, wenn sie zum Leben erwacht, wenn ihr das Blut heiß durch die Adern zu rinnen beginnt. Du, Nana Sahib, bist dazu auserwählt, sie dem Leben zu geben.«
Auf diese Weise priesen die Mädchenhändler zwar jedes Stück Ware an, diesmal aber machten die Worte auf den Radscha einen tiefen Eindruck, er glaubte an sie. Verzückt blickte er auf die holdselige Erscheinung und lauschte den Worten des Juden, als enthielten sie ein Evangelium.
»Denkst du noch an die Rose von Kaschmir?«, fragte Sedrack jetzt mit schlauer Berechnung.
Dies gab dem Radscha das Bewusstsein wieder, er erhob sich und trat auf den Juden zu.
»Was verlangst du für sie?«
»Dasselbe, was man mir abforderte.«
»Wie viel war das?«
»Nichts.«
»Nichts?«, wiederholte Nana Sahib erstaunt.
»Nein, ich schenke sie dir.«
»Jude, du lügst oder willst mir eine Falle stellen! Bei des Propheten Bart, hüte dich, mich zu verspotten, ein Dolchstoß macht dich stumm; deinen Leichnam fressen die Hunde, und die Mitternachtssonne gehört doch mir.«
»Der Gott meiner Väter sei dir gnädig, erhabener Radscha, denn du bist ein gerechter Mann und wirst nicht einen elenden Juden ums Leben bringen, und sonst würde dir auch das schöne Mädchen aus dem Norden wieder genommen werden.«
»Wer will es mir nehmen?«
»Der, dem das Mädchen gehört.«
»Wem gehört es?«
»Ich weiß nicht.«
»Unsinn, Jude, du sprichst Torheiten! Fordere den Preis und betrüg mich nicht zu sehr!«
»Ich schenke sie dir; doch sie bleibt nicht bei dir, wenn du nicht zugleich ihren Talisman kaufst.«
»Ah, so steht die Sache! Das Mädchen schenkst du mir, doch den wertlosen Talisman soll ich kaufen. Schlau ausgedacht! Wie viel forderst du für ihn?«
»Dreimalhunderttausend Rupien«, sagte der Jude ruhig.
»Mensch, du bist von Sinnen! Für das Geld kann ich mir ja einen Harem mit dreihundert Weibern einrichten!«
»Sieh erst den Talisman, und dann urteile!«
Der Jude brachte aus den Falten seines Kaftans ein Kästchen hervor und öffnete es. Es enthielt einen kostbaren Schmuck, aus Armband, Ohrringen und Halskette bestehend. Sehr sorgsam gearbeitet, mit Edelsteinen verziert und von einem ganz originellen Geschmack, aber den geforderten Preis längst nicht wert.
»Dieses Geschmeide soll als Zugabe gelten?«, fragte der Radscha. »Ich mag es nicht!«
»Dann kannst du auch das Mädchen nicht behalten. Ich konnte es nicht anders bekommen, als dass ich den Schmuck mitkaufte.«
»Warum das?«,
»Ohne das Mädchen ist dieser Schmuck absolut wertlos. Hat dein scharfer Geist nun erraten, warum der Schmuck der Talisman des Mädchens ist?«
»Ah, ich verstehe!«, rief Nana Sahib. »Dieser Schmuck kann zum Verräter werden. Das Mädchen ist jedenfalls geraubt und hat den Schmuck getragen.
Er ist sehr auffällig und würde, wenn er erkannt wird, bald auf die Spur der Geraubten führen. Man darf ihn nicht verkaufen, er ist also wertlos, wenn man nicht als Zugabe das Mädchen nimmt. Ist es nicht so?«
»Radscha von Berar, was ist der weise Salomo gegen dich!«, rief der Jude mit Enthusiasmus, doch Nana Sahib blieb von dieser Schmeichelei ungerührt.
Mit Kennerblicken musterte er das Geschmeide. Die Steine und Perlen waren echt, das Ganze hatte etwas Fremdländisches an sich, das ihn anzog.
»100 000 Rupien mag es wohl wert sein, wenn es echt ist«, murmelte er.
»Gott der Gerechte, 100 000 Rupien! Sieh dieses Feuer, diese Fassung, diese Arbeit und«, fügte er schlau hinzu, »sieh dieses Mädchen. 500 000 Rupien sind beide unter Brüdern wert, ich lasse sie dir für 300 000 und will nichts verdienen, weil ich deine Hoffnung auf die Rose von Kaschmir getäuscht habe. Gib mir dein Wort, dass du zahlst, und das Geschmeide und die weiße Lilie sind dein.«
Es begann ein Feilschen, doch der Jude ließ nichts nach, weil er, wie er unter zahlreichen Anrufen Gottes versicherte, selbst so viel hätte bezahlen müssen, was der Radscha natürlich nicht glaubte.
Da stöhnte das Mädchen leise auf und bewegte die Hand. Dadurch wurde des Radschas Aufmerksamkeit abgelenkt, und seine Leidenschaft entbrannte aufs Neue.
»Wie kommt Sie nach Indien?«, fragte er.
»Ich kaufte sie einem Händler ab, der mich kannte. Ganz im Geheimen ward das Geschäft abgeschlossen, du weißt warum. Sie ist keine Kriegsgefangene, die man wilden Barbaren abkauft, sie ist eine vom Zweige gestohlene Blüte.«
»Woher bekam sie dieser Händler?«
»Er hat sie als kleines Kind bekommen und sie großgezogen. Als er sie erhielt, trug sie diesen Schmuck, und er kann ihn nicht anders verkaufen als mit dem Mädchen. Was nützt der Schatz, wenn man ihn nicht zeigen darf?
Doch nimm du ihn und schmücke damit die Lilie.«
»Was für Sprachen spricht sie?«
»Nur Türkisch und Arabisch. Du liest den Koran im Urtext, o, Herr, und kannst zu ihr also auch in ihrer Sprache von Liebe sprechen, und sie wird dir antworten.«
»300 000 Rupien!«, murmelte der Radscha.
Da stöhnte das Mädchen nochmals, Nana Sahib wandte den Kopf und blickte in ihre geöffneten Augen. Ein Meer von Wonne und Liebe leuchtete ihm daraus entgegen.
»Fort!«, herrschte er den Juden ungestüm an. »Her den Schmuck, ich nehme ihn!«
Er suchte den Juden hinauszudrängen, aber dieser stemmte sich gegen den Türpfosten.
»Fort, sagst du, aber wie steht's mit dem Bezahlen?«
»Komm morgen Abend in meinen Bungalow, nein, komm hierher! Dann bezahle ich dich!«
»Und wenn du mich nicht bezahlst?«
»Beim Barte des Propheten, ich gebe dir 300 000 Rupien.«
»Und was bekomme ich für meine Mühe?«
»Du wolltest nichts haben.«
»Keinen Verdienst, aber eine Vergütung.«
»Ich lege 1000 Rupien zu.«
»Schwöre!«
»Beim Barte des Propheten!«
Jetzt ließ der Jude sich willig hinausschieben, und Nana Sahib kehrte zu der Bahre zurück, auf der sich das schöne Mädchen halb aufgerichtet hatte.
Sie strich das goldene Haar aus der Stirn, schaute sich erst wirr um und heftete dann den ängstlichen Blick mit einem flehenden Ausdruck auf den Radscha.
»Wo bin ich?«, fragte sie leise, sich der türkischen Sprache bedienend.
»Bei mir, bei deinem Diener!«, rief der Radscha leidenschaftlich, stürzte vor ihr auf die Knie und ergriff ihre kleine Hand. »O, sieh mich nicht so ängstlich an, fürchte dich nicht vor mir, du weiße Lilie, ich will dich pflegen und hüten und auf den Händen tragen, nur sieh mich freundlich an...«
Er wollte ihre Hand an die Lippen pressen, doch plötzlich riss sie sich von ihm los, schnellte wie eine Feder empor und floh in den entferntesten Winkel.
»Zurück, du Ungeheuer, rühre mich nicht an!«, rief sie, und ihre silberne Stimme klang drohend. »Du glaubst eine türkische Sklavin vor dir zu haben, aber ich bin ein freies, weißes Mädchen, eine Christin. Man hat mich mit Gewalt fortgeschleppt, nachdem man mich betäubt; doch ich sterbe lieber, ehe ich mich herabwürdige. Ich weiß, wer ich bin, und die Zeit wird kommen, da man mich befreit und Rechenschaft von meinen Räubern fordert.«
Mit Bestürzung hörte Nana Sahib diese Worte. So hatte der Jude ihn belogen oder war selbst betrogen worden. Doch das Entzücken des Radschas wuchs nur, je länger er das Mädchen ansah. Die bis an die Knie herabwallenden Haare hüllten die schlanke Gestalt wie ein goldener Mantel ein; die blauen Augen blickten nicht mehr ängstlich, sie sprühten im Feuer des Zornes, und die Röte der Wangen stach wunderbar ab von der weißen Haut.
Nana Sahib sprang auf und stürzte auf die Schöne zu.
»Du bist mein!«, keuchte er, sinnlos vor Begierde. »Ich habe dich gekauft, du bist meine Sklavin, und wenn du dich weigerst, brauche ich Gewalt!«
Er hatte sie erreicht und wollte sie umschlingen, da blitzte ein Dolch in ihrer Hand. Vergebens! Gewandt wich der Inder dem tödlichen Stoß aus, presste derb ihr Handgelenk, unter einem Schmerzensschrei ließ sie die Waffe fallen und war in seiner Gewalt.
»Sinkolin«, rief das Mädchen, sich in des Radschas Armen windend,
»Sinkolin, rette mich!«
Schon beim Nennen dieses Namens ließ der Inder die Arme wie erstarrt sinken, fühlte sich alsbald von hinten mit eiserner Kraft ergriffen und wie ein Ball zurückgeschleudert.
Vor dem Mädchen stand eine kleine, magere Gestalt; Nana Sahib erblickte ein gelbes, faltiges Gesicht, aus dem die Augen drohend auf ihn geheftet waren.
»Sinkolin«, rief das Mädchen und stürzte dem Alten vor die Füße, »du hast mich zum zweiten Male gerettet!«
»Timur Dhar«, murmelte der Radscha bestürzt, seine Wut aber dennoch kaum bemeistern könnend, »warum trittst du zwischen uns?«
»Ändere deinen Ton oder trage die Folgen!«, erklang es herrisch zurück.
Eine stumme Verbeugung war die Antwort.
»Nana Sahib«, fuhr der rätselhafte Mann fort, diesmal jedoch milder, »du vergisst über deinen Frauen unsere Bestrebungen.«
»Herr, ich bin Mohammedaner, mir sind so viele Frauen erlaubt, wie ich erhalten kann!«
»So suche sie unter deinesgleichen aus, aber wage dich nicht an fremde, wodurch du unsere Pläne schädigen kannst. Schon einmal hast du ein fremdes Weib genommen, und was ist sie dir jetzt? Sie wäre ein Spielball deiner Launen, wenn sie dir nicht gewachsen wäre. Sag, wo befindet sich Ayda jetzt?«
»Sie erforscht das Geheimnis, was du gutgeheißen hast.«
»Nein, sie weiß es schon und befindet sich jetzt hier.«
»Hier? So hast du sie hergeführt?«
»Nein«, ertönte es abermals. »Sie selbst fand den Weg hierher. Sie ist klüger, als du denkst. Empfange sie und höre sie an, sie bringt dir freudige Botschaft. Das Mädchen hier«, er schlang den Arm um die Gestalt mit dem goldenen Haar, welche sich an ihn wie an einen Vater schmiegte, »gehört mir!«
»Dir?«, rief Nana bestürzt.
»Mir! Widersprich nicht!«
»Ich habe sie gekauft!«,
»Noch nicht!«
»Ich habe beim Heiligsten geschworen, den Juden zu bezahlen.«
»So bezahle ihn!«
»Timur Dhar, es ist mir nicht um den Verlust des Geldes, aber ich liebe dieses Mädchen!«
Der Gaukler stieß ein verächtliches Lächeln aus.
»Was verstehst du unter Liebe, Nana Sahib? Du glaubtest die Rose von Kaschmir, wie du Sie nennst, zu lieben; du branntest vor Sehnsucht, sie wiederzusehen, und nun, da dir eine andere untergeschoben worden ist, bist du sofort für diese entflammt. Dies Mädchen hier ist zu gut, um zum Spielball deiner Launen zu dienen. Ich nehme es mit mir.«
»Und wo bleibe ich?«, fragte der Radscha, sich trotzig aufrichtend. »Ich muss das Geld bezahlen.«
»Ja; es sei denn, der Jude kommt nicht wieder. Doch er soll wiederkommen und dein Geld empfangen, denn wir brauchen ihn noch.«
»So habe ich diese Summe verloren!«
»Dort liegt das Geschmeide, das du mitkauftest. Das Mädchen war nur eine Zugabe.«
Timur Dhar schien alles zu wissen.
»Das elende Geschmeide?«, lachte Nana grimmig. »Das Mädchen war die Hauptsache.«
»Behalte den Schmuck und schenke ihn deiner Lieblingsfrau.«
»Wem?«
»Derjenigen, die du dir gewünscht hast.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Höre mich an. Nana Sahib. Ich bin nicht gekommen, dich im Zorn zurückzulassen. Das Geschmeide ist dein; ich schenke es dir. Geh morgen nach deinem Bungalow, greife unter das zweite Kissen des Diwans, auf welchem du des Nachmittags ruhst, und du wirst englische Banknoten im Werte von 400 000 Rupien finden.«
»Dies Mädchen ist mir mehr wert, Geld ist kein Ersatz dafür.«
»So will ich dir einen dafür geben. Morgen Nacht sei hier; der Jude wird kommen, und du bezahlst ihn mit meinem Gelde. Nach Mitternacht wird ein Trupp Männer eintreffen und die Rose von Kaschmir bringen. Bist du nun zufrieden?«
Der Radscha war vor Staunen starr.
»Das ist nicht möglich«, stammelte er endlich.
»Was ist Timur Dhar nicht möglich?«
»Der Radscha von Mysore hat sie schon gekauft.«
»Auf meinen Befehl hin hat er bereits zu deinen Gunsten auf sie verzichtet.«
»Sie kann morgen Nacht noch nicht hier sein; der Weg erfordert viele Tagereisen.«
»Wenn Timur Dhar will, so wird sie zur bestimmten Stunde hier sein. Sei treu und eifrig!«
Der rätselhafte Mann winkte mit der Hand und verließ, das Mädchen mit sich führend, das Gemach.
Geblendet schaute Nana Sahib der wie von einem goldenen Mantel umgebenen Gestalt nach, bis sie am Arme des Gauklers verschwunden war.
Auch dann noch stand der Radscha lange Zeit da, vergebens bemüht, seine Gedanken zu sammeln. Er hätte das eben Erlebte für einen Traum gehalten, wenn dort nicht noch das Kästchen mit dem blitzenden Inhalt gestanden.
Ein Geräusch weckte ihn aus seinem Brüten; wieder betrat jemand das Gemach. Es war Ayda; eine triumphierende Freude leuchtete aus ihren Augen.
»Nana Sahib, wach auf, wach auf!«, rief sie. »Ich bringe dir eine freudige Botschaft, die dich über den Verlust, den du eben erlitten, noch mehr trösten wird als die Rose von Kaschmir.«
»Was weißt du davon?«, entgegnete der Radscha dumpf.
»Alles, wie du siehst. Meine Schuld ist es nicht; warum sprecht ihr so laut, dass jeder es hören muss?«
»Wie kommst du hierher?«
»Zu Fuß.«
»Allein, um Mitternacht?«
»Du bangst doch nicht etwa für mich?«, war die spöttische Entgegnung.
»Woher wusstest du, dass ich hier bin?«
»Hältst du dir deine Spione, die mich beobachten, so kann ich ja vielleicht mich ähnlicher Mittel bedienen.«
»Weib, benutze deine Freiheit nicht allzu sehr!«
»Fängst du wieder Streit an, mein Lieber? Tu's nicht! Ich bringe wunderbar gute Nachrichten; meine Rache soll einen neuen Triumph feiern.«
»Du hast diese Nacht bei Lord Canning verbracht.«
»Pfui, wie das klingt! Als wäre ich eine Bajadere! Mein befehlender Wunsch rief Lord Canning zu mir, er war für mich entflammt, und im Taumel der Leidenschaft entriss ich ihm sein Geheimnis.«
Der Radscha schaute das Weib mit großen Augen an; dann murmelte er etwas und wandte ihr wie verächtlich den Rücken. Plötzlich wurde sein Arm gepackt und heftig geschüttelt; vor ihm stand Ayda mit zusammengebissenen Zähnen.
»Ist das dein Dank?«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Hast du mich nicht selbst dazu aufgefordert, solch eine erbärmliche Rolle zu spielen? Und nun willst du mir verächtlich den Rücken wenden, du, der innerhalb von fünf Minuten zwei Weiber kaufen wollte? Aber du irrst, wenn du glaubst, ich wäre deinem Wunsche nachgekommen, wenn du glaubst, ich sei schon so tief gesunken!«
»Was hast du getan?«
»Lord Canning genießt jetzt die Früchte seines Verrats, die ich ihm versprach, ich aber stehe hier.«
»Deine Worte sind mir unklar.«
»Hahaha!«, lachte Ayda. »Ist das nicht einfach? Als ich den schmachtenden Jüngling so weit hatte, dass er mir alles gestand, durfte ich mit der Belohnung nicht länger zögern. Ich führte ihn an der Hand in das dunkle Nebenzimmer, ich verschwand, und die Bajadere, der das Haus gehört. spielt meine Rolle weiter. Wenn Lord Canning heute früh aufwacht, wird er nicht schlecht verdutzt sein, weder in den Armen der schönen Haremsdame, noch in denen seiner Königin zu liegen, sondern sich an der Seite einer allgemein bekannten, käuflichen, frechen Bajadere wiederzufinden.«
Ayda verschwieg also, dass Lord Canning ihrer Einladung nicht gefolgt war und dass Westerly seine Rolle übernommen hatte. Einmal wollte sie sich der Demütigung nicht aussetzen — denn das war es für sie, dass Canning ihre Liebe verschmäht hatte, wie Westerly wenigstens gesagt — und dann hoffte sie zugleich, dadurch, dass sie jetzt und fernerhin Lord Canning für den nächtlichen Besucher ausgab, an ihm noch einmal Rache für die angetane Beleidigung nehmen zu können.
Kein Weib, und wäre es noch so tief gefallen, lässt seine Liebe abweisen, ohne mit Bitterkeit erfüllt zu werden.
»Und was hat er gesagt?«, fragte der Radscha.
»Ich weiß, wer der geheime Kurier ist.«
»Nun?«
»Rate!«
Nana Sahib sah die Augen des Weibes vor dämonischer Freude glänzen.
»Wie soll ich den betreffenden Mann kennen?«, entgegnete er.
»Es ist Sir Carter!«
Der Radscha stieß einen Ruf der Überraschung aus.
»Ja, er kommt, er ist schon in Indien«, fuhr Ayda fort, deren sich eine furchtbare Erregung bemächtigt hatte; »die Person des geheimen Kuriers ist äußerst schlau gewählt. Der unglückliche Vater reist von Land zu Land, er besucht jedes Gouvernement, lässt sich Geleitsbriefe ausstellen; überall empfängt man den beklagenswerten Mann mit offenen Armen, selbst alle Radschas werden ihm behilflich sein, und niemand ahnt, dass er sich dabei ganz unbemerkt seiner geheimen Depeschen entledigt.«
»Wir müssen sie haben!«, knirschte der Inder.
»Überlass ihn mir«, rief Ayda, »und so sicher, wie ich die erste Entdeckung gemacht habe, liefere ich euch auch die geheimen Depeschen aus.«
»Er kann seinen Auftrag auch mündlich ausrichten.«
»So soll er mir ihn erzählen. Ich weiß einen Preis, für den er mir alles verraten würde.«
»So mach mit ihm, was du willst! Aber bedenke, er wird dich erkennen!«
»Das soll er gerade«, rief Ayda in wildem Jubel, »sonst werde ich mich ihm zu erkennen geben, wenn mich Indiens Sonne zu sehr verändert hätte.
Mein Fluch wird schneller in Erfüllung gehen, als ich zu hoffen gewagt habe.«
In goldener Pracht lag die Morgensonne auf den Dächern der Häuser und Hütten von Akola und zauberte auch in den Straßen, wie draußen in Wald und Flur, ein tätiges Leben hervor.
Mit fröhlichen Gesichtern eilten die halbnackten Kulis zur täglichen Arbeit; Männer, auf den Schultern lange Stangen, an deren Enden Eimer herabhingen, ließen ihr melodisches ›fâkin‹, Milch, ertönen, braune Diener öffneten die Türen und nahmen ihnen ihr tägliches Quantum ab, und tiefverschleierte Weiber, mit Körben voll Früchten und Gemüse, strebten dem Marktplatze zu.
Überall herrschten Heiterkeit, Lachen und Scherzen, nur im Innern des Mannes, der im grauen Staubmantel und Schlapphut mit müdem Schritt durch die entlegensten Gassen schlich, sah es öde und trostlos aus.
Nicht die ausschweifende Nacht war es, die Edgar Westerly so niederbeugte, der heute Morgen entdeckte Betrug und hauptsächlich das Bewusstsein, ein Dienstgeheimnis ausgeplaudert zu haben, lasteten mit Zentnerschwere auf seinem Gewissen.
Je mehr es tagte, desto tiefer zog er den Hut über die Augen, bei jedem ihm begegnenden Eingeborenen sah er scheu zur Seite, und erblickte er in der Ferne eine weiße Kleidung und einen Tropenhelm, die Tracht der Europäer, so bog er schnell in eine Gasse ab.
Endlich war es ihm gelungen, das Gouvernement zu erreichen, ohne einen ihm Bekannten getroffen zu haben. In tiefer Stille lag das Haus da; er schloss die Tür auf, auf der Treppe begegnete ihm kein Diener — sie brauchten hier nicht zu wachen, denn überall befanden sich diebessichere Schlösser — und so gelangte er auch unbemerkt in sein Schlafzimmer.
Mit einem Fluch warf er Mantel und Hut ab und legte sich aufs Bett.
Nur zwei Stunden blieben ihm noch zur Ruhe, denn die Bürostunden beginnen im heißen Indien zu einer ganz ungewöhnlich frühen Zeit, endigen dafür aber auch schon spätestens ein Uhr.
Doch dem Todmüden blieb der Schlaf versagt; immer wieder gaukelte ihm seine Phantasie das vor, was er diese Nacht getan und gesprochen. Mit Schrecken gewahrte er den Abgrund, vor den sein Leichtsinn ihn gebracht hatte.
Dieses Weib war eine Teufelin in menschlicher Gestalt gewesen; sie hatte ihn mit Verführungskünsten umstrickt, wie vorher noch keine andere. Er hielt ihre Fragen für unschuldige Neugier; er beantwortete sie erst, so weit er es durfte, dann, als sie verfänglicher wurden, versuchte er Ausfluchte zu machen, aber es gelang ihm nicht. Des Weibes Schönheit und Schmeichelei waren unwiderstehlich gewesen. Dazu hatte er den betäubenden Tabak von Schiras geraucht, der in keinem Harem fehlt, Mastix, Sangarih-Punsch, Scherbet und andere Sachen getrunken, die anfangs unschuldig wie Zuckerwasser schmecken, später aber vollkommen das Bewusstsein rauben, einen seligen Taumel herbeiführen.
Kurz, Westerly hatte geplaudert, alles verraten, wonach er gefragt worden war, und als er heute Morgen erwachte und den Betrug bemerkte — da kam er zur Besinnung.
Er hatte die Mission Sir Carters als geheimer Kurier verraten, und jenes Weib hatte ihn nur ausgehorcht, um aus seinem Verrat Nutzen zu ziehen.
Es war eine Agentin der Gegenpartei Englands gewesen, vielleicht gar keine Inderin, sondern nur eine raffinierte Abenteurerin.
Stöhnend wälze sich Westerly auf seinem Lager. Was würde die Folge dieses Verrates sein! Er wagte kaum daran zu denken.
Als er sich nach zwei Stunden erhob, hatte sein Gesicht einen furchtbar entschlossenen Ausdruck angenommen. Jetzt gab es keine Umkehr mehr, er musste auf dem einmal betretenen Wege weiterschreiten.
Die Einladung des Weibes hatte Lord Canning gegolten — die Karte besaß er noch — Ayda fühlte sich tief beleidigt, dass Canning ihr liebebedürftiges Herz verspottet haben sollte — sie würde sicher keine Gelegenheit zur Vergeltung sich entgehen lassen. Die Bajadere hatte ihn Lord Canning genannt.
Ja, selbst der Offizier gestern Abend hatte ihn für Canning gehalten.
Gut, Westerly war entschlossen, wenn der Verrat ans Tageslicht käme, die Schuld auf seinen Freund zu wälzen. Die Karte war eine mächtige Anklage; er selbst wollte sein Alibi schon beweisen, und etwaige Diener, die ihn gesehen — bah, wer gab hier etwas auf das Zeugnis eines Kulis! Niemand, so lange sie nicht in Masse auftraten.
Der falsche Freund beruhigte seine Nerven durch einige Glas Kognak und begab sich ins Büro, wo er bereits Lord Canning vorfand. Es machte ihm durchaus keine Schwierigkeiten, dem, den er verraten, offen ins Auge zu schauen und ihm Glück zu seinem frischen, blühenden Aussehen zu wünschen.
»Das Fieber wieder überstanden?«
»Gott sei Dank, und zwar ohne Benutzung Ihrer Ratschläge. Und haben Sie sich akklimatisiert, Westerly? Sie sehen angegriffen aus.«
»Ich habe gestern Abend gegen das Schicksal gefrevelt«, lachte Westerly.
»Kaum war ich von Ihnen fort, so packte auch mich ein Schüttelfrost, ich glaube, Sie haben mich angesteckt. Ich habe es wie Sie gemacht, mich ins Bett gelegt und geschwitzt. Aber sagen Sie aufrichtig, Lord, waren Sie gestern Abend noch einmal fort?«
»Ich? Wo denken Sie hin! Ich konnte mich kaum aufrecht halten.«
»Merkwürdig, dann habe ich mich getäuscht.«
»Wie kommen Sie auf diese Frage?«
»Ich glaubte, gestern Abend, als ich im Bett lag, Ihren leichten Schritt auf dem Korridor gehört zu haben, und ebenso wieder heute Morgen.«
»Sie haben geträumt!«, lachte Canning.
Der erste Sekretär, ein stiller, ernster Mann, betrat das Kontor. Die Bürostunden begannen, aber die Unterhaltung ward deswegen nicht unterbrochen. Es war sehr wenig zu tun; die laufenden Arbeiten wurden schnell erledigt, und dann besprach man wieder die Tagesereignisse und Anderes.
Die Post brachte eine Abwechslung.
Mit dem Verkehr sah es damals in Indien schlimm aus. An der Westküste wurde die erste Eisenbahn gebaut. Sonst dienten Wagen und Pferde zur Reise auf den guterhaltenen Landstraßen, wenn man sich auf dem Wege von einer großen Stadt zur andern befand.
Kleinere Ortschaften konnte man oft nur zu Fuß erreichen, denn der Weg führte durch Urwälder und Dschungeln, für Pferd und Wagen nicht passierbar.
Anfangs hatten die Engländer für die Post Kavalleristen verwendet, dann aber gefunden, dass sich Eingeborene besser dazu eigneten. Die nackten Kulis rannten im glühenden Sonnenschein oder endlosen Regen unermüdlich von Ort zu Ort, die englischen Pflanzer, Kaufleute und Beamten pünktlich mit Briefen und Zeitungen aus dem auf ihren Rücken geschnallten Sack versehend. Die Buschen waren treu und zuverlässig, nur selten kam eine Betriebsstörung vor, und dann war jedes Mal ein blutdürstiger Tiger oder ein Panther daran schuld, der den Briefträger bis auf Postsack und Lendenschurz aufgefressen hatte.
Eben brachte man die Nachricht, eine ganze Gegend von Berar sei schon seit einigen Tagen ohne Post gewesen, und das Rätsel war bald gelöst, als man nach und nach in den Dschungeln vier volle Postsäcke neben ebenso vielen Blutlachen fand. Ein Königstiger schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, alle Postboten Indiens zu verspeisen; aber beim Sprunge auf den fünften traf ihn die sichere Kugel eines Engländers ins Auge.
Westerly bedauerte lebhaft, dass ihm ein Jäger zuvorgekommen, sonst wäre für ihn eine herrliche Gelegenheit gewesen, seinen Jagdtrophäen eine neue hinzuzufügen.
Unter solchen Verhältnissen war es natürlich, dass, wenn unter den Gouverneuren wichtige oder geheime Dokumente zirkulieren sollten, eine andere Post gewählt werden musste. Dann reiste ein Sekretär selbst im Lande umher, umgeben von englischen und eingeborenen Soldaten, sogenannten Sepoys, und sein Gefolge, alle Bequemlichkeiten für eine beschwerliche Reise mit sich führend, glich dem eines Fürsten. —
Neben dem Gouvernementsgebäude stand die leichtgebaute Kaserne des in Akola liegenden englischen Bataillons. Von den Fenstern des geheimen Kabinetts aus konnte man die Rotröcke nach den Kommandos von Unteroffizieren und einigen Leutnants leichte Übungen vornehmen sehen. Der Höchstkommandierende jeder Provinz war der Gouverneur selbst. Der Handel lag damals in den Händen der ostindischen Kompanie, und diese wandte sich in drohenden Zeiten an den Gouverneur um Hilfe, der die Regierung vertrat.
Über den Gouverneuren stand ein Generalgouverneur, der in Delhi residierte.
Außer den wenigen englischen Bataillonen war über ganz Indien noch ein stehendes Heer von eingeborenen Soldaten verstreut. Diese standen unter direktem Befehl von indischen Offizieren, diese wieder unter dem der Radschas, diese wieder unter dem des Großmoguls Bahadur, welcher ebenfalls seinen Sitz in Delhi aufgeschlagen hatte.
Die indischen Offiziere waren von den Engländern vollkommen unabhängig. Radscha Nana Sahib allein befehligte über 8000 Infanteristen und 2000 Reiter, und eifersüchtig wachte er darüber, dass kein englischer Befehl an seine Truppen erging. — Wie schon seit einigen Tagen, aber ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, kam auch heute der Gouverneur bereits zu sehr früher Stunde in das Kabinett, begrüßte die Herren und begab sich in sein Privatkontor. Arbeit für ihn lag nicht vor, und man hörte ihn heute ungeduldiger als je auf und ab schreiten. Er unterbrach seinen Weg nur, um am Fenster stehen zu bleiben und an den Scheiben zu trommeln.
»Ich wette, er kommt heute!«, flüsterte Westerly dem ersten Sekretär zu.
»Möglich, wir erwarten ihn ja jeden Tag!«
»Ich habe eine Ahnung, dass er gerade heute eintrifft!«
»Sie werden in letzter Zeit recht von Ahnungen und Träumen geplagt«, lächelte Lord Canning.
Im Nebenzimmer hörte man den Gouverneur heftig durch das Zimmer eilen, eine Glocke ertönte, Diener kamen herbeigestürzt.
Sofort blickten die Herren durch das Fenster und sahen in diesem Moment eine Reiterschar um die Waldecke biegen. Sie bestand aus zwei englischen Kavalleristen und einigen eingeborenen Dienern, die viel Gepäck auf den Pferden bei sich führten. An der Spitze des Zuges ritt ein Mann im Tropenanzug, jedoch nicht in Uniform.
»Er ist es, Sir Carter!«, rief Westerly, und eine flammende Röte flog dabei über sein Gesicht.
»Mäßigen Sie sich!«, warnte der Sekretär.
»Soll ich mich nicht wundern, den Mann, der durch sein Unglück berühmt geworden ist, plötzlich hier auftauchen zu sehen?«, entgegnete Westerly.
Die Reiter waren in den Hof gesprengt und saßen ab. Carter eilte sofort ins Innere und wurde vom Gouverneur schon auf der Treppe bewillkommt.
Der alte Beamte, dessen Haar im Dienste ergraut war, streckte Sir Carter mit tiefstem Mitleid die Hand entgegen. Er hatte diesen vor noch nicht drei Jahren als den lebenslustigsten Offizier kennen gelernt, heiter im Zeltlager, heiter inmitten des heftigsten Schlachtgewühls.
Er hatte von seinem Glück im fernen, Vaterland gehört, ihm zur Hochzeit und zur Geburt seines Kindes gratuliert. sich im Stillen mit ihm gefreut. Der junge Offizier mit dem fröhlichen Gesicht und den strahlenden Augen hatte immer vor seiner Seele geschwebt, und nun stand er ihm gegenüber. Wie hatte er sich in kurzer Zeit verändert! Der Frohsinn war aus Frank Carters schönem Antlitz entschwunden, und jener harte Zug von unbeugsamer Entschlossenheit, welcher früher nur an einer tiefen Falte zwischen den Auge zu lesen war, herrschte jetzt vor.
Sir Stanhope, der Gouverneur, begrüßte Carter kurz. Sein Mitgefühl verbot ihm alle Zeremonie, und führte ihn dann in das Kabinett.
»Sie treffen bekannte Herren, wenigstens einen — Lord Canning«, sagte er.
Hinter Carter drängte sich ohne Aufforderung ein kleiner Chinese, fast noch ein Kind, durch die Tür.
»Es ist Kiong Jang, mein Begleiter!«, erklärte Carter.
Der Gouverneur wusste schon, dass der Kleine dem Reisenden als Führer und Ratgeber in Indien beigegeben war. Er duldete daher dessen Eintritt in das Kabinett.
Die Herren wurden einander vorgestellt.
»Sie waren der erste, der mir Glück wünschte, als nach trüben Tagen die Sonne mir wieder zu strahlen begann!«, sagte Carter, Lord Canning die Hand schüttelnd. »Ich fasse es als ein gutes Omen auf, Ihnen hier wieder zu begegnen.«
»Haben Sie noch keine Spur gefunden, die an das Ziel führen könnte?«, mengte sich Westerly dazwischen.
»Leider noch nicht, doch ich stehe ja erst am Beginne meiner Nachforschungen!«
»Das ist trotzdem entmutigend.«
»Traurig wohl, aber nicht im Geringsten entmutigend für mich!«
»Erst etwas für Sie, was Sie am meisten interessieren wird!«, sagte der Gouverneur. »Ein Brief ist Ihnen vorausgeeilt!«
Hastig öffnete Carter das Schreiben, es kam von seiner Gemahlin. Beim Lesen stellte er sich ans Fenster, sodass man sein Gesicht nicht sehen konnte. Das Schreiben enthielt nichts, was ihn hätte betrüben können, aber eben deswegen erfüllte es Carter mit bitterer Trauer.
Emily schrieb so heiter, als wäre sie in der glücklichsten Stimmung. Wohl habe sie oft Sehnsucht nach ihrem Gatten, doch Eugenie, ihr Töchterchen, erfülle sie mit Trost.
Der ganze Brief handelte fast nur über das Wohlergehen des indischen Kindes, das Emily für das ihrige hielt, Eugenie nannte und mit Zärtlichkeit überhäufte, noch ganz so, wie Carter sie vor wenigen Monaten verlassen hatte, sonst vollkommen bei Vernunft erscheinend, litt sie an dem stillen Wahn, der indische Junge sei ihre Tochter.
Carter hatte sie unter dem Schutze eines Arztes und ganz besonders unter dem seines treuen Dieners Jeremy zurückgelassen. Sie lebte nicht mehr in London, sondern auf einer Besitzung in Nottingham. Der Wechsel des Aufenthaltsortes konnte ihr Leiden vielleicht bessern. Auf Anraten des Polizeidirektors hatte Carter sein Haus unter die Verwaltung eines Detektivs gestellt, der auf die Dienerschaft, ganz besonders aber auf das indische Dienstmädchen, ein scharfes Auge behielt.
Carter steckte den Brief in die Tasche und wandte sich um. In seinem Gesicht war nichts von dem Schmerz zu lesen, der in ihm wühlte.
»Sie sind doch unterrichtet, wie es in meinem Hause steht« fragte er.
»Vollkommen. Die Zeitungen bringen oft mehr, als man wissen will, und als die Rücksicht auf die Mitmenschen erlaubt.«
»Es ist alles noch beim Alten. Was ich früher für einen furchtbaren Schicksalsschlag hielt, erkenne ich jetzt als eine Wohltat. Ich danke Gott, dass meine Gattin nicht die Schwere der Sachlage fühlt.«
»Und Sie haben noch keinen Anhaltepunkt betreffs des Verbrechens gefunden?«, fragte jetzt auch der Gouverneur.
»Nicht den geringsten. Ich betrat Indien in Bombay und konnte dort nichts weiter erfahren, als dass Timur Dhar ein Gaukler gewesen sei, der vor etwa vier Jahren noch bettelnd und sich produzierend im Lande herumgezogen sei. Seitdem ist er verschwunden. Mit einem Geleitsbrief des Gouverneurs von Bombay versehen, reiste ich durch Nizam, berührte Warungul, wo sich der Gouverneur gerade aufhielt, und wandte mich dann direkten Weges hierher. Wie gesagt, ich stehe erst am Beginn meiner Unternehmung und verzage deshalb nicht. Sir Stanhope, ich darf Sie wohl um einen Begleitbrief durch Berar und um Empfehlung an den Gouverneur der Zentral-Provinzen, mein nächstes Ziel, bitten.«
»Ich stehe Ihnen vollkommen zur Verfügung«, entgegnete Stanhope;
»doch mache ich Ihnen den Vorschlag, sich einen Schutzbrief von Nana Sahib, dem Radscha von Berar, ausstellen zu lassen. Dieser Radscha ist, so klein sein Reich auch sein mag, der Mächtigste in Indien, weil er ein Enkel des Großmoguls ist. Gerade in den Zentralprovinzen würde Ihnen ein englischer Pass nur wenig nützen, dort sind die Engländer zu sehr verhasst, ein Brief von Nana Sahib dagegen öffnet Ihnen Türen und Herzen.«
»Wann könnte ich den Radscha darum angehen?«
»Lord Canning, der mit ihm am meisten geschäftlich verkehrt, wird Sie ihm vorstellen. Doch ich hoffe, dass Sie sich bei mir erst von den Reisestrapazen ausruhen.«
»Nicht länger, als unumgänglich notwendig ist, meine Kräfte zu ersetzen.
Und Sie, meine Herren, können Sie mir keine nützlichen Mitteilungen machen?«
Wie überall, so begegnete Carter auch hier nur mitleidsvollem Achselzucken.
»Mir ist der Name Timur Dhar noch niemals zu Ohren gekommen«, meinte Stanhope.
»Timur Dhar ist ein Lump, ein großer, großer Spitzbube«, ließ sich der Chinese aus der Ecke vernehmen, wo er bis jetzt teilnahmslos gesessen hatte, »ein viel größerer Halunke, als ich früher gewesen bin.«
»Selbsterkenntnis ist der Anfang aller Weisheit«, lachte Westerly. »Hast du mit Timur Dhar früher Kompaniegeschäfte gemacht?«
»Nein. Willst du welche mit ihm machen?«, kam es schlagfertig zurück.
Carter bemerkte, wie die Augen des Gouverneurs mit seltsamem Ausdrucke unverwandt auf ihm ruhten, und er hatte ihn verstanden. Er nickte leicht und wurde in das Privatkontor geführt. Der erste Sekretär folgte.
Westerly war bei der Antwort des Chinesen zusammengezuckt. Finster musterte er den Burschen, dessen Züge den Stempel der größten Verschlagenheit trugen.
»Höre, Bursche«, sagte er drohend, »deine Dreistigkeit ist hier nicht am Platze. Wenn du dich ungehörig benimmst, lasse ich dich hinauswerfen.«
»Du hast hier ebenso wenig zu befehlen wie ich«, entgegnete der Chinese gleichmütig.
Westerly sprang zornig auf, doch Lord Canning mengte sich ein.
»Lassen Sie den Jungen zufrieden, ich bitte Sie. Sie wissen doch, dass er keine unwichtige Rolle spielt, und es ist natürlich, dass er sich etwas darauf einbildet.«
Der aufgeregte Engländer setzte sich mit einem unverständlichen Murmeln wieder und beugte sich über seine Papiere.
»Du bist also der Mann, der in London zum Detektiv ausgebildet worden ist und dem sich Sir Carter anvertrauen soll?«, fragte Canning den kindlichen Chinesen mit unverhohlener Verwunderung.
»Ja, Kiong Jang ist Detektiv.«
»Bist du in China aufgewachsen?«
»Nein, meine Heimat ist Indien. Timur Dhar hat mich als kleines Kind gestohlen und mich zu seinen Kunststücken verwendet.«
»Ah, so kennst du Timur Dhar persönlich?«
»Freilich kenne ich ihn.«
»Glaubst du auch an seine Allmacht?«
»Timur Dhar ist ein geschickter Gaukler, weiter nichts.«
Canning hörte zum ersten Male aus dem Munde eines Eingeborenen diesen Zweifel aussprechen. Alle anderen, die sich Timur Dhars noch von früher her entsinnen konnten, redeten von ihm wie von einem geheimnisvollen Wesen, am liebsten aber überhaupt nicht.
»Ist es dir denn nicht aufgefallen, dass ein Inder, der sich Timur nannte, in London als Zauberkünstler auftrat?«
»Ich habe den Mann gesehen, ich erkannte ihn nicht als Timur Dhar, er arbeitete auch nicht besonders geschickt. Timur ist ein häufiger Name, und ich glaubte, er hätte sich nach dem bekannten Gaukler so genannt, wie es sich auch herausgestellt hat. Aber dennoch...«
Der Chinese brach ab und war nicht wieder zum Sprechen zu bringen. Er zog unter seinem blauen Jäckchen eine an einer Lederschnur hängende Porzellanfigur hervor, einen sitzenden Menschen von entsetzlicher Hässlichkeit darstellend, und begann damit zu spielen.
Fast jeder Chinese besitzt solch einen Götzen, den er immer mit sich herumträgt. Er gibt ihm keinen Namen, er betrachtet ihn auch nicht als das Bild eines höheren Wesens, er ist eben nur ein Fetisch, und zwar eine Art von Wünschelrute. Hat der Chinese einen Wunsch, so trägt er ihn dem Götzen vor; geht die Sehnsucht in Erfüllung, dann streichelt und küsst er die Figur, andernfalls bekommt sie Prügel, wird an die Wand geworfen und mit Füßen getreten.
Des kleinen Chinesen Gott musste schon eine schlimme Behandlung erlitten haben, denn Ohren und Nase waren abgebrochen und die Figur auch sonst beschädigt. Jetzt hockte er am Boden und unterhielt sich murmelnd mit seinem Fetisch, Lord Cannings Fragen gar nicht beachtend. —
Unterdes hatte im Nebenzimmer der Gouverneur von Carter ein sorgsam mit Gummi umwickeltes Pergament erhalten. Beim Lesen desselben verdüsterten sich die Züge des alten Mannes; die Gouverneure der einzelnen Provinzen Indiens wurden mit einem schweren Auftrage betraut.
Den Radschas sollte das Oberkommando über die eingeborenen Truppen genommen werden, die indischen Offiziere blieben in ihrer Stellung, wurden aber abhängig vom Gouverneur.
Diese Änderung nach und nach vorzubereiten, ohne dass ein Aufstand der in ihren Rechten gekränkten Inder zu befürchten wäre, war die Aufgabe der Gouverneure.
Die englische Regierung verlangte nichts Unmögliches, nicht mit einem Schlage sollte die Änderung durchgeführt werden, sondern man erwartete, dass es eines Zeitraumes von etwa zehn Jahren dazu bedürfe. Das Schreiben führte genau aus, wie vorzugehen war, Jahr für Jahr, und zwar bediente man sich schlauer Mittel.
Das erste war, dass man sich die Radschas verpflichtete, und dies geschah, indem die englische Regierung die Besoldung und Montierung der indischen Truppen zum Teil übernahm. Dies schlugen die Radschas sicher nicht ab, und war man erst so weit, konnte man nach und nach alles nach englischem Geschmack organisieren.
Der Sekretär nahm eine Abschrift des Befehls, und nachdem Stanhope das Dokument unterzeichnet, verbarg Carter es wieder im Innern der Weste. »Es ist eine schwere Arbeit, sie erfordert die größte Vorsicht«, sagte Stanhope. »Fiele dieses Schreiben in die Hände eines Radschas, so flammte der Aufstand sofort lichterloh empor.«
»Wer vermutet es bei dem Vater, der sein Kind sucht!«
»Ja, die Wahl des Kuriers war eine gute. Wollte Gott, die militärische Macht der Radschas wäre schon gebrochen. Solange diese heißblütigen Inder über Soldaten zu befehlen haben, sitzen wir immer wie auf einem Pulverfasse.«
»Wie denken Sie? Soll ich Nana Sahib um den Geleitsbrief bitten, bevor Sie ihn gesprochen haben?«
»Vorher! Gerade Nana Sahib ist einer der Misstrauischsten; er wittert immer eine geplante Unterdrückung seiner Macht, und ehe ich ihm mein Anerbieten mache, bedarf es einer reiflichen Überlegung. Wenn Sie damit einverstanden sind, so wird schon morgen Lord Canning Sie vorstellen.«
»Je eher, desto besser; mir brennt der Boden unter den Füßen.«
Carter nahm das Anerbieten an, in des Gouverneurs Villa, die dieser mit Familie bewohnte Quartier zu nehmen. Westerly versuchte vergebens Ihn zu einem Besuch bei englischen Familien zu bewegen, Carter wollte Fragen ausweichen, die seinen Schmerz aufrührten; er wollte allein sein.
Er verbrachte den Tag in Stanhopes Familie, während Kiong Jang in der Stadt und Umgegend umherstrich und Erkundigungen einzog. Er brachte aber nichts mit, was beide nicht schon wussten.
Abends gingen sie zeitig zur Ruhe, sie waren von der Reise ermüdet. Ihre Zimmer lagen nebeneinander im ersten Stock. Kiong Jang war nicht nur trotz seiner Jugend ein gewandter Detektiv, er war dem, der ihm anvertraut, auch ein treuer Diener und wachte über die Sicherheit seines Herrn.
Es war eine schwüle Nacht gewesen; am Morgen öffnete der Himmel seine Schleusen und sendete einen Regen herab, wie man ihn nur in Indien erleben kann. Nach einer Stunde glich der Garten vor Stanhopes Villa einem See, doch als die Sonne hinter Wolken vorkam, wurde er ebenso schnell wieder ausgetrocknet. Der kurze Regen war ein langgefühltes Bedürfnis gewesen, die schlaffen Pflanzen richteten sich wieder auf, Menschen und Tiere sogen mit Wolllust die frische Luft ein.
Man hatte im Frühstückszimmer vergebens auf Carter gewartet, er wie sein Diener, ließ sich nicht sehen, und Stanhope gab den Befehl, sie nicht zu wecken.
Der Gouverneur musste ins Kabinett, es gab jetzt viel für ihn zu tun. Vor seiner Abfahrt ließ er die Weisung zurück, Sir Carter möchte ihn nach dem Frühstück aufsuchen, dass er mit Lord Canning noch am Vormittag zu Nana Sahib gehen könnte. Des Nachmittags war der Radscha nicht zu sprechen.
Stanhope war in seine Arbeit vertieft, als ihn einer seiner Hausdiener zu sprechen verlangte.
Der Hindu sah verstört aus, mit sichtlicher Scheu trat er vor seinen Herrn hin.
»Lady Stanhope sendet mich, Sahib möchten doch gleich nach Haus fahren«, meldete er.
»Was ist geschehen? Doch kein Unglück?«, fragte Stanhope bestürzt, den Rock vertauschend.
»Der fremde Herr und der Chinese sind gestohlen worden.«
»Gestohlen? Du träumst wohl!«
»Sie sind fort.«
»Und darum diese Aufregung? Sie werden einen Morgenspaziergang gemacht haben.«
»Nein, Lady sagt, sie wären verschwunden. Sie wollten gar nicht aufstehen, und da sagte Lady, ich sollte sie wecken. Ich klopfte oft an die Tür, niemand antwortete, und schließlich machte ich dieselbe auf. Der fremde Herr war fort, der Chinese auch, das ganze Zimmer war in Unordnung.«
Jetzt wurde Stanhope doch besorgt. Er bestieg den Wagen und fuhr nach Hause.
Der Inder hatte ganz richtig erzählt. Die beiden mussten das Haus während der Nacht verlassen haben, obgleich niemand sie gesehen oder gehört hatte. Der Inder, der die Stelle eines Portiers vertrat, behauptete, die Haustür sei heute Morgen geschlossen gewesen, der Schlüssel hätte inwendig gesteckt. Das war kaum möglich, die beiden konnten ihren Weg doch nicht durchs Fenster genommen haben.
Wohin mochten sie nur gegangen sein? Ihr Verschwinden war rätselhaft.
Mit bangen Ahnungen erfüllt, betrat Stanhope die Zimmer der beiden.
Er dachte im Augenblick weniger an Carter als an die geheime Kabinettsorder, die dieser auf der Brust getragen. Das Zimmer des Chinesen war unverändert, das Bett zeigte die Abdrücke eines menschlichen Körpers, das Zimmer Carters dagegen machte, wie der Inder gesagt, einen unordentlichen Eindruck. Der Inhalt eines Koffers lag zerstreut am Boden, als hätte Carter vor dem Verlassen etwas Verstecktes gesucht, das Bett war unberührt. Der Verschwundene hatte bis spät in die Nacht geschrieben, auf dem Tische lagen Papiere, darunter ein angefangener, jäh abgebrochener Brief. Das Datum war das gestrige.
Ferner nahm Stanhope sofort einen schwachen Petroleumgeruch wahr, und es ergab sich dass die Lampe ausgebrannt war. Sie war wahrscheinlich gegen Morgen von selbst ausgegangen.
Stanhope trat an den Tisch und las ohne Bedenken den angefangenen Brief. Er war in zärtlichen Worten an Carters Gattin gerichtet und brach schon in der Einleitung ab.
Plötzlich erweiterten sich die Augen des Gouverneurs, er sah auf dem Tisch neben einem Kuvert aus Reispapier ein anderes Schreiben liegen, und der Beamte hatte es schon mit einem flüchtigen Blick überflogen.
»Was ist dir?«, rief Lady Stanhope erschrocken, als ihr Mann das Papier mit zitternden Händen hielt und die Augen nicht von ihm wenden konnte.
Sein Gesicht war totenbleich geworden, die Augen traten fast aus dem Kopf.
»Nichts, nichts!«, sagte Stanhope, sich zur Ruhe zwingend, aber seine bebende Stimme strafte ihn Lügen. »Verlass das Zimmer! Ich bitte dich! Schick nach dem Büro! Die Sekretäre sollen sofort hierherkommen.«
Er antwortete nicht auf die besorgten Fragen seiner Gattin.
In einer Viertelstunde waren der erste Sekretär, Lord Canning und Westerly bei ihm, sie fanden ihren Chef noch immer in der größten Aufregung.
»Meine Herren«, empfing Stanhope sie mit dumpfer Stimme, »ich wage kaum auszusprechen, was ich soeben entdeckt habe. Ich bitte zu Gott, dass ich mich im Irrtum befinde. Sir Carter ist diese Nacht nebst seinem Diener, dem Chinesen, aus meinem Hause verschwunden, auf seinem Tische lag dieser Brief.«
Er faltete das eben gefundene Schreiben auseinander. Es war indisch geschrieben, das Datum war das gestrige.
Sire. — Sie reisen vergebens unter der Maske eines geheimen Kuriers durch Indien, Ihr Kind werden Sie nicht finden. Ich besitze den Schlüssel des Geheimnisses, und Sie sollen Eugenie schon heute Abend wiedersehen und besitzen dürfen, wenn Sie gewillt sind, uns die geheime Order auszuliefern, die Sie bei sich tragen.
Fürchten Sie nicht, dass Sie deswegen des Hochverrats angeklagt werden. Wir arrangieren einen Überfall und nehmen Ihnen das Dokument scheinbar mit Gewalt. Ich weiß bestimmt, dass Sie kommen, und erwarte Sie also. Am Ausgang des Gartens werden Sie einen Hindu finden; folgen Sie ihm, er führt Sie zu Ihrem Kinde. Kommen Sie ohne Begleitung!
Eine Unterschrift fehlte.
Der erste Sekretär, ein pedantischer Büro-Schreiber, sank ächzend auf einen Stuhl, Canning stand wie vom Donner gerührt da, und nur Westerly fand Worte.
»So ist Sir Carter zum Hochverräter geworden!«
Da richtete Canning sich plötzlich empor.
»Nicht Sir Carter, sondern der hat den Hochverrat begangen, der ihn als geheimen Kurier denunziert hat«, rief er Westerly mit blitzenden Augen zu.
»Bezeichnen Sie mich etwa als Schuldigen?«, fuhr dieser auf, und sein Gesicht entfärbte sich plötzlich.
»Wer sprach von Ihnen? Sie stellten sofort eine Behauptung auf, welche mich empört. Wie können Sie Sir Carter als einen Hochverräter bezeichnen, obwohl noch gar nichts erwiesen ist?«
»Keinen Streit, meine Herren«, unterbrach der Gouverneur sie ernst.
»Lord Canning hat recht, es ist noch gar nichts erwiesen. Ich kann den Gedanken nicht fassen, dass Carter in die plumpe Falle gegangen sein soll.«
»Es ist gar nicht möglich!«, stöhnte der Sekretär. »Ich möchte Sir Carter lieber verteidigen als verurteilen«, nahm Canning wieder das Wort, »und doch muss ich gestehen, dass eine Auslieferung des Dokuments von seiner Seite nicht unmöglich ist. Versetzen Sie sich in seine Lage. Er ist ein Vater, der sein Kind sucht, und es gibt keine stärkere Triebfeder als die Elternliebe. Dass ein Vater aus Liebe zum Vaterland sein Kind aufgibt, ist eine Ausnahme, die selten vorkommt, ich möchte eine solche Handlung als ein Verbrechen gegen die göttliche Natur bezeichnen. Nein, in erster Linie trägt der die Schuld, welcher das Geheimnis des Kuriers verraten hat, und hätte ich den geheimen Kurier zu wählen gehabt, ich hätte niemals Sir Carter vorgeschlagen.«
»Lord, Sie tadeln unser Ministerium!«
»Ist dieses etwa über Tadel erhaben? Es hätte wissen sollen, dass gerade Carter die Person war, der am besten Schlingen gestreut werden konnten.
Gleich als ich hörte, dass er zum Überbringer der geheimen Order gewählt war, fühlte ich Besorgnis. Ich hielt sie geheim, jetzt spreche ich sie aus.«
»Ist das Dokument in den Händen von unzufriedenen Indern, dann wehe uns!«, sagte Westerly. »Dann ist ein neuer Aufstand zu erwarten. Wahrhaftig, ich würde eher mein Kind geopfert, als ein Geheimnis preisgegeben haben, wodurch Unglück über Tausende von Familien kommt.«
»Genug, meine Herren rief Stanhope unwillig. »Noch ist Sir Carters Schuld nicht erwiesen. Jeder mag seine Meinung darüber, was er um seines Kindes willen tun würde, für sich behalten. Ich schlage an meine Brust und sage: Herr, führe mich nicht in Versuchung! Ehe wir die Sache veröffentlichen, lassen Sie uns eine Untersuchung beginnen.«
Sie ergab kein Resultat. Sir Carter und der Chinese waren verschwunden.
Allem Anschein nach hatte sich ersterer anders angezogen und sich dabei in großer Aufregung befunden. Die Kleider waren aus dem Koffer gerissen worden. Nur die Weste fehlte, aus deren Innentasche Carter im Kabinett das Dokument gezogen hatte; das Dokument selbst wurde nicht gefunden, so sehr die Herren auch danach suchten.
Rätselhaft war, wie oder von wem Carter den belastenden Brief bekommen hatte. Auf des Portiers Aussage, die Tür sei noch am Morgen von innen geschlossen gewesen, konnte man gar nichts geben. Die Fenster von Carters Zimmer waren geöffnet, Spuren im Garten konnte man nicht finden. Der Regen hatte dieselben vollkommen verwischt.
Stanhope durfte nicht länger zögern, die Polizei mit der Tatsache bekannt zu machen, denn es galt ja, so bald wie möglich in den Besitz des Dokuments zu gelangen.
Die Bemühungen der Polizei, aus Engländern und Indern bestehend, waren erfolglos — Sir Carter und Kiong Jang blieben verschwunden. Niemand hatte beide gesehen, in Akola war während der Nacht kein Kampf, kein Streit, nichts Außergewöhnliches vorgefallen. Keine Spur verriet, wohin die beiden verschwunden waren.
Als Nana Sahib vor Stanhope hintrat, musterte letzterer den Inder mit argwöhnischen Blicken. Sollte dieser von dem Dokument etwas gewusst haben? Sollte seine Hand vielleicht mit im Spiele sein? Doch keine Muskel zuckte in dem hässlichen Gesicht des Radschas.
Er erklärte sich bereit, die Vermissten suchen zulassen, er stellte sofort einen Befehl aus, wodurch jedes Haus in Berar, das einem Inder gehörte, gleichgültig, ob Palast oder Hütte, der englischen Polizei zur Untersuchung offen stehen sollte, ja, er fragte sogar mit spöttischer Miene, ob man auch bei ihm Haussuchung halten wolle.
Man machte von seiner Erlaubnis nur vorsichtigen Gebrauch, um nicht die sowieso schon hitzigen Gemüter zu reizen.
Endlich musste Stanhope sich dazu entschließen, die Tatsache amtlich nach England zu melden, denn schon hatten sich auch dort Gerüchte verbreitet. Er tat es mit schwerem Herzen. Westerly erklärte sich bereit, die Botschaft zu überbringen, und reiste mit der Aufnahme des Tatbestandes, dem Briefe von unbekannter Hand und mit den Effekten Carters und des Chinesen nach England ab.
Die Sache kam an die Öffentlichkeit, und die Aufregung in England war keine geringe — Sir Frank Carter, der Held von Nursingpur, erst vor zwei Jahren begnadigt und zum Baronet erhoben, war zum Hochverräter geworden. Carter besaß in England keine Feinde, höchstens Neider, doch auch diese vergaßen nie, wenn sie von ihm sprachen, hinzuzusetzen um seines Kindes willen hat er den Hochverrat begangen.
Nach einem halben Jahre hatte sich folgendes Urteil gebildet: Sir Carter wurde mit geheimer Order vom Ministerium nach Indien geschickt. Zugleich verfolgte er den Zweck, sein von einem Inder geraubtes Kind dort zu suchen. Feinde Englands erhielten Kenntnis davon, dass Carter eine geheime Depesche bei sich trug. Sie spiegelten dem Vater vor, er solle sein Kind wiedererhalten, wenn er ihnen die Depesche ausliefere.
Der betreffende Brief ward gefunden, Carter hatte vergessen, ihn einzustecken. Er begab sich mit der Absicht zu dem Rendezvous, die Depesche gegen sein Kind einzutauschen. Entweder nahm er Kiong Jang mit, oder dieser war ihm nachgeschlichen. Es war ihm eine Falle gestellt worden, er hat sein Kind wahrscheinlich gar nicht gesehen, man hat ihm die Depesche mit Gewalt abgenommen, ihn getötet und spurlos beseitigt, wahrscheinlich ebenso Kiong Jang. Tauchte Carter wieder auf, so würde ihm der Prozess gemacht. Belastend für ihn war noch, dass er sich schon einmal von seiner Leidenschaft hatte hinreißen lassen und ungehorsam gegen einen Vorgesetzten gewesen war. Die Königin und das Parlament ließen nochmals Gnade walten, Sie ließen die Gemahlin des Verschwundenen im Besitze des verliehenen Titels und Vermögens, einmal, weil man mit der unglücklichen, wahnsinnigen Frau Mitleid fühlte, und dann eben, weil Carter den Hochverrat aus Liebe zu seinem Kinde begangen hatte. Seine Wahl zum Kurier war ein Missgriff gewesen.
So dachte das Volk; die aber, die den Inhalt der geheimen Order gekannt hatten, dachten noch ganz anders. Man hatte gewartet, wie sich die Inder verhalten würden, wenn die Order, die langsame Verminderung der militärischen Macht des Radschas, doch durchgeführt würde. Man begann damit, man setzte es fort, und die Radschas fügten sich willig, ohne Misstrauen zu zeigen. Nach Ablauf von zwölf Jahren war die Umwandlung vollzogen, die indischen Soldaten waren nur noch uniformierte Puppen, welche nach der englischen Pfeife tanzen mussten, und die Radschas bildeten sich nur noch ein, befehlen zu dürfen.
Hatte Sir Carter also den Hochverrat wirklich begangen, hatte er die Depesche ausgeliefert? Gar mancher sprach ihn im Herzen frei, doch der Verschwundene musste im Verdachte des Hochverrats bleiben, weil belastende Umstände gegen ihn vorlagen, vor allen Dingen der Brief.
Lady Carter wohnte seit der Abreise ihres Gemahls auf der Besitzung zu Nottingham. Der Hausstand setzte sich aus einem Detektiv, der die Rolle eines Hausverwalters spielte, einem Arzt und männlichem und weiblichem Dienstpersonal zusammen, darunter auch das indische Dienstmädchen, Jeremy nicht zu vergessen.
Das Amt des Detektivs war ein ganz überflüssiges, er konnte wegen des Kindesraubes nicht den geringsten Verdacht auf irgend einen der Diener werfen, auch von Hedwig, der getauften Inderin, durfte er kaum noch glauben, dass Sie mit dem Gaukler unter einer Decke gespielt habe. Er hatte sie scharf und unausgesetzt beobachtet und keinen Argwohn geschöpft. Doch da Carter ihn bis zu seiner Rückkehr engagiert hatte, musste er bleiben.
Der Frohsinn war aus dem Hause noch nicht verschwunden. Emily wähnte sich in ihrem glücklichen Wahnsinn im Besitze ihres Kindes, sie fuhr mit dem Knaben, der an der Brust der Amme prächtig gedieh, spazieren, sie erging sich mit ihm in den Waldungen, sie machte Besuche und empfing welche, und freute sich auf die Wiederkehr ihres Gatten, den sie in einer dienstlichen Angelegenheit für nur wenige Monate in Indien glaubte.
Niemand hätte Emily im Verkehr und in der Unterhaltung für eine Wahnsinnige gehalten, nur dass sie den Knaben für ihre Tochter hielt und ihn auch Eugenie nannte, dass sie sich manchmal über die braune Hautfarbe des Kindes wunderte, bewies ihren Wahnsinn.
Das Kind wurde auch von dem Dienstpersonal Eugenie genannt, so wollte es der Arzt, und wohin Emily auch kam, nie begegnete sie einem Widerspruch oder dem geringsten Erstaunen. Der Arzt sorgte dafür, dass jeder Fremde sofort instruiert wurde; er überwachte auch den Briefwechsel mit Freundinnen, und so hörte und las sie nie etwas, was im Gegensatz zu ihrer irrigen Meinung gestanden hätte. Nur der Arzt selbst versuchte es ab und zu, um ihren Geisteszustand zu prüfen, aber er brauchte nur das Kind Eugen zu nennen oder eine Andeutung zu machen, dass es ja ein Knabe, kein Mädchen sei, so erregte er stets Emilys höchstes Erstaunen. Ja, es konnte sogar vorkommen, dass sie, die Wahnsinnige, den Arzt nicht für ganz geistesnormal hielt.
Eins machte Emily viel heimlichen Kummer: Sie hatte ihrem Gemahl gleich nach seiner Abreise einen Brief nachgesandt und wartete vergebens auf eine Antwort — es kam keine.
»Sir Carter ist viel beschäftigt oder hält sich gerade in Gegenden auf, wo es keine Postverbindungen gibt«, tröstete der Arzt. »Während der langen Seereise kann ein Brief ja auch leicht verloren gehen. In Bombay ist Ihr Gatte gesund angekommen, die amtliche Depesche ist in London bereits eingetroffenen.«
Emily hoffte und harrte von Tag zu Tag, keiner brachte den ersehnten Brief.
Dann sendete das Schicksal wieder Schlag auf Schlag auf das unglückliche Haus herab. Durch England lief ein Gerücht, böse Zungen brachten es zuerst auf, dann nahmen die Zeitungen es an, und zuletzt fand es auch seinen Weg in das einsame Waldhaus, dort ein lähmendes Entsetzen verbreitend.
Sir Frank Carter steht im Verdacht des Hochverrats. Er hat den Feinden Englands die geheime Depesche preisgegeben, um sein Kind wiederzubekommen. Er ist getötet worden oder er hält sich aus Furcht vor Strafe verborgen, nachdem er den Betrug eingesehen. Jede Spur fehlt von ihm.
Taucht er wieder auf, so wird über ihn der Stab gebrochen, er ist ein ehrloser Verbrecher, den England aus seinen Grenzen stößt. Man hofft, dass er für immer verschollen bleibt.
Der ehrliche Jeremy wurde am meisten von dieser Nachricht getroffen.
Als das Gerücht bestätigt wurde, ging er auf sein Zimmer, schloss die Tür und packte seine Sachen ein. Eine silberne Medaille betrachtete er lange, wischte sie mit dem Ärmel ab, buchstabierte die Schrift und legte die Auszeichnung dann mit einem Murmeln in den tiefsten Winkel der Kiste. Er hatte sie für den Sturm auf die Schanzen von Nursingpur erhalten.
Jeremy wollte das Haus des Hochverräters verlassen, aber er ging nicht.
Er setzte sich auf die geschlossene Kiste, stützte den Kopf in die Hände, und so blieb er zwei Tage und zwei Nächte sitzen, ohne Nahrung zu sich zu nehmen, ohne auch nur das Klopfen an seiner Tür zu hören.
Am dritten Tage endlich erhob er sich, packte die Sachen wieder aus und hing die Medaille an die Wand. Als er sein Zimmer verließ, fuhren die ihm Begegnenden erschrocken zurück, sie glaubten ein Gespenst zu sehen. Jeremy war plötzlich ein alter Mann geworden; seine Züge waren eingefallen, die große Nase mit dem Haarbüschel trat wie eine Klippe aus dem Gesicht hervor, und sein sonst nur leicht ergrautes Haar war plötzlich schneeweiß geworden.
Emily erfuhr von dem neuen Unglück nichts. Im Hause durfte kein Wort darüber fallen; die wenigen Freundinnen, die ihr geblieben, erwähnten nichts; sie sprachen von Sir Carter, als hatte er seine Mission noch nicht beendet, und es fiel Emily nicht besonders auf, dass sie bei ihren Besuchen in der Nachbarschaft mit einem Male so viele Familien nicht zu Hause traf.
Man verleugnete sich, um mit dem wahnsinnigen Weibe des Hochverräters nicht verkehren zu müssen.
Nur über eins konnte man sie nicht täuschen es kamen keine Briefe aus Indien an, obgleich Emily öfter an ihren Mann schrieb. Der Verwalter, der Arzt und Jeremy mussten zu immer unglaublicheren Ausflüchten greifen, um sie darüber zu trösten; Jeremy schlug vor, Briefe zu fälschen, fand aber keinen Anklang.
Seit Sir Carters Abreise war ein Jahr verstrichen, der indische Knabe lernte schon laufen und sprechen, als abermals ein Unglück hereinbrach, das Sir Carters Haus für immer zu vernichten drohte.
Eine Post war angekommen und hatte einige Briefe gebracht. Jeremy nahm sie dem Überbringer ab und ging zum Verwalter, aus dessen Händen Emily die Briefe empfing. Unterwegs studierte Jeremy die Adressen und war nicht wenig erstaunt, unter ihnen einen Brief aus Indien zu finden.
»Hier ist ein Brief mit dem Poststempel Kalkutta«, sagte er zum Verwalter, »es wird doch nicht...«
»Leise«, warnte der Detektiv und nahm hastig den betreffenden Brief,
»Lady Carter ist im Nebenzimmer.«
Da erschien schon Emily in der offenen Tür und eilte auf den Verwalter zu.
»Wo, wo ist der Brief aus Indien?«, rief sie mit geröteten Wangen.
Es war zu spät, der Detektiv konnte den Brief nicht mehr verbergen, er musste ihn ihr aushändigen.
Emily ging in ihr Zimmer zurück und machte die Tür hinter sich zu.
Wie von einer bösen Ahnung erfasst, sahen sich die beiden Männer mit bestürzten Gesichtern an.
»Das haben wir dumm gemacht«, knurrte Jeremy. »Es war eine Damenhandschrift.«
»So? können Sie das gleich sehen?«
»Ja. Welche Dame mag in Indien an Lady Carter schreiben?«
»Wenn ich das müsste! Ich kenne keine.«
Sie lauschten; im Nebenzimmer war es ganz unheimlich still geworden.
Dann plötzlich erscholl ein fröhliches Lachen.
»Gott sei Dank«, seufzte Jeremy, sie freut sich.«
»Es wird eine Freundin sein.«
Das Lachen dauerte schließlich fort; es schien gar kein Ende nehmen zu wollen.
»Das muss ja ein furchtbar lustiger Brief sein«, meinte Jeremy.
Da sah er das verstörte Gesicht des Detektivs, und schon kam auch der Arzt hereingestürzt und verschwand im Nebenzimmer. Sein Hilferuf brachte Leben in die beiden Erstarrten.
Emily saß in einem Lehnstuhl den Kopf hinten übergebeugt, den Mund weit geöffnet und lachte, lachte so fürchterlich, dass sich den Männern die Haare sträubten. Neben ihr auf der Erde lag der eben empfangene Brief.
Der Arzt brachte die von dem Lachkrampf Befallene in ihr Schlafgemach, der Detektiv hob den Brief auf. Er las nur die Unterschrift, den Namen Isabel, und erriet schon den teuflischen Inhalt.
Mit einem beißenden Spott, dessen nur ein beleidigtes Weib fähig ist, führte die Schreiberin der Schwester alles Geschehne noch einmal vor Augen; sie begann mit dem Ballabend, sie wiederholte ihre Flüche und schilderte nun, wie diese in Erfüllung gegangen seien: das Kind, welches Emily als das ihrige bezeichne, ein Bastard, ihr Mann ein Hochverräter, er sei tot, aber vor seinem Ende habe er sein Geheimnis verraten und so weiter. Isabel gab sich offen als die Anstifterin all dieses Unheils aus.
Ob Emily den Inhalt vollständig verstanden? Sie konnte es nicht sagen, sie erwachte nur aus Ohnmachten, um von neuem in Lachkrämpfe zu verfallen.
Der Detektiv übergab den Brief der Polizei, und als aus ihm nichts ermittelt werden konnte, nicht einmal der Aufenthalt der Absenderin, wurde er zu den Akten gelegt, welche über Sir Carters Fall handelten.
Zwei Monate schwebte Emily zwischen Tod und Leben, sie ging ihrer Auflösung entgegen. Am Tage lag sie in einem teilnahmslosen Zustande da, sie sprach nicht, sie verlangte nach nichts, auch nicht mehr nach dem Kinde; das Essen musste ihr eingeflößt werden, und in der Nacht wurde sie vom Fieber geschüttelt. Sie glaubte sich stets auf den Ball versetzt und hörte die Flüche Isabels. Dann bekam sie ruhigere Nächte, aber der apathische Zustand am Tage blieb.
Eines Morgens erwachte sie aus langem, tiefem Schlafe. Der Arzt konstatierte eine Besserung, er redete sie an, sie antwortete nicht, dann aber öffnete sie plötzlich von selbst den Mund zur Frage, seit zwei Monaten zum ersten Male.
Sie verlangte Jeremy zu sprechen, aber nur ihn, ganz allein.
Der verwunderte Arzt holte den Alten. Des Dieners Augen füllten sich mit Tränen, als er das bleiche, abgemagerte Gesicht seiner Herrin sah.
»Du hast dich sehr verändert, Jeremy«, empfing Emily ihn mit schwacher Stimme und streckte ihm die Hand entgegen, die er innig küsste, »du hast weißes Haar bekommen.«
»Ich werde alt«, entgegnete er, vor Erwartung zitternd. »Wie befinden Sie sich?«
Emily legte die Hand auf die Stirn.
»Ich habe einen langen Traum gehabt, und ich glaube, ihr habt mich nicht geweckt. Setze dich und erzähle mir, was sich in der letzten Zeit ereignet hat. Ach, es ist mir so dunkel, ich möchte gern alles wissen. Man hat mir viel verheimlicht.«
»Sir Carter ist noch in Indien und wird bald...«
Eine Handbewegung verschloss des Dieners Lippen.
»Täuscht mich nicht länger! Isabels Brief hat mir alles offenbart. Hat man von Sir Carter nichts wieder gehört? Ist noch keine Spur meines entführten Kindes gefunden worden?«
Es war kein Zweifel mehr, Emily war aus ihrem Wahnsinne erwacht. Jeremy weinte vor Freude und Schmerz zugleich, dann begann er zu erzählen, alles, was er wusste, und Emily hörte aufmerksam zu, durch gelegentliche Bemerkungen bezeugend, dass sie bei vollem Verstande war.
»Sollte Sir Carter wirklich ein Hochverräter sein?«, fragte sie endlich seufzend.
»Niemand darf ihn so nennen«, rief Jeremy eifrig, »denn er steht nur im Verdachte des Hochverrates. Zum Beweise ist es nötig, dass er zurückkehrt.«
»Und wenn er es nicht mehr kann?«
Jeremy blieb die Antwort schuldig.
»Gesetzt nun den Fall«, fuhr Emily fort, »seine Schuld wird bewiesen, was geschieht dann mit ihm, wenn er zurückkehrt?«
Der Diener antwortete wieder nicht.
»Oder wie spricht man über ihn, wenn er nicht wiederkommt, aber seine Schuld wird bewiesen?«
»Ich weiß nicht, wie die Menschen sprechen werden«, murmelte Jeremy.
»Die Menschen mögen reden, was sie wollen«, rief Emily fast heftig und richtete sich auf. »Sie mögen ihn als einen Hochverräter verurteilen, aber einst wird ein Gericht kommen, vor dem er freigesprochen wird! Hat er den Hochverrat begangen, so hat er es um seines Kindes willen getan, und wehe dem, der einen Stein auf ihn wirft! Es gibt noch ein anderes Gesetz als das von Menschen gemachte, und ungestraft wird keiner es verspotten, und wenn man meinen Mann an den Pranger stellte, ich würde neben ihn treten und fragen, wer ihn zu schmähen wage!«
Erschöpft sank Emily zurück, Jeremy drückte ihre Hand.
»Sehen Sie mich an«, bat er, »ich bin ein alter Mann, mein Haar war in Ehren grau geworden. Als ich von dem Hochverrat Sir Carters erfuhr, wollte mein Herz vor Schmerz und Scham brechen. Mein Haar ist darüber weiß geworden. Dann bin ich zur Einsicht gekommen; nein, habe ich gerufen, Sir Carter ist kein ehrloser Verbrecher, er hat nur nach dem Befehl gehandelt, den Gott ihm ins Herz geschrieben, und seitdem gehe ich wieder mit erhobenem Haupte unter die Leute.«
»Ich danke dir, Jeremy!«, flüsterte Emily. »Jetzt rufe den Arzt und den Verwalter; auch das fremde Kind will ich sehen.«
Die Gerufenen erschienen mit frohem Erstaunen. Der Arzt trug das Kind.
Es schlang die Ärmchen um Emilys Hals und nannte sie Mutter.
»Ja, ich will deine Mutter sein und bleiben«, sagte Emily und küßte es; »mein Erwachen zur Wirklichkeit soll dich armes Kind nicht zur Waise machen. Du sollst Eugen heißen und mich immer an meine Tochter erinnern. Vielleicht fügt Gott, dass ich sie und meinen Gatten noch in dieser Welt wiedersehe.«
Einige Tage später verlangte Emily den Verwalter zu sprechen.
»Der Aussage des Arztes nach ist meine völlige Genesung bald zu erwarten«, sagte sie; »ich selbst fühle das Leben in mir zurückkehren. Ich möchte nicht hier bleiben, wo mich alles an mein vergangenes Glück erinnert, ich möchte mir eine neue Heimat schaffen. Ehe Sir Carter nach Indien abreiste, ging er mit der Absicht um, in der Nähe von Wanstead einen großen Waldbezirk zu erwerben und dort ein Haus ausführen zu lassen.«
»Das Grundstück ist auch gekauft und der Bau bereits begonnen, aber seitdem unterbrochen worden«, entgegnete der Verwalter sichtlich zögernd.
»Ich bitte, den Bau nach den Plänen Sir Carters vollenden zu lassen.«
»Das dürfte Schwierigkeiten haben...«
»Vorsicht! Sie bedarf der Schonung«, raunte der Arzt dem Verwalter zu.
Doch Emily hatte die leisen Worte und auch ihre Bedeutung verstanden.
Seufzend wendete sie das Gesicht der Wand zu.
»Ich hatte vergessen, dass der Besitz eines Hochverräters vom Staate eingezogen wird«, murmelte sie.
In diesem Augenblick trat Jeremy ins Zimmer, er hielt ein Schreiben mit dem königlichen Siegel in der Hand.
Die Königin erkundigte sich teilnehmend nach dem Befinden der Kranken, wünschte Glück zur baldigen Genesung und versprach, wenn sie in den nächsten Tagen durch Nottingham reise, mit dem Prinz-Gemahl Lady Carter einen Besuch abzustatten.
Jeremy sagte nichts, er pfiff eine lustige Melodie, bürstete seine besten Sachen aus, zog sie an, hing sich die Medaille an die Brust und schritt dem nächsten Städtchen zu. Der heiße Tag musste bei ihm einen ganz gewaltigen Durst erzeugt haben; er verließ ein Wirtshaus nur, um sofort ins andere zu gehen, und überall erzählte er so nebenbei, als etwas ganz Selbstverständliches, dass Ihre Majestät die Königin und der Prinz-Gemahl in den nächsten Tagen Lady Carter besuchen würden.
Jetzt waren die bösen Münder mit einem Male für immer gestopft. Wer hätte über das Haus, das die Königin betrat, noch schlecht zu sprechen gewagt!
Nicht weniger als fünfzehn Jahre waren seit dem Kindesraub verstrichen, und von Eugenie wie auch von Sir Carter, Kiong Jang und Timur Dhar hatte man nichts wieder gehört.
Man stellt sich England häufig als eine Insel vor, der jede landschaftliche Schönheit abgeht — mit eng aneinanderliegenden Städten, deren unzählige Fabrikschlote Rauch und Ruß speien. Aber auch England besitzt genug landschaftliche Reize; große Seen mit wunderbarem Panorama, mächtige Wälder und wild zerklüftete Gebirgsmassen.
Noch heutzutage erstreckt sich ganz in der Nähe von London, das Dörfchen Wanstead einschließend, ein meilenweiter Wald. Nur eine Landstraße führt hindurch, sonst kein Weg und Steg, aber kein Verbot hindert das Betreten des Waldes oder das Abpflücken der Zweige. Es ist noch ein kleiner Urwald, und der Engländer ist stolz auf dieses Stückchen Erde, auch ohne Verbot vermeidet er dort jeden Baumfrevel.
Knorrige Eichen bilden hier mit ihren Laubdächern Dome; keine Axt legt sie zur Erde, nur ihr Alter oder die Witterungsunbilden, und dann bleiben sie so liegen, wie sie umgefallen sind. Undurchdringliche Büsche versperren dem Wanderer den Weg, an ihnen winden sich wilde Rosen und Brombeerranken empor.
Hier war einst das Reich von Robin Hood, und noch gibt es Bäume, in die der Herrscher der freien Waldritter sein Zeichen eingeschnitten hat. Später wurde der Wald Besitz von einigen Privatleuten, jetzt ist er Gemeingut. —
An einem heißen Sommernachmittag lag dort im Schatten einer Eiche ein junger Mann, neben ihm ruhte die doppelläufige Büchse im Gras.
Doch der Jäger musste friedlichen Sinnes sein, sonst hätte er sich die Gelegenheit zum Schuss nicht entgehen lassen. Vor ihm auf einer Lichtung graste sorglos ein Rudel Rehe. Sie sahen den Jäger nicht, und dieser hütete sich, sie zu stören. Den Kopf auf beide Hände gestützt schaute er sinnend den reizenden Tieren zu.
Man konnte ihn vielleicht auf achtzehn Jahre schätzen, wenn er nicht einen südländischen Typus besessen hätte. Die braune Haut war samtartig, die Nase leicht gebogen und die dunkeln Augen etwas geschlitzt. Die volle Oberlippe zierte ein schwarzes, seidenweiches Bärtchen.
Jetzt wurde seine Aufmerksamkeit von etwas Anderem gefesselt.
Von seinem Platze aus konnte man zur rechten Hand die Landstraße sehen, wie sie sich gleich einem weißen Band durch Wiesen schlängelte, ab und zu hinter einem Hügel verschwand und schließlich sich ganz im Dunkel des Laubwaldes verlor.
An ihr lag zwischen zwei Hügeln ein Haus, dessen Aussehen auf hohes Alter deutete; aber es war doch vor gar nicht so langer Zeit erst ausgeführt worden. Man hatte nur alte, unbehauene Bausteine dazu verwendet und eine Art von Ritterburg geschaffen. Dieses Haus war zum Gasthof eingerichtet worden und hatte zum Andenken an den einstigen Herrscher des Gebietes den Namen ›Robin Hood‹ erhalten.
Der Besitzer des Bezirks, in dem es lag, war ein französischer Marquis, der in England ein mütterliches Erbteil besaß, und er hatte, weil er sich nicht in England aufhielt, es ihm also auch gleichgültig war, ob die idyllische Schönheit seines Besitzes durch die Gegenwart eines lärmenden Gasthofes verlor oder nicht, dem Unternehmer den Bau gestattet.
Vor diesem Gasthof hielten eine Menge großer, schwerer Wagen von einer Konstruktion, wie der Beobachter unter dem Eichbaum sie noch nie erblickt hatte. Sie sahen aus wie Möbelwagen, waren aber anscheinend aus Rohr geflochten. Dass sie schwer waren, schloss er daraus, dass vor jeden drei Pferde gespannt waren. Aus ihnen wurden allerlei Gegenstände ins Haus getragen, die der großen Entfernung wegen nicht zu erkennen waren.
Dann zogen die Pferde an, und die Wagen rollten die Landstraße entlang, bis sie im Walde verschwanden.
»Es mögen fremdländische Möbelwagen gewesen sein. Was aber wollen sie hier?«, murmelte der Jüngling. »Mir gleichgültig, nach unserem stillen Hause kommen sie keinesfalls.«
Sein hübsches Gesicht nahm plötzlich einen traurigen Ausdruck an, wie Sehnsucht nach etwas Unbestimmtem sprach es aus seinen dunklen Augen.
Seufzend drückte er die Jägerkappe auf das kurzgehaltene, schwarze Haar, fasste das Gewehr und sprang mit einem Ruck auf die Füße. Die erschrockenen Rehe flohen in weiten Sätzen davon.
»Das war nicht schön, die armen Tiere so zu erschrecken«, sagte da hinter ihm eine helle Mädchenstimme in einem eigentümlich akzentuierten Englisch.
Schnell drehte der Jäger sich um, und ließ erstaunt die Büchse fallen Er griff sich an die Stirn, er glaubte zu träumen. Gab es denn hier im Walde noch Zauberinnen oder Feen?
Vor ihm stand eine wunderbare Erscheinung, ein junges Mädchen, welches entweder in ein orientalisches Frauengemach oder aber auch in eine Seiltänzergesellschaft eher gepasst hätte als in diesen Wald.
Unter einem nur bis an die Knie reichenden weißen Röckchen sahen weite, weißseidene Beinkleider hervor, reich mit Gold gestickt, die an den feinen Knöcheln zusammengeschnürt waren. Man sah noch das Muster von durchbrochenen Strümpfen, dann umschloss ein goldgelber Schuh den kleinen Fuß. Den Oberkörper verhüllte ein faltiges, ebenfalls weißes Hemd, den Hals und den obersten Teil der Brust freilassend, den zarten Busen jedoch verhüllend. Darüber trug die Unbekannte ein kurzes Jäckchen aus rotem Samt mit weiten Ärmeln, mit goldenen Stickereien übersät. Es war vorn offen und ließ das weiße Obergewand sehen. Um den Kopf schlang sich eine Art von rotem Turban, der weiße Schleier war zurückgeschlagen und hing auf den Rücken herab.
Das Mädchen war mittelgroß, schlank und zart gebaut, aber kräftig und zeigte die graziösesten Formen. Ihr Gesicht, Hals und Brust und die freigelassenen Arme zeigten eine braune Haut von samtartigem Glänze, ähnlich der des vor ihr stehenden Jünglings. Unter dem Turban stahlen sich kurze, schwarze Locken hervor, die Nase war nach griechischem Muster, klein und gerade, der kleine Mund voll, die Ohren zierlich wie alle Gliedmaßen.
Mit einem Ausdruck von Spott hatte sie die schwarzen Augen, aus denen Geist und Frohsinn blitzten, auf den Jüngling geheftet. Sie weidete sich augenscheinlich an seiner namenlosen Überraschung.
»Wer bist du?«, brachte er endlich hervor. Er war nahe daran, vor ihr auf die Knie zu sinken und sie anzubeten.
»Ich bin die Königin des Waldes«, entgegnete ihre weiche Stimme.
Der junge Mann merkte nicht den Spott, er schien geneigt, daran zu glauben.
»Die Königin?«
»Ja, ich heiße Begum.«
»Begum ist ein indischer Name und bedeutet zugleich Königin«, murmelte er.
»Du bist Inder?«
»Ja.«
»Wie kommst du hierher?«
»Wir wohnen dort«, entgegnete er willenlos, eine Handbewegung nach rückwärts machend.
»Wer sind deine Eltern?«
»Meine Mutter ist die Lady Carter, mein Vater ist tot.«
»Engländer?«
»Ja.«
»Das ist ja nicht möglich, wenn du ein Inder bist!«
»Sir Carter hat mich adoptiert.«
»Bist du Christ?«
»Ja.«
Der kleine Mund verzog sich unwillig.
»Das ist nicht recht, dass du Buddha verleugnest.«
»Ich bin so erzogen worden«, entschuldigte er sich demütig, als wäre er bereit, sofort seine Religion zu wechseln.
»Wohnst du weit von hier?«
»Fast eine Meile.«
»Weißt du, auf wessen Gebiet du dich befindest?«
»Es gehört dem Marquis von Lacoste.«
»So hast du also auf fremdem Gebiete gejagt.«
»Ich habe nicht gejagt.«
»Ich habe dich mit dem Gewehr darauf getroffen. Ich müsste es dir eigentlich wegnehmen.«
Da wurde der Jüngling stutzig. Wer war sie denn, dass sie ihn so ausfragen und so auftreten durfte?
»Und wer bist du?«
»Du bist ein Inder, und ich bin eine indische Königin«, rief sie hoheitsvoll, die Hand gebieterisch ausstreckend, »also hast du mir zu gehorchen!«
Er wurde wieder eingeschüchtert. Sein Auge hing trunken an der schönen, fremdländischen Erscheinung. Er bemerkte dabei nicht, dass der gebietende Ernst des Mädchens nur ein erkünstelter war, dass es mit Mühe ein Lächeln unterdrücken konnte.
»Ich müsste dir, wie gesagt, jetzt eigentlich dein Gewehr wegnehmen«, fuhr sie fort, »denn du hast es auf fremdem Revier getragen. Aber ich will es dir lassen, wenn du mir zeigst, dass du es zu gebrauchen verstehst. Wie ist dein Vorname?«
»Eugen.«
»So nimm dein Gewehr und ziele dort nach dem Astloch«, sagte sie und deutete vorwärts.
»Das ist zu weit, ich kann es kaum sehen.«
»Schieße danach, ich will es haben.«
Mechanisch hob er das Gewehr auf und legte an. Das Astloch in der Eiche war fünfzig Meter von seinem Platze entfernt und so klein, dass er es nicht gesehen hätte, wenn es ihm von dem Mädchen nicht beschrieben worden wäre.
Seine Hand zitterte, es flimmerte ihm vor den Augen. Wie hätte er jetzt treffen können!
»Schieß!«, befahl es hinter ihm.
Er schoss, sicher, gefehlt zu haben.
»Gefehlt!«, lachte die helle Stimme, und gleichzeitig ertönte hinter ihm ein Geräusch, als ob sie mit den Fingern schnalzte.
Eugen erwartete jetzt nichts anderes, als dass sie ihm sein Gewehr abverlange, und er hätte es gehorsam hingegeben. Aber es kam keine solche Aufforderung, und als er sich umdrehte, war das Mädchen verschwunden.
Blitzschnell schoss es ihm durch den Kopf, wie unbeholfen er sich benommen. Er hatte sich ausfragen lassen, ohne selbst gefragt zu haben.
Wer war das schöne Mädchen in dem reichen, orientalischen Kleide? Eine Inderin, hatte sie gesagt. Wie kam sie hierher? Wo wohnte sie? Wie konnte sie hier so gebieterisch auftreten?
Er wollte nachholen, was er versäumt hatte. Sie fragen und zur Rede stellen. Eugen war erst fünfzehn Jahre alt, aber schon ein Mann dem Geist und Körper nach, denn seine Heimat war Indien, wo in diesem Alter die Söhne schon Familie haben. Das junge Mädchen hatte auf Eugen einen übermächtigen Eindruck gemacht.
Er sprang hinter die nächsten Bäume, hinter die Büsche, er eilte immer weiter, bald vor-, bald rückwärts, er spähte umher, aber vergebens — die schöne, weiße Gestalt war verschwunden.
Das Blut des Inders begann zu kochen, er jagte durch die Büsche, dass die Dornen seine Jagdkleidung zerfetzten, bis er schließlich erschöpft zusammensank.
Doch gleich sprang er wieder auf.
Dort an jenem Baume hatte er gestanden, als er geschossen hatte, an ihm befand sich, nur wenige Fuß über dem Boden, das Ziel, das Astloch, und er sah, dass in dasselbe eine Kugel eingedrungen war.
War es die seinige? Unmöglich, das Loch war viel zu klein. Er zog sein Jagdmesser und grub zu seinem Erstaunen eine kleine Bleikugel aus dem Holze. Sie war nur erbsengroß. Wie kam sie hierher?
Da erinnerte er sich, dass er gleich nach seinem Schuss ein Geräusch gehört hatte wie das eines ganz schwachen Peitschenschlages. So musste also das Mädchen geschossen haben; aber was für eine Waffe war das, die nicht knallte?
Er dachte nicht lange darüber nach; er steckte die Kugel als Andenken ein und ließ wieder seine Phantasie spielen. Immer wieder gaukelte diese ihm die holdselige Erscheinung vor mit dem kurzen Röckchen, den schwarzen Augen, die ihn halb gebieterisch, halb schelmisch angefunkelt hatten.
Ein Knacken des Buschwerkes weckte ihn aus seinem Brüten.
Vor ihm stand schwanzwedelnd ein gescheckter Jagdhund. Dann knackte wieder das Gebüsch, und ein einfach gekleideter junger Mann trat hervor.
Eugen sprang auf; er erkannte seinen Hauslehrer und Erzieher, vor dem er große Ehrfurcht besaß.
»Sie liegen hier und träumen?«, rief der junge Mann etwas ärgerlich. »Wir erwarten sie schon seit einer Stunde vergebens zum Essen, und so machte ich mich schließlich selbst auf die Suche. Hätte ich nicht Brutus auf Ihre Fährte gehetzt, ich würde Sie in diesem undurchdringlichen Walde nimmermehr gefunden haben.«
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und warf sich ins Gras.
»Fünf Minuten Pause, dann machen wir uns auf den Rückweg. Doch, Eugen, Sie sehen ja ganz verstört aus! Und wo ist denn der Braten, den Sie mitbringen wollten?«
»Ich habe nichts geschossen, Mister Reihenfels!«, entgegnete Eugen und legte sich ebenfalls wieder hin. »Ich befinde mich hier auf fremdem Gebiet!«
»So, und warum? Nun, meinetwegen schweifen Sie herum, wo Sie wollen, wenn Sie Ihre Arbeiten erledigt haben. Ich bringe Ihnen übrigens eine frohe Nachricht, Eugen. Ich habe vorhin ernstlich mit Ihrer Frau Mutter über Ihren Wunsch gesprochen, und sie ist nicht abgeneigt, im Herbst nach London zu ziehen und Sie in die Gesellschaft einzuführen.«
»Ich mag nicht mehr, ich will hierbleiben!«, murmelte Eugen.
Reihenfels richtete sich halb empor und blickte seinen Pflegebefohlenen scharf an. Er war selbst noch sehr jung, hatte das zwanzigste Jahr kaum überschritten, bildete aber zu Eugen einen Gegensatz, wie ein erfahrener Mann zu einem Kinde.
Das ernste, männliche Gesicht zeigte einen Ausdruck von unbeugsamer Energie; hinter der hohen Stirn mussten ideale Gedanken ruhen, und die blauen Augen blickten so klar und scharf, als könnten sie das Unergründlichste enträtseln.
»Mein lieber Eugen, dieser Wankelmut gefällt mir durchaus nicht. Seit einem halben Jahr bedrängten Sie Ihre Frau Mutter mit Bitten, ihren geliebten Waldaufenthalt aufzugeben und mit Ihnen nach London zu ziehen, und nun, da sie aus Liebe zu Ihnen nachgibt, ändern Sie Ihren Entschluss.
Was soll das?«
»Ich habe eine Waldfee erblickt, und ihren Aufenthalt will ich entdecken!«, rief Eugen enthusiastisch.
Wieder schaute Reihenfels seinen Zögling scharf an, diesmal aber mehr besorgt als unwillig.
»Eine Waldfee? Mein lieber Eugen, die Zeiten der Feen und Gnomen sind vorüber. Als Philosophen zuerst ihre Existenz bezweifelten, haben sie sich tief beleidigt in eine Einsamkeit zurückgezogen und erschienen nur noch gläubigen Menschenkindern; als Chemiker die Irrlichter für leuchtende Gase erklärten, entflohen sie ganz, und als die erste Lokomotive pfiff, sind sie gestorben. Sie konnten das Getöse dieser Ungeheuer und die mit Rauch erfüllte Luft nicht vertragen.«
»Spotten Sie nicht, mir ist eine erschienen!«
Eugen erzählte offen, was er erlebt hatte, und als er so begeistert die schöne Gestalt der Fremden schilderte, da wurde das Gesicht Reihenfels' noch besorgter. Er ahnte, was in dem Herzen seines Zöglings vorgegangen war, doch er ließ sich nichts merken.
»Also geschossen hat sie auch?«, lachte er zuletzt. »Na, dann ist es nicht schlimm. Feen schießen niemals!«
»Aber es knallte nicht!«
»Es knallte nur schwach, wie Sie sagten. Zeigen Sie mir die Kugel!«
Er untersuchte diese und die Stelle, wo sie eingeschlagen war.
»Sie hat sich einer sogenannten stummen Taschenpistole bedient, das ist alles«, sagte er dann.
»Aber bedenken Sie diese Entfernung, dieses kleine, kaum sichtbare Ziel, und dazu noch eine Pistole.«
»Mir erscheint es nicht so besonders bewundernswert, mit einer Pistole gut zu schießen. Es gibt schwerere Sachen. Das kann jeder Dummkopf, wenn er eine ruhige Hand und ein sicheres Auge besitzt und sich lange genug übt.«
»Wie können Sie das Mädchen einen Dummkopf nennen!«, rief Eugen entrüstet.
»Ich sprach ja gar nicht von ihr. Doch kommen Sie, Eugen, ich will Ihnen eine Erklärung zu Ihrer rätselhaften Waldfee geben.«
»Sie könnten es wirklich?«
Schnell sprang Eugen auf, ergriff sein Gewehr und folgte dem Erzieher.
Während sie sich durch die Büsche drängten und über gestürzte Baumstämme setzten, sagte Reihenfels:
»Das Mädchen meinte, Sie wären auf fremdem Gebiet?«
»So sagte Sie.«
»Sie werden auf ihrem Gebiet gewesen sein. Haben Sie noch nicht gehört, dass unser Nachbar, der Marquis von Lacoste, seinen Besitz mit der hübschen Villa verpachtet oder verkauft hat?«
»Keine Silbe!«
»Es ist so; Jeremy erzählte es mir. Schon seit einigen Tagen bewohnt ein Franzose mit wenigen Dienern das leere Haus; sie haben sich eingerichtet, so gut es ging, und die Möbel sollen täglich eintreffen.«
»Und das Mädchen?«
»Mag die Tochter des Franzosen sein.«
»Sie war eine Inderin.«
»Das glauben Sie, weil sie es sagte. Wie war ihr Name?«
»Sie nannte sich Begum.«
»Begum heißt zwar Königin, als Vorname ändert man ihn aber in Beguma oder Bega um. Wie alt war sie?«
»Ich schätze sie auf fünfzehn Jahre.«
»Wenn sie eine Inderin war, dann müsste sie Ihrer Beschreibung nach erst zehn bis zwölf Jahre alt sein. Ihr Vater, der Franzose, kann ja auch eine Inderin zur Frau haben oder sie ist gar nicht seine Tochter.«
Eugen war unbefriedigt von dieser Erklärung. Er seinerseits glaubte, dass das Mädchen mindestens eine indische Königstochter sei, die England einmal besuche.
Während ihrer Unterhaltung hatten beide das Waldhaus erreicht, das nach den früheren Plänen Sir Carters entworfen worden war und das Aussehen eines kleinen Jagdschlosses erhalten hatte, viel zu groß für die einsame Frau, die nun schon seit zehn Jahren den Witwenschleier trug.
Eugen erkundigte sich im Geheimen, wer die Villa des Marquis de Lacoste bezogen habe, und erfuhr, es sei ein Franzose und eine Dame mit zahlreicher Dienerschaft, die durchweg aus Indern bestände, also musste der fremde Herr wohl auch aus Indien kommen. Die Möbelwagen wären die seinigen gewesen. Von einer Tochter wollte man nichts wissen, wie überhaupt nur wenig über die neuen Herrschaften bekannt ward. Sie hatten sich noch nicht sehen lassen, und im Carter'schen Hause lebte man selbst zurückgezogen.
Endlich fasste Eugen einen Entschluss; er wollte sich in die Nähe des Hauses schleichen, vielleicht war ihm das Schicksal günstig und führte ihm das Mädchen wieder in den Weg.
Eines Morgens schützte er Kopfschmerz vor; er wollte einen Spaziergang machen und wanderte die Landstraße hinab, an der etwas abseits die Villa des Franzosen lag. Als Eugen das weiße Gebäude durch das Laub des Waldes schimmern sah, begann ihm das Herz zu schlagen. Sollte er es wagen und den Seitenweg betreten, der ihn nach dem Hause führte? Nein, er durfte es nicht; er musste jedoch mit Gewalt seine Schritte ablenken, so wurde er angezogen.
In England ist es schwer, eine Bekanntschaft anzuknüpfen, und nun gar ohne einen triftigen Grund einen Fremden in seinem Hause zu besuchen, gehört zu den Unmöglichkeiten.
Mit schwerem Herzen wanderte Eugen also an dem Gebäude vorüber, das in tiefer Ruhe dalag.
Da erblickte er in einiger Entfernung vor sich auf einer am Wege stehenden Bank zwei Gestalten, einen Herrn und eine Dame, und sofort glaubte Eugen, die Hausbesitzer vor sich zu haben.
Ohne den Kopf zu wenden, wollte er vorüberschreiten, als sein Blick noch einmal die Dame streifte, und wie gebannt blieb er plötzlich stehen.
War es möglich? War das wirklich dasselbe Mädchen? Ja, das waren dieselben schwarzen Locken, dieselben Züge, dieselben Augen, so schelmisch auf ihn gerichtet. Heute trug sie ein weißwollenes Kleid, das sich eng an die schlanken Formen schmiegte, und ein breitrandiger Strohhut mit einfachem Bande beschattete das dunkle Gesicht. Sie betrachtete lächelnd den jungen Mann, der auf der Landstraße stand und keinen Fuß mehr rühren zu können schien.
»Guten Morgen, Sir Carter!«, rief sie lachend. »Wollen Sie nicht nähertreten und unsere schon einmal gemachte Bekanntschaft erneuern?«
Eugen trat mit klopfendem Herzen näher.
Der neben der Dame sitzende Herr war ein Mann von gewinnendem Äußeren, sehr stutzerhaft gekleidet, der schwarze Knebelbart gut gepflegt. Nur sein faltiges Gesicht hatte ein etwas verlebtes Aussehen, wodurch man auf ein höheres Alter schließen durfte, als die lebhafte Sprache und Gebärden sonst zuließen.
Bei Nennung des Namens hielt er ein Lorgnon vor die Augen und betrachtete den jungen Mann mit vielem Interesse, es war sogar fast, als wäre er zuerst erschrocken. Die junge Dame stellte Eugen ihrem Begleiter als einen alten Bekannten vor.
»Hier, lieber Onkel, ist Sir Eugen Carter; von meiner Begegnung im Walde mit ihm habe ich dir schon erzählt — mein Onkel, Monsieur de Francoeur!«
Sofort streckte sie Eugen die behandschuhte Hand hin, die dieser mit den Fingerspitzen ehrfurchtsvoll ergriff.
»Seien Sie mir gegrüßt«, lachte de Franzose ungeniert, Eugen ebenfalls die Hand gebend. »Bega hat mir schon erzählt, welchen losen Streich sie ausgeführt hat. Sie hat Ihnen gegenüber die Rolle einer Waldfee gespielt, und, wie ich glaube, mit gutem Erfolge. Ihre Kleidung war auch dazu angetan.«
»Es wurde in unserem Hause eingeräumt«, erklärte das Mädchen, »und ehe ich meine Haustracht hatte ablegen können, scheuchte man mich schon aus den Zimmern. Sie verzeihen mir doch den Scherz, Sir Carter?«
»Er bereitete mir die größte Freude. Warum aber verschwanden Sie so schnell?«
»Ich hielt die Gelegenheit nicht für geeignet, eine längere Unterhaltung anzuknüpfen. Jetzt können wir das nachholen.«
Eugen musste zwischen beiden Platz nehmen.
»Hat sich Ihnen meine Nichte denn wenigstens schon vorgestellt?«, fragte Francoeur.
»Nur als Waldfee und als indische Königin«, sagte er lachend.
»Eine Königin ist sie freilich nicht, wenn sie auch Bega heißt, doch vielleicht kann sie noch Ansprüche auf den Thron von Bengalen machen«, scherzte der Franzose. »Sie ist das einzige Kind des Radschas von Tipperah.
Kennen Sie diese Provinz?«
»Es ist der östliche Teil von Bengalen.«
Bengalen gehörte seinerzeit noch nicht den Engländern, sondern stand noch unter selbstständigen eingeborenem Fürsten. Doch schon ging man im Parlamente mit dem Plane um, auch Bengalen der englischen Krone Untertan zu machen, nachdem den Radschas die militärische Macht aus den Händen genommen war. Englands Konkurrent in Bengalen war Frankreich.
»Sie sind gut über Indien orientiert«, sagte Francoeur, »doch ja, Sie sind ja selbst ein Inder, wie Bega mir erzählte.«
»Habe aber mein Vaterland nie gesehen. Ich kam als kleines Kind nach England, verlor meine Eltern und wurde von Sir Carter adoptiert.
Wie kommt es, dass Sie, ein Franzose, der Onkel von Miss Bega sind?«, fragte er jetzt seinerseits.
»Der Radscha von Tipperah heiratete meine Schwester. Wundert Sie das?
Derartige Heiraten kommen häufig vor. Meine Besitzungen liegen in Tipperah, und so lernte der Radscha meine Schwester kennen. Sie ist tot.«
»Sie haben keine Mutter mehr?«, wendete sich Eugen an das Mädchen.
»Nein, und ich kann mich auch nicht mehr auf sie besinnen. Doch mein Vater lebt noch, er befindet sich sogar mit hier.«
»Ah, Ihr Herr Vater ist auch hier?«
»Der Radscha von Tipperah hat keine politische Bedeutung mehr«, erklärte der Franzose, »er will in der Nähe seiner Tochter sein, die nach meinem Wunsche eine englische Erziehung erhalten soll. Ich bin mehr ein Freund Englands als Frankreichs, deshalb habe ich hier Aufenthalt genommen. Ich hoffe, Sie werden bald Gelegenheit haben, mit uns nähere Bekanntschaft zu machen. Ah, dort kommt meine Schwester! Sie will sich uns anschließen.«
Aus einem Seitenwege kam eine Dame auf die Bank zu. Es war eine Frau von höchstens dreißig Jahren, eine üppige Schönheit mit pikanten Zügen.
Sie betrachtete den jungen Mann erst etwas von oben herab; kaum aber hatte sie seinen Namen erfahren, so war sie die Freundlichkeit selbst. Sie wurde ihm als die zweite, verwitwete Schwester des Franzosen, Madame Dubois, vorgestellt.
Eugen folgte mit Vergnügen der Einladung, an dem gemeinsamen Spaziergange teilzunehmen. Es war unverkennbar die Absicht des Franzosen, die beiden jungen Leute allein zu lassen. Er schritt mit der Schwester weit voraus. Eugen und Bega folgten in beträchtlicher Entfernung, bogen aber bald in den Wald ab.
Er musste seine Schicksale erzählen, und Bega war erst außer sich vor Staunen, dann bedauerte sie den elternlosen Jüngling, obgleich dieser versicherte, er habe eine Mutter gefunden, die ihm die wirkliche nicht vermissen ließe.
»Auch ich habe die Kindheit ohne Eltern verlebt«, erzählte sie. »Onkel und Tante mussten sie vertreten und so kommt es, dass ich ganz europäisch erzogen worden bin, jedoch im Glauben meiner Väter. Nehmen Sie daran Anstoß, dass Sie mit einer Buddhistin verkehren?«, fragte sie lächelnd.
»Mir ist von meinem Erzieher die Ansicht eingeprägt worden«, entgegnete Eugen eifrig, »dass nicht die Religion, sondern allein das Herz des Menschen Charakter macht. Ich kenne Buddhas Lehren ganz genau, und sie sagen mir oft mehr zu als die christlichen, vor allen Dingen sind sie edler, denn sie schützen auch die Tiere, was unsere Bibel nicht tut.«
»Woher kennen Sie den Buddhismus?«
»Mein Erzieher oder besser gesagt, einer meiner Lehrer hat mich davon unterrichtet.
»Er ist Inder?«
»Nein, ein Deutscher, der indische Studien treibt.«
»Dann muss dieser Deutsche ein edler Mensch sein.«
»Ja, das ist er, und ein grundgescheiter dazu. Doch Sie wollten mir erzählen, wie es kam, dass Sie Ihre Kindheit fern von Ihrem noch lebenden Vater verbrachten.«
»Als er die Herrschaft über Tipperah antrat, war seine Stellung eine sehr unsichere. Ein entfernter Verwandter von ihm glaubte Ansprüche auf den Thron zu haben, er befeindete ihn, es entstanden im Lande zwei Parteien, und wegen der Unruhe wurde ich als zweijähriges Kind zu meinem Onkel gebracht. Ich war fünf Jahre alt, als ich meinen Vater zum ersten Male sah, und da war er stumm und taub.«
»Taubstumm?«, rief Eugen erschrocken.
»Stumm und taub«, wiederholte Bega traurig. »Sein Feind war vernichtet, aber auch seine Frau, meine Mutter, war unterdes gestorben, und sei es, dass er aus Schmerz über den Verlust seiner Gattin so erkrankte, dass er Sprache und Gehör verlor, oder sei es, dass er das Gelübde tat, nicht mehr zu sprechen — kurz, er verständigt sich jetzt nur schriftlich mit seiner Umgebung.
Seit sieben Jahren habe ich kein Wort aus dem Munde meines Vaters gehört, und Monsieur Francoeur behauptet, er habe die Sprache jetzt wirklich verloren, ebenso vielleicht auch das Gehör. Ich hoffe, dass Sie ihn kennen lernen.
Er hat die Regierung in andere Hände gegeben und will nur bei mir sein.«
»Sie waren fünf Jahre, als Sie Ihren Vater kennen lernten. Sieben Jahre ist er bei Ihnen, so sind Sie erst zwölf Jahre?«, fragte Eugen staunend.
»Hielten Sie mich für älter?«, lachte Bega.
»Damals im Walde für fünfzehn, jetzt, in der modernen Kleidung, wenigstens für siebzehn.«
»So kennen Sie Indien nur aus Büchern. Täusche ich mich, wenn ich Sie auf fünfzehn Jahre schätze?«
»Sie täuschen sich nicht, meine Lehrer zeigen oft Neigung, mich noch als ein Kind zu behandeln.«
»Kehren Sie sich nicht an diese Kurzsichtigen. Apropos, Sie lernen Deutsch?«
»Nein.«
»Sie haben aber einen Deutschen zum Lehrer?«
»Ja, er lehrt mich Französisch.«
»Der Onkel wollte für mich einen deutschen Lehrer engagieren, konnte aber keine geeignete Person finden.«
»Dann lerne ich es auch«, rief Eugen; »Mister Reihenfels gibt uns zusammen Unterricht.«
»Da muss ich meinen Onkel erst fragen, ob er einverstanden ist.«
»O, bitte, bitte, überreden Sie ihn dazu!«
»Warum?«
»Damit wir oft zusammen —«
Eugen brach ab, er wurde verlegen. Auch Bega wurde zurückhaltender, doch nur für wenige Minuten, dann fing sie wieder ein weiteres Gespräch an.
Für Eugen verflossen die Stunden wie Minuten; entzückt lauschte sein Ohr der hellen, weichen Stimme; entzückt hing sein Auge an der schönen Gestalt, die sich mit solcher Grazie und Sicherheit bewegte.
Der Weg durch den Wald bot Schwierigkeiten; bald musste man sich durch Büsche winden, bald über gefallene Bäume klettern, bald auf einem Stamm über einen Graben balancieren.
Mit einer Leichtigkeit, die einer Zirkusreiterin Ehre gemacht hätte, schwang Bega sich über die hohen Stämme, und manchmal bot sie sogar lachend ihrem Begleiter hilfreiche Hand.
»Ich glaube, Sie sind im Walde groß geworden«, rief er einmal.
»Ich habe mich wenigstens viel im Walde aufgehalten, und Sie müssen bedenken, dass dieser hier gegen einen indischen Wald noch ein Park zu nennen ist.«
»Und Sie haben auch mit der Pistole schießen gelernt?«
»Haben Sie meine Bleikugel gefunden?«
»Ja. Wie aber konnten Sie bei der weiten Entfernung das kleine Ziel treffen?«
»O, vielleicht werden Sie bald sehen, dass ich noch mehr kann. Ich habe gute Lehrmeister.«
Sie traten auf eine Lichtung und standen vor dem Haus, wo sie von dem Franzosen und seiner Schwester erwartet wurden. Mit Schrecken erkannte Eugen, dass es schon Mittag war; er wollte schnell Abschied nehmen, doch Monsieur Francoeur ließ ihn nicht gehen. Er musste am Mittagessen teilnehmen, und Eugen fügte sich gern.
Vor dem Betreten des Hauses sah er noch, dass in dem Garten fleißig gearbeitet wurde, und dass alle Arbeiter Diener des Hauses, also Inder waren. Sie schufen in dem parkähnlichen Garten einen freien Platz und auf ihm unverständliche Einrichtungen, fast einer Kegelbahn ähnelnd, er hörte in einem Stall Pferde wiehern, dann betrat er das Innere des Hauses.
Die Villa war nur klein, aber mit der Pracht eingerichtet, mit der indische Fürsten sich umgeben. Nichts erinnerte da an die alte Welt; alles waren Produkte Indiens oder des Orients, die Möbel, die Teppiche, die Portieren statt der Türen, der Zimmerschmuck und so weiter.
Auf dem Diwan hockte ein alter, dicker Inder, bei dessen Anblick Eugen sich fragte, wie dies der Vater der schönen Bega sein könnte.
Sein Gesicht war von Pockennarben entstellt, und seine Augen besaßen die hässliche Eigenschaft, voneinander unabhängig zu sein. Das eine musterte den Eintretenden, das andere las den Zettel, auf den der Franzose einige Worte geschrieben hatte. Der Radscha gab Eugen die Hand und deutete dann kopfschüttelnd auf Mund und Ohr — stumm und taub.
Eugen musste zwischen Bega und dem Franzosen Platz nehmen. Während der nach französischem, luxuriösem Geschmack zubereiteten Mahlzeit drehte sich das Gespräch um die Familie Carters. Die Anwesenden hatten von seinem Schicksale noch gar nichts erfahren und bedauerten lebhaft ihn und seine unglückliche Gemahlin. Ab und zu reichte Francoeur oder seine Schwester dem Inder einen beschriebenen Zettel oder sie empfingen von ihm einen. Eugen hatte sich bald an diese seltsame Korrespondenz gewöhnt. Die Zettel wurden jedes Mal sorgsam eingesteckt, und als Madame Dubois einmal im Eifer des Gesprächs neben ihrem Teller einen liegen ließ, bemächtigte sich der Franzose sofort desselben. Seine erste Frage im Hause war gewesen, ob Eugen indisch lesen und schreiben könnte, worauf dieser bejahend geantwortet hatte.
Als Bega von dem deutschen Lehrer Eugens sprach, war Francoeur sofort Feuer und Flamme. Er wollte sich mit Lady Carter in Verbindung setzen ob nicht ein gemeinsamer Unterricht möglich sei.
Für Eugen verging die Zeit viel zu schnell. Doch endlich musste er Abschied nehmen, denn zu Hause wusste niemand, wo er sich befand. Zu einem Besuch durfte er die Herrschaften allerdings nicht auffordern, dazu hatte er nicht das Recht, er konnte nur die Hoffnung aussprechen, sie bald wiederzusehen.
Von frohen Hoffnungen erfüllt, eilte er heimwärts, er fühlte noch den letzten Händedruck der schönen Inderin.
Als die Gesellschaft allein war, entfernte Madame Dubois, von Bega Tante genannt, das Mädchen unter einem Vorwand in den Garten.
Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, als der Franzose mit vor Freude glänzenden Augen sagte:
»Es geht alles schneller und besser, als wir zu hoffen gewagt haben. Sirbhanga hat bereits Feuer gefangen, er verleugnet seine südliche Natur nicht.«
Beim Nennen des Namens hob der alte Inder wie warnend die Hand, ein Zeichen, dass er recht gut hörte, und wie wäre Eugen erstaunt gewesen, wenn er ihn auch jetzt hätte sprechen hören!
»Nicht diesen Namen!«, flüsterte Tipperah.
»Gut, also Eugen! Er kommt uns in jeder Weise entgegen.«
»Ob Lady Carter uns einladen wird?«, fragte die Schwester.
»Sicherlich, wenn sie nur einigermaßen Takt besitzt«, entgegnete der Franzose, »und dann gilt es noch, für beide einen gemeinsamen Unterricht herbeizuführen. Womöglich verlegen wir ihn nach unserem Hause.«
»Sie dürfen aber auch nicht zu vertraulich werden«, flüsterte die Schwester«, das könnte plötzlich einen Gefühlsumschlag bewirken.«
»Wir müssen sie unter steter Aufsicht behalten, ohne dass sie es wissen, und etwaige Situationen vereiteln, welche unseren Plänen schaden. Eugens bin ich sicher; was aber hältst du von Bega?«
»Das Mädchen hat auch an ihm bereits Wohlgefallen gefunden; ich sah, wie sie beim Abschied errötete und wie sie lange dem Fortgehenden nachblickte.«
»Gut, so haben wir nur noch nötig, vorsichtig zu operieren. Alles ist uns günstig; das Schicksal selbst ist uns behilflich; das beweist schon das zufällige Zusammentreffen Eugens mit Bega im Walde, welches wir gar nicht beabsichtigt hatten. Es gilt, die Sinne des leicht erregbaren Jünglings durch Bega völlig gefangen zu nehmen, bis er uns gehorcht wie ein folgsamer Pudelhund. Dann wird es uns ein leichtes sein, ihn unseren Zwecken dienstbar zu machen. Instruiere du nur Bega gut, dass sie Eugens Ehrgeiz entflammt.«
»An mir soll es nicht fehlen«, lachte die Dame leise, »du weißt, wie geschickt ich mit Bega umgehen kann.«
»Sie darf nicht merken, dass sie nur unser Werkzeug ist.«
»Gott bewahre!«
»Dann müssen wir ruhig abwarten, bis Lady Carter uns zu einem Gegenbesuch einlädt.«
Die Zeit vermag alle Schmerzen zu heilen, wenn dafür gesorgt wird, dass die vernarbenden Wunden nicht wieder aufgerissen werden.
So war auch Emilys Schmerz über den Verlust des Kindes und Gatten im Laufe der Zeit geheilt, sie liebte Eugen wie ihren eigenen Sohn; ihre Umgebung sorgte dafür, dass sie an ihr altes Unglück nicht erinnert wurde, aber jeder wusste, dass Emily im Stillen noch immer auf das Wiederauftauchen der beiden Verschollenen hoffte.
Die Hoffnung, beruhend auf dem Glauben an einen barmherzigen Gott, ist eine große Segnung, sie kann einem schon verzweifelten Herzen wieder frischen Lebensmut einflößen, und sie hatte dies auch bei Emily getan.
Diese hatte sich in den letzten fünfzehn Jahren allerdings verändert, jedoch nur zu ihrem Vorteil. Sie war voller geworden und hatte sich zu einer Schönheit entwickelt, der man die fünfunddreißig Jahre nicht ansah. Sie lebte in ihrem Waldhaus bei Wanstead in stiller, aber heiterer Zurückgezogenheit, selten reiste sie einmal nach London, noch seltener erhielt sie Besuch.
Sie widmete sich ganz der Erziehung Eugens, hielt ihm Hauslehrer, welche eine Schule vollständig ersetzten, und konnte nicht zu dem Entschlusse kommen, ihn von sich zu lassen, damit er einen Beruf ergreife.
Eugen hatte oft den Wunsch geäußert, Offizier zu werden, aber Emily wusste ihn immer umzustimmen, und der Mutterliebe war dies verzeihlich.
Sie wollte sich nicht trennen von dem, den ihr das Schicksal als Ersatz für die Geraubten beschieden hatte.
Unter den Lehrern Eugens befand sich auch Oskar Reihenfels.
Sein Vater, Friedrich Reihenfels, bekleidete noch die Stelle am Britischen Museum, die ihm damals vom Direktor angeboten worden war. Dass er es nicht weiter hatte bringen können, war nicht seine Schuld. Der Direktor war bald gestorben, und der Nachfolger besaß den gleichen Fehler wie unzählige Engländer, er hasste die Deutschen; so kam es, dass er Friedrich Reihenfels trotz seiner Begabung und seiner Pflichttreue nicht beförderte.
Er fühlte sich zurückgesetzt, er wurde verbittert, gab aber aus Liebe zu seiner Frau den sicheren Posten nicht auf.
Sein Sohn Oskar hatte das Sprachentalent des Vaters geerbt, er hatte die beste Erziehung genossen; als ihn aber der Vater für reif genug erklärte, musste er allein den Kampf mit dem Dasein beginnen.
So finden wir ihn als Lehrer der französischen Sprache in dem stillen Waldhaus wieder.
Lady Carter hatte bald den energischen Charakter des jungen Mannes erkannt und ihn deshalb zum Begleiter Eugens ernannt. Oskar hatte trotzdem noch Muße genug, mit Hilfe der Bibliothek seines Vaters seine Studien weiter zu treiben.
Der einzige Gast, welcher Lady Carter häufiger, sogar sehr häufig besuchte, war Edgar Westerly. Er war nicht nach Indien zurückgekehrt, hatte überhaupt, eine schlechte Gesundheit vorschützend, seine Entlassung genommen und lebte in London. Es schien fast, als ob der vierzigjährige Mann, ein Junggeselle, sich freilich erfolglos um die Gunst Emilys bewerbe. — — —
Lady Carter saß in ihrem Kabinett und schrieb eine Einladung an Monsieur Francoeur, dessen Schwester, sowie an den Radscha Tipperah und seine Tochter Bega. Eugen hatte ihr natürlich von seiner freundlichen Aufnahme in dem fremden Hause erzählt, und Emily musste die Nachbarn wieder einladen, so gern sie auch eine Annäherung vermieden hätte.
Nach Beendigung des Schreibens gab sie das Klingelzeichen für einen Diener; statt des Erwarteten trat jedoch Reihenfels ins Zimmer.
