Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
Go to Home Page
This work is out of copyright in countries with a copyright
period of 70 years or less, after the year of the author's death.
If it is under copyright in your country of residence,
do not download or redistribute this file.
Original content added by RGL (e.g., introductions, notes,
RGL covers) is proprietary and protected by copyright.
RGL e-Book Cover
Based on an image created with Microsoft Bing software
"Das zweite Gesicht," Band 4, Verlag Dieter von Reeken, 2020
Wir versetzen uns eine beträchtliche Anzahl von Wochen zurück und nach Afrika. »Thalatta, thalatta! Das Meer, das Meer!«
So rief Xenophon, als er nach der unglücklichen Schlacht von Kunaxa die letzten Griechen aus dem Innern Asiens nach der Heimat zurückführte und nach unsäglichen Strapazen endlich wieder das Meer erblickte.
Seitdem ist es ein geflügeltes Wort, der Ruf, in den alles einstimmt, wenn man eben das Meer, welches das Ziel ist, zum ersten Male erblickt — auch von Leuten gerufen, welche Ursprung und Bedeutung dieses griechischen Wortes gar nicht kennen, die eben mitmachen, weil es nun einmal zum guten Tone gehört. Sonst wäre es ein Zeichen von Unbildung, wenn sie nicht mitschrien.
In den Sommerferien, wenn die Völkerwanderung der begüterten Familien nach den Nord- und Ostseebädern losgeht, kann man es bis zum Überdruss zu hören bekommen oder auf der Fahrt nach Triest, wenn hinter Miramar die blaue Adria auftaucht.
»Thalatta! Thalatta!«
So erklang es auch jubelnd an Deck des Raddampfers, der langsam durch den sumpfigen Fluss des afrikanischen Urwaldes paddelte, und die das riefen, die hatten allerdings einen Grund dazu.
Denn erstens waren die meisten von ihnen akademisch gebildete Männer, welche Xenophons Anabasis kannten, und zweitens hatten auch sie sich, um diesen Anblick endlich zu bekommen, viele Wochen und selbst Monate den größten Mühseligkeiten und Entbehrungen unterzogen.
»Der See! Der See!«, jubelten die anderen, die nichts von jenem geflügelten griechischen Worte wussten, in den verschiedensten Sprachen Europas und auch, wenn ihre Haut eine schwarze war, in afrikanischen Dialekten.
Denn da lag er endlich vor ihnen, der sagenhafte Leopoldsee!
Fast drei Wochen hatten sie gebraucht, um ihn zu erreichen, obgleich er von der Südküste des wohlbekannten Tumbasees doch nur 75 Kilometer entfernt sein sollte, nach Stanleys Angaben, die sich dann auch als richtig erwiesen.
Aber was war das für eine Fahrt durch den Urwald gewesen, obgleich sie immer Wasser vor sich gehabt und mit ihrem großen Scheinwerfer auch des Nachts hatten fahren können.
Es war eben ein Wasserlabyrinth, in dem die Urwaldbestände nur Inseln bildeten.
Und so viele Wasserstraßen endeten blind oder gingen in Sumpf über, durch den sich der Raddampfer nicht mehr paddeln konnte, was man ja überhaupt gar nicht erst versuchen durfte, um nicht rettungslos stecken zu bleiben.
Also immer wieder umgedreht, immer wieder und immer wieder, und eine andere Wasserstraße aufgesucht, in der Hoffnung, dass man auf dieser etwas weiter nach Süden kam, um schließlich doch wieder umkehren zu müssen.
Nun hieß es aber doch auch an den Rückweg denken.
Sonst verrannte man sich hier in einem Labyrinth, aus dem man später keinen Ausweg wieder fand.
Also mindestens an jeder Ecke oder Kreuzung zweier Wasserläufe immer eine kleine Boje von brennend roter Farbe ausgesetzt und verankert, mit genügend langer Leine, dass sie bei einem etwaigen Steigen des Wassers sich auch heben konnte und sichtbar blieb.
Musste man zurückkehren, so wurden diese Bojen natürlich wieder eingezogen.
Was das für Arbeit gemacht hatte!
Es war gut, dass sie von vornherein, sich in zwei Wachen teilend, auch immer des Nachts gefahren waren, den Scheinwerfer benutzend. Sonst hätten sie eben genau die doppelte Zeit gebraucht, um dieses Ziel zu erreichen, und ob sie wirklich sechs Wochen ausgehalten hätten, das wäre sehr die Frage gewesen.
Sie hatten überhaupt schon ausgemacht gehabt, nur vier Wochen auf dieses Vorwärtsdringen nach Süden zu verwenden, dann hatten sie umkehren wollen, denn eine Zeitgrenze muss man sich doch schließlich setzen, schon wegen des Proviants.
Ohne nächtliche Fahrt hätten sie also dieses ihr Ziel überhaupt gar nicht erreicht, wären wie alle die anderen Expeditionen, so weit diese nicht ganz und gar verschwunden waren, resultatlos wieder umgekehrt.
Was aber hatte das für Anstrengungen gekostet, was war dazu für eine Energie notwendig gewesen, um diese nächtlichen Fahrten durchzusetzen, hier im tropischen Urwald. Wir wollen nichts weiter als die Stechmücken erwähnen, welche jede Nacht die Luft in Legionen erfüllten, sodass man kaum atmen konnte, und die schwerarbeitenden Männer konnten sich doch nicht durch Moskitonetze schützen, nur durch eine dicke Schicht Lorbeerfett, durch dessen ekelhaften Geruch man aber Kopfschmerzen bekommt und wodurch es einem übel wird, bis zum Erbrechen.
Und nun endlich nach drei Wochen lag er vor ihnen.
»Der See! Der See!«
Sie jubelten es nicht nur, sondern sie warfen sich einander in die Arme.
Das sagt genug, was sie ausgestanden hatten, was es bedeutete, dass sie dieses Ziel endlich erreicht hatten.
War es aber auch wirklich der LeopoldII.See?
Konnte es nicht nur eine einmal sehr große Ausbuchtung eines Flusslaufes sein?
Eine geografische Ortsbestimmung war jetzt wie überhaupt während dieser ganzen Sumpfreise nicht zu machen, der Himmel war immer bedeckt gewesen.
Doch er war es wirklich, es konnte gar nicht anders sein! Wieder einmal zeigte es sich, wie gewissenhaft der einst so verleumdete Stanley geschildert hatte.
Ein hellblaues, undurchsichtiges Wasser, wie blaugefärbte Milch, was aber nur von den Rändern des Sees gilt, während es nach der Mitte zu, was auch schon von hier aus beurteilt werden konnte, immer mehr tiefblau und kristallklar wird, von vielen Inselchen durchsetzt, ganz charakteristisch mit dem sonst noch nie erblickten Suntabaum bewachsen, einer Art Birke mit weißer Rinde, niemals sehr dickstämmig werdend, und nun vor allen Dingen im großen Ganzen eine Szenerie, die ganz an einen Gebirgssee erinnerte.
Auf der ganzen Fahrt durch den Urwald, aber auch schon am Tumbasee, hatte man keinen Felsen, keinen einzigen Stein gesehen. Wie im ganzen Urwald des Amazonenstromgebietes, wie Condamine sagt, der kleinste Stein so selten ist wie ein Diamant, so schien es auch hier zu sein.
Nun aber plötzlich eine ganze Gebirgslandschaft! Alle die Inselchen sehr felsig, die eigentlichen Ufer des Sees von schroffen Abhängen gebildet, nur zum Teil mit dichtem Urwald bedeckt, sonst auch mit herrlichen Savannen, oder es waren wilde, schwarze Felsenmassen.
So hat Stanley diesen Leopoldsee geschildert.
Und als ob die kühnen, ausdauernden Forschungsreisenden vom Himmel selbst noch eine besondere Bestätigung bekommen sollten, so zerriss plötzlich das dunkle Gewölk, und gerade dort, wo die erste Spalte entstand, sich schnell erweiternd, lachte die goldene Morgensonne hindurch.
Nun schnell eine geografische Ortsbestimmung gemacht, die erste während dieser ganzen Urwaldreise.
Schon mehr als 75 Kilometer südlich vom Tumbasee entfernt — er war es, der Leopoldsee!
Sie dampften ein.
Und nun gewahrten sie auch noch einen anderen Unterschied.
Der bisherige Urwald war wie ein Grab des finsteren Schweigens gewesen.
Nur Moskitos und nichts weiter als Moskitos, und unten im Wasser höchstens einmal ein aufschnellender Fisch, der von einem Krokodil verfolgt wurde.
Sonst kein lebendes Wesen, kein Laut, auch in der Nacht nicht. Kein Raubtier hätte Beute gefunden.
Solche Urwälder werden ja meist gründlich verkannt. Wo sie nicht von großen, freien Lichtungen unterbrochen werden, also von ganzen Steppen oder Prärien, da gibt es kein Wild. Höchstens Eulen sieht man huschen und hört sie in der Nacht schreien, die auf Schlangen Jagd machen, welche sich wieder von Kerbtieren ernähren oder von Fischen und von Wasserratten.
Hier aber wimmelte es von Wasservögeln aller Art, dort auf den grasigen Abhängen weideten und tummelten sich Gazellen und Antilopen, lieferten sich mächtige Büffel Gefechte der Eifersucht, dort aus den schwindelnden Felshöhen kletterten Steinböcke, dort in der ebenen Steppe waren Zebras und die dabei niemals fehlenden Strauße zu erblicken, dort plätscherte im Wasser eine Herde gewaltiger Flusspferde, am Ufer tränkten und bespritzten sich Elefanten — und so Leben allüberall, wohin man auch blickte.
»Das wird herrliche Jagdtage geben.«
»Jagdabende und Jagdnächte, meine Herren«, korrigierte Mr. Robertson, der australische Leiter dieser afrikanischen Expedition, der eben nicht umsonst für diesen verantwortungsreichen Posten erwählt worden war. »Wir werden am Tage genug mit Vermessungen zu tun haben, und ehe wir dann auch am Tage Jäger werden können, müssen wir uns wohl erst in Holzhacker verwandeln, wollen wir diese Arbeit nicht ganz allein unserer braven Mannschaft überlassen.«
Ja, Feuerholz, Heizmaterial, es gehörte für den Dampfer schließlich auch mit zu dem Proviant, dessentwegen man nur vier Wochen hätte vordringen können, dann musste man umkehren.
Mit dem eigentlichen Proviant hätte man schließlich noch länger aushalten können, nicht aber in Bezug des Brennmaterials.
Auf dem ganzen Kongo werden, wie früher auch auf dem Mississippi, die Dampfer ausschließlich mit Holz gefeuert. Es ist in Heizwert viel, viel billiger als Kohle.
Überall an den Ufern sind Stationen, wo die Eingeborenen, die nicht gar zu faul sind, das von ihnen gefällte und zerkleinerte Holz des Urwaldes aufstapeln und gegen billiges Geld verkaufen oder gegen Waren austauschen.
Diese staatliche Expedition brauchte ja mit Geld nicht so zu rechnen. In Mombo war der gekaufte Flussdampfer mit Kohlen versehen worden, die Tonne zu 50 Franken, die hatten für die Stromfahrt gereicht, aber in Urranga waren keine Kohlen mehr zu haben gewesen, da hatte Holz eingenommen werden müssen, das nun freilich einen ganz anderen Raum beansprucht als Kohle, und sei es auch die schwefel- und eisenhaltigste Braunkohle.
Auch wieder für nur vier Wochen war dieser Holzvorrat bestimmt gewesen, mehr hatte man nicht unterbringen können.
Ja, sie waren immer durch Urwald gefahren, Holz allüberall genug. Aber in diesen Sümpfen solche Riesenbäume zu fällen oder kleineres Holz aufzusammeln, daran war doch gar nicht zu denken gewesen.
Hier nun standen überall die birkenähnlichen Suntabäume mit ihren schlanken, nur dünnen Stämmen, die konnten leicht in Feuerholz umgewandelt werden. Viel gespalten braucht bei solcher Kesselheizung ja nicht zu werden, nur die Stämme gefällt, und für die weitere Bearbeitung war extra eine Dampfsäge mitgenommen worden.
Die Feuerholzfrage gab auch den Ausschlag, wo man die erste Station wählte, von der aus der See erforscht werden sollte.
Eine größere Insel, die ein Anlegen erlaubte, dicht mit solchen Suntabäumen bestanden.
Zuerst musste ja untersucht werden, ob man direkt am Ufer anlegen konnte. Zwei Beiboote machten sich zum Loten auf. Sie brauchten nicht lange zu suchen, gleich hier war das Wasser dicht am felsigen Ufer tief genug, mehr als hundert Bäume konnten gleich an Bord zersägt werden.
Man legte an, man erging sich an Land.
Dieser erste Tag war ja doch der Ruhe gewidmet — oder der Jagd.
Denn massenhaft flohen vor den Menschen Antilopen und Wasserschweine und andere Tiere, denen diese einige Quadratkilometer große Insel ihre Welt bedeutete, in der sie geboren wurden und starben, ohne sie jemals verlassen zu haben. Wegen der Krokodile ringsum.
Dann konnte hier auch gleich der Proviant ergänzt werden. Das Fleisch der erlegten Tiere wurde getrocknet oder geräuchert oder eingesalzen.
Bald knallten die Büchsen.
Auch Dr. Raimund gehörte zu den Jägern, wie die meisten allein für sich auf die Pirsch gehend.
Er hatte sich auf der rechten, westlichen Seite der Insel gehalten, mit der Absicht, die ganze Insel zu umgehen, dabei sein Augenmerk ebenso auf das Jagdwild wie auf die Pflanzenwelt richtend.
Er hatte sich noch gar nicht so sehr weit von dem Dampfer entfernt, freilich diesen zwischen den Bäumen und Felsen schon längst nicht mehr erblickend, als er eine nicht gerade angenehme Entdeckung machte.
Dort in dem feinen Ufersand zeigten sich Abdrücke von nackten Menschenfüßen!
Und da sah er dort in der kleinen Bucht auch schon ausgehöhlte Baumstämme liegen, oder Boote aus Rinde, an der man nur ein gut Teil Holz noch stehen gelassen hatte!
Und ehe er noch weitere Beobachtungen machen konnte, da bekam er schon etwas gegen die Schläfe geschmettert, dass er sofort bewusstlos zu Boden stürzte.
Als er wieder zu sich kam, befand er sich in einer Umgebung, dass er sich erst vergewissern musste, ob er dies alles nicht nur träume.
Es war ein geschlossener Raum, von einem großen Fenster erleuchtet, die Wände mit Teppichen oder auch mit Raubtierfellen bekleidet, ebenso auch der Boden, und nun mit Möbeln besetzt.
Tische, Stühle, Schränke, Truhen, zwei Sofas.
Alle diese Möbel aus demselben braunen Holze, sehr groß, schwer und wuchtig, unpoliert, unlackiert, ohne jede Verzierung, aber dennoch einen ganz gediegenen Eindruck machend, das rohe, nur geglättete Holz allein schon durch seine feine Äderung eine Zierde bildend, die Lederpolsterung der Sofas und zum Teil der Stühle so solid, alles wie für die Ewigkeit berechnet.
Kein Bild, kein anderer Schmuck, keine Uhr, kein Spiegel, nichts von Glas oder Porzellan oder Ton.
Doch! Dort auf dem Sims eine riesige braune Kaffeekanne, so plump und schief und vereckt, als ob sie ein Töpferlehrling in seiner ersten Lehrwoche gemacht habe, und dann hätte er kein besonderes Talent für sein die Rundung liebendes Handwerk gehabt.
Diese Missgeburt von Kaffeekanne aber schien hier einen Ehrenplatz einzunehmen.
Und dort an der Wand ein Brett aus kostbarem Holze, an dem eine ganze Batterie von Tabakspfeifen hing, plump gefertigt aus rohem Rohre, mit festem Mundstück, an jedem ein ungeheurer Kopf aus gebranntem Ton, so riesig, wie sie bei uns gar nicht vorkommen, nicht einmal als Schaufensterdekoration eines Drechslers, zumal diese Tonköpfe auch wieder so ganz miserabel gelungen waren.
So waren auch die derben Wollteppiche sehr plump gefertigt. Es waren wohl Muster eingeknüpft, die aber einen ganz merkwürdigen Geschmack verrieten, außerdem nur durch Verwendung von hellerer und dunklerer Wolle, wie die Schafe sie lieferten, also ungefärbt, und überall sah man in den Mustern Fehler. Ferner nicht mit der Maschine, sondern nur mit der Hand geschoren, und das auch ganz ungeschickt. Aber sonst auch diese Teppiche wie für die Ewigkeit berechnet.
»Das ist die Wohnungseinrichtung eines echten Treckburen, der, wenn er sich ein Haus baut oder zimmert, sich schon darauf freut, wenn er es nach einiger Zeit verlassen kann, um wieder in seinem Wagen zu schlafen und zu wohnen, wandernd, immer wandernd!«
So konnte sich Richard sofort sagen.
Denn er hatte seine erste große Afrikareise von der Kapkolonie aus nach Norden angetreten, hatte die Buren zur Genüge kennen gelernt, auch ihre Sprache, noch etwas platter als das platte Holländisch.
Er lag auf dem einen der beiden Sofas, hatte um die Stirn einen Verband, unter dem er an der linken Schläfe eine tüchtige Beule fühlte, ohne dass diese ihm besondere Schmerzen verursachte.
Er stand auf, untersuchte sich weiter. Alles, was er bei sich getragen, hatte man ihm genommen, nur die Kleidung selbst war ihm gelassen worden, ein Jagdkostüm und was dazu gehört. Nur nicht die Waffen, Uhr, Brieftasche und dergleichen.
Sein erster Gang war nach dem Fenster.
Tief, tief unter sich eine unübersehbare, mit frischem Grün bekleidete Steppe, durch die sich Flüsse schlängelten, die sich manchmal auch zu Teichen und Seen erweiterten.
Auf solch einer Insel, aber viele Kilometer lang und breit, weidete eine riesige Schafherde, und auf einer anderen eine ebensolche Rinderherde, viele tausend Stück, von vielen schwarzen Gestalten zu Fuß und zu Pferde bewacht.
Um direkt unter sich zu blicken, musste Richard in das mindestens metertiefe Fenster klettern. Er tat es, sah eine glatte Felswand hinab, sah dort unten einige Schwarze und große Hunde herumlungern, nichts weiter.
Er stieg wieder aus dem Fenster, ging nach der Tür, die mit einem Teppich verhangen war.
Merkwürdig, in welchem Gegensatze dieser zweite Raum zu jenem stand!
Während dort die Möbel für einen Riesen berechnet waren, musste man hier an die Wohnungseinrichtung eines Zwerges denken.
Die Tische, die Stühle, die Schränke und Sofas — alles von der gleichen Form, von dem gleichen Holze mit der gleichen Polsterung, aber von ganz auffallender Kleinheit!
Und dort an der Wand ein Regal, mit Büchern besetzt, unten am Boden anfangend, aber nur in Tischhöhe gehend, sodass man auch gleich wieder auf den Gedanken kommen musste, dass hier ein Zwerg hauste, der nicht höher hinauflangen konnte und eine Leiter verschmähte.
Die vier Reihen Bretter waren mit einer stattlichen Anzahl von Büchern besetzt, einige hundert, teils sehr abgegriffen, teils ziemlich neu.
Richard nahm einige heraus.
Holländische, englische und am meisten französische Bücher, wiederum nach dem Jahre ihrer Erscheinung teils sehr alt, teils ganz jung, nur Romane oder Sittenschilderungen, aber immer nur die denkbar schlüpfrigste Lektüre.
So etwa das »Leben der galanten Damen« von Brentome, 16. Jahrhundert, hier allerdings eine ganz moderne Ausgabe, Sittenschilderung vom damaligen französischen Hofe, gegen welches Buch Boccaccios »Decameron« selbst in der Originalausgabe die reine Kinderlektüre zu nennen ist. Mag dieses Beispiel genügen, was hier für eine Literatur angehäuft war.
»Na, schon wieder fähig, um zu stänkern?«, erklang da eine raue, barsche Stimme.
Wie sich Richard jäh umwandte, stand vor ihm eine hohe, breitschultrige, massige Männergestalt, gekleidet in einen bäurischen Anzug, die baumwollenen Hosen hoch gezogen und so unter den Knien mit Lederriemen festgebunden — ein echter Treckbure.
Es musste ein schon alter Mann sein, wenn auch der blonde, wilde Vollbart erst graumeliert war.
Der breitrandige Strohhut, ganz plump geflochten, beschattete ein verwettertes, bronzefarbenes Gesicht mit eigentlich sehr schönen Zügen, denen aber der Stempel der Brutalität aufgedrückt war.
Ein Wort über diese Buren.
Sie sind der Sympathien, die man ihnen damals in ihrem Verzweiflungskampfe gegen die Engländer zum Teil entgegenbrachte, besonders in Deutschland, wirklich nicht wert gewesen!
Man muss sie nur in Südafrika selbst kennen gelernt haben, natürlich nicht in den Städten, sondern draußen auf ihren Farmen, deren Besitzer doch die eigentlichen Burenrepubliken bildeten.
Ganz abgesehen von der schrecklichen Unwissenheit. Wenn der Präsident Paul Kruger die Erde für eine runde, flache Scheibe hielt, oben bewachsen und bevölkert und unten eben öde und leer, nicht einmal abgehobelt, um die sich die Sonne dreht, und in der Nacht zündet der liebe Gott die Sterne als Lichter für die Menschen an — so war das seine Sache, das tut niemandem weh.
Aber ein Volk, das weiter keine Ideale kennt, als zuzusehen, wie sich seine Herden vermehren, dabei raucht und Kaffee trinkt, das sich prinzipiell gegen alle Kultur verschließt, das aus sich selbst heraus absolut nichts produziert, was doch wenigstens die Chinesen tun und eigentlich jeder wilde Volksstamm, indem sie doch wenigstens ihre Waffen und Hausgerätschaften zu verschönern suchen, und sei es durch den einfachsten Kerbholzschnitt, durch Anbringen von bunten Federn — solch ein Volk ist heute überhaupt nicht mehr existenzberechtigt.
Was aus einem Volke wird, das prinzipiell alle Kultur, Kunst und Wissenschaft verachtet, das haben die Buren bewiesen!
Und ebenso auch, dass es mit der Religion allein nicht getan ist.
Denn gottesfürchtig sind sie, das muss man ihnen lassen. Jawohl! In der einen Hand die Bibel, und in der anderen die Knute.
Diese brutale Rohheit, verbunden mit dem aufgeblasensten Dünkel, welcher auf der Bibel fußt.
»Wir sind die Auserwählten Gottes, denn wir leben genau so wie die Patriarchen im alten Testament — Ihr anderen seid für uns gar nichts!«
Und das haben besonders ihre schwarzen Diener und Arbeiter fühlen müssen.
Der Schreiber dieses ist der letzte, der die schwarze Rasse gleichberechtigt mit der weißen hält. Er hat sie zur Genüge kennen gelernt. Unsere Nächsten, unsere Brüder? Gott soll uns davor bewahren!
Und am allerschlimmsten wird es, wenn man dieser schwarzen Bande das Christentum aufdrängt. Mit einem christlichen Neger ist überhaupt gar nicht mehr auszukommen.
Das sind doch auch eben die Säue, denen man die Perlen des Evangeliums nicht vorwerfen soll!
Aber man zieht ja gegen diese Gefühlsduselei ganz vergebens zu Felde. Bis wir dereinst die Früchte davon ernten werden.
Menschen natürlich sind sie auch, sie verdienen unsere Schonung und sollen belehrt werden, herangezogen zu besseren Menschen.
Obgleich wir da den Anfang erst einmal mit uns selber machen könnten. Vorläufig bringen wir unseren schwarzen »Brüdern« recht viel Schnaps.
Aber der Bure hat die Neger überhaupt niemals als Menschen anerkannt.
Nur ein einziges Beispiel. Bis zur Auflösung der beiden Republiken hat es keinen Burenjüngling gegeben, der, wenn er als Mann gelten wollte, nicht einen Tabaksbeutel besaß aus der Brust einer Hottentottin, selbst abgeschnitten und selbst gegerbt! Doch wir wollen bei solchen Ungeheuerlichkeiten nicht weiter verweilen.
Jedenfalls sagt das schon genug!
Unter dem englischen Regiment hat sich das ja nun freilich gründlich geändert. Heute können sich die schwarzen Diener und Arbeiter über Misshandlungen beschweren, und wer im Besitze eines Tabaksbeutels aus schwarzer Menschenhaut ist, dem wird er konfisziert und er hat eine schwere Geldstrafe zu zahlen, und wer bei der Anfertigung ertappt wird, der bekommt »hard labor«, Zuchthaus, oder kann auch mit dem Tode bestraft werden, und das wohl mit Recht! — —
Breitbeinig stand der hünenhafte Mann da, die Fäuste in die Hüften gestemmt, in der rechten herabhängend die unvermeidliche Peitsche aus Rhinozeroshaut — ein Bild der rohen Kraft und des brutalen Selbstbewusstseins.
»Na, schon wieder fähig, um zu stänkern?«, erklang es barsch.
»Wie komme ich hierher? Wo bin ich hier?«, musste wohl des jungen Mannes erste Frage sein.
»Das brauchst Du gar nicht zu wissen. Du bist mein Gefangener und damit basta!«
»Ihr Gefangener? Wer sind Sie denn?«
»Na, damit Du es gleich weißt und Dich danach richten kannst: Ich heiße Kuiper, Jan Kuiper, Du hast mich mit Sie und Mijnheer anzureden.
Hier ist das Makalliland, und ich habe das ganze Seegebiet vom König gepachtet, wohne also mit Fug und Recht hier.
Du gehörst mit zu dem Schiffe, das auf dem See gefahren ist?«
»Ja.«
»Alles, was auf mein Gebiet kommt, das gehört mir. Dieses Schiff gehört mir, alles was drauf und drin ist, gehört mir, also auch alle die fremden Menschen gehören mir!
Ich will diese feinen Kerlchen schon arbeiten lassen!
Meiner Aufforderung, sich gefangen zu geben, sind sie nicht nachgekommen.
Gut, dann wird's mit Gewalt gemacht.
Jetzt liegen sie mit dem Schiffe tief in einer Insel, in einer tiefen Bucht, sie haben sich dort verschanzt.
Da mögen sie nur liegen bleiben.
Wenn sie nichts mehr zu fressen haben, müssen sie doch herauskommen.
Die denken vielleicht, sie können durch den Wald wieder zurückfahren, wo sie hergekommen sind. Jawoll!
Wenn sie sich nicht freiwillig gefangen geben, dann lasse ich sie so spurlos verschwinden, wie ich schon manch solches Schiff habe verschwinden lassen.
Oder doch die Menschen darauf.
Das Holz und das Eisen kann ich immer gut brauchen und was sonst noch in solch einem Schiffe ist.
Nur keine toten oder schon sterbenden Menschen kann ich brauchen.
Bei mir muss alles arbeiten.
Weshalb sie den Rückweg nicht wieder finden können?
Weil sie doch ihren roten Dingern nachfahren werden, die sie an jeder Ecke im Wasser ausgelegt haben.
Und weil ich diese roten Dinger bereits habe verlegen lassen.
Na, he?«
Ein furchtbarer Schreck durchzuckte den jungen Gelehrten.
Während der dreiwöchigen Fahrt durch den Urwald war also auch kein einziger Mensch erblickt worden.
Trotzdem musste mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass sich in dem Urwald dennoch Eingeborene aufhielten oder dass ihn einmal ein Trupp passierte und dass die schönen roten Kugeln den Negern gefielen, dass sie sich diese aneigneten.
Aber das hätte nicht viel zu sagen gehabt. Große Strecken hätten sie doch nicht abplündern können. Dann hätte die zurückfahrende Expedition schon wieder die nächste Boje gefunden, als erste von der richtigen Reihe, der man nur zu folgen brauchte, um wieder den Tumbasee zu erreichen.
Wenn aber die Bojen nicht einfach entfernt, sondern systematisch in ganz anderer Weise verlegt wurden, dann war die Expedition einfach rettungslos verloren! Dann würde sie sich niemals wieder durch diesen Urwaldsumpf zurückfinden können!
Und in demselben Augenblick, da sich Richard dies sagte, hatte er auch schon seinen Entschluss gefasst.
Dann musste er sich willig in diese Gefangenschaft fügen, durfte vorläufig an keine Flucht denken.
Er musste willig alle ihm auferlegten Arbeiten verrichten, musste alle Demütigungen mit guter Miene hinnehmen.
Er musste sich hier »lieb Kind« zu machen suchen, das Vertrauen gewinnen. Wozu?
Weil es doch sicher hier Menschen gab, welche den Weg durch den Urwald nach dem Tumbasee ganz genau kannten, auch ohne solche künstliche Merkmale, denn sonst wäre es ihnen ja gar nicht möglich gewesen, diese fremden Merkmale zu entfernen, zu verlegen.
Das Vertrauen wenigstens eines einzigen dieser Wissenden und Eingeweihten musste er gewinnen, seine Freundschaft, die ihm nichts abschlug.
Dass dieser dann mit ihm ging und ihm den Weg zeigte.
Erst dann durfte er selbst an eine Flucht denken. Nur auf diese Weise war es ihm möglich, seine Kameraden zu retten — —
Dies alles hatte sich Richard also sofort gesagt.
Wenn er nun erst noch einige weitere Fragen stellte, so war das angebracht, der Bure musste solche erwarten, oder er hätte misstrauisch werden können.
»Mit welchem Rechte machen Sie denn harmlose Reisende zu ihren Gefangenen und Sklaven?«
»Mit dem Rechte des Stärkeren!«, lautete die Antwort.
Und das war auch eine ganz vernünftige Erklärung gewesen.
Wenigstens war es dem jungen Gelehrten viel lieber, als wenn dieser Bure etwa Bibelstellen zitiert hätte, wonach er dieses sein vermeintliches Recht begründen konnte.
»Wenn die zurückkommen«, setzte der Bure noch hinzu, »dann erzählen sie, was es hier für schöne Weidegründe und für fruchtbares Land gibt, auch ganz gesund, wie sich hier die Herden vermehren und was hier alles wächst, und dann kommen die anderen Menschen natürlich in Massen gelaufen, um sich hier anzusiedeln, fragen den Teufel danach, ob es schon einem anderen gehört oder nicht. Weil sie denken, es gehört dem König von Belgien oder der belgischen Regierung, denen brauchten sie es nur abzukaufen.
Aber der Teufel soll sie holen! Darauf lässt es Jan Kuiper natürlich nicht ankommen.
Wer hier auf mein Gebiet, in diese Gegend kommt, der kommt nicht wieder lebendig heraus!«
Diese Erklärung wäre für Richard gar nicht mehr nötig gewesen, für ihn war diese Sache bereits erledigt.
»War ich denn lange Zeit ohne Besinnung?«
»Du hast einen ganzen Tag und eine ganze Nacht dort auf dem Sofa geschlafen.«
,Ich bin wohl betäubt worden?«
»Ja, mit Makalligift.«
»Makalligift? Was ist das?«
»Sei froh, wenn Du es nicht näher kennen lernst. Dass Du so lange geschlafen hast, das merkst Du wohl daraus, weil Du Hunger hast?«
»Ja, ich habe einen ganz mörderlichen Hunger.«
Der Bure brach in ein schallendes, brüllendes Lachen. aus. Er hielt sich jedenfalls für einen jovialen, gutmütigen Menschen, mochte es in seiner Weise auch in Wirklichkeit sein. Mit der nötigen Rohheit und Brutalität verbunden. Eben ein Kraftmeier, dem alles nach seinem brutalen Willen gehen musste, der alles niederschlug, was sich ihm widersetzte, sonst aber seine Sklaven, Menschen und Tiere, ganz gut behandelte, sie vor allen Dingen gut fütterte.
»Für Deinen Hunger soll gleich gesorgt werden«, lachte er.
Dann aber wurde er wieder ernst.
»Nun will ich Dir gleich sagen, wie Du Dich hier zu verhalten hast.
Du kannst hier in diesem Felsenhause und in den Nebengebäuden und in den Höfen und Gärten herumstromern wie Du willst.
Nur die Mauer, die dies alles einschließt, darfst Du nicht übersteigen, durch kein Fenster klettern und keine verschlossene Tür zu öffnen suchen.
Wegen des Anfassens von Waffen will ich Dir keine Vorschriften machen.
Denn sonst dürftest Du auch kein Messer in die Hand nehmen, müsstest mit den Fingern essen, was Du aber nicht nötig hast.
Meinetwegen also nimm ein Gewehr von der Wand und betrachte es.
Richtest Du aber einmal irgend eine Waffe, ein Gewehr oder ein Messer oder auch nur einen Stock gegen einen Menschen oder machst Du irgend etwas, was den geringsten Verdacht erweckt, dass Du von hier fliehen willst, dann —«
Der Bure sprach die Drohung nicht weiter aus, er nahm die rechte Faust von der Hüfte und fuchtelte mit der furchtbaren Rhinozerospeitsche dem jungem Manne vor der Nase herum.
Und das genügte.
»Verstanden?«
»Ich habe verstanden und werde mich danach richten.«
»Gut. Du scheinst ein vernünftiger Kerl zu sein. Da kann ich Dir auch gleich eine angenehme Mitteilung machen.
Du brauchst nicht so zu arbeiten, wie es die anderen werden tun müssen, wenn ich sie erst in meiner Gewalt habe.
Du hast Glück gehabt.
Du hast hier nämlich eine alte Freundin wiedergefunden, die schon einmal ein Auge auf Dich geworfen hatte und die Dich gleich wieder erkannt hat.«
Der Mann wartete die Wirkung seiner Worte ab.
Und Richard war natürlich auch äußerst überrascht.
»Eine alte Freundin?«
»Du kennst sie sehr gut. Nicht wahr, Du heißt doch Doktor Richard Raimund?«
»Das ist mein Name.«
»Du bist doch aus Hamburg.«
»Nicht direkt, sondern —«
»Aber Du warst doch vor drei Jahren in Hamburg.«
»Allerdings.«
»Na, von dorther kennst Du sie. Nicht etwa eine Schwarze. Eine ganz, ganz weiße Dame. Du kennst sie sehr, sehr gut. Sie hat sogar auf Deinem Schoße gesessen.«
»Auf meinem Schoße gesessen?«, wiederholte Richard etwas unwirsch.
Er ging in Gedanken schnell einmal sein ganzes Sündenregister während der letzten drei, vier Jahre durch. Gerade diese »Sünde« wollte ihm nicht einfallen, er war sich einer solchen wirklich nicht bewusst.
Der Bure amüsierte sich offenbar über den jungen Mann.
»Wenn ich Dir ihren Namen sagte, würde Dir sofort alles wieder einfallen.«
»Wie ist dieser Name?«
»Den sage ich jetzt noch nicht. Du sollst überrascht werden, und ich will dann dabei sein, wenn Du sie siehst, was Du für ein Gesicht machst!«, lachte Kuiper.
»Eine sehr, sehr schöne, zierliche Dame. Bei uns heißt sie Sibylle, und so wirst auch Du sie nennen.
Also Fräulein Sibylle kennt Dich, wie Du sie kennst, Du hast von Neuem ihr Wohlgefallen erregt, Du gehörst ihr.
Natürlich hast Du ihr unbedingt zu gehorchen!
Wie sie Dich behandelt, das wird ganz von Deinem Benehmen abhängen.
Im Übrigen ist sie das gutmütigste Mädchen, dabei von größter Bildung, Du wirst Dich mit ihr sehr gut unterhalten können.
Nur das will ich Dir gleich noch sagen, falls sie es Dir nicht selbst sagt: Sie hat unter ihren Fingernägeln Makalligift!
Sie braucht Dich nur zu ritzen, dann fällst Du um!
Nur bewusstlos oder auch tot, je nachdem mit welchem Nagel sie Dich ritzt!
Daran denke immer! Dass Du nicht etwa glaubst, durch ihre Festnahme oder sonst wie durch ihre Person Deine Freiheit erzwingen zu wollen.
Josua!«
»Der diesen biblischen Namen trug, war ein Schwarzer, der durch einen anderen Türteppich trat, nur mit einer Hose bekleidet.
Kuiper stellte gleich vor.
»Das ist der erste Diener des Fräuleins Sibylle, der die anderen unter sich hat.
Also es ist auch der Deine.
Du bist hier nämlich in den Wohnräumen von der Sibylle, das alles, was die Mauer umschließt, gehört ihr, niemand anders hat diese Räume zu betreten als ich und wen ich sonst dazu bestimme.
Wenn Du einen Diener brauchst, so rufst Du nach Josua oder klatschst in die Hände oder machst sonst wie Spektakel, und wenn Josua nicht kommt, dann kommt ein anderer.
Aber dieser schwarze Heiducke hier ist dafür verantwortlich.
Wenn Dir einmal etwas nicht passt, dann machst Du den hier verantwortlich für alles, und dann —«
Der Bure brach ab.
Seine blauen Augen, sonst eben nicht unstet, waren zuletzt durch das Zimmer gewandert und auf dem niedrigen Bücherregal haften geblieben.
Er ging hin, wischte über den Bordrand mit der Hand und betrachtete sie.
Richard konnte dort keine Spur von Staub bemerken. Überhaupt herrschte in diesen Zimmern die peinlichste Sauberkeit. Holländische Sauberkeit, die man auch in den Wohnungen und Wagen der Buren findet. Freilich nur in gewisser Beziehung, wie wir auch hier gleich sehen werden. Man möchte dabei, um schon jetzt ein Beispiel heranzuziehen, an eine Frau denken, die den ganzen Tag ihre Wohnung scheuert und alles blitzblank putzt, aber sie selbst ist dabei schmutzig und schmuddelig. Solche Frauen gibt es ja. Und auch dieser Bure hier sah nichts weniger als sehr sauber aus.
Es machte ja doch sein, dass auf dem Bordbrett etwas Staub gelegen hatte. Er zeigte dem Neger die beschmutzte Hand.
»Du Dreckschwein —«
Es folgten noch andere Worte, und dabei wurde dem Herrn Josua die schwere Hand ins Gesicht geklatscht, erst in die Mitte und dann links und rechts, und dann wurde ihm einige Male die Rhinozerospeitsche über den nackten Rücken gezogen, dass man sofort die blutunterlaufenen Schwielen entstehen sah.
Der Schwarze heulte einmal auf, dann warf er seinem Herrn einen hasserfüllten Blick zu, und dann schmunzelte er vergnügt, aus den hasserfüllten Blicken wurden sogar zärtliche, wie er dann seinen Herrn, als dieser nicht mehr schlug, betrachtete. Es war eben ein Neger, der ab und zu seine Tracht Prügel haben musste, sonst fühlte er sich nicht glücklich. Was ganz wörtlich zu nehmen ist. Wenn ein sonst aufmerksamer Hund gleichgültig gegen seinen Herrn wird, was immer der Fall ist, wenn man ihn Tag und Nacht um sich hat, so braucht man ihn nur einmal grimmig anzufahren, mit der Peitsche nur zu drohen, und der Hund wird, an eine ihm unbewusste Sünde glaubend, die er begangen hat, bis auf Weiteres wieder für jedes Wort mit freudigem Schwanzwedeln quittieren, die Liebe zu seinem Herrn ist aufs Neue erwacht. Ja gerade kein empfehlenswertes Experiment, aber es ist doch eine Tatsache. Und genau so ist der Negercharakter.
»Siehst Du, mein Freund«, wandte sich der Bure wieder an Richard, »so wirst Du diese Neger behandeln. Immer gleich drauf los mit der Karbatsche, wenn sie Dir nicht gehorchen oder Dir sonst etwas nicht passt. Da nur kein Zartgefühl! Wenn Du sie nicht verprügelst, dann verprügeln sie Dich. Verstanden?«[1]
[1] Als Herausgeber möchte ich darauf hinweisen, dass ich mehrere Textteile wegen der vielen menschenverachtenden rassistischen (auch nicht durch einen Hinweis auf den »Zeitgeist« zu rechtfertigenden), ja sadistischen Schilderungen Robert Krafts in diesem Roman ungekürzt wiedergebe, um eine Auseinandersetzung mit dem Text zu ermöglichen. Bei der Kraft-Rezeption sollten diese abstoßend wirkenden Darstellungen nicht ausgeblendet werden. Die im Originaltext an einigen Stellen verwendete Bezeichnung »Nigger« ist hier durch das zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht durchweg als herabsetzend verwendete Wort »Neger« ersetzt worden. (D. v. R.)
»Ich habe verstanden und werde es beherzigen!«, entgegnete Richard, der ja auch wirklich schon seine Erfahrungen gemacht hatte, wie solche Neger zu behandele sind — selbstverständlich immer mit Ausnahmen, welche die Regel bestätigen.
»Wo ist Sibylle?«, wandte sich der Bure wieder an den Neger.
»Sibylle tanzt!«, grinste dieser schon wieder ganz vergnügt, obgleich er sich noch etwas unter den Schmerzen der Peitschenhiebe krümmte.
»Wer lässt sie tanzen?«
»Master Michel.«
»Wenn sie fertig ist, dann sage ihr, dass ihr Freund erwacht ist.«
»Josua wird es sagen, Massa.«
»Und jetzt lass für den Mann auftragen, was vom Frühstück übrig geblieben ist. Fort, Du schwarzes Scheusal!«
Der Neger verschwand, seinem Herrn noch einen liebevollen Blick zuwerfend.
»Sonst habe ich Dir nichts weiter zu sagen, Richard«, wurde der alte Bure noch familiärer gegen seinen Gefangenen. »Bete zehn Vaterunser, wozu ein gottesfürchtiger Mann, der nicht nur so schnattert wie ein Pharisäer, genau fünf Minuten braucht, und ist bis dahin der Tisch nicht gedeckt, dann karbatsche die faulen Hunde. Dazu kannst Du also einen Prügel und eine Peitsche immer in die Hand nehmen, auch immer bei Dir tragen. In einem der Schränke Deiner Zimmer findest Du eine ganze Auswahl davon. Also Du kannst auch jeden Schrank hier öffnen. Nun mache es gut, besonders mit der Sibylle, dann werden wir auch gute Freunde zusammen.«
Recht freundlich hatte es der bärbeißige Alte zuletzt gesagt, und auch er ging.
Richard betete keine zehn Vaterunser, um für seinen knurrenden Magen ein Zeitmaß zu haben.
Eine weiße Dame, die er sehr gut kannte, die er sogar einmal auf seinem Schoße gehabt, die sollte er hier wiederfinden?
Er musste sich jetzt gestehen, dass auch ihm so etwas einmal passiert war, oder er wäre ja ein niederträchtiger Mucker gewesen, von Gott und aller Welt verachtet — aber sicher nicht mehr innerhalb der letzten vier Jahre und überhaupt niemals in Hamburg.
Da musste hier also wohl ein Irrtum vorliegen, eine Verwechslung von Zeit und Ort. Wenn nicht überhaupt alles auf einem Irrtum beruhte. Gespannt war er natürlich äußerst auf das Fräulein Sibylle.
Doch jetzt schlug er sich energisch die Gedanken davon aus dem Kopfe, wollte weitere Umschau in seinem zukünftigen Heim halten — oder in dem des Fräulein Sibylle.
Er hätte durch dieses Bücherzimmer mit den so auffallend kleinen Möbeln noch weiter gehen können, begab sich aber erst noch einmal in das vorige zurück, das ebenfalls eine Fortsetzung gehabt hatte, in der wohl ganz richtigen Annahme, dass hier die weibliche Region begann.
Das erste, was er in jenem Zimmer bemerkte, war, dass unterdessen von dem großen Tische oben die Platte abgehoben worden und verschwunden war.
Da er schon unter Buren gelebt hatte, und zwar unter echten Treckburen, worunter man auch die Farmer versteht, wusste er schon, aus welchem Grunde dies geschehen war. Doch wollen wir nicht vorgreifen.
Das nächste Zimmer war auch wieder so eingerichtet wie dieses, enthielt nur noch mehr Schränke und Truhen.
Ehe Richard diese öffnete, tat er es mit der Tür, welche sich gegenüber dem Fenster seitwärts befand, nicht nur mit einem Teppich verhangen, sondern eine richtige Tür, auch wieder aus nur roh gesägten Brettern bestehend, plump zusammengefügt, schwer und gewaltig, statt in Angeln drehte sie sich an Stricken. Nur das Holz selbst war schön und kostbar.
Sie ließ sich öffnen, nur der ungefüge Riegel brauchte zurückgeschoben zu werden, und Richard blickte und trat in einen geräumigen Hof, umgeben von Stallgebäuden.
Das Leben auf einem richtigen Bauernhof zeigte sich ihm. Nur dass alle Knechte und Mägde eine tiefschwarze Haut und wollige Haare und Bratwurstlippen hatten. Rinder wurden aus einem Stall in den anderen getrieben, Pferde geputzt, dort auf einer offenen Tenne wurde Mais gedroschen, dort verrichteten dieselbe Arbeit Reiter zu Pferde und auch auf Ochsen mit Durrha, Negerhirse. Die Körner wurden durch die Hufe herausgetreten. »Du sollst dem Ochsen, der da drischet, das Maul nicht verbinden.«
Und nun ein Hühnerhof! Alles wimmelte von sehr schönen, großen Hühnern, die nach ihrer vielen Gackerei fleißig Eier legen mussten, dazwischen aber auch Reiher und Pelikane und rosenrote Flamingos und andere exotische Vögel, besonders auch Sekretäre, ebenfalls eine Reiherart, so genannt nach den laugen Federn, die ihnen über dem Kopf nach hinten baumeln. Überall, wo der Sekretär vorkommt, wird er von den Menschen geschont, weil er der eifrigste Schlangenjäger ist.
Wenn man solch einen Hühnerhof eines Treckburen sieht, möchte man bald auch einer werden. Zumal er selbst die Eintönigkeit nicht liebt, über kurz oder lang alles wieder einreißt oder einfach im Stiche lässt und nach langer Wanderung im Wagen alles wieder neu aufbaut. Wenn er dies nicht wie der Zigeuner aus eigener Wanderlust tut, so wird er hierzu durch seine kolossalen Herden gezwungen, die in der Nähe alles abweiden und für die er in der Zwischenzeit nicht durch getrocknetes Futter sorgt und wohl auch nicht sorgen kann. Natürlich sind da viele »Wenn« und »Aber« dabei, bei solch einem patriarchalischen Nomadenleben.
Noch sei erwähnt, dass diese starke Hühnerzucht bei den Buren immer nur von den weiblichen Familiengliedern betrieben wird. Dies scheint zwar auch bei uns so zu sein, weil doch meist nur die Frauen die Hühner füttern und sich sonst um sie kümmern. Aber bei den Buren ist das noch ganz anders. Diese Hühner gehören wirklich den Frauen und Töchtern, wo sie Eier und Geflügel verkaufen können, in der Nähe einer Stadt, gehört das gelöste Geld wirklich ihnen, es bildet den Brautschatz der Töchter, und der Bure selbst bezahlt ihnen die Eier und das Fleisch, das er verbraucht, mit Geld oder Waren. Denn der Bure verachtet die ganze Geflügelzucht als eines Mannes nicht würdig, oder es ist eben eine allgemeine Sitte, und die Töchter gewinnen daraus immer eine ansehnliche Aussteuer, oftmals Reichtum.
»Massa Ridschard, das Frühstück ist aufgetragen!«
So erklang es hinter dem jungen Gelehrten, und ein Neger war es, wieder ein anderer, der ihn auch schon so familiär anredete.
Die Tischplatte war wieder über die gekreuzten Beine gelegt worden, und auf ihr lagen die »Reste« des allgemeinen Frühstücks, ungeheure Berge von Rind- und Hammelfleisch, teils gebraten, d. h. über offenem Feuer geröstet, teils gesotten, dazu große Haufen von gekochtem Mais, süßen Bataten, Jamwurzeln und grünem Gemüse, harten und weichgekochten Eiern, die ausflossen, ferner frischgebackenes, goldgelbes Maisbrot — und dies alles lag bunt durcheinander direkt auf der Tischplatte, schwamm schon in der hervorquellenden Sauce, wenn die nicht extra hinzugegeben war.
Herunterfließen konnte diese Suppe nicht, danach war die Tischplatte schon eingerichtet, der Rand war bedeutend erhöht.
Also das waren die »Reste« des Frühstücks, wahrscheinlich noch nicht einmal alle, für den einzelnen Mann serviert, und doch hätten sich einige Dutzend hungrige Menschen daran sättigen können.
Nur alles so groß und gewaltig wie möglich! Sowie auch das schwertähnliche Messer und der hölzerne, roh geschnitzte Löffel, noch zu groß, um bei uns als Terrinenlöffel verwendet zu werden. Schließlich nicht die ungeheure Kaffeekanne zu vergessen, mit einem entsprechenden Trinktopfe, fast einen Liter fassend. Und das war gewissermaßen erst eine halbe Portion Kaffee, am Familientische kommen noch ganz andere Dimensionen zu Tage. Eine unserer großen Familienkaffeekannen würde für den Buren nur einen kleinen Sahnegießer bedeuten.
O ja, es steckt in diesen Buren noch etwas von den urwüchsigen alten Germanen. Nur darf man sich diese alten Germanen nicht so als ideale Menschen vorstellen, die sich gegenübersetzten und wetteten, wer von ihnen zuerst ein ganzes gebratenes Ferkel verschlungen hatte, gleich mit den Knochen. Die sich selbst als Sklaven verspielen und verwetten konnten, und wenn der Herr auch seinen Leibeigenen nicht verkaufen durfte, so doch ihn ohne Weiteres töten. Von solchen Helden kann man natürlich nicht viel Idealismus verlangen. Und dies alles mag damals angebracht gewesen sein, aber nicht mehr heute, oder man müsste die Uhr der ganzen Menschenentwicklung wieder zurückdrehen.
Nun, Richard kannte also die Sitten der Buren.
Er setzte sich und schwang sein Schlachtmesser und griff mit den Fingern zu, bis sein Hunger gestillt war.
Dann hinterher zum Nachtisch löffelte er von der Tischplatte noch eine gute Portion Suppe auf und beging dabei keinen Verstoß gegen den guten Anstand.
Auch in Holland wird, vielleicht gar nicht so unvernünftig, die Suppe zuletzt als Nachtisch serviert, freilich auf Tellern. Wer in Holland gewesen ist und weiß das nicht, der hat eben immer nur in internationalen Hotels gespeist. Sonst kommt die Suppe zuletzt auf den Tisch.
Als er aufgestanden war und sich wieder auf dem Hofe zeigte, um nach einer Waschgelegenheit zu suchen, kamen bald zwei Neger herein, welche die Tischplatte abhoben und hinaustrugen. Aber auch sonst war der Tisch gedeckt gewesen, nicht nur oben, sondern unten. Unter die Füße war vorher auf den Teppich ein großes gegerbtes, sehr sauberes Fell gelegt worden, um eben den Teppich nicht beschmutzen zu lassen.
Als dann die Tischplatte wieder hereingetragen wurde, war sie wieder blitzblank gescheuert. Also sauber geht es bei den Buren zu, das muss man ihnen lassen. Und ob man nun von Tellern isst, die dann gesäubert werden, oder gleich von der Tischplatte, die dann mit Seife und Sand abgeschrubbt wird, das bleibt sich doch schließlich gleich. Viele zerbrechliche Sachen können diese Treckburen eben nicht bei sich führen, und solch ein Backtrogtisch erspart eine ganze Batterie von kleinen Holzschüsseln und Tellern.
Auf dem Hofe befand sich gleich neben der Tür ein Ziehbrunnen, der einen großen Steintrog mit mehreren Abteilungen speiste, daneben Seife und ein weißes, sauberes Linnen.
Also die primitive Waschvorrichtung dieser sonst sehr komfortablen Wohnung, nur für ihren Besitzer bestimmt. Dann war dort auch gleich noch ein Misthaufen für andere Zwecke.
Während Richard sie benutzte, die Waschvorrichtung, überlegte er, dass dies doch ein sehr hohes Plateau sein müsse, denn auf der anderen Seite der dicken Felswand, die für Wohnungszwecke ausgemeißelt worden war, ging es ja in große Tiefe hinab, und dann musste dieses Plateau auch ganz besonderes Grundwasser haben, dass es so leicht empor gepumpt werden konnte, oder eine unterirdisch fließende Quelle, die anderswo zutage trat.
Wie er sich in das Zimmer zurückbegeben hatte, brauchte er nicht lange zu warten, so erlebte er die große Überraschung, die ihm der alte Bure verkündet hatte.
Ein Neger trat ein, besser gekleidet, und auf dem Arme trug er ein — Etwas.
Einen angeputzten Affen? Oder einen Hund? Oder war es eine Puppe, von einer bizarren Phantasie erschaffen, die auch scheinbar lebende Bewegungen ausführen konnte?
Ein schwarzes Samtkleid. Hiermit wollen wir die Beschreibung anfangen, es geht nicht anders.
Ein schwarzes Samtkleid, reich verziert mit Gold- und Perlenstickereien.
Aus den Ärmeln schauten schneeweiße Hände hervor, sehr klein, aber das nicht durch die eigentliche Haut, sondern dadurch, dass die Finger verkrüppelt waren, an jedem das Mittelglied fehlte, sodass es fast aussah, als ob die sehr langen, spitzen und eigentümlich rund gebogenen Nägel, also mehr Krallen, direkt an der Hand säßen.
Ebenso waren die unter dem schwarzen Kleide hervorschauenden Füße beschaffen, auch die Krallen direkt an dem kleinen Menschenfuß.
Und nun oben auf dem schwarzen Kleide ein ziemlich großer Kopf.
Mensch oder Affe? Menschenähnlicher Affe oder affenähnlicher Mensch? Das war gar nicht so leicht zu unterscheiden. Zumal man auch sehr an den Kopf einer gewissen Hunderasse erinnert wurde, so ein Zwitterding zwischen Mops und Seidenspitz. Aber doch immer wieder etwas ganz anderes.
Nein, es war das Gesicht und der Kopf eines Menschen! Der menschliche Ausdruck wog doch vor.
Freilich was für ein Menschengesicht!
Am glücklichsten waren noch die Ohren geraten — kleine, zierliche Kinderohren, rosarot angehaucht.
Die plumpe Nase ganz eingedrückt, der große Mund ungeheuer breit, mit dicken, schwulstigen Lippen, die großen Augen feuerrot.
Und nun vor allen Dingen dieses Gesicht über und über mit langen, schneeweißen, seidenweichen Haaren bewachsen, sie mussten besonders geordnet werden, sonst verdeckten sie Augen und Mund und Ohren, dieselben Haare auch oben auf dem Kopfe, also eine vollkommene Mähne, die den ganzen Kopf umgab, und schließlich dieselben Haare, nur ein wenig kürzer, auch auf den verkrüppelten Händen und Füßen.
Aber nicht eigentlich, dass dieses missglückte Geschöpf einen hässlichen Eindruck machte. Man konnte dabei sogar immer an das Wort »Mensch« denken. Man wurde durchaus nicht abgestoßen.
Es lag in dem ganzen Gesicht ein so überaus gutmütiger Ausdruck, der schwulstige Mund, überdies mit den schönsten Menschenzähnen besetzt, lächelte noch gutmütiger, und die roten Augen blickten gar so klug und verschmitzt und listig zugleich.
Ein einziger Blick auf diesen weißen Puderkopf, und der verhüllende Schleier war von Dr. Raimunds Erinnerung weggezogen.
»Gri-Gri!«
Sie war es!
Gri-Gri, das Bärenweib!
Vor drei Jahren in Hamburg war es gewesen, zum »Dom«. Das ist so eine Art Jahrmarkt der Hansestadt, alljährlich im Winter abgehalten.
In einem fliegenden Varieté war sie mit anderen Abnormitäten ausgestellt gewesen, Gri-Gri, das Bärenweib, eingefangen in der Dschungelwildnis Borneos.
Dieser Name Gri-Gri in Verbindung mit Borneo oder überhaupt Indien sagte schon, dass der Aussteller es wohl hatte läuten hören, aber die Bedeutung dieses Wortes nicht richtig verstanden hatte.
Gri-Gri ist ein Wort der in Afrika so weit verbreiteten Bantusprache und bedeutet einen Götzen oder einen heiligen Baum oder ein heiliges Tier, es kann aber ebenso gut irgend ein Amulett, ein Talisman sein, der hieb- und stichfest macht, gegen Krankheiten schützt, nur ein Stückchen Fell mit einem geheimnisvollen Zeichen darauf. Das ist alles »Gri-Gri«. Es ist nicht eine Gottheit selbst, sondern nur irgend ein Mittel, durch welches sich der Mensch eine Gottheit gnädig zu machen oder gegen sie zu schützen glaubt. »Gri-Gri« ist dem Bantuneger genau dasselbe, was dem nordamerikanischen Indianer seine »Medizin« ist.
Also »Gri-Gri aus Borneo« war an sich schon ein Widersinn.
Ihr Oberleib war an sich schon sehr kurz, und nun fehlten ihr auch noch die Oberschenkel, oder an diesen saßen gleich direkt die Füße, wie an den Knien; so fehlten ihr auch die Oberarme und anstatt der drei Fingerglieder hatte sie nur deren zwei, und davon das eine auch nur ganz verkümmert. So wurden mehr Tierpfoten daraus, noch dazu mit richtigen Krallen besetzt, was auch von den verkrüppelten Füßen galt.
Außerdem nun noch ein Albino oder Kakerlak mit roten Augen und weißen Haaren, und diese am ganzen Körper gewachsen, sehr lang und seidenweich, ein richtiges Fell wie ein Seidenspitz.
Sie zeigte sich auf der Bühne so wie die Schöpfung sie in einer verschrobenen Laune geschaffen, sie brauchte auch wirklich keine Bekleidung, lief auf allen vieren herum, was auch tatsächlich ihr natürlicher Gang war. Aufrecht konnte sie wohl stehen — war dann kaum einen Meter hoch — aber kaum gehen, nur unbeholfen watscheln, wobei sie erst recht an einen weißen Bären erinnerte. Auf allen vieren dagegen war sie recht behände, konnte sogar sehr elegant springen, auch auf einen hohen Tisch hinauf.
Dann hatte sie mit recht annehmbarer, wenn auch dünner Stimme einige Lieder in verschiedenen Sprachen gesungen, und dann war sie immer, mit einem phantastischen Kostüm angetan, unter dem Publikum herumgetragen worden, damit man sich von der Echtheit der Haare im Gesicht und den Hinter- und Vorderpfoten sowie auch von ihrer Intelligenz überzeugen konnte, mit der sie Fragen in allen möglichen Sprachen beantwortete.
Für dieses ihr Auftreten hatte sie wöchentlich 200 Mark bekommen, was aus einem besonderen Grunde erwähnt wird, oder vielmehr ihr »Manager«, der das Bärenweib vorführte, ein bildschöner junger Mann, hatte diese Gage erhalten. Übrigens ja auch gar nicht so viel, der »Dom« dauert nur eine Woche, dann löste sich dieses Varieté wieder auf, die beiden mussten neues Engagement suchen.
Dr. Raimund hatte sie in dem Theater gesehen, und dann sollte er auch noch ihre nähere Bekanntschaft machen.
Er war mit einigen bekannten Herren in einem Nachtcafé gewesen, da war der bildschöne Manager hereingetreten, sein Bärenweib auf dem Arme.
Aber nun nicht etwa als Bärenweib erkenntlich, sondern in einem hocheleganten Pariser Kostüm, natürlich für sie gefertigt, mit einem pompösen Hute, tief verschleiert, die verkrüppelten Hände in einem kostbaren Muffe versteckt, an den Füßen zierliche Lackschuhe — nur eben dass sie wie ein Kind oder mehr wie eine lebende Puppe, eine Modedame, auf dem Arm sitzen musste.
Die lustige Gesellschaft lotste die beiden heran, der vornehme Gentleman nahm die Einladung an, stellte sich als Mister Howard aus St. Louis vor und die Puppe auf seinem Arm, das haarige Bärenweib, als — seine Frau!
In Paris regelrecht getraut, was er dann auch durch den Trauschein bewies.
Und warum nicht?
Sie musste bei längerem Aufenthalte Steuern bezahlen, war schon mehrmals wegen Gesetzesüberschreitung, eben weil sie nicht hatte bezahlen wollen, bestraft worden, also galt sie doch als geistig normaler Mensch — und es gibt in keinem Lande ein Gesetz, welches solch einem Menschen wegen körperlicher Gebrechen das Heiraten verbietet.
Die Gesellschaft wurde immer animierter, das elegante und wirklich reizende Bärenweibchen ging von Schoß zu Schoß.
Ja, tatsächlich ein hochgebildetes Weib, oder doch höchst belesen, scharfsinnig, geistreich, sprühend vom Witz und — verliebt!
Verliebt wie eine Ratte.
Verliebt bis über die Ohren in alles, was Mann heißt.
Ihr bildschöner Gatte schaute erst etwas trübselig zu, wie seine Frau Gemahlin von Schoß zu Schoß wanderte, trank sehr viel Absinth, und dann war es gerade Dr. Raimund, dem er sein gemartertes Herz ausschüttete. Es sei von vornherein bemerkt, dass dieser bildschöne, junge Mann, wenn er es auch nicht selbst sagte, trotz seines auffallend weißen Teints jedenfalls ein Terzerone oder Quadrone war, also eine Mischung von Schwarz und Weiß im dritten oder vierten Grade, und bei diesen Mischungen kommt niemals etwas Brauchbares heraus, also was der junge Gentleman mit den vornehmen Manieren da offenbarte, das war solch einem Bastard recht wohl zuzutrauen. Ein unmoralischer Waschlappen allerersten Ranges. Obgleich ja so etwas auch bei ganz waschechten Europäern und Kaukasiern vorkommen kann, dass sie so etwas sogar auch noch anderen erzählen.
Er war in einem Zirkus engagiert gewesen, nur als Diener, das Bärenweib hatte sich in ihn verliebt, hatte ihm ihre Vorderpfote angeboten.
Die hohe Gage, die das kleine Ungeheuer bekam — er jammerte, dass es in Deutschland überall so wenig war — natürlich hatte er mit beiden Händen zugegriffen.
Zu spät sah er ein, wie grimmig er da hereingefallen war.
Ja, ihr Gatte und ihr Geschäftsträger und ihr Vorführer war er, weiter aber nichts. Die Kasse hatte sie selber. Nur dass niemals etwas drin war. Weil die Gage meist gleich gepfändet wurde. Die Diamanten, mit denen seine Finger gepanzert waren, waren Similis, Tombakuhr und blankgeputzte Messingkette. Ebenso war ihr Schmuck beschaffen. Ihre Toilette, na, die konnte man ihr nicht nehmen. Und wenn sie einmal Geld hatte, dann traktierte sie andere. Ja, dann kaufte sie sich mit ihrem Gelde sogar andere Liebhaber. Denn für Geld ist doch schließlich alles zu haben.
Und nun dabei trotzdem auf ihren Mann eifersüchtig wie ein Pascha im umgekehrten Verhältnis. Er hätte lieber so verschleiert gehen sollen. Wehe, wenn er ein anderes Weib nur einmal ansah! Dann diese Szenen zu Hause! Er konnte noch die Narben von ihren Krallen vorzeigen.
So hatte der ideal schöne Gentleman trübselig berichtet.
»Na da jagen Sie sie doch zum Teufel!«, konnte Dr. Raimund nur raten.
»Die? Das ist ja selbst der leibhaftige Teufel.«
»Dann lassen Sie sie doch im Stich.«
»Ich kann nicht — ich kann beim besten Willen nicht — wie oft habe ich's nicht schon versucht — geht nicht —!«
Weshalb nicht?
Na, weil der herrliche Jüngling ganz und gar unterm Pantoffel stand, weil's eben ein Waschlappen war.
Dr. Raimund konnte dem jungen Manne nicht helfen, er ließ ihn weiter jammern und beobachtete das Dämchen etwas genauer.
Sie kokettierte mit den anderen Herren auf Teufel komm heraus.
Und wenn sich Dr. Raimund nicht irrte, so war gerade er es, den sie aus ihren roten Augen mit herausfordernden Blicken bombardierte.
Auch er hatte sie vorhin einmal auf dem Schoße und auf dem Arme gehabt.
Und sie hatte ihm etwas zugeflüstert. Etwas von einem Besuchen in ihrem Hotel. Aber er glaubte nicht recht verstanden zu haben, hatte sich überhaupt gar nichts weiter dabei gedacht.
Nun aber dachte er anders.
Er hatte sich beizeiten aus dem Staube gemacht. —
Und nun sah er sie wieder, hier in Afrika, so gut wie in einer unbekannten Welt!
»Gri-Gri!«
Sie lächelte, in ihrer Weise wahrscheinlich glückselig, und wie sie dabei auch den unförmlichen Mund verzog, es sah trotz alledem durchaus nicht unschön aus, man konnte dieses ganze, doch eigentlich so hässliche Gesicht sogar liebreizend finden. Etwas ganz Merkwürdige! Es war eben die Seele, die sich charakterisierte, und es war keine hässliche Seele.
»Also Sie erkennen mich wieder?«
»Wie sollte ich nicht!«
»Ja freilich, ich bin auch —«
Ein Wink, und der Neger setzte sie in eine Ecke des Sofas und verschwand.
»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Doktor«, sagte sie mit einer so graziösen Handbewegung, dass man die Tierpfote ganz darüber vergaß.
Richard gehorchte.
Ei verflucht, ei verflucht, dachte er dabei und hätte sich so gern hinterm Ohre gekratzt.
Gleichzeitig aber dachte er auch an das Schicksal seiner Kameraden, das jetzt in seiner Hand lag, wahrscheinlich gerade durch dieses kleine Scheusal.
»Ja, Gri — Sibylle — Fräulein Sibylle — wie kommen Sie denn nur hierher?«
»Bitte, lassen wir das. Vielleicht sprechen wir später darüber. Sie waren damals recht schnell verschwunden, Herr Doktor.«
»Damals?«
»Damals vor drei Jahren in dem Café in Hamburg.«
»Ich musste —«
»Sie hatten recht. Jetzt weiß ich es. Ich habe mich in den drei Jahren sehr, sehr verändert.«
Jetzt konnte Richard sie ruhig anblicken, so weit war er schon wieder.
»Das kann ich durchaus nicht finden.«
»Innerlich, innerlich, meine Ansichten.«
»Was für Ansichten?«
»Über die Liebe.«
Nun fing die schon wieder von der Liebe an!
Doch natürlich, sie hatte eben nichts weiter im Kopfe. Und das hatte sie mit noch manchem anderen, ganz normal gebauten Weibe gemein, wenn nicht überhaupt mit ihren meisten Evaschwestern. Ihre Körperbildung brauchte dabei ja gar nichts zu sagen zu haben.
»Ja, ich bin zur idealen Liebe übergegangen.«
Das wäre sehr gut, wenn's nur wahr ist, dachte sich Richard.
»Ich weiß, dass ich früher ein ganz frivoles Geschöpf gewesen bin.«
»Ooohh!«
»Auch hier habe ich es zwei Jahre lang so getrieben, und hier konnte ich befehlen. Befehlen!«
Ach, die Unglücklichen, dachte Richard.
»Und ich hatte über Hunderte zu befehlen, habe es noch jetzt!«
Hunderte sind ein bisschen viel, dachte der junge Mann.
»Über Tausende!«
Die kommt noch in die Millionen.
»Aber gerade dadurch habe ich mich angeekelt abgewandt.«
»Ja, ja.«
»Jetzt habe ich mich der idealen Liebe zugewandt. Wissen Sie, was das ist, ideale Liebe?«
»Hm — das ist nicht so einfach zu definieren —«
»Ich meine überhaupt nicht die ideale Liebe, die Sie sicher meinen.«
»Nicht?«
»Ich meine — nur einen einzigen Mann lieben, an den man aber auch mit allen Fasern seines Herzens hängt.«
Himmel, Herrgott, Bombenelement, der werde ich doch nicht etwa sein?, dachte Richard erschrocken, obgleich er es doch ganz genau wusste, dass sie keinen anderen meinte.
»Und von dem man ebenso wieder geliebt wird.«
»Na gewiss.«
»Aber selbst wenn man von ihm keine Gegenliebe findet — ihn dennoch treu und innig lieben!«
»Nu natürlich!«, stimmte Richard bei, und für sich sagte er: Die hat ihren Beruf verfehlt, die muss Zeitungsromane schreiben!
»Und dann dennoch seine Liebe gewinnen, sie erringen!«
»Ja freilich.«
»Sagen Sie, Herr Doktor — finden Sie mich eigentlich hässlich?«
Ruhig konnte der junge Mann sie anblicken. Er hatte sich bisher mit seinen Antworten nicht gerade sehr geistreich bewiesen, nun aber zeigte er, dass er es doch war.
»Ich will Ihnen ein Kompliment sagen, aber ein ganz ehrliches, keine Schmeichelei: Ich habe Sie für ein gebildetes und geistig sogar sehr hochstehendes Wesen gehalten.«
Und sie verstand ihn wirklich sofort!
»Sie meinen also, dass ich Sie gar nicht so fragen darf, ob Sie mich hässlich finden oder nicht.«
»Ja, das habe ich gemeint.«
»Ich danke Ihnen für diese Lektion, Herr Doktor.«
Mit unbeleidigtem Lächeln hatte sie es zweifellos ganz ehrlich gesagt.
»Aber ist dann die Frage erlaubt — eben weil wir so verständig zusammen sprechen — ob Sie mich lieben könnten?«
»Ja.«
»Sie ist erlaubt?«
»Ja.«
»Nun?«
»Ja. Ich könnte Sie lieben.«
»Ist das Ihre aufrichtige Antwort?«
»Ganz gewiss. So, wie wir jetzt zusammen sprechen, ist jede Verstellung oder jedes Kompliment ausgeschlossen.«
»Sie könnten mich — Missgeburt lieben?«
»Ja. So wie eine Mutter gewöhnlich ihr hilfsbedürftigstes Kind am meisten liebt.«
»Mutter und Kind — dieser Vergleich gefällt mir durchaus nicht.«
»Und ich muss Ihnen offen sagen, dass mir das Thema, welches Sie da anschlagen, durchaus nicht gefällt.«
Ihre Augen näherten sich etwas.
»Sie sprechen sehr offenherzig, Herr Doktor!«
»Wie immer.«
»Wenn Sie wüssten, was ich hier für eine Macht einnehme —«
»Lassen Sie mir ruhig den Kopf vor die Füße legen. Die wahre Liebe ist das freilich nicht.«
Schon konnte sie wieder mit ungezwungener Herzlichkeit lachen.
»Ich denke an so etwas gar nicht.«
»Desto besser für mich.«
»Also Sie bemitleiden mich.«
»Ja.«
»Aus Mitleid kann sehr leicht Liebe entstehen.«
»Stimmt.«
»Sie sind verlobt, Herr Doktor? Es ist eine Brieftasche bei Ihnen gefunden worden mit der Fotografie einer Dame.«
»Es ist meine Braut.«
»Fräulein Agnes Nielsen?«
»Ja.«
»Ein sehr schönes Mädchen, so sanft und still — nach dem Bilde zu schließen.«
»Das ist sie.«
»Und noch mehr nach den Briefen, die sie Ihnen geschrieben hat.«
»Kann ich diese Briefe und die Fotografie nicht wiederbekommen?«
»Sie werden sie erhalten. Um sie immer auf Ihrem Herzen zu tragen?«
»Ja.«
»Also Sie lieben Ihre Braut?«
»Selbstverständlich.«
»Das ist gar nicht so selbstverständlich, dass ein Mann seine Braut auch immer liebt. Ich kenne doch die modernen Gesellschaftsverhältnisse.«
»Da haben Sie allerdings recht. Und das ist schließlich auch schon früher vorgekommen.«
»Sie aber lieben Ihre Braut aufrichtig. Sie werden ihr immer treu bleiben und sich von keinem anderen Weibe verführen lassen?«
»Niemals.«
»Und diese Treue gilt doch auch von Ihrer Braut Ihnen gegenüber.«
»Ganz sicher.«
»Es ist ganz ausgeschlossen, dass sie Ihnen untreu würde?«
»Ganz ausgeschlossen.«
»Gesetzt nun den Fall, Ihre Braut stürbe — der Himmel verhüte es — würden Sie doch noch heiraten?«
»Auf solche Fragen antworte ich nicht.«
»Bitte, antworten Sie einmal. Ich möchte gern hören, wie andere Menschen über so etwas denken, ob ich da anders beschaffen bin. Denn ich habe mir da schon lange, lange Gedanken gemacht. Würden Sie eine andere lieben können und heiraten?«
»Nein, auf diese Frage antworte ich nicht.«
»Ist eine andere Frage erlaubt?«
»Das kommt doch ganz darauf an. Erlaubt ist sie schon, nur ob ich darauf antworte ist unbestimmt.«
»Gesetzt den Fall, Sie stürben — würde Ihnen Ihre Braut auch nach dem Tode treu bleiben?«
»Ja, diese Frage ist erlaubt, die werde ich beantworten. Denn hierbei handelt es sich um die Ehre meiner Braut.«
»Nun?«
Jetzt hingen die roten Augen mit förmlicher Gier an seinen Lippen.
»Sie würde mir unter allen Umstanden auch nach dem Tode die Treue wahren.«
»Sie würde niemals wieder einen anderen lieben?«
»Das habe ich nicht gesagt. Die Liebe ist unkontrollierbar, dafür ist man nicht verantwortlich. Aber sie würde diese ihre neue Liebe mit Gewalt unterdrücken. Sie würde niemals einem anderen Manne angehören — Agnes würde niemals heiraten, sondern nur noch dem Angedenken ihres toten Bräutigams leben, bis zu ihrem eigenen Tode.«
Ohne weitere Pathetik hatte es der junge Mann gesagt, aber gerade deshalb hatte es so überzeugend geklungen.
Und auch auf das verkrüppelte Weib machte es denn auch einen ganz gewaltigen Eindruck.
»Das sagen Sie mit voller Überzeugung?«
»Ja.«
Wie lange kannten Sie denn Ihre Braut, ehe Sie sie verließen?«
»Sechs Wochen waren wir verlobt. Und vorher kommen noch zwei Wochen hinzu.«
»Vorher kannten Sie sie gar nicht?«
»Nein.«
»Und in diesen acht Wochen wollen Sie sie so genau kennen gelernt haben, um diese Behauptung aufzustellen?«
»Ja, diese Zeit hat mir genügt, um ihren Charakter vollständig kennen zu lernen. Meine Agnes würde mir unter allen Umständen die Treue wahren, nach meinem Tode und — damit Sie es nur hören — auch dann, wenn ich selbst ihr untreu werden sollte, mein Herz einer anderen zuwenden würde.«
Diesmal allerdings hatte es der junge Mann mit ziemlicher Emphase gesagt.
Und es verfehlte denn auch nicht auf die kleine Dame den Eindruck.
»O, das ist herrlich!«, himmelte sie zur Decke empor.
Richard blieb ihr seine Meinung schuldig.
»Sehen Sie, das ist es, was ich unter idealer Liebe verstehe!«
»Ich auch.«
»So möchte ich auch einmal geliebt werden!«
»Ich wünsche Ihnen, dass Sie noch einmal solch ein Herz finden.«
Sie lenkte ihren Blick wieder auf ihn.
»Herr Doktor, ich liebe Sie, wie ich noch niemals einen Mann —«
»Bitte!«
»Lassen Sie mich aussprechen«, bat sie. »Da ich also keine Gegenliebe von Ihnen zu erwarten habe — wollen wir dann wenigstens gute Freunde und Kameraden bleiben?«
»Von Herzen gern!«
Ohne sich über dieses Verhältnis recht klar zu werden, hatte es Richard doch im herzlichsten Tone gesagt, und so hielt er ihr seine Hand hin.
Er fühlte eben wirkliches Mitleid mit diesem armen Wesen, sogar aufrichtige Sympathie, denn für diese ihre ganze Liebelei und was damit zusammenhing, hatte er eine Entschuldigung, da sah er überhaupt nichts Besonderes dabei. Wer kann denn für sein liebebedürftiges Herz.
Schnell legte sie denn auch ihre weißbehaarte, verkrüppelte, krallenartige Hand in die seine.
Da allerdings hatte er eine höchst unangenehme Empfindung, sogar ein kleiner Schreck durchzuckte ihn.
Nicht wegen der Berührung selbst.
Sondern er dachte daran, dass sie ja unter diesen starken, langen, spitzen, so merkwürdig gebogenen Nägeln Gift haben sollte, welches sie durch Ritzen einem anderen einflößen konnte. Aber was war das?
Waren diese Nägelkrallen ganz weich?
Oder vermochte sie wie eine Katze dieselben einzuziehen?
Richard vermochte sich davon nicht richtig zu überzeugen, jedenfalls aber fühlte er nur eine kleine, warme, wunderbar weiche Hand, eben sich wie sanftes Pelzwerk anfühlend, absolut nichts von diesen gefährlichen Krallen, und doch waren sie dann wieder da.
Die Fortsetzung dieser Szene wurde durch den Eintritt des alten Buren vereitelt.
»Na, hast Du sie wieder erkannt, Deine ehemalige Schoßnachbarin aus Hamburg?«, lachte er.
»Und Ihr habt Euch ja schon recht hübsch wieder zusammengefunden, sitzt so artig nebeneinander auf dem Sofa Hand in Hand.
Na, Ihr werdet Euch schon noch weiter kennen lernen. Sibylle, Du musst tanzen.«
»Schon wieder?«, schmollte diese.
»Ein Häuptling der Wikandos ist eingetroffen, der König Mira selbst begleitet ihn, sie wollen unser Gri-Gri sehen.«
»Von den Wikandos? Dann muss ich wohl kommen. Ist es sehr eilig?«
»Eine Viertelstunde hast Du noch Zeit, sie essen erst.«
»Kann hier mein Freund mit zusehen?«
»Das kann er. Wir brauchen keine Geheimnisse vor ihm zu haben. Ich werde ihn dann selbst mitnehmen.«
»Gut. Also auf Wiedersehen, mein lieber Freund. Ich habe doch erst noch etwas anderes zu tun.«
Mit diesen Worten glitt das weiße Bärenweibchen im schwarzen Samtkostüm von dem Sofa herab und lief auf allen vieren nach der Tür.
Aber das sah durchaus nicht unschön aus. Nicht plump, man wurde auch nicht an einen Bären erinnert, sondern gewandt wie ein Wieselchen huschte sie über den Teppich und hinaus.
»Na, Richard, also Ihr seid Euch einig geworden«, sagte Kuiper zu dem jungen Manne, der ebenfalls aufgestanden war. »Das ist recht, dass es so schnell gegangen ist.«
»Wir haben einen Freundschaftsbund geschlossen.«
»Freundschaftsbund?«, wurde misstrauisch wiederholt.
»Sie wissen doch, Mijnheer, dass ich verlobt bin, zu Hause eine Braut habe.«
»Na und?«
»Ich werde ihr natürlich die Treue halten.«
»Ach Papperlapapp«, sagte der alte Bure, nicht gerade ungnädig, weil er eben die Erfüllung seines Willens für ganz selbstverständlich hielt. »Eine Braut magst Du haben, die kann ja auf Dich warten, aber hier als mein Gefangener bist Du einfach tot oder hast ein ganz neues Leben anzufangen. Oder Sibylle hat wohl auch so etwas gesagt von wegen Freundschaftsbund?«
»Jawohl, das hat sie, sie ist damit ganz einverstanden.«
»Ach Schnickschnack! Dann hast Du ihr eben etwas vorgeschwatzt, und die lässt sich alles vorschwatzen. Mir hat sie vorhin etwas ganz anderes gesagt. Die brennt doch darauf, Dich zum Manne zu bekommen. Ihr heiratet Euch einfach, wir feiern eine prächtige Hochzeit, und damit basta!
Und wenn Du etwa anders denkst, dann wirst Du ja den alten Jan Kuiper kennen lernen!
Aber Du wirst vernünftig sein, brauchst nicht erst seine Peitsche zu kosten.
Na, nun komm.« — — —
Auf einem sonst ganz leeren Hofraume, von einer Mauer umgeben, durch welche zwei Tore führten, waren ringsum im Kreise einfache Strohdächer aufgestellt, in deren Schatten auf Teppichen die fremden Neger und die sie begleitenden Makallis saßen, darunter auch der König Mira, ein unförmlich dicker Herr, der sich sonst nur durch einigen Goldschmuck auszeichnete.
Diese Makallis hatten solch einer Vorstellung schon oft beigewohnt, konnten es aber immer wieder tun, wurden immer von Neuem, heiligem Staunen und Grausen erfüllt.
Als Hauptsache muss noch erwähnt werden, dass die weißen Leiter der Vorstellung offenbar mit Absicht dabei jede Zeremonie und allen Hokuspokus vermieden.
Was sie da zeigten, das war eben ihr »Gri-Gri«, ihr ureigenstes Eigentum, das war für sie etwas ganz Selbstverständliches.
Sich die religiösen Anschauungen darüber zu machen, das überließen sie ganz richtig den zuschauenden Negern selbst. Zwei Schwarze, gewöhnliche Arbeiter, trugen an Stangen eine Kiste oder viereckigen Korb herein, setzten ihn in die Mitte des mit feinem Sand bestreuten Hofes.
Wenn dieser Korb zunächst mit einem roten und schön silbergestickten Samttuch behangen war, so war das etwas ganz anderes. Was man wertschätzt, das packt man nicht in ein ganz gewöhnliches, ordinäres Futteral. Aber schon die Tragstangen waren dünne Baumstämme, nichts weiter.
Außer dem alten Kuiper, der die Honneurs machte, war, abgesehen von Richard, noch ein zweiter Weißer anwesend, ein altes, verhunzeltes Männchen, offenbar sehr eitel, wenn sich das auch nicht gerade im Anzug bemerkbar machte, welcher der eines arbeitenden Buren war.
Er selbst hatte sich dem jungen Manne, gleich als er ihn gesehen, vorgestellt, in französischer Sprache, als Monsieur Lecoque, und er sei hoch erfreut, die Bekanntschaft eines so gebildeten Mannes, eines Gelehrten, zu machen, mit dem er sich nun endlich vernünftig und wissenschaftlich unterhalten könne.
Das Ausfallendste an dem alten Kerl waren die stechenden, boshaft funkelnden Augen, durch die Richard besonders gleich angewidert worden war.
Dann war es in den Hof gegangen.
Und jetzt betrat diesen ein dritter weißer Mann, den Richard noch nicht gesehen hatte.
Er war mittleren Alters, vielleicht dreißig, eine hochgewachsene, saftige Gestalt, das Gesicht zeigte trotz seiner krankhaft gelben Farbe ideal schöne Züge, unverkennbar dieselben wie die des alten Kuipers, nur eben in jüngerer Ausgabe. Und dann, dass seine beiden Augen von verschiedener Farbe waren und sich unabhängig voneinander bewegten.
Wir kennen also diesen Mann schon, der sich Michel Vandammen genannt hatte. Hier aber führte er nur denselben Vornamen, sonst eben den seines Vaters.
Dieser Michel Kuiper war es, der das »Gri-Gri« vorführen sollte.
Er nahm ohne Weiteres das rote Samttuch ab, ein geflochtener Korb von viereckiger Form zeigte sich, er hob diesen hoch, und auf dem Brett, an dem auch die Tragstangen befestigt waren, zeigte sich die weiße Gestalt des Bärenweibes, jetzt unbekleidet, nur in ihrem natürlichen Pelz.
Auf Händen und Füßen stand sie da, regungslos, und zwar so, dass sie mit ihren roten Augen direkt in die blendende Sonne blickte, ohne mit einer Wimper zu zucken.
»Sie befindet sich im Starrkrampf!«, sagte sich Richard sofort.
»Dies ist unser Gri-Gri«, begann jetzt der alte Kuiper, sich der Bantusprache bedienend. »Wollen sich nun meine Freunde überzeugen, dass es eine tote Figur ist, aus Holz geschnitzt, mit einem Fell übererzogen. Ihr könnt sie anfassen und aufheben, wie Ihr wollt, sie nur nicht verletzen, nicht brennen, nicht schneiden und stechen, auch nicht gar zu hart schlagen, dass nichts zerbrechen kann.«
Die schwarzen Majestäten mit ihrem Gefolge kamen näher.
Wussten sie nichts von dem schon einmal besprochenen Gauklerkniff, den man ja wie in Indien auch in Afrika, in Ägypten, so häufig sehen kann, durch einen besonderen Griff irgend ein Tier in Starrkrampf zu versetzen?
Wie dem auch sei — einer wie der andere trat nur ganz scheu heran, also auch diejenigen, die dieser Vorstellung schon wiederholt beigewohnt hatten.
Ein Gri-Gri!
Das war für sie schon genug. Da wurden sie schon mit scheuer Ehrfurcht erfüllt.
Und nun gar solch eine phantastische Missgeburt, wenn auch nur aus irgend etwas gefertigt.
Nun aber hatten doch schon die Neulinge gehört, dass diese Missgeburt auch wirklich lebendig werden konnte. Und schließlich sind in ganz Afrika sämtlichen Negervölkern alle Albinos heilig, Tiere wie Menschen. Das gilt selbst im christlichen Abessinien.
Da also kam gar nicht weiter in Betracht, ob sie etwas von solchem künstlich zu erzeugenden Starrkrampf wussten oder nicht.
Sie befühlten die Figur, aber zuerst immer noch mit ängstlicher Scheu, was vor allen Dingen natürlich von den fremden Negern galt, die zum ersten Male hierher kamen, sie sollten auch die Glieder zu biegen versuchen.
Voll ängstlicher Scheu befühlten
die Schwarzen die sonderbare Figur.
Auch Richard wurde vom alten Kuiper hierzu aufgefordert.
Das Bärenweib war steif wie ein Sägebock, und nicht nur das, sondern auch das Fleisch fühlte sich überall wie Holz oder Stein an. Nur die seidenweichen Haare blieben so. Ein perfekter Starrkampf, jedes Muskelchen befand sich darin. Wenn nicht noch irgend etwas anderes angewendet worden war, um diesen harten Zustand herbeizuführen.
Schlug man mit einem Stock irgendwo gegen den Leib oder gegen ein Glied, so gab es einen hölzernen Klang.
Michel hob die Figur auf, legte sie um, auf die Seite und auf den Rücken — sie behielt immer dieselbe Stellung, in der sie gestanden, wie man eben von solch einer starren Figur nichts anderes verlangen kann.
Nachdem sich nun alle von dieser vollkommenen Starrheit überzeugt, sehr viele die Figur auch emporgehoben hatten, beschäftigte sich wieder Michel mit ihr.
Ohne jede Anstrengung drehte er den Kopf der starren Figur etwas zur Seite und hob ihren linken Arm, richtiger Vorderbein genannt.
Rufe des Staunens erschollen, zumal man sich überzeugte, dass die bewegten Glieder nun doch wieder ganz starr waren, auch durch alle Gewalt, die man anzuwenden wagte, sich nicht weiter drehen ließen.
So gab der junge Bure der Figur noch andere Stellungen, manchmal ganz unnatürliche, die sie immer beibehielt, bis er sie zuletzt bärenartig auf die Hinterfüße setzte, während sie die Vorderfüße seitwärts ausstrecken musste.
Eiserne Gewichte waren herbeigeschafft worden, sie wurden an die Hände gehangen. Selbstverständlich behielten die Arme ihre ausgestreckte Lage bei.
Ja, selbstverständlich! Es zeigte sich dann nämlich, dass auch der stärkste Neger nicht fähig war, solch ein Gewicht, das wohl 20 Pfund schwer war, mit einer Hand frei hinauszuhalten, während die Figur minutenlang diese Gewichte an ihren ausgestreckten Armen hängen hatte.
Allerdings begreiflich, wenn es sich wirklich nur um eine Figur handelte, deren Beweglichkeit dann nur rätselhaft war.
Die Gewichte wurden wieder abgenommen.
Bisher also hatte der junge Bure die Glieder immer durch seine Hände eingerichtet.
Jetzt stellte er sich vor die Figur hin, ohne sie ferner zu berühren.
»Gri-Gri, hebe Deinen rechten Arm, Dein linkes Hinterbein! Setze Dich hin! Richte Dich auf! Leg Dich hin! Steh wieder auf!«
Alle diese Kommandos wurden zum grenzenlosen Staunen und sogar Entsetzen der fremden Neger ausgeführt.
Aber nicht mit natürlichen, sondern ganz mechanischen, ruckweisen Bewegungen, so wie es ein Automat tun würde, der eben danach eingerichtet ist.
Das galt auch vom Hinlegen, was mehr ein Umfallen war, und das Aufstehen verursachte der Figur dann besondere Schwierigkeiten.
Denn eine Figur blieb es immer dabei. Auch Richard überzeugte sich wie die meisten anderen, dass die Glieder und der ganze Körper immer noch ihre hölzerne Steifheit und Festigkeit beibehielten.
Dann wurde der fremde Häuptling dazu aufgefordert, solche Kommandos zu geben, auch ihm gehorchte die Figur, dasselbe tat ein Mann aus seinem Gefolge, ein Priester und Zauberer, der ihn begleitet hatte, nur um dieses Gri-Gri der Weißen zu sehen..
Richard sollte später eine Erklärung bekommen, weshalb diese Neger so außer sich vor Staunen waren, obgleich sie selbst an Tieren und Menschen ähnliche Experimente ausführen konnten. Gerade solche freilich nicht, und das war eben die Sache dabei!
Holzschalen mit Maisbrot und Früchten wurden hingesetzt.
»Nimm die Banane, Gri-Gri, iss sie!«, kommandierte der junge Bure.
Die Figur gehorchte, streckte die Krallenhand aus, nahm die Banane, richtete sich auf, um sie mit beiden Händen schälen zu können, steckte sie in den Mund, biss ab, kaute und schluckte.
Aber nicht etwa mit natürlichen Bewegungen! Ganz, ganz automatisch. Man musste immer an eine Figur mit innerem Mechanismus denken. Wenn diese Neger so etwas gekannt hätten. Für sie lag hier eine ganz besondere Art von Zauberei vor. Oder es war eben — Gri-Gri.
Einige Schwarze kamen, zu dem Bauernhofe gehörend, die unvermeidliche Musikkapelle, brachten ihre Trommeln und Pfeifen und Saiteninstrumente mit, ganz primitive Dinger, ließen sich nieder und begannen ihre schauerlichen, aber in ganz genauem Takt hervorgebrachten Weisen zu spielen.
»Tanze, Gri-Gri!«, befahl Michel.
Und die Figur begann zu tanzen.
Immer noch als Figur, nicht als lebendes Wesen, was immer deutlich zu unterscheiden war.
Und dennoch mit wunderbarer Fertigkeit. Wenn es auch nur ein Trampeln auf allen vieren war, höchstens, dass sie sich manchmal auch aufrichtete und nur auf den Hinterfüßen trampelte. Aber es lag in dem genau eingehaltenen Takt, überhaupt in den ganzen, manchmal blitzschnellen Bewegungen, wobei man doch immer nur eine Figur, kein lebendes Wesen sah.
Überhaupt war sehr zu bezweifeln, dass dieses blitzschnelle Trampeln zur Begleitung gewisser Töne, gewissermaßen ein Trillern mit den tanzenden Füßen, denen man mit den Augen gar nicht folgen konnte, ein Tier oder ein Mensch fertig gebracht hätte.
Die Neger, deren höchster Gefühlsausdruck der Tanz ist, jubelten und staunten und entsetzten sich und jubelten wieder, begleiteten die Melodien mit Händeklatschen.
»Erstarre, Gri-Gri!«
Mitten in den schnellsten Bewegungen erstarrte die Figur.
Man konnte und sollte sie befühlen — es war die starre, steife Figur, wie aus Holz mit Fell überzogen.
»Tanze!«
Sie tanzte weiter.
Dann erstarrte sie zum letzten Male, musste sich auf Kommando wieder auf allen vieren einrichten, marschierte als Automat auf das Brett, der Korb wurde darüber gedeckt, das rotsamtene Tuch, und der Korb wurde wieder zum Hof hinausgetragen.
Die zurückbleibenden Neger waren ganz außer sich.
»Ja, es ist wahr!«, rief der fremde Häuptling. »Diese weißen Männer haben ein Gri-Gri, wie es kein zweites gibt — wir müssen ihnen dienen und gehorchen!« —
Richard befand sich wieder in seinen Zimmern. Bald kam auch das Bärenweib hereingetrabt, jetzt in einem grünen Atlaskleid, sprang wie eine Katze auf das Sofa.
»Nun, was sagen Sie dazu, Herr Doktor?«
»Ich kenne die Bedeutung des Gri-Gris.«
»Dann wissen Sie ja alles.«
»Nicht so ganz.«
»Was ist Ihnen noch fremd daran?«
»Sie befinden sich dabei in Starrkrampf?«
»Natürlich.«
»Verstehen denn nicht auch diese Neger oder doch ihre Zauberer solch einen Starrkrampf zu erzeugen?«
»Ja. Aber nur durch einen besonderen Griff in den Nacken oder bei gewissen Tieren in die Wirbelsäule.
Dann ist der Mensch oder das Tier vollständig starr und steif.
Dabei aber bleibt es, bis der Zauberer einen anderen Griff macht, wodurch die Beweglichkeit zurückkehrt.
Während des Starrkrampfes die Glieder zu bewegen, ihnen eine andere Stellung zu geben, das ist auch mit Anwendung aller Gewalt nicht möglich, man könnte die Glieder eher abbrechen, da muss der Starrkrampf zunächst wieder aufgehoben werden.
Bei mir ist das also ganz anders.
Und dass ich im Starrkrampf nun gar von selbst auf Kommando mich bewege, nach Musik tanze, das ist diesen Negern nun erst recht ganz und gar unbegreiflich, da müssen sie einfach an Zauberei glauben.«
»Wie wird bei Ihnen dieser Starrkrampf erzeugt? Doch durch keinen solchen Griff.«
»Nein.«
»Sondern?«
»Sie wissen oder ahnen es nicht?«
»Durch Hypnose.«
»So ist es. Michel Kuiper hypnotisiert mich.«
»Wie macht er das? Durch Streichen? Lässt er Sie etwas Glänzendes fixieren?«
»Nein, nur durch seinen Blick. Die Augen hat er ja auch dazu. Es ist aber erst Monsieur Lecoque gewesen, der ihn das gelehrt hat. Vorher wusste er nichts von der Macht seiner Augen.«
»Und diese Neger wissen nichts von der Hypnotik?«
»Gar nichts. Oder wenn ihre Zauberer Hypnotik betreiben, so ist es doch eine ganz andere Art. Dass jemand durch solche Augenhypnotik in Starrkrampf versetzt werden könnte, auf solch einen Gedanken kommen sie überhaupt gar nicht.
Dies ist schon das eine, weswegen sie an Zauberei glauben, mich für ein echtes Gri-Gri halten.
Und nun kommt doch noch meine ganze — Gestalt in Betracht.
Ich bin doch nur ein halber Mensch, halb ein Bär oder Affe oder Pudel. So etwas haben sie noch nie gesehen, kennen es gar nicht.
Und schließlich bin ich ein Albino, welches Geschöpf an sich schon allen Negern heilig ist.
Kurz und gut, in Anbetracht alles dessen bin ich den Negern ein echtes Gri-Gri, dessen Bedeutung Sie also kennen.«
»Hält man Sie denn für eine tote Figur, die nur durch Zauberei scheinbar lebendig gemacht wird?«
»O nein.«
»Die Neger wissen, dass Sie sonst ein wirklich lebendes Wesen sind?«
»Ja, und sie wissen auch, dass ich sonst hier im Hause herumlaufe.«
»Weshalb werden Sie dann nicht auch in diesem Zustande gezeigt? Oder geschieht dies doch manchmal?«
»Niemals. In Gegenwart Fremder bin ich immer nur das starre, nur auf Kommando gehorchende Gri-Gri.«
»Weshalb das?«
»Einfach um mich nicht profan zu machen, um die Scheu vor mir zu wahren.«
Der junge Gelehrte und Afrikareisende verstand.
»Und weshalb nun eigentlich müssen Sie hier die Rolle eines Gri-Gris spielen?«
»Der alte Kuiper braucht ein solches zu seiner Sicherheit.
Vor einem halben Menschenalter ist er als Treckbure vom Süden hierher gewandert mit einem gewaltigen Heeresgefolge, er leistete dem König von Makalli Kriegsdienste, warf die Feinde nieder, unterjochte alle die benachbarten, immer aufrührerischen Häuptlinge, und infolgedessen wurde er der Freund des Königs Noma.
Viele, viele Jahre vergingen, alles war ganz gut und schön.
Jan Kuiper wurde alt, es gefiel ihm hier so gut, er verlor die Lust am Wandern, wollte für immer hier bleiben. Bis vor fünf Jahren der König Noma starb, sein erster Sohn Mira wurde sein Nachfolger.
Die beiden, Jan Kuiper und Mira, hatten sich überhaupt nie gut gestanden.
Nun forderte Mira den alten Kuiper auf, sein Land zu verlassen.
Erstens hatte Kuiper hierzu keine Lust, er wollte gern hier sterben, und dann wusste er bestimmt, dass der König ihn trotz aller friedlichen Versicherungen unterwegs überfallen hätte.
Und Kuiper hatte keine Heeresmacht mehr, alle seine alten Leute waren bis auf wenige gestorben, auf die neuen schwarzen Diener konnte er sich nicht mehr verlassen.
Er wäre unterwegs mit seinen wenigen Leuten, die ihm noch zur Verfügung standen, aufgerieben worden, er wäre verloren gewesen.
Auch hier oben hätte er sich nicht lange halten können, denn was zum Lebensunterhalt gehört, muss von dort unten bezogen werden.
Hier oben auf dem Plateau kann sogar das Quellwasser abgeschnitten werden.
Jan Kuiper war in schwerster Verlegenheit.
Er hatte wohl schon öfters an so ein Gri-Gri oder an sonstigen Hokuspokus gedacht, durch den er den Negern imponieren könnte, aber das ist doch gar nicht so einfach, wie mancher meinen mag, der nur einmal etwas davon gehört hat. Diese Neger sind eben mit solchen Gri-Gris schon überfüttert.
Da kam eines Tages ein alter Kerl auf den Hof, auch ein Bure, aber französischer Abstammung, Monsieur Lecoque, der übrigens schon früher zu Jan Kuipers Treck gehört hatte, aber die Ruhe nicht vertragen konnte, dann allein weiterzogen war.
Gott weiß, wo er sich unterdessen herumgetrieben hatte.
Übrigens kein echter Bure, sondern wohl ein ehemaliger verpfuschter Schulmeister, aus dem ein Zigeuner geworden war.
In seiner Begleitung befand sich ein Negerboy, mit dem er hypnotische Experimente anstellte, was Lecoque unterdessen irgendwo gelernt hatte.
Zum Glück hatte er in dieser Gegend seine Experimente noch nicht weiter gezeigt — schließlich hätte es auch nichts weiter geschadet, aber so war es doch besser — und nun war der Plan bald beschlossen.
König Mira wurde eingeladen — hier auf diesen Hof kam er damals freilich nicht! — Lecoque führte mit dem Negerboy seine hypnotischen Experimente vor.
Was man da machen kann, wissen Sie wohl, das brauche ich Ihnen nicht weiter zu beschreiben.
Der Erfolg war der gewünschte und sogar ein kolossaler.
Jetzt hatten die weißen Fremden einen Gri-Gri bei sich, der sie beschützte.
König Mira war wie umgewandelt, bat um alles in der Welt, dass die Fremden bei ihm bleiben möchten, damit er auch einen Vorteil von diesem heiligen Schutze habe.
So sind die beiden, der alte Kuiper und König Mira, schließlich wieder ganz gute Freunde geworden.
Nun muss ich noch eines anderen Mannes erwähnen.
Jan Kuiper hatte noch einen zweiten Sohn, den Erasmus. Ganz das Ebenbild von Michel, nur voller, gesund, keine solchen schrecklichen Augen, und während Michel mir ein Greuel ist, war mir der Erasmus —«
Das Bärenweibchen brach ab, konnte plötzlich nicht weitersprechen, die zitternde Stimme versagte ihm.
Sie zog ein seidenes Tüchlein aus der Tasche und fuhr sich über die Augen.
Also jedenfalls war es wieder einmal die Liebe, die ihr zu schaffen machte, bei Erwähnung dieses Erasmus Kuiper.
Schnell hatte sie sich wieder beherrscht.
»Doch damals kannte ich dies alles ja noch nicht, damals war ich in Frankreich.
Nun wurde Erasmus nach Europa geschickt, nach Marseille, um Diamanten zu verkaufen und Waren einzukaufen, worüber ich Ihnen später ausführlich erzählen werde, was hierzu nämlich für ein Grund vorlag.
Dem jungen Manne wurden unterwegs die Diamanten gestohlen.
Ganz mittellos kam er in Marseille an.
Da sah er mich und ich ihn.
Ich will es kurz machen, Sie werden es mir nicht verübeln, Sie kennen mich ja — so wie ich wenigstens damals war. Heute bin ich ja ganz anders geworden.
Dem Mister Howard, diesem Waschlappen, hatte ich schon vor einiger Zeit den Laufpass gegeben, hatte mich von ihm scheiden lassen.
Der junge Mann hatte es mir angetan.
Ich bot ihm meine Hand an.
Lange zögerte er, und ich merkte gleich, dass er hierzu einen besonderen Grund habe.
Bis er sich mir zuletzt denn auch offenbarte.
Er sei der und der, müsse zurück nach Afrika an den Okwahaalsee.
Wohl, so ging ich ganz einfach mit.
Und so geschah es.
Es war auch sehr gut, dass das Bärenweib hier eintraf, und ganz besonders, dass es immer unsichtbar in Verpackung gehalten worden war.
Denn unterdessen war hier der Negerboy gestorben.
Nun würde ein Uneingeweihter, der die Verhältnisse nicht kennt, meinen, Lecoque hätte seine hypnotischen Experimente doch einfach mit einer anderen Person vornehmen können. Denn fähig hierzu war er, es brauchte nicht gerade dieser Negerjunge zu sein.
Jawohl! Diese Kunst musste doch als das strengste Geheimnis behütet werden, er durfte seine hypnotischen Experimente doch nicht etwa mit einer anderen Person vornehmen!
Und nun jetzt nach dem Tode des Negerjungen einfach einen anderen Menschen hernehmen und sagen, das sei wiederum ein Gri-Gri?
Ich weiß nicht, ob Sie die Verhältnisse verstehen, weshalb so etwas ganz und gar ausgeschlossen —«
»Ich verstehe, ich verstehe schon«, unterbrach Richard die Erzählerin, »bleiben Sie nur bei Ihrer eigenen Person.«
»Ja. Bei mir war das nun etwas ganz anderes. Auch ich erkannte die Verhältnisse sofort, nachdem mich Erasmus nur ungefähr eingeweiht hatte. Deshalb eben schlug ich selbst vor, dass ich die ganze Reise unsichtbar in einem Korbe mitmachte.
Und nun tauchte ich hier plötzlich auf, ich, das wundersame Bärenweib.
Kurz und gut, die weißen Fremden hatten ein neues Gri-Gri bekommen, welches das erstere noch weit, weit übertraf, und die umwohnenden Neger, die gegen die Ansiedler schon wieder etwas kühl hatten werden wollen, beugten sich von Neuem demütig vor deren unheimlicher Macht und Götterschutz.
Mehr brauche ich hierüber wohl nicht zu berichten. Oder haben Sie sonst noch etwas zu fragen?«
»Ihre Ankunft hier erfolgte vor zwei Jahren?«
»Vor zwei Jahren.«
»Es gefällt Ihnen hier? Haben Sie noch nicht daran gedacht, diese immerhin doch sehr einsame Gegend besonders für Sie, die Sie doch ein ganz anderes Leben gewohnt gewesen sind, wieder zu verlassen? Oder werden Sie hier mit Gewalt festgehalten?«
»Ja und nein. Allerdings würde man mich ja gar nicht wieder gehen lassen. Aber mir das zu sagen ist gar nicht nötig. Ich bleibe freiwillig hier. Schon nach kurzer Zeit starb mein Erasmus —«
Sie bekam einen neuen Wehmutsanfall, der wieder niedergerungen werden musste, mit Hilfe des seidenen Tränentüchleins, was auch schnell genug ging.
»Da vollzog sich in mir die große Umwandlung. Es war die glücklichste Zeit meines Lebens gewesen. Diesen Mann hatte ich einmal wirklich geliebt. Ich hatte kennen gelernt, was echte Liebe ist. Und da an seinem Grabe habe ich das Gelübde abgelegt, diese Gegend niemals wieder zu verlassen. Und ich werde mein Gelübde halten. Wenn mein Herz«, fügte sie etwas verschämt hinzu, »von Neuem in die Fesseln der Liebe geschlagen wird, so ist das ja etwas ganz anderes, dafür kann der Mensch nichts und eine Treue über den Tod hinaus habe ich meinem Erasmus auch nicht gelobt. Nach langer, langer Trauerzeit bin ich jetzt wieder frei.«
»Jetzt ist es aber doch der junge Michel Kuiper, der Sie hypnotisiert«, sagte Richard, eigentlich nur deshalb, um sie von diesem ihm so gefährlichen Thema wieder abzulenken.
»Ja, Lecoque hat ihm seine Kunst gelehrt. Das ist auch sehr nötig, dass er einen Nachfolger hat, denn der alte Mann, der manchmal fürchterlich von der Gicht geplagt wird, wird über kurz oder lang doch einmal abfahren. Das Mittel, das er gegen seine Schmerzen nimmt, hat sein Herz geschwächt, er kann jeden Augenblick tot Umfallen. Auch der alte Kuiper kann mich hypnotisieren, aber er benimmt sich bei meiner Vorführung sehr ungeschickt, und das will er nie richtig lernen. Und nun geht Michel bald nach Europa, um Diamanten zu verkaufen. So sind Sie als sein Nachfolger bestimmt worden.«
»Ich?«
»Ja, Sie sollen mich hypnotisieren und den Negern vorführen.«
»Ich kann ja gar nicht hypnotisieren!«
»O doch, Sie können es.«
»Woher will man denn das wissen?«
»Lecoque hat es Ihnen sofort an Ihren Augen angesehen, wir haben bereits darüber gesprochen. Das ist nun wohl vorläufig erledigt. Jetzt brenne ich darauf, noch etwas von Ihrer Braut zu hören.«
Zurück nach Hamburg! Es war gegen zehn Uhr vormittags, als in Nielsens Hause die Vorsaalglocke läutete.
Das Dienstmädchen öffnete.
Vor ihr stand die hohe Gestalt des fliegenden Holländers von gestern Abend, auch noch in derselben Schiffertracht.
»Ist Frau Burg zu sprechen?«
»Frau Burg ist nach Hamburg gefahren.«
»Fräulein Nielsen?«
»Fräulein Nielsen ist wohl aufgestanden, aber wird kaum —«
»Sie wissen doch wahrscheinlich, wie mich das Fräulein erwartet. Melden Sie mich ihr — Vandammen.«
Das Mädchen war so wenig wie eine andere Dienstperson vom alten Bertram instruiert worden.
Er hatte es nicht für nötig befunden.
Eine andere Dienstperson konnte einen Besuch nicht weiter als bis in das Wartezimmer führen, von hier aus konnte ihn nur Bertram abholen — oder den Besuch abweisen.
Mit Ausnahme, wenn Agnes ihn schon hatte kommen sehen und ihn sprechen wollte.
Dann blieb es des alten Bootsmanns Energie überlassen, wie er einer Unterredung beiwohnte, sich durch nichts zurückweisen ließ.
So hatte sich also Frau Burg gesagt, und sie kannte diesen alten Stelzfuß, der würde schon alles fertig bringen.
Also das Dienstmädchen hatte den Holländer in das Wartezimmer geführt und ging, um die Meldung von dem Besuch erst dem alten Bertram zu machen, der sowieso, da er doch, wo er sich im Hause auch befand, die laute Glocke gehört haben musste, nun gleich angehumpelt kommen würde.
Vandammen hatte sich gesetzt, den Südwester in den Händen zwischen den Knien.
Sprechen tat er natürlich nicht für sich, auch nicht noch so leise. Wir wollen seine Gedanken lesen.
»Frau Burg nicht zu Hause! Natürlich nicht, das konnte ich mir ja gleich denken! Und wenn es mir jetzt gelingt, das Mädel unter vier Augen zu bekommen —«
Auch seine Gedanken brachen ab.
Er hatte eine Stimme gehört, eine Frauenstimme, die ihm nicht mehr unbekannt war.
»Mijnheer Vandammen ist da?«
»Im Wartezimmer.«
»Ich empfange ihn.«
Agnes hatte ihn wirklich durch das Fenster über die Straße auf das Haus zuschreiten sehen.
Sie hatte sowieso den Korridor passieren müssen, und nun sprach sie so das Dienstmädchen an.
Nun musste dieses aber selbst den Besuch auch weiter einlassen, ob nun Bertram noch kam oder nicht. Und Bertram kam nicht.
Also das Dienstmädchen ging zurück in das Wartezimmer und bat den Herrn, ihr zu folgen, wenn sie ihn auch immer vorausgehen ließ, Fräulein Nielsen erwarte ihn. Und der alte Bertram kam nicht, um sich störend einzumischen!
Er ließ sich nicht sehen, und von den anderen wurde sein Fehlen vorläufig nicht weiter bemerkt. Er mochte sich oben in seiner Stube befinden.
Agnes stand mitten im Zimmer, in einem Morgenkleid, in dem sie jeden Besuch empfangen konnte.
Ihre große Erregung war begreiflich.
»Mijnheer Vandammen — Sie also sind es — gewesen — der meinem Bräutigam — wie soll ich Ihnen danken —«
Kaum hatte sie es hervorbringen können, konnte auch nicht weiter, und danach sah das an sich schon so zarte, immer etwas blasse Mädchen denn auch aus.
Der Mann in der einfachen Schiffertracht war es, der sofort die Situation beherrschte, der seine vollendete, aber ganz ungezierte Weltgewandtheit dadurch bewies, dass er es war, der sie zum Sitzen einlud, sie direkt dazu nötigte, indem er sie eben als Kranke oder doch als schonungsbedürftige Person behandelte.
Stühle standen genug herum, hier in diesem Zimmer sehr elegante, leichte, unbequeme.
Nur dort an der Wand stand ein alter, solider Lehnstuhl, der sich aus Großvaterszeit hier herein verirrt hatte, und Vandammen ging sofort hin, brachte ihn herbei, ihn nicht auf den Rollen schiebend, sondern ihn frei tragend, nur mit einer Hand ihn oben an der Lehne gefasst haltend, obgleich es ein ganz beträchtliches Gewicht war.
In einer eleganten Gesellschaft von Herren und Damen, unter der sich auch ein Schauspieler, eine bekannte Bühnengröße, befand, wurde von diesem die Behauptung aufgestellt, dass niemand, möge er sonst auch noch so weltgewandt sein, einen leichten Stuhl über die Bühne tragen könne, ohne sich dabei ungeschickt und kindisch zu benehmen, wenn er es eben nicht unter schauspielerischer Anleitung geübt habe oder wenn er nicht gerade ein geborener Schauspieler sei. Dasselbe gilt auch in einer Gesellschaft, wenn man aller Augen auf sich gerichtet weiß.
Ein Herr nach dem anderen probierte es, darunter viele Salonmenschen, und tatsächlich brachte es niemand fertig. Es sah immer linkisch und tölpelhaft aus, als wolle der Träger über seine Füße stolpern, er wusste nicht, wie er den Stuhl anfassen und tragen sollte. Nur der Schauspieler konnte den Stuhl frei und graziös durch den Salon tragen.
Dieser afrikanische Bauer und Jäger hätte es wohl ebenfalls fertig gebracht, auch wenn er viele prüfende Augen auf sich gerichtet gesehen.
Agnes ließ sich in die Polster sinken, er nahm ihr gegenüber Platz.
»Meine Tante hat mir erzählt — ich möchte alles noch einmal von Ihnen hören.«
Mit müder Stimme hatte sie es gesagt.
Sie ward überhaupt plötzlich so müde, was bisher eigentlich nicht der Fall gewesen war. Sie hatte ganz gut geschlafen. Ihre seelische Verfassung, das war ja etwas ganz anderes.
O, diese schrecklichen, unheimlichen Augen, die dieser Mann vor ihr hatte!
Gewiss, das war doch der fliegende Holländer, der noch immer spukte und der sie besucht hatte, um von ihr seine Erlösung zu verlangen!
Mit einem Male glaubte sie, dass sie schon schlafe und dies nur alles träume. Jedenfalls ein ganz, ganz merkwürdiger Zustand, in dem sie sich plötzlich befand.
Dabei wusste sie selbst schon nicht mehr, dass sie immer die Augen schloss, es aber nicht tun wollte, den Mann ansehen wollte, die Augen immer wieder öffnete, sodass ihre Augenlider in eigentümlich zitternde Bewegung gerieten.
»Werden Sie auch fähig sein, meine Erzählung anzuhören?«
Diese Worte drangen wie aus weiter, weiter Ferne an ihr Ohr.
»Ja — ja — ich bin —«
Da blieb das Zittern der Lider aus, sie hatte ihre Augen geschlossen und öffnete sie nicht mehr.
Regungslos saß der Holländer vor ihr, die sonst so unsteten Augen starr auf sie geheftet.
Es sah nicht anders aus, als wenn er angestrengt lausche.
Jetzt ließ er das linke Auge durch das Zimmer wandern, bewegte dazu auch etwas den Kopf, aber das rechte Auge dabei immer unverwandt auf das Mädchen gerichtet haltend.
»Es ist geglückt! Sie schläft! Ob ich es wage? Es ist viel, was ich riskiere, aber es muss sein, solch eine günstige Gelegenheit dürfte nicht bald wiederkehren!«
So dachte er für sich, und mit gedämpfter Stimme, sich etwas vorbeugend, sagte er dann:
»Fräulein Nielsen, Sie schlafen!«
Ihre tiefen, regelmäßigen Atemzüge bestätigten es.
»Hören Sie mich sprechen? Antworten Sie mir, ich befehle es Ihnen!«
Ein kaum hörbares Ja wurde gehaucht.
»Sprechen Sie deutlicher, ich befehle es Ihnen!«, erklang es noch eindringlicher.
»Ja!«, wurde jetzt ganz deutlich gesagt.
»Wer bin ich?«
»Mijnheer Vandammen.«
»Sie werden mir jetzt und fernerhin bedingungslos gehorchen!«
»Ja.«
»Was sollen Sie tun?«
»Ihnen jetzt und fernerhin bedingungslos gehorchen!«
Öffnen Sie Ihre Augen!«
Die Augenlider setzten sich wieder in zitternde Schwingungen, es kostete sie große Anstrengung, sie ganz zu öffnen, bis es geschehen war.
Man sah nur das Weiße vom Auge, die Pupillen waren ganz nach oben verdreht, was aber an sich nichts Unnatürliches war, jeder Schlafende hat seine Pupillen immer ganz nach oben verdreht. Freilich nur, dass er sie im Schlafe nicht öffnen kann.
»Blicken Sie mich an!«
Die Pupillen kehrten in ihre normale Lage zurück, sie waren mit leerem Ausdruck auf den Mann gerichtet.
»Sehen Sie mich?«
»Ich sehe Sie.«
»Was tue ich jetzt?«
»Sie greifen in die Tasche.«
»Was ist das?«
»Ein Messer.«
Er hatte tatsächlich ein großes Taschenmesser hervorgezogen.
»Sie irren, es ist ein Apfel!«
Leises Staunen malte sich in den blassen Zügen wider.
»Ach richtig, es ist ja ein Apfel!«
»Nehmen Sie ihn und essen Sie den Apfel!«
Sie griff nach dem Messer, führte es zum Munde, versuchte hineinzubeißen.
»Es ist ein zarter, saftiger Apfel, nicht wahr?«
»Ein zarter, saftiger Apfel«, bestätigte sie, mit ihren Zähnchen an dem Stahl und Horn nagend.
Er nahm ihr das Messer weg, barg es wieder in der Tasche.
»Wissen Sie, was das ist, Hypnotik?«
»Ich weiß es.«
»Wissen Sie, dass ich Sie hypnotisiert habe?«
»Ja.«
»Sind Sie schon einmal hypnotisiert worden?«
»Nein.«
»Sie werden sich von mir immer wieder hypnotisieren lassen, aber nur von mir.«
»Nur von Ihnen.«
»Haben Sie das Wort Udschidschi schon einmal gehört?«
»Nein.«
»Wenn Sie wachen, und ich spreche das Wort Udschidsch aus, so fallen Sie sofort in hypnotischen Schlaf.«
»Sofort.«
»Wie heißt dieses Wort?«
»Udschidschi.«
»Was tun Sie dann?«
»Ich falle sofort in hypnotischen Schlaf.«
»Aber nur, wenn —?«
»Nur wenn Sie dieses Wort aussprechen.«
»Und wenn es ein anderer ausspricht?«
»Bei einem anderen kann ich ja gar nicht einschlafen.«
Der Holländer durfte zufrieden sein, und es prägte sich auch in seinen triumphierenden Gesichtszügen aus.
»Kennen Sie das Wort Manandscha?«, fuhr er dann fort.
»Nein.«
»Wenn ich Sie hypnotisiert habe, und ich spreche das Wort Manandscha aus, so erwachen Sie sofort wieder.«
»Sofort.«
»Wie heißt das Wort?«
»Manandscha.«
»Also von jetzt an, wenn ich dieses Wort ausspreche, was geschieht dann?«
»Dann werde ich sofort erwachen.«
»Und zwar ganz erinnerungslos! Sie wissen nicht, dass Sie hypnotisiert gewesen sind, und nicht, was ich mit Ihnen während der Hypnose gesprochen habe.«
»Ich weiß nichts mehr davon.«
»Manandscha.«
Sofort nahmen die geöffneten Augen einen ganz anderen, lebhafteren Ausdruck an.
»— ganz wohl, erzählen Sie mir alles, ich will über die letzten Tage und Stunden meines Verlobten aus Ihrem Munde berichtet hören.«
So fuhr Agnes genau dort fort, wo sie vorhin stehen geblieben war, als der Schlaf sie überwältigt hatte.
»Udschidschi!«
Sofort schloss sie wieder die Augen, war wieder eingeschlafen.
Der Holländer kreuzte die Arme über der breiten Brust.
Mit triumphierenden Blicken betrachtete er sein willenloses Opfer.
Dann aber, wie er seine unsteten Augen wieder im Zimmer umherwandern ließ, dazu wohl auch angesprengt lauschend, nahmen seine Züge wieder einen anderen Ausdruck an.
»Ich muss es schon jetzt riskieren!
Zwar könnte ich ihr ja einen posthypnotischen Befehl geben, den Sie später ausführt, oder ich könnte sie zu mir bestellen, aber ich weiß, dass das nicht immer glückt, oder es könnte etwas dazwischen kommen — jetzt ist eine Gelegenheit, sie wird benutzt — blicken Sie mich an!«
Sie öffnete wieder die Augen, auf einen zweiten Befehl kehrten auch die Pupillen in ihre natürliche Lage zurück.
»Sie werden mir gehorchen!«, wurde wieder eingeleitet.
»Ich gehorche Ihnen.«
»Stehen Sie auf!«
Sie erhob sich, langsam und unsicher, aber es bedurfte immer nur eines Befehles, und ihre Bewegungen wurden schneller und ganz sicher.
»Gehen Sie dort nach dem Schreibtisch!«
Sie begab sich hin.
»Setzen Sie sich.«
Sie ließ sich vor dem Damenschreibtisch auf dem Stuhle nieder. Der Schreibtisch war gut aufgeräumt, keine Papiere lagen umher.
»Ist das Ihr Schreibtisch?«
»Ja.«
»Haben Sie hier Briefbogen und Kuverts, die Sie immer benutzen?«
»Ja.«
»Nehmen Sie solch einen Briefbogen!«
Sie öffnete eine Schublade, entnahm ihr einen Briefbogen.
»Nehmen Sie den Federhalter. Tauchen Sie die Feder in die Tinte. So! Sie werden schreiben, was ich Ihnen diktiere!«
»Ich werde schreiben.«
»Genau so, wie Sie sonst schreiben.«
»Genau so.«
»Also schreiben Sie!«
Er musste schon vorbereitet haben, was er sie schreiben lassen wollte.
Sein eines Auge war dabei auf die Schriftzüge geheftet, die leicht und fließend unter ihrer Hand auf dem Papier entstanden, sein anderes auf die Tür.
Wurde diese geöffnet oder hörte er einen sich nähernden Tritt, ein verdächtiges Geräusch, so nahm er jedenfalls den Briefbogen schnell weg, sprach das Wort aus, das sie erwachen ließ, würde schon wissen, wie sie weiter zu behandeln war, dass jemand einen Argwohn fassen konnte.
Dieser Mann tat das alles doch nicht so in einem plötzlichen Einfalle, er hatte sicher alles schon wohl überlegt.
Herrn Doktor Richard Raimund! Nach dem, was Sie mir mitgeteilt haben, gebe
ich Sie frei, unser Verhältnis ist gelöst. Meinem Vater bereiten Sie keinen Kum
mer, er hat vor vierzehn Tagen das Zeitliche gesegnet. Und was mich anbetrifft,
so mache ich zu Ihrer eigenen Beruhigung das Geständnis, dass bereits ein ande
rer Mann einen tiefen Eindruck auf mich gemacht hat. Vergessen Sie mich, wie
ich Sie vergessen werde, und werden Sie so glücklich, wie ich glücklich zu werden
hoffe. Mehr kann ich nicht sagen. Agnes Nielsen.« Sie hatte es geschrieben.
Das Schreiben war also allgemein gehalten, man konnte den Beweggründen immer noch die verschiedensten Deutungen geben.
Das Mädchen musste die Feder weglegen, Vandammen nahm den Brief, ein auf dem Schreibtisch liegendes Löschblatt, löschte die noch nasse Schrift vorsichtig, faltete den Brief zusammen und ließ ihn unter seinem Wams verschwinden, ebenso das Löschblatt, gleich daran denkend, dass dieses zum Verräter werden könnte.
Tief atmete er auf.
Die Hauptsache war ihm schon geglückt.
Jetzt hätte schon jemand kommen können, er hätte nichts mehr zu sagen gehabt, er hätte das Weitere schon arrangiert.
Und was sonst noch nötig war, das konnte noch hinterher geschehen. Die Hauptsache war ihm eben dieser Absagebrief von ihrer Hand, wozu er eine Order bekommen hatte.
»Ist das ganz genau Ihre Handschrift gewesen?«
»Weshalb nicht?«
Diese Gegenfrage genügte ihm schon — vorläufig. Ob es wirklich der Fall war, davon wollte er sich später überzeugen, jetzt vor allen Dingen musste er sich sichern.
»Stehen Sie auf!«
Die Schlafende wurde nach der Mitte des Zimmers in den Lehnstuhl zurück dirigiert, er setzte sich ihr wieder gegenüber.
So, nun hatte er vollkommen Zeit. Nun mochte jemand hereinkommen. Dann brauchte er nur das erlösende Wort zu sprechen.
»Ist das an Ihrer linken Hand Ihr Verlobungsring?«
»Ja.«
»Befühlen Sie ihn.«
Sie befühlte den Goldreif mit den Fingern der rechten Hand.
»Fühlen Sie ihn?«
»Ich fühle ihn.«
»Nein, Sie fühlen ihn nicht.«
»Nein, ich fühle ihn nicht«, wurde gehorsam wiederholt.
»Sie sehen ihn auch nicht!«
Verwundert betrachtete sie jetzt die linke Hand, an welcher der ziemlich breite, dicke Goldring blitzte.
»Nein, ich sehe ihn nicht mehr.«
Er selbst zog ihn ohne große Mühe von ihrem Finger, betrachtete die innere Gravierung, steckte ihn in seine Hosentasche.
»Was habe ich jetzt getan?«
»Sie haben — Sie haben —«
»Gar nichts habe ich getan!«
»Gar nichts haben Sie getan«, wurde wiederholt.
»Wo ist denn Ihr Verlobungsring?«
»Ich — weiß es nicht.«
»Sie haben den Ring heute früh beim Waschen abgezogen.«
»Nein.«
»Ja, Sie haben ihn abgezogen!«
»Ich habe ihn abgezogen«, erklang es jetzt schüchtern.
»Sie wissen nicht, wohin Sie den Ring gelegt haben. Wiederholen Sie!«
»Ich weiß nicht, wohin ich den Ring gelegt habe.«
»Welchen Ring?«
»Meinen Verlobungsring.«
»Was haben Sie mit ihm heute früh getan?«
»Ich habe ihn heute früh beim Waschen abgezogen und weiß nicht, wohin ich ihn gelegt habe«, wurde ausführlich wiederholt.
»Dessen werden Sie sich auch nach dem Erwachen bewusst sein.«
»Ich werde es sein.«
»Wenn Sie den Ring an Ihrem Finger vermissen, was werden Sie dann glauben?«
Er ließ es sich zur Vorsicht immer noch einmal wiederholen, dann war er seiner Sache sicher.
Wieder betrachtete er sinnend das junge Mädchen, abermals malte sich teuflischer Triumph in seinen schönen und für manche Menschen doch so abstoßenden Zügen wider.
Jetzt hätte er sie wecken und die Unterhaltung fortsetzen, ihr also alles berichten können, was sie wissen wollte, sein Lügenmärlein über Richards Tod, über seine Heldenhaftigkeit.
Denn des Auftrags, wegen dessen er hierher gekommen war, hatte er sich nun entledigt.
Er hatte der Braut Richards solch oder ein ähnliches Schreiben im hypnotischen Zustande entlocken sollen, einen Absagebrief, womöglich auch noch den Verlobungsring, nichts weiter.
»Schade, dass ich sie nicht mitnehmen kann. Schade, dass König Mira kein fremdes Weib in seinem Gebiete duldet. Das ist bei dem neuen Freundschaftsvertrage ausgemacht worden, als er sich mit meinem Vater wieder versöhnte. Wir fremden Ansiedler genießen in seinem Lande für alle Zeiten Schutz — aber für alle Zeiten nur insofern, weil wir dereinst alle kinderlos sterben werden. Denn eine Schwarze kann man dort doch nicht etwa heiraten. Schade, dass das so ist. Sonst würde ich das Mädchen mitnehmen, und vielleicht die stattliche Frau Burg auch.«
So sagte sich der Bösewicht mit Bedauern, und dann kam ihm eine neue teuflische Idee, die ihn wieder vergnügt machte.
»Aber warum soll ich sie denn nicht mitnehmen? Der Frau Burg habe ich es ja überhaupt schon versprochen. Natürlich nur bis nach Urranga, weiter geht die Reise nicht, was die freilich nicht zu wissen braucht.
Ja, weshalb soll ich es denn nicht sein, der aus Fräulein Nielsen einen so tiefen Eindruck gemacht hat? Ach, der schöne Mann, dem sie doch zu so tiefem Danke verpflichtet sein muss.
Gewiss, ich nehme sie mit, an Bord meines eigenen Schiffes, das ich doch wahrscheinlich ganz für meine Zwecke miete, da kann ich mit dem Mädel machen, was ich will — und ein wirklich hübsches Mädel ist es doch — ich kann mich mit ihr verloben, ich kann sie sogar gleich heiraten — vorausgesetzt, dass bei der ein posthypnotischer Befehl wirksam ist, was eben auszuprobieren ist — und dazu ist jetzt die günstigste Gelegenheit, die heißt es beim Schopfe fassen, vielleicht kehrt sie nicht so bald wieder — Fräulein Nielsen!«
»Ja?«, wurde zurückgefragt.
»Wissen Sie, was Sie soeben nach meinem Diktat geschrieben haben?«
»Ich weiß es.«
»Aber Sie werden es nicht mehr nach dem Erwachen wissen.«
»Ich werde es nicht mehr wissen.«
»Ich erzähle Ihnen dann, wie Dr. Raimund seinem Tod gefunden hat, und Sie werden es glauben.«
»Ich werde es glauben.«
»Sie werden dann sofort den Wunsch äußern, mit mir nach Afrika zu gehen, um —«
Der Holländer dachte daran, dass für diesen Wunsch doch irgend ein triftiger Grund vorliegen müsse.
»— um am Grabe Ihres Geliebten zu beten«, sagte er kurzerhand.
»Um am Grabe meines Geliebten zu beten«, wurde seufzend mit entsprechendem Gesichtsausdruck wiederholt.
»Um womöglich seine Gebeine mit nach der Heimat zu nehmen.«
»Um seine Gebeine mit nach der Heimat zu nehmen.«
»Aber das sagen Sie nur so, um einen Grund dafür zu haben, dass Sie mich nach Afrika begleiten wollen.«
»Um einen Grund dafür zu haben.«
»In Wirklichkeit ist Ihnen Dr. Raimund, den Sie für tot halten, bereits ganz gleichgültig geworden.«
»Ganz gleichgültig«, wurde auch sofort mit gleichgültigem Gesichtsausdruck wiederholt.
»Denn Sie lieben bereits einen anderen.«
»Ich liebe bereits einen anderen«, wiederholte gehorsam die Hypnotisierte, jetzt schon mit ganz glücklichem Gesicht.
»Und zwar bin ich es, den Sie lieben.«
Es wirkte doch nicht sofort, die Züge wurden etwas misstrauisch.
»Fräulein Nielsen, Sie haben mir zu gehorchen!«
»Ich gehorche Ihnen.«
»Sie lieben mich, ich befehle es Ihnen, Sie lieben mich!«
»Ich — liebe — Sie«, wurde jetzt verschämt, aber mit ganz verklärter Seligkeit geflüstert.
»Sie lieben mich mit der ganzen Glut Ihres Herzens.«
»Mit der ganzen Glut meines Herzens.«
»Sie sind — ganz und gar vernarrt in mich«, gebrauchte der Holländer einen recht vulgären, aber deutlichen Ausdruck.
»Ich bin ganz und gar vernarrt in Sie«, wurde gehorsam wiederholt, und zwar seufzend und zitternd vor Liebessehnsucht.
Mit vor boshaftem Triumph funkelnden Augen betrachtete der Holländer sein Opfer.
Warum sollte er nicht jetzt gleich einen kleinen Geschmack von den zukünftigen Wonnen nehmen?
Er beugte sich vor.
»Schlingen Sie Ihre Arme um mich, küssen Sie mich und —«
Ehe es dazu kam, fuhr er zurück und lauschte.
Ein humpelnder Schritt, den er schon von gestern kannte, kam über den Korridor.
»Manandscha!«
Das vom Schlafe befreiende Wort. war zur rechten Zeit gesprochen worden, denn nach ganz kurzem Anklopfen trat sofort der alte Bertram ein.
»Sie haben mich gerufen, Fräulein?«
»Nein, ich habe Dich nicht gerufen, Bertram.«
Mit ganz anderen Augen blickte die Erwachte den alten Diener und den Holländer an, aber dieses ihres Erwachens war sich das Mädchen eben doch nicht bewusst.
Bertram ging hinüber in das andere Zimmer, machte sich etwas zu schaffen und ließ dabei die Tür weit offen.
Agnes schien hierbei nichts weiter zu finden.
Wohl hatte der alte Bertram einen Schurkenstreich noch rechtzeitig verhindern können, aber sonst war er doch zu spät gekommen.
Jetzt begann Vandammen seine Erzählung, ohne noch einmal unterbrochen zu werden.
Es war genau dasselbe, was er schon der Frau Burg erzählt hatte.
Durch ganz die gleichen Ausdrücke und Redewendungen hätte ein nochmaliger Zuhörer sogar leicht auf den Verdacht kommen können, dass er eine auswendig gelernte Rede vortrug.
Auch die furchtbare Narbe an seinem linken Arme zeigte er, deutete die an seinem Beine an.
Mit unerschütterlicher Ruhe hatte ihn Agnes angehört, ihn kaum mit einem einzigen Worte unterbrechend.
Ja, diese ihre Ruhe war ganz unnatürlich zu nennen.
Aber der Holländer verstand jetzt die Ursache dieser Unnatürlichkeit.
Ebenso wie es für ihn ganz selbstverständlich war, dass die ihn nicht etwa gleich mit zärtlichen Augen anblickte, vielmehr mit immer etwas finsteren Augen, die weiße Stirn gerunzelt.
Denn wenn sie merkte, wie in ihrem Herzen ganz eigentümliche Gefühle für diesen ihr sonst doch ganz fremden Mann aufstiegen, so musste ihr das zuerst doch selbst ganz rätselhaft sein, sie musste dies durch ein anderes Aussehen zu verbergen suchen.
Denn dass sie nun etwa gleich dem fremden Manne um den Hals fiel und ihn abküsste, das ging natürlich nicht. Das wäre wohl in der Hypnose selbst von ihr zu erreichen gewesen, als sie doch nur ein willenloser Automat war, aber niemals später nach dem Erwachen auf den posthypnotischen Befehl hin.
Das musste sich dann alles nach und nach ganz natürlich einrichten, da musste wirklich erst eine passende Gelegenheit kommen, ehe sie ihm ihre Liebe gestand oder ehe sie sich selbst darüber nur recht klar wurde.
Die Erzählung war beendet, Vandammen wusste nicht mehr, was er noch hinzufügen sollte, und gefragt wurde er nicht.
»Mijnheer, ich danke Ihnen.«
Mit diesen Worten hielt ihm Agnes ihre feine Hand hin. Sie wurde genommen.
Die des Holländers war wieder so eiskalt wie gestern Abend, aber dieses jungte Mädchen schrak vor dieser Berührung nicht so zurück wie gestern ihre Tante.
Ein Druck, und sie zog ihre Hand wieder zurück.
»Mehr kann ich nicht sagen als: Ich danke Ihnen. Für alles Weitere fehlen mir die Worte.«
»Es genügt, Fräulein, es genügt.«
»Oder sagen Sie mir, wie ich Ihnen meinen Dank beweisen kann.«
»Bitte, kein Wort mehr darüber, Fräulein!«
»Fordern Sie von mir mein Leben — fordern Sie alles von mir, was Sie wollen.«
Aha, da kommt es schon zum Durchbruch!
So dachte dieser Bösewicht.
Anderseits werden solche Ausdrücke ja oft genug gebraucht, gerade von den unschuldigsten Menschen, ohne dass es ihnen ernst damit ist. Das heißt, beim Worte nehmen dürfte man sie doch nicht, auf welche Idee aber überhaupt nur ein notorischer Schurke kommen könnte.
»Ich weiß nichts, Fräulein, was ich von Ihnen fordern könnte. Zumal mir ja Ihre Frau Tante schon Rat und Hilfe angesagt hat.«
»Beim Verkaufen der Diamanten?«
»Und auch beim Einkaufen der Waren, die ich mitnehmen will.«
»Wann werden Sie Ihre Rückreise antreten?«
»Das ist ganz unbestimmt. Ich hoffe aber doch, dass in wenigen Wochen die ganzen Einkäufe besorgt sein werden.«
»Dann gehen Sie direkt nach dem Makallilande zurück?«
»Ja.«
»Würden Sie mich mitnehmen, Mijnheer?«
Aaah, da war es!
Der posthypnotische Befehl hatte gewirkt!
Woran er also schon vorher etwas gezweifelt hatte.
Weil diese Sache mit dem posthypnotischen Befehle eben nicht immer geht.
Natürlich war die Freude des Holländers eine viel zu voreilige.
Wir wissen ja, dass Agnes bereits der Tante gegenüber ihren Entschluss geäußert hatte, nach Afrika an das Grab des Geliebten zu gehen.
Wenn nun auch der Holländer hiervon nichts wissen konnte, so hätte er doch wenigstens mit solch einer Möglichkeit rechnen müssen.
»Sie wollen mich begleiten, Fräulein?«, musste er sich jetzt wohl zunächst überrascht stellen.
»Um am Grabe meines Richards zu beten«, wurde in entsprechendem Tone gesagt.
Und der Situation entsprechend senkte der Holländer das Haupt.
»O selig, wer so noch nach seinem Tode geliebt wird!«, flüsterte er wie weltvergessen.
Nun aber wusste er bestimmt, dass sein posthypnotischer Befehl gewirkt hatte!
Oder nun hätte sie auch noch —
Doch da kam es ja schon!
»Sie wissen doch sein Grab im Urwald wiederzufinden, Mijnheer?«
»Ganz gewiss.«
»Wird es möglich sein, seine irdischen Überreste nach hier zu bringen?«
»Warum nicht, Fräulein?«
»So möchte ich sie nach Hamburg bringen.«
»Das kann geschehen.«
»Wir werden darüber ja noch weiter —«
Sie brach ab. Ihr Blick war auf ihre linke Hand gefallen.
»Wo ist denn mein Ring?«
»Sie vermissen etwas, gnädiges Fräulein?«
»Seinen Ring — den Verlobungsring. Ach so, ich weiß schon — ich hatte ihn vorhin beim Waschen abgelegt, es ist nichts weiter — ja, also wir werden darüber doch noch ausführlich sprechen.«
Da kam Frau Burg zurück.
So lange hatte die ausführliche Erzählung des Holländers doch gedauert.
Als sie die Anwesenheit des alten Bertrams bemerkte, der aus dem Nebenzimmer bei offener Tür nicht gewankt und gewichen, war sie vollkommen beruhigt.
Jetzt teilte der Holländer mit, dass er auf Ansuchen des belgischen Konsuls oder wohl sogar schon der belgischen Regierung heute Mittag nach Brüssel fahren würde, um über den Untergang der LeopoldExpedition persönlich Auskunft zu geben.
»Ich lasse mich nicht aufhalten, ich komme so bald wie möglich zurück.
Es ist aber auch noch ein anderer Grund vorhanden gewesen, dass ich heute schon so früh meinen Besuch abgestattet habe.
Ja, ich wäre am liebsten gleich heute Nacht wieder herausgefahren, um noch einmal mit Ihnen zu sprechen, ich habe vor Unruhe die ganze Nacht nicht schlafen können, und ich wusste auch nicht, wie ich mein Versehen telegrafisch oder telefonisch wieder gut machen könne.
Da sehen Sie eben, was für ein unkundiger, unpraktischer Mensch ich bin, die Hauptsache hatte ich ja ganz vergessen —«
»Bitte, wollen Sie nicht gleich zur Hauptsache kommen?«, wurde er von der energischen Hamburgerin unterbrochen.
»Sind Sie schon in der Diamantenschleiferei gewesen?«
»Ja.«
»Sie haben die Steine zur Untersuchung gegeben?«
»Ja. Heute Abend schon kann ich das Resultat des Anschleifens erfahren, dann nenne ich Ihnen auch gleich den Preis, den ich Ihnen dafür offerieren kann — vorläufig nur, bis ein Verkauf perfekt wird.«
»Haben Sie gesagt, von wem Sie die Steine haben?«
»Nein.«
»Sie haben auch zu keinem anderen schon davon gesprochen? Fräulein Nielsen hier natürlich ausgeschlossen und auch Ihr Personal, dem Sie doch vertrauen können.«
Nur zu Herrn Hammer hatte Frau Burg noch von den Diamanten gesprochen, aber das war eine Sache ganz für sich, so durfte sie diese Frage verneinen.
»Dieses Diamantengeschäft muss unser strengstes Geheimnis bleiben! Das ist es, die Hauptsache, was ich gestern Abend Ihnen zu sagen ganz und gar vergessen habe.«
»Sie können beruhigt sein, Mijnheer. Es ist unter uns Diamantenhändlern überhaupt ganz ausgeschlossen, dass wir nach der Herkunft der Steine, die wir uns gegenseitig anbieten, fragen, das liegt im ganzen Wesen dieses besonderen Geschäftes, und ganz besonders gilt dies bei rohen Diamanten. Nur der Polizei gegenüber sind wir verpflichtet, anzugeben, woher wir die Steine haben, aber dieser Fall wird bei uns gar nicht vorkommen, wenn wir nur selbst nicht darüber sprechen.«
»Dann ist es gut, dann ist es gut!«, sagte der Holländer mit sichtlicher Erleichterung.
»Darf ich aber nun fragen, aus welchem Grunde Sie diese Sache so geheim halten möchten?«
»Ich dächte, der Grund dazu wäre klar genug — wenn ich auch in meiner Eigenschaft als Hiobsbote gestern Abend gar nicht daran gedacht habe.«
»Weil Sie eben die Lage des Diamantenfeldes nicht verraten wollen.«
»Natürlich! Und es ist ja überhaupt nicht mein oder meines Vaters Geheimnis, das zu wahren ist, sondern das des Königs Mira von Makalli.
Denn wenn es bekannt wird, dass es dort am Okwahalasee massenhaft solche Diamanten gibt, dann werden natürlich bald noch ganz andere Expeditionen aufbrechen, aber nicht wissenschaftliche, sondern solche von Männern, von Abenteurern, die sich durch nichts zurückschrecken lassen, weil sie alles zu gewinnen und nichts zu verlieren haben. Dann würde König Mira nicht mehr lange als selbstherrliche Majestät am unbekannten Leopoldsee sitzen.«
Für manchen anderen hätte der Holländer wohl etwas dunkel gesprochen, aber nicht für diese junge Witwe, sie verstand ihn sofort.
Der Nordpol soll ja jetzt endlich erreicht worden sein, nachdem wissenschaftliche Forschungsreisende Jahrhunderte lang den menschenmordenden Kampf um ihn geführt haben.
Hätte man aber von jeher bestimmt gewusst, dass sich am Nordpol ein massiver Goldberg befindet oder dass es dort wenigstens reiche Goldminen gibt, so hätte es sicher nur wenige Jahre gedauert, und der Nordpol wäre erreicht und ein Weg hin und zurück auch für die Dauer festgelegt worden.
Denn dem Goldhunger des Menschen scheint überhaupt gar nichts unmöglich zu sein! Das Vorhandensein von Gold oder ähnlichen Schätzen ist eben etwas ganz anderes, als wenn es sich nur darum handelt, irgend ein wissenschaftliches Problem zu lösen. Da werden doch natürlich sofort auch ganz andere Kapitalien und sonstige Energien in Bewegung gesetzt, Menschenleben zählen dann überhaupt nichts mehr.
»Es ist ja auch nur Ihr eigener Vorteil, wenn dieses Geheimnis unter uns bleibt.«
»Mein eigener?«
»Sie haben doch die Absicht, mich nach dem Makalliland zu begleiten.«
»Hm. Das war so eine plötzliche Idee von mir. Wenn Sie aber mit mir zufrieden sind, so könnten Sie doch immer wieder Diamanten hierher bringen oder schicken —«
» I c h begleite Mijnheer Vandammen auf alle Fälle!«, mischte sich da zum ersten Male Agnes in dieses Gespräch.
Etwas bestürzt wandte sich die Tante ihr zu.
Sie hatten heute früh noch nicht wieder über diese gestern Abend geäußerte Absicht des jungen Mädchens gesprochen.
»Ist das Dein Ernst, Agnes?«
»Es ist mein unumstößlicher Entschluss! Ich habe auch mit Herrn Vandammen bereits darüber gesprochen.«
»Ihr habt darüber schon gesprochen?«
»Fräulein Nielsen fragte mich«, bestätigte der Holländer, »ob ich sie nach dem Grabe ihres Verlobten führen könne, ob es möglich sei, seine Gebeine hierher zu überführen — ich weiß nicht, weshalb ich das verneinen sollte.«
»Hierüber sprechen wir später«, sagte Frau Burg schnell.
»Das können wir wohl, aber an meinem Entschlusse wird nichts geändert«, meinte Agnes.
Frau Burg aber ließ sich wirklich nicht weiter darauf ein.
»Haben Sie noch mehr Diamanten, Mijnheer?«
»Ja, und ich habe sie heute handbereit eingesteckt, nicht so wie gestern.«
»Wollen Sie sie mir zeigen?«
Er brachte aus der Hosentasche einen ansehnlichen Lederbeutel zum Vorschein, Frau Burg zählte mehr als hundert Steine von den verschiedensten Farben, keiner kleiner als eine Erbse, viele von Haselnussgröße, vier aber auch so groß wie Walnüsse.
»Mijnheer, ich kann nur wiederholen, Sie sind ein reicher Mann. Ich meine, ich werde Ihnen Hunderttausende dafür zahlen können. Denn selbst wenn Blasen vorhanden sein sollten, so lassen sich doch sicher immer noch große Stücke für Brillantschliff abspalten.«
»Ich bedarf für meine Zwecke auch Hunderttausende, oder meine Reise wäre zwecklos gewesen.«
»Wollen Sie mir die Steine anvertrauen, zu denselben Bedingungen?«
»Ich vertraue Ihnen bedingungslos.«
Es war Zeit, Vandammen musste gehen.
Als er dem jungen Mädchen seine eiskalte Hand zum Abschied reichte, war diesem eine Wirkung von jenem posthypnotischen Befehl noch immer nicht anzumerken, aber das fand der Holländer ganz begreiflich, sie musste sich eben beherrschen, sonst war er seiner Sache sicher.
Denn auch die anderen posthypnotischen Befehle hatten ja gewirkt.
Wir lassen die beiden Frauen allein — — —
Zwei Tage später war Vandammen wieder in Hamburg.
Was er in Brüssel im Kolonialministerium und an anderen Stellen und auch in einer Audienz beim König berichtet hatte, das war ganz ausführlich in allen Zeitungen zu lesen.
Die Erregung war natürlich eine ungeheuere.
Die ganze LeopoldExpedition vernichtet!
Ja, da musste eine neue abgesandt werden.
Aber gar so schnell ging das denn doch nicht, auch wenn nicht wieder solch umfassende Vorbereitungen getroffen wurden.
Vandammen hatte seine Hilfe und besonders seine Führung zugesichert, sich aber doch freie Hand vorzubehalten gewusst.
Er hatte gesagt, was ihn nach Europa geführt habe, er wolle Waren einkaufen, und, wenn dies beendet und die neue Expedition noch nicht fertig sei, dann reise er allein ab, könne dann nur noch versprechen, die später nachkommende Expedition in Urranga als Führer in Empfang zu nehmen, was dann wegen des Termins eben noch zu besprechen sei.
Bei seinem ersten Wiederzusammentreffen mit Frau Burg zählte ihm diese 300 000 Mark in Kassenscheinen auf den Tisch.
»Das ist die erste Anzahlung für Ihre 174 Steine. Wie viel Sie später noch herausbekommen, kann ich noch nicht sagen, nicht, ob Sie nur noch hundert Mark oder noch eine ganze Million erhalten. Weshalb ich das jetzt noch nicht zu entscheiden vermag, kann ich Ihnen nicht erklären, das liegt in der Eigentümlichkeit des ganzen Edelsteinhandels, und meine Absatzquelle darf ich Ihnen nicht nennen, das ist ein Geschäftsgeheimnis, auf das hin ich der kaufenden Partei wie in jedem solchen Falle mein Ehrenwort gegeben habe. Das ganze Diamantengeschäft ist Vertrauenssache.«
»Ich vertraue Ihnen vollkommen«, sagte der Holländer, als er die Scheine nachzählte und einsteckte. »Aber darf ich fragen, bis wann ich eine eventuelle Nachzahlung erwarten kann?«
»In spätestens acht Tagen haben Sie das ganze Geld. Oder ist das zu spät?«
»Nein, das ist noch früh genug.«
»Ich versichere Ihnen nochmals, dass ich selbst keinen einzigen Pfennig an diesem Geschäft verdiene.«
»Ich werde mich in anderer Weise zu revanchieren wissen«, lautete die nicht gerade sehr feine Entgegnung. Aber Frau Burg hätte auch nicht noch einmal ihre Uneigennützigkeit betonen sollen.
Freilich wusste sie das auch gleich zu rechtfertigen.
»Ich hoffe doch noch, an Ihnen sehr viel zu verdienen.«
»Das soll mich freuen.«
»Bleibt es dabei, dass Sie mich mitnehmen?«
»Ah, also Sie wollen mich begleiten?«, fragte der Holländer mit nur scheinbarer freudiger Überraschung; denn er hatte es ja ganz genau gewusst, dass es so kommen würde.
»Ja, ich habe meinen Entschluss unterdessen gefasst. Ich begleite Sie, in der Hoffnung, auf den Diamantenfeldern direkt meine Geschäfte machen zu können.«
»Das soll Ihnen möglich werden! Und Fräulein Nielsen?«
»Sie kommt mit, um am Grabe ihres Bräutigams zu beten und womöglich seine Gebeine nach hier zu überführen.«
So sprach Frau Burg. Was sie sich für Mühe gegeben hatte, um ihre Nichte von ihrem Vorsatze abzubringen, alles ganz zwecklos, davon brauchte jener nichts zu wissen.
»Sie sind unter meinem Schutze sicher im Makalliland, und ebenso ist auch Ihre Rückkehr gesichert.«
»Davon war ich von vornherein überzeugt, sonst würde ich doch solch eine riskante Reise in eine ganz unbekannte Wildnis gar nicht wagen«, sagte Frau Burg mit dem ehrlichsten Gesicht von der Welt, während sie im Innern natürlich etwas ganz anderes dachte. »Wie ist es denn da mit einer Begleitung? Kann ich noch andere mitnehmen?«
»Ganz wie Sie wollen. Eine bewaffnete Macht ist natürlich überflüssig.«
»Weshalb?«
»Der Kriegsmacht des Königs Mira können Sie überhaupt nicht widerstehen, denn es kommen doch nur Dampfertransporte in Betracht, und zweitens würden Sie mir dann doch überhaupt misstrauen und auch bei anderen offenes Misstrauen erregen.«
»Sie haben recht. Es war auch nur so eine Frage von mir, an Mitnahme einer bewaffneten Truppenmacht habe ich überhaupt gar nicht gedacht. Werden Sie also Ihr eigenes Schaff für die Reise chartern?«
»Nicht für die Seereise. Als ich dies zuerst äußerte, kannte ich die Verhältnisse noch gar nicht, habe aber unterdessen Erkundigungen eingezogen. Ich hatte die Menge der Waren, die ich zu kaufen beabsichtige, vollkommen überschätzt. Selbst wenn ich eine Million zur Verfügung hätte, werden doch kaum hundert Tonnen zusammenkommen. Solch einen kleinen Dampfer aber gibt es doch nicht. Und da wird mir die Sache eben zu teuer. Nein, ich benutze für die Seereise einfach einen Handelsdampfer, der seine regelrechte Fahrt nach Boma macht.«
»Und für die Stromfahrt?«
»Da freilich kommt ein anderer als ein eigener Dampfer überhaupt gar nicht in Betracht. Wenigstens bis Urranga muss ich einen kaufen. Denn welcher Kapitän wird es denn wagen, mit seinem Dampfer, der ihm gehört oder der ihm anvertraut worden ist, in die unbekannte Wildnis zu dringen, in der schon so viele Expeditionsdampfer verschwunden sind?«
»Auf welche Weise sind diese Expeditionen wohl verschwunden?«
»Nun, die Fahrzeuge sind einfach im Sumpfe stecken geblieben, die ganze Besatzung ist dem Hungertode verfallen gewesen.«
»Haben Sie denn niemals solch einen Dampfer gefunden?«
»Nein, ich nicht und kein anderer. Es ist dort eben ein Sumpflabyrinth von unermesslicher Ausdehnung, es wäre der größte Zufall, wenn man einmal auf solch ein Wrack stößt, wobei zu bedenken ist, dass wir ja immer nur eine einzige Wasserstraße benutzen, eine andere kennen wir eben nicht.«
Frau Burg hätte deswegen gern noch mehr gefragt, unterdrückte aber aus Vorsicht solche Fragen lieber, zumal sie wusste, dass dieser Mann sie ja doch belog.
»Wenn Sie beim Einkauf der Waren meines Rates bedürfen —«
»Danke verbindlichst, Madame, aber ich habe mir bereits einen erfahrenen Sekretär zugelegt.«
»Ah! Wen, wenn ich fragen darf? Ich bin doch hier in Hamburg sehr bekannt und —«
»Einen gewissen Monsieur Artois. Ich machte seine Bekanntschaft ganz zufällig in Brüssel auf der Straßenbahn. Es war gerade der Mann, den ich brauchte. Es ist ein ehemaliger Schiffsmakler, der die Warenverhältnisse genau kennt, auch hier in Hamburg. Ich habe mich bereits überzeugt, dass ich in diesem vortrefflichen Franzosen wirklich meine rechte Hand gefunden habe. Er logiert ebenfalls im Hotel Klemm, für dessen Empfehlung ich Ihnen nicht genug danken kann, wir gehen sofort zusammen ans Geschäft. Ist sonst noch etwas jetzt zu verabreden? Nicht? Fräulein Nielsen ist augenblicklich nicht zu sprechen? Bitte, wollen Sie mich ihr empfehlen? Auf Wiedersehen, Madame.«
Der Holländer war gegangen.
Mit höchst unangenehmen Empfindungen blieb die junge Witwe zurück.
Abgesehen von der großen Sorge, die ihr diese ganze Expedition machte, weil sie so deutlich sah, in welche furchtbare Gefahr sie sich mit ihrer Nichte begeben wollte — jetzt vor allen Dingen war ihr mächtig in die Nase gefahren, dass Vandammen bereits aus Brüssel solch einen Sekretär als Berater und Vertrauensmann mitgebracht hatte.
Denn Herr Hammer hatte sich doch um diese Stelle bewerben sollen.
Wo steckte denn eigentlich dieser ihr Detektiv?
Sie war mit ihm überhaupt ganz und gar unzufrieden.
Während dieser letzten Tage hatte er nichts mehr von sich hören und sehen lassen, hatte nichts telefoniert, nichts telegrafiert, nichts geschrieben.
