Roy Glashan's Library
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"Das zweite Gesicht," Band 3, Verlag Dieter von Reeken, 2020
Drei Tage waren vergangen, die Kavalkade mit den beiden so verschieden aussehenden Automobilen näherte sich der Grenze von Nepal. Unterdessen war nichts Außergewöhnliches passiert.
Sie ritten respektive fuhren vom ersten Morgensonnenstrahl bis zum heißen Mittag, rasteten in einem Dörfchen oder Städtchen und suchten für das Nachtquartier immer möglichst eine größere Stadt oder Ortschaft zu erreichen, wo sich ihnen genügender Komfort bot.
Der Maharadscha wurde überall mit königlichen Ehren empfangen, natürlich besonders auch von den englischen Behörden, er bezog mit seinen Leuten immer das beste Quartier, einen Palast, wenn ein solcher vorhanden war — das Panzerautomobil konnte sich seinen Standpunkt für die Nacht nach Belieben wählen, mitten auf dem Marktplatz oder draußen vor den Toren der meist ummauerten Städte, ganz wie der Prinz wollte, der Maharadscha schien sich gar nicht mehr um die Riesengranate zu kümmern.
Am Morgen kamen dann die Reiter wieder in Begleitung des Rennautomobils, holten die Riesengranate ab, die Reise wurde gemeinschaftlich fortgesetzt.
Es wäre ja während dieser drei Tage so manche Gelegenheit gewesen, dem Panzerautomobil eine Falle zu bauen, es hineinzulocken, um es dingfest zu machen.
Während der Nacht konnte doch eine richtige Fallgrube gegraben werden, man konnte es in einen Engpass fahren lassen, dessen Ausgänge dann verschüttet wurden, und anderes mehr, aus welchen Lagen es sich wohl niemals wieder befreien konnte. Und sein Führer hatte sich ja bereit erklärt, dem Maharadscha überall hin zu folgen, er zeigte auch sonst bei jeder Gelegenheit seine Bereitwilligkeit in dieser Hinsicht.
Dass nichts desgleichen geschah, dafür war der Grund ja nur zu durchsichtig.
Der Maharadscha befand sich ja selbst noch auf fremdem Gebiete, in
1 Die OriginalKapitelüberschrift lautet »In der Dschungel«. welchem er wohl überall als ein König empfangen wurde, in dem er aber im Grunde genommen doch gar nichts zu sagen hatte.
Er wollte die fahrbare Panzerfestung erst in seinem eigenen Lande haben, wo er allmächtig war, dann würde die Sache schon anders losgehen!
Wenn er sie hier festnagelte, dann konnten ja andere kommen und sie ihm wegnehmen, natürlich hauptsächlich die Engländer, ob er sich nun als Besitzer legitimieren konnte oder nicht.
Jetzt war er nur froh, wenn man die Riesengranate für ein Automobil von besonderem Typ hielt, wenn sie keine Beweise ihrer besonderen Fähigkeiten gab, er hatte deshalb auch den Prinzen in geschickter Weise gebeten, so etwas nicht mehr zu tun.
So gab er sich, wie die Insassen der Granate durch die Membranpanzerplatten oft genug zu hören bekamen, eben für den Eigentümer des seltsamen Fahrzeugs aus. Er habe es da und dort nach seinen eigenen Plänen bauen lassen, sei aber über die Leistungsfähigkeit recht enttäuscht. Im Übrigen schützte die Unnahbarkeit des anerkannt selbstständigen Königs von Nepal davor, dass die Riesengranate von aufdringlicher Neugier belästigt wurde. Es war ganz ausgeschlossen, dass selbst ein Gouverneur um die Erlaubnis bat, das merkwürdige Automobil einmal näher besichtigen zu dürfen, etwa gar auch das Innere, dazu hätte ihn der Maharadscha, das ist eben ein König, selbst auffordern müssen, und das tat er eben nicht, er hüllte sich noch ganz besonders in majestätische Unnahbarkeit. Und hielt die Riesengranate mitten auf dem Marktplatz, so bildete englische Polizei, wenn auch aus Eingeborenen bestehend, ganz von allein während der ganzen Nacht Spalier, jeden Neugierigen fernhaltend.
Wie gesagt, das würde sich freilich ändern, sobald sich der Maharadscha in seinem eigenen Lande befand!
Jetzt am vierten Tage also näherte man sich dieser Grenze.
Nepal ist das gebirgigste Land der Erde; es liegt ja direkt im Himalaja, enthält dessen höchste Berge, den Mount Everest, den nach der neuesten Annahme noch höheren Dhawalagiri, den Kinchinjunga, und wie diese noch nie bestiegenen Bergungeheuer alle heißen.
In diesem Lande von 154 000 Quadratkilometern hausen gegen drei Millionen Menschen, die natürlich auf die Täler beschränkt sind.
Aber alle diese Täler strotzen in üppigster Fruchtbarkeit, und ihre Bewohner können sich alles, alles selbst herstellen, was sie nur irgendwie brauchen, also sogar ihre eigenen Gewehre und das Pulver dazu, und das auch noch in der denkbar größten Vollkommenheit, und jedes einzelne Tal ist für sich eine einfach ganz uneinnehmbare Festung. Und wenn alle modernen Heere der ganzen Welt sich vereinen würden, gegen Nepal könnten sie nichts machen. Jedes einzelne Tal hat meilenlange Engpässe, in denen sich manchmal zwei Fußgänger nicht einander ausweichen können, die Felswände sind nicht zu erklimmen und die Verteidiger eben auch nicht auszuhungern.
Da müssen erst einmal wirklich brauchbare Luftschiffe erfunden werden, die in ganzen Flotten kommen. dann wird sich hieran vielleicht etwas ändern, vorher nicht. Und dann vielleicht immer noch nicht.
Aber auch das ganze Land Nepal an sich ist einfach unerreichbar, wenn es eine Handvoll Leute nicht will.
Im Norden grenzt das Hochland von Tibet daran, da gibt es von Nepal aus keinen Aufstieg hinaus, also auch keinen Abstieg. Nach Tibet muss von anderer Seite aus vorgedrungen werden.
Die südlichste Grenze von Nepal bildet der sogenannte Taraidschungel, also ein Sumpf, mit Schilf und Bambus bewachsen, 120 geografische Meilen lang und im Durchschnitt 4 bis 5 Meilen breit.
Dieser Dschungelstreifen ist absolut unpassierbar!
Nur an einer einzigen Stelle, bei Bettia, der letzten Eisenbahnstation und überhaupt Ortschaft, beginnend, führt im Zickzack ein Damm hindurch.
Wer diesen Damm erbaut hat, ist unbekannt, das fällt in sagenhafte Zeit zurück, jedenfalls aber ist er heute noch in vorzüglichster Beschaffenheit und scheint noch eine Ewigkeit ausdauern zu wollen.
Die Erbauer haben ihn gleich zu Verteidigungszwecken angelegt, er ist nur so schmal, dass keine zwei Elefanten nebeneinander gehen können, er läuft also im Zickzack, an jeder Ecke ist eine Verteidigungsmauer, dann viele Brücken und dergleichen Sicherungen mehr.
Kurz und gut, ganz Nepal ist eine einzige Festung, es ist ganz ausgeschlossen, dass auch von Süden her ein Heer eindringen könnte, eine Handvoll Leute würde alle Angriffe zurückweisen, sie brauchten gar nicht zu schießen.
Da lässt sich deuten, was für einen Schmerz den Engländern das so überaus fruchtbare, metall- und goldreiche Nepal ist.
Auch noch aus anderen Gründen, für den jagdliebenden Engländer.
Hinter diesem Dschungelstreifen zieht sich nämlich in doppelter Breite ein Urwald hin, der das reine Jägerparadies ist.
Ein Urwald von rund 2000 geografischen Quadratmeilen, wie ihn von solcher Herrlichkeit nur einige wenige kleine Inseln des malaiischen Archipels aufzuweisen haben.
Merkwürdigerweise nämlich fehlt es darin, trotz der Nähe des sumpfigen Dschungels, ganz an Unterholz mit seinen schrecklichen Dornen, an Schlingpflanzen und an allem, was sonst diese Urwälder für den Jäger und Naturfreund so ganz illusorisch macht.
Es ist der reine Park, unter dessen mächtigen Bäumen nur kurzes Gras und üppiges Moos gedeiht, abwechselnd mit pittoresken Felspartien, durchflossen von köstlichen Quellen, und in diesem Parke nun wimmelt es von Wild aller Art, von Elefanten und Rhinozerossen, von Antilopen, Hirschen und Büffeln und was sonst noch ein Jägerherz erfreuen kann, und dieser ungeheuere Tierbestand kann trotz aller Jagdlust der nepalischen Fürsten und sämtlicher Gorkhas, die in diesem Parkwalde ihre Rosse tummeln, niemals verringert werden, weil sich das Wild, wenn es allzu sehr verfolgt wird, in die undurchdringlichen Dschungel zurückzieht, wo es sich ungestört vermehrt.
Weshalb ein Pferd dort nicht eindringen kann, wo sich das Rind und der Elefant zu Hause fühlen, das ist mit Worten nicht so leicht zu erklären. Es sei nur darauf aufmerksam gemacht, dass Elefant und Rind doch Schlammbäder nehmen, was ein Pferd niemals tun wird.
Es hängt aber auch hauptsächlich mit dem Bau des Fußes zusammen. Der Huf des Pferdes versagt zwischen den scharfen, spitzen Schilf- und Bambusstängeln sofort. Ebenso ist es aber auch ausgeschlossen, dass man in den Dschungeln etwa Elefant und Rind als Reittier benutzt. Der Körper des Reiters wäre in Kürze ganz zerfetzt, und da hälfe auch keine Panzerung.
Also auch dieses Jagdparadies ist den Engländern wie jedem anderen Fremden verschlossen, wie das ganze Nepal.
Trotzdem ist der König von Nepal, wenn er auch keine Eisenbahn benutzt, so modern, dass er die Engländer in der Hauptstadt seines Reiches eine regelrechte Gesandtschaft unterhalten lässt.
Der Grund hierfür ist durchsichtig genug, besonders wenn man weiß, dass ein Landesgesetz vorschreibt, dass die Mitglieder dieser englischen Gesandtschaft verheiratet sein und ihre Frauen und Kinder bei sich in Katmandu haben müssen.
Der Maharadscha will eben in seinem Lande englische Geiseln haben! Sonst wäre der hier doch auch gar nicht in einer fremden, englischen Provinz gereist, ohne englischmilitärische Bedeckung. Wie leicht hätte man sich sonst seiner Person bemächtigen können.
Und die Engländer sind hierauf eingegangen, weil sie hoffen, doch noch einmal in Nepal einen politischen Einfluss gewinnen zu können.
Auch muss hervorgehoben werden, dass dieser englischen Gesandtschaft oder richtiger Botschaft in Katmandu niemals auch nur ein Haar gekrümmt worden ist, man hat ihre Mitglieder vielmehr immer aufs Zuvorkommendste behandelt, selbst damals im Jahre 1894, als einmal die in englischen Diensten zu Delhi stehenden Gorkhas meuterten und die Rädelsführer erschossen und viele der anderen zu den schwersten Strafen verurteilt wurden.
Denn die eingeborenen Gorkhas gehen gern außerhalb des Landes, um bei den Engländern Kriegsdienste zu nehmen, stets als Kavalleristen. Allerdings begnügen sie sich nicht mit dem Solde der anderen eingeborenen Soldaten, nicht einmal mit dem des englischen Infanteristen, pro Tag einen Schilling, sondern sie fordern und erhalten denselben wie die englischen Gardereiter, pro Tag eine halbe Krone, 2 Mark 50 Pf. Sie bilden denn auch, wie schon gesagt, die Elite und den Stolz der indisch- englischen Armee.
Immerhin, es ist doch sehr merkwürdig, dass es diesen Gorkhas gestattet ist, den Engländern Kriegsdienste zu tun, wo sich Nepal sonst ganz verschließt.
Auch hierfür ist der Grund ja ganz durchsichtig.
Unter diesen Gorkhas dient mancher Fürstensohn, doch immerhin als ganz gewöhnlicher Soldat.
Sie studieren das englische Kriegsexamen!
Alle Inder träumen doch natürlich davon — oder es wären keine Menschen — dass sie die Engländer noch einmal durch eigene Kraft wieder zum Lande hinausjagen, und Nepal ist die uneinnehmbare Hochburg Indiens, von dort soll dereinst der Vernichtungskampf gegen die Fremdherrschaft losbrechen!
Natürlich ist das nur ein phantastischer Traum, die Engländer lächeln darüber und lassen die Gorkhas ruhig in ihren Reihen, sind höchst zufrieden mit ihnen. Nur andere eingeborene Offiziere dürfen sie nicht wieder über sie stellen. Das müssen entweder selbst Engländer oder Radschputen sein, geborene Königssöhne, anderen gehorchen die Gorkhas nicht.
Aber ein Traum der Engländer ist es auch nur vorläufig, wenn sie hoffen, Nepal doch noch einmal ihrem indischen Kaiserreiche einverleiben zu können.
Ein Lichtzuck am östlichen Horizont, und plötzlich wich die finstere Nacht dem hellen Tage.
Der Prinz drehte das elektrische Licht aus und hielt durch die durchsichtigen Panzerplatten Umschau.
Die Riesengranate lag in der freien Steppe, einen halben Kilometer nordwärts von den Mauern Bettias, dem letzten Städtchen aus englischem Gebiete, in der Provinz Oudh, durch die Eisenbahn mit der indischen Pazifiklinie verbunden.
In der Steppe lag das Automobil, sagten wir.
Dieser Ausdruck gibt ein falsches Landschaftsbild.
In Amerika nennt man solche Grasflächen Prärien oder Savannen oder Llanos, und da kann man sich gleich ein lebhaftes Bild machen.
In Asien heißt dies alles Steppe, obgleich wir uns unter einer solchen etwas ganz anderes vorstellen. Mehr eine dürre Heide.
Auch das hier war eigentlich eine Prärie, eine Savanne. Und was für einen köstlichen Anblick bot sie dar!
In dieser Gegend hier hatte nach langer Regenzeit der Frühling eingesetzt, alles schmückte sich mit frischem Grün, auch diese Steppe hier, von dem verdorrten, sonnenverbrannten Grase war nichts mehr zu sehen, überall sprossten die jungen Halme, und dazwischen nun schon eine Blumen- und Blütenwelt von wunderbarer Farbenpracht!
Der Prinz betrat den nächsten Raum.
In diesem lag die Lady schlafend auf der Polsterbank, ohne dass diese zum Bett hergerichtet worden war, wie sie die Einrichtung überhaupt noch nie benutzt hatten.
Sie wachten jede Nacht abwechselnd, so wenig es vielleicht auch nötig gewesen wäre. Heute hatte die letzte Wache der Prinz gehabt.
Sein Eintritt genügte, um die Schläferin zu wecken, sofort sprang sie auf, schüttelte den Kopf, dass die schwarzen Locken flogen, ein Blick und sie stieß einen Jubelschrei aus.
Bettia war gestern erst spät abends erreicht worden, schon bei vollkommener Dunkelheit, und solch eine »Steppe« hatten sie bisher allerdings noch nicht passiert.
»O, ist das herrlich, herrlich!«
»Nun wollen wir aber erst einmal hinausgehen. Uns wird ja keine frische Luft zugepumpt, sondern nur künstlich entwickelter respektive komprimierter Sauerstoff zugeführt.«
Sie verließen die Riesengranate nicht zum ersten Male.
Viel Gelegenheit hatten sie freilich auch nicht dazu.
Nur des Nachts oder am frühesten Morgen, wenn sich ihre Begleiter noch nicht eingefunden hatten, und eben deshalb kampierten sie mit ihrem Automobil immer lieber neben der Stadt als auf dem Marktplatz oder sonst wo zwischen den Mauern, suchten sich draußen immer eine möglichst freie Gegend aus, in der sie unmöglich beschlichen werden konnten.
Aber in solch einer herrlichen Steppe hatten sie noch nicht kampiert.
Also sie traten hinaus, atmeten mit vollen Zügen die frische, köstliche Morgenluft ein, gewürzt von Blumenduft.
»Ach, nun noch ein Pferd, ein Pferd!«, jubelte die Kosakin wehklagend.
»Immer noch nicht zufrieden?«, lächelte der Prinz.
»So ist nun einmal der Mensch. Ist das dort vor uns das Himalajagebirge?«
Sie deutete auf die grauen Massen, die sich im Norden himmelhoch auftürmten, die bizarrsten Gestalten annehmend.
»O nein, das ist von hier aus noch nicht zu erblicken, da liegt ja erst noch ganz Nepal dazwischen.«
»Was für ein Gebirge ist es sonst?«
»Gar kein Gebirge, sondern das ist der Morgennebel, der dort über dem Taraidschungel braut, von dem wir kaum noch 15 Kilometer entfernt sind. Jetzt steht der Nebel am höchsten und fest, bald wird er sich unter den warmen Sonnenstrahlen auflösen. Da fällt mir übrigens eine Frage ein, die ich schon eher hätte stellen können: Sind Sie besonders veranlagt für Fieber?«
»Ganz und gar nicht! Ich bin in Sumpfgegenden gewesen, wo auch die robustesten Männer an der Malaria umfielen wie die Mücken, und ich habe gar nichts davon gemerkt.«
»Dann ist es ja gut. Übrigens ist diese Sumpfgegend viel weniger vom Fieber heimgesucht oder sogar viel gesünder, als man annehmen sollte. Das macht eben die Nähe des eisgekrönten Himalajagebirges, wenn es auch noch nicht zu sehen ist, das aber eben doch seine kühlenden, erfrischenden, die Luft von allen Miasmen reinigenden Winde noch bis hierher herabschickt. Es war nur eine Frage. Wir haben Chinin in der Apotheke, brauchen es wohl gar nicht zu nehmen — aber es gibt Menschen, die nur das Wort Sumpf und Malaria zu hören brauchen, so bekommen sie Fieber, aus lauter Einbildung.«
»O nein, zu diesen Menschen gehöre ich nicht!«
»Dann ist die Sache also erledigt. Dort kommen sie!«
Sie kamen, die Gorkhas, voran das Rennautomobil, um die Riesengranate zur Weiterreise abzuholen.
Die beiden hatten sich rechtzeitig hinter ihre Panzerplatten zurückgezogen.
»Merken Sie etwas?«, fragte der Prinz, als die Reiter, die sich ganz ungeordnet hielten, näher gekommen waren.
»Ja.«
»Nun?«
»Von den zweiundfünfzig Reitern fehlen drei.«
»Was, das merken Sie?«, rief der Prinz überrascht.
»Na was gibt's denn da zu staunen? Ebenso gut könnte ich mich doch wundern, dass Sie es gleich gemerkt haben.«
»Ja, ich — ich bin ein Wald- und Buschmensch, der jede Pferdeherde und jeden Reitertrupp sofort unter die Lupe nimmt —«
»Mein lieber Freund, wenn Sie schon so viele Pferde gestohlen hätten wie ich, dann würden Sie auch jede Pferdeherde mit demselben Interesse betrachten, immer kalkulierend, welcher Gaul am meisten wert ist, gestohlen zu werden, und da natürlich durch diese jahrelange Übung schärft sich das Auge. Ja, da fehlt eine Schecke, ein Brauner mit weißen Fesseln und ein ganz ordinärer Brauner.«
»So genau können Sie es beurteilen? Ich kann nur konstatieren, dass überhaupt drei Rosse und Reiter fehlen.«
»Da sehen Sie eben, was Sie von mir noch alles lernen können. Na, warten Sie nur, wenn wir zusammen erst aufs Pferdestehlen ausgehen, da sollen Sie aber staunen. Aber wo sind nun die drei geblieben? Das freilich müssen Sie besser wissen als ich.«
»Woher soll ich es wissen?«
»Sagt Ihnen Ihr Almansor nichts?«
»Nein, in dieser Beziehung nichts.«
»Jetzt geht die Teufelei los.«
»Was für eine Teufelei?«
»Jawohl, fragen Sie auch noch! Die drei sind vorausgeritten, um jetzt für uns Fallen zu arrangieren.«
»Das ist nicht unbedingt nötig.«
»Na, was denn sonst?«
»Sie können auch nur vorausgeritten sein, um die Ankunft ihres Herrn in seinem Reiche zu melden.«
»Na, glauben Sie etwa, die werden uns jetzt noch in Ruhe lassen? Die sägen doch jetzt schon auf dem Damm die Brücke an, um uns im Sumpfe dingfest zu machen. Der Maharadscha wird doch nicht etwa sein Reich betreten, vor oder hinter sich dieses Panzerautomobil, das von irgend einem Fremden gesteuert wird! Wenn der seinen Einzug hält, muss diese Riesengranate doch auch schon ihm gehören! Das ist so klar, wie acht mal acht sechsundsechzig ist.«
»Acht mal acht ist vierundsechzig«, lachte der Prinz.
»Also ist das, was Sie da behaupten, doch nicht so ganz klar. Aber Sie haben schon recht. Ich meinte nur, dass wir wegen des Fehlens dieser drei Reiter nun nicht gleich etwas Schlimmes zu fürchten haben. Na, wir werden ja sehen.«
Der Zug war vollends herangekommen, und es geschah, wie es während der drei Tage immer geschehen war. Ohne dass ein Wort verloren wurde, fuhr das Rennautomobil in langsamer Fahrt einfach vorüber, ihm nach folgten die Reiter, denen sich die Riesengranate anschloss.
So ging es weiter im goldenen Morgensonnenschein durch die blühende Steppe.
Eine Landstraße fehlte hier.
Man sah auch nicht einmal einen ausgetretenen Weg — ein Zeichen, wie gering der Verkehr nach Nepal ist. Es gibt eben gar keinen Import und Export. Es existiert nur ein Personenverkehr, der sich zu Pferde abwickelt. Der hat keine Landstraße nötig, und das üppig schießende Gras verwischte in dieser Jahreszeit schnell jede Spur.
Jetzt aber begann doch plötzlich eine regelrechte Landstraße, aus dem grünen und bunten Grunde mit weißer Pflasterung auftauchend, schnell etwas in die Höhe gehend.
Es war der Beginn des Dammes.
Der Boden der Steppe war auch schon etwas feucht geworden, an tieferen Stellen sogar schon morastig. Dort in einiger Entfernung zeigte sich auch schon das erste Schilf.
Das Rennautomobil hielt, der ganze Zug stand, nur die Riesengranate fuhr weiter, bis auch sie neben dem Fahrzeug des Maharadscha stehen blieb.
»Hören Sie mich sprechen?«
»Ich höre Sie.«
»Wir treten die Durchfahrt durch den Dschungel an.«
»Wohl.«
»Breit und fest genug ist der Damm für das Panzerautomobil überall. Aber es sind auch häufig kleine Brücken zu passieren. Wie viel wiegt die Granate?«
»Ich weiß es nicht.«
»Das müssen Sie doch wissen!«
»Nein, ich weiß es nicht. Es kommt auch gar nicht darauf an, wie viel sie wiegt.«
»Es käme nicht darauf an? Die Bambusbrücken müssen sie doch tragen.«
»Nicht uns. Diese Brücken kommen für uns gar nicht in Betracht.«
»Nicht in Betracht? Wie meinen Sie das?«
»Weil wir den Damm überhaupt gar nicht benutzen werden. Auf Wiedersehen, edler Maharadscha, im großen Prunksaale Deines Palastes zu Katmandu!«
Und nach diesen letzten Worten, einmal auf Hindustanisch gerufen, setzte sich die Riesengranate wieder in Bewegung, aber nicht auf der sich zum Damme ausbildenden Straße entlang, sondern links daneben weiter durch die Steppe, in der jetzt aber schon unter den schweren Rädern das Wasser zu plätschern und zu spritzen begann.
Der Maharadscha machte ein Gesicht, als traue er seinen Augen nicht.
»Zurück!«, rief er dann. »Glaubt Ihr denn, Ihr könnt durch den Sumpf und gar durch den Dschungel? Ihr seid des Todes!«
»In Katmandu sehen wir uns wieder«, erklang es nochmals aus dem Innern heraus, »vielleicht auch schon vorher.«
Und die Riesengranate patschte weiter.
Das Rennautomobil fuhr auf die Straße, auf den Damm, neben dem sich ja die Granate hielt, und da erkannte man, dass sie doch noch nicht verloren war.
Wieder hatten sich die Räder verändert, sie waren viel breiter geworden, vor allen Dingen aber galt dies für das mittelste, das fünfte Rad, das war jetzt eine vollkommene Walze, auf dem das ganze Fahrzeug ruhte, und auf diese Weise sank es viel weniger ein, als man bei dem mächtigen, doch sicher viele, viele Zentner und vielleicht sogar einige Tonnen wiegenden Kolosse hätte erwarten sollen.
So fuhr es ziemlich schnell längs des Dammes hin.
Jetzt aber kam das Schilf, immer dichter werdend, welches auch dieses Fahrzeug schließlich doch einmal aufhalten musste.
Denn es war indisches Sumpfschilf, tropisches, doch etwas anders aussehend als das unsrige. Man muss es nur gesehen haben, um glauben zu können, dass da bald jede Fahrerei irgendwelcher Art aufhört, dass da auch bald jede auf Schienen laufende Lokomotive stecken bleiben würde.
Aber wiederum zeigte die Riesengranate einmal, was sie alles leisten konnte.
Wieder veränderten sich die Räder, seitwärts kamen sichelförmige Messer und ganze Schwerter hervor, so wie solche die alten Kriegswagen besaßen, auch die der alten Inder, mit denen die Reihen der Feinde niedergemäht wurden, so mähten diese hier das dicke Schilf nieder, und die mittlere Walze nun wirkte vollends wie so eine moderne Rasenmähmaschine, nur mit hundertfacher Kraft und Wirkung.
Jetzt aber kam die Region des Bambus und zwar, da der Boden gerade sehr günstig für die Vegetation war, gleich in stärkster Beschaffenheit.
Bambusrohr so stark wie junge Baumstämme, bis zu 30 Zentimeter im Durchmesser, bis zu einer Höhe von 25 Metern!
Also etwas, wovon man sich gar keine Vorstellung machen kann, wenn man es nicht selbst gesehen hat.
Und diese ungeheuren Rohre, höher als ein vierstöckiges Haus, aber dennoch nicht den Eindruck von Bäumen eines Waldes machend, so dicht zusammenstehend, dass man gar nicht weiß, wie sich da auch nur ein geschmeidiger Panther durchzwängen kann!
Wie wollte da diese ungeheure Granate durchkommen und wenn sie eine tausendpferdige Kraft besessen hätte? Sollten diese doch immerhin nur schwachen Messerchen etwa auch diese glasharten Bambusstämme zerschneiden?
Der beste Stahl ist da nach fünf Minuten total abgenutzt, die Klinge ganz zerschartet.
Aber diese Riesengranate brachte es dennoch fertig.
Ihre konische Spitze bohrte sich ein, schob die Stämme auseinander, und dann begannen die Sicheln und Messer und Schwerter ihre Arbeit.
Wie bei einer Häckselmaschine, bei der die Auffangvorrichtung fehlt, stoben die Späne wie Spreu auseinander.
Und ebenso furchtbar wirkte die mittlere Walze, die rasierte nun vollends alles ab, dass der zurückgelegte drei Meter breite Weg aussah wie der Kopf eines Mannes, der seinem Haare nur eine Länge von einem halben Millimeter gestattet.
Und so ging es weiter und weiter, und dazu auch noch immer schneller und schneller, ohne dass man eine Veränderung dieses rasierten Weges bemerkte.
Es konnte eben kein Stahl sein, der dies bewirkte, der dies aushielt, oder er musste in ganz besonderer Weise gehärtet worden sein. Wahrscheinlicher aber war es etwas ganz anderes als Stahl.
Und dann war die Riesengranate verschwunden.
Denn nur anfangs war sie dem Damme gefolgt, dann plötzlich hatte sie einen scharfen Bogen gemacht, ihren weiteren Weg, den sie genommen, konnte man nicht mehr mit den Augen verfolgen.
Ebenso wenig aber auch zu Fuß oder zu Pferd, mit keinem anderen Fahrzeug, und diesen abrasierten Pfad, von furchtbaren Bambusspitzen starrend, hätte auch kein Rind, kein anderes Dschungeltier zu betreten gewagt, es hätte sich sofort aufgespießt — — —
Seit zwei Stunden schon mähte die Panzergranate das Schilf und den Bambus nieder, dabei mit einer Geschwindigkeit fahrend, welche die eines flotten Fußgängers auf gutem Wege noch weit übertraf, so dass sie nach diesen zwei Stunden schon die Hälfte der Dschungelbreite erreicht haben mussten.
Natürlich hatte der Prinz nicht aus eigener Initiative Straße und Damm verschmäht, er hatte dazu im geeigneten Moment eine telegrafische Order erhalten, so wie er auch jetzt ständig geführt wurde.
Aber er gab darüber seiner Gefährtin jetzt keine Erklärungen ab. Lady Lionel fragte auch nicht, sondern die beiden beobachteten nur, was sich ihren Blicken bot, machten sich gegenseitig auf alles Seltsame aufmerksam.
Geradezu massenhaft war das Wild, welches die Riesengranate vor sich auftrieb, ganze Herden von Elefanten, Rhinozerosse, Büffel, Antilopen und Hirsche einer besonderen Art, dann vor allen Dingen auch schier Legionen von Wild- und Wasserschweinen, nicht zu vergessen Tiger und Panther.
Rätselhaft war es, wie sich diese Tiere hier in diesem Sumpfe mit undurchdringlichem Schilfe und Bambus und dornigem Buschwerke aufhalten und sich so schnell bewegen konnten!
Nun allerdings standen die Bambusrohre ja nicht immer oder überhaupt in den seltensten Fällen so barrikadenähnlich dicht zusammen wie dort, wo das Panzerautomobil zuerst eingebrochen war.
Aber immerhin, es ist kaum verständlich, wie sich solche zum Teil mächtige und so plump aussehende Tiere wie Elefanten und Rhinozerosse, anderseits aber auch wieder solche zarte, leicht zu verletzende Geschöpfe wie Gazellenantilopen in derartigen Sumpfdickichten bewegen können!
Aber da gibt es noch viel, viel mehr Rätselhaftes im Tierreiche.
Ganz rätselhaft ist es schon — wer es einmal erlebt hat — wie eine große Herde Elefanten durch einen Wald schreiten kann, dessen Boden über und über mit trockenem Reisig bedeckt ist, und unter den Füßen der Kolosse hört man auch nicht ein einziges Zweiglein knacken.
Die Sache ist eben die, dass wir Menschen, die wir den Elefanten nur aus dem Zoologischen Garten kennen, uns durch das scheinbar so plumpe Aussehen vollkommen täuschen lassen.
Man braucht übrigens den gefangenen Elefanten auch nur länger zu beobachten, da kommt man bald zu ganz anderen Schlüssen. Mit welcher geräuschlosen Leichtigkeit und wahrhaften Eleganz er sich in dem engen Zwinger auf den Hinterfüßen herumwirft, wie schnell er immer hin und her trottet! Wer aber schärfer zu beobachten versteht, der erkennt auch, wie er aus Spielerei mit einem gewissen Körperteil stets an eine bestimmte Stelle des Gitters stößt, oder vielmehr nur ganz leise daran vorbeistreifend, mit wunderbarer Sicherheit treffend! Oder im Zirkus, wenn er sich über seinen Herrn legt, oder wenn er sich auf den Vorderbeinen emporreckt, die Hinterfüße in die Luft.
Wir lassen uns eben durch seine kolossale Größe und Dicke irre führen. Der Elefant ist im Grunde genommen gewandt und geschmeidig wie eine Katze. Das zeigt sich eigentlich auch schon an seiner Nase. Er hat seine bewegliche Nase vollkommen in seiner Gewalt, und dasselbe gilt für alle seine Körperteile und Muskeln.
Besondere Arten von Hirschen und Antilopen, so war besonders betont worden.
Der asiatische Edel- und Damhirsch kam hier natürlich nicht vor, überhaupt keine Arten mit besonders stattlichen Geweihen.
Und überhaupt war der Dschungel nur der Schlupfwinkel aller dieser Tiere, jenseits den Urwald zogen sie vor, um sich auszutummeln und ihrer Nahrung nachzugehen. So wie auch unser Hase, wo er Wald hat, sich nur am Tage in diesem aufhält, des Nachts und am frühen Morgen geht er zur Äsung auf die freien Felder hinaus. Wo er keinen Wald hat, kann er sich natürlich nicht dorthin zurückziehen. Aber eigentlich ist zwischen Wald- und Feldhasen gar kein Unterschied.
»Himmel, was ist denn das?«
Seitwärts von dem Fahrzeug bot sich ihnen plötzlich ein schrecklicher Anblick dar.
Nicht so leicht zu beschreiben, so einfach auch das Ganze eigentlich war.
Eine dunkle Walze, wie ein Baumstamm aussehend, etwa zwei Meter lang und von einem viertel Meter Durchmesser — und diese dunkle Walze nun von schrecklicher Lebendigkeit, zuckend und sich bäumend und emporschnellend!
Was konnte das sein?
Eine Schlange?
Wer das Ding sah, kam gar nicht auf solch einen Gedanken.
Eine Schlange, zwei Meter lang und von einem viertel Durchmesser?
Und ganz gleichmäßig dick?
Wo war denn da der Kopf und der Schwanz?
Nun, es war wirklich eine Schlange — gewesen!
Eine Riesenschlange, vielleicht acht Meter lang, es gibt aber auch solche von zehn Metern, so sehr es auch einst bezweifelt worden ist — und diesem Ungeheuer hatten die Sichelräder das Kopf- und das Schwanzende abgemäht, hatten nur noch das zwei Meter lange Mittelstück übrig gelassen.
Und die Nerven zuckten noch, lebten noch, dieses ganze Mittelstück war überhaupt noch vollkommen lebendig, wenn es selbst wohl auch keinen Schmerz fühlen konnte, aber es tobte doch noch so.
Das war die Erklärung.
Natürlich mussten nun auch noch Kopf- und Schwanzstück vorhanden sein, sicher noch viel länger als dieses Mittelstück, die tobten jetzt jedenfalls ebenso, aber davon sahen die beiden Menschen nichts, sie konnten sich nur vor diesem Mittelstück entsetzen.
Lange Zeit zur Beobachtung hatten sie nicht, der Prinz durfte die Riesengranate nicht still stehen lassen, sein telegrafischer Führer drängte zur Eile.
»Vorwärts! Ja, ja, ich fahre doch schon. Mehr nach rechts? Immer noch mehr? So? So?«
Es kam manchmal vor, dass der Prinz so sprach, während er die ihm zutelegrafierten Orders ausführte, weil er nun vor seiner Begleiterin keine Geheimnisse mehr hatte und sich immer mehr an sie gewöhnte.
»Wie ist das eigentlich, dieses Telegrafieren?«, fragte die Lady jetzt in dieser Hinsicht zum ersten Male.
»Nun, man empfindet eben elektrische Schläge.«
»Derbe? Ist es unangenehm?«
»Nicht gerade unangenehm. Das heißt, man muss sich erst daran gewöhnen. Im Anfange schreckt man fortwährend zusammen, besonders wenn man zuerst geweckt wird, also aufmerksam gemacht wird. Das mag kein stärkerer Schlag sein als sonst, aber man ist doch nicht darauf gefasst. Ich bin zuerst immer mächtig erschrocken.«
»Was ist denn das für ein Apparat?«
»Eine ganz kleine, flache Metallbüchse, an einem Ledergürtel befestigt.«
»Und den tragen Sie am Körper?«
»Jawohl, wo denn sonst.«
»Auf dem nackten Leibe, meine ich?«
»Ich trage das Ding direkt auf dem Magen.«
»Ist das unbedingt nötig? Gerade auf dem Magen?«
»Ja.«
»Fühlt man denn die Schläge nicht, wenn man es nur in die Hand nimmt?«
»Nein.«
»Oder auf die Stirn legt?«
»Auch nicht. Es muss unbedingt die Magengrube berühren.«
»Aber warum denn nur das?«
»Wissen Sie nicht den Grund?«
»Nein.«
»Das wundert mich.«
»Weshalb denn?«
»Weil Sie doch eine Schamanin sind.«
»Ich verstehe nicht.«
Der Prinz gab eine Erklärung, so weit das eine Erklärung zu nennen war.
Mehr als 700 Millionen Menschen, nämlich alle Buddhisten, Brahmanisten, Parsen und andere dazu, verlegen den Sitz des Lebens nicht wie wir ins Herz oder ins Gehirn, sondern in die Magenhöhle.
Das Gehirn ist ihnen nach ihren heiligen und wissenschaftlichen Büchern nur ein mechanischer Denkapparat, in Funktion gesetzt wird er erst von dem Plexus solaris, dem Sonnengeflecht, einem strahlenförmigen Nervenbündel, das hinter dem Magen liegt.
Und unsere heutigen Ärzte und Physiologen, die sonst mit diesem Nervenbündel nicht viel anzufangen wissen, geben immer mehr zu, dass hinter dieser uralten Behauptung irgend eine Wahrheit steckt.
Eine Verletzung dieses Nervenbündels erzeugt ganz eigentümliche Erscheinungen, ein Schlag gegen den Magen lässt den Atem aussetzen, bei größerer Heftigkeit tritt bei sonst völliger Besinnung totale Lähmung ein, Ohnmächtigen reibt man am besten die Magengegend mit stärkenden Mitteln, Medien im somnambulen Zustande verlangen, dass ihnen Briefe, die sie mit geschlossenen Augen lesen sollen, auf die Magengrube gelegt werden, und andere Eigentümlichkeiten mehr.
Übrigens ist diese Ansicht, dass der Plexus solaris der eigentliche Sitz des Lebens sei, auch der Grund, weshalb der Japaner, wenn er Harakiri begeht, Selbstmord, sich den Bauch aufschlitzt.
So hatte der Prinz erklärt, gleich selbst sagend, dass dies eigentlich keine Erklärung sei, weshalb er den elektrischen Signalapparat auf dem Magen tragen müsse.
»Jedenfalls ist er nur an dieser Stelle wirksam. Ich habe früher wiederholt versucht, wenn Almansor mir telegrafierte, den Apparat in die Hand zu nehmen oder auf die Stirn oder sonst wo hin zu legen, da aber fühle ich keine elektrischen Schläge, nur wenn er direkt auf der Magengegend liegt, und da allerdings ist es mir tatsächlich, als ob ich die elektrischen Schläge hinten aus der Magenhöhle heraus bekomme, also vom Plexus solaris, von hier aus sich durch den ganzen Körper verbreitend.«
»Aber sagten Sie mir nicht einmal, Sie hätten diesen Apparat überhaupt gar nicht nötig? Almansor könnte Ihnen auch so auf jede Entfernung hin elektrische Schläge erteilen?«
»Allerdings, so ist es. Nur sind die Schläge dann ganz, ganz schwach, da muss ich außerordentlich aufpassen, während sie mit diesem Apparat gar nicht zu überhören oder vielmehr zu überfühlen sind.«
»Ach bitte, lassen Sie mich doch einmal den Apparat umbinden.«
»O nein, Mylady, das geht nicht —«
»Hat es Ihnen Almansor verboten?«
»Nicht direkt, es ist doch ganz selbstverständlich, dass ich dieses Geheimnis überhaupt keinem Menschen offenbare, bei Ihnen ist das ja etwas anderes —«
»Na also! Ach bitte, bitte, lassen Sie mich den Apparat einmal umbinden, ich möchte mich einmal elektrisieren lassen, möchte diese elektrischen Signale fühlen, bitte, bitte, mein liebster, bester Prinz —«
So schmeichelte und bettelte sie weiter, brauchte sich aber natürlich gar nicht lange dabei aufzuhalten, da hatte der gutmütige Prinz schon nachgegeben.
»Nun gut. Gehen Sie hinüber, ich schnalle den Gürtel ab. Sie sollen ihn einmal umbinden.«
»Aber wird dann Almansor auch noch signalisieren? Weil wir ihn doch nicht dazu auffordern können.«
»O, da brauche ich nur einmal von der vorgeschriebenen Richtung abzulenken oder die Karre gar stillstehen zu lassen, da wird er sich gleich melden.«
»Also beobachtet er uns ständig?«
»Ich weiß es nicht, Mylady. Hat er aber hierzu die Möglichkeit, tut er es, so ist diese sonst so unheimliche Fähigkeit in die besten Hände gegeben worden. Diesem jungen Araber würde ich mich ruhig als meinem Beichtvater anvertrauen. Vieles ist an ihm, was mir nicht gefällt, besonders seine Sterndeuterei und sein Glaube an ein Kismet, aber sein moralischer Charakter ist über jeden Zweifel erhaben. Also gehen Sie hinüber in den anderen Raum.«
»Ich denke, Sie wollen den Gürtel abknöppen?«
»Na ja, dazu müssen Sie doch hinübergehen!«, lachte der Prinz.
Schließlich begriff die Kosakin und begab sich hinüber, freilich musste er auch erst die Tür schließen, die sie offen gelassen hatte.
Also er nestelte sein Zeug auf und schnallte den Gürtel ab, einen breiten, dünnen Lederriemen, auf dessen innerer Seite vorn auf besondere Weise ein kleines, flaches Schächtelchen von silberweißer Farbe befestigt war.
Es erfüllte denselben Zweck wie früher die große Blechschachtel, die Almansor dem Prinzen wieder abgenommen hatte, ohne eine Erklärung zu geben.
»Hier ist der magische Talisman.«
Mit diesen Worten öffnete der Prinz, nachdem er die Kleidung wieder geordnet hatte, die Tür und überreichte den Gürtel der Lady, die denn auch ruhig gewartet, sich nicht schon entkleidet hatte, welche eventuelle Möglichkeit dem Prinzen erst hinterher einfiel.
»Der ist ja ganz warm!«
Der Prinz musste sich schnell aus die Lippen beißen.
Wie sie das immer herausbrachte, darin lag es!
Diese vielleicht fünfundzwanzigjährige Witwe hätte in eine Pension von sechzehnjährigen Backfischen gehört, die hätte Leben in die Bude gebracht!
»Nun binden Sie ihn um. Also die metallene Kapsel muss die Magengegend berühren. Denn Ihnen ist zuzutrauen, dass Sie den Gürtel verkehrt umbinden.«
Der Prinz bediente wieder die Steuerung, hatte dabei so seine eigenen Gedanken.
»Ein famoses Frauenzimmerchen! Passen täte die freilich nicht für mich. Wir sind dem Charakter nach die direkten Gegensätze. Aber sagt man nicht, dass sich gerade Gegensätze gegenseitig —«
Er brach diese seine Gedanken lieber ab.
»Ich bin fertig!«, erklang es drüben nach einiger Zeit.
Der Prinz lenkte etwas von der Richtung ab.
Sofort empfand er auch ohne Apparat die elektrischen Schläge, die ihm zumorsten, mehr nach links zu halten, freilich nur ganz schwach, er musste gut aufpassen, um die Striche und Punkte unterscheiden zu können.
Und dies sollte ihm gar nicht gelingen, seine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt.
Denn in demselben Augenblicke, da er die leisen elektrischen Schläge verspürte, erscholl drüben ein ausgelassenes Lachen, dem noch andere undefinierbare Töne folgten, vermischt mit Worten.
»Hahahahaha — hihihihi — uuuiiihh — aufhören, aufhören — das halte ich nicht aus — hahahahaha — uuuiiihhh!«
Der Prinz sprang hinüber.
Die Lady wälzte sich vor Lachen auf der Polsterbank, die war zu schmal, fiel herab, wälzte sich auf dem Boden weiter, sprang auf, drehte sich im Kreise, wollte die Wände hinaufklettern.
»Was ist denn nur los?«
»Hahahahaha — hihihihihi — das krabbelt so — uuuiiih — das halte ich nicht aus — das kitzelt mich zu Tode — uuuiiihhh —«
Und sie wälzte und kollerte sich weiter, immer toller lachend und quiekend.
Was sollte der Prinz machen?
Nun, das war einfach genug.
Er füllte die elektrischen Schläge noch im eigenen Körper, jene durch den Apparat in zehnfacher Stärke, und das konnte die eben nicht vertragen, und bei der löste solche galvanische Elektrizität Lachlust aus, es kitzelte sie.
Also der Prinz lenkte den Wagen schnell wieder in die ursprüngliche Richtung.
Aber was war die ursprüngliche Richtung eigentlich gewesen?
Ein Kompass war wohl vorhanden, aber der Prinz hatte sich nie darum gekümmert, war immer nur den telegrafischen Signalen gefolgt.
Diese empfing er ja auch jetzt noch, aber bei deren Schwäche musste es mäuschenstill sein, sonst konnte er sie unmöglich verstehen.
Und die Lady tobte weiter.
»So seien Sie doch nur einmal still!«
Jawohl, die und still sein!
»Hahahahaha — hihihihihi — uuuiiihh — das halte ich nicht mehr aus — ich sterbe vor Lachen —«
Sie fiel vor dem Prinzen nieder, umklammerte lachend seine Knie, und da war es bei dem natürlich vollends vorbei.
Er veränderte mehrmals die Richtung, aber das Telegrafieren währte fort, wie er wohl deutlich merken, nur nicht die Morsezeichen unterscheiden konnte, und zu seinen Füßen wälzte sich die Lady vor Lachen.
Er ließ den Wagen halten. Es nützte nichts. Jetzt wurde er jedenfalls aufgefordert, weiterzufahren, ganz energisch, er fühlte den Strom stärker, noch viel stärker aber fühlte ihn Lady Lilly, und die Folge war, dass sie jetzt vor Lachen zu toben anfing.
»Hahahahaha — ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr — uuuiiihhh — das Ding ab, nehmen Sie mir doch nur das Ding ab — es kitzelt mich zu Tode — ich sterbe — hahahahaha —«
»So nehmen Sie den Gürtel doch nur selbst ab!«
Der Prinz stand auf dem Sprunge hinauszugehen, sah aber gleich ein, dass es gar keinen Zweck gehabt hätte.
Die war ja gar nicht fähig zu so etwas, die musste sich mit ihren Händen nur immer anklammern, um sich dann wieder im Kreise zu drehen und auf dem Sofa oder am Boden zu wälzen.
»Das Ding ab, das Ding ab — ich sterbe — hahahahaha — hihihihihi!«
Was sollte der Prinz tun?
Die Sache sah wirtlich ganz gefährlich aus
Die bekam einen immer röteren Kopf.
Die konnte wirklich einen Schlaganfall bekommen.
Und der Prinz war Arzt.
Kurz entschlossen packte er sie, drückte sie auf das Sofa nieder, nur um sie festzuhalten, denn sonst war ihr ja gar nicht beizukommen, öffnete ihr Kleid, suchte nach dem Gürtel und fand ihn. Da plötzlich ward es stockfinster in dem Raume. Die Panzerplatten hatten von selbst ihre Durchsichtigkeit verloren.
Und in dieser Finsternis verstummte das Lachen.
In dem anderen Raume war es, wo nach einiger Zeit das elektrische Licht aufflammte.
Der Prinz hatte es angedreht.
Einige Sekunden der Verwirrung, er presste die Hand gegen die Stirn — dann begann er geschäftig und geschäftsmäßig an den Rädern und Hebeln zu drehen.
»Was ist das? Weshalb sind die Platten von selbst undurchsichtig geworden? Die Tür lässt sich ja auch nicht öffnen, keine Schießscharte! Die Hebel der Steuerung funktionieren überhaupt nicht mehr!«
Er öffnete die Tür zum Nebenzimmer, in dem es noch finster war.
»Hier ist etwas in Unordnung, Mylady, oder sogar alles, der ganze Mechanismus funktioniert nicht mehr!«
Keine Antwort.
Da drehte er auch hier das elektrische Licht an.
Sie saß auf dem Sofa, die Hände im Schoß gefaltet.
Wie vor einem Gespenst taumelte er zurück.
»O Gott, was haben wir getan!«, hauchte er.
Da stand sie auf, ging mit tiefernstem Gesicht auf ihn zu, aber ganz verklärt waren ihre Augen, als sie jetzt die Arme um seinen Hals schlang.
»Etwas, was Gott selbst gewollt hat.«
Wieder schien er nur zu erschrecken.
»Frevle nicht, Lilly —«
Aber sie ließ ihn nicht los.
»Ist es denn ein Frevel, wenn Gott zwei Menschen so zusammenführt? Joachim, ich habe Dich geliebt vom ersten Augenblick an, da ich Dich gesehen.«
Da war der Bann gebrochen — der zweite Bann.
»Und ich Dich auch, Lilly!«
Sie hielten sich umschlungen, sie küssten sich, wieder und immer wieder.
Bald aber waren sie wieder ganz — bei der Sache, wie man sagt.
Es waren eben zwei besonders geartete Menschen, die sich hier im Dschungel zusammengefunden hatten, es war ja dabei auch etwas merkwürdig zugegangen.
»Lilly, die Steuerungen und alle die Hebel funktionieren nicht mehr.«
»Wie kommt das?«
»Ich weiß es nicht.«
»Bekommst Du keine elektrischen Direktionen?«
»Nein, ich fühle nichts. Ich müsste es mit dem Apparat noch einmal versuchen. Wo ist der Gürtel?«
Er lag am Boden.
Wie sich der Prinz bücken wollte, hielt er mitten in der Bewegung inne, richtete sich wieder auf.
»Da, jetzt geht's doch los, ich fühle etwas!«
»Was sagt Almansor?«
»Einen Augenblick — wir sollen uns einige Stunden gedulden, ruhig hier liegen bleiben, auch nicht hinaussehen.«
»Weshalb nicht?«
»Das sagt Almansor wie gewöhnlich nicht. Dort draußen passiert eben etwas, was wir nicht sehen sollen, der hat immer seine Heimlichkeiten. Na, da wollen wir uns also ein paar Stunden hier zusammen langweilen.«
Nach dieser nicht gerade sehr höflichen Bemerkung setzte er sein Bücken fort und hob den Gürtel auf.
»Was ist denn das?«
Die kleine Metallkapsel hatte sich geöffnet, ein Deckel war abgesprungen.
Dabei hatte der Prinz noch gar nicht gewusst, dass sie überhaupt einen Deckel besaß. Dessen Rand hatte eben bis auf das Leder gereicht, er mochte sie auch nicht weiter untersucht haben, es war ein sehr fester Verschluss gewesen, der sich aber eben durch das Vorhergegangene und durch den Fall auf den Boden gelockert hatte.
In der kleinen Büchse sah man etwas Weißes, anscheinend Watte, sie ganz ausfüllend.
»Na, wenn das Geheimnis nun einmal offen zu Tage liegt, können wir es auch gleich noch weiter untersuchen, und wenn es dem Herrn Almansor nicht passt, mag er es mir nur sagen, nur nicht gleich mit gar zu starken elektrischen Hieben. Da meldet er sich übrigens schon, da kommt schon das Verbot.«
Aber nein, ganz im Gegenteil — es war nicht das Verbot, sondern die Erlaubnis, den Inhalt der Kapsel weiter zu untersuchen.
»Almansor will uns eine Überraschung bereiten, will uns während der Stunden unserer Gefangenschaft etwas unterhalten«, konnte der Prinz noch hinzusetzen.
Aus der weißen Watte kam ein schwarzer Käfer zum Vorschein, von der Größe einer Haselnuss, aber plattgedrückt — ein Skarabäus, die Käferform auch nur so angedeutet, hauptsächlich durch die Brustschilder, wie derjenige gewesen war, den der österreichischarabische Zollbeamte damals einen verschenkt hatte, wie überhaupt alle Skarabäen gehalten sind, aber doch etwas deutlicher, der Kopf war ausgeprägter, die Beine waren wenigstens durch kurze Stummeln ausgedrückt.
»Weißt Du, was das ist?«
»Ein ägyptischer Skarabäus, ein heiliger Käfer.«
So viel wusste die Lady, wie diese Dinger heute begehrte Sammelobjekte sind, wie sie deshalb fabrikmäßig imitiert werden, mehr aber nicht.
Der Prinz gab ihr einige nähere Erklärungen, er erzählte von der merkwürdigen Unterscheidungsgabe der koptischen Priester für solche Skarabäen, von den geheimnisvollen Fremden, die echte Exemplare innerhalb Ägyptens, aber niemals im Auslande, immer um jeden Preis zu kaufen suchten, erzählte auch den speziellen Fall, wie der reiche Engländer wegen solch eines Skarabäus in Kairo ermordet worden war.
Aber nicht erzählte der Prinz von dem persönlich erlebten Falle, von jenem geschenkten Skarabäus, was man mit diesem alles erlebt hatte.
»Weshalb denn das?«, wunderte sich die Lady. »Weshalb suchen denn gerade Inder in den Besitz solcher ägyptischer Käfersteine zu kommen? Was hat es denn mit diesem für eine Bewandtnis?«
»Du weißt es also nicht?«
»Sonst würde ich doch nicht erst fragen.«
»Ich dachte, weil Du doch selbst eine Schamanin bist, und die Schamanen haben doch genug mit Indien zu tun, der ganze Schamanismus ist doch nur eine Abart des Buddhismus, hat darin am meisten die Zauberei ausgebildet.«
»Ich weiß gar nichts von diesen Skarabäen, wenigstens nicht mehr, als ich Dir vorhin offenbart habe.«
»Nun, so beschäftigen wir uns näher mit dem Dinge. Almansor selbst fordert mich dazu auf. Für was für eine Masse hältst Du das?«
Es schien dem Aussehen nach schwarzes Glas zu sein.
»Glas?«, meinte der Prinz. »Es ist zwar noch unentschieden, ob die alten Ägypter nicht schon Glas herstellen konnten, aber von gläsernen Skarabäen hat man jedenfalls noch nie gehört. Eher halte ich es für schwarzen Achat. Oder doch nicht etwa gar —«
Er hatte an einem der Stummelbeine eine scharfe Ecke gefühlt, sah sich nach etwas Gläsernem um, so etwas war bald gefunden, ein Wasserglas, zur Einrichtung gehörend, der Kompass, eine Uhr war mit einer Glastafel zugedeckt, er ritzte das Glas mit der Ecke.
»Mit der Leichtigkeit, womit das Ding Glas ritzt und schneidet, muss ich es für einen Diamanten halten, für einen schwarzen Diamanten!«
»Ein Diamant von dieser Form?«
»Weshalb denn nicht? Weshalb muss denn jeder Diamant als Brillant oder sonst nach einer regelmäßigen Kristallform geschliffen sein? Die malaiischen Fürsten und Nabobs ziehen sogar beim Diamanten den runden Perlen- oder einfach Kugelschliff jeder anderen Form vor. Hier ist einmal ein sehr großer Diamant zu solch einem Käfer ausgeschliffen worden. Nun, mag es sein, was es will, ich werde die Anweisungen Almansors befolgen.«
»Was ordnet er an?«
»Das wirst Du gleich sehen, ich führe es statt jeder Erklärung sofort aus.«
Er legte den schwarzen Stein auf den ebenso schwarzen Boden nieder und drehte das elektrische Licht aus.
Stockfinsternis herrschte in dem Raume.
Da sah man dort unten eine weiße Masse, den Käfer, weißleuchtend, aber kein eigentliches Licht ausstrahlend, so wie es bei solchen Phänomen schon wiederholt beschrieben wurde, und es blieb nicht bei dieser nur angedeuteten Käferform, sondern man sah deutlich, wie dem Dinge jetzt richtige Beine und Fühlhörner wuchsen, und als dies fertig war, in kaum einer halben Minute, begann der Käfer richtig zu kriechen.
Die Schamanin mochte schon vielerlei Derartiges erlebt haben, sie selbst war in solchen Künsten bewandert, konnte, wie wir noch später sehen werden, selbst Ähnliches erzeugen, aber das hier war ihr doch etwas ganz Neues, Unbegreifliches — sie war vor Staunen außer sich.
»Wie ist das nur möglich?«
»Ich weiß es nicht. Beobachten wir weiter.«
Den Prinzen ließ der lebendig gewordene Käfer ja ziemlich kalt.
Er hatte ja dasselbe schon einmal erlebt. Einmal dort in der Wüste, wo Deasy durch Fernwirkung mit dem grauen Skarabäus die merkwürdigsten Kunststückchen ausgeführt hatte, der Steinkäfer war auch in der Hand lebendig gewesen, war aus einer Schachtel in die andere gewandert, aus einer Tasche in die andere, was man sich nur durch Dematerialisation erklären konnte, wenn es für so etwas überhaupt eine Erklärung gibt — und dann damals im Megalis el Hiemit, wo er im Finstern auf dem Diwan gelegen hatte, wo auf seiner Brust plötzlich der weißleuchtende Käfer entstanden war, den er erschrocken fortgeschleudert hatte, worauf dann in unserer Weise sich menschliche Gestalten materialisiert hatten, zuletzt auch Deasy, als zukünftiges, vollreifes Weib, über dessen Berührung er aber das Bewusstsein verloren hatte.
Was wollte man ihm selbst hier noch Erstaunlicheres vormachen?
Höchstens die Lady Lionel konnte ihn dabei interessieren, wie die das jetzt auffasste, als zauberkundige Schamanin.
Der leuchtende Käfer kroch weiter auf dem Boden hin. Der Prinz hatte die Absicht, ihn einmal zu berühren, aufzunehmen oder aufzuhalten, wie das Ding sich dann verhalten würde — sofort aber, wie er sich mit dieser Absicht bückte, erhielt er elektrische Schläge, die ihm zumorsten, den Skarabäus nicht zu berühren!
Plötzlich war der leuchtende Käfer verschwunden.
»Wo ist er hin?«
»Wenn ich nicht irre, ist er in die Wand hineingekrochen. Dort muss sich doch die Zwischenwand befinden, wo er verschwand. Jawohl, dort fühle ich die Wand auch.«
»Durch die Wand hindurch?«
»Jawohl.«
»Wie soll denn das möglich sein?«
»Ach, so ein Skarabäus bringt noch etwas ganz anderes fertig!«, konnte der Prinz sorglos lachen.
»Dann muss er sich doch in dem anderen Raume befinden!«
»Ja, wir können ja einmal — halt, wir sollen nicht nachsehen, sollen hier bleiben! Soeben morst es mir Almansor zu. Und außerdem sagt er mir noch, ich soll Dich darauf vorbereiten, dass Du Dich nicht etwa fürchtest.«
»Fürchten wovor?«
»Nun, ist das alles nicht etwa außergewöhnlich genug?«
»Das wohl, aber deshalb sich gerade fürchten?«
Mit einem Male wurde der Prinz merkwürdig unruhig so weit sich das in der Stockfinsternis kontrollieren ließ.
»Vor dem, was noch kommen wird, davor sollst Du Dich nicht fürchten, das soll ich Dir sagen, darauf soll ich Dich vorbereiten. Aber merkwürdig, Almansor redet auch mir so eindrücklich ein, auch ich soll mich nicht fürchten vor dem, was da noch kommen wird, und mir kann er da doch eigentlich wahrhaftig nicht mehr viel vormachen.«
»Hast Du denn mit diesem Skarabäus schon einnmal etwas erlebt?«
»Nicht mit diesem, von dem ich ja in meinem Gürtel gar nichts gewusst habe, wohl aber mit einem anderen. Ich glaubte kaum, dass dies noch zu übertreffen sei, und jetzt sagt mir Almansor, dass ich mich auf etwas ganz Ungeheuerliches vorbereiten soll, was auch ich niemals für möglich gehalten hätte, was alle meine Erwartungen und Begriffe übersteigen würde. Doch still, da zeigt sich schon etwas!«
Dort, wo der Skarabäus im Finstern verschwunden war, also an der Zwischenwand, aber bedeutend höher, zeigte sich wieder etwas Weißes, Leuchtendes, doch schon von viel größerer Form.
Was es war, konnte man noch nicht unterscheiden.
Wie eine weiße Billardkugel, die jedoch ständig ihre Form veränderte, Zacken aussandte und wieder einzog.
Bis diese Zacken stehen blieben, sich weiter herausreckten, festere, bestimmtere Formen annahmen, und da erkannte man, dass es eine kleine Hand war.
»Eine Kinderhand! Ein Mensch will sich materialisieren!«, flüsterte der Prinz.
»Ist mir nichts Neues«, sagte die Lady ziemlich ruhig, »nur die Art und Weise ist ungewöhnlich, eingeleitet durch solch einen steinernen Käfer, der selbst erst lebendig wird.«
Plötzlich zuckte die weißleuchtende Hand wieder zurück, dafür kam eine größere Kugel zum Vorschein, die nach und nach menschliche Gesichtsformen annahm, ohne richtig deutlich zu werden.
Es ging also, wie es gewöhnlich bei solchen Materialisationen geht.
Auch dieser Kopf verschwand wieder, dafür zeigten sich Arme, aus denen Hände hervorwuchsen, auch diese zogen sich wieder zurück, dann kam ein ganzer Körper, der ebenfalls wieder verschwand, dafür wurde ein Kopf jetzt viel deutlicher — und so wurden eben die Gliedmaßen zuerst immer einzeln gezeigt, niemals zusammen, wurden aber doch noch immer zusammenhängender. Das menschliche Phänomen übte sich gewissermaßen erst, es musste erst lernen und sich sammeln, ehe es sich in ganzer Gestalt zeigen konnte.
Und mit einem Male trat denn auch die Erscheinung vollständig aus der schwarzen Wand heraus, weißleuchtend in der Finsternis dastehend.
Es war offenbar ein Kind, ein kleines Mädchen, in lange, wallende Gewänder gehüllt —
»Deasy!«
Sie war es! Diesmal aber eben als richtiges Kind, und außerdem in lange ätherische Gewänder gehüllt, die nun einmal zu Geistern zu gehören scheinen.
Deasy, in lange ätherische Gewänder gehüllt,
die Arme ausgestreckt, schwebte lächelnd näher.
So schwebte sie näher, lächelnd, die Arme mit den durchsichtigen Händen ausgestreckt.
Während die Lady doch etwas furchtsam zurückwich, streckte auch der Prinz die Hände nach ihr aus, denn er hatte den Befehl dazu zugemorst bekommen:
»Ergreife die Gestalt!«
Dann noch einen anderen Befehl, erst aber führte der Prinz diesen einen aus.
Die Lady sah den Erfolg davon, für hre Augen freilich nur einen negativen.
Plötzlich war die weiße, leuchtende Gestalt verschwunden. Natürlich — solche spiritistische Phänomene lassen sich eben nicht fassen.
Im nächsten Moment ertönte ein leiser Schrei, ein doppelter, ein tiefer und ein sehr heller, und gleichzeitig ward es hell in dem Raume.
Denn fast gleichzeitig, da der Prinz nach der Gestalt gegriffen, hatte er mit der anderen Hand das elektrische Licht angedreht.
Und da sah die Lady, dass der Prinz seinen Arm um ein wirkliches Kind geschlungen hatte, um die wirkliche Deasy, so wie sie im Leben war, also auch nicht in einem wallenden, ätherischen Gewande, sondern in ihrem schon abstrapazierten Sportkleidchen, das sie zuletzt in der Ruinenstadt getragen hatte.
Der Prinz war außer sich vor Staunen, er war entsetzt, er fasste sich gegen die Stirn.
»Wache ich oder träume ich das nur? Ist denn das Wirklichkeit? Bist Du das wirklich, Deasy?«
Auch das Kind war erschrocken, aber längst nicht so wie die beiden anderen, und immer mehr verwandelte sich sein erster Schreck in freudiges Staunen.
»Also ich bin wirklich bei Dir, Onkel!«, jubelte Deasy jetzt. »Und da ist auch die gute Dame? Wo seid Ihr denn hier?«
»Ja, Deasy, wie kommst Du denn nur hierher?«
»Almansor fragte mich, ob ich einmal zu Dir wollte, und mir war das natürlich sehr recht.«
»Wo fragte er Dich das?«
»Im Luftschiff.«
»Wo beendet sich das jetzt?«
»Nun in der Ruinenstadt Gaur.«
»Ihr seid noch dort?«
»Ja natürlich.«
»Das Luftschiff hat die Mauern des Palasthofes noch nicht verlassen?«
»Nein, wir liegen noch dort.«
»Seit wann?«
»Nun, Ihr seid doch schon drei oder vier Tage fort.«
Der Prinz wusste nicht, was er dazu sagen, kaum wie er weiter fragen sollte.
Deasy berichtete von selbst.
Vor ungefähr zehn Minuten — und da sie die Uhrzeit angeben konnte, so war zu kontrollieren, dass dies wirklich stimmte — hatte Almansor sie vorgenommen.
»Kind. möchtest Du einmal den Onkel Joachim besuchen?«
»Ei gewiss!«
»Er fährt jetzt mit einem ganz seltsamen Automobil durch einen Dschungel und wird dann weiter ein wunderbares Land bereisen, über welches noch kein Europäer berichten konnte. Möchtest Du Dir dieses Land mit Onkel Joachim besehen?«
»Ei gewiss! Also ich soll länger bei ihm bleiben?«
»Ja. Es wäre mir sehr lieb. Aber ich weiß nicht, ob mir das Experiment glücken wird, es handelt sich nur um einen Versuch. Ich habe eine Idee, die wohl in der Theorie ausführbar ist, aber in der Praxis — nun, machen wir gleich den Versuch.«
Deasy musste sich auf das Sofa legen, wurde diesmal in ganz besonderer Weise eingeschläfert, also in Trance versetzt, und — plötzlich sah sie sich hier in den Armen des Prinzen, und dort saß die russische Dame, mit der sie also schon so gute Freundschaft geschlossen hatte.
So hatte Deasy berichtet.
Die beiden Zuhörer konnten natürlich nur staunen. und am meisten tat es der Prinz.
Dann hatte Almansor hier mit diesem somnambul veranlagten Kinde eine Transmutation in Fleisch und Blut zuwege gebracht, die wohl niemand, auch der gläubigste Spiritist, niemals für möglich gehalten hätte.
Obgleich es schon vorhandenen Tatsachen ja nicht widersprach. Denn dass man, wenn man ein spukhaftes Phänomen ergreift, immer dargestellt durch den Astralkörper des Mediums, häufig oder sogar wohl immer das Medium in Fleisch und Blut selbst in Händen hat, wurde ja schon einmal ausführlich erläutert.
Hierbei handelte es sich nur um einen Zwischenraum von einigen hundert Kilometern, welcher die beiden Operationsbasen voneinander trennte, dadurch ließ man sich irreführen, deshalb das grenzenlose Staunen über das Gelingen dieses Experiments. Aber schließlich hat ja die Entfernung bei solchen Erscheinungen des magischen Seelenlebens gar nichts zu sagen.
»Du sollst bei uns bleiben?«
Der Prinz bekam das Weitere von Almansor selbst auf elektrische Weise zugemorst, auch den Grund, weshalb er das Kind hierher versetzt hatte.
»Das Experiment ist gelungen, schneller als ich gehofft und geahnt.
Ich hatte dafür einige Stunden angesetzt, es ist in ebenso viel Minuten ausgeführt worden.
Deasy bleibt bei Ihnen.
Denn Sie werden manchmal das Automobil verlassen müssen, dann muss Lady Lionel die Führung übernehmen, und diese ist, wie ich leider zu spät erfuhr, nicht imstande, meine elektrischen Signale aufzunehmen.
So wird ihr dann Deasy immer meine Befehle übermitteln.
Außerdem können Sie jetzt auch durch das Kind mit Ihren Freunden verkehren.
Aber nicht direkt mit mir, das ist nicht statthaft, die Sterne erlauben es für diese Reise nicht.
Den Skarabäus legen Sie in die Kapsel zurück und binden den Gürtel wieder um den Leib.
Machen Sie solch einen Versuch nicht wieder, den Gürtel einer anderen Person zu geben, auch der vertrautesten nicht, ich verbiete es Ihnen hiermit direkt.
Es war ein Ungehorsam und sogar Frevel von Ihnen, der schlimm hätte ablaufen können, obgleich er eine große Wahrheit ans Licht gebracht hat, uns zum größten Vorteile, was sonst nicht geschehen wäre. Aber mit solchen Zufällen dürfen wir nicht rechnen, es kann einmal auch anders ablaufen.
Deasy bekommt meine Befehle ebenfalls elektrisch diktiert, direkt, ohne weiteren Apparat, sie ist empfänglich dafür.
Setzen Sie die Fahrt fort. Schluss.«
Das elektrische Zucken hörte auf, und dieses telegrafische Morsen ging ebenso schnell wie ein flottes Schreiben.
»Also Du bleibst bei uns, Deasy! Wo ist denn nun —«
»Was habe ich denn hier in meiner Hand?«, rief da Deasy.
Erst jetzt merkte sie, dass sie in ihrer linken geschlossenen Hand etwas hielt.
Es war der schwarze Skarabäus! — — —
Die Räder und Hebel gehorchten wieder, die Wände wurden wieder durchsichtig, die Fahrt wurde fortgesetzt durch den Dschungel, zum Jubel des Kindes, und der Prinz wie seine Begleiterin freuten sich wahrscheinlich nicht minder, diese kleine Gesellschafterin bekommen zu haben.
Nur ein einziges Mal wurde noch über das Phänomen gesprochen.
»Ich will es für möglich halten, so schwer es mir auch wird«, begann der Prinz, »dass solch eine Transmutation auf spiritistischem, also geistigem Wege möglich ist, der materielle Körper wird vergeistigt und irgendwo wieder materialisiert. Überhaupt ist daran ja gar nicht mehr zu zweifeln, wir haben die Tatsache hier vor uns, nicht nur in Fleisch und Blut und Knochen, sondern sogar in einem recht schmutzigen Kleidchen aus Lodenstoff und in Lederstiefelchen und dergleichen. Aber hätte Almansor dem Kinde da nicht auch gleich einen tüchtigen Koffer voll Hemden und anderer Wäsche mitgeben können? Wenn schon, denn schon.«
»Ja«, sagte Deasy, die dies gehört hatte, »davon hat Almansor auch gesprochen.«
»Er wollte Dir einen Koffer voll Wäsche mitgeben?«
»Ja, zuerst wollte er es.«
»Du hättest auch den mit hierher bringen können?«
»Gewiss, ich brauchte den Koffer nur beim Henkel zu nehmen. Wenn ich hierher käme, wenn das Experiment gelänge, dann müsste auch der Koffer mit durch die Luft, oder es gelänge überhaupt gar nicht.«
»Und warum hat er Dir denn da den Koffer nicht mitgegeben?«
»Er überlegte es sich bald anders, es dürfte nicht sein, meinte er dann.«
»Weshalb dürfte es nicht sein?«
»Es stände nichts davon in den Sternen geschrieben, die Sterne erlaubten es nicht, dass ich noch irgend etwas mitnehme, was ich nicht schon auf dem Leibe trüge, auch nicht ein anderes Hemd.«
Der Prinz lachte über diese Sterne, denen sich jener Araber so fügte, der die Sterne sogar wegen eines zweiten Hemdes befragte, wenn er dazu auch nicht immer einen Sternenhimmel haben musste, nur ein Buch mit Tabellen — aber gerade sehr aufrichtig hatte dieses Lachen nicht geklungen.
Hiermit war diese Sache erledigt.
Übrigens musste der Prinz jetzt gut aufpassen, auch wenn er den telegrafierenden Gürtel schon wieder umgeschnallt hatte, es wurden ihm betreffs der Richtung ganz verzwickte Direktionen gegeben.
»Wohin sollen Sie denn?«, fragte die Lady auf Englisch, welches kein vertrauliches »Du« kennt. »Sie fahren doch immer im Kreise herum.«
»Ja, Mister Almansor scheint selbst nicht richtig zu wissen, wohin er mich führen will, fortwährend ändert er die Richtung.«
»Hat er gesagt, was das für einen Endzweck hat, was er beabsichtigt?«
»Das tut der überhaupt niemals. Jetzt aber sagt er, dass ich nur noch ein ganz klein wenig nach Steuerbord fahren soll — und dann nur noch einen halben Meter vorwärts — so? — richtig, so — und hier also sollen wir stehen bleiben und den Klappkasten herunterlassen, und was wir innerhalb dieser Begrenzung finden, das sollen wir in die Granate hereinnehmen.«
Schon war der Boden ja durchsichtig, man sah darunter die hauptsächlich von dem walzenförmigen Mittelrade, das sich etwas mehr nach vorn befand, abgemähten Halme des Schilfes und der Bambusstängel.
Sonst war die Beschaffenheit des Grundes nicht weiter zu unterscheiden, ein Gemisch von Sumpferde und Sumpfpflanzen aller Art.
»Da liegt etwas Viereckiges!«
Ja, es war deutlich zu sehen. Offenbar ein Kasten von vielleicht einem Viertelmeter Länge, etwas schmaler, der da aus dem Sumpfe halb hervorragte, am meisten mit der einen Kante, ganz überwuchert von einer Schicht Wasserpflanzen, einer Art Teichlinsen.
Die Sicherheitsvorrichtung war herabgeklappt, innerhalb ihrer Höhlung lag jetzt dieser Kasten.
Ohne Mühe wurde er herauf und herein befördert. Nach einer oberflächlichen Säuberung zeigte es sich, dass es ein brauner, flacher Holzkasten war, außerordentlich gut gefügt, mit Handhaben versehen.
Nach seiner Leichtigkeit konnte er nicht viel enthalten. Freilich konnte er anderseits auch mit Papier, mit wichtigen Dokumenten gefüllt sein.
»Was ist da drin?«
»Ach, Lilly, wenn Du nur solche Fragen sein lassen wolltest!«
»Nun, es könnte doch sein, dass er es einmal gesagt hat.«
»Mit keinem elektrischen Sterbenswörtchen hat er den Inhalt erwähnt, und er wird es auch nicht eher tun, oder vielmehr wir werden es nicht eher erfahren, als bis er den Befehl dazu gibt, den Kasten zu öffnen.«
»Was soll jetzt mit dem Kasten geschehen?«
»Wir sollen ihn mitnehmen, eine weitere Säuberung sei nicht nötig.«
Der Kasten wurde in eine Ecke geschoben, die Fahrt fortgesetzt.
»Sieht das nicht gerade so aus, als ob Almansor oder ein anderer schon einmal hier gewesen wäre, vielleicht in einem Luftschiffe, der Kasten ist versehentlich über Bord gefallen, jetzt sind wir abgesandt worden, um ihn wieder aus dem Sumpfe zu holen.«
Diese von der Lady aufgeworfene Frage blieb unbeantwortet, wenn es überhaupt einen Zweck gehabt hätte, weil sich jetzt die Szenerie recht änderte und so zur aufmerksameren Beobachtung aufforderte.
Inseln waren ja in diesem Dschungelmeere schon wiederholt passiert worden.
Das heißt Stellen, wo Bäume gediehen, was überhaupt schon auf festeren Boden schließen ließ, wenn dieser auch nicht direkt zu erkennen war, und solche Stellen konnte man dort recht wohl als »Inseln« in diesem aus Schilf und Bambus bestehenden Ozean nennen.
Jetzt aber zeigten sich Felsformationen, freilich grün übersponnen und doch ab und zu das nackte Gestein zu Tage treten lassend, und dahinter eine ganze Gruppe von zum Teil mächtigen Bäumen, ein ganzer Urwald.
»Oder haben wir schon den Dschungel hinter uns, beginnt hier schon der meilenbreite Urwald?«, rief die Lady.
»Nein, wir befinden uns noch mitten im Dschungel, das hat mir Almansor einmal gesagt, nämlich weil wir an dieser Sumpfinsel landen und sie betreten sollen. Mehr aber hat er nicht gesagt, wird es nicht tun, als bis die Zeit dazu gegeben ist, und jetzt weist er mir die Landungsstelle an.«
Diese befand sich zwischen zwei hohen Felsblöcken, die Riesengranate musste vor der Einfahrt erst umdrehen, konnte dann aber auch gleich auf das Land hinauffahren, auf vollkommen festes Land, auf welchem auch kein Schilf und Bambus wuchs, nur kürzeres Gras.
Die hintere Tür — es gab deren noch andere — öffnete sich, die Treppe fiel herab.
»Alle heraus, auch Deasy!«
Gerade jagte ein mächtiger Königstiger in großen Sprüngen vorüber, verschwand in dem Schilf.
»Nehmen wir denn keine Waffen mit, keine Gewehre, die doch genug vorhanden sind?«, fragte die Lady, als der Prinz sich schon im Freien befand. »Solch eine trockene Insel ist doch sicher ein Lieblingsplatz von Raubzeug aller Art.«
»Das ist wohl möglich«, entgegnete der Prinz, »aber uns droht nicht die geringste Gefahr, wir werden diese Insel so gesund und ungeritzt wieder verlassen, wie wir sie betreten haben. So, sagt Almansor, steht es in den Sternen geschrieben, und ich komme doch immer mehr zu der Überzeugung, dass der Herr mit seinen Sternen etwas los hat, wenn's manchmal auch nicht ganz klappt.
Aber wir sollen auch nicht jagen, nach keinem Tiere schießen, auch nicht mit dem Revolver. Weshalb nicht, das weiß ich nicht, darüber schwieg sich Almansor aus. Und im Übrigen bin ich genau so gespannt wie Sie, Mylady, weshalb wir diese Insel betreten sollen und was wir darauf finden oder erleben werden. Nun bitte, meine Herrschaften, folgen Sie mir.«
Er nahm Deasy bei der Hand.
Ja, es war ein ganz seltsames Gefühl, welches jeder denkende und empfindende Mensch beim Betreten dieses festen Landes haben musste!
Jede wirkliche Insel, im Meere liegend, ist mit dem Schiff oder im Boot zu erreichen, mag sie auch noch so von Riffen und Korallenbänken umlagert sein, einmal sind diese bei ruhigem Wasser doch zu übersteigen.
Zu übersteigen ist auch jede Felsenmauer, die ein Tal absolut einschließt.
Auch der Nord- und der Südpol haben der Entdeckungslust des Menschen endlich unterliegen müssen.
Oasen, die Wüsteninseln, sind wohl alle besiedelt.
Wie aber sollte der Mensch solch eine Sumpfinsel wie diese hier erreichen, mitten im Dschungel liegend?
Man muss eben solch einen indischen Dschungel selbst gesehen haben, um glauben zu können, dass hier jedes Eindringen aufhört.
Da muss erst ein Luftschiff erfunden werden, das absolut sicher funktioniert, dann ist auch das Betreten solcher Dschungelinseln möglich.
Oder solch ein Automobil wie dieses hier.
Und wie idyllisch nun hier diese Dschungelinsel, wie überaus fruchtbar, und nicht etwa nur mit üppiger Vegetation bedeckt, die höchstens für Vögel und pflanzenfressende Tiere in Betracht kommen konnte.
Dort standen wohl Hunderte von mächtigen Brotfruchtbäumen, und ein einziger dieser Riesen reicht hin, um eine ganze Familie jahraus jahrein zu ernähren.
Dieser Brotfruchtbaum hier — der sogenannte »gemeine«, dessen Heimat eben Indien ist, es gibt ja noch viele Arten — trägt kopfgroße Früchte, die wieder aus einzelnen kleineren Nüssen bestehen, deren jede innen ein wohlschmeckendes Fleisch enthält, das am besten gebacken wird und dann genau wie das feinste Weißbrot schmeckt, aber noch viel nahrhafter ist, hartgebacken sich auch so lange wie Schiffszwieback hält.
»Dort, dort —!«
Die Lady hatte ihn zuerst gesehen, der dort an einem Tümpel mit ganz klarem Wasser eine große hölzerne Schüssel auswusch.
Es war ein alter Mann, wenigstens den schneeweißen Haaren nach, die ihm bis weit über die Schultern herabfielen, ebenso weiß wie der bis auf die Brust herabwallende Bart — den Gesichtszügen nach konnte er noch gar nicht so sehr alt sein, und es waren unverkennbar germanische Züge — die hohe Gestalt, in ein Gewand gehüllt, das aus kunstvoll präparierten Palmenblättern hergestellt zu sein schien.
Jetzt sah er die Kommenden, nur ein leises Stutzen, nicht einmal ein Erschrecken, die großen, blauen Augen nahmen einen drohenden Ausdruck an, doch gleich war das wieder verschwunden, ruhig wandte er sich den Fremden zu.
»Wer seid Ihr?«, erklang eine tiefe, ruhige Stimme auf Deutsch.
Sofort ließ der Prinz Deasys Hand los, ein Wink, dass die beiden anderen etwas zurückbleiben möchten, und er allein ging noch einige Schritte näher.
Und er wusste, was er zu antworten, was er zu sagen hatte, jetzt im rechten Augenblick, da es darauf ankam.
Für ihn galt das Wort, das einst Christus zu seinen Jüngern sprach: Wenn sie euch nun führen und überantworten werden, so sorget nicht, was ihr reden sollt, und bedenket euch nicht zuvor, sondern was euch zu derselben Stunde eingegeben wird, das redet.
Eines der wunderbarsten, tiefsinnigsten Worte, und mancher macht Gebrauch davon, ohne sich dessen bewusst zu werden, dass es kein vortrefflicheres Rezept gibt.
»Mijnheer Johannes van Leyden — im Auftrage dessen, dem Sie Ihr Gelübde abgelegt haben, soll ich Sie fragen, ob Sie diese Sumpfinsel verlassen und mit mir gehen wollen?«
Kein Staunen, kein Stutzen mehr. Ruhig blickte der Alte, die würdevolle Majestät selbst, nach der Riesengranate, die dort zwischen den Felsen stand, deren Ankunft er gar nicht gehört hatte, und ruhig blickte er dann den Sprecher an.
»Hat sich im Lande der heiligen Berge die Zeit erfüllt?«, fragte er dann.
»Sie hat sich erfüllt.«
»Wie hat sie sich erfüllt?«
»Die Lahmen gehen und die Blinden sehen und die Tauben hören und die Stummen reden.«
Diese seltsamen Worte machten keinen Eindruck auf den Alten.
»Wohl, so hat sich die Zeit erfüllt, aber die meine ist noch nicht gekommen, und ich habe einem anderen mehr zu gehorchen als dem, dem ich das Gelübde abgelegt — nein, ich komme nicht mit Dir.«
»Wie Du willst. Brauchst Du etwas?«
»Ich brauche nichts.«
»Wir bringen die Kiste mit, welche damals im Sumpfe verloren ging, wir haben sie gefunden.«
Wie ein freudiges Wetterleuchten ging es über das durchfurchte und doch eigentlich noch ziemlich junge Gesicht, aber gleich war es wieder verschwunden.
»Ich brauche sie nicht — ich brauche nichts, gar nichts.«
In diesem Augenblick kam ein großer Königstiger angesprungen, ein blutiges Huhn im Rachen, legte es vor die Füße des Alten und blickte mit leisem Knurren nach den fremden Menschen.
»Ich brauche nichts«, wiederholte der Alte, den Kopf des furchtbaren Raubtieres sanft streichelnd.
Da ging der Prinz zurück, winkte seinen Begleitern, ihm zu folgen.
Sie gingen in die Riesengranate hinein, erst aber brachte der Prinz die gefundene Kiste heraus, legte sie am Boden nieder, dann fuhr das Automobil zurück, um sich einen neuen Weg durch den Dschungel zu bahnen.
»Was ist das gewesen?«, fragte die Lady erst jetzt, und sie flüsterte es ganz scheu.
»Ich weiß es nicht. Ich sprach nur das, was mir Almansor immer kurz zuvor zutelegrafierte.«
»Die Lahmen sollen gehen und die Blinden sehen und die Tauben hören und die Stummen reden?«
Es sind dieselben Worte, die Johannes der Täufer zu hören bekam, als er im Gefängnis des Herodes fragte, ob der Messias schon erschienen sei.«
»Im Lande der heiligen Berge?«
»Das bedeutet das Wort Nijampal, heiliges Bergland, wie die Nepaler selbst ihre Heimat nennen.«
»Und dieser Mann hieß Johannes!«
»Johannes van Leyden!«
»Das ist doch ein holländischer Name, und er sprach sofort Deutsch.«
»Auch Ludwig van Beethoven konnte gar kein Holländisch.«
»Was soll man von alledem denken?«
»Ich weiß es nicht. Nur das kann ich Ihnen schon jetzt sagen, Almansor hat es mir mitgeteilt, dass wir nicht so ganz direkt nach Katmandu und in den Palast des Maharadschas hineinfahren werden, wie zuerst geplant worden war oder wie wir doch glauben mussten, weil ich dementsprechend immer sagen musste.
Der Maharadscha geht auch nicht so ganz direkt nach seiner Residenz, und so würden wir uns in seinem Palaste nur ganz unnötig aufhalten, während wir wahrscheinlich noch andere Missionen zu erfüllen haben.«
Dort, wo der Gandak einen mächtigen Wasserfall. bildet, klebte die Hochburg des Radscha Tippu Hatur wie ein Adlernest an der himmelhohen Felsenwand.
Freilich nur von unten aus gesehen bot sie diesen Anblick. In Wirklichkeit war sie fast eine ganze Stadt zu nennen, alles aus dem Felsen herausgehauen, weit über hundert Meter liefen die zinnenartig gehaltenen Galerien entlang, mit allen Einrichtungen versehen, die zu einer Verteidigung nötig sind.
Obgleich diese Burg von Gandak gar nicht in die Lage kommen konnte, sich gegen einen stürmenden Feind verteidigen zu müssen.
Denn da gab es keine hinaufführende Rampe, keinen Zickzackweg, auch nicht die leiseste Andeutung von einem Saumpfad, nur von einem Gemsenjäger zu erklimmen.
Der Zugang lag innerhalb des Felsens, und da genügte schon ein einziger Mann mit einer Hellebarde, um ganze Bataillone zurückzuweisen.
Solche Felsenburgen gibt es in Nepal fast zahllose. Es hat sie auch wirklich noch kein Europäer zählen können.
Die Nepaler wissen es vielleicht selbst nicht.
Denn solch eine Burg kann dort sein, wo niemand eine mehr vermutet, sie ist verlassen und vergessen worden, von unten ist sie gar nicht zu erkennen, auch nicht als vermeintliches Adlernest.
Nijpalhetamaraswa — das Land der zehntausend Burgen — so nennt deshalb der Nepaler auch seine Heimat, wobei aber hier zehntausend auch so viel wie Million oder Myriade bedeuten kann. Also eben unzählbar.
Diese Burgen gehören den Fürsten von Nepal, den Radschas, die gegenwärtig ihrer neun sind.
Jeder ist der souveräne Herrscher über sein Fürstentum, zu dem natürlich immer ein fruchtbares Tal gehört, manchmal aber auch einige Dutzende, er selbst ist ein selbstständiger König.
Bis zum Jahre 1856 haben sich diese neun Fürsten unausgesetzt gegenseitig bekriegt, von Tal zu Tal, von Burg zu Burg, seit uralten Zeiten bis zuletzt noch genau wie im mittelalterlichen Raubritterwesen Europas.
Wohl nannte sich der Radscha von Katmandu schon immer den Maharadscha, den Kaiser von Nepal, seine Berechtigung hierzu auf uralte Tradition stützend, aber anerkannt wurde er nie, auch er lag mit den Radschas im ständigen Kampfe, und ein Glück nur, dass diese niemals unter sich einig werden konnten.
Bis zu dem großen Aufstande in Ostindien. Die Nepaler haben sich daran weniger beteiligt, als man hätte meinen sollen, als man erwartet hatte. Aber die Folge der Unterdrückung dieses furchtbaren Aufstandes durch die Engländer war doch, dass die Nepaler Fürsten plötzlich alle gegenseitige Feindschaft vergaßen, untereinander einen ewigen Treuschwur leisteten und den Radscha von Katmandu nunmehr wirklich als ihren Kaiser anerkannten.
Einigkeit macht stark.
Die Nepaler haben es begriffen.
Man kann die Verfassung dieses indischen selbstständigen Gebirgsreiches ganz mit der Schweizer Eidgenossenschaft vergleichen. Nur dass an der Spitze der einzelnen Bezirkstäler noch immer Fürsten stehen, wohl selbst souverän, aber nicht unter sich.
Und die Engländer haben gemerkt, was das zu bedeuten hat.
Wie gesagt, alle englische List und Macht ist bisher an Nepal, an diesem indischen Schweizerlande, gescheitert.
Englands einzige Hoffnung ist, diese Nepaler Fürsten wieder unter sich uneinig zu machen, dann wäre dem Verrat ja bald Tür und Tor geöffnet.
Vorläufig aber ist es den Engländern noch nicht gelungen, was sie auch schon für Intrigen gesponnen haben. —
Radscha Tippu Hatur stand am Winkelfenster eines Erkerzimmers, das durchaus kein Prunkraum war, aber schon dessen märchenhafte Einrichtung verriet, dass der gleichnamige Fluss, welcher das ganze Fürstentum Gandak durchströmt, nicht umsonst für den goldhaltigsten des an Gold so reichen Nepal gehalten wird.
Selbst die gewöhnlichsten Gebrauchsgegenstände, wie zum Beispiel ein Tintenfass, stark benutzt und daher arg beschmiert, waren von gediegenem Gold, massiv, und dabei immer von gottbegnadeter Künstlerhand gefertigt, alles einheimische Arbeit, ebenso wie die starken kristallklaren Fensterscheiben, die durch einen einfachen Druck geöffnet werden konnten, dabei dennoch wunderbar schließend, und auch alle diese Möbel, reich ausgelegt und geschnitzt und mit kostbaren Stoffen belegt — alles war hier im Lande selbst von Grund auf hergestellt und verfertigt, und diese eingeborenen Handwerker waren nicht etwa erst in europäische Schule gegangen. In solchen Sachen werden wir den Indern wohl auch wenig lehren können, diesen Indern, die eines unserer Bücher nur mit verächtlichem oder mitleidigem Lächeln in die Hand nehmen, weil sie wissen, dass solch ein Buch, und wenn es heute auch aus dem besten Papier hergestellt wird, kaum hundert Jahre ertragen kann, ohne in gelbe Partikelchen zu zerfallen.
Als echter Radschpute und Gorkha war Tippu Hatur nur ein kleiner Mann, wenn er auch noch immer das europäische Normalmaß hatte, nur in Nepal galt er für klein, aber was ihm an der nötigen Größe fehlte, das hatte er in der Breite zugesetzt.
Ungeheuere Schultern, zwischen denen auf einem Stiernacken ein wahrer Büffelkopf saß, und schon an diesem Nacken wie aber auch an den Händen erkannte man, welch kolossale Muskelkraft dieser Mann besitzen musste.
Furchtbar finster war sein Gesichtsausdruck, wie er durch die offenen Fenster auf die Landschaft herabblickte, und das umso mehr, weil sein rechtes Auge von einer schwarzen Binde bedeckt war, die aber auch als breiter Verband um den ganzen Kopf ging, und an ihren Rändern war auch schon die braune Haut hell gerötet, in einer Weise, das Hautgewebe wie in Zellen zerlegend, dass man gleich die krebsartige Krankheit erkannte, die schnell immer weiter um sich fraß.
So blickte er herab durch das linke Fenster in das in üppiger Fruchtbarkeit strotzende Tal, das von seinen fleißigen Untertanen bestellt wurde, aber nicht von Gorkhas, die bilden nur die Kriegerkaste, sondern der Hauptsache nach von den buddhistischen Newaren und den mohammedanischen Tharus, und rechterhand blickte er durch das winklige Erkerfenster herab auf das Waldmeer, in dem einst diese Radschas nur jagen konnten, wenn sie sich mit Kriegsmacht umgeben hatten, weil einer dem anderen auflauerte, während sie jetzt gemeinsam prächtige Treibjagden veranstalteten.
Dort unten, wo die Gebirgsschlucht in den ziemlich ebenen Wald trat, war es sehr lebendig. Der untere Teil einer himmelhohen, ganz glatten Felswand war mit einem Gerüst bedeckt, auf dem viele Hunderte von Menschen mit Bildhauerarbeiten beschäftigt waren.
Ein neuer buddhistischer Tempel sollte hier entstehen.
Oder sollte es ein brahmanischer werden?
Oder eine mohammedanische Moschee?
Oder gar eine jüdische Synagoge, die aus den Steinen heraus und in den Stein hineingehauen wurde?
Die Gorkhas sind im Grunde genommen Buddhisten. Aber sie haben im Laufe der Jahrhunderte und auch der Jahrtausende so viel von anderen Religionen mit angenommen, dass man jetzt allgemein von einem Gorkhismus als von einer besonderen Religion spricht. Denn sie sind als Buddhisten immer noch den zahllosen Göttern und Geistern und Dämonen und Hexen des alten Brahmanismus treu geblieben, haben aber auch den Mohammedanismus mit ihrer Religion zu verschmelzen gewusst und haben sogar sehr viel von der jüdischen Religion angenommen, beschäftigen sich besonders viel mit der Geheimlehre der Kabbala.
So kommt es, dass die Gorkhas in jeden beliebigen Tempel gehen, um den Allerhöchsten anzubeten. Das scheint auf den ersten Blick sehr lobenswert zu sein, ein Zeichen von geistiger Freiheit. Es gibt eben nur e i n e n Gott, den man in einem buddhistischen Tempel ebenso gut verehren kann wie in einer mohammedanischen Moschee oder einer jüdischen Synagoge.
In Wirklichkeit ist das aber bei den Gorkhas ganz anders. Gerade sie sind in den finstersten Aberglauben versunken, und neben ihren buddhistischen und brahmanischen Zauberern haben sie auch mohammedanische, obgleich doch der Prophet alles, was mit Zauberei zusammenhängt, aufs strengste verboten hat, diese mohammedanischen Zauberer und Teufelsbeschwörer, hier Bhats genannt, werden nicht nur wie sonst im mohammedanischen Orient heimlich geduldet und heimlich aufgesucht, sondern sie nehmen eine öffentliche Ehrenstellung ein, werden besoldet. Das ist der gewaltige Unterschied! Und dasselbe gilt von den jüdischen Priestern und Kabbalisten. Nur vom Christentum wollen die Gorkhas partout nichts wissen. Schon deshalb nicht, weil sich zu diesem Glauben die verhassten Engländer bekennen, obgleich diese in Katmandu doch so freundlich behandelt werden.
Also dort unten wurde ein neuer Felsentempel geschaffen. Zuerst wurde die Fassade hergestellt, an der schon viele Hunderte von kunstgeübten Bildhauern arbeiteten. Aber auch schon in das Innere drang man ein, um Räume zu schaffen, gewaltige Hallen. Hierbei folgte man wohl einigen schon vorhandenen, natürlichen Höhlen, die eben als Eingänge dienen sollten, sonst aber musste alles herausgehauen werden, nur mit Hammer und Meißel. Denn alles Sprengen mit Pulver ist bei solchen heiligen Felsentempeln nicht erlaubt, nicht einmal die Anwendung von Feuer und Wasser, indem nämlich die Felswände durch angehäuftes Holz erst sehr erhitzt und dann plötzlich mit kaltem Wasser begossen werden, wodurch auch das härteste Gestein große Sprünge bekommt, in einzelne Blöcke gespalten wird, die dann herausgewuchtet werden, so wie auch bei uns die Höhlenmenschen ihre Behausungen hergestellt oder doch erweitert haben, auch Bohrmaschinen sind nicht statthaft, nur Hammer und Meißel, Schlag für Schlag muss von der Hand geführt werden.
Hunderte von Jahren würden vergehen, wenn auch Tausende von Menschen ständig arbeiteten, ehe hier ein richtiger Tempel entstand.
Aber was tat's.
Diese Leutchen hier hatten Zeit.
Die sind gar nicht so darauf erpicht, immer gleich die Zinsen ihres angelegten Kapitals und ihrer Arbeit genießen zu wollen.
Die jetzige »Kalpa«, das heißt die Zeitperiode, nach welcher das jetzige Menschengeschlecht durch irgend eine ungeheure Katastrophe von der Erde vertilgt wird, um einem neuen Platz zu machen, währt nach der Berechnung der Brahmanen und merkwürdigerweise auch der Kabbalisten noch rund 800 000 Jahre, und das ist eine unübersehbar lange Zeit, von der man sich überhaupt gar keine Vorstellung machen kann.
Und diese Leutchen hier genossen ja auch noch dereinst die Früchte ihrer Arbeit, sie würden in diesem Tempel noch beten. Denn nach ihrem buddhistischen Glauben kamen sie ja immer wieder, wurden immer wieder geboren. Und nicht etwa als Tiere. Das gilt für den, der eben schon als Mensch wie ein Tier gelebt hat. Solch ein Tempelbau aber reinigt ganz gewiss von allen Sünden, und der Mensch wird immer wieder dort als Mensch geboren, wohin er sich gezogen fühlt. Und diese Leutchen hier, soweit sie dem Universalglauben des Gorkhismus huldigten, hatten dabei auch noch den Vorzug, sich als Anhänger der jüdischen Religion als Herren der ganzen Erde zu betrachten, denn sie gehörten doch mit zum auserwählten Volke Jehovas, gleich nach dem Tode aber kamen sie in Allahs oder Mohammeds siebentes Paradies, jeder bekam da einige hundert schwarzäugige Houris zur Verfügung, und erst wenn sie derer überdrüssig geworden, ließen sie sich wieder auf der Erde geboren werden.
Wahrhaftig, ganz schlau ausgedacht, dieser Gorkhismus, diese Verschmelzung von drei bestehenden Hauptreligionen!
Und was speziell der buddhistische Glaube zu bedeuten hat, der Glaube an eine Wiedergeburt, das zeigt solch ein Tempel, wie hier einer entstand.
Ach, wo bleiben wir da mit unseren Kirchen, Domen, Palästen und Staatsgebäuden!
Und was der Buddhismus auch in politischer Hinsicht zu bedeuten hat, das haben die Japaner im Kriege gegen Russland bewiesen! In ihren Schlachten! So etwas wie einen Tod gibt es in Wirklichkeit ja gar nicht, das ist ja alles nur eine Täuschung der Maja!
Ein buddhistisches Volk — die Inder sind keines mehr — kann überhaupt niemals besiegt werden. Denn der allerletzte Mann wird sich im buchstäblichen Sinne des Wortes für sein Vaterland oder überhaupt für das, was er erreichen will, aufopfern. —
Der Radscha dort oben freilich hatte wenig Lust, noch einige hundert Jahre zu warten, dem gefiel es gar nicht, die Langsamkeit, und dass nicht gesprengt werden durfte.
Denn der verband mit diesem Tempelbau noch einen ganz anderen, einen sehr praktischen Zweck.
Ihm gegenüber auf der anderen Seite der Schlucht, aber noch viel höher als die seine, lag noch eine andere Burg.
Auch diese gehörte ihm, in ihr hatten einst seine Ahnen gehaust.
Aber schon sein Großvater nicht mehr.
Schon sein Urgroßvater hatte sie aus irgend einem Grunde verlassen, die Makiburg, wie sie jetzt allgemein hieß, die Dämonenburg, also wohl weil er darin von Dämonen geplagt worden war, und auch sie besaß von außen keine Aufgänge, alles innen im Felsen — und ob der Urahne nun diese Tunnelgänge und Treppen verschüttet hatte oder wie es sonst geschehen war — niemand wusste mehr, wie man dort hinaufgelangen konnte.
Und vor einem Jahre erst war es gewesen, da hatte Radscha Tippu Hatur eine alte Schrift gefunden, von jenem Urgroßvater stammend, worin dieser angab, weshalb er das Schloss geräumt und was er dort oben hatte zurücklassen müssen.
Nicht eigentlich sein Eigentum, aber doch zuletzt als Heiligtum in seinen Händen befindlich.
Dasjenige, was die heißeste Sehnsucht aller Nepaler Fürsten war.
Wer es wiedererlangte, das vor bald 200 Jahren entschwundene Kleinod, der wurde nicht nur Maharadscha von Nepal, sondern führte als solcher auch alle vereinigten Inder zum Kampfe gegen die Engländer an, peitschte sie aus dem Lande ins Meer hinein.
Das war allgemein bekannt, diese Prophezeiung, jeder wusste von diesem heiligen Kleinod und was damit zusammenhing — aber nur Radscha Tippu von Gandak wusste, wo es sich befand.
Dort oben in der Makiburg lag es, ganz genau kannte er auch die Stelle.
Er brauchte es sich nur zu holen, und Maharadscha wäre ihm ganz freiwillig gewichen, es wäre gar nicht anders gegangen, denn dieser Radscha hier hätte das ganze Volk für sich gehabt!
Aber nach jener Burg dort oben hinauf gab es keinen Weg, der Felsen war unersteiglich.
Unersteiglich?
Gibt es denn überhaupt eine Felsenwand, mag sie auch noch so hoch und noch so glatt sein, die unersteiglich ist?
Es ist doch so einfach!
Man schlägt zwei Eisenstangen ein, zementiert sie zur Vorsicht auch noch ein, darüber wird ein Brett gelegt, auf diesem steht der Mann, der in Kopfeshöhe wieder zwei Eisen eintreibt, und so geht das immer weiter, und auf diese Weise muss doch schließlich jede Höhe erstiegen werden können. Auch überhängende Felsen spielen dabei kein Hindernis, die werden als Decke behandelt, an der man unten seitwärts hingeht, auf dieselbe Weise, bis man wieder den Rand erreicht hat.
Aber auf der Makiburg und auf dem ganzen Felsen ruhte ein Fluch. Daher eben der Name Dämonenfelsen. Wer ihn zu ersteigen suchte, der sollte des Todes sein, den holten die Dämonen der Hölle.
Da musste man vorsichtig sein. Denn auch den Anstifter solch eines Unternehmens traf der Fluch.
Radscha Tippu befragte erst noch einmal alle die Zauberer seines Reiches, ob dieser Fluch noch jetzt seine Geltung habe.
Und alle die gorkhistischen Bhats und buddhistischen Fakire und Brahmanen und mohammedanischen Derwische und jüdischen Kabbalisten, sie befragten die Sterne und beschworen Geister und Tote und rechneten in ihren Büchern und schlachteten wohl auch einige kleine Kinder, um aus deren Eingeweiden zu weissagen, und alle kamen zu ein und demselben Schlusse.
Denn einig sind diese Zauberer sich immer in solch einem Falle, mögen sie sonst auch noch so neidisch auf einander sein.
Zu dieser Einigkeit im Resultat, wenn sie von ihrem Fürsten einmal befragt werden, haben sie einen sehr triftigen Grund.
Wenn das Resultat ihrer Berechnungen nämlich ein verschiedenes ist, so werden diejenigen, die mit ihrer Meinung in der Minderzahl sind, einen Kopf kürzer gemacht.
Das geht in Nepal sehr fix. Und diese Fürsten können sehr ungnädig sein. Sie glauben zwar an alle die Götter und Geister und Dämonen und Hexen, aber die Zauberer sind doch nur dazu da, um jene ihrem Herrn und Gebieter willfährig zu machen, und gelingt ihnen das nicht, dann heißt es eben: Kopf ab!
Oder die Zauberer müssen sich ganz und gar einig sein. Eine Meinungsverschiedenheit aber darf es jedenfalls nicht geben.
Und diese Zauberer sind sich da natürlich auch immer einig.
Und da nützt es auch nichts, jeden einzelnen vorher rechtzeitig einzusperren, zu isolieren, diese Schlauesten aller Schlauen wissen sich schon zu verständigen.
Also auch jetzt wieder brachten sie alle durch ihre Berechnungen ein und dasselbe Resultat heraus.
»Nein, die Makiburg darf nicht betreten, der Makifelsen nicht erstiegen werden! Wer es tut, der soll des Todes sterben!«
»Gilt denn dieser Fluch für ewig? Oder wie lange sonst?«
Nach einigen Tagen Rechnens hatten die Zauberer auch das herausgebracht.
»Bis ein Zugang innerhalb des Felsens gefunden wird.«
»Und wann trifft das ein?«
Die Zauberer rechneten und rechneten, stierten in die Sterne und schlachteten Kinder und allerhand scheußliche Tiere.
»In 184 Jahren und 217 Tagen«, lautete dann das einstimmige Resultat, »von heute an gerechnet.«
Hieran war nun nichts mehr zu ändern, und da hätte es auch nichts genützt, wenn den sämtlichen Zauberern der Kopf abgehackt worden wäre.
Aber Radscha Tippu hatte keine Lust, so lange zu warten, auch nicht sich dabei auf die Wiedergeburt zu verlassen.