»Ich hörte das Zeichen und erlaubte mir daher, ohne Anmeldung einzutreten.«
»Sie sind mir stets angenehm«, entgegnete Emily freundlich. »Was führt Sie zu mir?«
»Darf ich erst den Auftrag ausrichten, den Sie dem Diener zugedacht hatten?«
»Es hat Zeit. Ich habe für unsere neuen Nachbarn eine Einladung geschrieben, die ihnen im Laufe des Vormittags zugestellt werden soll. Wollen Sie dann einen Diener damit beauftragen?«
Reihenfels nahm das Schreiben.
»Für wann dürfen wir sie erwarten?«
»Für morgen Mittag.«
»Die Herrschaften werden den ganzen Tag hierbleiben?«
»Ich hoffe so.«
Reihenfels räusperte sich und blickte Emily an.
»Sie haben etwas Besonderes?«, lächelte diese.
»Ich komme wegen Eugens.«
»Was ist mit ihm? Macht er Ihnen Sorge?«
»Ja und nein. Es handelt sich um eben diese Einladung.«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Ist Ihnen an Eugen in letzter Zeit nichts aufgefallen?«
»Nicht, dass ich wüsste«, sagte Emily nachdenkend.
»Eugen ist zerstreut, er denkt an weiter nichts als an den Besuch der Nachbarn.«
»Er freut sich, dass eine Abwechslung in unser eintöniges Leben kommt.
Mister Westerly kann ihm keine angenehme Gesellschaft sein.«
»Manchem anderen auch nicht«, sagte der wegen seiner Offenherzigkeit bekannte Lehrer trocken, »nein, das ist es nicht. Eugen hat keine Geheimnisse weder vor Ihnen, noch vor mir, er hat erzählt, wie er das indische Mädchen in dem phantastischen Kostüm im Walde getroffen, wie er sich mit Bega bei der zweiten Begegnung unterhalten hat, aber er verheimlicht uns, welchen Eindruck sie auf ihn machte.«
»Wie? Sie meinen...?«, rief Emily erstaunt.
»Ich meine, dass Eugen das Mädchen liebt, wenn er sich auch noch keine Rechenschaft über seine Gefühle geben kann. Bedenken Sie, Eugen ist trotz seiner fünfzehn Jahre ein erwachsener Mann, und zwar ein heißblütiger Inder; unsere Erziehung ändert daran gar nichts, und jenes zwölfjährige Mädchen muss, weil es eine Inderin ist, schon ein erwachsenes Weib sein, aller Leidenschaften fähig.
Sie haben in mich großes Vertrauen gesetzt, als Sie mir Eugen zu überwachen gaben, und ich muss dieses Vertrauen rechtfertigen, daher spreche ich offen. Eugen hat sich in das fremde Mädchen verliebt. Ein Vorwurf ist ihm deshalb nicht zu machen.«
Emily spielte sinnend mit dem Federhalter.
»Sie mögen recht haben«, sagte sie; »Eugen hat sich, seitdem er das Mädchen im Walde gesehen, verändert. Er ist zerstreut, antwortet oft nicht, fragt mehrmals dasselbe. Kennen Sie das Mädchen?«
»Nur Eugens Beschreibung nach; gesehen habe ich es noch nicht. Doch morgen werde ich ja das Vergnügen haben.«
»Was soll ich tun, wenn Ihre Vermutung stimmt?«
»Das steht ganz in Ihrem Belieben. Es ist überhaupt keine Sünde, wenn Eugen das Mädchen liebgewonnen hat.«
»Nein, das ist keine Sünde«, lächelte Emily, »es kommt nur darauf an, wer Bega ist. Ich habe gehört, dass sich viele Abenteurer als indische Radschas ausgeben, besonders in neuerer Zeit.«
»Allerdings! Die Gerüchte, welche über das Nachbarhaus umgehen, klingen auch seltsam.«
»Was sagt man?«
»Bega werde eher wie ein Mann als wie ein Weib erzogen. Es ist für sie im Garten ein Reitplatz und ein Schießstand errichtet worden. Den ganzen Tag soll sie reiten, schießen und sonstige ritterliche Übungen vornehmen.«
»Ich nehme daran keinen Anstoß. Das Mädchen hat eben Lust dazu. In England findet man das häufig. Übrigens werden wir ja sehen, was der morgige Tag bringt. Wir müssen Eugen und das Mädchen beobachten, und finde ich Ihre Vermutung bestätigt, dann...«
Emily stockte.
»Was würden Sie dann tun?«
»Ich weiß es wahrhaftig noch nicht, es bedürfte einer reiflichen Überlegung.
Apropos, Miss Woodfield hat sich auf morgen zum Besuch angemeldet.«
»Eugen wird sich nicht besonders darüber freuen.«
»Und auch Mister Westerly kommt!«, sagte Emily wie zögernd. »Ich bitte Sie, die nötigen Vorkehrungen treffen zu lassen, die Gäste könnten vielleicht einige Tage hierbleiben wollen.«
Reihenfels verbeugte sich schweigend und verließ das Zimmer, um einen Diener mit der Einladung nach dem Nachbarhause zu schicken.
Auf dem Korridor begegnete ihm Eugen; dieser hatte sicher auf ihn gewartet.
»Nun, ist sie eingeladen worden? Kommt sie? Wann?«, sprudelte es über Eugens Lippen.
»Sie verlangen viel auf einmal!«, lachte Reihenfels. »Wer ist denn ›sie‹
überhaupt?«
»Ich meinte die französische oder indische Familie«, entgegnete Eugen errötend.
»Ja, diese kommt morgen zum Essen!«
»Das wird herrlich!«
»Und Miss Woodfield ebenfalls!«
»Ach, die hätte bleiben können, wo sie ist!«
»Und auch Mister Westerly wird kommen!«
»Ist er eingeladen worden?«
»Er hat sich selbst eingeladen!«
»Was sollen seine vielen Besuche nur bedeuten? Ich möchte den Kerl am liebsten immer hinauswerfen, wenn ich ihn sehe. Sobald ich einmal eine Gelegenheit dazu finde, tue ich es!«
Der betreffende Tag kam und brachte die Erwarteten.
Zuerst erschien Mister Westerly in Begleitung von Miss Woodfield, die den gleichen Zug benutzt hatte.
Miss Rachel Woodfield war eine im Geruche der Heiligkeit stehende richtige alte Jungfer.
Das magere Gesicht mit der spitzen Nase drückte die größte Energie aus; die Brille vor den scharfen, blauen, aber auch klugen Augen gab ihr ein noch männlicheres Aussehen, als sie schon durch den kleinen Bartanflug auf der Oberlippe besaß. Alles an ihr war eckig. Der Kopf, die Schultern, die Hüften, die Hände, bis hinab zu den Füßen, die in quadratischen Schuhen steckten. Ein umfangreicher Strickbeutel war ihr unvermeidlicher Begleiter, aus dessen Tiefen sie die gottlose Welt mit Traktätchen versah. Im Übrigen saß ihr Herz auf dem rechten Flecke.
Ihr Bruder hatte sich bereits in früher Jugend in Nordamerika eine Heimat geschaffen. Er war vor vierzig Jahren in die Baffinbay-Kompanie, eine Pelzjägergesellschaft, als Lehrling eingetreten, hatte seine Lehrjahre als Pelzjäger durchgemacht, es bis zum Direktor der Kompanie gebracht und sich dann selbst etabliert. Er beschäftigte im hohen Norden Amerikas unzählige Trapper und Fallensteller und machte selbst monatelange Reisen durch Wildnisse und Schneewüsten, um von jagenden Indianern Pelze einzutauschen.
Diesen Bruder hatte vor jetzt etwa fünfundzwanzig Jahren ein schwerer Schicksalsschlag getroffen, der dem von Lady Carter fast ähnelte; dadurch waren Emily und Miss Rachel zusammengeführt worden, und diese war die einzige, durch welche erstere fortwährend an den Verlust ihres Kindes erinnert wurde.
Gleich nach der Begrüßung wusste sie Mister Westerly aus Emilys Gesellschaft zu verscheuchen.
»James hat geschrieben!«, begann sie ihre Neuigkeiten auszupacken, einen Brief in der nervös zitternden Hand zerknitternd. Er hat mir seine baldige Abreise nach London angezeigt.«
»Er kommt geschäftlich hierher?«, fragte Emily.
»So schreibt er wenigstens; er will einigen Pelzauktionen beiwohnen, aber ich glaube es ihm nicht.«
»Was anders sollte ihn herführen?«
»Wie können Sie so fragen!«, rief Rachel entrüstet. »Das Herz des armen Vaters kennt keine Ruhe mehr, das große Amerika ist ihm noch zu eng; wie vor fünfundzwanzig Jahren, so scheint er jetzt abermals die Welt ziellos durchkreuzen zu wollen, um eine Spur von Nancy zu finden.«
»Dazu würde es jetzt die höchste Zeit!«, ließ Westerly sich aus seiner Ecke vernehmen.
Rachel warf ihm einen bösen Blick zu.
»Glauben Sie, dass er seine Hoffnung noch nicht verloren hat?«, fragte Emily.
»Wie sollte er wohl! Würden Sie jemals die Hoffnung aufgeben, Ihren Gatten und Ihr Kind wiederzusehen?«
»Aber Ihr Bruder hat verzweifelte Anstrengungen gemacht seine Tochter wiederzubekommen. Die Spur des Räubers ging doch nach Südamerika, und Ihr Bruder hat es jahrelang durchkreuzt. Sollte er einen Anhalt gefunden haben?«
»Davon schreibt er nichts, wie er überhaupt sehr wortkarg ist. Mein Gott«, seufzte Rachel, »ich habe ihn nun bald vierzig Jahre nicht mehr gesehen, ich fürchte, er wird zum Greise geworden sein!«
»Es ist nicht möglich! Vierzig Jahre haben Sie ihn nicht gesehen?«, warf Westerly dazwischen. »Ich hätte Sie doch höchstens für dreißig Jahre gehalten!«
Das Kompliment verfehlte bei Miss Rachel ganz seine Wirkung. Mit einem vernichtenden Blicke schaute sie den Sprecher an.
»Versuchen Sie Ihre Schmeicheleien bei anderen Personen anzubringen, aber nicht bei mir!«, sagte sie hoheitsvoll und drehte dem lächelnden Spötter verächtlich den Rücken.
»Sie erwarten noch mehr Besuch, wie ich gehört habe?«, fuhr sie, zu Emily gewandt, fort. »Das ist ja selten, dass man in Ihrem stillen Hause zahlreiche Gäste trifft!«
»Ich habe neue Nachbarn bekommen, sie bewohnen die Villa des Marquis de Lacoste.«
»Es sind doch nicht etwa Franzosen?«
»Allerdings! Ist Ihnen das unangenehm?«
»O, Sie wissen doch, wie sehr ich die französische Nation seit dem Unglück meines Bruders hasse. Doch ich werde mich zur Ruhe zu zwingen wissen. Was sind es für Leute?«
»Sie kommen aus Indien und bringen auch den Radscha von Tipperah und seine Tochter, mit.«
»Heiden?«, fragte Rachel misstrauisch.
»Ich glaube, es sind Buddhisten.«
»Also Heiden! Da wird es Arbeit für mich geben. Wie haben Sie ihre Bekanntschaft gemacht?«
Emily erzählte, wurde aber unterbrochen, weil ein Wagen mit den erwarteten Gästen vorfuhr. Während die Hausfrau im Beisein Eugens sie empfing, ordnete Rachel ihre Traktätchen im Strickbeutel.
Als Emily Bega erblickte, hätte sie bald laut aufgeschrien. Sie stürzte mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, blieb dann aber stehen und ließ die Arme schlaff herabsinken.
»Mein Gott, wie ist mir denn!«, murmelte sie, die Hand auf die Stirn legend.
»Miss Bega, die Tochter des Radschas von Tipperah«, stellte Monsieur Francoeur vor.
Emily antwortete nicht; ihre Blicke hingen starr an dem jungen Mädchen, welches sich, von diesem leidenschaftlichen Empfange überrascht, halb hinter dem Rücken von Madame Dubois versteckt hielt.
»Es sind ganz seine Züge«, murmelte Emily.
Dann beherrschte sie sich, ging auf das Mädchen zu und küsste es so innig, dass Bega von Neuem in Verlegenheit geriet.
Der Franzose machte der seltsamen Szene ein Ende, indem er nun den taubstummen Radscha vorstellte.
Emily hörte nur mit halbem Ohre; unverwandt schaute sie auf die reizenden Züge Begas, und sie wandte die Augen nur ab, um sie nach dem Gemälde an der Wand wandern zu lassen, welches ihren verschollenen Gemahl in der Blütezeit seines Glückes darstellte.
»Es ist nicht möglich«, seufzte sie dann.
»Wie meinen gnädige Frau?«, fragte Francoeur.
»Eine Ähnlichkeit, welche mich überwältigte. Ich glaubte beim Anblick Begas die Züge meines Gatten zu sehen. Sie kennen mein Schicksal?«
»Ihr Herr Sohn hat uns damit bekannt gemacht«, nahm Frau Dubois das Wort. »Wirklich, es ist eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Ihnen und Bega.
Es ist ein Spiel des Zufalls.«
Bei der Vorstellung der vorher angekommenen Gäste fand eine neue Überraschung statt.
»Miss Woodfield — Monsieur Francoeur«, sagte Emily.
Der Franzose wechselte plötzlich die Farbe.
»Miss Rachel Woodfield?«, rief er wie erschrocken.
»Wie? Sie kennen mich bereits?«, fragte die alte Dame im Tone des höchsten Erstaunens und rückte erregt an ihrer Brille. »Ich kann mich doch nicht erinnern, jemals Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, umso weniger, weil ich mit Franzosen nicht verkehre, weil — ich des Französischen nicht mächtig bin«, fügte sie schnell hinzu, um sich keiner Unhöflichkeit schuldig zu machen.
Francoeur hatte sich schnell wieder gefasst.
»Bei Nennung Ihres werten Namens stieg eine unangenehme Erinnerung in mir auf. Ich habe einst die Bekanntschaft einer Miss Woodfield gemacht, welche den Vornamen Rachel führte. Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass Sie denselben Vornamen haben.«
»Unangenehme Erinnerungen? Merkwürdiger Zufall?«, knurrte Rachel.
»Ich finde gar nichts Merkwürdiges dabei.«
Während der Tafel drehte sich das Gespräch meist um indische Verhältnisse. Der alte Radscha bediente sich wieder der schriftlichen Korrespondenz; zwischen ihm und dem Franzosen flogen einige Zettel hin und her, und einmal schien es, als ob das eine Auge des Inders Mister Westerly mit recht großem Interesse fixiere.
»Ihren Reden entnehme ich, dass Sie in Indien wie zu Hause sind«, sagte der Franzose zu Westerly.
»Allerdings, ich habe erst meine früheste Jugend in Indien zugebracht und dann wieder vom siebzehnten bis zum sechsundzwanzigsten Jahre.«
»Sind sie in Indien geboren?«
»Ja.«
»Täusche ich mich, wenn ich vermute, dass Sie indisches Blut in Ihren Adern haben?«
Diese Worte enthielten keine Beleidigung, Westerly schien sie aber als solche aufzufassen. Er blickte den Frager stirnrunzelnd an.
»Mein Herr, ich bin der Sohn des Lords Westerly, meine Mutter ist eine Lady. Ich wurde geboren, als meine Eltern sich in Indien aufhielten.«
»O, Verzeihung, ich wollte Sie durchaus nicht beleidigen! Ich fand es nur wunderbar, dass Sie so tief in die Sitten der Hindus eingedrungen sind.«
»Das kommt daher, weil ich im Geheimen Kabinett beschäftigt war und wir uns mit dem Studium der indischen Verhältnisse eingehend befassen mussten.«
»Welchem Gouvernement waren Sie zugeteilt?«
»Dem von Berar.«
»Das Gouvernement hat seinen Sitz in Akola. Waren Sie nicht zugegen, als sich jener Fall ereignete?«
Er zwinkerte mit den Augen nach Emily hinüber, und Westerly nickte kurz. Doch sie hätten nicht so vorsichtig zu sein brauchen, Emily hatte nur Auge und Ohr für die neben ihr sitzende Bega.
Nicht, dass sie mit dem Mädchen viel gesprochen hätte, nein. Sie lauschte nur wie entzückt dessen Worten, sie konnte ihre Augen nicht von den reizenden Zügen des Mädchens abwenden.
Fast ebenso erging es Eugen; seine ganze Aufmerksamkeit galt Bega, und sie schien sich gern nur von ihm unterhalten zu lassen.
Ab und zu wendete sie den Kopf und blickte geradeaus nach dem ihr gegenübersitzenden Reihenfels, doch kaum begegnete sie dem ernsten, kalten Blicke des jungen Gelehrten, so senkte sie, wie auf bösem Wege ertappt, die langbewimperten Augen und überließ sich wieder ganz ihrem Nachbar.
Emily musste sich jetzt auch dem Franzosen widmen, denn dieser lenkte das Gespräch auf Eugen; er rückte mit seinem Plane heraus, und es war ihm bald gelungen, ihn zu verwirklichen.
Mister Reihenfels sollte Bega in deutscher Sprache unterrichten, und sofort erklärte Eugen, auch er wolle von jetzt ab Deutsch treiben. Schon immer hätte er Lust gehabt, diese Sprache, die vollkommenste der neuen Zeit, zu erlernen.
»Diesen Wunsch haben Sie noch nie geäußert«, sagte Reihenfels lächelnd. »Sie hätten ja schon längst Gelegenheit gehabt, von mir Deutsch zu erlernen.«
Zum Glück brauchte Eugen nicht zu antworten, weil seine Mutter das Wort nahm.
»Ehe wir etwas beschließen, müssen wir Mister Reihenfels fragen, ob er die neuen Lehrstunden zu geben gewillt ist.«
Halb erstaunt blickten der Franzose und seine Schwester auf Reihenfels; für sie galt ein Hauslehrer als eine völlig untergeordnete Person.
»Wie? Sind Sie nicht in der Lage, deutschen Unterricht geben zu können?«
»Ich bin ein Deutscher, wenn auch in England geboren, und bin gern bereit, meine Kräfte zur Verfügung zu stellen. Es ist nur die Frage, ob Miss Bega mit der Wahl des Lehrers zufrieden ist.«
»Natürlich! Warum denn nicht?«, entgegnete das Mädchen, dem Blicke der ernsten, auf sie gerichteten Augen scheu ausweichend.
»Dann wäre die Sache abgemacht!«, rief Emily. »Ich denke, Bega kommt jeden Tag zur gewissen Zeit zu uns.«
»Ich habe noch einen anderen Vorschlag«, sagte der Franzose. »Mit Begas Lehrern ist es nämlich schwach bestellt, und wenn Sie damit einverstanden sind, so lassen Sie uns den Unterricht ganz teilen.«
Nach kurzem Beraten wurde ausgemacht, dass Eugen und Bega von jetzt an gemeinschaftlichen Unterricht genössen. Sie sollte Emilys Haus einen Tag um den anderen besuchen. Die Stunden, die Reihenfels gab, sollten jedoch in des Radschas Villa stattfinden, denn, fügte der Franzose hinzu, er selbst gedächte etwas von dem Unterrichte, besonders im Deutschen, zu profitieren.
Nach der Mahlzeit wurde der Kaffee in einer Laube des Parkes serviert. Es war heiß; die schattigen Gänge luden zum Spazierengehen ein, und nicht lange dauerte es, so hatten sich Gruppen gebildet, welche unter den alten Bäumen wandelten.
Miss Rachel suchte vergebens mit dem Inder eine Bekehrung vorzunehmen, an seiner Taubheit scheiterte alles. Begas konnte sie nicht habhaft werden, denn mit dieser beschäftigten sich Eugen und Emily, und so suchte sie schließlich die Dienerschaft und ganz besonders die bekehrte Inderin Hedwig auf, um an sie Traktätchen zu verteilen. Auch Mister Westerly vermochte nicht mit Emily in ein Gespräch zu kommen, so war diese für Bega eingenommen; daher entfernte er sich unter dem Vorwande, eine Zigarre rauchen zu wollen, in den Wald.
Er blieb nicht lange allein; bald gesellte sich ihm Monsieur Francoeur bei. Er bat um Feuer für seine Zigarre und fragte nach einleitenden Redensarten:
»Es ist wunderbar, wie das Schicksal oft unseren Wünschen entgegenkommt. Ich hatte die Absicht, sie in den nächsten Tagen in London aufzusuchen, und nun begegne ich Ihnen hier, ganz in der Nähe meiner Behausung.«
Westerly war stehen geblieben.
»Mich wollten Sie in London aufsuchen?«, fragte er erstaunt.
»Sie, Mister Westerly.«
»Aber Sie kennen mich ja gar nicht!«
»Doch; dem Namen nach sehr gut.«
»Aus Indien?«
»Ja.«
»Möglich, dort ist mein Name in einigen Gegenden bekannt. Was für ein Anliegen haben Sie?«
Der Franzose sah sich scheu um.
»Es ist hier nicht der Ort, darüber zu sprechen, die Bäume könnten Ohren haben. Darf ich Sie ersuchen, morgen Nachmittag zu mir zu kommen?
Sie bleiben einige Tage hier, wie ich gehört habe, und nach meinem Hause ist es nicht weit.«
Es lag etwas so Freches, Impertinentes in der Sprechweise des Franzosen, dass Westerly seinen Unmut kaum beherrschen konnte.
»Monsieur, sprechen Sie deutlicher! Ich verstehe Sie nicht!«, sagte er stirnrunzelnd.
»Nun, ich bitte nur um Ihren Besuch.«
»Ich wüsste nicht, mit welchem Rechte.«
»Nun, ich komme direkt aus Indien und bin beauftragt, Ihnen Grüße zu bringen.«
»Grüße? Von wem?«
Westerly wurde unruhig; sein Herz begann bedenklich zu schlagen, doch er wusste einen abweisenden Ton zu bewahren.
»Von einer Dame, welche Sie sehr gut kennen.«
»Ich habe die Bekanntschaft mancher Dame in Indien gemacht«, lachte der Engländer, »jedoch selbst mit der Erinnerung daran gebrochen.«
»Die Dame interessiert sich noch jetzt höchlichst für Sie.«
»Eine Engländerin?«
»Eine Inderin.«
»Bah, von denen gehen zwölf auf ein Dutzend.«
»Es ist eine Haremsdame. Ihr Name ist Ayda.«
Jetzt konnte Westerly seine innere Unruhe kaum noch bemeistern; mit aller Gewalt musste er sich dazu zwingen, ein gleichgültiges Gesicht zu machen.
»Sie gefallen sich in rätselhaften Andeutungen; ich kann mich keiner Haremsdame Ayda entsinnen.«
»Strengen Sie nur Ihr Gedächtnis an«, sagte der Franzose spöttisch, »Sie lernten sie in Akola kennen. Das Nähere sollen Sie morgen erfahren; ich erwarte Sie nachmittags vier Uhr in meinem Hause!«
Klang das nicht wie ein Befehl?
»Mein Herr, ich möchte Ihre Worte nicht gern missdeuten, denn sonst
...«, rief Westerly aufgebracht.
»Kurzum, ich erwarte Sie morgen um vier Uhr.«
Der Franzose wollte gehen; Westerly eilte ihm jedoch nach und hielt ihn am Arme zurück.
»Jetzt müssen Sie mir Rechenschaft geben«, raunte er ihm mit vor Erregung zitternder Stimme zu. »Was veranlasst Sie, so mit mir zu sprechen?«
»Auch das sollen Sie morgen erfahren«, war die höhnisch klingende Antwort.
»Ich verlange auf der Stelle eine Erklärung.«
»Eine Andeutung sollen Sie wenigstens bekommen, dann werden Sie sich nicht mehr weigern, mich morgen zu besuchen. Mit jener Ayda hatten Sie am Abend vor dem Tage ein Rendezvous, an welchem Sir Carter spurlos verschwand. Nun?«
Westerly ließ schlaff den Arm sinken; er starrte den lächelnden Franzosen wie ein Gespenst an.
»Ich entsinne mich nicht«, murmelte er tonlos.
»Noch immer nicht? Das Rendezvous war eigentlich für Lord Canning, dem jetzigen Generalgouverneur von Indien, damals dritter Sekretär im geheimen Kabinett zu Akola, bestimmt. Sie fingen aber die Einladung der Unbekannten ab und machten Gebrauch davon. Erinnern Sie sich jetzt?
Also auf Wiedersehen morgen, Mister Westerly.«
Wie vom Donner gerührt stand dieser da und schaute dem fortgehenden Franzosen nach.
Er zitterte wie Espenlaub, seine Finger griffen in der Luft herum; die Zähne klapperten hörbar.
Da raschelte es neben ihm, und er sah Reihenfels aus einem Gebüsch auf sich zukommen.
»Was ist mit Ihnen, Mister Westerly? Fühlen Sie sich unwohl?«
Sofort raffte sich der Engländer zusammen.
»Was wollen Sie? Wie kommen Sie hierher?«, schrie er den jungen Mann an, der mit besorgter, aber unbefangener Miene vor ihm stand.
»Mich führt der Weg ganz zufällig hierher; ich sah durch die Lücken der Bäume Monsieur Francoeur, wollte ihn aufsuchen und finde nun zu meinem Erstaunen statt seiner Sie hier. Ist Ihnen unwohl?«
Westerly hatte sich schnell beruhigt; dieser Mann schien nichts von dem Gespräch erlauscht zu haben.
»Allerdings, ich bekam einen Schwindelanfall. Ich leide überhaupt jetzt öfter an solchen.«
»Sie kamen jedenfalls aus der Sonnenhitze in den Waldschatten; es ist sehr kühl hier. Erlauben Sie, dass ich Sie zu der Gesellschaft zurückführe?«
Unterwegs überzeugte sich Westerly durch anscheinend harmlose Fragen, dass Reihenfels wirklich nichts gehört hatte. Aber er täuschte sich. Reihenfels hatte die letzten Worte des Franzosen gehört und erraten, dass hier ein Geheimnis vorlag.
»Der Franzose hat Westerly in der Tasche«, dachte er, dabei aber die Fragen seines Begleiters beantwortend. »Westerly ist erschrocken, als er dies erkannte. Die Sache gibt zu denken.«
Am Abend verabschiedeten sich die Nachbarn. Fast schien es, als ob Emily sich von dem indischen Mädchen gar nicht trennen könnte; wie Eugen, so schaute auch sie dem Wagen so lange nach, bis er ihren Blicken entschwand, dann verbrachte sie eine halbe Stunde, in Träumereien versunken, vor dem Bildnis ihres verschollenen Gemahls.
Reihenfels hatte sich nach dem kurzen Abschied in sein hochgelegenes Zimmer begeben, und auch er blickte unverwandt dem fortrollenden Wagen nach, ja, nahm sogar ein Fernglas zur Hand, richtete es aber nicht auf den Franzosen, welcher sein Misstrauen erregt hatte, sondern auf das fremde Mädchen, dessen liebliche Züge er im Glanze der Abendsonne noch erkennen konnte. Als der Wagen um eine Ecke bog schob er seufzend das Fernrohr zusammen und begab sich zu Eugen, welcher beim Eintritt seines Lehrers errötend schnell etwas in der Tasche verbarg. —
»Du hast einen unverzeihlichen Fehler begangen, als du bei der Vorstellung dieser alten Miss so erschrakst«, sagte Madame Dubois zu ihrem Bruder, als sie beide allein waren.
»Denke dir aber auch mein Entsetzen, als ich ihren Namen hörte! Es ist kein Zweifel, sie ist die Schwester des Mannes, den ich fürchten muss.«
»Hast du nichts anderes gehört, was dir einen noch größeren Schrecken einjagt?«
»Was könnte das sein?«
»James Woodfield hat die Absicht, nach London zu kommen. Leicht möglich, dass er auch diese Gegend besucht, wo sich seine Schwester oft aufhält.«
Der Franzose erschrak furchtbar; erst starrte er die Schwester entsetzt an, dann begann er mit fest zusammengepressten Lippen in dem Gemach auf und ab zu gehen.
»Hat sie davon gesprochen?«
»Ja, als du im Walde warst. Sie hat sogar den Brief ihres Bruders gezeigt.«
»Wann kommt er?«
»Die Zeit ist unbestimmt, vielleicht erst nächstes Jahr. Aber er kommt.«
»Welchen Grund hat er angeführt?«
»Er will Pelzauktionen beiwohnen.«
»Nicht eine nochmalige Nachforschung beginnen?«
»Dies glaubt die spleenige Miss allerdings zwischen den Zeilen zu lesen, doch es ist Unsinn. Wie sollte der Mann ahnen, dass seine Tochter durch den Entführer nach der anderen Hälfte der Erdkugel gebracht ward und dass eine Lösung des Geheimnisses in dem frommen England zu suchen ist? Überdies sind ja schon fünfundzwanzig Jahre seitdem vergangen.«
»Ganz meine Ansicht!«, nickte der Bruder.
»Wie aber, wenn er hierher kommt? Würdest du seine Ankunft abwarten?«
Der Franzose blieb mit verschränkten Armen vor dem Weibe stehen.
»Warum nicht?«
»Fürchtest du nicht, dass er dich erkennt?«
»Nicht im Geringsten. Ich habe mich in den fünfundzwanzig Jahren sehr verändert; meine Heimat ist Indien; ich könnte meinen Aufenthalt dort bis zu meiner Jugend zurück beweisen; ich bin noch niemals in Amerika gewesen, und, zum Schluss, ich darf meinen Posten unter keinen Verhältnissen verlassen, es sei denn, mein Verbleib führe einen Verrat unserer Absichten herbei. Du weißt, in wessen Auftrage wir handeln, und wem wir gehorchen müssen!«
»Ich weiß, dass wir nur elende Sklaven sind«, seufzte die Schwester, »dass unser glänzendes Los schließlich nur beklagenswert ist!«
»Es werden andere Zeiten für uns kommen; wir sind auf dem besten Wege dazu; alle unsere Pläne gehen in Erfüllung. Jetzt braucht es nur Geduld!«
»Wie stehst du mit Westerly?«
»Er ist bereits zu Kreuze gekrochen. Meine Andeutung, dass ich um sein Geheimnis weiß, durch dessen Veröffentlichung er gebrandmarkt wird, schmetterte ihn nieder. Er wird mich morgen besuchen und mir gehorchen müssen.«
»Wie ist sein Verhältnis zu Lady Carter?«
»Erfahren habe ich darüber noch nichts.
Hast du denn nichts bemerkt?«
»Nur, dass Westerly öfters versuchte, sich mit Lady Carter allein zu unterhalten, was ihm nie gelang, weil sie ganz von Bega eingenommen war.«
»Sie trägt noch den Witwenschleier.«
»Sie wird ihn wohl nie ablegen.«
»Dann wäre sie kein Weib!«
»Wenigstens nicht, solange sie nicht die sichere Nachricht von dem Tode des Gatten erhalten hat.«
»Ah, so steht die Sache! Gut, es soll Sorge getragen werden, dass sie den Beweis seines Todes erhält!«
»Operiere nicht zu kühn!«, warnte die Schwester.
»Ich nehme keine Verantwortung auf mich; ich habe die Vollmacht, alles zu tun, was unserer Sache nützlich ist. Misslingt es, so fällt die Schuld auf den, der mir die Vollmacht gegeben hat. Ich bin gespannt, was uns der morgige Tag bringen wird!«
Nach diesem Zwiegespräch zogen sie sich in ihre Schlafgemächer zurück.
Am folgenden Nachmittag trafen Reihenfels und Eugen zur ausgemachten Zeit in dem indischen Hause ein, um in Gesellschaft Begas den deutschen Unterricht zu beginnen. Auch Monsieur Francoeur wohnte ihm bei; doch er hörte nur zerstreut zu, wie Reihenfels seinen Schülern beibrachte, dass sich bei der deutschen Deklination die Hauptwörter meistens verändern, ebenso wie die Artikel, was den Engländern ganz unbekannt ist.
Des Franzosen Augen waren nur immer auf die Wanduhr gerichtet, und kaum zeigte diese auf vier, als ein Diener eintrat und Mister Westerly anmeldete.
»Führe ihn in die Bibliothek! Ich komme sofort. Mister Westerly will Einsicht in das Werk Sewadschis nehmen!«, fügte Francoeur erklärend zu Reihenfels hinzu. »Sie wissen, der indische Abenteurer Sewadschi, welcher das Reich der mächtigen Maharatten gründete, hat eine Art von Gesetzbuch hinterlassen.«
Reihenfels konnte keine Antwort geben, denn schon eilte der Franzose hinaus. Auf dem Korridor begegnete er Madame Dubois in Straßenkleidung.
»Wohin?«, fragte der Bruder.
»Wie Eugen sagte, wird Lady Carter in Begleitung der alten Miss ihren Sohn abholen. Ich tue, als ginge ich ihnen entgegen, verpasse sie, verirre mich nach ihrem Hause und versuche in die Nähe der frommen Hedwig zu kommen, was mir gestern nicht möglich war, weil Miss Woodfield sie beständig in Beschlag genommen hatte. Ich werde eine Gegenmine legen.«
»Ich wünsche dir viel Glück dazu; instruiere das Mädchen gut!«
Der Franzose fand im Bibliothekzimmer Mister Westerly, anscheinend aufmerksam die Titel der dicken Bücher studierend. Aber dem Eintretenden entging seine Aufgeregtheit doch nicht.
»Ich wusste, dass Sie kamen, Mister Westerly. Seien Sie im Hause des Radschas Tipperah willkommen; ich darf es auch als das meine bezeichnen!«
Mit einem Ruck wandte Westerly sich um und musterte den Franzosen mit finsteren Blicken, aus denen nur zu deutlich die heimliche Angst sprach.
»Fassen Sie sich kurz! Was veranlasste Sie, mich förmlich zu einem Besuche in Ihrem Hause zu zwingen?«
»Habe ich das getan?«, lachte Francoeur. »Ich wusste doch nicht. Ich versprach Ihnen, Grüße von einer Dame aus Indien zu bringen, und dieser Pflicht will ich mich jetzt entledigen.«
»Sie ergingen sich in Andeutungen...«
»Bitte, setzen Sie sich! Nehmen Sie eine Erfrischung zu sich?«
Der Franzose klingelte; ein Inder brachte Wein und Obst und setzte es zwischen beide auf ein chinesisches Tischchen.
»So, nun können wir ungestört plaudern!«, begann Francoeur wieder, als der Diener sie verlassen. »Bedienen Sie sich, hier sind Zigarren und Zigaretten. Genieren Sie sich nicht, wir sind ungestört und haben keinen Lauscher zu fürchten!«
»Was ich zu sprechen habe, kann jeder hören!«
»Desto besser für Sie! Also nun zur Sache! Ich soll Ihnen Grüße bringen von einer indischen Dame namens Ayda, welche Sie vor fünfzehn Jahren in Akola kennen lernten.«
»Und ich wiederhole Ihnen wie schon gestern, dass ich diese Dame nicht kenne, aber...«
»O, Sie haben doch mehrere Stunden bei ihr verbracht!«, unterbrach ihn der Franzose.
»Sie haben mich nicht aussprechen lassen. Was Sie eigentlich im Schilde führen, weiß ich nicht, nur so viel, dass Sie sich an eine falsche Adresse gewendet haben. Wenn Sie den Vertrauten jener Dame sprechen wollen, so müssen Sie sich an den Lord Canning, nicht an mich halten!«
»Das wäre!«, rief Francoeur, sich erstaunt stellend.
Westerly schöpfte Hoffnung, dass sein Partner sich täuschen ließe.
»Und ich möchte wissen, was der jetzige Generalgouverneur von Indien sagen würde, wenn Sie ihn an ein zärtliches Rendezvous erinnern wollten, das er vor fünfzehn Jahren mit einem Haremsweib gehabt hat.«
»Deshalb erschraken Sie wohl gestern so furchtbar, als ich Ihnen die Wahrheit ins Gesicht sagte, weil Sie das Ihnen anvertraute Geheimnis verraten sahen?«, versetzte der Franzose lauernd, und ehe Westerly ihm antworten konnte, fuhr er höhnisch fort: »Machen Sie doch keine Umschweife, denn ich weiß schon, welche Gründe Sie anführen wollen, um die Schuld in die Schuhe Lord Cannings zu schieben!«
»Monsieur!«, brauste der Engländer auf.
»Geduld! Ich durchschaue Sie. Ich will Ihnen die ganze Wahrheit nochmals enthüllen, wenn Sie sich nicht mehr entsinnen können. Sie besuchten Ihren Freund, um ihn zur Pantherjagd abzuholen, fanden ihn aber am Fieber erkrankt. Sie borgten von ihm Staubmantel und Schlapphut, wodurch Sie das Aussehen von Lord Canning erhielten. Auf der Treppe begegneten Sie einem Kuli, der Ihnen, als Lord Canning, eine Karte einhändigte. Soll ich Ihnen wiederholen, Wort für Wort, was Ayda schrieb?«
»Es ist nicht nötig!«, stöhnte Westerly, immer noch versuchend, Gleichgültigkeit zu heucheln. Er hatte eine Ahnung, was jetzt kommen würde, aber es mussten Beweise gebracht werden, und diese konnte Monsieur Francoeur unmöglich besitzen.
»Sie folgten der Einladung, ohne Lord Canning etwas mitzuteilen«, fuhr der Franzose fort, »gaben sich zuerst auch für Letzteren aus, konnten Ayda jedoch nicht täuschen; diese ließ Sie überwältigen und gab Sie dann wieder frei. Am Morgen fanden Sie nicht Ayda, sondern eine käufliche Bajadere neben sich. Nun, bin ich gut orientiert oder nicht?«
»Sie sind es«, lachte Westerly höhnisch. »Was soll jedoch das Hervorrufen dieser Erinnerungen, die mir unangenehm sind?«
»Am nächsten Morgen traf Sir Carter als geheimer Kurier in Akola ein.«
»Mag sein; ich entsinne mich nicht mehr genau des Datums.«
»Strengen Sie nur Ihr Gedächtnis an!«
»Nun gut, und was dann?«
»In derselben Nacht verschwand Carter nebst seinem Diener.«
»Stimmt!«
»Ein Brief machte bekannt, dass Feinde Englands von seiner Mission als geheimer Kurier wussten. Für Auslieferung der geheimen Order sollte er sein Kind wiederbekommen.«
»Es ist fast, als hätten Sie diesen Brief geschrieben.«
»Daraus musste unbedingt gefolgert werden, dass die Sendung Carters als geheimer Kurier verraten worden war, es lag ein Hochverrat vor.«
»Haben Sie ihn vielleicht begangen?«
»Nein, denn ich saß nicht im geheimen Kabinett, wohl aber Sie. Sie, Mister Westerly haben den Hochverrat begangen.«
Der Engländer sprang so heftig auf, dass die Gläser auf dem Tischchen umstürzten.
Der Franzose hatte ruhig gesprochen; jetzt lachte er sogar.
»Gemach, Sir! Diese Sache ist doch nicht wert, dass Sie den Wein verschütten und mich mit ihm taufen. Ist er nicht gut?«
Westerly war blass wie eine Leiche geworden.
»Herr, was wagen Sie mir da zu sagen!«, keuchte er.
»Die Wahrheit! Ayda hat Ihnen das Geheimnis entlockt und es den Feinden Englands preisgegeben.«
»Das Weib ist eine schamlose Lügnerin.«
»Was Sie nicht sagen!«, spottete der Franzose und fuhr dann, ernst werdend, fort. »Ayda hat nicht gelogen. Sie haben den Hochverrat begangen, und um Ihnen jede Widerrede von vornherein abzuschneiden, will ich sofort den schlagendsten Beweis Ihrer Schuld bringen.
Während Sie mit Ayda zusammen waren, hat Sie Ihnen das Bild Ihres Vaters aus dem Medaillon Ihrer Uhr genommen.«
Westerly entsann sich, das Miniaturbild eines Tages vermisst zu haben. Er glaubte es verloren, konnte aber nicht angeben, wann das geschehen sei.
»So hat die Inderin es gestohlen!«
»Ayda ist keine Inderin, sie hat europäisches Blut in ihren Adern.«
»Wer ist sie?«
»Das werden Sie jetzt noch nicht erfahren. Wenn Sie mir aber Ihre Schuld des Hochverrats nicht zugeben, so wird sie gegen Sie als Zeugin auftreten, ohne dass sie sich selbst irgend einer Gefahr aussetzt. Sie kann sich vollkommen legitimieren.«
Ächzend sank Westerly in den Stuhl zurück; er sah sich schon des Hochverrats angeklagt.
»Was werden Sie tun?«, fragte er nach langer Pause leise, ohne aufzusehen.
»Nichts, was Ihnen schaden könnte, wenn Sie auf meine Pläne eingehen.
Doch davon später! Erst will ich Ihren gesunkenen Mut wieder aufrichten.
Ihr Geheimnis ist in guten Händen. Niemand weiß davon als Ayda, ich und noch einige andere, denen es am Herzen liegt, dass die Engländer Indien sobald wie möglich räumen.«
Monsieur Francoeur gehörte also auch zu den Verschwörern gegen England.
»Ebenso weiß niemand als ich«, fuhr der Franzose gelassen fort, »dass Sie gar nicht berechtigt sind, sich den Sohn Lady Westerlys zu nennen.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fuhr Westerly abermals erschrocken auf.
»Nun, Sie wissen das doch ebenso gut wie ich. Sie sind der Sohn des Lords Westerly und eines indischen Weibes, welches Ihr Vater so liebte, dass er das Kind adoptierte — und dieses Kind sind Sie. Wenn Sie wünschen, kann ich die überzeugendsten Beweise dafür bringen.«
Westerly sah sich vollkommen in den Händen des Franzosen; er musste ihm als willenloses Werkzeug dienen.
»Was verlangen Sie von mir?«, fragte er ängstlich. »Umsonst haben Sie doch nicht so spioniert und mir diese Enthüllung gemacht?«
»Allerdings nicht! Sind Sie geneigt, auf meine Pläne einzugehen?«
»Ich muss.«
»Es freut mich, dass Sie das einsehen. In England haben Sie nichts mehr zu erwarten; nicht einmal Ihre gesellschaftliche Stellung ist gesichert, ich biete Ihnen dafür einen glänzenden Ersatz in Indien.«
»Das heißt, ich soll gegen England für Indien arbeiten?«
»Ja.«
»So weihen Sie mich ein!«
»Ich muss erst Ihre Tauglichkeit prüfen.«
»Ich war Sekretär im Geheimen Kabinett und wurde wegen meiner Leistungen stets bevorzugt.«
»Die Rolle, die Sie vorläufig spielen sollen, ist eine andere. Sie können zugleich für Ihr Privatinteresse arbeiten.«
»Und das wäre?«
»Sie lieben Lady Carter.«
Dies war so bestimmt gesprochen, dass Westerly zum Zeichen der Bejahung nur den Kopf senkte.
»Wie weit sind Sie mit ihr gekommen?«
»So weit, wie am ersten Tage, da ich sie kennen lernte.«
»Das heißt, Sie haben noch gar nichts erreicht?«
»Nein.«
»Warum nicht? Hegt Lady Carter Antipathie gegen Sie?«
»Durchaus nicht; sie ist stets zuvorkommend und freundlich gegen mich, ja, es scheint fast, dass sie selbst bedauert, meine Neigung nicht erwidern zu dürfen.«
»Was sollte Sie davon abhalten?«
»Ihr Gemahl ist zwar verschollen, gerichtlich tot erklärt, sie dürfte ihre Hand einem anderen reichen, aber in ihrem Herzen lebt noch die Liebe zu ihm.«
»Es ist nur eine törichte Hoffnung, nicht wahr?«
»Nichts weiter.«
»Würde sie Ihren Liebeswerbungen Gehör schenken, wenn Sir Carters Tod unwiderlegbar bewiesen wird?«
»Sie wäre die meine.«
Westerly sah, wie der Franzose sinnend mit dem Messer spielte, und eine frohe Hoffnung schlich sich in sein Herz ein.
»Wie, Sie könnten...?«, fragte er zweifelnd.
»Ja, ich kann seinen Tod beweisen«, entgegnete Francoeur aufblickend.
»Dann wissen Sie auch mehr von dem Verschwinden Sir Carters.«
»Und wenn, so würden Sie mich doch vergeblich darnach ausforschen.«
»Hat Sir Carter die geheime Order wirklich verraten? Sagen Sie mir wenigstens das eine.«
»Ja, er hat es getan.«
»Aber es ist kaum glaublich, denn die Radschas haben sich durchaus nicht misstrauisch gezeigt, als ihnen zufolge der vorsichtigen Anordnungen der geheimen Depesche langsam und schlau die militärische Macht aus den Händen genommen wurde.«
Des Franzosen Augen leuchteten unmerklich auf. Westerly hatte ihm eben etwas verraten, was er bis jetzt noch nicht wusste, aber zu wissen vorgab.
»Deswegen ist auch die Ehre des verstorbenen Sir Carter wiederhergestellt worden«, fuhr Westerly fort. »Man hat den Prozess im Sande verlaufen lassen und der Gattin des Verschollenen Zeichen von Gunst gegeben.«
»Aber die Radschas fügten sich nur, weil der Aufstand erst für spätere Zeiten vorbereitet wird. Sie werden sich daran beteiligen.«
»Es bleibt mir wohl nichts Anderes übrig«, seufzte Westerly. »Wie soll ich dabei helfen?«
»Ihnen ist eine sehr angenehme Rolle zugeteilt. Vorläufig sollen Sie der Gatte Lady Carters werden.«
»Ah, das lässt sich hören! Aus welchem Grunde?«
»Davon später! Der Beweis von Carters Tode soll gebracht werden, natürlich nicht durch mich. Können Sie es einrichten, dass Sie auch vorläufig in ihrem Hause bleiben?«
»Ja, mit Leichtigkeit.«
»Wie stehen Sie sich mit Eugen?«
»Herzlich schlecht! Ich mag den frühreifen Knaben nicht leiden und er mich noch weniger, weil er ahnt, dass ich Lust habe sein Stiefvater zu werden, und fürchtet, dass über ihn ein strenges Regiment kommt. Bin ich erst Herr im Hause, dann wird der fremde Jüngling seine Rolle als Master (*) ausgespielt haben.«
(*) Master ist der Titel des erstgeborenen Sohnes.
»Ich wünsche aber gerade das Gegenteil. Bemühen Sie sich, mit Eugen in ein gutes Einvernehmen zu kommen.«
»Zu welchem Zwecke?«
»Es liegt uns daran, dass jemand, welcher für uns arbeitet, Eugens Erziehung übernimmt.«
»Ah, ich beginne zu verstehen! Auch Eugen, ein Inder, soll für den künftigen Aufstand erzogen werden, jedoch in englischen Verhältnissen.«
»So ist es. Sie haben also über ihn keine Autorität?«
»Nicht die geringste.«
»Dann ist es nötig, sobald wie möglich den Tod Sir Carters zu beweisen, damit Sie als Gatte der Lady Carter Vollmacht über Eugen haben. Aber schon jetzt können Sie versuchen, Eugen zu dem zu machen, wozu wir ihn haben wollen, vielleicht dadurch, dass Sie seinen Trotz aufreizen. Eugen hat Lust, Offizier zu werden?«
»Er wünscht es, seine Mutter ist dagegen.«
»Benutzen Sie den Aufenthalt in ihrem Hause dazu, diese Abneigung zu besiegen. Es ist unser Wunsch, dass Eugen Offizier wird, schnell vorwärts kommt und bald in dienstliche Geheimnisse eingeweiht wird. Könnten Sie dies besorgen?«
»Ich kann es. Mein Ansehen allein genügt, ihn, obgleich ein Inder von unbekannter Herkunft, als Volontär unterzubringen, ich habe ferner viele Freunde, welche ihn auf meine Bitten hin in die von Ihnen gewünschte Stellung einrücken lassen werden. Die Offizierskarriere ist zwar in England eine sehr leichte und schnelle, das heißt, wenn man Geld hat, aber zwei Jahre vergehen doch bis dahin.«
»Das würde nichts schaden. Über die Einzelheiten sprechen wir noch!«
»Wer ist dieser Eugen eigentlich?«
»Ein Inder von hoher Herkunft, lassen Sie sich das einstweilen genügen.«
Westerly forschte nicht weiter, aber etwas anderes fiel ihm ein.
»So wissen Sie auch, wohin Eugenie, die geraubte Tochter Sir Carters, gekommen ist, und warum man sie entführt hat?«
»Allerdings, doch ich spreche mit Ihnen nicht darüber, wenigstens jetzt nicht. Das Unternehmen gelang nicht; es musste zu sonderbaren Mitteln gegriffen werden, das Kind zu verstecken, und dabei ist es gestorben.«
Westerly schauderte. Dieser Franzose war ein Verbrecher mit einem steinernen Herzen. Er sprach so gleichgültig, als handele es sich um das Verenden eines Stückes Schlachtvieh.
»Sie wissen nun, was es gilt«, begann Francoeur wieder. »Ihre Geheimnisse sind gut bewahrt, solange Sie im Einverständnisse mit uns handeln. Sie haben Eugen zum Offizier zu machen und seine Erziehung zu überwachen; deswegen ist es am besten, dass Sie Lady Carter heiraten. Dass wir dies möglich machen, ist schon eine Belohnung. Zweitens ist es eine negative Belohnung, dass wir keinen Gebrauch von unsrer Kenntnis über Ihren Hochverrat und Ihre dunkle Abstammung machen. Drittens versprechen wir Ihnen eine glänzende, einflussreiche Stellung in Indien, entsprechend Ihren nicht zu unterschätzenden Fähigkeiten, wenn die Engländer das annektierte Land erst verlassen haben. Sind Sie damit zufrieden?«
»Ich bin's«, sagte Westerly hoch aufatmend. »Doch noch eine Frage: Sie sprechen immer von ›wir‹. Wer ist das?«
»Die Feinde Englands, welche der Überzeugung sind, dass Indien den eingeborenen Radschas, aber nicht Fremdlingen gehört.«
»So arbeiten Sie nicht im Interesse Frankreichs?«
Monsieur Francoeur fixierte durch die zusammengekniffenen Augen den Frager, und dieser wusste, dass der Franzose doch dahinstrebte, das reiche Indien Frankreich zu verschaffen.
Im Garten vor dem Fenster wurden Stimmen laut, eine ernste und zwei fröhliche.
»Bega, Eugen und Mister Reihenfels«, sagte der Franzose, »sie gehen nach dem Schießplatze; Bega will wahrscheinlich ihre Kunst zeigen.«
»Sie lassen das Mädchen wie einen Edelknappen aus früheren Jahrhunderten erziehen, habe ich gehört.«
»Sie hat Lust zu körperlichen Übungen, und wir lassen sie gewähren.«
»Sie ist die Tochter des alten stummen Inders?«
»Ja, und meiner Schwester.«
»Nun kann ich mir Ihre Pläne erklären. Zwischen Eugen und Bega soll eine Verbindung hergestellt werden.«
»Möglichst. Auf jeden Fall muss Bega dazu dienen, dem Jüngling wie ein lockendes Phantom vorzuschweben, dessen Besitz ihm als das Höchste gilt.
Durch sie muss Eugen ein lenkbares Werkzeug werden.«
»Ah, ich verstehe. Bega ist in Ihre Pläne eingeweiht?«
»Nein«, rief der Franzose eifrig, »sie weiß davon nichts und soll vorläufig auch nichts davon erfahren. Die geeignete Zeit ist dazu noch nicht gekommen. Darum seien Sie vorsichtig, und lassen Sie sich von Bega nicht durchschauen; sie hat einen scharfen Verstand.«
»Dann ist noch dieser Reihenfels«, nahm Westerly nach langer Pause das Wort, »über den ich Sie sprechen muss. Hatten Sie eine besondere Absicht, als Sie ihn als Lehrer ab und zu in Ihr Haus zu ziehen suchten?«
»Durchaus nicht. Ich wollte nur einen gemeinsamen Unterricht Eugens und Begas herbeiführen und nahm den deutschen Lehrer dazu als Hilfsmittel.«
»Dann könnte ich den Burschen also, ohne Ihnen zu schaden, aus Carters Hause entfernen?«
»Gewiss. Was bewegt Sie dazu?«
»Der Kerl hat Anlage zum Spionieren, er besitzt einen scharfen Blick. So ist er im ganzen Hause der einzige, welcher weiß, dass ich mich um die Hand Emilys bewerbe, obgleich wir uns in seiner Gegenwart ganz formell benommen haben. Ich weiß bestimmt, dass er gegen mich eine starke Abneigung besitzt, auf Eugen dagegen einen großen Einfluss ausübt. Merkt er, dass ich mich plötzlich für seinen Schüler interessiere, was ich bis jetzt nie getan habe, so muss er Verdacht schöpfen. Ich traue ihm nicht über den Weg.«
»Treten Sie mit Ihrer Werbung offen hervor, und er findet es begreiflich, dass Sie an Eugens Schicksal Interesse nehmen.«
»Sie brauchen Reihenfels noch?«
»Nein. Es wäre nicht auffällig, wenn Sie ihn ohne Weiteres entfernen?«
»Das könnte ich nicht; denn Reihenfels steht bei Lady Carter in großer Gunst, sie hört auf seinen Rat. Ich wage mir nicht, ihm das Haus zu verbieten, ich kann es ihm aber verleiden. Hören Sie übrigens, warum ich ihn jetzt für doppelt gefährlich halte.«
Westerly erzählte offen, dass er wegen des gestrigen Gesprächs mit Francoeur im Walde tödlich erschrocken war und Reihenfels ihn danach in namenloser Verwirrung fand.
»Das ist allerdings der triftigste Grund, ihn aus unsrer Nähe zu entfernen.
Gut, ich werde Ihnen behilflich sein.«
Im Garten knallten Pistolenschüsse, man hörte die ärgerliche Stimme Eugens und das Lachen Begas.
»Ich möchte, sie zeigte ihre Kunstfertigkeit in dergleichen Sachen nicht so«, murmelte der Franzose, »aber leider ist sie so erzogen worden.«
»Dort kommen Lady Carter und Miss Woodfield«, sagte Westerly.
»Letztere möchte ich auch dort haben, wo der Pfeffer wächst.«
»Und ich nicht minder«, entgegnete der Franzose, aufstehend; »vielleicht befördern wir sie noch einmal dorthin. Kommen Sie, wir wollen den Damen entgegengehen!«
Bega fühlte sich sichtlich erleichtert, als der deutsche Lehrer sein Buch zuklappte und den Unterricht für heute beendete.
»Ich finde keinen Geschmack an Ihrer Heimatsprache«, sagte sie. »Wie gefällt sie Ihnen, Mister Eugen?«
»Ich möchte, ich könnte sie; was ich aber heute für krauses Zeug zu sehen und zu hören bekommen habe, verleidet mir fast die Lust zur Fortsetzung.«
»Aller Anfang ist schwer«, entgegnete Reihenfels, »und wer etwas gelernt hat, der empfindet darüber eine stolze Genugtuung, die ihm nicht geraubt werden kann.«
»Auch ich habe viel gelernt«, rief Bega. »Ich kann vielleicht manches mehr als Sie, Mister Reihenfels.«
»So?«, lachte dieser. »Und welcher Unkenntnis könnten Sie mich zeihen?«
»Können Sie reiten?«, examinierte Bega.
»Ach so, an solche Fertigkeiten dachten Sie! Meines Vaters Mittel langten freilich nicht, mir Reitunterricht erteilen zu lassen.«
»Sehen Sie, Sie können nicht einmal das, was jeder Mann verstehen muss.
Ohne Pferd kein Mann!«
»Das ist der Wahlspruch eines Kosaken oder eines Indianers, nicht aber der eines zivilisierten Mannes.«
»Oho«, mengte sich Eugen ein, »in England gilt der viel, der gut reiten kann.«
»Bei mir nicht.«
»Sie werden beleidigend«, sagte Bega ärgerlich.
»Dann bitte ich um Entschuldigung, so habe ich es nicht gemeint. Hatten Sie die Absicht, mir etwas vorzureiten? Tun Sie es, ich versichere Sie meiner Bewunderung schon im voraus.«
Bega biss sich auf die Lippen und eilte hinaus, Eugen folgte ihr sofort, Reihenfels langsam.
»Dieser Deutsche ist unhöflich«, sagte Bega zu Eugen.
»Er ist nur sehr offenherzig, nehmen Sie ihm dies nicht übel. Hatten Sie wirklich die Absicht, zu reiten?«
»Ich hatte sie.«
»So tun Sie es, ich bitte Sie. Wie schön wäre es, wenn wir einmal zusammen ausreiten könnten!«
Er sah mit bittendem Blick auf das Mädchen, und dieses nickte freundlich.
»Dem steht nichts im Wege. Ich habe meinen freien Willen, mir verbietet niemand etwas. Wollen wir morgen früh einen Ausritt unternehmen?«
Mit Freuden sagte Eugen zu.
»Wenn es aber nun regnet?«
»Dann müssen wir den Ausritt natürlich verschieben.«
»Und wenn Regen zu erwarten ist?«
»Dann riskieren wir, ob der Himmel uns günstig gestimmt ist«, lachte Bega, »wir wollen nicht direkte Sklaven der Witterung sein.«
Sie hatten inzwischen den Schießstand erreicht. Auf einen Wink Begas eilte ein Inder herbei und richtete eine Ringscheibe in dreißig Meter Entfernung auf, während sie sich und Eugen mit gezogenen Pistolen versah.
»Üben Sie sich im Schießen?«, fragte sie dabei Eugen.
»Ich habe es praktisch auf der Jagd gelernt; den Pistolensport auf dem Schießstande habe ich nie getrieben.«
»So werde ich Ihr Lehrmeister sein.«
»Ich darf mich rühmen, ein ziemlich guter Schütze zu sein, wenn ich mich auch nicht mit Ihnen messen kann. Sie gaben mir schon einmal ein Beispiel Ihrer Kunst.«
»Und Sie haben sich damals nicht gerade mit Ruhm bedeckt.«
»Das müssen Sie der Aufregung zuschreiben, in die mich der Anblick einer Waldfee versetzt hatte, sonst hätte ich das Ziel nicht verfehlt.«
Bega errötete. Reihenfels traf eben ein.
»Konnte ich vorhin nicht mit meiner Aussprache des Deutschen Ihren Beifall erringen, so werde ich dies vielleicht mit der Pistole erreichen«, lachte sie.
Sie hob die Pistole in der Richtung der Scheibe, der Inder, als Markeur postiert, sprang zurück und markierte nach dem Schusse ein Zentrum; Eugen staunte und schoss seinerseits, zwar auch gut, aber kein Zentrum.
»Nun, wollen Sie es auch einmal probieren?«, fragte Bega den Deutschen.
»Ich verstehe nicht mit Waffen umzugehen.«
»Sie brauchen nur die Pistole zu heben, über das Visier nach dem Korn zu sehen, so, dass das Ziel in die Visierlinie kommt, und am Abzug zu drücken.«
»Und dann soll der Schuss dort sitzen, wohin man gezielt hat?«
»Er soll wohl, aber er tut's manchmal nicht!«, lachte Bega. »Es kommt darauf an, dass die Hand im Augenblicke des Abdrückens ruhig ist.«
»Ich habe aber vorhin bemerkt, dass Sie die Pistole tiefer hielten, als die Visierlinie vorschrieb.«
»Natürlich, die Kugel steigt erst, geht durch die Visierlinie, bei dieser Pistole zum Beispiel bei sechzig Meter Entfernung, und sinkt dann wieder.«
»Sehen Sie, das hatten Sie mir vorhin verheimlicht; aber ich wusste es auch ohne Ihre Erklärung.«
»Sie haben es wohl in Büchern gelesen?«
»Allerdings.«
»Steht da auch drin, wie man es machen muss, um zu treffen?«
»Auch das!«
»Dann zeigen Sie einmal, was Sie dabei profitiert haben!«, sagte Bega spöttisch, ihm die Pistole hinhaltend.
»Ja, versuchen Sie Ihr Glück«, sagte auch Eugen.
»Davon ist beim Schießen keine Rede, nur auf den Schützen kommt es an«, entgegnete Reihenfels, nahm die Pistole und lud sie, wie er es gesehen hatte.
»Sie sind schon mit Pistolen umgegangen«, sagte Bega.
»Ich versichere Ihnen, dass ich noch niemals eine geladen oder abgefeuert habe.«
Er stellte sich in Positur und zielte sehr lange. Bega betrachtete ihn mit besonderem Interesse.
Die Abendsonne vergoldete seine schlichten, hellblonden Haare, sie übergoß sein etwas bleiches Antlitz mit einem sanften Rot, und Bega entdeckte plötzlich, dass dieser Mann, dessen Gesicht sie erst für nüchtern gehalten hatte, sehr schön war. Er war anders als sonst die Männer, so ernst, so ruhig, so selbstbewusst. Die schlanken Finger der weißen Hand hielten den Pistolenkolben umklammert, und sie zitterte nicht im Geringsten.
Alles dies sah Bega, und sie ahnte plötzlich, dass er sein Ziel nicht verfehlen würde.
Doch sie sollte aus ihrer Bewunderung gerissen werden.
»Nun, warum schießen Sie nicht?«, fragte sie endlich, als er noch immer dastand und zielte.
Reihenfels senkte die Pistole.
»Ich stellte eine Berechnung an, welche auf physikalischen Gesetzen beruht. Doch ich glaube, sie ist auf eine so kleine Entfernung nicht nötig.«
»Zum Schießen sind keine mathematischen Formeln nötig«, sagte Eugen. »Zielen Sie und drücken Sie ab!«
Reihenfels zielte nochmals und schoss. Die Kugel schlug fast oben in der Scheibe ein.
»Das war kein Meisterschuss«, sagte Eugen.
»Ich hatte erwartet, sie würden besser schießen«, fügte Bega bedauernd hinzu.
»Ein Probeschuss ist stets erlaubt, wenn man zum ersten Male mit einer fremden Pistole schießt, um wie viel mehr dem, der noch nie eine in der Hand gehabt hat.«
»Dann soll dieser Schuss als Probeschuss gelten, oder vielmehr, wir wollen ihn ganz unbeachtet lassen.«
Sie reichte ihm eine frischgeladene Pistole.
Reihenfels hob sie langsam von unten auf und schoss, ohne einmal in der Bewegung stillgehalten zu haben.
»Wieder vorbei!«, rief Eugen.
Der Inder suchte auf der Scheibe nach einem noch nicht markierten Loch, und als er keins fand, winkte er mit der Hand zum Zeichen, dass die Kugel an der Scheibe vorbeigegangen.
»Wie kann man ein so großes Ziel verfehlen!«, sagte Bega unmutig. »Ich gebe Ihnen keine Schusswaffe mehr in die Hand, sonst richten Sie noch Unheil damit an.«
Reihenfels lächelte.
»Sagen Sie dem Diener, er soll mein erstes Schussloch untersuchen.«
»Sie behaupten doch nicht etwa, Sie hätten hineingetroffen?«
»Doch, ich glaube so. Ich habe danach gezielt.«
Bega und Eugen eilten selbst nach der Scheibe und fanden Reihenfels Behauptung bestätigt. Die zweite Kugel saß auf der ersten.
»Sie haben ein fabelhaftes Glück gehabt«, staunte Eugen.
»Ich will versuchen, ob mir das Glück nochmals so fabelhaft günstig ist.
Ich schieße jetzt links an den Rand des Zentrums.«
Er zielte schnell, und nach dem Schusse meldete der Inder die vorher bezeichnete Stelle als Treffpunkt an.
»Und Sie hätten noch nie mit Pistolen geschossen?«, fragte Bega.
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf.«
»Dann haben Sie ja ein ganz erstaunlich sicheres Auge und eine ebensolche feste Hand.«
»Die wahren Genies können alles, ohne es erst gelernt zu haben«, lachte Reihenfels, der ungerührt von der ihm gezollten Bewunderung blieb.
Bega ließ die Scheibe in eine Entfernung von sechzig Metern tragen und feuerte den ersten Schuss ab. Die Kugel schlug etwas links neben dem Zentrum ein.
»Ich bin mit dieser Pistole unzufrieden«, rief sie ärgerlich; »heute Morgen lenkte sie nach rechts, jetzt nach links ab.«
»Sie geben wahrscheinlich der Pistole ganz ungerecht Schuld«, entgegnete Reihenfels.
»Erlauben Sie!«
Sein Schuss traf das Zentrum, zum unermesslichen Staunen der beiden.
»Ja, wie ist das nur möglich!«, rief Bega.
»Wer war Ihr Lehrmeister?«, fragte Reihenfels.«
»Monsieur Francoeur, ein ausgezeichneter Pistolenschütze.«
»Hat er Sie auch gelehrt, dass helles Sonnenlicht dem Auge das Objekt in Wirklichkeit etwas verrückt?«
»Nein, davon habe ich noch nie gehört.«
»Nun, die Sonne täuscht infolge einer Reflexion über die wahre Stellung des Objektes, das wir betrachten, und zwar in einer Entfernung von fünfzig Metern etwa um einen Zoll links, steht sie oben, ebensoviel unterhalb. Versuchen Sie es noch einmal, zielen Sie einen Zoll rechts daneben!«
Bega tat es und verfehlte diesmal das Zentrum nicht.
»Aber woher wissen Sie das nur alles?«
»Alles aus Büchern«, war die lächelnde Antwort.
Eugen wurde gegen seinen Lehrer mit heimlichem Ingrimm erfüllt. Er schoss immer schlechter und erregte Begas gutmütigen Spott; ihre Aufmerksamkeit galt jetzt nur noch Reihenfels. Eugen wusste noch nicht, dass jenes Gefühl, welches in seinem Herzen so bitter aufstieg, Eifersucht war, und diese mächtige Leidenschaft trübte ihm den Blick und ließ die Hand erzittern.
»Wenn Sie mit der Büchse nicht besser treffen können, so sind die Tiere des Waldes vor Ihnen sicher«, scherzte Bega. »Mister Reihenfels, Sie müssten auch im Gebrauche der Waffen sein Lehrer werden.«
»Mit dem Gewehr verstehe ich gut umzugehen«, verteidigte sich Eugen,
»das kann Mister Reihenfels bezeugen. Im Gebrauch der Pistole bin ich jedoch nicht bewandert, werde mich aber von jetzt ab darin üben.«
»Wenn Ihr Wunsch, einst Offizier zu werden, doch noch in Erfüllung gehen sollte«, sagte Reihenfels, »so würde dies allerdings nichts schaden.«
»Sie möchten Offizier werden?«, fragte Bega.
»Es ist mein sehnlichster Wunsch.«
»O, wäre ich ein Mann, ich würde auch Soldat, ich kenne keinen schöneren Beruf. Dem Offizier bietet sich noch Gelegenheit, sich als Held zu zeigen; er kann sich durch seine eigenen Fähigkeiten, durch Kraft, Mut und Entschlossenheit Lorbeeren erwerben, wie kaum jemand sonst.«
Bega hatte mit Begeisterung gesprochen, und Eugen war plötzlich fest entschlossen, in die Armee einzutreten, Reihenfels aber schüttelte den Kopf und blickte wie missbilligend das Mädchen an.
»Schade, dass Sie kein Mann sind!«, sagte er spöttisch.
»Auch ich bedaure es lebhaft. Finden Sie nicht, dass ich Anlagen dazu habe?«
»Gewiss, Sie können ja reiten, schießen, fechten und wahrscheinlich noch vieles mehr, was einem Manne zukommt.«
»Allerdings. Warum aber spotten Sie darüber?«
»Weil bei mir dergleichen Fertigkeiten nicht den Mann ausmachen und ich sie bei dem weiblichen Geschlecht durchaus nicht liebe.«
»Ich bin Ihnen für Ihre Offenheit sehr verbunden«, entgegnete Bega kurz, wandte Reihenfels den Rücken und beschäftigte sich mit Eugen.
Jener ließ ihr nicht lange Gelegenheit, ihn zu ignorieren. Er sah Lady Carter und Miss Woodfield in Begleitung des Franzosen und Westerly im Garten auf und ab gehen und schloss sich ihnen an.
Er gesellte sich Miss Woodfield bei, welche die Gesellschaft des ernsten Deutschen jeder anderen vorzog.
In der Ferne sah man Bega und Eugen nach der Scheibe schießen, und dies bot der frommen, streng erzogenen Miss willkommene Gelegenheit, über die Gottlosigkeit der jetzigen Zeit zu eifern.
»Sehen Sie da das Mädchen, wie es mit der Pistole in der Hand dasteht, gerade wie ein Räuberhauptmann! Reiten, Fechten, Schwimmen, Jagen und anderen Larifari, das kann es, aber eine Suppe kochen, Strümpfe stricken und so weiter — keine Ahnung davon! Glauben Sie, solch ein Wesen würde sich herablassen, einen Kranken auf dem Sterbebett zu besuchen, wenn er unter ihr stände, und wenn er noch so nach ihr verlangen würde? Glauben Sie, diese Bega würde zu bewegen sein, in eine arme Hütte zu treten? Es sei denn, der Regen zwinge sie dazu.«
»Ich glaube kaum.«
»Sehen Sie, das war unser Ruhm, mit dem wir uns als Mädchen schmücken durften. Wer da nicht seine regelmäßigen Armen- und Krankenbesuche machte, der wurde verachtet. Aber was kann man denn von solch einer Heidin anderes erwarten; erst die christliche Religion macht uns zu Menschen.«
Reihenfels fühlte plötzlich einen Widerwillen gegen die alte Dame in sich aufsteigen. Er wusste selbst nicht, warum. Er hatte zwar vorhin fast dasselbe gedacht, aber dass Miss Woodfield es aussprach, missfiel ihm im höchsten Grade.
»Bega ist keine Heidin, sie ist Buddhistin«, sagte er.
»Das ist ganz dasselbe; wer nicht an Christus und an sein erlösendes Blut glaubt, den nenne ich einen Heiden.«
Reihenfels verschmähte es, die alte Dame darüber aufzuklären, dass die indischen Religionen, Buddhismus und Brahmanismus, mindestens ebenso edel sind wie die christliche.
»Auch der Buddhismus lehrt Nächstenliebe«, sagte er nur, »und zwar eine noch intensivere als Christus.«
»So? Beweist Bega das etwa?«
»Sind Sie über sie schon so gut unterrichtet, dass Sie behaupten können, sie täte es nicht?«
»Das kann ich freilich nicht«, gab Miss Woodfield kleinlaut zu, »dem Mädchen aber, welches mit Pistolen schießt und sich im Kostüm einer Seiltänzerin im Walde herumtreibt, traue ich nicht viel zu. Apropos, lieber Reihenfels, wissen Sie, was meine arme Familie in Wanstead macht?«
»Sie meinen den Moore? Ich habe mich nicht wieder um sie gekümmert.«
»Aber warum nicht? Der Mann gab doch das Trinken auf und machte ganz entschieden einen Anfang zu einem neuen Leben.«
»Ja, als er kein Geld mehr hatte. Ich traf ihn letzthin in einer wüsten Gesellschaft sinnlos betrunken. Wie ich erfuhr, hatte er auf ein Pferd gewonnen.«
»So wären also alle meine Reden und Ermahnungen nutzlos gewesen!«, seufzte die alte Miss.
»Ja, nur Gott selbst könnte ihn heilen, er müsste an dem Spieler und Trinker ein Wunder ausführen.«
»Es geschehen noch täglich Zeichen und Wunder, so wollen wir also hoffen. Begleiten Sie mich morgen früh zu ihm? Ich kann ein verlorenes Schaf nicht gleich aufgeben. Vielleicht kann ich bei der Frau etwas ausrichten.«
»Sie ist gut, aber sie kann nicht hochkommen, solange der Mann. sie daran hindert. Durch die Schuld des Vaters werden sie alle einst jämmerlich zugrunde gehen!«
»Und das sagen Sie so gleichgültig?«
»Ich bin zu schwach, um helfen zu können. Deshalb wende ich meinen Blick lieber von derartigen Jammerszenen ab.«
»So kommen Sie nicht mit?«
»Doch, wenn Ihnen meine Begleitung angenehm ist. — — —
Nachdem sich Reihenfels von dem Pistolenstand entfernt hatte, zeigte Bega ein aufgeregtes Wesen. Sie hatte die Augenbrauen wie drohend zusammengezogen, sodass sie sich fast berührten; ihre Lippen waren fest aufeinandergepresst, und so sandte sie Kugel nach Kugel in das Zentrum, ohne Eugen ein Wort zu gönnen.
»Sie dürfen sich durch die Worte des Mister Reihenfels nicht beleidigt fühlen«, begann Eugen endlich, »er ist seiner Offenherzigkeit wegen bekannt.«
»Von Beleidigen ist keine Rede«, entgegnete Bega, sich zur Freundlichkeit zwingend, »und doch, seine Worte haben mich unangenehm berührt.«
»Wenn er das erfährt, so wird er es sehr bereuen.«
»Er soll es aber nicht erfahren!«, rief Bega fast heftig. »Bitte, sprechen Sie nicht zu ihm darüber.«
»Ihr Wunsch ist mir Befehl.«
Eugen fühlte plötzlich Mitleid mit seinem Lehrer. Er fing mit Bega ein Gespräch über ihn an und konnte nicht genug seines Lobes sagen. Man täusche sich fortwährend in dem Gelehrten; jeden Tag entdecke man neue, vorteilhafte Eigenschaften an ihm, dass ihm aber selbst ritterliche Tugenden angeboren seien, das hätte er, Eugen, nicht geahnt.
Bega antwortete einsilbig und stellte keine Fragen, hörte jedoch mit gespanntester Aufmerksamkeit zu.
Die beiden verabschiedeten sich als die besten Freunde, den Lehrer allerdings schien sie ganz zu übersehen, und er wiederum machte keine Miene, sich ihr zu nähern.
»Gute Nacht, Miss Bega!«, rief er schließlich, den Hut ziehend, der entfernt Stehenden zu.
Sie nickte nur kurz und zog sich zurück.
»Sie fühlt sich beleidigt, weil ich ihr meine Meinung über emanzipierte Weiber gesagt habe«, murmelte Reihenfels, als er sich den Fortgehenden anschloss, »und um sich zu rächen, scheint sie mit einem Male zu bemerken, dass ich weiter nichts als nur ein Hauslehrer bin. Wie kleinlich, welch hässliches Herz schlägt doch in manch schönem Körper!«
Bereits am frühen Morgen betraten Miss Woodfield und Reihenfels die Hütte Moores, unseres Bekannten aus London. Jetzt lebte die Familie in Wanstead in dürftigster Armut. Die älteste Tochter war vor kurzer Zeit mit Hinterlassung eines Mädchens gestorben.
Miss Woodfield hoffte, in so früher Morgenstunde auch den Vater treffen zu können, denn sonst war er niemals zu Haus zu finden. Doch sie hatte sich abermals getäuscht.
In der unsauberen, dumpfigen Stube wurden die beiden von einer alten, hässlichen Frau empfangen, der Verkommenheit und Stumpfsinn aus den Augen sprachen. Sie war damit beschäftigt, ein kleines Mädchen von etwa drei Jahren anzuziehen, oder besser gesagt, in Lumpen zu wickeln — es war ihre Enkelin, der letzte Spross der Familie.
»Ist Mister Moore nicht zu Hause?«, fragte Miss Woodfield.
»Nein, er ist im Wirtshaus«, entgegnete die Alte.
»Wie? Morgens um zehn Uhr schon im Wirtshaus?«, rief die alte Dame entrüstet.
»Er hat wieder gewonnen.«
»Ist das etwa ein Entschuldigungsgrund?«
»Für ihn, ja.«
»Hat er Ihnen nichts von dem Gelde abgegeben?«
»Freilich, er musste es.«
»Und was haben Sie damit gemacht?«
»Dasselbe, wie er.«
»Das heißt. Sie haben es vertrunken.«
»Natürlich, was soll ich denn sonst damit anfangen? Etwa sparen, damit er mich dann so lange schlägt, bis ich es herausrücke und er es auch noch vertrinkt? Nein, da tue ich das lieber selbst und spare die Schläge.«
»Sie sollten Ihren Mann zur Arbeit anhalten.«
»Jawohl, der wird sich hüten, auf mich zu hören. Ja, wenn noch ein erwachsenes Kind da wäre!«
Die Frau hatte noch nicht jedes Gefühl verloren; sie wischte sich mit dem Ärmel die Augen.
»Liebt denn Ihr Mann seine Enkelin gar nicht? Er sollte ihr wenigstens Kleider kaufen, wenn er Geld hat.«
»Das tut er auch.«
»Wo sind sie denn?«
»Die müssen immer wieder verkauft werden, damit das Kind nicht verhungert.«
»Es ist am besten, wir lassen Ihren Mann einmal holen. Vielleicht gelingt es mir doch noch, sein Gewissen zu rühren. Mister Reihenfels«, wandte sie sich an den am Fenster Stehenden, »würden Sie nicht die Güte haben?«
Reihenfels verbarg mit Mühe seinen Unwillen.
Die Frau selbst kam ihm zu Hilfe.
»Bemühen Sie den Herrn nicht«, rief sie schnell; »eher könnten Sie den Teufel in den Himmel bringen als meinen Mann aus dem Wirtshaus, solange er noch Geld hat. Ich glaube, das Haus könnte brennen, er würde nicht herbeikommen, wenn Peggy bei ihm ist.«
»Warum gerade Peggy?«
»Nun, für seine Enkelin zeigt er doch noch etwas Liebe. Wenn ich aber verbrennte, da würde er sich nur freuen.«
»So bleibt uns nichts Anderes übrig, als selbst nach dem Wirtshause zu gehen«, entgegnete Miss Woodfield und zog die Mantille fester um die mageren Schultern.
»Lassen Sie nur!«, sagte die Frau jetzt mit einem Anflug von Gutmütigkeit. »Ich weiß ein Mittel, um ihn nach Hause zu bekommen. Ich schicke Peggy hin, die kann ihn zu allem bewegen, nur nicht zur Arbeit.«
Die Frau zog das Mädchen vollends an.
»Nun geh hinüber und sage dem Vater, er soll gleich nach Hause kommen, der Geldbriefträger wäre da.«
»Das ist aber eine Lüge!«, rief Miss Woodfield.
»Das Kind lernt sowieso lügen, ob nun eher oder später, das macht nichts!«, war die höhnische Antwort.
Die Kleine war schon hinausgesprungen, sie freute sich auf den Spaziergang.
»Geh aber nicht über den Baumstamm, du könntest in den Bach fallen«, rief die Mutter dem Mädchen nach, »mach den Umweg über die Brücke.«
»Die Großeltern lieben das Kind doch«, flüsterte die alte Dame Reihenfels zu. »Ob man es nicht als Mittel zur Besserung dieser Menschen gebrauchen .könnte?«
»Ich sehe keine Liebe darin, wenn Sie dem Kinde einmal Spielsachen und schöne Kleider kaufen und es dann wieder hungern lassen. Es ist ganz natürlich, dass das Weib dem Kinde die Warnung auf den Weg mitgibt, etwas Verantwortung hat sie doch, etwa so viel, wie ein Hirte für sein Schaf.«
»Hat Charly nichts wieder von sich hören lassen?«, fragte Miss Woodfield.
»Wie sollte er! Der ist auch schon lange tot.«
»Haben Sie die Gewissheit? Es kann doch einmal ein Brief von ihm ankommen. Vielleicht hat er es im fernen Lande zu etwas gebracht.«
»Ein Brief?«« lachte die Frau. »Charly hat ja gar nicht Schreiben und Lesen gelernt; wir hatten kein Geld zu so etwas.«
Es verging eine Viertelstunde, und es kam noch niemand.
»Wie weit ist es denn bis nach dem Bierhaus?«
»Höchstens fünf Minuten.«
»Dann könnten sie schon zurück sein.«
»Ja, sie könnten wohl, aber wenn mein Mann gerade einen guten Bekannten getroffen hat, dann ist er nicht so leicht fortzubringen. Vielleicht denkt er auch, der Briefträger kann ja wiederkommen, das heißt, wenn er noch Geld hat.«
Reihenfels stand am Fenster. Nicht weit vom Hause floss ein Bach vorbei, dieser machte dann einen großen Bogen und verschwand im Walde. An der Ecke desselben, für Reihenfels nicht mehr sichtbar, trieb das Wasser eine Mühle, und daneben stand ein Wirtshaus. Dort musste der Vater sein, denn das Kind hatte die neben dem Bach hinführende Landstraße benutzt.
Da stieß Reihenfels einen Ruf aus, der auch die beiden anderen ans Fenster lockte. Er hatte gesehen, wie plötzlich zwei Männer über den Weg eilten, dem Bache zu, und ihre Bewegungen verrieten Schreck und Eile.
»Da muss ein Unglück passiert sein!«, rief Miss Woodfield.
»Es war mir, als vernähme ich Hufschläge« entgegnete Reihenfels. »Ein Pferd wird durchgegangen sein!«
Um die Ecke bog ein Zug von Arbeitern, Frauen und Kindern, es schien, als würde etwas wie eine Bahre zwischen ihnen getragen. Doch man konnte nichts Deutliches erkennen.«
»Eugen! Dort kommt Eugen!«, schrie Reihenfels, plötzlich totenblass werdend. »Er ist zu Fuß, er ist mit Bega ausgeritten. Wo ist diese?«
»Dort ist sie ja!«, rief Miss Woodfield. »Aber, mein Gott, wie sieht sie denn aus? Sie ist ja wie aus dem Wasser gezogen!«
Der Zug näherte sich schnell dem Hause, jetzt konnte man alles unterscheiden.
Vier Männer trugen einen zerlumpten Kerl, welcher ebenfalls ganz nass war und laut jammerte. Es war Peggys Großvater, er wurde in seine Hütte getragen. Eine Frau hielt Peggy auf dem Arm, ihr Kleid troff von Wasser, ebenso wie das von Bega.
Sie schritt neben dem besorgt aussehenden Eugen, ihr durchnässtes Reitkleid, dessen lange Schleppe sie über den Arm geschlagen, schmiegte sich eng an die schlanke Gestalt an. Den Hut hatte sie verloren, die schwarzen Locken, aus denen Wasser tropfte, hingen wirr um ihr bleiches Gesicht.
Allen voran betrat sie die Hütte und wurde von Miss Woodfield und Reihenfels mit Rufen des Schreckens empfangen.
Wie vereinbart fand sich Eugen am andern Tage vor dem Hause des Radschas ein, um Bega zum Spazierritt abzuholen. Diese hieß ihn herzlich willkommen.
Mit ritterlicher Galanterie half Eugen seiner schönen Begleiterin in den Sattel. Monsieur Francoeur und seine Schwester standen am Fenster und winkten den Davonreitenden Abschiedsgrüße nach.
Es wurde ausgemacht, dass Wanstead zu passieren war.
Die Unterhaltung wurde einsilbig geführt. Bega schien sich ganz dem schönen Morgen und der prächtigen Landschaft zu widmen, und Eugen genügte es, heimlich von der Seite die schlanke Gestalt des Mädchens zu bewundern.
Das schwarze, lang herabwallende Reitkleid saß ihr wie angegossen, jede Linie trat sanft abgerundet hervor. Das kleine Barett mit wehenden Straußfedern diente nur zum Schmuck, nicht zum Schutz gegen die Sonnenstrahlen, denn ihr Teint bedurfte keiner Schonung. Die mit langstulpigen, gelben Handschuhen bekleideten Hände wussten die Zügel so sicher zu führen, so graziös saß das junge Mädchen im Sattel, dass Eugen die Blicke nicht von ihm abwenden konnte.
Sie hatten Wanstead passiert, manches Fenster war geöffnet worden, gar mancher hatte dem schönen, jugendlichen Paare nachgeschaut; Eugens Herz war mit heimlichem Stolz erfüllt worden. Der heißblütige Jüngling war sich nicht mehr im Zweifel darüber, dass Bega ihn liebe, er betrachtete sie schon jetzt als die Seine. Von den Verwandten fürchtete er keine Einwendungen, sie kamen ihm offenbar in jeder Weise entgegen.
»Wohin führt diese Straße?«, fragte Bega nach dem Verlassen von Wanstead.
»Sie macht einen großen Bogen, nähert sich wieder der Stadt und führt dann an einem Steinbruch vorbei. Die Gegend ist dort sehr malerisch, man glaubt sich in ein wildes Gebirge versetzt.«
»So wollen wir hin; vielleicht erinnert mich die Landschaft an meine Heimat. Ich habe so lange keine Felsen mehr gesehen.«
»Die Wege sind nicht günstig für Pferde.«
»Desto besser, so können wir unsere Tiere probieren!«
»Ihre Heimat ist gebirgig?«, fragte Eugen.
»Sehr. Zwischen himmelhohen Bergen liegen wildromantische Talkessel, kaum passierbare meterbreite Pässe verbinden sie miteinander, und ich kannte kein größeres Vergnügen, als zu Pferd und zu Fuß darin umherzustreifen. Nur schade, dass man in Indien immer von zahlreichen Dienern umgeben sein muss, einsame Spazierritte habe ich nicht kennen gelernt. Es erfordert einmal die dortige Sitte, dass man stets ein Gefolge bei sich hat, die Sicherheit erheischt es.«
»Auch hier sind in letzter Zeit, kurz bevor Sie herzogen, mehrere räuberische Überfälle vorgekommen. Eine einsame Villa ist geplündert und mehrere Reisende sind auf der Landstraße angehalten und ihrer Barschaft beraubt worden.«
»Wie ist das möglich?«, rief Bega erstaunt. »Hier, wo man in jedem Menschen, ob arm oder reich, in Lumpen oder elegant gekleidet, einen Detektiv vermuten kann!«
Bega zügelte ihr Tier zum langsamen Schritt, sie wollte das vor ihr sich ausbreitende Panorama mit Muße genießen.
Neben der Landstraße schlängelte sich ein breiter, reißender Bach hin, in der Ferne zur rechten Hand sah man kleine Hütten stehen, noch zu Wanstead gehörend, und auf der linken Seite erhob sich eine Mühle, daneben ein kleines Haus, anscheinend eine Schenke, denn es standen mehrere Fuhrwerke davor.
Schäumend ergoss sich das Wasser auf die Mühlräder, sie in schnelle Umdrehung bringend. Dahinter führte eine einfache Brücke über den Bach, doch vor der Mühle lag auch noch ein nach oben abgeplatteter Baumstamm über dem Wasser, den Mühlknappen als Steg dienend.
Eugen deutete auf eine Hütte.
»Dort ist das Haus, welchem heute Morgen Miss Woodfield und mein Lehrer einen Besuch abstatten wollten. Es ist eine vergebliche Mühe.«
»Trotzdem, Miss Woodfield hat eine edle Gesinnung, ich wünschte, sie hätte Erfolg. So ist sie jetzt dort im Hause?«
»Wahrscheinlich, und liest aus der Bibel vor. Aber die Leute wollen Geld von ihr haben, das gibt sie ihnen nicht, und so ist sie nicht gern gesehen.«
»Mister Reihenfels ist auch dort?«
»Ja, er begleitete Miss Woodfield.«
»So besitzt er also auch ein gegen Armut und Unglück mitleidiges Herz«, sagte Bega mehr zu sich selbst.
»Das mag er wohl haben, aber solche Leute, deren Unglück ihre eigene Schlechtigkeit verschuldet hat, bemitleidet er nicht. Tun Sie es Miss Bega?«
»Ja, und ich helfe gern, auch wenn mir meine Religion es nicht vorschriebe. Wir müssen einem Unglücklichen beistehen, auch wenn er noch so tief gesunken ist.«
»Wenn das Miss Woodfield hörte, würde Sie sich sehr freuen.«
»Wieso?«
»Nun, gestern Abend, als wir zu Hause waren, sprach sie nicht besonders gnädig über Sie. Sie hält es für unpassend, wenn ein junges Mädchen sich mit körperlichen Übungen abgibt. Ihr Ideal ist ein Mädchen mit dem Strickstrumpf in der Hand, die Augen niedergeschlagen und nur ja und nein antwortend, wenn es gefragt wird.«
Bega brach in ein heiteres Lachen aus.
»Sprach sie davon zu Lady Carter?«
»Nein, zu ihrem Liebling, zu Mister Reihenfels. Weil er ernst und kein Freund von Zerstreuungen ist, hält Sie ihn für einen frommen Menschen und zeigt ihm besonderes Vertrauen.«
»Und was sagte Mister Reihenfels?«, fragte Bega, wieder ernst werdend.
»Nur wenig, wie er gestern Abend überhaupt sehr wortkarg war. Er nickte nur immer zu ihren Auseinandersetzungen.«
»Also hält auch Mister Reihenfels mich für ein herzloses Geschöpf, das sich mehr für ihre Pferde als für den Mitmenschen interessiert?«
»Das hat er nun nicht gerade gesagt; allerdings schien es, als dächte er so.
Machen Sie sich aber nichts daraus. Ich achte Reihenfels, doch er misst alle Menschen nach einem sehr altväterischen Maßstabe. Sehen Sie, dort kommt der Mann, von dem ich Ihnen vorhin erzählt habe, aus der Schänke, er trägt seine Enkelin auf dem Arme. Er ist betrunken. Wie er wankt!
Na, da werden die beiden Bekehrer einen schweren Stand haben.«
Bega hatte das Pferd wieder in Trab gesetzt, ihr Gesicht war gerötet, ihre Lippen waren fest zusammengepresst, als hätte sie etwas Unangenehmes oder Beleidigendes gehört. Jetzt sah sie den Mann, und er gab ihren Gedanken eine andere Richtung.
»Der Mann will doch nicht etwa mit dem Kind über den schmalen Stamm gehen?«, rief sie erschrocken. »Er ist ja total betrunken; er wird ins Wasser stürzen!«
»Ein kaltes Sturzbad könnte ihm nichts schaden.«
»Aber die Mühlräder —«
Bega gab dem Pferde plötzlich so heftig die Sporen, dass es hoch aufbäumte und dann den Weg in langen Sprüngen hinabjagte. Eugen sprengte ihr nach, konnte sie aber nicht mehr einholen.
Er wurde Zeuge einer Szene, die ihm das Blut in den Adern stocken ließ.
Der Mann hatte wirklich den schmalen Baumstamm betreten, ohne die Gefahr zu bemerken, der er sich dadurch aussetzte. Einige Schritte ging er sicher, dann schien er das Wasser rauschen zu hören, blieb stehen, schaute unter sich, ging schwankend weiter; plötzlich strauchelte er und stürzte.
Er fiel mit der Seite auf den Baumstamm, versuchte sich festzuklammern, stieß einen Jammerruf aus und ließ das Kind ins Wasser stürzen. Ihm selbst gelang die Rettung ebenfalls nicht, auch er verschwand unter der brodelnden Wasseroberfläche.
Aus der Schänke und aus der Mühle eilten Leute mit Stangen herbei, hatten den Unglücksfall gesehen; doch schon jagte Bega an ihnen vorbei. Mit einem Sprung war sie vom galoppierenden Pferd herab und stand am Ufer, nahe am Mühlrad.
Der Mann ward inzwischen von den Herbeigeeilten gerettet. Von dem Kind war vorläufig noch nichts zu sehen. Da tauchte aus der schäumenden Flut etwas Weißes auf, nicht weit von dem tosenden Mühlrad entfernt. Die Männer schrieen und fischten mit den Stangen danach — vergebens.
Nur eine halbe Minute noch, dann musste es zwischen den Rädern zermalmt werden. Schon war es wieder untergetaucht.
Bega war mit einem Satze verschwunden, etwas stromabwärts von dort, wo vorhin das Kind aufgetaucht war. Die Männer standen erst wie erstarrt da, sie hielten das tollkühne Mädchen für verloren.
Doch da hob sich schon wieder ihr Kopf aus dem Wasser, neben ihm erschien der des Kindes. Sie hielt es im Arm; vom Ufer streckte man ihr Stangen entgegen, und eben, als der sprudelnde Gischt sie verschlingen wollte, bekam sie mit der freien Hand eine zu fassen und wurde ans Ufer gezogen. Der unterdes ebenfalls abgesprungene Eugen half ihr den Damm herauf, weil das lange, nasse Reitkleid sie am Gehen hinderte.
Das Kind wurde ihr abgenommen. Hochaufatmend strich sie sich die triefenden Haare aus dem Antlitz.
»Ist der Mann auch gerettet?«, war ihre erste Frage.
»Dort liegt Moore«, entgegnete einer. »Er hat sich beim Sturz auf den Baum das Bein gebrochen oder verrenkt.«
»Schade, dass der Lump nicht ertrunken ist!«, fügte ein anderer hinzu.
»So tragt ihn nach Hause, ich komme selbst mit!«, entschied Bega.
Einige Männer suchten die frei umherlaufenden Pferde zu fangen, die anderen schlossen sich dem Zuge an, der sich Moores Hütte zu bewegte.
Allen voran schritt Bega. Mit stiller Bewunderung blickte man ihr nach, und auch Eugens Augen hingen an der schönen Gestalt, deren nasses Kleid die Formen ihres Körpers deutlich erkennen ließ.
Bega blieb plötzlich stehen und maß ihn mit finsteren Augen. Sie ahnte, was seine Aufmerksamkeit fesselte.
»Sie werden sich erkälten!«, stammelte er.
»Ich hoffe nicht, und wenn, so schadet es nichts« entgegnete Bega kalt.
»Wollen Sie nicht nach unseren Pferden sehen?«
»Ich kann Sie jetzt nicht verlassen!«
»So kommen Sie mit!«
Bega begab sich zu dem Kinde. Es lebte und war bei Bewusstsein. Des Mannes Rausch war verflogen. Er jammerte und wand sich in den Armen seiner Träger. Bei der Hütte angekommen, hieß Bega nur den Mann hineintragen, alle übrigen sollten draußen bleiben. Sie selbst nahm das Kind auf den Arm und betrat nebst Eugen das Innere.
»Miss Bega«, rief Miss Woodfield erstaunt, »Sie haben ein Menschenleben gerettet!«
»Ich habe nichts weiter getan, als was ich tun musste«, war die ruhige Antwort.
Ohne die übrigen, am allerwenigsten Reihenfels, zu beachten, ließ sie den Mann auf das Bett legen, wo sein Jammern sofort aufhörte, und begann selbst das Kind zu entkleiden, nachdem Sie von der Frau trockene Kleider gefordert hatte.
Die Frau rannte schreiend in den zweiten Raum der Hütte, man hörte sie dort herumlaufen, aber sie kam nicht wieder heraus. Bega hielt das entkleidete Kind auf dem Schoß; Miss Woodfield wrang ganz überflüssigerweise die nassen Sachen aus, und Reihenfels und Eugen beschäftigten sich mit dem Mann. Nach einem Arzt war schon geschickt worden.
»Wo bleibt denn die Frau mit den trockenen Sachen?«, fragte Bega schließlich.
»Mein Gott, dass ich nicht gleich daran gedacht habe«, rief Miss Woodfield und schlug sich vor die Stirn. »Die Leute besitzen ja nichts, als was sie auf dem Leibe haben.«
»Daran hätten Sie eher denken können, wenn Sie öfter in diesem Hause verkehren.«
Die alte Dame nahm diese Zurechtweisung von dem jungen Mädchen demütig hin, sie kam sich plötzlich ihm gegenüber so furchtbar überflüssig vor. Da trat eine Bauernfrau herein mit einem Bündel Sachen unter dem Arme.
»Hier sind Kleider für das arme Wurm und auch für Sie, Miss«, sagte sie gutmütig.
»Ziehen Sie sich schnell um, sonst holen Sie sich den Tod. Überlassen Sie mir das Kind einstweilen!«
Bega ging in das Nebenzimmer. Nach einigen Minuten kam sie, wie ein Bauernmädchen gekleidet, wieder heraus.
Miss Woodfield war, das Kind auf dem Arme, zu dem Manne getreten, der ruhig, anscheinend ohne Schmerzen, dalag, die Augen scheu bald auf das Kind, bald auf die alte Dame richtend.
Sie hielt die Zeit für günstig, auf das Herz des Trunkenbolds einen energischen Angriff zu machen.
»Sehen Sie nun, wozu Ihr lasterhaftes Leben führt?«, begann sie. »Hätte sich Gott in seiner Allgüte nicht Ihrer angenommen, so wären Sie zum Mörder an diesem Kinde geworden. Entweder hätten Sie selbst sofort vor seinen Richterstuhl treten müssen, oder Sie hätten sich Zeit Ihres Lebens als Mörder anzuklagen. Mensch, haben Sie denn gar kein Gewissen mehr?
Kommt Ihnen beim Anblick dieses unschuldigen Kindes nicht Ihr furchtbares Lasterleben vor Augen, so sind Sie auch nicht wert, es fernerhin zu behalten, ich werde es...«
»Das Kind gehört mir und nicht Ihnen, denn ich habe es dem Leben erhalten und nicht Sie!«, sagte hinter Miss Woodfield eine Stimme, und die sich umwendende Dame sah Bega vor sich stehen, die sie mit zornigen Augen anfunkelte. »Lassen Sie sich meine Worte nachher von Mister Reihenfels erklären. Und damit Sie nicht wieder verderben, was das Schicksal zum Besten gewendet hat, muss ich Sie auffordern, dies Haus zu verlassen. Hier, nehmen Sie Ihre Bibel mit!«
Miss Woodfield glaubte ihren Ohren nicht trauen zu dürfen.
»Was — was sagten Sie?«, stammelte sie.
»Sie möchten das Haus verlassen. Dort kommt ein Wagen, er bringt den Arzt — Ihre Gegenwart ist überflüssig.«
Das Mädchen wies mit der Hand nach der Tür, und ehe Miss Woodfield noch zur Besinnung gekommen, legte Reihenfels seinen Arm in den ihren und zog sie hinaus.
»Mister Carter«, wandte sich Bega an Eugen, »die Pferde sind eingefangen, wie ich sehe. Wollen Sie das Ihre besteigen und Monsieur Francoeur von dem Vorgefallenen benachrichtigen, damit er mir einen Wagen schickt?
Ich bitte Sie darum!«
Eugen ging still hinaus.
»Was sagen Sie nun dazu?«, begann endlich Miss Woodfield zu ihrem Begleiter, aus halber Betäubung erwachend.
»Ich finde, dass mir und ganz besonders Ihnen recht geschehen ist.«
»Wieso?«
»Sie haben gestern Abend nicht günstig über Bega gesprochen. Sie haben sie ein herzloses Geschöpf genannt, und ich, ich habe Ähnliches gedacht.
Jetzt zeigt sich, dass wir beide im Irrtum gewesen sind.«
»Es fragt sich überhaupt noch, ob Miss Bega ferner Anteil an denen nimmt, die sie gerettet hat. Vielleicht hat sie das Rettungswerk nicht aus Nächstenliebe getan, sondern nur, um ihren Mut zu zeigen, wie es so häufig vorkommt. Solche Taten gelten bei Gott nichts.«
»Kennen Sie die indischen Religionen?«
»Nein.«
»Dann verstehen Sie auch nicht, was Bega zu Ihnen sagte: Dies Kind gehört von jetzt ab mir!«
»Nein, Sie sollten es mir erklären.«
»Die Inder betrachten alle Wesen, Tiere und Pflanzen als einen Teil ihres eigenen Ichs und rufen sich dies durch das sogenannte große Wort, durch die Mahavakya, immer wieder ins Gedächtnis. Dieses große Wort lautet ›tat twam asi‹, dies bist du, man hört es in Indien jeden Tag unzählige Male.
Ob man einen Menschen quält, ein Tier schindet oder eine Blume zwecklos bricht, ist bei dem strenggläubigen Buddhisten ganz dasselbe. Der Hindu, dem die Gelegenheit geboten worden ist, irgend ein Geschöpf, Mensch oder Tier, vom Tode zu erretten, hat sein eigenes Ich gerettet, und die Religion gebietet ihm, dieses Geschöpf fernerhin ganz als sich selbst zu betrachten. Er muss es noch mehr lieben, als sich selbst, auch wenn es früher sein Todfeind war.«
»So glauben Sie, Miss Bega würde sich dieser Familie noch fernerhin annehmen?«
»Wenn sie eine wahre Buddhistin ist, ja. Sie muss dann das Kind wie ihre Schwester, den Mann wie ihren Vater behandeln.«
»Nun«, sagte Miss Woodfield energisch, »habe ich mich in ihr getäuscht, so will ich die erste sein, welche sie öffentlich um Verzeihung bittet!«
In den nächsten Tagen ließ Bega sich weder im Hause von Lady Carter sehen, noch durfte Eugen, zu seinem maßlosen Kummer, den Unterricht mit ihr teilen. Sie hatte eine Erkältung davongetragen und musste das Bett hüten.
Als sie genesen war, trat eine Änderung der Verhältnisse ein, welche Reihenfels schwer kränken musste, doch der stolze, junge Mann ließ sich nichts merken.
Auf Begas Bitte hatte Monsieur Francoeur aus London einen anderen deutschen Lehrer für sie und Eugen kommen lassen. Besuchte sie Lady Carter, was auf der letzteren dringende Bitte oft geschah, so ignorierte sie Reihenfels vollkommen, sodass sich dieser von der Gesellschaft bald völlig abschloss und das Haus des Radschas gar nicht mehr betrat. Er grübelte nicht mehr darüber nach, wodurch er sich diese Verachtung Begas zugezogen hatte, und schlug sich das Mädchen aus dem Sinn.
Monsieur Francoeur und seine Schwester saßen in einer Gartenlaube, schlürften den Morgenkaffee und lasen die Zeitung.
»Man sollte meinen«, sagte der Franzose, das Blatt sinken lassend, »man wäre in Spanien oder Italien, nicht aber in England. Da ist wieder auf offener Landstraße ein Wagen von einem maskierten Räuber angehalten worden. Der Kerl hat dem Kutscher und den beiden Passagieren, zwei bekannten Aristokraten, sämtliche Wertsachen abgenommen. Schließlich stattet der Räuber, der schon mehrere solche Fälle auf dem Gewissen hat, auch dieser Gegend einen Besuch ab. Wir müssen auf unserer Hut sein!«
Er las weiter.
»In derselben Nacht noch«, fuhr er dann fort, »hat der Kerl in einer einsamen Villa eingebrochen. Er war allein, hatte aber Posten aufgestellt. Der Einbruch geschah mit ungeheurer Kühnheit. Der Räuber stieg in ein Hinterzimmer ein, leerte einen Geldschrank, nahm aus dem Büfettzimmer alles Silberzeug mit, welches zum Gebrauch aufgestellt war, denn in den anderen Gemächern befand sich eine zahlreiche Gesellschaft. Ein eintretender Diener sah den Maskierten, wie er mit seinem Raube durch das Fenster eine Etage tief hinab sprang. Die Verfolgung blieb fruchtlos. Pfiffe im Walde deuteten an, dass der Räuber nicht allein war; vielleicht hätte er, wenn er Widerstand gefunden, Gewalt angewendet. Der Diener kann keine genaue Beschreibung abgeben, der Mann war groß, schlank gebaut, dunkel und anständig angezogen, trug eine schwarze Maske und eine die Haare bedeckende Kappe, wie der, welcher am Morgen den Wagen anhielt. Es ist kein Zweifel mehr, dass jener kühne Räuber, welcher unter dem Namen ›die schwarze Maske‹ sein Unwesen in den Gebirgen von Schottland treibt, nach einer Pause von einem Jahre sein Gewerbe in der Umgegend von London wieder beginnt. Die Polizei wird ihm bald sein Handwerk gelegt haben.«
»O, die schwarze Maske!«, rief Madame Dubois erstaunt.
»Hast du von ihr schon gehört?«
»Gewiss! Zu meinen Zeiten interessierte man sich in Paris sehr für den verwegenen Räuber, weil er ein Franzose sein soll. Man sprach davon, dass er sein Geld in Großbritannien verdiene und in Paris verprasse, ja, man umgab ihn mit einem romantischen Zauber; ein Theaterstück, ›Die Schwarze Maske‹, verherrlichte ihn als Helden. Man sagte von ihm, dass er sich Damen gegenüber, welche er beraubte, sehr galant betrug, es wurde sogar behauptet, manche schöne Pariserin zähle die schwarze Maske zu ihren Verehrern, ohne dass sie es wüsste.«
»Vielleicht war er auch der deine?«, fragte Francoeur spöttisch.
»Warum nicht?«, war die freche Antwort. »Manche Dame, besonders manche Pariserin, zieht heutzutage eine Liaison mit einem Räuber der mit einem hausbackenen Mann vor, der nichts weiter kann, als ihre Liebe durch Geld erkaufen!«
Plötzlich sprangen beide erschrocken empor. Draußen vor der Laube, im Gebüsch, war ein leises Lachen erschollen.
»Wer belauscht uns hier?«, rief Francoeur und eilte hinaus.
Es war niemand zu sehen. Der Franzose durchstöberte das Gebüsch, rief die in einiger Entfernung mit Gartenarbeiten beschäftigten Inder herbei, examinierte sie, aber vergebens. Einige Diener erklärten, sie hätten vorhin einen alten Bettler am Gartenzaun gesehen.
»Wenn er sich das nächste Mal hier blicken lässt, so jagt ihn mit Hunden fort, überhaupt jeden, der hier nichts zu suchen hat!«
Beruhigt kehrte Francoeur in die Laube zurück.
»Es ist niemand in der Nähe; ein Inder mag gelacht haben, und der Wind trug den Schall hierher, sodass wir glaubten, es würde neben uns gelacht.«
»Es war so seltsam, weil wir uns gerade über die schwarze Maske unterhielten, von welcher behauptet wird, dass sie sich überall einschleicht, sich in jede Gesellschaft mischt und alles belauschen kann, wobei der Räuber sich der verschiedensten Verkleidungen bedient.«
»Du bist doch sonst nicht so ängstlich«, lachte Francoeur, »besonders wenn es sich um einen schönen Mann handelt, wie doch die schwarze Maske auf alle Fälle einer ist!«
»Ich möchte ihn gern einmal sehen.«
»Meinetwegen magst du die Bekanntschaft der schwarzen Maske machen, nur nicht in meinem Hause, sonst könnte sie mein Silbergeschirr mitgehen heißen!«
»In Sachen der Liebe sollen Banditen ebenso galant wie freigebig sein. Ich habe noch nie davon gehört, dass ein Räuber die Dame beraubt hat, die er liebte!«
»Lieber wäre es mir trotzdem, die schwarze Maske bliebe meinem Hause fern, wenn auch deine Lust nach pikanten Abenteuern nicht befriedigt wird.
Ich habe seit gestern eine größere Summe in meinem Hause aufbewahrt!«
»Wie viel war es?«
»Zweihundert Pfund — meine vierteljährliche Rente.«
»Mir war es doch, als hättest du sie nicht in den Geldschrank geschlossen. Du gingst mit dem Portefeuille in dein Schlafzimmer und kamst ohne dasselbe wieder heraus.«
Der Franzose lächelte geheimnisvoll.
»Marquis de Lacoste, mein alter Freund, hat mir bei Verpachtung dieses Besitzes das Versteck verraten, wo man Geld sicher vor Räubern und Hausdieben bewahren kann.«
»Aha! Nun, ich will dein Geheimnis nicht wissen, obgleich du es mir nicht zu verbergen brauchtest, umso weniger, als es sich nur um eine so lumpige Summe handelt. Ich glaube aber fest, der Betrag, den man dir gestern übermittelte, war größer!«
»Warum?«, fragte Francoeur mit lauerndem Blick.
»Weil du sonst nicht so sorgsam mit Geld umgehst. Du legst es einfach in den Geldschrank und vergisst auch noch manchmal, die Tür zuzumachen!«
Da traten Bega und Eugen aus dem Hause, begrüßten die beiden und sagten, sie wollten einen Spaziergang unternehmen.
Sinnend sahen ihnen die angeblichen Geschwister nach.
»Ein Ziel wäre erreicht«, meinte Francoeur. »Eugen geht in etwa vierzehn Tagen nach London und tritt als Volontär in ein Garderegiment ein. Du meinst, Eugen liebt Bega, und das ist die Hauptsache. Wenn aber nun einmal eine offene Aussprache erfolgt und Bega gibt ihm deutlich zu verstehen, dass sie für ihn keine Neigung besitzt, was dann?«
»Das müssen wir eben verhüten. Sie dürfen unbedingt nicht mehr zusammenkommen.«
»Eugen würde dies allerdings nichts schaden, die Sehnsucht stärkt nur die Liebe. Um seine Geliebte zu sehen und zu besitzen, ist ein junger Mann zu allem fähig.«
»Wenn ihm Bega aber nun bei solch einem Widersehen kalt entgegenkäme?«
»Das wird sie nicht tun; ihr Herz ist noch frei, sie wird Eugen noch lieben lernen.«
»Vielleicht ist es schon zu spät; vielleicht liebt sie schon einen anderen.«
»Was?«, rief der Franzose erschrocken.
»Es ist nur ein Verdacht.«
»Ah so! Und wer könnte es sein?«
»Reihenfels!«
»Reihenfels? Den sie nicht mehr sehen will, weil er sie beleidigt hat? Den sie ignoriert, und der diese Verachtung so kaltblütig hinnimmt? Phoebe, da täuschst du dich!«
»Ich sagte ja, es ist nur eine Vermutung! Gerade, weil das Mädchen so darauf bestanden hat, ihn aus ihrer Nähe zu verbannen, schöpfe ich Verdacht. Bedenke, Bega ist ein Weib und zeigt, trotz ihrer sonstigen Offenheit, doch manchmal einen raffinierten Charakter. Ein solches Weib nun würde den, der sie beleidigt hat, in ihrer Nähe dulden, um sich revanchieren zu können, ihn nie aber von sich verbannen. Das tut sie nur, wenn sie den Betreffenden liebt und die durch ihn erlittene Kränkung sie geschmerzt hat. Ich glaube wirklich, Reihenfels hat die Neigung Begas gewonnen, ohne dass er es wollte.«
»Das wäre!«, murmelte Francoeur. »Und was denkst du von ihm?«
»Er ist mir ein unergründlicher Charakter!«
»Da müsste schnelle Abhilfe geschaffen werden!«
»Ja, aber wie?«
»Reihenfels muss verschwinden!«
»Dadurch wird eine Liebe nicht kuriert!«
»Dazu ist nur eine Verdächtigung nötig, dass er etwas Ehrloses begangen oder auch nur schlecht über Bega gesprochen hat. Er müsste Lady Carters Haus verlassen, vielleicht auf Eugens Vermittlung hin. Diese Intrige ist leicht einzufädeln.«
»Reihenfels ist sehr energisch und scharfsinnig, er könnte das Gewebe zerreißen. Jedenfalls würde er nicht ruhen, bevor er seine Unschuld bewiesen hat, und soweit ich Bega kenne, würde sie nicht eher an seine Schuld glauben, als bis er überführt worden ist.«
»Dann muss ihm die Gelegenheit entrissen werden, seine Unschuld zu beweisen.«
»Wie das?«
»Ein Dolchstoß hat schon manchen stumm gemacht, der seine Ehrlichkeit wiederherstellen wollte, wodurch er aber die Pläne anderer zerriss«, sagte der Franzose finster.
»Genug davon«, fuhr er fort, als ihn das Weib bestürzt unterbrechen wollte, »du weißt nun, wie entschlossen ich bin, keinen Buchstaben meiner Vorschrift unerfüllt zu lassen. Tue auch du deine Pflicht. Hast du Hedwig gesprochen?«
»Gestern. Die Inderin hat noch nicht erlauschen können, ob zwischen Westerly und Lady Carter eine Aussprache erfolgt ist.«
»Ich glaube nicht, dass Westerly mich belügt, weil er mich zu fürchten hat.«
»Wann könnte die Bestätigung von Sir Carters Tod aus Indien hier eintreffen?«
»Ich gehe in den nächsten Tagen nach London und sehe, wie weit die Sache gediehen ist.«
»Du bringst das Geld dorthin?«
»Du scheinst zu glauben, es sei sehr viel. Ich versichere dir, es sind nur zweihundert Pfund Sterling, aber sie sind doch besser bei einem Bankier aufgehoben als in dem einsamen Hause. Jetzt beende das Frühstück, geh spazieren und suche in die Nähe von Bega und Eugen zu kommen und sie zu belauschen, womöglich ohne dass sie es merken.«
Francoeur ging in das Haus; die Dame ließ sich von einem Diener einen Sonnenschirm bringen und schlug die Richtung nach dem Walde ein. Sie wusste, wo Bega und Eugen gewöhnlich zu finden waren, wenn sie den Wald durchstreiften. Madame Dubois kannte den Lieblingsplatz der beiden, schon oft hatte sie sie dort belauscht.
Madame Dubois war eine imposante, reife Schönheit, deren Alter man nicht taxieren konnte.
Die großen, von dunklen Brauen überwölbten Augen die etwas aufgeworfene Nase, das starke Kinn und die vollen Lippen gaben dem Gesicht einen sinnlichen Ausdruck, alles Leidenschaft und Glut. Sie wusste, dass sie schön war, und es kam ihr auch darauf an, zu gefallen. Trotz der Morgenstunde befand sie sich in einem eleganten Hauskostüm. Straff legte sich eine schwarzseidene Bluse über den vollen Busen, von einem silbernen Schuppengürtel zusammengehalten, und durch die schwarzen Gazeärmel schimmerten die Arme in entzückender Weiße hindurch.
Eben wurde sie von dichtem Gebüsch umgeben, welches nur hier und da einen Durchblick gestaltete, als sie etwas erschrocken zusammenfuhr. Sie hatte zwischen den Bäumen die Gestalt eines zerlumpten, alten Mannes gesehen, der ihr nur einen Blick zugeworfen und dann hinter einem Busche verschwunden war.
Im Nu schoss ihr der Gedanke an Räuber, an die schwarze Maske, durch den Kopf. War das jener Bettler, den die Inder gesehen haben wollten? Es bemächtigte sich ihrer eine gewisse Bangigkeit. Doch sie war ja ganz in der Nähe des Hauses.
»Drehen Sie sich um, und erschrecken Sie nicht« sagte da plötzlich hinter ihr eine sonore Stimme.
Wie vom Blitz getroffen fuhr Phoebe herum und stand einer Erscheinung gegenüber, bei deren Anblick sie so erschrak, dass ihr selbst der Schrei der Überraschung auf den Lippen erstarb.
Einige Schritte vor ihr stand ein Mann, hoch und schlank gebaut, modern gekleidet, aber statt des Hutes eine den Kopf ganz bedeckende Kappe, und vor dem Gesicht eine schwarze Maske tragend, hinter welcher dunkle Augen hervorblitzten und mit unverhohlener Bewunderung das schöne Weib betrachteten.
Madame Dubois war nicht furchtsam, und dabei ein echtes Kind ihrer verdorbenen Zeit.
Was ihr bevorstand, betrachtete sie als ein amüsantes Abenteuer, mit dem sie später einmal prahlen konnte. Jetzt stand ihr vorläufig nur ein Räuber gegenüber, vielleicht entpuppte er sich noch als ein Mann — es war ja die schwarze Maske, von der sie schon so viel gehört hatte.
»Ich habe nichts weiter bei mir, als Uhr und Kette und einige Silberstücke. Nehmen Sie es, und seien Sie edelmütig gegen eine Dame!«
Sie nestelte die goldene Uhrkette von ihrem Busen los. Der Räuber trat bis auf einen Schritt an sie heran und machte eine abwehrende Handbewegung.
»Ich komme nicht, um Sie zu berauben«, klang seine spöttische, offenbar verstellte Stimme hinter der Maske hervor, »sondern, weil Sie es gewünscht haben.«
»Wie? Ich hätte Ihre Begegnung gewünscht?«
»Allerdings! Sie sprachen vor einer Viertelstunde den Wunsch aus, die schwarze Maske einmal zu sehen. Ich stehe zu Ihrer Verfügung, schöne Frau!«
Das Weib erschrak.
»Sie haben uns vorhin belauscht?«
»Ich war so frei.«
»Waren Sie es, der lachte?«
»Ja, ich freute mich, als Sie so günstig über die Ritter der Nacht und ganz besonders über mich sprachen.«
»Was haben Sie sonst noch gehört?«
»Alles, verstand jedoch nicht den Sinn — leider!«
Das Weib war beruhigt. Dieser Mann wollte seine gefährlichen Abenteuer einmal mit einem galanten würzen. Nun, sie wollte sehen.
»Wo befanden Sie sich?«
»Ganz in der Nähe.«
»Sie konnten aber nicht gefunden werden.«
»Die schwarze Maske findet niemand, wenn sie nicht will.«
»Ich interessiere mich höchlichst für kühne Unternehmungen. Bitte, sagen Sie mir, wo hielten sie sich versteckt?«
»Ich lag über Ihnen, auf der Laube.«
»Dann konnten Sie allerdings nicht entdeckt werden, denn niemand dachte daran, da hinaufzusehen. Wie kamen Sie hinauf?«
»Ich wusste, dass Sie jeden Morgen den Kaffee in der Laube einnahmen und begab mich vorher hinauf.«
»Was hatte Ihre Spionage für einen Zweck?«
»Mich über die Hausangelegenheiten des Monsieur Francoeur zu erkundigen. Ich wollte einmal Einsicht in seinen Kassenschrank nehmen«, war die offene Antwort.«
»Ich werde ihn warnen, er wird Sie mit der Pistole empfangen.«
»Haben Sie keine Sorge. Seitdem ich Sie gesehen und Ihre liebenswürdigen Worte vernommen, habe ich eine schönere, wertvollere Beute in Aussicht.«
Das Weib hatte verstanden und ging darauf ein. Mit Wohlgefallen musterte Sie die schlanke, kräftige Gestalt des Mannes, dessen sorgfältig gepflegte Hände verrieten, dass er kein gewöhnlicher Wegelagerer war.
»Was meinen Sie, mein Herr?«, fragte sie schelmisch.
»Sie!«
»Wie? So sind Sie auch gelegentlich ein Räuber der Unschuld?«
»Ihnen kann ich die Unschuld nicht mehr rauben. Ich begnüge mich aber gern mit dem, was größere Räuber als ich noch gelassen haben.«
Das war zynisch frech, doch das Weib fühlte sich nicht beleidigt, sie lachte wie über einen gelungenen Witz.
»Wenn Sie von mir sprechen, so müssten sie beweisen, dass dies nicht der Fall ist«, entgegnete sie.
»Der Beweis ist leicht erbracht. Sie nennen sich Madame verwitwete Phoebe Dubois.«
»Sie sind gut orientiert!«
»In Wirklichkeit aber sind Sie die Maitresse, oder meinetwegen auch die Frau des Monsieur Francoeur!«
»Woher wissen Sie das?«
»Ihre vertraute Unterredung verriet es mir, so spricht kein Bruder zur Schwester!«
»Ich mache Ihnen mein Kompliment, sie besitzen ein scharfes Auge. Wissen Sie sonst noch mehr?«
»Ich weiß, dass Sie, schöne Phoebe, vor zehn Jahren in Paris die gefeiertste Balletteuse waren. Alle Welt lag zu Ihren Füßen und betete Sie an.«
»Richtig, auch der Träger der schwarzen Maske soll sich ab und zu in Paris aufgehalten haben, um seinen Raub zu verprassen. Er hatte Zutritt in manche Boudoirs, sagte man.«
»Sie selbst sprachen es vorhin aus, und ich muss es bestätigen, weil ich noch dieselbe schwarze Maske bin, die ich früher war, nur zehn Jahre älter.«
»Waren auch Sie unter meinen Verehrern?«
»Kennen Sie mich?«
»Lüften Sie die Maske!«
»Ich vermeide dies. Nein, ich hielt mich von Ihnen fern, so sehr Sie mich auch anzogen, weil ich Sie vom Marquis Alphons de Lacoste geliebt wusste, er war mein Freund.«
»Wie? Sie kannten Alphons? Ach, das war eine schöne Zeit! Der arme, hübsche Junge!«, rief Phoebe schwärmerisch und bedauernd.
»Ja, Alphons war ein hübscher Kerl, und es war wirklich zu bedauern, dass der alte Marquis gegen seinen Sohn so filzig war. Sie haben ihn manchmal unterstützt.«
»Das tat ich von Herzen gern! Kennen Sie sein trauriges Schicksal?«
»Um Ihre Ehre zu retten, erschoss er im Duell den Gegner und musste fliehen. Haben Sie seitdem wieder etwas von ihm gehört?«
»Nie wieder. Er soll nach Indien gegangen und dort verschollen sein.«
Beide standen sich einige Minuten stumm gegenüber, Phoebe in Erinnerungen versunken, der Räuber das schöne Weib mit verlangenden Blicken betrachtend.
»Er war meine einzige, wahre Liebe«, seufzte Phoebe dann.