Sie hätte ja in dem Detektivbüro über ihn anfragen können, hatte es aber nicht getan. Teils hatte sie immer etwas anderes vorgebracht, teils hatte sie eben immer auf ihn oder auf eine Mitteilung von ihm gewartet. Und er war nicht gekommen, hatte nichts von sich hören lassen.
Und nun hatte der Holländer richtig schon einen anderen Mann gefunden, der ihm bei allem behilflich sein sollte, doch wahrscheinlich irgend ein französischer Abenteurer ganz zweifelhaften Ranges —
Da schellte die Hausglocke, Bertram brachte einen eingeschriebenen Eilbrief.
Der Brief war mit der Maschine geschrieben, als Unterschrift Oskar Hammer.
Geehrte Frau Burg! Es ist mir in Brüssel gelungen, Herrn Vandammens Vertrauen
zu erwerben, unter der Maske eines Franzosen mit dem Namen Charles Artois — Aaaah!
Frau Burg konnte den Detektiv, den sie soeben geschmäht, nur tausendmal um Verzeihung bitten.
Nun aber erkannte sie auch, wen sie für diesen Posten gewonnen hatte!
Acht Tage vergingen.
Der Holländer kaufte mit Hilfe seines französischen Sekretärs, der nur ein wenig gebrochen Deutsch sprach, ein: Tuche, Kattune, Seidengewebe und andere Stoffe, immer gleich ballenweise. Messingdraht und billige Schmuckwaren, wie solche immer einen Hauptbestandteil. der afrikanischen Handelskarawanen bilden. Der Messingdraht spielt im Innern Afrikas allgemein die Rolle des Geldes. Handwerkszeuge der verschiedensten Art, vor allen Dingen natürlich Äxte, Sägen und dergleichen. Unter den übrigen Sachen, die er mitnahm, sei ein Stutzflügel erwähnt. Ferner einige hundert ausrangierter deutscher Militärgewehre, und zwar die sogenannte verbesserte Jägerbüchse Modell 7184, mit welcher die deutsche Marine heute noch bewaffnet ist, acht Patronen im Magazin.
Solche ausrangierte Militärgewehre sind immer zu kaufen, wenn man nur die Quellen weiß, der Verkauf ist auch erlaubt. Und gerade dieses Marinegewehr führt seinen Namen mit Recht, wenn er auch nur daher stammt, weil mit diesem Gewehr früher die Jägerbataillone bewaffnet waren. Dieses Modell ist aber tatsächlich eine ausgezeichnete Jagdbüchse auf Raubtiere und größtes Wild, ein echter »Knochenschmetterer«. Denn alle unsere üblichen Jagdgewehre kommen für die afrikanischen und anderen Wildnisse gar nicht in Betracht. Daher erlebt man es, dass die Jäger, die in der Heimat bei der Ausrüstung nicht die genügende Erfahrung hatten, immer wieder zu einem alten Vorderlader zurückgreifen. Aber besonders in London, in den Schaufenstern der Geschäfte, wo sich die englischen Sportsmen ausrüsten, da kann man etwas von Jagdwaffen sehen! Nur mit dem deutschen Marinegewehr kann man sowohl einem Löwen gegenüber treten wie auf Elefanten pirschen, die drei Visiere gestatten Schüsse auf jede in Betracht kommende Entfernung, und durch die Einsatzpatrone ist auch Jagd auf kleinstes Wild möglich, sogar mit Vogeldunst. Jeder Büchsenmacher besorgt solch ein ausrangiertes, aber sonst noch tadelloses Gewehr für 40 Mark.
Über dies alles wurde Frau Burg von Hammer durch eingeschriebene Briefe auf dem Laufenden gehalten.
Als sie sich nach acht Tagen ins Hotel Klemm begab, um dem Holländer noch einmal 260 000 Mark zu zahlen, sah sie zum ersten Male den Monteur Artois selbst.
Ein glattrasiertes, etwas faltiges, verlebtes Gesicht, in dem auch ihre scharfen Augen nimmermehr die Züge Hammers wiedererkannt hätten, wozu nun auch noch ein ganz anderes, etwas zappeliges Wesen kam.
Vandammen war nicht anwesend, die beiden konnten sich ungestört aussprechen.
»Herr Hammer, sind Sie denn das nur wirklich?«
Sie musste sich erst überzeugen lassen.
Dann aber hatte Frau Burg über anderes zu sprechen.
»Ich bin noch niemals von bösen Träumen und Ahnungen geplagt worden — aber jetzt — ich sehe immer, wie wir in unser Verderben laufen.«
»Weshalb, gnädige Frau?«
»Nehmen Sie doch nur an — die Seereise bis nach Boma hat gar nichts zu sagen — aber dann die Stromfahrt — in die Sumpfwildnis hinein — der muss dazu seinen eigenen Dampfer haben — mit seiner eigenen Mannschaft, die er sich auswählen kann — wir sind einem Bösewicht auf Gnade und Ungnade ausgeliefert!«
»Dagegen werden wir Vorsichtsmaßregeln treffen.«
»Was für Vorsichtsmaßregeln?«
»Die ich bereits getroffen habe. Wollen Sie sie hören? Bestehen Sie darauf? Lieb ist es mir nämlich nicht, schon im Voraus davon zu sprechen. Ich bin sonst nicht der Mann, der über etwas spricht, ehe er es ausgeführt hat.«
»Bitte, offenbaren Sie es mir, beruhigen Sie mich!«
»Es ist der Dampfer ›Erika‹, den Vandammen benutzt, die meisten seiner Waren sind schon an Bord.
Also auf die neue Expedition wartet er nicht, das war auch von vornherein abzusehen, wie die Verhältnisse nun einmal liegen.
Dass seine Wahl gerade auf die ›Erika‹ fiel, das habe ich arrangiert, was gar nicht so leicht war, weil dieser Dampfer nämlich sonst seinen Wünschen durchaus nicht entsprach, zumal er auch erst Madeira und andere Zwischenhäfen anläuft.
Wie ich es fertig brachte, dass er dennoch die ›Erika‹ benutzt, will ich nicht ausführlich schildern, denn ich müsste mich — rühmen.
Es ist nämlich tatsächlich ein artiges Stück von Schlauheit gewesen, was ich da geleistet habe, dass er nichts von meinen Anstrengungen merkte, wie er gerade diesem sonst so ungeeigneten Dampfer wählen sollte.
Weshalb nun gerade die ›Erika‹?
Ich begehe einen groben Vertrauensbruch, indem ich Ihnen ein Geschäftsgeheimnis verrate, das mir unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit anvertraut worden ist.
Aber es gilt, Sie zu beruhigen, und bei Ihnen ist das Geheimnis gut geborgen.
Die ›Erika‹ ist nämlich bereits verkauft, macht für ihre bisherige Reederei die letzte Reise, in Boma geht sie in Besitz einer belgischen Reederei über.
Wissen Sie nun, was das für uns zu bedeuten hat?«
Nein, Frau Burg verstand ganz und gar nicht. wusste nicht, wo Hammer hinauswollte.
»Sie wissen aber doch, dass jede Mannschaft nach den Schifffahrtsgesetzen für Hin- und Rückfahrt angemustert werden muss, nur für eine Hinreise gibt es keine Anmusterung.«
Ja, das war der Hamburgerin allerdings bekannt.
»Nur Verlust oder Verkauf des Schiffes hebt diesen Heuerkontrakt auf. Bei einem Verkauf des Schiffes im Auslande wird die Besatzung abgemustert und muss auch, wenn sie will, frei in den Heimathafen zurückbeordert werden.
In diese Lage kommt also auch die Besatzung der ›Erika‹ in Boma.
Und diese freigewordene Mannschaft werden wir nun für den Stromdampfer anmustern.«
»Das ist alles recht schön und gut«, meinte Frau Burg, »aber ich verstehe immer noch nicht, was dies für uns solch einen großen Vorteil bedeuten soll.«
»Nicht? Da muss ich Ihnen nachträglich noch etwas erklären. Die jetzige Mannschaft der ›Erika‹, wie immer für jede Reise neu angemustert, habe erst ich zusammengebracht!
Das heißt, ich habe die Leute, Matrosen und Heizer, zusammen 28 Mann, ausgewählt und habe dafür gesorgt, dass sie auch wirklich ankamen, dass sich keine anderen dazwischendrängten.
Natürlich habe ich da nun die richtigen Männer ausgesucht. Jeder einzelne ein ganzer Kerl, treu wie Gold, auf den man sich in Not und Tod verlassen kann, alle haben in der Marine gedient, wissen also mit dem Gewehr umzugehen — na, sind Sie nun zufrieden mit mir, wie ich unterdessen gearbeitet habe?«
Ja, nun verstand Frau Burg schon eher, wenn sie die Bedeutung der Sache auch noch nicht ganz zu würdigen wusste, das sollte überhaupt erst später kommen.
»Wissen denn diese Leute schon, worum es sich handelt?«
»Ja, ich habe sie eingeweiht, und auf das Stillschweigen eines jeden einzelnen kann ich mich verlassen.«
»Die werden also auch den Stromdampfer besetzen, den Vandammen kaufen wird?«
»Nicht anders wird's gemacht.«
»Wenn dieser Dampfer aber nun schon eine Besatzung hat?«
,Dann muss die herunter.«
,Wenn aber Vandammen nun nicht will?«
»Er muss wollen, das lassen Sie mich nur alles arrangieren. Dasselbe gilt, wenn er zuerst auch einen anderen Stromdampfer benutzte, erst in Urranga seinen eigenen kauft. Dann geht unsere Besatzung einstweilen als Passagiere mit. Die Leute sind eben abgemustert, haben nichts zu tun, haben uns gebeten, sie für die Expedition mitzunehmen, wir haben zugesagt — damit basta!«
»Wenn aber Vandammen nun doch misstrauisch wird und nichts davon wissen will?«
»Frau Burg, wenn Sie wüssten, durch welche Schliche ich ihn bewogen habe, dass er zu der Seefahrt den alten Kasten von ›Erika‹ benutzt, der erst so viele Zwischenhäfen anläuft — Sie würden nicht mehr daran zweifeln, dass ich ihn auch dazu bewege, die von uns vorgeschlagenen Leute mitzunehmen, einfach als Heizer und Matrosen, ohne dass er den geringsten Argwohn schöpft.
Etwas anderes wäre es gewesen, wenn ich eine besondere Mannschaft als unsere Schutztruppe mitgenommen hätte.
Da hätte Vandammen sofort Misstrauen geschöpft, auf so etwas hätte er sich überhaupt nie eingelassen.
Ebenso, wenn ich solch eine Mannschaft erst nach Boma geschickt hätte, die sich dann so wie zufällig uns zur Verfügung stellte.
Durch alles dies wäre sein Argwohn erwacht, das hätte ich nicht vermeiden können.
Aber so wie ich das alles arrangiert habe und noch arrangieren werde, wird keine Spur von Verdacht in ihm erwachen.
Nur kann ich Ihnen unmöglich schildern, weshalb dies gar nicht eintreten kann.
Glauben Sie mir nur, dass alles ganz vortrefflich gehen wird.«
»Gut, ich glaube Ihnen. Aber meine unheilvolle Ahnung wird dadurch noch nicht beseitigt. Der Holländer führt uns in ein unentwirrbares Sumpflabyrinth. Dann lässt er uns einfach im Stich.«
»Er kann uns nicht im Stiche lassen.«
»Weshalb nicht?«
»Weil sich auf dem Dampfer seine kostbaren Waren befinden.«
»Er weiß die ganze Besatzung zu entfernen, lockt sie von Bord, hat dann andere Leute bereit, um den Dampfer weiterzubringen.«
»Ja, wenn Sie freilich glauben, wir wären so dumm, uns von Bord locken zu lassen —«
»Er selbst geht von Bord, wenn wir im Sumpfe stecken geblieben sind.«
»Das tut er deshalb nicht, weil wir dann doch seine kostbaren Waren in der Hand haben, die wir vernichten können, nur um uns an ihm zu rächen. Auf solch ein Risiko lässt der sich nicht ein, das weiß ich bestimmt.«
»Und ich kann meine unheilvolle Ahnung nun einmal nicht bemeistern! Ich weiß ganz genau, dass wir in unser Verderben gehen.«
»Ja, Frau Burg, weshalb wollen Sie ihn eigentlich begleiten?«
»Weil Fräulein Nielsen nicht von ihrem Entschlusse abzubringen ist, das Grab ihres Bräutigams zu besuchen, und die lasse ich natürlich nicht im Stich.«
»Sie hat noch keine Ahnung, dass Dr. Raimund vielleicht doch noch am Leben sein könnte, dass jenes Schreiben gefälscht ist?«
»Nicht die geringste.«
»Sie wollen sie nicht einweihen?«
»Niemals! Mag sie nur in dem Glauben bleiben, dass ihr Bräutigam tot ist. Findet sich eine andere Bestätigung — nun, dann desto besser. Und wenn sie solch eine Ahnung hätte, würde sie doch natürlich erst recht nach Afrika gehen, um ihn zu retten. Das ist doch überhaupt auch der Hauptgrund, weshalb ich den Holländer begleite. Aber in unsere Absichten soll Agnes auf keinen Fall eingeweiht werden. Das würde das arme Mädchen doch nur noch viel unglücklicher machen, als es schon ist. Nur ihre Fassung, mit der sie ihr Schicksal trägt, ist bewundernswert.«
»Also, Frau Burg, Sie werden von bösen Ahnungen geplagt.«
»Ja, ich muss es gestehen, so wenig mich auch sonst Ahnungen quälen.«
»Und ich habe die ganz gewisse Ahnung, dass wir glücklich wieder zurückkehren werden. Wollen wir nun vielleicht einmal eine Wette arrangieren?«
»Was für eine Wette?«
»Welche Ahnung sich als richtig bestätigen wird. Um was wollen wir wetten, dass ich Sie aus den afrikanischen Sümpfen glücklich wieder nach Hamburg bringe?«
»Nun?«
»Dass Sie mir dann erlauben, dass ich mit einer besonderen Frage vor Sie hintreten kann.«
Aufmerksam blickte die junge, schöne Witwe den Sprecher an.
Und für ihren scharfen Geist hatte diese Andeutung genügt, vielleicht las sie auch noch etwas anderes in den Augen des jungen Mannes.
Nun machte die Hamburgerin aber auch keine weiteren Umstände. Entweder ja oder nein.
»Top, es gilt!«, sagte sie einfach, jenem die Hand hinhaltend, die er also behalten sollte, wenn diese Expedition ein glückliches Ende nehmen würde.
Wenige Tage später dampfte die »Erika« die Elbe hinab.
Was Vandammen in Hamburg versäumt hatte, gedachte er an Bord des Schiffes nachzuholen.
Vergebens nämlich hatte er sich bemüht, das junge Mädchen noch einmal allein unter vier Augen zu bekommen.
Er war noch mehrmals in der Villa gewesen, aber nie war es ihm geglückt, Agnes einmal allein zu sprechen, immer war jemand zugegen gewesen, der sich durch keine List hatte wegschicken lassen.
Allerdings hatte Vandammen deshalb auch nicht gerade auffallende Anstrengungen gemacht, niemand hatte etwas von seiner Absicht gemerkt.
An Bord aber musste das ja nun ganz anders kommen.
Da war es gar nicht möglich, dass sie sich ständig in Gesellschaft eines anderen befand, und eine Begegnung an Deck genügte ja schon, dass Vandammen das hypnotisierende Wort aussprach, und dann konnte er durch posthypnotische Befehle, zu denen er damals nicht gekommen war, weiter operieren.
Dass er bisher von der suggestiven Liebe nichts gemerkt hatte, darüber wunderte er sich nicht im Geringsten. Es war eben ein unschuldiges Mädchen, das so etwas doch zu unterdrücken wusste, zumal in Gegenwart von anderen.
Es war denn auch gleich am ersten Tage, kurz nach dem Passieren von Helgoland.
Sie hatten in der Kajüte zu Abend gespeist, Frau Burg, Agnes, Vandammen und Monsieur Artois, den er mitgenommen hatte, den er wohl für immer an sich fesseln wollte.
Dann begaben sie sich an Deck, um Abschied zu nehmen von der heimatlichen Küste, die nur noch durch zahlreiche Leuchtfeuer zu erkennen war.
Es war eine stille, für den Februar auffallend warme Nacht, wenn man auch noch Winterkleidung trug.
Vandammen hatte sich nach einiger Unterhaltung bald von der Gesellschaft getrennt, war nach dem Heck geschritten, um einmal allein mit seinen Gedanken zu sein, am ersten Tage dieser Reise, der für ihn einen wichtigen Termin bedeutete.
Und da kam es schon, ohne dass er es beabsichtigt hatte.
Plötzlich tauchte die Gestalt des jungen Mädchens neben ihm auf.
Blitzartig durchzuckte es seinen Kopf: Sie nimmt diese erste Gelegenheit wahr, jetzt kann sie sich nicht mehr bemeistern, sie hat mich gesucht!
Es war ziemlich finster, aber ein Blick dieser unsteten Augen genügte, um zu erkennen, dass die beiden wirklich allein waren, dass sie nicht beobachtet und belauscht werden konnten.
»Sie hier, Mijnheer?«, erklang es überrascht, als sähe sie erst jetzt die an der Reling stehende Gestalt. »Ich dachte, Sie wären auf die Kommandobrücke gegangen.«
Der Holländer wollte es so kurz wie möglich machen, aber eine kleine Einleitung hielt er doch für nötig, oder er kam eben nicht über eine solche hinweg.
»Nun, Fräulein, wie gefällt Ihnen so eine Seereise?«
»Sehr gut — wenn man jetzt schon ein Urteil fällen darf.«
»Es ist doch Ihre erste Seereise, nicht wahr?«
»Meine allererste.«
»Sie sind nie zur See gefahren?«
»Noch nie.«
»Obgleich Ihr Herr Vater Kapitän war?«
»O, das hat doch dabei nichts zu sagen. An so etwas wie einmal an eine Begleitung haben wir niemals gedacht. Nach Cuxhaven bin ich einige Male gekommen. weiter noch nicht, nicht einmal nach Helgoland.«
»Da werden Sie doch nicht etwa seekrank werden?«
»Ich hoffe doch nicht.«
»Ich habe ein ganz vorzügliches Mittel gegen Seekrankheit.«
»Gibt es wirklich ein solches?«
»Es heißt Udschidschi.«
»Ich habe ein vorzügliches Mittel gegen Seekrankheit!«, sagte der Afrika-
ner, als Agnes auf dem Verdeck ihm begegnete. »Es heißt Udschidschi!«
Vergebens wartete Vandammen eine Wirkung dieses Wortes ab.
Ganz harmlos sah ihm das junge Mädchen ins Gesicht.
»Wie heisst es?«
»Udschidschi, Udschidschi!«, wiederholte er nochmals ganz energisch, als wolle er das Wort recht deutlich aussprechen.
»Udschidschi? Was ist denn das?«
Er sagte etwas von einer afrikanischen Pflanze, und dann suchte er einen Vorwand, um sich zu entfernen.
Seine Enttäuschung war grenzenlos, das so schöne Gesicht war ganz entstellt.
»Verdammt!«, murmelte er. »Sie reagiert nicht auf das Wort! Weshalb nicht? Sollte der unterdessen verflossene Zeitraum schon ein zu großer sein? So muss ich noch einmal von vorne anfangen!«
Schon am nächsten Morgen hatte er hierzu Gelegenheit.
Er befand sich mit Agnes allein in der Kajüte, saß ihr gegenüber.
Er fing noch einmal von seinem Udschidschi an, aber das Mädchen wollte nicht einschlafen, nicht die Augen schließen.
Dann probierte er es, sie wieder allein durch den Blick seiner Augen zu hypnotisieren — und eine andere Methode kannte er überhaupt gar nicht — aber es gelang ihm nicht.
Das Mädchen wollte nicht einschlafen, blieb ganz unbefangen. Zuletzt schien Agnes aber doch etwas Eigentümliches an dem Manne zu bemerken, sie wurde offenbar misstrauisch, ängstlich — sie entfernte sich schnell aus der Kajüte.
Ein Zähneknirschen folgte ihr nach.
»Sollte ich denn damals einen Fehler begangen haben?
Ich habe ihr befohlen, sich niemals von einem anderen Menschen wieder hypnotisieren zu lassen, nur noch von mir — weshalb gehorcht sie mir nicht, da sie doch sonst den posthypnotischen Befehlen pünktlich nachgekommen ist, wie zum Beispiel in dem Falle mit der Begleitung, dass sie gleich nach dem Erwachen den Wunsch äußern solle, am Grabe des toten Geliebten beten zu wollen, und dann vor allen Dingen die Sache mit dem Verlobungsring, auf welchen posthypnotischen Befehl sie doch sofort reagiert hatte!
Weshalb gehorcht sie mir jetzt nicht mehr?«
So fragte sich der Holländer.
Da er gar keine Antwort darauf wusste, so hatte er in der Hypnotik entweder einen Lehrmeister gehabt, der ihn nicht in alles eingeweiht, oder jener Monsieur Lecoque hatte es eben selbst nicht besser gewusst.
Mit der ganzen Hypnotik ist es ja eine sehr eigentümliche Sache.
Wir wollen hier nur eines erwähnen:
Der erste hypnotische Schlaf bedeutet für jeden, der überhaupt für hypnotische Suggestion empfänglich ist, stets eine Krisis.
Entweder nämlich ist er von dann an überhaupt sehr empfänglich gegen fremde Willensbeeinflussung, er wird fernerhin viel leichter hypnotisiert — oder es gelingt gar nicht mehr!
Dabei muss man nämlich annehmen, dass der Betreffende in diesem ersten ihm künstlich beigebrachten Schlafe das größte Missbehagen empfunden hat, in diesem ersten Zustande konnte er sich nicht mehr dagegen wehren, aber ihn dann noch einmal zu hypnotisieren, das gelingt nie wieder. Er hat während dieses ersten Schlafes einen festen Entschluss gefasst, der dann durch keinen fremden Willen, mag er sonst auch noch so stark sein, wieder zu brechen ist.
Es ist dies ein Fall, der sehr, sehr häufig vorkommt, aber im Allgemeinen sehr wenig bekannt ist, so viel auch besonders Baron Doktor Carl du Prel darauf hingewiesen und diese Tatsache durch zahlreiche Experimente erhärtet hat.
So war es also auch zweifellos bei diesem jungen Mädchen.
Agnes ließ sich überhaupt nicht zum zweiten Male hypnotisieren, auch nicht von diesem ihrem ersten Hypnotiseur. Einmal und nicht wieder!
Von diesem allem aber wusste der Holländer nichts, er konnte nur sich wundern und sich ärgern und mit den Zähnen knirschen.
Und was nun die posthypnotischen Befehle anbetraf, die Agnes ausgeführt haben sollte, so konnte er sich auch hierin vollständig irren.
Nach Afrika zu gehen, um am Grabe des Geliebten zu beten und womöglich seine Gebeine nach der Heimat zu überführen, das war ja sowieso ihr Entschluss gewesen, da hatte Vandammen ihr gar nichts erst zu suggerieren brauchen.
Und was den vermissten Ring anbetraf, so war sie eben wirklich der Meinung, sie habe ihn früh beim Waschen abgestreift, und dass der Ring nicht wiedergefunden werden konnte, das hatte mit alledem doch gar nichts zu tun.
Aber auf solche Erklärungen konnte der Holländer ja nicht kommen.
Übrigens beruhigte er sich schnell wieder, und jetzt nahm sein Gesicht wieder solch einen teuflischen Ausdruck an.
»Wohl! Geht es nicht so, dann wird es eben auf andere Weise gemacht!
Dann wird einfach Gewalt angewendet!
In meiner Gewalt sind die beiden Weiber ja sowieso, und ich nehme sie mit bis ins Makalliland.
Sieht der König Mira diese beiden hübschen und sogar schönen Weiber, so wird er schon anders über die weißen Frauen denken als bisher, und zum Danke wird er mir doch wenigstens eine überlassen, welche, das soll mir dabei ganz gleichgültig sein, ich selbst würde da meine Wahl gar nicht so leicht treffen können, und wenn ich nicht irre, wird mich dann König Mira noch einmal in das fremde Land schicken, um gleich eine ganze Schiffsladung solcher weißen Weiber herbeizuholen.«
Doktor Raimund saß in seinem Bauernzimmer auf dem gewaltigen Ledersofa und befand sich wieder einmal in verzweifeltster Stimmung. Wir wollen seinem Gedankengange nicht folgen, zumal wir den Grund für seine niedergedrückte Stimmung bald in anderer Weise erfahren werden.
Plötzlich blickte er auf und lauschte.
Ein eigentümliches Geräusch war an sein Ohr gedrungen.
In weiter Ferne wurde eine große Trommel geschlagen und dazu mit blechernen Schellen gerasselt.
An sich war diese Art von Musik hier ja durchaus nichts Eigenartiges.
Das Hauptkonzertinstrument der Neger ist doch immer eine irgendwie hergestellte Trommel. Doktor Raimund bekam solche Töne hier oft genug zu hören, bei jeder Vorstellung, welche das »Gri-Gri« geben musste, was sehr häufig geschah, auch sonst amüsierten sich die schwarzen Diener des Burenhofes mit Trommelmusik, und auch die rasselnden Schellen fehlten dabei nicht.
Aber gerade weil der junge Gelehrte diese Art von Trommelmusik hier schon so oft gehört hatte, merkte er sofort, dass dieses Trommelschlagen und Rasseln ein ganz anderes als sonst war.
Über Trommelmelodien kann man ja nicht viel sprechen, zumal wenn sie sich gleichzeitig in allen möglichen Taktarten bewegen.
Jedenfalls aber hörte Doktor Raimund doch sofort heraus, dass dieses ein ganz anderes Trommeln und Rasseln war, wie er es auf diesem Burenhofe noch nie vernommen hatte.
Aber anderswo hatte er ganz dieselben Töne schon einmal gehört!
Wer im tiefen Schlafe auf der Straße das Klingeln der Feuerwehr hört, der wird wohl sicher — ein Augenblickstraum im Moment des Erwachens — erst noch von einem Brande träumen, und wer etwa einmal in den Alpen gewesen ist und er hat auf der Alm den Kuhreigen gehört, und dann nach langer, langer Zeit sitzt er einmal einsam und unbeschäftigt im Zimmer, so die Dämmerstunde eignet sich recht gut dazu, er hat die Augen geschlossen, und da dringen an sein Ohr die Töne des Kuhreigens, aus irgend einem Instrumente hervorgebracht, womöglich in weiter Ferne — so muss er ein sehr prosaischer Mensch sein, wenn er sich im Moment nicht auf die Alm versetzt fühlt, mit einer Deutlichkeit, die nichts vermissen lässt.
So erging es auch dem jungen Gelehrten.
Plötzlich befand er sich nicht mehr in Afrika, sondern in Deutschland, in Berlin, im Sitzungssaale des Ethnografischen Museums, wo ein alter Professor vor einer geladenen Gesellschaft einen Vortrag über seine Reisen in Lappland hielt.
Wir geben einen Teil dieses Vortrags wieder, wie er in Kiesewetters Werk »Die Geheimwissenschaften« auf Seite 590 und folgende abgedruckt ist. Allerdings von dem betreffenden Erzbischof, der von deutscher Seite aus von Professor Doktor Franz Wallner von der Berliner Universität und Generalmajor Gerlach begleitet worden war, bei anderer Gelegenheit erzählt.
Die Stelle lautet wörtlich folgendermaßen:
Der Erzbischof von Uppsala hatte auf einer Reise durch Deutschland die Ehre,
von Seiner Majestät dem König von Preußen und Kaiser von Deutschland zur
Tafel gezogen zu werden.
Bald kam die Rede auf den maßlosen Aberglauben, welcher jetzt noch in den
Lappmarken herrsche, wonach der Glaube an Zauberer und erbliche unheimliche
Künste in manchen Familien bis zur Stunde festwurzelt. Der Erzbischof selbst
war vor mehreren Jahren von der höchsten Landesbehörde an der Spitze einer
Kommission (die also auch aus Vertretern anderer Nationen bestand, darunter
auch jene beiden deutschen, wovon man aber am königlichen Hofe eben nichts
wusste), dahin gesandt worden, um dieses wüste irreligiöse Treiben zu untersu
chen und mit Ernst auszurotten.
Bei dem Mangel an Verkehrsmitteln — erzählte der Erzbischof — war unsere Rei
se eben so lang wie beschwerlich. Der Zweck derselben war nur uns bekannt, und
wir nahmen, diesen in ein tiefes Geheimnis hüllend, für unsere Wohnung die
Gastfreundschaft eines reichen Mannes in Anspruch, der in dem unheimlichen
Rufe stand, über finstere Zaubermittel gebieten zu können. Zu unserer Verwunde
rung deutete nichts im Äußeren oder im Haushalte desselben darauf hin, dass
dieser Ruf begründet sei. Mit der gewohnten Gastfreundschaft der Lappmarken
wurden uns von dem Wirt des Hauses, einem offen aussehenden, behäbigen Man
ne, die besten Zimmer eingeräumt und alles, was Küche und Keller vermochte,
aufgeboten, die Gäste zu ehren.
Zu unserem Erstaunen aber machte weder unser Gastgeber noch irgend ein
anderer Mensch im Orte ein Hehl daraus, dass Peter Lärdal, so hieß der Mann,
im Besitz übernatürlicher Kräfte, ja geradezu ein Zauberer sei.
Am dritten Tage, als wir gemütlich am Frühstückstische beieinander saßen,
brachte ich unter dem Vorwand der Neugierde das Gespräch auf das Thema und
frug Lärdal, ob es ihm nicht unangenehm sei, in solchem Rufe zu stehen. Ein
feines Lächeln glitt über die Züge des Mannes. »Was nützt es denn, hochwürdigs
ter Herr Erzbischof, dass Sie mir den Zweck Ihrer Frage verbergen wollen. Sie und
diese Herren sind ja doch nur deshalb da, um die Wahrheit dieses Rufes zu er
gründen und mich zur Verantwortung zu ziehen.«
»Nun denn«, antwortete ich energisch, »wenn Ihr es schon wisst, ja, wir sind
hier, um diesen Aberglauben zu zerstören und diesem Unsinn ein Ende zu ma
chen.«
»Das mögen Sie halten, wie Sie wollen und können, aber Unsinn, lieber Herr,
ein Unsinn ist diese Sache nicht!«, antwortete Lärdar mit leichtem Kopfschütteln.
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte ich in strengem Tone. »Ich will Ihnen den Glauben an die Hand geben. Meine Seele, mein Geist,
oder wie Sie es nennen wollen, soll vor Ihren Augen das Haus des Körpers verlas
sen und sich an einen Ort begeben, den Sie vorher bestimmen werden. Nach der
Rückkehr will ich Ihnen Beweise dafür liefern, dass meine Seele in Ihrem Dienst
an dem von Ihnen bezeichneten Platze gewesen ist. Wollen Sie diese Überzeu
gung haben?«
»Die widerstreitendsten Empfindungen«, fuhr der Bischof fort, »bemächtigten
sich meiner. Furcht vor dem Bewusstsein, zu dem frevelhaften Spiele mit dem
Heiligsten meine Hand zu bieten, der Wunsch, einem etwaigen Betruge auf die
Spur zu kommen und ihn zu entlarven und heftige Neugierde, zu erfahren, wie
der schlichte Mann sein Wort lösen werde, kämpften in mir. Letztere, das Erbteil
aller Evaskinder, trug den Sieg davon. Ich willigte ein in den Vorschlag und trug
Lärdal auf, seine Seele in mein Haus zu senden, mir zu sagen, was in diesem Au
genblick meine Frau beginne, und die Beweise für seine Anwesenheit daselbst zu
liefern. Es versteht sich von selbst, dass meine Reisegefährten, von noch brennen
derer Neugierde beseelt als ich, mit meinem Tun völlig einverstanden waren.
»Nun wohl, Ihr Herren, gönnen Sie mir eine Viertelstunde Zeit zu meinen Vor
bereitungen.«
Er entfernte sich, und kaum war die Viertelstunde vergangen, so erschien unser
Hausherr wieder, in der Hand eine Pfanne mit trockenen Kräutern tragend.
»Ihr Herren«, sagte er, »ich werde diese Kräuter anzünden und ihren Dampf
einatmen. Hüten Sie sich aber, meine Herren, in diesem Zustande Versuche zu
meiner Wiederbelebung zu machen oder mich auch nur zu berühren! Der Erfolg
wäre mein sicherer Tod! Denn in wenigen Minuten wird mein Geist aus dem Kör
per entweichen und alle Anzeichen des Todes werden an diesem sichtbar sein. In
einer Stunde wird mein Körper sich von selbst wieder beleben und Ihnen Nach
richt aus Ihrer Heimat bringen.«
Nach einer unheimlichen Pause, während welcher keiner von uns ein Wort der
Entgegnung finden konnte, setzte der Zauberer die trockenen Kräuter in Brand
und hielt seinen Kopf über den übelriechenden narkotischen Dampf derselben.
In wenigen Minuten bedeckte Leichenblässe sein Gesicht, der Körper fiel nach
kurzen Zuckungen in den Lehnstuhl, in welchem jene Prozedur vorgenommen
wurde, zurück und lag regungslos, in allem einem Toten gleichend, da.
»Um Gottes willen«, rief der Arzt entsetzt aus, »der Mensch scheint sich vergif
tet zu haben, er stirbt wirklich, wenn man ihm nicht schnelle Hilfe bringt.«
Ich musste ihn mit Gewalt zurückhalten, ehe er seinen Vorsatz ausführen und
sich auf den Bewusstlosen stürzen konnte.
»Haben Sie vergessen, dass der Unglückliche uns beschwor, in dem jetzt einge
tretenen Fall den Körper nicht zu berühren, wenn wir ihn nicht wirklich töten
wollen? Haben wir gegen unser Gewissen unsere Einwilligung zu dem unheimli
chen Experiment gegeben, so müssen wir auch den Erfolg abwarten.«
Nach einer in atemloser Spannung verlebten endlosen Stunde kehrte langsam
aber ersichtlich die Farbe des Lebens wieder auf die Wangen des Entseelten zu
rück, die Brust hob sich unter stürmischen Schlägen, die nach und nach in ein
regelmäßiges Atemholen übergingen.
Bald darauf wendete sich der Wiedererwachte mit den Worten an mich: »Ihre
Frau ist in diesem Augenblicke in der Küche.«
»Jawohl«, spottete lächelnd der Arzt, »um diese Stunde pflegen, wie Sie wohl
wissen, alle Frauen bei uns in der Küche zu sein.«
Ohne diesen ungläubigen Einwand einer Entgegnung zu würdigen, beschrieb
mir Lärdal meine Wohnung und die Küchenräume, die er meines Wissens nie
betreten haben konnte, mit allen Details mit peinlichster Gewissenhaftigkeit.
»Zum Beweis, dass ich wirklich dort war«, schloss er seinen Bericht, »habe ich
den Ehering Ihrer Frau, den dieselbe bei der Zubereitung einer Speise vom Finger
streifte, auf dem Grund des Kohlenkorbes versteckt.«
Ich schrieb sofort, es war am 28. Mai, nach Hause und fragte meine Frau, was
sie um elf Uhr an diesem Tage gemacht habe. Ich bat sie, ihr Gedächtnis recht
genau zu prüfen und mir recht sorgfältig Bericht abzustatten.
Nach vierzehn Tagen, so lange brauchte bei den schlechten Verbindungswegen
der Brief und die Antwort Zeit, schrieb mir meine Frau, sie wäre am 28. Mai um
diese Zeit mit der Zubereitung einer Mehlspeise beschäftigt gewesen. Es wäre ihr
dieser Tag deshalb unvergesslich, weil an demselben Tage ihr Trauring verloren
gegangen wäre, den sie kurz vorher am Finger gehabt habe und den sie trotz allen
Suchens nicht habe wiederfinden können. Wahrscheinlich habe ihn ein Mann
entwendet, der sich in der Kleidung eines wohlhabenden Bewohners der Lappen
marken einen Augenblick in der Küche gezeigt, aber, als er um sein Begehren
gefragt worden sei, sich wortlos wieder entfernt habe.
Der Trauring fand sich später in der Küche im Kohlenkorb wieder vor.
So weit der Bericht des Erzbischofs von Uppsala, wörtlich hier wiedergegeben. Es ist ein historisches Dokument, das wir vor uns liegen haben.
Also auch Professor Franz Wallner aus Berlin war bei diesem Experiment mit zugegen gewesen, und in jener Versammlung nun, der auch Doktor Raimund beigewohnt, hatte er dasselbe geschildert, nur in viel präziserer Weise, und daran Betrachtungen geknüpft, die ganze Sache der Kritik unterworfen.
Darüber, dass der Lappe gleich wusste, weshalb die Herren gekommen seien, brauchte sich der gute Erzbischof natürlich ganz und gar nicht zu wundern, da brauchte der Mann keine Prophetengabe zu besitzen. Der schlaue Lappe roch doch gleich den Braten und hielt es für das Beste, seine Meinung den Herren auf den Kopf zuzusagen.
Ferner brauchte nicht angenommen zu werden, dass seine Seele, oder wie man das Ding nun nennen mag, wirklich in der Wohnung und Küche des Erzbischofs zu Uppsala gewesen war.
Das Ganze konnte nur auf Hellsehen hinauslaufen.
Die Frau hatte ihren abgestreiften Trauring vom Tisch herabgeworfen, er war in den Kohlenkorb gefallen, und nun behauptete der Lappe — vielleicht ohne lügen zu wollen, es beruhte auf Selbsttäuschung — er selbst habe den Ring in den Kohlenkorb gelegt.
Hätte er das aber wirklich selbst getan, so hätte er sehr kindisch gehandelt. Man versteckt doch so etwas, was man später als Beweis der Tatsache vorbringen will, nicht gerade in einem Kohlenkorb, von wo es so leicht ins Feuer wandern kann, sondern er hätte den Ring in eine Schublade oder sonst wohin legen können, aber doch nur nicht gerade in den Kohlenkorb!
Wenn nun die Frau wirklich einen Lappländer gesehen hatte, so nur in ihrer Einbildung, die sie aber nicht von der Wirklichkeit unterscheiden konnte. Also das wäre dann eine traumhafte Vision gewesen, erzeugt durch Gedankenübertragung seitens des Lappländers und vielleicht auch aller anderen Teilnehmer. Das Erscheinen eines Lappländers konnte der Frau in Uppsala nicht weiter auffallen. —
So hatte Professor Wallner damals den Fall auf natürliche Weise zu erklären versucht.
Ein okkultes, das heißt übersinnliches Phänomen blieb es ja trotz alledem. Solch eine Möglichkeit muss man eben dabei immer noch voraussetzen. Und übersinnliche Phänomene gibt es in Masse. Ein übersinnliches Phänomen ist es zum Beispiel, dass sich die Erde um die Sonne dreht, dabei um sich selbst rotierend. Denn von alledem merken wir doch gar nichts. Also ist es übersinnlich, es lässt sich mit unseren Sinnen nicht wahrnehmen. Nur das Wort »übernatürlich« müssen wir aus dem Lexikon streichen.
Nun aber musste Professor Wallner, wie er damals im Völkermuseum zu Berlin erzählte, doch noch andere Erfahrungen machen.
Der Erzbischof ließ sich an diesem einen Experiment genügen, er pflegte seinen Bauch, besonders aber die beiden deutschen Kommissionsmitglieder, Professor Wallner und Generalmajor Gerlach, setzten ihre Forschungen unter den lappländischen Schamanen — denn um sogenannten Schamanismus handelt es sich hierbei — fort, und da allerdings sollten sie noch ganz andere Dinge erleben.
Hier nur noch ein einziges Beispiel.
Ein anderer Schamane erklärte sich bereit, seinen Geist in die Wohnung des Professors nach Berlin zu versetzen und von dort sogar etwas mitzubringen. Was, das könne er noch nicht sagen.
Richtig, nach dem Erwachen beschrieb er ganz genau die Wohnungseinrichtung, dann griff er in den Mund und ... brachte eine große Papierschere zum Vorschein, sechsundzwanzig Zentimeter lang!
Es war die Papierschere, die immer auf des Professors Schreibtisch lag, er erkannte sie sofort als dieselbe, sie wurde dann auch zu Hause bei ihm vermisst.
Aber nicht nur das, sondern der Schamane war willens, sich noch einmal in die Wohnung zu begeben und noch etwas anderes herbeizubringen, und zwar stellte der Professor die Forderung, aus dem Schlafzimmer seiner Frau heraus.
Der Lappländer hatte nämlich gesagt, dass die Frau Professor soeben beim Ankleiden gewesen wäre, deshalb habe er sich, sehr dezent, sofort wieder zurückgezogen.
Also seine Seele machte sich noch einmal auf die Reise nach Berlin, und als er erwachte, griff er wiederum in den Mund und ... zog einen falschen Zopf heraus!
Später wurde konstatiert, dass es tatsächlich der falsche Zopf der Frau Professor gewesen war, oder so eine Haarunterlage, die sie nun auch vermisst hatte.
Gesehen hatte sie den Lappländer in ihrem Schlafzimmer natürlich nicht, aber sie konnte sich später noch entsinnen, dass sie zu jener Zeit ein eigentümliches, beängstigendes Gefühl überkommen hatte, es sei ihr immer gewesen, als ob sich jemand Fremdes im Zimmer befände, und das hatte sie auch noch an demselben Tage zwei Freundinnen erzählt, was also alles nachkontrolliert werden konnte. —
Da weiß man allerdings nicht mehr, was man dazu sagen soll!
Dann muss man eben daran glauben, dass es Menschen mit magischen Fähigkeiten gibt.
Dann handelt es sich hierbei um eine Transfiguration oder Denaturalisation von festen Körpern, die später wieder materialisiert werden können.
Übrigens, betonte auch Professor Wallner, war ganz deutlich zu sehen gewesen, dass der Mann die Schere und den Zopf nicht wirklich aus dem Munde hervorgezogen hatte, sondern nur scheinbar.
Der geöffnete Mund war zweifellos leer gewesen, die Schere und der Zopf wuchsen gewissermaßen aus einem Nichts in die Hand hinein.
Beide Sachen waren ganz trocken und kalt, was wohl nicht der Fall gewesen wäre, wenn der Mann sie im Mund oder sonst wo im Innern seines Körpers gehabt hätte. —
Nun aber etwas anderes.
Jener Peter Lärdal war der einzige Schamane gewesen, der sich ausnahmsweise einmal durch Dampf von narkotischen Dämpfen betäubt hatte.
Alle anderen Schamanen, mit denen man experimentierte, hatten, um sich in Ekstase oder autohypnotischen Zustand zu versetzen, nach alter, echter Schamanenweise »Frosch und Trommel« gebraucht.
Es ist dies also eine große Trommel, ringsum mit Schellen besetzt, auf dem Fell tanzt beim Schlagen eine eherne, froschähnliche Figur herum.
Es ist eine Kunst, die gelernt sein will, um diesen Frosch tanzen zu lassen. Er darf dabei nämlich nicht umfallen. Tut er dies, legt sich der Frosch auf die Seite, dann kann sich der Schamane nicht mehr in Ekstase bringen, das Experiment muss einstweilen abgebrochen werden, erst nach längerer Sammlung ist der Mann zu einer Wiederholung fähig.
Weshalb dies?
Nun, es handelt sich hierbei eben um einen alten, tief eingewurzelten Aberglauben oder auch Glauben.
Ohne »Frosch und Trommel« geht die Geschichte eben nicht. Und weil sie dies glauben, vollkommen davon überzeugt sind, so geht es auch wirklich nicht.
Bei uns rufen Glocken zur Andacht, erwecken wirklich andächtige Stimmung — bei diesen Schamanen tun dasselbe die Trommeltöne, und der Frosch dient dazu, um ihre Aufmerksamkeit auf einen einzigen Punkt zu konzentrieren, genau so, wie man jemandem, den man hypnotisieren will, am besten einen kleinen, glänzenden Gegenstand vorhält, auf den er immer starren muss.
Es könnte ja ebenso gut ein kleiner Kegel sein, der beim Emporhüpfen immer wieder auf die breite Basis fallen muss. Die Wahl ist aber nun einmal auf die Figur eines Frosches gefallen, der dieselben Dienste verrichtet.
Solch eine Trommel mit allen Zutaten hatte Professor Wallner aus Lappland auch mitgebracht, hatte sie seinen Zuhörern praktisch vorgeführt, und er hatte sich sehr gut die eigenartige Trommelweise der Schamanen eingeübt. Nur dass er nicht dabei in Krämpfe fiel, nicht scheinbar leblos wurde. — — —
An alles dies also wurde Doktor Raimund erinnert, als er jenes eigentümliche Trommeln und Schellenrasseln in weiter Ferne vernahm.
Plötzlich fühlte er sich wieder in den Sitzungssaal des Berliner Museums versetzt, hörte im Geiste noch einmal den ganzen Vortrag des Professors Wallner, sah ihn die Schamanentrommel rühren.
Ganz gewiss, diese Töne hatten mit denen, wie die Neger hier sie auf ihren Trommeln hervorbrachten, gar keine Ähnlichkeit!
Das klang gerade wie so eine Schamanentrommel, auch genau derselbe eigentümliche Taktschlag!
Das Geräusch musste also in weiter Ferne sein, schien aber nach und nach näher zu kommen.
Und mit einem Male überkam den jungen Gelehrten ein ganz eigentümliches Gefühl.
Er wurde plötzlich so müde, die Augen wollten ihm zufallen, er konnte sie offen behalten, vermochte aber nicht mehr richtig zu unterscheiden, ob er wache oder schlafe.
Als er sich bewegen wollte, merkte er, dass seine Glieder wie Blei waren, er konnte sie nicht mehr rühren.
Das Merkwürdige aber war dabei, dass er deswegen so gar keine Angst oder auch nur Unruhe verspürte.
»Ich schlafe mit offenen Augen!«, sagte er sich ganz ruhig. »Was ist das nur für ein eigenartiger Zustand, den ich sonst doch noch nie gehabt habe?«
Das Trommeln und Schellenrasseln war verstummt.
Und plötzlich stand da in der Mitte des Zimmers eine Gestalt.
Es war ein junges Weib, ganz in Pelze gehüllt, nur dass der Pelzrock etwas kurz war und darunter lange Stiefel zu sehen waren. Sonst auch eine Pelzmütze, die ein hübsches, brünettes, etwas knabenhaftes Mädchengesicht einrahmte.
So stand sie regungslos mitten im Zimmer.
Wenn sich Doktor Raimund über etwas wunderte, so nur darüber, dass er sich nicht wunderte. Dass er so ganz gelassen diese hier so fremdartige Gestalt betrachten konnte.
Das kam eben daher, weil er fest überzeugt war. dass er ja dennoch schliefe, dass er nur träume, noch die Augen offen zu haben. Dass sich sonst in dem Zimmer nichts weiter geändert, hatte dabei nichts zu sagen.
Und nun begann eine Unterhaltung, wie sie eben auch im Traume ganz regelrecht vor sich gehen kann, immer mit dem Gedanken im Hintergrunde, dass man dies alles nur träume.
Jetzt trat das weibliche Wesen noch zwei Schritte näher, mit ganz regelmäßigen Bewegungen.
»Guten Tag, Herr Doktor Raimund!«, sagte eine wohllautende, etwas tiefe Frauenstimme.
»Guten Tag, Fräulein!«, lächelte der junge Gelehrte im Traume.
»Sie denken wohl, Sie träumen nur?«
»O nein, ich träume nicht!«, amüsierte sich Richard über sich selbst.
»Für wen halten Sie mich denn?«
»Für eine Lappländerin, für eine Schamanin.
Richard sprach im Traume seine ehrliche Überzeugung aus.
So hübsch und sogar liebreizend dieses brünette Gesicht auch war, lag doch etwas Mongolisches darin, die Backenknochen traten ein wenig hervor und die Nase war ziemlich breit, was aber, es sei nochmals betont, dieses Gesicht durchaus nicht entstellte, es gehörte mit zu dem fremdartigen Liebreiz.
So konnte man sie recht wohl für eine Lappländerin oder gar für ein Eskimoweib halten. Die Lappländer werden von den Ethnografen zwar nicht zu den Mongolen gezählt, aber ... wenn sich die Herren da nur nicht irren! Die Lappländer haben doch etwas sehr Mongolenhaftes an sich.
Und nun hatte der junge Gelehrte vor dem Einschlafen an Lappmarken und Schamanen gedacht — was Wunder, dass ihm jetzt ein lappländischer Schamane im Traume erschien, nur hatte der phantasiereiche Morpheus daraus eine weibliche Ausgabe gemacht, eine recht hübsche dazu.
So sagte sich Richard im Traume mit ganz klarer Vernunft, was alles im Traume ja recht wohl möglich ist.
»Eine Schamanin bin ich allerdings, aber keine Lappländerin.«
»Nicht? Eine Eskimodame?«
»Sehe ich denn wie ein Eskimo oder Eskima aus?«, wurde zurückgelächelt.
»Ja.«
»Ich danke für das Kompliment!«, erklang es nach wie vor ganz unbeleidigt, nur amüsiert. »Nein, ich bin eine Russin.«
»Na, dann jedenfalls dort oben von der Tschuktschengrenze her, wo Wolf und Fuchs sich Gute Nacht sagen.«
»Das allerdings. Außerdem aber bin ich kein Fräulein.«
»Nicht? Schade.«
»Weshalb schade?«
»Sonst würde ich Ihnen eine Liebeserklärung machen.«
»Gefalle ich Ihnen so?«, wurde nach wie vor gelächelt.
»Ja, Sie sind ein ganz reizender Käfer, trotz Ihrer platten Stulpnase.«
»Und Sie sind ein Flegel.«
»Oho!«
»Dass Sie mir so ganz dreist ins Gesicht sagen, ich hätte eine platte Stulpnase.«
»Die haben Sie, und im Traume ist so etwas zu sagen erlaubt.«
»Ich denke, Sie sind überzeugt, nicht nur zu träumen.«
»O nein, ich träume nicht.«
»Soeben haben Sie es aber doch gesagt.«
»Dann habe ich mir widersprochen. Oder meinetwegen ja — das ist doch alles nur ein Traum.«
»Gut, nehmen Sie es an. Also ich gefalle Ihnen.«
»Ja, ja, ja, wenn Sie es gern dreimal hören wollen.«
»Weshalb machen Sie mir denn da keine Liebeserklärung?«
»Weil Sie mir mitgeteilt haben, dass Sie kein Fräulein sind.«
»Was könnte ich denn sonst sein?«
»Nun, wenn man in Ihren Jahren kein Fräulein mehr ist, so ist man doch wohl eine verheiratete Frau.«
»Und was hält Sie denn davon ab, mir dann eine Liebeserklärung zu machen?«
,Weil sich das nicht schickt.«
»Was schickt sich nicht?«
»Einer verheirateten Frau eine Liebeserklärung zu machen.«
»Weshalb schickt sich das nicht?«
»Weil es unmoralisch ist.«
»Aber doch nicht im Traum, da ist doch alles erlaubt, das sagten Sie doch vorhin selbst.«
»Aber eine Unmoral ist auch nicht im Traume erlaubt. Kennen Sie Zeno?«
»War das nicht so ein alter Philosoph?«
»Ja, der Begründer der stoischen Philosophie, ums Jahr 300 vor Christi Geburt.«
»Was ist mit dem?«
»Wissen Sie nicht, wie der sich einmal geäußert hat, woran man die echte Moral erkennt?«
»Nein.«
»Nur der Mensch ist wahrhaft moralisch zu nennen, der auch im Traume nicht sündigt.«
»Und so hoch ist auch Ihre Moral entwickelt?«
»Wie Sie doch sehen.«
»Alle Wetter noch einmal, meine Hochachtung!«
»Nein, Madame, überschätzen Sie mich nicht, ein gar so großer Tugendbold bin ich gar nicht — aber wenn Sie schon verheiratet sind, dann mache ich Ihnen keine Liebeserklärung, auch nicht im Traume, wenigstens nicht in diesem Traume, ich habe eben keine Lust dazu, und damit basta.«
»Aber Sie können es ganz ruhig, ohne Ihre Moral zu beschädigen.«
»Nee, bleiben Sie nur bei Ihrem Gatten.«
»Aber ich habe ja gar keinen.«
»Nicht?! Na, was flunkern Sie denn da so?«
»Ich bin Witwe.«
»Ach sooo!«
»Also nun mal los mit Ihrer Liebeserklärung.«
»Nee, is nich. Ich bin schon vergeben, bin verlobt. Wer sind Sie denn nun eigentlich?«
»Haben Sie von dem Lord Lionel gehört?«
»Nein, ist mir unbekannt.«
»Ich bin die Witwe — Lady Lilly Lionel.«
»Sehr angenehm.«
»Also Sie haben wirklich noch gar nichts von der verrückten Lady Lionel gehört?«
»Verrückt ist sehr gut!«, lachte Richard. »Ich meine, dass Sie das selbst gestehen. Selbsterkenntnis ist der Anfang aller Weisheit.«
»Ich will mich jetzt aber ganz und gar nicht verrückt mit Ihnen unterhalten.«
»Sondern?«
»Ganz vernünftig. Bitte wollen Sie mir einige Fragen beantworten.«
»Sehr gern. So weit es mir möglich ist.«
»Ich kenne zwar schon die Verhältnisse, es könnten aber doch Irrtümer unterlaufen sein, und darüber muss ich mich vergewissern.«
»Fragen Sie nur los.«
»Seit wann befinden Sie sich hier in Gefangenschaft der Buren?«
»Seit genau sieben Wochen.«
Der junge Gelehrte war fest überzeugt, dass er dies alles nur träume, war sich aber ebenso auch bewusst, alles ganz sachgemäß und richtig zu beantworten. Nicht etwa, dass ihm der Traumgott da Possen spielte.
»Was macht die Stephanie?«
So hieß das Expeditionsschiff, nach der Tochter des belgischen Königs so getauft.
»Das Expeditionsschiff? Das gondelt draußen auf dem See herum.«
»Was macht es aber?«
»Die Herren vermessen die Ufer und die Inseln.«
»Bleibt es denn von den Makallis unbelästigt?«
»Ja. Im Anfange nur hat es viele Kämpfe gegeben, die Makallis haben die Besatzung oftmals angegriffen, haben sich aber dabei so blutige Köpfe geholt, dass sie die Feindseligkeiten lieber sein lassen.«
»So kümmern sich die Makallis überhaupt gar nicht mehr um das Schiff und die fremden Weißen?«
»Ach, geehrte Mylady«, seufzte Richard aus tiefstem Herzen, »Sie berühren da ein Thema, das mich zur Verzweiflung bringt, so oft ich daran denke, und ich dachte gerade vorhin daran, ehe ich einschlief — wenn ich überhaupt sonst noch an etwas anderes denke.«
»Bitte, berichten Sie mir, ich muss gerade hierüber Gewissheit haben.«
»Nun wohl. Der Expedition geht es eigentlich ganz gut. Sie hat in den Kämpfen mit den Eingeborenen nur zwei Tote gehabt, und erfreulicherweise — so muss ich mich leider ausdrücken — sind dies nur Schwarze gewesen. Denn die weißen Mitglieder, die mit uns Antwerpen verlassen haben, waren uns doch etwas mehr ans Herz gewachsen, wenn es auch nur gewöhnliche Matrosen und Heizer sind.
Von dieser ursprünglichen weißen Besatzung hat nur ein Matrose durch einen Pfeilschuss den linken Arm verloren, er musste ihm wegen nachträglicher Blutvergiftung — sonst gebrauchen diese schwarzen Halunken hier glücklicherweise kein Gift — amputiert werden, eine andere Verwundung von ernstlicher Bedeutung ist nicht vorgekommen.
Die Expedition ist mit ihren Repetiergewehren den Makallis, und wenn diese auch zu Tausenden angerückt kämen, weit überlegen, der Raddampfer ist eine schwimmende Festung, und in eine Falle lassen sie sich nicht locken, am wenigsten Doktor Robertson, dieser australische Fuchs, dessen Schlauheit man ihm gar nicht anmerkt.
Also die Expedition hätte keinen Grund zur Klage. Auf den Inseln können sie sich mit Fleisch im Überfluss versehen, anderen Proviant haben sie noch genug, die Bunker sind voll Holz.
Wenn sie den See genügend vermessen haben, was gar nicht mehr lange währen wird, treten sie die Rückfahrt nach dem Kongostrom, nach der Heimat an.
Und dass dies in Bälde geschieht, das ist es eben, was mich immer mehr zur trostlosen Verzweiflung bringt.
Nicht, weil sie mich für tot halten, weil sie mich hier hilflos zurücklassen werden.
Sondern weil sie selbst in ihren Tod rennen werden. Denn bei der Herfahrt durch den Urwaldsumpf wurden überall rote Bojen ausgelegt.
Ich will Ihnen nicht schildern, was für eine furchtbare Arbeit wir damit gehabt haben, den Weg durch dieses Sumpflabyrinth bis hierher zu finden.
Also dieser Wasserweg ist für die Rückfahrt durch rote Bojen gesichert.
So meinen die Expeditionsmitglieder.
Und wenn sie die ersten Bojen kontrollieren, selbst auf einer meilenlangen Strecke, so werden sie auch nichts weiter merken.
Ich aber weiß, dass diese Bojen von den Makalli verlegt worden sind!
Verstehen Sie, Mylady, was das für die Expedition zu bedeuten hat?«
»Ja, ich verstehe!«, entgegnete die bepelzte Traumfigur. »Das Schiff folgt also den ausgesteckten Bojen, und wenn gemerkt wird, dass diese verlegt worden sind, dann ist es schon zu spät, dann haben sie sich in dem Labyrinth verrannt.«
»So ist es, so ist es!«
»Dann können sie, ehe sie dem Hungertode preisgegeben sind, die Bojen doch wieder zurückverfolgen, kommen wieder hierher in den See, wo sie sich doch wenigstens Lebensunterhalt verschaffen können.«
»Meinen Sie denn, dass die Makallis nicht auch so schlau wären?! Gesetzt überhaupt den Fall, diese Bojen werden nicht bei der Rückfahrt hinter dem Schiff wieder eingezogen — was damals, als ich noch mit zur Besatzung gehörte, noch nicht abgemacht worden war — dann tun das eben diese schwarzen Schufte, die entfernen die roten Bojen hinter dem Schiffe oder verlegen sie, dass der Dampfer bei einer Rückfahrt den See nicht wieder erreicht, sondern sich rettungslos verrennt!«
»Woher ist Ihnen dieser Plan der Makallis bekannt?«
»Mijnheer Kuiper hat ihn mir offenbart, der renommiert mir jeden Tag die Ohren voll, wie nun bald das Schicksal der Expedition besiegelt sei.«
»Mijnheer Kuiper — so heißt der Farmer, der Sie hier gefangen hält?«
»Ja.«
»Können Sie Ihren Kameraden keine Warnung zukommen lassen?«
»Ganz ausgeschlossen. Ach, was ich schon probiert oder doch für Pläne ausgesponnen habe! Alles ganz zwecklos, ganz zwecklos! Und das ist es ja eben, was mich so zur Verzweiflung bringt! Weil der Termin immer näher rückt, da die ganze Expedition in ihr Verderben rennen wird. Ich weiß es, und ich muss ruhig zusehen, kann nicht warnen.«
»Es gibt doch Makallis, welche den Weg durch den Urwaldsumpf nach dem MombaSee kennen.«
»Selbstversländlich. Sonst könnten sie doch auch die Bojen nicht verlegen.«
»Können Sie nicht das Vertrauen solch eines Kundigen gewinnen?«
»Ganz ausgeschlossen. Jeder Plan, den ich deshalb fasste, musste als unbrauchbar wieder verworfen werden. Zumal da es hier auf dem Hofe gar keine solche Eingeweihte gibt. Da müsste ich mich draußen an die schwarzen Krieger oder Jäger oder vielleicht Hirten wenden, und das ist eben unmöglich. Mit denen komme ich gar nicht in Berührung, kann also auch nicht ihr Vertrauen gewinnen.«
»Und Sibylle?«
Natürlich wunderte sich Richard nicht im Mindesten, dass die Schamanin auch die kannte.
Er war und blieb der festen Überzeugung, dass er dies alles nur träume, so regelrecht auch alles dabei zuging.
»Von der gilt ganz genau dasselbe wie von mir. Ganz genau, da brauchen Sie also gar nicht weiter zu fragen.«
»Ich muss es dennoch tun, es ist für mich von Wichtigkeit. Wäre denn Sibylle bereit, Ihnen zu helfen? Oder wenigstens die Expedition zu warnen?«
»Ja, die würde es tun.«
»Aber sie kann nicht?«
»Nein, die ist hier im Grunde genommen genau so gefangen wie ich.«
»Hat also auch keine Möglichkeit, sich mit so einem des Weges kundigen Makalli in Verbindung zu setzen?«
»Nein, das kann sie nicht, ganz ausgeschlossen. Dieser auf einem hohen Plateau gelegene Burenhof bedeutet für uns eine weltverlassene Insel im Weltmeer.«
»Wie stehen Sie sich eigentlich mit dem Bärenweibe — mit der Sibylle, wollte ich sagen.«
»O, ganz ausgezeichnet.«
»Sie lieben sie?«
»Wie ein unglückliches Kind.«
»Und Sibylle?«
»Sie betet mich an.«
»Ich kenne nämlich ihr früheres Leben — ist sie nicht mehr so liebestoll?«
»Keine Spur mehr davon.«
»Aber sie liebt Sie.«
»Sie betet mich an. Mehr kann ich nicht sagen. Ihr größtes Glück ist, wenn sie mir gegenübersitzen und mich still anblicken kann. Dann ist sie vor Seligkeit geradezu verklärt.«
»Dann hat sie sich sehr verändert.«
»Das hat sie.«
»Wie ist das gekommen?«
»Sie hat sich eben ausgeliebt. So wie sich auch ein Mann austoben kann. Oder, will ich lieber sagen, schon ihre letzte Liebe, zu Erasmus Kuiper, einem anderen Sohne dieses Buren, der gestorben ist, scheint eine ganz echte gewesen zu sein, und den letzten Rest hat ihr gewissermaßen nun meine Persönlichkeit gegeben.«
»Es ist aber dennoch eine echt menschliche Liebe, die sie zu Ihnen hat.«
»Ja, das ist sie. Aber sie wartet geduldig, bis auch in mir diese Liebe zu ihr erwacht, worauf sie nun freilich lange warten kann. Aber immerhin, sie ist schon wahrhaft glücklich, dass sie mich inzwischen anbeten darf, und das andere macht eben die Hoffnung. Schade ist, dass der alte Kuiper hiermit nicht einverstanden ist.«
»Inwiefern nicht?«
»Der denkt dem Bärenweibe den größten Gefallen zu tun, wenn ich wirklich in Liebe zu ihr entflammt werde, und um das nun zu erreichen, hat er ein ganz teuflisches Mittel angewendet.«
»Was für ein Mittel?«
»Wissen Sie, dass ich verlobt bin — in Hamburg eine Braut habe?«
»Ja, Agnes Nielsen heißt sie.«
Richard wunderte sich noch immer nicht, dass dies alles diese Russin wusste, er glaubte fest, dass er dies alles nur träume, fuhr aber dabei immer ruhig fort.
»Wissen Sie auch, dass Kuipers noch lebender Sohn, der Michel, nach Hamburg gereist ist, um Waren einzukaufen?«
»Das ist mir ebenfalls bekannt.«
»Der alte Kuiper bot mir einmal eine Wette an. In seiner brutalen Art und Weise. Natürlich hatte die Wette eine Einleitung. Er fragte mich, gleich im Anfange war's, wann oder zu welchen Bedingungen ich die Sibylle als meine regelrechte Geliebte anerkennen wolle. Niemals und unter keinen Bedingungen. Wenn ich nun erführe, dass mir meine Braut untreu geworden wäre? Das sei ganz ausgeschlossen. Wenn meine Braut erführe, ich sei ihr untreu geworden? Das würde sie niemals glauben. Und wenn ich tot sei? Auf diese Frage ließ ich mich gar nicht ein.
Da also bot mir der alte Bauer eine Wette an. Es war gerade die Zeit, dass Michel seine Reise nach Europa antreten wollte.
Ich sollte einen Brief schreiben, in dem ich meiner Braut gestände, ich sei hier gefangen und in Liebe zu einem anderen Weibe gefallen, das sich meiner in der Gefangenschaft annehme. Sonst sei ich dem Tode ausgeliefert oder hätte doch das härteste Los zu ertragen. Sie, meine Braut, solle mich doch freigeben. Oder auf mich verzichten müsse sie ja überhaupt.
Diesen Brief sollte Michel mitnehmen und meiner Braut geben.
Wenn Agnes nun schriebe, sie gebe mich frei, sie verzichte auf mich, dann hätte ich die Wette verspielt, dann müsse ich das Bärenweib als meine regelrechte Gattin anerkennen.
Natürlich wies ich diesen Vorschlag mit Entrüstung zurück. So mit dem Herzen des armen Mädchens zu spielen, weiter fehlte doch nichts!
Der Alte ging.
Als er wiederkam, zeigte er mir ein Schreiben, ohne es aus der Hand zu lassen.
Es war der gewünschte Brief. Ich sei hier gefangen, mein Herz habe sich in Liebe einem schönen Burenmädchen zugewendet. Ob mich Agnes freigebe? Ich beschwöre sie darum.
Dieser Brief war wie von meiner Hand geschrieben. Eine tadellose Fälschung! Monsieur Lecoque, dieser verpfuschte Schulmeister und ausgemachte Schurke, hatte meine Handschrift nachgemacht. Der Inhalt meiner Brieftasche, in dem sich auch einige Schriftstücke, von mir selbst geschrieben, befanden, hatte ihm die Unterlage dazu gegeben.
O, Mylady, wie ich das sah und las, wie mir da zumute ward ...«
Richard hob die Hände, um sich einmal den Kopf zu reiben.
Dass er sich jetzt bewegen konnte, fiel ihm dabei nicht auf.
»Der Brief ist abgegangen?«, fragte die Traumgestalt.
»Ja. Michel, ein ebenso großer Schurke wie sein Vater, hat ihn mitgenommen, und ich zweifle gar nicht daran, dass er ihn meiner Braut wirklich abgegeben hat.«
»Und Sie glauben doch nicht etwa, Ihre Braut wird Sie daraufhin freigeben?«
Da lachte der junge Mann spöttisch auf.
»O nein, o nein! Die Sache liegt ja ganz, ganz anders! Agnes wird sofort wissen, dass hier nur eine Fälschung vorliegen kann. Dass ich diesen Brief niemals selbst geschrieben haben kann. Und wenn die Züge auch noch so getreu nachgeahmt sind.«
»Weshalb wird sie das sofort wissen?«
»Sie fragen noch? Na, weil sie da eben zu gut meinen Charakter kennt! Wenn wir uns auch nicht länger als sechs Wochen gekannt haben.«
»Ja, was regt Sie dann eigentlich dabei so auf?«
»Na, der Schmerz, den man dem armen Mädchen überhaupt bereitet! Denn wer weiß, was dieser Schuft sonst noch alles dazulügt!«
So hatte Doktor Raimund gesprochen, zwar nur im Traume, aber es entsprach doch den Tatsachen.
Nur dass die Sache dann doch noch anders arrangiert worden war, wovon er aber eben nichts wusste.
Michel Vandammen hatte nicht diesen gefälschten Brief abgegeben, sondern einen anderen, den Richard kurz vor seinem Tode geschrieben haben sollte.
Also von der Liebe zu einer anderen, und dass ihn Agnes freigeben solle, überhaupt kein Wort.
Man hatte dieses Arrangement für besser gefunden, dem Gefangenen aber nichts davon gesagt.
»Also dies ist der geringste Kummer, der mich drückt«, fuhr der junge Mann fort, »weil mich meine Agnes ganz genau kennt. Dass ich ihr niemals, niemals untreu werden könnte. Sondern es ist nur das Schicksal meiner Kameraden, das mich ...«
Der Sprecher brach ab.
Denn plötzlich zerfloss die Figur des jungen Weibes in Nebel.
Also es war doch nur eine Traumgestalt gewesen, nun wusste er es bestimmt, falls er noch daran gezweifelt hatte.
Dafür wurde Richard plötzlich derb an der Schulter gepackt und gerüttelt.
»He, schläfst Du denn mit offenen Augen?!«
Tatsächlich, Richard merkte nichts davon, dass er jetzt die Augen aufgeschlagen hatte, überhaupt nichts von einem Übergange aus dem Zustande des Schlafens in den des Wachens.
Plötzlich aber sah er den alten Kuiper vor sich stehen.
»Habe ich denn geschlafen?«
»Na und wie! Ich habe gebrüllt, Du hörtest nichts, ich musste Dich erst rütteln.«
»Und die Augen hatte ich dabei offen?«
»Sperrangelweit offen.«
»Habe ich denn gesprochen?«
»Kein Sterbenswörtchen.«
Das war dem jungen Manne sehr lieb zu hören.
Nicht lieb zu sehen war ihm aber wieder einmal der schadenfrohe Ausdruck in dem ziegelroten Gesicht des alten Buren, und auch dass er ein weißes Papier vom Briefformat in der Hand hatte, machte gleich einen höchst unangenehmen Eindruck auf ihn, denn das hing offenbar mit dieser Schadenfreude zusammen.
»Michel ist zurückgekommen.«
»Ach was!«, stieß Richard überrascht hervor, und zwar mit freudiger Überraschung, weil er im Augenblick diese unangenehme Empfindung vergaß und weil er hoffte, aus Hamburg nur Gutes zu vernehmen.
»Er hat mit Ihrer Braut gesprochen, hat fast zwei Wochen im Hause Ihrer Braut verkehrt.«
»Hat er?! Was macht Agnes?«
»Der Kapitän Nielsen ist tot.«
Richard erstarrte vor Schreck.
»Tot?!«
»Ein Herzschlag.«
»Na, dann war's wenigstens ein sanfter Tod.«
»Aber meine Wette habe ich gewonnen.«
»Was für eine Wette?«
»Hier lies selber. Auch der Ring ist dabei.«
Mit unsicherer Hand nahm Richard den dargereichten Brief, als er ihn auseinander faltete, fiel ihm ein goldener Ring entgegen, den er auffing, ein Blick in die Innenseite, und er erkannte an der Gravierung seinen eigenen Verlobungsring, den er einst seiner Braut an den Finger gesteckt hatte, und dann erkannte er das besondere Briefformat, und dann las er die Zeilen von Agnes' Hand ...
Wir kennen ihren Inhalt.
Der junge Mann hatte in der siebenwöchigen Gefangenschaft, die ihn doch meist ins Haus bannte, seine erste tiefgebräunte Farbe verloren.
Doch gesund sah er noch immer aus, er konnte sich ja genügend draußen im Hofe und auch in einem Garten ergehen.
Doch jetzt verlor er auch diese Farbe, Leichenblässe überzog sein Gesicht.
Aber nicht, dass nun irgend ein Gefühlsausbruch kam. Als er von dem Briefe wieder aufblickte, war sein Auge ganz kalt, kalt erklang seine Stimme:
»Dieser Brief ist nicht von meiner Braut geschrieben, er ist gefälscht.«
»Sooo, gefälscht! Jetzt willst Du mir so kommen! Damit Du Dich um die Wette herumdrücken kannst. Aber daraus wird nichts, mein Junge, Du hast eben verspielt ...«
»Ungeheuer!«
Da war es doch hervorgebrochen.
Plötzlich wurde das Gesicht des jungen Mannes von einer dunklen Blutwelle übergossen, und mit jenem Rufe sprang er auf, stürzte sich auf den Mann, um ihn zu züchtigen für alles das, was er ihm zugefügt hatte.
Er hätte es nicht tun sollen.
Wohl war Richard ein kräftiger Mann, der vor keinem Gegner zurückwich, aber gegen diesen riesenhaften, herkulisch gebauten Buren war er doch nur ein Kind zu nennen.
Ein einziger Griff, und Richard wurde mit Wucht zurück auf das Sofa geschleudert. Ohne diese Polsterung hätten ihm alle Knochen gebrochen sein können.
»Hund verdammter! Du wagst es, mich anzugreifen?! Nun aber ist's genug, nun ist's genug! Jetzt habe ich dieses Getue mit Sibylle endlich satt! Heute Abend noch feiert Ihr beide Hochzeit, und wenn Du Dich irgendwie sträuben solltest, mein Junge, dann ...«
Er vollendete den Satz nicht, sondern löste die Rhinozerospeitsche vom Gürtel und ließ sie pfeifend durch die Luft sausen.
Dann schmetterte hinter ihm die nach dem Hofe führende Türe zu.
Richard saß auf dem Sofa wie zuvor.
Nur dass er jetzt am liebsten gar nichts mehr denken mochte.
Denn er wollte sich nicht ausmalen, was für seelische Schmerzen man dem armen Mädchen bereitet hatte, so oder so, mochte auch Agnes nicht an die Echtheit jenes Schreibens glauben.
Mit einem Male vernahm er wieder das eigentümliche Trommeln und das Schellengerassel, wieder überkam ihn so eine seltsame Müdigkeit, und ehe er es sich versah, stand wiederum die Schamanin im Pelzkostüm vor ihm.
»Der Brief ist gefälscht!«, sagte die Traumgestalt.
»Natürlich ist er gefälscht.«
»Was regen Sie sich da so auf?
»Ich rege mich gar nicht auf.«
»Aber Sie nehmen es sich zu Herzen. Und nun will ich Ihnen gleich eines verkünden, damit Sie später nicht vor neuen Verwicklungen stehen, die Sie nicht lösen können: Dieser Brief ist dennoch von Ihrer Braut geschrieben.«
»Was?!«
»Fräulein Agnes Nielsen hat ihn selbst geschrieben.«
»Das ist nicht wahr! Jetzt lügst Du, Traumgestalt — hebe Dich von mir!«
»Im hypnotischen Zustand hat sie ihn geschrieben.«
Da erschrak Richard. Er sah diese Möglichkeit sofort ein, an die er aber noch gar nicht gedacht hatte.
»Michel Vandammen hat sie ohne ihr Wollen und Wissen hypnotisiert und ihr diesen Bries diktiert, ihr ebenso den Verlobungsring abgenommen. Dann ist sie erinnerungslos erwacht. Zu Ihrer Beruhigung will ich Ihnen auch gleich mitteilen, dass der Bösewicht sonst nichts weiter erreichte, er wurde gestört, und dann ist es ihm nicht wieder gelungen, Agnes noch einmal in hypnotischen Schlaf zu bringen, obgleich er es mehrmals versucht hat. Er selbst hat sich durch eine Ungeschicklichkeit diese Möglichkeit genommen, wie auch die Eingabe eines posthypnotischen Befehls ihm nicht gelungen ist.«
»Dann ist es gut, dann ist es gut!«, murmelte Richard, der erst hier richtigen Einblick in das Wesen der Hypnotik getan und da ja allerdings böse Erfahrungen gemacht hatte, was in diesem Zustande alles möglich ist.
»Wenn ich dies alles nur nicht träumte!«, setzte er dann zweifelnd hinzu.
»Sie träumen nicht.«
»O doch.«
»Weshalb glauben Sie das?«
»Wie kommen Sie denn in diesem Pelzkostüm hierher nach Afrika, wie können Sie mir hier in diesem Burenhause überhaupt erscheinen?«
»Ja, in Wirklichkeit stehe ich allerdings nicht vor Ihnen. Wiesen Sie, was ein Astralkörper ist?«
»So ungefähr.«
»Ich bin eine Schamanin, ich verstehe magische Künste, ich kann mich mit Ihnen in Verbindung setzen, welcher Zwischenraum uns auch trennt. Lassen Sie sich diese Erklärung vorläufig genügen, Sie werden später mehr erfahren. Jetzt drängt die Zeit. Ihre Braut ist hier.«
»Was, Agnes wäre hier?!«
»Und Frau Martha Burg. Die kennen Sie doch?«
»Gewiss! Die wäre auch hier?!«
»Beide haben den Michel Vandammen begleitet, um Ihr Grab zu besuchen. Denn dieser Michel hat von Ihrem Tode erzählt, Sie seien von einem angeschossenen Büffel zerstampft worden.
Doch auch hiervon erfahren Sie später ausführlich.
Wo ist Sibylle?«
»Sie hat vorhin eine Vorstellung geben müssen und schläft wie gewöhnlich danach.«
»Wollen Sie sie mitnehmen?«
»Wohin?«
»An Bord des Dampfers, auf dem sich Ihre Braut und Frau Burg befinden.«
»Ja wo ist denn dieser Dampfer?!«
»Er schwimmt hier auf dem See, liegt schon unten an dem Burenhause.«
»Es ist nicht möglich!«
»Glauben Sie es nur. Wie wäre denn sonst Michel Vandammen schon hier?«
»Sie wollen mich befreien?«
»Ja, und wollen Sie Sibylle mitnehmen?«
Ohne sich zunächst über diese Befreiung Rechenschaft zu geben, zögerte Ricard etwas.
»Ich rate Ihnen«, fuhr die Traumgestalt fort, »das Bärenweib hier ihrem Schicksal zu überlassen. Denn ihr Tod ist sowieso beschlossen.«
»Ihr Tod?«
»Ich kann in diesem Zustande im Buche des Schicksals lesen — die Stunden dieses unglücklichen Geschöpfes sind gezählt, so oder so, und seinem Schicksal entgeht niemand.«
»Nein, ich möchte sie auch nicht gern mitnehmen — aber Sie wollen mich wirklich befreien? Ach, das alles ist ja nur ein Traum!«
»Sie werden sofort eines anderen überzeugt werden. Passen Sie auf, was ich Ihnen sage, jetzt kommt es auf die Minuten an!
Ich befinde mich in Wirklichkeit mit einigen Gefährten in einem Luftballon, wir haben ganz Afrika überquert.
Jetzt treiben wir gerade diesem Plateau zu.
Es wird uns möglich sein, direkt über den Hof wegzutreiben.
Sofort, wenn Sie jetzt erwachen, begeben Sie sich auf den Hof hinaus.
Sie werden den Ballon sehen, wie er sich schnell senkt.
Wir werfen ein Seil aus, an dem Sie sich festhalten, klettern etwas hinauf, es sind Knoten drin.
Dann steigen wir wieder schnell empor und ...«
Wieder verrann die Traumgestalt in Nebel, wieder wurde der Schläfer rau an der Schulter gerüttelt.
»Auf, auf, was ist das für ein Höllenspuk dort oben in der Luft? Kannst Du eine Erklärung dafür geben?«
Richard sah den alten Kuiper vor sich stehen, in dem roten Gericht alle Zeichen der größten Bestürzung.
»Was für ein Höllenspuk?«
»Eine große Kugel, die hoch oben in der Luft schwebt!«
Hoch horchte der junge Mann auf.
»Wo?«
»Komm mit heraus, da siehst Du sie!«
Richard eilte ihm nach auf den Hof.
Alle darauf befindlichen Neger waren in größter Aufregung, wenn nicht in Todesangst, und nicht anders war es unten in der ganzen Umgebung.
Noch niemand hatte hier einen Luftballon gesehen, noch nichts davon gehört, auch der alte Bure nicht, er konnte sich gar keine Vorstellung davon machen.
So sahen sie dort oben hoch in der Luft eine Kugel schweben, deren kolossale Größe sie ungefähr taxieren konnten, an der unten noch ein kleinerer, aber immerhin ebenfalls enormer Gegenstand hing, für sie ein ganzes Haus — und diese Kugel kam schnell herab, direkt auf den Burenhof zu, so sahen sie die Größe immer mehr zunehmen — Grund genug, dass die meisten sich vor Angst verkrochen, wenn sie dazu noch fähig waren, sich lieber nicht gleich platt auf die Erde warfen, den Kopf wie der Vogel Strauß in den Sand drückend, nur um die Gefahr nicht zu sehen.
Vielleicht ein riesenhafter Vogel von kugelförmiger Gestalt, der ganze Häuser in seinen Krallen entführte.
Also auch der alte Kuiper hatte noch keine Ahnung von einem Luftballon, auch er war über diesen Anblick außer sich, aber er fürchtete sich doch nicht, er beobachtete, hatte den Gefangenen gerufen, um sich von diesem das Phänomen möglicherweise erklären zu lassen.
Schnell senkte sich der Ballon herab. Hier unten war vollkommene Windstille, dort oben aber musste eine schwache Windströmung aus Osten herrschen, von dort wurde der Ballon hergetrieben.
»Das ist ein Luftballon!«, erklärte Richard, seiner furchtbaren Erregung kaum Meister werdend.
»Ein Luftballon, was ist das?«
Richard gab eine Erklärung, die der Bure wohl nur zum kleinsten Teil fasste.
Es war überhaupt gar nicht viel Zeit dazu, die Sache wurde immer kritischer.
Der Ballon schien geradezu zu stürzen, so schnell senkte er sich herab, direkt auf den Burenhof zu.
Jetzt war die Gondel vielleicht noch 300 Meter über dem Boden, eine Minute später schon konnte man die Entfernung auf kaum noch 100 Meter taxieren, und da darf man wohl von einem »Sturz« und einer kritischen Lage der Zuschauer sprechen, die sich direkt darunter befanden.
So war denn auch Richard etwas seitwärts geeilt, ihm nach der alte Kuiper, um nicht totgedrückt zu werden. Denn danach hatte es ganz ausgesehen.
Jetzt aber, kaum noch zwanzig Meter über dem Boden, das ist die Höhe eines vierstöckigen Hauses, blieb der Ballon stehen, von der Gondel herab kam schnell ein Seil, bis es den Boden erreichte, und es wurde immer noch bedeutend nachgesteckt.
Richard stürzte darauf zu und packte das Seil, das mit reichlichen Knoten versehen war.
Und sofort verlor er den Boden unter den Füßen, sofort ging der Ballon wieder hoch, trotz dieses neuen Gewichtes!
»Hund, Du willst entfliehen!«
So schrie der alte Kuiper, auch er stürzte herbei, auch er fasste das Seil.
Entweder war es eine so tollkühne Natur, die vor nichts zurückschreckte, oder der alte Mann war in seiner Kopflosigkeit ganz von Sinnen — kurz, er glaubte, den Ballon durch seine Riesenkraft festhalten zu können.
Ungefähr ebenso, wie die nordamerikanischen Indianer den ersten Lokomotiven, die ihr Gebiet durchkreuzten, mit geschwungenem Tomahawk entgegentraten und natürlich zermalmt wurden.
»Haltet ihn, haltet ihn fest!«, schrie der alte Mann dazu, als auch er schon empor gerissen wurde.
Und richtig, da kam noch ein anderer Mann angestürmt.
Es war sein Sohn Michel. Auch er kannte keinen Luftballon, glaubte ihn doch noch festhalten zu können, er sah seinen Vater schon in der Luft schweben und wollte ihn nicht im Stich lassen — kurz, auch er griff nach dem Seile.
Da aber befand sich dessen Ende schon in beträchtlicher Höhe über dem Boden, Michel konnte es nur noch im Sprunge erhaschen, und er tat es, erreichte es aber nur noch mit einer Hand, mit der rechten, oder diese hatte er beim Sprunge eben nur ausgestreckt gehabt.
Einen Augenblick schien es, als wolle sich der Ballon wieder senken, aber die ihm einmal gegebene Auftriebskraft war doch zu groß, schnell stieg er wieder, schneller und immer schneller.
An dem Seile hingen jetzt also drei Männer, und der unterste, Michel, hatte das letzte Ende nur mit der einen Hand gefasst.
Wohl machte er die verzweifeltsten Anstrengungen. auch noch die linke Hand daran zu bringen, aber das ist gar nicht so einfach, wie man vielleicht denken mag, wenn man so etwas noch nicht probiert hat, das kann nur ein regelrechter Turner, die Körperkraft allein nützt da gar nichts.
Kurz, es gelang ihm nicht, auch noch mit der anderen Hand das Seilende zu fassen.
Und nun sah es ganz merkwürdig aus, wie er sich in der Luft wand und krümmte, um auch die linke Hand in die Höhe der rechten zu bringen, wozu doch erst einmal die Schulter hochgeschnellt werden muss, und dadurch entstehen ganz von selbst windende Bewegungen.
Nun kam noch dazu, dass er noch immer so einen Schifferanzug mit hohen Stiefeln trug, auf dem Kopfe den Südwester.
Dieser Schiffer, ein echter fliegender Holländer, wie der sich in der Luft wand und krümmte, immer höher gerissen wurde — ein ganz, ganz merkwürdiger Anblick, der sich gar nicht weiter beschreiben lässt.
Und da plötzlich stürzte er herab!
Wohl nicht, dass er sich nicht hätte mehr halten können, sondern wahrscheinlich hatte er mit Absicht losgelassen.
Sicher in dem Glauben, dass er sich noch ganz dicht über dem Boden befände, nicht wissend, dass er schon mehr als 100 Meter hoch empor gerissen worden war, durch keinen Blick nach unten sich erst davon überzeugend.
Aus dieser fürchterlichen Höhe sauste er herab, sich dabei drehend, dass sein Körper in eine horizontale Lage kam.
Unten auf dem Hofe stand Sibylle.
Sie war nachträglich aus dem Hause gelaufen gekommen, durch das allgemeine Schreien aufmerksam gemacht.
Aufrecht saß das Bärenweibchen da, nach oben blickend.
Sie hatte natürlich schon früher einen Luftballon gesehen, jetzt aber wusste sie doch nicht, was sie von alledem denken sollte.
Und ehe sie zur Besinnung kam, war es schon geschehen.
Der Ballon befand sich noch immer direkt über dem Hofe, und da kam ein dunkles, langgestrecktes Etwas aus der Luft herabgesaust — ein dumpfer Krach — der Abgestürzte war direkt auf das Bärenweib geschmettert!
Wir fassen das Ende dieser Episode kurz zusammen.
In Boma hatte Michel Vandammen einen eigenen Raddampfer, der feil gewesen, zur weiteren Stromfahrt gekauft, seine Waren waren umgeladen worden.
Dass die abgemusterte Mannschaft des Seedampfers auf diesen kam, damit war er ohne Weiteres einverstanden gewesen.
Wenn er selbst deswegen kein Misstrauen schöpfte, so hatte auch sein bisheriges Verhalten keinen Argwohn erregt, und das traf auch für die Fahrt auf dem Kongo zu.
Von Urranga aus ging es nach dem TumbaSee, welcher Weg ja allgemein bekannt ist, und dann drang man in das Labyrinth des Urwaldsumpfes ein.
Von den ausgesteckten roten Bojen des Expeditionsdampfers war niemals etwas zu sehen, der hatte sich ja seinen eigenen Weg gesucht, Michel benutzte einen ganz anderen, der ihm eben schon bekannt war, den sich aber niemand hätte merken können.
Der LeopoldSee ist von dem TumbaSee also nur fünfundsiebzig Kilometer entfernt, in der Luftlinie, welche auch bei langsamer Fahrt, und obgleich es doch viel im Zickzack ging, bequem in zwei Tagen zurückgelegt wurde, bei nächtlicher Ruhepause.
»Morgen Mittag sind wir an seinem Grabe!«, hatte Vandammen am Abend des zweiten Tages gesagt.
Am nächsten Morgen liefen sie richtig in den LeopoldSee ein.
Wie schon erwähnt, und wie auch auf der Karte zu sehen, bereits nach Stanleys Vermessungen, hat dieser See ein ganz zerfetztes Aussehen. Überall gehen Zacken ab. Das Wort Okwahala, wie die Makallis den See nennen, soll auch so viel heißen wie »zerfetztes Wasser«.
Außerdem nun muss man bedenken, dass es eine Wasserfläche von wenigstens 10 000 Quadratkilometern ist, wozu zum Vergleiche die Angabe dient, dass das Königreich Sachsen 15 000 umfasst.
Dazu nun noch diese Zerrissenheit, allüberall Einbuchtungen von kolossalen Dimensionen, die immer wieder ganz neue Seen bilden — also es wäre der größte Zufall gewesen, wenn man den Expeditionsdampfer zu Gesicht bekommen hätte.
Übrigens zeigte sich sehr bald ein Boot mit Eingeborenen, sie wollten fliehen, Vandammen rief sie an, er wurde erkannt, einer der Neger kam an Bord.
Von diesem würde Vandammen nun schon erfahren, was er wissen wollte. Die anderen konnten sich mit dem Neger gar nicht unterhalten, der Mann kannte auch nicht die Bantusprache — oder wollte sie nicht kennen.
Nach dreistündiger Fahrt steuerte der Dampfer nach Vandammens Anweisung einer Felswand zu, die sich am Ufer jäh erhob, legte dort bei, wo sie durch eine enge Schlucht oder mehr Felsenspalte durchschnitten wurde.
»Dies ist der Weg, welcher nach jener Gegend führt, wo sich das Unglück zugetragen hat, zuerst müssen wir durch diese Schlucht. Erst aber will ich sie einmal allein untersuchen, damit sie nicht etwa von KariNegern besetzt ist, denen niemals zu trauen ist. Sie bleiben hier liegen, bis ich wiederkomme.«
So hatte Vandammen gesagt, noch etwas ausführlicher, und er war gegangen, in die Schlucht hinein, war bald verschwunden gewesen.
Die Zurückgebliebenen hatten keine Ahnung, dass diese Felswand ein Plateau begrenzte, auf dem ein wohleingerichteter Burenhof lag, zu dem Vandammen von hier aus emporstieg, um erst einmal Rücksprache mit seinem Vater zu halten.
Auch von den Herden konnten sie von hier aus nichts sehen, die unten im Tale weideten, dazu noch ziemlich bedeutender Ackerbau — die Felswand versperrte ihnen die ganze Aussicht.
Wir wollen nicht dabei verweilen, in was für Erwägungen sich die Zurückgebliebenen ergingen.
Dass sie hier irgendwie in eine Falle gelockt werden sollten, das lag ja gewissermaßen in der Luft, nach allem, was sie von diesem Manne schon wussten.
Nur Agnes war ganz ahnungslos, man hatte sie eben nicht eingeweiht.
Es war noch nicht lange Zeit vergangen, man musterte noch immer die Umgebung und besonders auch die Felswand, als man dort oben zwei menschliche Köpfe bemerkte, die aber sofort wieder verschwanden.
Doch dieser eine Blick hatte schon genügt.
»Nein, wir bleiben lieber nicht hier liegen! Dort oben sind Menschen, doch jedenfalls Neger, es waren schwarze Wollschädel — und wenn es denen einfällt, Felsblöcke auf uns herabzuwälzen — die können unser ganzes Schiff zerschmettern!«
Also die Verbindung mit dem Ufer wurde gelöst, man dampfte wieder etwas in den See hinaus.
Dadurch gewann man nun eine ganz andere Übersicht, und da wurde der Luftballon erblickt, der sich dort im Osten zeigte!
Wenn sie dicht an der Felswand gelegen hätten, so würden sie ihn nämlich nicht erblickt haben.
Das Staunen war natürlich äußerst groß.
Hier in Zentralafrika ein regelrechter Luftballon mit einer geschlossenen Gondel, die doch zweifellos mit Menschen besetzt war.
Wo war der aufgestiegen?
Zwecklose Frage.
Alle vorhandenen Fernrohre richteten sich danach, brachten aber auch keine Lösung, und an den Fenstern, welche die eigenartige Gondel besaß, waren keine Menschen zu erblicken.
Der sehr große Ballon kam langsam von Osten her getrieben, in ganz bedeutender Höhe, die man auf mindestens 2000 Meter schätzte, dann aber senkte er sich schnell herab.
Als dieses Fallen immer weiter ging, musste man annehmen, dass der Ballon landen wollte, was dann wohl in der Nähe des Ufers dort hinter jener Felswand geschehen musste.
Um den Ballon noch länger im Auge behalten zu können, ging der Dampfer noch etwas weiter in den See hinein.
Trotzdem aber konnte man immer noch nicht erkennen, dass der steile Felsen die Wand eines Plateaus begrenzte, und die Fenster dort oben hielt man nach wie vor für etwas regelmäßig gestaltete Löcher.
So glaubte man zuletzt, dass der Ballon hinter dieser Felswand niedergegangen sei.
Im Grunde genommen war dies ja auch der Fall, aber dann kam eben erst das noch sehr hohe Plateau mit dem weitläufig gebauten Burenhof.
Sollte man sich mit diesem Ballon näher befassen?
Ganz gewiss.
Dann aber musste man dort durch jene Schlucht, und das war doch etwas riskant.
Als hierüber noch beraten wurde, tauchte der Ballon über der Felswand schon wieder auf, ging in schnellem Aufstieg immer höher und — o Wunder — an dem Seile, welches aus der Gondel herabhing, durch ein sehr gutes Fernrohr eben noch erkennbar, hing ein Mann!
Das war also als erster Doktor Raimund.
Vielleicht hätte man ihn durch das Fernrohr erkennen können, aber wer dachte an den, so war es einfach irgend ein Mann, der sich an das Schleppseil klammerte und mit in die Lüfte ging — und außerdem nun wurde die Aufmerksamkeit von diesem Manne dadurch abgelenkt, dass gleich darauf ein zweiter Mann auftauchte, ebenfalls an dem Seile hängend, etwa fünf Meter unter dem ersten.
Und um alle guten Dinge voll zu machen, kam jetzt auch noch der dritte Mann, der an dem Seile hing, und der nun freilich wurde durch das Fernrohr und auch schon mit bloßen Augen sofort erkannt.
»Vandammen, er ist es, kein anderer!«
Seine charakteristische Kleidung hatte ihn sofort verraten.
Ja, jetzt war er der richtige fliegende Holländer, er flog durch die Luft, dabei ganz mächtig zappelnd, und weshalb er das tat, das ward auch sehr bald erkannt.
Weil er sich nur mit der einen Hand festhielt, gerade am äußersten Ende des Seiles, und weil er sich vergebens abarbeitete, dieses auch noch mit der anderen Hand zu erreichen.
Man hatte nicht lange Zeit, dieses merkwürdige Schauspiel anzustaunen und darüber Meinungen auszutauschen.
Plötzlich ließ der Zappelnde los und sauste herab, verschwand hinter jener Felswand, sich zuletzt sehr drehend.
So, nun konnte man weiter debattieren, was das zu bedeuten gehabt habe.
Einig konnte man sich natürlich nicht werden.
»Der kommt nicht wieder zu uns an Bord!«, sagte ein Matrose, und er allein hatte das Richtige getroffen, dem niemand widersprach.
Der von dieser Menschenlast befreite Ballon war jäh in die Höhe geschnellt, dann sah man noch durch die Fernrohre, wie das Seil mit den beiden Menschen eingezogen wurde, und dann verschwand der Ballon hinter einer Wolke.
Eine Stunde verging mit ratlosem Warten.
Da wurde der Ballon wieder bemerkt, der nur wenig nach Westen getrieben war, wieder ging er schnell herab, fast sturzähnlich, und wenn er jetzt völlig niederging, so musste er auf das Wasser kommen.
»Sie winken, sie winken!«
Der Dampfer steuerte dorthin, wo sich der Ballon immer mehr der Wasserfläche näherte, jetzt ohne noch bei der völligen Windstille getrieben zu werden.
Und jetzt sah man an einem der Gondelfenster einen bärtigen Mann stehen, der die Hände trichterförmig vor den Mund gelegt hatte.
»Immer weiter, dass wir direkt über den Dampfer streichen!«, schrie eine mächtige Stimme, und sie hatte sich der deutschen Sprache bedient!
Und da wurde aus dem Boden der Gondel schon wieder ein Seil herabgelassen, an dem wiederum ein Mann hing.
»Richard, das ist Richard!«, schrie da Agnes auf.
Sie hatte ihn zuerst erkannt, auch ohne Fernrohr.
Er landete an Deck, er lag in den Armen seiner Braut.
Daran, dass Agnes einen Toten, der wieder lebendig geworden war, umarme, daran glaubten die anderen ja nicht, die hatten ja immer geahnt oder sogar ziemlich bestimmt gewusst, dass Vandammen ihnen über seinen Tod nur ein Märchen aufgetischt habe, und Richard hatte unterdessen in der Gondel von dem alten Kuiper alles erfahren.
Denn der alte Mann war durch die letzte Katastrophe, die seinem Sohne das Leben gekostet, vollständig niedergebrochen, er hatte alles gestanden, was er selbst arrangiert und was ihm dann sein zurückgekehrter Sohn berichtet hatte.
Möge sich der Leser selbst ausmalen, wie dieses Wiedersehen sonst stattfand.
Der Ballon war durch die befreite Last wieder in die Höhe geschnellt, bald aber landete er am festen Ufer, und nicht lange währte es, so setzte auch der alte Kuiper an Bord des Raddampfers.
Und zwei Tage später trat der Dampfer seine Rückfahrt nach dem TumbaSee an, geführt von dem alten Kuiper, der allerdings erst die Waren an Land genommen hatte, und im Kielwasser folgte die »Erika«, das Expeditionsschiff.
Erst nachdem beide Dampfer den TumbaSee sicher erreicht hatten, kehrte der alte Bure mit einigen schwarzen Begleitern im Boote zurück.
Und wieder sechs Wochen später wurde in Hamburg eine Doppelhochzeit gefeiert, denn auch Frau Burg löste ihr Wort ein, sie verwandelte sich in eine Frau Hammer.
Hiermit schließen wir die in unsere Erzählung eingeflochtene Episode, in welche unsere Helden mit rettend eingriffen, ohne welches Eingreifen die beiden Dampfer rettungslos verloren gewesen wären.
Was ist das dort für ein schwarzer Punkt im Meer?« So fragte einige Tage später die kleine Deasy, die das fragliche Objekt zuerst erblickt hatte.
Die Luftschiffer hatten sich nach Lyttons Anweisungen immer in bedeutenden Höhen gehalten, um ziemlich direkt nach Westen getrieben zu werden.
Auf dem Atlantischen Ozean, über dem sie sich also befanden, war bisher sehr wenig zu sehen gewesen. Ab und zu die weiße Leinwand eines Seglers, ein Dampfer war schon ein großes Ereignis.
Dieser südliche Teil des Atlantischen Ozeans ist ja sehr, sehr wenig von Schiffen belebt.
Die von Europa nach Südamerika und Westafrika gehenden Dampfer halten sich immer an der Küste des betreffenden Erdteils, fahren kleine Bogen von Hafen zu Hafen, und in diesen äquatorialen und südlichen Breiten wehen die Monsun- und Passatwinde mit solcher Regelmäßigkeit, dass auch die Segelschiffe auf der Hin- und Rückreise immer ganz genau denselben Kurs einhalten.
So kann es einem Dampfer, der einmal direkt von Kapstadt nach Pernambuco fährt, also den ganzen südlichen Teil des Atlantischen Ozeans durchkreuzt, passieren, dass er nicht ein einziges anderes Schiff zu Gesicht bekommt.
Übrigens kann das sogar im nördlichen Atlantik passieren, obgleich der doch das befahrenste Meer ist zwischen Europa und Nordamerika, wo sich eine Dampferlinie an die andere reiht.
Der Merkwürdigkeit halber sei erwähnt, dass der Schreiber dieses einmal eine Reise von Hamburg nach New York auf einem Segelschiffe machte, das innerhalb von fünf Wochen dreimal zwischen der grönländischen Küste und der spanischen See hin und her kreuzte, gegen den Westwind an, und während dieser Zeit nicht ein einziges Schiff erblickte, nur ein einziges Mal in einer Nacht die Toplaterne eines Dampfers!
Obgleich es doch, wenn man eine Weltverkehrskarte betrachtet, nach all den eingetragenen Dampferlinien dort von Schiffen geradezu wimmeln muss.
Mit dieser »Wimmelei« hat es eben seine eigene Bewandtnis.
Das Meer ist eben groß. Man möchte von einer unendlichen Größe sprechen. Was haben denn da einige Tausend Schiffe zu sagen, die darauf herumgondeln.
Es ist nichts anderes, als wenn auf dem Lande auf jeder Quadratmeile ein Bauer pflügt. Nun soll man diese einmal aufsuchen.
Die nach Amerika und zurück fahrenden Passagiere bekommen nur deshalb so viele andere Schiffe zu sehen, weil diese Dampfer doch immer genau dieselben Kurse einhalten, und auf den Weltverkehrskarten sind diese Linien nur deshalb so weit auseinander eingetragen, um sie unterscheiden zu können, sonst würden die Farben durcheinander laufen. In Wirklichkeit ist das nur eine einzige Linie, und jenseits derselben ist alles Wüste und leer.
Ja, dort vor ihnen im Westen lag ein dunkler Punkt im blauen Wasser.
Aber nicht etwa, dass es eine treibende Tonne oder etwas Ähnliches sein konnte.
Die Luftschiffer waren nun schon gewohnt, alles aus der Vogelperspektive zu betrachten, ließen sich nicht mehr durch Höhen von einigen tausend oder einigen hundert Metern täuschen.
Das war ein ganz gewaltiges schwarzes »Ding«, das dort im Wasser lag.
Und auch um keinen Dampfer konnte es sich handeln, der hätte wieder ganz anders ausgesehen, das vermochten sie nun schon zu beurteilen.
Ein Fernrohr war noch immer nicht vorhanden, so wenig wie ein Sextant und die anderen Hilfsmittel, um eine geografische Ortsbestimmung zu machen.
»Das sieht bald aus wie eine Insel!«, meinte der Prinz.
»Was könnte das für eine sein?«, wurde gefragt.
»Hm. Es dürfte St. Helena oder Ascension in Betracht kommen.«
»Als so ein schwarzer Punkt?«
»Diese vulkanischen Eilande mit ihrer ganz spärlichen Vegetation dürften aus solcher Höhe und Entfernung nicht viel anders aussehen.«
Der Prinz wollte seine Karte zu Rate ziehen, eine Weltkarte in MercatorProjektion.
Da gab das an der Decke hängende Glöckchen einige helle Töne von sich, ohne dass es sich bewegt hätte, und sofort setzte sich Deasy im Stuhle zurecht, um nicht im Stehen einzuschlafen, wobei sie in diesem Zustande umfallen konnte.
Und alsbald war sie eingeschlafen, der Prinz ergriff ihre Hand, die aber nicht die linke zu sein brauchte, auch irgend eine andere Berührung hätte genügt, um die telepathische Verbindung herzustellen.
»Sind Sie es, Mister Lytton?«
»Ich bin es. Sehen Sie etwas vor sich?«
»Ja.«
»Was?«
»Vorläufig nur einen schwarzen Punkt.«
»Für was halten Sie das?«
»Für St. Helena oder Ascension.«
»Beide Inseln haben Sie bereits hinter sich, und die würden aus dieser Entfernung auch schon ganz anders aussehen.«
»Was ist es sonst?«
»Wenn ich Ihnen sage, dass Sie zwischen St. Helena und Ascension durchgefahren sind, die Verbindungslinie dieser beiden Inseln schon sechs Längengrade hinter sich haben — was könnte es dann sein?«
»Dann käme als Eiland oder überhaupt als fester Punkt nur noch das Kliffhaus, seit neuerer Zeit auch der schwarze Wolkenkratzer in Betracht.«
»Erraten! Oder vielmehr das Richtige erkannt. Also Sie kennen diese Klippe?«
Ja, der Prinz kannte sie, hatte wenigstens schon von ihr gehört.
Und auch nur daher, weil er selbst eine Jacht besaß und mit dieser schon durch den südlichen Atlantik gefahren war. Dabei wird doch so etwas besprochen, auch wenn man es gar nicht zu sehen bekommt.
Nur auf den großen Seekarten ist dieses Schifffahrtshindernis verzeichnet. Als Black Cliff, das schwarze Riff, oder als Cliff House, das Riffhaus.
Also es ist eine Felseninsel, natürlich ebenso wie St. Helena und Ascension der aus dem Wasser hervorragende Gipfel eines unterseeischen, sehr steilen Berges. Auch bei den genannten beiden Inseln findet das Lot in ganz kurzer Entfernung von der Küste bei dreitausend Meter noch keinen Grund.
Diese Felsenklippe sieht genau aus wie eine Zigarrenkiste, die man auf die hohe Kante gestellt hat. Freilich nur was für eine Zigarrenkiste! Ihre Höhe hat man trigonometrisch auf 230 Meter berechnet Der Querdurchschnitt an der Basis ist ziemlich quadratisch, nur mit abgerundeten Ecken, die Seitenlange beträgt ungefähr achtzig Meter.
Umgeben ist diese Riesenkiste von niedrigen Riffen, die auch bei Flut noch etwas über Wasser stehen und so einen Schutz bilden, dass die Felsenwände von der Brandung nicht unterwaschen werden. Also auch unten sind ganz glatte, schwarze Basaltwände, keine ausgewaschenen Höhlen.
Diese vorgelagerten Riffe verhindern jede Annäherung. Wenn jemand überhaupt daran dächte, dem Felsenberg einen Besuch abzustatten. Die Wände sind unersteigbar. Oben scheint ein glattes Plateau zu sein.
So wird dieses Felseneiland von keiner Nation beansprucht, schon deshalb nicht, weil diese dann verpflichtet wäre, dort oben einen Leuchtturm anzulegen und zu unterhalten; denn möglich wäre das ja natürlich, wie ja schon einmal gesagt wurde, dass es so etwas wie eine unersteigbare Felswand ja gar nicht gibt. Aber was das nun kosten würde!
Im Übrigen bedeutet das Riffhaus, oder von den Seeleuten jetzt auch Wolkenkratzer genannt, weil es mit den New Yorker Riesengebäuden Ähnlichkeit hat, für die Schifffahrt ja gar kein Hindernis.
Jeder Mensch kann eher von einem Blitz oder gar von einem Meteor erschlagen werden, als dass ein Schiff in finsterer Nacht gerade auf diesen Felsenberg rennte. Diese Erhebung bedeutet im Atlantischen Ozean doch noch nicht einmal einen Nadelstich, und nun gar hier in diesem südlichen Teile.
»Auf dem Plateau dieser Felsenklippe sollen Sie landen!«, fuhr Lytton fort.
»Ich werde gehorchen, wenn Sie mich nur richtig hindirigieren.«
»Es wird schon gelingen. Haben Sie mir jetzt noch etwas mitzuteileu?«
»Ich nicht.«
»Dann nur noch eines: Dieses Riffhaus gehört unserer geheimen Loge und Sie haben das Recht, alles nach Belieben, was Sie dort finden werden, zu benutzen. Dasselbe gilt natürlich auch von Ihren Begleitern. Gehen Sie bis auf 250 Meter herab. Schluss.«
Der Prinz brauchte nur die Hand zurückzuziehen und Deasy erwachte.
Der Ballon senkte sich, bis er die vorgeschriebene Höhe oder vielmehr Tiefe erreicht hatte, dabei immer direkt nach Westen getrieben werdend.
Eine Viertelstunde war mit diesem langsamen Fallen doch vergangen, und nun hatten sie die schwarze, aufrecht stehende Zigarrenkiste in ihrer ganzen Gewaltigkeit dicht vor sich.
Ja, es war ein viereckiges, ganz glattes Plateau, mit dem die Klippe oben abschloss.
Aber würde es ihnen auch gelingen, auf diesem zu landen?
Darnach sah es ganz und gar nicht aus.
Also wie in 2000 Meter Höhe, so herrschte auch hier unten 250 Meter über dem Meeresspiegel direkter Westwind, nur dass dieser immer schwächer geworden war.
Auf den Berg wurden sie wohl noch zugetrieben, aber wie schon jetzt ganz bestimmt vorauszusehen war, würden sie wenigstens 30 Meter rechts an ihm vorbeistreichen.
»Das gelingt ihm nicht wieder so wie damals, wo wir uns gerade auf dem Burenhofe hatten niederlassen können!«, meinte Lady Lionel.
»Nein, das geht diesmal nicht. Da bin ich nur gespannt, wie das Lytton diesmal machen wird.«
»Wir gehen daran vorüber!«
»Und dann müssen wir wieder andere, noch weit höhere Luftregionen aufsuchen, die uns wieder rückwärts treiben, vorausgesetzt, dass es solche Windrichtungen jetzt gibt.«
Richtig, der Ballon strich ungefähr 30 Meter entfernt an dem äußersten Rande des Plateaus vorüber, die Gondel, für welche ja die Barometerhöhe galt, nicht für den Ballon, noch etwa 20 Meter höher.
Jetzt würde wieder das Glöckchen ertönen, Deasy würde wieder in Trance fallen, weil Lytton doch neue Anweisungen geben musste.
So wurde allgemein erwartet.
Es geschah aber eben nicht, es sollte ganz anders kommen.
Etwas ganz Unerklärliches ereignete sich.
Der Ballon, vielleicht einen halben Meter in der Sekunde zurücklegend, hatte das Plateau wohl schon fünfzig Meter hinter sich, als er plötzlich stehen blieb.
Oder vielmehr nicht der Ballon, sondern die Gondel.
Ganz deutlich war zu merken, wie der Ballon seine Fahrt fortsetzen wollte, also noch von dem Winde getrieben wurde, aber die Gondel war es, die diese Bewegung nicht mitmachte, sondern wie von einer unsichtbaren Macht in der Luft festgehalten wurde.
Das war ja besonders ganz deutlich daraus zu sehen, dass sich die Lage zwischen Ballon und Gondel, sonst doch immer eine ganz vertikale, also man konnte durch ihre Mittelpunkte eine senkrechte Linie legen, verschob, der Ballon legte sich mehr vor, als wolle er die Gondel ziehen, was ihm aber nicht gelang, wodurch die Gondel natürlich selbst aus ihrer gewöhnlichen Gleichgewichtslage, die sie sonst auch im stärksten Sturme immer beibehielt, kam.
Außerdem gewahrte man durch das offene Fenster schon jetzt den Luftzug, von dem ja sonst ebenfalls niemals etwas zu merken war, auch nicht im heftigsten Sturme, weil der Ballon doch immer die gleiche Windschnelligkeit hatte.
Und jetzt veränderte sich die verschobene Lage noch mehr, es ging zurück, gegen den Wind an, und zwar war es zweifellos die Gondel, welche zog, den Ballon hinter sich her, so sehr sich dieser auch sträubte.
»Dieser Ballon ist ja also dennoch lenkbar, er kann auch gegen den Wind fahren!«, rief die Lady.
»Nein, lenkbar ist er nicht«, entgegnete der Prinz, »oder das wäre doch ein falsche Ausdruck. Für dieses Phänomen gibt es nur eine einzige Erklärung. Der Felsenberg ist magnetisch, oder er lässt sich zeitweise magnetisch machen, das ist geschehen, er zieht die Gondel an!«
Ja, das war die einzige Erklärung, und danach sah es auch ganz aus.
Schneller und schneller wurde die Gondel zurückgezogen, sie zog den sich sträubenden Ballon mit unwiderstehlicher Kraft nach, so erreichte sie die Kante des Plateaus, aber nicht, dass die Gondel nun sofort festgehalten wurde, sondern die Anziehungskraft schien von der Mitte des Plateaus auszugehen, denn die Gondel schwebte noch immer über dem Boden hin, sich immer mehr senkend, also auch immer schneller, aber doch nicht gerade mit beängstigender Schnelligkeit, bis sie sich ungefähr in der Mitte des Plateaus mit einem hörbaren Klapp, aber nicht gerade heftig, aufsetzte und dort sitzen blieb, obgleich der Ballon noch Auftriebskraft hatte und auch vom Winde, der jetzt sogar etwas stärker wurde, fortgezogen werden sollte.
Es gelang ihm nicht, die Gondel saß fest, als wäre sie angenagelt.
Der Prinz hielt sich mit keinen weiteren Beobachtungen auf, gab jetzt auch keine weiteren Erklärungen, so wie er sich die Sache dachte, sondern er ließ Gas ausströmen.
Als der Ballon das Plateau des sonderbaren Felskegels bereits über-
flogen hatte, machte sich ein sonderbarer Umstand bemerkbar.
Der Ballon verminderte etwas seinen Umfang, legte sich neben der Gondel am Boden nieder, wenn auch noch immer seine Rundung behaltend; so wie immer gelandet wurde.
Sie verließen die Gondel.
Ehe sie aber noch weitere Umschau halten konnten, erwartete sie eine grenzenlose Überraschung.
Plötzlich trat hinter der Gondel eine Gestalt hervor, von der sie vorher natürlich noch nichts gesehen hatten.
Es war ein Mann, bekleidet mit schwarzseidenen Kniehosen und einem roten Frack, der mit goldenen Knöpfen besetzt war. Wie dieses Kostüm, so machte auch das glattrasierte Gesicht gleich einen recht dienermäßigen Eindruck.
Er machte eine tiefe Verbeugung.
Ein kleiner Dampfer durchfurchte die blaue See; denn mit tausend Tonnen ist heute ein Hochseedampfer nur klein zu nennen. Aber gleich die schlanke, scharfgebaute Form verriet die Luxusjacht, und als eine solche war sie doch eine recht große.
Als vornehme Luxusjacht war die »Restlessly«, beheimatet in New York, wie vorschriftsmäßig am Heck angeschrieben stand, durch das viele blitzende Messing gekennzeichnet, durch die ganze Sauberkeit, die sich aber nicht in schreienden Farben gefiel, sowie auch dadurch, dass die ganze Besatzung nur aus ausgesucht schöngewachsenen Männern bestand, welche auch jetzt bei der gewöhnlichen Schiffsarbeit schmucke Uniformen trugen, was es ja sonst auf gewöhnlichen Handelsdampfern nicht gibt. Wir versetzen uns in die Kajüte des Patrons. des Besitzers, zu unterscheiden vom Kapitän.
Sie entsprach dem Äußeren dieser Jacht. Alles aufs kostbarste und eleganteste eingerichtet.
In einem festgeschraubten Lehnstuhle saß Mister Reginald Sharp und rauchte aus einer kurzen Shagpfeife.
Der noch junge Mann hatte noch nicht von sich reden gemacht, die Zeitungen wussten nichts über ihn zu berichten, in der Gesellschaft bildete er keinen Stoff zu einer interessanten Unterhaltung.
Man wusste von ihm nichts weiter, als dass sein Vater durch glückliche Häuser- und Grundstücksspekulationen, die sich über ganz Amerika erstreckten, ein nach Millionen zählendes Vermögen verdient und dass Reginald als sein einziges Kind ihn beerbt hatte.
Niemand konnte sich des jungen Mannes als einstigen Mitschülers entsinnen, niemand hatte ihn jemals kennen gelernt.
Vor drei Jahren war er in New York aufgetaucht, wahrscheinlich aus dem Westen kommend, hatte eine ganz neu gebaute, aber schon fix und fertig eingerichtete Luxusjacht gekauft, deren Eigentümer zahlungsunfähig geworden war.
Die betreffende Werft, die über die Jacht verfügte, hatte dem neuen Besitzer in sein Hotel den zur Zeit stellenlosen Kapitän Hellmuth geschickt, mit einem Begleitschreiben, dies sei wohl der richtige Mann, wie ihn sich Mister Sharp bei seiner letzten mündlichen Unterredung gewünscht habe.
Nur diesen Brief hatte Mister Sharp gelesen, dann den noch jungen Kapitän kaum eines Blickes gewürdigt, die vorgelegten Papiere gar nicht sehen wollen.
»Die Empfehlung genügt mir. Well, ich engagiere Sie.
Mit der Höhe Ihres geforderten Gehaltes bin ich einverstanden.
Wenn Sie einmal Zulage haben wollen, so sagen Sie es, dann gewähre ich entweder oder entlasse Sie.
Sie übernehmen also meine Jacht als Kapitän.
Ich gebe ihr den Namen ›Restlessly‹, sie bleibt in New York beheimatet.
Sorgen Sie für die Registrierung und für alles andere.
Ich kümmere mich prinzipiell um nichts.
Rüsten Sie die Jacht mit allem aus, was zu einer langen Reise gehört, mindestens für ein Jahr.
Für ein Jahr sind keine Kohlen mitzunehmen, höchstens für ein Vierteljahr, auch wenn Kohlen als Ballast mitgenommen werden?
Well, dann also nur für ein Vierteljahr.
Mustern Sie die beste Mannschaft an. Ich gebe etwas auf kräftige, schöngewachsene Burschen.
Im Übrigen steht die Wahl in Ihrem Belieben.
Nehmen Sie noch einige Leute mehr an als die Bedienung des Schiffes und die Vorschrift erfordert.
Auf das Geld kommt es nicht an.
Natürlich will ich auch keine Verschwendung haben, daraufhin werde ich Sie kontrollieren.
Zahlen Sie die höchste Monatsheuer, die für solch eine Jacht üblich ist, und — jedem noch zwei bis fünf Dollars extra, je nach Rang.
Die Mannschaft soll eine gleichmäßige Uniform tragen, auch bei der Arbeit, deren Anschaffung ich ebenfalls Ihnen überlasse. Schmuck soll sie sein, aber nicht affenmäßig.
An Proviant kaufen Sie nur das Allerbeste. Das Essen soll sehr gut sein, abwechslungsreich, aber keine Leckereien.
Mäßige Rationen von Spirituosen, regelmäßig verteilt, gestatte ich.
Sonst habe ich nichts weiter zu sagen. Höchstens noch, wegen der Wahl der Leute, dass ich nicht etwa auf Abenteuer ausgehe.
Ich will ruhig zur See leben, nichts weiter.
Sie können gehen, Herr Kapitän. Danke.«
So hatte Mister Reginald Sharp damals zu Kapitän Hellmuth gesprochen und innerhalb der drei Jahre niemals wieder so viel.
Die Worte, die er während dieser drei Jahre zu ihm oder zu einem anderen Menschen gesprochen, hätte man zählen können.
Zwei Tage später wurde ihm die »Restlessly« reisefertig gemeldet und sie ging in See.
Ziel: Nach Südosten.
Was nun von seiner Lebensweise bei dieser ersten Reise gesagt wird, gilt für alle anderen, für die drei Jahre, die seitdem verflogen waren.
Früh Punkt sechs stand er auf, ohne einen mechanischen oder lebendigen Wecker nötig zu haben, und nahm sofort ein Bad.
Halb sieben mussten auf dem Tisch drei pflaumeweiche Eier und geröstetes Brot mit Butter stehen.
Dann erst machte er Toilette, und zwar gebrauchte er allein zur Pflege seiner Fingernägel reichlich eine Stunde. Nachdem er sie genügend gefeilt hatte, ging erst richtig das Bimbsen los. Zuletzt rasierte er sich selbst.
Punkt acht Uhr erschien er an Deck, um genau eine Stunde lang auf und ab zu gehen, immer höchst elegant, aber bequem gekleidet, und zwar muss betont werden, dass er nicht etwa den Seemann heraussteckte.
Dann in der Kajüte das zweite Frühstück, bestehend aus mehreren kalten Fleischschüsseln und zwei Tassen Tee.
Hierauf kam er wieder an Deck, um abermals auf und ab zu gehen, diesmal aber nur eine halbe Stunde lang. Punkt zehn Uhr ging er nach dem Heck, wo er sich gleich am ersten Tage ganz hinten ein Bretterhäuschen hatte aufbauen lassen, nur so eine Art Strandkorb. Die Rückenwand nach vorn, also nach dem Schiffe zu, der Eingang mit Ausblick nach hinten.
Hier setzte er sich auf einen bequemen Stuhl und blieb hier zwei geschlagene Stunden sitzen, nichts weiter tuend als eine Shagpfeife nach der anderen rauchend.
Von zwölf bis eins promenierte oder vielmehr marschierte er wieder an Deck hin und her, ohne zu rauchen, und dann nahm er in der Kajüte das Mittagsmahl ein, bestehend aus Suppe, zwei Gängen und Nachtisch, nur das Beste, was das Land für das Seeleben bieten kann. Dazu eine halbe Flasche feinsten Rheinwein, dann zum Nachtisch ein einziges Glas vom teuersten französischen Champagner. Die angerissene ganze Flasche, von der also immer nur ein einziges, nicht allzu großes Glas fehlte, schickte er durch den Steward stets nach der Offiziersmesse. Sie dem Kapitän anzubieten, das hätte als Beleidigung aufgefasst werden können.
Dann eine Tasse starken Mokka und dazu eine Zigarre, die einzige, die er am ganzen Tage rauchte, aber auch eine Havanna, eine Veguero, die edelste Sorte, die bei uns nicht unter fünf Mark zu haben ist und die übrigens in Havanna selbst nicht viel weniger kostet, im Geschäftsladen, in Nordamerika, noch viel teurer ist.
Nachdem er aber den nicht sehr kurzen Stummel, keine Spitze benutzend, weggelegt hatte, ging es wieder mit der Shagpfeife los, in der Kajüte im Lehnstuhl, bis um vier Uhr.
Hierauf machte er genau eine Stunde lang, von fünf bis sechs Uhr, in einer besonderen Kabine Freiübungen, Knie- und Rückenbeuge, und stemmte auch recht gewichtige Hanteln, dann nahm er wieder ein Bad und machte umständlich Toilette für die Nacht; Punkt sieben saß er wieder in der Kajüte mit der qualmenden Pfeife, trank eine Flasche Porter und eine Flasche Ale gemischt, setzte noch ein großes Glas sehr steifen Grog darauf, und Punkt acht Uhr legte er sich, ohne seit Mittag noch etwas gegessen zu haben, zu Bett, um es für zehn Stunden nicht wieder zu verlassen.
Als er einmal einen Schnupfen gehabt, der ihm die Nasenlöcher verstopfte, hatte ihn der Steward schon fünf Minuten nach acht tüchtig schnarchen gehört, und so hatte er noch früh um sechs geschnarcht, bis er wie immer, sobald die Schiffsglocke die drei Doppelschläge glaste, mit einem Satze aus dem Bette sprang.
Also musste man wohl annehmen, dass er erst recht bei völliger Gesundheit sofort einschlief, und das für zehn Stunden. Natürlich — bei solch einem anstrengenden Tagewerk!
Dann fing die Arbeit des neuen Tages wieder mit Bad und drei weichen Eiern an. —
Das war die eine Art von Lebensweise an Bord.
Er hatte aber auch noch ein anderes Programm, das er ebenso pünktlich einhielt.
Vorausgesetzt, dass es das Wetter erlaubte.
Allerdings musste es ja einmal toll kommen, wenn er seine beiden Morgenpromenaden an Deck nicht machte, von acht bis neun und von zwölf bis eins, und wenn er dazwischen nicht seine drei Stunden hinten am Heck in dem Strandkorb absaß.
Während der ganzen drei Jahre war er — Aufenthalt im Hafen abgerechnet — nur zweimal auch am Vormittag unter Deck geblieben, wie er am Nachmittag überhaupt nie zum Vorschein kam.
Da hatte beide Male die Jacht wie ein toll gewordener Ziegenbock getanzt, ein Aufenthalt an Deck war gar nicht möglich gewesen, das eine Mal wäre man vom Orkan weggeblasen, das andere Mal weggespült worden, und da nützte es nichts, wenn er sich in seinen Strandkorb hätte festschnallen lassen, er wäre auf diesem ertrunken.
Aber Kapitän Hellmuth hatte überhaupt nur die einzige Aufgabe, jedem Wind und Wetter aus dem Wege zu gehen. Er hatte als nautischer Lenker des Schiffes die Pflicht, innerhalb der äquatorialen Breiten immer möglichst windstille Gegenden aufzusuchen. Was bei unseren heutigen Kenntnissen der atmosphärischen Verhältnisse recht wohl möglich ist.
War eine solche erreicht, die See spiegelglatt oder doch nur leise gekräuselt, dann kam das zweite Programm des Stundenplans daran.
Wie gewöhnlich Punkt sechs aufgestanden und sein Bad genommen, dann aber ging es sofort ins ausgesetzte Dingi, das kleinste Seeboot, nur für zwei Personen berechnet. Aber er ging ganz allein hinein, ruderte ein Stück in die See hinaus, und zwar vorwärts rudernd, worin er eine außerordentliche Übung hatte.
In einiger Entfernung machte er Halt und verzehrte seine drei weichen Eier, die er mitgenommen hatte, nebst geröstetem Brot und Butter, dann rasierte er sich, beschäftigte sich mit seinen Fingernägeln, diesmal aber nur eine halbe Stunde lang, dann griff er wieder zu den Riemen und ruderte mit Macht, immer voraus, der Jacht den Rücken kehrend, die ihm langsam folgen musste, in beträchtlicher Entfernung und mit der strengsten Weisung, jedes unnötige Geräusch zu vermeiden.
Nur Punkt acht durfte ein Glockenzeichen gegeben werden. Dann hatte er genau eine Stunde gerudert.
Jetzt nahm er das zweite Frühstück ein, die kalten Fleischspeisen mit Butterbrot, ebenfalls schon mitgenommen, den Tee wie vorher die weichen Eier in warmhaltenden Thermogefäßen, die Butter in eiskalten, nahm dieses Frühstück also eine Stunde früher ein als an Bord, weil ihm das Rudern eben besonderen Appetit gemacht hatte, und dann zog er ein Sonnensegel auf, das heißt nur einen Schutz gegen die höher kommende Sonne, einen Baldachin, setzte sich darunter und rauchte vier Stunden lang, dem Schiffe immer beharrlich den Rücken wendend. Nur wenn sich das Boot einmal drehte, dass er die Jacht gesehen hätte, machte er einen Ruderschlag.
Wurde er von einer Strömung getrieben, so schadete das nichts, die Jacht trieb ihm ja nach.
Dass ein anderes Schiff in Sicht kam, war in diesen drei Jahren nur ein einziges Mal passiert.
Um zwölf wieder ein Klingelzeichen an Bord, wo während dieser Zeit sonst auch nicht die Zeit geglast werden durfte, auch nicht, wenn er an Deck hinten im Strandkorb saß, und Mister Sharp griff wieder zu den Riemen, ruderte angestrengt eine Stunde lang, immer voraus, die Jacht folgte, und Punkt eins nahm sie ihn wieder an Bord.
Jetzt schnell noch ein kaltes Bad genommen und dann zum Mittagsmahl, das während dieser Arbeitsperiode aus drei Gängen bestand.
Hierauf fing der andere Stundenplan wieder an, der niemals eine Änderung erlitt. Am Nachmittag verließ er nicht die Kajüte, oder nur von sechs bis sieben, um in der Kammer seine Hanteln zu stemmen.
Um acht zu Bett und zehn Stunden geschlafen. Auch die schönste Mondscheinnacht vermochte ihn zu keiner Bootspartie oder auch nur an Deck zu locken.
Solche windstille Bootsperioden währten oft vierzehn Tage lang und noch länger.
Dabei also durfte die See nicht allzu bewegt werden. War dies der Fall, wenn auch schon Windstille herrschte, dann wurde eben so lange gewartet, bis sich die See weiter beruhigt hatte.
Etwas schaukeln durfte das Boot, aber ja nicht allzu sehr. Und noch mehr hasste er den Wind; denn es konnte ja einmal vorkommen, dass die See noch ziemlich ruhig war, nur leicht gekräuselt, aber dass schon ziemlicher Wind ging. Dann benutzte er nicht das Boot, blieb an Bord, blieb bei dem ersten Programm, bis sich der Wind, wie die Seeleute in diesen Breiten genau voraussagen konnten, völlig gelegt hatte.
Von Wind wollte er durchaus nichts wissen. Darin glich er ganz den Zigeunern, die alles vertragen können, jede Hitze und Kälte, nur keinen starken Wind. Wenn es einigermaßen bläst, dann verkriecht sich der Zigeuner. Und wer das nicht weiß, wer einen Zigeuner im Sturme marschieren lässt, der kennt eben die Zigeuner nicht.
Aber nicht etwa, dass Mister Reginald Sharp ein Zigeuner war oder auch nur irgend etwas zigeunerhaftes an sich gehabt hätte. Er war ein echter Yankee germanischer Abstammung. Das sah man gleich seinem glattrasierten Gesicht an, wenn dieses auch nicht so eckig mit hervorstehenden Backenknochen und weit vorgeschobenem Kinn war, sondern regelmäßig und gut abgerundet, sympathisch wie die ganze, etwas über mittelgroße, schlanke, kraftvolle Figur.
An Bord zeigte er ja auch, dass er sich auch aus dem tollsten Sturme gar nichts machte, und gegen Regen und überdammendes Wasser schützte er sich durch Ölmantel und Südwester. Aber bei den Bootspartien, da hatte er ganz recht. Wenn man so einsam im Boot sitzen will, um die Endlosigkeit des Meeres zu genießen, da muss es ganz ruhig sein. Wenn man dabei allzu sehr geschaukelt und nass gespritzt wird, wenn einen der Wind anbläst, da kann man nicht dabei träumen. Und darauf kam es dem jungen Manne doch nur an.
Im Anfang des dritten Jahres schien sich dieses zweite Programm bei windstillem Wetter etwas ändern zu wollen.
In Rio de Janeiro, wo einmal Kohlen eingenommen wurden, hatte Mister Sharp einige Aeroplane fliegen sehen, die in letzter Zeit sehr vervollkommnet worden waren.
Einen solchen hatte er sich zugelegt, oder vielmehr einen Hydroplan, der durch sein bootsähnliches Untergestell fähig ist, sich auf dem Wasser niederzulassen, darauf zu schwimmen und vom Wasser auch wieder aufzusteigen, obgleich auch Räder vorhanden sind, die alle diese Manöver auch auf festem Lande gestatten.
Nur einen einzigen Tag übte er auf dem Flugplatz unter sachkundiger Leitung in dem Einsitzer, zeigte sich in jeder Hinsicht äußerst gewandt, dann nahm er den Apparat mit an Bord, allerdings auch gleich seinen Lehrer, einen Monteur, ihn gleich fest engagierend.
Auf See übte er weiter — aber nur vormittags, des Nachmittags kam er nicht aus der Kajüte heraus — bis er die Flugkunst völlig beherrschte. Er brachte es sogar meist fertig, direkt auf Deck wieder zu landen, so schmal dieses auch war.
So benutzte er jetzt den Hydroplan, um sich auf dem Meere der Einsamkeit zu ergeben. Aber das dauerte nicht lange, dann kam er doch wieder zu seinem einfachen Boote zurück; denn es glückte ihm doch nicht immer, auf Deck zu landen, dann war es doch immer eine recht komplizierte Geschichte, den ansehnlichen Apparat aus dem Wasser herauszufischen, auch der Insasse konnte nicht so einfach an Deck gelangen — kurz, das schien ihm nicht zu gefallen, er kehrte wieder zu seinem Dingi zurück.
Aber zu anderen Ausflügen wollte er den Aeroplan wohl noch benutzen. Tat es jedoch nur ein einziges Mal.
An der afrikanischen Küste, wo sich die Sahara ins Meer hineinschiebt, flog er einmal ein bedeutendes Stück in die Wüste hinein und ließ sich dort nieder.
Das muss ja nun allerdings herrlich sein, so in der Todesstille der Wüste träumen zu können — die Shagpfeife nicht zu vergessen, auch nicht die weichen Eier — immer mit dem Bewusstsein, hinter sich sein komfortables Schiff zu haben.
Aber er kehrte bald zurück, mit einer tüchtigen Beule an der Stirn.
Eine Sandmücke hatte ihn gestochen.
Und diese einzige Mücke mochte daran schuld sein, dass er solch einen Ausflug an Land niemals wiederholte.
Und da hatte er auch ganz recht.
Mücken und dergleichen Ungeziefer können einem alles verleiden.
Nur auf dem hohen Meere gibt es so etwas nicht.
So blieb der Aeroplan fernerhin unbenutzt in einer Kammer verstaut. Der Monteur verrichtete Dienste an der Schiffsmaschine.
Was nun Mister Sharps sonstiges Wesen anbetraf. so konnte die ganze Schiffsbesatzung, die ihn doch am besten kennen lernte, nur ein einziges Urteil über ihn fällen: Er ist ein Gentleman!
Was ist das eigentlich, ein Gentleman?!
Über die Definition dieses Wortes oder vielmehr Charakters ist schon viel gestritten werden.
Es ist nämlich gar nicht so leicht, das, was den Gentleman ausmacht, zu definieren.
Wenn jemand glaubt, weil er sich elegant kleidet und vornehme oder gar stolze Manieren zur Schau trägt, deshalb sei er ein Gentleman, so irrt er sich gewaltig.
In England selbst wird ein Gentleman ganz anders taxiert. Dort kann auch der gewöhnlichste Arbeiter ein Gentleman sein und er wird auch in schmutzigen Arbeitersachen wirklich als solcher respektiert, was man bei jeder Gelegenheit zu merken bekommt.
Eitelkeit und Stolz ist mit einem echten Gentleman überhaupt unvereinbar.
Ein Gentleman muss seinen Untergebenen oder einem Kellner gegenüber genau so höflich sein wie seinem Vorgesetzten oder sonst einer Respektsperson.
Eigentlich liegt es ja im Worte selbst.
Gentle heißt soviel wie sanft, freundlich, gütig.
Diese Eigenschaften machen aber nun doch immer noch nicht das aus, was man unter einem Gentleman versteht.
Am besten definiert es wohl der englische Romancier Bulwer, wenn er sagt:
»Ich habe bemerkt, dass der charakteristische Zug des Gentleman eine kalte, unerschütterliche Ruhe ist, welche allen seinen Handlungen und Zuständen, von den wichtigsten bis zu den geringsten, sich mitteilt; er isst mit Ruhe, macht sich Bewegung mit Ruhe, lebt mit Ruhe und verliert sein geliebtes Weib, ja sogar sein Geld, sein ganzes Vermögen mit Ruhe; während ein anderer Mensch keinen Löffel versalzter Suppe und keine Beleidigung einnehmen kann, ohne einen fürchterlichen Lärm dabei zu machen.«
Ja, so ist es!
Das Charakteristischste ist wenigstens dabei getroffen.
Die unerschütterliche Ruhe ist es, die den Gentleman vom Nichtgentleman unterscheidet.
Er lässt sich durch nichts, absolut durch gar nichts aus seiner Ruhe bringen.
Wohl verteidigt er sich gegen einen Angreifer, er wird sogar der erste sein, welcher zuschlägt, blitzschnell, jenen besiegend — aber innerlich bleibt er dabei eiskalt.
Der Gentleman ist ganz einfach der moderne Stoiker.
Er ist erhaben über alle Leidenschaften. Haben ihn solche einst beherrscht, so hat er sie durch regelrechtes Training, sich immer selbst beobachtend, gebändigt.
Er weiß nichts von Zorn und Hass, kein unfreundliches Wort kommt mehr über seine Lippen. —
Das scheint alles sehr gut und edel zu sein, jedoch ist auch ein böses »Aber« dabei.
Der Gentleman vermeidet auch jeden anderen Gefühlsausbruch, der dem Menschen sonst erlaubt ist.
Im Grunde genommen ist es nämlich der krasseste Egoismus, der alle Handlungen und Gedanken des Gentlemans leitet.
Er unterdrückt auch jedes aufsteigende Gefühl der Freude, weil er sich sagt, wie es die stoische Philosophie lehrt, dass jeder Freude als Gegengewicht irgend ein Leid folgt.
Der Gentleman geht nur ins Theater oder zu einem anderen Vergnügen, um sich zu trainieren. Er applaudiert nicht, er zischt nicht — er lässt alles auf der Bühne kalt an sich vorübergehen.
Und so betrachtet er auch das ganze Leben, als ein Schauspiel, welches des Ansehens eigentlich gar nicht wert ist.
Er kennt kein Lachen und keine Tränen mehr.
Kein fremdes Leid kann sein Herz noch rühren.
Also weiß er auch nichts von Liebe.
Der echte Gentleman darf keine Seele mehr haben.
Er hat sie systematisch in sich getötet. —
Und das war es, was auch die einfachsten Matrosen herausfühlten, die sonst an solch eine Definition des Wortes »Gentleman« gar nicht dachten, und sie sagten es sich untereinander.
»Ja, er ist ein tadelloser Gentleman, aber eine Seele hat er nicht. Er ist gar kein richtiger Mensch mit richtigem Blut in den Adern.«
Auf dieses Urteil musste jeder ganz von selbst kommen.
Dieser junge, gesunde, reiche Mann, der so ganz wie ein aufgezogener Automat nach der Uhr lebte, der so seine regelmäßigen Stunden hinten in dem Strandkorb oder in dem Boote saß, starr aufs Meer blickend, nur eine Pfeife nach der anderen rauchend.
Und dabei war doch so ganz deutlich zu merken, dass er nicht etwa unglücklich war, dass kein tiefer Kummer an seinem Herzen nagte.
Danach sah er ganz und gar nicht aus.
»Er hat keine Seele, er ist schon bei lebendigem Leibe gestorben.«
Das sagte alles.
Und das merkte man immer deutlicher, je länger man ihn beobachtete.
Wenn die Jacht einmal einen Hafen anlief, um Kohlen einzunehmen, was aber, da sie die Hälfte der ganzen Zeit ja still auf dem Meere lag, nur alle halben Jahre nötig war, wonach dann auch Trinkwasser und Proviant ergänzt werden musste, so kam er während der zwei bis drei Tage nicht mehr aus seiner Kajüte.
Aber nicht etwa, dass er menschenscheu gewesen wäre.
Wäre er wirklich menschenscheu gewesen, hätte er in krankhafter Einbildung den Anblick keines Menschen ertragen können, so hätte er sich noch in ganz anderer Weise von der Welt zurückziehen können, und nicht auf ein Schiff, wo er immer zwischen der Mannschaft hin und her promenierte; allerdings ohne sie eines Blickes oder Wortes zu würdigen.
Auch den einmal aufgestiegenen Verdacht, dass man es vielleicht mit einem Manne zu tun haben könne, der etwas auf dem Kerbholz hatte, der nicht erkannt werden dürfe, musste man schnell wieder fallen lassen.
Übrigens war er schon in New York bei der Ausreise der Jacht, als er sich an Bord begab, von neugierigen Zeitungsreportern fotografiert worden, und er hatte den Knipskästen ruhig standgehalten, was doch nicht der Fall gewesen wäre, wenn er einen Grund gehabt hätte, sein Gesicht nicht sehen zu lassen.
Und dann hatte er ja in Rio de Janeiro auch einen ganzen Tag auf dem Flugplatz geübt, in Gegenwart einer großen Menschenmenge.
Überhaupt ging er in jedem Hafen sofort einmal an Land, in ein Bankgeschäft, wo er seine Kreditbriefe präsentierte und Geld erhob.
Das war aber auch nur der einzige Fall, wo er das Land betrat, er kam immer sofort zurück, um dann während der Anwesenheit im Hafen nicht mehr seine Kajüte zu verlassen, bis die Jacht dann wieder auf hoher See war.
Also wohl nicht, dass er von der anderen Welt nichts sehen wollte, sondern er brauchte sie nicht, sie interessierte ihn nicht.
Er schrieb keine Briefe und empfing keine, d. h. er nahm keine an. Es ist ja ganz selbstverständlich, dass solch ein reicher Jachtbesitzer, wenn er im Hafen liegt, immer zahlreiche Briefe zugestellt bekommt. Angebote, besonders auch rosenrote, parfümduftende. Aber auch sonst mit allem nur denkbaren Inhalt. Jede Post überflutete ihn geradezu.
Dass er alle diese Briefe gar nicht annahm, konnte man ihm nicht verdenken, obgleich darunter auch für ihn wichtige sein konnten.
Doch auch solche, von denen man bestimmt annehmen musste, dass sie für ihn Interesse gehabt hätten, nahm er nicht an, ob sie nun eingeschrieben waren oder nicht.
Der Kapitän konnte es tun, wenn er Lust dazu hatte, die Briefe öffnen und lesen, aber wissen wollte Mister Sharp nichts davon.
Natürlich nahm er da erst recht keinen Besuch an, und wenn der Betreffende auch noch so schlaue Listen gebrauchte, um in die Patronatskajüte zu dringen. Mister Sharp war für keinen einzigen Menschen zu sprechen.
Ebenso wenig wollte er von irgend einer Zeitung etwas wissen.
Und das hat doch eigentlich etwas zu bedeuten.
Wenn jemand ein halbes Jahr auf See ist, er kommt in einen Hafen und hat so absolut gar kein Verlangen danach, zu erfahren, was unterdessen in der Welt passiert ist!
Was können da für Umwälzungen vor sich gegangen sein!
Königreiche gestürzt, neue gegründet, eine ganze Erdrevolution!
Nein, der junge Mann wollte absolut nichts davon wissen.
Die andere Welt existierte eben gar nicht mehr für ihn. Und seine Bedürfnislosigkeit betreffs dieser geistigen Nahrung ging auch noch weiter.
Sein Vorgänger, der diese Jacht vollkommen eingerichtet, aber seinen Besitz nicht angetreten hatte, hatte auch für eine stattliche Bibliothek gesorgt, wohl mehr als tausend Werke in englischer und französischer Sprache, hauptsächlich Unterhaltungslektüre, dann aber auch besonders viel Geografie, Reisebeschreibungen und dergleichen.
Diese Bibliothek befand sich in der Patronatskajüte, in der Mister Sharp immer saß, mindestens den ganzen Nachmittag bis zum Abend, sie füllte alle Wände.
Er hatte sie nicht entfernen lassen, die Glasschränke waren unverschlossen, doch niemals hatte er sie geöffnet um nur in ein einziges Buch einen Blick zu werfen!
Das ließ doch ebenfalls tief blicken.
Zumal besonders die Offiziere des Schiffes ja doch manchmal merkten, dass es ein Mann mit sehr guter Bildung sein musste.
Es gab aber auch andere Gelegenheiten, die seinen Charakter offenbarten.
Einmal, als er an Deck spazieren ging, löste sich direkt hinter ihm versehentlich der Böller, den ein Matrose putzte.
Also ein furchtbarer Kanonenschuss krachte, unvermutet dicht hinter ihm.
Mister Sharp zuckte nicht im Geringsten zusammen, wandte nicht einmal den Kopf, setzte unbekümmert seinen Weg fort.
Es konnte ja sein, dass der junge Mann Nerven von Stahl besaß, die so etwas wie ein Erschrecken gar nicht kannten.
Aber jeder andere Mensch hätte sich doch wenigstens umgesehen, weshalb denn der Böller gelöst worden sei. Das musste doch irgend einen Grund haben, das Versehen musste aufgeklärt werden.
Mister Sharp tat es nicht, hielt es nicht für nötig, das ging ihn nichts an, und damit basta.
Aber da hatten die Matrosen ganz sicher recht, wenn sie sagten. er sei gar kein richtiger Mensch.
Ein andermal brach unter der Back Feuer aus. Ganz bedrohlich, das ganze Schiff konnte in kürzester Zeit in Flammen aufgehen, wenn nicht sofort eine Löschung möglich war.
Großer Feuerlärm, also energisches Läuten der Schiffsglocke, die alle Leute auf ihre Stationen zur Löscharbeit rief, klar bei den Rettungsbooten!
Es war am Nachmittag, nach seinem Stundenplan saß Mister Sharp in der Kajüte und rauchte im Lehnstuhl seine dritte Pfeife.
Der schmetternde Glockenlärm und der ganze übrige Spektakel lockte ihn nicht an Deck.
Der Kapitän selbst kam in die Kajüte gestürzt.
»Feuer im Schiff! Es wird kaum zu löschen sein. Wir müsssen in die Boote!«
Ruhig blies der junge Mann eine Rauchwolke vor sich hin, ohne den Kopf gewendet zu haben.
»Well, wenn es so weit ist, dann lassen Sie es mich wissen.«
Das Feuer konnte noch rechtzeitig gelöscht werden.
Da aber hatte der junge Mann bewiesen, dass er wirklich kein richtiger Mensch aus Fleisch und Blut war.
Auch hinterher hatte er nicht etwa gefragt, wie das Feuer entstanden sei, wie es gelöscht worden, ob die Gefahr wirklich so groß gewesen, ob der Schaden beträchtlich.
Gar nichts!
Er hatte keine Seele. —
Noch eines sei erwähnt.
Der Mannschaft war diese Seelenlosigkeit ihres Patrons ja höchst angenehm.
Waren die drei Morgeneier einmal hart ausgefallen, so aß er sie allerdings nicht, sie kamen aufgeschnitten unberührt wieder heraus, aber sagen tat er deshalb kein Wort.
Dasselbe war der Fall, als der Koch einmal die Suppe total versalzen hatte.
Kein Wort des Vorwurfs, gar nichts.
Freilich merkte sich das auch der Koch. Zumal er ganz bestimmt erwartet hatte, dann im nächsten Hafen abgelöhnt zu werden. Gerade wegen dieser Schweigsamkeit.
Als dies nun aber nicht geschah, war der Koch geradezu gerührt.
Er setzte fernerhin seine ganze Ehre darein, verdoppelte seine Aufmerksamkeit, dass so etwas niemals wieder vorkam, was schließlich jedem Koch einmal passieren kann.
Also hat es doch schließlich einen Vorteil, solch ein duldendes Phlegma. Denn mit Vorwürfen oder gar Schimpfen ist da gewöhnlich nicht viel zu erreichen.
Ein andermal, als er an Deck promenierte, goss ihm ein Matrose, der etwas abspülen sollte, versehentlich einen ganzen Eimer Wasser mit kräftigem Schwunge gegen die Brust, dass es nur so klatschte; er war von Kopf bis zu den Füßen wie aus dem Wasser gezogen.
Etwas wie »Tölpel« oder dergleichen hätte wohl jeder andere Mensch wenigstens gesagt.
Dieser junge Mann aber wandte sich gemächlich um, ging in seine Kabine, zog sich um, kam nach fünf Minuten wieder an Deck und marschierte seine Stunde ab.
Einmal aber zeigte er, dass er auch handgreiflich werden konnte und sich zu wehren verstand.
Ein Heizer hatte sich betrunken, fast sinnlos, d. h. im Kopfe war er von Sinnen, seine Glieder hatte er völlig in der Gewalt, da war ihm gar nichts anzumerken.
Er hatte mit einem anderen an Deck Streit angefangen, die Prügelei sollte gerade losgehen, als Mister Sharp seinen stundenplanmäßigen Spaziergang antrat.
Der Kerl sofort auf ihn los.
»Und Du bist auch so ein Duckmäuser —«
Er wollte ihn packen.
Aber der elegante Gentleman packte blitzschnell zuerst zu und schleuderte jenen gegen die Reling, dass man die Knochen krachen hörte.
Der Mann aber sofort wieder auf, mit einem Wutschrei, die Faust zum Schlage erhoben, sich auf Mister Sharp geworfen.
Aber auch mit dem Zuschlagen war dieser schneller, seine Faust traf den Kerl zwischen die Augen, dass er sofort zu Boden stürzte, wie ein Toter und so liegen blieb.
Gleichgültig setzte Mister Sharp seinen Weg fort, sich nicht darum kümmernd, wie jener weggetragen wurde.
Nach einiger Zeit näherte sich ihm der Kapitän.
»Gott sei Dank, er ist nicht tot, wie wir erst glaubten, er ist wieder zu sich gekommen, es hat ihm auch sonst nichts geschadet.«
»So.«
Wenn er angeredet wurde, was natürlich nur in den dringendsten Fällen geschah, blieb er stehen.
Aber ob der Mann tot war oder noch lebte, das war ihm also ganz gleichgültig.
»Soll ich ihn in Eisen legen lassen?«
»Wozu?«
Wenn es der Amerikaner nicht wusste, dann brauchte es ihm auch nicht gesagt zu werden.
Wegen seiner eigenen Sicherheit hätte es auch Kapitän Hellmuth nicht getan, er hätte den Mann ruhig weiter arbeiten lassen, ihn nur etwas scharf im Auge behalten.
Aber seinem Schiffsherrn gegenüber musste er doch etwas vorsichtiger sein, da hatte er eine schwere Verantwortung.
In Eisen legte er den Mann zwar nicht, sperrte ihn aber doch lieber ein, leichter Arrest, aber auch ganz fester, drei Wochen lang, bis das Schiff einen afrikanischen Hafen anlief; dann schickte er ihn fort.
Vor zwei Tagen war einmal der seltene Fall eingetreten, dass Mister Sharp bei seinem Morgenspaziergang den Kapitän angesprochen hatte.
»Kennen Sie im Atlantischen Ozean das sogenannte Riffhaus, einen einsamen Felsenberg, Herr Kapitän?«
»Gewiss kenne ich den.«
»Wo liegt das Ding?«
»Ungefähr auf dem zehnten Grad südlicher Breite, zwanzig Grad westlicher Länge. Wenn Sie es genau wissen wollen, ich sehe gleich nach —«
»Ist jetzt nicht nötig. Haben Sie den Felsenberg schon einmal gesehen?«
»Nein, gesehen noch nicht.«
»Aber Sie wissen, wie er aussieht?«
»O ja, das weiß ich.«
»Wie hoch ist er?«
»Etwas über 200 Meter.«
»Oben spitz?«
»Nein, jedenfalls oben abgeplattet.«
»War noch niemand oben?«
»Wohl kaum.«
»Er ist unersteigbar?«
»Soviel ich weiß, ja.«
»Wo sind wir hier ungefähr?«
Denn das wusste Mister Sharp niemals, um solche Kleinigkeiten kümmerte er sich niemals.
Der Kapitän gab die letzte, vor einer Stunde gemachte Ortsbestimmung an.
Danach befand man sich ungefähr 450 Seemeilen südöstlich von diesem Felsen.
»Wie lange brauchen wir zu dieser Entfernung bei Volldampf?«
»Etwa 30 Stunden.«
»Fahren Sie mit Vollkraft hin. Wenn der Felsenberg in Sicht kommt, was dann also morgen Nachmittag wäre, lassen Sie es mich wissen. Danke.«
Die dreißig Stunden waren verflossen. Es war nachmittags gegen vier Uhr, also saß Mister Sharp vorschriftsmäßig im Lehnstuhl der Kajüte und rauchte Pfeife.
Das an der Wand befindliche Telefon klingelte
Der Patron brauchte nicht aufzustehen, um verstehen zu können und gehört zu werden, er musste nur beim Sprechen das Gesicht dem Trichter zuwenden und seine Stimme etwas erheben.
»Ja?«
»Das Riffhaus ist in Sicht!«, war des Kapitäns Stimme deutlich zu vernehmen.
»Well, dampfen Sie hin, bleiben Sie in der Nähe liegen. Morgen früh soll der Aeroplan fertig an Deck stehen. Sonst noch etwas?«
»Nein.«
»Schluss.«
Mister Sharp kam nicht etwa an Deck. Das stand nicht in seinem Nachmittagsprogramm, und das wurde auch heute genau eingehalten.
Als die Zeit gekommen, machte er eine Stunde lang in der Turnkammer seine Freiübungen und stemmte Hanteln, dann nahm er sein Bad, dann noch einige Pfeifen mit Porter und Ale, ein Glas Grog darauf gesetzt, und Punkt acht lag er in der Koje.
Da die Jacht dem Felsen immer den Bug zugekehrt, hatte er diesen durch die Bullaugen noch gar nicht zu Gesicht bekommen, und es wäre auch fraglich gewesen, ob er nach ihm hingeblickt hätte. Es stand nicht in seinem heutigen Programm.
Früh um sechs aufgestanden, ein Bad genommen, Toilette nach Schema B gemacht, was erstes Frühstück, Rasieren und Fingernägelarbeit noch ausschloss, und sich an Deck begeben.
So, nun sah er sie, die riesige, auf der hohen Kante stehende Zigarrenkiste.
Es wehte ein mäßiger Wind, die See war nur leicht gekräuselt, aber dort zwischen den spitzen Riffen, welche den Felsen in ziemlich weitem Kreise umgaben, spritzte es mächtig.
Da musste viele Tage lang völlige Windstille geherrscht haben, ehe sich dort die Brandung gänzlich legte.
Dicht hinter der Kommandobrücke stand der Aeroplan, am Heck war der Aufbau, der Strandkorb, weggenommen worden, auch die Reling, so konnte die Flugmaschine über das halbe Deck einen guten Anlauf nehmen, und wenn der Hydroplan schließlich nicht gleich hoch kam, sondern erst das Wasser berührte, so schadete das auch nichts.
»Mister Sharp, ich muss eine Frage an Sie stellen!«, sagte Kapitän Hellmuth.
»Bitte.«
»Sie beabsichtigen, dort oben auf den Felsen hinauf zu fliegen?«
»Ja.«
»Zu landen?«
»Wenn es möglich ist, ja.«
»Ich mache Sie daraus aufmerksam, dass Sie vielleicht nicht wieder herunter können.«
»Weshalb nicht?«
»Wenn Sie beim Landen eine Havarie haben oder an der Maschine sonst etwas in Unordnung kommt; wir haben keine Möglichkeit, Ihnen zu Hilfe zu kommen.«
»Well.«
»Ich habe mir erlaubt, ohne Ihre vorherige Verständigung eine Strickleiter von 250 Meter Länge beizupacken, die ich heute Nacht aus zwei dünnen seidenen Leinen fertigen ließ.
Das Ding wiegt nur 26 Pfund, trägt aber noch etwas ganz anderes als die Last eines Menschen.
Ferner Proviant und Wasser für acht Tage und ein Fässchen Zement, falls die Strickleiter oben sonst nicht zu befestigen ist. Hammer und Meißel befinden sich im Utensilienkasten, auch an Eisenstangen fehlt es nicht, wenn Sie den Aeroplan nun einmal aufgeben müssen.
Das Ganze wiegt zusammen noch keinen ganzen Zentner und Monteur Stephan meint, dass dies für den Aeroplan nichts weiter zu bedeuten hat.«
Ja, man bemerkte, dass der bootsähnliche Sitz einige Zutaten bekommen hatte, es fiel aber doch so wenig auf, dass man es erst wissen musste, ehe man es bemerkte.
»Ich danke Ihnen, Herr Kapitän, Sie sind sehr aufmerksam.«
Natürlich keine Spur von dankbarer Rührung ob solcher Fürsorge. Aber höflich wie immer.
»Soll Stephan mit diesem Mehrgewicht erst einen Probeflug machen?«
»Ist nicht nötig.«
Er stieg in das Flugboot, setzte sich, der Monteur kurbelte den Motor an, wenn dies der Flieger schließlich auch selbst tun konnte, nur etwas umständlicher.