Ja, auch dieser Radscha glaubte an alle die Götter und Dämonen und Hexen, er glaubte auch an die Kunst der Zauberer, anderseits aber war er doch ein Freigeist oder doch Mann genug, um seine eigenen Wege zu gehen, trotz aller Götter und Dämonen und Flüche und Prophezeiungen.
Es fanden sich in seinem Reiche schon einige Männer, die an gar nichts glaubten oder doch für ein reichliches Entgelt bereit waren, ihre Seligkeit aufs Spiel zu setzen, die Sache zu riskieren.
Die Arbeit des Ersteigens des Makifelsens wurde in der beschriebenen Weise ins Werk gesetzt.
Da aber zeigte es sich, dass an dem Fluche doch etwas war.
Gleich am ersten Tage wurde einer der Arbeiter auf dem Werkplatze von einer Giftschlange gebissen und starb.
Am zweiten Tage holte sich ein anderer Arbeiter eine geringfügige Verletzung an der Hand und verendete in kurzer Zeit am Starrkrampf.
Als dann das Brett auf die ersten beiden Stangen gelegt wurde, stürzte der erste Arbeiter beim Betreten desselben gleich herab und brach sich trotz der nur geringen Höhe das Genick.
Dann fiel beim Herstellen der zweiten Etage eine Eisenstange herab und schlug einen vierten Arbeiter tot.
Und dann kam der Radscha selbst daran!
Wie er einmal an Ort und Stelle war und hinaufblickte, flog ihm etwas ins rechte Auge, nur ein winziges Staubkörnchen, er achtete es erst gar nicht, aber das Auge entzündete sich immer mehr, und innerhalb von drei Tagen, während welcher aber auch noch zwei andere Arbeiter tödlich verunglückt waren, war er vollständig erblindet.
Da gab der Radscha diesen Versuch auf.
Und dennoch, er ließ immer noch nicht locker. Was er dort oben finden sollte, das hatte für seinen Ehrgeiz gar zu viel zu sagen.
»Wie ist es möglich, diesen Fluch zu umgehen, dass man dennoch dort oben hinaufgelangt?«
So stellte er die Frage und ließ alle die Zauberer isoliert einsperren, bei Wasser und Brot und das auch nur bei halben Rationen, und sie würden nicht eher wieder dieses Fasten in der Isolierzelle unterbrechen, als sie eine zufriedenstellende Antwort gegeben hatten.
Die Zauberer hielten es bei Wasser und Brot in nur halben Portionen nicht lange aus.
»Du musst«, lautete dann ihr einstimmiges Urteil, »dort unten einen Tempel anlegen, in den Felsen hineinhauen. Dabei wirst Du auf die verschütteten Gänge und Treppen stoßen, auf denen Du dann nach der Marburg hinaufgelangst.«
»Werde ich das auch noch erleben?«, fragte der vorsichtig gewordene Radscha.
»Ja, das wirst Du noch erleben!«, rechneten die Zauberer einstimmig heraus.
»Wann?«
»Das lässt sich nicht berechnen«, lautete aber jetzt das ebenso einstimmige Urteil trotz aller Isolierhaft, »das hängt ganz davon ab, wie schnell Du meißeln lässt.«
»Darf ich die Makiburg dann auch betreten?«
»Ja, das darfst Du.«
»Die Dämonen werden mir dann nichts mehr tun?«
»Nein, sobald Du die Burg auf diese Weise betreten hast, ist sie wieder Dein Eigentum, dann sind Fluch und Dämonen gebannt. Nur musst Du einen wirklichen Tempel anlegen, und zwar genau nach der Art, wie der von Marsapal ist, darfst nicht etwa, um schneller zum Ziele zu gelangen, aufs Geratewohl in den Felsen hineinbohren. Nur Kammer für Kammer und Saal für Saal musst Du schaffen, so wie es der noch vorhandene Bauplan des Marsapaltempels vorschreibt, und vor allen Dingen darfst Du dabei auch nicht die würdige Fassade vergessen.«
Der Radscha war es zufrieden, der Tempelbau wurde in Angriff genommen.
Seit einem halben Jahre wurde daran gearbeitet, die verschütteten Gänge waren beim Eindringen noch nicht gefunden worden.
Das Auge des Radschas aber, bereits erblindet, hatte sich immer mehr verschlimmert, aus der Entzündung an den Seitenrändern war eine offene Wunde geworden, die immer weiter um sich fraß.
Doch der Radscha brauchte sich nicht der Verzweiflung hinzugeben, die Diagnose, welche die Zauberer, die natürlich auch Ärzte waren, stellten, war gar nicht so schlecht.
»Sobald Du den verschütteten Gang gefunden hast, wird Dein Auge wieder gesunden, es wird sogar wieder sehend werden.«
Schade nur, dass sich dieser Zeitpunkt durchaus nicht berechnen ließ, da wollte die Zukunft ihren Schleier nicht fallen lassen.
Infolgedessen zog der Radscha doch lieber auch die Zauberer direkt als Ärzte zu Rate, und da deren Kunst versagte, hatten vier von ihnen bereits ihren Kopf lassen müssen. —
So standen die Sachen, als Radscha Tippu Hatur durch das Erkerfenster auf den Werkplatz dort unten in der Waldeinsamkeit hinabschaute.
Da erscholl ein heller, glockenreiner Ton.
Aus einer dicken, goldenen Röhre, die von der Wand herablief, dann einen Bogen machend, war eine goldene Kugel von der Größe eines Billardballes in ein großes, goldenes Becken gefallen.
Der Radscha ging schnell hin, nahm die Kugel, es zeigte sich, dass sie hohl war und sich öffnen ließ, darin befand sich ein kleiner Pergamentstreifen, es war etwas darauf geschrieben, der Radscha las es, schloss die Kugel wieder und warf sie in ein anderes Goldbecken, das unten ein Loch besaß, in dem die Kugel verschwand.
Bald darauf wurde der kostbare Teppich zurückgeschlagen, der eine Tür verhüllte, ein Mann trat ein, der bei uns in keinem bürgerlichen Hause Einlass bekommen und wenn er auch Schätze versprochen hätte. Denn solch ein Kerl hat nichts mitzubringen — nach unseren Begriffen!
Offenbar ein Bettelderwisch, hager, ein ganz abgezehrtes Skelett, statt eines Kopfes ein Totenschädel, in dem nur noch die Augen lebendig waren, und zwar wie die glühten! — nur in schmutzige Lumpen gehüllt.
Mit freudiger Ungeduld wurde dieser Kerl seitens des Radschas empfangen.
»Endlich, Sirbhanga!«
Der Derwisch machte mit über der Brust verschränkten Armen eine demütige Verbeugung, dann aber benahm er sich ganz frei und sogar vertraut, setzte sich später auf die kostbaren Polster, ohne dazu aufgefordert worden zu sein.
»Du hast lange auf Dich warten lassen!«
»Ich habe mich beeilt, so sehr ich konnte, o Radscha«, sagte eine tiefe, wahrhaft eherne Stimme, die man diesem Skelett nimmermehr zugetraut hätte.
»Was hast Du zu melden?«
»Die Schlüsselbrüder sind unterwegs.«
»Wo sind sie jetzt?«
»Sie ziehen bereits durch den Dschungel.«
»Das ist schnell gegangen!«
»Da siehst Du, Radscha, wie sehr ich mich beeilt habe.«
»Wer führt sie jetzt?«
»Rais Nahal.«
»Ein sicherer Mann! Sind sie unterwegs angehalten worden?«
»Wer soll das bei einer heiligen Karawane wagen, die zum Grabe des Lamas pilgert?«
»Den Anglisis ist alles zuzutrauen.«
»Sie sind unbehelligt im Dschungel verschwunden.«
»Wie viele sind es?«
»138 Mann und 88 Weiber.«
»Auch Ahasver ist dabei?«
»Auch Ahasver.«
»Auch die Padaschina?«
»Auch die.«
»So wollen sie das Megalis el Hiemit in Ägypten für immer verlassen?«
»Das ist noch nicht bestimmt. Es wird nur immer gefährlicher dort. Aber so ohne Weiteres kann das dort nicht aufgegeben werden. Denn wenn auch —«
»Ich weiß, ich weiß! Sie stehen unter meinem Schutze. Besonders freue ich mich, diesen Ahasver —«
Der Radscha brach ab und strich mit schmerzhaft verzogenem Gesicht leicht über die Augenbinde.
»Sonst noch etwas Neues?«
»Maharadscha Bahadur ist zurückgekehrt.«
»Ich weiß es. Er befindet sich gegenwärtig bei seinem Freunde, dem Radscha Lakuma — verflucht sollen beide sein!«
»Sprichst Du so von Deinem Oberherrn, dem Du Treue und Gehorsam, und so von Deinem fürstlichen Bruder, dem Du ewige Freundschaft geschworen hast?«, erklang es höhnisch, was sich dieser Bettelderwisch also wohl erlauben können musste.
»Die furchtbare Kali soll sie beide bei lebendigem Leibe faulen lassen!«, wurde nur noch hinzugesetzt.
»Der Maharadscha hatte unterwegs ein Automobil gekauft, das ihm angeboten worden war.«
»Ein ganz seltsames Automobil.«
»Du hast davon gehört?«
»Schon genug. Es ist eine kleine, fahrbare Festung mit Panzerplatten. Bahadur wollte es benutzen, um uns in Schach zu halten, falls wir doch einmal Gelüste zeigen sollten, ganz besonders mich, hahaha.«
»Es ist ihm von anderer Seite entführt worden.«
»Eben deshalb lache ich.«
»Dieses Panzerautomobil, einer Riesengranate vergleichbar, befindet sich hier.«
»Wo, hier?«, stutzte der Radscha.
»Es hat bereits das Waldland durchkreuzt.«
»Ist nicht möglich!«
»Wie ich sage.«
»Davon müsste ich doch schon gehört haben!«
»Ich bin eben der erste, der Dir davon berichtet.«
»Es ist über den Damm gekommen?«
»Nein, daneben durch den Dschungel.«
»Das ist noch weniger möglich!«
Der Derwisch berichtete ausführlicher.
Er wusste alles.
Alles, was während der ganzen dreitägigen Reise vorgefallen war, als wäre er selbst mit dabei gewesen.
Nur natürlich nicht das wusste er, was sich innerhalb des Automobils selbst und im Dschungel abgespielt hatte.
»Gestern früh ist es bei dem Damme in den Dschungel hineingefahren, gestern Nachmittag in der vierten Stunde ist es im Waldland wieder herausgekommen, in der Nähe des Büffelsprunges.
In schnellster Fahrt hat es das Waldland durchkreuzt, ist nur von wenigen gesehen worden, die dann nicht darüber zu sprechen wagten, weil sie das Erzeugnis eines Makis zu sehen geglaubt hatten.
Dann wurde es doch verfolgt. Bis nach der Varsanschlucht. Dort verloren sich die Spuren, wurden nicht wiedergefunden.«
Der Radscha schüttelte den Kopf.
»Wer sind die beiden Männer«, fragte er dann, »welche bei dem entflohenen Automobil eher zur Stelle waren und es in Besitz nahmen?«
»Nur der eine war ein Mann. In der anderen Gestalt glaubt man deutlich ein Weib erblickt zu haben, der andere gab es dann übrigens selbst zu, dass es ein solches sei.«
»Und wer sind die beiden?«
»Man weiß es nicht.«
»Sie sagen es nicht selbst?
»Sie verschweigen alles.«
»Und sie wollten direkt nach Katmandu fahren, sogar bis in den Krönungssaal hinein?«
»Ja, das sagte der Mann.«
»Dort wolle er dem Maharadscha das Automobil freiwillig übergeben?«
»Ja, gegen Auslieferung der schwarzen Truhe, die der Maharadscha in seiner Schatzkammer habe.«
»Was ist das für eine schwarze Truhe?«
»Das weiß ich nicht, niemand scheint es zu wissen. wie ich auch schon gelauscht habe. Und auch das Rezept unseres Pulvers und unseres Stahles soll der Maharadscha für das Automobil geben.«
Hoch horchte der Radscha auf. Von der Truhe hatte der Derwisch schon vorhin gesprochen, das Pulver und den Stahl erwähnte er erst jetzt.
»Wehe, wenn er das täte!«
Dabei aber funkelte das gesunde Auge des Radschas schon wie hoffnungsvoll auf.
»Du meinst, Tippu Hatur, hieraus könntest Du dem Maharadscha einen Strick drehen?«, grinste der Totenschädel. »Nein, edler Radscha, das kannst Du nicht. Denselben Preis, unser Pulver und den Stahl, hatte Bahadur auch schon dem Engländer versprochen, dem er die fahrbare Festung abgekauft hatte oder doch eben abkaufen wollte.
Sein Wort hätte Bahadur natürlich halten müssen. Aber niemand hätte dieses Rezept ausführen können, darauf kannst Du Dich verlassen. Also Bahadur hätte den Engländer dennoch betrogen, und ebenso wird er es bei der neuen Forderung tun, ohne dass ihm daraus ein Vorwurf zu machen ist. O Tippu Hatur, lehre mich doch nicht den Maharadscha kennen, vor allen Dingen nicht den Singh Ra, seinen Ratgeber!«
Unwillig zuckte der Radscha die mächtigen Schultern. Er schien dieses Thema fallen lassen zu wollen, so sehr es ihn doch interessieren musste. Er hatte jetzt eben Wichtigeres im Kopfe.
»Auch Radscha Behowil ist heute zurückgekehrt von seiner Auslandsreise.«
»Und hat ebenfalls einen Fremden mitgebracht.
»Wen?«
»Es ist ein kleiner Mann, den er irgendwo unterwegs aufgelesen hat. Hatte zwei Pferde bei sich, auf dem einen saß er, das andere führte er, eines immer elender als das andere.«
»Wer ist der Mann?«
»Es scheint ein Engländer oder Amerikaner zu sein, andere halten ihn für einen Spanier. Er hat auch einen spanischen Namen, Domingo Lazare heißt er, mit dem Titel Señor. Mehr weiß ich nicht.«
»Was will Radscha Behowil mit ihm?«
»Er hat ihn mit in sein Schloss nach Rhatgaun genommen.«
»Wozu?«
»Ich weiß es nicht.«
Finster blickte der Radscha durch das linke Fenster sein Tal entlang, über dessen Hintergrunde die weißen Gipfel des Himalajas schimmerten.
»Mag dieser Radscha Behowil zur Hölle fahren, und mit ihm sein Nachbar, der Radscha Bir Dschang! Weißt Du, dass auch in dessen Reiche sich ein Fremder aufhält und dort sein Wesen treibt?«
»Ich weiß es.«
»Es ist ein Wundermaun, er kann Wunder vollbringen.«
»Es ist ein Buddha.«
»Nein, es ist ein Christus, ein neuer Christus. Wenn er auch bescheiden sagt, dass er nur ein Jünger Christi sei. Er hätte ein Recht, sich selbst einen Heiland zu nennen, sich noch über Christus zu stellen. Kein Christ dürfte ihn deshalb eines Frevels zeihen, sobald er nur seine gottgesandte Mission durch Tatsachen beweist. Denn in der heiligen Schrift der Christen steht wiederholt geschrieben, von ihrem Heiland wiederholt ausgesprochen: ›Nach mir aber werden welche kommen, die Größeres tun denn ich.‹«
Starr blickte das eine Auge des Radschas den ausgemergelten Derwisch mit dem Totenkopfe an.
»Du musst es wissen, Du selbst bist einmal ein Christ gewesen«, murmelte er, wohl dabei in andere Gedanken versunken.
»Ich bin es einmal Jahre lang gewesen, um das Christentum zu studieren, ich war auch christlicher Mönch in Palästina und auf dem Berge Athos«, erklang es mit einigem Stolz.
»Dieser Wundermann heilt Kranke.«
»Er hat einen Mann, der von Jugend an auf beiden Beinen gelähmt gewesen ist, nur angerührt, und der Mann konnte sofort aufstehen und gehen.«
»Er hat ein Kind, das blind geboren war, nur angerührt, und es konnte sofort sehen.«
»So war es.«
»Glaubst Du etwa an solche Wundermärchen?«, erklang es höhnisch, aber doch mit vor Aufregung zitternder Stimme.
»Ich habe solch eine Wunderheilung selbst gesehen.«
»Wie, Du hast selbst eine gesehen?«
»Erst gestern. Ich war am Hofe Deines Freundes, des Radscha Bir Dschang. In Deinem eigenen Auftrage, um ihn über seine Pläne auszuhorchen.
Du weißt, dass seine jüngste Gattin, die schöne, reizende Kalidasa, vor einem Jahre vom Aussatz befallen wurde.
Bir Dschang hatte natürlich von dem Wundermanne gehört, der in seinen Tälern umgeht, und ließ ihn kommen.
Der Wundermann kam wirklich. Ausnahmsweise. Denn sonst lässt er sich nicht befehlen und nicht bitten.
Er erklärte sich bereit, die Aussätzige zu heilen.
Man solle ihn zu ihr führen. Es solle ihn jemand begleiten.
Wer wagt es, die Zelle zu betreten in der ein Aussätziger haust, auch nur durch das Loch der meterdicken Wand zu blicken, durch das ihm die Nahrung zugeschoben wird?
Der Wundermann bestand auf seinem Willen. Es müsse jemand mit ihm hineingehen, irgend jemand.
Ich war gerade zur Stelle. Ich war es, der mitging.
Aussatz? Pah! Aussatz braucht Fleisch, das er befallen kann, und ich habe kein Quäntchen mehr auf meinen Knochen.
So ging ich mit.
Schrecklich, Radscha, war es, was ich zu sehen bekam! Ein Raum — wie eine Mördergrube, wie eine Rattenfalle, in der sich die Nager gegenseitig auffressen, und nun die schöne Kalidasa, deren Hochzeit wir voriges Jahr feierten — weiß wie Schnee, statt Menschenhaut nur noch zerfetzte Fischschuppen, auch sonst scheußlich entstellt, tiefe Löcher allüberall!
Der Wundermann sprach mit ihr. Er stellte seine Bedingungen, unter denen er sie heilen wolle, wie er auch schon dem Radscha Bir Dschang gesagt hatte. Kalidasa ging natürlich darauf ein, und die schreckliche Krankheit hatte ihr noch nicht das Gehirn verwirrt. Und da sprach der Wundermann zu ihr, indem er ihre Stirn berührte: ›Weib, Du sollst gesunden!‹«
Der Derwisch machte eine Pause.
Dieser von asketischen Übungen ganz abgezehrte Mann wusste doch sicher überhaupt gar nicht, was Nerven waren, aber das, was er erlebt hatte, musste ihn doch auch noch in der Erinnerung sehr angreifen. Er atmete schwer wie in großer Erregung, die Augen in dem Totenschädel glühten noch mehr als sonst.
»Radscha, was soll ich Dir sagen?«, fuhr er dann fort. »Kaum hatte er ihre Stirn berührt, als plötzlich die weißen Schuppen von ihrer Haut abfielen, nicht anders als wenn man einen Fisch abschuppt. Kalidasa war plötzlich vom Aussatz gereinigt. Bei Allah, Brahma und Buddha, bei unserer Schutzgöttin, der furchtbaren Kali, sie soll mich vernichten, wenn ich nicht die Wahrheit spreche — mit diesen meinen eigenen Augen habe ich es gesehen!«
Der Derwisch hatte nach indischer Weise gleich beide Hände zum Schwure erhoben, und auch der Radscha war gewaltig erschüttert.
»So war Kalidasa vom Aussatz befreit? Sie ist wieder schön wie zuvor?«
»Nein, Radscha, da allerdings verlangst Du zu viel. Die tiefen Löcher im Fleische konnten nicht auf einmal verschwinden, das ausgefressene Gesicht konnte nicht plötzlich wie früher wie lieblicher Vollmond erglänzen. Oder es wäre — noch etwas ganz anders als ein Wunder gewesen, eine Zauberei, die man sich überhaupt gar nicht vorstellen kann.
Und dennoch, dass Kalidasa plötzlich vom Aussatz geheilt war, das konnte ich auf den ersten Blick sehen. Ich habe darin Erfahrung. Wie die weißen Flechten plötzlich abfielen, oder sich abstreifen ließen, und dann vor allen Dingen, wie das leere, glanzlose Auge plötzlich Leben bekam.
Wie es sich weiter entwickeln würde, das sagte der Wundermann selbst, indem er sie nochmals berührte: ›Ehe der Mond zweimal wechselt, wirst Du sein wie zuvor, ehe Dich die Krankheit befiel.‹
»Also in ungefähr 40 Tagen wird sich erst das Resultat zeigen.«
»Es ist gar nicht nötig, diesen Termin abzuwarten.
Doch das weiß nur der, der das gesehen, was ich gesehen habe.
Kalidasa ist bereits geheilt und schön wie zuvor!
Und ich habe auch noch etwas anderes erlebt.
Ich verließ mit dem Wundermanne zusammen den Schlosshof.
Da wurde ein Mann auf einer Bahre gebracht, er hatte von dem neuen Buddha gehört und schon auf ihn gewartet.
Er heißt Belhasar und ist seines Zeichens ein Gerber, hat eine sehr große Gerberei, beschäftigt über hundert Arbeiter und Sklaven, ist ein sehr reicher Mann.
Aber er kann seines Lebens nicht froh werden. Schon seit vielen Jahren hat er die furchtbarste Gicht, wütende Schmerzen wühlen in seinen Knochen, dass er manchmal Tag und Nacht ununterbrochen schreit und wimmert.
So schrie Belhasar auch gerade wieder, als wir vorüberkamen.
Der Buddha, wie er allgemein genannt wird, blieb stehen, er berührte den Mann, und dessen Schreien verstummte sofort.
›Willst Du geheilt sein?‹
›Ja, ja, Meister!‹
Der Buddha stellte seine Bedingungen.
Als ob man da nicht auf alles, alles einginge!
Und er rührte ihn an, und da plötzlich konnte Belhasar aufstehen und zu Fuß heimgehen, was schon seit zehn Jahren ein Ding der Unmöglichkeit gewesen ist, und er weiß bestimmt, dass er nie, nie wieder solche Gichtschmerzen haben wird.«
Der Radscha war wieder äußerst erregt geworden.
»Dann wird er auch mein Auge heilen können!«, rief er jetzt.
»Er kann es.«
»Was stellt er eigentlich für Bedingungen? Was fordert er?«
»,Für sich fordert er gar nichts.«
»Man soll zum Christentum übertreten?«
»Auch nicht. Von Religion spricht er gar nicht. In dieser Beziehung sagt er eben nichts weiter, als dass man hinfort nicht mehr sündigen soll; sonst mag jeder glauben, was ihm beliebt. Was Sünde ist, das weiß doch jedermann.«
»Ja, was stellt er denn zuvor sonst für Bedingungen?«
»Erst eine Frage, Radscha!«, durfte dieser schmutzige Derwisch seinem Fürsten gegenüber sagen. »Was wäre denn nun der Fall, wenn dieser Wundermann wirklich alle Krankheiten heilen könnte und dies ganz umsonst täte, nur unter der Bedingung, sündige hinfort nicht mehr?«
Der Radscha hatte es sofort erfasst, und es gehörte auch kein besonderer Scharfsinn dazu.
,Dann gäbe es bald überhaupt keine Krankheit mehr, nicht hier in Nepal und schließlich auf der ganzen Erde nicht mehr.«
»So ist es. Die kranke Menschheit würde zu dem Wundermann in Strömen pilgern. Das ist hier auch zuerst der Fall gewesen. In den ersten Tagen war der neue Buddha immer von Scharen von Kranken umlagert. Ich sage Dir aber, dass sich von zehn kaum einer hat von ihm heilen lassen wollen. Die anderen zogen es vor, nachdem sie die Bedingungen gehört hatten, ihre Schmerzen und Entstellungen zu behalten.«
»Ja, was sind denn das nun für Bedingungen?«
»Verkaufe alles, was Du hast und gib es den Armen.«
Der Radscha stutzte und brach dann in ein höhnisches Lachen aus.
»Das ist ja Narrheit! Dann würde sich ja die ganze Erde in ein Bettlerparadies verwandeln, aber auch diese Bettler würden bald verhungern, und alles durch Fleiß Geschaffene ginge wieder verloren!«
»Du hast recht, Radscha«, entgegnete der Derwisch, »und das weiß auch dieser Engländer; denn ein Engländer ist er.
Nein, er stellt andere Bedingungen, wenn es auch im Grunde genommen auf dasselbe hinausläuft.
Er macht dabei ganz bestimmte Unterschiede, stellt seine Bedingungen für jeden Einzelnen besonders.
Bettlern befiehlt er, hinfort fleißig zu arbeiten, wenn er sie von ihrer Krankheit oder Gebrechen heilen soll. Da kannst Du Dir denken, dass die meisten dieser Bettler oder überhaupt fast alle mit ganz seltenen Ausnahmen es vorziehen, lieber krank und gebrechlich zu bleiben, denn das ist ja gewissermaßen ihr Handwerkszeug, ihr Kapital, durch das sie sich erst ganz mühelos ihren Unterhalt verdienen.
Arme Arbeiter fordert er auf, noch fleißiger zu arbeiten und reichlich Almosen denen zu geben, die sie verdienen, sich der Witwen und Waisen anzunehmen und dergleichen mehr, und da macht er auch ganz direkte Angaben, indem er fragt, was sie bisher für Luxusbedürfnisse, für Tabak, bessere Kleider, Vergnügungen und dergleichen ausgegeben haben, und das müssen sie fortan unbedingt sparen und es den wirklich bedürftigen Armen geben.
Ebenso hat er den Radscha Bir Dschang nur gefragt, wie viel er früher für seine schöne Gattin Kalidasa für Schmuck und für deren Unterhalt ausgegeben hat, ob er damit einverstanden ist, dies fernerhin den Armen zu geben oder sonst für wohltätige Zwecke — dasselbe hat er die Kalidasa gefragt, sie erklärte sich damit einverstanden — da hat er sie geheilt.
Mancher Arbeiter aber hat auf seine Heilung doch lieber verzichtet.
Er stellt aber manchmal auch wirklich solche Bedingungen, wie ich zuerst angab.
Der Gelähmte, den er heilte, war ein sehr reicher Mann, er hatte sich sein Vermögen, von dessen Zinsen er lebte, durch Diamantenhandel verdient.
Der hat sein ganzes Vermögen, alles was er besaß, einem buddhistischen Tempel mit Tierasyl vermachen müssen, er selbst ist als Arbeiter, als Tierwärter hineingegangen.
Das hat der neue Buddha von ihm verlangt, sonst hätte er ihn nicht geheilt.
Und Belhasar, der Gichtbrüchige, bei dessen Heilung ich ebenfalls zugegen war, hat seine große Gerberei gleichfalls verschenken müssen.
Verschenken, verstehe wohl! Er sollte sie nicht verkaufen oder gar auflösen, wodurch nur mehr als hundert Arbeiter plötzlich brotlos geworden wären.
Es ist und bleibt ein praktischer Engländer, dieser Wundermann.
›Weißt Du einen Würdigeren als Du bist, dem Du Deine Gerberei geben kannst?‹, fragte der Buddha.
Belhasar brauchte nicht lange zu überlegen. Er nannte seinen Konkurrenten, einen noch größeren Gerber, den er bisher geneidet, gehasst, gegen den er bisher mit allen erlaubten und wahrscheinlich auch unerlaubten Mitteln gekämpft hatte.
Das plötzliche Aufhören der ewigen Schmerzen und die Aussicht, sie nun nie wieder zu bekommen, hatte den Mann natürlich mit einem Male total verwandelt.
›So gehe hin und verschreibe Deine Gerberei diesem Deinem Konkurrenten, und Du selbst trittst bei ihm als Arbeiter ein, und alles, was Du von Deinem Arbeitslohn ersparen kannst, gibst Du den Armen.‹
Du fragst vielleicht, Radscha, was denn nun aus der Familie des bisher reichen Mannes wird? Weshalb soll die plötzlich auf alle Freuden des Lebens verzichten und sie sogar entbehren?
Dieser englische Wundermann vergisst nichts!
Jener andere reiche Gerber muss sich nun dieser Familie annehmen, sie wie bisher weiter ernähren und unterhalten.
Nur Belhasar selbst muss fernerhin als gewöhnlicher Arbeiter in fremden Diensten schaffen.«
Der Derwisch schwieg. Der Radscha hatte sinnend zugehört.
»Und was wird er von mir fordern?«, fragte er dann.
»Mache Dich darauf gefasst, dass er von Dir fordert, Du sollst das Fürstentum Gandak an einen anderen abtreten, der würdiger und fähiger ist als Du, darüber zu regieren.«
Mit einer wilden Bewegung trat der Radscha auf den Bettlerderwisch zu, schon mit geballter Faust, als wolle er ihn zu Boden schlagen.
»Was wagst Du mir da zu sagen?«, stieß er grimmig hervor. »Sirbhanga, Du stehst in hoher Gunst bei mir, Du bist mir unentbehrlich geworden wie meine rechte Hand — aber hüte Dich, auch meine Geduld gegen Dein anmaßendes Auftreten kann einmal ein Ende haben!«
Unerschütterlich stand das lebende Skelett da.
»Ich sagte nur, was der Wundermann von Dir fordern könnte, Du sollst Dich darauf gefasst machen, nichts weiter.«
Schnell war der aufflackernde Zorn des Radschas verraucht, dieser Mann mochte doch noch eine ganz andere Macht auf ihn ausüben, jetzt brach er in ein schallendes, höhnisches Lachen aus.
»Daran ist natürlich gar nicht zu denken!«
»So mache Dich darauf gefasst, dass der Wundermann Dir seine Hilfe versagt. Gesetzt den Fall, dass er diese Forderung wirklich stellt.«
Der Radscha legte mit schmerzlich verzogenem Gesicht die Hand auf das verbundene Auge.
»O, wie das wieder brennt! Als ob die ganze Hölle darin wüte! Wenn man nun auf die gestellten Bedingungen eingeht und hinterher hält man sie nicht? Ist dieser Fall schon einmal eingetreten?«
»Nein, noch nicht. Aber dieser Engländer denkt natürlich auch hieran und spricht eine Drohung von vornherein aus.«
»Was für eine Drohung? Dann kehrt die Krankheit zurück?«
»Nein, das wohl nicht, sondern er sagt stets: ›Hältst Du Dein Versprechen nicht, so fällst Du zurück in die Sünde und Du hast Dich selbst gerichtet.‹«
»Was soll das heißen?«
»Ich weiß es nicht. Jedenfalls aber soll man sich dann vor Gott im Jenseits verantworten. Es liegt ganz deutlich in diesen seinen Worten ausgedrückt, obgleich er sonst keine Erklärung weiter gibt. Man muss es ihn selbst sagen hören. Übrigens liest dieser neue Buddha auch offenbar in der Seele, deshalb verweigert er auch oft genug die Heilung.«
»Inwiefern? Ich verstehe nicht recht.«
»Nun, er kann eben im Herzen der Menschen lesen. So muss man wenigstens annehmen; denn schon oftmals hat er die Heilung einer ganz geringfügigen Krankheit oder Wunde mit den Worten verweigert: ›Du hast Dich schon selbst gerichtet!‹ Und dann wendet er sich um und ist nicht mehr zu sprechen. Da hat er, muss man doch annehmen, im Herzen oder in den Augen eben schon gelesen, dass der sich ihm mit der Absicht genaht hat, sein Gelübde nicht zu halten, sobald er geheilt worden ist. Dieser Fall ist schon häufig vorgekommen.«
Sinnend blickte der Radscha auf die Werkstatt dort unten hinab.
»Ein Engländer ist er?«
»Zweifellos.«
»Er spricht nur Englisch?«
»O nein; ebenso gut Hindustanisch und Arabisch und alle anderen Dialekte.«
»Wie ist er denn nur nach Nepal hereingekommen?«
»Niemand weiß es. Es ist erst fünf Tage her, da ist er plötzlich im Geslatale aufgetaucht. Niemand weiß, woher er gekommen ist. Er heilte einige Kranke, wurde zum Radscha Bir Dschang geführt, wegen der Kalidasa, und nun ist er natürlich erst recht sanktioniert.«
»Hat er sich dem Radscha offenbart, wer er ist und woher er kommt und woher seine Kraft stammt?«
»Nein. Auf solche Fragen antwortet er gar nicht. Überhaupt ist schwer mit ihm umzugehen. Trotz all seiner demütigen Bescheidenheit ist er doch immer der Herr und Gebieter, der allein zu fragen hat, auch einem Fürsten gegenüber.«
»Nun, ich werde mich mit ihm wegen meiner Heilung schon einigen; wenn ich ihn nur sprechen kann. Er ist im Reiche meines schlimmsten Feindes. Wird er meiner Einladung folgen?«
»Er hat es bereits getan.«
»Wie?!«
»Er ist bereits hier.«
»Was sagst Du da?!«, stutzte der Radscha immer mehr.
»Ich habe mit ihm wegen Deines Auges bereits gesprochen, und sofort war er bereit, mir zu folgen, er ist bereits hier.«
»Und das sagst Du mir erst jetzt?!«, stellte sich der Radscha erzürnt, so groß sein freudiges Staunen auch war.
»Da siehst Du, o Radscha, wie ich Dir zu Diensten bin. Ich habe bisher immer nur Deine Fragen beantwortet.«
»Wo ist er?!«
»Unten auf dem Werkplatz.«
»Herauf mit ihm!«
»Nein, edler Radscha, Du musst Dich zu ihm hinab bemühen. So fordert er es, und da ist bei diesem Manne doch nichts dagegen zu machen.«
Nur ein kleines Zögern noch, und der Radscha war bereit, sich hinab zu begeben.
Er hätte noch etwas ganz anderes getan, hätte sich noch ganz anders gedemütigt, denn in seinem Auge brannte es gerade jetzt wieder einmal fürchterlich.
Mit scheuer Erfurcht blickten alle die dunkelfarbigen Arbeiter, wenn sie nur einmal die Augen von ihrer Beschäftigung abwenden konnten, nach dem Manne, der dort unter dem Mangobaume saß.
»So saß Bodhisattwa unter dem Baume«, flüsterten sie untereinander, »als ihm die große Erkenntnis überkam und er beschloss, der Welt ein Buddha zu werden.«
Wir kennen ihn, dem diese ehrfürchtigen Worte galten.
Es war Edward Scott, noch ganz derselbe wie damals, da er in Ägypten das Kloster verlassen hatte, um in die Wüste zu gehen, nur dass sein Gesicht, das von keiner Sonne gebräunt zu werden schien, noch durchgeistigter geworden und dass ihm Haupthaar und Bart wieder lang gewachsen waren.
In eine dunkle Kutte von grobem Stoffe gekleidet, Sandalen an den Füßen, so saß er mit gekreuzten Füßen im Schatten des Baumes und blickte ruhig vor sich hin in das Gras. Schon seit einer Stunde saß er so da. Er wurde wohl angestaunt, aber nicht durch Neugier belästigt, noch niemand hatte sich ihm genaht.
Viel mochte hierzu auch mit beitragen, dass es der bekannte Derwisch Sirbhanga gewesen war, der Ratgeber des Landesfürsten, der ihn hierher geführt hatte.
Jetzt erhob er sich, ohne die Augen aufgeschlagen zu haben.
»Radscha Tippu kommt!«, ging es bald flüsternd durch die Reihen der Arbeiter.
Er kam in Begleitung des Derwischs, doch erst als er vor ihm stand, hob Edward Scott die Augen.
»Wer bist Du, seltsamer Mann?«
Statt einer Antwort kam nur eine Gegenfrage, ebenfalls im reinsten Hindustanisch.
»Du willst von mir geheilt sein, Radscha? Zeig mir Dein Auge, nimm die Binde ab, hier im Schatten des Baumes.«
Der Radscha gehorchte ohne Weiteres, der Derwisch war ihm behilflich bei Abnahme des Verbandes, der nicht nur in der schwarzen Binde bestand.
Hinwiederum war auch nichts angeklebt, eine aufgetragene weiße Salbe verhinderte es.
Schrecklich war es, was man da zu sehen bekam! Der Augapfel schien schon ganz zerstört zu sein, und nun das Fleisch ringsum! Alles vom Krebs zerfressen!
Und es hatte nichts dabei zu sagen, dass es Kurpfuscher von Zauberern waren, die da irgend eine Sudelkocherei von Salbe draufgeschmiert hatten, auch der modernste, gewissenhafteste Arzt hätte an dem Aussehen dieses Auges und seiner Umgebung nichts ändern können.
»O, wie das brennt und sticht, als ob mit glühenden Nadeln darin herumgewühlt würde!«, konnte jetzt der Radscha ein leises Wimmern nicht unterdrücken.
Aufmerksam hatte Scott das Auge betrachtet.
»Ehe der Mond wechselt, bist Du erblindet.«
»Ich bin ja bereits auf diesem Auge erblindet!«, stöhnte der Radscha.
»Aber auch das andere Auge wird ergriffen worden sein. Wenn der Mond gewechselt hat, ist Dir nicht mehr zu helfen, dann kann auch ich es nicht mehr.«
»Jetzt kannst Du mir noch helfen?«
»Willst Du geheilt sein?«
»Ja, ja!«
»Ich fordere einen Preis.«
»Fordere, was Du willst, ich zahle alles, alles!«
Jetzt, da das kranke Auge dem hellen Lichte ausgesetzt war, wurde der Radscha wahrscheinlich von noch wütenderem Schmerze gepeinigt, und da hatte er keine Hintergedanken, wenn er sagte, dass er alles, alles zahlen wolle. Wenn er vielleicht auch nicht gerade an die Preisgabe seines Königreichs dachte.
»Gib diesen Tempelbau hier auf.«
»Diesen Tempelbau?!«, staunte der Radscha mehr als dass er stutzte. »Weshalb denn das?«
»Weil ich es fordere! Und außerdem fordere ich von Dir diesen ganzen Makifelsen, soweit er von dem Waldland und von Schluchten begrenzt ist, mit allem, was sich darin und darauf befindet.«
Da dachte der Radscha natürlich sofort, so sehr ihn auch die fürchterlichsten Schmerzen peinigten, an die Makiburg dort oben und was sie enthielt, an all seine hochfliegenden Herrscherpläne.
»Du willst den ganzen Makifelsen haben?!«
»Ja.«
»Auch mit der Maiburg?!«
»Ja.«
»Wozu denn das?!«
»Weil ich es haben will.«
»Das muss ich erst erfahren!«
»Du erfährst es nicht. Der Makifelsen gehört mir, Du und Deine Leute, niemand darf mehr in den Felsen eindringen, wenn ich nicht will, dagegen darf ich selbstverständlich mit dem Felsen machen, was ich will, jeden darin aufnehmen. Bist Du damit einverstanden?«
In diesem Moment fühlte der Radscha in seinem Auge einen wütenderen Schmerz denn je, es war ihm, als ob siedendes Blei darin herumrolle.
»Ja, ja, ich bin damit einverstanden!«, winselte er, sich krümmend.
»Der Makifelsen gehört mir, ich darf in seinem Innern und dort oben auf der Makiburg aufnehmen, wen ich will?«
»Ja, ja doch! Nur befreie mich von meinen Schmerzen! Einen Mankjhassen herbei —«
»Kein Rechtsgelehrter ist nötig, der einen Kontrakt beglaubigt, keine Zeugen — ich habe Dein Wort!«
Er griff mit der rechten Hand in den Brustschlitz der Kutte, dabei die Augen gen Himmel hebend, und jetzt bediente er sich einmal der englischen Sprache.
»Du hast gesagt zu Deinen Jüngern, ehe Du sie hinaussandtest in alle Welt: Machet die Kranken gesund, reiniget die Aussätzigen, wecket die Toten auf, treibet die Teufel aus. Und wem Ihr die Sünden vergebt in meinem Namen, dem sollen sie vergeben sein, und wem Ihr sie nicht vergebet, der soll sie tragen ewiglich, und alle Krankheit ist nur eine Folge der Sünde, und Du hast mich als Deinen Jünger angenommen ...
Er hatte aus dem Brustschlitz das kleine Kruzifix zum Vorschein gebracht, er senkte wieder die Augen.
»Kraft meines Amtes, Deine Sünden sind Dir vergeben, sündige hinfort nicht mehr.«
Mit diesen Worten, ohne jedes Pathos gesprochen, hatte er mit dem Kruzifix das entstellte Auge berührt und war leicht über die wunde Haut gefahren.
War es Einbildung?
Doch was ist überhaupt Einbildung?
Der Radscha fühlte aus dem kleinen Zinnkreuz wie einen kühlen Hauch in sein Auge übergehen, und in demselben Moment war der fürchterliche Schmerz vollkommen verschwunden.
»Ehe der Mond wechselt, kannst Du auf diesem Auge wieder sehen, und ehe der Mond zum zweiten Male gewechselt hat, ist Dein Auge wieder ganz gesund und wird es bleiben. Wasche es täglich mehrmals mit gewöhnlichem Wasser, nichts weiter, auch keine Binde trage mehr darüber.«
Tief aufatmend blickte der Radscha empor, mit ganz verklärtem Gesicht, so entstellt dieses auch war.
Zum ersten Male fast seit einem halben Jahre fühlte er in diesem Auge nicht mehr den furchtbaren Schmerz, der ihn unablässig gemartert, den er nämlich nur niemals gezeigt hatte, bis jetzt zuletzt, da ihn der immer heftiger werdende Schmerz ganz überwältigt gehabt hatte.
»O Wunder über Wunder, ich bin von dem Schmerze befreit, ja, mir ist, als ob ich schon ein Licht schimmern sehe, als ob —«
Ein Geschrei unterbrach ihn.
Wohl hatten alle die Arbeiter, soweit sie diese Szene beobachten konnten, immer hingeschielt, sonst aber waren sie in Gegenwart des mehr gefürchteten als geliebten Radschas, ihres Landesfürsten, nur umso emsiger ihren verschiedenen Beschäftigungen nachgegangen.
Jetzt aber quoll aus einer der natürlichen Höhlen eine Menge Arbeiter hervor, die darin gemeißelt hatten, und in ihr jubelndes Schreien stimmten schnell alle anderen mit ein, sobald sie wussten, um was es sich handelte.
»Die Treppe ist entdeckt, der Aufgang zur Makiburg ist gefunden worden!«
Nur ein einziger Hammerschlag hatte diese Entdeckung herbeigeführt, ein Meißel war plötzlich durch die Felswand gebrochen, also in eine Höhlung hinein, Stemmeisen, die natürlich ebenfalls erlaubt waren, halten nachgeholfen, das noch in die kurze Höhle dringende Tageslicht — aber auch Lampen waren vorhanden gewesen — hatte eine breite, nach oben führende Steintreppe gezeigt.
So konnte man schon aus dem Jubeln und Schreien deutlich vernehmen. Jeder strebte doch danach, die freudige Kunde dem Radscha mitzuteilen, in orientalischer Weise.
Was mochte in dem Kopfe des Radschas bei dieser Kunde vor sich gehen?
Wir wollen es nicht zu ergründen versuchen.
Jedenfalls wurde er jetzt nur von dem einzigen Gedanken beherrscht: Der Aufgang zur Makiburg ist gefunden, und dort oben wartet das auf Dich, weshalb Du diesen Tempelbau begonnen hast, was Dich zum ersten Herrscher von Nepal und ganz Indien macht!
Da hatte er eben die vorausgegangene Unterredung mit dem Wundermanne gleich ganz vergessen, ja gerade seine jetzige Schmerzlosigkeit mochte viel mit daran schuld sein, dass er anders handelte, als er hätte handeln sollen.
Er eilte hin nach der Höhle, den Wundermann gar nicht mehr beachtend.
»Wo? Wo?!«
»Hier! Hier!«
Die Öffnung war so weit ausgewuchtet worden, dass ein Mann bequem durchkriechen konnte, also nur noch durch eine dünne steinerne Scheidewand, aber das hatte noch keiner der Arbeiter getan, nicht der Aufseher, auch noch nicht einmal den Strahl einer Lampe hineingeschickt, denn das war hier eben ein heiliger Tempelbau, man wusste ja, weshalb ihn der Radscha anlegen ließ, die Steintreppe war im unsicheren Tageslicht gesehen worden, und das genügte, nun wagte niemand mehr auch nur noch hineinzublicken, zumal da ja der Radscha selbst zur Stelle war.
Der nahm schnell eine der brennenden Lampen, hob den Fuß, um über die Barriere zu steigen.
Denn die Öffnung war nicht ganz bis nach unten geschaffen worden, sie fing erst in reichlicher Kniehöhe an, wie sich so etwas eben mit Meißel und Brechstange am bequemsten und schnellsten herstellen lässt.
Doch schnell zog der Radscha den schon erhobenen Fuß wieder zurück.
Es war ein Blendstrahl, den die Lampe in seiner Hand aussandte, er erleuchtete nicht nur eine breite Steintreppe, sondern drang in eine noch viel größere Höhle oder vielmehr in eine ganze Halle, deren Decke von reichgezierten Säulen gestützt wurde, die Steintreppe im Hintergrunde war da ganz Nebensache — und vor allen Dingen beleuchtete der Blendstrahl ein schwarzes, riesenhaftes Ungeheuer, das jetzt, vorn eine Spitze habend, herangejagt kam und diese Spitze fast durch die Öffnung steckte, gerade vor dieser stehen blieb.
Es war die Riesengranate von dem Panzerautomobil!
Das musste auch der Radscha sofort wissen, So viel hatte er von diesem seltsamen Fahrzeug nun schon gehört.
Er war vor der drohenden Spitze, die sich ihm entgegenstreckte, zurückgeprallt.
»Zurück!«, donnerte da auch schon eine Stimme. »Niemand darf das Innere dieses Felsens ohne meine Erlaubnis und sogar ohne meine Einladung betreten!«
Der Radscha starrte und staunte und entsetzte sich, bis er sich von seinem Schreck wieder gesammelt hatte.
»Wer spricht da? Was ist das? Wer bist Du?«
»Nenne mich, wenn Du durchaus eines Namens bedarfst. Radscha Joachim. Aber die Hauptsache ist, dass ich zu denjenigen gehöre, denen der Buddha, wie Du ihn wohl nennst, den ich lieber Mister Edward Scott nenne, den Aufenthalt in und auf diesem Felsen gestattet. Also dieser Felsen gehört überhaupt mir! Mir, dem Prinzen oder Radscha Joachim! Kraft Deines Versprechens, das Du jenem Manne gegeben hast. Frage ihn, ob es nicht so ist.«
»Du verwehrst mir den Eintritt in diesen Felsen?«
»Allerdings. Mich wundert nur, dass Du noch so fragen kannst. In einer Stunde komme wieder, Radscha Tippu Hatur von Gandak, dann will ich Dich als meinen Gast begrüßen und weiter mit Dir freundschaftlich verhandeln. Wer aber vor dieser Stunde den Felsen irgendwo zu betreten wagt, der ist des Todes! Du nicht ausgeschlossen, Radscha Tippu!«
Der Radscha machte es kurz, wandte sich um und eilte hinaus.
»Nein, so haben wir nicht gewettet! Da muss noch Verschiedenes nachgetragen werden, ehe dieser Kontrakt seine Gültigkeit haben kann. Wo ist der Buddha?«
Er war nicht mehr zu sehen, niemand wusste, wo er geblieben war. —
»Eine verteufelte Geschichte!«, sagte der Prinz, sich die Stirn trocknend. »Nun möchte ich bloß wissen, was ich wieder hier soll, und freilich noch mehr wissen möchte ich, wie dieser Edward Scott plötzlich hierher nach
Kaum hatte der Maharadscha [1] in die geheimnisvolle
Höhle hineingeleuchtet, als er erschrocken zurückfuhr.
[1] Im Original lautet die Bezeichnung »Maharadscha« statt richtig »Radscha«.
Nepal kommt als Wundertäter, als neuer Christus, der jemanden nur anzurühren braucht, um alle Krankheiten zu heilen!«
Also gestern am späten Nachmittag hatte das Panzerautomobil den Dschungel verlassen, hatte in schnellster Fahrt das gegen zehn Meilen breite Waldland durchquert, war am Abend nach Erreichung der Gebirgsregion in eine Schlucht gedrungen, die sogenannte Varsanschlucht, Wolfsschlucht, und dann weiter in ein wahres Labyrinth von engen Schluchten, aus dem sich kein Mensch wieder herausgefunden hätte.
Wohl steuerte der Prinz immer das Automobil, aber dieses und er selbst hatten doch noch einen anderen, geistigen Führer, der sich durch elektrische Zucke bemerkbar machte.
Hier diese Höhle war das Endziel gewesen, oder vielmehr diese ungeheure Halle, deren Wände und Decke, wie die aus dem Felsen stehen gebliebenen Säulen von Menschenhand überaus kunstvoll bearbeitet worden waren.
Der Prinz hätte nicht sagen können, wie er hier herein gekommen war, so verwickelt war der ganze Weg gewesen.
»Hier warte, bis ich mich wieder melde. Keiner von Euch verlässt bis dahin das Fahrzeug.«
So hatte Almansor zuletzt diktiert.
Erst dann sah der Prinz die nach oben führende Treppe, er untersuchte sie nicht, durfte die Riesengranate ja gar nicht verlassen, auch nicht Lady Lionel oder das Kind.
Wo befanden sie sich?
Sie wussten es eben nicht.
Durch das Kind wollte sich der Prinz einmal mit seinen Freunden in Gaur in Verbindung setzen, aber das Experiment gelang nicht, was auch in dieser Hinsicht probiert wurde.
Die Nacht verging, Almansor machte sich nicht bemerkbar.
Da, es war früh gegen sieben Uhr, wurde ein anhaltendes Klopfen gehört.
»Das klingt ja gerade, als ob draußen an den Felswänden gemeißelt —«
Der Prinz erhielt einen elektrischen Schlag, Almansor hatte sich angemeldet.
»Du befindest Dich in dem sogenannten Makifelsen, welcher dem Radscha Tippu Hatur von Gandak gehört.
Auf diesem Felsen liegt die Makiburg —«
Und Almansor fuhr fort, ihn über alle Verhältnisse zu berichten.
Was er sonst noch telegrafierte, brauchen wir nicht zu wissen.
Jedenfalls aber erfuhr der Prinz nicht mehr, als uns schon bekannt ist.
»Ja, wie kommt denn Mister Edward Scott hierher nach Nepal?!«
Ach, wie gern hätte das der Prinz gefragt, obgleich er sonst durchaus nicht von Neugier geplagt wurde. Er hatte keine Möglichkeit, solch eine Frage zu stellen.
So vergingen einige Stunden, das Hämmern draußen währte fort.
Da meldete sich Almansor wieder.
»Mister Scott hat das kranke Auge des Radscha Tippu geheilt.
Soeben ist es geschehen.
Als Belohnung dafür hat Scott den Makifelsen und die Makiburg beansprucht.
Radscha Tippu ist darauf eingegangen.
Auch darauf, dass Mister Scott in diesem Felsen und in der Burg auch andere aufnehmen kann, während kein anderer auch nur die kleinste Höhle des ganzen Felsens betreten darf.
Also Sie, Prinz Joachim, sind jetzt Herr dieses durch Schluchten scharf begrenzten Felsens, Mister Scott weiß davon und ist damit einverstanden.
Ihretwegen hat er dies alles überhaupt erst getan.
Das heißt, sonst hätte er von dem Radscha etwas ganz anderes für seine Heilung gefordert.
Nun handelt es sich bloß darum, ob der Radscha sein Versprechen auch halten wird.
Die Sterne schweigen darüber, und ich traue seinem Charakter durchaus nicht.
Es ist sehr leicht möglich, dass sehr bald, vielleicht schon in der nächsten Minute, ein Zugang gemeißelt werden wird.
Geschieht dies und der Radscha oder irgend ein anderer will eindringen, so haben Sie durch Drohung zu warnen und dann den Eingang durch Gewalt zu verteidigen.
Kein fremder Mensch darf in dieses Felseninnere eindringen!
Schonen Sie kein Menschenleben!
Verstanden?
Ja, Sie haben mich verstanden, auch wenn Sie es nicht bestätigen können.
Alles Weitere werde ich Ihnen immer zur gegebenen Zeit ...
Achtung, die indischen Arbeiter haben die Stelle gefunden, sie brechen durch, Radscha Tippu Hatur kommt zuerst, verhindern Sie seinen Eintritt, schnell dorthin, wo Sie in der Finsternis das Tageslicht sehen!«
Das war das letzte gewesen.
Der Prinz hatte gehorcht.
Der Radscha war zurückgeeilt, die Höhle war menschenleer, und was dort draußen im dem Walde vor sich ging, konnte der Prinz nicht sehen, auch wenn er sich auf den Boden niederlegte.
Einige Minuten vergingen.
»Da kommen Feinde, sie sind von anderswoher eingedrungen!«, rief da die Lady.
Der Prinz brauchte sich nur umzudrehen, so sah auch er sie, die dunklen Gestalten, die dort von hinten herbeigehuscht kamen.
Es war eben sehr finster in der Halle.
Ehe er überlegen konnte, wie hier zu handeln sei, bekam er schon von Almansor die Anweisung zutelegrafiert:
»Jetzt können Sie das Automobil verlassen, stellen Sie es zur Bewachung dieser Öffnung an, empfangen Sie den Radscha oben in der Burg, wie ich Ihnen noch weiter vorschreiben werde.«
Im ersten Augenblick wusste der Prinz gar nicht, was er hiermit anfangen sollte, bis er die Näherkommenden plötzlich erkannte.
»Hartung, Leutnant Schwarzbach, Lord Armstrong, der schwarze Bär — ist es möglich!«
Sie waren es, die Cowboys und die alten Begleiter des Prinzen, die sich jetzt herandrängten, wenigstens ein Teil von denen, die damals samt ihren Pferden und auch mit einigen Kamelen das Luftschiff betreten hatten.
Der Prinz war hinausgesprungen.
»Wie, Ihr seid hier?!«
»Vor fünf Minuten ist das Luftschiff oben gelandet.«
»Wo oben?«
»Oben auf dem Plateau, von wo man die Menschen unten nur wie die Ameisen krabbeln sieht, und Hals über Kopf mussten wir mit dem Fahrstuhl hier herunter, um uns Ihnen zur Verfügung zu stellen.«
»Mit dem Fahrstuhl?«
»Dort hinten ist einer, es scheint so ein Wasserding zu sein.«
»Ist Almansor mit hier unten?«
»Der ist überhaupt nicht mitgekommen.«
»Nicht?!«
»Der ist in Gaur zurückgeblieben, der Kapitän hat seine Vertretung übernommen.«
Also wieder würde der Prinz von Almansor selbst keine näheren Aufklärungen erhalten können! Almansor sprach immer nur elektrische Telegrafie zu ihm, und das geschah auch jetzt wieder.
Die Folge dieser neuen Order war, dass der Prinz das Panzerautomobil etwas zurückgehen ließ und einige der Cowboys als Wächter neben die Öffnung stellte, mit scharfen Instruktionen, vor allen Dingen auch mit scharf geladenen Gewehren und Revolvern, während er selbst mit der Lady und dem Kinde den Fahrstuhl benutzte, der durch Wasserlast so funktionierte, wie schon einmal beschrieben wurde, oben am Anfang füllte eine Quelle ein Bassin, das mit hinabfuhr und sich unten entleerte, der eiserne Stuhl lief in Schienen, und alles funktionierte noch tadellos. —
Die Stunde war noch nicht vergangen, als ein hochgewachsener Inder in glänzender Schuppenrüstung die Höhle betrat.
Leutnant Schwarzbach war es, der ihn, sich in der Öffnung zeigend, empfing.
»Sind Sie der Mann, der sich Prinz Joachim nennt?«, fragte der Inder in tadellosem Englisch.
»Nein, Leutnant Schwarzbach ist mein Name, aber ich bin der Bevollmächtigte des Prinzen Joachim. Habe ich die Ehre, den edlen Radscha Tippu Hatur von Gandak zu sprechen?«
»Nein, aber ich bin sein Abgesandter, Heka Gulan, Offizier der Leibgarde des Radschas.«
»Was wünschen Sie?«
»Der Radscha möchte den Prinzen Joachim sprechen.«
»Der Prinz befindet sich schon oben in der Burg.«
»Radscha Tippu ladet ihn als Gast zu einer Besprechung ein.«
»Diese Besprechung kann nur innerhalb dieses Felsens hier stattfinden. Prinz Joachim ladet den Radscha Tippu zu sich in seine Burg ein.«
Leutnant Schwarzbach hatte seine Instruktionen bekommen, der indische Offizier aber ebenfalls, und dass es so kommen wurde, war wohl vorauszusehen gewesen.
»Wenn Prinz Joachim Argwohn heget, so stelle ich mich als Geisel.«
»Wenn Radscha Tippu Argwohn heget, so werden wir eine Geisel stellen!«, lautete wiederum die fast gleichklingende Antwort.
»Sie selbst wollen sich als Geisel stellen?«
»Nein, ich habe hier auf meinem Posten zu bleiben.«
»Wen sonst?«
»Einen andern Mann — und eine Dame — oder Sie können auch unter mehreren auswählen.«
»Es ist gut, ich werde es dem Radscha melden.«
Der Offizier verließ die Höhle, bald kam der Radscha selbst, ohne Begleitung.
»Ich brauche keine Geiseln für meine Sicherheit, ich traue den Männern, welche jener christliche Mönch als seine Freunde bezeichnet.«
So sprach der Radscha und das war höchst beachtenswert.
Manch Angehöriger einer anderen Nation, so besonders der spanischen und französischen, hätte, wenn er nun einmal das Verfahren abkürzen und nicht erst Geiseln verlangen wollte, da doch wenigstens seine Furchtlosigkeit hervorgehoben, hätte also mit seinem Mute geprahlt. Das wäre auch ganz indisch gewesen.
Aber ein echter Inder, ein Hindu, tut das nicht, der kennt in dieser Hinsicht keine Renommiererei, am wenigsten ein Gorkha. Obgleich gerade der durchaus nicht frei von Hinterlist ist. Das drückt sich auch schon dadurch aus, dass er mit gehacktem Blei schießt. Gegen seinen Gegner hält er eben jedes Mittel für erlaubt, jedes, sogar auch den Wortbruch. Aber er prahlt nicht mit Worten.
»Bitte, folgen Sie diesem Manne, er wird Sie zum Prinzen führen.«
Der Radscha kroch durch die enge Öffnung.
Er wurde von dem jungen Lord Charles Armstrong geführt, sah noch viele andere Männer, deren Hiersein er sich doch schwer erklären konnte, wenn er nicht glauben wollte, dass dort das doch nur kleine Automobil ganz mit Menschen gefüllt gewesen war, aber er stellte deswegen keine Fragen, auch nicht, als er in einer Nische die Plattform betrat und es in die Höhe ging.
Dieser Fahrstuhl war ihm ja überhaupt durchaus nichts Neues, das ist eine uralte indische Erfindung, dort gibt es sogar ganze Häuser und Paläste, die man durch Wasserkraft von einem Orte zum andern versetzen kann.
Fast zehn Minuten lang ging es in die Höhe, in welcher Zeit der Fahrstuhl ungefähr vierhundert Meter zurücklegte.
Er mündete auf einem ebenen Felsplateau, das ganz nackt war. Dort aber zeigte sich eine Mauer, die einen Garten mit üppiger Vegetation umschloss, darunter auch ganz mächtige Bäume, und wo die Mauer an einer Stelle eingefallen war, sah man eine stattliche Anzahl freilich recht magerer, unansehnlicher Pferde grasen, ferner auch einige Kamele.
Diese Pferde und Kamele konnten doch nicht etwa mit dem Automobil, mochte es auch eine Riesengranate sein, hierher gebracht worden sein! Aber der Radscha stellte noch immer keine Frage, ebenso wie er auch den zum Teil recht seltsam herausgeputzten Männern, die sich hier oben noch herumtrieben, federgeschmückte Indianer, keine Beachtung zu schenken schien.
Also von einer Burg war nichts zu sehen. Die Räume lagen innerhalb des Felsens, eine Treppe führte hinab.
Der Prinz empfing den Radscha in einer Felsenkammer, die nur einen Teppich und einige Polsterkissen enthielt, welche einen ganz modernen, neuen Eindruck machten.
Lord Charles entfernte sich wieder, die beiden saßen sich gegenüber.
»Prinz Joachim?«
»Bin ich. Radscha Tippu Hatur von Gandak?«
»Ja. Genügt diese Vorstellung?«
»Mir genügt sie.«
»Kommen wir also gleich zur Sache.«
»Sie werden zu fragen haben.«
»Wer sind diese Männer, die ich unterwegs gesehen habe?«
»Meine Leute.«
»Amerikaner, auch sogenannte Indianer, nicht wahr?«
»Jawohl.«
»Wie kommen diese vielen Menschen hierher, sogar mit Pferden und Kamelen?«
»Wissen Sie, Radscha, was ein Luftschiff ist?«
Gewiss wusste das der Radscha. Wenn er selbst vielleicht auch noch keines gesehen hatte; aber aus illustrierten englischen Zeitungen. Nepal liegt doch nicht außerhalb aller Welt.
»Sie sind heute Nacht mit einem Luftschiff hier oben gelandet.«
»So. Das muss ein ganz außergewöhnliches Luftschiff sein, dass es sogar Pferde und Kamele tragen kann.«
»Ist es auch, ein sehr großes Luftschiff von ganz besonderer Konstruktion.«
»Ich habe noch nichts von solch einem leistungsfähigen Luftschiff gehört.«
»Tut mir leid.«
»Wo befindet sich das Luftschiff jetzt?«
»Es ist bereits wieder unterwegs.«
»Wohin?«
»Das sind Fragen, die ich Ihnen leider nicht beantworten kann.«
»Weshalb sind Sie nun mit diesen Leuten hierher gekommen?«
»Ich habe mich schon immer nach einem unersteiglichen Felsen umgesehen, auf dem ich mich mit meinen Getreuen wohnlich einrichten kann.
Nach langer Umschau fiel meine Wahl hier auf diesen Makifelsen, in den schon eine ganze Burg ein gehauen war.
Heute Nacht haben wir von diesem Felsen Besitz ergriffen, nur ich selbst bin mit noch zwei anderen mit jenem Panzerautomobil gekommen, die anderen per Luftschiff.«
Soweit der Prinz irgend konnte, blieb er bei der Wahrheit, ganz war es nicht möglich, was ihm aber auch sehr wenig aufs Gewissen fiel. Das ist eben der Krieg, der Kampf ums Dasein, das ist eben das Leben.
»So«, sagte der Radscha trocken, »da haben Sie also gerade hier diese meine Felsenburg ausgesucht?«
»Ja, sie gefiel mir am besten.«
»Aber sie hat schon einen Besitzer — mich.«
»Es gibt gar kein herrenloses Gebiet mehr auf der Erde.«
»Dann kauft man sich das, was man zu besitzen wünscht.«
»Solche Felsenburgen sind schwer zu kaufen. Oder gut — was fordern Sie für diese Felsenburg?«
»Sie ist mir nicht feil.«
»Sie haben sie ja bereits verschenkt.«
»Lassen wir das doch erst einmal. Was beabsichtigen Sie nun eigentlich hier anzufangen?«
»Mich mit meinen Leuten hier oben gemütlich einzurichten, mein Luftschiff wird uns immer mit allem versehen, was wir brauchen, und dann hoffe ich doch, dass wir gute Freunde werden und dass Sie uns gestatten, dass wir auch unten am Waldrande etwas der Jagd nachgehen.«
»Prinz, ehe ich hierüber weiterspreche, jedenfalls Ihnen in jeder Hinsicht entgegenkomme, gestatten Sie mir eine Frage.«
»Bitte.«
»Wissen Sie, dass mein Urgroßvater der letzte Fürst von Gandak war, der hier oben gehaust hat?«
»Das ist mir bekannt.«
»Er räumte die Burg, der Aufgang konnte nicht wiedergefunden werden.«
»Ich weiß es, und das auch war der Grund, dass ich ohne Zögern —«
»Bitte, sprechen Sie jetzt doch nicht einmal mehr von Ihrer Annexion. Ich denke jetzt an etwas anderes. Sind Sie denn schon früher hier oben gewesen?
»Nein, noch nie.«
»Und ich weiß nicht einmal, ob damals mein Urgroßvater, der Radscha Noraslan, die Burg wirklich vollständig ausgeräumt hat.«
»Das hat er getan.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Weil ich vorhin einmal schnell durch die Felsenräume gewandert bin. Alles ganz nackt. Allerdings kommen wohl mehrere Etagen in Betracht. und dann noch Verliese und Gott weiß was, das habe ich noch nicht alles untersucht. Aber was ich für Räume gesehen habe, das war alles total nackt, und keiner meiner Leute hat mir bisher eine andere Meldung gebracht, wozu sie Order haben.«
»Es könnte aber doch sein, dass mein Urahne hier noch etwas zurückgelassen hat.«
»Ja, wie gesagt, das könnte der Fall sein.«
»Würden Sie mir das, doch mein gutes Eigentum, abtreten?«
.Selbstverständlich! Was hier noch mitzunehmen ist, das können Sie von Ihren Leuten auch abholen lassen.«
Der Prinz hatte es in einem Tone gesagt, dass der Radscha gleich aufstand.
»So gestatten Sie mir einmal eine Besichtigung der Räume, und ich habe also Ihr Wort, dass ich alles, was ich finde, was nicht Ihr direktes Eigentum ist, gleich mitnehmen kann.«
»Selbstverständlich! Darf ich mitgehen?«
»Wenn Sie belieben.«
Sie schritten durch die öden Felsenkammern und Säle, erst in dieser oberen Etage, dann benutzten sie eine Treppe, um in die zweite zu kommen, wobei die Etagen immer von oben an gerechnet werden sollen.
Der Radscha orientierte sich nach einem kleinen auf Pergament gezeichneten Plane, den er unter seinem Gewande hervorgezogen hatte.
Der Prinz hätte öfters bequem hineinsehen können, er vermied es mit Absicht.
Es ging auch noch in die dritte Etage hinab. immer wieder durch Kammern und größere Räume und durch mächtige Säle, die kein Ende zu nehmen schienen, bis der Radscha in einem keinen Raume stehen blieb und sich umschaute.
»Hier muss es sein.«
Zu sehen war absolut nichts, nur nackte Felswände, durch die Fensteröffnung blickte man in das bewohnte Tal hinab, direkt auf die Stadt Gaudaklaja.
»Soll ich Sie verlassen?«
»Es ist nicht nötig, ich habe Ihr Wort.«
Der Radscha griff an der Wand herum, und nicht lange, so ging unter seinen Händen ein viereckiges Stück der Felswand auf, eine Nische zeigte sich, in der ein dunkles, mit weißen Streifen ausgelegtes Kästchen stand.
Ein Laut der freudigen Überraschung entfuhr dem Radscha.
Als er das Kästchen genommen hatte, um es zu öffnen, drehte er dem Prinzen den Rücken, und der trat noch besonders ans Fenster.
Wieder ein Laut der Überraschung, der aber eher ein heiserer Schrei zu nennen war.
»Bei Shiva und Kali, ich habe es gefunden!«
»Das freut mich, wenn Sie nicht umsonst gesucht haben. Sagen Sie, wenn ich mich wieder umdrehen darf.«
»Tun Sie es nur.«
Der Radscha hatte das Kästchen schon wieder geschlossen, sah aber noch ganz verklärt aus. Wenn nur das sein Gesicht so schrecklich entstellende Auge mit der roten Umgebung nicht gewesen wäre.
Sie gingen wieder hinauf und setzten sich auf die Kissen.
»So, nun kann ich in einem ganz anderen Tone sprechen, meine Sache ist erledigt. Nun, edler Prinz, sagen Sie mir doch einmal ganz offen, was Sie hier eigentlich wollen?«
»Ich habe dem Früheren nichts mehr hinzuzusetzen.
Ich suchte einen unersteigbaren Felsen, in dem man sich wohnlich einrichten kann, und den habe ich hier gefunden.«
»Woher wussten Sie denn von diesem Felsen?«
»Ach, da gibt es doch in Indien Gorkhas genug, die mir davon erzählen konnten, von dem Makifelsen mit der verlassenen Makiburg.«
»Sind Sie ein Engländer?«
»Ein Deutscher.«
»Stehen Sie in Diensten Englands?«
»Nein, und auch nicht in den Diensten einer andern Macht. Ich bin mein eigener, absolut freier Herr.«
»Wollen Sie auf eigene Faust in Nepal kriegerische Annexionen machen?«
»Ganz und gar nicht! Absolut gar nicht!«
Wieder war das in einem Tone gesagt worden, der gar keinen Zweifel an die Wahrheit aufkommen ließ.
»Also Sie sind — gestatten Sie den Ausdruck — einfach ein Abenteurer, der eben an so etwas Geschmack findet?«
»Jawohl, so ist es auch.«
»Es macht Ihnen Spaß, sich hier mitten in einem selbstständigen Königreiche auf einer uneinnehmbaren Felsenburg festzusetzen?«
»So ist es, so ist es.«
»Nun gut, ich kann solche Charaktere verstehen. Wer ist denn nun jener christliche Wundermann?«
»Ein Bekannter von mir.«
»Er gehört mit zu Ihren Leuten?«
»Nein, durchaus nicht.«
»Aber es geschah natürlich mit Ihrem Einverständnis, dass er mein Auge heilte oder heilen wollte, damit Sie als Belohnung die Burg erhielten, das war vorher alles schon ausgemacht?«
»Nein, die Sache verhält sich ganz, ganz anders. Freilich lässt sich schwer erklären, wie dies alles gekommen ist.«
Der Prinz kam nicht in die schwierige Lage, die Erklärung geben zu müssen.
Das war es, was der Radscha ja doch nicht glaubte, und deshalb ließ er diese Angelegenheit gleich ganz fallen, wenigstens verlangte er gar keine Erklärung.
»Mister Scott heißt der Mann?«
»Mister Edward Scott.«
»Ich habe ihm als Belohnung, wenn er mein Auge heilt, diese Burg samt dem ganzen Felsen versprochen, er kann sie auf jemand anders übertragen, das sind Sie — also der Makifelsen gehört Ihnen?«
»Ja.«
»Kein anderer darf den Felsen mehr betreten?«
»Nein. So ist es ausgemacht worden.«
»Vorausgesetzt natürlich, dass auch dieser Mister Scott sein Wort hält.«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, vorläufig bin ich doch noch nicht geheilt. Er hat gesagt, bis zum nächsten Mondwechsel werde ich auf dem rechten Auge wieder sehen können, bis dahin sind noch zehn Tage, und bis zum übernächsten Mondwechsel, also in rund vierzig Tagen, soll die Krankheit in meinem Gesicht keine Spur mehr zurückgelassen haben.«
»Es ist möglich, dass er dies gesagt hat.«
»Es ist wirklich so!«
»Ich glaube es.«
»Er hat tatsächlich durch Berührung sofort den ewigen Schmerz beseitigt, ich fühle auch jetzt nach einer Stunde nichts mehr davon — das muss ich offen bekennen. Aber ein Resultat der wirklichen Heilung kann ich doch erst nach zehn Tagen bestätigen, wenn ich wirklich sehen kann.«
»Natürlich.«
»Und wenn ich das nun nach zehn Tagen nicht tun kann?«
»Ja, was dann?«
»Dann hat Mister Scott sein Wort nicht gehalten dann bin ich nicht an den Vertrag gebunden.«
»Nein, das sind Sie dann nicht.«
»Und was werden Sie dann tun?«
»Diese Felsenburg dennoch besetzt halten!«, entgegnete der Prinz ganz ruhig.
Ebenso ruhig aber nahm dieses drohende Wort auch der Radscha hin.
»Mit Waffengewalt?«
»Ja.«
,Und wenn ich Sie angreife?«
»Werde ich mich wehren.«
»Sie haben doch auch Geschütze?«
»Kann ich mir wenigstens durch mein Luftschiff besorgen lassen, wenn ich sie noch nicht habe.«
»Sie haben von hier aus die beste Gelegenheit, mit den Geschützen, oder sogar nur mit Handgranaten, Gandaklaja, die Hauptstadt meines Landes, die gerade dort unten liegt, in Trümmer zu legen.«
»O nein, das würde ich nicht tun — weil Sie mich mit Ihren Kriegern angreifen, deswegen die Wohnstätten friedlicher Menschen in Trümmerhaufen zu verwandeln.«
»Also ich habe Ihr Wort, dass Sie nichts gegen die Stadt dort unten unternehmen werden!«, rief der Radscha schnell.
»Nein, das haben Sie nicht. So war das nicht gemeint. Gehen die Bewohner gegen mich feindlich vor, dann werden sie auch als Feinde behandelt, dann gibt es auch keine Schonung mehr, dann mögen die anderen, wie die Frauen und Kinder, die bedrohte Stadt nur räumen, ehe ich sie beschieße.«
Der Radscha machte eine abwehrende Handbewegung.
»Lassen wir das, erörtern wir diesen Fall nicht weiter. Ich hoffe doch, dass ich in zehn Tagen mein Augenlicht wieder haben werde.«
»Hoffen wir es.«
»Und dass wir dann auch fernerhin gute Freunde bleiben werden.«
»Das soll nur an Ihnen liegen.«
»Und vorläufig gilt das auf alle Fälle für zehn Tage, nicht wahr?«
»Wie Sie bestimmen.«
»Also Sie wünschen auch in dem Waldlande zu jagen?«
»Das wäre mir und meinen Leuten höchst angenehm.«
»Darüber kann ich Ihnen nur eine bedingte Erlaubnis geben. Dieses ganze Waldland ist neutraler Boden, das heißt, jeder der neun Fürsten hat das Recht, darauf zu jagen, aber auch zu verbieten, dass ein anderer dort jagt.
Mit Ausnahme der Strecken, wie die politische Einteilung früher war und die auch jetzt noch in dieser Hinsicht gilt.
Zu meinem eigentlichen Gebiete, zum Reiche Gandak, gehört noch ein Streifen von ungefähr vier englischen Meilen Breite und fast fünfzig Meilen Länge, nämlich sich bis an das Dschungelgebiet erstreckend. Auf diesem meinem Gebiete dürfen Sie und Ihre Leute nach freiem Belieben jagen, diese Erlaubnis erteile ich Ihnen hiermit.«
»Ich danke Ihnen, Radscha!«, verneigte sich der Prinz im Sitzen.
»Ich werde Ihnen eine Karte schicken, auf der die Grenzen dieses Gebietes durch Angabe von auffallenden Felsgruppen einzelnen Bäumen, Flussläufen und dergleichen sehr genau markiert sind. Auf diesem meinem Gebiete sind Sie also geschützt, natürlich vor allen Dingen vor meinen eigenen Leuten, die als Wald- und Wildhüter angestellt sind, und ebenso auch vor Angriffen von anderen Talbewohnern.
Wehe, wer es wagen sollte, Ihnen oder einem Ihrer Leute auf meinem Gebiete auch nur einen Stein in den Weg zu legen! Das würde zu einem allgemeinen Kriege in ganz Nepal führen!
Aber ich kann Sie natürlich nicht schützen, wenn Sie diese Grenzen überschreiten, sich in das Gebiet eines anderen Radschas begeben.«
»Sicher nicht. Ich verstehe vollkommen. Wir werden die Grenzen schon genau einhalten.«
»Da, wenn Sie das ganze Waldland ausnützen wollen, müssen Sie sich erst mit den anderen Radschas in Verbindung setzen; oder haben Sie das schon getan?«
Wenn es der Prinz noch nicht gemerkt hatte, so merkte er es jetzt, wie arglistig der Radscha von hinten herum kam.
»Nein, das habe ich noch nicht getan.«
»Sie werden es tun?«
»Das weiß ich noch nicht. Wahrscheinlich aber. Ich möchte doch auch mit den anderen Radschas auf bestem Fuße stehen.«
»Zuerst werden Sie sich doch zum Maharadscha Bahadur selbst begeben?«
»Es wäre wenigstens meine Pflicht.«
»Sie haben es ihm ja auch versprochen.«
»Was versprochen?«
»Mit Ihrem Panzerautomobil direkt in den Krönungssaal seines Palastes zu Katmandu zu fahren.«
»Woher wissen Sie das?«
»Sie haben es dem Maharadscha unterwegs doch oft genug gesagt, da ist es natürlich bekannt geworden.«
»Das haben nur die Ohren seiner Gorkhas gehört.«
»Und die eines fremden Engländers. Es ist bekannt geworden.«
»Ja, ich werde mich nach Katmandu begeben.«
»Was ist das für eine schwarze Truhe, die Sie für das Panzerautomobil verlangen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie müssen doch wissen, was sie enthält!«
»Nein, ich weiß es nicht, ich stelle die Forderung im Auftrage eines anderen.«
»Nun, es interessiert mich auch nicht!«, sagte der Radscha jetzt recht spät. nachdem er sich schon so sehr dafür interessiert hatte. »Also bis wenigstens auf zehn Tage gilt vorläufig unser Kontrakt, dann wird es sich ja finden, ob Mister Scott sein Wort gehalten hat oder nicht.«
»Ich finde es nur recht und billig, dass Sie auf keine weiteren Bedingungen eingehen. Erst müssen Sie natürlich das Resultat der Heilung erfahren.«
»Richtig. Bis dahin leben wir in bester Freundschaft, wie später hoffentlich für immer. Brauchen Sie Arbeitskräfte?«
»Ich danke, nein.«
»Proviant oder sonst etwas? Alles steht zu Ihrer Verfügung.«
»Ich danke, wir sind mit allem versorgt.«
Der Radscha wollte sich erheben, zögerte noch und blieb sitzen.
»Da fällt mir noch etwas ein. Haben Sie hier schon etwas von Makis gemerkt?«
»Von Makis? Von bösen Dämonen?«
»Ja. Das ist doch hier die Makiburg.«
»Hausen hier wirklich solche?«
»Die alten Berichte erzählen davon. Mein Urgroßvater hat ihretwegen ja diese seine ursprüngliche Stammburg geräumt, er berichtet es handschriftlich ganz ausführlich, aber ich darf darüber nicht weiter sprechen; besonders ein weißer Wolf soll hier oben sein Wesen treiben.«
»Wir haben noch nichts von Dämonen und einem weißen Wolfe bemerkt.«
»Wenn Sie Hilfe brauchen, meine Zauberer, darunter ganz hervorragende Kräfte, stehen zu Ihrer Verfügung.«
»Besten Dank, aber ich denke, wir werden schon allein mit diesen Dämonen fertig werden.«
Der Radscha erhob sich. der Prinz begleitete ihn hinauf und bis an die Plattform, die sich mit ihm in die Tiefe senkte.
»Dieser edle Radscha ist ein Halunke!«, sagte der Prinz zu sich selbst. »Der denkt ja gar nicht daran, sein Wort zu halten, auch wenn die Heilung seines Auges gelingt. Nun, er soll uns kennen lernen.«
Sein Pfiff und ein anderes Signal rief alle Leute zusammen, denen er für seine Abwesenheit Instruktionen gab, wie er selbst solche schon wieder bekommen hatte.
»Hier, Bahadur, ist der Sahib, von dem ich Dir erzählt habe, der sich rühmt, nicht nur das Geheimnis des Sebahamar, sondern sogar das des Hadschar el ukala zu besitzen.«
Mit diesen Worten stellte Radscha Behowil von Rhatgaun dem Maharadscha von ganz Nepal einen kleinen Mann vor — den Señor Lazare.
Wir haben schon von jenem Derwisch gehört, dass auch Radscha Behowil auf Reisen außerhalb Nepals gewesen war und einen Fremden mitgebracht hatte, den er unterwegs kennen gelernt.
Wir brauchen nicht zu wissen, auf welche Weise dies geschehen war, wie Señor Lazare sein Vertrauen gewonnen hatte.
Also der Kaiser von Nepal hatte auf dem Wege nach seiner Residenz erst bei dem Radscha Lakuma vorgesprochen, dann auch noch bei Radscha Behowil, von den acht Nepaler Fürsten die beiden einzigen, die er wirklich seine Freunde nennen konnte, deren Freundschaft er, wie wir gleich sehen werden, auch sehr nötig brauchte
Also der kleine Fremde wollte das Geheimnis des Sebahamar und des Hadschar el ukala kennen.
Werden diese arabischen Worte übersetzt, so sind sie sofort verständlich.
Auch das Wort Chemie ist ja echt Arabisch, und wenn wir von dieser Wissenschaft die Alchemie oder Alchimie oder Alchymie als Goldmacherkunst unterscheiden, so ist das eine Inkonsequenz, sogar eine Narrheit, denn das Wörtchen »al« ist doch nur der Artikel, heute el ausgesprochen. Man darf also eigentlich gar nicht sagen »die Alchemie«, so wenig wie »das Eldorado«, es kann nur das Dorado heißen.
Das arabische Wort Chemie, ausgesprochen kemi, heißt nichts weiter als Flüssigkeit und ist früher auch der Name Ägyptens gewesen, wahrscheinlich wegen seines Nils, von dem doch alles abhängt.
Also die Araber sind unsere Lehrmeister auch in der Chemie gewesen. Freilich drehte sich früher diese ganze Kunst nur darum, unedle Metalle in Gold oder doch Silber zu verwandeln, und dann hoffte man noch ein Allheilmittel gegen jede Krankheit zu finden.
Hierzu waren besondere Elixiere oder Tinkturen oder sonstige Präparate nötig, die erst ausgearbeitet werden mussten, die ihre besonderen Namen bekamen.
Diese beiden Präparate, die unedle Metalle in Silber und Gold verwandeln können, heißen Sebahadjad und Sebahamar, und schließlich dasjenige, mit dem man nicht nur alle Krankheiten heilen kann, sondern das auch ewiges Leben und ewige Jugend verleiht, das die ältesten Männer wieder in feurige Jünglinge verwandelt, Greisinnen in schöne Jungfrauen, überhaupt die Quintessenz aller Zauberei, heißt Hadschar el ukala.
Und diese drei Worte bedeuten wörtlich übersetzt: der weiße Löwe, der rote Löwe und der Stein der Weisen.
Also das sind jedem einigermaßen gebildeten Menschen doch ganz bekannte Namen, derer sich auch unsere Alchemisten bedienten. Unsere Retorte nannten die arabischen Chemiker Beit el himna, Brautzimmer, weil sich da drin der weiße oder der rote Löwe mit dem unedlen Metall zu Silber oder Gold vermählen sollte, und selbst dieses Wortes bedienten sich unsere mittelalterlichen und noch späteren Alchemisten.
Mein Vater war ein dunkler Ehrenmann,
Der über die Natur und ihre heiligen Kreise,
In Redlichkeit, jedoch auf seine Weise,
Mit grillenhafter Mühe sann.
Der, in Gesellschaft von Adepten,
Sich in die schwarze Küche schloss,
Und nach unendlichen Rezepten
Das Widrige zusammengoss.
Da ward ein roter Leu, ein kühner Freier,
Im lauen Bad der Lilie vermählt,
Und beide dann, mit offnem Flammenfeuer,
Aus einem Brautgemach ins andere gequält.
Erschien darauf mit bunten Farben
Die junge Königin im Glas —
Hier war die Arzenei, die Patienten starben,
Und niemand fragte: wer genas?
So lässt Goethe seinen Faust sprechen.
Denn Goethe hat selbst stark in Alchemie gemacht, wie er ja auch einmal dem okkultistischen Verein der »Illuminaten« angehörte.
Sonst hätte er eben so etwas wie den Faust auch nicht schreiben können.
Diese Zeiten der Alchemie sind für uns heute vorbei. Oder auch noch nicht so ganz.
Man muss nur Drogisten fragen, besonders solche, die ihr Geschäft in entlegenen Straßen haben, was da manchmal für merkwürdige Individuen kommen, was die für merkwürdige Ingredienzien verlangen.
Das sind die modernen Alchemisten.
Auch der Schreiber dieses hat große Erfahrungen hierin. Besonders scheinen Friseure und Barbiergehilfen eine ganz merkwürdige Vorliebe für die Goldmacherkunst zu haben.
Das hat auch Professor Kiesewetter erfahren, der in seinen »Geheimwissenschaften« auf Seite 233 schreibt:
Dass es aber im Großen und Ganzen in der Gegenwart noch viele Alchemisten
gibt, beweisen zahlreiche Zuschriften, die ich seit einer Reihe von Jahren aus ganz
Deutschland, der Schweiz, Österreich und Ungarn erhalte. Unter diesen Alchemis
ten sind alle Stände vertreten, von den höchsten bis zu den niedrigsten. Unter
anderen schickte mir vor acht Jahren ein Schweizer Friseur eine aus gefaultem
Blute abdestillierte, jämmerlich stinkende Flüssigkeit und Scherben einer zerbro
chenen Retorte mit einem opalisierenden Beschlag zur Prüfung. Ich musste für
die Stänkerei auch noch Eingangszoll bezahlen. Also wieder ein Friseur!
Übrigens soll das hier durchaus nicht lächerlich gemacht werden.
Jedenfalls ist es besser, es sucht jemand in seinen Freistunden hinter die Geheimnisse der Natur zu kommen, so mangelhaft und ungeordnet seine chemischen Kenntnisse auch sein mögen, nützlichere Erfahrungen macht er doch dabei, als wenn er etwa Karten spielt oder sonstigen Larifari treibt.
Und war es nicht. wie schon einmal ausführlich erzählt wurde, ein italienischer Barbier, der auf solche Weise eine ganz phänomenale Entdeckung gemacht hatte, die er nur leider, weil er eben wie gewöhnlich verkannt wurde, mit sich ins Grab nahm?
Ganz rätselhaft ist es nur, weshalb sich solche chemische Diftelbrüder so häufig unter Haarkünstlern und Bartkratzern finden! —
Im Orient beschäftigt man sich noch heute ohne jede Heimlichkeit mit der Alchemie, mit der Goldmacherkunst.
Wer Lust und Neigung dazu hat.
In den ärmlichsten Häusern und wie in Palästen. Selbst wenn die Bewohner der letzteren schon Gold genug haben.
Aus Quecksilber, das Pfund fünf Mark, oder gar aus Blei Gold herzustellen, das ist denn doch eine andere Sache.
Oder die Goldmacherei braucht dabei überhaupt gar nicht in Frage zu kommen.
Der »rote Löwe« ist ja nur ein Durchgangsprodukt zum Steine der Weisen, der alle Krankheiten heilt, der ewiges Leben verleiht, der das zittrige Greisenalter sogar wieder in ewige Jugend verwandelt.
Kann es denn so etwas überhaupt geben?
Das heißt, kann denn ein Mensch mit gesundem Verstande an solch eine Möglichkeit glauben?
Na, nun wollen wir hochgebildeten Europäer einmal ehrlich sein, die Hand aufs Herz legen!
Da steht jetzt in allen Zeitungen eine große, manchmal seitenlange Annonce, gerade in den allerteuersten. Ein amerikanischer Professor hat ein Allheilmittel erfunden. Es heilt alle Krankheiten, alle, alle, alle! Man braucht nur ein paar Haare einzuschicken, danach wird die Krankheit erkannt und das Universalmittel spezialisiert, eine Probe erhält man kostenlos und eine umfangreiche aufklärende Broschüre noch dazu.
Für diese Annonce zahlt der Wundermann — es ist aber eine Aktiengesellschaft — an eine deutsche Annoncenexpedition wöchentlich achttausend Mark! Nur für deutsche Zeitungen! Dieselbe Annonce erscheint aber auch, wie sich doch leicht kontrollieren lässt, in den gelesensten englischen, französischen, italienischen, spanischen, dänischen und anderen Zeitungen und Zeitschriften!
Würde denn das auch nur eine Woche ausgehalten werden, wenn sich nicht immer massenhaft solche fänden, welche »huppen«?
Na also!
Und unsere Zeitungen, die immer so redlich bemüht sind, das Publikum aufzuklären, die sich vorn über solchen Hokuspokus lustig machen, gegen die Kurpfuscherei zu Felde ziehen, alles Derartige verdammen, die nehmen hinten solche Annoncen ganz ruhig auf.
Es ist und bleibt eben die alte Geschichte: Die Dummen werden nicht alle — und Geld stinkt nicht! —
Auch alle diese Radschas von Nepal hatten ihre Laboratorien, in denen sie sich von wandernden »Adepten« betrügen ließen, die einige Zeit das üppigste Leben genossen und dann nur gut aufpassen mussten, dass sie noch rechtzeitig verschwanden, ehe sie einen Kopf kürzer gemacht wurden oder gar unter schrecklichen Martern ihr Leben lassen mussten.
Alles ganz genau so wie bei uns bis ans Ende des 18. Jahrhunderts.
Wenn sie den roten Löwen nicht brauchten, weil sie schon Gold genug hatten, so handelte es sich eben um die Entdeckung des Steines der Weisen, der das Alter verjüngt bis in alle Ewigkeit hinaus, mit dem man aber auch sonst die wunderbarsten Zaubereien treiben kann. Aber der Stein der Weisen geht erst aus dem roten Löwen hervor, dieser aus dem weißen.
Gerade Marahadscha Bahadur hätte sich aber auch schon mit dem roten, sogar schon mit dem weißen Löwen, der nur Silber machen konnte, begnügt.
Denn der Kaiser von Nepal war der ärmste der neun Radschas. Wie das manchmal so ist.
Wohl besaß er die bevölkertsten Täler, aber die durchgehenden Flüsse führten kein Gold, nirgends wurde solches gefunden, keine Diamanten, keine Rubine und Smaragde und andere Edelsteine.
Natürlich brauchte er nicht zu darben, seine Paläste waren glänzend, glänzend sein Hofstaat, er konnte sich solche mit Edelsteinen übersäte Waffen leisten, aber immerhin — gerade dieser Radscha, der nach uralter Tradition der Kaiser sein musste, weil er ein direkter Abkömmling des heiligen Goraknath war, befand sich in einer ewigen Geldklemme, wie es auch schon mit seinen Vorfahren gewesen war.
Besonders deshalb, weil er von dem stehenden Heere von 26 000 Gorkhas verfassungsgemäß allein 15 000 Mann zu ernähren und hoch zu besolden hatte. Diese 15 000 Krieger samt ihren Familien, die doch nicht etwa andere Arbeit verrichteten, fraßen ihm die Haare vom Kopfe.
Der Kronschatz war bei seinen Vorfahren infolge dessen schon immer weniger geworden, und bei diesem Maharadscha Bahadur hier ging er zu Ende.
Große Geldleute, die ihm aushelfen konnten, kamen in Nepal nicht in Betracht, und unter den acht anderen Fürsten gab es nur zwei, den Radscha Lakuma und den Radscha Behowil, mit dem er wirklich befreundet war, die ihm uneigennützig mit ihren Reichtümern aushalfen, ohne dass er ihnen Landbesitz und anderes abtrat, und die hatte er denn auch schon immer kräftig angepumpt, dermaßen schon, dass sie ebenfalls bald ausgepumpt waren.
Was dann geschah, wenn die Hilfsquellen erschöpft waren, das war noch gar nicht abzusehen.
Wenn das Geld alle ist, hört bekanntlich die Gemütlichkeit auf, auch in Nepal.
Der politische Umsturz lag sozusagen in der Luft, ohne Geld würde auch der Enkel des heiligen Goraknath seine Rolle als Kaiser von Nepal ausgespielt haben. —
Señor Lazare, in ein reiches indisches Kostüm gekleidet, das aber hier und da Brandflecke zeigte und an einigen Stellen von Säure zerfressen war, hielt den durchbohrenden Blick des Maharadschas ruhig aus.
»Du willst den roten Löwen besitzen?«, fragte er, was wir doch deutsch wiedergeben müssen, sodass wir dabei auch die arabischen Fremdworte fortlassen wollen.
»Ich besitze ihn.«
»Er hat ihn bereits in meinem Laboratorium ausgearbeitet«, ergänzte Radscha Behowil, »aber dreimal vierundzwanzig Stunden muss der rote Löwe ruhen, ehe er stark genug ist, um die Transmutation auszuführen, und erst sind ein Tag und eine Nacht vergangen.«
»So ist es!«, bestätigte Lazare.
»Welches Metall verwandelt er in Gold?«
»In drei Tagen Silber, nach drei Wochen Quecksilber, nach drei Monaten Blei und Zinn und Zink und überhaupt jedes andere Metall, auch gewöhnliches Eisen.«
»In welchem Verhältnis ist der Löwe wirksam?«
»Ein Teil des Präparates verwandelt hunderttausend Gewichtsteile in Gold, und dieses Verhältnis gilt für sämtliche Metalle.«
»Im Verhältnis eins zu hunderttausend?«, staunte Bahadur misstrauisch. »Du bist närrisch!«
»Ich werde den Beweis der Wahrheit erbringen.«
»Das musst Du auch! Und wisse, dass Du, wenn es Dir nicht gelingt, gerade der zwölfte Adept bist, dem ich den Kopf vor die Füße legen lasse!«
»Das wäre noch eine sehr gelinde Strafe für den Frevel, den mächtigen Maharadscha von Nepal betrügen zu wollen. Wenn ich Dir etwas zu erlauben hätte, so würde ich Dir erlauben, mich dann den fürchterlichsten Foltern auszusetzen.«
»Gut, kannst Du auch haben, wenn Du es wünschest. Du sollst zur Abwechslung einmal unter Feuerqualen sterben. Und was für einen Preis forderst Du für Dein Geheimnis?«
Ist es nicht komisch, einen Mann, der nach Belieben Gold machen kann, nach dem Preis zu fragen, den er für sein Geheimnis verlangt?
Nun, schließlich gibt es auch noch anderes in der Welt, was man um Geld gar nicht kaufen kann.
Manchmal zum Beispiel ein schönes Weib.
Aber die Goldmacher haben da immer auch noch andere Ausreden gewusst, wenn es ihnen darauf ankam, sich an Fürstenhöfen oder in reichen Häusern einige Zeit zu mästen und von den gläubigen Schülern, die sie reich machen wollten, auch noch bares Geld zu erpressen.
Die ganze Sache hat eben einen magischen Hintergrund, hiermit haben die Adepten immer operiert.
Sie behaupteten, sie selbst dürften das Gold nicht herstellen, ein anderer müsse es tun. Oder sie dürften von dem geschaffenen Golde keinen Vorteil haben; dürften es nicht für sich verwenden, sonst verlören sie ihre Kraft, oder es ginge überhaupt nicht, oder so etwas ähnliches.
Der bekannte Johann Friedrich Böttcher zum Beispiel, oder wohl richtiger Böttger, hat August den Starken, Kurfürst von Sachsen und König von Polen, dadurch immer hinzuhalten gewusst, dass er sagte, er, Böttger, habe ein gar zu sündhaftes Leben geführt. Die Tinktur könne er wohl herstellen, nicht aber die Verwandlung unedler Metalle in Gold damit ausführen. Wer das vollbringen wolle, der müsse mindestens eine Woche lang ein ganz sündenreines Leben führen, auch seine Gedanken durch nichts beflecken. Infolgedessen hat denn auch August der Starke einmal eine ganze Woche lang betend auf den Knien gelegen. Es scheint ihm aber doch nicht gelungen zu sein, keinen unsauberen Gedanken in sich aufsteigen zu lassen — die Geschichte ging dann immer noch nicht. Dies geschah in Warschau, von wo aus August der Starke mit Böttger, der auf der Festung Königstein gefangen saß, durch Extraposten ständig korrespondierte, denn er hatte das Geld eben höllisch nötig, und diese Briefe sind uns noch erhalten in der königlichen Bibliothek zu Dresden, sind ganz ergötzlich zu lesen, wie sich der arme König in Warschau mitten zwischen den glänzenden Hoffestlichkeiten abmüht, ein »ehrbarlich Leben« zu führen und keinen unreinen Gedanken in sich auftauchen zu lassen. —
»Was forderst Du für einen Preis?«
»Den will Dir Sahib Lazare nur unter vier Augen nennen!«, sagte Radscha Behowil und verließ sofort das Gemach.
»Nun?«
»Die schwarze Truhe des Rabbi ben Jehosel.«
Wie von einer Natter gestochen zuckte der Maharadscha empor.
»Mensch, was weißt Du von dieser schwarzen Truhe, was weißt Du von diesem Rabbi?!«
»In diese Truhe hat Ahriman die Peris gebannt, und der ewige Jude hatte sie in Verwahrung bekommen.«
»Du lügst!«
»Was soll ich lügen?«
»Rabbi ben Jehosel hat mir geschworen, dass nur drei Menschen hiervon wissen.«
»Und wer sind diese drei Menschen?«
»Er selbst, ich und mein Diener Abisur, der zugegen war, als er mir sein Geheimnis offenbarte und mir die Truhe schenkte.«
»So ist es dieser Rabbi gewesen, der Dich belogen hat. Auch mir hat er einst von dem Sanduk der Peris erzählt, und dass er sich in Deinem Besitze befindet.«
Der Maharadscha dachte daran, dass ja auch der Führer des Panzerautomobils diese schwarze Truhe gefordert hatte, er kannte überhaupt noch einen vierten, der davon wusste. Jener Rabbi hatte ihn eben betrogen, als er ihm geschworen, nur drei Menschen kannten dieses Geheimnis. Oder vielleicht hatte er es auch gar nicht getan, hatte es gar nicht geschworen, dann war es eben der Maharadscha gewesen, der jetzt gelogen hatte.
»Was weißt Du von diesem Sanduk?«
»Alles.«
»Berichte mir!«
»Siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig Peris sind darin eingeschlossen, und wer den Kasten regelrecht öffnen kann, dem müssen sie dienen, und er kann jede einzelne nach Belieben verwandeln.«
»Auch in Gold.«
»Auch in Gold!«, bestätigte Lazare.
»Ich besitze den magischen Schlüssel, der die Truhe öffnet.«
»Es ist nur ein magisches Wort.«
»Ich kenne es.«
»Aber Du kannst es nicht anwenden.«
»Weshalb nicht?«
»Es ist erst wirksam, wenn die Schlange in das Haus des Wassermanns geht, und das findet erst in 68 Jahren statt.«
»Auch das weißt Du?«
»Das werde ich wohl wissen, wenn ich nun einmal um die Truhe der Peris weiß. Also, edler Maharadscha, in 68 Jahren bist Du imstande, aus dem Sanduk eine Peri schlüpfen zu lassen, es kann eine scheußliche alte Hexe sein, aber auf Dein Wort hin wird sie sich in das schönste Weib verwandeln, das je auf Erden gewandelt ist, und es wird Dich mit lebenswarmen Armen umschlingen. Oder Du kannst die Peri auch in einen Elefanten oder in einen Berg verwandeln, der sofort zu Gold erstarrt, und das kannst Du noch siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig Mal wiederholen. Aber sage, Maharadscha, willst Du noch 68 Jahre lang warten?«
Spöttisch hatte es Señor Lazare gesprochen.
Der Maharadscha rang mit sich.
»Und was nützt diese Truhe der Peris Dir?«
»Ich kann warten.«
»Achtundsechzig Jahre?«
»Auch achtundsechzigtausend Jahre.«
»Du?!«
»Und noch länger. Hat es Dir Radscha Behowil nicht gesagt?«
»Was?«
Lazare brachte eine kurze, dicke Glasröhre zum Vorschein, in der sich ein rotes Pulver zeigte.
»Nur eine besondere Behandlung, nur einige Stunden während, und der rote Löwe hat sich sofort in den Stein der Weisen verwandelt.«
Die Augen des Maharadschas funkelten auf.
»Der ewiges Leben verleiht?«
»Ewig bis zum Ablauf dieser Kalpa — ein Leben noch für achtmalhunderttausend Jahre.«
»Und ewige Jugend?«
»Du sagst es.«
»Der das Greisenalter in blühende Jugend zurückverwandelt?«
»Du sagst es.«
»Hahahaha!!«, lachte da Bahadur auf.
»Was lachst Du?«
»Du sähest gerade so aus!«
»Wie sehe ich aus?«
»Du kannst dieses Mittel anwenden?«
»Ja.«
»Bei Dir ist es wirksam?«
»Ja.«
»Du hast es angewendet?«
»Ich habe es.«
»Weshalb hast Du Dich denn da nicht in einen kraftvollen Jüngling verwandelt?«
»Weil mir nicht danach gelüstet. Weil ich mich in dieser Körperform am wohlsten fühle.«
»Im Körper dieses alten, hässlichen Mannes?«
Ja, je länger man den kleinen, dürren, ausgemergelten Mann mit dem glatten und doch so runzligen Gesicht mit der Habichtsnase betrachtete, desto mehr fand man, wie überaus hässlich er war.
»Hässlich? Maharadscha, kennst Du ein schönes, junges Weib, das nicht nur stolz ist, sondern sich den Männern gegenüber auch ungemein spröde zeigt, nichts von Liebe wissen will?«
»O ja, ich kenne so eine.«
»Führe mich zu ihr. Lass mich nur eine Stunde mit ihr allein. Und wenn sie dann nicht in Liebe zu mir erglühend vor meinen Füßen liegt, mich um Gegenliebe anflehend, so sollst Du den roten Löwen umsonst bekommen.«
»Du gibst ihr einen Liebestrank ein!«, sagte dieser Inder sofort, in dessen Land eine ganze Literatur über Liebestränke existiert, die indische Ars amoris, noch im Sanskrit vorhanden.
»Nein, ich gebe ihr keinen Liebestrank! Gar nichts mache ich mit ihr. Es ist auch nicht nötig, dass wir allein sind. Du sollst dabei sein. So viele Leute Du willst. Kein Wort will ich mit ihr sprechen. Ich will sie nicht ansehen, dass Du nicht glaubst, ich bezaubere sie mit meinen Blicken. Und wenn dann dieses spröde Mädchen nicht nach einer Stunde gesteht, dass sie ohne mich nicht mehr leben kann, so sollst Du den roten Löwen umsonst haben.«
Unsicher blickte der Maharadscha den Sprecher an.
Er hatte seine Erfahrungen.
Er wusste, dass es, um die Liebe eines Weibes zu erringen, keiner eigenen Schönheit bedarf, keiner Reichtümer, keiner besonderen Auszeichnungen, keiner glänzenden Geistesgaben und dergleichen.
Die Liebe ist einfach ganz undefinierbar.
Die Liebe ist Zauberei.
Der Maharadscha ließ dieses Thema der Liebe fallen und ergriff ein anderes.
»Weshalb aber hast Du gerade solch einen gebrechlichen Körper gewählt?«
»Gebrechlich? Du meinst wohl schwächlich?«
Und der kleine Mann sah sich um, löste von einer Portiere die starke seidene Schnur ab, die sie zusammenhielt, wickelte sich die beiden Enden um die Hände, als wenn er sich selbst fesseln wollte, bis die beiden Hände nur noch in einem kurzen Abstand voneinander entfernt waren, ein kräftiger Ruck, und die Schnur, die wahrscheinlich eine Last von vielen Zentnern oder gar Tonnen hätte tragen können, war mitten durchgerissen.
»Mache mir das nach, Maharadscha, der Du von Muskeln strotzest.«
Der Maharadscha betrachtete die beiden Enden, jedes war noch lang genug, um dieses Experiment zu wiederholen, er versuchte es, kein Gedanke daran, dass er es konnte, wie er sich auch anstrengte und ruckte, während das kleine Männchen noch einmal dasselbe Stück Schnur wie Spinnenweben zerriss.
Man braucht wohl gerade kein Matrose zu sein, um zu wissen, dass hierzu nur ein besonderer Trick gehört, um solch ein scheinbares Kraftkunststückchen auszuführen. Es handelt sich nur um eine besondere Schlinge, welche sich beim schnellen Zusammenrucken selbst zerschneidet. Es ist erstaunlich, was man da für starke Schnuren, Stricke und Gurte zerreißen kann. Natürlich hat es seine Grenzen.
Der Maharadscha kannte diesen Trick nicht, er war vor Staunen außer sich.
»Das ist Zauberei!«
»Nein, es ist Kraft — und Geschicklichkeit, Übung.
Aber glaubst Du, ich hätte mich nur auf solch eine Schnur eingeübt, dass ich die zerreißen kann? Hier fühle meinen Arm. Versuche mich umzuwerfen, nur von der Stelle zu rücken. Rufe den stärksten Mann, den Du kennst, er soll mehr heben als ich, er soll sich mit mir im Ringkampf messen.«
Señor Lazare beugte seinen rechten Arm und hielt ihn zum Befühlen hin.