»Ich weiß es. Seinetwegen gerieten Sie in ganz enorme Schulden —«
»Es war ein so netter Junge, dem ich nichts abschlagen konnte — leichtlebig, gerade wie ich. Wir passten zusammen.«
»Das war Ihren Gläubigern aber gleichgültig. Diese rohen Barbaren fragten nicht nach dem gefühlvollen Grunde Ihrer Schulden, sondern sagten Mademoiselle Phoebe, entweder Sie bezahlen, oder wir lassen Sie pfänden!«
»Es kam nicht so weit.«
»Nein, ein Herr Namens Betranger nahm sich Ihrer an, er zahlte, und Sie wurden seine Maitresse. Er ging nach Indien, nach Bengalen, und Sie folgten ihm umso lieber dorthin, als Sie hofften, dort Ihrem geliebten Alphons wieder zu begegnen.«
»Sie sind gut orientiert!«
»Dieser Monsieur Betranger nennt sich jetzt Francoeur.«
»Sind Sie allwissend?«
»Allwissend bin ich nicht, doch viel ist mir bewusst — lässt ein neuerer Dichter den Teufel sagen. Übrigens müssen Sie bedenken, dass ich mich damals in Paris aufhielt. Ich erkannte Monsieur Francoeur vorhin sofort wieder.«
Der Maskierte trat plötzlich dicht vor Phoebe hin.
»Aber ich bin nicht hier, um an vergangene Zeiten zu erinnern. Ich möchte die Gegenwart genießen.«
»Was wollen Sie?«, fragte Phoebe naiv.
»Ich möchte die Stelle Alphons' einnehmen.«
»Mein Herr, Sie sind kühn!«
»Kühn wie ein Räuber!«, lachte der Maskierte und ergriff ihre kleine, volle Hand.
Phoebe versuchte Sie ihm zu entziehen.
»Hier wäre nicht der Platz zu einem Rendezvous, gesetzten Falls ich gewährte Ihnen ein solches, was ich aber nicht beabsichtige.«
»Was man den Räubern nicht freiwillig gibt, das nehmen sie sich mit Gewalt!«, entgegnete er und umschlang sie.
»Ich rufe um Hilfe!«
»Das würde nichts nützen«, lachte er, ließ sie jedoch frei. »Haben Sie keine Furcht; ich bin nicht so ungalant, mir eine Umarmung erzwingen zu wollen. Vorläufig möchte ich nur Ort und Zeit ausmachen, wo unser Rendezvous stattfinden soll.«
»Und wenn ich nicht einwillige?«
»Sie werden es.«
Der Maskierte schwieg und lauschte. Man hörte das Zwitschern eines Rotkehlchens.
»Sie werden gebraucht«, flüsterte er.
»Ich?«, fragte Phoebe erstaunt.
»Ja, es ist eine Gelegenheit da, welche Sie benutzen müssen. Ich halte darauf, dass jeder seine Pflicht erfüllt, wie ich sie als Räuber erfülle. Mein Begleiter benachrichtigt mich, dass Bega und Eugen, die Sie beobachten sollen, in der Nähe sind und dass zwischen ihnen etwas von Wichtigkeit vorgefallen sein dürfte. Kommen Sie, vielleicht bietet sich uns ein anregendes Schauspiel.«
Er ergriff Phoebes Hand, lauschte noch einen Augenblick und zog sie dann mit sich fort.
»Ich höre sie schon sprechen«, flüsterte er, »sie sind sehr aufgeregt.«
Nach kurzer Wanderung hielt er, bog die Büsche auseinander, und Phoebe wurde wirklich eine Szene gewahr, die sie keinesfalls hätte verpassen dürfen.
Auf einer kleinen Lichtung standen Eugen und Bega. Ersterer sprach aufgeregt, leidenschaftlich; Bega wendete sich halb von ihm ab, wie zur Flucht bereit. Ihr Gesicht konnten die beiden Beobachter nicht sehen.
»Bega, nur ein Wort gönne mir«, rief Eugen mit flehender Stimme, »nur ein einziges Wort!«
Das Mädchen antwortete nicht, es blickte stumm zu Boden.
»Lass mich nicht so von dir, ich verzweifle sonst. In sechs Tagen schon gehe ich nach London, und nehme ich dein Geständnis nicht mit, so ziehe ich mit trostlosem Herzen in eine Öde. Sage mir, Bega, dass du mich liebst, und ich bin der glücklichste Mensch unter Gottes Sonne.«
»Es ist noch Zeit, wir sehen uns ja wieder«, murmelte Bega.
»Nein, eine solche Gelegenheit finden wir nie wieder. Ich kann dich fortan nur selten sehen. Bega, ich habe dir gestanden, wie heiß ich dich vom ersten Augenblicke an geliebt habe, ich konnte mich vorhin nicht länger beherrschen, ich musste sprechen. Verzeihe mir, wenn ich zu ungestüm war!«
»Ich habe nichts zu verzeihen. Das Herz ist mächtiger als alles andere.«
»So sage mir, dass du mich wiederliebst!«
»Ich habe dich immer liebgehabt.«
»Nein, lieben — lieben musst du mich! Sprich es nur aus, wir sind allein, niemand hört und stört uns, und ich will das Geheimnis unserer Liebe wie ein Heiligtum bewahren.«
»Gib mir Bedenkzeit!«
»Die Liebe kennt keine Bedenkzeit. Heute, jetzt musst du mir es gestehen.«
»Müssen?«, erklang es wie trotzig.
»Ich bitte dich, ich flehe dich an, sage ja.«
»Nicht heute!«
»Bega!«, rief Eugen, einen Schritt zurücktretend und das Mädchen mit flammenden Blicken betrachtend. »Bega, du magst wohl unter der Sonne Indiens geboren sein, aber eine Inderin bist du nicht, sonst müsstest du wissen, welche Flammen du in meinem Herzen entfacht hast!«
»Ist das ein Grund, dass ich dich lieben muss?«
»Wenn du mich liebtest, würdest du mich nicht so kalt anhören können, du würdest nicht ans Morgen denken, sondern nur ans Jetzt.«
»Ich bin ein Halbblut und besitze Überlegung.«
»Ich frage nochmals: Liebst du mich?«, stieß Eugen mit bebender Stimme hervor.
Da drehte sich Bega um und schaute ihn voll an.
»Eugen, lass dir genügen, dass ich dich herzlich lieb habe«, sagte sie weich, »ich will mit meinem Vater und meinen Verwandten sprechen, und dann, vielleicht morgen schon, sollst du hören, wonach du verlangst. Gedulde dich, und ich versichere dir, dass es dich hundertmal mehr beglücken wird, als wenn du es jetzt in deinem leidenschaftlichen Rausche hörst.«
»Ich weiß, du liebst mich nicht!«, rief Eugen außer sich, am ganzen Körper bebend. »Ich aber liebe dich und lasse dich nicht, und wenn du mich auch von dir stößt, mein musst du doch werden!«
Mit diesem letzten, heiser klingenden Ausrufe stürzte er plötzlich auf Bega zu, umschlang sie mit beiden Armen, presste die Überraschte an sich und suchte sie zu küssen.
Phoebe erschrak, das durfte sie nicht zulassen, sonst scheiterten ihre Pläne. Sie kannte Begas Charakter.
Schnell wollte sie vorstürzen und die beiden trennen, doch der Maskierte hielt sie mit festem Griff zurück.
»Die Zuschauer dürfen sich nicht in das Spiel mischen«, raunte er ihr zu.
»Ich muss!«
»Das Verhängnis können Sie auch mit Hilfe aller Intrigen und Gewaltmittel nicht ändern, höchstens aufhalten — es geht seinen Lauf. Ich bin ein Beweis davon.«
Phoebe wäre auch schon zu spät gekommen.
Bega war nicht das Mädchen, sich zwingen zu lassen; der Überfall empörte sie aufs Äußerste.
Ein kurzer Ringkampf entstand, dann wurden plötzlich Eugens Handgelenke kräftig gepackt und er so heftig zurückgeschleudert, dass er zu Boden fiel.
Mit vor Zorn gerötetem Antlitz, die Hände geballt, die Augen feuersprühend, stand das Mädchen vor ihm.
»Knabe«, sagte sie mit schneidender Stimme, »unbesonnener Knabe, geh erst bei Reihenfels in die Schule und lass dir von ihm Selbstbeherrschung beibringen!«
Sie wendete sich ab und schritt in der Richtung des Hauses davon.
Phoebe wollte Bega nacheilen und für Eugen ein gutes Wort einlegen, doch der Maskierte hielt sie wiederum zurück.
»Verschieben Sie es auf ein andermal«, sagte er. »Jetzt möchte ich mit Ihnen allein sein.«
Er schlang wieder den Arm um ihre Taille.
»Lassen Sie mich. Es steht mehr auf dem Spiele.«
»Bah, was denn? Hat sich dieser Eugen jetzt tölpelhaft benommen, so kann er es wieder gutmachen. Ich will Ihnen ein Mittel an die Hand geben.«
»Sie könnten wirklich?«
»Mit Leichtigkeit. Nichts imponiert den Weibern mehr als eine ritterliche Tat, die einer Leidenschaft für sie entspringt. Dasselbe Ungestüm, das Bega jetzt verletzt hat, muss sie wieder versöhnen. Lassen Sie mich nur machen.
Es scheint allerdings, als ob sie nicht Eugen liebt, sondern Reihenfels.«
»Wer ist das?«
»Eugens Hauslehrer.«
»Ah, diese Herren sind manchmal eine ganz gefährliche Sorte Menschen.
Ist er jung und hübsch?«
»So ziemlich, wenn auch nicht nach meinem Geschmack.«
»Finden Sie mich nach Ihrem Geschmack?«, lenkte jetzt der Maskierte ab.
»Ich kenne Sie noch nicht.«
»So sollen Sie mich kennen lernen. Setzen Sie sich auf den Baumstamm hier, und vergessen Sie die Komödie, die wir soeben gesehen!«
Er zog das Weib neben sich auf einen gestürzten Baumstamm; Phoebe wollte sich von seiner Umschlingung befreien, doch es gelang ihr nicht.
Durch die eben gesehene Szene war auch ihr Blut erregt worden.
»Also, schöne Frau, ich habe die Kühnheit, Sie um ein Rendezvous zu bitten.«
»Was für einen Grund haben Sie, zu glauben, dass ich Ihnen ein solches gewähre?«
»Sie haben schon gar manchem die Gunst gewährt, um die ich Sie jetzt bitte.«
»Wenn Sie in Paris waren und sogar in Boudoirs Zutritt hatten, so müssen Sie wissen, dass man seine Gunst wohl verschenkt, aber auf ein Gegengeschenk rechnet.«
Der Maskierte stand auf und stellte sich vor sie hin.
»Ich bin zwar ein Räuber, aber auch ein Kavalier und weiß mich Damen gegenüber zu benehmen. Ich wagte nicht, Ihnen ein Geschenk anzubieten.«
»Seien Sie nicht so blöde!«, lachte Phoebe.
»Gold und Edelsteine kann ich Ihnen nicht, verehren, denn sie sind gestohlen und werden oft zu Verrätern.«
»Das war offen. Ich glaube überhaupt, dass alles, was Sie mir anbieten können, gestohlen ist.«
»Aber dennoch sauer verdient. Ich setze oft mein Leben daran. Was fordern Sie?«
»Monsieur Betranger bezahlte meine Schulden im Betrage von 300 000 Francs.«
»Kamen Sie Alphons de Lacoste auch so teuer zu stehen?«, fragte der Räuber spöttisch.
»Das war etwas anderes; er war mein Geliebter!«
»So nehmen Sie mich zum Geliebten!«
»Ich verzichte darauf; sentimentale Neigungen habe ich hinter mir.«
»Nennen Sie mir Ihre Schulden, die Quittung darüber soll der Ehebrief sein.«
»Ich habe keine Schulden mehr, Francoeur sorgt dafür. Sonst ist er leider sehr knauserig.«
»Ah, dann ist es gut! Nun denn, schöne Dame, so fordern Sie eine Summe, die ich Ihnen als Beweis meiner Ehrfurcht zu Füßen legen soll.«
Phoebe spielte mit der Spitze ihres Sonnenschirms im Grase.
»Ich brauche Geld, um mir für später meine Unabhängigkeit zu sichern«, sagte sie dann.
»Sie wollen sparen?«
»Ich will den Anfang damit machen.«
»Wie groß soll der erste Sparpfennig sein?«
»Sagen wir — tausend Pfund Sterling.«
»Mehr nicht? Sie sind bescheiden.«
Erstaunt blickte Phoebe auf.
»Treiben Sie Scherz?«
»Durchaus nicht.«
»Verfügen Sie über so viel Geld?«
»Natürlich! Ich habe erst vor einigen Tagen das fünffache verdient.
»Fünftausend Pfund?«
»Ja, eine Kleinigkeit für mich.«
»Dann bin ich bereit, Ihnen für ein Rendezvous eine Stunde zu gewähren.«
Der Räuber zog sie wieder an sich; sie ließ es geschehen.
»Göttliche, wie danke ich dir!«, versetzte er mit Pathos. »Wie Eugen vorhin in der Komödie, so rufe ich jetzt: Du machst mich zum Glücklichsten unter der Sonne! Wann darf ich Sie besuchen?«
»In meinem Hause geht es auf keinen Fall«, rief sie erschrocken, »Sie sind ein Räuber.«
»Als solcher würde ich der Ehre ihres Hauses keinen Abbruch tun, ich glaube, es beherbergt größere Räuber als mich. Schlagen Sie einen Ort vor!«
»In London.«
»Wo da?«
»Kennen Sie keine Räuberhöhle dort?«, lachte Phoebe.
»Ah so, Sie lieben das Romantische!«
»Habe ich ein Rendezvous mit einem Räuber verabredet, so will ich auch den ganzen Reiz dieses Abenteuers kosten.«
»Sie sollen es. Gern möchte ich zwar schon heute die glücklichste Stunde meines Lebens genießen, doch meine Pflicht ruft mich anderswohin. Können Sie mir morgen Nachmittag die Schäferstunde gewähren?«
»Ich bin Herrin meiner Zeit.«
»Wohlan! Sie kennen den Steinbruch von Wanstead?«
»Ja. Es befinden sich viele Höhlen dort. Hausen Sie etwa in einer solchen?«
»Allerdings, wenigstens zu Zeiten. Passen Sie auf! Wenn Sie den Steinbruch kennen, so wissen Sie auch den Steinblock, der sich wie ein Monument in der Mitte erhebt.«
»Ich kenne ihn.«
»Nun wohl! Stellen Sie sich nachmittags um vier Uhr an das Postament in der Mitte und gehen Sie dorthin, wohin sein Schatten zeigt. Sie stoßen so auf eine Höhle, in der ich Sie erwarten werde. Also morgen Nachmittag um vier Uhr.«
»Aber wir entbehren dort jeder Bequemlichkeit.«
»Sie werden nichts vermissen. Sie werden ein freundliches Interieur finden.«
»In dieser Höhle? Ich kann nicht begreifen, wie sich dort jemand für längere Zeit versteckt halten kann.«
»Sie werden es begreifen lernen.«
»Gut, ich komme!«, sagte Phoebe. »Aber welche Sicherheit geben Sie mir, dass ich die versprochene Summe erhalte?«
»Mein Ehrenwort als Kavalier.«
»Ich muss daran glauben, denn —«
»Sie dürfen an meinem Wort nicht im Geringsten zweifeln«, unterbrach der Räuber sie stolz.
»Wenn Sie mich um das Geld prellen würden, müssten Sie fürchten, dass ich Ihr Versteck verrate«, scherzte Phoebe.
»Das dürfte Ihnen schwer fallen.«
Der Räuber lauschte, wieder erklang das Vogelgezwitscher.
»Ich werde gerufen, ich muss gehen. Leben Sie wohl, schöne Phoebe, morgen auf Wiedersehen!«
Er presste Sie nochmals an sich.
»Sehe ich Sie morgen ohne Maske?«
»Vielleicht! Kommen Sie sicher?«
»Auf jeden Fall!«
»Wenn Sie nicht kämen, würde ich Gebrauch von dem machen, was ich erlauschte. Leben Sie wohl!«
Er schritt schnell davon und verschwand im Gebüsch.
»Er weiß mehr, als er gestehen will«, murmelte Phoebe. »Francoeur und ich haben einen großen Fehler begangen, als wir in der Laube so ungeniert sprachen. Doch sehr zu fürchten ist der Räuber nicht; denn eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Vielleicht könnten wir ihn sogar ganz gut verwerten. Nun, ich werde mich morgen einfinden; mein gegenwärtiges langweiliges Leben muss einmal durch ein interessantes Abenteuer unterbrochen werden. Ich würde gehen, selbst wenn mir nicht eine große Summe als Belohnung in Aussicht stände.«
Der Räuber stieß mit dem schon erwähnten Bettler und einem großen, herkulisch gebauten Mann zusammen.
»O, Renard, bist du schon zurück?«, sagte er zu ihm.
»Es ging alles schnell, Captain, und unsere Aktien stehen vortrefflich. Die Herrschaften fahren morgen nach London; ich glaube, der Sohn soll dort irgendwo untergebracht werden.
Die Dienerschaft geht nach Loughton zu einem Fest.«
»Es ist gut. Renard, ich bin mit dir zufrieden; dein Eifer soll belohnt werden, ich werde den Einbruch in Carters Haus jedoch vorläufig aufgeben, mich überhaupt dieser Gegend fernhalten. Findet euch kurz vor Mitternacht hier ein!«
»Wo wollen wir einbrechen?«
»Nicht weit von hier. Ich führe es allein aus. Ihr steht wie gewöhnlich nur Posten.«
Die drei trennten sich und verloren sich im Walde.
»Diesem Francoeur werde ich scharf auf die Finger passen«, murmelte der Maskierte. »Diesmal scheint er es mit Indien zu halten; er lebt bei einem Radscha und gibt sich mit den beiden indischen Kindern ab. Phoebe soll mir behilflich sein, eine Verbindung mit ihm einzuleiten. Ha, wie freue ich mich, Phoebe hier gefunden zu haben! Doch jetzt gilt es erst, die ihr versprochene Summe zu schaffen.«
Hier hat Gott wieder einmal gezeigt, dass er noch Wunder verrichten kann«, sagte Miss Woodfield zu Reihenfels, als sie sich dem Hause näherten, das sie noch vor wenigen Tagen in Armut, Elend und Schmutz gefunden hatten.
Welch freundlichen Eindruck machte die Hütte jetzt! Die zerbrochenen Fensterscheiben waren durch neue ersetzt, denen man ansah, dass sie oft geputzt wurden, die Wände waren frisch geweißt worden; Latten waren an ihnen angebracht, an denen sich Weinreben empor zuwinden begannen.
Wenige Monate noch, dann musste aus der armseligen Hütte ein kleiner, grüner Palast geworden sein.
Auf der neugezimmerten Bank vor der Tür saß der alte Moore und ließ sich von der Nachmittagssonne wärmen. Neben ihm lehnte der Krückstock, ein Zeichen, dass jener den freien Gebrauch seines Beines noch nicht völlig zurückerlangt hatte. Zu seinen Füßen spielte Peggy; lächelnd ruhte sein Blick auf ihr. Beide waren zwar ärmlich, aber sauber gekleidet, ganz zu der freundlichen Hütte passend.
»Ich halte weniger Gott als vielmehr Miss Bega für die Urheberin dieser Umwandlung«, entgegnete Reihenfels auf den Ausruf seiner Begleiterin.
»Ich glaube, er hat sich wirklich geändert. Bega hat ihn auf das Haupt seiner Enkelin schwören lassen, dem Trinken und Spielen zu entsagen; das hat einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Wenn jemand zu ihm gekommen wäre und hätte gesagt, er solle es so und so machen, um sich ein freundliches Heim zu schaffen, so hätte er vielleicht immer ja gesagt, es aber dann nicht getan, weil es ihm an Energie fehlt. Dass jedoch das fremde, vornehme Mädchen jeden Morgen zu ihm kommt, selbst Hand mit anlegt, das von ihr Geschaffene hütet und verbessert, das führt ihm seine ganze Erbärmlichkeit vor Augen, und er wartet nur seine Genesung ab, um mit seiner Wohltäterin wetteifern zu können.«
»Ja, wir haben uns sehr in Bega getäuscht«, seufzte Miss Woodfield,
»doch ich habe es ihr abgebeten, und sie hat mir vergeben. Warum ziehen Sie sich ganz von ihr zurück?«
»Das tue ich nicht, sie ignoriert mich.«
»Sie müssen sie sehr gekränkt haben.«
»Nicht dass ich wüsste!«
»So machen Sie den ersten Versuch der Annäherung.«
»Ich kann es nicht, denn Bega gibt mir überhaupt keine Gelegenheit, sie zu sprechen, und wenn ich eine hätte, so würde ich die Stolze doch nicht um Verzeihung bitten, denn ich weiß nicht, wie ich sie beleidigt haben soll.
Als empfindsames Mädchen mag sie einen Grund haben, mir zu zürnen, doch das soll mich nicht bewegen, durch eine Unwahrheit ihre Freundschaft wieder zu erwerben.«
Sie hatten die Hütte erreicht.
»Wie geht's, Mister Moore? War heute Miss Bega schon hier?«, fragte Miss Woodfield.
»Heute zum ersten Male nicht. Ich sah sie vorhin zu Pferde auf der Landstraße.«
»Dann wird sie schon noch kommen.«
»Das würde mich natürlich sehr freuen; doch jetzt wird meine Frau auch schon ohne sie fertig, und bin ich gesund, na, dann soll erst recht ein anderes Leben beginnen.«
Die Besucher sahen, wie die Frau drinnen die Stube scheuerte. Sie nickte den draußen Stehenden zu, ließ sich aber in ihrer Arbeit nicht stören.
Beide setzten sich zu dem Alten und unterhielten sich über dies und jenes, bis das plötzliche Verschwinden des Sonnenscheins sie emporschauen ließ.
»Es zieht ein Gewitter herauf; in einer Stunde kann es hier sein«, sagte Reihenfels.
»Dann muss ich schnell nach Hause«, rief die alte Dame und stand auf.
»Sie wissen, Lady Carter ist nach London und hat es mir anvertraut. Die Mädchen denken sicher nicht daran, die Fenster zuzumachen. Kommen Sie mit?«
»Ich gehe noch spazieren.«
»Obwohl ein Gewitter zu erwarten ist?«
»Ich liebe es, während eines solchen im Freien zu sein.«
»Dann gehe ich allein; good bye!«
Während Miss Woodfield dem Hause zueilte, folgte Reihenfels der Landstraße, die nach den Steinbrüchen führte.
Es musste schön sein, sich zwischen den wilden Felspartien, welche durch Menschenhände noch phantastischer gestaltet worden waren, die Blitze über sich zucken zu sehen und den Donner grollen zu hören, der sich an den Felswänden hundertfach brach.
Die Wolken kamen, von einem hoch oben in der Atmosphäre wütenden Sturme getrieben, schnell herauf; im Nu war der Himmel eine einzige tiefschwarze Mauer, es wurde fast Nacht, und ehe Reihenfels den Steinbruch noch erreichte, zuckten schon die Blitze über ihn hin.
Die Straße hätte direkt auf den Steinbruch zugeführt, wenn sie nicht links abgeschwenkt wäre. Reihenfels machte diese Biegung nicht mit, sondern ging geradeaus, sprang leichtfüßig über einen Zaun, überschritt noch eine kleine Wiese und stand an dem jähen Abhange des ersten Steinbruchs.
Menschenhände hatten eine Art Treppe in den Felsen gehauen. Sie wurde von Arbeitern benutzt, die diesen Weg der langen Fahrstraße vorzogen, auch Reihenfels hatte auf ihm schon öfter den Abstieg gemacht — ein gefährliches Unternehmen.
Vorläufig stand Reihenfels noch mit übereinandergeschlagenen Armen dicht am Abgrunde und atmete mit vollen Zügen die reine Luft ein. Dort unten mochte es schwüler sein, Donner und Blitze mussten zwischen den Felsen aber auch eine andere Wirkung haben.
Schon wollte der junge Mann den Abstieg beginnen, als er geblendet die Augen schließen musste. Der Himmel schien plötzlich in Flammen zu stehen, einige Augenblicke war die ganze Gegend von einem intensiven Lichte beleuchtet, dann folgte jene unheimliche Stille, die dem Donner vorausgeht, und darauf brach ein Getöse los, dass selbst das unerschrockene Herz Reihenfels' erzitterte. Die Luft erbebte von dem gewaltigen, nicht enden wollenden Gedröhne.
Halb betäubt stand Reihenfels da. In der Ferne rollte auf der Landstraße eine graue Staubwolke heran, vom Winde gejagt, der zugleich den Regen brachte.
Was war das? Kam dort die wilde Jagd in Donner, Blitz und Sturm? Aus der Staubwolke löste sich etwas Dunkles von unbestimmter Form ab, es bewegte sich schneller als die Wolke, es jagte voraus; Reihenfels erkannte ein schwarzes Pferd und dann den Reiter darauf. Was veranlasste diesen, sich so seltsam zu benehmen? Er saß nicht aufrecht im Sattel, beschäftigte sich nicht mit dem Pferde, sondern bückte sich weit herab.
Mit einem Satze stand Reihenfels wieder an dem Zaune; er hatte erkannt, dass es eine Reiterin war, sie hatte die Zügel verloren, das Pferd ging mit ihr durch.
Es folgte nicht der Biegung der Landstraße, sondern sprengte über den Graben, über die Wiese, setzte über den Zaun hinweg und stürzte dem Abgrunde zu; aber schon hing ein Mann mit vollem Gewicht in den Zügeln, stemmte sich mit den Füßen in den Boden, und presste mit der anderen Hand die schäumenden Nüstern des Tieres zusammen.
Nur wenige Sekunden dauerte der Kampf zwischen Mensch und Tier, wenige Meter wurde Reihenfels mit fortgeschleift, dann hatte er das Pferd gebändigt, es stand.
Die Reiterin richtete sich auf und glitt aus dem Sattel. Reihenfels fing sie auf — er hielt Bega in den Armen. Das Pferd benutzte seine Freiheit, es galoppierte davon. Bega wandte dem jungen Manne das bleiche Antlitz zu; sie erkannte ihn erst jetzt.
»Sie, Mister Reihenfels? Sie haben mich gerettet? Es war ein Todesritt!«, flüsterte sie.
Sie blickte in den Abgrund vor ihren Füßen.
»Ich läge jetzt zerschmettert neben dem Pferde dort unten.«
Reihenfels konnte nur nicken, er hielt die schlanke Gestalt noch immer in seinen Armen.
»Das Pferd erschrak vor dem letzten Donner, es ging durch, der Zügel riss, und ich konnte es nicht mehr bändigen.«
»Sie sind gerettet.«
»Durch Sie.«
Ein Windstoß kam herangesaust; einzelne, schwere Tropfen fielen herab.
»Wir können hier nicht bleiben, ein Unwetter bricht los«, murmelte Reihenfels.
»Ist keine Unterkunft hier?«
Reihenfels deutete auf den schmalen Felsweg.
»Er führt in den Steinbruch. Können Sie mir folgen?«
»Gehen Sie voran — nein, lassen Sie mich zuerst hinabsteigen.«
»Der Weg ist unsicher.«
»Ich bin im Gebirge groß geworden.«
Bega raffte ihr Reitkleid empor und stieg rückwärts hinab. Reihenfels folgte. Eben, als sie unten anlangten, brach der Regen mit voller Gewalt los. Sie flohen in eine Höhle.
Bega schien erschöpft; sie setzte sich auf einen Stein und lehnte sich mit geschlossenen Augen an den Felsen, ihr Antlitz war blass, aber ihre Brust wogte heftig.
Reihenfels stand ihr gegenüber, ohne zu sprechen. Draußen rauschte der Regen in Strömen herab. In der Ferne murrte der Donner, in der Höhle herrschte Dämmerlicht, Ruhe und Frieden. Über Reihenfels kam eine eigentümliche Stimmung; halb war es ein wohliges Behagen, ein himmlischer Friede, wie er ihn lange nicht empfunden, halb war es Traurigkeit.
Mit Wehmut betrachtete er das blasse Gesicht des Mädchens. Was mochte in Bega vorgehen? Warum war sie so blass, warum arbeitete ihre Brust so heftig?
Wie war sie doch so schön! Da, was war das? Langsam stahlen sich aus den geschlossenen Augen zwei große Tränen hervor und hingen wie Tautropfen an den Wimpern.
Da trat Reihenfels zu ihr.
»Miss Bega, was fehlt Ihnen? Haben Sie sich verletzt? Haben Sie Schmerzen?«
Das Mädchen schlug die Augen auf.
»Ja, ich bin verletzt, ich habe Schmerzen«, murmelte es. Dann sprang es empor.
»Ich muss fort, ich muss nach Hause«, fuhr es schnell fort und wollte ohne einen Abschiedsgruß davon.
Reihenfels vertrat Bega den Weg.
»Es regnet heftig. Ehe Sie zehn Schritte gemacht haben, sind Sie durch und durch nass.«
»Lassen Sie mich! Ich muss gehen!«
Sie versuchte sich an ihm vorbeizudrängen, doch er wich nicht.
»Ich erlaube es nicht.«
Bega trat einen Schritt zurück.
»Sie wollen es mir verbieten?«
»Ja. Sie haben kaum erst die Folgen einer Erkältung überstanden.«
»Was kümmert es Sie, wenn ich mir den Tod holte? Was veranlasst Sie, mir plötzlich solche Sorgfalt zu widmen?«
In reinem Indisch, in der Sprache der Veda sagte da Reihenfels, jedes Wort betonend: »Tat twam asi, das bist du. Ich habe dir das Leben gerettet, du gehörst mir. Ich verbiete dir, dein Leben nochmals einer Gefahr auszusetzen.«
Er hatte nicht eine solche Wirkung seiner Worte erwartet. Bega warf sich plötzlich mit aller Gewalt auf den Boden, verhüllte das Gesicht mit den Händen und weinte laut.
Erschrocken kniete er vor ihr nieder und suchte ihre Hände vom Gesicht zu entfernen.
»Bega! Habe ich Sie gekränkt? Das wollte ich nicht.«
»Ja, Sie haben mich gekränkt, unsäglich!«, schluchzte sie. »Indem Sie mich verkannten.«
»Ich weiß es und bitte Sie um Verzeihung. Ich habe einen harten Kopf; er hat mich unglücklich gemacht.«
Bega ließ ihm ihre Hand, sie richtete sich auf und blickte ihn mit tränenumflorten Augen an.
»Was sagten Sie vorhin? Wiederholen sie es!«, flüsterte sie.
»Ich habe dir das Leben gerettet, du gehörst mir.«
»Ja, wenn Sie ein Inder wären oder an Buddha glaubten!«
»Dennoch gehört Ihr Leben mir.«
»Warum?«
»Weil ich dich liebe, Bega.«
Reihenfels erschrak über seine plötzliche Kühnheit. Wie kam er dazu, dies dem Mädchen zu sagen, das ihm immer deutliche Zeichen der Missachtung gegeben hatte?! Das Blut stieg ihm zu Kopfe, er hatte sich einer Blamage ausgesetzt, er, der stolze, unbeugsame Charakter.
Wieder lehnte Bega sich an die Wand, die Augen geschlossen. Sie sprach nicht, und er fragte nicht. Stumm stand er vor ihr.
»Ich habe Sie einmal singen hören«, flüsterte sie endlich, ohne die Augen zu öffnen.
»Ich singe gern, besonders deutsche Lieder«, entgegnete Reihenfels, erstaunt über diese Frage, welche er sich nicht erklären konnte.
»Es war ein englisches Lied und begann mit den Worten: ›He was once coming.‹«
»Nein, es ist ein deutsches Lied, mein Vater hat es ins Englische übertragen.«
»Singen Sie es«, bat Bega, »Singen Sie es für mich!«
Draußen schlug der Regen noch immer gegen die Felswände, ab und zu zuckte ein Blitz am Firmament, die Dunkelheit zerreißend, und der Donner vermischte sich mit dem Heulen des Sturmes. Da ging Reihenfels plötzlich eine Ahnung auf, sein Herz schwoll vor grenzenlosem Glück.
Er fasste Begas Hand, zog sie an den Eingang der Höhle und sang mit tiefer, wohltönender Stimme, die noch den Sturm übertönte:
Er ist gekommen
In Sturm und Regen,
Ihm schlug beklommen
Mein Herz entgegen.
Wie konnt' ich ahnen,
Dass seine Bahnen
Sich einen sollten meinen Wegen?
Er ist gekommen
In Sturm und Regen,
Er hat genommen
Mein Herz verwegen.
Nahm er das meine?
Nahm ich das seine?
Die beiden kamen sich entgegen.
Er ist gekommen
In Sturm und Regen.
Nun ist entklommen
Des Frühlings Segen.
Der Freund zieht weiter,
Ich seh' es heiter;
Denn er bleibt mein auf allen Wegen.
Das Lied war verklungen.
Plötzlich lag Bega an der Brust des Mannes, schlang beide Arme um ihn und küsste ihn.
»Denn du bleibst mein auf allen Wegen!«, jubelte sie laut, ihn immer wieder küssend.
Dann wurde es still in der Höhle. Die beiden hielten sich eng umschlungen, sie sprachen nicht, sie sahen sich nur in die Augen, lächelten und lauschten den fallenden Regentropfen. Keines dachte an die Vergangenheit, an die früheren Worte, sie waren in seliges Träumen versunken.
So vergingen Stunden. Regen und Sturm waren vorüber, aber die Dunkelheit nahm zu, denn der Abend brach an.
Bega erwachte zuerst aus ihren Träumen.
»Oskar!«, sagte sie leise.
Er schrak zusammen. Sein Blick fiel auf das Mädchen, und seine Züge verklärten sich. Er drückte ihre Hand.
»Ich muss gehen, Oskar.«
»Schon?«
»Es wird Nacht.«
»Könnten wir nicht immer beisammen bleiben?«
»Wenn du mich so liebst, wie ich dich, dann sind wir für alle Ewigkeit verbunden, selbst wenn uns Meere und Gebirge trennten. Wir wollen gehen, es wird Nacht.«
»Nacht? Es ist so hell um mich her.«
Bega nahm seinen Arm und führte ihn hinaus.
»Darf ich dich begleiten, Bega?«
»Wer dürfte es dir verbieten?«
»Nur du! Ja, du hast recht. Ich bringe dich nach Hause.«
Stumm legten sie den Weg zurück; sie hatten sich nichts zu sagen. Sie fühlten sich einander nahe, und das genügte ihnen.
Nur einmal unterbrach Bega das Schweigen.
»Eugen liebt mich«, sagte sie.
»Ich weiß es«, entgegnete Reihenfels.
»Er hat es mir gestern gestanden.«
»Und was sagtest du ihm?«
»Ich empfand Mitleid mit ihm, denn mein Herz schlug ihm nie entgegen, nur dir. Er konnte sich nicht beherrschen, ich musste mich wehren.«
»Verzeihe ihm, Eugen ist ein heißblütiger Inder.«
»Ich zürne ihm nicht, ich bedauere ihn. In London wird er in der neuen Umgebung mich vergessen.«
Sie umgingen Wanstead. Vor dem Gartentor trennten sich beide mit einem langen Abschiedskuss, den einige Inder mit ansahen. Auch Monsieur Francoeur hatte die Szene vom Fenster aus beobachtet; er ballte wohl die Fäuste, doch sein Kopf war augenblicklich von etwas Anderem eingenommen.
Mit stolz erhobenem Haupte schritt Bega an den Dienern vorüber, die ihr mit erstaunten Mienen nachblickten, grüßte Francoeur, wendete sich noch einmal um, winkte Reihenfels den letzten Gruß zu und ging ins Haus.
»Monsieur Francoeur wünscht Sie zu sprechen«, meldete ihr eine Dienerin, als sie sich in ihrem Zimmer befand.
»Morgen, heute nicht mehr!«, war die kurze Antwort.
Ungeduldig ging der Franzose im Zimmer auf und ab, er ließ Bega ungestört! Er war furchtbar aufgeregt und wünschte nichts sehnlicher, als die Rückkehr Phoebes.
Die beiden Liebenden hatten nicht geahnt, dass dieselbe Höhle, in der sie Schutz suchten, noch ein anderes Liebespaar barg.
Eine geheime Mechanik verschloss ein hinter der Felswand liegendes Gemach. Auf einem Tisch darin stand eine Lampe und beleuchtete einige Stühle, viele Kisten und Kästen, ein Gestell mit den verschiedensten Waffen und schließlich ein bequemes Bett mit Matratzen und Decken.
Auf ihm saß eine Dame, die nicht in diesen Schlupfwinkel passte — es war Phoebe. Mit müdem, abgespanntem Gesichtsausdruck stützte sie sich auf einen Arm.
Ihr gegenüber auf einem Stuhl saß die schwarze Maske, das Gesicht wie immer verhüllt.
Beide sprachen nicht, sie lauschten. Durch in der Wand befindliche kleine Löcher drangen Stimmen.
»Sie gehen«, flüsterte der Räuber und trat an ein Loch, »sie gehen, die beiden Unschuldigen. Seltsam, zwei Liebespaare in dieser Höhle, aber welcher Kontrast!«
»In ihnen ist die Liebe zum ersten Male erwacht«, sagte Phoebe mit matter Stimme.
»Bei mir auch«, spottete der Maskierte.
»Ich glaube es Ihnen aufs Wort. Ist der Weg endlich frei? Die beiden haben mich viele Stunden lang hier gefangen gehalten.«
»Was mir sehr erwünscht kam. Bereuen Sie es, länger als geplant in meiner Gesellschaft verweilt zu haben?«
Phoebe blieb die Antwort schuldig. Sie sah sich in der Höhle um, und es überkam sie plötzlich ein unsagbarer Ekel. Sie stand auf.
»Ich will gehen. Was der Kutscher wohl denken mag?«
»Hat er Instruktion, so lange zu warten, bis Sie zurückkommen?«
»Er ist schon darauf vorbereitet, dass ich eventuell längere Zeit ausbleibe.
Der Regen bietet überhaupt einen guten Vorwand für mein langes Ausbleiben. Der Mann, ein Inder, ist mir treu ergeben, er würde weder sprechen noch fragen, selbst wenn er das Ziel meines heimlichen Weges wüsste.«
Phoebe strich das Kleid glatt, trat dann vor den halb erblindeten Spiegel und ordnete mit ihrem Taschenkamm das Haar. Der Maskierte setzte sich rittlings auf einen Stuhl und sah ihr zu.
Ein leises Klirren ließ Phoebe den Kopf wenden. Der Räuber hatte ein langes Stilett aus der Brusttasche gezogen und ließ den Stahl im Scheine der Lampe funkeln.
Erschrocken hielt Phoebe inne.
»Was soll das? Wollen Sie mich fürchten machen?«
»Ich möchte Ihnen dieses Stilett zur Verfügung stellen.«
»Ich brauche keinen Bravo(*).«
(*) Name gedungener italienischer Meuchelmörder.
»Auch nicht für den Geliebten von Miss Bega?«
»Für Reihenfels?«
»Ja. Monsieur Francoeur meinte, ein Dolchstich könnte ihm nichts schaden.«
»Allerdings. Doch nun ist es schon zu spät. Sie würden zwar Reihenfels töten, doch nicht Begas Liebe zu ihm.«
»Das stimmt, es muss so operiert werden, wie Francoeur geplant hat. Reihenfels wird verdächtigt und verschwindet, ohne sich gerechtfertigt zu haben. Ich bin bereit, dies auszuführen, zu ersterem eignen Sie sich besser.«
»Was veranlasst Sie, an dieser Sache Interesse zu nehmen?«
»Ich möchte überhaupt zusammen mit Ihnen und Monsieur Francoeur arbeiten; glückt es, so wird mir doch auch sicher eine glänzende Stellung in Indien zugänglich, etwa die eines hohen Beamten, wo ich die Leute plündern kann, ohne mein Leben in Gefahr zu bringen, und wo mich das Gesetz auch noch schützt.«
Misstrauisch schaute Phoebe ihn an.
»Sie wissen mehr, als gut ist.«
»Ich weiß alles, und was ich noch nicht weiß, kombiniere ich mir. Räuber müssen dergleichen verstehen. Doch seien Sie ohne Sorge, das Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben. Ich werde mit Monsieur Francoeur in Verbindung treten.«
»Versuchen Sie es, doch verraten Sie nicht, dass wir uns schon kennen.«
»Torheit! Wenn Sie die Höhle verlassen haben, sind Sie mir wieder eine Fremde!«
Phoebe war fertig. Sie stellte sich vor den Maskierten und schaute lächelnd auf ihn herab.
»Sie haben Ihr Wort nicht gehalten«, sagte sie, »Sie versprachen mir, sich mir ohne Maske zeigen zu wollen.«
»Ich versprach nur, die Maske abzunehmen, und habe ich es nicht getan?
Haben Sie nicht meine glühenden Küsse verspürt?«
»Aber es war dunkel, ich habe Ihr Gesicht nicht gesehen.«
»Das war auch nicht ausgemacht.«
»Wollen Sie mir nicht jetzt Ihr Antlitz zeigen?«
»Nein, ich habe Grund, es nicht zu tun. Ich breche mein Wort deshalb nicht, und dass ich gewohnt bin, es zu halten, will ich Ihnen beweisen. Sind Sie von meiner Liebe so berauscht, dass Sie ganz vergessen, mich an das versprochene Gegengeschenk zu erinnern?«
Phoebes Augen leuchteten auf. Sie hatte das Versprechen nicht vergessen, aber es unterlassen, den Räuber daran zu erinnern. Was bürgte ihr dafür, dass er, nachdem seine Leidenschaft befriedigt war, ihr nicht sein Stilett ins Herz stieß? Hier fand niemand sie so leicht, der Räuber konnte sich schnell in Sicherheit bringen.
»War Ihnen wirklich ernst damit?«
»Natürlich!«, rief der Räuber erstaunt. »Oder glauben Sie, es in mir mit einem gemeinen Wegelagerer oder Einbrecher zu tun zu haben? Ich dächte doch, unsere süßen Kosestunden müssten Sie davon überzeugt haben, dass ich gewohnt bin, mit besseren Damen zu verkehren. Sie sollen die 5000 Pfund Sterling haben. Leider fehlt mir die Gelegenheit, sie Ihnen in gefälliger Form, etwa in einem Bukett, zu übermitteln. Ich muss sie Ihnen in ganz nüchterner Weise einhändigen, schreiben Sie die Schuld den Verhältnissen zu.«
Der Maskierte hatte aus der Brusttasche ein Portefeuille gezogen und entnahm demselben fünf Banknoten.
»Voilà, 5000 Pfund Sterling!«
Mit Staunen betrachtete Phoebe die Banknoten, von denen jede, wie die darauf angegebene Zahl besagte, einen Wert von 1000 Pfund Sterling repräsentierte.
In England sind noch jetzt Banknoten von 50, 100 und 1000 Pfund Sterling keine Seltenheit. Von den drei Banknoten, welche im Werte von je 50 000 Pfund, also je von einer Million Mark, ausgegeben wurden, sind noch zwei im Umlauf. Eine wurde vom Staat einkassiert und vernichtet, die zweite gehört zum Fond einer Lebensversicherungsgesellschaft und die dritte hängt als Schaustück unter Glas und Rahmen an der Wand im Speisesaale eines Palastes des Herzogs von Westminster.
Um die Schulden des Vaterlandes möglichst schnell zu decken, lieferte die reiche Aristokratie Englands oft freiwillige Beiträge von ungeheurer Höhe, und sie können es, diese Herren — gehört doch zum Beispiel der Grund und Boden des riesigen Londons ganz allein sieben Lords. Kein Quadratmeter wird verkauft, nur verpachtet für einen Zeitraum von 99 Jahren. Im 100. Jahre fällt der Boden an den Lord zurück, und er darf das Haus auf demselben abreißen lassen, gleichgültig, ob es ein Palast oder eine Hütte ist.
Natürlich bleiben die großen, soliden Häuser stehen, die Pacht wird erneuert; die kleinen Häuser aber werden nach 99 Jahren abgebrochen und neue aufgebaut. Dies ist die Ursache, dass die Häuser in London so leicht gebaut sind, wie man in Deutschland höchstens eine Scheune ausführen würde.
Fünf Tausendpfundnoten also hielt Phoebe in der Hand; sie staunte über die Freigebigkeit des Räubers.
»Echt?«, fragte sie zweifelnd.
»So echt wie meine Liebe zu Ihnen. Ich habe selbst früher Banknoten gefälscht und verstehe daher echte von falschen besser zu unterscheiden als der Direktor der City-Bank in London.«
»Sie sind also gestohlen.«
»Ich habe sie mir ehrlich verdient, allerdings nicht durch Hacken und Schaufeln in der Erde, auch nicht mit Zigarrenmachen oder Abschreiben, denn dabei müsste man, um sich eine solche Summe zu ersparen, einfach wie Diogenes leben und ein Alter wie der ewige Jude erreichen. Nein, ich habe sie mir mit Strickleiter, Dietrich und Brecheisen verdient, als niemand im Zimmer war.«
»Und Sie verschenken die Summe so ohne Weiteres?«
»O, bitte, verschenken? Eine kleine Aufmerksamkeit, weiter nichts! Die Gunst, die Sie, schöne Phoebe, mir gewährten, ist eigentlich tausendmal mehr wert.«
»Trotzdem bin ich misstrauisch.«
»Und nicht ohne Grund. Ich will Ihnen reinen Wein einschenken: Sehen Sie die Nummern auf den Banknoten?«
»Ja, jede derselben hat eine laufende Nummer.«
»Das ist mir äußerst fatal, denn es ist doch anzunehmen, dass der, dem die wertvollen Banknoten gehören, ihre Nummern kennt. Nachdem er den Raub entdeckt hat, zeigt er ihn und die Nummern natürlich sofort der Polizei an, und die Folge davon ist, dass ich festgenommen werde, wenn ich die Noten wechseln will. Kurz gesagt, keiner meiner Hehler, ob Jude oder Christ, gibt mir für die Dinger einen Schilling, die Wische sind für mich völlig wertlos.«
Phoebe biss sich auf die Lippen. Sie hörte den Spott aus den Worten heraus. Sie sah sich geprellt, obgleich der Räuber Wort hielt.
»So sind sie auch für mich wertlos«, sagte sie, sich zum Lächeln zwingend.
»Wieso? Sie haben sie ja nicht gestohlen.«
»Ich komme aber in Verdacht der Hehlerschaft, wenn ich diese Banknoten irgendwo präsentiere.«
»Ich denke, Sie wollen sie in Ihre neugegründete Sparkasse legen?«, lachte er hinter der Maske. »Als unantastbarer Fond können sie nicht zum Verräter werden.«
»Genug, hier ist das Geld zurück! Sie haben mir eine Falle gestellt, und ich bin hineingegangen.«
»Behalten Sie die Dinger als Andenken von mir.«
»Das ist zu gefährlich. Stellen Sie die Banknoten dem Beraubten zurück, und lassen Sie sich eine Belohnung für Ihre Ehrlichkeit geben.«
»Ich werde Ihren Rat befolgen.«
Er steckte die Banknoten wieder zu sich.
Phoebe ärgerte sich gewaltig, verstand aber Gleichgültigkeit zu heucheln.
»Ich bin fertig, lassen Sie mich aus der Höhle!«
»Ich möchte nicht, dass Sie im Zorn von mir scheiden.«
»,Ich zürne Ihnen ganz und gar nicht. Dass ich die 5000 Pfund nicht behalten kann, ist nicht Ihre Schuld. Das Abenteuer mit Ihnen, einem Räuber, hat mich schon an sich befriedigt. Jetzt lassen Sie mich fort, es wird zu spät.«
Nach einer zärtlichen Abschiedsszene setzte der Räuber den Mechanismus in Bewegung, der Stein verschob sich, und Phoebe verließ die Höhle.
»Kann ich Ihren Namen nicht erfahren?«, fragte sie noch zuletzt.
»Nein, ebenso wenig wie Sie mein Gesicht sehen dürfen. Aber bald werden Sie alles wissen.«
»Wann?«
»Vielleicht heute Nacht noch. Träumen Sie süß von mir. Gute Nacht, schöne Phoebe!«
Diese fand den Wagen in Wanstead noch warten und war bald daheim.
Der Franzose empfing seine Maitresse nicht mit Vorwürfen, wohl aber gebärdete er sich, als er mit ihr allein war, wie ein Wahnsinniger.
»Endlich, endlich, Phoebe! Ich habe dich mit der furchtbarsten Ungeduld erwartet. Ich möchte mir am liebsten eine Kugel durch den Kopf jagen!«
»Was ist denn geschehen?«, rief Phoebe bestürzt.
»Ich bin beraubt worden.«
»Beraubt? Von wem? Wann?«
»In der Zeit von gestern Abend bis heute Nachmittag.«
»Was hat man dir gestohlen?«
»Alles, mein Geld und mein Geheimnis.«
»Die zweihundert Pfund?«
»Es war viel mehr.«
»Dann hast du mir gestern Morgen die Unwahrheit gesagt.«
»Ja, jetzt muss ich es gestehen.«
»Wie viel war es denn?«
»5000 Pfund Sterling in fünf Banknoten, zu je 1000 Pfund.«
Phoebe erschrak erst, dann aber musste sie sich schnell umdrehen, um mit Mühe ein lautes Lachen zu unterdrücken. Im Augenblick wusste sie, wer der Räuber gewesen war — die schwarze Maske.
Er hatte sie also mit dem Gelde bezahlen wollen, das er erst dem Franzosen, ihrem Geliebten, raubte. Fürwahr, das war ein freches Stückchen gewesen! Phoebe stellte sich namenlos bestürzt.
»Wo hattest du das Geld aufbewahrt?«
»In dem geheimen Mauerfache meines Schlafzimmers«, stöhnte der Franzose.
»Ist das so leicht zu öffnen?«
»Dass ein Uneingeweihter den Mechanismus findet, ist ganz unmöglich.
Ich stehe vor einem Rätsel.«
»Dann kannte der Räuber das Geheimnis.«
»Marquis de Lacoste hat mir geschworen, dass außer mir nur er den Mechanismus kennt, er hat ihn selbst gefertigt.«
»Gehörte das Geld dir?«
»Nein, es war indisches Agitationsgeld. Doch das bleibt sich gleich, ich könnte es ersetzen, aber auch der Schmuck ist gestohlen worden!«
Francoeur war dem Weinen nahe, und jetzt erschrak auch Phoebe furchtbar. Mit entsetzten Augen starrte sie den Jammernden an.
»Was? Die schwarze Maske hat auch das Geschmeide entwendet?«, hauchte sie.
Mit einem Sprunge stand der Franzose vor ihr.
»Was sagst du da, Weib? Die schwarze Maske? Was weißt du von dem Diebstahl?«, schrie er sie an.
Im Nu hatte sich Phoebe wieder gefasst. Sie stellte sich nicht gleichgültig, Sie behielt ihre Erregung bei.
»Nun ja; wer anders als die schwarze Maske hat dich bestohlen?«
Francoeur ließ sich täuschen.
»Du hast recht, die schwarze Maske ist es gewesen. Ich muss ihn unbedingt sprechen. Das Geld will ich ihm schenken, aber das Geschmeide muss er mir zurückgeben, oder ich bin hier keinen Augenblick mehr sicher.«
»Lag es auch in dem Mauerfache?«
»Ja, der Schmuck und das Geld, sonst nichts weiter.«
»Willst du mir den Mechanismus jetzt zeigen?«
»Komm mit!«
Er führte sie in sein Schlafkabinett, erklärte ihr den Mechanismus und setzte ihn in Tätigkeit.
»Wann hast du dich das letzte Mal von dem Vorhandensein der Papiere überzeugt?«
»Gestern, ehe ich schlafen ging.«
»Und wann bemerktest du den Raub?«
»Erst heute Nachmittag, als du eben fortgegangen warst. Die Tat ist diese Nacht geschehen; wir haben vor dem Fenster sogar die Fußabdrücke dreier Männer gefunden.«
»So war der Räuber in diesem Zimmer, während du schliefst?«, rief Phoebe erstaunt.
»Es kann nicht anders sein. Doch ich habe nicht das Geringste gehört.«
»Das Fenster war offen?«
»Ja. Aber wie kann man glauben, dass jemand in dieses in der ersten Etage gelegene Zimmer steigen kann, wo die Wand doch ganz glatt ist und kein Baum in der Nähe steht?«
»So haben sie eine Strickleiter benutzt, die sie auf irgend eine Weise von unten am Fensterkreuz befestigt haben.«
»Mir ist alles unerklärlich; es hilft auch nichts, darüber zu grübeln. Die 5000 Pfund kann ich verschmerzen, aber der Schmuck, der Schmuck! Ich bin verloren!«
Wieder begann der Franzose händeringend im Zimmer auf und ab zu gehen. Phoebe war erstaunt über die Kühnheit, mit der die schwarze Maske den Diebstahl ausgeführt hatte.
»Du kennst die Nummern der Banknoten?«
»Natürlich.«
Er nannte sie, und Phoebe, die ein gutes Gedächtnis für Zahlen besaß, erinnerte sich ganz genau, dieselben Nummern auf den Banknoten gelesen zu haben, die sie dem Räuber zurückgab. Der letzte Zweifel war geschwunden.
»Du hast den Diebstahl angezeigt?«
»Ich habe sofort einen Boten nach London geschickt und die Nummern bekanntmachen lassen. Von dem fehlenden Schmuck habe ich selbstverständlich nichts erwähnt.«
»Das war nicht klug von dir«, meinte Phoebe nachdenkend; »beim Wechseln der Banknoten wird der Räuber festgenommen und kann zum Verräter — «
»Das habe ich alles schon überlegt«, unterbrach sie der Franzose; »nein, derartiges ist nicht zu fürchten. Der Räuber gibt sich nicht mit solchen Sachen ab, dafür hat er seine Hehler.«
»Und wenn ein solcher festgenommen wird, und man findet bei ihm den Schmuck?«
»Auch das ist kaum glaublich. Diebe verteilen ihre Beute möglichst schnell. Selbst den Schmuck wird der Räuber zerstören und unkenntlich machen, wenn er ihn verkaufen will.«
»Ja, was hast du denn da zu fürchten?«
»Törin, begreifst du denn nur gar nicht?«, rief Francoeur unwillig. »Wenn der Räuber oder einer seiner Hehler nun den Schmuck erkennt?«
»Die Beschreibung desselben in den Zeitungen erfolgte vor fünfundzwanzig Jahren, über die Geschichte ist schon längst Gras gewachsen.«
»Das ist kein Trost. Die Hehler der Räuber sind meist alte Juden mit gutem Gedächtnis und mit wunderbarem Scharfblick für Goldarbeiten und Edelsteine.«
Phoebe zuckte die Schultern.
»Warum hast du das Geschmeide nicht längst verschwinden lassen?«
»Warum, ja, warum nicht!«, lachte der. Aufgeregte bitter. »Hundertmal schon hob ich den Hammer, es zu zerschmettern, und hundertmal packte ich es wieder weg. Ich konnte es nicht ausführen, eine unerklärliche Macht hielt mich ab. In diesem geheimen Schubfache hielt ich es endlich für ganz sicher aufgehoben. Sei nicht so gleichgültig, Weib«, fuhr er dann die ruhig Dastehende an, »rate, hilf!«
»Was soll ich dabei helfen?«
»Ich muss den Räuber finden, ihn zur Herausgabe des Schmuckes bewegen, und«, fügte er leise hinzu, »ihn dann stumm machen.«
»Ich weiß keinen Rat, wie du ihn aufspüren kannst.«
»Durch dich muss es geschehen!«
»Durch mich?«
»Die schwarze Maske soll ein Frauenverehrer sein.«
»Ach so. Doch du bist heute Abend zu aufgeregt, um klare Gedanken fassen zu können. Wollen wir morgen weiter darüber sprechen?«
»Ja, das wollen wir«, flüsterte Francoeur. »Jetzt lass mich allein, ich wil überlegen.«
Phoebe begab sich in ihr Schlafgemach. Lachend warf sie sich dort auf das Sofa. Bald jedoch wurde sie wieder ernst.
Wer war die schwarze Maske? Woher wusste sie, dass Francoeur die 5000 Pfund empfangen hatte? Nun, professionelle Räuber haben überall bezahlte Spione; er brauchte nur einen Vertrauten an der Post zu haben, so war er über große Geldsendungen instruiert.
Woher aber kannte er den Mechanismus des geheimen Schubfaches? Das blieb ein Rätsel.
Er war eingestiegen, während Francoeur, der bei jedem Geräusch erwachte, schlief; er musste sich also ganz leise im Zimmer bewegt haben. Ein langes Suchen und Tasten war dabei nicht möglich; nein, die schwarze Maske musste die Räumlichkeiten und das Geheimnis genau gekannt haben.
Es wäre jetzt vielleicht ein Leichtes gewesen, den Räuber festzunehmen —
Phoebe kannte ja seinen Schlupfwinkel, in dem er sicher auch diese Nacht verbringt. Doch sie dachte nicht daran. Francoeur hätte ihr Abenteuer erfahren müssen, sein Misstrauen, dass sie mit dem Räuber unter einer Decke gespielt, wäre erwacht, und dem wollte sie sich nicht aussetzen.
»O, ich werde die schwarze Maske, diesen verliebten Galan, dennoch zu der Herausgabe des Schmuckes bewegen«, tröstete sie sich, »und zwar, ohne dass Francoeur von meinem heutigen Abenteuer erfährt. Vielleicht morgen schon werde ich einen Ausflug nach der Räuberhöhle machen und ihn sprechen.«
Sie klingelte ihrer Kammerjungfer, einer Inderin, um sich entkleiden zu lassen. Während das braune Mädchen Heftel und Bänder löste, rief sich Phoebe träumend die Erlebnisse in der Räuberhöhle zurück.
»Ich kann das Band nicht aufmachen, es ist ein Knoten darin«, sagte die Inderin einmal.
»Zerschneide es, und mach ein andermal keine Knoten, sondern Schleifen!«
Das Mädchen unterdrückte eine Bemerkung und tat, wie ihr geheißen.
Als sie das Korsett öffnete, sah sie etwas Weißes zu Boden fallen. Sie hob es auf, ohne dass Phoebe die Bewegung sah.
»Eine Karte«, sagte das Mädchen.
»Lege sie auf den Tisch!«
»Sie fiel aus Ihrem Korsett.«
»Aus meinem Korsett? Sonderbar, ich weiß doch nicht, dass ich eine Karte hineingesteckt habe. Zeig her!«
Sie brachte diese in den Schein der Lampe. Plötzlich erweiterten sich ihre Augen, eine Blutwelle übergoss ihr Gesicht und Hals bis hinab zum Busen.
»Hast du die Karte gelesen?«, fragte sie die Inderin mit bebender Stimme.
»Nein.«
»Wirklich nicht?«
»Kein Wort!«
»Schwöre!«
»Ich will des Nirwana verlustig gehen und Parvati(*) in alle Ewigkeit dienen, wenn ich nicht die Wahrheit spreche!«, sagte das Mädchen feierlich.
(*) Parvati oder Kali ist die Göttin der Vernichtung, sie hasst die Erde und alles Lebendige.
Phoebe war beruhigt.
»Lass mich jetzt allein!«
Als sie allein war, las sie noch einmal, mit derselben Erregung wie vorhin, die Karte. In gedruckten Lettern stand darauf: ›Marquis Alphons de Lacoste‹ — und darunter mit Bleistift: ›Alte Liebe rostet nicht‹.
Es dauerte lange, ehe Phoebe ihrer Erregung Herr wurde.
Als Alphons de Lacoste vor zehn Jahren in Paris ihr Liebhaber war, war er wahrscheinlich schon ein Räuber gewesen. Heute war sie ihm abermals in Liebe begegnet, ohne ihn zu erkennen. Nun konnte sich Phoebe allerdings erklären, wie der Räuber so schnell den Mechanismus des Wandfachs fand. Der Dieb war der Sohn des früheren Hausherrn, er kannte das Geheimnis, hatte es dem Vater wahrscheinlich abgelauscht, ohne dass dieser es wusste.
Alphons galt für verschollen, und dabei machte er schon seit zehn Jahren als Räuber Großbritannien unsicher. Phoebe nahm an, dass sie die einzige war, die ihn jetzt in seiner richtigen Gestalt kannte, und von ihr sollte der einst Heißgeliebte keinen Verrat zu befürchten haben.
Dann aber schrak sie heftig zusammen. Sie gedachte einer Stunde, zehn Jahre zurück, als Sie Arm in Arm mit Alphons durch die Straßen von Paris spazieren ging. Sie blieben vor einem Juwelierladen stehen und besichtigten die Schaustücke. Da stieß Alphons plötzlich einen Ruf der Überraschung aus, dann lachte er. Auf die verwunderte Frage Phoebes gab er die Erklärung, Wort für Wort konnte sie sich seiner Rede noch entsinnen.
»Ich mag ein Kind von zehn Jahren gewesen sein«, hatte er gesagt. »Es war damals in Amerika ein fünfjähriges Mädchen gewaltsam entführt worden, und zwar, behauptete man, von einem französischen Abenteurer. Das Kind, festlich gekleidet, hatte einen kostbaren Schmuck getragen, dessen sonderbares Aussehen in allen Zeitungen der Erde genau beschrieben wurde, um auf die Spur der Vermissten zu kommen. Zufällig besaß meine Mutter ein Armband, das dem beschriebenen ähnlich war, jedoch für den vollen Arm eines Weibes bestimmt. Ein übereifriger Polizist glaubte eine Spur entdeckt zu haben und brachte meinen Vater in Unannehmlichkeiten. Die Sache wurde natürlich sofort niedergeschlagen, aber das Gespräch kam in unserer Familie noch oft auf den betreffenden Schmuck; ich hörte seine Beschreibung so oft, dass ich ihn noch jetzt malen könnte. Sieh dort das Armband, wenn es kleiner und die Anordnung der Steine enger wäre, wenn in der Mitte statt des Saphirs ein heller Diamant säße, so würde ich darauf schwören, es gehöre zu dem Schmuck des geraubten Mädchens.«
Jetzt befand sich der vollständige Schmuck in den Händen des Marquis.
Würde er sich seiner noch erinnern können? Sicherlich. Würde er von seiner Entdeckung Gebrauch machen? Phoebe zweifelte nicht daran.
Alphons war ein Räuber — scharfsinnig und gewissenlos. Er ließ keine Gelegenheit ungenutzt vorbei. Er würde wahrscheinlich auf den Besitzer des Schmuckes einen furchtbaren Druck ausüben.
Mit schweren Sorgen legte Phoebe sich zu Bett, und am nächsten Morgen schrak sie empor, als heftig an ihre Tür gepocht wurde.
»Mach auf, mach auf, ich muss dich sprechen!«, rief draußen Francoeur.
Phoebe seufzte; sie sah einem schweren Tag entgegen.
Francoeur trat hastig ein, er hielt einen Brief in der Hand.
»Gerettet!«, jubelte er. »Dieser Räuber ist ein exzellenter Mensch, ich möchte ihn umarmen, ihn küssen!«
Er trat an das Bett.
»Sieh hier, er schickt mir die fünftausend Pfund zurück!«
.Er zeigte die fünf grünen Scheine.
»Und den Schmuck auch?«
»Nein.«
»Dann ist nichts gewonnen!«
»Doch, doch, es ist alles gut! Ich erhielt heute mit der ersten Post diesen Brief, denke dir, und wie ich ihn aufmache, fallen mir die fünf Banknoten in die Hände! Nun lies das beiliegende Schreiben und freue dich. Dieser Räuber ist ein prächtiger Kerl!«
Phoebe nahm das Schreiben, das in französischer Sprache geschrieben war.
Sehr geehrter Monsieur Francoeur! — Ihrer in alter Freundschaft gedenkend — ich machte Ihre werte Bekanntschaft vor zehn Jahren in Paris — stattete ich Ihnen gestern Nacht einen Besuch ab, fand Sie aber zu meinem Bedauern im tiefsten Schlaf, den ich nicht zu stören wagte. Als ich mich an die Wand lehnte und überlegte, ob ich Ihnen nicht ein Zeichen meines Besuches zurücklassen sollte, empfand ich plötzlich einen Stoß gegen den Rücken, ich wendete mich um, und siehe da, eine geheime Tür war aufgesprungen, deren Mechanismus ich zufällig in Bewegung gesetzt hatte. —
»Das klingt sehr unwahrscheinlich!«, unterbrach Phoebe ihr halblautes Vorlesen.
»Natürlich ist es nur Spott. Später bekennt er sich offen als Räuber!«
Ich sah in dem Fach grüne Scheine liegen,
fuhr Phoebe im Lesen fort;
dahinter blitzte und funkelte etwas, und nun muss ich Ihnen gestehen, dass ich für alles, was grün ist, blitzt oder funkelt, eine ganz merkwürdige Vorliebe besitze.
Ich steckte die Sachen zu mir, verabschiedete mich von Ihnen — Sie haben es leider nicht gehört — und verließ das Haus wieder auf einer selbstgefertigten Treppe von Stricken. Als der Morgen graute, erkannte ich, dass auf die grünen Papiere Nummern gedruckt waren, und das war mir äußerst fatal. Sollten Sie nicht wissen, warum, so erkundigen Sie sich bei einem Londoner Polizisten danach. Ich sende Ihnen daher die grünen Zettelchen zurück. Machen Sie guten Gebrauch von ihnen. Das Geschmeide dagegen fand meinen äußersten Beifall, gerade ein solches hatte ich mir schon immer gewünscht. Meine Freude dauerte jedoch nicht lange.
In einem Anfall von Zerstörungswut ergriff ich Hammer, Zange und Blechschere und hörte nicht eher auf zu wüten, als bis der schöne Schmuck in lauter kleinen Stücken vor mir lag; keinen Stein ließ ich in seiner Fassung. Als ich wieder zur Besinnung kam, reiste ich nach London und verkaufte, um durch den Anblick der Folgen meiner Zerstörungswut nicht immer wieder unangenehm berührt zu werden, ein Stück nach dem anderen, das Gold hier, die Steine dort, die Perlen wieder bei einem anderen Abnehmer. Ich bitte Sie deswegen um Verzeihung; sobald ich kann, werde ich Ihnen den Schmuck ersetzen. Mich Ihnen zu gelegentlichen Diensten empfehlend, bei denen Dolch und Pistole die Hauptrolle spielen, zeichne ich als Ihr ergebener und aufrichtiger Freund: Die schwarze Maske.
»Nun, was sagst du dazu?«, rief der Franzose erfreut. »Er ist zwar ein Räuber, aber doch ein Kavalier. Gott sei Dank, die Besorgnis wegen des Schmuckes bin ich los; mag er sich mit dem daraus gelösten Gelde amüsieren.«
»Ja, es ist ein großes Glück, dass er die Bedeutung des Schmuckes nicht kennt!«, seufzte Phoebe.
Aber sie dachte ganz anders. Sie glaubte nicht, dass Alphons, der den Schmuck ganz sicher erkannt, ihn zertrümmert und verkauft habe.
»Rätselhaft bleibt nur, wie der Räuber den Mechanismus gefunden hat!«, sagte sie.
»Ich kann es mir nicht erklären.«
»Fast scheint es, als ob er ihn gekannt habe.«
»Kaum glaublich!«
Phoebe stellte sich, als überlege sie.
»Apropos«, begann sie dann wieder, »könnte nicht der Sohn vom Marquis de Lacoste — Alphons heißt er wohl — von dem geheimen Fach gewusst haben?«
»Der? Er ist bereits seit zehn Jahren verschollen; sein Tod kann sogar bewiesen werden, denn das Schiff, das den wegen Duells Verfolgten nach Indien trug, ging unter, und sein Name stand nicht auf der Liste der Geretteten.«
»Er kann aber doch davon gewusst haben, ohne dass sein Vater es ahnte, und das Geheimnis einem anderen mitgeteilt haben.«
»Das wäre die einzige Erklärung. Nun, sei es, wie es will, ich habe das Geld zurück, und der Schmuck ist vernichtet. Ich bin zufrieden.«
»So lass uns jetzt von Eugen und Bega sprechen! Unser Wachhund, Radschah Tipperah, könnte mit seinen schielenden Augen bemerken, dass wir uns mehr mit Privatsachen als mit denen seines Vaterlandes beschäftigen.
Ich habe dir große Enthüllungen zu machen.«
»Ich weiß es, Bega liebt Reihenfels. Ich habe einer innigen Abschiedsszene beigewohnt, als sie sich vor meinem Hause trennten.«
»Und ich der Szene, als sie sich fanden!«
Phoebe begann zu erzählen. Im Steinbruch sei sie vom Regen überrascht worden und in eine Höhle geflüchtet, in welcher die Liebeserklärung der beiden erfolgte.
»Wir wollen beim Frühstück weiter darüber sprechen«, entschied Francoeur; »jetzt bin ich zu aufgeregt. Die schwarze Maske geht mir noch zu sehr im Kopfe herum. Ich werde sehen, ob ich ihn gebrauchen kann, um ihn dann womöglich verschwinden zu lassen. Der Räuber ist vogelfrei, nach ihm kräht kein Hahn, und Tote sind stumm.«
Höhnisch blickte Phoebe dem Hinausgehenden nach.
»Adieu, Monsieur Francoeur«, murmelte sie, »ich habe einen anderen Ankergrund gefunden. Dich gebe ich auf. solange ich an deiner Seite lebe, wirst du der schwarzen Maske wenig anhaben können. Du hast recht, mein Alphons: Alte Liebe rostet nicht.«
Mister Westerly ließ sich bei Lady Carter melden. Sein Gesicht hatte eben noch in triumphierender Freude gestrahlt, beim Eintritt in das Boudoir legte er es schnell in ernste Falten.
Dennoch entging der schönen Frau, welche im leichten Morgenanzug am Nähtisch saß, nicht der Glanz seines Auges.
»Bringen Sie gute Nachrichten aus London mit?«, rief sie, eine einladende Handbewegung nach einem Stuhle machend. »Hat Eugen sich zurechtgefunden? Sind seine Vorgesetzten zufrieden mit ihm?«
Westerly führte ihre weiße Hand an seine Lippen und setzte sich, ohne den Hut aus der Hand zu legen. Sein Benehmen beängstigte Sie.
»Doch nichts Schlimmes?«, fragte sie bestürzt.
»Nein, Emily, ich habe über Eugen nur Gutes zu berichten. Die drei Wochen strenge, militärische Zucht haben ihm gut getan, er sieht gesund und blühend aus; und der vertraute Umgang mit frischen Jünglingen scheinen den Schmerz bereits gelindert zu haben, den er von hier mit fortnahm. Freilich, es ist schlimm für einen jungen Mann, wenn er sieht, dass er die Gunst derjenigen verscherzt hat, welche er liebt. Doch Eugen ist noch sehr jung und lebenslustig, er wird Bega ebenso schnell vergessen haben, wie er sie liebgewonnen hat.«
»Es liegt wenigstens etwas Tröstliches in Ihren Worten, Edgar. Gab er Ihnen keinen Brief für mich mit?«
»Keinen Buchstaben, nur mündliche Grüße. Schon daraus können Sie ersehen, wie sehr er von der neuen Umgebung eingenommen ist.«
»Er wird auch mich vergessen«, seufzte Emily.
»Das ist nicht zu befürchten. Die Liebe zu Ihnen beruht auf Hochachtung, wie die meine, und diese ist nicht auszurotten.«
Emily antwortete nicht, sie beugte sich erglühend über die Arbeit. Sie schien jetzt einen Antrag zu fürchten, wie sie schon manchen zu hören bekommen, und es muss gesagt werden, dass Emily Westerly wirklich zugetan war. Dieser war ein Kenner von Frauenherzen, er wusste sich so bescheiden und zartfühlend zu benehmen, er hatte Emily in ihrem ersten Schmerze so selbstlos getröstet und immer mehr und mehr durchblicken lassen, dass er sie liebe, fast acht Jahre lang blieb er nur ein gerngesehener Hausfreund, dann warb er eines Tages offen um ihre Hand.
Emily war ihm nicht kalt begegnet, sie hatte geweint und ihm erklärt, auch sie fühle zu ihm Neigung, aber nimmermehr würde sie zum zweiten Male heiraten, solange ihr Gatte nur als verschollen gelte.
Daraufhin markierte Westerly den platonisch Liebenden mehrere Jahre hindurch, kam und ging, immer gern gesehen, aber ohne zu einer neuen Aussprache aufgemuntert zu werden.
Er fand trotzdem wieder Gelegenheit, Emily seine Liebe mit zarten Worten zu verstehen zu geben, und sie wurde von dieser Geduld wirklich gerührt. Auch sie liebte Westerly, aber zwischen ihnen stand Sir Carter wie ein Gespenst. Oft erschien er ihr im Traume, zwar noch lebend, aber zum Gerippe abgezehrt, und hob warnend die fleischlose Hand gegen sie auf.
Sie wusste sich keinen anderen Rat, als Westerly hinzuhalten. Wenn sie die definitive Nachricht von dem Tode Sir Carters erhielt, dann wollte sie dem neuen Werber ihre Hand reichen, das hatte sie ihm fest versprochen.
Jetzt ergriff er ein auf dem Tische liegendes, aufgeschlagenes Buch.
»Was lesen Sie?«, fragte er, die Dramen Shakespeares erkennend.
»König Richard III.«
Leichenblass ließ Westerly das Buch plötzlich sinken. Ein schneller Blick belehrte ihn, dass Emily sein Entsetzen nicht bemerkt hatte.«
»Das ist keine Lektüre für Sie«, murmelte er.
»Warum nicht?«
»Wenigstens jetzt nicht.«
Wie gebannt hing sein Auge an den Zeilen der aufgeschlagenen Seite.
Es war die Szene, in welcher König Richard III., dieses hinkende Scheusal, den nur ein Shakespeare so schildern konnte, dass man bei seinem Tode noch Mitleid für ihn empfindet, um die Hand Annas wirbt, und zwar am Sarge ihres Gatten, den er ermordet hat.
Richard scheut sich nicht, sich selbst als Mörder des Gatten der Geliebten zu bezeichnen, und so siegesbewusst ist er, dass er ihr sein Schwert gibt und sie auffordert, ihn zu töten.
»Du warst es, der den Gatten mir gemordet!«, ruft Anna und hebt die Waffe.
»Ich tat es.«
Anna will den Stahl in seine Brust graben.
»Ich tat's nur aus Liebe zu dir!«, fährt Richard schnell fort, und Anna lässt das Schwert sinken.
O, Richard III. kannte die Frauenherzen, und Westerly nicht minder.
Kaltblütig wollte er seine Rolle weiterspielen.
Er klappte das Buch zu und legte es auf den Tisch.
»Etwas Anderes ist es noch, über was ich Sie sprechen wollte«, begann er dann. »Durch den jahrelangen, freundschaftlichen Umgang mit Ihnen bin ich Ihrem Hause kein Fremder mehr; ich fühle es förmlich als Pflicht, mich mit Verhältnissen zu befassen, die sonst eigentlich niemanden etwas angehen.«
»Sie dürfen es«, sagte Emily, freundlich aufblickend.
»Es handelt sich um Reihenfels. Eugen ist fort. Sie haben die beiden anderen Hauslehrer entlassen, nur er hält sich noch ohne Beschäftigung, aber unter Fortbezug seines Gehaltes in Ihrem Hause auf.«
»Er ist mir ein sehr angenehmer Mensch. Mein Verkehr ist nur unbedeutend, und ich vermisse ungern einen daraus. Gern möchte ich Reihenfels dauernd an mein Haus fesseln.«
»Es wundert mich, dass er, ein so stolzer Charakter, dieses Gnadenbrot angenommen hat.«
»Nennen Sie es nicht so. Es kostete mich viele Mühe, ihn zum Bleiben zu bewegen. Erst als ich ihn herzlich bat, ihm offen sagte, dass mir an seiner Gesellschaft viel gelegen sei, beschloss er, zu bleiben und teilt sich nun mit dem Hausverwalter in dessen Arbeiten.«
Westerly runzelte die Brauen.
»Seinetwegen brachen unsere Nachbarn ihren liebenswürdigen Verkehr mit uns ab.«
»Kann ich dafür, wenn Reihenfels und Bega sich lieben? Ich finde das Betragen dieser französischen Familie überhaupt sehr sonderbar, fast beleidigend für mich. Sie geben mir zu verstehen, dass sie mein Haus nicht betreten können, solange Mister Reihenfels darin weilt. Warum aber dulden sie, dass Bega und er täglich gemeinsam Spaziergänge unternehmen? Es ist geradezu ungezogen, von mir zu verlangen, ich solle Reihenfels entfernen, damit die Liebschaft ein Ende nimmt. Als ob sie dadurch überhaupt abgebrochen würde.«
»Aus den Augen, aus dem Sinn!«, entgegnete Westerly.
»Diese Regel würde wohl bei Reihenfels und Bega eine Ausnahme finden.
Nein, er bleibt erst recht! Ich bedaure nur, dass ich nun so selten mit Bega zusammentreffe, das Mädchen war mir ans Herz gewachsen.«
Emily seufzte, Westerly horchte plötzlich auf. Sein Gesicht nahm den Ausdruck großer Spannung an.
»Im Hofe fuhr ein Wagen vor«, sagte Emily. »Wer mag das sein? Doch was haben Sie?«, fragte sie ängstlich, die Erregung Westerlys jetzt erst bemerkend.
Dieser trat zu ihr.
»Emily«, sagte er mit weicher, bebender Stimme, »ich habe Sie auf etwas vorzubereiten!«
»Sie erschrecken mich, sprechen Sie schnell!«
»Nicht doch. Eine plötzliche große Freude kann wie ein großer Schreck den Tod herbeiführen.«
Plötzlich fiel er vor ihr auf die Knie und ergriff, sie innig anblickend, ihre Hände.
»Emily!«, rief er flehend. »Gedenkst du deines Versprechens?«
»Edgar!«, antwortete sie bestürzt.
»Du versprachst, die Meine zu werden!«
»Nur unter einer Bedingung!«
»Sie ist erfüllt!«
Einen Augenblick starrte sie den Sprecher an, dann schrie sie auf und sank in den Lehnstuhl zurück.
»Sie ist erfüllt!«, wiederholte Westerly. »Mein voriges Gespräch sollte nur die Zeit ausfüllen, bis der Bote kam, der die Nachricht brachte.«
»Welche Nachricht?«, hauchte Emily.
»Nach deren Empfang du die Meine zu werden versprachst. Zürne mir nicht, dass ich in diesem Augenblick an meinen Vorteil denke!«, fuhr er schnell fort, als Emily ihm ihre Hände entziehen wollte. »Ich tu's nur aus Liebe zu dir.«
»Das sind die Worte, die Richard am Sarge zu Anna sprach«, murmelte Emily tonlos.
Westerly erhob sich, nachdem er ihre Hand geküsst hatte.
»Zürne mir nicht!«, wiederholte er. »Ich tat's nur aus Liebe zu dir!«
Er schritt zur Tür und öffnete sie.
»Mister Wilkens«, sagte er, einen Herrn eintreten lassend. Er selbst ging hinaus.
Der Detektiv war in den fünfzehn Jahren nicht gealtert. Das Auge blickte noch ebenso klar und scharf wie früher, die hohe Stirn durchzog noch keine Falte, kein Zug hatte sich in dem eisernen Gesicht geändert.
Er ging auf Emily zu, die ihn mit stockendem Herzschlag erwartete.
»Lady Carter, hat Mister Westerly Sie auf meine Botschaft vorbereitet?«, fragte er weich.
»Sie bringen etwas Entsetzliches!«, stöhnte Emily.
»Nichts Entsetzliches, sondern etwas Tröstliches für Sie. Können Sie die unverhüllte Wahrheit ertragen?«
»Sprechen Sie!«
Wilkens öffnete die eine, bis jetzt verschlossen gehaltene Hand. Sie enthielt einen breiten, goldenen Ring. Mechanisch nahm und betrachtete ihn Emily.
Auf der Innenseite waren ein Monogramm und die Inschrift eingraviert:
›Wohl mir, dass ich dich fand‹.
Mit einem Aufschrei sank Lady Carter abermals zurück.
»Es ist der Trauring meines Mannes.«
Sie bedeckte die Augen mit der Hand und saß minutenlang bewegungslos da. Kein Schluchzen verriet ihren Schmerz, wohl aber sah Wilkens zwischen ihren Fingern Tränen hervorperlen.
»Woher?«, fragte sie endlich leise.
»Man fand ihn bei Ihrem toten Gatten.«
Wieder entstand eine lange Pause.
»Also tot!«, flüsterte sie dann.
»Schon seit fünfzehn Jahren.«
»Wo fand man seinen — seinen —«
Sie wagte das Wort ›Leichnam‹ nicht auszusprechen.
»Man fand sein zerschmettertes Gerippe in einer Schlucht bei Akola. Er ist in jener verhängnisvollen Nacht hinabgestürzt. Sein Tod muss sofort eingetreten sein.«
»Woraus schließt man, dass es die — die Knochen von Sir Carter sind?«
»An einem Finger fand man diesen Ring.«
»Es ist mein Trauring. Wo ist der andere?«
»Ich weiß, dass Sir Carter an der rechten Hand noch einen Siegelring trug. Man konnte ihn nicht finden, er ist zwischen den Steinen verloren gegangen.«
»Er sollte doch auch noch am Finger stecken.«
»Die Knochen lagen sehr verstreut umher«, sagte der Detektiv düster.
»Wie kommt das? Bei einem Sturz?«
»Raubtiere haben sie verschleppt.«
Emily schauderte zusammen — ihr Gatte hatte wilden Tieren zum Fraß gedient.
»Erzählen Sie ausführlich!«
»Vor zwei Monaten verfolgten eingeborene Jäger einen Panther und bemerkten, dass er die Schlucht bei Akola zu gewinnen suchte. Sie blieben ihm dicht auf den Fersen und gelangten auf einem bisher unbekannten Pfade auf den Boden der Schlucht, wo sie wahre Nester von Raubtieren trafen.
Die Inder verrieten ihre Entdeckung jagdlustigen Engländern, und diese begaben sich nach der Schlucht. Die letzteren wurden an Stricken hinabgelassen und machten dem Raubgesindel den Garaus. Am Grunde der Schlucht fanden sie auch einen Haufen Menschenknochen, an einem Finger diesen Ring. Die Engländer sammelten die Reste und ließen sie hinaufschaffen. Man erkannte an dem Ringe, dass man die sterblichen Überreste Sir Carters vor sich habe, durchsuchte noch einmal die Schlucht und fand noch mehr Beweise für seine Identität.«
»Den Siegelring?«
»Nein, ich sagte Ihnen schon, den konnte man nicht finden. Aber seine Brieftasche.«
»Sie war unversehrt?«
»Nur leicht durch Alter, Nässe und Insekten beschädigt; sie enthielt gut erhaltene Papiere, darunter auch die Geleitsbriefe der Gouverneure, auf den Namen Sir Carters ausgestellt.«
»Fand man nichts anderes?«
Emilys Augen hingen gespannt an den Lippen des Detektivs.
»Ich verstehe, was Sie meinen; doch ich muss Ihnen leider antworten: Nein, die geheime Order fand man nicht.«
»Sie kann wie der Siegelring verloren gegangen sein.«
»Es wäre möglich, aber sehr unglaublich.«
»Dann wäre er zum Hochverräter geworden?«
»Das kann nicht bewiesen werden. Trösten Sie sich, die Anklage wegen Hochverrats wird nicht wieder erneuert werden.«
Nach einer langen Pause fragte Emily:
»Was ist mit den Knochen geschehen? Wo ruhen sie?«
»Der Gouverneur von Akola hat sie in einem Sarg nach London gesendet. Die irdischen Überreste Ihres Gatten stehen Ihnen zur Verfügung.«
»Mister Wilkens, Sie haben sich stets für mich interessiert, wollen Sie mir weiter behilflich sein?«
»Befehlen Sie!«
»Dann bitte ich, dass seine — Leiche hierher kommt. An diesem Ort, auf dem er sich eine neue Heimat schaffen wollte, soll sie ruhen.«
Wilkens bejahte mit einer stummen Verbeugung.
»Ist sein Tod schon beglaubigt?«, fragte sie dann wieder.
»Das Protokoll wurde in Indien an Ort und Stelle aufgenommen, der Gouverneur von Akola unterzeichnete es, und auf Grund desselben wird der Tod Sir Carters in den nächsten Tagen öffentlich bestätigt werden.«
»Man hat keinen Anhalt für das gefunden, was sich in jener verhängnisvollen Nacht ereignet hat?«
»Nicht den geringsten. Alles ist noch in das selbe mystische Dunkel gehüllt. Von Kiong Jang fehlt jede Spur, und mit der Auffindung der Leiche Sir Carters werden die Akten über diesen Fall geschlossen.«
Emily fragte nicht nach ihrem geraubten Kind; sie hatte jede Hoffnung verloren. Sie reichte dem Detektiv die Hand.
»Ich kann Ihnen nicht vergelten, was Sie an mir getan. Sagen Sie nicht, es sei nur Ihre Pflicht gewesen. Sie haben sich wie ein Freund bemüht, das Glück unseres Hauses wieder aufzurichten, doch Gott hatte es anders beschlossen. Ich danke Ihnen, Mister Wilkens, Gott segne Sie! Nehmen Sie dies Andenken von mir und meinem unglücklichen Gatten. Er schenkte es mir einst in einer frohen Stunde.«
Sie streifte einen Smaragdring vom Finger und reichte ihn dem Detektiven. Wilkens nahm ihn stumm und küsste bewegt ihre ausgestreckte Hand.
Emily lehnte sich müde zurück, sie sehnte sich danach, jetzt allein zu sein.
Wilkens verabschiedete sich schnell.
Lange saß Emily da und betrachtete den Trauring ihres Gatten. Eine Träne nach der anderen stahl sich aus ihren Augen.
Was sagte ihr dieser Ring? Sollte er eine Aufforderung sein, mit der Vergangenheit abzuschließen und ein neues Leben zu beginnen? Ach, Emily fühlte sich noch so jung!
Der Detektiv befand sich noch in dem Boudoir Emilys, als Jeremy über den Korridor schlenderte, eine Treppe hinaufstieg und an eine Zimmertür klopfte. Dabei änderte er nun sein Benehmen plötzlich. Er wartete nicht erst den Hereinruf ab, sondern betrat das Gemach sofort.
Erschrocken fuhr Miss Woodfield vom Stuhle auf, rückte an der Brille und zeigte dem Eintretenden ein zorniges Gesicht.
»Was soll das heißen, Jeremy, auf solche Weise in das Zimmer einer Miss einzudringen?«
»Miss hin. Miss her! Die Sache hat Eile. Was ich Ihnen gesagt habe, hat sich bestätigt. Mister Westerly und Hedwig spielen unter einer Decke; er schickt sie eben nach dem indischen Haus und macht dort bekannt, was hier vorfällt.«
Jetzt bemerkte die alte Dame die Hast, mit welcher der Diener sprach. Sie wurde aufmerksam.
»Was ist denn vorgefallen?«
»Sie wissen es noch nicht, natürlich nicht, aber mir hat es der Detektiv Wilkens schon anvertraut. Das Gerippe von Sir Carter ist gefunden worden und sein Trauring dazu.«
Die Miss machte den Mund vor Staunen auf.
»Was für Zeug schwatzen Sie da zusammen, Jeremy? Ich glaube, Sie sind betrunken!«
»Wie sollte ich denn betrunken sein, zumal es doch erst die zehnte Stunde ist? Es ist wahr, die Überreste Sir Carters sind gefunden worden, und Wilkens erzählt jetzt der Lady alles. Westerly, der Schuft, freut sich natürlich darüber; als ich ihn vorhin sah, rieb er sich die Hände und war rot im Gesicht wie ein Puterhahn. Nun wird's nicht lange dauern, so ist er Herr im Hause, und dann geht Jeremy seiner Wege.«
»Es ist noch nicht aller Tage Abend. Was ist aber mit Hedwig?«
»Nun, Sie wissen doch, dass das indische Mädchen dicke Freundschaft mit den Dienerinnen unserer Nachbarschaft geschlossen hat. Jede freie Stunde läuft sie hinüber. Sie spioniert hier und erzählt drüben alles.«
»Westerly sollte sie hinübergeschickt haben?«
»Auf alle Fälle. Vorhin stehe ich am Korridorfenster hinter der Portiere, da kommt Westerly aus dem Zimmer der Lady, sieht sich scheu um, reißt ein Blatt Papier aus dem Notizbuch und schreibt etwas darauf. Gleich danach geht Hedwig vorbei. Er legt den Finger auf die Lippen, winkt sie heran und macht eine Bewegung nach dem Nachbarhause. Hedwig nickt, nimmt den Zettel und geht, während Westerly sich gemächlich nach seinem Zimmer begibt. Nun, Miss Woodfield, was ist daraus zu schließen?«
Die alte Dame hing sich schon ihre Mantille um und setzte den Hut auf.
»Wohin wollen Sie?«
»Hedwig nach, sie muss den Zettel herausgeben, oder ich nehme ihr ihn!«
»Sprechen Sie erst mit Wilkens!«
»Wer weiß, wann der herauskommt! Aber Sie können ihm alles erzählen.«
Damit rannte sie schon aus dem Zimmer, und Jeremy sah sie mit großen Schritten über den Hof eilen.
Er wartete auf Wilkens, hätte aber besser getan, wenn er das Treiben Westerlys beobachtete.
Dieser bewohnte im ersten Stock zwei Zimmer, von denen eins gerade über dem Gemache lag, in dem sich jetzt Emily und Wilkens befanden.
Mit Hilfe seines Taschenmessers hob Westerly eine Platte des Parkettfußbodens heraus, leise und vorsichtig, und es zeigte sich, dass an dieser Stelle die Füllung entfernt war — wahrscheinlich durch ihn.
Nachdem er sich überzeugt hatte, dass beide Türen gut verschlossen waren, legte er sich auf den Boden und lauschte. Kein Wort von dem Gespräch der unter ihm Befindlichen ging ihm verloren. Sein Gesicht nahm einen immer besorgteren Ausdruck an.
Als Westerly hörte, wie jemand, offenbar ein Mann, das Zimmer unter ihm verließ, erhob er sich und legte die Tafel wieder ein; er wollte den Detektiv beobachten und, wenn dieser dem Nachbarhause zuschritt, ihm vorauseilen.
Während seines Lauschens war ihm entgangen, dass Miss Woodfield so eilig das Haus verlassen hatte. Unten bemerkte er den Detektiv nicht, er glaubte ihn schon unterwegs und ging daher so schnell wie möglich dem Walde zu. Dass sich Wilkens noch im Hause aufhielt, im Zimmer Jeremys, und mit diesem über ihn, Westerly, sprach, ahnte dieser nicht. — — —
Hedwig, das indische Mädchen, befand sich noch immer im Dienste Lady Carters. Als sich der auf ihr ruhende Verdacht, an dem Kindesraube beteiligt gewesen zu sein, als grundlos erwiesen hatte, behielt Emily die Dienerin erst recht bei sich.
Hedwig war nach Art der meisten Inderinnen schnell gealtert, aus dem damals hübschen Mädchen, war jetzt, mit achtundzwanzig Jahren, ein hässliches geworden.
Als sie merkte, dass ihr Bleiben im Hause gesichert sei, änderte sie ihr Benehmen. Früher fleißig und bescheiden, wurde sie jetzt träge und anmaßend, denen, welche sie brauchten, eine Quelle des Ärgers, unbeliebt bei den anderen Dienern.
Sie hatte mit den Indern im Nachbarhause Verkehr angeknüpft und verbrachte jede freie Stunde bei ihnen. Emily fand es selbstverständlich, dass Hedwig mit ihren Landsleuten freundschaftlich verkehrte, und wehrte ihr nicht, obgleich sie oft länger ausblieb, als die Hausordnung es erlaubte.
Jetzt schritt Hedwig wieder langsam dem Hause Francoeurs zu, sich im Walde, aber in der Nähe der Landstraße haltend, summte ein Liedchen, pflückte hier eine Blume und steckte sie ins Busentuch, schlug da mit einer Rute Blätter vom Baum, kurz, benahm sich wie ein sorgloser Mensch, der nichts weiter in der Welt zu tun hat, als einen schönen Sommernachmittag zu genießen.
Eben bückte sie sich, um wieder eine Waldblume zu brechen, als sich eine Hand ihr hart auf die Schulter legte.
Erschrocken wandte sich Hedwig um und blickte in das eckige, energische Gesicht der Miss Woodfield.
Vor dieser allein hatte sie Respekt. Sie wich der strengen Miss so viel wie möglich aus, dieser aber gefiel es, gerade mit der getauften Inderin, welche den Katechismus von A bis Z hersagen konnte, ab und zu kleine Erbauungsstunden abzuhalten.
»Haben Sie mich aber erschreckt, Miss Woodfield«, rief Hedwig.
»So? Habe ich? Dann hast du wohl ein böses Gewissen?«, entgegnete die alte Dame mit unheilverkündender Stimme.
»Ich habe nie ein böses Gewissen, mein Herzchen ist so rein wie das eines Engelchens, welches Halleluja singt.«
Die großen Augen begegneten denen der alten Dame mit unendlicher Offenheit; doch diese ließ sich nicht täuschen.
»Wohin gehst du?«, examinierte sie scharf.
»Nach dem Hause des Radscha Tipperah.«
»Jetzt, kurz vor dem Mittagessen, obwohl du gebraucht wirst?«
»Ich werde nicht gebraucht, ich habe nichts zu tun.«
»Was willst du dort?«
»Meine Freundinnen besuchen, ich möchte sie bekehren. Die eine kann schon das Vaterunser beten, und Sonntags will sie auch schon nicht mehr arbeiten.«
Wie um ihren heiligen Eifer zu beweisen, griff Hedwig unter das Busentuch und zog ein Gesangbuch hervor.
»Das ist ein Gesangbuch; wo hast du den Zettel?«
»Welchen Zettel, Miss?«, fragte Hedwig unschuldig.
»Den du für Mister Westerly nach dem Hause des Franzosen bringen sollst.«
»Er gab mir keinen Zettel«, rief Hedwig so bestimmt, dass die alte Dame förmlich erschrak.
Sie hatte geglaubt, das Mädchen würde durch die offene Behauptung niedergeschmettert werden.
»Lüge nicht! Er gab dir einen Zettel, den er auf dem Korridor geschrieben hat.«
»Wie können Sie sagen, ich lüge, wo doch Lügen eine Sünde ist?«, rief Hedwig gekränkt.
»Hat dir Mister Westerly etwa auch nicht gesagt, du sollst in das Haus des Franzosen gehen?«
»Nein, das hat er nicht getagt.«
Plötzlich fasste die alte Dame das Mädchen mit ihren knochigen Fingern am Arm und schüttelte es.
»Heraus mit dem Zettel, oder ich visitiere dich, bis ich ihn gefunden habe.«
Hedwig fing an zu weinen und zu schreien.
»Ich habe keinen Zettel; Mister Westerly hat mir nichts gesagt. Ich könnte es beschwören, aber Sie haben mir ja das Schwören verboten.«
Miss Woodfield ließ sich nicht irre machen, Sie begann mit der freien Hand das Mädchen zu visitieren; dieses sträubte sich aus Leibeskräften, aber vergebens, die alte Miss war stark.
»Ich habe keinen Zettel, den ich in das Haus des Franzosen bringen soll, Mister Westerly hat wir keinen gegeben«, rief Hedwig überlaut, und zwar mit gutem Grund.
Plötzlich erschien ihr ein Retter; Madame Dubois stand neben ihr. Hedwig hatte sie kommen sehen.
»Lassen Sie das Mädchen los, Miss Woodfield!«, sagte Phoebe in befehlendem Tone. »Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass jene Zeiten vorüber sind, da Herrschaften ihre Diener wie Sklaven misshandeln durften.«
»Ich das Mädchen misshandeln?«, rief die alte Dame, ohne Hedwig loszulassen, die Visitation aber einstellend. »Sie ist eine gottvergessene Lügnerin.«
»Das Mädchen schreit vor Schmerz, so fest halten Sie es. Lassen Sie es los!«, wiederholte Phoebe.
»Fällt mir nicht ein! Was geht Sie das überhaupt an?«
»So viel, wie jedem anderen Menschen, der Mitgefühl für seinen Nächsten hat. Noch einmal, lassen Sie das Mädchen los! Vergessen Sie übrigens nicht, dass Sie sich schon auf dem Gebiete des Marquis de Lacoste befinden!«
Diese Worte verfehlten nicht ihre Wirkung; Miss Woodfield ließ den Arm Hedwigs los. Da fuhr deren jetzt freie Hand in eine verborgene Falte des Rockes und brachte ein Kuvert zum Vorschein, das sie schnell Phoebe hinreichte.
Miss Woodfield war einen Augenblick starr, dann hatte sie das Mädchen abermals gepackt.
»Schlange«, zischte sie, »so hast du mich also doch belogen!«
Wunderbarerweise blieb Hedwig jetzt ganz ruhig.
»Ich habe Sie nicht belogen«, verteidigte sie sich, »Mister Westerly hat mir keinen Zettel gegeben, sondern ein Kuvert; er hat mir auch nicht gesagt, dass ich nach dem Hause des Mister Francoeur gehen soll, sondern er hat nur in der Richtung hingenickt.«
»Was? Auf solche Weise suchst du mich zu hintergehen?«, schrie Miss Woodfield außer sich.
»Was interessiert Sie überhaupt ein Brief Mister Westerlys an Monsieur Francoeur?«, fragte Phoebe.
»Sehr viel. Ich will wissen, was darin steht. Her mit dem Briefe!«
Die energische Dame machte Miene, sich auf Phoebe zu stürzen und ihr den Brief zu entreißen.
Diese nahm eine unnahbare Miene an und hielt ihr den Brief hin.
»Dieses Kuvert ist verschlossen und an Monsieur Francoeur adressiert.
Nehmen Sie es, nehmen Sie es nur! Ich möchte doch sehen, ob Sie es in meiner Gegenwart zu erbrechen wagen. Es gibt allerdings Personen, die dies heimlich mit Vorliebe tun, ich aber verachte eine solche Handlung, die das Gericht überdies streng bestraft.«
Miss Woodfield fühlte sich zum zweiten Male geschlagen. Phoebe hielt ihr den Brief hin, doch sie nahm ihn nicht. Hätte sie übrigens darnach gegriffen, so würde Phoebe ihn schnell zurückgezogen und neue Einwände gemacht haben.
»Nun, wollen Sie nicht nachsehen, was Mister Westerly meinem Bruder zu schreiben hatte?«, fragte Phoebe nochmals.
»Interessant müsste es sein, das zu wissen. Es ist oft nötig, gewisse Personen zu beobachten.«
»Verstehen Sie darunter Mister Westerly und meinen Bruder?«, fragte Phoebe scharf.
Sie fand noch eine Unterstützung.
»Was soll denn das heißen?«, fragte plötzlich eine Männerstimme, und Mister Westerly, der die Unterredung gehört hatte, trat aus dem Gebüsch.
»Ich sehe meinen Brief, den ich durch Hedwig an Monsieur Francoeur schicken wollte, in fremden Händen?«
»Miss Woodfield wollte ihn mir nehmen«, klagte die Inderin.
»Ich konnte kaum noch verhindern, dass sie ihr den Brief mit Gewalt entriss«, fügte Phoebe hinzu.
Wie erstaunt ließ Westerly seine Blicke bald auf Hedwig, die sich mit schmerzhafter Miene den Arm rieb, bald auf Miss Woodfield ruhen, die immer mehr in Verlegenheit geriet.
»Nun, Miss Woodfield, darf ich um eine Erklärung bitten? In solchen Sachen verstehe ich keinen Spaß.«
Miss Woodfield raffte ihre ganze Entschlossenheit zusammen.
»Was ich getan habe und was ich tun wollte, hätte ich verantworten können, und es wird schon noch die Zeit kommen, dass sich herausstellt, wie gut es ist, wenn man sich für gewisse Briefe interessiert.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, entgegnete Westerly geringschätzend,
»doch ich will Ihre Neugier befriedigen. Ich hatte Monsieur Francoeur aufgefordert, heute Nachmittag mit mir einen Spaziergang zu machen; das traurige Ereignis aber, das Lady Carter betroffen, hat mir die Lust daran verleidet. Dieser Brief hier«, er nahm das Kuvert der Französin ab, »enthält die Absage und Entschuldigung. Ich kann nicht begreifen, Miss Woodfield, wie Sie jetzt an andere Sachen denken können, während Lady Carter in unermesslichem Schmerze weint und jammert.«
Er wandte der alten Dame schroff den Rücken und schritt in der Richtung des indischen Hauses davon. Phoebe folgte ihm.
Sehr unangenehm berührt stand Miss Woodfield noch einige Augenblicke da. Sie hatte es so gut gemeint, und nun hackte man von allen Seiten auf sie los. Dennoch zweifelte sie nicht, dass Mister Westerly mit dem Franzosen in geheimer Verbindung stand, die etwas Schlimmes bezweckte, und Hedwig, dieses Mädchen — da stand sie ja noch und rieb sich den Arm.
Ehe Miss Woodfield den Mund öffnen konnte, hing jene sich schon an ihren Arm, als wären sie alte Freundinnen.
»Missis, habe ich wirklich gelogen? Habe ich nicht immer die Wahrheit gesagt? Mister Westerly gab mir keinen Zettel, sondern einen Brief, und er hat auch kein Wort zu mir gesprochen. Habe ich also gelogen?«
Die alte Dame schüttelte das Mädchen zornig von sich ab und ging heim. Sie konnte jetzt die Früchte ihrer Lehren genießen.
Jeremy empfing sie mit geheimnisvoller Miene.
»Ich habe mit Mister Wilkens gesprochen und ihm alles erzählt, auch dass Sie der Inderin den Zettel wegnehmen wollten. Wissen Sie, was er gesagt hat?«
»Nun?«
,Sie möchten die Nase nicht in Dinge stecken, die Sie nichts angingen.«
»Das hätte der freche Mensch gesagt?«, rief Miss Woodfield entrüstet.
»Wenn auch nicht gerade mit diesen Worten, aber angedeutet hat er's. Er war gar nicht mit Ihrer Handlungsweise zufrieden. ›Ein für allemal‹, sagte er zuletzt, ›tun Sie, als wären Sie blind und taub. Beobachten, aber weiter nichts.‹«
Miss Woodfield nahm auch diese neue Demütigung geduldig hin. Sie beschloss, sich von jetzt an um nichts mehr zu kümmern.
Im Zimmer auf demselben Stuhle, auf dem einst Mister Westerly von Francoeur überraschende Sachen zu hören bekam, saß ein junger geckenhaft aufgeputzter Herr mit südländischem Abenteurergesicht. Diesmal aber wurde Monsieur Francoeur von dem Fremden ins Bockshorn gejagt.
Der kleine, zierliche Herr mit dem Knebelbart und den verlebten Zügen hatte sich als Monsieur Giraud aus Paris anmelden lassen, und Francoeur hatte den Landsmann empfangen.
»Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs?«, begann Francoeur die Unterhaltung.
Der kleine Herr schaute sich argwöhnisch um.
»Können wir unbesorgt sprechen?«
»Vollkommen! Sie machen mich neugierig.«
»Nun denn, ich bin ein Abgesandter der schwarzen Maske. Ich bringe Ihnen deren Empfehlungen.«
Francoeur wollte erst erschrocken aufspringen, beherrschte sich aber noch rechtzeitig.
»Ich dachte es mir fast«, lächelte er. »Schickt mir dieser Herr vielleicht den Schmuck zurück, den er mir vor einigen Wochen geraubt hat?«
»Ich weiß nichts davon, dass die schwarze Maske Ihnen einen Besuch abgestattet hat.«
»Was haben Sie mir zu bestellen?«
»Ich will ganz offen mit Ihnen sprechen, denn so hat es mir die schwarze Maske aufgetragen; auch ich bin — ganz wie Sie es zu nennen belieben — ein Räuber, Bandit, Wegelagerer oder Dieb. Die menschliche Gesellschaft hat mich ausgestoßen, und ich sehe mich genötigt, mein Brot anders als durch ehrliche Arbeit zu verdienen. Mein Chef ist die schwarze Maske. Er schickt mich zu Ihnen, um Sie zu warnen, aus welchem Grunde, weiß ich nicht. Es handelt sich um einen versprochenen Gegendienst, sagte er einmal.«
»Warum kommt er nicht selbst?«
»Er ist jetzt nicht in England.«
»Und was für eine Warnung ist das?«
»Betreffs eines Mister Wilkens, eines Londoner Detektivs; dieser Mann hat sich seit vielen Jahren unausgesetzt bemüht, den Verbleib einer bestimmten Fünfzigpfundnote aufzuspüren, und es ist ihm dies auch nach unendlicher Mühe gelungen.«
»Ich verstehe nicht, was dies mit mir zu tun hat.«
»Diese Note, welche die Nummer 1475 trägt, war im Besitze eines indischen Juden und Mädchenhändlers namens Sedrack.«
Jetzt horchte Francoeur hoch auf.
»Nun, und?«
»Dieselbe Note wurde vor einigen Tagen von Ihnen am Hauptpostamt in London eingezahlt — nach Indien.«
Francoeur atmete schwer.
»Ist es gut, dass die schwarze Maske Sie vor diesem Wilkens warnen lässt?«, fragte Giraud. »Es scheint mir fast so.«
»Ja, ich bin Ihnen sehr dankbar. Woher hat Ihr Chef davon Kenntnis erhalten, da die Detektivs doch so geheim arbeiten?«
»Ein Zufall verriet es ihm.«
»Und woher wissen Sie, dass ich die betreffende Note auf der Post eingezahlt habe?«
»Als Räuber haben wir Spione dort, um über eingehende größere Geldsendungen orientiert zu sein. Wilkens hat die Banknote in Beschlag genommen. Gleich, nachdem Sie dieselbe am Schalter eingezahlt hatten, wurde er gerufen.«
»Weiß man, dass sie mir gehört?«
»Natürlich, man stellte fest, wer Sie sind.«
»Ich danke Ihnen für die Mitteilung«, sagte Francoeur nach langer Pause.
»Nicht mir, sondern der schwarzen Maske haben Sie zu danken. Darf ich meinem Chef sagen, dass Sie mit diesem Gegendienste zufrieden sind?«
»Ja, sagen Sie ihm, wir seien quitt. Ich muss vor diesem Wilkens also auf der Hut sein.«
»Ebenso wie wir«, lächelte der noble Bandit. »Ferner lässt mein Chef durch mich fragen, ob er weiterhin für Sie tätig sein darf.«
»Ich wüsste nicht wie«, entgegnete Francoeur zerstreut.
»Sie sollen eine Andeutung gemacht haben, dass Sie sich vielleicht einmal eines Dolchstoßes bedienen müssten.«
»Ah!«
»Ich glaube, es handelte sich damals um einen gewissen Reihenfels.«
»Was wissen Sie davon?«
»Nichts, gar nichts. Mein Chef gebot mir nur, derartige Andeutungen zu machen, wenn Sie sich nicht erinnern sollten.«
Francoeur blickte durchs Fenster und sah, wie auf der Landstraße Bega und Reihenfels sich ergingen. Jetzt blieben sie stehen, gaben sich die Hand, sprachen noch einige Zeit zusammen, lachten und trennten sich dann. Bega ging dem Hause zu, Reihenfels auf der Landstraße weiter.
»Sie drückten sich sehr deutlich aus«, begann Francoeur wieder, nachdem er diese Szene stirnrunzelnd beobachtet hatte. »Mit dem Dolchstoß meinen Sie einen Mord.«
»Nicht ich, sondern die schwarze Maske.«
»Ich bin geneigt, auf sein Anerbieten einzugehen. Darf ich Ihnen gegenüber offen sein?«
»Als wäre ich die schwarze Maske selbst! Ich bin hier, um mit Ihnen zu verhandeln, ich habe unbedingte Vollmacht, und Sie sollen sich mir anvertrauen. Wenn Sie Bedenken hätten, so soll ich Sie an den Brief erinnern, den mein Chef Ihnen eines Morgens zugleich mit fünf Banknoten geschickt hat.«
»Es ist gut, ich glaube Ihnen. Ich bedarf jedoch seines oder Ihres Dolches nicht.«
»Desto besser; auch ich arbeite nicht gern mit blanken Waffen. Ich nehme an, dass Sie einen Auftrag für mich haben.«
»Werden Sie ihn erfüllen können?«, fragte Francoeur zweifelnd.
»Bitte, machen Sie mich mit ihm bekannt.«
Die beiden sprachen lange und leise zusammen, bis Giraud erklärte, Francoeur solle mit ihm zufrieden sein.
»Wie lange gedenkt Reihenfels in London zu bleiben?«, fragte er.
»Zwei bis drei Tage.«
»Wohnt er dort im Hause seiner Eltern?«
»Nein, er steigt in dem Hotel gegenüber dem britischen Museum ab.«
»Ich kenne es. Wie alt ist Mister Reihenfels?«
»Einundzwanzig Jahre.«
»O, da ist er noch sehr jung! In diesem Alter hat man den Freuden der Welt noch nicht entsagt. Schon dass er sich so schnell in Fräulein Bega verliebt hat, verrät mir seinen eigentlichen Charakter.«
»Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen. Nur vergessen Sie nicht, dass sein Leben nicht bedroht werden darf.«
»Seien Sie ohne Sorge! Sie werden über meine Leistungen staunen.«
»Und was fordert Ihr Chef für seine Hilfe?«
»Das kann ich nicht bestimmen.«
»Er wird doch nicht umsonst arbeiten.«
»Sicherlich nicht«, lächelte der Bandit.
»Also die Bezahlung erfolgt postnumerando. Hat Ihr Chef keine Angst, dass ich ihn um seinen Verdienst prelle?«
»Überlegen Sie sich, Monsieur, wie wir zueinander stehen. Haben Sie noch etwas zu sagen? Meine Zeit ist gemessen.«
»Ich wüsste nicht.«
Der kleine Herr empfahl sich; Mister Westerly trat ins Zimmer.
»Eilige und wichtige Nachrichten!«, rief er. »Ich konnte kaum erwarten, bis Sie Ihre Unterredung beendet hatten. Ich glaube, Ihnen droht eine Gefahr.«
Westerly berichtete die erlauschte Unterhaltung.
»Lieber Mister Westerly«, sagte Francoeur herablassend, »plagen Sie sich nicht mit Vermutungen! Kümmern Sie sich überhaupt nicht um das, was zu beobachten Sie keinen Auftrag haben. Wenn Sie glaubten, mich erschrecken zu können, so haben Sie sich getäuscht. Ihre Mitteilung lässt mich völlig kalt.«
»Dort kommt Mister Wilkens«, sagte Westerly, nach dem Fenster deutend.
Auf der Landstraße rollte ein leichter, zweirädriger Wagen heran. Der einzige Insasse lenkte das Pferd selbst.
Francoeur schrak zusammen. Doch gleich atmete er wieder auf — der Detektiv fuhr an der Villa vorüber.
Westerly erzählte auch noch die Szene von vorhin im Walde.
»Was enthielt der Brief?«, fragte Francoeur.
»Ich wollte Ihnen mitteilen, dass die Nachricht von dem Tode Sir Carters eingetroffen ist und dass Lady Carter sie zu hören bekommt.«
»Bedienen Sie sich des indischen Mädchens nicht mehr als Boten«, entschied Francoeur, »und vermeiden Sie alles, was den Verdacht erwecken kann, wir ständen in anderem als nur freundschaftlichem Verkehr. Lassen Sie uns lieber auch diesen abbrechen, besuchen Sie uns nicht mehr. Wir können uns oft genug in London treffen oder durch Briefe miteinander verkehren.«
Der Detektiv holte auf der Landstraße Reihenfels ein, den er gut kannte, und zügelte sein Pferd.
»Wohin, Mister Reihenfels?«
»Nach Wanstead zum Bahnhof und von da nach London. Ich habe die Absicht, einige Tage bei meinen Eltern zu verbringen, die Mutter sehnt sich nach mir.«
»Steigen Sie auf, ich fahre ebenfalls nach dem Westen Londons. Geht es auch nicht so schnell, wie mit der Eisenbahn, so ist eine Fahrt im offenen Wagen doch angenehmer.«
Reihenfels nahm dankend auf dem Rücksitz Platz.
»Wie geht's daheim?«, fragte Wilkens.
»Danke, gut! Meine Geschwister sorgen dafür, dass die Eltern nicht auf trübe Gedanken kommen.«
»Nichts wieder vom Großvater gehört?«
»Nein. Er soll ein menschenfeindlicher Sonderling geworden sein, der sich stetig im Auslande befindet.«
»Die Reiselust scheint bei Ihnen im Blute zu liegen. Auch Ihr Wunsch von klein auf war, immer zu reisen und fremde Länder kennen zu lernen.«
»Jetzt ist das ein überwundener Standpunkt!«, rief Reihenfels so fröhlich, dass sich der Detektiv umwendete und ihn lächelnd ansah.
»Was ist Ihnen denn passiert? Sie strahlen ja förmlich vor Glückseligkeit!«
»Finden Sie das wirklich?«
»Ich kenne Sie sonst nur mit einem ernsten Gesicht, und jetzt ist es eitel Sonnenschein.
Wissen Sie, wie Sie aussehen?«
»Nun?«
»Wie ein Verliebter, der eben von seiner Braut kommt.«
»Und wenn Sie sich nicht täuschten?«
»Dann weiß ich, dass Sie, ehe Sie sich auf den Weg nach London machten, von Miss Bega ein Lebewohl nahmen, als gelte es nicht eine Reise von zwei Tagen, sondern eine solche um die ganze Erde.«
Lachend hieb Wilkens auf das Pferd, dass es in eine noch raschere Gangart fiel.
Reihenfels war nicht darüber erstaunt, dass der Detektiv von seiner Liebschaft wusste.
»Ja, es ist so. Ach, Mister Wilkens, ich möchte dort die Lerche sein und gleich ihr jubilierend in den Äther steigen. Also auch Sie haben schon davon erfahren!«
»Schieben Sie dies nicht meiner Neugier zu. Ich bin gezwungen, über das Haus Sir Carters zu wachen!«
»Die arme Frau!«, seufzte Reihenfels. »Jetzt wird sie vor dem Bilde ihres Mannes liegen und in namenlosem Schmerze jammern, aus Liebe zu ihm, während ich aus Liebe zu Bega jauchzen möchte. Wie liegen doch in der Welt Freud und Leid so dicht nebeneinander!«
»Sie haben recht. Oft wird uns aber auch ein falsches Gesicht gezeigt. Wir glauben, es vergehe jemand vor Kummer, während er im Innern triumphiert; ein anderer lacht, und dabei ist sein Herz mit Hass erfüllt. Meine Pflicht führt mich eben vor einen entsetzlichen Fall von menschlicher Heuchelei und tierischer Brutalität.«
»Sie haben einen Verbrecher zu verhaften?«
»Nein, ich muss die Ausgrabung eines Selbstmörders leiten. Vor etwa vier Wochen wurde dieser Mann in seinem Schlafzimmer erhängt aufgefunden.
Kein Grund war vorhanden, warum er sich selbst getötet hatte; die Nachbarn und Freunde bezeichneten ihn als einen stillen, aber heiteren und fleißigen Menschen, der mit seiner noch jungen Frau im besten Einvernehmen lebte, und sie war über seinen Tod außer sich. Sie ließ es sich nicht nehmen, den Toten zum Grabe zu begleiten, was doch in England in ähnlichen Fällen selten vorkommt. Da begann der Schleier zu fallen, und er enthüllte Entsetzliches. Die Frau war eine Buhlerin, sie betrog den Mann und verkehrte heimlich mit einem anderen. Aus Worten des Geliebten, als dieser betrunken war, entnimmt man, dass beide den Mann erst vergiftet und dann aufgehängt haben, um den Verdacht des Mordes von sich abzulenken.
Die Leiche wird ausgegraben und seziert, ohne dass die beiden davon wissen; durch eine plötzliche Anklage sollen Sie dann der Schuld überführt werden.«
»Entsetzlich!«, hauchte Reihenfels.
Der schöne Tag erschien ihm nicht mehr in so sonnigem Glanze wie vorhin; die Erzählung des Detektivs hatte einen zu düsteren Schatten geworfen.
Doch nach und nach tauchte wieder das Antlitz Begas vor Oskars geistigen Augen auf; in süße Träume versunken, lehnte er sich zurück, und als nach einer Stunde schneller Fahrt der Wagen vor einem mächtigen, ehrwürdig aussehenden Gebäude hielt, wollte der junge Mann kaum glauben, dass dies schon das britische Museum sei.
»Grüßen Sie Ihre Eltern von mir«, sagte Wilkens, ihm die Hand reichend. »Good bye, Mister Reihenfels!«
Der Detektiv fuhr nach der nächsten großen Polizeistation, gab den Wagen ab und ließ sich dem Chef melden, der ihm ein eben eingelaufenes Schreiben einhändigte. Dasselbe gab dem Detektiven die Vollmacht, das Grab öffnen zu lassen. Die Gräber der Selbstmörder führen keinen Namen, sondern nur Nummern, doch kann man den Namen aus einem besonderen Buch erfahren.
Wilkens versah sich mit allem, um den ans Tageslicht gehobenen Sarg sofort versiegeln zu können, und wartete auf den Polizeiarzt, der ihn begleiten musste. Als dieser gekommen, verließen beide die Station und begaben sich nach dem nicht weit entfernten Friedhof der Selbstmörder.
Der Totengräber empfing die Beamten respektvoll und wurde von ihrem Vorhaben in Kenntnis gesetzt.
»Wann ist der Mann begraben worden?«, fragte er.
»Vor etwa vier Wochen; hier ist meine Vollmacht und die Nummer des Grabes!«
Der Mann entfaltete das Schreiben, las es und schüttelte den Kopf.
»B 266«, las er laut, schüttelte wieder den Kopf und deutete mit dem Finger auf den Buchstaben.
»Das soll wohl ein R, aber kein B sein«, sagte er lächelnd zu Wilkens.
Der Detektiv beugte sich herab.
»Nein, das ist unverkennbar ein B. Doktor, für was halten Sie das?«
»Natürlich, für ein B!«, entgegnete der Polizeiarzt. »Dann ist das ein Versehen!«, sagte der Totengräber. »Jeder Buchstabe enthält tausend Nummern, die unter B sind also schon vor vielen, vielen Jahren begraben worden.«
»Fatal!«, meinten Wilkens und der Arzt zugleich.
»Wann sind die unter B beerdigt worden?«, fragte letzterer.
»Fünfzehn bis achtzehn Jahre mögen vergangen sein.«
»Was sollen wir tun?«, wandte sich der Doktor an Wilkens.
»Es muss ein neuer Befehl ausgefertigt werden!«
»Wie lange dauert das?«
»Einige Tage!«
Der Detektiv nahm das Schreiben wieder vor.
»Ja, es bleibt uns wohl nichts Anderes übrig, als nach der Polizeistation zurückzugehen und die Sache zu erklären. He, Totengräber, Sie haben ja die Register! Sehen Sie doch einmal nach, ob R 266 richtig ist.«
Der Mann willfahrte dem Wunsche. Er schloss einen Schrank auf, entnahm ihm einen noch ziemlich neuen Band und schlug die Nummer auf.
»Hier, R 266, John Frederik Kingston.«
»Das ist der Name des Selbstmörders, den wir ausgraben lassen sollen.
Nun schlagen Sie doch einmal B 266 auf!«
Der Totengräber brachte ein altes, abgegriffenes Buch mit vergilbten Blättern zum Vorschein. Die Nummer hatte er bald gefunden, konnte aber den Namen nicht lesen.
»Das ist ja ein vertrackter Name, Si — Sin —«
Der Detektiv trat heran und las mit wachsendem Erstaunen laut vor: 226
Sinkolin, genannt Timur, indischer Gaukler, seinerzeit auftretend in der Alhambra. Des Kindesraubes verdächtigt, tötete er sich im Untersuchungsgefängnis durch Verschlucken der Zunge.
»Das ist ja der Mann, der in der Sache Sir Carter eine Rolle spielte!«, rief der Arzt. »Gerade jetzt wird die Erinnerung an ihn durch die Auffindung der Leiche des Unglücklichen wieder wachgerufen.«
Der Detektiv klappte das Buch zu, ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, blieb stehen, las das Schreiben der Behörde, räusperte sich und setzte den Weg wieder fort.
»Wir wollen zurückgehen und den Irrtum anzeigen«, sagte der Arzt zu ihm.
Wilkens stellte sich vor ihn.
»Woher wussten Sie denn, dass es ein Irrtum ist?«
»Der Totengräber sagt es ja!«, entgegnete der Arzt erstaunt.
»Er weiß gar nichts. Nur durch unsere ganz unnötigen Fragen kam er auf die Vermutung. Wir hatten gar nichts in den Büchern zu suchen, sondern uns nur strikt an die Vorschrift zu halten.«
»Mister Wilkens, es scheint fast, als hätten Sie die Absicht, das Grab B
266 öffnen zu lassen?«
»Allerdings!«
»Ich aber gehe nach der Polizeistation und kläre dort den Irrtum auf. Mir die Leiche des alten Gauklers anzusehen, habe ich keine Lust!«, rief der Arzt ungeduldig.