»All right!«
Der Apparat rollte wie ein Riesenvogel mit ausgebreiteten Flügeln über das Deck, schneller und immer schneller, stürzte vom offenen Heck herab, schien das Wasser berühren zu wollen, tat es aber nicht, kam wieder hoch und stieg schnell höher.
Der Aeroplan beschrieb einen eleganten Bogen und schraubte sich empor.
Dann zog er einen Kreis um den Felsenberg, bis er sich über demselben befand.
So hoch war Mister Sharp überhaupt noch nie gekommen. Dass es diesem jungen Manne nicht an dem dazu nötigen Mute fehlte, darf man wohl glauben. Er machte aber eben solche Experimente nicht. Er hatte sich den Hydroplan nur deshalb angeschafft, um sich entfernt vom Schiffe auf dem Wasser niederzulassen, und dazu brauchte er doch keine Höhenrekorde aufzustellen.
Nun sah er also, dass es ein ganz flaches, ebenes, nacktes Plateau war, das den Felsenberg oben begrenzte.
Weshalb verriet keine Spur, dass hier Seevögel nisteten?
Eben wegen dieser völligen Flachheit und Nacktheit, nirgends auch durch einen Riss unterbrochen.
Jeder Regenguss musste alles wegwaschen, und das wissen natürlich auch diese Seevögel.
Der Aeroplan ließ sich nieder, landete glatt ziemlich in der Mitte des Plateaus, ohne noch viel zu rollen.
So, nun hatte der junge Yankee sein Ziel erreicht.
Er saß mitten im Ozean auf einem einsamen Felsen von 230 Meter Höhe, den vor ihm noch kein menschlicher Fuß berührt hatte.
Denn darauf kam es ihm doch nur an.
Die Aussicht von hier oben war ihm doch jedenfalls ganz Nebensache.
Und dass dem wirklich so war, das bewies er dadurch, dass er sofort, ohne sich erst einmal umgesehen zu haben, programmmäßig zu frühstücken begann, drei pflaumenweiche Eier mit geröstetem Brot und Butter.
Und als dies erledigt war, goss er aus der Thermosflasche warmes Wasser in ein silbernes Becken, schlug mit einem Stück Seife Schaum, schmierte das Gesicht ein und begann sich zu rasieren.
Und als das erledigt war, wurden die Fingernägel gefeilt und poliert, reichlich eine halbe Stunde lang.
O, es war herrlich, hier oben auf dem jungfräulichen Felsen mitten im Atlantischen Ozean sich zu rasieren und die Nägel zu polieren! Das hatte ihm noch kein Sterblicher vorgemacht.
Dass es der junge Mann sehr herrlich fand, das war ihm freilich nicht anzusehen.
Seine wohlgeformten Züge waren gleichmütig wie immer, nicht steinern, aber doch ohne jeden Ausdruck — erhaben über Freud und Leid, kein Lachen und keine Tränen kennend — kühl bis ans Herz hinan.
Die Toilette war beendet.
Und jetzt änderte es sich doch einmal.
Natürlich, auf dem Wasser konnte er ja auch Boot und Aeroplan nicht verlassen, oder er hätte in diesen Breiten sicher unangenehme Bekanntschaft mit Haifischen gemacht.
Aber hier konnte er es tun und wurde dabei nicht einmal von einer Mücke oder einem Sandfloh insultiert.
Und er tat es. Also er stieg aus dem bootsähnlichen Sitzkasten, nahm ein Kissen mit, ging jedoch nicht sehr weit, dann legte er das Kissen hin und setzte sich darauf, begann zu rauchen.
Näher an den Rand ging er nicht heran.
War er vielleicht schwindlig?
Dass er im Aeroplan flog, war noch kein Beweis seiner Schwindelfreiheit.
Es ist ganz merkwürdig, dass auch ein Mensch, der sonst nicht zum Fenster der zweiten Etage heraussehen kann, ohne die größte Lust zu haben, sich kopfüber da hinabzustürzen — weil er eben zum Schwindel geneigt ist und im Parterre wohnt — aus der Gondel des Luftballons ganz ruhig in die furchtbarsten Tiefen schauen kann.
Das kommt daher, weil der Kontakt mit der Erde fehlt. Ist man nicht mit der Erde selbst verbunden, dann gibt es so etwas gar nicht wie ein Schwindelgefühl. Natürlich beruht es nur auf Einbildung. Wenn der Fesselballon vom Winde seitwärts getrieben wird und der Betreffende sieht das Seil, verfolgt es mit den Augen bis zur Erde hinab, dann wird er auch sofort schwindlig. Sieht er das Seil nicht mehr, ist auch der Schwindel wieder vorüber.
Immerhin, die Folgen dieser Einbildung sind doch ganz eigentümlich. Hierbei spielt sich im menschlichen Gehirn etwas ab, was wohl noch niemand näher untersucht hat.
Nun, dieser junge Mann sah gar nicht danach aus, als ob er viel vom Schwindel geplagt würde, auch wenn er sich noch im Kontakt mit der Erde sah und fühlte.
Er hatte eben keine Lust, sich weiter nach dem Rande des Plateaus zu begeben, entfernte sich vielleicht nur zehn Schritt von seinem Aeroplan, dann ließ er sich nieder und begann zu schmauchen.
Dabei blickte er nach Nordwesten auf das endlose Meer hinaus.
Nach einiger Zeit, als sich sein Auge daran gewöhnt hatte, konnte er dort in weiter, weiter Ferne etwas Weißes unterscheiden, die Leinwand eines Seglers.
Und da zeigte es sich, dass dieser sonst so wortkarge Mensch, der jede Silbe auf die Goldwaage legte, auch für sich selbst sprechen konnte, wenn er so allein war.
»Zu albern! Muss man denn auch hier oben in seiner Einsamkeit durch solch ein dummes Ding gestört werden, muss man daran erinnert werden, dass es auf der Erde solche niederträchtige Geschöpfe gibt, die auf zwei Beinen herumlaufen und überall die Luft verstänkern?«
So hatte er ziemlich laut gesagt, freilich ohne jeden Ärger in der kalten Stimme, dabei die qualmende Pfeife zwischen den Zähnen, mit der er ja selbst die köstliche Seeluft verunreinigte.
Doch seinen Platz veränderte er deshalb nicht, brauchte nicht anderswohin zu blicken. Es dauerte gar nicht lange, so war das weiße Segel auch für seine scharfen Augen am Horizont verschwunden.
Mister Reginald rauchte und träumte und rauchte, eine Pfeife nach der anderen aus einer ordinären Schweinsblase mit recht gemeinem schwarzem Shag stopfend. Wenn man sich aber erst einmal an diesen »swarten Krusen« gewöhnt hat, raucht man keinen anderen mehr.
Bis er dann auch für seine Gedanken wieder Worte fand.
»Ach, ist diese Welt langweilig!
Wenn ich nur einmal etwas wüsste, wofür ich mich interessieren könnte!
Was habe ich nicht schon alles probiert, um etwas zu finden, was wert ist, dieses Leben zu leben.
Die ganze Welt habe ich deshalb bereist. Nirgends konnte mich irgend etwas fesseln.
Ich habe Löwen und Tiger und Elefanten geschossen, bin ihnen Auge in Auge gegenübergetreten und habe nur feige Wesen in ihnen erkannt, die keinen scharfen Blick aushalten können.
Ich habe mit Absicht einen ganz echten Schiffbruch mit allen Fürchterlichkeiten arrangiert, aber nichts von allen Fürchterlichkeiten verspürt.
Ich habe bei den Dscherisiden zugesehen, wie sie Kinder und Jungfrauen dem Moloch opferten, und ich habe mich gelangweilt abgewandt.
Ich habe den Kriegszug gegen den Mahdi mitgemacht, habe regelrecht auf Menschen gepürscht, und es hat mir kein Vergnügen gemacht, diese zweibeinigen Halunken niederzuknallen.
Ich habe in China einmal vertretungsweise den Scharfrichter gespielt, habe in einer Stunde mehr als hundert bezopfte Köpfe abgehackt — es hat mir keinen Spaß gemacht, hatte davon nur Blasen in den Händen bekommen.
Ich habe dreitausend Bajaderen vor mir allein tanzen lassen, die schönsten Weiber, die es auf der Erde gibt, sie gehörten mir mit Leib und Seele — das Getue hat mich nur angeekelt.
Ich habe gesoffen, dass ich ein halbes Jahr lang in einer Kaltwasserheilanstalt im Delirium lag — ich mache es nicht wieder. Die einzige Folge ist nur, dass jetzt auch Haschisch und Opium gar keine Wirkung mehr auf mich haben, von Alkohol gar nicht zu sprechen.
Nichts, gar nichts!
Wenn ich nur irgend etwas wüsste, was mich interessierte, worüber ich einmal staunen, lächeln, herzlich lachen könnte —«
Der nette Jüngling, der sich hier so hübsch offenbart hatte, brach ab.
Hinter ihm hatte es leise geklappt.
Bei dem Kanonenschuss damals hatte er sich nicht umgedreht.
Hier aber, wenn es klappte, das war etwas ganz anderes.
Er wendete den Kopf und den ganzen Körper, um zurückzublicken, was da so eigentümlich geklappt hatte.
Es war nämlich wie ein einmaliges Händeklatschen gewesen — ein Ton, von dem er nicht wusste, wie ihn irgend etwas an dem Aeroplan hätte von sich geben können.
Und wie er nun rückwärts blickte, da hätte er allerdings einmal allen Grund zum Staunen gehabt.
Nämlich weil er seinen Aeroplan nicht mehr sah.
Der war weg!
Hatte er sich etwa von allein in Gang gesetzt und war davongeflogen?!
Gar nicht daran zu denken!
Der Benzinmotor machte wie alle seine Kollegen immer einen Heidenspektakel, knatterte, dass man sein eigenes Wort nicht vernahm.
Davon gerollt, über den Rand des Felsens hinabgestürzt?
Ebenfalls ganz ausgeschlossen.
Die Räder ließen sich in die Höhe stellen, dass der Bootskasten fest am Boden lag, und das hatte Mister Sharp getan, das wusste er bestimmt, da gab es gar seinen Irrtum.
Und selbst auf Rädern rollte das schwere Ding nicht so leicht davon, auf dieser völligen Ebene, zumal wo jetzt völlige Windstille herrschte.
Nein, sein Aeroplan war ganz einfach mit einem Male spurlos verschwunden, so wie ein Taschenspieler irgend einen Gegenstand aus seinen Händen spurlos verschwinden lässt. Geschwindigkeit ist keine Hexerei.
Hier aber ließ sich das nicht so leicht mit Geschwindigkeit erklären, hier musste man eher an wahre Hexerei glauben.
Also jetzt hätte Mister Reginald Sharp allen Grund gehabt, einmal zu staunen.
Falls er es tat, so war ihm davon doch nichts anzumerken.
Er ging hin, wo, wie er genau wusste, der Apparat gestanden, hatte dazu genau neun Schritte nötig.
Glaubte er etwa, der Aeroplan habe sich unsichtbar machen können, sonst stände er noch da, sei nur nicht zu sehen, weil er sogar wie fühlend mit den Händen um sich tastete?
Er bekam ihn nicht zu fühlen.
Dann schritt er dorthin, wohin der Aeroplan sein Vorderteil gerichtet gehabt hatte.
War er doch etwa fortgerollt, so konnte er also nur diese Richtung genommen haben.
Mit etwa fünfzig großen Schritten, die ungefähr vierzig Metern entsprachen, hatte er den Rand des Plateaus erreicht.
Dort unten lag die Jacht.
Noch direkter unter ihm aber lagen die Riffe, zwischen denen das Wasser spritzte,
Jetzt bewies der junge Mann, wie gänzlich schwindelfrei er war.
Er trat nicht nur dicht an den scharfen, wie gemauerten oder gemeißelten Rand, sodass seine Fußspitzen noch etwas darüber hinausragten, sondern er beugte sogar auch noch den Oberkörper ganz bedeutend vornüber.
Wer das beobachtet hätte — es war eine schauderhafte Situation, die auch dem Zuschauer eine Gänsehaut vor kaltem Entsetzen erzeugen musste.
Der Yankee aber blickte ganz gleichmütig, die Hände in den Seitentaschen der Sportjacke, in die furchtbare Tiefe, in die ihn der leiseste Stoß von hinten hätte stürzen müssen.
Nein, dort unten lag sein Aeroplan nicht. Er hätte die Trümmer unbedingt sehen müssen.
Aber überhaupt hatte er gar nicht vermutet, die Trümmer zu erblicken. Er hielt es eben für ganz ausgeschlossen, dass sich der Apparat in Bewegung gesetzt haben könnte.
»Er ist wie durch Zauberei verschwunden, Wie ist dieses Rätsel zu lösen?«
Mit diesen Worten zog er den vorgebeugten Oberkörper wieder zurück und wandte sich um.
Und da sah er schon des Rätsels Lösung, wenigstens einen Anfang dazu!
In der Mitte des Plateaus, also zweifellos gerade dort, wo der Aeroplan gelegen hatte, war eine viereckige Öffnung entstanden.
Das konnte Mister Sharp schon von hier aus erkennen, vierzig Meter bedeuteten dabei keine Entfernung, allerdings auch, dass dieses Loch viel zu klein war, um seinen Aeroplan zu verschlucken.
Nicht einmal der lange, bootsähnliche Kasten wäre hineingegangen, noch viel weniger die gewaltigen Flügel.
Aber wie diese kleine Öffnung, so hätte auch noch eine viel größere vorhin entstehen können, die hatte ganz einfach seinen Aeroplan verschluckt, und nur das letzte Wiederschließen hatte ein Geräusch dabei gegeben, das eigenartige Klappen oder Klatschen.
So sagte sich Mister Sharp in aller Gemütsruhe, während er auf die Öffnung zuging.
»Wenn sie sich nur nicht wieder schließt, ehe ich sie erreicht habe. Ich will mein zweites Frühstück haben.«
Nein, die Öffnung schloss sich nicht wieder.
Also es war ein viereckiges, quadratisches Loch von etwa einem Meter Seitenlänge.
Und in diesem Loche sah Mister Sharp den Anfang einer eisernen Wendeltreppe, die aber nicht ins Finstere hinabführte, sondern in einiger Tiefe schimmerte es schon wieder hell.
Ohne Zögern stieg er hinab, passierte eine kaum einen Meter starke Felsendecke, dann hatte er schon alles vor oder doch unter sich, bis er den Boden erreichte
Es war eine mächtige Turnhalle, mit allen nur möglichen Geräten und Apparaten ausgestattet, mit solchen, die der Amerikaner kannte, und mit solchen, die er und wohl auch noch kein anderer Mensch gesehen hatte, der nicht hierher gehörte.
Solch ein Mensch war jetzt nicht zu sehen Alles aber machte doch gleich den Eindruck, dass diese Turnhalle fleißig benutzt wurde.
Noch sei gleich bemerkt, dass in den einschließenden Felswänden nichts von Fenstern zu bemerken war, keine andere Lichtquelle, und dass dennoch alles von einem hellen, weißen, aber nicht blendenden Licht erfüllt war, das auch bis in die entfernteste Ecke drang.
Doch woher dieses rätselhafte Licht kam, darüber machte sich der junge Yankee keine Kopfschmerzen.
Er wandelte langsam an den Wänden entlang, an denen hauptsächlich die Geräte aufgestellt waren, wenn auch in der Mitte des riesigen und entsprechend hohen Saales einige standen, wie zum Beispiel ein Pferd, das bekannte Turngerät, auch schon von den alten Römern benutzt, beim römischen Militär, ein Springtisch und andere Geräte, deren Benutzung einen Anlauf erforderten.
Und Mister Sharp begnügte sich nicht nur mit dem Ansehen, sondern bald gab er seine passive Rolle eines Museumsbesuchers auf.
Nachdem er lange genug ein einfaches Reck betrachtet hatte, nahm er die qualmende Pfeife aus den Zähnen, bückte sich, legte sie an den Boden, rieb auf diesem, der mit Holzbrettern oder wahrscheinlicher mit einer Holzmasse verkleidet war, energisch die Hände ab.
Und wie er dies tat, wie er die Hände auf dem Boden abrieb, das musste einem Jünger der edlen Turnkunst gleich eine Erkenntnis beibringen.
Und richtig, dem graziösen Anspringen an die eiserne, aber holzfurnierte Reckstange folgte eine elegante Kippe mit anschließender Schwungstemme, und ebenso elegant ging er wieder ab, dann freilich gleich die Innenflächen seiner weiberhaft gepflegten Hände betrachtend, die aber doch einen recht kräftigen Eindruck machten.
»Es geht ja noch! Ich sollte mir so etwas doch an Bord meiner Jacht einrichten, das ewige Hantelstemmen ist ja langweilig.«
Freilich hatte er es ohne jede Freude oder Begeisterung gesagt.
Er setzte seine Untersuchungsreise fort, immer einmal probierend, und da gab es ja nun sehr, sehr viel zu probieren.
Da war zum Beispiel wiederum solch ein hölzernes, mit Leder überzogenes Pferd, in der Mitte die beiden üblichen »Pauschen«. Das sind also die halbkreisförmigen Erhöhungen, welche der Turner bei seinen Evolutionen als Handgriffe benutzt, wenn er über dem Pferde seine Beine quirlen lässt.
Es stand nicht auf dem gewöhnlichen grauschwarzen Boden, sondern innerhalb einer weißen Kreisfläche von beträchtlicher Ausdehnung, über welche ein Laufbrett nach dem Gerät hinführte.
Wozu dieses Laufbrett, das sollte Mister Sharp bald erfahren.
Zunächst dachte er nicht an eine Benutzung desselben, wollte gleich so hingehen.
Aber schnell zog er den Fuß wieder zurück, sobald er die weiße Fläche berührt hatte.
Denn der weiße Boden hatte unter seinem Fuße sofort nachgegeben, mit einer geradezu unheimlichen Leichtigkeit.
Es war nicht anders gewesen, als wenn man einfach in Luft, ins Leere getreten wäre, wenn der weiße Boden auch gleich wieder in die Höhe ging, ohne einen Eindruck zu hinterlassen.
Also eine ungemein fein gefederte Matratze oder vielleicht auch ein Springnetz, oben nur noch einmal gepolstert.
Mister Sharp hielt sich nicht mit weiteren Versuchen auf, den nachgiebigen weißen Boden überschreiten zu wollen, sondern er benutzte das feste Laufbrett.
Kaum hatte er sich auf das Pferd geschwungen, als sofort das Brett hinter ihm hochklappte, sich von ihm entfernend, sodass es außerhalb der weißen Kreisfläche aufrecht stand.
Doch hiervon hatte Mister Sharp nichts bemerkt, und nicht nur deshalb nicht, weil es hinter seinem Rücken geschehen war.
Kaum saß er nämlich rittlings auf dem lederüberzogenen Holzgestell, als dieses unter ihm lebendig wurde, zu bocken anfing, wie es der unbändigste Mustang nicht tut, wenn ihn der Cowboy zum ersten Male besteigt.
Es war auffallend genug, dass der junge Mann nicht im ersten Augenblick herabgeschleudert wurde.
Es kam doch gar zu unerwartet, und dann war es eben eine furchtbare Bockerei!
Mister Sharp verriet dadurch, dass er auch im Sattel des wildesten Pferdes zu Hause war.
Lange freilich sollte er sich nicht behaupten können, keine fünf Sekunden.
Er hatte offenbar die Absicht, die Pauschen zu erreichen, um sich an diesen festklammern zu können, denn das war unbedingt nötig, irgend einen Halt musste man auch mit den Händen haben, zunächst klammerte er sich nur mit den Beinen fest, aber sobald er diese löste, um nach vorn zu rutschen oder zu schnellen, flog er auch schon in einem großen Bogen durch die Luft.
Da zeigte es sich, wie gut es war, dass die weiße Kreisfläche so groß und so ungemein nachgiebig war.
Mister Sharp landete in beträchtlicher Entfernung von dem hölzernen Ungetüm, aber doch auch immer noch ein gut Stück entfernt von dem festen Boden, platt auf dem Rücken, nur die Beine noch hoch in die Luft gereckt, und zwar sauste er aus einer Höhe von etwa sechs Metern herab.
So hoch hatte ihn der nur etwas über einen Meter hohe Apparat geschleudert.
Also wenn er auf den harten Boden gefallen wäre, er hätte sich alle Knochen brechen können.
Aber in diese weiche Masse sank er wie in ein Eiderdaunen ein — nein, er war wie in ein Sprungnetz gefallen, wohl das Elastischste, was man sich denken kann, noch nachgiebiger als das Sprungtuch, dessen sich die Feuerwehr bedient, aus starker Leinwand bestehend, weil bei dem Netz sich jeder einzelne Faden ausdehnen kann.
Und noch etwas anderes war dabei passiert!
Wie Mister Sharp so tief eingebettet dalag, machte er ein unbeschreiblich verdutztes Gesicht, wie man es niemals für möglich gehalten hätte, wenn man eben dieses sonst so unbewegliche Gesicht kannte.
Und dann lag es auch in seiner Stimme.
»Sapristi, so etwas ist mir noch nicht passiert!«
Nun aber war es auch wieder vorbei.
Er erhob sich, arbeitete sich ans feste Land, was nämlich gar nicht so einfach war, weil man sich immer in einem tiefen Loche befand, fast nur mit dem Kopfe hervorsah, und dieses Loch musste man so immer vor sich her schieben, bis man eben das Ufer erreichte und hinaufkletterte.
So hatte auch Mieter Sharp getan, und nun stand er oben, die Arme über der Brust verschränkt, und betrachtete das heimtückische Holzpferd, das sofort wieder steif geworden war, sobald es seinen Reiter abgeschleudert hatte.
»Das muss ich noch einmal probieren.«
Wie er das Laufbrett wieder herunterklappte, hatte er schnell heraus, er überschritt es, und diesmal machte er einen eleganten Satz, der ihn sofort zwischen die Pauschen, die also gewissermaßen den Sattel bildeten, beförderte.
Augenblicklich begann das Holzpferd sein Toben wieder.
Diesmal aber ließ sich der Reiter nicht wieder abschleudern, weil er sich eben mit beiden Händen an den Pauschen festklammerte.
Mehr konnte er freilich nicht tun, als sich krampfhaft an den Pauschen festhalten.
Und auch das sollte nur einige Zeit währen.
Zuerst wurden seine Beine abgeschleudert, die er einmal, aber gleich nach der ersten Viertelminute, nicht fest genug umschlungen hatte, er wäre wiederum im Bogen durch die Lust geflogen, wenn er sich eben nicht mit den Händen an den Pauschen festgehalten hätte, so kam er nur mit dem Körper von dem Pferd herab, und dieses bockte weiter, die Berührung mit den Händen schien zu genügen, um es lebendig zu erhalten, er zog sich wieder hoch, wurde aber immer wieder abgeschleudert, da ließ er die eine Hand von der Pausche los, um den Arm um den Leib des Pferdes zu schlingen, es gelang ihm nicht, sein Körper prallte immer ab, und da konnte er sich auch mit der einen Hand nicht mehr festhalten, er schlug einen Salto mortale, noch eine halbe Umdrehung dazu, und er bohrte sich, aus beträchtlicher Höhe herabsausend, in die weiche Unterlage ein.
»Hahahahahaha!!!«, erklang es da lachend, mehrstimmig, und zwar konnte man ganz deutlich eine oder zwei Kinderstimmen unterscheiden, die eines Weibes und die sehr tiefe eines Mannes.
Mister Sharp hatte sich wieder ans sichere Ufer gearbeitet, und der Gaul stand ruhig da.
»Wer hat da gelacht?«
Es erfolgte keine Antwort.
»Es sind also Menschen hier?!«
Keine Antwort.
»Wenn es ehrenwerte Menschen sind, die ich nicht zu fürchten habe, so werden sie mir Antwort geben.«
»Sie haben uns nicht zu fürchten, Mister Reginald Sharp!«, erklang es da ganz vernehmlich, aber man hätte nimmermehr taxieren können, aus welcher Entfernung.
»Wer sind Sie?«
»Das erfahren Sie später!«, erklang wiederum die tiefe Männerstimme.
»Wann?«
»Wenn die Zeit dazu gekommen ist.«
»Heute noch?«
»Vielleicht — vielleicht auch nicht.«
Hiermit gab sich Mister Sharp vorläufig zufrieden — so wenig es auch gewesen war.
»Sie sind hier sozusagen der Hauswirt?«, fragte er dann weiter.«
»Ja.«
»Haben Sie meinen Aeroplan vorhin von dort oben verschwinden lassen?«
»Ja.«
»Weshalb?«
»In sehr kurzer Zeit wird ein plötzlicher Orkan über diese Gegend brausen, er hätte Ihren Aeroplan auf Nimmerwiedersehen entführt.«
»Sind Sie allwissend?«
»Nein. Ich kenne nur die hiesigen atmosphärischen Verhältnisse.«
»Bekomme ich meinen Aeroplan wieder?«
»Selbstverständlich.«
»Wann?«
»Wenn der Orkan sich ausgetobt hat; sobald Sie es wünschen.«
»Weshalb haben Sie im Boden dann das kleinere Loch geöffnet?«
»Um Sie einzuladen, sich hier herunter zu begeben.«
»Also Sie gestatten mir, dass ich hier Umschau halte?«
»Wir hätten Sie sogar dazu noch aufgefordert; aber es war nicht nötig.«
»Weshalb haben Sie vorhin gelacht?«
»Verzeihen Sie uns, aber es sah gar zu possierlich aus, wie Sie in der Luft herumzappelten und dann den Salto mortale schlugen. Übrigens können Sie froh sein, dass wir lachen mussten, so sehr wir uns auch zu beherrschen suchten; denn sonst hätten Sie nichts von der Anwesenheit anderer Menschen gemerkt, wir hätten uns nicht sobald offenbart. Nun aber ist das Eis einmal gebrochen, wenigstens kann ich schon jetzt mit Ihnen sprechen, zeigen darf ich mich allerdings noch nicht.«
»Sie haben wohl noch einen Vorgesetzten?«
»Allerdings.«
»Wer ist das?«
»Das werden Sie alles später erfahren.«
»Also Sie haben gelacht, wie ich abgeworfen wurde. Können Sie es denn besser machen?«
,Ich allerdings nicht, das muss ich offen gestehen.«
»Ist ein anderer hier, der es besser machen kann?«
»Gewiss.«
»Er soll einmal kommen und es mir vormachen, wie er sich auf dem tollen Bocke hält.«
»Das ist, wie gesagt, jetzt nicht angängig, es darf sich noch niemand zeigen — — halt, soeben bekomme ich von dem, der hier mehr zu sagen hat als ich, eine andere Anweisung. Es wird gleich jemand kommen. Sie dürfen ihn aber nichts fragen.«
»Ich werde ihn nichts fragen. Er soll mir nur vormachen, wie er sich auf dem Dinge da behaupten kann.«
»Das heißt, Sie dürfen ihn nichts fragen, was mit dem ganzen Geheimnisse zusammenhängt, wer wir sind und so weiter. Andere Fragen sind erlaubt. Der Mann wird nämlich bei Ihnen bleiben, er soll Ihnen als Führer dienen.«
»Ich brauche keinen Führer.«
»Ah, es macht Ihnen mehr Vergnügen, hier allein auf Untersuchung zu gehen.«
»So ist es.«
»Gut, so wird sich der Mann dann gleich wieder entfernen. Sollten Sie dennoch einmal etwas zu fragen haben, so tun Sie es, ich höre es; ob ich auch antworte, das ist freilich eine andere Sache.«
»Jetzt schicken Sie mir nur den Mann!«, entschied Mister Sharp, als ob er hier schon zu befehlen hätte.
»Da kommt er schon.«
Eine Wandtür öffnete sich, hinter der man nur eine Schranknische vermutet hätte; heraus trat ein junger Mann, oder vielmehr ein knabenhafter Jüngling noch, nur bekleidet mit einem grauen Trikot, welches den herrlichen, sehnigen, äußerst muskulösen Wuchs wie am nackten Körper erkennen ließ.
»Mister Sörensen, ein Schwede, trotz seiner siebzehn Jahre schon einer unserer besten Vorturner!«, sagte die Stimme des Unsichtbaren noch.
Der Nordgermane war in dem blauäugigen, flachsblonden Jüngling auch gleich zu erkennen.
Ohne den Amerikaner eines Blickes zu würdigen, ging er, wie er aus dem Schrank trat, der sich von selbst hinter ihm wieder schloss, direkt auf den weißen Kreis zu, immer schnelleren Schrittes, bis er zuletzt einen kurzen Anlauf nahm.
Der Durchmesser dieser weißen Kreisfläche betrug etwas mehr als acht Meter, genau in der Mitte stand das Pferd, war also mit seiner Seitenlänge mindestens vier Meter von dem Rande entfernt, und der Jüngling kam von der Seite.
Er benutzte nicht das Laufbrett, das überhaupt noch hochgeklappt war, sondern sauste mit einem kolossalen und dabei doch hocheleganten Hechtsprung, also den Kopf voraus, die Hände vorgestreckt, durch die Luft und saß sofort rittlings zwischen den Pauschen.
Es war wirklich ein erstaunliches Aufsitzen gewesen. Vier Meter wollen doch übersprungen sein, und nun dabei diese Grazie!
Sofort begann das hölzerne Pferd zu bocken.
Dabei bemerkte Mister Sharp jetzt, dass sich die hölzernen Beine abwechselnd hoben und senkten — natürlich, das mussten sie ja tun, um diese Bewegungen zustande zu bringen — aber sie verließen dabei den Boden nicht, sondern schoben sich aus diesem heraus und wieder hinein, verlängerten und verkürzten sich also.
Anders war es ja überhaupt kaum möglich. Der ganze Mechanismus war eben unter dem Boden angebracht, und am genialsten war dabei die Unregelmäßigkeit der Bewegungen, eben genau einem unbändigen, furchtbar bockenden Pferde entsprechend.
Nun aber der Jüngling!
Das war doch das Erstaunlichste dabei!
Wie der auf dem bockenden Pferde herumquirlte!
Zu beschreiben ist ja so etwas nicht, und mit turnerischtechnischen Ausdrücken wollen wir hier nicht kommen.
Kurz, er machte die schwierigsten Evolutionen durch, welche die besten Turner am Pferde fertig bringen, und die Virtuosen unter ihnen bringen da ja etwas fertig! Dass man Arme und Hände und Füße und Beine zuletzt gar nicht mehr sieht.
Das ist auch so etwas, was noch in keinem Zirkus und in keinem Varieté gezeigt worden ist, wie überhaupt die berufsmäßigen Artisten gar nicht so sehr erfinderisch sind, die bedürften sehr der Anregung für neue Tricks. So etwas bekommt man bis heute nur in der deutschen Turnhalle zu sehen, des Abends, von Männern, die am Tage den nüchternsten Beschäftigungen nachgehen, oft nicht vom Schreibsessel oder Schneidertisch herunterkommen.
Und diese immer raffinierter werdenden Übungen nun führte der Jüngling auf dem furchtbar bockenden Pferde aus!
Zuletzt machte er den Handstand, zeigte, wie sicher er war, wie ihn das hölzerne und doch lebendige Pferd trotz allen Bockens, als wolle es sich überschlagen, nicht herunter brachte, stand plötzlich auf den Füßen, zeigte auch so seine Festigkeit, und ging dann mit einem Riesensalto mortale, die ganze Kreisfläche überschlagend, ab und landete auf festem Boden.
Ungefähr fünf Minuten hatten die Evolutionen gewährt, mit unbeweglichem Gesicht hatte der Amerikaner zugeschaut, aber in seinen leuchtenden Augen war doch zu lesen, dass er sich dafür interessierte, dass er so etwas zu würdigen wusste.
Zu würdigen?
Es soll hier einmal etwas gesagt werden.
Da lernt man einen alten Herrn kennen, der für die Kunst schwärmt, besonders für Plastik. Jeden Tag geht er ins Museum, um die Skulpturen zu bewundern, die Marmor- und Gipsfiguren, über eine Athletengruppe kann er außer sich vor Entzücken werden, besonders wenn recht viele Hände und Füße abgebrochen sind, er spricht von gar nichts anderem.
Aber in den Zirkus geht er nicht, davon will er nichts wissen, da bringen ihn keine vier Pferde hinein.
»Solch eine brotlose Kunst! Verschont mich nur mit solchem Mumpitz!«
Lieber Leser, glaube mir: Dieser Mann ist ein stupider Schwätzer, ein Papagei, der von der Kunst überhaupt gar nichts versteht!
Der wahre Kunstkenner und Kunstenthusiast geht in den Zirkus, um den herrlichsten Gliederbau, den Gott selbst geschaffen hat, zu studieren, beim Anblick dieses Muskelspiels kann er in Verzückung geraten.
»Hat es Ihnen gefallen, Mister Sharp?«, fragte die Stimme des Unsichtbaren.
»Großartig!«, erklang es recht freudig aus dem sonst so kalten Munde. »Gestatten Sie, dass ich hier länger verweile?«
»So lange Sie wollen.«
»Dann gehe ich nicht eher von hier, als bis ich dieselbe Kunstfertigkeit an dem bockenden Dinge erreicht habe.«
»Können Sie. Wollen Sie einen Lehrer haben? Wollen Sie mit dem Unterricht gleich anfangen?«
»Jetzt noch nicht. Da muss ich mir erst ein Programm entwerfen, wie ich da von Übung zu Übung weitergehe; denn einen Lehrer will ich dabei nicht haben, sonst macht es mir keinen Spaß.«
»Wie Sie wünschen. Gestatten Sie aber, dass Ihnen Mister Sörensen gleich noch einiges andere zeigt, was sonst Ihrer Aufmerksamkeit entgehen würde?!«
»Well, kann er!«, änderte der Amerikaner jetzt seinen ersten Entschluss, keinen Führer und Erklärer haben zu wollen.
Der schwedische Jüngling war wohl schon instruiert, er war nicht gleich wieder in seinem Wandschrank verschwunden, sondern nach einer Nische gegangen, in der einige Gewehre und Pistolen hingen.
Nun sei erst noch etwas anderes bemerkt.
Man mag ein noch so guter patriotischer Deutscher sein, so muss man doch gestehen, dass wir Deutschen in gewissen Sachen anderen Nationen immer recht nachhinken.
Von der Kleidungsmode und ihren Torheiten wollen wir nicht anfangen.
Es sei nur an den Sport und alles, was damit zusammenhängt, erinnert.
Abgesehen von der freien Turnerei, die aber doch auch so ziemlich immer dieselbe bleibt, wollen wir Deutsche da gar nichts Selbstständiges erfinden.
Jeder neue Sport muss zu uns aus England importiert werden, nachdem er dort schon ganz abgekleppert ist; dann erst erwacht bei uns das Interesse dafür.
Zu unserer Kinderzeit wurde das englische Krocket eingeführt; dann kam wohl der Fußball daran, dann Lawn Tennis, dann Polo, dann Hockey, dann Golf — und es wird wohl gar nicht so lange dauern, dann werden wir auch das Kricket hier haben, dessen Meisterschaftsspielern man in England Denkmäler errichtet.
Dazwischen gibt es aber auch noch viele andere Sportspiele, die sich so nach und nach von England aus bei uns einbürgern. So zum Beispiel das famose Bogenschießen, in dem die Engländer Erstaunliches leisten und von dem auch bei uns schon Anfänge zu sehen sind.
Zu all diesen Sportspielen sind besondere Apparate und Utensilien nötig, die von irgend einem Kopfe doch erst erfunden werden müssen.
Und in diesem Erfinden sind jetzt die Amerikaner den Engländern noch weit über, diese lernen jetzt erst wieder von jenen.
Wenn man solche neue Sportbelustigungen, die athletische Übung erfordern, sehen will, da muss man nach Nordamerika gehen.
Der Schreiber dieses ist einmal in dem Palaste des New Yorker AthlethikKlubs gewesen und hat alle die Sportsäle durchwandert.
Was man da alles an solchen Apparaten und Spieleinrichtungen zu sehen bekommt!
Was da Phantasie und sportlicher Erfindungsgeist alles ausgeheckt und geschaffen hat!
Fürwahr, da interessiert und amüsiert sich auch der ernsteste Mann. Da möchte man nicht nur zusehen, sondern da möchte man gleich mitmachen. Und das könnte man niemals überdrüssig bekommen. Ist man mit allem durch, würde man mit derselben Lust wieder beim ersten Apparat anfangen.
Und da lernt man auch verstehen, weshalb die Nordamerikaner heute an die Spitze allen athletischen Sports gerückt sind.
Denn so ist es doch.
Die amerikanischen Jockeys haben die englischen schon längst aus dem Felde geschlagen. Man wettet nicht mehr auf die Pferde, sondern nur noch aus die Jockeys; denn das Pferd, auf das sich ein berühmter amerikanischer Jockey setzt, hat schon so gut wie gewonnen.
Die Zwanzigtausenfrankenpreise beim Taubenschießen in Monte Carlo und Ostende werden nur noch von Amerikanern gewonnen.
Den ungeheuerlichsten Weitsprung auf Schneeschuhen hat ein Amerikaner ausgeführt.
Ein Amerikaner, ein Student der technischen Hochschule in San Francisco, ist jetzt 219 Zentimeter hoch gesprungen, wie immer ohne Sprungbrett. Man messe sich diese Höhe einmal aus.
Und so ist das heute allüberall in Sachen des Sports.
Die Amerikaner halten die Spitze, die Engländer können sie nicht wieder erreichen, was die auch für verzweifelte Anstrengungen machen.
Und wer da nun meint, diese Sportbetätigung sei im Grunde genommen ganz überflüssiges Zeug, der muss dann auch glauben, dass die Regierungen große Summen für ganz Überflüssiges bewilligen, Stadions und dergleichen Einrichtungen erbauen, in denen bei den Wettkämpfen Fürsten den Vorsitz führen.
Nein. Man hat eben die Bedeutung des Sports endlich erkannt. Das im Sport führende Volk steht auch als Nation an erster Stelle, und das Volk, das keinen Sport treibt, ist dem Untergang geweiht. Das hat man heute durch historische Tatsachen erkannt, und danach richtet man sich.
Abgesehen davon, dass heute auch die englischen Sportsleute, wie ja auch der deutsche Kaiser, ihre Rennjachten in Philadelphia bauen lassen. Es ist beschämend, aber — — es geht eben nicht anders. Wer eine Rennjacht haben will, die sich mit der Konkurrenz messen kann, muss sie in Amerika bauen lassen. Die Amerikaner wissen eben etwas hineinzulegen, was den anderen Nationen noch unbekannt ist.
Woher denn nun diese Erfolge der Amerikaner?
Nun, die haben eben ihre besondere Trainingsmethode.
Anders ist es doch wohl nicht möglich.
Und zum Trainieren haben sie eben solche Apparate, von denen der Uneingeweihte, der nicht Mitglied des Klubs ist, doch nur die unschuldigen zu sehen bekommt, die nicht als Geheimnis gewahrt zu werden brauchen.
Bei diesen Übungen und Spielen handelt es sich aber auch noch um andere Erfolge, die man wohl nicht unnütz nennen darf.
Als Schreiber dieses den New Yorker Sportklub besuchte, durfte er auch einen Blick in einen Raum der Damenabteilung tun.
Da übten gerade einige Damen, junge und alte, im Seiltanzen, sie nahmen regelrecht Unterricht.
Ziemlich hoch war ein Seil gespannt, da tanzten und sprangen sie darauf herum, mit und ohne Balancierstange, bis sie einmal in das Fangnetz hinabpurzelten, ohne welches sie sich die Knochen zerschmettert hätten, so hoch war es.
Zu diesem Unterricht im Seiltanzen kamen sie täglich oder doch wöchentlich mehrmals, so regelmäßig wie man zur Klavierstunde geht.
Seiltanzen! So ein Unsinn!
Nun, es kommt wohl etwas mehr dabei heraus als meistenteils beim Klavierspielen, wodurch man anderen Menschen doch gewöhnlich nur das Leben verbittert, mit dieser gottewigen Klimperei.
Früher war die Amerikanerin als ein eckiges, ungelenkes Weib bekannt, als die denkbar schlechteste, ungraziöseste Tänzerin.
Heute ist die vornehme Amerikanerin durch ihre Grazie berühmt.
Besonders auf den Passagierdampfern hat man in den Gesellschaften Gelegenheit, zu sehen, wie geradezu entzückend alle diese jungen Amerikanerinnen tanzen können. Aber auch manche alte.
Das soll das regelmäßige Seiltanzen machen.
Und es ist zu glauben. Das erzeugt eben eine Sicherheit aller Glieder, die auf ebenem Boden sonst gar nicht zu erreichen ist.
Und ist es etwa nichts, sich solch eine Grazie und Elastizität bis ins hohe Alter zu bewahren? —
Der junge Schwede winkte und der Amerikaner kam.
Er war noch nicht in solch einem Sportklub gewesen, hatte dergleichen Apparate und Belustigungen noch nicht gesehen, hatte sich nicht dafür interessiert.
Wenn er früher geturnt hatte, so war das ja etwas ganz anderes.
»Das ist ein Gewehr!«, sagte Sörensen, ein solches aus dem offenen Schranke nehmend. Das Englisch des Schweden war nur ein wenig gebrochen.
»Das ist ein Gewehr!«, bestätigte der Amerikaner.
»Elektrisch.«
»Elektrisch?«
»Schießt ohne Pulver, Luft, Feder — schießt ohne alles, auch ohne Kugel.«
»Wie das?«
»Alles elektrisch.«
Sörensen gab eine nähere Erklärung, soweit er konnte.
Einen ähnlichen elektrischen Schießapparat sieht man manchmal auch schon bei uns, auf Jahrmärkten oder in Restaurationen, als Automat aufgestellt.
Auf einem Gestell ist ein Gewehr beweglich befestigt. Dieses lässt sich nach einer gegenüber befindlichen Scheibe richten, die mit dem Gestell durch eine Schiene verbunden ist.
Nun spannt man das Gewehr irgendwie, ohne es sonst geladen zu haben, zielt und drückt ab. Das heißt, nachdem man den üblichen Groschen in den Schlitz gesteckt hat.
Ohne dass doch die Scheibe von einem Projektil getroffen ist, zeigt sich dort, wo sie von einer Kugel getroffen worden wäre, ein roter Punkt, der durch Druck auf irgend eine Vorrichtung wieder entfernt wird
Ist der Apparat in Ordnung, so wird wirklich ganz genau die Stelle angezeigt, wo man getroffen haben würde, wenn man mit einer Kugel geschossen hätte.
Es ist dies eine elektrische Einrichtung, die auf demselben Prinzip beruht wie die Ferntelegrafie, am besten vergleichbar mit der telegrafischen Übertragung von Schrift und Zeichnungen.
In dem Gewehrgestell sowohl wie in der Scheibe ist je eine Magnetnadel angebracht, die genau miteinander korrespondieren. Die kleinste Abweichung der Laufmündung wird auch innerhalb der Scheibe an einem Magneten mitgemacht, der durch einen roten Punkt gekennzeichnet ist und der dann beim Abdrücken zum Vorschein kommt.
Mag diese Erklärung genügen.
Die Entfernung zwischen Laufmündung und Scheibe beträgt bei solchen Automaten immer nur wenige Meter.
Natürlich lässt sich das aber auch für jede andere Entfernung arrangieren, und durch geeignete Vorrichtungen kann man diese Entfernungen auch beliebig verändern, das heißt scheinbar. Sowie die Jägerbüchse Modell 71/84 bei Standvisier Kernschuss auf 200 Meter hat. Schießt man aber mit Zielmunition, mit Hilfe einer eingesetzten Stahlpatrone, so bedeutet das dann nur den zehnten Teil, nur 20 Meter, und wird auch die Scheibe entsprechend verkleinert, so bedeutet das dann dennoch ein Zielen und Schießen auf 200 Meter.
Dies alles lässt sich auch bei den elektrischen Büchsen erreichen, im Grunde genommen sogar noch viel einfacher.
»Sie sehen dort die Scheiben.«
An der gegenüberliegenden Wand waren sie aufgestellt, vier Stück, neben- und übereinander, von verschiedenen Größen. Bei der kleinsten schwammen auch für das schärfste Auge die Ringe schon durcheinander.
»Die große ist für 100 Meter eingestellt, die nächste für 200, die dritte für 500, die kleinste hat eine Entfernung von tausend Metern zu bedeuten. Es handelt sich darum, wo der Schütze abkommt, wie hoch oder wie tief er hält. Kernschuss ist auf 300 Meter eingerichtet.«
Sörensen nahm einen doppelten grünumsponnenen Draht, der von der Wand herabhing, am Ende mit einem Stöpsel versehen war, steckte diesen in eine Öffnung, die sich unten am Schloss des Gewehres befand.
»So, die elektrische Verbindung ist hergestellt. Nun ziehe ich hier diesen kleinen Hebel zurück und das Gewehr ist geladen, wenn auch keine Patrone und keine Kugel und gar nichts drin ist. Der ganze Schuss ist nur imaginär oder wie man das nun sonst nennen mag. Ich ziele auf die Scheibe, welche für uns eine Entfernung. von 200 Meter bedeutet, nehme gestrichenes Korn, muss aber natürlich ein gutes Stück unter das Zentrum halten, jetzt —«
Sörensen hatte gezielt und drückte ab.
Nur ein leises Knacken und an der zweiten Scheibe sprang ein roter Fleck hervor, etwas links unter dem Zentrum.
»Zentrum wäre zwölf. Ich dürfte aber nur eine Zehn geschossen haben. Da steht es auch schon selbsttätig registriert.«
An dieser Wand, wo die beiden standen, befand sich ein kleiner Kasten, in den Fächern war eine Zehn hervorgesprungen.
»Nun wollen Sie probieren.«
Sharp nahm das Gewehr, schoss mehrmals nach den verschiedenen Scheiben, erst sehr schlecht, verbesserte sich aber schnell. Sobald der Hahn wieder gespannt wurde, verschwand an der Scheibe der rote Punkt und in dem Kasten die anzeigende Zahl.
»Was machen Sie da?«
Sörensen hatte aus dem Gewehr, das sich noch in des Amerikaners Händen befand, den Draht mit dem Stöpsel gezogen.
»Es ist nicht nötig.«
»Was ist nicht nötig?«
»Dass der Draht eingesteckt wird. Wir stehen durch den Fußboden mit der Scheibe in elektrischer Verbindung. Nur früher musste man den Draht gebrauchen und ich steckte ihn ein, um meine vorhergehende Erklärung zu demonstrieren. Er ist nicht mehr nötig.«
Mister Sharp schoss weiter ohne Draht, nahm auch andere Gewehre, die wieder für andere Entfernungen eingerichtet waren, auch mit Revolvern und Pistolen, die auch mehrere Schüsse hintereinander gestatteten, alles durch elektrische Übertragung.
Dieses Schießen machte ihm offenbar großen Spaß, er traf auch immer besser.
Nun bedenke man, wenn jemand Talent zum Schießen hat, sicheres Auge und sichere Hand, und er gibt täglich seine tausend Schüsse ab, was der für eine Treffsicherheit bekommen muss!
Dabei ist gar nicht nötig, dass er sich durchaus zum Kunstschützen ausbilden will.
Schießen und Treffen ist nach der Marschtüchtigkeit doch noch immer die Hauptsache beim Militär.
Dass auch bei uns der Soldat viel zu wenig schießt, das ist ja bekannt genug. Die paar Bedingungen, die er erfüllen muss — na, was ist denn das?
Die Schießerei ist eben eine teure Geschichte! Das sind keine Patronen, die wie beim Tesching hundert Stück eine Mark kosten.
Und nun erst das Geschützschießen, Feld und Festungsartillerie, und gar Strand- und Schiffsgeschütze! Bei dem größten deutschen Schiffsgeschütz, Kaliber 42 Zentimeter, wiegt die Granate etwas mehr als 20 Zentner, wozu 410 Kilogramm prismatisches Pulver nötig sind.
Solch ein Schuss kostet 3500 Mark. Nun ist hierzu aber noch die Abnutzung des Geschützes zu rechnen, und zwar garantiert Krupp nur für 30 Schuss. Infolgedessen kommt solch ein einziger Schuss auf mindestens 6000 Mark zu stehen!
Unter solchen Verhältnissen kann doch natürlich nicht viel von einem Übungsschießen die Rede sein.
Der beste Mann, der im Geschützschießen ausgebildet wird, feuert in der deutschen Marine nur ein einziges Mal eine Achtundzwanzigzentimeterkanone ab.
Bisher gibt es noch keinen billigeren Ersatz.
Das wird sich aber ändern, wenn dieses elektrische Schießen erst allgemein eingeführt ist.
Dann wird sich in jeder Mannschaftsstube ein elektrischer Scheibenstand für Gewehr und, wo angebracht, auch ein solcher für Geschütze schwersten Kalibers befinden.
Dieses elektrische Schießen kostet so gut wie nichts. Nur eine verschwindend kleine Menge Elektrizität.
Und man kann dabei ganz, ganz genau denselben Zweck erreichen. Jede Entfernung lässt sich vortäuschen; denn wenn auch alles nur auf Täuschung beruht, so lässt doch absolut nichts die Wirklichkeit vermissen.
»Gibt es hier nicht bewegliche Ziele?«, fragte Mister Sharp, nachdem er in zehn Minuten wenigstens hundert Schüsse abgefeuert hatte, in aller Gemütsruhe, immer den Treffer kontrollierend. Er brauchte ja immer nur den Hahn zu spannen, und bei einigen Gewehren und Pistolen nicht einmal das, und der Treffer wurde im Nu angezeigt, verschwand sofort wieder, und dabei wurde keine Scheibe lädiert.
Der Vorturner ging nach einem anderen, ganz in der Nähe stehenden Apparat. Es war wiederum ein Pferd, diesmal aber ein richtiges, wenn auch nicht lebendiges, ein ausgestopftes, oder eine Holzfigur in natürlicher Größe, mit Leder überzogen, so wie man solch ein Pferd manchmal in den Schaufenstern von Sattlern stehen sieht, und so war es auch gesattelt und gezäumt.
Freilich war nur der Kopf und der Rücken zu sehen. Der untere Teil war mit einer Schabracke verdeckt, wie sie früher im Mittelalter die Pferde der Ritter oder Herolde bei feierlichen Aufzügen trugen, wo man das Pferd also in so eine Art Weiberkittel steckte.
Und außerdem sah direkt vorn aus dem Pferderücken ein Hebel mit Zahnradstange hervor, den kein Gaul in seinem Fleische geduldet hätte.
Der Jüngling, der ein Gewehr mitgenommen hatte, schwang sich in den Sattel, stemmte die Füße in den Steigbügeln fest, fasste mit der linken Hand regelrecht die Zügel, und mit der rechten fingerte er an dem Hebel herum.
»Sie sehen hier diesen Hebel. Er setzt das Pferd in Bewegung und ist auf sechs Gangarten einzustellen: einfacher Schritt, langsamer Trab, flotter Trab, kurzer Galopp, gestreckter Galopp und schnellste Karriere. Das Pferd kommt dabei zwar nicht von der Stelle, die verschiedenen Gangarten aber lassen dabei nichts an Wirklichkeit vermissen.«
Er drehte den Hebel, das Pferd wurde lebendig und machte alle die genannten Gangarten durch.
Wenn es dabei auch nicht von der Stelle kam, so machte der ganze Pferdeleib doch tatsächlich genau die entsprechenden Bewegungen, was besonders am Reiter zu erkennen war, wie er sich im Sattel hob und senkte und wie er geschüttelt und gerüttelt wurde.
Bald ließ auch seine linke Hand den Zügel fahren, er schoss in den verschiedenen Gangarten mit dem elektrischen Gewehr nach den Scheiben, gewöhnlich herzlich schlecht, traf sie oft gar nicht, auch am äußersten Rand zeigte sich kein roter Punkt.
Freilich will eben vom Pferde herab geschossen und getroffen sein, es braucht nur einfach zu schreiten, und nun gar im Galopp!
Wenn man gesehen hat, wie der bekannte Buffalo Bill im Galopp nach in die Luft geworfenen Tonscheiben schießt und sie meist zerschmettert, so muss man dessen Übung bedenken und dann, dass er dabei mit Schrot schießt, aus einem besonderen Gewehr, welches die starke Schrotladung außerordentlich weit verstreut.
»Ich habe hierin keine Übung!«, sagte der Turner, als er das Pferd wieder zum Stillstand brachte und aus dem Sattel sprang.
Mister Sharp nahm seine Stelle ein, schoss sofort bedeutend besser, besonders dann mit der Pistole. Mit dieser verfehlte er wenigstens niemals eine Scheibe, und das hatte schon viel zu sagen. Zentrum konnte man natürlich nicht verlangen.
Auch er verließ bald den Sattel wieder, langsam und gemächlich.
»Weshalb wird da nicht gleich ein richtiges, lebendes Pferd benutzt, auf dem man auch wirklich von der Stelle kommt? Weshalb da erst so eine mechanische Imitation?«
»Dieses künstliche Pferd hat vor einem lebendigen doch große Vorzüge.«
»Was für Vorzüge?«
»Erstens ist sein Anschaffungspreis viel geringer als der eines nur mittelmäßigen Gauls. Zweitens frisst es nichts. Drittens ist es bei richtiger Behandlung so gut wie unsterblich. Und viertens, wird es doch einmal krank, so kann es jeder Schlosser wieder kurieren.«
Wenn der Jüngling einen Witz hatte machen wollen, so verfehlte er bei Mister Sharp seine Wirkung. Er schien unzufrieden zu sein.
»Das war es nicht, wonach ich vorhin fragte. Ich meinte ein bewegliches Ziel, nicht einen beweglichen Schützenstand.«
»Solche bewegliche Ziele gab es früher in dieser Sporthalle auch, sie sind als überflüssig abgeschafft worden. Dafür haben wir jetzt eine ganz andere Einrichtung.
»Was für eine?«
»Bitte, wollen Sie mir folgen.«
Sharp war bereit. Es ging in einen Wandschrank hinein, aber wieder in einen anderen als den, aus dem der Turner vorhin herausgekommen war, es zeigte sich, dass es ein Fahrstuhl war.
Nur wenige Sekunden ging es hinab, dann betraten die beiden einen Raum.
Er war vielleicht zehn Meter lang und sechs breit.
An der einen Wand enthielt ein Schrank wieder Gewehre und Pistolen, dann stand dort eine Art Altar, der Hebel und Räder und Zahnstangen zeigte.
Sonst war das Zimmer leer, die weißen Wände nackt. Auch hier fehlten die Fenster und trotzdem herrschte helles Tageslicht, dessen Quelle nicht zu erkennen war.
»Wo kommt dieses Licht her?«
»Auf solche Fragen darf ich nicht antworten!«, entgegnete der schwedische Jüngling höflich, aber bestimmt.
»Es strahlt von den Wänden aus!«, ließ sich da wieder einmal die tiefe Stimme des Unsichtbaren vernehmen. »Es ist eine selbstleuchtende Farbe.«
Der Amerikaner gab sich mit dieser Erklärung zufrieden, benutzte die Gelegenheit nicht, um weitere Fragen zu stellen.
Sörensen drehte an dem Altar, wie wir den viereckigen Aufbau nur weiter nennen wollen, einen Hebel, zog eine Art von Register, und an der gegenüberliegenden Wand erschien ein Bild, die Lichtung in einem tropischen Urwald darstellend, bevölkert von Affen und Papageien und anderen Tieren, alles lebendig und in voller Farbenpracht.
Also Kinematografie. Nur wohl eine besondere, vervollkommnete Art, indem das Zimmer nicht verdunkelt zu werden brauchte, um alles aufs Deutlichste erkennen zu lassen, überhaupt alles von einer wunderbaren Deutlichkeit, die Farben ganz und gar natürlich, nicht das geringste Zittern. Nur die Stimmen fehlten.
Sörensen nahm ein Gewehr aus dem Wandschrank.
»Wegen der Entfernung will ich Ihnen jetzt keine Erklärung geben. Wir taxieren und schießen. Sobald der elektrische Schuss gefallen ist, bleibt das bewegliche Bild stehen, ein roter Fleck zeigt an, wo die Kugel getroffen hätte, also auch, wenn man das Tier oder sonst ein Ziel verfehlt, wenn man nur ein Loch in die Luft geschossen hat.«
Er legte das Gewehr an, zielte, wahrscheinlich nach einem Affen, der auf einem Baumast saß und sich gerade kratzte, ein leises Knacken, und plötzlich erstarrte das lebende Bild. Der fliegende Papagei blieb dort in der Luft kleben, wo er sich gerade befunden hatte, als das Gewehr abgedrückt worden war.
Es ist nichts Phantastisches, nichts Neues, was hier geschildert wird.
Gerade jetzt wird im deutschen Heere das kinematografische Bild als Zielscheibe eingeführt. Soldaten marschieren, rennen, legen sich hin, springen auf, eilen von einer Deckung zur anderen, und nach diesen beweglichen Figuren wird aus gewisser Entfernung scharf geschossen.
In dem Moment, da der Schuss sitzt, die Kugel die Leinwand durchlöchert, erstarrt das bewegliche Bild — eine Erfindung, die auch wieder aus Amerika kommt — man kann kontrollieren, wo getroffen oder daneben geschossen worden ist. Das Loch wird zugeklebt, und dann geht es weiter.
Nun hierzu noch eine Bemerkung.
Die Entfernung des Schützen braucht ja nur wenige Meter zu betragen, die Entfernung täuscht der Projektionsapparat vor, der die Figuren und das ganze Gelände gegen die Leinwand wirft; entfernen sich die Menschen, so werden sie auch immer kleiner.
Nun möchte jemand glauben, der die in Betracht kommenden physikalischen Gesetze nicht kennt, das wäre ja nur eine scheinbare Entfernung, der Schütze brauche sich hiernach nicht zu richten. Ist die Leinwand zehn Meter von ihm entfernt, so muss er eben das Gewehr entsprechend tief halten, um das Ziel zu treffen.
Dem ist aber nicht so! Täuscht das projektierte Ziel eine Entfernung von 300 Meter vor, so muss auch wirklich für diese Entfernung visiert werden, und so auch bei tausend Meter, sonst schlägt die Kugel viel zu tief ein!
Es ist hierbei genau wie beim Spiegel. Drückt man seine Nase gegen das Glas des Wandspiegels, so berühren sich eben die Nasenspitzen.
Tritt man drei Schritt zurück, so tritt auch das Spiegelbild drei Schritte zurück, und jetzt sind die beiden tatsächlich sechs Meter auseinander.
Tritt man fünfzig Schritt zurück und wollte man sein Spiegelbild durch den Kopf schießen, so müsste man Visier für hundert Schritte nehmen, oder man würde viel zu tief treffen.
Wer das ausprobieren will, braucht nicht seinen Wandspiegel kaputt zu schießen, er kann es auch durch Verstellen eines guten Opernglases konstatieren.
Dasselbe ist nun auch bei den kinematografischen Bildern der Fall, die doch nur eine Wiedergabe von fotografischen Aufnahmen sind.
Hier also war die Schießerei nur elektrisch, ein Projektil entflog dem Lauf gar nicht, also wurde die Wand auch nicht durchlöchert, der rote Treffpunkt wurde auf andere Weise hervorgezaubert, und um denselben nun immer deutlich zu machen, entfärbte sich in dem Moment, wo alles erstarrte, auch das ganze Bild, es bestand nur noch aus helleren und dunkleren Schattierungen, sodass man den roten Punkt auch sah, wenn man etwa das sonst rote Gefieder eines Papageis oder eine rote Blume getroffen hatte.
Wurde der Hahn wieder gespannt, so nahm das Bild in demselben Moment wieder die natürlichen Farben an und ebenso das sich abrollende Leben.
Es zeigte sich, dass Sörensen den Affen durch die rechte Schulter geschossen hatte.
»Bitte, wollen Sie probieren.«
Der Amerikaner gab Schuss auf Schuss ab. Fast jeden Vogel nagelte er mitten im schnellsten Fluge fest.
Doch bald legte er das Gewehr hin.
»Das macht mir keinen Spaß. Es lässt zu viel an Wirklichkeit vermissen; mindestens müsste es dabei auch knallen und —«
Schnell griff er wieder nach dem Gewehre. Aus dem Dschungel war ein mächtiger Elefant auf die Waldlichtung getreten.
»Dem will ich erst noch einen tödlichen Schuss beibringen!«
»Aber auf einen Elefanten schießt man doch nicht mit so einem SechsmillimeterTesching!«, sagte Sörensen, ihm schnell das allerdings sehr zierliche Gewehr wegnehmend und ihm dafür ein ganz anderes in die Hand gebend, den Dimensionen nach eine richtige Elefantenbüchse, schon mehr eine Handkanone mit langem Lauf zu nennen.
»Well, so ein Ding kenne ich, bei mir krachte das früher anders, da musste man sich vorher tüchtig feststemmen —«
Mister Sharp hatte während dieser Worte angelegt, er zielte nach dem Ohr und drückte ab.
Der Effekt war ein wunderbarer.
Diese elektrische Elefantenbüchse gab nicht nur einen leisen Knacks von sich, sondern unter einem Feuerstrom einen gewaltigen Knall, einen dröhnenden Donnerschlag.
Die elektrische Elefantenbüchse gab unter einem Feuerstrom
einen gewaltigen Knall, einen dröhnenden Donnerschlag.
Das Bild erblasste, der Elefant stand, wie er zuletzt gestanden hatte, und der rote Fleck zeigte, dass er hinterm Ohr getroffen worden war.
Und der Schütze lag an der Wand am Boden.
Er hatte sich nicht wie früher bei Benutzung seiner Elefantenbüchse festgestemmt, sondern hatte einfach das Gewehr so oberflächlich angelegt und losgedrückt. Mit Macht war er zurückgeschleudert worden, nur die nahe Wand hatte ihn daran gehindert, noch einen weiteren Purzelbaum zu schlagen, er war aber doch an der Wand zusammengesackt.
Geschadet hatte es ihm weiter nichts, aber jetzt machte er doch ein höchst verdutztes Gesicht, als er sich wieder aufrappelte.
»Höööh, was war denn das?!«
Wohl zuckte es eigentümlich in dem bartlosen Gesicht des jungen Schweden, aber er verstand sich zu beherrschen.
»Verzeihung, wenn dies meine Schuld gewesen sein sollte. Aber Sie sagten doch, Sie vermissten die Wirklichkeit, weil es beim Schießen nicht knallt, das lässt sich ja machen, da habe ich in die Elefantenbüchse eine Platzpatrone eingeschoben.«
»Aber das hätten Sie wenigstens sagen müssen!«
»Ich glaubte, Sie hätten es gesehen.«
»Es ist dennoch alles nur dummes Zeug! Der Elefant hat den Sprengschuss hinters Ohr bekommen, der ganze Kopf müsste ihm doch auseinander platzen, mindestens müsste er nun doch umfallen — aber nein, da steht nun das Vieh da wie ein ausgestopfter Affe im Museum.«
Da hatte er ja nun freilich recht, das war gar nicht der Wirklichkeit entsprechend.
»Das lässt sich nicht machen, dass das getroffene Tier auch hinstürzt?«
»Nein, das lässt sich allerdings nicht arrangieren.«
»Dann ist es eben nichts mit dieser elektrischen Schießerei. Ich will frühstücken. Meine Zeit ist da. Und solch ein kinematografisches Wild kann man doch nicht zerlegen und braten. Wo ist mein Aeroplan?«
»Darüber darf ich keine Auskunft geben.«
»Dann machen Sie, dass Sie wegkommen!«, wurde der Gentleman jetzt doch einmal ungnädig.
Er rieb sich noch immer das linke Schulterblatt.
»Ich habe den Auftrag, Ihnen hier noch alles zu zeigen, auch wie man hier ebenfalls zu Pferde schießen kann, und dann von einem bewegten Schiffsverdeck aus nach einem weit entfernten Schiffe auf hoher See, mit einer richtigen Kanone, mit Dreißigzentimetergranaten —«
»Ich danke für Kanonen und Granaten. Ich will mein zweites Frühstück haben. Wo ist mein Aeroplan?«
»Entfernen Sie sich, Sörensen!«, erklang da wieder die tiefe, sonore Stimme des Unsichtbaren.
Der Jüngling verneigte etwas das Haupt vor dem Amerikaner und verschwand durch die Tür, durch welche die beiden diesen Raum betreten hatten, also in den Fahrstuhl hinein.
»Sie haben es doch nicht übel genommen, dass der junge Mann Ihnen eine starke Platzpatrone ins Gewehr steckte?«, fuhr die Stimme fort, wieder aus unbestimmter Ferne kommend.
Man wurde an ein Telefon erinnert, und das mochte ja auch vorliegen.
»Ich nehme überhaupt nichts übel, aber solche Scherze liebe ich nicht.«
»Sörensen hat sich mit Ihnen keinen Scherz erlaubt —«
»Wo ist mein Aeroplan?«
»Sie wollen uns wirklich schon wieder verlassen?«
»Ganz und gar nicht. Ich will hier bleiben. Ich will das Turnen auf dem bockenden Pferd lernen. Ich will hier auch noch schießen. Auch mit Kanonen nach einem Schiffe. Es gefällt mir ganz gut. Nur möchte ich lieber allein sein, alles selbst untersuchen und finden. Und jetzt vor allen Dingen will ich mein zweites Frühstück haben. Ich habe Hunger.«
»Hier gibt es alles, es wird Ihnen sofort serviert werden —«
»Nein, ich will das essen, was ich mitgenommen habe. Dann später können Sie mir, wenn ich mich als Gast melde, nach Belieben vorsetzen, jetzt aber will ich das Frühstück haben, das sich in meinem Aeroplan befindet. Führen Sie mich hin.«
»Gut. Aber Sie wollen keinen Führer haben?«
»Angenehm ist es mir nicht. Sie können mich doch durch Worte leiten. Sie scheinen mich doch immer sehen zu können.«
»Das wohl, aber so einfach ist die Führung dann doch nicht. So werde ich Ihnen einen anderen Führer geben. Sie tragen doch als Uhrkette ein Lederband, ein kleines Riemchen, an diesem haben Sie als Berlocke ein kugelförmiges Medaillon, wahrscheinlich aus Stahl, schwarz brüniert.«
Mister Sharp bejahte, indem er gleich seine Sportjacke öffnete und das primitive Uhrband mit der Berlocke oder richtiger Berloque sehen ließ.
»In diesem Medaillon befindet sich eine zöllige Bleikugel, die Sie jeden Abend vor dem Schlafengehen, fünf Minuten vor acht, eingehend betrachten.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil wir Sie schon seit längerer Zeit beobachten.«
»Sie können wohl in die Ferne sehen?«
»So ungefähr. Ich spreche mit Ihnen durch ein drahtloses Telefon. Nehmen Sie an, dass wir auch einen entsprechenden Sehapparat haben, der an Bord Ihres Schiffes mündet, in Ihrer Kajüte.«
»So, also ich werde beobachtet!«
»Verlassen Sie sich darauf, Mister Sharp, dass dieser Apparat nur von Personen benutzt wird, die keinen Missbrauch damit treiben.«
»Und weshalb werde ich beobachtet?«
»Das möchte ich Ihnen später ausführlich offenbaren, jetzt noch nicht.«
»Meinetwegen, ich kann warten.«
»Nicht wahr, diese Bleikugel betrachten Sie jeden Abend vor dem Schlafengehen?«
»Ja, das ist mein wortloses Abendgebet.«
»Inwiefern Abendgebet?«
»Herr, das ist Privatsache.«
»Soll ich es Ihnen sagen?«
»Nun?«
»Sie haben den Burenkrieg mitgemacht. Auf Seiten der Buren gegen die Engländer. Weniger als Schlachtenbummler, noch weniger weil Sie für die Sache der Buren Sympathie hatten oder die Engländer hassten, sondern Sie wollten ganz einfach Menschen schießen, und nur in den Reihen der undisziplinierten Buren fanden Sie Aufnahme für Ihre Zwecke.
Mister Sharp, Sie sind kein richtiger Mensch, Sie ähneln mehr einem blutdürstigen Raubtier, aber Sie sind ein edles, königliches Raubtier.
Eines Tages, als Sie im Hinterhalt lagen, sahen Sie unter den englischen Gegnern, die Sie wegknallten, einen Mann, den Sie Ihren erbittertsten Feind nannten, den Sie glühend zu hassen auch allen Grund hatten, denn er hatte Ihnen alles geraubt, was Sie noch an diese Erde fesselte, durch den Sie das geworden sind, was Sie schon damals waren — kein richtiger Mensch mehr, schon bei lebendigem Leibe gestorben.
Dieser Mann war jetzt in Ihrer Hand. Er stand vor der Mündung Ihrer todsicheren Büchse.
Ihn aus dem Hinterhalte wegzuschießen, daraus machten Sie sich absolut kein Gewissen, und Sie brauchten es auch nicht, es war der unerbittliche Krieg, und dass Sie wirklich für die Buren kämpften, das bewiesen Sie einmal dadurch, dass Sie bereit waren, sich lieber auf die schrecklichste Weise martern zu lassen, als ein Geheimnis Ihrer Waffengefährten zu verraten.
Sie nahmen bedächtig Visier, aber Sie drückten nicht ab.
Sie dachten an das Mädchen, an das junge Weib, das Sie einst über alles geliebt und das dieser Mann, ein ausgemachter Schurke, Ihnen durch die gemeinsten Intrigen abtrünnig, Ihnen geraubt hatte.
Sie mögen auch an ihre Kinder gedacht haben, an die Kinder dieses englischen Offiziers, dieses Ihres Todfeindes.
Deshalb haben Sie ihn geschont. Deshalb haben Sie ihn dann auch aus der Gefangenschaft befreit und ihm die Möglichkeit verschafft, dass er nach England an seinen Herd zurückkehren konnte.
Oder ist es nicht so, Mister Sharp?«
Da geschah es einmal — in den bewegungslosen Zügen des jungen Amerikaners prägte sich einmal Staunen aus, sogar etwas wie grenzenloses Staunen!
»Herr, sind Sie allwissend?!«
»Allwissend bin ich nicht, nur viel ist mir bewusst.«
»Na und weiter?«, erklang es jetzt wieder ganz kalt.
»Sie benutzten damals einen Vorderlader. Nachdem Sie nun den englischen Offizier geschont hatten, zogen Sie den Schuss aus dem Lauf, Sie verließen dann den Kriegsschauplatz und haben seitdem nie wieder auf einen Menschen, aber auch nicht einmal auf ein Tier geschossen.
Für die betreffende Bleikugel ließen Sie sich aus dem Stahle jenes Gewehrlaufes ein Medaillon fertigen, in diesem tragen Sie die Bleikugel seitdem an der Uhrkette.
Und diese Bleikugel betrachten Sie jeden Abend vor dem Schlafengehen, was Sie wohl sehr richtig Ihr wortloses Abendgebet nennen.
Stimmt es nicht?«
»Stimmt alles!«, konnte der Amerikaner nur bestätigen.
»Wollen Sie diese Bleikugel jetzt aus dem Etui nehmen und sie auf den Boden werfen.«
»Wozu?«
»Das werden Sie gleich sehen. Es passiert natürlich nichts mit Ihrem Heiligtum, Sie erhalten es unversehrt zurück.«
Sharp öffnete das Medaillon, entnahm ihm die runde Bleikugel, das heißt rund insofern, als sie nicht verbeult war, was bei Gewehrkugeln doch vorkommen kann Doch sie war ja gar nicht gebraucht worden, auch das Herausziehen aus dem Lauf hatte ihr nichts weiter geschadet. Dagegen waren einige Zahlen eingeritzt, wohl ein Datum.
»Sie sind doch überzeugt, dass es Ihre Bleikugel ist?«, fragte die Stimme des Unsichtbaren erst noch einmal.
»Na selbstverständlich ist es meine Bleikugel.«
»Wollen Sie sie also hinwerfen.«
Sharp tat es.
Die Kugel rollte natürlich auf dem glatten, ebenen Boden.
Schnell aber zeigte es sich, dass die Sache denn doch nicht so ganz natürlich war.
Die Kugel hätte sich bald auslaufen müssen, aber sie rollte weiter, und jetzt beschrieb sie auf dem völlig ebenen, d. h. horizontalen Boden einen Bogen, ja jetzt lief sie sogar direkt zurück, auf den Amerikaner zu, dann wieder von ihm ab, gerade als wenn sie ihn einladen wolle, ihr zu folgen.
Vorläufig tat es Sharp noch nicht, er beobachtete nur.
»Sehr nett!«, meinte er nach einiger Zeit.
»Sie wundern sich nicht?«
»Nein.«
»Kommt Ihnen denn das so natürlich vor, wie sich die Kugel so selbstständig bewegt?«
»Dafür gibt es eine Erklärung.«
»Welche?«
»Das ist nichts anderes als Fernführung durch elektrische Wellen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, wenn man im New Yorker Hafen ein ganzes Boot durch drahtlose Elektrizitätsübertragung auf zehn Kilometer Entfernung hin — weiter nur deshalb nicht, weil man dann das Boot nicht mehr sieht — nach Belieben vom Ufer aus dirigieren kann, so wird man wohl auch so eine kleine Kugel auf dieselbe Weise nach Willkür rollen lassen können.«
»Stimmt. Im Prinzip ist es dasselbe. Mich wundert aber doch, dass Sie das so einfach finden.«
»Weshalb?«
»Ist es Ihnen nicht bekannt, dass die Hauptrolle dabei doch immer ein Magnet spielt?«
»Das ist mir bekannt.«
»Der Magnet muss von Eisen sein, diese Kugel aber ist von Blei.«
»Der eiserne Magnet zieht auch noch anderes an als nur wieder Eisen.«
»Was denn sonst noch?«
»Der Eisenmagnet zieht auch noch Nickel und Kobalt an, was den meisten Menschen nur unbekannt ist, zumal auch ein Versuch meist missglückt, weil besonders das Nickel ganz chemisch rein sein muss.«
»Sehr richtig. Gilt das aber auch von Blei?«
»Nein. Ein Eisenmagnet zieht kein Blei an.«
»Diese Kugel ist aber doch von Blei.«
»Es ist nur eine Frage der Zeit, so wird schon ein Magnet entdeckt werden, der auch Blei anzieht, und so für alle anderen Metalle und Substanzen, schließlich ein Universalmagnet, dessen Anziehungskraft überhaupt nichts widersteht. Wie es so etwas ja überhaupt schon gibt.«
»Was denn?«
»Es gibt doch auch noch eine andere Art von Magnetismus. Durch Reibung erzeugt. Reibt man einen Gummifederhalter oder eine Glasstange mit einem seidenen Tuche, so zieht er kleine Holzstückchen und Papierschnitzel an, auch Wasser, indem ihm zum Beispiel eine Seifenblase folgt.«
»Sie haben recht. Ich habe Sie nur prüfen wollen, Sie haben die Prüfung bestanden.«
»Ich bin sonst in der Physik sehr wenig beschlagen.«
»Aber Ihre Kenntnisse genügen vollkommen. Das musste ich wissen, weil mir dadurch für später sehr viele Erklärungen erspart werden.«
»Sie wollen mir wohl noch mehr physikalische Experimente vormachen?«
»Allerdings.«
»Los. Für Experimente, die man anderswo nicht zu sehen bekommt, interessiere ich mich.«
»Also wir haben eine besondere Art von Elektrizität und Magnetismus, wodurch diese Bleikugel aus der Ferne gelenkt wird. Die Kugel wird den Führer spielen, Sie sollen ihr folgen.«
»Ich werde es tun.«
»Aber die Kugel ist etwas klein, man sieht sie nicht gut —«
»Nicht für meine Augen.«
»Es wird dennoch der Fall sein, wenn sie auf dunkleren Boden kommt und wenn es durch dunklere Räume geht; so werde ich die Kugel für Sie etwas deutlicher machen.«
Die Bleikugel war inzwischen wie ein Perpetuum mobile rastlos hin und her gerollt, wenn sich auch nicht weit entfernend, wie diese ständige Bewegung auch gar nicht nötig war, wie sich dann zeigte.
Auch jetzt blieb sie nicht stehen, sondern während des Hin- und Herrollens begann sie zu schwellen, immer mehr, bis zur Größe einer Billardkugel, und es ging noch weiter, bis zur Größe einer mittleren Kegelkugel.
»Das ist sehr merkwürdig«, sagte Mister Sharp, der diesen Vorgang aufmerksam beobachtet hatte, »da könnte man fast sein Frühstück darüber vergessen.«
Ein leises Lachen erklang, das aber nicht von der tiefen Männerstimme, sondern von einer hellen Kinder- oder Frauenstimme herrühren musste.
»Sie wollen also doch lieber erst zu Ihrem Aeroplan, um zu frühstücken?«
»Nein, nun fahren Sie nur fort mit Ihren Experimenten, wenn sie nicht gerade gar zu lange dauern. Etwas halte ich es schon noch aus.«
»Sind Sie überzeugt, dass das Ihre Bleikugel ist?«
»Was soll es anders sein?«
»Dass wir nichts vertauscht haben.«
»Ich glaube nicht, ich habe die Kugel nicht aus den Augen gelassen.«
»Wie erklären Sie sich da diese Vergrößerung?«
»Die Kugel hat während des Umherrollens Substanz vom Boden aufgenommen, sich dadurch vergrößert «
»So wie ein Schneeball, wenn man ihn im weichen Schnee rollt?«
»Ja.«
»Dann müssten doch Spuren davon im Boden zu bemerken sein.«
»Eigentlich ja.«
»Merken Sie so etwas von solchen Spuren?«
»Nein. Die Substanz des Bodens wächst wieder nach. Oder wie machen Sie das sonst? Geben Sie mir die Erklärung, wenn Sie mir eine solche geben wollen.«
»Wollen Sie die Kugel einmal aufheben.«
Mister Sharp war willens, es zu tun, was aber nicht so einfach war, ihm überhaupt gar nicht gelang.
Die Kugel wich nämlich immer vor ihm zurück, blieb stehen, wenn er stehen blieb, und rollte weiter, wenn er wieder auf sie zuging.
Als er es einmal mit Rückwärtsgehen versuchte, rollte sie ihm auch richtig nach, aber auch gleich wieder zurück, wenn er wieder vorwärts ging.
Infolgedessen versuchte es der Yankee mit einer List Er ging einige Schritte zurück, von der Kugel gefolgt, und machte plötzlich einen Satz nach vorwärts, geduckt und mit vorgestreckten Händen, um die Kugel zu fassen.
Aber die Kugel war ebenso schnell wie er, auch sie hatte einen Satz nach rückwärts gemacht und wartete nur darauf, dass das Haschespiel weiterging; wenigstens musste ein Beobachter ganz diesen Eindruck bekommen. Die Kugel schien richtig ein lebendiges Wesen geworden zu sein.
Wieder ertönte ein helles Lachen, man vernahm auch mehrere Stimmen, es musste auch ein halbwüchsiger Knabe da sein.
Mister Sharp setzte eine abweisende Miene auf.
»Ich gebe zu, dass dieser Anblick für andere sehr belustigend sein mag, und ich selbst würde mich darüber vielleicht amüsieren. Nur mich selbst lasse ich nicht gern belachen.«
»Verzeihung. Sie haben auch gar nicht nötig, die Kugel zu fangen, Sie brauchen ihr nur zu befehlen, zu Ihnen zu kommen.«
»Komme her!«
Sofort rollte die Kugel heran und ließ sich greifen.
Sharp hob sie empor.
Sie war schwarz wie die Bleikugel, aber außerordentlich leicht.
»Ist sie schwerer als die ursprüngliche Bleikugel?«
»Sicher nicht.«
»Wie erklären Sie sich das?«
»Dafür habe ich keine Erklärung.«
»Wir können jede Substanz transformieren. Wissen Sie, wie ich das meine?«
»So ungefähr.«
»Sie werden später eine genauere Erklärung erhalten, jetzt würden Sie eine ausführliche noch gar nicht verstehen.«
»Das ist jetzt kein Blei mehr?«
»Ja und nein. Es ist etwas ganz anderes als Blei, aber ein Chemiker könnte durch Analyse doch nur Blei konstatieren. Ein Physiker freilich nicht, weil diese Masse ja ein ganz anderes Gewicht hat. Sehen Sie noch das eingeritzte Datum?«
Ja, Sharp brauchte die Kugel nur in den Händen zu drehen, so sah er die eingeritzten Zahlen in der selben Größe, wie sie in der Bleikugel gewesen waren.
»Das ist in der Tat erstaunlich! Das ist meine ursprüngliche Bleikugel, daran zweifle ich nicht mehr. Also Sie können das Blei und wieder diese neue Masse auch in jede andere Substanz verwandeln?«
»Ja.«
»Machen Sie einen Brotlaib daraus oder eine gebratene Kalbskeule.«
»Ich kann die Kugel nur in eine unorganische Substanz verwandeln, und so, wie Sie es sich denken, geht es überhaupt nicht.«
»Dann ist das auch nur wieder eine halbe Sache.«
»Ja, vollkommen ist nichts in der Welt.«
»Können Sie die Kugel in Gold verwandeln?«
»Scheinbar, oder auch in Wirklichkeit. Es ist immer ein ›Aber‹ dabei, das Ihnen später erklärt werden wird. Ich will Ihnen zeigen, was sich mit der Kugel alles machen lässt. Halten Sie sie in ausgestreckten Händen, ohne Sorge, es passiert nichts, und wenn sie Ihnen zu schwer wird, lassen Sie sie einfach fallen.«
Immer schwerer und schwerer wurde die in den Händen vorgehaltene Kugel, bis Mister Sharp sie wirklich nicht mehr halten konnte, wenigstens nicht ohne die ausgestreckten Arme sinken zu lassen, was doch ein Gewicht von 25 Pfund bedeuten musste, er ließ sie gleich ganz fallen.
Aber die so schwer gewordene Kugel schmetterte nicht, wie man doch hätte denken müssen, mit einem dröhnenden Auftreffen zu Boden, sie berührte ihn kaum hörbar, sprang sofort wie ein elastischer Gummiball wieder hoch in die Höhe, fiel zum zweiten Male und sprang abermals ...
»Fangen Sie!«
Mister Sharp tat es, und der Leichtigkeit und auch dem Gefühle nach hatte er wirklich nichts anderes als einen großen Gummiball in den Händen, der sich mit den Fingern überall etwas eindrücken ließ.
»Nein, ein Gummiball ist es nicht!«, erklärte der Unsichtbare.
»Indem man unter einem Gummiball doch eine Hohlkugel versteht, die eigentliche Elastizität gibt dabei doch nur die innen eingeschlossene Luft.
Damit Sie nicht glauben, uns sei mit dieser Kugel alles möglich, damit Sie uns nicht für allmächtig halten, erklären wir gleich, dass wir diese Kugel auch gar nicht hohl machen können.
Voll muss sie immer sein. Es wird eben nur die Materie verändert.
Und dazu haben wir diesmal eine gewählt, die der Kugel ganz die Eigenschaften eines hohlen, elastischen Gummiballes verleiht.
So haben wir Ihnen bewiesen, dass wir auch das Gewicht nach Willkür verändern können.
Ehe wir Ihnen nun weitere Experimente mit Ihrer Bleikugel vormachen, sollen Sie doch lieber erst frühstücken, Sie könnten sonst den Hunger übergehen und sich ein Magenübel zuziehen.
Also werfen Sie die Kugel wieder hin und folgen Sie ihr.«
Die hingeworfene Kugel sprang nicht mehr wie ein Gummiball, sondern polterte nur, als wäre sie etwa von Holz und rollte selbstständig weiter, Mister Sharp folgte ihr. Sie führte ihn nach einer anderen Tür, stieß mehrmals polternd dagegen, Mister Sharp öffnete sie.
Wieder ein enges Kabinett, wieder ein Fahrstuhl, der hinaufging.
Aber es war eben ein anderer als der vorige, Mister Sharp kam in eine andere Gegend.
Als der Fahrstuhl nach wenigen Sekunden stand und eine zweite Tür von selbst aufging, blickte er in einen finsteren Gang, nur so weit erkennbar, als ihn das also aus den Wänden des Kabinetts strahlende Licht erhellte, das übrige verlor sich in schwarzer Finsternis.
Da aber erstrahlte schon die Kugel in einem roten Lichte, als wäre sie ein glühender Eisenball, also von der Größe einer mittelmäßigen Kegelkugel, und so rollte sie in den Gang hinein, Licht genug um sich verbreitend, sodass Sharp wenigstens immer den Boden vor seinen Füßen sah.
»Hören Sie mich sprechen?«, fragte er bald, während er diesem seltsamen Führer folgte.
»Ja, immer, und Sie brauchen auch nicht so laut zu sprechen.«
»Ist das denn wirklich immer noch meine ursprüngliche Bleikugel?«
»Ja. Wollen Sie den Beweis dafür haben? Soll ich sie zurückverwandeln, in Ihren eigenen Händen?!«
»Nein, ist nicht nötig, ich glaube schon Ihren Worten. Ist die Kugel wirklich glühend?«
»Nein, sie leuchtet nur; aber ich kann sie auch heiß und glühend machen.«
»Es ist nicht nötig, ich glaube schon, dass Sie es können!«, lautete wiederum der Bescheid.
Dann hatte ein physikalischer Experimenteur an dem jungen Manne einen sehr bequemen Schüler. Er brauchte ihm immer nur zu sagen, was er alles machen konnte, der glaubte ihm alles und ließ sich damit genügen.
Der Gang endete an einer Treppe, ebenfalls noch finster, die leuchtende Kugel hüpfte sie hinauf, manchmal auch eine Stufe überspringend, die Treppe führte in einen hellen Raum, gerade groß genug, um den Aeroplan aufzunehmen, der darin stand.
Ohne Weiteres packte Mister Sharp die Dosen aus und ließ sich die kalten Fleischschüsseln mit Brot und Butter schmecken, dazu den warmen Tee aus der Thermosflasche.
Zu seinen Füßen lag die Kugel in ihrer letzten Größe, aber nicht mehr leuchtend.
»Ich wünsche guten Appetit, Mister Sharp.«
»Danke. Den habe ich immer, wenn meine Zeit gekommen ist.«
»Sie finden aber auch ausgezeichnete Beköstigung bei uns.«
»Ich werde das nächste Mal davon Gebrauch machen, nur jetzt nicht, ich hatte es mir nun einmal so vorgenommen.«
»Soll ich Ihnen unterdessen noch etwas mit der Kugel vormachen?«
»Danke. Ich liebe zum Essen keine musikalische und keine andere Unterhaltung. Aber eine Frage hätte ich. Also ich kann länger hier bleiben?«
»So lange Sie wollen, jahrelang, bis an Ihr Ende.«
»Was ich hier sehe und erlebe, muss ich doch wohl als Geheimnis wahren.«
»Allerdings. Darüber wäre noch einmal gesprochen worden, ehe Sie uns verließen, sich nur zeitweilig wieder an Bord Ihrer Jacht begeben.«
»Da sind bei mir gar reine Instruktionen und Eidschwüre nötig. Ich kann schweigen.«
»Das wissen wir.«
»Aber ich muss mich doch bald mit der Jacht verständigen.«
»Jetzt ist es nicht möglich.«
»Weshalb nicht?«
»Weil unterdessen der prophezeite Orkan ausgebrochen ist. Zu einer Verständigung mit der Jacht müssten Sie doch unbedingt auf das Plateau hinauf. Zwar gibt es hier auch Fensteröffnungen, sogar ganz unten, aber wenn Sie sich dort zeigten, würde schon viel von unserem Geheimnis verraten. Und oben auf dem Plateau würden Sie weggeblasen werden.«
..Dasselbe gilt von meinem Aeroplan.«
»Das ist nicht nötig.«
»Wie das?«
»Mister Sharp, halten Sie eine Notlüge oder sonst eine Unwahrheit aus gewissem Grunde für angebracht?«
»Unter Umständen, ja. Da bin ich nicht so empfindlich.«
»So sagen Sie dann später, hier oben wäre in der Mitte eine große Vertiefung, in der wären Sie gelandet und vor dem Orkan geborgen gewesen.«
»Richtig, das werde ich tun. Übrigens habe ich Proviant für acht Tage bei mir.«
»Ich weiß es. Also wir werden darüber weiter sprechen, wenn sich der Sturm gelegt hat, wenn eine einfache Verständigung zwischen Ihnen und der Jacht möglich ist, die sich jetzt übrigens weit von den gefährlichen Riffen entfernt hat.«
Einiges wurde jetzt doch noch gleich besprochen, gegen diese Unterhaltung hatte der Frühstückende nichts einzuwenden, und dann war er fertig.
»So, nun bin ich wieder bereit, nun können Sie mir noch etwas vormachen.«
»Nehmen Sie die Kugel wieder.«
Mister Sharp hob sie auf, so groß wie eine mittlere Kegelkugel und jetzt auch von entsprechender Schwere, als wäre sie von Holz, also natürlich ganz bedeutend schwerer als die ursprüngliche kleine Bleikugel.
Doch schnell schmolz sie in des Amerikaners Händen zusammen, ohne dass man wusste, wohin die verschwindende Substanz kam, auch an Gewicht abnehmend, bis Mister Sharp in der Hand seine zöllige Bleikugel hatte, auch an den eingeritzten Zahlen erkenntlich.
»Sind Sie nun überzeugt, dass es immer Ihre Bleikugel gewesen ist?«
»Ich habe ja niemals daran gezweifelt!«, lautete die Antwort.
Die kleine Kugel schwoll wieder zu der vorigen Größe an, wurde aber nicht wieder so schwer, und außerdem begann sie jetzt ihre schwarze Farbe zu verändern.
Erst wurde sie weiß, dann rot, dann grün, dann gelb, und zwar einmal nach und nach, dass die Farben ineinander übergingen, das andere Mal wieder erfolgte der Farbenwechsel blitzähnlich.
Und schließlich entstanden auf der Kugel auch die verschiedensten farbigen Muster.
»Sie wollen mir wohl zeigen, dass Sie auch die Farbe verändern können?«
»So ist es. Substanz, also auch die Schwere, Härte und Farbe, alles können wir nach Belieben verändern und schließlich auch noch diese Substanz lebendig machen. Was können Sie daraus schließen?«
»Ich will nichts schließen, sondern etwas vorgemacht haben.«
»Genügt Ihnen das noch nicht?«
»Fahren Sie fort mit Ihren Experimenten.«
Die weiß gewordene Kugel wurde wieder so schwer, dass Sharp sie kaum noch halten konnte, er ließ sie fallen.
Jetzt konnte man allerdings wirklich gespannt sein, was nun noch Neues kommen sollte.
Nun, es sollte wieder etwas ganz anderes gezeigt werden.
Die Kugel schmetterte wiederum nicht auf, sprang diesmal aber auch nicht wie ein Gummiball, sondern sie klatschte auf den Boden, gleich im Ausschlagen breit werdend und dann noch weiter auseinander laufend.
»Das ist wohl ein weicher Käse geworden?«
»Wenigstens eine quarkähnliche Masse. Nun passen Sie auf.«
Auch diese weiche Masse wurde lebendig, aber in ganz besonderer Weise.
Es war nicht anders, als ob sich unsichtbare Hände mit ihr beschäftigten, sie formten, modellierten.
Ohne dass sie sich teilte, entstand eine Art von Rolle, oder wollen wir lieber gleich sagen ein menschlicher Rumpf, daraus wurden Arme und Beine hervorgedrückt und geknetet, auf den Rumpf setzte sich wieder eine kleinere Kugel, ein Kopf, in diesem entstanden Gesichtszüge, eine Nase, Augen, Ohren, ein Mund, gleichzeitig aber formten sich am Ende der erst wurstähnlichen Arme, die sich jedoch schnell immer mehr vervollkommneten, Hände, mit richtigen Fingerchen, jetzt richtete sich die menschliche Figur, etwa 30 Zentimeter hoch, schon auf, man sah deutlich, wie sich an der Puppe Kleider formten, ein altmodischer Frackanzug entstand, Kniestrümpfe und zierliche Schnallenschuhe, der Kopf verdickte sich noch einmal, es war, als ob Substanz nach oben geschoben würde, so entstand auf dem Kopfe erst eine Haarfrisur, dann oben darauf ein dreieckiges Hütchen, da zeigten sich gleichzeitig vorn auf dem Schößenfrack auch schon Knöpfe, dann ein Gürtel, von dem sich ein Galanteriedegen herabschob, und jetzt wurde die weiße Gestalt farbig, die Kniestrümpfe schwarz, die Pumphosen gelb, der Frack rot, die Knöpfe golden, der Dreimaster blau mit weißer Reiherfeder — und jetzt nahm das Männchen diesen Dreimaster vom Kopf, schwenkte ihn graziös und machte vor dem Amerikaner eine zierliche Verbeugung, lächelte dabei, sodass man zwischen den roten Lippen die weißen Zähnchen blitzen sah.
Mister Sharp hatte gestarrt und gestarrt und er starrte noch jetzt.
Das war etwas gewesen, dem seine kalte Teilnahmslosigkeit denn doch nicht stand hielt.
»Bin ich denn nur behext?!«, murmelte er.
»Sie meinen, ob Sie etwa hypnotisiert sind, dass Sie dies alles nur in Ihrer Einbildung sehen?«
Der junge Amerikaner fuhr sich einmal mit der Hand über die Augen.
»Hypnotisiert — Unsinn!«
»Sie schlafen nicht etwa, träumen das nicht nur.«
»Ganz ausgeschlossen.«
»Wollen Sie eine Erklärung haben?«
»Geben Sie sie mir.«
»Ich kann es noch nicht. Sie würden mich noch gar nicht verstehen. Nur ein Gleichnis kann ich anführen. Sie kennen doch den Zauberer von Orange?«
»Wer ist denn das?«
»Ein berühmter Landsmann von Ihnen, ein Amerikaner, der diesen Namen führt.«
»Kenne ich nicht.«
»Weil Sie eben die letzten Jahre nicht einmal in eine Zeitung geblickt haben, mit niemandem über die Vorgänge in der Welt sprachen.«
»Das habe ich allerdings nicht getan.«
»Thomas Alva Edison.«
»Ja, den kenne ich freilich, diesen großartigen Erfinder.«
»Also Sie wissen, dass dieser Mann tote Bilder lebendig und leblose Walzen und Platten sprechend gemacht hat.«
»Kinematografie und Phonograph — natürlich weiß ich das.«
»Edison wohnt in Orange im Staate New York, hat dort auch seine großartigen Laboratorien und Werkstätten.
Nach dem, was dieser Mann schon alles erfunden hat, darf man ihn wohl fast mit Recht einen Zauberer nennen — den Zauberer von Orange, wie er gerade in Amerika allgemein genannt wird, was aber gerade Ihnen als Amerikaner unbekannt ist.
Aber es gibt auch noch einen besonderen Grund für diesen Namen.
Edison ist ja ein sehr unzugänglicher Mensch Nicht dem Charakter nach — durchaus nicht — sondern dieser rastlose Mann hat eben keine Zeit für gesellschaftlichen Umgang, er geht ganz in seiner Arbeit auf, und das geht so weit, dass er manchmal wochenlang nicht aus den Kleidern und nicht ins Bett kommt, ist er müde, dann schläft er eben auf dem Stuhle ein, auf dem er gerade sitzt, brennt sich vorher, ehe er einschläft, erst noch eine Zigarre an, die er in der Spitze während des Schlafes automatisch aufraucht, und wenn er erwacht, geht es mit einer neuen Zigarre wieder an die Arbeit, die er gar nicht verlassen hat. Das ist ja von Edison bekannt genug.
Nun aber bekommt er manchmal doch Besuch, den er nicht abweisen kann. Diese Leute wollen nun doch auch etwas Besonderes von dem berühmten Erfinder sehen, und für die hält er denn ganz besondere Überraschungen bereit. Zeigt er sie selbst nicht, so führt ein anderer, oder meist ist eine Führung überhaupt gar nicht nötig, die Überraschungen kommen von ganz allein.
Er hat da ein besonderes Haus eingerichtet, in welchem die Gäste bewirtet, manchmal auch für die Nacht einquartiert werden.
Und in diesem Zauberhause oder Zauberpalaste, wie das Gebäude allgemein genannt wird, hat Edison nun alles zusammengetragen, was von seinen mehr als tausend patentierten Erfindungen sich hierzu verwenden lässt, hat Überraschungen und Spielereien arrangiert, mit Elektrizität und Magnetismus und Kinematografie und Phonographie und so weiter und so weiter.
Die heiße Suppe erstarrt vor dem Gaste im Teller plötzlich zu Eis, sobald er den Löffel hineintaucht, die Eistorte verwandelt sich in einen feuerspeienden Vulkan, der gefüllte Schweinskopf schreit um Hilfe und bittet um Gnade, wenn er angeschnitten wird, alles wird lebendig, und so weiter und so weiter.
Nun nehmen Sie an, dieses Zauberhaus mit all seinen Erfindungen hätte schon vor hundert Jahren existiert, damals wäre es von einem Menschen besucht worden, der wäre so genarrt und geschreckt worden.
Der hätte doch natürlich an echte Zauberei geglaubt, und noch vor zweihundert Jahren wäre so ein Erfinder wie Edison als Hexenmeister, der mit dem Teufel im Bunde, einfach auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.
Und nun sage ich Ihnen: Hier in diesem meerumspülten Riffhause hat sich eine geheime Gesellschaft niedergelassen, deren Mitglieder an solchen Naturerkenntnissen und Erfindungen wiederum der heutigen Welt um hundert Jahre voraus sind.
Genügt Ihnen jetzt vorläufig diese Angabe als Erklärung?«
»Sie genügt mir, muss mir genügen!«, entgegnete Mister Sharp.
Das Figürchen hatte unterdessen unbeweglich dagestanden.
»Sind noch einige Fragen erlaubt?«
»Gewiss. Nur ist es immer eine andere Sache, ob ich sie auch beantworte.«
»Ist diese Figur von unsichtbaren Händen geformt worden?«
»Nein. Es ist eine plastische Kinematografie. Mehr kann ich Ihnen jetzt nicht erklären.«
»Es genügt für mich mehr, als Sie vielleicht meinen. Und auch die Beweglichkeit wird durch solch eine Fernübertragung erzeugt?«
»So ist es.«
»Kann ich die Figur anfassen?«
»So oft Sie wollen.«
»Bitte, wollen Sie das Figürchen wieder leben lassen.«
Der kleine Mann begann gravitätisch auf und ab zu schreiten, als ob er hier auf etwas warte. Nichts, absolut gar nichts ließ die Natürlichkeit vermissen. So zum Beispiel stolperte er einmal, weil ihm der lange Degen zwischen die Beine gekommen war.
Plötzlich griff der Amerikaner zu, der sich auf den Rand des Bootgestells niedergelassen gehabt hatte.
Er hatte einen leblosen Puppenbalg in der Hand. Jetzt freilich machte man doch verschiedene Entdeckungen. Die Kleider waren wohl vorhanden, aber man merkte gleich, dass sie sich nicht ausziehen ließen. Wenn man hier von Fleisch sprechen durfte, so ging dieses eben gleich in die Kleider über; sonst war alles von feinster, sorgfältigster Ausführung, wie man besonders an den Händen und am Gesicht konstatieren konnte.
Die Augen schienen ganz echt zu sein, nicht dagegen waren es die Haare, die bestanden nur aus einer aufgetragenen Masse, und auch den Hut konnte Sharp nicht abnehmen, obgleich es die Puppe doch vorhin getan hatte.
Doch um solche Kleinigkeiten kümmerte er sich nicht weiter, seine Untersuchung war nur eine ganz kurze und oberflächliche. Am eingehendsten hatte er probiert, ob er nicht den Degen aus der Scheide ziehen könne, was aber nicht möglich war.
Sonst sei noch bemerkt, dass es eben ein schlaffer Puppenbalg zu sein schien, nur Kopf und Hände bestanden, wie aber auch wieder bei den meisten Puppen, aus einer festen Masse.
»Können Sie die Figur nicht auch in meinen Händen lebendig machen?«
»Gewiss.«
Und da wurde der kleine Mann auch schon wieder lebendig, wand und krümmte sich verzweifelt in der Faust, die seinen Leib umspannte.
Aber als ob er wisse, dass ihm das nichts helfe, gab er bald diese Anstrengungen auf, schaute mit den himmelblauen Äuglein flehend den ungeschlachten Riesen an und schlug nach Kinderart bittend die Händchen zusammen, über welche zur Hälfte feine weiße Spitzen herabfielen.
Kein Staunen, kein Lachen seitens des Amerikaners, er betrachtete das Figürchen nur mit forschender Aufmerksamkeit, so ungefähr wie der Mann der medizinischen Wissenschaft das Kaninchen, das er lebend seziert, und da konnte er also wohl auch nicht durch dieses flehende Bitten gerührt werden.
»Kann er nicht sprechen?«
»Nein, Mister Sharp, da verlangen Sie zu viel.«
»Es ist eben alles nur halber Kram.«
Das hatte Mister Sharp heute in diesen Räumen bereits zweimal gesagt.
»Was kann er sonst noch machen?«
»Nun, er kann sich zum Beispiel, wenn Sie seinem Flehen kein Gehör schenken, durchs eigene Kraft befreien.«
»Wie denn das?«
»Soll er es machen?«
»Jawohl.«
»Sie sind aber doch nicht empfindlich?«
»Ganz und gar nicht. Er mag ruhig tun, was er will, ich nehme nichts übel.«
Und da war es auch schon geschehen!
Ein blitzschneller Griff, das Männchen hatte aus der Degenscheide einen blitzenden Stahl gezogen und seinem Peiniger eins über den linken Handrücken gegeben!
Es war ein ganz tüchtiger Hieb gewesen. Wenn die Klinge auch nicht gerade sehr tief eindrang, es war doch ein Riss oder Schnitt, der sofort zu bluten begann.
Manch anderer hätte die Figur sofort fallen gelassen oder gleich weggeschleudert, wenn nicht vor Schmerz, so doch vor Schreck.
Nicht so dieser Yankee.
Der griff blitzschnell zu, hatte den bewaffneten Arm des streitbaren Männchens gepackt und hielt ihn fest.
Im nächsten Augenblick aber schleuderte er die Figur dennoch von sich.
Denn sie war in seiner Hand plötzlich heiß geworden, im nächsten Moment hätte er sich tüchtig verbrannt.
Das auf den Boden geschleuderte Rokokomännchen raffte sich unbeschädigt auf, steckte schnell den Degen ein, kniete nieder und machte vor dem Riesen wieder die bittenden Handbewegungen, diesmal zur Abbitte.
»Sie nehmen es doch nicht übel, dass er Sie etwas verwundet und gebrannt hat?«, fragte die Stimme des Unsichtbaren.
Mister Sharp kümmerte sich gar nicht mehr um das Figürchen.
Er war aufgestanden, hatte einmal über den blutenden Handrücken gewischt, das heißt die paar Blutstropfen entfernt, und damit war diese Sache wirklich erledigt.
»Übelnehmen, Unsinn! Aber mich interessiert diese Mimerei nicht weiter. Machen Sie mir etwas anderes vor. Womöglich etwas, wobei ich selbst Bewegung habe.
Ich muss mir nach dem Frühstück etwas Bewegung machen.«
»Dann, bitte, wollen Sie wieder der Kugel folgen.«
Wie Sharp den Blick senkte, bemerkte er, dass sich das Männchen inzwischen wieder in die schwarze Kegelkugel verwandelt hatte. Sie rollte davon, er folgte ihr nach.
Es ging wieder mit einem Fahrstuhl hinab, diesmal offenbar tiefer als vorhin, einen kurzen Korridor entlang, und dann polterte die Kugel gegen eine Tür, die auch eine Klinke hatte.
»Hier ist die Führung der Kugel vorläufig beendet!«, sagte die Stimme des Unsichtbaren. »Wenn Sie Ihr Bleigeschoss wieder zu sich nehmen wollen, so können Sie es tun.«
»Ja, es ist mir ein Heiligtum.«
Die große Kugel schmolz zusammen, bis sie die Größe der ursprünglichen Bleikugel angenommen hatte, als solche aber sprang sie dem Amerikaner erst noch in die Hand, er musste sie unbedingt fangen, brauchte nur etwas die Finger zu schließen, er betrachtete die eingeritzten Zahlen und barg sie in der stählernen Kapsel.
»Was nun weiter?«
»Bitte, wollen Sie durch diese Tür gehen. Alles Weitere werden Sie dann schon selbst sehen.
Aber ich will Ihnen doch gleich einige Anweisungen geben, damit ich dann später nicht zu stören brauche.
Sie werden ja bald erkennen, dass es sich um keine Natur, sondern nur um künstliche Nachahmung handelt.
Sie können die Pflanzen nach Belieben biegen und umknicken, das schadet ihnen nichts, nur bitte nicht mit Gewalt ausreißen oder zerreißen oder abschneiden. Dieser Schaden lässt sich dann nicht so leicht wieder reparieren. Sonst habe ich nichts weiter zu sagen.«
»Ich werde Ihrer Ermahnung eingedenk sein.«
»So wollen Sie die Tür öffnen und eintreten, sie brauchen nicht wieder hinter sich zu schließen.«
Mister Sharp tat es.
Und er stand auf einem Felsen inmitten eines grünen Meeres, das aber nicht aus Wasser bestand.
So weit das Auge reichte, dehnte sich vor ihm eine hochgrasige Prärie aus, reichlich geschmückt mit Blumen, hier und da unterbrochen von einer Felsformation oder von einigen Bäumen, die wohl auch ein kleines Wäldchen bilden konnten.
Das hier unten zu seinen Füßen war wirkliches Präriegras.
So musste oder durfte man wenigstens glauben.
Weshalb sollte in einem geschlossenen Raume nicht ein üppiger, sehr hoher Graswuchs erzielt werden können?
Auch die Bäume dort, texanische Lebensbäume, sogenannte Patriarchen, konnten echt sein.
Aber die endlose Ausdehnung dieser Prärie beruhte natürlich auf Täuschung.
Mister Sharp befand sich auf oder in einem meerumspülten Felsenberg, der höchstens einen Raum von 80 Meter Länge und ebensolcher Breite gestattete, da gab es ja nun nichts weiter zu debattieren, und da war noch nicht einmal die Dicke der nötigen Wände abgerechnet.
Also hier lag das Arrangement eines Panoramas vor. Was man hierunter versteht, weiß wohl ein jeder.
Gesetzt den Fall, man will ein Schlachtfeld darstellen, so werden in dem Raum, in dessen Zentrum der Beschauer steht, Puppen gelegt, tote Soldaten darstellend, Kanonen, ein abgebranntes Haus und so weiter, was zum Kriegsbilde gehört, und um diese plastischen Gegenstände herum erhebt sich nun die Wand, auf welche alles Übrige des Schlachtfeldes nur gemalt ist.
Mit derartigen Panoramen hat es ja die heutige Kunst sehr, sehr weit gebracht.
Unten am Rande oder an der Grenze zwischen Boden und Wand muss die Plastik oder die Realität doch in die Malerei übergehen, da sieht man etwa einen Soldaten, der nur zur Hälfte wirklich dort liegt, die andere Hälfte ist nur gemalt, und es gehört ein sehr scharfes Auge und selbst Fernglas dazu, um konstatieren zu können, wo hier der wirkliche Gegenstand aufhört und die Malerei anfängt.
Aber auch abgesehen von dieser notwendigen Täuschung und von anderen Spielereien, in denen sich der Maler gefallen hat, erzeugt solch ein gutes Panorama einen natürlichen Eindruck von einer Landschaft oder Episode, den auch die beste kinematografische Wiedergabe trotz aller Lebendigkeit nicht zu erzielen vermag, und daher sieht man gerade bei diesem Unterschied zwischen Panorama und Kinematografie, wie hoch erhaben eine echte Kunst wie die Malerei doch über eine mechanische Reproduktion ist.
Das eine ist und bleibt ein zappelndes Bild an der Wand, da kommt man nicht darüber hinweg, in einem guten Panorama hingegen kann man vollständig in die Wirklichkeit mit allen Gefühlsempfindungen hinein getäuscht werden.
Und um zu konstatieren, dass hier ein Panorama vorlag, brauchte sich Mister Sharp ja nur umzudrehen.
Er war doch durch eine Tür aus einem Korridor getreten, hatte also eine Wand passiert.
Als er sich aber nun umdrehte, sah er immer wieder nur die endlose Grasflache mit Felsformationen und Bauminseln.
Direkt hinter ihm erhob sich allerdings erst noch ein höherer Felsen mit steiler Wand, in dieser war eine Vertiefung, der Anfang einer Höhle, und aus dieser also war er hervorgetreten, die Tür, auf dieser Seite ein Stück bewegliche Felswand, hatte sich hinter ihm von selbst wieder geschlossen.
Trat er aber nun seitwärts, so sah er eben auch hinter sich oder jetzt vielmehr vor sich nichts als die endlose Prärie.
Nun, er brauchte nur die Hand auszustrecken, so war das Rätsel schon gelöst, seine Vermutung bestätigt.
Die Hand stieß gegen eine undurchdringliche Wand. Und zwar war die ganze Wand ein Spiegel.
Unten das Gras spiegelte sich, der Felsen spiegelte sich. Aber nicht, dass sich alles wiedergespiegelt hätte.
Sonst hätte Mister Sharp doch schon vorher erkennen müssen, dass er einen Spiegel vor sich hatte, er hätte sich doch selbst darin sehen müssen!
Das war aber eben nicht der Fall!
Wohl sah er sich jetzt, als er näher getreten war, aber nicht anfangs hatte er sich gesehen, als er noch einige Schritte von dem Spiegel entfernt gewesen.
Denn er hatte gleich nach dem Verlassen der Tür oder des Felsens auf dem ziemlich ebenen Boden einige Schritte voraus gemacht, dann erst sich umgekehrt.
Als er nun mit ausgestreckter Hand, die kommende Wand schon ahnend, zurückgegangen war, war plötzlich erst diese Hand in dem Spiegel aufgetaucht und gleich darauf auch sein ganzer Körper.
Kann es einen Spiegel geben, in dem man sich erst erblickt, wenn man sich ihm bis auf eine gewisse Entfernung hin genähert hat, vorher nicht?
Ja natürlich kann es solch einen Spiegel geben. Der ist gar nicht so schwer zu konstruieren.
Aber wir wollen hier nicht die dazu nötigen optischen Gesetze erläutern.
Es sei nur an die Konvex- und Konkav- und an die anderen Spiegel erinnert, mit denen die sogenannten »Lachkabinette« ausgestattet sind. Da sieht man sein Spiegelbild in ganz verzerrter Form, es kann aber auch total auseinanderlaufen und beim weiteren Zurücktreten auch völlig verschwinden.
Das lässt sich mit gewissen Hilfsmitteln auch auf einen Planspiegel übertragen.
Also nur alles das, was sich höchstens zwei Meter oder drei Schritte von der Glaswand entfernt befand, wurde wiedergespiegelt.
Ja, wie aber entstand denn nun in dem Spiegelbild dort der Wald, der doch nicht in Wirklichkeit angrenzte?
Nun, um ein künstliches Panorama handelte es sich trotzdem immer noch, es war ein solches mit gewöhnlicher Spiegelung verbunden.
Und diese Verbindung, diese Spiegelung war äußerst praktisch!
Auf diese Weise wurde vermieden, dass jemand, der sich hier in dieser Prärie erging, mit dem Kopfe gegen die Wand rannte.
Denn das hätte sonst sehr leicht geschehen können, die Täuschung war ja eine ganz und gar vollkommene, die Grenze zwischen Wirklichkeit und Bild absolut nicht zu unterscheiden.
Drohte aber hier die Gefahr des Anrennens, hatte sich der betreffende bis auf drei Schritte der Wand genähert, dann tauchte eben sein Spiegelbild auf, er sah sich selbst und konnte noch rechtzeitig umkehren.
Und wer den Blick gesenkt oder so in Gedanken versunken war, dass er nicht rechtzeitig sein Spiegelbild gewahrte, nun, bei dem helfen auch alle Barrieren und Warnungstafeln nichts, der rennt trotzdem mit dem Kopfe gegen jede Wand.
Bisher hatte Mister Sharp unter sich und seitwärts geblickt, nun lenkte er sein Auge nach oben.
Über diese ganze Prärielandschaft wölbte sich ein azurblauer Himmel, an welchem in halber Höhe die goldene Sonne lachte.
Die Sonne?
Die richtige Sonne konnte es nicht sein.
Er war hinabgefahren, befand sich im Innern des Felsens.
Näher betrachten konnte er das Ding dort oben nicht, es war zu gut nachgeahmt, es blendete ihn wie die richtige Sonne.
Dazu hätte er ein schwarzes Glas benutzen müssen, das aber hat man nicht immer bei sich.
Aber tüchtig brennen tat sie.
Warum sollte sie auch nicht?
Es war einfach ein Ofen in Gestalt einer Sonne, der dort oben an der blaugemalten Decke hing, ein geheizter Ofen.
Im Übrigen konnte Mister Sharp auch in anderer Weise schnell beurteilen, dass es gar nicht die richtige Sonne sein konnte.
Es war gleich elf Uhr, draußen die richtige Sonne, vom lieben Gott erschaffen, stand jetzt bald im Zenit, die hier aber hatte erst die Hälfte ihrer Höhe erreicht.
Dass dort am blauen Horizont ein weißes Wölkchen zog, sich wirklich von Osten nach Westen bewegte, das genierte den jungen Amerikaner nicht. Alles Vorspiegelung falscher Tatsachen.
Im Übrigen eine ganz herrliche, entzückende Prärielandschaft!
Und jetzt kam ein leiser Wind, der das grüne Meer etwas ins Wogen brachte und einen köstlichen Wohlgeruch all der Tausende von den prächtigsten Blumen und Blüten mit sich führte.
Woher dieser Wind kam, aus welchen Löchern er blies, das war diesem Yankee ja nun freilich ganz gleichgültig, und da hatte er auch ganz recht, da hatte er sogar eine sehr glückliche Natur.
Denn einem anderen Yankee wäre wohl gerade nun die Hauptsache gewesen, zu erforschen, wie dieser Wind zustande gebracht wurde, ob man ihn schon vorher parfümiert hatte oder von wo er sonst den Blumenduft herbeischaffte.
»Sehr hübsch, wirklich alles sehr hübsch!«, lobte hier dieser Yankee.
Und er stieg auf bequemen, aber natürlichen Absätzen den übrigens nicht sehr hohen Felsen hinab, um in das grüne Meer unterzutauchen.
Ja, unterzutauchen!
In den südlichen Prärien Nordamerikas, deren schönste Texas aufweist, erreicht das Gras noch vor der heißesten Sommerzeit, wenn alles noch blüht, eine Höhe von zwei bis drei Meter.
Und so war es auch hier.
Der doch ziemlich hochgewachsene Mann verschwand darin vollkommen, er musste manchmal die Hände sehr hoch recken, um die äußersten Spitzen der Halme erreichen zu können.
Es war eigentlich schade gewesen, dass der Unsichtbare gleich gesagt hatte, es handele sich nicht um Natur, sondern nur um eine künstliche Nachahmung.
Wohl niemand wäre so schnell auf den Verdacht gekommen, dass diese Grashalme hier keine natürlichen seien, da hätte er sie erst eingehend untersuchen müssen, und dann konnte er immer noch glauben, es handele sich um eine besondere Grasart, die er eben noch nicht kenne, die vielleicht in Amerika wirklich einheimisch ist.
Die schlanken, kerzengeraden, ziemlich dünnen Halme wuchsen aus einem weichen Moose hervor, das den Boden bedeckte, einer von dem anderen ziemlich regelmäßig etwa 15 Zentimeter entfernt, sodass man, wenn man nicht gerade auf gar zu unverschämt großem Fuße lebte, immer noch recht hübsch dazwischen treten konnte.
In den amerikanischen Prärien und Savannen sieht der Graswuchs ja nun allerdings etwas anders aus, da gibt es noch viele andere Pflanzen und Kräuter, die hier alle fehlten, aber das brauchte der Promenierende ja nicht zu wissen, er brauchte ja noch nicht in Amerika oder vielmehr in einer Prärie gewesen zu sein. Den meisten Amerikanern sind Prärie und Urwald und Indianer doch genau so fremd wie uns, mancher hat auch noch keine lebendige Kuh gesehen.
Trotz dieses ziemlich weiten Abstands der Halme war von einem freien Durchblick natürlich keine Rede, zumal auch noch Nebenblätter dazu kamen. Wer einen Schritt entfernt stand, den konnte man schon nicht mehr sehen. Ein ewiges Öffnen und Schließen des Grasweges war es doch, man musste sich immer durchdrängen, nur dass der Fuß gerade noch Platz hatte, auf den Moosteppich selbst zu treten, keinen Halm umzuknicken brauchte.
Übrigens hätte das auch nichts geschadet oder es war vielmehr überhaupt gar nicht möglich, einen Halm niederzutreten.
»Sie können die Pflanzen nach Belieben biegen und umknicken, das schadet ihnen nichts, nur bitte nicht mit Gewalt aufreißen oder zerreißen oder abschneiden, dieser Schaden lässt sich dann nicht so leicht wieder reparieren.«
So hatte der Unsichtbare vorhin gesagt.
Von dem erlaubenden Teile dieser Worte machte Mister Sharp sofort Gebrauch.
Nein, diese Halme ließen sich nicht knicken. Umbiegen wohl, man konnte sie um den Finger wickeln, aber nicht dauernd zerknicken, so wenig wie ein Gummiband, obgleich sie sonst doch wieder eine ganz bedeutende Festigkeit hatten.
An einem Halme machte Sharp trotz des bittenden Verbotes den Versuch, ihn zu zerreißen, brachte es aber gar nicht fertig, so sehr er sich auch anstrengte. Auch keines der Blätter konnte er abreißen, keine Blüte, kein Blatt von dieser. Trat er auf einen Halm, so konnte er ihn vollkommen umlegen, aber der Halm richtete sich sofort kerzengerade wieder empor, und zwar in einer Weise, dass man fast zu der Meinung kam, es müsse dabei ein von oben wirkender Magnetismus im Spiele sein.
Lange hielt sich Sharp mit diesen Versuchen nicht auf, auch sein Messer gebrauchte er nicht, er setzte seinen Weg in dem grünen Meere fort, blieb aber bald wieder stehen und griff in die Tasche.
»Hören Sie mich?«
»Immer.«
»Darf ich hier rauchen?«
»Gewiss.«
Sharp stopfte sich seine Pfeife.
»Aus was für einer Masse bestanden diese Halme eigentlich?«
»Aus einer besonderen Gummimasse.«
»Man könnte sie aber ebenso gut für natürlich halten. Sie sind unzerreißbar wie das Geranagras.«
»Was ist das für ein Gras?«
»Das kennen Sie nicht? Sehen Sie, da weiß ich von der Natur wieder mehr als Sie von der künstlichen Nachahmung. Eine Grasart in Patagonien. Können Sie es hier auch regnen lassen?«
»Wie Sie belieben. Leichtes Rieseln oder Wolkenbruch? Mit oder ohne Blitz und Donnerschlag?«
»Na, warten Sie noch ein bisschen, jetzt noch nicht, ich sage es Ihnen dann schon.«
Nach diesem Bescheid an den lieben Gott wanderte Mister Sharp mit qualmender Pfeife weiter.
Er erreichte eine Baumgruppe.
Es war eine besondere Baumart, die besonders in Texas vorkommt, dort zum Charakter der Prärie gehört, halb Weide, halb Olive, die Blätter sind grün, schimmern aber aus der Ferne ganz weiß, wohl weil sie mit feinen weißen Härchen besetzt sind. Deshalb werden diese Bäume Patriarchen genannt, aber auch wegen ihres ganzen Aussehens, ihrer Haltung, denn sie stehen da wie die gebeugten Greise, die Zweige im großen Bogen bis an den Boden herabhängen lassend. Also eine Art Trauerweide, nur viel gewaltiger, noch dichter schließend, im Innern die schönsten Lauben bildend.
Auch diese Bäume waren künstlich, auch von ihnen ließen sich Blätter und Blüten kaum abreißen.
Dies nur hatte Mister Sharp konstatiert, er hielt sich nicht lange in solch einer schattigen und kühlen Laube auf, er setzte seine Wanderung fort, immer kaum einen Schritt weit vor sich sehen könnend.
So stieß er wieder auf eine Felsenformation, die er erklomm, um noch einmal Umschau zu halten.
Er sah natürlich genau dasselbe wie vorhin.
Und doch nicht!
Dort in der Ferne bewegten sich in der Prärie, die dort mit niedrigerem Grase bedeckt zu sein schien, dunkle Punkte, und Sharp brauchte nicht lange hinzusehen, so erkannte er eine Herde Büffel.
Und da tauchten auch schon, ihm bedeutend näher, hinter einem Wäldchen berittene Indianer auf, er konnte sogar erkennen, dass sie nur Beinkleider trugen und nur mit Bogen und Pfeilen bewaffnet waren, und offenbar schickten sie sich an, die Bisonherde einzuschließen.
Natürlich war das alles nur im Panorama selbst, nur an der Wand. Also handelte es sich auch hier um Kinematografie oder überhaupt um bewegliche Bilder.
»Wie lange dauert das, bis die Büffeljagd beginnt?
Diesmal antwortete der Unsichtbare nicht, und Sharp schien keine Lust zu haben, lange hier oben zu warten, so eine Büffeljagd von Indianern schien ihn gar nicht viel zu interessieren.
Ehe er aber wieder herabstieg, wurde seine Aufmerksamkeit durch etwas anderes gefesselt.
Gar nicht weit entfernt von ihm, vielleicht nur zehn Meter, bewegte sich das Gras in schlängelnder Linie, die Halme wurden dabei auch weit auseinander gebogen.
Dort unten bewegte sich also durch das Gras ein Lebewesen, anderes konnte man doch nicht annehmen.
Zu erblicken war nichts, zumal der Felsen selbst gar nicht so hoch über das Gras herausragte, und wenn dieses drei Meter hoch war, so verschwand in diesem sogar ein Elefant.
Die schlängelnde Linie bewegte sich gerade um diesen Felsen herum, immer in demselben Abstand.
Man konnte an eine große Schlange wie an ein schleichendes Raubtier denken.
Doch sagte sich Mister Sharp gleich, dass dieser Schluss verfrüht sei, es konnte ebenso gut ein Mensch sein.
Denn beim Vorwärtsgehen in diesem dichten Grase wand man sich ganz unwillkürlich immer von einer Seite auf die andere, indem man immer mit den Händen abwechselnd die Halme vor sich auseinander bog, jeder Mensch musste das anfangs wie eine Reflexbewegung ausführen, und da entstand ganz von selbst solch ein geschlängelter Weg.
Mister Sharp vernichtete darauf, den Unsichtbaren zu fragen, was da herumkröche. Er hatte schon vorhin keine Antwort bekommen und wollte es nicht noch einmal darauf ankommen lassen.
Schnell sprang er den Felsen herab, die Richtung dorthin nehmend, wohin sich die schlängelnde Linie zuletzt bewegt hatte. Wenn er sich beeilte, so musste er nach ungefähr zehn Metern gerade auf dieses Etwas stoßen.
Nach einer Viertelstunde sagte sich Mister Sharp, dass er diese zehn Meter hinter sich haben müsse. Aber er hatte nichts erblickt.
Etwas durchstrich er das Gras noch kreuz und quer, dann gab er die Hoffnung auf.
Er wollte zurück nach dem Felsen, um von dort oben noch einmal die Bewegung im Grase zu beobachten.
Jawohl, zurück nach dem Felsen!
Das wäre vielleicht anfangs möglich gewesen, als er gerade Richtung eingehalten hatte, wenn er da direkt umgekehrt wäre, aber nachdem er hin und her gegangen war, war er sich jetzt der die Richtung, die er einschlagen musste, um nach dem Felsen zurückzugelangen, ganz und gar im Unklaren.
Nun, er schlug auf gut Glück die Richtung ein, in welcher er den Felsen liegen glaubte.
Und wahrhaftig, er erreichte ihn wieder!
Als er aber hinaufgeklettert war, schien es ihm doch, als ob es wieder ein anderer Felsen sei.
Von der schlängelnden Bewegung im Grase war nichts mehr zu bemerken. Auch die Büffel und die Indianer dort in der Ferne waren unterdessen verschwunden..
»Hören Sie mich sprechen?«
»Ich höre.«
»Aber Sie haben vorhin nicht geantwortet.«
»Ich bedauere. Es kann ja einmal vorkommen. Gebrauchen Sie als Einleitung immer die Frage: Hören Sie mich sprechen — es ist der Weckruf, an den ich mich bereits gewöhnt hatte, und ich werde sofort antworten.«
»Was war das vorhin, was sich im Grase bewegte?«
»Eine Überraschung für Sie.«
»Ein Tier?«
»Nein.«
»Also ein Mensch?«
»Auch nicht.«
»Was denn sonst?«
»Etwas anderes, was nicht so leicht zu beschreiben ist. Sie werden es schon noch zu sehen bekommen.«
»Herr, ich liebe solche geheimnisvolle Überraschungen nicht!«
»Nicht? Ich bitte um Verzeihung. Dann werden Sie damit auch verschont.«
»Ich habe eine Frage.«
»Bitte.«
»Ich habe unterdessen, wie ich in dem Grase dahinstrich, immer an etwas gedacht. Also ich kann hier bleiben, so lange ich will?«
»So lange Sie wollen.«
»Bis an mein Lebensende?«
»Noch länger, wenn es Ihnen möglich ist!«, scherzte der Unsichtbare.
»Was haben Sie eigentlich an mir, dass Sie mir so entgegenkommen?«
»Das ist eine Frage, auf die ich jetzt noch nicht antworten darf.«
»Aber es ist Ihnen daran gelegen, dass ich dauernd hier bleibe?«
»Ja.«
»Wissen Sie, wie ich auf den Gedanken gekommen bin, einmal diesen einsamen Felsen aufzusuchen?«
»Ja.«
»Sie wissen es?«, erklang es jetzt doch mit großer Überraschung.
»Ja.«
»Nun, wie denn?«
»Sie haben wohl schon früher von diesem einsamen Felsen gehört, aber nicht weiter daran gedacht.«
»Und?«
»Sie haben zwei Nächte hintereinander von ihm geträumt.«
»Was, das ist Ihnen bekannt?!«, erklang es jetzt wahrhaft bestürzt.
»Wie Sie hören.«
»Dann ist es Ihnen möglich, den Traum eines Menschen zu beeinflussen!«
»Nehmen Sie an, dass dies uns möglich ist.«
Mister Sharp hatte sich schnell wieder beruhigt, nun nahm er dieses Geständnis ganz gleichgültig hin.
»Also es war bei Ihnen von vornherein beschlossen, mich hierher zu locken?«
»Ja.«
»Wozu?«
»Darauf darf ich noch nicht antworten, Sie werden es später erfahren.«
»Wenn ich aber richtige Fragen stelle, werden Sie sie bejahen?«
»Das darf ich.«
»Sie bilden hier eine ganze Gesellschaft.«
»Ja.«
»Ich soll einer der Ihrigen werden.«
»Ja.«
»Kann ich dazu gezwungen werden? Das heißt, dass man mich hier mit Gewalt festhält?«
»Niemals.«
»Ist Ihnen so sehr viel daran gelegen, mich hier zu behalten?«
»Sehr, sehr viel.«
»Wenn ich nur den Grund hierfür wüsste. Mein Geld spielt doch nicht etwa eine Rolle?«
»Ganz und gar nicht. Eine Andeutung kann ich Ihnen doch machen. Sie besitzen eine Gabe, von der Sie noch gar nichts wissen, die wir aber in Ihnen wecken werden und die uns dann von allergrößtem Vorteil sein wird.«
»Nun wohl, diese Andeutung soll mir vorläufig genügen. Und da kann ich Ihnen auch gleich jetzt meinen Entschluss mitteilen. Ja, ich will hier bleiben. Für immer. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.«
»Ist dieses schnelle Versprechen nicht etwas voreilig?«
»Nein. Ich knüpfe auch Bedingungen daran.«
»Was für welche?«
»Also mein Geld kommt nicht in Betracht?«
»Nein. Sie können Ihre vier Millionen Dollars ruhig auf der New Yorker Bodenkreditbank liegen lassen oder nach Belieben darüber verfügen.«
»Stehen Sie noch in Verbindung mit der anderen Welt?«
»Gewiss, sehr stark«
»In tatsächlicher Verbindung? Nicht nur durch Träume und Ferntelegrafie und dergleichen? Ich meine, können Sie sich von hier nach New York oder anderswohin begeben?«
»Jawohl, jederzeit, wir haben Fahrzeuge genug zu unserer Verfügung. Allerdings besondere Vehikel, von denen die andere Welt noch nichts weiß, Erfindungen, mit denen wir der anderen Menschheit ebenfalls wohl um hundert Jahre voraus sind.«
»Kann auch ich solch ein Fahrzeug benutzen, um mich nach New York oder anderswohin zu begeben?«
»Jederzeit, und wohin Sie wollen, Sie sollen ganz Herr Ihres freien Willens bleiben.«
»Gut. Dann fordere ich nur noch eine einzige Garantie.«
»Bitte?!«
»Dass ich hier mit keinem anderen Menschen verkehren muss.«
»Ganz wie Sie bestimmen.«
»Keinen einzigen Menschen zu sehen bekomme.«
»Dieses Versprechen geben wir Ihnen.«
»Angenommen. Dann mache ich Ihnen gleich einen Vorschlag. Also ich könnte sofort für immer hier bleiben?«
»Sofort.«
»Brauche nichts von Bord meiner Jacht mitzunehmen, nichts von New York in meinem Namen kommen zu lassen?«
»Gar nichts.«
»Weht draußen noch der Orkan?«
»Furchtbar.«
»So mache ich Ihnen den Vorschlag, dass Sie meinen Aeroplan wieder aus das Plateau schaffen und ihn jetzt von oben wirklich herabstürzen lassen. Vielleicht können Sie es arrangieren, dass dies von der Jacht aus beobachtet wird, dass er sogar aufgefischt wird, zertrümmert, und dass man an meinen Tod glaubt.«
»Sie wollen für tot gelten?«
»Ja. Ist das nicht angängig?«
»Gewiss. Das können wir arrangieren.«
»So tun Sie es. Ich habe Verwandte, ich möchte gern erfahren, was die machen werden, wenn die meinen Tod erfahren, wegen der Erbschaft. Dann, wenn es soweit ist, ehe sie die Erbschaft antreten, kann ich doch immer noch als Lebendiger auftauchen?«
»Dafür würden wir rechtzeitig sorgen. Also dieser Ihr Wunsch gilt?«
»Er gilt. Führen Sie die Sache aus.«
»Nun ist die Anweisung dazu bereits gegeben, Ihr Aeroplan wird vom Felsen herabstürzen und nach der Jacht treiben. Oder haben Sie daraus noch etwas zu nehmen?«
»Gar nichts. Sie haben doch Tabak hier?«
»Alle Sorten, die Sie wünschen.«
»So ist die Sache erledigt. Kann ich jetzt noch weiter mit Ihnen sprechen?«
»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«
»Lassen Sie sich noch etwas über meinen Charakter erklären. Ich bin nicht etwa menschenscheu «
»Wir wissen es.«
»Wenn ich forderte, ich dürfe hier niemals mit anderen Menschen zusammentreffen, so soll das nicht für immer gelten. Bringen Sie mich mit Menschen zusammen, die mir sympathisch sind, und ich werde in ihrer Gesellschaft glücklich sein, werde ein ganz anderer Mensch werden.«
»Wir werden den Versuch machen.«
»Aber das ist nicht so einfach, wie Sie sich vielleicht denken. Bringen Sie mich in eine Lage, in der ich mich einsam, verlassen und elend fühle, sodass ich Menschen herbeisehne. Aber nicht etwa, dass Sie mich irgendwo einsperren. Das kann ich selbst tun, habe es mehrmals probiert. Ich habe freiwillig ein Robinsonleben auf einer einsamen Insel geführt, habe ein andermal ein halbes Jahr lang mich in einem Zimmer vergraben, ich habe mich schließlich gelangweilt, mich aber nie nach einem Menschen gesehnt. Sie müssen mich in fatale Situationen bringen.«
»Ich verstehe.«
»Jedoch nicht in wirklich gefährliche. Nicht etwa, dass ich unter den Klauen eines Raubtieres zu liegen komme, dass ich da die Hilfe eines Menschen herbeisehne. Nicht, dass ich an einem Seile, das jeden Augenblick zu reißen droht, über einem fürchterlichen Abgrund hänge. Ich kann Ihnen die Versicherung gehen, dass ich mich lieber zerfleischen lassen oder in die Tiefe stürzen würde, ehe ich einen Menschen um Hilfe anflehe. Ich bin nun einmal so. Ich verachte die Menschen.«
»Ich verstehe, ich verstehe.«
»Sie verstehen mich wirklich?«
»Sie wollen das Gruseln lernen.«
»So ist es! Lehren Sie mich das Gruseln, bis ich die Anwesenheit eines anderen Menschen als das freudigste Ereignis empfinde.«
»Das sollen Sie haben. Wenn es Ihnen aber zu viel wird, so werden Sie es sagen.«
»Das werde ich tun, obgleich mir wohl nicht so leicht etwas zu viel werden wird.«
»Ich meine, dass Sie mich nicht überanstrengen, denn ich werde die Unannehmlichkeit Ihrer Lage immer steigern.«
»Ich verspreche Ihnen, bei Zeiten Sie zu bitten, mit der Sache aufzuhören, wenn es mir nicht mehr gefällt.«
»Kann dabei auch so etwas wie große Hitze und Kälte benutzt werden?«
»Gewiss. Nur dass ich mich nicht gerade verbrenne oder etwa erfriere.«
»O nein, so weit wird es nicht getrieben, da seien Sie ohne Sorge.«
»Auch Hunger und Durst.«
»Wie lange darf das Experiment währen?«
»So lange Sie wollen. Meinetwegen tage- und wochenlang.«
»Haben Sie erst noch Vorbereitungen zu treffen?«
»Ich nicht.«
»Sich mit irgend etwas zu versehen?«
»Ich wüsste nichts. Mein Tabaksbeutel ist noch gefüllt, um die weitere Zukunft kümmere ich mich nicht.«
»So kann es gleich losgehen?«
»Sofort.«
»So bleiben Sie vorläufig hier auf diesem Felsen stehen, bis ich Sie dann weiter dirigieren werde.«
Der Umschwung vollzog sich sehr schnell Ein kalter Windstoß, und am Horizont bildeten sich schwarze Wolken, welche schnell heraufkamen, bis sie den ganzen Himmel überzogen hatten, die Sonne verhüllend, immer dunkler wurde es, in der Ferne murrte der Donner, bis die Blitze zuckten.
Nicht lange währte es, und unter Sturmesgebraus entlud sich ein furchtbares Gewitter, der ganze Himmel stand in Flammen, die finstere Nacht manchmal zum Tage machend, man glaubte die Blitze unter schmetterndem Krachen manchmal einschlagen zu sehen; nur dass der Regen noch fehlte.
»Wunderbar! Großartig!«, lobte Mister Sharp, sich auf seinem Felsen vor dem Sturme kaum noch halten könnend.
Ja, Beifall zollte er, aber ohne jedes Staunen hatte er es gesagt.
»Was müssen Sie da für eine Maschinerie dazu nötig haben, um so etwas zustande zu bringen?!«, setzte er denn auch noch hinzu.
»Sie werden später hinter die Kulissen blicken!«, entgegnete die Stimme des Unsichtbaren, die trotz des Spektakels in der Atmosphäre nichts an Deutlichkeit einbüßte.
»Nun, Mister Sharp, müssen Sie sich aber von hier in eine andere Gegend begeben.
Es soll nämlich auch noch zu regnen anfangen, und das, muss ich gestehen, ist hier dieser unserer Prärie nicht zuträglich.
Sie haben also ganz recht, wenn Sie sagen, dass alles nur halbe Sache ist.
Aber das lässt sich nun nicht ändern. Sie müssen eine Etage tiefer. Hier in diesem Felsen befindet sich, wie übrigens in jedem anderen, eine Höhle, ich werde Sie dirigieren, Sie suchen vor dem Gewitter, um nicht erschlagen zu werden, Schutz in dieser Höhle, werden etwas in die Tiefe steigen, finden unten einen anderen Ausgang und — das Weitere werden Sie ja sehen.«
Mister Sharp war bereit, er kletterte den Felsen herab, die Blitze zuckten reichlicher denn zuvor, es herrschte fast Tageshelle, zu dem Rollen und Krachen der Donner gesellte sich jetzt auch ein eigentümliches rasselndes Geräusch.
»Was ist das für ein Rasseln und Rauschen?«
»Nun, das ist eben der Regen, den Sie schon aus der Ferne hören. Jetzt wenden Sie sich nach links, nun gleiten Sie mit der Hand tastend am Felsen entlang.«
In dieser Weise wurde Mister Sharp weiter gelenkt, er musste auf eine besondere Stelle einer glatten Felswand drücken, denn die Höhle war geschlossen, musste erst geöffnet werden.
Ein finsteres Loch gähnte ihm im Zucken der Blitze entgegen.
»Brauchen Sie Licht? Haben Sie vielleicht eine Lampe bei sich?«
Ja, eine Taschenlaterne hatte Mister Sharp tatsächlich einstecken, die magnetelektrische Zündung setzte den mit Benzin gespeisten Docht in Brand, sie beleuchtete eine Höhle, an den Wänden und an der Decke mit den bizarrsten Tropfsteinbildungen besetzt.
Und dort hinten ragte aus dem Boden eine Leiter hervor, die zweifellos in die Tiefe führte.
»Diese Leiter benutzen Sie!«
Es war eine höchst primitive hölzerne Leiter, aus rohen Baumstämmen und dazwischengebundenen Ästen hergestellt, sodass man sich recht wohl denken konnte, Präriejäger hätten sie sich notdürftig gefertigt.
Ein ganz beträchtlicher Abstieg durch einen senkrechten Schacht, und Mister Sharp befand sich wieder in einer geräumigen Höhle, die aber keine Tropfsteinbildungen aufwies, dagegen wohnlich eingerichtet war.
Wenigstens lagen da am Boden einige Decken, Felle von verschiedenen Tieren, Gewehre und andere Sachen, die darauf schließen ließen, dass diese Höhle zum Aufenthalt von Jägern diente.
»Hier wohnen Menschen?!«, fragte Mister Sharp denn auch gleich misstrauisch.
»Seien Sie ohne Sorge, dass Sie mit ihnen zusammentreffen!«, wurde er beruhigt. »Es ist nur ein Nachtlager von Präriejägern gewesen, die hier einige ihrer Sachen zurückgelassen haben, sie werden nicht sobald zurückkehren. Wenn Sie aber etwas bedürfen, so können Sie es sich hier aneignen.«
»Ich wüsste nichts, was ich brauchte.«
»Wie Sie wollen; sonst bin ich ja noch immer zur Stelle, um Ihnen alles . zu besorgen.«
Mit wenigen Schritten hatte Mister Sharp den Ausgang der Höhle erreicht.
Auch hier unten herrschte ein furchtbares Gewirr.
Doch wir wollen nicht mehr daran denken, dass sich Mister Sharp eine Etage tiefer begeben hatte, sondern eben annehmen, dass er in dieser Höhle einen zweiten Ausgang gefunden habe. Also es musste natürlich derselbe Gewitterhimmel sein, der sich jetzt über ihn wölbte.
Auch hier brauste ein orkanähnlicher Sturm, auch hier zuckten unaufhörlich die Blitze und rollten und krachten die Donner.
Aber bald bemerkte Mister Sharp doch einen großen Unterschied.
Und nicht nur, weil es hier vom Himmel in Strömen goss. Trotz dieses heftigen Regnens hätten die fortwährenden Blitze doch große Helligkeit verbreiten, die ganze Gegend erleuchten müssen.
Das war aber eben nicht der Fall. Wie die Blitze auch zuckten, wie der ganze Himmel auch manchmal nur einige Sekunden vollständig in Flammen stand, so konnte Mister Sharp von der Landschaft doch gar nichts erkennen, er blickte nur in die schwärzeste Nacht hinein.
»Woher kommt diese Dunkelheit? Weshalb wird sie von den Blitzen nicht erhellt?«
»Einfach weil über dem Erdboden ein dichter Nebel lagert.«
»Mein Herr, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass dies ganz und gar nicht so einfach, sondern ganz unnatürlich ist.«
»Weshalb?«
»Wenn es neblig wäre, dann könnte ich dort oben auch die Blitze nicht so deutlich sehen, so weiß leuchtend, abgesehen davon, dass solch ein Sturm und solch ein Regenguss gar keinen derartigen Nebel dulden würde. Und wie kommt es denn überhaupt, dass hier in dieser Höhle gar kein solcher Nebel ist?«
In der Tat, die Laterne verbreitete in der Höhle einen ganz hellen Lichtschein um sich, da war von Nebel nicht das Geringste zu merken.
Dass hier etwas Unnatürliches vorlag, konnte Mister Sharp auch gleich noch in anderer Weise konstatieren.
An seiner Laterne konnte ein Blendstrahl eingestellt werden, außerordentlich scharf und weit leuchtend.
Dieser Blendstrahl zeigte sich in der Höhle selbst in seiner ganzen Wirksamkeit, also wiederum ein Beweis, dass hier drin die Atmosphäre nicht einmal feucht war, noch viel weniger neblig.
Als aber nun Mister Sharp den Blendstrahl zur Höhle hinaus ins Freie sandte, da war der Lichtstrahl plötzlich wie abgeschnitten.
Es war nicht anders, als ob der Ausgang der Höhle von einer Wand geschlossen sei, gegen welche der Strahl stieß, ohne sie jedoch zu erleuchten, wie sie ja auch nicht zu sehen war, eigentlich überhaupt gar nicht existierte, denn Mister Sharp konnte ja auch Hand und Arm hindurch stecken.
Dann war sein Arm eben in der Finsternis verschwunden, trotzdem die Blitze mit ihrem intensiven Lichte am Himmel zuckten, und der Arm wurde nun also auch nicht mehr von dem Blendstrahl erleuchtet.
»Sie haben recht«, bestätigte die Stimme des Unsichtbaren auf seine nochmalige Frage und Bemerkung, »hier liegt etwas Unnatürliches vor, etwas Künstliches.
Es ist sozusagen eine künstliche Finsternis, die durch kein Licht durchleuchtet werden kann.«
»Wie wird das erzielt?«
»Sie werden diese physikalische Möglichkeit später durch Experimente erläutert bekommen, jetzt kann ich Ihnen keine Erklärung geben, Sie würden mich gar nicht verstehen.«
»Und wozu diese künstliche Finsternis?«
»Damit Sie draußen die Gegend nicht sehen.«
»Und weshalb soll ich sie nicht sehen?«
»Damit Sie dann um so größere Überraschungen erleben. Genügt Ihnen das jetzt?«
»Es genügt mir.«
»So wollen Sie die Höhle verlassen.«
»Die Höhle verlassen? Fällt mir nicht ein. Ich bin nicht gerade wasserscheu, aber so in den Regen gehe ich nicht gern, wenn's nicht sein muss. Ich bleibe ruhig hier, bis es aufgehört hat.«
Mister Sharp sprach's, wandte sich und ging wieder ins Innere der Höhle hinein.
Also er war nicht bereit, alles mitzumachen, wie es dem Unsichtbaren zu arrangieren beliebte.
Natürlich lag diesem Widerstande ein guter Teil Humor zugrunde, wenn das der Amerikaner auch nicht durch Worte und Stimme ausdrückte.
So, nun mach, was Du willst, ich bleibe hier.
Er begann die Packen aufzuschnüren und zu untersuchen, welche die Präriejäger ebenfalls hier zurückgelassen haben sollten.
Sie enthielten Proviant, meist aus Hartbrot und getrocknetem Fleisch bestehend, alles ganz einladend aussehend.
»Ah, das ist ja vortrefflich! Nun, lieber Gott in dieser künstlichen Welt, immer lasse es donnern und regnen und stürmen, ich kann es hier für einige Tage aushalten.«
»Sie wollten doch nichts benutzen, was die Jäger hier zurückgelassen haben!«, ließ sich der »liebe Gott« vernehmen.
»Das war anders gemeint, und das mache ich überhaupt ganz, wie ich will, da habe ich gar kein Versprechen abgegeben und werde es auch niemals tun. Ich ergreife immer jede günstige Gelegenheit beim Schopfe.«
»Wenn ich es aber nun wochenlang so stürmen und gießen lasse?«
»Das machen Sie mit sich selber aus, wie Sie dann mit der Sintflut fertig werden. Was ich dann tun werde, weiß ich jetzt noch nicht. Vorläufig bleibe ich hier.«
Genießen tat er nichts, er packte den Proviant wieder etwas zusammen, streckte sich auf den Decken aus und brannte eine Pfeife an.
Behaglich lag er da und rauchte, lauschte, wie es draußen goss und donnerte, wie der Sturm dazu aus allen Tonarten heulte.
Doch nicht lange, so hob er den Kopf.
Im Hintergrunde der Höhle erscholl ein Plätschern, gleich darauf verwandelte es sich schon mehr in ein Rauschen, und da war die Ursache auch schon zu sehen.
Aus dem Hintergrunde der Höhle kam ein Bächlein hervor, das in wenigen Sekunden zu einem wahren Gießbache anschwoll, die ganze Breite der Höhle einnehmend, alles überflutend.
Hatte es denn auch oben in der ersten Etage in der Prärie geregnet?
Nun, das konnte hier ja auch anders arrangiert worden sein, man hatte in dem senkrechten Schacht einfach eine Wasserleitung aufgedreht.
Doch wir wollten ja nicht an solche künstliche Verhältnisse denken.
Also das Regenwasser hatte irgendwie von hinten Eingang in die Höhle gefunden.
»Ah, auf diese Weise wollen Sie mich hier hinausbringen? Nun, probieren Sie es.«
Mister Sharp stand noch nicht einmal auf, er blieb ruhig liegen, obgleich das Wasser schon über ihn wegging. Also er wollte es mit gleichgültigem Trotz versuchen, wer es hier länger aushielt, er oder der unsichtbare Herrscher in dieser Welt für sich.
Freilich musste er schon den Kopf auf einen Arm stützen, sonst wäre dieser bereits unter Wasser gekommen, und dieses stieg mit Schnelligkeit immer mehr; Mister Sharp musste sich zum Sitzen aufrichten, aber das Wasser stieg immer höher, bald ging es ihm bis zum Hals, er musste aufstehen.
Da wurde die Lampe, die er auf einen Felsvorsprung gesetzt und die er nicht weiter beachtet hatte, von dem auch immer reißenden Wasser erfasst und herabgespült, sie erlosch.
Die schwärzeste Finsternis umgab Mister Sharp, der auch schon wieder bis zur Brust im Wasser stand.
Und da ward er auch schon selbst von der Gewalt des Wassers ergriffen und einfach zur Höhle hinausgespült, er hätte sich unmöglich halten können.
Mit einem Male lag er, nachdem er ein gutes Stück fortgerissen worden war, am Boden, und dass er sich im Freien befand, konnte er nur daraus schließen, weil die Blitze jetzt direkt über ihm zuckten und er auch vom Sturm angeblasen wurde.
Er erhob sich. Das Wasser bespülte nur noch seine Füße.
»Solcher brutalen Gewalt muss man freilich weichen!«, sagte er phlegmatisch.
»Finden Sie das brutal?«
»O nein, so war das nicht gemeint. Immer zu, versuchen Sie mich nur mürbe zu machen.«
»Also ich kann noch anderes mit Ihnen aufstellen?«
»Alles, was Sie wollen. Mir nur nicht wirklichen Schmerz bereiten. Das möchte ich ausgeschlossen haben.«
»So sehen Sie, wie Sie jetzt weiter kommen.«
Das versuchte Mister Sharp denn auch, ohne um eine neue Lampe oder um eine andere Beleuchtung zu bitten, das verschmähte er.
Also trotz der unaufhörlichen Blitze herrschte auch hier im Freien die schwärzeste Finsternis, das man Hand dicht vor den Augen nicht erblicken konnte.
Der Boden, auf dem er stand, war hart, nur einige Zentimeter hoch vom Wasser überspült.
Mister Sharp schritt aufs Geratewohl weiter.
»Die Gefahr, dass ich in einen Abgrund stürze, liegt doch nicht vor?«
»Es droht Ihnen überhaupt nicht die geringste Gefahr.«
»Dann ist es gut.«
Also Mister Sharp patschte weiter in der Finsternis, umtobt vom Sturm, umzuckt von Blitzen und von Regen übergossen, der ihn aber nicht noch nasser machen konnte, als er schon war.
Doch nicht lange mehr, so gab es wenigstens unten kein Wasser mehr, dafür aber begannen Sharps Füße in Schlamm einzusinken, immer tiefer und tiefer, bis fast an die Knie, dass er die Füße nur noch mit Mühe herausziehen konnte.
Das Folgende ist nun schwer zu schildern, nämlich besonders in Bezug auf die Zeitdauer.
Mister Sharp watete und watete in dem Sumpfe immer geradeaus, bei jedem Schritte das Bein bis zum Knie aus dem Schlamme ziehen müssend.
Der Unsichtbare ließ nichts von sich hören, und Mister Sharp hatte keine Frage zu stellen, der watete ruhig weiter.
Schließlich war es der Unsichtbare, der die Geduld verlor.
»Nun, Mister Sharp, wie befinden Sie sich?«
»All right.«
»Gefällt Ihnen denn diese nächtliche Wanderung?«
»Ganz gut.«
»Wissen Sie, wie lange Sie jetzt schon so gewandert sind?«
»Ich kann mir von der Zeit gar kein Bild machen.«
»Blicken Sie doch einmal nach Ihrer Uhr.«
»Es ist ja ganz finster.«
»Sie haben doch ein Feuerzeug bei sich.«
»Nur eine Lunte, um die Pfeife in Brand zu setzen. Ich verzichte überhaupt darauf, nach der Uhr zu sehen.«
»Als Sie die Höhle unfreiwillig verließen, war es Punkt elf Uhr. Und jetzt ist es gleich um zwei.«
Also schon drei ganze Stunden waren vergangen, seit Mister Sharp so gewandert!
Nun bedenke man die ganze Situation, um zu verstehen, was das bedeutet!
So durch pechfinstere Nacht zu wandern, im furchtbarsten Gewitter, immer vom Sturme umbraust, dem peitschenden Regen immer direkt entgegen, also triefend nass, und dabei auch noch in einem Sumpfe watend, immer fast bis zu den Knien einsinkend, dass man die Füße kaum wieder herausziehen konnte!
Wer hätte das wohl drei ganze Stunden aushalten können?
Dass dies alles nur künstlich arrangiert war, dass man an die Garantie glauben konnte, eine andere, wirkliche Gefahr drohe einem nicht, hatte dabei sehr, sehr wenig zu sagen.
Die Wirklichkeit ließ ja eigentlich absolut nichts vermissen.
Ja, gerade das Bewusstsein, dass man ja nur zu sprechen brauche, dann war man sofort aus dieser schrecklichen Situation erlöst, hätte doch wohl jeden anderen Menschen das erlösende Wort aussprechen lassen müssen.
Dieser Amerikaner hatte es aber eben nicht getan! Der war die ganzen drei geschlagenen Stunden ruhig gepatscht und gewatet, immer geradeaus!
»Schon drei Stunden?«, fragte er jetzt ruhig, dabei nicht einmal stehen bleibend.
»Schon?«, wurde wiederholt. »Ist Ihnen denn die Zeit so schnell vergangen?«
»Ich hätte es erst auf eine Stunde geschätzt.«
»Gefällt Ihnen diese Situation denn so?«
»Gefallen tut sie mir gerade nicht, so wenig wie irgend etwas in der Welt. Ich halte eben aus.«
»Mister Sharp, Sie sind wirklich ein kurioser Mensch!«
»Möglich.«
»Woran haben Sie denn eigentlich während der ganzen Zeit gedacht?«
»Ich wundere mich immer, dass ich an gar keine Wand stoße, wo ich doch immer geradeaus gelaufen bin.«
»Das lässt sich leicht arrangieren, wie Ihnen später erklärt werden soll, sonst aber wundern Sie sich über nichts?«
»Ich wüsste nicht, was sonst noch wunderbar sein sollte.«
»Sind Sie denn gar nicht müde?«
»O ja, diese Waterei im Sumpfe strengt an, das muss ich gestehen. Aber aushalten tue ich das noch lange.«
»Haben Sie denn gar keinen Hunger?«
»Sogar tüchtigen. Meine Zeit ist dann ja auch längst vorbei.«
»Und Sie sagen nichts?«
»Nein.«
»Weshalb nicht?«
»Weil ich einmal sehen will. wie lange ich das Hungern aushalten kann. Ich will einmal eine Hungerkur machen.«
»Sie würden immer so weiter waten?«
»So lange bis ich vor Müdigkeit oder Hunger umfalle. Dann habe ich natürlich verspielt oder auch nicht. Gewonnen hätten Sie wenigstens nicht.«
»Nein, das hätte ich dann allerdings nicht. Mister Sharp, Sie sind ein kurioser Mensch!«
»Das haben Sie schon einmal gesagt.«
»Soll ich Ihnen andere Überraschungen bereiten?«
»Wie Sie wollen. Was Sie mir überhaupt bisher vorgemacht haben, nenne ich Ihnen gar keine Überraschung.«
»Soll ich Ihnen Gespenster erscheinen lassen, die wilde Jagd und dergleichen?«
»Meinetwegen.«
»Soll ich Ihnen einen Gehängten am Galgen zeigen, der im Blitzeszucken noch zappelt?«
»Ich schneide den Kerl nicht ab. Alles Abschneiden ist hier ja verboten.«
»Oder einen gespensterhaften Leichenzug, der Tote im Leichenhemd selbst geht voran?«
»Wie Sie wollen.«
»Oder soll ich einen Schneesturm erbrausen lassen, der Sie unter einem weißen Leichentuche begräbt?«
»Mir recht. Vorausgesetzt ist nur, dass ich dabei nicht gar zu große Kälte ausstehen muss, dass ich dabei nicht erfriere.«
»Nein, Mister Sharp«, erklang es jetzt in anderem Tone, »wir wollen dergleichen Experimente nicht mehr mit Ihnen machen.