Aber Bahadur befühlte ihn nicht, rief keinen Ringkämpfer herbei — er dachte daran, dass er in wenigen Tagen zwei Millionen Rupies in Gold bedurfte.
Unterdessen hatte er auch schon seinen Entschluss gefasst, das Messer saß ihm an der Kehle, er fürchtete die anderen Radschas.
»In zwei Tagen ist der rote Löwe kräftig?«
»In zwei Tagen für Quecksilber.«
»Kannst Du die Transmutation auch bei mir in Katmandu ausführen?«
»Überall, wo Du willst.«
»Du begleitest mich nach Katmandu?«
»Gewiss.«
,Musst Du denn nicht den roten Löwen immer den Sonnenstrahlen aussetzen?«
Ein uralter Glaube, dass die Sonne die direkte Erzeugerin des Goldes ist. Man hat deswegen Sonnenstrahlen sogar vergraben. Das heißt ein Erdloch, in das die Sonne schien, wurde zugeworfen, natürlich immer unter dem nötigen Hokuspokus, dann glaubte man Gold darin zu finden, musste das freilich gewöhnlich seinen Enkeln und Urenkeln überlassen, es gehörten oft hundert Jahre dazu. Victor Hugo erzählt in seinem Roman »Notre Dame« sehr hübsch hiervon.
»Nein, mein roter Löwe braucht nicht in der Sonne zu destillieren. Es ist nur nötig, dass ich ihn drei Tage und drei Nachte immer bei mir trage, auf meinem Leibe, dass er meine Körperwärme aufsaugt. Das gibt ihm dann die wirksame Kraft.«
»Teilst Du mir denn das Rezept mit?«
»Nein.«
»Nicht?!«
»Es hat keinen Zweck, Du könntest den roten Löwen doch nicht selbst herstellen.«
»Weshalb nicht?«
»Weil Du Dich erst dreitausend Jahre präparieren musst, ehe Du den roten Löwen durch Deine Körperwärme wirksam machen kannst.«
»Das hast Du getan?«
»Ja.«
»Du lebst schon dreitausend Jahre?«
»Noch viel länger.«
Man hätte diesem und so ziemlich jedem Inder noch etwas ganz anderes sagen können, er hätte es geglaubt.
Freilich, wer einem das Kunststück vormachen kann, Quecksilber und Blei in gediegenes Gold zu verwandeln, dem darf man dann auch so etwas glauben.
»Ja, und wie viel Gold willst Du mir eigentlich liefern?«
»Täglich für zwei Millionen Rupies.«
Die ostindische Silberrupie zählt so viel wie ein Schilling oder eine Mark.
Wenn in Münztabellen angegeben wird, dass sie zwei Mark zählt, so ist das falsch, oder es ist vielmehr etwas dabei, was in solchen Münztabellen nicht erklärt werden kann.
Sie hat allerdings einmal zwei Mark gegolten, aber schon seit dreißig Jahren steht sie durch den Silbersturz nur noch auf eine Mark, muss jedoch nach der alten Rechnungsart geführt werden, weil die Goldrupie fünfzehn Silberrupies hat und diese wirklich dreißig Mark gilt.
Der Maharadscha musste seine Aufregung ob der genannten Summe bemeistern.
»Täglich zwei Millionen Rupies?«
»Wie ich sage. Aber auch nicht mehr. Denn ich kann täglich nur zehn Gramm von dem roten Löwen herstellen, für mehr reicht meine magische Körperwärme nicht aus, indem diese Durchwärmung doch immer drei Tage dauert, und ich muss doch immer schon für die späteren Tage arbeiten, so habe ich stets mehrere Portionen bei mir zu tragen, zumal die ersten Präparate doch nur Silber in Gold verwandeln, für Quecksilber ist es erst in drei Wochen, für die anderen Metalle in drei Monaten wirksam. Das erschöpft meine Körperkräfte außerordentlich.«
»Wie viel von dem roten Löwen hast Du schon vorbereitet?«
»Was ich hier in der Glasröhre habe — genau zehn Gramm.«
»Und mit diesem kannst Du heute in zwei Tagen zwei Millionen Rupies in Gold herstellen?«
»Ja. Das heißt, nur aus reinem Silber.«
»Wie viel bedarfst Du dazu?«
»Nun, eben nach dem Verhältnis eins zu hunderttausend. Also bedarf ich zweitausend Pfund reines Silber. Kannst Du mir das verschaffen?«
»Ja, so viel Silber habe ich in meinem Privatbesitz.«
»So werde ich sie Dir übermorgen in zweitausend Pfund reines Gold verwandeln, und wenn ich von zwei Millionen Rupies sprach, so habe ich das Pfund Gold ganz gering zu nur tausend Rupies gerechnet. Stimmt das nicht?«
»Es stimmt, es stimmt!«, keuchte der Maharadscha. »Und wie viel Gold lieferst Du mir?«
»Wie viel forderst Du für die Truhe der Peris?«
Der Maharadscha machte schnell eine »kleine« Rechnung.
Sein Hofstaat kostete ihn jährlich rund drei Millionen Rupies.
Na ja, wenn er allein 13 000 Gorkhas, die sich nicht mit 22 Pfennigen pro Tag begnügen, samt ihren Familien unterhalten musste!
Das Meiste davon brachten ja seine halbe Million Untertanen durch Steuern auf.
Aber immerhin, er hatte schon wie sein Vater jährlich fast eine Million Rupies aus dem Kronschatz zusetzen müssen, und dieser Kronschatz war jetzt total erschöpft.
Die Zinsen von dreißig Millionen Rupies hätten genügt; die er freilich nicht auf einer englischen Bank angelegt oder in englische Unternehmungen gesteckt hätte. Kein Inder wird Geld auf eine englische Bank bringen.
Er gab es den anderen Radschas, die froh sein würden, mit einem Male so eine große Masse Gold in die Hände zu bekommen, da lässt sich doch etwas anderes anfangen, als wenn es durch Goldwäscherei immer nur so »kleckert«, dieses Waschgold aber zahlten die ihm dann als Zinsen, zu drei und noch mehr Prozent, oder als Zinsenzahlung kam auch noch anderes in Betracht als Gold, jedenfalls aber machte der Kaiser von Nepal die anderen hochmütigen Radschas auch pekuniär von sich abhängig.
Nun aber konnte er ja auch gleich noch viel mehr fordern.
»Hundert Millionen Rupies!«
»Für hundert Millionen Rupies gibst Du mir die Truhe der Peris als mein Eigentum?«
»Ja.«
»Es gilt.«
»Es gilt. Bis wann kannst Du mir die hundert Millionen verschaffen?«
»Ich würde dazu also auf dem gewöhnlichen Wege fünfzig Tage brauchen und hunderttausend Pfund reines Silber. Hast Du denn so viel?«
»O nein, das habe ich nicht, nicht den zehnten Teil, auch wenn ich alle meine Silbersachen hergebe, so viel ist nicht in meinem ganzen Lande. Da müsste ich erst in den anderen Fürstentümern Silber aufkaufen. Aber Du sprachst doch auch von Quecksilber und Blei.«
»Ja. Nach drei Wochen kann ich ja schon mit Quecksilber anfangen, das doch ganz erheblich billiger als Silber ist. Hast Du viel Quecksilber?«
Wenn auch der Maharadscha in seinem eigenen Fürstentume kein Quecksilber hatte, so war es billig in dem benachbarten Tale des Radschas Mulakan zu haben. Dort waren sehr große Zinnobergruben mit Quecksilberhütten, sie lieferten jährlich fast fünfhundert Tonnen ganz reines Quecksilber, natürlich nach England, an den Londoner Rothschild. Denn es kommt auf den europäischen Kontinent überhaupt kein Quecksilber, das nicht durch die Hände des englischen Barons Rothschild geht, der auch die spanischen Minen mit einer Jahreserzeugung von 2000 Tonnen selbst besitzt.
Und das ist eine Tatsache, dass Nepal jährlich rund fünfhundert Tonnen reines Quecksilber liefert, das ist der achte bis neunte Teil des im Welthandel vorkommenden, wofür es jährlich von England durchschnittlich — der Preis des Quecksilbers ist äußerst schwankend — 150 000 Pfund Sterling oder drei Millionen Rupies schluckt, die erwiesenermaßen nur einem einzigen dieser Radschas zufließen, dem Radscha Mulakan von Brisshamba, gegenwärtig, der eben in Nepal die einzigen Zinnobergruben besitzt.
»Wird der Radscha die fünfzig Tonnen Quecksilber, die ich zu den hunderttausend Pfund Gold brauche, vorrätig haben?«
»Er hält sogar immer die Hälfte der fünfhundert Tonnen zurück, die er kontraktmäßig jährlich auf lange Zeit hinaus zu liefern hat.«
»Wirst Du ihm fünfzig Tonnen abkaufen können?«
»Weshalb nicht? Ganz sicher. Natürlich erfährt er nicht, wozu ich es brauchen will.«
»So müssen wir uns eben drei Wochen gedulden, dann liefere ich Dir in fünfzig Tagen die hundert Millionen Rupies Gold aus Quecksilber.«
»Aber Du verwandelst doch schon vorher Silber in Gold?«
»Gewiss, soviel Du Silber auftreiben kannst — nur wird dieses Gold dann eben weit teurer.«
»Wir werden es schon arrangieren.«
»Und sobald ich Dir das Gold geliefert habe, mindestens im Werte von hundert Millionen Rupies, übergibst Du mir die Truhe der Peris.«
»Sofort.«
Sie waren sich einig.
Der Pater verlangte keine Garantie dafür, dass Bhadur auch sein Wort halten würde, er wusste nicht, was er da für eine Garantie hätte verlangen sollen, wollte auch lieber keine Drohungen aussprechen, etwa mit magischen Künsten prahlen, wie er dann den Maharadscha strafen wolle.
Und der Maharadscha hinwieder verschmähte es, damit zu drohen, was geschehen würde, wenn jener sein Versprechen nicht halten würde. Das würde er dann schon ausführen, irgend etwas Schreckliches, da brauchte er nicht erst zu drohen. —
In zwei Tagesritten wurde der Weg nach Katmandu zurückgelegt.
Lazare ritt den Schimmel, den Rappen hatte er bei Radscha Behowil zurückgelassen.
Es waren immer noch dieselben Gorkhas, die also ursprünglich 52 Mann gewesen waren, bis drei von ihnen verschwunden waren, welche ihren Herrn begleiteten, der jetzt ebenfalls hoch zu Ross saß.
Das Rennautomobil kam nicht mit, auch der Engländer, Mister Ogly, war nicht mehr zu sehen.
Die Gorkhas hatten erst über den elenden, schwanzlosen Gaul gespottet, auf dem der kleine Mann saß, aber sie verstummten bald, als sie merkten, dass dieser magere Klepper den äußerst strapaziösen Gewaltritt ebenso gut aushielt wie ihre mächtigen Rosse.
Es war überhaupt eine stumme Gesellschaft.
Der Maharadscha würdigte seinen zukünftigen Goldmacher während der zwei Tage keines einzigen Wortes, und vergebens spitzte der Pater die Ohren, um irgend etwas von den Gorkhas zu erlauschen, was ihm später vielleicht dienlich sein konnte.
Er erfuhr von deren bärtigen Lippen keine Neuigkeiten.
So kam es, dass er auch gar nichts von dem Panzerautomobil vernahm.
Wohl wurde fast überall gefragt, ob solch ein merkwürdiges Fahrzeug gesehen worden wäre, aber das geschah in einer Weise, dass der Pater gar nichts davon merkte.
Also auch der Maharadscha wusste noch gar nicht, dass die Riesengranate im Reiche des Radscha Tippu Hatur Einkehr gehalten hatte, dass sie dort schon so gut wie zu Hause war.
Das hatte er eben nicht erfahren, und in Nepal gibt es keinen Telegrafen, keine Eisenbahn — da ist also das Pferd das schnellste Beförderungsmittel, und das allerschnellste kann doch durch nichts anderes überholt werden, keine Botschaft kann seinen Reiter erreichen, wenn man nicht an so etwas wie die Trommelsprache der afrikanischen Neger oder an Brieftauben denkt, was es aber in Nepal auch nicht gibt.
Kurz und gut, wenn die Riesengranate jetzt ziemlich dicht hinter diesem Reitertrupp fuhr, nur außer Gesichtsweite, so konnten sie doch gar nichts von ihr erfahren.
Und also auch gesprochen wurde nichts davon, der Pater wenigstens bekam nichts davon zu hören.
Katmandu wurde erreicht.
Als gesagt wurde, ganz Nepal sei den Fremden verschlossen, so ist das nicht buchstäblich zu nehmen.
Es wurde auch gesagt, Nepal habe keinen Ex- und Import, und dann wieder wurde von fünfhundert Tonnen Quecksilber gesprochen, welche Nepal alljährlich ausführt.
Es wird auch noch anderes ausgeführt, auch eingeführt, unter anderem, um nur ein Beispiel anzuführen, liefert eine französische Firma jährlich einige hundert Körbe Champagner hinein.
Aber das ist doch nicht etwa ein regelrechter Ex- und Import zu nennen! Dazu sind jedes Jahr bis nach Bettia, der nächsten Eisenbahnstation, nur einige Karawanen nötig, die keine Spuren hinterlassen. Ehe die nächste kommt, ist über den ausgetretenen Weg in der Steppe schon wieder Gras gewachsen.
So ist es auch mit dem Einlassen von Fremden. Er muss erst eine Erlaubnis hierzu haben. Und gilt denn nicht dasselbe für Russland? Über die russische Grenze kommt niemand ohne einen Pass. Nepal unterhält in Kalkutta eine Gesandtschaft, in Benares und Bettia eine Art von Konsulat, hier kann jeder den Erlaubnisschein oder Pass erhalten, Nepal betreten zu dürfen, nur dass es etwas scharf genommen wird.
Also es sollte hiermit gesagt werden, dass Katmandu und Nepal nicht etwa ein ganz unbekanntes Jenseits ist. Übrigens gibt es ja auch eine englische Gesandtschaft.
Katmandu, zwischen himmelhohen Bergen liegend, hat ungefähr 50 000 Einwohner und macht einen recht modernen, europäischen Eindruck, nämlich dadurch — was freilich nicht etwa den Europäern nachgeahmt worden ist, als Katmandu schon stand, logierten wir Europäer noch in Höhlen oder auf Pfahlbauten — dass es aus meist vierstöckigen Häusern besteht. Schon zweistöckige sind sehr selten. Dann sind noch die Häuser oder Wohnungen, Prachtwohnungen, in die Felsen hineingemeißelt, und da geht es noch höher hinauf.
In der Mitte der Stadt steht der kolossale Palast des Maharadschas, umgeben von Tempeln und Moscheen mit vergoldeten Dächern, und dazwischen stehen überall auf Postamenten die überlebensgroßen, vergoldeten Statuen der früheren Kaiser, wozu seit sechzig Jahren auch noch die der anderen Radschas hinzugekommen sind und immer noch hinzukommen — ein ganz sicheres Zeichen, dass die Nepaler Fürsten keine richtigen Mohammedaner sind, denn der Prophet hat streng verboten, Mensch oder Tier im Bilde nachzuahmen — wegen der Götzenanbeterei.
Vor dem Haupteingang des Palastes, natürlich etwas entfernt davon, steht auf dem Boden eine ungeheure eherne Glocke, sie soll schon seit Jahrhunderten dort stehen. Die Nepaler haben wohl einmal zeigen wollen, dass sie auch im Glockenguss etwas leisten können, sie sollte im Hauptturme des Palastes aufgehangen werden, was aber wegen einer unheilvollen Prophezeiung unterblieb. Wenn sie hängt und sie stürzt einmal herab, dann soll auch ganz Nepal zusammenstürzen. Nun, dann bleibt sie eben dort unten stehen —
Der Maharadscha begrüßte nicht erst Frauen und Kinderschar, er hatte sofort nach Abisur gefragt.
Ein älterer Inder erschien, ein Kammerdiener, der sich gegen seinen Herrn sehr vertraulich benehmen durfte.
»Du hast die Botschaft bekommen?«
»Ja.«
»Du hast den Auftrag ausgeführt?«
»Sofort.«
»Wem hast Du sie in Arbeit gegeben?«
»Bakbakar dem Balalaikabauer, er ist der geschickteste Tischler.«
Dann hatte dieser Tischler Bakbakar schon ein Vorbild in der biblischen Geschichte gehabt, beim Aufzählen der ersten Bewohner Jerusalems wird sein Name erwähnt, 1. Chronika 10. Kapitel Vers 15: Und Bakbakar der Zimmermann, der Sohn Michas.
»Wie weit ist er?«
»Fertig.«
»Schon fertig?«
»Schon heute Mittag war er fix und fertig damit.«
»Ist es gut ausgefallen?«
»Sie sind nicht voneinander zu unterscheiden.«
»Du warst doch vorsichtig?«
»Ich selbst habe Bakbakar immer eingeschlossen gehalten.«
»Wo sind sie?«
»Beide sind noch in seiner Werkstatt.«
Sie begaben sich dahin; Abisur musste drei oder vier Schlüssel anwenden, ehe er die letzte Tür öffnete.
Es war die Werkstatt eines Instrumentmachers, das heißt eines Geigenbauers, die sie betraten.
Zigeuner sind es gewesen, die uns Violine und Laute und andere Saiteninstrumente gebracht haben, und endlich ist es erforscht worden, dass die Zigeuner aus den Tälern des Hindukusch stammen, wo sie Luris hießen. Sie standen schon damals bei den benachbarten Völkern im übelsten Rufe, weil sie den ganzen Tag nur fiedelten und klimperten und sich sonst schlecht und recht von Diebstahl ernährten. Ums Jahr 420 nach Christi erbat sich der persische König Bahram Gur von dem indischen König Schankal von Kanaudsch, der dort über alle diese Täler herrschte, 10 000 Luris, um sich an ihrem Saitenspiele zu erfreuen — da sieht man, wie damals alles aus dem großen Topfe ging — die 10 000 Luris kamen, aber sie sollten nicht nur fiedeln, sondern auch Feldarbeit verrichten, das wollten sie nicht, und da wurden sie bald zum Teufel gejagt. Sie kehrten nicht in ihre Heimat zurück, sondern zogen nach Westen und kamen ins ewige Wandern.
Die Luris im Hindukusch sind verschwunden, die Nachkommen jener Zehntausend fiedeln und stehlen noch heute. In Persien heißen die Zigeuner noch heute Luris, ihren Hauptmann nennen sie heute noch — auch in England oder Amerika — Raja, also Radscha.
Überall hingen und lagen fertige und halbfertige Saiteninstrumente herum, alle von ganz abenteuerlichen Formen, mit Vorliebe in Gestalt eines Vogels.
Der eingeschlossene Balalaikabauer mit dem Namen Bakbakar war aber kein Hebräer, auch kein Inder, sondern ein Chinese. Warum soll auch ein Chinese nicht einmal so heißen?
Erst wollte Bakbakar seine unendliche Ehrfurcht bezeugen, bekam aber einige Worte zu hören, die ihn schleunigst bewogen, einem Schranke ein Kästchen zu entnehmen von schwarzer Farbe, noch nicht ganz so groß wie eine Halbhundertzigarrenkiste, und dennoch beherbergte es siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig ausgewachsene Jungfrauen. Auch viel wiegen konnten diese nicht, das Ding war sehr leicht.
Das war die schwarze Truhe, unter welchem Namen man sich freilich etwas anderes vorgestellt hatte.
Also ein schwarzes Kästchen, wahrscheinlich aus Ebenholz, ganz einfach gehalten, nur auf der einen Seite hatte es in der Mitte eine sternförmige, vertiefte Verzierung, einfacher Kerbschnitt. Wenn überhaupt ein Deckel vorhanden war, so war davon keine Spur zu bemerken, keine Fuge, kein Scharnier, kein Schloss.
Es musste sehr alt sein und viel durchgemacht haben, hatte tüchtige Schrammen und Beulen, an der einen Ecke war ein Stückchen Holz ausgebrochen.
»Das ist der Perisanduk«, sagte der Maharadscha, das Kästchen in den Händen haltend und von allen Seilen betrachtend, »ach, wie genau kenne ich es, jede Schramme, denn wie oft habe ich es betrachtet! Wo ist nun das Duplikat?«
Der Chinese grinste bei aller kriechenden Demut, wie er aus demselben Schrank ein anderes schwarzes Kästchen zum Vorschein brachte.
»Nein, das hier ist das echte.«
Der Maharadscha wollte es nicht glauben, bis er dreimal das eine und dann das andere Kästchen betrachtet hatte und dann nicht mehr wusste, welches er denn zuerst gehabt hatte.
Jede Schramme war bis ins kleinste getreulich nachgeahmt worden. Die geringste Abweichung von einer geraden Linie — sie war hier wie da vorhanden. Von der abgebrochenen Ecke gar nicht zu sprechen.
Ja, in solchen peinlich genauen Nachahmungen haben die Chinesen etwas los!
Darüber gibt es viele hübsche Geschichtchen. Die beste ist wohl die, auch wirklich passiert, wie ein Millionär in San Francisco, dessen Gattin eine Europareise macht, zu Hause aus einer großen Vase, echt chinesisches Porzellan aus der kaiserlichen Manufaktur, eine tüchtige Ecke herausschlägt.
Es ist ein Hochzeitsgeschenk gewesen, wenn die Gattin nach Hause kommt, dann ist der Teufel los!
In San Francisco ist keine solche Vase zu kaufen, nicht nachzumachen, in ganz Amerika nicht.
Der ängstliche Gatte packt die Vase schnell ein und schickt sie direkt an die kaiserliche Porzellanmanufaktur nach China.
»Habt Ihr dort noch solch eine Vase, oder wenn nicht, könnt Ihr eine neue anfertigen, ganz genau so, dass ich sie in zwei Monaten hier habe? Drahtantwort.«
Die Depesche kommt: Ja, wird gemacht.
Noch vor zwei Monaten kommt die neue Vase nebst Muster zurück.
Die neue Vase ist ganz, ganz genau so nachgemacht worden.
Auch die tüchtige Ecke ist herausgeschlagen. — —
Die beiden Kästchen waren sich zum Verwechseln ähnlich, der Maharadscha kannte sich nicht mehr aus.
»Welches Muster ist denn nun die Kopie?«
»Dieses hier.«
»Woran erkennst Du das?«
Ein ganz kleines Zeichen hatte der Chinese doch an seinem Werke gemacht, nur einen Punkt, man musste deutlich hinsehen, um ihn zu erkennen.
Denn sonst hätte der Chinese die beiden Kästchen eben selbst nicht mehr unterscheiden können.
»Wie hast Du den Deckel befestigt?«
Die Scharniere waren innen, ebenso das Schnappschloss. Also konnte dieser Kasten überhaupt nicht mehr geöffnet werden, oder man musste ihn erbrechen.
Bewundernswert war dabei auch, wie der Chinese so ganz genau das gleiche Gewicht herausbekommen hatte.
Die beiden gingen wieder, der Maharadscha in der rechten Hand den echten, in der linken Hand den imitierten Kasten.
Draußen vor der Tür blieb er noch einmal stehen, als Abisur diese wieder zuschloss.
»Weiß der Mann etwas von dem Inhalt der Truhe?«
»O nein!«
»Aber es ist doch besser —«
Der Maharadscha sprach es nicht weiter aus, er machte mit einem der Kästen nur eine Bewegung nach seinem Halse.
»Ja, es ist besser!«, bestätigte der Kammerdiener.
Eine Stunde später hatte der geschickteste Geigenbauer im Palaste des Maharadschas keinen Kopf mehr auf dem Halse. Es war besser so. Tote können nicht mehr schwatzen.
Schreiend vor Entsetzen flüchteten die Einwohner von Katmandu, die sich auf der Straße befanden, in die Häuser, vor dem schwarzen Ungeheuer, das durch ihre Stadt raste.
Erst hinterher, wenn man nachzublicken wagte, merkte man, dass es auf Rädern fuhr, sogar auf fünf.
Aber ein fabelhaftes Ungeheuer, ganz sicher der Hölle entstiegen, war es dennoch, und es raste wirklich, aber so geschickt, dass es niemanden verletzte, der nicht schnell genug war, um ihm auszuweichen, sorgsam fuhr es um spielende oder vor Schreck erstarrte Kinder herum, und sogar erstaunlich war die Schnelligkeit und Sicherheit, mit der es auswich.
So raste es bis in die Mitte der Stadt, fuhr etwas langsamer um die riesige Glocke herum, direkt auf das Hauptportal des Palastes zu, fuhr eine Treppe mit allerdings sehr breiten Stufen hinauf, fuhr durch mehrere Türen, die alle groß genug waren, um es durchzulassen, und wenn die Flügeltüren geschlossen waren, so brauchte die Spitze des granatenförmigen Ungeheuers sie nur zu berühren, so sprangen sie auf, dann freilich mit beschädigten Schlössern, bis es in der Mitte eines prächtigen Saales, von Galerien umgeben, hielt.
Alles hatte sich versteckt, verkrochen.
Da aber kam schon der Maharadscha selbst angeeilt.
»Maharadscha Bahadur«, scholl es ihm aus dem Innern der Riesengranate entgegen, »hast Du Dich besonnen? Willst Du mir die schwarze Truhe geben?«
»Du sollst sie haben!«
»Auf Dein Fürstenwort?«
»Auf mein Fürstenwort!«
»Also ich darf Dir vertrauen? Ich kann das Fahrzeug verlassen? Ich stehe unter Deinem Schutze?«
»Frage nicht erst noch, es beleidigt mich!«
Da öffnete sich die hintere Tür, Prinz Joachim stieg aus.
»Wo ist Deine Begleiterin?«
»Ich habe sie unterwegs abgesetzt!«
Weiter fragte Bahadur nichts, andere Gedanken beherrschten ihn.
Er stieg ein, der Prinz zeigte ihm die nötigsten Handgriffe, gleich hier im Krönungssaale fuhr die Riesengranate im Kreise und kreuz und quer herum, rannte mit ungeheurer Schnelligkeit gegen eine Säule und blieb auf der Stelle stehen, sobald die Spitze diese berührte, überfuhr einen herbeigerufenen Mann, der sich hinlegen musste, ohne dass dieser etwas von einer Last merkte, und zeigte sonst, was sie noch leisten konnte, soweit das hier in diesem geschlossenen Raume möglich war.
»Dies genügt wohl. Hier ist ein Buch, da steht alles weitere drin, was diese fahrbare Panzerfestung leisten kann. Wirst Du Dich darin zurechtfinden?«
Der Maharadscha blätterte mit vor Aufregung zitternden Händen in der geschriebenen Broschüre und erkannte sofort die leicht verständliche Einfachheit der Erklärungen.
»Auch springen kann es?!«
»Es kann noch viel mehr. Nun gib mir die schwarze Truhe, meine Zeit drängt.«
Die Riesengranate blieb stehen, wo sie stand, der Prinz zeigte noch einmal, wie die Haupttür von außen geöffnet wurde, und er folgte dem Maharadscha.
Das Endziel war eine durch mehrere schwere Sicherheitstüren wohlverwahrte kleine Kammer, die nichts weiter enthielt, als in der Mitte ein Postament aus grünem Stein, auf dem ein kleiner schwarzer Kasten stand.
»Hier ist sie.«
»Was, das ist die schwarze Truhe?!« staunte der Prinz.
»Du glaubst es nicht?!«
Der Prinz war einmal zusammengezuckt, aber für andere Augen ganz unbemerkbar. Der elektrische Schlag war etwas heftig gewesen.
»O doch, sie ist es. Ich habe sie mir nur viel größer vorgestellt.«
»Ja freilich, wenn siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig Peris darin enthalten sind, so stellt man sie sich auch viel größer vor!«, lächelte der Maharadscha.
»Was ist darin?!«
Bahadur wiederholte die vorigen Worte.
»Peris?«
»Ja, Peris. Weißt Du denn nicht, was das ist?«
O doch, der Prinz wusste es, und deshalb brauchte er kein Orientalist und nicht soviel im Orient selbst gereist zu sein.
Man braucht sogar nur etwas Interesse für Musik, für klassische Musik zu haben, um es zu wissen.
Der persischen Sage und Götterlehre nach waren die Peris ursprünglich gute Wesen, ganz unseren Feen vergleichbar. Aber sie ließen sich von dem bösen Gott Ahriman verführen, sanken tiefer und tiefer, aus den Feen wurden Hexen, allerdings keine alten und hässlichen, sondern es blieben die reizvollen Wesen; nur dass sie jetzt dem Bösen dienten. Wunderschöne Dämoninnen, welche die Menschen verführen, wie sie nur können, sie besonders auch durch Gaukeleien blenden.
Diese altpersische Sage hat für uns Abendländer am schönsten behandelt der Engländer Thomas Moore in seiner Dichtung »Lalla Rookh«, der wieder Robert Schumann den Text entnommen hat für seine musikalische Schöpfung »Das Paradies und die Peri«.
Ja, das wusste der Prinz. Er kannte diese altpersische Sage noch viel genauer, von grund auf. Aber dass die schwarze Truhe so klein war und dass 7777 Peris drinsteckten, davon hatte ihm Almansor noch kein Sterbenswörtchen zutelegrafiert.
»Nimm die Truhe, ich darf sie nicht berühren.«
Der Prinz nahm sie und steckte sie samt den 7777 Jungfrauen einfach in die geräumige Hosentasche.
»Bist Du nun zufrieden?«
»Ja. Zumal dass die 7777 Mädels so leicht sind.«
»Ich trenne mich schwer von meinem kostbaren Schatze!«, musste der Maharadscha lächeln, wohl aus doppeltem Grunde.
»Ich glaube es.«
»Weißt Du, was der besitzt, der das Geheimnis dieser Truhe kennt?«
»Nein.«
»Tu kennst es nicht?«
»Nein.«
»Kann ich jetzt erfahren, wer Dich mit dieser Mission beauftragt hat?«
»Nein, das darf ich noch immer nicht verraten.«
»Aber der wird das Geheimnis kennen.«
»Sicher.«
»Sage ihm, wie schwer ich mich von meinem kostbarsten Schatze getrennt habe, aber dass mir die fahrende Panzerfestung doch noch lieber ist.«
,Ich werde es ausrichten.«
»Kann ich jetzt erfahren, wer Du bist?«
»Prinz Joachim ist mein Name.«
Der Maharadscha zog sinnend die Augenbrauen zusammen.
»Prinz Joachim? Bist Du nicht ein deutscher Fürst?«
»Das bin ich.«
»Ich glaube, ich habe von Dir schon gehört.«
»Möglich.«
»Warst Du nicht schon einmal in Indien?«
»Ja.«
»Daher sprichst Du auch so gut Hindustanisch. Warst Du nicht vor drei Jahren am Hofe des Großmoguls zu Delhi?«
»Ich war sein Gast.«
»Du bist auch mein Gast, Radscha.«
»Verüble es mir nicht, wenn ich Deine Einladung ablehne, edler Fürst — ich muss sofort zurück.«
»Wohin?«
»Dorthin, wo ich meine Gefährtin gelassen habe.«
Also der Prinz nahm sich gar kein Blatt vor den Mund.
Der Maharadscha verzog einmal etwas drohend das Gesicht, doch das war gleich wieder vorbei.
Er selbst dachte an etwas ganz anderes, er war froh, wenn er sich mit diesem Fremden nicht weiter zu beschäftigen brauchte.
»Kann ich Dir sonst mit etwas dienen? Willst Du Gefolge haben?«
»Nur ein Pferd, wenn ich bitten darf, sonst absolut gar nichts.«
»Suche Dir in meinem Marstall das edelste Ross aus, es gehört Dir, schicke mir es nicht etwa zurück, es würde mich beleidigen, und dem Manne, der Dich führen wird, sagst Du auch sonst, was Du haben willst, und es ist Dein Eigentum.«
Sie hatten den Raum verlassen.
Der Maharadscha verschwand, der Prinz war fünf Minuten allein in einem Zimmer, dann gesellte sich Abisur zu ihm.
»Willst Du speisen, edler Radscha, willst Du ein Bad nehmen?«
Der Prinz wollte gar nichts weiter als ein Pferd.
Er wurde in den Marstall geführt, suchte sich unter einigen hundert edlen Rossen das ihm am tauglichsten erscheinende aus.
Wäre er etwas weiter gegangen, so hätte er in einer besonderen Box seine schwanzlose Silberwolke wiedergesehen.
Aber es sollte nicht sein, er ging nicht so weit, Almansor telegrafierte ihm nichts zu, Abisur machte ihn auf diesen sonderbaren Klepper nicht aufmerksam.
Das ausgewählte Ross wurde gezäumt und gesattelt, die beiden sahen zu.
»Ein kaiserlicher Schutzbrief wird für Dich schon ausgestellt.«
»Ist mir angenehm. Vielleicht kann ich ihn doch einmal brauchen.«
»Aber willst Du denn kein Gefolge haben?«
»Nein.«
»Keine bewaffneten Begleiter?«
»Wozu denn die?«
»Der kaiserliche Madajik (Pass) wird natürlich überall respektiert, nur nicht von Räubern.«
»Räuber?«
Der Prinz war noch nicht in Nepal gewesen, hatte sich für dieses Land noch nicht besonders interessiert.
Abisur musste es gestehen, so wenig es auch zugunsten eines Staates sprach, der ganz zivilisiert sein will. Das will aber Albanien auch sein, oder man braucht auch nur an Italien zu denken.
In Nepal hausen zahlreiche Räuberbanden; meist setzen sie sich aus Gorkhas zusammen, die im Militärdienste etwas Strafwürdiges begangen haben, oft nur eine ganz geringe Kleinigkeit, unbedingt bestraft werden müssen, was sie sich aber nicht gefallen lassen wollen und vorher desertieren. Erst haben sie es nur darauf abgesehen, vornehme Reisende abzufangen, die sie nur gegen das Versprechen wieder freigeben, dass ihnen die Strafe erlassen wird, aber sie müssen sich doch auch Unterhalt verschaffen, so werden sie zu richtigen Räubern, welche die Ortschaften überfallen und die Karawanen, die durch die Engpässe von Tal zu Tal ziehen, plündern. In den unwirtlichen Gegenden ist ihnen schwer beizukommen.
»Nein, ich brauche keine schützende Begleitung, ich werde schon allein durchkommen. Nur wäre mir, wenn die Sache so steht, ein gutes Gewehr noch sehr lieb.«
Gewehre waren genug in dem Panzerautomobil gewesen, aber davon war nichts sein Eigentum.
Er wurde in eine Waffenkammer geführt, suchte sich eine Doppelbüchse aus, erhielt genügend Munition, den Schutzbrief, begab sich hinab, schwang sich auf das Ross und ritt davon, wie er gekommen war, im ledernen Jagdanzug, den Oberkörper nur mit einem Hemd bedeckt, die Ärmel aufgekrempelt. —
Maharadscha Bahadur probierte das Panzerautomobil auf einem geräumigen, von hohen Mauern eingeschlossenen Hofe.
Aber so entzückt er auch war, so sehr er auch immer wieder staunte — er war doch nicht ganz bei der Sache.
Alle fünf Minuten blickte er nach seiner von Diamanten strotzenden Uhr, welche die Minuten repetierte, den Kalender angab, den Stand der Sonne und des Mondes anzeigte und noch mehr Fähigkeiten besaß — ein Geschenk des englischen Königs, für welches ihm der Radscha Tippu Hatur, als er die Uhr gesehen, fünf Elefanten, zehn Elefanten, zwanzig Elefanten geboten hatte, dann auch gleich ganz offen nach dem Liebhaberpreis fragend.
Der Maharadscha hatte damals dieses Feilschen höchst übel genommen. Ein Geschenk des Königs von England! Noch vor zwei Tagen aber hatte Bahadur, der Kaiser von Nepal, lebhaft daran gedacht, ob der unermesslich reiche Radscha Tippu Hatur, der das Gold nur immer so aus dem Gandak zu schaufeln brauchte, die angebotenen Elefanten, wenn auch nur fünf, für diese Uhr vielleicht auch mit Gold beladen würde. Er hätte noch etwas ganz anderes verkauft als das Geschenk des englischen Königs. Erwachsene Töchter, die im Orient vom Freiersmann doch abgekauft werden müssen, hatte er leider nur eine — und die war bucklig und hatte einen Wolfsrachen.
»Vier Uhr! Jetzt hat sich die Zeit erfüllt!«
Das Fahrzeug stehen gelassen, wo es stand, herausgesprungen, die Türe zugeschlagen und hinauf!
Señor Lazare befand sich in der vierten Etage des sechsstöckigen Riesenbaues, in einem chemischen Laboratorium, das allerdings nicht einem modernen glich, in dem wissenschaftlich gearbeitet wird. Ganz seltsame Gerätschaften, ungeheuerliche Glühöfen mit altertümlichen Blasebälgen, ein kupferner Destillierkolben, in dem man aber auch ein ganzes Schwein kochen konnte, hatte die Gestalt eines scheußlichen Menschenkopfes, das war ein sogenannter »Pusterich«, wie ihn die europäischen Alchemisten von den arabischen und indischen mit übernommen hatten, wenn nicht solche dämonische Formen dabei waren, dann ging's nicht, und ebenso wenig fehlten an der Decke und an den Wänden ausgestopfte oder einbalsamierte Krokodile, Schlangen, Kröten, ein Sägefisch, ein kugelrunder Falak aus dem Nil und dergleichen tierische Raritäten mehr.
Das Laboratorium eines Doktor Faust, oder schon mehr eine Hexenküche.
Aber die Hauptsache war, dass alles vorhanden, was dieser moderne spanischamerikanische Alchimist für seine Experimente brauchte. Gerade in einem modernen chemischen Laboratorium hätte er die Ingredienzien für seinen roten Löwen wohl schwerlich gefunden; denn asa foetida und anderer Teufelsdreck ist zwar in jeder Apotheke und größeren Drogerie zu haben, nicht aber immer im Laboratorium vorrätig.
Der Maharadscha trat hastig ein.
»Es ist um vier.«
»Und der rote Löwe ist stark genug, er hat seine volle Wirksamkeit erlangt.«
Mit diesen Worten präsentierte Lazare jenem ein Klümpchen Gold, so heiß, dass es eine empfindliche Hand gerade noch anfassen konnte.
»Soeben habe ich die erste Probe ausgeführt; untersuche es, ob es nicht gediegenes Gold ist.«
»Was ist es gewesen?«
»Eine Silberrupie.«
»Ja, das sagst Du!«
»Ich kann das Experiment doch sofort wiederholen. Hast Du etwas Silbernes bei Dir?«
Bahadur hatte sich mit silbernen Sachen genug versehen.
Zuerst kam nochmals eine Silberrupie daran, aus seiner eigenen Tasche, in der Münze zu Katmaudu geprägt.
Der Maharadscha machte alles selbst, brauchte keine große Anleitung dazu.
Die Rupie kam in ein Schmelztiegelchen, wurde auf einen Ofen mit glühenden Holzkohlen gesetzt, der Kaiser von Nepal trat selbst den Blasebalg.
»Muss der Tiegel zugedeckt werden?«
»Ist nicht nötig.«
»Ein Flussmittel?«
»Auch nicht, der rote Löwe selbst bringt das Silber in Fluss.«
Schnell begann die weiße Münze zu irisieren, nacheinander alle Farben des Regenbogens anzunehmen.
Der Maharadscha nahm auch selbst die Glasröhre mit dem roten Pulver, holte mit einem Ohrlöffelchen eine Idee heraus — »es kann der hundertste Teil davon sein, aber zuviel schadet nichts«, sagte Lazare — nahm selbst ein Blättchen Wachs, schüttete das bisschen Pulver darauf, wickelte es hinein — sowie das eben bei solchen alchemistischen Operationen immer gemacht wird. Das Wachs ist dabei ganz indifferent, es verflüchtigt sich.
»Wann soll ich es darauf werfen?«
»Schon jetzt.«
Es geschah.
Das Wachs verschwand sofort, das rote Pulver lag frei auf der dunkelblau gewordenen Silbermünze, jetzt begann diese zu fließen, wurde wieder weiß, plötzlich färbte sich die Masse purpurrot, wallte unter einer grünen Flamme auf, sank wieder zusammen, um eine gelbrote Farbe anzunehmen.
»Es ist geschehen. Gieße das Gold aus.«
Der Maharadscha hatte schon eine umgebogene Zange bei der Hand, goss den Tiegel auf einer eisernen Platte aus, ein gelbes Stängelchen erstarrte.
»Es ist Gold und hat jetzt mindestens den fünfundzwanzigfachen Wert der silbernen Rupie. Da diese 11,6 Gramm wiegt, müsste dieses Gold genau ebensoviel wiegen, nur ein kleineres Volumen einnehmen. Aber in dem Tiegel ist noch eine Kleinigkeit hängen geblieben. Und bei der analytischen Untersuchung vergiss nicht, dass der Silbermünze, so rein sie in Nepal auch hergestellt werden, doch noch etwas Kupfer beigemengt ist, das sich nun auch in diesem Golde finden wird. Es bedarf ungefähr sechs Wochen, dann ist der rote Löwe stark genug, um auch dieses Kupfer in Gold zu verwandeln, nach drei Monaten also selbst Blei und alle anderen Metalle.«
Der Maharadscha achtete nicht dieser Erklärung. merkte nicht einmal, dass er sich beim Nehmen des Stängelchens die Finger verbrannte.
»Gold, Gold!«, murmelte er.
Ja, es ist ein gutes Geschäft, Silber, von dem das Pfund im Preise jetzt immer um vierzig Mark herum schwankt, in Gold zu verwandeln! Besonders wenn man dazu keine weiteren Unkosten hat als die eigene Körperwärme.
»Nun transmutiere hier diesen silbernen Löffel, aber nur zur Hälfte, nur den vorderen Teil.«
Der Maharadscha hatte aus der Tasche einen silbernen Esslöffel gezogen, durch dessen Mitte aber der ganzen Länge nach ein ziemlich breiter, viel dunklerer Strich ging.
»Was ist das für ein dunkler Strich? Das muss ich wissen, damit nicht ein anderes, leichtflüssigeres Metall in das Gold kommt.«
»Es ist ein Stahlstreifen. Dieser Löffel ist nämlich gegossen, und es wurde einmal von Kennern behauptet, es sei nicht möglich, Silber so zu gießen, dass es sich ganz innig mit Stahl oder Eisen verbindet. Mein geschicktester Juwelier und Goldschmied, den ich damals hatte, hat es bewiesen und das Problem auf diese Weise gelöst.«
In der Tat, das war eine sehr kluge Forderung des Maharadschas, um Wahrheit von Betrug unterscheiden zu können. Wenn von dem Löffel nur der vordere Teil in Gold umgewandelt wurde, so blieb der Griff also silbern, aber durch beide Teile musste doch noch immer das dicke Stahlband durchgehen.
»Ist das möglich?«
»Ich glaube doch sicher. Einen derartigen Versuch mit solchen mechanischen Doppelverbindungen habe ich allerdings noch nicht gemacht, aber warum sollte das ncht gehen?«
Der Löffel kam in einen engen, aber sehr hohen Tiegel, aus dem nur noch der Griff hervorragte, wurde erhitzt, das Pulver in Wachs hineingeworfen, der Löffel schmolz unten, sank aber nicht zusammen, daran hinderte eben das Stahlband, die übliche Färbung mit der grünen Flamme, diesmal ließ man die flüssige Masse im Tiegel erstarren, und wie das Ganze herausgenommen wurde, zeigte es sich, dass an dem silbernen Stiele ein Klumpen Gold hing, durch das Stahlband noch durchging. An der Verbindungsstelle zwischen Gold und Silber wurde die rote Färbung von unten nach oben immer heller, die beiden Edelmetalle waren also zusammengeflossen, hatten eine Legierung gebildet.
Ein ausgezeichneter Beweis für die Echtheit der Transmutation!
Der Maharadscha war noch nicht zufrieden oder er wollte noch etwas anderes erfahren, wovon er zugleich praktischen Vorteil hatte.
Er hatte einen quadratischen Silberblock mitgebracht, der genau vier Pfund wog.
In einem Nebenraume sah es doch viel wissenschaftlicher aus, hier standen unter Glas auch mehrere moderne chemische Waagen.
Auf einer großen wurde konstatiert, dass an den 2000 Gramm des Silberblocks noch anderthalb Gramm fehlten, auf einer feineren Wage mit Reitervorrichtung wurden von dem roten Pulver 0,02 Gramm abgewogen, also der hunderttausendste Teil von jenen zwei Kilogramm. Die Reitervorrichtung war dabei gar nicht nötig, diese gibt noch das zehntausendstelte Gramm an, und hier handelte es sich nur um Hundertstel, und selbst für Milligramme sind noch Gewichte aus Platinblech vorhanden.
Der Silberblock kam in einen großen Schmelztiegel, es dauerte natürlich etwas länger, ehe der die nötige Hitze erreicht hatte, das Pulver darauf, die früheren Farberscheinungen mit der grünen Flamme, und die gelbe Masse wurde in eine besondere Form gegossen.
In jenem anderen Zimmer, mehr ein physikalisches Laboratorium, war auch ein moderner Apparat zum Bestimmen des spezifischen Gewichtes vorhanden, es registrierte die Zahl 19,6, das ist einwandfreies Gold, und eine bessere Prüfung auf Echtheit gibt es überhaupt nicht. Auch das Gewicht war ziemlich wieder erreicht worden, die paar fehlende Gramm waren eben in dem Schmelztiegel hängen geblieben.
Aber der misstrauische Maharadscha war mit diesem Resultate immer noch nicht zufrieden.
»Ich werde das Metall von meinen Goldschmieden prüfen lassen!«, sagte er, den Goldblock und den Löffel mitnehmend, nur das in seiner Gegenwart aus der Silberrupie in Gold verwandelte Stängelchen zurücklassend.
Freilich in der größten Aufregung hatte er sich befunden, und zwar in der freudigsten.
Und dasselbe galt von dem zurückbleibenden Lazare. Wenn sich das auch bei dem in besonderer Weise Luft machte.
Zunächst dadurch, dass er immer eifrigst die Fingerspitzen zusammentippte.
»Hihihihihi!«, kicherte er dabei. »Was hatte mir die verrückte Kosakin da für Märchen erzählt?
Wenn sie mir das Rezept auch sagte, ich könne es nicht verraten, es an keinen anderen weitergeben?
Und warum denn das nur nicht?
Weshalb soll ich das nicht einem andern mitteilen können?
Wenn ich mich jetzt hinsetze — freilich nicht hier in Nepal, wo es keine regelrechte Postverbindung gibt — ich schreibe einen Brief, offenbare jemandem das Geheimnis, schicke den Brief ab, etwa gar in mehreren Kopien mit verschiedenen Postgelegenheiten — wer will mich denn daran hindern?
Aber dass ich ein Narr wäre und so etwas täte!
Das bleibt natürlich mein ureigenstes Geheimnis.
Ich werde später wohl nichts anderes mehr tun als wertlose Metalle in Gold verwandeln.
Oder die Zukunft kann ich mir überhaupt noch gar nicht ausmalen.
Nun hatte die Kosakin aber auch gesagt, ich selbst wäre gar nicht imstande, das Experiment nachzumachen, den roten Löwen zu bereiten, auch wenn ich das Rezept ganz genau kennte.
Weshalb denn nur nicht?
Und dass dies nur eine ganz leere Drohung war, das ist ja eben hier bewiesen worden!
Es ist mir alles sofort ganz famos geglückt!
Die einzige Möglichkeit wäre die, dass dieses magische Verbot nur den Mann betroffen hätte, den ich damals vorstellte, in dessen Haut und Fleisch und Knochen ich damals steckte, als Percy Macdonald.
Jetzt, in einer anderen Gestalt, als der Pater Domingo Lazare, könne ihr magischer Bann mich nicht mehr erreichen.
Aber auch diese Annahme ist zu verneinen; denn die Tablette, die sie dem Percy Macdonald gab, hat auch bei dem Pater Lazare noch immer ihre Wirksamkeit behalten.«
So war es in der Tat.
Señor Lazare war auch in dieser, seiner eigenen Körperform, noch immer gegen die Angriffe von Tieren geschützt.
Das hatte er bisher freilich nur in Bezug auf blutgierige Insekten konstatieren können. Das aber auch bis auf die letzten Stunden.
Noch vorhin hatten die Gorkhas viel unter Mücken und Moskitos zu leiden gehabt. Der kleine Fremde hatte niemals eine zu verscheuchen oder totzuschlagen brauchen, keine einzige ging ihn an, was den anderen nicht weiter aufgefallen war.
»Gewiss«, fuhr der Pater in seinem Selbstgespräche fort, »diese Kosakin ist wirklich eine Schamanin. Aber alles, was sie kann, beruht nicht auf Zauberei, sondern läuft nur auf ganz natürliche Geheimnisse hinaus, welche die anderen Menschen eben noch nicht kennen.
Ich selbst habe ja jetzt das Rezept zu diesen Tabletten in Händen — oder vielmehr im Kopfe — ich kann sie selbst machen, werde es auch hier tun, und wenn die Bereitung des Mittels auch mindestens vier Wochen dauert — ich habe ja hier mindestens fünfzig Tage Zeit, bis mir die nun erst recht ganz und gar rätselhafte Truhe der Peris als Belohnung winkt, von der ich —«
Der Pater brach ab.
Ein furchtbares Geheul war erschollen, aus ziemlicher Ferne kommend, das heißt wohl von unten, und er befand sich in der vierten Etage.
Er trat an eines der beiden Fenster.
Zum ersten Male blickte er hinaus und hinab, oder wenn er es schon einmal zufällig getan, so hatte er doch nichts gesehen, seine Gedanken waren nur mit dem roten Löwen und dem gelben Golde beschäftigt gewesen.
Er blickte in einen Hof, an dessen Wänden sich vergitterte Nischen befanden, Käfige, in dem sich Raubtiere aller Art tummelten, Panther und Tiger und Löwen und andere, auch afrikanische Löwen. Der indische ist bedeutend kleiner, sieht auch anders aus.
Also der Raubtierzwinger des Maharadschas, ohne den geht es bei diesen orientalischen Fürsten nicht ab; genau so wie früher an unseren Fürstenhöfen.
Sie tummelten sich in ihren Käfigen, wurde gesagt. Das heißt, sie befanden sich in größter Aufregung, rannten und sprangen hin und her und übereinander weg und wiesen auch einmal einander die Zähne und brüllten dazu.
Dazu hatten sie offenbar einen guten Grund.
Da war nämlich in der Mitte des Hofes eine Vorrichtung, deren Zweck sich nicht leicht verkennen ließ, dieses hölzerne Podium — wenigstens wer es schon einmal gesehen hatte, erkannte es gleich wieder.
Eine Richtstätte!
Zum Kopfabhacken.
Und die Bestien wurden jedenfalls mit dem Fleische der Hingerichteten gefüttert, und sie merkten, dass jetzt etwas für sie kam.
Richtig, da wurde er schon von den Henkersknechten geführt gebracht, der Delinquent.
Es war ein Chinese.
Dass er Akvakar hieß und von Beruf Geigenbauer war, konnte Señor Lazare natürlich nicht wissen.
Es ging sehr fix, ohne weitere Zeremonie, ohne Gebet und Seelsorge für das Jenseits.
Hinauf auf das Podium, niedergedrückt, den Kopf festgehalten, was der lange Zopf so hübsch erleichterte, ein nackter Kerl schwang ein furchtbares Schwert.
Da wurde der Gang der Handlung unterbrochen.
Die Bestien hatten sich umsonst gefreut und schon mit der Zunge geleckt.
Ein anderer Mann kam angerannt, schreiend und winkend.
Was er schrie, konnte der Pater nicht verstehen.
Jedenfalls aber schlug der Scharfrichter nicht zu, senkte harmlos sein Schwert, dem Delinquenten war vorläufig das Leben geschenkt, er wurde wieder abgeführt.
Weshalb?
Maharadscha Bahadur oder sein Kammerdiener Abisur, einer von den beiden war querst auf den Gedanken gekommen, und das noch rechtzeitig, um die Hinrichtung zu verhindern.
Der so überaus geschickte chinesische Geigenbauer sollte doch erst lieber noch eine zweite Kopie von der Truhe der Peris anfertigen.
Für den Alchemisten dort oben, als Belohnung für seine Goldmacherei, für seine hundert Millionen Rupies.
»Schade!«, sagte der Pater, weil ihm der Anblick der Hinrichtung entgangen war.
Er sah so etwas gern, sehr gern.
Dafür sah er sofort etwas anderes, das ihn sehr interessierte, ihn aber auch gleich in die allergrößte Aufregung versetzte.
Von hinten, wo er nicht hinsehen konnte, kam in diesen Hofraum ein mächtiger schwarzer Wagen gefahren, spitz zulaufend, genau wie eine Granate aussehend, nur von ungeheuren Dimensionen.
Der Pater machte ein Gesicht, als traue er seinen Augen nicht.
»Bei allem, was lebt, das ist der Dschagganath!«
Er kannte diese Riesengranate also schon.
Wusste davon jedenfalls mehr als der Prinz, denn er kannte sogar ihren Namen, den sie bekommen hatte.
Dschagganath, im verdorbenen VulgärDialekt des Hindustani Jaggernaut ausgesprochen. Das ist ein anderer Name für Krishna, den Gott des Krieges. An seinen heiligen Festen wird ein kolossaler Wagen herumgefahren, und wer sich, von der Begeisterung erfasst, freiwillig darunter wirft und sich von seinen Rädern zermalmen lässt, der geht sofort ins Nirwana ein oder genießt sonst eine Seligkeit.
Die Riesengranate fuhr im Kreise herum an den Raubtierkäfigen vorbei.
Die Bestien hatten noch mehr getobt, als sie merkten, dass ihnen das leckere Menschenfleisch entgangen war, aber von dem schwarzen Ungeheuer zogen sie sich schleunigst samt und sonders mit eingekniffenem Schwanze in ihre Löcher zurück.
Das hatte der unsichtbare Führer des Automobils wohl nur konstatieren wollen, was es auf diese Tiere für einen Eindruck mache.
Jetzt hielt die Granate, die Hintertür öffnete sich, es war der Maharadscha, der herausstieg.
Er wollte sich wohl an einem Rade etwas zu schaffen machen, da kam Abisur angerannt.
Was er sagte, konnte der Pater nicht verstehen, wohl aber, was der Maharadscha in furchtbarster Aufregung schrie:
»Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr!«
Die Tür der Granate zugeschmettert und dem Kammerdiener vorausgerannt, in einer Weise, wie es sich für einen Kaiser eigentlich nicht ziemt, wenn es nicht gerade auf den Feind losgeht.
»Was soll nicht wahr sein?«, dachte der Pater. »Etwa dass das kein echtes Gold wäre?«
Sorglos lächelnd hatte er es gedacht.
Er wollte noch einmal die beiden aus den Silberrupies hergestellten Goldklümpchen betrachten, die er vorhin in einen Tiegel gelegt hatte, nur um sich an dem Golde, an der Wahrheit zu erfreuen.
Er kam nicht dazu.
Die Tür wurde geöffnet, ein Mann trat herein, der dem Alchimisten zur Verfügung gestellte Laboratoriumsdiener, der hier überall Bescheid wusste, der die Kohlen besorgte und anderes mehr.
»Hat mich der Sahib —«
Der Mann kam nicht weiter.
Er wurde immer von einem kleinen Hündchen begleitet, einem winzigen Dingelchen, das ewig am ganzen Körper zitterte, vor Angst, das sich vor jeder Fliege fürchtete.
Es war schon wiederholt mit in dieses Laboratorium gekommen, vor dem fremden Mann fürchtete es sich erst recht, verkroch sich hinter seinem Herrn, aber verlassen tat es ihn doch nicht, folgte ihm auf Schritt und Tritt.
Anders jetzt.
Kaum hatte der Mann das Laboratorium betreten, als das Hündchen mit einem wütenden Gekläff hinter ihm vorgeschossen kam, auf den Pater los, und auch gleich mit den Zähnchen in dessen Wade festsaß!
Lazare schlenkerte kräftig sein Bein, und diesem Ruck waren die Zähnchen doch nicht gewachsen, das Hündchen wurde gegen die Wand geschleudert.
Aber es ging sofort wieder auf den Pater los und biss sich wieder fest!
Da hob der Pater mit einem sehr unchristlichen Fluche den anderen Fuß, mit einem derben Lederschuh bekleidet, ein Tritt, ein Stampfen, ein Knirschen von Knochen und er hatte das Hündchen einfach totgetreten, ihm den Kopf zermalmt.
Wehklagend stürzte der Inder auf die Knie nieder, nahm es auf, sprang empor und rannte jammernd zur Tür hinaus.
Der Pater war leichenblass geworden.
Nicht wegen der beiden Hundebisse, diese Zähnchen hatten ihm nicht viel tun können, dieser Missionar der Wildnis hatte ganz andere Narben, zum Teil von Raubierzähnen und Pranken herrührend, an seinem stählernen Körper!
Sondern der Pater dachte an etwas.
Er hatte etwas wie eine Vision.
Er sah sich plötzlich wieder in dem Coupé des Expresszuges sitzen, als Percy Macdonald, der Lady Lionel gegenüber, und sie hatte eine Brillenschlange in der Hand, er fühlte nochmals deren Giftzähne wie Nadelstiche in seinem Handgelenk.
Auch diese Vision des Paters wurde unterbrochen, sie verwandelte sich in Wirklichkeit.
Plötzlich schwirrte durch das offene Fenster ein Schwarm großer Bremsen herein, und wie die schwärmenden Bienen, die einen Gegenstand suchen, an denen sie sich, eine förmliche Traube bildend, anhängen, so stürzten sich diese blutgierigen Ungeheuer der geflügelten Insektenwelt auf den Mann, im Nu hatten sie seinen Kopf, seine Hände, seinen ganzen Körper dicht bedeckt, bohrten ihren Stechrüssel durch die Kleider.
Señor Lazare wäre vielleicht rettungslos verloren gewesen.
Wie man verloren ist, zu Tode gemartert werden kann, wenn man von einem Schwarm wütend gemachter Bienen oder Wespen angefallen wird, was ja häufig genug vorkommt, wenn nicht ein Wasser in der Nähe ist, in das man hineinspringt und untertaucht.
Doch dieser Pater wusste sich mit schneller Geistesgegenwart in anderer Weise zu helfen, wozu freilich außer der Erfahrung auch die günstige Gelegenheit vorhanden sein musste.
Mit einem Satze hatte er eine auf dem Laboratoriumstische stehende Flasche ergriffen, den Glasstöpsel heraus, die Flüssigkeit in die Luft gespritzt und über sich selbst ausgegossen!
Sofort entstand eine beizende, atemversetzende, lungenzerfressende Atmosphäre.
Es war eine starke Lösung von Chlor in Wasser.
Ja, dieses Chlorgas zerfrisst die Lungen.
Andererseits muss jeder Chemiker Chlorgas genug schlucken, im großen, gemeinschaftlichen Laboratorium täglich, und es schadet seiner Gesundheit nichts.
Es ist ja und war auch hier ja nur eine ganz geringe Menge Chlor, die sich der atmosphärischen Luft beimischte.
Diese Insekten freilich waren diesem ätzenden Gestank nicht gewachsen. Der Chlorgeruch ist ihnen noch unerträglicher als der von Ammoniak, aus dem sich einige Insektenarten, die sich mit Vorliebe an gewissen Örtern aufhalten, wo sich immer etwas Ammoniak entwickelt, also wie auf Misthaufen, ja gar nicht so viel machen.
Sofort summten die Bremsen wieder auf, stürzten sozusagen Hals über Kopf wieder zum Fenster hinaus, nicht eine blieb zurück.
Der Pater hatte nur wenige Stiche abbekommen.
Aber er war noch fahler geworden dann vorhin, und seine blassen Lippen bebten.
Und da kam es über diese zitternden Lippen, woran er schon vorhin gedacht hatte, als ihn das Hündchen angefallen.
»Wehe Ihnen, wenn Sie mir einmal untreu werden!
Ich bin eine Medea, die Tochter eines Schamanen, selbst eine Schamanin!
Ja, durch dieses Zaubermittel wird Sie kein Tier mehr angehen, scheu wird sich jeder Tiger und jedes andere Raubtier vor Ihnen zurückziehen, keine Schlange wird Sie beißen, keine Mücke stechen!
So lange ich will!!
Wenn ich aber anders will, dann wird dieses selbe Zaubermittel auch anders wirken, gerade das Gegenteil verursachen!
Dann bilden Sie geradezu einen lockenden Köder für jedes Tier!
Befinden Sie sich in einer Gegend, wo sich viele Tiger und Panther aufhalten — sie werden Sie zu finden wissen!
Durchschwimmen Sie ein Gewässer, in dem sich nur ein einziges Krokodil aufhält — es wird von Ihnen wie von einem Magneten angezogen, um Sie zu zermalmen!
Sie werden alle Schlangen der ganzen Umgebung auf sich ziehen!
Schwärme von Moskitos werden sich auf Sie stürzen und Ihnen noch bei lebendigem Leibe alles Blut aus dem Körper zapfen!
Legionen von Ameisen werden Sie überwältigen und Ihnen bei lebendigem Leibe die Eingeweide ausfressen!
Genug! Ich habe gesprochen!
Wehe, wenn Sie an mir einmal zum treulosen Verräter werden sollten!«
So hatte der Pater mit bebenden Lippen geflüstert.
Er hatte Wort für Wort das wiederholt, was ihm damals die Lady Lionel gesagt, als hätte er es sofort auswendig gelernt.
»Das sonst so furchtsame Hündchen hat mich wütend angefallen, ein Schwarm Bremsen hat sich auf mich gestürzt —«
Der Maharadscha trat ein, mit furchtbar grimmigem Gesicht und drohenden Augen.
»Hund verfluchter!! Ha, zitterst Du, elender Betrüger, schon?!«
Der Pater wusste, dass er tatsächlich zitterte und hatte mit einem Ruck diese Schwäche wieder überwunden.
Sonst wusste er natürlich nicht, was der wollte.
»Was schmähst Du mich? Was nennst Du mich einen Betrüger?!«
»Du Hund wagst auch noch zu fragen?! Ist das etwa Gold, he? Ist das Gold? Das ist Malagma!«
Mit diesen Worten hielt der Maharadscha die Reibschale hin, die er mitgebracht hatte.
In dieser lag als Hauptsache ein quadratischer Block, von derselben Größe wie der Goldblock, den er vorhin mit hinausgenommen hatte, aber der war jetzt nicht mehr gelb, sondern weiß, aber auch nicht wieder zu Silber geworden, sondern man sah ihm die weiche, schmierige Beschaffenheit gleich an, wie er auseinander fließen wollte.
Nein, Gold war das nicht.
Das war Käse!
Und das hatte der Maharadscha nämlich auch gesagt.
»Ist das etwa Gold? Das ist Käse!«
Malagma ist ein arabisches Wort und heißt sowohl Erweichung wie Vermischung. Der Unterschied kann nur durch die verschiedene Schriftweise ausgedrückt werden. Die arabische Schrift kennt nämlich wie die hebräische keine Vokale, sie drückt diese durch die sogenannten diakritischen Punkte aus. Deshalb eben ist die klassische Schriftsprache des Korans, während das VulgärArabisch der Umgangssprache ganz leicht ist, so ungeheuer schwierig zu erlernen.
Wenn der Araber den aus Milch gewonnenen Quark mit Salz und statt des Kümmels mit Anis und Mastixkörnern vermischt, so nennt er das Produkt ganz richtig Malagma, Vermischung.
Also das ist sein Käse.
Nun bedeutet dasselbe Wort aber auch Erweichung. Vielleicht deshalb, weil der Käse doch immer weicher wird.
Dann ist hieraus ein Wort der Chemie geworden. Für alle Quecksilberverbindungen.
Wir Abendländer aber haben durch eine Verdrehung der Buchstaben aus Malagma das Wort Amalgam gemacht. Wie solche Verdrehungen so häufig vorkommen. In der altmexikanischen Sprache heißt die Bohne, aus der man mit Zucker Schokolade macht, Kakoa, wir sagen Kakao, und der Engländer sagte Cocoa.
»Ist das etwa Gold? Das ist Käse!«
Der Pater starrte in die Schale. Ja, das war ein schöner, recht schliffiger Backsteinkäse geworden!
Er griff ihn an und griff gleich durch und durch, hatte den schönen Käse dann an den Fingern kleben.
Musste das denn aber derselbe Würfel sein, der sich so verwandelt hatte?
In der Schale lag auch noch der silberne Löffel, das heißt nur der Stiel, durch den das breite Stahlband lief. Dieses ging auch noch weiter, aber dort hinten klebte kein Goldklumpen mehr daran, sondern ebenfalls weißer Quarkkäse, und wie der Pater den Stiel hob, kleckerte der Quark davon herab.
»Das kann doch nicht dasselbe ursprüngliche Silber sein —«
»Hund, denkst Du, ich will Dich täuschen?«, stieß der Maharadscha immer grimmiger hervor.
»Ja, was hast Du denn mit dem Golde gemacht?«
»Was ich damit gemacht habe? Gar nichts! Auch meine Goldschmiede nicht! Sie haben das Gold nur durch gewöhnlichen Strich geprüft, ohne Säurebehandlung, und plötzlich verwandelte sich das vermeintliche Gold in ihren Händen in Käse, in wenigen Minuten war es geschehen, und immer weicher wird der Teufelsspuk!«
»Aber das ist doch bei meinem Gold nicht der Fall!«
Der Pater ging hin, nahm den Tiegel, in dem sich die beiden aus den Silberrupies hergestellten Goldklümpchen befanden, er selbst blickte erst hinein, als er den Tiegel dem Maharadscha hinhielt.
Da aber sah er keine Goldklümpchen mehr darin liegen!
Das waren ebenfalls zwei kleine Käse geworden.
Weiße, weiche, schmierige Massen.
Der Maharadscha hielt sich nicht weiter mit der Untersuchung dieser beiden neuen Käsesorten auf.
Ein vereinigtes Brüllen der Bestien dort unten gab ihm ein, was er jetzt zu sagen habe.
»Du wärest der zwölfte, der mich zu betrügen sucht! Aber an Dir fränkischem Christenhunde will ich einmal ein Exempel statuieren! Hörst Du dort unten die Panther und Tiger und Löwen hungrig brüllen? Wenn Du mir innerhalb von fünfzig Tagen nicht die hundert Millionen Gold geschaffen hast, wirst Du diesen Raubtieren lebendig vorgeworfen!«
Der Maharadscha sprach's, donnerte es und verließ das Laboratorium.
Und der Pater stand, wo und wie er gestanden, als er die verschiedenen Käsesorten angestarrt hatte. In der einen Hand die große Reibschale, die ihm der Maharadscha zurückgelassen, in der anderen den kleinen Tiegel.
Ja, wie war das nur möglich?
Nun, wie ist es denn überhaupt möglich, dass ein Metall, Quecksilber, noch viel schwerer als Blei, genau doppelt so schwer wie Eisen, eine vollkommene Flüssigkeit bildet?
Für uns ist das ja etwas ganz Selbstverständliches. Quecksilber ist eben flüssig. Wir kennen es nicht anders.
Wenn man aber die Sache mit etwas anderen Augen betrachtet oder wenn man einmal einen so etwas lichten Moment hat, der Erdgeist den Schleier etwas lüftet, dann denkt man wohl daran, dass hier doch eigentlich ein ganz ungeheuerliches Rätsel der Natur vorliegt.
Das metallische Kalium schwimmt auf dem Wasser und verbrennt durch Oxidation unter Flammenerscheinung, auf dem Quecksilber schwimmt eine Kanonenkugel. schwimmt bis in alle Ewigkeit darauf herum, das sonst unzerstörbare Gold aber verwandelt es in eine Art Seife — man kennt sich gar nicht mehr aus, da hört jede wissenschaftliche Logik auf!
Und was kennen wir denn schon für Naturgesetze, wie viele?
Jedenfalls noch nicht in dem Verhältnis eins zu hunderttausend.
Unsere Nachkommen in tausend Jahren mögen ja nicht schlecht lachen über unsere heutige Stümperei! Und wieder tausend Jahre später wird wieder über die gespottet. Und so geht das immer weiter.
Das heißt, solche Erwägungen stellte unser Pater jetzt nicht an.
Er dachte auch gar nicht so sehr an den Käse, auf den er niederstarrte.
Er dachte mehr an das Goldstängelchen, das er noch in der Tasche hatte, von Lady Lionel vor seinen Augen aus Quecksilber transmutiert, und da brauchte er nicht erst nachzusehen, ob sich dieses etwa auch unterdessen in eine Käsestange verwandelt hatte.
Das war und blieb Gold, das wusste er!
Weshalb aber hatte sich hier sein künstliches Gold in Käse verwandelt?
Er dachte an das Hündchen, das ihn zweimal in die Wade gebissen hatte, oder doch dorthin, wo sonst normale Menschen ihre Waden haben. Bei diesem ausgedörrten Männchen war davon nicht viel vorhanden.
Und er dachte an die Bremsen.
Und dann fing er wieder zu flüstern an:
»Wehe, wenn Sie mir einmal untreu werden, wehe, wenn Sie an mir einmal zum treulosen Verräter werden sollten!«
Der Pater hörte zu flüstern auf.
Wieder hatte sich die Türe geöffnet, drei Riesengestalten von Gorkhas marschierten herein.
Sie sagten nichts, sie streckten ganz einfach die Hände aus, um ihn zu greifen.
Aber der Pater hatte keine Lust, sich greifen zu lassen.
Denn er dachte wieder etwas.
Es war nicht nötig, dass er gerade an Johann Friedrich Böttger dachte, den der Kurfürst August der Starke auf der Festung Königstein einsperrte.
Da gibt es noch einige Dutzend anderer Goldmacher, die ebenso eingesperrt worden sind und auch noch ganz anders, bis sie irgendwie verschwanden, vielleicht auch einmal an einem mit Flittergold beklebten Galgen aufgehangen wurden.
Und der Pater hatte also keine Lust, ein anderes Logis zu beziehen, wo die Fenster vergittert waren, wo er niemals wieder heraus konnte, wo man ihn nur herausholte, um mit ihm andere Experimente vorzunehmen.
Dem musste er zuvorkommen.
Und dieser bibelfeste Jesuitenpater wusste sich zu helfen.
Dem ersten Manne, der die Hände nach ihm ausstreckte klatschte er für 160 Mark Käse ins Gesicht.
Denn das waren doch ursprünglich vier Pfund Silber gewesen, das Pfund zu vierzig Mark — die Rechnung stimmt ganz genau.
Dieser Häscher griff nicht weiter zu, der hatte für 160 Mark Käse in den Augen.
Dafür griff der zweite Häscher schnell zu, hatte den Pater schon gepackt, zunächst wenigstens beim Kittel.
Da aber verwandelte sich der Pater in den keuschen Joseph und machte es genau so wie der.
Nur dass es nicht Potiphars Weib war, dem er seinen Kittel in den Händen ließ.
Und da stand der keusche Joseph schon auf dem Fensterbrett in sehr eleganten, seidenen Unterkleidern.
Hinabspringen wollte er nicht. Aus der vierten Etage, das war ihm doch etwas zu hoch; wenn auch schon solche Sprünge ausgeführt worden sind, auf harten Boden hinab, ohne dass es der Gesundheit etwas geschadet hat, meistenteils aber schadet es ihr doch.
Nein, springen wollte der Pater nicht. Aber er hatte vorhin, da er nun einmal zum Fenster hinaus aufmerksam Umschau gehalten, auch gleich das Rohr gesehen, das ein wenig seitwärts vom Fenster vom Dache aus bis auf den Boden hinablief.
Also eine Dachrinne, aber keine so gewöhnliche wie bei uns, aus verzinktem Eisenblech, sondern aus Kupfer; bedeutend dünner als die unsrigen, dafür aber konnte man annehmen, dass das Blech stärker war.
Es war riskant, sich dieser Blechröhre anzuvertrauen, in einer Höhe von mehr als zwanzig Metern! Da bietet ein Blitzableiter einen viel sichereren Abstieg.
Der Pater prüfte nicht erst lange, hatte keine Zeit dazu, er griff herum und hing sich auf Tod und Leben daran!
Er rutschte hinab.
Was freilich leichter gesagt als getan ist, an solch einer Dachrinne hinabzurutschen.
Wenn man da erst richtig ins Rutschen kommt, von der vierten Etage aus, da wird man wohl direkt ins Jenseits rutschen.
Aber dieser Jesuitenpater verstand die Sache, als habe er Zeit seines Lebens niemals eine Treppe zum Abstieg benutzt, sondern immer nur eine Dachrinne.
Er rutschte schneller als der schnellste Fahrstuhl hinab, in wenigen Sekunden hatte er alle Etagen hinter sich, rutschte mit derselben Schnelligkeit auch noch am Parterre vorüber und landete dann doch ganz gemächlich auf festem Boden.
»Haltet ihn, fasst ihn, fangt ihn!«
Der Pater merkte, dass dies nicht nur die drei Gorkhas dort oben aus den Fenstern schrien, sondern auch hier unten erklang es so, und da kamen auch schon um die Ecke herum und aus einem Portal heraus eine ganze Menge Kerls gerannt, was sie rennen konnten.
Aber so gut wie dieser Jesuitenpater konnten sie alle nicht rennen. Der rannte wie ein Zulukaffer, die ja die besten Läufer in der Welt sein sollen. Solche Sätze machte vielleicht das Riesenkänguru, seine Füße schienen gar nicht den Boden zu berühren.
Die Riesengranate war sein Ziel, nach der nun auch alle die brüllenden Männer ihren Lauf lenkten.
Der Pater erreichte sie weit zuerst, er fingerte an der hinteren Wand herum.
Er musste schnell fingern, sich beeilen, denn da kam den Männern voraus ein gewaltiger Königstiger angejagt, ein gezähmter, aber nicht zahm für andere Menschen, und er wurde gehetzt.
»Fass ihn, Sarras, pack ihn!«
Noch fünf solcher Sätze und der Tiger musste sein Opfer erreicht haben.
Und der Pater konnte die Sicherung nicht lösen, von der er nur gehört haben mochte, welche die Tür öffnete.
Er sah dort den gelb und schwarz gestreiften Tod kommen, und dennoch gab er die rechte Hand frei, um nur noch mit der linken zu fingern, zu tasten und zu drücken.
Freilich tat er es nur, um die rechte Hand zu seinen Schutze zu gebrauchen.
Auch in dieser Unterkleidung hatte er hinten eine Tasche, er zog einen Revolver hervor, einen ganz kleinen, zierlichen Damenrevolver, mit Elfenbein und Perlmutt schön ausgelegt, so ein zierliches Dingelchen, bei dessen Anblick sich ein Selbstmordkandidat skeptisch fragte, ob er nicht doch lieber zum Strick greifen soll.
Das schöne Dingelchen knallte, nicht lauter als ein Tesching, wie eine Kinderpeitsche.
Und der Tiger machte mitten im vorletzten Sprunge. der ihn noch von seinem Ziele trennte, in der Luft eine ganz merkwürdige Drehung, kam natürlich wieder auf den Boden, aber nur, um sich dort hinzulegen und mit einem Röcheln alle viere von sich zu strecken.
Die Kugel war ihm durchs Auge ins Gehirn gedrungen, und da genügte auch ihre Erbsengröße.
Jetzt wurden die rennenden Männer von einer riesigen Bulldogge überholt. Ein zweiter Knall und sie legte sich neben den Tiger hin, um nicht wieder aufzustehen.
Der Pater fingerte weiter mit der linken Hand, blickte einmal hin und dann schnell wieder dorthin, wo die Männer angestürmt kamen.
Tiere schienen nicht mehr zu kommen.
Nun, dann schoss der Pater mit seinem Pistölchen nach menschlichen Augen.
Einmal — zweimal — dreimal — viermal.
Die vier vordersten der rennenden Männer waren gestürzt.
Aber es kamen immer noch mehr, noch viel mehr angestürmt!
Die linke Hand des Paters tastete noch immer, die rechte hatte noch den Revolver erhoben.
Hatte dieser noch einen siebenten Schuss?
Oder glaubte er etwa, diese fanatischen Inder einschüchtern zu können?
Der erste, der ihn erreicht hatte, wollte ihn packen.
Da zuckte die Hand mit dem Revolver zurück und zuckte wieder vor, und jetzt war das kein zierlicher Damenrevolver mehr, sondern in eiserner Faust ein furchtbarer Totschläger — zwischen die Augen getroffen brach der Mann lautlos zusammen.
Gleichzeitig kam ein zweiter angestürmt, der bekam einen Tritt in den Leib, dass er wimmernd zu Boden stürzte und dort sich vor Schmerzen wälzte.
Der dritte kam, und der war bewaffnet, schwang ein blitzendes Schwert, war bereit, es zu gebrauchen, es auf den Pater niedersausen zu lassen.
Wieder zuckte dessen rechte Hand mit dem Revolver über den Kopf zurück.
Wie wollte er denn diesen neuen Angreifer niederschlagen?
Ehe er dazu kam, hatte der ihm doch schon mit dem langen Schwerte den Kopf gespalten oder ihn durchbohrt.
Und doch, des Paters Arm schnellte schon vorher vor, aber die Hand hielt den Revolver nicht fest, ließ ihn im rechten Moment fahren, jetzt verwandelte sich das zierliche Revolverchen in ein Wurfgeschoss, es sauste durch die Luft und traf den Schwertträger zwischen die Augen, mit einer furchtbaren Wucht, sodass der Mann ebenfalls sofort zu Boden stürzte, um sich nicht sobald wieder zu erheben, wenn ihm nicht gleich die Stirn zerschmettert worden war.
Immer neue Feinde, und der vorderste jetzt war gar mit einer langen Lanze bewaffnet, die er beim Laufen waagerecht hielt.
Und der Pater war waffenlos!
Doch nein, ein Griff nach hinten, und er hatte aus jener Tasche auch einen Dolch gezogen, ein Zuck, ein Blitz, und mit dem Dolch im Herzen stürzte auch der Lanzenträger nieder, noch zehn Schritte von ihm entfernt.
Und jetzt hatten die Finger der tastenden linken Hand die richtige Stelle gefunden, die Tür war offen!
Jetzt erst krachten einige Schüsse — die Kugeln und Schrote klatschten nur gegen die Panzertür, die der Pater bereits hinter sich zugeschmettert hatte.
Von der mit dem Revolver bewaffneten Faust des Paters zwi-
schen die Augen getroffen, brach der Mann lautlos zusammen.
Die Erzählung dieses Kampfes nahm mehrere Minuten in Anspruch. In Wirklichkeit hatte sich dies alles in ebensoviel Sekunden abgespielt!
Es war ja Schlag auf Schlag gegangen.
Dieser Jesuitenpater hatte einmal gezeigt, was er leisten konnte, wie er sich zu wehren verstand, wenn man ihm ans Leben gehen wollte!
Ein Tiger, eine Dogge und acht Menschen — dort lagen sie — zusammen zehn Stück — aber zehn Sekunden hatte er sicher nicht dazu gebraucht, um die abzufertigen, es war noch schneller gegangen, vom ersten Schuss an gerechnet bis zum letzten Dolchwurf.
Jetzt befand er sich im Innern des Automobils, von Panzerplatten umgeben.
Aber in Sicherheit war er immer noch nicht.
Immer noch ein neuer Gegner trat ihm hier entgegen, ein riesenhafter Gorkha, den der Maharadscha bei einer letzten Fahrt mitgenommen und zurückgelassen hatten
Als Gegner trat er dem Pater entgegen?
Die Panzerplatten waren jetzt nicht durchsichtig, der Mann hatte nichts gesehen, nur das Schreien gehört, ohne viel zu verstehen.
Nun ja, es wurde irgend ein Flüchtling verfolgt.
Jetzt wurde die Tür aufgerissen, ein fremder Mann sprang herein, den er gar nicht kannte.
Wer war das?
Was wollte der hier?
Aber sollte er wegen dieses kleinen, armseligen Männleins wirklich erst nach einer der in seinem Gürtel steckenden Waffen greifen, nach Dolch oder Pistole, oder gar das gewaltige Schwert ziehen?
Er kam nicht in die Verlegenheit, dieses kleine Männlein kam ihm gefällig schon zuvor.
Ein Griff, ein Zuck, und mit dem eignen Dolch im Herzen stürzte der einzige Wärter, der sich im Automobil befand, zu Boden.
Diese Szene hatten die draußen freilich nicht sehen können.
Jetzt war es nur die Riesengranate, mit der sie es zu tun hatten, und diese wurde lebendig.
Sie wollten die Türe öffnen, die sie nicht einmal sahen, und noch weniger konnten sie das Ungetüm aufhalten, wenn sie auch die Finger und die ganzen Hände in die Löcher der Räder steckten und diese sich abquetschen ließen.
Ja, die Riesengranate musste für sie jetzt ein lebendiges, selbstständiges Wesen sein, und so wollen auch wir sie betrachten, als ob sie die Handlungen nach eigener Überlegung ausführe.
Sie fuhr einmal im Kreise herum, hielt auf ein offenes Tor zu, schien hinein und hindurch fahren zu wollen, überlegte es sich anders, ging rückwärts, überfuhr dabei zwei Menschen, sie sofort zu Brei zerquetschend, nahm eine immer schnellere Fahrt an und sauste mit voller Gewalt gegen die vier Meter hohe Hofmauer.
Dann konnte man sehen, dass diese ein Meter dick war. In der Bresche konnte man das konstatieren, welche die Riesengranate gelegt hatte.
Noch prasselten die Steine zusammen, eine Wolke von Kalkstaub verhinderte zuerst den Blick durch diese Bresche, dann aber sah man die Riesengranate schon weit entfernt über eine Wiese jagen und gleich darauf im angrenzenden Walde verschwinden.
Auf der Wiese hatte sie unter sich einen menschlichen Körper fallen lassen.
Es war der Gorkha, der seine Wächterdienste mit dem Tode bezahlt hatte.
Den Dolch hatte er nicht mehr im Herzen, auch seine anderen Waffen nicht mehr im Gürtel, ebenso fehlten ihm, wie bald konstatiert wurde, die Ringe an seinen Fingern und andere zum Teil sehr kostbare Wertsachen, und einer der Daumen, an denen die Inder sehr häufig ebenfalls Ringe tragen, die ihnen aber wegen der breiten Form dieses Gliedes in besonderer Weise angelegt werden müssen, dann nicht wieder abgehen, war dem Manne gleich abgeschnitten worden.
Zu alledem hatte der Pater, mit der Führung des Fahrzeugs beschäftigt, noch oder schon Zeit gehabt, während er doch eben erst durch die Mauer gebrochen war, was aber doch auch schon eine ganz genaue Kenntnis dieses Automobils voraussetzte, das also den Namen Dschagganath führte, der Streitwagen des indischen Kriegsgottes.
Wir wollen gleich noch eine andere Szene schildern, die sich etwas früher ereignete. Es werden dadurch für später viele Erklärungen erspart.
Der kolossale Palast mit seinen weitläufigen Nebengebäuden bildete also einen ganzen Stadtteil für sich, machte fast den dritten Teil von ganz Katmandu aus.
Doch konnte der Zutritt für solche, die sonst nicht hinein gehörten, nicht allzu schwierig sein, selbst bis ins Innerste hinein. Natürlich der eigentliche Palast und die sonstigen Wohnräume ausgeschlossen.
Sonst aber trieben sich doch überall sehr viel Fremde herum, die nicht zum Schlosspersonal gehörten.
So auch in den Pferdeställen, von denen der kaiserliche Marstall mit einigen hundert Pferden immer noch nur einen kleinen Teil bildete, waren hier doch auch die Rosse der 15 000 Gorkhas untergebracht, welche der Maharadscha aus seiner eigenen Tasche zu unterhalten hatte!
So trieben sich auch in dem kaiserlichen Marstall zahlreiche Individuen herum, die mit den Pferden gar nichts zu tun hatten, die meist an dem Personal Geld verdienen wollten: bettelnde und auch wahrsagende Fakire und Derwische, Gaukler, die sich produzierten, zum Teil mit einer ganzen Menagerie, Hausierer mit Waren aller Art. In den Gängen herrschte ein vollkommenes orientalisches Straßenleben; sogar Schreiber und Geldwechsler hatten ihre Tischchen aufgestellt, auch vermummte Weiber gingen einzeln spazieren oder wurden gruppenweise von Eunuchen oder indischen Wächtern geführt.
Bemerkenswert war, dass die Pferde außer einigen wenigen, die in geschlossenen Boxen gehalten wurden, gewöhnlich weil sie Füllen hatten, ganz frei standen und dass neben jedem Sattel und Zaumzeug hing, zum Teil äußerst kostbar, alle Metallteile mindestens von Silber, aber auch von Gold, manchmal mit echten Steinen besetzt, und dasselbe galt von den Waffen, die speziell zu jedem Pferde gehörten, und diese Waffen hingen ebenso offen in Griffnähe eines jeden Passanten.
Aber ein Diebstahl kam hier gar nicht vor. Schließlich ist das ja auch nichts anderes als in jedem orientalischen Basar, wo doch auch alles ganz offen liegt, wie bei uns im Warenhause und in manch anderem großen Geschäfte.
Eine polizeiliche Kontrolle wurde allerdings doch ausgeübt. Besonders die zahlreichen einzelnen Weiber, die alle vermummt waren, ob sie nun Mohammedanerinnen oder Buddhistinnen oder Jüdinnen, wurden von besonders gekennzeichneten Beamten häufig aufgefordert, ihre Schleier zu lüften. Zwar musste jede und jeder überhaupt eine Erlaubnismarke haben, um hier herein zu kommen, aber diese war eben ganz leicht zu erlangen, gegen wenige Kupfermünzen, die dem Tierasyl zuflossen, weiter geprüft wurde der Eintretende nicht.
Und es konnte ja doch sein, dass sich unter den Weiberkleidern und unter den Schleiern ein notorischer Dieb verbarg, von denen es natürlich auch in Nepal genug gibt.
Das Entschleiern geschah dezent in einer Ecke, der Beamte war stets ein Eunuche, und es ging auch sonst dabei aufs höflichste zu. Und selten geschah es, dass solch eine Vermummte zweimal belästigt wurde. Diese Polizisten hatten nichts weiter zu tun, da hatten die doch ihre Erfahrung, hefteten der einmal Visitierten vielleicht auch ein geheimes Zeichen an; dann aber ganz sicher unbemerkbar für jedes andere Auge.
»Folge mir, Schönste aller Schönen, dass ich Dein Antlitz bewundern kann.«
So sagte jetzt einer dieser Polizisten zu solch einer Vermummten, sagte es wahrhaft zärtlich mit nicht zu lauter Stimme.
So spricht ja nun freilich bei uns kein Polizist zu einer zweifelhaften Dame.
Denn diese vermummten, einzeln sich herumtreibenden »Damen« waren ja meist gute Nummern!!
Bei uns hat aber auch kein Polizist so eine hohe Fistelstimme.
Es war ein strammes, großes Weib, wenn auch nicht gerade von auffallender Größe, wie alle anderen dunkel und ganz schlicht gekleidet, das ihm in eine Ecke folgte, die von der Wand und einer Box gebildet wurde.
Dem belebten Gange den Rücken wendend, schickte sie sich an, das dicke Kopftuch zurückzuschlagen oder beiseite zu schieben.
Nur einem Fremden konnte es auffallen, dass sie dabei nicht ihre Hände, keinen Finger zeigte. Handschuhe tragen die Orientalen nicht, sie behalten ihre Hände, die sie aber so wenig wie ihr Gesicht zeigen dürfen, immer unter den Gewändern und wissen durch viele Übung trotzdem alles geschickt zu greifen und jede Verrichtung auszuführen.
Aber das Weib lüftete ihren Schleier überhaupt gar nicht. Sie hatte erst nur so getan, fuhr mit der verdeckten Hand unter das Kopftuch und brachte ein beschriebenes und mit Siegel versehenes Papier zum Vorschein, das sie dem Polizisten hinhielt.
Dieser verbeugte sich.
Es war eine Palastdame. Oder sie brauchte auch nur zum dienenden Personal zu gehören. Oder es konnte auch von draußen eine ganz gewöhnliche Dirne sein. jedenfalls aber besaß sie einen speziellen Erlaubnisschein, hier nach Belieben zu verweilen, der nur von einem hohen Palastbeamten ausgestellt sein konnte.
Der Polizist hatte kein Recht, von ihr das Lüften des Schleiers zu fordern, hatte sie ganz unbelästigt zu lassen!
Er durfte ihr auch kein geheimes Zeichen, dass sie schon visitiert war, freilich mit ganz negativem Erfolge, anheften, sonst wäre doch diese ganze Einrichtung illusorisch gewesen.
Doch der Polizist hatte sich nur aus Galanterie verbeugt, wie er es überhaupt gegen jedes Weib getan hätte, das er visitiert, auch wenn er es dann zum Tempel hinausgejagt oder gleich hinter Schloss und Riegel geführt hätte.
»Noch nie habe ich solch ein bezauberndes Antlitz mit solchen Gazellenaugen gesehen!«, quäkte er wie immer, und wenn er auch die scheußlichste Fratze erblickt hätte
Das Weib tat, als ob es das Kopftuch wieder zunestele.
Dabei blickte sie in die Box, neben der sie stand, konnte mit den Augenlöchern gerade bis an den Rand der Barriere reichen, musste sich auf die Fußspitzen räkeln, wenn sie richtig hineinsehen wollte.
»Was ist denn das für ein komisches Pferd?«, rief lachend ihre etwas tiefe Altstimme, die aber gerade zu der ganzen Gestalt passte.
Es war der Schimmel des Paters, dort an der Wand hing der englische Sattel, daneben des Prinzen Schweizer Doppelstutzen.
Ja, der Gaul sah ganz merkwürdig aus, merkwürdiger denn je. Hinten und vorn ganz klapperdürr und in der Mitte aufgeblasen wie ein Luftballon.
Der Polizist beeilte sich mit einer Erklärung, konnte aber nichts weiter sagen, als dass dieses Phänomen von einem Gaule einem fremden Manne gehöre, der heute mit dem Maharadscha gekommen war, den er wohl von seiner Auslandsreise mitgebracht hatte.
»Ja, was ist denn nur mit dem Tiere los? Ist es denn krank? Der ganze Leib ist ja fürchterlich aufgebläht.«
Der Polizist wusste es nicht.
»Es scheint auch nichts fressen zu wollen!«, meinte er.
Denn der Schimmel hing trübselig seinen Kopf in den hohen Futterkasten hinein, ohne dass man ihn fressen sah.
Wie es die höheren Tiere gewöhnlich tun, wenn sie sich krank fühlen. Sie möchten gern fressen, aber sie können nicht. Besonders bei Hunden kann man es recht deutlich beobachten. Gerade der magenkranke Hund kann sich am wenigsten von seinem gefüllten Fressnapfe trennen und eifersüchtig wacht er, dass kein Rivale kommt und etwas davon nimmt, obgleich er selbst nichts davon genießen kann.
Aber das Urteil über diesen Schimmel war ein falsches gewesen, sein Leib war nicht krankhaft von Gasen aufgetrieben.
Ein Pferdeknecht betrat die Box, schüttete in den Futtertrog einen großen Sack Gerste, womit in Nordindien die Pferde allgemein gefüttert werden, im Süden mehr mit ungeschältem Reis. Außerdem kommen noch wie überall in Arabien und ganz Nordafrika reichlich Datteln hinzu. Die echten arabischen Pferde werden in der Jugend auch mit sehr viel rohem Fleisch gefüttert.
Und sofort begann der Schimmel die Gerste mit Gier zwischen seinen außergewöhnlich langen, starren Zähnen, die ihm immer aus dem mageren Maule hervorsahen, zu schroten.
Die Sache war also die, dass der Futtertrog einfach leer gewesen war! Deshalb hatte er so trübselig hineingestiert, weil er hungrig gewesen.
Aber der so furchtbar aufgeschwollene Leib?
Der indische Pferdeknecht gab die Erklärung, in seiner Weise, sich kein Blatt vor den Mund nehmend, und auch das Hindustanisch ist reich an kräftigen Ausdrücken.
»Dieses vierbeinige Christenluder tut nischt weiter als fressen und sch ...«
Ja, wenn man tiefer in die Box hineinblickte, auf den Boden hinab, dann sah man allerdings, was für eine ausgezeichnete Verdauung dieser für magenkrank gehaltene Gaul hatte!
Der Polizist und die »Dame« lachten herzlich.
Dabei aber funkelten die Augen der letzteren immer lebhafter und begehrlicher in den Schleierlöchern, je länger sie die aufgeblasene Jammergestalt betrachtete.
Denn die daneben stehenden Nepaler Rosse, das war ja nun freilich etwas ganz anderes!
»Das ist ein amerikanisches Pferd!«, sagte sie jetzt.
Die Zuhörer wunderten sich nicht besonders, das aus dem Munde eines indischen Weibes zu vernehmen.
Dann war das eben eine vornehme Gorkhanin, und die reichen Nepaler machen ebenso wie alle anderen Inder, die es sich leisten können und Interesse dafür haben, oft genug Reisen nach Europa, der Westen Amerikas ist ihnen noch näher, in San Francisco sitzen außer Chinesen auch sehr viele indische Kaufleute, oder man denke daran, dass ja der ganze Handel von Südafrika wie in Sansibar in indischen Händen ist, und da werden häufig auch die Familien mitgenommen.
Die Inder sind nur politisch unterjocht, sonst spielen sie in der ganzen Welt dieselbe Rolle wie die Juden in Europa, sie bilden die Geldmacht, ziehen als Zwischenhändler einen größeren Nutzen aus allem Handel als England.
»Du warst in Amerika, Edle?«
»Schon zweimal mit meinem Vater.«
»Sind die Pferde dort alle so hässlich und mager?«
»O nein. Dort sind die Pferde sogar meist ebenso schön wie bei uns, nur nicht gar so groß; aber das ist ein texanischer Mustang.«
»Was ist das?«
»Ein wildes Pferd, das keinen Herrn hat.«
,Die sind alle so hässlich?«
»Wenigstens die in den texanischen Savannen sind alle sehr wenig schön, haben so starke Fesseln, sind mager und knochig, aber die ausgezeichnetsten Tiere, wenn man sie nur zu behandeln versteht.«
»Du sprichst von Amerika, als stäke unter Deinen Gewändern Rufas, der Räuber!«, lachte der Polizist.
»Dich plagt die Maja mit Wahnsinn!«, erlang es ärgerlich unter dem Kopftuch.
»Rufas, der Räuber?«, fragte der Pferdeknecht, aufmerksam werdend.
»Ja. Der ist doch lange in Amerika gewesen.«
»In Amerika?«
»Das weißt Du noch nicht? Dann weißt Du sehr wenig, Freund. Der hat auch schon in den amerikanischen Bergen geräubert. Fressen denn diese Pferde in Amerika auch so viel?«
»Ja, die Mustangs, wenn sie es bekommen!«, entgegnete das Weib. »Sie fressen, bis sie platzen wollen. Dafür können sie dann aber auch drei Tage und noch länger hungern, ohne an Schnelligkeit und Ausdauer einzubüßen. Genau wie unsere Esel. Was ist das dort für ein Gewehr?«
»Das des Franken.«
»Kann ich es einmal bekommen?«
Gewiss, der Pferdeknecht konnte es ihr geben.
Sie nahm es, wieder ohne die Hände zu zeigen, und wieder leuchteten ihre Augen wahrhaft gierig auf, als sie es näher betrachtete und den komplizierten Verschluss der Kammer mit ganz sachkundiger Hand öffnete.
»Wie bekommst Du das auf?«, wunderte sich denn auch gleich der Pferdeknecht. »Ich habe es vorhin vergebens versucht, andere auch, niemand brachte es fertig, selbst der Büchsenmeister nicht.«
»Ich kenne die Büchse.«
»Diese?«
»Das Fabrikat. Es ist ein Schweizer Stutzen.«
»Woher weißt Du denn das nur alles, Schöne?«, staunte der Polizist.
»Ich war mit meinem Vater dort, wo diese Büchsen gemacht werden.«
»Ist Dein Vater ein Waffenhändler?«
Jäh wandte die Vermummte den Kopf, zornig funkelten ihn die Augen aus den Schlitzen an.
»Wie kannst Du mich über so etwas fragen?!«
»Verzeihe!«, murmelte der Polizist gedrückt, der ihren besonderen Pass gesehen hatte.
Das Weib gab die Büchse zurück, betrachtete noch einmal mit leuchtenden Augen den aufgedunsenen, immer weiter schlingenden Gaul, und dann wandte sie sich und verlor sich unter der anderen Menge.
»Was hast Du, Abisur?«, fragte der Maharadscha betroffen.
Denn sein Kammerdiener, für den er wenigstens galt, zitterte förmlich an allen Gliedern, brachte kaum ein Wort heraus.
»Ist Akbakar schon hingerichtet? Nun, dann gibt es noch andere geschickte Tischler, die so einen Kasten nachmachen können.«
»Nein, das nicht — Akbakar lebt — wehe, dass er noch lebt —«
»Was ist denn nur?«
»Akbakar behauptet, dass die Truhe, die ich ihm brachte, die falsche wäre, diejenige, die er selbst gemacht hätte.«
Ach Du großer Schreck.
Dann hätte der Prinz also versehentlich die echte ausgehändigt bekommen!
»Das ist nicht wahr!«, schrie der Maharadscha.
»Er hat mir seinen Strich mit dem Punkt gezeigt, jetzt sehe ich ihn auch!«
Hin in die Werkstatt des chinesischen Geigenbauers, dem man vorläufig seinen Kopf geschenkt hatte, damit er noch solch eine Arbeit ausführe.
Akbakar blieb bei seiner Behauptung, diesen schwarzen Kasten habe er selbst gefertigt, hier sei doch der Strich und der Punkt.
Er verstand den Kasten auch ohne besondere Gewalt wieder zu öffnen.
Es entstiegen ihm keine siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig Peris, er machte innen einen ganz frischen Eindruck, dazu die Scharniere und das neue Schnappschloss — der Maharadscha brach vor Schreck fast zusammen.
Er hatte sich selbst betrogen, war in die eigene Falle gestürzt!
Der Prinz hatte richtig den echten Perisanduk ausgehändigt bekommen!
In einem anderen Gemache raffte sich der Maharadscha wieder zusammen.
»Abisur, was nun tun?!«
»Ihm den Kasten wieder abnehmen.«
»Wie das?«
»Ihm Reiter nachschicken, ihm sagen, er habe den falschen Kasten, und wenn er's nicht glaubt, wird er ihm mit Gewalt abgenommen.«
»Hund, was wagst Du mir da vorzuschlagen?!«, fuhr der Maharadscha empor. »Er hat mein Fürstenwort, er hat meinen Schutzbrief!«
Abisur hätte ja wegen dieses Fürstenwortes einige Bemerkungen machen können — er tat es nicht.
»Natürlich dürfen es keine Gorkhas sein.«
»Wer sonst?«
Erst blinzelte der Getreue einmal listig mit den Augen.
»Rufas ist unten im Marstall.«
»Was für ein Raman?«
»Rufas, der Amerikaner.«
»Rufas, der Amerikaner?«, wurde verständnislos wiederholt.
»Rufas, der Sadjat.«
Sadjat heißt so viel wie Student.
Ja, Rufas, den Studenten, den kannte der Maharadscha allerdings.
Es war ein äußerst talentierter, ein hochgenialer Jüngling gewesen, der Stolz sowohl der hohen Schule für Islam wie für Philosophie, besonders für Astronomie, er war auf Regierungsunkosten, also auf Kosten des Maharadschas, nach San Francisco geschickt worden, um sich dort, wo sich eine der ersten Sternwarten der Welt befindet, weiter in der Astronomie auszubilden, natürlich auch die Universität zu beziehen.
Aber der indische Jüngling hatte mehr gebummelt und gelumpt als studiert, bis er zuletzt unter die Räuber gefallen war, im buchstäblichen Sinne des Wortes. Er war in der Sierra Nevada als Rufas, der Radschpute, einer der gefürchtetsten Banditenführer gewesen, viele Jahre lang.
In den ersten beiden Jahren, als sein indischer Name und seine Herkunft noch nicht so bekannt gewesen waren, hatte er sich sogar immer noch das aus Nepal geschickte Geld für seine Studien und seinen Lebensunterhalt von der Post abgeholt.
Bis er dann wieder in seiner Heimat aufgetaucht war, um die in Amerika gesammelten Kenntnisse zum Wohle seines Vaterlandes zu verwerten.
Also um auch hier sein Räuberleben weiterzuführen, als Anführer einer Bande von desertierten Gorkhas, für die es keinen Pardon mehr gab.
Er war der verwegenste aller Banditen, er dehnte seine Beutezüge bis in die innersten Straßen der Hauptstadt aus.
War aber gerade deshalb, wie das nun einmal so ist — nicht nur in derartigen Ländern wie Nepal — der vergötterte Held und Liebling des Volkes, wenigstens desjenigen, dem nicht viel zu nehmen ist und dem er auch wirklich nichts nahm — weil es sich eben gar nicht erst lohnte.
»Rufas, der Räuber!«
»Rufas, der Räuber«, bestätigte Abisur.
»Wo ist er?«
»Im Marstall.«
»In meinem Marstall, hier in Katmandu?!«
»In Deinem Palaste.«
»Wie ist das möglich?!«
»Er ist als Weib verkleidet.«
»Woher weißt Du das?!«
Der brave Kammerdiener lächelte nur.
»Schurke, Du steckst mit diesem Räuber wohl gar unter einer Decke, machst mit ihm Geschäfte?!«, fuhr der Maharadscha drohend auf.
Aber der brave Kammerdiener ließ sich nicht einschüchtern, er lächelte schlau.
»Glaubst Du denn wirklich, edler Fürst, ich hätte damals die schöne Georgierin, nach der Du so heiß begehrtest, für nur zehntausend Rupies oder überhaupt für Geld bekommen?«
Schnell wandte sich der Maharadscha ab, um jenem nicht in die Augen blicken zu müssen.
Er hatte ja gewusst, dass das kein ehrliches Gschäft gewesen war.
»Dieser Rufas, der Räuber, wird dem Franken auch die Truhe der Peris wieder abnehmen.«
»Tue es, veranlasse es«, wurde seitwärts mit der Hand abgewinkt, »nur mich lasse aus dem Spiele «
»Aber Rufas, der Räuber, fordert einen besonderen Preis.«
»Wofür?«
»Für die Wiederherbeischaffung der Truhe.«
»Wie kann er denn schon wissen —«
»Um dieses neue Geschäft weiß er allerdings noch nicht. Aber schon für das, weshalb ich ihn jetzt hierher bestellte, forderte er einen ganz besonderen Preis.«
»Und was ist das?«
»Kein Geld, keine Schätze. Die hat dieser Räuber gar nicht mehr nötig. Er verlangt das Pferd und das Gewehr des Franken dafür, den Du mitgebracht hast und der jetzt Gold machen soll.«
»Den elenden Gaul?«
»Er soll sich auf der Reise ausgezeichnet bewährt haben. Und Rufas fordert den Schimmel und die Büchse des fremden Mannes.«
»Ich werde mit dem Spanier deswegen sprechen, er muss es mir ablassen.«
Aber der Maharadscha fragte nicht erst.
Seine Juweliere und Chemiker sagten ihm, dass aus dem vermeintlichen Golde, das sie jetzt prüfen sollten, eine Art von Käse geworden war.
Bald darauf wurde der dürre, schwanzlose Schimmel mit dem kugelförmigen Wanste aus der Box geführt, durch Türen hindurch, die kein Fremder, auch nicht das gewöhnliche Personal öffnen durfte, und ebenso verschwand der Schweizer Stutzen und die Munitionstasche vom Nagel.
Und wieder bald darauf erfuhr der Maharadscha, dass der spanische Gold- und Käsemacher durchgebrannt war und die Riesengranate mitgenommen hatte.