»Meinetwegen. Die gestempelte Vollmacht ist in meinen Händen, nicht einmal der Chef der Station darf den Befehl eigenmächtig aufheben. Totengräber«, wandte sich der Detektiv an diesen, »ich verlange von Ihnen im Namen Ihrer Majestät die Öffnung des Grabes B 266!«
»Wie Sie befehlen!«
»Rufen Sie Ihre Leute!«
Der Mann verließ das Zimmer.
»Doktor, ich bitte Sie, wohnen auch Sie der Öffnung des Grabes des Gauklers bei«, sagte Mister Wilkens. »Vielleicht erfahren wir etwas äußerst Interessantes.«
»Sie machen mich neugierig!«
»Ich will meine Vermutung jetzt noch für mich behalten. Wollen Sie bleiben? Wir begehen keine Pflichtverletzung; im Gegenteil, wir handeln streng nach unserer Vorschrift!«
»Wenn Sie es durchaus wünschen, gut, ich bleibe!«, lachte der Arzt. »Ich bin ja auch gespannt. Vielleicht finden wir eine Mumie statt eines Gerippes!«
»Meine Gehilfen sind zur Stelle!«, meldete der eintretende Totengräber.
»Einen Augenblick noch! Rufen Sie einen Ihrer Leute herein, ich möchte ihn einen kurzen Weg schicken. Wollen Sie mir Tinte und Feder geben!«
Wilkens schrieb einen kurzen Brief.
»Gehen Sie nach dem britischen Museum«, sagte er zu dem Arbeiter,
»nach der indischen Abteilung, und fragen Sie nach Mister Reihenfels. Sein Name steht auf dem Kuvert. Geben Sie ihm den Brief; Antwort ist nicht nötig. In zehn Minuten können Sie zurück sein.«
Der Arbeiter ging, und die übrigen begaben sich unter Führung des Totengräbers nach einem verlassenen Teile des Friedhofes.
Kleine, nackte Erdhügel deuteten an, dass hier Menschen die ewige Ruhe gefunden hatten, nur blecherne Schilder mit weißgemalten Nummern steckten darauf, sonst nichts — kein Stein, kein Kranz, keine Blume.
»Wie viele sind in jedem Grabe beerdigt?«, fragte Wilkens den Totengräber.
»Hier liegt nur einer in jedem Grabe. Später wurden sie zu viert beigesetzt, jetzt finden gleich Massenbegräbnisse statt. London wächst, und die Zahl der Selbstmörder auch.«
Er hielt vor dem Erdhügel, die Arbeiter fassten die Hacken.
»Grab B 266!«
»Hier also soll der Gaukler Timur liegen?«, sagte der Detektiv. »Los denn, Leute, tut eure Pflicht!«
Die Hacken lockerten das Erdreich auf, dann begannen die Arbeiter zu schaufeln.
»Wie tief liegt der Sarg?«
»Nur zwei Meter. In einer Stunde sind wir unten.«
Das Loch war noch nicht tief, als drei Männer ankamen — der abgeschickte Arbeiter, der alte Reihenfels und sein Sohn Oskar.
Der Vater war sehr erregt.
»Mister Wilkens, Sie lassen das Grab Timurs öffnen?«, rief er schon von Weitem.
»Ja.«
»Doch nicht auf meine Veranlassung?«
»Ich habe die Order dazu!«
»Auch nicht auf meine frühere Behauptung hin?«
»Nein. Es liegt eine Verwechslung vor, durch einen Schreibfehler hervorgerufen.«
Er erklärte, warum er das Grab Timurs öffnen lassen durfte.
Der Gelehrte seufzte tief auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Dieser Weg wird mich meine Stellung kosten. Ich befand mich mit meinem Sohne in den Sälen, als jener Mann mir Ihren Brief brachte. Ich wurde natürlich furchtbar erregt, als ich las, Timurs Sarg sollte ausgegraben werden. Erst bat ich meinen nächsten Vorgesetzten, mich für einige Stunden zu beurlauben — er schlug es rund ab. Dann ging ich zum Direktor und bat ihn um dasselbe — er erklärte mir in kurzen Worten, Privatgeschäfte sollte ich in meiner Freizeit erledigen. Dennoch ging ich, ich konnte nicht anders. Ich nahm meinen Sohn mit und eilte so schnell hierher, dass ich den Boten noch einholte. Ich glaube, ich habe eine große Torheit begangen!«
Auch Oskar befand sich in gedrückter Stimmung. Er hatte seinen Eltern sein Verhältnis zu Bega mitteilen wollen und sich in der rosigsten Stimmung befunden, als der Bote eingetroffen war. Er kannte die Ansicht des Vaters, glaubte aber nicht daran. Allem Anschein nach hatte dieser einen verhängnisvollen Schritt getan. Der Direktor des Museums würde die eigenmächtige Entfernung ganz sicher mit sofortiger Entlassung bestrafen.
Die Männer standen um die immer tiefer werdende Grube herum, bald musste der Sargdeckel zum Vorschein kommen. Der alte Reihenfels zitterte vor Aufregung.
Jetzt stieß die Hacke auf Holz.
»Das sind die Stützen«, sagte der Totengräber, »legt sie bloß und werft sie heraus!«
»Sie haben sich arg verschoben«, meinte unten ein Arbeiter, »sie liegen alle auf einer Seite.«
»Das Grab ist eilig gemacht worden!«
Der alte Reihenfels war schon bei diesen Worten wie freudig aufgefahren.
Wilkens blickte nur auf ihn, nicht in das Grab.
Der Sargdeckel erschien; er war noch gut erhalten. Man ersparte sich das vollständige Ausgraben, machte nur hüben und drüben tiefe Löcher, schob Stricke unter den Kasten; die Arbeiter sprangen aus der Grube und zogen den Sarg empor.
»Donnerwetter, ist der Kerl aber leicht!«, rief einer.
Die Herren umdrängten den Kasten.
»Wollen Sie nicht das Siegel anlegen?«, fragte der Arzt den Detektiv.
»Der Deckel sitzt ja nur leicht auf!«, rief der Totengräber.
Da drängte sich der alte Reihenfels vor, packte die Bretter an und warf sie ohne Mühe ab. Die Umstehenden prallten zurück und stießen Rufe der Überraschung aus — der Sarg war leer. Er enthielt nichts weiter als ein halbvermodertes Hemd, das zusammengerollt in einer Ecke lag.
Die Blicke des Detektiven und des alten Reihenfels begegneten sich.
»Was habe ich gesagt!«, murmelte letzterer mit glänzenden Augen.
»Wunderbar! Sie haben recht!«
Reihenfels wühlte in den Lumpen und brachte eine bleierne Büchse zum Vorschein. Schnell öffnete er sie; sie enthielt ein Stückchen Pergamentpapier mit Buchstaben bedeckt..
»In diesem Sarge wurde Timur Dhar, der König der Gaukler, begraben und lag darin zwölf Tage. Die Erde durfte ihn nicht behalten«, stand in englischer Sprache darauf. Es war ein Andenken an Timur Dhar.
Das Pergament wanderte von Hand zu Hand, überall maßloses Staunen hervorrufend, nur bei dem alten Reihenfels nicht. Er untersuchte noch den Sarg.
»Sein Leichnam ist gestohlen worden, wahrscheinlich von indischen Freunden, die ihn in heiliger Erde bestatten wollten!«, unterbrach der Arzt zuerst das Schweigen.
»Timur Dhar ist nicht tot gewesen!«, fuhr da Reihenfels auf. »Er ist lebendig begraben worden und hat sich von Freunden ausgraben lassen!«
»Das ist eine kühne Behauptung, Sir!«
Reihenfels beachtete diesen Einwurf nicht.
»Dort steht der Mann«, fuhr er fort, auf den Detektiven zeigend, »der bezeugen kann, dass ich schon vor sechzehn Jahren behauptet habe, es gäbe indische Fakire, welche sich lebendig begraben lassen und bis zu vier Wochen wie tot unter der Erde liegen können. Ich sprach auch damals schon die Vermutung aus, Timur Dhar, oder Timur, könnte sich dieses Kunststücks bedienen, um der Justiz zu entgehen. Ist es nicht so, Mister Wilkens?«
Dieser musste es bestätigen.
»Nicht nur ich, sondern auch andere wissen von der Behauptung des Mister Reihenfels«, sagte er, »da ich mit mehreren Gelehrten darüber gesprochen habe. Überall begegnete ich Unglauben oder verächtlichem Lachen, und ich selbst fand es sehr komisch, wie jemand annehmen könnte, ein Mensch wäre imstande, vier Wochen ohne Luft zu leben. Ich beginne fast zu glauben — es müsste allerdings erst bewiesen werden — dass Timur Dhar wirklich längere Zeit hier begraben gelegen hat und dann noch lebte.«
»Ich werde es beweisen!«, rief Reihenfels mit starker Stimme. »Alle meine Kräfte werde ich von jetzt ab diesem Beweise widmen. Er soll nicht Timur Dhar gelten, es wird auch noch andere Fakire oder Gaukler geben, welche sich begraben lassen können; Sie behalten das Geheimnis nur für sich.«
Wilkens nahm ein Protokoll auf.
»Mister Reihenfels«, wandte er sich dann an den aufgeregten Gelehrten,
»ich fühle zwar sonst keine Gabe in mir, in die Zukunft zu sehen, diesmal aber doch. Sie werden Ihre bisherige Stellung allerdings verlieren, doch ich kalkuliere, Sie werden eine andere ausfüllen, in der Sie Ihre Fähigkeiten besser verwerten können. Brauchen Sie Zeugen, welche Ihre vor fünfzehn Jahren gestellte Behauptung wiederholen — ich und noch viele andere stehen Ihnen zur Verfügung.« — —
Lange Zeit hielt man es für ganz unmöglich, dass sich ein Mensch tief unter die Erde begraben lassen und da ohne Nahrung und ohne Zutritt von Luft liegen könnte. Man lachte und spottete darüber, man verhöhnte die, die solche Behauptungen aufstellten und jetzt sind sie als Tatsachen bewiesen.
Als die ersten Entdeckungen über den magnetischen Schlaf, die Hypnose, gemacht wurden, schilderte der phantastische, amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe in einer Erzählung, wie ein Sterbender hypnotisiert wird.
Der Mann scheint tot zu sein und wird begraben; später wird er wieder aus der Erde geholt, man versucht ihn zu wecken, es gelingt, und nachdem erst stirbt er wirklich. Ob Poe wohl in die Zukunft blicken konnte? Es scheint fast so.
Das erwähnte Phantasiegebilde des jungen Dichters ist zur Wirklichkeit geworden; vielleicht ist manchem der Leser selbst Gelegenheit geboten gewesen, einen indischen Fakir sterben, begraben und auferstehen zu sehen.
Die Wissbegier des unermüdlich forschenden Gelehrten, die Schaulust des Publikums und die Geldgier der Inder haben die Schranke niedergebrochen, durch welche eine religiöse Schwärmerei der Fakire jahrtausendelang in mystisches Dunkel gehüllt wurde.
Unlängst reisten zwei indische Fakire von Hauptstadt zu Hauptstadt. Eine Täuschung war ganz ausgeschlossen, denn das Publikum hatte Tag und Nacht Zutritt zu ihren Särgen und Begräbnisplätzen, und außerdem wurden sie noch von den bedeutendsten Ärzten unausgesetzt bewacht und jede ihrer Handlungen protokolliert.
Es sind dies der Fakir Bhimjen-Praklay aus Lahore und der Poyal Krishma aus Kanpur.
Sie dürfen wohl niemals wieder nach Indien zurückkehren, wollten sie nicht ihr Leben in Gefahr bringen, denn sie haben das Geheimnis ihrer Kaste verraten; dafür erhält aber auch jeder von ihnen ein tägliches Gehalt von fünfhundert Mark — gewiss eine hübsche Summe, die sie sich durch Schlafen verdienen.
Praklay schläft vierzehn Tage lang in einem Glassarge. Doch das Wort
›Schlafen‹ ist schlecht gewählt, denn er atmet nicht, seine Brust hebt sich nicht im Geringsten, und Herz- und Pulsschlag stocken. Das Publikum strömt Tag und Nacht an dem Glassarge vorüber, und kann den Inder darin liegen sehen. Der andere Fakir, Krishma, lässt sich gar sieben Meter unter der Erde einscharren und bleibt da dreißig Tage lang liegen. Schon dass die Erweckung nur nach Aussprechen eines vorher ausgemachten Wortes erfolgen kann, lässt darauf schließen, dass eine Hypnose vorliegt, und die Fakire bestätigen dies durch ihre eigenen Aussagen.(*) Von Natur aus schon sehr willensstark, haben diese Männer eine Erziehung erhalten, welche nur darauf bedacht war, ihre Willenskraft auszubilden, und so weit haben sie es darin gebracht, dass sie sich selbst hypnotisieren können. Der wissenschaftliche Ausdruck dafür ist Autosuggestion. Wenn man aus dem Munde der Fakire hört, welche Übungen sie vornehmen mussten, um eine solche ungeheure Willenskraft zu erlangen, fühlt man ein kaltes Entsetzen über den Rücken rinnen. Wir werden später noch Gelegenheit haben, Einblick in das Leben dieser religiösen Fanatiker zu nehmen.
(*) Das Stichwort allein genügt allerdings nicht, denn es werden dem zu Erweckenden heiße Brotkuchen auf den Scheitel gelegt, gleichzeitig die nach hinten zurückgeschlagene Zunge nach vorn gezogen, und weiter müssen die Wachspfropfen aus Ohren und Nase entfernt werden.
Diese Erklärungen sollten nur darlegen, dass das ›Lebendigbegrabenwerden‹ der indischen Gaukler und Fakire kein Märchen ist, sondern auf Tatsachen beruht, ebenso, dass man jene Gauklerkunststücke, wie sie geschildert werden, in Indien und gelegentlich auch in Europa wirklich zu sehen bekommt.
Friedrich Reihenfels, der vorher ganz unbeachtete Aufseher im britischen Museum, war plötzlich eine Berühmtheit geworden. Er wurde mit Besuchen und Briefen überschüttet; Neugierige wollten mehr hören, und Gelehrte baten um Unterredungen. Am zweiten Tage bereits wurde er von einer wissenschaftlichen Gesellschaft gefragt, ob er geneigt sei, selbst nach Indien zu gehen und an Ort und Stelle weitere Forschungen zu betreiben.
Reihenfels erbat sich Bedenkzeit, doch in seinem Innern stand schon der Entschluss fest, von dem Anerbieten Gebrauch zu machen.
Sein Sohn Oskar musste ihm die Korrespondenzen erledigen helfen und konnte daher nicht sogleich nach Wanstead zurückkehren, sondern nur eine schriftliche Entschuldigung an Lady Carter gelangen lassen. An Bega schrieb er nicht, denn er ahnte, dass seine Briefe von Monsieur Francoeur, der die Liebschaft missbilligte, unterschlagen werden würden.
Die Tage verflossen dem jungen Manne im Fluge, so war er mit den Angelegenheiten seines Vaters beschäftigt.
Eines Abends, als er sich gerade im Zimmer seines Hotels befand, ließ sich ein Herr namens Giraud bei ihm melden.
»Verzeihen Sie, wenn ich Sie in Ihrer Arbeit störe«, begann der Franzose nach der Vorstellung. »Ihr und Ihres Herrn Vaters Namen sind in der letzten Zeit durch die Auffindung des leeren Grabes von Timur Dhar berühmt geworden, und ich glaube, Sie werden eine Mitteilung gern annehmen, welche noch mehr Licht auf die Sache wirft.«
»Nur meinem Vater, nicht mir ist es zu verdanken, dass man in die religiösen Geheimnisse der Fakire zu dringen beginnt«, unterbrach Oskar bescheiden den Besucher.
»Auch Ihr Name wird häufig genannt. Ich war vorhin bei Ihrem Herrn Vater, er ist leider verreist, und meine Angelegenheit duldet keinen Aufschub.«
»Sollten Ihre Mitteilungen wirklich von solcher Wichtigkeit für uns sein?«, fragte Oskar, zweifelnd den geckenhaft geputzten Franzosen mit dem abgelebten Gesicht betrachtend.
»Ich glaube. Wollen Sie mich anhören?«
»Bitte!«
»In London ist jetzt eine indische Ausstellung eröffnet worden mit landschaftlichen Szenerien, Volkstypen, Gauklern, Bajaderen, kurz, sie bringt alles, um den Zuschauer das Leben in Indien und dieses selbst kennen zu lehren...«
»O, ich kenne derartige Ausstellungen«, unterbrach ihn Oskar geringschätzend. »Sie sind arrangiert von tüchtigen Kräften, welche Land und Leute genau kennen, aber die Ausführung ist gewöhnlich sehr mangelhaft.
Solche Schauspiele dienen nur zur Aufregung der Sinnenlust, dem Forscher bieten sie nichts.«
»Aber die dabei verwendeten Leute sind echt«, sagte der Franzose mit wichtiger Miene, »direkt aus Indien bezogen.«
»Abenteurer, ja«, lächelte Oskar, »manchmal sind es auch Zigeuner, Indianer, Mulatten und so weiter, welche als Inder ausgegeben werden, wenn nur die Hautfarbe nicht weiß ist.«
»Mag sein, dass viel Schwindel dabei getrieben wird, es sind aber auch wirkliche Inder darunter.«
»Nun, und?«
»Gestern Abend sprach ich mit einer Inderin, die in dieser Ausstellung engagiert ist. Sie hatte auch von Ihrer Entdeckung gehört und meinte, wenn sie darüber gefragt würde, könnte sie noch viel mehr davon erzählen. Aber freilich, sagte sie zuletzt, würde sie nicht über so etwas gefragt, man hielte sie für zu dumm.«
»Das käme darauf an; das kleinste Werkzeug ist uns nicht zu gering. Sagte sie nicht, aus welcher Quelle ihre Kenntnisse stammten?«
»Sie erzählte, sie sei die Tochter eines Gauklers und zwischen Fakiren aufgewachsen.«
»Ah, dann könnte sie allerdings etwas von deren Geheimnissen wissen.«
»Kommen Sie mit mir nach der indischen Ausstellung?«
»Heute Abend schon?«
»Heute Abend.«
»Warum so eilig?«
»Das Mädchen verlässt morgen früh London, es hat ein Engagement in Paris angenommen.«
»So, so. Was ist sie eigentlich?«
»Sie ist Figurantin in einer stummen Pantomime.«
»Würde sie nicht zu überreden sein, noch einige Tage hierzubleiben?«
»Schwerlich. Laut Kontrakt muss sie übermorgen in Paris sein, oder eine empfindliche Geldstrafe trifft sie.«
»Wenn ihre Angaben von Wichtigkeit sind, so würden wir die Strafe tragen.«
»Und wenn nicht?«
»Dann vielleicht auch.«
»Das Mädchen lässt sich nicht auf solche Bedingungen ein. Es ist ihr fester Entschluss, morgen früh abzureisen, und daran können wir nichts ändern. Kennen Sie den Charakter solcher Mädchen?«
»Ich hatte noch nicht die zweifelhafte Ehre, mit ihnen in nähere Berührung zu kommen.«
»Ah, das findet man heutzutage selten!«
»Lassen wir das aus dem Spiele! Sie glauben also nicht, dass das Mädchen sich würde zum Bleiben bewegen lassen?«
»Nein, derartigen Geschöpfen gelten Lohn und Versprechungen nichts, sie kennen nur ihren Willen, der sie immer neuen Abwechslungen zuführt.
Sie würden Mirzi — so ist ihr Name, wahrscheinlich ein angenommener —
durch nichts zum Bleiben bewegen können.«
»Also gut, heute Abend! Ich komme. Mein Vater könnte mir Vorwürfe machen, wenn ich diese Gelegenheit vorübergehen ließe. Wann und wo treffen wir uns?«
»Können Sie nicht gleich mitkommen? Mirzi ist vor Beginn der Aufführung frei. Später ist sie immer beschäftigt.«
»So komme ich gleich mit. Findet sich denn dort auch Gelegenheit zu einer vertrauten Unterredung?«
»Gewiss«, entgegnete der Franzose, nur mit Mühe ein Lächeln unterdrückend. Er sah in Reihenfels noch einen ganz unschuldigen und unerfahrenen jungen Mann.
Oskar erhob sich und machte im Nebenzimmer Toilette. Er fand nichts Verfängliches darin, den Fremden zu begleiten. Sie bestiegen einen Wagen und fuhren nach Olympia, dem mächtigen, in Earls Court gelegenen Vergnügungsetablissement.
Der junge Deutsche fühlte sich unangenehm berührt, als Monsieur Giraud das Eintrittsgeld für ihn bezahlte; doch derselbe erklärte, er wolle ihm heute als Mentor dienen und ihm beweisen, dass er unrecht hatte, indem er über die indische Ausstellung so geringschätzend sprach.
In der Tat, Oskar glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen, wie geblendet musste er sie schließen, alle seine Sinne gerieten in Aufregung, als er den riesengroßen Saal betrat.
Man glaubte sich wirklich in das Wunderland Indien versetzt.
Der Saal glich einem indischen Parke, kein Baum, kein Strauch, keine Blume der Tropenwelt fehlte. An den Säulen rankten sich Schlingpflanzen bis hinauf an das gläserne Dach. Ein betäubender Geruch erfüllte die Luft, Blumen und Damentoiletten entströmend, eine sinnliche Musik bezauberte das Ohr, und das Auge hing trunken an den bunten Bildern, die sich ihm entrollten.
Es war ein indischer Markt. Hier standen Bambushütten, in denen schöne, dunkeläugige Inderinnen Seidenwaren, Schmuckgegenstände, Früchte, Blumen und andere Erzeugnisse des Heimatlandes verkauften; dort ließ ein halbnackter Kuli Schlangen tanzen; dort wieder verschlang ein Gaukler Dolche und Schwerter; unter einem Mandelbaume schwebten leichtgeschürzte Bajaderen im Reigen. Dann wieder folgten lange Reihen von Bambushütten und fliegenden Verkaufsständen, indische Tee- und Kaffeehäuser mit eingeborener Bedienung, Häuser, in denen Reis auf hunderterlei Weise zubereitet ward, einfache Tempel aus Bambusrohr bis zu den steinernen Palästen, in denen Brahma verehrt wird, daneben Ställe mit den dem Tempel geweihten Elefanten, darunter auch ein heiliger, weißer; indische Priester fütterten sie.
Kurz, es war ein vollkommenes Bild indischen Lebens, nicht das Geringste fehlte. Auf einer Seite glaubte man eine indische Stadt mit ihren weißen Häusern, Tempeln und Moscheen sich erheben zu sehen — es war ein an die Wand gemaltes Panorama — und wurde dort hinten der Vorhang weggezogen, so erblickte man eine unendlich große Bühne, deren Hintergrund man kaum noch sehen konnte. Auf dieser fanden Vorstellungen statt.
Auf den Spazierwegen wimmelte es von schwarzen Fräcken und elegantesten Damentoiletten.
Reihenfels erkannte unter den Herren viele hohe Aristokraten, deren Väter im Parlament saßen, viele Söhne der ersten Großkaufleute, die ganze noble Welt Londons war hier vertreten, das heißt die der Herren, denn die Damen, so glänzend sie auch gekleidet waren, gehörten ohne Ausnahme der Halbwelt an. Toiletten, Goldschmuck und Diamanten mussten ihnen die Herren mit dem Gelde ihrer Väter bezahlen.
Das ist Olympia, in der die großen Ausstellungen arrangiert werden, der Versammlungsort der jeunesse dorée und der Damen der Halbwelt — der Fleischmarkt Londons, wie es nicht besser genannt werden kann, und dennoch großartig.
Es gibt keine Stadt, nicht einmal das vergnügungssüchtige Paris, die etwas Ähnliches wie London aufzuweisen hat.
Der Saal wird nachmittags um vier Uhr geöffnet, und die Vorstellung dauert ununterbrochen bis nachts zwölf Uhr — für einen einmaligen Eintrittspreis — und wenn die Türen geschlossen sind, beginnen erst die eigentlichen Orgien bei denen die Geldquellen für die Unternehmer in unerschöpflicher Fülle fließen.
So ist Olympia noch heute.
Wie soll das enden? Wohin soll das noch führen? So haben vor einigen Jahren Hunderttausende in dem frommen London erst gefragt, dann geschrieen, sie sind zusammengetreten und haben stürmisch verlangt, dass diese Brutstätte des Lasters vernichtet werde, oder auf London würde, wie einst auf Sodom und Gomorrha, noch feuriger Schwefel regnen.
Die Forderungen mussten gehört und überlegt werden, denn sie kamen von mächtigen Leuten, welche die Sache bis vors Parlament trieben.
Die Herren überlegten lange, schüttelten dann die grauen Köpfe und lehnten den Antrag ab. Und warum? Will der Leser es erfahren?
»Ja, wir würden gern dieses schädliche Haus aufheben«, sagten sie, »aber was sollen dann die fünftausend Mädchen anfangen, welche tagtäglich in Olympia auftreten und welche dann brotlos werden? Würden sie nicht die Straßen überschwemmen und nur noch mehr Unheil stiften? Nein, Olympia mag unter polizeilicher Aufsicht weiterbestehen.«
Oskar hatte eine strenge Erziehung genossen. Die gottesfürchtige Mutter hatte ihm Scheu, der ernste Vater Verachtung gegen solche Lustbarkeiten eingeimpft. Dennoch fühlte sich Oskar von dem bunten Treiben angezogen. Er erkannte zwar bald, dass das meiste gefälscht war, die Inder stammten aus allen Erdteilen, die Bajaderen waren spanische Zigeunerinnen, es gab Pflanzen, welche nur in Amerika, nicht in Indien wuchsen, aber der Gesamteindruck imponierte ihm doch gewaltig — die bunten Farben des Gewühls, der süße Duft und die faszinierende Musik der Geigen und Flöten berauschten ihn.
Dann fiel ihm der Zweck seines Hierseins ein, er unterbrach den Franzosen, der ihm fortwährend Erklärungen gab, ihm, in dessen Phantasie Indien in handgreiflicher Gestalt dastand.
»Sie wollten mich zu jener Inderin führen, Monsieur Giraud. Wo finden wir Sie?«
»Wir sind bereits auf dem Wege nach dem Rendezvous-Platz. Es geht freilich langsam, das Gewühl ist heute sehr stark, und Olympia ist groß. Haben Sie schon die neue Pantomime, der Einzug des Maharadscha in Delhi, gesehen?«
»Ich war überhaupt noch nicht hier.«
»Ah, so, ich hatte es vergessen. Das müssen Sie sehen, großartig! Alles neue Kostüme und neue Kräfte! Es sollen wieder zehn neue Pariser Solotänzerinnen engagiert worden sein; ich bin gespannt.«
»Sie sind häufiger hier?«
»Mein Gott, was soll man sonst mit den langen Abenden beginnen? Man vertreibt sich die Langeweile, das ist alles.«
Er drängte sich durch eine Gruppe von Damen, wechselte mit einigen Grüße, wie schon oft vorher, empfing unter Lachen einen Fächerschlag auf die Wange und stand dann mit Oskar vor einer Bambushütte, in welcher von einer Inderin feurige Getränke verschenkt wurden.
»Sie scheint noch nicht da zu sein«, sagte Giraud bedauernd. »Nehmen Sie ein Glas Sorbet, Mister Reihenfels? Ein kühles Getränk tut bei dieser Hitze gut.«
»Ich danke; mir zittern schon die Nerven vor Aufregung.«
»Das wird man gewöhnt. Trinken Sie wirklich nichts?«
»Ein Glas Eiswasser.«
»War Mirzi noch nicht hier?«, wandte Giraud sich an das indisch gekleidete Mädchen, welches die Getränke bereitete.
»Sie war hier und hat auf Sie gewartet«, entgegnete die Inderin in einem schauderhaften Englisch mit jüdischem Jargon. »Jetzt ist sie bereits auf der Bühne.«
»Wie, schon jetzt?«
»Ja, die Vorstellung beginnt seit gestern eine Stunde früher als sonst«, mauschelte die Inderin weiter.
»O, Mister Reihenfels, das habe ich allerdings nicht gewusst! Ich hoffe, Sie warten noch; die Vorstellung dauert nicht lange, denn sie wiederholt sich. Ich werde dann Mirzi aufsuchen.«
Oskar beschloss zu bleiben. Er trank das Glas aus und promenierte mit Giraud in der Nähe der Hütte umher.
Der junge Gelehrte wollte sich das Vergnügen machen, einige Inder auf ihre Echtheit hin zu prüfen. Er redete sie auf indisch an, bekam aber höchst selten eine Antwort in derselben Sprache, meist in Englisch, auch in Französisch, Spanisch, Portugiesisch oder Italienisch.
»Ich glaube gar, Sie beherrschen alle diese Sprachen«, sagte Giraud zuletzt erstaunt.
»Mein Vater war Sprachlehrer, und ich habe das Talent von ihm geerbt, mir in kurzer Zeit eine fremde Sprache anzueignen«, entgegnete Oskar.
Ein indischer Fakir fesselte seine Aufmerksamkeit. Er hielt die Hände zu Fäusten geballt, und man konnte sehen, wie die Fingernägel so durch die Hand gewachsen waren, dass sie auf der Rückseite derselben wieder hervorsahen. Jedem Besucher hielt er die Hände vors Gesicht und machte eine stumme, bittende Verbeugung. Gab man ihm ein Geldstück, so nahm er es mit den Lippen und ließ es geschickt in eine am Gürtel hängende Blechbüchse fallen.
Oskar erkannte sofort, dass der Mann ein dunkelbraunes Trikot trug, also mussten auch die durchgewachsenen Fingernägel Heuchelei sein. Sein Gesicht war dunkel gefärbt, hatte überhaupt gar keine Ähnlichkeit mit einer indischen Physiognomie; jedenfalls trug er auch eine Perücke.
»Wie lange hältst du schon die Hände geballt?«, fragte ihn Reihenfels auf Indisch.
Der Fakir schüttelte den Kopf; er verstand also die Frage nicht.
Oskar fragte Englisch, aber der Mann schüttelte abermals den Kopf und deutete dabei mit der Faust auf den Mund.
»Sind Sie stumm?«
»Yes«, erklang es jetzt.
»Völlig stumm?«, lachte Oskar.
»Ich spreche schon seit zehn Jahren kein Wort mehr.«
»Sie haben ein Gelübde abgelegt?«
»Ja, ich habe bei Buddha geschworen, nicht mehr zu sprechen.«
Reihenfels lachte über den sonderbaren Kauz.
»Und wie lange halten Sie schon die Fäuste so geballt?«, examinierte Oskar weiter.
»Auch schon zehn Jahre.«
»Die Fingernägel sind wirklich durchs Fleisch gewachsen?«
»Natürlich! Sehen Sie das nicht?«
»Wie waren denn die Hände früher?«
»Da waren sie so.«
Der Fakir streckte alle zehn Finger von sich und zog ein überaus pfiffiges Gesicht. Jetzt sah man, dass die Nägel an der Rückseite nur aufgesetzt waren.
»Sie scheinen kein Engländer zu sein, ich denke eher ein Deutscher«, sagte dann Oskar.
»Gott sei Dank, dass ich endlich einmal einen Landsmann treffe«, rief der Fakir, ebenfalls auf Deutsch, »mit dem ich mich unterhalten kann! Ja, ich bin ein Deutscher, direktemang aus Potsdam.«
»Wie kommen Sie denn hierher?«
»Ich ging von Muttern weg, von wegen meine Bildung zu bereichern. Ich möchte aber, ich säße noch hinterm warmen Ofen. Hier in London liegt das Gold auch nicht auf der Straße — ja, wenn ich ein Mädel wäre!«
»Werden Sie für die Rolle als Fakir gut bezahlt?«
»Futter und Stall bekomme ich, die Trikots und Farbe, mein Gesicht zu beschmieren, dazu, sonst weiter nichts. Das Geld muss ich mir erst zusammenfechten.«
»Das ist freilich nicht viel.«
»Haben Sie keine Stellung für mich?«
»Was sind Sie?«
»Strumpfwirker. Aber in London tragen sie nur Strümpfe für zehn Pfennig, und auf solche Dinger bin ich nicht eingeübt. Wenn man die anbläst, da ist ein Loch drin. Können Sie mich nicht sonst wo unterbringen? Vielleicht als Diener?«
»Ich habe keine Stellung zu vergeben. Aber kommen Sie trotzdem morgen früh einmal in das Hotel gegenüber dem Britischen Museum. Es sollte mich freuen, wenn ich etwas für einen Landsmann tun kann.«
Vorübergehende Herren trennten die beiden. Oskar fand den Franzosen, als eben zahlreiche Glocken ertönten; plötzlich fiel eine schmetternde Blechmusik ein. Alles eilte einer mit Stühlen besetzten Tribüne zu, und dann schob sich der Vorhang vor der Bühne zurück.
»Zu spät!«, sagte der Franzose. »Ich habe Sie vergebens gesucht, um Ihnen einen Stuhl zu versorgen. Nun ist alles besetzt.«
Oskar hörte das schon gar nicht mehr. Sein Auge hing entzückt an den Bildern, die sich auf der riesigen Bühne entrollten.
Es wurden der Einzug eines Maharadschas in der alten Großmogulstadt Delhi und die ihm zu Ehren gegebenen Festlichkeiten dargestellt. Gegen 5000 Mädchen, alle in farbenprächtige Gewänder gekleidet, welche ihre Reize zur vollen Geltung kommen ließen, standen in zwei Reihen neben einem Thronsessel, der von Würdenträgern umgeben war. Eine Unmenge von Vorreitern und Vorläufern eröffneten den Zug; Elefanten wurden über die Bühne geführt, Gitterwagen mit Tigern und Panthern, dazwischen tänzelten herrliche Rosse mit Reitern in glänzenden Kostümen.
Es war ein farbenreiches Bild und machte einen imposanten Eindruck.
Alles schillerte und glänzte von Diamanten und Perlen — wenn auch nur die wenigsten echt waren — das Licht der Kronleuchter wurde in blendendem Glanze von den stählernen Panzern der indischen Krieger reflektiert.
In den Zwischenpausen tanzten Bajaderen in bezaubernden Reigen, Spanierinnen führten sinnberauschende Tänze auf, jedes Land repräsentierte sich mit seinem Tanz. Den meisten Beifall fanden die Solotänzerinnen in ihren phantastischen Kostümen.
Soeben hatte eine, ein üppiges, schön gewachsenes Weib einen Solotanz beendet, empfing dankend die Beifallsrufe der Zuschauer und stellte sich nach einer Verbeugung gegen den Maharadscha wieder in die Reihe. So spärlich ihre Kleidung war, so verschwenderisch ging sie mit Schmuck um.
Haar, Hals, Brust bis herab zu den leichten Ballettschuhen, alles glänzte von Juwelen.
»Flittergold«, murmelte Reihenfels.
»Da irren Sie!«, lächelte der Franzose. »Diese Tänzerin trägt keinen falschen Stein an sich; denn sie ist die Geliebte des Herzogs von Cumberland.«
»Der arme Mann!«
»Sie bedauern ihn?«
»Ja, dass er sein Geld nicht besser anzuwenden versteht.«
»Geschmacksache! Ich möchte wohl solch ein Maharadscha sein, auf dessen Wink sich Hunderttausende beugen. Die Vorstellungen gefallen Ihnen nicht?«
»Doch, weil sie mir neu sind. Können Sie Mirzi sehen?«
»Ich glaube, dort links neben dem Throne — die Entfernung ist zu groß, und in diesen Kostümen ähnelt überhaupt ein Mädchen dem anderen zum Verwechseln. Nur die Solotänzerinnen heben sich hervor. Seien Sie indes ohne Sorge, Sie werden Mirzi an einem abgelegenen Ort sprechen.«
»Wie, Mister Reihenfels, auch Sie finde ich hier, in Bewunderung des schönen Geschlechts versunken?«, wurde Oskar von einem Herrn, dessen flüchtige Bekanntschaft er einst in einem Cafe gemacht hatte, in spöttischem Tone angeredet.
Er errötete wie ein auf Abwegen ertappter Schulknabe; er hätte den Saal am liebsten sofort verlassen. Doch hatte er nun einmal A gesagt, so musste er auch B sagen.
»Ich wollte nur ein Mädchen sprechen«, murmelte er wie entschuldigend.
»Dasselbe ist mein Fall« lachte der Bekannte. »Na, Mister Reihenfels, ich wünsche Ihnen viel Glück! Amüsieren Sie sich gut, und geraten Sie nicht zu sehr auf Abwege!«
Ärgerlich sah Oskar dem Davongehenden nach. Also in solchem Tone durfte man zu einem sprechen, den man hier traf.
Da fiel ihm plötzlich Bega ein.
Was würde diese wohl sagen, wenn sie ihn hier, an diesem Orte des Lasters, sähe? Doch er war ja in ganz reiner Absicht hergekommen, er selbst wollte ihr beim nächsten Zusammentreffen davon erzählen und jedem etwaigen Verdacht von vornherein die Spitze abbrechen.
Der Vorhang fiel vor einem lebenden Bild, gestellt von dem gesamten Personal. Sie beteten den mit Gold bedeckten Maharadscha an.
»Jetzt bleiben Sie hier eine Minute stehen.« flüsterte der Franzose Oskar zu. »Ich suche Mirzi auf und frage sie, wo wir sie sprechen können.«
Mit Verwunderung sah Oskar plötzlich die Promenadengänge mit denselben Gestalten bevölkert, die eben noch auf der Bühne getanzt hatten. In ihren leichten Kostümen mischten sich die Mädchen unter das Publikum, sie suchten befreundete Herren auf oder knüpften neue Bekanntschaften an und promenierten Arm in Arm mit ihnen auf und ab.
Nur wenige hatten ihre Kostüme mit Straßentoiletten vertauscht, weil ihre Kleidung in der Nähe geradezu anstößig gewesen wäre. Die Solotänzerinnen fehlten — sie gehörten nicht zur Klasse dieser Mädchen. Auf Sie warteten vor dem Portal die Equipagen ihrer Liebhaber.
Der Franzose ließ Oskar fast eine halbe Stunde allein, dann kam er mit gerötetem Gesicht zurück.
»Mirzi ist bereit, Ihnen Rede und Antwort zu stehen. Das Mädchen erwartet sie in dem kleinen Zimmer. Ich führe Sie hin!«
Sie stiegen eine Treppe hinauf und traten nach Passieren einiger Gemächer in einen kleinen Saal, zu dem sehr viele Türen führten.
»Dies ist das sogenannte kleine Zimmer«, erklärte Giraud.
»Wie? Hier soll ich sie sprechen?«, fragte Oskar misstrauisch.
Er täuschte sich nämlich nicht, wenn er glaubte, nach einem verbotenen Ort geführt worden zu sein.
Das Zimmer war nach orientalischem Geschmack eingerichtet, an den Wänden liefen mit Kissen belegte, breite Diwans hin, und auf diesen saßen etwa sechs Herren und eben so viele Mädchen in sehr freien, stark dekolletierten Bühnentoiletten. Man plauderte und rauchte, auch die Mädchen, lachte laut und benahm sich sehr frei.
Giraud nickte einigen der Herren zu, es schienen Bekannte von ihm zu sein, und ein Mädchen warf ihn mit Apfelsinenschalen.
»Mirzi will wenigstens hierher kommen«, entgegnete Giraud auf Oskars Frage, »und Sie von hier abholen. Sie müssen wissen, dass der Saal unten jetzt geräumt wird. Die ständigen Besucher ziehen sich in abgelegene Gemächer zurück.«
»Ist es schon so spät?«, rief Oskar erschrocken. »Wahrhaftig, schon zwölf Uhr! Wie die Zeit so schnell vergeht!«
»Setzen wir uns und warten wir auf Mirzi.«
Beide nahmen Platz. Ein Mädchen wollte aufstehen und zu ihnen kommen, doch ein leichtes Kopfschütteln des Franzosen, von Oskar ungesehen, genügte, es zurückzuhalten.
Dem jungen Deutschen wurde immer beklommener zumute. Hätte er geahnt, dass alles so kam, so wäre er dem Franzosen nicht gefolgt. Mit welcher Gesellschaft er sich hier zusammengefunden, merkte er immer deutlicher; je länger er hier weilte, desto mehr stieg ihm die Schamröte ins Gesicht.
Diese Herren gehörten ohne allen Zweifel zur sogenannten besseren Gesellschaft, aber welcher Sprache bedienten sie sich! Jedes Wort, das aus ihrem Munde kam, war von zynischer Gemeinheit, jeder Witz, über den sie maßlos lachten, eine freche Zote, und die Mädchen passten zu ihnen.
Oskar hatte bisher nicht geglaubt, dass ein gebildeter Mensch so weit sinken könnte, dass er geistreich zu sein glaubte, während er sich in Schmutz und Kot herumwälzte.
Die Gruppen der Herren und Mädchen wechselten fortwährend. Aus den Türen kamen immer neue Paare, andere verschwanden.
»Ist dies denn in diesem Vergnügungsetablissement erlaubt?«, fragte er den Franzosen.
»Wo kein Ankläger ist, ist auch kein Richter.«
»Aber die Sittenpolizei?«
»Die kommt nur, wenn sie gerufen wird. Und wer sollte dies tun? Aber selbst da kommt sie nur ungern, denn es handelt sich dann um die Verhaftung von angesehenen Persönlichkeiten. Lieber nehmen die Beamten einige Goldstücke und drücken beide Augen zu. Englische Polizei — bah!«
»Ich möchte gehen«, sagte Oskar dann, nach der Uhr sehend.
»Nur fünf Minuten noch, dann muss sie kommen.«
Giraud hatte die Worte noch nicht gesprochen, als ein Mädchen auf ihn zukam, ihn beiseite zog und leise mit ihm sprach. Dann kehrte er zu Oskar zurück.
»Mirzi erwartet Sie bereits.«
»War sie das?«
»Nein, diese brachte nur die Nachricht, dass Mirzi im Nebenzimmer ist.
Kommen Sie!«
»Im Nebenzimmer?«, fragte Oskar misstrauisch.
»Sie kann Sie doch nicht hier sprechen!«
Oskar erhob sich und folgte dem Franzosen, der ihn in eins der Seitengemächer führte.
Eine Gasflamme unter rotem Licht verbreitete ein schwaches Licht und ließ die luxuriöse Einrichtung erkennen. Im Hintergrund befand sich eine Tür.
Mirzi war nicht hier.
»Warten Sie, das Mädchen muss bald kommen, »sagte Giraud. »Ich bleibe einstweilen im Saale.«
Oskar wollte den Franzosen zum Bleiben nötigen, doch schon eilte dieser hinaus.
Der große Saal unten hatte sich zwar stark geleert, die Bambushütten waren geschlossen, die Fakire und Gaukler verschwunden, aber noch immer strahlten die Kronleuchter und beleuchteten Spaziergänger und Gruppen in künstlichen Lauben und Grotten.
Die meisten Herren besaßen Saisonbilletts, waren also ständige Besucher und wurden von den kontrollierenden Dienern nicht hinausgewiesen. Wer nach seinem Billett gefragt wurde, musste es vorzeigen; war es ein einfaches, so wurde er zum Verlassen des Saales aufgefordert; war es ein grünes Saisonbillett, so wurde der Besitzer unbelästigt gelassen.
Von vielen, welche den Kontrollierenden als ständige Besucher bekannt, wurde das Zeigen des Billetts gar nicht gefordert, und doch waren unter diesen sehr viele, die überhaupt keins besaßen — es waren Geheimpolizisten und Detektive, welche sich hier so lange aufhielten, bis die letzte Person den Saal verlassen hatte.
Gestatte der Leser, einige Worte über diese Geheimpolizisten und Detektive.
Dem Fremden fällt in London die enorme Zahl von uniformierten Konstablern auf, überall stehen und gehen sie herum; die Menge auf der Straße braucht sich nur einmal zu stauen, so eilen sie schon von allen Seiten herbei. Aber sie sind nicht die eigentlichen Feinde der Verbrecher, sie haben nur den Straßenverkehr zu überwachen und für die Sicherheit der Passanten zu sorgen, besonders für die der Frauen und Kinder.
Denn selbst in weniger belebten Straßen Londons folgen sich die Wagen in dichter, endloser Reihe, nur Männer dürfen es wagen, zwischen ihnen hindurchzuschlüpfen. Eine Dame oder ein Kind wendet sich, wenn das Passieren der Straße nötig ist, an den nächsten Konstabler, dieser hebt den Arm, die Wagenreihe muss sofort stocken, und der Beamte führt die Dame oder trägt das Kind hinüber.
Auf jeden Konstabler kommen zwei Geheimpolizisten, diese gehorchen den Winken der Detektive, welche wieder eine ganze, organisierte Armee bilden.
In London darf man in jedem Menschen, den man nicht kennt, einen Detektiv vermuten; vielleicht aber ist auch dein Freund, mit dem du schon jahrelang verkehrst, ein solcher, ohne dass du es weißt.
Der elegante Stutzer, der dich auf der Straße um Feuer bittet, kann ein Detektiv sein, ebenso wie der Bettler, welcher nur zum Schein Streichhölzer verkauft, um nicht wegen Bettelns arretiert zu werden. Vielleicht aber ist der noble Herr nur ein ganz gering besoldeter Beamter, während der Bettler den Titel eines Sergeanten führt, vielleicht sogar Offizier ist und ein recht stattliches Heim sein eigen nennt. Während er in Lumpen gehüllt, im Rinnstein steht und seine Augen rastlos umherwandern lässt, fahren seine Frau und Kinder, im eigenen Wagen spazieren — kein angenehmes Brot! Zahllos sind die Detektive, welche ihre Aufmerksamkeit nur einem Punkte zuwenden und ihren Stand daher nie ändern. Den täglichen Straßenpassanten sind sie bekannt, nicht aber dem Fremden.
So zum Beispiel sitzt auf einer Bank der Liverpool Station ein Mann in großkariertem Anzug, ein Plaid über der Schulter, neben sich einen Koffer und in der Hand eine Fahrkarte.
Der Zug kommt, aber der Reisende bleibt sitzen; er steigt überhaupt niemals ein, sondern beobachtet nur den Bahnhof. Abends nach dem letzten Zuge entfernt er sich, und morgens bei Ankunft oder Abfahrt des ersten sitzt er wieder auf seiner Bank. So sitzt er tagaus, tagein, Sommer und Winter, ohne jemals einen Zug zu benutzen. Es kann aber doch einmal vorkommen, dass er auf einen Herrn zugeht und zu ihm in ruhigem Tone sagt: »Im Namen des Gesetzes, Sie sind verhaftet!« Da braucht der Betreffende nur eine verdächtige Bewegung zu machen, und im Nu hat ihn der so unschuldig aussehende Reisende mit eiserner Kraft an den Handgelenken gepackt und übergibt ihn dem herbeieilenden Geheimpolizisten.
In der Oxford Street ist an einem Hause eine Uhr mit Figuren angebracht, welche beim Schlagen der Glocke sich bewegen. Von früh bis abends steht ein Stutzer davor, ein Stöckchen unterm Arm, und jedes Mal, wenn die Männchen mit dem Kopfe wackeln, lacht er, als wäre ihm das etwas ganz Neues. Und doch steht er schon Jahr und Tag davor — ein Detektiv, welcher das Treiben auf der Straße beobachtet.
In einer anderen Straße steht vor einem Bäckerladen ein schäbig gekleideter Mann und betrachtet mit lüsternen Augen die appetitlichen Erzeugnisse der Bäckerkunst. Man merkt es ihm ordentlich an, wie ihm das Wasser im Munde zusammenläuft, wahrscheinlich hat er keinen Penny bei sich, um seinen Hunger zu stillen. Auch dieser Mann ist ein Detektiv, er schaut nicht Brote und Torten an, sondern er blickt in die Spiegelscheiben des Ladens und übersieht durch sie die Straße.
Überall, wohin man kommt, darf man versichert sein, Detektive in allen möglichen Stellungen zu treffen. Im Theater sind sie Programmverkäufer, im Hotel und in den Restaurationen Kellner, auf der Pferdebahn Kondukteure, auf den Themseschiffen Matrosen und so weiter, und oft wissen die Arbeitgeber selbst nichts davon.
So gingen auch die Diener an einigen Herren vorüber, welche im Saale der Olympia herumstanden, saßen oder sich mit Damen unterhielten.
Ein Mann mit langem Vollbart betrachtete schon seit längerer Zeit mit anscheinendem Interesse eine Grotte aus Tropfsteinen, als ein Diener in goldbetresster Livree auf ihn zutrat.
»Ihr Billett, mein Herr?«
»Habe keins!«, brummte der Mann.
»Detektiv?«
»Ja.«
»Ich kenne Sie nicht.«
»Ist auch gar nicht nötig.«
»Ich bitte um Ihre Marke.«
Der Herr trat etwas zurück und zeigte eine große Marke, worauf sich der Diener sofort entfernte.
»Wieder ein neuer«, dachte er. »Was diese Tagediebe hier eigentlich wollen, begreife ich nicht. Sie sehen nichts, sie hören nichts und der Staat ernährt sie doch!«
»Er könnte nun kommen!«, brummte unterdessen der Herr mit dem Vollbart. »Um zwölf hat er mich hierher bestellt, und es ist schon ein Uhr. Ich fürchte, ich bin umsonst hier.«
Hinter ihm räusperte sich jemand — Monsieur Giraud.
»Ah, Mister Stores«, sagte der Fremde beim Anblick des Franzosen freudig. »Haben Sie ihn gefunden?«
»Ja. Seit wann sind Sie schon hier?«
»Ich kam zehn Minuten vor zwölf.«
»All right, er ist da!«
»Beschreiben Sie ihn mir noch einmal.«
»Er ist groß und breitschultrig und hat ein rotes, gemein aussehendes Gesicht. Sein Gang lässt vermuten, dass er viel zu Pferd sitzt. Der Bart fehlt.«
»Natürlich. Den hat er sich abnehmen lassen. Die übrige Beschreibung passt auf ihn; kein Zweifel, es ist der Reitknecht vom Baron Ehrenthal. Wo finde ich ihn?«
»Fragen Sie den englischen Detektiv nach den kleinen Zimmern; nehmen Sie aber Begleitung, mit; der Kerl ist stark wie ein Bär und angetrunken.
Machen Sie schnell, er ist eben im Zimmer Nummer 14.«
»Kommen Sie nicht mit?«
»Nein, mich ruft die Pflicht anderswo hin.«
»Meinen besten Dank.«
»Bitte, wir müssen uns gegenseitig helfen. Eilen Sie nur.«
Der Franzose entfernte sich, und der Fremde ging nach einer Säule, wo ein elegant gekleideter Herr lehnte und sich mit einer Dame scherzhaft unterhielt.
»Ich bitte um ein Wort unter vier Augen«, sagte der Vollbärtige zu ihm.
Der Herr brach sein Gespräch kurz ab und entfernte sich einige Schritte.
»Mein Name ist Schönfeld, bin deutscher Geheimpolizist und bitte um Ihre Unterstützung«, sagte der Vollbärtige, zog ein Papier aus der Brusttasche und übergab es dem Herrn.
Dieser las es flüchtig und reichte es zurück. Es war ein Schreiben der englischen Polizei und sicherte dem deutschen Kriminalbeamten jede mögliche Hilfe zu. Kraft dieser Order musste sich jeder englische Polizist, wenn er nicht gerade beschäftigt war, dem deutschen zur Verfügung stellen.
»Womit kann ich dienen?«
»Ich will einen von der deutschen Polizei verfolgten Dieb verhaften.«
»Hier?«, fragte der Detektiv unangenehm überrascht.
»Ja, hier und sofort!«
»Sie brauchen Hilfe?«
»Ja.«
»Gut. Ich und meine Leute stehen Ihnen zur Verfügung. Wo befindet sich der Mann?«
»In einem der sogenannten kleinen Zimmer, in Nummer 14.«
Der Detektiv stutzte und zögerte.
»Sir, das ist mir unangenehm zu hören.«
»Wieso?«
»Wir müssen die Zimmer als Beamte betreten.«
»Nun, und?«
»Dann müssen wir wahrscheinlich alle verhaften, welche sich dort befinden. Wir werden sie bei unerlaubten Handlungen antreffen.«
»So verhaften Sie sie alle.«
»Das ist mir unangenehm, es sind angesehene Männer darunter.«
»Das Gesetz kennt keinen Unterschied.«
»Allerdings, auch hier in England, aber...«
»Mein Herr, ich verstehe Sie nicht!«, sagte der deutsche Beamte kurz.
»Darf ich auf Ihre Hilfe rechnen oder nicht?«
Jetzt war es mit der Unentschlossenheit des Detektivs vorbei, er durfte sich als Beamter nicht bloßstellen. Er begab sich zu einem anderen Herrn und sprach mit ihm.
»Teufel!«, knurrte dieser. »Wir tun nur unsere Pflicht, aber fatal ist es doch. Warum kann der verdammte Deutsche nicht warten und die Verhaftung draußen vornehmen?«
»Ich darf ihn wegen des Warum nicht fragen.«
»Wir können die Herren warnen.«
»Das ist zu riskant, wenn es entdeckt wird.«
»Wir halten den Deutschen auf.«
»Geht nicht, er besteht energisch auf sofortiger Verhaftung.«
»Warum überträgt man diese nicht uns?«
»Das geht mich nichts an.«
»Los denn in des Teufels Namen! Die Schuld an dem Skandal falle auf diesen Deutschen! Ich lachte bloß, er fände den Gesuchten gar nicht.«
Schnell waren einige Männer, zwischen ihnen der Vollbärtige, versammelt. Dann ging es die Treppe hinauf nach den kleinen Zimmern.
Scheu betrachteten die Diener diese schnellgehenden Männer, Sie ahnten, was jetzt kam, durften indes nicht wagen, die zu Überraschenden zu warnen. Es kam selten vor, dass eine Untersuchung der Nebenzimmer erfolgte; geschah es aber, dann fanden die Skandalblätter in London stets reiche Nahrung.
Der Diener, welcher an der Tür zum kleinen Saal Wache hielt, erschrak, aber er öffnete dieselbe; schnell drangen die Männer ein.
In dem Saale entstand große Aufregung. Die Mädchen schrien, und die Herren sprangen erschrocken auf. Nur einige, denen nichts mehr überraschend kam, blieben ruhig.
»Polizei! Detektive!«, erklang es von allen Seiten.
»Ah, meine Herren, ich komme wohl zu einer recht unangenehmen Zeit?«, sagte der Führer der Polizisten. »Ich hätte allerdings nicht geahnt, dass mein Besuch, zu dem ich gezwungen wurde, mir solche Bilder zeigen würde!«
»Spielen Sie nicht den Erstaunten«, sagte ein Herr phlegmatisch und legte den Arm wieder um die Taille einer Bajadere. »Machen Sie es kurz, damit ich bald wieder herkommen kann.«
»Sie müssen mich zur Wache begleiten.«
»Das weiß ich. Wollen wir wetten, dass ich in einer Stunde wieder hier bin?«
»Das können Sie halten, wie Sie wollen. Meine Herren, Sie sind verhaftet!«
Die Aufregung hatte sich gelegt. Die Herren, alles bekannte Roués von London, ließen ruhig, ja sogar lachend die Verhaftungsbefehle über sich ergehen, desgleichen die Mädchen.
Den meisten der Herren war eine solche Verhaftung nichts Neues und nichts Unangenehmes.
Sie durften Wagen nehmen und fuhren nach der Polizeistation, mussten ihre Namen angeben und Bürgschaft stellen, und wurden sofort wieder auf freien Fuß gesetzt. Hatten Sie nicht genügend Geld bei sich, so bürgte ein Herr für den anderen, ebenso für die Mädchen, deren Geldstrafen sie später auch noch bezahlten.
Denen, die sich noch nie in einer solchen Situation befunden hatten, war das Ganze ein angenehmes Abenteuer, mit dem sie später prahlen konnten, und nur sehr wenige dachten mit bangem Herzen an die Folgen ihres Leichtsinnes, denn morgen wurden ihre Namen in den Skandalblättern gebrandmarkt.
»Wem haben wir diesen Besuch eigentlich zu verdanken?«, fragte ein Herr den Detektiv.
Dieser deutete auf den deutschen Krimmalbeamten.
»Einem Deutschen.«
Schönfeld war sofort an die Tür getreten, welche die Nummer 14 trug, und hatte sie zu öffnen versucht — sie war geschlossen. Drinnen ertönte jetzt das Zetern eines Weibes und eine zornige Männerstimme.
»Wie schade! Sie stören das Pärchen zur unrechten Zeit«, lachte ein Herr, »es ist eben erst verschwunden.«
Der Beamte klopfte stark.
»Geöffnet, im Namen des Gesetzes!«, rief er.
Die Tür, ging auf. Der Beamte stand einer unzulänglich bekleideten Frauengestalt gegenüber, deren Gesicht Angst ausdrückte, und Reihenfels, jedoch nicht dem, den er hier vermutete. — Nachdem der Franzose das Zimmer so schnell verlassen und die Tür hinter sich zugeworfen hatte, war Reihenfels, von einer bangen Ahnung erfasst, sofort zu dieser gesprungen, fand aber weder Klinke, Hebel noch Riegel daran.
»Was soll das heißen?«, rief er., »Will man mich hier fangen?«
Er eilte nach der Tür an der entgegengesetzten, Seite, aber schon öffnete sich diese, und eine in weiße Gaze gehüllte Gestalt trat herein. Sie schlug den Schleier zurück und ein hübsches, dunkelbraunes Gesicht kam zum Vorschein.
»Mister Reihenfels?«, fragte das Mädchen sofort auf englisch.
»Das ist mein Name. Sie sind jene — jene Miss, welche mir Enthüllungen über indische Fakire machen wollte?«
Das Mädchen lachte, warf die Tür hinter sich zu, setzte sich auf ein Sofa und zog den jungen Mann ungeniert neben sich.
Reihenfels wurde verlegen; auf einen solchen Überfall war er nicht vorbereitet.
»Ja, ich bin Mirzi, und Sie sehen, wie viel mir an Ihrer Bekanntschaft, gelegen ist, dass ich Ihrer Aufforderung ohne weiteres gefolgt bin. O, ich habe Sie schon vorhin unter den Zuschauern beobachtet, und, aufrichtig gestanden, Sie. gefallen mir.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, stammelte Reihenfels verwirrt »Ich ließ Sie durch Monsieur Giraud um eine Unterredung bitten...«
»Wer ist das, Monsieur Giraud?«
»Wie, Sie kennen ihn nicht?«
»Sie meinen den Franzosen? Ach so, den kenne ich! Mir gegenüber nennt er sich natürlich anders, das tun die Herren hier alle.«
»Enthalten Sie sich derartiger Freiheiten«, sagte Reihenfels trocken und machte sich unsanft von dem Arm los, der ihn umschlungen hielt. »Ich kam nicht hierher, um mit Ihnen zu tändeln.«
Das Mädchen blickte ihn erstaunt an.
»Aber wozu denn sonst?«
»Hat Ihnen Monsieur Giraud nicht gesagt, aus welchem Grunde ich Sie sprechen wollte?«
»Allerdings.«
»Nun?«
»Sie wollten mit mir über — über — wie hießen doch gleich die Leute?«
»Fakire«, entgegnete Reihenfels und stand unwillig auf. »Ich sehe, man hat mir eine Falle gestellt. Sie sind nicht einmal eine Inderin, sonst müssten Sie wenigstens den Namen der Fakire kennen.«
»Hahaha!«, lachte das Mädchen. »Wollen Sie denn durchaus eine Inderin haben? Nehmen Sie doch mit einer Malteserin fürlieb, ich bin eine. Die Frage nach den Fakiren war ja nur ein Vorwand, um meine Bekanntschaft anzuknüpfen.«
Reihenfels erkannte jetzt, welches Spiel man mit ihm treiben wollte. Er war außer sich vor Zorn.
»Öffnen Sie die Tür! Sofort!«, rief er mit starker Stimme.
»Sie sind jetzt mein Gefangener«, lachte das Mädchen, »Sie können mir nicht entfliehen.«
Sie betrachtete die Sache scherzhaft, sprang auf den an der Tür stehenden jungen Mann zu, umschlang und küsste ihn. Er konnte sich von der Angreiferin nicht befreien, so fest hielt sie ihn unter Lachen umklammert, es entstand ein förmlicher Ringkampf, denn Mirzi, an derartige Szenen schon gewöhnt, glaubte, einen Mann vor sich zu haben, der auf galante Abenteuer ausging.
Sie drückte Reihenfels auf das Sofa nieder. Die Gazegewänder wurden dabei zerrissen und verschoben, aber sie klammerte noch immer die Arme um seinen Hals.
»Ich bin Potiphars Weib«, rief sie lachend, »doch du kannst nicht fliehen wie Joseph. Du bist mein Gefangener.«
»Weib, du zwingst mich, Gewalt anzuwenden!«, keuchte Reihenfels, ihre Arme pressend. »Öffne die Tür, oder ich erwürge dich!«
Sie schrie laut auf; Reihenfels hatte ihr wehe getan. Da klopfte es an die Tür, sie gab ihn frei und richtete sich auf.
»Geöffnet, im Namen des Gesetzes!«, rief es draußen.
»O weh, Polizei!«, murmelte Mirzi, und eilte, ohne erst ihre Kleidung zu ordnen, nach der Tür. Reihenfels war vor Schrecken so gelähmt, dass er seine Absicht, das Mädchen zurückzuhalten, nicht ausführen konnte.
Blitzähnlich schossen ihm die Gedanken durch den Kopf — Polizei, diese Situation, das Mädchen, eine Verhaftung, die Skandalblätter, seine Eltern —
und schließlich auch Bega.
Doch er war ja unschuldig! In der Tür stand ein vollbärtiger Herr, musterte ihn und untersuchte das Gemach.
»Ich bin getäuscht worden«, sagte er dann zu dem englischen Detektiv. »
In Zimmer Nummer 14 ist der Gesuchte nicht, vielleicht in einem anderen?«
»Sie sind jetzt alle leer, ihre Besucher stehen ohne Ausnahme hier. Finden Sie ihn darunter?«
»Nein. Entschuldigen Sie, dass ich Sie umsonst bemüht habe; übrigens ist Ihnen dadurch Gelegenheit geboten worden, Übertreter der Landesgesetze zu finden.«
»Ich bin Ihnen sehr verbunden dafür«, sagte der Detektiv ironisch. Er konnte seinen Ärger kaum verbeißen. »Wer machte Ihnen überhaupt die Mitteilung, dass Sie den Einbrecher hier finden würden?«
»Ein englischer Geheimpolizist namens Stores. Kennen Sie ihn?«
»Nein, wer sollte auch diese Leute alle kennen! Hat er sich Ihnen als Polizist legitimiert?«
»Ja.«
»Viele Strolche, welche selbst zur Verbrecherwelt gehören, besitzen Legitimationsmarken.«
»Möglich, dass man mich getäuscht hat«, entgegnete Schönfeld achselzuckend. »Was machte das aber weiter? Eine Zeitversäumnis von einer Stunde, sonst nichts.«
Er grüßte und verließ den Saal, es wurden ihm böse Blicke nachgesandt Der Detektiv trat jetzt auf Reihenfels zu, der sich wieder gesammelt hatte.
»Ihr Name?«
»Ich weiß nicht, wieso Sie...«
»Ihren Namen will ich wissen!«, unterbrach ihn der Detektiv barsch. »Ich stehe hier als Vertreter des Gesetzes.«
»Oskar Reihenfels. Man hat mich...«
»Schweigen Sie, bis ich Sie frage!«, unterbrach ihn der Detektiv abermals. »Sind Sie Engländer?«
»Ja.«
»Kein Deutscher?«
»Nein.«
»Aber der Sohn eines solchen?«
»Ja.«
»Sie sind verhaftet.«
Reihenfels prallte zurück.
»Aus welchem Grunde?«, stieß er schnell hervor. »Ich habe nichts Unrechtes getan, ich wollte nur dies Mädchen, welches sich als Inderin ausgab, über Fakire fragen.«
Ein teuflisches Hohngelächter erfüllte den Saal.
»Ich wollte mein Mädchen nur fragen, ob sie wirklich eine Inderin sei«, lachte ein Herr.
»Und mir sollte sie ein Küchenrezept mitteilen«, ein zweiter.
»Und mir einen Knopf annähen«, ein dritter.
»Detektiv, nehmen Sie den Verhaftungsbefehl zurück, ich bin unschuldig wie ein neugeborenes Kind!«
»Sie sind verhaftet!«, wiederholte der Detektiv zu Reihenfels gewendet, als sich der Lärm gelegt hatte.
»Warum? Ich habe nichts begangen.«
»Ich habe nicht nötig, Ihnen den Grund anzugeben. Folgen Sie mir!«
»Ich lasse mich nicht von hier fortführen, erfahre ich nicht den Grund der Verhaftung.«
»Sie wissen ihn nicht?«, lächelte der Detektiv höhnisch. »Seltsam! Nun denn; ich verhafte sie wegen Unzucht in einem öffentlichen Haus — Sie und Ihr Mädchen.«
»Das ist eine schamlose Verleumdung!«, brauste Reihenfels auf. »Dieses Mädchen ist Zeuge.«
»Ich konnte mich seiner kaum erwehren, so toll war er«, log Mirzi frech.
»Dirne!«, schrie Reihenfels und wollte sich auf sie werfen, doch der Detektiv vertrat ihm den Weg.
»Können Sie einen Wagen bezahlen?«, fragte der Beamte ihn.
Er bejahte.
»All right, Sie dürfen ihn benutzen, jedoch nur unter meiner Begleitung, und wenn Sie versprechen, keinen Fluchtversuch zu machen.«
»Ich denke nicht daran«, entgegnete Reihenfels bitter.
»Ich hoffe, sie bezahlen auch mir einen Wagen«, wandte sich Mirzi an ihn.
Reihenfels wandte ihr verächtlich den Rücken.
»Der Deutsche ist kein Gentleman, vielleicht hat er auch kein Geld«, sagte ein Herr. »Ich nehme dich unter meinen Schutz, Mirzi.«
Man bestieg die Wagen; in langer Reihe rollten diese der Polizeistation zu, wo der Fall schon bekannt war. Ein höherer Gerichtsbeamter, wie auch die benachrichtigten Freunde der Herren, erwarteten die verhaftete Gesellschaft.
Der Detektiv sprach mit dem Beamten abseits, dann wurden die Namen festgestellt und die Bürgschaften angenommen, wobei keine Schwierigkeiten vorkamen.
Der letzte war Reihenfels; über ihn hatte der Detektiv längere Zeit mit dem Stationschef gesprochen.
»Sie haben sich bei der Verhaftung verdächtig benommen. Ich verlange von Ihnen die doppelte Bürgschaft — 100 Pfund.«
»Ich kann diese Summe nicht aufbringen.«
»Tut mir leid, dann muss ich Sie bis zur Verhandlung in Haft behalten.«
»Wann findet dieselbe statt?«
»Weiß nicht. Vielleicht schon morgen, vielleicht erst in einigen Wochen.
Will einer der Herren für diesen Gentleman bürgen?«
Es erfolgte keine Antwort.
»Ich selbst würde die Bürgschaft gern für Sie übernehmen«, fuhr der Chef, ein freundlicher Mann fort, »aber als Beamter darf ich es nicht. Das einzige, was ich für Sie tun kann, ist, dass ich Ihre Familie benachrichtige.«
Reihenfels war der Verzweiflung nahe.
»Wie lautet die Anklage gegen mich?«, fragte er leise.
»Unzucht in einem öffentlichen Lokal.«
Überall sah Reihenfels nur die ernsten Gesichter der Beamten und die höhnischen der Herren und Mädchen.
»Geben Sie mir die Adresse Ihres Vaters«, sagte der Beamte, »und ich werde ihm den Sachverhalt dienstlich depeschieren. Mehr kann ich nicht tun.
Sie sind vielleicht schon in einer Stunde frei.«
Nach einigem Zögern nahm Oskar das Anerbieten dankend an, obgleich er nicht glaubte, dass sein Vater die genannte Summe, für ihn ein Kapital, gleich aufbringen könnte, wenn er es überhaupt zu tun beabsichtigte. Was würde wohl der sittenstrenge Mann von ihm denken? Oskar wurde in eine Untersuchungszelle abgeführt, und dort wanderte er, in trübe Gedanken versunken, auf und ab. Es war das erstemal, dass er mit dem Gericht zu tun bekam, und noch dazu in solch ekelhafter Angelegenheit.
Mit Schrecken gedachte er der Worte des Franzosen, wie die Skandalzeitungen sich mit Wonne mit jeder anrüchigen Sache beschäftigten; er selbst hatte nur einmal eine derartige Gerichtsverhandlung gelesen und das Blatt mit Ekel aus der Hand gelegt, mit solch zynischer Offenheit war alles breitgetreten worden.
Doch er war ja unschuldig, das musste an den Tag kommen.
Aber das Verhör, die Untersuchung, die Aufnahme des Tatbestandes! Diese durften die Blätter veröffentlichen, selbst seinen vollen Namen. Um Gottes willen, wenn Bega davon erfuhr! Und sie musste es, er selbst fühlte sich förmlich verpflichtet, ihr alles zu erzählen, sonst konnte ein furchtbarer Verdacht auf ihn fallen.
Ha, dieser Franzose, dieser Schurke! Er hatte ihn mit Absicht in eine solche Situation gebracht. Warum nur? Oskar blieb plötzlich stehen.
Sollte Monsieur Francoeur hier seine Hand im Spiele haben? Er betrachtete Oskars Liebschaft mit Bega mit scheelen Augen; sie selbst hatte es ihm gesagt. Dem Willen des Mädchens gegenüber war er machtlos. Sollte Francoeur zu einer Intrige gegriffen haben, um Oskar in den Augen der Geliebten verächtlich zu machen? Ja, so war es. Er glaubte fest daran. Nun, er wollte die Schlinge, in die er geraten, schon zerreißen.
Von diesem Entschluss getröstet, wollte er die Matratze aufsuchen, als seine Zelle geöffnet und er in das Büro vor den wachthabenden Polizeioffizier geführt wurde.
»Sie sind aus der Untersuchungshaft bis auf Weiteres entlassen, Mister Reihenfels«, sagte dieser. »Ich bitte um Ihre Adresse!«
»Hat mein Vater die Bürgschaft gestellt?«, fragte Reihenfels erstaunt nach Nennung seines Hotels.
»Ich weiß nichts davon, aber es ist anzunehmen. Ihr Verhör wird übrigens schon morgen Nachmittag stattfinden. Sie werden die Vorladung morgen früh nach Ihrem Hotel geschickt erhalten. Gute Nacht!«
Reihenfels war entlassen. Am anderen Morgen sah er mit bangem Herzen den Vater in sein Zimmer treten.
»Auf die Depesche des Polizeichefs bin ich sofort von Oxford abgereist«, sagte dieser kurz, »und habe mit ihm bereits gesprochen. Fertige dich mit dem Gericht ab, so gut du kannst; jetzt verantworte dich vor mir! Erzähle offen!«
Oskar berichtete die Wahrheit.
»Du verheimlichst mir nichts?«
»Auf mein Ehrenwort, nein!«
»Dann hast du von mir und deiner Mutter keinen Vorwurf zu erwarten, selbst wenn deine Aussagen vor Gericht keinen Glauben finden sollten und du verurteilt würdest. Meiner Ansicht nach hast du sogar richtig gehandelt.
Ich halte nun einmal nicht viel von einem jungen Manne in deinem Alter, der sich schon wie ein gewandter Weltmann zu bewegen und allen ihm gestellten Schlingen auszuweichen weiß. Du kennst das englische Gerichtswesen; sage die Wahrheit, aber beteure nie deine Unschuld, sonst verbietet der Richter dir das Wort; denn nach den englischen Gesetzen muss nicht die Unschuld, sondern die Schuld des Angeklagten bewiesen werden. Dein Verteidiger verlangt nur die Beweise deiner Schuld; können die nicht gebracht werden, so bist du frei. Du scheinst das Opfer einer Intrige geworden zu sein; aus welchem Grunde wohl?«
Oskar teilte dem Vater seinen Verdacht betreffs Francoeurs mit.
»Von dem Verhältnis habe ich ja noch gar nichts erfahren!«
»Ich wollte es dir mitteilen; deshalb kam ich nach London, aber die letzten Ereignisse ließen es nicht zu. Die Mutter weiß davon.«
»Nun gut! Ich werde mich über die französische Familie und Bega erkundigen. Du liebst also das Mädchen?«
»Ich würde nicht von ihr lassen.«
»Ich werde deiner Neigung nichts in den Weg legen. Nur handelt es sich darum, ob du deinen Verdacht auch dem Gerichtshof mitteilen willst.«
»Auf alle Fälle!«
»Hast du dir das reiflich überlegt?«
»Es steht zu vermuten, dass jener angebliche Monsieur Giraud nicht vor Gericht erscheinen wird, um meine Aussagen zu bezeugen. Nach allem Vorangegangenen wäre das seiner Absicht, mich zu verdächtigen, entgegen.
Meine letzte Hoffnung beruht somit auf einer Befragung des Monsieurs Francoeur.«
»Auch dein Verhältnis zu Bega käme an die Öffentlichkeit.«
»Was schadet das?«
Der Vater zog ein rotes Zeitungsblatt aus der Tasche, reichte es Oskar und deutete auf eine Stelle.
Oskar erbleichte erst, dann bedeckte sich sein Gesicht mit Zornesröte. Er las die Verhaftung in Olympia, alle Details und Namen waren angegeben, Zuletzt sein eigener, in welcher Situation man ihn gefunden, was er gesagt und so weiter.
»Das ist eine schändliche Gemeinheit!«, brachte er endlich hervor, das Blatt in den Händen zerknitternd. »Das werde ich nicht auf mir sitzen lassen!«
»Lieber Oskar«, entgegnete der Vater ruhig, »es sind schon andere Männer, als du, während ihres Lebens verleumdet, geschmäht und verhöhnt worden, und nach ihrem Tode hat man sie in den Himmel gehoben.
Spricht dich dein Gewissen frei, so lass die Leute reden, was sie wollen, und vor allen Dingen diese Zeitungen. Auch mein Name, als der deines Vaters, steht darin — das lässt mich gleichgültig. Nach deinem Verhör werden noch ganz andere pikante Sachen von dir veröffentlicht werden, und du kannst gegen die Redaktion nichts, gar nichts machen, denn sie bringt nur das, was im offenen Gerichtssaale verhandelt wird. Mir und dir soll das also gleichgültig sein; aber nicht alle Leute denken so frei. Würde es dir angenehm sein, wenn der Name deiner Braut, vielleicht gar ihr Bild, in diesen Blättern stände, und wie würde Bega selbst darüber denken?«
»Du hast recht«, murmelte Oskar. »Nein, ich werde ihren Namen nicht in den Schmutz ziehen lassen, und sollte ich wegen meines Schweigens auch verurteilt werden.«
»Du wirst freigesprochen werden. Zwar bin ich kein Justizbeamter, aber ich kenne das englische Recht und den Gang der Verhandlung genau. Erscheint Giraud nicht, und macht das Mädchen — dessen Aussagen aber wenig gelten — dich belastende Aussagen, so spricht dich der vollkommen unparteiische Richter schuldig. Dein Verteidiger beantragt darauf Untersuchung deines Vorlebens, und die Geschworenen sprechen dich frei — wegen Mangels an Beweis.«
»Wegen Mangels an Beweis! Wie das klingt!«, sagte Oskar bitter.
»Lass dir daran genügen. Mir liegt viel daran, dass du die Sache sobald wie möglich hinter dir hast. Nur wenn du schuldig befunden wirst, nehmen wir einen Rechtsanwalt. Aber bedenke, dass der unbekannteste Solicitor(*) Englands seine Perücke nicht unter 20 Pfund Sterling aufsetzt. Diese Kosten würde ich dir eventuell von deinem Gehalt abziehen.«
(*) Der Rechtsanwalt, englisch Solicitor, trägt im Gerichtssaal wie die Richter eine Perücke nach altherkömmlichem Brauch.
»Von meinem Gehalt?«, fragte Oskar erstaunt.
Der Vater begann mit auf dem Rücken verschränkten Händen im Zimmer auf und ab zu gehen und sein sonst so ernstes Gesicht wurde von einem freudigen Lächeln verklärt.
»Ja, Oskar, von deinem Gehalt. Du bist von jetzt ab nicht mehr der unbekannte Hauslehrer, sondern mein Mitarbeiter und ein Mann, auf dessen Erfolge die wissenschaftliche Welt mit der größten Spannung wartet. Ich werde von einer Oxforder Gesellschaft, die sich die Erforschung Indiens zur Aufgabe macht, dorthin geschickt, um mich mit dem Leben und den Gewohnheiten der Gaukler und Fakire zu beschäftigen. Ich darf mir einen Mitarbeiter wählen, und meine Wahl ist auf dich gefallen, weil ich dich für befähigt dazu halte. Heute reise ich noch einmal nach Oxford, dann komme ich zurück und treffe Vorbereitungen, mit meiner Familie nach Bombay überzusiedeln. Du begleitest mich sofort; mache deine gerichtliche Sache also kurz ab, löse deine Verbindlichkeiten und halte dich bereit. Nun, freust du dich nicht? Es wird dir Gelegenheit geboten, dich um die Wissenschaft verdient und dir einen Namen zu machen. Ach so, du denkst an Bega!«
»Es gilt eine Trennung!«, murmelte Oskar.
»Sie schadet nichts. Was würde Bega denken, wenn sie diese Zeitung lesen würde?«
Oskar richtete sich hoch auf.
»Ich werde mit ihr sprechen, wenn das Urteil gefällt ist. Und zweifelt sie an meinen Worten, so zweifelt sie auch an meinem Charakter. Was ich dann tun würde, weißt du.«
»Du würdest mit ihr brechen?«
»Ich würde sie vergessen.«
»Recht so! Es ist ein Prüfstein, an dem du Begas Liebe zu dir erkennen kannst. Tu, wie du gesagt hast. Natürlich begleitest du mich auf jeden Fall nach Indien.«
»Ja. Entweder werde ich dort mit freudigem Herzen arbeiten, im Heimatlande Begas, immer in den Gedanken, dass der Verdienst für meine Bemühungen ihr gilt, oder ich werde in strenger Arbeit meinen Schmerz zu vergessen suchen.«
»Lebe wohl, Oskar«, sagte der Vater weich, dem Sohne die Hand gebend. »Ich wünsche dir Glück oder vielmehr Gerechtigkeit, und sollte sie dir nicht werden, so verzage nicht — du findest sie in Liebe bei mir und den Deinen.« —
Am Nachmittag fand das Verhör statt und nahm lange Zeit in Anspruch.
Mirzi erzählte der Wahrheit gemäß ihren in Gegenwart des Detektivs gemachten Ausruf zugunsten des Angeklagten auslegend. Monsieur Giraud habe ihr gesagt, ein reicher Deutscher wolle ihre Bekanntschaft machen, und sie sei darauf eingegangen. Reihenfels wunderte sich nicht wenig, als sie sogar eine Visitenkarte von ihm zeigte.
Monsieur Giraud konnte nicht aufgefunden werden, weder jetzt noch später, und Reihenfels allerdings verweigerte jede Auskunft darüber, weshalb der Betrüger ihn nach Olympia gelockt habe.
Das Urteil wurde einige Tage verschoben.
Reihenfels verbrachte diese Zeit in gedrückter Stimmung in seinem Hotel; mit Entsetzen und Zorn las er den Zeitungsrapport; durch die verfänglichen Fragen der Richter, zum Beispiel, wie oft er schon mit Mirzi verkehrt habe, wo er den Schmuck gekauft habe, den er ihr geschenkt, und so weiter, alles Fragen, mit denen die englischen Richter den Angeklagten in Verlegenheit bringen wollten, schien es, als ob Oskar der verworfenste Wüstling Londons sei. Am niederträchtigsten war es, dass die Zeitungen selbst sein wohlgetroffenes Porträt brachten.
Nachdem die übrigen Angeklagten, Herren und Mädchen, ohne Widerspruch zu Geldstrafen verurteilt waren, sprach der Richter auch über Reihenfels ein ›schuldig‹, was von den Geschworenen nicht anerkannt wurde.
Jetzt erst durfte man — um vorher den Richter nicht zu beeinflussen — die unterdes eingezogenen Erkundigungen über das Vorleben des Angeklagten veröffentlichen; es war tadellos, und Reihenfels wurde einstimmig von der Schuld, in einem öffentlichen Etablissement Unzucht getrieben zu haben, freigesprochen, weil nicht zu beweisen war, dass er Monsieur Giraud aufgefordert hatte, ihm mit Mirzi eine Zusammenkunft zu diesem Zweck zu verschaffen.
Die Zeitungen brachten wieder getreulich alles, vergaßen aber nicht hinzuzusetzen: freigesprochen wegen Mangels an Beweisen.
Phoebe überraschte eines Tages Bega, als diese in ihrem Zimmer einen Brief schrieb, den sie bei Eintritt der Tante schnell verstecken wollte.
»Wieder einen Brief an Reihenfels?«, fragte Phoebe spöttisch.
»Ja!«, rief Bega und sprang mit zornsprühenden Augen auf. »Ja, ich habe ihm wieder geschrieben, und ich werde auch noch eine Gelegenheit finden, ihm meine Zeilen zu übermitteln. Ihr dürft überhaupt meine Briefe nicht unterschlagen!«
»Doch, mein liebes Kind, wir dürfen und werden es immer tun, denn dein Vater ermächtigt uns dazu. Also werden wir auch stets deine Korrespondenz überwachen.«
»Ihr habt auch Briefe von Oskar unterschlagen?«
»Du hast nur einen bekommen, und den haben wir dir gegeben.«
»Nachdem ihr ihn gelesen habt!«
»Natürlich; das ist aber keine Unterschlagung!«
»Dann habt ihr andere unterschlagen!«
»Ich versichere dir, nein!«
»Oskar ist schon seit einer Woche in London, und er sollte mir noch nicht geschrieben haben?«
»Er hat dich vergessen!«
»Ich kenne ihn besser!«
»So? Kennst du Mister Reihenfels wirklich so genau?«
»Ich weiß, dass er mich liebt und mich nie vergessen wird!«
Phoebe verstand es vortrefflich, Teilnahme zu heucheln. Wie liebkosend zog sie Bega neben sich auf das Sofa.
»Setze dich, mein armes Kind, und höre, was ich dir zu sagen habe.«
»Was ist das? Du erschreckst mich!«, rief Bega, von einer bangen Ahnung erfasst.
Phoebe blickte sie wie mitleidig an.
»Du liebst Reihenfels wirklich?«, begann sie.
»Von ganzem Herzen! Wie kannst du so fragen?«
»Du tatest sehr unrecht, deine Liebe zu verschenken, ohne uns, deinen Erziehern, und ganz besonders, ohne mich, die ich dir eine zweite Mutter bin, vorher davon zu sagen. Oder bin ich nicht immer wie eine Mutter zu dir gewesen?«
»So sprich doch! Was ist mit Oskar?«
»Rede nicht mehr so vertraulich von ihm, er muss dir von jetzt ab ein Fremder sein; vergiss ihn! Wir hatten recht, als wir ihn von dir fernzuhalten suchten. Du darfst Reihenfels nie wiedersehen, er wird auch nicht wagen, dir jemals wieder vor Augen zu treten.«
Erstarrt hatte Bega diese Einleitung angehört.
»Man will ihn verleumden!«, rief Bega heftig.
»Einesteils wäre es uns lieb, wenn es nur Verleumdung wäre, denn leicht kann auch dein Name kompromittiert werden. Ich hoffte selbst, das Entsetzliche wäre nur Verleumdung, darum habe ich es bisher verschwiegen, nun es aber zur Tatsache geworden ist, musst du alles erfahren. Hier, lies!«
Sie gab Bega eine Zeitung und behielt einige andere Blätter noch zurück.
Dann betrachtete sie aufmerksam das Verhalten des Mädchens beim Lesen.
Je weiter Bega las, desto bleicher wurde sie. Sie las den Bericht der Verhaftung in Olympia, aber als sie zuletzt auch den Namen Oskar Reihenfels angeführt fand, die Schilderung las, in welchem Zustand man ihn und das Mädchen in dem Gemach überrascht hatte, sprang sie mit einem gellenden Schrei auf.
»Das ist eine Lüge!«, rief sie. »Ich glaube es nicht!«
Langsam wendete sie den Kopf und sah die Augen der Dame mit Spannung auf sich gerichtet.
Plötzlich kam ihr eine Ahnung.
»Ja, ich weiß, was ihr beabsichtigt!«, stieß sie hervor. »Ihr beide hasst aus einem mir unbekannten Grunde Reihenfels, ihr wollt nicht, dass ich mit ihm verkehre, und um uns zu trennen, wollt ihr ihn verdächtigen. Das Geschreibsel hier ist eine schamlose Lüge!«
Phoebe lachte.
»Aber Kind, glaubst du, wir hätten diese Zeitung eigens drucken lassen?«
»Sie lügt!«
»Denkst du, alle diese namentlich angeführten Herren und Reihenfels dazu, würden ihren Namen in den Zeitungen brandmarken lassen, wenn sie nicht Schweigen müssten, weil die Berichte nur die Wahrheit bringen?«
Es entstand eine lange Pause. Bega starrte auf die Zeitung.
»Das — das sollte wahr sein?«, stöhnte Sie dann. »Nein, ich kann es nicht glauben; ich kann nicht! Oskar kann mich nicht so vergessen!«
»Er ist noch sehr jung«, sagte Phoebe achselzuckend. »Auch du besitzt natürlich noch keine Ahnung. Möchte dies die erste und letzte traurige Enttäuschung sein, die du mit Männern machst!«
»Es kann nicht mein Oskar sein!«, wiederholte Bega wie geistesabwesend. »Es ist nur ein gleicher Name!«
»Dann muss ich dir, so leid es mir tut, auch noch die anderen skandalösen Berichte zu lesen geben.«
Bega las auch die übrigen Zeitungen. Über Oskar handelten ganze Spalten, jede Frage des Richters war angeführt.
»Nun, was sagst du dazu?«
Bega konnte nicht antworten. Ächzend sank sie auf das Sofa zurück.
Dann schleuderte sie die Blätter, wie von einem Ekel erfasst, hastig von sich.
»Hier ist das letzte Blatt, das Urteil behandelnd.«
Bega ergriff das dargereichte Blatt nicht.
»Nichts mehr — nichts mehr! Genug davon!«
»Reihenfels ist nicht verurteilt worden.«
»Ich will nichts mehr hören!«
»Er ist freigesprochen worden.«
Jetzt horchte Bega doch auf.
»Er ist unschuldig?«
»Das kann wohl keiner behaupten. Man durfte ihn nicht verurteilen, weil der Hauptzeuge fehlte. Hier, lies!«
»Ich mag nicht!«
»Sieh hier wenigstens das Porträt des in London wohlbekannten Wüstlings, daneben das seiner Geliebten.«
Bega warf einen Blick auf die Züge Oskars und schauderte zusammen.
»Zweifelst du nun noch an der Wahrheit?«
»Nein. Verlass mich, ich bitte dich! Ich muss allein sein, oder — ich —ich —«
Phoebe zog das Mädchen, dessen Lippen krampfhaft zuckten, an sich.
»Armes Kind, hättest du doch auf uns gehört! Wir haben es so gut mit dir gemeint, als wir dich vor diesem Reihenfels warnten. Ach, dass es so weit kommen musste, ehe dir die Augen geöffnet wurden! Wie gern hätten wir deinem jungen Herzen einen solchen Schmerz erspart.
Schlag ihn dir aus dem Sinn, denk an etwas anderes! Da hat Eugen geschrieben, er kommt heute nach Hause und wird sicherlich...«
»Lass mich allein!«, flehte Bega mit herzzerreißender Stimme.
Phoebe durfte nicht zu weit gehen, sie musste mit diesem Erfolg zufrieden sein. Schnell entfernte sie sich, sah aber noch, im Türrahmen stehend, wie sich Bega auf das Sofa warf und ihr Gesicht in den Händen vergrub.
Mit triumphierendem Antlitz trat Phoebe vor Francoeur.
»Ich sehe es dir an, wir haben unser Ziel erreicht!«, empfing dieser sie.
»Vollkommen. Der Schlag war zu gewaltig, sie wurde niedergeschmettert.
Jetzt liegt sie gebrochen auf dem Sofa!«
»Sie weint über den Verlorenen. Das ist eigentlich nicht gut!«
»Das kennst du nicht. Sie weint nicht über ihn, sie lässt nur den Schmerz austoben, mit dem jedes Weib zu kämpfen hat, wenn es sich betrogen sieht.
Lass ihn vorüber sein, dann wird sich stets Hass oder Verachtung gegen den Treulosen zeigen. Bega wird fortan Verachtung gegen Reihenfels hegen, und das ist besser als Hass, denn dieser kann nur zu leicht in den Gegensatz, in Liebe umschlagen, Verachtung nie.«
»Du meinst, auch eine Begegnung zwischen beiden würde keine nachteiligen Folgen haben?«
»Nie!«
»Reihenfels könnte sich aussprechen. Seine Unschuld beteuern und Bega ihm glauben!«
»Sie wird ihn gar nicht anhören, verlass dich darauf! Außerdem ist Reihenfels ein harter Kopf, der kein Misstrauen duldet!«
»So hätten wir also unser Ziel erreicht; mit dieser Liebschaft ist es aus.
Monsieur Giraud hat seine Sache gut gemacht. Eins wundert mich. Sollte Reihenfels keinen Verdacht geschöpft haben, dass Monsieur Giraud im Einvernehmen mit uns gehandelt hat?«
»Es scheint nicht so, aber Reihenfels hat es vermeiden wollen, den Namen Begas mit in die unsaubere Geschichte zu ziehen. Sehr edel von ihm!
Sein Edelmut wird nur leider schlecht vergolten!«
Oskar Reihenfels stand vor dem Hause Lady Carters, um Abschied zu nehmen und seine Sachen einzupacken.
Jeremy öffnete ihm, Reihenfels streckte dem alten Diener, seinem Freunde, die Hand entgegen.
»Ich biete dir einen seltsamen Gruß: statt den des Wiedersehens ein Lebewohl.«
»Sie wollen fort?«, brummte Jeremy, die Hand ergreifend und schüttelnd.
»Ja, ich gehe nach Indien.«
»Ach, machen Sie keinen Scherz! Wegen jener dummen Geschichte wollen Sie gleich übers Meer, nach Indien? Das ist Unsinn! Lassen Sie die Schwätzer und alten Weiber doch reden, was sie Lust haben, unsereins gibt keinen Pfifferling darauf.«
»Also auch in dieses stille Haus haben sich jene Zeitungen verirrt!«, seufzte Oskar.
»Natürlich, dafür hat schon Westerly gesorgt. Also Sie wollen wirklich nach Indien?«
»Ja, aber nicht, um mich vor den Leuten zu verstecken, denn ich bin unschuldig, sondern ich gehe mit meinem Vater in einem ehrenvollen Auftrage nach Indien.«
»Lieber wäre es mir, Sie gingen nach dem Pfefferlande.«
»Was sagst du da?«, fragte Oskar erstaunt.
»Nun ja, dann könnten Sie Mister Westerly gleich mitnehmen.«
»Ach so, deinen speziellen Freund! Ist er da?«
»Ja, er scharwenzelt immer bei der Lady herum und zieht wahrscheinlich bös über Sie her. Ach, Mister Reihenfels, wenn das nur ein gutes Ende nimmt!«
»Bei Lady Carter wird er vergebens versuchen, mich zu verdächtigen. Sie denkt zu hochherzig, als dass sie durch elende Einflüsterungen an meinem Charakter irre werden könnte.«
»Nein, Mister Reihenfels, ich meinte das mit der Heirat. Kommt diese zustande, dann schnürt Jeremy sein Bündel. Dem aufgeblasenen Westerly diene ich nicht!«
»Ich glaube nicht, dass du deine Herrin verlässt, selbst wenn es dir hier nicht mehr gefiele. Doch meine Zeit drängt, bitte, melde mich bei Lady Carter an, und vielleicht hilfst du mir dann meine Sachen packen! Ist Miss Woodfield noch auf Besuch hier?«
»Nein, aber Eugen«, entgegnete Jeremy und ging, Reihenfels anzumelden.
Emily nahm von ihm, als sie von seinem Vorhaben erfahren, einen herzlichen Abschied ohne Andeutungen über die letzten Ereignisse zu machen.
Er selbst fing davon an.
»Es können Jahre vergehen, ehe sich mir eine Gelegenheit bietet, Sie wiederzusehen; vielleicht ist dies auch ein Abschied für immer. Ich habe eine schöne Zeit in Ihrem Hause verlebt, ich fühlte mich hier nicht mehr fremd.
Dank Ihrer Güte glaubte ich mich oftmals in mein Mutterhaus zurückversetzt. Wie ich mich Ihrer stets mit warmen Herzen erinnern werde, möchte ich, dass auch Sie meiner nur in Wohlwollen gedenken. —«
»Nicht in Wohlwollen, sondern in treuer Freundschaft«, unterbrach ihn Emily. »Durch Ihr Fortgehen wird in meinem Hause ein Platz offen, der nimmer ausgefüllt werden kann. Ich hätte gewünscht, Sie wären geblieben.
Doch ich will Ihrem Glücke nicht im Wege sein.«
»Auch nachdem Sie von meinen unfreiwilligen Erlebnissen erfahren haben?«
»O, sprechen Sie nicht davon!«, rief Emily fast unwillig. »Ich habe nur den Anfang jenes Verhörs gelesen, dann warf ich die Zeitungen fort, und wenn Sie auch verurteilt worden wären, mir gegenüber hätte niemand Sie für schuldig halten sollen. An mir hätten und haben Sie noch den wärmsten Verteidiger gefunden.«
»Ich danke Ihnen. Ich wusste von vornherein, dass Sie meinem Charakter nichts schlechtes zutrauen konnten, und doch trat ich vorhin mit bangem Herzen vor Sie hin.«
»Sie taten unrecht daran. Wissen Sie nicht, dass auch ich gegen einen Verdacht gekämpft und noch zu kämpfen habe — gegen den Verdacht, das Weib eines Hochverräters zu sein? Aber genug, nichts mehr davon! Mister Reihenfels, ich habe noch eine Bitte an Sie.«
»Sie machen mich glücklich!«
»Sie gehen nach Indien, in jenes Land, aus welchem die schwarze Wolke emporstieg, die über mein Haus zog und Blitz auf Blitz auf dasselbe sendete, bis all mein Glück vernichtet war. Sie kennen ja die schrecklichen Ereignisse, die sich vor sechzehn Jahren abspielten.«
»Ich bin vollkommen orientiert.«
»Sie wollen das Leben jener Menschenklasse studieren, zu welcher auch der Urheber meines Unglücks gehört. Nach der Behauptung Ihres Vaters ist Timur Dhar damals lebendig begraben worden, und vielleicht lebt er noch jetzt. Mister Reihenfels, denken Sie in Indien an mich, denken Sie an Eugenie, an mein Kind! Vielleicht lebt es noch!«
»Neben meinen Forschungen soll das Auffinden Ihres verschollenen Kindes stets meine Hauptaufgabe sein. Jede Stunde, jede Minute meiner freien Zeit will ich ihr widmen«, versicherte Reihenfels.
»Ich habe noch Hoffnung, Eugenie dereinst wiederzusehen«, fuhr Emily fort. »Was jener Gaukler damals prophezeit hat, ist bis jetzt immer in Erfüllung gegangen, und so glaube ich auch, ich werde meine Tochter noch wiederfinden.«
»Das Wiedersehen sollte hundert Jahre nach der Schlacht bei Plassy geschehen.«
»Jetzt sind es nur noch zwei Jahre bis dahin.«
»Ich werde diese Zeit nicht abwarten, sondern meine Nachforschungen sofort beginnen. Ebenso sollte das untergeschobene Kind, Eugen, seinen richtigen Namen mit dem siebenzehnten Jahre nennen, also in einem Jahre.«
»Das ist wohl kaum möglich«, lächelte Emily.
»Bei Gott«, rief Reihenfels, »seit die unglaubliche Behauptung meines Vaters sich bewahrheitet hat, würde ich mich nicht mehr wundern, wenn Eugen in seinem siebzehnten Jahre plötzlich einmal in Verzückungen fiele und fortwährend einen indischen Namen riefe. O, wir haben viele Rätsel zu lösen! Es gilt, einen Menschen zu finden, der zu der Kaste der Gaukler und Fakire gehört und in alle Geheimnisse eingeweiht ist. Dann wird der Schleier wohl von manchem Wunder fallen.«
Mit tiefer Rührung verließ Reihenfels die schöne, edle Frau.
Auf dem Korridor begegnete er Mister Westerly.
Da dieser an ihm vorüberging, als wäre er Luft, so schien auch Reihenfels ihn nicht zu sehen.
Auf seinem Zimmer half Jeremy ihm beim Packen der Sachen, welche mittels Wagens nach London geschickt werden sollten. Auch Eugen fand sich ein, um von seinem Hauslehrer Abschied zu nehmen, und Reihenfels entging es nicht, dass der junge Mann sich zurückhaltend benahm. Doch ihn kränkte das nicht, im Gegenteil, es war ihm lieb. Diese Zurückhaltung und Scheu war das Zeichen eines unverdorbenen Charakters.
»Sie gehen nach Indien«, sagte der junge Mann. »Ich wünsche Ihnen Glück und viele Erfolge.«
»Danke, ich Ihnen ebenso. Wie gefällt Ihnen Ihr neuer Beruf?«
»Ausgezeichnet!«
»Wann werden die Epauletten Ihre Achseln schmücken?«
»Ich hoffe, etwa in einem Jahre. Vielleicht sehen wir uns einst in Indien wieder.«
»Wünschen Sie, dorthin kommandiert zu werden?«
»Natürlich! Es ist mein Vaterland.«
»Ich glaube, Mister Eugen, Sie werden entweder für immer in Indien stationiert, oder aber Sie bekommen es als Offizier überhaupt niemals zu sehen.«
»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Eugen erstaunt.
»Entweder glaubt man — doch nein, das ist Torheit, ich dachte an etwas Anderes«, unterbrach sich Reihenfels. »Nicht diese Bücher, Jeremy, die sind Lady Carters Eigentum.«
Er hatte sagen wollen, dass man Eugen entweder in Indien sehr gut gebrauchen könnte, weil er als geborener Inder sich schnell einleben, die Sitten akzeptieren, das Vertrauen der eingeborenen Soldaten gewinnen würde, dagegen könnte man auch fürchten, dass Eugen seinen Landsleuten beistehen und an England zum Verräter werden würde. In den Kolonien ist oft der jüngste Offizier ein kleiner Feldherr und in Besitz der wichtigsten Generalstabsgeheimnisse.
Reihenfels gab Jeremy die Order, die Sachen nach dem Bahnhof bringen zu lassen; er selbst wollte noch einen Spaziergang in die Umgegend, die er so liebgewonnen, machen.
»Leben Sie wohl, Eugen!«, sagte er. »Vielleicht führen uns die Wege noch einmal in Indien zusammen.«
Er hatte das Zimmer schon verlassen, als Eugen ihm noch einmal nachgeeilt kam. Der Jüngling wollte etwas sagen, seine Lippen zuckten, aber er brachte nichts hervor. Reihenfels drückte ihm noch einmal die Hand und ging schnell fort.
»Der arme Junge«, murmelte er, »ich weiß, woran er leidet! Er liebt Bega, und ich dürfte ihm nicht verargen, wenn er mich sogar hasste, denn er ist ja ein Mensch, noch dazu ein heißblütiger, und steht unter der Gewalt von Leidenschaften. Bega! Was wird sie sagen? Ich kenne ihre Lieblingsplätze im Walde, und auf einem derselben werde ich sie schon finden.«
Er brauchte auch nicht lange zu suchen. Kaum hatte er die Waldungen betreten, welche zum Besitz des Franzosen gehörten, so sah er schon in der Ferne ein blaues Kleid zwischen den Bäumen schimmern — es war Bega.
Mit klopfendem Herzen näherte er sich ihr. Hier fehlte das Unterholz, er konnte sie immer sehen, und auch sie hätte ihn bemerken müssen, denn die Äste knackten laut unter seinen Füßen.
Bega saß auf einem Baumstumpfe und las in einem Buche. Seltsam! Sollte sie so in die Lektüre vertieft sein, dass sie gar nichts vernahm? Reihenfels war zwei Meter von ihr entfernt, er blieb stehen und hielt ängstlich den Blick auf sie gerichtet. Eine furchtbare Ahnung krampfte ihm plötzlich das Herz zusammen.
»Bega!«, sagte er leise.
Keine Antwort! Das Mädchen sah nicht auf. Nein, es konnte nicht sein, sie hatte mit ihrem Geliebten nur einen mutwilligen Scherz vor.
»Bega!«, erklang es lauter.
Da endlich hob sie den Kopf. Aber sie sprang nicht mit einem jubelnden Rufe empor und warf sich nicht an die Brust des Geliebten; ruhig blieb sie sitzen, und Reihenfels blickte in ein schönes Gesicht, aber so starr wie das Antlitz der Medusa.
»Was wünschen Sie?«, fragte sie eisigkalt.
Unbeweglich stand Reihenfels vor ihr. Sein Herz hatte zu schlagen aufgehört; minutenlang schauten sich beide schweigend an.
»Bega!«, wiederholte er zum dritten Male.
»Was wünschen Sie? Wer sind Sie? Ich kenne Sie nicht!«
Reihenfels wollte lächeln, aber seine Lippen konnten nur krampfhaft zucken. Er sah, wie sich zwischen ihnen ein Abgrund öffnete, dessen Breite und Tiefe mit entsetzlicher Schnelligkeit zunahm. Noch einmal versuchte er ihn zu überbrücken.
»Bega, du hast gehört, in welch unangenehme Situation ich vor einigen Tagen gekommen bin. Aber ich bin freigesprochen worden, und ich versichere dir auf mein Wort, dass ich unschuldig bin.«
»Ja, ich weiß, dass Sie unschuldig sind, weil man Sie freigesprochen hat —
wegen Mangels an Beweisen.«
Reihenfels stand noch einen Augenblick wie leblos da, die Augen starr auf das schöne Mädchen gerichtet, dann drehte er sich langsam, wortlos um und entfernte sich mit schwerem, schleppendem Schritt.
Bega blickte ihm nicht nach, sie senkte wieder den Kopf und las weiter oder schien doch zu lesen.
Der Schritt war schon verklungen. Warum schrak da plötzlich Bega zusammen, obwohl es im Walde doch so totenstill war? An ihr Ohr war ein Ton geschlagen, nur in ihrer Einbildung, aber er hatte entsetzlich geklungen, fast wie das letzte Röcheln eines Sterbenden, aus wunder Brust kommend.
Bega sprang auf.
»Oskar!«, gellte es von ihren Lippen.
Aus dem Walde kam keine Antwort; Bega sank wieder zurück.
»Nein, nein«, murmelte sie und zog dabei die Stirn in Falten, »nur keine Schwachheit zeigen! Es ist vorbei, für mich ist er tot.«
Sie begann wieder zu lesen.
Aber was war denn das? Ein Teufelsspuk? War das noch jenes Buch von vorhin, der englische Roman? Natürlich, sie hatte es ja nicht aus der Hand gelegt. Wie gebannt hingen ihre Augen an den Blättern, es begann, ihr zu grausen.
Die Buchstaben tanzten auf den Seiten einen wilden Reigen, sie änderten ihr Aussehen; wie Ameisen krochen sie durcheinander, dann ordneten sie sich, sie bildeten kleine Zeilen, plötzlich standen sie wie auf ein Kommando still und bildeten ein Gedicht.
Er ist gekommen
In Sturm und Regen,
Ihm schlug beklommen
Mein Herz entgegen...
Bega blätterte um, den Spuk zu zerstören, aber er wich nicht, auch auf der anderen Seite setzte er sich fort.
Er hat genommen
Mein Herz verwegen
Nahm er das meine?
Nahm ich das seine?
Die beiden kamen sich entgegen.
Sie blätterte weiter — umsonst.
Der Freund zieht weiter,
Ich sah es heiter;
Denn er bleibt mein auf allen Wegen.
Da schlug plötzlich wie Donnerhall eine brausende Melodie an ihr Ohr, die Winde heulten sie so hoch über ihr in der Luft, und die Blätter der Bäume rauschten dazu den Text.
Bega schleuderte das Buch von sich und floh, von Entsetzen gepeitscht, dem Hause zu.
Sie hörte und sah nicht, dass Eugen an der Waldblöße stand, ihren Namen rief und verlangend die Arme nach ihr ausstreckte, sie hörte nur die überirdische Stimme, die ihr mit tausendfachem Echo zurief: Denn er bleibt dein auf allen Wegen!
Wieder war ein Jahr verstrichen, und wieder prangte der mächtige Wald von Wanstead in vollem Laubschmuck.
Vor der efeuumrankten Kirche des Städtchens stand im Scheine der untergehenden Sonne ein Mann und weidete sich an dem schönen Anblick.
Die Vorübergehenden wiederum musterten erstaunt den Mann, und das will in der Nähe von London etwas heißen, wo abenteuerliche Gestalten, ob weiß, braun, schwarz oder rot, kein Aufsehen erregen.
Der Fremde war über sechs Fuß hoch und von herkulischem Körperbau.
Ob alt oder jung konnte man nicht sagen, denn sein Gesicht glich einem braunen Stück Leder; unter der schiefen Nase saß ein struppiger Schnauzbart von unbestimmter strohähnlicher Farbe, wie das Haar sie bei fortwährendem Aufenthalte in jedem Wetter annimmt, und wie das Gesicht, so schienen auch die ansehnlichen Hände mit einem Lederüberzuge bedeckt zu sein.
Das Seltsamste an ihm war sein Anzug; es schien fast, als sei er ein Mann, der zum ersten Male in eine zivilisierte Gegend gekommen wäre, Geld in der Tasche hätte und sich nun nach der Mode kleiden wollte.
Der gelbe, großkarierte Anzug, ganz frisch vom Schneider, saß ihm wie angegossen, das heißt, er umschloss Waden, Schenkel, Arme und die gewölbte Brust so eng, dass man bei jeder Bewegung ein Platzen der Nähte befürchten musste; die Hosen waren viel zu kurz; über den neuen mit Nägeln beschlagenen Schuhen sah man noch wenigstens drei Zoll von roten Strümpfen.
Auf dem mächtigen Kopfe saß eine braune Pelzmütze — ein in England ganz unbekanntes Ding — und so machte der Fremde den Eindruck eines Grislybären, der einen modernen Anzug gefunden und anprobiert hat.
Die scharfen, blauen Augen in dem gutmütigen Gesicht musterten mit Wohlgefallen die schöne Kirche.
»Gerade, wie vor siebzehn Jahren«, murmelte er, »nichts hat sich geändert! Ich habe sie nur einmal als Kind gesehen, als ich mit anderen Jungen zu Pfingsten hierher marschierte, aber ich habe sie nie vergessen können.
Ob ich einmal hineingehe? Du lieber Gott, wie lange bin ich in keine Kirche gekommen! Ich kann mich gar nicht erinnern, jemals in einer gewesen zu sein!«
Es schien in dem Gotteshause gearbeitet zu werden, denn es tönten Hammerschläge und Krachen von Brettern heraus, während sonst überall die Arbeit eingestellt war.
Der Fremde ging auf das Portal zu, ganz langsam und mit geknickten Knien, aber dabei Schritte von fast zwei Meter Länge machend. Er nahm die Pelzmütze von dem struppigen Haar und trat ein.
Es wurde wirklich in der Kirche noch zu so später Abendstunde gearbeitet. Zimmerleute schlugen an den Wänden leichte Gerüste auf, auf denen Maler standen und die Farbe der Wände auffrischten.
Mit sichtlicher Neugier musterte der Fremde alles, während sich die Arbeiter anstießen und über den seltsamen Kauz lachten.
»Ihr habt wohl noch niemals eine Kirche gesehen?«, fragte ihn einer.
»Nein, inwendig noch nie.«
»Woher kommt Ihr denn?«
»Von drüben«, war die kurze Antwort, von einer bezeichnenden Handbewegung begleitet.
»Von Amerika? Gibt es denn dort keine Kirchen?«
»Wo ich herkomme, nicht.«
»Wo wart Ihr denn?«
»Da, wo es nur Schnee und Eis gibt.«
»Und was habt Ihr denn da gemacht?«
»Schnee geschaufelt.«
Der Engländer sah den Amerikaner erstaunt an, schien aber seinen Worten zu glauben.
»Warum wird denn hier noch gearbeitet?«, fragte nun seinerseits der Fremde.
»In acht Tagen soll eine Hochzeit gehalten werden, und bis dahin muss alles fertig sein.«
»Hochzeit, was ist das?«
»Wie? Das wisst Ihr nicht? Eine Trauung!«
»Trauung? Ach so, Ihr meint eine Heirat So, so, und die feiert man also in der Kirche.
Wird hier auch gegessen und getrunken?«
»Gott bewahre, die richtige Feier findet natürlich im Hause statt.«
»So, so. Wer will sich denn verheiraten?«
»Eine Dame, Lady Carter. Ihr zukünftiger Mann ist Mister Edgar Westerly.«
»Lady Carter?«, sagte der Fremde nachdenkend und legte den Finger an die Nase. »Den Namen sollte ich doch kennen.«
»Sie ist die Witwe Sir Frank Carters, der vor siebzehn Jahren in Indien gestorben ist.«
»Richtig, jetzt entsinne ich mich, ich war damals ein kleiner Bube. Die Geschichte drehte sich auch mit um so einen indischen Gaukler. Aber sagt einmal, mein Freund, seid Ihr in Wanstead bekannt?«
»Gar nicht, wir kommen alle aus Seeresbrook.«
»Dann gute Nacht und nichts für ungut, dass ich Euch von der Arbeit abgehalten habe!«
Er drehte sich um und ging.
»He, Fremder!«, rief ihm der Arbeiter noch einmal nach.
»Was gibt's?«
»Eure Hosen sind verdammt kurz.«
»Sie gefielen mir aber, und so habe ich mir sie genommen.«
»Habt Ihr die beim Schneider Preskott in Wanstead gekauft? Ihr habt aber zu viel für den Anzug bezahlt, drei Pfund ist er nicht wert, kaum die Hälfte.«
»Ja, aber woher wissen denn nur alle Leute, wo ich den Anzug gekauft und wie viel ich bezahlt habe?«
»Wir Londoner haben einen eigentümlichen Scharfblick für so etwas«, grinste der Arbeiter.
Kopfschüttelnd verließ der Amerikaner die Kirche und ging auf der Landstraße weiter.
An einer Ecke fragte er einen Jungen nach dem Gasthaus Robin Hood.
Er wurde zurechtgewiesen, aber wieder ertönte es hinter ihm lachend:
»Der hat beim Schneider Preskott einen Anzug für drei Pfund gekauft, der nur ein Pfund wert ist. Hahaha, so ein Dummtopf!«
Der Junge riss schnell aus, der Fremde zeigte jedoch, dass er durchaus nicht so langsam war, wie seine bedächtigen Bewegungen sonst andeuteten.
Mit ein paar großen Sprüngen hatte er den Jungen eingeholt und am Kragen gepackt.
»Du verdammter Schlingel, woher weißt du das?«
»Lassen Sie mich los, Sir!«, heulte der Bengel.
»Ich will erst erfahren, woher du weißt, wie viel ich für den Anzug bezahlt habe.«
»Das kann doch jeder sehen.«
Kopfschüttelnd ließ der Mann ihn los.
»Die sind ja in den siebzehn Jahren furchtbar schlau geworden«, brummte er, »so weit haben wir es früher doch noch nicht gebracht.«
Nach einer langen Wanderung durch den Wald, der sich neben Wanstead hinzog, stand er endlich vor dem Haus, das ihm als Robin Hood bezeichnet worden war. Er wollte nicht glauben, dass dies ein Gasthof sei, weil es wie eine zerfallene Ritterburg aussah.
»He, Freund, ist dies das Gasthaus Robin Hood?«, fragte er einen Mann, der eben herauskam.
»Ja, dort steht es ja angeschrieben.«
»Wo?«
»Dort, auf dem Schild.«
»Was steht denn da drauf?«
»Gasthaus zum Waldkönig Robin Hood, gutes Ale, Porter(*) und so weiter«, lachte der Gefragte. »Seht Ihr so schlecht? Die Buchstaben sind doch groß genug.«
(*) Englische Biere.
»Ich sehe wie ein Luchs, sogar im Finstern.«
»Dann könnt Ihr wohl nicht lesen?«
»Nein«, war die offene Antwort.
Die Gaststube war stark besetzt. Der Fremde, dessen Eintritt auch hier Verwunderung hervorrief, nahm in einer Ecke Platz und bestellte bei dem Schenkmädchen ein Glas Bier. Er sah überall lächelnde Gesichter auf sich gerichtet, und jetzt wurde der sonst gutmütige Mann wirklich unwillig.
»Was lachen denn die Kerle eigentlich alle?«, fragte er das Mädchen. »Ihr selbst macht auch einen Mund, als wolltet Ihr Euch die Ohren abbeißen.«
»Ich freue mich, dass ein so hübscher Mann zu uns kommt«, kicherte die Gefragte.
»So, bin ich wirklich so hübsch? Das habe ich noch gar nicht gewusst.
Ich kalkuliere aber, die lachen aus einem anderen Grunde, und das Donnerwetter soll sie holen, wenn sie mich lächerlich finden.«
»Ihr solltet bei dem heißen Wetter aber auch keine Pelzmütze aufsetzen.«
»Das kann ich machen, wie ich will.«
»Und drei Pfund für diesen Anzug ist ein bisschen viel«, lachte die Dirne und lief flink weg.
Der Fremde wurde jetzt ganz unwirsch. So etwas war ihm noch nie passiert.
Es kamen verschiedene Leute, auch Kinder, aus naheliegenden Häusern und holten hier Bier. Einmal erscholl hinter dem Fremden ein lautes Lachen, und als er sich umwandte, sah er ein kleines Mädchen stehen, den gefüllten Bierkrug in der Hand und aus Leibeskräften lachend.
»He was lachst du denn, kleine Kröte?«, rief der Fremde und haschte das Kind.
»Ach, das ist ja zu drollig, man hat Euch einen Zettel auf den Buckel geklebt.«
»Auf den Buckel? Seit wann habe ich denn einen Buckel? Mach das Ding einmal ab!«
Die Kleine nestelte ihm auf dem Rücken herum, es rissen Fäden, und dann zeigte sie ihm eine und bedruckte und beschriebene Karte.
»Was steht denn da drauf?«, fragte er.
»Ich kann noch nicht lesen.«
»Dann geht's dir gerade so wie mir.«
Die Kellnerin, welche ebenso wie viele andere Gäste die kleine Szene gesehen hatte, trat lachend an seinen Tisch.
»Nun will ich Euch sagen, warum Ihr uns so komisch vorkamt. Seht, auf dieser Karte steht die Adresse des Schneiders, bei dem Ihr den Anzug gekauft habt, und darunter hat er über den Empfang von drei Pfund quittiert.
Er hat die Karte an den Rock gesteckt, und Ihr habt ihn wahrscheinlich gleich angezogen, ohne sie vorher abzumachen.«
»Natürlich, was ich kaufe, ziehe ich auch gleich an. Also darum lachen die Leute mich aus, weil ich den Beweis auf dem Rücken trage, dass ich den Anzug bezahlt habe? Hm, seltsame Mode hier in England!«
»Ihr seid aber auch arg betrogen worden. Der Anzug ist nicht die Hälfte wert.«
»Ich bin schon um mehr als zwei Pfund betrogen worden. Na, Kleine«, wandte er sich an das Mädchen und griff in die Tasche, »weil du mir gesagt hast, warum du über mich lachst, sollst du auch was bekommen. Hier, hast du einen Sixpence, stecke ihn in die Sparbüchse. Wie heißt du denn?«
»Peggy.«
»Und kommst allein in der Nacht hierher?«
»O, meine Großeltern wohnen gleich in der Nähe.«
»Wie heißen denn deine Großeltern?«
»Die heißt — die heißen eben Großvater und Großmutter.«
»Es ist die Enkelin von dem alten Moore«, erklärte die Kellnerin.
»Von wem? Vom alten Moore?«, rief der Fremde, und sein braunes Gesicht wurde plötzlich dunkelrot. »Doch nein, es ist nicht möglich!«
Er betrachtete das etwa fünfjährige Mädchen, welches einfach, aber sehr sauber und sorgfältig gekleidet war.
»Nein, es ist nicht möglich!«, wiederholte er köpfschüttelnd.
»Was ist nicht möglich?«, fragte die neugierige Kellnerin.
»Dass es die Enkelin des alten Moore ist.«
»Ich versichere es Euch. Fragt doch die Gäste!«
»Es mag noch andere Moores in Wanstead geben.«
»Vielleicht. Welchen meint Ihr denn?«
Der Fremde antwortete nicht. Er nahm die Kleine zwischen die Knie, ihren Kopf zwischen die schwieligen Hände und schaute ihr lange ins Gesicht.
»Wahrhaftig, das sind Augen die ich kenne!«, rief er dann erregt. »Peggy, wie heißt deine Mutter?«
»Die Mutter ist tot«, sagte das Mädchen ängstlich.
»Wie hieß sie denn?«
»Ich weiß nicht. Lasst mich los!«
»Hat man dir einmal von deinem Onkel Charly erzählt?«
»Ach ja, Großvater spricht manchmal von ihm. Der ist schon lange tot.
Er ist einmal als kleiner Junge fortgelaufen.
Der Fremde sprang auf, hob das Mädchen zu sich empor und küsste es.
»Nein, er ist nicht tot«, rief er mit bebender Stimme, »Charly lebt noch!
Komm, ich trage dich, und du zeigst mir den Weg. Fürchte dich nicht!«
Er verließ, das Mädchen auf dem Arm, eiligst die Gaststube.
»Das war der Charly, von dem Moore so oft spricht«, rief ein Gast erstaunt; »wenn der wiederkäme, dann fehlte seinem Glücke nichts mehr.«
Mit großen Schritten rannte der Fremde davon; er fragte die Kleine nur manchmal nach dem Weg, denn sein Herz war übervoll. Endlich deutete Peggy auf eine Hütte, deren verhangene Fenster erleuchtet waren; der Fremde öffnete die unverschlossene Tür des von Reblaub umsponnenen Häuschens und trat in die freundliche Stube, in deren Kamin Feuer brannte.
Die beiden alten Leute, welche am Tisch beim Abendessen saßen, fuhren beim Eintritt des Fremden erschrocken auf, denn der moderne Anzug vermochte sein wildes Aussehen nicht zu mildern.
Er aber setzte das Kind vorsichtig auf den Boden und ging mit ausgestreckten Armen auf die alte Frau zu.
»Mutter, kennst du mich nicht mehr?«
Da lag die Alte schon an der Brust ihres Sohnes, sie hatte ihn sofort an der Stimme erkannt. Beim Vater bedurfte es erst noch einiger Worte, ehe er in dem großen Manne seinen ehemaligen Buben Charly wiederfand.
Es war ein Wiedersehen, wie es eben nur zwischen Eltern und einem seit vielen Jahren verschollenen Sohne vorkommt. Dann ging es ans Erzählen, so kurz wie möglich, denn sonst hätte es bis zum anderen Morgen gedauert.
Charly hatte sich als achtjähriger Junge, des Hungerlebens und der Schläge zu Hause überdrüssig, an Bord eines Schiffes versteckt, war nach Kanada gesegelt. Dort der Absicht des Kapitäns entgegen, welcher ihn zurückbringen wollte, weggelaufen und nach langen Irrwanderungen endlich an die Hudson Bay gekommen, wo sich seiner ein alter Pelzjäger annahm und ihn wie seinen Sohn behandelte. Er fand Gefallen an dem wilden, ungebundenen Leben, und als er Büchse und Axt tragen konnte, folgte er den Pelzjägern auf ihren abenteuerlichen Fahrten in unwirtliche Territorien, ruderte mit in den ledernen Booten gegen Stromschnellen an, trug die Kanus auf den Schultern meilenweit über Schneefelder, überwinterte manchen Monat in einer Schneehütte, schoss Bären, Auerochsen und Wölfe, jagte auf Schneeschuhen den flüchtigen Elch, tauschte von Indianern Pelze ein, verteidigte die ihm anvertrauten Waren mit Büchse und Messer gegen den roten Sohn der Wildnis — kurz, er führte das Leben eines Pelzjägers.