Wir sind während dieser drei Stunden zur Überzeugung gekommen, dass Sie auf diese Weise nicht zu kurieren sind.
Denn wir haben vergebens darauf gewartet, dass Sie rufen würden, nun sei es genug des grausamen Scherzes.
Da wollen wir lieber nicht erst mit Gespenstern und Schneestürmen anfangen, das wäre bei Ihnen doch ganz nutzlos.
Die Sache muss anders arrangiert werden, um in Ihnen wieder Lebenslust und Geselligkeit zu erwecken, das bedarf aber erst einiger Vorbereitungen, und das eilt ja auch nicht so sehr.
Jetzt will ich Sie nur noch in eine einzige fatale Lage bringen.
Sie werden sogleich in einem bodenlosen Sumpfe versinken, der Schlamm wird Ihnen über dem Kopfe zusammenschlagen.
Gestatten Sie, dass wir Sie einmal im Sumpfe untertauchen?«
»Das ist nun nicht gerade eine erfreuliche Überraschung!«, entgegnete der Gefragte, der während dieser Unterhaltung nicht etwa stehen geblieben, sondern immer weiter in der stockfinsteren Nacht marschiert war, die Hände in den Hosentaschen, immer ein Bein nach dem anderen aus dem zähen Schlamme ziehend.
»Aber eine wirkliche Überraschung wird Ihrer hinterher warten.
Sie sollen dabei etwas ganz Rätselhaftes erleben. Natürlich ist auch das für Sie ohne jede Gefahr.
Sobald Sie versinken, greifen Sie zu, Sie werden etwas fassen und daran wieder aus dem Schlamme gezogen werden. Also darf ich?«
»Dann machen Sie los. Nur hoffe ich, dass ich dann auch andere Kleidung bekomme. Wenn das Spiel nun einmal aus sein soll, so möchte ich dann nicht mehr lange in nassen und schlammigen Sachen herumlaufen.«
»Dafür wird gesorgt, und darin besteht sogar die für Sie bestimmte Überraschung. Also jetzt machen Sie sich darauf gefasst.«
Kaum hatte der Unsichtbare dies gesagt, als es dem Watenden auch schon nicht mehr möglich war, das linke Bein aus dem Schlamm zu ziehen, und wie er mit dem rechten Fuße zutrat, versank dieser erst recht ins Bodenlose, und gleich darauf fühlte Mister Sharp seinen ganzen Körper einsinken.
Ehe er sich versah, stak er schon bis an die Brust in dem weichen und doch so zähen Schlamme, dann ging der ihm bis an den Hals, und dann tauchte er auch schon mit dem ganzen Kopfe unter.
Da freilich hatte Mister Sharp schleunigst die Hände aus den Hosentaschen genommen und emporgereckt, noch vorher, ehe ihn der zähe Schlamm an dieser Bewegung hindern konnte.
Und richtig, sobald er auch mit dem Kopfe ganz untergetaucht war, erfasste er mit beiden Händen sofort etwas, was er nur für ein Tau halten konnte.
Er hielt sich fest und ward sogleich mit Vehemenz fortgezogen, aus dem Schlamme heraus und auch gleich weiter, bis er wenige Sekunden später auf festem Boden lag. Überhaupt war dies alles so schnell vor sich gegangen, dass Mister Sharp dann auch später nicht hätte sagen können, ob er gefühlt hätte, wie ihm der Schlamm etwa auch in die Nasenlöcher gedrungen sei.
Nur das wusste er ganz bestimmt, dass der schmierige Schlamm ihm wirklich über den Kopf zusammengeschlagen war, und dann hatte er auch noch gefühlt, wie er über den Sumpf der Länge nach hingeschusselt war.
Dann also lag er auf festem Boden, so lang wie er war, auf dem Bauche.
»Stehen Sie doch auf!«, erklang da die Stimme des Unsichtbaren.
Mister Sharp gehorchte.
Aber die Augen behielt er noch geschlossen, weil die doch ganz vom Schlamm bedeckt waren, und da behält man die Augen eben lieber zu.
»Sie können das Seil ruhig loslassen.«
Auch das tat Mister Sharp. Nun aber war seine erste Bewegung mit den Händen nach seinen Augen, um dort den Schlamm wegzuwischen, soweit das möglich war.
Wenn er irgendwie noch ein richtiger Mensch war, so musste er sich sehr wundern, dort gar nichts von so etwas wie von Schlamm und dergleichen zu fühlen, nicht einmal etwas von Nässe.
Erst blinzelte er etwas, dann schlug er die Augen völlig auf, und da allerdings musste er wohl ein verdutztes Gesicht machen.
Er befand sich in einem kleinen, komfortabel eingerichteten Zimmer, dessen Boden mit einem Plüschteppich bedeckt war.
Doch das war es nicht, worüber er wohl so staunen musste.
Die Betrachtung seiner selbst zwang ihn dazu, wenn er überhaupt noch die Bezeichnung »Mensch« verdiente.
An seiner ganzen Kleidung, von der Stiefelsohle an bis zu dem Kragen des Sporthemdes gar keine Spur von Schlamm und ebenso wenig irgend etwas von Nässe. Er war vollkommen trocken!
Und nicht etwa, dass von da an, wo er aus dem Schlamme gezogen worden, bis jetzt, da er hier in diesem Zimmer vom Boden aufstand, längere Zeit vergangen wäre, nicht etwa, dass er inzwischen einmal das Bewusstsein verloren gehabt hätte.
Nein, nur wenige Sekunden hatte diese Verwandlung der Situation in Anspruch genommen, Mister Sharp hatte nicht etwa geschlafen, so wenig wie er jetzt träumte, da wusste er ganz gewiss.
»Wie ist das möglich?«
»Finden Sie selbst eine Erklärung dafür?«, fragte die Stimme des Unsichtbaren.
»Nein.«
»Sie sind einfach überhaupt niemals nass gewesen.«
»Niemals nass gewesen? Das verstehe ich erst recht nicht. Ich habe doch von Wasser getrieft!«
»Scheinbar nur.«
»Nein, das war nicht nur scheinbar, das war ganz reell. Wie ich mir oftmals mit den nassen Händen das Wasser aus dem Gesicht gewischt habe!«
»Aber dieses Wasser hat Sie in Wirklichkeit gar nicht benetzt. Es war nämlich gar kein Wasser, das wir vom Himmel herabregnen ließen. Ist Ihnen nicht eine Flüssigkeit bekannt, welche ganz das Gefühl erzeugt, als tauche man seine Hand in Wasser, und zieht man diese zurück, so haftet keine Spur von der betreffenden Flüssigkeit daran?«
»Quecksilber.«
»Richtig, Quecksilber. Was wir von dem künstlichen Himmel regnen lassen, ist nun freilich kein Quecksilber. Es ist eben Wasser. Nur dass es sich in einem besonderen Aggregatzustand befindet, oder, will ich einfach sagen, eben ein besonders präpariertes Wasser. Es benetzt nicht die Haut und keinen Gegenstand, es haftet nicht. Um nun trotzdem das Gefühl der Nässe zu erzeugen, dazu freilich ist nötig, dass wir es in Strömen vom Himmel gießen lassen. Der Betreffende muss in ununterbrochener Berührung mit diesen künstlichen Regentropfen bleiben. Dass man dann den Unterschied gar nicht merken kann, haben Sie ja während der drei Stunden selbst erlebt. Und der Schlamm, in dem Sie wateten und in dem Sie zuletzt ganz verschwanden, ist nur eine dickflüssigere Ausgabe dieses besonderen, nichtbenetzenden Wassers. Das ist die ganze Erklärung dieses Phänomens, soweit ich sie Ihnen jetzt geben kann.«
Sie genügte für Mister Sharp, er hatte deswegen keine weitere Frage zu stellen.
»Können Sie mir jetzt etwas zu essen besorgen?«
»Sofort.«
Mister Sharp hatte kaum Zeit, sich in diesem Zimmer etwas genauer umzusehen, er konnte gerade konstatieren, dass Fenster und Türen fehlten, dass auch hier jenes Licht ohne Leuchtquelle herrschte, als an der Decke, holzgetäfelt wie die Wände, ein rasselndes Geräusch entstand, und gleich darauf löste sich dort oben ein viereckiges Stück der Holztäfelung ab und kam als Tisch an vier Schienen herab.
Also das, was man an Bord des Schiffes eine Back nennt; wo äußerst mit dem Platz gespart werden muss, wie auch im Mannschaftslogis, da kann man sich nicht den Luxus eines feststehenden Tisches gönnen, die Tischplatte ist an der Decke befestigt und wird nur bei Gebrauch an Eisenbändern aufgehangen. Dasselbe gilt, besonders auf Kriegsschiffen, auch für die Sitzplätze, für die Bänke, und daher wird die Vorbereitung zur Mahlzeit und sogar diese selbst in der deutschen Kriegsmarine offiziell »backen und banken« genannt.
Aber auch sonst überall, wo man ein »Tischleindeckdich« haben will und schon Erfahrung in so etwas hat, lässt man diesen Tisch lieber von oben herabkommen als von unten aus dem Boden wachsen, also auch die Räume, in denen die Vorbereitungen für den zu deckenden Tisch getroffen werden, liegen oben, nicht unten; denn wenn der Tisch aus dem Boden heraus wächst, so muss in diesem doch vorher erst eine Öffnung entstehen, in die jemand leicht hineinstürzen kann; diese wird zwar verhindert, wenn der Tisch voll ist, dann aber kann man seine Beine nicht darunter stecken; außerdem kann es passieren, dass man mit dem Tische zwischen den dampfenden Schüsseln in die Höhe gehoben wird; oder beim Hinabgehen können einem die Beine gequetscht werden; und so gibt es noch verschiedene andere Unannehmlichkeiten, die alle vermieden werden, wenn der Tisch oben von der Decke herabkommt. Für diese längere Ausführung gibt es eine Berechtigung; das ist nämlich nicht etwa nur so eine phantastische Sache, sondern solche Tischleindeckdichs werden immer mehr eingeführt, in den Speisesälen der amerikanischen Hotels sind sie schon gang und gäbe, man setzt sich auf einen freistehenden Stuhl, macht telefonisch seine Bestellung und der Tisch mit den gewünschten Speisen und Getränken kommt oben von der Decke herab. Ein nicht zu überhörendes, aber auch nicht belästigendes Geräusch macht zuvor aufmerksam, dass man nicht gerade den Kopf unter die herabkommende Tischplatte steckt.
Kleinere Nachbestellungen werden dann durch einen Miniaturaufzug ausgeführt, der sich an einer in der Mitte befindlichen Schiene auf und ab bewegt. So hat sich der praktische Amerikaner ganz von der Bedienung der hin und her gehenden Kellner freigemacht, während es uns noch nicht einmal gelungen ist, das Problem zu lösen, wie man es vermeiden kann, dass auf den Straßenbahnwagen der Schaffner wegen der Fahrkarten die Passagiere immer auf die Hühneraugen treten muss, was es in Amerika ebenfalls schon längst nicht mehr gibt. —
Der hier herabkommende Tisch war ebenfalls schon gedeckt, nur einen Stuhl musste sich Mister Sharp selbst herbeitragen, er fand fast genau dieselben Speisen und Getränke, die er zum Diner an Bord seiner Jacht gewohnt war, und er aß wie ein hungriger Mann.
Als auch der unaufmerksamste Kellnerstift hätte sehen müssen, dass er seine Mahlzeit beendet hatte, erscholl wieder ein Schnarren und der Hängetisch ging wieder in die Höhe.
Mister Sharp beobachtete, wie sich oben zwei Türen seitwärts auseinanderschoben, der Tisch ging durch die Öffnung und die Decke schob sich wieder zusammen.
Durch die entstandene Öffnung hatte Mister Sharp nichts weiter sehen können.
»Wünschen Sie sonst noch etwas, Sir?«, fragte immer wieder dieselbe tiefe, sonore Stimme des Unsichtbaren.
»Danke, nein, ich bin vollkommen gesättigt. Es war ausgezeichnet, besonders der Hammelrücken.«
»Aber doch Ihren gewohnten Kaffee, Ihre Havanna?«
»Nein, auch nicht. Da die Verhältnisse nun einmal andere geworden sind, werde ich auch etwas anders leben. Seien Sie nur ohne Sorge, ich werde es schon sagen, wenn mir etwas fehlt oder ich etwas Besonderes wünsche. Jetzt möchte ich eine Waschgelegenheit haben.«
»Sie ist vorhanden, Sie müssen sich nur selbst hinüberbemühen.
Nun, Mister Sharp, will ich Sie gleich in alles einweihen, soweit es wenigstens Ihre Bequemlichkeit betrifft. Sie befinden sich hier in einem Wohnhause, das ganz zu Ihrer Verfügung steht.
Sie finden darin Wäsche, Garderobe und alles andere, was ein zivilisierter Mensch braucht, alles nur für Sie bestimmt.
Wollen Sie alles sich selbst suchen, so tun Sie es — wenn nicht, so fragen Sie mich, ich höre immer — wenn Sie eine persönliche Bedienung haben wollen, so ist sie in drei Sekunden zur Stelle, ohne dass Sie gebunden sind, können Sie sie sofort wieder wegschicken.
Dasselbe gilt auch außerhalb des Hauses, das Sie natürlich jederzeit verlassen können.
Nur in diesem Raume hier sind aus besonderen Gründen keine sichtbaren Türen vorhanden, weil er eben eine geheimnisvolle Vermittlung zwischen verschiedenen Regionen bildet.
Ich werde jetzt eine unsichtbare Tür öffnen, die Sie benutzen, sonst finden Sie überall im Hause richtige Türen.
Fenster allerdings nicht, obgleich sie vorhanden sind. Eben eine besondere Einrichtung, die ich Ihnen dann erklären werde, wenn Sie nicht selbst nach dem Mechanismus suchen wollen, der die Fensteröffnungen entstehen lässt, offen oder durch Glasscheiben geschlossen.
Sonst habe ich Ihnen jetzt nichts weiter zu sagen. Wollen Sie noch etwas wissen, so fragen Sie mich.«
»Vorläufig nicht.«
»Hinter Ihnen ist die Tür offen.«
Mister Sharp, der jetzt einsam auf dem Stuhle mtten im Zimmer saß, stand auf, drehte sich um und sah es. Ein Teil der Wandtäfelung hatte sich als Tür geöffnet.
Er ging hindurch und kam aus einem Zimmer ins andere.
Er befand sich, soweit er jetzt beurteilen konnte, was sich dann aber auch als richtig erwies, in der Wohnetage einer mittelgroßen Villa, welche mit sechs Hauptzimmern sehr komfortabel eingerichtet war, wohl speziell für einen Junggesellen, der aber auch einmal einen Gast aufnehmen wollte, auch für die Nacht. Dazu nun noch mehrere Nebenräume, wie Badeeinrichtung und dergleichen. Dagegen war hier in dieser Etage keine Küche, kein anderer Wirtschaftsraum.
Besondere Vorrichtungen, die auf geheimnisvolle Überraschungen schließen ließen, bemerkte Mister Sharp nicht weiter. Er war ein Amerikaner, ein Yankee, der New York kannte. Für ihn war es ganz selbstverständlich, dass sich zwei oder noch mehr kleinere Zimmer durch Zurückschieben der Zwischenwände in einen großen Salon verwandeln ließen, dass der Wandschrank im Speisezimmer Eis enthielt, das aber draußen vom Korridor aus eingefüllt wird, und Ähnliches mehr. Darum kümmerte er sich nicht, danach suchte er nicht, er durchschritt jetzt nur die Zimmer, sich oberflächlich umblickend.
Hier war ein Liftzug, der hinauf und hinab führte, der ihn in Bewegung setzende Mechanismus jedenfalls ganz einfach, die Handhabung sofort zu erkennen. Er benutzte ihn noch nicht, so wenig wie die Treppen, die er beim Erreichen eines Korridors sah.
Er kehrte um, fand das Schlafzimmer mit angrenzendem Toilettenraum, alles einem reichen Gentleman entsprechend eingerichtet. Englischamerikanisch. Kein Himmelbett, eine eiserne Bettstelle, die Matratze ziemlich hart. Federbetten kennt auch der verwöhnteste Engländer nicht, auch bei der strengsten Kälte wickelt er sich nur in Decken, die man in schlichtester Ausgabe Pferdedecken nennt. Der Luxus liegt im Stoff. Und dann können auch noch die kostbarsten Felle und Pelze hinzukommen, letztere wenigstens als Unterlage, sowie es auch hier der Fall war, wo zum Überzug für die Matratze einige Silberbären ihr Fell hatten lassen müssen.
Weiter untersuchte Mister Sharp die Schränke und Kommoden, fand die verschiedensten Anzüge und alle Art Wäsche, alles wie für ihn gefertigt, nämlich sogar seinem Geschmacke Rechnung tragend, es musste geradezu im Handumdrehen oder doch während der letzten drei Stunden für ihn hergestellt worden sein, aber benutzen tat er jetzt nichts, nur die Wascheinrichtung mit kaltem und heißem Wasser, den automatischen Seifenspender und den elektrischen Trockenapparat, dann überzeugte er sich nur noch, dass ein Schränkchen aus Mahagoniholz ein ganzes Arsenal von Rasiermessern enthielt mit allem, was dazu gehört, und wandte seine Aufmerksamkeit der Fensterfrage zu.
Denn von Fenstern war nirgends etwas zu bemerken, obgleich in allen Zimmern die beste Luft und auch im verstecktesten Winkel Tageshelligkeit herrschte.
Dass dieses Licht von allen Seiten kam, wahrscheinlich direkt aus den Wänden heraus, war besonders daraus erkenntlich, dass überall der Schatten fehlte.
Aber da war in jedem Zimmer an einer gewissen Stelle der Wand ein Ebenholzbrettchen mit einer Reihe von verschiedenfarbigen Knöpfen, von denen der nur einigermaßen Sachkundige bestimmt wusste, dass sie so oder so an den unbesetzten und unbehangenen Stellen der Wände Fenster entstehen lassen mussten.
Diese Fensterlosigkeit hier war ja nicht gerade etwas Originelles.
Es ist immer wieder New York, wo dies alles jetzt schon längst zu finden ist.
Nicht, weil New York — was ja allerdings auch zutrifft, nun einmal die größte Stadt des erfindungsreichen und sofort alles praktisch verwertenden Amerikas ist, sondern vor allen Dingen, weil das eigentliche New York doch auf einer Insel liegt, auf Manhattan, deshalb nicht vergrößern, sich nicht mehr ausbreiten kann. Deshalb sind in New York die ersten Wolkenkratzer entstanden, die jetzt bereits eine Höhe von mehr als vierzig Etagen erreicht haben, und jetzt paddelt man die Wohn- und Geschäftsräume auch schon immer mehr in die Erde hinein, immer tiefer geht es hinab, wozu der Grundfelsen dieser Insel auch sehr gut geeignet ist.
Bei diesen unterirdischen Wohn- und Geschäftsräumen kann es ja nun überhaupt keine Fenster mehr geben, sie haben keinen Zweck mehr. Da muss also überhaupt außer künstlicher Beleuchtung auch künstliche Luftzufuhr eingerichtet werden. Hierbei hat man aus Not Erfahrungen gesammelt, und die verwendet man nun auch bei den oberirdischen Bauten.
Weshalb die gewöhnliche Luft einatmen, welche schon die Lungen der anderen Sterblichen in der Stadt zum Teil passiert hat? Man ist bei der Gesellschaft abonniert, die einem vom Strand her die köstlichste Seeluft durch eine Rohrleitung direkt in die Wohnung pumpt, mitten in der Stadt gelegen.
Müssen die Fenster hierzu aber nun einmal geschlossen sein, dann auch gleich so dicht, dass man von dem Spektakel der rastlosen Geschäftsstraßen draußen nichts mehr hört.
Absolut schalldicht — das verlangt jetzt jeder Amerikaner, der es sich leisten kann, von seiner Wohnung wie von seinem Büro.
Natürlich müssen trotzdem Fenster vorhanden sein, oder bei den oberirdischen Bauten will man doch nicht etwa ganz auf sie verzichten.
Muss aber nun der Verschluss der Fensteröffnungen sehr dick sein, um die Schalldichtigkeit zu sichern, wohl, dann lassen sich auch gleich noch verschiedenfarbige Fensterscheiben anbringen, die durch einen Mechanismus ausgewechselt werden.
Die gewöhnlichen Fensterscheiben lassen das ganz ordinäre Sonnenlicht herein. Dass rotes Licht die Lebensfreudigkeit und daher auch die Arbeitskraft bedeutend steigert, das ist tatsächlich erwiesen. Nur darf man sich nicht immer darin aufhalten, das dürfte die Natur nicht ungestraft lassen, oder mit der Gewohnheit schwindet die Wirkung, der Effekt. Wohl, wenn der Amerikaner in einem Büro intensiv arbeiten will, so schaltet er die roten Fensterscheiben ein. Sind Fliegen und Mücken im Zimmer, so werden die violetten Scheiben vorgeschoben, und diese Insekten benutzen jedes Löchelchen, das Zimmermann und Maurer gelassen haben, um diesem ihnen höchst unangenehmen, wenn nicht tödlichen violetten Lichte zu entkommen.
Mister Sharp drückte auf den ersten beliebigen Knopf.
Der Erfolg war so ziemlich das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt hatte.
Plötzlich herrschte in dem Schlafzimmer, in dem er sich befand, Stockfinsternis. Schließlich auch etwas recht Angenehmes, zu jeder Zeit durch einen Druck solch eine Finsternis erzeugen zu können. Nur die Knopfreihen leuchteten noch wie Glühwürmer in den verschiedensten Farben. Wen auch diese Lichter noch störten, der konnte einen vorhandenen Deckel darüber klappen.
Sharp drückte einen weißleuchtenden Knopf in der vierten Reihe. Im Ganzen waren sechs Reihen vorhanden, jede enthielt acht Knöpfe, also waren nicht weniger als achtundvierzig verschiedene Möglichkeiten gegeben. Da konnte ja nun freilich ein Uneingeweihter lange fingern, ehe er gerade den richtigen Knopf drückte, der das hervorbrachte, was beabsichtigt wurde, und wenn es hier keine schriftliche Anleitung gab, so wollte das auswendig gelernt sein, und wenn nun vielleicht noch gar Kombinationen in Betracht kamen, so konnte das ja in die Tausende gehen! Also Mister Sharp hatte den weißen Knopf in der vierten Reihe gedrückt.
»Zwei Uhr dreiundzwanzig!«, sagte eine vernehmliche Stimme.
Eine phonographische Uhr, nichts weiter, für Mister Sharp nichts Neues. Die hatte er schon vor drei Jahren in dem New Yorker Hotel in jedem seiner Zimmer gehabt. Als er sie einmal in der Nacht hatte sprechen lassen wollen, so gegen Mitternacht, hatte sie mehr als hundert mal hintereinander gebrüllt, es wäre früh um sieben, das Ding war nicht abzustellen gewesen, bis ihm endlich die Lunge geplatzt war.
Diese phonographische Uhr hier hatte die richtige Zeit nur ein einziges Mal gemeldet, dann schwieg sie, bis sie wieder gefragt werden würde.
Jetzt drückte Mister Sharp den gelben Knopf in der zweiten Reihe.
Im nächsten Augenblick wurde er gegen die andere Wand geschmettert, dass er alle Knochen in seinem Leib krachen hörte.
Er raffte sich auf und stand wieder fest. Das gelang ihm aber nur deshalb, weil er das Bocken seiner Jacht gewohnt war. Ein anderer, der nicht ganz seefest gewesen, wäre noch immer hin und her geschleudert worden, und dann jedenfalls hätte er auch bald den Mustern des schönen Teppichs mit seinem Mageninhalt noch weitere Dekorationen beigefügt.
Also das elegante Schlafzimmer schlingerte und stampfte.
Warum sollte es nicht? Oder vielmehr: Muss es nicht sehr angenehm sein, am festen Land im Bett zu liegen und dabei alle Freuden und Leiden einer stürmischen Seereise durchzukosten? Wenigstens für so einen alten Seebären, der nicht mehr schlafen kann, wenn er nicht schaukelnde Bretter unter sich hat, muss das ja etwas sein.
Der Erzähler weiß nicht, ob es solch ein Schaukelzimmer schon anderswo gibt. Aber das weiß er, dass auch schon in Deutschland ein Apparat patentiert ist, mit Hilfe dessen man im Bett auf dem Rücken liegend marschieren und Bergtouren machen kann. Indem man eben auf einem am Fußende etwas schräg aufgestellten Brette immer schreitet, dabei wohl auch einen Druck überwinden muss, und Zähluhren registrieren die Anzahl der Schritte und den Widerstand der Steigung. Einen amerikanischen Dreh- und Schaukelstuhl vor dem Schreibtisch gibt es ja auch schon, ebenso eine Schaukelbadewanne und ein Schaukelbett, nun wird wohl auch bald das Schaukelzimmer kommen.
Wackelte denn aber nun hier das ganze Haus oder war dieses Schlafzimmer aufgehängt, oder wie wurde das sonst gemacht?
Nun, Mister Sharp merkte bald, er brauchte nur die Wand zu befühlen, dass es nur der Boden war, der auf und nieder ging und hin und her.
»Auch wieder nur eine halbe Sache«, knurrte er, »eine Schiffskajüte ist das ja nicht, da müssten doch auch die Wände mittanzen.«
Er balancierte nach den leuchtenden Knöpfen zurück.
Wenn er jetzt nur gewusst hätte, welchen er drücken musste, um wieder das Licht einzuschalten
Ja, bei schwärzester Finsternis in solch einem Schaukelzimmer hin und her geworfen zu werden, das ist freilich fatal, da dürfte manches in Trümmer gehen.
Doch da wurde es schon von selbst wieder hell im Zimmer, gleichzeitig stand auch der schaukelnde Boden wieder fest.
»Soll ich Ihnen die Funktion der Knöpfe erklären?«, fragte der Unsichtbare.
»Tun Sie es.«
So bekam Mister Sharp jetzt zu erfahren, was man mit diesen 48 Knöpfen alles hervorzaubern konnte, und was für dieses Schlafboudoir galt, das galt mit kleinen Abweichungen auch für all die anderen Zimmer.
Dabei konnte man sich durch ein mnemotechnisches Hilfsmittel die Reihenfolge der Knöpfe auch sehr leicht merken, man wusste immer, was jeder einzelne hervorbrachte, dazu noch einige Kombinationen durch Doppeldrücke.
Mister Sharp wenigstens begriff sofort, wenn er sich dann auch noch manchmal irren konnte.
So wollte er jetzt in dem Zimmer eine etwas kühlere Temperatur einschalten. Aber er musste den falschen Knopf gedrückt haben, denn es wurde nur immer wärmer, und da er nun noch dazu das unter dem Knopfbrette befindliche Rädchen statt nach links nach rechts gedreht hatte, so entstand im Nu eine wahre Backofenhitze. Doch das war bald wieder in Ordnung, und dann fand Mister Sharp von selbst den richtigen Knopf, den er auch vorhin schon immer gesucht hatte.
An zwei Stellen der Wand entstanden Fenster. Nicht so wie bei der Gondel jenes Luftballons, oder wie wir es überhaupt schon gesehen haben, dass die feste Wand durchsichtig wurde, sonst aber doch geschlossen blieb, sondern es entstanden wirkliche Fensteröffnungen, indem sich ein viereckiges Stück Mauerwerk in die andere Wand seitwärts hineinschob.
Eine entzückende Aussicht eröffnete sich.
Die Villa lag dicht am Strande eines Sees.
Zuerst kam eine weite, freie Wasserfläche, dann aber war der See mit zahlreichen Inselchen durchsetzt, meist stark bewaldet, was ebenso für die eigentlichen Ufer galt, soweit man diese erkennen konnte.
Denn dieser See dehnte sich so weit aus wie das Auge reichte, was natürlich wiederum nur auf perspektivischer Täuschung beruhte, es war wiederum nur ein Panorama mit einer reellen Einleitung.
Es sollte früher Morgen sein, gerade diesem Fenster gegenüber erhob sich am blauen Himmel die Sonne über den waldigen Horizont, alles mit goldenem Scheine übergießend.
»Es sollte!«, sagten wir.
Was ließ denn hier eigentlich die Wirklichkeit des herrlichsten Sonnenaufganges vermissen, des wunderbarsten Sommermorgens, den Gott je werden ließ?
Es mochte ein heißer Tag werden, jetzt aber wehte ein erfrischender Morgenwind, wiederum die köstlichsten Blütendüfte mit sich bringend.
Es war nicht etwa ein stilles Wasser, sondern Welle auf Welle kam zugerollt und bespülte einige Meter weit den sanft abfallenden Strand, der mit seinem feinen weißen Sande zum Morgenbad einlud.
Schon diese Wellen erzeugten ein leises Plätschern und Rauschen, nun aber kamen noch andere Töne hinzu.
Alles ein Jubeln und Singen und Pfeifen und Zirpen und Zwitschern und Tirilieren von zahllosen Vogelstimmen!
Der junge Amerikaner hatte die Arme über der Brust verschränkt.
Sein Gesicht blieb bewegungslos, aber diese Herrlichkeit konnte doch nicht unberührt an ihm vorbeigehen — seine Augen begannen zu leuchten, und das immer mehr. Auch seine Brust dehnte sich, seine Nasenflügel bebten — tief atmete er diese köstliche Morgenluft ein.
Denn ob das nun alles Wirklichkeit oder Künstelei war, es war und blieb doch vorhanden, und dieser plötzliche Wechsel nun, erst die Totenstille in dem geschlossenen Zimmer, das sogar finster gewesen war, und nun plötzlich dieser herrliche Sommermorgen mit diesem goldenen Sonnenaufgange, diese köstliche Luft, dieses Rauschen des Sees und Plätschern der Wellen, dieses Schmettern und jubilieren der Vöglein!
»Himmlisch, wahrhaftig himmlisch, überirdisch schön!«, ließ sich denn auch Mister Sharp vernehmen, und seine Stimme klang sogar etwas freudig erregt.
»Das freut mich, dass es Ihnen gefällt.«
»Gefällt? Das ist nicht der richtige Aufdruck. Ich bin wahrhaftig ganz entzückt. Ist es denn wirklich um drei Uhr?«
»Noch nicht ganz.«
»Nachmittags um drei?«
»Gewiss.«
»Es ist erstaunlich!«
»Weil hier früher Morgen ist?«
»O nein. Das kann man in dieser künstlichen Welt doch ganz arrangieren, wie man will, das verstehe ich. Es ist etwas ganz anderes. Ich bin um diese Zeit, wie überhaupt den ganzen Nachmittag, immer sehr melancholisch.«
Da teilte der junge Amerikaner diese Eigenschaft mit noch sehr vielen anderen Menschen. Dass sie am Nachmittag melancholische Stimmungen haben. Und nach dem Nachmittagsschläfchen, um diese Stimmung zu übergehen, wird es nur noch schlimmer, dann wird man erst recht verdrießlich, bis sich gegen Abend das wieder hebt.
»Und jetzt merke ich von dieser Melancholie absolut nichts. Ich befinde mich wie in der besten Morgenstimmung. Der ganze frühe Morgen ist die einzige Zeit, da ich mich etwas lebensfreudig fühle.«
»Das freut mich, dass diese Täuschung bei Ihnen eine so gute Wirkung hat.«
»Und diese Morgenzeit mit Sonnenaufgang kann man hier so lange währen lassen wie man will?«
»Ja natürlich; bis in alle Ewigkeit, so lange die Erde zusammenhält und nichts an der Maschinerie kaputt geht, ohne jede Unterbrechung.«
»Hm. Da bin ich nur gespannt, ob diese glückliche Morgenstimmung bei mir auch so lange aushalten wird.«
»Hoffen wir es.«
Wieder gab sich Mister Sharp mit leuchtenden Augen dem Genusse dieser künstlichen Natur hin; da aber begann er die Stirn zu runzeln.
»Es gibt hier doch nicht etwa Fliegen und Mücken?!«
»Nicht eine einzige.«
»Dann ist es gut!«, erklang es erleichtert, und schon glättete sich die Stirn wieder »Dann sind das also auch keine richtigen Vögel.«
»Woraus wollen Sie das gleich schließen?«
»Nun, die meisten Vögel, die ich da singen höre, sind doch Insektenfresser.«
»Ach so, richtig! Aber sie könnten doch mit Mehlwürmern und dergleichen gefüttert werden, in Käfigen gefangen gehalten oder auch frei herumfliegen.«
»Es sind richtige Vögel?«
»Nein. Einem anderen würde ich die Wahrheit nicht so leicht sagen, aber bei Ihnen schadet das nichts, das weiß ich. Sie lassen sich nicht dadurch irritieren, dass alles nur Kunst und Täuschung ist, Sie geben sich mit dem Effekt zufrieden. Es ist nur eine phonographische Wiedergabe von Vogelstimmen.«
»Sehr gut, sehr gut!«, lobte Mister Sharp denn auch diese Imitation.
»Sie lieben wohl solchen Vogelgesang nicht?«
»O doch, sehr sogar. Ist die Imitation aber geschickt genug gemacht, so wie hier, dann ist sie mir noch viel lieber.«
»Weshalb, wenn ich fragen darf?«
»Nun, weil man die Singerei doch nach Belieben anstellen und wieder abstellen kann; oder geht das hier nicht?«
»Gewiss doch. Weshalb denn nicht?«
»Man kann doch auch beliebige Vogelstimmen einschalten und wieder ausschalten?«
»Auch das.«
»Sehen Sie. Das alles geht bei wirklichen Vögeln nicht, oder man muss ihnen den Hals umdrehen, und dann singen sie doch überhaupt nicht mehr. Außerdem haben alle Vögel Ungeziefer, sogar Wanzen. Zum Beispiel die Schwalben tragen diese lästigsten aller Insekten überall hin. Ich hatte einmal eine idyllische Gebirgswohnung, Schwalben haben sie mir ganz verwanzt. Das kann bei phonographischen Vögeln nicht vorkommen.«
»Da haben Sie allerdings recht.«
»Phonographische Vögel sind mir viel lieber.«
»Bei dieser Geschmacksrichtung werden Sie sich hier allerdings ganz besonders wohl fühlen.«
»Ja, das denke ich auch. Ist das dort richtiges Wasser?«
»In dem See? Ei gewiss! Was soll es denn sonst sein?«
»Nun wieder so eine Schmiere, die einen nicht nass macht.«
»Nein, das ist ganz richtiges Wasser.«
»Kann ich mich darin baden?«
»Das können Sie.«
»Sind Haifische oder Zitteraale oder dergleichen Tiere darin?«
»Noch nicht. Sollen wir welche hineinsetzen?«
Mister Sharp war für Humor nicht empfänglich, gab aber auch die Antwort wieder in seiner trockenen Weise.
»Ist nicht nötig. Nicht wegen meines Badens. Aber später wäre es mir ganz lieb. Ich habe früher viel geangelt. Ich werde meine Lebensweise doch sehr ändern. Ich werde wieder zu angeln anfangen. Ein sehr gesunder Sport, er regt nicht auf.«
»Zum Angeln haben Sie hier noch eine ganz andere Gelegenheit.«
»Wieder in einer anderen Region?« — »Ja.«
»Auch Forellen und Lachse?«
»Alle Fische, die Sie sich nur denken können.«
»Auch Walfische?«
»Können Sie auch haben.«
»Faktisch?!«, erklang es jetzt doch etwas überrascht.
»Sie sollen eine regelrechte Walfischjagd haben.«
»Hm. Dazu hätte ich wirklich einmal Lust. Ich hatte schon oft Gelegenheit, mich an einer Walfischjagd zu beteiligen, aber ich hatte niemals Lust — es war niemals das Richtige — entweder andere Menschen mussten dabei sein oder es war nicht möglich, dass ich ganz allein dem Wale zu Leibe ging —«
»Dazu aber werden Sie hier Gelegenheit haben.«
»Nun, das sollte mich freuen. Übrigens — ich hätte auch wieder einmal Lust zur Jagd. Gibt es hier Tiere zu schießen?«
»Alle Art Tiere, die Sie sich nur denken können!«, lautete wiederum die Antwort.
»Auch Menschen?«
»Zum totschießen?«
»Nein, jetzt dachte ich an etwas anderes. Ich meine, ob es hier etwa noch andere Jäger gibt, mit denen ich zusammentreffen könnte?«
»So lange Sie es nicht wünschen, werden Sie nicht einmal eine Spur von Menschen bemerken.«
»Auch keinen alten Feuerplatz und dergleichen?«
»Auch nicht. Das wäre doch eine sehr deutliche Spur von Menschen.«
»Dann ist es gut. Das war es, woran ich dachte, was mir Sorge einflößte. Doch lassen wir das erst einmal mit der Angelei und Jägerei, darüber sprechen wir später. Jetzt wollen wir hier bei dem See bleiben, ich möchte mich baden.«
»Das können Sie. Wenn Sie es nicht schädlich finden, gleich nach dem Essen zu baden?«
»Einbildung — geniert mich nicht. Wie werden diese Wellen erzeugt?«
»Durch eine Maschinerie.«
»Dachte ich mir gleich. Also nicht durch Wind?«
»Das wäre auch möglich. Aber dazu müssten wir den Wind noch ganz anders blasen lassen.«
»Stellen Sie ihn lieber ganz ab, ich liebe beim Baden im Freien keinen Wind.«
»Es wird sofort geschehen. «
Der Luftzug, der auch den am Fenster Stehenden traf, hörte denn auch sofort auf.
»Auch den Wellenschlag abstellen?«
»Nein, den liebe ich gerade«
»Er kann auch noch bedeutend verstärkt werden, bis zu meterhohen Wogen.«
»Nein, lassen Sie ihn genau so, wie er jetzt ist.«
»Wie Sie belieben.«
»Dass dieser Wellenschlag nicht durch einen Wind, der ja vorher bedeutend stärker gewesen sein konnte, erzeugt wird, sondern durch eine besondere Vorrichtung, das erkannte ich nämlich gleich daraus, weil dort hinten doch das Wasser wieder ganz ruhig ist.«
»Ja, das stimmt. Die Maschinerie befindet sich in der Nähe des Ufers, und die Wirkung der Wellenschaukel reicht eben nur auf eine gewisse Entfernung hin. Zwar kann auch dort hinten Wellenschlag erzeugt werden, aber eben wieder durch eine andere Maschinerie.«
»Was ist das für eine Maschinerie?«
»Sie besteht der Hauptsache nach aus großen Schaufelrädern, doch sind auch Kästen dabei, die sich immer füllen und leeren und so das Wasser in Aufruhr bringen. Die Räder sorgen dann für eine gleichmäßigere Bewegung.«
»Ich frage nämlich deshalb, dass man beim Schwimmen nicht etwa in das Getriebe kommt.«
»Ausgeschlossen! Die Maschinerie befindet sich nicht, wie ich vorhin zuerst sagte, in der Nähe des Ufers, sondern unter dem Ufer selbst, und so ist es auch bei den anderen weiter draußen im See. Dann ist die Vorrichtung unter den Inseln oder unter Felsen angebracht.«
»Kann man auch beim Tauchen aus Versehen nicht hineingeraten?«
»Ganz unmöglich. Die Getriebe sind vollständig geschützt, kein Hering könnte sich hineinverirren.«
»Dann ist es gut. Können Sie die Sonne höher rücken?«
»So weit Sie wollen.«
»Dauert die Rückerei lange?«
»In unserem Reiche hier braucht der Tag nur eine Sekunde zu währen. Innerhalb einer Sekunde rücken wir die Sonne vom östlichen Horizont über den ganzen Himmel hinweg durch alle Sternbilder hindurch bis nach dem tiefsten Westen, können sie zur Abwechslung aber auch einmal im Westen wieder aufgehen lassen.«
»Dann bitte Mittagshöhe.«
Im nächsten Augenblick schon fing die strahlende Scheibe dort, Sonne genannt, in die man wirklich auch nicht blicken konnte, sich zu bewegen an, erst etwas langsam, dann aber schoss sie pfeilschnell davon, bis sie in der Mitte des Himmels wieder festgenagelt war. Die Arme über der Brust verschränk, harte der Amerikaner dieses Manöver in der Natur beobachtet.
Es machte auf ihn so wenig Eindruck wie auf die phonographischen Vögel, die ruhig ihren Morgengesang weiter hören ließen.
»Diese künstliche Sonne strahlt selbst keine Wärme aus?«
»Nein, das tut sie nicht.«
»Es ist doch peinlich kühl hier.«
»Es sind 18 Grad Celsius.«
»Ob im Schatten oder in der Sonne, das kann hier natürlich nicht in Betracht kommen?«
»Nein, das ist allerdings nicht möglich.«
»Das finde ich auch sehr nett, dass dieser Unterschied wegfällt. Diese künstliche Welt gefällt mir immer besser. Also da können Sie es doch natürlich wärmer machen?«
»Gewiss. Wie warm wünschen Sie die Luft?«
»Nun, sagen wir — 25 Grad.«
»Sofort. Das heißt, einige Minuten müssen Sie doch warten, bis diese gleichmäßige Temperatur überall erreicht ist, und dann muss ich, eben wenn es so schnell wie möglich gehen soll, dazu wieder etwas Wind wehen lassen.«
»Auf einige Minuten kommt es mir dabei nicht an!«, war dieser verwöhnte Gast so liebenswürdig zu beruhigen.
Da aber begann auch schon wieder ein ziemlich tüchtiger Wind zu wehen, der noch etwas wärmer als 25 Grad Celsius sein mochte. Eben um die gewünschte Temperatur möglichst schnell überall zu verbreiten. Auch die abgekühlten Gegenstände, darunter ganze Gebirge, mussten ja erreicht werden, sollte die Temperatur nicht bald wieder sinken.
Es ging hier eben genau wie in einem großen geschlossenen Bade zu.
»Wird die Luft zugepumpt oder wird der Wind durch Absaugen der kalten Luft erzeugt?«
»Durch Absaugen. Durch Zupumpen könnte man überhaupt gar keinen Wind erzeugen.«
»Richtig. Und wie warm ist das Wasser?«
»22 Grad Celsius.«
»Wollen Sie es bis auf 28 Grad erwärmen.«
Diesmal gab der Unsichtbare nicht gleich wieder seine Zustimmung, eine kleine Pause entstand.
»Herr«, erklang es, »da verlangen Sie allerdings zu viel! Ja, möglich ist es natürlich. Aber um diese doch ganz gewaltige Wassermenge um sechs Grad wärmer zu machen, dazu sind doch einige Stunden erforderlich. Auch wenn wir noch so viel kochendes Wasser zuströmen lassen. Schon das Vermischen würde mindestens drei Stunden in Anspruch nehmen, oder Sie würden immer aus einer kalten in eine heiße Wasserzone kommen, in der Sie sich verbrühen könnten.«
»Einige Stunden? Es ist doch immer nur eine halbe Geschichte!«, hatte der Amerikaner wieder einmal zu mäkeln.
»So etwas finden Sie in der Natur aber auch nicht.«
»Deshalb mache ich mir auch gar nicht viel aus dieser sogenannten Natur, deshalb würde ich hier solch eine künstliche Welt vorziehen.«
»Wenn Sie erst in alles eingeweiht werden, lösen Sie vielleicht das Problem, wie der Temperaturwechsel dieses Wassers schneller zu erreichen ist.«
»Wollen sehen. Also mag es bei diesen 22 Grad bleiben, fangen Sie nicht erst zu heizen an. Gibt es sonst gefährliche Stellen in dem Teiche?«
»Dann würde ich Sie doch davor warnen.«
»Ich kann schwimmen, so weit ich will?«
»So weit Sie wollen.«
»Bis ich an die Wand des Panoramas stoße?« — »Jawohl.«
»Ist der Sand auch unter Wasser ganz fein? Keine größeren Steine? Ich habe sehr empfindliche Füße.«
»Sie laufen überall wie auf einem Teppich.«
»Dann könnte ich mich ja also baden.«
Ja, nun war Mister Sharp vollkommen überzeugt. dass ihm bei der Baderei nichts passieren konnte.
Ein Feigling war dieser junge Mann sicher nicht, aber — Vorsicht ist die Mutter der Weisheit.
»Es ist alles bereit.«
»Badezeug? Ich wünsche auch ein vollständiges Badekostüm, wenigstens ein Trikot.«
»Es liegt alles für Sie im Badehaus bereit, das Sie dort sehen.«
»Wo denn?«
»Dort der Felsen am Strand.«
Es war vorhin nur von größtenteils bewaldeten Ufern des Sees gesprochen worden.
Aber diese Ufer waren zum Teil auch ziemlich hoch, nach dem Wasser gingen Abhänge hinab, im Hintergrunde sah man auch ein ganzes Gebirge, das natürlich nur als Panorama gemalt sein konnte.
Die Felsen hingegen, die hier und da standen, mochten echt sein, und das galt auch von der Felsformation, die sich etwas seitwärts von dem Hause dicht am Strande erhob.
Also ein großer, unregelmäßiger, bizarr geformter Felsblock, wohl nacktes Gestein, aber doch auch mit grünen Schlingpflanzen übersponnen.
»In diesem Felsen befindet sich die Badezelle?«
»So ist es.«
Es war für den Amerikaner wiederum nicht etwas ganz Neues, solch eine Art von Badezelle, besonders wenn er annahm, dass es vielleicht gar kein richtiger, natürlicher Felsen war, nur aus einer künstlichen Steinmasse so ausgeführt oder gar nur aus Holz imitiert.
Ja, weshalb eigentlich sieht man bei uns in den Bädern der Nord- und Ostsee am Strande immer nur die einfachen Badezellen, gewöhnliche Bretterhäuschen? Zur Verschönerung der Landschaft dienen diese Baracken doch nicht etwa In den meisten komfortablen Seebädern New Yorks dagegen sind dafür künstliche Felsen ausführt, welche die An- und Auskleidezellen enthalten, die geben der Szenerie doch einen ganz anderen Reiz.
»Der Felsen enthält alles was Sie brauchen, es ist extra für Sie hingelegt, alles ganz neu.«
»So will ich mich hinbegeben.«
»Ich werde Sie leiten, da Sie allein vielleicht den Ausgang nicht finden könnten.«
Mister Sharp hatte sich in der ersten Etage befunden. Er benutzte unter der Leitung des Unsichtbaren einen hinabgehenden Liftzug und trat dann durch eine Tür, welche wirklich nicht so leicht von einem Uneingeweihten gefunden worden wäre, ins Freie.
Aber nicht auf den Strand nach dem See hinaus.
Er hatte das Haus von hinten verlassen und befand sich in einem Garten.
Aber nun was für ein Garten!
Nämlich in Bezug auf die Bäume, Sträucher, Blumen und sonstigen Pflanzen.
Eine Palme, die solche große, rote Apfelsinen trägt, gibt es sonst gar nicht in dieser Welt — oder auf dieser Erde, wollen wir lieber sagen — und auch keine Tanne mit solchen riesigen Kokosnüssen.
Mögen nur diese zwei Beispiele genügen, um zu zeigen, was hier die Phantasie für künstliche Obstbäume geschaffen hatte. Aber dasselbe galt nun auch für die Sträucher und Büsche und Blumen. Blumen wie die Wagenräder von wunderbarer Farbenpracht und Erdbeeren wie die Ananasse, und dann wieder ein Busch mit meterlangen Gurken von roter Farbe, die sich unten am Boden abstützten.
»Hoho, hier ist wohl ein paradiesischer Fiebertraum verwirklicht worden?«, musste denn Mister Sharp auch bemerken.
»Nicht wahr, wie im Paradies?«
»Schon mehr wie in Aladins Zaubergarten. Auch wieder alles aus Gummi?«
»Alles aus Gummi!«, wurde bestätigt. »Hier aber dürfen Sie nach Belieben abpflücken.«
Einige Früchte waren abgefallen. Mister Sharp hob eine der Orangen auf, die unter solch einer Palme lagen.
Doch was war das?
Die Frucht war aufgeplatzt, unter roter Schale zeigte sich ein weißes Fleisch, wie Ananas duftend.
»Essen Sie nur ruhig.«
Mister Sharp gehorchte.
»Essen Sie nur ruhig!«, forderte Mister Sharp die geheim-
nisvolle Stimme auf, als dieser verwundert die aufge-
hobene, unverhältnismäßig große Frucht betrachtete.
Wir wollen es kürzer zusammenfassen.
Es waren natürliche Bäume mit essbaren Früchten, dasselbe galt von allem anderen. Aber Blumen und Früchte und Beeren, die man sonst nirgends zum zweiten Male auf dieser Erde findet.
»Wir befassen uns mit botanischen Experimenten«, erklärte der Unsichtbare, »und was wir darin bisher gezeitigt haben, besonders in der Obstzucht, haben wir einmal hier in diesem Garten vereinigt.«
Wir wollen dem noch etwas anderes hinzufügen.
Ist es etwa nur eine Utopie, nur eine leere Phantasie, wenn man an eine Zukunft glaubt, da alle unsere Laub- und Nadelbäume, die uns heute nur — abgesehen von ihrem Zweck in der Natur — durch ihr Holz nützen, essbare Früchte tragen werden?
Nein, es ist keine leere Phantasie!
Man bedenke doch nur, wie es vor 2000 Jahren in den Urwäldern Deutschlands ausgesehen hat.
Da hat es auch schon den Holzapfel und die Holzbirne gegeben, als Äsung für das Wild.
Nun soll einmal solch ein alter Germane wiederkommen und seinen ehemaligen Apfelbaum wiedererkennen, jetzt aber mit großen, herrlichen Früchten!
Der würde an Zauberei glauben.
Unsere Möhre ist ursprünglich ein ganz gemeines Unkraut mir unansehnlicher, ungenießbarer Wurzel. Erst durch jahrhundertlange Kultur ist sie die heutige Möhre geworden.
Und so ist es eigentlich mit allem, was wir aus der Pflanzenwelt genießen. Wird das Getreide sich selbst überlassen, so sinkt es schnell wieder zu einem Grase mit spärlichem, ungenießbarem Samen herab.
Es wird uns dereinst noch gelingen, aus den kleinen bitteren Eicheln große, wohlschmeckende Früchte zu machen, die Lindennüsschen und Bucheckern riesengroß wachsen zu lassen, den Zapfen der Nadelbäume wenigstens essbaren Samen zu geben.
Dass dies möglich ist, zeigt uns die Natur selbst, indem die italienische Eiche ja auch schon essbare Eicheln trägt, die araukanische Tanne in ihren Zapfen wohlschmeckende Samenkörner von Haselnussgröße enthält.
Es müssen nur erst einmal ernstliche Versuche mit solchen Veredelungen gemacht werden.
Das ist von uns Abendländern bisher noch nicht geschehen, oder wir haben bisher nur auf dem weiter gebaut, was uns die Orientalen geliefert haben.
Wohl haben wir die verschiedensten Sorten von Äpfeln, Birnen, Pflaumen, Kirschen und dergleichen gezüchtet, aber die Umwandlung der wilden, ganz oder fast ungenießbaren Äpfel, Birnen, Pflaumen und Kirschen ist eine Arbeit der Asiaten und Araber gewesen.
Wir haben uns nur mit der Vergrößerung der einheimischen Erdbeere befasst, nicht einmal mit einer Veredelung, auch die der Weinbeere ist nicht unsere Arbeit und an eine Kultur der Heidelbeere und Preiselbeere hat überhaupt noch niemand gedacht.
Ja, es ist uns noch nicht einmal gelungen, die Rosskastanie zu entbittern! Das ist für uns eigentlich eine Schande!
Wenn man dagegen die Orientalen bedenkt, wie die zum Beispiel ihre Dattelpalmen pflegen, wie die jede einzelne Blüte durch Betupfen künstlich befruchten, um wohlschmeckende Früchte zu erzeugen, und nun das sogenannte Kaprifizieren der Feigen, das künstliche Anstechen lassen der unreifen Früchte durch fremde Insekten, die sonst nicht auf die Feigen gehen, die durch eine List irregeführt werden müssen!
Es hat uns bisher an Anregung zu solchen Experimenten gefehlt, die Not zwang uns nicht dazu, die Idee dazu war nicht vorhanden.
Denn erst muss die Idee, der Wunsch auftauchen, das andere geht dann schnell.
Als in einigen Menschenköpfen der energische Wunsch auftauchte, frei wie ein Vogel durch die Luft fliegen zu können, da war das Problem des Aeroplans gar bald gelöst.
Als unsere Gewässer immer fischärmer wurden, da hatte man gar bald die künstliche Befruchtung der Fischeier entdeckt.
Aber jetzt beginnt man auch schon ernstlich damit, sich mit solchen Experimenten im Pflanzenreich zu befassen, und wieder ist es Amerika, das den Anfang macht.
Da ist besonders in Kalifornien ein Kunstgärtner, oder vielmehr ursprünglich ein Farmer, ein ganz einfacher Bauer — ein bekannter Name, ein berühmter Name, dem Verfasser ist er nur entfallen — der im Reiche der Pflanzenwelt das ist, was Edison im Reiche der mechanischen Erfindungen. Auch so ein wahrer Zauberer, und so wird er auch wirklich allgemein genannt, der Zauberer von — — irgend einer Gegend.
Der erzielt durch künstliche Befruchtung die erstaunlichsten Resultate. Sein erstes Bemühen war, in dem Steinobst den für den verzehrenden Menschen ganz unnötigen Kern wegzulassen. Das ist ihm bereits vollständig gelungen. Er erzeugt die größten Kirschen, Pflaumen, Pfirsiche ohne Steinkern.
Aber nicht nur das, sondern es ist ihm bereits geglückt, durch künstliche Befruchtung und durch das gewagteste Okulieren und Kopulieren die schier unglaublichsten Kreuzungen und Bastards hervorzubringen. Er lässt Baumfrüchte direkt aus dem Boden wachsen, an Weinreben Kirschen, er erzeugt überhaupt ganz neue Früchte.
An sich wunderlich ist das nicht, wenn man bedenkt, dass es ja auch schon gelungen ist, Rosen auf Eichen zu pfropfen.
Natürlich sind das erst Versuche, die sich im Großen noch nicht lohnen, weil jede einzelne Blüte gepflegt werden muss, aber das Eis ist gebrochen, nun kann man auch schon von der Zeit träumen, da alle unsere Waldbäume die schönsten Flüchte tragen werden. —
»Sind das hier Rosen?«
»Rosen!«, wurde bestätigt
Das konnte man ihnen ja auch gleich ansehen und anriechen, nur dass sie das Format von großen Sonnenrosen hatten, und dann allerdings auch etwas besondere Blätter.
»Die roten Blätter sind so dick, so fleischig.«
»Dafür kann man sie auch essen.«
»Essen?«
»Probieren Sie nur.«
Die fleischigen Rosenblätter schmeckten ganz delikat, wie mit Vanille gewürzte Erdbeere.
»Dass man Rosenblätter in Mehlteig backen kann, das ist mir bekannt, auch überzuckerte Rosenblätter als Konfitüren gibt es — aber die Rosen gleich so abzuweiden, das ist mir neu. Das finde ich sehr praktisch, das ist wirklich das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden. Und was sind denn das nun für große rote Tomaten an demselben Rosenstrauche?«
»Das sind eben die Früchte dieser Rose.«
»Das, was man sonst Hagebutten nennt?«
»jawohl.«
»Essbar?«
»Probieren Sie nur.«
Die riesigen Hagebutten schmeckten wie die köstlichsten Äpfel.
»Hier ist wohl alles essbar?«
»Alles.«
»Auch die gewöhnlichen Blätter?«
»Auch die.«
»Auch das Gras dort?«
»Schmeckt genau wie Spargel, muss allerdings gekocht werden.«
»Auch die Baumstämme kann man aufessen?«
»Nein, da allerdings verlangen Sie wieder einmal zu viel!«, lachte die Stimme des Unsichtbaren.
»Nun, was gibt's denn da zu lachen? Hat nicht der Stamm der Sagopalme wenigstens ein essbares Mark, und zwar so viel, dass ein halbes Dutzend Bäume einen erwachsenen Mann ein ganzes Jahr lang vollkommen ernährt?«
Gewiss, Mister Sharp hatte ganz recht, auch der Unsichtbare musste es bestätigen.
»Versuche in dieser Hinsicht sind noch nicht gemacht worden.«
»So benutzen Sie diesen Wink!«, sagte Mister Sharp herablassend. »Also zur Befruchtung sind keine Insekten notwendig?«
»Nein.«
»Wie geschieht diese sonst?«
»Nur durch Wind.«
»Da ist hier in dieser Region wohl auch alle übrige Vegetation, soweit sie nicht nur gemalt ist, eine natürliche?«
»Es sind nur natürliche Bäume und Büsche und Gräser und sonstige Pflanzen.«
»Also nicht nur wieder so eine GummiImitation?«
»Ganz richtige Pflanzen.«
»Alle mit solchen Früchten und essbaren Blüten und Blättern?«
»Nein, das allerdings nicht. Das können wir hier nur auf einem beschränkten Raume erreichen, wo die sorgfältigste Pflege möglich ist; denn die ist freilich nötig. Nicht aber bei der gewöhnlichen Vegetation, welche den See umgibt und die Inseln bedeckt.«
»Und das gedeiht hier unten alles ohne Sonne?«
»Weshalb nicht? Dass die meisten Pflanzen im elektrischen Lichte sogar besser gedeihen als im Sonnenlichte, das ist auch schon der anderen Welt bekannt.«
Mister Sharp wandte sich von dem Rosenstrauche ab, wie er diesem Garten überhaupt sehr wenig Beachtung schenkte
»Ich will baden.«
»Verfolgen Sie den Weg rechts um das Haus herum.«
Es war ein zementierter Weg, ebenso wie alle anderen, der um das Haus führte.
Da sich Mister Sharp vorhin nicht zum Fenster hinausgebeugt hatte, bemerkte er erst jetzt das eigentümliche Äußere dieses Hauses.
Es war kaum als solches erkenntlich, alles glatte Mauerwerk fehlte, auch dieses Gebäude machte von außen den Eindruck eines natürlichen Felsens, zum Teil mit Efeu und anderen Schlingpflanzen übersponnen, wie an günstigen Stellen oben und an den Seiten sogar ganze Bäume Fuß gefasst hatten.
Aber es sei gleich bemerkt, dass es nicht etwa ein ursprünglicher Felsen gewesen war, den man zur Wohnung ausgehöhlt hatte, sondern erst war ein richtiges Haus gebaut worden, dann hatte man diesem außen durch künstliche Verkleidung das Aussehen einer Felsformation gegeben. Also ein Mittel, das sich überall anwenden lässt, um einer öden Gegend landschaftlichen Reiz zu geben. Oder aber man brauchte nicht, wie es zum Beispiel auf vielen NordseeInseln der Fall ist, ansiedlungsfähige Flächen dem Bebauen zu verschließen, weil die Häuser die landschaftliche Schönheit stören würden. Man müsste nur unsere SteinbaukästenArchitektur aufgeben.
Seitwärts von dem Felsenhause befand sich ein großes Wasserbassin, das mit dem See durch einen Kanal in Verbindung stand, und in diesem künstlichen Hafen lagen mehrere Fahrzeuge der verschiedensten Art, von der ansehnlichen Segeljacht und einem Motorboot an bis zum Kanu und Grönländer, in dem nur ein einziger Mensch das Paddelruder handhaben konnte.
Hierfür interessierte sich Mister Sharp doch, er belieb einmal stehen.
»Hm, hiervon werde ich fleißig Gebrauch machen. Jetzt aber will ich mich erst baden.«
»Sie können ja hineinfahren und vom Boot aus ein Bad nehmen.«
»Nein, jetzt erst vom Strand aus. Das habe ich mir nun einmal vorgenommen, und was ich mir vornehme, das führe ich auch aus, und das geht bis zum Zuknüpfen des Schuhriemens.«
Der Felsen am Strande hatte keine sichtbare Öffnung, aber es wurde ihm gesagt, wie er eine solche entstehen lassen konnte.
Also es war eine Badezelle zum Aus- und Ankleiden, alles enthaltend, was auch der verwöhnteste Gast nur verlangen konnte, bis auf ein komfortables Ruhebett.
Nach fünf Minuten kam Mister Sharp wieder zum Vorschein, den sehnigen und sogar athletischen Körper mit einem zebragestreiften Trikot bedeckt. In dem Täschchen hatte er an dem Lederriemen seine Uhr, natürlich wasserdicht, wie man solche Uhren für Seeleute und Forschungsreisende in Hafenstädten in den betreffenden Schaufenstern immer in Schüsseln mit Wasser liegen sieht. Wozu sich freilich keine Remontoiruhren eignen.
Ferner hing an dem Gürtel, seinem eigenen, den er umgeschnallt hatte, das Etui mit seiner Shagpfeife, der gefüllte Tabaksbeutel und das Feuerzeug, alles wasserdicht.
So, nun konnte die Baderei losgehen, Mister Sharp war ausgerüstet. Länger als siebzehn Stunden, nämlich bis morgen früh um sieben Uhr, gedachte er wohl nicht im Wasser zu bleiben, sonst hätte er doch natürlich auch sein Rasiermesser nebst den nötigen Utensilien mitgenommen.
Aber so schnell ging es doch nicht, der vorsichtige junge Mann musste sich erst genügend abkühlen, griff sich einige Dutzend mal unter die Arme, und dann hatte er auch erst noch andere Fragen zu stellen, während er mit gespreizten Zehen auf dem feinen Sande herumtrampelte.
»Also es droht mir keine Gefahr?«
»Nicht die geringste.«
»Gibt es in dem Wasser keine Quallen, die brennen?«
»Gar nichts dergleichen.«
»Dort liegen aber doch Muscheln.«
»Das sind nur Muschelschalen, die hingestreut worden sind, um den Eindruck der Natürlichkeit zu verstärken.«
»Auch keine Sandflöhe, die sich unter die Fußnägel graben und da ihre Eier ablegen?«
»Für jeden Sandfloh, den Sie fangen, erhalten Sie eine Prämie, deren Höhe Sie bestimmen können.«
»Sonst nehme ich doch lieber meine Browningpistole mit.«
»Sie wollen gern Flöhe schießen?«
Den Yankee ließ dieser Spott ungerührt.
»Sie sprechen doch von Tieren aller Art, die man hier jagen könne, da sind also doch wohl auch Raubtiere dabei.«
»Ja, aber die sind stets eingehegt. Wollen Sie jagen, so melden Sie es, Sie werden hingeleitet, erhalten Gewehr und Anzug, wo Sie sich auch befinden. Sie können also auch hinschwimmen.«
»Dann ist es gut. Nein, ich werde jetzt nach meinem freien Belieben schwimmen. Lassen Sie mich jetzt ungestört. Ich werde schon rufen, wenn ich Sie wieder brauche.«
Mister Sharp sprach's, und nun ging er wirklich ins Wasser, plätscherte freilich lange mit den Füßen und bespritzte sich vorsichtig, ehe er sich tiefer wagte.
Dann jedoch, als ihm das Wasser bis an den Leib reichte, warf er sich mutig hinein, und es zeigte sich, dass er ein ganz ausgezeichneter Schwimmer war.
Was war das eigentlich für Wasser, süß oder salzig?
Danach hatte er noch gar nicht gefragt.
Ohne dass er gerade einen Schluck nahm, musste er doch erkennen, dass es süßes, d. h. trinkbares, kein salziges Meerwasser war.
Das gab hier in diesem meerumspülten Felsen doch zu denken.
Anderseits stand es ja nicht ohne Gegenstück da.
Vor Konstantinopel, aber doch mitten im Meere, ist ein isolierter Felsen, der Jungfernturm genannt, ein kleines Fort tragend, der eine vorzügliche Süßwasserquelle birgt.
Und man kennt ja auch mitten im Meere Stellen genug, wo aus dem Grunde süße Quellen emporsteigen, das Wasser in weiterer Umgebung trinkbar machend, wenn das Meer nicht gar zu aufgeregt ist. Das süße Wasser ist leichter, es steigt nach oben und verdrängt das salzige, ohne sich viel mit ihm zu vermischen. Vorausgesetzt ist nur, dass der Meeresgrund nicht gar zu tief ist. Immerhin ist es erstaunlich genug, wie solche unterseeische Quellen den kolossalen auf ihnen lastenden Wasserdruck überwältigen können.
Also Mister Sharp schwamm in langen Stößen in den See hinein, auf die nächste Insel zu, die vielleicht 50 Meter von dem Strande, von seiner Villa entfernt sein mochte.
Dazwischen schwamm er auch einmal auf dem Rücken, tauchte wie ein Seehund und schnaubte wie ein Walross, und schließlich blieb er auf dem Rücken liegen, die Hände unter dem Kopfe gefaltet und einen Fuß über den anderen schlagend.
Er war wirklich ein ganz ausgezeichneter Schwimmer, der sich sehen lassen konnte.
Die Wellenbewegung hatte er schon hinter sich, hier war das Wasser kaum noch leicht gekräuselt.
Ruhig, mit geschlossenen Augen lag er so da, hatte auch schlafen können.
»Hören Sie mich sprechen?«
»Jawohl, Mister Sharp.«
»Rücken Sie doch die Sonne ein bisschen weg, sie blendet mich.«
»Wie Sie befehlen. Oder soll ich den Himmel schnell sich mit Wolken überziehen lassen?«
»Nein, blauen Himmel will ich haben. Oder haben Sie auch Sterne zur Verfügung?«
»Ei gewiss, Mond und Sterne und was sonst noch zur Nacht gehört.«
»Was gehört denn sonst noch zur Nacht?«
»Nun, zum Beispiel Finsternis. Aber auch Sternschnuppen und Kometen haben wir auf Lager.«
»Machen Sie einen Sternhimmel mit aufgehendem Vollmond, dazu etwas Nachtigallenschlag. Auch ein wenig Froschquaken wäre mir ganz angenehm.«
»Wird sofort arrangiert. Oder wünschen Sie zuvor vielleicht einen recht prächtigen Sonnenuntergang mit blutrotem Abendhimmel?«
»Nein, danke, aus Sonnenuntergängen mache ich mir nichts, die stimmen mich immer nur melancholisch. Lassen Sie die Sonne verschwinden, es soll gleich Nacht sein, mit Sternen und so weiter.«
Richtig, die Sonne rutschte von der Mitte des Himmels mit Gedankenschnelle weg, wohin, das war dem jungen Amerikaner ganz gleichgültig. Er hatte die Augen geschlossen.
»Fertig?«
»All right.«
Als er die Augen aufschlug, war es Nacht, aber über ihn wölbte sich der herrlichste Sternenhimmel.
Freilich war es der der nördlichen Hemisphäre, mit dem Polarstern, was ja für diese Gegend durchaus nicht stimmte.
Aber hieran hatte der Mäkler nichts auszusetzen.
»Sehr schön, wirklich sehr schön!«, zollte er Beifall. »Wie hoch ist die Decke eigentlich, an der die blinkenden Dinger kleben?«
»Nun, wie hoch schätzen Sie wohl die Höhe?«
»Vielleicht — nein, ich will es gar nicht taxieren, will es nicht wissen. Für mich ist es eben der nächtliche Sternenhimmel, und Astronom bin ich nicht, habe mich niemals viel um Sterne gekümmert.«
Es wurde etwas heller und dann bedeutend heller.
»Was ist das für ein Licht?«, fragte der auf dem Rücken Liegende, ohne den Kopf etwas zu drehen, was er hätte tun müssen, um diese Lichtquelle hinter sich zu erkennen.
»Das ist der aufgehende Vollmond.«
»Nehmen Sie das Ding wieder weg, das Licht stört mich. Später vielleicht, jetzt will ich noch keinen Mond haben.«
Gehorsam verschwand der keusche Mond wieder unter dem Horizont.
Dafür erschollen jetzt auf der nahen Insel süße, schluchzende Töne.
»Was ist das?«
»Eine europäische Nachtigall wetteifert mit einer amerikanischen Whippoorwill.«
»Aufhören! Diese Piepserei stört mich!«
Sofort verstummten die schluchzenden Flötentöne. Das Morgenkonzert der anderen Vögel hatte schon längst aufgehört, war gleich mit der Nacht abgebrochen.
»Aber Sie hatten sich doch den Nachtigallenschlag erst bestellt!«, musste sich der Unsichtbare natürlich rechtfertigen.
»War ein Irrtum von mir. Stimmt mich melancholisch. Das ist etwas für Liebende, aber nichts für mich. Ich will einen Frosch hören. Das passt mehr für meine Stimmung.«
Zunächst brüllte ein Ochse.
Und wie das Tier brüllte!
Er musste ganz in der Nähe sein, dort auf der Insel.
Und das Vieh brüllte ununterbrochen aus Leibeskräften.
»Hö, hö, hö, hö, hö, was ist denn das?! Ich habe doch kein Ochsensolo bestellt!«
»Mit Verlaub, das ist Ihr bestellter Frosch. Das ist ein mexikanischer Ochsenfrosch.«
Ja, so brüllt der. Genau mit der Stimme und Kraft eines Ochsen, daher auch sein Name, nicht wegen seiner Größe.
»Nein, kein Ochsenfrosch! Ich will ein ganzes Konzert von Laub- oder kleinen Wasserfröschen haben, oder wie die Viecher nun heißen, ich bin kein Zoologe — Sie wissen schon, wie sie in England die ganze Sommernacht im Teiche und Sumpfe singen. Los!«
Auch der Ochse verstummte, und nun begann das richtige Froschkonzert, ausgeführt von einigen hundert kleinen Musikern.
»So ist's schön, so ist's schön, das nenne ich Musik und Melodie!«, lobte Mister Sharp. »Nun lassen Sie mal eine Sternschnuppe fallen. Aber nicht auf mich.«
Die gewünschte Sternschnuppe huschte über den Himmel, andere folgten, ein ganzer Sternschnuppenregen.
»Genug Sternschnuppen!«, kommandierte Mister Sharp. »Nun mal nen Kometen!«
Er tauchte am Horizont auf, der denkbar schönste Komet, mit einem Schweif, der den ganzen Himmel einnahm und sich dann immer noch ins Endlose verlor.
Bald hatte sich Mister Sharp auch an diesem Anblick gesättigt, er wollte wieder nur die Sterne haben, die er immer noch aufmerksam betrachtete, nach wie vor regungslos auf dem Rücken liegend.
»Sehr schön, wirklich herrlich!«, lobte er nach einer Weile abermals ganz von selbst, und das hatte bei diesem Manne doch etwas zu bedeuten. »Nun möchte ich bloß noch eine Pfeife dazu rauchen, dann könnte ich stunden- und vielleicht tagelang so liegen.«
»Das können Sie doch, eine Pfeife dazu rauchen, Sie haben ja alles bei sich.«
»Ja, aber dazu müsste ich erst an Land, und das mag ich nicht, die kleinste Veränderung meiner Lage würde die ganze Stimmung zerstören, in der ich mich jetzt befinde. Wasserdicht ist wohl alles, aber ich kann die Pfeife nicht stopfen, und wenn ich auch noch so vorsichtig dazu wäre. Können Sie mir nicht eine brennende Pfeife in den Mund geben?«
»Gewiss, das lässt sich machen.«
»Ich bitte darum. Kennen Sie meinen Tabak? Sie wollten doch alle Sorten hier haben.«
»Den krausen schwarzen, den haben wir. Was wünschen Sie für eine Pfeife?«
»Kommt nicht darauf an. Vielleicht ein wenig gebogen. Es braucht keine neue zu sein. Im Gegenteil, schon angeraucht. Ich bin da nicht so penibel. Wenn sie nur kein gar zu großer Pardel immer zwischen den Zähnen gehabt hat.«
»Sofort! Nur eine halbe Minute Geduld.«
Und es dauerte auch kaum eine halbe Minute, so geschah schon das Wunder.
Oder ist es etwa kein Wunder, wenn sich im Sternbild des großen Bären eine Himmelsklappe öffnet, eine lange Bambusstange reckt sich heraus und herab, vorn mit einer Zangenvorrichtung, in der eine qualmende Shagpfeife klemmt, und diese wird dem auf dem Rücken schwimmenden Menschlein zwischen die Zähne geschoben? Ist das etwa kein Wunder? —
Lieber Leser!
Der Schreiber dieses gehört zu denjenigen Menschen, welche überzeugt sind, dass auch die glühendste Phantasie überhaupt gar nichts erfinden kann, was nicht in Wirklichkeit existiert oder was nicht doch in Wirklichkeit auszuführen wäre, wozu aber nötig ist, dass diese Möglichkeit als Tatsache schon auf einer anderen Bewusstseinsebene, auf der astralen Ebene der Gedankenwelt, vorzufinden ist, von welcher wir alle unsere Gedanken und Ideen erst nehmen.
Meist aber ist alles schon tatsächlich auf unserer Erde vorhanden, und der, der es schildert, in Form einer Erzählung, schmückt es nur noch etwas aus und wird so zum Dichter.
Freilich muss man, wenn man so etwas Besonderes erzählen will, seine Augen offen halten und dorthin gehen, wo es etwas Besonderes zu sehen gibt.
Aber um das zu sehen, was hier geschildert wird, wie ein Mann im Wasser auf dem Rücken liegt und eine Pfeife schmaucht, über sich den nächtlichen Sternenhimmel, dazu braucht man nicht nach New York in die Schwimmhalle des AthletikKlubs zu gehen.
Das kann man auch im KöniginCarolaBad zu Leipzig haben, Dufourstraße. Die große Schwimmhalle wird verfinstert, an der Glasdecke flammen als Sterne Glühlämpchen auf, sehr geschickt arrangiert, und außerdem erglühen auch noch unter Wasser zahlreiche Glühbirnen auf, im Boden eingelassen.
Und in diesem magisch leuchtenden Wasser, über sich den funkelnden Sternenhimmel, hat der Schreiber dieses so manche Stunde mit der qualmenden Pfeife gelegen und hat geträumt, zu einer Zeit, da er auch im Traume noch nicht daran dachte, dass er dereinst unter die Literaten gehen, dass er dies alles schriftstellerisch verwerten würde.
Aber er ging nicht, wie er damals beabsichtigte, nach Amerika, um sich im Urwald eine Blockhütte zu bauen, sondern das Schicksal hielt ihn erst in London fest, indem er sich als Matrose an der Dampfwinde die Hand verbrühte, und im Krankenhause von St. George in the East machte er die Bekanntschaft eines Arztes, der ihm dann eine Stellung in der Psychic Research Company verschaffte, die sich mit der wissenschaftlichen Ergründung der spiritistischen Phänomene und sonstigen mediumistischen Eigenschaften besonders veranlagter Menschen beschäftigt. Es war ja Wunderbares genug, was er da Tag für Tag erlebte, und zwar nicht als Zuschauer, zum Publikum gehörend, sondern als Arbeiter hinter den Kulissen tätig, mit den Medien verkehrend, sie hauptsächlich bei großer Erschöpfung massieren müssend, aber es war doch noch längst nicht so wunderbar, als was er fünf Jahre vorher als Matrose auf einem türkischen Pilgerschiffe erlebt hatte, auf dem täglich und fast stündlich indische Fakire und arabische Derwische auf Befehl vor türkischen Großen Vorstellungen gaben, wobei sie ihre Vorbereitungen nicht vor den Augen der Matrosen verbergen konnten.
Und wenn man nun solche Sachen selbst erlebt, mit eigenen Augen geschaut hat, wenn man überzeugt worden ist, dass alles auf Tatsache beruht, dass es eben Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, von der unsere Schulweisheit nichts träumt — ist es dann nicht geradezu eine Sünde wider den heiligen Geist, die allein nicht verziehen werden kann, wenn man nicht ein Zeuge dieser erkannten Wahrheit wird?
Und wer daran zweifelt, dass der Schreiber dieses wirklich in solch absonderlichen Verhältnissen gewesen ist, der kann sich erkundigen, das kostet nur einiges Briefporto. Im Oktober 1890 kamen wir in Konstantinopel an, das Schiff hieß »Malakka«, Kapitän Fonserra, beheimatet in Bombay, unter englischer Flagge. Wir alle, die Besatzung, soweit sie noch lebte, sind vom englischen Generalkonsul vernommen worden, mussten vor Gericht als Zeugen eidlich aussagen. Dass die elfhundertundfünf Passagiere bis auf vier, die wir noch lebendig nach Konstantinopel brachten, unterwegs nicht, wie man zuerst glauben musste, an Ruhr und Cholera gestorben waren, sondern dass der mitfahrende ReedereiAgent das Trinkwasser vergiftet hatte, weil er es auf das Geld und den Schmuck der Pilger abgesehen hatte, im Einverständnis mit dem Schiffsarzt, der den Erkrankten anstatt Opiaten Abführmittel gab, und weiter haben wir berichtet, was wir sonst noch während des Vierteljahres alles erlebt und gesehen haben, Menschenfresserei und praktisch ausgeübten Vampirismus und immer noch schrecklichere Scheußlichkeiten, die man nicht einmal andeuten kann, ausgeübt von Derwischen und anderen Pilgern, welche am Grabe Mohammeds visionär den Bescheid erhalten hatten, dass das Paradies ihnen verschlossen sei, und die sich nun der Magie ergaben, durch solche scheußliche Hilfsmittel, wie darüber ja auch unsere Hexenprozesse zur Genüge berichten.
Wenn man so etwas erlebt hat, dann ist man abgestorben gegen alles andere, dann staunt man über nichts mehr, dann kann man durch nichts mehr erschreckt werden, dann lässt es einen ganz kalt, wenn magisch veranlagte Menschen die scheinbar unnatürlichsten Phänomene erzeugen — unnatürlich nur deshalb, weil wir die betreffenden Naturgesetze noch nicht kennen — und dann ist es einem auch ganz gleichgültig, ob das einem geglaubt wird oder nicht.
Und dann weiter kann man sich ja erkundigen, ob der Schreiber dieses, Robert Kraft, nicht im Winter 1893/94, nachdem er aus der Kaiserlichen Marine als erster Schwimmlehrer entlassen worden, in der gleichen Stellung, also als Schwimmlehrer, im Leipziger KöniginCarolaBad tätig war, und im Herbste des selben Jahres zu London in der Psychic Resarch Company, damals Lambert Street. Und dann ging es immer noch nicht, wie beabsichtigt, als Jäger nach Texas, sondern erst wieder nach Afrika in eine nubische Oase.
Der auf dem Rücken liegende Schwimmer dampfte mit Macht, ohne dadurch von der Stelle zu kommen. Die Schraube arbeitete nicht.
Die Bambusstange war alsbald zurückgezogen worden, die Himmelsklappe hatte sich wieder geschlossen.
Das Sternbild des Perseus liegt in der Milchstraße, die sich in voller Pracht am Himmel hinzog, durch das Verschwinden von so vielen Sternchen, schon mehr eine weiße Fläche bildend, war es am sonst doch dunklen Himmel sehr deutlich zu beobachten gewesen, wie da eine viereckige Öffnung entstanden war.
»Danke, mein Lieber!«, knurrte Mister Sharp zwischen den Zähnen, welche die Pfeife halten mussten. »Sagen Sie mal — darf ich nicht Ihren werten Namen erfahren?«
Die Antwort ließ etwas aus sich warten, als überlege sich der Unbekannte erst, ob er seinen Namen nennen solle.
»Steinert!«, erklang es dann.
»Mister Steinert?«
»Jawohl.«
»Das habe ich mir gleich gedacht.«
»Was haben Sie sich gleich gedacht?«
»Dass Sie ungefähr so heißen müssten. Ich danke Ihnen, Herr Petrus.«
Petrus heißt nämlich der Felsen, und da war es ja zum Steinert nun allerdings nicht weit.
Mister Sharp qualmte also wie ein Schornstein, blickte zum Himmel mit den funkelnden Sternen empor und lauschte dem Froschkonzert, immer die Hände unter dem Kopfe gefaltet. Die einzige Bewegung, die er manchmal ausführte, war, dass er die übereinandergeschlagenen Füße wechselte.
Dann, etwa nach einer Viertelstunde, zeigte er, dass er als Gentleman auch sehr rücksichtsvoll dachte, was ja nicht immer der Fall war.
»Mister Petrus?«
»Mister Sharp?«, meldete sich der Gerufene vom Himmel herab.
»Es beleidigt Sie doch nicht, wenn ich Sie so nenne?«
»Durchaus nicht.«
»Und es schadet doch nicht etwa der Vegetation, wenn sie meinetwegen hier so lange in Finsternis bleibt?«
»Ebenfalls ganz und gar nicht. Sie können tagelang hier so in der Nacht liegen bleiben, das wird durch intensivere Bestrahlung, welche allerdings auch diese Pflanzen zur Atmung nötig haben, dann wieder nachgeholt.«
»Nur einige Minuten noch, meine Pfeife schnarcht schon. Dann möchte ich aber erst noch eine Weile unter diesem Sternenhimmel schwimmen.«
»So lange Sie wünschen.«
»Und zwar bei recht bewegtem Wasser.«
»Es wird aufgewühlt werden.«
»Es sind meterhohe Wellen möglich?«
»Noch etwas höhere.«
»Machen Sie die Wellen so hoch wie möglich, ohne Sorge um mich.«
»Das habe ich bereits gemerkt, Sie können schwimmen.«
»Aber keinen Wind dabei.«
»Keinen Wind.«
»Und dann möchte ich dabei nichts weitet als Meer erblicken.«
»Wie das?«
»Nun, rücken Sie als erstes mal hier diese Insel weg.«
Wieder eine kleine Pause.
»Hm, Mister Sharp«, erklang es dann, »da verlangen Sie freilich zu viel.«
»Sie können diese Insel nicht wegnehmen?«
»Nein, das ist nicht möglich, oder das würde gar zu viel Arbeit erfordern.«
Diesmal sagte Mister Sharp nichts davon, dass dann dies alles nur eine halbe Sache sei, er stellte gleich eine neue Forderung.
»Aber dieses gemalte Panorama dort können Sie doch wenigstens verschwinden lassen?«
»Nein, Mister Sharp, das ist auch nicht angängig. Aber ich weiß schon, was Sie wollen, und das lässt sich anders arrangieren. Sie wollen also beim Schwimmen immer das endlose Meer vor sich erblicken.«
»Ich will es mir wenigstens einbilden, wenn ich im Kreise herumschwimme.«
»Das ist nicht nötig, dass Sie dabei im Kreise herumschwimmen.«
»Wie das?«
»Bitte, blicken Sie nach links, wo ich den Mond aufgehen lassen werde.«
Mister Sharp tat es, richtete sich dazu auf, Wasser tretend, und da hatte er nach dieser Seite, wo sich schon wieder der Vollmond über den Horizont erhoben hatte, einen Blick auf das endlose Meer.
»Nach dieser Richtung schwimmen Sie immer, mit oder ohne Mond, wie Sie bestimmen.«
»Dieses endlose Meer ist aber doch nur eine Täuschung, ist gemalt oder eine Spiegelung.«
»Allerdings.«
»Ich stoße doch gegen eine Wand.«
»Das ist nicht nötig. Ich werde eine Strömung einschalten, gegen die Sie schwimmen, sodass Sie nicht vorwärts kommen, wovon Sie ja aber gar nichts zu merken brauchen.«
Das war allerdings eine Lösung dieses Problems, Mister Sharp erklärte sich damit einverstanden.
»Gut, dann kann die Geschichte ja losgehen. Lassen Sie den Vollmond stehen, so wie er jetzt ist, diese Szenerie gefällt mir sehr gut, ich werde also immer direkt gegen den Mond schwimmen. Meine Pfeife ist aus. Wie soll ich sie zurückbefördern?«
»Lassen Sie sie nur ruhig fallen; wenn wir sie nicht wieder auffischen können, so mag sie nur auf dem Meeresboden der wohlverdienten Ruhe pflegen.«
Die gebogene Shagpfeife verschwand aus Mister Sharps Zähnen. Das Wasser begann sich zu kräuseln, es wurde immer unruhiger, immer höher schlugen die Wellen.
»Nun schwimmen Sie los, die Strömung ist eingeschaltet! Aber Sie selbst brauchen sich nicht nach dieser zu richten, wir richten uns nach Ihnen. Schwimmen Sie langsamer, wird die Strömung schwächer, und treten Sie Wasser, so wird sie sofort wieder ausgeschaltet. Sie brauchen immer nur die Richtung einzuhalten, nichts weiter.«
Mister Sharp tat es. Er kämpfte gegen die meterhohen Wellen an und ließ sich von ihnen schleudern, wurde auf Berge gehoben und versank in tiefe Taler.
Nichts brauchte die Wirklichkeit vermissen zu lassen, dass hier ein Mensch, vielleicht über Bord gespült, im endlosen Meere mit den Wogen auf Leben und Tod rang.
Nun kam aber noch etwas anderes hinzu, wovon dem Schwimmer vorher nichts gesagt worden war.
In dem dunklen Wasser tauchten leuchtende Punkte auf, die sich schnell vermehrten, bis Mister Sharp in einem wahren Feuermeere schwamm, und am grandiosesten war das Leuchten auf den Wogenkämmen, wenn sie sich überstürzten. Dann wurde der Schwimmer immer wie von einem Feuerregen überschüttet.
Also das bekannte Meeresleuchten, das man am herrlichsten in den tropischen Gewässern beobachten kann. Es wird hervorgebracht von phosphoreszierenden Tierchen, Infusorien, hauptsächlich sind es die sogenannten Geißeltiere, und das sind nicht etwa mikroskopische Wesen, sondern man kann sie im geschöpften Meerwasser sehr deutlich mit dem bloßen Auge erkennen, sie sind so groß wie tüchtige Stecknadelköpfe.
»Herrlich, herrlich.!«, erklang es wirklich entzückt in dem flimmernden Wasser. »Sind das tatsächlich solche leuchtende Infusorien?«
»Nein. Geißeltierchen können es überhaupt nicht sein, da diese nur im salzigen Meerwasser existieren.«
»Was ist es sonst?«
»Eine chemische Beimischung des Wassers!«, lautete der Bescheid, und Mister Sharp gab sich damit zufrieden.
»Nun drehen Sie mal den Mond aus, die Sterne dazu.«
Es geschah, der Mond wurde wirklich wie »ausgedreht«, die schwärzeste Finsternis herrschte, nur das Meer selbst strahlte noch in prachtvollem Feuer, jetzt erst recht.
»Himmlisch, über alle Begriffe herrlich!«, erklang es immer entzückter in dem Feuermeer. »Jetzt mäßigen Sie nach und nach den Wogengang, bis wieder ganz glattes Wasser ist, und dabei lassen Sie langsam die Sonne aufgehen.«
Es geschah alles, wie gewünscht wurde, sogar wohl noch besser und schöner, als es sich Mister Sharp vorgestellt hatte.
Erst entstand am finsteren Horizont ein hellerer Streifen, der immer mehr eine rote Farbe annahm, bis der ganze Horizont rot erglühte, sich mit dem Blau des Himmels verschmelzend, und dann stieg in goldener, unvergleichlicher Pracht die Sonne des jungen Tages empor.
Nichts, absolut gar nichts ließ an diesem Sonnenaufgange die Natürlichkeit vermissen. Nur den Kompass durfte man nicht befragen, sich nicht um die Himmelsrichtungen kümmern; denn vorhin, als doch ebenfalls früher Morgen gewesen sein sollte, hatte die aufgehende Sonne ganz anderswo gestanden.
Auch die Zeit war eine ganz normale gewesen, die Sonne hatte vom ersten Punkt an, da sie sich über den Horizont erhoben, bis man da die volle Scheibe erblickte, vier Minuten gebraucht, und während dieser Zeit hatte sich das aufgeregte Meer wieder beruhigt, wohl nach und nach, aber doch mit einer Schnelligkeit, die in der Natur nun freilich nicht möglich ist.
Es musste dazu ein ganz besonderes Hilfsmittel benutzt werden, natürlich kein Öl oder gar Petroleum.
Jetzt war das Wasser wieder glatt wie ein Spiegel, nur der Schwimmer selbst brachte es etwas in Bewegung, und trotzdem herrschte noch eine tüchtige Strömung, denn Mister Sharp kam trotz kräftiger Stoße nicht vorwärts, wovon er selbst aber gar nichts merkte.
»Großartig, prächtig, dieser Sonnenaufgang! Ich möchte frühstücken, ich will landen.«
»Hinter Ihnen ist eine Insel, wollen Sie diese betreten?«
»Meinetwegen.«
Mister Sharp drehte sich um und hatte nun vor sich dieselbe Insel, die er bisher immer im Rücken gehabt, der er von Anfang an, als er vom Strand aus seine Schwimmtour begonnen hatte, zugestrebt war.
Das war ja nun nicht ganz normal, aber es hatte nichts zu sagen, am allerwenigsten für Mister Sharp.
Die künstliche Strömung musste wie mit einem Ruck abgestellt werden können, sonst wäre er ja von allein darauf getrieben worden, nun aber hatte er noch einige tüchtige Stöße zu machen, ehe er das Eiland erreichte.
Er betrat es nicht sofort, hielt sich erst noch einige Meter vom Ufer entfernt, Wasser tretend.
Erst jetzt musterte er richtig die Vegetation.
Es war eine solche, wie sie in der Natur wohl schwerlich vorkommt, nämlich durch ihre Vermischung.
Sie bestand sowohl aus tropischen Bäumen und sonstigen Pflanzen, wie auch aus nördlicheren, man konnte an eine Vermischung der indischen wie der nordeuropäischen denken.
Zwischen den herrlichsten Palmen aller Art gediehen knorrige Eichen und Buchen, was man sonst im Freien wohl schwerlich findet, nicht einmal in einem Gewächshaus. Diese Bäume müssen ja ganz verschiedene Temperaturen haben, sonst können sie auf die Dauer nicht existieren.
Etwas misstrauisch musterte Mister Sharp besonders einen Busch, der mit furchtbaren, meterlangen Dornen besetzt war, dicht am Wasser stehend. Es war ein Dornenbusch, der besonders auf den Inseln des malaiischen Archipels zu Hause ist und an dessen schwertähnlichen Dornen man sich nicht nur aus Versehen den Leib aufschlitzen kann, sondern diese haarscharfen und spitzen Dornen erzeugen auch bei der geringsten Verletzung ein furchtbares Brennen, das ein tagelanges Fieber nach sich zieht.
»Das ist doch ein malaiischer Feuerbusch!«
»Ja, das ist er.«
»Na ich danke! Gibt es noch viele solcher Exemplare auf dieser und den anderen Inseln hier?«
»Sehr viele. Wegen ihrer herrlichen Blüten und köstlichen Früchte. Aber betreten Sie ruhig das Land und drängen Sie sich durch diese Dornenbüsche. Wohl sind es ganz natürliche Feuerbüsche, aber wir haben ihnen die Gefährlichkeit zu nehmen gewusst, sonst würden wir sie hier doch nicht dulden. Die Dornen haben nur ein ganz natürliches Aussehen. Sonst sind sie unter unserer Behandlung ganz harmlos geworden, ganz weich, man kann sich unmöglich daran verletzen.«
»Sie garantieren dafür?«
»Mit allem, was Sie fordern.«
»Dann ist es gut, ich glaube Ihnen. Und auch sonst droht auf dieser Insel keine Gefahr?«
»Nicht die geringste.«
Jetzt gab Mister Sharp sein Zögern auf, er schwamm heran und erkletterte das Ufer, das mit rasigem und mehr noch moosigem Rande eben über das Wasser hervor sah, obgleich es da auch Felsbildungen gab.
Weiter drang er jetzt nicht in das Waldesgrün ein, er blieb gleich stehen, überzeugte sich nur einmal, dass die riesenhaften Dornen des malaiischen Busches und auch die kleineren eines anderen Strauches wirklich ganz weich waren, bis an die Spitze, mit der man sich unmöglich stechen oder gar ritzen konnte.
Dann sah er einmal nach seiner Uhr, steckte sie wieder ein.
»Nun, Mister Petrus, will ich Ihnen eine ganz seltsame Offenbarung machen.«
»Bitte.«
»Sie kennen doch meinen Charakter, und das Seltsame liegt schon darin, dass es jetzt doch erst nachmittags um vier Uhr ist, und trotzdem lasse ich mich von der aufgehenden Sonne dort so weit täuschen, dass ich jetzt um mein Frühstück bitte.«
In der Tat, das war für einen Mister Sharp, wie man ihn während dreier Jahre kennen gelernt hatte, sehr auffallend.
»Was bestellen Sie?«
»Mein erstes Frühstück. Kann ich drei weichgekochte Eier haben? Oder lieber vier — nein, fünf — na, machen wir nur gleich das halbe Dutzend voll.«
»Sechs weichgekochte Eier, sie sind bereits bestellt.«
»Und geröstetes Weißbrot und Butter dazu.«
»Jawohl, ganz wie auf Ihrer Jacht.«
»Nur eine etwas größere Portion, auch an Brot und Butter.«
»Wird besorgt.«
»Und dazu Tee, den ich sonst nicht zum ersten Frühstück nehme.«
»Er ist bestellt. Vielleicht auch die nötigen Rasierutensilien?«
Mister Sharp fuhr sich einmal mit der Hand übers Kinn.
»Nein, nicht rasieren, ist nicht nötig. Ich will mir überhaupt keinen Morgen vortäuschen, sondern ich habe einfach tüchtigen Hunger und gerade Appetit nach weichen Eiern. Wie lange dauert das?«
»Die weichen Eier beanspruchen auch hier wie überall fünf Minuten. Wo wollen Sie serviert haben?«
»Hier auf dieser Insel. Ich bleibe gleich so, wie ich bin; oder vielleicht, dass Sie mir noch einen bequemen Bademantel herschicken.«
»Wird besorgt. Wie soll das Herschicken geschehen? Ich möchte mich ganz genau nach Ihren Wünschen richten.«
»Nun, in einem Boote, das ich dann benutzen werde.«
»Was für ein Boot?«
»Ein recht kleines, leicht zu rudern, aber auch — können Sie nach Belieben Wind wehen lassen?«
»Ganz wie Sie wollen, vom leisesten Lüftchen an bis zum orkanähnlichen Sturme.«
»Aus jeder Richtung kommend?«
»Ganz wie Sie befehlen.«
»Ist ein Kanu vorhanden, in dem man auch ein Segel setzen kann?«
»Gewiss.«
»Dann bitte ein solches.«
»Es wird in spätestens zehn Minuten das Frühstück mit dem Bademantel bringen. Keinen Anzug?«
»Er ist nicht nötig — nun meinetwegen, schicken Sie mir einen tüchtigen Sportanzug mit, der Strapazen verträgt Aber nicht den meinen, ich will einen neuen Menschen anziehen.«
»Es wird besorgt.«
»Wie bringen Sie denn das Boot hierher?«
»Es kommt von allein.«
»Wie das?«
»Durch Fernleitung.«
»Ach so. Richtig, wenn Sie meine Bleikugel herumrollen lassen können, werden Sie doch auch ein Boot ohne sichtbare Kraft fortbewegen können. Nun aber, Herr Petrus — mit dieser Art des Herschickens bin ich gar nicht einverstanden.«
»Nicht? Wie wünschen Sie es sonst?«
»Nun hören Sie mal und staunen Sie: Ein Mensch soll mir dieses Frühstück im Boot zubringen! Und dieser Mensch, ein Mann, soll auch fernerhin bei mir bleiben. Ich wünsche die Gesellschaft eines anderen Menschen.«
Ja, das war allerdings ganz erstaunlich, diese plötzliche Umwandlung, die mit dem jungen Manne geschehen war. Das nächtliche Seebad musste ihm sehr gut bekommen sein.
»Nicht wahr, da staunen Sie?«
»Vor allen Dingen freut es mich, diesen Wunsch von Ihnen zu hören.«
»Ja, ich wünsche einen Gesellschafter. Gibt es hier noch mehr Neues zu sehen, noch mehr Überraschungen?«
»Zahllose. Tatsächlich zahllose! Denn Sie mögen noch so lange hier verweilen, Ihr ganzes Leben lang, und nichts weiter tun als nach neuen Räumen und Abteilungen suchen, Sie werden immer wieder solche finden und darin Neues, Überraschendes sehen und erleben.«
»So? Das ist großartig! Da bin ich wirklich gespannt. Und da möchte ich also, dass dieser mein Gesellschafter mich führt.«
»Jawohl, das wird er tun.«
»Ihre unsichtbare Führung nur durch Worte war mir ja bisher sehr angenehm, aber ich möchte doch eine persönliche —«
»Kein Wort mehr darüber. Sie werden einen persönlichen Führer bekommen.«
»Natürlich muss der Mann zu mir passen.«
»Gewiss.«
»Er muss mir sympathisch sein.«
»Er wird es hoffentlich sein, sonst schicken Sie ihn einfach wieder weg.«
»Das werde ich allerdings auch tun.«
»Und Sie bekommen einen anderen, wählen so lange, bis Sie einen geeigneten Mann gefunden haben.«
»Nun, hoffen wir, dass es gleich der erste ist. Also nicht gar zu jung, auch nicht schon zu alt. Er soll gebildet sein, ich muss mich mit ihm über alles unterhalten können, wenn ich auch nicht gerade Gelehrsamkeit fordere, er soll eben mein Gesellschafter sein, zugleich aber auch die Rolle meines Dieners spielen. Das heißt, er hat mir in allem zu gehorchen.«
»Ganz richtig.«
»Womöglich nicht so hausbacken, etwas Originelles.«
»Er wird es ein.«
»Nun schicken Sie mir den Mann.«
»Black ist bereits benachrichtigt —«
»Wie heißt der Mann?«, stutzte Mister Sharp.
»Black.«
»Doch nicht etwa ein Neger? Ich liebe keine Neger in meiner intimen Gesellschaft.«
Sie sprachen Englisch, und black heißt schwarz.
»O nein, er ist ein Engländer und heißt eben Black.«
»Das ist etwas anderes. Er soll mir das Boot mit dem Frühstück bringen.«
»Das ist nicht angängig, wenn Sie das Frühstück sofort haben wollen. Black ist schon benachrichtigt, aber es dürfte eine Viertelstunde vergehen, ehe er bei Ihnen sein kann. Ihr Frühstück dagegen ist in fünf Minuten da, es wird schon serviert.«
»Well, dann schicken Sie mir erst das Frühstück, dann den Mann. Nun bitte wieder etwas Vogelschlag, die Morgensonne soll so stehen bleiben, keinen Wind, alles so wie es jetzt ist.«
Mister Sharp promenierte an dem baumfreien Ufer etwas hin und her, der Boden war mit weichem Moos bedeckt.
Wieder begannen die Vögelchen zu jubilieren, jetzt unverkennbar hier auf dieser Insel.
»Sehr schön, herrlich, köstlich!«
Da sah er über den See ein Kanu kommen, ohne dass sich jemand darin befand.
In rascher Fahrt hielt es auf die Insel zu und legte dicht vor dem am Ufer Stehenden an.
Alles Gewünschte lag darin, auch, was nicht direkt bestellt war, das Besteck im Etui, außer der Serviette auch noch ein größeres weißes Tuch.
Mister Sharp breitete es auf dem moosigen Boden aus, ordnete alles und ließ sich davor mit gekreuzten Beinen nieder, den Sportanzug noch nicht anlegend, gleich im Badeskostüm bleibend, das in der warmen Luft unterdessen getrocknet war.
Er ließ sich die sechs Eier mit geröstetem Brot und Butter trefflich munden, dazu den Tee schlürfend. Alles war auch hier in Thermosgefäßen enthalten.
»Hören Sie mich immer noch, Mister Steinert?«
»Ich werde Sie stets hören und bleibe immer zu Ihrer Verfügung, auch wenn Sie den Führer haben.«
»Der Tee kann das nächste Mal etwas stärker sein.«
»Es ist zur Kenntnis genommen.«
»Soll ich die Sachen hier liegen lassen?«
»Jawohl, es wird alles spurlos beseitigt.«
Mister Sharp beendete sein Frühstück, dann legte er das Sportkostüm an.
Als er hiermit fertig war, sah er ein zweites, etwas kleineres Kanu über den See kommen, gerudert von einem Manne. Es legte an, der Mann stieg aus.
Er ist einer eingehenden Beschreibung wert.
Es war eine mittelgroße, schlanke, sehnige Gestalt, ganz in Leder gekleidet. Aber in besonderer Weise. Man darf nicht an einen ledernen Hinterwäldler denken. Der ganze Anzug zeigte einen eleganten Schnitt oder doch einen koketten, was für die unten trichterförmige Hose wie besonders auch für die offenstehende Jacke galt, die das gleichfalls lederne Hemd mit dem Gürtel sehen ließ. Es war feingegerbtes, naturfarbenes, also hellgelbes Leder, aber nun vor allen Dingen über und über mit Stickereien bedeckt, die verschiedensten, bizarrsten Muster in den buntesten Farben. Auch das Hemd war so bestickt, selbst der Rücken der Jacke; die Mokassins waren eine wahre Kunstleistung der Stickerei in den schreiendsten Farben, wenn dies nicht überhaupt für alles galt.
Dieser Anzug war offenbar schon sehr alt und stark strapaziert, aber die Stickereien waren jedenfalls mit zersplissenen Tiersehnen ausgeführt, waren echt gefärbt, sodass sie allem Wettereinfluss und jeder Abnutzung trotzten. Oder sie konnten ja auch manchmal erneuert werden.
Auch sonst war diese Vorliebe für auffallenden Schmuck überall zu erkennen.
An dem breiten, außerordentlich schön und kunstvoll gestickten Gürtel hingen ein Revolver im Futteral, Patronentasche, Pfeife und Tabaksbeutel und andere Sachen, und auch dies alles war gestickt und sonst wie geschmückt, der Kolben des Revolvers zierlich mit Silberplättchen und bunten Steinen ausgelegt, aber nicht nur das, es war bei jedem Gegenstand etwas Apartes, der Pfeifenkopf zum Beispiel bestand aus dem Schädel eines Marders, schön mit Silber eingefasst, das Rohr war ein langer Knochen, geschnitzt und gleichfalls mit Silber und roten Steinen ausgelegt, der Tabaksbeutel bestand aus einer Igelhaut, aber die Stacheln waren ebenfalls versilbert, und außerdem hatte jeder einzelne Stachel noch einen grüngemalten Ring, und so apart und verziert war alles andere, was da am Gürtel hing, auf den kleinsten Gegenstand war eine Unmasse der sorgfältigsten Arbeit verwendet worden, nicht zu vergessen den silbernen Trinkbecher, der über und über mit fast mikroskopischen Verzierungen graviert war; wenn es nicht Buchstaben waren.
Nun schließlich noch silbernen, baumelnden Schmuck in den merkwürdig zierlichen Ohren, die kräftigen, sehnigen, muskulösen, aber schön geformten Hände mit einer Unmenge von Fingerringen bedeckt, alle nur von Silber, aber von den phantastischsten Formen.
Schon aus dieser ungemeinen Vorliebe für silbernen Schmuck konnte jeder erfahrene Mensch etwas schließen, besonders auch aus dem silbernen Becher, und dann brauchte man sich nur das Gesicht anzusehen, dann war das Urteil gebildet.
Ein hübsches, intelligentes Gesicht von gelbbrauner Farbe mit Adlernase und feurigen, schwarzen Augen. Ein lang herabhängender, schwarzer, seidenweicher Schnurrbart. Das ebenfalls ziemlich lang gehaltene Kopfhaar, durch das er ein rotes, silbergesticktes Band geflochten hatte, schon mehr blauschwarz.
Wenn dieser etwa dreißigjährige Mann kein Zigeuner war, dann log überhaupt alles!
Daher auch die Vorliebe für Silber, viel weniger für Gold, und daher vor allen Dingen auch der silberne Becher am Gürtel.
Denn ein Zigeuner, der nicht immer einen silbernen Becher mit sich führt, das ist eben kein echter Zigeuner. Wozu dieser Becher, ob das vielleicht ein Symbol bedeutet, darüber haben sich die Zigeunerforscher schon viel den Kopf zerbrochen, darüber sind schon besondere Bücher geschrieben worden, wie zum Beispiel von dem zigeunerkundigen Franzosen Louis Rebois. Jedenfalls ganz zwecklos. Es ist eben eine uralte Sitte der Zigeuner, immer einen silbernen Trinkbecher bei sich zu haben, der als Erbstück weiter geht. So wie der Deutsche — um ein Beispiel heranzuziehen — sein Geld in einem Portemonnaie trägt, worüber sich der Engländer, der Deutschland besucht, so sehr wundert, immer davon erzählt und das regelmäßig in seinen Reiseberichten erwähnt. Und an dem Portemonnaie ist der Deutsche tatsächlich im Auslande auch immer erkennbar, und lässt er es weg, dann ist er auch kein echter Deutscher mehr, dann fängt schon das Naturalisieren an, auch im Charakter. Deshalb aber braucht man in dieser Geldtasche doch kein tiefsinniges Symbol zu wittern, das einer gelehrten Untersuchung würdig ist.
Im Übrigen sei noch erwähnt, dass der Mann trotz all seiner gestickten Eleganz und Koketterie nicht eben einen sauberen Eindruck machte. Und nicht nur, weil der Anzug schon stark abstrapaziert war. Nicht gerade, dass er schmutzig war, er roch nicht direkt nach angebranntem Fett, aber — man glaubte die Schmiere immer zu riechen. Die so schön geformten Hände, mit der manche Dame kokettiert hätte, waren nicht schmutzig, mit Seife aber waschen tat er sie sicher niemals, und dasselbe galt vom Gesicht, und das brauchte er ja auch nicht, da er ja an sich eine braune Haut hatte. Und so erkannte man auch gleich, dass der sicher niemals aus seinem Anzug herauskam, niemals das Hemd wechselte. Der badete sich nur, wenn er aus Versehen einmal ins Wasser purzelte. Freiwillig ging der nicht hinein. Das war ihm gleich anzusehen. Eben ein echter Zigeuner.
Leichtfüßig und zugleich mit unnachahmlicher Grazie war er aus dem schwankenden Boote an Land gesprungen, schlang mit einer einzigen Arm- und Handbewegung das Seil um einen Ast, in demselben Moment aber auch schon einen kunstvollen Knoten schlingend, was ihm wohl schwerlich ein Seemann hätte nachmachen können, machte drei rasche Schritte, stellte seine zierliche Doppelbüchse, der Kolben reich geschnitzt und mit Silber ausgelegt, bei Fuß.
»Melde mich zur Stelle!«
Er hatte es nicht etwa lachend gesagt, aber es hatte doch fast so geklungen, so frisch und fröhlich, wie überhaupt in den ganzen Gesichtszügen der sorgloseste Leichtsinn ausgeprägt war, so ein genialer Leichtsinn, der kein morgen kennt, und dabei hatten unter dem schwarzen Schnurrbart, dessen lang herabhängende Enden auch mit zu dieser ganzen Physiognomie gehörten, aufrecht gebürstete Spitzen wären nicht angebracht gewesen, die wunderbaren Zähne geblitzt.
Im nächsten Moment ließ er sein Gewehr fallen und sprang hin, um behilflich zu sein.
Mister Sharp war nämlich doch noch nicht ganz fertig mit seiner Toilette.
Er beschäftigte sich noch mit seinem linken Schnürschuh, wozu er den Fuß auf einen sehr niedrigen Ast gesetzt hatte.
Wenn man Schnürstiefel trägt und man zieht sie schnell ab, so kann es bekanntlich passieren, dass sich die Senkel verwirren, ein Knoten entsteht, der sich nur umso fester zusammenzieht, je mehr man den Stiefel nun mit Gewalt abstreift, ohne den Knoten sofort zu lösen.
Man überlässt die Stiefel ihrem Schicksale, vertrauensvoll auf den Hausknecht des Hotels oder auf das eigene Dienstmädchen hoffend, die werden den gordischen Knoten schon zu lösen wissen.
Aber wenn man die Stiefel nun wieder anziehen will, so ist der gordische Knoten ganz bestimmt noch ungelöst, Friedrich oder Emma haben ebenso vertrauensvoll auf die Geschicklichkeit und Geduld ihres »Herrn« gehofft.
Wenn man es nun eilig hat und nicht gerade ein sehr frommes, geduldiges Lamm ist, dann fängt man gewiss zu fluchen an, bis man zuletzt zum Messer greift, denn solchem Schnürsenkelknoten ist sonst einfach gar nicht beizukommen.
Diese Stiefel hier, die Mister Sharp geliefert erhalten, waren noch ganz neu, aber ihren gordischen Knoten hatten sie auch schon.
Mister Sharp hatte den betreffenden Stiefel, den linken, zwar anbekommen, konnte ihn aber nicht zuschnüren, den Knoten nicht lösen, obgleich er schon die Zinken der silbernen Gabel ganz verbogen hatte.
Wie sein zukünftiger Gesellschafter kam und sich hinstellte, blickte er einige Sekunden auf, betrachtete ihn, und dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Knoten und der stochernden Gabel zu.
Wie sich Mister Sharp früher in solch einer Situation benommen hätte, das wäre sehr fraglich gewesen. Es war überhaupt gar nicht auszudenken, dass er sich mit so etwas beschäftigt hätte.
Nun aber tat er es einmal, und außerdem war es eben ein gordischer Schnürsenkelknoten, bei dem sich auch ein Lamm vor Wut in einen reißenden Tiger verwandeln kann.
Also Mister Sharp tat etwas, sagte etwas, was er sonst wohl noch niemals getan oder gesagt hatte.
»So ein gottverdammter Knoten!«
Da also ließ der Zigeuner sofort sein Gewehr fallen und sprang hin.
»Mit Gabel, Messer und Löffel geht das nicht, das muss anders gemacht werden.«
So sagte er mit weicher, eigentümlich vibrierender Stimme, die schon beim gewöhnlichen Sprechen wie melodische Musik klang, kniete nieder, beugte sich tief über den Stiefel und — fraß den gordischen Knoten auf.
So sah es wenigstens aus. Und kauen tat er den ledernen Schnürsenkel auch wirklich.
Als er den Mund zurückzog, war der Knoten nass und weich, jetzt konnte er ihn mit den Fingern aufknüpfen, obwohl dazu immer noch eine große Geschicklichkeit gehörte.
»Nun gleich noch —
Er schnürte den Senkel vollkommen wieder heraus, obgleich der ganz in Ordnung gewesen war, kreuzweise durch die Löcher gehend, zog ihn in ganz anderer Weise wieder ein, sodass ein zierliches Flechtwerk entstand, schlang einen kunstvollen Knoten mit Schleife, die nicht von selbst wieder aufging und dann doch ganz leicht nur durch einen Zug zu öffnen war.
»Gestatten Sie gleich noch den anderen Fuß —«
Auch dieser Schnürsenkel wurde neu eingezogen, und zwar sei nochmals betont, dass der bunte Mann hierbei eine fabelhafte Schnelligkeit und Geschicklichkeit entwickelte, als habe er Zeit seines Lebens nichts weiter getan, als solche Schnürsenkel eingezogen und in besonderer Weise geflochten.
Übrigens hat es auch einen besonderen Grund, weshalb wir hierbei so lange verweilten, wie sich bald zeigen wird.
Während dieser Arbeit hatte Mister Sharp immer auf ihn herabgeblickt, aber nicht nur das, er war auch einmal handgreiflich geworden, hatte mit den Fingern vorsichtig die langen, schwarzen Haare erwas geteilt und aufmerksam die bloßgelegte Kopfhaut gemustert.
Doch was er dabei gesucht, schien er nicht gefunden zu haben, er zog seine Hände leer wieder zurück.
Der Mann war fertig, sprang wie eine Feder auf, sprang zurück, raffte seine Büchse auf, stellte sich wieder in Positur, Gewehr bei Fuß, zeigte seine prachtvollen, blendendweißen Zähne, ohne sie gerade zu fletschen oder zu lachen. Es war überhaupt ein von sorgloser Lebenslust ewig lachendes Gesicht.
Und nun folgte eine stumme Szene, die wiederum eines Mister Sharp, des Mannes ohne Seele, ganz würdig war.
Die Arme über der Brust verschränkt, betrachtete er den vor ihm Stehenden wohl fünf Minuten lang, und das hat gewiss etwas zu bedeuten, das ist in solch einem Falle schon mehr eine kleine Ewigkeit, und dann ging er um ihn herum, um ihn von den Seiten und von hinten zu betrachten.
Das war etwas gewesen, was eben nur Mister Sharp als Mann ohne Seele fertig gebracht hatte. So mustert man wohl ein Tier, aber keinen Menschen. So hat man in früheren Zeiten wohl nicht einmal einen Sklaven gemustert, wenn der Kauflustige nur irgend noch etwas von einer Seele im Busen gehabt hatte. Allerdings beim Militär kann so etwas vorkommen, aber das ist doch wieder etwas ganz anderes.
Mister Sharp war auf seinen alten Platz zurückgekommen. Jetzt legte er sich hin, streckte sich behaglich aus und machte sich mit Pfeife und Tabaksbeutel zu schaffen. Und dann begann er das Verhör.
»Haben Sie Läuse?«
»Nein.«
»Ich dachte erst, aber ich sah keine. Können hier überhaupt Läuse vorkommen?«
»Nein, unmöglich. Weder Blattläuse noch andere.«
»Wenn nun welche einmal hereingetragen werden? Ist das unmöglich?«
»Unmöglich ist das gerade nicht.«
»Und dann?«
»Alles Lebende, was wir hier nicht dulden wollen, kann in kurzer Zeit vernichtet werden.«
»Gut. Wie das geschieht, werden Sie mir später erklären. Sie also sind der Black?«
»Jawohl.«
»Gut. Bis auf Weiteres bleiben Sie. Ihr Äußeres gefällt mir, ist mir sympathisch, das vorhin mit den Schuhriemen haben Sie auch sehr gut gemacht. Auch schon wie Sie aus dem Boote stiegen. Stellung aufgeben! Nie wieder eine solche vor mir annehmen! Hierher legen! Sie sind zwar mein Diener. haben sich aber ganz ungezwungen zu benehmen. Verstanden?«
»Sehr wohl, Sir.«
Und der Zigeuner gab seine Positur auf, legte sein Gewehr hin und sich selbst daneben, ganz zwanglos.
Sharp hatte seine Pfeife gestopft, griff nach dem Feuerzeug, aber Black kam ihm zuvor, hatte es bereits getan, hatte schon vorher, immer mit auffallend raschen Bewegungen, aus einem bunten Säckchen Stein und Stahl hervorgezogen, also das primitivste Feuerzeug, das es gibt, ein einziger Schlag, im Nu glimmte der Zunder, er wurde auf den Pfeifenkopf gelegt, Sharp zog.
»Danke sehr.«
»Bitte sehr.«
Sie lagen wieder da.
»Darf ich rauchen?«
»Immer; ohne mich zu fragen.«
Black zog die Pfeife aus dem Gürtel, stopfte den Marderkopf aus einem Beutel mit gelbem, feinem Tabak und gebrauchte nochmals sein Feuerzeug für eigene Zwecke.
Während vorhin, als er dem Amerikaner Feuer gab, seine Bewegungen äußerst schnelle gewesen waren, wirklich ganz auffallend schnell, jeder Griff so zuckartig, dass man den Händen gar nicht hatte folgen können, nahm er sich jetzt Zeit, und da konnte man sehen, dass sein Feuerzeug doch nicht ein so einfaches war.
Erstens das Beutelchen mit Arabesken wunderbar gestickt, dann der Feuerstein solid und doch zierlich in einem silbernen Stiel gefasst, der schön geätzt und ziseliert war, und das gleiche galt von dem Stahle, wenn dieser auch, wie überhaupt am praktischsten, aus einer alten Feile gefertigt sein mochte.
Mister Sharps Feuerzeug funktionierte nach denselben Prinzipien, einfach Stein, Stahl und Zunder, nicht etwa noch Benzin dazu, was sich in der Wildnis doch nicht immer ersetzen lässt, nur dass das Schlagen automatisch durch Mechanik geschah, auch das seine war von Silber, das Gehäuse, aber das seines Dieners war weit kostbarer — und was für kostbare Sammlungen gibt es von derartigen Feuerzeugen, wie sie Jäger und wilde Völkerschaften gebrauchen! Und dasselbe galt auch von den Tabakssorten.
Ein aromatischer, lieblicher Duft verbreitete sich alsbald, der nur den beißenden Gestank, den Mister Sharps Pfeife verbreitete, nicht so leicht verdrängen konnte.
Wenn der Diener Rosenblätter rauchte dann rauchte sein Herr Kuhmist.
»Sie rauchen da einen feinen Tabak. Wohl parfümiert?«
»Ja, es ist echt türkischer Dschumisuhl, der unparfümiert nicht zu haben ist, wenn man ihn überhaupt bekommen kann, da er nur für den Hof des Sultans bestimmt ist, und das Parfüm ist eben das Kostbarste dabei, ein Geheimnis. Er soll mit den Extrakten der teuersten Blumen getränkt werden. Stört Sie das süßliche Parfüm?«
»Nein. Rieche ich sehr gern. Wenn mich's störte, würde ich's schon sagen. Rauchen möchte ich das Zeug freilich nicht. Sie sind ein Zigeuner?«
»Nur halb. Meine Mutter war eine Zigeunerin, mein Vater ein Engländer mit germanischem Blut. Bin sehr nach meiner Mutter geraten.«
»Wer sind Sie sonst? Wie kommen Sie hierher? Wer und was sind Sie früher gewesen? Berichten Sie mir ganz ausführlich, soweit Sie dürfen. Ich möchte Sie näher kennen lernen.«
»Ich werde ganz ausführlich erzählen. Gestatten Sie, dass ich dabei eine geräuschlose Handarbeit verrichte? Ich bin solch eine Beschäftigung immer gewohnt.«
»Gewiss. Tun Sie nur immer, was Sie wollen. Ins Auge blicken können Sie mir ja, das habe ich schon gemerkt.«
Der Zigeuner setzte sich aufrecht hin, kreuzte die Beine, als seien diese aus Gummi, öffnete wieder ein anderes Beutelchen am Gürtel, entnahm ihm den Anfang einer Häkelei und einem Etui drei dünne, winzige Häkelnadeln.
Es war eine ganz besondere Art von Häkelei, für einen Kenner staunenswert! Oder auch ein Laie musste die ganze Arbeit bewundern, zumal wie sie entstand. Es waren nicht weniger als fünf verschieden gefärbte Garnknäuel, die er dabei in der linken Hand hielt, silbern, rot, gelb. grün und blau, und die drei Nadeln klemmte er zwischen die Finger der rechten Hand, sie alle gleichzeitig benutzend, jede einzelne sogar selbstständig bewegend, und dabei wickelte er mit der linken Hand die überaus dünnen Fäden nicht nur von den fünf Knäueln ab, sondern schwang diese auch noch fortwährend durcheinander, und das tat er mit einer fabelhaften Schnelligkeit.
Auf diese Weise entstand ein zartes, duftendes Gewebe, wie von Spinnen hergestellt, die Arabeskenmuster allerdings in sehr schreienden Farben, aber doch schön, von brillantem Feuer.
Während dieser emsigen Arbeit erzählte er, manchmal gar nicht hinblickend, aber immer zwischen den blendenden Zähnen die qualmende Pfeife, deretwegen man ihn in mancher Gegend der Erde sofort totgeschlagen hätte. Man möchte wirklich wissen, wie viele Morde in Amerika und besonders in Australien schon wegen einer schönen, merkwürdigen Tabakspfeife begangen worden sind, ohne Not, ohne Pfeifenmangel — und aus Not wegen eines Stückchens Plattentabak. In jenen Gegenden jedenfalls öfter als wegen eines Frauenzimmers.
»Der Mann, dem ich vor rund dreißig Jahren das Leben verdankte, lebte in Santham bei Warwick, England, als Landarzt.
Ein überaus menschenfreundlicher Mann, der selten ärztliches Honorar forderte und dann natürlich auch nie solches freiwillig bekam, was er auch nicht nötig hatte, da er von seinem Vermögen, wenn dieses auch noch klein war, recht gut leben konnte.
Er galt als ein schrullenhafter Sonderling — — weil er nicht heiratete, weil er seinen Hausstand ganz allein führte, sogar selbst scheuerte und Fenster putzte, sich seine Kleider und Schuhe selbst fabrizierte.
Anders aber wäre er mit seinem kleinen Vermögen auch nicht durchgekommen, und derartige Arbeit war überhaupt Vergnügen, er musste immer mit etwas beschäftigt sein, er war das, was man einen Bastler nennt, was ich von ihm geerbt habe.
Wie er einmal in einer stürmischen, bitterkalten Winternacht von einem Patientenbesuche heimkehrte, fand er vor seiner Haustür im Schnee ein unförmiges Paket liegen, in dem man gleich einen Toten vermuten konnte. In die vielen Decken war ein junges, braunes Weib eingewickelt, abgezehrt. mit Beulen bedeckt, dem Tode nahe.
In dem Briefkasten steckte ein Schreiben von ungelenker Hand, nach eigener Orthografie mit seltsamen Ausdrücken. Auf Wanderschaft begriffene Zigeuner vertrauten ihm ein krankes Mädchen an — nein, eine kranke Jungfrau, hieß es — er möchte seine Kunst versuchen, den bösen Geist auszutreiben, sie müssten weiter, im Frühling kämen sie wieder, um Arabella entweder abzuholen oder an ihrem Grabe zu opfern. Beiliegend das Honorar für seine ärztlichen Bemühungen oder die Kosten für das Begräbnis.
Das beigefügte Beutelchen enthielt zehn alte Goldmünzen mit römischer Prägung. Es war das erste Honorar, das der Landarzt gleich im Voraus bekam, und was für ein Honorar! Ich bemerke gleich, dass mein Vater sie dann verkauft hat, wenn auch nicht gern. Ein reicher Numismatiker hörte zufällig davon, er sah die Goldmünzen, geriet in Entzücken, in einen wahren Taumel, und bot meinem Vater rasch hintereinander bis zu 30 000 Pfund Sterling! Da ließ mein Vater sie ab und er war ein reicher Mann, mehr als ein halber Millionär. Es waren zehn der kostbarsten Münzen, die wir kennen, darunter solche, welche Julius Cäsar in Spanien prägen ließ. Sie liegen heute als die seltensten Stücke der Münzensammlung im Britischen Museum.
So waren es Zigeuner gewesen, deren sich das Schicksal bedient hatte, um den Landarzt für alle seine Uneigennützigkeit zu belohnen.
Das junge Mädchen, eher ein Kind noch zu nennen, hatte die Pocken. Es gelang dem Arzte, sie zu retten. Der Frühling kam, die junge Zigeunerin blühte zu neuem Leben auf, ein liebreizendes Mädchen, von keinen Pockennarben entstellt, aber keine Zigeuner erschienen, um sie wieder abzuholen.
Der Grund dazu war bald zu erraten. Vierzehn Tage später, nachdem die Kranke ins Haus gebracht worden, war ein von England nach Frankreich überfahrender kleiner Frachtdampfer untergegangen, er hatte an Bord als Passagiere auch eine Bande Zigeuner gehabt. Das waren zweifellos die Mitglieder ihres Stammes gewesen.
Arabella blieb im Hause des Arztes. Und — noch nicht ganz ein Jahr darauf erblickte ich das Licht der Welt. Sie hatte mir das Leben geschenkt, um es mit ihrem eigenen zu bezahlen. Sie starb im Kindbett.
Jener Landarzt war mein Vater. Geheiratet hat er sie freilich nicht, aber er hat mich dann gleich adoptiert.
Ich war gleich bei meiner Geburt ein kleiner schwarzer Teufel gewesen. Alles nannte mich Black. Und Sie wissen ja, wie in England und Amerika manchmal die Vornamen entstehen. Bret Harte, Rudyard Kipling, Alva Edi3son — das sind doch gar keine richtigen Vornamen, die haben ihre Entstehung nur irgend einer Laune zu verdanken. So wurde ich auch auf den Namen Black getauft.
Mein Vater muss die Zigeunerdirne sehr geliebt haben. Er weinte noch nach vielen Jahren, wenn er mir von meiner Mutter erzählte. Diese Liebe übertrug er auf mich. Er gab mich nicht in fremde Hände, sondern er nahm eine Amme in sein Haus, die dann auch später als Wirtschafterin bei ihm blieb, die wie eine Mutter zu mir war. Unter deren Pflege gedieh ich trefflich. Noch besser aber gedieh ich wohl an den Brüsten der Natur. Ich war der Zigeunerbub, der schon als Säugling so lange schrie, bis er aus der Stube hinaus in die Sonne getragen wurde, und als ich dann kriechen konnte, schrie ich nicht erst lange, ich wusste den Weg ins Freie allein zu finden, und selbst des Nachts entwischte ich aus dem Bett, um draußen unterm Busch zu schlafen.
Das heißt, das galt nur für die warme Jahreszeit. Im Winter ließ ich mir die Stube mit dem warmen Kachelofen sehr gut gefallen. Und dann durfte draußen auch nicht gar zu sehr der Wind blasen.
Mit dem fünften Jahre kam ich, wie es in England Gesetz ist, auf die Schule. Zum Leidwesen meines Vaters, der schon damals ein Verfechter der jetzt immer energischer werdenden Forderung ist, dass die Kinder erst viel später in die wirklich Schule kommen, höchstens erst mit dem zehnten Jahre, dass bis dahin nur ein Naturunterricht durch Spiele im Freien stattfindet.
Bei mir wäre diese Praxis sehr angebracht gewesen oder auch gerade nicht. Zigeuner lernen bekanntlich sehr leicht, sie verraten eben immer ihre exotische Herkunft, und ich mag überhaupt ein sehr aufgeweckter Knabe gewesen sein.
Kurz, in meinem dritten Jahre hatte ich schon perfekt lesen können, im vierten schreiben, und da meine Pflegemutter eine Irländerin war, die auch noch das immer mehr absterbende Keltisch sprach, beherrschte ich bald auch diese beiden Sprachen, Irisch und Keltisch, wozu mein Vater noch Französisch hinzufügte.
Also ich kam im Herbst auf die Dorfschule, die ich vier Jahre besucht habe. Aber immer nur im Winter. Als der Frühling nahte, bemächtigte sich meiner wieder so eine unnennbare Sehnsucht, wie es schon immer der Fall gewesen war, wenn die goldene Märzsonne den Schnee zu schmelzen begann, wenn das erste Grün hervorlugte.
Bisher hatte ich mir von dieser unnennbaren Sehnsucht, die dann stets in meinem kleinen Herzen schwoll, noch niemals Rechenschaft geben können. Diesmal wusste ich es besser. In dem Wandervogel war der instinktive Trieb erwacht. Eines Morgens war ich verschwunden.
Ich will nicht schildern, wie und wo ich mich herumgetrieben habe. Ich habe während dieses halben Jahres ganz England der Länge nach durchstrolcht, mich immer vom Diebstahl ernährend, ohne je erwischt zu werden.
Dann stieß ich auf eine Bande Zigeuner, die ich instinktiv als meine Stammesgenossen erkannte, die natürlich auch gleich mich.
Mein Vater ließ mich suchen — dazu war er ja gezwungen — aber gefunden wurde ich also nicht.
Doch ich kam von ganz allein wieder.
Als der erste Schnee fiel, als schon die Nächte immer kälter wurden, die Zigeuner ihr Winterlager in einer verfallenen Scheune aufschlugen, dachte ich mit Sehnsucht an den heimatlichen Kachelofen und nicht minder an die warme Schulstube, ja sogar an die Schulbücher, der kleine Black verschwand aus dem Zigeunerlager ohne Abschied, er wusste den Weg durch den Schnee nach Santham wiederzufinden.
Und so habe ich es auch fernerhin getrieben. Im Winter wurde die Schule besucht, und sobald die ersten Schneeglöckchen hervorlugten, verschwand der kleine Black für mindestens ein halbes Jahr.
Stets wusste ich die Spuren von Zigeunern zu finden, die ja in England reichlich herumschwärmen, meine Stammesgenossen hatten mich schon in die geheimen Zeichen eingeweiht, die sie überall hinterlassen, und was man mir noch vorenthalten, hatte mein intelligentes Köpfchen von selbst annotiert, so wusste ich diesen Spuren auch mit untrüglicher Sicherheit zu folgen, bis ich auf den Stamm stieß, dem ich mich für ein halbes Jahr anschloss, und zwar war es regelmäßig ein anderer. Innerhalb von mehr als zehn Jahren habe ich nur ein einziges Mal dieselbe Bande wieder getroffen. Aber immer wieder war ich willkommen, zumal ich mich sofort als der beste Fallensteller legitimierte. Besonders das Fangen von Igeln war meine Spezialität, oder vielmehr das Aufspüren. Wo auch die beste Zigeunernase keinen stacheligen Gesellen witterte, da brachte doch der kleine Black einen zum Vorschein.
Nun aber war ich auch gleich beim zweiten Male gewitzigt; denn das erste Mal, als ich durch den Schnee stapfte, das war eine böse Tour gewesen!
Fernerhin verließ ich die Bande immer schon, sobald die ersten Herbstblätter raschelten, dass ich zeitig genug wieder zu Hause eintraf.
Aber schon in meinen zweiten Sommerferien blieb ich nicht etwa in England. Ich traf mit Zigeunern zusammen, die über den Kanal gingen, und mit diesen habe ich in diesem Halbjahre Holland, Belgien und Frankreich durchwandert, und als der Herbst kam, schmuggelte ich mich in Bordeaux an Bord eines Dampfers, der nach London ging, und wiederum traf ich rechtzeitig zu Hause ein, um fleißig die Schule zu besuchen.
Und so habe ich es elf Jahre lang getrieben. Während dieser elf halben Jahre habe ich kreuz und quer ganz Europa durchzogen, nach Süden bis nach Gibraltar in Spanien und in Italien bis nach Brindisi, von Lissabon bis nach Moskau und Konstantinopel. Teils mit Zigeunerbanden, teils auch allein, aber immer als Vagabund, mich durch Wildern und — ich muss es gestehen — auch durch Diebstahl ernährend. Mehrmals hat man mich erwischt und eingesperrt, aber verurteilt bin ich nie worden, so lange hat man mich niemals halten können, ich wusste immer auszubrechen oder mich durchzuquetschen. Der englische Schüler und Student und spätere Lehrer ist auch niemals erkannt worden.
Hiermit habe ich gleich die spätere Zeit erledigt, so weit sind wir ja eigentlich noch nicht.
Mit meinem neunten Jahre kam ich auf das Gymnasium nach Warwick. Hier also wiederum dasselbe Mindestens vom April bis zum Oktober, manchmal aber auch bis zu Anfang Dezember nahm sich der kleine Black Ferien, als Sextaner sowohl wie auch noch als Primaner
Das Schuldirektorium nahm Rücksicht, fügte sich nach Rücksprache mit dem Vater in diese sonderbare Lebensweise des Schülers. Es ist ja viel versucht worden, mir meine Neigung zum Vagabundieren abzugewöhnen, aber alles war vergebens, die schönsten Spielsachen und die interessantesten Bücher konnten mich nicht fesseln, ja, man hat mich sogar, wenn der Wandertrieb kam, wirklich gefesselt, aber der kleine Black wusste sich immer seiner Fesseln zu entledigen, von einfachem Einsperren gar nicht erst zu sprechen.
Übrigens fügten sich Rektorat und Lehrer ganz gern; denn ich war der Stolz des Gymnasiums, ich wurde als Wunderkind angestaunt. Das muss ich sagen, da Sie, Mister Sharp, doch eine ganz offene Schilderung von mir haben wollen. Die mehr als sechsmonatigen Ferien bekamen meinem Gehirn immer ganz ausgezeichnet, und die Weltwanderungen erweiterten doch natürlich meine Begriffe. Außerdem muss ich erwähnen, dass ich während der kurzen Wintermonate auch tatsächlich immer ein äußerst fleißiger Schüler war. Und zu meinen Erfolgen diente auch ein besonderes Mittel, das ich dann noch später erwähnen will.
Kurz — während das Gymnasium zu Warwick sonst neun Jahre erfordert, absolvierte ich es in sechs Jahren. Dreimal habe ich eine Klasse übersprungen.
So hätte ich mit fünfzehn Jahren die Universität beziehen können. Aber keine englische Hochschule nahm einen Studenten unter sechzehn Jahren auf.
Vielleicht wäre bei mir eine Ausnahme gemacht worden, doch mein Vater hatte mit mir ein Experiment vor. Ob ich nicht vielleicht doch noch von meinem Wandertriebe, der doch schließlich für einen zivilisierten Menschen manche Nachteile hat, kuriert werden könnte.
Die Entlassung aus der Schule war, wie in England sehr häufig, im Herbst erfolgt, zu Michaelis. Ich war ja auf Wanderschaft gewesen, hatte mich aber rechtzeitig eingefunden, um an der Prüfung teilzunehmen, die ich auch als Bester bestand.
Jetzt ging mein Vater mit mir nach Ägypten, in der Hoffnung, dass das Frühlingsklima mit allen Frühlingserscheinungen in der Natur, das dort im Winter herrscht, meinen Charakter beeinflussen würde. Aber ich ließ mich durch nichts täuschen, für mich war jetzt Winter, Zeit der Arbeit, ich saß in Kairo Tag und Nacht über meinen Büchern, sie begleiteten mich auf jeder Reise und bei jedem Ausflug, und wenn ich sie mit Absicht zu Hause ließ, nun, man kann doch auch ohne Bücher im Kopfe arbeiten. Was ich hingegen, betone ich ausdrücklich, während meines Vagabundenlebens zur Sommerzeit, niemals tat! Da war alles gelehrte Arbeiten aus meinem Gehirn gestrichen, da war ich eben der Vagabund und Wilderer, nichts weiter — wovon ich später noch sprechen werde.
So verging der Winter. Als nun der Frühling nahte, reiste mein Vater mit mir nach Punta Arenas, in Patagonien an der MagalhãesStraße gelegen, die südlichste Stadt der Erde.
Jetzt begann dort also der Winter. Als wir im April dort ankamen, war schon alles in Schnee und Eis vergraben.
Die Idee war schlau ausgedacht, aber meine Natur ließ sich nicht betrügen. Die Gewohnheit war schon zu tief eingewurzelt. Die seltsame Empfindung, die mich packte, kann ich nicht schildern. Ich wollte recht gern dieser Gewohnheit mich entledigen, aber es ging nicht. Ein unwiderstehlicher Drang nach der Ferne packte mich. Ich musste wandern, wandern, wandern! Ich bedauerte meinen Vater und schämte mich meiner Schwäche sehr. Aber es ging nicht anders. Wegen dieser meiner Scham ging ich wiederum heimlich ohne Abschied davon.
Erst vagabundierte ich in Patagonien herum, hatte zu dieser Jahreszeit dort in diesen Gegenden Fürchterliches auszustehen, bis ich mich nach Punta Arenas zurück schlich und auf einen Dampfer schmuggelte, der nach New Orleans ging.
Hier war nun natürlich schon warmer Sommer. Ich kam bis nach Kentucky, dann schlug ich mich nach Osten, bis nach New York. Dabei benutzte ich allerdings oftmals die Eisenbahn, aber immer nur als blinder Passagier, manchmal in voller Fahrt herabspringen müssend, um nicht herabgeschossen zu werden, von den Puffern oder aus einem Güterwagen heraus.
Im November aber war ich richtig wieder in Santham und fand dort auch richtig schon meinen Vater vor, der mich ruhig erwartet hatte, oder auch nicht so ruhig. Geschrieben hatte ich natürlich niemals. Das gibt es doch bei einem Zigeuner nicht.
Jetzt hatte ich das nötige Alter, um die Universität Oxford beziehen zu können. Ich studierte Philologie. Als Hauptsache Nebenbei beschäftigte ich mich mit Mathematik
Zwei Jahre später — das heißt nach noch nicht ganz zwei Semestern, im Sommer gab ich immer wieder Gastrollen als Zigeuner auf dem Kontinent — schrieb ich eine Abhandlung über die Berechnung eines neuen hyperbolischen Kegelschnittes, welche mir achtzehnjährigem Burschen den Doktortitel einbrachte
Und wieder drei Jahre später, deren Wintersemester in emsigem Studium verbracht worden waren, schrieb ich eine vergleichende Etymologie der germanischen Sprachen, worauf mir die Universität Cambridge die Professur für Germanistik antrug.
Ich nahm sie an, hielt zwei Wintersemester Vorlesungen über Germanistik, nebenbei auch Vorträge über deutsche Literatur —«
Der Erzähler wurde unterbrochen.
Aufmerksam hatte Mister Sharp zugehört, war aber zuletzt immer unruhiger geworden, eine immer größere Spannung, vermischt mit ungläubigem Staunen, prägte sich in seinen Zügen aus, und jetzt hatte er sich halb aufgerichtet, bis er auf den Knien lag.
»Sie sind — doch nicht etwa — der Professor Doktor Swinton?!«
Ruhig blickte der Zigeuner von seiner Arbeit empor.
»Der bin ich. Jener Landarzt, der mich adoptierte, mein natürlicher Vater, hieß Doktor Edgar Swinton.«
»Da sind Sie der schwarze Windhund?!«
Dies aber hatte Mister Sharp auf Deutsch gerufen, und jetzt blitzten unter dem Schnurrbart lachend die Zähne.
»Ja, so nannten mich meine Hörer, wenn sie zur Übung unter sich deutsch sprachen, aus Black Swinton machten sie den schwarzen Windhund. Fett bin ich jetzt ja auch gerade nicht, damals aber war ich dürr wie ein Windhund. Das war der einzige Grund für diesen Nicknamen, und dann eben meine Schwärze und der Gleichklang, meinem Lebenswandel konnte man nichts vorwerfen, und von meinem sommerlichen Zigeunerleben hat niemand jemals eine Ahnung gehabt. Man glaubte eben, ich mache dann immer große Reisen.«
»O, ich habe so viel von Ihnen gehört, mein bester und auch mein einziger Freund, den ich gehabt, hat zu Ihren Füßen gesessen und konnte mir nicht genug von Ihnen vorschwärmen, und nicht genug das, ich selbst lernte Sie kennen, das heißt eines Ihrer Werke — haben Sie nicht ein Buch über die stoische Philosophie geschrieben, unter dem Titel: Ertrage und Entsage?«
»Das ist von mir.«
Immer mehr geriet der sonst so gelassene Amerikaner in größte Aufregung.
»Mann, Mann — Professor Swinton — Sie sind ja derjenige Mensch, der auf mich den allergrößten Einfluss gehabt hat — durch Sie bin ich das, was ich geworden bin — Ihnen verdanke ich mein Leben — Sie haben mich einmal vor Selbstmord gerettet — Sie ahnen nicht, wie ich Sie angebetet habe, noch jetzt verehre — ich bin ja nicht wert, dass ich Ihnen die Schuhriemen löse — und Sie machen mir hier meine Schnürsenkel —«
Mister Sharp brach ab, hatte sich wie mit einem Ruck wieder in der Gewalt, warf sich in das Gras zurück.
»Bitte, Herr Professor, fahren Sie fort. Dann sprechen wir weiter über unser gegenseitiges Verhältnis. Erst möchte ich erfahren, wie Sie hierher gekommen sind.«
Ruhig nahm der gelehrte Zigeuner seine weibliche Handarbeit wieder auf; oder auch nicht so weiblich zu nennen. Es ist nur aus der Mode gekommen, dass Männer solche Handarbeiten machen. Aber es ist ja bekannt genug, dass in früheren Zeiten besonders die Soldaten strickten und flickten, auf einigen Unteroffiziersschulen gehört das heute noch zum Unterricht, und an Bord der Schiffe wird auch heute noch von den Matrosen, und zwar gerade von den germanischen, viel gestrickt und gestickt und gehäkelt, und zwar sieht man unter den schwieligen Händen oftmals wunderbare Sachen entstehen.
»Der Schluss meiner Erzählung ist kurz genug!«, nahm der Zigeuner wieder das Wort. »Ich habe schon erwähnt, dass ich bereits als Knabe ein Hilfsmittel besaß, das mich in der Schule trotz meiner nur halben Arbeitszeit so schnell vorwärts brachte, obgleich ich ja natürlich überhaupt ein aufgeweckter Kopf war. Ich brauche das längste Gedicht und selbst ein gutes Stück Prosa, es mag noch so trockenen Inhalts sein, nur einmal durchzulesen, dann kann ich es für immer auswendig. Aber meine Erfolge hatte ich doch einem ganz anderen Hilfsmittel zu verdanken.
Wissen Sie, Sir, was der Schlaf ist? Weshalb der Mensch schlafen muss? Was sich während des Schlafes für physische oder gar psychische Vorgänge vollziehen?«
»Das weiß noch niemand«, entgegnete Sharp, »darüber sind die Gelehrten, die sich damit beschäftigen, noch vollkommen im Unklaren. Man weiß nur, dass sich während des Schlafes die verbrauchte Nervenkraft ergänzt. wobei das Gehirn fast blutleer wird, was aber doch an sich schon paradox ist, da dann doch eigentlich das Gehirn gerade mit Blut genährt werden sollte. Dann hat man bei entfernter Schädeldecke beobachtet, dass während des Schlafes besonders das kleine Gehirn sehr einfällt, während des Träumens aber wieder anschwillt. Das ist alles, was man von dem Prozess des Schlafens bisher weiß, sonst ist uns dieser Vorgang noch ein vollkommendes Rätsel.«
»So ist es. Haben Sie schon einmal von einem Menschen gehört, der niemals schläft, keines Schlafes bedarf, dabei bei normaler Gesundheit bleibend?«
»Nein.« —
Es sei außerhalb des Romans hiervon etwas erwähnt.
Es ist noch gar nicht so lange her, als in einer ärztlichen Zeitung über solch einen Fall berichtet wurde.
Eine junge Mutter, eine einfache Arbeiterfrau, wachte des Nachts an dem Bett ihres kranken Kindes, ihres ersten, schlief ein, und als sie erwachte, war das Kind verschwunden.
Es hatte gar nichts weiter auf sich, der Arzt war gekommen und hatte das Kind zur Untersuchung hinüber in das andere Zimmer genommen.
Es war von der Frau auch nur ein jäher Schreck gewesen, aber doch von solcher Wirkung, dass sie, von vielen Nachtwachen schon stark erschöpft, ein heftiges Nervenfieber bekam, in dem sie immer von ihrem vermeintlich geraubten Kinde phantasierte.
Sie genas wieder vollständig, konnte aber seitdem nicht mehr schlafen. Sie brauchte keinen Schlaf mehr, ohne dass dies ihrer Gesundheit irgend etwas schadete. Und so wird das wohl heute noch sein.
Als dieser Fall von Wissenschaftlern untersucht wurde, hatte die Frau bereits acht Jahre nicht mehr geschlafen, wie wenigstens ihre ganze Umgebung versicherte, hatte unterdessen noch zwei Kinder bekommen, gesunde Geschöpfe, aber Einfluss hatte ihre Mutterschaft nicht auf die Schlaflosigkeit gehabt.
Ehe der Bericht veröffentlicht wurde, war die Frau — in einem Dorfe bei Nancy — noch ein halbes Jahr unter ständiger Kontrolle beobachtet worden, und man musste die unschädliche Schlaflosigkeit als Tatsache anerkennen.
Nun entstand daraus eine wissenschaftliche Debatte, und es wurden noch vier weitere Fälle konstatiert von Menschen, die keines Schlafes bedürfen.
Sehr merkwürdig dabei ist, dass alle diese Personen, bei denen die Schlaflosigkeit eine Folge von einem Schreck oder einer Nervenkrankheit oder etwas ähnlichem war, sich dann immer einer geistigen oder künstlerischen Beschäftigung zuwandten, um die Nachtstunden, die sie früher geschlafen hatten, zu verbringen. Und zwar nicht nur durch einfaches Lesen, wenn es hiermit auch immer anfängt.
So fing jene Frau in Nancy, eine Arbeiterfrau mit sehr mangelhafter Bildung, zu lesen an, wozu sie früher gar kein Bedürfnis gehabt hatte, alle Bücher, deren sie habhaft werden konnte, und als diese erschöpft waren — eben in einem französischen Dorfe — fiel ihr ein, dass da noch ein Buch in einer fremden Sprache vorhanden war, das sie nicht lesen konnte. Sie ging zu dem Pfarrer und zeigte ihm die alte Schwarte. Es war Lateinisch, die Lebensbeschreibungen der römischen Kaiser von Cajus Suetonius. Sie hatte das Buch schon wiederholt durchgelesen, ohne irgend etwas zu verstehen, eben aus nächtlicher Langeweile. Nun wollte sie aber auch wirklich wissen, was da drin stände. Gut, der Pfarrer gab ihr einige Anleitung, das heißt nicht viel mehr, als wie sie im Wörterbuche nachzufragen habe, gab ihr auch eine lateinische Grammatik mit, eigentlich nur scherzeshalber — aber richtig, die Frau lernte innerhalb einiger Jahre vollständig die lateinische Sprache, begann sich immer mehr dafür zu interessieren.
In einem anderen Falle war es ein Gymnasialoberlehrer, der den Schlaf verlor. Man sollte doch nun meinen, dieser wissenschaftliche Mann habe sich in solchen nächtlichen Stunden gelehrten Studien hingegeben. Aber nein, davor graute ihm. Er fühlte sich tief unglücklich. Wie er nun eines Nachts so an seinem Schreibtisch saß, wohl arbeiten wollend, aber nicht könnend, kam er auf den wunderlichen Gedanken, die Figur auf einem Briefbeschwerer, einen Löwen, abzuzeichnen. Wunderlich nämlich insofern, als er absolut kein Talent zum Zeichnen besaß, an so etwas auch noch gar nicht gedacht hatte. Die ersten Versuche fielen denn auch ganz kläglich aus, aber er zeichnete und zeichnete weiter, diesen Löwen in den verschiedensten Stellungen, immer mehr Freude machte es ihm — er wurde ein ausgezeichneter Skizzierer.
Und ähnlich war es auch in den anderen drei Fällen. Die betreffenden Personen übten in ihren schlaflosen Stunden, die sie früher verschlafen hatten, immer eine geistige oder künstlerische Beschäftigung aus, an die sie früher gar nicht gedacht hatten.
Und nun etwas Persönliches.
Der Schreiber dieses hat selbst einmal einen Menschen kennen gelernt, der des Schlafes nicht bedurfte, hat ihn vier Monate lang beobachten können. Es war ein älterer Neger, ein Schiffsheizer. Er war vor ungefähr zwanzig Jahren, wie er erzählte, auch schon als Heizer, bei der Arbeit einmal vor Übermüdung eingeschlafen, war in die glühenden Schlacken gefallen und hatte sich fürchterlich verbrannt. Er war wieder hergestellt worden, er konnte aber seitdem nicht mehr schlafen. Wohl überwältigte ihn manchmal die Müdigkeit, er schlief ein, aber immer nur wenige Sekunden, nicht einmal für eine Minute, und dabei begann er auf schreckliche Weise zu wimmern, alle seine Glieder zuckten, bis er plötzlich jäh empor fuhr, und die Müdigkeit war vorüber.
Von geistiger Tätigkeit oder künstlerischer Neigung war bei diesem Neger allerdings nichts zu merken. Er war sehr habgierig, ging während seiner Freizeit für andere Heizer, die krank oder faul waren, an die Kesselfeuer und ließ sich dafür bezahlen. —
Der Zigeunerprofessor konnte wenigstens zwei Beispiele von solchen des Schlafes nicht bedürftigen Menschen anführen.
»Ich habe mich darum gekümmert, weil ich selbst das dritte Beispiel bin.«
»Sie brauchen nicht zu schlafen?«
»Nein.«
»Niemals?«
»Nie.«
»Eine Folge von Krankheit?«
»Nein. Ich gebrauche dazu ein Mittel.«
»Was für ein Mittel?«
»Es war auf meiner dritten Sommerwanderung, die mich bis nach Bosnien geführt hatte. Ich hatte mich wieder einer Zigeunerbande angeschlossen, und ausnahmsweise vertraute ich mich einmal dem Hauptmanne an, offenbarte ihm, wer und was ich sonst sei.
Wie es sonst nach und nach kam, will ich nicht weiter schildern.
Kurz, der Alte fragte mich, ob ich ein Mittel haben wolle, durch das ich unter meinen Mitschülern immer der erste sein könnte.
Jawohl, das wollte ich. Obgleich, muss ich bemerken, dazu solch ein besonderes Mittel gar nicht nötig war.
Der Hauptmann strich einige Tage im Walde herum, sammelte Kräuter und Wurzeln und Baumrinde, verblieb dann einige Tage in seinem Zelte, niemand durfte ihn beobachten, und dann brachte er mir eine Bierflasche voll einer wasserklaren Flüssigkeit.
Sobald ich mich müde fühlte, schlafen wollte, brauchte ich nur einen Tropfen dieser Flüssigkeit in Wasser zu nehmen dann wäre die Müdigkeit augenblicklich verschwunden, und das für 24 Stunden lang; dann musste ich einen neuen Tropfen nehmen. Das Mittel sei absolut unschädlich. Aber nur bei einem einzigen Tropfen. Wehe, wenn ich einmal zwei Tropfen gleichzeitig zu mir nähme! Die heftigsten Vergiftungserscheinungen würden sich einstellen, und bei drei Tropfen würde ich sofort einschlafen, um nicht mehr zu erwachen.
Fielen einmal versehentlich zwei Tropfen in das Glas mit Wasser, so müsse ich dieses eben in zwei Portionen teilen, diese auch noch durch mehr Wasser verlängern, immer hier mindestens solch einen Becher voll. Und außerdem müsse ich die Sachte als mein Geheimnis wahren; sobald ich davon zu einem anderen spräche, verlöre das Elixier für immer seine Kraft.
Ein Versuch gelang sofort, ich überwand sogleich jede aufsteigende Müdigkeit, und ich nahm die Flasche mit nach England.
Sie enthielt genug für viele Jahre, ich hatte noch nach zehn Jahren genug davon, um Experimente damit anzustellen. Jeden Tag war ja nur ein einziger Tropfen nötig und ich nahm nur im Winter davon.
Ja, im Winter habe ich davon starken Gebrauch gemacht, während meiner Studienzeit. Selten einmal, dass ich mich dem Schlafe hingab, was dann in ganz regelmäßiger Weise geschah.
Die Flasche hielt ich sorgfältig versteckt, niemals hat jemand etwas von meinem Geheimnisse auch nur geahnt.
Der Erfolg war also der geschilderte. Ich brauchte keinen Schlaf mehr.
Nur konnte ich während dieser schlaflosen Stunden nicht am Studiertisch sitzen, zumal nicht in Warwick, als ich das Gymnasium besuchte, wo ich mit vielen anderen Schülern in Pension war, mit einem gemeinschaftlichen Schlafzimmer.
Nun, da lag ich eben wachend im Bett. Man kann doch auch ohne Bücher und Feder studieren.
Merkwürdig nur, dass es mir nie gelang, meinen Geist auf das zu konzentrieren, was ich am Tage trieb, was mich sonst als Hauptsache beschäftigte. Immer musste ich über etwas anderes grübeln.
Nun, so tat ich das denn auch. So kam es, dass ich, während ich an der Universität Sprachwissenschaften studierte, mich des Nachts mit mathematischen Problemen beschäftigte, und daher auch die eigentümliche Reihenfolge meiner erschienenen Werke.
Als ich dann heranreifte und die Universität besuchte, kam ich endlich von dem Glauben ab, dass es, wie der alte Zigeunerhauptmann versichert hatte, so ganz und gar unmöglich sei, das Geheimnis des Elixiers zu ergründen und dass es sofort seine Kraft verlöre, wenn man es einem anderen mitteile oder auch nur versuche, das Geheimnis ergründen zu wollen.
Ich begann mich mit Chemie zu beschäftigen, weihte auch meinen Vater ein, der tüchtige chemische Kenntnisse besaß.
Jahrelang haben wir zusammen laboriert, ohne das Geheimnis zu enträtseln, obgleich das Elixier natürlich dennoch seine Wirksamkeit behielt und obgleich wir durch Analysen ihm doch immer mehr zu Leibe rückten.
Es war gewöhnliches Wasser, das etwas nach bitteren Mandeln roch und schmeckte, und außerdem konstatierten wir etwas Phosphor darin.
Aber lange, lange hat es gedauert, ehe wir die fremde Substanz als Phosphor erkannten.
Sie wissen, dass es zweierlei Arten von Phosphor gibt, den gewöhnlichen roten und den schwarzen, den amorphen. Beide Arten sind ein und derselbe Phosphor, nur in einem anderen Aggregatzustand, der eine lässt sich in den anderen überführen.
Endlich also erkannten wir, dass es ebenfalls Phosphor war, der sich in einem dritten Aggregatzustande befinden musste, löslich in Wasser.
Es gelang uns, ihn in roten und schwarzen zu verwandeln, nicht aber wieder zurück in diese besondere Art. Das Bittermandelöl schien nur dazu vorhanden zu sein, um den eigenartigen Phosphorgeschmack zu verdecken.
Über diese Experimente starb mein Vater, aber nicht etwa als Opfer derselben.
Ich hatte meine Vorlesungen aufgegeben, um mich ganz dieser Sache zu widmen. Doch immer wieder nur im Winter. Im Sommer zog ich wieder auf dem Kontinent herum, jetzt allerdings mit einem bestimmten Zwecke. Ich suchte jene Zigeunerbande. Ich fand sie denn auch, aber der alte Hauptmann war gestorben, niemand wusste von seinem Geheimnisse.