Das war nun freilich dazu angetan, um dem Fasse den Boden auszuschlagen, nämlich der Gemütsverfassung des Maharadschas Bahadur.
Es war eine trostlose, furchtbar zerrissene Gebirgshalde, welche der Prinz passierte, nachdem er vor drei Stunden die Stadt Katmandu verlassen hatte.
Wenn er seinen eigenen Spuren nicht folgen konnte, so hätte er den Rückweg nach Katmandu nicht wieder gefunden, auch dieser Hinterwäldler und Pfadfinder nicht.
So hatte ihn sein unsichtbarer Führer, der ihn aber selbst wohl beobachten konnte, immer kreuz und quer durch Schluchten und Engpässe und über Halden gelenkt, gleich nach dem Verlassen des schmalen Tales, in dem Katmandu liegt, hatte er seitdem keinen Menschen mehr erblickt.
Er war dabei nicht eben zur Eile angetrieben worden, aber er hatte auch keine Rast machen dürfen.
Es wäre auch schwer gewesen, den Reiter zu besonderer Eile anzutreiben. Immer schwieriger war der Weg geworden, der freilich nicht markiert war, eben eine wilde, fast vegetationslose, unbewohnte Gebirgsgegend, und jetzt auf dieser Halde vermochte sein Tier kaum noch Platz für seine Hufe zwischen den zahllosen spitzen, dicht aneinander liegenden Steinen zu finden, es verweigerte manchmal den Gehorsam, wollte nicht weitergehen, obgleich es ein Gebirgspferd war, mit scharfen, ausgezeichneten Hufeisen beschlagen.
Schon längst war die Sonne hinter der westlichen Gebirgswand verschwunden, zwar herrschte noch der Tag, aber bald musste die Dämmerung anbrechen, die Sonne unter dem geografischen Horizonte versinken.
Da hielt der Prinz, wohl zum ersten Male, gerade an einer Stelle, wo das Pferd gut ausschreiten konnte.
»Hier ist es? Was denn? Was, hier soll ich die Kiste mit den siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig Jungfrauen begraben? Ja, was zum Teufel habe ich sie denn da erst holen und so lange mitschleppen müssen?«
Er wickelte das Lasso von den Hüften, schlang das eine Ende über den Kopf des Pferdes, stieg ab, schwang das andere Ende um einen Felsblock und zog sein langes, schweres Jagdmesser.
»Ich bin bereit, den Totengräber zu spielen, aber ich kann nur mit dem Messer schaufeln, Schippe und Hacke habe ich nicht einstecken. Nicht? Gar kein Grab notwendig? Feuerbestattung? Hier gibt's kein Holz und ich habe nicht einmal Streichhölzer bei mir, nur Stahl und Feuerstein. Wie? Grab schon vorhanden? Also wohl Erbbegräbnis? Hier? Stein wegwälzen?
Welchen Stein?«
Das heißt, seine Fragen und Bemerkungen wurden — wenigstens wie er sicher glaubte — nicht verstanden, er amüsierte sich mit solchen Äußerungen nur in seiner Weise.
Er wurde dirigiert, es war ein größerer Stein oder kleinerer Felsblock, den er zur Seite wälzen musste.
Darunter zeigte sich eine Vertiefung, die noch hohl gelegen hatte, nichts weiter.
»Das ist das Erbbegräbnis der Peris? Da liegt aber noch keine drin. Hier also soll ich die siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig Jungfrauen beisetzen? Gleich so, wie sie sind? Mich nicht erst einmal überzeugen, ob sie auch wirklich tot sind? Na, dann meinetwegen.«
Er holte den schwarzen Kasten aus der Tasche hervor, der gerade in die Vertiefung hineinging.
»Hätte eigentlich höllische Lust«, brummte er dabei, »erst einmal nachzusehen, was da eigentlich in dem Kasten steckt, für den Almansor so eine fahrbare Panzerfestung und überhaupt ein Wunder der Erfindungskunst hergibt und mich deswegen hier so in der Welt herumquält. Wenigstens nur einmal so ein bisschen hineingucken, wie die siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig Peris, die doch ausgereifte Jungfrauen von menschlicher Größe sein sollen, da hineingepresst worden sind. Dagegen muss ein vollgepfropftes Heringsfass doch der reine Tummelplatz sein. Nur einmal so ein Löchelchen hineinmachen. Habe an meinem Nickfänger einen Korkenzieher. Aber lieber nicht. Erstens könnte es Almansor sehen und zweitens — die siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig Jungfrauen könnten explodieren. Also den Stein einfach wieder darauf wälzen? Schön.«
Er tat es, es wurde ihm auch noch zutelegrafiert, dass es gar nicht so genau darauf ankäme.
»So. Ruhen Sie sanft, meine Damen. Amen. Kein Kreuz darauf setzen? Nicht sonst was? Na, dann nicht, das ist ja ein billiges Begräbnis. Auch keine Spuren verwischen? Alles nicht nötig? Weiter reiten? Gut, wird gemacht.«
Er schwang sich wieder in den Sattel, löste das Lasso und ritt weiter, immer oder doch von Zeit zu Zeit dirigiert werdend.
Es ging stark bergab, in eine Schlucht hinein, die sich bald verbreiterte, durch die ein Bach floss, an dessen einem Ufer starkes, aber fast blattloses Unterholz gedieh.
»Hier soll ich halten? Für die Nacht lagern? Das ist ja alles recht schön und gut, auch dass Sie daran denken, dass ich einmal müde werden kann und des Schlafes bedarf, aber — Herr Almansor, hören Sie mich denn wirklich nicht sprechen? Ist nicht hier in der Nähe ein Hotel oder eine Restauration? Wo man so etwas wie ein Beefsteak von einem halben Meter Länge bekommen kann? Dann will ich mich gern auf Ihren Befehl hier zur Nachtruhe auf den nackten Stein hinlegen. Aber ich habe nämlich seit heute Mittag nichts wieder gegessen. In dem Palaste des Maharadschas durfte ich ja nichts annehmen, auch wieder auf Ihren Befehl hin. Und wenn Sie mich nun einmal so bei der Kandare nehmen, dann müssen Sie doch auch wenigstens dafür sorgen, dass ich immer etwas Essbares finde, es brauchen mir ja nicht gerade die gebratenen Tauben in den Mund zu —«
Die Büchse hochgerissen, ein Knall, und von einem niedrigen Bäumchen stürzte tödlich getroffen ein großer Truthahn herab.
Der Prinz stieg ab, band sein Pferd wieder an und suchte an dem Truthahn zunächst nach der Schusswunde.
»Das Gewehr hat eine ziemliche Steigung, ich muss bis auf 150 Meter bedeutend mehr drunter halten als bei meinem Stutzen.«
Es war der erste Schuss gewesen, den er aus der Doppelbüchse abgefeuert, die er sich in der Waffenkammer ausgesucht hatte, und es gehörte allerdings sehr viel dazu, wenn er das ihm unbekannte Gewehr schon jetzt nach diesem ersten Schuss schon so genau beurteilen wollte, in aller Schnelligkeit auf einen Vogel abgegeben, der sich schon halb im Fluge befunden hatte.
Er suchte trockene Zweige zusammen, hieb mit dem schweren Bowiemesser stärkere Äste ab, bald flackerte ein Feuerchen, und als es die genügende Glut entwickelte, war der große, feiste und dennoch zartfleischige Truthahn gerupft, ausgenommen und ausgewaschen. Er kam an einen besonders grünen Ast zwischen zwei Gabelzweige, der Prinz drehte eifrig, während sein Pferd am Bachesrand das ziemlich üppige Gras abweidete.
Der Braten war gar, der Prinz hielt mit größtem Appetit seine Mahlzeit. Als erfahrener Hinterwäldler hatte er sich natürlich mit einer wasserdichten Salzbüchse ausgerüstet. Brot und dergleichen Stärkemehl kann man lange Zeit vermissen, aber kein Salz. Allerdings muss man es einmal erlebt haben, wenn in einer Gegend, wo es Fleisch in Hülle und Fülle gibt, das Brot und Mehl ausgeht, unter Menschen, die daran gewöhnt sind. So etwa in einem Lager von Goldgräbern in Amerika oder Australien, wo nun gerade so die richtigen Rowdies zusammen sind! Wegen eines Goldklumpens braucht noch kein Streit zu entstehen, aber wegen eines Stückchen Brotes morden sie sich gegenseitig ab, wenn auch Fleisch noch massenhaft vorhanden ist. Das ist nämlich etwas ganz Rätselhaftes, dieser Brothunger, der den Menschen erfassen kann, der einmal daran gewöhnt ist. Das ist auch so etwas, worüber wohl noch niemand berichtet hat.
Die Nacht war schon längst angebrochen.
Über dem fernen Gebirgskamm tauchte der Vollmond auf, gerade in diese Schlucht scheinend, alles mit hellem Lichte übergießend.
Der Bach rauschte ziemlich laut, was der Prinz nur im Anfang nicht so gemerkt hatte. Je mehr man sich der sonstigen Todesstille bewusst wurde, desto lauter hörte man das Rauschen.
Er hatte eine Pfeife gestopft und angebrannt.
»Wenn ich nicht den Befehl bekommen hätte, hier zu lagern — ich selbst würde niemals diesen Platz ausgesucht haben. Dort drüben die Felswand, im schwärzesten Schatten liegend, ich hier im Mondschein, dieses Rauschen des Baches — ich kann bis auf zehn Schritte beschlichen werden, von jemand, der vom Anschleichen gar nichts weiter zu verstehen braucht, der schießt mich hier weg wie eine —«
»Kut iffnink.«
Von dort oben war die Stimme glommen.
»Good evening.«
»Kut smecken das Vogell?«
»Wenn Du besser Hindustanisch oder Arabisch sprichst, so tue es, dass Du Dir bei Deinem Englisch nicht etwa die Zunge abbrichst.«
»Soll ich Dir einmal zeigen, wie gut ich schießen kann?«, fuhr denn jetzt der Unsichtbare auch auf Hindustanisch fort.
»Na da los, zeig mal Deine Kunst.«
Der Prinz hatte natürlich unterdessen überlegt, ob er nicht etwas anderes tun könne, als sich hier mit einem unsichtbaren Menschen zu unterhalten.
Aber da gab es nichts! Das dürre Gestrüpp bot nicht die geringste Deckung, der Bach nicht, kein Felsvorsprung, gar nichts!
Und von dort, wo der Mondschatten lag, kam die Stimme!
Der Prinz konnte gar nichts weiter tun, als ruhig sitzen zu bleiben und das Weitere abzuwarten. So hatte er noch nicht einmal die Pfeife aus dem Munde genommen.
Puff!
Richtig, dort oben war es aufgeblitzt. Und der Prinz hatte an seiner kurzen Pfeife keinen Kopf mehr!
»Gut, wie?«
»O ja, vorausgesetzt, dass Du mir auch wirklich gerade den Pfeifenkopf abschießen wolltest, nicht etwa mir eine Kugel zwischen die Augen setzen.«
»Siehst Du da rechts neben Dir den kleinen Kaktus liegen?«
»Wenn Du ihn siehst, werde ich ihn wohl auch sehen.«
»Pass auf, jetzt schießt ein anderer, mein Nachbar zur Linken.«
Puff! Es war tatsächlich ein ganz anderer Knall gewesen.
Und der walnussgroße Kaktus war von einer Kugel durchbohrt!
»Gut, wie?«
»Sehr gut!«, lobte der Prinz.
»Und so gut schießen wir alle, mehr als zwanzig Mann, deren Büchsen alle auf Dich gerichtet sind.«
»Gleich zwanzig? Das ist zu viel der Ehre!«
»Willst Du einmal Dein Gewehr anfassen — aber nur an der Mündung — und es von Dir schleudern, so weit Du kannst? Wenn nicht, dann schießen wir Dir erst einmal in die rechte Hand, weil die zu lange gezögert hat. Eins — zwei —«
Der Prinz hatte sein Gewehr bei der Mündung gfasst und es kräftig von sich geschleudert.
Denn hier gab es gar nichts anderes als zu gehorchen, sonst schossen die ihn zum Krüppel oder gar gleich tot, und dann war erst recht nichts mehr zu wollen.
Und wo blieb Almansor?
Der ließ jetzt nichts mehr von sich spüren.
»Und dort den Revolver im Futteral. Fort damit!
Na, wird's bald? Eins — zwei —«
Der Revolver flog samt Futteral davon.
Dann kam das Scheidemesser daran.
»Hast Du sonst noch Waffen bei Dir?«
Ein kleinerer Revolver aus der Hintertasche und der Nickfänger mit Korkzieher folgten den anderen Waffen nach.
»Sonst noch etwas?«
»Nein.«
»Du hast keine Waffen mehr bei Dir?«
»Nein.«
»Für jede Waffe, die wir dann noch bei Dir finden, erhältst Du ein Dutzend Peitschenhiebe, weil Du uns belogen hast.«
»Ich habe keine Waffe mehr bei mir.«
»So bleibe sitzen, wie Du sitzest. Stehst Du auf, wird eine Kugel Dein Bein zerschmettern; wehrst Du Dich, wirst Du getötet. Verstanden?«
»Ich habe verstanden.«
Gleich darauf tauchten aus dem schwarzen Mondschatten der Felswand, in dem absolut nichts zu sehen war, zwei Männer auf und gingen auf den Prinzen zu.
Dieser dachte daran, ob der Sprecher an die zwei vielleicht eine Null gehängt haben möchte, dass es überhaupt nur diese zwei Gegner waren; dann wäre jetzt vielleicht noch etwas zu machen gewesen.
»Hebe Deine Hände hoch!«, erklang es da dort oben.
Dieser dritte Mann genügte schon, um jede Hoffnung zu vereiteln. Der Prinz gehorchte.
Es waren zwei Gorkhas, schon nach ihren riesenhaften Körperumrissen zu urteilen, teils sehr zerlumpt, teils mit neuen Sachen herausgeputzt.
Der Prinz wollte noch nicht erwägen, ob es wirkliche Räuber waren, die es nur auf seine Waffen und Wertsachen abgesehen hatten, oder Soldaten, die ihm der Maharadscha nachgeschickt, um ihm die schwarze Truhe wieder abzunehmen, denn der Prinz wäre sehr naiv gewesen, wenn er nicht gleich auf diesen Verdacht gekommen wäre.
Die beiden schritten also auf ihn zu, aber nicht in ganz direkter Linie. Sie wollten einfach nicht in die Schusslinie ihrer oder ihres Kameraden kommen.
So traten sie hinter den Sitzenden.
»Senke Deine Arme und halte die Hände nach hinten!«, wurde oben kommandiert.
Der Prinz gehorchte. Erst fühlte er eiserne Schellen, eine Kette klirrte. und dann wurden seine Hände auch noch mit Lederriemen umwunden.
Jetzt tauchten noch vier andere Männer auf, lauter solche GorkhaGestalten.
Einer bückte sich und visitierte die Taschen des Gefangenen, strich an seinen Kleidern herum, andere suchten die nähere Umgebung ab, andere beschäftigten sich mit dem Pferde.
Sie schienen nicht das zu finden, was sie suchten.
»Wo ist Dein Mantelsack?«
»Ich habe keinen Mantelsack «
»Wo ist der schwarze Kasten?«
Da war es!
Was sollte der Prinz tun?
Er durfte nicht einmal erst fragen: »Was für ein schwarzer Kasten?«
Dazu war er zu klug, zu erfahren.
Sie hätten ihm einfach als Einleitung ins Gesicht geschlagen.
Er musterte die Gestalten, musterte die Gesichter.
Ja, das waren echte Räuber!
Nicht nur verkleidete Soldaten mit Räubercharakteren.
Woran das der Prinz erkannte?
Eben an den Gesichtszügen, mehr noch an den Augen.
Das waren Desperados, Verzweifelte, die nichts mehr zu verlieren hatten als ihr Leben.
So etwas drückt sich, wenn dieser Gemütszustand nur einige Zeit währt, wohl in der ganzen Physiognomie aus, oder es wäre nicht wahr, dass es der Geist ist, der den Körper bildet, oder man könnte einen Jockey nicht mehr von einem Strumpfwirker unterscheiden.
Und der Prinz hatte in dieser Menschenkenntnis noch mehr Erfahrung.
Wohl waren das echte Räuber und Wegelagerer, zu jeder Schandtat fähig, aber es waren einmal ehrliche Menschen gewesen, und ein Funke davon schlummerte noch in der Brust eines jeden.
Und als er dies erkannt hatte, war der Entschluss des Prinzen gefasst. Er musste ihn allein fassen, Almansor telegrafierte ihm diesmal nicht zu, was er zu sagen habe.
»Den habe ich vergraben.«
»Wo?«
»Das sage ich nicht.«
»So, das sagst Du nicht!«
»Ich habe auf Befehl dessen gehandelt, dem ich Gehorsam geschworen habe, und diese Treue halte ich unbedingt — nein, ich verrate nicht, wo ich den Kasten vergraben habe.
Klüger hätte der Prinz nicht handeln können, besonders solchen Räubern gegenüber.
Erfolg hatte es allerdings keinen — wenigstens vorläufig nicht.
»Fort!«
Der Prinz musste aufstehen und wurde in die Mitte genommen.
Diese sechs Mann waren entweder nicht zuständig, der Gefangene musste noch vor einen anderen kommen, oder sie fühlten sich nicht sicher hier.
Die Waffen wurden aufgelesen, das Pferd an den Zügel genommen.
Bei dessen ersten Schritten zeigte es sich, dass es stark auf dem linken Hinterbeine hinkte.
Es mochte sich an einem spitzen Steine den Huf verletzt haben, was sich, wie es häufig ist, erst nach längerem Stehen bemerkbar machte.
Es ging in die Felsen hinein, durch Schluchten, eine halbe Stunde lang.
In einem Felsenkessel lagerten um ein großes Feuer ein Dutzend ebensolcher Räubergestalten.
Wieder solch ein Lagerplatz, den sich der Prinz nicht ausgesucht hätte, da er sich sehr viel auf sein feines Ohr verließ.
In einer Höhe von etwa zehn Metern entsprang einer Felsenspalte eine kleine Quelle, die als dünner Wasserstrahl zuletzt ganz senkrecht herabfiel.
Viele Tropfen höhlen den Stein. Jahrhunderte lang musste dieser Wasserstrahl gearbeitet haben, um in dem flachen Granitstein, der sich unter ihm befand, solch ein tiefes Loh ausgehöhlt zu haben.
Dabei konnte man beurteilen, wie regelmäßig diese Quelle jahraus, jahrein floss, unabhängig von Regenzeit und trockener Periode, wie der Wasserstrahl fast immer ganz genau auf derselben Stelle aufschlug, denn das Wasserloch hatte kaum einen Viertelmeter Durchmesser. Es wird dies nicht umsonst gesagt, es sollte für den Prinzen noch von größter Bedeutung werden, die Regelmäßigkeit dieses Wasserstrahls.
Also das gab natürlich ein beständiges, tüchtiges Plätschern, deshalb hätte der Prinz diesen engen Talkessel nicht als einsamen Lagerplatz gewählt.
Die Räuber hatten sich wohl gesichert, hatten Posten aufgestellt.
Mit finsterer Gleichgültigkeit wurden die Ankommenden empfangen.
»Ist der Sadjat da?«
»Nein.«
Der Sadjat? Der Student? Ein merkwürdiger Name für einen Räuber, der wahrscheinlich der Hauptmann war.
Jedenfalls ein verbummelter Student.
Das sagte sich der Prinz gleich, wobei er aber nicht etwa an eine amerikanische oder europäische Universität dachte.
Die erste Universität auf dem europäischen Kontinent war in Spanien, in Salamanca, von Arabern gegründet, arabische Professoren hielten ihre Vorlesungen den wissensdurstigen Jünglingen und gereiften Männern, die aus ganz Europa nach dorthin strömten, monatelange Reisen zu Pferd und zu Fuß machend.
Vor den Arabern aber hatten schon die Inder solche Hochschulen der Wissenschaften, die wir Universitäten nennen, und die haben sie heute noch. Wir schreiben auch keine arabischen Zahlen, sondern es sind indische, die Araber haben sie uns nur übermittelt.
»Wo ist er?«
»In Sagahilla.«
Dieses Wort vermochte sich der Prinz nicht zu übersetzen. Eben irgend ein Ortsname.
»Kommt er?«
»Nein. Es soll ihm berichtet werden.«
Der Gorkha, der unter den sechs ersten den Führer gespielt hatte, nahm einen anderen vor, der Prinz konnte nichts hören, die Auseinandersetzung geschah in der Nähe der plätschernden Quelle.
Der instruierte Mann eilte im Trabe davon.
Pferde schienen die Räuber nicht zu besitzen oder sie nicht hier zu haben, der Prinz sah wenigstens keines. Es wurde ihm die Stelle bezeichnet, wo er sich niederlegen sollte, etwas abseits vom Feuer, und als er es getan hatte, wurden ihm auch noch die Füße schwer gebunden.
»Gegessen hast Du. Hast Du Durst?«
»Nein.«
Die Räuber lagerten sich wieder.
Sie machten den Eindruck, als hätten sie große Strapazen hinter sich, als hätten sie sich zwecklos erschöpft.
Finsteres oder doch verdrießliches Schweigen herrschte überall.
Nur einer fragte, ob der Anglisi da denn den schwarzen Kasten gehabt habe. Nein. Er habe ihn vergraben. Wo denn? Will's nicht sagen So.
Nichts weiter. Gar kein Interesse dafür.
Eine Viertelstunde verging. Der Prinz wartete vergebens darauf, dass ihm Almansor etwas zutelegrafiere, eine Erklärung, einen Trost, eine Hoffnung.
Jetzt, wo es einmal gerade sehr darauf ankam, schwieg sich der schwarze Skarabäus auf seiner Magengegend vollständig aus.
Nur das konstatierte der Prinz mit einiger Genugtuung, dass die linke Hinterfessel seines Pferdes schon stark geschwollen war, es stand nur noch auf drei Beinen. Morgen hätte er das Tier nicht mehr benutzen können; diese Geschwulst legte sich nicht so bald wieder.
Der abgesandte Räuber kehrte im Trabe zurück.
»Der Sadjat kommt nicht! Der Anglisi soll unter die Hawaie genommen werden, bis er gesteht, wo er den schwarzen Kasten vergraben hat. Und wenn er's nicht tut, dann soll er unter der Hawaie sterben, denn er ist der größte Schurke, den Shiva in seiner bösesten Stunde, als er über Unheil brütete, geschaffen hat. Aber er soll nicht eher unter die Hawaie genommen werden, als bis Sulkoni kommt, der soll das Verhör leiten.«
So hatte der Mann gesprochen.
Und den Körper des Prinzen überlief ein Schaudern, er wollte schon jetzt um Erbarmen flehen.
Und so wäre es jedem gegangen, der das Wort Hawaie und seine Bedeutung kennt.
Gibt es ein Mittel, um ein Geständnis zu erpressen — allerdings kann es ein falsches sein, das Geständnis einer Schuld, die der Betreffende gar nicht begangen hat — wobei auch der energischste Widerstand gebrochen wird?
Ja, es gibt solche Mittel, es gibt deren mehrere.
Zu Zeiten unserer Hexenprozesse, der Inquisition und aller anderen Gräuel der Folterkammern hat man sie nicht gekannt, sonst wären sie angewandt worden und es hätten nicht so viele Hexen und andere eines Verbrechens angeschuldigte Personen ihre wirkliche oder vorgebliche Schuld bis zum letzten Augenblick auf der Folter geleugnet, bis sie der Tod von ihren entsetzlichen Qualen befreite.
Ja, es gibt Mittel, um einen Menschen unter allen Umständen zum Sprechen zu bringen!
Merkwürdigerweise sind es ganz einfache Mittel.
Oder auch nicht so sehr merkwürdig. Es ist eben die alte Geschichte, dass alles ganz Einfache immer das Wirksamste ist.
Auch dem Aussehen nach sind alle diese Mittel ganz harmlos. Natürlich nur scheinbar; wenn man so zusieht und kennt die Sache noch nicht aus eigener Erfahrung, obgleich es so einfach ist, sie einmal an sich selbst zu probieren, nur spaßeshalber.
Als im Jahre 507 vor Christi die Stadt Rom von dem Etruskerkönig Porsenna belagert wurde, schickte der Senat einen kühnen Jüngling namens Cajus Mucius mit dem Auftrage ins feindliche Lager, den Porsenna zu ermorden. Der römische Jüngling erstach irrtümlich statt des Königs dessen Schreiber, wurde festgenommen und sollte gestehen, ob er noch Mitverschwörer habe.
Als ihm nun gedroht wurde, er würde gefoltert, langsamen Feuerqualen ausgesetzt werden, da streckte der römische Jüngling zum Beweis, dass ihn solche Kleinigkeiten nicht genierten, seinen rechten Arm über die glühenden Kohlen eines nahen Altars und ließ ihn sich langsam abschwälen.
Daraufhin schenkte ihm König Porsenna nicht nur Leben und Freiheit, sondern er gab gleich die ganze Belagerung auf. Mit einer Stadt, die von solchen Männern verteidigt wurde, wollte er nichts mehr zu tun haben.
Seitdem hieß dieser Jüngling Mucius Scaevola, das ist Linkshand, seine Nachkommen wurden meist berühmte Männer und behielten diesen Namen bei.
Hätte König Porsenna nicht erst lange mit Feuer gedroht, sondern gleich eine Wasserkur angewendet, hätte er den römischen Jüngling gleich unter die Pumpe gestellt, so würde es dann keinen Mucius Scaevola gegeben haben. Der Jüngling hätte sofort alles eingestanden, die Namen der Mitverschwörer genannt.
Man kann es in jedem Bade probieren, wo sich statt der gewöhnlichen Regendusche oben an der Wasserleitung ein Rohr befindet, das einen Wasserstrahl herabsendet. Einen kalten Wasserstrahl, gleichgültig, ob dick oder dünn, aber es wirkt wohl umso intensiver, je dünner er ist.
Nun probiere man, wie lange man das aushält, diesen kalten Wasserstrahl auf den Kopf zu bekommen, in die Mitte des Scheitels. Anfangs ist es ja ganz angenehm. Diese Einrichtung ist in großen Bädern doch dazu da, dass man sie benutzt, und das doch nicht etwa als Foltermittel.
Nun probiere man, wie lange man den kalten Wasserstrahl — der aber nicht »eiskalt« zu sein braucht — aushält. Und dann, wenn die Sache unangenehm wird, wenn man schon Schmerzen fühlt, halte man es immer noch etwas aus. Gefährlich ist die Sache nicht. Da wird man plötzlich glauben, es sei kein kalter Wasserstrahl, sondern siedendes Blei, und das dringt bis ins Gehirn, will von innen heraus den ganzen Schädel auseinander treiben.
Da muss man natürlich aufhören. Es geht überhaupt gar nicht anders. Man springt schleunigst zur Seite — und hält sich den schmerzenden Kopf.
Nun stelle man sich aber vor, man sei unter solch einem Wasserstrahl festgebunden, mit unbeweglichem Kopfe.
Ja, das kann man sich vorstellen, aber nicht, was man dann für weitere Empfindungen dabei hat.
Der Schreiber dieses hat einen Malaien, der auf einem Pilgerschiffe Amok gelaufen war, dieser Tortur ausgesetzt gesehen! Nicht zur Bestrafung, er hatte noch niemanden getötet, sondern man glaubte, ihn auf diese Weise von seinem plötzlichen akuten Mordwahnsinn heilen zu können. Die Prozedur währte nicht ganz anderthalb Minuten, dann wurde er befreit, einige Minuten später starb der Mann.
So etwas muss man außerhalb des Romans berichten. Aber was soll man denn da berichten. Es ist eben nicht zu schildern. Man kann doch nicht mitfühlen. Und doch — —.
Prinz Joachim hatte selbst schon einmal unter dem Wasserstrahle gestanden.
In SüdCarolina.
Denn in den Südstaaten Nordamerikas war das früher ein beliebtes Mittel, um Negersklaven zu bestrafen oder um ihnen ein Geständnis zu erpressen. Die Erinnerung an jene Zeiten lebt dort noch heute.
Wir wollen uns nicht mit den Episoden aus dem früheren Leben des Prinzen beschäftigen.
Kurz, er hatte einem Neger beigestanden, der unschuldig gelyncht werden sollte, der Neger war dennoch unter die Wasserpumpe gekommen, der Prinz hatte ihn brüllen hören und ihn sterben sehen, und dann war sein Beschützer selbst daran gekommen.
Keine halbe Minute hatte er darunter gestanden, dann war er befreit worden. Ob auch er so furchtbar gebrüllt hatte, das wusste er hinterher nicht mehr. Er wusste überhaupt gar nichts mehr davon. Er hatte einige Tage im Delirium gelegen, dann war er wieder völlig hergestellt gewesen, und die Erinnerung daran verstand er energisch aus seinem Gedächtnis zu streichen.
Aber das wusste er bestimmt, dass dies ein Mittel ist, um jedes, jedes Geständnis zu erpressen.
Es gibt noch andere solcher Mittel, alle ganz einfach harmlos aussehend. So das Kitzeln, wie es noch heute auf den Inseln des malaiischen Archipels angewandt wird, um verstockte Sünder zum Sprechen zu bringen, die holländischen Beamten veranlassen es, wenn es auch eigentlich verboten ist.
Dieses Mittel haben übrigens auch schon die Schweden im Dreißigjährigen Kriege gekannt und angewandt, um zu erfahren, wo die Bauern ihr Geld vergraben hatten. Grimmelshausen in seinem »Simplizissimus« schildert es ganz ausführlich.
Der Betreffende wird auf eine Pritsche geschnallt, die nackten Fußsohlen werden mit Salzwasser befeuchtet, eine Kuh oder Ziege muss daran lecken. Ist der Mann gegen das Kitzelgefühl nicht sehr empfindlich, so brauchen ihm an den Fußsohlen nur ganz, ganz feine Schnitte beigebracht zu werden, dann wirkt es ganz sicher.
Es sieht so einfach aus, humoristisch, der naive Zuschauer lacht selbst mit, bis der Delinquent gestanden oder sich totgelacht hat. Wohl ihm, wenn ein Gehirnschlag seinen Qualen bald ein Ende macht. Hierbei kann der Eingeborene auch keinen Selbstmord begehen, nicht seine Zunge verschlucken. Und das ist es eben!
Aber gekitzelt sollte der Prinz nicht werden.
»Waie« heißt Wasser und die Vorsilbe »ha« macht den betreffenden Gegenstand spitz.
Spitzes Wasser, stechendes Wasser.
Auch die Inder kennen diese Folter und haben sie früher von Rechts wegen angewandt.
Und dort war der Wasserstrahl.
Der Anglisi sollte unter die Hawaie genommen werden.
Also der Prinz war sich nicht im Unklaren, was ihm bevorstand.
Jetzt, nachdem sich sein Auge an die vom Mond beschienene Umgebung gewöhnt hatte, sah er übrigens auch die Haken und Ringe, welche dort hinter dem Wasserstrahl in die Felswand eingelassen waren, gerade so, dass man einen Menschen bequem festbinden konnte, dass der Strahl seinen ebenfalls befestigten Kopf direkt treffen musste, gleichgültig wie groß der Mensch war.
Also die Räuber hatten hier überhaupt ihre Folterkammer, wo sie ihren gefangenen Opfern Geständnisse erpressten, Schwüre abnahmen, Strafen ausführten und dergleichen mehr.
Aber was hatte der Prinz über sich selbst gehört?
Er solle unter der Hawaie sterben, ob er nun gestände oder nicht?
Weil er der größte Schurke sei, den Shiva in seiner bösesten Stunde, als er Unheil ausbrütete, geschaffen habe?
Was hatte denn der Prinz diesen Räubern getan?
Er war einfach verleumdet worden.
Oder es lag ein Irrtum, eine Verwechslung vor.
Das musste er aufklären.
Besonders weil er überhaupt entschlossen war, schon vorher zu gestehen, wo er den schwarzen Kasten vergraben hatte, die Räuber hinzuführen, ehe er sich noch einmal den Qualen des Wasserstrahles aussetzte.
Was ihm wohl niemand verdenken konnte.
Wenn ihn Almansor in solche fatale Lagen brachte durch seine Geheimniskrämerei, dann musste der auch rechtzeitig dafür sorgen, dass er daraus wieder befreit wurde. Aber dieser Almansor schwieg sich jetzt aus, gerade jetzt, wo es am angebrachtesten gewesen wäre, dass er seinem Schützling etwas zutelegrafiert hätte.
Und der Prinz hatte diesen Wasserstrahl eben schon einmal kennen gelernt.
»Hört, Leute, lasst mit Euch sprechen! Ich werde Euch angeben, wo ich den Kasten vergraben habe!«
Gerade ging ein Räuber an ihm vorüber, der Brennholz gesammelt hatte, und der schwang drohend einen schweren Knüppel.
»Schweig, Christenhund, bis Du gefragt wirst! Kein einziges Wort mehr!«
Und der Prinz schwieg.
Sonst hätte der Kerl ihm ganz einfach Nase und Zähne eingeschlagen.
An dem Lagerfeuer wurde es lebhafter. Die Räuber spielten »Kullu«, ein Brettspiel, zwischen Schach und Dame stehend, mit verschiedenfarbigen Steinen, während die Felder des Brettes einfarbig sind. So genügte es, dass sie dieses Brett auf den Boden zeichneten und die Felder durch Löcher markierten, die dünnen Steine hatten sie bei sich. Zwei spielten, alle anderen ergriffen Partei, jeder Zug wurde lebhaft kritisiert.
So verging wohl eine Stunde, niemand kümmerte sich um den Gefangenen, dessen Hand- und Fußgelenke schon arg schmerzten.
Da kamen vier neue Räuber zu Fuß, begleitet von einem englischen Jagdhunde.
Und der eine hatte einen schwarzen, zigarrenkistenähnlichen Kasten in der Hand.
»Hast Du ihn gefunden, Sulkoni?«
»Der Hund nahm die Spur sofort auf und führte direkt hin. Das Ding lag einfach unter einem Stein, gar nicht weit von hier.«
Nun kannte sich der Prinz aber nicht mehr aus!
Wenigstens war jetzt sein Glaube an Almansors Allwissenheit oder doch prophetische Sehergabe vollständig geschwunden. Was er in dieser Beziehung auch schon Eigentümliches erlebt haben mochte.
Er musste sich des Panzerautomobils bemächtigen, musste den Maharadscha drei Tage lang begleiten, in dessen Palast hineinfahren, das Automobil, dieses wirkliche Wunder, gegen einen hölzernen Kasten austauschen, musste diesen geheimnisvoll vergraben, und jetzt brauchten diese Räuber, ob sie nun von dem Maharadscha abgesandt waren oder nicht, nur eine gute Hundenase zu benutzen, um den Kasten sofort zu finden!
Nun, wenigstens blieb ihm hierdurch die Tortur erspart.
So dachte der Prinz.
Er sollte sich getäuscht haben.
Sulkoni, wie er also genannt wurde, schritt auf ihn zu.
»Bist Du der Prinz Joachim?«
»Der bin ich.«
»Warst Du vor fünf Jahren in Lahore?«
Das stimmte allerdings. Vor fünf Jahren hatte der Prinz das nördliche Indien bereist, die Provinz Pandschab.
»Du warst der Gast des Radschas von Lahore.«
»Ja, das war ich.«
»Du nanntest Dich Doktor Oskar Reichard.«
»So nannte ich mich.«
»Du bist Arzt.«
»Bin ich. Bedarf jemand von Euch meiner Hilfe?«
»Du Hund musst sterben!«
Diese plötzliche Wendung hatte der Prinz nun freilich nicht erwartet.
»Weshalb denn? Was habe ich denn getan?«
»Du Hund wagst auch noch zu fragen? Du hast damals in Lahore drei Menschen unter die Hawaie gestellt.«
»Ich?«, stieß der Prinz hervor, seinen Ohren nicht trauend.
»Ja, Du. Mit der Erlaubnis des Radschas, der Dir drei Soldaten für Deine teuflischen Experimente lieferte, und es waren nicht einmal Verbrecher, sondern drei Männer, die gerade so recht gut verschwinden konnten.
Du hast einen nach dem anderen unter den Wasserstrahl gestellt, in Deinem eigenen Zimmer im Palaste des Radschas, wo Du Dir alles so recht hübsch dazu eingerichtet hattest.
Mit der Uhr in der Hand hast Du Deine Opfer beobachtet.
Den einen ließest Du mit Absicht unter der Hawaie sterben.
Den zweiten befreitest Du schon vorher, aber er starb Dir unter den Händen.
Der dritte lebte noch und blieb am Leben, aber Du blutiges Scheusal hast ihn lebendig seziert, hast ihm die Schädeldecke geöffnet, um sein Gehirn zu beobachten. wie es da drin nach der Wassertortur aussah, während das Herz noch arbeitete.
Und dieser dritte hieß Lamloka, war ein Gorkha, einer der Unsrigen.
Oder stimmt das etwa nicht?«
Der Prinz war vor Entsetzen erstarrt.
Nur ob dieser ungeheuerlichen Anschuldigung.
Und doch, es war gar nicht so aus der Luft gegriffen!
Er hatte sich mit dem Radscha von Lahore tatsächlich über das Foltermittel der Hawaie unterhalten, das heißt der Radscha hatte davon begonnen, der Prinz wollte davon ja gar nichts hören, der hatte von seinem eigenen Erlebnis genug, und das ging so weit, dass er dem Radscha auch gar nichts davon gesagt hatte, wie er die Hawaie schon einmal an seinem eigenen Körper verspürt habe — und der wissbegierige Radscha hatte ihm tatsächlich den Vorschlag gemacht, einmal einen Menschen unter die Hawaie zu nehmen. Da müsse er, der europäische wissenschaftliche Arzt, doch noch ganz andere Beobachtungen anstellen können als so ein indischer Kurpfuscher.
Der Prinz hatte diesen Vorschlag dem Radscha nicht weiter übel genommen. Es war eben ein orientalischer Machthaber, dem kann man schon so eine Vivisektion, ausgeführt an einem Menschen, zutrauen. Damit muss man sich abfinden. Er hatte auch von einem Verbrecher gesprochen, der sowieso bald hingerichtet wurde.
Selbstverständlich hatte der Prinz den Vorschlag zurückgewiesen, hatte nichts mehr davon hören wollen.
Hatte der Radscha, der sich für die ärztliche Wissenschaft interessierte, das Experiment dennoch ausführen lassen von einem anderen Arzte, gleich an drei Menschen, an drei beliebigen Soldaten, war die Sache herausgekommen und hatte er dann die Schuld auf den fremden Arzt geschoben, auf den Dr. Oskar Reichard, der bald darauf eine neue Expedition angetreten hatte und einmal für verschollen, für ermordet erklärt wurde?
Nur so ließ sich die Sache zusammenreimen.
»Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr!«
»Es ist nicht wahr? Kennst Du den Hammed?«
Was sollte dieser ganz gewöhnliche arabische Name«
»Er war damals Dein Diener in Lahore.«
Dunkel entsann sich der Prinz, dass er damals einen Diener gehabt, der so geheißen hatte.
»Ja, das war damals mein Diener.«
»Er hat Euch belauscht, wie Du mit dem Radscha über Euer Vorhaben sprachst.«
»Das ist möglich.«
»Also Du gestehst, dass Du mit dem Radscha darüber gesprochen hast?«
»Ja, das taten wir, aber —«
»Hammed hat auch heimlich beobachtet, wie Du die drei Soldaten unter der Hawaie gequält hast.«
Plötzlich fiel es dem Prinzen wie Schuppen von den Augen.
Es war ein frecher Kerl gewesen, dieser Hammed.
Der Prinz hatte ihn einmal erwischt, wie er den Inhalt seines Koffers untersuchte, der seine wertvollsten Sachen barg, besonders seine Papiere.
Da hatte er dem arabischen Diener einige Backpfeifen verabreicht.
Wie das so ist im Orient. Ohne das kommt man bei diesem Gesindel von Dienern gar nicht aus, ja, diese scheinen sich nicht wohl zu fühlen, wenn sie nicht ab und zu Prügel bekommen.
»Er hat mich verleumdet! Er hat sich an mir rächen wollen!«
»Rächen wofür?«
»Weil ich ihn einmal geschlagen habe.«
»Hammed sprach die Wahrheit. Wir haben überhaupt die untrüglichen Beweise bekommen, dass Du die Schandtat wirklich ausgeführt hast. Wenn Du Prinz Joachim bist und Dich Doktor Oskar Reichard nanntest.«
»Das bin ich, so nannte ich mich, aber —«
»Das genügt! Jetzt wirst Du Scheusal von einem Christenhund an Deinem eigenen Leibe, in Deinem eigenen Kopfe verspüren, wie es tut, wenn man unter die Hawaie gestellt wird.«
Und der Prinz wurde gepackt und aufgehoben und nach der Quelle getragen.
Er sah sich verloren.
Er wusste, dass er sich nicht rechtfertigen konnte, man glaubte ihm nicht, da halfen keine Beteuerungen seiner Unschuld.
Das nötige Handwerkszeug war zur Stelle, die Räuber brachten Stricke herbei, über das ausgewaschene Wasserloch wurde ein Brett gelegt, um den Gefangenen darauf zu stellen.
Vorläufig wurde er noch einmal hingelegt.
»Almansor«, stöhnte er in seinem Innern, »komm mir zu Hilfe — telegrafiere mir zu, dass Du mich beobachtest, meine Lage kennst, mich retten willst — doch nein, auf Menschen ist kein Verlass — barmherziger Gott im Himmel, verschone mich vor dieser schrecklichen Todesart, sende mir einen Deiner Engel —«
Und da erschien auch schon dieser Engel!
In einer finsteren Seitenschlucht tauchte eine weiße Gestalt auf.
Im nächsten Augenblick freilich erkannte der Prinz, dass diese weiße Gestalt nichts mit einem Engel zu tun hatte.
Es war ein Pferd, ein Schimmel, auf dem eine kleine Figur saß.
Und wie ward dem Prinzen, als er in diesem Schimmel seine Silberwolke erkannte.
»Señor Lazare! Er ist vom Himmel dazu bestimmt, mich zu retten! Ob er will oder nicht. Deshalb also musste ich ihm damals mein Pferd abtreten!«
Aber schnell gewahrte der Prinz, dass hier wiederum ein Irrtum vorlag.
Es war ein Inder, der in dem englischen Sattel saß, seine kleine Gestalt war die einzige Ähnlichkeit, die er mit dem Pater hatte, sonst war er sogar ziemlich dick.
Wir wollen aber gleich sagen, dass es nicht etwa der Hauptmann war, Rufas der Student.
»Hört, Ihr Königssöhne, was ich Euch vom Sadjat zu erzählen habe, was der wieder für einen lustigen Streich gemacht hat!«
Mit diesen Worten glitt er aus dem Sattel, hing den Zügel seines Pferdes über einen der Haken in der Felswand, machte ihn auch noch besonders fest, dann schritt er gleich nach dem Feuer, nahm einen der dort stehenden Krüge und tat einen tiefen Zug.
Die Räuber ließen erst einmal den Gefangenen sein, lachend umringten sie den kleinen Dicken, der unter dieser Räuberbande wohl der lustigste Spaßmacher war, und diese finsteren Desperados mochten solch eine humoristische Abwechslung manchmal sehr lieben.
»Denkt Euch, was unser Sadjat wieder ausgefressen hat!«
Und er erzählte unter lebhaften Gestikulationen, was dieser geniale Räuberhauptmann heute Abend in einer nahen Ortschaft den Bewohnern wieder für einen Streich gespielt hatte, verbunden mit einem pikanten Liebesabenteuer, was eben der Grund war, dass der Hauptmann nicht selbst hierher kam.
Er korrespondierte mit seiner Bande nur durch Boten. Auch sein neues Pferd, das er erst seit heute Nachmittag besaß. hatte er durch einen anderen hierher bringen lassen.
Die Zuhörer brüllten vor Lachen.
Der Prinz hörte nicht hin.
Nur so viel hörte er heraus, dass die Ankunft dieses Spaßvogels die qualvolle Prozedur nicht etwa aufhob, sie wurde nur etwas verzögert. Wenn der kleine Dicke fertig war mit seiner Geschichte, würde die Sache ihre Fortsetzung finden und beendet werden, der Hauptmann brauchte nicht dabei zu sein.
Seiner Silberwolke galt des Prinzen ganze Aufmerksamkeit, er betrachtete das hässliche Pferd noch immer als einen Engel, den ihm der Himmel geschickt, von dem er Rettung erhoffte.
Dass sein eigenes Gewehr, der Schweizer Doppelstutzen, nebst Munitionstasche am Sattelknopf hing, das bestärkte ihn nur in dieser Hoffnung, es kam ihm immer mehr wie ein Zeichen des Himmels vor.
Wie das Pferd hierher kam, wo der Pater geblieben war, darüber zerbrach er sich jetzt nicht den Kopf.
Er wusste nur, was dieser hässliche Präriemustang leisten konnte und was er schon einmal geleistet hatte, ohne dass er dazu abgerichtet worden war.
Es war nicht »seine« Silberwolke.
Sie gehörte dem Leutnant Schwarzbach, dem ehemaligen preußischen Kavallerieoffizier, der in Arizona ein wilder Jäger geworden war.
Aber auch der war nicht der erste Besitzer dieses Pferdes gewesen.
Ein Indianer hatte es als Füllen auf der texanischen Prärie mit dem Lasso eingefangen, hatte es gezähmt und es einige Jahre geritten, auch noch in Arizona auf der »wilden Farm«.
Und da war es geschehen, was noch jetzt dort wie eine märchenhafte Sage erzählt wurde.
Eines Tages war dieser Indianer auf der Steinbockjagd von einem hohen Felsen herabgestürzt.
Mit gebrochenen Gliedern hatte er am Boden gelegen.
In der Nähe hatte sein Pferd gestanden, unangebunden, und auf den Hilferuf seines Herrn war es herbeigeeilt.
Aber was half es?
Der Indianer war nicht fähig, in den Sattel zu steigen, konnte mit seinen gebrochenen Armen sich nicht einmal festhalten.
Und schon machten sich Wölfe bemerkbar.
Und dennoch, er erreichte die wilde Farm auch ohne menschliche Hilfe.
Silberwolke war es, die ihn anbrachte, ihn am Gürtel zwischen den Zähnen tragend, und das in voller Flucht, von einem Rudel hungriger Wölfe verfolgt.
So hatte der Indianer noch berichten können, dann war er gestorben.
Wie gesagt, es hatte wie ein Märchen geklungen.
Doch man hatte den Schimmel ja mit seinem Herrn angestürmt kommen sehen, in voller Karriere.
Man hätte es nicht geglaubt, wenn man es eben nicht selbst gesehen hätte.
Nicht etwa, weil man nicht geglaubt hätte, ein Pferd könne einen Menschen im Gebiss tragen.
Man hat schon wiederholt gesehen, im Zirkus und auf dem Jahrmarkt, wie ein Kraftmeier mit den Zähnen Zentnerlasten aufhebt, oder er stellt sich breitbeinig auf zwei Tische und hebt so ein Pferd auf, das kein zu kleines, mageres Tier sein darf, sonst wirkt das Kunststück nicht.
Hat man das noch nicht gesehen?
Nun, wenn ein Mensch mit einem Stiernacken mit den Zähnen ein kräftiges Pferd aufheben kann, so darf man wohl glauben, dass ein kräftiges Pferd auch einen Mann von anderthalb Zentner Gewicht mit den Zähnen aufheben und in schnellem Laufe davontragen kann. Es ist für seinen muskulösen Hals tatsächlich eine Kleinigkeit. —
Nein, das war es nicht gewesen, worüber man damals so gestaunt hatte.
Wohl war dieser Schimmel dressiert, aber nicht etwa wie ein Zirkuspferd.
Er war abgerichtet, wie alle Indianer und Cowboys abrichten.
Wo ihm befohlen wurde, stehen zu bleiben, da blieb es gehorsam stehen. Wenn die drohende Gefahr nicht gar zu groß wurde. Bei Annäherung von Raubtieren hörte das auf. Es hat eben alles seine Grenzen.
Silberwolke ließ sich auch ohne Zügel und Schenkeldruck lenken, nur durch Worte.
Und hörte es von seinem Reiter die Worte »taho, taho«, dann rannte das Pferd, was es rennen konnte, so lange, bis es erschöpft zusammenbrach.
Das war dem Tiere nicht etwa in Güte beigebracht worden.
Da hatte der Schimmel erst furchtbar die Peitsche und die Sporen zu fühlen bekommen, dabei waren ihm die Worte »taho, taho!« in die Ohren geschrien worden — und wenn er nun diese Worte hörte, da sollte der Gaul wohl laufen, was er erlaufen konnte.
Aber er lief nur, wenn das derjenige sagte, der auf seinem Rücken saß, das gehörte ebenfalls mit zu dieser Dressur.
Hingegen war der Schimmel nicht einmal so weit gebracht, dass er keinen anderen aufsteigen ließ als seinen Herrn. Er duldete jeden Fremden auf seinem Rücken. Vorausgesetzt freilich, dass er sofort den kundigen Reiter mit kräftigem Schenkel und starker Faust merkte. Einen anderen hatte er durch einen Bocksprung schnell aus dem Sattel gebracht.
Der Schimmel war also alles andere als ein abgerichtetes Zirkuspferd, immer noch ein halber Wildling, nur mit Prügeldressur. Nicht etwa, dass der Schimmel apportierte oder sonst wunderbare Kunststückchen ausführte. Man hatte damals auf die verschiedenste Weise versucht, ob Silberwolke noch einmal einen Menschen im Maule forttragen würde. Der Schimmel war nicht zu bewegen gewesen, einen Mann mit den Zähnen beim Gürtel zu nehmen, wenn auch irgend eine Gefahr noch so geschickt imitiert wurde, und um ihm das nun noch beizubringen, dazu war der Schimmel schon damals zu bejahrt gewesen. Und doch, man hatte es ja mit eigenen Augen gesehen, wie das Pferd seinen Herrn im Maule herbeigetragen hatte. Und der Indianer hatte es nicht etwa dazu aufgefordert, der hatte doch an solch eine Möglichkeit gar nicht gedacht.
Die einzige Erklärung für dieses Rätsel war die, dass solche wilde und halbwilde Tiere einen besonderen Scharfsinn besitzen, der völlig gezähmten Tieren durch die künstliche Dressur immer mehr verloren geht. Die ersteren handeln nur nach eigener Überlegung, handeln nur, wenn sie handeln müssen, lassen sich nicht durch Imitationen täuschen. Das zeigt sich besonders deutlich bei Hunden. Der edle Jagdhund braucht nur zu wissen, was man von ihm verlangt, das merkt er durch eigenes Nachdenken, dann handelt er ganz selbstständig, spürt ohne weitere Anleitung das Wild auf, stellt es, weiß aber sehr wohl, das jagdbare von dem zu schonenden zu unterscheiden, und selbst die Felder, die er absuchen darf und welche nicht, welche Unterscheidungsgabe auch Dr. Alfred Brehm als ein völliges Rätsel bezeichnet. Er verteidigt seinen Herrn, wenn es nottut, reagiert aber nicht, wenn jemand engagiert ist, mit einem Knüppel auf seinen Herrn zu schlagen. Dasselbe gilt vom Schäferhund, der gar keine weitere Dressur braucht. Beide sind noch halbwilde Tiere und zeigen dennoch die höchsten Verstandeskräfte, die man von einem Hunde verlangen kann. Der Pudel hingegen ist durch das ewige Abrichten zu Kunststücken, die ihm unnatürlich sind, im Grunde genommen ein ganz dummes Tier geworden. Der Pudel begrüßt jubelnd den zum Fenster einsteigenden Dieb, weil es ein Mensch ist, der ihn in der Einsamkeit besucht. Der Pudel ist nicht der treue Freund und Genosse des Menschen, sondern der willenlose Sklave des Menschen, er hat durch die Dressiererei alles selbstständige Denken verloren. —
»Silberwolke!«
Der Schimmel hätte dem aufmerksamen Beobachter gezeigt, dass er den am Boden liegenden Mann sofort erkannt hatte.
Obgleich der Prinz das Tier doch nur einmal eine Stunde geritten hatte. Damals, als er die Ruinenstadt Gaur verließ, um es dann in dem Tigerpalaste gleich wieder zu verlieren. Aber der Schimmel hatte ihn ja auch schon in dem Kloster zu Kairo kennengelernt, auf Wüstenreisen, wenn auch von einem anderen geritten, hatte ihn immer gesehen und noch mehr gerochen, ihn oftmals beschnüffelt, während der Prinz ihn liebkoste — und der Prinz trug auch hier sein ledernes, aus Amerika stammendes Jagdgewand. —
Kurz und gut, dieser amerikanische Präriemustang witterte sofort die amerikanische Lederatmosphäre, das war eine ganz andere als die dieser Inder, das war dieselbe, die immer die Cowboys und Indianer umgab, der Schimmel merkte sofort, dass der Mann dort zu jener gehörte, vielleicht erkannte er den Prinzen auch wirklich.
Also der Gaul hatte sofort, als er angehangen worden war, Witterung nach dem Manne genommen, der nur wenige Schritte von ihm entfernt am Boden lag, hatte geschnaubt, mit dem Vorderfuße gescharrt und in anderer Weise seine freudige Aufregung ausgedrückt.
Aber, wie gesagt, nur ein aufmerksamer Beobachter hätte das merken, das heißt den Grund erkennen können. Ebenso gut konnte er seine Freude ausdrücken und scharren, weil er durstig gewesen war und nun hier frisches Wasser fand. Alle Pferde scharren, wenn sie durstig sind und wohl auch, ehe sie saufen — eine angeerbte Reflexbewegung, indem sie in wilder Freiheit das Wasser erst mit dem Vorderfuße aufrühren, schlagen, um Reptilien zu vertreiben und vielleicht auch, um oben das warme Wasser von dem unteren, kühleren wegzubringen.
Der Schimmel soff gierig aus dem Wasserloche, dabei aber immer nach dem am Boden liegenden Manne schielend.
»Silberwolke!«
Der hässliche Gaul klappte seine förmlichen Eselsohren, mit denen er gerade nach den lachenden Räubern gelauscht hatte, herum, hörte sofort zu saufen auf, und jetzt war seine Freude über dieses Wiedersehen deutlich zu erkennen.
Aber die Räuber am Feuer beachteten nicht das Pferd, sie amüsierten sich über den Witzbold.
»Komm her, Silberwolke!«, flüsterte der Prinz.
Ja, der Schimmel wollte sofort kommen. Er hätte nur wenige Schritte zu tun, nur einen Sprung zu machen brauchen, aber der über den Haken gehängte Zügel hielt das Tier fest.
»Komm, Silberwolke, komm her!«
Der Schimmel zog, ruckte heftig an der Fessel.
»Komm her, meine Silberwolke, mein gutes Tier, befreie mich!«
Der Schimmel warf mehrmals den Kopf hoch.
Wäre der Zügel einfach übergehängt gewesen, so wäre er jetzt von dem Haken abgeworfen worden.
Hatte das Pferd nun schon erkannt, dass der Zügel an dem Haken mit Knoten befestigt war, die es nicht lösen konnte?
Ganz gewiss! Oder wir dürfen nicht glauben, dass das Pferd Verstandeskräfte besitzt. Wir stehen aber gerade jetzt am Anfange einer großartigen Periode. Endlich erkennt der Mensch, dass das Pferd nicht nur ein »kluges Tier« ist, das sich durch Dressur zum Reiten und Ziehen und zu allerhand Kunststückchen abrichten lässt, sondern dass es Geistesgaben besitzt, die — alles in den Schatten stellen, was man sich jemals über den Pferdeverstand hat träumen lassen. Es kommt nur darauf an, diese Fähigkeiten aus ihnen herauszulocken. Es ist dabei an jene drei rechnenden Pferde in Elberfeld gedacht, welche die schwierigsten Exempel lösen, Kubikwurzeln ziehen und dergleichen mehr, und das mit einer Schnelligkeit, die überhaupt ganz unerklärlich ist. In dem Pferdegehirn geht dabei natürlich etwas ganz anderes vor sich als in dem menschlichen, etwas, wovon wir uns gar keine Vorstellung machen können.
Also der Schimmel hatte unbedingt erkannt, dass er den Zügel nicht von dem Haken abwerfen konnte.
»Komm her, meine Silberwolke, zu Deinem Herrn!«, flüsterte der Prinz immer wieder.
Da nahm der Schimmel den Zügel zwischen die Zähne, von deren außergewöhnlicher Länge und Stärke schon berichtet wurde, nur ein gemütliches Schnurpsen, und der erste Lederriemen war durchgebissen, dann kam der zweite daran.
Der Schimmel war frei, mit drei Schritten, ganz geräuschlos auf dem moosigen Felsen, hatte er den am Boden Liegenden erreicht.
Die Räuber merkten nichts, sie brüllten und wieherten gerade wieder einmal vor Lachen.
Und das Folgende ging schneller, als es der Prinz geahnt, zu hoffen gewagt hatte.
Nur die Schilderung des Vorganges hält einige Zeit auf.
Der Schimmel beschnüffelte das Gesicht des Prinzen.
»Silberwolke — ich bin gefangen — gefesselt — trage mich davon — hier, packe mich beim Gürtel. —«
Und der Prinz machte sich hohl, reckte den Leib in die Höhe.
»Hier, fasse meinen Gürtel — und dann mache taho, taho. —«
Der Prinz hatte noch mehr sagen wollen. Er kam nicht dazu.
Der Schimmel hatte das Gesicht sein lassen, die Nase war schnuppernd am ganzen Körper des Mannes entlang gefahren, noch über den Gürtel hinaus.
»Und dann mache taho, taho. —«
Da zuckte der Kopf des Schimmels zurück und hatte mit einem plötzlichen Biss den Gürtel mit den Zähnen gepackt.
Der Prinz wusste nicht, wie und was geschah, hätte es dann nicht beschreiben können. Plötzlich schwebte er in der Luft und wurde mit Windeseile davongetragen, dass ihm Hören und Sehen verging.
Plötzlich schwebte der Prinz in der Luft und wurde mit Win-
deseile davongetragen, dass ihm Hören und Sehen verging.
Im buchstäblichen Sinne des Wortes.
Er konnte sich doch nicht steif wie ein Ballen halten, sein Kopf und die Füße hingen weit herab, und dass er behutsam wie ein Wickelkind getragen wurde, das konnte man von dem Gaule doch nicht verlangen, der durch jene Worte zur höchsten Schnelligkeit angefeuert wurde.
Und die Schlucht war eng, und der fliehende Schimmel konnte seinen Weg nur dicht an der Felswand hin nehmen, und am Boden lagen genug große Steine, Felsblöcke.
Der Prinz fühlte einen schmetternden Schlag gegen seinen Kopf, eine Feuererscheinung vor seinen Augen, und das Bewusstsein verließ ihn.
Als er wieder zu sich kam, sah er als erstes eine brennende Lampe, eine Schiffslampe, nur oben und unten Metallplatten mit einem Handgriff, sonst ganz aus Glas, sodass das Licht nach allen Seiten strahlen kann. Eine sogenannte Toplaterne.
Diese Toplaterne stand auf nacktem Felsboden, ihr Licht reichte ungefähr vier Meter im Kreise herum, dann verlor es sich in schwarzer Finsternis.
Der Prinz selbst lag daneben auf einer Decke, die freilich nicht eben eine weiche Unterlage bot, er fühlte seinen Kopf mit einem dicken Verband umwickelt, desgleichen sein linkes Knie, und dieser Kopf und dieses Knie schmerzten ihm tüchtig, weniger die linke Hand, die gleichfalls verbunden war.
Doch sonst schmerzten ihm überhaupt alle Glieder, der ganze Körper. Das merkte er bei der ersten Bewegung, die er machen wollte, um sich emporzurichten.
»Ruhig liegen, mein Freund, ganz ruhig liegen!«, sagte da eine Stimme, bei der man unwillkürlich an den ehernen Klang einer großen Glocke erinnert wurde.
Aus der Finsternis tauchte in dem Lichtkreise eine hohe Männergestalt auf, ebenfalls ganz trappermäßig gekleidet.
Und der Prinz starrte!
Dieses ziegelrote Gesicht, aber das eines echten Germanen, nur wie aus roter Bronze gegossen, wirklich einen ehernen Eindruck machend, diese stahlblauen Augen, diese starke Nase mit dem weißblonden, kaum sichtbaren Bärtchen darunter —
»Norge!«
»Wohl, Prinz, ich bin es!«, sagte die metallene Stimme.
Und er ließ sich neben dem Prinzen auf die Decke nieder, steckte gleich eine alte Holzpfeife zwischen die Zähne, brachte aus der Hosentasche eine Platte Tabak zum Vorschein, das Jagdmesser heraus, und er begann gemächlich Streifchen von der Platte abzuschneiden, um sie dann für seine Pfeife zwischen den Händen zu zermürbeln.
»Träume ich denn?«
»Nee.«
»Bin ich hier auf dem kleinen Planeten? Auf der Astralebene?«
»Nee.«
»Wo denn sonst?«
»Auf der richtigen Erde, in Nepal, im Himalajagebirge, mitten drin im Felsen.«
»Wie kommt Ihr denn hierher nach Nepal?«
»Ich kann sein, wo ich will, mein Astralleib in anderem Fleisch und Blut ist doch nicht etwa nur auf jenen Phantasieminiaturplaneten beschränkt.«
Der Prinz ließ sich vorläufig an dieser Erklärung genügen.
»Und wie komme ich denn hierher?«
»Ich habe Euern Gaul abgefangen.«
»Wo?«
»In einer Schlucht, aber schon zwei Stunden oder mehr als 30 Kilometer weit entfernt von jener, wo Ihr unter den Wasserstrahl gestellt werden solltet.«
»Zwei Stunden hat mich Silberwolke getragen?«
»Zwei Stunden lang, und das meist in voller Karriere, soweit es in dem Gebirge möglich war. Aber Schritt gab es jedenfalls niemals.«
»Wo trug er mich hin?«
»Immer nach Süden. Ob er an ein Ziel dachte, weiß ich nicht. Habe keinen Pferdeverstand.«
»Ihr wart beordert, das Pferd, das mich trug, abzufangen?«
Eine merkwürdige Frage. Oder auch nicht. Nicht merkwürdiger als dieses ganze Zusammentreffen.
»Ja, ich war beordert.«
»Von Almansor?«
»Ja. Tut Euch der Mund noch nicht weh vom vielen Fragen?«
In der Tat, dem Prinzen schmerzten die Kinnladen beim Sprechen, obgleich er dabei kaum die Lippen bewegte.
»Vor allen Dingen benutze ich meinen Mund auch dazu, um zu gestehen, dass ich einen ganz mörderlichen Hunger habe.«
»Könnt Ihr denn etwas kauen?«
Der Prinz brauchte es nur zu versuchen, die entsprechenden Bewegungen mit dem Munde zu machen, soweit es ihm der Kopfverband gestattete, um zu merken, wie fürchterlich ihm die Kinnladen schmerzten.
Außerdem saßen ihm einige Backenzähne locker.
»Ja, Ihr seid am ganzen Körper verbeult wie eine Blechbüchse, mit der Fußball gespielt worden ist«, lachte der Norweger. »Ich habe auf Eurem Körper wenigstens einen Quadratmeter Heftpflaster verklebt.«
Ja, der Prinz merkte immer mehr, dass überall auf seinem Leibe etwas klebte.
»Habe ich etwas gebrochen?«
»Merkt Ihr denn etwas von Schienung?«
»Gebrochene Rippen kann man nicht schienen.«
»Richtig, nichts für ungut, diesmal war ich der Vorlaute. Nein, gar nichts habt Ihr gebrochen. Es ist alles noch gut abgelaufen. Denn es hätte auch anders ablaufen können. Silberwolke ist ein wackerer Gaul, aber dass er Euch wie ein Bischekind [2] trug, das war freilich von ihm nicht zu verlangen. Das war eine tolle Jagd über Stock und Stein, immer zwischen die Felsen durch. Ich hörte Euern Kopf schon zwei Kilometer weit gegen die Steinblöcke und dann gegen die Baumstämme knattern. Aber immer noch besser, als wenn Ihr unter die Hawaie gestellt worden wäret. Denn das Schicksal wäre Euch sonst nicht erspart geblieben, Ihr habt Euer Leben nur dem wackeren Schimmel zu verdanken.«
[2] »Bischen« ist ein mitteldeutscher Ausdruck für das beruhigende Schaukeln eines Babys auf dem Arm.
»Oder dies alles wäre auch gar nicht nötig gewesen!«
»Was nicht nötig gewesen?«
»Wisst Ihr, wie und wodurch ich in jene Lage gekommen war? Was ich für eine Mission ausgeführt hatte?«
»Ich weiß alles, alles, alles. Wenn ich jetzt nur wüsste, wo ich mein Feuerzeug hätte. Ach so, hier ist es.«
Der Stahl schlug auf den Feuerstein und brachte den Zunder zum Glimmen, bald erfüllte sich die Atmosphäre mit dem süßlichen, aromatischen Duft des »Overwater«. So wird dieser Plattentabak genannt, weil er allgemein in den englischen Kolonien geraucht wird, also viel übers Wasser geht. Damit er immer etwas feucht bleibt, wird er mit Honig oder Sirup getränkt. Natürlich wird er auch gekaut, aber es ist doch ein spezieller Rauchtabak, während man den speziellen Kautabak nicht gut rauchen kann.
»Ja, ich weiß, was Ihr meint. Aber, Prinz, fragt deswegen, ob dieses euer Schicksal anderswie zu umgehen gewesen wäre, den lieben Gott oder Almansor, nur mich nicht. Hunger habt Ihr? Hungern sollt Ihr nicht. Aber etwas anderes als ein Krankensüppchen gibt es für Euch noch nicht.«
Er griff hinter den Prinzen, wohin dieser noch nicht gesehen hatte, brachte eine große, bauchige Flasche mit sehr engem Halse zum Vorschein, und das war gut, der Prinz brachte die Zähne nur eben so weit auseinander, um an der Mündung saugen zu können.
Es war eine ausgezeichnete Fleischbrühe, wahrscheinlich mit Gerstenschleim versetzt, nicht sehr warm, gerade mundgerecht.
»Schmeckt's?«
»Delikat. Ist das Zeug frisch gekocht?«
»Vor drei Stunden. Es ist so eine Pulle, die alles, was man hineinfüllt, heiß oder kalt, für 24 Stunden auf ziemlich gleicher Temperatur hält. Thermophore nennt man wohl solche Dinger.«
»Drei Stunden bin ich schon unter Eurer Obhut?«
»Ja. Habe mich freilich wenig um Euch kümmern können, hatte anderes zu tun, nachdem ich Euch verbunden.«
»Dann wäre ich also fünf Stunden bewusstlos gewesen.«
»Wenn Ihr gleich die Besinnung verloren habt, als die Reise losging, würde die Rechnung stimmen, denn genau zwei Stunden hat Euch der Gaul getragen.«
»Wo ist Silberwolke?«
»Der ist bereits unterwegs nach Gandak, nach Eurer Makiburg, er wird von einem meiner Leute geritten, einem Inder. Denn hier in den Felsengängen und was wir sonst noch vorhaben, können wir kein Pferd gebrauchen.«
»Was haben wir denn vor?«
»Zunächst muss ich Euch ausheilen. Das aber wird nicht länger als einen Tag währen. Morgen schon werdet Ihr gar nichts mehr von Euren Beulen und Quetschungen fühlen. Erstens ist das alles gar nicht so schlimm, auch das Knie hat nur einen tüchtigen Fleischriss abbekommen, nichts weiter, und zweitens brauche ich einen starken, entschlossenen Mann wie Euch.«
»Wozu?«
»Um hier das Innere dieses Gebirges zu untersuchen. Und das wäre etwas für Euch, Ihr liebt doch Abenteuer und Überraschungen.«
War es natürliche Erschöpfung? Oder war dem Getränk ein Schlafmittel beigemischt?
Wie Blei senkte es sich plötzlich auf des Prinzen Augenlider herab, er streckte sich aus und schlief wieder ein.
Als er zum zweiten Male erwachte, brannte wieder die Schiffslaterne, jetzt aber beleuchtete sie eine Felsenkammer, die zur Hälfte mit Fellen und Pelzen aller Art angefüllt war, soweit solche im nördlichen Indien und speziell im Himalajagebirge von Tieren getragen werden. Der Prinz lag weichgebettet auf einem Stapel solcher Felle, seine direkte Unterlage bildete ein Bärenpelz, und dort auf einer Holzkiste standen Holzteller und andere Essgerätschaften, und daneben lehnte sein Doppelstutzen, der Patronengürtel darüber gehängt.
Kein Verband mehr, kein Schmerz mehr bei jeder Bewegung — und der Prinz schnellte auf und hin nach der Kiste.
Denn jetzt glaubte er sich fast dem Hungertode nahe, sein Magen war es auch gewesen, der ihn geweckt hatte.
Leider aber waren es eben nur leere Teller, die dort auf der Kiste standen, Messer und Gabeln und. Löffel, Salzfass und dergleichen mehr, sonst aber nichts Essbares.
»Ausgeschlafen, Prinz?«, erklang da die bekannte metallene Stimme.
Durch den niederen, engen Eingang, nur eine Felsenspalte, zwängte sich gebückt die hohe Gestalt des athletischen Norwegers herein.
»Betrachtet Ihr so wehmütig Eure Kugelbüchse oder meine Salzbüchse?«
»Die leeren Teller.«
»Die werde ich sogleich füllen.«
Er brachte schon alles mit, hatte vorn auf der Brust einen großen Schinken baumeln, und hinten auf dem Rücken ging derselbe Strick durch ein großes Brot, das also einfach durchbohrt worden war, in der linken Hand trug er eine Flasche und in der rechten schwang er wie eine Kriegskeule eine mächtige Zervelatwurst.
»Wo habt Ihr denn das her?«
»Aus meinem Proviantmagazin. «
»Aber das Brot?«
»Aus dem Ofen, ist jedoch schon einen Tag alt.«
»Das backt Ihr selbst? Schwarzbrot? Roggenbrot? In Indien sonst ganz unbekannt?«
»Prinz, wollt Ihr gefälligst solche Fragen unterlassen?«
»Ja.«
»Gut, Euer einfaches Ja genügt mir. Habt Ihr noch Schmerzen?«
»Nicht die geringsten mehr.«
»Wohl, Ihr habt auch wiederum fast zwanzig Stunden geschlafen, und meine Salben und Pflaster bewirken Wunder. Könnt Ihr auch kauen?«
»Meine Zähne und Kinnladen brennen nur noch vor Begierde, ihre Leistungsfähigkeit zu beweisen.«
Seine königliche Hoheit schlang wie ein verhungerter Wolf — aber einen nicht minder gesegneten Appetit entwickelte der Norweger, und das schien sein normaler zu sein, wie er schon einmal gezeigt hatte.
Der vorzügliche Rotwein wurde abwechselnd gleich aus der Flasche getrunken.
»Seid Ihr satt?«, fragte Norge, als der Prinz endlich mit einem tiefen Seufzer der Befriedigung sein Messer hinlegte.
»Ja, gänzlich.«
Der Norweger sagte noch etwas, hatte aber gerade reichlich ein halbes viertel Pfund Schinken in den Mund geschoben.
»Wie meint Ihr?«
Ein Schluck, ein Druck, und der Bissen war dort, wohin er gehörte.
»Ich noch nicht.«
»Geniert Euch ja nicht!«, lachte der Prinz.
»Das wäre auch das erste Mal, dass ich das täte.«
»Haltet Ihr das auch so in Eurer Dachkammer in Christiania?«
»Mit dem Genieren? Dort verkehre ich nur in der allerbesten Gesellschaft — nämlich nur mit mir selbst, sonst mit keinem einzigen anderen Menschen. Oder ob ich es auch mit dem Essen dort so halte? Dort lebe ich nur von Brot und getrockneten Fischen. Bei jährlich 400 Kronen, wovon die Hälfte für Bücher ausgegeben wird, reicht es nicht weiter.«
»Da esst Ihr in Euerm andern Ich wohl immer gleich Vorrat für jenes, das jetzt in Christiania auf dem Sofa liegt?«
Der junge Mann machte ein verdrießliches Gesicht.
»Hört, Prinz, wollt Ihr jetzt den alten Kerl in Christiania zufrieden lassen?«
»Ja.«
»Nicht mehr über dieses Doppelleben sprechen?«
»Nein.«
»Gut, ich habe Euer Wort. Dann sollt auch Ihr selbst solch ein Doppelleben nach Belieben führen können. Sobald Ihr Eure Gesellenprüfung bestanden habt.
Denn jetzt bin ich Euer Meister, der Euch in die Lehre respektive ins letzte Examen nimmt, ob Ihr würdig seid, in unserer Freimaurerloge als Geselle aufgenommen zu werden.
Darüber sagt Euch Almansor nichts mehr. Denn ich habe Euch den schwarzen Skarabäus bereits vom Leibe genommen, und er wird Euch auch sonst mit seinen elektrischen Schlägen verschonen.
Aber Ihr wisst doch, ich habe Euch bereits gesagt, dass auch ich zu jenem geheimen Bunde gehöre, und zwar nehme ich genau denselben Rang ein wie Almansor, auch ich bin nicht nur ein Meister, sondern ein Großmeister. Nur dass der die arabischorientalische Loge unter sich hat, ich die indische.
Und so erfahrt nun auch gleich noch, Prinz, dass Ihr überhaupt schon immer hier in Indien für mich tätig gewesen seid.
Nicht für Almansor, sondern für mich habt Ihr dieses Ding holen müssen, und dass ich es besitze, ist zugleich wohl meine beste Legitimation, der beste Beweis, dass ich mit an der Spitze dieser die ganze Welt umspannenden Geheimgesellschaft stehe und Euch jetzt in meine direkten Dienste nehme.«
Mit diesen Worten griff der Norweger in die untere Seitentasche seines Lederwamses.
Wohl war diese Tasche ziemlich weit, aber man hatte doch gar nichts davon gemerkt, dass sie solch eine Zigarrenkiste barg.
Es war die Truhe der Peris, die er hervorgezogen hatte.
Wenigstens hatte sie die gleiche Größe, war schwarz, war auch so verbeult, hatte oben in der Mitte die runde Kerbholzverzierung.
»Die Truhe der Peris?«
»Ja.«
»Die ich unter dem Steine verbergen musste?«
»Dieselbe. Sie wurde gleich nachher durch eine täuschend ähnliche Imitation vertauscht. So glaubt der Maharadscha Bahadur, der Euch die Räuber doch natürlich erst nachgeschickt hat, wieder in den Besitz seiner kostbaren Truhe gekommen zu sein.
Und diesem Bahadur ist auch nur recht geschehen, wenn er statt der echten Truhe einen wertlosen Kasten erhielt. Denn auch er beabsichtigte, Euch durch eine Imitation zu täuschen —«
Und Norge berichtete weiter, konnte es tun, als wenn er selbst bei allem dabei gewesen wäre.
»So ein Schuft!«, stieß der Prinz hervor.
»Er ist bestraft genug. Wenn er seine Strafe auch nicht gleich merkt. Aber diese Zeit wird doch noch kommen. Also diese Truhe der Peris habt Ihr für mich besorgt.
Wisst Ihr, was Peris sind?«
Der Prinz sagte, was er davon wusste.
»Richtig! Es gibt in der Atmosphäre dieser Erde siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig Peris, Ahriman hat einmal ihrem Treiben ein Ende gemacht und sie in diesen Kasten gesperrt.«
»Hört, ist denn nur wirklich etwas dran an diesen Peris?«
»Ja und nein. Ich kann es Euch jetzt nicht erklären, die Symbolik dieser ganzen Sache werdet Ihr später, wenn Ihr so weit seid, um es überhaupt begreifen zu können, von anderer Seite erklärt bekommen. Jetzt lasst Euch nur so viel gesagt sein, dass dieses Ding in der Hand dessen, der damit Bescheid weiß, tatsächlich ein magischer Zauberkasten ist.«
»Ich glaube, das habe ich bereits bemerkt.«
»Was habt Ihr denn bemerkt?«
»Eure Tasche war vorhin ganz glatt. Sie war noch ganz glatt, anliegend, als Ihr hineingrifft. Ich habe es deutlich beobachtet. Und dennoch zogt Ihr den doch immerhin ziemlich umfangreichen Kasten heraus.«
»Ihr habt recht beobachtet. Wer das Geheimnis dieses Kastens kennt, das heißt den magischen Schlüssel dazu besitzt, der Meister der Peris ist, dem kann dieser Kasten niemals gestohlen werden, er kann ihn niemals verlieren. Auch Maharadscha Bahadur kannte wohl das Geheimuis, besaß aber nicht den magischen Schlüssel. Deshalb musste er die Truhe der Peris hinter dreifachem Schloss und Riegel aufbewahren. Das habe ich nicht nötig. Hier —«
Norge steckte den Kasten in die Tasche zurück, diese war weit und tief genug, um ihn völlig aufzunehmen, dann aber merkte man gleich, wie die Tasche sich wieder anlegte. Norge ließ den Prinzen auch hineinsehen und hineingreifen — der Kasten befand sich nicht in der Tasche.
Der Prinz wunderte sich nicht besonders, noch weniger staunte er.
»Das ist Euch wohl nichts Neues?«
»Nein.«
»Wie erklärt Ihr Euch denn das?«
»Eine Erklärung finde ich allerdings nicht, aber das Gleiche habe ich schon wiederholt erlebt.«
»Wann? Wo? Mit was?«
»Mit einem ägyptischen Skarabäus.«
»Richtig! Ich weiß nämlich, was Ihr damals in dem ägyptischen Küstengebirge mit dem Skarabäus erlebt habt, den Euch oder einem Eurer Leute jener Zollbeamte schenkte, der seinen Wert eben nicht kannte. Ich wollte nur von Euch hören, ob Ihr sofort diesen Vergleich anstelltet. Es ist wichtig für das, was ich Euch dann weiter zu erklären habe. Denn eine kleine Erklärung sollt Ihr doch schon von mir bekommen, wenigstens eine Vorbereitung für die spätere, ausführlichere, die Ihr als Geselle von einem regelrechten Guru erhaltet. Habt Ihr sonst noch etwas zu fragen, ehe ich fortfahre?«
»Wenn Ihr den Kasten verliert oder er wird Euch gestohlen, so kehrt er immer wieder zu Euch zurück?«
»So ist es.«
»Wusste Maharadscha Bahadur auch hiervon?«
»Ja. Aber er war der Meinung, diese magische Wirksamkeit und überhaupt alles andere der Truhe trete erst in 68 Jahren in Aktion. Was er wohl nicht mehr erlebt hätte. So hielt er seinen höchsten Schatz für seine Nachkommen hinter Schloss und Riegel. Aber in gewisser Hinsicht befand er sich doch im Irrtum. Es war ein Problem, mit dessen Lösung sich unsere geheime, wissenschaftliche Gesellschaft schon immer beschäftigte. Wie ist es möglich, diese noch lange Periode von einigen Jahrzehnten zu verkürzen, sie womöglich in ein ›Jetzt‹ zu verwandeln. Mir, Peter Sybel, dem alten, gebeugten Privatgelehrten in der Dachkammer zu Christiania, ist es gelungen, dieses Problem zu lösen. Infolge dessen bin ich von Rechts wegen der Besitzer der Truhe der Peris geworden.«
»Aber der Maharadscha hätte sie Euch nicht freiwillig ausgeliefert.«
»Niemals. Er kennt auch dieses Recht des Besitzers gar nicht, obgleich es tatsächlich besteht. Doch was sagtet Ihr da? Freiwillig? Hat er die Truhe nicht freiwillig hergegeben? Indem ich sie von ihm kaufen, eintauschen ließ? Freilich wollte er dabei betrügen, er hat sich aber dadurch nur selbst betrogen.«
»Sofort, als Ihr das Problem gelöst hattet, waret Ihr von Rechts wegen schon Besitzer der Truhe?«, fragte der Prinz.
»Eigentlich, ja.«
»Da aber kam sie noch nicht sofort in Eure Tasche geflogen?«
»Nein. Das erste Mal musste ich mich auf natürliche Weise in ihren Besitz bringen. Und zwar auch auf ganz ehrliche Weise. Hätte ich ihm die Truhe gestohlen oder mit Gewalt geraubt, so wäre sie auch für mich ganz nutzlos gewesen, ich hätte sie nicht öffnen können, der magische Schlüssel, nur ein Logos, ein magisches Wort, sogar nur ein Gedanke, hätte sie nicht aufgeschlossen.«
»Und was ist nun eigentlich drin in dem wunderbaren Kasten? Darf ich das fragen?«
»Ihr dürft es. Ein Lingam ist drin. Wisst Ihr, was das ist, ein Lingam?«
Ja, der Prinz wusste es. Das heißt, er wusste so viel davon, wie jeder, der sich für die indischen Religionsverhältnisse interessiert, als Wissenschaftler oder als Laie.
Lingam ist ein Wort des Sanskrit und bedeutet ein menschliches Glied, das man so ohne Weiteres nicht beim wahren Namen nennen darf, weil wir überkultivierten und dadurch moralisch verzerrten und angefaulten Abendländer es anstößig finden, so wie es eine Zeit gab, da man nicht einmal »Hose« sagen durfte, da nur französische »Pantalons« erlaubt waren, während man jetzt doch glücklich wenigstens schon bei den »Beinkleidern« angelangt ist. So ganz fein darf die Gesellschaft freilich auch nicht sein. In der gibt es sogar noch »Wind- und Wasserpantalons«, die Karawanen und Schiffe unter sich begraben. In sämtlichen indischen Religionen — die mohammedanische ist keine indische — genießt der Lingam göttliche Verehrung.
In jedem indischen Tempel, gleichgültig ob brahmanisch oder buddhistisch oder welcher Sekte sonst augehörend, ist außer den spezifischen Götterbildern mindestens ein Lingam aufgestellt, oftmals in ungeheuerlicher Größe, meist aus Stein gemeißelt, der angebetet wird.
Die allergrößten Lingams findet man in den Tempeln des Himalajagebirges, und zwar gibt es dort riesenhafte Tempel, in den Felsen gehauen, oder natürliche Grotten, die nichts weiter enthalten als einen einzigen Lingam, von kolossaler Größe, haushoch mit den anderen entsprechenden Dimensionen, gar nichts weiter.
Alle diese Tempel, die speziell nur einen Lingam beherbergen, sind immer an möglichst unzugänglichen Stellen angelegt worden, daher im Himalajagebirge. Erreichbar müssen sie natürlich sein, ihre Erbauer sind doch auch erst hinaufgeklettert. Aber immerhin, der Weg hinauf ist so schwierig und strapaziös und gefährlich wie möglich.
Und nun kommen die Pilger von weit her, auch aus den südlichsten Teilen des indischen Riesenreiches, in Scharen geströmt, wochen- und monatelang müssen sie wandern, nur zu Fuß ist erlaubt, und wenn sie das Gebirge erreicht haben, dann fangen die gefährlichsten Strapazen erst an, den Proviantsack mit Hartbrot auf dem Rücken, müssen sie himmelhohe Abhänge erklimmen, wo der Fuß manchmal kaum einen Halt findet, auf engen Pfaden geht es an schwindelnden Tiefen vorbei, nur an zwei gespannten Stricken werden furchtbare Schluchten passiert, und so geht es weiter bis in die Region des ewigen Eises hinauf, wo auch im Sommer der Schneesturm tobt und Lawinen drohen. —
Und wozu dies alles?
Um dort oben in einer versteckten Höhle einen ganz roh aus dem Stein gehauenen, mit roter Farbe angeschmierten Lingam anzubeten! Und dann lassen sie sich von den Lingamisten, den Priestern des Heiliggtums, die dort oben wie die wilden Tiere hausen, einen Lingam mit roter Farbe auf die Stirn malen, und sie ziehen vergnügt wieder nach Hause. Wenn sie unterwegs nicht das Genick brechen oder erfrieren oder verhungern oder vier- und zweibeinigen Räubern zum Opfer fallen.
So berichten uns Reisende, welche solche heilige LingamOrte besucht haben. Und wenn diese europäischen Reisenden nicht ganz unparteiisch erzählen oder wenn sie nicht aus einer höheren geistigen Entwicklungsstufe stehen, so verspotten sie diese indischen Pilger, die sich unsäglichem Strapazen unterziehen und den größten Gefahren aussetzen, um schließlich vor solch einem rot angeschmierten »Dinge« andächtig betend niederzuknien. Oder sie müssen doch wenigstens bedauern. »O sancta simplicitas!« Wie weit kann sich doch der Menschengeist verirren, um solch einem wahnsinnigen Aberglauben zu huldigen! —
Nein, meine Herren wissenschaftlichen Forschungsreisenden, die Sache liegt ganz, ganz anders!
Jene indischen Philosophen, die vor drei- bis viertausend Jahren vor unserer Zeitrechnung die Veden und die Upanischaden verfassten, das Tiefsinnigste, was je geschrieben worden ist, zugleich aber auch den klarsten Blick in die ganze Maschinerie des Weltgetriebes bietend, die wussten recht wohl, was sie taten, als sie die gläubige Verehrung des Lingams empfahlen.
Freilich ist es auch erst wenige Jahrzehnte her, dass uns Friedrich Max Müller, der deutsche Professor an der Oxforder Universität, dieser gewaltige Universalgeist, die wunderbaren Werke der Sanskritliteratur eröffnete.
Es können hier nur einige wenige Andeutungen gemacht werden.
Durch den Lingam wird der Mensch zum Gottschöpfer selbst.
Es ist die Zeugungskraft, die durch den Lingam symbolisch ausgedrückt wird.
Verzichtet ein Mensch auf seine schöpferische Zeugungsfähigkeit, so stapelt er diese Kraft für seine eigenen Erfolge auf, er kann sie nun in anderer Weise verwenden.
Denn diese erste Grundlage aller Asketik ist auch die Grundlage allen Erfolges.
Dies geht durch die urältesten Religionsanfänge der Menschheit hindurch bis zum modernen Jockey und Radfahrer, der mit der Nase auf der Lenkstange hundertmal um die Bahn saust. Und erst recht gilt das auf geistigem Gebiete.
Die Sache geht aber noch viel weiter.
Die Heiligen sämtlicher Religionen sollen Wunder vollbracht haben. Und von einem Heiligen verlangt man doch selbstverständlich ein fleckenloses Leben, wenigstens von einer gewissen Zeitperiode an bis zu seinem Tode. Auch die sämtlichen wilden Völker verlangen von ihren Priestern und Zauberern Keuschheit. Werden sie beim Gegenteil ertappt, dann ist es mit ihrer Verehrung vorbei.
Was ist denn ein »Wunder«?
Der noch heute lebende Ralph Waldo Trine, ein ehemaliger Waldarbeiter, ein Holzfäller, heute der populärste Moralphilosoph Amerikas, gibt hierfür die richtigste Definition.
»Ein Wunder geschieht nicht im Widerstreit mit den Naturgesetzen, sondern nur im Widerstreit mit denjenigen Gesetzen, die wir bisher von der Natur kennen.«
So ist es.
Und wie viele von allen existierenden Naturgesetzen und Naturkräften mögen wir denn kennen? Welchen Prozentsatz?
Hierüber ist schon einmal gesprochen worden.
Es vergeht kaum eine Woche, dass nicht ein neues Geheimnis der Natur entdeckt wird, und das wird in Millionen von Jahren auch noch so sein, wenn nicht mehr auf diesem Planeten, dann auf anderen.
In dieser Hinsicht ein »Wunder« ist auch das uralte bis heute betriebene sogenannte Tischrücken.
Dass es auf einer Tatsache beruht, das erkennt heute sogar das Konversationslexikon an.
Nur in der Erklärung ist man sich noch nicht einig weil sich die dabei zeigende Kraft nicht in Einklang mit den uns bekannten dabei in Betracht kommenden Naturgesetzen bringen lässt.
Aber die Tatsache bleibt doch bestehen.
Wenn sich einige Menschen um ein geeignetes Tischchen setzen, sie legen die Hände darauf, bilden die sogenannte magnetische Kette, und sie haben die genügende Ausdauer und sie werden vor allen Dingen von dem Wunsche beseelt, der Tisch möchte unter ihren Händen lebendig werden, wird er auch über kurz oder lang lebendig.
Zuerst ächzt er etwas, dann rückt er, dann wackelt er, dann hebt er sich auf einer Seite und klopft mit dem wieder niedergehenden Fuße — woraus man nun leider das alberne »Geisterklopfen« gemacht hat — dann wackelt er immer mehr, bis er zuletzt tanzt, und schließlich geht er frei in die Höhe, bleibt in der Luft schweben, wobei jeder Teilnehmer nur eine Fingerspitze einer einzigen Hand ganz leicht oben auf die Tischplatte gelegt zu haben braucht. Der Tisch bleibt an diesen Fingerspitzen wie kleben, führt auch auf Kommando frei in der Luft die gewünschten Bewegungen aus, und er fällt meist erst herab, wenn der vorletzte Teilnehmer seine Fingerspitze zurückgezogen hat.
Zuerst geht das nur im Stockfinstern, dann kann schon etwas Dämmerung sein, dann geht es bei Gaslicht und zuletzt draußen im Garten im vollen Sonnenschein. Besonders wenn es immer derselbe Tisch und möglichst dieselben Teilnehmer sind.
Dies ist ein ganz echtes »Wunder«. Es steht mit den uns bekannten Naturgesetzen im Widerspruch. Es gibt keine Erklärung dafür.
Und doch, es gibt eine.
Wir betrachten den Tisch als einen toten Gegenstand. Das ist ein Irrtum.
Es gibt gar nichts »Totes« in der Welt.
Wir können uns von der Kleinheit der Lebewesen nur keinen Begriff machen, obgleich man es sich durch logische Schlussfolgerung vorstellen kann.
Auf dem Elefanten wie auf dem Walfisch, den größten Tierarten, die wir kennen, lebt ein Parasit, eine Laus. Jedes Tier hat seine Spezies natürlich für sich. Bleiben wir bei der Elefantenlaus. Diese ist so groß, dass man schon mit bloßen Augen erkennen kann, dass auf ihrem mit Härchen bedecktem Körper wieder Tierchen kriechen, weswegen sie sich manchmal kratzt. Und unter einem guten Mikroskop lässt sich erkennen, dass dieser Parasit der Elefantenlaus wiederum lebendes Ungeziefer auf dem Leibe hat.
Wenn man nun nicht annehmen darf, dass diese dritte Laus wiederum Läuse hat, so hört überhaupt jede logische Schlussfolgerung auf.
Es gibt eben nichts Totes, Unbelebtes.
Die letzte Form der organischen Substanz, die wir kennen, ist das Protoplasmaklümpchen. Eine Eiweißzelle. Die Wissenschaft erkennt heute auch schon an, dass diese Protoplasmaklümpchen ebenfalls Lebewesen sind. Also setzt sich auch der Mensch aus lauter kleinen Tierchen zusammen. Die Schmetterlingspuppen sind sogar schon unter dem Mikroskop direkt als Lebewesen erkannt worden, wobei es nur rätselhaft bleibt, weshalb sie sich bei jeder Schmetterlingsart in derselben Farbenzeichnung zusammenfinden.
Nun setzen sich die Protoplasmaklümpchen wieder aus Molekülen und Atomen zusammen. Überhaupt alles, alles besteht aus Molekülen und Atomen. Und auch jedem dieser Atome muss man ein eigenes Leben zusprechen, oder es gibt wiederum keine Logik mehr.
Der Tisch besteht aus Holz, das besteht der Hauptsache nach aus Zellulose, und die setzt sich wieder aus chemischen Molekülen zusammen, von denen jedes ein Lebewesen ist.
Gewiss, der Tisch an sich ist tot. Er wird nicht wie der große Protoplasmaklumpen, Mensch genannt, von einem Geiste belebt und geleitet.
Aber wenn der Tisch mit dem Menschen in direkte Berührung kommt, so geht von dessen Nerven- oder Lebenskraft etwas auf die fremden Moleküle, die an sich schon Lebewesen sind, über, und das natürlich umso mehr, je mehr es Personen sind und je länger sie die Hände aufgelegt halten, und nun findet eine geheimnisvolle Verschmelzung statt, die man eine lebensmagnetische nennen kann, die Tischmoleküle kommen mit denen des Menschen in Rapport, und das mehr und mehr, bis sie schließlich so gut wie zu dem Menschen selbst gehören, bis sie auch seinem eigenen Willen gehorchen, als wäre der Tisch ein Körperglied des Menschen.
Wer es fassen kann, der fasse es. Eine andere Erklärung gibt es nicht.
Wie man leicht kontrollieren kann, ist es unter vielen Teilnehmern immer nur eine einzige Person, welche die Bewegungen des Tisches reguliert, sie braucht ihre Wünsche und Kommandos nur zu denken, und der Tisch gehorcht sofort. Das ist eben die starknervigste oder lebenskräftigste Person, oder auch diejenige, welche ihre Nervenkraft am leichteren aussenden kann, zugleich zieht sie noch die Lebenskraft aus den anderen Teilnehmern heraus und überträgt sie gleichfalls auf die Tischmoleküle. Dieses »Ausziehen« wird auch ganz deutlich gefühlt.
Hände und Gehirn haben den Menschen zu dem gemacht, was er ist. Hände und Gehirn stehen auch in gegenseitigem Rapport. Jede Erkrankung des Gehirns erkennt man sofort an den Händen, besonders an den Fingernägeln. Auch jede Nervenerkrankung. Die Struktur der Haut vorn an den Fingerspitzen ist ganz analog der des Gehirns, man sieht dieselben Linien. Deshalb eben legt man am besten die Fingerspitzen auf, von dort strömt die Nervenkraft am leichtesten aus.
Je öfter man für solche Experimente ein und denselben Tisch benutzt, desto schneller zeigt sich das Phänomen. Weil die Tischmoleküle eben noch von früher etwas menschliche Lebenskraft in sich aufgespeichert haben, nun saugen sie das neue Angebot auch viel schneller auf, wenn nicht zu große Zwischenpausen eintreten. Zuletzt braucht die Person, die sich immer mit ein und demselben Tische beschäftigt, nur noch eine einzige Fingerspitze einer Hand aus den Tisch zu legen, und dieser wird sofort lebendig. im vollen Tageslichte.
Aber es braucht durchaus nicht gerade ein Tisch zu sein. Dass die modernen Spiritisten immer gerade auf einem Tische herumreiten, das zeigt eben ihre geistige Beschränkung. Sie haben es gehört, sie machen es nach, und nun kommen sie nicht weiter.
Man kann auch einen Kasten nehmen, eine leere Zigarrenkiste. Es zeigen sich dieselben Phänomene. Ja, es scheint sogar, dass es sehr gut ist, wenn der betreffende Gegenstand eine geschlossene Höhlung besitzt. In diesem scheint sich die menschliche Nervenkraft aufzuspeichern und dann von innen heraus zu wirken.
Deshalb wahrscheinlich benutzen die nordamerikanischen Indianer, welche die »Tischrückerei« sehr wohl kennen, dazu ein Stück ausgehöhlten Baumstamm, dessen Ende sie mit Platten verschließen, also einfach einen hohlen geschlossenen Tisch, und alle die Völker des östlichen Asiens von den Tungusen herab bis zu den Chinesen verwenden dabei eine Trommel, richtig mit Fell bespannt, auf der sie durch die geheimnisvolle Nervenkraft den sogenannten »Frosch« tanzen lassen, eine kleine eherne Figur, und da die Trommel mit Schellen behangen ist, so macht dieser Tisch auch gleich noch Musik dazu. Aber auch sonst werden mit diesen hohlen und geschlossenen Gegenständen, in denen sich die Nervenkraft also wahrscheinlich aufspeichert, noch ganz andere »Wunder« zustande gebracht. —
Was hier nun von der Nervenkraft, oder wie man das Zeug nun sonst nennen mag, gesagt worden ist, das gilt auch für die Zeugungskraft, womit wir Abendländer uns aber noch ganz und gar nicht befasst haben, während sich die indischen Okkultisten schon seit vielen Jahrtausenden damit beschäftigen.
Weitere Ausführungen sind wohl nicht nötig.
Kurz und gut, die von einem oder vielen Menschen während vieler Jahre nicht verausgabte, sondern aufgespeicherte Zeugungskraft wird in einen an sich leblosen Gegenstand geleitet, wird dort gewissermaßen »aufgebottelt« und soll nun noch auf Jahre oder wohl sogar bis in alle Ewigkeit hinaus Wunder wirken können.
Wie sie das machen, weiß man nicht. Das wird von den Gurus der Lingamisten nur mündlich gelehrt, und in diese Gesellschaft kommt so leicht wohl kein Fremder hinein.
Der Lingam ist dabei nur ein Symbol. Es könnte ebenso gut ein anderer Gegenstand oder eine andere Figur sein. Die Figur des Lingams drückt eben am besten das aus, worauf es ankommt.
Und wenn man dies alles nun weiß, so wird hiermit auch erklärt, was die steinernen Skarabäen bei den alten Ägyptern für eine Rolle gespielt haben.
Diese sahen den Mistkäfer, der eine Kugel dreht und darin sein Ei ablegt, als Symbol der Schöpfungskraft an, so ahmten sie ihn in Stein nach und benutzten nun diese Figur zu demselben Zwecke wie die Inder den Lingam, wie wir in ganz sinnloser Weise einen hölzernen Tisch.
Davon wissen noch heute die Inder, deshalb sind es meist Inder, die für solch einen echten Skarabäus jeden Preis zahlen — wozu, was sie damit machen, das entzieht sich unserer Kenntnis.
So ungefähr hatte der junge Norweger berichtet.
»Ich könnte Euch noch mehr erklären, aber Ihr würdet mich jetzt noch nicht verstehen, und das ist auch nicht meine Sache, ich eigne mich nicht zum Schulmeister.«
Er zog aus der leeren Tasche wieder den schwarzen Kasten hervor und schüttelte ihn. Zu hören war nichts.
»Es ist kein Lingam drin.
Der Lingam ist also, wie ich Ihnen erklärte, nur ein Symbol. Er kann durch jeden anderen Gegenstand vertreten werden.
In diesem Kasten sind auch keine Peris.
Das heißt, keine solchen dämonischen Mädels, schöne Hexen und dergleichen.
Das wird nur so gesagt, weil jedes Kind doch irgend einen Namen haben muss.
Es ist etwas ganz anderes in diesem Kasten.
Was darin ist?
Das lässt sich durch Worte gar nicht ausdrücken.
Gedanken sind drin, Einbildungen oder Willenserscheinungen.
Was ist das, ein Gedanke, eine Einbildung, eine Willenserscheinung?
Es sind nur leere Worte.
Wir wissen es ganz genau, aber wir können es nicht definieren.
Gedankenimaginationen, will ich jetzt sagen.
Diese Gedankenimaginationen werden Peris genannt, welches Wort der Lehre des persischen Zarathustra entnommen ist, und das Volk hat daraus gute und böse Frauenzimmer gemacht, Feen und Hexen, Dämoninnen.
Die aufgespeicherte Zeugungskraft einer ganzen Generation von heiligen Männern hat in diesen Kasten siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig solcher Peris eingesperrt.
Weshalb gerade siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig?
Auch nur wieder so eine Symbolik.
Weil siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig die heiligste Zahl ist, welche die Veden kennen. Von den einfachen Zahlen sind heilig die Sieben, die Fünf und die Zwei, genau wie bei den Juden und bei den Pythagoräern. Die Quersumme von siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig ist achtundzwanzig, davon ist die Quersumme zehn. Weiter können auch die Inder nicht zählen, die dieses Zahlensystem erst erfunden haben. Dann muss man wieder von vorn anfangen. Die Zehn ist zweimal fünf. Als Quersumme kommt wieder sieben heraus. Deshalb siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig. Schließlich nichts weiter als eine Spielerei. Habt Ihr sonst noch etwas zu fragen?«
»Allerdings.«
»Nun?«
»Dieser Kasten gehört jetzt Euch?«
»Jawohl.«
»Samt den Peris darin?«
»Gewiss.«
»Was bringen Euch diese siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig Peris denn nun für einen Nutzen?«
»Hier nehmt die Schachtel. Greift aber mit zwei Händen zu.«
Der Norweger hielt den Kasten nur zwischen zwei Fingern, der Prinz griff gehorsam mit beiden Händen zu und — fiel fast vornüber, krachend schlug der kleine Kasten auf die Kiste auf, die zwischen den beiden stand, die selbst aus Stapeln von Fellen saßen.
Der Prinz machte ein äußerst verdutztes Gesicht.
Er hatte doch geglaubt, einen ganz leichten Kasten zu nehmen, er hatte ihn doch überhaupt selbst schon in der Hosentasche getragen.
Und jetzt hätte nicht viel daran gefehlt, und er hätte sich die Finger arg gequetscht.
»Ja, ja!«, lachte der Norweger über dieses verdutzte Gesicht. »Was meint Ihr wohl, siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig ausgewachsene Jungfrauen, was die wiegen! Lasst jede nur die Lächerlichkeit von zehn Gramm wiegen, das ergäbe doch zusammen schon mehr als hundertundfünfzig Pfund. So schwer habe ich aber den Kasten bei Weitem nicht gemacht, denn sonst würde wohl die ganze Kiste zusammenkrachen. Oder soll ich der Schachtel ein Gewicht von vielen Zentnern geben? Dann setzt sie erst auf den Steinboden nieder, und Ihr sollt sie nicht mehr aufheben können, und wäret Ihr auch Herkules selbst.«
»Es ist nicht nötig, dieser Beweis genügt schon, dass Ihr das Gewicht des Kastens nach Belieben verändern könnt. Wie macht Ihr das?«
»Ja, da fragt mal. Gut, ich will es Euch sagen. Ich kommandiere einfach den darin befindlichen Peris, sich recht schwer zu machen, und solche Hexen bringen schon etwas fertig.«
Der Prinz fragte in dieser Beziehung nicht weiter.
»Ja, da habt Ihr allerdings ein Mittel in der Hand, um einen Diebstahl des Kastens zu verhindern. Aber einen direkten Nutzen, den er Euch gewährt, erkenne ich daraus noch nicht.«
»Ihr sollt ihn gleich zu sehen bekommen. Hebt den Kasten wieder auf.«
Jetzt war dieser wieder leicht wie zuvor.
Plötzlich aber setzte der Prinz den Kasten schleunigst wieder hin. Eine Sekunde noch, und er hätte sich die Hände verbrannt. So heiß war der Kasten plötzlich geworden.
»Auch auf diese Weise kann ein Diebstahl verhindert werden. Der hölzerne Kasten verwandelt sich in den Händen des Diebes in glühendes Eisen, in seiner Tasche würde er sofort durchbrennen. Für den Dieb gewährt das natürlich keinen Vorteil, nicht aber auch für mich, den Besitzer des Kastens, den Herrn und Meister der Peris.«
Der Norweger, der unterdessen endlich seinen Hunger gestillt hatte, hatte während der letzten Minuten wieder Tabak geschnitten und seine Pfeife gestopft, jetzt riss er von der alten Kiste einen Span ab, der sich schon halb abgelöst hatte, hielt ihn an den schwarzen Kasten, sofort fing der Span Feuer, er brannte sich seine Pfeife an.
»Ein sehr hübsches Feuerzeug, nicht? Und auch ein sehr billiger Dauerofen.«
Ja, man spürte schon von Weitem die ausströmende Hitze. Jetzt begann sich der schwarze Kasten auch rot zu färben, er glühte wirklich.
Staunend betrachtete der Prinz das unheimliche Ding.
»Wie ist das nur möglich?«
»Da kann ich Euch keine Erklärung geben.«
»Nein, ich will auch nicht wissen, wie Ihr das macht, sondern — wie kommt es, dass der glühende Kasten nicht durch die hölzerne Kiste brennt?«
»Ist der schwarze Kasten nicht selbst von Holz?«
»Ich vermute es — von Ebenholz. Das vermehrt aber doch nur das Rätsel.«
»Was ist Hitze? Was ist Kälte? Wir wissen es nicht. Wir fühlen sie, wir sehen ihre Wirkungen, aber wir können ihre letzte Ursache nicht ergründen. Habt Ihr noch nicht gesehen, wie man mitten in einem Feuer Quecksilber durch flüssige Luft zu Eis erstarren lassen kann? Doch das ist nicht der richtige Vergleich. Was ist Licht? Das wissen wir ebenso wenig. Man spricht von Schwingungen des Äthers, aber es gibt bereits Wissenschaftler, welche die Existenz eines sogenannten Äthers und also die ganze Äthertheorie bestreiten.