Als der Direktor der Hudson Bay Company seinen Posten aufgegeben hatte, um selbst eine Pelzniederlage zu gründen, gehörte Charly zu den Trappern, welche ihm ihre Dienste anboten, und als der neue Herr nach London ging, um Pelzauktionen beizuwohnen, bat Charly, ihn in sein Heimatland mitzunehmen.
Nach Beendigung seiner Erzählung kratzte Charly sich in den struppigen Haaren und schaute sich argwöhnisch in der schmucken Stube um.
»Hm, Vater, hast du wieder auf ein Pferd gewonnen?«
»Nein, Charly, damit ist es vorbei. Was du hier siehst, das habe ich mir durch meine Hände verdient. Höre, wie es uns ergangen ist!«
Mit Freude und Stolz erzählte Moore auch, wie Miss Bega Peggy gerettet hatte und noch jetzt fast jeden Tag zu ihnen käme und manche Stunde in ihrem Hause zubrächte.
»Willst du nun bei uns bleiben?«, fragte dann Moore seinen Sohn.
»Ich weiß nicht, ob ich es lange aushalten kann; ich habe mich schon zu sehr an das wilde Leben gewohnt. Ich passe nicht mehr hierher, die Kinder lachen mich ja auf der Straße aus, weil meine Hosen nicht die richtige Länge haben, und solcher Unsinn behagt mir nicht. Ja, da komme ich nun freilich zu spät, aber so ist es umso besser.«
»Was meinst du damit?«
»Nun, ich habe mir etwas Tüchtiges gespart, ich wollte es hier irgendwo abgeben, damit ihr, solltet ihr noch leben, ein ruhiges Alter hättet. Na, vielleicht könnt ihr es auch noch brauchen, etwa um ein kleines Geschäftchen anzufangen?«
»Potztausend, ist es denn so viel?«
»So ungefähr zweitausend Pfund«, schmunzelte der Sohn.
»Was«, riefen die Eltern, »so viel verdienen die Pelzjäger?«
»Das ist Glückssache, und ich habe Glück gehabt. Wer sich wacker hält, kann immer viel verdienen, aber ihr müsst bedanken, dass man dabei jede Minute sein Leben aufs Spiel setzt.«
»Wo ist denn jetzt dein Herr?«
»In London; ein anderer Pelzjäger, der ihn nie verlässt, ist bei ihm. Den müsst ihr kennen lernen, der hat Haare auf den Zähnen, aber freilich nicht auf dem Kopfe. Indianer haben ihn einmal skalpiert und ihm auch noch die Ohren abgeschnitten. Als sie ihm auch noch die Nase abschneiden wollten, riss er sich von dem Baum los, an den er gebunden war, und schlug den Indianern mit ihren eigenen Tomahawks die Schädel ein.«
»Dort bei euch muss es ja grausigwild zugehen!«
»Ja, etwas anders freilich als hier. Aber Dick(*) ist kein Pelzjäger von Profession, sondern ein richtiger Scout, so ein Waldläufer und Pfadfinder, der zu ersticken glaubt, wenn er in einem Hause schläft. Solche wilde Indianer und Weiße gibt es bei uns im Norden nicht, die sind nur in südlicheren Gegenden zu finden. Dick hat Mister Woodfield vor vielen Jahren einmal in Texas getroffen und ihn seitdem nie wieder verlassen.«
(*) Dick ist der englische Kosename für Richard.
»Mister Woodfield sagst du? Ist das dein Herr?«
»Ja, so heißt er.«
»Herrgott, das wird doch nicht der Bruder von Miss Woodfield sein, den sie immer erwartet? Der ist Pelzhändler.«
Die Alten erzählten von ihr.
»Natürlich, das ist die Schwester von Mister Woodfield«, rief Charly, »die will er in London aufsuchen. Sie wohnt also hier ganz in der Nähe? Na, dann kommt er sicher mit Dick heraus, und ich kann für längere Zeit bei euch bleiben.«
Dadurch kam man auf das Haus der Lady Carter und ihre Gäste zu sprechen. Man gedachte ferner der früheren Besuche von Reihenfels und kam dadurch auf die Neuigkeiten.
»Diese beiden Reihenfels, Vater und Sohn, haben ihr Glück gemacht«, sagte der alte Moore, »die sind jetzt berühmte Leute geworden. Vor einem Jahre gingen sie nach Indien, um einen sogenannten Fakir zu finden, der sich lebendig begraben lassen kann; denn der alte Reihenfels hatte es behauptet und wollte es beweisen. Nun ist der junge Reihenfels zurückgekehrt und hat wirklich einen solchen Kerl mitgebracht, der sich lebendig tief unter die Erde begraben ließ. Nach vier Wochen ist er wieder ausgegraben worden, und Oskar Reihenfels hat ihn durch Aussprechen eines Wortes wieder lebendig gemacht. Unsereins hat natürlich nichts davon zu sehen bekommen, da waren nur die allerhöchsten Personen und Gelehrten dabei, aber man hört und liest nichts anderes mehr als immer nur von Reihenfels und von dem Fakir. Jetzt will ersterer ihn noch einmal begraben und dann wieder nach Indien gehen, um noch mehr solche Wundermenschen zu suchen.«
»Wie ist mir denn?«, murmelte Charly. »Reihenfels — Reihenfels — den Namen sollte ich doch schon einmal gehört haben!«
»Das könnte schon sein«, meinte die Mutter; »weißt du, Vater, dieser Reihenfels ist jener Mann, dem wir damals den Brief brachten, den Charly fand. Ich denke nicht mehr gern daran.
Du weißt doch, Reihenfels sollte ihn übersetzen; du holtest ihn aber wieder ab, weil du eine Belohnung dafür zu bekommen hofftest. Dann war er mit einem Male verschwunden. Damals habe ich den alten Reihenfels gesehen und auch seinen Sohn, einen hübschen Jungen von fünf Jahren, der seiner kranken Mutter gerade vorlas.«
»Ach, ja, jetzt entsinne ich mich!«, sagte der Vater.
Charly war aufgestanden, hatte den Finger an die Nase gelegt und schaute sich mit pfiffigem Lächeln in dem Zimmer um.
»Und ich entsinne mich auch auf etwas — das wäre ja seltsam! Sind das noch unsere alten Möbel?«
»Freilich sind sie es.«
»Du hattest sie aber doch einmal versetzt und sie nicht wieder eingelöst.«
»Ja, das ist eine merkwürdige Geschichte. Sie waren verfallen, und sechzehn Jahre habe ich sie nicht mehr gesehen, da plötzlich stehen sie in Wanstead vor einem Trödlerladen. Ich glaubte erst, sie sahen den unseren nur ähnlich; die Mutter aber behauptet steif und fest, es wären unsere alten.
Sie wollte sie durchaus wiederhaben, na, da habe ich unser Erspartes angegriffen und sie gekauft; man hängt doch an dem alten. Aber ich bin noch immer der Ansicht, dass es nicht die unsrigen sind.«
»Es sind unsere«, behauptete die Mutter.
»Das müsstest du beweisen. Unsere sahen überhaupt nicht so alt aus. Das Sofa hatte geschweifte Beine.«
»Nein, gerade!«, behauptete die Mutter. »Charly, was meinst du? Ist das nicht unser altes Sofa?«
»Das weiß ich nicht mehr, will aber mal probieren, ob ich etwas finde; dann könnte ich's gleich sagen.«
Er beugte sich über das Möbel und versuchte in die Ritze zwischen Sitz- und Rückenpolster die Hand zu schieben.
»Geht nicht mehr«, sagte er, »meine Hand ist unterdes zu groß geworden.
Vater, versuch du's einmal.«
»Hast du etwas hineingesteckt?«
»Ich will noch nichts verraten, probiere erst!«
Auch des Vaters Hände erwiesen sich als zu dick, die der Mutter waren vor Gicht steif, sie brachte nur die Fingerspitzen hinein, und Peggy konnte nicht bewogen werden, in die Ritze zu greifen, weil sie durch das geheimnisvolle Gebaren des Onkels eingeschüchtert worden war.
»Fatal«, sagte Charly, »ich möchte zu gern dahineinlangen. Was machen wir denn da?«
»Was ist denn darin?«
»Ich verrate noch nichts.«
»Warte noch ein paar Minuten«, meinte die Mutter, »Nelly muss gleich zurückkommen. Sie holt nur Gemüse ein.«
»Wer ist denn Nelly?«
»Ach so, das weißt du ja noch gar nicht! Im vergangenen Winter fanden wir eines Morgens ein junges Mädchen vor der Tür liegen, in Lumpen gehüllt und halb erfroren. Die Ärmste hatte in der kalten Nacht im Freien geschlafen. Wir nahmen sie herein, tauten sie auf und behielten sie bei uns, denn ich werde alt und steif und Nelly ist mir eine gute Stütze.«
»Woher kam sie denn?«
»Sie war aus einem Arbeithaus in Irland entlaufen und hatte sich bis hierher durchgebettelt, sie wollte nach London. Wenn wir sie nicht aufgetaut hätten, wäre sie erfroren.«
»Sie ist aber ordentlich aufgetaut«, brummte der Vater.
»Na ja, sie ist manchmal ein tolles Ding, aber sonst brav und willig«, verteidigte sie die Mutter; »Ich fürchte nur, wenn sie so weit ist, dass man sie zu allem gebrauchen kann, dann heiratet sie.«
Die Tür wurde stürmisch aufgerissen, und die Besprochene trat oder stürzte vielmehr ins Zimmer — ein junges Mädchen von vielleicht siebzehn Jahren, aber noch nicht oder eben erst zur Jungfrau entwickelt, mit einem hübschen, frischen Gesicht, aus dem die Stulpnase lustig in die Welt sah.
Ebenso lustig funkelten die grauen Augen, und die vielen kurzen schwarzen Zöpfchen, mit Papierwickeln durchflochten, flogen wie Schlangen um den Kopf. Das Unreife ihrer Erscheinung wurde noch dadurch gehoben, dass der Kattunrock ihr eben nur bis über die Knie reichte und so die weißen Strümpfe frei ließ. Ein Rußfleck an der Nasenspitze, ein anderer an der Backe vervollständigten das Bild.
Einen Augenblick stand Nelly bewegungslos da, die Augen auf den Pelzjäger geheftet, dann ließ sie plötzlich den am Arm hängenden Gemüsekorb fallen, warf sich in einen Lehnstuhl und wollte sich vor Lachen ausschütten, sodass die vielen Zöpfchen einen Wirbeltanz begannen. Unwillkürlich griff sich Charly an den Rücken ob dort noch der Zettel des Schneiders wäre.
»Was hat sie denn nur?«, fragte er dann.
»Es ist ein dummes Ding, sie lacht über alles«, erklärte die Mutter. »Hör auf, Nelly! Das ist der Charly, von dem wir dir erzählt haben. Er ist aus Amerika zurückgekommen.«
»Der Charly!«, lachte das Mädchen. »O, Gott — der hat ja — einen Pelzhut auf dem Kopfe — und Knöpfe hat er — auch nicht am Hemd.«
Endlich hatte sie sich über diese Eigentümlichkeiten beruhigt, es wurde ihr von Charly klargemacht, dass sie mit ihrer kleinen, aber kräftigen Arbeitshand einmal in die Ritze hineingreifen sollte.
»Da hinein?«, rief das Mädchen und streckte wie erschrocken beide Arme von sich. »Jesus Christus, nicht für alle Schätze der Welt — nein, das tue ich nicht!«
»Es ist doch nichts weiter dabei.«
»Nein, ich tu's nicht — nicht für alle Schätze der Welt!«
Charly holte einen Penny aus der Tasche. In England herrscht die Sitte, ganz unbekannten Kindern, selbst Säuglingen, und dem Dienstpersonal bei jeder Gelegenheit Kupfermünzen zu schenken.
»Ich gebe dir einen Penny, wenn du hineingreifst«, ermunterte Charly.
»Erst her damit!«
Sie ließ die Münze in der Tasche verschwinden und steckte jetzt gleich die Hand zwischen die Polster.
»Ich fühle nichts.«
»Da musst du tiefer hineinfahren.«
»Nicht für alle Schätze der Welt!«
Charly musste ihr noch einen Penny geben, dann griff sie tiefer hinein, fuhr aber gleich mit einem gellenden Schrei zurück, dass alle zusammenschraken, und rannte schreiend im Zimmer umher.
»O Gott, da steckt ja etwas darin!«, rief sie ein übers andere Mal, dadurch die Eltern nur noch neugieriger machend.
»Das sollst du eben herausholen«, sagte Charly.
»Nicht für alle Schätze der Welt!«
»Ich habe keinen Penny mehr.«
»Ich kann wechseln.«
»Nimm doch Vernunft an, Mädchen! Hol das Ding heraus, und ich schenke dir ein buntes, seidenes Tuch!«
Nelly blieb stehen.
»Ist das wirklich wahr?«
»Ganz gewiss!«
»Ist das Tuch rot?«
»Nein, blau.«
»Dann will ich's nicht haben. Es muss rot sein.«
»Ich lasse es dir färben.«
»Wollt Ihr das wirklich tun?«
»Wahrhaftig.«
»Schwört!«
»Weiß Gott, — ich tu's!«
Jetzt ließ die vorsichtige Nelly sich bewegen, noch einmal die Hand in die Ritze zu versenken.
»Ich fühle was! Ich fühle was!«, schrie sie. »Es ist ein Stück Papier.«
»Ja, ein Liebesbrief.«
Schnell zog Nelly die Hand zurück und hielt in dieser ein Stück Papier, einen Brief, hoch empor.
»Ja, warum habt Ihr denn das nicht gleich gesagt, dass es ein Liebesbrief ist? Dann hätte ich ihn sofort herausgeholt. Das Tuch bekomme ich aber doch; Ihr habt geschworen.«
Mit feierlicher Miene nahm Charly den Brief und hielt ihn in die Höhe.
»Hier ist der Beweis, dass dieses Sofa wirklich unser altes ist, also hatte es auch gerade Beine. Diesen Brief steckte ich vor siebzehn Jahren in die Ritze, denn ich hatte die fremdländische Briefmarke abgemacht und dachte, ihr suchtet den Brief der Marke wegen. Um keine Schläge zu bekommen, ließ ich ihn verschwinden. Nun, Vater, ist es unser altes Sofa?«
»Ja, jetzt ist es bewiesen«, entgegnete der Gefragte, nahm den Brief und las die Adresse, »Mister Timur, Hotel Royal, Oxford Street, London.«
Das Kuvert enthielt wirklich noch das Pergament mit den krausen Buchstaben.
»Der alte Reihenfels wollte es mir gar nicht wiedergeben«, sagte die Mutter, »er hätte es zu gern behalten und übersetzt. Es gibt solche Menschen, die nichts lieber tun, als ein Rätsel lösen. Als er es mir gab, sagte er noch:
›Sie werden in London niemanden finden, der Ihnen diese Geheimschrift übersetzen kann.‹
»Ja, Reihenfels ist ein kluger Kopf.«
»Ob sein Sohn es wohl könnte?«
»Hm!«, brummte der Alte. »Wie wär's, wenn wir mit dem Briefe einmal zu ihm gingen und ihm alles erzählten? Vielleicht bringt er ihn seinem Vater, oder er selbst übersetzt ihn!«
»Was haben wir aber davon? Nur die Reise müssen wir noch bezahlen.«
»Sprich nicht so, Mutter! Das ist eine Gefälligkeit, und dabei bekommen wir Gelegenheit, den Fakir einmal zu sehen. Ich bin auf so etwas furchtbar neugierig; mich gruselt's gern. Nun, wollen wir morgen nach London fahren und den jungen Reihenfels aufsuchen?«
»Na, meinetwegen, ich komme auch mit.«
»Du musst bedenken, dass der Brief doch vielleicht etwas enthält, was Aufschluss über den Kindesraub von damals gibt oder auch über Timur Dhar, den Reihenfels sucht. Zuletzt werden wir gar noch berühmt.«
Lady Carter war mit der Anprobe ihres Hochzeitskleides beschäftigt, als eine Kammerzofe meldete, dass Leutnant Carter im Vorzimmer warte.
»Wie, mein Sohn ist schon hier?«, sagte Emily erstaunt. »Er schrieb mir doch, der Urlaub beginne erst in einer Woche. Nun, es gilt wohl nur einen kurzen Besuch.«
»So sieht es nicht aus«, entgegnete das Mädchen, »er bringt große Koffer mit und hat einem Diener Befehl gegeben, sein Zimmer in Ordnung zu bringen.«
»Dann tritt er seinen Urlaub schon jetzt an. Desto besser.«
Emily fertigte so schnell wie möglich die Schneiderinnen ab und empfing den jungen Mann, den sie als ihren Sohn betrachtete und auch so liebte.
Eugen, seit kurzem Leutnant, hatte sich herrlich entwickelt. Obgleich erst siebzehn Jahre, sah er bedeutend älter aus, wozu der starke, schwarze Schnurrbart viel beitrug. Der eng anschließende schwarze Gehrock — englische Offiziere tragen nur im Dienst Uniform — brachte seine schlanke, kräftige Figur zur Geltung; alle seine Bewegungen waren sicher und abgerundet, und so konnte er als das Muster eines schönen Mannes gelten.
»Beginnt dein Urlaub schon jetzt?«, fragte Emily nach der Begrüßung.
»Leider, wenigstens der meinige. Alle übrigen Offiziere haben vollauf zu tun, sie empfangen ihre letzten Instruktionen, ehe sie nach Indien gehen; nur mich haben die Ärzte verurteilt, mich in die Einsamkeit zurückzuziehen. Wenn ich nicht bis spätestens in vierzehn Tagen von ihnen für gesund erklärt werde, kann ich noch ein paar Jahre in der Garnison liegen und Rekruten drillen.«
»Wie? Du bist krank? Was fehlt dir?«, rief Emily erschrocken. »Ja, jetzt sehe ich es. Dein Gesicht ist eingefallen und blass, deine Augen liegen tief, und deine Hände zittern. Um Gottes willen, Eugen, was fehlt dir?«
»Nichts von Bedeutung, und am allerwenigsten habe ich, wie die Ärzte sagen, den Sonnenstich bekommen«, entgegnete Eugen.
Emily aber trat vor ihn hin, legte ihm die Hände auf die Schultern und schaute ihm ängstlich in die seltsam glänzenden Augen.
»Gewiss, du bist krank! Du hast Fieber.«
»Ich habe auch genug Chinin zu schlucken bekommen, aber es hilft nichts. Die Ärzte verordnen mir Ruhe und Waldluft, ich soll acht Tage hierbleiben, ehe ich mich wieder vorstelle. Es ist zu ärgerlich! Werde ich nicht besser, so reist das Bataillon ohne mich ab, und an meiner Stelle wird ein anderer Leutnant kommandiert.«
»Wann fühltest du dich zum ersten Male krank?«
»Gestern Nachmittag. Ich überwachte das Exerzieren der Soldaten, als mir plötzlich unwohl und schwindlig wurde, ich verlor den Steigbügel und stürzte aus dem Sattel. Man trug mich bewusstlos nach meinem Zimmer; dort kam ich zwar bald wieder zu mir, verspürte nicht das geringste Unbehagen, versah meinen Dienst, wurde aber gegen Abend wieder bewusstlos und kam in Behandlung der Ärzte. Ich soll viel spazieren gehen und jede Aufregung vermeiden.«
»Aber du darfst nicht allein gehen.«
»Ich habe meinen Burschen Jim mitgebracht, er wird mich immer begleiten.«
Emily stellte an Eugen noch alle möglichen Fragen betreffs seines Befindens. Er sagte nur noch, dass er rheumatische Schmerzen im linken Arm habe. Die Fragerin bemerkte nicht, wie sich der Kranke mit der Hand schwer auf den Tisch stützte und bemüht war, das Gespräch abzubrechen, um sich entfernen zu können. Nur die Ehrfurcht vor der Mutter hielt ihn noch zurück.
Als er sich endlich entfernen durfte, raffte er sich auf und verließ mit festem Schritt das Zimmer, den Weg durch ein Nebengemach nehmend.
Emily hörte, wie er an einen Stuhl stieß und diesen wahrscheinlich auch umwarf, denn es erfolgte ein dumpfer Fall.
»Er ist sehr schwach«, dachte Emily. »Wenn er nur nicht ernstlich krank wird! Ob vielleicht Bega an seiner Krankheit schuld ist? Ich bedauere ihn, er liebt hoffnungslos.«
Emily hatte mit den Vorbereitungen zur Hochzeit viel zu tun. Fast dieselben Empfindungen beschlichen wieder ihr Herz wie damals vor achtzehn Jahren, als sie Vorbereitungen zur Vermählung mit Sir Carter traf. Ob das wohl ein Segen war, dass die Zeit so spurlos an ihr vorüberging? Sie hatte etwa eine Stunde so zwischen Wäsche, Spitzen und Garderobe herumgekramt, als leise an die Tür geklopft wurde.
Auf ihr Herein schob sich ein kurzgeschorener Kopf mit einem bartlosen, frischen Gesicht durch die Spalte.
»Entschuldigen Sie, gnädige Frau, die Mädchen sagten, ich sollte nur anklopfen. Sie nähmen es nicht übel.«
»Nein, ich nehme es nicht übel«, lachte Emily, in dem Fremden den Burschen Eugens vermutend. »Was für einen Auftrag habt Ihr? Kommt herein!«
Ein blutjunger Mann in der schmucken Uniform der englischen Infanterie, schwarzer Hose und rotem Rock, mit weißem Ledergurt — jedoch ohne Seitengewehr, welches nur im Dienst getragen wird — die bebänderte Mütze in der Hand, trat herein und stellte sich in militärischer Haltung an der Tür auf.
»Seid Ihr Jim?«, fragte Emily.
»Zu Befehl, Jim Green!«
»Nun, was lässt mein Sohn mir sagen?«
»Ich glaubte, er wäre hier, und weil ich hier doch fremd bin, wollte ich ihn fragen, ob ich...«
»Mein Sohn hat mich schon vor einer Stunde verlassen, er muss oben sein.«
»Er ist nicht oben.«
»Ich hörte ihn ja immer in seinem Zimmer auf und ab gehen und pfeifen.«
»Das war ich, gnädige Frau.«
»Dann ist er in einem anderen Raume.«
»Die Diener und Mädchen behaupten, er müsste noch hier sein, denn er hat den Korridor noch nicht wieder betreten.«
Nun wurde Emily doch aufmerksam. Von einer schlimmen Ahnung erfasst, öffnete sie die Tür des Nebenzimmers und — da lag Eugen bewusstlos auf dem Teppich.
Jetzt kam Leben in das stille Haus. Während ein Diener nach dem Arzt in Wanstead geschickt wurde, beschäftigten sich alle anderen mit dem Bewusstlosen, und als der Arzt kam, war Eugen wohl der Sprache und Bewegungen mächtig, aber nicht bei Bewusstsein, er lag im heftigsten Fieber. Der Arzt hielt es für einen ganz gefährlichen Anfall, und als er die Erklärung Emilys gehört hatte, meinte auch er, es wäre eine Folge des Sonnenstichs und das Schlimmste sei zu befürchten.
Bald stieß der Kranke laute, gellende Schreie aus, als würde er von den furchtbarsten Schmerzen geplagt, dann wieder sank seine Stimme zu einem Flüstern herab; leise, zärtliche und sehnsüchtige Worte kamen über seine Lippen, und sein Gesichtsausdruck änderte sich fortwährend.
Der Arzt beugte sich über ihn und lauschte.
»Er sehnt sich nach einer Person und spricht fortwährend den Namen Bega aus. Wer ist das?«
»Ein junges Mädchen in der Nachbarschaft«, entgegnete Emily.
»So lassen Sie dieses Mädchen sofort holen!«
»Das dürfte Schwierigkeiten haben...«
»Sie muss kommen!«, entschied der Arzt. »Wenn ihre Gegenwart den Kranken nicht beruhigt, so gebe ich alle Hoffnung auf. Lassen sie ihr sagen, dass Tod und Leben eines Menschen von ihrem Kommen abhinge, und sie wird sicherlich dem Rufe Folge leisten.«
Emily schrieb eine Karte und schickte einen Boten nach dem indischen Hause mit der strengen Weisung, sie nur Bega selbst abzugeben.
Eugens, Schmerzen schienen immer mehr zu wachsen, er schrie wie ein Wahnsinniger.
»Sein Arm schmerzt ihn«, sagte der Arzt verwundert. »Wie sprach er sich darüber aus?«
»Er hätte rheumatische Schmerzen darin.«
»Ich werde ihn untersuchen; ziehen wir ihm den Rock aus!«
Als dabei der linke Arm bewegt wurde, schrie Eugen lauter denn je. Der Arzt schlug den Hemdärmel zurück und erschrak.
»Ah, hier liegt ja etwas ganz anderes vor! Das sieht aus wie eine Blutvergiftung.«
Er schlitzte den Ärmel mit seinem Taschenmesser auf, bis die Schulter zum Vorschein kam.
»Da haben wir's ja. Der junge Mann hat sich tätowieren lassen, und dabei ist ein Giftstoff verwendet worden — Blutvergiftung.«
Es muss bemerkt werden, dass die Sitte, oder vielmehr die barbarische Unsitte des Tätowierens in England nicht nur unter den Seeleuten und unteren Bevölkerungsklassen, sondern selbst unter den höchsten Kreisen herrscht. Herren und Damen lassen sich zum Andenken an besondere Gelegenheiten ein Merkzeichen auf Brust oder Arm eintätowieren.
Die herrlichste Blüte dieses Unsinns hat einst ein Mitglied des königlichen Hauses erzeugt.
Der junge Prinz, als Midschipman (Seekadett) in der Marine dienend, ließ sich einmal in der Weinlaune einen großen Anker mitten auf der Nase einstechen. Laut allerhöchsten Befehle sollte der Anker wieder entfernt werden, und nun wurde die geheiligte prinzliche Nase gebadet, gesalbt, gepflastert, geschnitten, gestochen und sonst auf schreckliche Weise gemartert. Es gelang auch durch Nachstechen mit Milch, die Tätowierung zu bleichen, aber in der Nähe ist der Anker auf der Nase des unterdes zum Greis gewordenen Prinzen doch noch deutlich zu erkennen.
Der Arzt machte ein ganz bedenkliches Gesicht und schickte sofort jemanden mit einer Karte an seinen Diener ab.
»Was wollen Sie beginnen?«, fragte Emily ängstlich.
»Ich werde noch etwas warten. Wann hat sich Leutnant Carter wohl tätowieren lassen?«
»Hier ist sein Bursche, der wird es wissen!«
Jim Green hatte sich schon lange ungeduldig auf seinem Fleck bewegt, als wolle er etwas sagen, hatte aber, als Soldat gewöhnt, nur zu reden, wenn er gefragt wurde, geschwiegen.
Jetzt trat er schnell vor.
»Leutnant Carter hat sich nicht tätowieren lassen!«
»Was?«, rief der Arzt erstaunt. »Hier können Sie es ja deutlich erkennen!«
Allerdings sah man auf der braunen Haut des stark geschwollenen Oberarms blaue Zeichen. Die betreffende Stelle war ganz besonders geschwollen und entzündet.
»Aber ich weiß, dass sich der Leutnant nicht tätowieren ließ!«, behauptete Jim. »Ich war heute Morgen bei ihm im Zimmer, als er sich wusch, und habe keine Tätowierung an ihm bemerkt.«
»Sie haben Sie übersehen!«
»Nein, er hatte keine und hat sich auch keine einstechen lassen. Das müsste ich als sein Bursche doch ganz genau wissen, umso mehr, da Leutnant Carter die letzte Woche immer, mit schriftlichen Arbeiten zu Hause beschäftigt gewesen ist.«
Der Bursche sprach mit solcher Überzeugung, dass der Arzt betroffen wurde, jedoch seine Bestürzung hinter einem ungläubigen Lächeln verbarg.
»Was ist denn das überhaupt?«, fragte Jim. »Eine Schrift oder ein Wappen?«
Ja, was war das? Punkte und Striche, gerade, gebogene und gezackte.
»Das sieht fast aus wie indische Schrift!«, meinte der Arzt. »Kann hier im Hause jemand Indisch schreiben?«
Hedwig wurde gerufen und erklärte, das sei keine ihr bekannte Schrift.
Der Kranke stöhnte und wimmerte weiter; der Arzt wurde immer unruhiger.
»Haben Sie Reitpferde da?«, wandte er sich an Emily.
Diese bejahte.
»Dann bitte ich noch um einen Boten.«
Jeremy wurde ihm zur Verfügung gestellt.
»Können Sie reiten?«
»Ich denke, ein Lancier-Corporal der roten Dragoner wird jedes Pferd reiten können!«, war die stolze Antwort.
Der Arzt riss ein Blatt aus seinem Notizbuch, schrieb einige Zeilen darauf und gab es Jeremy.
»Werfen Sie sich aufs Pferd und jagen Sie nach dem Ost-Hospital. Auf der Eisenbahn müssten Sie vielleicht warten. Fragen Sie nach Professor Borton. Entweder er kommt sofort, oder er kommt nicht. Sie warten nicht auf ihn. In einer Stunde müssen Sie unbedingt zurück sein, dann nehme ich's auf mich!«
»Was wollen Sie tun?«, fragte Emily erschrocken.
»Professor Borton ist ein berühmter Operateur, er ist mein Lehrer gewesen!«
»Sie wollen doch nicht etwa —?«
Der Arzt zuckte die Achseln. Da trat sein Diener herein mit allerhand Instrumenten in Futteralen. Aus einem sah eine blanke Säge hervor.
»Sie wollen den Arm amputieren?«, schrie Emily entsetzt, und auch die Übrigen schauderten zusammen beim Anblick der sich enthüllenden, glänzenden Instrumente.
»Gnädige Frau, der Arm muss entfernt werden, soll der junge Mann gerettet werden.«
»Nein, ich dulde es nicht!«
»Es muss aber sein; als Arzt bestehe ich darauf. Ich warte genau eine Stunde; ist bis dahin Jeremy nicht mit der Nachricht zurück, dass Professor Borton sofort kommt, um mit seiner Meisterhand die Operation vorzunehmen, so beginne ich sie in Gottes Namen. Der Arm muss entfernt werden!«
»Entsetzlich!«, hauchte Emily, einer Ohnmacht nahe.
Auf der Schwelle stand Bega mit geisterbleichem Gesicht, sie hatte vernommen, um was es sich handelte.
»Bega, Bega!«, schrie in diesem Augenblick der Kranke.
Das Mädchen eilte zu ihm, ergriff seine Hände und beugte sich mit tränenden Augen über ihn.
»Armer, armer Eugen!«, murmelte sie.
»Bega, verzeihe mir — ich tat es nur — weil ich dich liebte!«, stammelte der Unglückliche flüsternd, ohne jedoch Bega zu erkennen, denn so hatte er immer gesprochen, wenn er nicht schrie. »Ja, ich liebe dich — kann ich dafür? — Doch du musst mich wiederlieben — du musst —«
Bega beugte sich noch tiefer herab und flüsterte etwas den Umstehenden Unverständliches.
»Er erkennt sie nicht!«, sagte der Arzt. »Ihre Gegenwart beruhigt ihn auch nicht, wie ich gehofft hatte. Übrigens liegt etwas anderes vor, als ich dachte, Sie sind Inderin, gnädiges Fräulein?«
»Ja.«
»Und können Indisch lesen und schreiben?«
»Das kommt darauf an; es gibt viele indische Sprachen und Schriften.
Doch ich denke, ich kenne sie alle.«
»Bitte, betrachten Sie diese Zeichen!«
Er deutete auf die Tätowierung am Arm.
Bega musterte sie aufmerksam, trat dann überrascht einen Schritt zurück und verbeugte sich tief mit über den Kopf gehaltenen Armen — das Zeichen der größten Ehrfurcht der Inder.
»Es ist die Schrift der heiligen Bücher des Veda, Sanskrit!«, sagte sie, sich aufrichtend.
»Was heißt es?«
»Ich kann es nicht lesen, nur Brahmanen dürfen Sanskrit erlernen!«
»Nun, es bleibt sich auch gleich, was es heißt!«
Die Uhr in der Hand, wartete der Arzt ungeduldig auf das Kommen Jeremys. Die Stunde verstrich, und der Bote war noch nicht zurück.
»In Gottes Namen, ich beginne die Amputation des Armes!«, sagte der Arzt ernst.
Emily schrie laut auf.
»Warten Sie noch fünf Minuten!«
»Das verschiebt nur die Operation.«
»Nein, nein, es kann nicht sein!«
»Ich muss! Mein Diener wird mir helfen, doch ich brauche noch jemanden für Handreichungen. Wer fühlt sich stark genug, der Operation beizuwohnen?«
»Ich«, sagte Bega, welche immer Eugens Hände in den ihren hielt, als sich niemand meldete.
»Sie, Miss?«, fragte der Arzt zweifelnd.
»Ja, ich kann den Anblick ertragen!«
»Nun gut denn, ich nehme Ihre Hilfe an.«
»Jeremy kommt!«, rief ein Diener.
Der Reiter sprengte in den Hof, saß ab und eilte in das Zimmer.
»Nein, Professor Borton kann nicht kommen, er ist beschäftigt!«, meldete er. »Dann nehme ich die Operation auf eigene Verantwortung vor.«
»Ich habe unterwegs Mister Reihenfels gesehen und ihm alles erzählt. Er will mit der Eisenbahn sofort hierherkommen!«, sagte Jeremy, zu Emily gewendet.
»Also deshalb blieben Sie so lange aus!«, rief der Arzt unwillig.
»Ja, deswegen komme ich einige Minuten später«, entgegnete Jeremy gleichmütig, »und Mister Reihenfels lässt Sie bitten, Herr Doktor, die Operation nicht vorzunehmen!«
»Reihenfels? Wie kommt der dazu?«, fragte der Arzt erstaunt. »Ist das nicht jener Gelehrte, welcher den Fakir begraben lässt?«
»Eben derselbe.«
»Er hat gesagt, ich solle die Operation nicht vornehmen?«
»Ja, das hat er gesagt. Er selbst will gleich kommen und Ihnen die Erklärung geben!«
»Ich aber werde nicht auf ihn warten. Mister Reihenfels mag eine Kapazität in seiner Art sein, aber von einer Operation versteht er jedenfalls nichts.
Was er mir da sagen lässt, klingt überhaupt sehr anmaßend, oder Sie verdrehen seine Worte, was ich eher glaube. Bitte, wollen Sie das Zimmer verlassen, bis auf Miss Bega?«
»Sie wollen die Operation beginnen?«, fragte Jeremy.
»Gewiss!«
»Ohne auf Mister Reihenfels zu warten?«
»Fällt mir gar nicht ein. Sie haben ihn auf alle Fälle falsch verstanden!«
»Dorthin gestellt, Jim — Front!«, kommandierte Jeremy und postierte den Soldaten vor die Instrumente, den Diener des Arztes zur Seite schiebend.
»So, Herr Doktor, die Waffenkammer ist in unseren Händen, nun können Sie Ihre Operation beginnen!«
Jeremy selbst stellte sich neben Jim vor den Tisch, auf dem die Instrumente lagen.
»Was soll denn das heißen?«
»Das soll heißen, dass Sie die Sägen und Messer nicht bekommen, um damit dem jungen Herrn dort den Arm abzuschneiden. Hier stehen Jim und ich, zwei geschulte Soldaten Ihrer Majestät, nun versuchen Sie einmal mit Ihrem Diener, das uns anvertraute Waffenarsenal mit Gewalt zu nehmen.«
»Was?«, rief der Arzt aufgebracht. »Sie wagen, mich an der Operation zu hindern?«
»Ja!«
»Mit welchen Recht?«
»Ich handle dem Wunsche Mister Reihenfels' gemäß.«
»Der geht mich nichts an!«
»Aber mich desto mehr.«
»Sie wollen mich wirklich hindern, mich meiner Instrumente zu bedienen?«
»Ja!«
Der Arzt schien nicht daran zu glauben, er wollte an den Tisch gehen, aber Jeremy streckte ihm seine Faust entgegen und sagte ernst: »Sir, ich versichere Ihnen, dass Sie diese Instrumente nur erhalten, wenn Sie mit denselben das Zimmer verlassen.«
Der Arzt war außer sich. Eben wollte er sich an Emily wenden, als Reihenfels hereinkam, hinter ihm ein Mann in indischer Kleidung, mager wie ein Skelett und mit einem richtigen Totenschädel.
»Verzeihen Sie, Lady«, wandte sich Reihenfels sofort an Emily, »wenn ich ohne weiteres hierherkomme. Durch Jeremy erfuhr ich von Eugens Erkrankung, und sofort stieg in mir ein eigentümlicher Gedanke auf. Sie, Herr Doktor, bitte ich, meinen Wunsch, die Operation zu verschieben, nicht misszuverstehen. Ich sehe, dass Jeremy etwas zu energisch auf demselben bestanden hat.«
Der Arzt war durch diese Worte durchaus nicht besänftigt.
»Ich weiß nicht, wie Sie dazu kommen, Mister Reihenfels, sich in ärztliche Angelegenheiten zu mischen. Das aber kann ich Ihnen sagen, wenn Sie eine Operation unmöglich machen oder durch Ihre Einmischung so lange verzögern, dass sie zu spät ausgeführt wird und der junge Mann stirbt, so mache ich Sie verantwortlich. Ich werde Professor Borton davon in Kenntnis setzen; er wird Sie zur Rechenschaft ziehen.«
»Herr Doktor, vergessen Sie nicht, dass Professor Borton einst einen Mann für tot erklärt hat, den mein Vater für lebendig hielt. Ich, sein Sohn, widerspreche Ihrer Ansicht, dass hier eine Operation nötig ist.«
Diese Worte verfehlten nicht ihren Eindruck; der Arzt schwieg verlegen.
Aller Augen hingen gespannt an den beiden, die jetzt vor den noch immer schreienden und wimmernden Kranken traten.
Bega, welche noch Eugens Hände hielt, begegnete dem Blick Reihenfels und senkte schnell das Auge. Kein Gruß des Wiedersehens wurde gewechselt — sie waren sich fremd.
Reihenfels untersuchte den Arm, und sofort malte sich das größte Erstaunen in seinen Zügen. Dann wendete er sich zu dem Inder.
»Hira Singh, das sind indische Buchstaben. Welcher Schrift gehören sie an?«
Der Inder betrachtete die Tätowierung und verbeugte sich noch ehrfurchtsvoller als vorhin Bega.
»Es ist Sanskrit.«
»Kannst du es lesen?«
»Nein; denn ich bin nur ein Fakir, kein Brahmane.«
»Aber ich kann es lesen. Die Worte heißen ›Sirbhanga Brahma‹.«
Eine lautlose Stille trat ein nur der Inder verbeugte sich bis an die Erde und sagte:
»So gehört der Sahib zur heiligen Kaste der Brahmanen.«
Dann trat der Arzt, dem dies alles unverständlich war, an das Krankenlager.
»Mister Reihenfels, der Kranke hat sich wahrscheinlich vor einigen Tagen tätowieren lassen, und die dabei verwendete Tusche enthielt Gift. Meiner ehrlichen Ansicht nach kann sein Leben nur gerettet werden, wenn der Arm abgenommen wird. Die Vergiftung ist schon weit vorgeschritten.«
»Ich bin anderer Ansicht«, entgegnete Reihenfels. »Hira Singh, wird dieser Mann sterben?«
»Nicht an dieser Tätowierung. Sie ist ausgeführt worden mit der Tusche der Brahmanen; das Gift beginnt jetzt zu wirken, und die Schmerzen haben ihren Höhegrad erreicht. Sie werden sogleich wieder abnehmen. Wann ist der Sahib zum ersten Male ohnmächtig geworden?«
»Gestern Nachmittag«, entgegnete Emily.
»So wird er morgen Nachmittag wieder gesund sein und nicht den geringsten Schmerz mehr spüren«
»Das halte ich nicht für möglich«, sagte der Arzt kopfschüttelnd. »Ich glaube kaum, dass er den morgigen Tag erleben wird.«
»Wenn der Sahib an dem Gift stirbt, so will Hira Singh mit ihm sterben«, rief der Inder feierlich. »Hira Singh weiß zwar nicht, wie die Farbe der Brahmanen erzeugt wird, denn er ist nur ein Fakir, aber er hat oft gesehen, wie die Buchstaben nach vielen, vielen Jahren plötzlich zum Vorschein kamen, und immer verhielt sich der Tätowierte wie dieser Sahib.«
»Was? So hätte Jim recht gehabt?«, rief der Arzt erstaunt. »Der junge Mann wäre gar nicht erst jetzt tätowiert worden?«
,Nein«, entgegnete Reihenfels. »Die Tätowierung ist schon bei seiner Geburt vorgenommen worden.«
»Nicht möglich!«
»Beweisen Sie, dass dies nicht möglich ist! Ich kann's! Die Brahmanen besitzen das Rezept zu einer Farbe, die sich nach Verlauf einer bestimmten Zeit ändert, und die sie zum Tätowieren ihrer Kinder und derjenigen verwenden, die später zu Brahmanen bestimmt sind. Die Tusche ist anfangs farblos, man sieht die Tätowierung in der Haut also nicht. Nach einer gewissen Zeit, nach vielen Jahren beginnt der Farbstoff zu gären, er erfährt durch einen chemischen Prozess eine Umwandlung und wird dunkelblau.
Dieser Zeitpunkt ist bei Leutnant Carter, einem geborenen Inder, jetzt eingetreten. Hira Singh und ich kennen die Tatsache, aber nicht das Rezept der Farbe selbst. Ich werde mich bemühen, es zu erforschen und zu erfahren, ob die Verwandlung der Farbe nach beliebig vielen Jahren zu erwarten ist — ich bin fast dieser Ansicht. Dies war der Grund, Herr Doktor, dass ich Ihre Operation nicht zulassen wollte, denn durch Jeremys sonderbare Aussage und durch sonst Vorhergegangenes wusste ich, dass bei Mister Eugen eine solche indische Tätowierung vorlag. Deshalb verzeihen Sie mir meinen Eingriff, ich wollte Sie nicht beleidigen.«
»Davon kann keine Rede mehr sein, Mister Reihenfels«, sagte der Arzt, ihm die Hand gebend. »Ich danke Ihnen vielmehr für Ihre Belehrung, und an der Behauptung des Fakirs, dass Leutnant Carter morgen wiederhergestellt ist, zweifle ich auch nicht länger. Kann man nicht etwas tun, seine Schmerzen zu lindern?«
»Schon lassen sie nach«, entgegnete der Inder, »auch die Zuckungen.
Man erneuere fortwährend ein kaltes, nasses Tuch auf dem Arm und gebe dem Kranken in allem nach! Wenn er erwacht, wird er sehr reizbar sein, und deshalb soll man sich seinen Wünschen fügen, sonst verzögert sich die Genesung.«
»Erlauben Sie, dass ich bei ihm bleibe, bis er wiederhergestellt ist?«, sagte Bega zu Emily. »Er hat meine Gegenwart verlangt, und durch mich soll seine Genesung nicht verzögert werden.«
Reihenfels trat zu Emily, um mit ihr zu sprechen, blieb aber wortlos vor ihr stehen und lauschte der Unterhaltung, die sich zwischen dem Fakir und Bega entspann und einen heftigen Verlauf nahm.
Bega hatte zum ersten Male die Hände Eugens losgelassen, war zu dem Inder gegangen und sprach mit diesem. Verwundert betrachteten alle die beiden; mit Ausnahme von Reihenfels konnte niemand sie verstehen. Selbst Hedwig und der des Indischen kundige Jeremy nicht, denn der Wortwechsel, der immer heftiger wurde, fand in einem ihnen fremden Dialekt statt.
Bega war sehr aufgeregt, sie schien dem Fakir Vorwürfe zu machen und begleitete ihre Worte mit heftigen Gestikulationen. Der Inder war finster wie immer, zuckte mit den Achseln und antwortete kurz.
Zuletzt deutete Bega auch auf Reihenfels, und da drehte sich dieser plötzlich rasch um, sprach schnell und eindringlich zu ihr und wies nach Eugen.
Die Wirkung der wenigen Worte war überraschend. Wie niedergeschmettert stand Bega da, den Kopf gesenkt und wagte nicht aufzublicken. Dann ging sie zu Eugen, ergriff seine Hände und beugte sich wie vorhin über ihn.
»Ich liebe dich, Bega!«, schrie der Kranke im Fieberwahnsinn.
Reihenfels ließ seine Augen zum ersten Male während dieser Stunde länger auf dem Mädchen ruhen, er machte eine ganz eigentümliche Entdeckung, die seine Gedanken stark beschäftigten. Begas Hautfarbe war in dem einen Jahre seltsam gebleicht. Seit wann verlieren Inder selbst im kältesten Norden ihre natürliche Hautfarbe? Doch ja, Bega war nur ein Mischling, sie besaß einen helleren Teint als die Hindus, und nur die indische Sonne hatte ihn so gebräunt. Jetzt zeigte sie ihre wirkliche Hautfarbe, allerdings immer noch sehr dunkel, doch nicht in dem Maße wie die von Reihenfels.
Der früher so bleiche Gelehrte hatte in Indien die Farbe der Hindus angenommen.
»Nun bitte ich, ein Wort mit Ihnen sprechen zu dürfen«, wandte er sich an Emily.
Er wurde in ein Nebenzimmer geführt, und noch ehe er beginnen konnte, kam Emily ihm schon zuvor. Aus ihren Worten sprachen Erschütterung und Freude zugleich.
»Mister Reihenfels, es ist wieder eine Prophezeiung des Gauklers in Erfüllung gegangen.«
»Ja, Eugen hat in seinem 17. Jahre seinen wirklichen Namen genannt, den er bei der Geburt empfangen hat: Sirbhanga. Der Zusatz ›Brahma‹ deutet an, dass er zur Kaste der Brahmanen gehört. Nun zweifle ich selbst nicht mehr daran, dass Sie in einem Jahre Ihre Tochter wiedersehen werden, denn dann wäre sie 18 Jahre alt.«
»Auch ich habe durch dieses neue Ereignis die größte Zuversicht bekommen. Ist das aber nicht alles fast zu wunderbar?«
»Es scheint, als ob überirdische Mächte mit Ihrem Geschick spielten, und doch geht alles natürlich vor sich. Jedenfalls hat jedoch das Geschick Sie und Eugen, vielleicht noch andere, in Verwicklungen geführt, deren Lösung erst später erfolgen wird. Es gibt sicher Leute, denen daran gelegen ist, in England geheimnisvolle Ereignisse geschehen zu lassen, welche später in Indien ihre Fortsetzung finden, und der Sitz dieser Leute ist eben dieses Land. Ruft nicht der Name Sirbhanga unangenehme Erinnerungen in Ihnen wach?«
»Allerdings, es ist der Name des Gatten meiner Schwester, so nannte er sich damals wenigstens.«
»Er soll ein indischer Spion gewesen sein.«
»Es wurde vermutet. Er und meine Schwester sind die Urheber all meines Unglücks. Selbst dass man den untergeschobenen Knaben Sirbhanga nennt, dass man ihm gar keinen anderen Namen geben kann, auch darin sehe ich nur eine Rache von Isabel.«
Emily verschwieg, dass ihr der Name Sirbhanga einen noch viel schlimmeren Gedanken brachte. Schon vorhin, als Reihenfels so langsam den Namen ausgesprochen hatte, war sie tödlich erschrocken. Sie glaubte plötzlich wieder das Gespenst Sir Carters aufsteigen zu sehen, wie es warnend die Hand aufhob. Das waren böse Gedanken kurz vor der Hochzeit.
Als sich Reihenfels verabschiedete, sagte Emily: »Sie werden zu meiner Trauung kommen, wie Sie auf meine Einladung hin mir schriftlich versprochen haben?«
»Sicherlich. Es wird mir die höchste Freude sein, Sie an der Seite Mister Westerlys glücklich zu sehen, und geht dann auch noch die letzte Prophezeiung Timur Dhars in Erfüllung, so fehlt Ihnen nichts mehr! Doch ich werde auch noch vor Verlauf dieser Frist mein möglichstes tun, eine Spur von Ihrer Tochter zu finden. Leider ist es mir bisher noch nicht gelungen.«
»Sie gehen wieder nach Indien?«
»Sehr bald schon. Leben Sie wohl! Auf Wiedersehen an Ihrem Hochzeitstage.«
Auf Reihenfels wartete zu Hause eine Überraschung, die alle vorhergegangenen übertraf.
Endlich schien es, als solle die Dunkelheit durch einen Lichtstrahl zerrissen werden.
In tiefer, nächtlicher Stille lag die indische Villa da; nur ein einziges Fenster war noch erleuchtet, und dieses gehörte zum Schlafzimmer des Monsieur Francoeur. Er selbst schlief noch nicht, und dies wusste auch der Mann in dem langen Mantel, der unter einem Baume stand und dieses Fenster hinter der Maske hervor beobachtete, die sein Gesicht verhüllte. Er sah, wie sich dem Fenster ein Schatten bald näherte, bald sich davon entfernte, der Schatten des ruhelos auf und ab wandernden Francoeur.
»Ich glaube dir, dass du keinen Schlaf finden kannst«, murmelte der maskierte Mann. »Vor deinen Augen steht die Gestalt eines Mannes, dem du sein Kind geraubt hast, und du fürchtest seine Rache. Dein Gewissen hatte sich schon beruhigt, da begegnete er dir wieder, du konntest ihn täglich sehen, aber du vermeidest es, und doch stehst du immer am Fenster und beobachtest jeden Wagen und jeden Fußgänger auf der Landstraße, weil du fürchtest, er möchte nach deiner Villa abbiegen und von dir Rechenschaft verlangen. Ha, wie würdest du aber erst zittern, wenn du wüsstest, dass ich die Mittel in der Hand habe, den Vater auf die richtige Spur zu lenken! Francoeur, ich habe dich in den Händen wie der Geier ein Huhn in seinen Fängen, und ich will dich aussaugen, wie eine Spinne die Fliege. Arbeite, immer arbeite und mühe dich für andere ab! Alles, was du verdienst, fließt doch in meine Tasche. Erst sollst du groß und reich werden, dann werde ich hervortreten und dir alles abnehmen, darum warte ich noch.«
»Captain, hier ist das Verlangte«, flüsterte neben ihm eine Stimme.
Eine vermummte Gestalt, die eine lange Stange und ein Bündel trug, hatte sich ihm genähert.
»Gut so, Gérard!«, erwiderte die schwarze Maske. »Hilf mir die Strickleiter anlegen, dann entfernst du dich mit ihr und der Stange wieder. Ich werde sie dir hinunterwerfen; fange sie ohne Geräusch auf!«
»Aber wie kommt Ihr aus dem Hause?«
»Durch die Tür.«
»Das macht Lärm. Ich weiß, es klingelt, wenn die Haustür geht.«
»Man wird sie mir selbst öffnen und mich mit dem herzlichsten Gruß entlassen.«
»Ihr spaßt, Captain! Ihr wollt doch einbrechen!«
»Nein, Gérard, der Zweck ist ein ganz anderer. Es gilt eine Brautwerbung.«
»Eine Brautwerbung?«
»Ich steige durchs Fenster ein und bin doch ein Freier«, lachte es leise hinter der Maske hervor. »Ich sage dir, Gérard, auf solch seltsame Weise, wie es heute Nacht geschieht, ward noch nie ein Weib gefreit.«
»Lasst Euch nur nicht dabei ertappen, man könnte Euch die Kosestunde versalzen.«
»Ohne Sorge, Gérard, ich werde mir von dem Mann, der da in dem erleuchteten Zimmer auf und ab geht, selbst vorher den Ehebrief holen.«
Die Strickleiter war inzwischen an der Stange befestigt worden. Oben trug sie an einem Querholz zwei starke Haken, der Maskierte richtete die Stange auf und legte die beiden Haken auf den Sims eines dunklen Fensters.
»Häng dich mit daran«, flüsterte er.
Die Haken saßen fest, die Leiter trug alle zwei.
»So, nun warte, bis ich drin bin und die Leiter herunterwerfen kann!«, sagte der Maskierte und gab dem Begleiter seinen langen Mantel.
Er stieg vorsichtig hinauf, trat auf den Sims und stand vor einem Fenster, welches unten geschlossen war, dessen oberer, rechter Flügel zum Zutritt der frischen Nachtluft aber offen stand.
Der Maskierte griff hindurch, öffnete den oberen Riegel, zog dann einen dünnen Stock hervor, den er im Beinkleid verborgen getragen hatte, und mit diesem gelang es ihm nach einigen Versuchen, auch den unteren Riegel zurückzuschieben.
Er musste in dergleichen Sachen sehr bewandert sein, denn auch nicht das geringste Geräusch hatten alle diese schwierigen Manipulationen verursacht. Ebenso lautlos stieg er ins Zimmer, warf die Strickleiter hinunter und schloss das Fenster wieder.
In dem Raume war es vollständig dunkel; ein angenehmer süßlicher Duft durchzog ihn, schon dadurch verratend, dass sich der Maskierte in einem Damenkabinett befand.
Entweder musste er im Dunkeln sehen können oder hier wie zu Hause sein. Die Hände vor sich ausstreckend schlich er auf den Zehen nach einer Wand und hatte bald ein Bett erreicht.
Er lauschte und hörte die regelmäßigen Atemzüge eines schlafenden Menschen.
Seine Hand tastete auf dem Kopfkissen umher, sie berührte Haare, und dann legte sie sich schnell und kräftig auf einen Mund.
»Phoebe, erschrick nicht! Ich bin's, Alphons«, flüsterte er eindringlich.
Das Weib, erschrocken aus dem Schlafe erwachend, hatte erst schreien und sich wehren wollen. Am Schreien wurde es indes gehindert, und nach der ersten schreckhaften Bewegung blieb es ruhig liegen.
»Bist du bei Besinnung? Erkennst du mich?«, fragte der Maskierte.
Der festgehaltene Kopf nickte, und sofort löste sich die Hand vom Munde.
»Um Gottes willen, Alphons, wie kommst du hier herein?«, flüsterte Phoebe.
»Durch das Fenster.«
»Nicht möglich!«
»Es ist so. Doch lassen wir das, ich habe Wichtigeres mit dir zu sprechen, als dir die Kniffe eines Einbrechers zu erklären. Bist du vollständig bei Besinnung?«
»Ja, sprich! Was treibt dich hierher? Fasse dich kurz! Francoeur ist noch wach und kann mich besuchen.«
»Sei ohne Sorge, seine Gedanken gelten jetzt nicht dir. Er wird dich nicht besuchen, um mit dir zu kosen, denn er denkt mit Entsetzen an den alten Mann mit dem weißen Haar, der seit zwei Tagen drüben im Nachbarhause wohnt.«
»Ja, du hast recht, Francoeur ist jetzt mit etwas anderem beschäftigt —
aber woher weißt du denn«, unterbrach sich Phoebe bestürzt, »dass Francoeur den alten Mister Woodfield zu fürchten hat?«
»Sollte dir Monsieur Francoeur nichts von dem fehlenden Schmuck erzählt haben?«
»So hast du ihn also erkannt?«
»Gewiss, und ich war jetzt in Frankreich und habe über Francoeur Erkundigungen eingezogen. Phoebe, ich sage dir, ich habe ihn in der Tasche.«
»Was willst du tun?«, fragte sie nach langer Pause ängstlich.
»Ihn nicht vernichten. Daran liegt mir nichts; aber er soll mir behilflich sein, dass ich ein neues Leben beginnen kann. Willst auch du mir dazu helfen?«
»Ich?«
»Ja, du kommst mit mir!«
»Ich kann nicht, Alphons, so gern ich möchte! Francoeur lässt mich nicht gehen, er fürchtet mich, wenn er mich nicht in seiner Nähe weiß.«
»Bah, ich kann Francoeur zu allem bewegen, was ich will.«
»Allerdings, du kennst sein Geheimnis.«
»Nicht durch Drohen mit einer Enthüllung werde ich ihn zwingen, nein, denn Francoeur ist noch nicht so weit, dass er meine Verschwiegenheit ordentlich bezahlen kann. Sollte er mich nicht gebrauchen können?«
»Er sprach schon von dir.«
»Wegen Woodfields?«
»Ja.«
»Es handelt sich also, wie er einst sagte, um einen Dolchstoß. Gut, ich werde mich ihm zur Verfügung stellen.«
»Das darfst du nicht ohne Weiteres, sonst schöpft er Argwohn, dass du um den Schmuck weißt.«
»Lass mich nur machen. Schon das Verlangen der Bezahlung für die an Reihenfels verübte Intrige ist ein Grund meines Besuches.«
Etwa eine Viertelstunde flüsterten beide zusammen, und immer noch konnten sie die Schritte des auf und ab gehenden Francoeur vernehmen.
»Gut, ich bin die Deine!«, sagte zuletzt Phoebe freudig. »Ich gehe auf alle deine Pläne ein! Schon lange habe ich gewünscht, diese Fesseln von mir abzuschütteln und frei zu werden. Mit dem größten Vergnügen werde ich an deiner Seite gegen diesen schurkischen Francoeur operieren. Nur dass eine gefällt mir nicht. Wenn du Woodfield getötet hast wirst du als Mörder verfolgt, und in Gesellschaft eines solchen zu reisen, ist gefährlich.«
»Ich Woodfield töten?«, lachte der Maskierte leise. »Hahaha, dass ich ein Narr wäre!«
»Ich denke, du willst es tun?«
»Den Versuch unternehmen, nichts weiter; denn dann kann ich, ohne mein Geheimnis vorher verraten zu müssen, Francoeur auch noch als den bezeichnen, der gegen Woodfield Mörder geworben hat. Gute Nacht, Phoebe! Also vergiss nicht, dass wir uns noch nicht gesehen haben!«
Leise klinkte er die Tür auf und schlich dorthin, wo durch ein Schlüsselloch ein Lichtstrahl in den finsteren Korridor fiel.
Erschrocken fuhr Francoeur zusammen, als plötzlich, mitten in der Nacht, da doch alles im Hause schlief, derb an seine Tür gepocht wurde. Er war so überrascht, dass einige Augenblicke vergingen, ehe er Worte, zu fragen, fand.
»Wer ist draußen?«
»Der, an den Ihr denkt!«, klang es zurück.
Francoeur erschrak nochmals, dann fasste er sich. Er war durchaus kein furchtsamer Mensch, er hatte schon unzählige Male drohenden Gefahren ins Auge geblickt, und so öffnete er jetzt kurz entschlossen die Tür.
Er prallte zurück.
»Die schwarze Maske!«, stammelte er.
Der Bandit trat schnell ein und schloss hinter sich sorgfältig die Tür.
»Ja, die schwarze Maske! Ich brauche mich nicht erst vorzustellen, die Maske gibt mir meinen Namen, und wir kennen uns auch schon näher.
Bitte, Monsieur Francoeur, fassen Sie sich, schielen Sie nicht nach jenen Pistolen dort an der Wand, ich komme nicht als Räuber, sondern als Freund!«
»Wie gelangten Sie herein?«
»Durch die Tür.«
»Kaum glaublich.«
»Weil es nicht geklingelt hat? O, wir Räuber verstehen es, den Weg auch durchs Schlüsselloch zu nehmen. Monsieur Francoeur, sind Sie gewillt, mir eine Viertelstunde zur vertrauten Unterredung zu schenken?«
»Ich bin bereit, doch vorher müssen Sie mir erlauben, einige Fragen zu stellen.«
»Fragen Sie!«
»Woher wussten Sie, dass ich vorhin an Sie dachte?«
»Taten Sie dies wirklich?«, lachte der Räuber. »O, meine Antwort kam mir ganz unbewusst über die Lippen. Wir Räuber sind gezwungen, unsere Taten und Worte in Rätsel zu kleiden, damit uns das dumme Volk mit einem Nimbus umgibt.«
»Also die Antwort war ganz zufällig?«
»Ich versichere es Ihnen.«
»Gut, ich glaube Ihnen, Nun zweitens: Woher wissen Sie das Geheimnis jenes Wandschrankes dort?«
»Sie können sich denken, dass ich nicht immer Räuber gewesen bin. In meiner guten Zeit machte ich die Bekanntschaft eines Alphons de Lacoste, dessen Vater früher Besitzer dieses Hauses war. Er erzählte mir einst so nebenbei, wie er diesen beim Anlegen des geheimen Wandschrankes beobachtet habe, teilte mir das Geheimnis des Mechanismus mit, und vor etwa einem Jahre war ich so frei, auf Ihre Kosten hin die Wahrheit seiner Angabe zu prüfen.«
»Also hatte Phoebe doch recht«, murmelte Francoeur. »Nun noch eins: Sie schickten mir zwar die fünf Tausendpfundnoten zurück — das war für einen Räuber sehr großmütig — was aber begannen Sie mit dem entwendeten Schmuck?«
»Das ist eine seltsame Frage«, lachte der Bandit ungezwungen. »Natürlich habe ich ihn verkauft und mir mit dem Erlös einige gute Wochen gemacht.«
»Sie haben ihn verkauft, so, wie er war?«
»Schade, dass ich dies nicht durfte, um mich nicht zu verraten! Leider musste ich ihn vorher zertrümmern, und natürlich erhielt ich dann nur den Wert der Steine, der Perlen und des Goldes. Überdies habe ich Ihnen dies alles geschrieben, warum fragen Sie noch einmal? Ist Ihnen an dem Geschmeide so viel gelegen?«
»Sehr, sehr viel! Es war das einzige Andenken an meine geliebte Mutter.
Ich würde jede geforderte Summe zahlen, könnte ich den Schmuck zurückerhalten.«
»Das ist leider unmöglich. Vielleicht könnte ich Ihnen einige Steine davon noch verschaffen.«
»Nein, das ganze Geschmeide müsste es sein.«
»Wie gesagt, das ist unmöglich.«
»So wäre dies also erledigt«, sagte Francoeur erleichtert, weil er an den Worten des Räubers nicht zweifelte. »Was führt Sie nun eigentlich hierher?
Es ist sehr keck von Ihnen, sich bei Nachtzeit in ein Haus zu schleichen und den Besitzer zu einer Unterredung förmlich zu zwingen.«
»Ich habe Sie nicht zu fürchten, denn Sie müssen bedenken, dass jene Verdächtigung von Mister Reihenfels durch einen meiner Leute in Ihrem Auftrag geschah. Doch fassen Sie diese Erinnerung nicht als eine Drohung auf!«
»Ach so. Sie kommen, um sich die Belohnung für Ihre Mühe zu holen.
Ich habe zwar nicht viel Geld im Hause, glaube aber, Ihre Forderung befriedigen zu können. Wie viel verlangen Sie?«
»Hm; nicht so schnell! Sie sprachen vorhin den Namen Phoebe aus. Wer ist das?«
»Habe ich ihn genannt? So habe ich laut gedacht — richtig, ich entsinne mich! Es ist der Name meiner verwitweten Schwester, Madame Phoebe Dubois. Warum?«
»Dann bitte ich um die Hand Ihrer Frau Schwester.«
Francoeur staunte nicht, er glaubte, nicht richtig gehört zu haben.
»Wie meinten Sie?«
»Ich bitte Sie um die Hand Ihrer Frau Schwester; den Witwenschleier hat sie ja wohl abgelegt. Sie Schwager nennen zu dürfen, soll meine einzige Belohnung sein.«
»Was?«, schrie aber jetzt Francoeur. »Sie treiben wohl nur Scherz mit mir?!«
»Behüte mich der Himmel! Wie könnte ich mit solch einer ernsthaften Sache Scherz treiben, um so mehr, als es sich um Ihre Frau Schwester handelt! Monsieur Francoeur, ich bitte Sie hiermit nochmals um die Hand Ihrer Frau Schwester, Madame Phoebe, verwitwete Dubois.«
Francoeur nahm die Sache für Ernst, er ging überlegend im Zimmer auf und ab.
»Also es ist Ihnen wirklich daran gelegen, meine Schwester zu besitzen?«, fragte er dann, vor dem Maskierten stehen bleibend.
»Ich habe die Absicht, einen eigenen Herd zu gründen. Phoebe soll nicht etwa in eine Räuberhöhle kommen, mir dort Essen kochen, mir die Wunden verbinden und mich in Schlaf singen, sondern sie soll in einem fernen Weltteile, wo ich unbekannt bin, die Frau des Hauses repräsentieren.«
»Kennen Sie denn Phoebe überhaupt?«
»Dem Ansehen nach. Mit kurzen Worten, sie gefällt mir, ich habe mich in sie verliebt, und ich bin gewohnt, alles das zu besitzen, was mir gefällt —
es ist der Wahlspruch eines jeden Räubers.«
»Nun, ich wäre nicht abgeneigt, auf Ihren Wunsch einzugehen; vor allen Dingen müsste man jedoch erst erfahren, was Phoebe selbst dazu sagt.«
»Sie meinen, ob sie mich liebt?«
»Ja.«
»Gewähren Sie mir eine halbe Stunde zu einer Unterredung unter vier Augen mit ihr, und sie ist die Meine.«
»Sie scheinen sehr siegesbewusst zu sein«, lächelte Francoeur ungläubig.
»Auf Grund vieler Erfahrungen erkläre ich mich Frauen gegenüber für unwiderstehlich«, war die selbstbewusste Antwort.
Wieder wanderte Francoeur einige Male nachdenkend im Zimmer auf und ab. Der Antrag musste ihm nicht ungelegen kommen, denn sein Gesicht drückte heimliche Freude aus.
»Gut denn, so versuchen Sie Ihr Glück! Ich will Ihnen keine Hindernisse in den Weg legen; im Gegenteil, ich werde für Sie sprechen, und meine romantisch angelegte Schwester wird nicht nein sagen...«
»Bitte, Ihre Bemühungen sind gar nicht nötig!«, unterbrach ihn der Bandit. »Darf ich Sie schon meinen zukünftigen Schwager nennen?«
Er hielt ihm die schwarzbekleidete Hand hin; Francoeur ergriff sie indes noch nicht.
»Ich knüpfe Bedingungen an meine Zustimmung.«
»Ist es mir möglich, so werde ich sie erfüllen!«
»Ich gebrauche Sie nochmals in Ihrem alten Beruf, den Sie aufzugeben gedenken.«
»Als Räuber? Wohlan, lassen Sie hören!«
»Ich bedarf Ihres Dolches.«
»O, einen Mord also verlangen Sie von mir!«
»Sprechen wir offen miteinander«, sagte Francoeur vertraulich; »als Schwäger können wir uns dies erlauben. Ja, ich bitte Sie, ehe ich Sie definitiv als Verwandten begrüße, um eine Gefälligkeit, und Sie erweisen sich selbst einen Dienst, wenn Sie meine Bitte erfüllen.«
»Mir selbst? Was wäre das?«
»Wir beide, Bruder und Schwester, haben einen Feind, den wir tödlich hassen. Er hat einst meine Schwester in Paris furchtbar beleidigt; ihr Gatte war schon tot, er konnte sie nicht rächen, und so nahm ich ihre Verteidigung auf, das heißt, ich forderte den Beleidiger. Aber der Engländer besaß die törichten Vorurteile seiner Nation gegen das Duell, er schlug es mir in einem höhnischen Briefe ab, und gleich darauf reiste er nach Amerika und entging der Züchtigung durch mich. Ich hasse diesen Mann, aber hier in England ist ein Duell nicht möglich. Hm, Monsieur, würden Sie die Ehre meiner Schwester wiederherstellen?«
»Ist der Frevler denn hier?«
»Ja, nicht weit von hier!«
»Gewiss werde ich Sie und meine künftige Gemahlin rächen. Aber Sie sagten eben selbst, ein Duell wäre in England ganz unmöglich, jeder Engländer stellt den, der ihn gefordert hat, öffentlich an den Pranger.«
»Nun, es lässt sich anders arrangieren. Sie kennen doch unseren großen Philosophen Rousseau?«
»Gewiss! Welcher Franzose oder überhaupt welcher Mensch kennt ihn nicht!«
»Ich bin nach langem Studium seiner Werke zu derselben Ansicht gekommen, die er zwar nicht offen ausspricht, aber in seinem Roman ›Emile‹
andeutet.«
»Ah, ich verstehe. Er sagt da: Halte ich mich moralisch gerechtfertigt, einem das Leben zu nehmen, so ist es Dummheit, es noch darauf ankommen zu lassen, ob er etwa besser schießen oder fechten kann als ich. Das Duell ist nichts weiter als ein Mord, ebenso wie der Meuchelmord, dieser ist aber klüger und des Menschen würdiger. Ist es nicht so?«
»So hat Rousseau wenigstens angedeutet.«
»Nun, Monsieur Francoeur, lassen Sie alle Umschweife! Ich soll also diesen Mann töten, und ich bin bereit dazu. Wo ist er?«
Francoeur führte ihn an das Fenster und deutete in die Nacht hinaus.
»Dort liegt ein Haus, etwa eine englische Meile von hier entfernt. Kennen Sie es?«
»Es gehört Lady Carter, welche sich übermorgen mit Mister Westerly verheiratet.«
»Sie sind gut orientiert.«
»Ein Räuber muss das sein!«
»Wissen Sie, welche fremden Gäste das Haus sonst noch beherbergt?«
»Eine alte Dame namens Miss Woodfield.«
»Weiter?«
»Einen alten Herrn mit schneeweißen Haaren; seinen Namen habe ich noch nicht erfahren können.«
»Der ist es!«, rief Francoeur. »Den schaffen Sie aus der Welt, und Sie sollen Phoebe haben, und wenn ich sie dazu zwingen sollte!«
»All right, es wird besorgt! Wie heißt der Mann?«
»Es ist der Bruder der Miss Woodfield.«
»Also Mister Woodfield! Bis wann soll er tot sein?«
»Erst nach der Hochzeit von Lady Carter gehen Sie ans Werk, denn ich möchte nicht, dass die Trauung seines Todes wegen vielleicht verschoben wird. Doch nein«, unterbrach sich Francoeur hastig, »er muss früher sterben, sonst begegne ich ihm in der Kirche; ich darf die Einladung nicht abschlagen. Meinetwegen kann die Hochzeit auch ganz ausfallen, nur vernichten Sie diesen Mann — der uns so furchtbar beleidigt hat«, setzte Francoeur nach einer kleinen Pause hinzu.
»Also noch vor der Hochzeit! Gut!«
»Können Sie nicht gleich...«
»Nein, aber morgen oder vielmehr noch heute, denn es ist bereits nach Mitternacht.«
»Wohlan, also bis spätestens morgen Abend. Wie gedenken Sie es auszuführen?«
»Sehr einfach, ich lauere ihm auf und schieße ihn nieder. Mir ist schon bekannt, dass er jeden Abend bei Sonnenuntergang spazieren geht, und sein Ziel ist gewöhnlich der Steinbruch. Dort soll es mir ein leichtes sein, ihn unschädlich zu machen.«
»Können Sie ihn nicht lieber verschwinden lassen?«
»Auch das, ich stürze ihn in eine Schlucht. Überlassen Sie mir nur das alles. Sie werden mit mir zufrieden sein. Und der Preis?«
»Wie ausgemacht, meine Schwester!«
Der Maskierte hielt Francoeur wieder die Hand hin, und diesmal schlug er ein.
»Abgemacht, wir sind Schwäger!«, lachte er gezwungen. »Nun darf ich wohl aber auch Ihr Gesicht sehen?«
»Nein, das möchte ich noch vermeiden. Später! Doch wir können über Familienverhältnisse sprechen. War der Gatte der Madame Dubois wohlhabend?«
»Ah so, nun kommt die Geldangelegenheit! Nein, Monsieur Dubois hat nichts hinterlassen als Schulden.«
»Auf deren Übernahme verzichte ich. Und Ihre Schwester?«
»Hat dabei alles zugesetzt!«
»Das arme Weib! Aber meine Liebe zu Phoebe ist so stark, dass ich sie auch heiraten würde, und wäre sie noch so arm!«
»Daran tun Sie recht; wahre Liebe fragt nicht nach Geld!«
»Glücklicherweise ist dies nicht der Fall.«
»Was?«
»Dass Phoebe arm ist!«
»Sie besitzt nichts, versichere ich Ihnen, viel eicht einige kleine Ersparnisse.«
»O, Sie hat ja einen reichen, unverheirateten Bruder.«
»Ah so, also auf diese Weise! Hm, meine Schwester hat nichts mehr von mir zu verlangen.«
»Aber Sie werden sie doch sicher nicht ohne Mitgift von sich gehen lassen. Sie Sind ein reicher Mann.«
»Da wissen Sie mehr als ich.«
»Verstellen Sie sich doch nicht, lieber Schwager! Erst gestern haben Sie die Kleinigkeit von 50 000 Francs bekommen.«
»Hat Ihnen der, welcher Ihnen davon erzählte, auch gesagt, dass es gar nicht mein Geld war?«
»Das nicht, aber er hat mir versichert, dass die 2 000 000 Francs, welche Sie beim Bankier Auverne, Paris, Rue Morgue, auf Ihren Namen stehen haben, wirklich Ihnen gehören.«
Francoeur kniff die Lippen zusammen. Der Bandit wollte für den Meuchelmord keine Belohnung, verlangte aber eine Mitgift für seine Frau.
»Also, lieber Schwager, lassen Sie sich nicht lumpen!«, fuhr der Maskierte ironisch fort. »Dort ist Feder und Papier, setzen Sie sich und stellen Sie eine Anweisung auf 100 000 Francs aus.«
»Sie verlangen viel für Ihre Arbeit!«, murmelte Francoeur.
»Ich? Gott bewahre mich davor, dass ich von meinem Schwager für eine Gefälligkeit Geld annehme. Nein, stellen Sie die Summe auf den Namen Ihrer Frau Schwester aus!«
Der Räuber machte also mit seiner Werbung doch Ernst.
»Erheben Sie die Summe selbst?«
»Nein, sondern Ihre Frau Schwester tut das.«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Sehr einfach. Morgen Abend verrichte ich meine Arbeit, und eine Stunde später reise ich mit meiner Braut nach Paris ab. Einverstanden?«
»Wenn dies bei Phoebe zu erreichen wäre...«
»Lassen Sie mich nur morgen Abend eine halbe Stunde mit ihr sprechen, dann ist die Sache all right. Ich schwöre Ihnen, sie kommt sofort mit. Also bitte, die Anweisung!«
»Erst die Arbeit, dann der Lohn.«
»Ich verlange die Mitgift, nicht den Lohn, schon jetzt.«
»Das ist ein unbilliges Verlangen.«
»Wieso, lieber Schwager? Sie müssen doch einsehen, dass ich Sie nicht hintergehen will; ich bin selbst doch nicht einmal imstande, die Anweisung flüssig zu machen, sondern nur Ihre Schwester oder meine Braut.«
»So soll Sie auch die Anweisung erhalten.«
»Darauf lasse ich mich nicht ein. Es ist überall Sitte, dass der Mann die Mitgift empfängt und damit nach Belieben schalten und walten kann. Das Gegenteil ist schimpflich. Ich bestehe darauf, dass ich den Scheck jetzt empfange.«
Nach einigem Zögern stellte Francoeur die verlangte Anweisung auf den Namen Phoebe Dubois aus; der Maskierte las, faltete das Papier zusammen und steckte es mit einem befriedigten Kopfnicken in die Tasche.
»Well, lieber Schwager, Sie sollen kulant bedient werden! Sonst noch etwas?«
»Wir sind fertig. Also morgen Abend!«
»Morgen Abend, oder ich will Ihrer Schwägerschaft verlustig gehen.«
Francoeur brachte den Räuber selbst die Treppe hinunter und öffnete ihm die Tür.
»Wie sind Sie eigentlich hereingekommen?«, fragte er.
»Sehen Sie das Schlüsselloch? Durch dieses bin ich geschlüpft«, lachte der Räuber. »Gute Nacht, lieber Schwager, wir werden noch näher bekannt werden.«
Lachend entfernte er sich und verschwand im Walde.
»Der hat den Teufel im Leibe!«, brummte Francoeur, als er sich wieder in sein Schlafzimmer begab.
Die Unterredung hatte ihn beruhigt Er traute dem Räuber; dieser würde sein Wort schon halten, und wegen Phoebes musste er noch überlegen.
Wusste er Woodfield tot, so sollte ihm dieser Preis auch nicht zu teuer sein; bah, es gab noch andere Weiber.
Nur das letzte Lachen des Räubers gefiel ihm nicht, es hatte so höhnisch geklungen.
Vor dem Häuschen, das Moore bewohnte, stand ein Mann und klopfte, und als sein mehrmaliges Klopfen vergeblich war, wandte er sich an einen Vorübergehenden, der eben ein benachbartes Haus verlassen hatte.
»Wohnt hier Mister Moore, Sir?«
Der Angeredete blieb lange die Antwort schuldig, so erstaunte er über den Anblick des Fremden.
Dieser nämlich, eine untersetzte, magere Gestalt, war eine sehr auffällige Erscheinung.
Die Beine staken in ein paar Hosen, die aus irgend einem unbekannten, rotbraunen Stoff gefertigt sein mussten, jedenfalls aber trug sein Besitzer sie schon jahrelang, sie glänzten von Fett und Schmutz. Den Oberkörper bedeckte eine weit herabreichende Jacke von demselben Stoff, und an den abgeschabten Ärmeln konnte man sehen, dass es Leder war, wie auch die hackenlosen Schuhe wohl aus rotem Leder bestanden, jedoch von keinem Schuster gemacht worden waren. Vom Gesicht konnte man nichts weiter sehen als eine kleine rote Nase, und zwei blinzelnde, graue Augen, das andere verhüllte ein großer, feuerroter Vollbart und eine Pelzmütze von derselben Farbe, die selbst die Ohren vollkommen bedeckte.
Das also war Dick Red, der Begleiter des Mister Woodfield, jener Mann, von dem man in Wanstead so viel zu erzählen wusste, der sich aber leider so selten an der Öffentlichkeit zeigte, dass man nicht selbst prüfen konnte, ob die über ihn durch Diener der Lady Carter verbreiteten Gerüchte wahr seien oder nicht. Nun, der Name Red, auf deutsch Rot, passte auf ihn, denn dieser Mann war von oben bis unten in ein schmutziges Rot gekleidet, und Haar und Gesicht waren sogar fuchsrot.
Dick hatte die Hände in die Hosentaschen versenkt und stand breitbeinig da, ruhig wartend, bis der Gefragte ihn genug gemustert hatte. Zuletzt dauerte es ihm aber doch zu lange.
»Wenn Ihr mich genug angestarrt habt, dann dürft Ihr mir einmal antworten, das heißt, wenn es Euch nicht weiter geniert.«
Ja, das war Dick Red.
»Was fragten Sie, Sir?«
»Hahaha, hat der Kerl aber ein kurzes Gedächtnis! Ob Mister Moore hier wohnt?«
»Ja, der wohnt hier«, entgegnete der Gefragte und entfernte sich schnell, um mit dem Manne nicht näher in Berührung zu kommen, der wegen seiner Grobheit schon in den wenigen Tagen seines Hierseins sprichwörtlich geworden war.
Dick klopfte noch einmal an das offene Fenster und blickte in die Stube.
Es war natürlich niemand darin. Der Rote besann sich nicht lange, er hob erst das eine Bein, dann das andere und stieg gemächlich ein.
»Also hier ist Charlys Heimat!«, brummte er in den Bart. »Na, da wollen wir einmal auf ihn warten; lange wird er wohl nicht bleiben.«
Er vertrieb sich die Zeit nicht nur damit, dass er sich die Bilder an der Wand ansah, sondern er probierte auch, ob sich die Schubkästen der Kommode öffnen ließen, ob die Schranktüren offen waren, fand jedoch alles verschlossen, bis auf einen kofferähnlichen Kasten, den er sofort ungeniert aufmachte und darin zu wühlen begann. Als er nichts weiter als alte Kleider darin fand, schlug er den Deckel mit einem unwilligen Brummen wieder zu.
Nach einem kleinen Spaziergange durchs Zimmer wurde es ihm zu heiß, er entledigte sich seines Rockes und warf diesen auf das in einer dunklen Ecke stehende Sofa. Unter dem Rocke trug er ein mit Fransen besetztes, ledernes Jagdhemd, um die Hüften einen breiten Gurt, an dem Revolverfutteral hingen noch ein langes, breites Messer in Scheide, der Tabaksbeutel und die hölzerne Pfeife. Der Mann machte ganz den Eindruck eines Präriejägers, nur, dass die Umgebung nicht zu ihm passte.
»Hm, bleibt verdammt lange!«, knurrte er. »Scheint hier überhaupt eine lumpige Wirtschaft zu herrschen, und wenn niemand kommt, so werde ich mich gar nicht genieren und —«
Er blieb plötzlich bei einem Schranke stehen und sog die Luft durch die Nase ein.
»Verdammt will ich sein, wenn das nicht nach Speck und Käse riecht, jetzt merk' ich's noch deutlicher als vorhin. Muss doch einmal sehen.«
Der Schrank war verschlossen, aber Dick wusste Rat, sah sich im Zimmer um, stieg auf einen Stuhl, nahm ein Bild von der Wand und lockerte den Nagel, an dem es gehangen, bis er ihn herausziehen konnte. Dann trat er auf den Nagel und bog ihn ohne große Mühe zu einem Haken.
»So, das wird's tun!«, schmunzelte der Eindringling, steckte den Haken ins Schloss des Schrankes und öffnete geschickt die Tür.
»Aaah — Speck, Käse, Eier und kalter Hammelbraten. Dick, was willst du noch mehr? Hoch lebe der Mann, der sich zu helfen weiß!«
Er bestellte den Tisch nur mit dem, was er zur Stillung seines Hungers brauchte; Messer, Gabel, Teller und so weiter verschmähte er, ebenso wie er auch das Brot im Schranke liegen ließ, denn: »Die englischen Bäcker tun zu viel Mehl ins Brot, verdammte Angewohnheit!«, hatte er geknurrt.
Dann zog er sein Bowiemesser aus der Scheide und begann jene Arbeit, welche man nicht besser als mit Einhauen bezeichnen kann.
Nachdem er zur Anregung des Appetits ein halbes Dutzend rohe Eier ausgesaugt hatte, beschäftigte er sich eingehend mit dem Hammelbraten, stand aber schon nach dem ersten Bissen wieder auf und begann seine Hosen- und Rocktaschen zu visitieren. Er brachte verschiedene nützliche Sachen hervor, wie Bleikugeln, Schrotkörner, Priemtabak und so weiter, alles reichlich vermischt mit Brotkrümeln; seinem Kopfschütteln nach war das Gesuchte jedoch nicht darunter. Dann wühlte er auch noch in dem Tabaksbeutel, aber ebenfalls vergeblich.
»Keinen lumpigen Penny mehr!«, brummte er in den Bart.
Da sah er draußen ein halbwüchsiges Mädchen vorbeigehen. Schnell sprang er an den Schrank, ergriff zwei große Krüge und war mit einem Satz wieder am Fenster.
»He, holla, mein Schatz!«, rief er dem Mädchen nach.
Dieses schaute sich um und ging zögernd zurück. Der Mann mit dem seltsamen Aussehen war ihr zwar fremd, aber sie kannte die Bewohner des Hauses gut, aus dessen Fenstern er sah.
»Ist ein Bierhaus in der Nähe?«, fragte Dick.
»Mehr als eins«, entgegnete das Mädchen, den Fremden staunend betrachtend.
»Dann nimm die beiden Krüge, geh nach dem nächsten Bierhaus und bestell einen schönen Gruß von Mister Moore, der Wirt möchte dir beide Krüge voll machen. Bezahlt würde nachher.«
Das Mädchen ging, ohne erst lange zu fragen, und kehrte nach einigen Minuten mit schweißbedeckter Stirn zurück, wirklich beide Krüge gefüllt bringend, die von Dick schmunzelnd in Empfang genommen wurden.
»Es waren acht Liter, das macht zusammen drei Shilling«, bemerkte sie, als sie die Last durchs Fenster hob.
»Das geniert mich nicht weiter, mit solchen Kleinigkeiten werde ich schon fertig.«
Mit diesen Worten setzte sich Dick wieder an den Tisch und entwickelte einen fabelhaften Appetit und Durst, sodass nach einer halben Stunde nur noch ein großer Knochen und eine Speckschwarte vereinsamt auf dem Teller lagen. Mit befriedigtem Gesicht wischte Dick sein Messer an der Schuhsohle ab, steckte es ein und zog dafür die Pfeife aus dem Gürtel. Als dem schwarzen Kopfe dichte Rauchwolken entstiegen, legte er sich bequem aufs Sofa, und nur die den bärtigen Lippen ab und zu entquellenden Wölkchen verrieten, dass er noch nicht schlief. Doch lange konnte es nicht mehr dauern, so musste ihm die Pfeife im Schlaf entfallen, denn die eben überstandene Anstrengung war eine zu große gewesen.
Die Behauptung Hira Singhs, des von Reihenfels nach England gebrachten Fakirs, hatte sich bewahrheitet; Eugen war am Nachmittag des folgenden Tages vollständig wiederhergestellt gewesen, er konnte in seine Garnison zurückkehren, fand sich aber schon nach einigen Tagen im Hause seiner Pflegemutter wieder ein, um bei deren Hochzeit anwesend zu sein. Acht Tage später sollte er mit den anderen Offizieren und seinem Bataillon die Reise nach Indien antreten.
Als Eugen zu Hause eintraf, fand er alles in voller Arbeit, denn die bevorstehende Festlichkeit verlangte viele Vorkehrungen. Emily und Mister Westerly konnte er kaum sprechen, denn sie waren zu sehr beschäftigt; Miss Woodfield hatte lange und geheime Unterredungen mit ihrem jüngst angekommenen Bruder, dem Eugen nur flüchtig vorgestellt worden war, und da dieser auch dem Dienstpersonal überall im Wege war, so verließ er das so geräuschvolle Haus mit der Absicht, der indischen Villa einen Besuch abzustatten.
Ebenso machte es Jim Green, sein Bursche. Topfgucker und Müßiggänger konnte man heute nicht gebrauchen, und als der junge Soldat zum Teppichausklopfen herangezogen werden sollte, griff er schnell in die Zigarrenkiste seines Herrn und suchte dann das Weite.
Man hört und liest so oft, der Soldat sei in England nicht geachtet, weil er eben nur ein Söldling ist. Möglich, dass ein gewöhnlicher Soldat nicht in den höheren Kreisen geachtet wird, wie es zum Beispiel in Deutschland der Fall ist, aber in den breiten Schichten des Volkes spielt der buntuniformierte englische Soldat eine noch größere Rolle als der unsrige, und das muss doch jeder zugeben, dass ein deutscher Vaterlandsverteidiger, der auf Urlaub nach Hause kommt, in Dörfern und Kleinstädten der Löwe des Tages wird.
Der Spitzname des englischen Marinematrosen ist ›Jack‹, und der des englischen Armeesoldaten ›Tommy Atkins‹, so genannt nach dem Helden eines Theaterstücks, einem gewöhnlichen Soldaten. Tommy Atkins wird noch in vielen Theaterstücken verherrlicht, in Liedern und Couplets, es gibt sogar eine ganze Literatur, welche ihn und sein Leben behandelt, und das aus gutem Grund.
England braucht viele Soldaten, der Dienst in den Kolonien rafft unzählige dahin oder macht sie zu Krüppeln. Ein Dienstzwang besteht nicht, es muss also geworben werden, und damit die Werbung gut ausfällt, muss man Feuer unter die jungen Leute bringen.
Den Dienst der Trommler und Hornisten versehen Kinder, wirkliche Kinder von sieben bis vierzehn Jahren. Es sind dies Söhne von Soldaten, oft Waisen, die von zartester Jugend an zum Heeresdienst erzogen werden.
Braucht England nun neue Soldaten, so ziehen diese kleinen, uniformierten Kerlchen truppweise im Geschwindschritt durch die Straßen, voran der Werbekorporal in Zivil, aber die Brust mit Orden bedeckt, und lassen die Werbetrommeln und Hornsignale ertönen.
Die jungen Burschen lauschen den Klängen, besinnen sich eine Minute —
vielleicht haben sie eben keine Arbeit und schließen sich den Marschierenden an. Es geht nach dem Werbebüro, der junge Mann wird ärztlich untersucht. Schwört der Königin Treue, wird eingekleidet, und schon nach einer Stunde ist aus dem Zivilisten ein Tommy Atkins geworden, der sich für fünf Jahre dem Vaterland mit Haut und Haaren verkauft hat.
Der englische Soldat hat, solange er in der Heimat ist, wirklich ein herrliches Leben: Alles frei, die Verpflegung ausgezeichnet — täglich ein Pfund Fleisch — der Dienst kaum nennenswert, der mindeste Lohn pro Tag einen Schilling — also eine Mark — und bei allen Mädchen, Küchenfeen, Schneiderinnen oder Fabrikarbeiterinnen, ist Tommy Atkins Hahn im Korbe; man teilt den letzten Penny mit ihm.
England fordert von seinen Soldaten keine Arbeit, wenig Dienst, und solange Frieden ist, nur eine leise Spur von Disziplin und Subordination. Dies deutet schon der Spazierstock an, ohne den ein englischer Soldat nicht denkbar ist. England will nur, dass sein Soldat im Kampf mutig ist und keinen Heller nach seinem Leben fragt; dazu ist Sorglosigkeit nötig, bei Verwundung die Aussicht auf spätere Versorgung, beim Tode auf Unterkommen für Frau und Kind. Diese Bedingungen sind erfüllt, und man muss es Tommy Atkins lassen, dass er sich meistens ausgezeichnet schlägt.
So schön sein Leben indes auch in England sein mag, so aufreibend ist es in den Kolonien. Die Hitze und Strapazen, die fortwährend drohenden Krankheiten, wie Cholera, Fieber, Pest und andere und dann die Speere der Kaffern, die Assagaien der Sudanesen, die vergifteten Dolche, die flammenähnlichen Sarrasse und die Kettenkugeln der Inder räumen furchtbar unter den jungen Söhnen Englands auf.
Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, hat der englische Soldat kein beneidenswertes Los — fast immer hat es Tod, Verkrüpplung oder ein sieches Leben im Gefolge. — — —
Auch Jim Green war vor zwei Jahren, damals Schreiber bei einem Advokaten mit wöchentlich fünfzehn Schilling Gehalt, der Werbetrommel gefolgt und hatte die Feder mit Büchse und Seitengewehr vertauscht. Bis jetzt hatte ihm das Soldatenleben ausgezeichnet gefallen, nun ging es für drei Jahre nach Indien, und da ein Krieg nicht zu fürchten war, so brauchte ihn nur das gelbe Fieber zu verschonen, und Jim kam als Corporal zurück und führte dann, mit dreifacher Löhnung, ein Leben wie der liebe Gott in Frankreich. Doch Jim erwog keine schlimmeren Möglichkeiten; vergnügt saß er auf der Bank im Schatten des Baumes, der an der Landstraße stand, streckte die Beine weit von sich und blies vergnügt den blauen Rauch der annektierten Havanna in die sonnige Luft.
Da fesselte seine Aufmerksamkeit eine Staubwolke, die auf der Landstraße aufwirbelte und sich ihm näherte. Es dauerte nicht lange, so tauchte über der Wolke erst ein breitrandiger Strohhut auf, dann kam darunter ein Gesicht zum Vorschein, und schließlich erschien die Gestalt eines jungen Mädchens in kurzem Röckchen, die Bluse mit Puffärmeln, am bloßen Unterarme einen Korb. Mit kleinen, schnellen Schritten trippelte sie daher und erzeugte mit Absicht aufwirbelnden Staub, als bereite ihr dies ganz besonderes Vergnügen.
»Jesus Christus und General Jackson!«, rief das Mädchen, beim Anblick des Soldaten plötzlich stehen bleibend. »O Gott, wie habt Ihr mich erschreckt!«
Als verließen sie mit einem Male alle Kräfte, so rannte sie nach der Bank, setzte den Korb hin und ließ sich neben Jim nieder, faltete die Hände über der Brust und schnappte nach Luft.
»So? Ich habe doch keinen Mucks gesagt, und noch weniger etwas getan«, entgegnete Jim, das hübsche Mädchen von der Seite betrachtend.
»O Gott, was habt Ihr mich erschreckt!«, wiederholte dasselbe.
»Aber womit denn nur, Jungfer? Und nun sagt mal, was macht Ihr denn da für einen Staub? Ihr benehmt einem dadurch ja ordentlich den Atem!«
»Ich machte es dem Erzengel in der Wolke nach«, war die ernsthafte Antwort.
Jim lachte und wurde gleich vertraulich. »So unrecht hast du nicht, du bist auch wirklich ein kleiner Engel, nur den Rußfleck musst du von der Nase abwischen.«
Das Mädchen nahm einen Schürzenzipfel, spuckte darauf und wischte sich damit die Nase ab.
»Meint Ihr wirklich? Habe ich Ähnlichkeit mit einem Engel?«, fragte sie, während sie sich die Nase energisch rieb.
»Bei meiner Soldatenehre, du bist ein leibhaftiger Engel! Woher kommst du denn eigentlich?«
»Von Stradford.«
»Zu Fuß?«
»Ja.«
»Donnerwetter, mit dem schweren Korb? Das ist ein weiter Weg, fast vier Meilen. Konntest du nicht fahren?«
»O ja.«
»Ja, du konntest wohl fahren, hattest aber kein Geld dazu!«, lachte Jim.
»Doch«, entgegnete das Mädchen und klimperte in der Tasche mit Geld.
»Warum bist du dann nicht gefahren?«
»Weil ich sparen muss.«
»Du musst? Warum denn?«
»Weil ich bald heiraten tu.«
»Was? Du kleines Ding willst schon heiraten?«, rief Jim erstaunt.
»Oho, ich bin schon siebzehn Jahre alt«, entgegnete sie gekränkt.
»So, wann bist du denn geboren?«
»Das weiß ich nicht.«
»Nanu, das ist ja sonderbar!«
»Ich kann mich wahrhaftig nicht mehr besinnen, wann ich geboren bin.«
»Das glaube ich dir«, lachte Jim, welcher immer mehr fand, dass das Mädchen neben ihm wirklich hübsch und kein Kind mehr war. »Du wohnst wohl in Wanstead?«
»Ja, beim alten Moore.«
»Ist das dein Vater?«
»Nur mein Pflegevater.«
»Ist dein Vater tot?«
»Ja.«
»Und deine Mutter?«
»Auch.«
»Armes Kind«, bemitleidete Jim sie. »Dann geht's dir ebenso wie mir.
Woran ist denn dein Vater gestorben?«
»An Whisky.«
»Oha!«, lachte Jim. »Er hat also zuviel getrunken. Ist deine Mutter auch daran gestorben?«
»Nein.«
»Woran denn?«
»An Brandy.«
»Mädchen, wenn ich es nicht schon aus deinem Dialekt merkte, dass du eine Irländerin bist, so wüsste ich es jetzt.«
Das Mädchen nahm diese Bemerkung nicht übel; die Irländer sind nun einmal dafür bekannt, dass sie Spirituosen mehr lieben als gut ist.«
»Kommst du aus Irland?«, forschte Jim weiter.
»Ja, ich bin dort aus einem Arbeitshaus entlaufen.«
Jim rückte etwas weiter nach links, sofort aber tat es ihm wieder leid, das Mädchen blickte ihn mit so naiven Augen an.
»Wie heißt du denn?«
»Nelly, und Ihr?«
»Jim Green.«
Das Mädchen lehnte sich hintenüber und brach plötzlich in ein lautes Gelächter aus.
»Nanu«, sagte Jim beleidigt, »findest du meinen Namen etwa lächerlich?«
»Jim Green — Green das ist zu komischer Name«, lachte Nelly.
Die Unterhaltung stockte. Jim fühlte sich beleidigt, vielleicht gebrach es ihm auch an Stoff zur Fortsetzung des Gespräches, und Nelly rollte, in Gedanken versunken, die Schürzenbänder um die Finger. Dann hob sie den Kopf, betrachtete Jim eine Minute von der Seite und rückte näher zu ihm.
»Herr Soldat!«, begann sie leise.
»Nun, was gibt's?«
»Ich wollte Euch was sagen.«
»Dann schieß los!«
»Ihr dürft's aber nicht wieder übel nehmen!«
»Fällt mir nicht ein; so ein kleines Mädchen kann einen Soldaten überhaupt nicht beleidigen.«
»Schwört, dass Ihr mir das nicht übel nehmt, was ich Euch sagen will!«
»Ich schwöre es beim heiligen Dunstan«, lachte Jim.
»Ihr seid ein schöner Mann«, sagte jetzt Nelly verschämt.
Jim war über diese offene Erklärung verblüfft.
»Höre, Mädchen, du willst mich wohl foppen?«
»Ich will auf der Stelle blind werden, wenn ich nicht die Wahrheit sage: Ihr seid ein wunder-, wunderschöner Mann, ich habe noch nie-, niemals so einen schönen Mann gesehen.«
Das klang so aufrichtig, dass Jim ordentlich verlegen wurde. Er konnte nur unverständlich brummen und seine wenigen Flaumhaare unter der Nase drehen.
»Hm, findest du mich wirklich so schön?«, fragte er dann.
Nelly rückte noch etwas näher und seufzte nur. Jims Verlegenheit wuchs.
»Ist dein Bräutigam auch so schön wie ich?«, scherzte er.
»Ich habe noch keinen Bräutigam.«
»Oder dann dein Schatz?«
»Ich habe auch noch keinen Schatz — ach, ja«, erklang es seufzend.
»Ich denke, du willst heiraten?«
»Ja, ich will und muss heiraten, das habe ich mir furchtbar fest vorgenommen, aber leider — ach, ja!«
»Nun; liebt er dich nicht?«
»Wer?«
»Dein Schatz.«
»Wie soll mich denn mein Schatz lieben, wo ich doch noch gar keinen habe!«, sagte Nelly verschämt.
Über Jims Lippen kam ein langer, leiser Pfiff; eine Ahnung begann in ihm aufzudämmern.
»Aha, also da liegt der Hase im Pfeffer!«
»Ja, Herr Soldat, da liegt er.«
Wieder trat eine lange Pause ein. Jim blickte geradeaus und drehte an den Haaren unter der Nase, die noch nicht zu einem Schnurrbart reichten. Nelly blinzelte ihn von der Seite an und rückte immer näher an ihn heran.
»Herr Soldat, es wird Abend«, begann sie dann wieder.
»Unsinn, die Sonne steht ja noch ganz hoch«, brummte Jim.
»Aber es wird doch Abend.«
»Natürlich wird es heute noch einmal Abend.«
»Wollt Ihr hier sitzen bleiben?«
»Ja.«
»Ich muss gehen.«
»Dann adieu, Nelly!«
»Bleibt Ihr hier bis zum Abend?«
»Ja.«
»Fürchtet Ihr Euch nicht vor Räubern? Die schwarze Maske treibt sich hier herum.«
»Wie kann sich ein englischer Soldat vor Räubern fürchten!«
»Aber die — aber die — die Fledermäuse, die in der Nacht herumfliegen.«
Jim lachte und rückte wieder ab, denn Nelly war so dicht bei ihm, dass ihm warm wurde.
»Wo wohnt Ihr, Herr Soldat?«
»Im Hause der Lady Carter.«
»Ach, da haben wir ja einen Weg«, rief Nelly erfreut.
»Wohl möglich, ich bleibe aber noch hier. Good bye, Nelly, auf Wiedersehen!«
»Good bye, Herr Soldat!«
Mit einem tiefen Seufzer stand Nelly auf, bückte sich und hob den Korb auf, doch gleich ließ sie ihn wieder fallen und sank mit einem solchen Zetergeschrei auf die Bank zurück, dass es Jim angst und bange wurde.
»Um Gottes willen, Nelly, was fehlt dir?«
»O — au — ich habe die Herzkrämpfe«, jammerte Nelly.
»Herzkrämpfe?«
»Ja, ich habe manchmal Herzkrämpfe.«
Sonderbarerweise aber rieb Nelly sich mit der Hand die Magengegend.
»Hast du denn die Herzkrämpfe da?«
»Ja, gerade hier, o — au — ach, Herr Soldat, ach, der Korb ist so schwer, ich kann ihn nicht mehr tragen.«
Das Zetern ließ nach, nur den Magen rieb sie sich noch und zog dabei ein ganz verzweifeltes Gesicht.
»Ach, Herr Soldat, der schwere Korb!«
»Du hast ihn aber doch die vier Meilen getragen.«
»Ja, aber allemal gerade hier bekomme ich meine Herzkrämpfe. Habt Ihr schon einmal welche gehabt?«
»Gott sei Dank, noch nicht!«
»Das ist gerade, als ob sich der Magen um und um kehre, ich möchte mich allemal am liebsten auf den Kopf stellen.«
»Hm, sonderbar!«
»Ich kann den Korb nicht weiter tragen. Hebt nur mal, wie schwer er ist!«
Jim hob den Korb und fand ihn wirklich sehr schwer, wenigstens für die Kräfte des jungen Mädchens, welches gar nicht wohlgenährt aussah. Er fühlte in seinem Herzen Mitleid aufsteigen.
»Ist dir jetzt besser, Nelly?«
»Es geht wieder, Herr Soldat! Ach, der böse Korb! Wenn ich ihn hebe, bekomme ich gleich wieder Herzkrämpfe, und allemal gerade hier an dieser Bank. Ist das nicht ganz merkwürdig?«
»Sehr merkwürdig! Sonst niemals?«
»Nie-, niemals! Ach, wenn nur jemand käme und mir den Korb trüge!«
»Na, Nelly, ich bin kein Unmensch. Damit du nicht noch einmal Herzkrämpfe bekommst, will ich ihn dir bis ans Dorf tragen.«
Er stand auf und fasste den Korb, aber die List des Mädchens war noch nicht erschöpft.
»Um Gottes willen, das kann ich doch von so einem schönen Soldaten nicht verlangen«, rief sie wie erschrocken.
»Lass nur, Nelly, ich tu's gern!«
»Ihr tut's wirklich gern?«
»Ja, weil du ein so hübsches Mädchen bist«, scherzte Jim.
»Ach, geht, Ihr treibt Spaß!«, sagte Nelly verschämt.
»Wahrhaftig, ich trage dir den Korb bis ans Dorf, aber nicht weiter als bis an die ersten Häuser. Dann kannst du wohl einen anderen finden.«
»Einen so schönen Mann wie Euch niemals.«
»Nun hör auf mit deinen Schmeicheleien, mir wird ganz flau im Magen.«
»Und mir im Herzen.«
Brummend hob Jim den Korb auf, und sofort hing Nelly an seinem anderen Arm.
»Hallo, Mädchen, so vertraut sind wir noch nicht!«, rief er. »Ich bin Soldat der Königin!«
»Aber meine Herzkrämpfe! Ich muss eine Stütze haben, oder ich falle um und bleibe liegen.«
»Na, dann lass dich meinetwegen führen.«
Wie eine Klette klammerte sich Nelly an ihn und tat, als müsse sie ohne diese Hilfe zusammenbrechen. Eine Zeitlang gingen beide schweigend nebeneinander. Jim war es schwül zumute, er schielte manchmal nach dem Mädchen, welches ihn unverwandt anschaute, und sobald sich ihre Blicke begegneten, die Augen verschämt zu Boden schlug. Sie war ja ganz hübsch, aber dieser kurze Rock, darunter die weißen Strümpfe, fast bis zum Knie sichtbar, und dann diese schwarzen Haarsträhne mit den ominösen Papierwickeln darin!
»Herrgott, wenn dich jetzt deine Kameraden sähen«, dachte Jim manchmal.
Ein banges Seufzen zeigte an, dass Nelly eine Unterhaltung zu beginnen wünschte.
»Nun, Nelly, hast du noch Schmerzen?«
»Ach ja, Herr Soldat!«
»Immer noch im Herzen?«
»Ja.«
»Armes Kind!«
»Ich habe einen so großen Wunsch.«
»Und der wäre?«
»Ich möchte, ich wäre ein Mann.«
»Das wünschen manche Mädchen. Was würdest du denn dann werden?«
»Wenn ich ein Mann wäre, ich würde ein Trommeljunge werden.«
Jim blieb vor Überraschung stehen.
»Was würdest du dann werden?«
»Ein Trommeljunge«, wiederholte Nelly ernsthaft. »Oder Ihr glaubt wohl, ich könnte nicht trommeln und blasen? Oho, ich will's Euch mal vormachen.«
Sie ließ den Arm des Begleiters los, setzte die Hände trichterförmig an den Mund, und plötzlich erscholl, durch eine eigentümliche Bewegung der Lippen und Haltung der Hände hervorgebracht, laut und deutlich ein Trommelwirbel nach dem anderen, so täuschend nachgeahmt, dass Jim zusammenfuhr und eine militärische Haltung annahm.
»Blitzmädel, wo hast du denn das gelernt?«, rief er dann erstaunt. »Wenn du das vor dem Tower machst, tritt ja die ganze Wache unters Gewehr.«
»Nicht wahr? Wartet, ich kann noch mehr!«
Aus den Händen drang ein schmetterndes Trompetensignal hervor, kein Hornbläser hatte es auf seinem Instrument lauter und klarer hervorbringen können.
»Nun, was ist das?«
»Alle Mann zu Bett — Ruhe in der Kaserne!«, lachte Jim aus vollem Halse.
»Das habe ich einmal im Arbeitshaus geblasen, als wir früh aufstehen sollten, und bekam dafür kein Frühstück. Und was ist das?«
Ein anderes Hornsignal erklang.
»Das ist ein Signal der Kavallerie«, lachte Jim, »Pferde abfüttern!«
»Das blies ich einmal, als die Glocke uns zum Mittagessen rief, und zur Strafe musste ich den Speisesaal scheuern, als die anderen, ausgingen. Nun, könnte ich nicht Trommeljunge werden, wenn ich ein Mann wäre?«
Ehe sie die Antwort auf ihre Frage erhielt, setzte sie wieder die Hände vor den Mund, ließ Trommeln und Trompetensignale ertönen, immer schneller und schneller, bis sich die Signale in einen Parademarsch auflösten, in dessen taktmäßigen Zwischenpausen man die Trommelwirbel vernahm.
»Aber, Mädel, wo hast du denn das nur gelernt?«, rief Jim ganz erstaunt, als das schmettern endlich verstummt war.
»Mein Vater war Tambourmajor im irländischen schwarzen Grenadierregiment, ich kann trommeln und blasen seit frühester Kindheit.«
»Tambourmajor? Potztausend, weshalb hast du mir denn das nicht eher gesagt! Dann sind wir ja so halb und halb Kameraden. Nun bring' ich dir den Korb auch bis nach Hause. Hier, schlag ein, Nelly!«
Er schüttelte ihr die Hand.
»Ist dein Vater wirklich an dem gestorben, was du vorhin sagtest?«
»Er starb infolge seines Berufs.«
»Ich denke, weil er zu viel Whisky getrunken hat?«
»Na ja, von dem vielen Blasen bekam er immer Durst, und dann musste er natürlich immer trinken, und da hat er so viel getrunken, bis er nicht mehr konnte. Das ist doch ganz einfach.«
Jim nahm den Korb wieder auf und setzte den Weg fort. Er, als Soldat, hatte vor dem Mädchen plötzlich Respekt bekommen.
»Ich glaube, wenn du Trommeljunge wärst, du würdest es in zwei Jahren zum Tambourmajor bringen. Du bläst ja auf der Hand gerade wie — wie...«
»Wie eine alte Frau auf dem Kaffeetrichter, sagte mein Vater immer«, lachte Nelly. »Ich würde alle Schätze der Welt hingeben, wenn ich diese verfluchten Weiberröcke nicht tragen müsste.«
»Und fluchen kannst du auch?«
»Wie ein Tambourmajor.«
In der Ferne tauchten die ersten Häuser von Wanstead auf, und je mehr die beiden sich ihnen näherten, desto stiller wurde Nelly, obgleich sich Jim jetzt mehr für sie interessierte und sich mit ihr unterhalten wollte.
»Ach ja, Herr Soldat!«, unterbrach Nelly endlich ihr Schweigen mit einem aus dem Herzen kommenden Seufzer, wie er nur jungen Mädchen zur Verfügung steht.
»Nun, du bist noch immer unglücklich darüber, dass du kein Mann geworden bist?«
»Ach nein, Herr Soldat!«
»Was fehlt dir denn sonst, mein Schatz?«
»Was — was sagtet Ihr da eben?«, rief Nelly erfreut. »Ich bin Euer Schatz?
Ist das auch wirklich wahr? Schwört mir's!«
Jim blieb wieder stehen, ließ den Korb nieder und stellte sich vor Nelly.
Er fand immer mehr, dass sie recht hübsch war. Das freundliche Gesichtchen mit der Stulpnase, in den Backen und im Kinn ein Grübchen, dazu die schelmischen Augen, und wenn das auch alles nicht gewesen wäre, so war doch schon der kleine, immer lächelnde Mund mit den frischen Lippen, hinter welchen die Zähnchen wie weiße Perlen schimmerten, ganz entzückend.
»Ich glaube gar, Nelly, mit dir ist nicht alles in Ordnung«, schmunzelte Jim.
»Ach, Herr Soldat, wenn Ihr wüsstet!«
»Na, was denn?«
»Wie ich...«
»Nun, heraus mit der Sprache.«
»Wie ich Euch liebe!«, sagte jetzt Nelly mit gesenkten Augen, dabei die Schürzenbänder wieder um die Finger wickelnd.
»Aha, ich dachte mir schon etwas Ähnliches. Liebst du mich wirklich so sehr, Nelly?«
Das Mädchen stellte sich plötzlich wie eine Schauspielerin in Positur, den Oberkörper vorgebeugt, die eine Hand auf dem Herzen, die andere mit gespreizten Fingern nach Jim ausstreckend.
»Ob ich dich liebe?«, rief sie mit tremolierender Stimme. »Ha, Jim, wenn du wüsstest, wie ich dich liebe, wie es in meinem Innern brennt, wie meine Liebe zu dir mir das Herz zerfleischt! Ha, du würdest Mitleid mit mir haben und sagen: Komm, sei mein Weib! — War das nicht hübsch gesagt?«, unterbrach sie sich mit veränderter Stimme.
»Mädchen, du bist ja die reine Dichterin.«
»Ach nein, das ist nicht von mir selbst, das habe ich heute früh im Roman der Morgenzeitung gelesen und auswendig gelernt«, gestand Nelly treuherzig.
»Bleibt sich gleich; liebst du mich wirklich. Nelly?«
»Zum Tollwerden.«
»Seit wann denn?«
»Seit immer.«
»Du hast mich aber doch erst vor einer Stunde zum ersten Male gesehen.«
»Das ist eben furchtbar dumm, geliebt habe ich dich aber schon immer.«
»Na, Nelly, so werde ich dich auch wiederlieben«, sagte Jim großmütig und wollte ihr die Hand geben; Nelly aber stieß sie zurück, flog ihm an den Hals und küsste ihn wiederholt herzhaft.
»Stopp, stopp, Mädel, du musst bedenken, ich bin Soldat!«, brachte Jim endlich hervor und blickte sich scheu um. »Wenn man sieht, wie ich auf der Landstraße ein Mädchen küsse, werde ich entlassen.«
»Ach, geh, Jim, das ist nicht wahr!«
»Wahrhaftig!«
»Dann kommt mit mir, es ist bei mir niemand zu Haus.«
»Ach so, dort soll die Fortsetzung folgen? Nein, Nelly, das geht nicht.«
»Komm doch mit«, bat Nelly, »wir sind ganz allein. Der Vater arbeitet, und die Mutter ist mit der Enkelin auf Besuch bei einer weitab wohnenden Nachbarin. Isst du gern Hammelfleisch?«
»Ja, aber nur, wenn es gebraten ist.«
Nelly wollte sich über den spaßigen Soldaten halbtot lachen.
»Speck und Eier sind auch noch da, ich mache dir Pfannkuchen, wie du sie noch nie gegessen hast. Zu jedem Pfannkuchen nehme ich ein halbes Pfund Butter.«
»Du bist eine ganz gefährliche Verführerin, besonders für Soldaten. Woher weißt du denn, dass die schwache Seite von Tommy Atkins der Magen ist? Hast du schon eine Rotjacke geliebt?«
»Bewahre mich der Himmel, nicht für alle Schätze der Welt!«
»Na, ich werde kommen. Wenn ich aber nun ordentlichen Hunger habe und räume tüchtig auf? Werden deine Stiefeltern dich nicht schelten?«
»Ich sage, die Katze hat es gefressen.«
»Katzen fressen keine Eier.«
»Wenn ich sage, die Katze hat die Eier gefressen, dann muss sie sie auch gefressen haben.«
»Und wenn du nun Schläge bekommst?«
»Erstens bekomme ich die nicht. Zweitens bin ich vom Arbeitshaus her schon an sie gewöhnt, dass ich Sie nicht fühlen würde. Drittens lasse ich mich gar nicht mehr schlagen, seit ich einen Soldaten zum Schatz habe.
Nun?«
»Ich bin besiegt. Vorwärts marsch!«
»Stillgestanden — Abteilung marsch!«, — kommandierte Nelly mit Stentorstimme, etwas zur Seite gehend, während sich Jim aufrichtete und, den Korb am Arm, einen Paradeschritt annahm.
Nachdem er so eine Strecke marschiert war, kam ihm ein Gedanke in den Sinn.
»Nelly, ich muss —«
»Maul gehalten!«, donnerte das Mädchen ihn aber an.
»Ich muss dir aber was sagen —«
»Ruhe im Glied, oder ich lasse Euch Laufschritt machen, bis Euch die Zunge aus dem Halse hängt und Ihr den Himmel für einen Dudelsack haltet. Halt — Gewehr ab! — rühren!«
»Gott bewahre mich«, sagte Jim, als nach diesen Kommandos das Sprechen wieder erlaubt war, »an dir ist ein Unteroffizier verloren gegangen.«
»Nun, was gibt's, mein lieber Jim?«
»Ich wollte nur fragen, wie lange unsere Liebschaft dauern soll?«
»Aber Jim, natürlich bis in den Tod!«
»Das ist ein bisschen lange.«
»Pfui, Jim!«
»In sieben Tagen muss ich nämlich auf drei Jahre nach Indien.«
Eine Sekunde starrte Nelly ihn erschrocken an, schlug dann die Schürze vor die Augen und brach in Tränen aus.
»Armes Kind«, sagte Jim und schlang den freien Arm um sie, »das ist nun einmal das Los jedes Soldaten und das seines Mädchens.«
»Ich — ich sterbe, wenn — wenn du gehst«, schluchzte Nelly.
»Ich komme ja wieder, und dann heirate ich dich.«
»Nein, das — das tust du doch — doch nicht.«
»Warum denn nicht? Wir Soldaten sind sehr treu.«
»Das — das ist nicht wahr — du heiratest eine andere. Ich komme mit nach Indien.«
»Als was denn?«
Nelly blickte hinter der Schürze hervor.
»Ja, als was?«
»Weißt du was?«, scherzte Jim, dem es weniger traurig zumute war.
»Unser Bataillon, welches nach Indien geht, braucht noch Trommeljungen.
Morgen werden neue angeworben, melde dich dazu.«
Jm Nu waren ihre Tränen versiegt.
»Wo werden sie angeworben?«
»Vor dem Tower.«
»Ob man mich nimmt?«
»Ja, aber nicht als Trommelmädchen«, lachte Jim, »du ziehst Männerkleider an.«
»Wird man mich nicht erkennen? Ich mach's.«
»Unsinn, Nelly, es war ja nur ein Spaß von mir. Man würde bald herausfinden, dass du ein Mädchen bist, und dann bist du überhaupt viel zu schwach.«
»Ach ja, wenn ich nur kein Mädchen wäre! Dann ging ich als Trommeljunge mit, und wir könnten uns drüben gleich heiraten.«
»Ich soll einen Trommeljungen heiraten?«, lachte Jim. »Na, Nelly, wir werden uns schon wieder sehen, und ich will auch versuchen, dir treu zu bleiben. Mehr kann ich nicht versprechen. Gib mir ein Andenken von dir, dann fällt's mir leichter. Jeder brave Soldat muss ein Andenken von seinem Mädchen haben, das schützt gegen Hieb, Stich und Kugel.«
»Du hast schon ein Andenken von mir«, sagte Nelly verschämt.
»Was denn? Du meinst wohl die Küsse von vorhin?«
»Nein, noch etwas anderes.«
»Du hast wir doch nichts gegeben.«
»Doch.«
Jim griff in die Hosentaschen, fand aber nichts weiter als seine Börse und ein neues Taschenmesser, dann in die kleine Seitentasche des Rockes und machte ein erstauntes Gesicht.
»Nanu, wusste ich doch gar nicht, dass ich hier noch Geld drin hatte«, murmelte er.
Er brachte einige Kupfer- und Silbermünzen zum Vorschein und zählte sie.
»Drei Schilling acht Pence, seltsam!«
Jim betrachtete bald das Geld in seiner Hand, bald das Mädchen, welches sehr rot geworden war.
»Nelly, ich glaube, das hast du mir hineingesteckt.«
»Ja, vorhin. Bist du mir deshalb böse?«
»Ein Geldgeschenk ist kein Andenken, ebenso wenig wie ein Kuss, und am allerwenigsten für einen Soldaten. Hier hast du's wieder!«
»Ich will es aber nicht haben!«, entgegnete Nelly trotzig.
»Und ich auch nicht. Woher hast du das viele Geld?«
»Nicht gestohlen, ich habe es mir erspart.«
»Wieso denn?«
»Es ist mein Fahrgeld von vielen Wochen — ich bin immer gelaufen.«
»Hier hast du's wieder, ich nehme es nicht an!«
»Ich werfe es gleich weg!«
»Meinetwegen, ich würde es doch nur ausgeben.«
Nellys Lippen begannen zu zucken, und Jim fühlte Mitleid mit ihr. Er steckte das Geld wieder ein.
»Gut, ich will es behalten, aber ich sage gleich, dass es den Weg alles Geldes geht!«
»Das soll's auch. Wenn du in Indien Durst hast, dann vertrinke es und denke dabei an mich!«, rief Nelly gleich wieder fröhlich.
»All right, hier. hast du auch ein Andenken an mich. Ein ganz neues Taschenmesser, erst gestern in London gekauft. Ist es nicht hübsch?«
»Wunderhübsch, ich danke dir!«
Es war ein kleines, zierliches Messer, nur mit einer Klinge, die Schale mit Perlmutter ausgelegt.
Freudestrahlend wischte Nelly es an der Schürze ab und steckte es ein.
»Nun will ich ein Andenken von dir haben«, sagte Jim; »denn Geld ist kein Andenken!«
»Ein Andenken?«, sagte Nelly sinnend.
Dann huschte plötzlich ein Lächeln über ihr hübsches Gesicht.
»Ja, ja, du sollst eins haben, aber jetzt noch nicht.«
»Wann denn?«
»Ich schicke es dir; du gibst mir deine Adresse.«
»Was ist es denn?«
»Ich verrate nichts.«
»Nun gut, aber vergiss nicht, dass ich nur noch sieben Tage in London bin.«
Jims beide Arme wurden wieder belastet, links vom Korb, rechts hing sich Nelly ein. und lachend und scherzend setzte man den Weg nach dem Hause fort, in dem sie für den Vaterlandsverteidiger ein reiches Abendbrot bereiten wollte.
Dick Red lag noch immer auf dem Sofa in Moores Häuschen und hatte es sich sehr bequem gemacht. Der Kopf, auf dem noch die Pelzmütze saß, ruhte auf der ledernen Jacke, ein Bein lag über der Lehne, das andere hing vom Polster herab, und die Hand, welche die erloschene Pfeife hielt, ruhte auf der Erde. Er musste sehr fest schlafen, wenigstens den tiefen Atemzügen nach zu urteilen, und so sah und hörte er auch nicht, was späterhin um ihn her passierte.
»Abteilung halt — rechts um!«, rief draußen eine Mädchenstimme im Kommandoton, ein Schlüssel wurde in das Schloss gesteckt, herumgedreht, und die Tür öffnete sich.
Nelly und Jim traten ein, gewahrten jedoch den auf dem Sofa liegenden Mann nicht, denn das Möbel stand — wie schon erwähnt — in der dunkelsten Ecke, und außerdem brach auch schon die Abenddämmerung an.
»Den Korb dorthin gesetzt!«, befahl Nelly. »So, und nun darfst du wieder vertraulich mit mir sprechen, jetzt bin ich kein Vorgesetzter mehr. Nun will ich erst Feuer — hilf, Himmel, Jesus Christus und General Jackson!«, unterbrach sie sich und schlug die Hände zusammen.
»Was ist denn das?«
Sie hatte die ungenießbaren Überreste von Dicks Mahlzeit entdeckt, also den Hammelknochen und die Speckschwarte.
»Das scheinen die letzten Spuren von etwas Essbarem zu sein«, bemerkte Jim.