Da endlich, in einer Winternacht, hatte ich im Laboratorium das Rätsel gelöst.
Ich konnte den roten Phosphor, der aus der rätselhaften Substanz durch besondere Behandlung entstanden war, auch wieder in diese zurückverwandeln, die sich auch wieder in Wasser löste.
Nun nahm ich gewöhnlichen, käuflichen Phosphor, verwandelte ihn in den dritten Aggregatzustand, er löste sich in Wasser, als ich schläfrig wurde, nahm ich einen Tropfen — verschwunden war alle Müdigkeit!
Ich machte dasselbe bei anderen Personen, ohne ihr Wissen, gab ihnen einen Tropfen in irgend einem Getränk ein — sie klagten im Laufe des folgenden Tages über Schlaflosigkeit, mussten aber gestehen, dass sie sich sonst ganz wohl fühlten, und in der folgenden Nacht konnten sie auch wieder ganz gut schlafen.
Heureka! Ich konnte die Menschheit von der Schwäche des Schlafes befreien, konnte ihr eine zweite Lebenszeit schenken!«
Der Erzähler machte eine kleine Pause
»Ja, ich wollte mit meiner Erfindung die Menschheit beglücken!«, fuhr er dann fort. »Aber es sollte anders kommen.
Wie ich mich eines Abends hinsetzte, um meine Entdeckung schriftlich zu bearbeiten, um sie aller Welt preiszugeben, erhielt ich einen geheimnisvollen Besuch.
Über diesen darf ich nicht sprechen, nur das Resultat unserer langen Unterhaltung verkünden.
Ich habe meine Entdeckung nicht veröffentlicht.
Und dann verschwand Professor Black Swinton aus der Welt — ich bin als Mitglied der unsichtbaren Loge hierher gekommen.
Das war die Belohnung dafür, dass ich mein Geheimnis bewahrte — und diese Belohnung war groß genug, ich bin glücklich.«
Wieder schwieg der Sprecher, als habe er nun nichts weiter hinzuzufügen.
»Und warum sollten Sie Ihre Entdeckung nicht preisgeben?«, fragte Mister Sharp.
»Wissen Sie, wie sich Immanuel Kant einmal an einer Stelle über den Schlaf äußert?«
»Ich kenne Kant, weiß aber nicht gleich, was Sie meinen.«
»Ohne Schlaf wäre das Leben unerträglich.«
»Hm, man braucht gerade kein Kant zu sein, um diesen Ausspruch zu tun!«, entgegnete der junge Mann, der jeden Tag zehn Stunden lang wie ein Murmeltier schlief. »Aber es handelt sich dabei doch nicht um absolute Schlaflosigkeit. Wer schlafen will, der braucht doch den täglichen Tropfen nicht zu nehmen.«
»Wissen Sie, was trotzdem die Folge wäre, wenn die Menschheit solch ein Mittel besäße, dass niemand mehr, der nicht will, zu schlafen braucht, dafür arbeiten kann?«
»Hm«, brummte Sharp wiederum, »so ungefähr kann ich es mir vorstellen. Der Kampf um die Konkurrenz, um die Lebensexistenz, der jetzt schon verzweifelt genug ist, würde ins Ungemessene wachsen.«
»Sie sagen es. Sie haben es schneller erfasst als ich damals. Der geheimnisvolle Besuch musste lange zu mir sprechen, ehe ich es begriff.«
»Also da haben Sie verzichtet, Ihre Entdeckung zu veröffentlichen?«
»Ja.«
»Und sind mit hierher genommen worden?« — »Ja.«
»Wie lange sind Sie schon hier?«
»Seit fünf Jahren.«
»Gar nicht von hier fortgekommen?«
»Niemals.«
»Kann ich nun erfahren, wo ich mich hier befinde?«
»In dem Innern einer Felseninsel, im Atlantik gelegen.«
»Das weiß ich. Ich meine, was das für eine geheime Gesellschaft ist, die sich hier angesiedelt hat, die Sie ja selbst schon die unsichtbare Loge nannten «
»Das werden Sie später erfahren, aber nicht von mir.«
»Gut, ich kann warten. Und was machen Sie nun hier? Kann ich es erfahren?«
»Ich lebe wissenschaftlichen Studien, dem Sport, der Jagd und der Faulenzerei.«
Präziser hätte der Zigeuner seine Lebensweise nicht schildern können.
»Also ganz Ihren Neigungen?« — »Ja.«
»Sie wissen doch, dass ich einen Führer und Diener verlangte?«
»Ich weiß es.«
»Haben Sie sich mir freiwillig zur Verfügung gestellt?« — »Nein.«
»Sondern?«
»Ich bin dazu befohlen worden.«
»Das ist es, was ich wissen wollte! Dann sind Sie aber doch nicht Ihr freier Herr?«
»Ich bin es dennoch.«
»Inwiefern?«
»Man muss hier unter Umständen eine Arbeit verrichten oder sonst einen Dienst leisten; denn alles umsonst ist auch hier nicht zu haben. Ich möchte jetzt die Lösung eines physikalischen Problems erfahren. Es aus eigener Kraft zu lösen, das ist mir bisher nicht gelungen. So melde ich mich zu irgend einer Dienstleistung. Da wurde von mir gefordert, dass ich mich Ihnen als Führer und Diener acht Tage lang zur Verfügung stelle. Leiste ich diese Aufgabe zu Ihrer Zufriedenheit, schicken Sie mich nicht als unbrauchbar fort, so wird mir nach jenen acht Tagen das Geheimnis offenbart. Ich habe ja aber nicht nötig, mich auf so etwas einzulassen. Bin ich also nicht dennoch mein ganz freier Herr?«
»Ja, wenn es so ist, das ist allerdings etwas ganz anderes. Sonst wird Ihnen nichts vorenthalten? Was zu den menschlichen Bedürfnissen gehört? Dass Sie darum erst arbeiten müssen?«
»Absolut nicht.«
»Dann ließe sich das hören. Und dasselbe würde auch für mich gelten, wenn ich hier bleibe?«
»Ganz genau dasselbe. Man kann sogar jederzeit wieder gehen.«
»Auch wenn die Gefahr vorhanden ist, dass der Betreffende die Geheimnisse hier verraten könnte?«
»Solche Personen, bei denen so etwas möglich wäre, werden gar nicht erst hier eingeführt. Sie werden zuvor jahrelang auf ihre Verschwiegenheit geprüft oder doch daraufhin beobachtet.«
»So ist es wohl auch mit mir geschehen?«
»Ja.«
»Nun, Herr Professor, als Führer will ich Sie gern annehmen, aber dass Sie meinen Diener spielen, davon kann doch keine Rede sein.«
»Weshalb nicht?«
»Unnötige Frage. Wenn ich Sie bediene, das ist etwas anderes.«
»Ich würde Sie als Diener wohl nicht gebrauchen können!«, lächelte der Zigeuner.
»Weshalb nicht?«
»Ich glaube kaum, dass ich mit Ihnen zufrieden sein würde. Oder wir wollen doch einen Pakt schließen. Wenn Sie die Arbeiten, die hier nötig sind, besser verrichten als ich, wenn Sie die Speisen besser kochen können als ich, so sollen Sie diese Arbeiten tun.«
»Wohl, das können wir machen. Ich verstehe Sie überhaupt vollkommen. Wir sind Kameraden, von denen jeder tut, was er am besten kann. Wollen wir nun unsere Entdeckungsreise antreten?«
»Ich bin bereit!«, sagte Black Swinton, seine Häkelei schnell in dem Beutelchen am Gürtel verschwinden lassend und die Pfeife ausklopfend.
Sie erhoben sich und gingen zu den Kanus. »Wollen wir jeder eins oder beide eins zusammen benutzen?«, fragte der Zigeuner.
»Wie Sie bestimmen.«
»Nein, über so etwas haben Sie zu bestimmen.«
»Wie Sie es für das Beste halten.«
»Dann schlage ich vor, dass jeder sein eigenes Boot hat. Es gewährt doch mehr Freiheit in den Bewegungen.«
Jeder stieg in das seine, Black in dasjenige, in dem er gekommen war. Jedes Boot enthielt zwei Ruder, die man auch zum Doppelruder zusammenstecken konnte, sodass ein sogenanntes Paddel entstand.
»Können Sie mit einem einzigen Ruder das Boot dirigieren?«
»Warum soll ich das nicht können?«, fragte Sharp zurück.
Es zeigte sich aber sofort, dass er es nicht konnte.
Das will gelernt sein, mit einer einzigen Schaufel, die man nur auf der einen Seite handhabt, das Boot immer geradeaus fahren zu lassen. Das Wasser muss dabei hinters Boot gedrückt werden, wozu ein Kniff gehört, der eben gelernt sein will, so wie etwa auch das sogenannte Wricken. So benutzte Sharp vorläufig das Paddelruder, abwechselnd hüben und drüben eintauchend, der Zigeuner fuhr voraus.
»Ist denn hier in dieser Wasseretage noch so viel zu sehen, dass man wirklich von einer Entdeckungsreise sprechen kann, wie ich vorhin aus Scherz tat?«, meinte Sharp.
»Sie werden es gleich selbst beurteilen können.«
Das Ziel war eine Felswand, von der sie sich schätzungsweise etwa 30 Meter entfernt befunden hatten, und diese Insel mochte gerade in der Mitte dieser »Wasseretage« gelegen haben.
Diese Felswand machte allerdings einen schrägen Eindruck, als wäre es mehr ein steiler Abhang, zum Teil mit Wald bestanden.
Aber beim Näherkommen erkannte man bald, dass es doch eine glatte Wand war, auf welche diese Landschaft eben nur wieder als Panorama gemalt war, wie es ja schließlich auch nicht anders sein konnte.
Unten jedoch waren wiederum einige plastische Felsengebilde, die der Künstler mit der Malerei zu verschmelzen gewusst hatte.
Einer dieser wirklichen Felsen zeigte eine Höhle, in die noch das Wasser drang, und in diese steuerte der Zigeuner sein Kanu hinein.
Das hätte ja nichts auf sich gehabt, wenn es eben nur eine Höhle gewesen wäre, die ja auch in die natürliche Felswand, welche diese Etage begrenzte, künstlich eingelassen worden war.
Aber Mister Sharp sah in dieser Höhlung das Wasser als einen Streifen weiter gehen, soweit das Auge reichte, und da er zuerst etwas gezögert hatte, war der Zigeuner schon wenigstens 20 Meter weitergefahren auf diesem Wasserstreifen.
Jetzt fuhr ihm Mister Sharp schnell nach, und da erlebte er ja sein blaues Wunder!
Es war gar keine Höhle, in die er drang, auch kein geschlossener Tunnel, der bald endete, sondern die Höhlung bildete nur ein Tor, durch das man in eine enge Schlucht kam, deren Boden mit Wasser ausgefüllt war, von steilen, scheinbar himmelhohen Felswänden eingeschlossen, an denen hier und da aber doch einige Vegetation gedieh, und oben zeigte sich ein Streifen blauen Himmels.
Jetzt ruderte Sharp schnell dem führenden Kanu nach, aber ehe er es eingeholt, hatte er in dieser schnurgeraden Schlucht mindestens 50 Meter zurückgelegt.
»Nun bleibt mir aber der Verstand stehen!«, rief er.
Wir setzen voraus, dass der Leser sofort weiß, worüber er sich so ungeheuerlich wundern musste, wenn er noch ein denkender Mensch war, kein stumpfsinniges Tier.
Und es sollte gleich noch ganz anders kommen.
Der Zigeuner sagte noch nichts, sondern er tat noch einige Ruderschläge und fuhr in das Loch der Felswand hinein, die hier wieder die Schlucht abschloss.
Sharp folgte ihm, und einige Sekunden später musste sein Staunen also ein noch viel größeres sein.
Wieder war es nur ein Tor in der Felswand gewesen, durch das er gedrungen, und jetzt lag vor ihm abermals ein See, aber nun was für einer, eine wirklich schier unübersehbare Wasserfläche, von keiner Insel durchsetzt.
Wohl war auch dieser See von Felswänden eingeschlossen, die aber lagen, so wie man jetzt den Blick hatte, in weiter, weiter Ferne, und wenn diese auch als Panorama gemalt sein konnten, so musste doch wenigstens das Wasser echt sein, dessen Spiegel sich so weit erstreckte.
»Professor Swinton, geben Sie mir eine Erklärung!«, rief Sharp ganz außer sich.
Jetzt stoppte der Vorausfahrende sein Boot, ließ den anderen neben sich kommen und hielt dessen Kanu fest.
»Was für eine Erklärung?«, lächelte er.
»Ich verliere den Verstand!«
»Worüber denn nur?«
»Wir sind doch nicht etwa im Kreise gefahren?«
»Nein, immer geradeaus.«
»Wir haben von jener Insel aus doch schon mindestens hundert Meter zurückgelegt?«
»Ja, die haben wir.«
»Und der Felsen, das Riffhaus, hat doch nur eine Seitenlänge von achtzig Metern, wovon aber doch auch noch die jedenfalls sehr dicken Wände abgerechnet werden müssen!«
Der Zigeuner zeigte nicht mehr lachend oder doch lächelnd seine blitzenden Zähne.
»Ihr Staunen ist begreiflich. So will ich Ihnen jetzt eine Erklärung geben, wozu ich berechtigt bin, sogar damit beauftragt wurde, Sie befinden sich gar nicht mehr in dem Felsen.«
»Ja wo befinde ich mich denn sonst?!«
»Sie haben sich immer getäuscht und sind auch mit Absicht getäuscht worden.«
»Getäuscht womit, worüber?«
»Sie sind, wenn Sie einen Fahrstuhl benutzten, in den wenigen Sekunden immer viel, viel tiefer gefahren als Sie ahnten. Und auch als Sie an der Leiter durch den senkrechten Tunnel von dem Felsen der Prärie aus in die Höhle hinabkletterten, von der aus Sie dann in das Sumpfgebiet traten, sind Sie ohne Ihr Wissen noch viel, viel tiefer befördert worden, dieser senkrechte Schacht mit der Leiter befand sich gleichfalls in einem Fahrstuhl, also während sie eine Minute hinabkletterten, sind Sie gleichzeitig auch hinabgesaust, und zwar mit einer enormen Geschwindigkeit. Sie befinden sich jetzt unter dem Meeresboden, über uns, über dieser Decke, die sich über uns wölbt, spült das Wasser des Atlantischen Ozeans.«
Mister Sharp blickte zu dem blauen Himmel empor, und wenn es auch nur eine buntgemalte Decke sein konnte, so war deren Höhe. doch nicht zu taxieren, und etwas wie ein leises Schaudern überlief seinen Körper; eben weil er ein gebildeter Mann war, der sofort verstand und zu würdigen wusste, was er da zu hören bekommen hatte.
»Unter dem Meeresboden! Wie tief denn?«
»Es ist nicht gar so schlimm. Die Wassertiefe rings um das Riffhaus herum beträgt nur 400 Meter, der Boden fällt nur wenig ab, die Stärke dieser Decke beträgt im Durchmesser rund 200 Meter. Über uns ist sie hier etwa 50 Meter hoch. Also befinden wir uns 250 Meter unter dem Meeresboden oder 650 Meter unter dem Spiegel des Atlantischen Ozeans.«
»650 Meter unter dem Meere, das reicht ja gerade!« flüsterte der junge Amerikaner.
Da hatte er eigentlich nicht recht. Das hier war doch offenbar Natur, und da haben die gierigen Menschenhände schon etwas anderes geschaffen.
Nahe an der Westküste von England, bei Rambsy, ist ein großes Kohlebergwerk. Als man 800 Meter tief in die Erde eingedrungen war, fand man, dass sich ein außerordentlich reiches Flöz von bester Anthrazitkohle weiter nach Westen fortsetzte.
Man schaufelte die Kohle heraus und schaufelte weiter, immer nach Westen, bis man glücklich unter dem Meeresboden war!
Und so ist es dort noch jetzt. Die Kohle wird dort unter dem Meeresboden hervorgeholt. Die Länge dieses Schachtes, auf dem das Meer lastet, beträgt bereits einen halben Kilometer. Und dabei ist die Decke, die dieses Meer von 650 Meter trägt, kaum 40 Meter dick!
Wenn da einmal etwas einpurzelt, das wird ja eine mörderische Katastrophe.
Aber großartig ist es doch! Man weiß nur nicht, ob man da mehr diese tollkühne Energie der Menschen oder ihre vor nichts zurückschreckende Habsucht bewundern soll. Nur wegen dieses schwarzen Steines sich bis unter den Meeresboden einzubohren!
Mister Sharp hatte sich wieder gefasst.
»Und dies ist nun eine große Höhle?«
»Ja.«
»Wie groß ist sie?«
»Das weiß niemand.«
»Weshalb denn nicht? Ist sie denn noch nicht erforscht worden?«
»Noch nicht. Weshalb nicht? Wissen Sie, Mister Sharp, was die größte Höhle oben auf dem Lande über dem Meere ist?«
»Die Mammuthöhle bei Louisville im Staate Kentucky. Ich habe sie besucht.«
»Ich auch. Damals auf meiner amerikanischen Gastrolle. Wie tief sind Sie eingedrungen?«
»Vielleicht drei Kilometer tief. Das lässt sich schwer bestimmen.«
»Weshalb lässt sich denn das schwer bestimmen?«
»Weil die Gänge immer im Zickzack gehen. Es ist doch überhaupt ein unentwirrbares Labyrinth von solchen Gängen.«
»Man kann doch die Winkel immer messen.«
»Das ist nicht so einfach.«
»Nach dem Kompass.«
»Der Kompass wird ja durch Eisenerzadern immer abgelenkt.«
»Ach so! Wie tief mag denn die ganze Höhle sein?«
»Von der Tiefe weiß man überhaupt noch gar nichts. Man hat bisher an Gängen 48 Kilometer durchwandert, von diesen aber noch nicht ganz 15 Kilometer richtig erforscht und vermessen.«
»Weshalb erforscht man aber denn nun nicht die ganze Höhle? Was hindert denn nur daran?«
Ja, das war nun so eine Frage!
Schon die vorigen Fragen und ihre Antworten haben wenigstens angedeutet, was es heißt, diese ganze Höhle erforschen zu wollen.
Den eigentlichen Grund aber kann man nicht so ohne Weiteres erklären.
Man soll nur selber hingehen und sich das Ding ansehen, dann wird man es wissen, weshalb das nicht so einfach geht.
Da fährt man zum Beispiel über das Tote Meer — so heißt ein See innerhalb dieser Höhle, und solcher Seen gibt es zahllose — und auf dem fließenden Styx weiter bis in den Echosaal, ungefähr hundert Meter im Durchmesser und achtundvierzig Meter hoch.
Diesen Echosaal, noch nicht so groß wie der Lethe- und der Mammutsaal, kennt man ja schon vollständig.
Nun löst sich aber an der Wand einmal ein Felsblock ab, er hat ein Loch verborgen, und durch dieses rutscht man einen Kilometer weit auf dem Bauche und kommt in eine ganz neue Höhlenregion!
Da wird man also überhaupt wohl niemals fertig werden!
Und das setzt sich nun auch noch in die Tiefe hinab fort! Das scheint überhaupt gar kein Ende zu haben.
Und nun noch dazu oft tödliche Überraschungen durch Kohlensäureströmungen!
Da weiß man also, weshalb man bisher die Mammuthöhle noch nicht erforscht hat.
Man braucht übrigens nicht nach dieser Mammuthöhle nach Amerika zu gehen, um etwas zu sehen, was sich durchaus nicht ergründen lassen will.
Wir können dazu ruhig in Europa über der Erde bleiben.
Was wissen wir denn, wie es im Innern Islands aussieht?
Gar nichts wissen wir davon!
Zwischen diesen ungeheuren Gletschern liegen vielleicht die herrlichsten Alpentäler, vielleicht bewohnt von Menschen, die wieder nicht ahnen, dass es außer ihnen noch andere Menschen gibt. Das Klima Islands ließe solche Täler schon zu, die Menschen ernähren können, das wäre nichts anderes als in den Hochalpen der Schweiz.
Hier steht der modernen Luftschifffahrt eine Zukunft der Forschung offen. Vorläufig aber wissen wir vom Innern Islands absolut noch gar nichts! —
»So ist es auch mit dieser unterseeischen Höhle hier!«, begann jetzt Black zu erklären.
»Die unsichtbare Loge hat sich hier schon vor achtzig Jahren niedergelassen und sich häuslich eingerichtet.
Es hat immer Mitglieder gegeben, die es sich zur Aufgabe machten, diese Höhle erforschen zu wollen, die ständig herumgekrochen sind.
Aber so weit und so tief sie auch gedrungen sind, unter Besiegung der größten Hindernisse und der fürchterlichsten Gefahren, innerhalb dieser achtzig Jahre ist ein Ende dieser Höhle noch nach keiner Seite hin erreicht worden; außer nach oben.
Mehr kann ich Ihnen über die Ausdehnung dieser Höhle nicht sagen.«
Mit unverhülltem Staunen hatte es der junge Amerikaner, der sich immer mehr zu verwandeln begann, vernommen.
»Kann nicht einmal die ungeheure Wasserlast die Decke eindrücken?«, fragte er dann.
»Wie sich erkennen lässt, besteht diese Höhle schon seit Erschaffung der Erde, das heißt, seitdem die ebenfalls flüssige Hülle zu einer festen Schale erstarrte. Vulkanische Gasblasen mögen diese Bildungen geschaffen haben, und dann vielleicht hat auch Wasser nachgewaschen.
Aber süßes Wasser, Grundwasser noch unter dem Meeresboden.
Nein, noch nirgends ist eine lockere Stelle an der Decke entdeckt worden.
Diese wird auch überall von Felsen genügend abgestützt.«
»Und woher kommt es«, fragte Mister Sharp, »dass hier nicht eine außerordentliche Hitze herrscht, die in solcher Tiefe doch schon existieren muss?«
»Das kommt an sich schon daher, weil auf der Decke doch das Meer lastet, das in solcher Tiefe doch schon diejenige Temperatur hat, bei der das Wasser am schwersten ist — das sind 4 Grad Celsius. Und das gilt auch für die tropischen Breiten. Diese Temperatur des Wassers kühlt auch die Decke stark ab, so dick diese auch sein mag. Außerdem nun können wir doch auch künstlich eine niedrige Temperatur erzeugen, wie ja auch das Licht, das hier überall herrscht, ein künstliches ist.«
»Ja, wenn diese Höhle immer tiefer geht, so muss aus solcher Tiefe doch auch warme, heiße Luft dringen, die nach dem bekannten physikalischen Gesetze nach oben steigt.«
»Sie haben recht. So muss ich Ihnen gleich jetzt offenbaren, dass wir das Problem gelöst haben, wonach wir dieses physikalische Naturgesetz ins Gegenteil verkehren. Ich wollte es Ihnen dann in einer besonderen Höhle zeigen, hätte es auch ohne Ihre jetzige Frage getan. Also, bitte, lassen Sie sich diese Andeutung vorläufig genügen, dass wir verhindern können, dass die warme Luft nach oben steigt, ich gebe Ihnen dann davon ein ganz markantes Beispiel. Jetzt wollen wir erst einmal bei diesem See bleiben. Wie gefällt er Ihnen?«
Sie fuhren langsam in den See hinein, sich zum Gespräch nebeneinander haltend.
»Zu welchem besonderen Zweck dient er?«
»Hm, Sie meinen gleich, dass alles hier unten für uns einen besonderen Zweck hat. Und da haben Sie nämlich auch ganz recht. Das ist hier unser Segelwasser, speziell für freies Segeln eingerichtet. Segeln Sie gern?«
»O ja, eigentlich — und doch habe ich es nie mehr gemacht.«
»Weshalb nicht?«
»Es ist für mich ein böses Aber dabei. Wenn man segeln will, muss man Wind haben, und bläst nur etwas Wind, dann ist das Meer auch immer unruhig. Und da wird man gerade im niedrigen Segelboot, das durch das Wasser brechen muss, tüchtig geschaukelt und nass gespritzt. An Bord der Jacht mache ich mir aus dieser Schaukelei und Nassspritzerei nichts, da geht das eben nicht anders, aber im Segelboot, wenn ich träumen möchte, diese Schaukelei und Spritzerei — das passt mir eben nicht. Deshalb segele ich lieber gar nicht.«
Black Swinton hatte den Kopf gewandt, überrascht blickte er den Sprecher an.
»Merkwürdig! Merkwürdig!«
»Was finden Sie dabei so merkwürdig?«
»Ich habe von dieser Ihrer Abneigung noch nichts gewusst, und nun passt das gerade so!«
»Was passt gerade so?«
»Fühlen Sie einmal in das Wasser.«
Mister Sharp tauchte seine Hand hinein und plätscherte.
»Merken Sie etwas Besonderes?«
»Besonderes gar nichts. Es ist Wasser von vielleicht 20 Grad Celsius oder noch wärmer.«
»Nein, bemerken können Sie auch nichts. Und doch besitzt dieses Wasser, welches Sie ruhig trinken können, eine ganz besondere Eigenschaft.«
»Was für eine?«
»Die des Öls gegen Wind. Nur noch in viel, viel ausgeprägterem Maße. Hier kann der Sturm blasen, wie er will, dieses Wasser kommt in absolut keine Bewegung. Nur auf ganz große Strecken kann man eine leichte Erhöhung und Vertiefung wahrnehmen, sonst aber nicht die geringste Kräuselung.«
»Ah, das ist ja vortrefflich; dann möchte ich hier segeln!«
»Das können Sie jederzeit.«
»Wie groß ist das Wasser?«
»Ungefähr 700 Meter breit und 1500 Meter lang.
»Donnerwetter!«
»Ja, das ist ungefähr die Ausdehnung der Austeralster in Hamburg, auf der man doch recht gut segeln kann.«
»Und wie stark kann man den Wind hier blasen lassen?«
»In jeder gewünschten Stärke und Abschwächung. Um über die verschiedenen Abstufungen sprechen zu können, hat man da ja Regeln aufgestellt. Eine absolute Windstille gibt es in der Atmosphäre überhaupt nicht, sie besteht nur scheinbar. Bei einer Geschwindigkeit der Luft bis zu sechs Meter in der Sekunde spricht man nur von einem schwachen Lüftchen. Von da ab fängt der leichte Wind an. Bei fünfzehn Meter in der Sekunde ist starker Wind, fünfundzwanzig Meter bedeuten Sturm. Der Orkan macht vierzig Meter in der Sekunde. Größere Geschwindigkeiten als fünfundvierzig Meter sind überhaupt noch nicht gemessen worden.
Alle diese Abstufungen können wir auch hier erzeugen und sogar noch fünfzig Meter in der Sekunde erzielen.«
»Donnerwetter! Und wie erzeugen Sie nun diesen Sturm?«
»In den Felswänden sind Öffnungen, welche die Luft absaugen. Natürlich
1 Gemeint ist offenbar die Außenalster, der nördliche Teil des Alstersees. muss sie auf der anderen Seite oder anderswoher doch wieder nachströmen.«
»Dazu ist aber doch eine ganz kolossale Maschinerie nötig!«
»Das ist allerdings. Aber sie arbeitet kostenlos.«
»Und nun kann der Wind aus beliebiger Richtung dirigiert werden?«
»Selbstverständlich.«
»Großartig, großartig! Wenn man da aber nicht aufpasst, kann man da auch stranden oder gleich an Felswänden zerschmettern, bei solchem Sturme.«
»Das ist nicht unbedingt notwendig.«
»Wie kann das vermieden werden? Indem der Sturm plötzlich aufhört?«
»Nein, gar so schnell geht das freilich nicht, wenn auch noch schnell genug, sondern indem man alle Ufer mit Fangnetzen umgibt.«
»Die sämtlichen Ufer bei dieser kolossalen Ausdehnung?!«, staunte der junge Mann, der immer mehr des Staunens fähig wurde.
»Das ist nichts weiter, innerhalb von achtzig Jahren sind hier noch ganz andere Vorrichtungen geschaffen worden. Die Netze werden gleichzeitig einfach von der Decke herabgelassen. Sie hängen an Stricken und brauchen ja nur, um ihren Zweck zu erfüllen, kaum zwei Meter über dem Wasser hervorzusehen.«
»Und wie werden sie denn nun am Boden unter Wasser festgehalten?«
»Durch Magnetismus, und zwar fester, als wenn sie noch so fest mechanisch verankert wären.«
»Jetzt sind sie nicht herabgelassen?«
»Nein, weil wir das Ufer betreten wollen. Sobald Sie aber die Fangnetze wünschen, brauchen Sie es nur auszusprechen, und sie kommen herab; sonst sind für Segelliebhaber aber auch noch andere Hindernisse vorhanden, ich werde einige erscheinen lassen.«
Kaum hatte Black dies gesagt, als hier und da aus dem dunklen Wasser eine schneeweiße Masse auftauchte, wie Eisberge aussehend, von den bizarrsten Formen, zum Teil mächtige Tore bildend.
»Da haben Sie unsere künstlichen Eisberge. Es sind wohl sechs aufgetaucht, es gibt aber noch mehr, und man kann sie ganz nach Belieben ordnen.
Für gewöhnlich ruhen sie also auf dem Grunde des Sees, werden magnetisch festgehalten, und das auch noch, während sie scheinbar schwimmen, sodass sie vom Wind und Sturm nicht weggetrieben werden.
Nun kann der Segler nach Belieben diese Eisberge umkreuzen und durch die Tore fahren.
Dazu ist ebenfalls eine Sicherung nötig, damit kein Unglück geschieht.
Die Umgebung des Sees besteht aus natürlichen Felsen, die können wir nicht weich machen, deshalb müssen sie durch Netze geschützt werden.
Diese Inseln oder Eisberge dagegen sind aus einer sehr weichen Masse hergestellt. Da kann man einmal schon tüchtig anrempeln, ehe ein Boot in Trümmer geht.«
Sie fuhren hin nach solch einem »Eisberg«. Mister Sharp überzeugte sich von der Weichheit der weißen Substanz, wohl bedeutend härter als Watte, aber doch weicher und nachgiebiger und elastischer als der weichste Kautschuk.
»Wunderbar, wunderbar!«
»O, wir haben hier noch ganz andere Wunder eingerichtet. Wollen Sie gleich jetzt etwas segeln?«
»Das Kanu hat kein Segel und eignet sich auch nicht recht dazu.«
»O, was meinen Sie, wir haben hier einen ganzen Hafen voll der verschiedensten Fahrzeuge!«
»Na lassen wir, ich will mir doch erst noch einige andere Wunder ansehen.«
»Wie Sie wollen.«
»Lassen Sie die Eisberge wieder verschwinden, bitte.«
Die weißen Gebilde tauchten wieder unter.
Dabei erzeugten sie wie beim Auftauchen einige Bewegung des Wassers, das konnte ja auch gar nicht anders sein, die Löcher mussten sich doch wieder schließen, aber es war nicht anders, als ob feiner Sand nachlaufe, sofort war das Wasser wieder ganz glatt, obgleich man doch darin plätschern konnte.
»Was ist denn nun diesem Wasser, das man sogar trinken kann, beigemischt?«
»Beigemischt ist ihm gar nichts, keine fremde Substanz.«
»Ja wie wird denn das sonst erzeugt?«
»Durch Elektrizität. Es ist mit Elektrizität geladen.«
»Das Wasser mit Elektrizität geladen? Wie soll ich das verstehen?«
»Nun, dass sich Wasser mit Elektrizität laden lässt, das sehen Sie doch auch manchmal in der Natur, bei einem Gewitter. Wenn da ein starker Regen fällt, so zeigt der doch nach jedem Blitzschlag eine ganz andere Beschaffenheit, er rauscht viel stärker, die Tropfen hängen mehr zusammen, verwandeln sich mehr in Strahlen.
Früher hat man angenommen, dass sich das Wasser der Wolke durch die Elektrizität in seine Elemente spaltet, in Wasserstoff und Sauerstoff, und jedes Molekül Knallgas ist in einem Wasserbläschen eingeschlossen.
Durch den Blitz erfolgt nun eine Entzündung, zuerst soll nur ein einziges Knallgasbläschen explodieren, diese Explosion pflanzt sich durch die ganze Wolke fort, das Knallgas verwandelt sich in Wasser, dadurch vermehrt sich der Regen, man hört ihn plötzlich rauschen.
Diese Theorie hat außerordentlich viel für sich. Dadurch würde auch das langanhaltende Rollen des Donners in den Wolken erklärt werden. Es ist eben eine fortschreitende Explosion.
Aber diese Theorie hat den neueren Forschungen der Physiker nicht standhalten können.
Der Wasserniederschlag vermehrt sich in Wirklichkeit nämlich gar nicht. Es ist nur so ein eigentümliches Rauschen.
Und dasselbe kann man auch im Kleinen im Laboratorium nachahmen.
In mit Elektrizität gesättigter Luft wird das Wasser selbst elektrisch, wird magnetisch, die einzelnen Tropfen schließen sich zusammen, bis sie sich bei Berührung der Erde wieder entladen.
So ist es nun auch hier. Allerdings ist es eine besondere Elektrizität, mit welcher dieses Wasser geladen ist. Und der Effekt ist eben der, dass es durch darüber wehenden Wind nicht oder doch nur außerordentlich schwer in Bewegung gesetzt werden kann.«
Black hatte einem Ufer zugestrebt. Die Felswand erwies sich in der Nähe gar nicht so steil und glatt wie eine Mauer, es war noch ein besonderes Ufer vorhanden, eine Art Galerie, und auch sonst gab es Vorsprünge und kleine Plateaus genug.
Wie Black aufforderte, stieg auch Mister Sharp aus.
»Wir begeben uns von hier aus zu Fuß weiter, nur wenige Schritte. Soll ich erst einmal den Wind wehen lassen?«
»Tun Sie es.«
»Aus welcher Richtung, wohin?«
»Na, uns entgegen, übers Wasser her, damit wir nicht etwa hineingeblasen werden.«
»Wir wollen aber erst noch etwas höher steigen.«
Sie taten es, standen auf einer Terrasse etwa drei Meter über dem Wasserspiegel.
Es begann zu wehen stärker und stärker.
Aber nun trat gerade das Gegenteil von dem ein, was Black vorhin von diesem Wasser gerühmt hatte.
Es kräuselte sich, der See schlug Wellen, die immer höher gingen, je mehr der Wind an Heftigkeit zunahm.
»Ich denke, das Wasser soll ganz glatt bleiben?«
»Ich habe es entladen, um Ihnen das Experiment dann nicht zum zweiten Male vormachen zu müssen. Jetzt schalte ich wieder die Elektrizität ein.«
Black streckte die Hand aus, und mit merkwürdiger Schnelligkeit beruhigte sich das aufgeregte Wasser, bis es wieder glatt wie ein Spiegel war, obgleich der Wind doch immer heftiger blies, zum Sturm wurde, zum förmlichen Orkan, der die beiden gegen die Felswand presste.
Doch schnell, wie er entstanden, flaute der Sturm wieder ab, bis wieder völlige Windstille herrschte.
»Sie haben gesehen, wie wir das Wasser durch Elektrizität beherrschen. Wenn Sie also einmal eine aufgeregte See haben wollen, um mit ihr im Segelboot zu kämpfen, so brauchen Sie den Wunsch nur auszusprechen. Und nun gleich noch etwas von dem, was wir alles mit diesem Wasser machen können.«
Wieder streckte der Zigeuner den Arm aus, und kaum eine Minute währte es, so überzog sich der See allüberall mit einer dünnen Eiskruste, die sichtlich an Stärke zunahm, bis man das nicht mehr beobachten konnte.
»Da haben Sie eine Eisfläche, auf der Sie Schlittschuh laufen und mit der Eisjacht segeln können, alles dazu ist vorhanden.«
»Ist das wirkliches Eis?«, staunte Mister Sharp.
»Ganz richtiges Eis, das Wasser ist gefroren. Alles durch Elektrizität.«
»Aber man fühlt doch gar keine von diesem Eis ausströmende Kälte?«
»Weil das Gefrieren zu schnell gegangen ist. Die kältere Temperatur wird sich schon noch bemerkbar machen. Was wir aber auch verhindern könnten, indem wir einen warmen Wind über das Eis streichen lassen, der dieses dennoch nicht auftauen kann.«
»Aber in jenem ersten See, in dem ich badete, konnte das Wasser doch nicht so schnell erwärmt, also wohl auch nicht so schnell abgekühlt werden. Als ich dies wünschte, sagte man mir, da verlange ich zu viel.«
»Stimmt. In jenem See ist das nicht möglich, einfach weil in jenem Raume diese Einrichtung nicht vorhanden ist. Nun will ich Ihnen noch eine von den vielen Überraschungen bereiten, die man hier arrangieren kann.«
Plötzlich ein Krachen, gar nicht weit von den beiden entfernt barst das Eis, sodass man jetzt sehen konnte, dass es schon mehr als 20 Zentimeter dick war, und aus dem Loche tauchte der mächtige Kopf eines Walrosses mit gewaltigen Hauern aus!
»Ein Walross, das sich ein Luftloch geschaffen hat!«, erklärte Black. »Aber Sie brauchen keine Angst zu haben, dass Ihnen diese Überraschung bevorsteht, wenn Sie gerade einmal Schlittschuh laufen, oder dass sich Ihnen dieses Ungeheuer, denn ein solches ist es wohl, nähert, wenn Sie im leichten Boote fahren. Es kommt jetzt nur auf Bestellung.«
»Auf Bestellung? Sie wollen doch nicht etwa behaupten, dass es nur ein künstliches Tier wäre?«
Auf solch einen Gedanken wäre schwerlich jemand gekommen.
Das Ungetüm schnaubte mächtig, legte die Hauer auf das Eis, zog mit Hilfe der flossenähnlichen Vorderfüße den wenigstens sechs Meter langen Leib, der ein Gewicht bis zu 30 Zentner erreichen kann, halb auf das Eis, verdrehte die riesigen Augen, und jetzt ließ es auch ein donnerndes Brüllen hören.
»Nur eine mechanische Spielerei!«, bestätigte aber der Zigeuner.
Und es hatte ja auch schon in Mister Sharps Frage gelegen, dass er so etwas nicht für möglich hielt, er hatte gleich an das menschliche Püppchen gedacht.
»Das Tier wird auch so durch Fernstrahlung gelenkt?«
»Ja.«
»Dann kann man hier also keine Walrossjagd arrangieren?«
»Man könnte es nicht jagen? Und wie! Dazu ist es ja da, nicht nur zur Belebung der Szenerie. O, Sie sollten einmal zusehen, wenn die jagdlustigen jungen Leute — aber auch mancher Greis ist dabei — hier eine Walrossjagd veranstalten! Vorher werden die Regeln ausgemacht. So zum Beispiel, in welchen Zwischenpausen das Tier auftauchen muss. Sagen wir: alle Minuten. Nun gilt es, die Boote geschickt zu verteilen. Wer den tödlichen Harpunenwurf ausführt, der gewinnt die Prämie, der einzelne Jäger im Kanu oder die ganze Bootsbesatzung.
Und wem der tödliche Wurf nicht gelingt, dessen Boot kann das Walross angreifen, es mit seinen Zähnen zertrümmern. O, da kommen reichliche, haarsträubende Zwischenfälle vor!«
»Wie wird es denn getötet?«
»Auch wieder, je nachdem es zuvor ausgemacht wird. Es muss etwa der Kopf getroffen werden oder eine andere Körperstelle, die markiert wird oder auch nicht, oder sogar nur eine bestimmte Stelle des Kopfes, und diese Stelle muss von der Harpune mit einer gewissen Wucht getroffen werden, welche Kraft sich mathematisch in Zahlen ausdrücken lässt.
Sind nun alle die Bedingungen erfüllt, so ist das Tier eben tot, es schwimmt regungslos oben. Wenn nicht, dann taucht es unter, schwimmt weiter oder greift auch das Boot sofort an, etwa dann, wenn der Harpunenwurf mit einer gewissen Kraft geführt worden ist, der der aber doch nicht genügt hat, um das Tier zu töten. Das lässt sich alles ganz nach Belieben arrangieren und wird vorher ausgemacht, je nach der Geschicklichkeit der Jäger, die sich daran beteiligen. Ich sage Ihnen, es ist ein aufregendes Schauspiel, solch eine Walrossjagd, sie lässt absolut nichts an Wirklichkeit vermissen.«
Immer mehr hatten Mister Sharps Augen aufgeleuchtet.
»Das möchte ich wahrhaftig einmal mitmachen!«
»Das kann sofort geschehen, wenn Sie wünschen.«
»Nein, nein, nicht jetzt!«, wehrte er da schnell ab.
»Sie können ja auch ganz allein auf die Jagd gehen.«
»Nein, nein, nicht jetzt. Später.«
Es war wohl nichts anderes, als dass er sich ob der freudigen Aufregung schämte, die er gezeigt hatte.
Unterdessen hatte sich das Ungetüm vollends auf das Eis geschoben, verdrehte die Glotzaugen, kratzte sich mit den Flossen und brüllte manchmal. Es war von einem lebendigen Tiere nicht zu unterscheiden.
»Wie wird diese Figur denn nur durch Fernleitung gelenkt, dass solche natürliche Bewegungen zustande kommen können?«
»Wenn Sie hinter die Kulissen blicken, werden Sie es ganz einfach finden. Wenn man nun einmal die Ursache der ganzen Fernübertragung erkannt hat.
Es beruht im Großen und Ganzen auf demselben Prinzip wie die Regulierung einer elektrischen Uhr.
Noch vor 50 Jahren war eine Uhr ohne Triebwerk und kompliziertes Räderwerk doch gar nicht denkbar.
Da wurde die elektrische Uhr erfunden. Das heißt ein Apparat, der den Namen ›Uhr‹ eigentlich gar nicht verdient. Es ist nur ein Gehäuse, das der Hauptsache nach zwei Zahnräder enthält, eines für den großen, eines für den kleinen Zeiger. Und dann einen Stellhebel und einen winzigen Magneten. Eine andere Uhr ist es, die wirklich geht, und die kann ihre Bewegung auf Tausende, aus zahllose solcher Gehäuse mit zwei Zeigern übertragen. Nach jeder Minute oder wie man sonst will, wird der elektrische Kontakt automatisch geschlossen, dadurch schieben sich die Zeiger all der anderen Uhrenapparate etwas vor.
Noch vor hundert Jahren wäre doch solch eine elektrische Uhr ein unbegreifliches Rätsel gewesen.
Heute sind dazu schon keine Verbindungsdrähte mehr nötig, dasselbe lässt sich auch durch drahtlose elektrische Ströme erreichen.
Hier liegt nun im Grunde genommen ganz dasselbe vor, abgesehen davon, dass man ja auch schon bei Fahrzeugen, besonders Booten, dies auch schon viel weiter ausgebildet hat.
In einem kleinen Bassin, nur ein kleiner Glaskasten, mit Wasser gefüllt, schwimmt die kleine Figur eines Walrosses, noch nicht spannenlang.
Das ist gewissermaßen die richtige Uhr. Sie steht mit dieser großen Figur hier in elektrischer Korrespondenz. Jede Bewegung, welche die kleine Figur macht, muss auch die große ausführen.
Die kleine Figur wird nun einfach gelenkt, gleichgültig ob mit einem Stäbchen oder mit den Fingern oder mit Zwirnsfäden.
Dabei beobachtet der Lenker der kleinen Figur, der Operateur, dieses große Walross, das jede Bewegung getreulich mitmacht.
Er beobachtet es nicht direkt hier in diesem See, sondern in einem großen Spiegel, in dem er auch die ganze Jagdszene vor sich hat.
Alles andere können Sie sich nun wohl denken.
Wird das große Walross von einer Harpune getroffen, so sieht er das im Spiegel, und ein automatischer Registrierapparat zeigt sofort an, mit welcher Kraft die Harpune das Tier getroffen hat.
Genügte diese Kraft nicht, um, wie vorher ausgemacht, das Tier zu töten, so handhabt er seine kleine Figur mit Fäden oder einfach mit den Fingern jetzt so, dass die große Figur, die er immer im Spiegel beobachtet, gegen das Boot vorgeht, er lässt es die Zähne in das Boot einschlagen, er lässt es die Planken auseinanderreißen. Oder er lässt eben das Tier untertauchen und unter Wasser weiterschwimmen, ganz wie er will.
Eine große Übung ist ja allerdings nötig, um das elektrische Tier so lebenswahr dirigieren zu können, sonst aber auch nichts weiter.«
Aufmerksam hatte Mister Sharp zugehört. Er verstand wohl alles, musste aber doch immer wieder den Kopf schütteln.
»Wissen Sie, wie meine Bleikugel verwandelt wurde, zuletzt in eine menschliche Puppe, die sich auch noch in meinen Händen ganz lebensgetreu bewegte?«
»Ja, ich weiß es. Wie die Transmutation der Substanz bewirkt wird, das kann ich Ihnen hier nicht erklären, das muss im Laboratorium durch Experimente geschehen.
Sonst aber beruht das Ganze auf demselben Prinzip, auch schon die Umformung.
Es ist bereits eine kleine menschliche Figur vorhanden. Nach dieser formt sich die weiche Masse durch elektrische Bestrahlung um, nimmt genau ihre Gestalt und Farben an.
Das kann auch in einem einzigen Moment geschehen. Es macht aber doch wohl mehr Effekt, wenn es nach und nach geschieht.
Nun wird die Marionette, also das Original, einfach durch Fäden gelenkt, und das Pendant macht jede Bewegung mit.«
»Ja, ja, ich begreife schon«, sagte Mister Sharp, »aber was gehört dazu für eine Geschicklichkeit, um eine Marionette so lenken zu können!«
»Ja, Übung gehört dazu, wie ich Ihnen schon gesagt habe, und mit dieser allein ist es noch nicht abgetan. Mancher mag sich noch so viel darin üben, er wird es nie lernen. Es ist eben ein angeborenes Talent, sogar eine Art Genie, und was kann da nun erreicht werden, wenn jemand jahrelang den ganzen Tag nichts weiter tut, als solche Püppchen tanzen zu lassen.«
Der Zigeuner ließ einmal lachend seine Zähne blitzen.
»Ja, wenn das ein Ungeschickter macht, was da für Bewegungen herauskommen!
Sie können ja überhaupt gleich davon überzeugt werden, dass das nicht etwa ein wirkliches Walross ist, denn es hat schon viele Menschen hier gegeben, die es einfach nicht geglaubt haben, dass es sich nur um eine mechanische Spielerei handelt. Das Tier wird einige Bewegungen ausführen, die kein lebendiges Walross machen kann, und wenn es auch zum Akrobaten ausgebildet worden ist.«
Kaum hatte es Black gesagt, als sich das sechs Meter lange Tier mit einer ganz unnatürlichen, ruckmäßigen Bewegung plötzlich aufrecht auf die Schwanzspitze stellte und so stehen blieb.
Nein, das kann nun freilich kein Walross machen, so aufrecht auf der äußersten Schwanzspitze stehen!
»Da kann es also auch durch die Luft fliegen!«, meinte Mister Sharp.
»Nein, Sir, da verlangen Sie nun wieder einmal zu viel!«, sagte der lachlustige Zigeuner.
»Warum denn nicht? Man braucht doch bloß die kleine Puppe durch die Luft fliegen zu lassen.«
»Da aber streikt das große Walross, macht nicht mehr mit, nämlich weil der Kontakt unterbrochen wird. Wohl ist es eine elektrische Fernleitung, die keinen Draht braucht, aber die elektrische Kraft, um die Bewegungen ausführen zu können, zieht diese große Figur doch nur aus dem Wasser, wenn dieses auch gefroren ist, oder es kann sich auch am Ufer bewegen. Aber in der Luft allein fehlt die Elektrizitätsquelle, der er die energetische Kraft entnimmt; höchstens kann es einen Sprung ausführen.«
Und da machte das riesige Walross auch schon von der Schwanzspitze aus, also nun umso mehr ganz und gar unnatürlich, einen mächtigen Luftsprung, kerzengerade in die Höhe, schlug einen Salto mortale, noch eine halbe Umdrehung, und schoss dann mit einer etwas schrägen Linie in das Eisloch hinein, sauste in das Wasser, ohne dass dies im Geringsten aufspritzte, weil dieses eben durch elektromagnetische Kraft gebunden wurde, jeder Tropfen klebte gewissermaßen am anderen. Dass man darin mit der Hand plätschern und spritzen konnte, das war wieder etwas ganz anderes.
»Da — dieses Kunststückchen bringt kein lebendiges, von Gott geschaffenes Walross fertig.«
»Sie stehen wohl mit dem Operateur in telegrafischem Rapport?«, fragte Mister Sharp.
»Ja. Hier kann man sich drahtlos mit jedem unterhalten, den man anruft.«
»Sie sprechen aber doch nicht.«
»O doch, ich spreche jeden Wunsch doch immer aus.«
»Ich habe vorhin beobachtet, dass dies nicht immer der Fall zu sein braucht.«
»Nun ja, es kann auch auf andere Weise geschehen. Eine richtige Telegrafie, nur dass man dabei nicht einen Taster zu drücken braucht. Hinwiederum aber auch nicht etwa eine reine Gedankenübertragung. Ein Apparat ist dazu nötig. Sie werden später selbst solch einen Apparat bekommen. Soll ich Ihnen hier nun noch andere Tiere erscheinen lassen, andere Überraschungen bereiten? Es ist hier noch vielerlei möglich.«
»Na, zeigen Sie mir erst einmal einen anderen Raum, etwas ganz anderes. Damit ich erst einmal so einen allgemeinen Überblick bekomme.«
»Schon für diesen allgemeinen Überblick aber brauchen Sie lange Zeit, da sind Sie auch in Jahren noch nicht fertig!«, lachte Black.
»Immerhin, fangen wir damit an.«
»So wollen wir gleich diese Galerie entlang gehen, es ist der kürzeste Weg.«
Nach wenigen Schritten kamen sie an eine senkrechte Felsspalte, in die sie eindrangen, und nicht lange, so blieb der Führer, der sein Gewehr mitgenommen hatte, stehen.
In der dunkelgrauen Felswand war ein weißer Stein eingelassen, rund, etwa zehn Zentimeter im Durchmesser, etwas hervorragend.
Man konnte es auch für ein natürliches Gebilde halten, war aber doch auffallend.
»Nun lassen Sie sich gleich eine Erklärung geben, wenn Sie dann allein auf Wanderung und Forschungsreisen gehen.
Wo Sie solch einen Stein sehen, in einer Felswand oder sonst wo, aber immer auffallend genug, da ist immer eine Tür vorhanden.
Drücken Sie auf diesen Stein, so wird sich eine Tür öffnen, die sich dann von selbst hinter Ihnen schließt.. Oder sie öffnet sich auch nicht.
Diese Steinschlösser, wie ich gleich sagen will, können nämlich drei verschiedene Farben haben.
Entweder ist der runde Stein weiß, oder er ist rot, oder er ist schwarz.
Die Bedeutung dieser Farben lässt sich mnemotechnisch sehr leicht merken.
Weiß ist die Unschuld, rot ist das Blut, schwarz ist der Tod.
Bei einem weißen Verschlusse können Sie ohne Weiteres öffnen und eintreten.
Bei einem roten Steine droht dem Eintretenden eine Gefahr. Irgend eine. Er muss auf seiner Hut sein, sonst könnte ihm Blut abgezapft werden oder ihm sonst etwas passieren.
Was, das erfährt er hinter der Tür, im Sicherheitseingange, der dann auch noch durch eine zweite Sicherheitstür oder ein Gitter abgesperrt ist, gleichfalls rot gefärbt.
Außerdem erhält der Betreffende, wenn er den roten Stein berührt, einen elektrischen Schlag. Nicht heftig, aber doch stark genug, dass er aufwacht, falls er gerade geträumt hat; damit er nicht unvorsichtig eintritt, seine Gedanken beisammen hat.
Den schwarzen Todesstein kann er überhaupt nicht zurückdrücken.
Sollte die Felswand selbst sehr schwarz sein, so ist das schwarze Schloss mit einem weißen Kreise umgeben.
Nun können sich ja aber die Verhältnisse hinter der Türe ändern, ein Todesraum wird nur noch etwas gefährlich oder er wird sogar ganz unschuldig.
Deshalb können wir auch die Farbe dieser Schlösser nach Belieben ändern.
Allerdings durch eine Vorrichtung, die noch sicherer wirkt als bei jeder Zentralweichenstation, sodass ein Irrtum ganz ausgeschlossen ist.
Also ich werde diesen weißen Stein sich jetzt einmal schwarz färben lassen, ohne Not, nur um Ihnen die Sache zu zeigen, weil sie doch von großer Wichtigkeit ist.«
Kaum hatte es der Zigeuner gesagt, als der erst weiße Stein tiefschwarz geworden war.
»Auf dieser grauen Felswand hebt er sich ja deutlich genug ab. Sollte die Wand selbst aber tiefschwarz sein, so erhält er noch einen weißen Kreis.«
Ein solcher entstand um den schwarzen Stein.
»Nun drücken Sie dagegen, so stark Sie wollen.«
Es brachte keine Wirkung hervor.
»Also die Tür lässt sich nicht öffnen, denn hinter ihr lauert der unerbittliche Tod. Wenn jetzt auch nur provisorisch so arrangiert. Nun kommt das zur Vorsicht warnende Schloss.«
Der weiße Kreis verschwand, der schwarze Stein färbte sich im Nu blutrot.
»Drücken Sie dagegen.«
Kaum berührte Sharp den Stein, als er einen elektrischen Schlag erhielt, nicht gerade heftig, aber doch empfindlich genug. Der tiefste Schläfer wäre aufgewacht.
Nur ein mäßiger Druck und eine große viereckige Tür wich in der Felswand zurück.
Doch musste Sharp seine Hand zurückziehen und das Felsentor schloss sich wieder.
»Nun die Unschuld, die jeden sorglos eintreten lässt.«
Der rote Stein färbte sich weiß wie zuvor.
»So, das ist jetzt die richtige Farbe. Nun drücken Sie wieder, und wir benutzen diesmal den Eingang.«
Nur ein mäßiger Druck, wieder wich die Tür zurück, ohne dass Sharp diesmal einen elektrischen Schlag erhalten hätte.
Ein kurzer Gang zeigte sich, den sie passierten, immer wieder mit jenem rätselhaften Lichte erfüllt, und dann allerdings bot sich dem Neuling ein wundersamer Anblick.
Wieder war es ein ungeheurer Raum, eine riesige Grotte in diesem Höhlenlabyrinth.
In der Mitte erhob sich ein Berg, wohl kegelförmig, aber doch nicht so ganz gleichmäßig, und wir wollen gleich sagen, dass seine Höhe 50 Meter betrug, und dann stieß er immer noch nicht gegen die blaue Himmelsdecke.
Rund herum um die Bassins war noch ein ebener Saum von etwa 30 Meter Breite, und in diesem Kreise gedieh tropische Vegetation, halb indisch, halb australisch, so wie man sie auf den südlichen Inseln des malaiischen Archipels findet, wozu auch noch brasilianische Bäume und Sträucher und andere Pflanzen kamen.
Aber wenn es nun auch einzelne riesenhafte Bäume und Sträucher gab, so war das Ganze doch so gehalten, dass nichts den allgemeinen Durchblick versperrte. Man konnte überall durchsehen, soweit nicht der Berg davor stand.
Es waren natürliche Pflanzen, wie sie in den Tropen vorkommen, mussten aber wohl auf besondere Weise behandelt werden, dass sie nicht gar zu sehr ins Ungeheure wucherten, obwohl die Temperatur sehr warm, sogar heiß und feucht war, wie in einem Dampfbade.
So bedeckte auch den Boden das üppigste Tropengras, aber es war nicht gar zu lang, ohne dass es gekürzt worden, es ging, wo es überhaupt gedieh, höchstens bis an den Leib.
Sonst sei als einziges Beispiel noch eine brasilianische Amarylladacee erwähnt. Das ist eine Zwiebel so groß wie eine Kokosnuss, wie eine große Kegelkugel, die innerhalb von wenigen Tagen einen armstarken Stängel treibt, bis zu zehn Meter hoch, auf dem sich oben eine herrliche, wagenradgroße Blüte entwickelt. Ist auch sehr ausdauernd; wie unsere Sonnenrose. Aber eben ein Zwiebelgewächs, das sich mit zauberartiger Schnelligkeit entwickelt.
Das hier war eine ganz echte Amarylladacee, die jedoch mit ihrer kolossalen Blume nur eine Höhe von sechs Metern erreicht hatte, was ja aber auch schon genügt. Und so war es auch mit den anderen, die sich noch entwickelten oder schon im Absterben begriffen waren.
Wenn man nun an dem schrägen Berge hinaufblickte, so gewahrte man, wie die Vegetation auf demselben nach und nach immer mehr einen nördlichen Charakter annahm, der ganze Berg selbst.
Schon bei zehn Meter Höhe sah es mehr wie im südlichen Italien aus, die Palmen wurden schon spärlicher, hauptsächlich die »Macchia« trat in ihr Recht, wie der Italiener den charakteristischen Buschwald nennt, am ausgeprägtesten auf Korsika, dann vermischte sich der Johannisbrotbaum mit der Aleppokiefer, dann kam die Pinie, dann Eichen und Buchen, ein Walnussbaum war schon erfroren, dann immer mehr Nadelbäume, von Laubbäumen nur noch die Birke, die immer kümmerlicher, kleiner wurde, bis sie nur noch als Knieholz am Boden kroch — dann zeigte sich Eis, vorgeschoben von Gletschern, die manchmal ungeheure Eiszapfen bildeten, und schließlich war nach oben überhaupt der ganze Berg mit Eis bedeckt, alles vergletschert.
Zahllose Wasserfäden rannen herab, manchmal aber auch ganz ansehnliche Sturzbäche bildend, welche unten durch das Gras in Rinnen flossen und in Löchern an den nackten Felswänden, welche diesen ganzen Raum begrenzen, verschwanden.
»Dies ist die Grotte«, erklärte der Zigeunerprofessor, »in welcher die ersten Versuche vorgenommen wurden, auf welche Weise sich das Gewicht der Atmosphäre, bedingt durch Wärme und Kälte, verändern lässt, und als dies gelungen, wurde dann die ganze Grotte danach ausgebaut und eingerichtet, so wie Sie es jetzt sehen.
Also es handelt sich darum, ein Naturgesetz umzukehren, die warme Luft schwerer als die kalte zu machen.
Dass die Lösung dieses Problems den Physikern der unsichtbaren Loge gelungen ist, halte ich für die phänomenalste Tat des menschlichen Geistes, wenn andere hierüber auch anders denken mögen.
Schließlich wird ein Naturgesetz ja auch durch den einfachen Magnetismus des Eisens umgeändert; statt dass ein Eisenstück niederfällt oder doch liegen bleibt, springt es in die Höhe.
Hierbei handelt es sich aber nun doch um etwas anderes.
Nun, lassen wir das auf sich beruhen.
Auch hier ist Elektrizität im Spiele. Die Luft ist mit einer besonderen Art von Elektrizität geladen, welche diese Umwandlung bewirkt; dass die Luft umso schwerer wird, je wärmer sie ist.
Nachdem aber nun einmal dieses Problem gelöst war, konnte diese Verteilung leicht auch schichtenweise geordnet werden, sogar mit kaum merkbaren Übergängen.
Dieser Berg, schon von Natur vorhanden, dann noch künstlich etwas verändert, ist rund 50 Meter hoch.
Die Höhe verändert sich immer mehr etwas durch abschmelzendes Eis oder neu hinzukommendes.
Dicht über dem Boden herrscht eine Temperatur von 30 Grad Celsius.
Mit jedem Meter Höhe nimmt die Temperatur um einen Grad ab; nicht ruckweise, sondern nach und nach.
In Kopfeshöhe werden Sie mit dem Thermometer noch 28 Grad konstatieren.
In 20 Meter Höhe, dort wo Sie die große Eiche stehen sehen, herrschen also nur noch 10 Grad Wärme.
Dort, wo das Wasser von den Eiszapfen abtaut, steht das Quecksilber ein ganz klein wenig noch über dem Gefrierpunkt.
Abstrahlende Kälte und Wärme kommt hierbei nicht in Betracht.
Und dann beginnt nach oben die Region des ewigen Eises, die Gletscherwelt, sich noch 20 Meter hinaufziehend, wo dann richtig eine Temperatur von 20 Grad Kälte herrscht. Bis zur Decke sind es dann noch sechs Meter, und dementsprechend sinkt die Temperatur auch.«
Mister Sharp schien zu begreifen, was der Menschengeist hier geschaffen hatte, durch Besiegung oder Veränderung von bestehenden Naturgesetzen. Nicht nur, dass er dies so einfach als eine merkwürdige Spielerei betrachtete, wie es sonst wohl die meisten Menschen getan hätten.
»Großartig, wunderbar, fabelhaft!«, rief er in ehrlichem Staunen, dem aber besonders auch eine gewisse Ehrerbietung beigemischt war, und die eben drückte seine wahre Erkenntnis aus.
Dann aber hatte er doch gleich wieder etwas zu bemäkeln.
»Sind denn hier gar keine Tiere?«
»Nein.«
»Weshalb nicht?«
»Wir können ja künstliche hineinsetzen, aber —«
»Natürliche meine ich, richtig lebendige. Das müsste doch sehr hübsch sein, zu beobachten, wie die sich so nach und nach scheiden, jedes sucht seine Region auf, die ihm am besten behagt. Oben sind Eisbären und Polarvögel und unten grasen Axishirsche und schwirren Kolibris herum, und dazwischen nun alles, was hinein gehört.«
»Das wäre ganz schön, aber die würden uns ja alles abfressen!«, lachte Black.
Mister Sharp fühlte sich geschlagen, er kratzte sich schnell einmal in den Haaren.
»Ach so, richtig! Bitte, lassen Sie es doch einmal schneien.«
»Das geht nicht, oder es geht wohl, aber es darf nicht sein. Als Schnee würde der Niederschlag überhaupt nicht hier unten herabkommen, und der Regen wäre doch auch gar zu kalt, hier fehlt wieder die Vorrichtung, um das Wasser im Nu zu erwärmen, er würde der tropischen Pflanzenwelt schaden.«
Der junge Amerikaner sagte zwar nichts von »nur halbem Kram«, machte aber doch ein entsprechendes Gesicht.
»Künstliche Tiere kann ich in beliebiger Menge und jeder Art einsetzen, kann sie hier vor Ihren Augen entstehen lassen.«
»Nein, nein, lassen Sie nur, ich habe ja schon gesehen, dass das möglich ist und wie's gemacht wird.«
»Wollen Sie einmal eine Klettertour hinauf in die Region des ewigen Eises machen?«
»Nee.«
»Ich führe Sie auf sicheren Wegen, mit oder ohne Benutzung von Steigeisen und Eispickel, ganz wie Sie wünschen.«
»Nee. So aus dem Warmen ins Kalte — ich liebe keine Dampfbäder mit nachfolgender kalter Dusche. Entweder heiß — oder kalt.«
»Fürchten Sie sich vor Erkältungen? Sind Sie geneigt dazu? Bei solchem Temperaturwechsel?«
»Ganz und gar nicht. Ich vertrage alles. Aber ich habe keine Lust zum Klettern.«
»Ich möchte Ihnen gern dieselben Regionen zeigen, aber in geschlossenen Räumen, was sich da nun wieder entwickelt hat.«
»Na ja, da zeigen Sie los.«
Mister Sharp folgte mit den Händen in den Hosentaschen.
Die einschließenden Felswände hatten hier und da schluchtenähnliche Einschnitte, in einen solchen ging es hinein, dann in eine Höhle, deren Boden sich als Fahrstuhl erwies.
»Wenn Sie nicht empfindlich gegen schnellen Temperaturwechsel sind, so möchte ich Sie aus besonderen Gründen gern erst in eine kalte einführen, die wärmerem werden dann immer interessanter.«
»Mir recht.«
Die nach oben fahrende Höhle blieb wieder stehen.
Auch hier war in der Felswand ein runder Stein eingelassen, der aber schon eine rote Farbe zeigte.
»Gefährlich?«, fragte Mister Sharp mit seinem gewöhnlichen vorsichtigen Misstrauen.
»Nicht für uns. Wenn es nach mir ginge, brauchte das Schloss gar nicht rot zu sein. Es droht absolut keine Gefahr. Es ist die weißeste Unschuld; aber der vorsichtige Herr, der hierüber zu befehlen hat, denkt eben anders und will es nun einmal so haben.«
Die Felsentür hatte sich geöffnet, sie traten in einen Gang, der wieder mit einer Wand endete, an der solch ein roter Stein zu sehen war.
»Meistenteils«, erklärte Black, »besteht in solchen Fällen die zweite Sicherung in einer Gittertür, durch die man die zukünftige Gefahr gleich erkennen kann, oder man hat doch erst einen Überblick. Hier ist erst noch eine geschlossene Tür vorhanden, noch vor der Gittertür, um die andere Temperatur abzuhalten, um sich vorzubereiten, wenn man einen viel kälteren oder viel heißeren Raum betritt. Wünschen Sie nun eine wärmere Kleidung? Hier sind Nebenkammern, in denen alles vorhanden ist.«
»Es wird also kälter?«
»Ja, kälter.«
Übrigens war es schon hier bedeutend kühler, wenigstens im Unterschied zu der furchtbar heißen Tropenregion, aus der sie gekommen.
»Ist die Kälte denn gar so groß? Kann man etwas erfrieren?«
»O nein! Dann würde ich Sie, der Sie mir aufs Herz gebunden worden sind, überhaupt auf keinen Fall ohne solche Sicherheitsmaßregeln eintreten lassen. Die Temperatur schwankt nur um null Grad herum, unter drei kann sie überhaupt gar nicht gebracht werden, mit Absicht nicht.«
»Ach, dann hat es ja gar nichts auf sich. Ich brauche keine wärmere Kleidung.«
Auch dieses zweite Felsentor mit der roten Warnung öffnete sich, dann zeigte sich nach einem ganz kurzen Tunnel nochmals eine rote Gittertür, den Tunnel vollkommen abschließend, aus außerordentlich starken Stäben bestehend.
Hier konnte man ja nun schon sehen, was sich dahinter befand, wir beschreiben es aber erst nach dem Eintreten der beiden.
Zunächst zeigte Black, wie diese rote Gittertür geöffnet wurde, wozu nur ein besonderer Druck auf eine Reihe von Knöpfen nötig war, bei deren Berührung man abermals einen kleinen elektrischen Schlag bekam, und sie traten ein.
Hier gediehen der Hauptsache nach nordische Nadelbäume, Tannen, Fichten und Kiefern, einen Wald bildend, aber nirgends sehr dicht zusammenstehend, überall konnte man durchblicken, Unterholz fehlte, dagegen hier und da malerische Felsformationen, zum Teil mit Moos bedeckt, wie sich solches über den ganzen Boden hinzog, durchrieselt von Quellen, die sich in einen größeren Teich ergossen.
Die Felswände, welche den nicht allzu großen Raum doch begrenzen mussten, waren mit einer kanadischen Kletterpflanze verhüllt, die aber Nadeln anstatt Blätter trägt.
»Nun, Mister Sharp, wie gefällt es Ihnen hier?«
»Sehr malerisch. Man fühlt sich nach Kanada versetzt. Wo ist denn aber nun hier die blutbringende Gefahr?«
»Ich sagte ja schon, dass eine solche gar nicht vorhanden ist. Gestatten Sie eine Frage. Weshalb eigentlich heißt jene Höhle in Kentucky die Mammuthöhle? Wissen Sie das?«
»Hm, ich weiß schon, was Sie meinen. Nicht nur, weil diese Höhle so mammutartig groß ist. In der Eiszeit ist das Mammut in ganz Amerika ja sehr häufig gewesen, überall findet man seine Knochen und Zähne. Da dieselben doch nun immer unter der Erde liegen, glauben die Indianer, ebenso wie die nordasiatischen Völker, das Mammut habe wie ein Maulwurf unter der Erde gelebt, habe sich mit seinen Zähnen Wege gegraben, obgleich sich diese nach unten spiralförmig gebogenen Zähne für diesen Zweck recht schlecht eigneten. Aber das wird nun einmal geglaubt, und so meinen die Indianer, jene labyrinthartige Höhle sei eine Mammutwohnung gewesen, einem Ameisenhaufen entsprechend, ebenso mit zahllosen Gängen durchwühlt.«
»Ja, so ist es, daher der Name!«, betätigte der Zigeunerprofessor. »Ob es wohl noch lebende Mammuts gibt?«
»Wo denn?«
»Die Eingeborenen von Alaska behaupten ganz bestimmt, dort in den Eisregionen lebten noch Mammuts, sie wollen oft genug solche mit einem dicken Pelze besetzte Elefanten gesehen haben.«
»Ach, das ist ja nur ein Jägermärlein!«
»Sie sind doch nicht schreckhaft, Mister Sharp?«
»Meinetwegen können Sie —«
Mister Sharp brach ab.
Von hinten war ihm die Mütze vom Kopf genommen worden.
Ruhig drehte er sich um.
Was er aber da erblickte, das hätte manchem vor Schreck das Blut in den Adern erstarren machen.
Hinter oder vielmehr jetzt vor ihm stand ein ungeheurer Elefant, noch weit größer als der größte afrikanische, der eine Höhe von 3,5 Meter erreicht — aber nach Europa gekommen ist ein solcher noch nicht — und dieses Ungeheuer nun noch umso ungeheuerlicher erscheinend, weil es in einen rauen Pelz von langen, grauschwarzen Haaren gehüllt war, der um den Kopf eine wahre Mähne bildete. Dazu nun noch kolossale Zähne, aber keine Stoßzähne, d. h. nicht zum Stoßen eingerichtet, sie waren spiralförmig gezogen und zwar nach unten.
Die zangenartige Rüsselspitze hatte dem winzigen Menschlein die Kappe vom Kopfe genommen, sie wurde lustig durch die Luft geschwenkt.
Schon das musste den jungen Mann, wenn er kein direkter Hasenfuß war, schnell wieder beruhigen. Aber erschrocken war er zuerst doch gewesen bei diesem Anblick.
»Ach so, wieder so eine künstliche Figur, nichts weiter.«
»Nein, das ist ein richtiges, lebendes Tier.«
»Nicht möglich!«
»Wie ich Ihnen sage.«
»Das können Sie leicht sagen. Diese Imitationen kann man hier ja gar nicht unterscheiden.«
»Sehen Sie das Tier fressen —«
»Ist alles vorzutäuschen. Vaucansons automatische Ente, jetzt noch im Amsterdamer Museum zu sehen, frisst auch Körner und säuft Wasser, klappert dazu ganz natürlich mit den Flügeln, und dann lässt das Ferkel auch noch eine grüne Materie hinter sich fallen.«
»Unser Mammut aber ist ein wirkliches Tier«, lachte der Zigeuner, »mit Herz und Lungen und Blut und allem, was dazu gehört. Soll ich ihn schlachten? Glauben Sie doch meiner Versicherung!«
»Na gut, ich glaube Ihnen!«, begann jetzt aber Mister Sharp doch wieder zu staunen. »Also es gibt wirklich noch lebendige Mammuts?!«
»Nein, es ist gar kein Mammut.«
»Was?! Das haben Sie doch soeben selber gesagt!«
»Es ist unser Mammut. So haben wir den Elefanten genannt. Es ist ein afrikanischer Elefant.«
»Ein afrikanischer Elefant?! Mit diesem Pelze?! Mit diesen nach unten gebogenen Schraubenziehern?! Nun machen Sie mir doch nicht wieder so etwas weis!«
»Es ist ein afrikanischer Elefant, verlassen Sie sich nur darauf.
Vor achtzig Jahren brachten die Mitglieder der unsichtbaren Loge, die sich als die ersten Ansiedler hier niederließen, aus dem Kongo ein Elefantenbaby mit.
Mit diesem wurde ein zoologisches Experiment gemacht.
Es kam in einen ihm zusagenden, warmen Raum, dessen Temperatur ganz, ganz allmähliche vermindert wurde.
Und richtig, nach 30 Jahren — so langsam ist dabei operiert worden — konnte der Elefant ohne Beschwerde Kälte ertragen, fühlte sich beim Gefrierpunkt ganz wohl, und richtig war ihm auch ein Pelz gewachsen.
Außerdem hat sich das Tier mächtig entwickelt, wozu freilich auch die besondere Nahrung beigetragen haben mag. Aber gerade in Bezug auf die Ernährung ist uns das Experiment nicht geglückt.
Das Mammut hat sich erwiesenermaßen von Nadelzweigen ernährt, auch in heißen Gegenden, in denen es den Pelz verlor. Man hat ja noch wohlerhaltene Magensäcke gefunden, immer mit Nadeln gefüllt.
Die aber hat unser Mammut hier, das heißt also ein Elefant, beharrlich verschmäht. Er muss noch heute mit Heu, Reis, Brot, Möhren und dergleichen gefüttert werden.
Sonst könnte er ja auch nicht in solch einem Nadelwald gehalten werden, er würde auf solch einem beschränkten Raume doch alles zerstören; deshalb sind hier auch gar keine Laubbäume.
Aber die Akklimatisation ist uns doch vollkommen geglückt. Das Tier kann gar keine größere Wärme mehr ertragen, dann wird es krank und auch bösartig, während es bei einer Temperatur um 0 Grad herum immer gesund und sanft wie ein Lamm ist.«
Black hatte dem Ungeheuer die Mütze abgenommen, und zärtlich legte es jetzt den Rüssel um den Hals des Zigeuners.
»Ja, aber nun diese nach unten gebogenen Zähne?«, sagte Mister Sharp.
»Die sind einfach künstlich gezogen worden. Durch Erweichung des Elfenbeins, was wir verstehen, ebenso wie wir auch das Wachstum der Zähne befördern können, so wie die Inder die Hörner der ihnen heiligen Rinder ungeheuerlich wachsen lassen können; freilich auf Kosten des ganzen Tieres, das dabei verkümmert, was bei uns nicht der Fall ist.
Das starke Krümmen der Zähne war auch schon deshalb nötig — oder wir hätten sie absägen müssen — weil das Tier ja sonst alles aufwühlen würde, mindestens den Moosboden.
Übrigens würde ein Zoologe sofort erkennen, dass es doch ein echter Elefant ist. Das Mammut und Mastodon waren überhaupt andere Tiere, hatten schon einen ganz anderen Knochenbau. Nun will ich Ihnen hier noch eine ganz besondere Seltenheit in diesem Walde zeigen.«
Er führte, auch von dem Mammutelefanten getreulich begleitet, nach einem Baume, der besondere Nadeln zeigte.
»Wissen Sie, was das für ein Baum ist?«
»Mir unbekannt. Ich bin kein Botaniker. Jedenfalls aber ist es doch eine Konifere.«
»Na, wenn Sie das gleich erkennen, dann haben Sie recht gute botanische Kenntnisse!
Ja, eine Konifere. Aber eine, die heute nicht mehr existiert. Eine Bernsteinkonifere, wie sie vor Tausenden oder wahrscheinlich vor Hunderttausenden von Jahren in der Tertiärzeit in den nordischen Wäldern gedieh, hauptsächlich im heutigen Ostseebecken.
Wir haben im sibirischen Eise Samen von ihr gefunden, und wenn dieser noch keimfähig war, so ist das schließlich nichts anderes, als wenn man in ägyptischen Pharaonengräbern Getreidekörner gefunden hat, die nach 5000 Jahren auch noch zum Keimen gebracht worden sind.
So einfach war die Sachte freilich nicht. Von vielen tausend Samenkörnchen sind nur einige wenige aufgegangen, auch noch durch eine ganz besondere Behandlung, und von diesen wenigen Pflänzchen haben wir immer nur einen kleinen Prozentsatz zu Bäumen hochgebracht.
Das sind unsere kostbarsten Raritäten. Hier steht ein solches Exemplar.
Aber ich wollte Ihnen hier hauptsächlich etwas anderes mitteilen. Wieder handelt es sich um ein Problem, dessen Lösung auch unseren Physikern und Chemikern und anderen Diftelköpfen noch nicht gelungen ist.
Sie wissen doch, wie der Bernstein, das Elektron der Alten, woraus unser Name Elektrizität entstanden ist.
Bei großer Sonnenwärme entfloss dem Stamme, besonders bei Verletzungen, ein Harz, das dann erstarrte, zum Bernstein.
Wenn es dabei eine Mücke oder sonst ein Insekt überraschte, so wurde dieses von dem Harze eingeschlossen, und so entstanden die sogenannten Inkarnate.
Dass der Bernstein wirklich so entstanden ist, das beweisen unsere Bäume, denen bei großer Sonnenhitze oder überhaupt hoher Temperatur aus wunden Stellen ein Harz entfließt, das zu echtem Bernstein erstarrt.
Nun handelt es sich um folgendes Problem: Bei der Bearbeitung des Bernsteins zu den verschiedensten Sachen entsteht doch eine Unmasse von Abfall.
Diesen kann man zu nichts weiter verwenden als zur Herstellung des Bernsteinfirnisses, den die Maler und Lackierer gebrauchen.
Weshalb schmilzt man diese kleinen Abfallstücke und den Staub nicht zusammen, sodass wieder große Bernsteinmassen entstehen?
Weil man den Bernstein nicht schmelzen kann. Er zersetzt sich dabei, obgleich er doch erst in flüssigem Zustande aus der Konifere hervorgequollen ist!
Mister Sharp, lösen Sie dieses Rätsel, verwandeln Sie den Bernstein zurück in eine flüssige Masse, sodass kleine Stückchen und Staub wieder zu einer kompakten Masse zusammenschmelzen, lassen Sie sich Ihre Erfindung patentieren und Sie werden Millionen dafür geboten bekommen.
Wir brauchen diese Millionen nicht. Uns ist es nur wegen der Wissenschaft zu tun. Wir haben einige Dutzend Physiker und Chemiker, die findigsten Köpfe. welche sich seit vielen Jahren Tag und Nacht mit diesem Problem beschäftigen, aber es ist ihnen noch nicht gelungen, es zu lösen.
Das ist es, was ich Ihnen angesichts dieser Bernsteinkonifere nur sagen wollte. Die Millionen liegen auf der Straße, man braucht sie nur aufzuheben.
Nun wollen wir den Tiergarten nebenan besichtigen. Dazu muss ich mich erst des Mammuts entledigen, das werden wir sonst nicht wieder los, das lässt mich hier nicht wieder heraus.«
Es wurde etwas dunkler, der blaue Himmel überzog sich schnell, gleich darauf begann es in dichten Flocken zu schneien.
»Da haben Sie den gewünschten Schneefall. Unserem Mammut freilich ist er nicht erwünscht.«
Das Ungetüm hatte schon Unruhe gezeigt, als der Himmel sich zu verdunkeln begann, und kaum fielen die ersten Schneeflocken, als es kehrtmachte und davontrottete, mit einem unwilligen, aber nicht bösartigen Brummen.
»Den Schnee kann er nämlich nicht leiden!«, erklärte Black. »Er schadet ihm durchaus nichts, aber — — es scheint gegen die Natur dieses afrikanischen Elefanten zu gehen. Von Schnee will er nichts wissen. Sobald es zu schneien anfängt, zieht er sich in seine Höhle zurück, in seinen behaglichen Stall. Es ist das einzige Mittel, um ihn los zu werden, sonst lässt er mich hier nicht wieder heraus. Und wenn ihn der Hunger zwingt, seine Futterstelle aufzusuchen, dann schleicht er mit seinen unförmigen Füßen vorsichtig wie eine Katze durch den Schnee.«
Immer dichter fielen die Flocken, sie lagerten sich auf den Nadelbäumen nieder, bald musste der Wald eine Winterlandschaft darbieten.
»Das möchte ich eigentlich noch abwarten, habe schon lange keine winterliche Gegend mehr gesehen!«, meinte Mister Sharp.
»Aber das dauert doch noch eine gute Weile, und ich möchte unser Mammut nicht gar zu sehr mit dem ihm so fatalen Schnee quälen. Doch einen winterlichen Wald sehen Sie hier nebenan.«
Sie verließen diese Grotte, kamen bald an einen anderen roten Stein, der eine gefährliche Tür bezeichnete.
»Hier ist die Warnung viel eher angebracht, wenn auch jeder echte Jäger sie für überflüssig halten wird.«
Diese neue Grotte, die sie betraten, vorläufig aber noch durch ein rotes Gitter von ihr getrennt, war noch viel größer als die vorige, enthielt wieder meist Nadelbäume, deren Zweige sich unter der Schneelast bogen, also ein vollkommen winterliches Bild, und nun überall Hirsche aller Art, soweit der Norden ihre Heimat war, auch Rentiere und Elche.
»Es ist unser Hirschpark, gegenwärtig im winterlichen Kleide. Auch hier wird künstlich gefüttert. Hier sind sogar die Bäume künstliche. Aber sie bestehen nicht etwa aus Gummi oder einer ähnlichen Substanz, sondern zumal die Stämme sind aus einer eisenharten Masse, sonst würden die Hirsche sie benagen, selbst wenn sie keine Rinde abschälen könnten, sie müssen instinktiv ihre Geweihe daran scheuern, und da wäre natürlich bald der ganze Wildpark zum Teufel.
Ja, es ist manchmal nicht ungefährlich, ihn zu betreten. Schon mancher Mensch ist von einem grimmigen Hirsche angenommen worden. Sind Sie ein Freund der Jagd, Mister Sharp?«
»Früher einmal gewesen, jetzt nicht mehr. Und in solch einem Wildpark auf gehegte Tiere würde ich überhaupt nie schießen.«
Da dachte dieser junge Amerikaner also anders als zum Beispiel der König von Spanien, der, zum Besuch bei einem andern Fürsten, in dessen Wildpark die gehegten und gepflegten Tiere, von ihren Wärtern an die Hand gewöhnt, lustig zusammenknallt. Aber diese Art von Jäger, und zwar gerade fürstliche Jäger, hat der größte, der klügste König, der wohl je gewesen, Friedrich der Große oder der Einzige, sein Urteil gesprochen: »Solche Menschen gehören in eine moralische Erziehungsanstalt, aber nicht auf den Thron!«
»Das wussten wir von Ihnen!«, sagte der Zigeuner »Sie brauchten kein Verbot, dass in diesen Tierparks nicht geschossen werden darf, sonst wären Ihnen diese Tierparks gar nicht erst gezeigt worden, Sie hätten gar nichts davon erfahren.
Aber abgeschossen müssen die sich stark vermehrenden Tiere doch manchmal werden. Und warum da nicht unseren Mitgliedern, die Freunde des edlen Weidwerks sind, zu denen auch ich gehöre, das Vergnügen gönnen? Nur wird dann eine wirkliche Jagd arrangiert, auf einem ganz anderen Terrain, die Tiere werden erst von Menschen entwöhnt, lernen ihn als ihren Feind kennen, haben Gelegenheit zu entfliehen, sich zu verstecken und sich zu verteidigen.«
»Ich habe jetzt noch keine Lust zu jagen, vielleicht später einmal.«
»Wollen wir dann hinaufgehen in die hochnordische Region? Dort finden Sie, wie Sie wünschten, eine wirkliche Polargegend mit Eisbären und Polarvögeln. Allerdings auch Menschen, die jetzt nicht so schnell zu entfernen sind. Eskimos in ihren Winterhütten.«
»Echte Eskimos?«
»Ganz echte.«
»Keine künstlichen?«
»Künstliche?«
»Künstliche Menschen, meine ich.«
»Nein, richtige lebendige Menschen!«, musste der Zigeuner lachen.
»Dann verzichte ich darauf.«
»Das tut mir leid. Aber ich muss es Ihnen sagen, die Eskimos sind dort oben dauernd angesiedelt, sie haben ihre Rechte bekommen, es wäre eine Beleidigung für sie, wenn sie sich wegen eines Besuches zurückziehen müssten.«
»Zeigen Sie mir etwas anderes.«
»So wollen wir uns hinab begeben, und Sie sollen tatsächlich noch etwas viel Interessanteres zu sehen bekommen.«
Ein Fahrstuhl beförderte sie hinab bis vor einen schwarzen Stein, der in die graue Felswand eingelassen war.
»Hier ist das schwarze Schloss angebracht. Wer diese Tür öffnet, der tritt in das Reich des hundertfältigen Todes.«
»Wozu ist denn diese Tür da erst angebracht?«
»Weil sie bei einer Generalreinigung doch einmal benutzt wird, wozu man eben die dahinter lauernde Gefahr erst unschädlich macht. Um diese zu betrachten, gebrauchen wir einen anderen Eingang.«
Sie gingen den Korridor entlang. Dass Mister Sharp nicht erst fragte, was dies denn für eine Gefahr sei, war bei diesem Charakter ganz selbstverständlich. Er sollte es ja gleich zu sehen bekommen.
Es war ein Schloss der weißen Unschuld, welches der Zigeuner öffnete, und nach einem kurzen Gange kamen sie an ein stark vergittertes Fenster.
Entsprechend der Hitze oder doch großen Wärme, die hier herrschte, blickte Sharp durch die Eisenstäbe in eine Landschaft mit tropischer Vegetation, entsprechend dem Gürtel, der jenen Berg unten umgeben hatte, mit welcher Ebene sie sich hier auch in gleicher Höhe befanden.
Trotz dieser üppigen Vegetation war auch hier alles möglichst durchsichtig gehalten, und so erblickte man die Löwen und Tiger und Panther und Hyänen und andere Raubtiere, welche zwischen den Bäumen und Büschen schlichen oder sich mehr noch einer beschaulichen Ruhe hingaben.
Also nur Raubtiere der heißen Zonen waren hier vertreten.
Bald aber musste man seine Ansicht doch etwas ändern, wenn sie auch der Hauptsache nach richtig blieb.
Kein anderes Tier kam hinzu, welches von diesen blutgierigen Bestien hätte überwältigt werden können.
Dagegen wand sich dort durch das Gras eine Riesenschlange, und jetzt tauchte dort aus dem sumpfigen Wasser der ungeheure Kopf eines Krokodils auf. Solche Reptilien passten ja nun auch in diese Gesellschaft.
Es ist noch kein verbürgter Fall bekannt geworden. dass sich ein Tiger oder ein ähnliches Raubtier in einen Kampf mit einer Riesenschlange eingelassen hat. Alle diese Raubtiere verschmähen überhaupt Schlangenfleisch oder es mag angeborene Scheu sein. Der Ichneumon und der Igel gehen selbst größeren Schlangen zu Leibe, die sind auch wirklich giftfest, ebenso wie das Schwein — auch so etwas Merkwürdiges, dessen Ursache unsere Gelehrten vergebens zu erforschen suchen — jene großen Raubtiere hingegen gehen auch der kleinsten Schlange aus dem Wege.
»Leben denn diese Bestien unter sich in Frieden?«, fragte Sharp.
»Vollkommen. Auch die verschiedensten Arten. Nur natürlich dürfen sie keinen Hunger leiden.«
»Womit werden sie gefüttert?«
»Von einer Fütterung kann man eigentlich nicht sprechen. Jedes Tier oder doch jede Familie hat sein eigenes Jagdgebiet.«
»Jagdgebiet? Was jagen Sie denn? Sie setzen andere Tiere hinein, die sie erbeuten?«
»Nein, so wie Sie es sich jetzt wohl denken, dürfte es nicht gemacht werden. Wenn wir hier ein Reh oder ein Schaf oder ein Schwein hineinsetzen wollten, dann freilich würde ein blutiger Kampf unter den Bestien entstehen. Wie gesagt, jedes Tier muss für sich und zur Ernährung der Familie sein eigenes Jagdgebiet haben.«
»Ja, wie machen Sie denn das nur? Was ist denn das für ein Jagdwild?«
»Kaninchen. Der ganze Boden dieses sehr großen Terrains ist unterhöhlt, ist ein einziger Kaninchenbau. Tausende von Karnickeln hausen darin. Wollen die nicht verhungern, so müssen sie ins Freie, nur hier oben finden sie Nahrung, solche die von selbst hier wächst, oder es wird ihnen auch extra Futter gestreut.
Dieses Jagdleben entwickelt sich in der Nacht. Da lauert jedes Raubtier auf seinem Revier vor den Karnickellöchern. Hat es eine Beute erhascht, so verzehrt es sie auf der Stelle oder trägt sie öfter noch in seine Höhle.
Dabei kommt gar keine Eifersucht vor. Die Karnickel sind im Überfluss vorhanden. Und jedes Raubtier hält schon deshalb sein eigenes Jagdrevier inne, weil es dieses am besten kennt, in einem anderen würde es nicht so leicht Beute machen
So haben die Bestien ihre Beschäftigung, fühlen sich ganz wie in der Freiheit, bleiben daher gesund.«
»Ja, sehr gesund für diese Bestien, aber nicht für die Karnickel, ich möchte keines sein!«, meinte Mister Sharp trocken.
»Ja, geehrter Herr«, lachte der Zigeuner, »das ist nun einmal der Kampf ums Dasein! Irgendwie müssen die gefangenen Tiere doch gefüttert werden. Übrigens ist die Sache für die Karnickel gar nicht so schlimm. Wie gesagt, sie sind massenhaft vorhanden, sie vermehren sich stärker als sie verbraucht werden, wir müssen sie manchmal in anderer Weise dezimieren, und dann kommt es auch nur auf ihre Schlauheit an, um sich das Leben zu verlängern. Wir kennen manchen alten Bock, der sich schon seit vielen Jahren jede Nacht hier oben fett frisst, und manche Karnickeldame schenkt jedes Jahr fünfzig und noch mehr Kindern das Leben und erzieht sie mit Anstand groß, trotz aller Raubtiere.
Außerdem findet auch noch eine direkte Fütterung statt. Wenn Mütter ihre Jungen säugen. Denen wird Fleisch in ihren Höhlen zugeworfen; denn die nächtliche Kaninchenjagd ist doch sehr langwierig und anstrengend. Ist ein Karnickel erhascht. dann dauert es natürlich lange, ehe die anderen wieder zum Vorschein kommen.«
»Kann man das Treiben der Bestien nur von diesem Fenster hier aus beobachten?«
»Solche Gitterfenster ziehen sich noch ringst herum.«
»Das hätte ich aber doch anders eingerichtet.«
»Wie denn?«
»Nun, ich hätte auch innerhalb dieser Wildnis einige Käfige angebracht, Schutzvorrichtungen, in denen man sitzt, um alles zu beobachten.«
»Wie soll man dorthin gelangen?«
»Einfach auf einem unterirdischen Wege.«
»Gestatten Sie, dass ich Ihnen zeige, wie wir für denselben Zweck eine ganz andere Einrichtung getroffen haben.«
Sie verließen das Fenster, Black führte in eine Felsenkammer, die für ihre sonst kleinen Dimensionen außerordentlich hoch war, mindestens acht Meter.
Sie wurde von zwei Gittertüren abgeschlossen, nach dem Korridor hin sowohl wie nach der Wildnis, sodass man in diese hier also nicht nur durch ein vergittertes Fenster blickte.
Vor allen Dingen aber hing in der Kammer von der Decke herab ein großer Käfig, mit gepolsterten Bänken und einigen anderen Verrichtungen versehen.
Er hing an vier Eisenstangen, die oben zusammenliefen, und diese einzige Stange ging von einer ansehnlichen Kugel aus, die direkt an der Decke befestigt war.
So sah das Ganze aus, soweit sich das mit kurzen Worten beschreiben lässt.
Black hatte die Gittertür, durch die sie eingetreten waren, wieder geschlossen und öffnete dafür eine kleine Tür des Käfigs, dessen Boden nur wenig über den der Kammer hing.
»Bitte, wollen Sie einsteigen und Platz nehmen.«
Mister Sharp gehorchte. Auch ein großer Mann konnte in dem Käfig gerade aufrecht stehen.
»Ich will Ihnen keine Erklärung weiter geben, Sie werden gleich selbst sehen, was das für ein Vehikel ist und wie man es steuert. Wir sind hier drin sicher aufgehoben, nur kommt man lieber nicht zu nahe an die Gitter und darf natürlich auch nicht mutwillig eine Hand hinausstrecken.«
Die ins Freie führende Gittertür öffnete sich von selbst, und der Käfig mit den beiden Passagieren setzte sich in Bewegung.
Das heißt, oben die Kugel rollte an der Decke entlang. Wenn sie nun unten noch in einer Halbkugel lief, an der der haltende Eisenstab befestigt war, so musste eben der ganze Käfig mit fortrollen. Es war eine eigentümliche Art von Schwebebahn, jedenfalls wurde die Kugel oben magnetisch festgehalten und elektrisch getrieben.
So rollte der Hängewagen aus der Kammer hinaus ins Freie.
Nun freilich musste dem jungen Amerikaner eine Erkenntnis aufgehen!
Er hatte es wohl vorhin schon bemerkt, aber nicht weiter beachtet, dass die dort draußen stehenden Bäume bei großer Stärke des Stammes alle nicht sehr hoch waren, höher als acht Meter keiner.
Darüber hatte sich der blaue Himmel gewölbt.
Und jetzt rollte die Kugel mit dem ganzen Himmelswagen an diesem blauen Himmel entlang!
Die Erklärung, die der Zigeunerprofessor gab, war vielleicht gar nicht nötig gewesen.
Da sauste etwas durch die Luft und an dem Käfig hing ein
schwarzer Sundapanther, der furchtbar fauchend mit der
Tatze durch die Gitterstäbe nach den beiden Menschen angelte.
»Diese ganze Grotte, die wir zum Raubtierzwinger eingerichtet haben, ist nur acht Meter hoch.
Das heißt, wir haben ihr eine künstliche Decke gegeben, die den Himmel vortäuscht.
Um an dieser Decke mit dem Hängewagen überall hinfahren zu können.
Nur den Bäumen und den Felsformationen, die den Tieren als Höhlen dienen und zugleich die Decke abstützen, muss man ausweichen, sonst kann man ganz nach Belieben herumkutschieren.
Denn manchmal ist es doch nötig, dass ein Mann hier eindringt, um einige Arbeiten zu verrichten. Viel ist das allerdings nicht.
Die Grotte ist so ausgezeichnet ventiliert, dass Sie wohl gar nichts von einem Raubtiergeruch wahrnehmen werden. Keine andere Säuberung ist nötig.
Die Bäume brauchen nicht beschnitten zu werden, dass sie nicht gegen die Decke stoßen und sich da zu sehr ausbreiten, diese Bäume sind künstlich.
Nur unten am Boden wächst natürliches Gras und anderes Futter für die Kaninchen.
Auch die Fütterung in den Höhlen geschieht in anderer Weise.
Trotzdem aber muss doch einmal jemand diesen Raum betreten, um nach dem Rechten zu sehen, das geschieht eben mit diesem Schwebewagen, und dann kann man mit diesem ja auch alles besichtigen.«
Dass der Hängewagen nicht oft hier herein kam, das war bald erkenntlich.
Er war den Raubtieren nicht so gleichgültig. Freilich griffen sie ihn nicht etwa an, sondern flohen im Gegenteil vor ihm davon, genau so, wie sie es auch in gänzlicher Freiheit getan hätten.
Und doch, da sauste etwas durch die Luft, und an dem Käfig hing ein schwarzer Sundapanther, der furchtbar fauchend mit der Tatze durch die Gitterstäbe nach den beiden Menschen angelte.
Doch ehe der Zigeuner noch eine Eisenstange ergriffen hatte, war die Bestie schon wieder mit einem Satze zwischen den Zweigen eines Baumes verschwunden.
Es war der einzige Angriff gewesen.
Der Hängewagen kutschierte herum, Black erklärte nebenbei, wie die Steuervorrichtung zu handhaben war, wie man den Wagen auch bis fast zur Decke hochheben konnte, indem sich die Hauptstange dabei wie ein Fernrohr zusammenschob oder ihn auch auf den Boden niederlassen konnte.
Auf diese Weise besichtigten sie den ganzen Tierpark, der eine außerordentliche Ausdehnung hatte.
Mister Sharp bekam ja Interessantes genug zu sehen, aber ganz schien er nicht befriedigt zu sein; zumal sich ja jetzt die meisten Tiere versteckten.
»Nur des Nachts gehen sie auf die Kaninchenjagd?«
»Nur des Nachts.«
»Kann man die Karnickel nicht auch einmal am Tage hervorjagen?«
»Das geht nicht gut, ist überhaupt wohl gar nicht möglich.«
»Kann man die Bestien bei ihrer nächtlichen Karnickeljagd beobachten?«
»In völliger Finsternis? Jeder Lichtschein würde sie verscheuchen.«
»Hm. Oder sind die Bestien nicht wenigstens bei ihrem intimen Familienleben zu beobachten?«
»Das sich in ihren Schlupfwinkeln, in tiefen Höhlen abspielt? Herr, Sie verlangen wirklich sehr viel! Das Beste wohl, wir verlassen diese Region, ich will Ihnen etwas ganz anderes zeigen.«
Der Hängewagen fuhr zurück nach der Gittertür, Black öffnete sie, schob sie zurück, die Tür schloss sich von allein, und sie verließen den Käfig, der bei all seiner Seltsamkeit den jungen Amerikaner so wenig befriedigt hatte.
Auf dem Korridore nur ein kurzer Gang, eine Treppe hinauf, und der Zigeunerprofessor legte die Hand wieder auf ein weißes Steinschloss.
»Herr, Sie haben vorhin viel verlangt«, sagte er jetzt nochmals, ehe er die Tür öffnete, »aber Sie sollen sehen, was Sie hier alles verlangen können, wie man alle Ihre Wünsche befriedigt.«
Er drückte die Felsentür auf, und nur einen Schritt brauchte Mister Sharp zu tun, dann musste er wissen, was sein Führer gemeint hatte.
Er stand auf festem Boden, aber durch diesen hindurch blickte er immer wieder in den Raubtierzwinger hinein!
Also es war ja so ziemlich dasselbe Bild, was er von oben hatte, und doch wieder ein ganz anderes.
Vieles kam hinzu, was er vorhin nicht gesehen hatte. Anderseits fehlte manches.
Zum Beispiel fehlten alle die Felsformationen. Statt ihrer sah Mister Sharp da Löwen und Tiger und andere Raubtiere liegen, Mütter, an denen die Jungen saugten, wenn jene nicht mit ihnen spielten, wobei sich die reizendsten Familienszenen entwickelten.
»Nun, was sagen Sie jetzt?«
Mister Sharp selbst fand keine Erklärung. Er musste erst aufmerksam gemacht werden, eine gewisse Sache schärfer ins Auge zu fassen, dann gewahrte er es.
Die Löwinnen und Tigerinnen lagen mit ihren Jungen doch nicht so ganz frei da. Es war, als ob sie mit einer gläsernen Masse umgeben seien. Aber man musste eben ganz scharf hinblicken, um die Grenzen dieser gläsernen Masse erkennen zu können. Es war nicht etwa so wie bei einfachem Glase, mochte es auch noch so kristallklar und durchsichtig sein. Es war etwa, als wenn man eine Glastafel in Wasser taucht. Da sind doch die Konturen der Scheibe sehr schwer erkennbar.
Doch nicht lange, so bekam Mister Sharp die Erkenntnis.
»Ach, die Felsen sind wohl, von hier oben gesehen, durchsichtig wie Glas?!«
»So ist es!«, bestätigte Black. »Sie bestehen natürlich nicht aus Glas, sondern aus einer anderen, besonderen Masse, welche, durch diese Decke gesehen, die natürlich auch wieder aus einer ganz besonderen Masse besteht, durchsichtig wie das reinste Glas wird. Jetzt können Sie also das intimste Familienleben innerhalb dieser Felsen beobachten. Und das umso ungestörter, als die Raubtiere selbst uns nicht sehen, die Decke ist nur von oben durchsichtig. Nur zu sehr trampeln dürfen wir nicht.«
Ja, das war allerdings etwas ganz anderes. Lange Zeit beobachtete Mister Sharp diese Familienszenen aus dem Leben der wildesten, grimmigsten Raubtiere, hin und her gehend, vorsichtig auf den Zehenspitzen, oder sich wohl auch manchmal hinlegend, das Auge auf den Boden drückend, um sich nichts von diesem Treiben entgehen zu lassen.
Und jetzt verwandelte sich dieses Treiben dort unten wiederum.
Alle die Raubtiere wurden plötzlich unruhig, auch die schläfrigsten erhoben sich, gähnten, und dann begann alles zu schleichen.
»Wie kommt das? Was ist da unten los?«
»Lassen Sie sich, während Sie beobachten, erst eine kleine Erklärung geben.
Sie fragten vorhin, ob es möglich sei, diese Raubtiere bei ihrer nächtlichen Kaninchenjagd zu beobachten.
Ich antwortete, es sei nicht möglich.
Nein, anderswo auf der Erde ist es auch nicht möglich. Aber hier, in dieser unterseeischen Welt ist es möglich gemacht worden.
Ich werde Ihnen später durch mehrere Experimente zeigen, wie wir Licht und Finsternis beherrschen, wie wir sie umwandeln und vertauschen und nebeneinander bestehen lassen können, sodass man fast zu dem biblischen Glauben kommen könnte, die Finsternis sei ein Ding für sich selbst, welches das Licht nicht begreift.
Jetzt will ich Ihnen nur so viel sagen, dass es dort unten finster wird.
Aber nicht für uns, die wir von jenem Raume durch eine Decke getrennt sind.
Dort unten bricht jetzt für die Tiere — und auch für jeden Menschen, der sich dort aufhält — das Reich der Nacht an, wir aber sehen alles durch diese Decke noch immer in vollem Lichte.
Also daher die Erregung, die sich der Tiere bemächtigt.
Es beginnt zu dunkeln, sie rüsten sich zur Jagd.
Die Zeit ist zufällig eine natürliche, denn es ist gleich um sechs Uhr, um welche Zeit auf diesen Breiten die Sonne sinkt, welche Nacht- und Tageszeit auch wir hier unten so ziemlich einhalten.
Doch nötig wäre es gerade nicht. Die Tiere sind es gewohnt, dass es doch manchmal zu unregelmäßiger Zeit finster und dann wieder hell wird, sie haben den Zeitsinn doch ziemlich verloren — kurz, sobald es finster wird, kommen die Kaninchen hervor, um schnell nach Äsung zu gehen, und infolgedessen bereiten sich die Raubtiere sofort zur Jagd vor.
Nun passen Sie auf. Hoffentlich haben Sie das Glück, nicht lange warten zu müssen, denn das kann ja freilich passieren, dass ein Tiger oder Löwe stundenlang vor einem Kaninchenbau lauert und keine Beute erhascht, gar keine zu sehen bekommt.
Ich führe Sie auf einen Platz, von wo aus Sie gerade recht viel solcher Kaninchenbaue beobachten können.«
So geschah es. Mister Sharp sah, wie sich die Raubtiere aller Art schleichend verteilten und sich auf die Lauer legten, zum Sprunge geduckt, Bodenerhöhungen beobachtend, die nur durch ihren Graswuchs nicht gleich die Kaninchenbaue erkennen ließen.
Da aber sah Mister Sharp schon eines der graugelben Tierchen huschen, und in demselben Augenblick machte ein Jaguar einen Satz und hatte die Beute zwischen den Vordertatzen und dann im Rachen, so trabte er in seine Höhle, die für den Beobachter also durchsichtig war, um dort das Karnickel zu verzehren, was freilich sehr schnell ging.
Und so ging es weiter. Mister Sharp beobachtete die verschiedensten Jagdweisen, einen Tiger, der nicht erst wartete, bis das Kaninchen völlig zum Vorschein kam, sondern es mit einem Tatzenschlag herausbeförderte, sobald es mit dem Kopfe hervorlugte, während ein Panther lieber vom Aste eines Baumes sprang und auf diesen immer wieder zurückkehrte, und dann eine Löwin, welche das erhaschte Tierchen immer ganz behutsam in den Rachen nahm, nämlich um es lebendig ihren Jungen zu bringen, die aber noch gar keinen Appetit nach Fleisch hatten, die nur mit der lebendigen Beute spielen mussten, um die spätere Jagd zu erlernen.
Und dann hatte Mister Sharp auch das Glück, zu beobachten, wie eine Riesenschlange ihre Beute machte und sie verzehrte, und das letztere hätte er nicht beobachten können, wenn diese Beute etwa aus einem Schwein bestanden hätte, oder er hätte sich hier für zwei bis drei Tage niederlassen können, denn so lange dauert es, bis eine Riesenschlange von sechs Meter Länge ein mittelgroßes Schwein hinunterwürgt. Bei diesem Karnickel ging es nun freilich schneller, und doch wurde es erst mit Speichel schlüpfrig gemacht.
Und weiter wollte es der Zufall, dass er gerade sah, wie ein ans Ufer gekrochenes Krokodil, das der Hauptsache nach freilich mit Fischen gefüttert werden musste, mit einem blitzschnellen Schlage des Schwanzes ein vor ihm im Grase auftauchendes Kaninchen direkt in seinen Rachen hinein beförderte.
Das ist nun allerdings leicht gesagt. Mister Sharp hätte es nicht geglaubt, wenn er es nicht selbst gesehen. Wie das plumpe Schuppenungeheuer den halben Leib mit dieser Blitzartigkeit so nur hatte drehen können, um das Karnickel, das etwa einen halben Meter vor seiner Schnauzenspitze gesessen hatte, treffen zu können, es auch noch so direkt in seinen Rachen hineinschleudernd!
Und schließlich sah Mister Sharp auch noch, wie eine riesige Netzschlange in eine tunnelartige Höhle kroch, in der sich ein scheußliches Bündel von großen Würmern bewegte, ihre Brut, der sie das Karnickel, das sie verschluckt hatte, als zerquetschten, mundgerechten und auch schon mit Magensaft vermischten Fraß aus dem Rachen vorspie.
Dass einige Schlangenarten ihre junge Brut auf diese Weise füttern, wird ja von einigen Forschern behauptet, aber sie geben nur die Erzählungen von Eingeborenen wieder, denen sie eben glauben; die meisten Naturforscher verwerfen das als ein Märchen — der junge Amerikaner hatte es hier als Tatsache gesehen, etwas, was man freilich wohl nie bei gefangenen Schlangen beobachten wird. Da hat man ja schon seine liebe Not, dass sie überhaupt etwas fressen, und dann wieder nicht ihre eigenen Jungen, wenn sie wirklich einmal solchen das Leben geschenkt haben.
»Hier könnte ich stunden- und vielleicht sogar tagelang verweilen!«
Das sagte Mister Sharp nach der ersten halben Stunde und dann entfernte er sich schon, aber nur, um einmal durch ein offenes Fenster in dieses Tierreich direkt zu blicken. Er sah gar nichts. Hier unten herrschte tatsächlich die schwärzeste Finsternis
»Ist das nun wirkliche, echte Finsternis?«, fragte er. »Ich geniere mich fast, so zu fragen, aber was ich hier schon erlebt habe und was Sie vorhin für Andeutung machten, daraus möchte man ja fast schließen, dass es hier auch eine andere, künstliche Finsternis gibt.«
»Und da haben Sie auch ganz recht, hier gibt es wirklich eine künstliche Finsternis, die mit der natürlichen gar nichts zu tun hat!«, entgegnete der Zigeunerprofessor. »Aber die Finsternis, die hier herrscht, ist eine echte, erzeugt durch Abwesenheit von Licht. Das erkennen Sie daraus, dass sie vom Licht verdrängt wird.«
Er zog eine Taschenlampe hervor und ließ durch die Nacht einen Blendstrahl leuchten, in dem man eine Hyäne sah, die erschrocken sofort Reißaus nahm.
»Bei der künstlichen Finsternis leuchtet der Blendstrahl gar nicht?«
»Ja und nein, je nachdem man es haben will. Sie haben solch eine künstliche Finsternis ja schon selbst durchgemacht.«
»Wann denn?«
»Als Sie in dem Sumpflande wateten. Sahen Sie da nicht die Blitze am Himmel zucken, ohne dass diese doch die Nacht für Sie aufhellten?«
»In der Tat, so war es.«
»Nun, das war solch eine künstliche Finsternis. Sie bestand nur für Sie.«
»Was, nur für mich?!«
»Für einen anderen Menschen war es dort heller Tag.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Es wird Ihnen später noch deutlicher gemacht werden.«
Mister Sharp wünschte noch einmal auf das Dach zurückzukehren, hier sah er unter sich die ganze Tierwelt wieder im hellsten Lichte.
Es sei gleich bemerkt, dass hierbei ja gar kein so großes »Wunder« vorlag.
Wir befinden uns am hellen Tage in einem Zimmer mit nur einem einzigen Fenster, durch Glasscheiben verschlossen, die Tür ist zu.
Durch dieses Fenster sehen wir doch natürlich draußen den hellen Tag.
Aber ein draußen Stehender muss sein Gesicht schon sehr dicht an die Glasscheiben drücken, um in das Zimmer blicken uu können, um wirklich etwas zu sehen.
Sonst sieht er nur einen schwarzen Raum, Finsternis, überhaupt nichts, obgleich es doch in dem Zimmer in Wirklichkeit ganz hell ist!
Dieses Beispiel ist in gewisser Beziehung ganz dasselbe.
Und was lässt sich nun da mit Spiegeln machen!
Fängt der draußen Stehende die Sonnenstrahlen mit einem kleinen Hand- oder Taschenspiegel auf und lenkt sie durch das schwarze Fenster in den für ihn finsteren Raum, so sieht er nun da drinnen einen Lichtstrahl, der alles deutlich erkennen lässt, worauf er fällt.
Ja wie kommt denn das?
Dort drinnen ist doch überhaupt heller Tag!
Wie kann er denn in dieser tatsächlichen Helligkeit einen Sonnenstrahl erzeugen?
Warum sieht den denn der im Zimmer Befindliche nicht, höchstens als einen hellen Fleck an der Wand?
Hier liegt tatsächlich, wenn man es sich recht überlegt, ein »Wunder« vor, ein unerklärliches Rätsel, man muss nur richtig darüber nachdenken. Und es gehören denn auch große physikalische Kenntnisse aus dem Gebiete der Optik dazu, um sich das regelrecht erklären zu können; während die meisten Menschen so etwas doch für etwas ganz Selbstverständliches halten, weil es ihnen eine allbekannte Erscheinung ist.
Noch eine halbe Stunde gab sich Mister Sharp oben den Beobachtungen der jagenden Raubtiere hin, dann hatte er davon genug. »Nun zeigen Sie mir wieder etwas ganz anderes, Herr Professor.«
»Das sollen Sie haben. Aber wollen Sie nicht einmal etwas essen?«
»Nee.«
»Es ist Abend geworden.«
»Ich esse abends nie etwas.«
»Sie haben aber doch noch gar kein Mittagessen gehabt.«
»Dafür habe ich heute Nachmittag umso reichlicher zum dritten Male gefrühstückt.«
»Aber das ist nun auch schon vier Stunden her.«
»Wie gesagt, ich esse vor der Nacht niemals, und nun außerdem — hören Sie, Herr Professor, Sie können doch hier in dieser unterseeischen Welt manches Wunder ausführen — können Sie mir nicht drei Eier abknöppen?«
Der Zigeuner machte vor Staunen erst etwas den Mund auf, ehe er es langsam herausbrachte.
»Drei — Eier — abknöppen? Dreie?«
»Ich will es Ihnen gestehen: Seitdem Sie mich hier herumführen, habe ich unausgesetzt Magendrücken. Ich habe nämlich vorhin sechs Eier gegessen. Und darauf ist mein Magen nicht geeicht, so gut er sonst auch ist. Er ist nur einmal des Tages an die Normalration von drei Eiern gewöhnt, die hatte ich ja auch heute schon eingenommen, zum ersten Frühstück, und nun nach dem zweiten Frühstück ganz reglementwidrig immer noch einmal Eier, und zwar gleich sechse, und noch dazu ausnahmsweise große Hühnereier, wenn sie auch schön pflaumenweich waren — jetzt gibt mir mein Magen von innen heraus Ohrfeigen, wie ich sie verdiene. Können Sie mir von diesen sechs Eiern die Hälfte nicht wieder herauspraktizieren?«
Der Zigeunerprofessor machte ein sehr nachdenkliches Gesicht, und man wusste nicht recht, ob er es ernst meinte oder humoristisch wurde.
»Hm. Meinen Sie denn, dass die sechs Eier noch ganz in Ihrem Magen sind?«
»Ganz? Na, ich habe sie nicht etwa ganz verschluckt, womöglich gleich mit der Schale, ich habe nur das Innere hübsch mit dem Löffel gegessen. Sie sollen ja auch nicht gerade drei Stück herausbringen, drei Dotter und drei Eiweiß, wenn's nur die Hälfte ist, und so ganz genau kommt's ja auch nicht darauf an.«
Plötzlich begann sich Mister Sharp zu krümmen, die Hände vorm Bauche.
»Himmelbombenelement, jetzt fangen die Eier aber an rebellisch zu werden!«
»Ist es denn gar so schlimm?«
»Na, ich sage Ihnen — besonders das vierte Ei — ich glaube, das hat den Veitstanz bekommen — und jetzt macht Ei Nummer zwei auch schon mit!«
»Ich will Ihnen einmal ein Abführmittel geben!«, lachte der Zigeuner.
»Abführmittel!!«, winselte Mister Sharp, sich krümmend. »Hahahaha, Abführmittel! Zum Donnerwetter, ist denn ein Abführmittel ein so guter Witz, dass Sie so lachen, wenn Sie es aussprechen? Und was soll ich denn mit einem Abführmittel? Bin ich denn etwa eine Henne, die Eier legen soll?«
»Wir wollen schnell zum Arzt gehen —«
»Ach Mumpitz, es ist ja gleich wieder vorüber. Das vierte Ei hat sich bereits ausgeveitstanzt, und wenn auch Ei Nummer drei jetzt etwas anfängt, das kenne ich, das ist nicht so sehr zu fürchten. Nur das fünfte Ei muss ich im Zaume zu halten wissen, das ist eine böse Nummer.«
»Wollen Sie einen guten Schnaps —«
»Nein, nein — nützt bei mir nichts — ich habe früher zu viel geschnapst —«
»Oder etwas Bewegung?«
»Ja, Bewegung! Sehen Sie, ich wäre vorhin ganz gern auf dem Berge herumgeklettert, aber ich dachte — wenn du auf so einem Gletscher ins Schusseln kommst — und du klatscht mit deinen sechs Eiern dreißig bis fünfzig Meter hoch herunter — das kann den Eiern doch nicht gut bekommen, die könnten sich dabei versacken. Na, was gibt's denn nur da egal zu lachen?«
Ja, der junge Zigeunerprofessor lachte aus vollem Halse.
Denn es wirkte gar zu komisch, wie sich Mister Sharp immer krümmte, sich den Bauch haltend, und wie er dies nun alles wimmernd und doch so trocken hervorbrachte.
Denn nicht etwa, dass er selbst dabei lachte, was ja schließlich auch bei großem Schmerz möglich ist. Er hatte noch niemals gelacht, nicht gelächelt; auch vorhin nicht, als er »hahahaha« gemacht hatte. Da hatte er eben nur das Lachen des Zigeuners mit grimmigem Gesicht nachgeahmt.
»Verzeihen Sie, aber ich weiß ja gar nicht, ob Sie wirklich solche Schmerzen haben —«
»Nee, jetzt nicht mehr«, sagte Sharp, sich wieder aufrichtend, »die Eier sind wieder in Ordnung. Nun aber will ich mir doch etwas Bewegung machen, um einem erneuten Anfall vorzubeugen.«
»Wollen Sie marschieren, laufen, rudern —«
»Vertikale Bewegung will ich haben. Horizontale, nach allen Seiten hin habe ich ja schon genug gemacht. Vertikal will ich mich bewegen! Was man so im gewöhnlichen Leben klettern und herabpurzeln nennt. Ja, ich will einmal klettern. Ich war früher einmal ein großer Freund des Klettersports.«
»Wünschen Sie wieder den Berg mit den verschiedenen Temperaturen —?«
»Nee, den wünsche ich gerade nicht. Haben Sie nicht irgend etwas anderes, woran ich meine plötzliche Kraxelwut auslassen kann? Aber auch keine Leiter, keine Stange, vielleicht so etwa einen alten Kachelofen mit den nötigen Vorsprüngen, der so recht hübsch gleichmäßig geheizt ist, und nicht, dass man sich unten die Finger verbrennt und oben erfriert man sie an Gletschern.«
»Ja, so etwas haben wir!«, lachte Black Swinton. Kommen Sie mit, es ist gar nicht weit, Sie sollen staunen, was wir speziell für den Klettersport geschaffen haben.«
Wir beschreiben den kurzen Weg nicht, da die Hauptsache umso mehr beschrieben werden muss.
Wieder war es eine ungeheure Grotte, die sie betraten, etwa 40 Meter im Durchmesser und ebenso hoch.
Aber nun die grauschwarzen Felswände, wie die aussahen!
Teils mehr oder weniger schräg, teils ganz steil, waren sie über und über mit Vorsprüngen und Zacken und Graten besetzt, und nun noch dazu die bizarrsten Gebilde, die sich denken lassen.
Der Boden selbst bestand aus demselben grauschwarzen Gestein, war aber völlig eben, wie asphaltiert.
»Das ist also die Halle, in der wir dem Klettersport frönen!«, begann Black Swinton.
»Dazu nun noch einige Erklärungen, bevor Sie sich auf den Weg machen, vorausgesetzt, dass Sie es noch so lange aushalten können.
Es gibt hier die verschiedensten Kletterwege, Stiege genannt, welche unsere Kraxler benutzen, wobei sie nach der Zeit klettern, mit dem Bemühen, neue Schnelligkeitsrekorde aufstellen zu können.
Diese Stiege sind mit Nummern bezeichnet, lieber aber gibt man ihnen Namen, die schon ihre Leichtigkeit oder Schwierigkeit ausdrücken.
Da gibt es einen Kinderstieg, einen Lehrlingsstieg, einen Schülerstieg, verschiedene Meisterstiege, dann aber auch einen Mädchen- und Altenjungfernstieg, einen Teufels- und Hexenstieg, einen Katzen- und gleich drei Affenstiege — bei dem einen ist ein Wickelschwanz nötig — und so noch eine ganze Masse Stiege, bis zum einfachen Todesstieg und komplizierten Genickbruchstieg.
Besonders unsere jungen Leute sind da groß darin, immer neue Stiege aufzufinden und ihnen charakteristische Namen zu geben.
Nun müssen aber doch solche Kletterwege irgendwo gekennzeichnet werden, sonst findet man sie später doch nicht wieder! Kann nicht genau denselben Weg zum zweiten Male machen.
Und etwa mit farbigen Linien ist da nicht viel zu wollen, sonst wären doch hier die ganzen Wände ein einziger Regenbogen.
Nun, wir haben uns da schon zu helfen gewusst.
Wenn jemand einen neuen Stieg schaffen will, so sagt er das, und seine Spur wird auf einer Registrierstation verfolgt, sie wird also durch Apparate aufgezeichnet.
Dann ist er für immer fixiert und kann jederzeit wieder gekennzeichnet werden.
Bitte, schalten Sie einmal einen Schülersteig ein.«
Kaum hatte es Black gesagt, als an der Wand dort, wo diese von unten bis oben ziemlich mäßig schräg war, auf dem grauschwarzen Grunde ein gelber Streifen von etwa einem Meter Breite entstand, von unten bis oben mit nur wenigen Abweichungen nach der Seite ziemlich gerade hinaufführend.
»So, da sehen Sie, wie das gemacht wird. Der einmal registrierte Stieg wird optisch an der Felswand wieder sichtbar gemacht. Optisch, will ich zur Vorsicht lieber sagen, nicht nur so einfach durch einen Projektionsapparat. Es handelt sich dabei um etwas ganz anderes.
So ganz genau wird ja nun allerdings nicht jeder Vorsprung bezeichnet, den der erste Kletterer mit den Händen gefasst und auf den er den linken oder den rechten Fuß gesetzt hat. Dadurch würde die Sache einerseits zu kompliziert, anderseits zu einfach — für den Nachahmer.
Der Stieg, den der erste Kletterer erklommen hat, liegt innerhalb des meterbreiten Streifens, und damit basta; wobei es auch nicht darauf ankommt, wenn er auch einmal darüber hinaus gegriffen hat. Halte Dich auf diesem gelben Streifen und sonst suche Dir Deine Anhalte- und Stützpunkte selber! Darin liegt ja gerade der Reiz.
Wer bei solch einmal schon geschaffenen Stieg einen neuen Schnelligkeitsrekord aufstellen will, der kann nicht gleich so darauf los klettern, sondern das muss er erst ganz bedachtsam tun, muss wirklich seinen ganzen Scharfsinn anstrengen, muss jeden Griff und Tritt überlegen, und diesen Weg muss er viele Dutzend Mal klettern, schneller und immer schneller, bis er daran denken kann, einen Rekord brechen zu wollen.
O, Sie glauben gar nicht, was wir hier für wahre Teufel im Klettern haben!
Es ist manchmal wirklich fabelhaft, was man da zu sehen bekommt.
So, das wäre also der Schülerstieg.
So genannt, weil sich auf dem jeder schulen muss, wenn er Meister des Klettersports werden will.
Denn er ist gar nicht so einfach, wie er vielleicht aussieht, weil er fast so schnurgerade hinaufläuft.
Es gibt auch noch einfachere Schülerstiege, die viel komplizierter aussehen; das hier ist der schwerste.
Nun den besten Rundstieg, bitte.«
Jener gelbe, senkrechte Streifen verschwand, dafür zeigte sich ungefähr in halber Höhe ein horizontaler, der rund herum lief, selten eine kleine Abweichung nach unten oder oben machend.
Der junge Zigeuner kniff das eine Auge zu, während er den Streifen kritisch betrachtete, wozu er sich natürlich im Kreise drehen musste, sein braungelbes Gesicht nahm einen wahrhaft verklärten Ausdruck an, und so klang auch seine Stimme, als er jetzt erläuterte:
»Das ist der schönste, perfekteste Rundstieg, den wir haben.
Es gibt noch eine ganze Masse Rundstiege, aber mit diesem hier kann sich keiner messen, und er ist um so schöner, als er fast genau in der Mitte hinläuft.
Mister Jonas hat denn auch fast ein Jahr gebraucht, um ihn auszuarbeiten, und der Mann ist in diesem Jahre Tag für Tag ununterbrochen vierzehn Stunden geklettert, bis er diesen Weg herausgearbeitet hat.«
Der Zigeunerprofessor gab sein verklärtes Gesicht auf, öffnete auch das andere Auge wieder und wandte sich Mister Sharp zu.
»Sie werden sich vielleicht wundern, mich so enthusiastisch über solch einen Kletterweg äußern zu hören, als handele es sich hier um ein bedeutendes Kunstwerk.
Ich habe einmal auch nicht begreifen können, wie es Menschen gibt, die an so etwas nur irgend welche Freude haben.
Ich habe darüber anders denken gelernt. Ich will darüber jetzt nur eines sagen.
Also jener junge Mann, Mister Jonas, hat ununterbrochen bis auf den nötigen Schlaf ein ganzes Jahr lang gearbeitet, um diesen Rundweg auszukundschaften.
Kann man das wirklich eine Arbeit nennen?
Nun, jedenfalls hat der junge Mann dabei seine Freude gehabt, und er hat bei seiner Kraxelei keinen anderen Menschen gekränkt oder gestört.
Da sitzt ein anderer Mann — manchmal auch eine Dame — in dem Zimmer eines großen Wohnhauses Tag für Tag von früh bis abends am Klavier und paukt sich eine Rhapsodie von Liszt ein.
Ob das nun dem Herrn oder der Dame so besondere Freude macht, das ist ja nun sehr die Frage.
Aber sie wollen das Stück eben fingerfertig können, darein setzen sie ihre Ehre, und deshalb pauken sie los.
Daneben sitzt ein anderer Mann, der immer ans Zimmer gefesselt ist.
Und wie der da drüben auf dem Klavier nun endlich die Rhapsodie so ziemlich kann, da bekommt der andere plötzlich den Rappel, springt auf und klettert an den Wänden hoch.
Sehen Sie, das ist der Unterschied dabei.
Und nun den Klapperschlangenstieg, bitte.«
Jener gelbe Streifen verschwand, dafür kam ein anderer, der von unten nach oben in mehreren Spiralen herumführte.
»Das ist der längste Stieg, den wir haben. Klapperschlangenstieg heißt er, weil er, wie Sie sehen, mit der Linie eines Schraubenziehers endet. Auch sehr fleißig und sauber und akkurat und sogar schön ausgearbeitet, aber mit dem großen Rundstieg lässt er sich nun freilich nicht vergleichen.
Vielleicht nun noch den großen Zickzackstieg, bitte.«
Diesmal also führte der gelbe Streifen immer im Zickzack, und zwar um die ganze Grotte herum, immer von unten nach oben.
»Eine sehr fleißige Arbeit, nichts weiter!«, bemerkte der Mentor mit wegwerfender Bewegung. »Der Schöpfer dieses Werkes hat die Kraft zum Wollen gehabt und die Ausdauer zum Ausführen, aber nicht das genügende Können. Ihm hat der göttliche Funken gefehlt, der das Genie ausmacht. Also kehren wir zurück zu unserem ersten Schülerstieg.«
»Ja, bei dem waren meine sechs Eier auch am ruhigsten!«, meinte Mister Sharp. »Bei dem Rundstieg spielten sie im Magen Karussell, bei dem Zickzackstieg machten sie entsprechende Bewegungen, und angesichts der großen Spirallinie bekamen sie die Schöpsdrehe.«
»Wie befinden Sie sich jetzt?«
»Na, so lala. Wie gesagt, bei Anblick dieser geraden Linie geht's mir wieder ganz gut. Also Sie meinen, ich soll da hinaufklettern?«
»Wollen Sie nicht?«
»Na, wissen Sie — wollen wir es nicht erst einmal mit einer anderen Nummer versuchen? So vielleicht mit dem Lehrlingsstieg. Oder Kinderstieg. Oder Babystieg. Oder haben Sie nicht so etwas für Kraxler, die noch an der Mutterbrust liegen?«
»O, die anderen sind für Sie ja viel zu leicht!«, lachte der Zigeuner.
»Na — ich bin nie ein besonderer Kraxler gewesen.«
»Aber diesen Schülerstieg beherrschen Sie, das weiß ich. Soll ich es Ihnen erst einmal vormachen?«
»Ja, das wäre mir sehr angenehm, besonders das Abstürzen. Wie man sich dann hier unten am sanftesten hinsetzt. Ich werde gut aufpassen.«
Der Zigeunerprofessor warf sein Gewehr hin und riss sofort die Jacke ab. Das Hemd darunter war nicht minder pompös gestickt, auch auf dem Rücken, aber noch mehr durchschwitzt als die Jacke.
»Wie steht der Rekord für diesen Schülerstieg, was ist die kürzeste Zeit?«
»Ja, wie soll ich denn das wissen?«
Black hatte den Amerikaner ja auch gar nicht gefragt, im nächsten Augenblick hatte er es von anderer Seite aus zutelegrafiert erhalten.
»Auf 48 und zwei fünftel Sekunden.«
Sharp machte ein ungläubiges Gesicht, wie er an dem gelben Streifen emporblickte.
»Was, in 48 Sekunden da hinauf klettern?!«
»Jawohl.«
»Den ganzen Streifen entlang?!«
»Gewiss.«
»Wie hoch ist denn das?«
»Genau 40 Meter, und nun kommt noch die Neigung in Betracht.«
»Wie wird denn das berechnet?«
»Von dem Moment an, da sich der letzte Fuß von diesem ebenen Boden entfernt, bis zu dem Moment, da der zweite Fuß dort oben den Absatz, die sogenannte Tellplatte, berührt, wo der gelbe Streifen endet. Die Kontrollierung geschieht automatisch elektrisch bis zur fünftel Sekunde.«
»Und diese fast senkrechte Wand wollen Sie in 48 Sekunden erklettern?!«
»Nein, ich kann es freilich nicht. Sie sollen eben den Unterschied dabei erkennen, was wir für gewaltige Kletterer haben. Vielleicht halten Sie mich auch für einen recht guten. Aber gegen die richtigen Kraxler, die hier ständig üben, bin ich das reine Kind, eine langsam kriechende Schnecke; oder soll ich den Mann holen, der diesen Rekord von 48 Sekunden geschaffen hat? Soll's der Ihnen vormachen?«
»Nein, nein, machen Sie es nur.«
»Dann nur noch eines; nicht wahr, Sie bleiben hier in der Mitte des Saales stehen.«
»Warum?«, musste der so selbstständige Amerikaner erst fragen.
»So leicht dieser Stieg für mich auch ist, so sicher ich mich auch fühle, so könnte es ein böser Zufall doch einmal wollen, dass ich abstürze, dass Sie mich da nicht etwa auffangen wollen.«
»Ich werde mich hüten.«
»Und wenn Sie darunter stehen, könnte ich auf Sie stürzen, könnte Sie zerschmettern.«
»Keine Bange, ich bleibe hier stehen. Legen Sie los.«
Mister Sharp zog seine Uhr.
»Es ist nicht nötig, dass Sie nach der Uhr sehen. Die Zeit wird dann gemeldet, und außerdem wird alle Sekunden ein Glockenzeichen ertönen, sodass Sie, wenn Sie wollen, mitzählen können. Also nun vorwärts!«
Der Zigeuner rannte hin nach dem gelben Streifen und sprang in die Höhe, nach zwei Zacken greifend.
In demselben Moment erscholl ein Glockenzeichen, und so ging das sekundenweise weiter.
Und immer mehr begann der junge Amerikaner zu staunen.
Wie der Kerl dort kletterte!
Nein, das war kein Klettern mehr, das war das Springen eines Steinbockes.
Vorausgesetzt, dass ein Steinbock da hinaufgekommen wäre.
Immer ein Springen und Schwingen von Zacke zu Zacke, mit Händen und Füßen zugleich.
Es war unbeschreiblich, wie der sich in die Höhe schnellte!
Und trotzdem, Sharp hatte schon den achtundvierzigsten Glockenschlag gezählt, da hatte der Kletterer noch nicht ganz drei Viertel der Höhe erreicht.
Was mussten da also erst jene Kraxler leisten können, die solche Rekorde aufstellten.
Und außerdem wurde der Weg dort oben immer schwieriger, und so zählte Sharp noch weitere 37 Glockenschläge, bis Black das Ende des gelben Streifens erreicht hatte.
Dann noch ein Sprung, das Läuten verstummte, er richtete sich auf und wandte sich um.
»Fünfundachtzig Sekunden!«, schrie er herab.
Vierzig Meter hoch — das wäre die doppelte Höhe eines vierstöckigen Hauses. Auf diese Entfernung hin kann man sich natürlich verständigen, und außerdem schallte die Stimme sehr in dieser Halle.
Aber von einer schwindelnden Höhe darf man da wohl auch sprechen, gerade eben in solch einer geschlossenen Höhe.
»Fabelhaft, ganz fabelhaft!«, staunte Mister Sharp zu dieser Höhe hinauf, wo er den Zigeuner als kleine Figur winken sah.
Und wie würde er nun wieder herabkommen?
Von einem Herabklettern hatte Black gar nichts gesagt.
Wenn man das nicht wollte, so gab es jedenfalls im Innern des Felsens bequeme Treppenabstiege, oder es wäre doch sonderbar gewesen, wenn man hier nicht an so etwas gedacht hätte, wahrscheinlicher noch gleich an Fahrstühle.
Aber das Herabkommen geschah doch in anderer Weise, etwas gefährlicher, aber noch viel schneller und exakter, als es mit einem Fahrstuhl möglich gewesen wäre.
Dicht unter der Decke, die nur nach den Wänden zu etwas gewölbt war, sonst völlig eben, befanden sich einige kurze Stangen — Trapeze, wollen wir gleich sagen.
Ein solches kam auf den Zigeuner zugerollt, nämlich wieder mit so einer Kugelvorrichtung, er ergriff das Trapez, und sofort rollte dieses nach der Mitte der Decke zurück, gleichzeitig aber auch aus der Kugel ein langes Seil herablassend.
Dies geschah so schnell, dass es eher wie ein Sturz aussah. Aber zuletzt wurde so stark gebremst, dass der daran Hängende mit den Füßen ganz sanft landete, und zwar direkt vor Mister Sharp.
Solch eine direkte Beförderung nach irgend einem bestimmten Ziele konnte also kein Fahrstuhl und dergleichen fertig bringen. Das Trapez ging wieder nach der Decke zurück.
»Nun?«
»Staunenswert, wirklich staunenswert!«, erklang es immer wieder in entsprechendem Tone, und dieser Amerikaner verstellte sich doch nicht etwa, um zu schmeicheln.
»Was finden Sie so staunenswert?«
»Ihre Kletterei. Diese Schnelligkeit!«
»Ich habe aber doch 37 Sekunden mehr gebraucht, fast noch einmal so lange wie der Rekordaufsteller.«
»Wie das jemand in nur 48 Sekunden fertig bringt, kann ich überhaupt nicht begreifen.«
»Soll ich es Ihnen einmal von jenem jungen Manne vormachen lassen?«
Gleich setzte Mister Sharp ein abweisendes Gesicht auf.
»Nnnnein!«, erklang es dann zögernd und doch bestimmt. »Ich habe schon genug bei Ihnen gesehen.«
»Wollen Sie es nun einmal selbst probieren?«
»Ja, das werde ich tun.«
Und sofort schritt Sharp hin nach dem gelben Streifen, blickte empor, und erst von direkt hier unten sah man richtig, wie steil doch die Wand war. Ja nicht gerade wie eine senkrechte Wand, nur mir Zacken und Vorsprüngen besetzt, aber immerhin, von einem Abhange konnte man nicht etwa sprechen, da doch eher von einer senkrechten Felsenwand, die ein Erklimmen erlaubte.
»Ja, ich will es einmal probieren. Aber nach der Zeit will ich nicht klettern.«
»O nein. Klettern Sie nur ganz bedachtsam. Auch die Glockenschläge werden ausbleiben.«
»Gut. Ja, und was ich dann noch fragen wollte — warten Sie, was war es doch gleich — ach so — wo ist denn hier die nächste Beerdigungsanstalt Zum ewigen Frieden?«
Ein starrer Blick seitens des Zigeuners und dann brach er in ein schallendes Gelächter aus.
Es war auch gar zu trocken und drollig herausgekommen, diese Frage, die einen so tiefen Inhalt hatte.
»Nein, Mister Sharp, es kann Ihnen nichts passieren!«, entgegnete der lachlustige Zigeuner dann, als er sich wieder beruhigt hatte.
»Ich kann doch einmal abklitschen.«
»Es hätte nichts zu sagen.«
»Dann bleibe ich frei in der Luft schweben?«
»Wie denn das?«
»Nun, vielleicht durch magnetische Kraft in der Schwebe gehalten, wie so ein aufgebaumelter Engel, nur ohne Strick.«
»Das ist allerdings nicht möglich, Sie so in der Schwebe zu halten.«
»Ich prassele also nach den Gesetzen der Schwerkraft herab.«
»Ja, abstürzen würden Sie.«
»Na, und wenn ich nun hier unten lande, wie steht es dann mit meiner Gesundheit?«
»Mister Sharp, wenn eine Gefahr dabei vorhanden wäre, so würden Sie doch einen Gürtel umgeschnallt bekommen, man könnte Sie doch dort oben an so ein Seil befestigen, da hätten Sie ja gleich, was Sie wollten, Sie ... blieben bei einem Absturz in der Luft hängen.«
»Hm. Also solch eine Vorsichtsmaßregel ist nicht nötig?«
»Ganz und gar nicht.«
»Ja, wie vermeiden Sie es denn sonst, dass man hier unten seine Knochen zerschmettert?«
»Wollen Sie es wirklich im Voraus wissen? Mister Sharp, vertrauen Sie uns doch, stürzen Sie nur ruhig ab, oder Sie können, wenn Sie wollen, dann auch freiwillig von dort oben herabspringen. Es wird Ihnen nicht das Geringste schaden.«
Der junge Amerikaner blickte empor und dann auf den grauschwarzen, steinfesten Boden nieder, trampelte auf ihm herum.
»Hm. So eine Ahnung habe ich schon, wie das hier gemacht wird. Diesen Boden fürchte ich nicht. Aber wie ist es denn nun hier mit der Felsenwand? Es würde doch kein direkter Absturz sein. Ich würde über alle die Zacken und Vorsprünge schusseln, wenn sie mich nicht festhalten oder ich sie nicht packen kann, nicht wahr?«
»Ja natürlich.«
»Na ich danke!«
Mister Sharp befühlte ein paar solcher grauschwarzen Zacken, hart wie Granit, einige von ganz gefährlicher Spitze, die Kanten scharf.
»Da spießt man sich oder schlitzt sich den Leib auf, wenn man gerade in so recht schöner Fahrt ist.«
»Mister Sharp, muss ich Ihnen denn wirklich schon eine Erklärung geben, auf welche Weise wir jede Gefahr für Leben und Gesundheit unmöglich machen?«
»Nein, nicht nötig!«
Und mit diesen Worten hing der junge Amerikaner schon an den nächsten Zacken, die er erreichen konnte, und er begann seine Klettertour.
Wohl kletterte er sicher so schnell wie möglich, dabei große Geschicklichkeit entwickelnd, er musste ein geübter Kraxler sein, er kam rasch in die Höhe, aber mit dem Zigeuner konnte er sich nun freilich nicht vergleichen.
Als er sich ungefähr in der halben Höhe befand, waren bereits zwei Minuten vergangen, und jetzt begann er auch viel langsamer zu klettern.
Einmal wurde dort die Felswand viel steiler, und dann konnte man auch schon von hier unten erkennen, dass dort die Vorsprünge viel seltener und auch viel kleiner wurden.
Schließlich kam er, also in der Höhe einer vierten oder wahrscheinlicher sogar fünften Etage, gar nicht mehr vom Flecke, streckte immer sein linkes Bein aus, so weit wie möglich, tastete mit dem Fuße, aber schließlich gab er auch dieses Bemühen auf, ließ das linke Bein hängen, und so verhielt er sich regungslos, das Gesicht und natürlich den ganzen Körper dicht gegen die Felswand gedrückt.
Mindestens eine Minute verging, die bei so etwas doch eine hübsche Spanne Zeit zu bedeuten hat, und Mister Sharp rührte sich dort oben in der fünften Etage nicht.
»Na, weiter doch!«, rief der Zigeunerprofessor endlich unten.
»Nee.«
»Sie wollen nicht weiter?«
»Nee.«
»Warum denn nicht?«
»Mir gefällt's hier oben.«
»Na, geben Sie's nur zu«, lachte Black, »Sie können nicht weiter!«
»Ganz und gar nicht. Weshalb soll ich nicht weiter können? Aber ich will nicht. Ich denke gerade über etwas nach. Stören Sie mich nicht egal.«
»Bei dem Nachdenken müssen Sie wohl mit dem linken Beine zappeln?«
Denn jetzt hatte Sharp doch wieder das linke Bein ausgereckt und krebste damit an der Felswand herum.
»Ja, ja, Mister Sharp«, lachte Black wieder, »die Stelle, auf der Sie jetzt sind, die ist bekannt genug, da hat schon mancher so wie Sie jetzt gestanden und mit dem linken Beine gekrebst. Das ist der sogenannte Krebspunkt, auch Hahnentritt genannt. Na, nun recken Sie Ihr linkes Bein einmal noch etwas weiter aus und den Fuß mehr nach oben, dann finden Sie den Vorsprung schon.«
Mister Sharp tat, wie ihm geheißen, aber mit negativem Erfolge.
»Ich finde nischt!«, fing er jetzt auf Deutsch an.
»Immer noch etwas höher mit dem Fuße!«
»Höher geht mein linker Fuß nicht.«
»Na natürlich! Nur noch einen Zoll höher, dann haben Sie den Vorsprung! Ich kann es ja hier deutlich sehen!«
»Ja Sie, aber ich nicht.«
»Blicken Sie doch einmal hin!«
»Ick werde mir hüten.«
»Na vorwärts, machen Sie einmal einen kühnen Tritt nach links oben hinauf, das ist eben der Hahnentritt.«
»Machen Sie ihn mir erst einmal vor.«
»Jawohl, das habe ich vorhin getan.«
»Vorhin ist nicht jetzt, kleben Sie nur erst einmal in meiner Lage.«
»Na los, es ist ja dabei gar nichts zu riskieren!«
»Das können Sie da unten gut sagen.«
Dabei aber hatte Sharp doch immer weiter mit dem linken Beine geangelt und richtig einen Vorsprung gefunden, auf dem der Fuß Halt fand.
»Ich habe ihn, ich habe ihn!!«
»So, nun schieben Sie sich nach links hinüber.«
»Na warten Sie nur, nun will ich mich erst ein bisschen ausruhen!«
Er ruhte sich sehr, sehr lange aus, und es war ja überhaupt ganz offenbar, dass jetzt erst das wahre Kunststück kam. Nun den Körper völlig nach links zu bringen.
»Jetzt lassen Sie die rechte Hand los!«
»Ich werde mich hüten!«, wurde oben gegen die Felswand gebrüllt.
»Schieben Sie sich nur immer nach links!«
»Ich bin aber gewohnt, immer nur nach rechts zu schieben.«
Aber er hatte die rechte Hand doch losgelassen, die er jedoch nur dazu benutzte, um seine Mütze abzunehmen und sich einmal auf dem Kopfe zu kratzen.
»Sie, Herr Professor!«
»Was gibt's?«
»Was ich sagen wollte — habe ich die Rekordzeit schon überschritten oder ist noch Gelegenheit, den Rekord von 48 zwei fünftel Sekunden zu brechen?«
»Na, nun drücken Sie sich nach links!«, lachte Black.
»Ja, gleich — ich muss nur warten, bis sich mein fünftes Ei wieder beruhigt hat, das Luder fängt jetzt gerade an — na da adjüs.«
Er hatte sich nach links hinüber schieben wollen und war abgeglitten.
Fürchterlich sah es aus, wie er aus dieser Höhe herabsauste.
Eigentlich war es ja mehr ein Rutschen, aber zu merken war nichts davon.
Im ersten Anfange versuchte er sich an den Vorsprüngen festzuhalten, was ihm aber nicht gelang.
Ganz merkwürdig war dabei, dass er an keinem der vielen Zacken und Vorsprünge hängen belieb, dass er so ganz glatt darüber hinwegrutschte, welche Ursache bei der Schnelligkeit aber nicht zu erkennen war.
So schlug er unten auf dem ebenen Felsenboden auf, nicht anders als mit der wachsenden Geschwindigkeit eines aus solcher Höhe herabfallenden Steines.
Da freilich, wenn ihn nicht die Besinnung verlassen hatte, musste er sofort erkennen, was es mit diesem Felsenboden für eine Bewandtnis hatte, wenn er es eben nicht schon vorher gewusst hatte.
So furchtbar war der Aufschlag, dass er sich mit den Füßen tief, tief in diesen grauschwarzen Felsenboden eingrub, mit den Beinen, er verschwand gleich mit dem ganzen Körper darin.
Und dann tauchte er wieder auf, versank wiederum, aber nicht mehr so tief, das geschah noch zweimal, wobei sich dieses Auf und Nieder immer mehr abschwächte, und dann stand er aufrecht wieder auf dem harten Boden.
Also dieselbe Schutzvorrichtung, wie eine solche jenes bockende Pferd umgeben hatte. Ein Fangnetz; nur dass dieses hier ganz anders funktionierte. Für gewöhnlich glich das Fangtuch, wie wir doch lieber sagen wollen, einem festen Steinboden, gab dem Gewichte nicht im Mindesten nach. Aber wenn jemand herabstürzte, so verwandelte sich dieser scheinbare Steinboden eben in ein elastisches, nachgiebiges Fangtuch, das erst wieder hart wurde, wenn sich der Gestürzte ausgeschaukelt hatte.
Als Mister Sharp wieder wohlbehalten auf seinen Füßen stand, war sein erstes, dass er die Hände in die Hosentasche steckte.
»Hm. So etwas habe ich ja erwartet. Also auf diese Weise wird das hier gehandhabt! Und diese Zacken?«
Er trat hin an die Felswand, nahm die Hände aus den Hosentaschen und befühlte die Zacken. Die waren von hartem Stein und manchmal scharf und spitz dazu.
»War es mir doch gerade, als ob ich über Watte glitt oder eine eingeseifte Rutschbahn hinab.«
»Anders ist es auch nicht!«, sagte Black, der herbeigekommen war. »Der Vergleich mit Watte und Seife ist gar nicht so unrichtig, wenn es auch nicht gerade Watte und Seife sind. Nun befühlen Sie diese Felswand und diese Zacken und Vorsprünge noch einmal.«
Mister Sharp tat es, und jetzt bekam er etwas ganz anderes zu fühlen.
Die ganze Felswand bestand aus einer weichen Masse, in die er seinen Arm bis zum Ellbogen und noch tiefer einbohren konnte, ohne Mühe hineinstecken, und zog er Arm und Hand zurück, so war die Öffnung sofort wieder geschlossen.
Und dasselbe galt von den Vorsprüngen und von den Zacken, die besaßen ganz die gleiche Eigenschaft.
Sie bestanden jetzt aus einer weichen, elastischen Masse, wie aus Watte, es wäre unmöglich gewesen, sich an der schärfsten Spitze zu verletzen, man konnte mit dem offenen Auge dagegen stoßen, man konnte sie drehen und biegen wie man wollte, sie um den Finger wickeln — aber immer nahm die Zacke sofort wieder ihre ursprüngliche Gestalt an, in dieser Hinsicht glich die Masse doch nicht einer grauschwarzen Watte, eher sehr weichem Kautschuk, und außerdem fühlte sie sich fettig, etwa wie Speckstein an, was sonst in ihrem harten Zustande durchaus nicht der Fall war, da fühlte sie sich vielmehr rau an.
»Es ist eine künstliche Masse«, erklärte Black, »Kautschuk, allerdings ganz besonderer Kautschuk, das heißt ganz besonders präpariert und dann auch noch mit anderen Substanzen vermischt.
Man möchte von kautschukartigem Schnee oder schneeartigem Kautschuk sprechen.
Wenn nämlich dieser Boden hier von einer Wasserfläche gebildet würde, so wäre die Sache noch längst nicht so ungefährlich.
Wohl ist Wasser nachgiebig, man kann Hand und Arm hineintauchen, ohne einen besonderen Widerstand zu spüren, man kann hineinspringen, hineinfallen, ohne sich wehe zu tun, aber in einer gewissen Höhe hört das auf, und die braucht manchmal gar nicht so groß zu sein.
Wer einmal bei einem Kopfsprung tüchtig auf den Bauch geplatscht ist, das Sprungbrett braucht nur einen Meter hoch über dem Wasser zu sein, der weiß, wie das tut.
Und aus solch einer Höhe, wie sie hier möglich ist, würde dies meistenteils einfach einen Todessturz bedeuten, ganz bestimmt, wenn man platt aufschlägt, der ganze Leib würde auseinander platzen, zumal es hier Stellen genug gibt, gerade die gefährlichen, von wo man direkt hinabstürzt, ohne dann weiter die Felswand zu berühren, also ohne vorher zu schusseln.
Nur lockerer Schnee gäbe eine sichere Unterlage.
In frischgefallenen Schnee, der einige Meter hoch liegt, können Sie aus noch viel größerer Höhe stürzen, mit den Füßen oder mit dem Kopfe voran oder auch mit horizontalem Körper platt aufschlagen, es wird Ihnen nichts schaden.
Ich spreche gerade von Schnee, weil es das Weichste, Nachgiebigste ist, was es in der Natur gibt.
Sonst ist ja hier der Vergleich mit Baumwolle oder Watte ansprechender.
In eine Schicht lockerer Watte von einigen Metern Dicke können Sie auch aus einer ganz beträchtlichen Höhe stürzen, es wird Ihnen nichts schaden.
Nun hat diese Watte hier aber noch eine ganz andere Eigenschaft.
Sie gleicht dem Kautschuk, und es ist ja, wie schon gesagt, überhaupt Kautschuk, nur von unendlicher Weichheit — und Elastizität dazu.
Nun haben wir es in der Hand, die Weichheit und Elastizität dieser Masse ganz nach Belieben zu verändern.
Indem dies von verschiedener Elektrizität abhängig ist, welche in diese Masse geleitet wird.
Also für gewöhnlich gleicht der Boden hier unten einem harten Stein.
In dem Augenblick nun, da der Kletterer abstürzt, wird ein anderer elektrischer Strom eingeschaltet, und im selben Moment verwandelt sich die harte Masse in die denkbar weichste.
So stürzt der Fallende hinein. Hat er nun den tiefsten Punkt erreicht, so weit die Masse nachgeben kann, nimmt sie etwas an Härte zu, vor allen Dingen aber an Elastizität, sie dehnt sich wieder aus, streckt sich nach oben, schleudert oder hebt die Person hoch, fängt ihn wieder auf, aber schon wieder ganz weich, fängt ihn wiederum auf, aber schon etwas härter, und das geht so drei- bis viermal, innerhalb weniger Sekunden, bis die Person eben wieder auf ganz hartem Boden liegt oder steht.
Und so ist es nun auch mit der Felswand. Nur dass hier nicht die verschiedenen Abstufungen von Härte und Elastizität nötig sind.
In demselben Moment, da der Kletterer abstürzt, nämlich wenn er sich mit einer Schnelligkeit von einem Meter in der Sekunde abwärts bewegt, schaltet sich automatisch der andere Strom ein, das aber schon im ersten tausendstel Teil dieser Sekunde, genau wie beim Momentverschluss einer Kamera, und der Felsen mit all seinen Vorsprüngen und Zacken ist in jene weiche, sich speckartig anfühlende Masse verwandelt, über welche der Abstürzende nun harmlos schusselt, in die federnde Unterlage hinein.
Das ist die ganze Erklärung, soweit ich sie Ihnen hier geben kann.«
Wiederholt hatte Mister Sharp während des Zuhörens den Kopf geschüttelt.
»Fabelhaft, fabelhaft, was Sie hier alles ausgediftelt haben!«
»Du lieber Gott«, lachte Black, »in 300 Jahren kann man schon etwas ausdifteln, zumal eine geschlossene Gesellschaft von Männern, von Physikern, die sich ausschließlich mit so etwas beschäftigen.«
»300 Jahre?! Ich denke, die unsichtbare Loge ist erst seit 80 Jahren hier!«
»Ja, hier im Atlantik im Riffhause und darunter! Aber bestehen tut diese Loge schon seit mehr als 300 Jahren, und mit naturwissenschaftlichen Problemen haben sich ihre Mitglieder immer beschäftigt.«
»Ach so! Und wo war die geheime Gesellschaft früher ansässig?«
»Bitte — auf solche Fragen darf ich nicht antworten und wenn Sie mich auch sofort entlassen.«
»Ich denke nicht daran. Kann denn nun diese Sache nicht einmal versagen, dass man dennoch alle seine Knochen zerschmettert?«
»Ein Versagen ist ausgeschlossen!«
»Weshalb?«
»Ein Versagen dieser automatisch funktionierenden Vorrichtung ist so unmöglich, wie Sie es doch nicht ändern können, dass unter normalen Verhältnissen der Stein zur Erde fällt, ein Stück Eisen von einem Magneten angezogen wird. Mehr kann ich Ihnen hierüber jetzt nicht sagen. Jeder, der in diesen Raum tritt, wird sofort, und zwar ebenfalls selbsttätig, automatisch, von einem elektrischen Strahle, für gewöhnlich unsichtbar, in Empfang genommen, der beständig auf den Kopf des Betreffenden gerichtet ist, magnetisch festgehalten wird, und dieser elektrischmagnetische Strahl lässt nicht von ihm ab, man kann sich nicht vor ihm verstecken, er dringt auch durch die Masse, durch den Felsen, falls man sich in einer Höhle befindet oder in einer Schlucht klettert, und fällt der Betreffende schneller als einen Meter in der Sekunde, so wird der andere Strom ausgelöst, der Stein verwandelt sich in eine weiche Masse. Nein, ein Versagen ist unmöglich!«
»Nun gut, ich glaube Ihnen. Aber eines ist mir dabei doch nicht recht klar.«
»Was nicht?«
»Da kann doch immer nur ein einziger sich hier dem Klettersport hingeben, die anderen müssen inzwischen zusehen.«
»Weshalb denn?«
»Nun, wenn mehrere an den Wänden herumklettern und nur ein einziger stürzt ab, so rutschen die anderen auf dem weichen Zeuge doch auch mit herab.«
»Ja, das wäre der Fall, wenn sich gleichzeitig die ganze Masse so verwandeln würde, so wie es jetzt tatsächlich geschah. Überall, wo Sie hinfassen, werden Sie die weiche Masse fühlen. Aber das ist nicht nötig, das kann auch auf gewisse Strecken isoliert werden.
Wenn jemand abstürzt, so verwandelt sich unter ihm nur ein drei Meter breiter Streifen in die weiche Watte. Links und rechts von ihm bleibt harter Felsen. Und diese Breite von drei Metern genügt vollkommen, da kann er auch mit ausgebreiteten Armen nichts erreichen, er kann also seine Hände nicht verschrammen.«
»Ach so! Und so ist es dann auch auf dem Boden, beim Aufschlagen?«
»Jawohl. Hierbei kommt nur ein Kreis von fünf Meter Durchmesser in Betracht. Alles andere bleibt harter Boden.«
»Sehr praktisch eingerichtet! Gesetzt aber nun den Fall, einer klettert über dem anderen? Einer ist höher als der andere? Bei den Rund- und Zickzackwegen müssen doch solche Kreuzungen in verschiedenen Höhen vorkommen. Wenn nun der obere abstürzt, muss doch auch der untere abrutschen, oder aber der obere stürzt auf den unteren und reißt ihn mit sich.«
»Es freut mich, dass Sie an so etwas gleich denken, und es freut mich, Ihnen sagen zu können, dass auch wir an so etwas gedacht und zu umgehen gewusst haben.