Gibt es nicht Lichtquellen, die im Finstern leuchten, ohne dass sie Lichtstrahlen aussenden?
Nun setzt Feuer anstatt Licht, und Ihr habt einen Vergleich, so weit ich ihn geben kann.
Nehmt den Kasten wieder in die Hand, tut es getrost.«
Der Prinz griff schon deshalb herzhaft zu, weil er merkte, dass der Kasten bereits wieder die ausströmende Hitze verloren hatte, obgleich er noch rot gefärbt blieb.
»Merkt Ihr noch etwas von Hitze?«
»Gar nichts mehr, er ist wieder kühl wie zuvor, nur dass er jetzt rot gefärbt ist.«
»Weshalb ist der Kasten jetzt rot gefärbt?«
»Ich weiß es nicht.«
»Weil er noch immer glüht.«
»Ich merke nichts davon.«
Der Norweger hielt wieder den Holzspan daran, und sofort fing dieser Feuer.
Er legte ihn darauf, und der Span ging in Flammen auf, nur etwas Asche blieb zurück.
Er goss etwas aus der Flasche auf den Kasten, und die Flüssigkeit verdampfte sofort zischend.
»Ist der Kasten glühend heiß oder nicht?«
»Nicht für mich.«
»Nein, nicht für Euch, das stimmt. Aber er soll auch glühend heiß für Euch werden. Doch haltet ihn nur ruhig fest, Ihr verbrennt Euch nicht, ich will Euch doch nicht wehe tun, Ihr sollt Euch nur daran wärmen.«
Sofort fühlte der Prinz wieder ausströmende Hitze, aber nur in seinem Gesicht, vorn an der Brust, während seine haltenden Hände nur den kühlen Holzkasten fühlten.
»Wie ist das nur möglich?«
»Ich kann Euch keine Erklärung geben. Begnügt Euch mit den Resultaten, bis Ihr dereinst fähig seid, die Ursache all dieser Erscheinungen zu begreifen. Ob heiß oder kalt, respektive wie man das empfindet, das kann ich eben ganz arrangieren wie ich will. Und das gilt auch für die Wirkung auf andere Substanzen.«
Norge setzte einen Holzteller auf den roten Kasten in des Prinzen Händen, goss etwas Rotwein hinein, und alsbald begann dieser zu kochen. Dann goss er etwas Wein neben den Teller direkt auf den Kasten, und fast sofort erstarrte die Flüssigkeit zu Eis.
»Die Peris gehorchen meinem Befehle, den ich nur zu denken brauche, und die Variationen, wie ich Hitze und Kälte nebeneinander wechseln lasse, können zahllose sein. Seid Ihr gegen Kälte sehr empfindlich?«
Der rote Kasten färbte sich schneeweiß, und einen viereckigen Klumpen Schnee oder Eis glaubte der Prinz denn auch in Händen zu haben, diese intensive Kälte strahlte der Kasten auch aus, aber nach wie vor fing ein Holzspan daran Feuer, verdampfte zischend darauf gegossener Wein.
»Lasst Euch an diesen Beispielen genügen, wie ich den Kasten verwenden kann, teils als kostenlosen Kochherd und Stubenofen, teils als Eisschrank oder auch als beides gleichzeitig, ganz wie ich beliebe, und nun sagt Ihr wohl nicht mehr, dass mir der Kasten keinen Nutzen brächte. Natürlich leuchtet er im Finstern auch als Lampe, na und wie! Nun wollen wir aber erst einmal aus der alten Schachtel so eine junge Dame heraussteigen lassen.«
Etwas misstrauisch betrachtete der Prinz den wieder schwarz gewordenen Kasten, den er auf die Kiste hatte setzen müssen.
Wer wusste denn, was jetzt kommen würde, nach solchen verheißungsvollen Einleitungen.
Der Norweger hatte seine beiden Hände flach an die Seiten des Kastens gelegt.
»Na, nun kommen Sie, Fräulein, genieren Sie sich nicht, wir tun Ihnen nichts, Sie sind in bester Gesellschaft. Nur dürfen Sie nicht verübeln, dass wir keinen Kragen und keine Manschetten anhaben und dass sich mein Freund dort seit zwei Tagen nicht mehr gewaschen hat, das wird er nächstens mit drei Pfund Seife wieder nachholen.«
Ein leises Zischen, und dort, wo sich der sternförmige Kreis befand, kam, ohne dass man eine Öffnung sah, ein weißer Dampfstrahl aus dem Kasten hervor, der sich schnell in Nebel auflöste und verschwand.
»So, das war die eine, Fräulein Jokonda. Nun sind bloß noch siebentausendsiebenhundertundsechsundsiebzig Jungfrauen in der Schachtel. Na, Prinz, wie gefällt Euch denn die Dame?«
Der Prinz sah sich vergebens in der Felsenkammer um.
»Ich sehe nichts.«
»Ich auch nicht.«
»Und was nun?«
»Hiermit hat das Experiment ein Ende.«
»Dass da aus dem Kasten ein weißer Dampfstrahl hervorkam — das war alles? Weiter nichts?«
»Na nu, na nu — weiter nischt?«, ahmte der humoristisch veranlagte Norweger, der aber immer tiefernst blieb, nach. »Ist das etwa nicht genug? Nehmt Ihr mal eine Zigarrenkiste her und lasst solch einen Dampfstrahl auf Kommando heraus, ob Ihr das könnt! Aber ich weiß schon, was Ihr meint. Euch wäre lieber, wenn ich jetzt aus dem Kasten einen Gewittersturm mit Blitz, Donner und Hagel herausließe, gleichzeitig zwei hübsche Hexchen, die sich auf Euern Schoß setzten, auf jedes Knie eine, und während die Welt untergeht, amüsiert Ihr Euch mit den beiden Wetterhexen. Was? Nein, mein Prinz, das wäre ein schlechter Zauberkünstler, der dem verehrten Publikum im ersten Teile seine phänomenalsten Tricks zeigt, und im zweiten Teile macht er die simpelsten Kartenkunststückchen. Mit Kleinem fängt man an, mit Großem hört man auf. Vorwärts, Fräulein Jokonda, wir haben genug von Ihnen. Sie entsprechen unserem Geschmacke nicht, ziehen Sie sich wieder in Ihre Gemächer zurück!«
In der Luft floss es von allen Seiten wie ein Nebel zusammen, und ohne dass es zur richtigen Bildung einer Wolke kam, senkte sich der Nebel als weißer Strahl herab und fuhr mit leisem Zischen wieder durch den Stern in den Kosten hinein.
»So! Fräulein Jokonda ist wieder bei den Ihrigen, die siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig Damen sind wieder vollzählig. Und das war in Euern Augen nichts? Prinz, wenn Ihr Euch mal einen eigenen Hausstand gründet und Ihr habt eine Frau, die, sobald Ihr kommandiert, verschwindet, in ihre Gemächer hinein, dass es nur so pfeift — dann besuche ich Euch mal. Sonst nicht.«
»Jokonda hieß diese Peri?«, lachte der Prinz.
»Vielleicht, oder vielleicht auch Ophelia oder Emma oder Ulrike. Ihr könnt doch nicht verlangen, dass ich alle die Namen dieser siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig Damen im Kopfe habe. Und wenn ich Euch nun einmal in Euerm fürstlichen Palais besuche, Prinz, dann bringe ich Eurer durchlauchtigsten Frau Gemahlin diesen Zauberkasten als nachträgliches Hochzeitsgeschenk mit. Aber nur unter der Bedingung bekommt sie ihn, dass sie täglich nur ein einziges Mal von seiner Wunderkraft Gebrauch macht, und das auch nur mit Maßen.«
Der Prinz hatte einen etwas roten Kopf bekommen.
»Was wollt Ihr damit sagen?«
Norge achtete nicht auf den roten Kopf und gab keine Erklärung.
»Nun wollen wir den Kasten erst mal öffnen. Aber erschreckt nicht, Prinz, entsetzt Euch nicht, schlagt nicht rücklings zu Boden!«
Ein Griff, und jetzt konnte ein Deckel herumgeklappt werden.
Der Prinz hatte sich zur Vorsicht schon etwas rückwärts geneigt, um die Strecke, die zum Umfallen nötig war, abzukürzen.
So schielte er in den Kasten hinein.
Seine Vorsicht war unnötig gewesen.
Ein leerer Holzkasten, auch innen schwarz, nichts weiter. Nicht einmal Schloss und Scharniere waren zu sehen.
»Was gibt es denn da so Entsetzliches?«
»Nun, ist sie nicht entsetzlich genug, die trostlose Öde, die in diesem Kasten herrscht? Ach, Ihr hattet wohl geglaubt, die siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig Jungfrauen darin zu sehen, wie die Mehlwürmer durcheinanderkriechend? Gut, sollt Ihr auch haben. Aber ich kann Euch vorläufig die Damen immer nur einzeln vorstellen.«
Den Deckel zugeklappt, wieder auf, und das Innere des Kastens hatte sich total verändert.
Jetzt war der Kasten mit rotem Samt ausgeschlagen, hatte eine Vertiefung, und in dieser lag, genau hineinpassend, ein geschliffenes Weinglas.
»Das ist Fräulein Auguste. Das weiß ich ganz bestimmt.
Lasst Euch eine nähere Erklärung geben, wie Fräulein Auguste als Weinglas in diesen Kasten kommt.
Fräulein Auguste war, als sie noch als irdisches Wesen in Fleisch und Blut mit den üblichen Knochenzugaben aus Erden wandelte, angestellt bei der HamburgAmerikanischen Paketfahrtaktiengesellschaft.
Hieraus erseht Ihr, wie lange das schon her ist.
Denn eine Reederei mit dieser Firma gibt es gar nicht mehr.
Diese ehemalige Firma führt schon lange den Namen HamburgAmerikaLinie.
Trotzdem nennt man sie abgekürzt mit den Anfangsbuchstaben ihres ehemaligen Namens noch immer Hapag, und das mit Recht, denn sie selbst führte diese fünf Buchstaben noch immer in ihrer Kontorflagge.
Nur dass diese fünf Buchstaben jetzt nicht mehr bedeuten HamburgAmerikanische Paketfahrtaktiengesellschaft, sondern das sind jetzt die Anfangsbuchstaben der Frage: Haben alle Passagiere auch Geld?
Also Fräulein Auguste war bei der Hapag angestellt.
Nicht an Bord, sondern an Land im Magazin.
Anfangs allerdings war sie an Bord, machte auf der »Rhaetia« eine Fahrt als Stewardess nach Buenos Aires.
Aber Fräulein Auguste eignete sich nicht recht zur Stewardess.
Wählend der vier Wochen Hinfahrt war sie ununterbrochen seekrank, sie wurde von einem erstklassigen Kajütenpassagier gepflegt, in Buenos Aires hatte sie die Malaria und während der Rückfahrt einen schlimmen Finger.
Trotzdem, die Hapag fühlte sich moralisch verpflichtet, das arme Mädchen zu behalten, weil ihr Vater in den Diensten der Hapag einen elendiglichen Tod gefunden hatte.
So kam Fräulein Auguste an Land ins Magazin, Abteilung M 29, Teppichausklopferei.
Fräulein Auguste gab sich mit Feuereifer ihrem neuen Berufe hin, zugleich aber auch die größte Sorgfalt obwalten lassend, bearbeitete die Teppiche mit dem Ausklopfer so sanft und zart, dass die Magazinverwaltung nach einiger Beobachtung beschloss, die junge Dame lieber in der Abteilung F 15 zu beschäftigen: Glas, speziell Weingläser. Hier waren die zarten, sanften Hände bei Weitem angebrachter als in der Teppichausklopferei.
So kam Fräulein Auguste in die Weinglaspoliererei.
Wiederum gab sich Fräulein Auguste mit Leidenschaft diesem Berufe hin.
Nun aber konnte sie sich nicht gleich in diese neue Beschäftigung finden, oder sie war der Meinung, sie befände sich noch immer in der Teppichauspocherei ... Kurz und gut, innerhalb von acht Tagen hatte Fräulein Auguste dreihunderteinunddreißig geschliffene Weingläser zerpocht.
Ihr werdet sofort merken, dass dreihunderteinunddreißig eine heilige Zahl ist: die Quersumme davon ergibt sieben, wozu sie genau sieben Tage gebraucht hatte.
Die ungeschliffenen Weingläser und ordinären Wassergläser und dergleichen, die sie sonst noch in diesen sieben Tagen zerpocht hat, sind dabei nicht mit eingerechnet.
Die Magazinverwaltung der Hapag war verblendet genug, für diese heilige Zahlensymbolik kein Verständnis zu haben — sie jagte Fräulein Auguste zum Teufel.
Es war ein persischer Teufel und hieß Ahriman, der Fräulein Auguste in Empfang nahm und sie unter die Peris aufnahm, sie mit in diese Zigarrenkiste einsperrte.
Also hier habt Ihr Fräulein Auguste vor Euch, in Gestalt eines Weinglases, als welches sie sich am liebsten präsentiert.«
Mit diesen letzten Worten hatte Norge das Glas aus dem roten Samtetui genommen und hielt es elegant zwischen zwei Fingerspitzen in die Höhe. Immer den tiefsten, sogar etwas mürrischen Ernst in dem ziegelroten Germanengesicht.
»Gestattet Ihr eine Frage?«, sagte der Prinz.
»Immer los!«
»Eine Frage, die Ihr mir eigentlich schon verboten habt — wegen Eures anderen Ichs, das sich in Christiania befindet.«
»Ausnahmsweise gestatte ich auch solch eine Frage.«
»Ihr seid Gelehrter?«
»Ja. Ein sogenannter Privatgelehrter. Was ich hierunter verstehe, will ich nicht weiter definieren.«
»Was für eine Wissenschaft betreibt Ihr?«
»Philologie und Philosophie, speziell Metaphysik.«
»So. Ich dachte. Ihr wäret Komiker, oder gar Zirkusclown. Ein sogenannter Sprechclown, der weiter keine Kunststückchen zu leisten braucht, das Publikum nur durch seine Witze unterhalten muss.«
Der Prinz wusste, dass er viel riskierte — wusste aber auch, dass er das diesem Manne ungeschminkt ins Gesicht sagen durfte.
Und in diesem Germanengesicht, wie aus roter Bronze gegossen, zuckte denn auch kein Muskel, nur die stahlblauen Augen blitzten mehr denn je, wie er sein Gegenüber anblickte.
»Nun, und warum soll ich denn nicht einmal solch ein Zirkusclown gewesen sein?
Prinz, lasst Euch etwas sagen!
Ich habe einmal solch einen Zirkusclown und Possenreißer persönlich gekannt, sehr gut, sehr gut sogar.
Dieser Harlekin sprach sechzehn verschiedene Sprachen, eine Menge Dialekte noch dazu, und die hatte er nicht nur so als Artist gelernt, der mit dem Zirkus in aller Welt herumkommt, sondern er war ein Sprachgenie, er studierte die Sprachen, auch die klassischen und besonders die orientalischen, seine Spezialität war Sanskrit und Kufa.
Er hatte ja nur des Abends aufzutreten, nicht einmal einer Vormittagsprobe beizuwohnen.
So saß er den ganzen Tag in den Bibliotheken der großen Städte, die er mit seinem Zirkus bereiste.
Dieser Possenreißer hätte Sprachlehrer sein, hätte den Lehrstuhl eines Professors einnehmen können.
Ein solcher ist ihm nämlich tatsächlich wiederholt angeboten worden — in Amerika, wo bei so etwas nicht der Bildungsgang entscheidet, wo man nicht das Abgangszeugnis einer Schule verlangt, sondern wo allein das letzte Resultat gefordert wird.
Aber als Professor hätte der Mann nicht monatlich 3000 Kronen gehabt, die er als berühmter Zirkusclown bekam, freies Hotel dazu. Und außerdem war er so ganz ungebunden, lernte alles das kennen, worauf es ihm ankam.
Worauf kam es ihm an?
Was machte er mit den monatlich 3000 Kronen?
Dieser Harlekin besuchte in jeder Stadt nicht nur die Bibliotheken, um Sprachwissenschaften zu treiben, um nach seltenen Handschriften zu forschen, von denen er manche ausgegraben hat, sondern er besuchte immer auch alle öffentlichen und nach Möglichkeit auch alle privaten Kupferstichsammlungen.
Dieser Bajazzo hatte eine Leidenschaft für alte Kupferstiche. Alles, was er verdiente, gab er dafür aus. Seine Leidenschaft für die vergilbten Blätter war so groß, dass er auch auf das freie Hotel mit erstklassiger Verpflegung verzichtete, sich immer mit einer Pauschalsumme dafür abfinden ließ und meist im Stalle schlief, sich mit der Kost für Pferdeknechte begnügend, nur um noch mehr Geld für Kupferstiche ausgeben zu können, bis eines Tages der größte Teil seiner kostbaren Sammlung ein Raub der Flammen wurde.
Da erkannte er plötzlich die Nichtigkeit dieses Sammelns, da war er plötzlich von seiner Leidenschaft geheilt.
Was die Flammen verschont hatten, verkaufte er, es kam noch genug heraus, dass er von den Zinsen eben leben konnte, nun gab er sich nur noch den Sprachenwissenschaften hin, daneben Metaphysik treibend, auf die er durch die orientalischen Handschriften hingeführt worden war.«
Der Sprecher schwieg.
»Also dieser ehemalige Zirkusclown seid Ihr selbst gewesen.«
»Ihr sagt es. Fast fünfzehn Jahre lang der gesuchteste ParterreGymnastiker, der über ein Dutzend Pferde hinweg Salti mortali schlug, mit dem Kopfe auf einer Stuhllehne balancierte und mit den Füßen Violine spielte und dazu Possen riss.«
»Hm«, brummte der Prinz kopfschüttelnd, »es gibt doch manchmal seltsame Lebensläufe!«
»Überhaupt jeder Lebenslauf ist seltsam und voller Wunder. Es gibt keine Ausnahme. Wir Menschlein sind nur zu blind, um die Wunder, die uns rings umgeben, zu erkennen.«
Norge klappte den Deckel wieder zu, keine Spur von einer Fuge war noch zu bemerken, so verbeult und zerkratzt der alte Kasten sonst auch war.
»So, das ist zunächst Fräulein Auguste, die sich in ein Weinglas verwandelt hat. Ihre durchlauchtigste Frau Gemahlin hat ja gar kein Glas nötig, die zieht einfach ihren Schtulpenschtibbel aus ...«
»Mann, was wollt Ihr nur eigentlich immer mit meiner Frau?!«, rief der Prinz, einen noch röteren Kopf als vorhin bekommend, denn mit dem »Schtulpenschtibbel« den die durchlauchtigste Dame anstatt eines Glases benutzen sollte, hatte der Norweger ja nun allerdings eine starke Andeutung gemacht, wie ihm etwas Intimes aus des Prinzen allerletzter Lebensperiode wohl bekannt sei.
»Nehmt Ihr mir das übel?«, erklang die metallene Stimme ehrlich wie immer, wie auch das ganze Gesicht dieses ehernen Mannes war.
»Jawohl, wenn Ihr meiner Frau, die ich noch gar nicht habe, ohne meine Erlaubnis die Stiefel auszieht!«
»Nur den einen, und das tut sie ja selbst, vorausgesetzt, dass sie gerade keinen anderen Topf zur Hand hat.«
»Na, macht nur weiter!«, lachte der Prinz. »Ihr seid eben ein ehemaliger Zirkusclown, wenn ich das in Euch auch verdammt wenig vermutet hätte.«
»So lasse ich jetzt eine zweite Dame aus dem Kasten herausspazieren. Deren Namen kenne ich zufällig ebenfalls ganz genau. Sie heißt Fräulein Naduschka.«
Mit diesen Worten setzte Norge den Kasten auf den Rand der den Tisch vertretenden Kiste, aber auf die hohe Kante, sodass der runde Kerbschnittschmuck des Deckels sich seitwärts nach außen befand, hielt das Weinglas darunter.
»Kommen Sie heraus, Fräulein Naduschka, na, hopp ...«
Da sprang aus der Verzierung, wiederum ohne dass man eine Öffnung bemerkte, ein heller Wasserstrahl hervor, den Norge, den Kasten noch etwas überbiegend, geschickt bis zum letzten Tropfen in dem Glase auffing. Dieses war gerade gefüllt worden, dann versagte der Strahl so plötzlich wieder, wie er dem Holze entsprungen war.
Der Prinz wollte nicht weiter staunen. Er betrachtete die wasserklare Flüssigkeit in dem Glase, das ihm Norge mit zufriedener Miene hinhielt.
»Wasser?«
»Wasser?«, wurde mit überlegenem Spotte wiederholt, immer mit etwas Verachtung, die dieser Mann überhaupt stets in seinem Tone hatte. »Dann wäre das nichts Originelles. Wasser hat schon Moses hervorgezaubert, ob nun aus einem Felsen oder aus einem Stück Holz, das bliebe dabei ja ganz gleich. Nee, ich bin immer originell Nee, ich werde Euch doch nach jenem ganz vorzüglichen Rotweine kein Wasser anbieten. Prost.«
Er zog das Glas zurück, führte es an den Mund, nahm einen tüchtigen Schluck, rülpste einmal — mit Respekt zu sagen — und hielt das Glas wieder dem Prinzen hin.
Der nahm ebenfalls, ohne erst viel zu kosten, gleich einen tüchtigen Schluck, und bald hätte auch er solch einen Ton hören lassen wie der Norweger.
»Donnerwetter, das ist ja ein verflucht starker Schnaps!«
»Nicht wahr? Jaaa, das ist ein Blitzmädel, die Naduschka, die hat Feuer im Leibe und den Teufel dazu! Und was für ein Schnaps ist es?«
»Ich möchte ihn für guten, reinen, alten Korn halten.«
»Stimmt. Aber was für eine spezielle Nummer? Auch Whisky ist reiner Korn, Nordhäuser desgleichen, soll es wenigstens sein, und doch ist der Unterschied wie zwischen einem Kalbsschnitzel und dem Beefsteak von einer an Altersschwäche gestorbenen Kuh. Ist Eure Zunge nicht auf Kornschnäpse geeicht?«
»Hm, lasst mich noch einmal kosten.«
Der Prinz, obgleich wir ihn noch nicht dem Schnapsgenusse haben huldigen sehen, »kostete« gleich das ganze Glas leer, mit sehr gedankenvoller, tiefsinniger Miene, so mit einem wissenschaftlichen Forschergesichte.
»Hm. Sollte das nicht Wutki sein?«
»Stimmt! Nur dass es nicht Wutki, sondern Wodka heißt. Unter gebildeten Menschen. Wutki sagen nur diejenigen Russen, deren ganzer Lebenszweck sich um das Herbeischaffen von ›Wässerchen‹ dreht. Woda ist Wasser, Wodka die Verkleinerungsform. Sie können nicht Russisch? Ihre durchlauchtigste Frau Gemahlin wird's Ihnen schon noch beibringen. Ja, das sage ich aber gleich: Mehr als zehnmal am Tage darf sie die Verwandlungskünste ihrer vergeistigten Landsmännin, der Fräulein Naduschka, nicht in Anspruch nehmen, und auch sich nur der Fräulein Auguste als Glas bedienen, oder eines nicht größeren Trinkgefäßes, nicht immer gleich eines Pferdeeimers — sonst nehme ich ihr dann mein Hochzeitsgeschenk wieder weg!«
Norge nahm das leere Glas, ließ dem etwas übergekippten Kasten einen zweiten Strahl entspringen, der diesmal aber rot gefärbt war.
»Hier, das ist Signorina Rosalia aus Neapel, ehemals eine berühmte sozialdemokratische Volksrednerin, daher die Farbe — ob Ihr jemals einen besseren Lacrima Christi getrunken habt, direkt am Vesuv gewachsen. Doch glaubt nicht, dass sich Fräulein Naduschka etwa schon erschöpft habe. Die kann aus diesem Kästchen alle leeren Fässer der Welt mit Wodka voll füllen. Fragt nicht, wie sie das macht. Nur der Abwechslung halber kredenze ich Euch jetzt eine andere Sorte.«
Aber der Prinz nahm das dargereichte Glas mit dem rotfunkelnden Weine nicht, er kreuzte die Arme über der Brust.
»Doch, ich möchte eine Frage stellen.«
»Tut es. Ob ich sie beantworte, das ist freilich eine andere Sache. Vielleicht sogar kann ich bei der Ablehnung grob werden.«
»Könnt Ihr dieses Glas auch draußen im hellen Sonnenschein aus diesem Kasten füllen?«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Wo ist es sonst nur möglich?«
»Nur in geschlossenen Räumen, die aber auch von ganz besonderer Art sein müssen.«
»Ahaaa!«
»Ahaaa!«, machte der junge Norweger spöttisch nach. »Jetzt, meint Ihr, seid Ihr auf den Trichter gekommen! Alles nur Gaukelei, Illusion, Gedankenübertragung oder etwas Ähnliches! Nicht wahr?
Am Ende liegt Ihr hier im Schlafe, träumt dies alles nur, wie ich es Euch suggeriere! Nein, Prinz, Ihr träumt nicht! Es beruht auch sonst alles, alles auf Tatsache und Wirklichkeit!
Trinkt ein halbes Dutzend solcher Gläser, die ich aus diesem Kasten volllaufen lasse, ich habe auch noch stärkere Kaliber auf Lager, und wenn Ihr nicht ein ganz ausgepichter Alkoholiker seid, werdet Ihr die Wirkung schon spüren, und dann schwankt hinaus, ob Ihr nicht auch draußen im Freien unter Gottes goldener Sonne herumschwankt und die Bäume umklammert, sie für Laternenpfähle haltend, wenn Ihr nicht vorzieht, gleich auf allen vieren herumzukriechen, bis Ihr einschlaft und dann mit einem fürchterlichen Katzenjammer erwacht. Na, ist das etwa keine Wirklichkeit? Wollen wir das Experiment machen? Trinkt immer aus, ich schenke immer ein.«
Aber der Prinz hatte keine Lust dazu, es auf diesen Versuch ankommen zu lassen.
»Ja, wie ist das dann aber möglich?«, murmelte er kopfschüttelnd. »Weshalb könnt Ihr den ersten Teil dieser magischen Zauberei, was es doch ist, nur in geschlossenen Räumen ausführen?«
»Prinz, trotz alledem, was Ihr in dieser Hinsicht auch schon erlebt habt, gehört Ihr doch immer noch zu denjenigen Menschen, die alles für unmöglich halten, was nicht gleich in ihren Verstandskasten hineinpassen will.
Obgleich im Grunde genommen doch alles so ganz einfach ist.
Nehmen wir ein paar ganz gleiche Beispiele an, wobei Ihr aber gar nichts Wunderbares finden werdet.
Ihr könnt künstliches Eis erzeugen, im geschlossenen Gefrierraum.
Aber könnt Ihr dieses Eis etwa in die heiße Sonne legen, mit dem Verlangen, es soll ungeschmolzen bleiben?
Und mit demselben Eise habt Ihr, wenn Ihr es geschickt genug angefangen habt, Eure Hände erfroren, die auch unter der glühendsten Sonne nicht wieder auftauen werden!
Versteht Ihr dieses Gleichnis?
Oder ein anderes, in unserem Sinne noch ein besseres.
Wohl erzeugt die Sonne in der Weinbeere den Traubensaft.
Nun aber presst einmal diesen Traubensaft im hellen Sonnenschein aus, lasst diesen Saft in einem gläsernem Gefäße in der Sonne stehen.
Meint Ihr, es wird sich jemals das daraus entwickeln, was wir Wein nennen, der des Menschen Herz erfreut? Irgend ein Luderzeug wird's, aber doch niemals Wein!
Der köstliche Wein — mag er auch manchmal etwas sauer sein — entwickelt sich nur im kühlen Keller zwischen finsteren Holzdauben, gepflegt vom verschwiegenen Küfer, der niemandem verrät, wie viel er davon trinkt, bevor er dann Wasser nachpumpt.
Wisst Ihr nun, worauf ich mit diesen Gleichnissen anspiele?
Um eine tiefe, tiefe Mysterie handelt es sich, die sich durch das ganze Völkerleben schlingt, ohne dass es den Menschen richtig zum Bewusstsein kommt.
Weil es eben eine Mysterie ist, die man nur ahnen, auch im Innern fühlen kann, aber sie niemals mit Worten auszudrücken vermag.
In diesem Kasten ist ein Lingam, sagte ich.
Es ist die durch Entsagung gewonnene Zeugungskraft, durch welche der Mensch zum Gottschöpfer selbst wird.
Prinz, zeigt mir ein Volk, mag es auch auf noch so tiefer Stufe der Zivilisation stehen, mag es von Moral auch die rohesten Begriffe haben, mag es auch die eigenen Stammesgenossen auffressen — das nicht über die Mysterie der Zeugung einen Schleier deckt!
Und zeigt mir einen Menschen, der mit frecher Hand diesen Schleier zu lüften wagt — und ich zeige Euch Menschen, welche bereits dem Irrsinn verfallen sind, der sie wieder in die Reihe der Tiere stellt!
Ich habe gesprochen.«
Und der Prinz hatte nichts mehr zu fragen.
Er hatte dieses tiefsinnige Gleichnis verstanden.
Norge nahm von der roten Flüssigkeit einen kleinen Schluck.
»Ja, es ist bester Ätnawein. Aber es ist nichts für Euch, Ihr habt an dem Wodka genug, Ihr seid doch noch Rekonvaleszent, so kräftig Ihr Euch auch fühlen mögt.«
So sprach er, hob das Glas hoch und goss es aus. Der rote Wein floss aus, aber den Boden berührte er nicht, er verschwand in der Luft.
Gleich darauf bildete sich eine kleine Nebelwolke, die mit leisem Zischen durch den Kerbschnittkreis in den Kasten zurückfuhr.
Dann warf er das Glas gegen den Steinboden, es zerbrach in hundert Scherben und Splitter, die sich alsbald in eine Flüssigkeit verwandelten, die wieder schnell zu verdunsten schien, und dann wieder in eine in der Luft entstehende Nebelwolke, die gleichfalls in den Kasten zurückfuhr.
»So, die beiden Peris sind wieder in ihrer Kemenate. Auch Fräulein Naduschka findet sich wieder hinein, aus Eurem Magen und Kopfe heraus, seid nur ganz ohne Sorge. Es ist ganz einfach der ewige Kreislauf der Materie, bei dem kein Atom verloren gehen kann. Nun wollen wir unsere Wanderung antreten.«
Der Prinz hatte die beiden letzten Wunder beobachtet, ohne etwas dazu zu sagen. Er folgte, seinen Stutzen und Patronengürtel mitnehmend, dem Norweger, der sich mit der Lampe voraus durch die enge Felsspalte zwängte.
Die Laterne beleuchtete einen langgestreckten Gang, durch den ein ziemlich breites, dunkles Wasser floss, und auf diesem lag am Ufer ein Boot, das der Prinz gleich wieder erkannte.
»Ja, es ist dasselbe, das wir damals auf dem kleinen Planeten benutzten!«, bestätigte Norge. »Aber glaubt nicht, sage ich Euch nochmals, dass Ihr auf diesem PhantasiePlaneten seid! Ihr seid auf der Erde, im Innern des Himalajagebirges! Und fragt auch nicht, wie dann dieses Boot hierher kommt, jetzt als volle Wirklichkeit, die aber übrigens auch dort auf dem Planeten bestanden hat.«
Sie stiegen ein, setzten sich, Norge übernahm die Führung, mit großer Schnelligkeit rauschte das schmale Boot durch das finstere Wasser.
»Und wenn wir hier nun einmal umkippen wie damals?«
»Dann erwacht Ihr nicht wieder auf einer anderen Bewusstseinsebene. Dann liegt Ihr eben im Wasser und müsst ersaufen, wenn Ihr nicht schwimmen könnt.«
Unter dieser angenehmen Aussicht verging fast eine Stunde. Das Boot schoss fast wie ein Pfeil, und der Lichtschein der Laterne reichte doch nur wenige Meter weit.
Was man am Ufer erblickte, allerdings nichts weiter als einige Steine und besondere Felsen, das hatte man im nächsten Moment schon weit hinter sich.
Doch der Fluss schien eine schnurgerade Richtung zu haben.
So verging also fast eine Stunde, Norge hatte kein Wort mehr geredet.
Da tauchte in der Ferne ein gelber Schein auf, der Führer mäßigte die Fahrt.
»Wir nähern uns unserem Ziele.
Ihr werdet Merkwürdiges zu sehen bekommen.
Scheußliche Gestalten.
Es sind Lebewesen, aber nicht solche wie wir aus Fleisch und Blut und Knochen, wenn sie es auch manchmal zu sein scheinen.
Es sind die Imaginationen von Yogis, die ihnen durch magische Kunststücke Leben eingehaucht haben.
Fragt nicht, wie sie gezeugt wurden.
Oder habt Ihr Paracelsus gelesen?«
»Der hat viel, viel geschrieben!«, entgegnete der Prinz.
»Seine Theorie über die Incubus und Succubus.«
Ja, das hatte der Prinz gelesen. Wer sich weiter dafür interessiert, lese selbst nach. Scheußliche Sachen! Und war Bombastus Paracelsus etwa ein leerer Phantast?
Wohl, und doch hat dieser leere Phantast das einzige Heilmittel gegen die fürchterlichste und dabei am meisten verbreitetste aller Krankheiten entdeckt! Es konnte vor Jahrhunderten durch nichts anderes ersetzt werden, und so ist es noch heute! Denn was man auch für verzweifelte Versuche macht, ernst wissenschaftliche oder marktschreierische, andere Mittel zu erfinden, um diese entsetzliche Krankheit zu bekämpfen — man greift doch immer wieder auf das Mercurium des Paracelsus zurück! Dieser leere Phantast ist eben der größte Wohltäter der Menschheit gewesen.
Der unterirdische Flusslauf mündete in einer ungeheuren Grotte, die mit einem schwefelgelben Lichte erfüllt war.
Der Boden bestand halb aus Wasser, halb aus festem Boden. Das heißt, es war ein See, mit zahllosen kleinen Felseninseln durchsetzt, alle von den bizarrsten Formen, und noch bizarrer waren die Lebewesen, die sich überall bewegten.
Was hätte ein Mensch gedacht, der ganz unvorbereitet hier eingedrungen wäre! Er hätte vor Entsetzen die Flucht ergriffen, wenn er dazu fähig gewesen, vor Schreck nicht gleich erstarrt wäre, nicht den Verstand verloren hätte.
Überall auf den Felseninseln wie auf dem Wasser kroch und wand sich und schwamm das denkbar scheußlichste Gewürm.
Halb gehörten die dunklen, zum Teil riesenhaften Massen einer vorsintflutlichen Tierwelt an, halb der Schöpfung einer Phantasie, die überhaupt jeder Beschreibung spottet.
Es hat einmal, ungefähr im 16. Jahrhundert, eine Malerschule besonderer Richtung gegeben. Wie heute die Malerei nach möglichster Realistik strebt, wiederum fast über die Grenzen hauend, so forderte damals die Mode der Kunst menschliche Fieberphantasien in Gebilden auszudrücken, meist in Form von schrecklichen Ungeheuern. Besonders Heilige waren es, die von solchen Gestalten der Hölle heimgesucht wurden, mit denen sie ringen mussten. Eine spätere Zeit der fanatischen Aufklärung hat die meisten dieser Gemälde, oft von den genialsten Künstlern geschaffen, wieder vernichtet, aber besonders in italienischen Klöstern sieht man ihrer noch ziemlich viele, auch als Wandfresken, Ölgemälde dieser Richtung sind noch im Vatikan häufig.
Hier waren diese Ausgeburten einer alle Grenzen übersteigenden Phantasie lebendig!
Die ganze Schöpfung aller Jahrtausende durcheinander gewürfelt, an ein und demselben Individuum.
Riesenhafte Spinnen mit gehörnten Ochsenköpfen und Tigerklauen.
Lindwürmer mit scheußlichen Menschenfratzen.
Dicke, mächtige Elefantenleiber auf kurzen, schwachen Krokodilsfüßen.
Ungeheure Schildkröten auf endlos langen Giraffenbeinen.
Ein schwanartiger Vogel von drei Meter Höhe mit einem Pferdekopf, an dem sich ein dicker, zwei Meter langer Rüssel bewegte.
Genug!
Wohin man auch blickte, überall sah man etwas Neues, immer phantastischer, immer schrecklicher.
Schnell erkannte der Prinz, dass es, so scharf auch die Umrisse, doch nur dunkle Schattengestalten waren.
Sie schwammen auf dem Wasser, aber sie bewegten dieses nicht, zogen keine Furchen. Jetzt stürzte sich ein Koloss, halb Elefant, halb Löwe, halb Lindwurm, von einem hohen Felsen ins Wasser herab, dieses hätte doch aufspritzen müssen, aber die Gestalt versank darin, tauchte darin unter, ohne dass das stille, finstere Wasser irgendwie beunruhigt worden wäre.
Gleich darauf freilich sah der Prinz etwas, was ihn auf andere Gedanken hätte bringen können.
Auch hier herrschte der ewige Kampf ums Dasein.
Ein Ungetüm, halb Schwimmvogel, halb Krokodil, überfiel einen riesenhaften Frosch mit ungeheurem Menschenkopf, dessen Rachen von schrecklichen Zähnen starrte. Ein furchtbarer Kampf entspann sich. Deutlich war zu sehen, wie die Gebisse gegenseitig ins Fleisch schlugen, wie sie die Fetzen aus dem Leibe rissen, sie gleich verschlingend.
Nur dass dabei das Wasser nicht aufgerührt wurde, wie sie auch rangen und auf das Wasser peitschten.
»Für sich selbst und für einander sind es reale Wesen, nur nicht für uns!«, erklärte Norge.
»Sie sind von Yogis, welche die Gedankenwelt beherrschen, durch Gedankenkraft auf der Astralebene geschaffen worden, und durch dieses künstliche, gelbe Licht werden sie auch für das menschliche Auge sichtbar.
Sie leben wirklich, sie lieben und hassen, sie pflanzen sich fort und fressen sich gegenseitig auf, weil sie ganz richtigen Hunger haben — aber das gilt nur unter ihnen selbst. Für uns Menschen, die wir uns auf der irdischen Ebene befinden, sind es eigentlich noch weniger als Schattengestalten.
Versteht Ihr diese Erklärung?«
Ja, der Prinz verstand sie — soweit da überhaupt etwas zu verstehen und zu begreifen war.
Doch gleich drängte sich ihm eine andere Frage auf.
»Aber ist dieses Wasser nicht ganz richtiges Wasser?«
»Das ist es!«
»Und diese Felsen?«
»Sind ebenfalls ganz natürliche Felsen!«
»Und trotzdem können sich diese Gedankenschemen auf dem Wasser und auf diesen Felsen bewegen, diese Widerstände als festen Grund für ihre Fortbewegung benutzen?«
»Ihr fragt mit Recht, Euer Scharfsinn ist lobenswert. Ja, das ist eben die Kunst dieser Yogis gewesen. Sie haben hier eine Verschmelzung der irdischen Ebene mit der astralen zu schaffen gewusst.
Für diese astralen Gedankenwesen ist dieses irdische Wasser und der irdische Felsen ebenfalls wirklich Wasser und Felsen. Nur dass sie diese Materie nicht bewegen können, das ist der ganze Unterschied dabei.«
»Und was bedeuten wir Menschen für sie?«
»Gar nichts. Sie sehen uns nicht, können uns nicht fühlen. Auch unser Boot nicht. Denn dies alles gehört nicht in diese Grotte, es sind Fremdkörper, die zufällig eingedrungen sind, sie stehen nicht unter dem magischen Banne. Da, Ihr werdet es gleich merken, fürchtet Euch nicht, es geschieht uns absolut nichts, ist auch der Gesundheit nicht schädlich.«
Soeben kam solch ein fabelhaftes Ungeheuer direkt auf das Boot zugeschwommen und — schwamm eben glatt durch.
Der Prinz merkte, wie das gelbe Licht etwas dunkler wurde, nichts weiter.
Dann hatte man das Ungetüm hinter sich, es erklomm einen Felsen, um dort einem anderen Ungeheuer den Platz streitig zu machen.
Bei dem furchtbaren Kampfe wurden die beiden Insassen wiederholt von den Schlägen der Schwänze getroffen, aber zu fühlen war nichts davon.
»Habt Ihr etwas gemerkt?«
»Nein.«
»Gar nichts? Nichts gerochen?«
»Ja, doch — mir war es, als ob ich beim Durchgehen des Tieres etwas wie Schwefel röche.«
»So ist es. Dieses Licht hier, wenn es auch ein magisches ist, wird doch durch Schwefel erzeugt. Die Wesen saugen das Schwefellicht ein, dadurch werden sie für uns sichtbar und riechen selbst etwas nach Schwefel. Deshalb heißt die ganze Geschichte hier die Schwefelgrotte. Wenigstens ich habe sie so getauft, damit eben das Kind einen Namen hat.«
»Gibt es denn auch Menschen hier?«
»Nein.«
»Wo sind die Yogis, die dies geschaffen haben?«
»Schon längst tot. Die ganze Sache ist in Vergessenheit geraten.«
»Und trotzdem existiert dies alles weiter?«
»Warum nicht? Zwischen der irdischen und astralen Ebene ist wenig Unterschied. Doch das versteht Ihr nicht, das kann ich Euch jetzt nicht plausibel machen.«
Ganz langsam setzte das Boot, das einmal gehalten hatte, seine Fahrt zwischen den Felsengebilden fort, immer umringt von den scheußlichen Gestalten.
»Ich habe Euch nicht deswegen hierher gebracht«, nahm Norge wieder das Wort, »um Euch das hier zu zeigen. Da Ihr's seht, und wenn's Euch Spaß macht, so ist's ja gut. Sonst aber habe ich ein ganz anderes Ziel, eine bestimmte Absicht, bei deren Ausführung Ihr mir helfen sollt.«
Das Boot legte an der galerieartigen Umfassung des Sees bei. Die Felswände waren mit Löchern und Höhlen durchsetzt, und auch hier blickten überall die scheußlichsten, ungeheuerlichsten Köpfe hervor, kroch es hin und her.
Aber da in einer Nische befand sich etwas, was sonst nicht in dieses abenteuerliche Reich der Phantasie gehörte.
Es war eine Taucherpumpe, mit allein was dazu nötig ist.
Ein Kasten enthielt einen vollkommenen Taucheranzug.
»Könnt Ihr tauchen?«
»Ja, ich habe schon mehrmals im Kostüm getaucht.«
»Ihr sollt es nicht, ich selbst gehe ins Wasser. Aber wenn Ihr schon etwas davon versteht, so könnt Ihr doch auch die Pumpe bedienen, ich kann sorglos sein, dass Ihr mir nicht zu wenig oder zu viel Luft zupumpt.«
Mit vereinten Kräften trugen sie den sehr schweren Apparat dicht an das Ufer, machten den aufgewundenen Schlauch klar, Norge begann sich zu wappnen, ohne sein Jagdkostüm abzulegen.
»Also Ihr wisst hier mit dieser Pumpe Bescheid, mit dem Manometer?«
»Vollkommen. Wie tief geht Ihr hinab?«
»Vielleicht bis zu fünfzehn Meter.«
»Was wollt Ihr auf dem Grunde suchen?«'
»Prinz, das ist etwas, was Euch nichts angeht!«
»Ich bitte um Verzeihung. Ich vermisse die Signalleine, die aber auch häufig als letzte Rettung dienen muss.«
»Die haben wir nicht nötig. Zu signalisieren habe ich nichts, und heben kann ich mich allein, indem ich die Luft anhalte, sie einmal nicht durch das Ventil ausströmen lasse.
Sonst aber habt Ihr Recht.
Auch ich bin nur ein Mensch, auch hier in meinem zweiten Ich ein sterbliches Wesen.
Fünfzehn Meter ist schon eine beträchtliche Tiefe, es könnte mir doch etwas zustoßen, ohne Euer Verschulden.
Wenn ich also aus dem Wasser nicht lebendig wieder zum Vorschein kommen sollte, so müsstet Ihr Euch allein weiter helfen.
Dazu nun einige Instruktionen.
Die Bedienung dieses Bootes kennt Ihr ja.
Hier ist auch eine Lampe, die von einer unerschöpflichen Elektrizitätsquelle gespeist wird, Ihr könnt sie als Scheinwerfer benutzen.
Ich habe sie nicht gebraucht, nur die elende Petroleumlampe mit dem spärlichen Lichte, weil Ihr nicht weiter sehen solltet als immer nur einige Meter.
Denn auf dem Wege hierher gab es auch noch anderes zu erblicken, was ich Euch aber ersparen wollte, denn es hätte Euch das Blut in den Adern erstarren lassen.
Diesen Weg nach Süden, von wo wir gekommen sind, sollt Ihr denn auch nicht wieder zurücknehmen.
Hier im Boote ist ein großer Kompass.
Wenn ich also etwa nicht wieder auftauchen sollte, so steuert immer nach Westen, immer nach Westen!
Direkt ist es ja nicht immer möglich, aber Ihr benutzt eben immer jeden Flusslauf, der ungefähr nach Westen führt.
Blinde Sackgassen gibt es hier nicht.
Auf diese Weise kommt Ihr schließlich aus diesem unterirdischen Felsenlabyrinth heraus, wo Ihr Euch dann weiter helfen müsst.
Ihr seid überhaupt ganz auf Euch selbst angewiesen.
Euch auf die bekannte Weise zu dirigieren, das ist hier drin in diesem Reiche nämlich nicht möglich.
Wohl sollt Ihr unter höheren Schutze stehen — ob Ihr dies nun merkt oder nicht — aber man kann sich mit Euch nicht verständigen.
Im übrigen tut, was Ihr wollt. Seht Ihr etwas Interessantes, wollt Ihr einen Abstecher machen, etwa eine Treppe hinauf oder hinab — immer tut es. Haltet Euch auf, so lange Ihr wollt.
Nur versucht möglichst eine westliche Richtung einzuhalten.
Und dann bindet stets Euer Boot an, wenn Ihr es einmal verlasst, und merkt Euch, wo Ihr es wiederzufinden habt.
Mehr brauche ich Euch erfahrenem Manne doch nicht zu sagen.
Ich hoffe doch auch in zehn Minuten wieder oben zu sein, wüsste wirklich gar nicht, was mir dort unten passieren sollte.«
So sprach Norge, setzte den Taucherhelm auf und ließ ihn sich vom Prinzen festschrauben.
Dann wurden noch einmal die Schrauben und Verbindungen und Dichtungen sorgfältig untersucht, und der Taucher machte schwerfällig mit den bleibeschwerten Sohlen die letzten Schritte nach dem Ufer, kniete nieder, ließ sich ins Wasser gleiten, der Glockenhelm verschwand, nur die am Gürtel befestigte elektrische Lampe sah man noch leuchten, schwächer und schwächer ward der Schein, bis das Wasser wieder finster und glatt war.
Nachdem die Schrauben und Dichtungen des Glocken-
helms nochmals sorgfältig untersucht waren, ließ
sich der Taucher in das nasse Element gleiten.
Der Prinz pumpte, beobachtete das Manometer und den sich abrollenden Schlauch. Dies alles geschah bei diesem ganz modernen Tauchapparat automatisch, es konnte gar nicht zu viel oder zu wenig Luft gepumpt werden, der wachsende Druck bei zunehmender Tiefe regulierte sich selbsttätig, es war eben nur zu beobachten, dass dieser Mechanismus immer richtig funktionierte, dass nicht mit der Hand nachgestellt zu werden brauchte.
Vierzehn Meter rollten sich von dem Schlauche ab, dann hörte die Winde sich zu drehen auf.
Der Taucher hatte den Grund erreicht — oder doch sein Ziel, er konnte ja auch im Wasser schweben bleiben, um etwas an der Felswand zu untersuchen — und er hatte wohl auch schon einigen Schlauch noch nachgezogen.
Langsam und regelmäßig hob und senkte der Prinz die Hebelstange, sich nicht um die Ungeheuer kümmernd, die ihn umkrochen und umwanden, manchmal ihn ganz zudeckten, ohne dass diese Umhüllung viel das gelbe Licht abschwächte, obgleich diese Tiere doch sonst ganz undurchsichtig waren.
Der Prinz hatte nur Augen für das Manometer. Höchstens dass er manchmal noch auf das finstere Wasser blickte, in dem die von dem Taucher verbrauchte und selbsttätig ausgestoßene Luft in feinen Bläschen empor perlte.
So vergingen einige Minuten.
Plötzlich fiel der Prinz fast vornüber.
Er hatte gerade die Hebelstange niederdrücken wollen, fand aber plötzlich keinen Widerstand mehr, der Hebel sauste ganz leicht herab.
In demselben Augenblicke quoll aus dem Wasser eine mächtige Luftblase empor.
Der Prinz wusste sofort, was das zu bedeuten hatte.
»Alle guten Geister, der Schlauch ist defekt geworden!«
Es war noch die mildeste Annahme.
Der Prinz konnte noch pumpen, fand aber eben keinen Widerstand mehr, und bei jedem Drucke quoll eine neue große Luftblase empor.
»Das sieht schon mehr aus, als wenn der ganze Schlauch gerissen wäre, oder die Hauptverbindung hat sich gelöst!«
Konnte der Taucher das Eindringen des Wassers verhindern und hatte er immer noch die Möglichkeit, durch die eigene Luft emporzusteigen, so der Todesgefahr zu entgehen?
Der Prinz wusste es nicht, kannte nicht die speziellen Einrichtungen dieses Apparates.
Er zog den Schlauch hoch, es blieb ihm nichts anderes übrig.
Dreizehn Meter brachte er aus dem Wasser, da zeigte sich das Ende des Schlauches. Ganz glatt abgeschnitten!
Der denkbar verderblichste Fall war eingetreten.
Helfen konnte der Prinz nicht, überhaupt gar nichts tun.
Im Boot lag wohl eine Hakenstange, zwei Meter lang, aber wenn er diese auch durch Zusammenbinden mit den zwei vorhandenen Rudern verlängerte, sie reichte doch nicht etwa die vierzehn oder gar fünfzehn Meter hinab, wo jetzt der Taucher auf dem Grunde lag, wenn nicht noch viel tiefer, schon ganz mit Wasser angefüllt.
Und ein Hinabtauchen aus freier Hand gibt es da natürlich nicht.
Wohl eine Viertelstunde verging.
Wir wollen diese Viertelstunde nicht zu schildern versuchen, was der Prinz während dieser Zeit alles dachte, bis er einsah, dass er ja ganz vergeblich auf irgend etwas wartete.
Und da fasste er dieses Ereignis sogar mit einigem Humor auf.
»Na, mag der Herr Norge auch ersoffen sein, ganz aus der Welt ist er deshalb noch nicht. Der erwacht einfach wieder als Herr Peter Sybel in Christiania auf dem Kanapee, der frühstückt jetzt vielleicht schon wieder und schmaucht sein Pfeifchen, oder sollte er mich etwa gar mit Absicht veralbert haben? Wollte er mich verlassen, damit ich hier meine abenteuerliche Reise allein fortsetze? Doch nein, ein unvorhergesehener Unglücksfall wird hier wirklich vorliegen. Um mich in diese Situation zu bringen, deshalb wäre er doch nicht erst als Taucher, dem ich Luft zupumpen muss, ins Wasser gestiegen. Also adieu, Herr Norge, wir sehen uns schon einmal wieder, das weiß ich ganz bestimmt.«
So sprach der Prinz, als er sich dem Boote zuwandte. Da er sich diesem nun allein anvertrauen musste, um von hier fortzukommen, bekam es für ihn eine noch ganz andere Bedeutung, er ging an eine Untersuchung seines sonstigen Inhaltes, was da alles am Boden lag und was die verschiedenen Kisten enthielten.
Den Räubern waren also seine Sachen wieder abgenommen worden, doch hatte ihm Norge nur Gewehr und Munitionstasche mit fünfzig Patronen gleich in die Felsenkammer mitgebracht. Hier aber fand der Prinz, wovon der einesteils so redselige, andernteils so wortkarge Norweger gar nichts gesagt, auch seinen Revolver wieder, für den die gleichen Patronen passten, ferner seine Uhr, seine Brieftasche und was ihm die Räuber sonst genommen hatten.
Ferner war noch die Doppelbüchse des Norwegers vorhanden, eine sehr große, ganz moderne Browningpistole, ein Kasten mit zweihundertfünfzig Patronen, und der Prinz konstatierte sofort, dass diese auch für seinen Schweizer Stutzen passten, obgleich die beiden Gewehre sonst ganz verschieden konstruiert waren — eben beide mit Zentralfeuer — und schließlich noch zwei Decken, eine Harpune, mehrere verschieden große Angelhaken mit Schnuren, sonst nichts weiter.
Auch der Kasten der Peris war nicht zu sehen.
»Das ist eigentlich schade, dass Freund Norge das Hochzeitsgeschenk für meine zukünftige Frau Gemahlin mir nicht gleich anvertraut hat, mit der Weisung, wie man die Peris in Beefsteaks, Schnitzel und dergleichen verwandeln kann. Es ist zwar erst eine Stunde her, dass ich sehr, sehr reichlich gefrühstückt habe, aber ich bin eben Rekonvaleszent, auf bestem Wege zur vollkommenen Gesundung, habe jedenfalls eine längere Hungerkur hinter mir — ich fühlte wahrhaftig schon wieder einen ganz tüchtigen Appetit. Halt, da ist ja noch ein Kasten! Was ist da drin!«
Die vier Fächer des ausgezeichnet schließenden Kastens waren gefüllt mit Tee, schon gemahlenem Kaffee, Zucker und Salz, und ein fünftes Abteil enthielt einen ganzen Satz Kochgeschirr, deren kleinste Teile auch als Trinkbecher zu verwenden waren.
»Sollte da nicht auch ein Ofen vorhanden sein?«
Gewiss, er brauchte nur den Apparat näher zu untersuchen, der ihm als elektrische Lampe bezeichnet worden war, der sich aber damals noch nicht in dem Boote befunden hatte.
Eine Hebeldrehung ließ nach allen Seiten intensives Licht ausstrahlen, eine andere sandte nur einen Blendstrahl aus, nach allen Richtungen drehbar, und ein dritter Hebel verwandelte das kalte Licht in eine Hitzequelle. Auch war eine Vorrichtung vorhanden, um gerade die Kochtöpfe und Bratpfannen aufzunehmen.
»Alles vorhanden, alles vorhanden — um Tee und Kaffee zu kochen, um ihn zu süßen und um die Zukost zu salzen. Nur eben diese Zukost fehlt. Nun, die muss ich mir eben selbst verschaffen, entweder mit Harpune und Angel oder durch einen Pulverschuss. Dann kann die Braterei und Kocherei losgehen, dann werde ich zu Ehren des seligen Herrn Norge einen solennen Leichenschmaus halten. Ob dort so ein Elefant mit Watschelfüßen mir ein astrales Beefsteak liefert?«
Mit der Harpune versuchte es der Prinz gar nicht erst, er gab auf das monstrale Ungeheuer gleich einen Schuss aus seinem Stutzen ab.
Dass es keinen Erfolg haben würde, hatte er sich ja gleich gedacht. Er hatte nur einmal hören wollen, wie hier in dieser Grotte ein Schuss krachte, nichts weiter. Oder vielleicht passierte sonst irgend etwas.
Aber es passierte nichts. Der Schuss donnerte furchtbar, die Kugel klatschte gegen die Wand, und der durchbohrte Elefant setzte seinen Weg auf den Watschelfüßen ruhig fort.
»Hm, dann müsste ich versuchen, ob dieses Wasser reellere Fische beherbergt. Mit der Harpune? Um einen Fisch harpunieren zu können, muss man ihn erst sehen, und das ist in diesem schwarzen Wasser nicht möglich.
Die Angel auswerfen? Zum Angeln braucht man einen Köder. Und den habe ich nicht, oder ich müsste mir einen Finger abschneiden. Na, fahren wir erst einmal westwärts, vielleicht finden wir ein reelleres Jagdgebiet.«
Das ganze Taucherzeug liegen lassend, wie es lag, setzte er das Boot in Bewegung, nach Westen hin, wie die Nadel des großen Kompasses angab.
Dazu musste er über den ganzen See, fuhr zwischen den vielen Inselchen durch und bemerke dabei zum erstem Male, dass es hier auch Vögel gab.
Ein kolossales Etwas sauste in der Luft dicht an ihm vorbei, halb Adler, halb Fledermaus, so wie er in der Schnelligkeit unterscheiden konnte. Er kümmerte sich nicht weiter darum, er hatte jetzt anderes im Kopfe als diese Wesen einer ihm ganz fremden Welt.
Richtig, von dem See zweigten genug Wasserläufe nach Westen ab, immer zwischen glatten Felswänden hindurch, der Prinz steuerte in den ersten besten hinein.
Die elektrische Lampe hatte er bereits in Funktion gesetzt, und zwar so, dass sie sowohl einen Lichtkreis von wenigstens zehn Metern Durchmesser verbreitete, als auch dass sie noch einen Lichtschein wohl hundert Meter weit voraus warf.
Zu sehen war in diesem Lichte nichts Besonderes. Immer nur Wasser und seitwärts und oben nackte Felswände. Aber nicht, dass auch hier eine Galerie als Ufer vorhanden war. Das Wasser füllte den Tunnel vollkommen aus — eben ein unterirdischer Flusslauf.
So verging einige Zeit. Das gelbe Licht der Schwefelgrotte hatte der Prinz schon längst hinter sich. Stellte er das elektrische Licht einmal ab, so herrschte um ihn herum die schwärzeste Finsternis.
Welche Zeit war es? Seine Uhr, einen Chronometer, den er nur alle acht Tage aufzuziehen brauchte, hatte er gehend gefunden. Sie zeigte auf einige Minuten nach zwölf. Nur schade, dass er nicht wusste, keine Ahnung hatte, ob das Mittag oder Mitternacht sei.
Da aber änderte sich die Szenerie.
Der Prinz sollte das Fabelhafteste einer bizarren Schöpfungslaune zu sehen bekommen. Obgleich es ganz einfach zu beschreiben ist — oder überhaupt gar nicht!
Zunächst sah er nur, dass jetzt rechterhand ein Ufer vorhanden war.
Also der unterirdische Fluss füllte nicht mehr den ganzen Gang aus, floss darin nicht mehr wie in einer Röhre, sondern es kam ein Uferrand von kaum einem viertel Meter Höhe.
Aber im nächsten Augenblicke schon wusste der Prinz nicht mehr recht, was er aus diesem Ufer machen sollte.
Wo war denn plötzlich die ganze Felswand geblieben, die ihn bisher immer begleitet hatte?
Links war sie noch vorhanden, nach rechts aber drang der wenigstens hundert Meter weit reichende Blendstrahl nur in die schwarze Nacht hinein, in diese einen weißen, sich immer mehr verbreiternden Streifen zeichnend, bis er sich eben in der Nacht verlor.
Nun, dann erweiterte sich der Tunnel hier eben nach rechts zu einer Grotte oder Höhle, auf deren linken Seite das Wasser floss.
Wie aber ward dem Prinzen zumute, als er dicht an dieses niedrige Ufer heranfuhr, daran beilegte!
Das war gar kein Ufer, war nicht so zu nennen.
Es war nur eine dünne Steinbarriere, welche das Wasser begrenzte, noch nicht so dick wie hoch, also noch keinen viertel Meter.
Was war nun hinter dieser Barriere?
Der Prinz griff ins Leere, und wenn er den Blendstrahl seitwärts richtete, so traf dessen Ende also keine Wand, auch wenn seine Länge verdoppelt wurde, bis auf zweihundert Meter, was bei diesem intensiven Scheinwerfer recht wohl möglich war.
Und nach unten?
Der Prinz beugte sich über die Barriere, langte mit der Hand nach unten — griff ebenfalls ins Leere. Nur dass er die glatte Außenwand der Steinbarriere fühlte.
Wie er sich bereits überzeugt hatte, konnte er die ganze elektrische Leucht- und Heizvorrichtung, nur ein kleiner, kastenähnlicher Apparat, abnehmen, er stand nur lose im Boote, dann funktionierte alles noch, ohne eine Drahtbelegung, die Elektrizitätsquelle war eben innerhalb des Kastens selbst.
Der Prinz tat es, hob den Kasten auf, setzte ihn auf die Barriere und ließ den Blendstrahl nach unten fallen.
Und was sah er? Nichts. Nur schwarze Nacht, durch die der Lichtschein als weißer Streifen ging, also eine Schlucht, und bei wenigstens zweihundert Meter Länge erreichte der Blendstrahl noch immer nicht den Boden dieser Schlucht!
In einem momentanen Schaudern schloss der Prinz die Augen.
Man muss sich die Situation richtig ausmalen, um verstehen zu können, weshalb dieser starke Mann von solch einem plötzlichen Schaudern erfasst wurde.
Hier ein kaum zehn Meter breiter Fluss, auf der einen Seite von einer Felswand begrenzt, die zum Teil auch noch als Decke überhing — auf der anderen Seite eine ganz dünne, niedrige Barriere, hinter der es direkt in eine fürchterliche Tiefe hinab ging!
Gibt es so etwas in irgend einem Gebirge unter Gottes freier Sonne?
Nun, hier im Innern des Himalajagebirges konnte der Prinz solch ein Naturphänomen bewundern, sich davor entsetzen.
Denn wer musste sich wohl nicht davor entsetzen?
Wenn jetzt dieser dünne Steindamm brach, dann sausten die ganzen Wasser hinab in die furchtbare Tiefe und mit ihnen natürlich auch das Boot.
Und diese Möglichkeit war eigentlich schon halb und halb Tatsache.
Der Prinz erblickte auch noch etwas anderes.
Er brauchte den nach unten gerichteten Blendstrahl nur etwas seitwärts zu lenken, und er sah einen breiten, weißen Streifen, der sich von dem Rande der Barriere nach unten hinab zog.
Dort etwas voraus wurde die Barriere nämlich immer niedriger, bis zuletzt eben gar keine mehr vorhanden war, und nun ergoss sich dort der Fluss ganz einfach als Wasserfall in die Tiefe hinab.
Das heißt seitwärts, nur ein Teil seines Wassers wurde ihm durch das Fehlen der Barriere oder überhaupt eines Ufers entzogen, sonst setzte er seine ursprüngliche Richtung als Fluss fort, bis er auch wieder rechterhand von einem richtigen Ufer begrenzt wurde.
Jawohl, das war ganz einfach.
Aber es war nicht nur so ein kleiner, schmaler Wasserfall, nicht dass die Barriere nur einmal hier in dieser einzigen Stelle auf einer kurzen Strecke unterbrochen wurde oder so niedrig war, dass das Wasser darüber floss.
Sondern es war ein Wasserfall, dessen Breite der Prinz überhaupt noch gar nicht absehen konnte, obgleich er den zweihundert Meter weit reichenden Blendstrahl jetzt direkt voraus richtete!
Und weshalb machte denn dieser so mächtige Wasserfall gar kein Geräusch, weshalb hörte man denn auch nicht das geringste Plätschern?
Nun, weil sich das Wasser eben ganz sanft über den Rand schob — dann aber in eine Tiefe stürzte, wo man das Aufschlagen des Wassers gar nicht mehr hörte!
Weil man also mit einer Tiefe von Kilometern rechnen musste!
Das war es, diese Erkenntnis, weshalb der Prinz plötzlich einen eiskalten Schauder über seinen Rücken hinab rieseln fühlte, dass er vor Entsetzen die Augen schloss.
Dieser Weltreisende hatte schon manche halsbrecherische Klettertour in wilden Gebirgen gemacht, an schwindelnden Abhängen vorbei auf schmalen Graten, auf denen die Füße keines Maultieres Platz gefunden.
Aber das alles war nichts im Vergleiche zu dieser Situation hier gewesen.
Hier bestand dieser schmale Grat aus fließendem Wasser, und es ergoss sich frei ohne Halt in die fürchterliche Tiefe hinab!
Eine Bootsfahrt dicht am oberen Rande des Niagarafalles entlang — es war noch lange nicht der richtige Vergleich.
Da befand man sich wenigstens im Freien, sah die Gefahr. Oder mochte es auch finstere Nacht sein. Es war doch immer noch etwas ganz anderes. Dann hörte man wenigstens den Wasserfall brüllen. Man kannte die Gefahr, fühlte sie.
Aber hier im Innern dieser Felsen, in geschlossenen Räumen, in einem Reiche der ewigen Nacht, in dieser Grabesstille — —
Man vergegenwärtige sich nur die ganze Situation und man wird des Prinzen schauderndes Entsetzen begreiflich finden.
Er ermannte sich, um ruhig zu beobachten und zu erwägen.
Durfte er wagen, die Fahrt am Rande dieses Wasserfalles fortzusetzen? Ohne dass er in die Tiefe gerissen wurde?
Sehr hoch über der Barriere stand das Wasser nicht, das konnte er ermessen. Schon aus der geringen Strömung nach seitwärts, wozu er nicht erst ein Stückchen Holz oder etwas Ähnliches ins Wasser zu werfen brauchte.
Sein Motorboot, so flach es auch gehen mochte, hätte die Barriere gar nicht passieren können.
Hier nicht!
Aber wer sagte ihm denn, dass dort, wohin sein Scheinwerfer nicht mehr reichte, der Fluss plötzlich mit furchtbarer Geschwindigkeit über die sehr tief gewordene Barriere hinabschoss?
Und ehe er dies gewahrte, mochte sein Scheinwerfer auch noch so weit reichen, da war diese Strömung schon eine so gewaltige, dass er sein Boot auch mit aller Kraft nicht mehr rückwärts gehen lassen konnte!
Dann schoss eben das Boot samt Prinzen ebenfalls mit in die Tiefe hinab!
Ja, wie aber sollte er ergründen, ob diese Eventualität vorhanden war oder nicht?
Der Prinz sah bald ein, dass er auf diese Weise nicht vom Flecke kam.
Entweder auf gut Glück weiterfahren oder wieder zurück! Von der Schwefelgrotte aus einen anderen nach Westen führenden Flusslauf suchen.
Ehe er letzteres tat, zog er seine Erwägungen in anderer Weise.
Norge hatte ihm gesagt, er solle irgend einen nach Westen führenden Flusslauf benutzen. Nur immer möglichst nach Westen halten, nichts weiter!
Dieser Norweger war doch offenbar hier in dieser Höhlenwelt wie zu Hause.
Sollte er da nicht auch diesen Flusslauf hier gekannt haben, mit diesem Wasserfall, gar nicht so weit von der Schwefelgrotte entfernt?
Und wenn dieser Wasserfall so eine außerordentliche Gefahr für einen unkundigen Schiffer bedeutete, hätte er da den Prinzen nicht vor dieser drohenden Gefahr gewarnt, vor Benutzung gerade dieses einen Flusslaufes?
Die Erwägungen des Prinzen waren beendet.
Kurz entschlossen stieß er das Boot von der Barriere ab und setzte seine Fahrt fort.
Natürlich hielt er sich immer dicht an der Felswand auf der anderen Seite.
Auf anderthalb Kilometer schätzte er die Strecke, dann trat auch rechter Hand die Barriere wieder aus dem Wasser heraus. So lange hatte er also zur Seite einen ununterbrochenen Wasserfall gehabt, die feste Grenze gegen den furchtbaren Abgrund hatte immer nur fließendes Wasser gebildet, gewissermaßen in der Luft hängend, denn anders kann man es doch kaum bezeichnen.
Reißend war die Strömung nach dieser Seite hin niemals geworden, also konnte die Barriere auch niemals sehr tief unter Wasser gewesen sein, wahrscheinlich hatte das Boot sie nirgends passieren können — aber der Prinz atmete doch erleichtert auf, als er alle ausgedachten Möglichkeiten hinter sich hatte.
Jetzt fuhr er wieder nach jener Seite. Er wollte noch einmal über die Barriere in die Tiefe hinab blicken.
Da merkte er, dass sich jetzt die Formation geändert hatte.
Jetzt war das gar keine dünne Barriere mehr, sondern ein richtiges, flaches Felsenufer, das sich so weit in die Finsternis hinein erstreckte wie der Blendstrahl reichte.
Und jetzt trat auch links die Felswand zurück, auch hier wurde das Wasser von einem flachen Ufer begrenzt. Also es war eine Höhle geworden, eine Höhle, von deren Ausdehnung sich der Prinz vielleicht gar keine Vorstellung machen konnte, durch die der unterirdische Fluss jetzt seinen Lauf nahm, nicht mehr so schnurgerade wie bisher, oftmals Windungen machend, aber sonst doch immer die Richtung nach Westen einhaltend.
Da, wie der Prinz seit einiger Zeit diesen Windungen gefolgt war, traf plötzlich ein starker Windstoß seinen Kopf.
Eben konnte er noch bemerken, dass etwas Großes, Schwarzes dicht an ihm vorbeigesaust war, ohne in den Bereich des Lichtscheines zu kommen.
Ein Vogel? Eine Fledermaus?
Dann aber konnte das nicht wieder solch ein astrales Wesen sein, er hatte ja den Luftzug deutlich genug verspürt, die Nähe des lebenden Tieres selbst.
Da wurde der vorausgesandte Blendstrahl wieder von einer großen, schnellen Masse gekreuzt, und jetzt hatte der Prinz erkannt, dass es wirklich ein ungeheurer Vogel war.
Der Anblick war ein derartiger gewesen, dass er unwillkürlich schnell nach seinem Revolver gegriffen hatte.
Und wieder schwebte jetzt dort vorn in dem weißen Strahle solch ein geflügeltes Ungeheuer, diesmal etwas länger darin verweilend, der Prinz sah einen Eulenkopf, aber so groß wie der eines Ochsen, sah die fast tellergroßen Augen, die Flügel von drei Meter Spannweite — da krachte der Schuss!
Verschwunden war der schwarze Schatten in dem weißen Lichtstreifen.
Dafür aber ertönte sofort ein Geschrei, so entsetzlich, dass sich des Prinzen Haare fast auf dem Kopfe sträubten.
Es klang wie Katzengeschrei — als ob sich hundert Katzen in einer Maiennacht zum gemeinschaftlichen Liebeskonzert zusammengefunden hätten — nein, als ob diese hundert Katzen bei den Schwänzen aufgehangen worden wären, vielleicht noch über Feuern, um sie lebendig zu rösten.
Ohrenbetäubend, durch Mark und Bein gehend, die Nerven zerfetzend!
Wie gesagt, der Prinz fühlte förmlich, wie sich seine Haare sträubten.
Solch ein entsetzliches Schreien hatte er noch nie gehört, auch nicht auf dem Schlachtfelde, wenn verwundete Pferde vor Schmerz schreien — ein Schreien, das man einmal gehört haben muss, um es nicht wieder vergessen zu können.
Dieses hundertfache Katzengeschrei nahm an Stärke schnell ab, bis es in ein schrilles Winseln überging und schließlich ganz verstummte.
Dort auf dem rechten Ufer musste das getroffen Tier verendet oder doch verstummt sein.
Der Prinz zögerte nicht lange, das musste er wissen, was er da geschossen hatte, er legte an, befestigte das Boot, so gut er konnte, klemmte die Kette in eine Spalte, nahm gleich den ganzen Scheinwerfer mit.
Und da hatte der Blendstrahl die Beute auch schon gefunden.
Gewiss, es war ein riesenhafter Vogel, der dort mit ausgebreitetem Flügeln am Boden lag.
Der Prinz begab sich hin.
Es war ein Uhu, dem die Revolverkugel die Brust durchbohrt hatte.
Was es unter den Uhus für Riesen gibt, ganz abgesehen von jenem »Gotte« Melkart, darüber ist schon früher einmal ausführlich gesprochen worden. Die größten soll der Kaukasus beherbergen, bis neunzig Zentimeter hoch bei mehr als zwei Meter Flügelspannweite. Aber man darf den Versicherungen der Gebrüder Schlagintweit, Hermann, Adolf und Robert, die als erste Europäer den Himalaja gründlich erforscht haben, glauben — ihre herrlichen Reisebeschreibungen hat man leider ganz vergessen, wie diese drei Heroen selbst; während doch wenigstens so eine Stadt wie Berlin eine SchlagintweitStraße haben sollte. Nur Russland hat dort, wo Adolf in Turkestan bei Kaschgar von Kurden ermordet wurde, am 26. August 1837 einen Obelisken errichtet — diese also versichern, im Himalajagebirge immer noch ganz andere Uhus gesehen zu haben, wenn sie auch keinen erlegen konnten.
Und das ist sehr wohl möglich. Ach, was mag auf diesen eisigen Höhen, die der Mensch nur mit dem Sauerstoffapparat erklimmen kann, und in diesen unergründlichen Tälern, die vielleicht nie ein Mensch entdecken wird, für eine uns noch ganz unbekannte Tierwelt hausen!
Jener Uhu, der im Megalis el Hiermit gefangen gehalten und als ein Gott angebetet wurde, war ein Meter zwanzig hoch gewesen. Dieser hier gab ihm sicher nichts nach. Der Prinz hatte sich auch nicht in der Flügelspannweite getäuscht, sie betrug mindestens drei Meter.
Er lag mit ausgebreiteten Schwingen auf dem Rücken, die furchtbaren Fänge im letzten Todeskampfe krampfhaft angezogen. Von tellergroßen Augen konnte man insofern sprechen, als doch die eigentlichen Augen von weißen Kreisen umgeben sind, die mit zu dem ganzen Auge zu gehören scheinen. Den oberen Teil des Hakenschnabels hätte ein Inder als spitzen Schuh benutzen können.
Der Prinz machte mit ausgespannten Fingern und mit seinem Stutzen einige Messungen, und dann ging er daran, den Leib aufzuschneiden, um den Inhalt des Magens zu untersuchen.
Das muss für den Jäger, der zugleich Naturforscher ist, immer das erste sein.
Wovon hat sich das erlegte Tier ernährt?
Hier war diese Frage besonders interessant.
Hauste dieser Uhu in diesen Felsengängen nur am Tage, ging er bei Nacht ins Freie, um dort zu jagen, oder war er für immer in dieses Reich der ewigen Nacht gebannt?
Der Inhalt des Magens musste darüber Auskunft geben.
Er war geöffnet, zeigte sich bis zum Platzen gefüllt mit Überresten von Fischen, Fröschen und zumal von kleinen Krebsen.
»Fische, Frösche, Krebse?«, wunderte sich der Prinz. »Selbst in der Voraussetzung, dass er hier in geschlossenen Räumen haust, habe ich doch nur Fledermäuse vermutet. Fischt denn der Uhu auch kaltblütige Wassertiere? Ich muss gestehen, dass ich das nicht einmal weiß. Ich weiß nur so viel, dass alle Eulenarten unbedingt haarige Felle als Mageninhalt brauchen, um sie als sogenanntes Gewöll wieder auszuwürgen, davon hängt ihre gute Verdauung ab, sonst, wenn man ihnen das in der Gefangenschaft vorenthält, gehen sie ein. Da scheinen hier die unverdaulichen Krebsschalen die Rolle des Gewölls zu spielen.«
Weiter kümmerte er sich nicht um den toten Vogel, er dachte an seinen eigenen Mageninhalt, der sehr negativ war, und mit Uhufleisch wollte er nicht erst einen Versuch machen.
Jetzt hatte er einen Köder. Er wählte ein Krebschen aus, das am besten noch seine ursprüngliche Form behalten hatte, ging zurück, bestieg das Boot wieder, befestigte den Köder an einen mittleren Angelhaken und warf ihn aus.
Kaum war der Köder eingefallen, als es auch schon einen Ruck gab, dass die um das Handgelenk gewickelte dünne Hanfschnur gleich ins Fleisch schnitt, und mit einer Gewalt wurde gezogen, dass sich die eingeklemmte Kette von selbst aus der Spalte befreite.
Schnell hatte der kundige Angler die Schlinge gelöst und ließ die Schnur schlippen, um den Fisch durch einen zweiten Ruck nicht entgehen zu lassen, falls der Haken noch nicht fest genug saß.
»Das ist ein Lachs! Er hat den einfallenden Köder für einen lebendigen Krebs angesehen! Ich will fernerhin nur mit Brotkrümeln nach Weißfischen angeln, wenn das kein Lachs ist! Na, wenn das die Engländer erfahren, dass es hier Lachse gibt, die so schnell beißen, dann entsteht bald eine Völkerwanderung nach dem Himalajagebirge, dann sitzt hier im Innern dieser Felsen alles voll angelnder Engländer!«
So sprach der Prinz, während er sein Boot von der unsichtbaren Kraft ziehen ließ, dabei immer noch etwas Leine nachgebend.
Ja, diese Engländer! Sie sind wahrhaftig bewundernswert, wenn sie angeln, Lachse und Forellen angeln. Da werden sie wahrhafte Heroen. Am besten kann man das in Norwegen beobachten; an den Wasserfällen. Da lassen sich diese Söhne Albions im Sommer für einige Wochen nieder, da sieht man sie Tag und Nacht geduldig die Angel werfen, immer umhüllt von einem Glorienschein, nämlich von Myriaden von Mücken, und obgleich sie dicht in Schleier eingewickelt sind, sind sie doch zerstochen, dass sie aussehen, als ob sie die Pocken hätten. Und die dortigen Bauern, denen Grund und Boden und Wassergerechtigkeit gehört, die verstehen das Geschäft, die nehmen's von den Lebendigen, die fordern für solch einen Stand Tausende von Kronen, und so ein Engländer zählt sie willig auf den Tisch hin, wenn er nur den gewünschten Stand erhält. Dabei hat er gar nichts von seinen Fischen. Er liefert die ganze Beute an die umliegenden Gehöfte ab. Nicht, weil er dies muss, sondern weil er keine Zeit hat, sich eine Fischmahlzeit zu kochen. Und der englische Sport erlaubt nicht, dass der echte Angler eine Bedienung bei sich hat. Er muss ganz, ganz auf sich selber angewiesen sein, sonst zählt dann die Beute im Klub bei der alljährlichen Preisverteilung nicht mit.
So leben dort die Engländer wochenlang wie die Wilden, schlimmer als die Wilden, jeder ganz einsam für sich, meist nur von Hartbrot und Käse, sie haben keine Zeit, sich eine Büchse Konserven zu wärmen, sogar auf ihren Tee verzichtend, allen Unbilden der Witterung ausgesetzt, an ein Waschen gar nicht zu denken, nur wenn sie todmüde sind, in ein kleines Zelt kriechend, neben dem ein Kadaver liegt, auf dem sie spannenlange, fette Würmer züchten.
Und wozu dies alles? Nur um in ihr Angelbuch, auf das sie vereidigt sind, das mit der Federwaage konstatierte Gewicht der erbeuteten Fische, nur Lachse und Forellen, einzutragen.
Aber das ist ganz und gar nicht lächerlich zu nehmen. Das sind dieselben Engländer, die mit derselben spleenigen Zähigkeit sich die ganze Erde tributpflichtig gemacht haben! —
Nur wenige Minuten, dann ließ der heftige Zug schnell nach, das Tier hatte sich abgearbeitet.
Unterdessen hatte sich auch links das Ufer geändert.
Es gab keinen scharfen Felsenrand mehr, sondern es wurde ein sanft abfallendes Ufer daraus, mit ganz seichtem Wasser.
Der Prinz sprang über Bord, bis an die Knie ins Wasser, den Grund hatte er erkennen können, watete aufs Trockene; jetzt war er es, der einen scharfen Ruck gab, und nun wusste er, dass der Haken fest saß, er landete seine Beute.
Wie das geschah, das sei lieber nicht geschildert, denn wenn man damit einmal anfängt, kann man leicht in die Verlegenheit kommen, nicht wieder aufzuhören. Darüber gibt es in der englischen Angelliteratur zahllose dicke Bücher, sie füllen ganze Bibliotheken, sogar in Gedichtform sind sie geschrieben, und das beste davon ist von der Priorin eines englischen Nonnenklosters verfasst, schon im 15. Jahrhundert, von der Juliane Berners, »Book of St. Albans or Treatyse of fysshinge wyth an angle«. Wer von diesem Buche ein Exemplar der ersten oder zweiten Auflage besitzt, der braucht nicht mehr zu arbeiten, das verkauft er und ist ein reicher Mann.
Es war ein junger, aber schon meterlanger Huchen von vielleicht einem halben Zentner, den der Prinz nach unsäglichen Schwierigkeiten, dank seiner kunstgerechten Geschicklichkeit, endlich glücklich aufs Trockene brachte, wo er mit dem Messer dann den Gnadenstoß empfing. Er hätte ihn ja schon vorher harpunieren können, aber dann hätte sich der Prinz, wenn es regelrecht zuging, doch hinterher zu Tode schämen müssen. Entweder harpunieren — oder am Angelhaken in Sicherheit bringen.
Dafür aber brauchte er später auch keine Weißfische mit Brotkrümeln zu fangen. Auch der Huchen gehört zu den Lachsen, nur dass er niemals ins Meer geht.
Jetzt, da er das Werk vollendet, machte der Prinz auch noch eine andere freudige Entdeckung, die er allerdings schon längst hätte machen können, denn er war schon immer auf dieser Entdeckung herumgetrampelt, hatte eine auch bereits schmerzhaft an der Wade hängen.
Aber für solche Kleinigkeiten hatte er bisher keine Zeit gehabt.
Das seichte Wasser hier wimmelte nämlich von großen Hummern.
Hummer in Süßwasser?
Nein, es waren Krebse, die sich riesenhaft entwickelt hatten.
Krebse sind Nachttiere, hier blieben sie ungestört, wurden wenigstens von ihrem schlimmsten Feinde, dem Menschen, nicht verfolgt, und dass es ihnen nicht an Nahrung fehlte, das zeigte sich gerade hier. Das seichte, vor Strömung geschützte Wasser war ein Laichplatz von Fischen, massenhaft waren die Eier abgesetzt worden, da konnten sich die Krebse wohl mästen. Ob diese Fischeier denn gar keiner Sonne bedurften, um zur Reife zu gelangen oder ob es sozusagen verlorene Eier waren, nur in der Verlegenheit hier abgesetzt, das konnte der Prinz so ohne Weiteres nicht beurteilen.
Jetzt fühlte er den Schmerz, den ihm ein Krebs an der Wade bereitete.
Ein Hieb mit seinem schweren Bowiemesser, und außer der gewaltigen Schere hatte er dem gepanzerten Ritter auch gleich noch den Kopf abtrennt.
Der Krebs wurde noch etwas weiter zerhackt, und er wanderte in den mit Wasser gefüllten Kochtopf, der auf den Ofen gesetzt wurde, und dann gesellte sich noch ein gutes Stück Lachsfleisch hinzu.
Nach einer halben Stunde war die delikate Mahlzeit fertig, sie wurde gewürzt durch eine Tasse ausgezeichneten Kaffees.
Dann wurde die Fahrt fortgesetzt, nachdem noch das Boot für alle Fälle mit einigen Krebsen und Lachsfleisch verproviantiert worden war.
Es war gegen zwei Uhr, unterdessen hatte sich nichts Besonderes gezeigt, die Szenerie war ziemlich immer dieselbe gewesen, als der Prinz in weiter Ferne voraus wiederum einen Lichtschein erblickte.
Aber keinen gelben wie bei der Schwefelgrotte, sondern von einer so intensiven Weiße, dass man gleich auf Sonnenlicht schließen musste. Denn dies ist eben das weißeste Licht, das wir kennen, man muss nur einmal einen Sonnenstrahl durch ein Löchelchen in ein absolut finsteres Zimmer leiten und auf schwarzen Samt fallen lassen, um das zu erkennen. Dann erscheint auch elektrisches Bogen- und Magnesiumlicht ganz gelb dagegen.
Obgleich das Boot sehr schnell fuhr, hatte der Prinz den Lichtstreifen doch erst in einer Viertelstunde erreicht, auf solch weite Entfernung wirkte dieses Licht.
Und dann konstatierte der Prinz, dass es ein recht eigentümlicher Lichtstreifen war. Er zog sich quer über den ganzen Fluss, ohne doch das Wasser zu berühren, ebenso wenig aber auch die Decke des unterirdischen Ganges.
Als er dann vollkommen herangefahren war, erkannte er hiervon die Ursache.
Der Fluss machte hier eine fast rechtwinklige Krümmung nach links, gerade voraus war ihm eine Barriere vorgelagert, die Decke selbst hing über, und zwischen dieser Barriere und der erniedrigten Decke nun erglänzte das Licht, zweifellos Sonnenlicht, darüber war sich der Prinz nun ganz klar.
Und hier in diese Barriere waren Ringe eingelassen, doch offenbar dazu, um eben Boote daran zu befestigen, und an der etwas mehr als mannshohen Barriere führte eine kupferne Leiter hinauf!
Das Werk von Menschen! Ob solche vorhanden waren, das war ja eine andere Frage.
Der Prinz befestigte sein Boot und erklomm die Leiter.
Sobald er den Kopf über die Barriere hob, bot sich ihm ein ebenso überraschender wie entzückender Anblick dar.
Wir wollen es etwas anders schildern, gleich ausführlicher, als wie es jetzt dem Prinzen von der Stellung aus, in der er sich befand, zu sehen möglich war.
Das Ganze war ein ungeheurer Krater von genau trichterförmiger Form, von geometrischer Symmetrie. Wir wollen gleich die Maße angeben, die auch wirklich genau bekannt waren.
Oben die völlig kreisrunde Mündung des Trichters hatte einen Durchmesser von 240 Metern, die direkte Höhe betrug 120 Meter, die Seitenwände bildeten einen Winkel von ungefähr 45 Grad, hier unten die Sohle, wieder ganz kreisförmig, hatte einen Durchmesser von 33 Metern.
Dieser Grund des ehemaligen Kraters hatte sich mit Wasser gefüllt. Wie ja überhaupt die Vermutung sehr nahe lag, dass diese unterirdischen Gänge früher einmal von glühenden Lavaströmen durchflossen worden waren, das Wasser hatte sich erst später eingestellt.
Ganz auffallend war, wie außerordentlich glatt diese schrägen, schwarzen Wände waren. Nicht nur ohne die geringste Unebenheit, sondern überhaupt genau wie geschliffener Achat.
Das mochte das Regenwasser in Verbindung mit schleifendem Sand und Staub im Laufe der Jahrtausende vollbracht haben.
Da nun bei dieser Größe und Trichterform Tageslicht und die direkte Sonne sehr viel Zutritt hatte, so konnte hier unten in der Tiefe recht gut eine Vegetation entstehen, und das war nun auch der Fall.
Das Wasser hier unten war über und über mit Teichlinsen bedeckt, zwischen denen wieder die herrlichsten, himmelblauen Lotosblumen prangten, einen entzückenden Anblick bietend und zugleich die ganze Luft mit dem köstlichsten Wohlgeruche erfüllend.
Dieser Lotosteich also war das erste gewesen, was der Prinz erblickt hatte.
Aber was war denn das?
Nicht die so glattpolierten Kraterwände waren es die ihn so überraschten, die beachtete er noch gar nicht.
Hier unten hausten Menschen oder hatten hier gehaust, hatten tüchtig gearbeitet, wenn sie es nicht noch jetzt taten!
Die schrägen Wände reichten nämlich nicht bis an den Boden, das heißt bis an das Wasser, der Teich erstreckte sich noch etwas darunter hinweg.
Nämlich dadurch, dass die Wände unten bis zu einer Höhe von etwa vier Metern nach innen zu einer Grotte ausgemeißelt worden waren, oder auch schon die Natur, die feuertreibende Vulkankraft, mochte diese untere Ausbuchtung geschaffen haben. Jedenfalls aber hatten doch Hammer und Meißel tüchtig nachgeholfen.
Diese Ausbuchtung ging rundum noch etwa sechs Meter in den Felsen hinein, der Prinz steckte seinen Kopf durch eine ziemlich hohe und breite Spalte hindurch.
Und was er nun in dieser grottenähnlichen Ausbuchtung ringsum erblickte.
Eben so seltsam wie schauderhaft.
Eine Ausschmückung, eine Verzierung der Steinwände, einerseits ganz eintönig, anderseits höchst abwechslungsreich, barbarisch und künstlerisch zugleich.
Die ganze Wand ringsum war nämlich mit schneeweiß gebleichten Menschenknochen dekoriert.
Nicht als Skelette waren sie angebracht, sondern die Knochen immer einzeln, aber doch zu symmetrischen Figuren zusammengesetzt.
Kreise, Sterne, die verschnörkeltsten Arabesken, aus Schenkelknochen, wie aus den kleinsten Fingerknöchelchen, alles höchst kunstreich zusammengesetzt und an der Wand befestigt.
Die Säulen, als Plastik betrachtet, sogar mit perspektivischer Wirkung, waren meist aus grinsenden Totenschädeln ausgeführt.
Totenschädel bildeten aber auch die Bogen, welche sich über die Türen schwangen, die hier und da in die Felswand eingelassen waren, alle verschlossen, durch Flügel aus schwarzem Holze, die aber nun auch wieder über und über mit solchen schneeweißen Knochen und Knöchelchen verziert waren.
Im Übrigen lässt sich das Arrangement gar nicht weiter beschreiben.
Denn wohin man auch blickte, allüberall sah man neuen Knochenschmuck von den seltsamsten, bizarrsten Formen, aber immer künstlerischsymmetrisch, und immer nur Menschenknochen.
Und nun dieser Gegensatz: in der Mitte der liebliche Teich, mit grünen Blattlinsen bedeckt, geschmückt mit herrlichen, köstliche Düfte ausatmenden Lotosblumen. welche den Indern von jeher als Symbol der himmlischen Unsterblichkeit und zugleich der irdischen Glückseligkeit, des fröhlichen Lebensgenusses, gegolten haben, dieses reizende Bild übergossen vom goldenen Sonnenschein — und dann ringsum im düsteren Hintergrunde an den schwarzen Felswänden als furchtbares Memento mori die weißgebleichten Gebeine, zu denen wohl tausend Menschen ihre Knochen und Knöchelchen hatten lassen müssen!
Wozu dies nun alles?
Nun, eben ein symbolisches Kunstwerk dieser kunstreichen Inder. Wirklich höchst geistvoll ausgedacht und arrangiert. Da haben die Inder wirklich etwas los.
Wohin führten die Türen?
Ließen sie sich öffnen?
Der Prinz war entschlossen, die Sache näher zu untersuchen, mochte kommen, was da wollte! Die Betrachtung von hier aus genügte ihm nicht.
Aber unter ihm befand sich noch Wasser. Wollte er hinab, so musste er erst in den Teich springen.
Kurz entschlossen schwang sich der Prinz vollends auf die Brüstung der Barriere und jumpte hinab.
Er hatte geglaubt, das Wasser würde ihm nur bis an die Knie oder an den Leib gehen. So denkt man eben, wenn man solch einen mit grünen Blattlinsen bedeckten Teich sieht, der kann doch gar nicht tief sein.
Stattdessen fand der Prinz, aus zwei Meter Höhe herabsausend, überhaupt gar keinen Grund, musste gleich wieder nach oben schwimmen.
»Wieder einer, fangt ihn!!«
So erklang es in des Prinzen Ohren, sobald er wieder auftauchte, noch ehe er sie sah, die dies gerufen hatten.
Dann freilich sah er sie, die braunen, nackten Männer, die dort am Ufer standen oder meist noch durch eine offene Tür herbeigestürzt kamen.
Und im nächsten Augenblick war es geschehen, war der Prinz gefangen, und er hätte nichts dagegen tun können, und wenn er auch in jeder Hand einen geladenen Revolver gehabt hätte.
In ganz besonderer Weise, wie einen Fisch hatte man ihn gefangen.
Oder man konnte auch an etwas anderes denken.
Hat der geneigte Leser von dem Netzkampfe gehört, den die Gladiatoren im römischen Zirkus auf Leben und Tod ausfechten mussten, als man gar nicht mehr wusste, was für eine Kampfesweise man erfinden sollte, um das übersättigte Publikum noch zu ergötzen?
Jeder der beiden Kämpfer — wenn sie nicht gleich in Masse antraten — hatte eine Art oder auch ein ganz richtiges Fischnetz, einen Hamen.
Nun handelte es sich darum, dieses Netz mit ausgespannter Öffnung dem Gegner über den Kopf zu werfen und ihn weiter so darin zu verwickeln, bis jener ganz wehrlos war. Der Gefangene wurde dann von dem Sieger gleich getötet, meist nur mit den Händen erdrosselt.
Viel »Spaß« wird diese Kampfesweise dem Publikum wohl nicht gemacht haben. Anders, wenn der Gladiator einem Raubtiere gegenübertreten musste, als einzige Waffe nur solch ein Netz, in das er den Tiger oder Löwen zu verwickeln suchte, um sein eigenes Leben zu retten.
Es wird dies erwähnt, weil noch heute an den indischen Fürstenhöfen und bei intimen, geschlossenen Festlichkeiten — die englische Regierung muss natürlich solche »Spielereien« verbieten — derartige Gladiatoren sich produzieren, Professionisten, die nur mit einem Fischnetze wilden Tieren gegenübertreten. Da bekommt man allerdings ganz Erstaunliches zu sehen; wie solch ein nackter Kerl einen geschmeidigen Panther, der immer auf ihn losspringt, immer auszuweichen und ihn zuletzt einzuwickeln weiß. Das ist eigentlich ein noch ganz ehrlicher Kampf zwischen Mensch und Raubtier; da bekommt man Hochachtung vor solch einem nackten Kerl.
Solch ein Fischnetz war dem Auftauchenden über den Kopf geworfen worden.
Falls der erste Wurf nicht gleich geglückt wäre, so waren noch ein halbes Dutzend andere Hamen bereit, um geschleudert zu werden, aber es war nicht nötig, gleich der erste hatte seine Pflicht getan, diese nackten Männer verstanden wohl schon ihre Sache.
Die beschwerte Öffnung sank nach unten, im nächsten Moment konnte der Prinz schon nicht mehr schwimmen, auch nicht mehr sein Messer ziehen, um sich loszuschneiden, da war er auch schon total verstrickt.
So wurde er ans Ufer gezogen, und das musste schnell gehen, sonst wäre er ertrunken.
Er spuckte denn auch schon Wasser, und ehe er sich ausgespuckt hatte, war er schon vollends mit Stricken umschnürt. Das Netz konnte er anbehalten.
Er wurde aufgehoben und davongetragen.
Doch gleich wurde der Transport wieder unterbrochen.
»Da, da, da, da, da — da kommt wieder einer!!«
Wie der Prinz getragen wurde, konnte er dorthin blicken, wohin sich aller Augen richteten.
Und da sah er von dort oben aus schwindelnder Höhe auf der spiegelglatten Kraterwand etwas angeschusselt kommen, schneller und immer schneller, sodass man kaum noch die menschliche Gestalt unterscheiden konnte, und dann ein Klatsch und der Mensch war wie ein Pfeil ins Wasser geschossen, mitten in den Teich hinein.
Wieder waren ein halbes Dutzend Netze bereit, um über den Auftauchenden geworfen zu werden.
Dieses Auftauchen geschah in ganz besonderer Weise.
Zuerst sah der Prinz nur eine ungeheure Rüsselnase aus dem Wasser herauskommen, dann folgten zwei menschliche Elefantenohren — und das genügte, da wusste der Prinz schon, wer diesmal ins Wasser gefallen war.
Der Fischhamen hatte sein Opfer erreicht, wieder wickelte gleich der erste den Schwimmenden ein.
»Schweinehunde!«, pustete Jochen Puttfarken, der nur allein über solch eine Rüsselnase und solche Ohren verfügte.
Mehr sah und hörte der Prinz nicht, er war weiter getragen worden.
In eine Felsentür hinein, durch lange Korridore, die durch Lampen erleuchtet waren, und dann in eine Felsenkammer, die wieder Tageslicht durch Fenster erhielt. An jedem Fenster stand eine Pritsche, auf eine solche wurde der Gefangene gelegt und die Träger und ihre Begleiter gingen wieder, ohne ihm seine Waffen und sonstigen Sachen abgenommen zu haben, was freilich auch gar nicht so einfach war, man hätte ihn erst aus dem Netze wieder herauswickeln oder dieses zerschneiden müssen.
Bis auf diese Pritschen war dis Felsenkammer ganz leer. Nur daraus, dass die eine Pritsche nass war, schloss der Prinz, dass auf ihr noch vor Kurzem ein anderer Gefangener gelegen hatte, der ebenfalls in den Teich gestürzt und mit dem Netz herausgefischt worden war.
Der Prinz brauchte nur den Kopf zu wenden und er konnte durch das Fenster ins Freie blicken, denn die Pritsche schloss mit dem unteren Fensterrande gerade ab.
Er sah einen kreisrunden Felsenkessel von vielleicht zwanzig Schritten Durchmesser, an dessen Wänden ringsum solche Fenster angebracht waren, nur in einer Reihe, etwa in Parterrehöhe. Unten der Boden war mit feinem Sand bedeckt, nichts weiter. Die Höhe dieser Felswand konnte der Prinz nicht ermessen.
Dies hatte der Prinz eben konstatiert, als die Inder wiederkamen, ihren zweiten gefangenen Fisch bringend.
Also es war Jochen Puttfarken, in einem höchsteleganten Sportanzug.
Er schimpfte über die ihm widerfahrene Behandlung wie ein Rohrspatz.
Die Kulis kümmerten sich nicht darum, legten ihn gleichfalls auf eine Pritsche und entfernten sich abermals, wiederum ohne dem Gefangenen die Taschen visitiert zu haben. Ja sogar die Kugelbüchse hatten sie ihm gelassen, die er über der Schulter hängen hatte. Freilich musste da ja auch, ehe sie ihm genommen werden konnte, das Netz entfernt werden, was eben wohl noch nicht geschehen sollte.
»Diese Himmelhunde, bin ich denn ein —«
Der Schimpfende verstummte, riss die kleinen Schweinsäuglein so weit wie möglich auf.
Sie hatten den anderen auf der Pritsche liegenden Mann erblickt.
»Gott mache mich blind — Durchlaucht, sind Sie's oder sind Sie's nicht?«
»Ich werde es wohl sein. Wie kommst Du hierher, Jochen?«
»Ja, Prinz, wenn ich das wüsste —!«
»Höre auf mit Redensarten — berichte, was Du weißt.«
Jochen tat es.
Wir geben seinen Bericht in etwas anderer Weise wieder.
Neun Tage waren verflossen, seitdem der Prinz seine Begleiter mit dem Panzerautomobil verlassen hatte, was zu hören ihn etwas wunderte.
Denn nach seiner Berechnung waren unterdessen erst sechs Tage vergangen.
Aber er glaubte dem Berichterstatter, und seine Verwunderung über diesen Zeitunterschied war auch nicht allzu groß.
Dann hatte ihn der Norweger eben länger in Bewusstlosigkeit liegen lassen, um seine Quetschwunden gründlich ausheilen zu lassen.
Unterdessen hatten sich die Zurückgebliebenen zu beschäftigen gewusst. Sie richteten sich in der MakiBurg häuslich ein, entdeckten bei der Durchforschung der zahllosen Felsenkammern, die bisher wirklich noch gar nicht zu zählen gewesen waren, immer neue Überraschungen, wovon der Prinz aber jetzt gar nichts hören wollte, und dann gingen sie unten in dem Waldlande eifrigst der Jagd nach.
Dabei war das Verhältnis mit den indischen Nachbarn das denkbar beste. Nämlich besonders dadurch — die alte Geschichte, die goldene Regel für jede Nachbarschaft — weil sich ein Nachbar um den andern absolut nicht kümmerte.
Wenn man sich einmal begegnete, eine gegenseitige Berührung war unvermeidlich, dann immer die Höflichkeit selbst, dann aber guten Tag und guten Weg. Den Radscha Tippu Hatur hatte man überhaupt nicht wieder zu sehen bekommen. Nur noch einmal hatte er anfragen lassen, ob seine lieben Nachbarn irgend etwas bedürften, Arbeiter oder Proviant oder sonst etwas, und da es ebenso höflich verneint worden war, hatte er auch nichts wieder von sich hören lassen.
Heute Mittag, nachdem er das Mittagsessen fertiggestellt, hatte Jochen wieder einmal Lust zu einem Ausflug gehabt.
»Gehst Du mit, John?«, hatte er einen Cowboy gefragt.
Es war nicht gerade sein spezieller Freund, aber mit diesem Cowboy ging er doch am liebsten, weil er unter der ganzen Cowboybande der einzige war, der etwas auf sein Äußeres hielt.
Zwar taten das noch andere, so zum Beispiel der ungemein eitle Stierfechter, der alte Don Juan, der ja über und über mit Silber behangen war, aber das war doch immer nur so ein halber Kram, in anderer Hinsicht waren diese eitlen Burschen, die sich gern schmückten, nur umso schmieriger, die Eitelkeit erstreckte sich auch auf die zerlumpte, fettstrotzende Schäbigkeit. Eine Eigentümlichkeit, die man bei allen solchen Trappern, Waldläufern, Hinterwäldlern und ähnlichen Individuen findet, was ja übrigens auch bei Jägern, Gebirgskraxlern und anderen, welche den Naturmenschen markieren wollen, zum Ausdruck kommt.
Der Cowboy John machte also hiervon eine Ausnahme, er hielt wirklich viel auf sich.
»Wohin? Auf die Jagd?«
Ach, aus dem edlen Waidmannswerk machte sich dieser Koch gar nichts.
Er war einmal unten im Waldland gewesen, dann nicht wieder.
»Gibt's denn hier nur keine hübschen Mädels oder sonst etwas, wo man sich amüsieren kann?«
»In Gandak wird's schon genug davon geben.«
»Aber die Stadt dürfen wir ja nicht betreten.«
Nein, das war nicht erlaubt, auch keine Ortschaft. Der Prinz hatte es verboten. Vielleicht änderte sich das später einmal, aber während der Abwesenheit des Prinzen durften die Leute kein Dorf, kein Haus und keine Hütte betreten.
»Wir durchforschen hier oben einmal das Plateau!«, schlug John vor.
»Es war längst nicht das Richtige, was Jochen gemeint hatte, aber wollte er nicht in das Waldland hinab und nicht in halber Höhe zwischen den Felswänden eingeschlossen bleiben, so musste er wohl seinen Spaziergang oben auf dem Plateau machen.
Man hatte sich ja auf diesem Plateau schon viel kreuz und quer bewegt, aber erforscht war es noch lange nicht.
Man kannte noch nicht einmal seine Ausdehnung. Es war eben ein ganzes Gebirge, welches den Namen MakiFelsen führte, und solange es von keiner Schlucht unterbrochen wurde, die nicht zu überspringen war, gehörte dieses ganze Gebirge dem Prinzen Joachim. So war kontraktlich ausgemacht worden.
Das eigentliche Plateau bestand nur aus einem Terrain von etwa einem Quadratkilometer, dieses aber war von drei Seiten wieder von hohen Gebirgszügen eingeschlossen, furchtbar zerrissen, und ehe das alles gründlich erforscht war oder dass man nur ungefähr eine topografische Karte entwerfen konnte, darüber konnte ein ganzes Menschenalter vergehen.
So oft die Cowboys auch Expeditionen hinein machten, sich dabei in kleine Abteilungen zerstreuend, immer wieder kamen sie in Schluchten und Täler und Gegenden, in denen noch niemand gewesen war.
Also die beiden warfen sich in Gala und machten sich auf.
Da es aber nun doch wohl ein Jagdausflug wurde, hatte Jochen Puttfarken unter seiner reichen Garderobe ein entsprechendes Kostüm gewählt und sich auch eine Büchse über die Schulter gehängt.
Es ging über das Plateau in das Gebirge hinein.
Bald befanden sich die beiden in einer vollkommenen Wildnis, in der sich wohl Gemse und Steinbock glücklich fühlten, aber kein Jochen Puttfarken.