»Ja, aber wer hat denn das getan?«
»Wahrscheinlich die Katze.«
»Diese Eierschalen!«
»Deine Katze frisst ja Eier, wie du gesagt hast.«
»Aber in jedem Ei ein Loch zum Aussaugen.«
»Hat sie mit den Krallen hineingemacht.«
»Und die zwei Kannen auf dem Tisch. Wahrhaftig, da war Bier drin, man riecht's noch!«
»Hat deine Katze sich geholt und ausgetrunken.«
»Jesus Christus und General Jackson!«, wiederholte Nelly, nahm den abgenagten Knochen vom Tisch und hielt ihn Jim unter die Nase. »Nun sieh nur diesen Knochen! Fünf Pfund Fleisch waren wenigstens daran, und das hat die Alte alles ganz allein aufgefressen!«
»Die alte Katze? So ein verhungertes Vieh!«
»Nein, meine alte Stiefmutter. Jesus Christus, hat die aber einen Hunger gehabt, und sechs Eier auch noch und, Himmel, den ganzen Speck dazu!«
»Woher weißt du, dass es die Alte war?«
»Wer denn sonst? Als ich fortging, war sie noch hier!«
»Wo ist sie denn hin?«
»Zu einer Freundin zum Tee.«
»Bei dem Tee gibt es wahrscheinlich mondscheinsüchtige Butterbrote mit Brunnenkresse, und da hat sie erst einen guten Grund gelegt.«
»Nu ja, aber so eine Fresswut!«
Nelly konnte sich gar nicht beruhigen, und Jim schaute sich ängstlich im Zimmer um.
»Du, hier bleibe ich nicht!«, meinte er.
»Warum denn nicht? Käse, Mehl, Butter und Brot ist ja noch da, davon mache ich dir Eierkuchen, da steht auch noch ein Topf mit Sirup — ach nein, das ist Schmierseife. Eier sind freilich nicht mehr da.«
»Eierkuchen aus Käse, Butter und Brot, ohne Eier, in Schmierseife gebacken? Nee, dafür danke ich, ich gehe.«
»Ich hole was anderes, du hast ja Geld!«
»Ich bleibe doch nicht, ich fürchte mich!«
»Fürchten? Warum?«
»Wenn die Alte nach Hause kommt, hat sie vielleicht noch Appetit und frisst mich mit Haut und Haaren auf. Sag mal, Nelly, was raucht denn deine Stiefmutter für einen mörderischen Tabak? Das riecht ja gerade wie in einer Hufschmiede.«
»Die raucht gar nicht, sie steckt nur den Tabak lotweise in die Nase.«
»Aber hier hat vor Kurzem jemand geraucht. Deine Katze vielleicht?«
»Wahrhaftig, du hast recht, das riecht nach Tabak!«
Plötzlich stieß Nelly ein gellendes Geschrei aus, lief erst zweimal um den Tisch, riss einen Teller herunter, warf einen Stuhl um und versteckte sich dann hinter Jim.
»Da — auf dem Sofa — da liegt ja ein Bär!«, schrie sie.
Jetzt entdeckte auch Jim den schlafenden Dick Red.
»Nanu, wie kommt denn der Kerl hierher, wenn du ihn nicht kennst?«
»Durchs Schlüsselloch oder durchs Fenster.«
»Letzteres ist eher möglich. Aha, der also hat hier so in dem Küchenschrank ausgeräumt, zwei Krüge Bier ausgetrunken und ist nun so besoffen, dass er wie ein Toter schläft. Will ihn doch mal wecken.«
»Sieh dich vor, Jim, er könnte beißen!«
»Unsinn, Nelly!«
Er ging auf den Schläfer zu, und Nelly, deren Entsetzen wie gewöhnlich nur erkünstelt war, folgte ihm.
Jim rüttelte ihn an der Schulter.
»He, Fremder, ausgeschlafen?«
Keine Antwort, Dick schlief weiter.
»Herrje, das ist ja der komische Kerl aus dem Hause der Lady Carter!«, rief da Nelly. »Dick Red heißt er wohl. Den müsstest du doch auch kennen, wenn du dort wohnst!«
»Richtig, nun weiß ich es auch. Gesehen habe ich ihn freilich noch nicht, denn wir sind erst gestern Nacht hier angekommen, aber die Beschreibung passt auf ihn; es wird wohl Dick Red sein. Was hat er hier zu suchen? Und mir auch noch die Zutaten zu meinem Eierkuchen wegzufressen!«
»Dem sollen sie doch die Haut vom Kopfe abgeschnitten und die Ohren abskalpiert haben?«, fragte Nelly.
»Umgekehrt, Mädchen. Wir können uns ja gleich einmal davon überzeugen. Ich glaub's nämlich nicht.«
Er nahm dem Schläfer die große, rote Pelzmütze ab, und ein Kopf kam zum Vorschein bei dessen Anblick die beiden doch erschrocken zurückprallten.
Da, wo sonst die Haare sitzen, zeigte sich eine grellrote Haut, wie sie sich über großen Brandwunden bildet; nicht ein Haar war mehr zu sehen, und an Stelle der Ohren waren nur kleine Fleischstumpfe vorhanden.
Vorsichtig setzte Jim die Mütze dem Schläfer wieder auf den Kopf.
»So was habe ich doch in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.«
»Nun geniert Euch das etwa, dass ich keine Ohren und keine Haare mehr habe?«, erklang es da brummend von den Lippen des Liegenden; derselbe richtete sich auf, drückte die Mütze fester auf den Kopf und schaute die beiden mit so klaren Augen an, dass er unmöglich geschlafen haben konnte.
»Dick Red, Dick Red«, lachte Nelly, »das ist ja der Freund von unserem Charly, von dem er immer erzählt.«
»Ihr seid also Dick Red?«, fragte Jim. »Ja, passt Euch das etwa nicht?«
»Ich wollte Euch nur sagen, dass Ihr auch ordentlich rot ausseht, wie ein gekochter Krebs.«
»Das kann Euch doch nicht genieren. Wer seid Ihr?«
»Jim Green, und wohne seit gestern Abend im Hause der Lady Carter, bin der Bursche von Leutnant Carter.
»Jim Green. Na, grün genug seht Ihr aus!«
Am meisten freute sich Nelly.
»Grün und rot«, rief sie ein übers andere Mal lachend und klatschte in die Hände.
Dann trat sie mit ernstem Gesicht vor den Mann hin, der noch bequem auf dem Sofa saß.
»Habt Ihr den Hammelbraten aufgegessen?«, fragte sie.
»Nein.«
»Das ist eine Lüge! Es kann ihn niemand anders aufgegessen haben als Ihr.«
»Ich habe ihn nicht aufgegessen, den Knochen habe ich ja liegen lassen.
Das Zeug hat ganz gut geschmeckt, nur hätte es etwas mehr durchgebraten sein müssen.«
»Und den Speck habt Ihr auch noch aufgegessen?«, examinierte Nelly weiter.
»Bis auf die Schwarte. Etwas mehr Rauch hätte ihm nichts geschadet.«
»Und alle Eier?«
»Nur sechs.«
»Es waren ja nur sechs da.«
»Kann ich etwa dafür, dass nicht mehr da waren? Nun macht Eure versprochenen Eierkuchen, ich verspüre schon wieder Appetit.«
»Von was soll ich sie denn machen? Ihr habt ja alles aufgegessen.«
Schließlich aber kamen sie doch überein, sich Eierkuchen machen zu lassen. Jim Green musste das Geld zu den nötigen Zutaten hergeben, was Nelly zu der Frage veranlasste, ob Dick denn kein Geld habe.
Dieser schüttelte den bepelzten Kopf und erzählte, dass er schon die acht Liter Bier auf Rechnung des alten Moore habe holen lassen.
Jetzt wurde Nelly doch etwas bestürzt. Moores mussten sich sehr einschränken, und Dick hatte mehr verbraucht, als die Familie sonst die ganze Woche.
»Oho, Ihr dürft nicht etwa denken, dass ich nicht bezahlen kann«, schmunzelte Dick. »Sieh hier, was ist das?«
Er griff in den Brustlatz seines Hemdes und zog ein Lederbeutelchen hervor, dem er eine haselnussgroße gelbe Kugel entnahm.
»Das ist Gold«, rief Nelly sofort.
»Wenn's nicht Messing ist«, meinte Jim; »unsereins kann so etwas nicht unterscheiden.«
»Ja, es ist Messing«, nickte Dick pfiffig; »ich habe dieses Stück Messing in Colorado aus einem Bache geholt, wozu ich mich zehn Klafter an einem Seile hinabließ, und weil in dem Bache viel Messing liegt, wahrscheinlich von indianischen Gelbgießern hineingeworfen, darum heißt er Goldbach.
Verstanden? Hier, Nelly, steck das Stück Gold in den Pantoffel deiner Stiefmutter und hole uns außer deinen Eiern auch noch zwei Krüge Bier auf Pump für Mister Moore.«
Während Nelly ging, machte Jim auf ihre Anweisung hin schon Feuer an, und Dick beschäftigte sich auf dem Sofa mit seiner Pfeife.
Es waren nur wenige Minuten vergangen, als Nelly schon wieder ins Zimmer gestürmt kam, und zwar die zwei Krüge leer in der Hand tragend.
»Nun, gibt's kein Bier mehr?«, fragte Dick.
»Um Gottes willen«, schrie Nelly, »macht schnell, man sucht Euch! Euer Herr ist zweimal durch den Kopf geschossen worden!«
»Wer?«, fragte Dick kaltblütig, ohne aufzustehen.
»Mister Woodfield.«
»Unsinn, du träumst!«
»Ich will auf der Stelle in die Erde versinken, wenn ich nicht die Wahrheit spreche. Mister Woodfield ist im Steinbruch kurz hintereinander zweimal totgeschossen worden.«
»Gleich zweimal!«, lachte Dick.
Da trat draußen auf der Straße ein Mann ans Fenster.
»Sind Sie Dick Red?«, rief er hinein. »Ihr Kamerad Charly schickt mich.
Sie sollen sofort nach dem Steinbruch kommen oder vielmehr rennen. Mister Woodfield ist von der schwarzen Maske erschossen worden, er ist schon tot. Ich habe Charly nicht ganz verstehen können.«
Die letzten Worte hörte Dick schon nicht mehr. Mit einem furchtbaren Fluche sprang er auf, warf den Rock über die Schultern, erkundigte sich kurz nach der Richtung, in der der Steinbruch lag, und stürmte dann in vollem Laufe diesem zu.
Der schönste Teil des Waldes von Wanstead ist der, welcher sich im Tal an der Seite des Steinbruchs hinzieht. Zwischen den Bäumen zeigen sich pittoreske Felsbildungen, hier und da liegt vereinzelt ein mächtiger Steinblock, vielleicht von Sprengungen hierher geschleudert, Moose überwuchern ihn, und zur Seite gedrückte Baumstämme scheinen ihn zu umarmen.
In dieser Umgebung wandelte im letzten Scheine der Abendsonne Miss Woodfield an der Seite eines Mannes, den sie Bruder nannte.
James Woodfield mochte in den sechziger Jahren stehen, sein Haar und der kurze Vollbart waren weiß wie die ganze Gegend, aus der er kam — aus den arktischen Gebieten Nordamerikas, dem Reiche des Eisbären — doch sonst konnte man ihm das Greisenalter nicht anmerken. Die Gestalt war noch hoch und stramm aufgerichtet, der Gang zwar langsam, aber fest und sicher, das Gesicht wettergebräunt und frisch, und das graue Auge blickte noch ungetrübt. Wie seine Schwester war auch er eine hagere, eckige Figur, und im Gesicht war derselbe Zug von harter Energie zu lesen, der sich besonders in den schmalen, immer festgeschlossenen Lippen ausdrückte.
Wer ihn so langsam spazieren gehen sah in modernem grauen Anzug und gelbem Sommerüberzieher, auf dem kurzgehaltenen Haar einen weichen Filzhut, der hätte ihn vielleicht für einen alten Offizier gehalten, am allerwenigsten aber für einen Mann, der einige Jahre seiner Jugend als Pelzjäger verbracht hatte, nicht um seine Abenteuerlust zu befriedigen, sondern allein als Kaufmann, um das Geschäft des Pelzhandels von Grund auf kennen zu lernen.
Wie der spätere Großkaufmann meistenteils auch erst als Lehrling oder Volontär die niedrigsten Kontorarbeiten und Ladendienste verrichten muss, will er das beurteilen können, was er einst von seinem Personal verlangen darf, so muss auch der große Pelzhändler im Norden Amerikas selbst eine Lehrzeit als Trapper, als sogenannter Voyageur, durchmachen — wie schon einmal erwähnt wurde — sonst kann er die Leistungsfähigkeit seiner Leute, vom Kommis bis herab zum halbwilden Jäger nicht beurteilen, und seine Spekulationen sind nicht sicher.
James Woodfield hatte dies alles durchgemacht; wie der gewöhnliche Pelzjäger hatte er das lange Ruder gehandhabt, die Boote über die Stromschnellen getragen, Bären geschossen und mit Indianern Tauschhandel getrieben, dann war er Kommis geworden und hatte es schließlich bis zum Direktor der Hudsonbaikompanie gebracht, deren Gebiet eine Fläche von 148 000 deutschen Quadratmeilen umfasst, also größer als Europa ist. Aber auf diesem ungeheuren Gebiete gibt es nicht so viel ackerbaufähiges Land, dass sich von dem Ertrage der Früchte ein Dutzend Personen ernähren könnten.
Als der Sohn den Vater unterstützen konnte, hatte sich Woodfield von der Kompanie abgesondert und selbst Faktoreien gegründet, und jetzt befand er sich in England, nicht nur um Pelzauktionen beizuwohnen, sondern um sein Unternehmen unter den Schutz der englischen Flagge zu stellen und dasselbe zu erreichen, was schon die Hudsonbaikompanie erzielt: nämlich eine eigene Gerichtsbarkeit.
Man sah es, wie gesagt, dem Manne nicht an, dass er einst Pelzjäger gewesen war und jetzt im Begriffe stand, sich förmlich als Selbständigen, unumschränkten König proklamieren zu lassen, der über Leben und Tod zu entscheiden hat. In jenen einsamen Gegenden, in denen auf eine deutsche Quadratmeile ein einziger Mensch kommt — ungefähr 140 000 Indianer und 10 000 Weiße — muss es einen Mann geben, der unumschränkte Richtergewalt besitzt, denn der Arm der Justiz reicht nicht bis dorthinauf.
Aus diesem Grunde hatten auch Dick und Charly den reichen Pelzhändler begleitet, nicht als Diener, sondern als die mächtigsten Zeugen, dass Woodfields Forderungen gerecht waren. Was kein Mensch in England beurteilen konnte, darüber konnten nur die Aussagen der beiden unscheinbaren Pelzjäger entscheiden.
Als wichtig muss noch bemerkt werden, dass in jenen Territorien das französische Element stark vorherrscht, und dass daher auch die von den Pelzjägern durchweg gesprochene Sprache ein französisches Kauderwelsch ist, vermischt mit englischen und indianischen Brocken. Diese Territorien gehörten nämlich früher Frankreich, im Jahre 1761 wurden sie von England erobert; aber die französischen Pelzkompanien blieben neben englischen bestehen, wodurch unter den Pelzjägern der beiden Nationen ein förmlicher Krieg ausbrach, den jeder auf eigene Faust führte, 1822 verschmolzen die Kompanien, sie wurden alle englisch, aber die Sprache ist dennoch, Französisch geblieben; auch die Engländer akzeptierten letztere.
»Ich bitte dich Rachel«, sagte Woodfield auf eine Frage seiner Schwester, »mich nicht immer wieder an jenes unglückliche Ereignis zu erinnern.
Es ist mir nicht gelungen, Nancy wiederzufinden, obgleich ich, wie du weißt, die ungeheuersten Anstrengungen gemacht habe. Ich habe jahrelang ganz Amerika von Norden nach Süden, von Osten nach Westen durchreift, ich habe selbst Nachforschungen in Frankreich angestellt, nichts gespart, eine Spur zu finden, und alles blieb erfolglos — nie habe ich weder etwas von meiner unglücklichen Nancy, noch von jenem schurkischen Franzosen gehört, der sich als Kapitän eines Pelzhändlerschiffes ausgab, aber dann, wie man erfuhr, gar keine Pelze einnahm, sondern sich von französischen Pelzjägern indianische Mädchen und Kreolinnen eintauschte. Er war ein Sklavenhändler, es ist kein Zweifel, und die kleine Nancy ist ihm zum Opfer gefallen, denn als wir sie vermissten, war jenes Schiff abgesegelt. Kapitän, Schiff und Nancy sind verschwunden, und ich muss letztere für tot halten.
Ach, möchte sie es sein!«, fügte er seufzend hinzu.
»Ich wollte dir nur mitteilen«, entgegnete die Schwester, »wie sonderbar sich Monsieur Francoeur verhielt, als ich ihm vorgestellt wurde. Beim Nennen meines Namens schrak er furchtbar zusammen, und merkwürdig, er wusste auch meinen Vornamen! Ich dachte gleich an dich, weil er ja auch ein Franzose ist.«
»Eine unangenehme Erinnerung mag in ihm erwacht sein. Wie sollte er, der aus Indien kommt, jener Mann sein, den ich suche! Nein, Rachel, das sind ja waghalsige Vermutungen, und ich bitte dich, dich nicht mehr mit der Sache zu beschäftigen. Überdies sehe ich ihn ja morgen in der Kirche.
Hätte ich gewusst, dass ich zu einer Trauung eingeladen werde, ich wäre nicht hierher gekommen, denn die Fröhlichkeit fremder Menschen erweckt nur meinen Schmerz, um so mehr hier, wo ich in Lady Carter eine Leidensgenossin gefunden habe. Ich wünschte wirklich, ich hätte meine Eisfelder nicht verlassen. Dort in der Einsamkeit fühle ich mich wohl; brave, ehrliche Menschen umgeben mich, und die Familie meines guten Sohnes macht mich glücklich.«
Die Geschwister mussten ein spärlich bewachsenes Felsplateau überschreiten, durch das sich breite, unregelmäßige Rinnen hinzogen und auf dem mannshohe Steinblöcke lagen.
Plötzlich erscholl neben ihnen hinter einem der Felsen eine laute Stimme:
»James Woodfield, dies schickt Ihnen Monsieur Janvier.«
Hinter dem Felsen sprang ein Mann hervor, vor dem Gesicht eine schwarze Maske, in der erhobenen Hand eine Pistole; fünf Meter vor dem Amerikaner blieb er stehen, die Waffe auf Woodfield gerichtet; dem Laufe entfuhren kurz nacheinander zwei Feuerstrahlen.
Mit dem Krachen der beiden Schüsse vermischte sich der Schreckensschrei Rachels. Woodfield stand einen Augenblick wie gebannt da, dann stürzte er mit ausgebreiteten Armen vorwärts, als wolle er den Meuchelmörder fassen, strauchelte am Rande einer Rinne, fiel und schlug mit dem Kopf schwer auf die scharfen Steine.
Die alte Dame glaubte anfangs, dies alles wäre nur ein Spiel ihrer Einbildung gewesen. Aber nein, der Mörder war zwar verschwunden, doch dort, allmächtiger Gott dort lag ihr Bruder mit ausgestreckten Armen tot am Boden; das Blut floss aus seinem Kopfe.
Rachel sprang hinzu.
»James! James!«, schrie sie, und fasste den Bewegungslosen am Arm.
Woodfield rührte sich nicht. Aus der Wunde rieselte ein Blutbächlein über die Steine.
Rachel schrie laut um Hilfe; ihr Ruf wurde gehört, ein Mann erschien auf der Bildfläche, und dann noch ein anderer.
»Die schwarze Maske«, stieß Rachel verzweifelt hervor, »hat auf meinen Bruder geschossen — er ist tot!«
Die beiden Männer, ebenfalls furchtbar erschrocken, drehten Woodfield um. Das Blut floss ihm übers Gesicht; es kam aus einem Loch in der Stirn.
»Durch den Kopf geschossen!«, sagte einer leise. »Er ist tot!«
Wieder erscholl das Verzweiflungsgeschrei der unglücklichen Schwester; es rief noch andere Leute herbei. Die Gegend war gar nicht so einsam; wie hatte der Räuber nur wagen können, hier am hellerlichten Tage einen Raubüberfall zu versuchen! Es wurde die höchste Zeit, dass man ihn dingfest machte.
Rachel sollte eine Erklärung geben, sie vermochte es aber nicht.
»Mister Woodfield erschossen?«, rief da eine Stimme; die Umstehenden wurden zur Seite gedrängt und Charly, Woodfields Begleiter, stürzte hervor.
»Ich habe die Schüsse gehört, sie galten also ihm! Was ist vorgegangen, Miss Woodfield?«
Die alte Dame war noch nicht fähig, die Frage des Pelzjägers klar zu beantworten, ebenso konnte Charly von den Übrigen nichts Gewisses erfahren, denn er war der einzige, der nicht von lähmendem Entsetzen erfasst wurde, weil er während seines wilden Lebens an derartige Szenen gewöhnt worden war.
Das erste war, dass er die angebliche Leiche untersuchte, und da ergab sich gleich etwas, was den Bann des Schreckens aufhob.
»Wer sagt da, Mister Woodfield sei tot?«, rief er, die Hand auf die Herzgegend des Regungslosen legend. »Er atmet ja ganz regelmäßig.«
Als Charlys Aufforderung, Wasser zu holen, von den Umstehenden nicht schnell genug befolgt wurde, sprang er selbst davon, brachte in seiner Pelzmütze Wasser aus dem nächsten Tümpel, wie es solche bei Steinbrüchen immer gibt, und begann Mister Woodfields Kopf zu waschen.
Plötzlich brach er zur Verwunderung aller, in ein herzliches Lachen aus.
»Also durch den Kopf soll er geschossen sein, und gleich zweimal! Ein Loch in der Stirn ist allerdings da, aber das hat er nur bei dem Sturz auf die Steine davongetragen.«
»Er lebt also«, rief Miss Woodfield, »und er stirbt nicht?«
»Unsinn, an solch einem Loch im Schädel stirbt niemand und am allerwenigsten Mister Woodfield! Bewusstlos ist er freilich.«
Charly fand weiter, dass durch den nahen Schuss Kopfhaare, Bart und auch die Wimpern versengt waren; möglicherweise konnten auch die Augen verletzt worden sein, doch das konnte jetzt noch nicht bestimmt werden.
Der energische Charly ordnete an, dass vier kräftige Männer Mister Woodfield nach Lady Carters Haus trugen, einen anderen schickte er gleich zum Arzt, einen nach Moores Hütte, um Dick Red, der wahrscheinlich dort auf ihn wartete, sofort herbeizuholen.
Miss Woodfield wollte die Träger begleiten, Charly aber bestand darauf, dass sie ihm erst an Ort und Stelle alles erzählte. Vorher jedoch scheuchte er die Neugierigen davon, deren es freilich nicht viele gab, weil man die schwarze Maske in der Nähe wusste.
Miss Woodfield konnte nichts weiter sagen, als dass hinter einem Felsen ein schwarzgekleideter Mann, eine gleichfarbige Maske vor dem Gesicht tragend, hervorgesprungen sei und zweimal auf ihren Bruder geschossen habe. Sie selbst sei wie geblendet gewesen, und als sich der Pulverrauch verzogen, wäre der Räuber — bekannt unter dem Namen ›die schwarze Maske‹ — wieder verschwunden gewesen.
Charly hielt die ihrem Bruder Nacheilende noch einmal fest.
»Nicht so schnell, Miss! Glauben Sie, dass der Schuft eine Beraubung beabsichtigte und durch irgend etwas, vielleicht durch Ihre Gegenwart oder weil er wusste, dass er gefehlt hatte, daran gehindert wurde?«
»Nein, nein, der Grund ist ein ganz anderer. Ich muss zu meinem Bruder.«
»Was für ein Grund ist es?«
»Ehe der Mann hervorsprang, rief er: ›James Woodfield, dies schickt Ihnen Monsieur Janvier.‹«
Charly stieß einen langen Pfiff aus.
»O, warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«
»Wissen Sie, wer dieser Janvier ist?«
»Wahrscheinlich der, welcher Nancy geraubt hat.«
»Sie kennen ihn?«
»Der Erzählung nach.«
»Vielleicht war es Janvier selbst.«
»Das wird sich finden. Haben Sie schon jemandem von diesem Ausruf gesagt?«
»Nein.«
»Dann dürfen Sie auch niemandem etwas davon sagen.«
»Die Sache muss gleich angezeigt werden.«
»Das werden Sie unterlassen; Dick und ich werden den Mörder fangen, ohne dass die Polizei vorläufig etwas davon erfährt. Verstehen Sie? Nun zeigen Sie mir noch, wo der Mann und wo Ihr Bruder gestanden hat und wohin der Räuber verschwunden sein mag!«
Die alte Dame tat es, so gut sie es konnte.
»So, das genügt! Nun eilen Sie den Leuten nach, die Sie dort noch sehen, und vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe. Ihr Bruder wird bald wieder auf den Beinen sein.«
»Sie wollen die schwarze Maske fangen?«
»Ich hoffe es, mit Hilfe von Dick.«
Miss Woodfield rannte mit langen Schritten davon.
Mit gesenktem Kopf ging Charly dahin, wo der Räuber gestanden haben sollte, als er geschossen hatte, schritt die Umgegend ab, dabei vorsichtig nur auf felsigen Boden tretend, oft von einem Stein auf den anderen springend, und blieb schließlich stehen, einen Erdfleck scharf betrachtend.
Da erscholl in der Ferne ein gellender Pfiff; Charly steckte zwei Finger in den Mund und pfiff wieder, und nach einer Minute war Dick bei ihm.
Der kleine, rote Mann eilte jedoch nicht direkt auf seinen Gefährten zu, sondern blieb in gehöriger Entfernung stehen. Charly hob noch die Hand, zum Zeichen, dass er nicht näher kommen sollte.
»Tot?«, fragte Dick.
»Nein, er ist gar nicht getroffen worden, sondern hat sich nur beim Sturz ein Loch in den Kopf geschlagen. Es hat gar nichts zu bedeuten.«
»Hast du etwas gefunden?«
»Die erste Spur. Jetzt kannst du kommen, aber von dieser Seite. Es ist überhaupt schon genug hier herumgetrampelt worden.«
»Verdammt!«, knurrte der Rote, ging näher und ließ sich nun erst erzählen, was Charly wusste.
»Also Janvier hier!«, brummte Dick phlegmatisch. »Das ist ja der Schuft.
Hm, er selbst kann's nicht sein. Was hat das zu bedeuten? Nun, werden's ausfinden; noch vor Anbruch der Nacht muss der Kerl gefangen sein.«
Dick fragte nicht erst lange, wo der Mörder gestanden hatte, denn er meinte, dass Miss Woodfield doch keine genauen Angaben machen konnte.
Nur wunderte er sich, wie jemand, und noch dazu ein Bandit, auf fünf Meter Entfernung zweimal fehlen konnte.
Dann besichtigte er das, was schon Charlys Aufmerksamkeit erregt hatte, den für das Auge eines gewöhnlichen Menschen nicht wahrnehmbaren Abdruck eines Stiefels auf der Erde.
»Es kann nicht die Spur eines herbeigeeilten Arbeiters sein«, sagte Charly, »denn sie führt von hier weg, und sieh hin, der Mann hat große Sprünge gemacht.«
»Ich sehe es. Schneide mir dort einen geraden Stock von der Weide ab, ich verfolge die Spur!«
Charly tat, wie ihm geheißen. Dick ging schnell weiter, ohne auch nur einmal zu zögern, das Auge immer auf den Boden geheftet. Kein Jagdhund hätte die Spur schneller verfolgen können, als dieser in der amerikanischen Wildnis aufgewachsene Mann; nicht einmal auf steinigen Plateaus, wo die Spur unsichtbar wurde, blieb er zögernd stehen, sondern schritt weiter und fand sie auf dem Erdreich wieder.
Charly holte ihn ein und gab ihm zwei kurze, gleichlange Weidenstöcke.
»Dieser Tölpel!«, lachte Dick geringschätzend. »Sieh nur, wie schön er hier seine Füße eingedrückt hat, gerade wie mit voller Absicht.«
Er kniete nieder und markierte Länge und Breite von Sohle und Hacke auf beiden Stöcken, von denen er einen Charly gab. Die Erde war hier weich, die Abdrücke ganz scharf.
»Es sind nicht die Schuhe eines Arbeiters«, erklärte Dick. »Ich halte sie für Herrenstiefeletten. So, Charly, nun folge mir, bis ich dich brauche! Halte mir den Rücken frei.«
Er richtete sich auf und schritt wieder schnell weiter. Die Spuren führten durch eine mit Felsblöcken besäte Gegend, dann wurde der Grund immer steiniger, denn der eigentliche Steinbruch begann.
Es dauerte nicht lange, so konnte der nachfolgende Charly keine Abdrücke mehr erkennen, wohl aber Dick. Es zeigte sich bald, dass er der Meister, Charly ihm gegenüber ein Schüler war.
Letzterer hatte wohl gelernt, die Spur des Wildes im Schnee und auch im Walde zu verfolgen, aber er war nicht wie Dick ein Trapper des südlichen Amerikas, dessen Ohr das Laub der Bäume reden hört, der aus einem geknickten Zweig ersieht, wer daraufgetreten hat, dem jeder verschobene Stein lange Geschichten erzählt. Solch ein Trapper muss den Spürsinn eines Jagdhundes besitzen, oder er wird sich nicht lange in der Wildnis halten können, bald würde er Indianern zum Opfer fallen, welche diese Eigenschaften besitzen.
Dick konnte zwar nicht mehr so schnell wie vorhin gehen, doch die Spur verlor er nicht.
Sah er den Abdruck selbst nicht, so erregte ein geknickter Grashalm, der einsam in einer Spalte stand, seine Aufmerksamkeit, dann bückte er sich oder kniete sogar nieder, legte das Auge fest an den Boden, und so erreichte er endlich eine Höhle, in welche die Spur hineinführte.
Die Höhle selbst aber war leer.
»Er ist hineingegangen und nicht wieder heraus«, sagte Dick kopfschüttelnd.
Charly machte ein erstauntes Gesicht.
»Ja, wo ist er aber dann hingekommen? Diese Höhle ist ja nur ein kleines Loch, welches gar kein Versteck bietet.«
Der Raum war tatsächlich so klein, dass das Tageslicht vollkommen genügte, sie zu erleuchten. Die Wände waren ganz glatt wie der Hintergrund, kein abzweigendes Loch oder etwas Ähnliches war zu sehen, und doch behauptete Dick fest, der Räuber sei hineingegangen, aber nicht wieder heraus. Er zeigte Charly noch die Spur des Stiefels dicht an der hinteren Wand.
»Das ist mir ein Rätsel«, sagte Charly.
»Mir nicht. Der Bandit kennt irgend ein Geheimnis, einen Stein zu verschieben oder sonst etwas, wodurch ein Loch entsteht. Durch dieses ist er verschwunden. Aber wohin?«
Dick tastete an der Wand entlang ohne etwas zu finden.
»Ich habe genügend Pulver bei mir, diesen ganzen Felsen in die Luft zu sprengen«, brummte er dann; »aber das erfordert einmal sehr viel Zeit, und dann könnte der Schuft unversehens mit in die Luft fliegen, was mir sehr unangenehm wäre. Lebendig müssen wir ihn haben.«
Nach einem kurzen Zwiegespräch trennten sich die beiden. Dick verschwand links, Charly rechts zwischen den Felsen. Sie nahmen an, dass der Bandit die Höhle durch einen anderen Ausgang verlassen; hatte er aber die Schuhe gewechselt, so war wenig Hoffnung vorhanden, ihn heute noch zu fangen.
Ein Pfiff rief Dick zu Charly. Letzterer stand auf einem Rasenboden, nicht weit entfernt von der Landstraße, und hatte den Messstock auf einen Maulwurfshaufen gelegt, der den leichten Abdruck einer Hacke zeigte.
»Ist er's oder ist er's nicht?«, jubelte Charly förmlich auf.
»Natürlich, er ist's!«, entgegnete Dick. »Da läuft ja die schönste Spur hin; ich brauche gar nicht erst zu messen, es ist die seinige.«
»Sie führt der Landstraße zu.«
Dick ließ seinen Blick prüfend diese entlang gleiten.
»Geniert nicht; ich kann ihr folgen, so lange der Weg so ist wie hier. Jetzt schnell, wir müssen eilen oder er geht uns verloren.«
In dem Staub waren zwar viele Spuren von Wagenrädern, Pferdehufen und Fußgängern, doch Dick fand den Abdruck des von ihm beobachteten Stiefels immer wieder heraus; manchmal war er ganz deutlich zu sehen.
Nach zehn Minuten schnellen Gehens schwenkte die Spur rechts ab in einen Seitenpfad, worüber Dick sehr erfreut war. Jetzt schien es nicht mehr, als hätte der Bandit sich nach Wanstead begeben wollen, wo die Spur in den Straßen natürlich verloren gegangen wäre.
Einen entgegenkommenden Mann hielt Dick an und fragte ihn, ob er einen schwarzgekleideten Mann, mit einer schwarzen Maske vor dem Gesicht, begegnet wäre.
Der Gefragte lachte.
»Das wäre ja dann die schwarze Maske gewesen«, sagte er; »so dumm 333
wird der Räuber wohl nicht sein, dass er in seinem Arbeitskostüm auf der Landstraße spazieren geht.«
»Wem seid Ihr sonst begegnet?«
»Einer Bauersfrau und einem Herrn.«
»Wie sah letzterer aus?«
»Soll der etwa der Räuber gewesen sein?«, lachte der Mann.
»Vielleicht!«
»Da seid Ihr nun freilich im Irrtum. Das ist ein Gentleman, den ich hier oft spazieren gehen sehe, ich glaube, es ist ein Londoner Kaufmann und mag hierherum wohnen.«
»Beschreibt mir ihn!«
»Er ist groß und schlank, hat dunkles Haar und einen kurzen, schwarzen Vollbart. Er ist wahrscheinlich brustkrank, denn er klemmt immer den Stock hinten auf dem Rücken zwischen die Arme, damit er tief atmen kann, und dann sieht er auch sehr bleich aus.«
»So, so! Wie ist er angezogen?«, examinierte Dick weiter.
»Er trägt immer einen ganz hellgrauen Anzug mit langem Gehrock, und weißen Strohhut wenn es heiß ist: Aber die schwarze Maske ist es nicht, wenn Ihr die sucht.«
»Wann seid Ihr ihm begegnet?«
»Vielleicht vor zehn Minuten.«
»Danke«, sagte Dick kurz und schritt schnell weiter, die Spur im Auge behaltend.
»Ob er es sein mag?«, fragte Charly. »Vielleicht, wird sich finden. Er kann sich ja in seinem Schlupfwinkel umgezogen haben.«
Nach etwa einem Kilometer verließ die Spur den Pfad. Der Mann war über den Graben gesprungen und quer durch den Wald gegangen, und zwar, wie die beiden sofort mit ihren Jägeraugen sahen, äußerst schnell, oft war er sogar gerannt.
»Aha, jetzt hatte er es eilig!«, lachte Dick. »Go ahead, Charly! Ehe es finster wird, muss er unser sein.«
Dick begann einen Eilmarsch anzuschlagen, der so förderte, dass Charly ihm trotz seiner langen Beine kaum folgen konnte, weil sich der kleine Rote wie eine Schlange durch die Büsche wand.
Es ging immer geradeaus; Carters Haus blieb weit rechts liegen, dann schimmerte den beiden eine weiße Mauer entgegen; sie erreichten die Waldgrenze, und vor ihnen erhob sich die indische Villa.
»He, was ist das?«, flüsterte Dick, sich noch im Walde haltend.
»Die indische Villa, so genannt, weil ein Radscha mit vielen indischen Dienern drin wohnt. Der Kerl ist taubstumm und lässt sich fast gar nicht sehen.«
»Das weiß ich. Aber auch zwei Franzosen wohnen drin.«
»Monsieur Francoeur und seine Schwester.«
»Und der Bandit ist bei ihnen. He, Charly, was sagst du nun?«
»Er ist bei den Franzosen. Hm, daraus kann man viel schließen.«
»Sieh, hier ist er über den Graben gesprungen«, erklärte Dick, »da die Spur über die Landstraße; er ging über die Wiese, und was siehst du dort auf dem gelben Wege?«
»Er ist vor kurzem geharkt worden, nur ein Männerschuh ist in dem gelben Sande abgedrückt, und er führt direkt auf das Haus zu.«
»Aber nicht wieder heraus! Hurra, Charly, wir haben ihn! Ich sehe schon von hier aus, dass es derselbe Stiefel ist wie im Steinbruch!«
Die beiden Jäger besprachen sich leise, dann ging Charly in den Wald zurück, während Dick über den Graben sprang und den Weg zur Villa einschlug. Er trat jedoch nicht auf den Kies, sondern ging auf dem Rasen, und als dieser von Blumenbeeten ersetzt wurde, trat er auch auf diese.
Er befand sich mitten im Garten, nicht weit von dem Hauptportal ab, als ein zorniger Ruf erscholl und ein Inder, einen Rechen in der Hand, auf den sonderbar gekleideten Fremden zueilte, der so gleichgültig über die dem Gärtner anvertrauten Blumenbeete schritt.
»Was soll das heißen?«, rief der Mann drohend in mangelhaftem Englisch. »Wollen Sie gleich da herunter!«
Er hob drohend den Rechen, was Dick veranlasste, stehen zu bleiben.
»Tut Euch das weh, wenn ich auf die Blumenbeete trete?«, fragte er kaltblütig.
»Herunter da!«, herrschte ihn der Gärtner an. »Was haben Sie hier überhaupt zu suchen? Hier wird nicht gebettelt.«
Dick lachte und trat jetzt auch auf den Weg.
»Nun, was wollen Sie hier?«
»Ich wollte Monsieur Francoeur einmal besuchen. Der wohnt doch hier, nicht wahr, mein Junge?«
»Weiß nichts! Was wollen Sie?«
»Ihr wisst nicht, dass Monsieur Francoeur hier wohnt? Das ist ja komisch. Na, da will ich selbst einmal anfragen.«
Er wollte weitergehen, aber der Inder vertrat Ihm den Weg.
»Keinen Schritt weiter! Fremde dürfen nicht ins Haus, Bettler gleich gar nicht!«
»Höre, Bursche, wenn du mich noch einmal Bettler nennst, dann spiele ich mit dir Fangball! Verstanden?«
Der Inder war ein großer, dicker Mann; verächtlich musterte er den kleinen Roten.
»Ich sage, der Herr hat uns verboten, Bettler oder überhaupt Fremde einzulassen. Gehen Sie aus dem Garten und ziehen Sie die Klingel am Tor, dann werden Sie gefragt, was Sie wünschen.«
»Das dauert mir zu lange. Ich will dir aber sagen, was ich wünsche. Weißt du, was ich bin?«
»Das geht mich nichts an!«
»Ich bin ein Räuber, ein Mörder und Einbrecher und möchte deinem Herrn einen Besuch machen. Vielleicht kann er mich gebrauchen. Anbetteln will ich ihn jedenfalls nicht.«
Der Inder wusste nicht, was er von diesen Worten denken sollte. Mit großen Augen glotzte er den gleichmütig Sprechenden an.
»Was?«, fragte er dann.
»Ja, ja, ich bin ein Räuber!«, wiederholte Dick. »sage deinem Herrn, es wäre noch einer da, der ihn sprechen wollte.«
»Noch einer?«
»Na ja, noch ein Räuber außer mir. Er hätte einen schwarzen Anzug an und eine schwarze Maske vorm Gesicht, weswegen man ihn in dieser Gegend die schwarze Maske nennt.«
Dick sprach immer sehr laut. Er sah, wie am Parterrefenster der Villa einige braune Gestalten standen und zuhörten.
Der Gärtner glaubte, es entweder mit einem Verrückten oder mit einem äußerst frechen Bettler zu tun zu haben. Drohend erhob er den Rechen.
»Wollen Sie jetzt gehen?«
»Ja, aber nur ins Haus.«
»Zurück oder ich schlage...«
Plötzlich wurde der Inder von zwei kräftigen Armen gepackt, emporgehoben, er wirbelte in der Luft herum und flog dann in weitem Bogen in ein Blumenbeet, wo er zwischen Tulpen, Nelken und Veilchen sanft gebettet lag.
»So, da kannst du ausschlafen, geniere dich nicht!«, lachte Dick und eilte dem Hause zu.
Ebenso schnell verschwanden die Köpfe am Fenster; denn die Diener wollten den Eindringling nicht festhalten, sondern nur ihrem Herrn von dem Geschehenen Mitteilung machen.
Monsieur Francoeur hatte eine Visitenkarte mit einem ihm unbekannten, französischen Namen erhalten. Er hatte den in Grau gekleideten Herrn den Garten durchschreiten sehen, er kannte ihn nicht, und da er mit seiner Schwester eben eine Unterredung führte, so ließ er den Fremden warten.
Als er endlich das Bibliothekzimmer betrat, stand er einem schlankgewachsenen Mann gegenüber, mit schönem, etwas bleichem Gesicht, schwarzem Vollbart und stechenden Augen.
»Kennen Sie mich noch, Monsieur Francoeur?«, fragte der Fremde mit gedämpfter Stimme.
»Nein, mit wem habe ich die Ehre?«
»Ich verstellte früher meine Stimme, mein Gesicht haben Sie noch nie gesehen, aber wir sprachen uns schon einmal. Ich habe den Auftrag ausgeführt, lieber Schwager!«
Francoeur prallte zurück.
»Wie? Sie wären...«
»Die schwarze Maske;« lächelte der Bandit. »Sie sehen jetzt mein Gesicht.
Kennen Sie es?«
»Nein.«
»Desto besser. Also ich mahne Sie an Ihre Schuld.«
Es dauerte lange, ehe Francoeur seine Fassung wiederfand. Die Sache kam ihm doch überraschend.
»Sie hätten es wirklich getan?«, flüsterte er dann leise.
»Den Beleidiger unserer Ehre niedergemacht? Natürlich! Mit so etwas zögere ich nicht lange. Mich wundert es, dass die Nachricht noch nicht hierher gelangt ist. Ja, Mister Woodfield ist durch meine Kugel gefallen!«
»Nicht so laut! Das dürfen selbst meine treuen Diener nicht vernehmen!
Wo?«
»Im Steinbruch.«
»Wann?«
»Vor noch nicht einer halben Stunde.«
»Mensch, und Sie wagen sich zu mir? Wenn man Sie hat hierher gehen sehen!«
»Ohne Sorge! Jetzt bin ich ein anderer Mann als vorhin! Sie müssten mich überhaupt bereits kennen, wir sind uns manchmal auf Spaziergängen begegnet.«
»Richtig, jetzt entsinne ich mich!«, sagte Francoeur erstaunt. »Also, Sie führen ein Doppelleben! Aber immerhin, ein Mord darf nicht ungesühnt bleiben. Man könnte Sie doch finden. Sie müssen fort!«
»So schnell wie möglich! Gestatten Sie mir nur eine Unterredung mit Ihrer Frau Schwester, dann verschwinde ich und treffe dort mit ihr zusammen, wo ich es ausmache. Haben Sie schon mit ihr gesprochen?«
»Ich habe ihr Andeutungen gemacht; sie ist jedoch nicht geneigt, einem ihr Unbekannten zu folgen.«
»Ich bin ihr nicht unbekannt, ich bin ihr Jugendfreund aus Paris.«
»Ah!«
»Sie wird mir also folgen. Doch ich habe keine Zeit, ich muss schleunigst fort! Führen Sie mich zu Madame Dubois, dann mache ich Sie mit dem Weiteren bekannt.«
»Erst beantworten Sie mir noch eine Frage, damit ich beruhigt werde. Ist Woodfield wirklich tot?«
»Ich hoffe es.«
»Sie wissen es nicht bestimmt?«
»Ich konnte natürlich nicht erst eine ärztliche Untersuchung halten. Ich sah ihn stürzen, er lag mit einem blutenden Loche in der Stirn am Boden.
Genügt das als Beweis seines Todes?«
Francoeur atmete auf.
»Sind Sie gesehen worden?«
»Wahrscheinlich von seiner Schwester, die bei ihm war.«
»Teufel!«
»Das ist sehr gut, man fahndet jetzt auf die schwarze Maske. In mir vermutet diese niemand.«
»Sie haben recht. Kommen Sie!«
Er führte ihn in das Zimmer, in dem sich Phoebe befand. Sein Herz war zu voll, als dass er der Besprechung hätte beiwohnen können, er kehrte in die Bibliothek zurück.
Es war unterdessen dunkel geworden. Francoeur war sonst ein mutiger Mann, aber jetzt überflog ihn ein Grauen; die weißen Marmorfiguren blickten ihn so seltsam an, sie schienen sich im Dämmerlicht zu bewegen, ein steinerner Apollo, eine Lyra in der Hand haltend, schien ihm mit dem erhobenen Arme zu drohen — Francoeur bebte zusammen.
Obgleich es dazu doch noch zu hell war, brannte er selbst die niedrige Studierlampe an, und das Glas klirrte beim Abnehmen heftig, so zitterte seine Hand.
Da schrak er zusammen, draußen auf dem Korridor entstand ein Laufen, Diener schrien.
Sollten die Häscher schon kommen? Teufel, wenn man den Mörder bei ihm fand, wenn er Geständnisse machte!
Francoeurs Zähne klapperten hörbar.
Da stürzte ein indischer Diener herein.
»Sahib, draußen auf dem Korridor ist ein roter Mann, er hat den Gärtner niedergeschlagen, jetzt will er den Radscha totmachen!«
»Ein roter Mann?«
»Ja, ein Bettler oder ein Räuber, er sagt es selbst.«
Francoeur riss einen geladenen Revolver von der Wand und eilte hinaus.
»Fünf für sie, eine für mich! — sollten sie es sein«, knirschte er, »lebendig bekommen sie mich nicht!«
Auf dem dunklen Korridor sah er Radscha Tipperah stehen, der einem kleinen Mann, den Francoeur nicht gleich erkennen konnte, den Weg zu versperren suchte.
»Na, alter Priester«, sagte der Kleine eben zu dem dicken Inder, »wo ist denn nun Monsieur Francoeur? Ach so, das ist ja der taubstumme Kerl, der Radscha oder Dingsda.«
Wer war das?
»Wer wagt es, in mein Haus einzudringen und sich hier so zu benehmen?«, schrie Francoeur, schob den Inder zur Seite und hielt dem Kleinen den Revolver entgegen.
»Ich!«, entgegnete Dick kaltblütig.
»Wer ist das?«
»Dick Red, auch der rote Dick genannt. Im Übrigen bin ich der Begleiter von Mister Woodfield und fange in meiner Freizeit Bären, Wölfe und Füchse.«
Jetzt wusste Francoeur, wem er gegenüberstand. Was wollte dieser Mann hier? War schon ein Verdacht vorhanden? Doch gleichgültig, jetzt galt es, seine Ruhe zu bewahren, den Unwissenden zu spielen, und dem Franzosen gelang dies von Anfang bis zu Ende meisterhaft.
»Das ist mir gleichgültig, ob Sie der Diener eines Gentleman sind oder nicht. Sie sind mit Gewalt in mein Haus gedrungen! Kennen Sie die englischen Gesetze?«
»Ja: Stehlen ist erlaubt, aber man darf sich dabei nicht erwischen lassen.«
»Sie sind betrunken! Entfernen Sie sich, oder ich mache von dem Rechte Gebrauch, einen mit Gewalt in mein Haus Eindringenden niederzuschießen.«
»Unsinn! Steckt das Spielzeug ein! Ich habe Euch eine wichtige Mitteilung zu machen.«
»Noch einmal: entfernen Sie sich!«
»Fällt mir nicht ein! Ihr kennt vielleicht Mister Woodfield, der bei Lady Carter wohnt? Ich soll Euch einen schönen Gruß bestellen, heute Abend zehn Minuten nach sieben ist er erschossen worden.«
»Mensch, Sie sind betrunken!«
»I wo! Es ist wirklich so. Mister Woodfield ist vor einer halben Stunde im Steinbruch von Wanstead von der schwarzen Maske totgeschossen worden, zweimal sogar, mausetot, er lebt nicht mehr.«
Jetzt schien Francoeur zu erschrecken.
»Was? Sprechen Sie die Wahrheit?«
»Was denn sonst! Wollt Ihr mich nun anhören?«
Francoeur steckte den Revolver ein und führte den Roten in das Bibliothekzimmer.
»Setzen Sie sich«, sagte er, auf einen Stuhl deutend. »Durch Ihre seltsame Ausdrucksweise wurde ich gezwungen, an der Wahrheit Ihrer Behauptung zu zweifeln. Das wäre allerdings schrecklich!«
Dick setzte sich und streckte die Beine von sich, Francoeur nahm Platz auf einem Stuhl, wo ihn das Licht der Lampe nicht traf.
»Ja, es ist schrecklich, gleich zweimal totgeschossen!«, sagte Dick und erzählte, wie die Sache sich zugetragen, verschwieg aber, dass Woodfield gar nicht getroffen war und jetzt wahrscheinlich bewusstlos im Hause der Lady Carter lag.
»Das ist ja entsetzlich!«, hauchte Francoeur mit guter Verstellung. »Nun endlich wird der schwarzen Maske wohl das Handwerk gelegt werden. Der arme Woodfield!«
»Ja, er ist zu bedauern! Der Polizei scheint diese schwarze Maske zu schlau zu sein, mir aber nicht!«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, ich habe ihren Schlupfwinkel aufgespürt.«
»Das wäre!«
»Ja, deshalb bin ich eben hier und wollte mit Euch sprechen.«
»Mit mir? Deswegen?«
»Die schwarze Maske hält sich nämlich bei Euch versteckt.«
Francoeur sprang auf, jedoch nicht erschrocken, sondern sich entrüstet stellend.
»Ich beginne wieder an Ihrem Verstande zu zweifeln!«, rief er. »Überhaupt verbitte ich mir Ihre vertrauliche Anrede. Ich bin gewohnt, mit Sie angeredet zu werden.«
»Ach was, das macht den Menschen auch nicht besser!«, sagte Dick, sich nicht aus der Ruhe bringen lassend. »Ihr seid im Irrtum, wenn Ihr glaubt, ich wäre im Oberstübchen nicht gang richtig. Ich behaupte, die schwarze Maske, die Woodfield ermordet hat, befindet sich gegenwärtig in diesem Hause.«
Francoeur fand es am besten, die Sache ins Lächerliche zu ziehen. Gleichgültigkeit oder Zorn hätten den Argwohn dieses Mannes erregt, wenn er nicht schon solchen hegte. Aber woher nur? Es war eine furchtbar schwere Rolle, die Francoeur spielte, denn in seinem Innern stritten sich Angst und Verzweiflung. Was wusste dieser Mann? Was verheimlichte er? Es war doch nicht etwa das Spiel der Katze mit der Maus?
»Gehen Sie, Sie wollen mich erschrecken!«, lachte er sorglos. »Wie in aller Welt kommen Sie auf die unsinnige Vermutung, der Räuber solle sich hier versteckt haben? Oder, hahaha, halten Sie mich etwa für die schwarze Maske?«
»Euch halte ich nicht gerade dafür, aber vielleicht könnte er sich unter Euren Dienern befinden.«
»Schon dieser Verdacht ist schrecklich. Nein, Sie irren, meine Diener verlassen das Haus nicht, es sind alles Inder, mit englischen Verhältnissen unbekannt. Aber so sprechen Sie doch, woher haben Sie nur den ungeheuerlichen Verdacht bekommen?«
»Es ist kein Verdacht, sondern Tatsache, dass sich der Mörder in Eurem Hause aufhält. Ich fand seine Spur am Ort der Tat, habe sie verfolgt und kam hierher.«
Francoeur lachte laut auf.
»Hören Sie, mit solchen Sachen bleiben Sie mir vom Leibe! Sie sind hier nicht in der Prärie oder im Urwald, sondern in der Umgebung von London. Wenn Sie so etwas vor Gericht aussagen wollten, würden Sie das ganze Haus zum Lachen bringen.«
Doch Francoeur täuschte sich, wenn er glaubte, den Roten einschüchtern zu können.
Bedächtig zog dieser ein Weidenstäbchen hervor.
»Hier sind Marken darauf. seht, sie geben Länge und Breite der Schuhe an, welche der Mörder getragen hat, ich habe die Maße im Steinbruch genommen, wo der Räuber gestanden hat, und ganz genau dieselben Spuren sind im gelben Sande auf dem Kiesweg abgedrückt, der zur Tür dieses Hauses führt — sie sind funkelnagelneu, kein anderer Schritt ist daneben.«
Francoeur wollte das Stäbchen nehmen, doch Dick zog es schnell zurück.
»Das kommt nicht aus meiner Hand.«
»Also Sie behaupten, die schwarze Maske sei in meinem Hause?«, fragte der Franzose jetzt scharf.
»Ja.«
»Nur aus jenen elenden Spuren zu schließen?«
»Ja.«
»Wie soll der Kerl ausgesehen haben?«
»Ganz Schwarz gekleidet, eine Kappe über dem Kopf und vor dem Gesicht eine Maske.«
»Ich werde Ihnen den Herrn vorstellen, welcher vor etwa einer halben Stunde mein Haus betreten hat. Nur gegen diesen könnten Sie dann die Anschuldigung erheben.«
Francoeur ging hinaus, blieb höchstens fünf Minuten und kam mit dem graugekleideten Herrn zurück, welcher eine unwillige Miene und ein barsches Wesen zur Schau trug.
»Das also ist der Kerl, welcher eine so ungeheure Beschuldigung aufstellt?«
»Ja, das ist der Kerl!«, entgegnete Dick.
»Monsieur Francoeur hat mir erzählt, um was es sich handelt, Ihre Behauptungen sind einfach lächerlich. Nach Ihren Aussagen müsste ich ja die schwarze Maske sein. Halten Sie mich vielleicht dafür?«
»Dem Anzug nach nicht.«
»Mensch, das klingt fast, als hätten Sie dennoch Verdacht gegen mich!«, brauste der Graue auf.
»Der Anzug macht bei mir gar nichts aus. Zeigt mir einmal Eure Stiefelsohlen, geniert Euch nicht.«
Der Graue lachte und hob willig den Fuß. Dick legte den Maßstab an und machte ein ganz verdutztes Gesicht.
»Nein, das ist ein anderes Maß«, murmelte er.
»Vielleicht passt mein Schuh in die Spuren!«, lachte Francoeur und legte das Knie auf den Stuhl.
»Natürlich!«, schrie Dick nach dem ersten Messen. »Das ist ganz genau der Fuß, der im Steinbruch abgedrückt ist.«
»Hören Sie«, sagte Francoeur gutmütig und klopfte dem Roten auf die Schulter, »Ihre Behauptungen sind hirnverbrannt. Erheben Sie einmal gegen mich die Anklage, dass ich die schwarze Maske bin, das ich Mister Woodfield ermordet habe, und Sie werden sich unsterblich blamieren.«
Dick wurde immer unwirscher. Er rückte an seiner Pelzkappe, wühlte in den Hosentaschen und sah verlegen umher.
»Hm, aber die Spuren auf dem Kiesweg?«, brummte er.
»Sind die meinigen«, entgegnete Francoeur; »ich war kurz vorher, ehe Sie kamen, im Garten. Richtig, ich entsinne mich! Als ich fortging, harkte der Gärtner, und als ich zurückkam, musste ich über den frisch geharkten Weg gehen.«
»Aber wo sind die Spuren dieses Herrn?«
»Die sind eben weggeharkt worden. Monsieur Latreaux, mein zukünftiger Schwager, war schon hier, als ich in den Garten ging. Genügt Ihnen das?«
»Aber die Spur im Steinbruch?«
»Dass Sie dort auf dem steinigen Boden eine gefunden haben, klingt überhaupt sehr unglaublich.«
»Ich bin Pelzjäger, war früher Trapper, verstehe also Spuren zu verfolgen.«
»An solche Indianergeschichten wird hier nicht geglaubt«, lachte Francoeur.
»Ich entferne mich wieder, die Sache hat sich ja aufgeklärt«, nahm der Graue das Wort, und sich dann an Dick wendend: »Und Sie, mein Lieber, verschonen Sie uns mit Ihren Spuren. Wenn Sie derartiges vor Gericht bringen, werden Sie gehörig ausgelacht. Immerhin könnte uns aber ein von Ihnen ausgesprochener Verdacht in Unannehmlichkeiten bringen und das möchten wir natürlich vermeiden. Gestehen Sie ein, dass Ihre Spurenkenntnis Sie getäuscht hat?«
»Es muss wohl sein«, brummte Dick kopfschüttelnd.
»Es ist so. Hier glaubt überhaupt kein Mensch, was man von den Kunstfertigkeiten der Trapper liest. Das sind alles, wenn nicht Unwahrheiten, so doch Übertreibungen. Adieu!«
Der Graue ging, und Francoeur nötigte den ganz niedergeschlagenen Dick noch zu einer Flasche Wein, welche Einladung er nach einigem Zögern annahm.
Francoeur vermied es, noch mehr von der Unschuld des Grauen zu sprechen, er ließ sich vielmehr von Dick die Einzelheiten des Mordes erzählen, unterbrach den Erzähler mit Ausrufen des Entsetzens, der Entrüstung und des Bedauerns und fragte zuletzt, was den Räuber wohl veranlasst haben mochte, den Amerikaner einfach niederzuschießen, ohne ihn dann zu berauben.
»Woodfields Schwester, die alte Dame, kann ihm dabei doch nicht hinderlich gewesen sein! Sollte es sich um einen Racheakt handeln?«
»Das ist mir auch unerklärlich«, entgegnete Dick; »wenn Woodfield noch lebte, könnte er wohl die Erklärung geben. Uns ist es ein Rätsel.«
»Richtig, Sie haben ja einen Freund! Wo ist er?«
»Charly hält bei meinem Herrn Leichenwache«, sagte Dick und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.
Francoeur ehrte den Schmerz seines Gastes. Dann fragte er ihn über seine Erlebnisse aus, und Dick gab einige zum besten.
Plötzlich erscholl draußen, in weiter Ferne, ein lauter Pfiff, so gellend, dass Francoeur zusammenschrak.
»Was war das? unterbrach er den Erzähler.
»Ein Junge, der sich im Pfeifen übt, denke ich.«
»Muss der aber eine Lunge haben!«
Dick stand auf.
»Nichts für ungut, Monsieur, dass ich Euch belästigt habe. Ich habe mich geirrt, aber freilich die Spur...«
»Schon gut«, unterbrach ihn der Franzose, »jeder Mensch kann sich einmal irren.«
Die beiden trennten sich im besten Einvernehmen.
Der Graue hatte nach dem Verlassen des Bibliothekzimmers sofort wieder Phoebe aufgesucht, die ihn mit angsterfüllten Zügen empfing.
»Nun?«
»Mein Plan war gut«, lachte der Mann leise, »der Dummkopf geriet in Verwirrung und sah dann sein Unrecht ein. Francoeur bearbeitet ihn noch und hält ihn vor allen Dingen zurück, bis ich mich entfernt habe. Deshalb adieu, liebe Phoebe, ich muss sofort gehen.«
»Du bist in einer furchtbaren Gefahr!«
»Durchaus nicht! Ich gehe nach London; das Schiff, welches mich nach Frankreich bringt, fährt heute Nacht, mein Paß ist in Ordnung; spätestens morgen Abend bin ich in Paris, wo ich dich an dem bestimmten Ort übermorgen erwarte.
Francoeur machte keine Einwendungen, er hat mich jetzt zu sehr zu fürchten, und dann, Phoebe, soll er uns beide erst recht fürchten lernen.
Aus sicherem Hinterhalt wollen wir unsere Pfeile gegen ihn abschießen und ihn ausnutzen, bis er den letzten Blutstropfen für uns hergegeben hat.«
»Wenn er nun erfährt, dass Woodfield nicht tot ist?«
»Desto besser für uns, desto mehr hat er uns zu fürchten, um so weniger kann er deine Abreise hindern! Gute Nacht, Phoebe! Auf Wiedersehen!«
Er hatte es sehr eilig. Ein Kuss, eine Händedruck, und er ging.
Schnell schritt er durch den Garten der Landstraße zu und schlug die Richtung nach Wanstead ein. Dort wollte er den ersten, nach London fahrenden Zug benutzen.
Zu beiden Seiten der Landschaft lag der stille, dunkle Wald, auf den Laubdächern schimmerte der Schein der Mondes. Eben passierte der einsame Fußgänger den Schatten eines an der Straße stehenden, großen Baumes, als sich ihm plötzlich von hinten zwei Arme um den Oberkörper legten.
»Widersetzt Euch nicht«, flüsterte es ihm ins Ohr, »sonst muss ich Euch niederschlagen!«
Der Überfallene schrie nicht, er rief nicht um Hilfe, sondern suchte sich nur mit Aufbietung aller seiner ganz ansehnlichen Kraft von der umstrickenden Umarmung zu befreien und mit der rechten Hand in die Brusttasche zu fahren.
»Ergebt Euch! Ihr entkommt nicht!«, raunte es ihm wieder ins Ohr.
»Du oder ich, eine andere Möglichkeit gibt es nicht«, knirschte der Gefangene und wütete wie ein Verzweifelter.
»Dann du!«
Ein Arm des Angegriffenen löste sich, blitzschnell fuhr die freie Hand in die Brusttasche, sie hielt ein funkelndes Stilett, doch noch schneller sauste mit schmetterndem Schlag eine harte Faust auf den Kopf des Mannes herab; bewusstlos brach er zusammen.
Auf ihm kniete ein großer, herkulischer Mann; im Nu hatte er den Bewusstlosen an Händen und Füßen gebunden, stand dann auf und stieß einen gellenden, weithin tönenden Pfiff aus.
Dann warf Charly — denn kein anderer war es — den Gefesselten über seine breite Schulter, als wäre es nicht ein großer Mann, sondern etwa ein Federbett, sprang mit dieser Last über den Straßengraben und drang in den Wald.
Auf einer vom Mond beschienenen Lichtung ließ er den noch immer Bewusstlosen zu Boden gleiten und setzte sich selbst geduldig neben ihn.
Charly brauchte nicht lange zu warten, bald teilte sich das Gebüsch, und mit unhörbarem Schritt trat Dick Red heraus.
»Hast du ihn?«
»Hier liegt er. Da er sich nicht gutwillig binden lassen wollte, musste ich ihm eins auf den Schädel geben. Ich musste schnell machen, sonst hätte er mich mit diesem langen Dinge gestochen.«
Dick betrachtete das ihm gereichte Stilett.
»Hm, jetzt weiß ich bestimmt, dass wir den Richtigen haben. Du hast ihn doch nicht etwa totgeschlagen?«
Der Gefesselte gab die Antwort selbst. Erst stöhnte er, dann wälzte er sich, bis er auf dem Rücken lag.
»He, alter Freund, aufgewacht?«, fragte Dick.
»Wer seid ihr? Was wollt ihr?«, keuchte der Gefangene, der zum Bewusstsein seiner Lage gekommen war, aber den Roten noch nicht erkannte weil dieser im Schatten stand.
»Plündert mich, wenn ihr Räuber seid, dann lasst mich laufen, ich verrate euch nicht.«
»Das glaube ich«, lachte Dick, »eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus! Aber wir sind keine Räuber, wie du glaubst. Kennst du mich nicht mehr, mein Schatz?«
Er trat aus dem Schatten ins Mondlicht, der Gefangene zuckte bei seinem Anblick zusammen, krümmte sich wie ein Aal und machte sichtbar die gewaltigsten Anstrengungen, sich seiner Bande zu entledigen.
»Gib dir keine Mühe, mein Junge!«, höhnte Dick. »Das sind keine Bindfädchen, sondern Riemen aus Büffelleder, und wenn du die zerreißen kannst, dann darfst du mir auf der Stelle auch noch die Nase abbeißen.«
»Warum habt ihr mich gebunden?«, knirschte der Mann.
»Da fragst du noch lange? Weil du sonst ausreißt! Die Riemen genieren dich wohl ein bisschen? O, du wirst sie schon noch mehr zu kosten bekommen, kalkuliere ich.«
»Was habt ihr mit mir vor?«
»Wir sind neugierig, zu erfahren, ob du die schwarze Maske und der bist, der Woodfield töten wollte, aber vorbeigeschossen hat, vielleicht mit Absicht.«
Wieder krümmte sich der Mann am Boden.
»Ihr werdet euch dafür zu verantworten haben, dass ihr mich so behandelt. Lasst mich los, ich will euch dann noch einmal verzeihen.«
»Sie sind sehr gütig, mein Herr!«, lachte Dick und machte eine Verbeugung. »Sag mal, mein Lieber, warum schreist du eigentlich gar nicht um Hilfe? Geniere dich ja nicht. Siehst du, du Schuft, wir durchschauen dich.
Du bist so sicher die schwarze Maske und hast auf Woodfield geschossen, wie ich weiß, dass du vorhin mit Monsieur Francoeur die Stiefel gewechselt hast. Hahaha, ihr dummen Narren, ihr wolltet dem roten Dick eine Nase drehen!«
Dick lehnte sich an einen Baum und lachte, dass ihm die Tränen in den Bart liefen.
Der gefangene Räuber gab vorläufig den Versuch auf, sich zu befreien, er blieb still liegen.
»Wir müssen ins Haus zurück«, ermahnte Charly seinen Gefährten. »Ist Mister Woodfield zu sich gekommen und hat von seiner Schwester erfahren, dass wir hinter dem Räuber her sind, so erwartet er uns sicherlich mit der größten Spannung. Du weißt, was er von diesem Kerl erfahren kann.«
»Ich weiß es, aber wir dürfen noch nicht gleich hin, wenigstens nicht mit dem Kerl hier, denn das Verhör wird nicht ohne Skandal ablaufen, und du musst bedenken, morgen ist da eine Hochzeit. Mister Woodfield wird das Fest nicht stören wollen.«
Das sah Charly ein. Nach einer kurzen Beratung blieb er mit dem Gefangenen im Walde versteckt liegen, während Dick sich nach Lady Carters Haus begab, woselbst er etwa gegen zehn Uhr eintraf.
Das Haus war nicht wie sonst um diese Zeit still, reges Leben herrschte darin, denn es galt noch, alles für die morgige Hochzeit vorzubereiten.
Dick betrat den Hausflur, traf gleich auf Jim und erfuhr von diesem, was sich unterdes ereignet hatte.
Mister Woodfield war bald aus seiner Betäubung erwacht, der Arzt hatte die Wunde am Kopf für unbedeutend erklärt, und jetzt saß der Alte allein in seiner Stube und wartete auf seine beiden Begleiter; denn seine Schwester hatte ihm von deren Vorhaben erzählt. Er ließ Lady Carter noch den ausdrücklichen Wunsch zukommen, dass seinetwegen alles im Hause den Gang nähme, den es sonst genommen hätte — er fühle sich wohl, glaube jedoch nicht, morgen der Trauung beiwohnen zu können. Schon der entstellende Verband um den Kopf ließe dies nicht gut zu.
Woodfield saß auf dem Sofa, grübelte über die Worte nach, welche ihm der Meuchelmörder zugerufen hatte, und wartete sehnsüchtig auf das Kommen wenigstens eines seiner Leute.
Da, endlich, trat Dick ein.
»Wie geht's, Sir?«
Woodfield machte eine abwehrende Handbewegung.
»Habt ihr ihn?«, fragte er hastig.
»Ja, er liegt im Walde unter Bewachung von Charly.«
Woodfield sprang hastig auf.
»Warum bringst du ihn nicht gleich mit?«
»Habt Ihr auch bedacht, Sir, welche Aufregung das hervorbringen würde, wenn wir die schwarze Maske, den gefürchteten Räuber — denn er ist es —
hierher schleppen? Wir sind in einem hochzeitlichen Hause, und wir sind Gäste.«
»Richtig, Dick, du hast recht!«, murmelte Woodfield und sank auf seinen Platz zurück.
»Aber ach, ich kann es nicht erwarten, diesen Mann zu sprechen, welcher mir solche Andeutungen gemacht hat.«
»Ihr müsst Euch gedulden.«
»Geduld, das ist manchmal ein schreckliches Wort!«
»Ihr habt aber gezeigt, dass Ihr Euch gedulden könnt. In Texas war es einst, wo wir achtundvierzig Stunden in einem Versteck lagen und von der Sonne gebraten wurden. Wir litten an entsetzlichstem Durst, und vor uns rieselte hell und frisch ein Quell. Ein Schritt hätte genügt, und wir hätten das köstlichste Wasser schlürfen können, aber wir geduldeten uns, um unser Versteck nicht zu verraten, denn dann wären unsere Schutzbefohlenen verloren gewesen. Das war eine Geduldsprobe zu nennen.«
»Nun wohl, ich werde warten. Wann kann ich den Mann sehen?«
»Sobald im Hause Ruhe wird, vielleicht gegen Mitternacht.«
»Also doch schon bald? Ich dachte erst morgen, wenn das hochzeitliche Paar fort ist.«
»Sehen könnt Ihr ihn heute schon, denn wir werden ihn sofort hereinbringen, und zwar in unser Zimmer, wenn es unbemerkt geschehen kann.
Aber Ihr werdet ihn nicht sprechen können.«
»Warum nicht?«
»Er wird auf Eure Fragen nicht antworten.«
»Wir zwingen ihn dazu.«
»Das geht ohne Lärm nicht ab.«
»Dann wird er geknebelt, sobald er schreit.«
»Mit einem Knebel kann er nicht sprechen.«
»Du hast abermals recht, Dick«, entgegnete Woodfield nach kurzem Nachdenken. »Ja, ich muss mich eben gedulden. Oder, Dick«, fuhr er leise fort, »wird er reden, wenn ich ihm die Freiheit verspreche, ihm zusage, ihn entschlüpfen zu lassen?«
»Bedenkt, Sir, was Ihr tun wollt! Er ist ein Räuber, eine Pest der Menschheit, er muss unschädlich gemacht werden.«
»Gut denn, ich werde bis morgen warten. Wenn er nun aber trotz aller Maßnahmen nicht antworten sollte?«
Woodfield war infolge der Gehirnerschütterung und in Erwartung des Bevorstehenden, fieberhaft aufgeregt, er besaß nicht die gewöhnliche Kaltblütigkeit, seine Stimme zitterte und klang ängstlich, und ebenso hatte sich das Benehmen Dicks geändert. Sein Antlitz hatte den pfiffigen Ausdruck verloren, es war düster, und seine Worte klangen unheilvoll.
»Sir«, entgegnete er auf die letzte Frage seines Herrn, »wenn ich selbst einen abgestumpften, an Schmerz gewöhnten Sioux zum Reden bringen kann, so werde ich wohl diesem Halunken bald die Zunge geschmeidig machen. Damit Euch aber die Zeit vergeht, werde ich Euch mittlerweile erzählen, wie ich des Schurken habhaft geworden bin.«
Gewöhnt, keine Rücksichten zu üben, übrigens von Woodfield nicht als Diener, sondern als Gefährte betrachtet, setzte sich Dick neben den alten Mann und erzählte. Nach Schluss der Schilderung der letzten Erlebnisse drückte Woodfield ihm die Hand.
»Dick, sagte er leise, »wenn deine Bemühungen den Erfolg hätten, dass meine Herzenssehnsucht erfüllt würde, dann solltest du meine Dankbarkeit erfahren. Mehr kann ich nicht sagen.«
Stumm saßen die beiden Männer nebeneinander. Im Hause wurde es stiller und stiller, zuletzt hörte man nur noch einen Schritt auf den Korridoren; es wurden Türen geschlossen; dann ging derselbe Schritt die Treppe hinab und schloss auch die Haustür.
»Das ist Jeremy«, sagte Dick und stand auf, »er schließt als Letzter die Türen. Jetzt ist es Zeit, den Gefangenen ins Haus zu bringen. Wartet nur eine halbe Stunde, dann bin ich wieder zurück.«
Leise schlich der Jäger die Treppe hinunter. Es ward ihm nicht schwer, sich mit Jeremy zu verständigen, da es nötig war, ihn in das Vorhaben einzuweihen. Der alte Diener war sofort einverstanden, er versprach, zu warten.
Dick ging in den Wald. Jeremy hörte einige Male das Heulen und Fauchen von Nachttieren, wodurch sich die beiden Gefährten verständigten, und dann kamen diese zurück. Charly trug einen Mann auf der Schulter, der, obgleich nur gebunden, nicht geknebelt, keinen Laut von sich gab.
Alles schlief im Hause. Ohne dass jemand es merkte, wurde der Gefangene von den beiden Jägern in das Zimmer gebracht, wo Woodfield mit Ungeduld harrte.
Der Gefesselte — wir wollen ihn gleich bei seinem richtigen Namen, Lacoste, nennen — wurde wie ein Kind auf das Sofa gesetzt, und, der Mann, dessen Kopfwunde er verschuldet, trat mit unheilverkündendem Gesicht vor ihn hin.
Dick und Charly hielten sich hinter ihrem Herrn zu sofortigem Beistand bereit.
Das Licht der Lampe fiel voll auf das Antlitz des Banditen, das jetzt noch blasser als sonst war; seine Augen begegneten denen des ihn Musternden mit einem trotzig entschlossenen Ausdruck.
Woodfield wollte versuchen, schon jetzt etwas aus dem Gefangenen herauszubringen. Vielleicht gelang es in Güte.
»Sie also sind der Mann, der heute zweimal auf mich geschossen hat«, begann Woodfield.«
Die festgeschlossenen Lippen des Gefangenen öffneten sich zum ersten Male.
»Dass ich es gewesen bin, müsste erst bewiesen werden«, entgegnete er ruhig. »Ich leugne es!«
»Ich habe den Beweis. Wenn er auch nicht vor Gericht gültig wäre, so ist er es doch für mich. Diese beiden Männer behaupten es, und ich glaube ihnen.«
»Und wenn ich getan hätte, was Sie mir vorwerfen?«
»Leugnen Sie es gar nicht erst, es hat doch keinen Zweck. Es handelt sich für mich darum, von Ihnen eine Erklärung der Worte zu erhalten, die Sie riefen, ehe Sie hinter dem Felsen vorsprangen und auf mich schossen. Sie riefen: James Woodfield, dies schickt Ihnen Monsieur Janvier! Aus welchem Grunde riefen Sie dies?«
»Aus gar keinem, denn ich kenne Sie überhaupt nicht. Ich weiß nicht, was Sie meinen!«
Woodfield zog seine Uhr hervor.
»Ich gebe Ihnen fünf Minuten Bedenkzeit, ob Sie mir antworten wollen oder nicht.«
»Und was dann, wenn ich es nicht tue?«
»Das wird sich finden.«
Lacoste ließ die fünf Minuten vorbeigehen, ohne zu antworten; bald fixierte er Woodfield, bald Dick, bald Charly. Man wusste nicht, was in seinem Inneren vorging; nur Dick merkte an dem Augenausdruck des Banditen, dass er zu einem plötzlichen Entschluss gekommen war.
»Die fünf Minuten sind vorbei!«, sagte Woodfield und steckte die Uhr ein.
»Und ich will antworten.«
»Ah, das ist gut!«
»Jedoch, nur unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Lassen Sie erst diese beiden Leute sich entfernen.«
»Sie bleiben auf jeden Fall hier! Ich habe keine Heimlichkeiten, die sie nicht hören dürften.«
»All right, so mögen sie bleiben! Ehe ich Ihnen jedoch auf alle Ihre Fragen die wahrheitsgemäßen Antworten, und zwar für Sie sehr wichtige Antworten gebe, die Ihre Erwartungen noch übertreffen, müssen Sie mir schwören, mich sofort auf freien Fuß zu setzen, wenn ich Ihnen nichts mehr zu gestehen habe.«
Woodfield ging einige Male durchs Zimmer und blieb dann mit verschränkten Armen vor dem Gefangenen stehen.
»Nein, auf diese Bedingungen gehe ich nicht ein. Sie sind der Einbrecher und Straßenräuber, der unter dem Namen ›die schwarze Maske‹ zahllose Schandtaten ausgeführt hat, und diese müssen gesühnt werden. Ich werde Sie der Justiz auf jeden Fall ausliefern.«
»All right, so erfahren Sie nichts von mir«, sagte der Räuber höhnisch.
»Ist das Ihr letztes Wort?«
»Mein letztes. Nehmen Sie Vernunft an, Mister Woodfield, schwören Sie mir die Freiheit zu, und ich will Ihnen sagen, wo Sie Monsieur Janvier zu suchen haben, der Nancy geraubt hat. Ich kann Ihnen sogar sagen, wo und wie Sie diese finden können.«
Woodfield zuckte zusammen.
»Sie lebt also noch?«, murmelte er.
»Sie lebt und hofft, dass Ihr Vater sie befreit.«
Der alte Mann richtete sich auf.
»Nein, ich überliefere Sie doch der Polizei!«
»Dann werden Sie nichts von mir erfahren. Die Zeiten sind vorüber, da man die Menschen folterte, um sie zum Geständnis zu bringen, und ich kann schweigen. Übrigens denken Sie nicht, dass meine Strafe gar zu groß sein wird oder dass ich etwa gar gehangen werde. Ich habe mich gegen die von mir Überfallenen stets chevaleresk und großmütig benommen, einen Mord habe ich nicht auf dem Gewissen.«
»Sie haben auf mich geschossen!«
»Ja, mit einem Pfropfen.«
»Sie können nicht beweisen, dass die Pistole nicht geladen war!«
»Aber ich kann beweisen, dass ich mein Ziel selbst auf fünfzig Meter nie verfehle.«
»Warum haben Sie einen Mordanschlag auf mich fingiert?«
»Darauf antworte ich ebenfalls nicht.«
»Gut, ich gehe jetzt. Überlegen Sie sich bis morgen, ob Sie mir doch vielleicht ohne Bedingung antworten.«
Woodfield entfernte sich mit Charly, nur Dick blieb, bei dem Gefangenen zurück.
Der Rote drehte diesen rücksichtslos um, untersuchte seine Fesseln, hob ihn vom Sofa und legte ihn an die Erde.
»So, mein Püppchen, nun schlafe recht gut«, sagte Dick gemütlich, »aber schnarche nicht so laut, das stört mich!«
Damit drehte er die Lampe aus und streckte sich selbst auf dem Sofa zum Schlafen aus.
»Für diese Behandlung werde ich euch noch eine Nuss zu knacken geben«, knirschte der Gefangene.
»Maul gehalten, oder es gibt einen Knebel!«
Lacoste wagte nicht, an den Fesseln zu reißen, denn die ganze Nacht hindurch sah er die Augen des Wächters wie glühende Kohlen leuchten, er wurde beobachtet.
Ein schöner Sommermorgen, schon sehr heiß, war angebrochen, der Himmel war klar, die Luft ruhig, aber am Horizont zeigten sich schwere, drohende Gewitterwolken.
Doch von dem im Walde liegenden Hause aus konnte man diese schwarzen, unheilverkündenden Wolken nicht sehen; man glaubte, der ganze Tag müsste so heiter verlaufen, wie er begonnen, und deshalb glänzten alle Gesichter vor Fröhlichkeit. Höchstens das Jeremys machte eine Ausnahme.
Mürrisch stand der heute reich betresste alte Diener vor dem Portale und schaute dem Anspannen des Wagens zu, welcher das hochzeitliche Paar in die Kirche bringen sollte. Seine Pflicht wäre gewesen, den hinten befindlichen Dienersitz in Ordnung zu bringen, denn er sollte ihn benutzen, aber mit einem Fluche forderte er einen anderen Angestellten auf, dies für ihn zu tun. Ja, hätte Emily ihn nicht so freundlich gebeten, das Amt des Leibdieners heute zu übernehmen, was sonst ein anderer tat, er würde es ihr ebenfalls mit einem Fluche verweigert haben, denn dadurch wurde er genötigt, in demütiger Haltung Mister Westerly den Schlag zu öffnen.
Nur einmal fand der alte Jeremy Gelegenheit, ehe er seinen Posten antrat, etwas zu sprechen, anstatt immer im Innern zu schimpfen und zu fluchen.
Als Eugen an ihm vorüberging, sagte dieser:
»Ein schöner Morgen heute, Jeremy! Zur Hochzeit wie geschaffen.«
»Schön?«, brummte Jeremy. »Furchtbar schwül ist es, man bekommt ja kaum Luft. Wenn es bis heute Abend nicht geblitzt, gedonnert und gehagelt hat, dann will ich nach Indien gehen und Fakir werden, anstatt Lady Carter auf der Hochzeitsreise begleiten. Liegt mir übrigens nicht viel daran«, fügte er hinzu.
»Ach was, Jeremy, du bist bloß nicht den dicken Rock gewohnt.« lachte Eugen. »Zur Hochzeit meiner schönen Mutter darf der Himmel es überhaupt nicht regnen lassen.«
Der Wagen stand bereit, das Hochzeitspaar, Miss Woodfield und Eugen aufzunehmen, oben wurde die Toilette noch einmal geordnet.
Emily warf den letzten Blick in den Spiegel. Wie schön war sie in dem mit Blumen durchwirkten weißen Atlaskleide und im Brautschleier! Sie musste es sich selbst gestehen.
War sie denn wirklich schon fünfunddreißig Jahre alt? Es konnte kaum sein; sie glich einem jungen Mädchen, das in jungfräulicher Schüchternheit mit vor Scham und Hoffnung geröteten Wangen zum Altar schreitet.
Emily ordnete den Brillantschmuck im Haar und freute sich, wie im Spiegel der Brautring am rosigen Finger blitzte.
Da sah sie im Spiegelglas, wie sich hinter ihr die Tür öffnete und eine Gestalt eintrat, bei deren Anblick Emily von namenlosem Entsetzen befallen wurde.
Sie wagte nicht, sich umzusehen, kaum zu atmen; mit stieren Augen blickte sie in den Spiegel.
Es war eine große, hagere Gestalt, in armselige, indische Gewänder gehüllt, wie Kulis sie tragen, entsetzlich mager, das Gesicht nur Knochen, die Augen tief, Haar und Bart grau und lang — aber diese Züge, Emily kannte sie, es waren die Frank Carters.
Mit drohend erhobenem Arme näherte er sich der anscheinend bebenden Frau. So hatte sie ihn öfter im Traume gesehen.
Da brach der Bann; sie stieß einen gellenden Schrei aus, wandte sich um und — fiel in die Arme des hochzeitlich gekleideten Westerly.
»Emily, was fehlt dir?«, rief dieser erschrocken, die Zitternde in seinen Armen haltend.
»O, wie kannst du mich so erschrecken!«, stammelte Emily. »Du — du wolltest mich zu fürchten machen«
»Ich? Dass ich nicht wüsste! Allerdings wollte ich dir leise von rückwärts nahen, dir die Augen zuhalten und dich fragen, wer es sei, als ich aber sah, dass du mich bereits im Spiegel bemerkt hattest, winkte ich dir mit der Hand. Braucht man denn darüber gleich so zu erschrecken?«
Emily schaute sich noch immer furchtsam im Zimmer um, sie glaubte, jeden Augenblick müsste hinter einem Schranke oder aus einer Ecke plötzlich die skelettartige Erscheinung ihres ehemaligen Gatten hervortreten — so deutlich war sie ihr erschienen.
»Ich glaube, du hast eine Vision gehabt, so siehst du gerade aus«, begann Westerly wieder, »plagen dich etwa gar am Hochzeitstage trübe Zukunftsbilder?«
Er sprach spöttisch, und Emily sagte ihm nicht, was sie gesehen; denn Westerly war ein Freigeist und stritt alles ab, was er nicht selbst sah.
Bald hatte Emily sich wieder beruhigt — es konnte nur eine Vision gewesen sein, wie sie deren, immer von derselben Art, schon öfter gehabt hatte, allerdings noch nie so deutlich wie heute.
Ein ängstlicher Schauer schnürte ihr das Herz zusammen. Welcher Mensch ist wohl nicht abergläubisch? Der, der bestreitet, es zu sein, ist es gewöhnlich am meisten.
»Bist du fertig, Schatz?«, fragte Westerly. »Der Wagen hält unten. Was suchst du? Deinen Handschuh? Hier! Hier, dein Bukett! Das wird eine einfache Hochzeit, aber doch schön.«
»Wie geht es Mister Woodfield? Schade, dass er nicht mitkommt!«
»Wir verlieren nichts an ihm. Mir wäre am liebsten, wenn die Trauung ganz in der Stille vollzogen würde, am besten auf der Registratur.«
»Ich halte es mit der alten, feierlichen Sitte, in der Kirche getraut zu werden«, entgegnete Emily, den rechten Handschuh anziehend. »Die Ehe empfängt dadurch eine göttliche Weihe.«
Westerly hüstelte.
»Nun ja, ich habe dir ja auch nachgegeben. Was ist dir heruntergefallen?«
»O, schon wieder — mein Brautring. Er fällt heute Morgen zum zweiten Male vom Finger.«
»Du hättest mir eher sagen sollen, dass er dir zu weit ist«, sagte Westerly, unter den Stühlen suchend. »Beim Kauf schien er dir zu passen.«
»Er passt auch.«
»Das kann wohl nicht sein, sonst würde er nicht vom Finger fallen.«
»Ich kann das auch nicht begreifen, er sitzt immer so fest, und heute Morgen fällt er plötzlich ab.«
»Magere mir nur nicht ab«, scherzte Westerly, immer noch am Boden suchend. »Damit du aber den Vorfall nicht als böse Vorbedeutung betrachtest, will ich dir eine Erklärung geben; Der Ring ist wahrscheinlich etwas oval, nicht völlig rund. Du hast schlanke Finger, und so müsste er einmal sehr fest, dann wieder locker sitzen, je nachdem er aufgesteckt wird. Aber zum Teufel — pardon, Emily — ich kann den Ring nicht wiederfinden.«
Er klingelte, Bediente kamen herein, doch erst nach längerem Suchen fand man den Goldreif unter den Fransen des Teppichs.
Endlich stand nichts mehr im Wege, den Wagen zu besteigen; Jeremy zwang sein mürrisches Gesicht in freundliche Falten, öffnete den Schlag, schwang sich auf seinen Sitz, und der Wagen rollte der Kirche von Wanstead zu.
In Deutschland ist schon die vor dem Standesamt geschlossene Ehe gültig, die kirchliche Trauung ist nur eine Zeremonie. Nicht so in England.
Hier hat die Kirche dieselbe Vollmacht wie die Registratur, auf welcher Ehen amtlich bescheinigt werden, also lässt man sich entweder nur auf dem Standesamt oder nur in der Kirche trauen; wollte man beides zugleich tun, so wäre das ebenso, als wolle man ein neugeborenes Kind bei zwei Ämtern anmelden.
Die kirchliche Trauung ist in England bedeutend billiger als die amtliche, solange es sich natürlich nicht um glänzende Feierlichkeiten handelt, und die Kirchen machen sich Konkurrenz, um zahlreiche Mitglieder zu erhalten.
So z. B. beträgt jetzt die Gebühr für eine Trauung in der billigsten Kirche Londons zehn Pence — das sind achtzig Pfennig — und das neue Ehepaar bekommt außerdem noch vom Priester einen Laib Brot im Werte von dreißig Pfennig auf den Weg mit — wahrscheinlich, in der Annahme, dass man von Liebe allein nicht leben kann.
Die Formeln sind auf dem Amt und in der Kirche ganz dieselben, nur die Predigt fehlt auf dem ersteren.
Mister Woodfield stand am Fenster und sah dem fortfahrenden Wagen nach, bis er verschwunden war. Diesen Zeitpunkt hatte er kaum erwarten können. Nun wandte er sich an den eben eintretenden Charly.
»Sind noch viele im Hause?«
»Nur noch zwei Diener und ein Mädchen, eine Inderin. Alle übrigen sind schon fort nach der Kirche.«
»Werden auch jene noch gehen?«
»Nein, sie bleiben.«
»Gut, sie sollen uns nicht stören!«
Beide betraten das Zimmer, in welchem Dick neben dem Gefangenen auf dem Sofa saß und ihn mit freundlichen, im Grunde aber sehr spöttischen Worten nötigte, das Frühstück mit ihm zu teilen. Dick schnitt Stücke von seinem Butterbrote ab und hielt sie vor den Mund des Gefangenen, doch dieser ignorierte seinen Wächter.
Lacoste blickte, obgleich er eine schlaflose Nacht hinter sich hatte, so wie gestern den alten Mann mit trotziger Entschlossenheit an. Er schien nicht gewillt, Geständnisse zu machen.
»Sind sie heute Morgen bereit, mir zu sagen, was Sie von dem Kindesraub wissen?«, begann Woodfield.
»Ja, unter der Bedingung, dass Sie mich nach Preisgabe meines Geheimnisses sofort auf freien Fuß setzen.«
»Daran ist nicht zu denken. Ich liefere Sie auf alle Fälle der Polizei aus.«
»Hahaha!«, lachte Lacoste höhnisch. »Sie verlangen wahrhaftig viel von mir. Keine Silbe erfahren Sie!«
»Das war Ihr letztes Lachen!«, sagte Woodfield drohend. »Wir wollen jetzt einmal untersuchen, mit wem wir es zu tun haben.«
Dick und Charly machten sich daran, dem Gefangenen die Taschen zu visitieren. Da sprang dieser mit einem Ruck auf.
»Mister Woodfield, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie nichts weiter tun dürfen, als mich der Polizei ausliefern. Jede andere Handlung von Ihnen ist eine Eigenmächtigkeit, welche ich später anzeigen werde und für die Sie zur Rechenschaft gezogen werden.«
»Untersucht ihn!«, sagte Woodfield kurz.
Lacoste hatte sich getäuscht. Er glaubte, Woodfield würde doch noch auf seine Bedingungen eingehen und ihn freilassen; jetzt aber nahm die Sache einen ganz anderen Verlauf, und was für einen schlimmen für ihn, davon vermutete der Räuber noch nichts. Mit fest zusammengebissenen Zähnen ließ er sich von den beiden Männern die Taschen ausräumen.
»Ein Revolver, eine Pistole, ein Dolch«, zählte Dick auf, die betreffenden Sachen seinem Herrn übergebend, »hier noch ein Stilett — also das ganze Handwerkszeug eines Banditen — hier ein Notizbuch, darin hat er sich die Namen der Leute aufgeschrieben, welche er überfallen hat, und ihre Adressen — eine Brieftasche mit Karten und Fotografien.«
Woodfield blätterte in den Papieren, unter denen keine Briefe waren.
»Sie heißen Marquis Alsons de Lacoste?«, fragte Woodfield, Visitenkarten lesend.
»Das geht Sie nichts an!«, war die trotzige Antwort.
»Jeder Räuber hält sich für einen Baron, wenigstens wenn er Geld hat. —
Aha, hier ist ja das Läppchen, das er sich immer vors Gesicht hängt, damit ihn die Sonne nicht verbrennt! Na, Bursche, nun behaupte noch einmal, du warst nicht die schwarze Maske!«
Dick reichte seinem Herrn die schwarzseidene Maske. Woodfield legte sie gleichgültig auf den Tisch; er las noch in den Papieren.
»Eine Anweisung auf 100 000 Francs für Madame Dubois, ausgestellt von Monsieur Francoeur«, murmelte er. »Hm, das ist unser Nachbar, bei dem Dick ihn fand — ein Franzose. In welchen Beziehungen stehen Sie zu diesem Francoeur?«, fragte er den Gefangenen.
»Das geht Sie wieder nichts an!«, war die spöttische Antwort.
»Er nannte ihn Schwager«, erklärte Dick. »Eine schöne Schwägerschaft das! Gestohlen hat er die Anweisung also nicht.«
Die Taschen waren geleert, aber die beiden Visitierenden begnügten sich nicht damit; Zoll für Zoll betasteten sie seinen Körper.
»Hei, was ist das?«, rief plötzlich Charly, auf der Magengegend des Gefesselten herumfühlend.
Es wurde keine Erklärung abgewartet. Dick riss schon die Weste auf, schnitt in das Hemd ein Loch, griff hindurch, machte noch einige Messerschnitte und brachte ein goldenes, mit Juwelen besetztes Armband zum Vorschein.
Einen Augenblick betrachtete Woodfield es erstaunt, dann stürzte er darauf zu und riss es ihm aus der Hand.
»Endlich«, rief er in äußerster Erregung, »endlich sehe ich die erste Spur!«
Seine zitternde Hand hielt das Geschmeide weit von sich ab, seine Augen schienen das Armband verschlingen zu wollen.
»Woher hast du das?«, fragte er dann den Gefangenen, ganz leise, aber mit so seltsamem Gesichtsausdruck, dass selbst die beiden Pelzjäger ihren Herrn mit Scheu betrachteten.
Auch Lacoste war erschrocken, als Dick ihm so schnell das versteckte Kleinod abnahm, und als Woodfield es sofort erkannte. Doch gleich hatte er seinen Trotz zurückerlangt.
»Sprich!«, donnerte Woodfield ihn plötzlich an. »Woher hast du dieses Armband? Sprich, oder bei Gottes Tod, ich...«
Ein Dröhnen von vielen Schritten auf dem Korridor ließ ihn plötzlich abbrechen. Es wurde kurz an die Tür geklopft, ohne Abwarten einer Antwort diese geöffnet, und ein Herr trat ein. Draußen sah man zwei Konstabler und einen Polizeisergeanten stehen.
Finster blickte Woodfield den Eintretenden, in dem er einen Geheimpolizisten erkannte, an; erschrocken schaute Lacoste auf, denn er hatte noch immer Hoffnung, von Woodfield nach Aussage des Geheimnisses freigelassen zu werden. Die Dazwischenkunft der Polizei machte dies unmöglich, jetzt musste er ausgeliefert werden. Er sah langjähriger Zwangsarbeit, Beschäftigung in der furchtbaren Tretmühle, entgegen.
»Mister Woodfield?«, fragte der Beamte.
»Ich bin's! Sie wünschen?«
»Sie sind gestern Abend überfallen worden? Man hat auf Sie geschossen?«
»Allerdings!«
»Ich bin Detektiv und bin hier, um an Ort und Stelle Recherchen anzustellen, damit diesem — ach, das ist doch nicht etwa...?«, unterbrach er sich jetzt erst den Gefesselten bemerkend.
»Die schwarze Maske«, kam ihm Woodfield zu Hilfe. »Dort auf dem Tisch liegt der bei ihm gefundene Gegenstand, durch welchen er sich diesen Namen verdient hat.«
»So haben Sie sich seiner also bemächtigt. Das ist vorzüglich. Sie ersparen uns große Mühe. Den Verhaftungsbefehl habe ich schon bei mir.«
Er wollte auf Lacoste zugehen, doch Woodfield vertrat ihm den Weg.
»Was wollen Sie tun?«
»Ihm natürlich in Gewahrsam nehmen.«
»Ich bitte, damit noch einige Minuten zu warten.«
»Warum?«
»Weil ich mit ihm noch privatim zu sprechen habe.«
»Sir, das geht nicht! In dem .Augenblick, da ich den Gesuchten sehe, muss ich ihn verhaften, selbst wenn mein oder anderer Leute Leben dabei in Gefahr käme. Dieser Mann gehört nur noch der Justiz.«
»Sie werden ihn nicht eher bekommen, als bis ich das erfahren habe, was ich von ihm wissen will.«
»Wie? Mister Woodfield, Sie würden sich seiner Verhaftung widersetzen?«, fragte der Beamte erstaunt.
»Ich und diese meine Leute, so lange wir können.«
Die beiden Jäger stimmten ihrem Herrn bei.
»Dann vergehen Sie sich gegen die Staatsgewalt.«
»Und Sie haben nicht das Recht, mir zu nehmen, was mir gehört!«
»Oho!«
»Nein, denn ich bin ebenso wenig wie diese hier Engländer, ich bin Kanadier und stehe unter dem Schutze der englischen Krone. Wollen Sie den Beweis sehen?«
Der Polizeisergeant flüsterte dem Detektiv einige Worte zu, und infolgedessen änderte dieser plötzlich sein Benehmen.
»Aus welchem Grunde verweigern Sie uns die Herausgabe dieses Gefangenen?«, fragte er höflich.
»Ich verweigere sie Ihnen nicht, ich möchte nur erst erfahren, was nur er mir sagen kann.«
»Er wird verhört werden!«
»Er wird nicht sprechen!«
»Gezwungen kann dazu freilich niemand werden!«, entgegnete der Detektiv achselzuckend.
»Nicht?«, rief Woodfield spöttisch. »In fünf Minuten soll er mir alles gestanden haben!«
»Sie wollen ihn dazu zwingen?«
»Ja, mit dem Riemen, bis das Blut hervorspritzt. Dann wird er mir wohl alles erzählen!«
Die Polizisten sahen sich an, und dem Gefangenen stieg plötzlich eine furchtbare Ahnung auf. Diese Männer, gewohnt mit wilden Indianern zu verkehren, würden allerdings nicht zögern, ihn bis aufs Blut zu peinigen, wenn er nicht gestehen wollte. Schon brachte Dick einen Riemen zum Vorschein und ließ ihn durch die Luft sausen.
»Das dürfen Sie nicht!«, schrie jetzt Lacoste auf. »Sir, ich verlange, verhaftet zu werden, ich bin der Polizei verfallen, Sie dürfen mich nicht in den Händen dieses Mannes lassen.«
Die Polizisten nahmen auf den Wunsch des sich wie verzweifelt gebärdenden Gefangenen keine Rücksicht. Sie kannten Mister Woodfield, wussten, was für eine Rolle er spielte, und als dieser auch noch mit dem Detektiv gesprochen hatte, wobei er ihm das gefundene Armband gezeigt, entfernten sie sich aus dem Zimmer.
»Sie dürfen mich nicht in den Händen dieses Mannes lassen!«, schrie ihnen Lacoste nochmals nach, denn nun wusste er, was ihm bevorstand.
Der Sergeant drehte sich in der Tür nochmals um.
»Wir haben auch gar nicht die Absicht, dich freizulassen, Schurke«, sagte er; »aber eine private Unterredung mit dir wollen wir diesem Gentleman doch gewähren.«
»Und die Verantwortung dafür nehme ich auf mich«, fügte Woodfield hinzu.
Die im Vorzimmer harrenden Polizisten vernahmen zwar nicht, was drinnen gesprochen wurde, sie hörten nur, auf welche Weise die Unterhaltung geführt wurde. Erst eine kleine Pause, dann Woodfields leise, fragende Stimme, keine Antwort, dann klatschende Schläge, denen ein heulendes Schmergebrüll folgte. Jetzt wechselten Fragen und Antworten, einmal noch ein Klatschen und ein Geheul, dann wurden die Polizisten wieder ins Zimmer gerufen.
Lacoste saß gebrochen auf dem Sofa, das Haar hing ihm wirr um die Stirn, und mit angsterfüllten Augen blickte er Dick an, der sich eben einen Riemen um den Leib schnallte.
Die Hände waren dem Gefangenen nicht mehr auf dem Rücken, sondern vorn gefesselt, und jedenfalls hatte der letztere blutige Striemen aufzuweisen.
Woodfield befand sich in großer Aufregung, er schien sofort aufbrechen zu wollen.
»Hier ist alles, was wir bei ihm gefunden haben!«, sagte er hastig zu dem Detektiv, ihm die Sachen auf dem Tisch zuschiebend. »Sie müssen wohl ein Protokoll aufnehmen. Dieses Armband überlassen Sie mir, es soll mir sofort als furchtbarer Ankläger dienen!«
»Hat er alles gestanden?«
»So viel, wie er gestehen konnte!«, entgegnete Woodfield, den Hut aufsetzend.
»Er kennt den Aufenthalt Ihrer Tochter?«
»Nein; Schläge haben dies Geheimnis nicht aus ihm erpressen können, er kennt ihn nicht. Jetzt aber weiß ich wenigstens, wo ich den Räuber von Nancy zu suchen habe.«
»Wer ist es?«
»Jener Monsieur Francoeur, der nicht weit von hier entfernt wohnt. Ich eile zu ihm!«
Mit diesen Worten stürmte Woodfield hinaus, ihm nach Dick und Charly.
»Ah, so hatte Wilkens doch recht, als er Francoeur als Verbrecher verdächtigte!«, murmelte der Beamte. »Schade, dass der Kollege von höherem Ort aus verhindert wurde, so energisch vorzugehen, wie er wollte!«
Die Polizisten beschäftigten sich mit Lacoste, er sollte in Sicherheit gebracht werden.
Auch vor der indischen Villa hielt eine Equipage, in welcher Monsieur Francoeur, Phoebe, Bega und der Radscha nach der Kirche fahren wollten, denn sie waren zur Trauung geladen worden.
Der braunhäutige Kutscher wartete auf dem Bock geduldig seiner Herrschaft und wunderte sich nur, was im Hause plötzlich für ein Türwerfen und Laufen entstand. Eben noch alles ruhig, musste jetzt drinnen etwas Außergewöhnliches passiert sein.
Doch diese indischen Diener waren daran gewöhnt worden, zu hören und zu sehen, ohne zu sprechen.
Dann schlüpfte auch noch Hedwig, das Dienstmädchen aus dem Nachbarhause, aus der Tür, sah sich scheu um, nickte dem Kutscher zu, legte den Finger auf den Mund und eilte dem Walde zu. Dass sie hier war, wusste der Kutscher gar nicht, er hatte sie nicht kommen sehen.
Endlich traten die festlich gekleideten Herrschaften heraus und bestiegen den von einem Lakai geöffneten Wagen.
Wieder fiel dem Kutscher etwas Seltsames auf.
Francoeur hatte ein so merkwürdiges Gesicht aufgesetzt, es lag darin eine erkünstelte Ruhe, die sich auch in seinen Bewegungen ausdrückte; Phoebe konnte die Unruhe nicht verbergen, ihre Wangen waren fieberhaft gerötet; wie vorhin Hedwig, so blickte auch sie sich scheu nach allen Seiten um, und des Radschas Augen schienen giftige Blitze zu schießen.
Bega hatte wie zärtlich seine Hand gefasst und führte ihn nach dem Wagen. Ihr Blick ruhte dabei mit einem Ausdruck von Teilnahme und Angst auf seinem fleischigen, von Pockennarben entstellten Gesicht.
War das eine Gesellschaft, die einer Hochzeit beiwohnen wollte? Francoeur sprach leise mit dem Kutscher; dieser glaubte wahrscheinlich falsch verstanden zu haben.
»Sahib?«, fragte er erstaunt und blickte den Franzosen erschrocken an.
»Hast du mich nicht verstanden. Dummkopf?«, brauste sein Herr plötzlich auf.
Stumm griff der Inder nach Zügel und Peitsche; die beiden ungewöhnlich kräftigen Rappen zogen an, den Weg nach der Kirche von Wanstead einschlagend.
Francoeur saß auf dem Rücksitz; unablässig überflog sein Auge die Gegend. Neben ihm saß der Radscha; auch seine Augen, nach zwei Richtungen zugleich zu sehen vermögend, waren in steter Bewegung. Bega wendete den Kopf, ihre Blicke hingen unverwandt an einem Punkt, und dort stand, im Walde verborgen, das Haus der Lady Carter.
Die Villa war nicht mehr zu sehen. Jetzt zweigte von der Landstraße ein Weg ab, der nach London führte.
»Los!«, rief Francoeur dem Kutscher zu.
Dieser hieb unbarmherzig auf die Pferde ein; diese bäumten sich auf und jagten in rasender Karriere davon, dass der Wagen aufflog, als führe er über ein Steinfeld und nicht auf der ebenen Straße.
Der Radscha deutete schweigend mit der Hand nach Südosten. Dort standen pechschwarze Wolken; schnell kamen sie näher, und schon zuckten am Horizont feurige Schlangen.
Francoeur richtete sich halb auf, auch er deutete dorthin.
»Ein Gewitter«, sagte er dumpf mit unheilverkündender Stimme, »es kommt aus der Richtung von Indien. Noch wetterleuchtet es dort nur, aber bald, bald ist die Zeit da, da Feuer vom Himmel herabfällt, die Unterdrücker des Landes zu vernichten. Die Inder werden es sein, welche es blitzen und donnern lassen, und das Gewitter wird seinen Weg nach England nehmen.«
Noch hatte er die letzten Worte nicht beendet, als sich über ihnen eine finstere Wolke entlud, das ganze Firmament stand in blendenden Flammen, und gleich darauf erfolgte das donnernde Krachen — es war, als wolle der Himmel die Drohung bestätigen.
Erschrocken scheuten die Pferde und rasten dann mit verdoppelter Schnelle davon. Eben machte der Weg eine Biegung, der Kutscher hatte die beiden mächtigen Rappen fest in den Zügeln, sie gehorchten, und der Wagen schwenkte ab, legte sich aber dabei fast auf die Seite.
Bis jetzt hatte Bega ihre Augen nicht von dem Punkte abgewendet, wo sie das freundliche Waldbaus liegen wusste, in dem einst Reihenfels gewohnt hatte, und dort, dort hinten, da lag ein Steinbruch, und in ihm war eine Höhle.
Die Biegung entzog ihr diesen Erinnerungspunkt. Bega sank in die Polster zurück und bedeckte ihr Antlitz mit dem Schleier, um die Tränen nicht sehen zu lassen, die an den Wimpern hingen.
Oskar Reihenfels bewohnte mit dem indischen Fakir Hira Singh, das dem britischen Museum gegenüberliegende Hotel. Noch einmal wollte er die Vorstellung des indischen Wundermannes, der sich lebendig begraben ließ, persönlich leiten und dann zu seinem Vater nach Bombay zurückkehren.
Hira Singh blieb vorläufig noch in London, ein Arzt hatte von Reihenfels gelernt, wie man den Scheintoten durch gewisse Manipulationen wieder ins Leben rief, und wollte den Fakir auf weiteren Gastreisen begleiten.
Reihenfels stand in Frack und weißer Weste vor dem Spiegel, neben sich auf dem Tisch den Zylinder, denn in einer Stunde wollte er sich zur Trauung seiner Gönnerin, Lady Carter, nach Wanstead begeben. In der Kirche musste er Bega begegnen, und dadurch lenkten sich seine Gedanken auf das, was sich bei ihrem letzten Wiedersehen ereignet hatte.
So kalt dieses auch anfänglich gewesen war, leicht hätte es schlimm verlaufen können, denn Reihenfels hatte sie nicht beleidigt oder gekränkt —
etwas viel Schlimmeres für ein Weib — er hatte Bega gedemütigt. Seit langen Tagen schon grübelte er darüber nach, wie sie dies ertragen würde, denn er musste sich doch immerfort mit der einstigen Geliebten beschäftigen, und die Erinnerung daran war schuld, dass den jungen Gelehrten sein sonst so außerordentlicher Scharfsinn im Stiche ließ.
Bega war Buddhistin, und als solche durch die mysteriösen Lehren ihrer Religion einmal mit hoher Ehrfurcht vor einem allmächtigen Gott erfüllt, mag er Jehova, Zeus, Buddha, Brahma, Allah oder sonst wie heißen,(*) und dann auch erzogen worden, die Geheimnisse ihrer Religion bis zum Tode zu bewahren.
(*) Die Buddhisten haben für Gott gar keinen Namen; Buddha ist nur die Bezeichnung für ein Wesen, welches erkannt hat, dass es einen Gott gibt. Diese Erkenntnis ist das Streben der Buddhisten.
Hira Singh nun hatte die Geheimnisse verraten, die er kannte, und Bega machte ihm deswegen am Krankenlager Eugens die heftigsten Vorwürfe, sich dabei des hindustanischen Dialektes bedienend, welchen außer ihr nur der Fakir und Reihenfels verstand.
Überdies warf sie ihm auch noch vor, dass er wiederum ein Geheimnis zu verraten im Begriffe stand, nämlich die an den Brahmanen in der Jugend ausgeführte Tätowierung.
»Wahrscheinlich«, hatte sie hinzugefügt, »hatte ihn wieder jener Mann dort« — sie deutete auf Reihenfels — »durch Versprechungen zu diesem neuen Verrat verlockt.«
Da drehte sich Reihenfels um und antwortete ihr mit kurzen Worten:
»Hira Singh hat recht, wenn er dir antwortet, ein jeder Mensch habe die Verpflichtung, Geheimnisse zu verraten, wenn er dadurch seinen Mitmenschen nützen kann. Bedenke, Bega, wenn Hira Singh das Geheimnis der Brahmanen nicht preisgegeben hätte, so wäre jetzt schon Eugens Arm amputiert worden.« —
Bega war niedergeschmettert. Sie wusste keine Antwort. Doch die Art, wie sie gebeugt zu Eugen ging und seine Hände mitleidig ergriff, bewies, dass sie Reihenfels recht gab.
Hatte sie dies als eine Demütigung aufgefasst? Bemitleidete sie Eugen nur, oder liebte sie ihn? Auf Mitleid folgt so schnell Liebe.
Dies war es, was Reihenfels Tag und Nacht beschäftigte und was dem Gelehrten den Scharfsinn raubte, und gerade jetzt bedurfte er seiner so notwendig Zum Lösen eines Rätsels, an dem vielleicht das Glück von Lady Carter hing.
Als Reihenfels an jenem ereignisvollen Tage in sein Hotel kam, erwarteten ihn schon lange ein alter Mann und eine alte Frau. Sie brachten ihm einen Brief und erzählten ihm die Geschichte desselben, wie sie ihn zuerst gefunden, wie er verloren gegangen und wie ihr zurückgekehrter Sohn Charly ihn zum zweiten Male gefunden habe.
Mit gespanntem Interesse las Reihenfels die Adresse, an Timur gerichtet, und besah das auch für ihn unleserliche Schreiben. Wenn jener Gaukler damals wirklich der Kindesräuber, also nicht Timur, sondern Timur Dhar gewesen war, der auch im Hotel Royal wohnte, so war dieser Brief auch an Timur Dhar gerichtet, und was sollte das sorgfältig chiffrierte Schreiben anders enthalten als Informationen über den noch vorzunehmenden Kindesraub?
Oskar war zwar nicht in dem Maße wie sein Vater geübt im Entziffern derartiger Geheimschriften, aber er stand ihm an Scharfsinn und Kenntnis der indischen Sprachen nicht im Mindesten nach.
Er verabschiedete die beiden alten Leute mit dem Versprechen, bald von sich hören zu lassen, und machte sich sofort an die Arbeit.
Vergebens! Begas Bild schwebte ihm stets vor Augen, wie sie sich liebevoll über Eugen beugte, und dies trübte seine Gedanken — er verschob die Arbeit auf morgen.
Am anderen Tage jedoch war es dasselbe, Oskar fand nicht den geringsten Anhaltspunkt, von welchem er die Fäden weiter hätte verfolgen können, nur der Gedanke an Bega war daran schuld, und ebenso erging es ihm die folgenden Tage.
Dann erinnerte er sich, dass sein Vater den Brief schon ziemlich, bis auf die letzte Klarlegung des Sinnes, entziffert hatte, als er ihm wieder genommen wurde, denn er sprach über alle Arbeiten, welche ihn interessierten, mit seiner lernbegierigen Frau, und auch Oskar lernte dabei schon. Nun wusste letzterer, dass der Vater über die ihm zur Dechiffrierung gegebenen Briefe ein Buch führte, in welches er das Mittel zur Lösung und den Inhalt des Briefes eintrug, denn bei dergleichen Arbeiten kommt man leicht einmal in die Lage, sich vor Gericht verantworten zu müssen.
Fand Oskar dieses Buch, so war ihm geholfen, und er wäre wenigstens auf die erste Spur geraten.
Er hatte mit Hira Singh zusammen die alte, in Kisten verpackte Bibliothek des Vaters, welche im Hotel stand, durchsucht, jedoch das betreffende Buch war nicht darunter gewesen.
Alle diese Gedanken beschäftigten Reihenfels, als er die letzte Hand an seine Toilette legte: In einer Stunde sollte er die unglückliche Witwe und Mutter im Brautkleid vor dem Altar sehen; was konnte dieser Brief wohl über das Geschick ihres Kindes enthüllen? Brachte er Glück oder neues Unglück? Und dazwischen tauchte immer wieder Begas reizendes Bild vor seinen Augen auf.
Reihenfels war ein Mann, der sich zu beherrschen wusste und das vergessen konnte, woran er nicht denken wollte, aber an der Erinnerung an Bega scheiterte seine Willenskraft. Wollte es das Schicksal anders? Warum ertönte immer und immer wieder an sein Ohr das verhängnisvolle Wort: Tat twam asi, dies bist du, dies ist dein Fleisch, dein Blut, deine Seele, denn du hast sie vom Tode errettet? Hira Singh trat ein, finster wie immer, die Züge in dem Totenschädel wie von Eisen, eine ungeheure Willenskraft verratend.
Man konnte diesen Fakir mit einem katholischen Entsagungsapostel vergleichen, dem infolge seiner fanatischen Rednergabe die Reichen ihre Schätze zu Füßen legen, den die schönsten Weiber in Verzückung anbeten; der Priester aber schreitet mit einem verächtlichen Lächeln über alles und alle hinweg, er tritt Schönheit und Reichtum mit Füßen, denn für ihn ist das alles nur eitler Tand.
Hira Singh hätte alles verlangen können, nichts wäre ihm versagt worden, aber er forderte nichts; das fabelhafte Gehalt, das er für seine schauerlichen Experimente erhielt, legte er achtlos zur Seite und lebte wie früher als armer, bettelnder Fakir; er aß nur, damit seine Kräfte nicht verfielen, trank Wasser, schlief neben seinem Bett auf dem mitgebrachten Teppich und kannte keine Bedürfnisse, die dem Luxus entspringen. Seine Beschäftigung bestand, wenn er nicht Vorstellungen gab, im Hermurmeln von Gebeten und im Träumen, in welchem es die indischen Priester weit gebracht haben, noch weiter als die Mohammedaner. Gern unterhielt er sich mit Reihenfels, der im ganzen und großen in der indischen Literatur besser zu Hause war, als mancher Brahmane, dessen gründliche Kenntnis sich nur auf einen Teil des heiligen Veda erstreckt, und seit Hira Singh in der Bibliothek des alten Reihenfels gestöbert, vertiefte er sich mit Vorliebe in ein oder das andere Buch.
Jetzt hielt er einige alte, verstaubte Bücher in der Hand. Oskar glaubte, er wolle eine Aufklärung haben.
»Willst du etwas wissen?«, fragte er freundlich.
»Dies wird das Buch sein, welches du suchtest«, entgegnete Hira, ihm eins reichend.
Hastig streifte oder vielmehr riss Oskar die weißen Handschuhe ab und ergriff das Buch.
»Gefunden! Es ist es!«, rief er.
Schon im Gehen nach dem Schreibsekretär begann er zu blättern; er musste die betreffende Stelle bald haben, denn es war die letzte Übersetzung, die sein Vater in der armseligen Wohnung vorgenommen, und er hatte seinen Wegzug von dort gewissenhaft auch in diesem Buche vermerkt.
Vergessen war die Hochzeit. Oskar saß im Frack und Zylinder vor dem geöffneten Schreibsekretär und las halblaut:
Sanskrit. Fange von hinten an, ordne den 1. und 6., 2. und 5., 3. und 4. Buchstaben nebeneinander, fahre so fort und übersetze in die Mahrattensprache, welche zur Zeit von Sewadschi geredet wurde: Ich...
Hier hatte die Feder des alten Reihenfels zu schreiben aufgehört, weil ihm das Pergament abgefordert wurde.
Oskar brauchte nicht erst lange in Büchern nachzuschlagen, er kannte Sewadschi, einen indischen Abenteurer, der zur Zeit einer Völkerwanderung das mächtige Reich der Mahratten gegründet hatte, welches erst vor Kurzem durch die Engländer vernichtet worden war, dessen Herstellung aber alle Hindus erhofften, natürlich vergeblich, und er kannte auch deren Sprache.
Schnell war Papier und Feder zur Hand. Oskar befolgte die Angaben seines Vaters, und schon das war ein gutes Zeichen, dass die Buchstaben in der betreffenden Reihenfolge aufgingen.
Geordnet standen die Schriftzeichen auf dem Papier, Oskar begann mit der Übersetzung, die fließend vonstatten ging.
Ich, Bahadur, warne dich, Sinkolin. Traue nicht Nana Sahib, er wird von seinem Weibe, der Faringi (*), beeinflusst, und sie handelt nicht für uns, sondern für ihre Rache —
(*) Faringi = Fremder. Besonders die Engländer werden so genannt in Indien.
Oskar warf die Feder hin und sprang in nervöser Hast auf.
»Wer ist Sinkolin?«, fragte er den Fakir, der in einer Ecke hockte und las.
Der Inder blickte teilnahmslos auf.
»Sinkolin ist ein gewöhnlicher Name, Sahib. So nannte sich auch jener Timur.«
»Wer ist Nana Sahib?«
»Das könnte der Radscha von Berar sein.«
»Wer Bahadur?«
»Den Namen hört man auch oft.«
»Ein bestimmter Bahadur.«
»Das weißt du so gut wie ich, Sahib. Bahadur heißt der großmächtigste Großmogul von Indien, dessen Herrlichkeit den Glanz der Sonne verdunkelt, und der zugleich ein weiser Brahmane —«
Der Fakir brach plötzlich ab, und Reihenfels, mit den Gewohnheiten dieses Inders genau vertraut, entging es nicht, dass er überrascht war, wenn auch sein Gesichtsausdruck derselbe blieb.
»O, jetzt weiß ich, was du meinst, Sahib«, fuhr der Fakir dann fort.
»Sinkolin! So heißt der Barbier von Bahadur.«
»Ist er nichts weiter?«
»Nein, soviel ich weiß.«
Oskar ging einmal durchs Zimmer, setzte sich dann wieder und übertrug weiter. Je länger er schrieb, desto mehr erweiterten sich seine Augen, immer gespannter wurden seine Züge, auf die Stirn traten ihm Schweißtropfen, und als er mit merkbar zitternder Hand den letzten Zug niedergeschrieben hatte, sprang er nach der Tür und riss an der Klingel.
Der erschrockene Kellner kam hereingestürzt.
»Einen zweispännigen Wagen!«, befahl Reihenfels. »Schnell, schnell, ich habe keine Sekunde zu verlieren!«
Einstweilen kuvertierte er und versiegelte beide Schreiben, das Original und die Übertragung, steckte sie zu sich, eilte, als ihm der Kellner den Wagen meldete, hinab und warf sich in das Fuhrwerk, nachdem er die nächste Bahnstation als Ziel angegeben hatte.
Ein Zug nach Wanstead stand eben bereit, Oskar benutzte ihn. Und als er nach einer halben Stunde den Vorort erreicht hatte, nahm er wieder einen Wagen, der ihn nach der Kirche bringen musste.
So sehr er den Kutscher auch aufforderte, die Pferde in der schnellsten Gangart zu halten, er musste doch zu spät zur Trauung kommen; aber es war ihm auch nur daran gelegen, so schnell wie möglich denjenigen sein eben entdecktes Geheimnis mitzuteilen, für die es von höchster Wichtigkeit war.
Als er das indische Haus passierte, sah er einen Diener am Tor stehen, und deshalb ließ er den Wagen einen Augenblick halten.
»Ist Radscha Tipperah im Hause?«, fragte er den Inder.
Dieser, wohl über das hastige Sprechen des Fremden erschrocken, sah verwundert auf.
»Radscha Tipperah?«
»Ich meine seine Gesellschafter, Monsieur Francoeur, Madame Phoebe und Miss Bega!«, verbesserte sich Reihenfels schnell, als er das verwunderte Gesicht des Dieners bemerkte, weil er nach dem taubstummen Inder, der für niemanden von Interesse war, gefragt hatte.
»Sie sind alle in der Kirche zur Trauung.«
»Also auch Radscha Tipperah?«, fragte jetzt Reihenfels direkt.
»Alle!«
»Ich dachte es mir. Fort denn, Kutscher, nach der Kirche!«
Als Reihenfels im fortjagenden Wagen noch einmal den Kopf wendete, sah er, wie drei Männer aus dem Walde sprangen und in das indische Haus eilten, und als er sich angesichts der Kirche nochmals umblickte, bemerkte er dieselben drei Männer, von denen ihm zwei seltsam gekleidet erschienen, wie sie auf der Landstraße, der Kirche zu, nicht nur schnell gingen, sondern wirklich rannten, und wahrscheinlich nicht langsamer als die Pferde seines Wagens.
Gleichzeitig bemerkte er in weiter Entfernung hinter sich eine Staubwolke, wohl ebenfalls von einem äußerst schnell fahrenden Fuhrwerk herrührend.
Doch schon hielt sein Wagen vor dem Portal, Reihenfels sprang ab und drang in die mit Menschen gefüllte Kirche, aus der leises, melodisches Orgelspiel ertönte. Die Predigt war schon vorüber, die sanfte Weise der Orgel begleitete die Frage des Priesters, nach deren Bejahung das Brautpaar den Bund fürs Leben geschlossen hatte.