Dieses Zusammentreffen könnte sogar lebensgefährlich sein, und das muss natürlich vermieden werden.
In solch einem Falle kann immer nur einer abstürzen, und zwar immer nur der untere. Kreuzen sich zwei Kletterer in einer Breite von fünf Metern, natürlich gleichgültig wie hoch oder wie tief, und der obere stürzt ab, so — kann er eben gar nicht abstürzen. Er wird festgehalten.«
»Wodurch?«
»Durch magnetische Kraft. Bitte, legen Sie die Hand auf den Felsen. Ich lasse den betreffenden Strom einschalten.«
Die Felswände mit allen ihren Zacken war wieder hart geworden, Sharp legte seine Hand auf einen solchen, und er konnte sie nicht wieder entfernen, es gelang ihm nicht, sie loszureißen.
Dasselbe war dann auch mit seiner anderen Hand der Fall, bis sie ihm eben wieder freigegeben wurden.
»Nun, wollen Sie einmal etwas hinaufklettern, um dasselbe an Ihrem ganzen Körper zu probieren? Denn da muss die Sache anders gemacht werden, denn auch das Gesicht wird so kräftig angezogen, da könnte man sich ja die Nase breit quetschen.«
Gut, Sharp kletterte etwas hinauf, bis ihm Black zurief, er solle abspringen oder eben mit Absicht abstürzen.
Kaum verlor Sharp den Halt, als er auf der plötzlich weich und seifenartig gewordenen Masse ins Gleiten kam, aber im nächsten Moment wurde er von einer unsichtbaren Kraft dagegen gepresst, sodass er wie ein Laubfrosch daran klebte.
»Das ist jetzt automatisch ausgelöst worden, weil ich direkt unter Ihnen näher als fünf Meter an der Wand stehe. Sie würden auf mich stürzen. Ich trete diese fünf Meter zurück —«
Augenblicklich setzte Mister Sharp seine Rutschpartie fort und landete in dem weichen Boden, der dann unter ihm wieder hart wurde.
»Wirklich großartig, wie das alles ausgeknobelt ist!«
»O, wir haben da noch andere Einrichtungen, um uns hier ungefährlich zu amüsieren. Im Allgemeinen wird wenig um die Wette geklettert, und das lässt sich ja auch anders arrangieren, nur nach der Zeit. Auf einem bestimmten Stiege sucht einer nach dem anderen in einer gewissen Zeit so hoch wie möglich zu kommen.
Wollen Sie also noch einmal diesen Schülerstieg erklimmen, so schnell Sie können. Oder das ist auch nicht nötig. Also wie hoch Sie innerhalb von — sagen wir zehn Sekunden kommen. Dabei brauchen Sie aber nicht zu zählen, das wird alles automatisch gemacht und registriert. Sobald Ihre letzte Fußsohle den Boden verlässt, beginnt die Sekundenzählung.«
Sharp kletterte an dem gelben Streifen so schnell wie möglich hoch.
Er wollte wohl die Sekunden zählen, hatte aber zu spät damit angefangen, einige mochten schon vergangen sein, oder er zählte zu langsam, so kam er nur bis acht, als der harte, raue Stein plötzlich weich und glatt wurde und Sharp zurückschusselte.
Als er sich wieder emporrichtete, sah er in einiger Höhe quer über den gelben Streifen einen blauen Strich gezogen.
»Sehen Sie, so hoch sind Sie in den zehn Sekunden gekommen. Der blaue Strich gibt ganz genau Ihre Scheitelhöhe an, die Sie dabei erreicht hatten. Der Strich bleibt stehen, wenn ein zweiter hinaufklettert, und der bekommt nun wieder seinen Strich, einen andersfarbigen, oder die Striche können nummeriert werden, und so können sich Dutzende an diesem Wettspiele beteiligen. Der Sieger, der am höchsten gekommen ist, erhält die ausgesetzte Prämie, oder es wird auch stark mit Einsätzen gewettet. Aber da gibt es nun noch ganz andere Wege als hier diesen einfachen Schülerstieg.«
»Großartig, großartig!!«, rief der junge Amerikaner, den man kaum noch wieder erkannte, immer wieder in ehrlichem Staunen.
»Nun lassen sich aber immer noch ganz andere Übungen und Spielchen arrangieren. Ist es Ihnen zu viel, wenn ich Sie noch einmal hinaufschicke?«
»Mir zu viel? Ich glaube, ich könnte hier mein ganzes Leben lang herumklettern!«
»Und ich sage Ihnen, Mister Sharp, wir haben hier alte Herren, Gelehrte, die früher nichts vom Kraxelsport wissen wollten, nur verächtlich über solch eine Narretei sprachen — und heute müssen sie sich ihre freien Stunden vorschreiben, die sie nach ihrem Pflichtbewusstsein genau einzuhalten haben, sonst würden sie den ganzen Tag hier herumklettern.
Denn Sie müssen nur erst einmal wissen, was wir hier alles haben, was man aber nicht so sehen kann — diese Kamine, diese Schluchten, diese Brücken, diese Sprünge — und wenn man glaubt, nun alles zu kennen, dann kommt man wieder in eine ganz fremde Region, die an den Kletterer wieder ganz andere Anforderungen stellt, immer neue Schwierigkeiten und Überraschungen — ja, es ist wirklich großartig, das sage ich jetzt noch nach fünf Jahren.«
»Also ich soll wieder hinaufklettern?«
»Ja, bitte. Sie brauchen sich auch nicht etwa nur auf dem gelben Streifen zu halten. Suchen Sie sich nur den bequemsten Weg.«
Eine Minute lang kletterte Sharp und war etwa 20 Meter hoch gekommen.
»So, nun sind Sie gerade an einer recht hübschen Stelle!«, rief Black unten. »Na nun gute Nacht, Mister Sharp!«
Der rührte sich wieder einmal nicht, an einer recht gefährlich aussehenden Stelle der hier gerade ganz senkrechten Felswand, an der er aber soeben noch munter geklettert war.
Plötzlich hielt er mitten in der Bewegung inne und klammerte sich fest.
»Was ist denn das?«, hörte man ihn gleich darauf erschrocken rufen.
»Was ist denn los?«, rief Black zurück.
»Bin ich plötzlich blind oder ist es Nacht geworden?«
»Blind sind Sie nicht, sondern für Sie herrscht völlige Finsternis. Na, nun klettern Sie weiter.«
»Ich werde mich hüten! O verflucht, o verflucht, da lernt man aber beten!«
»Ist es denn gar so schlimm?«, lachte Black.
»Na, ich sage Ihnen — dieses Gefühl, so mit offenen Augen blind zu sein und so hier an der Felswand zu kleben — kommen Sie herauf und wischen Sie mir den kalten Todesschweiß von der Stirn.«
»So begehen Sie doch Selbstmord.«
Das tat Mister Sharp wirklich, er ließ sich herabfallen.
Weich wurde er aufgefangen, aber wie er auf den Füßen stand, sah er um sich herum noch immer nichts als finstere Nacht.
»Ist es denn für Sie auch finster?«
»Nein, für mich nicht und für keinen Menschen. Hier ist es so hell wie zuvor.«
»Wie ist das möglich?«
»Das ist eben das, was ich Ihnen schon einmal gesagt habe. Wir können Licht mit Finsternis nach Belieben vertauschen. Sie werden von einem elektrischen Strome umhüllt, der in einiger Entfernung um Sie herum alles finster macht, die Wirkung der Lichtstrahlen aufhebt. Anders kann ich es Ihnen jetzt nicht erklären. Sie sind doch schon einmal in solch einer künstlichen Finsternis gewesen.«
»Wo?«
»Nun, in jener Sumpfregion.«
»Ach so. Da konnte ich von einem anderen Menschen, der dicht neben mir stand, in vollem Lichte gesehen werden?«
»So ist es. Nur Sie selbst befanden sich scheinbar in völliger Finsternis.«
»Na, wollen Sie mir, ehe Sie in Ihren Erklärungen fortfahren, das Licht wiedergeben?«
Sofort konnte Sharp wieder sehen, war im ersten Moment nur etwas geblendet.
»Auf diese Weise kann man sich hier auch amüsieren. Es wird blind geklettert, ohne dass einem die Augen verbunden werden müssen. Dann wird hier Blindekuh gespielt.«
»Ich finde sehr wenig Amüsement dabei.«
»O doch. Das Blindekuhspiel war in der Rokokozeit nicht umsonst so allgemein beliebt, bei Jung und Alt, bei Bauern wie an Fürstenhöfen. Alles spielte Blindekuh, in zahllosen Gemälden der größten Meister sind lustige Szenen festgehalten worden. Und wer nun wie unsere Kraxler diese Felswände so beherrscht, der kann auch auf ihnen Blindekuh spielen. Es ist manchmal zum totlachen! Wenn einer so mit blinden Augen herumtappst, von allen Seiten wird er gehänselt, und er versteigt sich und kann nicht weiter, es geht gegen die Ehre, sich einfach fallen zu lassen, außerdem kostet das auch Strafe, allerdings nicht in Geld, und schließlich muss er doch purzeln.
Oder es ist ja auch schon interessant genug, so mit blinden Augen herumzuklettern zu müssen, in furchtbarer Gefahr und dennoch für sich nichts zu fürchten brauchend, und wenn man nun wieder sehend wird, dieses erstaunte Gesicht, wo man sich da plötzlich sieht!
Oder es wird ausgemacht, man soll nach gewisser Zeit sagen, wo man sich befindet, denn man hat mit den Händen doch immer die Felswände befühlt.
Ach, was lässt sich da alles arrangieren.
Aber es wird bei uns tatsächlich von Jung und Alt viel Blindekuh gespielt, die ältesten Gelehrten machen mit und die ernstesten Männer wollen sich manchmal totlachen, und nicht nur hier drin in der Kraxelgrotte.«
»Auch noch anderswo geschieht das?«
»Gewiss, jeder Raum eignet sich doch dazu, der Apparat, der die blind machenden Strahlen aussendet, kann überall aufgestellt werden.
Oder es kann auch so arrangiert werden, dass alle nichts sehen, oder nur einen Schritt weit, nicht weiter.«
»Das kann auch durch solche elektrische Strahlen erzielt werden?«
»Nein, das muss dann allerdings anders geschehen.«
»Wie denn?«
»Nun, indem man zum Beispiel einen Raum mit einem Nebel füllt, der aber das Atmen nicht erschwert und der nur einen Schritt weit blicken lässt. Sie selbst sind ja schon in einer Grotte gewesen, die zum Blindekuhspiel wie geschaffen ist, nur wiederum auf ganz andere Weise.«
»In welcher Grotte?«
»Die in eine Prärie mit übermannshohem Grase verwandelt worden ist.«
»Ah richtig! Ja, das stimmt, dort muss man vorzüglich so etwas spielen können, ohne doch in völliger Stockfinsternis so gut wie blind zu sein. Ich gebe schon zu, dass man sich mit so etwas amüsieren kann, ich habe in meiner Jugend auch so etwas wie ›Schleichen‹ gespielt, und ich machte da gleich wieder mit. Nun aber, Herr Professor, wollen Sie mir erst noch einiges andere zeigen, damit ich meinen allgemeinen Überblick erweitere, ehe ich in dieser Kraxelhöhle auf selbstständige Forschungsreisen gehe.«
»Soll ich Ihnen einmal mein Lieblingsplätzchen zeigen?«
»Ja, das interessierte mich allerdings sehr, zu erfahren, wo Sie sich hier am wohlsten fühlen, was am meisten Ihrem Geschmack entspricht.«
»Bitte, folgen Sie mir.«
Auf dem Gange dahin kamen sie an einem weißen Steinschloss vorüber, das einmal nicht in der Wand, sondern im Boden eingelassen war.
»Wo führt diese horizontale Tür hin?«
»Ja, das ist etwas, was ich Ihnen zuvor doch noch zeigen möchte. Da sehen Sie, wie wir den Magnetismus beherrschen. Eine ganz, ganz eigentümliche Sache.«
Ein viereckiges Stück des Steinbodens klappte nach unten, an der Innenseite dieser Falltür waren Steigeisen angebracht, die ein bequemes Hinabklettern gestatteten.
Etwa zwei Meter tief, dann standen sie wieder auf festem Boden, der glatt, aber gewölbt war, und dasselbe galt von der Decke, die sich also zwei Meter über diesem Boden befand. Dieser von schwarzer, die Decke von weißer Farbe.
Aber man sah nicht das Ende dieses Bodens. Eben weil er gewölbt war, er ging halbkugelförmig in die Tiefe hinab.
Im Übrigen wollen wir der Erklärung des Zigeuners lauschen, dann werden wir gleich wissen, um was es sich hier handelte, was sich sonst sehr schwer beschreiben lässt.
»Sie befinden sich hier,« begann er, nachdem die Falltür wieder hochgegangen war, »in einem Raume von 40 Meter Durchmesser, und dieser Raum ist völlig rund, ist also eine Hohlkugel.
Und in dieser Hohlkugel nun befindet sich eine Vollkugel, auf der wir hier stehen, von genau 36 Meter Durchmesser, sodass die Außenfläche der Innenkugel von den Wänden der Hohlkugel überall zwei Meter entfernt ist.
Nun fragt es sich, wie die Vollkugel in der Hohlkugel festgehalten wird.
Was meinen Sie wohl, Mister Sharp?«
»Sie wird eben unten und seitwärts durch Stangen oder Ähnliches abgestützt und festgehalten.«
»Nein, sie schwebt ganz frei in der Hohlkugel.«
»Ganz frei? Das ist nicht möglich!«
»Weshalb nicht möglich?«
»Sie meinen wohl, sie wird durch positiven respektive negativen Magnetismus, der von allen Seiten gleichzeitig wirkt, in der Schwebe gehalten?«
»So ist es.«
»So etwas gibt es nicht!«, rief der Amerikaner im Brusttone der tiefsten Überzeugung. —
Hierzu müssen wir etwas bemerken.
Die Versuchung liegt sehr nahe, zu glauben, man könnte durch geeignete Anwendung von positivem und negativem Magnetismus, also durch die Kraft des Anziehens und Abstoßens, ein Stück Eisen schwebend in der Luft erhalten.
Als nun gar der Elektromagnetismus bekannt wurde, durch den man Eisen nach Belieben magnetisch und unmagnetisch, positiv und negativ machen konnte, beschäftigte man sich mit der Lösung dieses Problems so intensiv, wie man sich einst mit dem Perpetuum mobile beschäftigt hat.
Heute weiß man, dass es nicht möglich ist, ein Stück Eisen durch magnetische Kraft frei in der Schwebe zu halten.
Die dazu nötige absolute Balance ist nicht möglich, kann nicht ermöglicht werden — nicht auf diese Weise!
Aber auf andere Weise lässt es sich doch ermöglichen.
Vor ungefähr zehn Jahren entdeckte man die Wirkung einer besonderen Art von elektrischen Wechselströmen.
Durch diesen kann man einen eisernen Gegenstand frei in der Luft schweben lassen.
Über einer Eisenplatte schwebt frei eine kleine Eisenkugel, sie fällt nicht herab, kann nicht.
Aber das Richtige ist dies auch noch nicht.
Die Eisenkugel ist niemals still, sie zittert und schwankt fortwährend in der Luft hin und her, würde überhaupt sofort weggeschleudert werden, wenn nicht ein Widerstand sie daran hinderte. Also es muss eine Umfassung vorhanden sein, innerhalb dieser zappelt die Kugel herum, ohne zu Boden zu fallen, ohne die Eisenplatte zu berühren.
Und gerade jetzt ist ein englischer Ingenieur auf den Gedanken gekommen, diese fortwährende Beweglichkeit der Stahlkugel auszunutzen und sie hinwiederum dadurch zur Ruhe zu bringen, dass er ihr selbst durch eine andere Kraft eine bestimmte Richtung gibt.
So hat er eine Eisenbahn konstruiert, deren Wagen nicht auf Schienen laufen, sondern frei durch die Luft.
Wohl sind Schienen vorhanden, auf denen der aus Stahl gebaute Wagen im Anfange steht, aber diese Schienen dienen nur dazu, um den elektrischen Strom zu leiten, der in Zwischenräumen angebrachte Elektromagnete speist.
In dem Augenblick, da der Strom eingeschalten wird, erhebt sich der Wagen frei über die Schienen, eilt dem nächsten Magneten zu, wird aber sofort wieder abgestoßen, er eilt dem nächsten zu, und so geht das immer weiter.
Der Wagen läuft frei durch die Luft, immer in einer gewissen Höhe über den Schienen, die ihm die Richtung vorschreiben.
Das Modell dieser Eisenbahn ist fix und fertig, ist im Londoner KensingtonMuseum im Betrieb zu sehen, es funktioniert tadellos, im Großen soll dieser Wagen eine enorme Schnelligkeit erreichen, wohl bis zu 250 Kilometer in der Stunde, und dabei soll diese Eisenbahn außerordentlich billig arbeiten.
Zwar bezweifeln Fachleute, dass sich die Sache im Großen ausführen lässt, aber — diese »Fachgelehrten« haben stets alles bezweifelt, was je ein erfinderischer Kopf ausgeheckt hat. —
»Doch, es ist möglich, wir haben dieses Problem gelöst. Freilich mit einer ganz besonderen Art von Magnetismus, mit einer ganz besonderen Art von Wechselströmen.
Also, Mister Sharp, wollen Sie sich jetzt nur mit dieser Tatsache abfinden, eine Erklärung kann ich Ihnen jetzt nicht geben.
Wir stehen hier auf einer Kugel von 36 Meter Durchmesser, die frei in einer Hohlkugel von 40 Meter Durchmesser schwebt.
Nun will ich Ihnen zeigen, was wir mit dieser Kugel alles machen können.
Dazu brauchen wir an der Decke ein Merkmal. Ein solches besitzt sie nicht, sie ist von weißer Farbe und hat keine Erhöhung, gar nichts, und die Falltür über uns schließt so gut, dass nicht die geringste Fuge davon zu sehen ist.
Darüber, dass jetzt die Steigeisen verschwunden sind, wundern Sie sich wohl auch nicht, es darf in diesem Raume absolut nichts Fremdes sein, es würde die ganze Einrichtung stören, und so hat man diese Sprossen eben wieder auf besondere Weise in den Felsen hinein verschwinden lassen.
So machen wir ein künstliches Zeichen, ich lasse an der weißen Decke ein schwarzes Kreuz erscheinen.«
Sofort war es da, ein spannenlanges schwarzes Kreuz, gerade über den Köpfen der beiden.
»Dieses Kreuz ist zwar nur optisch hervorgebracht, aber wollen Sie mir glauben, dass es unverrückbar ist?«
»Ich glaube Ihnen.«
»Sonst soll Ihnen ausnahmsweise auch gestattet sein, dass Sie einmal mit Bleistift ein Zeichen machen. Eigentlich lassen wir diese weiße Wand, die ja nicht so einfach angestrichen ist, nicht gern von fremden Händen bemalen, aber —«
»Nein, nein, ich zweifele nicht, dass sich dieses Kreuz wirklich nicht bewegt.«
»Gut. Und was bemerken Sie jetzt?«
Das schwarze Kreuz bewegte sich dennoch an der weißen Wand! Es verschob sich von links nach rechts für die gegenwärtige Stellung des Amerikaners berechnet.
»Was schließen Sie nun daraus?«
»Wenn sich das Kreuz selbst nicht bewegt, so bewegt sich eben die ganze Decke, sie dreht sich um die Kugel herum.«
»Wie soll denn das möglich sein?«
»Das ist doch einfach genug. Um uns herum ist eben wieder eine Kugel, in deren Innern wir uns befinden, diese Außenkugel ist drehbar.«
»Ich versichere Ihnen aber, dass wir uns in festem Felsengestein befinden, das war ursprünglich eine Grotte, die recht schön gewölbt war und auch schon einen in der Mitte stark vertieften Boden hatte, der man also leicht eine Hohlkugelgestalt geben konnte, und das haben wir denn auch getan, haben die Grotte zu einer vollkommenen Hohlkugel ausgemeißelt, von genau 40 Meter Durchmesser, wie wir sie zu unseren Zwecken brauchten.«
Unterdessen war das schwarze Kreuz in der Tiefe verschwunden, kam aber auf der anderen Seite auch schon wieder zum Vorschein, jedoch nicht etwa ruckweise, es hatte einige Zeit dazu gebraucht, um die ganze Kugel zu umkreisen, und nun blieb es wieder über den Köpfen der beiden stehen.
»Also das Kreuz selbst hat sich wirklich nicht an der Decke hinbewegt?!«
»Auf mein Ehrenwort und auf das der ganzen unsichtbaren Loge: Das schwarze Kreuz ist an dieser weißen Decke so gut wie angenagelt!«
»Na, dann muss sich aber doch die Decke selbst drehen!«
»Nein, sie dreht sich eben nicht! Ebenso auf unser Ehrenwort hin. Es ist so, wie ich Ihnen jetzt gesagt habe. Der Felsen, in dem sich diese Grotte befindet, bewegt sich nur insoweit, als sich die Erde um sich selbst und um die Sonne dreht, sonst steht er absolut fest, wie die Erde für uns doch einen festen Ruhepunkt bedeutet.«
»Ja, wie wird denn diese Dreherei dann sonst bewerkstelligt?«
»Es ist einfach die Kugel, auf der wir stehen, die sich dreht!«
»Diese Kugel?! Das ist ja gar nicht möglich!«
»Weshalb denn nicht?«
»Das müsste man doch merken.«
»Woran denn?«
»Na, da müsste man doch bald abrutschen.«
»Wenn man aber nun durch eine magnetische Kraft gehalten wird?«
»Was, Sie wollen doch nicht etwa behaupten, dass es vorhin einen Moment gegeben hat, wo wir mit dem Kopfe direkt nach unten hingen?«
»Jawohl, das behaupte ich und so ist es in der Tat!
Mister Sharp, Sie wissen doch natürlich, dass es ein Unten und ein Oben eigentlich überhaupt gar nicht gibt. Das sind nur Begriffe, die wir Menschen uns gemacht haben, um eine Richtung ausdrücken zu können, wobei wir als Ausgangspunkt die Erde annehmen, wodurch aber diese Bezeichnungen nun erst recht ganz falsch werden.
In Europa blickt jemand zum Himmel empor und spricht von oben.
Genau dasselbe tut aber auch gleichzeitig jemand in Südamerika.
Wir sind überhaupt immer oben, und unser Gegenfüßler ist immer unten; aber dieser kann dasselbe von sich behaupten.
Im Weltenraum gibt es kein oben und unten.
Wir wissen nicht, wie die Ebene liegt, auf welcher sich die Erde um die Sonne bewegt, ob vertikal oder horizontal oder wie sonst.
Im Weltenraum gibt es auch kein vertikal und kein horizontal und dergleichen.
Und alle diese Verhältnisse sind nun hier auf diesen Raum und auf diese Kugel künstlich übertragen worden.
Dieser Hohlraum entspricht dem Weltenraum, und diese Kugel, auf der wir stehen, entspricht der Erde.
.Wo Sie sich auch befinden, Sie sind immer oben.
Sie glauben es noch nicht?
Nun, dann gehen Sie doch um diese kleine Erde herum, machen Sie einmal einen kleinen Spaziergang um die Erde.«
Ganz unwirsch blickte Mister Sharp dorthin, wo er die gewölbte schwarze Ebene sich mit der weißen Decke verschmelzen sah.
Dort war also doch ein zwei Meter breiter Abgrund, und da brauchte er gar nicht so weit zu gehen, so musste er ins Schusseln kommen und dort hinabstürzen.
Aber er stellte nicht erst noch besorgte Fragen, er ließ seinen Führer auch nicht vorangehen, sondern er selbst schritt mutig darauf los.
Und da erlebte er das Wunder!
Wie er auch schritt und wo er auch stehen blieb, er war immer oben.
Unter sich hatte er immer die Kugelfläche und über sich immer die gewölbte Decke.
Und ist das etwa kein »Wunder«?
Nun gilt das aber doch überhaupt für jeden Menschen, der hier auf dieser Erde kraucht.
Einmal steht er oben, und zwölf Stunden später hängt er mit dem Kopfe nach unten, und er merkt absolut nichts davon.
Ist das etwa kein »Wunder«?
Ach, wir törichten, blinden Menschlein!
Wenn einmal etwas passiert, was nicht recht mit den uns bekannten Natursätzen in Einklang zu bringen ist, jemand berichtet von so etwas, dann wird es nicht geglaubt, weil das ein Wunder wäre, und Wunder gibt es einfach nicht.
O Ihr sogenannten »Aufgeklärten«, merkt Ihr denn nicht, wie lächerlich Ihr Euch macht?
Merkt Ihr denn nicht, dass wir ringsum von unerklärlichen Wundern umgeben sind?
Wisst Ihr denn nicht, dass unsere Vorfahren auf das Weltensystem des Bartholomäus schwuren?
Da kamen Kopernikus und seine Jünger und stürzten dieses Weltensystem. Also die Erde ist es, die sich um die Sonne dreht.
Und nun wird das allgemein nachgeplappert.
Denn ein gedankenloses Nachplappern ist es nur, nichts weiter!
Denn wie wenige Menschen wissen wohl, dass dies doch nur eine Theorie, eine kühne Spekulation ist!
Es wird schon so sein, aber dass sich wirklich die Erde um die Sonne dreht, das lässt sich nicht beweisen, nicht berechnen, durch nichts feststellen.
Man frage nur einen Astronomen.
Es handelt sich nur um eine Theorie, welche am besten alle die Bewegungen im Weltenraume erklärt.
Aber dass diese Theorie nicht ganz vollkommen sein kann, das wird jeder Astronom zugeben, wenn er merkt, wen er vor sich hat, der diese Fragen stellt.
Die scheinbare Umdrehung des Mondes um die Erde, die Schlangenlinie, die er beschreibt — das ist der wunde Punkt, der in diese Theorie des Kopernikus und Galilei nicht hineinpassen will!
Und unterdessen sind ja auch schon neue Erkenntnisse gemacht worden, und immer wunderbarer werden sie.
Die Sonne steht nicht mehr still, sie dreht sich um sich selbst, und nicht nur das, sondern sie selbst eilt durch den Weltenraum, mit einer Geschwindigkeit von 57 Kilometern in der Sekunde, auf den Apex im Sternbilde des Herkules zu, den sie nach einigen hundert Millionen Jahren erreichen muss.
Und so eröffnet sich dem Menschen eine Erkenntnis nach der anderen.
Aber ob er dadurch schließlich die ganze Wahrheit erkennt?
Ob er nach Millionen von Jahren — wenn nicht auf dieser Erde, dann auf einer anderen — nicht immer wieder vor neuen Rätseln steht?
Ob die letzte Erkenntnis, die völlige Wahrheit, für uns nicht überhaupt ganz unfassbar ist?
Unfassbar, das Unfassbare, als letzte Wahrheit betrachtet, heißt in den persischen Büchern des Zoroaster »gott«. Es ist also ein persisches Wort, heißt einfach unfassbar, das Unfassbare.
Wir haben dieses Wort annektiert und daraus den »lieben Gott« gemacht, also ohne diese tiefsinnige persische Weisheit im Geringsten zu verstehen, und das geht so weit, dass in den biblischen Geschichtsbüchern, die wir unseren Kindern in die Hand geben, der »liebe Gott« als ein alter Mann mit weißem Barte dargestellt wird, der abwehrend die Hände ausstreckt, um zu verhindern, dass Abraham seinen Sohn schlachtet.
O, wir haben es herrlich weit gebracht!
Es hat, soweit wir wissen, nur einen einzigen Menschen gegeben, der dieses Weltgetriebe klar durchschaut und gesagt hat:
»Mein Vater wohnet nicht in steinernen Häusern, mein Vater ist ein Geist, und die ihn anbeten wollen, müssen ihn im Geiste und in der Wahrheit anbeten.« —
»Jetzt sind Sie genau auf der anderen Seite«, sagte Black, der ihm gefolgt war, »haben das schwarze Kreuz genau unter Ihren Füßen. Ich weiß es, weil es mir zutelegrafiert wird.«
Immer noch ganz unwirsch wandte sich ihm der Amerikaner zu.
»Also hänge ich mit dem Kopfe direkt nach unten?! In Bezug auf die Erde, meine ich.«
»Jawohl, so ist es.«
»Ich kann es fassen, indem ich dabei an unsere Erde mit ihren 13 000 Kilometern Durchmesser denke, aber sonst — wie ist das nur hier in diesem kleinen Raume auf dieser kleinen Kugel zu ermöglichen?!«
»Dadurch, dass wir dieser kleinen Kugel eine so große Anziehungskraft geben, dass sie die der Erde aufhebt.«
»Und wie wird diese Anziehungskraft erzeugt?«
»Nicht etwa durch einfachen Magnetismus, der ja schließlich auch anderes anzieht als Eisen. Durch solch einfachen Magnetismus festgehalten, würden Sie immer noch merken, dass Sie mit dem Kopfe nach unten hängen.«
»Das verstehe ich. Und was ist das nun für ein Magnetismus?«
»Es ist kein Magnetismus, sondern eine ganz andere Anziehungskraft. Dieselbe Kraft, welche den Stein zur Erde fallen lässt. Und wodurch bewirkt das die Erde?«
»Durch ihre Dichtigkeit, die nach dem Innern immer mehr zunimmt.«
»So ist es auch hier.«
»Wie groß ist denn da die Dichtigkeit und daher auch die Schwere dieser Kugel?«
»Geehrter Mister Sharp! Ich will Ihnen die Zahlen lieber nicht nennen, die dabei in Betracht kommen; denn Sie könnten sich entsetzen. Gerade deshalb, weil Sie der Mann sind, der dies alles versteht und erfasst, ohne jedoch in trockene Zahlengelehrsamkeit zu verfallen. Also bitte, fragen Sie lieber nicht.«
Ein eigentümlich starrer Blick des Amerikaners auf den Zigeunerprofessor, der so eigentümlich gesprochen hatte, auch in der Stimme liegend, und — er fragte nicht!
Eine Kugel von 36 Meter Durchmesser, welche, um dieses Phänomen hier zustande zu bringen, dichter und also auch schwerer sein musste, wenigstens innerhalb dieses Hohlraumes, als die ganze Erde mit einem Durchmesser von rund 12 750 000 Metern — nein, Mister Sharp wollte lieber an so etwas gar nicht mehr denken, sonst begann sich sein Verstand zu verwirren.
Er steckte lieber die Hände in die Hosentaschen und machte ein vergnügtes Gesicht.
»Das ist ja famos! Also da kann man hier innerhalb einer Minute immer um die ganze Erde marschieren?«
»Das können Sie!«, lachte Black.
»Ist sonst nichts weiter mit dieser Sache anzufangen?«
»O, was meinen Sie! Wir werden doch nicht hier so etwas schaffen, was, dem Gelde nach gerechnet, mehr gekostet hat als es gemünztes Gold auf der Erde gibt, nur als physikalische Spielerei, um einmal mit dem Kopfe nach unten hängen zu können!
Einen praktischen Nutzen hat hier überhaupt alles, was Sie auch sehen, das gilt sogar auch von jener Prärie und von der Kraxelgrotte. Einen für die Wissenschaft praktischen Nutzen, meine ich. Nun passen Sie auf, was Sie erleben werden.«
Es wurde finster.
Aber gleich darauf flammte es an der Decke, deren weiße Farbe nicht mehr erkenntlich, auf — der ganze südliche Sternenhimmel in seiner vollen Pracht, und zwar in vollkommener Natürlichkeit. Also nicht etwa, dass man gewahrte, wie diese Sterne nur zwei Meter vom Boden und gar von den Augen noch keinen halben Meter entfernt waren.
Also, wollen wir gleich sagen, hier war dieselbe Einrichtung wie dort in Ägypten im Innern des MokattamGebirges.
Was nicht weiter Wunder zu nehmen brauchte, da zu dieser unsichtbaren Loge doch auch jener Almansor gehörte, der dem Geheimbunde der Saladinen, die auch wissenschaftliche Zwecke verfolgten, solch eine Himmelskammer eingerichtet hatte. Soweit es dort möglich.
Hier war das Original, hier hatte man noch ganz andere Mittel, und infolgedessen war hier alles auch viel praktischer eingerichtet.
Hier brauchte man nicht erst zu warten, bis die gewünschten Sterne von der Decke herabmarschiert kamen, wollte man nicht gleich den ganzen Himmel verschieben, hier konnte man selbst auf der Erde nach Belieben herumgehen, ja, und dann konnte man diese Sterne auch gleich noch nach Belieben betasten, ihre Entfernungen mit dem Zirkel ausmessen!
»Großartig, himmlisch!«, staunte Mister Sharp.
Und er staunte noch mehr und ward noch entzückter, als ihm Black weitere Erklärungen gab, wie sich diese Sterne auch ganz regelrecht bewegten.
»Sie können auch einen Sonnenaufgang haben. Doch wir wollen die Sonne erst einmal aus dem Spiele lassen. Auf der anderen Seite der Erde erblicken wir den Mond, und zwar lasse ich es jetzt, nicht natürlich, aber auf meinen Befehl, Vollmond sein. Diesen wollen wir betrachten — doch verzeihen Sie, ich will erst einmal hinspringen, ich habe noch etwas zu besorgen, ich rufe Sie dann.«
Und leichtfüßig sprang der Zigeuner über diese Miniaturerde hin und verschwand im Sternenschein hinter dem Horizonte.
Doch kaum eine halbe Minute, so rief er schon, Mister Sharp wanderte nach der nördlichen Hälfte der Erdkugel, über welcher der Polarstern stand.
Ja, da stand der Vollmond! Wäre er langsamer gegangen, so hätte er den Mondaufgang bewundern können.
Black hatte einen Feldstecher in der Hand.
»So, Mister Sharp, nun wollen Sie einmal unseren guten Mond durch diesen Operngucker betrachten. Sie können ihn dann auch nach Belieben schärfer einstellen.«
Sharp tat es, und er stieß einen Ruf der Überraschung, des grenzenlosen Staunens aus.
Er hatte den Mond schon durch gute Fernrohre betrachtet, von Sternwarten aus.
Aber das war nichts gewesen gegen das, was er hier zu sehen bekam.
Die reine Alpenschaft. Als ob er sie aus dem Fenster seines Hotels betrachte oder vom Gipfel eines der Bergesriesen. Da lagen sie, die furchtbaren Gletscher und die unergründlichen Tiefen, alles sozusagen handgreiflich.
»Das ist doch nur Kunst!«
»Kunst?«
»Es ist nur gemalt, wird durch dieses Glas vergrößert!«
»Es sind Aufnahmen nach der Natur.«
»Aufnahmen?«
»Fotografische, die durch dieses Glas nach Belieben vergrößert werden können.«
Bist Du, geneigter Leser, vielleicht Amateurfotograf?
Dann hast Du vielleicht schon gemerkt, dass das Okular der Kamera schärfer ist als das menschliche Auge.
Du hast eine Aufnahme gemacht, etwa eine Landschaft, entdeckst auf dem Negativ oder dann auf dem Positiv am Himmel einen dunklen Punkt, der Dich ärgert, Du hältst ihn für einen Fleck.
Bei genauer Betrachtung aber erkennst Du einen Vogel, der unter dem Vergrößerungsglas ganz deutlich wird. Natürlich muss es eine sehr gute Linse sein.
Mit bloßen Augen aber hättest Du diesen Vogel nicht sehen können.
Von dieser Eigenschaft der fotografischen Kamera wird jetzt im Kriege, das heißt im Heere und bei der Marine, Gebrauch gemacht.
Es ist nicht so einfach, den Horizont des Meeres mit dem Fernrohr nach einem feindlichen Schiffe abzusuchen. Bequemer und sicherer ist es, diesen Horizont ab und zu zu fotografieren und dann auf der Platte nach einem Pünktchen zu suchen, das sich unter dem Vergrößerungsglase oder an die Wand projiziert deutlich als ein Schiff erkennen lässt.
Und nun gilt es das Problem zu lösen, ob man diese Eigenschaft der Kamera nicht auch für die Astronomie verwenden kann; bis jetzt ist es noch nicht gelungen.
Die Möglichkeit, immer größere Fernrohre zu bauen, Refraktoren oder Reflektoren, ist unbegrenzt.
Das Fernrohr vergrößert ja nicht, wie die Lupe vergrößert, sondern es zieht das beobachtete Objekt näher an das Auge heran.
Wenn es nun für die Größte und Schärfe des Fernrohrs keine Grenze gibt, so muss sich doch eines bauen lassen, durch das man den Planeten Mars so weit heranzieht, dass man die Landschaften darauf betrachten kann wie von einem Luftballon aus unsere Erde.
Diese Theorie ist anerkannt richtig.
Aber in der Praxis ist ein böser Haken dabei.
Das unbesiegbare Hindernis ist die atmosphärische Luft unserer Erde, welche die Lichtstrahlen bricht, und die beständige Unruhe dieser Luft.
Je näher man einen Stern mit dem Fernrohr heranzieht, desto größer wird er zwar, desto deutlicher lässt er sich selbst erkennen, desto undeutlicher, zittriger aber wird alles, was sich auf dem fremden Himmelskörper befindet, bis zuletzt dieser selbst unruhig zu zittern beginnt, wodurch dann die Beobachtung immer mehr erschwert wird.
Ein Beispiel kann dies sehr deutlich machen, mit welchen Schwierigkeiten die Astronomen zu kämpfen haben, ein je größeres, schärferes Fernrohr sie benutzen.
Ein Zeitungsblatt von einem Quadratmeter Größe wird frei aufgehängt und heftig hin und her bewegt, vom Winde gepeitscht.
Aus einer Entfernung von einem Kilometer ist dieses Zeitungsblatt mit bloßen Augen noch recht gut zu erkennen, wenn auch nur als weißer Punkt.
Man muss freilich wissen, dass es ein Zeitungsblatt, ein Stück Papier ist, und von den Buchstaben ist natürlich nichts zu sehen. Auch merkt man nicht das Geringste davon, dass das Zeitungsblatt vom Winde heftig hin und her bewegt wird. Es scheint ein fester, weißer Punkt zu sein.
Blickt man nun durch ein gutes Fernrohr, so erkennt man, dass es ein bedrucktes Zeitungsblatt ist, dass es vom Winde hin und her bewegt wird.
Je mehr nun das Zeitungsblatt mit dem Fernrohr herangezogen wird, desto größer werden zwar die Buchstaben, desto schwerer wird es aber auch, sie zu entziffern, weil nun auch die Bewegung des Blattes immer stärker wird, bis die Buchstaben völlig durcheinander schwimmen.
Und genau so ist es nun bei der Beobachtung der Gestirne. Diese stehen zwar fest, aber die Atmosphäre unserer Erde ist es, welche das Zittern hervorbringt, bis der Stern wie vom Sturme gepeitscht hin und her schwankt.
Dieser Einfluss der Atmosphäre lässt sich durch nichts beseitigen, man kennt schon genau die Grenze, darüber hinaus es keinen Zweck mehr hat, noch größere Fernrohre zu bauen.
Die beiden größten Fernrohre auf der Erde sind in Privatbesitz. Das eine, ein Refraktor, ist auf der Sternwarte am Lake Geneva in Wisconsin, Eigentum des Mister Charles Yerkes, hat eine lichte Öffnung von 102 Zentimeter; das andere, ein SpiegelReflektor, gehört dem Lord Rosse in Parsonston und ist 183 Zentimeter weit. Das erstere, an dem alle berühmten optischen Werkstätten der Erde mitgearbeitet haben, hat rund vierzehn Millionen Mark gekostet. Bei beiden ist jene Grenze der scharfen Sehmöglichkeit schon überschritten worden.
Durch diese Fernrohre müsste man auf dem Planeten Mars ein Haus von hundert Quadratmeter Fläche noch deutlich erkennen können. Aber der Planet zittert so stark, dass man nicht einmal mehr die Marskanäle unterscheiden kann; ebenso wenig auf dem Monde die Berge und Täler. Alles zittert durcheinander.
Nun setzt man seine Hoffnung auf die Weiterentwicklung der Fotografie, um doch noch zum Ziele zu kommen.
Fotografiert werden die Gestirne ja schon längst, durch das Fernrohr hindurch.
Aber es ist dazu eine sehr lange Belichtungszeit nötig, also auch ein komplizierter Apparat, der die Bewegung des Sternes mitmacht.
Also es handelt sich nur um die Fotografie.
Sobald wir lichtempfindliche Platten haben, die auch bei dem schwachen Sternenlichte Momentaufnahmen gestatten, deutliche Bilder ergeben, alsbald werden wir wissen, ob der Mars bewohnt ist oder nicht. Dann werden die dazu nötigen Riesenfernrohre sofort gebaut, vorher hat es keinen Zweck. Dann ist das nur eine Frage des Kostenpunktes, und wenn es in Amerika eine künstlerische Gesellschaft gibt, die einmal für die Sixtinische Madonna in der Dresdner Galerie hundert Millionen Mark geboten hat, dann wird es auch schon an solchen Fernrohren nicht fehlen.
So hatte der Zigeunerprofessor dem jungen Amerikaner erklärt.
»Und dieses Problem haben wir gelöst. Wir machen die klarsten Momentaufnahmen von den fernsten Himmelskörpern, die durch unsere kolossalen Fernrohre noch zu erreichen sind, bis zu eintausendstel Sekunden. Was ist das dort für ein Stern?«
»Der Mars.«
Black hatte jenem das Opernglas wieder abgenommen, richtete es nach dem Planeten.
»Der Mars ist für uns wie ein offenes Buch. Es ist tatsächlich nicht anders, als wenn man in einem Luftballon oder Luftschiff in nur wenigen hundert Meter Höhe über unsere Erde streicht.«
Plötzlich wurde Mister Sharp von der größten Aufregung befallen.
»Und was sehen Sie?!«
»Wunderbares.«
Der Amerikaner streckte die vor Erregung schon zitternde Hand aus.
»Geben Sie mir das Glas!«
Aber Black zog es zurück.
»Nein.«
»Sie wollen es mir nicht geben?!«
»Ich darf nicht. Nur einen Blick nach dem Mond durfte ich Ihnen gestatten.«
Fast sah es aus, als wolle sich der Amerikaner auf ihn stürzen, um ihm das Glas zu entreißen.
In demselben Augenblick erloschen die Sterne, es wurde wieder tageshell in dem Raume.
»Da haben Sie die Antwort. Es ist Ihnen noch nicht gestattet, etwas außerhalb dieser Erde zu erblicken, was sonst den Augen der Menschen verborgen ist.«
Wie mit einem Ruck hatte sich der junge Amerikaner wieder in der Gewalt.
»Aber Sie waren wohl instruiert, mich auf so etwas schon vorzubereiten?«
»Ja, das war ich!«, gab Black offen zu.
»Und werde ich durch dieses Fernrohr die Sterne noch dereinst betrachten können?«
»Das werden Sie zweifellos. Wenn Sie eine gewisse Arbeit dafür verrichten.«
»Was für eine Arbeit?«
»Davon weiß ich noch nichts.«
»Gut, ich kann warten. Sonst noch etwas in diesem Raume?«
»Können Sie auf den Händen laufen oder doch stehen?«
Es hatte doch etwas zu sagen, dass Mister Sharp diese Frage gar nicht weiter seltsam fand, was man doch aus seiner schnellen Antwort schließen musste
»Ja, das werde ich wohl noch können.«
»Bitte, tun Sie es. Stellen Sie sich auf die Hände und stemmen Sie sich mit den Füßen oben gegen die Decke fest.«
Mister Sharp tat es einfach, bückte sich, legte die Hände an den Boden, ging mit dem Schwunge eines Beines hoch und stemmte beide Füße gegen die Decke.
Gleichzeitig hob Black, der das Fernrohr eingesteckt hatte, beide Arme hoch und stemmte seine Hände gegen die Decke.
Im nächsten Augenblick wusste Sharp, wozu dieses Manöver, so schier unbeschreiblich auch der Effekt war.
Plötzlich ging Black auch mit seinen Füßen nach der Decke hinauf, nahm dafür dort die Hände weg und ließ sich mit dem Kopfe herab, sodass er also frei von der Decke herabhing.
So muss es wenigstens für uns beschrieben werden.
In Wirklichkeit war es ja anders, und das empfand Mister Sharp.
Der stand plötzlich nicht mehr auf den Händen, sondern er stand auf den Füßen, indem die Decke plötzlich zum Boden und dieser zur Decke geworden war.
Also auch das Oben und das Unten hatte sich verdreht. Mister Sharp hatte sich nur schon vorher mit seiner Stellung für diese neue Situation einrichten müssen, Black hatte es erst hinterher getan.
»Nun, wissen Sie, was hier passiert ist?«, lachte der Zigeuner, als er das doch etwas verdutzte Gesicht des Amerikaners sah, der zur Vorsicht noch immer die Hände gegen die nunmehrige Decke, also gegen die Kugel, gestemmt hielt.
»So ungefähr kann ich es begreifen. Die Decke ist zum Boden, der Boden ist zur Decke geworden. Hier ist die ganze Anziehungskraft herumgedreht worden.«
»So ist es. Sie können ruhig die Arme herabnehmen.«
»Dass aber nicht wieder umgeschaltet wird und ich plötzlich auf den Kopf patsche!«
»Nein, nein«, lachte der Zigeuner, »so unvermutet geschieht hier nichts, alles nur auf Wunsch und für andere nach vorhergehender Warnung.«
Also es war zur Tatsache geworden.
Jetzt benutzte man den weißen Hohlraum, um auf ihm um die schwarze Kugel herumzugehen. Natürlich immer, ohne ein Unten und Oben unterscheiden zu können.
»Sehr hübsch! Und was ist hiermit nun für ein praktischer Nutzen verbunden?«
Mister Sharp bekam es sofort zu sehen.
Die schwarze Riesenkugel, die er immer direkt über seinem Kopfe hatte, wie er auch hin und her und ringsherum ging, begann in den verschiedensten Farben zu leuchten, Mister Sharp konnte sich nicht lange im Unklaren sein, dass es sich um eine Landkarte handelte — um einen Globus.
Also wiederum dasselbe wie im Innern des ägyptischen MokattamGebirges bei Kairo, und doch so ganz, ganz anders arrangiert.
Dort war die Erdkarte in den Innenraum einer Hohlkugel aufgemalt, was ja schließlich gleich bleibt, zumal bei solch großen Dimensionen; dort aber musste man zur Betrachtung immer auf einem Gerüst herumklettern, während man hier um diesen wirklichen Globus bequem herumgehen konnte.
Übrigens wollen wir keinen Vergleich zwischen diesen beiden Einrichtungen ziehen, denn der Unterschied war auch sonst ein ganz bedeutender, es handelte sich eigentlich überhaupt um etwas ganz, ganz anderes, bis auf den Zweck, die Gestaltung und das Aussehen der Erdrinde wiederzugeben.
Dort, wo Mister Sharp jetzt gerade stand, hatte er über sich die Schweizer Alpen, blickte auf die eisbedeckten Bergesriesen und in die Täler hinein, blickte weiter aus der Vogelperspektive auf einen See, immer in natürlichen Farben wiedergegeben, der nach seiner Gestaltung nur der Genfer See sein konnte, und die dunkle Masse an seinem Südzipfel also nur die Stadt, nach der er benannt.
»Diese Berge sind doch plastisch? In Wirklichkeit erhöht?«
»Nein, das ist eine optische Täuschung. Sie können ruhig befühlen.«
Sharp tat es, und er fühlte nur die glatte Fläche der Kugel.
Diese Täuschung der Plastik aber war eine vollkommene, besser hervorgebracht als durch das beste Stereoskop, durch welches man zwei gleiche Fotografien, die nebeneinander stehen, als ein einziges Bild in plastischer Perspektive sieht.
»Dies alles ist doch überhaupt nicht gemalt?«
»O nein.«
»Wie kommt es dann zustande?«
»Durch optische Spiegelung.«
»Wie das?«
»Die Wände der Hohlkugel, für uns jetzt den Boden bedeutend, sind es, welche die farbige Landkarte auf den Globus spiegeln.«
»Ja, wo ist denn nun aber das Original, von dem das Spiegelbild zurückgeworfen wird?«
»Das Original ist einfach die Erde selbst.«
Der junge Amerikaner besaß Scharfsinn genug, um diese Erklärung sofort zu verstehen.
Gerade deshalb aber erstarrte sein Blick, den er auf den Zigeuner geheftet hatte.
»Was — Sie wollen doch nicht etwa — sagen — das wäre hier die naturgetreue Oberfläche der Erde, die auf diese Kugel reflektiert wird?!«
Er hatte es vor Aufregung kaum herausgebracht.
Und man muss nur alles richtig verstehen, um diese namenlose Aufregung begreifen zu können.
»So ist es.
Wie wir das zustande bringen, kann ich Ihnen freilich unmöglich erklären.
Aber seien Sie nur versichert, alles, was Sie da erblicken, ist eine getreue Wiedergabe der Erdoberfläche im Verhältnis 1 zu 336 000, durch eine Spiegelung.
Sie erblicken die Erde wie im Spiegel, um den Sie herumgehen können.
Und nun nehmen Sie wieder hier dieses Glas und stellen es nach Belieben ein, jetzt wird es Ihnen nicht wieder genommen.«
Sharp nahm es und — — —.
»Was, auf dem Genfer See fahren doch Segelboote, dort ein Dampfer!«
»Ja, natürlich gibt es die auf dem Genfer See, nicht nur einen Dampfer.«
»Die Stadt Genf wird immer größer!«
»Stellen Sie das Opernglas nur noch schärfer ein, immer nach links schrauben.«
»Ich kann die Häuser, die Straßen unterscheiden!«
»Immer noch schärfer!«
»Allmächtiger Gott, ich sehe in den Straßen kleine Menschlein sich bewegen!«
»Und warum denn nicht, wenn alles ein Spiegelbild der wirklichen Erdoberfläche ist? Immer noch schärfer einstellen!«
»Ich selbst bin in dem mir wohlbekannten Genf, ich sehe die Menschen in voller Lebensgröße!«
»Dann geht die Vergrößerung auch nicht weiter. Mehr als natürliche Größe kann man doch auch nicht verlangen.« —
Wir überspringen zwei Stunden.
Seit diesen zwei Stunden hockte der Zigeunerprofessor am Boden und arbeitete an seiner Häkelei, dabei eine Pfeife nach der anderen rauchend, ohne dass sich der Qualm in diesem zwar nur niedrigen, aber immerhin doch sehr weiten Raume viel bemerkbar machte, während Mister Sharp hin und her ging, das Opernglas gebrauchend.
Dazwischen immer einmal ein Ausruf des Staunens, der dann regelmäßig beantwortet wurde, auch wenn die beiden durch die ganze Erde voneinander getrennt waren.
»Auf Borneo steht ein Vulkan in Feuer!«
»Dort gibt's massenhaft Vulkane. Wo ungefähr liegt er?«
»Auf der Nordspitze der Insel.«
»Dann wird's der Kinibalu sein, er ist selten ohne Flammen.«
»Aber es muss ein unerwarteter Ausbruch sein, die Einwohner eines malaiischen Dorfes flüchten, es wird von einem glühenden Lavastrome übergossen. O Gott, o Gott, was ich alles schaue!«
»Wir können daran nichts ändern.«
Und dann eine kleine Weile später:
»In Nordamerika, im Staate Virginien wird es sein, bricht ein ganzer Wald zusammen, ein Hurrikan muss darüber hinwegbrausen!«
»Das kommt dort öfter vor.«
»Schrecklich, eine Windhose vernichtet eine ganze Stadt!«
»Ja, ja, was so eine richtige Windhose ist!«, entgegnete der Zigeuner gleichmütig, immer emsig mit seiner Häkelei beschäftigt.
Also zwei Stunden vergingen auf diese Weise, die wir lieber nicht so ausführlich wiedergeben wollen, mögen diese zwei Beispiele genügen, was Mister Sharp alles schaute.
Dann tauchte er hinter dem Horizonte der Erdkugel auf und ging direkt auf den Zigeuner zu.
»Es ist zehn Uhr geworden!«, sagte er, seine Uhr wieder einsteckend.
»Das wird stimmen.«
»Nachts um zehn.«
»Ganz richtig.«
»Ich habe schon zwei Stunden meine Schlafzeit überschritten, und jetzt merke ich es. Haben Sie vielleicht das Mittel bei sich, mit dem man den Schlaf besiegen kann?«
Jetzt erst blickte der Zigeuner aufmerksam den Sprecher an.
»Sie wollen noch länger hier verweilen?«
»Nein. Ist das der Platz, von dem Sie sprachen, es sei Ihr Lieblingsplätzchen?«
»O nein, das ist ganz anders beschaffen.«
»Ich werde Ihnen sagen, wie es mit mir steht. Ich werde diesen Raum verlassen, um ihn nicht sobald wieder zu betreten.
Ich habe Wunderbares gesehen, aber — ich habe keine Lust, mich noch länger diesen Vergnügungen hinzugeben.
Denn — etwas wie Scham hat mich schon längst erfasst, und dieses Gefühl wird immer stärker.
Geografen, wissenschaftliche Forscher mögen diese Wiedergabe der Erdoberfläche in voller Natürlichkeit nach Belieben betrachten, für andere Sterbliche ist das nichts. Wenigstens nichts für mich!
Da habe ich doch noch zu viel Herz im Leibe. Wie ich jetzt mit einiger Genugtuung bemerke, allen denen zum Trotz, die mir so etwas wie Herz und Seele absprachen.
Ich habe auf der Tagesseite der Erde ein fröhliches Volksfest beobachtet, auf der anderen Halbkugel in der Nacht einige zärtliche Liebespaare wandeln sehen — aber noch mehr habe ich Schreckliches schauen müssen, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Überschwemmungen, verheerende Stürme, und nun außerdem Kriege und Schlachten und Mord und Totschlag allüberall — nein, ich mag das Gesamtbild der Erde nicht länger beobachten, es ist zu wenig Freud und gar zu viel Leid und Jammer darauf.
Führen Sie mich fort von diesem Spiegelbild der Erde. Vielleicht, dass ich später noch einmal Begehr danach habe, wenn mein Herz gefestigt ist, um als Forscher beobachten zu können, aber nicht als neugieriger Zuschauer.«
Black hatte die Häkelei geborgen und sich erhoben.
»Hatte ich's mir doch gleich gedacht, dass es so kommen würde. Mich wunderte es schon, dass Sie es so lange aushielten. Wir gehen hier gleich durch den Boden.«
Wieder öffnete sich die Falltür, jetzt aber nach außen.
Und nun geschah etwas, was sich nicht gut beschreiben lässt.
Es gehörte ja nur ein Schritt dazu, um die nur dünne Zwischenwand zu überwinden, und dieser Schritt genügte, um das ganze Verhältnis umzukehren.
Eigentlich hatten sie ja jetzt mit dem Kopfe nach unten gehangen, sobald sie aber die Decke oder den Boden passiert hatten, standen sie in dem Korridor wieder mit dem Kopfe nach oben.
»Ist das Ihr Ernst?«, fragte Black, nachdem sich die Klappe wieder geschlossen hatte. »Wollen Sie wirklich Ihre Müdigkeit bekämpfen?«
»Sie wollten mir doch Ihr Lieblingsplätzchen zeigen.
Das will ich nun auch erst noch sehen. Das hatte ich mir vorgenommen, und das setze ich nun auch durch. Muss man denn nur gerade für vierundzwanzig Stunden schlaflos werden? Auf diese Weise möchte ich die Wohltat des Schlafes nicht entbehren. Geben Sie mir doch einen halben oder nur einen viertel Tropfen jenes Elixiers. Oder mich sollte es doch überhaupt sehr wundern, wenn Sie unterdessen hier dieses Elixier nicht anders verarbeitet hätten, dass man es nach Belieben auch einmal nur für kurze Zeit der Müdigkeit anwenden kann.«
»Und da haben Sie allerdings recht!«, frohlockte der Zigeuner, aus einem Beutelchen am Gürtel eine kleine Dose nehmend, die Pillen enthielt. »Jede Pille vertreibt die Müdigkeit bei einem normalen Menschen für durchschnittlich eine Stunde, mehr als ein Dutzend sind nicht erlaubt. Nun nehmen Sie nach Belieben.«
»Ohne böse Nachwirkungen?«, fragte der Amerikaner erst mit seiner gewöhnlichen Vorsicht.
»Sonst würde ich es Ihnen doch von allein sagen.«
Er nahm zwei und verschluckte sie.
»In der Tat, die Müdigkeit, die mich schier überwältigen wollte, ist augenblicklich geschwunden!«, rief er sofort überrascht. »Ist das nur Einbildung?«
»Jawohl, nun machen Sie mein Mittel wieder schlecht! Wird es Ihnen unbewusst eingeflößt, so zeigt es ganz die gleiche Wirkung.«
»Na, dann also zeigen Sie mir Ihr Lieblingsplätzchen! Es ist nicht umsonst, dass ich es zu sehen so stark begehre.«
»Wollen Sie den kurzen und bequemen, aber nüchternen Weg wählen oder einen etwas längeren und beschwerlichen, aber höchst romantischen?«
»Immer den, den Sie selbst für gewöhnlich benutzen.«
»Es ist der romantische.«
»Das habe ich mir gleich gedacht. Also vorwärts!«
Nicht weit durch diesen Gang, und Black belieb vor der Steinwand stehen, fingerte daran herum, ohne dass hier eines jener runden Steinvexierschlösser, wie man diese Vorrichtung wohl bezeichnen konnte, zu sehen war.
»Diese Tür hier ist nur für mich«, sagte Black dabei, »außer den ersten Hütern aller Geheimnisse in dieser unterseeischen Welt verstehe nur ich sie zu öffnen, deshalb braucht das Schloss auch gar nicht erst erkenntlich zu sein. Der Weg durch diese Tür führt eben in mein eigenes Reich, das sonst niemand betreten darf ohne meine Erlaubnis. Solche Reviere, Wege und Türen für sich allein bekommt hier jeder nach einiger Zeit, wenn er darum bittet, wenn er sie sich durch irgend etwas verdient hat — auch Sie werden sich später so etwas aussuchen dürfen.«
Unter den tastenden Fingern wich ein Stück Felswand zurück, ein Loch zeigte sich, nur so groß, um einen Menschen auf Händen und Füßen einzulassen, und finster gähnte es daraus hervor.
»Ehe Sie mir folgen, besehen Sie sich diesen Weg einmal. Es geht ungefähr fünf Minuten auf Händen und Füßen, immer im Zickzack und manchmal sehr steil bergauf, immer im Finstern. Wollen Sie mir folgen?«
»Warum denn nicht?! Sind sonst Gefahren unterwegs vorhanden?«
»Nicht die geringste. Keine Überwindung von Hindernissen, keine Unbequemlichkeiten, nicht etwa durch Wasser oder Sumpf und dergleichen. Nur dass man im Finstern auf Händen und Füßen kriechen muss, aber niemals auf dem Bauche rutschen, nichts weiter.«
»Und wozu denn dieser Kriechweg, wenn noch ein anderer, bequemerer vorhanden ist?«
»Nur wegen der Romantik. Nur um dann den Kontrast zu erhöhen. Sonst kann ich es Ihnen nicht erklären, weshalb ich diesen Weg mit Vorliebe benutze, um mein Lieblingsplätzchen zu erreichen.«
»Wenn Sie von Romantik sprechen, so genügt mir das schon. Vorwärts!«
Der Zigeuner, wie immer seine zierliche Doppelbüchse umgehängt, kroch hinein, Sharp folgte ihm, an der sofortigen Finsternis gleich merkend, dass sich die Felsentür hinter ihm von selbst wieder schloss.
Nein, länger als fünf Minuten dauerte der Kriechweg auf Händen und Füßen nicht. Er ging im Zickzack, ohne dass man sich an gefährlichen Ecken stoßen konnte, der Boden war glatt, ohne Steine, es ging manchmal steil bergauf, ohne dass man abrutschen konnte, und dann ließ sich wieder die Stimme des Führers vernehmen.
»Nun kommt eine Leiter, sehr primitiv, aber solid, an der müssen wir hinauf.«
Sharp tastete und erklomm sie, nicht einmal eine richtige Leiter, sondern nur ein roher Baumstamm, in den tiefe Narben eingehauen waren, aber sicher zu erklimmen, man konnte sich zum Ausruhen auch mit dem Rücken gegen die Wand lehnen, bei aller Rauheit doch glatt, man konnte sich keinen Splitter zuziehen.
Dreißig Meter hoch musste dieser Baumstamm wohl sein, dann entstand eben plötzlich ein helles Licht, Black musste etwas geöffnet haben, er war verschwunden, und gleich darauf kletterte auch Sharp ins Freie.
»So, wir sind am Ziel. Das ist mein Lieblingsplätzchen, an dem ich manchmal viele Tage lang in völliger Einsamkeit verbringe.«
Im Freien befanden sie sich aber nicht!
Es war eine Höhle, die wir genauer beschreiben wollen.
Kreisrund mit vier Meter Durchmesser bei nur zweieinhalb Meter Höhe, die Decke gewölbt. Aber nun nicht etwa regelmäßig gehalten, sondern einen ganz natürlichen Eindruck machend, hier und da hinderliche Vorsprünge, die nicht mit dem Meißel weggeschlagen worden waren, überhaupt keine Spur von Hammer und Meißel. Der Boden mit feinem Sand bedeckt.
Und in dieser Höhle hauste ein Robinson — oder ein Einsiedler, ein Jäger — oder eben ein Zigeuner, der hier für seinen Lebensunterhalt und seine Bequemlichkeit zusammengetragen hatte, was er bekommen konnte, doch wahrscheinlich es niemals bezahlend.
An den Wänden zogen sich Stellagen hin, auch an der Decke waren solche angebracht, wahllos zusammengebaut aus rohen Baumstämmchen und aus alten Latten und gespaltenen Bretterkisten, was so gerade unter die Hand gekommen war und wie es zusammenpasste, und an diesen hing nun alles, was ein Einsiedler und Jäger braucht, alte Kleider, alle so romantisch wie möglich, Jagd- und Fischereizeug, außerdem aber nun auch noch Speckseiten und Würste und dergleichen »Fressalien«, und man wurde den Eindruck nicht los, auch wenn man gar nichts von dem Bewohner dieser Höhle wusste, dass es ein Zigeuner war, der dies alles zusammen gebettelt und mehr noch gestohlen hatte, wozu nun freilich auch die besonderen Sachen beitrugen, die herumhingen und lagen, die phantastischsten Kostüme, nicht gerade zerlumpt, aber doch so einen eigentümlichen Vagabundeneindruck machend, lauter solche merkwürdige Raritäten, eine silberne, ganz verbeulte Trompete, eine uralte, aber wunderbar mit Schildplatt verzierte Mandoline und dergleichen mehr.
Je länger man sich umblickte, desto mehr solcher wunderlicher Raritäten entdeckte man, immer ganz zu einem Zigeuner passend. Eine wahre Höhlenrumpelkammer.
In der Mitte der Höhle befand sich die Feuerstelle, ganz plump aus rohen Steinen ausgeführt. Daneben lagen rußige Kochtöpfe, ein Haufen Zwiebeln, bei deren Zubereitung der Zigeuner wohl unterbrochen worden war, einiges Brennholz, wie dort in der Ecke noch eine ganze Menge aufgestapelt war. Auch wieder so bunt gemengt aus gefällten und zerhackten Baumstämmen und aus aufgesammeltem Reisig und zerkleinerten Kistenbrettern.
Über der Feuerstelle befand sich an der Decke ein Loch für den Rauchabzug. Es mochte ja ganz gut ziehen, von Rauch war nichts zu merken, obgleich das Feuer noch vor Kurzem gebrannt haben musste, aber es roch doch alles nach verbranntem Holz und Fett und Zwiebeln. Eben so eine echte, brenzlige Zigeuneratmosphäre, die aber auch unbedingt mit dazu gehörte, die auch ein Maler mit in sein Bild hineinzulegen verstehen muss, wenn er solch eine Zigeunerbehausung wiedergibt, oder er ist eben kein echter Künstler.
Über das enge Loch, dem sie entstiegen waren, in einem Winkel der Höhle, und solche Winkel gab es trotz aller Rundung genug, hatte Black schon wieder einen alten Kistendeckel gelegt, der aber eine ganz moderne Signatur trug — Bremen 16 443 B. Vorsicht! Zerbrechlich!
»Nun, wie gefällt es Ihnen hier, Mister Sharp?«
Der blickte sich aufmerksam um.
Es herrschte in der Höhle ein Dämmerlicht, das umso heller wurde, je mehr man sich daran gewöhnte, was jedoch für die beiden nicht erst nötig war, da sie aus einer Stockfinsternis kamen.
Dieses gedämpfte Licht, das auch den feinsten Gegenstand deutlich erkennen ließ — als wenn man in einem tageshellen Zimmer die Fenstervorhänge zugezogen hat — schien hier aber nicht aus den Wänden herauszukommen.
Öffnungen waren allerdings nicht vorhanden, wenigstens nicht zu sehen, wohl aber mussten solche, und zwar vier Stück, in der Höhle sich gegenüber liegend, mit Fellen oder auch mit ganz ordinärer Sackleinwand verhangen sein, und durch diese schien das helle Tageslicht, welches draußen herrschen musste, so gedämpft hereinzudringen.
»Famos!«, lautete Mister Sharps Bescheid nach seinem ersten aufmerksamen Umblick. »Das ist so ganz etwas nach meinem Geschmack!«
»Wirklich?«
»Ja, es ist sogar geradezu wunderbar! Nicht allein, was ich hier erblicke, sondern dass ich hier überhaupt so etwas zu schauen bekomme. Hierbei ist nämlich ein Unterschied.«
»Inwiefern? Ich verstehe nicht recht, wie Sie das meinen.«
»Nun, so etwas ist eben ganz nach meinem Geschmack. Schon als Kind habe ich von solch einem Zigeunernest geträumt, oder, will ich lieber sagen, von einer Höhle oder Hütte, in der ich als weltverlassener Einsiedler und Jäger hause.
Ich habe es in späteren Jahren oft genug verwirklicht. In den verschiedensten Wildnissen. Aber immer waren es die vermaledeiten Mücken und ähnliche Biester, die mir alles verleideten.«
Ja, so ist es!
Wenn schon mehrmals hiervon gesprochen worden ist, so geschieht das eben nicht umsonst; man muss es nur selbst einmal durchgemacht haben.
Mancher Knabe und Jüngling träumt von einem paradiesischen, freien, sorgenlosen Leben als Jäger, Robinson oder Einsiedler und verwirklicht es einmal. Weshalb soll er nicht. Es ist ein ganz erstrebenswertes Ideal mit ernstem Hintergrund. Und dann wird er immer erfahren müssen, dass gerade in den Gegenden, wo so etwas möglich ist, weil man sich dort den Lebensunterhalt verschaffen kann, ohne von einem Schutzmann beim Schlafittchen genommen zu werden, dies dennoch unmöglich ist. Nur wegen der Mücken. Gegen Schlangen und dergleichen Tiere kann man sich schützen, aber durch nichts gegen die Mücken; denn alle Mittel, die sie abwehren, Rauch, Lorbeerfett und dergleichen, kann der Mensch selbst auf die Dauer nicht ertragen.
Diese winzige Kleinigkeit, welche das ganze Ideal illusorisch macht, wird von den Jugendschriftstellern bei solchen Gelegenheiten immer vergessen, obschon gerade in »Robinson Crusoe«, wenigstens im Original, sehr ausführlich diese schauderhafte Plage besprochen wird. Aber den meisten Jugendschriftstellern passt doch so etwas nicht in ihren Kram. Und wenn Reisende, Forschungsreisende, davon erzählen, so ist das eben wieder etwas ganz anderes.
Die Moskiten- oder einfach Mückenplage ist die scheußlichste, die sich denken lässt, sie verfolgt einen von Lappland an bis nach Patagonien hinab, von den tropischen Gegenden, und besonders auch von Australien gar nicht erst zu sprechen. Wenn es anfängt, in der Natur gemütlich zu werden, kommen die kleinen Blutsauger angestürzt, gleich in der ersten Nacht wünscht man die ganze Romantik zum Teufel — und alle Jugendschriftsteller dazu, die einem doch schließlich zuerst so etwas in den Kopf gesetzt haben. Und ehe man ein Mittel erfunden hat, durch das man sich einigermaßen schützen kann, ist man schon am ganzen Körper mit eiternden Schwären bedeckt. Ja, es gibt schützende Mittel, aber die sind ganz — individuell, möchte man sagen. So viel es professionelle Jäger, Trapper, Tramps und ähnliche Vagabunden in den verschiedenen Weltteilen gibt, so viele solcher Moskitomittel gibt es auch, jeder hat sein eigenes »Geheimnis«, und eines stinkt immer noch mörderischer als das andere.
Nur in der Wüste gibt es keine Mücken. Genügend abgelegen von menschlichen Ansiedlungen. Da findet man aber wieder keinen Lebensunterhalt. Ist aber Wasser da, den anderen Proviant kann man ja selbst hinschleppen, mit einem halben Zentner reicht man lange — dann wimmelt es auch gleich wieder von Mücken. Und auf dem Meere gibt es keine.
Wir wissen gar nicht, was wir in unseren gemäßigten Klimaten für ein glückliches Leben führen; deshalb auch sind diese Länder ja am dichtesten bevölkert und stehen unter der höchsten Kultur, wodurch nun eben wieder solch ein idyllisches Leben nicht gut möglich ist, von dem so mancher Knabe und Jüngling und wohl auch noch manch ernster, gereifter Mann träumt.
Ich fühl's, ich bin nicht für die Welt geboren,
Ich würde sonst sie nehmen, wie sie liegt,
Hätt' nie an Traumgestalten mich geschmiegt,
An die mein Herz unrettbar nun verloren.
Ein wildes Kriegsgeschrei erfüllt die Welt
Und Harmonie ist Traum der Toren.
Ach, dass ich eine Hütte wüsste
In eines Tales kühlem Grund,
Mit Vogelsang und einem treuen Hund.
Befreit vom Drucke harter Pflichten
Zög' ich des Lebens schwere Rüstung aus
Und schlummerte im Schatten hoher Fichten.
So sang Max von Pettenkofer, dem alle Ehren zuteil geworden sind, die ein Gelehrter nur erreichen kann, alles durch eigenes Verdienst, ein Mann in den glücklichsten Verhältnissen, auch in der Familie, als achtzigjähriger Greis noch kerngesund und rüstig, seine Forscherlaufbahn weiter verfolgend — so schrieb der achtzigjährige Mann auf ein Blättchen Papier nieder — einige Zeilen sind dem Schreiber dieses entfallen — und — schoss sich eine Kugel durch den Kopf! —
Der Zigeuner lachte.
»Ja, Sie haben hier gut lachen!«, sagte dann auch Mister Sharp.
»Also es gefällt Ihnen hier?«
»Ganz ausgezeichnet. Besonders die Zwiebeln dort gefallen mir. Jetzt merke ich nämlich, dass ich nicht ungestraft meine übliche Schlafenszeit überschritten habe. Und, weiß der Teufel — ich mache mir sonst aus Zwiebeln gar nichts, esse nicht einmal zum Kaviar welche — mit einem Male bekomme ich einen riesigen Appetit nach Zwiebeln, einen förmlichen Heißhunger nach Zwiebeln. Aber in so einem rußigen, dreckigen, schmierigen Topfe dort müssen sie gekocht sein, sonst würden sie mir nicht schmecken, und eine recht große Portion.«
»Soll ich welche kochen?«, lachte Black, dass wieder seine Zähne blitzten, und schon kniete er nieder und blies das noch unter der Asche glimmende Feuer an.
»Soll ich Zwiebeln kochen?«, lachte Black, und schon kniete er nieder.
»Jawohl, kochen Sie, nur nicht zu wenig — allerdings ohne Schale, wenn ich bitten darf — und dann solches Fett dran, wonach es hier so scheußlich riecht — das ist wohl — wohl — Igelfett, was?«
»Das können Sie wirklich riechen, dass das Igelfett ist?«, wunderte sich Black etwas.
»Na, ich will's Ihnen nur sagen — ich rieche Ihnen das Igelfett schon seit vielen Stunden an — Sie riechen wie ein in der heißen Asche bei lebendigem Leibe gerösteter Igel — doch nein, ich will bei der Wahrheit bleiben, ich weiß gar nicht, wie Igelfett riecht — aber sobald ich Sie ansehe, muss ich immer an einen gebratenen Igel denken, weil Sie nun einmal so ein ganz waschechter Zigeuner sind.«
»Wollen Sie einmal einen echten Zigeunerigelbraten essen?«, lachte Black.
»Ei ja, den möchte ich mal probieren! Habe schon viel davon gehört.«
»Ich habe einen hier. Einen toten.«
»Einen toten Igelbraten? Ja, verspeisen denn die Zigeuner den gebratenen Igel lebendig?«
»Einen toten Igel, meine ich!«, lachte Black nach wie vor, wozu er ja auch allen Grund hatte. »Ich habe einen hier fertig zum Braten.«
Mister Sharp machte noch immer ein ebenso begehrliches wie misstrauisches Gesicht.
»Ja, tot muss der Igel sein, wenn man ihn gebraten verspeisen will, aber — hören Sie mal — er ist doch nicht etwa von — Gott geschlachtet?«
Der junge Amerikaner zeigte, dass er die Zigeuner recht gut kannte.
Die Zigeuner essen ja alles, was essbar ist, auch jedes gefallene Tier, das sie finden, wenn es nur irgendwie noch genießbar ist, und ein solches eines unnatürlichen oder sonst wie unbekannten Todes gestorbenes Tier nennen sie »von Gott geschlachtet«.
Da muss der Verfasser übrigens einen guten Witz erzählen, den er aus dem Munde dessen gehört hat, dem er selbst passiert ist.
Auf einem Gutshofe in Ungarn wird ein geschlachtetes Schwein tuberkulös befunden und draußen im Felde vergraben, in der Nähe einer verfallenen Scheune.
Am anderen Morgen sieht man, dass über Nacht in dieser Scheune eine Zigeunerbande ihr Lager aufgeschlagen hat, schon rauchen die Feuer.
Da kommt ein Zigeuner angelaufen, mit noch kauendem Munde, nach Schweinebraten duftend, bestellt einen schönen Gruß vom »Primas«, vom Hauptmann, und ob der Gutsherr nicht vielleicht auch noch ein Fässchen tuberkulösen Wein habe. —
»Nein, nein, ich selbst habe ihn getötet, regelrecht auf dem Anstand erlegt, soweit man auf Igel pirschen kann. Ich erwähne dies nur, dass er schon tot ist, weil der Igel erst einige Tage liegen muss, sonst schmeckt er nicht, oder es wird doch nicht das Wirkliche daraus; gerade wie beim Dachs.«
»Doch nicht schon so zart und delikat, dass man sich beim Essen die Nase zuhalten muss?«, blieb Mister Sharp noch immer misstrauisch.
»Keine Rede davon. Sie sollen ihn dann selbst erst sehen.«
»Na dann mal los. Ich mache mir überhaupt gar nichts daraus, wie er sonst beschaffen ist, ich esse alles, was Sie essen, ich fühle mich in dieser Bude als echten Zigeuner. Also machen Sie mir nur auch so einen echten Zigeunerigel, so wie anderswo der Schinken in Brotteig gebacken wird, nur dass man beim Igel diesen Teig nicht essen kann.«
Wieder hatte der junge Amerikaner bewiesen, dass er die Sitten der Zigeuner recht gut kannte, wie wir gleich sehen werden.
Zunächst nahm Black einen der rußigen Kessel und ging in eine Ecke; man hörte Wasser laufen.
»Woher kommt das Wasser?«, fragte Sharp, der alles aufmerksam beobachtete.
»Aus einer Zisterne, die sich oben auf diesem Felsen befindet.«
»Und wie wird diese mit Wasser gefüllt?«
»Durch den Regen. Es ist Regenwasser. Das heißt, so nehme ich dies alles in meiner Phantasie an —«
»Na selbstverständlich!«, wurde er förmlich angeschnauzt. »Das brauchen Sie mir doch nicht erst zu sagen! Oder glauben Sie etwa, ich weiß nicht, weshalb Sie erst durch einen Tunnel kriechen, um in dieses Zigeunernest zu gelangen?«
Wenn das dem jungen Amerikaner ganz klar war, so wird es auch der Leser wissen, wie unangebracht da eine regelrechte Treppe oder etwa gar ein moderner Fahrstuhl gewesen wäre.
Der Kessel mit Wasser wurde an einem eisernen Dreieck über das angefachte Feuer gehangen. Black schälte oberflächlich eine gute Portion Zwiebeln und warf sie hinein.
Daneben saß Mister Sharp auf einer Kiste und beobachtete aufmerksam.
»Und nun noch Sauerkraut hinein, nicht wahr?«
»Woher wissen Sie denn, dass ich hier Sauerkraut habe?!«
»Erstens habe ich eine gar feine Nase und zweitens hängt das Gelumpe dort zu dem Fasse heraus.«
Lachend tat der Zigeuner noch eine gute Quantität Sauerkraut hinzu, dann schälte er einige Kartoffeln, dann Möhren, dann putzte er einiges grünes Gemüse, was er alles so nach und nach aus den verschiedensten Winkeln zum Vorschein brachte, alles in den Kessel wandern lassend, schließlich noch Salz und eine Hand voll Paprika hinzufügend.
»So, die Suppe wäre angesetzt.«
»Wie lange muss dieser Zigeunerfraß kochen?«
»Eine Stunde mindestens. Sie brauchen aber nicht so lange zu warten —«
»Doch, ungekocht oder halb gar möchte ich dieses Luderzeug nicht schlucken.«
»Ich meine, Sie können vorher etwas anderes —«
»Nein, nein, ich kann warten. Und nun noch den Igel, auf den freue ich mich am meisten.«
Der unglückliche Igel, der sein Leben hatte lassen müssen, war zur Stelle, schon ausgeweidet, sah ganz appetitlich aus, soweit ein Igel mit sämtlichen Stacheln appetitlich aussehen kann, sonst sieht aber ein toter und manchmal auch ein lebendiger höchst unappetitlich aus.
»Ist nicht nötig, dass ich erst meine Nase in seine Eingeweidekammer stecke!«, sagte Sharp, als der Zigeuner zu solch einer Bewegung ansetzte.
Auch alles andere war gleich hier vorhanden, um den Igelbraten herzustellen.
Also das macht der Zigeuner ungefähr so, wie wir einen Schinken in Brotteig packen, nur dass man die Kruste dann nicht essen kann, und wenn man auch noch so gute Zähne hat.
Black nahm einen alten Eimer her, den er auch ohne weitere Dichterphantasie auf dem Müllhaufen gefunden haben konnte, entnahm ihm einen großen Klumpen Lehm, schon genügend angefeuchtet, knetete ihn auseinander, packte den Igel hinein, knetete ihn gut wieder zu, und so wurde der »Schinken in Brotteig« dem Feuer überliefert, direkt in die Flammen hinein.
So bereiten die Zigeuner in aller Welt ihr Nationalgericht; denn von einem solchen darf man wohl sprechen, nicht nur von ihrer größten Leckerei. Wo Zigeuner gelagert haben, da ist in der weiteren Umgebung kein Igel mehr zu finden. Aber der Igel findet sich auch in den Wappen sämtlicher Zigeunerstämme wieder, so verschieden diese Wappen sonst auch sein mögen.
Hat nun der Lehmkloß lange genug im Feuer gelegen — wobei es wohl auf die Zeit gar nicht so genau ankommt, das Fleisch verbrennt nicht so leicht, dagegen scheint die Zubereitung des Lehms ein Geheimnis zu sein, dem Unzünftigen will es nicht gelingen, der Lehm zerbricht schon im Feuer, und dann ist es natürlich vorbei — so wird der Kloß herausgeholt und aufgeschlagen, dadurch aber auch gleichzeitig der Igel abgezogen, die Stacheln samt der verbrannten Haut bleiben in der Lehmkruste stecken, das rosige Fleisch kommt zum Vorschein, und es schmeckt wirklich delikat.
»In einer halben Stunde ist der Braten fertig. Nun, Mister Sharp, wie vertreiben wir uns die Zeit bis dahin?«
»Das überlasse ich Ihnen.«
»Mich wundert von Ihnen nur eines.«
»Und das wäre?«
»Dass Sie gar nicht fragen, ob es hier denn keine Aussicht gibt.«
»Das überlasse ich eben Ihnen, mir eine solche zu zeigen. Ich will Ihnen nicht vorgreifen.«
Black ging hin und schlug den einen der Wandvorhänge aus Sackleinwand zurück.
Da war die Aussicht!
Tief unter ihnen lag das endlose Meer im Scheine der tiefstehenden Sonne — im Abendsonnenscheine, wie wir gleich verraten wollen.
Und nun geschah etwas Merkwürdiges.
Mister Sharp trat vor bis an den Rand der Höhle, blickte an der steilen Felswand hinab, trat etwas zurück, legte sich hin in den weichen Sand, stemmte die Ellbogen auf, den Kopf in die Hände und — blieb so liegen.
Das wäre an sich nichts Merkwürdiges gewesen.
Aber dann wurde seine Schulter von des Zigeuners Schulter berührt.
»Was gibt's?«
»Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass nicht nur der Igelbraten, sondern auch schon die Suppe fertig ist.«
»Ist schon eine Stunde vergangen?«
»Noch etwas mehr.«
Das war das Merkwürdige dabei gewesen!
Und anders haben wir es nicht schildern können.
Also länger als eine Stunde hatte der junge Amerikaner so regungslos dagelegen, immer auf das Meer hinausblickend.
Schließlich kennen wir diese seine Liebhaberei ja schon von seinem Bordleben her.
Aber immerhin, es hatte doch etwas zu bedeuten. Geradezu so vernarrt in solch einen Anblick zu sein, dabei vielleicht meinend, es seien erst wenige Minuten vergangen.
Jetzt aber stand er gleich auf. »Nun, da wollen wir essen.«
»Soll ich wieder zuziehen?«
»Nein, nein, lassen Sie nur auf. Haben Sie noch andere solche Aussichten?«
»Jawohl.«
»Die möchte ich jetzt aber noch nicht sehen. Doch das Meer kann dabei sein, wenn wir essen, es wird dadurch wohl nicht entweiht.«
Sie aßen, die Suppe wie den im eigenen Safte gebackenen Igel, der in der erwähnten Weise bloßgelegt wurde.
Mister Sharp lobte beides und aß wie ein hungriger Mann. Der schönen Aussicht hatte er dabei den Rücken gekehrt, sprach über alles andere, nur nicht über das, was er vorhin so bewundert hatte.
»Echt?«, fragte er dann plötzlich einmal mit dem Daumen über die Schulter zuckend.
»Wie alles hier — halb und halb.«
»Süßwasser?«
»Nein, das hier ist Meerwasser, so echt, dass Sie noch hier den Salzgeschmack haben, wenn ich es einmal tüchtig branden lasse. Soll ich?«
»Nein, nein, nicht nötig. Lassen Sie nur alles so wie es ist. Jetzt weiß ich, was sich hier alles machen lässt, und das genügt mir. Aber sagen Sie mal — brennt mir die Sonne nicht recht warm auf den Buckel?«
»Weil das die echte Sonne ist!«, lächelte der Zigeuner.
»Was, echt?! Das ist doch nur wieder so eine elektrische Funzel.«
»Nein, die würde nicht so heizen.«
»Na, dann ist es eben eine andere wie glühend gemachte Scheibe, die dort am Himmel hängt.«
»Es ist die natürliche Sonne.«
Und Black brachte ein Brennglas zum Vorschein, konzentrierte die Strahlen auf einen alten Lappen, und alsbald begann dieser in dem kleinen Brennpunkt zu rauchen, ein Loch brannte sich hinein.
»Wie ist denn das möglich?! Dann sind wir eben schon wieder oben im Riffhause, wir erblicken durch eine Öffnung das wirkliche Meer, den Atlantik, es ist wirklich Gottes Sonne.«
»Nein, wir befinden uns nach wie vor tief unter dem Meeresgrunde. Außerdem ist es doch jetzt dort oben Nacht.«
»Ja, wie ist denn das möglich?!«
»Was Sie dort in der Ferne sehen, ist wohl ein künstliches Panorama, aber kein gemaltes, sondern es ist eine Spiegelung der wirklichen Natur. Es ist der wirkliche Atlantische Ozean, den Sie im Spiegel erblicken. Führe jetzt dort oben ein Schiff, so würden Sie es auch hier sehen.
Wir können aber überhaupt alles, was sich auf der Oberfläche der Erde befindet, nach hier unten spiegeln, ganz gleichgültig, wo es sich befindet, auch von der anderen Hälfte der Erdkugel her, wie Sie es ja bereits auf dem Globus vorhin beobachten konnten, weshalb ich diesen Ihnen auch erst zeigte, um Sie auf diese weitere Erscheinung hier vorzubereiten.
Übrigens haben Sie doch bereits einmal diese Beobachtung machen müssen.
Als Sie sich in jener Prärie befanden, sahen Sie doch im Panorama Büffel und Indianer auftauchen, in voller Beweglichkeit.
Allerdings konnten Sie ja glauben, es handele sich dabei um lebende Bilder, um Kinematografie, die mit der Täuschung des Panoramas in Verbindung gebracht wurde.
Ich versichere Ihnen aber, dass es wirklich eine texanische Prärie war, die Sie im Spiegel erblickten, und daher auch die Spiegelbilder von wirklichen Büffeln und Apachen, Sie hätten eine tatsächliche Büffeljagd beobachten können.
So ist es also auch hier.
Und so wird auch die Sonne hierher gespiegelt, ganz gleichgültig, wo sie in Bezug auf die Erde am Firmament steht.
Und durch diese Spiegelvorrichtung, deren Wesen ich Ihnen hier natürlich nicht erklären kann, lassen sich auch ihre Wärmestrahlen im Brennglas konzentrieren.«
So hatte Black erklärt, und es wird auch für den Leser genügen.
Auch Mister Sharp fragte nicht weiter. Schweigend, ganz in Gedanken versunken, beendete er die Mahlzeit.
»So«, sagte er dann, »nun zeigen Sie mir die anderen Aussichten.«
»Am besten ist wohl, wenn wir da die erste wieder verhängen.«
»Wie Sie wollen.«
»So mache ich es wenigstens immer, denn die verschiedenen Sonnen oder doch Tageslichter könnten doch die Illusionen stören.«
Er ließ die Sackleinwand wieder vor, ging nach der gegenüberliegenden Seite, zog ein großes Hirschfell zurück.
Da blickte man in eine vergletscherte Alpenwelt mit grünen Tälern, ab und zu übergossen von Sonnenstrahlen, die sich durch zerrissenes Gewölk brachen.
»Wieder alles echte Natur, wenn auch nur im Spiegel erblickt.
Es ist eine der einsamsten und imposantesten Landschaften des Himalajas.«
Wir wollen nicht den Eindruck schildern, den nun wieder dieses Landschaftsbild auf den jungen Amerikaner machte, und wir wollen uns auch sonst kurz fassen.
Die dritte Aussicht zeigte einen afrikanischen Urwald, die vierte ein Wüstenbild aus der Sahara, und zwar bei aufgehender Sonne, die auch wirklich erst langsam über den Horizont emporstieg, jenes unvergleichliche Farbenspiel hervorzaubernd, von dem schon öfter gesprochen worden ist.
Immer wieder wurde der junge Amerikaner überwältigt, mehr können wir nicht sagen. Höchstens noch: Schon längst waren die zwei Stunden vergangen, für welche er den Schlaf gebannt hatte, schon die doppelte Zahl von Stunden, so lange währte diese ganze Vorführung, und Mister Sharp begehrte nach keinen neuen Pillen, um die Müdigkeit zu verscheuchen.
»O Mann, Mann, was sind Sie für ein glücklicher Mensch!«
In diesen Ruf brach er zuletzt aus.
»Ich weiß, was Sie meinen!«, entgegnete der Zigeuner leise, mit feierlichem Ernst. »Ja, ich bin glücklich hier, ich habe nichts mehr zu wünschen — und das ist ja wohl das echte Glück. Und Sie können dasselbe Glück hier finden.«
Wieder eine lange Pause, immer gleich eine halbe Stunde lang. Hier gab es aber überhaupt keine Uhrzeit mehr, hier war Moment und Ewigkeit verschmolzen.
»Hier also träumen Sie nun?«, fragte dann Mister Sharp einmal wieder.
»Stundenlang und tagelang und einmal wohl auch gleich wochenlang.«
»Immer dasselbe Bild betrachtend?«
»Ich habe deren vier. Von der eisigen Gletscherwelt wende ich mich einmal der sonnendurchglühten Wüste zu, vom Meere dem tropischen Urwald.«
»Wenn Sie aber die ganze Erde im Spiegel beherrschen, können Sie da hier nicht auch andere Landschaften und Bilder erscheinen lassen?«
»O gewiss! Alles, alles, was ich nur von der Erde sehen will! Soll ich einmal eine Riesenstadt wie New York als aufgewühlten menschlichen Ameisenhaufen hier einschalten?«
»Nein, nein, um Gottes willen nicht!«, rief Mister Sharp wahrhaft entsetzt, schon eine Bewegung machend, um den Zigeuner mit Gewalt von so etwas abhalten zu wollen.
»Oder wollen Sie hier statt der eisigen Gletscherwelt den Nordpol oder den Südpol sehen?«
»Nein, nein, auch das nicht!«, erklang es immer wieder, wenn auch nicht mehr mit so tödlichem Schreck wie vorhin. »Es war nur so eine Frage von mir, ob es möglich sei. Ich will gar nichts anderes sehen, diese vier Landschaften hier genügen mir vollkommen, ich mag gar nicht daran denken, dass ich da eine Wahl noch habe. Ich bin in Bezug auf Bilder sehr eigentümlich. Gehe ich in eine Gemäldegalerie, so gehe ich gleich mit der Absicht hin, nur ein einziges Bild zu betrachten, gehe an allen andern mit geschlossenen Augen vorbei und so auch wieder zurück, um keinen anderen Eindruck mit fortzunehmen, der den beabsichtigten verwischen würde.«
»Dann geht es Ihnen genau so wie mir! Ich begnüge mich auch vollkommen an diesen vier Szenerien. Seitdem sie mir zur Verfügung stehen, ich hier Herr bin, seit drei Jahren schon, habe ich noch nie ein Bild gewechselt.
Und immer teurer und lieber wird mir jedes einzelne. Indem ich jeden Baum und jede Felsenspitze immer aufmerksamer betrachte, alles wächst mir immer mehr ans Herz.«
»Da können Sie also sogar wochenlang hier so sitzen und sich an diesen Aussichten weiden?«
»Ja, einmal habe ich es sechzehn volle Tage ausgehalten.«
»Dabei betreiben Sie auch nicht Ihre Handarbeiten, von denen Sie sagten, dass sie Ihnen ein unablässiges Bedürfnis seien?«
»Doch. Ich arbeite ja, ohne niedersehen zu müssen. Aber das ist in diesem Falle auch nicht nötig. Ich kann auch in die Landschaften blicken und tagelang untätig träumen. Es ist ein befriedigendes Glücksempfinden, dem ich mich dann ganz und voll hingebe, das ich mit vollem Bewusstsein genieße, oder ich musiziere hier. Das ist alles ganz verschieden. Und dann muss ich doch auch essen. Ich muss hier kochen. In dieser Höhle kann ich mich wochenlang aufhalten, meine ich. Und dann plötzlich habe ich einen anderen Einfall und tauche unter.«
»Tauchen unter wohin?«
»Das sollen Sie sehen.«
Black trat an die Felsenwand, wo diese durch nichts verhüllt war, und tastete wieder.
»Dass ich also solch einen geheimen Schleichweg benutzte«, sagte er dabei, »um hier in mein Nest zu gelangen, das verstehen Sie.
Anders ist es aber, wenn ich einmal untertauchen will, um mich mit anderen Sachen zu beschäftigen, die sonst meinen Kopf erfüllen — mit wissenschaftlichen Studien, denen ich ja auch hier oben nachhänge.
Dann will ich natürlich auch so schnell wie möglich an Ort und Stelle sein, wo ich das finde, was ich brauche.
So werden Sie also auch verstehen, wenn ich in diesem Falle einen modernen Fahrstuhl benutze.«
Die Felsenwand hatte sich geöffnet, eine Nische zeigte sich.
Beide traten ein, die Felsentür schloss sich, ein Ruck zeigte an, dass es abwärts ging, und da stand der Fahrstuhl schon wieder still.
Die Tür ging auf, sie traten in einen hohen Raum, ganz angefüllt mit Büchern, angefüllt insofern, als sie auch auf Regalen standen, die quer durch das Zimmer gingen. Also eine regelrechte Bibliothek, wo nicht nur die Wände die Bücher aufnehmen können, wo jeder Platz ausgenutzt wird.
Hin und wieder aber doch ein traulicher Winkel mit kleinem Schreibtisch.
»Das ist meine Bibliothek. Meine eigene. Wenn ich sie auch nicht mitgebracht habe. Sie enthält eben alles das, was ich für meine eigenen Studien brauche, immer gleich zur Hand haben muss. Immerhin mehr als 10 000 Bände. Mit unserer gemeinsamen Bibliothek, die mir natürlich auch zur Verfügung steht, lässt sich keine andere der Erde vergleichen.«
Mister Sharp hatte einen Ruf des staunenden Entzückens ausgestoßen.
Weshalb?
Weil er sofort an etwas dachte, etwas erkannt hatte.
Dort oben in absoluter Einsamkeit mit der Natur, umgeben von ihren höchsten Reizen, ohne alle die sonstigen Unannehmlichkeiten, die sonst ihr Genießen stört — mit einem Ruck hier unten umgeben von der Quintessenz des Menschengeistes, mehr als 10 000 gehorsame Diener stehen bereit, um auf einen Wink jede im Bereiche der Möglichkeit liegende Frage zu beantworten, alles offenbarend, was dieser universale Menschengeist je gedacht und getan. Wenn ein Mensch für so etwas veranlagt ist, und es kommt noch völlige Gesundheit hinzu, oder richtiger ausgedrückt: völlige Schmerzlosigkeit, körperliche wie seelische, ein Gebrechen hätte dabei nichts zu sagen — dann sind diesem Menschen die Bedingungen gegeben, unter welchen auf dieser Erde das denkbar größte Glück dauernd möglich ist!
Ein anderes dauerndes Glück, das keinen Wunsch mehr kennt, gibt es auf dieser Erde nicht.
Wer es fassen kann, der fasse es.
Nur fange man nicht mit »Liebesglück« und dergleichen an.
Wohl dem, der nicht schon in jungen Jahren dieses sogenannte »Glück« als einen Wahn erkennen muss.
Über kurz oder lang kommt es doch einmal.
Ein solches Leben aber, wie hier geschildert, angedeutet wird, kennt auch eine Liebe, ist ohne diese nicht möglich. Nur dass es eine andere Liebe ist, nicht von dieser Welt.
Genug davon!
Dieser junge Amerikaner hatte es begriffen, und daher sein entzückter Ausruf ohne diesen erklären zu wollen.
»Hier nebenan ist mein Schlafzimmer.«
Black öffnete eine Seitentür, nur so nebenbei, und ließ den Gast einmal hineinblicken.
Ein prachtvolles Bett und dementsprechend die ganze Einrichtung eines Schlafzimmers, alles aufs luxuriöseste.
»Ich komme selten hinein, eigentlich — niemals!«, setzte der Zigeuner noch hinzu, das letztere in etwas verschämtem Tone.
Nein, das brauchte dieser Zigeunerprofessor auch nicht erst lange zu versichern.
Dass der nicht oft in dieses Bett hineinkam, das war dem doch gleich anzusehen, ihm selbst noch viel mehr als dem Bett.
»Und hier sind meine Laboratorien!«
Das war nun freilich in einem ganz anderen Tone gesagt worden, nicht halb so verschämt, halb verächtlich.
Mister Sharp wurde durch die verschiedenen Räume und Säle geführt, als physikalische und chemische Laboratorien eingerichtet, mit den modernsten Apparaten und Instrumenten ausgestattet, welche die Wissenschaft kennt — mehr noch aber mit solchen, welche sie noch nicht kennt.
Der Zigeunerprofessor tat ganz recht, wenn er nicht viel erklärte, und der junge Amerikaner fragte auch nicht viel oder doch nur anderes.
»Hier unten aber müssen Sie doch Bedienung haben?«
»Ja, die kann ich nicht entbehren, Diener und Assistenten.«
»Darf ich fragen, mit was Sie sich gegenwärtig beschäftigen?«
»Ich bin seit einiger Zeit zur Zoologie übergegangen. Ich beobachte das Tierleben unter der Erde.«
»Tierleben unter der Erde?«
»Nun, gibt es nicht genug Tiere, die nur unter der Erde leben? Ich will Ihnen das jüngste Resultat meiner Forschungen zeigen.«
Er ging an einen Tisch, auf dem ein Apparat stand, in dem ein Kundiger gleich den kinematografischen Projektionsapparat erkannte. Gegenüber befand sich dann auch ein weißer Schirm.
»Zuvor möchte ich noch etwas bemerken.
Später wird dies ja alles anders arrangiert, mit einer so getreuen Wiedergabe, dass Sie Fotografie oder überhaupt Kunst gar nicht mehr von der Natur unterscheiden können.
Aber so etwas kann doch nur Schritt für Schritt erreicht werden.
Will man ein unterirdisches Tier haben, so müssen doch auch wir erst zum Spaten greifen und in der Erde schippen, dann müssen wir die weiteren Vorbereitungen treffen und erst einen ganz gewöhnlichen Fotografenapparat benutzen, und so geht das weiter und weiter, bis das Ganze zuletzt zur höchsten Vollendung gedeiht, die uns möglich ist.
Also ich bin mit diesem meinem letzten Versuche, den ich Ihnen jetzt vorführen will, erst bis zur einfachen kinematografischen Aufnahme und Wiedergabe gelangt, wozu ich auch noch das Zimmer verdunkeln muss.«
Es geschah, und dann zeigte sich dort an dem weißen Schirm von etwa drei Meter Höhe und Breite ein lebendes Bild.
Und wie lebendig das war!
Alles ein — Wiebeln und Kriebeln, wie man sagt.
Es war der Querdurchschnitt eines Ameisenhaufens, und in den Gängen arbeiteten die Tierchen, aber »Tierchen« von mindestens einem Fuß Länge; in so starker Vergrößerung waren die Ameisen wiedergegeben.
Und nun sah man, wie sie rastlos die Sandkörnchen, hier freilich Steine und auch Felsblöcke, zwischen den Zangen schleppten, wie sie Nahrungsmittel einbrachten, wie sie die Eier und Puppen — letztere fälschlicherweise immer »Ameiseneier« genannt — betteten, wie sie die Larven fütterten und dergleichen mehr.
Mister Sharp konnte dicht an den Schirm herantreten und er sagte sich von vornherein, dass er hier auch wieder stunden- und vielleicht sogar tagelang beobachten konnte.
Bald aber hatte er eine Frage.
»Kinematografisch haben Sie das aufgenommen?«
»Jawohl.«
»Da müssen Sie aber solch einen Ameisenhaufen doch erst mit besonderen Strahlen durchleuchten.«
»Das ist nicht nötig. Nein, das wäre sogar nicht möglich, dadurch könnte man doch nie solch einen idealen, perfekten Querdurchschnitt erzielen.«
»Ja, wie können Sie denn aber solch einen Querdurchschnitt sonst bekommen?!« —
Es sei dieses Verfahren in anderer Weise geschildert.
Wie man überhaupt jedes Tier, das unter der Erde lebt, in seiner unterirdischen Tätigkeit beobachten kann, mit ganz, ganz einfachen Hilfsmitteln.
Es dürfte doch ein oder der andere Leser für so etwas Interesse haben und dem Schreiber dieses dafür dankbar sein, wobei er aber bei aller Bescheidenheit auch sagt, dass dies seine eigene Erfindung ist, um jedes unterirdisch lebende Tier in seiner intimsten Tätigkeit beobachten zu können.
Wir wollen das Leben und Treiben in einem Ameisenhaufen kennen lernen.
Am besten eignet sich hierzu die Rasenameise, unter allen unseren Ameisen die geschickteste Erdbauerin, daher auch am interessantesten zu beobachten.
Die Rasenameise kommt bei uns überall vor. Wo man des Morgens mitten auf den Gartenwegen oder draußen nahe dem Wiesenrande kleine Sandhäufchen findet, oft dicht nebeneinander, da ist sie immer vorhanden.
Solch ein Sandhäufchen bezeichnet stets ein Schlupfloch für ihr abseits liegendes Hauptnest. Nun muss man von diesem Löchelchen aus den unterirdischen Tunnel bis zum Neste verfolgen, wozu allerdings einige Geduld und Übung gehört. Aber man braucht auch nur zu suchen, man findet das eigentliche Nest auch so, immer in Rasen- oder Wiesenboden angelegt.
Nun bewaffnet man sich mit einem Spaten und einer alten Käseglocke, gräbt das Nest auf, tut einen besonderen Stich hinein, wenn man gerade recht viele Ameisen sieht, diese schüttet man samt der Erde in das Glasgefäß und deckt es einstweilen mit einem Brett zu.
Aber die Hauptsache ist, auch möglichst viele Eier und Puppen zu bekommen, die gleichfalls in das Glas wandern, sonst geht die ganze Sache nicht, die man vorhat. Eier findet man stets, und die tun schon das ihre. Zu Hause angekommen, setzt man die Käseglocke mit der Öffnung nach oben auf ein kleines Glas — bei einem größeren Glasgefäß mit Fuß, wie etwa einem Weißbierglas, ist das natürlich nicht nötig, nur muss es oben immer einen glatten Rand haben, ein geschweiftes Goldfischglas eignet sich nicht dazu — und vertauscht, um die Sache auch von oben beobachten zu können, das Brett mit einer Glastafel.
Die Ameisen machen sich sofort an die Arbeit, ein neues Nest zu bauen; dass sie sich in einem Gefängnis befinden, irritiert sie nicht. Ihr ganzer Trieb ist auf die Sorge um ihre Brut gerichtet. Also sie graben sofort Löcher, so viele wie möglich, um die Eier und Puppen. die noch oben liegen, schnellstens unter der Erde verschwinden zu lassen.
Diese Tunnel werden fortgesetzt, nun sieht man nur noch, wie die Ameisen mit einem Steinkörnchen zwischen den Kieferzangen zum Vorschein kommen, es abseits niederlegen und schleunigst in dem Tunnel wieder verschwinden.
Da sie dadurch den Boden im Laufe der Zeit ganz bedeutend erhöhen, darf man das Glas nur zur Hälfte oder höchstens dreiviertel mit Erde gefüllt haben. Ein einziger geschickter Spatenstich kann tausend und mehr Tierchen in das Glas befördert haben. Ein Füttern mit Honig und dergleichen hat vorläufig noch keinen Zweck, die Ameisen kümmern sich noch nicht darum, sie ruhen nicht eher, als bis sie sich wieder ein behagliches Nest gebaut haben. Da sieht man auch, dass der alte Plinius, der uns zuerst über die Ameisen berichtet, recht gehabt hat: Die Ameisen arbeiten in der finstersten Nacht genau so wie am Tage. Es währt immer 24 bis 48 Stunden, ehe ungefähr tausend Ameisen ein Weißbierglas mit sandiger Erde wieder in ein regelrechtes Nest umgewandelt haben, und dabei also wird nicht die geringste Rast gemacht. Und es bleibt nicht etwa dabei, dass man, durch ein gutes Vergrößerungsglas unterstützt, beobachten kann, wie die Ameisen die Sandkörnchen oben zu den Tunnellöchern herausschleppen. Das wäre ja nichts Neues, das kann man doch auch bei jedem Neste im Freien beobachten, man braucht nur einmal etwas störend einzugreifen, die verschütteten Kanäle werden sofort wieder hergestellt.
Nein, den Beobachter erwartet bald ein wundersames Schauspiel.
Die Ameisen graben nicht nur senkrecht hinab, sondern legen auch horizontale Tunnel an, sobald sie nur erst etwas unter der Erde sind. So stoßen sie bald gegen die seitlichen Glaswände. Überall sieht man an den Wänden des Glases in der Sanderde Löcher entstehen, in denen die Ameisen arbeiten. Und nun zeigt gerade die Eigenschaft, sich nicht stören zu lassen, wenn sie diese Glaswand erreichen. Sie setzen dann ihre Tunnelbauerei an dieser Glaswand nach unten und nach allen Richtungen weiter fort, jetzt gerade immer direkt an der Glaswand. Sie haben die Fähigkeit, die durchsichtige Glaswand verkitten zu können, aber sie tun es nicht. Im Gegenteil, sie entfernen auf dieser Seite von der Glaswand jedes Steinchen, sodass der Tunnel immer besser zu sehen ist.
Und nun wird man, durch ein gutes Vergrößerungsglas unterstützt, Staunenswertes beobachten. Denn damit, dass die Ameisen Tunnel bauen, indem sie Sandkörnchen hervorschleppen, ist es noch längst nicht abgetan. Notiert man sich alles einzelne, was man beobachtet, so werden Hunderte von Notizen entstehen, und dann entdeckt man doch immer wieder etwas ganz Neues, immer noch staunenswerter.
Fabelhaft ist es schon, wie dicht neben- und übereinander sie die Tunnel anlegen. Das heißt nicht sofort, sondern wie sie durch die Erdmassen immer wieder neue Tunnel brechen, bis nur noch Zwischenwände von wunderbarer Feinheit entstehen. Man kann gar nicht begreifen, wie die Ameisen immer in großen Scharen über diese papierdünnen Wände eilen, für ihre Verhältnisse ganz bedeutende Lasten schleppend, ohne jemals einzubrechen. Das ganze Innere des Baues verwandelt sich überhaupt mehr in ein feines Spitzengewebe.
Diese Festigkeit der Wände versteht man erst, wenn man beobachtet, dass die Ameisen die Steinchen nicht nur so aufs Geratewohl herausschleppen, sondern dass sie jedes Körnchen sorgfältig auswählen und beim Tunnelbau ganz regelrecht mauern!
Nur ein Teil ist damit beschäftigt, die Körnchen nach oben zu tragen, die anderen Ameisen mauern in den Tunneln. Ein Steinchen wird hochgehoben, manchmal aber auch erst ausgewechselt, also sie wählen sorgfältig, und an eine andere Stelle der Wand, des Bodens oder der Decke hingelegt, und wo es sitzt, da sitzt es auch fest. Also sie müssen eine Feuchtigkeit absondern, mit der sie kitten. Das merkt man manchmal auch ganz deutlich. Jede bearbeitet nur eine gewisse Strecke, und hat sie auf dieser zu viele geeignete Mauersteine, so trägt sie diese aus ihrem Revier heraus, von dort holt eine andere Ameise die Mauersteine ab, die sie gerade braucht. Dabei kommt es auch vor, dass solch ein Mauerstein gegen die Glaswand geheftet wird. Die Ameise richtet sich auf, drückt das Sandkorn gegen die Glaswand, und sofort sitzt es fest. So fest, dass andere Ameisen darüber laufen, ohne es zu bewegen. Bis dann die Mauerameise kommt, es mit einem Ruck abnimmt und dorthin trägt, wo es eingefügt werden soll.
Haben die Ameisen wirklichen Kunst- und Schönheitssinn?
Farbensinn haben sie gewiss!
Immer deutlicher merkt man, dass sie nur weiße oder die helleren Steinchen nach oben schaffen. Die dunkleren bleiben in dem Tunnel und werden vermauert. Bis auf ganz weiße und größere Steine. Die werden von mehreren Ameisen in Angriff genommen und dorthin gebracht, wo sich mehrere Gänge kreuzen, dort werden sie festgemauert. Wozu? Nun, diese großen, weißen Steine sind ganz ohne Zweifel Wegweiser in diesem Labyrinth! Eine andere Erklärung ist gar nicht denkbar. Ja, man sieht sogar oft genug, wie eilende Ameisen bei diesen Wegweisern stehen bleiben und sie betasten, um dann ihre Richtung zu ändern. Da möchte man also fast annehmen, die haben auf diesen Wegweisern auch eine fühlbare Schrift!
Es kann hier nicht der hundertste Teil von alledem berichtet werden, was man da beobachtet. Probiere es einmal, lieber Leser, und wenn Du etwas Interesse dafür hast, so wirst auch Du tagelang vor dem Glase sitzen können, und immer Wunderbareres wirst Du beobachten!
Bis das gewebsartige Nest fertig ist. Dann ziehen sich die Ameisen in das Innere des Nestes zurück. Was sie da treiben, weiß man nicht. Will man neue Bewegung hervorrufen, so muss man das Nest etwas zerstören, sofort wird mit neuer Arbeitskraft gebaut, gießt man am Rand Wasser hinab — das sie überhaupt haben müssen — so sieht man, wie sie das Wasser durch Untermauerung einzudämmen suchen, alles, was man Fressbares hineinwirft, wird vergraben, sperrt man eine große Fliege hinein, so geht es an deren Verfolgung, und wiederum sieht man ganz deutlich, wie militärisch es zugeht, wie die einzelnen Ameisen ihre besondere Funktion haben, die einen reißen vor der Fliege aus, die anderen, die Krieger, werden alarmiert, in geschlossenen Scharen kommen sie hervor und suchen die Fliege im Sprunge zu erhaschen, und so weiter.
Um sie nun auch in ihrem intimsten Familienleben beobachten zu können, im Innersten des Nestes, was sie dort mit ihren Eiern und Puppen tun, muss man ihnen noch auf andere Weise beikommen.
Man fertigt sich einen Holzrahmen. Aus welche Weise und von welcher Größe, das sagt alles schon der Zweck, für den der Apparat dienen soll, das muss der Intelligenz des Einzelnen überlassen bleiben, da muss man seine Erfahrungen machen. In zwei gegenüberliegende Holzwände schneidet man sorgfältig Riefen, so dicht nebeneinander wie möglich. Diese Riefen nehmen zwei Glastafeln auf, deren Weite also verstellbar ist. Das Ganze muss oben und unten natürlich gut abgeschlossen sein, besonders wenn man kleine Tierchen beobachten will.
Will man Rasenameisen beobachten, so stellt man die Glastafeln zwei Millimeter voneinander entfernt. Es können aber auch drei sein. Da graben die Ameisen immer noch direkt an den Glaswänden hinab, jetzt also nach beiden Seiten hin, und können sich in den Gängen noch bequem ausweichen.
Den Zwischenraum füllt man mit feinem Sand, ein Gemisch von weißem und dunklerem, ein wenig angefeuchtet, aus und setzt nun genügend Ameisen mit Eiern und Puppen hinein. Hier wieder dasselbe. Hier aber kann man nun auch das intimste Leben beobachten, man sieht, wie die Eier und Puppen auf Etagen geordnet und gepflegt werden, wie die Ameisen die später auskriechenden Larven füttern, und so weiter und so weiter.
Und diesen Apparat kann man nun zur Beobachtung aller Tiere anwenden, die sich sonst unter der Erde dieser entziehen, die Glastafeln müssen nur entsprechend weit hergestellt werden, was nach und nach die Erfahrung lehrt. Und man wird bald finden, dass das Leben der Regenwürmer und Engerlinge ebenso interessant zu beobachten ist.
Man muss nur den Tieren immer eine Bedingung geben, unter welcher sie sich in ihrem ganz natürlichen Leben zeigen. Irgend ein Trieb muss vorhanden sein, der stärker ist als die Scheu in dem engen Gefängnis. Das ist immer der Hunger oder die Liebe. Will man einen Maulwurf beobachten, so besorgt man sich am besten ein trächtiges Weibchen. Die Sorge um die zukünftigen Nachkommen ist stärker als alles andere. Man sieht, wie der Maulwurf sich ein Wochenlager bereitet, wozu man natürlich alles Nötige geben muss, die Jungen gesäugt und gefüttert werden. Staunenswert ist es schon, mit welcher Schnelligkeit solch ein Maulwurf sich bei der Jagd auf Würmer und Engerlinge durch den Sand schaufelt. Man muss immer an einen Fisch im Wasser denken. Sonst füttert man am besten mit toten Sperlingen. Der Maulwurf ist ungeheuer gefräßig, innerhalb von vierundzwanzig Stunden stirbt er des Hungertodes. Kommen zwei Maulwürfe zusammen, so gibt es einen Kampf auf Leben und Tod, einer frisst den anderen auf. Schonung gegen Licht ist ja immer angebracht. Am besten hält man den Apparat in einer finsteren Kammer und beobachtet den Maulwurf nur in violettem Lichte, das für ihn nicht zu existieren scheint, so wie für die Hühner blaue Lichtstrahlen nichtleuchtend sind. Will man fotografieren, so macht man Momentaufnahmen im Finstern mit Magnesiumblitzlicht.
Ganz reizend ist auch das trauliche Familienleben von Feldmäusen unter der Erde — — —
Hiermit, lieber Leser, ist Dir ebenfalls ein »Zweites Gesicht« gezeigt worden, und die Verfolgung geht sogar in die Erde hinein.
Probiere einmal so etwas, wenn Du Sinn dafür hast.
Dann wirst Du immer mehr merken, wie wenig ein geistreicher Mensch braucht, um die anderen Menschen entbehren zu können, und was man auch in der größten Einsamkeit für Entdeckungen machen kann.
Galilei machte seine größte Entdeckung über die gegenseitige Anziehungskraft der Gestirne durch Experimente, die er in seinem Kerker zu Rom mit Strohhalmen anstellte.
Es ist ja nicht nur, dass man die Tiere unter der Erde aus Neugier beobachtet, sondern Du wirst dabei tausenderlei andere merkwürdige Sachen entdecken, von denen unsere Gelehrtenwelt noch gar nichts weiß. So zum Beispiel, um nur ein einziges anzuführen, wie sich diese unterirdischen Tiere gegen die verschiedenen Lichtstrahlen verhalten. Probiere Du es aber nur selbst.
Und dann lass Dir nur noch eines raten: Machst Du dabei Entdeckungen, die Dir hochwichtig dünken, so prahle nicht damit, schweige lieber ganz darüber, begnüge Dich mit Deinem eigenen Amüsement. Denn willst Du durch Veröffentlichung Anerkennung ernten, so wirst Du leicht sehr bittere Erfahrungen machen müssen. Denke an die beiden größten Mathematiker, die wir heute in Deutschland und überhaupt in der ganzen Welt haben, Vater und Sohn, die sich ohne höhere Schulbildung zu solchen Mathematikern herausgebildet haben. Diese beiden, bei Berlin lebend, haben auch die Fermat'sche Aufgabe gelöst, weshalb man nicht beweisen kann, dass sich die Formel drei im Quadrat plus vier im Quadrat ist gleich fünf im Quadrat in den Figurenreihen wiederholen kann. Vor ungefähr fünfzig Jahren hat ein reicher Industrieller und Mathematikfreund in Frankfurt a. M. einen Preis von hunderttausend Talern ausgesetzt, wer dieses Fermat'sche Problem als Tatsache beweist. Seitdem macht sich jeder bedeutende Mathematiker einmal daran, sich diese Prämie zu verdienen. Ach, was mag da Nacht und Nacht in der Welt gerechnet werden! Die hunderttausend Taler sind noch heute disponiert. Jene beiden Mathematiker nun, Vater und Sohn, behaupten, das Fermat'sche Problem gelöst zu haben, und es ist ihnen zu glauben. Aber sie veröffentlichen ihre Rechnungen nicht. Sie haben den Beweis bei einem Rechtsanwalt unter Siegel deponiert. Weshalb? Weil diese beiden Männer schon zwei solche Probleme gelöst haben, und stets wurde von den zünftigen Mathematikern ihre Originalität angefochten, sie sind immer der Ehre verlustig gegangen. So, diesmal sind sie vorsichtiger! Erst soll ein anderer kommen, der das Fermat'sche Problem gelöst hat, dann soll ihr versiegelter Brief geöffnet werden, wenn auch nach ihrem Tode, ob sie nicht die ersten gewesen sind.
Der Zigeunerprofessor hatte erklärt, wie er das Treiben der Ameisen unter der Erde beobachte und kinematografiere, zwischen zwei Glasplatten.
»Nun etwas anderes!«, sagte er, als sich Mister Sharp daran satt gesehen.
Das Bild verschwand an dem Schirm, ein anderes zeigte sich, jenem recht ähnlich, und doch wieder ganz anders.
»Was ist denn das?!«, rief Sharp überrascht. »Das sind doch jetzt statt der Ameisen in den Gängen Männerchen?«
»Was, Männerchen?! Menschen?!«, stieß Black wie erschrocken hervor. »Ach richtig, da habe ich aus Versehen das Falsche ...«
Aber es musste an dem Projektionsapparat etwas versagen, es gelang ihm nicht, das Lichtbild wieder verschwinden zu lassen, und unterdessen konnte es sich Sharp mit Muße betrachten.
Auch wieder so ein Bau mit zahllosen Gängen, kreuz und quer laufend, aber in diesen arbeiteten jetzt keine fußlangen Ameisen, sondern nur zollhohe Menschlein.
Auch sie erweiterten die Gänge und schufen neue, aber nicht nach Art der Ameisen, sondern in ganz menschlicher Weise, es war überhaupt hartes Gestein, in dem sie sich befanden, trotz der Kleinheit sah man noch ganz deutlich, wie sie mit Hammer und Meißel und Brechstangen arbeiteten, wie die losgesprengten Gesteinsmassen in Kärrchen fortgefahren oder wohl auch fortgetragen wurden.
Da gab Black plötzlich seine Bemühungen auf, das Bild wieder verschwinden zu lassen.
»Na, nun haben Sie durch meine Ungeschicklichkeit schon genug gesehen«, sagte er, »und nun wird mir der Befehl zuteil, Ihnen auch weiter zu erklären, um was es sich hier handelt, wovon sonst kein Fremder hier etwas erfahren darf.«
»Nun, worum handelt es sich denn?«
»Um Sträflinge.«
»Wie, Sträflinge?! Sie haben hier Sträflinge?!«
»Ja, viele Hunderte. Sie werden meist mit solchen Steinbruchsarbeiten beschäftigt, die natürlich ihren Zweck haben.«
»Wie, wenn hier jemand gegen die bestehenden Gesetze verstößt, dann wird er eingesperrt und muss Sträflingsarbeiten verrichten?!«, rief Sharp misstrauisch.
»O nein, bei Mitgliedern der Loge, zu denen auch Sie schon gehören, ist so etwas vollständig ausgeschlossen. Wohl können ja auch solche einmal Verbrechen und Schandtaten begehen, aber die Bestrafung erfolgt dann auf ganz andere Weise. Es wird ihnen von den Vorteilen, die sie bisher gehabt, nicht einmal etwas entzogen. Sie erlangen nur fernerhin keine weiteren Vorteile, kommen nicht eher weiter, als bis sie ihre Tat gesühnt, eigentlich nur bereut haben. Wir nehmen doch nicht jeden Menschen als Mitglied auf.«
»Ja, was sind das sonst für Sträflinge hier?«
»Menschen, die anderswo auf der Erde eine Tat begangen haben, welche solch eine Strafe verdiente, die sich aber bisher der Strafe zu entziehen gewusst haben, und die wir nun, ohne dass sie etwas von der unsichtbaren Loge wussten, hier unter dem Meeresboden haben verschwinden lassen.«
Sharp war beruhigt, er beobachtete weiter, wie die Menschlein emsig arbeiteten.
Die meisten waren nackt bis auf einen Schurz, nur einige, welche die Rollen von Aufsehern zu spielen schienen, trugen lange Hemden.
So deutlich war alles trotz der Winzigkeit zu erkennen, dass man auch sah, wie ab und zu zwei Männer mit Ketten aneinander geschlossen waren.
»Kann das Bild vergrößert werden?«
»Nein, nicht durch diesen Apparat. Aber blicken Sie hier durch dieses Glas, da sehen Sie die Menschen bis zu Lebensgröße.«
»Es ist nicht nötig, noch gefällt mir diese Winzigkeit. Man kann ja jeden Zug erkennen. Sind es nicht meist arabische Gesichter?«
»Ja, es sind meist Araber.«
»Wo haben Sie die her?«
»Haben Sie von den Assassinen gehört?«, lautete die Gegenfrage.
»Das war doch die religiöse Sekte, die sich im zwölften Jahrhundert unter ihrem Scheik, der sich den Alten vom Berge nannte, so furchtbar machte.«
»Ganz richtig.«
»Die Assassinen sollen heute noch existieren.«
»Das war es eben, was ich Sie fragen wollte, ob Sie das wüssten.«
»Aber man hört gar nichts mehr von ihnen.«
»Das nicht, und trotzdem sind sie noch über die ganze Erde verbreitet, mehr denn früher. Nur dass sie jetzt ihr Wesen ganz im Geheimen treiben, in Gesellschaften, zu denen sie manchmal zusammenkommen, die blutigsten Orgien feiern und so weiter.
Dabei verfolgen sie auch einen politischen Zweck, mit dem sie jetzt aber noch nicht hervortreten. Jetzt handelt es sich bei ihnen nur darum, möglichst viel Mitglieder zu bekommen, die sie an sich locken und eben durch solche ausschweifende, blutige Orgien an sich fesseln, schon dadurch, dass sie sie zu Mitwissern ihrer Verbrechen machen.
Solche Nester heben wir nun überall auf der Erde aus und bringen die Mordbuben hierher, wo wir sie mit nützlichen Arbeiten beschäftigen.
Das hier zum Beispiel sind Mitglieder einer Assassinengemeinschaft, die wir teils in Ägypten, teil in Indien, in Nepal, ausgehoben haben.«
»So, so«, sagte Mister Sharp, ziemlich ungerührt, »wer ist der Mann, der da die Steine in die Karre schippt und ausnahmsweise allein schwere Ketten tragen muss?«
»Sie haben die Ehre, das Oberhaupt aller Assassinen zu sehen, das sich aber nicht mehr den Alten vom Berge nannte, sondern zeitgemäß einen König. König Ahasver von Ägypten.«
»So. Dieser König sieht richtig wie ein Verbrecher aus.«
»Früher aber hat er so ausgesehen.«
Jetzt gehorchte der Apparat, ein Schnapp, und auf dem Schirm erschien in mehr als Lebensgröße der König Ahasver, so wie wir ihn früher kennen gelernt haben, mit dem geflochtenen, eckig geschnittenen Barte, in dem bunten Magierkostüm mit der spitzen Chaldäermütze — eine Erscheinung von wilder, dämonischer, furchtbarer Schönheit.
»Ja, da sieht er freilich anders aus. Und nun muss der arme Kerl Steine karren?«
»Er hat es nicht anders verdient. Früher ward ihm eine viel bessere Behandlung zuteil, er wurde seinen Fähigkeiten entsprechend beschäftigt. Aber er hat es nur gemissbraucht, um in unsere Geheimnisse einzudringen und dann eine Revolution unter den Sträflingen anzuzetteln, die glücklicherweise noch im Keime erstickt wurde.
Gerade diese ägyptischen Sträflinge hier sind überhaupt die allergefährlichsten. Die wurden einmal alle ganz anders beschäftigt, wodurch sie in die Geheimnisse dieser unterirdischen Grotten ziemlich eingeweiht wurden. Sie alle haben sich des Vertrauens unwürdig erwiesen, umso strenger müssen sie nun gehalten werden, dass sie nicht etwa einmal ausbrechen können.«
»Bitte, schalten Sie doch das Tunnelbild wieder ein.«
Es geschah, Sharp beobachtete weiter.
»Ist das ein massiver Felsen, der so ausgehöhlt wird?«
»Jawohl.«
»Zu welchem Zwecke wird er denn so mit Gängen durchzogen?«
»Für einen wissenschaftlichen. Wir studieren in diesen Gängen die Fortpflanzung des Schalles. Nebenbei bietet es einen allerliebsten Spielplatz für Kinder, die darin Verstecken spielen. Manchmal beteiligen sich auch Erwachsene daran.«
»Das glaube ich wohl, dass man sich in diesen Gängen amüsieren kann. Da müsste man so eine Dachsjagd arrangieren, aber mit größeren Tieren.«
»Das wird auch tatsächlich gemacht.«
»Kann ich diese Sträflinge einmal in Natura bei ihrer Arbeit beobachten?«
»Das tut mir leid, das kann ich Ihnen nicht gestatten, darüber habe ich nicht zu entscheiden.«
Mister Sharp wandte sich von dem Lichtbilde ab.
»Haben Sie hier nun auch Gelegenheit, direkt ins Freie zu treten? Was man hier so ›freie Gegend‹ nennt.«
»Ei gewiss!«
»In Ihr eigenes Revier, meine ich. Das Sie mit keinem anderen Menschen zu teilen brauchen. Was bei den früheren Räumen, die Sie mir zeigten, doch nicht der Fall war.«
»Jawohl, ich habe hier meine eigenen Reviere. Sie haben sie ja schon gesehen.«
»Wo denn?«
»Nun, die Landschaften, die Sie von der Höhle aus erblickten. Wüste, Gebirgsgegend, Urwald und Meer. Das wird immer erst in einiger Entfernung ein an die Wand gespiegeltes Panorama. Unten ist es zuerst Wirklichkeit, da kann ich mich nach Belieben in der Natur ergehen, kann in der Wüste als Beduine reiten ...«
»Reiten? Sie haben auch Pferde hier?«
»Ei gewiss! Ich habe einen ganzen Marstall, der zwar nur drei Pferde enthält, aber auch was für ausgesucht edle Tiere! Einen spanischen Andalusier, ein englisches Vollblut und einen echten Araber.«
»Ach, diese Pferde möchte ich einmal sehen! Ich bin früher viel geritten, möchte gern wieder einmal reiten. Würden Sie es mir aber auch gestatten?«
»Ihnen — gewiss. Bitte, folgen Sie mir.«
Nur ein ganz kurzer Gang, und sie befanden sich in dem Stall, in dem die drei Pferde in wahrhaft fürstlichen Boxen standen.
Während Mister Sharp die Tiere bewunderte, war der Zigeuner durch eine andere Tür hinaus ins Freie getreten.
»Unerhört!«, hörte ihn Sharp da rufen. »Was soll das bedeuten?«
Auch er begab sich schnell hinaus, befand sich plötzlich mitten in der Wüste, insofern, als auch hier die menschliche Wohnung durch Felsen verdeckt war, die Tür zeigte sich hier nur als ein Höhleneingang.
Weiter sah sich Sharp jetzt nicht um, er folgte dem Blick des Zigeuners, der auf den Boden gerichtet war.
Über den feinen, gelben Sand lief die Spur eines Menschen, ein großer, nackter Männerfuß, kam von links hinter dem Felsen hervor und lief nach rechts.
Diese Fährte war es, die den Zigeuner förmlich außer Fassung brachte oder ihn doch in die höchste Aufregung versetzte.
»Unerhört, hier in meinem Revier ist ein fremder Mann gewesen!«
»Kann es nicht einer Ihrer Diener gewesen sein?«, fragte Sharp.
»Keiner dieser vier Diener darf diese Wüste betreten, darauf halte ich, das ist mein ureigenstes Heiligtum.«
»Es ist einer doch einmal draußen gewesen.«
»Diese vier Diener gehen niemals barfuß.«
»Wenn sie aus dem Bett steigen, werden sie dennoch barfuß sein.«
»Ja, es kann vorkommen. Aber eben deshalb weiß ich, dass es keiner meiner vier Diener gewesen sein kann. Denn deren nackte Füße kenne ich. Was meinen Sie wohl, Sir, wie ich in der Fährtenkunde bewandert bin! Nein, das ist der Abdruck eines fremden Menschenfußes! Fremd insofern, als er nichts hier in meinem Revier zu suchen hat!«
»Es ist jemand versehentlich hier eingetreten und durchgeschritten.«
»Ausgeschlossen. Wer das geheime Schloss öffnen konnte, wusste auch, dass er es nicht öffnen durfte, und er hat es dennoch getan! Hier liegt eine der gröbsten Übertretungen vor, die in diesem Reiche möglich sind! Bitte, warten Sie eine Minute, ich muss diese Spur wenigstens bis an das Ende meines Reviers sofort verfolgen, das möchte ich allein tun, ich komme gleich wieder zurück.«
Sharp trat wieder in den Stall, nach noch nicht einer Minute kam Black zurück, mit einem unmutigeren Gesicht denn zuvor.
Er selbst aber begann nicht wieder davon, Sharp musste es tun.
»Nun, hat sich Ihre Meinung unterdessen geändert?!«
»Nein, ich habe sie nur als Gewissheit bestätigt gefunden. Ein Eingeweihter, der hier alles kennt, hat meine geheime Tür geöffnet und ist über meine Wüste gegangen. Das ist ein Frevel, der hier noch gar nicht passiert ist.«
»Was geschieht nun?«
»Die Sache wird weiter verfolgt werden. Also wünschen Sie zu reiten?«
»Jetzt nicht. Ich habe es mir anders überlegt. Wenn ich überhaupt vorgehabt hätte, schon jetzt in den Sattel zu steigen. Mich droht doch jetzt wieder die Müdigkeit zu überwältigen, und ich habe keine Lust, die Wohltat des Schlafes zu verschmähen. Der Anblick Ihres komfortablen Bettes hat in mir die Sehnsucht nach einem solchen erweckt. Können Sie mir hier eine gute Schlafgelegenheit verschaffen?«
»So benutzen Sie doch gleich mein Bett. Ich habe schon seit einem Jahre nicht mehr drin gelegen, aber es ist alles tadellos frisch.«
»Wenn Sie gestatten?«
»Na sicher!«, lachte der Zigeuner. »Jetzt sind Sie Herr hier im Hause, jetzt haben Sie hier zu befehlen. Bitte, keine Widerrede.«
Sie begaben sich zurück, Black weihte den Amerikaner in alles ein, wenn er etwas bedürfe, und bald war dieser in den weichen Pfühlen sanft entschlummert.
Als er erwachte, tastete er in der Stockfinsternis an der Wand, erwischte eine kleine Dose, die dort handbereit hing. »Es werde Licht!«, sprach er hinein, und alsbald ward Licht.
Die Wanduhr, in vierundzwanzig Stunden geteilt, zeigte aus neun Uhr vormittags. Danach hatte Mister Sharp doch wieder seine üblichen Stunden regelrecht abgeschlafen, ohne zur gewohnten Zeit ausgewacht zu sein.
»Ist hier eine Gelegenheit zum Baden?«, fragte er weiter in die kleine, ganz unscheinbare Telefondose hinein.
Denn über so etwas hatte ihm gestern Black beim Abschied keine Mitteilungen gemacht. Er hatte ihm hauptsächlich versichert, dass er in diesem seinen eigenen Revier nicht wie früher von unsichtbaren Augen beobachtet werden konnte, was Mister Sharp sehr gern gehört hatte. Denn etwas Angenehmes ist das Bewusstsein, immer beobachtet zu werden, doch gerade nicht. Infolgedessen konnte Mister Sharp hier aber auch nicht geleitet werden. Oder doch erst auf seine Fragen hin, durch diese Telefondose, und das war es eben gewesen, was ihm Black besonders erklärt hatte.
»Gewiss, ein Bad ist vorhanden. Hier in diesen geschlossenen Räumen des Mister Swinton allerdings kein Schwimmbassin!«, erklang es ganz deutlich aus der Dose, ohne dass man sie erst ans Ohr zu nehmen brauchte.
»Nur ein Wannenbad.«
»Das ist vorhanden. Wo befinden Sie sich jetzt?«
»Vorläufig liege ich noch im Bett.«
»Links von Ihnen die Tür führt in das Badezimmer.«
»Danke. Kann ich es mir selbst bereiten?«
»Sie wünschen keine Bedienung?«
»Wenn es nicht notwendig ist, nein.«
»Sie können das Wasser selbst einlassen und alles andere handhaben, es ist alles leicht erkenntlich. Haben Sie sonst noch Wünsche?«
»Nicht dass ich wüsste. Unterdessen könnte mein Frühstück bereitet werden. Dass ich es in etwa zwanzig Minuten habe.«
»Es wird fertig sein. Sie werden nach Ihrem Anruf in das Speisezimmer geleitet werden. Was wünschen der Herr zu frühstücken?«
»Keine weichen Eier. Habe ich die Auswahl?«
»Ganz nach Belieben.«
»Dann bitte ich um ... ein gutes Stück gebackenen Elefantenrüssel und um eine tüchtige Portion Pfauenzungen.«
Nur eine ganz kleine Pause trat ein.
»In zwanzig Minuten wird es serviert sein.«
»Gebackener Elefantenrüssel und Pfauenzungen?«
»Wie Sie befehlen.«
»Na, dann mal los.«
»Wünschen Sie dann Mister Swinton zu sehen?«
»Nein, ich möchte vorläufig allein sein.«
»Soll Ihr Anzug ausgebürstet werden? Wünschen Sie einen anderen Anzug, andere Wäsche?«
»Nein, es mag jetzt nur alles so bleiben. Ich werde mich schon melden, wenn ich etwas brauche. Schluss.«
Mister Sharp hing sich das Kettchen, an dem die kleine Dose befestigt war, um den Hals und stand auf, ging durch die bezeichnete Tür, fand eine komfortable Badeeinrichtung mit Marmorwanne, daneben noch einen besonderen Duschraum, badete sich, fand von allein Rasierutensilien, benutzte sie.
Dann legte er im Schlafzimmer seinen Sportanzug wieder an.
»Ich bin fertig zum Frühstück.«
Er wurde in das Speisezimmer geleitet, in dem schon die rauchenden Schüsseln serviert waren, und zwar auf einem Tische, der auch wieder von oben herabgekommen sein musste und auch auf diese Weise Nachbestellungen erlaubte.
Die runde Wurst konnte als ein Stück Elefantenrüssel durchgehen, das Ragout als solches von Pfauenzungen, welche den alten Römern die größte Delikatesse waren. Wer wollte da kontrollieren. Der Rüssel war natürlich abgehäutet und die Wirbelknochen herausgenommen worden, hatte dafür eine Füllung erhalten.
»Ist das wirklich ein Stück Elefantenrüssel?«
»Nein, es ist eine künstliche Nachahmung!«, wurde jetzt gestanden.
»Sie hätten ruhig sagen können, es sei Elefantenrüssel, ich hätte es geglaubt. Ich habe gebackenen Elefantenrüssel mehrmals gegessen, es ist nicht zu unterscheiden. Schmeckt ganz delikat.«
Dazu zwei Tassen Tee, die von oben auf einem kleinen, an einer Schiene laufenden Fahrstuhl herab kamen, und bald war das Frühstück beendet.
»Sind die Jagdwaffen und Angelgerätschaften dort in den Schränken zum Gebrauch?«
,Jawohl, Sir, alles im Stand.«
»Ist hier auch Gelegenheit zum Angeln?«
»Überall.«
»Was heißt überall. Hier in diesem Speisezimmer kann ich zum Beispiel nicht angeln, in dem Schlafzimmer auch nicht.«
»Doch, wenn es der Herr wünschen! Dann wird die Gelegenheit dazu sofort geschaffen.«
Mister Sharp sah ein, dass er mit solchen Wünschen vorsichtig sein musste. Die waren imstande, sein Schlafzimmer unter Wasser zu setzen und Fische hinein.
»Ich meine ein regelrechtes Angeln in der freien Natur, soweit man das hier unter dem Meeresboden verlangen kann.«
»Solche Gelegenheiten gibt es hier sehr viele.«
»Auch noch in dieser Region, die nur dem Professor Swinton gehört?«
»Jawohl, auch hier ist ein besonderes Angelrevier vorhanden. Wünschen Sie Salz- oder Süßwasserfische?«
»Am liebsten Lachse und Forellen.«
»Sind vorhanden, ich werde Sie leiten, sobald Sie sich die Angelgerätschaften ausgesucht haben.«
Mister Sharp ging hin an die Schränke und suchte sich das Angelzeug aus. Auch eine Schachtel mit künstlichen Fliegen und anderen Ködern fand er, auf welche die Fische genau so gehen wie auf natürliche. Nur das Tanzenlassen der Köder über der Wasserfläche ist die Kunst dabei, wozu aber auch das vorzüglichste Angelzeug gehört.
Er wurde weiter dirigiert, trat aus einem Wohnzimmer direkt in eine wilde Schlucht, durch die ein Gießbach rauschte, verfolgte diesen aufwärts und kam in einen waldigen Kessel, in dem der Bach von einem Felsen herab aus einer Höhe von wenigstens zwanzig Metern einen Wasserfall bildete.
»Aah, hier ist es schön! Dort tummeln sich schon die Forellen! Und keine Mücken!«
Was die angelwütigen Engländer im Paradiese der Forellenhascher, in Schweden und Norwegen, unter den Mücken zu leiden haben, davon ist schon einmal an anderer Stelle gesprochen worden, und nicht anders geht es den Amerikanern in ihrer Heimat, wenn die schönste Angelzeit ist.
Mister Sharp wählte sich seinen Stand unter einem Kastanienbaum, der strotzend voller Früchte hing, während er doch schon wieder rote Blüten trieb, also edle, süße Kastanien, aber solche von Faustgröße, und auch der ganze Boden war von ihnen bedeckt.
»Sind diese Kastanien essbar?«, fragte er in die Telefondose.
»Gewiss.«
»Gleich so roh?«
»Nein, gebraten müssen sie werden, sollen sie wenigstens schmackhaft sein.«
»Kann ich mir hier ein Feuer anzünden?«
»Ganz wie Sie wollen. Nur sind Sie wohl vorsichtig, Sir, dass nicht etwa ein Waldbrand entsteht, denn Sie werden ja in diesem Revier nicht beobachtet. In dieser Waldschlucht ist allerdings keine Gefahr vorhanden, der Wasserfall sorgt für genügende Feuchtigkeit, da kann nicht so leicht ein Brand entstehen; aber anderswo wäre es möglich.«
Mister Sharp las dürre Zweige zusammen und setzte sie mit seinem Feuerzeug in Brand.
»Wenn's kein echtes Holz ist, dann brennt's doch wie solches!«, sagte er sich dabei mit Gemütsruhe.
Die Kastanien konnten nur in der Glut, nicht im hellen Feuer geröstet werden, und so machte er sich einstweilen an seine Angelei.
Es dauerte gar nicht lange, so schleuderte er eine stattliche Forelle aus dem Wasser, die er mit dem Messer, das er ebenfalls einem Schrank entnommen hatte, erst nickte und dann aufschlitzte, ausweidete.
Wozu, das tut der Angler sonst doch nicht gleich an Ort und Stelle?
Nun, er wollte einmal sehen, ob es ein richtiges Tier sei, nicht nur ein mechanisch bewegter Automat, und was es dann im Magen habe.
Würmer und geflügelte Insekten aller Art.
»Wo bekommt er diese Fliegen und Mücken her?«, war seine nächste Frage ins Telefon.
»Die werden in einem besonderen Futterraume gehalten, in den die Forellen tauchen können, denn ohne diese Nahrung wären es keine Forellen mehr, die man mit der Gleitangel fangen kann.«
»Na, da passen Sie nur gut auf, dass nicht einmal solche Fliegen und Mücken entwischen.«
»Ausgeschlossen, die können nicht aus dem betreffenden Raume.«
»Setzen die denn nicht ihre Eier im Wasser ab?«
»Das wohl, aber dieses Wasser mit der Brut kommt nicht wieder ins Freie.«
Beruhigt setzte Mister Sharp seine Angelei fort und brachte noch manche Forelle aufs Trockene.
Da bekam er Besuch!
Zwischen den Bäumen trat ein Reh hervor und trabte direkt auf ihn zu.
Er brauchte nicht erst zu fragen, ob es ein zahmes sei, es ließ sich ja von ihm streicheln, suchte seine Liebkosungen, mit denen der junge Amerikaner denn auch sehr verschwenderisch war.
Dann ging das Reh grasend den Bach entlang; Mister Sharp legte Kastanien auf die nunmehrige Glut und angelte weiter.
Da war es ihm plötzlich, als ob seitwärts nicht weit von ihm entfernt ein gelber Streifen durch die Luft sause, fast gleichzeitig ein unbeschreiblicher Klagelaut. dann ein leiseres Knurren, und dann sah es Mister Sharp selbst, etwas, von dem er kaum glauben wollte, dass er seinen Augen trauen dürfe.
Zehn Schritt von ihm entfernt lag das Reh am Boden und auf ihm kauerte ein mächiger Löwe, dem Opfer noch einige blitzschnelle Tatzenschläge gebend und dann die Krallen in den Wunden spielen lassend.
Ja, der sonst so kaltblütige, phlegmatische Amerikaner war vor Schreck erstarrt! Es war zu unvermutet gekommen, das Bild, das sich ihm da bot.
Zehn Schritt von dem angelnden Amerikaner entfernt lag das
Reh plötzlich am Boden und auf ihm kauerte ein mächtiger Löwe.
Und jetzt blickte der Löwe nach ihm, knurrte drohend, gab seinem Körper eine andere Richtung, kauerte sich zum neuen Sprunge zusammen.
Die Angelrute fallen gelassen, an den nächsten Ast des Kastanienbaumes gesprungen und sich höher hinaufgeschwungen — es war das Werk eines Augenblicks gewesen und auch das Klügste, was er hätte tun können.
Mit dem Löwen dort, der das Reh geschlagen hatte, war jetzt sicher nicht zu spaßen, mochte es sonst auch ein gezähmtes Tier sein.
Der Löwe knurrte verdrießlich, nahm das Reh in den Rachen, trabte davon, verschwand hinter den Bäumen, hinter sich eine Blutspur ziehend.
Mister Sharp griff nach seiner Telefondose.
»Was ist das gewesen?! Wissen Sie, dass hier ein Löwe soeben ein Reh überfallen und getötet hat?«
Das Telefon schwieg. Und Mister Sharp konnte fragen soviel er wollte, es gab keine Antwort mehr.
»Verfluchte Geschichte! Gerade jetzt muss die Leitung unterbrochen sein! Oder werde ich nur nicht gehört?«
Da tauchte dort zwischen den Bäumen wieder ein gelbes Fell auf, aber viel bunter als das des Löwen.
Ein gewaltiger Königstiger war es, der hervorkam, die Blutspur verfolgte, an der Stelle, wo das Reh zusammengebrochen war, das dort reichlich geflossene Blut leckte. Dann schritt er vorsichtig mit schleifendem Gange nach dem Kastanienbaum, verschlang unterwegs so nebenbei die paar Forellen, witterte eine neue Spur, blickte zu dem Baume empor, zwischen dessen Zweigen sich Mister Sharp noch nicht verborgen hatte.
»Ja, hier bin ich«, sagte der und kletterte schleunigst höher, »ich hoffe doch, dass Sie von der Regel, dass Tiger nicht klettern, keine Ausnahme machen.«
Nein, erklimmen tat der Königstiger den Baum nicht, er richtete sich nur einmal an dem Stamme empor, wetzte seine Krallen daran, dass die Baumrinde in Fetzen davonflog, stieß ein Brüllen aus, und die Folge war, dass jetzt auch das Tigerweibchen zum Vorschein kam, dem Männchen aber nichts an gewaltiger Größe nachgebend.
Die beiden lagerten unten an dem Stamme, blickten hinauf, gähnten und peitschten mit den Schweifen den Boden, um dann wieder gleichgültig seitwärts zu sehen. Sobald sich aber der Mann dort oben bewegte, blickten sie hinauf und zeigten knurrend und fauchend die Zähne.
Weshalb erklettern Tiger und Löwen keine Bäume? Dass sie es können, zeigen sie bei Wassersnot, bei einer Überschwemmung. Mit einem Satze sind sie oben auf dem nächsten Aste, laufen auch richtig wie jede andere Katze den Stamm hinauf und klettern immer höher.
Also muss es ihnen doch auch eine Kleinigkeit sein, einen Jäger, der nach ihnen geschossen hat, vom Baume herabzuholen.
Weshalb tun sie das niemals? Weshalb besteigt der Tiger und Löwe niemals einen Baum? Ja, wer dieses Rätsel lösen könnte!
Und doch, es ist zu lösen.
In einem anderen Buche wird man freilich davon noch nie gelesen haben.
In Wassersnot also ersteigt der Tiger und Löwe einen Baum. Sitzt auf diesem nun ein anderes Tier oder ein Mensch, so wird er diesen doch niemals angreifen, solange unter ihm Wasser ist, er verhungert lieber.
Dasselbe haben wir auch bei uns. Ein Förster erzählte dem Schreiber dieses einmal, er habe bei einer großen Überschwemmung einen treibenden Baumstamm gesehen, auf dem ein Fuchs und ein Hase saßen. Der Fuchs war vor Hunger zum Skelett abgemagert, der Hase hatte sich von Baumblättern ernährt.
Hier also wiederum dasselbe. Weshalb hat der Fuchs den Hasen nicht gefressen?
Da müssen wir in unser eigenes Menschenherz blicken. Auf einem Schiffe geht ein Mann mit dem Gedanken um, bei erster Gelegenheit einen anderen zu ermorden, ihn zu berauben und ihn über Bord verschwinden zu lassen. Da eine Katastrophe, das Schiff wird zum Wrack, ist auf der Wasserwüste dem Untergang geweiht.
Wird der Mann jetzt seinen verbrecherischen Vorsatz noch ausführen? Nein. Es hat für ihn keinen Zweck mehr. Und überhaupt bemächtigen sich seiner jetzt ganz besondere Empfindungen — Empfindungen, die er sonst gar nicht kennt. Er wird doch sicher zu jenen neunundneunzig Menschen von hundert gehören, die sich, wie der Verfasser aus Erfahrung weiß, angesichts dieser Todesgefahr, gerade bei einem Schiffbruch, jetzt auf die Knie werfen, weil sie plötzlich wieder an einen »lieben Gott« glauben, dem sie nun alle möglichen Versprechungen machen, jeden Sonntag wollen sie in die Kirche gehen, auch zwei- und dreimal, ach, was wollen sie fernerhin für brave Menschen werden, wenn der liebe Gott sie nur noch dieses einzige Mal vom Tode errettet.
Und so wird's auch im Herzen eines Löwen und Tigers aussehen, wenn er bei Wassersnot oben auf einem Baume sitzt, natürlich eben für ein Löwen- oder Tigerherz übertragen. Der Baum ist nur für sie da, um in Wassersnot von ihnen erklettert zu werden, sie brauchen es noch nicht durchgemacht zu haben, aber sie wissen aus Instinkt, wie sie sich dann verändern werden, und so erklimmen sie aus anderen Gründen keinen Baum, weder aus Hunger, noch aus Rachsucht.
Dies ist die einzige Erklärung, soweit eine solche überhaupt möglich ist.
»He, hört denn nur niemand?!«, brüllte Mister Sharp in die Telefondose.
Auch die beiden Tiger brüllten, aber das Telefon schwieg.
»Verdammte Geschichte! Und meine Browningpistole nicht bei mir, keine andere Waffe, sogar das Messerchen liegt noch dort unten, und diese beiden Biester scheinen —«
Da plötzlich wurde es mit einem Schlage stockfinster.
Nur in der Asche dort unten glühte es rot, die Kastanien zischten — und dann konnte man auch die leuchtenden Augen der Raubtiere erkennen.
»Das künstliche Licht hat ausgesetzt! Nun wird's ja gut!«
Aber es ward nicht gut! Das künstliche Licht wollte sich nicht wieder einschalten, es blieb stockfinster, und die Telefondose gab keine Antwort mehr.
Und unten war das Feuer erloschen, wohl aber glühten noch die Raubtieraugen.
Mister Sharp ließ einmal sein Feuerzeug funktionieren, um nach seiner Taschenuhr zu sehen.
Sie zeigte gleich die Mittagsstunde, also schon mindestens zwei Stunden saß Mister Sharp hier auf dem Baume, und es hatte seine phlegmatische Natur dazu gehört, um jetzt erst einmal nach der Uhr zu sehen; denn zwei Stunden wollen in solch einer Lage doch etwas bedeuten.
Jetzt freilich brach auch bei ihm der Unmut einmal hervor.
»Meine Herrschaften, meine Herrschaften, was soll denn hieraus nun bloß noch werden?«
Er hatte dabei die Telefondose vor den Mund gehalten, obgleich das gar nicht nötig gewesen wäre.
Wenn hier ein Tiger brüllte, was manchmal geschah, so musste das auch dort gehört werden, wo man seiner Wünsche wartete oder doch gewartet werden sollte.
Das Telefon blieb stumm.
Aber von anders woher kam eine Stimme.
»Ist jemand hier?!«
»Jawohl, hier!«
»Wo?«
»Hier auf dem Kastanienbaume sitze ich!«
»Wer sind Sie?«
»Reginald Sharp heiße ich.«
»Zu welcher Abteilung gehören Sie?«
»Was für Abteilungen meinen Sie?«
»Das wissen Sie doch am besten.«
»Sie glauben wohl, ich bin ein Mitglied der unsichtbaren Loge?«
»Das sind Sie nicht?!«
»Nein.«
»Was sind Sie sonst?«
»Ich soll wohl Mitglied der Loge werden, vorläufig aber bin ich nur Gast.«
»Sie sind noch gar nicht eingeweiht?«
»In noch gar nichts.«
»Seit wann sind Sie hier?«
»Seit gestern früh gegen neun.«
»Sie sitzen auf einem Kastanienbaume, sagten Sie vorhin?«
»Jawohl, und da sitze ich noch.«
»Was machen Sie denn da oben?«
»Ich habe Forellen geangelt, und da kam erst ein Löwe —«
»Was, ein Löwe?!«
»Er überfiel ein zahmes Reh, schlug es nieder und trug es fort. Schon da war ich vorsichtig, gleich auf den nächsten Baum zu retirieren, und das war gut, denn gleich darauf kamen zwei Königstiger.«
»Zwei Königstiger?!«, wurde besorgt wiederholt.
»Die liegen noch hier.«
»Liegen noch hier?!«
»Hier unter meinem Baume und warten, bis ich herabkomme.«
Jetzt machten sich die beiden Raubtiere auch bemerkbar. Das eine brüllte, das andere stimmte mit ein, und die leuchtenden Kugeln begannen zu wandern.
In einiger Entfernung, wo ungefähr die fremde Stimme erklungen war, knackten Zweige, dann ward es wieder still.
»Sind Sie noch da?«, fragte Sharp nach einer Weile.
»Das bin ich.«
»Ich kalkuliere, Sie sind auch auf einen Baum gestiegen?«
»Das habe ich allerdings getan.«
»Na, dann habe ich wenigstens einen mutigen Gesellschafter!«, spottete Mister Sharp.
»Ich bin auf einen Baum gestiegen, weil ich die Tiger, deren Augen ich im Finstern leuchten sehe, erlegen will. Da können Sie es dem Jäger wohl nicht verübeln, wenn er erst für seine eigene Sicherheit möglichst sorgt. Panther und Jaguare, welche Bäume erklettern, sind nicht dabei?«
»Ich habe auf Ehre und Gewissen nur einen Löwen und zwei Königstiger gesehen.«
Gleich darauf donnerte unter einem Feuerstrahl, der durch die Nacht zuckte, ein Schuss.
Furchtbar brüllte einer der Tiger auf, ein Knacken von Zweigen verriet, dass er floh, sicher mit seinem Kameraden.
Aber das war es nicht, was Mister Sharp beobachtete.
Im nächsten Moment war ein zweiter Knall erfolgt.
Man hätte vielleicht meinen können, der Jäger hätte kurz hintereinander die beiden Läufe seines Gewehres abgedrückt. Doch konnte dies nicht der Fall gewesen sein.
Einmal hatte der erste Schuss ganz anders gekracht und gedonnert als der zweite, das war mehr ein peitschenartiger Knall gewesen, und außerdem hatte Mister Sharp gesehen, dass der zweite Feuerstrahl ganz anderswo aufgezuckt war.
Und diesem zweiten Schusse folgte ein gellender, menschlicher Schrei, in demselben Augenblick wurde es wieder ganz hell in dem Talkessel, und da sah Mister Sharp gerade auch noch, wie dort von einem Baume eine menschliche Gestalt herabstürzte, nur mit einem langem Hemd bekleidet.
Der Mensch blieb liegen mit dem Gesicht auf dem Boden, neben sich ein Gewehr, und da kam aus einer anderen Richtung, von dort, wo der zweite Schuss abgefeuert worden war, ein Mann angestürmt, mit einem langen Vollbart, eine Hinterwäldlererscheinung in lederner Jagdkleidung, das Hemd vorn offen, die Hemdsärmel hochgekrempelt.
Mit wenigen Sätzen hatte er die Kastanie erreicht und sich hinaufgeschwungen, ohne nur auch die Doppelbüchse umgehängt zu haben.
»Sie sind Mister Reginald Sharp?«
»Der bin ich.«
»Sie kennen mich. Wir haben uns schon einmal gesehen.«
Der Amerikaner starrte in das bärtige, schöne Männergesicht.
»Was — ist das nicht — Prinz — Joachim?«
»Gut, gut, diese Erkennung genügt! Wissen Sie, was hier passiert ist?«
»Nein. Sie gehen hier wohl auf die Menschenjagd, Prinz?«
»Es ist einer der ausgebrochenen Sträflinge, den ich getötet habe, und da gibt es keine Schonung.«
»Ausgebrochene Sträflinge?!«
»Heute Nacht sind gegen dreihundert Sträflinge ausgebrochen, und zwar gerade die allergefährlichsten Verbrecher.
Sie hatten heute ihren freien Tag, an dem sie ganz unbeaufsichtigt bleiben, deshalb wurde es so spät bemerkt.
Viele von ihnen sind in alle Geheimnisse dieser unterseeischen Welt eingeweiht, man hat sie früher zur Bedienung der verschiedenen Maschinerien verwendet, hat ihnen auch sonst mehr Aufklärung zuteil werden lassen, als nötig gewesen wäre, und das haben sie nun benutzt.