Er latschte verdrießlich mit.
Als John ihn aufforderte, ihm in eine Schlucht zu folgen, in der es recht verheißungsvoll aussah, verweigerte es ihm Jochen, weil es ein Kletterweg war, und Jochen kletterte nicht gern, besonders wenn er dabei Schmutzflecke auf die Knie bekam.
So kroch John allein in die Schlucht hinein, hatte gesagt, sein Freund solle hier auf ihn warten, er käme gleich wieder zurück, wenn er wisse was dort hinter jener Ecke sei, aber Jochen hatte keine Lust zu warten, er latschte verdrießlich weiter.
Eine Gefahr war dabei auch gar nicht vorhanden. Auf den Wegen, die Jochen immer einschlug, konnte sich kein Kind versteigen Nur immer die bequemsten Wege ausgesucht! Sonst wusste er sich nach der Sonne zu richten, hatte auch einen Kompass an der Uhr hängen, und überhaupt war Jochen Puttfarken, dieser Expeditionskoch, selbst Mann genug, um sich wieder zurückzufinden, aus viel schwierigeren Situationen, wenn er auch kein professioneller Pfadfinder war.
Eine halbe Stunde war Jochen weiter gelatscht, ohne sich darum zu kümmern, ob sein Freund ihm folge oder nicht, immer mürrischer vor sich hin schimpfend.
Da plötzlich sollte er etwas erleben!
Wie er eine enge, kurze Schlucht passiert hatte, stand er plötzlich vor einem weiten Talkessel.
Die ganze Szenerie war etwas seltsam, nicht recht natürlich.
Das von ganz glatten Felswänden eingeschlossene Tal war völlig kreisrund, hatte einen Durchmesser von vielleicht 300 Metern, und dann war der schwarze Steinboden geradezu wie geschliffen und poliert. Man sah sich darin die hochstehende Sonne wirklich wie in ruhigem, schwarzem Wasser spiegeln.
Doch dies war für Jochen jetzt Nebensache, er sah etwas anderes, was ihn mit freudigem Staunen erfüllte.
Genau in der Mitte dieses schwanen Kreisplateaus war ein Teich, mit grünen Blattlinsen bedeckt und mit prangenden Lotosblumen geschmückt, und an diesem kleinen paradiesischen See lustwandelten und spielten junge, phantastisch gekleidete Mädchen, die den aus der Schlucht hervorgetretenen Nasenkönig sofort erblickt und nun nichts Schleunigeres zu tun hatten, als ihm zu winken, näher zu kommen, um ihnen Gesellschaft zu leisten.
Was tun? Na, da ließ sich der Nasenkönig nicht lange einladen, die sollten ihm nicht lange vergebens winken.
Da hatte er ja, was er gesucht.
Und das war doch keine Ortschaft, die er nicht betreten durfte.
Also Jochen war sofort entschlossen, der winkenden .Einladung Folge zu leisten.
An eine Gefahr dachte er nicht.
Die Hauptsache war ihm das Bewusstsein, dass er einen tadellosen Anzug anhatte.
Und außerdem hatte er hinten in der Hosentasche einen geladenen Sackpuffer, mit dem er umzugehen verstand.
Und überhaupt, so etwas wie Furcht kannte dieses Männlein gar nicht.
Also er überzeugte sich schnell noch einmal durch Tasten und auch durch einen Blick in den Taschenspiegel, dass sein roter Schlips mit goldenen Tupfen ordentlich saß, dass an den Lackschuhen kein Staub haftete, er drehte schnell noch einmal sein gar nicht vorhandenes Bärtchen, und er machte sich auf den Weg nach dem Teiche zu den Jungfrauen, die Manschetten zurecht zupfend und schon jetzt zu einem eleganten Kratzfuß ausholend.
Dieses vorzeitige Experiment wäre ihm fast schlecht bekommen.
Dieser schwarze, glänzende Boden, den er erst jetzt richtig betrat, erwies sich nämlich als glatt wie ein gewichstes Parkett.
Nun, unser Zwerg Nase wusste sich auch auf solchem graziös zu bewegen. Er musste nur erst wissen, dass er sich auf glattem Parkett befand.
Also er tänzelte mit seinen Säbelbeinen und quadratischen Lackschuhen elegant darüber hinweg.
»Hoppsa — bitte um Entschuldigung, meine Damen.«
Er wäre doch bald wieder gestürzt.
Denn der schwarze, glänzende Boden erwies sich nicht nur als glatt wie gewichstes Parkett, sondern wie frischgefrorenes Spiegeleis.
Und dabei merkte er jetzt auch, dass der Boden gar nicht eben war, sondern eine ziemlich starke Neigung nach der Mitte zu hatte, wovon er aber vorhin gar nichts gesehen.
Natürlich drehte Jochen deshalb nicht wieder um, zumal die reizenden Jungfrauen dort ihm immer weiter winkten, und jetzt hörte er auch ihre silbernen Stimmen und ihr fröhliches Lachen.
Was sie riefen, verstand er nicht, jedenfalls aber war es doch nichts Drohendes, und Jochen setzte sein Rutschen fort.
Denn ein Rutschen war sein Gang bereits geworden.
Da rutschte er noch völlig aus, wie er es nicht beabsichtigt hatte, konnte sich nicht mehr in der Balance halten, und er setzte sich auf den Hosenboden.
Aber da blieb er nicht ruhig sitzen, sondern er rutschte auf dem Hosenboden von ganz allein weiter.
Und da plötzlich erkannte Jochen mit Schrecken die Verwandlung!
Das war keine Ebene und auch keine sanfte Neigung mehr, sondern das war einfach eine ungeheure trichterförmige Vertiefung, in die er hineinrutschte, schnellerund immer schneller.
Den blumengeschmückten Teich sah er noch, jetzt aber nicht mehr seitwärts von sich, sondern unter sich, am Boden des fürchterlichen Trichters!
Wie mit einem Ruck war diese Verschiebung der Perspektive vor sich gegangen, und gleichzeitig waren auch die schönen Jungfrauen verschwunden gewesen.
Nur den Teich erblickte er noch unter sich, aber die Mädels hatten sich nicht langsam oder auch schnell zurückgezogen, sondern an ihrem plötzlichen Verschwinden war etwas Zauberhaftes gewesen; ganz abgesehen davon, dass man gar nicht wusste, wo sie sich plötzlich hätten verstecken sollen.
Im Übrigen hatte Jochen gar keine Zeit, solche Betrachtungen und Erwägungen anzustellen, er rutschte auf dem Hosenboden schneller und immer schneller, fast mit der zunehmenden Geschwindigkeit eines fallenden Steines, infolgedessen konnte er sich gar nicht in sitzender Stellung aufrecht halten, er musste sich nach hinten über legen, ob er wollte oder nicht, so schoss er weiter noch einige Sekunden, dann ein Klatsch — — Herr Jochen Puttfarken war mit den Beinen voran in den lieblichen Teich geschossen.
Er schwamm nach oben, tauchte auf — dann konnte er nicht mehr schwimmen, zahllose Fäden hatten sich um ihn gelegt — auch er war in ein Netz gewickelt, noch besonders gefesselt und hierher transportiert worden. —
So hatte Jochen berichtet.
Der Prinz hatte ihn nur selten einmal mit einer Frage unterbrochen.
Und dann stellte er eine Frage, die eigentlich etwas seltsam war oder auch nicht — für solche einen Mann der Wildnis.
»Ist meine Silberwolke bei Euch?«
»Jawohl, Durchlaucht.«
»Hat sie jemand gebracht?«
»Jawohl, Durchlaucht, ein halbnackter Kerl brachte sie geritten, ein Kuli.«
»Wann?«
»Vorgestern.«
»Was sagte der Mann?«
»Er fragte nach Ingenieur Hartung und Leutnant Schwarzbach, mit denen hat er längere Zeit gesprochen, und die sagten uns nur, dass Sie in Sicherheit wären und bald zurückkämen, sonst nichts weiter.«
»Ist sonst alles gesund?«
»Alles.«
»Deasy?«
»Die ist doch mit in dem ›allen‹ einbegriffen. Die ist kreuzfidel und puppenlustig, genau so wie der Kosak — wie die Lady Lionel, wollte ich sagen.«
»Gut. Nun, Jochen, was sagst Du zu diesem Abenteuer?«
»Gar nischt.«
»Du musst doch nach irgend einer Erklärung suchen.«
»Sie vergessen wohl, dass die ganze Rutscherei von da an, als ich ins Rutschen kam, kaum fünf Sekunden gewährt hat — dann lag ich im Wasser — dann wäre ich beinahe ersoffen — dann wurde ich herausgeholt und eingesponnen — dann wurde ich hierher gebracht, in kaum einer halben Minute, und dann musste ich Ihnen erzählen; da habe ich doch noch keine Zeit gehabt, weiter darüber nachzudenken.«
»Du hast recht, Jochen. Wie aber erklärst Du Dir nun die Sache, da ich Dich dazu auffordere, darüber nachzudenken?«
»Die ganze Fläche, die ich gesehen habe, war ein wirklicher Spiegel, wenn auch nicht aus Glas — ein Hohlspiegel — die ebene Fläche wurde durch irgend eine Vorrichtung nach oben gespiegelt — desgleichen der Teich, der als einzige Wirklichkeit am Grunde dieses Hohlspiegels liegt.«
Der Nasenkönig hatte einmal bewiesen, dass er doch ziemliche Kenntnisse und große Urteilskraft besaß.
»Ja, so wird es sein. Und wozu wohl diese Vorrichtung?«
»Eine Menschenfalle, nichts weiter. So etwas verstehen diese Inder ja einzurichten, und je verrückter und phantastischer, desto besser.«
»Und wozu diese Menschenfalle?«
»Um Menschen zu fangen, und wozu die Menschen fangen, das, denke ich, werden wir wohl selbst erleben, wenn wir es nicht gleich jetzt zu hören bekommen.«
Ein Inder war eingetreten, eine hohe, bärtige Gestalt, der man gleich das Priesterliche ansah, nicht nur in dem weißen, talarähnlichen Kostüm.
Auf der Brust hatte er in Gold ein großes Tier gestickt, das nichts anderes vorstellte als eine riesige Ameise, um den Hals hatte er an einem Kettchen einen goldenen Schmuck hängen, wiederum eine sehr große Ameise, und dann trug er ebensolche Ohrringe.
Schweigend betrachtete er mit über der Brust verschränkten Armen die beiden Gefangenen. Und dann löste er die Verschränkung, legte die Hände flach und auch sonst in eigentümlicher Weise zusammen, wie eben die Hindus beten, sein schon vorher sehr zufriedenes Gesicht nahm einen wahrhaft glückstrahlenden Ausdruck an, so blickte er zu der steinernen Decke empor, und feierlich erklang es aus dem bärtigen Munde:
»Heil Dir, o Rodhisana, Göttin und Königin der heiligen Rodhiwadanas — Du bist uns wieder gnädig gesinnt, dass Du uns Menschen schenkst, die wir Dir opfern können! Nun wirst Du uns auch wieder mit Deinem Segen überschütten, und neue Trophäen werden Deinen heiligen Teich umschmücken.«
Sprach es, wandte sich und ging wieder.
»Was sagte der Kerl?«, fragte Jochen.
»Dass wir bei lebendigem Leibe von Ameisen aufgefressen werden.«
»Was?«
Wenn es Jochen hören wollte — der Prinz konnte es ihm erklären.
Die Hindus, worunter man die Brahmanisten und Buddhisten vereint versteht, im Gegensatz zu den mohammedanischen Indern, haben von jeder Tiergattung ein besonderes Tier, dem sie heilige Verehrung zollen.
Unter den Säugetieren ist es das Rind — der Affe ist wieder eine spezielle Ausnahme — unter den Vögeln der Geier, unter den Fischen der Narowan, eine Art Aal, unter den fußlosen Reptilien die Schlange, unter den Echsen das Krokodil, unter den Insekten die Ameise. Das gilt auch für die Pflanzenwelt und das Steinreich: unter den Bäumen ist ihnen der Mango heilig, unter den Blumen der Lotos, unter den Steinen der Rubin, und so weiter.
Nun wird das aber noch weiter spezialisiert: Unter den Rindern ist ihnen besonders heilig das kleine, aber außerordentlich große Hörner tragende Hausrind — welche Hörner die Hindus übrigens künstlich länger wachsen lassen können — unter den Geiern der kahlköpfige, unter den Schlangen die Kobra, unter den Krokodilen das langschnäbelige des Ganges, unter den Ameisen die Rodhiwadana, die Felsenameise.
Es ist eine gar stattliche Ameise, fast zwei Zentimeter lang. Vielleicht gehört sie auch zu den Termiten. Aber viele Wissenschaftler wollen den Unterschied zwischen Ameise und Termite gar nicht mehr gelten lassen.
Sie kommt hauptsächlich in den nördlichen Gebirgen Indiens vor, am meisten in den Südabhängen des Himalaja, legt hier ihre Nester in Felsen an und bohrt sich Gänge hinein.
Oder glaubt der geneigte Leser, eine Ameise wäre nicht imstande, einen harten Felsen zu durchbohren? Sie durchbohrt sogar Metall und Stahl; natürlich tun das nicht alle Ameisen, es handelt sich eben nur um besondere Arten.
Brehm erzählt das Geschichtchen in seinem »Tierleben«, allerdings ohne die Jahreszahl anzugeben, wann es passiert ist.
Der Kommandant der holländischen Festung Tarnate auf Java meldete seiner Regierung, dass einige Geschütze unbrauchbar geworden seien, Ameisen hätten die Stahlrohre ganz zerfressen.
In Holland wurde das für einen schlechten Scherz gehalten, man glaubte an Beamtenveruntreuung, an Sabotage oder dergleichen, eine Kommission wurde zur strengen Untersuchung hingesandt.
Sie ergab, dass die Stahlrohre der Geschütze tatsächlich von Gängen siebartig durchlöchert waren, und das hatte eine besondere Art von Ameisen oder Termiten angerichtet, die dort aufgetaucht war. Weiter ergab die nun wissenschaftliche Untersuchung, dass diese Ameisen aus ihrem Munde einen Saft absondern, welcher das Eisen leichter angreift als die schärfste uns bekannte Säure, also in Bezug auf Eisen als Schwefelsäure. Da hatten diese Ameisen also leichtes Arbeiten gehabt. Dann stellte es sich auch heraus, weshalb gerade nur einige Geschützrohre von den Ameisen angegriffen worden waren. Soldaten gestanden zuletzt, dass sie diese Geschütze, die nicht gebraucht wurden, als Verstecke für gestohlenen Proviant benutzt hatten, für Schinken, Wurst, Käse und dergleichen. Das hatten diese Ameisen gewittert und sich also Zugang zu verschaffen gewusst, gleich durch den Stahl.
Heute ist es überhaupt allgemein bekannt, dass es Ameisen und Termiten gibt, welche Metall und Eisen durchnagen. Es ist nicht sehr schlimm, man weiß sich davor zu schützen. Alle Metall- und Eisenteile erhalten einen besonderen Anstrich, den, wie die Erfahrung gelehrt hat, keine Ameise angeht. Konserven sind an sich schon geschützt, weil diese Blechbüchsen verzinnt sind, auch an Zinn gehen sie nicht, es scheint auf sie giftig zu wirken.
So bohrt sich die Felsenameise in den Stein, auch in den härtesten Granit, jedenfalls auch so mit Zuhilfenahme einer auflösenden Säure, denn wozu haben überhaupt sämtliche Ameisen ihre Säure.
Aber der Schaden, den die Felsenameise anrichtet, ist gar nicht groß, auch wenn sie sich in Häusern einnistet; denn erstens legt sie ihre Gänge sehr weitläufig an, sie sorgt selbst dafür, dass das Mauerwerk nicht über ihnen zusammenbricht, und zweitens gräbt sie immer nach unten.
Sonst wäre es allerdings schlimm, sonst müsste solch ein Haus sofort geräumt werden; denn die riesige Rodhiwadana ist ein ungeheuer gefräßiges Insekt, und sie geht nicht einmal an Aas, sondern nur an lebendige Tiere, die sie zu überwältigen weiß. Sie begnügt sich nicht nur mit anderen Insekten, mit Schnecken und Mäusen, sondern sie überfällt ein schlafendes Schwein, sogar einen schlafenden Ochsen und Pferde, und mag das Tier auch fliehen, es hat schon Myriaden von Ameisen auf seinem Leibe, die sich schnell ins Innere fressen.
Dasselbe gilt also auch von einem schlafenden Menschen, er wäre, im Bett überrascht, so gut wie verloren.
Aber diese Felsenameise hat eben die Eigentümlichkeit, immer nur nach unten zu bohren und überhaupt nicht in die Höhe zu klettern.
Verlässt ein neuer Schwarm das alte Nest, er kommt an ein steinernes Haus, so wird es sofort in Angriff genommen, aber immer nur von oben nach unten werden die Gänge gebohrt. Die Ameise klettert wohl auch wieder die Gänge herauf, bohrt jedoch nicht weiter nach oben.
Auf diese Weise kommen diese Ameisen nur in den Keller, in dem man dann eben keine Enten und Schweine halten darf, dort unten erweist sie sich sogar als größte Wohltat, indem sie alles Ungeziefer vertilgt, auch Ratten und Mause und besonders Schlangen!
Und wohl dem Hause, in das sich die Rodhiwadana einnistet! Sie ist heilig, das ganze Haus wird es, sein Eigentümer, der nun auch die allerbeste Gelegenheit hat, direkt nach Nirwana zu gelangen, ins Paradies. Er braucht sich nur in seinen Keller zu setzen und sich von diesen Ameisen bei lebendigem Leibe auffressen zu lassen.
Wie schon wiederholt gesagt worden ist, sind den Hindus einige Selbstmordsarten nicht nur erlaubt, sondern ihrem Seelenheile sehr zuträglich. Wer unter besonderen Zeremonien freiwillig verhungert oder freiwillig erstickt, der geht sofort in Nirwana ein, vermeidet alle Wiedergeburten. Das Aufhängen und Ertränken gehört aber nicht mit zum Ersticken. Man muss den Atem dadurch bis zum erfolgten Tode anhalten können, dass man die Zunge vor die Luftröhre zu legen versteht, was man das Verschlucken der Zunge nennt; oder man muss sich von heiligen Tieren töten lassen, sich von heiligen Rindern zerstampfen lassen. Da dies nicht so einfach ist, wirft man sich vor den heiligen Wagen des Jaggernaut, der nämlich von solchen heiligen Rindern gezogen wird, oder man legt sich gefesselt an einen besonderen, geweihten Ort nieder und lässt sich von den heiligen Geiern auffressen. Oder man stürzt sich von einem geweihten Felsen in den Ganges, den heiligen Krokodilen in den Rachen. Oder man küsst eine Brillenschlange, das heißt lässt sich von ihr in die Zunge beißen; denn andere Bisse zählen nicht mit; oder man setzt sich in einen Ameisenhaufen und lässt sich so nach und nach auffressen.
Allerdings muss es die heilige Ameise sein, die Rodhiwadana.
Da diese nun bloß in den nördlichen Gebirgen vorkommt, in den südlichen Gegenden nicht gedeihen will, und da gerade diese Todesart heiß begehrt wird, so ziehen immer Priester im Lande herum, die einige Exemplare der Felsenameise in einem Gläschen bei sich führen, sie fragen in den Ortschaften an, wer Lust hat, sich auffressen zu lassen, und in einem Ameisenhaufen, der solch eine Art birgt, die lebende Tiere angehen — und das tun wohl alle — wird eine Felsenameise gesetzt, das ist nun, in der Einbildung der Hindus, die Königin des ganzen Haufens, führt die anderen zum heiligen Schmause an, dazu natürlich noch der nötige Hokuspokus — so, nun kann sich der Nirwanasehnsüchtige in das Ameisennest hineinsetzen.
Das hat also ein Hindu, der selbst die Felsenameise zu Hause hat, gar nicht nötig, der geht einfach in seinen Keller und fährt von dort ins Paradies.
Im Übrigen — der Schreiber dieses kann es nicht unterlassen, es immer wieder zu betonen — man darf dies alles nicht lächerlich finden. Wir haben kein Recht dazu. Das sind Glaubensansichten, über die man nicht spotten darf. Dies alles ist durchaus nicht lächerlicher, als wenn unsere Modedamen ihren Leib in Korsetts einzwängen und sich dadurch Leber- und Nierenkrankheiten holen und noch weit Schlimmeres. Es ist absolut nicht lächerlicher! —
So hatte der Prinz erklärt, wenn auch nicht so ausführlich.
»Gar kein Zweifel, wir sind hier in einem Heiligtume, in dem die Felsenameise verehrt wird, wir sollen von den Tierchen aufgefressen werden.«
Das war die Quintessenz der Ausführungen gewesen.
»Bei lebendigem Leibe?!«
»Jawohl, bei lebendigem Leibe, von innen heraus. Tote Geschöpfe geht die Felsenameise überhaupt gar nicht an.«
»Na ich danke!«
»Bitte sehr.«
»Das ist doch von der Polizei gar nicht erlaubt!«
»Recht so, mache auch noch Witze. Besser, als wenn man wie ein altes Weib flennt.«
»Ich mache keine Witze. Erlaubt denn so etwas die englische Regierung?«
»Dann fragst Du nur töricht. Natürlich nicht. Das geschieht doch ganz heimlich.«
»Das lasse ich mir nicht gefallen!«
»Versuche es, ob Du es verhindern kannst, und dann denke an mich.«
»Ja, Prinz, seid Ihr denn eigentlich auch die glatte Schüssel herabgerutscht?«
»Natürlich, wie käme ich denn sonst hierher?«, entgegnete der Prinz mit weisem Vorbedacht.
Denn es konnte jemand Englisch verstehen und lauschen.
Und der Prinz dachte an sein Boot, das hinter jener Barriere lag.
Ob es schon gefunden worden war? Ob man es noch finden würde?
»Prinz, können wir uns nicht gegenseitig befreien? Mit den Zähnen?«
»Still, nicht so laut! Ja, wir müssen versuchen, uns — hallo, die Señora Allan!«
Sie war es, die eintrat, Isabel, in indische Gewänder gehüllt.
Sie war über den Anblick des Prinzen bei Weitem nicht so erstaunt und bestürzt wie der über den ihren.
Überhaupt gar nicht erstaunt und bestürzt. Nur die freudigste Erregung drückte das schöne spanische Gesicht mit den Glutaugen aus.
»Du bist gekommen, Joachim, um mich zu retten, um mich hier zu befreien — Du edler Mann hast Dein Leben für das meine gewagt!«
So flüsterte sie mit glückselig lächelndem Munde, die eine Hand auf den wogenden Busen gepresst.
Sofort sah der Prinz ganz klar.
Wiederum wurde dieses geistig nicht ganz normale Weib von einer fixen Idee beherrscht.
Sie hatte erfahren, dass der Prinz, der Anführer der fremden Leute dort oben auf der Makiburg, in die Menschenfalle gegangen, dass er hier gefangen war — und sofort setzte sie es sich in den Kopf, dass dieser Mann, der allerdings tatsächlich einmal in Liebe zu ihren Füßen gelegen hatte, nur ihretwegen in diese Lage gekommen sei, er habe von ihrer Gefangenschaft gehört und wolle sie befreien, weil eben die alte Liebe zu ihr in ihm von Neuem erwacht war.
Das war für den Prinzen also sofort ganz selbstverständlich, und da irrte er sich auch wirklich nicht.
»Ich weiß ja gar nicht, dass Sie überhaupt in Indien sind!«, entgegnete er trocken, zunächst diesen ersten Angriff abwehrend.
Sie ließ sich nicht so schnell von ihrer fixen Idee abbringen.
»Doch, doch, Du weißt es — Du herrlicher Mann hast mich befreien wollen!«
Der Prinz machte es kurz — er wälzte sich herum, wandte ihr den Rücken, blickte zum Fenster hinaus.
»Hörst Du mich, Joachim?«
»Nein.«
»Du willst mich nicht hören?!«
»Nein. Ich habe mit Ihnen nichts mehr zu schaffen.«
Da freilich musste sie wohl erkennen, dass sie sich geirrt hatte.
Und da verschwand der glückliche Ausdruck in den schönen Zügen, machte einem gehässigen Platz, furchtbar drohend flammten die schwarzen Augen auf.
»Mann, Du bist verloren, Du musst sterben!«
»Ich bin darauf gefasst.«
»Du wirst von Ameisen gefressen!«
»Ich weiß es.«
»Bei lebendigem Leibe!«
»Leider.«
»Ich kann Dich retten!«
»Ich will von Ihnen nicht gerettet sein.«
»Aber ich!«, ließ sich Jochen schnell vernehmen, der natürlich hoffte, dadurch Gelegenheit zu gewinnen, auch seinen Herrn retten zu können.
Isabel blickte nach dem Nasenkönig, den sie ja sehr gut kannte, machte ein sinnendes Gesicht und wandte ihre Augen wieder dem Prinzen zu.
»Du glaubst nicht, Joachim, dass Du von den Ameisen bei lebendigem Leibe gefressen wirst?«
»Ich glaube es schon.«
»Du glaubst nicht, dass ich Dich retten kann?«
»Ich halte es für möglich.«
»Ich habe das Recht bekommen, einen der Gefangenen für mich zu beanspruchen.«
»Ich verzichte.«
»Dann wählen Sie mir, Madam!«, mischte sich Jochen wieder ein.
Und wieder blickte das Weib so eigentümlich sinnend nach dem Schweinsrüssel und den Elefantenohren. Es musste ihr ein besonderer Plan durch den Kopf gehen.
»Wen ich erwähle, wird mein Gatte.«
»Dann verzichte ich erst recht. Ich will von den Ameisen gefressen werden.«
»Und dann schlage ich erst recht mir vor!«, sagte dagegen Jochen, mit seinen Schweinsäuglein blinzelnd. »Erwählen Sie mir als Gatten, eine bessere Wahl können Sie niemals nicht treffen, Madam.«
Ein langgedehnter Posaunenton erscholl.
»Hörst Du, Joachim? Der erste Gefangene ist den Ameisen geweiht worden, die Zeremonie im Tempel ist vollendet — nun beobachte sein Schicksal und erkenne darin Dein eigenes, das Dir bevorsteht, wenn Du Dich nicht von mir retten lässt.«
In der Steinwand des runden Hofes hatte sich ein Tor geöffnet, einige Inder in halbpriesterlicher Kleidung trugen zwischen sich eine menschliche Gestalt heraus.
»John!«, schrien der Prinz und Jochen gleichzeitig.
Er war es, der Cowboy, der mit Jochen gegangen war.
Er musste schon vor seinem Begleiter auf einem anderen Weg den Talkessel erreicht und das spiegelnde Trugbild des lieblichen Teiches gesehen haben, er war schon vor Jochen in die Menschenfalle gegangen.
Jedenfalls war auch er es gewesen, der dort auf der noch nassen Pritsche gelegen hatte.
Noch jetzt war er mit dem Netze umwickelt, hatte auch noch sein Gewehr umhängen.
Wahrscheinlich schrieb es der heilige Kultus vor, dass die Opfer genau so, wie man sie gefangen hatte, den Ameisen ausgeliefert wurden. Was diese dann außer den Knochen, auf die man es hauptsächlich abgesehen hatte, noch übrig ließen, das konnte man dann ja noch immer zurücknehmen.
»John, Jochen, Joachim!«, stöhnt der Nasenkönig. »O, vermaledeites Namenskleeblatt!«
Ja, dass sich das Ende der Tragödie gleich hier abspielen würde, und dass John von diesem Ende den Anfang machte, das war nun schon jetzt ganz klar vorauszusehen.
Eine weitere Zeremonie fand hier nicht mehr statt. Die Tempeldiener legten den gefesselten Mann einfach in der Mitte des Hofes in den Sand und gingen wieder, schlossen das Tor hinter sich.
Der Cowboy wendete den Kopf und erblickte an den Fenstern die beiden Gesichter.
»Jochen — und der Prinz, was, auch Ihr seid hier?!«
»Auch wir sind in den Krater gestürzt!«, entgegnete der Prinz, immer darauf achtend, dass kein Argwohn entstehen könnte, er habe hier herein einen anderen Weg genommen.
»Habt Ihr auch den Teich mit den Mädels gesehen?«
»Genau so wie Du.«
»Es war ein Trugbild der Hölle!«
»Das war es.«
»Ja, was haben die Kerls eigentlich mit uns vor? Weshalb legen die mich hier in den Hof gefesselt hin?«
»Ich — weiß es nicht. O Gott, o Gott, da kommen sie schon!«
Stöhnend hatte es der Prinz geflüstert.
Denn seine Falkenaugen konnten die Ameisen erkennen, wohl auch andere Augen, sie brauchten gar nicht so scharf zu sein, die Tiere waren groß genug, und die Entfernung war nicht so beträchtlich.
Unten aus der Felsenwand dicht über dem Boden kamen sie aus ihren Schlupflöchern heraus, gleichzeitig von allen Seiten, sektionsweise, in richtiger Schlachtreihe marschierend, so wie es alle Ameisenarten tun, die lebende Tiere überwältigen und daher auf strengste Ordnung halten müssen, um die vereinte Kraft auf einen einzigen Punkt zu konzentrieren.
Jetzt, da die ersten Sektionen fast schon ihr Opfer erreicht hatten, erblickte sie auch John.
»Jesus Christ und General Jackson, was ist denn das?!«, schrie er entsetzt. »Was wollen diese Bestien von mir?!«
Mit einem Ruck hatte sich der Prinz auf der Pritsche herumgeworfen.
»Rette ihn, rette ihn!«, schrie auch er.
Ruhig stand das Weib da.
»Nein.«
»Rette den Mann, und ich gehe auf alles ein, was Du auch von mir verlangst!«
Also der Prinz war bereit, sich selbst zu opfern. Bei dem Charakter dieses Mannes sehr leicht begreiflich. Und er würde auch sein Wort unter allen Umständen gehalten haben.
Aber sein Angebot sollte gar nicht angenommen werden.
»Ich kann ihn nicht retten.«
»Du kannst ihn nicht retten?!«
»Nein, nicht mehr, weil er bereits den Ameisen geweiht worden ist. Dieser Mann ist bereits meiner Macht entzogen, jetzt muss er sterben.«
Und da begann es schon.
Ein furchtbares Brüllen, das gar nichts mehr Menschliches an sich hatte, erschütterte die Luft.
Und so schrie und brüllte und heulte der Unglückliche weiter.
Der Prinz wand sich auf der Pritsche wie ein Wurm, als hätte er selbst die furchtbaren Schmerzen auszustehen, als wühlten die gefräßigen Ameisen schon in seinem Innern — aber er versuchte nur, seine Fessel zu sprengen.
Es war vergebens, umsonst schnitt er sich die dünnen Hanfstricke ins Fleisch.
Jochen fluchte in allen Tonarten, das Brüllen übertönte ihn.
Doch gar nicht lange, so wurde es schwächer und schwächer, bis es ganz verstummte.
Die kleinen Ungeheuer hatten es schnell gemacht, der Unglückliche hatte ausgelitten.
Der Prinz wandte sich um.
Nein, es war eben noch nicht vorbei, der Gemarterte war nur nicht mehr fähig, seinen entsetzlichen Schmerzen in Tönen Luft zu machen.
Ein grässlicher Anblick bot sich dem Prinzen dar.
Jetzt war es der Cowboy, der sich dort im Sande wie ein Wurmwand, überdeckt von den kriebelnden Insekten, die noch keinen Eingang in seinen Leib gefunden hatten.
»Mach ein Ende, gnädiger Gott, mach ein Ende mit ihm!«, stöhnte der Prinz.
Er befand sich wahrscheinlich in einem Irrtum.
Der Mann fühlte jedenfalls wirklich keine Schmerzen, es waren nur noch Reflexbewegungen der Nerven, die ihn zucken und sich krümmen ließen, und das war jedenfalls schon der Fall gewesen, als er zuletzt noch geschrien hatte. Schon da hatte ihn eine wohltätige Ohnmacht umfangen, aus der er nicht wieder erwachen würde.
Denn das weiß man bestimmt, dass zum Beispiel Schwerverbrannte so fürchterlich schreien, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Die Natur hat dem Schmerze eine Grenze gesetzt, darüber hinaus der Mensch ihn nicht mehr empfindet.
Das ist aber auch der einzige Trost, den ein manchmal unbegreiflich grausames Schicksal, das auch den größten Optimisten an der ganzen Weltordnung verzweifeln lässt, dem Menschen gegeben hat, der ganzen Schöpfung. Und sonst gibt es ja auch Schmerzen genug, die man mit vollem Bewusstsein ertragen muss. Nur bei den fürchterlichsten Verletzungen, wenn der Unglückliche am fürchterlichsten schreit und stöhnt, fühlt er sicherlich keine Schmerze mehr.
»Hast Du ihn gehört? Siehst Du ihn noch sich winden?«
Der Prinz antwortete nicht, er hatte auch die Augen geschlossen.
»Dieses selbe Schicksal erwartet Dich!«
»Teufelsweib!«
»Was nennst Du mich so? Was habe ich Dir getan?
Und hättest Du mir nicht meinen Sohn geraubt, so wäre dies alles nicht nötig, dann wären wir überhaupt nicht hier. Erst durch Dich bin auch ich in die Gefangenschaft geraten.«
Jetzt hatte der Prinz allerdings einen Grund, nicht zu antworten. Sie hatte mit ihrer Anklage nicht ganz unrecht.
»Ich habe die Macht, Dich zu retten. Soll ich es tun?«
»Unter welchen Bedingungen?«
»Dass Du mir gehörst.«
»Niemals!«
»Soll ich den Mann dort retten? Deinen Diener? Auch das kann ich. Willst Du dann mir gehören?«
Furchtbar zuckte der Prinz zusammen.
Er hatte es geahnt, dass es so kommen würde.
Und da gab es für diesen Mann nur eines.
»Weib, wenn Du wenigstens jenen Mann dort retten kannst vor diesen Qualen, dann will ich alles, alles — —«
»Halt!«, rief da Jochen von seiner Pritsche. »Prinz, wenn Ihr auf so etwas eingeht, dann sind wir geschiedene Leute! Dann bin ich Euer Koch nicht mehr! Oder ich mische Euch in jede Suppe Galle und Latwerge. Nein, noch mehr — wenn Ihr meinetwegen diesem Weibe zu Willen seid — beim allmächtigen Gott, Ihr sollt mir dennoch nicht das Leben gerettet haben — ich setze mich dann dennoch in einen Ameisenhaufen hinein — nur dass ich mir vielleicht zuvor eine Kugel durch den Kopf schieße — aber das tue ich, so wahr mir Gott helfe, Amen!«
So hatte Jochen gerufen.
Und da wusste der Prinz, dass es keinen Zweck hatte, sich für jenen zu opfern.
Jochen hätte seinen Schwur gehalten.
Dieser Expeditionskoch hatte ihm schon einmal einen Beweis von seiner Energie geliefert, wozu er fähig war, sobald es darauf ankam.
»Sie haben gehört, Mylady — wir werden beide gemeinsam sterben.«
Wieder blickte Isabel sinnend nach der Pritsche, auf welcher der Nasenkönig lag, und ihr Gesichtsausdruck ward noch lauernder denn vorhin, als man so deutlich gemerkt hatte, wie hinter der Stirn irgend ein Plan ausgegrübelt wurde.
»Und dennoch, ich werde Deinen Diener retten, er soll am Leben bleibe.«
Sie klatschte in die Hände.
Einige Inder eilten herein, keine nackten Kulis mehr, wahrscheinlich Tempeldiener.
»Dies ist der Mann, den ich erwählt habe!«, sagte sie, auf Jochen Puttfarken deutend.
»Wie Du befiehlst, Sahiba.«
Jochen wurde aufgehoben und hinausgetragen.
Jetzt waren die beiden allein.
Und wieder leuchtete das schöne Antlitz der amerikanischen Spanierin in seligem Triumphe auf.
»Zwar konnte ich nur einen von Euch erwählen. Jetzt wärest Du dem Tode verfallen. Aber verzage nicht, Joachim. ich habe einen Plan, ich weiß ein sicheres Mittel, um auch Dich vom Tode zu erretten. Du sollst dennoch mir gehören.«
Auch sie verließ den Raum.
Der Prinz wagte wieder einmal zum Fenster hinaus zu sehen. Jetzt hatte den Unglücklichen sicher der Tod von allen Qualen befreit.
Er lag ganz still da, über und über von wimmelnden Ameisen bedeckt, von deren Vernichtungsarbeit aber natürlich noch nichts zu bemerken sein konnte. So schnell ging es denn doch nicht. Vielleicht dauerte es einige Tage, ehe sie alles Fleisch von den Knochen geschält hatten, es sofort fressend oder wohl auch in ihr Nest tragend, als Fraß für ihre Brut, oder es vielleicht auch zu konservieren verstehend.
Da kamen die Männer wieder.
Auch der Prinz wurde aufgehoben und hinausgetragen.
Durch erleuchtete Gänge hindurch, dann in einen weiten Raum, in eine Tempelhalle, in der als Hauptsache auf einem Postament eine goldene Ameise stand, meterlang und entsprechend hoch, mit einem menschlichen Frauenkopfe.
Das also war wohl die Göttin Rodhisana, die Königin der Rodhiwadanas, die Menschenknochen liebte, von ihren Ameisen präpariert.
Auch jener Priester mit dem Ameisenwappen war schon zur Stelle. Desgleichen einige andere Männer, Unterpriester und Tempeldiener, und dann ein Dutzend schöner Mädchen, alle phantastisch geschmückt.
Es ging sehr schnell. Der Gefangene wurde vor der goldenen Ameise auf eine Art Altar gelegt, die Bajaderen tanzten singend um ihn herum, auch die Männer sangen, der Oberpriester machte segnende Bewegungen, dann ein langgedehnter Posaunenton und der Prinz wurde wieder aufgehoben.
Da stürzte mit fliegenden Haaren und Gewändern das fremde Weib herein, Isabel, warf sich dem Zuge entgegen.
»Halt! Um Gottes willen halt! Ihr dürft ihn nicht töten, er gehört mir, ich tausche ihn gegen den anderen aus!«
Sie wurde mit Gewalt zurückgestoßen und wieder hinaus gebracht.
Noch einige Zeit hörte der Prinz ihr kreischendes Schreien, der Oberpriester habe sie betrogen, dann verstummte es.
Was hier vorlag, konnte der Prinz ja nicht bestimmt wissen, aber doch so ungefähr.
Isabel hatte also vorgehabt, auch den zweiten Gefangenen zu retten, hatte einen Plan ausgegrübelt, der nach ihrer Meinung ganz sicher glücken musste.
Aber er war ihr eben nicht geglückt. Der Oberpriester schien sein Versprechen nicht gehalten zu haben. Der Prinz wurde eben dennoch den Ameisen geopfert.
Am unangenehmsten musste dieser vereitelte Plan natürlich dem Prinzen selbst sein.
Jetzt sah er sich verloren, dem schrecklichsten Tode verfallen, wenn nicht noch irgend ein Wunder geschah.
Auf ein solches wagte er nicht zu hoffen, er ergab sich in sein Schicksal, wurde von einem dumpfen Dämmerzustande befallen, der ihn das Kommende nicht weiter ausmalen ließ.
Was sonst mit ihm geschah, das merkte er ja freilich ganz deutlich.
Es war wiederum solch ein kreisrunder Hofraum mit Fenstern, in dessen Mitte er auf den feinen Sand niedergelegt wurde.
Jetzt sah der Prinz, dass es ebenfalls der untere Teil eines Kraters war, der oben mit erstaunlicher Regelmäßigkeit trichterförmig sich erweiterte, nur dass die Wände nicht so spiegelglatt geschliffen waren.
Über diese vielen Krater, so dicht nebeneinander, brauchte sich der Prinz nicht zu wundern. Das kommt häufig vor. Auf einer der Galapagosinseln zählt man auf einem Gebiete von wenigen Quadratkilometern mehr als fünfhundert ansehnliche Krater.
Also auch in diesem Hofe befand sich ein Ameisennest, jetzt sah der Prinz auch bereits die siebartigen Löcherchen in den Felsenwänden dicht über dem Sandboden.
Hatte schon der Cowboy Zuschauer gehabt? Der Prinz hatte vorhin in dem anderen Hofraum keine Menschen an den Fenstern bemerkt. Wohl aber war es hier der Fall. Die Köpfe all der Priester und Tempeldiener und Bajaderen zeigten sich an den Maueröffnungen, wohl noch andere, aber Isabel fehlte jedenfalls. Oder sie hätte doch geschrien. Oder war ihr der Mund verbunden? Es war dem Prinzen gleichgültig. Er hatte genug mit sich selbst zu tun, er sah sein Ende kommen, dachte an den Tod, ohne sich glücklicherweise die kommenden Qualen ausmalen zu müssen.
Er war niedergelegt worden, seine Träger zogen sich zurück.
Und da wurde es dort an den Felswänden dicht über dem Boden auch schon lebendig, in geschlossenen Sektionen kamen sie anmarschiert, die kleinen und für ihre Art doch so riesigen Ungeheuer, die Felsenameisen.
Der Prinz sah sie kommen, und er tat das, was in solchen Lagen auch der verhärtetste Bösewicht tut, der sonst sein ganzes Leben lang Gottes Namen höchstens dazu gebraucht hat, um sich und alle Welt zu verfluchen, ohne aber sonst an einen Gott zu glauben.
Denn, ach, was man in solchen Situationen erleben kann! Mit anderen Menschen. Sie brauchen nicht gefräßigen Ameisen ausgeliefert zu werden. So etwa ein Schiffbruch, ganz plötzlich einsetzend und sich dann etwas in die Länge ziehend. Ach, was man da beobachten kann! Fürwahr, da kann man zum gründlichen Menschenverächter werden, man wird den Ekel vor der ganzen Menschheit gar nicht wieder los.
Der Prinz gehörte nicht zu solchen elenden Schwächlingen, er durfte sich mit Recht an seinen Gott wenden.
»Allbarmherziger Gott! Als ich damals unter den Wasserfall gestellt werden sollte, flehte ich Dich an, Du möchtest mir einen Engel zur Hilfe schicken. Ich verlangte also ein Wunder von Dir — Du aber bedientest Dich nur eines Pferdes, um mich zu retten. Das Wunder besteht immer in Deiner wunderbaren Fügung. Und schon oft hast Du mich auf solch wunderbare Weise vom Tode errettet. Und Du hast gesagt durch Deinen Sohn, so oft wir auch bittend zu Dir nahen, und sei unsere Sünde auch so rot wie Blut — —«
Der Prinz kam nicht dazu, sein Gebet zu vollenden. Die Wirkung trat bereits ein, das unerklärliche Etwas.
Sonst hätte er sich auch etwas mehr mit seinem Gebet beeilen müssen, nicht so viel Worte machen dürfen, denn die ersten Sektionen hatten ihn bereits erreicht, die ersten kleinen oder auch riesigen Ungeheuer streckten bereits ihre Fühlhörner oder Fresszangen nach ihm aus.
Da aber geschah schon das Wunder.
Die ersten Ameisen, die sein Gesicht betasten wollten, zogen schleunigst Fühlhörner und Fresszangen zurück, machten kehrt und stürmten Hals über Kopf davon, ihren Schlupflöchern zu, und dasselbe galt von denjenigen, die schon auf seinen Kleidern kriebelten.
Kaum waren sie darauf, als sie auch schon schleunigst wieder umkehrten, es war nicht anders, als hätten sie eine glühende oder doch heiße Ofenplatte betreten — eine glühende Eisenplatte hätte ihnen ja gleich die Füße abgesengt — sein Fleisch wurde jedenfalls von keiner auch nur berührt.
In wilder Flucht gingen diese ersten Sektionen zurück, sie teilten die furchtbare Gefahr, die ihnen drohte, den nachfolgenden Ameisen mit, die kleinste Berührung genügte dazu, oder vielleicht auch schon das Beispiel — kurz und gut, die ganze Heeresordnung war gestört, alles löste sich in wilder Flucht nach rückwärts auf, um wieder in den Felsenwänden zu verschwinden.
Also genau so wie damals bei Señor Lazare, als er neben dem Ameisenhaufen eingegraben worden war.
Aber das hatte doch niemand anders beobachtet, der Prinz hatte auch sonst nichts davon erfahren.
Lady Lionel hatte ihm auch nichts davon erzählt, dass sie solch ein Mittel besäße, um jeden Menschen fest gegen den Angriff eines jeden Tieres zu machen.
Und ebenso wenig hatte der Prinz etwas davon gemerkt, dass ihm diese Schamanin vielleicht irgend etwas eingegeben hätte.
Er hatte auch nicht weiter beobachtet, ob ihn in letzter Zeit die Mücken oder Flöhe oder sonst etwas gebissen hätten oder nicht. Oder dass ihn zahme Raubtiere wie etwa Hunde in auffallender Weise geflohen wären.
Kurz und gut, der Prinz wusste von alledem überhaupt gar nichts.
Er konnte nur staunen.
Und wenn er vielleicht an ein wirkliches Wunder glaubte, diesen allgemeinen Rückzug der Ameisen als eine Wirkung seines Gebetes betrachtete, so konnte man ihm das gar nicht übel nehmen.
Und dasselbe taten die Zuschauer dort an den Fenstern, die glaubten nun erst recht, dass hier ein Wunder vorliege, nach allen Erfahrungen, die sie schon mit diesen Felsenameisen gemacht hatten, die sonst nicht Lebendes verschonten, gar nichts, man hörte es gleich an ihren Ausrufen.
Der erste war der Oberpriester, der den Hof betrat, nicht würdevoll, er rannte in sehr wenig majestätischer Weise nach dem Gefangenen hin, war ganz außer sich.
»Mensch, wer bist Du, dass Dich die Rodhiwadanas verschmähen, dass sie vor Dir fliehen?! Bist Du ihnen zu heilig oder zu nichtswürdig, dass sie Dein Fleisch nicht fressen wollen?!«
Der Prinz selbst war noch furchtbar erschüttert von dem Erlebten, und er gab eine dementsprechende Antwort.
Denn in solchen Momenten kann man wohl andere Worte finden als sonst.
»Der allbarmherzige Gott, an den ich glaube, hat mich mit einem Mantel umgeben, der mich vor diesen Ameisen bewahrt.«
Es war eigentlich nicht die richtige Antwort gewesen, dieser erfahrene Mann hätte es wissen können.
Das erst so bestürzte Gesicht des Priesters wurde nur furchtbar finster, wie er den Daliegenden betrachtete.
»Was für einen Mantel?«
»Mit einem unsichtbaren Schutze, um den ich ihn im Gebet anflehte.«
»So bist Du ein Zauberer!«
»Ich bin ein Christ und glaube an die Kraft des Gebetes.«
»Das ist es eben, Du bist ein Christenhund und kannst zaubern! Deshalb verschmähen Dich die heiligen Ameisen der Rodhisana, sie hat ihnen befohlen, von Dir zu lassen, weil sie nicht einmal Deine verfluchten Knochen haben will! So sollen die Teufel sie zermalmen. Fort mit ihm, dass er den Teufeln zum Futter diene!«
Und schon wurde der Prinz aufgehoben und im Eilmarsch davon getragen.
Das Ziel war eine weite Felsenkammer, in deren Mitte ein tiefes Viereck eingelassen war
Ein Raubtierzwinger!
Fünf gewaltige Königstiger lagen darin, und sie schienen zu wissen, weshalb plötzlich so viele Menschen die Grube umringten, dass ihnen jetzt etwas Besonderes gebracht wurde, außerhalb der gewöhnlichen Fütterungszeit, sofort sprangen sie auf und begannen zu toben.
Dort unten befanden sich zwei Gittertürchen, gegenüber liegend, sie waren geschlossen, und sie brauchten nicht geöffnet zu werden, der Gefangene sollte nicht seitwärts eingelassen werden.
Der Prinz wurde gebunden und mit dem Netz umwickelt, wie er war, einfach von oben hinein in das Loch geworfen.
Die Tiefe betrug mindestens fünf Meter, und das genügt, um einem Menschen einige Knochen brechen zu lassen, besonders wenn er nicht mit den Füßen zuerst, sondern so geworfen wird, dass er der Länge nach aufschlagen muss.
Es war ein Glück für den Prinzen, dass er gerade auf einen Tiger fiel, der eben dort unten den Zwinger durchmessen hatte.
Wenn man das ein Glück nennen darf.
Das hätte der Prinz ja nun freilich nicht erwartet, dass es noch so kommen würde. Den Glauben, dass sein Gebet erhört worden sei, konnte er jetzt fallen lassen.
Im Übrigen war dies alles so schnell gegangen, dass er seine Gedanken gar nicht hatte ordnen können.
»Allbarmherziger Gott, sei mir gnädig, da Du beschlossen hast, mich dennoch vor Deinen Richterstuhl treten zu lassen!«
So stöhnte er, wenn auch nur in Gedanken, als er auf dem Leib des Tigers aufschlug und dann sanft vollends auf den Boden glitt.
Furchtbar hatte das getroffene Tier unter der fremden Last aufgeheult, aber das tat es nicht allein, sondern jetzt stimmten auch die anderen vier Tiger in das klägliche Heulen ein.
Als wenn eine glühende Kugel zwischen sie gefallen wäre, die vielleicht auch noch mit Feuerwerk um sich bombardierte, so flüchteten die Tiger entsetzt in die fernsten Winkel, drückten sich hinein und heulten auf jämmerliche Weise.
Oben verfehlte dieses Benehmen der Bestien den Eindruck nicht, es musste für die Zuschauer etwas ganz Unerklärliches sein, an ein Wunder Grenzendes.
»Inschallah — bei Shiva und Vishnu — was hat das zu bedeuten?!«
So und ähnlich erlang es immer wieder.
Die Tiger verließen ihre Winkel nur, um nach den Gittertüren zu schleichen und verzweifelt daran zu kratzen.
Als die eine durch einen Zugmechanismus geöffnet wurde, flüchteten sämtliche sofort hinein, mit eingekniffenem Schwanze.
Einige Zeit verging. Von den Menschen oben merkte der Prinz nichts mehr.
Dann traten durch die andere Gittertür zwei Kulis ein, trugen den Gebundenen hinaus, nach einigem Weg in ein komfortables, orientalisch eingerichtetes Gemach, hier erwarteten ihn andere Diener, aber schon von höherem Range, ohne Weiteres wurden ihm Netz und Fesseln abgenommen, natürlich auch die Waffen, jetzt auch daraufhin seine Taschen visitiert.
Doch wäre letzteres gar nicht nötig gewesen, er wurde sowieso gleich aufgefordert, sich ganz zu entkleiden, um in einem Nebenraume ein Bad zu nehmen und dann die zurechtgelegten Sachen anzuziehen.
Jetzt wusste der Prinz, dass er gerettet war. Erklären konnte er sich natürlich gar nichts. Er benutzte die höchst luxuriöse Badeeinrichtung, von der die aus Stein gehauene Wanne nur ein kleiner Teil war, Brausen mit kaltem und heißem Wasser in Menge, dann hüllte er sich in die indischen Gewänder, alles von kostbarer Seide, und wie er wieder in den Wohnraum nebenan trat, erwartete ihn hier schon der Oberpriester.
»Wer bist Du, heiliger Mann, den auch die Teufel der Hölle in Tigergestalt nicht anzutasten wagen?«
So wurde er von dem Priester respektvoll begrüßt.
Also als Daniel in der Löwen- respektive Tigergrube hatte der Prinz die Probe der Heiligkeit bestanden.
Jetzt war es für diese Inder klar, dass ihn die heiligen Ameisen nicht aus Abscheu verschmäht hatten, sondern es war ihnen von ihrer Göttin und Gebieterin Rodhisana geboten worden, diesen Mann zu verschonen, eben weil er selbst heilig war. Denn wäre er's nicht gewesen, dann hätten ihn doch ganz sicher die vierbeinigen Bestien sofort zerrissen.
So musste man sich den Gedankengang dieser Inder vorstellen.
Sollte der Prinz ein Märchen erzählen, um sich mit dem Nimbus einer vorgeblichen Heiligkeit zu umgeben?
Er war klug genug, es lieber nicht zu tun.
Das Wort, dass ehrlich am längsten währt, hat die meiste Gültigkeit gerade in solch einem Falle.
»Ich betete zu meinem Gott, dass er mich vor den Ameisen und vor den Tigern erretten möchte, und er hat mein Gebet erhört.«
»Es gibt nur einen einzigen Gott, der Himmel und Erde und alle anderen Götter erschaffen hat — es ist immer derselbe, er führt nur in jeder Sprache und in jeder Religion einen anderen Namen.«
»Du sagst es.«
»Du bist ein Heiliger.«
»Ich bin kein Heiliger.«
»Du bist es, auch wenn Du es leugnest oder es vielleicht auch selbst nicht weißt. Die Ameisen und die Tiger haben Dich verschont — genug, Du bist ein Heiliger. Du bleibst am Leben und bei uns.«
»Als Euer Gefangener.«
»Gewiss.«
Wie sollte es denn auch sonst anders sein. Man ließ doch solch einen »Heiligen« nicht einfach wieder laufen. Man sperrte ihn einfach als lebenden Götzen ein und betete ihn an, um von dem Segen, den solch ein Heiliger ausströmt, auch seinen Vorteil zu haben.
»Ja, gefangen wirst Du gehalten. Aber es ist nur dem Namen nach eine Gefangenschaft. Bist Du vernünftig, so sollst Du nichts vermissen und alle möglichen Annehmlichkeiten und Freiheiten genießen. Eine Flucht von hier ist überhaupt unmöglich. Aber schon wenn wir merken, dass Du mit Fluchtgedanken umgehst, müssten wir Dich bestrafen, dadurch, dass wir Dir angenehme Vorteile entziehen und auch Deine freie Bewegung verkürzen, bis wir Dich zuletzt ganz zwischen Felswänden einsperren müssten. So schreiben es uns die heiligen Gesetze dieses Tempels vor.«
»Was habe ich hier zu tun?«
»Gar nichts. Du kannst Dich ganz frei bewegen. Alle Räume und Gärten stehen Dir offen. Was Du nicht betreten darfst, ist verschlossen. Jeder Mann, der nicht das Zeichen der heiligen Rodhiwadana auf der Brust trägt, ist Dein Diener. Teile ihm Deine Wünsche mit, und sie werden erfüllt, so weit es möglich ist.«
»Was ist das Los meines Gefährten?«
»Er bleibt dem Leben erhalten, die fremde Sahiba hat ihn für sich beansprucht. Ist der Mann mit der großen Nase Dein Diener?«
»Ja.«
»Willst Du ihn fernerhin als Diener bei Dir haben?«
»O gewiss, wenn das möglich ist!«, rief der Prinz erfreut.
»Er steht zu Deiner Verfügung. Ich werde ihn Dir schicken.«
Eine sehr respektvolle Verneigung, wenigstens des Kopfes, und der Oberpriester ging.
Der Prinz durfte zufrieden sein. Besser hätte alles gar nicht ablaufen können.
Er schaute sich näher um in dem Raume, von dem er wenigstens annahm, dass er ihm zur Verfügung gestellt worden war, wenn ihm auch nichts davon gesagt worden.
Oder sollte er andere Räume nach Belieben wählen können?
Dies hier waren nur zwei zusammenhängende Räume, der zum Wohnen und auch gleich zum Schlafen, so etwas wie Betten kennen ja die Inder nicht, sie schlafen wie alle Orientalen auf den Polstern, auf denen sie am Tage sitzen, und dann daneben das Badezimmer. Andere Türen führten nicht seitwärts.
Die Fenster gingen nach einem schmalen Garten, jedenfalls nur eine Felsenspalte, die oben genug Tageslicht einließ, über die Mittagsstunden auch Sonnenstrahlen, um hier eine sehr üppige Vegetation gedeihen zu lassen.
Eine natürliche Quelle war in Röhren gefasst und in einen Springbrunnen verwandelt worden, der angenehme Kühle spendete.
Freudig überrascht war der Prinz auch, als er in einer Truhe außer verschiedener Wäsche auch sein Jagdkostüm wiederfand, das man ihm also gelassen hatte. Nur der Revolver, die Munition und das Bowiemesser fehlten, sonst nichts weiter.
Ehe er zum Fenster hinaus in den Garten stieg, wollte er einmal nach einer richtigen Tür suchen.
Also er verließ den Wohnraum durch die Eingangstüre, kam auf einen teppichbelegten Korridor, durch Lampen mit wohlriechendem Öle erhellt, worauf er natürlich vorhin bei seinem Gefangenentransport nicht geachtet hatte.
Dort führte eine Treppe nach oben.
Ehe der Prinz nun nach der Gartentür suchte, wollte er einmal diese Treppe benutzen.
Er erstieg sie, immer höher, ohne auf einen neuen Korridor zu kommen, wenn er dabei mit normalen Etagenhöhen rechnete. Nach seiner Schätzung musste er schon etwa zwanzig Meter hoch gestiegen sein, also bis in die Höhe einer vierten Etage gekommen sein, ehe er wieder auf einen Korridor stieß, von dem Türen abgingen.
Teils waren es richtige Türen mit hölzerner Füllung und mit Schlössern, teils waren die Öffnungen nur mit Teppichen verhangen oder auch nicht einmal das.
Durch solch einen direkten Zugang sah er in ein orientalisches Gemach, er betrat es, um durch das jenseitige Fenster zu blicken, wo hinaus das führe.
Man musste an ein orientalisches Frauengemach denken, besonders der Beschaffenheit des Fensters nach.
Diese orientalischen Fenster, welche ausnahmsweise nach der Straße führen, kennt man wohl. Am häufigsten sieht man sie in Algier, Marokko und Tripolis, überhaupt in den Städten an der nordafrikanischen Küste, auch in Konstantinopel, weniger in Ägypten.
Diese speziellen Fenster haben einen ausgebuchteten, stark vergitterten Balkon. Hinter diesem Gitterwerk sieht man besonders des Abends die verschleierten Haremsweiber sitzen, denen man erlaubt, dass sie auf das Straßenleben hinabblicken, denen man vertraut, dass sie keine Zettelchen hinabwerfen. Wenn eine Entführung auch nicht möglich ist, so soll das Gitterwerk wohl symbolisch die Abgeschlossenheit dieser Haremsweiber von aller Welt, ihre Zugehörigkeit zu diesem Hause ausdrücken.
Es war ein Käfig von ungefähr zwei Meter Länge und anderthalb Meter vorspringender Breite, welchen der Prinz betrat. Denn nichts weiter als ein Käfig ist es ja. Gegenüber hatte er nur nackte Felswände, auch seitwärts waren solche in einiger Entfernung zu sehen.
Die runde Ausbuchtung der Gitterstäbe ist immer dazu vorhanden, dass man auch direkt hinab blicken kann, dass man unten noch die Haustür sieht.
Es war wieder das Gärtchen mit der Fontäne, welches der Prinz in großer Tiefe unter sich erblickte.
Wie er nun da, sich in die Ausbuchtung hineinlehnend, hinab blickte, ertönte plötzlich hinter ihm ein rasselndes Poltern.
Erschrocken wandte er sich um.
Hinter ihm war eine Gittertür herabgefallen, die den Balkon nach dem Zimmer abschloss!
Schon wieder in eine Falle geraten? Schon wieder gefangen?
Als der Prinz die Gittertür näher untersuchte, musste er erkennen, dass es wirklich so war. Er sah so ohne Weiteres keine Möglichkeit, sie wieder zu öffnen.
Da erscholl ein fröhliches, wenn auch etwas spöttisches Lachen.
Durch eine Seitentür war Isabel in dieses Zimmer getreten.
»Willkommen, mein Prinz — willkommen in meinem eigenen Boudoir. Es ist etwas dreist, das Schlafzimmer einer Dame zu betreten — aber so wie wir uns kennen — Ihr Besuch ist mir sehr angenehm.«
»Ich habe keine Ahnung gehabt, dass es Ihr Zimmer ist, überhaupt das einer Dame — bitte öffnen Sie die Fallentür wieder, damit ich diese Räume sofort verlassen kann.«
Statt dessen zog sie ein hohes Polster herbei, ließ sich nahe dem Gitter darauf nieder, lehnte sich mit dem Rücken gegen die teppichbehangene Wand, kreuzte die Füße und schwippte mit dem Pantöffelchen.
»Plaudern wir doch etwas, mein Prinz. Hier, nehmen Sie, machen Sie es sich doch so bequem wie ich, Sie brauchen doch nicht zu stehen.«
Sie nahm einige in der Nähe am Boden liegende Kissen, steckte sie zwischen den Gitterstäben hindurch, aber sicher daraus achtend, dass ihre Hand nicht durch einen schnellen Griff gepackt werden konnte.
»Ich habe keine Lust, mit Ihnen zu plaudern. Lassen Sie mich heraus aus diesem Bärenzwinger.«
»Richtig, Bärenzwinger, hahaha! Jawohl, Prinz, jetzt sind Sie mein Bär, den ich gefangen und mir dressieren werde. Denn ein ungeleckter Bär sind Sie in gewisser Einsicht wirklich.«
»Sie wollen mich hier gefangen halten?«
»Wie ich sage.«
»Wissen Sie, was der Priester mir zugesichert hat?«
»Was für ein Priester?«
»Der mit der großen goldgestickten Ameise auf der Brust, der hier der erste zu sein scheint, der wenigstens die Zeremonien als Hauptperson leitete — ich kenne seinen Namen nicht.«
»Brahma Saidar heißt er. Ja, als Oberpriester ist der hier allerdings der höchste. Aber eben nur als Priester. Sonst hat der hier noch ganz andere über sich. Nun, was hat der Ihnen denn zugesichert, mein Prinz?«
»Dass ich hier innerhalb dieses Tempelreviers absolute Freiheit genieße, dass ich mich bewegen kann, wie ich will.«
»So machen Sie doch von Ihrer absoluten Freiheit Gebrauch, bewegen Sie sich ganz nach Belieben.«
»Können Sie diese Tür wieder öffnen?«
»Ja, das kann ich. Ich habe sie auch erst mit Absicht fallen lassen.«
»Um mich einschließen?«
»Jawohl.«
»Öffnen Sie sofort die Tür!«
»Fällt mir gar nicht ein.«
Und sie zog ein silbernes Etui hervor und begann sich eine Zigarette zu drehen.
»Dieser Oberpriester hat mir gesagt, dass jeder Mensch, dem ich innerhalb dieses Reviers begegne, der nicht gerade als Priesterabzeichen eine eingestickte Ameise trägt, zu meiner Verfügung steht, mir unbedingt zu gehorchen hat.«
»Jeder Mensch?«
»Ja.«
»Sollte er nicht gesagt haben: jeder Mann?«
Der Prinz wurde etwas unsicher.
In der Tat, der Priester hatte wohl nur von Männern gesprochen.
»Rufen Sie jenen Oberpriester oder irgend einen anderen Mann.«
»Wozu?«
»Ich will mit ihm sprechen.«
»Nein, das werde ich nicht tun. Das habe ich nicht nötig. Es darf überhaupt keine einzige männliche Person diese Räume hier betreten. Sie befinden sich nämlich in der geheiligten Frauenkemenate. Speziell in meinen eigenen Räumen, die erst recht geheiligt sind. Weshalb sind Sie so neugierig gewesen und haben hier herumspioniert. Jetzt sind Sie mein gefangener Bär.«
»Der Oberpriester hat mir gesagt, dass ich alles betreten darf, was ich unverschlossen finde. Die heraufführende Treppe und dieses Zimmer hier waren unverschlossen. Wenn Sie mich jetzt hier einsperren, so werden Sie die Folgen tragen!«
Sie hatte ihre Zigarette mit einem Feuerzeug entzündet, blies die blauen Rauchwölkchen behaglich durch die Nase.
»Was denn für Folgen? Dieser Priester geht mich gar nichts an, er hat mir gar nichts zu sagen. Wohl ist seine Macht hier unbeschränkt, aber ich stehe außerhalb derselben. Er sollte es nur einmal wagen, hier meine Gemächer zu betreten! Es gibt eben noch andere, die noch viel, viel höher stehen als dieser Oberpriester, und unter deren direktem Schutze stehe wiederum ich. Nein, mein Prinz, Sie bleiben mein gefangener Bär. Soll einmal jemand versuchen, Sie mir wieder zu entreißen.«
»Was wollen Sie eigentlich von mir?«
»Jawohl, fragen Sie auch noch!«, lachte sie, den schönen Mann dabei mit ihren glühenden Augen verschlingend. »Wie gesagt, ich werde Sie mir dressieren. Natürlich nicht mit der Knute. Diese barbarische Dressurmethode hat sich auch bei den grimmigsten Raubtieren als unpraktisch erwiesen. Auch nicht mehr durch Hunger. Nur durch Freundlichkeit und liebevolle Behandlung. Da hat man sogar den früher als gänzlich unzähmbar geltenden Eisbären so weit gebracht, dass er einem das Zuckerchen aus den Lippen nimmt. Werde ich Sie nicht auch so weit bringen, mein Bär? Dass Sie mir das Zuckerchen aus dem Munde nehmen?«
»Da können Sie ja lange warten.«
»Machen wir den Anfang mit der liebevollen Dressur. Die Liebe geht oftmals durch den Magen, es ist der Umweg nach dem Herzen.«
Sie klatschte in die Hände, eine indische Dienerin erschien, erhielt die Bestellung auf Französisch.
Kaffee, Scherbet , Gebäck, überzuckerte Früchte und dergleichen.
»Und bringe außer dem Servierbrett noch ein anderes mit, recht lang und recht schmal, sodass es gerade hier zwischen den Gitterstäben durchgeht. Gleichgültig wie es aussieht. Es kann ein rohes, ungehobeltes Brett sein. Und dann bringe das Klapptischchen mit, das Du mir neulich zeigtest, oder lasse es von einer anderen bringen.«
Die Dienerin wollte gehen.
»Anoh — halt!«, rief da der Prinz auf Hindustanisch, und jene blieb stehen. »Suche den Oberpriester Brahma Saidar auf und sage ihm, die fremde Sahiba halte mich, den heiligen Mann, den die Rodhiwadanas und Tiger verschont haben, in ihren Gemächern gefangen — oder sage es irgend einem anderen Diener, dass er es dem Brahma Saidar melde, aber sofort, dass ich sofort von hier befreit werde. Hast Du mich verstanden?«
»Ja, Sahib, und ich weiß, dass Dich die Sahiba nicht einsperren darf!«, entgegnen die hübsche Inderin mit einem bösen Blicke nach der fremden Herrin.
»So richte es aus.«
»Ich werde es sofort tun.«
Die Dienerin entfernte sich.
Isabel hatte sich während dieses Wechselgespräches ruhig mit ihrer Zigarette beschäftigt, als ob sie das gar nichts anginge.
»Ich verstehe nicht diese indische Sprache, was es wohl war,«, meinte sie jetzt, »aber ich weiß ganz genau, was Du ihr gesagt hast.«
»Möglich.«
»Brahma Saidar soll kommen, um Dich zu befreien.«
»Nehmen Sie es an.«
»Gut, mag er nur kommen. Dann wirst Du sehen, wie hübsch artig er draußen vor der Tür stehen bleibt, und weiter wirst Du erfahren, wie er gestehen muss, dass er mir hier überhaupt gar nichts zu befehlen hat.«
Sie stand auf, breitete noch mehr Polster und Kissen auf dem Boden aus, sodass ein langgestrecktes Lager entstand.
»Machen wir es uns doch bequem. Auch Du, mein lieber Joachim, sollst dann gleich größere Bequemlichkeiten dort draußen bekommen, bis Du auch Dein richtiges Zimmer erhältst. Von dem meinen freilich immer erst noch durch ein Gitter getrennt. Ach, ich male mir die Zukunft herrlich aus! Wenn wir nun auch Fred bei uns haben. Denn den lässt Du doch nun baldigst kommen. Dann werden wir das schönste Familienleben zusammen führen, bis schließlich auch kein Gitter mehr zwischen uns nötig ist. — Es ist sehr heiß hier, nicht wahr? Halten wir etwas Siesta.«
Mit diesen Worten begann sie sich zu entkleiden.
1 Sorbet; eine halb gefrorene Speise aus Fruchtsaft, Fruchtpüree und Zucker.
Der Prinz drehte ihr den Rücken zu, blickte die gegenüberliegende Felswand an und spähte in das Gärtchen hinab, in dem kein Mensch zu sehen war.
»Du kannst ruhig um Hilfe rufen. Hier hört Dich kein Mensch. Höchstens Weiber, die Dir aber nicht zu Hilfe kommen Und auch kein Mann würde es tun, falls er es wirklich hören würde. Immer schreie, so viel Du willst — —«
Zunächst war sie es, die jetzt einen Schrei ausstieß.
Es war so auffallend gewesen, dass sich der Prinz schnell umdrehte. Denn so eigentümlich hatte die nicht umsonst plötzlich geschrien.
Er sah das halbentkleidete Weib — und dann in der Mitte des Zimmers den Oberpriester stehen.
»What's the matter — was ist die Sache, was ist hier los?«
»Wie können Sie wagen, hier einzutreten!«, fuhr das Weib empor.
»Was soll ich nicht wagen können?!«
»Haben Sie nicht selbst gesagt, dass diese meine Räume von keinem — —«
»Still!«, wurde herrisch geboten. »Es gibt Fälle, die jede Ausnahme gestatten, und Sie haben sich überhaupt schon so viele Übergriffe herausgenommen, dass unsere früheren Abmachungen gar nicht mehr gelten. Auch jetzt haben Sie wieder — —«
»Verlassen Sie mein Zimmer!«, schrie Isabel. »Ich werde mich bei dem Radscha dieses Tempels beschweren, dem auch Sie — —«
»Schweigen Sie, unterbrechen Sie mich nicht, oder ich werde Ihnen sofort zeigen, dass ich hier der Oberpriester bin! Bei allen Göttern, es soll mir nicht darauf ankommen, Sie für Ihre Frechheit durchpeitschen zu lassen!«
Es war in einer Weise gesagt worden, dass das Weib jetzt doch eingeschüchtert schwieg, eine ganz andere Haltung annahm.
»Sie haben den heiligen Mann dort auf dem Balkon eingesperrt? Antwort! Ja oder nein!«
»Ja.«
»Weshalb?«
»Weil ich ihn bei mir behalten wollte.«
»Wozu wollten Sie ihn bei sich behalten?«
»Weil ich ein Anrecht auf ihn habe.«
»Was für ein Anrecht? Doch das brauche ich gar nicht zu wissen. Sind Sie mit ihm verheiratet? Ist es Ihr Gatte?«
»Nein, aber ich habe ihn zum Gatten erwählt.«
»Erwählt? Den? Wieso denn? Sie haben doch den anderen zum Gatten erwählt.«
»Nur zuerst. Es war mir doch gesagt worden, ich könne meinen Entschluss auch noch ändern, könne den Erwählten hinterher noch gegen einen anderen austauschen.«
»Ja, solange der durch Ihre Zusage vom Tode Errettete noch nicht als unser Mitglied eingesegnet ist.«
Das schöne Weib schien vor Schreck plötzlich zu erstarren.
Sich rasch umdrehend erblickte der Prinz das halb entkleidete
Weib und in der Mitte des Zimmers den Oberpriester.
»Und das wäre schon geschehen?!«
»Gewiss, das ist sofort geschehen, das haben Sie auch gewusst — —«
»Das ist nicht wahr, dann haben Sie mich betrogen!«
»Was habe ich?!«, fuhr der Oberpriester da furchtbar drohend empor. »Noch ein einziges Mal solch ein Wort, und die Peitsche ist Ihnen ganz sicher!«
Wohl wurde sie wieder eingeschüchtert, aber doch nicht so wie vorhin.
»Dann habe ich Sie falsch verstanden — —«
»Sie scheinen mich überhaupt immer falsch zu verstehen! Das ist nun innerhalb von drei Tagen das fünfte bis sechste Mal, dass Sie irgend eine Schiebung machen und dann hinterher sagen, Sie hätten mich falsch verstanden!«
»Das soll doch nicht etwa heißen, dass ich jetzt diesen hässlichen Zwerg mit dem Schweinsrüssel als meinem Gatten anerkennen soll?«
»Selbstverständlich werden Sie das!«
»Hahaha!«, brach da die schöne Spanierin in ein schrilles Gelächter aus. »Nimmermehr, ehe ich das tue — —«
»Schweigen Sie, Sie werden es tun!
Sie haben als ein Weib, das in diesem heiligen Tempel der Rodhisana sein Asyl gefunden hat, ohne Dienste verrichten zu müssen, das Recht gehabt, einem Gefangenen, der als Opfer der Göttin bestimmt ist, das Leben zu schenken.
Dies geschieht dadurch, indem das betreffende Weib diesen Gefangenen zum Gatten begehrt.
Das haben Sie gewusst. Denn Sie haben mich gefragt, ob es so sei, und ich habe es Ihnen bestätigt.
Ich erteilte Ihnen die Erlaubnis, von diesem Rechte des Asyls Gebrauch zu machen.
Sie haben es getan.
Sie haben den kleinen Mann mit der großen Nase zum Gatten erwählt.
Und er ist nun Ihr Gatte!
Eine weitere Zeremonie ist nun in diesem Tempel nicht nötig.
Es gibt nichts Heiligeres, als dass ein Weib einen Mann, der den Rodhiwadanas zum Opfer fallen soll, zum Gatten erwählt. Dieses, Ihr Wort, ist ein für allemal gültig.
Ich habe diesen, Ihren Gemahl, gleich mitgebracht, der von nun an Ihr Herr und Gebieter sein wird, mit Ihnen diese Gemächer hier teilen wird.«
Ein Wink, und Jochen Puttfarken trat ein.
Er sah in den indischen prächtigen Gewändern, die ihn umhüllten, nur umso komischer aus — und nur umso hässlicher.
Denn ein überaus hässliches Menschlein war und blieb er.
Ein Glück nur, dass er es selbst nicht glaubte, und wenn es ihm auch hundert Menschen gleichzeitig ins Gesicht sagten.
Ganz keck trat er ein und schmunzelte, als wolle er sich mit seinem breiten Froschmaule die Elefantenohren abbeißen, die Schweinsäuglein funkelten vor Seligkeit, der Nasenrüssel witterte nach dem schönen Weibe hin.
»Ihr Gemahl — also nach unseren Sitten Ihr Herr und Gebieter über Leib und Seele.
Und ich habe ihn über seine Rechte belehrt, falls er sie noch nicht kannte.
Sobald Sie ihm nicht gehorchen und willfährig sind, sobald Sie seine Rechte als Gatten nicht anerkennen, braucht er nur zu rufen, und die Eunuchen sind sofort zur Stelle, mit Peitschen, um Ihnen zu lehren, was es heißt, wenn ein Weib die Rechte ihres Gatten nicht anerkennen will.
Sie werden gepeitscht, bis Ihnen das Fleisch in Fetzen von den Knochen fällt!
Ich habe gesprochen.
Der Zugang zu Ihren Gemächern ist fernerhin verschlossen, nur Ihr Gemahl kann ihn noch öffnen, kann Sie als Gefangene behandeln oder nicht, ganz wie er will. Nehmen Sie Vernunft an, fügen Sie sich!«
Der Priester ging nach der Wand, zog an einem starken Gurt, und vor dem Balkon hob sich die Gittertür.
»Folge mir, heiliger Mann.«
Der Prinz gehorchte.
Wenn er dieses Weib, das er einst wirklich geliebt hatte, auch aufrichtig bedauerte, so wusste er doch, dass er sich hier nicht einmischen durfte — jetzt wenigstens nicht.
»Ohne Sorge!«, erklang es hinter ihnen. »Ich werde mit meiner Frau schon ganz allein fertig. Na da komm her, mein gutes Puppchen. Ich werde Dir ein zärtlicher Gatte sein, und wenn Du nicht willst, dann krägst de Dresche.«
Der Priester schloss die Tür, welche von dem Korridor nach der Treppe führte, benutzte dazu einen großen Schlüssel. Beim Eintritt des Prinzen hatte diese Tür weit offen gestanden.
»So kann ich diesen Mann jetzt nicht mehr als meinen Diener beanspruchen?«, fragte der Prinz, als er neben dem Priester die Treppe hinab stieg.
»Gewiss, das kannst Du, wenn er Dir gehorcht. Darüber habe ich freilich nichts zu befehlen. Sonst aber wird durch dieses Eheverhältnis an dem Deinen zu dem Diener nichts geändert.«
»Kann ich mich dann mit ihm verständigen?«
»Weshalb sollst Du's nicht können?«
»Wenn er sich nun in seinen Räumen eingeschlossen hält?«
»Hast Du nicht den Klopfer an jener Treppentür gesehen? Lass ihn erschallen. Ob Dir Dein Diener öffnen wird, das kann ich freilich nicht sagen. Das kommt eben darauf an, wie Du Dich mit ihm stehst.«
»Dann darf auch ich jene Räume betreten?«
»Gewiss. Das kann dann jeder, welche der Herr der Sahiba einlässt, denn das sind jetzt seine Räume, und Du heiliger Mann hättest hierzu ein besonderes Recht, Dir dürfte auch die Sahiba nicht den Eintritt verwehren, selbst wenn sie es anderen noch verbieten könnte.«
Das hatte der Prinz nur hören wollen.
Er hätte gern auch noch eine andere Frage gestellt, unterdrückte sie aber lieber, da gab es andere, die er deswegen fragen konnte.
Unten an der Treppe winkte der Priester, dass er seinen Weg allein fortfetzen wolle und der Prinz blieb zurück.
Ein indischer Arbeiter kam, ohne Ameisenabzeichen, der wurde angehalten.
»Weißt Du, wer ich bin?«
»Ich weiß es, heiliger Mann!«, lautete die Antwort mit tiefer Verbeugung.
»Wo ist hier der Ausgang nach dem freien Hofraum mit dem Teiche?«
»Ich werde ihn Dir zeigen, o Sahib.«
Der Prinz folgte durch die erleuchteten Korridore, bis der Kuli stehen blieb.
»Hier ist die Tür!«, sagte er, gegen die nackte Felswand deutend.
»Wo denn?«
»Hier. Sie schließt so gut, dass man keine Fuge sieht.«
»Kannst Du die Tür öffnen?«
»Ja.«
»Tue es.«
Schon fürchtete der Prinz, der Mann würde sagen, er könne es nicht oder es sei ihm verboten, und die Tempelvorschriften gingen natürlich über jeden anderem Befehl, aber es war nicht der Fall.
Der Inder trat seitwärts an die Wand, zeigte und erklärte dem Prinzen einen kaum sichtbaren Mechanismus, und die Felsentür öffnete sich. Durch einen ganz kurzen Gang war schon der Lotosteich sichtbar
»Es ist doch erlaubt, sich an den Teich zu begeben?«
»Weshalb nicht? Dir ist überhaupt alles erlaubt.«
»Alles?«, forschte der Prinz einmal, weil dieser Kuli ihm mit seinem Gesichte einen sehr beschränkten Eindruck machte.
»Nur wenn Du jemanden von uns überfällst, müssen wir uns wehren und das Hilfesignal geben!«, lautete denn auch die Antwort, die ein anderer wahrscheinlich nicht so leicht gegeben hätte.
Der Diener zeigte ihm noch, wie er auch von draußen die Tür wieder öffnen könne, und der Prinz begab sich durch den kurzen Gang nach dem Teich.
Er sah nichts Neues, was wir nicht schon beschrieben hätten.
Gerade gegenüber befand sich in der Felsenwand die Querspalte, durch die er herausgekommen war.
Und gerade dort standen links und rechts davon zwei Inder, durch kleine, auf die Brust gestickte Ameisen wohl als Halbpriester oder Tempeldiener gekennzeichnet.
Sie standen da wie Wächter, als hätten sie gerade diese Felsenspalte zu bewachen, wenn auch ohne Waffen. Als hätten sie Dienst.
Hatten sie oder andere Wächter schon vorhin so dagestanden, als der Prinz aus der Spalte herausgekommen war?
Ohne ihn bemerkt zu haben, das heißt den Weg, den er genommen, in der Meinung, er sei wie sein Vorgänger und dann sein Nachfolger von dort oben herabgerutscht.
Dann hatten sie eben im Stehen geschlafen.
Oder das brauchte auch nicht der Fall gewesen zu sein.
Denn diese senkrechte Felswand, in der sich die Querspalte befand, schnitt glatt mit der schrägen Kraterwand ab, dann erst kam die Ausbuchtung nach hinten, und in dieser standen die beiden Wächter. Also sie konnten die Spalte nur sehen, wenn sie einige Schritte vortraten.
Und der Prinz war so schnell aus der Spalte hervorgesprungen, dass jemand, der nicht direkt hinsah, glauben konnte, jener sei von der schrägen Wand herab ins Wasser gerutscht.
Lag nun hinter jener Spalte noch sein Boot?
Hatte man es schon entdeckt?
Das war jetzt die große Frage, welche das Herz des Prinzen vor Spannung etwas schneller als sonst schlagen ließ.
Doch er musste seine Ungeduld zügeln. Erst betrachtete er eingehend die aus Menschenknochen zusammengesetzten Figuren an der Wand, so kam er langsam um den Teich herum.
Die beiden Wächter, die einzigen, die jetzt hier zu sehen waren, nahmen Stellung vor ihm.
Der Prinz überlegte, wenn er nicht schon vorher alles in seinem Kopfe geordnet hatte.
Sollte er sich jetzt schnell über die Barriere schwingen, in die Spalte und in sein Boot hinein?
Ja, die höchste Eile war geboten.
Denn konnten nicht jeden Augenblick noch andere von seinen Leuten dort oben in die Menschenfalle gehen, gerade deshalb, weil sie dem Verbleibe der beiden verschwundenen Kameraden nachforschten, ihren Spuren folgten?
Ja, wenn aber der Prinz jetzt floh — immer vorausgesetzt, dass sein Boot überhaupt noch dort unten lag — was sollte dann aus Jochen werden?
Der konnte dann nicht mehr so leicht befreit werden, zumal man dann wohl noch ganz andere Sicherheitsmaßregeln treffen, die Bewegungsfreiheit des anderen Gefangenen beschneiden würde, wenn er nicht gar für die Flucht seines Gefährten büßen musste.
Der Prinz befand sich in schwerster Verlegenheit.
Doch das hatte er eben in seinem Kopfe schon geordnet.
Floh er von hier, so musste er Jochen unbedingt mitnehmen, und stürzten inzwischen noch andere herab, so musste er eben auch diese zu retten suchen. Anders war es nicht zu machen.
»Ihr habt hier wohl etwas zu bewachen?«, redete er den einen der beiden an.
»Ja, Sahib.«
»Was denn?«
»Den Eingang zur Wohnung des Pallagangs.«
»Wer ist denn das?«
»Der Gemahl der Rodhisana, der sie jede Nacht hier am Teiche besucht.«
»Und der wohnt hier? Diese Felsenspalte ist der Eingang zu seiner Wohnung?«
»Du sagst es, Sahib.«
»Das ist also auch ein Tempel, in den diese Spalte führt?«
»Ja, ein ungeheurer, prächtiger Tempel, alles von Gold und Rubinen und anderen Edelsteinen.«
Davon hatte der Prinz natürlich nichts gemerkt.
»Da sind auch Priester und Diener drin?«
»O nein, Sahib.«
»Weshalb nicht?«
»Der schreckliche Pallagang duldet keinen einzigem Menschen in seiner Nähe.«
»Auch den Oberpiester dieses Tempels hier nicht?«
»Niemanden. Wer auch nur einen Finger in jene Spalte steckt, dem würde ihn Pallagang sofort abbeißen, und natürlich erst recht den Kopf, er liegt deshalb nur immer auf der Lauer. Ja, wer auch nur in die Spalte hinein zu sehen wagte, den würde ein Gifthauch aus seinem Rachen treffen, dass er sofort tot wäre.«
Also ein anderer Aberglaube, der hier gezüchtet wurde, über dessen Entstehung sich aber natürlich niemand Rechenschaft gab.
Doch für den Prinzen konnte ja nichts vortrefflicher sein.
Wenn nur nicht etwa der Oberpriester eine Ausnahme machte, dass der doch ab und zu hinter jene Barriere ging, vielleicht einen anderen Weg wissend, dass der etwa schon das Boot entdeckt und mit Beschlag belegt hatte.
In die Spalte konnte man übrigens gar nicht so leicht blicken. Erstens war sie über Kopfeshöhe hoch, und zweitens befand sich direkt darunter Wasser.
Dagegen war es sehr wohl möglich, seitwärts noch vom festen Boden aus daran zu springen, dass man die Barriere noch bequem mit den Händen fassen konnte.
»Was hat der Pallagang für eine Gestalt?«
»Es ist eine ungeheure Wasserschlange mit fürchterlichem Menschenkopf.«
»Hat denn den Pallagang schon jemand gesehen? Ich meine, er lässt sich von keinem Menschen ansehen?«
»Nein, aber wir wissen doch, wie er aussieht.«
»Woher?«
»Die Rodhisana hat es ihren Priestern erzählt.«
»Ach richtig, so ist es möglich. Und die Wasserschlange besucht nun die Menschenameise jede Nacht hier?«,
»Jede Nacht kommen sie hier am Lotosteiche zusammen.«
»Da darf wohl auch niemand des Nachts an diesen Teich kommen?«
»Natürlich nicht, er würde sofort getötet und wahrscheinlich auch gefressen.«
»Das müsste mir aber doch gesagt werden! Wenn ich nun des Nachts das Gelüste empfunden hätte, einmal an diesem Teiche zu promenieren?«
»Das kannst Du nicht, Sahib.«
»Weshalb nicht?«
»Du kannst die Türen nicht öffnen.«
»Es ist mir gezeigt worden, wie man sie öffnen kann, wenigstens bei der einen.«
»Aber in der Nacht lassen sie sich gar nicht öffnen. da ist alles abgestellt.«
Der Prinz wusste genug.
Überhaupt hatte er die letzteren Fragen nur gestellt, um noch sein Interesse für das nun einmal angefangene Thema zu zeigen. Viel lieber wäre er schleunigst davon geeilt, um Jochen aufzusuchen und mit ihm zu sprechen.
Aber auch das hätte er nicht tun dürfen, schleunigst davon zu eilen, er hätte sich zwingen müssen, langsam zurück zu promenieren.
Es war sehr gut, dass er noch gezögert hatte.
Plötzlich sah er, gerade nach oben die schwarzen spiegelnden Kraterwände hinauf blickend, wieder eine menschliche Gestalt herabgeschusselt kommen.
Ein jäher Schrei durchzuckte ihn.
Dort oben war der Makifelsen.
Wer also konnte es anders sein als einer seiner Leute, der wiederum in die Menschenfalle gegangen war?
Doch nein — so rasend der Abrutsch war, immer schneller werdend, so erkannten des Prinzen Falkenaugen doch, dass es ein nackter Inder war.
Nicht etwa einer seiner Indianer, er hätte diesen sofort erkannt, trotz aller schattenhaften Schnelligkeit.
Außerdem rief der Mann jetzt auch noch seine indischen Götter um Hilfe an, hatte gerade noch die Luft dazu.
Was hatte ein fremder Inder dort oben auf dem Makifelsen zu tun?
Nun, darüber zerbrach sich der Prinz jetzt nicht den Kopf.
Durch diesen schoss blitzähnlich ein Gedanke, eine Absicht.
Klatsch — der Mann war in den Teich geschossen.
Ein gellender Pfiff von den Wächtern, und sofort öffneten sich einige Tore, Kulis stürzten heraus, die bekannten Fischhaken in den Händen.
Und die beiden Wächter?
Die beteiligten sich zwar nicht an dem Fischen, aber doch auch sie waren von höchster Erregung gepackt, vorgesprungen, um ganz in der Nähe zu sein, um helfen zu können, falls es nötig war, das neue Opfer der Rodhisana dingfest zu machen.
Das war der Augenblick, den sich der Prinz bereits ausgerechnet hatte.
Mit einem Satze sprang er über das Wasser, das ihn noch von jener Felsenspalte trennte, hatte den Rand der Barriere gepackt, zog sich etwas in die Höhe, spähte hinüber und hinab.
Der Himmel sei gesegnet für diesen Anblick!
Der Prinz sah den weißen Blendstrahl, den er beim Verlassen des Bootes stark nach unten gerichtet hatte, er fiel in das Boot selbst hinein, gerade auf das zusammengrollte Lasso und auf den Kolben seiner Doppelbüchse.
Nur ein Blick, im nächsten Moment hatte sich der Prinz mit Füßen und Händen und mit dem ganzem Leibe von der Steinwand wieder abgestoßen, stand wieder auf festem Boden.
Freilich war es ein Satz gewesen, den ihn so leicht kein professioneller Akrobat nachgemacht hätte.
Hatte jemand von dem Manöver etwas bemerkt?
Nein, sie alle, alle waren nur mit dem Auftauchenden beschäftigt, um ihn mit dem Netze herauszufischen, ihn einzuwickeln, und die Erregung war umso größer, weil diesmal der erste Hamen sein Ziel verfehlt hatte und die zwei nächsten, die geworfen wurden, in der Luft zusammengeprallt waren.
Der Prinz hatte es gewusst, dass ihn niemand beobachten würde, auch ein Zufall war so gut wie ausgeschlossen gewesen.
Er benutzte die allgemeine Aufregung, um sich schneller zu entfernen, als er es sonst getan hätte, begab sich in sein Zimmer, entkleidete sich, zog sein Jagdkostüm an und darüber wieder die indischen Gewänder, die jenes vollkommen verhüllten.
So begab er sich die Treppe hinauf und ließ an der hölzernen Tür den eisernen Klopfer erdröhnen.
Zu seiner Verwunderung war es Isabel selbst, welche öffnete. Jochen hatte ihr also den Schlüssel anvertraut.
Oder war hier schon etwas Ungeheuerliches passiert, dass sie den Schlüssel benutzen konnte?
Merkwürdig genug sah sie ja auch aus, ganz merkwürdig!
Hatte sie schon seit einiger Zeit Zahnschmerzen gehabt, deren Wirkung sich jetzt plötzlich bemerkbar machte?
Ihre linke Backe war ganz geschwollen und feuerrot.
Dazu aber nun ganz seltsamerweise ein süßlächelndes Gesicht, als bereiteten ihr diese Schmerzen das größte Vergnügen.
Das änderte sich freilich sofort, sobald sie den Prinzen sah.
Da nahm dieses sonst so schöne und nun entstellte Gesicht den Ausdruck der tiefsten Verzweiflung an, gepaart mit einem furchtbaren Hasse.
»Rette mich, Joachim, vor diesem Ungeheuer, er hat mich geschlagen!«, stieß sie keuchend hervor, aber ganz leise.
»Was, geschlagen?!«
»Ins Gesicht.«
»Wer ist da?«, ließ sich Jochens Stimme vernehmen.
»Der Prinz.«
»Treten Sie ein in die gute Stube. Ich wollte Sie überhaupt gleich zur Hochzeitsfeier einladen.«
Es war wieder jenes Zimmer, in dem Jochen wie ein Pascha mit untergeschlagenen Beinen auf dem Teppich kauerte und aus einem kostbaren Tschibuk mit einem zwei Meter langen Rohre schmauchte, vor ihm stand ein niedriges Tischchen, besetzt mit Kaffeetassen, Sorbet, Backwerk, überzuckerten Früchten und dergleichen — also alles das, was Isabel vorhin bestellt hatte.
Auf der anderen Seite des Tisches, ihm gegenüber, verriet ein Kissen, dass hier schon Isabel gesessen hatte.
»Bitte, liebe Isabel, sei so freundlich und habe die Güte, dem Prinzen ein Kissen zurechtzulegen, dass er sich zu uns setzen kann.«
So hatte sich Jochen an sie gewandt, die er seine Frau nennen durfte.
Kann ein Mann zu seiner Frau freundlicher sprechen? Und es hatte auch in der Stimme gelegen, hatte ganz ehrlich geklungen.
Aber, aber — die geschwollene Backe!
Und sie hatte ja selbst gesagt, was hier schon passiert war.
Diese obstinate Spanierin hatte eben in dem kleinen Krummbein ihren Meister gefunden, und gerade dadurch wurde das bewiesen, dass sie auch jetzt ihr entstelltes Gesicht gleich wieder zu einem Lächeln verzog, als sie gehorsam das gewünschte Kissen herbeitrug.
»Dann vielleicht noch ein Tässchen für den Prinzen, nicht wahr, liebe Frau? Entschuldige nur, dass ich Dich bemühe, aber ich liebe nun einmal keine fremde Bedienung, ich will alles nur von Deiner zarten Hand haben.«
Jochen sprach wie ein Buch.
»Nun setze Dich nieder, liebe Isabel, verschönere uns das Leben durch Deine holde Gegenwart.«
»Ich muss Dich erst einmal sprechen, Jochen!«, sagte der Prinz.
»Dann sei so gut, und geh ein bisschen hinaus, bis ich Dich wieder rufe — wenn's Dich nicht weiter geniert.«
Isabel ging.
Der Prinz sah sich um.
Er konnte leicht belauscht werden — aber es half nichts, es musste riskiert werden. Anderswo war es ebenso.
»Sprechen wir deutsch, Du hast die Dame geschlagen?«
Das musste das erste sein, wovon der Prinz begann, er konnte nicht anders, und wurde dadurch auch die Ausführung seines ganzen Fluchtplanes unmöglich.
»Die Dame? Meine Frau, meinen Sie. Ja, ich hab ihr eine in die Visage geknallt.«
»Weshalb?«, fragte der Prinz ganz ruhig, wohl wissend, dass dazu doch ein triftiger Grund vorliegt musste. Jochen Puttfarken war doch sonst die Gutmütigkeit selbst.
»Weil sie mich hat abmorksen wollen.«
»Abmorksen? Ermorden?!«
»Das war gleich das erste, was sie vorhatte. Mit einem Male hatte sie ein langes Messer in der Hand und wollte es mir von hinten in den Rücken stoßen, ein bisschen nach links, wo's Herz sitzt.«
Aber bei Jochen kam sie da ja nun freilich schlecht an.
»Ich hatte ihr doch gleich angemerkt, dass sie nichts Gutes im Schilde führte.
Auch wenn ich ihr den Rücken drehte, behielt ich sie immer im Spiegel im Auge.
So konnte ich ihre Hand noch rechtzeitig auffangen. Na, da hat sie eben die erste Backpfeife in ihrer zweiten Ehe bekommen.
Sind Sie mir böse, dass ich sie gehauen habe?«
Nein, der Prinz konnte es ihm nicht weiter verübeln. Eine Backpfeife ist noch gar nicht das richtige Äquivalent für einen zugedachten Stich ins Herz.
»Ja, aber sonst leben wir ganz glücklich zusammen!«, setzte Jochen noch mit einem tiefen Seufzer der Befriedigung hinzu.
»Jochen, ich muss Dich sprechen. Wir müssen fliehen.«
Das höchst zufriedene Gesicht änderte sich etwas.
»Dass ich nicht immer hier bleiben kann, weiß ich. Aber schon jetzt? Wo ich gerade meine Flitterwochen erst antreten will?«
»Wir haben keine Minute zu verlieren, und wenn es irgend möglich ist, nehmen wir Mistress Allan mit.«
»Das lässt sich schon eher hören.«
Denn Jochen hielt es für ganz selbstverständlich, dass Isabel auch außerhalb dieser Tempelmauern sein Eheweib sein würde, und der Prinz verzichtete jetzt, ihn eines anderen zu belehren.
»Unsere Gefährten auf der Makiburg müssen gewarnt werden vor dieser Menschenfalle!«
»Daran habe ich auch schon immer gedacht — ich komme selbstverständlich mit.«
»Sofort.«
»Ich bin fertig.«
»Wo ist der Anzug, in dem Du kamst?«
»Der wurde mir getrocknet wieder ausgeliefert, nachdem ich gebadet hatte, ich habe ihn schon wieder an.«
»Deine Waffen?«
»Die hat man mir nicht wiedergegeben, aber hier —«
Jochen zeigte das lange Messer, das er dem Weibe abgenommen, der Prinz eignete es sich sofort an.
»Hast Du hier noch mehr Messer?«
»Ich werde meine Frau fragen.«
»Tue es. Wir müssen wahrscheinlich mindestens zwei Männer überwältigen.«
»Bloß zwei?«
»Natürlich womöglich ohne Blutvergießen. Mistress Allan erfährt lieber nichts davon, sie könnte zur Verräterin werden, wenn auch zu ihrem eigenen Schaden, nur aus Rache. Ich kenne dieses Weib. Wir nehmen sie zwangsweise mit. Wir wollen jetzt etwas auf Untersuchung gehen, diese Felsenräume besichtigen. Lade Isabel dazu ein, sie soll uns führen.«
Weiter war nichts auszumachen und Jochen fragte nicht erst, was für einen Fluchtplan sein Herr denn entworfen habe.
Das letzte war, dass der Prinz noch die starke, lange Schnur von einer Portiere ablöste und sie für alle Fälle einsteckte.
Dann wurde Isabel gerufen und ihr einfach gesagt, sie solle mitkommen.
»Wohin?«
»Wir wollen uns ein bisschen das Innere dieser Felsenräume ansehen, Du sollst uns führen.«
»Wissen Sie den Weg nach dem Lotosteich?«, fragte der Prinz.
»Gewiss, den kenne ich.«
»Zuerst dorthin.«
Sie stiegen die Treppe hinab, Isabel führte richtig denselben Weg, den vorhin schon der Prinz genommen hatte. Nach einer anderen Richtung wäre er auch nicht so leicht gefolgt, um nicht etwa in eine Falle zu geraten, denn diesem Weibe war doch alles zuzutrauen.
Auch sie verstand den Mechanismus der Felsentüre wirken zu lassen.
An dem Lotosteich war alles wieder ruhig, nur die beiden Wächter standen dort neben der Felsenspalte.
»Diese sind es«, flüsterte der Prinz seinem Gefährten zu, »die müssen wir überwältigen. Du nimmst den linken, ich den rechten. Nur einen betäubenden Schlag mit der Faust gegen die Schläfe, was Du ja ebenso gut verstehst wie ich. Sobald ich ›los!‹, rufe, schlägst Du zu.«
»Wird gemacht.«
Sie promenierten hin.
Der Prinz knüpfte mit dem rechten Wächter wieder ein Gespräch an, wartete, bis sich auch Jochen dem anderen Manne unauffällig genähert hatte, was er auch geschickt genug machte.
»Wie ist denn der Mann dort oben — — los!«
Ein gleichzeitiger Doppelschlag und beide Wächter stürzten bewusstlos nieder.
Im nächsten Moment hatte sich der Prinz umgedreht und Isabel gepackt.
»Wir fliehen. Sie kommen mit zu Ihrem Fred!«
Mochte sie nun schreien.
Aber sie schrie nicht.
»Zu meinem Fred?«, flüsterte sie mit freudigem Staunen.
Da hatte sie der Prinz schon mit der Schnur umwickelt, wohl ohne dass sie etwas davon gemerkt hatte.
»Spring dort gegen die Felsspalte, schwing Dich hinauf!«
Jochen sprang, auch ihm gelang es, nur dass er sich wohl nicht wieder so hätte zurückschnellen können.
Der Prinz folgte ihm, das Ende der Schnur in der Hand, mit vereinten Kräften wurde Isabel nachgezogen, die aber selbst mit nach Möglichkeit half.
Da kamen dort aus der offenen Felsentür Männer heraus, sie sahen die drei in der Spalte sitzen, sie starrten und dann fingen sie zu schreien an, kamen herbeigestürzt.
Doch waren die drei schon aus der Spalte verschwunden, befanden sich jenseits der Felsenwand in dem Boote.
Mehr als hundert Gorkhas waren es, die an dem Wasserfall lagerten, oder es war auch nur ein über Steine und Klippen strömender Katarakt zu nennen, der als unterirdischer Fluss direkt aus der Felswand hervorkam.
Er ergoss sich in eine Schlucht, von nicht allzu hohen Abhängen begrenzt, die mit Bäumen und Buschwerk besetzt und nicht allzu schwierig zu erklimmen waren.
Die Gorkhas, voll bewaffnet und unter ihren indischen Gewändern Schuppenpanzer tragend, also in voller Kriegsaurüstung, lagerten mit ihren Pferden teils unten an dem Flusse, teils hielten sie den einen Hügelkamm besetzt, lagen, das Gewehr neben sich, in den Büschen, offenbar versteckt, sodass es danach aussah, als trügen sie, die ja überhaupt professionelle Soldaten waren, nicht nur ihr gewöhnliches militärisches Kostüm, sondern als befänden sie sich wirklich auf dem Kriegsfuße, hier in ihrem eigenen Lande.
Allerdings konnte es sich ja auch nur um eine Kriegsübung handeln, um ein Manöver.
Auf der höchsten Stelle dieses von den Gorkhas besetzten Hügelkammes stand Radscha Tippu Hatur, sich aber ebenfalls hinter Bäumen und Büschen verborgen haltend. Dass er dies tat, von gewisser Seite aus nicht gesehen werden wollte, das war ganz deutlich zu erkennen.
Auch jetzt noch trug er über seinem rechten Auge eine schwarze Binde.
Obgleich ihm der Wundermann, der neue Buddha Edward Scott, damals doch gesagt hatte, er solle sein Auge täglich mehrmals waschen, mit gewöhnlichem Wasser, also es nur recht rein halten, sonst nichts weiter, er solle keine Salben mehr anwenden, auch keine Binde mehr tragen.
Ja, der Radscha hatte sein Auge sogar noch viel mehr verbunden.
Damals hatte er nur den schwarzen Verband getragen, der zwar als breiter Verband um den ganzen Kopf ging, aber doch nur eben das rechte Auge bedeckte, sonst das vom Krebs schon zerfressene Fleisch der Umgebung noch sehen ließ.
Jetzt aber hatte er auch noch die ganze rechte Gesichtshälfte mit schwarzen Pflastern verklebt, sodass man gar nicht mehr sehen konnte, welche Fortschritte oder welchen Rückgang die zerstörende Krankheit unterdessen gemacht hatte.
Das linke Auge schien noch nicht angegriffen zu sein, funkelnden Blickes spähte es in die Ferne.
Jetzt aber sah er zunächst einmal unter sich.
Diese Hügelkette, auf welcher er stand, begrenzte wiederum eine enge Talschlucht, die mit dieser hier parallel lief, aber von keinem Flusse durchströmt wurde, auch nicht blind an der Felswand endete, sondern sich durch diese hindurch fortsetzte.
Außerdem bildeten hier die begrenzenden Hügelwände auf beiden Seiten nicht noch ersteigbare Abhänge, sondern fielen als glatte, nackte Felswände hinab.
Und dort drüben auf dem jenseitigen Hügelkamme, der wieder von Bäumen und Büschen bestanden war, lagen wiederum versteckte Gorkhas, die Gewehre im Anschlage!
So wollen wir wenigstens verraten. Zu sehen waren sie nicht, dazu hatten sie sich zu gut unter den Büschen verborgen.
Also ein Hinterhalt, der hier einem Gegner gelegt worden war! Wenn vielleicht auch nur bei einer Kriegsübung.
Der Radscha hob wieder den Kopf und ließ sein funkelndes Auge über den jenseitigen, etwas niedrigeren Hügelkamm in die Ferne schweifen.
Diese Hügelketten waren nur die letzten kurzen Ausläufer des eigentlichen Felsengebirges. Schnell verloren sie sich in die ebene Prärie — wie wir anstatt Steppe lieber sagen wollen — im üppigsten Grün mit prächtigem Blumenschmuck prangend, hier und da mit Waldinseln bestanden.
Und dann dort hinten, das nächste Ufer vielleicht anderthalb Kilometer von hier entfernt, ein weitausgedehnter, unübersehbarer See.
Er war von zahlreichen Inselchen durchsetzt, und in einiger Entfernung von seinem nördlichen Ufer, in der Richtung nach dem Gebirge zu, erhob sich ein bewaldeter, stattlicher, ganz isoliert stehender Berg, wie ein stumpfer Zuckerhut, ganz frei aus der sonst flachen Ebene emporragend.