Das hastige Eindringen von Reihenfels hatte einiges Aufsehen erregt, die zu hinterst Stehenden drehten die Köpfe, und als er sich nun gar nach dem Altarplatze durchzudrängen suchte, wo die Trauzeugen und Gäste sich befanden, entstand ein unwilliges Gemurmel, denn niemand wollte sich den spannendsten Teil der Trauung entgehen lassen.
»Sie kommen zu spät, Sir«, brummte einer, »die Geschichte ist nun doch vorüber.«
»Wenn Sie dazu gehören, so essen Sie dann desto mehr«, sagte ein Witzbold.
»Ich will nicht durch!«, flüsterte Reihenfels. »Ist Monsieur Francoeur hier?«
»Wer?«
»Monsieur Francoeur und seine Schwester, Radscha Tipperah und seine Tochter!«
»Die kennen wir gar nicht; was gehen die uns überhaupt an!«
Reihenfels konnte sich nicht durchdrängen, er war wie festgekeilt.
Diese Störung war nicht ausreichend gewesen, den Priester zu unterbrechen. Er warf einen unwilligen Blick nach der Tür und sprach die Formel weiter vor, langsam und salbungsvoll, begleitet vom Orgelspiel, da aber kam eine größere Störung.
Drei Männer stürzten herein, voran ein Greis, der beim schnellen Lauf den Hut verloren haben musste, das weiße Haar hing ihm wirr um den Kopf.
Beim Anblick der feierlichen Zeremonie stand er einen Moment bestürzt da, aber nur einen Moment, dann drang er vor und brach sich mit dem Ellbogen Bahn.
»Francoeur! Wo ist der Franzose? Wo ist der Kindesräuber?«, schrie er dabei immerfort.
Jetzt brach der Priester ab; ein unwilliges Gemurmel, ein Gedränge entstand in der Kirche.
»Entfernt die Störer und schließt die Kirchentüren!«, rief der Priester.
»Wo ist der Kindesräuber?«, heulte der alte Mann wieder, sich immer weiter drängend.
Da wurde er von hinten gefasst und auf eine Bank gedrückt, vor ihm stand einer seiner Begleiter, ein in rotes Leder gekleideter Mann.
»Geduldet Euch eine Minute!«, sagte dieser und hielt den Herrn auf der Bank fest. »Es ist ja gleich vorüber!«
Der Priester hatte nur noch einen Satz zu sprechen und wollte, die augenblickliche Stille dazu benutzend, dies schnell tun; schon hatte, die Orgel wieder eingesetzt. Aber wiederum musste diese mit einem Misston abbrechen, denn ein anderer Mann, ein Gentleman, eine Gestalt mit sich reißend, brach sich Bahn durch die Umstehenden und drang unwiderstehlich gegen den Altar vor.
»Haltet ein, wenn es noch nicht zu spät ist! Die Trauung darf nicht stattfinden!«, schallte es laut durch die Kirche.
Dieser Ruf war ganz dazu angetan, unter den Zuschauern das größte Entsetzen hervorzubringen. Man machte dem Manne Platz, dieser riss immer die Gestalt mit sich, eine gebeugte, bis aufs äußerste abgemagerte Figur, nur mit Lumpen bekleidet.
Jetzt standen beide vor dem Altar.
»Die Trauung darf nicht stattfinden, solange mich nicht Lady Carter angehört hat«, wiederholte der Mann, der sich in einer furchtbaren Aufregung befand.
Die Braut war nicht fähig, sich aus ihrer knienden Lage zu erheben; mit totenblassem Antlitz lehnte sie an den Stufen des Altars. Westerly stand mit geballten Fäusten da, am ganzen Leibe zitternd, die vor Entsetzen hervorquellenden Augen auf die abscheuerregende Gestalt geheftet. Den anderen erkannte er, es war Wilkens, der Detektiv.
»Mister Wilkens«, stammelte er, »was — was — sagen — wer — ist das?«
»Lady, ich komme, Gott sei Dank, noch nicht zu spät«, sagte Wilkens laut und mit Nachdruck, »hören Sie mich vorerst an! Ihr Gatte ist nicht tot!«
»Ihr lügt!«, schrie Westerly, taumelte aber erschrocken zurück.
»Ich spreche die Wahrheit! Sir Frank Carter lebt, er ist Sklave im Felsentempel der Göttin Kali. Hier steht der von dort entflohene Kiong Jang, sein Diener, als Zeuge!«
Mister Wilkens saß am frühen Morgen im Arbeitszimmer seiner Privatwohnung, als die Aufwärterin hereinkam und ihm einen Mann meldete, der ihn durchaus zu sprechen wünsche.
»Nicht hier«, entgegnete der mit Geschäften überbürdete Detektiv. »Gebt ihm die Adresse meines Dienstbüros, dort will ich ihn anhören.«
»Ich weiß überhaupt gar nicht, was er will. Ach, Mister Wilkens, der Kerl sieht schrecklich aus, gerade, als wäre er in einer Kaffeetrommel geröstet worden, die Knochen stehen ihm nur so aus dem Leibe hervor, und Kleider — na, du lieber — hilf Himmel, da ist er schon!«
Damit rannte die alte Aufwärterin schreiend durch eine andere Tür aus dem Zimmer, und herein trat eine Gestalt, genau so aussehend, wie die Frau sie eben beschrieben hatte.
Es mochte wohl ein langer Mann sein, er ging aber gebeugt, war zusammengeschrumpft und zum Skelett ausgetrocknet, das bartlose Gesicht braungelb, und die Augen hohl.
Gekleidet war er nur in Lumpen, die ehemals ein buntes, indisches Kostüm gebildet haben mochten; auf dem Kopfe trug er einen türkischen Fes, die Füße waren nackt. Er sah aus, als müsse er jeden Augenblick zusammenbrechen und seinen letzten Seufzer tun.
Wilkens konnte nicht so leicht überrascht werden. Furcht war ihm unbekannt. Ruhig blieb er sitzen und schielte nur nach dem Revolver, ob der Kolben handbereit aus dem Schubfache des Schreibtisches hervorsah.
»Ja, Freund«, wandte er sich an die unheimliche Gestalt, die langsam näher gekommen und vor dem Tische stehen geblieben war, »bei mir ist das nicht Mode, ohne Erlaubnis in mein Zimmer zu kommen.«
»Ich muss dich sprechen«, erklang es dumpf in mangelhaftem Englisch.
»So, Ihr müsst? Lasst hören! Wer seid Ihr? Was wollt Ihr?«
»Ich bin Kiong Jang«, erklang es wieder im Grabeston.
»Kiong Jang? Den kenne ich nicht.«
»Kiong Jang, früher Londoner Detektiv, dein Gehilfe, dann der Begleiter Sir Carters.«
»Was!«, schrie jetzt aber Wilkens und sprang so hastig auf, dass sein Stuhl umschlug. »Was? Du bist der Chinese Kiong Jang?«
Der Mann nahm den Fes ab, kurzgeschorenes Haar kam zum Vorschein.
»Ich bin kein Chinese mehr, man hat mir den Zopf abgeschnitten«, sagte er, und die tiefliegenden Augen leuchteten plötzlich in unheimlichem Feuer; »aber Kiong Jang wird sich seinen Zopf und seinen Gott wiederholen.«
Wilkens rang lange vergeblich nach Fassung.
»Bist du wirklich Kiong Jang?«, fragte er dann endlich.
»Ich bin's.«
»Woher kommst du?«
»Aus Indien, wo ich siebzehn Jahre lang im Felsentempel der Göttin Kali als Sklave gefangen gehalten wurde. Mir gelang die Flucht, ich habe dabei furchtbar gelitten — Sir Carter ist noch dort.«
»Wer?«, schrie Wilkens.
»Sir Frank Carter, mein Herr.«
»Er lebt?«
»Er füttert noch jetzt die heiligen Schlangen und verrichtet die niedrigsten Arbeiten, die kein Priester tun darf.«
Wilkens stürzte auf den Chinesen zu und packte ihn an den Schultern.
»Sir Frank Carter lebt?«, schrie er nochmals. »Es ist so, und ich will den Weg zeigen, wie wir ihn befreien und rächen können.«
Der Chinese hob die Hand auf wie zum Schwur.
»Sir Frank Carter lebt«, fuhr er feierlich fort, »meine Hand soll verdorren, und ich will in den tiefsten Höllenpfuhl fahren, wenn ich nicht die Wahrheit spreche! Sir Carter lebt noch, und er hat nicht die geheime Order an die Verräter ausgeliefert, er hat nie die Aufforderung bekommen, sie gegen sein Kind auszutauschen, sondern man hat ihn nur in einen Hinterhalt gelockt und dort versucht, ihm die geheime Order mit Gewalt zu entreißen, er aber hat sich gewehrt, und als er überwältigt wurde, das Papier ins Feuer geworfen, wo es trotz aller Versuche, es zu retten, verbrannte. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen!«
Wilkens hörte nur mit halbem Ohre diese Worte, die ihm zum Teil völlig unverständlich waren. Nur das eine hatte er vernommen: Carter lebte! Und seine Gattin trauerte um ihn, nein, nicht mehr, sie stand im Begriffe, die Frau eines Anderen zu werden.
Was für ein Datum war heute? Heiliger Gott, heute fand ja die Trauung statt, vielleicht eben jetzt; vielleicht hieß die Unglückliche schon Missis Westerly.
Wilkens stürzte aus der Tür, kam nach einer Minute zum Ausgehen bereit wieder herein und riss den Chinesen mit sich fort, ohne ihm erst eine Erklärung zu geben, oder ohne selbst eine solche zu verlangen.
Sir Frank Carter lebte! Das genügte.
Fort, auf dem schnellsten Wege zur Kirche nach Wanstead! Vielleicht war es noch nicht zu spät.
Wir haben gesehen, dass Wilkens noch zur Zeit kam, Emily war Westerly noch nicht angetraut worden. Wilkens hatte eigentlich auch kein Recht, die Zeremonie zu unterbrechen; es kam nur auf Emily an, so musste die Trauung doch vollendet werden, denn ihr früherer Gatte war schon seit fast siebzehn Jahren spurlos verschollen. Sie durfte also jetzt nach dem Gesetze einen anderen freien.
Wilkens wollte die Vermählung auch nicht hindern, sondern nur erst Emily mit dem vertraut machen, was er eben erfahren hatte, dann mochte sie tun, was ihr beliebte.
Der liebe Leser wird sich erinnern, dass Carter und sein chinesischer Diener die Nacht im Hause Mr. Stanhopes, des englischen Gouverneurs der Provinz Berar, zubrachten, und dass am anderen Tage Carter in Begleitung Lord Cannings dem Radscha Nana Sahib einen Besuch abstatten wollte, um von ihm einen Geleitbrief zu erbitten.
Die Zimmer der beiden lagen nebeneinander im ersten Stock, die Fenster führten zum Garten hinaus.
Der Chinese ging bald schlafen; Carter aber wanderte noch lange, in trübe Gedanken versunken, in seinem Zimmer auf und nieder. Noch hatte er nicht den geringsten Anhaltspunkt gefunden, der zur Entdeckung seines Kindes oder dessen Räuber geführt hätte, die Schlauheit Kiong Jangs war bis jetzt an der List und Sorgfalt gescheitert, mit welcher jede Spur der Tat verwischt worden war.
Auf dem Tische brannte die Lampe, die Fenster waren geöffnet, denn es war eine äußerst schwüle Nacht, die für morgen Regen versprach.
Endlich setzte sich Carter an den Tisch, las noch einmal den Brief seiner unglücklichen, wahnsinnigen Gattin und überlegte, wie er ihn am besten beantworten könne, ohne sie in ihrem Wahnsinn stutzig zu machen. Es war dies der erste Brief, den er ihr zukommen lassen wollte, und deshalb war eine lange Überlegung notwendig.
Schließlich hatte er die rechte Art gefunden, er ergriff die Feder und begann den Brief, unsägliche Bitterkeit im Herzen, denn er musste schreiben, als wäre er der glücklichste Mensch, als sehne er nur die Zeit herbei, da er wieder zu seiner Frau und zu seiner kleinen Eugenie heimkehren könne, während er doch hier trostlos das Land durchstreifen musste, nicht nur sein geraubtes Kind zu suchen sondern auch Geschäfte zu erledigen, durch die ihm gewisse Fesseln auferlegt worden waren.
Noch hatte er nicht die Einleitung mit herzlichen und sehnsüchtigen Worten beendet, als er erschrocken auffuhr.
Ein harter Gegenstand war plötzlich auf die Diele aufgeschlagen; dort am Fenster sah Carter ein Stück Papier liegen, in welches ein Stein gewickelt zu sein schien.
Ehe er das Papier aufhob, sah er zum Fenster hinaus — nichts zu erblicken, alles totenstill.
Was hatte das zu bedeuten? Carter hob das Papier auf — er hatte richtig geahnt, ein Stein war hineingewickelt, und auf der Innenseite des Papiers standen indische Buchstaben.
Im Scheine der Lampe las Carter mit wachsender Erregung: Wenn du wissen willst, wer dir dein Kind hat rauben lassen und wer es jetzt besitzt, so erfahre es: Es ist Isabel, deine Schwägerin, das Weib eines Hindus. Und wenn du wissen willst, wo du Isabel finden wirst, so folge dem Kuli, der deiner am Gartentor wartet. Er bringt dich zu Isabels unversöhnlicher Feindin.
Jeder anderen Aufforderung wäre Carter mit Misstrauen begegnet, dieser nicht. Dass Isabel bei dem Kindesraub die Hand im Spiele hatte, daran zweifelte er nicht, und besaß sie eine Feindin, so konnte er auch von dieser Auskunft erwarten, denn ein Weib vergisst über dem Hass und der Sucht nach Rache alles, alles andere, dann gelten ihm selbst Vaterland, Mann und Kind nichts mehr.
Carter war sofort entschlossen, mit dem Kuli zu gehen, war er doch selbst ein heißblütiger Mann.
Von seiner auf der Brust verborgenen geheimen Order wusste niemand als er, das Kriegsministerium in London und die Gouverneure und Sekretäre, die schon davon Kenntnis genommen hatten — auch Kiong Jang wusste nichts von dieser geheimen Sendung — und so kam Carter also gar nicht erst auf den Gedanken, dass man es vielleicht nur auf sein Geheimnis abgesehen hätte.
Mit klopfendem Herzen öffnete er den Koffer und entnahm ihm eine Jagdkleidung, die er anziehen wollte, denn in solchem Kostüm verlassen die Engländer in Indien oftmals während der Nacht ihr Haus, um sich auf den Anstand zu begeben. In Tropen- oder Straßenkleidung erregt ein nächtlicher Spaziergänger Verdacht.
Die Weste, in deren Innentasche sich die Order befand, legte Carter nicht ab. Ehe sie in die Hände von etwaigen Verrätern fiel, wollte er lieber sein Leben lassen.
Doch es war ja kein Verrat zu befürchten.
Da öffnete sich die Seitentür. Kiong Jang, vollständig angezogen, stand im Rahmen. Der Chinese schlief leise, er hatte das Fallen des Steines vernommen.
»Wohin willst du, Herr?«
Carter zögerte nicht, ihm alles zu erzählen, denn Kiong Jang war treu, klug und wollte nur sein Bestes. Er zeigte ihm den Zettel.
Der Chinese las ihn und wiegte nachdenklich den Kopf.
»Du gehst?«
»Ja.«
»Gut, ich begleite dich!«
»Man dürfte Misstrauen hegen, wenn wir zu zweien gehen.«
»Man wird mich nicht sehen.«
»Ah, du folgst mir heimlich?«
»Ja, ich bleibe dir auf den Fersen, warne dich bei einer Gefahr und stehe dir bei.«
Carter war es zufrieden; auf diesen Burschen, obgleich erst halbwüchsig, konnte er sich verlassen.
Kiong Jang wollte erst eine Minute später das Haus verlassen als sein Herr, womöglich gerade dann, wenn Carter mit dem Führer zusammenträfe, weil da jedenfalls niemand auf die Haustür achtete.
So geschah es denn auch.
Der Chinese schlüpfte hinaus; er ließ die Lampe brennen, um keinen Argwohn zu erregen, dass noch ein Mensch außer Carter im Zimmer gewesen.
Dieser schritt durch den Garten auf der Vorderseite, klinkte das unverschlossene Gittertor auf und sah sich um, konnte aber auf der von wenigen Landhäusern besetzten Straße niemanden sehen.
Doch da ertönte von einer Stelle, wo eine Sykomore ihre Zweige über den Weg breitete, ein zischender Laut; furchtlos ging der wohlbewaffnete Carter dorthin und stand einem halbnackten Kuli gegenüber.
»Bist du allein, Sahib?«, flüsterte der Inder ängstlich.
»Ich bin's. Wer schickt dich?«
»Meine Herrin.«
»Wer ist das?«
»Das darf ich nicht verraten. Du wirst es selbst erfahren. Willst du mir folgen?«
»Ich traue dir nicht.«
»Trauen? O, Sahib, du kannst mir trauen. Sieh hier diesen Dolch, nimm ihn, hebe ihn auf, ich gehe dicht vor dir her, sodass mich deine Hand immer erreichen kann, und merkst du nur ein kleines, verdächtiges Zeichen, so sollst du mir diesen Dolch in den Rücken stoßen.«
Er gab ihm einen geschliffenen Dolch, dessen blauer Stahl trotz der finsteren Nacht blitzte. Diese Handlungsweise war allerdings geeignet, jeden Argwohn zu zerstören.
Carter wollte den Dolch einstecken, aber der Kuli hinderte ihn daran.
»Nein, Sahib, das darfst du nicht«, sagte er wieder mit ängstlicher Stimme. »Meine Herrin will haben, dass du mich auf der Stelle niederstößt, wenn du durch mein Verhalten argwöhnisch wirst. Ich bitte dich, setze mir die Dolchspitze auf den Rücken!«
Carter wusste, dass die indischen Großen von ihren eingeborenen Dienern den strengsten Gehorsam verlangen, und wenn ihre Befehle, selbst wenn diese nur im Übermut oder unbedachtsam gegeben sind, nicht buchstäblich befolgt werden, die unerbittlichste Strenge walten lassen.
Er hob wenigstens den Dolch.
»Gut, ich traue dir jetzt! Führe mich!«
Der Kuli ging, Carter folgte ihm auf den Fersen, den Dolch leicht erhoben. Er befand sich in einer seligen Stimmung, denn er zweifelte nicht daran, dass das, was auf dem Papier gestanden hatte, Wahrheit sei. Heute Nacht also sollte er erfahren, wo sein Kind war oder doch wenigstens den Aufenthalt Isabels, dieses schändlichen Weibes.
Dass Kiong Jang ihn im Auge behielt, dessen war Charter sicher, und das diente erst recht zur Erhöhung seiner glücklichen Stimmung.
Es war ein langer Weg, durch Haine und Wälder, über Berg und Tal, und oft musste der Führer große Umwege machen, denn Dschungel durften bei Nacht, der Raubtiere wegen, gar nicht passiert werden. Der Weg war an sich schon gefährlich. In der einen Hand hielt Carter das Messer, die andere lag in der Rocktasche am Kolben des Revolvers.
Als nach einer Stunde — sie befanden sich eben in einem schier undurchdringlichen Walde auf schmalem Pfade — der Führer noch immer nicht hielt, fragte Carter:
»Ist es noch weit? Ich sehe auch noch kein Haus, kein Anzeichen von einer bewohnbaren...«
Das Wort erstickte ihm in der Kehle, er fühlte eine Schlinge sich um seinen Hals legen, sie musste ihm von hinten über den Kopf geworfen worden sein. Verrat! konnte er nur denken, er zückte das Messer nach dem Inder, da zog sich die Schlinge zu, und gleichzeitig ward Carter mit einem so furchtbaren Ruck hintenüber zu Boden gerissen, dass ihn augenblicklich die Besinnung verließ — einem weniger stark gebauten Mann wäre das Genick gebrochen worden.
Was mit ihm weiter geschah, wie lange er bewusstlos gelegen, konnte er später Kiong Jang nicht sagen, ebenso wenig wie dieser selbst, obgleich er es anfangs zu wissen glaubte. Als er wieder erwachte, fühlte er sich auf eine fürchterliche Weise gefesselt. Entweder hatte man ihn mit Stricken förmlich umsponnen oder ihn ganz in ein Netz eingehüllt. Kein Glied konnte er bewegen, nicht den Kopf, nicht einmal einen Finger — er lag wie in einer Gipsverpackung.
Es war nicht dunkel vor seinen Augen, aber auch nicht hell, es herrschte Zwielicht, und als er nach und nach völlig zum Bewusstsein gekommen war und sich an alles erinnerte, wusste er ungefähr, in welcher Situation er sich befand.
Gefesselt war er, und zwar lag er in einer Art von Sack, durch welchen Licht schimmerte. Er lag auf dem Rücken und jedenfalls auf einem Tier, entweder auf einem Elefanten oder Kamel, denn er wurde stark geschaukelt und gerüttelt.
Da es hell war, musste er viele Stunden bewusstlos gewesen sein, vielleicht auch schon einige Tage, denn er fühlte einen entsetzlichen Hunger.
Wo befand er sich nur? Was hatte man mit ihm vor? Hatte man ihm die geheime Order geraubt? Er konnte nichts fühlen, nichts hören und nichts sehen, alles hatte man ihm unmöglich gemacht, kaum konnte er genügend atmen, so fest lag die raue Sackleinwand auf seinem Mund — eine entsetzliche Lage.
Viele, viele Stunden lang wurde er in dieser Weise transportiert, und wir wollen die verzweifelten Gedanken des unglücklichen Mannes nicht schildern.
Es mochte Abend sein — vor Carters Augen wurde es dunkler — als das Tier, auf dem er lag, stand; er hörte Stimmen undeutlich murmeln und fühlte, wie man an dem seinen Körper bedeckenden Überzug nestelte.
Zum ersten Male versuchte er, einen Laut von sich zu geben, er brachte es nur zu einem dumpfen Stöhnen, aber da erhielt er schon einen Schlag ins Gesicht, dass im sofort das Blut aus der Nase zu rieseln begann.
Carter unterließ es zum zweiten Male zu rufen, gierig saugten die brennenden Lippen das eigene Blut auf.
Dann wurde er von dem Lasttier gehoben und auf die Erde gelegt. Er hörte viele Stimmen summen und nahm an, dass er bei einem Trupp wandernder Inder sei. Aber was in aller Welt hatte man nur mit ihm vor? Gutes sicherlich nicht. Warum sonst der heimliche, grausame Transport?
Nicht lange konnte er so gelegen haben, als er wieder auf das Tier geschnallt wurde. Es ging weiter, und zwar sehr schnell, denn er wurde stark gerüttelt, wie etwa auf einem schnell trabenden Kamel. Carter nahm aus der vor den Augen herrschenden Dunkelheit an, dass es Nacht oder doch später Abend war. Es fand also ein Nachtmarsch statt.
Es dünkte ihn eine Ewigkeit, ehe dieser nächtliche Ritt ein Ende nahm; auf sechs Stunden schätzte er ihn mindestens, und in dieser Zeit kann ein trabendes Reittier ein gutes Stück Weg zurücklegen.
Wieder hielt das Tier, Carter wurde abermals abgehoben und blieb vorläufig am Boden liegen, bis wieder ein Stimmengemurmel, diesmal viel lauter, sich ihm näherte. Doch verstehen konnte er nichts. Dann fühlte er, wie ein Messer um ihn herum sägte und schnitt; Stricke und Leinwand gerissen, sie fielen zur Seite, und Carter lag frei da, zum ersten Male wieder den Himmel erblickend, der mit funkelnden Sternen besät war. Sonst konnte er in seiner Rückenlage — einer Bewegung war er noch gar nicht fähig — bemerken, dass er in einem ganz engen Felsenkessel lag, dessen Wände wild zerklüftet waren. Einige Inder umstanden ihn, von den Transporttieren konnte er nichts mehr sehen.
Jetzt beugte sich ein Inder mit wilden, von Leidenschaften entstellten Gesichtszügen über ihn und zückte einen langen Dolch auf seine Brust.
»Verfluchter Faringi«, zischte der Mann zwischen den Zähnen hervor,
»wage dich uns zu widersetzen, und dieser Dolch trifft dich, an dessen Gift du unter den höllischsten Qualen stirbst!«
Ach, Carter dachte an keinen Widerstand, die Glieder waren ihm wie abgestorben. Obgleich völlig frei, konnte er sich doch nicht im Geringsten bewegen.
Ein Tuch wurde ihm vor die Augen gebunden, dann wurde er emporgehoben, anscheinend nur wenige Meter getragen und wieder hingelegt. Er hörte noch ein seltsames, ihm unerklärliches Geräusch, etwa, als wenn große Steine einen Berghang hinabrollen, dann trat völlige Stille um ihn her ein.
Plötzlich fühlte er, wie eine Hand ihn betastete; das Tuch wurde ihm abgenommen, und obgleich völlige Finsternis herrschte, erkannten seine an die Dunkelheit schon gewöhnten Augen, wie sich eine Gestalt über ihn beugte.
»Sir Carter!«, flüsterte da eine Stimme.
Carter konnte kaum einen Jubelruf unterdrücken, er hatte wenigstens einen Freund hier.
»Kiong Jang, bist du's?«
»Ich bin's. Man hat mich ebenfalls gefangen. Trotz aller meiner Gewandtheit konnte ich diesen Scheusalen nicht entgehen!«
»Jener Inder war also doch ein Verräter!«
»O nein, Herr!«, entgegnete der Chinese mit trauriger Stimme. »Ich habe gesehen, dass auch über ihn eine Schlinge fiel, wie später über mich; auch er wurde zu Boden gerissen, aber er brach dabei das Genick. Herr, wir sind in die Hände der Thugs gefallen!«
Carter schauerte zusammen. Thugs, ein entsetzliches Wort! Nach der brahmanischen Religion ist die Welt mit Göttern, Geistern, Kobolden, Gnomen, Hexen und anderen guten und bösen Wesen bevölkert. Aus dieser Religion ist die buddhistische hervorgegangen, viel reiner und edler als jene; sie hat alle Götter und Geister abgeschafft, aber die Buddhisten glauben trotzdem noch an alle diese Unholde und pflegen deren Kultus.
Ganz dasselbe ist es ja bei uns Deutschen. Wir sind Christen, haben die jüdische Religion akzeptiert, aber wir können die altgermanische Götterlehre doch nicht vergessen. Unzählige Gebräuche, Handlungen und Ausdrücke stammen noch von dieser her, der Glaube an Hexen, Feen, Nixen und so weiter ist nichts anderes, wir benennen die Wochentage mit Namen germanischer Götter, wir sprechen von der wilden Jagd, wir hören als Kinder von der Frau Holle erzählen, welche die Betten ausschüttelt, wonach es dann schneit — alles nichts weiter als Erinnerungen an die heidnischen Vorväter.
Noch viel mehr an den heidnischen Kult erinnern die speziellen Gebräuche in gewissen Gegenden Deutschlands: die Osterfeuer, die Feuer zur Sonnenwende, das Radtreiben und so weiter.
Ähnlich verhält es sich auch in Indien; der Buddhismus konnte dem Unwesen der Thugs nicht steuern. Die Göttin Kali hasst, wie unser Teufel, alles Bestehende und Lebendige, besonders alles Schöne, sie ist die Göttin der Vernichtung. Ihre Diener sind die Agnis, die Feuergeister, und die Menschen, welche sich ihrem Dienste weihen, heißen Thugs. Diese machen es sich zur Lebensaufgabe, so viele Menschen wie möglich meuchlings zu ermorden, womöglich junge, starke, schöne. Die Vereinigung der Thugs erstreckt sich über ganz Asien; selbst bis nach Armenien haben sie sich einmal fühlbar gemacht, und schließlich sind die Vadoux, eine unter den Negern in Texas und Mexiko verbreitete Sekte, welche möglichst viele Menschen heimlich mit Gift morden, nichts anderes als Thugs, denn auch sie beten die Vernichtung an, nur unter anderem Namen, und auch ihr heiliges Symbol ist die Schlange.
Die Thugs bestehen, soviel man bisher gehört hat, aus vier Klassen, deren niedrigste die der Phansigars ist, das heißt, die der Schlingenwerfer, und in die Hände solcher waren Carter und Kiong Jang gefallen.
Es dauerte lange, ehe Carter das lähmende Entsetzen überwunden hatte, das ihn bei dieser Mitteilung überfiel, nicht, weil er sich vor dem sicheren Tode fürchtete, sondern weil er sich schon vor dem ersehnten Ziele glaubte und nun alles wieder gescheitert sah.
»Was ist wohl unser Los?«, fragte er endlich.
»Herr, noch niemand hat etwas erzählen können, der den Thugs zum Opfer gefallen ist, und was sich die übrigen zuraunen, das weißt du selbst.«
»Ich kann es nicht glauben, dass sie ihre Gefangenen lebendig den Schlangen zum Fraße vorwerfen.«
»Man sagt so. Wir werden es bald selbst erfahren, ob es wahr ist oder nicht.«
»Die Thugs sollen in Indien einen eigenen, in den Felsen gehauenen Tempel besitzen, wo sie ihre Orgien feiern, die Kali verehren und ihre Opfer martern.«
»Ich glaube fast, wir sind in diesem Heiligtum.«
»Das ist ja nur ein Loch.«
»Wahrscheinlich ein Verlies für die Gefangenen, wir werden nicht immer hier bleiben.
Doch ich habe ganz vergessen, dich zu fragen, ob du Hunger hast.«
»Hast du etwas zu essen?«
Kiong Jang kroch davon und brachte eine Schale mit Wasser und einige Brotfladen.
»Sieh«, sagte er dumpf, »dies ist ein Zeichen, dass wir nicht verkommen sollen. Man will uns nicht verhungern lassen, denn man braucht uns noch.«
Während Carter mit Heißhunger das Brot verschlang, erzählte Kiong Jang seine Geschichte.
Der Chinese war ihm immer nachgeschlichen. Im Walde, an der Stelle des Überfalles, sah er plötzlich, wie ein Mann geräuschlos hinter Carter sprang und dieser im nämlichen Augenblicke auch schon wie sein Führer zu Boden stürzte.
Kiong Jang wusste sofort, dass er es mit Thugs zu tun hatte; hier konnte nur Flucht helfen, da aber sah er sich schon umzingelt, auch ihm flog eine Schlinge um den Hals, und auch er wurde zu Boden gerissen.
Doch er war nicht bewusstlos geworden, und so sah er noch, wie Carter gleich einem Ballen in Packleinwand geschnürt wurde. Dasselbe Los erwartete ihn. Dann wurden sie erst getragen, später auf die Rücken von Kamelen gehoben.
»Den getöteten Inder haben sie wahrscheinlich an Ort und Stelle verscharrt, denn die Phansigars und die Buthotes, die Würger mit dem Tuche, haben stets einen Lugha, einen Totengräber, bei sich«, schloss der Chinese seine Erzählung. »Verraten hat er uns also nicht.
Mehr weiß ich nicht zu sagen.«
Carters Hunger war gestillt; nach dieser Befriedigung kam er aber nur zu einer um so schlimmeren Erkenntnis seiner Lage.
Das ›spurlose Verschwinden‹ war jedenfalls auch ihr Los.
Lange Zeit kauerten beide nebeneinander auf dem feuchten Boden, ohne ein Wort zu sprechen. Um sie herum war stockfinstere Nacht, kein Laut schlug an ihr Ohr.
Der Chinese versuchte immer noch, seine gelähmten Glieder gelenkig zu machen. Carter war dessen noch nicht fähig; steif, wie ein Stück Holz lag er am Boden, nicht einmal die Hand konnte er rühren, und er musste es doch durchaus.
Endlich, nach langer Anstrengung, gelang es ihm; er legte die Hand auf die Brust, und siehe da, nichts war ihm geraubt, außer allen Waffen; seine Brieftasche und auch die geheime Order waren noch vorhanden.
Ohne Zögern setzte er nun den Chinesen von seinem diplomatischen Auftrage in Kenntnis.
Nach längerer Überlegung sagte Kiong Jang:
»Hättest du mir das eher gesagt, dann wäre ich auf die Vermutung gekommen, jener Zettel sollte dich dorthin locken, wo man dir die Order abnehmen konnte.«
»Niemand wusste etwas davon«, entgegnete Carter.
»Das glaubst du, ich aber vermute das Gegenteil. Jedenfalls ist der Plan jener Schurken zuschanden geworden, denn wir sind unter die Thugs geraten. Sie wollen nur unser Leben; um alles andere kümmern sie sich nicht.«
Das Gespräch stockte, ein dumpfes Schweigen trat ein.
Wieder mochten die beiden Unglücklichen viele Stunden so dagesessen haben, jeder nur mit seinen Gedanken beschäftigt, als im Hintergrunde der Höhle plötzlich Lichter auftauchten, die sich ihnen näherten.
Dann erkannten sie einige nackte Kulis mit brennenden Fackeln in den Händen, und zwischen ihnen einen großen, dicken Inder in reicher Kleidung. In dem mit Edelsteinen verzierten Gürtel trug er Dolche und Pistolen; die übrigen waren ohne Waffen.
»Verfluchte Faringis, eure Stunde ist gekommen!«, herrschte der Große die beiden am Boden Liegenden mit rauer Stimme an. »Die heiligen Schlangen sind hungrig. Auf, ihr Hunde, sie warten auf euch!«
Die Unglücklichen wurden mit Fußtritten gezwungen, sich zu erheben, und da sie sich kaum auf den Füßen halten konnten, wurden sie von rohen Fäusten gepackt und fortgeschleppt.
Die Höhle, in der sie sich befunden hatten, war nur klein gewesen, das Wasser rann von den Wänden herab. Durch eine eiserne Tür gelangten sie in eine andere, geräumigere, deren Wände glatt gemeißelt und wie von weißem Marmor erschienen; aber überall waren Löcher angebracht, und mit Entsetzen sahen sie, wie aus denselben Schlangenköpfe mit schillernden Augen und spielenden Zungen hervorlugten, oder wie sich die schuppigen Leiber auch halb aus den Verstecken herauswanden, bis nur noch die Schwänze darin waren.
In dieser Höhle war es hell, das Licht musste von hoch oben hereinfallen, denn man konnte weder die Decke noch die Lichtquelle sehen. Doch die beiden hatten jetzt keine Aufmerksamkeit für ihre Umgebung, sie bemerkten auch nicht, wie sich um den Hals des dicken Inders eine Schlange, eine giftige Kobra, wand und ihm wie liebkosend die Wange leckte, sie sahen auch nicht die Holzfeuer, welche überall in Wandnischen brannten — in dumpfer Verzweiflung ließen sie sich fortschleppen.
So kamen sie noch durch mehrere solcher höhlenartigen Gewölbe, alle vom Tageslicht erhellt, bis sie eins erreichten, in welchem zwei mächtige Königstiger lagen und sie knurrend empfingen.
Hier blieben sie vielleicht eine halbe Stunde, ohne menschliche Gesellschaft, allein mit den Tigern, welche ihre funkelnden Augen nicht von ihnen wandten, sich aber sonst ruhig verhielten.
Da öffnete sich wieder die eiserne Tür, und die Gefangenen wurden in eine Grotte geführt, welche nur von Fackeln erleuchtet war. In wunderbarem Farbenspiel brach sich das zitternde Licht an den Wänden, es war, als beständen diese aus Diamanten, ebenso wie die Säulen, auf denen die Decke des Gewölbes ruhte.
Ringsherum in Nischen standen große, scheußliche Figuren, alle verschieden, bald Menschen mit zwei, drei und noch mehr Köpfen darstellend, bald zusammengesetzt aus Menschen- und Tierleibern.
Dies waren die Götter, welche der Kali gehorchten, und deren Bildnis selbst erhob sich in riesiger Dimension in der Mitte des Raumes. Sie zeigte ein schönes Gesicht, ganz schwarz, wahrscheinlich aus Erz, die Augen glühten wie feurige Kohlen, um den Kopf wanden sich statt der Haare eherne Schlangen, statt der Hände ruhten auf dem Postament Tigerklauen. Den unteren Teil konnte man nicht sehen, denn er verschwand in einer Vertiefung, und aus dieser ertönte ein gräuliches Zischen.
Jetzt waren die beiden Gefangenen nicht mehr im Zweifel, was für eines Todes sie sterben sollten. In jene Grube wurden sie gestürzt und dienten dem giftigen Gewürm darin zum Fraße. Es schien nicht einmal eine heilige Zeremonie stattzufinden, die Schlangen wurden einfach mit Menschenfleisch gefüttert.
Diese mussten das ihrer wartende Mahl ahnen, ihr Zischen wurde immer stärker.
Jetzt erschien der dicke Inder wieder, er trug keine Waffen, aber dafür wanden sich ihm um Hals und Arme mehrere der giftigen Scheusale.
»Hört ihr, wie sie zischen?«, sagte er höhnisch zu den Gefangenen. »Die Schützlinge der heiligen Kali wittern euch. Hinunter mit euch, dass sie sich am Fleische verfluchter Faringis ergötzen, denn zu etwas Besserem seid ihr doch nicht wert.«
Beide wurden von hinten ergriffen und der Tiefe zugedrängt. Wenn sie auch an Widerstand gedacht hätten, sie konnten sich nicht wehren, weil sie durch das lange Stilliegen in festgebundenem Zustande zu sehr geschwächt worden waren.
Da erscholl ein Ruf; der dicke Inder stieß einen anderen aus, und die beiden Gefangenen wurden wieder losgelassen. Schon standen sie am Abgrunde und sahen, wie sich unten die schillernden Leiber durcheinander wanden, zu Klumpen ballten, und wie sich Hunderte von züngelnden Köpfen ihnen entgegenstreckten.
Durch eine Tür trat ein Mann in den Saal, bei dessen Anblick Carter sowohl wie Kiong Jang auffuhren, als wären sie jetzt schon von Nattern gebissen worden — diese kleine schmächtige Gestalt war niemand anders als Timur Dhar.
»Er ist es«, flüsterte Kiong Jang; »so sah er schon vor fünf Jahren aus, als ich ihm entlief.«
»Er ist es«, hauchte auch Carter, »er hat mein Kind.«
Er musste sich auf den Chinesen stützen, sonst wäre er vor Aufregung zusammengebrochen.
Der Dicke trat dem Gaukler entgegen und machte eben kein freundliches Gesicht. Es wurde ganz offen gesprochen, ein Zeichen, dass man einen Verrat hier nicht fürchtete.
»Timur Dhar«, sagte der Dicke mit einer Verbeugung, »betrittst auch du wieder einmal den Tempel der heiligen Kali? Schon lange ist es her, dass du dich nicht mehr an ihrem Anblick erfreut hast.«
»Ich habe jetzt andere Sachen zu tun, als betend vor ihrem Bildnis zu liegen und um dasselbe zu tanzen«, entgegnete der Inder mit seiner Fistelstimme. »Indien braucht mich, jede meiner Minuten ist gezählt.«
»Erst die Götter, dann die Menschen!«
»Meine Absichten haben nur den Zweck, dafür zu sorgen, dass Kali wieder zu früherem Ansehen kommt.«
Der Dicke schien hier der Erste zu sein, sonst jedoch musste Timur Dhar wohl der Mächtigere sein, denn er bezeugte keine Ehrfurcht vor dem Priester, wohl aber dieser gegen ihn.
»So sprich, Timur Dhar«, sagte der Priester der Kali, »was führt dich hierher, wenn du zur Anbetung keine Zeit hast?«
»Jene Gefangenen.«
»Sie sind den Schlangen verfallen.«
»Ich brauche sie!«
»Zu spät! Ich habe sie der Kali versprochen.«
»Sie sollen ihr nicht entgehen. Jener dort«, Timur deutete auf Carter, »trägt ein Geheimnis bei sich, welches ich besitzen muss; ich sage, ich muss es haben. Es gelang mir, ihn von seinem Hause fortzulocken, in seinem Zimmer war das Gesuchte nicht zu finden, also muss er es bei sich tragen.
Gib mir es, dann füttere meinetwegen mit ihm die Schlangen.«
Der Priester lachte spöttisch.
»Du weißt so gut wie ich, dass die Opfer den Schlangen so hingegeben werden müssen, wie wir sie fangen.«
»Sie sind oft vorher geplündert worden.«
»Doch diese Entheiligten wurden stets den Tigern vorgeworfen«, entgegnete der Priester finster.
»Wahrscheinlich nicht alle. Genug davon! Willst du mir jene beiden Männer dort überlassen?«
»Nein, ich darf nicht! Die Schlangen sind hungrig.«
»Gib ihnen wie sonst Fleisch von Tieren.«
»Wird die Göttin betrogen, so zürnt sie mir und dir.«
»Unter welchen Bedingungen überlässt du sie mir?«
»Gegen Ersatz.«
»Gut denn«, sagte Timur Dhar langsam, »ich will dir einen Ersatz bieten.
Diese Männer sind nur gut, den Hunger der heiligen Schlangen zu stillen, du aber möchtest ein Wesen haben, welches würdig ist, der Göttin. selbst geopfert zu werden. Lange Jahre sind schon verstrichen, und sie hat keins bekommen, doch nun endlich —«
»O«, unterbrach ihn der Priester freudig, »wäre es dir gelungen, ein solches zu beschaffen?«
»Ja.«
»Ein Mädchen?«
»Eine Jungfrau.«
»Eine Faringi?«
»Eine Faringi, wie du sie noch nie geschaut hast. So rein wie das Wasser, welches dem Berge entspringt, so weiß wie der Schnee, der die Gipfel der Berge krönt, und so schön wie die Sonne, wenn sie am Morgen auftaucht.«
»Zeig sie mir!«
Schon war eine verschleierte Gestalt von einem Inder hereingeführt worden; Timur Dhar drehte sich um, zog den Schleier hinweg, und den erstaunten Blicken der Inder zeigte sich eine entzückende Erscheinung.
Es war ein Mädchen, höchstens sechzehn Jahre alt, ihre Hautfarbe weiß wie Schnee, die Wangen nur von einer leisen Röte angehaucht, das Antlitz von einer madonnenhaften Schönheit. Goldenes Haar wallte wie ein Schleier fast bis zur Erde herab und lag schimmernd auf dem schwarzen Kleid, das ihre zarte Gestalt umschloss.
Die großen, blauen Augen des Mädchens sahen sich ängstlich im Kreise um und blieben halb bittend, halb fragend auf Timur Dhar haften.
Der Priester war entzückt.
»Überlass sie mir!«, rief er. wiederholt. »Wie wird die Kali dir und uns gnädig sein, wenn dieses Mädchen auf ihrem Altar geopfert wirb.«
»Sie gehört dir«, entgegnete Timur Dhar, »wenn du diese beiden mir überlässt.«
»Nimm sie hin, nimm sie hin!«
Die Inder umringten in tollem Jubel das Mädchen, welches vor Entsetzen zur Bildsäule erstarrte. Es schien, seine Lage noch gar nicht zu begreifen.
Timur Dhar aber schritt auf die Gefangenen zu.
Carter hatte die ganze Unterredung nicht verstanden, weil sie im Idiom der Gaukler geführt worden war, wohl aber Kiong Jang. Dieser wusste jetzt alles.
Timur Dhar war es gewesen, der Carter von seinem Hause weggelockt hatte, und zwar wollte er sich der geheimen Order bemächtigen, die dieser bei sich trug. Die Thugs aber hatten seinen Plan durchkreuzt, ohne sein Wissen und gegen seinen Willen hatten sie die einsamen Wanderer gefangen.
»Timur Dhar weiß von deinem Geheimnis, er will es haben«, flüsterte der Chinese seinem Gefährten schnell zu.
Da ging Carter das Verständnis auf.
Schnell wie der Blitz fuhr seine Hand in die Brusttasche, riss das Pergament heraus und warf dieses in das ihm zunächst stehende Becken, in dem ein großes Holzfeuer brannte.
Mit einem furchtbaren Schrei stürzte Timur Dhar vorwärts, die Hand ausgestreckt, um den Flammen ihr Opfer zu entreißen, aber gleichzeitig sprang ihm Carter entgegen, sie prallten zusammen und wieder auseinander, und dann standen sich beide gegenüber.
Carter wusste, was er getan hatte; er erwartete das Schlimmste, aber dennoch überkam ihn plötzlich ein wunderbar seliges Gefühl, jenes Gefühl, das nur der Held kennt, wenn er aus vollem Herzen eine gute Tat getan hat, gleichgültig, ob diese geräuschvoll und glänzend oder still, im Ertragen von Leiden, geschehen ist, gleichgültig, ob sie bewundert oder nie bekannt wird.
Mitten zwischen den menschlichen Unholden und Schlangen, im Felsentempel der Göttin der Vernichtung, wo ihm der Tod in tausenderlei furchtbarsten Gestalten drohte, fühlte sich Carter plötzlich als ein solcher Held; eine unnennbare Freude erfüllte sein Herz.
»Zu spät!«, sagte er ruhig, die Arme über der Brust verschränkt. »Zu spät, Timur Dhar! Was auf jenem Pergament gestanden hat, wirst du nie erfahren. Wenn du aber wirklich Fürst aller Erdengeister bist, so kannst du ihnen ja befehlen, es so wiederherzustellen, dass du es lesen kannst. Ich glaube nicht an deine übernatürliche Kraft. Wisse, schurkischer Gaukler, dass ich ein Engländer bin, der lieber den hundertfältigen Tod erträgt, als dass er ein ihm anvertrautes Geheimnis verrät. Martere mich, quäle mich, wie du willst, lass mich von Schlangen auffressen, lass mich bei lebendigem Leibe verfaulen — nie wirst du von mir erfahren, was das Pergament enthielt!«
Timur Dhar schien über jede Leidenschaft erhaben. Kein Zorn, kein Hass, nicht die geringste Aufregung war in seinem runzligen Gesicht zu lesen. Er stand, die Arme ebenfalls über der Brust verschränkt, dem Engländer regungslos gegenüber und hatte seine kleinen Augen durchbohrend auf ihn geheftet.
Lange, minutenlang stand er so da, ohne ein Wort zu sprechen. Dann rief ein Wink den Priester zu ihm.
»Diese beiden gehören mir?«, fragte er.
»Ja, für das Mädchen.«
»Ich gebe sie dir wieder.«
»So sollen sie von den Schlangen doch noch gefressen werden, und Kali wird dir danken.«
»Nein, sie sollen leben!«
»Leben?«, fragte der Priester erstaunt.
»Ja, sie sollen leben, bis sie von selbst sterben. Du beklagtest dich einst, weil du nicht mehr so viel Faringis bekämst, dass du nicht alle den Schlangen vorzuwerfen brauchtest, sondern einige als Gefangene behalten könntest, welche die Arbeiten verrichten, denen sich deine Diener nur ungern hingeben. Ich überlasse dir diese beiden unter der Bedingung, dass du sie als Gefangene behältst.«
»Wie du befiehlst. Sie werden leben bleiben!«
»Und du, wandte sich Timur Dhar wieder an Carter, »höre, was ich dir zu sagen habe: Du bleibst hier, als Tempelgefangener der Göttin Kali. Die Arbeiten, vor denen sich jeder Inder ekelt, sollst du verrichten, dein ganzes Leben lang. Ich lasse dich nicht martern, aber ich lege dir eine Qual ins Herz, welche dasselbe mehr zerfleischen soll, als Schlangen dies tun können. Höre: Du sollst in deinem Vaterlande als Hochverräter gelten, so lange die Welt steht, jeder Engländer soll bei Nennung deines Namens ausspucken, denn alle glauben, du hast dein Geheimnis verraten. Ich habe die Mittel dazu, verlass dich darauf. Du selbst sollst erfahren, dass es so ist.
Wenn deine Gattin vom Wahnsinn geheilt ist, dann soll sie an dich als an einen Hochverräter nur mit Abscheu denken, sie mag deinen Namen nicht mehr tragen, und deswegen heiratet sie, wenn du lange genug als verschollen gegolten hast, einen anderen, und der, den sie freit ist der, welcher uns von deinem Geheimnis in Kenntnis gesetzt hat. Der ist der Hochverräter, du aber sollst für immer als solcher gelten. Höre ferner: Ich habe dir versprochen, du sollst deine Tochter wiedersehen, wenn die Zeit erfüllt ist. Ich habe sie auf Veranlassung deiner Schwägerin Isabel, die dich und Emily hasst, geraubt, und sie ist in meinen Händen. Ja, Sir Frank Carter, du sollst Eugenie wiedersehen, und dann sollst du sie auch erkennen, du wirst sie erst umarmen wollen, dann um Gnade bitten, du wirst ihr sagen, dass du ihr Vater bist, sie aber wird dir ins Gesicht spucken, dich verhöhnen und von ihren Dienern fordern, dass man dich wegen deiner wahnsinnigen Vermessenheit züchtigen soll. Wie Isabels Flüche in Erfüllung gegangen sind, so sollen es auch meine Prophezeiungen, und ich selbst werde dafür sorgen, dass du dies erkennst. Ja, Sir Frank Carter, zum Hochverräter gebrandmarkt, die Gattin heiratet bei deinen Lebzeiten einen anderen, der dich ins Unglück gestürzt hat, sie liebt deinen Feind und verachtet dich, und deine Tochter häuft über dein Haus Unglück auf Unglück, bis es zum Steinhaufen zusammenstürzt. Dies lasse ich dir als Andenken zurück!«
Carter hatte unbeweglich diese Drohungen angehört, sie vermochten ihn nicht niederzuschmettern.
»Noch lebt ein Gott«, antwortete er ruhig, als sich des Gauklers Flüche erschöpft hatten, »und dieser Gott ist mächtiger als du, Timur Dhar, er spottet deines Eigendünkels und wird dir und mir zeigen, dass er der Herr, und zwar der allgütige ist.«
Timur Dhar trat auf den Chinesen zu und blieb seitlich vor ihm stehen.
»Und nun zu dir«, begann er in leidenschaftslosem Tone. »Du warst einst mein Schüler, und ich hatte es gut mit dir vor. Anstatt mir zu folgen, bist du entlaufen und hast dich den Faringis angeschlossen, die unser Vaterland unterdrücken und ausbeuten, du hilfst ihnen dabei. Warum eigentlich nennst du dich noch einen Chinesen? Warum glaubst du noch nicht an den Judengott der Faringis?«
Der Chinese schwieg. Da zuckte des Gauklers Hand; wie ein blauer Funke fuhr ein Dolch durch die Luft, und zu des Chinesen Füßen lag dessen eigener Zopf — Timur Dhar hatte ihn abgeschnitten.
»Da, erst dies für dich! Du bist kein Chinese mehr, also sollst du auch keinen Zopf mehr tragen. Man wird dafür sorgen, dass er nicht wieder wächst. Auch du sollst, zur Strafe für Ungehorsam und Verräterei, Zeit deines Lebens als verachteter Sklave hier leben.«
Ein Wutschrei entfuhr den Lippen Kiong Jangs, er wollte sich auf Timur Dhar stürzen, beherrschte sich aber noch, denn er kannte die Kraft und Gewandtheit des indischen Gauklers. Was aber in seinem Herzen in diesem Augenblicke vorging, vermag keine Feder zu schildern.
Es war ihm die furchtbarste Schmach angetan worden, die einem Chinesen nur zugefügt werden kann — der Zopf war ihm abgeschnitten worden; ohne Zopf aber ist der Chinese ein verachteter Mann, hier schon wie später auch im Jenseits, das heißt, ohne Zopf kann er nicht in den Himmel kommen. Jeder Chinese rächt das Abschneiden seines Zopfes mit dem Tode.
Doch Timur Dhar fürchtete Kiong Jangs Rache nicht, kalt wandte er den beiden den Rücken, sprach zu dem dicken Priester noch einige Worte und ging an der Gruppe vorüber, die sich um das Mädchen gebildet hatte, der Türe zu.
Das Letztere hatte sich bis jetzt nur mit angstvollen Augen umgeschaut, es begriff noch nicht im Geringsten, was sein Los sei.
»Sinkolin«, schrie es laut dem fortgehenden Gaukler nach, »Sinkolin, verlass mich nicht! «
Der Gaukler wandte sich noch einmal um.
»Törin!«, rief er spöttisch. »Glaubtest du, ich rettete dich, um dich dem Leben zu erhalten? Du warst nur zu gut, den Menschen geopfert zu werden, den Göttern sollst du zum Opfer dienen!«
Die beiden Gefangenen wurden hinausgeführt, Kiong Jang sah noch, wie die Unglückliche nach den Worten des Gauklers mit einem Wehruf bewusstlos zusammenbrach, aber vom Boden wieder emporgerissen wurde. Ihr Schicksal blieb ihm unbekannt, wenigstens vorläufig.
Was der Chinese weiter den köpfschüttelnden Zuhörern in ganz ausführlicher Weise über seine siebzehnjährige Gefangenschaft erzählte, sei hier nur mit kurzen Worten wiedergegeben.
Carter und sein Gefährte wurden wie Sklaven behandelt, jeder durfte sie nach Willkür schlagen; sie mussten die Schlangen füttern, Reinigungsarbeiten verrichten und nach nächtlichen Orgien, denen sie nicht beiwohnen durften, die Spuren vertilgen, das heißt die Fleischüberreste, Gedärme, Blutflecke und so weiter entfernen. Nie kamen sie aus dem Felsen heraus, in dessen Gängen und Grotten sie eingeschlossen waren.
Was sonst in dem Felsentempel vorging, erfuhren sie nicht. Oftmals kamen des Abends oder Nachts zahlreiche Trupps an, und dann hallte er tagelang von wüstem, jubelndem Geheul wider. Es wurden Orgien abgehalten, durch welche die Göttin Kali verehrt werden sollte. Unter den Gästen befanden sich auch Frauen und Mädchen, und der Chinese erzählte, dass die meisten, Frauen, wie Männer, sehr reich gekleidet waren und überhaupt Reichtum und Ansehen verrieten.
Die blutigen Überreste der Opfer, welche die beiden Sklaven entfernen mussten, gehörten nach Aussage des Chinesen Tieren an, Rindern und Schafen, einige Male aber konnte er auch mit Bestimmtheit sagen, dass sie von Menschen her stammten. So zum Beispiel fand er auch einst zwei blanke Knöpfe, die zur Uniform eines englischen Soldaten gehört hatten. In der Nacht zuvor hatte Kiong Jang einen Menschen furchtbar schreien hören und ihn an einem Ausruf als Engländer erkannt.
Es war also kein Zweifel, dass zur Fütterung der heiligen Schlangen nicht nur Tiere, sondern auch ab und zu Menschen benutzt wurden, und ebenso, dass die Thugs auf dem Altar der schrecklichen Kali wirklich Menschen opferten.
Bisher hatte man dies nur für Aberglauben gehalten, und war es auch noch nicht als eine Tatsache bewiesen, so gab die Erzählung Kiong Jangs doch den Grund dazu, dass man ernstliche Untersuchungen anstellte.
Wie schon gesagt, die beiden Gefangenen wurden in dem Felsentempel wie Sklaven behandelt.
Für eine Flucht schien keine Möglichkeit vorhanden, solange sie nicht den Weg entdeckt hatten, auf dem die Gäste heimlich des Nachts den Felsentempel betraten, und diesen fanden sie nicht, machten auch keinen Versuch, ihn zu entdecken, um keinen Argwohn zu erregen.
Überdies wurden sie scharf beobachtet, und waren keine Menschen in der Nähe — oft war alles wie ausgestorben — so befanden sich die beiden Tiger bei ihnen, die schon knurrten, wenn sie nur laut sprachen.
So vergingen fast siebzehn Jahre.
Kiong Jang hatte sich in sein Schicksal durchaus noch nicht ergeben, fortwährend dachte er — weniger an Flucht als an Rache, denn da sein Haar jeden Monat einmal völlig vom Kopf rasiert wurde, erinnerte er sich immer wieder der ihm angetanen Schmach. Dies wurde also auf Befehl Timur Dhars getan. Diesen selbst jedoch bekamen die Gefangenen nur einige Male zu sehen; er erschien nur Carters wegen in dem Felsentempel.
Aber Kiong Jang sah keine Möglichkeit, sich rächen zu können, denn dazu hätte er wenigstens im Besitz einer Waffe sein müssen, die er auf seinen Peiniger richtete. Doch alle, die im Tempel verkehrten, erschienen stets vollkommen unbewaffnet, man konnte ihnen also keine Waffen entreißen.
Dagegen besaßen die indischen Tempeldiener in den Tigern einen mächtigen Schutz, und die Schlangen, die sie beständig mit sich herumtrugen, schienen ihre Herren mit den Giftzähnen verteidigen zu wollen.
Die Schlangen, welche in den Steinwänden ihr Dasein fristeten, waren nicht giftig, das konnte Kiong Jang vor seinen Zuhörern bestimmt behaupten, wohl aber jene, die in der das Standbild der Kali umgebenden Grube hausten, wie auch jene, welche die Priester mit sich trugen.
Der Chinese selbst hatte gesehen, wie einst eine solche Schlange einen Affen gebissen hatte, wonach dieser sofort gestorben war. Also musste sie im Besitz ihrer Giftzähne sein. Da nun die Inder ganz sorglos mit den Giftschlangen umgingen, so durfte man annehmen, dass sie sich vor dem Schlangenbiss überhaupt nicht fürchteten.
Man sagte bis vor ganz kurzer Zeit, dass jene Geschichte mit der Pflanze, deren Saft das Schlangengift unschädlich mache, ein Märchen sei. Erst im Jahre 1895 hat ein französischer Gelehrter bewiesen, dass eine solche Pflanze wirklich existiert. Ihr Saft ins Blut gespritzt, hebt die tödliche Wirkung eines jeden Schlangengiftes auf; wenn man sich damit einreibt, so wird einen nie eine Schlange beißen, denn sie kann den Geruch nicht ausstehen, sie flieht ihn.
So waren also die Behauptungen, dass die Schlangenbeschwörer ein Mittel gegen das Schlangengift besäßen, keine Fabel. Diese Leute haben ihr Geheimnis nur sorgsam behütet.
Welche Gedanken den unglücklichen Carter beherrschten, ob er über Fluchtpläne grübelte, ob er alle Hoffnung aufgegeben, konnte Kiong Jang nicht sagen, denn der Unglückliche sprach fast gar nicht mehr zu seinem Leidensgefährten, obgleich dazu Gelegenheit vorhanden war.
Stumm verrichtete er seine Arbeit; geduldig ertrug er alle Misshandlungen, und dass seine Verzweiflung nur immer wuchs, dafür sorgte Timur Dhar laut seiner Drohung.
Noch nicht lange waren sie gefangen, als Kiong Jang den Gaukler wieder einmal im Tempel sah. Gleich darauf rief Carter seinen Gefährten zu sich und zeigte ihm einige englische Zeitungen, in welchen Carter als Hochverräter gebrandmarkt wurde.
Von dem Vorhandensein des Briefes, der die Schuld auf Carter warf, hatten beide keine Ahnung gehabt. Er war ein Werk Timurs gewesen.
Carter ließ sich nicht weiter darüber aus, er verbarg die Berichte unter seinem Gewand und ertrug geduldig die ungeheure Beschuldigung.
So galt er also in seinem Vaterland als Hochverräter, er, der eher das Leben gelassen, als sein Geheimnis preisgegeben hätte.
Fünfzehn Jahre später erschien Timur Dhar zum zweiten Male im Felsentempel; wieder suchte Carter seinen Leidensgenossen auf, denn wieder hatte er durch Timur Dhar eine Zeitung erhalten, die eine für ihn niederschmetternde Nachricht enthielt: Man wollte Carters Knochengerippe in einer Schlucht bei Akola entdeckt haben, der aufgefundene Trauring war der untrügliche Beweis, dass es wirklich die irdischen Überreste des Verschollenen waren.
Carter sagte nicht, was in ihm vorging, aber Kiong Jang sah es ihm an den schon halb erloschenen Augen an.
Leben, als ehrlicher, sich keiner Schuld bewusster Mann leben, und sich von der Welt tot und ehrlos gehalten zu, wissen — Timur Dhar verstand furchtbare Strafen zu verhängen über die, die seinen Zorn erregt hatten.
Und dann kam das schrecklichste für den vielgeprüften Mann: Durch Timur erfuhr er die Verlobung seiner sich für verwitwet haltenden Gattin mit Westerly.
Carter kannte diesen nicht weiter. Was hatte aber Timur von ihm gesagt?
Der, welcher das Geheimnis verraten, den Hochverrat also, für den Carter büßen musste, wirklich begangen hatte, sollte seine Gattin freien. Carter verstand die Bedeutung dieser Worte nicht. Wie sollte denn Westerly das Geheimnis verraten haben? Aus welchem Grunde? Nein, das war nur eine Lüge gewesen, der Gaukler wollte sich für einen allwissenden Propheten ausgeben.
Aber die Verlobung seiner Gattin war Wahrheit — und er lebte!
»Wir müssen fliehen«, flüsterte er seit jener Zeit bei jeder Gelegenheit dem Chinesen zu, »hörst du, wir müssen! Ich oder du, einer von uns beiden muss von hier fort, nach England, zu meiner Frau, ehe noch ein Jahr verstrichen ist.«
Der treue Kiong Jang dachte seitdem weniger an sich und seine Rache, als vielmehr an das Los seines unglückseligen Herrn.
Was war aus diesem geworden? Das Haar gebleicht, das Haupt gebeugt, die Augen erloschen, die ganze Gestalt zusammengeschrumpft und abgemagert — ein Greis von vierzig Jahren, aber es kamen Augenblicke, da sich diese Gestalt reckte und dehnte, da sie ihre alte, markige Kraft wiedergewonnen zu haben schien, und da die Augen, wieder wie früher in feurigem Glänze strahlten.
In solchen Augenblicken gedachte Carter der Zeit, wenn er als Rächer auftreten würde, und das Lug- und Truggewebe vernichten wollte, das elende Schurken um ihn gesponnen hatten. Nur der Gedanke, die Hoffnung an das Kommen dieser Zeit hielten ihn von einem Selbstmord ab.
Eines Tages trafen die beiden Gefangenen zusammen, als sie vor den vielen Feuerplätzen Holz aufschichten mussten. Die sonderbaren Blicke des Chinesen machten Carter, so apathisch er auch sonst geworden war, doch aufmerksam. Er näherte sich dem Genossen in unauffälliger Weise.
»Herr, eine Entdeckung«, murmelte Kiong Jang, »wir sind gleich allein.«
Der Tempeldiener hatte in dem Raume zu tun, ging er, so konnten die beiden ungeniert sprechen, sonst war die Unterhaltung gefährlich. Der Chinese hatte bemerkt, dass der Inder gehen wollte, und machte Carter darauf aufmerksam, dass er den Raum nicht vor dem Inder verlassen sollte. Carter hatte verstanden. Kaum konnte er erwarten, bis der Inder hinaus war.
»Was gibt's, was hast du entdeckt?«, fragte er mit einer Lebhaftigkeit, wie er sie seit sechzehn Jahren nicht mehr gezeigt hatte.
»Einen Ausgang aus diesem Felsen.«
»Einen Ausgang?«, schrie Carter fast.
»Nicht so laut, oder alles ist verloren! Höre, was ich gefunden habe! Du weißt, ich habe die Schlangen in dem hintersten, dunklen Gange zu füttern.
Gestern Abend legte ich am letzten Schlangenloch Fleisch hin, ich wollte es nicht zurücktragen. Heute Morgen war es fort, ich forschte nach und fand die Spuren eines Fuchses. Wo kommt der her?«
»Dann ist ein Ausgang da.« hauchte Carter. »Hast du ihn schon gefunden?«
»Noch nicht. Ich habe die Spur verfolgt, es wurde jedoch zu dunkel, ich musste aufhören.
Heute verfolge ich sie weiter, und du kommst mit. Willst du?«
»Ob ich will! Kennst du den Gang?«
»Ja. Er endet glatt.«
»Wo sollte der Ausgang denn sein?«
»Einige der Schlangenlöcher sind sehr groß, nur durch ein solches kann der Fuchs gekommen sein.«
»Dann können wir nicht hindurch.«
»Wo ein Fuchs durchkommt, muss auch ich durchkommen. Ich muss, und sollte ich mir die Schultern abschneiden!«
Die beiden wurden getrennt.
Am Abend suchte der Chinese Carter wieder auf. Sein Auge glänzte vor Triumph.
»Ich habe das Loch gefunden, die Spur endet darin.«
»Werden wir durchschlüpfen können?«
»Ich muss!«, wiederholte Kiong Jang.
Als die Nacht anbrach, waren die Gefangenen sich selbst überlassen. Sie durften keinen Anspruch auf ein Bett, nicht einmal auf ein Lager machen, die einzige Freiheit war, dass sie sich die Ecke aussuchen durften, in welcher sie wie Hunde während der Nacht liegen konnten.
Dies war ihnen günstig.
Kiong Jang führte den vor Aufregung zitternden Carter in einen Gang, welcher in tiefem Dunkel lag, weil kein Tageslicht mehr in ihn fiel. Doch man konnte noch erkennen, dass hier ebenfalls Löcher in der Wand waren, und zwar größere als gewöhnlich. Auch in diesen hausten Schlangen.
Kiong Jang legte sich neben einem Loch auf den Steinboden.
»Hierhinein führt die Spur; die Schlange, die in dieser Höhle hauste, ist schon lange tot, das weiß ich« flüsterte er.
»Du konntest die Spur doch nicht erkennen, es ist Steinboden.«
»Was ist das?«, fragte der Chinese, den Finger auf den Rand des Loches legend.
Carter erkannte rotbraune Haare, welche zwischen den spitzen Steinen des Randes eingeklemmt waren — Kiong Jang hatte recht, durch dieses Loch musste ein Fuchs geschlüpft sein, vielleicht schon öfter. Doch es war nur einen Viertelmeter im Durchmesser.
»Hier kann ich mich nicht durchdrängen«, seufzte Carter, »nicht einmal mein Kopf wird durchgehen. Und du?«
»Mein Kopf geht hindurch, also auch mein ganzer Körper. Lass es dunkel werden, dann gehe ich.«
»Es sind noch andere, breitere Löcher da.«
»Sie alle sind nicht tief, ich habe sie untersucht, stets kann man mit der Hand das Ende erreichen. Nur bei diesem einen nicht. Es ist keine Höhle, es ist ein Gang, und ich werde den Schlupfwinkel des Fuchses aufspüren.«
Mitleidig blickte der Sprecher auf Carter; welcher den Kopf gesenkt hatte.
Es war keine Möglichkeit, dass er diesen Gang benutzen konnte, Kiong Jang dagegen war bei einem Gaukler in die Schule gegangen, er konnte überall da durchschlüpfen, wo er den Kopf durch brachte.
Dennoch war es fraglich, ob er einen Ausgang erreichte, denn für einen Fuchs konnte der Gang wohl noch enger werden, doch nicht für den Chinesen.
Die beiden warteten, bis vollständig Dunkelheit herrschte. Dann ergriff Carter die Hand seines Leidensgefährten.
»Jetzt geh! Gott geleite dich!«, sagte er. »Gelingt es dir, so eile nach England zu Lady Carter und sage ihr, dass ihr Gatte noch lebt.«
»Ach, könntest du mit!«, seufzte Kiong Jang, niedergeschlagen.
»Es geht nicht, und ich muss mich fügen. Gern will ich es auch ertragen, wenn ich nur weiß, dass du noch rechtzeitig in meiner Heimat eintriffst.
Versuche jetzt das Wagnis, ich will für dich beten!«
»Wenn mir diese Hunde nur meinen Gott nicht geraubt hätten. Ich bin ohne Schutz!«
»Ein anderer Gott wird über dich wachen, ein Gott, welchen niemand dem Menschen rauben kann. Er wird auf meine Bitte bei dir sein und dich zurückführen, mich zu befreien.«
Noch ein Händedruck, dann begann Kiong Jang seinen gefährlichen Schleichweg, der ihn in ein ungewisses Dunkel führte. Er hatte Mühe, die Schultern durch das Loch zu zwängen, nach Beseitigung dieser Schwierigkeit ging es aber leichter und schneller vorwärts; einmal konnte er sogar auf den Knien weiterkriechen, während er sonst auf dem Leibe rutschen musste — ein mühseliger Weg.
Kiong Jang merkte deutlich, dass der Gang bergab lief, und schließlich fiel er sogar sehr schräg ab. Dann wurde er wieder enger und immer enger, der Chinese hatte immer größere Mühe, sich fortzuarbeiten und nach einigen Stunden solcher Anstrengung sah er seine Kraft erschöpft, er stak wie festgekeilt in der Enge, unfähig, auch nur die Arme zu rühren. Noch einmal raffte er alle Kraft zusammen und machte einen erneuten Versuch, hoffend, dass er einen geräumigeren Teil erreiche, arbeitete sich aber nur fester ein.
Endlich gab er seine Bemühungen auf. Was ihm nun bevorstand, war ihm klar genug. Konnte er doch nicht einmal in die Tasche greifen, um sich an den wenigen, mitgenommenen Nahrungsmitteln zu sättigen! Nach einigen verzweifelten Anstrengungen, sich aus der Lage zu befreien, übermannte ihn die Erschöpfung, bis er endlich, in Schweiß gebadet, einschlief und so seine trostlose Situation für einige Stunden vergaß.
Als er wieder erwachte, wunderte er sich erst über die um ihn herrschende Dunkelheit, bei der ersten Bewegung, die er ausführen wollte, kam ihm indes alles in die Erinnerung zurück.
Erst wurde er von lähmendem Entsetzen erfasst, er sah sich dem Hungertode ausgesetzt. Mit verzweifelter Kraft machte er neue Anstrengungen, immer nach vorwärts, nicht zurück, denn hinter ihm wartete seiner Schlimmeres als der Tod, und siehe da, er konnte sich einen Fuß fortschieben, dann noch einen, es ging immer leichter, der Gang erweiterte sich, und endlich konnte er ganz bequem weiterkriechen.
Mit ungeschwächter Kraft setzte er seinen Weg fort, der wohl ungefähr acht Stunden in Anspruch nahm. Dann wurde der Gang so hoch, dass ihm das Gehen, wenn auch gebückt, möglich, war. Es zeigte sich Leben, er hörte es springen und rascheln, seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen erkannten langbehaarte Tiere, wahrscheinlich Wölfe oder Füchse, welche eiligst vor dem Eindringling flohen, und schließlich sah er in der Ferne etwas Helles schimmern — das Tageslicht.
Mit einem Freudenruf eilte Kiong Jang darauf zu, konnte es aber nicht so schnell erreichen, wie er geglaubt hatte, denn bald sah er sich genötigt, abermals auf den Knien zu kriechen, dann wieder auf dem Leib zu rutschen, und dann musste er sich sogar äußerst anstrengen, um überhaupt vorwärts zu kommen.
Endlich, endlich steckte er den Kopf aus dem Loch, welches noch enger war als das des Eingangs; eine gewaltige Anstrengung, und Kiong Jang lag im Scheine der untergehenden Sonne im Freien, die Haut an Gesicht und Händen zwar zerfetzt, der Kleidung fast entblößt, aber mit jubelndem Herzen.
Es war eine Art von Tal oder Schlucht, wo er sich befand, ohne jede Vegetation, steinig und unbewohnt. Die Hauptsache für ihn war, dass in der Nähe eine Quelle floss, aus der er seinen brennenden Durst löschen konnte.
Dann brach er ohne zögern auf, wanderte des Nachts und hielt sich am Tage in Wäldern oder in Höhlen oder in Reisfeldern versteckt, weil er sich fürchtete, von den Thugs verfolgt zu werden.
Als Kiong Jang von den Zuhörern gefragt wurde, warum er sich nicht beim Erreichen der ersten Stadt an den englischen Konsul um Schutz gewendet hätte, gestand er selbst offen, er hätte damals an einer Art von Verfolgungswahnsinn gelitten, in jedem ihm begegnenden Menschen hätte er einen ihn verfolgenden Thug geglaubt. Erst während der Seereise legte sich diese fixe Idee. Aber er konnte auch bestimmt behaupten, dass sich mehrere Male Thugs in seine Nähe schlichen und ihn zu töten suchten; einmal entging er nur durch Zufall dem Tode.
Nach zwei Monaten brachten ihn seine nächtlichen Wanderungen an die Südostküste Indiens, wo er sich auf einem Dampfer als Heizer nach England verdingte. Nur ein stählerner Körper wie der Kiong Jangs könnte alle diese Strapazen ertragen, und dann auch noch wochenlang auf einem Schiffe vor den Feuern arbeiten; wie er aber mitgenommen worden war, das bewies sein Aussehen.
Am Tage vor Lady Carters Hochzeit traf er in London ein und suchte sofort Wilkens, seinen früheren Vorgesetzten, auf.
Wie schon erwähnt, dauerte die Erzählung des Chinesen tagelang, weil sie oft durch lange Verhöre und Beantwortungen von Fragen unterbrochen wurde. Bevor wir nun sehen, wie Kiong Jang durch den Scharfsinn Reihenfels', unterstützt von Hira Singh, eines ganz gewaltigen Irrtums überführt wurde, ohne welche Aufklärung ein Wiederfinden des Felsentempels gar nicht möglich gewesen wäre, ferner, was die Erzählung noch für ein anderes Resultat lieferte, welches sich Kiong Jang bis zuletzt aufsparte, wollen wir erst nach der Kirche zu Wanstead zurückkehren.
Sir Frank Carter lebt, er lebt als Sklave im Felsentempel der Göttin Kali! Hier steht der von dort entflohene Kiong Jang, sein Diener, als Zeuge!«
Nach diesen lauten, mit Nachdruck gesprochenen Worten des Detektivs verstummte das Gemurmel plötzlich, eine lautlose Stille trat in der Kirche ein. Dann sprang Emily plötzlich auf und stieß einen furchtbaren Schrei aus, sie schien auf Wilkens zustürzen zu wollen, sank aber ohnmächtig zusammen.
Westerly hätte sie auffangen können, er tat es nicht. Er sah nichts mehr als die Gestalt des Chinesen und hörte nichts weiter als die Worte: »Sir Frank Carter lebt!«
Seine Augen quollen fast aus den Höhlen, und seine geballten Hände zitterten.
Da erscholl wieder der vorige Ruf durch die Kirche:
»Wo ist Monsieur Francoeur? Wo ist der Kindesräuber?«
Der alte Woodfield kannte keine Rücksichten mehr, die Trauung war schon gestört; er drängte sich dem Altar zu, wo die Gäste saßen, ihm nach seine beiden Begleiter.
Jetzt brach in der Kirche die größte Aufregung aus, es entstand ein Tumult, eine wahre Panik. Die Hintersten hörten nur die Rufe, sie wollten wissen, was da eigentlich vorging, und drängten nach vorn, die Vordersten glaubten, in dem alten Manne, der sich wirklich wie rasend gebärdete, einen Wahnsinnigen vor sich zu haben, und drängten nach hinten. Sie alle wollten den Ort dieser aufregenden Szene so schnell wie möglich verlassen konnten es aber nicht.
Das Wort des Priesters wurde nicht mehr gehört, er bat vergeblich um Ruhe, und so verließ er seinen Platz und bemühte sich ebenso wie Wilkens und Reihenfels um die bewusstlose Braut.
Sie wurde in die Sakristei getragen. Als die Träger die Tür passierten, hakte sich der Brautschleier an der Klinke fest und riss von oben bis unten in zwei Hälften.
»Wo ist ihr Trauring?«, fragte die Küstersfrau, welche die Behandlung der Bewusstlosen übernahm.
Niemand konnte eine Auskunft geben, er war eben verloren gegangen.
Wilkens und Reihenfels kehrten schnell zurück, um Woodfield zu beruhigen, welcher noch immer vergebens nach Monsieur Francoeur unter den Gästen suchte. Er erhielt die Versicherung, dass sich weder der Franzose, noch ein Mitglied der Familie in der Kirche hätte sehen lassen, was Reihenfels ebenfalls mit äußerster Bestürzung erfüllte.
Alle drei, Woodfield, Reihenfels und Wilkens machten sich sofort auf den Weg nach der indischen Villa, nachdem Wilkens von ersterem erfahren hatte, um was es sich handelte, dass nämlich nach Aussage der schwarzen Maske und nach dem bei ihm gefundenen Armband kein anderer als Francoeur der Räuber Nancys sein konnte.
In der indischen Villa wurden sie mit der äußersten Bestürzung empfangen. Die Diener behaupteten steif und fest, die Herrschaft sei nach der Kirche gefahren, sie hätten sie selbst im festlichen Anzug den Wagen besteigen sehen. Die Überraschung der Leute, als sie erfuhren, ihre Herrschaft sei nicht in der Kirche, war so groß und natürlich, dass man nicht an der Wahrheit ihrer Aussage zweifeln konnte.
»Dann sind sie geflohen!«, riefen alle drei gleichzeitig.
Woodfield war über diese Entdeckung außer sich, Reihenfels niedergeschlagen. Wilkens konnte jetzt nichts anderes tun, als sofort nach London fahren, Anzeige erstatten und Francoeur unter Angabe des Verdachts verfolgen lassen. Da noch nicht lange Zeit verstrichen war, so musste man ihn noch irgendwo festnehmen können, entweder auf einem Bahnhof oder im Hafen, und wurden die benachbarten Länder noch benachrichtigt, so war eine Flucht fast unmöglich, es sei denn, man habe vorher die raffiniertesten Vorbereitungen dazu getroffen.
»Ist auch Ihnen so viel daran gelegen, dieses Franzosen habhaft zu werden?«, fragte der Detektiv Reihenfels, ehe er ging.
Dieser wich der Frage aus; er machte sich schleunigst auf den Weg nach der Kirche zurück, während Woodfield, dem sich unterdessen seine beiden Begleiter beigesellt hatten, in der indischen Villa zurückblieb und die Diener beobachtete.
Als Reihenfels ankam, bestieg Emily eben ihren Wagen. Westerly stand abseits, er zögerte beim Anblick derjenigen, welche er noch heute sein Weib zu nennen gehofft hatte. Er schien einen kurzen, heftigen Kampf zu kämpfen, dann sprang er an den Wagen, um Emily hineinzuheben.
Doch sie nahm seine Hand nicht. Sie schien ihn nicht zu bemerken, und als er sie berührte, machte sie eine so heftige, abweisende Bewegung, dass Westerly sich abwandte.
Ihr Blick streifte Reihenfels.
»Armes Weib!«, murmelte dieser. »Der Himmel hat heute furchtbar mit dir gespielt, und ich will dir nicht neue Enthüllungen machen, wenigstens so lange, wie sie für dich nicht erfreuliche sind!«
Die Hochzeit war gestört. Ohne Abschiedsgruß fuhr Emily fort, nur in Begleitung von Miss Woodfield; die Gäste benutzten ebenso ihre Wagen, und es bedurfte Eugens Bemühungen nicht, seine Mutter zu entschuldigen, man konnte sich denken, welch stürmische Empfindungen das Herz der Unglücklichen bewegten, sie konnte jetzt fürwahr keine Rücksichten nehmen.
Westerly war plötzlich verschwunden, man wusste nicht wohin.
Einige Stunden später durchlief die ganze Gegend die Nachricht, dass der gefangene Bandit, die schwarze Maske, auf dem Transport nach London seinen Wächtern mit einer unerhörten Keckheit entsprungen sei.
Alle Versuche, seiner wieder habhaft zu werden, schlugen fehl.
Woodfield raste, Dick und Charly fluchten über die tölpelhaften Polizisten, dies alles brachte aber den Entschlüpften nicht wieder.
Ebenso tauchte auch im Laufe der nächsten Tage weder Francoeur noch ein anderer der Familie auf, sie schienen wie vom Erdboden verschwunden zu sein. Man hatte sie noch einmal in London gesehen, als sie den Bahnhof verließen, dann nicht wieder.
Später tauchte das Gerücht auf, Francoeur hätte immer einen kleinen Dampfer für sich bereit liegen gehabt und diesen benutzt; wenigstens hatte der Dampfer, welcher seit Monaten untätig, aber mit voller Besatzung im Katharinen-Dock lag, plötzlich die Anker gelichtet und war abgesegelt, niemand wusste wohin, die Bemühungen der Polizei, es zu erforschen, blieben erfolglos. —
Erst nach diesen Ereignissen erfuhr man aus dem Munde des Chinesen sein und Carters Schicksal. Wilkens war klug genug, die Erzählung sich nicht allein vortragen zu lassen, er lud diejenigen dazu ein, deren Rat er dabei gebrauchen konnte: Reihenfels und den Fakir Hira Singh.
Als bekannt wurde, um was es sich handelte, drängten sich noch mehrere hinzu, Wilkens jedoch gestattete nur wenigen den Zutritt.
So schlug er auch Westerlys dahingehende Bitte ab, und zwar auf Kiong Jangs ausdrücklichen Wunsch.
Reihenfels wiederum forderte Mister Woodfield, dessen Lebensgeschichte er kannte, auf, die Erzählung mit anzuhören, und der alte Herr folgte der Einladung. Spielte jene doch in Indien und kam doch Francoeur, der ihm aller Wahrscheinlichkeit nach sein Kind geraubt hatte, auch von dorther.
Staunend hörte man die Erzählung des Chinesen; oft schien sie kaum glaublich, aber Kiong Jang sprach so überzeugend, nie geriet er in Widersprüche, und sein Aussehen war der beste Beweis für die Wahrheit seiner Erzählung.
Wilkens leitete den Vortrag, oft unterbrach er den Erzähler, erkundigte sich nach den Namen der Personen, ließ sie sich beschreiben und stellte andere Zwischenfragen.
Als der Chinese den dicken Priester schilderte, entstand unter den Zuhörern erst ein Gemurmel, dann wurden Ausrufe des Erstaunens laut.
»Haben Sie eine Ahnung wer das sein könnte?«, fragte Wilkens Reihenfels.
»Ich vermute dasselbe, was Sie denken. Und doch, es ist kaum glaublich.«
Der Detektiv wandte sich wieder an Kiong Jang.
»War der betreffende Priester bis zuletzt im Tempel? Hast du ihn immer gesehen?«, fragte er.
»Jeden Tag. Nur zuletzt kam er nicht mehr.«
»Wann blieb er zuerst aus?«
»Das kann ich nicht mehr sagen.«
»Entsinne dich! Dies zu erfahren ist uns von höchster Wichtigkeit.«
Der Chinese überlegte lange, schüttelte dann aber den Kopf.
»Ich kann es unmöglich sagen. Uns Gefangenen fehlte jede Kenntnis der Zeit; glaubte ich doch, ich wäre etwa vierzig Jahre im Felsentempel gewesen, erst später erfuhr ich, dass es nur siebzehn Jahre waren.«
»Gut, wenn du glaubst, deine Gefangenschaft hätte vierzig Jahre gedauert, wie lange blieb dann in diesem Verhältnis der Priester aus?«
»Ich schätze es vielleicht auf fünf bis sechs Jahre.«
»Das heißt, du glaubst, während der letzten Zeit deiner Gefangenschaft?«
»Ja.«
»Das wären dann, umgerechnet, etwa zwei Jahre.«
Wilkens und Reihenfels sahen einander an.
»Der Priester war dick, sagtest du?«, forschte ersterer.
»Sehr dick.«
»Und pockennarbig?«
»Ja.«
»Er schielte?«
»Das gerade nicht. Das eine Auge konnte nach links, das andere nach rechts blicken, er konnte sie nach Belieben bewegen.«
»Kein Zweifel«, rief Reihenfels, »dieser Priester der Thugs war kein anderer als der Mann, der sich hier Radscha Tipperah nannte.«
»Wie? Der ist hier?«, fuhr der Chinese mit glühenden Augen auf.
»Er war hier, er ist geflohen.«
»O, wenn ich ihn sehen könnte!«, knirschte Kiong Jang.
»Wir werden ihn verfolgen. Sag, Kiong Jang, konnte dieser Mann sprechen?«
»Sprechen? Natürlich!«
»Er war nicht taub?«
»Nein.«
Wieder sahen Reihenfels und Wilkens sich an.
»Er war es dennoch«, sagte ersterer; »seine Stumm- und Taubheit waren nur Verstellung. Warum er sie heuchelte, wissen wir nicht, er mag einen Grund dazu gehabt haben.«
Der Detektiv war derselben Ansicht.
»Was hat ihn aber hierher geführt? In welcher Beziehung stand Francoeur zu ihm?«
»Wir wollen hoffen, dass wir die Erklärung noch finden«, entgegnete Reihenfels. »Fahre in deiner Erzählung fort, Kiong Jang!«
Als der Chinese von dem Mädchen sprach, das an seiner und Carters statt den Tod erleiden musste, fuhr Mister Woodfield von seinem Sitz halb auf, wollte den Sprecher unterbrechen, sank aber gleich mit einem ungläubigen Kopfschütteln wieder zurück.
Gespannt hörte er dann die Schilderung des Mädchens an, und als Kiong Jang nicht lange genug von den prächtigen, goldenen Haaren sprechen konnte, die sie wie ein Mantel eingehüllt hatten, da wollte er abermals an den Erzähler eine Frage richten, doch Reihenfels hielt ihn davon ab.
»Nicht jetzt!«, sagte er zu ihm. »Gedulden Sie sich noch! Ich weiß, was in Ihnen vorgeht. Vielleicht bringt schon die Erzählung Aufklärung über alles, was Sie wissen wollen.«
Ach, Reihenfels sollte recht haben!«
»... Sinkolin, verlass mich nicht, rief die Jungfrau dem fortgehenden Gaukler nach«, fuhr der Chinese fort. »Sie musste ihr Los erkannt haben, eine furchtbare Verzweiflung lag in ihrer Stimme. Ich sah noch, wie sie zu Boden sank, wie sie wieder empor gerissen und nach dem Standbilde der Göttin geschleppt wurde, zu deren Füßen die Schlangen zischten, dann wurde ich, wie auch Sir Carter hinausgeführt...«
Mit einem dumpfen Stöhnen verbarg Woodfield das Gesicht in den Händen — er hatte bei der Schilderung des Mädchens an seine geraubte Tochter gedacht. Aber hatte es denn Zweck, noch länger nach ihr zu fragen? Sie war ja tot, von Schlangen gefressen oder auf dem Altar der Göttin in grausamster Weise geopfert.
Teilnahmslos hörte der unglückliche Mann die fernere Erzählung an, er kam auch die anderen zwei Tage und blieb bis zum Schluss da, als Kiong Jang sagte, wie er endlich in England eingetroffen sei und sofort Wilkens aufgesucht habe.
Als der Chinese schwieg, saßen auch die Zuhörer lange schweigend da, ein jeder in Gedanken versunken, überlegend, was nun zu tun sei, und einige Zweifel sich zu erklären suchend.
Woodfield nahm zuerst das Wort.
»Schildere mir noch einmal, wie jenes Mädchen aussah!«, sagte er mit zitternder Stimme zu dem Chinesen. »Vergiss nichts dabei, es kann nicht ausführlich genug sein.«
Kiong Jang trat näher an den alten Herrn heran und willfahrte ihm.
»Kennst du sie?«, fragte er dann, den Alten aufmerksam betrachtend.
»Ach, so hätte meine Nancy aussehen müssen!«, seufzte Woodfield.
»Weißt du denn gar nicht, aus welchem Lande sie stammte? Welcher Sprache bediente sie sich?«
»Als sie Timur Dhar jene Worte nachrief, bediente sie sich des Arabischen, welches auch ich verstehe. Später sprach sie zu mir Englisch.«
»Wie? Du sprachst mit ihr später noch?«, erklang es von allen Seiten wie aus einem Munde.
»Ja, nur wenige Sekunden, auf sonderbare Weise, und sie hat mir viel aufgetragen.«
»Wir denken, sie starb?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich glaubte, sie wäre geopfert worden, und war dann selbst sehr erstaunt, als ich sie nach vielen, vielen Jahren im Felsentempel noch einmal lebend traf.«
Der Chinese hielt plötzlich inne, eine furchtbare Erinnerung musste in ihm auftauchen, denn ein sichtbarer Schauer lief durch seinen Körper.
»Warum hast du uns das bis jetzt verschwiegen?«, fragte ihn Wilkens.
»Weil das nicht in meine Erzählung passte, es bildet eine Episode für sich.«
»So berichte uns jetzt darüber!«
»Es war gegen das Ende meiner Gefangenschaft«, begann Kiong Jang, »als ich einmal Augenzeuge wurde, auf welche Weise die Thugs ihrer Göttin dienen. Entsetzen erfasst mich noch jetzt, denke ich an jene schreckliche Orgie zurück. In einer Nacht schien im Felsentempel wieder ein Fest stattfinden zu sollen; am Abend waren viele fremde Inder gekommen, Männer und Weiber, alte und junge, und sie waren in mir unbekannten Räumen verschwunden. Mit Anbruch der Nacht begann ein schauerliches Heulen, vermischt mit Jauchzen und Lachen, und ich wusste, dass der Göttin Kali wieder geopfert wurde. Schon oft hatte ich solchen Lärm vernommen, so stark wie heute waren die Freudenausbrüche der Unholde aber noch nie gewesen, es klang wie das Heulen der Teufel in der Hölle.
Wie von einer geheimen Macht getrieben, musste ich mich stets in einen Gang begeben, wo ich den Jubel am lautesten vernahm, weil nur eine dünne Steinwand mich dort von der Tempelgrotte trennte. So tat ich's auch damals wieder. Atemlos lauschte ich den unheimlichen Tönen, wie gebannt stand ich auf der Stelle und malte mir Bilder aus, welche zu dem teuflischen Jubel passten.
Da bemerkte ich plötzlich, wie aus einem Loche, welches sich an der Erde befand und sonst einer Schlange zur Wohnung gedient hatte, ein Rauchwölkchen aufstieg, und gleichzeitig erfüllte den Gang ein süßlicher, betäubender Geruch. Ich legte mein Auge an das Loch, es gestattete mir den Einblick in die Grotte, in welcher das Fest stattfand.«
Der Erzähler schwieg wie erschüttert.
»Nun, und was sahst du?«, fragte Wilkens.
»O, Herr, ich möchte dich fast bitten, mir diese Schilderung zu erlassen —
es war zu schrecklich. Doch ihr müsst erfahren, was für Unholde diese Thugs sind. Alles, was man bisher von ihnen gesagt hat, und wäre es noch so haarsträubend gewesen, ist nichts gegen das, was ich gesehen habe. Wohl gegen zweihundert Menschen, Männer, Frauen und Mädchen, sogar Kinder, alle völlig nackt, sprangen unter sinnverwirrendem Geschrei teils um das Standbild der Göttin, teils um eine andere Person, welche ich dann erwähnen werde. Andere drehten sich mit ausgestreckten Armen wie Kreisel blitzschnell um sich selbst, prallten zusammen, stürzten nieder, rafften sich wieder auf und drehten sich wieder, bis sie zusammenbrachen. Tempeldiener schürten die heiligen Feuer des Agni und warfen Weihrauch hinein, und dann, dann musste ich auch sehen, wie man einen weißen Mann, wahrscheinlich einen Engländer, auf dem Altar der Göttin schlachtete —«
»Also wirklich?«, erklang es entsetzt.
»Man schlachtete ihn nicht, man quälte ihn langsam zu Tode; ich sah, wie Schlangen ihm in die Augen bissen —.«
Wieder hielt der Chinese inne, und niemand wagte, ihn zum Fortfahren zu nötigen.
»— ich hörte sein Jammergeschrei und sah ihn sterben«, erzählte er dann leise weiter; »er war langsam zu Tode gemartert worden, unter so entsetzlichen Qualen, dass ich sie nicht zu schildern vermag. Dann erst wurde er geschlachtet wie ein Stück Vieh, sein Blut wurde gesammelt, die Menge wendete sich einer Art von Thron zu, der neben dem Standbild der Göttin stand, umtanzte ihn unter Heulen und Verzückungen, und der Priester bespritzte fortwährend die Person, welche auf diesem Throne saß, mit Blut.«
»Wer war das?«
»Eben jenes Mädchen, welches am ersten Tage unserer Gefangenschaft an unserer Stelle zum Sterben bestimmt wurde.«
»Also war es damals nicht getötet worden?«
»Nein, denn die Unglückliche lebte sechzehn Jahre später noch.«
»Warum hatte man sie verschont?«
»Ich weiß es nicht. Es schien mir, als spiele sie eine heilige Rolle, als bete man sie an. Trotz der langen, inzwischen vergangenen Zeit erkannte ich sie sofort, doch war ich erst in dem Glauben, es wäre nur ihr aus Wachs gefertigtes Bild, welches da auf dem Thronsessel saß. Dieses Bild war entzückend, nie haben meine Augen etwas Schöneres gesehen. Das Antlitz so weiß wie Alabaster, kein Hauch von Rot verriet Leben, die langbewimperten, blauen Augen blickten so traurig, ach, so traurig über die rasende Menge hin. Die Pracht der Haare habe ich schon beschrieben — sie waren noch wundervoller geworden. Ihr Kleid schien aus buntfarbigen Schmetterlingen zusammengesetzt zu sein; alles schillerte, schimmerte und glänzte in blendenden Farben, der weiße Arm, wie er sich aus der zarten Umhüllung hervorstahl und sich leicht auf die Lehne stützte, der schöne Kopf — aber es war ja nur ein Bild, eine Wachsfigur — nein, da hob sie plötzlich die Hand und wischte das Blut, womit die rasenden Priester es bespritzt hatten, aus dem Antlitz — es war kein Bild, es war ein Weib, ein Mädchen, dasselbe, welches Timur Dhar für uns als Auslösung gegeben hatte —«
»Weiter, weiter!«, unterbrach Woodfield den in Begeisterung geratenen Chinesen ungeduldig. »Du willst sie gesprochen haben, du sagtest vorhin sogar von einem Auftrag, den sie dir gegeben hat.«
Kiong Jang sammelte sich, betrachtete den alten Mann dabei mit seltsamen Blicken und fuhr dann fort:
»Ja, ich habe sie gesprochen, oder ich habe eine Geisterstimme gehört, welche mich narren wollte —«
»Sprich deutlicher!«, rief Wilkens.
»Ich kann nicht deutlicher sprechen, ich übertreibe nicht. Als ich mich einst, kurz vor meiner Flucht, in einem sehr entlegenen Gange befand, hörte ich plötzlich ein seltsames Geräusch, welches ich mir auch jetzt noch nicht erklären kann. Es klang wie ein Seufzen und Weinen, ganz deutlich, aber doch wie aus weiter, weiter Ferne kommend. Ich war im Gehen, und kaum hatte ich einige Schritte weiter getan, so waren diese Töne wieder verstummt. Als ich zurückging, hörte ich dasselbe Geräusch auf der selben Stelle wie vorher, entfernte ich mich aber von dieser, so hörte ich auch nicht mehr das Seufzen und Weinen —«
»Wir verstehen«, unterbrach Reihenfels den Erzähler; »jener Gang hatte in Verbindung mit einem anderen Raum eine akustische Eigenschaft, welche nur an jener Stelle wirkte. Fahre also fort! Was hörtest du?«
»Ich blieb auf dieser Stelle stehen und hörte, wie eine Frauenstimme weinte, seufzte und stöhnte, dann vernahm ich aber auch ganz deutlich die Worte: ›Mein Gott, mein Gott, erlöse mich von dieser Qual!‹«
»In arabischer Sprache?«, fragte Reihenfels.
»Nein, auf Englisch.«
»So war jenes Mädchen eine Engländerin?«
»Ihre Muttersprache war Englisch. Höre weiter! Unwillkürlich fragte ich ebenfalls auf Englisch sofort wieder, wer dort spräche, und ich erhielt auch Antwort. Ich entsinne mich nicht mehr wörtlich der Unterredung, welche zwischen uns stattgefunden hat, das Weib — es war kein anderes, als das mir bekannte — sprach hastig, als fürchte es immer eine Unterbrechung. Sie wusste, dass ich jener Gefangene der Thugs sei, von dem sie gehört hatte.
Sie bat mich, wenn mir einmal die Flucht gelänge, nach Nordamerika zu gehen und dort ihren Vater zu benachrichtigen, derselbe lebe dort —.«
»Ihr Vater?«, schrie Woodfield in höchster Aufregung und sprang von seinem Stuhle auf.
»Ja, ihr Heimatort hieße BIess — Bless —.«
Der Chinese legte nachdenklich die Hand an die Stirn.
»Blessinworth!«, rief Woodfield.
»Ja, Blessinworth, ich entsinne mich. Es läge an der Hudson Bay. Ihr Vater heiße James Woodfield, sie selbst heiße —.«
»Nancy, Nancy! Ist es nicht so?«
»Ja, Nancy«, sagte der Chinese und trat dicht vor den alten Mann hin,
»und wenn du James Woodfield bist, so soll ich dir sagen, dass deine Tochter Nancy im Tempel der Göttin Kali von den Thugs als Gefangene gehalten wird und hofft, dass du, ihr Vater, noch dereinst kommst und sie befreist. Mehr habe ich nicht gehört, das Gespräch brach schnell ab, wahrscheinlich, weil sie gestört wurde.«
In dem großen Raume trat eine tiefe Stille ein. Man hörte nur das Schluchzen des alten Mannes, der nach sechsundzwanzig Jahren das erste Zeichen, die erste Nachricht, direkt an ihn gerichtet, von seinem Kinde zu hören bekam. Es war zwar ein Schluchzen, wie namenloser Schmerz es erzeugt, aber doch klang es wie ein unterdrücktes Jubeln hindurch.
Als nach langem Warten Woodfield keine neue Frage stellte, weil er von dem eben Gehörten zu sehr angegriffen worden war, nahm Wilkens wieder das Wort.
»Hast du sonst noch etwas mit diesem Mädchen gesprochen?«, fragte er:
»Nein, sie brach mitten in der Rede ab, in welcher sie mich bat, ihren Vater von ihrer Gefangenschaft in Kenntnis zu setzen. Sie beschwor mich wiederholt, es zu tun, wenn ich noch einmal die Freiheit wiedererlangen würde. Eine einmalige Aufforderung hätte schon genügt.«
»Du sahst sie nicht wieder?«
»Nein.«
»Du hast sie auch nicht mehr gesprochen?«
»Nein. Ich machte wiederholt den Versuch, ob meine Stimme von ihr gehört würde — ich erhielt keine Antwort mehr. Bald danach erfolgte meine Flucht. Ich war manchmal geneigt, die Unterredung für einen Traum zu halten. Jetzt aber sehe ich, dass das Weib wahr gesprochen hat, ihre mir erst unverständliche Aufforderung hat das Ohr gefunden, welches sie versteht.
Ich vernahm, dass hier ein Mister Woodfield anwesend ist, und sofort wusste ich, dass dies der Mann war, dem der Auftrag galt.«
»Also hast du auch nicht erfahren, warum ihr Leben verschont worden ist?«
»Ich habe es mir nicht enträtseln können. Ihre Schönheit hielt ich für den Grund, dass man ihr das Leben ließ; aber wiederum suchen Thugs nur darum schöne Mädchen zu fangen, um sie ihrer Göttin zu opfern, das heißt, zu schlachten, weil sie nur schöne, reine Mädchen annimmt oder vielmehr über deren Tod sich freut.«
Wilkens, der die Versammlung leitete, sah sich im Kreise der Zuhörer um.
»Wir haben nun gehört, was uns der Chinese zu sagen hatte. Nach den vielen Zwischenfragen, die gestellt und beantwortet wurden, glaube ich nicht, dass noch ein Zweifel existiert. Oder möchte noch jemand der Anwesenden etwas erfahren?«
Wilkens wartete lange; jedoch niemand nahm das Wort. Reihenfels saß da, den Kopf auf die Hand gestützt und den Chinesen sinnend betrachtend. Als auch er nicht antwortete, fuhr Wilkens fort:
»Ich habe noch eine andere Frage zu stellen. Ich tue es, ohne unseren braven Kiong Jang beleidigen zu wollen, und ich weiß, dass er sie nicht übel nimmt, weil die Verhältnisse sie erfordern. Wir haben gehört, in welcher Weise Sir Carter und Kiong Jang in die Hände der Thugs fielen, wir haben gehört, dass Sir Carter die geheime Order nicht ausgeliefert, den Hochverrat also nicht begangen hat, wir haben von Kiong Jang gehört, wie er und Sir Carter in dem Felsentempel der Göttin Kali als Sklaven ein elendes Leben gefristet haben, wie er geflohen ist, während sich Sir Carter noch dort befindet. Ehe wir nun beraten, auf welche Weise wir ihn und das gefangene Mädchen, anscheinend die Tochter Mister Woodfields, befreien und dem Treiben der Thugs ein Ende machen können — wozu wir nach Inkenntnissetzung der Behörden natürlich die Hilfe Englands erwarten dürfen — muss ich an die Anwesenden die Frage stellen, ob jemand die Glaubwürdigkeit der Erzählung Kiong Jangs bezweifelt.«
»Nein, ich nicht«, erklang es von allen Seiten.
»Und ich ebenso wenig«, fügte Wilkens hinzu, »ich kenne Kiong Jang von früher, auch ich glaube ihm vollkommen. Wenn seine Erzählung an die Öffentlichkeit gelangt, werden zwar viele Zweifler erstehen, und dann ist es unsere Sache, zu beweisen, dass seine Angaben auf Wahrheit beruhen.
Doch ich sah noch zwei Herren, welche nicht beigestimmt haben, Mister Reihenfels und Hira Singh, an dessen Aussagen uns sehr viel, wohl sogar am meisten gelegen ist.«
»Kiong Jang hat mir über das Treiben der Thugs nichts Neues erzählt«, entgegnete der wortkarge Fakir kurz, »was er gesagt, habe ich schon oft gehört, ich glaube ihm.«
»Und Sie, Mister Reihenfels?«
Dieser hatte bisher noch immer, wie in tiefe Gedanken versunken, dagesessen. Jetzt erhob er sich, und man sah ihm an, dass er entweder anderer Meinung war als die Übrigen oder doch noch eine wichtige Sache zu besprechen hatte.
»Auch ich zweifle nicht im Geringsten an der Wahrheitsliebe Kiong Jangs«, sagte er, »aber es scheint mir, als gebe es in seiner Erzählung Punkte, die sich widersprechen. Ich wenigstens kann sie mir nicht zusammenreimen.«
»Herr, ich habe nicht mehr und nicht weniger gesagt, als ich erlebt habe!«, rief der Chinese fast unwillig.
»Du hast in der Überzeugung gesprochen, nur die Wahrheit zu sagen —
das glaube ich dir. Aber in einigen Fällen, wenigstens in einem Falle, musst du dich gewaltig geirrt haben.«
»Was sollte das sein? Wenn du es beweisen kannst, so will ich es zugeben.«
»Gut, lass mich einige Fragen stellen! Glaubst du, dass du dich nach dem Felsentempel zurückfinden wirst?«
Die Zuhörer, deren Spannung gewachsen war, hatten eine andere Frage erwartet, ebenso Kiong Jang. Nach einigem Nachdenken bejahte er.
»Du scheinst deiner Sache nicht sicher zu sein«, fuhr Reihenfels fort,
»und ich kann es mir daraus erklären, weil du, als du entflohen warst, dich in großer Aufregung befandest, denn du wähntest dich immer verfolgt.
Würdest du jenen Talkessel wiederfinden, welchen du durch den Felsengang erreichtest?«
»Ja!«
»Du sprichst das ›Ja‹ jetzt sehr sicher aus. Weißt du es bestimmt? Überlege es dir!«
»Es war ja nicht sehr weit ab von Akola, höchstens sind wir vierundzwanzig Stunden auf einem trabenden Kamel entführt worden. Der Felsen, in dem sich der Tempel befand, muss äußerst hoch und mächtig gewesen sein, ich muss ihn leicht wiederfinden können. Sehe ich die Schlucht, so kann ich auch sofort sagen: Hier ist es, wo ich zuerst das Tageslicht erblickte. Ich gestehe allerdings, dass ich mich damals nicht genügend orientiert habe.«
»Passiertest du auf deiner Flucht Akola?«, examinierte Reihenfels weiter.
»Nein, und hätte ich die Stadt gesehen, ich würde sie vermieden haben, den Grund habe ich schon erwähnt.«
»Aber andere Städte hast du passiert?«
»Keine Stadt, keine Ortschaft.«
»Du hast auch die Namen derer nicht erfahren, die du gesehen?«
»Nein, denn ich wich jedem Menschen aus. In jedem fürchtete ich einen Verräter.«
»In welcher Zeit erreichtest du die Ostküste?«
»Das kann ich nicht sagen. Es dauerte sehr, sehr lange, vielleicht zwei Monate; ich wanderte des Nachts, und ich war erschöpft. Meine Nahrung bestand nur aus rohem Reis, den ich auf dem Felde fand.«
»Bist du in der Provinz Berar, ganz besonders in der Umgegend von Akola, bekannt?«
»Gar nicht, Herr. Ich war mit Sir Carter nur für wenige Stunden dort zum ersten Male. Indien ist groß, ich kenne nur den östlichen Teil.«
»Die Gegend, in der man euch überwältigte, war hügelig?«
»Ja.«
»Und wie war sie, als du den Tempel verließest?«
»Sehr, sehr gebirgig. Himmelhohe Felsen und Berge türmten sich auf, mein Weg war beschwerlich; konnte ich keine Pässe gewinnen, so musste ich wie ein Steinbock klettern.«
»Und wie lange wandertest du in diesem bergigen Teil des Landes?«
»Ich schätze die Zeit auf Wochen.«
»Wie kommt das, da du dich von Akola nur eine kurze Strecke entfernt, in einer hügeligen Gegend befandest und nur etwa vierundzwanzig Stunden transportiert wurdest?«
Der Chinese stutzte einen Augenblick, dann antwortete er: »Ich schlug bei meiner Flucht in der Verwirrung einen falschen Weg ein, der mich von Akola entfernte und in die Berge führte.«
Jetzt wandte sich Reihenfels an die Zuhörer, welche nicht wussten, wohin er mit diesem Verhör zielte.
»Meine Herren, wer von Ihnen kennt genau die Beschaffenheit der Provinz Berar und die ihrer Umgebung?«
Genau konnte diese Frage niemand beantworten, einige meinten, sie sei hügelig, andere, sie sei bergig.
»Und was sagt Hira Singh dazu?«, fragte Reihenfels den Fakir.
»Ich habe verstanden, was mein englischer Freund meint«, entgegnete dieser. »Berar ist nicht bergig, sondern nur hügelig, und das nur in der Umgegend von Akola. Dann hört das Hügelland auf, es wird wieder flach.
Nein, die beiden Gefangenen sind von den Thugs, viel, viel weiter geschleppt worden, als in vierundzwanzig Stunden möglich ist.«
»Und ich«, fügte Reihenfels sofort hinzu, »ich behaupte dies ganz bestimmt. Weder in Berar noch in der Umgebung von Hunderten von Quadratmeilen gibt es einen einzigen Felsen, welcher so groß wäre, dass sich darin auch nur eine kleine Grotte befinden könnte. Sir Carter und Kion Jang sind nicht vierundzwanzig Stunden, sondern viel länger, wahrscheinlich viele Tage lang von den Thugs fortgeschleppt worden. Ich vermute, jener Felsentempel der Göttin Kali befindet sich im Himalajagebirge — so verlautet auch das Gerücht — dorthin sind die beiden gebracht worden, dort befindet sich Sir Carter noch jetzt. Meine Herren«, fuhr Reihenfels mit erhobener Stimme fort, »wir haben zu früh gejubelt, als wir glaubten, dieser von dort entflohene Chinese könnte uns den Weg auch zeigen, um Sir Carter zu befreien und dem Unwesen der Thugs ein Ende zu machen. Nein, noch niemand hat sagen können, wo dieser Felsentempel eigentlich liegt, und Kiong Jang kann es auch nicht. Durch eine an ihm vorgenommene Manipulation ist er vollständig über Ort und Zeit getäuscht worden, er wird den Rückweg nicht wiederfinden können. Wir sind jetzt gerade so weit wie zuerst, doch Kiong Jang ist kein Vorwurf zu machen.«
Die Bestürzung war natürlich eine große. Bei Kiong Jang fanden die Worte Reihenfels' keinen Glauben.
»Oho, wie hätte ich mich so täuschen können!«, rief er. »Ich verlor nur das Bewusstsein, weil man mich so fest in das Sacktuch packte, dass mir fast der Atem verging. Dann muss man mir schnell Luft gemacht haben, denn sonst wäre ich ja erstickt, und so kam ich also auch schnell wieder zum Bewusstsein. Ich weiß bestimmt, dass ich am Abend oder in der Nacht desselben Tages das Ziel, den Felsentempel, erreichte.«
»Durch Mangel an Luft verliert man nicht eher das Bewusstsein, als bis der Tod eintritt«, erwiderte Reihenfels.
»So weit war es eben bei mir.«
»Du machtest also die Qualen des Erstickungstodes durch?«
»Das nicht, ich entsinne mich wenigstens nicht. Aber bedenke auch jene Schreckensnacht, die Gedanken, die mich befielen, als ich erkannte, dass sich die menschenopfernden Thugs unserer bemächtigt hatten.«
»Du glaubst also bestimmt, du wurdest nur 24 Stunden transportiert?«
»Höchstens.«
»Du erwachtest bald aus deiner Betäubung?«
»Sicherlich.«
»Ich behaupte das Gegenteil.«
»Womit?«
»Wie befandest du dich, als du von der dich umhüllenden Verpackung befreit wurdest?«
»Ich war wie zerschlagen. Die Bande waren ja so eng geschnürt, dass ich kein Glied bewegen konnte.«
»Wie lange dauerte es, ehe du den Gebrauch deiner Glieder wiedererlangtest?«
»Stundenlang.«
»Siehst du! Du erzähltest, du hättest noch nach vielen Stunden nur auf Händen und Füßen kriechend dich fortbewegen können; als ihr von den Thugs zum Aufstehen aufgefordert wurdet, bracht ihr beide wieder zusammen; ihr musstet geschleppt werden. Daraus schließe ich, dass ihr viel länger als nur 24 Stunden in den Säcken gelegen habt, ihr seid wahrscheinlich viele, viele Tage lang auf den Tieren in bewusstlosem Zustande transportiert worden, und die Thugs, vielleicht als wandernde Gaukler reisend, haben euch eben wie gefüllte Säcke behandelt und als solche ausgegeben. Was meinst du dazu, Hira Singh?«
Der Fakir war derselben Ansicht wie Reihenfels. Kiong Jang schüttelte den Kopf.
»Ich kann es noch nicht glauben.«
»Dann etwas anderes«, fuhr Reihenfels fort. »Du erzähltest von Sir Carter, er habe, als er mit dir wieder zusammentraf, solch außerordentlichen Hunger und Durst gehabt.«
»Das ist wahr. Im ersten Augenblick dachte er wohl nicht daran, als ich ihm aber sagte, ich hätte Brot und Wasser, verlangte er danach und fiel mit förmlicher Gier darüber her. Glücklicherweise war genug von beidem vorhanden, denn ich hatte schon ungeheuer viel gegessen und den großen Steinkrug bis zur Hälfte geleert.«
»Also auch du warst halb verschmachtet?«
»Ja.«
»Erst, als du in den Felsentempel kamst?«
Jetzt wurde der Chinese stutzig, dann verlegen.
»Nein, schon vorher.«
»Wann?«
»Gleich, als ich aus meiner Betäubung erwachte.«
»Bist du nun eher gewillt, mir zu glauben, dass du nicht nur wenige Stunden bewusstlos gewesen bist?«
»Ja, es scheint mir jetzt so«, gab Kiong Jang kleinlaut zu. »Aber wie ist das nur möglich gewesen?«
»Hira Singh, gib du dein Urteil ab!«, wendete sich Reihenfels an den Fakir.
»Was ich von den Thugs weiß, habe ich nur von anderen vernommen«, begann dieser, »und viel davon mag nur Fabel sein. Wenn das wahr ist, was ich über sie hörte, so kann ich die Erklärung geben: Die Thugs morden ihre Opfer durch Erdrosselung, und werden daher auch Phansigars genannt, denn Phansi heißt Schlinge. Wenn das Opfer durch den Ruck der Schlinge nicht getötet wird, so bekommen die Schlangen es lebendig zu fressen oder es wird der Kali zu Ehren geschlachtet. Die Thugs bestehen aus vier Klassen: die unterste ist die der Spione, der Suthas, welche die Opfer anlocken, dann kommen die Totengräber, die Lughas, dann die Phansigars und schließlich die Erdrosseler, die Buthotes, die mit einem Seidentuch arbeiten.
Das sind die wörtlichen Übersetzungen aus ihrer Sprache, die sie sich selbst gebildet haben, und die Ramasi genannt wird. Die Spione kundschaften ein Opfer aus, die Totengräber bleiben in seiner Nähe und sind den Buthotes oder Erdrosselern behilflich, dass es in den Bereich der Schlinge kommt.
Wenn möglich, suchen sie die Opfer aber lebendig zu bekommen, und zu diesem Zwecke verwenden die Thugs Betäubungsmittel, nach deren Einatmung man den Sinn für Ort und Zeit vollständig verlieren soll.(*) Dies habe ich von vielen Seiten erzählen hören, behaupten kann ich es nicht.«
(*) Das Gift ist Datura Stramonium, der Stechapfelsamen, der in das Chillum der Hukah (Pfeife) gemischt wird und dessen betäubende Dämpfe beim Rauchen eingeatmet werden. Diese Abteilung der Thugs wird von den Engländern Datureas genannt. Außerdem gibt es noch die Dacoits, die nur mit Feuer arbeiten und aus der Kaste der Rechuks stammen.
Reihenfels setzte in längerer Rede auseinander, dass er derselben Ansicht wäre, dass also Sir Carter und Kiong Jang durch eine Substanz betäubt worden seien, ohne dass sie davon etwas gemerkt hätten, weder vorher noch nachher.
Kiong Jang sei also nicht nur 24 Stunden, sondern wahrscheinlich viele Tage lang fortgeschleppt worden, wohin, wisse er nicht, er könne auch den Rückweg nach dem Felsentempel nicht wiederfinden, es sei denn durch Zufall.
Der Chinese gab sein Zugeständnis zu diesen Ausführungen, dadurch zu erkennen, dass er den Kopf hängen ließ.
So hatte man also keine Hoffnung mehr, den Felsentempel so leicht finden zu können, wie man während der Erzählung des Chinesen geglaubt hatte. Eine große Verstimmung bemächtigte sich der Anwesenden, man sah sich vom Ziele weit, weit entfernt.
Da plötzlich sprang Woodfield hastig auf.
»Ich werde jene Mördergrube dennoch finden!«, rief er. »Meine arme Nancy hat mich gerufen, ich habe ihren Verzweiflungsschrei gehört, und ich werde kommen und sie befreien! Ich habe treue Begleiter, welche gewohnt sind, den geringfügigsten Spuren zu folgen, selbst wenn sie kaum zu sehen sind; sie verstehen Schlüsse zu ziehen; mit ihrer und mit Gottes Hilfe werde ich den Felsentempel und in ihm meine Tochter finden. Mögen alle anderen an dem Gelingen zweifeln und das Suchen aufgeben, ich tu's nicht!«
»Davon ist keine Rede«, entgegnete Wilkens ruhig. »Wir sind Männer, die sich nicht so leicht entmutigen lassen. Ich denke übrigens, wir haben Anhaltepunkte, so zum Beispiel den Radscha von Tipperah, der ohne Zweifel früher die Rolle eines Priesters der Thugs spielte, ferner Monsieur Francoeur der mit ersterem im Bunde war. Haben sich diese auch, durch irgend etwas gewarnt, uns durch Flucht entzogen, so kennen wir sie doch, und sie zu finden, soll unsere Aufgabe sein. Auch ist da jener Räuber, der sich als Marquis entpuppt hat. Er stand, wie sich herausgestellt hat, mit Francoeur in reger Verbindung und wird uns sicher etwas erzählen können. Dass er geflohen ist, darüber wollen wir uns nicht beunruhigen — wir wollen seiner bald wieder habhaft werden. Also, Mister Woodfield, die Sache ist noch nicht verloren. Zählen Sie dabei auf unsere Hilfe!«
»Was sagen Sie denn zu dem, was jener Gaukler über Mister Westerly geäußert hat?«, fragte ein anderer Herr. »Wir sind unter uns, wir dürfen darüber sprechen.«
»Ich vermeide es aber, hier meine Meinung zu äußern, ob etwas Wahres daran ist oder nicht«, entgegnete Wilkens. »Diese Sache gehört auch nicht hierher, sondern vor eine höhere Versammlung. Das beste ist, dass wir vorläufig darüber schweigen. Vielleicht wird später die ganze Wahrheit enthüllt, und dann mag sich jener Herr verantworten.«
Ein zur geheimen Polizei Londons gehöriger Beamter betrat das Zimmer und überbrachte Wilkens ein Schreiben. Als dieser es gelesen, sagte er:
»Meine Herren, soeben erhalte ich als Detektiv eine Nachricht, welche eigentlich nur die Polizei angeht, die ich Ihnen aber mitteilen will, weil sie für Sie Interesse haben wird. Wir haben abermals jemanden verloren, der uns Angaben machen könnte. Heute Morgen wurde unterhalb Londons an einer Sandbank in der Themse ein männlicher Leichnam angetrieben. Die Feststellung der Personalien hat ergeben, dass es die Leiche des Marquis Alphons von Lacoste ist, genannt die schwarze Maske. Da keine sichtbare Verletzung vorhanden ist, so liegt die Vermutung nahe, dass dieser Räuber, der Spross eines altadeligen Geschlechts, seinem schimpflichen Leben durch Selbstmord ein Ende gemacht hat!«
Die Wände haben Ohren, das heißt, Lauscher finden sich immer und überall, und ganz besonders in England, wo es von Zeitungsreportern wimmelt.
Keiner derjenigen, die der Erzählung des Chinesen beiwohnten, hatte geplaudert, und doch war alles in die Öffentlichkeit gelangt.
Auch Westerlys Ohr hatte die Erzählung erreicht, er hätte gar nicht so unter der Hand danach zu forschen brauchen, und fort und fort klangen in ihm die Worte wieder: Und der, der sie freit, ist der, welcher uns von der geheimen Order in Kenntnis gesetzt hat. Er ist der Hochverräter.
Damit war er, Westerly, gemeint, und seit dem Hören dieser Worte war es mit seiner Ruhe vorbei.
Des Gauklers Prophezeiungen hatten sich bis zu dem Zeitpunkte erfüllt, da dem Chinesen die Flucht gelungen war.
Kiong Jang war in Westerlys Augen ein Schurke. Jetzt hätte er schon Gatte der reichen Lady Carter sein können, all das Besitztum der kinderlosen Frau hätte schon ihm gehört. Aber da musste dieser gelbhäutige Schuft im letzen Augenblicke kommen und alle seine Pläne zerstören.
Was mochte erst sein Los sein, wenn Kiong Jang den Weg nach dem Felsentempel zeigte, wenn Carter lebend gefunden wurde, und wenn dann, nachdem alles ans Tageslicht gekommen war, gegen ihn, Westerly, die Klage des Hochverrats erhoben wurde? Vorderhand war sein einziger Trost, dass noch niemand, selbst Kiong Jang nicht, wusste, wo der Felsentempel eigentlich lag. Jetzt herrschte am meisten noch der Unwille darüber in Westerly vor, dass aus der Heirat nichts geworden war. — —
Westerly saß in dem zur ebenen Erde gelegenen Zimmer seines Häuschens in Greenwich, des letzten Besitzes, welches er aus einem wüsten Leben gerettet hatte.
Eine Tür ging nach dem Garten hinaus; man sah durch die Glasfenster Büsche und Bäume und hörte das Rauschen der Themse, welche, dicht an der Besitzung vorbeifloss.
In diesem Zimmer befand sich Westerly und las im Scheine der untergehenden Sonne einen Brief aus Indien, welchen ihm die Abendpost nebst einem Paket gebracht hatte.
Der Brief war von einem Freunde, mit dem Westerly einst als Sekretär zusammen in Indien stationiert gewesen war. Dieser Freund, in dem Glauben, dass Westerlys Hochzeit schon vor sich gegangen sei, gratulierte ihm herzlichst nachträglich und wünschte ihm und seiner Gemahlin Glück und Segen auf dem ferneren Lebenswege.
Mit einem Fluche sprang Westerly auf und durchmaß das kleine, für einen Junggesellen recht niedlich ausgestattete Zimmer.