Die ausgebrochenen Sträflinge haben sich in den Besitz des Riffhauses gesetzt, und damit sind wir von der Außenwelt abgeschnitten.
In dem Riffhause befinden sich auch die meisten Maschinenanlagen, die Lichtstation und die akustische und noch viele andere.
Durch Abschneiden derselben suchen die Sträflinge uns das Leben hier unten unmöglich zu machen.
Vorläufig aber ist ihnen nur gelungen, die Telefonie zu unterbrechen, mit mit dem Lichte scheinen sie auch nicht fertig zu werden, überall flammt es immer wieder auf, außerdem wollen wir uns schon selbst Licht erzeugen, und noch weniger hat es zu sagen, dass sie überall die wilden Tiere in Freiheit gesetzt haben.
Die Hauptsache aber ist, dass sich dort im Riffhause nicht die Ventilationsanlage befindet, die liegt anderswo, ist in unseren Händen und wird es bleiben; andernfalls würden wir hier unten bald ersticken.
Wir haben eine Menge Unterseeboote. Der Weg nach dem Hafen ist uns verlegt, aber auch die Sträflinge können das Riffhaus nicht mit diesen Unterseebooten verlassen, einfach weil sie diesen Hafen nicht zu finden wissen, eine zufällige Entdeckung des damit verbundenen Geheimnisses ist ganz ausgeschlossen.
Nahrungsmittel haben wir in Menge, können sie sogar für immer selbst erzeugen.
Unsere Ausgabe ist es, die Sträflinge wieder zu überwältigen.
Hiermit habe ich Ihnen die Sachlage ganz klar geschildert.«
Es war auch klar und bündig genug gewesen, dennoch hatte Mister Sharp gleich noch einige Fragen zu stellen.
»Wer ist der Mann, den Sie da erschossen haben?«
»Einer der Sträflinge, einer ihrer Führer. Nicht alle haben das Riffhaus erreicht, einige irren noch hier herum, auf die wir jetzt Jagd machen. Außerdem aber sind unter den Sträflingen auch solche genug, welche dieses unterirdische Gebiet sehr gut kennen, und es sind kühne, entschlossene, erfahrene Männer, geborene Wüstenjäger, welche auch ihrerseits uns hier unten direkt zu Leibe gehen, einen Schleichkampf mit uns führen wollen. Zu den einen oder den anderen gehört auch dieser Mann, der Sie als Feind erkannte und Sie entweder töten oder sich Ihrer vielleicht noch lieber lebendig bemächtigen wollte, um Sie als Geisel zu benutzen.«
Mister Sharp blickte nach dem Regungslosen, offenbar ein sehr stark gebauter Mann. Vom Kopfe war nur der obere Schädel zu sehen, der ganz nackt rasiert war, bis auf eine Art Skalplocke.
»Ist denn das ein Indianer?«
»Wegen des Haarbüschels in der Mitte des Schädels? Es ist ein Araber. Auch die Araber tragen mit Vorliebe diese Haarfrisur, wenn auch nicht aus dem Grunde wie der nordamerikanische Indianer, der dadurch den Feind herausfordern will, ihm den Skalp zu nehmen.«
»Also die Assassinen sind ausgebrochen?«
»Sie wissen, dass wir hier Assassinen gefangen halten?«
»Professor Black Swinton erzählte mir schon davon.«
»Ach so. Gut, dann wissen Sie es. Ja, es sind die ägyptischen und indischen Assassinen, die sich befreit haben. Nun scheint Almansors Prophezeiung doch noch in Erfüllung zu gehen, dass es die Saladinen und meine amerikanischen Jäger und Cowboys sind, rote und weiße, welche diesen Assassinen den Garaus machen werden.«
»Von welchen Saladinen und amerikanischen Jägern und Cowboys sprechen Sie denn?«
»Sie wissen es nicht? Davon hat Ihnen Professor Swinton nichts berichtet?«
»Nein.«
»Dann hätte ich gar nicht erst davon anfangen sollen, denn meine Sache ist es nicht, Sie über diese ganzen Verhältnisse aufzuklären. Ich kann Ihnen nur so viel sagen, dass sich zurzeit sehr viele Gäste der unsichtbaren Loge hier befinden, sowohl aus Ägypten, Männer die dort in der Heimat zu den Honoratioren gehören und die von der unsichtbaren Loge eingeladen worden sind, hier einmal alles in Augenschein zu nehmen, weil sie selbst Mitglieder dieser geheimen Gesellschaft werden sollen — als auch Amerikaner, die nun freilich nicht zu den Honoratioren gehören, Jäger und Cowboys, die meine Begleitung bilden.«
»Und es existiert eine Prophezeiung, dass diese Leute den hier ausgebrochenen Sträflingen den Garaus machen sollen?«
»Dass diese Leute der Geheimsekte der Assassinen ein Ende bereiten werden, durch einen blutigen Kampf Mann gegen Mann. Das ist aber die Prophezeiung nur eines einzelnen Mitgliedes der unsichtbaren Loge, der sich viel mit Astrologie befasst, während sonst hier nicht etwa in den Sternen gelesen wird. Nach seiner Prophezeiung sollte dieser Vernichtungskampf aber in dem ägyptischen Schlupfwinkel der Assassinen stattfinden, obgleich — hm — eigentlich hat das Almansor damals gar nicht so klar ausgedrückt, wir anderen haben uns nur immer diese Meinung gebildet. Doch, Mister Sharp, Sie verzeihen — Sie stellen da Fragen, die ich Ihnen nicht beantworten darf. Es ist wenigstens nicht meine Sache, Sie darüber einzuweihen.«
»Darf ich fragen, ob Sie ein Mitglied der unsichtbaren Loge sind, Prinz?«
»Das darf ich Ihnen beantworten. Ja, ich bin schon seit längerer Zeit Mitglied dieser geheimen Gesellschaft, habe mich vom Lehrling zum Gesellen emporgearbeitet und war gerade dabei, hier im Hauptsitz der unsichtbaren Loge mich auf meine Meisterprüfung vorzubereiten.«
»Lehrling, Geselle, Meister — da geht es hier also wie bei den Freimaurern zu?«
»So ungefähr. Das deutet ja auch schon der Name ›Loge‹ an. Nun aber, Mister Sharp, darf ich Ihnen hierüber nichts weiter mitteilen.«
»Auch nicht, wie lange Sie hier schon sind?«
»Seit einem halben Jahre.«
»Und beabsichtigen Sie, nun für immer hier auf diesem Kastanienbaume sitzen zu bleiben?«
Das war eine Frage gewesen, so ganz diesem Yankeecharakter entsprechend.
Der Prinz lachte denn auch belustigt.
»Nein, das beabsichtige ich nicht. Auch ich musste mich nur erst auf diesen Baum flüchten, um mit Ihnen näher sprechen zu können, ohne von den Raubtieren gestört zu werden. Also mehr als einen Löwen und zwei Königstiger haben Sie nicht gesehen?«
»Nein.«
»Nun, ich denke, sie werden uns nicht weiter belästigen. Der eine Tiger ist zwar angeschossen worden, wenn man auch keine Blutspur sieht, er schiebt das bewegliche Fell über das nur kleine Löchelchen, aber wie er aufbrüllte, das verriet deutlich, dass er empfindsam getroffen worden. Und trotzdem, wenn er auch seine Rachsucht gern befriedigen möchte, so ohne Weiteres greift er uns nicht an, wir dürfen uns nur seinem jetzigen Schlupfwinkel nicht nähern. Diese Tiere sind hier doch noch immer wie in völliger Freiheit, haben ihren Charakter noch nicht geändert. Aber etwas wollen wir doch noch auf diesem Baume ausharren, ich habe auch noch einen anderen Grund dafür. Sie haben keine Waffen?«
»Gar keine, auch mein Messer liegt dort unten.«
»So werde ich Ihnen wenigstens das Gewehr dort holen.«
Mit einem Satze war der Prinz vom Baume herab, hatte es dann aber gar nicht so eilig, nach dem Araber zu gehen, der die tödliche Kugel mitten ins Herz bekommen hatte, ihm vom Gürtel die Munitionstasche und das Dolchmesser abzunehmen und sein Gewehr mitzubringen. Unterwegs untersuchte er die Doppelbüchse auch noch bedächtig.
»Dasselbe System, zu dem auch meine Patronen passen. Doch was für andere Gewehre sollen die Sträflinge denn auch erbeutet haben.«
Er schwang sich wieder in die Zweige hinauf.
»Nun, Mister Sharp, wie gefällt Ihnen hier die Lage, in die Sie gleich an Ihrem zweiten Tage gekommen sind.«
»Ganz gut. Ich erlebe also gleich etwas ganz Außergewöhnliches.«
»Ja, etwas, was im Laufe von achtzig Jahren, seitdem die unsichtbare Loge hier haust, hier noch nicht passiert ist. Nun muss ich Ihnen aber gleich gestehen, dass wir hoffentlich Glück haben, sonst werden wir beide wohl noch manches durchmachen müssen.«
»Wieso?«
»Ich bin nämlich ganz isoliert, von den anderen getrennt worden.
Erst vor einer Stunde wurde der Ausbruch der Sträflinge bekannt, und da hatten sie sich des Riffhauses schon bemächtigt.
Ich befand mich ganz allein auf der Jagd, als mir die Sache telefonisch gemeldet wurde, ganz ausführlich, dann aber versagte das Telefon, und es wird wohl nicht so leicht wieder in Funktion zu bringen sein.
Dasselbe gilt von der Beobachtung durch drahtloses Fernsehen, auch diese Vorrichtung haben die Sträflinge zu unterbrechen gewusst.
Wenn ich nun auch in dem halben Jahre, da ich hier weile, schon tüchtig herumgekrochen bin, so ist mir doch noch immer alles so gut wie fremd, dieses Labyrinth unter dem Meeresboden ist gar zu ungeheuer groß, ich weiß immer noch niemals, was sich in dem angrenzenden Raume befindet, ich musste immer durch Fernleitung geführt werden, und zuletzt befand ich mich nun gar auf gänzlich fremdem Gebiete, das ich sicher noch nie betreten habe.
Vorhin betrat ich hier diese wilde Waldschlucht oder vielmehr einen stockfinsteren Raum, in dem ich Wasser rauschen hörte.
Und dann vernahm ich das Knurren von Tigern und dann ein Zwiegespräch von zwei Männern.
Sie nannten Ihren Namen, ich hatte von Ihrem Hiersein schon gehört, und was der andere da sagte und fragte, daraus erkannte ich sofort, dass es nur einer der Sträflinge sein konnte, der sich hierher verirrt hatte.
Er schoss nach den leuchtenden Raubtieraugen und ich schoss sofort nach, dorthin, wo ich nach dem Feuerstrahl die Brust vermutete.
Da liegt der Kerl, richtig ein Assassine, den ich sogar von früher her kenne, ein ganz gefährlicher Bursche, durch das Herz getroffen.
Nun ist es an uns, dass wir uns mit den andern wieder vereinen, damit wir an dem allgemeinen Kampfe gegen die Sträflinge teilnehmen.
Ja, Mister Sharp, wo befinden wir uns nun hier eigentlich? Wie sind Sie hierher gekommen?«
Sharp berichtete kurz. Dass der Zigeunerprofessor solch ein eigenes Revier hatte, das wusste der Prinz, konnte es wenigstens daraus schließen, weil die meisten der hervorragenderen Mitglieder der Loge solch ein eigenes Revier besaßen, also einfach ihre umfangreiche Wohnung, die sonst niemand betreten durfte — aber hier gewesen war der Prinz noch nicht.
»Finden Sie den Rückweg in das Innere der eigentlichen Wohnung?«
»Ganz gewiss!«
»Wir wollen es hoffen; denn ich bin hier so kreuz und quer herumgekrochen, zumal meist im Finstern, dass ich aus diesem Labyrinthe mich nicht wieder in die mir bannte Region zurückfinde. Und wie dann weiter aus des Zigeuners Wohnung nach dem Hauptquartier?«
»Hauptquartier?«
»Nach der Zentrale der Loge.«
»Die kenne ich nicht.«
»Dort sind Sie noch gar nicht gewesen?«
»Nein. Und wie ich in Professor Swintons Wohnung gekommen bin, das weiß ich allerdings auch nicht. Diesen Weg finde ich nicht wieder.«
»Hm, das ist freilich schlimm. Aber ich dachte mir schon so etwas. Also da sind Sie ja ganz in der gleichen Lage wie ich, ein Blinder muss den anderen führen. Na, da wollen wir mal sehen, wie weit wir kommen.
Hier haben Sie das Gewehr von dem Araber, hier Patronentasche und Dolch, benutzen Sie die Sachen fleißig, um jeden Sträfling kalt zu machen, den Sie zu Gesicht bekommen.«
»Wie erkenne ich solch einen Sträfling? Dass ich nicht auf einen Freund schieße!«
»Ja, das ist freilich eine heikle Sache! Hemd und nackte Füße allein tun es nicht. Unter den Mitgliedern der Loge gibt es Orientalen genug, die auch nur in langem Hemd und barfuß und manchmal sogar nur im Schurz herumlaufen, oder auch ohne diesen, wenn sie gerade ein künstliches Sonnenbad nehmen. Das muss eben unserer Unterscheidungsgabe überlassen bleiben, ehe wir schießen oder das Messer gebrauchen, wenn wir jemand herumlaufen sehen.«
»Gibt es einen Anruf? Ein geheimes Erkennungszeichen?«
»Das wohl, aber wenn man den geheimen Händedruck geben will, an dem sich die unsichtbaren Brüder überall erkennen, hat man schon das Messer im Herzen, und sichtbare Zeichen und hörbare Parolewörter haben die doch schnell aufgeschnappt. Na, wir werden schon sehen. Jetzt wollen wir den Raum ruhig verlassen, die Tiger haben wir nicht mehr zu fürchten.«
Sie stiegen herab, Sharp brauchte ja nur den Bach stromab zu verfolgen, und er fand und erkannte die Felsenhöhle wieder, aus der er vorhin getreten war.
Die Wohnung und alle die anderen Räume waren erleuchtet, welche der Prinz durchschritt, immer mit der nötigen Vorsicht, aber Menschen waren nicht zu erblicken.
Da plötzlich blieben die beiden wie angewurzelt stehen.
Schüsse waren gefallen, ganze Salven folgten knatternd, dazwischen ein Heulen und Brüllen und gellendes Pfeifen, entweder sehr weit entfernt oder durch fensterlose Mauern gedämpft.
»Da ist schon ein regelrechter Kampf im Gange, wenn nicht eine ganze Schlacht!«, sagte der Prinz. »Wissen Sie was, Mister Sharp — bleiben Sie mal hier. Ich will noch einmal in die Waldschlucht zurück, den Weg finde ich, ob ich's dort besser höre. Entferne ich mich von hier, dann hole ich Sie wieder ab, erst aber möchte ich mich einmal allein auf den Schleichweg machen.«
Und ohne Weiteres verließ der Prinz den Raum, Mister Sharp zurücklassend.
Noch einige einzelne Schüsse, dann wiederholten sich auch diese nicht mehr, keine menschliche Stimme war mehr zu hören. Mister Sharp befand sich in einem komfortabel eingerichteten Wohnzimmer, das er noch nicht gesehen hatte.
Eben wollte er weiter wandern, als er auf hartem Boden leichte, sehr schnelle, fast trippelnde Schritte vernahm.
Sie mussten sich nähern. Mit einem unhörbaren Satze stand Mister Sharp hinter einer Portiere, die eine Ecke abschloss, in der einige Mäntel hingen.
Und da, durch eine Spalte hervorlugend, sah er schon das Wesen durch eine Tür hereinkommen, das die trippelnden Schritte verursacht, wenn diese jetzt auch durch einen Teppich unhörbar gemacht wurden.
Es war ein kleines, vielleicht achtjähriges Mädchen in einem Strapazierkleidchen, auf das aber die höchste Sorgfalt und künstlerischer Geschmack verwendet worden war, eine blondlockige, reizende Erscheinung.
Verwundert sah sich das Kind in dem Wohnzimmer um.
»Wo bin ich denn nur hier? Ich denke doch, ich komme in den Garten, und hier sind nun wieder lauter Zimmer?«
Nur wenige Augenblicke der Beobachtung, und mit einem kurzen Entschluss trat Mister Sharp vor, wenn auch so, dass das Kind nicht erschrecken konnte, vorher sich etwas räuspernd.
»Wer bist Du, mein Kind?«
Nein, erschrecken tat das kleine Mädchen nicht. Nur mit etwas neugierigem Staunen blickte es den fremden Mann an.
»Du kannst keiner von den bösen Männern sein. Ich heiße Deasy.«
»Und ich heiße Reginald Sharp.«
Ein freudiges Verständnis ging über die lieblichen Züge, die ebenso durchgeistigt waren, wie sie alle Zeichen der Gesundheit trugen.
»Ach, Mister Sharp! Du bist erst seit gestern hier. Von Dir habe ich schon viel gehört.«
»Hoffentlich doch nur Gutes?«, lächelte der junge Mann.
Ja, er hatte es wirklich lächelnd gesagt; ohne selbst zu wissen, dass er einmal lächeln konnte.
»Du wärest doch gar nicht bei uns, wenn Du nicht ein guter Mann wärst.«
»Es gibt doch auch böse Menschen hier, wie Du vorhin selbst sagtest, Sträflinge.«
»Aber Du gehörst doch nicht zu ihnen, das sehe ich Dir gleich an.«
»Bist Du wirklich so scharfsichtig?«, lächelte der junge Amerikaner, nur um etwas zu sagen, wobei er lächeln konnte, weil er mit einem Male so gern lächelte.
»Ich? O, ich kann sogar in die Ferne sehen!«
»Das kann ich auch. Dazu sind die Augen da, um in die Ferne zu sehen.«
»Aber ich kann dabei die Augen zu behalten, ich kann durch geschlossene Türen und Mauern sehen, und das viele, viele Meilen weit, bis in andere Erdteile hinein.«
»Was, Du willst doch nicht etwa sagen, dass Du hellsehend bist, dass Du das sogenannte zweite Gesicht besitzest?«
»Ich hatte es.«
»Jetzt nicht mehr?«
»Ich bin wieder ganz gesund.«
»Warst Du denn krank?«
»Besonders Onkel Joachim sagte immer, etwas Krankhaftes wäre es doch, diese Gabe.«
»Ja. Hm. Ich verstehe. Etwas Normales ist das allerdings nicht. Bist Du eine Engländerin?«
»Eine Amerikanerin, aus Kalifornien, aber meine Eltern waren Schottländer.«
»Aha! In Schottland findet man die Gabe des zweiten Gesichtes am meisten verbreitet, ich selbst habe mich davon zweimal als von Tatsachen überzeugen lassen müssen. Wie äußert sich denn das bei — aber wart mal, ich muss doch erst anderes fragen, ehe ich meine Neugierde oder meinetwegen auch Wissbegierde nach dieser Richtung stille. Du gehörst mit zur unsichtbaren Loge?«
»Ich bin bei Onkel Joachim.«
»Prinz Joachim?«
»Ja.«
»Du wohnst hier? Speziell hier in diesen Räumen, in denen Professor Swinton haust?«
»Wohnt der hier?! Das weiß ich noch gar nicht.«
»Wo warst Du vorher?«
»In unserer Wohnung, in der wir alle wohnen.«
»Wer alle?«
»Onkel Joachim und Tante Lilly und alle, die zu uns gehören.«
Mister Sharp merkte schnell, dass er auf diese Weise von dem Kinde nicht viel über Personalien erfahren würde. Klug genug sah es ja aus, aber alles andere als altklug, war jedenfalls äußerst naiv und vielleicht auch ganz weltfremd.
»Wie kommst Du denn nun hierher?«
»Ich fühlte mich so einsam, bin durch ein paar Türen gegangen, auch durch solche, die sonst immer verschlossen sind, und plötzlich war ich in ganz fremdem Zimmern, in denen ich noch nie gewesen bin.«
»Weißt Du, dass die Sträflinge ausgebrochen sind?«
»Natürlich weiß ich das, es wurde ja von nichts anderem gesprochen. Die Männer sind alle fort, um die Araber wieder einzufangen. Deshalb eben musste ich allein bleiben. Ach, wenn nur der Tante Fatime nichts passiert!«
»Wer ist das, Tante Fatime?«
»Tante Fatime? Das ist die Königin der Nacht.«
»Was, Königin der Nacht?«
»So wurde sie wenigstens genannt, als sie noch als Tochter des Königs Ahasver galt, die sie natürlich niemals gewesen ist.«
»König Ahasver? Das ist doch ein Assassine, der Anführer der Sträflinge, selbst ein Sträfling.«
»Jawohl, das ist er.«
»Und die Tante Fatime ist seine Tochter?«
»So hat er früher behauptet, aber es ist gar nicht wahr.«
»Dann gehört sie aber doch mit zu den Assassinen.«
»Das ist sie früher gewesen, sogar ihre Königin und erste Priesterin, jetzt aber gehört sie schon längst zu uns. Doch nein«, fuhr das Kind, das erst ein recht besorgtes Gesichtchen gemacht hatte, mit heiterem Lächeln fort. »es kann ihr nichts passieren, der Onkel Edward ist ja mit ihr gegangen.«
»Und wer ist denn das, Onkel Edward?«
»Das ist — mein Onkel Edward.«
»Weshalb kann denn der Tante Fatime nichts passieren, wenn Onkel Edward mit ihr gegangen ist?«, versuchte es Mister Sharp auf andere Weise.
»Weil, weil — Onkel Edward ein Heiliger ist!«, lautete der Bescheid.
»Ein Heiliger?!«
»Ja. Wenn dem der wildeste Tiger begegnet, so legt sich der ihm sofort wie ein Lamm zu Füßen, und die Kugel, die auf ihn geschossen wird, bleibt in der Luft stehen, und ich glaube sogar, er kann auf dem Wasser laufen.«
»Nanu! Wie macht er denn das?«
»Ist nicht unser Heiland auch über das Wasser gelaufen? Wie hat der das denn gemacht?«
Nun konnte sich das Mister Sharp nach Belieben zusammenreimen.
»Na, wenn's so ist, dann steht die Tante Fatime ja allerdings unter guter Obhut!«, meinte er nur.
»Ja, da brauche ich keine Angst zu haben«, wurde bestätigt, »ebenso wenig wie um Onkel Joachim. Der ist nämlich auch fortgewesen, als es bekannt wurde, dass die Sträflinge ausgebrochen sind. Gerade so wie die beiden. Die waren auch schon unterwegs, waren zusammen spazieren gegangen. Aber wissen möchte ich doch, wo die drei sind.«
»Dein Onkel Joachim hat mich erst vor fünf Minuten verlassen.«
»Ach was, er war hier?!«
»Und er will wieder hierher kommen, um mich abzuholen.«
»Na, dann ist es ja gut.«
Das kleine Mädchen blickte sich in dem Zimmer um und ein schlaues Lächeln huschte über das liebliche Gesichtchen.
»Aber wissen möchte ich doch, wo die beiden sind, Onkel Edward und Tante Fatime, weshalb sie überhaupt zusammen fortgegangen sind, was sie sonst doch nie tun. Sie haben's überhaupt heimlich getan, ich hab's schon gemerkt. Ich möchte sie einmal beobachten.«
»Ja, wenn Du noch in die Ferne sehen könntest.«
Das listige Lächeln bei aller Unschuld wurde noch stärker.
»O, ich kann es schon noch.. Aber Du darfst es nicht verraten! Nicht wahr, das tust Du nicht?«
»Gewiss nicht, ich verrate nichts.«
»Und Onkel Edward darf es nicht erfahren. Wenn er kommt, musst Du mich schnell wecken.«
»Ich werde Dich wecken.«
»Du sagst ganz einfach zu mir in befehlendem, wenn auch leisem Tone: Wache auf! Und ich werde sofort aufwachen.«
»Du liegst doch dabei in Trance?«, ging der junge Amerikaner immer mehr darauf ein.
»Ja, ich schlafe dabei.«
»Dann wird man es Dir doch auch noch hinterher anmerken.«
»Nein, nicht im Geringsten. Ich erwache sofort und niemand merkt mir etwas davon an. Ich fange davon an zu sprechen, wo ich zuletzt aufgehört habe, mitten im Satze. Zumal wenn ich mir das vorher vorgenommen habe. Freilich weiß ich dann nicht, was ich gesehen und gesagt habe.«
»Ich verstehe.«
»Das musst Du mir dann hinterher alles erzählen.«
»Jawohl.«
»Denn von allein erzähle ich nicht, was ich schaue.«
»Ich verstehe, ich verstehe!«, durfte Mister Sharp versichern, weil er also schon zweimal Erfahrung mit dem »Zweiten Gesicht« gemacht hatte.
»Muss ich Dich, wenn Du in Trance liegst, nicht immer fragen, was Du siehst?«
»Ja, das musst Du, Du musst, sobald ich stocke, fragen: Was siehst Du, mein Kind? — Diese Frage bin ich nämlich gewohnt.«
Und da siehst Du alles, was Du willst?«
»Nein, was Du willst. Du musst mich fragen, was Du sehen willst oder was ich sehen möchte, damit Du es mir hinterher erzählen kannst. Also ich bitte Dich, Du sollst mir zuerst befehlen, ich soll Onkel Edward und Tante Fatime sehen, oder lieber nur den Onkel Edward zuerst, denn wenn die beiden nicht mehr zusammen sind, so entsteht durch solch eine Doppelfrage nur Verwirrung. Sind sie nicht mehr zusammen, so fragst Du mich dann eben auch nach Tante Fatime. Und sage immer oder wenigstens zuerst, Onkel Edward und Tante Fatime. Nicht nur allein die Namen. So reagiere ich am schnellsten darauf.«
Das Kind gebrauchte richtig Fremdwörter, die es bei solchen Experimenten ja schon oft genug zu hören bekommen hatte.
,Und Du fällst ohne Weiteres in Trance?«
»Ohne Weiteres; sobald ich will. Früher war das ja ganz anders, da musste ich etwas in die Hand nehmen, aber das ist jetzt gar nicht mehr nötig. Ich sehe sofort alles, wenn ich nur richtig geleitet werde. Sollte es nicht gleich gehen, dann nimm nur meine linke Hand in die Deine und konzentriere Deine Willenskraft darauf, dass ich vollständig in Trance falle und hellsehend werde.«
»Es kann Dir jeder befehlen, dass Du in Trance fällst?«
»O nein, nicht jeder!«
»Wer denn?«
»Nur der, der mir gefällt, zu dem ich Zutrauen habe. Und Du gefällst mir, Du wirst nichts Böses von mir verlangen.«
»Sicher nicht. Ja aber, Kind — und hiervon weiß sonst niemand etwas?«
»Nein, die glauben alle, ich hätte meine Gabe ganz verloren.«
»Warum sagst Du es ihnen denn aber nur nicht?«
»Weil Onkel Joachim es nicht wissen soll, weil er mich gern wieder ganz gesund haben möchte.«
Anders wusste sich das Kind nicht auszudrücken.
Was hier vorlag, war ja sonst klar genug.
Früher war Deasy ihrem väterlichen Freunde dadurch entgegengekommen, dass sie ihn nach und nach immer selbst auf ihre Gabe aufmerksam gemacht hatte, wie man diese immer mehr ausnutzen konnte.
Nun aber hatte der Prinz diese Gabe des zweiten Gesichtes immer für eine Krankheit gehalten, was es in gewisser Hinsicht doch auch war, normal war das doch nicht, gern hatte er überhaupt nie davon Gebrauch gemacht, und indem Deasy nun auch darin seinen Wünschen entgegenkommen wollte, stellte sie sich schon seit längerer Zeit, als hätte sie diese Gabe ganz verloren.
Das war die Erklärung dafür, und wenn der scharfsinnige junge Mann das auch nicht ganz klar wissen konnte, so ahnte er doch gleich so etwas.
»So wäre man doch jetzt in der Lage, durch Dich hier die feindlichen Sträflinge zu beobachten.«
»Ja, das könnte man. Aber Onkel Joachim will nichts davon wissen, dass man mich zu so etwas benutzt. Das wäre eine Sünde, hat er einmal gesagt. Er hat da einmal einen großen Streit mit anderen Männern gehabt, die hier viel zu sagen haben, aber Onkel Joachim hat recht behalten, sie alle mussten klein beigeben.«
Nun wusste Mister Sharp genug.
»Also Du willst Dein Hellsehen nun doch noch einmal benutzen?«
»Ja, um zu erfahren, wo die sind, um die ich Sorge habe. Wäre Jochen da — das ist nämlich mein Freund, der Jochen — dann würde ich mich durch den ausfragen lassen. Der muss das nämlich noch oft mit mir machen, wenn ich etwas wissen möchte. Natürlich ganz heimlich, es darf niemand etwas davon wissen, obgleich wir da schon viel geholfen haben. Wie dem Mister Perthes, der in der Felsenspalte festklemmte und verhungert wäre, der ist auch auf diese Weise gefunden und gerettet worden, nicht nur so zufällig, wie die anderen meinten. Aber Jochen ist ja auch mit in den Kampf gegen die Sträflinge gezogen. Nun habe ich jemanden gefunden, der mich in Trance versetzen kann.«
Also die Sache war die, dass das Kind gar nicht so zufällig hierher und plötzlich auf den Gedanken gekommen war, sich wieder einmal in Trance versetzen zu lassen, sondern es hatte direkt nach einer dazu geeigneten Person gesucht. Sie hatte es aber bei aller kindlichen Unschuld wirklich sehr schlau gemacht, die kleine Deasy.
Wieder sah sie sich in dem Zimmer um.
»Nun müssen wir aber einen Platz haben, wo wir nicht überrascht werden können, Du musst Onkel Joachim gleich von Weitem sehen, wenn er zurück kommt —«
Wie mit einem Ruck brach sie ab, ein anderes Gesicht annehmend.
»Doch nein, ich will ihn nicht mehr so belügen, den guten Onkel, niemals wieder! Er mag es jetzt nur erfahren, dass ich noch immer hellsehe, er soll uns gerade dabei überraschen, und dann werde ich ihm alles gestehen.«
»Das ist recht von Dir, mein liebes Kind!«
»Wo wollte Onkel Joachim Dich wiederfinden?«
»Hier in diesem Zimmer hat er mich verlassen, hier wird er mich wohl auch zuerst suchten.«
»Dann können wir ja auch gleich hier bleiben.«
»Das können wir.«
Sofort setzte sich Deasy auf ein Sofa, machte es sich in einer Ecke bequem.
»Also Du fasst lieber gleich meine linke Hand, dann schlafe ich sofort ein. Und, weißt Du, dann fragst Du zuallererst, ob Sträflinge hier in dieser Wohnung oder sonst in der Nähe sind, dass wir nicht etwa überfallen werden.«
Das Kind war vorsichtiger als der erwachsene Mann, der an so etwas nicht gleich gedacht hätte. Er hatte ja auch schon genug durchgemacht.
»Das weißt Du dann, ob Feinde in der Nähe sind?«
»Ja, die würde ich dann sehen.«
»Ich denke, Du musst Deine Gedanken immer auf eine ganz bestimmte Person konzentrieren, die mit Namen genannt werden kann, man muss Dich danach fragen?«
»Es geht auch anders. Wenn ich gefragt werde, ob Feinde in der Nähe sind, so suche ich die ganze Wohnung und auch die Umgebung nach solchen ab. Natürlich nur im Traume, nur im Geiste, aber gerade deshalb geht das sehr, sehr fix.«
»Und dann also frage ich Dich zuerst, wo Onkel Edward ist, nicht wahr?«
»Nein, Du befiehlst mir, ich soll Edward sehen, Du musst mir überhaupt immer befehlen.«
»Aha. Jetzt verstehe ich ganz. Und welche Person sollst Du dann sehen?«
»Das werde ich Dir dann sagen.«
»Dazu muss ich Dich erst wieder wecken?«
»Das ist nicht nötig. Ich sage Dir auch in Trance, wen ich sehen möchte, und Du musst mir dann befehlen, dass ich ihn sehen soll.«
»Ich verstehe.«
»Wenn ich einmal erwachen soll, so befiehlst Du mir das, musst dabei aber auch meine Hand loslassen.«
»Ganz richtig.«
»Hast Du sonst noch etwas zu fragen, ehe ich einschlafe?«
»Kann ich Dich auch etwas anderes schauen lassen als nur bestimmte, Dir bekannte Personen?«
Plötzlich wurden die lieblichen, immer heiter lächelnden Züge des kleinen Mädchens tiefernst, so blickte es den Frager an.
»Ja, Du darfst es, Du! Denn Dir vertraue ich! Weißt Du, was ich damit meine?«
»Nicht so ganz!«, wurde der junge, sonst über alles erhabene Mann plötzlich ganz unwirsch, sogar das Blut schoss ihm in den Kopf, ohne eigentlich zu wissen warum.
Nur diese tiefernsten Augen waren es, die ihn plötzlich in solche Verlegenheit brachten.
»Weil ich weiß, dass Du keine frevelhaften Experimente mit mir anstellen wirst.«
»Frevelhafte?«
»Du wirst nicht von mir verlangen, ich soll denken, ich sei ein Tier und mit den Augen eines solchen sehen, etwa gar mit denen eines Fisches im Wasser oder einer Schlange oder einer Fliege.
Du wirst mich nicht nach fernen Planeten schicken oder in den Himmel und in die Hölle, jenseits des Grabes in das Reich der Geister, das dem Menschen verhüllt ist.
Solche Experimente sind schon mit mir gemacht worden, zumal in Abwesenheit Onkel Joachims, von Menschen, die sich Gelehrte nannten, die vorgaben, nur die Wahrheit erforschen zu wollen.
Beschreiben tue ich etwas, auch aus dem Reiche der Toten und Geister, es sind oft schauerliche Sachen — aber durch nichts lässt sich ja kontrollieren, ob ich auch die Wahrheit berichte, ob dies alles nicht nur meiner Phantasie entspringt, und mich greift das stets fürchterlich an, ich bekomme oft Krämpfe dabei —«
»Genug, genug!«, rief Mister Sharp, der plötzlich eine ältere, welterfahrene, wissenschaftlich gebildete Person vor sich zu sehen glaubte, denn die Sprechweise war ja auch danach. »Ich denke nicht daran, mit Deiner Gabe Missbrauch zu treiben!«
»Jene Gelehrten hielten so etwas niemals für Frevel.«
»Ich weiß, ich weiß. Sie halten es auch nicht für Frevel, Tiere lebendig bei vollem Bewusstsein zu zerstückeln, um an ihnen zu studieren.«
»Das ist es! Und ich weiß eben, dass ich Dir vollkommen vertrauen darf, weil Du ein guter Mensch bist.«
»Also ich darf mich durch Dich auch in das Lager der Feinde versetzen lassen?«
»Gewiss darfst Du.«
»Etwa einen Kampf durch Dich beobachten?«
»Du darfst alles, was Du für gut und recht hältst. Nun aber bringe mich in Trance, damit wir erst erfahren, ob nicht Feinde in der Nähe sind.«
Das Experiment begann.
Sharp ergriff ihre linke Hand.
»Schlafe ein, mein Kind, schlafe ein, ich befehle es Dir!«
Fast sofort kamen ihre noch geöffneten Augenlider in zitternde Schwingungen, man sah noch, wie sich die Pupillen nach oben verdrehten, und mit einem leisen Seufzer schloss sie die Augen.
»Schläfst Du, mein Kind?«
»Ich schlafe!«, erklang es leise, aber ganz vernehmlich.
»Sind in dieser Wohnung, in der wir uns hier befinden, ausgebrochene Sträflinge, die uns überfallen könnten?«
»Ich werde nachsehen.«
Kaum eine halbe Minute verging, so begann Deasy von selbst wieder zu sprechen.
»Nein, ich habe keinen Menschen gesehen.«
»Auch keinen Diener von Professor Swinton, keinen unserer Freunde?«
»Keinen Menschen.«
»Willst Du Dich im Geiste auch einmal in der Umgebung dieser Wohnung bewegen?«
»Das habe ich schon getan.«
»Also auch niemanden gesehen?«
»Niemanden.«
»Und da kann sich vor Deinen geistigen Augen niemand verstecken?«
»Nein, da gibt es kein Versteck.«
»Wie sieht es denn in der Umgebung dieser Wohnung aus?«
»Das — darf ich Dir nicht sagen.«
»Weshalb nicht?«
»Wenn Du es wissen willst, so sieh doch selbst nach!«, lautete die Antwort, und der junge Amerikaner war scharfsinnig und erfahren in so etwas genug, um den Grund dieser Verweigerung sofort zu verstehen, welcher Grund aber nicht so leicht mit Worten auszudrücken ist.
Hier lag eben eine Frage vor, die schon mehr von der Neugierde diktiert wurde, nicht von der Sorge um Menschen, die man liebt, da reagierte das gefühlvolle Kind nicht mehr.
»Aber in dem grüntapezierten Zimmer schleicht ein Panther umher.«
»Wo befindet sich dieses grüntapezierte Zimmer?«, fragte Mister Sharp schnell, schon nach seiner Büchse greifend.
»Das brauchst Du nicht zu wissen.«
»Weshalb denn nicht?!«
»Dieser Panther kann uns nicht gefährlich werden. Er wird bald erlegt werden, aber nicht von Dir.«
»Kind, bist Du denn allwissend?! Kannst Du in diesem Zustande auch in der Zukunft lesen?!«
»Ja — nein — ja — nein!«, erklang es zögernd »Du sollst diesen Panther nicht töten, ein anderer muss es tun; denn erst muss dieser Panther noch etwas tun. Du würdest nur den Lauf des Schicksals stören.«
Mister Sharp stellte keine weiteren Fragen, schien aber sehr erschüttert zu sein.
»Soll ich Dir jetzt befehlen, eine bestimmte Person zu sehen?«, fragte er nach einer kleinen Weile.
»Ja.«
»So sieh den Onkel Edward.«
»Nein.«
»Ich befehle Dir, dass Du im Geiste den Onkel Edward aufsuchst und ihn beobachtest!«
»Nein.«
»Du willst es nicht tun?!«
»Nein.«
»Erinnerst Du Dich jetzt noch, was Du mir vorhin in wachem Zustande gesagt hast?«
»Ja. Aber ich will erst jemand anders sehen.«
»Wen?«
»Den Fred. Aber ich kann ihn nicht sehen.«
»Weshalb kannst Du ihn denn nicht —«
Sharp brach ab. Er verstand den Grund von selbst, erkannte das Wesen dieses mediumistisch veranlagten Kindes immer mehr. Eben weil er in so etwas schon seine Erfahrungen gemacht hatte.
»Sieh den Fred, ich befehle es Dir!«
Eine kleine Weile verstrich, ruhig lag das Kind da, es wollte nicht von selbst zu sprechen beginnen, obgleich es wohl schon etwas sehen musste, da es immer glücklicher zu lächeln begann, und Mister Sharp dachte an etwas.
Deasy hatte ihm ja gesagt, er solle und müsse immer fragen: Was siehst Du, mein Kind?
Das erste Mal, als sie in der Wohnung Umschau gehalten hatte, war das allerdings nicht nötig gewesen, da hatte sie von allein berichtet.
Einfach deshalb, weil sie mit dem Entschlusse, zuerst nach etwaigen Feinden Umschau zu halten, eingeschlafen war.
Jetzt aber musste man ihr zu Hilfe kommen, sonst berichtete sie nicht, was sie schon schaute.
»Was siehst Du, mein Kind?«
»Ich sehe — ihn!«, erklang es ganz selig, wie auch das Gesichtchen war.
»Den Mister Fred?«
»Ja.«
»Das ist wohl Dein besonderer Freund?«
»Ja.«
»Ein Mann von Onkel Joachims Begleitung?«
»Ein Knabe.«
»Wie alt ist er denn?«
»Sechzehn Jahre. Nein, er ist kein Knabe mehr, er ist schon ein ganzer Mann.«
»Ein Jüngling, wollen wir sagen.«
»Ja, ein Jüngling.«
»Wo ist er?«
»Ich sehe — eine Felsengrotte.«
»Was tut er?«
»Er liegt zwischen zwei Felsen ganz versteckt, sein Gewehr im Anschlag.«
»Was siehst Du sonst noch?«
»Ich sehe mit seinen Augen Felsen, nichts als Felsen.«
Mister Sharp dachte an eines der Medien, mit denen er experimentiert hatte.
»Du siehst wohl nur mit den Augen desjenigen, den Du beobachtest?«
»Ja — nein — ja — nein!«, erklang es wieder wie schon mehrmals.
»Das kann verschieden sein.«
»Ja, ganz verschieden.«
»Aber jetzt siehst Du nur das, was Fred sieht, nur mit seinen Augen.«
»Ja, jetzt.«
»Kannst Du auch mit Deinen eigenen Augen die Umgebung sehen?«
»Ja, aber nicht jetzt. Dazu muss ich mich erst anders einrichten.«
»So tue es.«
»Das geht nicht.«
»Weshalb nicht?«
»Weil ich jetzt erst meinen Fred sehen will.«
»Dann später?«
»Warte, bis es so weit ist. Ich sehe mit Freds Augen einen Büschel Haare hinter einem Felsen vorlugen, ein Gewehrlauf schiebt sich vor, ein halber Kop zeigt sich darüber — und jetzt hebt auch Fred sein Gewehr höher, er zielt — ein Feuerstrom, eine ganz schwache Rauchwolke — dort hinter dem Felsen springt ein Mann hoch, — ein Araber — er breitet die Hände aus — stürzt — bleibt liegen —«
»Fred hat ihn tödlich getroffen?«
»Nicht anders.«
Einige Minuten verstrichen, und Deasy hatte nichts Neues zu melden, wie Sharp auch manchmal fragte. Fred blieb im Anschlag liegen, und dort lag der tote Araber.
»Hast Du den Schuss auch gehört?«
»Nein, hören kann ich gar nichts.«
»Willst Du Deinen Freund noch länger beobachten?«
»Nein, es ist genug. Ich wollte ihn nur einmal sehen, meinen Fred.«
»So willst Du jetzt jemand anders sehen?«
»Ja.«
»Onkel Edward?«
»Nein, noch nicht.«
»Wen sonst?«
»Freds Mutter. Die Missis Allan.«
»So sieh die Mistress Allan, ich befehle es Dir!«
»Ich sehe sie!«, sagte das Kind sofort, aber das glückliche Lächeln verschwand.
Mister Sharp musste immer fragen, musste wissen, was das Kind sah, denn es erwachte ja erinnerungslos, es musste ihm dann alles erzählt werden.
»Was tut sie?«
»Sie spricht mit zwei Männern — mit zwei Arabern. Ach, das sind Assassinen, den einen kenne ich!«
»Assassinen?! Dann gehört sie mit zu den Assassinen?«
»Nein, sie war immer bei uns, wurde gefangen gehalten. Aber sie muss in die Gewalt der Feinde gekommen sein. Und zwar mit ihrem Willen.«
»Woraus schließest Du das?«
»Sie ist so vergnügt, wie sie mit den beiden Assassinen spricht, sie ist stolz, triumphiert.«
»So macht sie also mit den Feinden gemeinschaftliche Sache?«
»Ganz sicher.«
»Ist sie denn von den Assassinen aus Eurer Gefangenschaft befreit worden?«
»Das weiß ich nicht. Sie befindet sich bei den Assassinen, bei denen sie schon früher war, und sie ist froh darüber.«
»Was tut sie sonst? Bemerkst Du sonst noch etwas Auffallendes?«
»Nein, und ich will auch nichts mehr von ihr sehen. Jetzt möchte ich den Onkel Edward sehen.«
»Sieh ihn!«
»Ich sehe ihn. Nein, es ist ein anderer.«
»Du siehst nicht Onkel Edward?«
Eine längere Pause entstand, ehe das Kind antwortete, und immer erstaunter und auch ängstlicher waren Deasys Züge geworden.
»Seltsam, ganz seltsam!«, flüsterte sie dann.
»Was findest Du so seltsam?«
»Er ist genau so gekleidet wie Onkel Edward, er sieht auch sonst genau so aus, und doch ist es ein anderer als Onkel Edward.«
»Vielleicht hat er einen Doppelgänger. Es gibt jemanden, der genau so aussieht.«
»Nein, nein, es ist schon Onkel Edward — aber — er ist es dennoch nicht!«
Da konnte Mister Sharp natürlich nicht klug daraus werden.
»Wie sieht er denn aus?«
»Ganz genau so wie immer.«
»Beschreibe ihn mir doch einmal.«
»Er sieht aus wie unser Heiland Jesus Christus, ganz genau dasselbe Gesicht, hat auch einen solchen Bart und lange Haare, in der Mitte gescheitelt, wie man unsern Heiland immer auf Bildern sieht. Auch den arabischen Burnus trägt er wie immer.«
Das war doch allerdings eine sehr charakteristische Beschreibung gewesen.
»Und doch ist ist es Onkel Edward nicht — es ist ein anderer!«, setzte das Kind noch hinzu.
»Was tut er?«
Er spricht mit der Fatime.«
»Wo befinden sich die beiden?«
»In einem Blumengarten. Sie sind von lauter Rosen umgeben. Die beiden sind ganz versteckt.«
Na, na, solche Verstecke unter Rosen sind immer gefährlich, dachte der junge Mann, der doch sicher auch in so etwas schon seine Lebenserfahrungen gemacht hatte.
»Sie sprechen zusammen?«
»Ja, immer erregter. Nein, nur Fatime wird immer erregter.«
»Und der Mann?«
»Jetzt wendet sich Onkel Edward ab.«
»Also es ist doch Onkel Edward?«
»Ja, er ist es!«, sagte jetzt Deasy, aber es klang recht unsicher.
»Er zittert — so habe ich ihn noch nie gesehen. Und jetzt, und jetzt —«
»Was jetzt?«
»Er dreht sich plötzlich um, er schließt Fatime in seine Arme, er küsst sie — küsst sie immer wieder — o, jetzt ist Onkel Edward kein Heiliger mehr!«
Mit tiefstem Schmerze, wie mit Verzweiflung hatte Deasy diese letzten Worte gesagt.
Wusste das Kind nur in diesem Zustande, was hier vorlag, was hier geschehen war?«
Durchschaute es nur in diesem Zustande die Mysterie der Liebe sowohl wie die der Heiligkeit?
Wie es keinen Heiligen geben kann, welcher der irdischen Liebe unterliegt?
Genug, so hatte Deasy wie in hellem Jammer gerufen, und Mister Sharp stellte deswegen keine Frage.
»Ich will die beiden nicht mehr sehen, ich will nicht!«
»Sieh Onkel Joachim.«
Sofort wurde des Kindes Gesicht heiter und glücklich wie zuvor.
»Ich sehe ihn.«
»Was tut er?«
»Er spricht mit dem schwarzen Bären.«
»Wer ist das?«
»Ein SiouxHäuptling. Es sind auch noch andere Indianer und Cowboys dabei, sie untersuchen den Boden, verfolgen eine Spur, beraten sich.«
Das Kind machte plötzlich ein ängstliches Gesicht.
»O, wenn Onkel Joachim nur nicht einbricht!«
»Weshalb soll er denn einbrechen?«
»Er steht auf einem so ganz dünnen Boden.«
»Das kannst Du sehen, dass dieser Boden so dünn ist?«
»Ja, das kann ich sehen.«
»Ich denke, Du siehst nur das, was der Prinz mit seinen Augen sieht?«
»Jetzt nicht.«
»Wie kommt das?«
»Weil — weil — weil ich um Onkel Joachim Sorge habe.«
Es war eine ganz plausible Erklärung, Mister Sharp verstand sie sofort.
Durch die Sorge, die sie um die geliebte Person hatte, wurde Deasy nun noch weiter hellsehend.
Mister Sharp gedachte dies einmal auszunutzen, solche Experimente waren doch erlaubt.
»Aus was besteht dieser Boden?«
»Es ist auch eine Felsendecke.«
»Was befindet sich darunter?«
»Doch sicherlich ein hohler Raum, auch wieder eine Grotte.«
»Kannst Du in diesem Raume nicht Umschau halten?«
»Nein, das kann ich nicht.«
Mister Sharp nahm einmal alle seine Energie zusammen, um das Kind geistig zu beeinflussen.
»Höre, Deasy, ich sage Dir, ich weiß es ganz bestimmt: Im nächsten Augenblick wird Onkel Joachim dort einbrechen! Ich weiß es ganz, ganz bestimmt! In welchen Raum wird er da stürzen?«
Das Kind machte ein höchst erschrockenes Gesicht.
Aber wahrhaftig, die List gelang.
»Er wird mehr als zehn Meter tief hinabstürzen. Ach, wenn er doch nur erst diese gefährliche Stelle verließe!«
»Wie sieht es nun sonst weiter aus in dem Raume, in den er stürzen wird?«
»Es ist eine Grotte, überall sind spitze Zacken.«
»Auch am Boden?«
»Ja, er würde sich auch am Boden aufspießen. Gelobt sei Gott, Onkel Joachim hat die gefährliche Stelle verlassen!«
»Kannst Du in jener Grotte nun noch weitere Umschau halten?«
»Nein, das kann ich nicht mehr!«
»Weshalb nicht?«
»Onkel Joachim kann ja nicht mehr durchbrechen und hineinstürzen, sonst ist die Decke überall viel, viel dichter.«
Trotzdem, nun war Mister Sharp sich des Erfolges seines Planes sicher, das hier war nur eine Einleitung gewesen, sie hatte genügt.
»Höre mich an, Deasy, Du weißt doch, dass sich die Assassinen des Riffhauses bemächtigt haben?«
»Ja, das weiß ich.«
»Dass sie uns dadurch abgeschnitten haben? Deine Freunde können jetzt nicht wieder heraus.«
»Ich weiß es.«
»Oder sie müssen die feste Stellung des Feindes stürmen.«
»Das müssen sie.«
»Das wird viel, viel Blut kosten, da werden viele Deiner Freunde ihr Leben lassen müssen.«
Das Kind nachte ein überaus schmerzliches Gesicht.
»Ja, ich weiß es!«, wehklagte es.
»Das kannst Du aber verhindern.«
»Ich?!«
»Wenn Du nur willst.«
»Wie denn?«
»Du weißt doch, dass sich hier ein Hafen befindet, in dem die Wasserfahrzeuge sind.«
»Ja, den kenne ich.«
»Du warst schon dort?«
»Schon oft, wir sind doch auch in so einem Unterseeboote von Amerika hierher gekommen.«
»Diesen Hafen können aber unsere Freunde nicht erreichen.«
»Nein, das können sie nicht.«
»Weshalb nicht?«
»Dazu muss man durch das Riffhaus, und das halten die Assassinen besetzt!«, erklärte Deasy, welche die Beratungen mit zugehört hatte und also die ganze Situation kannte.
»Wo befindet sich dieser Hafen?«
»Im Riffhause selbst, ganz unten.«
»Also sind die Assassinen ihm doch ganz nah?«
»Das sind sie.«
»Können sie die Unterseeboote und die sonstigen Fahrzeuge benutzen, um das Riffhaus zu verlassen?«
»Nein.«
»Weshalb nicht.«'
»Sie wissen den geheimen Eingang zu dem Hafen nicht zu finden.«
Das war es gewesen, was Mister Sharp von dem Kinde hatte hören wollen, ob ihm auch dies alles bekannt sei.
»Wenn wir nun in den Hafen gelangen könnten, dann könnten wir doch den Feinden in den Rücken fallen?«
»Das könnten wir.«
»Sie aus dem Riffhause vertreiben, hier in diese Höhlenregion hinein, wo sie nach und nach aufgerieben werden?«
»Ja, so wäre es.«
»Nun, Deasy, dies kannst Du ermöglichen.«
»Ich?«
»Ja, Du. Es ist nichts weiter nötig, als dass Du Dich im Geiste in diesen Hafen versetzest.«
Eine kleine Pause entstand, Mister Sharp wartete mit Spannung, aber schon des Erfolges sicher, bis er sich erinnerte, dass er ja mit Fragen zu Hilfe kommen müsse.
»Bist Du in dem Hafen, mein Kind?«
»Ich bin dort.«
»Was siehst Du?«
»Die Unterseeboote, die jetzt aber auf dem Wasser schwimmen. Eins — zwei — drei — vier Stück; von ganz verschiedener Größe.«
»Ist es denn hell in dem Raume?«
»Ganz finster.«
»Aber Du kannst sehen?«
»Ganz deutlich.«
»Für Dich gibt es also jetzt keine Finsternis?«
»Nein. Ich sehe mit anderen Augen.«
»Kannst Du Dich nun auch in diesem Raume nach Willkür bewegen?«
»Wie meinst Du das?«
»Kannst Du Dich zum Beispiel auf eines der Unterseeboote stellen?«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Bitte, tue es. Ich befehle Dir, stelle Dich auf das größte Fahrzeug!«
»Ich stehe darauf!«, erklang es fast sofort.
»Gehe über das Boot hin.«
»Ich tue es.«
»Siehst Du einen Ausgang aus diesem Hafen?«
»Nein.«
»Es ist ein geschlossener Raum?«
»Ja.«
»Beschreibe ihn doch etwas näher.«
»Es ist ein großes, rundes Bassin, ringsherum läuft eine breite Galerie —«
»Genug! Du hast diesen Hafenraum also schon einmal betreten?«
»Schon mehrmals.«
»Wie bist Du denn hineingekommen?«
»Durch einen Gang, durch eine Tür.«
»Diese Tür siehst Du jetzt nicht?«
»Nein.«
»Ich befehle Dir aber, dass Du sie siehst!«, sagte Mister Sharp mit aller Energie.
»Ich sehe sie!«, lautete die Antwort.
»So begib Dich hin nach dieser Tür.«
»Ich bin dort.«
»Kannst Du sie öffnen?«
»Nein.«
»Weshalb nicht?«
»Es ist ein geheimer Mechanismus dabei.«
»Ich befehle Dir aber, dass Du diesen geheimen Mechanismus erkennst und ihn zu handhaben weißt!«
»Ich sehe den Mechanismus, aber öffnen kann ich die Tür nicht.«
Das glaubte Mister Sharp dem Kinde ohne Weiteres; so weit reichte Deasys geistige Kraft, mochte diese auch noch so magisch sein, denn doch nicht, dass sie auch eine schwere Felsentür öffnen konnte.
»Diese Tür ist jetzt doch für Dich durchsichtig, nicht wahr?«
»Nein.«
»Wie erkennst Du denn sonst den geheimen Mechanismus?!«
»Das — weiß ich nicht.«
»Die Tür ist aber für Dich durchsichtig, ich befehle es Dir!«
»Ich kann durchblicken.«
»Was siehst Du dahinter?«
»Nichts.«
»Ich befehle Dir, dass Du siehst, was sich hinter der Tür befindet!«
»Ich sehe einen Gang.«
»Durch den Du schon gekommen bist, nicht wahr?«
»Ja — ich glaube.«
»Nun gehe im Geiste durch diese Tür hindurch, ich befehle es Dir!«
»Ich bin durchgegangen.«
»Hat dieser Gang Abzweigungen?«
»Nein.«
»So verfolge ihn bis ans Ende.«
»Ich bin am Ende und stehe jetzt vor einer Felsenwand.«
»Keine Tür?«
»Ja, wieder eine geheime.«
»Durchdringe sie.«
»Ich bin durch.«
»Und wo bist Du da?«
»In einem engen Raume, in dem eine Treppe nach oben führt.«
»Ist dies der gewöhnliche Weg, der nach dem Hafen führt?«
»Ja, jetzt erkenne ich es, diese Treppe bin ich schon hinabgegangen.«
»So ersteige die Treppe.«
»Ich tue es.«
»Wo endet die Treppe?«
»Wieder an einer für andere Augen unsichtbaren Felsentür.«
»Durchdringe sie.«
»Ich bin — o!«
»Was hast Du?«
»Ich bin in einem weiten Saale, der ganz von Männern erfüllt ist!«
»Was sind es für Männer?«
»Es sind die ausgebrochenen Sträflinge, die Assassinen.«
»Du kannst doch nicht gesehen werden?«, fragte Mister Sharp rasch — — eine etwas merkwürdige Frage.
»O nein, ich bin doch nur geistig dort!«, lächelte Deasy.
»Irgendwie bemerkt werden, meine ich. Und schließlich können doch auch Geister gesehen werden, wenigstens von gewissen Menschen, oder gefühlt, geahnt.«
»Du hast recht, aber das ist jetzt bei mir nicht der Fall.«
»Wie viele Assassinen sind es?«
»Einige Hundert, glaube ich. Der ganze Saal ist voll.«
»Was tun sie?«
»Sie beraten sich. Nein, sie hören einem Manne zu, der in der Mitte steht und spricht. Es ist der König Ahasver.«
»Es ist Dir nicht möglich, auch mit geistigen Ohren zu hören, was gesprochen wird?«
»Nein.«
»Du sollst es aber hören, ich befehle es Dir!«
Doch hier versagte die fremde Willenskraft, was Mister Sharp auch versuchte. Hören konnte Deasy nicht.
Bald gab er auch seine Bemühungen auf.
»Nun versetze Dich rasch nach dem Hafen zurück.«
»Ich bin wieder dort.«
»Ist nicht auch noch unter diesem Hafen ein hohler Raum?«
Er musste erst eindringlicher fragen, immer wieder befehlen, dann gab es Deasy zu, sie durchdrang im Geiste den Boden und befand sich in einer Höhle, was ja auch zu erwarten gewesen war, wenn es sich hier um ein Höhlenlabyrinth von schier endloser Ausdehnung handelte, das nur zum geringsten Teil schon erforscht worden war.
Aber diesen Boden, auf dem das tiefe Wasserbecken ruhte, schätzte Deasy auf wenigstens dreißig Meter Dicke.
Sie musste im Geiste noch einmal den Weg durch den Tunnel machen.
»Wo ist der Boden am dünnsten?«
Es ging nicht so rasch, wie es hier geschildert wird, aber immer mehr richtete sich das Kind ein, kam den Wünschen entgegen, ließ seinen Geist umherschweifen, auch durch die Felswände, um die dünnste Stelle zu finden.
Diese lag in dem Gange dicht neben dem Wasserbassin oder doch dem Hafenraume, indem dort unten eben eine große Höhle war, die hier ihre höchste Höhe erreichte.
Hier war der Boden an einer gewissen Stelle kaum einen halben Meter stark.
»Versetze Dich in die Höhle hinab«
»Ich bin unten.«
»Ist es eine vollständig geschlossene Höhle oder hat sie einen Ausgang?«
»Sie hat mehrere Ausgänge oder Fortsetzungen.«
»Verfolge den Weg, der ungefähr nach dieser Richtung führt, wo wir uns jetzt befinden, aber ohne dass Du fernerhin geschlossene Felswände durchdringst. Also wie ein anderer Mensch, der sich dort unten hierher begeben will.«
Deasy tat es im Geiste, was wir nicht weiter beschreiben wollen. Viele, viele Fragen musste Mister Sharp dazu stellen, besonders auch, um sich immer zu vergewissern, ob auch ein anderer Mensch hier unten weiter gekommen wäre.
Ja, es musste wohl möglich sein; dabei erkannte er deutlich, dass hier wieder ein Höhlenlabyrinth war, das noch von keinem Menschen betreten sein konnte.
Da gab es zum Beispiel eine Felsenspalte, durch die sich ein Mensch, auch wenn er gar nicht so sehr beleibt war, kaum quetschen konnte, und doch brauchte nur ein einziger, lose liegender Felsblock zur Seite gewälzt werden, und dann ein mit Wasser gefüllter Querspalt, der doch sicher überbrückt gewesen wäre, wenn hier schon einmal Menschen geforscht hätten.
Dabei musste die im Geiste wandernde Deasy ihre Aufmerksamkeit immer oben nach der Decke richten, wo diese am dünnsten sei.
Aber merklich dünne Stellen waren bisher noch nicht vorgekommen. Immer war die Felsendecke von kolossaler Stärke.
»Jetzt aber — o, hier ist die Decke so dünn, so dünn!«
»Wo bist Du?«
»In einer großen, sehr großen Höhle, und so hoch, so hoch! Man könnte ein großes Haus hineinsetzen. Und — in dieser Höhle bin ich schon einmal gewesen.«
»Wann?«
»Vorhin. Es ist dieselbe Höhle, in die Onkel Joachim hätte stürzen können, wenn er durch den ganz dünnen Boden gebrochen wäre.«
»Dort oben also haben vorhin der Prinz und seine Begleiter gestanden?«
»Ja, es ist dieselbe Stelle.«
Mister Sharp wischte sich die dicken Schweißtropfen von der Stirn.
Er hatte das Ziel erreicht, das er angestrebt, aber Anstrengung hatte es ihm gekostet — eine geistige Anstrengung, der er manche körperliche Strapazen vorgezogen hätte.
Da tauchte im Türrahmen der Prinz auf, hinter ihm Black Swinton.
»Deasy hier?!«, rief der erste erstaunt.
Dann stutzte er.
»Was ist mit dem Kinde?! Das liegt doch nicht etwa in Trance?!«
Mister Sharp gab eine Erklärung, wie es zuerst gekommen war. Der Prinz machte erst ein verwundertes, dann ein finsteres Gesicht.
Doch unbeirrt fuhr Mister Sharp in seinem Bericht fort.
»Sie haben die Möglichkeit, den Assassinen in den Rücken zu fallen und sie mindestens aus dem Riffhause zu vertreiben!«, schloss er.
»Hm. Das wäre allerdings von größter Bedeutung!«, meinte der Prinz. »Bitte, lassen Sie mich mit dem Kinde einmal allein, bis ich Sie wieder rufe!«, entschied er dann kurz.
Kommen Sie mit mir, ich will Ihnen etwas Interessantes zeigen!«, sagte der Zigeunerprofessor zu dem Amerikaner, der sich wohl oder übel entfernen musste.
Sie durchschritten einige Gemächer und kamen in ein anderes, das Mister Sharp noch nicht betreten hatte.
»Ich hatte Ihnen doch versprochen, Ihnen einige Experimente vorzuführen, was wir mit Licht und Finsternis hier alles machen können!«, begann Black Swinton.
»Das hatten Sie allerdings. Aber ist es jetzt auch am Platze, dass Sie mir solche Experimente vormachen?«
»Weshalb nicht? Wegen der Sträflinge? Die gehen mich gar nichts an. Wer die hat durchbrennen lassen, der mag sie nur auch wieder einfangen.
Übrigens will ich nicht gerade Ihnen eine Vorstellung geben, sondern einem alten Herrn, einem Haupte der unsichtbaren Loge, das aber lange abwesend war. Dieser alte Herr kümmert sich ebenfalls nicht im Geringsten um die ausgebrochenen Sträflinge, und er hat mich vorhin gebeten, ihm meine Experimente über Lichtstrahlen vorzuführen, und sein Wunsch ist mir Befehl.
Sie werden ihn gleich sehen, aber eine Vorstellung gibt es nicht, kümmern Sie sich überhaupt gar nicht um ihn, ich selbst werde ihn auch niemals ansprechen, sondern die Erklärungen immer nur Ihnen geben. Es ist mir also gerade recht lieb, wenn Sie Fragen stellen, über alles, was Ihnen nicht gleich verständlich ist. Der alte Herr selbst wird kein Wort sagen.«
Da trat er schon ein, ein alter Mann mit langem, weißem Vollbart, in einen schwarzen Talar gehüllt, eine patriarchalische Priestererscheinung.
Er wurde von einem jüngeren Manne begleitet, der sofort den Diener verriet, den er aber ebenso wenig beachtete wie die beiden Herren.
Trotzdem folgte er immer den Aufforderungen, die der Zigeunerprofessor an den jungen Amerikaner ergehen ließ.
»Bitte, Mister Sharp, kommen Sie hierher.«
In der Wand war ein Fenster eingelassen, durch dieses blickte man in einen kleinen, nackten Raum, in dem ein Dutzend Hühner, struppig und sehr mager, hockten. Selten einmal, dass eines aufstand und etwas herumlief.
»Was sehen Sie, Mister Sharp?«
»Ordinäre Hühner, die scheinbar vor Hunger sich kaum noch auf den Beinen halten können.«
»Und so ist es auch wirklich. Die Tiere haben eine kleine Hungerkur durchmachen müssen, desto besser wird es ihnen jetzt schmecken. Es wäre nicht nötig, dass ich dazu dieses Laboratorium verfinstere, es ist geteiltes Licht, aber ich will es lieber tun, um den Eindruck zu verstärken.«
Es wurde in dem Laboratorium finster. In der kleinen Kammer dagegen blieb es hell wie zuvor. Merkwürdig war nur, wie scharf die Grenze zwischen Licht und Finsternis gezogen war. Die Glasscheibe, welche die Kammer von dem Laboratorium trennte, konnte hieran nicht schuld sein. Doch diese scharfe Trennung zwischen Licht und Finsternis kennen wir ja schon, brauchen uns nicht weiter dabei aufzuhalten.
»Jetzt zerlege ich das Licht dort drin, das von der Decke kommt, in seine einzelnen Farben.«
Es geschah. Auf dem grauen Boden der Kammer sah man alle Regenbogenfarben, bei scharfer Beobachtung auch die verschiedenen Lichtstrahlen noch in der Luft.
Es brauchte ja an der Decke nur ein Prismaglas zu sein, welches das Licht durchließ, das Prisma musste die Regenbogenstrahlen erzeugen; wenn es hier wohl auch anders gemacht wurde. Aber der Erfolg war doch derselbe.
Also Rot, Orange, Gelb, Grün, Hellblau, Indigoblau, Violett — das sind die sieben Hauptfarben des Spektrums, in welches das Sonnenlicht durch Spaltung zerlegt wird, von links nach rechts.
Dazwischen natürlich noch alle möglichen Nuancierungen, von denen die Musterbücher der Farbenindustrie mehr als fünftausend aufzählen.
Diese sieben Hauptfarben geben, zusammengemischt, weißes Licht.
Wer dieses Wunder fassen kann, wirklich erfassen, der tue es. Einfacher aber ist es, den Hut abzunehmen und zu sagen: Gott, Du bist groß und die Welt ist voll Deiner Wunder!
Diese ineinander übergehenden Farben lagen also hier auf dem Boden der Kammer ausgebreitet.
Will man noch genauer klassifizieren, so lässt man nach Grün nicht Hellblau folgen, sondern schiebt Cyan ein, und nach Violett kommt Lavendel — welche Farbennamen im gewöhnlichen Leben freilich nicht gebraucht werden.
Auf die verhungerten Hühner machte das Farbenspiel in der Luft und am Boden — das allerdings nicht spielte, sondern die Farben standen fest — gar keinen Eindruck.
Da kamen von irgendwoher Weizenkörner geflogen, sich über den ganzen Boden verstreuend.
Da freilich sprangen die Hühner mit einem Freudengackern sofort auf und machten sich über die Körner her, sie eiligst aufpickend.
»Nun, Mister Sharp, was beobachten Sie?«
Ja, der machte sehr bald eine ganz besondere Beobachtung.
Schnell hatten die hungrigen Hühner sämtliche Körner aufgepickt.
Nur diejenigen nicht, welche dort lagen, wo die hellblaue Farbe in die dunkelblaue überging, die man also »Cyan« nennt oder Cyanblau.
Schon in dem hellblauen Lichte blieben einige Körner liegen, ebenso in dem dunkelblauen, und das umso mehr, je mehr die beiden Farben zum Cyanblau zusammenrückten, und in dieser Farbe selbst, einen Streifen von einem halben Meter Breite bildend, blieben die Weizenkörner von den Hühnern überhaupt vollkommen unbeachtet.
»Woher kommt das?«, rief Mister Sharp in ehrlichem Staunen.
»Das kommt daher, weil für die Hühner, wie überhaupt für die meisten Vögel, die cyanblauen Lichtstrahlen nicht existieren. Ihre Augen sehen sie nicht. Schon die hellblauen und die dunkelblauen Strahlen sind für sie trübe, die cyanblauen bedeuten für sie vollkommene Finsternis. In dieser sehen sie also die Körner auch nicht, im Finstern geht das Huhn bekanntlich überhaupt keiner Nahrung nach.«
Es wurden noch einige Hände voll Weizenkörner in die Kammer geworfen, die Hühner waren noch längst nicht satt, mit neuer Gier stürzten sie sich darüber her — da erstrahlte die ganze Kammer in jenem mittelblauen, cyanblauen Lichte, und sofort duckten sich die Hühner zusammen und blieben da sitzen, wo sie gerade saßen.
»Für uns ist dieses Licht doch ganz hell. Für die Hühner dort drin herrscht absolute Finsternis.
Gibt es aber nun Lichtstrahlen, welche von den Hühnern nicht gesehen werden, so muss es auch unbedingt Strahlen geben, welche für andere Tierarten nicht existieren, und dann wieder speziell solche für den Menschen unsichtbare, oder jede Logik hört auf.
Und diesen Beweis kann ich erbringen, wozu ich freilich das Licht in ganz besonderer Weise zerlege. Hier ist es.«
Der Boden der Kammer war plötzlich in dreifarbige Streifen geteilt, die sich in derselben Reihenfolge immer wiederholten: schwarz blau weiß, schwarz blau weiß.
Diese Farbenstreifen sah man auch in der Luft, so wie wenn die Sonne durch verschiedenfarbige Glasfenster scheint und die Luft ist nicht absolut staubfrei, was sie unter gewöhnlichen Verhältnissen ja niemals ist.
Und nun sah Mister Sharp, wie die Hühner die Körner auf dem weißen Boden eiligst aufpickten, die sie auf den blauen Streifen liegen ließen, und wie sie in den schwarzen Lichtstreifen spurlos verschwanden.
Waren sie nur mit dem Kopfe in diesem schwarzen Lichte, so war dieser Kopf eben absolut nicht zu sehen, nur der übrige Körper, der sich noch im blauen oder weißen Lichte befand, und eben aus den Bewegungen dieses sichtbaren Körpers war deutlich zu ernennen, wie emsig sie auch in diesem schwarzen Lichte, also in absoluter Finsternis, die Körner aufpickten.
»Es ist eben keine Finsternis, in der sie sich innerhalb des schwarzen Streifens befinden, nicht für die Augen dieser Hühner!«, erläuterte der Zigeunerprofessor.
»Was ist eigentlich Finsternis? Die Abwesenheit des Lichtes.
Es gibt aber noch eine andere Art von Finsternis. Sie kann noch immer aus Lichtstrahlen bestehen, welche für gewisse Augen nur nicht sichtbar sind.
Das Sonnenspektrum fängt links mit Dunkelrot an und hört rechts mit Violett oder richtiger mit Lavendel auf. Aber es ist geradezu eine Anmaßung, glauben zu wollen, dass dieses zerlegte Sonnenlicht nach links und rechts Grenzen haben sollte.
Wir können ja überhaupt schon gar nicht sagen, wo denn das Dunkelrot anfängt und das Lavendel aufhört.
Es liegt hier dasselbe vor wie über die Begriffe von Raum und Zeit, über Endlosigkeit und Ewigkeit.
Und schon hat man denn auch durch besondere optische Verfahren entdeckt, dass hinter dem Lavendel noch eine Farbe liegt, die für gewöhnlich dem Auge, dem menschlichen Auge, nur nicht sichtbar ist.
Man hat sie Ultraviolett genannt — jenseits des Violettes.
Die Hühner sehen die cyanblauen Strahlen nicht, wir Menschen sehen die ultravioletten Strahlen nicht, obgleich auch diese ultravioletten Strahlen noch immer ein wirkliches Licht sind.
Das beweisen hier diese Hühner. Sie sehen in dieser schwarzen Finsternis genau so gut wie im weißen Sonnenlicht.
Hier nehmen Sie dieses Glas, welches die ultravioletten Strahlen in gelbe verwandelt.«
Mister Sharp nahm das dargereichte Doppelglas, durch dasselbe sah er, wie die Hühner auch innerhalb der Streifen, in denen sie sonst wie in finsterer Nacht verschwanden, gierig die Körner aufpickten.
»Und nun tauche ich die ganze Kammer in ultraviolettes Licht —«
Finster ward es in dem Raume, stockfinster!
Durch das Doppelglas aber sah Mister Sharp in gelbem Lichte die Hühner, wie sie schnell herumliefen, um die Körner aufzupicken.
Richtete er jedoch das Doppelglas in das Laboratorium hinein, das also schon vorher verfinstert worden war, so konnte er nichts sehen, dieses war nach wie vor in schwarze Finsternis gehüllt.
»Verstehen Sie nun den Unterschied? Hier im Laboratorium ist es finster, weil eben kein Licht vorhanden ist, weder das der Sonne, noch ein künstliches. In jener Kammer aber ist ein Licht, das nur für unsere menschlichen Augen nicht sichtbar ist.«
Auch der alte Herr mit dem weißen Vollbarte hatte sein eigenes Doppelglas bekommen und mehrmals durchgeblickt.
»Dies war nun erst die Anleitung zu den folgenden Experimenten, die aber —«
Black Swinton kam nicht weiter, denn plötzlich ertönte eine furchtbare Detonation, dass alle Felswände erzitterten, wankten!
Sie wiederholte sich nicht, alles war wieder still.
Mister Sharp eilte zurück nach jenem Zimmer.
Der Prinz befand sich nicht mehr darin, auch Deasy war nicht mehr zu sehen.
Jedenfalls hatte der Prinz sie mitgenommen.
Ein leises, kratzendes Geräusch, ein Bröckeln von Steinen, und in der Finsternis tauchte ein Lichtchen auf. Es verbreiterte sich zu einem Blendstrahl, der die nackten Felswände eines Tunnels beleuchtete.
Es war der Gang, der einerseits in den Hafen führte, anderseits nach jenem Saale, in dem Deasy die versammelten Assassinen beobachtet hatte.
Jetzt hätte ein Beobachter auch erkennen können, dass es der Prinz selbst war, der den Blendstrahl umherschweifen ließ.
Er kroch aus der Öffnung am Boden hervor, eben groß genug, um einen stark gebauten Mann durchzulassen, ein kupferroter Kopf mit Skalplocke folgte, einer nach dem anderen der Cowboys und Indianer, dann noch andere Männer genug, zuletzt wohl auch noch gegen fünfzig, denen man gleich ansah, dass sie zur arabischem Rasse gehörten.
Der Prinz wartete nicht, bis sie alle hervorgekrochen waren.
»Vorwärts! So lautlos wie möglich!«
Er erreichte die Treppe, eilte sie hinauf, bis ihm die Felswand Halt gebot.
»Sind alle da?«
Der letzte hatte das Bodenloch verlassen, mehr als hundert bis an die Zähne bewaffnete Männer standen hinter ihm.
Aber das hellsehende Kind war nicht mitgenommen worden, das hätte jetzt an dem Plan nichts mehr ändern können.
Befanden sich die Assassinen noch hinter dieser Türe?
Es war ganz gleichgültig, so oder so, geöffnet musste sie doch werden.
Des Prinzen Hände tasteten an der Felsenwand, sie fanden den Mechanismus und wussten ihn zu gebrauchen.
Zurück wich die Tür.
Da standen noch immer einige Hundert Araber zusammen, um einen Mann geschart, dessen Worten sie lauschten.
»Es ist nicht nötig, dass sich einer von uns opfert. Nur diejenigen, die sich uns nicht anschließen konnten, sind natürlich dem Tode verfallen. Wir setzen die überall verteilten Pulverhaufen gleichzeitig durch einen elektrischen Funken in Brand — in Brand, nicht dass sie explodieren dürfen — das Pulver muss etwas angefeuchtet werden, damit die Giftmischung ruhig zum Glimmen kommen kann und langsam einen an sich schon erstickenden Qualm entwickelt, die Ventilationsröhren im Riffhause sind offen und so gelegt, dass der Wind den giftigen Rauch immer tiefer in das Höhlenlabyrinth treibt, nichts Lebendiges kann bestehen bleiben, nur wir selbst müssen uns rechtzeitig nach oben —«
»Feuer!!«
Gleichzeitig mit des Prinzen Doppelbüchse krachte noch eine Salve von mehr als hundert Schüssen.
Und wie sie krachte, hier zwischen diesen Felswänden!
Es klang, als ob das ganze Felseneiland mit all seinen mysteriösen Geheimnissen in die Luft gesprengt worden wäre.
Das war die furchtbare Detonation gewesen, welche jene gehört hatten, nichts weiter. Die Felswände pflanzten den Schall fort.
Eine weitere Salve folgte nicht, kein einziger Schuss.
Ein gellendes Geheul, und wer nicht getroffen worden war, der stürzte den zahlreichen Ausgängen zu, die dieser Saal besaß.
Es war noch weit über die Hälfte der Assassinen, die so das Freie gewinnen wollten, ohne zunächst an einen Gebrauch ihrer Waffen zu denken.
In wahnsinniger Flucht stürmten sie dahin, nur darauf bedacht, ihr Leben in Sicherheit zu bringen.
Und die Angreifer eilten ihnen nach, wobei sie mit Gewehrkolben, Tomahawk und Messer alles niederschlugen und niedermachten, was noch zu erreichen war.
Und dann verstärkte sich das ununterbrochene Geheul nochmals auf fürchterliche Weise.
Die flüchtenden Assassinen waren in die Falle gerannt, die ihnen draußen die zum Besuche anwesenden Saladinen gestellt hatten. Kein Schuss fiel mehr, es war nur noch ein Abschlachten.
Ein Strafgericht war über die Assassinen hereingebrochen, wie es schrecklicher nicht gedacht werden konnte. Die Einzelheiten dieses Vernichtungskampfes zu schildern sträubt sich die Feder.
Wenige Minuten später eilte der Prinz, immer einige Stufen überspringend, die endlosen Treppen hinauf, welche auf das Plateau des Riffhauses führten, ihm nach einige andere seiner Getreuen, die der Prinz aber immer mehr hinter sich ließ.
Denn verschiedene der Sträflinge hatten diesen Fluchtweg nach oben genommen, was aber leider doch etwas zu spät bemerkt worden war.
Und dann hatte man zuerst die Fahrstühle benutzen wollen, um jenen zuvorzukommen, aber bemerken müssen, dass die sämtlichen Liftzüge versagten.
Nun galt es, den Flüchtlingen so schnell zu folgen, ihnen noch so dicht auf die Hacken zu kommen, dass sie sich nicht erst oben verschanzen und verteidigen, dass sie sich überhaupt gar nicht mehr umdrehen konnten, ohne auf der Stelle niedergeschlagen zu werden.
Der Prinz war also der erste, der den Flüchtlingen eilends nachsetzte.
Wie viele es waren, die vor ihm rannten, davon hatte er keine Ahnung.
Als er den letzten erreichte und ihn mit dem Kolben seines Gewehres niederschmetterte, sah er noch drei andere vor sich laufen, da aber musste er fast schon das Plateau erreicht haben.
Wenigstens sah er dort oben am Ende der Treppe eine Öffnung, durch die helles Licht fiel, sah sogar schon den blauen Himmel.
Soeben schwang sich der letzte dieser Flüchtlinge durch die Falltür.
Gerade wie der Prinz sie erreichte, schmetterte sie nieder, eine Steinplatte.
Aber schon hatte der Prinz seinen Gewehrlauf dazwischen geschoben, die Läufe wurden platt zusammengequetscht, doch ihre Pflicht hatten sie getan, ein Stemmen der Schultern, ein Ruck, und die Steinplatte flog wieder zurück.
Er schwang sich hinauf, stand wirklich im Freien, auf dem Plateau des Seefelsens!
Bisher hatte er keinen Gebrauch von seinen Schusswaffen gemacht, in der Hoffnung, dass die Niedergeschmetterten noch lebendig in die Hände der ihm nachfolgenden Männer fielen.
Jetzt aber, wie er hinaufsprang, zog er, die nutzlos gewordene Büchse fallen lassend, seinen Revolver.
Er benutzte ihn nicht.
Wie erstarrt stand er da. Kaum glaubte er, seinen Augen trauen zu dürfen, denn das Bild, welches sich in diesem Augenblick seinen Augen bot, war ein ihm gänzlich unerwartetes.
Da lag dort, in der Mitte des Plateaus, ein hausähnlicher Kasten, und darüber stand in der Luft eine riesenhafte Kugel.
Der Ballon, in dessen Gondel er hierher gekommen!
Die Assassinen hatten schon alles klar zur Abfahrt gemacht, mussten es natürlich schon längst vorbereitet haben.
Wenigstens einige von ihnen hatten diese für sie sehr wichtige Arbeit verrichtet.
Zweifellos lag hier doch ein Verrat vor, nur einige von ihnen hatten den Ballon zur Flucht von hier benutzen wollen, hatten mit dem Ballon umzugehen verstanden, hatten ihn und die Gondel nach oben zu bringen gewusst.
Soeben eilte der letzte der Flüchtlinge auf die offene Tür der Gondel zu.
Noch drei Sätze hatte er zu machen, der Prinz hätte ihn noch mit dem Revolver niederknallen und ihm so die Verwirklichung seines Vorhabens zur Unmöglichkeit machen können.
Aber er schoss nicht.
Und was war der Grund dieser Unentschlossenheit?
»Onkel, Onkel!«, erklang es da aus dieser offenen Tür heraus.
Das war es gewesen, was den starken Mann plötzlich in eine Bildsäule verwandelt hatte, diese Stimme!
Deasys Stimme!
Und da hob sich schon der Ballon und nahm die Gondel mit, ein ziemlich starker Wind entführte ihn nach Süden.
»Deasy, um Gottes willen, Deasy!«, schrie der Prinz entsetzt.
Jetzt kam Leben in ihn, er raste hin, um die noch offene Tür zu erreichen.
Zu spät — dort trieb soeben der Ballon nach Süden hin!
Und es blieb nicht nur bei dem Kinde.
Jetzt tauchte an dem offenen Fenster eine weibliche Gestalt auf — Mistress Allan! Hohnlachend winkte sie zurück.
»Auf Wiedersehen, mein Prinz, mein Geliebter! Deasy wird uns doch noch für immer verbinden, und diesmal werde ich die Bedingungen stellen!«
Noch einmal hob der Prinz den Revolver, er wäre zu allem fähig gewesen. Aber vorsichtigerweise war Isabel schnell wieder vom Fenster verschwunden, dieses selbst wurde geschlossen.
»Wehe, wehe, sie hat Deasy entführt, das Böse hat gesiegt!«, schrie der Prinz außer sich.
»Mitnichten, das Böse kann überhaupt niemals siegen«, sagte da neben dem Prinzen eine tiefe Stimme.
Er fuhr herum und sah einen alten, weißbärtigen Mann im Burnus stehen, der die ganze Szene mit aller Ruhe beobachtete.
»Mahatma Faringa, hole den Ballon zurück, Du hast die Macht dazu, ich weiß es!«, schrie der Prinz, noch immer außer sich, dabei eine Bewegung machend, als wolle er den Alten packen, wenn er es auch nicht tat.
»Nein, lass dem Schicksal seinen Lauf«, lautete die ruhige Entgegnung, »es ist nichts weiter als ein vorübergehender Schatten, der einmal zwischen Dich und Deine Sonne getreten ist, und bald wirst Du sie in ungetrübtem Glanze wiedersehen. Komm, mein Sohn, folge mir hinab, ich habe mit Dir zu sprechen.«
Immer schneller war der Ballon, von einem starken Winde erfasst, nach Süden getrieben worden, schon glich er nur noch einem Punkte mit einem kleinen Viereck darunter.
Noch einmal schien der Prinz fast zusammenbrechen zu wollen, dann raffte er sich auf und folgte dem alten Manne.
In einem Bibliothekszimmer sehen wir einen Mann, den wir schon lange aus den Augen verloren haben. Es war Almansor, der an dem Schreibtisch saß, gekleidet, wie er sich gewöhnlich im modernen Leben trug, im schwarzen, eng anliegenden, sogenannten griechischen Gehrock mit noch engeren Beinkleidern, auf dem Kopfe den roten Fez.
Noch konnte der Kampf mit den ausgebrochenen Sträflingen nicht ganz beendet sein, es wurde wohl noch auf solche gepirscht, die sich versteckt hielten, ab und zu pflanzte sich in den Felswänden noch der dumpfe Knall eines Schusses fort, aber Almansor saß so ruhig über eine schriftliche Arbeit gebeugt, als ginge ihn dies alles gar nichts an, hier in der Stille seines Studierzimmers.
Und ebenso gefasst war auch wieder der Prinz, als er eintrat, nur durch ein Klingelzeichen angemeldet. Die Unterredung, die er mit dem Alten gehabt, den er Mahatma Faringa genannt hatte, konnte nicht lange gewährt haben. Aber seine Ruhe hatte er dadurch vollkommen wiedererhalten.
Almansor erhob sich und kam ihm höflich entgegen, und es war sofort ersichtlich, dass sich die beiden jetzt nicht etwa nach langer Trennung zum ersten Male wieder begegneten, sie mussten schon immer hier miteinander verkehrt haben.
»Mahatma schickt mich zu Ihnen, Sie sollen mir weitere Instruktionen geben, dort fortfahren, wo er aufgehört hat.«
»Ich bin schon benachrichtigt und habe Sie erwartet, mein Prinz, habe überhaupt für diese Unterredung schon lange Vorbereitungen getroffen. Nehmen wir Platz, machen wir es uns gemütlich.«
Eine einladende Handbewegung, und sie setzten sich an ein orientalisches, prächtiges Rauchtischchen, auf dem gelber Tabak, Zigarren und Zigaretten handbereit lagen, während unten eine Stellage die kostbarsten Pfeifen enthielt. Eine solche nahm denn auch der Prinz, stopfte und entzündete sie, während sich Almansor eine Zigarette anbrannte. Ein Diener servierte duftenden Mokka.
Über den entflohenen Ballon, Mistress Allan und Deasy wurde vorläufig so wenig gesprochen wie über den Kampf mit den Assassinen, das schien schon in des Prinzen erster Unterredung mit dem Alten erledigt worden zu sein, er sollte jetzt anderes zu hören bekommen.
»Können Sie sich erinnern, mein Prinz«, eröffnete Almansor das Gespräch, das der hin und her gehende Diener anhören durfte, »wie ich Ihnen damals im Geistergebirge am Birket el Kerun zum ersten Male begegnete?
»Gewiss kann ich mich noch erinnern, wenn unsere allererste Begegnung auch schon vor sechs Jahren in Paris stattgefunden hat, als ich den Chaldäer Chebrazzim aufgesucht und mit ihm das grausige Erlebnis gehabt hatte.«
»Richtig, aber unsere erste richtige Bekanntschaft fand doch in Ägypten statt. In jener unserer nächtlichen Unterredung, als ich Ihnen die Geheimnisse des Megalis el Hiemit offenbarte, des Hauses der Weisheit, wenigstens andeutungsweise, so weit ich durfte, erklärten Sie sich bereit, versuchsweise in die Dienste unseres Geheimbundes zu treten.«
»Ich tat es, ich schwor Ihnen für eine gewisse Zeit unbedingten Gehorsam zu, ich bestand meine Prüfungszeit, wurde als regelrechter Lehrling aufgenommen. Schon da gab es für mich nun kein Zurück mehr, ich bestand auch die Prüfung eines Fedawi, eines Gesellen, wie ich mich modern ausdrücken will.«
»Sind Sie immer zufrieden gewesen mit den Belohnungen, die Ihnen für Ihren Gehorsam wurden?«
»Ich war es, trotz aller schweren Prüfungen, körperlichen und wohl auch seelischen Leiden, die mir manchmal auferlegt wurden, ich war immer zufrieden, fühlte mich sogar glücklich — bis nun wieder auf diesen letzten Fall. Doch ich glaube der Versicherung des Mahatmas, dass auch diese Prüfung an mir vorübergehen wird, dass ich Deasy wiederfinden werde.«
»Wenn Sie erst Meister sind, so können Sie auch das Schicksal bemeistern, und Sie werden fernerhin ein ungetrübtes Glück genießen.«
»Und die Meisterprüfung soll mir jetzt auferlegt werden, deshalb soll ich mich bei Ihnen melden.«
»So ist es. Kommen wir nun zur Sache. In Ägypten hat Ihre Lehrlingszeit begonnen, und in Ägypten sollen Sie auch Ihre Meisterprüfung ablegen. Sie werden nach Ägypten geschickt. Wissen Sie, mein Prinz, was man unter Ameisengold versteht?«
Das war eine unvermutete Frage.
»Ameisengold?«, wiederholte denn auch der Prinz verwundert. »Nein.«
»Sie haben noch niemals dieses Wort gehört?«
»Nein.«
»Es ist aber ein ganz geläufiger Ausdruck unter den Goldschmieden und Juwelieren, sowohl unter den deutschen wie englischen und französischen, vielleicht auch noch unter denen von andern Nationen. Unter Ameisengold verstehen diese Handwerker ein ganz reines, gediegenes Gold.«
»Das ist mir neu.«
»Es ist erklärlich, weil Sie eben nicht zu dieser Zunft gehören, haben Sie auch nichts davon vernommen. Wenn ich Ihnen aber nun sage, dass es so ist, dass diese Goldarbeiter ganz geläufig unter sich von Ameisengold sprechen — wissen Sie vielleicht, woher dieser Ausdruck kommt?«
Wieder musste der Prinz verneinen.
»Kennen Sie den Herodot?«, fragte Almansor weiter.
»Natürlich kenne ich diesen griechischen Klassiker, den Vater der Geschichte, wie er genannt wird.«
»Haben Sie alle seine umfangreichen Werke gelesen?«
»Hm. Alle? Herodot lag eigentlich außerhalb meiner speziellen Studien. Seine Geschichte der Lyder, Ägypter und Babylonier habe ich gelesen, das weiß ich bestimmt, kann mich noch sehr gut erinnern.«
»Seine Geschichte der Skythen und Inder?«,
»Nein, die der Inder nicht, das muss ich gestehen.«
»Daher wissen Sie auch nicht, woher der Ausdruck Ameisengold kommt, denn sonst würden Sie sich sofort erinnern.
Die Sache ist nun folgende: Im grauen Altertum ging die Sage, in Indien gäbe es am unteren Indus eine große Sandwüste, die unermesslich reich an Gold sei, dieses läge in gar nicht tiefer Schicht unter dem Sande, aber es sei unmöglich, es hervorzuholen. Denn diese Wüste würde von fürchterlichen Ameisen bewohnt, fußlang und entsprechend hoch, mit schrecklichen Beißzangen ausgerüstet, die auch das stärkste Schwert wie einen Zwirnsfaden durchschnitten. und außerdem ehern gepanzert und sogar das Geheimnis verstehend, sich nach Belieben glühend heiß zu machen, sodass ihnen einfach gar nicht beizukommen sei, jeder Kampf mit ihnen aussichtslos.
Diese Ameisen bewachten das Gold aber nicht etwa als einen Schatz, wie es die bekannten Drachen taten, sondern im Gegenteil, sie wollten es beseitigen, es war ihnen bei ihrem Nesterbau im Sande hinderlich, und nur diesem Umstande war es zu verdanken, dass die Menschen von diesem Golde, das an Gediegenheit nicht seinesgleichen fand, ab und zu Nutzen hatten, es erbeuten konnten.
Also den Ameisen waren die schweren Goldkörner bei ihren Tunnelbauten im Sande hinderlich. Sie säuberten den Platz, wo sie bauen wollten, erst von Gold, schafften die großen Goldkörner an bestimmte Plätze, und von dort nun konnten die Menschen sie abholen, in mondlosen Nächten, wenn die Ameisen schliefen, ohne jede Gefahr.
Dies ist die eine Lesart der Sage, wie sie von Herodot berichtet wird.
Dasselbe erzählt auch Strabo, ebenfalls ein griechischer Geograf, 500 Jahre später als Herodot, noch viel ausführlicher, er gibt dem Wesen dieses Goldes aber eine ganz andere Ursache. Ich habe Sie, mein Prinz, nicht erst gefragt, ob Sie dies vielleicht bei Strabo gelesen haben, denn sonst hätten Sie doch gleich davon gesprochen. als ich Sie fragte, ob Sie die Bedeutung des Wortes ›Ameisengold‹ kennen —«
»Ich habe Verschiedenes von Strabo gelesen«, unterbrach der Prinz, »hiervon allerdings nichts.«
»Nun, das ist auch nicht jedermanns Sache, so gründlich sich in diese alten Schriftsteller zu vertiefen, und wohl kaum der hundertste von jenen Goldarbeitern und Juwelieren, die noch heute ganz geläufig, wenn auch nur unter sich, den Zunftausdruck ›Ameisengold‹ gebrauchen, kennen den Ursprung dieses Wortes.
Strabo also wiederholt im Allgemeinen die Erzählung des Herodot, weiß aber noch anderes hinzufügen.
Danach war es nicht Waschgold oder sonstiges natürliches Gold, das dem Wüstensande beigemischt war, sondern die goldenen Körner waren Ameiseneier. Die Ameisen legten goldene Eier, die sich nur im Freien entwickeln konnten. Bei dem Abholen in mondlosen Nächten bleibt auch Strabo. Sobald die haselnussgroßen Eier von Menschenhänden berührt wurden, hörte die Weiterentwicklung auf, auch Eiweiß und Dotter, das doch wohl Ameiseneier besitzen müssen — wir allerdings nennen fälschlicherweise immer die Puppen Ameiseneier, oder es können ja auch Ameisenpuppen gewesen sein, darauf kommt es ja gar nicht an — kurz und gut, auch die innere Masse erstarrte beim Berühren von Menschenhand zu festem Golde, und dabei blieb es. Daher stammte der fabelhafte Reichtum der dort wohnenden Inder.
So weit Herodot und Strabo über diese Sache. Der gute Strabo scheint das Märchen von den goldenem Ameiseneiern, welche der Himmel ausbrüten musste, sogar wirklich geglaubt zu haben.
Nun aber kommt noch ein dritter Berichterstatter, von dem die andere Welt freilich nichts weiß.
Wir besitzen in unserer großen Bibliothek eine uralte chaldäische Handschrift, verfasst von einem gewissen Abranedzar, und dieser erzählt nun Folgendes als vorgebliche Tatsache:
Ums Jahr 1850 vor Christi Geburt — das heißt, wir wollen jetzt die christliche Zeitrechnung zu Grunde legen — herrschte über Ägypten der König Amenemhet, derselbe, der auch das Labyrinth bei Fayum gebaut hat.
Dieser König wollte Verbindung mit dem schätze- und kunstreichen Indien anknüpfen, schickte eine Gesandtschaft hin, unter deren Mitgliedern sich auch jener Chaldäer Abranedzar befand.
Sie erreichten den unteren Indus, und nun erzählt Abranedzar genau dasselbe wie Strabo von den goldenen Ameisen, es scheint fast, als hätte dieser von jenem abgeschrieben, was aber doch nicht der Fall sein kann, sonst hätte er auch gleich alles wiedergegeben, was er eben nicht getan hat.
Also dieser Abranedzar behauptet, er selbst habe die ungeheuren Ameisen am Tage arbeiten sehen und hätte mit geholfen, ihnen bei nächtlicher Weile die goldenen Eier zu rauben, die man freilich an die königliche Schatzkammer abliefern musste, er selbst will an dem ehernen Panzer einer Ameise sein zollstarkes, haarscharfes Schwert vergebens zerhauen haben, hat sich an einer glühend gewordenen Ameise die Finger verbrannt, und dann will er auch gesehen haben, wie so eine Ameise einem seiner Begleiter den Fuß glatt abgebissen hat.
Und einmal hat er auch gesehen, wie die goldenen Eier in der Nacht unter dem Vollmondschein aufplatzten und kleine Ameisen hervorkrochen, freilich auch schon so groß wie Skorpione, und da haben die schlauen Ägypter eine geniale Idee bekommen.
Sie haben sich solcher eben erst ausgekrochenen Ameisenbrut bemächtigt. Was freilich nicht so einfach war, zumal es auch jene Inder nicht wissen durften. Aber sie haben es eben fertig gebracht, haben die kleinen Ameisen mitgenommen, sie unterwegs mit Menschenfleisch gefüttert, wobei die Tierchen auch ganz vortrefflich gediehen.
So haben sie die junge Brut glücklich bis nach Ägypten gebracht, nach Memphis, auf dessen Ruinen später das heutige Kairo aufgebaut wurde.
Die Ameisen entwickelten sich weiter unter guter Pflege, wurden fußlang, wollten aber keine goldenen Eier legen. Weil es eben keine Weibchen, sondern geschlechtslose Arbeiterinnen waren.
Und doch, die eine entwickelte sich immer weiter, wurde ellenlang und fußhoch. Das war sicher eine Königin. Aber Eier legen wollte auch die nicht, aus leicht begreiflichen Gründen.
Da erschien eines Nachts einem berühmten Priester und Magier im Traume eine Ameisensphinx, ein ungeheures Vieh mit schauderhaftem Ameisenleib und holdseligem Mädchenkopf. Und die Ameisensphinx sagte zu dem Priester, sie sei die wahre Ameisenkönigin, welche im Ei geraubt worden sei, und sie habe ja auch die Ägypter sehr, sehr lieb, sie wolle ihnen ja auch so gern goldene Eier legen, aber sie könne beim besten Willen nicht, weil sie dazu doch erst heiraten müsse, und für sie passende Ameisenjünglinge gebe es hier in Ägypten doch nicht.
Aber es gäbe einen Ausweg aus dieser Kalamität.
Der König Amenemhet habe doch einen herrlichen Sohn. Dieser herrliche Kronprinz habe zwar an jeder Hand sechs Finger, aber das geniere sie weiter nicht, und überhaupt, das wäre ja eben das Zeichen, dass er zum Ameisenprinzgemahl prädestiniert sei.
Den wolle sie heiraten. Dann könne sie auch fleißig goldene Eier legen, die man ihr auch ruhig nehmen dürfe. Man solle ihr dort und dort ein einer Ameisenkönigin entsprechendes Wohnhaus bauen, einen Palast, einen Tempel. Dort solle die Hochzeit unter den und den Zeremonien vollzogen werden. Dann würde sie den Herrn Gemahl vor lauter Liebe allerdings auffressen, aber das mache doch nichts weiter aus, wenn die Eierlegerei nur erst einmal eingeleitet sei, dann hätten die Ägypter goldene Eier immer in Hülle und Fülle. Dafür würde man ihr doch auch alljährlich an ihrem Hochzeitstage ein Dutzend der schönsten Jünglinge opfern.
So hatte die Ameisensphinx gesprochen und verschwand, der Priester erwachte. Gut, die Sache wurde gemacht. An bestimmter Stelle wurde der Tempel vorschriftsmäßig gebaut, die Hochzeit gehalten, alle Zeremonien wurden beobachtet, die meterlange Ameisenkönigin, die im gewöhnlichen Leben nur keinen Menschenkopf hatte, fraß den zwölffingrigen Kronprinzen vor lauter Liebe auf, und seitdem hatten die Ägypter immer goldene Eier von Haselnussgröße in Hülle und Fülle.«
Der Erzähler, der manchmal sehr humoristisch geworden war, machte eine Pause und brannte sich eine neue Zigarette an.
»Haben Sie, mein Prinz«, nahm er dann wieder das Wort, »schon einmal gehört, dass die alten Ägypter den Ameisen göttliche Verehrung gezollt haben?«
»Nein, niemals.«
»Ich auch nicht. Obgleich ich doch selbst ein Ägypter bin. Und auch der größte Ägyptologe und kein anderer Mensch wird Ihnen etwas davon erzählen können, dass die alten Ägypter Ameisen irgend welcher Art göttlich verehrt hätten. Mit Ausnahme — doch ich will nicht vorgreifen.
Nein! Die alten Ägypter haben die verschiedensten Tiere angebetet, die Kuh, das Krokodil, die Katze, das Ichneumon und noch viele andere, aber von einer Verehrung der Ameise ist absolut nichts bekannt.
Und doch beruht der Bericht dieses Chaldäers Abranedzar auf Tatsache. Das heißt, soweit es das Anbeten der Ameise betrifft. Es hat bei Memphis einen Ameisentempel gegeben, mit eigenen Priestern, die alljährlich den heiligen Insekten zwölf schöne Jünglinge opferten, das heißt, sie von den Ameisen auffressen ließen.
Die Sache ist die, dass schon damals dieser Ameisenkult ganz geheim gehalten wurde. Nämlich deshalb, weil er mit in die Mysterien des Ehelebens übergriff. Die Ameise galt den allen Ägyptern als Symbol der Fruchtbarkeit, des Kindersegens. Wohl wegen der Sorgfalt, die sie ihrer Brut widmet. Überhaupt erfuhr von diesem ganzen Ameisenkult nur eine bevorzugte Kaste. Das heißt, nur die reichsten Leute konnten es sich leisten, in dem Ameisentempel um Kindersegen zu flehen. Einfach weil die Erhörung mit reichen Geschenken verknüpft war. Man musste Gold bringen. Daher erklären sich auch die goldenen Eier, welche diese heilige Ameisenkönigin legen sollte.
So geheim musste die ganze Sache gehalten werden, dass die Wallfahrer auch nur des Nachts nach dem Tempel pilgern durften, dieser war unter der Erde angelegt oder in einem Felsen eingehauen, mit unterirdischem Zugang, der letzte Weg wurde mit verbundenen Augen zurückgelegt.
Woher wir dies nun wissen?
In unserer Bibliothek hat sich noch ein anderes Manuskript gefunden, ein arabisches.
Im Jahre 638 nach Christi ist, wie Ihnen vielleicht bekannt, Amru, der Feldherr des Kalifen Omar, erobernd in Ägypten eingebrochen, das damals unter byzantinischer Herrschaft stand.
Amru war von der Beute, die er in Kairo machte, höchst unbefriedigt. Die Einwohner hatten ihre Schätze schon in Sicherheit gebracht. Aber solche mussten noch immer vorhanden sein, besonders Tempelschätze. Es wurde gefoltert. Und da gestand ein Priester, dass es Gold noch massenhaft gebe, allerdings nicht mehr in den gewöhnlichen Tempeln, wohl aber im Ameisentempel.
So kam dieser geheime Kult ans Tageslicht. Also auch noch unter byzantinischer Herrschaft war er in Ägypten getrieben worden, von Kopten, den Nachkommen der alten Ägypter, so weit diese nicht schon christlich geworden waren.
Der Priester hat Amru und seine Begleitung auch hingeführt nach dem Haikal el remlat, wie dieser Ameisentempel nun schon auf Arabisch genannt wurde.
Auch jener Verfasser der Handschrift war dabei, ein Unterfeldherr, ein Hauptmann will ich sagen, namens Soliman ebn Sulla.
Und dieser Soliman beschreibt nun ganz genau den heiligen Ameisentempel, die herrlichen Skulpturen, die er enthalten, und dann vor allen Dingen die massenhaften Goldschätze, welche die kinderlosen Ehepaare, die dorthin gewallfahrt waren, angehäuft hatten, nur zum Teil in kleine und große bis zu riesenhaften Ameisensphinxe verwandelt, welche den Tempel schmückten.
Von diesen goldenen Schätzen hat der biedere Amru natürlich nichts zurückgelassen, er hat alles davongeschleppt, und die größeren Goldstatuen hat er gleich an Ort und Stelle in Stücke zerhackt, einmal wegen des bequemeren Transports und dann auch noch aus einem besonderen Grunde.
Der Ameisenkult in Ägypten war auch unter byzantinischer Herrschaft noch ganz geheim, ja geheimer denn zuvor. Wehe, wer auch nur eine Andeutung davon gemacht hätte. Soweit überhaupt jemand davon wusste. Und Amru hatte erfahren, was es bedeutete, wenn es bekannt würde, dass er den heiligen Ameisentempel geplündert hatte. Er wäre unter allen Umständen unter den Dolchen der fanatischen Priester gefallen, während diese sich sonst um die Politik gar nicht kümmerten.
Also Amru sorgte dafür, dass von seiner Tat nichts bekannt wurde. Nachdem er das Gold in Sicherheit gebracht, hat er seine ganze Begleitmannschaft, die ihm dabei behilflich gewesen, einfach vom Leben zum Tode befördert, hat sie wohl bei einem Gastmahl vergiftet.
Nur seinen Hauptmann, den Soliman ebn Sulla, hat er am Leben gelassen, weil er ihn noch brauchte. Aber der wusste schon, was ihm doch noch bevorstand, auch er musste noch daran glauben, und da hat er dieses Geschehnis und die ganze Sache mit dem Ameisentempel schriftlich niedergelegt, aus Rache, weil sich unter den Ermordeten seine besten Freunde befanden.
Seinen Zweck hat dieses Manuskript allerdings nicht erreicht. Es kam nicht in die Hände, für die es bestimmt gewesen, es ging verloren und ist dann nach fast fünfzehn- oder doch vierzehnhundert Jahren in unserer Bibliothek wieder aufgetaucht.
Nun ist uns sehr, sehr viel daran gelegen, diesen Ameisentempel wiederzufinden. Der arabische Hauptmann hatte nämlich auf eigene Faust unter der Erde weitergespürt und eine Entdeckung gemacht, die er dem Amru vorenthielt. Auf geheimen Gängen drang er noch tiefer unter den Tempel und stieß auf einen Saal, ganz gefüllt mit Mumien. Das waren die einbalsamierten Leichen jener Jünglinge, die, alljährlich zwölf, den Ameisen geopfert, von ihnen natürlich nicht gefressen wurden, da ja überhaupt gar keine lebendigen Ameisen vorhanden waren. Die Jünglinge fanden eben anderweitig ihren Tod und wurden hier als Mumien aufgestapelt.
Alle diese Leichen waren reich mit Gold behangen, auf welches es der biedere Hauptmann eben für sich selbst abgesehen hatte. Außerdem aber war dort unten auch die Tempelbibliothek, lauter Papyrusrollen, welche die ganze Chronik des Tempels enthielten.
Soliman hat das Gold nicht mehr abholen können, er ist jedenfalls von Amru vorher ebenfalls getötet worden. Uns ist es nicht um den goldenen Schmuck zu tun, sondern um jene Papyrusrollen, aus historischem Interesse und dann noch aus einem andern Grunde, den ich jetzt Ihnen gegenüber noch nicht erwähnen darf.
Wo liegt denn nun dieser Ameisentempel der noch ganz wohl erhalten sein muss?
Soliman ebn Sulla hat den Weg ganz genau beschrieben, mit allen Merkzeichen, nach denen man sich zu richten hat.
Allein diese Beschreibung ist heute nicht mehr gültig. In diesen vierzehnhundert Jahren haben in Ägypten mehrere Erdbeben stattgefunden, mindestens sind starke Erdstöße verspürt worden, gerade in der arabischen Wüste haben sich ganze Felsen und Berge verschoben — kurz, die Linien, welche man zwischen den einzelnen Merkmalen ziehen muss, stimmen nicht mehr.
Wenigstens dreißig Jahre lang haben wir uns vergebens bemüht, diesen Ameisentempel zu finden. Es ist uns nicht gelungen.
Sie wissen, mein Prinz, dass wir noch andere Mittel besitzen als die auf dieser irdischen Bewusstseinsebene liegenden, um solch ein Ziel zu erreichen. Wir haben geistige Kräfte zu Hilfe genommen, wir haben Schicksal und Zukunft befragt.
Aber Sie wissen auch, dass man so etwas nicht direkt zwingen kann.
Wir sind immer und immer wieder von unseren Sehern auf einen bestimmten Termin vertröstet worden, an dem sich betreffs dieses Ameisentempels der Schleier der Zukunft lüften soll, und da war nun nichts dagegen zu machen, wir mussten uns gedulden.
Jetzt aber ist dieser Termin gekommen. Und das Horoskop deutet auf keinen andern als auf Sie. Sie sollen derjenige sein, der für uns den Ameisentempel findet und uns die Manuskripte verschafft. Doch der Mensch ist frei, trotz aller Schicksalsbestimmungen, wir können Sie nicht dazu zwingen, diesen Auftrag auszuführen.«
»Selbstverständlich bin ich bereit dazu«, sagte der Prinz.
»Gut. Zur Belohnung dafür werden Sie dann zum Meister ernannt. Um eine eigentliche Prüfung handelt es sich dabei also gar nicht. Oder vielleicht können Sie dabei doch besondere Schwierigkeiten zu überwinden haben, was ich aber selbst noch nicht weiß, das muss erst noch geklärt werden.
Nun hören Sie weiter, mein Prinz, wie eigentümlich sich die ganze Sache entwickeln wird.
Wir kennen nur so ungefähr die Lage dieses Ameisentempels, vierzig bis fünfzig Kilometer östlich von Kairo gelegen, mehr wissen wir auch jetzt noch nicht und werden auch nicht mehr erfahren.
Ihre Sache ist es, diese Lage weiter auszuspionieren, und zwar auf folgende Weise:
Es gibt, wie uns die Seher nun bestimmt versichert haben, nur einen einzigen Menschen auf der Erde, welcher imstande ist, den verschollenen Ameisentempel direkt zu finden, indem er die Kenntnis über den Weg dorthin aus neuerer Zeit hat, ohne selbst schon dort gewesen zu sein.
Die Vorgeschichte ist folgende:
Im Jahre 1867 schickte die englische Regierung für 500 000 Pfund Sterling gemünztes Gold nach ihren australischen Kolonien, nach Sydney.
Der Suezkanal war damals schon im Bau, aber noch nicht eröffnet.
Sie wissen wohl, dass die schnellste Postroute von England nach Indien und China und Australien schon bis dahin längst über Suez ging, natürlich nicht immer auf dem Wasserwege.
Mit dem Dampfer nach Alexandrien, nach Kairo mit der Eisenbahn, von hier auf dem Karawanenwege nach Suez, hier kam die Post wieder aufs Schiff.
Diesen schnellsten Weg sollte auch das gemünzte Gold im Gewicht von rund hundert Zentnern nehmen, und so geschah es.
In Kairo wurde das Gold auf fünfundzwanzig Kamele verpackt; es ging durch die Wüste nach Suez, begleitet von einer Kompanie englischer und eingeborener Soldaten.
Am l6. Oktober nachts um drei Uhr ist die Karawane von Kairo aufgebrochen. Spätestens am 19. Oktober hätte sie in Suez eintreffen müssen. Sie hat ihr Ziel nicht erreicht, sie verschwand, keines der Karawanenmitglieder ist je wieder gesehen worden.
Haben Sie, mein Prinz, von dem Verschwinden dieser Goldkarawane im Jahre 1867 gehört?«
»Ich war ja damals noch gar nicht geboren«, lächelte der Prinz.
»Sie hätten doch später einmal etwas davon hören oder lesen können.«
»Nein, nie.«
»Es ist begreiflich. Fünfmalhunderttausend Pfund Sterling — zehn Millionen Schilling — hundert Zentner Gold — das klingt sehr viel, aber für England hat das ja gar nichts weiter zu bedeuten. England hat fremden Regierungen noch ganz andere Summen gepumpt, hat sie für immer verloren, ohne mit einer Wimper zu zucken — denn durch ein anderes Geschäftchen werden solche Summen doppelt und dreifach verdient.
Natürlich ließ man die Sache nicht so einfach auf sich beruhen. Man forschte gar emsig nach dem Verbleib der Karawane. Aber dass sie etwa tot in der Wüste lag, daran war gar nicht zu denken. Die ganze Kompanie war mit dem Golde einfach durch die Lappen gegangen. Wohin? Südwärts nach dem Sudan? Nein, die Sache lag noch viel einfacher. Jetzt erinnerte man sich, von einem Dampfer gehört zu haben, der damals im Roten Meere recht zwecklos an der ägyptischen Küste herumgekreuzt war. Dessen Kapitän war im Bunde gewesen. Aber es gelang nicht, den Namen dieses jetzt verschwundenen Dampfers festzustellen.
Dann kamen die Schwierigkeiten mit Mehemed Ali dazwischen, der seine 20 000 Arbeiter vom Bau des Suezkanals zurückziehen wollte, dann die Eröffnung des Kanals, dann der deutschfranzösische Krieg, wobei England doch auch immer lauernd hinter den Kulissen lag — so wurde die ganze Sache mit dem verschwundenen Golde vergessen und nie wieder aufgefrischt.
Wo ist nun die Karawane mit dem Golde geblieben?
Unsere Seher haben darüber vollkommene Auskunft geben können.
In der zur Begleitung bestimmten Kompanie hat tatsächlich von vornherein ein Komplott bestanden, das Gold zu stehlen, aber mit dem Weitertransport auf einem Dampfer war noch nicht gerechnet worden, und innerhalb dieses Diebeskomplotts sollte noch ein zweites entstehen, wie der ganze Plan überhaupt von einem Manne ausging, der gar nicht zu der Begleitwache gehörte.
Es lebte damals in Ägypten und speziell in Kairo ein englischer Abenteurer namens Ned Carpenter, der eine zweifelhafte Existenz führte, immer nach vergessenen Gräbern forschte, um Goldschmuck zu finden, hauptsächlich aber wohl Mumien. Es war ein heruntergekommener Apotheker, der sich mit dem Gift beschäftigte, mit dem die alten Ägypter die Mumien infizierten, um sie gegen Insektenfraß und überhaupt gegen Verwesung zu schützen. Dieses Gift wusste der Apotheker auszuziehen und trieb einen schwunghaften Handel damit, zu einem verbrecherischen Zwecke, der hier nicht weiter erörtert zu werden braucht. Oder diese Sache befand sich überhaupt erst im Anfangsstadium. Jedenfalls war dieser Ned Carpenter ein menschliches Scheusal erster Klasse, und für uns ist die Hauptsache, dass der Gräberforscher die ganze Umgegend Kairos bis nach Suez hin wie seine Hosentasche kannte.
Der heckte den ganzen Plan aus, der freilich ja auch sehr nahe lag, bearbeitete die als Begleitung bestimmte Kompanie, suchte sich natürlich vorsichtig seine Leute aus, bei denen er auch nur zu willige Ohren fand.
Aber er als Privatmann konnte sich der Militärkarawane nicht anschließen. Nun, so ließ er sich auf halbem Wege einfach in der Wüste halb verschmachtet finden. Zurück durfte niemand, so musste er wohl oder übel mitgenommen werden.
Gleich im ersten Nachtlager wurde der teuflische Plan ausgeführt. Es waren rund zweihundert Soldaten, vierzig befanden sich im Komplott, darunter auch ein Offizier. Sie haben den andern hundertundsechzig Mann Gift in dem Abendtee beigebracht, das ihnen Carpenter gegeben. In einer halben Minute war alles tot.
Es wurde sofort wieder aufgebrochen, um das Gold zu verstecken. So war Carpenters Plan, dem die andern beistimmten. Wohin die Räuber dann einstweilen verschwinden wollten, um erst später das Gold abzuholen, das zu erörtern ist hier nicht am Platze, jedenfalls waren sie alle mit Carpenters Plan einverstanden, hatten sich von dem schlauen Abenteurer überreden lassen.
Ned Carpenter hatte auf seinen Streiftouren im Dschebel Mokattam schon früher den Ameisentempel entdeckt, der einzige Mensch damals, der nach vierhundert Jahren seine Lage kannte und ihn betreten hatte. Die Mumienkammer mit der Bibliothek war ihm allerdings noch unbekannt.
Diesen unterirdischen Tempel hielt er für das sicherste Versteck, dorthin geleitete er die vierzig Spießgesellen noch in derselben Nacht, die Toten wurden auf ihren Tieren festgebunden.
Sie kamen an. Carpenter konnte den andern in der finsteren Nacht gut vorreden, dass jeder von ihnen das Versteck ganz leicht wiederfinden könne, morgen am hellen Tage würden sie es schon sehen, die hundert Zentner Gold wurden in dem Tempel untergebracht. Auf eine ganz eigentümliche Weise, wie ich Ihnen später schildern werde.
Das war für die vierzig Mann doch eine schwere Arbeit gewesen, auch die 160 toten Menschen und ihre nun gleichfalls vergifteten Pferde und Kamele hatten verschwinden müssen — die Soldaten brauten sich am frühen Morgen zur Stärkung eine Tasse Kaffee.
Es liegt ja nun klar auf der Hand, dass diese Mordbuben bei dem Kaffeekochen sehr vorsichtig waren. Einer traute doch dem andern nicht mehr, am allerwenigsten dem Hauptgiftmischer, dem Ned Carpenter. Aber es half ihnen alles nichts, dass sie den von dem Kaffee aus dem gemeinsamen Kessel erst eine gute Portion trinken ließen, sie ahnten nicht, dass der Apotheker für sein Gift auch ein Gegenmittel besaß, das er schon eingenommen hatte — er brauchte sich nur einmal zu entfernen und nach einer Minute wiederzukommen, so fand er die zweiundvierzig Spießgesellen schon als Leichen vor.
So, nun war Ned Carpenter alleiniger Besitzer der halben Million Pfund Sterling, und das nennt man auch in England, nach Schilling gerechnet, einen zehnfachen Millionär.
Er kehrte zurück nach Kairo, um sich das Gold nach und nach abzuholen. Die Leichen seiner neuen Opfer, Menschen und Tiere, brauchte er nicht erst zu beseitigen, dass sie nicht gefunden wurden und so auf die Spur führten, er hatte sie gleich in ein günstiges Versteck, in ihr Grab geführt, und Sie, mein Prinz, werden diese Mordgrube wohl auch entdecken.
Er durfte ruhig nach Kairo zurückkehren. Es wusste ja kein Mensch, dass er sich der Karawane angeschlossen hatte. Dafür hatte er gesorgt. Und die es gewusst, die lebten ja nicht mehr.
Aber er sollte die Früchte seiner ungeheuerlichen Tat nicht genießen können. Noch an demselben Tag erreichte ihn die rächende Hand des Schicksals.
Er begegnete in Kairo einem Spießgesellen aus seiner früheren Verbrecherlaufbahn, die er in England hinter sich hatte, der hatte auch noch ein Hühnchen wegen eines treulosen Verrats mit ihm zu rupfen, und Ned Carpenter bediente sich seines erprobten Mittels, um den unbequemen Gesellen loszuwerden: Er ermordete ihn einfach, diesmal nicht mit Gift, sondern im blutigen Handgemenge.
Dabei aber wurde er erwischt. Auch der Getötete war ein Engländer gewesen, der Mörder wurde zur Aburteilung nach England transportiert.
Hier erkannte man in ihm, der natürlich immer unter falschem Namen gesegelt war, einen schon längst Gesuchten, der gar viel auf dem Kerbholz hatte. Zur Hinrichtung reichten zwar alle seine Vergehen nicht aus, auch sein letzter Mord galt nur als Totschlag — er wurde zur lebenslänglichen Arbeit in der Tretmühle verurteilt.
Es war ein noch junger Mann gewesen. Fast fünfundzwanzig Jahre hat er in der Tretmühle ausgehalten oder später bei einer leichteren Arbeit im Zuchthause.
Endlich erlag auch seine eiserne Natur. Und da offenbarte er sein goldenes Geheimnis, das in der arabischen Wüste verborgen lag, im altägyptischen Ameisentempel.
Einem Beamten oder sonst der Öffentlichkeit gab er es freilich nicht preis.
In der letzten Zeit war sein nächtlicher Zellenmitbewohner ein gewisser Tom Miller gewesen, auch so ein schwerer Junge, der wegen zahlreicher Einbrüche zehn Jahre Zuchthaus bekommen hatte.
In der engen Zelle war zwischen den beiden enge Freundschaft entstanden, wie das wohl so kommen mag, und in seinen letzten Stunden offenbarte Ned Carpenter dem andern sein Geheimnis, er konnte ihm auch den Weg zu dem Versteck ganz genau beschreiben. Dann schloss der alte Bösewicht für immer die Augen.
Nun, mein Prinz, werden Sie vielleicht etwas einzuwenden haben.
Wenn unsere Seher dies alles und so ganz genau offenbart haben, weshalb konnten sie nicht auch dieser Beschreibung der Lage und des Weges gelauscht haben, dass sie uns dies mitteilten?
Diese Frage wäre berechtigt.
Aber Sie wissen auch schon aus Erfahrung, wie heikel es oft mit solchen Prophezeiungen und Fernblicken zugeht. Es ist immer die alte Geschichte mit den rätselhaften Aussprüchen der Pythia, immer ist ein Wenn und ein Aber dabei.
Kurz und gut, unsere auf astrale Reisen geschickten Seher haben alles erfahren können, nur nicht die Lage des Ameisentempels, nicht den Weg dorthin, wie ihn Ned Carpenter seinem Freunde mitgeteilt hat.
Das Schicksal hat eben bestimmt, dass jener Tom Miller uns diesen Weg erst zeigen soll, durch persönliche Führung, und daran ist nun einfach nichts zu ändern.
Also wir mussten uns noch gedulden. Denn der Zuchthäusler hatte erst noch einige Jährchen abzusitzen
Jetzt aber ist die Zeit erfüllt.
Tom Miller ist aus dem Zuchthaus entlassen, mit einigen Ersparnissen, ist bereits auf dem Wege nach Ägypten, befindet sich schon auf einem Triestiner Schnelldampfer.
Und nun kommt für uns wieder dasselbe.
Bis nach Alexandrien können ihn unsere Seher auch noch beobachten, weiter aber nicht. Sobald er Ägyptens Boden betritt, hört das Fernsehen auf, dann muss eine persönliche Beobachtung erfolgen. Es ist Schicksalsbestimmung, die sich durch nichts umgehen lässt.
Und weiter hat der Schicksalsspruch gefordert, dass Sie, mein Prinz, derjenige sind, der diesem Tom Miller nachgeht und so den Ameisentempel und die uns so wertvollen Handschriften findet. Nur Sie kommen in Betracht! Sie haben nicht nötig, den Auftrag auszuführen, wir dürfen es Ihnen auch gar nicht übel nehmen — dann aber müssen wir uns wiederum zehn Jahre gedulden, um eine andere Möglichkeit zu haben, den Ameisentempel zu finden.«
»Selbstverständlich bin ich sofort bereit dazu«, konnte der Prinz nur wiederholen.
»Gut. Der Dank wird Ihnen von anderer Seite ausgesprochen. So werden Sie in einem Unterseeboot nach Ägypten gebracht, durch einen unterirdischen Wasserkanal, der vom Roten Meere ausgeht, mitten in die Wüste hinein. Sie werden die Oberfläche durch einen alten, gegenwärtig noch verschütteten Brunnen erreichen.
Zur Gesellschaft können Sie mitnehmen, wen Sie wollen, aber den Boden Ägyptens selbst dürfen Sie nur ganz allein betreten. Sie haben Ihre Mission ohne jede Hilfe auszuführen. Ihre Gesellschafter dürfen das in dem unterirdischen Kanal liegen bleibende kleine Fahrzeug unterdessen nicht verlassen.
Übrigens ist noch einige Zeit dazu, Ihr Erscheinen auf ägyptischem Boden ist an einen bestimmten Termin geknüpft, selbst Ihre Abreise von hier.
Das Weitere, wie Sie dem Tom Miller nachspüren sollen, werden wir dann besprechen.
Jetzt wollen wir erst einmal die in Betracht kommende Gegend in Augenschein nehmen.«
Almansor erhob sich, machte sich an der ganz mit Büchern bedeckten Wand zu schaffen, und über das Bücherregal rollte von der hohen Decke eine weiße Plane herab, unten durch einen Eisenstab beschwert, sodass sie sich straff spannte.
Dann kehrte er zurück, ein Brett mit vielen weißen Knöpfen in der Hand, das durch mehrfache Drähte mit der Wand verbunden war.
Er setzte sich, drückte auf einen der Knöpfe, das Licht verlöschte, dann leuchtete in der Finsternis die weiße Plane auf, und auf ihr erschien eine farbige Zeichnung, die nichts anderes sein konnte als eine geografische Karte.
Der Prinz wusste, wie das hier gehandhabt wurde, es war ihm nichts Neues.
Es war eine Projektion von jenem Riesenglobus. auf dem man die ganze Erde widerspiegeln konnte. Was man nun in Augenschein nehmen wollte, das konnte durch eine besondere Vorrichtung auch anderswo hin als Lichtbild übertragen werden, man konnte die Betrachtung des Globus also auch im stillen Studierzimmer vornehmen, brauchte nicht auf der Riesenkugel herumzuklettern.
Die Karte hatte sich mehrmals verschoben, vergrößert und verkleinert, bis das Lichtbild stand.
Also an eine richtige geografische Karte, wie wir sie kennen, darf man dabei nicht denken. Obgleich wir auch solch eine Darstellungsweise schon haben. Ein wirkliches Bild der Gegend und Landschaft, aus der Vogelperspektive betrachtet, aus einem darüber schwebenden Luftballon. Die Erhöhungen beruhten ja nur auf perspektivischer Täuschung, ließen aber kaum etwas an Wirklichkeit vermissen.
Am linken Rande sah man den Anfang einer Stadt, die größeren Häuser noch deutlich erkennbar, dann eine gelbe Fläche mit dunklen Erhebungen, ab und zu noch ein großes Haus, die kleinen Vierecke waren eben kleinere Gebäude, vielleicht nur Hütten, dann weiter nach rechts bis wieder zum Rande in der gelben Fläche immer höher werdende Erhebungen, welche zum Teil sehr bunt gefärbt waren, hauptsächlich rot und braun.
Da es sich hier um eine reelle Projektion handelte, um ein tatsächliches Spiegelbild eines Teiles der Erde — ein Problem, das über kurz und lang für die ganze Menschheit gelöst sein wird, dann so geläufig wie heute schon das Übertragen der Sprache auf jede Entfernung hin durch das Telefon — hätte man doch eigentlich auch bewegliches Leben sehen müssen, Menschen und Tiere.
Und in der Tat, zwischen den großen und kleinen Vierecken sah man bei genauem Hinschauen sich auch Punkte bewegen. Aber die Projektion war eben doch zu klein, als dass man Lebewesen hätte erkennen können, zumal man ja direkt von oben darauf blickte.
»Gestatten Sie, dass ich Sie examiniere, wir kommen dadurch am schnellsten zum Ziele. Was ist das, was Sie hier erblicken?«
»Nun, das ist der östlichste Stadtteil von Kairo, vom arabischen Viertel, das direkt an die Wüste stößt.
Dort auf der Höhe des Dschebel Mokattam liegt die Zitadelle — ach, und das dort ist nichts anderes als mein Kloster, jetzt wieder unbewohnt! Dann weiter nach rechts geht es nach dem Suezkanal und an das Rote Meer. Es mag ungefähr die Hälfte dieser Strecke sein, die Sie hier projiziert haben.«
»Richtig. Erkennen Sie das lange Tal, welches nach rechts hinläuft, am Dschebel Mokattam beginnend, von zwei Bergwänden eingefasst.«
»Das erkenne ich ganz deutlich.«
»Wie heißt dieses Tal?«
»Wadi Gemeljade.«
»Was bedeutet dieser Name?«
»So viel wie Kamelsfalle.«
»Ist Ihnen bekannt, wie dieser Name entstanden ist?«
»Ei gewiss.«
»Wollen Sie es mir mitteilen. Es könnte ja doch sein, dass ich Sie verbessern oder noch etwas ergänzen muss.«
»Als ums Jahr 1170 der Kalif Nuroddin von Aleppo über die Landenge von Suez erobernd in Ägypten einbrach, verirrte sich auf dem Wege nach der Hauptstadt in der Nacht ein Teil der Heeresmacht, ungefähr tausend Kamelreiter, im Gebirge. Als sie schon weder ein noch aus wussten, erschien ihnen eine Fata, eine Fee, die ihnen lockend winkte, ihnen wohl auch versprach, den rechten Weg zu zeigen, und sie folgten ihr, zumal sie gar so reizend aussah und freundlich sprach.
Aber es war keine Fata gewesen, keine gute Fee, sondern eine Fatesch, eine böse, eine Hexe, und zwar sicher die Gemelfatesch, die es hauptsächlich auf das Verderben von Kamelen abgesehen hat.
Die Reiter sahen sich gar bald in einer endlos langen Schlucht eingeschlossen, aus der sie zwar endlich wieder einen Ausweg fanden, durch den sie aber nicht die Kamele brachten, nicht einmal einen halbverhungerten Esel, dazu war der Ausgang viel zu eng. Nicht einmal ein sehr opulenter Mensch konnte sich durchquetschen, er musste erst eine kleine Hungerkur durchmachen.
Also die tausend Araber brachten ihre Kamele aus der Schlucht nicht wieder heraus, und da man den Tieren nicht von so weit her Wasser und Futter zubringen konnte, zumal in Kriegszeiten, mussten diese elendiglich zu Grunde gehen, verschmachten.
Und dies alles ist bis auf die Fatesch, die ja aber auch ein schlaues Ägypterweib gewesen sein kann, das die Kamelreiter in eine Falle gelockt hat, keine Sage. In diesem 40 Kilometer langen und nur zwei Kilometer breiten Tale, also mehr eine kolossale Schlucht zu nennen, bleichen wirklich massenhaft Kamelsknochen, von denen man nicht weiß, wie ihre Besitzer einst in dieses Tal gekommen sind, da man sonst noch keinen Zugang gefunden hat, durch den, wie gesagt, auch nur ein magerer Esel kommen könnte.
Auf Grund dieser Sage oder Tatsache wird dieses Tal übrigens auch Wadi el Fatesch genannt, das Hexental, welchen Namen man aber aus mohammedanischem Munde wohl nie zu hören bekommt, weil sie ihn gar nicht aussprechen dürfen, dies allein könnte ihnen schon zum Verderben gereichen, die bösen Hexen herbeiziehen.«
»So ist es«, bestätigte Almansor, »Sie sind sehr gut orientiert, ich habe dem gar nichts mehr hinzuzufügen. Sind Sie schon einmal in dem Wadi Gemeljade gewesen?«
»Jawohl, zweimal.«
»Wie sind Sie eingedrungen?«
»Einmal durch die Falle, das ist also jener enge Schluchteneingang, etwa hundert Schritte lang, gleich am Anfange des Mokattam, nicht weit von der Zitadelle entfernt, und das zweite Mal etwas oberhalb der Zitadelle durch eine unterirdische Höhle — oder durch einen ganz engen Tunnel, will ich sagen.«
»Wie weit sind Sie in dem Tale vorgedrungen?«
»Ungefähr bis zur Hälfte, also etwa 20 Kilometer lang.«
»Hatten Sie nicht die Absicht, das ganze Tal zu besichtigen?«
»Eigentlich, ja. Es ist auch sehr lohnend, die Felsenformationen werden immer bizarrer und bunter.«
»Weshalb haben Sie es nicht getan?«
»Ja, geehrter Herr Almansor, das ist eben eine ganz eigentümliche Sache mit diesem Tale. Man sollte es nur lieber gleich Wadi jade el mot nennen, die Falle des Todes. Das wissen Sie ja übrigens am besten, aber Sie wollen nur meine Ansichten hören, ob ich auch in alles eingeweiht bin. Ja, das bin ich.
Das Tal hat noch mehrere Zugänge, aber alle, soweit sie bekannt sind, liegen am westlichen Rande, also in der Nähe Kairos, und kein einziger dieser meist unterirdischen Zugänge ist weit genug, um, immer wieder den Ausdruck gebrauchend, auch nur einen verhungerten Esel durchzulassen. Immer kann sich ein Mensch nur gerade durchquetschen, und da darf er noch nicht sehr korpulent sein.
Wenn man sich also länger in diesem Tale aufhalten will, muss man den Proviant und das Trinkwasser auf seinem eigenen oder auf anderer Menschen Rücken mitnehmen.
Von der Seite her ist kein Wasser zu bekommen, erstens, weil die steilen Felswände, welche das Tal auf beiden Seiten begleiten, so ohne Weiteres nicht zu übersteigen sind, und zweitens, weil es jenseits dieser Wände überhaupt gar kein Wasser gibt.
Zwar ist da der sogenannte Mosesbrunnen. Ja, dieser Brunnen, der mit unserem Moses gar nichts zu tun hat, enthält allerdings Wasser, köstliches Wasser. Aber ein sehr durstiger Mensch kann das nur kleine Loch, nur durch einen überhängenden Felsen vor den Sonnenstrahlen gestützt, auf einmal austrinken, und dann dauert es viele Stunden, ehe es sich wieder gefüllt hat. Außerdem liegt dieser Brunnen auch wieder fast fünfzehn Kilometer seitwärts dieser unersteigbaren Felswände.
Der Mensch atmet, wie unsere Physiologen, zu denen auch ich gehöre, behaupten, unter normalen Verhältnissen täglich zwei Liter Wasser als Dampf aus, braucht also auch mindestens so viel. Muss er anstrengend arbeiten, so muss er mindesten drei Liter Wasser täglich zu sich nehmen.
In sehr heißen und sehr trockenen Gegenden aber, wie in Ägypten, auf Wüstenmärschen, bedarf er täglich unbedingt sechs Liter Wasser, oder er hält es schon am zweiten Tage nicht mehr aus, er kann höchstens noch schleichen, wie auch ich oft genug erfahren habe.
Dieses Tal ist vierzig Kilometer lang. Angenommen, will jemand sein Ende erreichten, muss natürlich auch wieder zurück, danach hat er sich zu verproviantieren, hauptsächlich mit Wasser.
Auf einer unserer modernen Landstraßen kann man ja nun recht gut an einem Tage vierzig Kilometer marschieren, auch noch an einem zweiten Tage.
Aber unter der afrikanischen Sonne und nun gar in der Wüste gibt es so etwas nicht.
Und nun gar in diesem Wadi! Ich habe ja die Hälfte der Strecke zurückgelegt, ich hatte einen erfahrenen Führer mit, der die besten Bodenstellen kannte, und trotzdem sank der Fuß bei jedem Schritt knöcheltief in den Sand ein. Alles feiner Flugsand, in dem man manchmal auch bis ans Knie waten muss, dass man es mit der Angst bekommt, man könnte im Treibsand für immer versinken! Und jener Führer also kannte den besten Weg, den härtesten Boden!
Zwei Tage hin, zwei Tage zurück. Täglich sechs Liter Wasser. Also müsste man vierundzwanzig Liter oder Kilogramm Wasser mitnehmen, wozu nun auch noch das Gewicht des Lederschlauches und von festem Proviant hinzukommt.
Und so mit mindestens einem halben Zentner auf dem Rücken vier Tage lang zu marschieren in diesem Tale, wo die Sonne furchtbar brennt — ich hatte meine Tour im Winter gemacht, im Januar, und doch drohte auch ich, der ich doch etwas gewohnt bin, der Hitze am Mittag zu erliegen, musste den Schatten aufsuchen — ach, daran ist doch gar nicht zu denken!
Oder man muss einige Männer mitnehmen, Wüstensöhne, die an solche Strapazen und an Schluchten gewöhnt sind, die man während dieser vier Tage auf halbe Wasserrationen setzt. Dann ist es möglich. Ich aber wollte wegen meines Spaziergangs, der ja weiter gar keinen Zweck hatte, nicht solch eine barbarische Sklaverei ausüben. Das ist der Grund, weshalb ich das Ende dieses Tales nicht erreichen konnte.«
»Alles stimmt, was Sie da ausgeführt haben«, bestätigte Almansor. »Und nun sagte ich Ihnen, dass der Ameisentempel am östlichen Ende dieses Tales liegt. Das ist uns bekannt, sonst weiter nichts. Und da sich dort das Tal kesselartig erweitert, so ist dort solch ein unterirdisches Bauwerk durch Zufall freilich schwer zu finden.«
»Am Ende des Tales?«, wiederholte der Prinz. »Ja, wie haben es denn da eigentlich jene Pilger gehalten, welche die Ameisenkönigin um Kindersegen anflehten?«
»Da zunächst eine andere Frage: Haben Sie dort die Knochen von Kamelen gesehen?«
»Jawohl, überall sieht man in dem Tale schneeweiß gebleichte Kamelsknochen und Schädel herumliegen.«
»Wie sind denn nun diese Tiere damals in das Tal hineingekommen?«
»Richtig, wie war das möglich? Übrigens gilt das ja auch für diejenigen Tiere, welche unter jenes Carpenters Leitung mit dem Golde und mit den Leichen bepackt eingedrungen sein sollen, um den Ameisentempel zu erreichen, der also noch in diesem Tale liegen soll.«
»Nun, es gibt eben doch noch einen Zugang, der auch für Kamele passierbar ist, und den haben in alten Zeiten auch die Wallfahrer benutzt.«
»Ist Ihnen dieser Zugang bekannt?«
»Nein, den haben unsere Seher nicht ermitteln können, und das Schicksal will es, dass er vorläufig auch noch unbekannt bleiben soll.«
»Aber Carpenter hat ihn gekannt?«
»Ja, sonst hätte er ja die Kamele nicht hineinleiten können.«
»Und er hat ihn seinem Zuchthausfreunde mitgeteilt?«
»Nein, das hat er eben nicht!«,
»Weshalb nicht?«
»Weil dieser Weg unmöglich zu beschreiben gewesen wäre. So muss auch Miller den Weg durch einen der engen Zugänge nehmen, kann sich also zum Wassertransport keines Lasttiers bedienen. Und dann ist ja auch ganz ausgeschlossen, dass der noch einen andern Menschen in sein Geheimnis einweiht, er wird ganz allein die Fußwanderung antreten.«
»Ja, weiß er dann nicht, dass er da wenigstens vierundzwanzig Liter Wasser mitnehmen muss?«
»Dass er Wasser mitnehmen muss, auf seinem eigene Rücken im Lederschlauch, das weiß er, aber mit einem halben Zentner wird er sich nicht belasten, nur mit der Hälfte.«
»Wie das? Wie will er da den doppelten Weg zurücklegen? Oder ist dennoch ein Brunnen vorhanden?«
»Nein, es ist keiner vorhanden. Auch die in dem Ameisentempel wohnenden Priester mussten von Kairo aus mit Wasser versorgt werden, was freilich auf jenem Wege geschah, den Kamele benutzen konnten, dessen Kenntnis uns erst recht verloren gegangen ist.
Sie hatten gesagt, dass der Mensch bei solchen Wüstenmärschen sechs Liter Wasser täglich gebraucht. Das ist ja an sich richtig, das lehrt die Erfahrung. Sie deuteten aber auch schon an, dass Wüstenkinder unter dringenden Umständen auch mit bedeutend weniger Wasser auskommen können. Und dann dürfte es doch wohl auch Menschen geben, bei denen der Stoffwechsel überhaupt ein ganz anderer ist, die zum Beispiel gar nicht oder nur ganz wenig transpirieren.
Zu diesen Ausnahmen gehörte auch jener Ned Carpenter, der ein knochendürrer, aber sehniger und überhaupt erstaunlich ausdauernder, jeder Strapaze gewachsener Mensch gewesen sein soll.
Der brachte es fertig, diese Strecke von zusammen achtzig Kilometern in vier oder sogar nur drei Tagen zurückzulegen und dabei täglich nur drei Liter Wasser zu verbrauchen, welche Last auf dem Rücken für ihn auch gar nichts weiter zu bedeuten hatte.
Und das hat er nun auch seinem jungen Freunde mitgeteilt, in der Meinung, dass dieser genau dasselbe fertig bringen könne. Sie müssen bedenken, dass es ein alter Mann war, der fünfundzwanzig Jahre im Zuchthaus zugebracht, da hat er die Erinnerung an Früheres doch zum Teil verloren.
Kurz und gut, Tom Miller, der in so etwas absolut keine Erfahrung hat, glaubt das alles, er wird nur zwölf Liter Wasser mitnehmen, wovon er sich die Hälfte für den Rückweg aufsparen muss.«
»Hm«, brummte der Prinz, »ich hätte wenig Lust, durch solch eine Wüstenschlucht vierzig Kilometer weit zu marschieren, mit einer Last von fünfundzwanzig Pfund auf dem Rücken, wozu aber nun auch noch das Gewicht des Lederschlauches und der andere Proviant kommt, noch dazu jetzt im Juli. Das macht man wohl einmal, aber öfter so hin und her — ich danke! Ich kenne eben Wüstenmärsche. Ja, und der Mann muss dann doch auch noch das Gold zurücktragen!«
»Selbstverständlich. Sonst hat sein Hinmarsch doch keinen Zweck.«
»Und nun auch noch den Wasservorrat von wenigsten sechs Litern tragen!«
»Den natürlich auch.«
»Ja, wie viel Gold will er denn da jedes Mal tragen?«
»So viel er sich zutraut und so viel er dann kann.«
»Ein Pfund Sterling wiegt doch wohl acht Gramm.«
»Nur einen winzigen Bruchteil mehr.«
»Sagen wir, er nimmt tausend Guineen mit. Das wären ja schon mindestens acht Kilogramm.«
»Die Rechnung stimmt.«
»Und nun noch so gegen fünfzehn Pfund extra auf dem Rücken, wenn er nicht verdursten will? Wie will er denn das machen?«
»Das weiß ich nicht, das ist seine Sache.«
»Da muss dieser Miller, wenn er sich das zutraut, ein äußerst kräftiger und allen Strapazen gewachsener Mensch sein.«
»Und ich sage Ihnen, dass er sogar ein sehr schwächlicher Mensch ist, der noch dazu direkt aus dem Zuchthaus kommt, also nicht etwa wohlgenährt ist.«
»Ja, wie will er denn das nur machen?«
Almansor hob den Finger und machte ganz besondere Augen.
»Und ich sage Ihnen, mein Prinz, dort in jenem Tale wie auch in Kairo wird sich eine tolle Burleske abspielen. zugleich aber auch eine fürchterliche Tragödie — eine fürchterliche Komödie, will ich sagen.«
»Inwiefern?«
»Sie werden es selbst erleben. Denn Sie sollen diesen Tom Miller beobachten.
Sie müssen aber seiner erst habhaft werden, ihn erst auskundschaften.
Denn wir haben zufällig nur erfahren, dass er ein schwächlicher Mensch ist, der den Strapazen, denen er sich unterziehen will, nicht gewachsen ist.
Sonst wissen wir gar nichts weiter über ihn.
Wir wissen nicht, wie er aussieht, wo er in Kairo wohnen wird, und zweifellos wird er doch unter einem falschen Namen gehen.
Das müssen Sie alles erst auskundschaften, müssen sich an seine Fersen heften.
Hierzu werden Sie noch einige Instruktionen erhalten, oder nur Winke, mehr können wir nicht tun, sonst müssen Sie ganz selbstständig handeln.
Vorläufig also wäre diese Sache erledigt.
Haben Sie nun sonst noch eine Frage zu stellen, mein Prinz?«
»Ja, die hätte ich«, erklang es mit einem kleinen Seufzer, »hoffentlich ist sie gestattet. Es ist doch die Möglichkeit vorhanden, dass man hier jederzeit den Ballon sehen kann, einfach auf jenem Erdglobus, aber mir wurde diesmal der Zutritt zu diesem Raume verweigert —«
»Und den Ballon kann ich Ihnen auch hier nicht in Projektion vorführen, diese Bitte muss ich mit Bedauern Ihnen abschlagen«, wurde er unterbrochen.
»Ich wusste es im Voraus, es war auch nur die Einleitung zu einer andern Frage. Ach, meine arme Deasy! Also wenn ich den Ameisentempel gefunden habe, soll ich zum Meister ernannt werden?«
»Sofort. Denn es handelt sich ja nicht eigentlich um eine Prüfung, sondern nur um einen Termin. Sie haben die Meisterprüfung schon längst bestanden, ohne dass Sie wussten, im Examen zu stehen. Sobald Sie den Ameisentempel betreten, führen Sie den Meistertitel, was Ihnen auch noch gesagt werden wird.«
»Wer hier aber Meister ist, der soll auch Herr des Schicksals sein.«
»So ist es.«
»Er soll fernerhin ein ungetrübtes Glück genießen können.«
»Eine unerschütterbare Ruhe — wollen wir lieber sagen.«
»Wie soll das aber bei mir möglich sein?«
»Was soll nicht möglich sein?«
»Kann mein Herz etwa mit seligem Frieden erfüllt sein, wenn ich meine Deasy in der Gewalt dieses Weibes weiß?«
»Und dennoch werden Sie diesen seligen Frieden genießen. Wie reimen Sie sich das zusammen?«
Zweifelnd, grübelnd über diesen Widerspruch blickte der Prinz den Frager an, der wiederum so ganz besondere Augen machte, auch dazu lächelte, obgleich er dieses Lächeln wohl unterdrücken wollte.
Und plötzlich ging durch den ganzen Körper des germanischen Hünen ein Ruck, plötzlich begannen seine Augen freudig zu strahlen.
»Sie meinen doch nicht etwa, dass ich dann schon Deasy wieder —«
Er wagte es nicht auszusprechen.
»So ist es!«, bestätigte Almansor kopfnickend. »Sie gehen auch noch aus einem andern Grund nach Ägypten. Ich darf es Ihnen schon jetzt verraten. Ein wundersames Schicksal will es, dass Sie in jenem Hexentale auch die kleine Deasy wiederfinden, um niemals wieder von ihr getrennt zu werden, und dann sollen Sie auch —«
Der Sprecher brach plötzlich ab, schien aufmerksam zu lauschen.
»Ja, was gibt es?«, fragte er dann leise und lauschte wiederum, also jedenfalls ein andern Ohren unhörbares Telefongespräch.
Jetzt erhob sich Almansor schnell.
»O weh! Mein Prinz, ich muss Ihnen eine Mitteilung machen, die Ihnen einen Schmerz bereiten wird, wie er Ihnen auch als einem Meister nicht erspart bleiben kann. Aber die innere Ruhe kann so etwas einem vernünftigen Menschen nicht rauben —«
»So sprechen Sie doch!«, rief der Prinz erschrocken. »Fred ist doch nicht etwa —«
»Fred ist gesund und munter. Aber Ihr Freund Edward Scott hat von einem flüchtenden Assassinen im Vorbeijagen einen Dolchstoß in die Brust erhalten. Es wurde Ihnen noch verschwiegen, weil wir glaubten, es handele sich um keine lebensgefährliche Wunde, aber jetzt hat die Untersuchung ergeben, dass ein Lungenflügel getroffen ist. Mister Scott liegt im Sterben, und er verlangt dringend nach Ihnen —«
Schon war der Prinz aufgesprungen, er eilte hinaus.
Wir versetzen uns auf das Mittelländische Meer. Es war Nacht. Trotz der guten Ventilationsanlagen herrschte im Zwischendeck des Triestiner Schnelldampfers eine erstickende Schwüle, und trotzdem lagen die mehr als hundert Zwischendeckler in den übereinandergebauten Kojen alle im tiefsten Schlafe.
Denn in den letzten vierundzwanzig Stunden hatte das Mittelländische Meer gezeigt, dass es bei Gelegenheit auch einmal toben kann, sogar in sonst schönster Sommerzeit, an Schlaf war gar nicht zu denken gewesen, und das wurde nun in dieser letzten Nacht, welche die Passagiere von Alexandrien trennte, noch nachgeholt.
»Hilfe, Hilfe, die goldenen Ameisen fressen mich!«
So wurde die lautlose Stille plötzlich von einer schreienden Stimme unterbrochen.
Die beiden Matrosen, die im Zwischendeck Wache hatten, saßen flüsternd zusammen, und jetzt suchten ihre Augen den Mann, der diesen merkwürdigen Hilfeschrei ausgestoßen, auf Englisch, was die beiden vielgereisten österreichischen oder deutschen Matrosen verstanden hatten.
Schnell hatten sie ihn entdeckt. Es konnte kein anderer gewesen sein. Der Schläfer focht noch mit den Armen um sich, sein Gesicht war noch angstverzerrt.
Dieses Gesicht, das gerade von einer elektrischen Glühlampe beleuchtet wurde, war ausfallend bleich und eigentlich recht hübsch zu nennen. Was aber für einen Mann, der ein wirklicher Mann sein will, keine Schmeichelei bedeutet. Mädchenhaft weiche Züge, woran auch der keck herausgedrehte blonde Schnurrbart nichts änderte. Das Gesicht so eines echten Waschlappens, der seine innerste Überzeugung jeden Augenblick wie sein Hemd wechselt, ein Spielball in der Hand des Schicksals und anderer Menschen. Und daran wurde nichts geändert, dass dieses Gesicht jetzt von Entsetzen ganz entstellt war. Ein hübsches, hysterisches Frauenzimmer mit blondem Schnurrbart, das sich schreiend über eine Maus entsetzt.
»Ach, der Amerikaner mit dem Käsegesicht«, sagte der eine Matrose, »der der der — Mister Hektor Woodway aus Cincinnati. Ich glaube aber gar nicht, dass er ein Amerikaner ist, sonst würde er sein Englisch ganz anders durch die Nase quetschen.«
»Was schwatzt der von goldenen Ameisen, die ihn fressen wollen?«, meinte der andere.
»Er wird seinen Goldfüchsen nachweinen, die er verspielt hat, macht nun im Traume Ameisen draus, und auffressen tun sie ihn deshalb, weil der Kerl seit drei Tagen selber nischt zu fressen gehabt hat, der ist ganz verhungert. Die Prügelsuppe, die ihm der lumpige Jude gegeben hat, weil er ihm ein Brot gestohlen, war das einzige Nahrhafte während der ganzen Reise.«
Die beiden Matrosen kannten den Mann also und wussten sich den Grund seines Hilfeschreis zu erklären, den er im Schlafe hervorgestoßen hatte.
Am ersten Abend des Tages, an dem der Dampfer Triest verlassen, hatte ein griechischer Passagier im Zwischendeck ein Spielchen arrangiert.
Alles Hasardspiel ist ja an Bord streng verboten, aber es kann ja gar nicht unterdrückt werden, wenn es die Spieler, die sich in einer Ecke zusammenfinden, heimlich und geschickt genug anfangen.
Der listige Grieche hatte die ganze Gesellschaft im Winkel tüchtig gerupft, alle vollkommen ausgeplündert. Sie hatten ihn, dem Charakter solcher Menschen entsprechend, dann denunzieren wollen, um so vielleicht wieder zu ihrem Gelde zu kommen. Aber diesem Enkel des schlauen Odysseus waren sie nicht gewachsen gewesen. Gerade, wie das Spiel beendet, hatte das Schiff Brindisi angelaufen, und der Bankhalter war plötzlich verschwunden. Auch der junge Amerikaner mit dem hübschen »Käsegesicht« — die Blässe war ganz ausfallend — hatte zu den nachweinenden Leidtragenden gehört, hatte wenigsten hundert Kronen verspielt, und das musste sein ganzes Geld bis auf den letzten Heller gewesen sein. Dabei hatte er zu denjenigen Zwischendecklern gehört, welche ohne Beköstigung fuhren, um von den einhundertundzwei Franken, welche das Zwischendeck sonst kostet — übrigens für die nur zweiundsiebzig Stunden währende Fahrt ein unverhältnismäßig hoher Preis — noch zwanzig Franken zu sparen.
Es gibt eben auch arme Amerikaner. Man trifft sie auf Reisen ja allerdings selten, das hier aber war einmal einer. Er hatte in einem Rucksack seinen Proviant gehabt. Und wie er in Triest über das Laufbrett an Bord ging, glitt ihm der Rucksack von der Schalter, fiel ins Wasser und verschwand.
Nun, er hatte ja Geld. Er musste freilich für alles Schiffspreise bezahlen, ungeheuer hoch, und diese Schiffspreise wussten auch die sämtlichen Passagiere im Zwischendeck einzuhalten, und der Schiffsbesatzung ist es streng verboten, irgend etwas an die Passagiere zu verkaufen.
Mister Hektor Woodway aus Cincinnati, wie er für die Passagierliste angegeben, hatte gejammert genug, wenn er für ein Pfund Brot eine halbe Krone geben musste. Er hatte es einfacher gemacht, hatte in einem günstigen Augenblick einem halbwüchsigen Judenbengel ein Rosinenbrot gestohlen.
Aber der Eigentümer hatte es bemerkt, hatte jenem in der ersten Hitze einen »Patsch« gegeben. Und weil der Amerikaner die Maulschelle nun ganz ruhig einsteckte, hatte der gerissene Judenjunge sogleich gewusst, wen er vor sich hatte; dass kleine, elende Kerlchen hatte seinen Heldenmut und seine Heldenkraft bewiesen, hatte den Waschlappen von Amerikaner weiter »gepatscht«, ihn gründlich vertobakt, und jener hatte nur sein hübsches Gesicht mit den Händen zu schützen versucht.
Dann hinterher freilich diese giftigen Blicke! Wenn die gewirkt hätten!
Und nun am Abend das ganze Geld verspielt! Nicht drei, aber doch schon zwei ganze Tage hatte Herr Hektor Woodway aus Cincinnati brav gehungert. Heute früh hatte er seinem dürftigen Köfferchen ein Oberhemd entnommen und es verkauft, auch wieder zu Schiffspreisen, nun freilich im umgekehrten Verhältnis, eine halbe Krone für das tadellos neue und sehr schöne Hemd. Aber als er sich Brot kaufen wollte, wurde dort an der Ausgabe gerade Bier verzapft, und da hatte er seinen Entschluss geändert und kaufte sich lieber ein Glas Bier. Dann verkaufte er auch noch ein neues Jackett, wieder mit der Absicht, sich dafür Brot anzuschaffen, setzte die zwei Kronen aber doch lieber in vier Gläschen Schnaps um.
Jetzt schickte ihm der malträtierte Magen dafür Ameisen ins Gehirn, die ihn bei lebendigem Leibe auffressen mussten.
Der Schläfer war über seinem Schreckensruf erwacht, blickte sich verwirrt und entsetzt um, wälzte sich auf die andere Seite, das Gesicht kam aus dem Scheine der Glühbirne, und alles war wieder still.
Durch die Bullaugen, die runden Schiffsfensterchen, begann der Morgen zu dämmern. Schon hatte man hin und wieder Dampfpfeifen in weiter Ferne gehört, jetzt fing auch die dieses Dampfers zu heulen an.
Durch die Treppenluke wurde ein Kommando gegeben, die beiden Matrosen sprangen auf.