Das heißt, er stand nicht ganz dicht am Ufer, sondern zwischen seinem Fuße und dem See waren noch einige hundert Schritte ebenes Land, ganz sanft nach dem See zu abfallend.
Auf diesem See tummelten sich zwischen den Inselchen die fremden Gäste oder mehr Eindringlinge in leichten Booten herum, die Cowboys und Indianer und die anderen Gefährten des Prinzen, auch weibliche Gestalten und die eines Kindes konnte man unterscheiden. Sie schienen nach Lachsen zu harpunieren, oder sie angelten am Ufer oder gaben sich anderen Belustigungen hin. Oft hörte man das helle Jauchzen der Mädchenstimmen bis hierher, dazwischen raue Männerstimmen.
Dieses muntere Treiben war es, was der Radscha beobachtete, ohne dazu bei der klaren Morgenluft ein Fernglas nötig zu haben. Auch noch weit hinten, in doppelter Entfernung, konnte er in ganz scharfen Umrissen eine große Herde von Elefanten erkennen, sogar zierliche Antilopen. Da hinter ihm und unten ein Schreien und Rufen seiner Leute.
Schnell wandte er sich um.
Wie das kleine Boot mit den drei Menschen aus dem Felsen herausgeschossen war, hatte er nicht mehr gesehen, es war bereits den allerdings nur niedrigen Wasserfall herabgestürzt, jetzt befand es sich schon mitten drin in dem eigentlichen Katarakt, in den Stromschellen und Strudeln.
Das Schicksal des kleinen Fahrzeugs war besiegelt, zwischen diesen Klippen und Riffen gab es kein Entkommen, abgesehen davon, dass es sich bereits mit Wasser gefüllt hatte.
Ein Stoß gegen einen scharfen Felsen, ein Bersten und Krachen — verschwunden war das Boot, nur einige Trümmer trieben ab, mit dem tosenden Wasser rangen drei Menschen.
Nein, das Boot hatten sie unmöglich retten können. Anderseits war die Sache nicht allzu gefährlich. Der ganze Fluss war kaum zehn Meter breit, an einigen Stellen konnte man ihn trockenen Fußes überschreiten, indem man von Stein zu Stein sprang, fünfzig Schritt hinter dem Katarakt floss das Wasser schon wieder ganz ruhig. Schwimmen musste man freilich können.
Und alle drei konnten schwimmen. Auch das Weib, das sich dabei befand. Es wurde von einem der Männer unterstützt, der sich wenigstens bei ihm hielt, um im Falle der Not gleich bei der Hand zu sein.
»Der fremde Radscha, der Prinz!«, hatte Tippu Hatur sofort mit freudigem Erstaunen gerufen. »Fangt ihn — fangt sie alle drei!«
Möglich, dass alle drei, die jetzt noch mit dem Wasser rangen, diese Worte gar nicht gehört hatten.
Aber die Gorkhas hatten den Befehl ihres Herrn gehört.
So kam es, dass die drei Menschen, als sie das Ufer nach kurzem Kampfe mit den Fluten erreichten, glaubten, es seien hilfsbereite Hände, die sich ihnen entgegenstreckten, statt dessen packten diese Hände sofort zu und ehe die beiden Männer, die ihre Gewehre über dem Rücken hängen hatten, im Gürtel Revolver und Messer, von diesen Waffen Gebrauch hätten machen können, waren sie schon überwältigt und gebunden.
»Was soll das?!«, rief der Prinz. »Seid Ihr nicht Gorkhas, sind wir nicht auf dem Boden von Gandak?! Ha, der Radscha Tippu Hatur selbst!«
Dieser hatte sich schnell von dem Hügelkamme herabbegeben, nur wenige Sprünge waren dazu nötig gewesen.
Mit höhnischem, triumphierendem Lächeln betrachtete er die Gelandeten.
»Ja, ich selbst bin es, und Prinz Joachim selbst ist es, der als erster in meine Hände fällt! Das passt ja vortrefflich.«
»Weshalb nimmst Du mich und meine Gefährten gefangen?«
»Weil die zehn Tage verflossen sind, weil heute schon der elfte Tag ist.«
»Was soll das heißen? Was für ein elfter Tag?«
»Wie sagte jener Wundermann zu mir, der mich heilen wollte? ›Ehe der Mond wechselt, kannst Du aus Deinem Auge wieder sehen, und ehe der Mond zum zweiten Male wechselt, ist Dein Auge wieder ganz gesund.‹
Dies hatte er zehn Tage vor dem Mondwechsel gesagt.
Gestern ist Mondwechsel gewesen. Damals hatte ich vor meinem kranken Auge wenigstens noch einen Lichtschimmer.
Heute bin ich vollständig blind.
Und auch der Krebs hat sich nur immer mehr ausgebreitet, heute ist schon mein ganzes rechtes Gesicht zerstört.
An eine Heilung ist gar nicht mehr zu denken, auch mein linkes Auge beginnt sich schon zu trüben.
Also Dein Wundermann hat mich betrogen.
Hätte ich nur lieber die Salben meiner Zauberer benutzt. Das Auge war schon auf dem Wege der Besserung. Dein Wundermann hat mich nun vollends um mein rechtes Auge gebracht.
Doch ich will keine Rache ausüben.
An ein Halten meines Versprechens bin ich nun natürlich nicht mehr gebunden.
Doch es handelte sich überhaupt gar nicht um ein Versprechen, sondern um eine Abmachung.
Wäre ich gestern oder heute auf dem rechten Auge sehend geworden, so hätte die Makiburg und der ganze Felsen dem Wundermann gehört, oder Dir, auf den er sein Recht übertragen hatte.
So war abgemacht worden.
Bisher habe ich Dir und Deinen Gefährten nur erlaubt, in der Makiburg zu wohnen, sie war noch immer mir.
Das Mittel des Wundermanns hat nichts genützt, er hat nur geprahlt, jetzt bin ich auf dem kranken Auge vollständig erblindet, also ist der Kontrakt ungültig.
Und ich habe keine Lust, auch noch bis zum nächsten Mondwechsel zu warten, ich begebe mich wieder in die Behandlung meiner bewährten Zauberer.
Nein, ich will keine Rache ausüben.
Aber nun gestatte ich Euch nicht mehr, auf dem Makifelsen zu wohnen, Euch in meinem Lande aufzuhalten.
Ihr habt mein Land noch heute zu verlassen, ganz Nepal — Ihr habt Euch sofort über den Damm durch den Dschungel zu begeben.
Wenn ich Euch dazu aufforderte, so würdet Ihr ja doch nicht gehorchen.
Ihr wüsstet doch immer wieder eine Ausrede, zu erstürmen ist die Makiburg nicht, Ihr könnt Euch durch Euer Luftschiff verproviantieren lassen — also nehme ich Euch gleich gefangen und transportiere Euch mit Gewalt über die Grenze.
Wegen Eures Luftschiffes, damit Ihr nicht Rache ausüben könnt, behalte ich einige von Euch als Geiseln, wahrscheinlich auch gleich Dich.
Bis ich eine andere Sicherheit in Händen habe, dass Ihr das Luftschiff nicht zur Rache gegen mich benutzt.
Ist das nicht recht und billig?«
Der Radscha schwieg, um die Antwort zu erwarten.
»Von Recht und Billigkeit kann man da wohl nicht sprechen!«, entgegnete der Prinz. »Abgesehen davon, dass Du friedliche Menschen hier wie Räuber überfällst und knebelst — kannst Du Dich denn nicht noch einige Zeit gedulden, ob sich die Wunderkraft jenes Mannes nicht noch wirklich bewahrheitet, Dein Auge geheilt wird? Musst Du denn genau so mit dem zehnten oder elften Tage rechnen?«
»Aha, da haben wir es schon!«, spottete der Radscha. »Da soll schon die Zeit verschoben werden! Nein, beim Mondwechsel, hat der fremde Mann gesagt. Gestern war der Mondwechsel. Und wie soll denn mein Auge noch geheilt werden? Ich bin auf dem rechten Auge blind für immer.«
»Wie willst Du das behaupten? Die Heilung kann doch noch eintreten.«
»Wie soll das geschehen? Wie soll man auf einem Auge sehen können, das gar nicht mehr vorhanden ist?«
»Gar nicht mehr vorhanden?!«, stutzte der Prinz.
»Das Auge ist hin. Der ganze Augapfel. Ich habe eine leere Augenhöhle.«
»Was?!«, stieß der Prinz jetzt doch erschrocken hervor.
»Wie ich sage. Es wurde schlimmer und schlimmer, vorgestern ist das Auge vollständig ausgelaufen. Glaubst Du etwa an das Wunder, das mir ein neuer Augapfel wachsen kann?«
»Zeige es mir.«
»Wagst Du etwa an meine Worte zu zweifeln?!«, fuhr der Radscha empor.
»Ich zweifele nicht daran, aber — ich bin selbst Arzt — —«
»Kannst Du mir etwa einen neuen Augapfel wieder einsetzen, auf dem ich richtig wieder sehen kann?«
»Nein!«, musste der Prinz zugeben.
»Na also! Die ganze Abmachung ist nicht ungültig, sondern indem ich darauf bestehe, dass Ihr die Makiburg räumt und das Land verlasst, bestehe ich eben nur auf Einhaltung unseres Kontraktes.
Willst Du mit Deinen Leuten die Makiburg und das Land verlassen?«
»Radscha, so nimm doch nur Vernunft an, warte doch noch einige — —«
»Sage mir nicht, ich hätte keine Vernunft!«, wurde er drohend unterbrochen. »Willst Du mit Deinen Leuten Burg und Land verlassen? Ja oder nein!«
»Ich will mit meinen Leuten erst sprechen.«
»Das sollst Du auch können. Aber nur von hier aus, als mein Gefangener.
Jedoch sollst Du nicht mehr sagen, ich hätte Dich wie einen Räuber und Sträfling behandelt.
Ich traue Deinem Wort, wie Du dem meinen vertrauen kannst.
Gibst Du mir Dein Wort, nicht von hier zu entfliehen? Dann sollen Deine Banden gelöst werden.«
»Für wie lange soll denn dieses mein Wort gelten?«, wurde vorsichtig gefragt.
»Bis Du Deine Leute gesprochen hast und Dich mir wieder als Gefangener gestellt hast. Dann magst Du meinetwegen auf Flucht sinnen.«
»Angenommen. Du hast mein Wort, dass ich bis dahin nicht fliehen werde.«
»Gilt dasselbe auch für Deine beiden Gefährten, für den Mann dort und für das Weib?«
Der Prinz blickte nach den beiden.
»Hast Du gehört, Jochen?«
»Gehört habe ich viel, aber verstanden nischt.«
Natürlich, Jochen konnte ja nicht Hindustanisch.
Der Prinz erklärte es ihm, worum es sich handelte
»Kann ich für Dich garantieren? Willst Du nicht entfliehen?«
»Na selbstverständlich können Sie für mich garantieren.«
Die Mistress Allan fragte er gar nicht erst.
Es war ein hartes Wort, was er dann sagte, aber er konnte nicht anders.
»Für den Mann garantiere ich, für dieses Weib kann ich es nicht tun.«
»Löst auch ihr die Fesseln!«, entschied der Radscha dennoch.
Es war ja einfach genug, sie blieben eben unter scharfer Bewachung und natürlich wurden ihnen die Waffen abgenommen.
»Folge mir, Prinz!«
Der Radscha erstieg mit ihm wieder den Hügel, von dem aus man den See sah. Die Cowboys trieben auf demselben nach wie vor ihr Wesen.
Weiter setzte ihm der Radscha seinen Plan auseinander.
»Um zur Makiburg zurückzugelangen, müssen Deine Leute unbedingt hier durch diese Schlucht mit den steilen Felswänden, es gibt keinen anderen Weg.
Sobald sie sich nun in der Mitte der Schlucht befinden, erschallt ein Zuruf, es wird ihnen befohlen, sofort ihre Waffen hinzuwerfen und die Hände hochzuhalten.
Wer diesem Befehle nicht sofort gehorcht, wird sofort niedergeschossen.
Aber gut, dass Du jetzt hier bist. So wirst Du erst mit Deinen Leuten persönlich verhandeln, ihnen zureden, dass sie nachgeben. Denn ich möchte kein Blut unnötig vergießen.«
»Da kann ich mich doch gleich zu ihnen hinbegeben und mit ihnen sprechen, Du hast mein Wort, dass ich zurückkehre.«
»Nein! Erst will ich sie sämtlich hier in meiner Gewalt haben! Über ihr Leben gebieten können! Denn ich glaube nicht, dass Deine Leute so ohne Weiteres nachgeben werden.«
Der Radscha sprach die Wahrheit.
Der Prinz sah sein Spiel hier verloren.
Doch das war ihm ganz gleichgültig. Er wusste gar nicht, weshalb er sich eigentlich hier befand, er gehorchte einem ihm ganz unverständlichen Befehle.
Aber seine Leute? Diese Cowboys und Indianer? Würden die nachgeben, auch wenn hier hundert Gewehrläufe auf sie gerichtet waren?
Der Prinz zweifelte daran. Wie er diese Männer kannte, würden sie niemals die Waffen wegwerfen und die Hände hochheben, das ging gegen ihre Ehre, lieber den Tod, lieber ließen sie sich massakrieren!
So sah sich der Prinz vor den schrecklichsten Verwicklungen stehen, die kommen mussten, so oder so.
Da begann der Radscha ein anderes Thema.
Sinnend hatte sein Auge immer auf dem isolierten Berge geruht.
»Prinz, ich will Dir etwas erzählen und dann eine Frage stellen.
Ich habe einmal einen christlichen Missionar gesprochen, mich lange mit ihm unterhalten, Tage lang.
Er hat einen tiefen, tiefen Eindruck auf mich gemacht.
Es war ein wirklich guter Mann und es war ein frommer Mann — es war ein Heiliger.
Es war ein Holländer und hieß — ja, Johannes van Leyden hieß er — —«
Hoch horchte der Prinz auf. So hatte der Alte auf der Dschungelinsel geheißen!
Doch er wollte erst weiter hören.
»Und dieser Missionar wusste zu sprechen!«, fuhr der Radscha fort. »Er sprach so, dass ich fast ein Christ geworden wäre.
Da habe ich erst Eure heiligen Schriften gelesen, die Ihr die Bibel nennt.
Ich habe gelesen und gelesen — Tag und Nacht.
Und immer fester wurde mein Entschluss, meinen Göttern abzusagen und ein Christ zu werden — bis ich an eine Stelle kam. An eine Stelle, die noch oftmals wiederholt wurde, immer wieder dasselbe.
Prinz bist Du ein wahrhaftiger Christ?«
»Ja.«
»Glaubst Du an Deinen Gott und an die Wahrheit seiner Worte und Lehren?«
»Ja.«
Der Radscha streckte die Hand aus, deutete nach jenem Berge.
»So Ihr, die Ihr an mich glaubet, und wenn Ihr auch nur einen Glauben so groß wie ein Senfkorn habt — wenn Ihr saget zu diesem Berge: Hebe Dich auf und wirf Dich ins Meer so wird es geschehen! Los, christlicher Prinz, der Du so fest glaubest, sprich es aus! Befiehl diesem Berge, dass er sich dort in den See versetzt! Und wenn es geschieht, dann will ich Deinen Gott und seinen gekreuzigten Sohn anbeten, dann will ich nur noch für ihn wirken. dann will ich nicht rasten und ruhen, als bis ich alle Einwohner von ganz Nepal zu Christen bekehrt habe. Los, christlicher Mann, so sprich es doch aus!«
Aber der Prinz sprach es natürlich nicht aus.
Die schwerste Verlegenheit bemächtigte sich seiner, er wurde ganz unwirsch.
Ja, das ist es eben, weshalb — —
Doch genug davon, wir wollen nicht philosophisch werden.
»Das — kann ich nicht!«, murmelte der Prinz bedrückt.
»Was kannst Du nicht? Weshalb sollst Du denn das nicht aussprechen können?«
»Das kann ich wohl, aber — gehorchen wird mir der Berg nicht.«
»Weshalb denn nicht?«
»Weil — weil — weil — mein Glaube in dieser Beziehung nicht einmal so groß ist wie ein Senfkorn. Weil ich an so etwas nicht glaube.«
»Aaaah!«, machte der Radscha lang gedehnt.
»Sieh, dieselbe Forderung habe ich damals auch dem alten, frommen Missionar gestellt.
Hier auf dieser selben Stelle haben wir damals gestanden.
Deshalb eben fällt mir das jetzt gerade ein.
Strecke Deine Hand aus, habe ich damals auch zu dem Alten gesagt, und sprich: Hebe dich auf, Berg, und versetze dich — —«
Der Radscha brach ab.
Und auch der Prinz blickte erstaunt die Erscheinung an, die da seitwärts dicht neben den beiden Männern aufgetaucht war.
Ja, er war ebenso erstaunt und bestürzt wie der Radscha, obgleich es beiden gar keine unbekannte Erscheinung war.
Es war Edward Scott, der unbemerkt hinter einem Baume hervorgetreten sein musste.
Und es war die typische Figur des Heilands mehr denn je, zumal er jetzt die braune Mönchskutte mit einer schneeweißen vertauscht hatte, und es kam auch noch vieles andere hinzu, um diesen Eindruck zu verstärken.
Die Arme über der Brust verschränkt, stand er hoheitsvoll da, das ruhige, vom tiefsten Seelenfrieden erfüllte Gesicht jenem Berge zugewandt, ein Sonnenstrahl durchbrach das dichte Laubwerk des Baumes, unter dem er gerade stand und umgab sein Haupt mit einem goldenen, glänzenden Schein.
Und jetzt löste er die Verschränkung der Arme, er streckte die Hand aus.
»Zweifelt nicht mehr!«, erklang seine ruhige, weiche Stimme.
Sie folgten der Richtung seiner ausgestreckten Hand.
Und da stießen beide gleichzeitig einen Schrei des Staunens, des Schreckens, des Entsetzens hervor.
Der Berg dort, ein ganz gewaltiger Berg, er stand nicht mehr still, er bewegte sich.
Bewegte sich langsam auf den See zu.
Es war kein »Wunder«, was hier passierte.
Das heißt insofern nicht, als es sogenannte wandernde Berge genug gibt. Berge, von denen man bestimmt weiß, dass sie früher einmal an anderer Stelle gestanden haben, die also früher einmal gewandert sind — Berge, die ab und zu noch heute wandern — und Berge, die überhaupt ständig auf Wanderschaft begriffen sind.
Zwischen Aussig und Bodenbach erhebt sich rechts an der Elbe ein Berg, der seit Menschenaltern in ständiger Bewegung ist, immer langsam auf den Strom zurückt.
Auf diesem Berge steht außer mehreren Wohnhäusern eine kleine, alte Kirche, von der man bestimmt weiß, dass sie vor hundert Jahren einhundertsechzig Meter weiter vom Elbufer entfernt gewesen ist als jetzt, und das Ufer hat sich unterdessen nicht verändert. Man kann auch jetzt noch das Wandern messen. Der ganze Berg rückt jedes Jahr um etwa sechzehn Zentimeter vor. Bei Florenz ist ein isolierter Berg, der nicht ständig wandert, sondern zwischen seinen Bewegungen Pausen von Jahren macht, dann aber auch mit rapider Schnelligkeit große Strecken zurücklegt. Gerade in diesem Jahre, im Februar 1914, hatte er sich zum Schrecken der Umwohner wieder einmal in Bewegung gesetzt, innerhalb von wenigen Tagen in kurzen Rucken mehr als dreihundert Meter zurückgelegt, als ob er auf Rollen stände. Was sich vor ihm befindet, verschlingt er, in diesem Jahre hat er zwei Villen und einige Weingärten in sich aufgenommen. Er verschmilzt mit dem Widerstand, es entsteht ein Schutthaufen, er rollt darüber hinweg, und hinter ihm ist wieder alles mit steinigem Geröll bedeckt.
Wegen der Gefahr stehen keine Häuser darauf. Wohl aber ist er bewaldet, er zeigt oben auch bizarre Felsbildungen und von alledem verschiebt sich gar nichts, nichts zeigt eine Veränderung. Der ganze Berg bewegt sich als eine feste, kompakte Masse.
Mögen diese Beispiele von wandernden Bergen innerhalb Europas genügen.
Die Erklärung des Herganges ist ja einfach genug.
Der Berg ist nicht mehr mit dem Urgestein verwachsen, er ruht auf einer losen Unterlage, die wohl meist durch Auswaschung des Regenwassers entstanden ist.
Nun kann er einmal auf einer schiefen Ebene ins Rutschen kommen, und ist sein sonstiges Gefüge noch fest genug, so braucht sich an seinem sonstigen Aussehen gar nichts zu ändern.
Aber die schiefe Ebene ist nicht einmal nötig. Hat der Berg im Innern einen exzentrischen Schwerpunkt, liegt dieser also nicht gerade in der Mittellinie, so kann er auch auf einer völlig horizontalen Ebene rutschen. Ja unter Umständen sogar eine schiefe Ebene hinauf! So wie das bekannte Kinderspielzeug, der Treppenläufer. ein Männchen, das, wenn man den Schwerpunkt verändert, die Treppenstufen hinaufläuft. Auf Java ist denn auch ein Berg beobachtet worden, der auf einem sehr steilen Terrain ständig empor wandert.
Nein, ein Wunder war es nicht, was hier passierte.
Wer aber gibt sich gleich mit solchen Erklärungen ab?
Und da diese Inder hier noch niemals so etwas erlebt, noch nichts von einem wandernden Berge gehört hatten, so bedeutete es für sie ein tatsächliches Wunder, dass sich dort der Berg in Bewegung setzte.
Schneller und immer schneller rutschte er auf den See zu, in kaum einer halben Minute hatte er den Weg von etwa dreihundert Metern zurückgelegt, ohne dass dabei etwas von dem Getöse oder auch nur dem leisesten Geräusch eines Erdbebens zu hören war, kein Ruck, kein Stoß ließ den Boden erzittern — und so erreichte der Berg das Ufer, blieb nicht stehen, sondern rutschte auch noch bis zur Hälfte seiner Basis ins Wasser hinein.
Jetzt erst blieb er stehen.
In dem See, bisher von ganz flachen Ufern begrenzt, hatte sich ein neues Vorgebirge gebildet.
Natürlich war das Wasser in Aufruhr gekommen, das war aber auch alles, was dieses Phänomen sonst nach außen bewirkt hatte.
Also innerhalb von noch nicht einer halben Minute hatte sich dies alles abgespielt.
Und innerhalb dieser halben Minute geschah noch etwas anderes, was man viel eher ein richtiges, unerklärliches Wunder nennen konnte.
Kaum hatte sich der Berg in Bewegung gesetzt, als der Radscha, aus seiner momentanen Erstarrung des Entsetzens erwachend, von seinem rechten Auge die Binde abriss.
Um besser dieses Wunder beobachten zu können? Weil er seinem linken Auge allein nicht traute?
Aber er war doch auf dem rechten Auge gänzlich blind, er hatte überhaupt gar kein rechtes Auge mehr, es war ihm ausgelaufen, die Augenhöhle war leer!
Nein, eben nicht!
Es war ein zweifellos kerngesunder Augapfel, der in der Augenhöhle saß.
Dieses Auge blickte ganz klar nach dem Berge hin.
Und nicht nur, dass der Radscha plötzlich ein neues Auge bekommen hatte, sondern beim Abnehmen der Binde war auch die ganze andere Pflasterei daran hängen geblieben, und da zeigte es sich, dass die rechte Gesichtshälfte auch nicht mehr vom Krebs oder einer sonstigen Hautkrankheit angegriffen war. Eine ganz normale Haut, nur etwas blasser als die andere, nichts weiter.
War das nicht ein wirkliches, ganz echtes Wunder? Dass der Radscha beim Anblick des wandernden Berges plötzlich ein ganz neues Auge bekommen hatte?
Nun, auch hierfür gab es eine natürliche Erklärung.
Der biedere Radscha hatte ganz einfach geflunkert.
Innerhalb der letzten zehn Tage war ihm sein krankes Auge tatsächlich vollkommen geheilt, und wegen der fressenden Hautkrankheit hatte er nicht erst noch weitere dreißig Tage zu warten brauchen, das alles war auch schon in diesen zehn Tagen spurlos verschwunden.
Darüber war Radscha Tippu Hatur natürlich glücklich, sehr glücklich.
Aber es ging ihm, wie es schon so manchem Menschen gegangen ist, der ein Gelübde abgelegt hat, wenn sich dies und jenes erfüllt, dann will ich dies und jenes tun. Hinterher tut es ihm leid, solch ein Gelübde abgelegt zu haben. Das alles hätte sich doch »ganz natürlich« auch ohne jedes Gelübde erfüllt.
Also der Radscha bereute bitter, den Fremden deswegen die Makiburg mit dem ganzen Felsen versprochen zu haben.
War die Sache nicht vielleicht doch noch zu umgehen?
Der edle Radscha wusste ein Mittel.
Er behauptete ganz einfach, der Wundermann habe ihm nicht helfen können, habe ihn betrogen, nun sei sein Auge vollkommen verloren. Gerade weil er die Heilweise seiner Priester und Zauberer nicht weiter befolgt habe.
Und er legte wieder eine Binde an, schon einige Tage zuvor, gleich als er die eintretende Heilung merkte, und bepflasterte außerdem seine ganze linke Gesichtshälfte.
So. Wer wollte wagen, an seinen Worten zu zweifeln? Der wurde wegen Majestätsbeleidigung einen Kopf kürzer gemacht, wobei diese Fremdlinge nicht ausgeschlossen waren. Davon, dass man ihn zwingen wollte, die Bandagen abzulegen, um seine leere Augenhöhle zu zeigen, war doch erst gar nicht zu sprechen.
Dann mussten die Fremdlinge also die Makiburg und das ganze Land wieder verlassen, ganz kontraktmäßig.
Und dann würde sich der Radscha wieder in die die Behandlung seiner Zauberer begeben, sie mussten ihren Hokuspokus machen, ohne dass er ihnen sein Auge zeigte, und war dies dann plötzlich wieder da, kerngesund, so waren es eben seine Zauberer gewesen, die mit Hilfe ihrer angerufenen Götter dieses Wunder bewirkt hatten, Zauberer und Götter würden dafür entsprechend belohnt werden und damit basta!
So war des Radschas Plan gewesen, den er auch ausgeführt hatte.
Üble Folgen von dieser seiner Flunkerei fürchtete er nicht.
Nicht etwa, dass dann sein Auge nochmals erkranken, der Krebs sich wieder zeigen und noch weiter als zuvor fressen würde.
Jener Wundermann hatte es ihm ja selbst gesagt, er sagte es jedem, dass es bei ihm solch eine Bestrafung oder gar Rache nicht gäbe.
»Hältst Du Dein Gelübde nicht, so wirst Du das dereinst vor dem Richterstuhle Gottes zu verantworten haben!«
An diesen Richterstuhl Gottes aber glaubte Radscha Tippu Hatur nicht. Er glaubte wahrscheinlich überhaupt an gar nichts. Genau so wie sein Priester.
Der Radscha hatte sich vergessen, als er jetzt, um besser sehen zu können, von dem Auge die Binde und aus Versehen auch gleich die ganze übrige, schlecht klebende Pflasterei abgerissen hatte.
Es hatte nichts zu sagen.
Angesichts dieses phänomenalen Wunders, dass der Berg sich dort bewegte, vergaß man doch alles andere.
Denn auch für den Prinzen lag ein tatsächliches Wunder vor, dass er am liebsten gleich anbetend auf die Knie niedergesunken wäre, wenn er nur dazu fähig gewesen wäre.
Nicht wegen jenes sich bewegenden Berges dort.
Dieses Phänomen wusste er sich sofort zu erklären. Er hatte schon genug von wandernden Bergen gehört.
Aber der Zeitpunkt, da sich das Phänomen abgespielt, da es begonnen hatte, das war die Sache!
Der Radscha hatte verlangt, jener Berg dort solle sich »erheben«, das heißt sich fortbewegen, solle sich dort in den See versetzen.
Sie hatten des Längeren darüber als über eine Unmöglichkeit gesprochen.
Da plötzlich war der moderne Heilige aufgetaucht, hatte die Hand ausgestreckt.
»Zweifelt nicht mehr!«
Und in demselben Augenblick hatte sich jener Berg in Bewegung gesetzt!
Hierfür gab es natürlich keine Erklärung.
Und wer nun durchaus nicht an ein »Wunder« glauben wollte, der musste eben einen Zufall annehmen.
Der Berg wäre sowieso fortgerutscht, der Wundermann war zufällig gerade dazugekommen, wie die beiden sich zufällig über solch eine Möglichkeit oder vielmehr Unmöglichkeit unterhalten hatten, da war die Geschichte zufällig gerade losgegangen, und nun hatte der gerissene Engländer diese günstige Gelegenheit schnell beim Schopfe gefasst. Ja, so ließ sich die Sache allerdings erklären.
Aber der Prinz gehörte nicht zu jenen, die in dem Bestreben, alles ganz natürlich erklären zu wollen, manchmal auf die unnatürlichsten Spekulationen kommen.
Er hatte ein Wunder erlebt!
Und alle die Inder, die dies gesehen, natürlich erst recht.
Es hatten ja genug Gorkhas auf dem Hügelkamme gelegen, die alle dies gesehen.
Der Radscha und der Prinz waren nur die ersten gewesen, die Rufe des Staunens und Entsetzens ausgestoßen hatten, dann schrie es so auf dem ganzen langgestreckten Hügelkamme, jenseits auf dem anderen ebenfalls, die dort Liegenden hatten nur erst den Kopf wenden müssen.
Unten die Gorkhas wussten ja nicht gleich, weshalb die dort oben so schrien, nun aber rannten sie doch schnell hinauf, und auch der letzte von ihnen kam noch zeitig genug, um zu sehen, wie der Berg fortrollte, zuletzt in den See hinein, wo er endlich stehen blieb, mit dem Ufer noch verbunden.
»Inschallah, Gott ist groß!«
So schrie der Radscha nochmals, und dann sprang er den Abhang hinab, stürmte durch die Schlucht und weiter über die Prärie, um das Wunder ganz in der Nähe zu betrachten, um es womöglich zu betasten, mochte sich der Berg nun ausgerutscht haben oder nicht, mochte er seine Wanderung auch noch einmal beginnen und dabei seiner Umgebung Tod und Verderben bereiten.
Von einem besonderen Mute braucht dabei gar nicht gesprochen zu werden.
Wenn der Vesuv oder der Ätna ausbricht, fürchterlicher denn sonst, die ganze Umgebung verwüstet, wenn ein Erdbeben dabei ganze Städte in Trümmer legt, dann eilt der König, wenn er nicht im Auslande oder sonst wie zu weit entfernt ist, doch auch stets hin. Im Automobil, wenn das schneller geht als im Eisenbahnzuge, um seinen armen Untertanen beizustehen, mit ihnen ihr Leid zu tragen. Wollen wir annehmen. Wie doch auch immer die Zeitungen versichern. Besonders die Landesmutter gibt ja dann auch immer viel.
Bewundernswert ist nur der Mut jener Italiener, die sich immer und immer wieder an jenen Vulkanen anbauen, oder ihre Gleichgültigkeit.
Also, sollte hiermit gesagt werden, es war nichts Erstaunliches dabei, dass der Radscha sofort hin rannte.
Dasselbe musste dann auch für seine Gorkhas gelten abgesehen davon, dass diese ihren Herrn und Gebieter tatsächlich nicht in Stich gelassen hätten, ihm auch mitten in einen feuerspeienden Vulkan nachgefolgt wären.
Nur dass die meisten schlauer oder besonnener waren als ihr Radscha. Sie warfen sich größtenteils auf ihre Pferde, um schneller ihr Ziel zu erreichen als zu Fuß.
Während der Radscha in seiner Aufregung gar nicht daran gedacht hatte, dass auch er ja dort unten sein eigenes Pferd stehen hatte. Und als ihm unterwegs ein Pferd angeboten wurde, wusste er wohl gar nicht, was mit einem Pferde anzufangen war — er stürmte zu Fuß weiter. Es waren ja auch nur anderthalb Kilometer.
Es gab keine Gefangenen mehr. Denn sie waren ungefesselt und niemand mehr da, der sie bewacht hätte. Bei so etwas hört eben alles, alles auf.
Und Jochen ließ sich auch nicht erst lange einladen, mitzukommen, er war auch klüger als der Radscha und manch anderer Gorkha, er machte es genau so wie sein Herr, der Prinz, er warf schnell seine Säbelbeine über ein Ross, das von seinem Besitzer nicht benutzt worden, und schloss sich der wilden Jagd an.
Auch sein Gewehr und seine sonstigen Waffen hatte er ebenso wenig mitzunehmen vergessen wie der Prinz.
Um den neuen Heiland hatte sich niemand mehr gekümmert. Jetzt war es erst der Effekt, unter dessen Bann alles stand, der Erzeuger dieses Effektes war vorläufig Nebensache.
Die Gesellschaft dort auf dem Wasser und am Ufer, die dieses Phänomen in nächster Nähe erlebte, war natürlich erst recht entsetzt.
An einer der Bauminseln grasten ihre Pferde, angebunden oder nicht, und dorthin stürzten sie alle, die sich am Ufer befanden.
Flucht, Flucht! An was anderes sollten sie denn denken. Der Berg, der ihnen immer näher auf den Leib rückte, konnte ja zusammenstürzen, es konnte ja auch ein Erdbeben sein, die Erde konnte sich öffnen und sie verschlingen.
Also nur möglichst weit weg aus der Nähe dieses lebendig gewordenen Berges!
Aber alle hatten sie sich ja nicht angelnd oder anderen Vergnügungen nachgehend am Ufer aufgehalten, nicht einmal die meisten.
Die meisten befanden sich in leichten Lederbooten, erst hier selbst verfertigt, auf dem Wasser, gondelten zwischen den Inselchen herum.
Auch diese Boote strebten sofort dem Ufer zu.
Ehe aber noch das erste dieses erreicht, war der wandernde Berg schon am Ufer und schob sich also auch noch bis mehr als zur Hälfte ins Wasser hinein.
Während sonst alles ganz ruhig abgegangen war, konnte da natürlich das Wasser nicht ruhig bleiben.
Sofort schlugen furchtbare Wellen empor, alles plötzlich ein kochendes Wasserchaos.
Dem waren diese leichten Boote nicht gewachsen, es hätten auch noch ganz andere sein können — sofort waren sämtliche Boote gekentert, ihre Insassen rangen mit den Wogen, wurden im Nu weit, weit fortgeschleudert und hatten dann erst recht, als die Flut über sie hingegangen war, mit dem furchtbaren Chaos zu kämpfen, tauchten hoch auf und verschwanden wieder.
Nun aber zeigte es sich, dass es noch etwas Mächtigeres gibt als Todesangst vor einem unerklärlichen Etwas, wenigstens bei solchen Männern wie diesen.
Kaum bemerkten die nach ihren Pferden Fliehenden, was hinter ihnen passierte, wie die sämtlichen Boote gekentert waren und wie sonst die Sache dort aussah, als sie alle sofort wieder umdrehten, um ihre Kameraden im Wasser nicht zu verlassen, um ihnen beizustehen, um sie zu retten.
Doch es war nicht so schlimm, wie es zuerst ausgesehen.
Wie sich der Berg über die Hälfte ins Wasser geschoben hatte, und zwar ohne sich im Geringsten zu senken, weil er eben seine ganze Unterlage mitgenommen hatte, stand er still, um sich jetzt und später nicht weiter zu bewegen.
Schlimmer konnten die Wogen und das ganze Chaos nun also nicht mehr werden, und sie alle waren gute Schwimmer, welche den ersten Wasseransturm ausgehalten hatten, und dann konnten sie sich eben selbst aufs Trockene helfen.
Es gab aber auch genug, die gar nicht zum Schwimmen gekommen waren, die sofort auf dem Trockenen gesessen hatten. Diesen hätte es sogar am Bösesten gehen können, was aber glücklicherweise nicht eingetreten war.
Denn die ersten Wogen hatten sofort die niedrigen Inselchen überspült, waren auch noch über die höchsten Bäume hinweggegangen.
Mancher war gegen die Bäume geschleudert worden. Einige Quetschungen waren allerdings vorgekommen, aber alle nur von leichter Art, und von Hautabschürfungen sprachen diese Cowboys und Cowgirls gar nicht erst.
Diese konnten sich dann an und zwischen den Bäumen festhalten, bis die Gewalt der Wasserfluten gebrochen war, was sehr schnell eintrat; als die Gorkhas angestürmt kamen, ging auch die höchste Welle nicht mehr über die niedrigste Welle hinweg.
Dagegen saßen einige der dem Wasser Entkommenen jetzt hoch oben auf den Bäumen, und was für Exemplare waren darunter, und wenn solch ein Baum keine Äste auch noch unten am Stamme hatte oder nicht sehr tief herabhängende Zweige, so war den oben Sitzenden die Möglichkeit genommen, von selbst herabzusteigen, wenn sie nicht ein Lasso bei sich hatten. Ein Sprung wäre lebensgefährlich gewesen.
Solche gab es genug, und nur diese mussten aus ihrer Lage befreit werden. Einfach dadurch, dass man ihnen Lassos zuwarf.
Seit der eigentlichen Katastrophe war eine Viertelstunde vergangen, die für einige einen Moment, für andere eine Ewigkeit bedeutet haben mochte.
Der Prinz stand am Ufer und hielt Deasy bei der Hand, die sich zufällig in keinem Boote und auf keiner Insel befunden hatte, die von einem Cowboy ergriffen und vor den Wasserfluten davon getragen worden war.
Er sah zu, wie die Boote aufgefischt und die auf den Bäumen Befindlichen herabgeholt wurden, ließ sich immer Namen zurufen, und bald wusste er, dass niemand vermisst wurde und niemand eine ernstliche Verletzung davongetragen hatte.
»Gelobt sei Gott!«
Ja, das war seine erste Sorge gewesen.
Aber dabei hatte er auch an anderes gedacht, an eine zukünftige Gefahr, die ihm und seinen Leuten nicht von Naturelementen drohte.
Er hatte schon einige eingeweiht, die es weiter sagen mochten, hatte Anordnungen getroffen gegen die Gorkhas.
Wenn die jetzt auch harmlos dastanden und noch immer starrten und staunten, oder wenn sie sich auch als opferwillige Helfer bei den Rettungsarbeiten beteiligten — zu trauen war ihnen doch nicht für die nächste Zukunft, die hatten doch ursprünglich etwas ganz anderes vorgehabt, als hier den Fremdlingen zu helfen.
Alle Cowboys und sonstigen Männer und Frauen, die hier nicht unbedingt zu helfen hatten, befanden sich bereits dort in dem Wäldchen bei ihren Pferden, machten ihre Waffen noch bereiter, als sie immer waren. Aber auch diejenigen, die noch fischten oder ihre Lassos in die Baumwipfel hinauf warfen, wussten schon, was die Zukunft vielleicht noch bringen konnte, und sie waren fertig, ihr Möglichstes zu tun, um diese Zukunft anders zu gestalten, als sie sich diese Inder vielleicht ausmalten.
Wo war der Radscha?
Dort kam er, ging direkt auf den Prinzen zu.
»Taufe mich!«
Es waren zwei überraschende Worte gewesen, so mir nichts Dir nichts hervorgebracht, etwa wie man beim Kellner ein Glas Bier bestellt.
Der Prinz hatte diese Bestellung ganz überhört. Nicht nur, dass er sie gar nicht recht zu deuten wusste.
Er sah nämlich etwas, was in ihm nur einen einzigen Gedanken aufkommen ließ.
»Ei, edler Radscha, Du hast ja in Deiner leeren Augenhöhle plötzlich wieder ein ganz neues, jedenfalls ganz ausgezeichnetes Auge bekommen?!«
So rief er, mehr mit einem gewissen Humor als erstaunt.
Denn was hier vorlag, das wusste er ja gleich.
Er machte sofort den ganzen Gedanken durch, den wir vorhin geschildert haben.
»Ich habe gelogen. Der heilige Mann hat mein Auge wirklich wieder sehend und ganz gesund gemacht, auch der rote Aussatz ist gänzlich geheilt, schon vor den angesagten zehn Tagen war alles geschehen. Aber ich gottloser Sünder wollte Euch betrügen, ich sagte, mein Auge wäre nun ganz verloren, um Euch aus der Makiburg und aus meinem Lande hinausjagen zu können.«
So sprach der Radscha.
Und der Prinz war ganz paff.
Denn das passte nun natürlich nicht in seinen Gedankengang.
Aber auch für dieses offene Geständnis hatte er nun sofort eine Erklärung und zweifellos die richtige.
Die Heilung des Auges hätte schließlich auf ganz natürliche Weise vor sich gehen können, dieser Tatsache hatte der Radscha getrotzt.
Aber nun hier dieser Berg, der sich auf Kommando jenes heiligen Mannes in Bewegung gesetzt — das war dem Radscha denn doch sozusagen über die Hutschnur gegangen!
Der Berg hatte der Verschiebung standgehalten — der Radscha war dabei zusammengebrochen.
»Taufe mich!«, wiederholte er jetzt.
»Du willst ein Christ werden?«
»Ja, sofort!«
»Das ist schön von Dir. Aber — —«
»Vorbereitungen dazu sind nicht nötig. Was dazu gehört, habe ich schon alles einmal durchgemacht, wenn ich mich auch damals nicht habe taufen lassen. Taufe mich!«
»Das kann ich nicht. Suche doch den heiligen Engländer auf — —«
»Den habe ich bereits wieder gesprochen.«
»Und was sagte er?«
»Er sagte, er könne nicht taufen, er sei kein geweihter Priester, ich solle zu solch einem gehen. So taufe Du mich.«
»Aber ich kann es doch auch nicht.«
»Weshalb denn nicht? Dort ist doch Wasser.«
»Ja, Wasser ist genug da — aber ich bin doch kein Priester.«
»Nicht?! Du bist doch ein christlicher Fürst.«
»Ein Christ bin ich, auch ein Fürst — aber kein Priester.«
»Ich verstehe Dich nicht. Bist Du denn nicht als christlicher Fürst auch ein — ein — Bischof?«
Es lag eine Verwechslung vor. Dieser Inder mochte von einem Fürstbischof gehört haben, daran dachte er jetzt. Zumal da ja auch die englische Hochkirche Bischöfe hat, die sämtlich im Range der Lords stehen.
»Nein. Ich bin ein Fürst, aber kein Bischof, nicht einmal der kleinste Vikar — ich kann nicht taufen, habe keine Berechtigung dazu.«
Der Radscha wurde ganz niedergeschlagen.
»Wer soll mich dann sonst taufen?«
»Gibt es in Katmandu keinen christlichen Geistlichen?«
»In ganz Nepal nicht.«
»Auch keinen herumziehenden Missionar?«
»Der wird in Nepal nicht geduldet.«
»So gehe über die Grenze, nur nach Bettia, dort findest Du schon einen Geistlichen.«
»Ich darf verfassungsgemäß jetzt nicht außer Landes gehen.«
»So lasse einen Geistlichen aus Bettia holen, er wird sofort kommen, wenn der Radscha von Gandak zum Christentum übertreten will.«
»Ihn holen lassen? Das dauert mir zu lange.«
Der Radscha war in seiner Taufsucht wie ein kleines Kind geworden, das den Weihnachtsmann nicht erwarten kann. Doch blickte er schon wieder hoffnungsfreudig auf.
»Halt, da fällt mir etwas ein. Ob dieser — wie hieß doch der Mann? Señor Domingo Lazare?«
»Señor Lazare?«, wiederholte der Prinz gespannt.
»Der dem Maharadscha Bahadur die fahrende Panzerfestung gestohlen hat.«
Das wusste der Radscha also bereits.
Der Prinz wusste nur, dass Señor Lazare ihm die Silberwolke gestohlen hatte und dass diese sich in Nepal befand. Etwas anderes hatte er ja noch nicht zu hören bekommen.
Doch der Radscha ließ sich jetzt nicht ausfragen, der hatte es eilig, Christ zu werden, und dazu ist die Taufe nötig.
»Ist dieser Señor Lazare nicht ein — ein — wie heißt es doch gleich — ein Jesuitenpater?«
»Ja, das ist er.«
»Was ist das, ein Jesuitenpater?«
»Ein ziemlich hoher Geistlicher unter den Jesuiten.«
»Was sind das, Jesuiten?«
»Jesuiten? Das sind Menschen, die immer das Gegenteil von dem meinen, was sie — doch das verstehst Du nicht. Es ist ein katholischer Orden.«
»Katholisch? Nicht christlich?«
»O ja, ein christlicher Orden.«
»Kann dieser Jesuitenpater mich taufen?«
»Hmm«, brummte der Prinz langgedehnt, seinen Vollbart streichend. »O ja, der kann schon taufen — aber — hmm — —«
Er sprach nicht weiter, er dachte das Weitere nur für sich selbst.
»Wenn ich katholisch wäre und ein Kind hätte«, machte er, »dann würde ich ja lieber in meinem Gemüsegarten den verhungerten Ziegenbock als Gärtner einsetzen, als dass ich mein Kind von diesem Spitzbuben taufen ließe. Doch was geht's mich an? Wenn sich dieser Radscha nun einmal so schnell wie möglich taufen lassen will? Und diese Berechtigung kann ich dem Jesuitenpater doch nicht absprechen.«
Der Prinz hatte seinen etwas zerzausten Bart geordnet.
»Ja, dieser Jesuitenpater hat das Recht, Dich zu taufen.«
»Wo ist er?«
»Wenn Du es nicht weißt — ich erst recht nicht.«
»Er fährt mit der Festung immer im Lande hin und her.«
»So fange ihn und lass Dich von ihm taufen.«
Der Radscha nahm das, was der Prinz nur spöttisch gesagt hatte, wörtlich, wozu er auch allen Grund hatte.
»Er lässt sich nicht fangen. Denn er weiß, dass er gefangen werden soll. Er sucht einen Weg durch den Dschungel, denn er weiß auch, dass es einen solchen geheimen Weg gibt. Er hat deshalb schon mehrere Männer aufgegriffen und gemartert, aber sie konnten jedenfalls diese geheimen Wege gar nicht angeben.«
»Einen Weg durch den Dschungel sucht er?«, fragte der Prinz interessiert.
»Ja, über den Damm wagt er sich nicht. Dort wäre er verloren, dort werden ihm Fallen aufgestellt, denen er nicht ausweichen kann, das scheint ihm bekannt zu sein.«
»Weißt Du nicht, wie die Riesengranate vorher durch den Dschungel gekommen ist?«
»Ja, ich habe davon gehört. Sie hatte Sichelschwerter an den Rädern, mit diesen mähte sie alles nieder.«
»Weshalb bahnt sich die Riesengranate nicht jetzt solch einen Weg durch den Dschungel?«
»Ich weiß nicht, weshalb er es nicht tut. Vielleicht kann er die Schwerter nicht an den Rädern anbringen, er versteht es nicht, oder es ist an dieser Vorrichtung etwas gebrochen.«
Ja, so würde es sicher sein. Wenn der Pater immer hin und her fuhr und Leute fragte, ob sie nicht einen Weg durch den Dschungel wüssten.
»Gemartert hat er die Männer, die er deswegen aufgriff?«
»Furchtbar gemartert, entsetzlich verstümmelt.«
»Und von dem willst Du Dich taufen lassen?«
»Weshalb nicht?«
»Hältst Du den für einen Priester Gottes, der solche Grausamkeiten begeht?«
Der Radscha machte ein verwundertes Gesicht.
»Ich verstehe Dich nicht. Warum soll ein Priester so etwas nicht tun? Etwa weil er ein Christ ist? Tut Ihr Christen nicht dergleichen auch? O, ich habe viel Bücher darüber gelesen. Habt Ihr Christen nicht im Namen Eures Gottes und Heilandes auch immer Menschen gemartert, nicht nur Andersgläubige, sondern Euch Christen untereinander, nur weil Euer Glaube etwas verschieden war?«
Der Prinz war nur froh, dass der Inder keine Antwort verlangte. Er war nur froh, dass sich der belesene Radscha nicht weiter in Details erging. Er dachte an die Spanier in Mexiko und Peru, an die Inquisition, an den dreißigjährigen Krieg und an vieles andere — er hätte nicht gewagt, diesem Radscha seine Meinung zu bestreiten.
»Wenn ich nur wüsste, wo ich diesen Pater — da kommt er!«
Wenigstens war es die Riesengranate, die dort hinter den Hügeln auftauchte und in schneller Fahrt über die Prärie fuhr.
»Wenn man den Teufel an die Wand malt, dann kommt er«, dachte der Prinz.
Und dann wunderte er sich darüber, was der Anblick der Riesengranate hier für eine Aufregung hervorbrachte, unter den Gorkhas sowohl wie unter seinen eigenen Leuten.
Der Prinz war eben eine Woche abwesend gewesen. So wusste er nicht, was der Pater in seiner Granate unterdessen schon alles gesündigt hatte, was das ganze Land mit Entsetzen erfüllte.
»Der Teufel kommt! Es rette sich, wer kann! Schnell ins Wasser! Nein, da fährt er uns nach! Auf die Bäume! Nein, die zersplittert er. Auf den Berg, auf den Berg, den kann er nicht erklimmen, da kann er die Bäume nicht zersplittern, die Granate hat nicht die nötige Geschwindigkeit dazu!«
So und ähnlich riefen die Gorkhas auf Hindustanisch, die Cowboys auf Englisch, und sie alle flüchteten, ihre Pferde mitnehmend, auf den dichtbewaldeten Berg, obgleich man doch nicht wusste, ob der nicht jeden Augenblick in sich zusammenstürzen könne. Sie alle zogen dieses Schicksal, unter Trümmern begraben zu werden, einer näheren Begegnung mit dem Lenker der Riesengranate vor.
Sie hielt denn auch direkt auf diese Stelle zu, wo es soeben noch von Menschen gewimmelt hatte und wo nun plötzlich alles wie ausgestorben war.
In aller Schnelligkeit erfuhr der Prinz von seinen Leuten, was sich während seiner Abwesenheit zugetragen hatte.
Ganz Nepal befand sich im Belagerungszustand, aller Handel und Wandel war lahmgelegt durch diesen Kriegswagen des Dschagganath, nur wegen dieses Jesuitenpaters.
Vor sechs Tagen war er zum ersten Male aufgetaucht, im Tale des Radschas von Simran, in dessen Residenzstadt, vor seinem Palaste hatte er gehalten.
Wer sich in dem Kriegswagen befand, wusste man ja gar nicht. Man wusste nur, dass sich solch eine fahrbare Panzerfestung in Nepal aufhielt und dass sie der Maharadscha Bahadur erworben hatte; dass sie ihm von einem Fremden entführt worden, das war noch nicht weiter bekannt geworden in diesem Lande, wo es keine Telegrafen gibt.
Eine Stimme hatte in dem Panzerautomobil gerufen, der Radscha möchte kommen. Dieser war gekommen, in der Meinung, es sei der Maharadscha Bahadur. Aber noch im letzten Augenblick war er gewarnt worden, der fremde Gast, den der Maharadscha mitgebracht, habe das Fahrzeug gestohlen, und der Radscha hatte sich fluchtähnlich wieder zurückgezogen. Die Riesengranate war ihm gefolgt, in den Palast hinein, alles demolierend, und dann war es über ihren Lenker erst recht wie eine Zerstörungswut gekommen, die Granate hatte die Mauern durchbrochen, hatte dann ganze Straßen in Trümmer gelegt, bis sie die Stadt und das Tal endlich wieder verlassen hatte.
Wie ein Lauffeuer hatte sich diese Schreckenstat durch ganz Nepal verbreitet.
Alle Täler wurden in Verteidigungszustand gesetzt, dadurch, dass man in die engen Zugänge die Gesteinsmassen herabstürzte, welche schon immer oben aufgespeichert sein mussten.
Diese Trümmerhaufen konnte kein Feind überschreiten, auch dieses Panzerautomobil nicht, mochte es sonst auch noch so gut klettern können.
So war es in den letzten Tagen, wie wir schon geschildert haben, immer in dem Waldland hin und her gefahren, meist dicht am Dschungel entlang, der Pater hatte Menschen aufgegriffen, die ihm einen geheimen Weg durch den Dschungel zeigen sollten.
Die Gorkhas und die Cowboys flüchteten beim Anblick
der Riesengranate auf den dichtbewaldeten Berg.
Ihre Unkenntnis für Verstellung haltend, hatte er die Unglücklichen meist in der scheußlichsten Weise gemartert, ohne ihnen doch das Geheimnis erpressen zu können, weil die Männer diese Wege eben selbst nicht kannten.
Infolgedessen gab es in ganz Nepal keinen Handel und Wandel mehr; insofern nicht, als nicht mehr wie sonst die Handelskarawanen von Tal zu Tal zogen. Nur noch Boten liefen oder ritten hin und her, auch gejagt wurde noch in dem Waldland. Dann waren diese Männer eben ständig auf ihrer Hut, von dem teuflischen Kriegswagen nicht überrascht zu werden, wussten sich vorher immer noch rechtzeitig in Sicherheit zu bringen; denn wie man sich vor ihm sichern konnte, das hatte man ja schnell erkannt. Der Riesengranate fehlte eben die frühere Möglichkeit, an den Rädern die Sichelschwerter anzubringen, um sich durch den Dschungel zu mähen. Man musste sich also immer nur in der Nähe von solchen Dschungeln aufhalten, sich bei Anblick des Höllenwagens in diese flüchten. Dort hinein konnte er ihnen nicht folgen. Auch nicht auf Felsen hinauf, nicht einmal auf sanfte Abhänge, die dicht mit Bäumen oder nur Buschwerk bestanden waren, da fehlte es dem Automobil an Kraft, sich durchzubrechen.
Lady Lionel war es, die dies dem Prinzen in aller Schnelligkeit berichtet hatte.
»Auch scheint er aus dem Panzerautomobil heraus nicht schießen zu können«, schloss sie. »Es ist nicht anders, als könne er die Schießscharten nicht öffnen. Denn obgleich er Gewehre und Munition bei sich hat, hat er noch niemals auf Flüchtlinge gefeuert, oder er hat zuerst die ganze Tür geöffnet, ist auch herausgesprungen. Da er sich aber dabei doch selbst als Zielscheibe aussetzt, wird er dies wohl nicht allzu häufig tun.«
Der Wagen war herangekommen, hielt dicht am Rande des bewaldeten Berges, von dessen Verschiebung der Pater jedenfalls gar nichts wusste.
»Ist hier der Prinz Joachim?«, erklang es im Innern.
»Ja, der ist hier«, entgegnete der Prinz im Schutze der Bäume.
»Ich möchte Sie sprechen.«
»Wir sprechen ja schon zusammen.«
»Nicht wahr, Sie sind es gewesen, der dieses Panzerautomobil nach Katmandu gebracht hat?«
»Stimmt.«
»Sie sind mit ihm auch durch den Dschungel gefahren?«
»Bin ich.«
»Indem Sie Schilf und Bambus mit Sichelschwertern niedermähten, die außen an den Rädern anzubringen sind?«
»So war es.«
»Wollen Sie einmal zu mir in das Automobil kommen? Wissen Sie irgend eine Möglichkeit, wie ich für Ihre Sicherheit eine Garantie bieten kann?«
Es hatte schon in der Frage gelegen. Nämlich die Unmöglichkeit.
Es sollte zwischen den beiden auch zu gar keiner weiteren Aussprache kommen.
»Bist Du der Jesuitenpater Domingo Lazare?«, ergriff da der Radscha das Wort.
»Der bin ich.«
»Kannst Du als solcher eine Taufe vollziehen?«
»Das kann ich. Wer ist es, der dies fragt?«
»Tippu Hatur, Radscha von Gandak.«
»Aaah, der Radscha Tippu Hatur! Du willst wohl zum Christentum übertreten?«
»Ja. Ich will mich taufen lassen. Kannst Du die Taufe an mir vollziehen?«
»Das kann ich, ich habe die Berechtigung dazu.«
»Wann kannst Du mich taufen?«
»Sofort. Du brauchst bloß in mein Automobil hereinzukommen.«
Und wahrhaftig, der Radscha verließ sofort sein schützendes Versteck und ging auf das Automobil zu.
»Radscha, bist Du denn von Sinnen, der nimmt Dich gefangen und lässt Dich nicht so ohne Weiteres wieder los!«
So riefen der Prinz und noch mehrere andere, auch unter den Gorkhas.
Der Radscha kümmerte sich nicht um die Warnungen, er setzte seinen Weg fort.
Die Riesengranate hatte dem Walde natürlich ihre Spitze zugekehrt.
»Komm hier hinten herum, hier ist die Tür!«
Der Radscha ging denn auch herum, man sah einen Tritt herabfallen, er stieg ihn hinauf, eine Tür wurde zugeschlagen.
Gleich darauf setzte sich die Riesengranate wieder in Bewegung.
Wie hatte der Pater den Radscha in Empfang genommen?
Ihn sofort überwältigt, zu Boden geschlagen, ihn mit einem Mittel betäubt?
Niemand konnte es wissen.
Zu hören war nichts gewesen.
»Dieser Radscha ist nicht vom heiligen Geist dazu getrieben, sondern vom Teufel geblendet worden, dass er sich von dem taufen lassen will, sich dem so ohne Weiteres anvertraut«, rief der Prinz.
Dann geschah etwas, was diesen ersten Vorgang ganz vergessen ließ.
Nicht umsonst hatte die Riesengranate sich wieder in so schnelle Fahrt gesetzt, in die Prärie hinein haltend.
Diese Prärie war nur nicht mehr im Auge behalten worden, so sah man erst jetzt die Gestalt, die dort von den Hügeln kam, sich ungefähr in der Mitte des Weges bis zum See oder Berge befand.
Es war Isabel, die nicht mehr zurückbleiben wollte, jetzt nachträglich dem versetzten Berge zustrebte.
Da sah sie die Riesengranate auf sich zukommen.
Sie hatte dieselbe ja schon vorher sehen müssen, konnte nichts Übles von diesem seltsamen Automobil, das sie natürlich sofort als solches erkannte, vermuten, dort die Leute hatten ja mit dem Lenker gesprochen, der Radscha war freiwillig hineingegangen.
Wie aber nun die ungeheure Spitzgranate in so schneller Fahrt direkt auf sie zu kam, überkam sie doch die Angst, sie mochte an ein Überfahrenwerden denken.
Also sie drehte halb zur Seite und floh davon, um nicht überfahren zu werden.
»Bleiben Sie stehen, Doña Allan, fürchten Sie sich nicht, ich bin es, Ihr Freund, der Señor Lazare, Ihr Beichtvater!«
Gehört haben musste Isabel diese Stimme.
Erklären konnte sie sich des Paters Hiersein freilich nicht, und es war auch sonst sehr die Frage, ob sie ihrem ehemaligen Beichtvater noch solches Vertrauen wie früher entgegenbrachte, ob ihr über seine Verbrechernatur nicht unterdessen die Augen geöffnet worden waren.
Doch wie dem auch sei — die Hauptsache war, dass sie sich, wie sie diese Stimme hörte, umblickte, und obgleich sie doch nun schon seitwärts geflohen war, sah sie das schwarze Ungetüm nun erst recht dicht hinter sich, also es war ihr gefolgt, hatte die Biegung nachgemacht, und die Folge von alldem war, dass Isabel vollständig den Kopf verlor und zu schreien anfing, wie nur ein Weib schreien kann, wenn es sich in Todesgefahr befindet oder glaubt, dass es von einem wütenden Stier verfolgt wird, oder auch, wenn etwa eine Maus durch die Stube läuft.
Sie konnte vor Schreck gar nicht mehr weiter, die Glieder versagten einfach den Dienst.
Sie strauchelte, stürzte hin, blieb liegen, den Tod erwartend.
Doch mit einem Ruck stand das Automobil auf der Stelle, die Tür öffnete sich, der Pater sprang heraus, packte die Daliegende, hob oder vielmehr schleuderte sie in die Riesengranate hinein, sprang selbst nach, warf die Tür hinter sich zu und fuhr weiter, bis die Granate dort hinter dem Hügelzuge verschwand.
Wir wollen einige Stunden überspringen.
Es war zur Tatsache geworden.
Auch die natürlichen Zugänge zum Tale von Gandak waren durch Gesteinsmassen verschüttet worden, wegen dieses fürchterlichen Kriegswagens, des Dschagganath, aber dieser hatte den geheimen Weg durch die Felsen zu finden gewusst.
Einfach dadurch, weil ihn der Radscha von Gandak selbst gelenkt hatte.
Und dann wusste er auch sonst sein entsetztes Volk zu beruhigen.
So fuhr die Riesengranate in die Hauptstadt hinein, erst in den Palast, der nichts mit jener Burg dort oben zu tun hatte.
Die beiden waren sich unterdessen also einig geworden.
Der Pater hatte den Radscha unterdessen zur Genüge kennen gelernt, sorglos verließ er seine fahrbare Panzerfestung, wenn er diese innerhalb des Palastes nur sonst sicher stehend wusste.
Die Taufe wurde sofort vollzogen, ohne weitere Feierlichkeit. Der Radscha selbst war es, der dem heiligen Akt die wahre Feierlichkeit gab. Denn der nahm diese seine christliche Taufe — verdammt ernst! Das wird mit Absicht gesagt. Denn wenn einmal solch ein blasphemistischer Ausdruck am Platze ist, dann war es hier der Fall, wie wir gleich sehen werden.
Das nächste war, dass der Pater in das Laboratorium ging, das Radscha Tippu Hatur auch in diesem seinem Palaste besaß. Hier schloss sich Señor Lazare ein und begann zu experimentieren.
Der Radscha aber versammelte seinen Harem und die höheren Palastbeamten um sich und sprach zu ihnen:
»Ich bin zum Christentum übergetreten. Ich habe mich taufen lassen. Denn ich bin zur Überzeugung gekommen, dass nur die christliche die allein wahre Religion ist.
Nachdem ich zu dieser Überzeugung gekommen bin, muss ich natürlich mein Möglichstes tun, diese einzig wahre Religion zu verbreiten.
Ich werde nicht rasten und ruhen, als bis ganz Nepal das Christentum angenommen hat.
Natürlich mache ich dabei in meinem eigenen Reiche den Anfang, speziell mit Euch, die Ihr direkt oder indirekt zu meiner Familie gehört.
Wer von Euch will sich christlich taufen lassen?«
So hatte der Radscha gesprochen und gefragt.
Nirgends eine Antwort.
Die das gehört hatten, Weiber und Kinder und Männer, sie konnten doch nur staunen, wenn sie überhaupt glaubten, auch wirklich richtig gehört zu haben.
Dass sich der Radscha hatte taufen lassen, davon wussten sie noch nicht einmal etwas.
»Ich gebe Euch eine Stunde Bedenkzeit«, fuhr Tippu Hatur fort. »Dann werde ich wieder fragen, und wer sich dann noch weigert, das Christentum anzunehmen, der wird durch die Folter dazu gezwungen, und wer auch dann noch nicht nachgibt, dessen Seele mag zur Hölle fahren, wohin sie gehört. Und auch meinen eigenen Sohn werde ich nicht verschonen! So wahr mir Gott helfe, in Christi Namen. Amen!«
So sprach der Radscha und ging, die ganze Versammlung einschließend.
Also da konnte man wohl mit Recht sagen, dass es der Teufel gewesen war, der ihn getauft hatte.
Die Cowboys und die Gorkhas auf dem Berge hatten gesehen, wie auch das Weib dort von dem Jesuitenpater aufgegriffen worden war, und das war nicht so einfach vor sich gegangen, umsonst hatte jenes Weib doch nicht so fürchterlich geschrien.
Vor allen Dingen war es Jochen Puttfarken, der sich gleich Luft machen musste.
»So eine Gemeinheit! Wie kommt der Kerl dazu, mir meine Frau zu entführen?«
Der Prinz beruhigte ihn schnell. Sie würden Mistress Allan, ob nun Jochens Frau oder nicht, schon wiederbekommen.
Jetzt galt es an anderes zu denken als an diese Entführung eines Weibes.
Auch die Schmach, dass sich alle diese Cowboys und Indianer wegen eines einzigen Mannes, wegen dieses Jesuitenpaters, weil der in einem unangreifbaren Panzerautomobil saß, hatten flüchten müssen, war jetzt Nebensache.
Vor allen Dingen mussten jetzt dort die Gorkhas im Auge behalten werden.
Es waren mehr als hundert Mann, die sich hier zusammengefunden hatten, alle bis an die Zähne bewaffnet und zum größten Teil beritten, und weshalb sie sich hier in der Nähe aufgehalten hatten, was sie vorgehabt, das wusste man ja nun bereits.
Weshalb steckten sie jetzt so die Köpfe zusammen und blickten nach den Cowboys?
Nun, sie schienen eben nicht willens zu sein, wegen des Entfernens ihres Radscha, weil der sich taufen lassen wollte, ihr ganzes Vorhaben plötzlich aufzugeben.
Dann wurde aus dem gelegten Hinterhalte eben gleich hier ein offener Kampf, den diese Gorkhas doch jedenfalls auch viel ritterlicher fanden.
Der eine schien ein hoher Offizier zu sein, aber den Hauptsprecher machte ein Mann, der kein Gorkha und überhaupt kein Krieger war, seiner Tracht nach wohl ein Derwisch, der leise, aber eindringlich auf die Gorkhas einsprach und dabei ganz ungeniert und sehr undiplomatisch direkt auf die Cowboys deutete.
Da musste man also wohl auf seiner Hut sein, um einem feindlichen Angriffe zuvorzukommen.
Doch es sollte nichts daraus werden, es sollte alles ganz anders kommen.
Diese beiden Truppen hatten sich bei ihrer Flucht vor dem Panzerautomobil nicht bis zur Hälfte des etwa 200 Meter hohen Berges hinaufgezogen, waren unterdessen schon wieder etwas herabgekommen, sodass sie sich jetzt ziemlich am Fuße des Berges befanden, dort, wo der Wald die Prärie begrenzte.
Da plötzlich ein Poltern und Krachen, aber nicht allzu heftig, nicht sehr laut. Es war nur noch nachträglich ein keiner Erdrutsch erfolgt, der Grasboden, der als ziemlich senkrechte Wand sich zwischen zwei Felsblöcken eingeklemmt befunden hatte, war herabgestürzt, dabei hatten sich auch die Wurzeln eines mäßig hohen Baumes gelöst, er war einfach zur Seite geschlagen.
Aber dieser Schreck der Gorkhas, in deren dichter Nähe sich das gerade abgespielt hatte, und dann dieses Brüllen, wie sie Hals über Kopf davonstürzten, wiederum nicht daran denkend, ihre Pferde zu benutzen, wenn sie nicht schon im Sattel saßen!
Und es war nicht der Schreck vor diesem Erdrutsch gewesen, nicht die Furcht, nun könne noch eine viel größere, alles vernichtende Katastrophe erfolgen, sondern die Ursache dieses allgemeinen Entsetzens war eine ganz andere.
Dort, wo zwischen den beiden vorspringenden Felsen die Rasenwand herabgerutscht, war plötzlich der Eingang zu einer Höhle entstanden — die natürlich hinter dieser Erdwand schon immer vorhanden gewesen war — und in dieser hohen, geräumigen Höhle stand ein weißer Elefant, ein riesiges Tier mit mächtigen Stoßzähnen.
Und dieser Elefant von anfallend weißer Farbe war nicht etwa nur eine Statue, sondern er lebte, er schwenkte den Rüssel, und jetzt kam er aus der Höhle hervor und trabte zwischen den Bäumen den Abhang hinab.
»Der Hammoned, der Hammoned ist erschienen, der Hammoned — nun ist alles vorbei!«
So schrien die Gorkhas, nachdem sie aus ihrer ersten Starrsucht des Entsetzens erwacht waren, und stürzten Hals über Kopf davon, zu Fuß und zu Pferd, dem Hügelzug zu, hinter dem auch das Panzerautomobil verschwunden war.
»Der Hammoned — nun ist alles vorbei!«
Dieser Ruf sagte sofort, dass hier etwas ganz Besonderes vorliegen musste.
Den Erdrutsch hatten ja auch die Cowboys gesehen und gehört.
Deren Schreck hätte doch ebenso groß sein müssen wie der der Gorkhas, ihre Sorge um eine weiter nachfolgende Katastrophe.
Auch sie hatten den weißen Elefanten in der Höhle stehen sehen, und jetzt war er an ihnen vorübergewandelt.
Über diese wundersame Erscheinung hatten die Cowboys ihren ersten Schreck über den neuen Erdrutsch gleich ganz vergessen, sie staunten nur.
Also musste bei den Gorkhas doch etwas ganz Besonderes vorliegen, was eben auch jener Ruf schon sagte.
War ihnen der weiße Elefant an sich schon ein heiliges Tier?
Nein. Der sogenannte weiße Elefant, obgleich er meist nur grau ist — eine Spielart, ein Albino, auch Kakerlak genannt, also entsprechend einer weißen Maus — kommt gar nicht so selten vor, und nur in Birma und Siam wird er heilig gehalten und verehrt.
Sonst nirgends in Indien. Auch in Nepal nicht. Das weiß man bestimmt. Es sind dort schon viele weiße Elefanten, auch solche bis zur Milchweiße, gesehen worden. Man hat sie, wenn man konnte, als Jagdwild erlegt, nichts weiter. Oder sie wurden und werden gefangen und wie die anderen behandelt.
Es musste sich hier also um einen ganz besonderen weißen Elefanten handeln, der plötzlich »erschienen« war, der ja auch einen bestimmten Namen führte. Anders ließ sich dieser furchtbare Schreck der Inder nicht erklären.
Die Gorkhas waren schon dort hinter dem Hügelzuge verschwunden, der weiße Elefant trottete noch dort unten in der Prärie herum, Grasbüschel ausrupfend, die Erde von den Wurzeln klopfend und sie in den Rachen schiebend, sich gar nicht um die Menschen kümmernd.
Zunächst ließ der Prinz den Elefanten einmal sein, er wollte erst konstatieren, wo der denn eigentlich herausgekommen sei. Aus einer Höhle, die bisher verschlossen gewesen war? Da hatte er also bisher immer in einem verschlossenen Erdloche gesteckt? Das war wohl nicht gut möglich.
Nun, die Erklärung war einfach genug, der Prinz brauchte nur die Höhle zu betreten.
Da zeigte es sich, dass es mehr ein tunnelförmiger Gang war, der bald einen rechtwinkligen Bogen machte, und dort hinten flimmerte schon wieder Tageslicht.
Dort war ein richtiger Höhleneingang schon immer gewesen, wie man gleich erkennen konnte.
Man weiß zwar nichts davon, dass Elefanten Höhlen als Schlupfwinkel benutzen, aber warum soll es nicht einmal einer tun? Unter die Affenbrotbäume. deren herabhängende Zweige ganze Lauben, richtig geschlossene Räume bilden, gehen sie ja auch, um darin Schutz vor der glühenden Sonne zu suchen oder sogar, um darin zu schlafen.
Kurz und gut, dieser weiße Elefant hatte ungesehen von den Menschen von dort hinten diese Höhle betreten, war bis an den Hintergrund gegangen, von selbst brauchte der Erdrutsch gar nicht erfolgt zu sein, der Elefant hatte an einer Wurzel gerüttelt, da erst hatte die Wand nachgegeben, war herabgestürzt, der Elefant sah plötzlich einen neuen Ausweg, den er ohne Weiteres benutzte, ohne sich um die Menschen zu kümmern.
Dieser Elefant mochte zum ersten Male aus dem Dschungel herausgekommen sein, hatte jedenfalls den Menschen noch nicht als seinen gefährlichsten Feind kennen gelernt. Dieses ganze Jagdgebiet war ja groß genug, um solch eine Annahme zu rechtfertigen, und es durfte ja auch nicht etwa jeder Inder und Kuli hier nach Belieben jagen. Aber schon im Dschungel selbst konnte es meilenweite Gebiete geben, den Menschen absolut unzugänglich, auf denen vielleicht noch Tausende von Elefanten lebten. Solch einer hatte sich eben einmal in das Waldland verirrt.
Der Prinz war wieder herausgetreten.
Dort unten graste der weiße Elefant nach wie vor, während die Cowboys noch nicht recht wussten, was sie zu alledem sagen sollten.
Aha, da war ja doch einer der Inder, der nicht mit die Flucht ergriffen hatte!
Es war der Derwisch, der platt auf dem Bauche lag, das Gesicht im Moose vergraben und in allen Tonarten wimmernd.
Sonst war aus ihm nichts herauszubringen, wie man ihn auch rüttelte.
Erst als ihn der Prinz auf Hindustanisch anredete, richtete er sich halb empor.
Wie er aber den weißen Elefanten dort unten in der Prärie sah, wurde er nur von neuem Entsetzen befallen.
»Der Hammoned, der Hammoned«, stöhnte er.
»Wer ist denn das, der Hammoned?«
»Der Höllenhund.«
Ach richtig, jetzt entsann sich der Prinz.
Der Wächter am Eingang der Hölle, ganz dem Cerberus entsprechend, nur eben ein Elefant, und weiß ist bei sehr vielen indischen Sekten die Farbe des Teufels, wie auch bei fast allen wilden Völkerschaften, zumal wenn sie selbst eine dunkle Hautfarbe haben.
»Das ist doch ein ganz harmloser weißer Elefant.«
»Die Erde hat sich geöffnet und ihn ausgespien.«
»Na und da?«, wollte der Prinz erst einmal weiter forschen.
»Wenn sich die Erde öffnet und speit den Hammoned aus, dann ist die große Kalpa zu Ende.
In sieben Jahren wird die ganze Erde durch Feuer verzehrt.
Die Vernichtung beginnt im Herzen der Erde, in Indien, und im Herzen von Indien, in Nepal.
Wenn in Nepal der Hammoned plötzlich aus der Erde hervortritt, dann werden die Fürsten von ihren alten Göttern abfallen, und ein Fürst wird gegen den anderen kriegen, und ein Bruder wird den anderen ermorden — und der Säugling an der Mutter Brust wird nicht geschont werden — nur um eines fremden Gottes wegen — das ist das Zeichen, dass in sieben Jahren die Erde vernichtet werden wird, und in Nepal beginnt die Vernichtung — wenn der weiße Hammoned aus einer Erdspalte, die sich plötzlich öffnet, auftaucht, — es ist geschehen!«
So hatte der Derwisch mehr deklamiert als gesprochen.
Jedenfalls eine alte Prophezeiung, die im Volke gang und gäbe war.
Dass der Radscha von Gandak nun tatsächlich gerade von seinen alten Göttern gelassen hatte, um Christ zu werden, und dass in diesem Moment da gerade der weiße Elefant aus der sich plötzlich auftuenden Erdspalte hervorgetreten war, das war ja nun freilich ein schlimmes Zusammentreffen.
Der Prinz verzichtete von vornherein darauf, den Derwisch dadurch aufklären zu wollen, indem er ihm zeigte, wie der weiße Elefant doch auf ganz natürliche Weise von dort hinten in die Erdhöhle hineingekommen sei.
»Hat denn dieser Höllenhund ein besonderes Kennzeichen?«
»Ist er denn nicht weiß?«
»Weiße Elefanten gibt es noch genug.«
»Aber solche große Ungeheuer? Niemals!«
Da hatte der Derwisch allerdings recht. Die weißen Elefanten sind immer sehr kleine, schwächliche Individuen, wie überhaupt alle Albinos, weil es überhaupt etwas Krankhaftes ist.
Dieser Dickhäuter aber hier war trotz seiner ganz auffallend weißen Farbe und seiner roten Augen eines der kolossalsten Exemplare seiner Gattung.
»Er benimmt sich recht harmlos.«
»Was soll er toben und Feuer speien? Ist es nicht genug, dass er erschienen ist, um die Vernichtung der ganzen Erde zu verkünden? Aber nun mache einmal Jagd auf ihn, da wirst Du merken, wie schrecklich er sich verändern wird.«
»So, hm. Wenn ich diesen Höllenhund nun erlege, töte, bleibt dann die Erde vielleicht noch ein bisschen länger bestehen?«
»Du kannst ihn nicht töten.«
»Warum nicht?«
»Er ist unverwundbar.«
»Wie das?«
»Jede Kugel prallt von ihm ab, jeder Stahl zersplittert an seinem Körper.«
»Nun, das käme denn doch auf einen Versuch an.«
»Probiere es, Sahib, aber trage die Folgen! Mache Dich darauf gefasst, dass die abprallende Kugel Dich selbst trifft und tötet.«
»Oder wie wär's, wenn wir diesen weißen Höllenhund lebendig fingen? Könnte vielleicht dadurch der Untergang der Erde aufgehalten werden?«
»Er lässt sich nicht fangen.«
»Weshalb denn nicht?«
»Das wirst Du sehen, wenn Du es versuchst.«
Der Prinz wandte sich gegen seine Leute um.
»Jungens, wir wollen einmal versuchen, den weißen Elefanten dort lebendig zu fangen.«
Mit lautem Jubel wurde dieser Vorschlag begrüßt.
Auszumachen gab es nichts, diese Cowboys und Indianer brauchten nicht erst Instruktionen, wie ein Elefant zu fangen war, wie der Prinz doch wahrscheinlich geglaubt hatte.
Sie hatten in seiner Abwesenheit schon mehrere Elefanten erlegt und auch zwei lebendig gefangen, sie standen jetzt in den unteren Räumen der Makiburg, wovon der Prinz eben noch nichts wusste.
Sofort jagten die Rosse über die Prärie hin, aber nicht direkt auf den Elefanten zu, der noch immer friedlich graste, sondern weite, weite Bogen beschreibend, und die Lassos wurden noch nicht geschwungen, sondern erst handgerecht aufgewickelt.
Denn mit ihren Lassos, mit diesen dünnen Lederbändern, wollten sie das mächtige Ungetüm fangen. Dass dies möglich war, hatten sie schon zweimal bewiesen. Das erste Mal freilich hätte das Wagnis um ein Haar ein oder sogar einige Menschenleben gekostet, das zweite Mal aber gelang dieses Kunststück schon ganz vortrefflich. Es musste eben erst gelernt werden, das konzentrierteste Zusammenarbeiten war dabei nötig. Die Inder, die den gefangenen Elefanten dann hatten abführen sehen, glaubten freilich noch jetzt nicht, dass diese Amerikaner das nur mit ihren dünnen Lederschnüren fertig gebracht hätten.
Das Ziel war umritten, jetzt zog sich der ganze Kreis zusammen. Der weiße Elefant merkte noch nichts, füllte nach wie vor seinen Bauch mit Grasbüscheln, immer erst so recht behaglich die lockere Erde von den Wurzeln am Boden abklopfend.
Gerade derjenige Elefant, der noch keinen Menschen gesehen hat, kümmert sich eben gar nicht um den »Herrn der Schöpfung«, dann auch so lange nicht, bis er seine Geschosse, Kugeln oder Pfeile einmal am eigenen Leibe verspürt hat. Auch das Donnern von Gewehren allein kann ihn noch nicht schrecken, er ist schon an das Krachen von stürzenden Baumstämmen und an andere Geräusche gewöhnt.
Jetzt war er vollständig von zwei Dutzend Reitern, darunter aber auch drei Reiterinnen, eingekreist, immer näher kamen sie heran, bis in Wurfweite des Lassos.
Nun natürlich wurde der Elefant misstrauisch. Was wollten diese Pygmäen von ihm? Er gedachte sich zurückzuziehen, wie ein Mensch die Stelle verlässt, wo sich zudringliche Mücken bemerkbar machen, sie brauchen noch nicht gestochen zu haben.
Er ließ das Grasausrupfen sein, betrachtete rüsselschwenkend die Menschlein auf ihren Pferdlein, wollte seinen Weg in direkter Richtung fortsetzen, in etwas schnellerer Gangart.
Da schwirrten ein halbes Dutzend Lassos durch die Luft — nein, ganz genau sieben Schlingen waren es, die gleichzeitig oder kurz hintereinander der geschwungenen Hand entflogen.
Schier fabelhaft war es, was diese nordamerikanischen Cowboys und texanischen und mexikanischen Vaqueros im Lassowerfen leisten.
Besonders nach der »Season«, wenn sie für ihr Rinderhüten und Pferdebändigen im Laufe eines halben Jahres abgelöhnt werden, schweres Geld dafür erhalten, kommen sie aus der weiteren Umgebung alle an einem Orte zusammen, um sich in derartigen Künsten gegenseitig zu messen, wenn auch der Hauptzweck der ist, dieses Geld möglichst schell zu verjubeln. Zum Vergnügen gehören aber eben auch solche Wettspiele aller Art. Der Merkwürdigkeit halber sei erwähnt, dass dabei auch Weitläufe zu Fuß eine große Rolle spielen. Obgleich diese geborenen Zentauren sonst doch keinen unnötigen Schritt zu Fuß machen. So meint man eben fälschlicherweise. In Wirklichkeit benutzen sie jede Gelegenheit, um sich im Schnelllauf zu Fuß zu üben. Das tun sie aber heimlich, um ihre späteren Chancen für den Wettlauf nicht zu verraten, wegen der Wetten, und aus demselben Grunde markieren, erheucheln sie auch nur ihre Unbehilflichkeit zu Fuß, den wiegenden, schwerfälligen Gang usw., als könnten sie gar nicht mehr zu Fuß gehen.
Die Hauptsache bei diesen Wettspielen ist zuerst immer das Revolverschießen, wobei schon mancher seinen ganzen Halbjahresverdienst, einige hundert Dollars, verdient unter den ungeheuerlichsten Strapazen und Arbeiten, auf einen einzigen Schuss setzt.
Ob der Cowboy gewinnt oder verspielt ist im Grunde ja gleichgültig. Denn zuletzt wird ja doch alles gemeinschaftlich versoffen. Es geht eben um die Ehre, aber Geld muss nun einmal dabei eingesetzt werden.
Wenn nun solch ein Cowboy durch einen missglückten Revolverschuss sein ganzes Geld verspielt hat, dann hat er immer noch Gelegenheit, es im Lassowerfen zurückzugewinnen. Wie gesagt, es ist schier fabelhaft, was die darin leisten. Wie die auf zwanzig und mehr Meter Entfernung mit der Lederschlinge die kleinsten Gegenstände vom Boden aufheben. Oder sie werfen nach pendelnden, an Fäden aufgehangenen Zielen, wobei die Schlinge also doch im letzten Augenblick von unten nach oben dirigiert werden muss. —
Also sieben Lassos waren es, die gleichzeitig oder kurz hintereinander nach dem Elefanten geschleudert worden waren.
Dieses »gleichzeitig oder kurz hintereinander« war aber nicht nur so Zufall, sondern das wurde von diesen Cowboys und Indianern auf vorherige Verabredung genau so tempomäßig exakt ausgeführt wie das »Gewehr über« und »Gewehr ab« von Soldaten, von deutschen Soldaten. Keine Viertelstunde zu früh war eine Tempobewegung ausgeführt worden.
Die erste Schlinge hatte sich um den Rüssel gelegt und saß ziemlich vorn an der Spitze fest, die zweite fiel über den linken Stoßzahn, die dritte über den rechten, die vierte legte sich von unten her über den linken Hinterfuß, der gerade im Gehen gehoben worden war.
Diese vier Würfe waren in ein und demselben Moment geschehen, ohne dass etwas von einem Signal zu bemerken gewesen wäre.
Einen Bruchteil von einer Sekunde später hob der Elefant, der ja kein Passgänger ist, naturgemäß den rechten Vorderfuß, und da hatte der ebenfalls schon eine Schlinge festsitzen, die natürlich auch einen Bruchteil von einer Sekunde später geschleudert worden war, und dasselbe galt dann für den linken Vorderfuß.
Es war geschehen. Mit sieben Lassos war das Ungetüm gefangen. So schnell war es geschehen, dass es gar nichts davon gemerkt haben konnte, also tat es mindestens noch einmal eine Gehbewegung.
Und da geschah dasselbe im gleichen Tempo zum zweiten Male, aber jedes Ziel wurde jetzt von der anderen Seite her in Angriff genommen, sodass sich jetzt vierzehn Lassos kreuzten.
Und dann sprangen diese vierzehn Reiter gleichzeitig von den Pferden und liefen zu Fuß im Kreis herum, und dann stemmten sie sich fest, die mächtigen Sporen tief im Rasenboden eingrabend, bereit, um auf ein jetzt wirklich hörbar gegebenes Signal hin einen einzigen, kolossalen Ruck zu tun.
Genau so war der Fang schon beim ersten Elefanten ausgeübt worden, da man auch solch einen erwählt hatte, der die Menschen dicht an sich herangelassen.
Auch dieses erste Manöver war genau so gut geglückt.
Dann aber hatte sich der Elefant plötzlich mit einem Ruck herumgeworfen, hatte sich mit unglaublicher Schnelligkeit im Kreise gedreht, und das war es gewesen, worauf diese Amerikaner damals noch nicht vorbereitet gewesen waren.
Sie waren zuerst durcheinander geworfen worden, der Elefant war wieder frei gekommen, wenn auch noch über und über mit Lassos behangen, er hatte sich sofort auf die Menschlein gestürzt, um sie zu zerstampfen, nur durch ihre Behändigkeit waren sie diesem Schicksale entgangen, dann hatten die letzten Reiter den Elefanten schnell auf sich gelenkt, denn der Elefant, wenn er in seiner Wut die klare Besinnung verliert, verfolgt eben immer den letzten Feind, der seinen Weg zuletzt gekreuzt hat, so war erst eine ganz andere Jagd daraus geworden, bis die Cowboys doch wieder die Lassos in die Hände bekommen und das Ungetüm immer mehr eingewickelt hatten, bis es ohnmächtig wie eine Fliege im Spinngewebe gehangen.
Beim zweiten Elefanten aber war das nicht wieder passiert, die Cowboys konnten nicht wieder durcheinander geworfen werden, noch ehe sich der Elefant drehen konnte, was er allerdings mit einem Ruck wiederum hatte tun wollen, hatten schon die Cowboys ihren Ruck ausgeführt, und da hatte der Riese auch gleich am Boden gelegen.
Eben eine ganz neue Fangmethode, welche diese Amerikaner da ausgegrübelt hatten. Nur gehörte ihre fabelhafte Kunst des Lassowerfens dazu, ob der Elefant den Menschen nun so weit herankommen ließ oder nicht.
Also auch dieser weiße Elefant hier war bereits gefangen. Es fragte sich nur, ob es noch nötig war, ihn durch Zusammenziehen der Beine zum Sturz zu bringen.
Denn wenn acht starke Männer an acht Seilen ziehen, die kreuzweise an den Füßen befestigt sind, mit einem einzigen, mächtigen Rucke — solch einem Rucke hält natürlich auch kein Elefant stand, da muss er wohl zusammenbrechen. Das heißt, wenn er sich eben gerade noch in solch einer bequemen Stellung befindet.
Aber wiederum sollte es diesmal ganz anders kommen. Jetzt merkte der Elefant, wie ihm geschehen, weshalb die Pygmäen ihn umringt hatten.
Aber er begann nicht wie seine dunkelhäutigen Vorgänger vor plötzlicher Wut oder Schreck zu toben, es war nicht nur ein weißer, sondern wohl auch ein weiser Elefant — er blieb ganz ruhig stehen, machte sich schnell nur noch etwas breitbeinig.
Den gefangenen Rüssel, an dem man ihn dann lenken wollte, ließ man ihn noch bewegen — das heißt er hätte es noch tun können, aber er tat es eben nicht.
Auch den Rüssel ließ er ruhig hängen, wackelte nur noch etwas mit den Ohren.
»Seltsam, wie sich der benimmt«, erklang es erstaunt.
»Ach, das ist ja schon ein gezähmtes Tier!«
Auf diesen Gedanken musste man allerdings kommen. Es konnte ja auch gar nicht anders sein. Ein Elefant, der schon so weit der Sklave des Menschen geworden war, dass er mit sich alles anstellen ließ.
»Dann wollen wir ihn vollends fesseln, es ist doch besser.«
Es geschah. Die betreffenden Cowboys, welche die Füße zu bedienen hatten, näherten sich vollends und schlangen ihre Lassos und noch andere dazu kreuz und quer um die vier Füße.
Da aber plötzlich eine Bewegung des Tieres, wie Spreu stoben oder vielmehr flogen die unter seinem Leibe kriechenden Cowboys nach allen Richtungen auseinander, ein einziger knallender Ton, und zerrissen war das Dutzend Lassos, von denen jedes mindestens zehn Zentner tragen konnte.
Und da befand sich der Elefant auch schon in voller Karriere, und nach sich schleifte er vier Cowboys, die an denjenigen Lassos hingen, die an Stoßzähnen und am Rüssel befestigt waren, und da gab es nun kein Feststemmen mehr, die lagen sämtlich bereits am Boden, wurden auf Bauch und Rücken geschleift, da sie das Lasso doch nicht gleich fahren lassen wollten.
Auch die Pferde waren natürlich sofort auseinander gestoben, auch die Reiter konnten die ihren nicht so ohne Weiteres halten, es war gar zu plötzlich vor sich gegangen.
Und solch einem durchgehenden Pferde mit Reiter jagte der Elefant in voller Flucht nach, und es gibt kein Ross, das es mit einem Elefanten an Schnelligkeit aufnehmen kann.
Und jetzt zogen es die vier geschleiften Cowboys doch vor, ihre Lassos fahren zu lassen, was natürlich den Lauf des Elefanten nur beschleunigen musste.
Es war Don Juan, der alte Stierkämpfer, der von dem Elefanten gejagt wurde. Der alte Haudegen verlor nicht die Besinnung, blickte ruhig hinter sich, sah das Ungeheuer kaum zehn Meter von sich entfernt, den Rüssel nach ihm ausgestreckt.
Da riss er sein Pferd herum, um einen jähen Haken zu schlagen.
Das heißt, er wollte es tun. Da erst merkte er, dass er gar nicht mehr Herr seines Tieres war.
Dieses wollte also nicht gehorchen. Da aber nun Schenkel und Faust dieses gewaltigen Reiters stärker waren als Wille und Kraft des Pferdes, kam es augenblicklich zum Sturz, überschlug sich seitwärts, den Reiter unter sich begrabend.
»Bringt ihn zur Strecke«, schrie der Prinz außer sich, seinen Stutzen hochreißend.
Es war die einzige Rettung des Mexikaners, dass der Elefant im Feuer zusammenbrach, sonst war jener im nächsten Augenblick zu Brei zerstampft.
Der Prinz hätte diesen Befehl nicht erst zu geben brauchen.
Gleichzeitig mit den beiden Doppelläufen seines Stutzens krachten auch noch viele andere Büchsen, und diese Männer wussten zu treffen, so schnell sie ihre Gewehre auch hochrissen, und sie wussten, wo sie hinzuhalten hatten, um auch ein solches Ungetüm im Feuer zum Sturz zu bringen, und diesen modernen Spitzkugeln, darunter solche vom schwersten Kaliber, trotzt keine Krokodils- und keine Rhinozeroshaut mehr, diese Zeiten sind vorüber.
Der Prinz selbst hatte seine beiden Kugeln dicht hinter das rechte Ohr gesetzt, dort mussten sie unbedingt sofort ins Gehirn dringen.
Aber der Elefant stürzte eben nicht!
In drei Sekunden hatte er seine Opfer erreicht, um sie zu Brei zu zerstampfen, den Menschen wie das Pferd.
Aber da geschah an diesem Tage das dritte oder gar vierte Wunder. Denn dass der Elefant nicht sofort zusammengebrochen, war jetzt und später ebenfalls ganz und gar unerklärlich.
.Mit einem plötzlichen Rucke, wie es der so überaus gewandte Elefant vermag, hielt der Hammoned plötzlich im schnellsten Laufe, stand breitbeinig über dem gestürzten Pferd und dem darunter vergrabenen Manne, so blickte er zurück nach den Jägern, die auf ihn geschossen hatten, und man glaubte es ganz deutlich zu hören, so wussten es die klugen Augen auszudrücken:
»Bin ich jetzt nicht fähig, Mensch und Tier zu Brei zu zerstampfen? Wer will mich daran hindern? Aber ich bin großmütiger als Ihr Menschen, ich werde es nicht tun, ich verschone beide.«
Ja, ganz deutlich hatte man diese klugen, so merkwürdig roten Augen so sprechen hören.
Und so tat der Elefant denn auch, stieg über das Pferd hinweg, bog den scheinbar so plumpen Leib fast im rechten Winkel, hob ein Bein nach dem anderen, löste mit dem Rüssel die Schlingen ab, dann von den Stoßzähnen, was aber alles weit, weit schneller ging, als sich hier erzählen lässt, dann fielen auch die beiden zerrissenen Lassos von dem Rüssel selbst herab, und der Elefant setzte seinen Weg nach Süden fort, dorthin, wo sich der Dschungel befand, einen immer schnelleren Trab anschlagend.
Niemand wagte ihm zu folgen. Man dachte nicht einmal daran, dem Gestürzten zu Hilfe zu kommen, der sich überdies dann von selbst erheben konnte, ohne eine ernstliche Verletzung davongetragen zu haben.
Die Amerikaner waren starr vor Staunen.
Dieser weiße Elefant hatte bewiesen, dass er tatsächlich unverwundbar sei.
Mancher Cowboy konnte beschwören, und es war ihm zu glauben, dass seine Kugel dem Elefanten direkt ins Auge gedrungen sein musste — aber davon war eben nichts zu bemerken gewesen.
»Was wollen Sie?« Oberst Shepphard hatte gerade einmal das öffentliche Abfertigungsbüro durchschritten und diese Frage selbst an den Fremden gestellt, der an der Barriere stand, welche das Publikum von den diensttuenden Beamten, nur Militär, trennte.
Bettia befand sich seit einiger Zeit im Kriegszustand, stand unter den Kriegsgesetzen. Eine starke Militärmacht hatte ja ständig in dieser Stadt gelegen, die am weitesten nach der Grenze des selbstständigen Königreiches Nepal vorgeschoben ist, noch dazu direkt vor dem einzigen Wege liegend, der in dieses Reich führt, vor jenem Dschungeldamme — seit einiger Zeit aber schon brachte jeder Eisenbahnzug neue Truppenmassen, und zwar nur aus englischen Soldaten bestehend, Infanterie, Kavallerie und Artillerie, ganze Wagenladungen mit Feldgeschützen und Munition, vorgestern war auch die sogenannte Dschungeldivision eingetroffen, eine schwerere Artillerie, die Kanonen anstatt mit Pferden mit Elefanten bespannt, aber auch diese ausschließlich von englischer Mannschaft bedient. Kein einziger eingeborener Soldat oder nur Wärter war dabei. Das ließ tief blicken.
Oberst Shepphard, der früher viele Jahre lang in Bettia gestanden, sich hier die Sporen verdient hatte, die hiesigen Verhältnisse wahrscheinlich am allerbesten kannte, zuletzt aber im großen Generalstab zu Kalkutta tätig gewesen war, hatte das Generalkommando erhalten. Nur sein Rang war nicht geändert worden, was so leicht nicht angängig war, in Wirklichkeit war er kommandierender General. Der Gouverneur dieser englischen NordWestProvinz, zu dem Bettia gehört, in Allahabad residierend, hatte ihm nichts mehr zu sagen, er konnte ganz nach eigener Initiative handeln, erhielt seine Instruktionen höchstens noch auf brieflichem und mehr telegrafischem Wege direkt vom großen Generalstabe aus Kalkutta.
Jetzt also hatte dieser alte Generalstabler und Kartenzeichner, ein englischer Moltke, dem man aber den einst so verwegenen, ehernen Haudegen noch immer ansah, einen Gang durch das öffentliche Dienstbüro gemacht, in dem alle die zivilen Anfragen erledigt wurden.
Gegenwärtig stand nur eine einzige Person an der trennenden Schranke.
Es war ein kaum mittelgroßer Mann, dessen Alter sehr schwer zu taxieren war. Das kurz gehaltene Haar graumeliert, das glattrasierte Gesicht das eines Jünglings und dennoch von zahllosen Fältchen durchzogen. Es konnte ein Greis sein, der sich so jugendlich gehalten hatte, oder auch ein Jüngling, der ganz verwettert und verwittert war. Übrigens ein interessantes, männliches Gesicht, in dem die grauen Augen noch vor Jugendkraft sprühten.
Eine schlanke, aber äußerst sehnige Gestalt, gekleidet in ein meist sehr elegantes, jetzt schon stark mitgenommenes Sportkostüm aus dunkelgrünem Lodenstoff. An den gelben Schnürstiefeln mit Gamaschen trug er kurze Sporen.
»Was wollen Sie?«
Kurz und mürrisch hatte es Oberst Shepphard gefragt, obgleich er sonst durchaus ein bärbeißiger Mensch war, der Zivilisten gegenüber den unnahbaren Offizier oder gar hier den allmächtigen Generalgewaltigen herauskehrte. Er war sonst immer die eiserne Ruhe selbst, erhaben über Freundlichkeit wie über jede Unfreundlichkeit.
Aber das war ganz sicher wieder so ein englischer oder amerikanischer Zeitungsberichterstatter, die jetzt in Bettia förmlich aus der Erde herauswuchsen. Man wusste wirklich gar nicht, wo sie herkamen. Es gingen nur noch Militärzüge, diese durften und konnten sie gar nicht benutzen, und doch wussten sie sich einzuschmuggeln, und dann drängten sich diese Zeitungsmenschen in alle militärischen Büros und versuchten unter tausend Listen sich irgendwelche Informationen über die gegenwärtige Lage zu verschaffen.
Das wäre heute in aller Frühe gerade der sechste Zeitungsreporter gewesen, der in diesem Büro an die frische Luft gesetzt werden musste.
»Was wollen Sie?«
»Ich möchte den Oberst Shepphard sprechen.«
»Der bin ich selbst. Für welche Zeitung berichten Sie?!«
»Für gar keine.«
»Nicht? Sie sind kein Reporter? Ja, was wollen Sie denn sonst?«
»Sie unter vier Augen sprechen.«
»Unter vier Augen? Wer sind Sie denn?«
»Reginald Lytton ist mein Name.«
»Kenn ich nicht. Na was denn nur?!«, erlang es immer schroffer, weil dieser Generalgewaltige jetzt eben ganz anderes im Kopfe hatte.
Der Fremde legte einen alten, verbeulten Filz mit breiter Krempe bedächtig auf die Schranke, griff bedächtig in die linke Brusttasche und brachte ein gelbes Pergamentpapier zum Vorschein.
Der Oberst nahm es und faltete es auseinander, ein jähes Staunen zuckte durch sein ehernes Gesicht.
Es war ein eigenhändiger Begleit- und Schutzbrief des Vizekönigs von Indien.
Aber das konnte es unmöglich allein sein, was auf diesen Obersten einen so gewaltigen Eindruck machte, dass er sich plötzlich so ganz verwandelte. Er hatte noch etwas ganz Besonderes gelesen.
»Verzeihen Sie, das konnte ich freilich nicht wissen, nicht ahnen, ich habe mir Ihre Ankunft, Ihre Person ganz anders — bitte, folgen Sie mir.«
Er öffnete die verschließbare Barriere, ließ jenen eintreten, führte ihn in sein Privatbüro, dessen Tür bei aller Leichtigkeit merkwürdig dick war — — eine schalldichte Sicherung.
»Bitte, nehmen Sie Platz, Mister Reginald Lytton.«
Sie setzten sich gegenüber.
Der eherne Oberst konnte aus seinem Gesicht noch immer nicht sein grenzenloses Staunen oder mehr eine große Erregung bannen.
Wie gebannt hingen seine Augen an der kleinen, eigentlich sehr unansehnlichen Männergestalt.
»Ich stehe ganz zu Ihrer — — doch halt, brauche eine Sicherheit. Ich kenne Sie nicht, habe Sie noch nie gesehen, und wenn man Sie auch schon einmal oder wiederholt gesehen hat, Sie können sich ja immer ein anderes — Sie müssen sich erst durch ein Experiment legitimieren. Das königliche Schreiben selbst fordert mich dazu auf.«
»Ich werde mich legitimieren. Haben Sie eine Mangonuss da?«
»Sofort. Ich rufe eine Ordonnanz.«
Ein Druck auf einen elektrischen Klingelknopf, durch eine zweite Tür trat ein Soldat ein.
»Im Frühstückszimmer werden auf einer Fruchtschale die Kerne einiger Mangopflaumen liegen, ich habe sie erst vorhin gegessen — bringe gleich die ganze Schale.«
Die Ordonnanz ging, kam gleich wieder und brachte eine Glasschale mit, auf der verschiedene Sorten Früchte lagen.
Darunter auch Mangopflaumen. Es ist dies eine tropische Frucht, speziell in Ostindien heimisch, in vielen Varietäten kultiviert. Die gelbe, sehr wohlschmeckende Frucht hat die Größe eines Gänseeis bis zu der einer Melone, merkwürdigerweise bleibt aber der Steinkern immer gleich groß, wie ein Hühnerei. Bei den kleinen Sorten ist dann eben nur eine ganz dünne Fleischschicht darauf. Diese Steinkerne, Nüsse genannt, obgleich man ihren sehr bitteren Inhalt nicht benutzt, sind außerordentlich hart, mit einem gewöhnlichen Hammer kaum auf dem Amboss aufzuschlagen.
Solche Mangonüsse lagen einige auf der Fruchtschale, hatten ein noch frisches Aussehen, waren aber schon ganz trocken.
Oberst Shepphard wählte eine aus, betrachtete die völlig runde, nur etwas längliche Nuss von allen Seiten und gab sie dem Fremden.
»Bitte.«
Es war eine sehr gut gepflegte, schlanke, aber auch ganz auffallend nervige Hand, welche sie ergriff.
Sie wurde in diese Hand hineingelegt, die andere ballte sich zur Faust, holte zum Schlage aus, einmal, zweimal — dann sauste sie herab, ein schmetternder Krach, und in der Höhlung der anderen Hand war nur noch ein weißer Brei des eigentlichen Kerns, umgeben von der zersplitterten, sehr starken Holzschale.
Ist es möglich, dass ein Mensch solch eine Mangonuss durch einen derartigen Faustschlag zermalmt? Es darf versichert werden, dass solch eine Mangonuss noch härter und daher noch schwerer aufzuschlagen ist als etwa ein Pfirsichkern.
Nun, es gibt eben nichts Neues unter der Sonne, es ist alles schon einmal da gewesen; nur dass es in immer anderer Form wiederkehrt.
Der Leser wird sicher von dem einst so berühmten Taschenspieler Bosco gehört haben. Es gab ihrer zweie, Vater und Sohn, Bartolomeo und Carlo. Der Alte war der berühmtere, seiner Zeit, bis er 1863 starb, eine wirkliche Berühmtheit. Der Name »Bosco« ist ja auch als der eines Zauberkünstlers fast sprichwörtlich geworden.
Dieser Bartolomeo Bosco war kein besonders starker Mann. Er hat nie besondere Kraftkunststückchen ausgeführt, konnte es nicht. Aber er vermochte mit einem Fausthieb jede elfenbeinerne Billardkugel zu zerschmettern. Er nahm sie in die linke Hand, pumpte Luft in die Lungen und schlug mit der rechten Faust zu. Die Kugel hatte sich in einen splitterigen Brei verwandelt. Dabei war eine Vertauschung mit einer präparierten Kugel ganz ausgeschlossen. Er hat dieses Experiment doch oft genug machen müssen. Zuletzt hat er dabei auch seine eigene rechte Hand zerschmettert. Nachgemacht hat ihm dieses Kunststück bis heute noch niemand wieder. — — —
So hatte dieser schmächtige Fremde hier die Mangonuss in seiner linken Hand zerschmettert.
Staunend hatte es der Oberst beobachtet, war entsetzt zurückgefahren.
»Genügt Ihnen diese Legitimation?«, lächelte der Fremde, als er den Kernbrei mit den Schalensplittern auf die Schale zurücklegte.
Der Oberst raffte sich auf.
»Sie genügt mir, Sie sind wirklich der geheimnisvolle Mann, den man den Unwiderstehlichen nennt —«
»Reginald Lytton ist mein Name«, wurde der Sprecher unterbrochen.