»Hölle und Teufel«, knirschte er, »man könnte fast annehmen, dass diese Freunde und Bekannten im Auslande alle ihren Spott mit mir treiben! Diese Blamage für mich, diese Schadenfreude für andere, wenn sie erfahren, wie ich im letzten Augenblicke gleich einem nicht mehr gebrauchten Gegenstande zur Seite geworfen bin. Hölle und Teufel, ich fühle, wie mir beim Lesen eines jeden solchen Glückwunschbriefes die Schamröte ins Gesicht steigt!«
Mit geballten Fäusten ging er auf und ab und betrachtete mit bitteren Empfindungen die Einrichtung des Zimmers. Das Häuschen und ein kleines Vermögen war alles, was er noch besaß, es reichte kaum, seine Bedürfnisse zu befriedigen, so sehr er auch diese in letzter Zeit reduziert hatte. Als er die reiche Heirat für gewiss hielt, hatte er überdies Schulden gemacht.
Was nun? Sollte er die in Indien gesammelten Reliquien und Kunstschätze für einen Spottpreis veräußern, um seine ihn drängenden Gläubiger zu befriedigen? Nein, so weit war es noch nicht. Nur Ruhe, es kamen ihm schon Gedanken, auf welche Weise er sich über Wasser halten konnte! Er nahm wieder Platz und las den Brief weiter.
»Ich kenne deine Vorliebe für alte, ausländische Waffen«, schrieb der Freund, »du hast manchen Leichenhügel nach ihnen durchwühlt und mit manchem jüdischen Händler stundenlang gefeilscht, um in den Besitz einer Seltenheit zu kommen. So glaube ich dir denn eine Freude zu machen, wenn ich deiner Sammlung beifolgenden Dolch einverleibe, den ich nach vieler Mühe einem alten Inder abhandelte...«
»Hahaha«, lachte Westerly, »schickt mir der Narr als Hochzeitsgeschenk einen Dolch, eine alte, von Rost zerfressene Waffe. Oder sollte das vom Schicksal ein Fingerzeig sein, dass es für mich besser wäre, wenn ich die Klinge gegen mich erhöbe? Torheit, so weit ist es mit mir noch nicht! Nun, wollen einmal sehen, was für ein Monstrum mein alter Freund mir da schickt.«
Er öffnete das Paket, entfernte mehrere Papierschichten, musste noch verschiedene Leinwand zerschneiden, bis ein schön gearbeiteter Kasten aus wohlriechendem Holze zum Vorschein kam. Beim Druck auf einen Knopf sprang der Deckel auf, und aus dem Kasten drang, von den Strahlen der Abendsonne erzeugt, ein wunderbares Feuergefunkel von Diamanten. Auf dem schwarzen Samtgrunde des länglichen Behälters lag ein gebogener Dolch in goldener Scheide, diese wie der Griff reich und in künstlerischer Form mit Edelsteinen besetzt. Westerly war von Bewunderung ergriffen. Er nahm den Dolch und näherte sich dem Fenster, mit Kennerblick die Arbeit prüfend.
»Fürwahr, alter Freund«, murmelte er, »ich habe dir unrecht getan. Dieser Dolch wäre ein Hochzeitsgeschenk, dessen sich kein Fürst zu schämen brauchte. Ich hoffe, dass ich nicht einmal in die Lage komme, es veräußern zu müssen. Eine anständige Summe würde ich allerdings dafür erhalten, vielleicht ein Vermögen. Nun, alter Freund, ich danke dir zwar herzlich, aber deinen Großmut bewundere ich nicht besonders. Du bist eben ein Glückspilz; Fortuna hat ihre Gaben in unerschöpflicher Fülle in deinen Schoß geworfen.«
Westerly legte den Dolch vorläufig achtlos auf den Tisch und verglich sein eigenes Leben mit dem seines Freundes.
Dieser hatte wirklich sein Glück in Indien gemacht, wenn es unter Reichtum verstanden werden darf.
Er hatte die Tochter eines kleinen Nabob geheiratet, also eine Inderin mit einer ungeheuren Mitgift. Westerly entsann sich noch recht gut des Familiennamens dieses Mädchens, weil dessen Bruder erst vor einigen Jahren von der Königin von England im höchsten Grade ausgezeichnet worden war. Dieser Bruder, Dollamore, hatte eine Verschwörung gegen England entdeckt und sich nicht begnügt, dieselbe anzuzeigen, sondern sie selbst mit einigen rasch um sich gesammelten Treuen im Keime erstickt.
Überall, wohin Westerly blickte, sah er Reichtum, Glück und Ehre, er selbst hatte davorgestanden, da aber war ihm ein Strich durch die Rechnung gemacht worden.
Lange, lange saß er so in trübe Gedanken versunken da und gedachte nicht mehr des wertvollen Dolches. Er bemerkte auch nicht, wie es immer finsterer wurde, bis in der Stube vollkommene Dunkelheit herrschte.
Da trat ohne Aufforderung Aleen ein, seit langen Jahren Westerlys indischer Diener, und brachte die brennende, von einem grünen Schirm verhüllte Lampe.
Aleen war ein Inder von etwa fünfzig Jahren mit kurzem, schwarzem Vollbarte, großer Nase und Augen, welche keinen Augenblick stillstanden, sondern scheu ununterbrochen umherwanderten.
Überhaupt trug Aleen ein sonderbares Wesen zur Schau. Er war gegen jeden kriecherisch höflich, aber dabei immer ängstlich, wenn er mit jemandem sprach; es war, als würde er von einer beständigen Angst verfolgt.
Seinem Herrn war er äußerst treu ergeben. Westerly hätte von ihm verlangen können, was er wollte, der Inder hätte es für ihn getan. Diese Zuneigung kam daher, dass Westerly ihn einmal aus einer Schlimmen Lage befreit hatte, als Aleen beinahe von seinen eigenen Landsleuten getötet worden wäre.
Er hatte einst zu Madras versehentlich einen heiligen Affen getötet und war von dem wütenden, fanatischen Pöbel verfolgt worden, als Westerly dazukam und in einem Anfalle von Großmut den dem Tode Geweihten in Schutz nahm. Durch Herbeirufen einer eben vorübermarschierenden Abteilung englischer Soldaten gelang es ihm, den Nachstürmenden Halt zu gebieten und den Strafwürdigen in Sicherheit zu bringen.
Aleen vergaß ihm dies nie; Westerly wusste, was er an ihm für einen Getreuen hatte und kümmerte sich nicht weiter um das seltsame, scheue Wesen des Dieners.
Als der Inder, bekleidet mit gelben Schnabelschuhen, weißen engen Beinkleidern, langem rotem Rock und mit einem mächtigen Turban von derselben Farbe eintrat, erhob sich Westerly, um wieder im Zimmer auf und ab zu gehen. In einer dunklen Ecke blieb er aber stehen und betrachtete überrascht das Gebaren seines Dieners.
Aleen wollte die Lampe auf den Tisch setzen, als er den Dolch erblickte; plötzlich fing seine Hand so an zu zittern, dass sie kaum noch die Lampe halten konnte.
Sein Benehmen war ganz verstört.
Er ging der Tür zu, drehte sich wieder um; das Auge starr auf den Dolch geheftet, näherte er sich dem Tische, ergriff die Lampe, hob sie auf, als wollte er sie hinaustragen, und setzte sie wieder hin.
Dann streckte er die Hand aus, um den Dolch, zu ergreifen, zog sie aber wie erschrocken zurück.
»Aleen, was hast du?«, rief Westerly aus seiner Ecke hervor.
Der Inder schrak furchtbar zusammen. Wieder griff er nach der Lampe.
»Was ist denn mit der Lampe?«, fragte Westerly.
»Sie raucht, Sahib«, stammelte der Inder.
»Unsinn, lass sie stehen! Belüge mich nicht, Aleen, der Dolch ist es, der dich so unruhig macht!«
Damit näherte er sich dem Diener.
»Der Dolch, Sahib? Welcher Dolch?«, stotterte dieser.
»Verstelle dich nicht, dieser da! Was ist mit ihm?«
Des Inders braunes Gesicht wurde aschfahl, seine Lippen waren blutleer, als er den Dolch aufnahm und ihn betrachtete. Die Hand, die ihn hielt, zitterte wie Espenlaub.
»Nun, was ist's mit ihm?«
»Sahib, das ist ein wertvoller Dolch.«
»Gewiss, die Diamanten sind kostbar. Kennst du aber den Dolch?«
»Ja, Sahib, ich kenne ihn! Es existieren in Indien nur zwei solche Dolche, beide gehören mächtigen Radschas. Sieh hier die milchweißen Opale, in Halbmonden zusammengestellt. Dies ist einer der beiden Dolche.«
»So, das freut mich zu hören. Also ist er wegen seiner Seltenheit doppelt kostbar. Aber was sollte es wohl für eine Seltenheit sein? Man kann ihn ja nachmachen. Besonderes Alter verrät er eben nicht.«
Aleen zog den Stahl aus der Scheide, und sein Gesicht nahm dabei einen furchtbaren Ausdruck an. Es drückte zu gleicher Zeit Angst, Verzweiflung und eine wilde Unentschlossenheit aus. So hatte Westerly seinen Diener noch nicht gesehen. Als derselbe so, mit dem blanken, blauen Stahle, der mit eingeätzten Zeichen und Arabesken bedeckt war, vor ihm stand, begann er sich fast vor ihm zu fürchten.
Der Inder hob den Stahl hoch und deutete auf die nach, unten gerichtete Spitze.
»Siehst du den Tropfen an der Spitze hängen?«, fragte er mit heiserer Stimme und rollenden Augen. Westerly konnte nichts sehen.
»Doch, diesen Tropfen, wie er in allen Farben schillert!«
»Ich sehe nichts.«
Aleen schwenkte den Dolch, als wolle er den Tropfen abspritzen.
»Es ist das Gift«, sagte er dann leise.
»Indische Dolche sind oft vergiftet.«
»Aber nicht so wie dieser. Nur zwei Dolche in ganz Indien gleichen ihm.«
Er stieß den Stahl in die Scheide zurück, zog ihn wieder heraus und deutete abermals auf die Spitze.
»Siehst du den Tropfen hängen?«
Westerly sah genauer hin.
»Du täuschst dich, es ist keiner daran!«
»Es ist einer daran! Siehst du ihn denn nicht? Wie er glänzt, wie er schimmert, in allen Regenbogenfarben, wie das Gift der Cobra!«
Westerly wollte den Dolch nehmen, doch schnell zog Aleen die Hand zurück.
»Rühr ihn nicht an!«, schrie er laut und in höchstem Entsetzen, dass Westerly erschrocken zurückprallte. »Rühr ihn nicht an! Das ist kein Gift, wie Menschen es herzustellen verstehen, das ist Gift, gebraut von den Feuergeistern, welche die giftigen Pflanzen treiben.«
»Ist das Gift so furchtbar?«
»Entsetzlich! Es ist kein Stich, nur eine Berührung nötig, und der Getroffene sinkt auf der Stelle tot nieder, ohne noch ein Wort, einen Schrei ausstoßen zu können. Ein leichtes Ritzen der Haut genügt schon, nicht einmal sichtbar.«
Er stieß den Stahl zurück, legte ihn auf den Tisch, machte gegen Westerly mit über dem Kopf gehaltenem Arm eine tiefe Verbeugung und schritt der Tür zu.
Im Rahmen derselben drehte er sich noch einmal um.
»Ein furchtbares Gift, Sahib«, murmelte er. »ein furchtbares Gift! Es tötet, wenn die Spitze nur die Haut ritzt, es tötet ohne Schmerz und ohne Schrei auf der Stelle! Ein entsetzliches Gift, Sahib!«
Kopfschüttelnd blickte Westerly ihm nach.
»Der Kerl ist manchmal nicht ganz richtig im Kopf, oder aber er hat ein sehr schlechtes Gewissen, vielleicht einen Mord auf der Seele, und es sollte mich gar nicht wundern, wenn er ihn mit diesem oder einem ähnlichen Dolche ausgeführt hätte. Wie er beim Anblick desselben erschrak! Wie er erbleichte, zitterte, die Augen verdrehte, als er sich von mir beobachtet fand. Nun, meinetwegen mag er verbrochen haben was er will, wenn er mir nur treu ist und nicht plaudert.«
Er versenkte sich noch einmal in die Betrachtung der wertvollen Waffe, ging aber dabei sehr vorsichtig mit ihr um, denn er schenkte Aleens Worten Glauben. Die Inder verstehen es, ihre Waffen mit Giften zu imprägnieren.
So oft Westerly aber auch den Stahl hervorzog, von einem Tropfen an der Spitze konnte er nie etwas entdecken.
Dann erging er sich in Schätzungen des Wertes der einzelnen Steine und brachte eine namhafte Summe zusammen.
Plötzlich strich ein leiser Luftzug durchs Zimmer. Erschrocken wendete Westerly den Kopf nach der Tür, die nach dem Garten führte; sie war geöffnet, und im Rahmen stand eine hohe Gestalt in schwarzem Mantel und breitkrempigem Hut, unter dem ein blasses, schwarzbärtiges Gesicht mit tiefliegenden Augen hervorsah.
Westerly behielt den Dolch in der Hand und stand auf.
»Haben Sie Ihren Weg verfehlt oder glaubten Sie, hier niemanden vorzufinden?«
Der Fremde benahm sich nicht verdächtig. Er nickte zum Zeichen, dass Westerly nichts von ihm zu fürchten habe.
»Wissen Sie, wer ich bin?«, fragte eine sonore Stimme.
»Nein, geben Sie sich nicht zu erkennen! Ich bin kein Liebhaber von solch mystischen Besuchen.«
»Wenn Sie meinten, ich kam in dem Glauben hierher, niemanden vorzufinden, also recht gemütlich eine Haussuchung vorzunehmen, so hatten Sie meinen Charakter allerdings erkannt«, erklang es spöttisch; »denn ich werde die schwarze Maske genannt. Das schwarze Läppchen hat man mir freilich abgenommen.«
Vor Westerly stand also der überall steckbrieflich und von zahlreichen Polizisten verfolgte Räuber.
»Wie? Sie wagen, zu, mir zu kommen?«, rief Westerly, sich empört oder erstaunt stellend, während es ihm eigentlich recht schwül zumute wurde.
»Es ist meine Pflicht, Sie festzunehmen und dem Gericht auszuliefern!«
»Das werden Sie nicht tun!«, entgegnete der Bandit ruhig und trat völlig in die Stube. »Wissen Sie, wer ich bin?«
»Ein von der Polizei verfolgter Räuber!«
»Ja, und nebenbei der Bräutigam der Madame Dubois, welche Sie doch kennen.«
»Was schwatzen Sie da für Unsinn? Entfernen Sie sich, oder ich schlage Lärm und lasse Sie festnehmen!«
»Wenn Ihnen so viel an meiner Festnahme gelegen wäre, so hätten Sie es ja schon längst tun können. Drohen Sie mir also nicht mehr mit solchen Redensarten, die haben bei mir gar keinen Zweck. Ich stelle mich Ihnen nochmals als Bräutigam der Madame Dubois vor.«
»Was gehen mich Ihre Verhältnisse an?«
»Sehr viel. Ich war nahe daran, der Schwager des Monsieur Francoeur zu werden. Kennen Sie vielleicht den Herrn?«
»Oberflächlich.«
»Was Sie sagen! Sehen Sie, ich stand mit Monsieur Francoeur in sehr, sehr intimem Verkehr, natürlich, ich wollte ja seine Schwester heiraten —«
»Warum haben Sie es nicht getan?«
»Meine Braut ist mir durchgebrannt und hat ihren Bruder mitgenommen.
Die mir übermittelte Mitgift ist wertlos geworden, weil sie in einer Anweisung bestand — Sie wissen ja, warum sie wertlos werden musste.«
»Ich begreife nicht, warum Sie mir das alles erzählen! Es interessiert mich nicht. Ich nehme zwar Teilnahme an Ihnen, aber —«
»Bitte, sparen Sie die Worte! Ich möchte die mir versprochene Mitgift von Ihnen holen, aber in bar!«
»Von mir?«
»Von Ihnen!«
»Sie Sind — —«
»Wahnsinnig? Durchaus nicht! Wenn Sie nicht geneigt sind, mir durch Auszahlen einer größeren Summe, die ich nachher bestimmen werde, zur Flucht behilflich zu sein, so werde ich festgenommen, und dann kenne ich keine Rücksicht mehr. Ich werde alles erzählen, was ich durch Monsieur Francoeur und seine Schwester über Sie erfahren habe.«
Mit einem hörbaren Ächzen ließ sich Westerly auf den Stuhl fallen. Er sah sein Geheimnis abermals einem gewissenlosen Menschen, einem Verbrecher preisgegeben, der ihn vernichten konnte.
»Nun, sind Sie bereit, mich zu unterstützen?«, fragte Lacoste.
Westerly sammelte sich. es gelang ihm, Gleichgültigkeit zu heucheln.
»Was hat denn Monsieur Francoeur von mir zu erzählen gehabt? Ich wüsste nichts Besonderes, wie ich überhaupt nur selten mit ihm verkehrt habe«, sagte er ruhig.
»Reden Sie doch nicht!«, lachte Lacoste. »Die Heirat war zwar von Ihnen projektiert, Francoeur aber machte sie möglich, indem er Carter durch eine Schwindelei für tot erklären ließ. Habe ich recht?«
Westerly starrte den Sprecher mit gläsernen Augen an.
»Ferner hat mir Monsieur Francoeur erzählt«, fuhr dieser gelassen fort,
»dass Sie nicht der Sohn des Lords Westerly sind, sondern nur ein Bastard von diesem und einer halbblütigen Inderin, und das Geheimnis, dass Sir Carter eine geheime Order bei sich trug, haben Sie ebenfalls —«
»Schweigen Sie«, zischte Westerly, »oder reden Sie wenigstens nicht so laut!«
»Also Sie fühlen sich getroffen?«
»Sie sprechen furchtbare Anklagen aus.«
»Die ich beweisen kann! Ich kenne den Aufenthaltsort Ihrer werten Frau Mutter, die als ehrwürdige Greisin in Indien einen recht hübschen Bungalow bewohnt und eine kleine Rente genießt, ebenso eine gewisse Ayda, Frau im Harem eines indischen Großen —«
»Hören Sie auf«, knirschte Westerly, »es ist genug! Was verlangen Sie von mir für Ihr Schweigen?«
Wie spielend hatte er den Dolch vom Tisch genommen und den Stahl aus der Scheide gezogen.
»Lassen Sie das Ding stecken«, sagte der Bandit kalt, »mit so etwas können Sie mir gar nicht imponieren. Ich bin, obgleich französischer Marquis, Räuber von Profession und gewohnt, mit Bewaffneten umzuspringen. Sie würden mir mit dem Ding da höchstens die Haut ritzen, dann würde der Dolch in Ihr eigenes Herz fahren.«
»Sie haben sich kürzlich nicht eben geschickt gezeigt.«
»Weil ich mich überrumpeln ließ? Mein Gott, das kann jedem einmal passieren. Ich war meinen Wächtern schnell genug wieder entschlüpft.«
»Nachdem Sie alles verraten hatten.«
»In der Not frisst der Teufel, Fliegen! Doch wir schweifen ab. Wollen Sie mir meine Verschwiegenheit abkaufen? Ich bin nicht teuer.«
»Und wenn ich es tue, wer bürgt mir dafür, dass Sie nicht morgen schon wieder kommen und eine neue Summe verlangen?«
»Der Grund, dass ich das nicht tue, ist sehr einleuchtend. Ich werde verfolgt, und zwar wie ein toller Hund. Sofort, wenn ich also Geld habe, verlasse ich England und werde mich hier niemals wieder sehen lassen. Ich will nur genügend Geld zur Flucht haben.«
»Wohin gehen Sie?«
»Nach Indien.«
»Warum?«
»Meine Braut ist dort, und ich kann nicht von ihr lassen, wenn sie mir auch durchgebrannt ist.«
Westerly wusste, dass dies nur Spott war. Lacoste hatte einen ganz anderen Grund, nach Indien zu gehen — er wollte sich wieder Francoeur anschließen.
»Warum unterstützte Francoeur Sie nicht?«
»Er hatte es mit seiner Abreise so eilig, dass er vergaß, mir bares Geld zu hinterlassen.«
»Nun gut, wie viel brauchen Sie?«
»So viel, um die Augen, welche mich beobachten könnten, mit Gold zu blenden, damit sie meine Flucht nicht sehen. Sie kennen das Sprichwort; wie gewonnen, so zerronnen. Ich habe mir ein anderes gebildet, und das heißt: wie erbeutet, so vergeudet, das heißt mit anderen Worten, ich habe von dem Ertrage meiner Beutezüge nichts, rein gar nichts ins Trockene gerettet, ich bin augenblicklich vollständig mittellos. Wenn man aber vor der Polizei fliehen oder sich vor ihr verbergen will, so braucht man vor allen Dingen Geld. Da ich keins habe, führe ich ein Leben wie ein gehetzter Hund, nie und nirgends bin ich sicher, auch nicht hier bei Ihnen.
Konstabler können mich über den Gartenzaun steigen gesehen haben und hier Suche nach mir halten...«
»Dann machen Sie schnell, dass Sie fortkommen! Wie viel brauchen Sie?«
»Mit tausend Pfund ist mir geholfen.«
»Tausend Pfund?«
»Ja, nicht mehr.«
»Sie sind verrückt! So viel beträgt kaum noch mein Vermögen.«
»Dann geben Sie Ihr Vermögen her!«
»Einschließlich des Hauses.«
»Verkaufen Sie es!«
Westerly spielte mit dem Dolch und blickte starr vor sich hin. Keine Gesichtsmuskel zuckte, der Räuber ahnte nicht, was in Westerly vorging.
Er glaubte, derselbe überlege sich, ob er die geforderte Summe schaffen könne.
»Sie lassen nicht mit sich handeln?«, fragte der Bedrängte schließlich mit gepresster Stimme.
»Nein! Tausend Pfund und nicht weniger! Dann haben Sie auch vor mir Ruhe.«
»Gut, ich will sehen, ob ich Sie befriedigen kann.«
»Natürlich gleich jetzt, wenigstens noch heute Nacht. Die Zeit drängt.«
Westerly ergriff eine Glocke und klingelte.
»Wen rufen Sie?«, fragte Lacoste rasch, den Hut in das Gesicht ziehend.
»Einen indischen Diener, treu wie Gold. Sie brauchen sich nicht vor ihm zu verbergen.«
Aleen trat ein. Misstrauisch musterte ihn Lacoste, und ebenso scheu und unruhig wie gewöhnlich wanderten des Inders Augen von seinem Herrn, mit dem er sprach, fortwährend zu dem Fremden hinüber, als habe er von diesem etwas Schlimmes zu erwarten.
»Hat Mister Neward heute seine Karte abgegeben?«, fragte Westerly den Inder.
»Nein, Sahib.«
»Also er war nicht da. Es ist gut.«
Aleen ging wieder hinaus.
»Ich hatte heute meinen Rechtsanwalt zu mir bestellt«, wandte sich Westerly an Lacoste, »war jedoch den ganzen Tag nicht zu Hause. Er sollte mich über den Stand meiner Vermögensverhältnisse aufklären, mir mitteilen, was noch zu retten ist.«
Der Räuber wusste natürlich nicht, dass das Hereinrufen des Inders nur eine diplomatische List gewesen war. Westerly war ja Diplomat und hätte es, wenn er seine Karriere nicht verlassen, darin infolge seiner Begabung weit bringen können.
»Was geht mich das alles an?«, entgegnete Lacoste schroff. »Ich frage Sie: Sind sie gewillt, mir die verlangten tausend Pfund Sterling zu geben?«
.Ja.«
»Jetzt sofort?«
»Ich habe sie nicht, ich muss sie erst schaffen.«
»Was Ihnen ein leichtes sein wird.«
»Nicht so leicht, wie Sie denken.«
»Ich muss sie bis morgen haben. Sie sind noch immer ein wohlhabender Mann; wer einen mit Diamanten besetzten Dolch auf dem Tisch liegen hat und mit ihm spielt, für den bedeuten auch tausend Pfund nicht viel, und übrigens wird es Ihnen nicht schwer fallen, sollten Sie das Geld wirklich nicht haben, sich diese Summe irgendwo zu borgen.«
»Ich habe keinen Kredit mehr.«
»Mir gleichgültig, ich brauche das Geld. Wann soll ich es mit abholen und von wo?«
Nach einigem Überlegen entgegnete Westerly:
»Seien Sie morgen Abend um dieselbe Zeit wieder hier, ich werde Ihnen das Geld einhändigen. Ich hoffe aber, dass ich dann vor Ihnen Zeit meines Lebens Ruhe haben werde.«
»Dessen dürfen Sie vollkommen versichert sein, ich werde mich hüten, den englischen Boden noch einmal zu betreten, oder auch nur ein Lebenszeichen von mir nach hier zu geben. Hüten Sie sich aber, mich noch länger hinhalten zu wollen. Habe ich das Geld morgen Abend nicht, so komme ich nicht wieder, denn es ist mir nicht möglich, mich noch länger hier versteckt zu halten. Dann aber kenne, ich keine Rücksicht mehr, ich würde dafür sorgen, dass Sie entlarvt werden.«
»Genug der Worte! Ich werde zahlen und verlange dafür unbedingtes Schweigen. Doch ich muss noch bemerken, dass ich auf keinen Fall durch Ihr Kommen kompromittiert werden darf.«
»Ohne Sorge, man soll mich nicht zu Ihnen gehen sehen, ich komme bei Nacht und vorsichtig.«
Lacoste entfernte sich ohne Abschiedsgruß durch die Gartentür. Westerly sah ihn wie einen Schatten zwischen den Büschen verschwinden. Dann blitzten seine Augen in unheimlichem Feuer auf, ein Entschluss schien in ihm zu entstehen, welcher der Absicht des Räubers entgegen ging.
Der Plan, den Westerly spann, während er, den Kopf in beide Hände gestützt, am Tische saß, war ein furchtbarer.
Er entwickelte dabei eine Kombinationsgabe, die einer besseren Sache wert gewesen wäre.
Das rote Licht der Lampe begoss sein schönes, scharf markiertes Gesicht und die hohe Stirn mit blutigem Schein, und blutige Gedanken waren es auch, die in seinem Gehirn wühlten oder vielmehr nicht wühlten, sondern sich in klarer Aufeinanderfolge ordneten, bis sie sich zu einem großen Ganzen gebildet hatten.
Westerly lieferte hier den Beweis, dass er zum Diplomaten geboren war, der mit gegebenen Größen rechnen und die Verhältnisse seinem Willen dienstbar machen kann.
Dann ließ seine Hand die Tischglocke ertönen, sie rief Aleen herein.
Westerly wendete sich ihm zu, schlug die Beine übereinander, stützte sich auf die Stuhllehne und schaute den Inder mit durchdringenden Blicken an.
Dieser stand in unterwürfiger Haltung vor seinem Herrn, ohne ihn anzuschauen, er fühlte aber dessen Blicke, und als die durchbohrenden Augen minutenlang auf ihm ruhten, konnte er seine Unruhe kaum mehr bemeistern; er wusste nicht, was er tun sollte. Seine Finger zuckten nervös, und seine Augen wanderten durchs ganze Zimmer, nur denen Westerlys immer ausweichend.
»Sahib?«, brach er endlich das Schweigen.
Seine Stimme klang, als stäke ihm etwas im Halse.
»Aleen«, begann Westerly, »kanntest du den Herrn, welcher mich eben verlassen hat?«
Wie erschrocken schaute der Inder auf, doch er senkte die Augen schnell wieder.
»Er kommt aus Indien«, sagte Westerly, als er keine Antwort erhielt.
»Es sind viele Engländer in Indien.«
»Du kanntest ihn wirklich nicht?«
»Nein, Sahib.«
»Er aber kannte dich, Aleen.«
»Das ist nicht wahr!«, fuhr der Inder auf, und sein Gesicht drückte dabei fast Entsetzen aus.
»Doch, er kannte dich von Indien her.«
»Nicht möglich, Sahib!«
»Es ist so. Er ist dir in Indien begegnet und heute zum ersten Male wieder hier. Er hat dich sofort wiedererkannt. Warum sollte das überhaupt nicht möglich sein?«
»O — ich — ich dachte nur so, Sahib«, stammelte Aleen, dessen Verwirrung wuchs.
Eine lange Pause folgte; fest ruhten Westerlys Augen inzwischen auf dem Inder.
»Aleen«, begann ersterer dann wieder, »du bist mir nun seit zwanzig Jahren ein treuer Diener gewesen.«
»Du findest keinen treueren Menschen, Sahib«, murmelte der Inder, sich verbeugend.
»Und ich war immer sehr zufrieden mit dir.«
»Du wirst es stets sein.«
»Warum aber hast du Geheimnisse vor mir?«
»Ich habe keine. Mein Herz liegt wie ein Spiegel vor dir.«
»Du lügst!«
»Sahib!«
»Jener Herr hat mir von dir und deiner Vergangenheit erzählt.«
Der Inder zuckte zusammen.
»Was sollte er von mir zu erzählen haben?«, murmelte er dumpf.
»Sprich, Aleen, was hast du früher begangen?«
»Ich — Sahib — ich? Nichts — nichts — ich weiß von nichts — ich bin — bin...«
Aleen wurde von einem furchtbaren Schrecken befallen, er konnte kaum noch sprechen.
»Ja, was hast du begangen?«, fragte Westerly streng. »Der Herr, ein Freund von mir, hat Andeutungen über dich gemacht, er warnte mich vor dir. Offen wollte er nicht sprechen, es wäre zu fürchterlich, was du begangen hättest. Er fragte mich zuerst, wie ich zu diesem Dolche hier käme, und als du eintratest, erkannte er dich; er sagte, du ständest zu diesem Dolche in einem Verhältnis, du hättest mit ihm eine ungeheuerliche Tat ausgeführt.
Was hast du getan? Sprich, ich muss es wissen, oder du kannst nicht länger mein Diener sein!«
»Nichts, Sahib!«, hauchte der Inder, dessen Aussehen dem eines Toten glich.
»Also du willst es mir nicht gestehen? Nun, morgen Abend kommt der Herr wieder, er will den Dolch kaufen, und da wird er mir wohl sagen, was er von dir weiß. Eher gebe ich den kostbaren Dolch nicht aus den Händen, den er durchaus besitzen will.«
Der Inder war vollständig geknickt, er zitterte wie Espenlaub.
»Morgen — morgen — Abend — kommt er — wieder?«, stammelte er endlich.
»Morgen Abend, ja, und in deiner Gegenwart soll er mir von deiner Vergangenheit erzählen. Geh jetzt und überlege dir, ob du gestehen willst. Erst aber lege den Dolch in das Kästchen und setze es dort auf den Schrank!«
Der Inder tat, wie ihm geheißen, und entfernte sich dann mit schleppenden Schritten. Er ahnte nicht, dass Westerly sein Gesicht in einem Wandspiegel beobachtete.
Westerly sah schreckliche, von einer wilden Leidenschaft entstellte Züge.
»Ich werde mich nicht getäuscht haben«, murmelte er, als er allein war,
»Aleen wird so handeln, wie ich vermute; der Stachel hat gesessen. Und ist es nicht, nun, dann muss ich mir anders helfen.«
Am anderen Tage traf Westerly nicht die geringste Vorbereitung, sich tausend Pfund Sterling zu verschaffen, obgleich ihm dies möglich gewesen wäre. Westerly war der zweite Sohn eines Lords oder galt doch allgemein als solcher. Nach dem Tode seines Vaters hatte er eine ganz bedeutende Erbschaft empfangen, diese aber durch Spiel und allerlei andere kostspielige Vergnügungen bis auf ein Minimum reduziert.
In England ist es nun einmal Sitte, dass der erste Sohn, und ganz besonders beim Landadel, bei der Erbschaft den Löwenanteil, bestehend in barem Vermögen und Grundbesitz, erhält, während die anderen Kinder mit geringeren Geldsummen abgespeist werden.
So war auch der jetzige Lord Westerly, der Bruder unseres Westerly, ein sehr reicher Mann, der sein Vermögen überdies noch zu vermehren wusste.
Da er Familie besaß, so durfte Westerly nicht hoffen, dereinst den älteren Bruder zu beerben, und da zahlreiche männliche Sprösslinge da waren, so war nun gleich gar keine Aussicht vorhanden, dass er etwa noch dereinst die erbliche Lordwürde erhalten könnte.
Zu diesem Zwecke musste die ganze Familie des Bruders von der Erde verschwinden.
Mit solchen Illusionen gab sich Edgar Westerly also nicht ab. Seine Hoffnung bestand darin, durch eine reiche Heirat seine derangierten Verhältnisse wieder in Ordnung zu bringen. Zum Glück waren dieselben noch nicht so bekannt, dass man ihm den Kredit verweigert hätte.
Er hätte also die tausend Pfund auftreiben können, aber er tat es nicht.
Ebenso wenig erwähnte er dem Inder gegenüber wieder das Thema von gestern Abend, er schien es vergessen zu haben, aber er sah, welche Angst und finstere Entschlossenheit zugleich aus jeder Bewegung und jeder Miene Aleens sprach.
Am Abend saß er, von Schriftstücken umgeben, wieder in dem erwähnten Zimmer und schrieb. Mit einer absichtlichen Bewegung warf er das neben ihm stehende Wasserglas vom Tische, rief Aleen herein und trug ihm auf, aufzutrocknen.
Dadurch bekam er Zeit, mit dem Inder zu sprechen, ohne anscheinend eigentlich eine Unterhaltung gewünscht zu haben.
»Nun, Aleen«, begann er, während dieser am Boden hantierte, »hast du dir überlegt, was der Herr, welcher um 10 Uhr kommt, von dir erzählen wird?«
Ein scheuer Blick traf den Frager von dem knienden Inder.
»Ich weiß nichts, Sahib.«
»Ich bin begierig darauf, es zu hören; etwas Gutes ist es sicherlich nicht.
Übrigens wäre es mir zehnmal, nein, hundert-, tausendmal lieber, dieser Freund käme nicht zu mir. Ich würde sonst etwas darum geben.«
Die Inder kennen eigentlich nicht die Angewohnheit anderer Diener, welche mit ihren Herren, sobald diese plauderhaft angelegt sind, ein Gespräch anfangen, auch neugierige Fragen stellen, diesmal aber vergaß sich Aleen.
Er hob den Kopf, seine Augen glänzten.
»Hasst du ihn, Sahib?«, fragte er gedämpft.
»Hassen eben nicht, aber er ist mir eine unangenehme Person«, entgegnete Westerly bereitwilligst; »ich wünschte nichts sehnlicher, als dass ich einmal, womöglich recht bald, seinen Tod erführe.«
»Du möchtest, er wäre tot?«
»Trauern würde ich um ihn jedenfalls nicht.«
»Er hat dir ein Unrecht zugefügt?«
»Ein Unrecht? Unsinn. Ich schulde ihm Geld, und das will er sich heute Abend holen; aber ich habe es nicht. Doch sei jetzt ruhig, ich muss schreiben.«
Des Inders Neugier war indes noch nicht befriedigt; nach wiederholtem Räuspern gelang es ihm, die Aufmerksamkeit seines Herrn nochmals auf sich zu lenken.
»Nun, was gibt's?«
»Dein Freund will den Dolch kaufen?«
»Nicht kaufen, ich muss ihn ihm als Pfand geben. Störe mich nicht mehr!«
Aleen ging hinaus, verfolgt von einem teuflischen Blicke Westerlys.
Es war ein ungastliches Wetter. Vom Westen her kam über den atlantischen Ozean ein Sturm gebraust, der in Amerika gewütet hatte, und nachdem er sich an den Wellen des Meeres ausgetobt, nun seine letzte Kraft in England zeigte.
Die Bäume des Gartens beugten sich wie Strohhalme; Blätter und ganze Zweige sausten durch die Luft und flogen prasselnd gegen die Fensterscheiben.
In nervöser Unruhe saß Westerly vor dem von rotem Lichte übergossenen Schreibtisch und gab sich Mühe, beschäftigt zu erscheinen; aber die Feder schrieb nicht, die Augen vermochten die Buchstaben nicht zu unterscheiden. Seine Gedanken waren ganz wo anders.
Jetzt hob die, Uhr zum Schlage aus, die zehnte Stunde zu verkünden. In diesem Augenblicke fuhr wie gestern Abend um dieselbe Stunde ein Luftzug durchs Zimmer, aber ein viel stärkerer. Die Lampe flackerte hoch auf und drohte zu verlöschen, und schon stand vor der schnell wieder geschlossenen Tür die vom schwarzen Mantel verhüllte Gestalt des Räubers. Er sah noch bleicher aus als gestern. Seine Augen glänzten wie die des verfolgten Raubtieres.
»Haben Sie das Geld?«, fragte er ohne weitere Einleitung schnell und leise. Westerly erhob sich.
»Ich habe es. Sind Sie gesehen worden, als Sie zu mir kamen?«
»Nein.«
»Sie werden nicht verfolgt?«
»Noch nicht. Doch morgen soll nach mir eine Treibjagd abgehalten werden, der ich nicht entgehen kann, wenn ich nicht heute noch fliehe. Das Geld, das Geld!«
»Einen Augenblick. Setzen Sie sich!«
»Sie haben es nicht hier?«
»Nein, mein Geldschrank befindet sich oben im Schlafzimmer. Dieses Zimmer liegt zu frei.«
»Schon gut, ich warte. Nur machen Sie schnell!«
»Setzen Sie sich. Hier, das wird Sie interessieren.«
Er schob ihm ein beschriebenes Blatt hin und ging hinaus.
Lacoste griff nicht erst nach dem Blatt, seine scharfen Augen aber überflogen es; es musste ihn interessieren, er nahm es, las und vertiefte sich so in die Lektüre, dass er auf dem Stuhle Platz nahm, ohne davon zu wissen.
Westerly hatte alles notiert, was von der Erzählung des Chinesen in die Öffentlichkeit gelangt war. Auch die Namen Francoeur, Dubois, Bega und so weiter, kamen in dem Berichte vor, und der Räuber interessierte sich natürlich dafür höchlichst. Da er jeden Umgang meiden musste, um nicht entdeckt zu werden, hatte er nur wenig von dem jetzigen Tagesgespräch gehört. Hier erhielt er eine vollkommene Übersicht.
Westerly aber hatte sich nicht in sein Schlafzimmer begeben, er besaß ja gar nicht die tausend Pfund. Er stieg nur die Hälfte der Treppe hinauf und blieb an einem kleinen Fenster stehen, spähte durch die Vorhänge und konnte so in das untenliegende Zimmer sehen, in welchem Lacoste saß und las.
Kaum hatte er eine halbe Minute so dagestanden, als er Zeuge eines unheimlichen Vorganges wurde, der für jeden anderen rätselhaft gewesen wäre, doch für den Lauscher nicht.
Lacoste saß da, den rechten Arm auf den Tisch gestützt, den Kopf in der hohlen Hand, den linken Arm herabhängend, und las das vor ihm auf dem Tische liegende Schreiben.
Er war darin so vertieft, dass er nicht bemerkte, wie hinter ihm im Rücken die Seitentür aufging und der Inder eintrat.
Aleen bewegte sich zwar anfangs ganz harmlos, allerdings äußerst leise und vorsichtig, aber kaum wusste er, dass ihn der Lesende nicht bemerkt hatte, als sich sein Gesichtsausdruck, sein ganzes Benehmen furchtbar änderte.
Seine Augen, starr auf den Lesenden geheftet, begannen plötzlich wie glühende Kohlen zu funkeln. Er nahm die Bewegungen einer Katze an, und so schlich er auf den Fußspitzen, ohne den Lesenden aus den Augen zu lassen, dem Schränkchen zu, auf welchem der Kasten mit dem Dolch stand.
Er öffnete ersteren, entnahm ihm die Waffe und entblößte den Stahl.
Dann schlich er, den Körper weit vorgebeugt, den Dolch in der erhobenen Hand, von hinten auf Lacoste zu.
Nicht das geringste Geräusch verriet ihn, selbst für die scharfen Ohren des Räubers herrschte die tiefste Stille im Zimmer. Nur draußen heulte der Sturm.
Jetzt hatte Aleen den Lesenden erreicht. Der Dolch war zum Stoße erhoben, aber nur langsam senkte sich der blanke Stahl herab.
Die Spitze berührte den Hals des Lesenden; für den beobachtenden Westerly kaum merklich.
Lacoste hob die linke, herabhängende Hand, als wolle er vom Halse eine Fliege verscheuchen, aber mitten in der Bewegung sank die Hand wieder schlaff herab, der Oberkörper brach etwas zusammen, und der Kopf legte sich schwer auf die Hand.
Ein teuflisches Lächeln verzerrte die Züge des Inders. Schneller, als man erzählen kann, hatte er den Dolch wieder im Kasten geborgen und das Zimmer verlassen, ohne noch einmal einen Blick nach Lacoste geworfen zu haben.
Dies alles hatte kaum eine Minute gedauert; für Westerly schien es eine Ewigkeit gewesen zu sein. Sein Gesicht war bleich; er hatte die Lippen zusammengekniffen und hielt sich an dem Fenstersims fest, als müsse er ohne diese Stütze zusammenbrechen.
Dann stieg er gemächlich die Treppe hinunter und betrat das Zimmer.
Ohne Weiteres ging er auf Lacoste zu, betrachtete ihn aufmerksam und ergriff dann nach Überwindung einiger Scheu die herabhängende Hand.
»Tot!«, murmelten dann seine bleichen Lippen. »Aleen hatte mich nicht belogen; das Gift des Dolches ist entsetzlich. Wohlan, Aleen ist der Mörder, nicht ich!«
Er klingelte; der Inder kam. Westerly empfing ihn, der ein ganz harmloses Gesicht zeigte, mit unheilverkündender Miene.
Stumm deutete er auf Lacoste, der dasaß, als ob er noch lebe und lese.
»Sahib?«, fragte Aleen unschuldig, und jetzt konnte er auch den Blick seines Herrn ruhig ertragen, zum ersten Male während seiner Dienstzeit.
»Lacoste ist tot!«
»Tot!«, schrie Aleen und taumelte zurück. Er verstellte sich meisterhaft.
Gleichzeitig ging Westerly nach dem Schränkchen, nahm den Dolch und zog den Stahl aus der Scheide.
»Ja, tot«, sagte er, »und der ihn ermordet hat, bist du, Aleen!«
»Ich?«
Aber mit seiner Verstellungskunst war es nun doch vorbei. Ein Zittern befiel ihn, und sein letzter, unsicherer Ausruf war nur eine Bestätigung zu des Anklägers Behauptung. Seine Augen quollen fast aus den Höhlen, als er seinen Herrn mit dem vergifteten Dolche in der Hand vor sich stehen sah.
Er schien sich auf ihn stürzen zu wollen, doch sein Gegner besaß eine furchtbare Waffe. Er blieb stehen, vor Schrecken wie gelähmt.
»Du hast ihn ermordet!«, wiederholte Westerly voll Nachdruck! »Du hast ihn mit diesem Dolch in den Nacken gestochen. So klein die Wunde ist, man kann sie doch bemerken.«
»Sahib, ich weiß nicht...«, stammelte der Inder.
»Leugne nicht, es nützt dir nichts! Ich stand dort am Fenster«, Westerly deutete nach der Stelle, »und wurde zufällig Zeuge deiner Untat. Warum hast du das getan, Aleen?«
»Du wolltest es, Sahib!«, entgegnete der Inder unsicher.
»Ich?«, fuhr Westerly auf. »Du träumst wohl!«
»Es wäre dir lieb, wenn er tot sei, sagtest du vorhin.«
»Habe ich dir geheißen, ihn zu töten?«
»Nein.«
»Aber du wolltest seinen Tod, weil er ein Geheimnis, wahrscheinlich ein furchtbares Verbrechen von dir weiß, und weil du fürchtetest, er könnte es mir verraten; darum hast du ihn getötet. Aleen, du bist zum Mörder geworden. Ich muss dich der Polizei ausliefern.«
Der Inder richtete sich aus seiner gebeugten Stellung auf.
»Du hast den vergifteten Dolch, Sahib«, sagte er fest. »Stoße ihn mir ins Herz oder ritze mir nur die Haut, denn ich will sterben. Was ich getan habe, bereue ich nicht; ich musste diesen Mann töten!«
»Kanntest du ihn?«
»Nein.«
»Also habe ich das Richtige getroffen? Du fürchtetest, er könnte dich verraten?«
»Ja, Sahib.«
»Was für ein Geheimnis wusste er?«
»Keine Gewalt der Erde wird es mir entreißen. Töte mich, Sahib! Ich fürchte den Tod nicht!«
Westerly steckte den Stahl in die Scheide, behielt den Dolch aber zur Vorsicht in der Hand.
»Du kennst diesen Mann also nicht?«, fragte er nach einigem Überlegen.
»Er ist mir ganz fremd. Töte mich, ehe du mich dem Gericht auslieferst, denn dann werde ich gehängt.«
»Da hast du allerdings recht, aber ich will deinen Tod nicht. Höre mich an, Aleen! Was du vorhin sagtest, war eine wahnsinnige Vermutung, die dir niemand glauben würde. Du weißt, wer ich bin und was du bist. Ich hasste diesen Mann nicht, er war mir nur eine unangenehme Person, weil ich ihm Geld schuldete. Aber mich an seinem Leben zu vergreifen oder auch nur an so etwas zu denken, wäre mir nie eingefallen. Oder denkst du, ich sei ein Mörder und Verbrecher, der ein Menschenleben, welches ihm im Wege ist, einfach vernichtet?«
»Nein, Sahib!«, entgegnete der Inder zerknirscht, der sich diesem vornehmen Engländer gegenüber stets wie ein ganz untergeordnetes Geschöpf vorkam.
»Aber du warst mir immer ein treuer Diener«, fuhr der schlaue Westerly fort, »und ich will dich um keinen Preis verlieren, denn Treue ist heutzutage nicht mehr für alles Geld der Erde zu erhandeln. Dieser Mensch war für mich gar nichts, du bist mir sehr viel, Aleen. Ich liefere dich nicht der Polizei aus, obgleich ich es eigentlich müsste; ich will dich bei mir behalten.
Lass jetzt den Toten verschwinden und sprich nicht mehr über ihn!«
Es dauerte lange, ehe der arme, unwissende Kuli die Worte seines Herrn begriffen hatte. Dann aber glaubte er wirklich, er wäre Westerly lieber als andere; nur um ihn nicht zu verlieren, zeige sein Herr ihn nicht an.
Die Engländer verstehen es ja, das Volk, über welches sie herrschen wollen, in Dummheit und Verblendung zu lassen, und Westerly war nicht umsonst in die Schule der Kolonial-Politik gegangen.
»Wie, du verzeihst mir wirklich?«, rief Aleen mit verklärtem Gesicht.
»Es fällt mir zwar sehr schwer, meine Pflicht so zu verletzen, doch ich habe dich lieb. Wer ist im Hause noch wach?«
»Niemand mehr, Sahib.«
»Sie schlafen alle?«
»Alle, Sahib.«
»Bringe diesen Mann fort!«
»Wohin?«
Westerly öffnete die Gartentür und deutete nach der Richtung, wo die Themse floss.
»Dorthin!«
»So, wie er ist?«
»Ja. fort mit ihm!«
Noch einmal zögerte der Inder.
»Und wenn man seine Leiche findet?«
»Sie kann gefunden werden. Fürchte dich nicht, ich verrate nichts und würde dafür sorgen, dass kein Verdacht der Täterschaft auf dich fällt.«
»Ich weiß, o, Sahib, du bist der Sohn eines mächtigen Lords, der in deinem Lande zu befehlen hatte, wie du noch jetzt darin zu befehlen hast«, sagte der Inder, trat zu dem Toten und nahm ihn auf seine sehnigen, kräftigen Arme.
Westerly sah, wie der Mörder mit seiner Last im Dunkel des Gartens verschwand — er hatte sich nicht verspekuliert, sondern seinen Zweck erreicht.
Bald kehrte Aleen zurück; sein Gesicht zeigte eine aschgraue Farbe, er bebte am ganzen Leibe.
»Von jetzt an sprichst du nie mehr über das, was heute vorgefallen ist«, flüsterte Westerly ihm zu. »Ich schweige und verzeihe dir, damit genug!«
Plötzlich stürzte Aleen zu den Füßen seines Herrn nieder und ergriff und küsste dessen Hand.
»O, Sahib!«, schluchzte er. »Du rettest mich zum zweiten Male! Womit habe ich armseliger Kuli deine Gnade verdient? Wie soll ich dir danken?«
»Indem du mir treu bist.«
»Verlange von mir, was du willst, verlange das Unmöglichste, und ich will es ohne Zögern tun. Mein Leben gehört nicht mehr mir, es gehört dir!«
»Vielleicht kommt noch einmal die Zeit, da du deine Dankbarkeit beweisen kannst. Jetzt verlasse mich, benimm dich wie gewöhnlich, dass du keinen Argwohn erregst.«
Aleen entfernte sich, gefolgt von Westerlys im Triumph strahlenden Augen.
»Das nennt man: zwei Fliegen mit einem Schlage treffen!«, murmelte er.
»Der, welcher mich vernichten konnte, ist tot, und Aleen ist sein Mörder.
Ich habe ihn jetzt in meiner Tasche; er muss nach meiner Pfeife tanzen.
Selbst wenn ich seiner Dankbarkeit nicht so versichert wäre, ich könnte doch von ihm das Unmöglichste verlangen, denn ich weiß, dass er ein Mörder ist, und ich werde es ihm manchmal vorhalten, damit er es nicht vergisst.«
Er nahm den Dolch und steckte ihn in die Tasche.
»Und dich, der du mich aus dieser Not befreit hast, dich will ich wie ein Kleinod aufbewahren. Ich denke, ich werde dich noch manchmal gebrauchen — durch die Hand Aleens. Noch leben einige, die mir hinderlich sind; sie werden alle durch dich fallen, bis ich freie Bahn habe.«
Dann nahm er die Lampe vom Tisch und leuchtete im Zimmer umher, aber er bemerkte nichts, was die Anwesenheit des Räubers verraten hätte.
Befriedigt legte er sich zu Bett, doch es dauerte lange, ehe er Schlaf fand, denn ein überirdischer Finger pochte vernehmlich und wie drohend an sein Gewissen.
Durch Vorgaukeln angenehmer Bilder suchte er derartige Vorwürfe des Gewissens zu verwischen, was ihm schließlich auch gelang. Der Schläfer hatte anfangs einen recht angenehmen Traum, der aber zuletzt eine schlechte Wendung nahm.
Im Traum hat man sonderbare Einfälle, und doch kommt einem alles ganz natürlich vor, so unglaublich und töricht es auch nach dem Erwachen erscheint.
So träumte Westerly, vor ihm erhebe sich ein riesengroßer, pyramidenähnlicher Bau, dessen oberste Spitze er zu erklimmen suchte. Jede Stufe brachte ihm neue Überraschungen, und je höher er stieg, desto schöner wurden diese.
Auf der untersten Stufe glaubte er sich plötzlich nach dem Besitztum seines Vaters versetzt. Er stand im Schlosse von Leicaster, sein Auge überflog blühende Felder und Triften und ausgebreitete Wälder; aber er befand sich nicht als Gast seines Bruders hier, sondern die sich verbeugenden Diener nannten ihn, Edgar Westerly, den Lord von Leicaster, ihm gehörte das Schloss und alles, so weit er sehen konnte.
Dann erklomm Westerly im Traum die zweite Stufe der Pyramide.
Eine jauchzende Volksmenge empfing ihn; brausende Militärmusik ertönte ihm zu Ehren, auf den Befehl hoher Offiziere präsentierten die Regimenter das Gewehr vor ihm.
Dann kamen ihm schöne Frauen und Mädchen entgegen, sie schmückten seine Stirn mit Lorbeeren und beugten sich vor ihm, sie lagen zu seinen Füßen und flehten um seine Gunst. Er nahm die schönste und am reichsten gekleidete, und während die übrigen mit neidischen Augen auf die von ihm Erwählte blickten, führte er sie vor den Altar, Kurz, Westerly machte im Traum ein ganzes Leben durch, welches mit Reichtum, Ehre und Glück überfüllt war.
Endlich erklomm er die letzte Stufe der riesigen Pyramide, er erreichte ihr Plateau.
Auf diesem stand ein Inder im prächtigen Schmuck der Maharadschas, demütig gebeugt und in der Hand eine von Juwelen funkelnde Krone. Er streckte sie dem ankommenden Westerly entgegen.
»Heil dem Lord von Leicaster, Heil dem König von Indien!«, hörte der Träumende eine Menge von Hunderttausenden jubeln, und klirrend wurden Waffen zusammengeschlagen.
Schon wollte Westerly die Krone ergreifen, als neue Gestalten auftauchten.
Neben dem Inder erschien die Gestalt eines alten grauhaarigen Mannes, gebeugt und zusammengeschrumpft. Drohend streckte er die Hand gegen Westerly aus und rief mit starker Stimme:
»Das ist der Hochverräter, für den ich siebzehn Jahre im Felsentempel geschmachtet habe!«
Doch Westerly erschrak nicht ob der Anschuldigung.
»Ich?«, hohnlachte er. »Wer könnte das wohl beweisen, du Narr?«
»Ich!«, entgegnete eine andere Stimme, und neben dem grauhaarigen Manne tauchte ein Weib auf, mager, elend, das Gesicht von Leidenschaften entstellt, nur in Lumpen gehüllt.
»Ich kann es beweisen, denn mir hast du das Geheimnis verraten. Kannst du es leugnen? Hier ist das Medaillon, welches ich dir nahm.«
Wieder erschien eine neue Person, abermals ein Weib, schön, aber mit traurigem und drohendem Gesicht zugleich.
»Wo ist Alphons de Lacoste?«, fragte sie.
»Was weiß ich, wo der Räuber geblieben ist?«, lachte Westerly im Traum.
»Du, du sollst ihn getötet haben!«
»Torheit, ich habe es nicht getan!«
»Wer sonst?«
»Aleen, mein Diener«, gestand Westerly offen, die Wahrheit nicht verbergend.
Plötzlich stand der Inder vor ihm.
»Nein, dieser, dieser hat es getan«, schrie er, »ich war nur sein Werkzeug!
Er hat mich aufgefordert, Alphons de Lacoste zu töten.«
»Hast du meinen Geliebten gemordet, so morde ich dich!«, rief das schöne Weib und fasste Westerly mit starken Armen.
Vergebens suchte er sich zu wehren; wie ein Spielzeug hob ihn das starke Weib empor, wirbelte ihn in der Luft herum und schleuderte ihn herab von der Pyramide.
Sausend fuhr er hinab in die Tiefe, tiefer und tiefer ging es, bis er...
Mit einem Schreckensschrei wachte Westerly auf. Gott sei Dank, er lag im Bett, allerdings in Schweiß gebadet.
Im Nu kam ihm das gestern Erlebte in die Erinnerung zurück.
Bah, Träume sind Schäume, und Westerly vor allen Dingen war nicht im Geringsten abergläubisch, wenigstens konnte er über Aberglauben nicht genug spotten.
Während er sich ankleidete, warf er ab und zu einen Blick in die ihm von Aleen gebrachte Morgenzeitung.
Eine Notiz war für ihn von besonderer Wichtigkeit. Auf einer Sandbank in der Themse hatte die Flut während der Nacht einen Leichnam angeschwemmt. Eine polizeiliche Untersuchung war noch nicht angestellt worden, aber die Zeitungsreporter, über viele Dinge besser orientiert als die Polizei, behaupteten, es sei der gesuchte Räuber de Lacoste, der talentvolle, aber verkommene Sohn eines französischen Herzogs, und da eine andere Verletzung nicht vorliege, so müsse er ertrunken sein, vielleicht in einer Anwandlung von moralischer Selbstanklage sich ertränkt haben.
Westerly atmete erleichtert auf; Aleen wollte er diese Nachricht noch nicht mitteilen, welche später auch noch von den Behörden bestätigt wurde. Mochte der Inder immer in der Besorgnis leben, dass sein Mord doch noch einmal ans Tageslicht käme.
Unten wurde die Hausglocke gezogen. Aleen trat ein und brachte seinem Herrn die Karte eines hohen Londoner Gerichtsbeamten, welcher Westerly zu sprechen verlangte.
Der Schuldbewusste erschrak im ersten Augenblick furchtbar; unwillkürlich griff er nach dem vergifteten Dolch, ob er ihn noch in der Brusttasche habe. Ob er ihn wohl bei einer Anklage gegen sich selbst erheben wollte?
Doch gleich beruhigte er sich wieder, denn Aleen fügte hinzu, auch Mister Neward, sein Rechtsanwalt, sowie ein Schreiber mit Akten unterm Arm sei in Begleitung des Gerichtsbeamten.
Was wollte man von ihm? Westerly fürchtete schon die Ankündigung einer Pfändung, veranstaltet von seinen Gläubigern. Doch das Schlimmste war dies noch nicht.
Das Gebaren der drei Herren, als Westerly zu ihnen kam, benahm ihm indes jede Besorgnis, wenn er auch noch nicht wusste, was ihm bevorstand.
Der Gerichtsbeamte, ein kleiner Herr in schwarzem, tadellosem Anzug, verbeugte sich tief vor dem Eintretenden, der Schreiber knickte wie ein Taschenmesser zusammen, einen Kratzfuß nach dem andern machend, und der Rechtsanwalt nickte Westerly schmunzelnd und augenblinzelnd zu.
»Mir ist eine Mission zuteil geworden, welche ich nur mit schwerem Herzen erfülle«, begann der schwarze Herr nach einigem Räuspern mit salbungsvoller Stimme. »Ich möchte Sie erst etwas vorbereiten, ehe ich mich meines Auftrags entledige.«
»Bitte, sprechen Sie gleich offen«, unterbrach ihn Westerly, »ich bin kein Mann, welcher bei einer unerwarteten, freudigen oder traurigen Nachricht gleich einen Nervenschlag bekommt. Ist es gut oder schlecht?«
»Traurig, sehr traurig für Sie.«
»Und das wäre? Spannen Sie mich nicht länger auf die Folter!«, rief Westerly ungeduldig.
»Ihr Herr Bruder, Harry Westerly, Seine Herrlichkeit der Lord von Leicaster, befindet sich nicht mehr unter den Lebenden.«
Eine kurze Pause trat ein. Der kleine schwarze Herr wischte sich mit einem seidenen Taschentuch über die Augen, Westerly schaute ihn starr an.
»Mein Bruder«, flüsterte er dann, »welcher sich mit seiner Familie in Venedig aufhielt — so gesund und kräftig — wie ist das gekommen — woran starb er? Es muss auf See passiert sein.«
»Ein furchtbarer Unglücksfall«, fuhr der Beamte mit zitternder Stimme fort, »fassen Sie sich, um das Unglück in seiner ganzen Tragweite erkennen zu können! Am 17. dieses Monats verließ der Lord von Leicaster mit seiner Familie Venedig auf dem englischen Dampfer ›Stag‹. In der spanischen See, kurz vor dem Kanal, trat starker Nebel ein, er herrschte die ganze Nacht hindurch, und da — da ist der ›Stag‹ von einem spanischen Dampfer gerammt worden...«
Dem Erzähler drohte die Stimme zu versagen.
»Und die Passagiere?«, fragte Westerly leise.
Der schwarze Herr hob wie in namenlosem Jammer beide Hände empor und flüsterte: »Alles, alles dahin! Nur ein Matrose blieb übrig, um uns zu sagen, auf welche Weise der ›Stag‹ unterging.«
»Die Familie meines Bruders?«
»Gattin, Töchter und Söhne liegen neben der Leiche des Vaters aufgebahrt — man hat ihre Körper aufgefischt. Sie sind der letzte Spross des erlauchten Hauses von Leicaster.«
Westerly wandte sich schnell ab und verbarg sein Gesicht im Taschentuch. Nicht Schmerz beherrschte ihn, sondern triumphierende Freude. Der Bruder und seine Familie waren tot, jetzt war er der Lord von Leicaster.
Unwillkürlich fasste er nach dem vergifteten Dolche, als wolle er mit ihm die eben erhaltene Herrschaft gegen jeden verteidigen, der sie bedrohe.
Trotzdem entstürzten seinen Augen Tränen, hervorgerufen durch die maßlose Erregung, in welche ihn die unerwartete Nachricht versetzt hatte.
So hatte es wirklich den Anschein, als trauere er um den Tod seiner nächsten Verwandten.
Nach einigen Minuten wendete er sich, die Augen trocknend, wieder dem Herrn zu. Der Beamte hatte von dem Schreiber die Akten auf den Tisch ausbreiten lassen.
»Mylord«, sagte er mit tiefer Verbeugung zu Westerly, »darf ich Euer Herrlichkeit ersuchen, einen Blick, in diese Schriftstücke zu werfen, welche über den Untergang des ›Stag‹ berichten und den Tod der erlauchten Familie von Leicaster beglaubigen?«
Auch ich bin Ihrer Meinung, dass der Aufenthalt dieses Monsieur Francoeur und des angeblichen Radscha von Tipperah in England von politischer Bedeutung war«, sagte Wilkens sechs Tage nach der unterbrochenen Hochzeit zu Reihenfels, der ihn aufgesucht hatte, »und es fragt sich nur, was die Inder wieder vorhaben. Wollte Gott, dass in ihren unruhigen Köpfen nicht abermals der Plan zu einem Aufstand entstanden ist.«
»Dieser Überzeugung bin ich«, entgegnete Reihenfels, »und ich glaube, das Schlagwort ›hundert Jahre nach der ›Schlacht bei Plassy‹«, welches zu hören und zu lesen wir schon öfter Gelegenheit hatten, hängt damit zusammen. Es wird jedenfalls ein Aufstand vorbereitet; langsam und vorsichtig, der erst hundert Jahre nach der Schlacht bei Plassy losbrechen soll. Bis dahin ist es nicht mehr lange. Nun, wir werden ja sehen; das Kriegsministerium ist von uns benachrichtigt und gewarnt, unsere Sache ist es nicht, einen etwaigen Aufstand zu vereiteln. Wie schon gesagt, ich gehe wieder nach Indien, schließe mich jedoch nicht meinem Vater an, sondern begebe mich auf die Suche nach dem Felsentempel, wobei mich Lady Carter begleitet, denn sie hofft, ihren Gemahl, zu dem ihre alte Liebe in neuer Stärke erwacht ist, dort lebend zu finden und befreien zu können.«
»Es freut mich ungemein, dass sie nicht Missis Westerly oder vielmehr Lady Westerly geworden ist. Westerly scheint den Tod des Bruders und dessen Familie nicht eben tragisch zu nehmen, auch Lady Carter, seine einstige Braut, scheint er vergessen zu haben, seitdem er Lord geworden ist.«
»Er hat jetzt sehr viel zu tun«, nahm Reihenfels für den Partei, mit dem er eigentlich auf gespanntem Fuße lebte. »Nun noch eine Frage: Was denken Sie über Miss Bega?«
»Dieselbe Frage wollte ich an Sie richten. Der Radscha, ohne Zweifel der Priester der Thugs, gab sie für seine Tochter aus.«
»Wenigstens Francoeur tat dies, denn der Radscha war ja stumm — eine Lüge welche einen neuen Verdacht auf die Familie wirft. Nach Kiong Jangs Erzählung war dieser Inder weder stumm noch taub. Glauben Sie, dass Miss Bega seine Tochter war?«
»Ich halte sie jetzt eher für die Tochter Francoeurs selbst oder vielleicht auch für die der Madame Dubois. Nun, ich hoffe, dass es Ihnen gelingt, den Felsentempel sowohl als auch jene intrigante Gesellschaft aufzuspüren, und dann werden sich wohl alle Rätsel lösen. Also Hira Singh begleitet Sie, obgleich er fürchten muss, der Rache der fanatischen Fakire zum Opfer zu fallen, weil er ihre Geheimnisse verraten hat?«
»Ja, er will ihrer Rache trotzen«, entgegnete Reihenfels, aber anscheinend an etwas anderes denkend; »seit der Erzählung Kiong Jangs über das schändliche Treiben der Thugs hat er einen förmlichen Hass gegen seine Nation gefasst. Er gibt seine ihm so viel einbringenden Vorstellungen hier auf, um mir beim Aufspüren der Mördergesellschaft behilflich zu sein. Um auf Miss Bega zurückzukommen, glauben Sie nicht, dass auch sie in einem etwaigen Aufstande eine Rolle spielen sollte?«
»Das wäre leicht möglich. Dann müsste sie in die Pläne der Intriganten eingeweiht gewesen sein. Auf mich machte das Mädchen, welches ich allerdings nur einmal gesehen habe, freilich einen sehr unschuldigen Eindruck.«
»Sie wusste auch nichts davon«, rief Reihenfels fast heftig, »sie ist unschuldig! Ich glaube, sie genoss nur eine Erziehung, welche sie darauf vorbereitete, in dem kommenden Aufstande eine Rolle zu spielen, und der, welcher dies alles leitet, ist kein anderer als Timur Dhar, der Räuber der Tochter der Lady Carter.«
Erstaunt betrachtete Wilkens den leidenschaftlich sprechenden Reihenfels.
»Ich möchte fast glauben, Sie wären mehr in die Verhältnisse eingeweiht, als Sie zugeben wollen«, sagte er; »oder wissen Sie sogar, wer diese Miss Bega ist?«
»Und wenn?«
»Wirklich, Sie wissen es?«
»Ja.«
»Und Sie verheimlichen es?«
»Ja, ich habe einen Grund dazu.«
»Welcher ist das?«
»Durch mein offenes Bekenntnis würde ich nur noch mehr Unglück über jemanden bringen, der schon unglücklich genug ist, und auch in England wie in Indien böses Blut erzeugen. Ich müsste gegen einige mächtige, bedeutende Personen furchtbare Anklagen erheben, die ich nicht beweisen kann, wenigstens jetzt noch nicht. Die fehlenden Beweise zu sammeln, soll meine Aufgabe sein, und ich versäume dabei nicht das Aufsuchen des Felsentempels und Sir Carters. Die Personen, welche ich im Verdacht habe, stehen mit den Thugs im Bunde.«
»Sie sprechen in Rätseln.«
»Ich bitte Sie, fragen Sie mich nicht weiter darüber. Sie sollen alles erfahren, sobald ich Gewissheit habe und offen als Ankläger auftreten kann. Sollte aber mein Tod eher erfolgen — ich beginne ein gefährliches Unternehmen — so habe ich schon dafür gesorgt, dass mein Verdacht auch anderen mitgeteilt wird, welche die weitere Verfolgung übernehmen. Mister Wilkens, wollen Sie der sein, welcher meine Bemühungen fortsetzt oder fortsetzen lässt, wenn vielleicht einmal mein Tod nach England gemeldet wird?«
»Gewiss! Vertrauen Sie mir getrost Ihr Geheimnis an.«
Reihenfels entnahm seiner Brusttasche ein großes, dickes und mit vielen Siegeln versehenes Kuvert.
»Hier drin ruht es«, sagte er; »dieses Kuvert enthält meine Vermutungen und den Weg, den man meiner Ansicht nach einschlagen muss, um die von mir Verdächtigten zu entlarven.«
»Ich verstehe Sie nicht ganz.«
»Ich kann mich nicht deutlicher ausdrücken. Nehmen Sie diese Schriftstücke und erbrechen Sie das Kuvert nicht eher, als bis Sie die sichere Nachricht von meinem Tode haben. Wenn möglich, werde ich Ihnen noch mein Tagebuch zukommen lassen, das als Kommentar zu diesen Angaben dienen könnte. Sollte mir Gott ein längeres Leben als Ihnen schenken, so sorgen Sie dafür, dass Sie einen Nachfolger haben, der meinen Wunsch an Ihrer Stelle erfüllt. Ich betrachte dies als eine Art von Testament, als meinen letzten Willen, und ich bitte Sie, denselben zu erfüllen.«
Wilkens nahm das versiegelte Schreiben und verschloss es in seinen Sekretär.
»Sie brauchen nicht darum zu bitten«, sagte er, »sondern dürfen es von mir verlangen, denn wir streben ja Hand in Hand nach ein und demselben Ziel, ohne Lohn zu erwarten. Ich werde genau nach Ihrer Vorschrift handeln und gleich nachher eine Schrift aufsetzen, damit bei meinem etwaigen Tode ein anderer Ihren Wunsch erfüllt. Ich bin zwar sehr neugierig, was für Offenbarungen das Kuvert enthält, da Sie es aber fordern, werde ich auch keine Fragen deswegen mehr stellen.«
Reihenfels reichte dem Detektiv die Hand zum Abschied und zum Dank.
»Ich begebe mich jetzt zu Lady Carter, um mit ihr die letzten Vorbereitungen zur Reise zu besprechen. Unsere Unternehmung wird sehr beschwerlich werden, besonders da eine Dame, vielleicht noch eine Dienerin daran teilnimmt, und so ist noch mancherlei anzuordnen. Ich habe jetzt alle Hände voll zu tun, und bis morgen ist nur noch eine kurze Zeit.«
»Sie wollen wirklich das Transportschiff benutzen, welches das englische Bataillon nach Bombay bringt? Die Reise auf dem mit Menschen vollgepfropften Schiffe, noch dazu in der nicht eben angenehmen Gesellschaft von englischen Soldaten, dürfte Lady Carter nicht willkommen sein.«
»Sie vergessen, dass auch Offiziere dabei sind, darunter Eugen, den Lady Carter liebt.«
»Richtig, daran hatte ich nicht gedacht. Auch Mister Woodfield schließt sich an, ebenso seine beiden Diener?«
»Natürlich, wir verfolgen ja alle dasselbe Ziel: Das Auffinden des rätselhaften Felsentempels. Lady Carter hofft dort ihren verschollenen Gemahl, Mister Woodfield seine geraubte Tochter zu treffen. Weniger angenehm ist es mir, zu hören, dass auch Miss Woodfield ihren Bruder, also auch uns begleitet. Doch ich kann nichts dagegen tun. Auf Wiedersehen, Mister Wilkens, wir sprechen uns morgen noch einmal vor der Abreise!«
Reihenfels ging.
Als er das Haus Lady Carters betreten wollte, kam ihm daraus Westerly, oder vielmehr Lord Westerly, entgegen. Sein Gesicht sah sehr finster aus.
Ohne Gruß schritten die beiden Männer aneinander vorüber.
Emily kam Reihenfels gegenüber selbst sofort auf ihren einstigen Bräutigam zu sprechen, wie sie überhaupt den jungen Gelehrten von jetzt ab vollständig als ihren Freund betrachtete; widmete er doch alle seine Kräfte ihrer Sache.
»Sie begegneten Lord Westerly?«, fragte ihn die schöne, schwermütig blickende Frau.
»Ja, er sah unwillig aus. Darf ich fragen, ob dies das erste Mal gewesen ist, dass Sie ihn wiedergesehen haben?«
»Ich habe ihn seit jenem Tage noch gar nicht wiedergesehen.«
»Aber doch jetzt.«
»Nein, ich habe ihn nicht empfangen.«
»Sie wollen also den Verkehr mit ihm, den er vielleicht fortsetzen möchte, abbrechen? Ich finde das auch ganz natürlich, wie ich mich überhaupt wundere, dass Lord Westerly eine Annäherung noch sucht.«
»Sie haben recht. Ich finde an ihm zwar nichts auszusetzen, er hat nichts getan, was mich veranlasste, ihn meiden zu müssen, aber dennoch, ein unbestimmtes Gefühl stößt mich von ihm zurück. Seit ich die Gewissheit habe, dass mein Gemahl, dessen Namen ich trage, noch lebt, ist mir Westerly ganz gleichgültig geworden. Ich fürchte mich sogar, mit ihm zusammenzutreffen. Wie kommt es nur, dass meine frühere so starke Liebe zu ihm plötzlich gestorben ist?«, fragte Emily, mehr zu sich.
»Sollte nicht die Vermutung daran schuld sein, welche Kiong Jang betreffs Westerlys geäußert hat?«
»Wegen des Hochverrats, für den mein Mann statt seiner büßen musste?
Ich glaube nicht daran, es war nur eine aus der Luft gegriffene Behauptung Timur Dhars. Nein, etwas anderes ist es, was mich von diesem Manne plötzlich zurückstößt, ich kann meine Gefühle nicht definieren, und dann finde ich es geradezu anstößig, dass sich Lord Westerly gestern bereiterklärt hat, mich beim Aufsuchen meines Gatten zu unterstützen. Er wollte mich nach Indien begleiten, in meiner Gesellschaft sein.«
»Tat er das wirklich?«, fragte Reihenfels erstaunt
»Er schrieb es mir gestern, heute wollte er sich persönlich meine Antwort holen. Dass ich ihn nicht empfangen habe, wird ihm meinen Entschluss deutlich zu erkennen gegeben haben. Sein Anerbieten ist zwar sehr menschenfreundlich, es verrät einen edlen Charakter, aber ein solcher Edelmut kommt mir geradezu unnatürlich vor.«
»Ich möchte mich noch stärker ausdrücken«, stimmte Reihenfels bei, »da ich jedoch gegen Lord Westerly sowieso Antipathie hege, enthalte ich mich meines Urteils. Doch ich freue mich, zu hören, dass Sie entschlossen sind, ferneren Verkehr mit ihm durchaus zu meiden, der übrigens anstößig gefunden werden könnte. Verzeihen Sie mir, wenn ich als junger Mann so zu Ihnen spreche, es kommt aus einem teilnahmsvollen Herzen. Betrachten Sie sowohl die Unterbrechung der Trauung, als auch den Umstand, dass Ihre Liebe zu Westerly so schnell erkaltet ist, ohne dass Sie sich dies erklären können, als einen Fingerzeig Gottes, dass er Sie nicht für Westerly bestimmt hat, sondern Ihrem Gatten erhalten will. Gottes Ratschlüsse und Wege sind wirklich unerforschlich. Das hat er uns diesmal herrlich geoffenbart.«
Reihenfels merkte, wie unerquicklich dieses Gespräch für Emily war.
Wenn sie sich auch ihm gegenüber hatte aussprechen wollen, und lenkte deshalb auf die morgige Reise ab.
Währenddessen fand unten vor dem Hoftor eine Szene statt, deren Urheber den Bewohnern des Hauses noch manche Überraschung bereiten sollte.
Miss Woodfield wollte eben das Tor verlassen, um über den Hof nach dem Schuppen zu gehen, wo die schon zur Reise gepackten Kisten und Koffer standen, als ihr ein Mann entgegentrat, der aller Wahrscheinlichkeit nach ein Hausierer war.
Er war ganz mit Schachteln, Kästen und Paketen behangen; hier guckte der Griff eines Spazierstocks, dort der untere Teil eines Regenschirms hervor, an der einen Seite rasselten bei jeder Bewegung blecherne Töpfe und Pfannen zusammen, auf der anderen war eine Puppe an den Beinen aufgehangen.
Der Mann hatte brennend rotes Haar und einen Anflug von einem roten Schnurrbart; wie die grauen Augen, so blickte auch die Stulpnase aus dem von Gesundheit strotzenden Gesicht recht frech in die Welt.
Als er mit der alten Dame zusammenstieß, klappte er sofort den Deckel des Kastens, den er vorn trug, auf, und eine Menge Galanteriewaren, wie Uhrketten, Ringe, Armbänder, Tabaksdosen und so weiter, alles recht glitzernd aussehend, aber wertlos, lag ausgebreitet da.
»Etwas gefällig, gnädige Frau?«, begann er in einem schlechten, aber recht zungengeläufigen Englisch. »Alles elegant, dauerhaft und spottbillig, die größte Auswahl, die Sie in der Welt finden. Da ich nur wenig Ladenmiete zahle, bin ich in der Lage, billiger als alle meine Konkurrenten zu verkaufen, Ohrringe, Handschuhknöpfer, Haarpomade, Trauringe, von echtem Gold nur am Tage zu unterscheiden, Schnupftabaksdosen, klein und zierlich, Damenuhrkettchen, ganz manierlich; hier Zigarrenspitzen für Ihren wertesten Mann, der würde sich aber schön freuen, wenn Sie heimlich eine kauften und ihm schenkten. Sehen Sie, wenn man auf der anderen Seite hineinbläst, dann pfeift's; das ist die neueste Errungenschaft unseres Jahrhunderts.«
Der Hausierer war schlau genug, einzusehen, dass diese Dame seine Schmuckgegenstände aus Messing nicht kaufen würde, und bot ihr daher solidere Waren an, wenn auch vorläufig für ihren Mann.
Jetzt, da er auf der Zigarrenspitze pfiff, fand Miss Woodfield überhaupt zum ersten Male eine Gelegenheit, den redseligen Mann abzuweisen.
»Ich habe keinen Mann und...«, begann sie.
Der Hausierer schlug die Hände zusammen.
»Ach, das tut mir aber leid.« unterbrach er sie schon wieder, »so jung und schon Witwe! Woran ist denn Ihr Seliger gestorben? Ach, Gott, die armen Kinderchen! Wie viele haben Sie denn? Wie wäre es denn hier mit dem Püppchen? Da würde sich aber Ihr Jüngstes freuen, wenn es das Püppchen wiegen könnte. Kostet nur einen Schilling, die Kleider sind von schwerer chinesischer Seide, waschecht, nur dürfen sie nicht in den Regen kommen, natürliches Haar...«
»Ich bitte Sie...«
»Na, dann neun Pence zum ersten. Ich bin ein billiger Mann, habe freilich Verlust dabei. Bedenken Sie nur, ich importiere alle meine Sachen selbst und direkt aus Indien, komme dabei kaum auf meine Kosten...«
»Ich kaufe nichts!«, sagte Miss Woodfield jetzt energisch und suchte sich vorbeizudrängen, doch der Hausierer setzte ihr Widerstand entgegen. Er hatte das goldene Kreuz mit dem Heiland darauf an ihrem Halse hängen sehen und, mit den englischen Verhältnissen wahrscheinlich gut bekannt, änderte er sofort seinen Angriffsplan.
»Da, wie wär's denn hier mit seidenen Strümpfen, gnädige Frau? Die sind von den christlichen Hindumädchen im Missionsgebäude von Haidarabad gesponnen worden. Ach, Sie sollten einmal die kleinen Geschöpfchen sehen, wenn sie so auf ihren Stühlchen sitzen, beten und dabei Strümpfe wirken. Diese Taschentücher haben sie auch gemacht, ebenso diese Hosenträger; sehen Sie diese köstliche Stickerei, das hier ist die weltberühmte Lotosblume. Was die Mädchen verdienen, fließt in die Kasse der Heidenmission in Indien. Unterstützen Sie dieses wohltätige Unternehmen, gnädigste Frau.«
»Sie irren, ich bin keine Frau«, sagte jetzt die alte Dame, durch die letzten Erklärungen des Hausierers nachgiebiger geworden, die vor ihr ausgebreiteten Schätze zu mustern, wozu Sie vor die Brille noch eine Lorgnette hielt
»Was, Sie sind nicht verheiratet?«, rief der Mann. »Ach, Gott, das ist aber schade! Dass ich alter Dummkopf das aber auch nicht gleich gesehen, dass Sie noch Miss sind. Jedes Kind muss es ja gleich merken, so eine schlanke, elegante, graziöse und schön gewachsene Figur wie Sie haben.«
»Hören Sie auf mit den Schmeicheleien. Sind diese Tücher wirklich in Indien gemacht?«
»Natürlich, wo denn sonst anders!«
Sie befühlte ein Taschentuch.
»Das ist aber keine Seide, sondern Baumwolle.«
»Es ist Seide dazwischen.«
»Meiner Ansicht nach nicht.«
»Die Missionsmädchen in Indien haben es gesagt, und ich glaubte es ihnen. Solche fromme Geschöpfe werden doch nicht lügen. Betrachten Sie nur dieses Muster, ist das nicht rührend? Hier geht die Sonne unter, wie gewöhnlich natürlich im Westen, das Vögelchen auf dem Zweiglein badet sich im Abendsonnenschein und singt dabei ein lustiges Morgenliedchen, zum Preis des Schöpfers Himmels und der Erden. Diese roten Punkte bedeuten die Tränen, welche das Hindumädchen vor Rührung geweint, als es dieses Muster in dem Tuche verewigt hat Ein herrlicher Gedanke, nicht?
Diese Sonne, der Vogel und der Ast, dazwischen die Tränen. Geradeso sieht es aus, wenn in Indien die Sonne auf- und untergeht, in Wirklichkeit ist es nur etwas größer. Aber solche kleine Vögel wie hier, gibt es dort in Lebensgröße.«
»Waren Sie in Indien?«
»Nu, das wollte ich meinen, hochgeehrtes Fräulein. Sie noch nicht?«
»Nein; aber wir reisen morgen für längere Zeit nach Indien.«
»Was, morgen schon? Herrgottsackerlot; und das sagen Sie erst jetzt? Sind Sie denn schon mit allem Nötigen versehen? Hören Sie auf mich, ich bin Zeit meines Lebens in Indien gewesen, ich kenne es in- und auswendig. Vorder-, Hinter- und Mittelindien, ganz egal, Indien ist meine zweite Heimat geworden. Sehen Sie, die indische Sonne hat sogar mein Haar ganz rot gebrannt. So lange bin ich dort gewesen, egal mitten unter den Hottentotten und anderen Kaffern. Haben Sie denn eigentlich schon die berühmte Elefantensalbe, von Doktor Bernardus, dem weltberühmten Brahmanen, hergestellt aus den Extrakten der Lotosblume? Die müssen Sie haben, oder Sie sind einfach verloren. Am ersten Tage fressen die Mücken Sie mit Haut und Haaren, mit Stumpf und Stiel auf.«
Er präsentierte eine Holzschachtel, mit ganz gewöhnlicher Zinksalbe gefüllt.
»Das ist die berühmte Elefantenfalbe von Doktor Bernardus, ordentlicher Brahmane, Leibarzt Seiner Majestät des Großmoguls von Indien«, fuhr er in dozierendem Tone fort; »heutzutage wagt kein Inder mehr sein Haus, sei es Palast oder Hütte zu verlassen, ohne diese Salbe in der Tasche oder sonst wo bei sich zu haben. Reibt man sich mit ihr ein, so ist man gegen jeden Biss und Stich gefeit, kein Tiger, Löwe, Panther wagt zu beißen, keine Mücke, Schlange oder sonst ein kleines, unangenehmes Insekt wagt den zu stechen, der sich mit dieser Salbe eingerieben hat. Ferner ist dieselbe das beste Mittel gegen Sommersprossen, Flechten und andere Hautkrankheiten. Sie heilt wunde Füße, auf ein Läppchen aufgetragen und auf Hühneraugen gelegt, entfernt es selbige mit unheimlicher Geschwindigkeit. Nun, gnädigstes Fräulein, wie wär's denn mit einem Dutzend Schächtelchen dieser Wundersalbe?«
Miss Woodfield steckte ihre lange Nase in die Schachtel, roch daran und entschloss sich dann, sechs Schachteln dieses wunderbaren Präparates zu nehmen.
»Haben Sie schon einen Schirm für Indien?«, fragte der Hausierer und begann Regen- und Sonnenschirme auszupacken.
»Danke, damit bin ich versorgt.«
»Haben Sie sich einen extra für Indien gekauft?«
»Die hiesigen werden dort wohl dieselben Dienste leisten.«
»Um Gottes willen, werteste Miss, da sind Sie ganz kolossal auf dem Holzwege. Glauben Sie etwa, solch ein gewöhnlicher englischer Schirm könnte einem indischen Regen Trotz bieten? Jawohl, was glauben Sie denn!
Dort prasselt es nur so vom Himmel, als wenn die himmlische Feuerwehr alle Spritzen losgelassen hätte. Ein Regen, sage ich Ihnen, na, das ist gar kein Regen mehr zu nennen, das gießt wie mit Eimern herab. Ein gewöhnlicher Regenschirm ist im Nu in Atome zersplittert, und der Besitzer kann froh sein, wenn er nicht wie nasse Pappe aufgeweicht wird; aber sehen Sie einmal hier diesen Regenschirm, ja, das ist ein Schirmchen!«
»Ich finde ihn aber gerade sehr schwach«, meinte Miss Rachel.
»Geben Sie nichts aufs Äußere, Verehrteste, Sie täuschen sich. Das ist inwendig alles mit Stahl gefüttert, sogar das Tuch, glaube ich. Er bietet nicht nur Schutz vor Regen, Sturm und Unwetter, selbst die Pfeile der wilden Inder prallen wie an einem Stahlpanzer von seinem Schutzdach ab, und Sie wissen doch, dass die Inder mit vergifteten Pfeilen schießen. Nehmen Sie den Schirm, rate ich Ihnen; Vorsicht ist besser als Nachsicht.«
Die alte Dame ließ den Schirm einstweilen beiseite stellen. Jetzt begann der Hausierer, ihr einen Sonnenschirm aufzuschwatzen.
»Den habe ich schon«, wehrte Rachel zuerst ab.
»Aber nicht einen solchen, wie man in Indien trägt.«
»Das wird sich wohl gleich bleiben.«
»Gott bewahre, Gnädigste! Alle besseren Damen tragen dort genau dieses Muster hier, besonders nachts.«
»Nachts? Ich denke, es ist ein Sonnenschirm?«
»Nur dem Namen nach, in Wirklichkeit dient er zum Schutze gegen die verderbliche Wirkung der Sonnenstrahlen des Mondes.«
»Gegen die Sonnenstrahlen des Mondes?«, staunte die alte, leichtgläubige Dame.
»Gegen die Sonnenstrahlen des Mondes!«, versicherte der in Indien bewanderte Mann ernsthaft. »Der Mond fängt die Strahlen der Sonne am Tage auf und gibt sie in der Nacht wieder von sich, und zwar ganz besonders in Indien. Diese Strahlen haben eine furchtbar schädliche Wirkung. Nicht nur, dass sie den Teil des Körpers, den sie treffen, dick anschwellen lassen, sie machen auch die Haut quittengelb. Deshalb sind auch der indische Tiger, Panther und manches andere Tier gelb, oft haben dieselben ganz geschwollene Backen, ebenso die dummen Inder, welche sich unvorsichtig den Strahlen des Mondes ausgesetzt haben. Die gebildeten Herren und Damen vermeiden solche Unannehmlichkeiten, vor allen Dingen wahren sie sich ihren schönen Teint, indem Sie solche Mondschirme tragen.«
Miss Rachel kaufte den Mondschirm und ließ sich von dem Hausierer noch manches andere aufschwatzen, was sie seiner maßgebenden Ansicht nach während ihrer Reise in Indien unbedingt brauchen musste, wollte sie dort nicht ihren Tod finden oder doch als Krüppel und hässlich nach England zurückkehren. Eben pries er ihr ein Pulver an, gegen welches das fiebervertreibende Chinin gar nichts sei, als von oben herab eine raue Stimme auf Deutsch rief:
»Mich soll doch das Mäuschen beißen, wenn das nicht ein Deutscher ist!«
Der Hausierer blickte auf, konnte aber erst nichts weiter sehen als nur eine große, rote Pelzmütze. Dann, als er zurücktrat, sah er noch ein Paar listig blinzelnde Augen und einen roten Vollbart — das Gesicht von Dick Red.
»Nu allemal, ich bin ein Deutscher!«, rief der Hausierer in derselben Sprache. »He, Landsmann, willst du auch nach Indien?«
»Wenn's dich nicht weiter geniert!«
»Mir genieren? I wo, ganz und gar nicht, im Gegenteil, es freut mich.
Komm einmal runter, hier kannst du sehen, was du noch nie gesehen hast, und kaufen dazu; alle Sachen, die du in Indien nötiger brauchst als das Hemd auf dem Leibe.«
Der Gerufene zögerte nicht lange; nach einer Minute war er unten, und der Hausierer staunte nicht schlecht den Mann in dem rohen Lederkostüm an. Gleich darauf erschien auch Charly, der auf das spöttische Anraten Dicks seinen modernen Anzug, der ihm nicht passte und aus allen Nähten geplatzt war, schon wieder mit seiner Pelzjägerkleidung vertauscht hatte.
»Herrgott, solche Kerls,«, rief der Hausierer, »die sehen ja gerade aus wie die Männer, welche immer in den Indianerbüchern abgebildet sind.«
»Geniert dich das etwa, dass wir solche Kerls sind? Na, da zeige uns einmal deine Raritäten, aber Gott behüte dich, wenn du uns betrügen willst!«
Der Hausierer bot an, die beiden Männer wühlten in seinen geöffneten Paketen, warfen alles geringschätzend beiseite, bis es vor der Haustür aussah, als wäre der Verkäufer geplündert worden.
»Nun, kein Geschäft zu machen?«
Dick schüttelte ungnädig den Kopf.
»Ne, Landsmann, mit solchem Ausschuss können wir nichts anfangen, da ist nichts für uns dabei, und einen Preis, verlangst du, der sich gewaschen hat. Bei uns in Berlin bekommt man solche Schundsachen für ein paar Neugroschen, und du willst ebensoviel Schillinge dafür haben. Pack ein, alter Gauner!«
Bis jetzt hatte der Hausierer vergebens versucht, den Pelzjäger, der jedenfalls ein Deutscher war, während des Handelns auszuforschen, was er eigentlich sei, woher er stamme, wie er hierher komme und so weiter. Dick hatte unverständlich gebrummt oder gar keine Antwort gegeben.
Nun erfuhr er, das Dick in Berlin gewesen sei.
»Was, du bist aus Berlin?«, rief er erfreut. »Da bin ich nämlich auch her.«
»Ich nicht.«
»Aber aus der Umgegend?«
»Ja.«
»Doch nicht etwa aus Potsdam? Dort hat nämlich meine Wiege gestanden.«
Dick ließ den Spazierstock, den er eben prüfend betrachtet hatte, sinken und musterte den Sprecher.
»So so, aus Potsdam! Woher denn da?«
»Aus der Friedrichgasse.«
»So so, aus der Friedrichsgasse, die kenne ich auch noch. Bist du schon lange von dort fort?«
»So ein Stücker zwei Jahre.«
»Wie kommst du denn eigentlich hierher?«
»Ich ging von Muttern weg, um mir die Welt anzusehen. Ich wünschte, ich wäre hinterm warmen Ofen geblieben, besonders gut ist es mir bis jetzt noch nicht gegangen.«
»In Indien warst du also auch?«
»I Gott bewahre!«
»Du sagtest es aber doch vorhin der Dame.«
»Heutzutage muss man manche Notlüge machen, um fortzukommen.«
Dick brummte etwas in den Bart, was ungefähr wie ›Lügenluder‹ klang. Er fragte nicht weiter, und da der Hausierer keine Antwort bekam, so stockte das Gespräch.
Charly ließ sich trotz des Abratens Dicks, von dem ›Schund‹ etwas zu kaufen, verführen, doch einige Sachen zu nehmen, er bezahlte, und dann halfen beide dem Hausierer, alles wieder einpacken.
Schon wollte er die Ballen wieder auf dem Rücken befestigen, als er noch einmal absetzte, denn Dick zog bedächtig einen Beutel hervor, den der Hausierer zu seinem Erstaunen mit Goldstücken gefüllt sah.
»Ich will dir nichts abkaufen«, sagte Dick langsam, »aber umsonst sollst du nicht hierher kommen. Es geht dir schlecht, sagtest du, das glaube ich dir. Würdest du wieder nach Hause reisen, wenn du Geld dazu hättest?«
»Nu allemal, direktemang nach Potsdam!«
»Wie viel kostet die Reise wohl bis dahin?«
»So ungefähr vierzig Mark, das heißt, dann muss ich mir unterwegs den Hungerriemen etwas stramm anziehen. Aber das Hungern bin ich schon gewohnt.«
»Gehören diese Sachen nicht dir?«
»Nein, die sind mir nur auf mein ehrliches Galgengesicht hin auf Kredit gegeben worden.«
»Dann liefere sie wieder ab, und hier gebe ich dir zehn Pfund, das sind zweihundert Mark. Damit wirst du wohl nach Potsdam kommen.«
Der Hausierer war starr, als er die zehn Goldstücke in seiner Hand hielt.
»Umsonst gebe ich sie dir nicht«, fuhr Dick fort, »ich verlange dafür etwas von dir.«
»Was soll ich dafür tun?«
»Nichts weiter, als dass du dich in Potsdam nach einer Familie erkundigst und ihr etwas von mir bestellst.«
»Wie heißt sie denn?«
»Die Alten mögen wohl nicht mehr leben, aber hoffentlich noch; einige der Jungen.
Kennst du den Namen Hefter in Potsdam?«
»Herrgott, so heiße ich ja selber!«, schrie der Hausierer und ließ seinen Pack fallen. »August Hefter!«
»Den kenne ich nicht. Mein Vater hieß Emil Hefter.«
»Emil Hefter? So hieß ja auch mein Vater!«
Der Hausierer riss plötzlich seine Augen weit auf und starrte den vor ihm Stehenden an, der seinerseits den Hausierer fast wie erschrocken anschaute.
»Weiß Gott, der Kerl hat auch rote Haare«, murmelt Dick wie verdutzt,
»das ist doch nicht etwa...«
»Du bist doch nicht etwa Richard«, unterbrach ihn der Hausierer, »der als kleiner Junge von seinen Eltern gelaufen ist? Damals wohnten wir noch am Tore, das heißt, ich war noch gar nicht geboren, aber erzählt ist mir von dem Tunichtgut oft genug worden.«
Da stieß Dick plötzlich einen unartikulierten Schrei aus, sprang auf den Hausierer zu, umschlang ihm und schwenkte ihn in der Luft herum.
»Herzensjunge«, schrie er ein über das andere Mal, »dann bist du ja mein Bruder!«
Als der Hausierer dem Erstickungstode, dem er durch die Umschlingung der muskulösen Arme des Pelzjägers ausgesetzt gewesen, glücklich entgangen war, folgten noch einige Fragen und Antworten aus denen sich deutlich ergab, dass die beiden, August und Dick, wirklich aus Potsdam von ein und denselben Eltern abstammten. Nur war August geboren worden, als Richard oder englisch Dick, der Tunichtgut, schon lange dem elterlichen Hause entlaufen war.
Dick führte den gefundenen Bruder, von dessen Vorhandensein er überhaupt keine Ahnung gehabt hatte, in sein Zimmer, und nun ging's an das Erzählen. Er erfuhr, dass der Vater schon lange tot wäre, dass aber die Mutter noch lebe, und zwar in guten Verhältnissen.
»Ich hatte die Absicht«, sagte Dick, »einmal nach Hause zu reisen, wenn mein Herr hier seine Geschäfte erledigt hätte. Daraus wird nun freilich nichts; ich muss mit ihm nach Indien, um seine Tochter suchen zu helfen.
Du gehst nach Hause und bringst die Nachricht, dass ich bald nachkomme. Ewig wird es wohl nicht dauern, bis wir das Mädchen aufgespürt haben. An solche Sachen sind wir schon gewöhnt.«
»Kannst du mich nicht mitnehmen?«, fragte August, in dem beim Erzählen der Abenteuer seines Bruders die Reiselust wieder erwacht war.
Dick nahm die Pelzmütze ab und kratzte sich den kahlen Kopf, auf dem einst ebenfalls rotes Haar gesessen hatte.
»Nein, mein Junge, das geht nicht!«, entschied er dann. »Ich könnte die Reise wohl bezahlen und dich erhalten, aber was sollst du dabei machen?
Du würdest uns nur hinderlich sein. Ich bin kein Freund von solchen unnützen Brotessern; ja, wenn du etwas leisten könntest! Was hast du denn gelernt?«
»Ich bin Strumpfwirker«, sagte August kleinlaut.
Dick lachte auf.
»Du machst also jene Dinger, welche man an den Füßen trägt, ehe man in die Schuhe fährt. Kann mich gar nicht mehr entsinnen, je welche getragen zu haben. Nein, geh du nur nach Hause und bleibe bei Muttern. Ich lasse mich auch noch einmal dort sehen, ehe ich sterbe, das heißt, wenn es nicht anders bestimmt ist. Das Reisegeld hast du, damit basta. Ja, wenn du dir zu der Reise irgend eine Stelle verschaffen könntest, dann wäre es ganz hübsch, wenn wir beisammen blieben.«
»Als was denn?«
»Nun, etwa so als Diener. Aber wer soll dich Grünfinken, der die Welt nicht kennt, als Diener zur Reise mitnehmen? Da braucht man andere Kerls dazu!«
»Oho, gerade zu so etwas würde ich mich sehr gut eignen!«
»Das müsstest du erst beweisen.«
»Habe ich das nicht schon?«
»Womit denn?«
»Nun, versuche du einmal, als Hausierer in England herumzuwandern und etwas zu verkaufen. Dazu gehört ein Mundwerk, das sich gewaschen hat.«
»Dazu würde ich mich freilich nicht eignen«, lachte Dick, »und dass du ein gutes Mundwerk hast, habe ich vorhin allerdings selbst gehört. Aber mit dem Reden allein ist nichts getan. Geh nur nach Hause und warte, bis ich komme.«
»Wer ist das?«, rief August plötzlich und deutete zum Fenster hinaus in den Garten, wo ein junger Mann zwischen den Beeten promenierte.
»Das ist Mister Reihenfels«, erklärte Dick, »so ein Mann, der Forschungen in Indien anstellt. Er führt unsere Expedition, denn wir anderen sind alle in jenem Lande ganz unbekannt, nur einige Diener, die uns begleiten, waren schon dort, wissen aber auch nicht mehr als wir. Kennst du ihn denn?«
August war aufgesprungen.
»Natürlich kenne ich ihn; vor einem Jahre habe ich ihn immer gesucht, konnte ihn aber nie finden. War der stets hier?«
»Er war ein Jahr lang in Indien und geht jetzt wieder mit uns hin.«
»Den muss ich sprechen!«
Damit eilte August hinaus und fand Reihenfels in einer Laube sitzen. Mit einem linkischen Gruß näherte er sich ihm.
»Was wollen Sie?«, fragte Reihenfels den ihm völlig fremden Mann. »Ach so, Sie sind der Hausierer!«, fuhr er lächelnd fort. »Tut mir leid, ich nehme von Ihren echten, aus Indien importierten Waren nichts, sie sind mir nicht echt genug. Geben Sie mir also keine Probe Ihres Rednertalents, ich kaufe nichts.«
Reihenfels hatte die Szene zwischen Miss Woodfield und dem Hausierer vorhin vom Fenster aus beobachtet.
»Ich will nichts an Sie verkaufen, ich bin auch gar kein Hausierer mehr.
Entsinnen Sie sich nicht, wer ich bin?«
»Ich kenne Sie nicht.«
»Wir trafen uns in Indien!«, sagte August mit pfiffigem Lächeln.
»In Indien? Waren Sie denn wirklich dort?«
»Ja, aber hier in London.«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Nun, in der indischen Ausstellung hatten Sie die Freundlichkeit, mit mir zu sprechen.«
»Ah so!«, entgegnete Reihenfels, von dieser Erinnerung peinlich berührt. »Aber ich entsinne mich Ihrer nicht mehr.«
»Damals hatte ich eine braune Haut, schwarze Haare, und meine Fingernägel waren durch die Hand gewachsen.
Reihenfels besaß ein vorzügliches Gedächtnis. Im Augenblick wusste er, wer vor ihm stand. Doch dieser Mann interessierte ihn nicht im Geringsten.
»Richtig, Sie sind der Strumpfwirker aus Potsdam, der in der Alhambra die Rolle eines Fakirs spielte. Also Sie haben Ihren Beruf abermals gewechselt und sind Hausierer geworden. Nun, sehen Sie nur zu, dass Sie viel verkaufen, das Zeug haben Sie dazu und des Englischen sind Sie ja recht gut mächtig. Ich bedaure, nichts weiter für Sie tun zu können.«
»Sie sagten damals zu mir, ich sollte Sie am anderen Tage im Hotel aufsuchen, vielleicht könnten Sie mir eine Stelle verschaffen...«
»Ich weiß. Ich konnte Sie, obgleich stets zu Hause, nicht empfangen.«
Reihenfels, dem die Unterhaltung immer unangenehmer wurde, griff in die Tasche, um den sich Aufdrängenden durch ein Geldgeschenk loszuwerden.
»Lassen Sie nur stecken«, sagte August gemütlich, »Sie brauchen mir nichts zu schenken. Sie waren damals in eine recht eklige Sache verwickelt, Sie saßen tief in der Patsche, und da war es ganz natürlich, dass Sie sich nicht um einen solchen Vagabunden, wie ich einer war, kümmerten. Ich nehme Ihnen das nicht weiter übel.«
»Das ist hübsch von Ihnen«, sagte Reihenfels und stand auf.
»Warten Sie nur noch ein Augenblickchen, ich muss Ihnen doch noch etwas sagen. Sie sollten damals doch Faxen gemacht haben, und da wartete ich nur darauf, dass man Sie vor das Gericht verdonnerte, dann wollte ich auftreten und aussagen, wie Sie ganz unschuldig waren und jener Musjeh, Musjeh... wie hieß er doch gleich, der kleine Franzose mit dem Gaunergesicht?«
»Monsieur Giraud?«, fragte Reihenfels, der jetzt aufmerksam wurde, und setzte sich wieder.
»Richtig, Musjeh Giraud. Ja, dass dieser Musjeh Giraud ein ganz infamer Lump war, der mit der Mirzi unter einer Decke spielte und Sie ins Unglück reiten wollte. Ihre Verhaftung in dem kleinen Zimmer war nur eine abgekartete Geschichte, der Musjeh und die Mirzi haben lange darüber disputiert, und dann hat der Franzose Ihnen auch noch den deutschen Detektiv auf den Hals gehetzt.«
Jetzt nötigte Reihenfels den Mann, ausführlicher zu erzählen, und er wurde auch nicht ungeduldig, was sonst bei ihm der Fall war, wenn jemand weitschweifig schilderte und gerade da, wo es nicht nötig war.
August erwähnte viele Namen, welche Reihenfels kannte, so z. B. den von Francoeur, und es war gar kein Zweifel mehr, dass die Intrige von Letzterem angezettelt worden war, um Reihenfels zu blamieren, sodass Bega das Verhältnis mit ihm löste. Francoeur hatte ja seinen Zweck auch vollkommen erreicht.
Der Erzähler konnte nichts weiter als die Wahrheit aussagen, woher hätte er sonst alles nehmen sollen. Er hatte den Franzosen Giraud als ständigen Besucher der Alhambra gekannt und ihn heimlich beobachtet, als dieser so viel mit der Mirzi zu verkehren begann, für welche August eine heimliche Neigung besaß. Der Eifersüchtige verfolgte Giraud auf Schritt und Tritt und wurde so Zeuge mancher intimen Unterredung, die für keine fremden Ohren bestimmt gewesen war. Selbst den Namen Bega hörte er öfter, ganz besonders aber den von Reihenfels, und dann lachten beide stets ausgelassen.
Reihenfels zweifelte um so weniger an der Wahrheit, als der Erzähler den Stempel der Ehrlichkeit an der Stirn trug, trotz des listigen Augenspiels.
Dagegen glaubte sich Reihenfels wieder nicht zu täuschen, wenn er August für etwas beschränkt hielt. Dieser gehörte zu den Menschen, welche Schlauheit mit Dummheit vereinigen. Aus übergroßer Schlauheit begehen sie Dummheiten, und ohne dass sie es wollen, machen sie in ihrer Dummheit oft die gescheitesten Sachen.
»Warum haben Sie mir das nicht gleich erzählt?«, fragte Reihenfels. »Sie wussten ja, wie Sie vorhin selbst gesagt haben, in welch unangenehme Lage ich geraten war. Ihre Aussage, bekräftigt von einem Schwur, hätte mich von dem Verdacht sofort gereinigt.«
»Ich wollte Sie immer aufsuchen, aber es durfte ja niemand zu Ihnen.«
»Sie haben recht, es war meine Schuld. Ich schloss mich damals von jedem Verkehr ab. Aber trotzdem, Sie hätten mir öffentlich beistehen können, indem Sie sich als Zeuge vor Gericht meldeten. Es wurden damals überall solche gesucht.«
»Ich habe nicht gern mit den Gerichten zu tun. Ich wollte warten, bis Sie verdonnert würden, dann wäre ich schon noch vorgetreten. Ich war selbst mit im Gerichtssaale. Als ich Sie freisprechen hörte, dachte ich: Na, da ist alles gut.«
»Ich wurde wegen Mangels an Beweisen freigesprochen.«
»Das ist doch ganz egal.«
»Für mich nicht.«
»Ach, gehen Sie, so zimperlich ist doch unsereiner nicht.«
Reihenfels bat den Mann, einige Minuten in der Laube zu verweilen, und ging während dessen selbst überlegend in den Gartenanlagen auf und ab.
Als er zurückkehrte, stand sein Entschluss fest.
Dieser Mann war der einzige, welcher seine Unschuld vollständig beiweisen und gegen die, welche die Intrige angezettelt, als Ankläger auftreten konnte. Seine Angaben waren trotz aller Weitschweifigkeit klar und deutlich gewesen, er besaß ein gutes Gedächtnis, er konnte viele der belauschten Reden wörtlich wiederholen, er entsann sich aller gehörten Namen.
»Sie sagten vorhin, Sie würden Ihr Hausiergeschäft, aufgeben. Was gedenken Sie jetzt zu tun?«, fragte Reihenfels.
August erzählte, wie er hier seinen Bruder gefunden habe, über welches zufällige Zusammentreffen Reihenfels nicht wenig erstaunt war, und was er mit Dick ausgemacht hatte.
»Sie würden lieber hierbleiben?«
»Das weniger. Am liebsten möchte ich mir noch ein bisschen mehr von der Welt anschauen, das heißt, aber nicht so ein Hungerleben wie bisher führen.«
»Dazu kann ich Ihnen Gelegenheit bieten; kommen Sie mit mir als Diener nach Indien.«
Wer war froher als August! Ohne Bedenken nahm er das Anerbieten an, und Dick hatte keine Einwendungen zu machen.
In dem Kontrakte, machte Reihenfels nur noch aus, dass August ihn, solange sie in Indien wären, nicht verlassen, das heißt kein anderes Engagement annehmen durfte, und dieser war ohne Weiteres damit einverstanden.
Zur gleichen Zeit beschwor Hedwig, die Inderin, ihre Herrin, auch sie mit nach Indien zu nehmen, sie vergehe vor Sehnsucht nach ihrer Heimat, und Emily ließ sich nicht lange bitten.
Sie brauchte sowieso eine Dienerin, und Hedwig, an deren Treue und Ergebenheit Emily nicht zweifelte, eignete sich in Indien jedenfalls am besten dazu.
So bestand die Gesellschaft, welche das Transportschiff anderentags nach Indien bringen sollte, aus Emily, in deren Begleitung Hedwig und Jeremy, aus Miss und Mister Woodfield und seinen beiden Pelzjägern, und schließlich aus Reihenfels, Hira Singh, Kiong Jang und August. Das Ziel aller war ein und dasselbe: der Felsentempel der Göttin Kali, in welchem der eine Teil ein schönes Weib mit goldenen Haaren, der andere Teil einen gebeugten, durch Verzweiflung und Entbehrungen zum Greis gealterten Mann zu finden hoffte.
Als Führer der Expedition galten Reihenfels, Hira Singh und Kiong Jang; doch Reihenfels hatte dabei noch ein ganz anderes Ziel im Auge. Er wollte einer schwarzlockigen Gestalt nachjagen und nicht eher ruhen, als bis er sie erreicht und sie von den Ketten befreit hatte, die ein grausames Schicksal um sie geschmiedet.
Den Engländern ist nur sehr selten einmal Gelegenheit geboten, ihre militärischen Truppen im Paradeschmuck zu sehen. Offiziell findet eine Parade nur zum Geburtstage des Königs statt, sonst höchstens beim Besuch eines fremden Herrschers.
Kann der Engländer aber einmal ausnahmsweise die Truppen in Parade sehen, dann sucht er sich unter allen Umständen freizumachen, um dem uns gewohnten Schauspiele beizuwohnen. Ein Offizier in Paradeuniform ist in England eben eine Kuriosität.
So zählte die Volksmasse, welche um den großen Platz des Tower Spalier bildete, nach Hunderttausenden, alle Fenster waren mit unzähligen Köpfen besetzt, Männer wie Kinder erklommen die Laternenpfähle, und um die Ecksteine entstanden wahre Kämpfe.
Der Tower, zu deutsch ›Turm‹ heißt die alte, mächtige Festung Londons, an der Themse liegend und diesen Strom beherrschend. Einst mit Kanonen bespickt und wirklich eine furchtbare Festung, dient der Tower jetzt nur noch als Aufbewahrungsort von Reliquien; man zeigt in ihm die alten königlichen Gemächer, und nur wenig Soldaten liegen darin. Aber der den Tower umgebende Platz wird noch immer zum Exerzieren und zum Abhalten von Paraden benutzt.
Auf diesem Platze standen heute alle die in London liegenden Bataillone und Schwadronen in vollem Paradeschmuck, zur Seite je eine Kapelle, die Offiziere in goldstrotzenden Uniformen auf herrlichen Rossen.
Den aufgestellten Truppen gegenüber erhob sich unter einem Baldachin ein rotsamtener Thron, und hinter diesem eine Tribüne, welche hauptsächlich mit Damen und Kindern besetzt war. Es waren dies die Gattinnen und Kinder der Offiziere, welche als Führer des heute nach Indien abreisenden Bataillons bestimmt waren. Die meisten Frauen begleiteten wie gewöhnlich ihre Männer, dauerte das Kommando doch drei Jahre. Selbst die Kinder wurden mitgenommen.
Den Thronsessel nahm Victoria, die Königin von Großbritannien ein. Sie wohnte dem Abschiede der Söhne ihres Landes in eigener Person bei.
Die hohe, schöne Herrscherin hielt die Hand einer Dame, welche ihr zur Linken saß, und diese Dame war keine andere als Lady Carter. Die Königin gab ihr noch einmal einen Beweis ihrer Gunst, war sie doch der Gattin Sir Carters, auf dessen Namen unverdientermaßen Schmach um Schmach gehäuft worden, einen solchen schuldig.
Zur Rechten der Königin stand ein alter, weißhaariger Mann in der überreichen Uniform eines Generalfeldmarschalls. Dies war Havelock, welcher vor siebzehn Jahren als Oberster in das Leben der Lady Carter eingegriffen hatte. Er begab sich jedenfalls mit dem Transportschiff nach Indien, um den dortigen Oberbefehlshaber der gesamten indischen Truppen abzulösen.
Hinter diesen dreien befanden sich Damen und Herren des Hofes, der Königin am nächsten aber Clarence, des Generals Tochter, welche mit Captain Atkins verheiratet war, nebst ihren beiden Kindern.
Unter der Volksmenge entstand eine Bewegung, Kommandos erschollen, und die Parade nahm ihren Anfang. Unter schmetternden Märschen marschierten die Musikchöre vor, schwenkten rechts ab und stellten sich dem Thronsessel gegenüber auf. Dann defilierten die Truppen an der Königin vorüber, erst Kavallerie, Kürassiere, Dragoner und Husaren — zuletzt die verschiedenen Bataillone der Infanterie.
Es war ein wunderschöner Anblick, diese schmucken Krieger in der glänzenden Paradeuniform, die Offiziere, deren von Gold strotzenden Waffenröcke in der Sonne funkelten, und sie bewiesen alle, dass man auch ohne unnötig anstrengenden Exzerzierdienst einen guten Parademarsch liefern kann.
Dieser ist bei der englischen Armee anders als bei der deutschen. Er wird im Geschwindschritt ausgeführt, wie man überhaupt englische Truppen in geschlossenen Massen sich nur im Geschwindschritt bewegen sieht.
Die einzelnen Bataillone schwenkten gleich hinter dem Throne rechts und links ob und stellten sich auf, so eine Gasse bildend, welche vom Thron bis zum Eingang der Katharine Docks führte, in welchem das Transportschiff lag.
Als das letzte Bataillon platziert war, verstummten die Musikchöre plötzlich, die ganze unabsehbare Gasse entlang wurden die Gewehre präsentiert, die Offiziere, vom höchsten herab bis zum Fähnrich, neigten die Degen.
Statt des rauschenden Parademarsches erscholl plötzlich ein seltsames, quiekendes Pfeifen, vermischt mit wirbelnden Trommelschlägen; das Bataillon, welches nach Indien gehen sollte, und dem die ganze Feierlichkeit galt, kam vorbeimarschiert.
Die Königin erhob sich, und mit ihr alle anderen Zuschauer auf der Tribüne.
Was konnte man den armen Soldaten, welche zur Wahrung her Interessen des Vaterlandes nach den Kolonien zogen, Höheres bieten als solch ein Zeichen von Hochachtung? Wie mochte das Herz manches jungen Mannes schlagen, als er sah, wie seine Kameraden vor ihm präsentierten, wie die Offiziere, welche ihm sonst befahlen, den Degen vor ihm senkten, ja, wie selbst die Königin und ihr ganzes Gefolge vor ihm aufstand! Alle diese Ehrerbietung galt ihm, ihm sowohl, als dem geringsten der neu eingestellten Trommeljungen.
Wie seltsam stach dieses Bataillon gegen die vorigen ab. Es befand sich nicht in Parade, sondern trug die graue Tropenuniform, alles grau, vom Kopf bis zu den Gamaschen hinab, kein Knopf funkelte, keine Helmspitze, nur die Waffen glänzten.
Im Geschwindschritt marschierten sie vorbei, voran die Trommeljungen, alles fast noch Kinder, welche ihrem Bataillon selbst zum Marsch aufspielten. Lustig ließen sie die quiekende Pfeife ertönen, munter rührte die Hand die Trommelschlägel, und zur Seite hing am langen Riemen das Hifthorn, welches auf Befehl des höchsten Offiziers die Schlachtsignale geben sollte.
Die Kinder, meist Waisen und Söhne von Soldaten, sahen so fröhlich drein, als ginge es nicht nach einem Lande, wo der Tod in tausenderlei Gestalt ihrer wartete, sondern zum heiteren Spiele, und ebenso stolz und fröhlich sahen die nachfolgenden Soldaten aus.
Die unter den grauen Tropenhelmen hervorblickenden Gesichter waren von der englischen Sonne nur wenig gebräunt worden. Wie aber mochten sie aussehen, wenn die Soldaten nach Ablauf dreier Jahre nach England zurückkehrten? Ob überhaupt einer von ihnen das Heimatland wiedersah?
Die unendliche Reihe der Kameraden präsentierte zum Abschied. Diese wussten nicht, dass kurze Zeit darauf ein Wehgeschrei durch England schallen werde, ein Ruf nach Hilfe, der sie alle, alle nach Indien führte, und noch zahllose andere. Und wie viele kamen von ihnen zurück? Nur einige wenige, eine Handvoll, zum Tode erschöpft, allerdings als Helden.
Dort winkten die Frauen und Kinder ihren Gatten, Vätern und Brüdern zu; sie wussten nicht, was ihnen in Indien bevorstehen würde.
Hätte die Königin eine prophetische Gabe besessen! Sie ahnte nicht, welches Unglück ihrem Lande bevorstand, nicht, woher es kam, sonst hätte sie nicht so liebevoll die Hand der Nachbarin zur Linken in der ihren gehalten.
Auch die Offiziere dieses Bataillons waren zu Fuß, aber die Sporen verrieten, dass sie eigentlich beritten waren. Sie erhalten ihre Pferde erst in Indien.
Der Kommandeur war Captain Atkins. Das Neigen seines Degens vor dem Throne galt weniger der Königin, als vielmehr seiner Gattin. Die Kinder jubelten dem Vater laut zu, sie begleiteten ihn nach Indien.
Jetzt grüßte Emily herzlich hinunter, denn Eugen kam vorbei. Er zog im Dienste Englands in seine Heimat. Wie blitzten seine schwarzen Augen im Jugendfrohsinn und Stolz, als er grüßend wiederholt den Degen neigte! Das Bataillon verschwand im Katharine Dock.
Diejenigen, welche es begleiteten, folgten ihm nach, während die Königin und ihr Gefolge an den Kai gingen, wo für sie eine Jacht bereitlag, auf welcher sie dem Transportschiff die Themse hinunter das Geleit geben wollten.
Im Dock fanden die letzten Abschiedsszenen zwischen den Soldaten und deren Eltern, Geschwistern und Verwandten statt. Auch Briefe, die letzten aus der Heimat, wurden verteilt.
»Jim Green, Jim Green!«, rief eine Ordonnanz, einen Brief hochhaltend.
»Hier!«, schrie unser Freund und drängte sich durch.
»Ein Brief von Muttern! Sie schickt noch ein Paket mit Hundertpfunden!«, sagte die Ordonnanz und gab ihm einen dicken, großen Brief.
»Banknoten werden's nun freilich nicht sein«, lachte Jim; »aber gespannt bin ich doch wie ein Regenschirm, was da wohl drin sein mag!«
Die Aufschrift war von einer ganz ungelenken Hand geschrieben. Es sah fast so aus, als ob Krähen mit Tintenfüßen darüberhin spaziert wären und die Adresse nur zufällig entstanden sei. Außerdem fühlte sich der Brief so weich und schwülstig an.
In der Nähe stand ein Trommeljunge, ein junges Kerlchen mit einem hübschen, mädchenhaften Gesicht, in dem eine kecke Stulpnase saß. Mit lachenden Augen betrachtete er den misstrauischen Soldaten.
»Na, Tommy Atkins«, redete er Jim an, »bist wohl bange, den Brief aufzumachen? Hast wohl deine Braut heimlich verlassen?«
»Halt's Maul, dummer Junge!«, schnauzte ihn Jim an. »Sonst ziehe ich dir die Haut von deinem Milchgesicht ab und spanne sie auf deine Trommel!«
»Da wären aber gleich von vornherein Löcher darin!«, lachte der Bursche und ging.
Jim öffnete den Brief und — war vor Staunen sprachlos. Er hielt in der Hand eine Anzahl kurzer, dünner, schwarzer Haarzöpfchen, mit Papierwickeln durchflochten.
»Gott bewahre mich!«, brachte er endlich hervor, »Wenn das nicht Nellys Zöpfe sind, so will ich noch heute freiwillig Spießruten laufen!«
Er steckte sie schnell in die Brusttasche, ehe sie von seinen Kameraden gesehen wurden, was ihm Spott vielleicht für seine ganze Dienstzeit eingebracht hätte.
»So ein verrücktes Ding!«, murmelte er dann. »Etwas Tollheit lasse ich mir schon gefallen, aber das ist doch zu viel! Richtig, sie wollte ein Andenken von mir haben, ich gab ihr mein Taschenmesser und forderte auch von ihr ein Geschenk. Sie versprach, mir noch eins zu schicken, ehe ich abreise.«
Den jungen Soldaten überkam etwas wie Wehmut.
»Also die Zöpfe hat sie sich abgeschnitten, um mich zu beglücken!«, fuhr er dann in seinem Selbstgespräch fort. »Das arme Kind, ich habe mich seit jenem Tage nicht mehr um sie gekümmert, und sie schien mich wirklich lieb zu haben! Aber das ist eben Soldatenliebe. Na, ich werde ihre Zöpfe also als Andenken aufheben, und sollte ich einmal in den Besitz einer Uhr kommen, mir aus ihnen eine Uhrkette machen lassen.«
Die Soldaten mussten das Schiff besteigen, denn schon näherten sich die Damen und Kinder, die die Reise mitmachten.
Dann ertönten die Signale der Dampfpfeife, die Musik auf dem Kai setzte ein, und unter dem Jubel und Hurrarufen der Volksmenge nahm das Schiff seine Fahrt auf — nach Indien zu.
Von hinten näherte sich schnell eine kleine Dampfjacht, an deren Gaffel das königliche Banner wehte. An Bord befand sich Ihre Majestät, sie gab ihrem Bataillon, das für sie nach Indien ging, das Geleite.
Die beiden Schiffe waren schon lange verschwunden, die Hurrarufe verstummt, die Menge hatte sich schon längst verlaufen, als noch immer ein Mann auf dem Kai stand und in die Richtung blickte, wo die Schiffe seinen Augen verschwunden waren.
Er war kein Europäer, wenn auch nach der Mode gekleidet. Sein Gesicht war tief braun, die Nase gebogen, die Augen dunkel und blitzend. — Er war ein Inder.
Die Hände hatte er in die etwas zu langen Ärmel zurückgezogen — was alle Chinesen und Hindus mit Vorliebe tun, auch wenn sie europäische Kleidung tragen — und so konnte man nicht sehen, dass sie zu Fäusten geballt waren.
Lange stand der Inder so unbeweglich auf dem Kai.
»Fahret nur hin!«, kam es dann zischend, wie in maßlosem Hass über seine schmalen Lippen. »Fahret nur hin, ihr stolzen Engländer! In Indien soll Euch eine andere Musik empfangen. Hundert Jahre nach der Schlacht bei Plassy — bald ist die Zeit erfüllt.«
Er wandte sich um und verlor sich in einer engen Dorfstraße.
Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
Go to Home Page
This work is out of copyright in countries with a copyright
period of 70 years or less, after the year of the author's death.
If it is under copyright in your country of residence,
do not download or redistribute this file.
Original content added by RGL (e.g., introductions, notes,
RGL covers) is proprietary and protected by copyright.