»Reise reiseeeee!!!«, schrien oder »sangen« sie, und dann übersetzten sie diesen von unbekannter Herkunft abstammenden Weckruf der deutschen Seeleute, den aber auch die französischen Pelzjäger Kanadiens benutzen, in die verschiedenen Sprachen der Zwischendeckler, ihn durch Rütteln der Schläfer, wenn nötig, unterstützend.
Alles auf! Alexandria in Sicht! Noch ein Frühstück für den, der in voller Beköstigung war, dann alles von Bord, zuerst zur Zollstation! — — —
Zwei Stunden später drängten sich die Passagiere an Deck. Die Morgensonne beleuchtete mit vergoldender Pracht die ägyptische Hafenstadt, aber der Kampf um das Gepäck ließ die herrliche Hafeneinfahrt nicht genießen. Kaum dass man die vielen, in dichte Nähe kommenden Fischerboote beachtete, deren gelbe und schwarze Besatzung, im Burnus oder mehr noch nackt bis auf einen Schurz, nicht den geringsten Handgriff machen konnte, ohne vorher unter den heftigsten Gestikulationen eine Unmenge von Worten zu verschwenden, als ob sich die Kerls jeden Augenblick prügeln wollten, so der ganzen Szenerie das erste afrikanische und überhaupt orientalische Gepräge gebend.
Diese manchmal bis zum wirklichen Kampf ausartende Sorge um Handgepäck und abgegebene Koffer hatte auch die Schranke zwischen erster Kajüte und Zwischendeck durchbrochen. Eine Mittelklasse führte dieser Triestiner Schnelldampfer nicht. Die elegantesten Herren und Damen, die dem Wunderlande der Pharaonen einen Besuch abstatten wollten, fluteten mit den schäbigsten Individuen durcheinander, mit denen man nicht in Berührung kommen konnte, ohne ein lebendiges, sich ins Zahllose vermehrendes Andenken davonzutragen.
Nur einige wenige Personen und Gruppen standen abseits. So auch der junge Mann mit dem hübschen Gesicht, dessen fahle Blässe jetzt im Scheine der Morgensonne erst recht zur Geltung kam, und dazu passte auch die kleine schwächliche Gestalt, passte auch der Anzug, der, jedenfalls ganz billig in einem Konfektionsgeschäft gekauft, wahrscheinlich noch vor wenigen Tagen funkelnagelneu und hochelegant gewesen war, aber während der dreitägigen Seefahrt fürchterlich gelitten hatte, alles löste sich schon in Fransen und Fasern auf, und dazu nun noch einige tüchtige Teer- und Fettflecke.
So stand er da, sein dürftiges Köfferchen in der Hand, und blickte mit gierigen Augen nach zwei anderen Personen, die auch so abseits standen.
Die eine Person war ein stutzerhaft gekleideter Kavalier älteren Jahrgangs, die andere eine junge Dame von wirklich auffallender Schönheit, sodass noch andere Augen sie bewundernd anstarrten.
Ein Antlitz wie gemalt. Und das umso mehr, weil es tatsächlich stark angepinselt war, mit Schminke und andern Farben. Aber wirklich eine schwer überwältigende Schönheit. Besonders, wenn man nicht gar zu nahe trat. Wie so ein weiblicher Kopf auf dem Plakat einer Zigarettenfirma. Und das wiederum umso mehr, weil auch sie trotz der frühen Morgenstunde schon eine qualmende Zigarette zwischen den Korallenlippen hatte. Gekleidet war sie in ein pompöses Kostüm von lila Seide, schon der Hut mochte einige hundert Franken gekostet haben, aber ein Sachverständiger erkannte gleich am Funkeln, dass alle die Diamanten, mit denen ihre Finger förmlich gepanzert waren, nicht echt sein konnten.
Der alte Geck mit dem Monokel im Auge scharwenzelte um sie herum; sie inhalierte gelangweilt ihre Zigarette.
Der Dampfer hatte am Kai angelegt, zuerst kamen Beamte an Bord, auch Geschäftsleute, Vertreter der Reedereien und Geschäftshäuser.
Kaum war das Schiff in Alexandrien gelandet, als auch schon zahlreiche
Orientalen an Bord erschienen, um die Ankömmlinge willkommen zu heißen.[1]
[1] Diese FrontispizZeichnung zur 45. Lieferung (S. 2817) war bereits als Frontispiz zur 24. Lieferung des ab 1912 erschienenen Romans Das Gauklerschiff (dort auf S. 1473) veröffentlicht worden. Die nochmalige Verwendung dieser Zeichnung dürfte eine Verlegenheitslösung gewesen sein (siehe auch S. 431).
»Ach, das ist ja die Marquise Ludmilla de Berniere!«, sagte da der eine erstaunt zum andern, als er die Dame erblickte. »Was will denn die in Ägypten? Na, da können wir hier ja etwas erleben! Sie kennen die Marquise Ludmilla nicht? Eine Berühmtheit zweifelhafter Güte. Na, was die schon alles durchgemacht hat! Von der Schauspielerin herab bis zur Straßensängerin und wieder hinauf zur Herzogin und immer wieder hinab und herauf und herab. Zuletzt hatte sie tatsächlich den Herzog de Berniere geheiratet. Natürlich bald wieder zum Teufel gejagt. Aber nicht eher, als bis sie ihn ruiniert hatte. Na, was die schon für Männer ruiniert hat, was die schon für Geld durchgebracht hat. Wenn sie der heute eine Million geben, hat sie morgen schon nichts mehr davon. Nicht nur, dass sie alles verspielt, sondern sobald sie Geld in den Händen hat, wird sie einfach wahnsinnig, gibt einem Kellner für ein Glas Wasser gleich eine Tausendfrankennote als Trinkgeld. Und um Geld zu bekommen, ist ihr jeder recht. Da hatte sie einmal einen mexikanischen Viehkönig, der sich mit seinen Millionen in Paris amüsieren wollte, ein Scheusal von Hässlichkeit, und nun diese Manieren, in der Oper spuckte er aus seiner Loge unten dem Publikum im Parkett auf die Köpfe, hat die mit dem in Paris ein Theater gemacht, bis die Millionen verpulvert waren. Jetzt scheint sie auch wieder so einen alten Fatzken bei sich zu haben, den sie ausnimmt.«
So hatte der Herr gesprochen, ehe er sich abwandte.
Mister Woodway aus Cincinnati hatte es schwerlich gehört, obgleich er dicht daneben gestanden.
Seine Augen verschlangen gar zu gierig das blendend schöne Weib, wahrscheinlich gerade deshalb, weil er gar nichts im Magen hatte.
Die große Landungsbrücke war gelegt worden, die Passagiere wurden aufgefordert, das Schiff zu verlassen.
Wieder entstand ein ungestümes Gedränge.
Plötzlich war der kleine Amerikaner mitten darin, wurde mit der Nase gegen eine lilaseidene Taille gepresst, atmete den Duft von Parfüm und Zigaretten ein.
Ob er davon noch mehr berauscht wurde?
Dann machte sich dieser Rausch in ganz eigentümlicher Weise Geltung.
Wie er so vor sich herabblickte, sah er — was er aber schon vorher gesehen haben mochte — unter sich eine diamantengepanzerte Damenhand und von dieser an einem Kettchen herabhängend ein perlenverziertes Handtäschchen mit Druckschloss.
Und da machte sich die eine Hand des blassen Amerikaners mit diesem Täschchen zu schaffen, öffnete es, aber nicht, um ein Liebesbriefchen hineinzustecken, sondern um ein kleines Portemonnaie herauszunehmen, das er von dem ganzen Inhalt, meist aus Toilettegegenständen bestehend, seinem Gewicht nach wohl für die wertvollste Erinnerung an diese innige Berührung mit der schönen Dame behielt.
Er vergaß sogar nicht, die Tasche wieder zuzumachen, ließ das Portemonnaie in seine eigene Rocktasche gleiten, und unterdessen war er schon an Land geschoben worden.
Auf das Zollamt, durch welches erst der wirkliche Weg ins Freie ging, die paar Lumpen in seinem Köfferchen brauchte er nicht zu versteuern, dann war er auf der Straße und brauchte sich nur denen anzuschließen, die immer davon sprachen, dass sie schnell nach dem Bahnhof müssten, um den Zug nach Kairo noch zu erreichen.
Auf diesem orientierte er sich, dass er noch einige Zeit hatte, und jetzt erst ging er in einem stillen Winkel daran, den inneren Wert seiner Beute zu studieren.
Das Portemonnaie enthielt sechs blanke Guineen, also englische Pfundstücke, die freilich kein Pfund wiegen, nichts weiter, auch kein kleineres Geld.
Ein seliges Lächeln ging über das blasse Gesicht, als der Taschendieb die lederne Hülle seiner Beute in dem Abgrund verschwinden ließ, in den sonst eigentlich kein Portemonnaie hineingehört, in das aber wohl einmal eins aus Versehen fallen kann.
»Eine günstige Vorbedeutung! Und nun eine halbe Million solcher Dinger — ahhh!!«
Er löste sich ein Billett dritter Klasse nach Kairo, Kostenpunkt für die drei Stunden zwanzig Minuten währende Fahrt im Schnellzug sieben Schilling, hatte immer noch viel Zeit, ging in den Restaurationssaal, aß mit Heißhunger zwei große Portionen, dann begab er sich auf den Perron und bestieg den Durchgangswagen.
In diesem hockten auf den Bänken der Hauptsache nach zwar Araber und Neger, Durrabrot und Zwiebeln kauend, aber auch einige nicht einmal ganz und gar schäbige Europäer waren darunter, meist Italiener und Grieben, welche sich nicht um Baedekers und anderer Reisehandbücher Versicherung kümmern, dass in Ägypten wie im ganzen Orient ein Europäer unmöglich dritter Klasse fahren könne.
Der blasse Amerikaner nahm Platz neben einem älteren Manne, dem ölbefleckten, blauen Leinwandanzug und einem Handwerkszeugkasten nach ein Monteur. Also auch solch ein Franke, ein Europäer.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Bald suchte der blaue Mann mit seinem weißen Nachbar ein Gespräch anzuknüpfen, probierte es vergeblich mit Italienisch und Französisch, bis es sich zeigte, dass er auch recht gut Englisch konnte. Und der Amerikaner war von vornherein geneigt gewesen, sich auf ein Gespräch einzulassen.
»Fährt der Herr auch nach Kairo?«
»Yes.«
»Gedenken da zu bleiben?«
»Wahrscheinlich. Kennen Sie Kairo?«
»Ich wohne in Kairo. Ich bin Maschinenmonteur und hatte nur einmal in Alexandria etwas zu tun. Hat der Herr schon eine Wohnung?«
»Nnnnein«, erklang es zögernd.
»Ich kann Ihnen meinen Freund empfehlen, den Signor Manelo. Er hat eine Trattoria, beherbergt aber auch Fremde. Da sind Sie sehr billig und ganz vorzüglich aufgehoben.«
»Hm. Ich hatte eigentlich vor, mir eine Privatwohnung zu nehmen.«
»Werden der Herr länger in Kairo bleiben?«
»Höchst wahrscheinlich.«
»Geschäftlich, wenn ich fragen darf?«, wurde der Italiener jetzt zudringlicher, den zerfransten Anzug seines Nachbars musternd, aus dessen Verfassung er freilich durchaus nicht auf den Geldbeutel schloss. Dort saß ein alter Grieche in zerlumptem, von Fett starrendem Kaftan, und das war ein schwerreicher Diamantenhändler. Da hätte er aber auch von anderer Nationalität sein können. Merkwürdig, dass die echten Diamantenhändler, wie man sie besonders in London und Amsterdam kennen lernt, alle ganz heruntergekommen aussehen. Und nicht etwa nur, dass sie sich durch eine ärmliche Verkleidung vor Beraubung schützen wollen. Im Gegenteil, man erkennt den Diamantenhändler sofort, schon an dem schmutzigen Schal, den er auch im heißesten Sommer um den Hals gewürgt hat. Diese Diamantenhändler bilden eben eine eigene Zunft, die sich auch durch die Kleidung charakterisiert, und wer da nicht mitmacht, kommt nicht hinein. Ein eleganter Diamantenhändler ist einfach eine Unmöglichkeit.
»Nein, zur Wiederherstellung meiner Gesundheit«, entgegnete Woodway auf jene Frage.
»Sie sind krank?«
»Ich habe die Schwindsucht.«
Der Italiener rückte deshalb nicht zur Seite. Gerade in Ägypten ist man an Schwindsucht gewöhnt — das heißt an dort Heilung suchende Schwindsüchtige.
»Das habe ich wir gleich gedacht, so sehen Sie auch aus«, lautete der Bescheid.
»Aber die Ärzte sagen«, fuhr der Todeskandidat fort, »dass ich in der trockenen Luft Ägyptens vollkommen wieder genesen kann.«
»Ja, hier ist schon mancher Schwindsüchtige kuriert worden und hat noch ein Alter wie Methusalem erreicht. Werden Sie von einer Gesellschaft geschickt?«
»Nein, ich reise und machte die Kur auf meine eigenen Kosten. Ich habe eine kleine Erbschaft gemacht, und das benutze ich nun, um meine Gesundheit in Ägypten zu suchen. Muss mich freilich sehr einschränken.«
Jetzt hatte der Italiener gleich wieder nur seinen eigenen Vorteil im Auge, wie er an diesem Todeskandidaten noch bei Lebzeiten etwas verdienen könne.
»Hören Sie, wenn Sie eine eigene Wohnung haben wollen, da könnte ich Ihnen eine wunderbare verschaffen.«
»Wo denn?«
»In der Minzanel im arabischen Viertel, hart am Rande der Wüste mit herrlichem Blick auf die Zitadelle und den Dschebel Mokkatam. Das wäre eine Wohnung wie für Sie geschaffen. Mit dem ersten Schritte über die Hausschwelle sind Sie drin im Sande und mit hundert Schritten mitten drin in der Wüste. So eine gesunde Wohnung finden Sie nirgends als bei mir.«
Der Amerikaner hatte aus der Brusttasche einige schmutzige Papierfetzen zum Vorschein gebracht, die sich nach dem Auseinanderfalten als die französische Generalstabskarte von Kairo und Umgegend erwies, die einzelnen Blätter in ihren Bruchkanten kaum noch zusammenhängend.
»Wo liegt die Wohnung?«
Der Monteur hatte sich schnell in dem Plan zurechtgefunden, deutete auf die betreffende Stelle, wo kleine als Vierecke gezeichnete Häuschen, von Gassen durchkreuzt, im Osten direkt an die Wüste stießen. Dazwischen war noch ein Schienenstrang angegeben.
»Genau hier, das ist mein Hans, das kann ich bestimmt versichern.«
»Was ist denn da für Nachbarschaft?«
»Nun, lauter kleine Handwerker und Arbeiter, die auf Tagelohn ausgehen, hübsche Familien.«
»Sagten Sie nicht, Ihr Haus läge im arabischen Viertel?«
»Jawohl, das hier ist das arabische Viertel.«
»Dann sind das wohl lauter Araber, Mohammedaner?«
»Ja natürlich.«
»Hm. Solch eine Nachbarschaft liebe ich aber nicht, das ist mir denn doch etwas zu unsicher —«
»O, da brauchen Sie keine Angst zu haben, so etwas wie religiösen Hass gibt es in ganz Ägypten nicht, am wenigsten in Kairo. Sie können als Franke ruhig mitten zwischen lauter Mohammedanern wohnen, und nun würde meine Schmiede auch sonst wie geschaffen für eine Junggesellenwohnung sein —«
»Eine Schmiede ist es?«, unterbrach der Amerikaner, plötzlich ganz aufmerksam werdend.
»Jawohl, eine Schmiede. Ich war früher einmal als Schmied selbstständig, hatte dort meine Werkstatt, und alles ist noch vorhanden, der Feuerherd und der Blasenbalg, alles in tadelloser Ordnung.«
»Hm, dann allerdings wäre das etwas für mich, wenn man dort sonst seines Lebens sicher ist«, brummte Mister Woodway nachdenklich vor sich hin, dann aber gleich aus seinen Gedanken erwachend und rascher fortfahret: »Ja, ich würde nämlich sehr gern selbst kochen, aber ich habe schon gehört, wie schlecht es in Kairo mit den Öfen bestellt ist, die Araber und diejenigen Europäer, die sich der einfachen, orientalischen Lebensweise anbequemen, kochen im Freien, im Hofe über einem Holzfeuerchen, das bin ich nicht gewohnt, und Wohnungen mit einem richtigen Ofen kosten ein Heidengeld, weil man hier eben gar keine Kamine kennt, da muss einer erst hingebaut werden, und solch ein Haus wird von der schlauen Regierung wegen angeblicher Feuersgefahr unverschämt hoch besteuert —«
»Das ist es ja, was ich Ihnen sagen wollte, Sie nehmen mir die Worte aus dem Munde. In meinem Hause aber haben Sie einen regelrechten Feuerplatz mit Blasebalg Sie können darüber sowohl ein winziges Kesselchen Wasser kochen als einen ganzen Hammel braten, und weil ein Blasebalg vorhanden, brauchen Sie weder teures Holz noch unerschwinglichere Steinkohlen. Sie feuern mit Koks, gleich daneben ist nämlich die Gasanstalt, da bekommen Sie den Koks fast geschenkt, weil man hier sonst eben gar keine Verwendung für Koks hat. Herr, das ist etwas für Sie!«
»Hm, wenn ich nur von der mohammedanischen Nachbarschaft nichts zu befürchten hätte«, sagte der Amerikaner nochmals, der sich von dem kleinen Judenjungen hatte ohrfeigen lassen, und nochmals wusste ihn der Italiener hierüber vollkommen zu beruhigen, bis er an die Sicherheit seines Lebens glaubte.
»Natürlich dürfen Sie nicht in das intime Familienleben dringen, nicht etwa eine Liebschaft anzuknüpfen suchen.«
»Ich denke gar nicht an so etwas.«
»Dann sind Sie dort sicher wie in Abrahams Schoß. Übrigens wohnen auch noch andere Franken dort.«
»Es ist ein ganzes Haus?«
»Jawohl, und sogar ganz massiv aus Backstein ausgeführt.«
»Wie viele Zimmer?«
»Nun, nur eine Werkstatt. Aber sehr, sehr geräumig. Sie können ja auch noch einige Holzwände ziehen.«
»Und wie viel kostet das?«
»Wären Ihnen — fünf Franken in der Woche zu viel?«
Der Amerikaner — oder Engländer — fand das auch noch sehr, sehr billig, als er dann das Haus besichtigte. Er kannte eben die Verhältnisse nicht, wusste nicht, erfuhr es auch wohl nie, dass er diese Wohnung schon für zwei, vielleicht nur für einen Franken pro Woche hätte mieten können.
Kairo, dieses afrikanische Paris, ist eben einzig in vielen Hinsichten, auch in der des Lebensunterhalts. Einerseits Hotels, in denen der Kellner, der ein Glas Bier serviert hat, ein Fünffrankenstück als Trinkgeld nur mit einem schiefen Gesicht einsteckt, anderseits bekommt man dort für fünf Franken in der Woche sogar schon volle Pension, mit täglich drei warmen Mahlzeiten mit Fleisch, Fisch und Eiern. In Kairo scheinen die Nahrungsmittel gar nichts zu kosten, besonders Geflügel und Eier bekommt man tatsächlich oftmals geschenkt, so wie in England auf den Märkten — um ein anderes Beispiel heranzuziehen — den Fischrogen, mit dem der Engländer eben nichts anzufangen weiß. Wovon der ägyptische Vergnügungsreisende mit dem roten Baedeker in der Hand freilich nichts zu merken bekommt. Und weshalb die Hotels und Pensionen und sonstigen Wohnungen so fabelhaft teuer sind, darüber ist schon einmal berichtet worden. Weil die Möbel wegen des Ungeziefers fortwährend desinfiziert werden müssen. Diese Chemikalien vernichten aber auch sehr schnell alle Polstersachen und alle Decken und Bettwäsche und alles Ähnliche, sodass dies fortwährend ersetzt werden muss. Sonst kann ein Europäer mit nur einigermaßen empfindlicher Haut es in solch einem Zimmer nicht aushalten, an ein Schlafen gar nicht zu denken.
Deshalb ist eine billigere Konkurrenz gar nicht möglich, sonst würde die sich schon bald bemerkbar machen. Und außerdem nun die ungeheuer hohe Besteuerung aller Wohnhäuser und Wohnräume seitens der ägyptischen Regierung, nach dem Quadratfuß berechnet. Werkstätten hingegen sind frei. Deshalb eben wohnt alles, was mitmachen kann, in irgend einer Werkstatt, und wenn es eine alte Backstube ist. Dem Ungeziefer, wozu auch Motten zu rechnen sind, muss man eben die Lebensbedingungen entziehen. Bettmatratze und alle Kissen am besten mit feinem Sand ausgestopft. So muss man sich zu helfen wissen.
»Nein, fünf Franken in der Woche wären mir nicht zu viel.«
»Top!«
Der Italiener, der ein Bombengeschäft in Aussicht sah, hielt schnell die Hand hin.
Aber der junge Mann wehrte noch ab.
»Na, na, warten Sie nur, ich muss das Haus doch erst besichtigen, und dann kommt auch noch anderes in Betracht.«
»Was denn noch?«
»Meine besondere Lebensweise, die ich zu führen gezwungen bin. Ich bin nicht nur lungenkrank, sondern auch nervenleidend, furchtbar nervös —«
»Davon merkt man Ihnen aber doch gar nichts an?«
»Mag sein. Jetzt nicht. Die Seereise hat mich sehr gekräftigt. Es sind auch immer nur Anfälle, die dann aber viele Tage anhalten. Da kann ich keinen Menschen sehen, ich werde gleich wahnsinnig. Halte es auch nicht in geschlossenen Räumen aus. Auch deshalb hat mir der Arzt Ägypten verschrieben. In Kairo wäre solch ein Leben möglich, wie ich es führen soll —«
»Wie denn?«
»Ich soll, wenn ich meinen nervösen Anfall, der sich erst anmeldet, kommen fühle, sofort in die einsame Wüste gehen, so weit, dass ich nichts mehr von Menschen sehe, kein Geräusch höre, soll Proviant und Wasser mitnehmen, und da soll ich eben so lange in der Einsamkeit bleiben, auch in der Nacht im Freien, bis ich fühle, dass der Anfall vorüber ist. Das würde mich wunderbar kräftigen, meinte der Arzt. Ob das dort wohl möglich ist?«
»Ja, weshalb soll denn das dort nicht möglich sein?«, fragte der Italiener verwundert.
»Bedenken Sie doch, wenn ich mit einem Wasserschlauche in die Wüste gehe, tagelang fortbleibe — dass mich die Nachbarn nicht etwa für irrsinnig halten.«
»Ach so, nun verstehe ich Sie. Nein, was meinem Sie wohl — was hier alles vorkommt! Die Araber sind doch schon den Besuch von Schwindsüchtigen gewohnt, und die leben eben so, wie Sie beschreiben, die machen noch ganz andere Sachen. Bei Heluan ist eine ganze Kolonie von solchen Schwindsüchtigen, lauter reiche Engländer und Amerikaner, Herren und Damen, die leben in Zelten und Höhlen —«
»Ich will aber nicht in einem Zelte leben und in keiner Höhle, ich kann nichts Geschlossenes um mich vertragen. Wenn ich meinen nervösen Anfall habe. Ich will in der Wüste liegen, unter freiem Himmel, auch in der Nacht.«
»Können Sie alles haben, die dort machen auch noch ganz anderes, lassen sich bis an den Hals im Sande vergraben und bleiben so wochenlang drin stecken; das soll gesund sein, meinen sie. Übrigens werde ich mit Ihren Nachbarn auch darüber sprechen, sie auf Ihre Lebensweise aufmerksam machen.«
»Ja, das könnten Sie schließlich tun.«
»Dann sollen Sie mal sehen, wie man Ihnen entgegenkommt, wie man Rücksicht mit Ihnen nimmt, was der Araber wie jeder Mohammedaner als Nachbar für ein feiner Mensch ist. Ungetreue und neidische Nachbarn gibt es da gar nicht. Darüber sind nämlich im Koran strenge Vorschriften, und das geht in Fleisch und Blut über.«
»Ist das Haus verschlossen?«
»Mit einer schweren Holztür, auch gute Fensterläden sind vorhanden.«
»Kann da während meiner langen Abwesenheit nicht einmal eingebrochen werden?«
Auch darüber konnte ihn der landeskundige Italiener beruhigen.
»Der Araber ist ein geborener Räuber, in der Wüste wie in der Stadt, in letzterer ein Dieb, aber einen Einbruch in ein Haus kennt er gar nicht. Das hängt auch wieder mit der dem Mohammedaner heiligen Gastfreundschaft, mit dem Gastrecht, mit dem ganzen Begriffe des Hauses und der Wohnung zusammen. Jeder, der längere Zeit in Ägypten gewesen ist, weiß, wie sorglos man dort Tor und Türen offen lassen kann, Schränke und Kästen dazu. Natürlich kommen Einbrüche vor, die sind aber ganz sicher von Europäern ausgeführt worden, oder von Eingeborenen, die schon zu sehr zivilisiert und Freigeister geworden sind.«
So hatte der Italiener gesprochen, der sich immer mehr als ein recht verständiger Mann bewies.
»Aber solche Spitzbuben kommen doch gar nicht dort hin in das arme Viertel. Abgesehen davon, dass viele von dieser orientalischen Nachbarschaft ja die Nacht zum Tage machen, also immer wach sind. Und dann die Masse Hunde! Und diese Nachbarn selbst? Ich habe die Tür auch unverschlossen. Sie geht zu verschließen, es ist ein solides Schloss mit Schlüssel vorhanden, aber ich habe gar nicht daran gedacht, zuzuschließen. Und da habe ich in der Werkstatt noch viel drin. Ich bin schon acht Wochen nicht mehr dort gewesen, aber wenn auch nur das kleinste Stück Eisen entwendet worden ist, so will ich es auf Ehre und Gewissen gestehen, und dann sollen Sie das Haus umsonst haben.«
»Da darf man wohl gar keine Tür verschließen in seiner Abwesenheit, das gilt wohl als Beleidigung?«
»Durchaus nicht. Sie können die Tür und die Läden immer verschließen.«
Herüber war der ängstliche Amerikaner beruhigt. Über anderes aber noch nicht.
»Es wird mir doch niemand nachschleichen, aus Neugier, um zu erfahren, wo ich mit dem Wasserschlauche immer hingehe? Nur der Gedanke daran, beobachtet zu werden, wäre mir schrecklich.«
»Ganz ausgeschlossen! Lernen Sie diese Araber nur erst kennen, wie höflich die sind, besonders als Nachbarn. Ich brauche nur eine kleine Erklärung zu geben, und auch das kleinste Kind wird Ihnen nicht mehr nachblicken, dazu wird es angehalten oder es bekommt Klitsche.«
»Na, dann ist es gut«, seufzte erleichtert der so nervöse junge Mann.
»Oder gehen Sie doch«, fuhr der Italiener fort, »wenn Sie ganz und gar einsam sein wollen, in die Gemeljade.«
In den Augen der Amerikaners zuckte es auf, als habe er ein ihm bekanntes Wort von angenehmem Klange gehört, aber er beherrschte sich.
»Gemeljade, was ist denn das?«, fragte er harmlos.
Jetzt war es Mister Hektor Woodway, der die ganze Geschichte von der Kamelfalle oder vom Hexentale zu hören bekam, der Italiener war in der Entstehung dieser Namen ganz gut beschlagen, wenn er auch nicht gerade mit Jahresszahlen aufwarten konnte.
»Ja, da könnte ich ja immer in dieses Tal gehen.«
»Gewiss, da folgt Ihnen kein Mensch nach, und der Eingang zu der engen Schlucht, von der ich Ihnen erzählte, ist ganz nahe Ihrem Hause, Sie haben keine dreihundert Schritte.«
So unterhielten sich die beiden während der ganzen Fahrt.
Als sie in Kairo ausstiegen, prallte der Amerikaner auf dem Perron mit der schönen Dame zusammen, der er das Portemonnaie gestohlen hatte.
Die Marquise zog unten ihr Seidenkleid an sich und oben ein schiefes Mäulchen, so verächtlich wie möglich.
»So ein stinkiger Kerl!«, sagte sie zu ihrem Kavalier auf Englisch, wahrscheinlich in der Meinung, dass sie von niemand verstanden werden könne, weil sie selber als Französin sich einer fremden Sprache bediente.
Der blasse Amerikaner blickte ihr einmal nach, wieder mit recht gierigen Augen, in denen diesmal aber auch noch etwas anderes zu lesen war.
»Warte, Dich werde ich mir noch kaufen«, murmelt er, ehe er seinen Weg fortsetzte.
Sein Begleiter führte ihn, da er erst etwas essen wollte, zu seinem Freunde in die italienische Trattoria. In einem Gärtchen wurde serviert, die Speisen waren sehr gut und dabei erstaunlich billig, und wieder entwickelte der junge Amerikaner einen Wolfshunger. In der Bahnhofsrestauration, die sich in englischer Bewirtung befand, war der Gast gar nicht gefragt worden, ob er etwas zu trinken begehre. Mister Woodway hatte auch nichts getrunken — hier wurde zwischen den beiden ohne Aufforderung eine große Flasche gesetzt, wie die gewöhnlichen Rotweinflaschen aussehend, aber außerordentlich groß, zwei Oka fassend, zweiundeinhalb Liter. Der Wein war vorzüglich, etwas süß und ziemlich schwer, und dann wurde diese ganze Flasche mit nur einem Franken auf die Rechnung gesetzt, wobei der Wirt doch sicher noch die Hälfte daran verdienen wollte. Es ist griechischer Rotwein, den man dort überall bekommt, erstaunlich billig er ist untergärig, muss also nach dem Keltern schnell verkonsumiert werden, denn er wird durchs Lagern nicht immer besser, sondern schlechter, wird sauer, weshalb er auch einen Spritzzusatz bekommt.
Mister Woodway hatte das ihm gefüllte Glas ergriffen, führte es an den Mund, berührte es aber noch nicht mit den Lippen, so zögerte er, ein kurzes Schwanken, und dann goss er mit einem schnellen Entschluss das ganze Glas in den Sand.
»Was machen Sie denn da?«
»Ich trinke nicht, ich bin Abstinenzler.«
Danach hätte er aber eher handeln müssen. Nun, er wollte es eben erst in Ägypten werden.
Der neubackene Abstinenzler erwies sich auch als ein recht knauseriger Filz. Es hätte sich doch eigentlich gehört, dass er mit dem gestohlenen Gelde das Essen und die kleine Zeche des Mannes bezahlt hätte, der ihn hier führte, der ihm sonst in jeder Weise gefällig war, aber das tat der Mister Hektor Woodway eben nicht, er gab auch der reizenden jungen Italienerin, die bedient hatte, keinen Centime Trinkgeld.
Signor Ravelli, wie der Italiener hieß, hatte die Sache weiter nicht übel genommen, er führte weiter. Es ging durch die Muski, die einen ganz europäischen Eindruck machende Hauptstraße mit glänzenden Geschäftsläden, dann durch die noch längere Sikkeh el Gedideh, durch ihre vielen Basare schon mehr ein orientalisches Gepräge zeigend, dann kam das eigentliche arabische Viertel. Immer näher rückten die Steinhäuser und Lehmhütten und Bretterbuden zusammen, und dann blickte man plötzlich in die gelbe Sandwüste hinein.
Hier die kompakte, scharf abgegrenzte Häusermasse, und dicht daran die perfekteste Wüste, die sich nur denken lässt, in der man, zur Haustür heraustretend, hundertundzwanzig Kilometer weit spazieren gehen kann, ohne einen Menschen und einen Grashalm zu sehen. Es ist eine ideale Gegend für den, der die Wüsteneinsamkeit liebt und doch immer die Annehmlichkeit der Zivilisation in der Nähe haben will. Oder er kann auch ganz kostenlos eine der Höhlen beziehen, von denen es im nahen Dschebel Mokattam wimmelt, die einst auch von Anachoreten bewohnt wurden, kann mit einigen hundert Schnitten doch immer wieder die Wasserleitung erreichen.
In geringer Entfernung von dieser scharfbegrenzten Häuserreihe geht die Eisenbahn nach Heluan vorbei. Aber so selten, dass man aufpassen muss, um einmal einen Zug zu sehen. Jenseits dieses Schienenstranges ist ein Bauen von Häusern noch nicht erlaubt. Übrigens ist hierzu gar kein Bedürfnis vorhanden. Es stehen immer massenhaft Häuser und Hütten leer, meist nur Fachwerk- oder zusammengenagelte Bretterbuden, obgleich sie alle aus Bruchsteinen ausgeführt werden können, die man sich in den nahen Steinbrüchen kostenlos zusammenlesen und abholen kann. Aber es sind eben meist Tagelöhner. die hier wohnen, die irgendwo Arbeit suchen, dann dorthin ziehen, und weil sie für ihr Haus weder Käufer noch Mieter finden, es einfach aufgeben müssen, machen sie sich nicht erst solche Mühe.
Zwischen den Hütten wickelte sich überall das orientalische Kleinleben ab, spielende Kinder und herumlungernde Männer und vermummte Weiber, die, wenn sie nicht kochen oder weben, immer Zeug waschen, dazu das Wasser in kleinen eisernen Schalen über offenem Feuer erhitzend, wozu sie das Brennholz immer irgendwo aufzutreiben wissen, freilich auch jedes weggeworfene Streichholz auflesend, den brennbaren Kameldünger nicht zu vergessen, sodass in diesen Vierteln immer alles ganz verräuchert riecht.
Signor Ravelli öffnete die Tür eines soliden Steinhäuschens und stieß innen die starken Holzläden auf, das Licht flutete herein. Also die Werkstätte eines Schmieds, ein Feuerherd und darüber der Blasebalg zum Ziehen, was alles intakt gefunden wurde, daneben noch einige Holzkohlen und ein großer Haufen Koks, auf zwei Holzböcken ein Brett, darauf eine mit Sand gefüllte Matratze, ein Tisch und ein Stuhl und einiges Gerümpel, schließlich auch nicht die mächtige Urne aus porösem Ton zu vergessen, die das tägliche Trinkwasser aufnimmt und in keinem Hause fehlt. Durch die Poren sickert etwas Wasser durch und verdunstet noch mehr, dadurch aber bleibt es nach einem bekannten physikalischen Gesetz, dass Verdunstung Kälte erzeugt, immer sehr kühl, sogar gerade wenn der Krug in der Sonne steht.
Nachdem Mister Woodway selbst den Blasebalg gezogen und auch gleich ein Feuerchen angefacht hatte, erklärte er sich mit der Wohnung einverstanden, bezahlte sofort die erste Wochenrate von fünf Franken, und der wirklich ehrliche und gefällige Italiener verpflichtete sich, den Raum auch noch auf seine Kosten scheuern zu lassen, sofort.
»Gut, und ich werde gleich etwas spazieren gehen.«
»Das tun Sie. Verirren können Sie sich nicht. Sie brauchen ja nur auf einen Hügel zu steigen, um immer wieder die Stadt zu sehen, und wenn Sie schon nach der Gemeljade wollen, der Zugang ist ja auf Ihrer Karte genau angegeben, Sie wussten sich darauf noch viel besser zurechtzufinden als ich. Wenn Sie nach einer Stunde zurückkommen. ist hier alles fix und fertig, auch die Matratze mit frischem Sand gefüllt, es schläft sich darauf wie auf einem Federbett. Decken müssen Sie sich freilich selbst besorgen, und Sie brauchen ja überhaupt noch vielerlei, um hier als Junggeselle zu hausen. Wenn Sie eine ständige Bedienung haben wollen, Sie brauchen nichts weiter als das Essen zu geben, nur Brot, und —«
»Nein, keine ständige Bedienung, ich will allein sein!«
»Wie Sie wünschen. Aber wollen Sie sich nicht von einem Einheimischen alles besorgen lassen, was Sie brauchen, Nahrungsmittel, Kochgeschirr und dergleichen? Denn Sie als Fremder, zumal da Sie der arabischen Sprache unkundig sind, werden überall übervorteilt, das ist hier nun einmal nicht anders, während ich dafür garantiere, dass der, den ich schicken werde, Sie auch nicht um einen halben Piaster betrügen wird.«
Hiermit war der Amerikaner gleich einverstanden. Signor Ravelli gab noch Ratschläge wegen des Proviants, und dann wurde aufgeschrieben: gleich ein viertel Zentner Hartbrot, einiges Büchsenfleisch, haltbarer Käse, einige Pfund Reis und Hülsenfrüchte, Kaffee, Tee, Zucker und verschiedenes Kochgeschirr — Mister Woodway wollte immer abwehren wegen der Menge, gab sich aber zufrieden, als der Italiener herausrechnete, dass dies alles zusammen noch keine zwanzig Franken machte.
»Ja, und wie ist es nun mit dem Wasserschlauch? Darüber wollte ich Sie schon immer sprechen, mir die Hauptsache, bin aber immer wieder davon abgekommen.«
»Den bekommen Sie bei einem Rasmank.«
»Rasmank, was ist das?«
»So heißen die Wasserschlauchnäher, die eine besondere Zunft bilden und daher auch, wie im ganzen Orient, in ihrer eigenen Gasse oder in mehreren zusammen wohnen.«
»Ach so, deshalb habe ich auch sonst in den Schaufenstern, in denen man sonst solch einen Wasserschlauch vermuten könnte, niemals einen gesehen. Was kostet denn solch ein Wasserschlauch?«
»Das kommt ja ganz auf die Größe und Güte an. Wie viel soll er denn enthalten?«
»Zwölf Liter.«
»Das wären also — zehn Oka. Auch ein übliches Maß, wie es von verschiedenen Größen vorgeschrieben ist. Für solch einen Wasserschlauch, wenn er gut sein soll, werden Sie mindestens achtzig Franken zu zahlen haben.«
»Was?«, rief der Amerikaner wahrhaft entsetzt. »Achtzig Franken? Vor fünfundzwanzig Jahren hat der beste Schlauch von dieser Größe doch nur zwanzig Franken gekostet!«
Sein Zuchthausfreund hatte ihn also auch über solche Preise eingeweiht. Der Italiener achtete hierauf nicht weiter, er lachte.
»Das ist heute auch noch nicht anders. Ich meine nur, achtzig Franken mindestens würden Sie zu zahlen haben, wenn Sie zu solch einem Rasmank gingen und Sie verstehen nicht mit so einem arabischen Händler fertig zu werden. Nein, der beste Wasserschlauch mit zehn Oka kostet nicht mehr als zwanzig Franken. Aber da muss einer hingehen, der die Sache durchaus versteht, selbst ich würde übers Ohr gehauen. Hier wohnt gleich so ein alter Karawanenführer, ich kenne ihn gut, den werde ich hinschicken, Sie geben ihm dann einen Franken für seine Bemühungen, was aber ausgemacht werden muss, dann ist der Mann überglücklich.«
Über diese Sache, soweit es den Kostenpreis betraf, war Mister Woodway beruhigt, er hatte aber noch andere Bedenken.
»Ist denn solch ein Sack aus einem Ziegenbalg, der doch genäht sein muss, auch wirklich wasserdicht? Dass er nicht einmal aufplatzt oder doch zu lecken beginnt, dass unterwegs, wenn man mitten in der Wüste ist, alles Wasser herausläuft?«
»Ohne Sorge. O, was meinen Sie wohl, diese Rasmanks verstehen doch zu nähen und haben ihre Dichtungsmittel. Außerdem steht dieses ganze Geschäft, eben wegen seiner Wichtigkeit, weil davon Leben und Tod der Karawanen abhängt, unter staatlicher Aufsicht, jeder einzelne Wasserschlauch wird geprüft, und da gibt es in diesem Falle hier einmal keine Bestechung. Jeder fertige Wasserschlauch wird von einem Beamten mit Wasser gefüllt, einer Druckprobe ausgesetzt und dann, wenn er die Prüfung bestanden hat, mit einer Plombe versehen, auf der das Datum steht, und so muss der Schlauch mit Wasser erst ein ganzes Jahr hängen, ehe er verkauft werden darf. Freilich muss es ein kundiger Käufer sein, sonst würde er doch betrogen, nicht nur mit dem Preise. Auch ich würde so einen Wasserschlauch nicht zu kaufen wagen. Schicken wir nur den alten Karawanenführer hin, der besorgt schon einen, da können Sie sich drauf setzen und wuchtig mit den Füßen drauf springen, kein Tröpfchen Wasser darf hervorsickern.«
So hatte der erfahrene und gefällige Italiener gesprochen. Jetzt war Mister Woodway auch hierüber beruhigt, er händigte jenem gleich zwei weitere Guineen ein. Dabei aber hatte er unter dem alten Gerümpel, das herumlag, immer gleich zwei Gegenstände im Auge gehabt: ein zusammengewickeltes Seil und ein Uhrgewicht.
Jetzt nahm er das erstere, prüfte es.
»Würden Sie mir dieses Seil ablassen?«
»Ach, das alte Ding will ich Ihnen schenken.«
»Danke schön. Und was ist das hier?«
Es war eben das Gewicht für eine durch Zugkraft getriebene Uhr, zylinderförmig, etwa fünfzehn Zentimeter lang und fünf Zentimeter im Durchmesser haltend, oben hatte es eine Öse zum Aufhängen, unten war es ganz glatt, mochte ein Kilogramm wiegen.
»Kann ich das auch behalten? Ich möchte mir nämlich an der Tür einen Zug anbringen, dass sie selbsttätig sich schließt —«
Es war eine etwas eigentümliche Idee, dass der Amerikaner gleich an so einen selbsttätigen Türschluss dachte, aber Signor Ravelli achtete nicht weiter darauf, er sagte gleich, jener könne das wertlose Ding getrost behalten.
»Ich lasse überhaupt alles hier, wenn Sie wollen, ich brauche nichts. Jetzt schicke ich also die beiden Leute fort, der eine holt den Proviant und das Geschirr, der andere den Wasserschlauch. Wenn Sie sich nun einstweilen etwas die Umgegend ansehen wollen — wenn Sie in einer Stunde zurückkommen, ist das ganze Haus gescheuert, auch der Proviant und der Wasserschlauch werden schon da sein.«
Der Italiener ging, der Amerikaner blieb noch in der Schmiede zurück, noch immer aufmerksam das Uhrgewicht in seiner Hand betrachtend.
»Merkwürdig, wie mir alles entgegenkommt«, murmelte er. »Erst der Italiener auf der Eisenbahn, der mir seine Schmiede anbietet, die ich irgendwo mühevoll zu suchen glauben musste, und nun finde ich sie hier gleich in der denkbar günstigsten Lage — da hängt in der Schmiede das Seil, wie ich es brauche — und schließlich auch noch dieses Gewicht! Wie für meine Zwecke angefertigt. Unten ganz flach, wie es sein muss, dass ich es gebrauchen kann, oben eine Öse, und dann vor allen Dingen auch nicht stärker als zwei Zoll. Nun brauche ich nur noch eine Portion Talg, oder vielleicht besser Harz. Das will ich mir aber lieber selbst besorgen, damit man ja nicht Misstrauen schöpft, wozu ich solch merkwürdiger Sachen bedarf.«
Er verschloss das Gewicht und das Seil in seinem Koffer, den der gefällige Italiener ihm bis hierher getragen hatte, dann verließ auch er die Schmiede, orientierte sich noch einmal auf seiner Generalstabskarte, dann schlug er die Richtung nach Südwesten ein.
Also nach Überschreiten des Schienenstranges war er sofort mitten in der Wüste, erreichte nach wenigen hundert Schritten die steile Felswand des Dschebel Mokattam, ging an einigen Spalten vorüber und drang schließlich in die eine ein, die sich auch schon durch eine größere Breite bemerkbar machte.
Eng genug war sie freilich immer noch. Wie gesagt, an manchen Stellen konnte sich ein etwas beleibter Mensch wirklich nicht durchquetschen, so nahe traten die Wände zusammen, nicht nur Vorsprünge, die man leicht hätte beseitigen können.
Diese Schlucht, die eigentliche Jade, Falle, war etwa hundert Meter lang, dann eröffnete sie sich plötzlich zum eigentlichen Tal, das man bei einer Breite von etwa zwei Kilometer ja nicht gerade eng nennen konnte. Nur durfte man nicht wissen, dass es mehr als vierzig Kilometer lang war, was man auch nicht so leicht vermuten konnte, da in der Mitte viele große Felsblöcke lagen, welche die Aussicht versperrten.
Ein wundersamer Anblick! Nämlich durch die bunte Farbe der Felsen. Es ist dies eine Eigentümlichkeit dieser sogenannten Arabischen Wüste. Die isolierten Felsen sind alle ganz verschieden gefärbt, rot und gelb in allen Nuancen, dazwischen ebenso auch blau und das tiefste Schwarz, hin und wieder auch grün. Es ist Kalkstein, der sehr viel Eisen enthält, das heißt der Kalkstein ist mit einem andern, eisenhaltigen Gestein durchzogen, und der verschiedene Gehalt an Eisen scheint die verschiedene Farbe zu bedingen. An den stehen gebliebenen Felswänden sieht man diese Eisenzüge als mächtige Streifen, nun gibt es aber auch zertrümmertes Gestein, wenn auch als ganze Felsformationen, die so diesen isoliert farbigen Eindruck machen.
Hin und wieder sah man in dem gelben Sande auch schon schneeweiß gebleichte Kamelknochen und Schädel mit den unheimlich langen Zähnen liegen; die dem Verschmachtungstode ausgesetzten Tiere hatten sich offenbar gerade hier an diesem Ausgange, den sie aber nicht passieren konnten, zusammengedrängt. Sonst verteilten sich diese Überreste der unglücklichen Tiere, die hier vor 1400 Jahren ihren Tod gefunden, in dem langen Tale ja sehr spärlich.
Doch der blasse Amerikaner bewunderte nicht diese pittoresken Felsgebilde mit ihrer Farbenpracht, übergossen vom blutigen Scheine der schon hinter den Felsenkämmen gesunkenen Sonne, sein Kopf war mit ganz andern Gedanken beschäftigt.
»Einen Tag hin, einen Tag dort gearbeitet und einen Tag zurück«, murmelte er. »Das wäre doch gelacht, wenn ich die vierzig Kilometer nicht in einem Tage schaffen könnte, auf immer ebenem Wege. Was Ned Carpenter, dieses schwächliche Gerippe, fertig brachte, werde ich doch auch leisten können. Was ist da überhaupt weiter dabei? Ich will in der Stunde nur fünf Kilometer marschieren, da habe ich also nur acht Stunden nötig, und da kann ich mir ja die kühlsten Stunden aussuchen, am frühen Vormittag und gegen Abend je vier, die übrige Zeit raste ich im Schatten. Na, und da kann ich auch mit täglich drei Litern Wasser auskommen. So viel habe ich überhaupt in meinem Leben nicht getrunken, wenigstens nicht Wasser, jeden Tag drei Liter. Und mit den fünfundzwanzig oder auch dreißig Pfund auf dem Rücken werde ich schon fertig, wenn ich mir eben nur die kühlsten Stunden aussuche. Und dann kann ich immer noch zwanzig Pfund Gold mitnehmen, zumal ich dann ja nur noch drei Liter Wasser zu tragen habe, was aber doch auch immer weniger wird.«
So sagte Tom Miller, wie wir ihn nun gleich nennen wollen, leise vor sich hin.
Wir sehen also, dass er eine ganz andere Rechnung machte als der Prinz.
So spricht eben ein Mann, der vom Marschieren absolut gar keine Ahnung hat. Weil er einmal auf der Landstraße nach den Kilometersteinen und nach der Uhr aufgemessen hat, dass er ganz bequem in einer Stunde fünf Kilometer zurücklegen kann, glaubt er, in acht Stunden müssten das vierzig Kilometer werden.
Vielleicht hatte Ned Carpenter das auch unter diesem Himmelsstriche wirklich bewältigen können und geglaubt, dass das nun auch jeder andere Mensch fertig bringen müsse
Außerdem kam nun noch etwas anderes hinzu, um Tom Miller hier in diesem seinem jetzigen Glauben zu stärken. Die Sonne war also schon hinter den Felsenkämmen untergetaucht, das ganze Tal lag bereits im Schatten, und heute war bei ausnahmsweise bewölktem Himmel einmal ein wenig heißer, sogar kühler Tag gewesen, wie man ihn in Ägypten zur Sommerzeit selten erlebt. Infolgedessen herrschte jetzt in diesem Tale eine ganz erträgliche, sogar angenehm kühle Temperatur, und auch von dem feinen Flugsand bekam Miller hier am Ausgange der Schlucht nicht viel zu merken.
»Zwanzig Pfund Gold«, fuhr er in seinem leisen Selbstgespräche fort, »das wären etwa achthundert Guineen. Na, ich will nur gleich tausend sagen, die trage ich schon. Gold ist Gold, und wenn es auch das schwerste Metall ist, das lässt sich doch viel angenehmer tragen, da merkt man das Gewicht nicht so, hähähä.
Also auf jeder Tour tausend Guineen. Nun will ich mir zu Hause immer einen Tag Ruhe gönnen. Ich muss das gemünzte Gold ja auch einschmelzen, damit die Jahreszahlen nicht etwa zum Verräter werden. Denn einige solche Goldmünzen kann ich wohl ausgeben, aber nicht gleich Tausende, das würde auffallen, wenn alle vor 1867 geprägt sind.
Also alle vier Tage tausend Guineen. Das sind im Monat mindestens siebentausend. Miller, in einem Jahre bist Du ein anderthalbfacher Millionär, und es liegt nur an Dir, um in jedem weiteren Jahre noch einmal so viel zu bekommen!«
Und der blasse junge Mann machte vor Freude einen Luftsprung.
Dann ging er noch etwas tiefer in das Tal hinein, schien an der Felswand nach einem Zeichen zu suchen, nickte befriedigt, als er es fand.
»Alles stimmt, alles stimmt. Ich habe überhaupt nie daran gezweifelt, dass mir Ned Carpenter auf seinem Sterbelager die Wahrheit erzählt hat. Und dass ich etwa zu spät komme, dass schon ein anderer vor mir das goldene Ameisennest ausgenommen hat — ach, ich will gar nicht an so etwas denken, es muss eben ausgeschlossen sein, es muss! Morgen oder doch übermorgen werde ich's ja bestimmt wissen. Ach, wenn es doch nur schon morgen wäre!«
Er trat den Rückzug an, hatte sich doch ziemlich aufgehalten, es war mehr als eine Stunde vergangen, unterdessen war die Schmiede gescheuert worden. Auch Signor Ravelli war noch anwesend, er hatte es sich nicht nehmen lassen, mochte auch nichts anderes vorhaben, es war unter seiner Aufsicht geschehen. Er hatte auch die Schlösser der Fensterläden in Ordnung gebracht, und auch der abgeschickte Araber mit dem Proviant und den Küchengerätschaften war schon eingetroffen. Die Abrechnung erfolgte gewissenhaft. Der Amerikaner machte aus seinem Staunen über die Billigkeit kein Hehl.
Da traf auch der alte Karawanenführer mit dem Wasserschlauch ein, schon mit frischem Wasser gefüllt. Eine Station der Wasserleitung war ganz in der Nähe. Kairo hat zwar auch Brunnen, aber im Sommer, wenn der Nil seinen tiefen Wasserstand hat, sind die alle salzig.
Der Ledersack war zum Tragen gleich eingerichtet, hatte Riemen. Miller hing ihn sich versuchsweise auf den Rücken, ging etwas hin und her.
»Das ist ja gar kein Gewicht!«, rief er mit freudigem Staunen.
Nein, achtundzwanzig Pfund, die man sich einmal so auf den Rücken hängt, haben für einen erwachsenen Mann auch nicht viel zu bedeuten, da kann er sogar ein Schwächling sein, zumal wenn sich das Gewicht wie solch ein nachgiebiger Wassersack so schön dem Rücken anpasst.
Die Männer waren gegangen, Tom Miller war allein, wollte aber nicht allein bleiben.
Er verließ seine Wohnung, verschloss sie, machte mit Anbruch des Abends einen Gang in das arabische Geschäftsviertel, das jetzt erst zum richtigen Leben erwachte.
Er machte noch verschiedene Einkäufe, darunter recht merkwürdige. So zum Beispiel erstand er auch ein Pfund Pech. Wozu wollte er das in seiner Junggesellenwohnung gebrauchen? Aber er hatte in seinem Selbstgespräch schon verraten, dass er zwischen Talg und einem Harz geschwankt, hatte sich zuletzt also für Pech entschieden. Dass er sich für fünf Franken eine amerikanische Weckuhr kaufte, das war schon eher verständlich.
Gegen acht Uhr kehrte er zurück, entfachte ein Feuer und bereitete sich die erste Mahlzeit, Reis mit Rindfleisch, dabei gleich verratend, dass er von der Kocherei eines Junggesellen schon etwas verstand.
Wie er im Scheine der Petroleumlampe am Herd hantierte, sich dann hinsetzte und eine Zigarette rauchte, machte er ein immer zufriedeneres Gesicht.
»Ich glaube, hier in dieser armseligen Schmiede könnte ich es immer aushalten, hier möchte ich für immer wohnen, auch als vielfacher Millionär«, murmelte er vor sich hin.
Wie er auf diesen Gedanken kam, das werden wir später noch begründen. Man braucht ja auch nur daran zu denken, dass es ein alter Zuchthäusler war, dem sich erst vor wenigen Tagen die Kerkerzelle geöffnet hatte, und während dieser letzten Tage war er immer auf der Reise gewesen und hatte Unbequemlichkeiten aller Art und auch Hunger ausstehen müssen, um diesen Gedanken vielleicht schon begreiflich zu finden.
Ehe das Gericht noch gar war, klopfte es an der Tür, er öffnete ohne weitere Vorsicht.
Er sah, wie die ganze Nachbarschaft in vollem Leben war, und vor seiner Tür stand ein Weib, wie gewöhnlich die untere Hälfte des Gesichts mit einem schwarzen Tuche verhangen, über der Nase die goldene Spange, aber man konnte doch gleich erkennen, nicht nur an den schwarzen, feurigen Augen, dass es ein noch junges, sehr hübsches Mädchen war.
Sie sagte etwas, die Laute tief hinten aus der Kehle hervorbringend. Milder verstand nichts. Dann aber nahm sie einige englische Worte zu Hilfe; er hörte mehrmals das Wort »milk«, und schließlich wusste er doch, dass es ein Milchmädchen war, das fragte, ob es ihm morgen früh und jeden Tag Milch bringen solle.
Miller verzichtete auf das Anerbieten, dann aber blickte er doch recht sehnsüchtig der auch noch in ihrer Vermummung schlanken, schöngebauten Gestalt nach, wie sie sich wieder entfernte.
»Wir werden uns schon noch befreunden«, schmunzelte er. »Wenn ich mich nur erst mit der Nachbarschaft vertraut gemacht habe. Diese Mohammedaner sind gar nicht so, am wenigsten die Weiber, und die Männer haben auch nichts dagegen einzuwenden. Ned Carpenter hat mir doch alles erzählt. Sonst wäre die doch auch gar nicht erst gekommen.«
Wieder aß er seine Mahlzeit mit bestem Appetit oder sogar mit Heißhunger, dann machte er sich ein Päckchen mit Proviant, das er mit Sackleinwand umschnürte, stellte den amerikanischen Wecker, den er ebenfalls gekauft hatte, auf vier Uhr, legte sich angekleidet auf die Sandmatratze, verlöschte das Licht und war schnell eingeschlafen.
Aber nicht sanft. Unruhig wälzte er sich hin und her, abgerissene Worte kamen aus seinem Munde.
»Die Ameisen — Hilfe, Hilfe — sie fressen mich, sie wühlen mir in den Eingeweiden —«
Als der Wecker um vier klingelte, sprang er empor, ganz schweißgebadet.
»Verflucht, keine Nacht lassen mir die Ameisen Ruhe, immer fressen sie mich an! Es ist ja begreiflich, nach dem, was mir Ned Carpenter da erzählt hat, aber angenehm ist das nicht!«
Doch ermattet fühlte er sich nicht, ein eigentlicher Fieberzustand konnte es nicht sein, was er mit Befriedigung konstatierte.
»Jeder Strapaze gewachsen!«, bestätigte er sich selbst.
Er stieß einen Fensterladen auf, draußen dämmerte der Morgen, der ja im Sommer umso später einsetzt, je mehr man sich dem Äquator nähert. Dafür geht in den nördlichsten Breiten die Sommersonne überhaupt nicht mehr unter.
Ohne an ein Frühstück zu denken, rüstete er sich für den Abmarsch, hing sich den Wasserschlauch auf den Rücken, wieder mit Vergnügen dessen Leichtigkeit konstatierend, den Proviantpack dazu, entnahm dem Koffer die Leine, das Uhrgewicht und eine Taschenlampe, die er sich schon früher besorgt haben musste, überzeugte sich, dass sie mit Petroleum gefüllt war, dass er Streichhölzer und sonst alles, was er zu gebrauchen gedachte, bei sich hatte, und er verließ die Schmiede, draußen die Tür verschließend.
Er schlug die Richtung nach jener Schlucht ein.
Wir begleiten ihn auf dieser seiner ersten Tour nicht.
Nach fünf Tagen erst kehrte er am späten Abend zurück.
Die arabische Nachbarschaft, die ihn doch schon gesehen, hätte ihn kaum wiedererkannt.
Der so auffallend blasse junge Mann war schwarzbraun gebrannt, und war er sowieso schon sehr hager gewesen, so war jetzt kein Quäntchen Fleisch mehr an seinem Leibe, ein Gerippe, wie in einer Kaffeetrommel geröstet, zur Mumie ausgetrocknet. In dem Gesicht traten die Backenknochen weit hervor, die Nase war ganz spitz geworden, tief lagen die Augen in den Höhlen.
Obgleich er keinen Proviantpack mehr trug und der Wasserschlauch schlaff auf seinem Rücken hing, konnte er sich doch kaum noch schleppen, kaum vermochte seine zitternde Hand das Vorhängeschloss zu öffnen, und dann stürzte er über die Wasserurne her, trank und trank mit gierigen Zügen, bis man glaubte, er müsse platzen.
Dann sank er auf die Pritsche.
»O, Du verflixter Ned Carpenter, dass Du mir diesen höllischen Floh ins Ohr setzen musstest!«
So stöhnte er, und dann fiel er in einen totenähnlichen Schlaf, aus dem er erst am andern Tag am späten Morgen erwachte.
Da aber schien er sich wieder ganz wohl zu fühlen, zumal nachdem er nochmals reichlich aus der Urne getrunken hatte.
Den leeren Wasserschlauch hatte er gestern einfach fallen gelassen; jetzt packte er, immer hinter geschlossenen Fensterläden beim Scheine der Petroleumlampe, seine Taschen aus, und da zeigte es sich, dass diese mit englischen Goldstücken, mit Guineen, gestrotzt gefüllt waren, und alle waren mit etwas Pech besudelt.
Er machte sich daran, sie zu zählen, und 1128 Stück waren es,. die er herausbrachte.
Schon während dieser Beschäftigung schien eine sehr behagliche Stimmung über ihn zu kommen. und diese nahm noch zu, als er dann mit größerer Gier denn je seinem Proviant zusprach, dabei auch immer wieder einmal Wasser trinkend, schlürfend, als wäre es der köstlichste Wein.
Ah, dieser Genuss! Es geht doch nichts über Wasser! Also richtig 1128 Goldstücke, wie ich sie schon an Ort und Stelle gezählt hatte. Aber mehr möchte ich nicht —«
Der zufriedene Gesichtsausdruck verschwand, er wurde wie von Entsetzen geschüttelt.
»Zum zweiten Male möchte ich das nicht durchmachen, es war gar zu grässlich!«
Wie er in Brot und Käse biss, kam die Zufriedenheit wieder.
»Ich werde mich hüten, dieses wahnsinnige Experiment noch einmal zu machen. Mich wundert nur, dass ich Kairo wieder erreicht habe, vom letzten Tage weiß ich überhaupt gar nichts mehr. Ich habe immer nur von Wasser phantasiert.
Tom, sei kein Narr! Mit diesem Golde hast Du genug, um zwanzig Jahre davon leben zu können, oder wenn Du es zur Vorsicht einschmilzt und dann verkaufst, bekommst Du immer noch genug, um von den Zinsen leben zu können.
Was Ned Carpenter mir von der Billigkeit erzählt hat, mit der man in Ägypten leben kann, trifft noch immer zu, wie ich mich gestern beim Einkaufen — nein, vor vier oder gar fünf Tagen muss es gewesen sein — überzeugt habe.
Die Ottomanische Bank, die doch todsicher ist, gibt fünf Prozent, tausend Pfund bekomme ich sicher für das eingeschmolzene Guineengold, das sind jährlich fünf Pfund Sterling.
Und mehr als drei Schilling verbrauche ich nicht; da kann ich hier wie ein Fürst leben.
Oder ich brauche das Gold auch nicht einzuschmelzen, ich gebe ein Goldstück aus, wenn ich es wechseln muss, in der Woche eins, das kann niemals auffallen.
Tom, sei nur klug, wie Du es immer gewesen bist, mit Ausnahme von damals, wo Du auch schon einmal ein reicher Mann gewesen bist und wo Du in der verfluchten Spelunke — na, denken wir lieber nicht mehr daran, so ein Esel bist Du nicht wieder.
Tom, sei klug, Du kannst hier bis an Dein Ende ein denkbar behagliches Leben führen!«
So sprach der langjährige Zuchthäusler, für den eben Weißbrot, sogar altbacken und hart, schon mit Käse die größte Leckerei und diese Schmiede mit der Sandmatratze einen behaglichen Komfort bedeutete, und nun musste noch etwas Furchtbares hinzugekommen sein, was er in diesen fünf Tagen ausgestanden hatte, sodass ihn immer wieder das kalte Entsetzen schüttelte, wenn er nur daran dachte und infolgedessen ihm auch schon Wasser einen Hochgenuss deuchte.
Man braucht nicht im Zuchthaus gesessen zu haben, schon eine mehrwöchentliche Hungerkur im Hospital genügt, etwa wegen Fiebers, um zu wissen, was es bedeutet, wenn man dann wieder nach Belieben essen kann. Da glaubt man, ein herrlicheres Leben könne es überhaupt gar nicht geben. Und der Zuchthäusler hatte doch sicher dabei auch immer schwer arbeiten müssen, was er jetzt ebenfalls nicht nötig hatte.
Er sah sich für seinen goldenen Schatz nach einem geeigneten Versteck um, riss von der Diele eine Planke auf, sah darunter Sand, in diesem vergrub er die Guineen bis auf drei Stück, die er bei sich behielt, nagelte die Planke wieder zu, stellte die Holzböcke mit der Pritsche darüber und legte sich hin.
So verbrachte er den ganzen Tag, essend und Wasser trinkend und ab und zu eine Zigarette rauchend, ganz Behagen. Nur an die letzten Tage durfte er nicht denken, da überlief ihn immer wieder kaltes Entsetzen.
Um Petroleum zu sparen, hatte er das eine Fenster etwas geöffnet, aber so, dass er auf seinem Lager nicht von draußen gesehen werden konnte. Sonst kümmerte er sich nicht darum, was draußen vor sich ging. Er war eben ganz behagliche Zufriedenheit, träumte davon, dass dieses Leben immer so währen würde. Der ehemalige Zuchthäusler meinte hier in dieser armseligen Schmiede das Paradies auf Erden gefunden zu haben.
So verbrachte er fast den ganzen Tag, bis nachmittags ein Besuch kam: Jussuf der alte Karawanenführer, der ihm den Wasserschlauch besorgt hatte, der ein ganz geläufiges Englisch sprach. Er durfte eintreten, hatte gleich seinen kleinen Teppich mitgebracht, auf dem er sich niederkauerte, um seine Pfeife zu schmauchen.
»Du warst die fünf Tage in der Gemeljade?«, eröffnete er nach einigen höflichen Redensarten das Gespräch.
»Jawohl.«
»Hast wohl etwas Besonderes erlebt?«
»Weshalb?«
»Du warst gar so schwach, als Du wiederkamst, konntest Dich ja kaum noch auf den Füßen halten.«
»Ja, ich habe etwas erlebt«, ging Miller schnell darauf ein.
Und er erzählte ein Märchen, wie ihm, als er sich gleich im Anfang hingelegt habe, ein merkwürdiges Weib erschienen sei, das ihn durch ihren Blick fünf Tage lang gebannt habe, sodass er nicht fähig gewesen sei, sich zu rühren, sodass er also auch nicht habe essen und trinken können.
Erst am Abend des fünften Tages sei das überirdische Weib plötzlich verschwunden und der Bann von ihm gewichen, kaum habe er sich zurückschleppen können.
Aufmerksam hatte der alte Araber gelauscht.
»Ja, ja, das war die Gemelfatesch«, nickte er bestätigend, sich aber dabei scheu umsehend, da ein echter Muselman diesen Namen gar nicht aussprechen darf. »Sie hat es nicht nur auf Kamele, sondern auch auf Menschen abgesehen. Deshalb wird auch kein wahrer Gläubiger dieses Hexental betreten.«
So sprach der Alte, und nun wissen wir den Grund, weshalb Miller, der eben die Verhältnisse schon kannte, keine Wasserträger mitnahm, um zu seinem so weit entfernten goldenen Ziele zu gelangen. Er hätte dazu nur verkommene Individuen engagieren köannen, die geistig freilich schon so weit fortgeschritten waren, dass sie an Hexen und dergleichen nicht mehr glaubten, die ihn aber auch sofort ermordet hätten, sobald sie nur einige Piaster bei ihm vermuteten.
Der Alte entfernte sich bald wieder, auch Miller, der sich den ganzen Tag ausgeschlafen hatte, beschloss auszugehen. Vorher öffnete er noch einmal seine Schatzkammer, entnahm ihr eine Handvoll Goldstücke, denn er wollte Verschiedenes einkaufen, vor allen Dingen hatte er einen Anzug sehr nötig. Dieser hier löste sich nun bald gänzlich in Fransen auf, und einen zweiten besaß er nicht. Gleich eine Handvoll Goldstücke wäre dazu ja nun freilich nicht nötig gewesen.
Er schlenderte durch das arabische Viertel, das jetzt erst zum vollen Leben erwachte, kam in das griechische, betrat einen Basar, kaufte einen Anzug und einige Leibwäsche, über den billigen Preis staunend, ohne zu wissen, wie er noch dabei betrogen wurde. Den Anzug legte er gleich an, den alten und die Wäsche wollte er später abholen.
Dann bummelte er weiter, bis ihn die gebratenen Hühner lockten, die in einem Bachhal, einer griechischen Restauration, im Schaufenster ausgestellt waren.
Es war eine armselige Spelunke, aber die ihm vorgesetzten Speisen ausgezeichnet. Dem Wein, den er dazu gratis bekam, sprach er nicht zu, er kaufte sich lieber extra eine Flasche Limonade.
Wieder war es ein sehr hübsches Mädchen, das ihn, den einzigen Gast, bediente. Sie konnte ziemlich gut Englisch, besser noch durch heiße Blicke sprechen, und es dauerte auch gar nicht lange, als Miller, der sich anfangs sehr kühl gezeigt hatte, Feuer fing.
Er bezahlte mit einem Goldstück, ließ dabei auch einige andere sehen.
»Der Herr trinkt wohl nur nach dem Essen Wein? Wollen Sie ihn im Hinterzimmer trinken?«, kam ihm die Maid denn auch gleich entgegen, ohne sich um die alte dicke Frau, welche hinter der Bar stand, zu kümmern.
»Gibt es hier ein Hinterzimmer? Sind wir da allein?«
»Ganz, ganz allein.«
Miller war sofort bereit, dem Mädchen zu folgen. Dasselbe wechselte mit der alten Frau einige Worte und geleitete ihn durch eine Hintertür hinaus. Es ging einen düsteren Korridor entlang und auch eine Treppe hinab, ohne dass Miller daran dachte, er könne in einen Keller geführt werden. Dann öffnete das Mädchen eine Tür. Miller sah zu seinem Staunen statt des vermeinten kleinen Hinterstübchens einen mehr saalähnlichen, sehr elegant ausgestatteten Raum, der auch durchaus nicht einsam war, vielmehr saßen darin in verschiedenen Gruppen um Tischchen sehr viele Herren und Damen, alle von hochnoblem Aussehen.
Was sie an den Tischen trieben, das war ja gleich zu erkennen, dazu nun ein sehr freies Verhalten und reichliche Champagnerflaschen — Miller sah sich in ein Spielhölle geführt, zu welcher jene ärmliche Spelunke nur einen der versteckten Eingänge bildete.
»Was soll denn das? Wo bringen Sie mich hin?«
»Ich komme gleich wieder, dann führe ich Sie in ein einsames Zimmer.«
Miller war von seiner Führerin verlassen, und er versuchte ihr nicht zu folgen, wenn es ihm überhaupt möglich gewesen wäre.
Übrigens nahm er die Sache nicht tragisch, eine Gefahr war ja gar nicht vorhanden, und man ließ ihn auch nicht lange allein stehen, schnell suchte man die Bekanntschaft des neuen, sehr elegant gekleideten Ankömmlings, besonders war er gleich von bezaubernden Damen umringt.
Wir brauchen nur zehn Minuten zu überspringen. Es war dieser Gesellschaft doch ein Leichtes, solch einen Waschlappen zu verführen. Dann saß Miller mit an einem der Tische und setzte ein Goldstück auf eine der Karten, hatte auch schon zwei Glas Champagner getrunken.
Er gewann und verlor und gewann, trank auch Liköre, gewann immer mehr, vor ihm häuften sich die Goldstücke und Banknoten. Es wurde hier außerordentlich hoch gespielt, jeder Einsatz wurde gehalten. Wahrscheinlich war hier erst vor Kurzem ein Millionendieb, ein durchgebrannter Kassierer, vollständig gerupft worden. Danach sah es ganz aus, daher das viele Geld, die Tausendfrankennoten, die hier rollierten, und Miller schien sie alle an sich bringen zu wollen. Er wurde vom Glück geradezu verfolgt.
Dann aber wendete sich das Blatt, er verlor und verlor, bis er das letzte Silberstück auf eine Karte gesetzt hatte und von einem der Mitspieler einstreichen sah.
Mit einem wilden Fluche sprang er auf.
»Monsieur, hier wird nicht geflucht, Sie befinden sich hier in einer sehr auserlesenen Gesellschaft«, bedeutete ihm ein höchst energisch aussehender Herr, der auch danach gebaut war.
Der Zeitpunkt war also gekommen, da der Gerupfte an die frische Luft gesetzt werden sollte.
»Ich habe alles verspielt!«
Das brauchte er hier nicht erst zu versichern, das war ihm doch gleich anzusehen.
»Das ist sehr bedauerlich.«
»Das kann nicht mit rechten Dingen zugegangen sein!«
»Glauben Sie etwa, hier wird falsch gespielt?«, klang es drohend.
Nein, diesen Vorwurf konnte Miller beim besten Willen nicht erheben.
»Oder wollen Sie uns etwa denunzieren? Wenn Ihnen das gelingt, sollen Sie noch extra eine Prämie erhalten.«
»Ich will anderes Geld holen.«
Da war die Stimmung der Herren, die sich bedrohlich um die Gruppe drängten, sofort umgeschlagen.
»Haben Sie noch Geld?«
»Massenhaft.«
»Wo wohnen Sie?«
»In — ich werde es holen.«
Miller war tatsächlich entschlossen, anderes Geld zu holen, um das Glück doch noch zu zwingen. Eine Begleitung schlug er ab, man gab ihm die Adresse der Spielhölle, und er befand sich auf der Straße.
Die kühle Nachtluft machte ihn nicht nüchtern, erst jetzt stellten sich bei dem schwächlichen Trunkenbolde die Folgen des reichlich genossenen Alkohols ein, und gerade deshalb änderte sich sein Entschluss nicht.
»Ich muss mein Geld wiedergewinnen, ich muss!«
Er wusste sein Haus an der Wüstengrenze zu finden, brauchte ja nur ungefähr die Richtung einzuhalten, riss das Brett der Diele auf, pfropfte seinen ganzen Goldschatz in die Taschen, verschloss die Tür wieder und trat den Rückweg an, nach wie vor mit fiebernden Schläfen.
Die Adresse hatte man ihm schriftlich mitgegeben, also ein Zeichen, wie sicher sich die Spieler hier in Kairo fühlten, er brauchte sie nur vorzuzeigen, überall war ja noch volles Nachtleben, und er erreichte sein Ziel wieder.
Miller begann von Neuem zu spielen, diesmal wie ein Wahnsinniger, ohne jede Berechnung, und gerade deshalb war ihm das Glück außerordentlich günstig. Jetzt häuften sich die Goldstücke und die Banknoten vor ihm erst recht.
Oder war die neue Partnerin daran schuld, die sich ihm beigesellt hatte?
Es war keine andere als die Marquise de Berniere, die sich ihn als Nachbar auserkoren hatte, jetzt in Begleitung eines jungen Fants, um den sie sich aber nicht weiter kümmerte, desto größere Aufmerksamkeit ihrem neuen Opfer widmend.
Sie erkannte ihn sicher nicht wieder, vor dem sie vor fünf Tagen mit Worten des Ekels das Kleid an sich gerafft hatte, und Miller gab sich natürlich auch nicht zu erkennen.
Dabei trank er immer reichlicher, bis er selbst merkte, wie ihm die Besinnung zu schwinden drohte, ohne dass dies sein fabelhaftes Glück beeinträchtigte.
»Jetzt hören Sie lieber auf, Sie haben genug gewonnen, doch mindestens hunderttausend Franken, damit seien Sie zufrieden, das Glück beginnt sich wieder für Sie zu wenden, kommen Sie mit mir.«
Das war das letzte, was Miller von seiner schönen Nachbarin sagen hörte, dessen entsann er sich später noch ganz klar.
Und er befolgte den Ratschlag, besonders eben, weil er merkte, dass ihm gleich die Besinnung völlig schwinden müsse, wovor er sich denn doch fürchtete.
Hunderttausend Franken gewonnen! Dieser Gedanke trug vollends dazu bei, um ihn ganz schwindlig zu machen.
Er raffte die Banknoten zusammen, Gold hatte er nur noch wenig bei sich, pfropfte sie in die Taschen und folgte seiner Begleiterin, ließ sich willenlos von ihr fortführen.
Nur ganz dunkel war dem vom Alkohol Überwältigten in der Erinnerung, dass er in einem Wagen saß, dann verließ ihn einfach die Besinnung.
Als er aus einem todesähnlichen Schlafe erwachte, glaubte er erst, der Kopf müsse ihm zerspringen, und es dauerte einige Zeit, ehe er um sich schauen konnte.
Da sah er denn, dass er in einem hocheleganten Zimmer auf einem schwellenden Polster lag.
Merkwürdigerweise, eben noch immer stark benebelt, schloss Miller erst noch einmal die Augen und gab sich dem süßen Bewusstsein hin, hunderttausend Franken sein Eigen nennen zu können, ohne solch fürchterliche Strapazen erbeutet.
Mit einem Male aber schrak er aus seiner nochmaligen Betäubung empor, nämlich in dem Bewusstsein, dass dem vielleicht doch nicht so sein könne.
Dort auf einem Stuhle lagen liederlich seine Sachen, zum Teil auch daneben am Boden.
Mit einem Satze sprang er auf, der fürchterlichen Kopfschmerzen nicht achtend, und untersuchte seine Taschen. Aber wie er auch suchte, es war auch nicht ein einziger Penny und Sous zu finden, von Banknoten erst recht keine Rede.
»Dieses Weib wird mich doch nicht etwa —«
Er wagte den Gedanken gar nicht auszudenken.
Nachdem er noch eine Weile mit fieberhafter Hast nach dem Gelde gesucht hatte, drückte er den Knopf der elektrischen Klingel.
Ein glattrasierter Kellner mit bewegungslosem Gesicht erschien.
»Was befehlen der Herr?«
»Wo befinde ich mich hier? Was ist das für ein Hotel?«
Es war eines der vornehmsten.
»Was ist die Zeit?«
Es war drei Uhr nachmittags.
»Wo ist die Dame, meine Begleiterin?«
»Die Marquise de Berniere?«
»Jawohl.«
»Die Marquise ist bereits gestern früh abgereist.«
Miller glaubte nicht recht gehört zu haben.
»Wir sind doch erst heute Nacht gekommen.«
»Nein, gestern Nacht.«
»Was, gestern Nacht?«
»Der Herr haben gestern und heute den ganzen Tag geschlafen; die Marquise hat schon gestern früh das Hotel verlassen und den Auftrag gegeben, Sie nicht zu stören. Das Zimmer hat sie für eine Woche im Voraus beahlt.«
In Millers schmerzendem Kopfe begann es ja nun vollends zu dämmern, und er brach doch fast gleich zusammen.
»Sie hat mich bestohlen, alles Geld!«, schrie er dann auf.
Der Kellner verzog keine Miene.
»Das müssen Sie der Polizei melden. Oder wollen Sie erst den Herrn Geschäftsführer sprechen?«
Miller verzichtete von vornherein auf eine derartige Anzeige. Der ehemalige Zuchthäusler wollte durchaus nichts mit der Polizei zu tun haben. Man hätte ihn erkennen und Fragen stellen können, die er nicht gern beantwortete.
Der Kellner hatte das Zimmer wieder verlassen, und Miller saß ganz gebrochen auf seinem Bett.
O fürchterliche Komödie!
Er hatte der Marquise das Portemonnaie mit sechs Pfund Sterling gestohlen, sie aber war ihm mit seinen hunderttausend Franken durchgegangen! Vor allen Dingen aber mit demjenigen Gelde, das er sich unter den fürchterlichsten Strapazen erbeutet hatte!
Nach und nach ward er ruhiger. So wenig wie er also an eine Anzeige dachte, hatte eine Verfolgung einen Zweck. Seit gestern schon fort — wer wusste, wo die jetzt schon war, auf welchem Schiffe die schon schwamm.
»Ich muss eben nochmals hin nach dem Ameisentempel, es hilft nichts, so entsetzlich der Weg auch ist. Dann aber werde ich klüger sein. Ich werde meine Schmiede niemals wieder verlassen.«
So sagte er sich, wenn auch mit Grausen, wenn er an die neuen fünftägigen Strapazen dachte, die ihm bevorstanden, und dann legte er sich wieder zu Bett.
Er wäre lieber gleich gegangen, um nachzusehen, ob er gestern oder vorgestern Nacht wirklich alles Gold aus seinem Versteck geholt hatte, was ihm doch nicht so ganz in der Erinnerung war, aber er war einfach nicht fähig dazu.
Am Abend erwachte er gekräftigter und verließ das Hotel. Ein Glück, dass die Marquise das Zimmer und alles schon im Voraus bezahlt hatte, sonst hätte er doch vielleicht noch mit der Polizei zu tun bekommen. Er trat den Weg nach dem arabischen Viertel an.
Als er an der griechischen Spelunke vorüberkam, schüttelte er die Faust.
»Wartet, Euch wische ich auch noch eins aus!«
Er erreichte die Schmiede und untersuchte sein Versteck. Wahrhaftig, er fand in dem Sande unter der Diele wenigstens noch ein einziges Goldstück, das ihm damals entgangen war. Es hatte doch etwas für ihn zu bedeuten. Er glaubte dadurch einen Plan zu fassen, wodurch er dem Wassermangel unterwegs wenigstens in etwas abhelfen konnte.
Erst stillte er an dem noch vorhandenen Proviant seinen Riesenhunger, der sich jetzt bemerkbar machte, dann legte er sich hin, schlief die ganze Nacht hindurch. Auch am andern Tag wollte er noch ruhen für die kommenden Strapazen, traf aber doch schon Vorbereitungen.
Er suchte den alten Karawanenführer auf und beauftragte ihn, ihm noch einen zweiten solchen zehn Oka fassenden Wasserschlauch zu besorgen, was denn auch geschah. Dann blieb ihm gerade noch so viel übrig, dass er seinen zur Neige gehenden Proviant ergänzen konnte, den er mitnehmen wollte.
Am nächsten Morgen wieder in aller Frühe marschierte er ab, diesmal zwei solcher Wasserschläuche gefüllt auf dem Rücken. Es war eine Last von mehr als fünfzig Pfund, unter der er freilich keuchte. Aber er wollte den einen Schlauch auch nur so weit tragen, wie er es eben aushielt, dann ihn liegen lassen, um auf dem Rückweg schon eher Wasser zu haben.
Mit furchtbarer Glut brannte die hochgehende Sonne in das Schluchtental hinab, dessen Felswände so seltsam in den buntesten Farben prangten.
Da tauchte aus einem der Höhlenlöcher, welche diese Felswände überall und in jeder Höhe durchziehen, ein menschlicher Kopf auf, geschmückt mit einem langen, blonden Vollbarte.
Die blauen, wie geschliffener Stahl blitzenden Augen brauchten nicht lange nach links, nach Westen zu spähen, so sahen sie dort eine menschliche Gestalt auftauchen, die längs der Felswand marschierte.
»Er ist es! Der Zeitpunkt ist ganz genau ausgerechnet worden, keine Viertelstunde habe ich zu warten brauchen. Nun allerdings muss ich mich, wenn sonst alles zutrifft, noch etwas gedulden.«
Der Prinz, der es natürlich war, krocht wieder etwas in die Höhle zurück, wobei es sich zeigte, dass er mit der einen Hand einen kleinen Wachtelhund festgehalten hatte, der sich jetzt durchaus von seinem Griff befreien wollte.
»Still, Wichtelmann! Ich glaube schon, dass auch Du jetzt weißt, dass unser erwarteter Mann kommt, aber gerade jetzt musst Du beweisen, dass Du Dich wirklich zum Jagdhund eignest. Wehe Dir, wenn Du auch nur einen einzigen Laut von Dir gibst!«
Der Prinz hatte recht. Der Wachtelhund wäre eigentlich ein vortrefflicher Jagdhund. Er hat eine ganz ausgezeichnete Nase und außerdem ist er — ganz merkwürdigerweise, es ist gar nicht zu erklären — der einzige Hund, der sofort die Spur eines Löwen oder Tigers annimmt und das Raubtier bis in sein Lager verfolgt. Man möchte da fast eher an Dummheit glauben, die eben die Gefahr nicht erkennt. Wenn nicht der Wachtelhund sonst ein sehr kluges Tier wäre. Es ist eben angeborener Mut, der vor nichts zurückschreckt. Gerade deswegen aber ist der Wachtelhund nicht zur Jagd zu gebrauchen. Er geht eben durch Dick und Dünn, immer kläffend, verscheucht alles kleinere Wild und fällt jedem größeren sofort zum Opfer.
Dieser hier, ein Zwerg von ganz besonderer Kleinheit, der den Namen Wichtelmann führte, war aber eine Ausnahme. Er hatte bemerkt, dass sich etwas nahte, doch der Prinz konnte getrost die Schnauze freigeben, der Befehl genügte, das Hündchen blieb im Hintergrund und verhielt sich ganz still.
Einige Zeit verging. Noch einmal schlich sich der Prinz nach vorn und spähte aus einer Höhe von etwa vier Metern hinab, musste sich so vorsichtig wie möglich ziemlich weit vorbiegen, da die Felswand hier bedeutend überhing.
Da sah er, wie der Mann, der einen Wasserschlauch auf dem Rücken trug, mühsam durch den tiefen Sand watend, gerade unter ihm stehen blieb und sich sofort zu Boden warf, dorthin, wo die überhängende Felswand einen schmalen Schattenstreifen spendete.
»Ich kann nicht mehr! O, Du verfluchter Carpenter, dass Du mir Dein Geheimnis mitteilen musstest! Ach, ich Narr, ich tausendfältiger Narr! Nun habe ich schon einmal so viel gehabt, um bequem davon leben zu können, und ich Esel muss es solch einem Frauenzimmer in den Rachen werfen, muss nun noch einmal diesen fürchterlichen Weg machen! Ach, dieses verfluchte Gold!«
So erklang es wimmernd. Und dann begann ein neuer Seelenkampf. Er nahm den Wasserschlauch her, der schon ziemlich schlaff war, setzte die Lippen an das röhrenförmige Mundstück und trank gierig, aber nicht nach Belieben, sondern er zählte dabei offenbar die Schlucke ab, ehe er seinen brennenden Durst gelöscht hatte.
»Nicht mehr, ich darf nicht mehr! Was soll sonst aus mir auf dem Rückweg werden. Ich bin verloren, ich verschmachte, ehe ich den andern Wasserschlauch erreichen kann. O, Du verfluchter Carpenter, dass Du nicht sterben konntest, ohne mir von Deinem höllischen Golde vorgeschwatzt zu haben!«
Und wieder erging er sich in Schmähungen über seinen alten Zuchthausfreund und über das Weib, das seiner Meinung nach ebenso an diesem seinem Unglück schuld war. Er war aber doch auch so ehrlich, sich selbst den größten Dummkopf zu nennen, der je auf dieser Erde gewandelt sei.
Aber wie er auch mit dem Wasserschlauch liebäugelte, wie seine Finger auch danach zuckten, so viel Energie besaß er doch, lieber von Durst gefoltert zu werden, als noch einmal den Wasservorrat anzugreifen. Oder es war eben die Angst vor dem sonst unvermeidlichen Verschmachtungstode, die ihm verbot, noch einmal seinem jetzt noch erträglichen Durste nachzugeben.
»Na, nur noch dieses einzige Mal«, hatte er sich dann wieder etwas beruhigt, »jetzt werde ich einige Stunden ruhen, vielleicht kann ich gar schlafen, dann ist die größte Hitze vorüber, und dann habe ich höchstens noch eine Stunde zu marschieren, dann bin ich am Ziele und im kühlen Schatten. Aber diese Stunde könnte ich jetzt beim besten Willen nicht mehr aushalten.«
Er streckte sich bequemer aus, und bald verrieten seine regelmäßigen Atemzüge, dass er wirklich eingeschlafen war.
Der Prinz, der ihn aus der Höhe mit der nötigen Vorsicht beobachtet hatte, zog sich wieder in das Innere seiner Höhle zurück, noch tiefer als vorhin, eine starke Neigung hinab, dann kam wieder ein ebener Gang, in dem er sich aufrichten konnte und der an einem senkrechten Schachte endete. Nachdem er das Hündchen einfach in seine Rocktasche gesteckt hatte, drehte er sich um, stemmte beide Hände gegen die Felswände und tastete mit dem einen Fuß in den Schacht hinein. Er bekam die erste Sprosse einer Leiter zu fühlen, die er hinabstieg. Es waren kupferne Bänder, die in die Felswände eingelassen waren.
Wohl zwanzig Meter tief stieg er hinab, umgeben von schwärzester Finsternis, bis unter ihm ein Lichtchen auftauchte. Es war auf einer schwarzen Masse angebracht, die sich wie der Rücken eines Walfisches aus einer Wasserfläche hervorhob, die mit ganz schwacher Strömung durch einen ziemlich breiten Tunnel floss.
Also ein unterirdischer Flusslauf, der sich durch die Wüste hinzog, und zwar Süßwasser. Denn kaum hatte der Prinz den Walfischrücken, der aber aus Metall zu bestehen schien und auch eine offene Luke hatte, betreten und das Hündchen seiner Tasche entnommen und hingesetzt, als es an den Rand lief und gierig trank.
Man brauchte sich nicht zu wundern, dass es hier solch einen unterirdischen Flusslauf mit trinkbarem Wasser gab. Als bei Barrage, vier Meilen südlich von Kairo, die große Karawanenbrücke gebaut wurde, musste der Nil in ein anderes, künstliches Bett geleitet werden, was aber die größten Schwierigkeiten hatte, weil am Boden des alten Bettes überall Quellen hervorbrachen, deren Wasser durch Hunderte von Lokomobilen ständig weggepumpt werden musste. Überhaupt ist es ja bekannt genug, dass die Arabische und die Libysche Wüste wie die ganze Sahara kreuz und quer von unterirdischen Flussläufen durchzogen sind, die man durch Bohren nur zu finden wissen muss, um überall Brunnen und so neue Oasen zu schaffen.
Dieses Wasser hier floss ostwärts, mündete also wohl im Roten Meere, wahrscheinlich unterseeisch.
Der Prinz war in die Luke des Unterseeboots verschwunden, hatte sie hinter sich zugezogen, war rings von süßem, frischem Wasser umgeben. Und dort draußen lag ein Mann, der auch im Schlafe vom Durst gequält wurde, während dicht neben und unter ihm das frischeste Wasser floss, das er leicht hätte erreichen können, wenn er eben davon gewusst, diesen geheimen Höhlenzugang gekannt hätte.
Es war ein sehr enger und niedriger, aber traulich ausgestatteter Raum, den der Prinz betreten hatte.
Er setzte sich in einen Lehnstuhl und hing seinen Gedanken nach. Er wusste ja, was den Mann dort draußen bewog, mit einem knappen Wasservorrat eine so weite Wüstenwanderung zu machen, er kannte die Ursache seines quälenden Stöhnens, und da fiel ihm eine Geschichte ein, die er aus dem Munde dessen vernommen, der sie zum Teil miterlebt hatte.
Eine ganz, ganz merkwürdige Geschichte, welche zum Teil mit dieser hier die größte Ähnlichkeit hatte, anderseits noch viel, viel abenteuerlicher war.
Wir wollen sie dem Leser nicht vorenthalten, so sei sie hier eingeflochten.
Doktor Wilken — so wollen wir den Mann nennen, der diese Geschichte als daran mitbeteiligte Person dem Prinzen erzählt hatte — war nach seiner beendeten Studienzeit einige Jahre als Assistenzarzt in einem Hospital gewesen, dann suchte er sich eine eigene Praxis.
Er kaufte eine solche einem alten Arzte ab, der sich zur Ruhe setzen wollte, in einem kleinen Städtchen zehn Meilen westlich von Berlin entfernt.
Sein Vorgänger war Junggeselle gewesen, hatte bei einem Schneidermeister drei möblierte Zimmer gehabt, und wie Dr. Wilken diese Wohnung und die Wirtsleute sah, übernahm er dies alles auch gleich mit, brauchte nicht erst mit dem Medizinschrank und dem großen, verstellbaren Stuhle und dergleichen, was er erstanden hatte, auszuwandern.
Es war eine vortreffliche Handwerkerfamilie, in die er da gekommen, eine überaus saubere, aufmerksame Frau, die zwanzigjährige Tochter ebenso freundlich wie sittsam, und so auch der Mann ein ganz prächtiger Mensch.
Mit diesem Schneidermeister Martin müssen wir uns nun näher beschäftigen.
Ein Schneider, wie er im Buche steht, im Kinderbilderbuche.
Ein kleiner, dürrer, ganz vertrockneter Mann mit einem Ziegenbart und auch mit meckernder Sprache, der sich nur wohl fühlte, wenn er, nur mit Hose und Hemd angetan, vorn auf der Brust offen, mit gekreuzten Beinen auf seinem Schneidertische hocken und sticheln konnte, und auch auf dem gewöhnlichen Stuhle schlug er gewohnheitsmäßig immer die Füße unter.
Ein fabelhaft fleißiger Mensch! Von früh um sechs bis nachts um zehn hockte er auf seinem Tische und stichelte ununterbrochen, eine mächtige Hornbrille auf der Nase, ließ sich oft genug auch sein Essen auf den Werktisch bringen.
Dabei hatte er es gar nicht nötig. Meister Martin war ein vermögender Mann. Das dreistöckige Mietshaus war sein hypothekenfreies Eigentum. Er wurde so auf 50 000 Mark gesetzt, wozu nun noch ein beträchtliches Einkommen aus seiner Schneiderei hinzukam.
Dabei gar keine Spur von Geiz oder auch nur besonderer Sparsamkeit. Er ging nie aus, gehörte keinem Verein an, machte kein Vergnügen mit — aber er aß sehr gut, trank täglich einige Glas guten Wein, sehr guten Wein und nicht etwa, dass er dies nur sich selbst zu Gemüte zog, sondern das teilte er mit seiner Familie.
Er war ein äußerst geschickter Schneider, schon mehr ein Kleiderkünstler, arbeitete nur für die Honoratioren des Städtchens. Nur Meister Martin konnte solch einen feschen Promenaden- und so einen tadellosen Gesellschaftsanzug zusammenbauen. Er wurde mit Aufträgen überhäuft; er hätte ein halbes Dutzend Gesellen beschäftigen können. Und das hätte er doch getan, wenn er geldgierig oder auch nur verdienstlustig gewesen wäre. Aber er tat es nicht. Er hatte niemals einen Gehilfen beschäftigt, arbeitete stets ganz allein.
»Ich bin ein selbstständiger Schneidermeister, ich will wirklich selbstständig sein, und dazu muss man ganz allein sein.«
Solche Aussprüche tat er noch viele, hatte sie immer bei der Hand.
Er war eben ein Original durch und durch.
Dabei aber auch eine Seele von einem Menschen, wie er bei vielen regelmäßig wiederkehrenden Gelegenheiten bewies.
Am sogenannten dritten Weihnachtsfeiertage veranstaltete er alljährlich hier in seiner Werkstatt, nachdem er den ganzen Tag darin gearbeitet hatte, eine Weihnachtsbescherung für arme Kinder, alles aus seiner Tasche bestreitend.
Und vor Ostern nahm er keine Bestellungen mehr an, denn da suchte er sich ein halbes Dutzend armer Konfirmanden aus, denen er kostenlos schwarze Anzüge fertigte, dabei das beste Tuch benutzend.
»Damit mir der liebe Gott verzeiht, weil ich niemals in die Kirche gehe«, sagte er.
Nein, das tat er allerdings nicht, obgleich er sogar wirklich fromm war. Er hielt darauf, dass seine Frau und Tochter des Sonntags in die Kirche gingen, er betete vor dem Essen — aber in die Kirche ging er nicht. Nämlich weil er sich des Sonntags amüsieren wollte. Nur dass er dies wiederum auf eine ganz besondere Weise tat, wenn man die überhaupt ein Vergnügen nennen konnte.
Am Sonntagmorgen mit dem ersten Sonnenstrahl oder schon noch eher, brach er auf im Strapazieranzuge und mit dem Rucksack auf dem Rücken, und da machte das dürre Schneiderlein die weitesten Märsche, fünfzig Kilometer und noch mehr, in Sonnenglut wie im Schneesturm, ohne einmal einzukehren, ja sogar ohne überhaupt etwas zu essen, denn in dem vollgepackten Rucksack nahm er keinen Proviant mit, sondern da waren schwere Bleiplatten drin! Und ebenso war sein Spazierstock mit Blei ausgefüllt, er wog wohl zehn Pfund.
Wozu das? Nun, man brauchte ihn nur zu fragen, der blieb niemals eine Erklärung schuldig.
»Als ich mich in meinen jungen Jahren zum Militär stellen musste, wurde ich wegen allgemeiner Körperschwäche nicht angenommen. Ich könnte doch keine zehn Kilometer weit mit der Flinte und dem Tornister marschieren. Ich und allgemeine Körperschwäche, hähähä! Das hat mich mächtig gewurmt. Und am nächsten Sonntag bin ich sechzig Kilometer weit marschiert, und dann habe ich mir einen Rucksack angeschafft, den ich jeden Sonntag schwerer machte, und einen hohlen Spazierstock dazu, in den immer mehr Blei hineinkam, und das mache ich nun schon seit dreißig Jahren so, und heute noch in meinem fünfzigsten Jahre marschierte ich jeden Sonntag mehr, als einem Soldaten zugemutet wird, und mein Rucksack ist schwerer als ein vorschriftsmäßig gepackter Tornister, und mein Spazierstock, den ich über der Schulter trage, schwerer als ein Gewehr, und dabei esse ich den ganzen Tag nichts.«
So sprach Meister Martin, wenn er deswegen gefragt wurde.
Verrückt, nicht wahr?
Mitnichten — dieses simple Schneiderlein war vielmehr ein großer Lebenskünstler! Seine Arbeit befriedigte ihn, machte ihn glücklich, dann am Sonntag die außerordentliche Strapaze, zugleich ein Fasttag — an den Werktagen konnte er sich ja auf seinem Schneidertisch wieder ausruhen, immer bei bestem Appetit — kann man denn vom Leben mehr verlangen? Und er wusste sein Leben auch noch weiter auszubauen.
Auch Indianergeschichten und dergleichen las er gern oder vielmehr, er ließ sich solche vorlesen, denn zum Selbstlesen hatte er keine Zeit.
»Ich habe nichts von der Welt gesehen, ich habe immer arbeiten müssen«, sagte er dann, »aber wenn ich könnte, ich würde nach Amerika gehen und so ein Trapper werden und nur von der Jagd leben oder angeln — ach, immer angeln möchte ich!«
Und einige Wochen in jedem Jahre führte er das wirklich in der Praxis aus.
So gegen Ende Juni jedes Jahres, da wurde er auf seinem Schneidertische unruhig. Und sobald der erste Juli kam, da packte er seinen Rucksack, diesmal aber nicht Bleiplatten hinein, sondern der Hauptsache nach Leibwäsche, nahm aus dem Schranke eine Angelrute und was dazu gehört und fuhr nach Berlin und dann weiter nach Friedrichshagen an den Müggelsee oder überhaupt in diese ganze Wassergegend, die sich bis zum Spreewald erstreckt.
Da mietete er sich ein Boot und führte ein richtiges Hinterwäldlerleben, was dort sehr wohl möglich ist, briet sich die gefangenen Fische am offenen Feuer und schlief im Freien. So Mitte September kehrte er dann zurück, verbrannter denn durch seine Sonntagsmärsche, ganz verwettert, um mit alter Freudigkeit seine alte Arbeit wieder aufzunehmen.
Dieses ebenso solide und philisterhafte wie abenteuerliche Leben hatte Meister Martin seit fünfundzwanzig Jahren getrieben, seitdem er seine Frau geheiratet und sich selbstständig gemacht hatte, und vorher hatte er dieses Leben wohl auch schon einige Jahre geführt, und der nun schon fünfzigjährige Mann fühlte sich noch heute rüstig und gesund und glücklich dabei.
Gleich erfuhr Doktor Wilken dies alles noch nicht, als er als Garçonmieter in das Haus des Schneidermeisters einzog, sehr bald aber dessen Herzensgüte.
Der junge Mann musste bald erkennen, dass er sich verspekuliert hatte. Die Übernahme der Praxis mit allem, was dazu gehörte, hatte ihn all seine Ersparnisse und ein paar Tausend ererbte Mark gekostet, er glaubte ja auch nicht, dass sein Vorgänger ihn betrogen habe, aber die Kranken blieben aus.
Er musste immer mehr erkennen, dass er boykottiert wurde. Man hatte in dem philisterhaften Städtchen kein Vertrauen zu dem blutjungen Arzte. Aber es war auch noch etwas anderes dabei. Um »ins Geschäft« zu kommen, hätte er Gesellschaften und dergleichen mitmachen müssen, die er nicht mitmachen wollte und konnte, schon wegen seines knappen Geldbeutels nicht.
Kurz und gut, schon nach drei Monaten konnte der junge Arzt nicht einmal mehr die Miete bezahlen, ohne anderweitig Schulden zu machen.
Kurz entschlossen ging er zu seinem Mietsherrn.
»So und so, ich bin hier hereingefallen, und ehe ich mich in Schulden stürze, will ich die ganze Sache lieber aufgeben und wieder als Assistenzarzt gehen.«
Aber Meister Martin auf dem Schneidertisch dachte anders.
»Ach, wozu denn gleich die Flinte ins Korn werfen, die Sache wird sich schon noch einrichten. Und was die Miete anbetrifft — die habe ich gar nicht nötig. Ich habe die drei Zimmer nur vermietet, weil diese Wohnung für uns viel zu groß ist, und ich habe gern einen Arzt im Hause, weil ich so gern Chloroform und ähnliches Luderzeug rieche. Da machen Sie sich mal keine Kopfschmerzen, bleiben Sie ruhig bei uns, das bezahlen Sie alles später. Aber Sie müssen sich überhaupt einrichten. Warum essen Sie immer in dem teuren Gasthofe? Natürlich, in einem billigen können Sie nicht verkehren, sonst will dieses dumme Volk hier erst recht nichts von Ihnen wissen. Essen Sie doch bei uns, gehen Sie in volle Pension. Und ans Bezahlen brauchen Sie nicht gleich zu denken. Bleiben Sie nur bei uns, ich rieche Chloroform gar so gern.«
So meckerte das Schneiderlein vergnügt, und es meckerte noch mehr, wusste in einer Weise zu sprechen, dass der sonst sehr empfindsame junge Arzt das großartige Anerbieten auch wirklich annahm.
So ging er in volle Pension, aß mit am Tische, speiste auch wirklich vorzüglich, merkte gar nichts davon, dass er Handwerksleute zu Tischnachbarn hatte und ebenso wenig etwa, dass er ihnen etwas schuldig blieb.
Und mit der Zeit richtete sich die Sache denn auch wirklich ein. Einige Kranke kamen ja doch, Doktor Wilken machte eine sehr glückliche Kur, das Misstrauen zu dem jungen Arzte schwand, auch zahlungskräftige Patienten vertrauten sich ihm an, er konnte seine Schulden bezahlen, was nun natürlich auch angenommen wurde.
Und dann kam noch etwas anderes hinzu. Zwischen der blonden, sehr hübschen Elsbeth und dem Garçonherrn entwickelte sich ein Liebesverhältnis. Vielleicht könnte der Verdacht nahe liegen, dass der schlaue Schneidermeister nebst Gattin dies alles von vornherein zurechtgeschnitten hätten. Um zum Schwiegersohn einen Arzt zu bekommen, der eine Rolle spielte. Aber dem war durchaus nicht so. Erstens spielte der junge Arzt damals noch gar keine Rolle, und zweitens hätte die unbescholtene und vermögende Schneidertochter schon einige Male ganz ausgezeichnete Partien machen können, darunter einen Assessor, der nun wirklich in dem Städtchen eine Rolle spielte und von Haus aus auch sehr vermögend war. Aber Elsbeth hatte alle die Freier abgewiesen, weil bei ihr eben die Neigung gefehlt hatte. Hier der junge Arzt war ihr Erwählter. Und eines Tages trat Dr. Wilken vor den Schneidertisch hin.
»Na ja, freilich, Sie können meine Tochter haben, wenn Ihr Euch liebt. Aber eines sage ich gleich: Bekommen tut Ihr nichts von mir! Wozu auch. Ihr braucht ja nichts. Sie haben jetzt eine schöne Praxis, die genug einbringt — na, und wenn es nicht reicht, dann bin ich auch noch da. Nur bares Geld gebe ich nicht. Ich habe überhaupt keines. Nur dieses Zinshaus, das jährlich 2000 Mark bringt, und noch nie hat etwas leer gestanden. Wenn ich einmal tot bin, dann könnt Ihr damit machen, was Ihr wollt, jetzt noch nicht.«
Die Hochzeit wurde im bescheidenen Verwandtenkreise gefeiert, das junge Paar bezog in demselben Hause oben eine Wohnung, unten behielt Dr. Wilken seine ärztlichen Zimmer, und so blieb alles beim Alten. Es war ein ganz reizendes Familienleben. Dr. Wilken hatte gar nichts mehr zu wünschen.
Dadurch aber, dass er so in die Familie gekommen, erfuhr er nun natürlich auch mehr über seinen Schwiegervater, und da machte er zu seinem Erstaunen die Entdeckung, dass dieses Schneiderlein auch noch für seine eigene Frau trotz der nun mehr als fünfundzwanzigjährigen Ehe ein geheimnisvolles Rätsel war.
Einmal war Meister Martin schon in die Ferien gegangen, nun kam das zweite Mal, diesmal nahm er auch von seinem Schwiegersohn Abschied, außerdem auch von einem schon angekommenen Enkelchen.
»Kann man Dich da nicht einmal begleiten?«, meinte Dr. Wilken. »Ich mache solch ein Hinterwäldlerleben auch gern einmal mit.«
»Nein, nein, da muss ich ganz allein sein, sonst macht's mir keinen Spaß, das ist meine einzige Erholung im Jahre«, lautete die Antwort, die Dr. Wilken ganz zu würdigen wusste.
»Wenn ich nur wüsste, was der in seinem Geldschrank hat«, sagte Mama Martin, als der Vater mit Rucksack und Angelrute nach Berlin abgefahren war.
»Er hat eben sein Geld und seine Papiere und seine Ersparnisse drin, es macht ihm Spaß, das in seiner Nähe zu haben, da blickt er gern hin.«
»Nein, nein, da steckt was anderes drin — und überhaupt — ob der auch wirklich jedes Jahr an den Müggelsee bei Berlin fährt und da angelt?«
»Ja, wohin sollte er denn sonst fahren?«, fragte Dr. Wilken erstaunt.
»Ich weiß nicht — mir ist das niemals ganz geheuer vorgekommen — warum schreibt er denn niemals auch nur eine Ansichtskarte?«
»Aber, liebe Mutter — wenn er nun einmal den Trapper und Hinterwäldler spielen will — so einer schreibt doch keine Ansichtspostkarten! Aber wenn ihm nun einmal etwas passiert? Was hat er da für Bestimmungen getroffen?«
Hieran hatte Meister Martin selbst gedacht. Er konnte doch einmal mit dem Boote umkippen und ertrinken, wer wusste, wann seine Leiche gefunden wurde.
Ehe er abreiste, deponierte er immer den Geldschrankschlüssel in aller Form bei einem Notar. Kam er einmal nicht wieder, so sollte man bis zum 1. November warten. Dann konnte seine Frau oder sein sonstiger Rechtsnachfolger den Schlüssel dort erheben und den Schank öffnen. Eigentlich wäre es ja viel einfacher gewesen, den Schlüssel seiner Frau zu geben. Aber dieses Schneiderlein war Herr im Hause und hatte seinen eigenen Kopf. Er aß, was ihm vorgesetzt wurde, er verzog keine Miene. wenn die Linsen einmal angebrannt waren — aber in seine Angelegenheiten ließ er sich kein Wörtchen hineinreden.
Wegen dieses deponierten Geldschrankschlüssels nun freilich war auch der Verdacht bei der Frau Martin entstanden, dieser Geldschrank könne ein Geheimnis bergen, mit der Ferienreise ihres Mannes müsse es eine eigene Bewandtnis haben — und ihr Verdacht sollte auch seine Bestätigung finden. Meister Martin sollte diesmal seine letzte Reise angetreten haben.
Es wurde Mitte September, es wurde Ende September, und Meister Martin war noch nicht zurück. Da er so lange überhaupt noch nie ausgeblieben war, wurde die Polizei alarmiert. Dr. Wilken selbst reiste nach Berlin und nach Friedrichshagen und in dieses ganze Seengebiet
Aber niemand wusste etwas von einem Schneidermeister Gustav Martin, niemand wollte einen Mann von solchem Aussehen gesehen haben, der in einem Boote diese Seen und Zwischenstraßen befahren habe.
Er blieb verschwunden, auch eine ausgesetzte Prämie brachte seine Leiche nicht.
Der erste November kam, der Geldschrankschlüssel wurde abgeholt.
Und was fand man in dem Panzerschrank? Ganze Bündel von deutschen Reichsbanknoten, bis zu Tausendmarkscheinen, diese auch in ganzen Stößen — zusammen etwas mehr als sechsmalhunderttausend Mark.
Der Schreck war größer als die freudige Überraschung ob dieses Schatzes.
Wo hatte der Schneidermeister dieses viele Geld her?
Gestohlen? Davon konnte bei dem keine Rede sein.
Geerbt? Es war ebenfalls so gut wie ausgeschlossen.
In der Lotterie gewonnen? Das lässt sich alles nicht so leicht verheimlichen.
Es war und blieb ein Rätsel. Alle sonstigen Erwägungen überspringen wir.
Mehr als ein Jahr verging. Meister Martin war und belieb verschwunden, seine Erben wagten den Schatz nicht anzugreifen, sprachen davon aber auch nicht. Sie hofften noch immer auf auf eine Erklärung, und diese sollte auch wirklich kommen.
Also mehr als ein Jahr ist vergangen. In einer bitterkalten Dezembernacht, aber die Haustür ist noch offen, wird die Korridorklingel der Wohnung des Arztes geläutet, bei dem nun auch die Mutter wohnt.
Als der Landarzt in einer bitterkalten Winternacht nach
Hause kam, fand er vor seiner Tür im Schnee ein unförm-
iges Paket liegen, in dem ein junges braunes Weib steckte.
Frau Martin öffnet, sieht eine zerlumpte Gestalt vor der Tür stehen, mit einem Tuche eine Pelzmütze über den Kopf gebunden, aber was noch von dem Gesicht zu erkennen ist, das genügt für sie.
»Gustav!«, schreit sie mehr entsetzt als erfreut auf.
Er taumelt herein, kann sich kaum noch auf den Füßen halten.
»Schlafen, ich muss schlafen«, stöhnt er, »morgen erzähle ich Euch alles!«
Er geht in die Kammer und schließt sich ein.
Draußen stehen die drei und wissen nicht, was sie anfangen, was sie denken sollen, müssen warten, bis sich der da drin ausgeschlafen hat.
Aber sie brauchen nicht lange zu warten, da fängt der Mann da drin zu sprechen und zu schreien an.
Die Tür wird angebohrt, sodass der Schlüssel innen umgedreht werden kann.
Martin liegt völlig angekleidet auf dem Bett, auch die festgebundene Pelzmütze noch auf dem Kopfe, wälzt sich unruhig, schwatzt und singt. Aber es sind fremde Worte, die er hervorstößt, ein eintöniges und dennoch furchtbar wildes Lied. Und Meister Martin hat nie eine andere Sprache als Deutsch gekonnt.
Das Tuch wird abgebunden, die Mütze abgenommen.
Himmel, der hat ja keine Ohren mehr! Und was hat er da auf dem Kopfe? Martin hatte immer dichtes Haar gehabt, jetzt war da nur eine rote, kreisrunde Fläche zu sehen, eine einzige, furchtbare Narbe, umgeben von einem Haarkranz.
»Gerechter Gott, der ist ja regelrecht skalpiert worden!«, schreit der Arzt.
Ein Beruhigungspulver hilft, Martin kommt wieder zu sich, ist bereit, Rede und Antwort zu stehen.
»Wo bist Du gewesen?«
»In Amerika — in Alaska.«
»In Alaska?«
»Ich war jedes Jahr dort. Ich bin niemals am Müggelsee gewesen. Ich bin immer nach Amerika gefahren, nach Alaska, neunundzwanzig Mal, bis mich das letzte Mal mein Schicksal erreicht hat.«
Und er erzählt das Ungeheuerliche. In seinen jungen Jahren machte er als Handwerksbursche auf der Herberge die Bekanntschaft eines zerlumpten Individuums, der Mann vertraute ihm ein Geheimnis an.
Vor drei Jahren war Emil Koschinsky nach Amerika ausgewandert, nach Kanada, war in der kanadischen Pelzkompanie angestellt worden, hatte eine Expedition mit nach Alaska gemacht, um neue Pelzgegenden zu erschließen.
Eines Tages hatte sich Koschinsky vom Lager verirrt, fand es nie wieder, entdeckte ein Goldfeld. Das war, wohlgemerkt, im Jahre 1871. Das erste Gold in Klondyke und überhaupt in Alaska ist aber von dem Pelzjäger Cormack erst im Jahre 1896 entdeckt worden, das heißt da kam es in die Öffentlichkeit.
Es gelang dem Koschinsky, nach Süden die Meeresküste zu erreichen, eine Ansiedlung von Lachsfischern, freilich unter den fürchterlichsten Schwierigkeiten und Strapazen, die hier unmöglich geschildert werden können.
Dabei aber hatte Koschinsky auch schon erkannt, wie dieses Goldland überhaupt nur zu erreichen war. Nur während zweier Wochen im Jahre war das möglich. In einer Gletschergegend gebot eine ungeheure Spalte dem Wanderer Halt, die wegen der fortwährend beweglichen Eiswände niemals zu überbrücken war. Aber Ende Juli, nachdem die Schneeschmelze schon längst eingetreten war, kam auch der nächste Gletscher ins Gleiten, er schob sich über die ganze Spalte, man konnte sie überschreiten. Dann hatte man noch fünf bis sechs tüchtige Tagesmärsche, durch eine furchtbare Einöde, ehe man das Goldfeld erreichte. Und auf dem Rückweg musste man sich sehr beeilen. Denn schon vierzehn Tage später schmolz die Sommerhitze auch die Gletscherbrücke, sie brach wieder zusammen.
Koschinsky begab sich nach Vancouver, brachte einen Goldschatz mit, und im nächsten Jahre machte er dieselbe Tour noch einmal. Er fand die Richtigkeit seiner Annahme bestätigt. Das Phänomen kehrte mit derselben Regelmäßigkeit wieder, die man in solchen Gegenden so oft findet, bis zum bestimmten Tage, bei tropischen Regengüssen bis zur bestimmten Stunde und sogar Minute. Am zweiten August hatte der Gletscher die Spalte überbrückt, am vierzehnten brach die Brücke wieder zusammen.
Koschinsky brachte abermals einen Goldschatz zurück, nun aber hatte er genug, es graute ihm davor, nochmals die fürchterlichen Strapazen durchmachen zu müssen, außerdem hätte er ja wiederum ein Jahr lang warten müssen oder genau zehn Monate — er kehrte mit etwa 50 000 Mark nach Deutschland zurück. Hier verspekulierte er sich, verlor alles, wurde krank, kam immer mehr herunter.
Da traf er in der Herberge den Schneidergesellen, und der gewitzigte amerikanische Goldgräber mochte gleich den richtigen Mann erkennen.
»Ich weiß irgendwo in der Welt ein reiches Goldfeld. Wenn Du 500 Mark hast, kannst Du mit mir gehen.«
Dieses Geld besaß der sparsame Schneidergeselle, und er konnte sich von der Wahrheit der Angaben überzeugen.
Nach New York, nach San Francisco, nach Vancouver, mit einem Fischdampfer nach der Küste von Alaska, mit einem Boot einen Fluss hinauf und dann die furchtbare Fußtour. Wasser überall genug, aber nichts zu essen, kein jagdbares Wild. Der Proviant musste mitgenommen werden, also auch für den Rückweg, so gegen zwanzig Pfund auf dem Rücken, wovon auf dem Rückweg die Hälfte abging, und was man noch tragen konnte, kam Gold hinzu.
Koschinsky erlag gleich auf diesem ersten gemeinsamen Marsche den Strapazen, auf dem Rückwege. Jetzt aber kannte Martin den Weg.
Und jedes Jahr hatte er diesen »Ausflug« gemacht, neunundzwanzig Mal! Das Gold verkaufte er, wechselte das amerikanische Geld in Hamburg oder schon in Amerika in deutsches um und barg die Banknoten in seinem Geldschrank.
Beim letzten, beim neunundzwanzigsten Male, erreichte ihn das Schicksal. Er fiel einem Indianerstamm in die Hände, kam an den Marterpfahl, er wurde skalpiert, ihm die Ohren abgeschnitten.
Das Leben behielt er. Schließlich gelang ihm die Flucht. Nach schrecklichen Irrfahrten erreichte er die Küste, eine Ansiedlung, gelangte in die Heimat zurück.
Zwei Tage später starb Meister Martin am Fieber, das mit erneuter Heftigkeit ausgebrochen war.
Mit ihm endete in diesem Schneiderlein ein Charakter, wie ihn die Weltgeschichte nur selten hervorbringt. Jedenfalls ein Mann, der zum Welteroberer geboren war. Denn bei dem ist die Hauptsache, dass er seine Pläne und Geheimnisse im Busen zu verbergen vermag. Die Kraft des Schweigens ist es, die den Erfolg bringt!
Dies war es, woran der Prinz jetzt dachte.
Drei Stunden waren vergangen. Da wurde die schwarze Finsternis wieder von einem Lichtstrahl erhellt, der aus der geöffneten Luke quoll, der Prinz stieg heraus, wie vorher im ledernen Jagdanzug, jetzt aber eine kurze Doppelbüchse auf dem Rücken.
»Die Zeit ist gekommen, da sich das Schicksal zu meinen Gunsten wenden soll. Sobald ich die unterirdisch Mumienkammer mit der Bibliothek gefunden habe, soll ich gleichzeitig auch ein Lebenszeichen von Deasy erhalten, und dazu brauche ich nur die Spuren jenes Mannes zu verfolgen.«
So murmelte er, als er wieder die kupfernen Sprossen emporstieg.
Als er den Ausgang der Höhle oben erreicht hatte und hinabspähte, war der Schläfer nicht mehr zu erblicken.. Nur der Abdruck im Sande zeigte, wo er gelegen hatte, und dann führten seine Spuren weiter nach Osten an der Felswand entlang.
Ohne Weiteres sprang der Prinz die vier Meter hinab, in den weichen Sand wie in ein Federbett hinein, und dass er dann die Möglichkeit hatte, auch wieder hinaufzukommen, davon hatte er sich schon vorher überzeugt. Es gab dicht an der Höhle Vorsprünge genug, an denen sein um die Hüften gewickeltes Lasso Halt finden würde.
Unten zog er das Wachtelhündchen aus der Tasche und setzte es auf die Spur.
»Nun such, Wichtelmann, dieser Spur folgst Du, kannst springen wie Du willst, nur bellen darfst Du nicht, keinen Laut von Dir geben.«
Eigentlich hätte dieser tiefen Spur in dem weichen Sand ja sozusagen auch ein Blinder folgen können müssen. Bald aber zeigte es sich, wie auch das Falkenauge des Prinzen die gute Nase eines Hundes nicht entbehren.
Meister Martin war einem Indianerstamm in die Hände gefallen, und
die Rothäute schleppten nun den ehrsamen Deutschen zum Marterpfahl.[1]
[1] Diese Frontispiz-Zeichnung zur 46. Lieferung (S. 2882) war bereits als Frontispiz zur 19. Lieferung des ab 1912 erschienenen Romans Das Gauklerschiff (dort auf S. 1153) veröffentlicht worden und zeigt den Ich-Erzähler, einen Seemann. Diese Figur hat keinerlei Ähnlichkeit mit der Beschreibung des Schneidermeisters Martin. Die »Indianer« waren verkleidete Kinder und Jugendliche! Die nochmalige Verwendung dieser Zeichnung dürfte eine Verlegenheitslösung gewesen sein. konnte. Der Sand ward immer fester und auch spärlicher, und nicht lange dauerte es, so hörte er ganz auf, der Boden bestand aus hartem Felsen, auf dem auch nicht ein Sandkörnchen lag.
Auch das schärfste Auge konnte nicht mehr die Andeutung einer Spur erkennen; das Hündchen aber, die Nase am Boden, machte unbeirrt den Führer.
Dagegen kam der Prinz nun zu einer andern Erkenntnis.
Immer schräger ward die Felswand, an der sich der Mann entlang bewegt hatte, das heißt immer mehr begann sie nach vorn überzuhängen, bis sie fast eine Art von Laubengang bildete, in deren Schatten sich Miller gehalten hatte.
»Ja, nun weiß ich, weshalb Miller dort auf dem die Erde wiederspiegelnden Globus nicht beobachtet werden kann. Einfach weil er eben durch diese überhängende Feldwand verdeckt würde, und ein Mittel, um solch einen Felsen auf jede Entfernung hin für das menschliche Auge durchsichtig zu machen, haben eben auch jene genialen Männer noch nicht erfunden. Also es blieb gar nichts anderes übrig, als einen andern Menschen persönlich auf seine Spur zu setzen, und hierzu war ich bestimmt worden.«
Die Sache sollte auch noch verwickelter werden.
Fast eine Stunde schon war der Prinz der Spur oder vielmehr dem Hündchen gefolgt.
Die Felswand zeigte wieder in allen Höhen sehr viele Höhlen. Der Hund lief daran vorüber. Jetzt aber drehte er um, kehrte einige Schritte zurück und sprang zu einer Höhlenöffnung empor, die etwa einen Meter über dem Boden lag.
Also ohne Zweifel hatte Miller hier seinen Marsch aufgegeben, war in diesen Höhleneingang gekrochen. In dieser Höhle setzte sich eben sein Weg fort. Das wusste er, der hatte von Carpenter eine genaue Beschreibung des ganzen Weges und auch dieses Höhleneingangs bekommen, hatte seine Merkzeichen, die er nicht übersehen konnte.
Aber auch des Prinzen scharfes Kundschafterauge würde niemals an irgend einem Zeichen erkannt haben, dass der Wanderer hier den freien Weg verlassen hatte, um in dieser Höhle zu verschwinden.
Da setzte der Prinz das Hündchen in die Höhle hinein und kletterte selbst nach.
Einige Meter musste er gebückt kriechen, dann konnte er sich aufrichten.
Und da sah er doch ein Zeichen, das sein Vorgänger hier hinterlassen hatte.
Ein weggeworfenes, abgebranntes Streichholz.
»Hier hat er seine Laterne in Brand gesetzt. Also geht der Weg noch weiter im Finstern fort, dann muss ich wohl dasselbe tun. Eine Vorsicht habe ich dabei nicht nötig, das konnte mir bestimmt versichert werden.«
Er zog seine mit Benzin gespeiste Taschenlampe, die elektrische Zündung funktionierte, er setzte seinen Weg fort. Dieser war ganz bequem, so eng der Tunnel auch sein mochte. Bald machte er eine Biegung nach links, führte also wieder wie das ganze Tal nach Osten, wenn auch wohl nicht so direkt, der Boden senkte sich etwas.
Vielleicht zehn Minuten, dann sah der Prinz vor sich in der Ferne ein Lichtchen auftauchen.
Jetzt natürlich löschte er seine eigene Lampe aus, zumal er sich schon überzeugt hatte, dass der weitere Weg ohne jedes Hindernis offen vor ihm lag.
Er steckte noch das Hündchen in die Tasche, dann schlich er vorwärts.
Als er das Ende dieses Höhlenganges erreicht hatte erwartete ihn ein wundersamer Anblick.
Der Gang mündete in einer Höhle oder Grotte von kolossaler Ausdehnung, ein mächtiger, kreisrunder Saal von wenigstens fünfzig Meter Durchmesser und dreißig Meter Höhe.
Nur weil der Prinz sich zuletzt in völliger Finsternis gehalten hatte, konnte er jetzt alles erkennen, sonst wäre das Licht viel zu spärlich gewesen. Dieses fiel durch eine Spalte an der Decke, genügte sonst also nicht, um größere Helligkeit zu verbreiten.
So aber, weil sich des Prinzen Augen nun einmal schon an größere Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er jetzt alles auch im fernsten Winkel deutlich unterscheiden.
Also ein kreisrunder oder sogar halbkugelförmiger Saal, an dessen Wänden Galerien hinliefen. Und auf diesen nun standen überall Steinfiguren, welche sämtlich ein und dieselbe Figur wiedergaben, nur in verschiedenen Größen, aber doch immer eine riesenhafte Ameise mit einem menschlichen Frauenkopfe. Freilich fast jede Figur stark verstümmelt, offenbar mit Absicht, von roher Hand und mit Werkzeugen beschädigt.
Dies also war das unterirdisch angelegte Heiligtum, in dem die aus Indien mitgebrachten Ameisen göttlich verehrt wurden. Vielleicht hatten zwischen den steinernen Ameisensphinxen auch goldene Statuen gestanden, die eben weggeschleppt worden waren. Oder es gab noch andere Räume, die der Prinz erst zu finden hatte.
Hier aber war es jedenfalls gewesen, wo Ned Carpenter damals eingedrungen war, in dieses Versteck hatte er seine unglücklichen Spießgesellen geführt. Denn dort lagen noch massenhaft menschliche Leichen, zum Teil noch mit Uniformen bekleidet, ebenso Kamele, alles ganz wohl erhalten, nur eben ganz dürr zu Mumien ausgetrocknet. Die ungemeine Trockenheit der ägyptischen Luft lässt ja fast gar keine Verwesung zu.
Wie waren denn diese Menschen mit den großen Tieren hier hereingekommen? Diesen Höhlengang hatten sie doch unmöglich benutzen können.
Nun, Carpenter hatte noch einen andern Eingang gewusst, vielleicht deren mehrere. Dass es solche noch gab, konnte der Prinz schon erkennen. Sie lagen nur im Finstern, sodass sich nichts weiter unterscheiden ließ. Man konnte zuerst nur an große Wandnischen denken.
Diesen Weg durch das Schluchtental und dann durch den Höhlentunnel, in den man erst klettern musste, hatte Carpenter seinem Zuchthausfreunde wohl eben als den kürzesten beschrieben, um hierher zu gelangen.
Und wo war denn nun das gemünzte Gold?
Zu erblicken war es nicht. Aber gleich konnte sich der Prinz denken, wo es hier noch ganz besonders versteckt worden war, es wäre gar nicht nötig gewesen, dass Miller soeben daran ging, es nach und nach hervorzuholen.
Miller konnte vor noch nicht langer Zeit hier eingetroffen sein und musste wohl erst etwas geruht und gegessen haben.
Jetzt saß er noch an der Wand, schnürte soeben im Scheine seines Lämpchens den Proviantbeutel zusammen, dann erhob er sich, nahm die Lampe und schritt nach der Mitte des Saales.
Dort lag am Boden schon das, was er heim ersten Male mit hergebracht und dann als unnötig zurückgelassen hatte, selbst unter der Voraussetzung, dass er es nicht wieder gebrauchen würde, weil er überhaupt nie wieder hierher käme: das große Uhrgewicht, daran geknüpft das lange Seil und daneben ein Blechkasten mit Pech.
Und wozu nun dieses Werkzeug?
Der Boden dieses Saales war ganz seltsam beschaffen.
Überall waren Löcher von etwa zweiundeinhalb Meter Durchmesser, eines regelmäßig einen viertel Meter vom andern entfernt, so systematisch geordnet, dass man unwillkürlich an ein riesiges Sieb denken musste, dessen Oberfläche man hier sah.
Diese Löscher waren zweifellos ja künstlich gebohrt worden. Wollte man nicht an von der Decke tropfendes Sickerwasser denken, das im Laufe von Jahrtausenden diese Löcher ausgehöhlt hatte. Und wozu nun diese Löcher?
Nun, das waren eben die Ausgangslöcher des Ameisenbaues, hier schlüpften die riesengroßen Ameisen ein und aus. Wenn diese lebenden Ameisen auch nur in der Einbildung der Priester und der gläubigen Wallfahrer existiert hatten. In diese Löcher aber waren dann jedenfalls die Goldmünzen und sonstigen Kleinodien derjenigen hineingeworfen worden, welche die heilige Ameisenkönigin um Kindersegen angefleht hatten.
Und in diese Löcher hatte Ned Carpenter ebenso zweifellos auch die 500 000 Pfund Sterling versenkt. Um sie vollends von der Erdoberfläche, selbst hier in dieser unterirdischen Höhle, verschwinden zu lassen und das Gold dann so nach und nach wieder abzuholen.
Natürlich hatte er sich vorher erst vergewissert, dass es auch möglich war, diese Goldstücke wieder hervorzuholen. Obgleich er offenbar gar nicht wusste, wohin sie gefallen waren. Das heißt, wenn sich unter dieser Tempelhalle noch ein anderer Raum befand, so hatte er doch zu demselben nicht den Zugang gefunden. Denn sonst hätte er seinem Zuchthausfreunde doch nicht dieses Mittel genannt, wie er die Goldstücke wieder heraufbefördern konnte.
Und so beobachten wir mit dem Prinzen nun diesem Mann weiter.
Er nahm, nachdem er seine Lampe wieder an den Boden gesetzt hatte, das Uhrgewicht, beschmierte es in dem Blechtopfe mit Pech, besonders gut den flachen Boden, aber auch ringsherum, und ließ es an dem Seile in eines der Löcher hinabgleiten, möglichst vorsichtig, um wohl zu vermeiden, dass es an die Wände der Röhre stieß. Das Seil hatte sich ungefähr acht Metter abgewickelt, als das Gewicht unten wohl Grund bekommen musste, es machte ganz diesen Eindruck, und nun hob und senkte Miller das Seil so, wie man es macht, wenn man aus einem tiefen Brunnen mit einem Gefäß Wasser schöpfen will, aber das Gefäß muss erst etwas umkippen, damit es sich füllen kann, sonst bleibt es oben schwimmen.
Da zeigte es sich, dass an dem pechbeschmierten Gewicht Goldstücke klebten, am Boden wie auch an den Seiten.
Miller löste sie ab und zählte sie.
»Sieben Stück. Das werden ja immer weniger! Carpenter hatte mir doch versichert, dass mindestens immer zehn daran klebten. Wie lange soll denn das nun wieder dauern, bis ich tausend zusammen habe. O, Du alter Narr, dass Du auf die Idee kommen musstest, das Gold in diese Ameisenlöcher rutschen zu lassen, dass man es so mühsam nun wieder heraufholen muss, dabei von Durst gefoltert und immer an den schrecklichen Rückweg denkend!«
So und noch ganz anders lamentierte Miller unausgesetzt vor sich hin, während er seine Angel auswarf und wieder einholte, und seine Stimmung verbesserte sich nicht, auch wenn er mehr als zehn Goldfische gefangen hatte.
Freilich, jetzt verstand auch der Prinz den schrecklichen Humor in dieser fürchterlichen Komödie. Zumal er diesen Mann nicht etwa zum ersten Male sah, er hatte ihn schon in Kairo beobachtet, wusste, dass er bereits mehr als tausend Goldstücke besessen und auf welche Weise er sie wieder verloren hatte.
»Armer Wicht!«, dachte er. »Nur vierzig Kilometer von der großen Stadt einen riesigen Goldschatz versteckt zu wissen, aber diese Umständlichkeit, um ihn nach und nach abholen zu können, dieser Weg erst, sein Trinkwasser im Gewichte von einem halben Zentner mitschleppen zu müssen, und dann hier diese Angelei mit der Pechangel, und dann schließlich wieder der fürchterliche Rückweg, immer von Durst gepeinigt — armer Wicht. Dein Freund aus dem Zuchthause hat es Dir allerdings sehr, sehr sauer gemacht! Ja, aber wo ist hier nun die Mumienkammer mit der Bibliothek, bei deren Betreten ich sofort Nachricht erhalten soll, dass Deasy noch lebt, dass sie sich sogar ganz dicht in der Nähe befindet, sodass wir in der nächsten Minute wieder vereint sind?«
Einige Zeit noch beobachtete er das Treiben Millers, wenn wohl auch mehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Wie nun den Weg nach jener Mumienkammer finden?
Dann aber konzentrierte er seine Aufmerksamkeit doch wirklich auf den Mann.
Es fiel ihm auf, dass sich Miller recht merkwürdig zu betragen begann.
Einmal liebäugelte er mit seinem Wasserschlauche, dabei aber ein ganz verzweifeltes Gesicht machend; er wollte gern trinken, aber er wagte es noch nicht, weil er immer an den Rückweg und an Verschmachtungsqualen denken musste, ganz merkwürdig dabei war nur das Lachen in dem so verzweifelten Gesicht, und ebenso merkwürdig war er bei seiner Angelei, besonders wenn er die Goldstücke von dem Pech ablöste, unaufhörlich schmatzend und kichernd.
»Fünf — sechs — sieben — acht. Wieder acht goldene Ameisen, hihihihi. Acht mal acht ist eintausendsechshundertsechsundsechzig. Das fleckt ja heute ausgezeichnet, hihihihi —«
Und so ging das unaufhörlich weiter, und immer sinnlosere Rechnungen und Worte kamen dazwischen.
Aufmerksam beobachtete der Prinz den kichernden Mann.
»Der Kerl schnappt über«, dachte er, »bei dem bricht das Delirium —«
Er hatte diesen Gedanken noch nicht ausgedacht, als es schon geschah.
Plötzlich, aber erst nach einer kleinen Pause, sprang Miller jäh empor, schleuderte die Goldstücke, die er eben erst von dem Gewicht abgelöst hatte, mit allen Zeichen des Entsetzens von sich.
»Hilfe, Hilfe«, erklang es mit schrecklichem Gellen, »die goldenen Ameisen — sie werden lebendig — sie fressen mich — sie werden glühend — sie verbrennen mich — Hilfe, Hilfe — Wasser, Wasser, sie brennen, sie brennen —«
Und der von Durst Gepeinigte stürzte auf seinen Wasserschlauch zu, aber nicht, um seinen Durst zu löschen, sondern um den Inhalt über die am Boden liegenden Goldstücke zu gießen.
Und dann stürzte er selbst hin, auf den Rücken, und wälzte sich in Krämpfen, Schaum vor dem Munde.
Der Prinz sprang hin, er sah es sofort.
Ein Schlagfluss!
Niedergekniet, sein ärztliches Besteck aus der Tasche gezogen, um am Arm eine Ader zu öffnen.
Aber das war nicht so einfach. Der Körper zuckte furchtbar, die Arme schlugen um sich, es hätten wohl viele starke Männer dazu gehört, um ihn festzuhalten.
Und jetzt begann er sich zu wälzen, rollte über den Boden hin, bis an die Wand.
Der Prinz warf sich noch einmal auf ihn, um ihn zu überwältigen. Da noch ein gellender Aufschrei, dann ein Röcheln und Strecken.
Es war vorbei mit ihm. Der entnervte Körper hatte die letzten Strapazen nicht mehr ertragen können, das hier war der furchtbare Todeskampf gewesen.
Aber noch etwas anderes war dabei gewesen, dieser letzte Todeskampf hatte noch etwas ganz Merkwürdiges gezeitigt.
Mit seiner letzten Kraftäußerung hatte der Sterbende die erst angezogenen Beine ausgestreckt, vorgestoßen, die Füße trafen gegen die Wand, und da plötzlich öffnete sich dort unter einem knarrenden Geräusch eine Tür, die man dort sonst niemals vermutet hätte.
Der Prinz starrte und staunte.
»Wunderbar, wunderbar!«, murmelte er dann. »Dieser Mann hat mich hierher führen sollen, bis in den Mumienraum hinein, obgleich er selbst den Zugang zu diesem gar nicht kannte, und doch hat er es getan, selbst noch im Tode. Er hat durch seinen letzten Fußtritt gegen die Steinwand den Mechanismus einer geheimen Tür getroffen, sie so geöffnet. Denn dass ich durch diese Tür nun in jenen Raum gelange, daran ist wohl kein Zweifel mehr.«
Er beschäftigte sich erst noch einmal mit dem Toten. Es war nichts mehr zu ändern. Die Leiche mochte einstweilen hier liegen bleiben.
»Armer Wicht«, murmelte der Prinz nochmals, als er sich erhob, sich nun jener Öffnung zuwendend.
Er entzündete wieder seine Lampe und drang, nachdem er noch einmal sein Hündchen in der Tasche beruhigt hatte, in den dunklen Gang ein.
Nach wenigen Schritten kam eine Treppe, die er hinabstieg, sie endete an einer Tür, die sich aber ohne weitere Schwierigkeiten öffnen ließ.
»Der Mumienraum, er ist es!«
Wohl hatte dies der Prinz auf den ersten Blick erkannt, aber er stellte sich ihn doch ganz anders vor, als er irgendwie erwartet hatte. Es kam noch ganz Überraschendes hinzu.
Er war auf eine Galerie getreten, die einen kreisrunden Raum von etwa fünfzehn Meter Durchmesser umgab.
Auf der sehr breiten Galerie kauerten in Wandnischen, auch übereinander angebracht, viele Hunderte von Mumien, offenbar lauter junge Männer, in reichen Kostümen. Das waren zweifellos die Jünglinge gewesen, die der Ameisensphinx alljährlich geopfert worden waren, immer zwölf an ihrem Hochzeitstage.
Zwischen diesen Nischen wieder andere Vertiefungen, die mit Papyrusrollen ausgefüllt waren. Die Tempelbibliothek.
Dies alles hatte der Prinz ja ungefähr erwartet, aber das war doch nun erst eine Galerie, welche den eigentlichen Hauptraum umgab.
Und was war nun in diesem?
Der Prinz besaß doch nicht nur so eine einfache Benzinlampe mit starkem Blendstrahl, er brauchte nur an einer Schraube zu drehen, und ein ganz intensives Licht, von seiner Hand ausgehend, erfüllte den ganzen Raum.
Die Brüstung der Galerie befand sich etwa fünf Meter über dem Boden. Dieser Boden dort unten von schwarzer Farbe war ganz nackt, wie überhaupt der ganze Raum.
Nur in der Mitte desselben stand die goldene Figur einer riesenhaften Ameise, wenigstens zwei Meter lang und einen halben Meter hoch, alles sehr fein gearbeitet, jedes Gelenk der Beine deutlich zu erkennen, vorn ein schöner Frauenkopf von normaler Größe, auch keine Ameisenkiefer oder Zangen daran, stattdessen aber aus dem etwas geöffneten Mund ein großer Stachel hervorsehend. Außerdem war auch der ganze Leib mit Stacheln besetzt.
»Das ist sie, die eigentliche Ameisensphinx, der hier die Jünglinge geopfert wurden, das größte Heiligtum dieses Tempels.«
So sagte sich der Prinz.
Dann überlegte er, ob er erst einen Rundgang um die Galerie machen oder sich gleich hinab begeben solle, wozu er freilich erst, wenn er nicht hinab springen wollte, einen Abstieg finden musste, der hier nicht zu sehen war.
Und dann dachte er gleich an noch etwas anderes.
»Ja, sollte ich nicht sofort, wenn ich diesen Mumiensaal betrete, eine Nachricht von Deasy erhalten? Der Mumiensaal mit der Bibliothek ist dies doch zweifellos, ich habe ihn betreten, darin Umschau gehalten und —«
Er brach ab.
Das Hündchen in seiner Tasche machte sich bemerkbar.
Es steckte sein kluges Köpfchen aus der Rocktasche hervor, beschnüffelte die Steinbrüstung, gegen welche der Prinz mit dem Vorderleib gelehnt stand, scharrte mit den Pfötchen daran, winselte leise und hätte offenbar nur gar zu gern auch gekläfft.
»Was hast Du, Wichtelmann?«, fragte der Prinz, aufmerksam werdend.
Das Hündchen scharrte an dem Stein eifriger denn zuvor, das Winseln ward noch eigentümlicher.
»Was ist denn da?«
Der Prinz bückte sich, untersuchte die Stelle dort. Aber da war nichts zu bemerken.
Doch Wichtelmann wollte durchaus wieder hin, um daran mit dem Pfötchen zu scharren; jetzt gab er auch ein leises Kläffen von sich, schien immer mehr ganz außer sich zu geraten.
Der Prinz bückte sich nochmals, um noch genauer die ganz bestimmte Stelle an der Steinbrüstung zu untersuchen, die den Hund so aufregte.
Und was war das?
Kamen aus diesem Steine nicht Töne hervor, fast wie —
Der Prinz legte sein Ohr daran.
Himmel, jetzt wusste er es!
Menschliche Stimmen!
Diese steinerne Galerie bildete einen akustischen Leiter.
»Ja, was sollen wir nun tun?«, erklang es ganz deutlich in des Prinzen Ohr.
Allmächtiger Himmel, diese Frauenstimme!
Wiederum hatte die Prophezeiung recht behalten.
Es war die Stimme der Mistress Allan, keine andere, der Prinz konnte darauf schwören.
»Wir können keine fünfzig Kilometer von Kairo entfernt sein«, sagte jetzt eine Männerstimme, immer auf Französisch.
»Wissen Sie wohl, wo wir uns hier befinden?«
»Jedenfalls in der Gemeljade.«
»Was ist das?«
»Ein Tal, das sich von Kairo aus ostwärts durch den Dschebel Mokattam zieht.«
»Gibt es hier Wasser? Eine Quelle? Einen Brunnen?«
Nirgends. Ja, die Mosesquelle. Aber die ist aus diesem Tale gar nicht zu erreichen. Die Felswände sind nicht zu übersteigen.«
»Nicht? Kein Wasser? Ja, was machen wir da? Schon stellt sich der Durst bei mir ein.«
»Da geht es Ihnen nicht anders als mir und wohl uns allen, Madam.«
»Ja, sollen wir denn hier etwa verschmachten? Sie sind schuld an alledem, Kassab! Konnten Sie denn nur nicht landen, als wir das Niltal überflogen? Mussten Sie denn erst den letzten Rest von unserem Wasser verbrauchen, sogar die letzte Selterwasserflasche?«
»Ich glaubte bestimmt, der Wind würde uns wieder zurücktreiben«, sagte eine andere Männerstimme entschuldigend.
»Ich glaubte, ich glaubte. — O, was soll nun aus uns werden, nun sitzen wir hier drin mitten in der Wüste, ohne einen Tropfen Wasser. Deasy, hast Du denn nicht mehr Deine alte Gabe, kannst Du nicht mehr mit der Wünschelrute Wasser schlagen?«
Freudig war der Prinz zusammengezuckt.
Dass der Ballon hier gelandet war, aus Wassermangel gezwungen, das war ihm ja bald klar geworden. Nur ein Lebenszeichen von Deasy hatte er noch hören wollen.
»Nein, Mistress, ich kann's nicht, ich habe meine Gabe wirklich verloren«, erklang jetzt die helle Kinderstimme.
»Ja, was sollen wir denn nur machen?«, fragte Mistress Allan immer wieder. »Wir können doch nicht die fünfzig Kilometer bis nach Kairo ohne Wasser —«
»Labadin hat etwas gefunden!«, erklang da wieder eine andere Männerstimme.
»Was hat er gefunden?«
»Eine Höhle, und im Hintergrunde führt eine Treppe hinab.«
»Eine Treppe? Wohin?«
»Das weiß er noch nicht, er ist erst wieder zurückgelaufen, um uns seine Entdeckung zu melden.«
»Was kann das für eine Treppe sein?«
»Vielleicht befinden wir uns über den Ruinen einer verschütteten Stadt, hier gibt es ja überall Ruinen«, erklärte wieder jemand anders.
»Am Ende Wasser!«
»Leicht möglich, jede Stadt muss doch wenigstens früher einmal Brunnen gehabt haben.«
»Untersuchen wir die Treppe.«
»Wer soll bei dem Ballon zurückbleiben?«
»Gehen wir nur alle zusammen, dass wir uns nicht verlieren, was ist auch um die alte Ballonhülle, sie ist ja beim unvorsichtigen Landen ganz unbrauchbar geworden. Zu Fuß nach Kairo müssen wir doch. Nur Wasser, Wasser! Ich vergehe schon vor Durst. Ist es dort finster?«
»Stockfinster.«
»Haben wir eine Lampe?«
»Hier sind schon zwei.«
»Ich habe auch eine.«
»Brennen sie auch?«
»Ich werde sie —«
Die Stimmen waren bereits immer schwächer geworden, jetzt verklangen sie ganz.
Der Prinz richtete sich hoch aufatmend empor, schon von einer Ahnung erfasst, was nun kommen würde.
Er brauchte auch nicht lange zu warten, so ging seine Ahnung in Erfüllung.
Die Hauptsache freilich, was dann noch Furchtbares kommen sollte, hatte er nicht geahnt.
Vielleicht nur drei Minuten, so ging dort unten in der Wand, die sonst keine Öffnung zeigte, eine Tür auf, ein Beduine trat ein, eine brennende Lampe in der Hand.
Der Prinz hatte die seine rechtzeitig verlöscht.
»Was ist denn das?«, erklang es erstaunt.
»Wasser?«
»Nein, Wasser sehe ich noch nicht.«
Dem Beduinen nach folgte Mistress Allan, gleichfalls mit einer brennenden Lampe, dann noch vier andere arabische Männer, dem Prinzen zum Teil sehr wohl bekannt, besonders als die ausgesuchtesten Bösewichter, und unter ihnen auch die kleine Deasy.
Vier Blendlaternen waren es, welche jetzt die riesige Ameisensphinx aus glänzendem Golde beleuchteten, und über diesem Anblick vergaß nun freilich auch Isabel ihren Durst. Wenn dieser überhaupt wirklich so schlimm war, dass sie es gar nicht mehr aushalten konnte.
»Was ist denn das?«
Ja, was war es? Eben eine goldene Ameise von riesenhafter Größe mit menschlichem Kopfe. Sonst konnte niemand eine Erklärung geben, von all diesen Leuten hatte noch niemand etwas von Ameisenanbeterei gehört, die einst in Ägypten getrieben wurde.
Vermutungen wurden ausgetauscht.
»Jedenfalls ein Götzenbild.«
»Hier ist das Heiligtum einer Sekte.«
»Jetzt noch?«
»Was weiß ich.«
»Ob das echtes Gold ist?«
»Jedenfalls.«
So traten sie näher, die Ameisensphinx, die also genau in der Mitte stand, von allen Seiten beleuchtend.
»Aus dem Munde sieht ein Stachel hervor.«
»Auch der ganze Leib ist mit Stacheln bedeckt.«
»Wozu?«
»Sie fragen mich zu viel, Madam.«
Isabel war die erste, welche den goldenen Leib berührte, die abergläubischen Araber misstrauten der ganzen Sache.
Isabels Hand hatte den goldenen Leib ungefähr in der Mitte berührt.
Und in demselben Augenblicke geschah es auch schon, das Wunder, was sich gleich in etwas Fürchterliches verwandeln sollte.
Zuerst ein schmetternder Krach. Die offenstehende Tür war von selbst zugeschlagen.
Und gleichzeitig wurde auch das goldene Ungeheuer lebendig. Setzte sich in Bewegung, stockte, drehte sich schnell herum, lief etwas zurück, wie um einen Anlauf zu nehmen, und sauste denn auch vorwärts, gerade auf einen der Araber zu, stieß ihm mit furchtbarer Wucht den aus dem Munde hervorsehenden langen Stachel in den Unterleib.
Brüllend stürzte der Getroffene zu Boden. Und da fuhr das goldene Ungeheuer mit dem schönen Mädchenkopfe schon wieder herum, auf einen andern Mann los, der sprang zur Seite, er war dem Stachel diesmal noch entgangen, aber es half ihm nichts, dass er floh, die Ameisensphinx ihm nach, holte ihn ein, stieß ihm den Stachel in den Rücken, jammernd brach der Mann zusammen.
Die furchtbare Panik dort unten in dem geschlossenen Raume lässt sich denken, vielleicht ausmalen, nicht schildern.
Nicht minder entsetzt war der Prinz über diese Szene, über dieses ganze Rätsel, wie die goldene Statue plötzlich so schrecklich lebendig werden konnte.
Und doch, sein scharfes Auge hatte gleich etwas erkannt, das andere sagte ihm die Überlegung, wenn dazu auch nur ein Moment nötig war — sofort hatte er dieses Rätsel gelöst.
Der Boden dort unten war eine kreisrunde Platte, die wie so eine Drehscheibe nur in der Mitte auf einem Stift ruhte, auf diesem ausbalanciert. Für gewöhnlich wohl festgestellt, konnte sie doch durch Auslösung irgend eines Mechanismus in Funktion treten.
Schon die kleinste Berührung der Figur genügte, um diesen Mechanismus auszulösen. Jetzt wirkte jede Person als niederdrückendes Gewicht; dorthin, wo sich das größte Gewicht befand, neigte sich die Platte, die Scheibe.
Die goldene Figur bewegte sich nicht auf den Füßen, diese blieben ganz regungslos, sondern sie war auf Kugeln gelagert, vielleicht auch nur auf einer einzigen. Durch die Neigung der Scheibe musste diese Kugel natürlich ins Rollen kommen, so schien die ganze Figur zu laufen.
Weshalb diese nun immer mit dem Kopfe voraus lief, ganz selten etwas rückwärts, lieber direkt umkehrte, um wieder mit dem Kopfe zuerst nach der tiefsten Stelle zu laufen, das war auch ganz leicht zu erklären.
Der ganze Leib war hohl, bestand nur aus getriebenem Goldblech, im Verhältnis also doch nur leicht, der große Kopf aber war massiv, so musste der durch sein großes Gewicht immer voraus laufen, sich zuerst dorthin wenden, wohin dann die Kugel mit der ganzem Figur rannte.
Dies alles erkannte der Prinz also im Moment. Und dann weiter im Geiste sah er, wie in früheren Jahrhunderten hier am alljährlichen Hochzeitstage die zwölf Jünglinge festlich geschmückt hereingeführt wurden, der eine musste die Ameisensphinx umarmen, und sofort ging die wilde Todesjagd los, und oben saß das Publikum, vielleicht nicht nur aus Priestern bestehend, und applaudierte, wenn die Ameisenbraut wieder einem der Jünglinge ihren Mundstachel in den Unterleib oder in den Rücken rannte.
Aber viel zu leiden hatte der Getroffene wohl nicht mehr. Der Stachel war jedenfalls vergiftet, das Gift ersetzte sich immer wieder. Das musste wohl auch jetzt noch so sein, die Giftblase war immer noch gefüllt, der Stachel übte noch immer sofort eine tödliche Wirkung aus. Das war nämlich gleich an den beiden zu erkennen, die jetzt getroffen worden waren. Wohl brüllten sie fürchterlich, aber nur wenige Sekunden noch, dann streckten sie sich und waren still, der Tod war sofort eingetreten. Anders konnte es nicht sein. Der Stachel allein konnte diese Wirkung nicht hervorbringen.
.Und nun jagte das furchtbare Ungeheuer schon dem dritten Araber nach, besann sich aber, drehte um, setzte lieber dem Kinde nach. Einfach eben, weil sich durch das ständige Hin- und Herrennen doch immer die Neigung der in der Mitte beweglichen Schreibe änderte.
»Deasy, um Gottes willen, Deasy!«, schrie der Prinz außer sich.
Deasy wurde noch einmal verschont, Mistress Allan jagte an ihr vorüber, ihr schwereres Gewicht zog die Verfolgung des Ungeheuers auf sich. Entgehen würde ihm freilich niemand, sie alle mussten doch noch daran glauben, wurden von dem Giftstachel erreicht.
War es nicht möglich, sich dadurch zu retten, dass man sich auf ihren Leib schwang?
So klug war auch einer der Araber, er machte den Anfang.
Laut aufheulend vor Schmerz sprang er sofort von dem Rücken der Ameise wieder herab, zog es vor, sein Heil lieber in einfacher Flucht zu suchen.
War der Rücken der Ameise vielleicht glühend heiß geworden, so wie sich jene indischen Ameisen der Sage nach glühend machen konnten?
Nein, die Sache war einfach die, dass der ganze Leib mit überaus spitzen Stacheln besetzt war, das machte dieses schlaue Manöver zuschanden.
Seinen ersten Entschluss, selbst hinabzuspringen, um zuerst das Kind zu retten, hatte der Prinz schnell aufgegeben. Er wäre dann nicht anders daran gewesen als jene, auch er hätte daran glauben müssen.
Aber noch eine andere Art der Rettung gab es.
Schnell das Lasso von den Hüften gerissen. Und der Prinz hielt sich nicht damit auf, dem Kinde zuzurufen, es solle das Seil fangen, sich daran festhalten, sondern die Wurfschlinge bereit gemacht, sie wirbelte durch die Luft, und Deasy war gefangen, die Schlinge hatte sich kunstgerecht um ihre Hüften gelegt.
Zurückgerissen, hochgezogen — Deasy war gerettet. Denn hier herauf konnte das Ungeheuer doch unmöglich.
»Onkel — Onkel Joachim — Du, Du —!«
Und der Prinz dachte doch gar nicht daran, die andern etwa diesem ihrem Schicksal zu überlassen, mochten sie alle auch gerade kein seliges Ende verdienen.
Wieder nicht erst ein Zuruf, diesmal fing er die Mistress Allan.
Aber deren Rettung sollte nicht glücken.
In dem Moment, da sich die Schlinge um ihren Leib legte, sah dies ein Araber, sah die Rettung kommen und beeilte sich, sie zu benutzen, ergriff das Lederseil, riss daran — und dem hierauf unvorbereiteten Prinzen ward das ganze Lasso aus der Hand gerissen!
Jetzt war das Seil dort unten. Und wie die ganz Sache nun einmal lag, war gar nicht daran zu denken, dass es jemand wieder hätte ergreifen und heraufwerfen können. Alles eine wilde Panik, ein furchtbares Durcheinander mit Handgemenge, einer wollte sich doch hinter dem andern vor dem entsetzlichen Mädchenkopf mit dem tödlichen Stachel schützen.
Ein dritter Mann brach getroffen zusammen. Jetzt kämpften nur noch drei Araber und Isabel um ihr Leben.
»Das Seil, das Seil!«, schrie der Prinz.
Er dachte an das Seil, welches Miller benutzt hatte, es lag ja ganz in der Nähe.
Er stürmte davon, dabei aber Deasy mit sich reißend, die er hier nicht allein lassen wollte, sie erst unterwegs auf den Arm nehmend.
In einer halben Minute hatte er jenen oberen Raum erreicht, setzte das Kind hin, ergriff das Seil —
»Warte auf mich! —«
Deasy brauchte nicht lange zu warten.
Der Prinz kam zurück, furchtbar erschüttert.
»Zu spät, zu spät! Ich hätte das arme Weib gern vor diesem furchtbaren Schicksal bewahrt — ich kam zu spät!«
Dann bückte er sich und schloss die kleine Deasy mit überströmender Zärtlichkeit in seine Arme.
»Komm, mein Kind — ich habe Dich wieder, und niemals mehr sollen wir getrennt werden — komm, Fred wartet schon auf Dich!«
2 Hier endet der ursprünglich wohl auf 60 Lieferungen angelegte Roman mit der Lieferung 46 mitten in einem Gewirr unaufgelöster Handlungsstränge.
Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
Go to Home Page
This work is out of copyright in countries with a copyright
period of 70 years or less, after the year of the author's death.
If it is under copyright in your country of residence,
do not download or redistribute this file.
Original content added by RGL (e.g., introductions, notes,
RGL covers) is proprietary and protected by copyright.