»Sie genügt mir, Mister Lytton. Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, ich darf vor Ihnen keine Geheimnisse haben — keine militärischen Geheimnisse.«
Der Fremde machte denn auch ohne Weiteres von diesem Angebot Gebrauch.
»Wie ist die Lage in Nepal?«
»Ganz Nepal steht in Flammen. Man kann nicht einmal von einem inneren Bürgerkriege sprechen, sondern ein Radscha kämpft gegen den anderen —«
»Bitte, zuerst die Entstehung dieser allgemeinen Revolution, so weit es Ihnen bekannt ist.«
Auch hiermit konnte der Oberst dienen, er fasste sich mit militärischer Kürzte.
»Ein Vierteljahr ungefähr ist es her.
Ein politischer Umsturz lag in Nepal wohl schon längst in der Luft, weil sich der Maharadscha Bahadur schon längst in pekuniären Schwierigkeiten befand, vor allen Dingen die 10 000 Gorkhas, die er unterhalten muss, nicht mehr bezahlen konnte, und weil alle diese Gorkhas echte Söldlinge sind, die wohl ihrer großen Heimat Nepal treu sind, aber nicht eigentlich dem Radscha, in dessen Fürstentume sie zufällig geboren worden sind.
Es stand schon immer zu erwarten, dass einer der anderen Radschas diese Schwierigkeiten benutzen würde, um sich selbst als Maharadscha, als Kaiser von Nepal zu proklamieren.
Oder überhaupt von jedem einzelnen der acht anderen Radschas war das zu erwarten; denn in der Herrschsucht sind sie uns alle gleich.
Aber dass es so schnell losbrechen würde, das hatte niemand geahnt, und noch weniger, auf welch sonderbare Weise sich dies alles nun entwickelt hat.
Der Radscha Tippu Hatur von Gandak hatte sich das rechte Auge verletzt.
Er erblindete, dazu gesellte sich eine krebsartige Krankheit.
Alle seine Zauberer konnten ihm nicht helfen.
Da tauchte in Nepal ein mysteriöser Mann auf, der alle Krankheiten heilen können sollte.
Er wurde als ein neuer Buddha verehrt, obgleich er ein Christ war, der allerdings nicht das Christentum predigte.
Jedenfalls ein Engländer. Edward Scott soll er heißen.
Dieser englische Buddha machte auch den Radscha Tippu wieder sehend, heilte ihn vom Krebs.
Es kamen noch mehr Wunder hinzu.
Auf Befehl dieses Engländers soll sich ein Berg erhoben und in einen See versetzt haben.
Ich sage ›soll‹, denn ich kann ja nur die spärlichen Berichte wiedergeben, die hier einlaufen und die immer übertriebener gehalten sind.
Es wird sich wohl um einen sogenannten wandernden Berg gehandelt haben, von dessen Fähigkeit bisher in Nepal nur noch nichts bekannt war.
Und schließlich soll sich nun in diesem Berge eine Erdspalte aufgetan haben und der Hammoned erschienen sein.
Ist Ihnen bekannt, was es mit diesem Hammoned für eine Bewandtnis hat?«
»Erklären Sie es mir.«
»Es handelt sich um eine uralte Sage, um eine Prophezeiung, die in Nepal umgeht.
Der Hammoned ist ein weißer Elefant, der den Eingang zur Hölle bewacht.
Wenn dieser weiße Elefant aus einer sich plötzlich öffnenden Felsen- oder Erdspalte hervortritt, dann ist das Ende dieser Kalpa, dieser Erdperiode nahe, in sieben Jahren wird die ganze Erde vom Feuer verschlungen, und in Nepal macht der Untergang des Menschengeschlechtes seinen Anfang, ein allgemeiner Bürgerkrieg wird ausbrechen, alles wird sich gegenseitig ausrotten.
Überdies zirkuliert diese Prophezeiung nur in Nepal unter der Sekte der Gohisten, sonst glaubt man in Indien nirgends daran.
Also aus einer Spalte des wandelnden Berges trat wirklich ein weißer Elefant hervor, der sich zwar von anderen weißen Elefanten durch nichts unterschied, das heißt durch keine besonderen Kennzeichen, wohl aber sich dadurch als der Höllenwächter legitimierte, dass er schuss- und stichfest war, durch nichts verwundet werden konnte.
Die Erregung ob dieses weißen Höllenwächters war in ganz Nepal natürlich ungeheuer.
Also das Ende des Menschengeschlechts und der ganzen Erde war besiegelt.
Wie sollte man nun die letzten sieben Jahre noch in angenehmster Weise hinbringen?
Etwa einen Einfall in die englischen Provinzen machen, um wenigstens mit kriegerischem Ruhme zu sterben?
Das wäre denn auch ganz sicher geschehen.
Aber Radscha Tippu Hatur war durch das, was er erlebt hatte, zum Christentume bekehrt worden, hatte sich taufen lassen, und die meisten seiner Gorkhas, denen es ja überhaupt ganz gleichgültig ist, welcher Religion sie augehören, folgten seinem Beispiele.
Die wollten jetzt das Christentum mit Feuer und Schwert in Nepal selbst verbreiten.
So kam es, dass zuerst die inneren Kämpfe ausbrachen.
Wie die Sache nun aber einmal stand, machten die anderen Radschas gegen Tippu Hatur keine gemeinschaftliche Sache, sondern fielen gleich übereinander her.
So war es vor einem Vierteljahre und so ist es noch heute.
Ein Tal kämpft gegen das andere unter seinem Radscha.
Die Täler selbst sind ja uneinnehmbar, die Frauen und Sklaven gehen in diesen nach wie vor der Feldarbeit und den sonstigen Beschäftigungen nach, außerhalb der Täler aber und besonders im Waldlande liefern sich die Gorkhas die blutigsten Kämpfe.
Dabei aber zeigt sich auch die alte Ritterlichkeit der Gorkhas, dieser geborenen Krieger; oder sie möchten eben diese allerliebste Kriegsspielerei während der ganzen sieben Jahre betreiben, die ihnen noch vergönnt sind.
Bei Benutzung von Schießwaffen würde das wohl nicht so lange dauern, bis der letzte Mann hingemordet worden ist.
Also die Benutzung von Schießwaffen ist dabei verboten, und Bogen und Pfeile kennen die Gorkhas überhaupt nicht.
Es sei denn, sie arrangieren auf Abmachung ein Gefecht in einer Schlucht oder auf einem ähnlichen Terrain, wo es hauptsächlich auf Schleichkunst ankommt, da dürfen sie sich gegenseitig wegknallen.
Sonst bedienen sie sich nur ihrer Lieblingswaffe, der Lanze. Sie spießen sich gegenseitig auf, schleudern den Gegner hoch in die Luft und fangen ihn mit der Lanzenspitze wieder auf.
Oder es geht mit Schwert oder mit Streitaxt los, ganz wie vorher ausgemacht wird.
Es ist eben ein ganz ritterliches Turnier, das hier ausgefochten wird, freilich von einer Blutigkeit und einem Umfange, wie es die Weltgeschichte noch nie gesehen hat.
Und dieses Spielchen wird ganz sicher so lange fortgesetzt werden, bis der letzte Gorkha den vorletzten abgeschlachtet hat.«
Der Oberst schwieg, faltete die Hände und drehte die Daumen. Und das sagte ganz deutlich:
»So, nun schlachtet Euch gegenseitig ah, wir sehen ruhig zu, wir haben Zeit, und wenn es so weit ist, dann wird schon England in Eure Gebirgsfestungen einrücken.«
»Wird denn der Dammweg durch den Dschungel noch besetzt gehalten?«, fragte Mister Lytton.
»Ja, natürlich, der wird noch besetzt gehalten! Darin sind sich die Radschas nach wie vor ganz einig. Wie das schon immer gehandhabt worden ist, wissen Sie wohl.«
»Nicht so ganz.«
»Die Besetzung und Bewachung dieses Dammes war stets eine gemeinschaftliche Sache. Das heißt, nicht dass heute die Talmannschaft daran kam und morgen jene, oder längere Zeit auf Wache lag, sich gegenseitig ablöste, sondern jeder Radscha hatte immer eine gewisse Zahl Gorkhas gleichzeitig zu stellen. Das wurde gemeinschaftlich betrieben, und das ist noch heute so. Darin sind sich die Radschas noch ganz einig. Im Grunde genommen sind sie sich ja überhaupt noch ganz einig. Es ist eben nur ein ritterliches Turnierspiel, das hier in Szene gesetzt worden ist, wobei es freilich auf Leben und Tod geht; wie es ja aber schließlich auch bei unseren alten Turnieren der Fall war.«
»Aber heraus kommt kein Nepaler?«
»Niemand.«
»Es darf auch kein Fremder mehr hinein?«
»Erst recht nicht.«
»Was macht der Hammoned? Zeigt sich der weiße Elefant noch?«
Merkwürdige Frage, auf die der Fremde plötzlich kam. Wenigstens hätte er da doch erst noch vieles andere zu fragen gehabt.
»Ja, er taucht immer noch einmal auf, gerade dort, wo eine Schlacht oder ein Kampf stattfindet, wohnt als Zuschauer bei, als hätte das Tier völlige Menschenvernunft.«
»Woher ist Ihnen denn das bekannt, wenn niemand heraus darf?«
»O, es kommt doch einmal eine Nachricht heraus. Die ersten Berichte brachten natürlich die Mitglieder unserer Gesandtschaft —«
»Die mussten Katmandu verlassen?«
»Gleich in den ersten Tagen, die ganze Gesandtschaft wurde ausgewiesen. Alle politischen Beziehungen zwischen England und Nepal sind abgebrochen, wenn es auch nicht auf feindseligem Wege geschah. So haben die Nepaler auch ihre Konsulate und Gesandtschaften hier in Bettia und in Kalkutta eingezogen.«
»Soso.«
»Erst vorgestern hat sich ein jüdischer Händler, der in Nepal ansässig war, aber immer das ganze Land bereiste, durchzuschmuggeln gewusst. Wahrscheinlich auf einem der sonstigen geheimen Wege, die durch den Dschungel führen. Der hat uns also die letzten Berichte gebracht, wie es in Nepal jetzt aussieht«
»Ist dieser Jude hier?«
»Nein, er ist bereits abgereist, er wollte nach Bombay.«
»Aber Sie haben sich von ihm doch ganz ausführlich berichten lassen?«
»Ganz ausführlich. Ich habe stundenlang mit ihm gesprochen.«
»Was ist denn aus jenem Panzerautomobil geworden, das vor einem Vierteljahr in Begleitung des Maharadschas hierher kam und dann einen eigenen Weg durch den Dschungel nahm? Hat der Jude auch hierüber etwas gesagt?«
»Jawohl. Das hat sich noch in den ersten Tagen gezeigt, böse Verwüstungen angerichtet, dann ist es verschwunden.«
»Verschwunden?«
»Es heißt, es sei zuletzt im Besitze des Radscha Tippu Hatur gewesen, es habe nicht mehr richtig funktioniert, er habe es auseinander genommen und könne es nun nicht mehr montieren. Es funktioniere nicht mehr.«
»Soso. Und jener englische Buddha?«
»Der hat in letzter Zeit nichts mehr von sich hören und sehen lassen.«
»Und jene Amerikaner unter Führung des Prinzen Joachim?«
»Die halten nach wie vor die MakiBurg besetzt. Die MakiBurg ist —«
»Das ist mir bekannt. Wie sind diese Amerikaner eigentlich nach Nepal hineingekommen?«
Der Oberst zuckte skeptisch die Achseln.
»Das weiß man nicht. Sie selbst behaupten nach wie vor, sie seien mit einem lenkbaren, unsichtbaren Luftschiffe oben auf dem Makifelsen gelandet, würden von diesem noch immer mit allem versehen, was sie brauchten. So etwas gibt es natürlich nicht. Sie haben einfach einen geheimen Weg durch den Dschungel benutzt, kannten einen Aufstieg nach jenem Felsen. Die Gorkhas scheinen aber ihrer Behauptung zu glauben, weil die eben auch sonst in letzter Zeit so viel Rätselhaftes erlebt haben.«
»Was treiben denn nun diese Amerikaner?«
»Sie halten sich eben in ihrer Burg auf oder gehen nach wie vor der Jagd im Waldlande nach.«
»Ohne dass die Gorkhas sie daran hindern?«
»Sie stehen unter dem Schutze des Radschas Tippu, der ihnen die Burg und den ganzen Felsen abgetreten hat. Das hing eben alles mit der Heilung seines Auges zusammen, indem er —«
»Ich weiß, ich weiß. Also er hält sein Versprechen?«
»Ja; jetzt, nachdem er Christ geworden ist. Er tritt für seine Gastfreunde ein. Von den anderen Gorkhas werden die Fremden freilich angegriffen. Da müssen sie sich eben ihrer Haut wehren, was diese Cowboys und Indianer, aus denen sich die ganze Bande zusammensetzt, auch ganz vortrefflich verstehen sollen; sonst aber mischen sie sich nicht in die Kämpfe ein.«
»Sind sonst noch Fremde in Nepal aufgetaucht?«
»Fremde? Was für Fremde?«
»Araber.«
»O, das arabische Element ist ja in Nepal überhaupt stark vertreten.«
»Das arabische? Sie meinen wohl das mohammedanische. Nun ja, arabische Rasse, das stimmt schon. Aber ich meinte, ob fremde Araber aufgetaucht sind, Beduinen, deren Erscheinen in Nepal ebenso rätselhaft ist wie das der Amerikaner?«
»Nein, davon habe ich nichts gehört.«
Mister Lytton erhob sich, welchem Beispiel der Oberst, wenn er jenen als seinen Vorgesetzten betrachtete, wohl folgen musste.
»Ich danke Ihnen, Herr Oberst. Nur noch eine Bitte. Es ist in ganz Bettia und Umgegend für Geld und gute Worte kein Pferd aufzutreiben. Können Sie mir ein gutes Tier gegen entsprechende Bezahlung verschaffen?«
»Natürlich! Sie sollen in den Ställen unter den Militärpferden wählen können.« —
Eine halbe Stunde später verließ der kleine, grüne Mann auf einem edlen Rosse, eine Büchse über die Schulter gehängt, die Mauern der Stadt und hielt sich gegen Nordwesten der Dschungelgrenze zu, wo man ihn bald verschwinden sah.
Zwischen den Urwaldbäumen hielt ein Trupp Reiter. Waren denn die alten Ritterzeiten zurückgekehrt? Alle diese Inder, mächtige Gorkhagestalten, waren schwer gepanzert. Nicht nur, dass sie schmiegsame Schuppen- oder Kettenrüstungen trugen, sondern, wenn solche auch vorkamen, waren die meisten doch vom Scheitel bis zur Sohle ganz in starres Eisen gehüllt, bis auf die mit beweglichen Schienen geschützten Finger; manche Rüstung mochte mehr als einen Zentner wiegen, und ebenso waren auch die Pferde fast sämtlich mindestens an der Brust gepanzert.
Nun, deshalb brauchte man nicht in die alten Ritterzeiten des Faustrechts zurückversetzt zu sein, um solche gepanzerte Kriegergestalten zu finden.
Man braucht sich nur in der Welt umzusehen.
Tragen denn nicht auch noch unsere Kürassiere den Brustharnisch und den Panzerhelm?
Allerdings nur noch bei Parade.
Das gilt aber nicht für die französischen und englischen Kürassierregimenter, respektive Householdbrigaden. Bei denen gehört der volle Brustharnisch noch immer zur feldmarsch- und kriegsmäßigen Ausrüstung, obgleich von einem Zwecke dieser Panzerung doch gar nicht mehr zu reden ist. Jede Stahlspitzkugel durchschlägt diesen Harnisch. Auch im Nahgefecht bietet er doch gar keinen Schutz, er ist ein ganz unnötiger Ballast, nur ein hübsch aussehender Schmuck, nichts weiter. Schließlich gilt dasselbe doch auch für unseren Helm aus Metall.
Wenn nun wir Europäer, die wir sonst immer so aufs Praktische sehen, noch immer an solch altem Ballast kleben, was soll man denn da von den phantastischen Orientalen verlangen?
Wie die Araber noch heute an ihren alten Rüstungen aus der Sarazenenzeit hängen, sie bei jeder Gelegenheit wieder hervorsuchen, darüber ist ja schon gesprochen worden.
Noch viel mehr aber gilt dies für Indien.
Sehr viele indische Privatpersonen, Handelsherren und dergleichen, tragen noch heute unter ihren gewöhnlichen Kostümen ständig einen Schuppenpanzer oder ein Schuppenhemd. Nicht nur, wenn sie auf Reisen sind mit Karawanen, er gehört mit zu ihrem Anzuge. Sie tun es, teils um sich wirklich gegen Stiche und andere Gefahren zu schützen, teils weil solch ein altes Erbstück einen Talisman für sie bedeutet, teils überhaupt aus Tradition, aus Gewohnheit. Mag die Sonne sie auch noch so durchglühen, sie legen den Schuppenpanzer nicht ab.
Nun aber erst bei den Truppenschauen, was man da noch heute in Indien für Panzerungen und Rüstungen zu sehen bekommt!
Die eingeborenen Fürsten, die wohl noch selbstständig sind, aber doch unter englischer Oberhoheit stehen, haben ihre eigenen Truppen zu stellen. Also nicht zu verwechseln mit den Spahis, eingeborenen Soldaten, die aber direkt unter englischem Befehl stehen. Und von jenen sind die Reiter überhaupt sämtlich gepanzert! Aber nicht nach einheitlichem Muster, sondern jeder panzert und schmückt sich nach seinem eigenen Geschmack oder wie es sein eigener Geldbeutel oder der seines Fürsten erlaubt. Nur ein gemeinsames Kennzeichen für jedes Regiment und Bataillon ist nötig. Aber sonst, was sieht man da für phantastische Rüstungen, was für Helme, und was für eine Pracht dazu! Von den Offizieren gar nicht zu sprechen. —
Auch von jenen Gorkhas, welche damals den Maharadscha auf seiner Auslandsreise begleiteten, war berichtet worden, dass unter ihren indischen Kostümen die stählernen Schuppenpanzer geblitzt hatten.
Was Wunder nun, dass die Gorkhas jetzt, da in Nepal wieder die alten Zeiten des Faustrechts eingekehrt waren, da man im ritterlichen Kampfe keine Schusswaffen mehr gebrauchen durfte, erst recht die alten Rüstungen wieder hervorgeholt hatten. Jeder wappnete sich, so schwer er konnte. Wer keine solche volle Rüstung besaß, der musste sich eben mit einer leichteren begnügen.
Es waren fünfzehn Ritter, die hier auf einen Gegner zu lauern schienen, alle mit mächtiger Lanze und breitem Schwerte bewaffnet, die meisten auch noch mit gewaltiger Streitaxt, die sie am Gürtel oder vorn am Sattel befestigt hatten, außerdem aber auch sämtlich noch, was nicht recht zum ritterlichen Mittelalter passen wollte, mit ganz modernem Karabiner, wozu auch die Munitionstasche gehörte, ein Zeichen also, dass sich diese neuen Ritter wohl auch einmal in ein Feuergefecht einließen. Und ferner kennzeichneten sie ihre Zusammengehörigkeit dadurch, dass sie sämtlich um ihre Helme, so verschieden und phantastisch diese auch sonst waren, gelbe wallende Schleier trugen. Ebensolche gelbe Fähnchen hatten sie an ihren Lanzenspitzen befestigt, auch ihre Rosse trugen gelbe Bänder und Schleifen.
Einige von ihnen waren abgestiegen und hatten ihre Helme abgeschnallt, um mit ihnen aus dem klaren Bache zu schöpfen, der durch den Wald floss. Nachdem sie den eigenen Durst gelöscht hatten, reichten sie die gefüllten Helme ihren Kameraden, die nicht den Sattel verlassen hatten, und mancher von diesen musste erst ein Visier heraufschlagen, ehe er trinken konnte.
Da ein Ruf und eine allgemeine Bewegung.
Zwischen den Bäumen war ein einzelner Reiter aufgetaucht, auch wieder ein Ritter, vom Scheitel bis zur Sohle schwer gepanzert, und wenn es nicht gediegenes Gold war, in das er gehüllt, so war die ganze Rüstung eben vergoldet, oder es konnte auch blankgeputzter Tombak sein; so wie auch bei diesem Trupp Gold und Silber vorherrschte oder eben blanker Stahl.
Es war ein ausnahmsweise mächtig gebauter Mann, auch für einen Gorkha. Kaum erblickte er den Reitertrupp, der sich ja auch durch Rufe bemerkbar machte, als er sein ebenfalls gepanzertes Streitross in schnellere Gangart versetzte und auf diesen Trupp zuhielt.
»Wer bist Du, der Du keine Farbe trägst?«, erklang es ihm entgegen.
Denn dieser Ritter hier hatte um den Drachenhelm keinen gelben Schleier geschlungen, keinen andersfarbigen, auch sein Pferd zeigte keinen solchen Schmuck.
»Was geht es Euch an, wer ich bin und wie ich heiße?«, erklang es dumpf hinter dem geschlossenen Visier des Drachenhelms hervor. »Seit wann fragt man einen Königssohn, der keine Farben trägt, nach seinem Namen?
Aber damit Ihr es wisst: Ich bin Urfila aus dem Tale von Simra, der schon acht Königssöhnen die Seele geraubt hat — der schreckliche Urfila ist es, der Euch bis zum letzten Mann töten wird!«
»Prahler!«
»Ich werde beweisen, wie ich mit Euch spiele. Wer ist der beste Mann von Euch, der es zuerst mit mir wagt, da meine Kräfte noch nicht ermattet sind?«
Das ging hier sehr schnell, große Turniervorbereitungen wurden nicht erst getroffen.
Einer der Gelben, ebenfalls in goldschimmernder Vollrüstung, lenkte sein Pferd seitwärts, und dann sprengten die beiden mit eingelegten Lanzen auf einander los.
Furchtbar war der Anprall, die beiden mächtigen Rosse brachen im ersten Moment auf den Hinterfüßen zusammen.
Am Staunenswertesten aber war wohl, dass dabei die Lanzen nicht zersplittert waren, die gleichzeitig die Brust getroffen hatten.
Es sind wohl starke Lanzen, welche die Gorkhas benutzen, aber nicht zu vergleichen mit denen, welche einst die alten Ritter gebrauchten, die doch immer zersplitterten, mochten sie auch aus bestem Eschenholz sein. Sie sind immer noch elastisch, lassen sich sogar, wozu freilich außerordentliche Kraft gehört, wie die Reitgerten biegen.
Sie werden aus dem Holze des Losobaumes hergestellt, der nur in Nepal vorkommt, auf den höchsten Höhen des Himalajas, oder vielmehr aus den kolossal langen und starken Wurzeln eines sonst ganz unansehnlichen Baumes, und dieses Wurzelholz, welches das der Esche, des zähesten und elastischsten, das wir kennen, noch bei Weitem übertrifft, darf nicht ausgeführt werden. Es soll auch sehr selten sein und wird vielleicht auch noch besonders präpariert.
Die beiden mächtigen Rosse also wären durch den Anprall fast gestürzt, ihre Reiter aber hatten in den Sätteln nicht einmal geschwankt.
Sie rissen ihre Pferde zurück, einen neuen Anlauf genommen, wiederum zusammengeprallt.
Ob nun der Ritter ohne Abzeichen diesmal seine Lanzenspitze anders gelenkt hatte, nicht direkt auf die Brust des Gegners, oder ob dieser nicht fest genug gesessen hatte — diesmal wurde der mit dem gelben Schleier in weitem Bogen aus dem Sattel geschleudert.
Doch sofort sprang er wieder empor. Aber auch der andere hatte sich gleich aus dem Sattel geschwungen.
»Schwert oder Streitaxt«, rief er.
Der durch die Lanze Besiegte hatte bereits sein gewaltiges Schwert gezogen, dann war eine weitere Antwort überflüssig.
Auch Urfila, wie er sich nannte, riss sein Schwert aus der Scheide und stürmte auf jenen ein.
Sie hieben aufeinander los, dass krachend die Funken stoben. Ein eigentliches Fechten war es nicht, so wenig wie dies im Mittelalter geübt wurde, wenn sich die gepanzerten Ritter mit dem Schwerte gegenübertraten. Nur die Kraft allein gab den Ausschlag, und dann vielleicht noch die Güte des Schwertes und der Rüstung. So schnell und kräftig wie möglich drauf los geschlagen, um den Gegner zu betäuben, dass der eben nicht mehr seine ganze Kraft entwickeln konnte, und dann galt es, eine der Fugen in den Gelenken zu treffen, dort die dünnere Panzerung zu durchschlagen oder irgendwo anders, oder den Gegner gleich so zu betäuben, dass er zu Boden stürzte.
Und auch hier waren die Schwerter so gewichtig, dass sie mit beiden Händen geführt werden mussten. Ausgezeichnet musste der Stahl sein, der solch eine Paukerei vertrug, besonders wenn solch ein Schwert mehrmals zu derartigen Zweikämpfen verwendet wurde, ohne zu zersplittern, ohne große Scharten zu bekommen, nicht minder vortrefflich musste aber auch das Metall sein, aus dem die Rüstungen bestanden. Doch es ist ja schon gesagt worden, dass in Nepal ein Stahl gefertigt wird, der den japanischen noch weit übertrifft, und auch bei der Härtung muss ein Geheimnis sein.
Furchtbar also krachten die Schwerter, der ganze Wald ertönte wider, von den beiden Männern ging ein wahres Feuerzeug von Funken aus.
Doch kaum eine halbe .Minute, so spritzte auf der linken Seite zwischen Hals und Schulter des Gelben ein dunkler Blutstrahl hoch empor, das Schwert des Gegners hatte ihm die Brünne durchschlagen, den Schutz des Halses, aus Ringen bestehend.
Der Gelbe ließ sein Schwert fallen und stürzte mit einem röchelnden Brüllen zu Boden.
Der andere auf ihn zu und schlug jenem das Visier hoch.
»Ha, Allasides, bist Du es?«, erlang es in schmerzlichem Staunen.
Wahrscheinlich zwei Freunde, die miteinander gekämpft hatten.
Aber eine Schonung gab es nicht.
Der andere hatte es ja schon gewusst, wen er vor sich hatte, er war ihm als erster gegenüber getreten, um ihn zu töten oder von ihm getötet zu werden.
Mit einigen geschickten Griffen die Halsbrünne gelöst, einen Dolch aus dem Gürtel gezogen und mit ihm dem Gefällten die Kehle bis auf den Halswirbel durchschnitten!
Ruhig schauten die anderen zu.
»Wer ist der nächste?«
Sofort meldete er sich. Und nicht, dass dies zwei oder mehr gleichzeitig taten. Dies musste schon vorher geordnet worden sein; wie sie solch eine Herausforderung der Reihenfolge nach annahmen.
Wieder sollte zuerst die Lanze entscheiden, die Lieblingswaffe der Gorkhas.
Urfila hatte sich wieder auf sein Pferd geschwungen, wieder prallten die beiden furchtbar zusammen.
Diesmal aber kam es anders.
Der silberglänzende Panzer des gelben Ritters mochte nicht so stark und widerstandsfähig sein, Urfilas Lanzenspitze bohrte sich gleich durch und durch.
Doch in demselben Augenblick, da die Stahlspitze unten wieder zum Vorschein kam, schnellte Urfila diese Lanzenspitze mit einem gewaltigen Ruck empor, der Durchbohrte wurde aus dem Sattel gehoben, gerissen, flog hoch in die Luft, bis in die Zweige der Bäume.
Dabei war die Lanzenspitze wieder aus Körper und Panzer herausgekommen.
Und mit einem Satze war Urfila aus dem Sattel, ein Blick nach oben, noch ein Sprung, dann stemmte er die Lanze auf den Boden, die Spitze nach oben, der Körper des in die Luft Geschleuderten kam wieder herabgesaust, fiel mit dem Unterleib gerade auf die Lanzenspitze, diese durchschlug nochmals den Panzer vorn und hinten, der ganze Körper rutschte über den Lanzenschaft herab, doch noch ehe er den Boden berührte, packte er den blutigen Schaft oberhalb des Körpers und saß mit seiner Lanze schon wieder kampfbereit im Sattel.
Es war ein grausiges Kunststückchen von schier unglaublicher Gewandtheit und Berechnungsgabe gewesen.
Laute Rufe des Staunens zollten denn auch Beifall. Obgleich es diesen Gorkhas eigentlich gar nichts Neues gewesen war, was sie da zu sehen bekommen hatten.
Es ist dies ein ganz gewöhnliches Kunststückchen, was alle Gorkhas können, worin sie sich ständig üben, auch diejenigen, die als Soldaten in englischen Diensten stehen.
Sie spießen den Gegner, besonders wenn er flieht, mit der Lanze an, schleudern ihn hoch in die Luft, fangen ihn mit der Lanzenspitze wieder auf, durch die Wucht rutscht er durch den ganzem Schaft, der Gorkha greift schnell nach, packt also die Lanze schnell oberhalb des menschlichen Körpers, hat seine Lanze wieder in der Hand, während der durchstochene Mann eben zu Boden fällt.
Dies alles geschieht zu Pferde in vollem Galopp.
Auf dem englischen Exerzierplatze, in der Reitbahn und auf dem Manöverfelde werden dazu natürlich nur menschliche Puppen verwendet, die nur das richtige Gewicht eines Menschen haben müssen, bis zu anderthalb Zentner und noch mehr. Es ist ja schon erstaunlich genug, dass dies die Gorkhas mit solchen gewichtigen Puppen fertig bringen. Die riesenhaft gebauten Gorkhas sind eben wegen ihrer Muskelstärke berühmt, die ständige Übung macht es.
Im Kriegsfalle aber wird dieses Manöverkunststückchen an richtigen Menschen ausgeführt.
So haben die Gorkhas auch damals in Peking die fliehenden Chinesen auf ihre Lanzenspitzen genommen, sie in die Luft geschleudert und über den Schaft hinwegrutschen lassen.
Es gibt deutsche Marinematrosen und Seesoldaten genug, welche darüber berichten können.
Und in ihrer Heimat betreiben die Gorkhas diesen Reitersport, eine Art von Ringelstechen, natürlich erst recht, und nicht einmal nur an Puppen; wenn nicht immer mit lebendigen Menschen, so nehmen sie Leichen.
Weshalb also staunten da diese Gorkhas hier so?
Nun, hier lag denn doch etwas anderes vor.
Dieser Kraftleistung sind natürlich wie allem in der Welt Grenzen gezogen. Man muss nur bedenken, was dazu gehört, ein Gewicht von nur einem Zentner so mit der Lanze anzuspießen und es mindestens vier Meter hoch in die Luft zu schleudern, um es mit der hochgerichteten Lanze, die nur mit einer Hand und einem Arm geführt wird, wieder auffangen zu können!
Bis zu anderthalb Zentner muss das jeder Gorkha fertig bringen, sonst eignet er sich nicht zum Krieger, er mag Handwerker oder sonst etwas werden, und wer es nicht kann, der wird auch nicht als Söldling in fremde Dienste gehen, denn dort wird er doch auch wieder von seinen Kameraden verachtet.
Dieser Gegner Urfilas hier war ein auffallend großer, starkgebauter Mann gewesen, ein Riese, wohlbeleibt dazu, mit zwei Zentnern musste man bei dem mindestens rechnen, und nun kam noch die Rüstung hinzu.
An drei Zentner durfte man denken.
Und dennoch hatte ihn Urfila, nachdem der Panzer einmal durchbohrt war, in die Luft geschleudert, nicht anders als wie einen Spielball!
Daher das ganz berechtigte Staunen, solch eine Kraftleistung hätten auch diese Gorkhas nicht für möglich gehalten.
Nur wieder auffangen aus freier Hand hätte ihn der Sieger wohl nicht können, dazu war die Last denn doch zu groß, der Panzer musste ja nochmals durchbohrt werden.
So war auch noch eine fabelhafte Schnelligkeit und Gewandtheit hinzugekommen. Aus dem Sattel, die Stelle berechnet, wo der Körper niederschlagen würde, die Lanze auf den Boden gestemmt, ihn aufgefangen und durchschlagen lassen, und im nächsten Augenblick wieder im Sattel!
»Wer ist der dritte?«
Er war sofort zur Stelle.
Da zeigte es sich, dass das Pferd Urfilas beim letzten Zusammenstoß doch etwas abbekommen hatte, es lahmte auf einem Vorderfuß.
»Ein anderes Pferd!«
Er konnte es sich unter den Tieren der Gegner auswählen. In Nepal gab es ja jetzt mehr Pferde als Reiter.
Diesmal war es ein Gorkha, der sich mit seinen Vorgängern im Körperbau nicht messen konnte, und dennoch sollte der unbesiegbare Urfila gerade an diesem seinen Meister gefunden haben.
Wohl wurde auch er beim ersten Anprall sofort aus dem Sattel geschleudert, desgleichen aber auch Urfila.
Beide hatten sich gleich wieder aufgerafft.
»Schwert oder Streitaxt?«
»Bestimme Du.«
»Streitaxt!«
Sie lösten die gewaltigen Äxte von den Sätteln und stürmten aufeinander los, die Waffen krachten und schmetterten auf die Rüstungen und Helme herab.
Da brach Urfila zusammen, ohne dass eine Verletzung der Rüstung zu sehen war. Ein Schlag auf den Helm musste ihn betäubt haben.
Lang ausgestreckt lag er da, ohne sich zu rühren. Der Gegner löste ihm schnell die Brünne, zog den Dolch und durchschnitt ihm die Kehle.
Lauter Jubel zollte dem Sieger Beifall.
Doch nicht lange sollten sich diese Gorkhas des Triumphes erfreuen — und nicht ihres Lebens.
»Königssöhne des Radscha Behovil!«
Ein anderer Trupp gepanzerter Ritter war zwischen den Bäumen aufgetaucht, ungefähr zwanzig Mann, um die Helme rote Schleier tragend.
Das Turnier wurde arrangiert, ein Massenkampf sollte stattfinden. Dreizehn Gelbe waren noch vorhanden, von den zwanzig Roten sonderten sich sieben ab, um erst einmal als Zuschauer beizuwohnen.
Sie stießen zusammen, von Lanze, Schwert oder Streitaxt nach Belieben Gebrauch machend. Noch ganz anders denn vorhin hallte der Wald von dem Getöse wider.
Wer gestürzt war, sich nicht mehr wehren konnte, dem wurde die Gurgel abgeschnitten, und der Sieger suchte sich einen neuen Gegner aus. War er selbst nicht mehr fähig dazu, lag auch er blutend und zum Tode erschöpft im zerstampften Grase, dann wurde er von einem anderen auf dieselbe Weise ins Jenseits befördert. Ein Liebesdienst, nichts weiter.
Die Gelben waren die besseren Kämpen oder sie wurden vom Glück begünstigt. Einer der sieben Roten, die anfangs noch nicht mitgemacht, nach dem anderen musste einspringen, weil einer der Gelben unbeschäftigt war, keinen Gegner hatte.
Noch keine halbe Stunde war vergangen, als sechsundzwanzig Leichen den Boden bedeckten; alle mit durchschnittener Kehle. Der letzte, der so seinem schon besiegten Gegner den Gnadenstoß gegeben hatte, trug einen roten Schleier.
Also die rote Partei hatte zuletzt doch noch gesiegt; aber es waren ja auch ihrer zwanzig gegen nur dreizehn gewesen.
Auch dieser letzte hatte noch seinem besiegten Gegner den Todesstoß oder vielmehr Todesschnitt gegeben, er war dazu nach ihm hin gekrochen, und jetzt lag er selbst daneben, aus vielen Wunden blutend, sterbend — tot.
Friedliches Schweigen herrschte im Walde.
Die verscheuchten Vögelchen stellten sich wieder ein und sangen ihr Liedchen.
Die Sonne fand ihren Weg durch das Laubwerk, ihre Strahlten fielen auf die achtundzwanzig gepanzerten, riesenhaften Männer, welche dort unten so still lagen.
Die Pferde, welche nicht selbst tot oder verwundet hingestreckt waren, hatten entweder die Flucht ergriffen oder sie grasten schon wieder, den Ruf ihrer Herren erwartend.
Ein ganz, ganz merkwürdiges Bild hier im dunklen Waldesgrün.
Und dieses Bild hatte seine Bewunderer.
Von allem Anfang an war dieser ganze Kampf von zwei Männern beobachtet worden.
Sie hatten sich schon genähert, als Urfila noch mit seinem ersten Gegner im Kampfe gelegen.
Sie hatten den beiden folgenden Einzelkämpfen beigewohnt, ohne von den Gorkhas bemerkt worden zu sein, ohne dass sich die beiden Zuschauer besonders hinter Bäumen versteckten — und wer hätte sich dann bei dem Massenkampfe um sie gekümmert.
Wer hier beachtet sein wollte, der musste mit eingreifen, musste eine Herausforderung ergehen lassen oder sich stellen, und das hatten die beiden eben nicht getan. So hatten sie für diese Gorkhas überhaupt gar nicht existiert.
Auch diese beiden Zuschauer waren beritten.
Der eine von ihnen war ein noch junger Mann, seinen edlen Gesichtszügen nach wohl ebenfalls ein Gorkha, obschon von schlanker, viel kleinerer Gestalt. Doch natürlich gibt es unter den Gorkhas auch kleine Gestalten. Diese braunen, edlen Gesichtszüge trugen übrigens, was man bei den Gorkhas sonst nicht findet, den Stempel eines genialen, fröhlichen Leichtsinns, und das kam umso mehr zum Vorschein, als er statt des Vollbarts oder doch wenigstens herabhängenden Schnurrbarts, diesen keck in die Höhe gezwirbelt hatte.
Bekleidet war die schlanke, sehnige Gestalt mit wenig mehr als mit einem silberglänzenden Panzerhemd, das sich trikotartig dem Oberkörper anschmiegte und kaum bis über die Oberschenkel ging, diese selbst waren nackt, gelbe Halbschuhe schien er nur deshalb zu tragen, um daran die Sporen befestigen zu können, dazu noch auf dem Kopfe eine leichte Eisenhaube, sonst nichts weiter, was man eine Bekleidung nennen konnte. An dem Gürtel hing ein langer, aber leichter Stoß- und Haudegen, ein Dolch und zwei Pistolen darin, die Munitionstasche, auf dem Rücken den Karabiner — das war die Bewaffnung. So hatte er die nackten Beine um den nackten Leib des edlen Pferdes geschlungen, sattellos, das Tier nur mit einem einfachen Zaum lenkend.
Ganz anders sein Begleiter. Dieser war ganz in eine schwarze Rüstung gehüllt, eine Farbe, welche keiner jener Ritter dort zeigte und die man in Nepal wohl auch schwerlich zu sehen bekommen würde, sie wollen nichts von schwarz wissen. Auch das Pferd, das er ritt, war ein tiefschwarzer Rappe, den man wohl gleichfalls in ganz Nepal nicht finden wird; denn alles Schwarze ist von vornherein dem Tode verfallen, obgleich es nicht die Farbe der Trauer ist.
Das Gesicht konnte man nicht sehen, er hatte an dem einfachen Helm das Visier herabgelassen. Bewaffnet war auch er mit Lanze, Schwert, Streitaxt und Karabiner.
»Ein Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen«, erklang es jetzt hinter diesem Visier.
»Ein Schlachten?«, wiederholte der junge Inder, ebenso in tadellosem Englisch. »Sagt, Kapitän, ging es nicht ganz ritterlich und ehrlich dabei zu?«
»Das wohl, aber — es ist der helle Wahnsinn.«
»Weshalb?«
»Wenn diese Männer wenigstens einen Grund für ihre Herausforderung zum Kampf auf Leben und Tod hätten.«
»Was braucht man für einen Grund, wenn sich Männer auf Leben und Tod herumschlagen wollen, weil nun einmal ihre überschüssige Kraft sich austoben muss? In Euren alten Zeiten, zogen da nicht auch die Ritter im Lande herum und forderten jeden zum Zweikampfe heraus, der nicht ihre erwählte Dame als die schönste und tugendhafteste im ganzen Lande anerkannte? Ist das etwa ein Grund gewesen, um sich auf einen Kampf auf Leben und Tod einzulassen?«
»Ihr habt recht«, musste der Schwarze, der von dem anderen »Kapitän« genannt worden war, bestätigen. »Ja und doch — wie ist heutzutage so etwas noch möglich?«
»Es sind die Sünden ihrer Väter, für welche diese Männer büßen müssen.«
»Was für Sünden? Wie meint Ihr das?«
»Unterlassungssünden. Seit Tausenden von Jahren haben die Gorkhas in ihren Gebirgstälern und auf ihren Felsennestern gehaust, jeder Stamm unter seinem Radscha.
Seit Tausenden von Jahren sind sich diese Radschas feindselig gesinnt. Doch das ist falsch ausgedrückt. Sie haben in gegenseitiger Fehde gelebt, so muss es heißen. Sie besuchten einander, sie gaben sich gegenseitig Festlichkeiten — bis sie wegen irgend einer Kleinigkeit in Streit gerieten, und dann ging der Kampf los von Burg zu Burg, es wurde gestürmt und in den Ebenen und Schluchten sich blutige Treffen geliefert, bis beide Parteien total erschöpft waren. Dann wurde Versöhnung gefeiert, und wenn sie sich wieder erholt hatten, dann brach eben die Fehde von Neuem aus.
So haben es die Gorkhas hier in Nepal seit Jahrtausenden getrieben und sie befanden sich ganz wohl dabei.
Eine Volksvermehrung war dabei freilich nicht zu bemerken, aber auch keine Verminderung.
Da brach vor sechzig Jahren der indische Aufstand aus und wurde von den Engländern niedergeschlagen.
Die Nepaler hatten sich nicht daran beteiligt, weil sie dabei nicht die führende Rolle spielen konnten, die sie spielen wollten — ihr Ehrgeiz war beleidigt worden.
Aber sie zogen daraus ihre Lehren, waren klug und vorsichtig geworden.
Die neun Radschas schwuren unter sich einen ewigen Freundschaftsbund, nie wieder dürfe der Frieden zwischen ihnen gebrochen werden.
Sie haben diesen Schwur gehalten, kein Radscha hat seitdem gegen den anderen gekämpft, und dasselbe galt natürlich für alle Gorkhas.
Das ist nun sechzig Jahre her. Und jetzt rächt sich diese Unnatur bitter.
Denn etwas ganz Unnatürliches ist, wenn die Gorkhas, diese geborenen Krieger, friedlichen Beschäftigungen nachgehen sollen.
Das bisschen Exerzierdienst ist doch kein Äquivalent für den Krieg, überhaupt kommen dabei hier im Lande nur 23 000 Gorkhas in Betracht, und auch das schaffte keine Abhilfe, dass die Gorkhas, die es nicht mehr aushallen konnten, in englische Soldatendienste gingen. England hat doch nicht immer Krieg zu führen.
In diesen sechzig Jahren hat sich also die ganze unterdrückte Kriegslust oder sagen wir lieber der Blutdurst der Gorkhas aufgespeichert.
Da brauchte es nur solch eines Vorkommnisses, eine uralte Prophezeiung scheint in Erfüllung zu gehen, unter besonderen Umständen taucht plötzlich ein weißer Elefant auf, danach soll in sieben Jahren die Erde untergehen — so, nun brechen alle die zurückgedrängten Leidenschaften plötzlich aus.
Habt Ihr dasselbe nicht in Eurem Abendland gehabt? Ich kenne doch Eure Geschichte zur Genüge. In früheren Zeiten wenigstens ist es oft genug passiert. Ein Prophet tritt auf und behauptet, in Bälde würde die Erde untergehen, durch eine neue Sintflut oder durch den Zusammenstoß mit einem Kometen oder durch etwas ähnliches.
Was haben die leichtgläubigen Menschen bei Euch getan?
Sie wollten sich schnell noch einmal tüchtig amüsieren, sie haben Haus und Hof und ihr ganzes Vermögen verprasst. Oder ist es etwa nicht oft genug so gewesen?
Bei den Gorkhas kann solch eine Verschwendung nicht in Betracht kommen, weil sie selbst meist nichts haben, sie suchen ihr Vergnügen auch auf einem ganz anderen Boden.
Den Kampf draußen mit den Engländern aufzunehmen, das hatte keinen Zweck, das wussten sie. Was sollten sie sich von den Maschinengewehren wie die Schafe niederknattern lassen. Ein Erduntergang macht jeden Schwur ungültig — sie haben ihre alte Fehde wieder aufgenommen. Aber in noch ganz anderer Weise als früher, sie sind gleich direkt übereinander hergefallen. Das ist der Ausbruch ihrer seit sechzig Jahren unterdrückten Neigungen und Leidenschaften. Habe ich nicht recht, Kapitän?«
Der Gefragte konnte nicht widersprechen.
»Sie fechten also nicht mehr unter ihren Radschas?«, fragte er.
»Doch. Die einzelnen Gorkhastämme halten im Großen und Ganzen noch zusammen, kennzeichnen sich durch verschiedene Farben; aber diese Zusammengehörigkeit ist schon sehr locker.
Wer sich befähigt fühlt, auf eigene Faust zu kämpfen, der sondert sich ganz ab und zieht als irrender Ritter ohne Farbenabzeichen im Lande umher, jeden zum Zweikampfe herausfordernd; wie Ihr vorhin so einen habt zuerst siegen und dann sterben sehen. Dort liegt er, der Urfila aus dem Tale Simra.«
»Sind denn alle Gorkhas so schwer gepanzert?«
»Nein, so viele volle Rüstungen aus früheren Zeiten sind nicht vorhanden, als diese Mode waren.
Die andren müssen sich mit Brustharnischen oder Schuppenhemden begnügen. Aber sie finden schon solche volle Rüstungen, sie brauchen gar nicht lange zu suchen. Bis auf dem Wege zum Makifelsen werden wir noch auf viele solcher stummen Kampfeszeugen stoßen, die jedoch bereits entkleidet, ihrer Rüstungen beraubt worden sind.«
»Die Schwergerüsteten kämpfen nicht gegen die Leichtgepanzerten?«
»Nein. Es wäre ein zu ungleicher Kampf. Es geht dabei durchaus ritterlich zu. Oder die Schwergepanzerten müssten sich erst ausziehen, was es aber eben nicht gibt.«
»Aber die Leichtgepanzerten kämpfen unter sich?«
»Na und wie! Genau so wie hier diese vollgerüsteten Ritter.«
»Wir können hier nichts mehr tun?«
»Gar nichts. Auch der letzte dort scheint sein Leben schon längst ausgehaucht zu haben.«
»So setzen wir unsern Weg fort. Führt mich so, Sadjat, dass ich womöglich mit keinem schwergepanzerten Trupp und keinem einzelnen Ritter zusammentreffe. Ist es aber unvermeidlich, so werde ich einem Kampfe nicht ausweichen und meinen Mann zu stehen wissen.«
»Das weiß ich, ich kenne Euch doch«, entgegnete der junge Inder, der also kein anderer als Sadjat, der Student, war, der Räuberhauptmann.
»Unten ist ein Ritter, der Euch sprechen will. In der schwarzen Rüstung steckt aber kein Inder, sondern ein Engländer oder Amerikaner, er hat auch schon sein Gesicht gezeigt.«
So meldete ein Cowboy dem Prinzen, der sich in einem orientalisch ausgestatteten Gemache der Makiburg befand.
»In schwarzer Rüstung?«
»Schwarz wie der Tod, und auch sein Pferd ist ganz schwarz.«
»Das ist seltsam.«
»Es ist doch schon seltsam genug, dass ein weißer Mann hier in Nepal nach Euch fragt.«
»Allerdings. Was will er?«
»Euch sprechen. Er würde sich schon legitimieren. Mehr sagte er nicht. Auch seinen Namen nannte er nicht.«
»Ich erwarte ihn.«
Bei der beträchtlichen Höhe, wenn auch ein Fahrstuhl benutzt werden konnte, verging doch einige Zeit, ehe der Erwartete eintrat.
Er hatte die schwarze Rüstung bereits abgelegt, darunter hatte er ein Sportkostüm aus grünem Lodenstoff getragen.
»Mein Name ist Reginald Lytton. Sie kennen ihn nicht?«
»Nein.«
»Haben mich auch noch nie gesehen?«
»Nicht dass ich mich entsinne.«
»Ich komme im Auftrage der geheimen Loge, der auch Sie nun als Geselle angehören.«
»Ich dachte es mir.«
Sie setzten sich, eine angebotene Erfrischung schlug der Fremde ab.
»Ich könnte Ihnen auch nichts weiter anbieten als Wasser mit etwas selbstgepresstem Fruchtsaft und getrocknetes Wildbret, nicht einmal Brot.«
»Sie haben keinen Proviant mehr?«
»Keinen anderen, als den wir uns durch Jagd selbst verschaffen, und das ist jetzt mit Schwierigkeiten verbunden.«
»Liefert Ihnen Radscha Tippu Hatur keinen Proviant?«
»Er würde es wahrscheinlich sofort tun, aber ich habe ihm damals gesagt, dass mein Luftschiff mich mit allem versieht, was wir brauchen, und nun möchte ich ihm lieber nicht gestehen, dass dieses Luftschiff uns damals mit reichlichem Proviant versehen hat, dass es dann aber abgefahren ist, ohne wieder etwas von sich sehen und hören zu lassen.«
»Der Helios kann nicht zurückkommen. Er ist bald nach der Abfahrt von hier verunglückt.«
»Aah! Ich dachte mir so etwas.«
»Trotz all seiner wunderbaren technischen Einrichtungen, trotz seiner einstellbaren Gewichtslosigkeit konnte auch diesem Luftschiffe so etwas passieren?«
»Warum nicht? Es war ja doch nur von Menschenhänden erbaut.«
»Und dasselbe gilt von Almansor. Das heißt, auch er ist nur ein Mensch. Er hat vorläufig die Möglichkeit verloren, sich mit Ihnen zu verständigen.«
»Das habe ich schon schwer genug empfunden.«
»Es tut uns leid. Sie möchten natürlich Nepal verlassen?«
»Sobald wie möglich. Wir wissen nicht, was wir hier sollen.«
»Und allein können Sie mit Ihren Leuten nicht herauskommen?«
»Wir kennen keinen anderen Weg als über den Damm, und dieser ist uns verschlossen.«
»Weshalb?«
»Der Radscha Tippu Hatur würde uns erlauben, ihn zu benutzen, aber die anderen Radschas dulden es nicht. Kein Fremder darf das Land noch verlassen. Und an einen Kampf auf diesem Damme ist gar nicht zu denken.«
»Nein, das geht auch nicht. Kennen Sie einen Mann namens Sadjat?«
»Das ist so viel wie Student. Der Räuberhauptmann?«
»Ja.«
»Er hat mich einmal in eine äußerst prekäre Lage gebracht.«
»Ich weiß es. Er wollte sich schon immer bei Ihnen entschuldigen, hatte nur noch keine Gelegenheit dazu. Und das kann ich Ihnen versichern, dass Sie diesem Manne unbedingt vertrauen können.«
»Ich glaube es Ihnen.«
»Er wird Ihre Leute auf einem geheimen Wege durch den Dschungel führen, wahrscheinlich heute Nacht noch.«
»Das ist vortrefflich!«
»Ihre Leute. Nicht Sie selbst.«
»Nicht mich? Wo bleibe ich?«
»Ich kalkuliere, dass Sie sich Ihren Leuten nicht anschließen werden. Ich bitte Sie nämlich, mir die kleine Deasy zu überlassen.«
»Wozu das?«, fragte der Prinz misstrauisch.
»Um ihre hellseherische Gabe zu benutzen, welche das Kind doch noch hat?«
»Allerdings, die besitzt sie noch.«
»Ich werde Ihnen eine nähere Erklärung geben. Die Sache ist folgende:
Nach langem Bemühen haben wir endlich herausbekommen, wo sich das verschwundene Luftschiff befindet.
Es ist bei einer Landung so hart aufgestoßen, dass es total zertrümmert ist.
Wo dies stattgefunden hat, darüber muss ich vorläufig noch schweigen.
Ein Teil der Besatzung hat bei der Katastrophe ihren Tod gefunden, die Überlebenden befinden sich in einer verzweifelten Lage.
Wir müssen ihnen zu Hilfe kommen.
Aber die Gegend dort ist nur durch ein anderes Luftschiff zu erreichen.
Ein zweites lenkbares von dieser Art besitzen wir nicht, und ein anderes von jener Konstruktion, die jetzt gang und gäbe ist, kommt dabei gar nicht in Frage.
Aber das Luftfahrzeug braucht ja auch nicht unbedingt ein lenkbares zu sein.
Ein gewöhnlicher Luftballon.
Allerdings auch wieder einer von etwas besonderer Art, der sich seine Gasfüllung selbst herstellt, der also ganz unabhängig von jeder Zeitdauer ist, auch sonst noch viele Vorzüge hat, von denen die andere Welt noch nichts weiß.
Und einen solchen besitzen wir.
Er liegt sogar gar nicht weit von hier entfernt, bedarf vielleicht einiger Reparatur, dann ist er betriebsfähig.
Mit diesem Luftballon will ich zur verunglückten Helios, um vor allen Dingen die dem Hungertode ausgesetzten Leute zunächst mit Proviant zu versehen, der schon vorhanden ist.
Die Erreichung jenes abgelegenen Ortes bietet weiter keine Schwierigkeiten.
Nur bedarf ich dazu des hellsehenden Kindes.
So bitte ich Sie, mir die kleine Deasy anzuvertrauen.«
Der Prinz war etwas unruhig geworden.
»Dieser Vorschlag da ist mir nicht eben angenehm zu hören.«
»Auch Sie können uns begleiten.«
»Ah, das ist schon etwas anderes!«
»Ferner können Sie noch zwei andere Personen mitnehmen. Mehr haben in der Gondel nicht Platz.«
»Der Luftballon liegt hier in der Nähe?«
»Ja. Ich bin nicht zum ersten Male hier in Nepal. Vor zwei Jahren bin ich hier mit diesem Luftballon niedergegangen, wurde zu einer Landung gezwungen. Wir, mein Gefährte und ich, mussten ihn aus besonderen Gründen, die ich jetzt nicht weiter schildern kann, verlassen. Wir stießen auf den sogenannten Sadjat, der schon damals hier ein Räuberleben führte, den ich aber schon von San Francisco aus kannte und der mir tief verpflichtet ist.
Er führte uns auf geheimem Wege durch den Dschungel.
Zwei Jahre sind seitdem verflossen. Durch unsere Hellseher wissen wir, dass der Ballon noch an der alten Stelle liegt, scheinbar in unversehrtem Zustande, wenn sich dies auf solche Weise auch nicht so ganz genau erkennen lässt.
Das müssen wir eben an Ort und Stelle untersuchen. Was nötig ist, wird dann leicht zu reparieren sein. Ich bitte dazu um die Hilfe Ihrer Leute.«
»Hier in der Nähe liegt der Ballon?«, fragte der Prinz nochmals.
»Gar nicht weit von hier. Wir sind damals auf dem Makifelsen niedergegangen.«
»Und der Ballon liegt noch dort? Und wir haben noch nichts davon gesehen?«
»Kennen Sie denn schon den ganzen Makifelsen? Haben Sie schon jede Schlucht durchforscht?«
»Nein, das allerdings nicht!«, musste der Prinz gestehen, worüber wir schon früher einmal gesprochen haben, und daran hatte sich im Laufe des Vierteljahrs wenig geändert.
»Außerdem«, fuhr Mister Lytton fort, »liegt die Hülle des Ballons und seine Gondel nicht auf dem Plateau, sondern in einer tiefen Schlucht, in die man auf gewöhnlichem Wege gar nicht hinabgelangen kann.«
»Wie haben Sie sie denn damals verlassen?«
»Auf einem anderen Wege. Auf demselben, den ich Sie dann führen werde. Also wollen Sie mir die kleine Deasy anvertrauen?«
»Ja, in der Hoffnung, dass ich mitkommen kann.«
»Sie können es und ich wünsche es selbst. Also Sie vertrauen mir ohne Weiteres? Ich brauche mich nicht erst zu legitimieren?«
Scharf blickte der Prinz in die so jugendlichen Züge des faltigen Gesichts.
»Ich traue Ihnen auch so. Ich habe da einen eigentümlichen Scharfblick. Außerdem haben Sie schon so viel offenbart, dass ich fest überzeugt bin, Sie gehören wirklich jener geheimen Gesellschaft an.«
»Gut. Das Kind ist doch ganz gesund?«
»Ganz gesund.«
»Würden Sie noch eine oder zwei andere Personen mitnehmen?«
»Ja, von dieser Erlaubnis würde ich Gebrauch machen.«
»Und wer wäre das, wenn ich fragen darf?«
»Die eine wäre Fred. Wissen Sie, wen ich meine?«
»Ja, den Knaben, den Sie in Ihren Schutz genommen haben.«
»Den möchte ich mitnehmen, hauptsächlich Deasys wegen.«
»Noch eine andere Person?«
»Ja.«
»Und wer ist diese?«
»Hm. Wäre Ihnen eine Dame als Gesellschafterin angenehm?«
»Selbstverständlich, erst recht!«, lächelte Mister Lytton.
»Nur um den Namen möchte ich schon jetzt bitten, ich habe meine Gründe dafür.«
»Eine Lady Lionel.«
»Kenne ich. Es soll mir sogar sehr angenehm sein, diese Dame noch näher kennen zu lernen.«
»Das heißt, ich glaube bestimmt, dass sie mitkommen wird. Wie lange dürfte die Sache dauern?«
»Das kann ich noch gar nicht sagen.«
»Kommen wir wieder hierher?«
»Ich glaube nicht; weil wir dann hier nichts mehr zu suchen haben.«
»Und wohin werden meine Leute gebracht?«
»Zunächst aus Nepal hinaus. Dann können sie ja gehen, wohin sie wollen.«
»Mit ihren Pferden?«
»Auch die Kamele können sie, wenn sie wollen, mitnehmen.«
»Wann verlassen sie die Burg?«
»Wann sie wollen. Vielleicht heute Nacht schon, denn ein nächtlicher Schleichweg unter Sadjats Führung muss es allerdings werden.«
»Und wann brechen wir mit dem Ballon auf?«
»Das kann ich natürlich erst sagen, wenn ich die Hülle und alles andere untersucht habe. Ist alles intakt, dann geschieht die Füllung sofort, wir fahren noch heute Nacht ab.«
»Es handelt sich um Gasfüllung?«
»Ja.«
»Wo nehmen Sie denn das Gas her?«
»Das befindet sich in der Gondel.«
»Komprimiert?«
»Nein, die Sache ist ganz anders. Sie werden es dann sehen, bitte.«
»Nun, ich wäre sofort bereit, ich brauchte nur mit Lady Lionel zu sprechen, oder auch nicht, die kommt ganz selbstverständlich mit.«
»Sind Ihre Leute in der Makiburg?«
»Alle.«
»Können Sie sie mir gleich zur Verfügung stellen?«
»Sofort.«
Der Prinz hatte sich erhoben.
»Halt. Diese Leute können gleich unten bleiben, falls sie unten sind.«
»Unten bleiben? Ich denke, hier oben in eine Schlucht hinein?«
»Nein, der Zugang erfolgt von unten.«
»Ich werde die Cowboys sofort instruieren, es ist auch durch ein Sprachrohr möglich.«
»Es sind doch auch Seeleute darunter?«
»Jawohl, Steuerleute, sogar ein Kapitän, und einige Matrosen.«
»Auf diese kommt es mir hauptsächlich an; denn es wird sich am meisten um Arbeiten am Tauwerk handeln. Deshalb vernachlässigen Sie doch nicht die Sicherheit Ihrer Burg?«
»Dafür ist gesorgt.«
Der Prinz entfernte sich und kam nach zehn Minuten wieder.
»Die Leute sind unten angetreten.«
»Sie waren doch nicht selbst schon unten? Sonst hätte ich gleich mitgeben können.«
Mister Lytton machte den Führer durch die unterird-
ischen Gänge, in denen er bestens Bescheid wusste.
»Nein, ich habe alles von hier oben durchs Sprachrohr erledigt.«
Sie benutzten den Fahrstuhl, unten warteten ein Dutzend Leute.
Jetzt machte Mister Lytton den Führer, und da zeigte es sich, dass er hier besser Bescheid wusste als alle die anderen.
Er führte sie durch einen Gang, unter seinen tastenden Händen öffnete sich ein Stück Felswand, von welcher geheimen Tür noch niemand etwas gewusst hatte.
Im Scheine von Lampen ging es weiter durch einige Felsengänge, bis ein solcher in eine Schlucht führte.
Oder es war mehr ein Loch, das von oben in den Felsen hineinging, allerdings sehr umfangreich, mit einem Durchmesser von mehr als dreißig Meter, von senkrechten Felswänden umgeben.
Oben in schwindelnder Höhe sah man nur noch eine kleine Öffnung mit dem blauen Nachmittagshimmel.
Jetzt aber wussten die Cowboys dennoch, wo sie sich befanden.
In dieses Loch, jedenfalls seine Entstehung ebenfalls einer vulkanischen Tätigkeit verdankend, hatten sie schon öfter von oben hinab geblickt, ohne den Wunsch zu hegen, da einmal hineinzusteigen, was auch gar nicht so einfach gewesen wäre.
Für gewöhnlich blickte man ja nur in schwarze Finsternis.
Nur wenn die Mittagssonne direkt hinein schien, hatten sie dort unten in der fürchterlichen Tiefe den Boden und auf diesem einige graue Felsblöcke liegen sehen.
Jetzt aber zeigte es sich, dass es sich um etwas ganz anderes als um Felsblöcke handelte.
Da lag die Hülle des Ballons, ein grauer Stoff, mit einem Netzwerk umgeben. Daneben stand die Gondel von viereckiger Form, etwa vier Meter im Quadrat und drei Meter hoch, ein vollkommen geschlossenes Häuschen, scheinbar aus Brettern zusammengefügt.
Eine besonders auffallende Art von Gondel war das nicht. Ach, was sind da schon für Gondeln konstruiert worden!
Ferner ist noch zu erwähnen, dass durch die Schlucht ein Bach floss, aus der einen Wand herauskommend, auf der andern Seite in einem Loche wieder verschwindend.
Mister Lytton prüfte die graue Hülle, untersuchte einige Stricke.
»Die Garantie hat gehalten, was sie versprach. Hülle und Tauwerk haben der Nässe und allen anderen Witterungseinflüssen getrotzt, alles macht noch immer einen ganz neuen Eindruck. Ob die Hülle unbeschädigt ist, das ist ja nun freilich eine andere Frage. Doch im Innern der Gondel ist alles vorhanden, um jede Beschädigung zu reparieren. Bitte, Durchlaucht, folgen Sie mir, auch Ihre Begleiter.«
Er öffnete eine Tür. Das Innere der Gondel war recht komfortabel als Wohn- und Schlafraum ausgestattet. Vier bequeme Betten, je zwei übereinander, in der Mitte ein Tisch, aber nicht auf vier Beinen stehend, sondern voll, oder man hatte doch nicht viel Platz, um die Füße darunter zu setzen, Stühle, Schränke — alles war vorhanden. Natürlich war auch jeder Kubikzoll Raum ausgenutzt worden, zumal eine Unmasse von Konservenbüchsen aufgespeichert zu sein schienen.
»Bitte, Durchlaucht, Mylady — nehmen Sie Platz in Ihrem zukünftigen Heim.
Ehe Sie sich dieser Gondel anvertrauen, muss ich Ihnen doch einige Erklärungen geben, damit Sie wissen, dass ich auch fähig bin, mein Vorhaben auszuführen.
Wollen Sie mir dabei nicht verübeln, mein Prinz, wenn ich einige Fragen an Sie stelle.
Ich will Sie nicht auf Ihre Kenntnisse prüfen, sondern ich weihe Sie auf diese Weise in alles ein, damit Sie später fähig sind, mich einmal zu vertreten, den Ballon selbstständig zu führen, wenn ich der Ruhe pflege.
Dazu muss ich wissen, wie viel Ihnen von der Aeronautik schon bekannt ist, gleichgültig, ob Sie schon einmal eine Ballonfahrt mitgemacht oder gar selbst einen Freiballon geführt haben oder nicht.
Dieser unser Ballon hat, wenn wir ihn als völlig runde Kugel annehmen, was in Wirklichkeit ja nicht der Fall ist, einen Durchmesser von achtzehn Metern, in gefülltem Zustande. Wie viel beträgt dann der Inhalt dieser Kugel? Kennen Sie die Formel?«
»Gewiss«, lächelte der Prinz, »vier Drittel mal Halbmesser im Kubik mal 3,1416.«
»Und was kommt da heraus? Wollen Sie ein Stück Papier zur Ausrechnung haben? Aber nur so ungefähr.«
Der Prinz brauchte nur die Augen zu schließen, um diese auch ganz einfache Berechnung im Kopfe auszuführen.
»Rund 3000 Kubikmeter — nicht ganz.«
»Stimmt. Durch die etwas elliptische Form sogar genau 3000 Kubikmeter.«
»Angenommen nun, wir füllten den Ballon mit reinem Wasserstoffgas. Kennen Sie dessen Auftriebskraft?«
»Jeder Kubikmeter trägt 1,2 Kilogramm.«
»Ja, der Theorie nach. In der Praxis rechnet man vorsichtig nur mit einem Kilogramm. Also könnte dieser Ballon tragen?«
»Nun eben 3000 Kilogramm, wobei natürlich erst das Gewicht der Ballonhülle in Betracht kommt.«
»Wie groß ist die Oberfläche dieser Kugel von achtzehn Meter Durchmesser?«
Wieder machte der Prinz eine kleine Berechnung im Kopfe.
»Rund 918 Quadratmeter.«
»Stimmt bei der elliptischen Form sogar ganz genau. Nun wollen wir annehmen, dass die Hülle aus bester chinesischer Seide besteht, so dünn wie möglich, gut gefirnisst. Von diesem Ballonstoffe wiegt der Quadratmeter gewöhnlich 250 Gramm. Also kommt da heraus?«
»230 Kilogramm.«
»Ja. Wir wollen 250 sagen und für die ganze Umstrickung und alles sonstige Tauwerk ebenso viel rechnen. Also das sind zusammen 500 Kilo. Bleiben noch immer 2500 Kilogramm Tragkraft. Nun muss ich Ihnen aber die betrübende Mitteilung machen, dass dieser Kasten hier samt Inhalt allein schon mehr als 50 Zentner oder 2500 Kilo wiegt, die vier Personen noch gar nicht mit eingerechnet.«
Der Prinz machte große Augen.
»Wie ist denn das möglich?!«
»Es steckt eben so viel Gewichtiges drin. So viel Proviant, den wir mitnehmen müssen. Allein schon eine Tonne Wasser, also 20 Zentner. Und oben ist auch noch was darauf gebaut.«
»Ja, dann kann der Ballon diese Gondel doch überhaupt gar nicht heben!«
»Wenn er mit Wasserstoffgas gefüllt wird — nein.«
»Ja, mit was wollen Sie ihn denn sonst füllen?«
»Kennen Sie ein anderes Gas, das noch leichter als Wasserstoff ist?«
»Noch leichter als Wasserstoff? Gibt es nicht.«
»Wirklich nicht?«
»Nicht auf unserer Erde.«
»Sondern?«
»Man hat durch Spektralanalyse ein besonderes Gas in der Atmosphäre der Sonne konstatiert. Da man diese leuchtende Atmosphäre besonders gut bei einer Sonnenfinsternis beobachten kann und man diesen leuchtenden Saum der Sonne die Corona genannt hat, so hat man diesem Gase den Namen Coronium gegeben. Es soll ein Fünftel mal so leicht sein wie Wasserstoff. Übrigens ist mir gar nicht klar, wie man dieses Gewicht bestimmen können will. Ich habe einmal einen Vortrag darüber gehört, aber offen gestanden, nichts davon verstanden.«
»Dieses Coronium ist sogar nur ein Sechstel mal so schwer wie Wasserstoff. Und ich kann dieses Coronium in beliebiger Menge herstellen.«
»Aaaah!«
»Also würde unser Ballon sogar 18 000 Kilogramm tragen können.«
»Ja, dann freilich könnte er noch eine ganz andere Last mitnehmen! Wie stellen Sie denn dieses Coronium her?«
Mister Lytton stand auf, ging an einen Wandschrank, entnahm ihm eine bauchige Flasche, eine sogenannte Kochflasche.
Sie war halb mit Wasser gefüllt — oder einer anderen wasserhellen Flüssigkeit — der Gummipfropfen dreifach durchbohrt. Durch zwei Öffnungen ging je eine Glasröhre, außen umgebogen, durch die Mitte ein Glasstab, an dem innerhalb der Flasche noch über dem Wasser ein weißer Metallstreifen horizontal befestigt war. Die beiden Glasröhren tauchten noch ins Wasser ein, und zwar mit einer trichterförmigen Erweiterung.
»Es ist dies ein kleiner Experimentierapparat. Die Flüssigkeit ist reines Wasser, kann sich in den zwei Jahren nicht viel geändert haben.
Dieses Metall aber ist ein ganz besonderes. Nur sein Name wird verraten: Bossit. Nach seinem Erfinder so benannt. Es besitzt die Eigenschaft, nur durch die bloße Berührung Wasser in seine beiden Elemente zu zerlegen, in Sauerstoff und Wasserstoff; ohne sich abzunutzen oder sich selbst zu verändern. Passen Sie auf.«
Er schob den Stab herab, und sobald der weiße Streifen ins Wasser tauchte, begannen an seinen beiden Enden Perlen emporzusteigen.
»Am negativen Pol entwickelt sich Wasserstoff, am positiven Sauerstoff. So entsteht innerhalb der Flasche das höchst explosive Knallgas. Nun brauche ich aber den Stab nur so zu drehen, dass die beiden Enden des Streifens unter die Trichter kommen, und jedes Gas entweicht für sich, könnte für sich aufgefangen werden.
Wir warten eine kleine Weile, um etwa schon vorhandenes Knallgas auszutreiben — so, nun kann ich das Wasserstoffgas schon anzünden.«
Er zog ein Feuerzeug hervor, an der einen zur Spitze ausgezogenen Glasröhre entzündete sich eine weiße, kaum sichtbare Flamme.
»Hier verbrennt also das Wasserstoffgas, der Sauerstoff aus der anderen Röhre entweicht in die Luft. Er könnte natürlich auch in die Wasserstoffflamme geleitet werden, dann hätten wir eine harmlose, aber intensiv heiße Knallgasflamme.«
»Eine großartige Erfindung!«, staunte der Prinz. »Das kann ja eine Revolution auf der ganzen Erde hervorrufen!«
»Ja, wenn wir dieses unser Geheimnis preisgeben, würde alles, was mit Kohle, Petroleum und dergleichen zu tun hat, pleite gehen, Millionen von Menschen würden plötzlich brotlos sein. Aber das machen wir eben nicht, wir behalten unser Geheimnis für uns selbst.
Was Sie nun hier im Kleinen sehen, ist hier unter diesem Tische im Großen angebracht. Dieser Tisch ist nämlich zugleich ein Heiz- und Kochofen. Hier in der Mitte sind einige runde Platten eingelassen, nimmt man diese heraus, so passen in die Vertiefungen genau die Töpfe und Pfannen, die dort in dem Schranke in Reih und Glied stehen. Hier sehen Sie einige Hebel, die alles regulieren. Dieser hier verwandelt den Tisch in den Kochherd, die Hitze wirkt nur nach oben, dieser hier lässt eine wohltuende Wärme nach allen Seiten hin ausstrahlen, was man in bedeutenden Höhen selbst im Sommer sehr gut gebrauchen kann. Der freiwerdende Sauerstoff verpufft dabei in die Luft, und den hat man in großen Höhen ebenfalls sehr nötig.
In diesem Ofen hier wird also nur normaler Wasserstoff entwickelt.
Nun ist aber oben auf dem Dache der Gondel noch eine andere Vorrichtung, in welcher durch dasselbe Metall das Wasser in anderer Weise zerlegt wird.
Dort muss der Wasserstoff erst einen besonderen Behälter passieren, in dem er in Coronium verwandelt wird.
Dass diese Vorrichtungen noch intakt sind, weiß ich, da brauchte ich gar nicht erst nachzusehen, wenn ich es dann natürlich auch tue. Meine Sorge galt nur der Ballonhülle und fast mehr noch dem Tauwerk, diese Sorge hat sich aber eben erledigt.
Also ich kann den Ballon ganz mit Coronium füllen. Dann würde er, abgerechnet sein eigenes Gewicht, immer noch 35 000 Kilogramm tragen.
Das ist natürlich nicht angängig.
Was dann passierte, wenn der so gefüllte Ballon von seinen Fesseln freigegeben würde, das ist gar nicht anzudenken. Er würde sofort in ungemessene Höhen hinaufschießen.
Also hätten wir dem Ballon, um diese Gondel in normaler Weise zu tragen, viel, viel kleinere Dimensionen geben müssen.
Aber nun diese doch sehr stattliche Gondel, getragen von einem geradezu winzigen Ballon — das würde doch sehr, sehr auffallen.
Da würden die beobachtenden Menschen doch gleich sagen: Halt, das muss ein ganz besonderer Luftballon mit irgend einer wunderbaren Erfindung sein.
Und das wollen wir eben vermeiden.
Unser Ballon besitzt eine stattliche, aber durchaus keine anormale Größe, und dasselbe gilt von der Gondel.
Ihn unsichtbar machen? Als er konstruiert wurde, besaßen wir jene Erfindung noch nicht, jeden Gegenstand durch einen metallischen Überzug lichtdurchlässig, also für das menschliche Auge unsichtbar zu machen, und diese Unsichtbarmachung besitzt auch ihre großen Nachteile, denen das lenkbare Luftschiff, der Helios, denn auch wirklich zum Opfer gefallen ist.
Wie, Hoheit, ist da nun Abhilfe zu schaffen? Dass wir einen so großen Ballon benutzen und als tragendes Gas das so überaus leichte Coronium?«
»Er wird einfach der Hauptsache nach mit Luft gefüllt, dann wird nur noch so viel Coronium hinzugegeben, wie die Tragfähigkeit erfordert!«, entgegnete der Prinz.
»Erraten! Nein, Ihr Scharfsinn hat sofort das Richtige erkannt! Denn gar so einfach ist die Sache denn doch nicht, manch anderer wäre doch nicht sogleich darauf gekommen.
Oben auf dem Gondeldache befindet sich ein kleiner Motor, durch Knallgas getrieben. Der treibt wieder eine kleine, aber mächtig wirkende Rotationspumpe.
Mit dieser pumpen wir den ganzen Ballon voll Luft, was in mindestens drei Stunden geschehen ist.
Dann lassen wir Coronium zu, welche natürlich nach oben steigt, die überschüssige Luft nach unten hinausdrängt.
Wie viel Coronium nötig ist, um den Ballon für die Gondel tragfähig zu machen, darüber wollen wir jetzt keine Berechnung anstellen.
Man braucht ja einfach nur zu beobachten, danach wird reguliert.
Der gefüllte Ballon wird sich nach und nach aufrichten, wird zu schweben anfangen, wird sich senkrecht vor die Gondel spannen, bis er diese emporhebt.
Nun hat man es ja ganz in der Hand, durch Zuströmen von noch mehr Coronium den Ballon immer mehr steigen zu lassen, durch ein oberes Ventil lässt man es wieder entweichen, der Ballon senkt sich wieder, bis die Gondel fest auf dem Boden steht.
Die Berechnung wäre auch umso schwieriger, weil es nämlich noch ein anderes Mittel gibt, um den Ballon steigen und fallen zu lassen.
Sie wissen doch natürlich, dass sich jedes Gas durch Wärme ausdehnt.
Man kann ja auch einen Ballon schon mit erhitzter Luft aufsteigen lassen.
Und dieses Coronium besitzt nun diese Eigenschaft in außerordentlichem Grade.
Auf 100 Grad erhitzt, ist es schon zehnmal so leicht wie Wasserstoffgas.
Nun gehen durch den Ballon einige Röhren, welche von hier unten aus erhitzt werden können — wollten Sie etwas sagen?«
»Das ist aber doch eine gefährliche Geschichte!«
»Wieso?«
»In dem Ballon befindet sich jetzt doch Knallgas. Wie leicht kann da eine furchtbare Explosion stattfinden.«
»Ausgeschlossen. Dieses Gas, aus gewöhnlichem Wasserstoff in Coronium umgewandelt, ist nämlich überhaupt nicht entzündbar, brennt so wenig wie Kohlensäure.«
»Aaaah!«
»Ja. Also dann können wir das wohl riskieren. Wir könnten das Innere des Ballons sogar durch direkte Flammen erwärmen; aber es sind Röhren vorhanden.
Nun will ich gleich noch von der Ballonhülle sprechen.
Sie besteht aus keiner Seide, sondern aus Kautschuk. Allerdings einem ganz besonders präparierten Kautschuk mit ganz besonderen Eigenschaften.
Diese Kautschukumhüllung ist eine doppelte, und dazwischen befindet sich eine Masse, die nun erst recht ganz besondere Eigenschaften hat.
Man könnte von einer Panzerung sprechen, obgleich die Widerstandsfähigkeit auf etwas ganz anderem beruht als auf Festigkeit, eher auf dem Gegenteil.
Es ist eine fettähnliche oder auch gallertartige Masse, fest zusammenhängend, aber von äußerster Beweglichkeit.
Eine Gewehrkugel kann die Ballonhülle ruhig durchschlagen, diese Masse schiebt sich sofort vor das Loch, ohne doch hervorzuquellen, also ist das Loch wieder hermetisch geschlossen.
Dann braucht man nur von dem flüssigen Kautschuk, von dem dort ein ganzer Tank voll vorhanden ist, etwas darauf zu schmieren, er erstarrt schnell, und die Sache ist wieder all right.
Das Beschmieren mit Kautschuk wäre schließlich gar nicht nötig, das Loch ist auch so verstopft, weil jene Masse eben nicht hervorquillt. Aber besser ist es doch, man gibt auswendig und bei Gelegenheit auch inwendig wieder eine Schicht Kautschuk darauf. Dann ist die Ballonhülle überhaupt so gut wie unbeschädigt, sie wird dadurch sogar nur immer widerstandsfähiger.
Also der Ballon kann von einer ganzen Salve von Gewehrkugeln getroffen werden — macht nix, jedes Loch verstopft sich sofort von selbst wieder.
Dasselbe gilt für eine zweizöllige Granate aus einem Revolvergeschütz. Das Loch schließt sich sofort von selbst wieder.
Das ist oft genug ausprobiert worden, und diese Masse verliert nie ihre Eigenschaften, daraufhin brauchte ich sie dann erst gar nicht zu prüfen, obgleich ich es natürlich tun werde.
Etwas anderes ist es ja, wenn der Ballon von einer größeren Geschützkugel oder Granate durchschlagen wird.
Es hat eben alles seine Grenze.
Dann vermag sich jene Masse nicht mehr vor das Loch zu schieben.
Aber herausquellen tut sie dann immer noch nicht, sondern, wenn sie sich nicht mehr auszudehnen vermag, so erstarren ihre Ränder.
Dann also wird sich der Ballon natürlich entleeren.
Zu einem Sturz braucht es deshalb aber noch lange nicht zu kommen, so schnell geht die Entleerung nicht, auch nicht durch ein außerordentlich großes Loch.
Dann muss dieses unten am Boden eben wieder verklebt werden, daraufhin zieht sich die Fettmasse auch wieder zusammen, der Ballon wird wieder frisch gefüllt.
Oder dieses Verkleben kann auch während des Abfallens vorgenommen werden, man muss nur schnell genug sein, dann braucht überhaupt gar keine unfreiwillige Landung zu erfolgen.
Die Gondel selbst ist wirklich gepanzert, von keinem Geschoss irgend welcher Art zu durchschlagen.
So, das ist das Notwendigste gewesen, was ich Ihnen zu erklären hatte.
Alles Weitere werden Sie während der Füllung und Fahrt selbst kennen lernen.
Nun wollen wir uns hinausbegeben und die Füllung vornehmen.
Oder haben Sie erst noch etwas zu fragen, Hoheit?«
»Also lenkbar ist der Ballon nicht?«
»Nein. So wenig wie irgend ein anderer Freiballon!«
»Ja, wie können Sie denn da so gewiss einen bestimmten Ort aufsuchen?«
»Nun, indem man die verschiedene Luftströmungen aufsucht und benutzt.
Je mehr die Luftregion erforscht wird, desto mehr erkennt man, dass die verschiedenen Schichten der Atmosphäre immer von den verschiedensten Luftströmungen durchzogen werden.
Eine Gleichmäßigkeit gibt es nirgends, es ist ein ewiges Hin- und Herbalancieren.
Über die Erde hinweg braust ein Nordsturm. Er wird nach oben hin schwächer und schwächer, macht auch schon vielleicht eine Drehung mehr nach Westen. Dann kommt eine Region der absoluten Windstille. Und über dieser braust wieder ein Sturm aus Süden oder Osten. Und so geht das immer weiter. Der Luftschiffer Forst, der 10 800 Meter hoch ging, die höchste Höhe, die je erreicht wurde, hat nicht weniger als elf solcher Luftströme beobachtet, die alle aus ganz verschiedenen Richtungen kamen, oder es herrschte eben Windstille.
Diese nutzen wir aus, und das können wir, indem wir ganz nach Belieben steigen und fallen können, und zwar auf noch ganz andere Höhen als 10 000 Meter.
Das lenkbare Luftschiff ist das Dampf- oder Motorschiff. Der Freiballon ist das Segelschiff. Wir kehren wieder zur alten, guten Segelschifffahrt zurück.«
Jubelnd klatschte Lady Lionel in die Hände.
»Bravo, bravo! Eine Fahrt in einem lenkbaren Luftschiff hat mich nie reizen können, so wie ich auch immer das Segelschiff einem Dampfer vorgezogen habe!«
»Ja, wir sind die echten Segler der Lüfte!«, bestätigte Mister Lytton.
»Natürlich gehört eine große Erfahrung dazu, um diese verschiedenen Luftströmungen auffinden und ausnutzen zu können.
Diese Erfahrung besitze ich bereits.
Allerdings ist es dann noch immer nicht so leicht, einen bestimmten Ort ganz genau auffinden zu können, um dort zu landen.
Man weiß ja nicht, was in den oberen und unteren Schichten für Luftströmungen herrschen, während man sie aufsucht, wird man wieder ganz anderswohin verschlagen, und das Aufsteigenlassen von kleinen Versuchsballons respektive ihr Hinabschicken ist eine sehr problematische Sache.
Aber es gibt ein Mittel, um dennoch immer genau zu wissen, woher oben und unten der Wind weht.
Ich werde dazu das hellsehende Kind benutzen, und so ist es möglich, schließlich ganz genau auf dem beabsichtigten Punkte vor Anker zu gehen.
Nun wollen wir die Ballonhülle näher untersuchen und die Füllung vornehmen.«
Sie begaben sich wieder hinaus. Mister Lytton gab den Cowboys und Matrosen Anweisungen, wie sie die Ballonhülle zu legen hatten. Dann begab er sich auf die Plattform der Gondel, die von außen wie von innen durch eine Falltür auf Steigeisen zu erklimmen war.
Sie war mit einem Geländer umgeben, in der Mitte befanden sich der Gaserzeuger, der Motor und die Rotationspumpe, alles nur niedrig und wenig Platz beanspruchend.
Wie sich Lytton schnell überzeugte, war alles noch in tadelloser Ordnung, nicht einmal das Wasser in dem Gasapparat hätte durch neues ersetzt zu werden brauchen. Doch wurden auch die inwendig angebrachten Wassertanks geleert, gereinigt und aus dem Bache frisch gefüllt, da es zugleich Trinkwasser sein sollte.
Dann wurde die Rotationspumpe durch einen Schlauch mit dem zusammengeklappten Ballon verbunden, dessen untere Öffnung, die ja sonst immer offen sein muss, damit überschüssiges Gas entweichen kann, durch eine einfache Vorrichtung einstweilen verschlossen.
Lytton zeigte, wie der Motor angestellt wurde, was aber in der Gondel selbst durch Hebel dirigiert werden konnte, wie alles andere auch, die Pumpe begann zu arbeiten, die Ballonhülle langsam zu schwellen.
Dies alles musste schon im Lichte von Lampen und Fackeln geschehen, wenn auch im Freien noch heller Tag herrschte; hier unten aber war es doch schon ganz finster.
Unterdessen wurde schon das Gepäck der Passagiere herbeigeschafft, wenig genug, und Mister Lytton hatte gar nichts dergleichen mitgebracht. Seine Garderobe befand sich noch von früher unversehrt in der Gondel.
Die Konserven in den Büchsen, von denen man einige untersuchte, erwiesen sich noch als tadellos erhalten.
»Aber abgeben kann ich Ihren Leuten nichts davon, soviel Zentner hier auch aufgestapelt sind. Sie sind für Menschen bestimmt, die sich schon seit drei Monaten nur noch von Flechten und Wurzeln und höchstens von einigen Vogeleiern ernähren.«
Die drei Stunden waren noch nicht vergangen, als sich der ungeheure Ballon schon vollkommen zu einer Kugel, die nur ein klein wenig länglich gestaltet war, aufgeblasen hatte.
Nirgends entwich die eingepumpte Luft. War bei der Landung ein Riss entstanden, so hatte die Zwischenmasse ihn eben selbsttätig wieder geschlossen.
Mister Lytton machte mit Absicht an einer Stelle ein Loch hinein, um zu zeigen, wie es sich von selbst gleich wieder schloss, mehr noch aber, um zu zeigen, wie dann der flüssige Kautschuk darauf geschmiert wurde, der schnell erstarrte.
»Denn es kann mir doch einmal etwas zustoßen, dass Sie solche Arbeiten allein ausführen müssen. In die Bedienung der Hebel weihe ich Sie nach und nach ein. Jetzt also erst, wie man die Luftpumpe abstellt und dafür den Gasentwickler in Tätigkeit setzt. Das Coronium nimmt seinen Weg in den Ballon durch den selben Schlauch.«
Die Folgen dieser Gaslassung waren bald bemerkbar.
Der Ballon, der zuerst durch sein eigenes Gewicht abgeplattet dalag, wurde lebendig, die Abplattung wurde immer geringer, und zuletzt richtete sich der Ballon auf, mit der etwas eiförmigen Spitze nach oben.
Denn oben ansammeln musste sich das bedeutend leichte Coroniumgas ja immer. Und wenn sich der Ballon nun einmal aufrichtete, so war er durch das unten angebrachte Gegengewicht auch gezwungen, diese richtige Stellung anzunehmen, dann drängte sich eben das leichte Gas auch ganz nach oben.
Unten die große Klappe war wieder geöffnet worden, die überschüssige atmosphärische Luft wurde dort hinausgedrängt.
Und nicht lange währte es, so begann der Ballon zu schweben. Nun war er aber auch gezwungen, sich direkt über die Gondel zu legen, wo die Verbindungsseile immer kürzer gezogen wurden, bis sie ihre normale Länge erreicht hatten.
Die Gasfüllung ging weiter.
»Wie viel Gas einströmt, kann nicht kontrolliert werden, solch eine Vorrichtung ist nicht vorhanden, weil sie eben absolut unnötig ist!«, erklärte Mister Lytton. »Wenn der Ballon die nötige Tragkraft hat, um die Gondel zu heben, das werden wir schon merken, dann wird wieder ein wenig Gas durch das obere Ventil, dessen Zugschnur Sie hier sehen, herausgelassen, und dann ist das nötige Gleichgewicht eben wieder hergestellt, bis wir die Abfahrt antreten.«
Noch eine Viertelstunde verging, von einem Heben der Gondel war noch nichts zu merken.
Der Prinz, die Lady, Fred und Deasy befanden sich in der Gondel, erleuchtet von Gasglühlicht, probierten schon die wohnlichen Einrichtungen und suchten nach immer neuen Überraschungen.
Das Gepäck war untergebracht worden. Die beiden Männer, die es hereingeschafft und verstaut hatten, verließen ziemlich gleichzeitig die Gondel.
In diesem Augenblick war es dem Prinzen, als wenn er unter seinen Füßen einen leisen Druck nach oben empfinde.
Er dachte sich nichts weiter dabei, die anderen hatten gar nichts davon gemerkt.
Da plötzlich draußen ein Schreien.
»Das obere Ventil ziehen, das obere Ventil ziehen!«, überertönte Mister Lyttons Stimme die der anderen.
Hallo, was war denn das?!
Diese Stimmen klangen doch nicht draußen, sondern unten, wie in großer Tiefe!
Der Prinz sprang nach der Tür, um vollends hinaus zu springen.
Noch im letzten Augenblick erkannte er, was dann passiert wäre, er führte den letzten Schritt nicht aus, hielt sich mit den Händen im Türrahmen fest.
Tief, tief unter sich sah er die Lichter der Lampen und Fackeln!
Der Ballon mit der Gondel war abgeflogen! Die beiden Männer hatten also ziemlich gleichzeitig die Gondel verlassen, da war der Punkt gerade eingetreten gewesen, dass der Ballon die Gondel heben konnte, das Gewicht der beiden starkgebauten Männer mochte zusammen drei Zentner betragen, dieses plötzliche Fehlen hatte genügt, um den Ballon sofort empor schnellen zu lassen.
»Das Ventil ziehen und den großen Hebel abdrehen!«, erklang unten nochmals Mister Lyttons Stimme.
Der Prinz schlug die Tür zu, sprang hin, wo sich die Ventilschnur befand, die ihm Lytton gezeigt hatte.
Ja, wo war die denn jetzt?
Der Prinz sah sie nirgends.
»Das obere Ventil ziehen und den großen Hebel abdrehen!«, erklang es immer undeutlicher.
Die Ventilschnur sah der Prinz also nicht.
Und der große Hebel?
Dort war ein großer Hebel.
Ob Lytton gerade den gedreht hatte, um das Coronium anzustellen, wusste der Prinz nicht genau, so war er noch gar nicht eingeweiht worden, aber er glaubte es.
Nach links oder rechts drehen?
Der Prinz drehte versuchsweise nach rechts.
Versuchsweise? Was hieß das?
Ob die Gondel stieg oder fiel, davon war absolut nichts zu merken. Sie schien ruhig auf einer Stelle zu stehen.
»Wir sind ohne Mister Lytton abgeflogen?«, meinte Lady Lionel. »Ei, das ist ja famos! Da wollen wir nur ohne ihn auch die Reise fortsetzen.«
»Es ist nicht meine Schuld, das hätte der selbst wissen müssen, dass so etwas passieren könnte!«, murmelte der Prinz.
Er suchte ein Fenster und fand keines.
Auch die zugeschlagene Tür konnte er nicht wieder öffnen.
Die augenblickliche Verwirrung, in der er sich doch befand, mochte daran schuld sein.
Von den Stimmten unten hörte man nichts mehr.
Da fiel sein Blick auf ein großes Dosenbarometer, das an der Wand hing.
Es zeigte 1400 Meter Höhe an.
1400 Meter?
Das Plateau des Makifelsens lag ja, wie der Prinz mit einem eigenen Barometer konstatiert, das er aber jetzt nicht bei sich hatte, nur 800 Meter über dem Meeresspiegel.
Also ging dieses Barometer nicht, war auf 1400 Meter stehen geblieben oder arretiert.
Es ging nicht?
Im nächsten Augenblick bemerkte der Prinz, dass sich der Zeiger sogar ganz rapid herumdrehte!
Jetzt war er bereits auf der 1500 — zehn Meter weiter — 1520 — 30 — 40 — 50 — 1600 Meter! Und so ging der Zeiger weiter!
»Heiliger Gott, wir befinden uns schon hoch über dem Plateau und steigen höher und höher!«
»Na, warum sollen wir denn nicht?«, meinte Lady Lionel, die eben einmal die Koje probierte, und Deasy klatschte jubelnd in die Hände, während Fred konstatierte, dass man von dieser Steigerei doch gar nichts merke.
2000 Meter!
Der Prinz gab es auf, nach der Ventilschnur zu suchen, drehte bei 2200 Metern den großen Hebel nach der anderen Richtung herum.
Die Folge davon war, dass sich der große Zeiger nur immer schneller drehte, die vollen Hundertzahlen auf einen kleineren übertragend, die Tausender auf einen noch kleineren, und es währte denn auch kaum eine Minute, so war die 3000 erreicht.
»Um Gottes willen, wir steigen noch immer, was sollen wir denn nur machen?!«
»Schlafen!«, gähnte Lady Lilly in ihrer Koje.
Der Prinz sah nach seinem Chronometer. Es war gleich halb acht, da war hier schon die Nacht angebrochen.
Bisher mochten drei Minuten vergangen sein. In weiteren fünf Minuten zeigte das Barometer eine Höhe von 4000 Metern an, und der Prinz drehte noch immer an den verschiedensten Hebeln herum, sich dabei bewusst, dass er dabei nur ein Unglück anrichten konnte.
Aber dieses geschah nicht.
Er drehte das Gasglühlicht aus und wieder an, er heizte den Ofen zum Kochen und zum Wärmen, bis in dem Raume eine Backofentemperatur herrschte, das wusste er wieder abzustellen, er stellte auch noch verschiedenes andere an und ab — aber das Steigen des Barometers konnte er nicht abstellen.
Ob es die Höhe auch wirklich anzeigte?
»I, das dreht sich nur so zum Vergnügen im Kreise herum!«, meinte Lady Lilly.
Das glaubte der Prinz nun aber nicht! Das zeigte schon wirklich die Höhen an, in denen man sich immer befand.
»Hier ist ein Kompass!«, sagte Fred, der einen neuen Schrank untersucht hatte.
Den hatte der Prinz selbst bei sich.
Beider Nadeln wiesen vorschriftsmäßig nach Norden.
Aber was sollte man damit anfangen?
»Fliegen wir denn auch seitwärts?«, fragte der Junge oder mehr schon ein stattlicher Jüngling.
»Wie soll man denn das hier in der geschlossenen Gondel konstatieren können?«
»Das kann man nicht?«
»Und wenn uns der stärkste Sturm fortriss, wir würden nicht das Geringste davon merken.«
Eine weitere halbe Stunde verging.
Der Barometerzeiger drehte sich langsamer und langsamer, aber doch ständig, und jetzt waren bereits die 7000 Meter voll.
Der Prinz drehte noch immer an den Hebeln und Ventilen herum.
»Lassen Sie doch nur endlich Ihre dumme Dreherei!«, ließ sich Lady Lilly aus ihrer Koje vernehmen. »Oder wenn Sie durchaus drehen wollen, dann drehen Sie den Ofen an. Das ist ja eine Hundekälte hier, und die Luft, die man atmet, ist gerade so, als wenn man wässerige Milch trinkt.«
Ja, es war schon längst ganz empfindlich kalt geworden und die dünne Luft kaum noch atembar. Die Glieder wurden schon schwer wie Blei, jetzt merkte es der Prinz..
Nun, den Ofen konnte er andrehen, dass er Wärme spendete, das verstand er jetzt. Die sich schnell bemerkbar machende Wärme wurde außerordentlich angenehm empfunden, ebenso aber auch der überschüssige Sauerstoff, den der Ofen der Luft mitteilte. Und es war ja hauptsächlich der Mangel an Sauerstoff gewesen, der sich so unangenehm bemerkbar machte, die Dünne der Luft hatte viel weniger zu sagen.
»Gute Nacht!«, sagte Lady Lilly in ihrer Koje.
»Steigen wir noch immer? Ja? Gut so. Wenn wir auf dem Monde oder auf sonst einem Himmelskörper landen, dann wecken Sie mich, nicht eher. Gute Nacht.«
Sie schloss die Augen. Deasy war in ihrer Koje bereits eingeschlafen.
Der Prinz und Fred untersuchten weiter die Hebel und Ventile, ob sie das Steigen nicht abstellen könnten.
Wir überspringen nicht weniger als vierzehn Stunden. Endlich oder auch schon längst hatte der Prinz den Ballon in seine Gewalt bekommen.
Jetzt wusste er, wie er ihn nach Belieben steigen oder fallen lassen konnte.
Er zog es vor, ihn in der Höhe von 8000 Metern, die sie zuletzt erreicht hatten, zu halten.
Denn wenn sie nun von einem heftigen Winde nach Norden getrieben wurden?
Dort befand sich das Himalajagebirge.
Und wenn der Ballon heftig gegen eine Felswand geschleudert wurde, dann würde die Zwischenfütterung wohl vor keinem Zerplatzen oder Zerreißen schützen, dasselbe galt für einen bewaldeten Abhang und für vieles Ähnliche mehr.
Also da sich lieber in dieser beträchtlichen Höhe halten, die dann aber auch genügte, um über das Himalajagebirge zu kommen, ein unglücklicher Zufall müsste sie denn gerade gegen die drei höchsten Bergesriesen treiben.
Auszuhalten war es ja in dieser Höhe noch ganz gut, das heißt hier in dieser besonderen, luftdicht schließenden Gondel, die geheizt und mit Sauerstoff versehen werden konnte, und wenn sich der Prinz nicht irrte, musste auch eine Vorrichtung vorhanden sein, um die ausgeatmete, überschüssige Kohlensäure wegzuschaffen, denn von einer Verschlechterung der Luft war nichts zu bemerken.
So war er jetzt ausschließlich damit beschäftigt, nach einem Fenster zu suchen, oder wie sich die Tür wieder öffnen ließ oder die nach oben führende Klappe.
Die kleine Deasy war ihm dabei behilflich; vielleicht dass es ihren Kinderhändchen endlich gelang. Fred war von der Müdigkeit überwältigt worden, Lady Lionel schlief noch immer wie ein Murmeltier.
Aber auch die Kinderhändchen wollten kein Glück bringen.
Konnte nicht Deasys hellsehende Gabe dazu benutzt werden?
Hatte Lytton nicht gesagt, er wolle dadurch auch die verschiedenen Luftströmungen in den verschiedenen Höhen erfahren?
Der Prinz wusste gar nicht, wie er das hätte anfangen sollen, so verzichtete er vorläufig auf solch einen Versuch, Deasy erst in Trance zu versetzen. Vielleicht kam ihm noch ein guter Gedanke.
»Donner und Doria, habe ich einen Wolfshunger!«
Mit diesen Worten sprang Lady Lilly aus ihrer Koje heraus.
Und da plötzlich war das Wunder geschehen, wenn sich auch nicht die gesuchte Öffnung auftat.
Sie hatte sich beim Herausspringen aus ihrer oberen Koje an einem Handgriff an der Wand festgehalten, der aber ließ sich drehen, und plötzlich war die Decke der Gondel durchsichtig geworden, als bestände sie aus reinstem Glas.
Über sich sah man den riesigen Ballon.
Eine weitere Drehung jenes bisher ganz unbeachteten Griffes, und auch die Wände der Gondel wurden durchsichtig, soweit sie nicht mit Schränken und dergleichen verdeckt waren.
Noch eine Drehung und dasselbe galt auch für den Boden.
Und was erblickte man?
Tief unter sich die Erde als eine flache Ebene mit Farbenunterschieden von Grün und Gelb und Braun, dies alles vom Scheine der hochstehenden Sonne übergossen, nichts weiter.
Um mehr unterscheiden zu können, dazu war die Höhe doch noch zu groß, zumal der Prinz sein Taschenfernrohr nicht bei sich hatte und kein anderes fand.
Jetzt ließ er den Ballon schnell sinken.
»Habt Ihr immer noch kein Fenster gefunden?«, fragte die Lady.
»Nein.«
»Das macht man doch ganz einfach so.«
Und wahrhaftig, sie hatte sofort entdeckt, wie eine Rolljalousie herabzulassen war, und nicht etwa, dass dies erst jetzt erkenntlich war.
Diese Rolljalousie war schon immer zu sehen gewesen, man hatte sie nur nicht öffnen können.
Doch die Lady konnte sie nur so weit herablassen, dass eben ein schmaler Spalt entstand, weiter kam sie nicht, dann fiel ihr der Prinz in den Arm.
»Um Gottes willen nicht das Fenster öffnen!«
»Warum denn nicht?!«
Wortlos deutete der Prinz auf die durchsichtig Wand.
Dort sah man draußen ein großes Thermometer angebracht.
Es wies auf 45 Grad Celsius unter Null.
Man befand sich im Monat Mai, dort unten war offenbar eine üppige Vegetation, die Sonne brannte herab — aber in 8000 Meter Höhe kann solch eine sibirische Kälte herrschen, Besonders wenn die Luft überhaupt sehr dünn ist.
Und was geschehen würde, wenn diese sibirische Kälte plötzlich in den warmen Raum drang, das war für die leichtbekleideten Menschen kaum auszudenken. Sie konnten sofort Nase und Ohren und Hände erfrieren.
Der schmale Spalt war schnell wieder geschlossen worden.
Wie der Ballon sank, so stieg auch draußen das Quecksilber.
Man wurde nach Süden getrieben. Mit welcher Geschwindigkeit, das wollte man lieber nicht beurteilen, da konnte die perspektivische Täuschung eine zu große sein.
Nur so viel glaubte der Prinz konstatieren zu können, dass die scheinbare Geschwindigkeit mit der Tiefe nicht zunahm. Daraus eben durfte man schließen, dass der Wind sich immer mehr abschwächte, je tiefer man sank; denn sonst hätte sich doch, je mehr man sich der Erde als festem Gegenstand näherte, die Geschwindigkeit immer mehr steigern müssen.
»Wo mögen wir sein?«
Aufmerksamer spähte der Prinz unter sich.
Immer noch waren nur die grünen Felder von den gelben zu unterscheiden, die letzteren konnten aber ebenso gut gelbe Sandflächen sein, das Grüne dort Wald. Nur ließen sich jetzt schon die weißen Streifen erkennen, jedenfalls Landstraßen, dort die silberne Schlange war ein Fluss, ein Strom.
»Es wird die hindustanische Tiefebene sein, wir sind eben immer langsam nach Süden getrieben!«, meinte der Prinz dann.
Er sollte bald eine Lektion bekommen, wenn es heißt, so etwas nach einer Fahrt im Ballon beurteilen zu wollen, wenn man sich nicht orientieren kann.
Bei 2000 Meter war das Quecksilber schon bis auf 0 Grad gesunken, und nun konnte man schon bedeutend mehr unterscheiden, auch die Menschlein dort unten erkennen, die mit Ochsengespannen auf den Feldern arbeiteten.
»Das sind doch Chinesen?!«, rief Deasy zuerst.
»Ja, es werden chinesische Kulis sein, die in Indien sehr viel zur Feldarbeit verwendet werden!«, bestätigte der Prinz.
»Dort die komischen Schiffchen auf dem Flusse! Werden die nicht von Menschen gezogen, die am Ufer gehen?«
Der Prinz strich sich unwirsch den Vollbart.
Solche Dschunken, die von Männern an Seilen gezogen werden, gibt es eigentlich in Indien nicht.
»Dort eine Stadt!«
Der Prinz brauchte sich nur umzudrehen, so sah er sie auch.
Und er sah die eigentümlichen Glockentürme mit den übergekippten Dachrändern, die ganze sonstige Bauart ...
»Kinder, wir sind in China!«
»Indem wir 14 Stunden lang immer nach Süden geflogen sind?«, fragte die Lady.
»Nein, das freilich nicht —«
Eine kleine Weltkarte hatte der Prinz bei sich, er zog sie zu Rat.
Sollte das Tibet sein?
Hatte man in nordöstlicher Richtung das Himalajagebirge überflogen?
Nein. Tibet ist ein kolossales Hochland, das Barometer zeigte jetzt 1500 Meter an und fast so hoch konnte die wirkliche Höhe geschätzt werden.
Gebirge waren nirgends zu erblicken, das sah dort unten überhaupt gar nicht nach Tibet aus, auf diesem Hochplateau wächst kein Reis, und das dort unten waren hauptsächlich Reisfelder, sie standen bei grüner Saat noch unter Überschwemmung.
»Ich gehe so tief, bis ich anrufen kann, da muss ich Gewissheit haben!«
Schnell sank der Ballon, indem der Prinz immer mehr Coronium ausströmen ließ. Die Ventilschnur hatte er schon längst wiedergefunden. Statt des Gases pumpte er manchmal etwas Luft nach. Alles funktionierte vortrefflich.
Jetzt hatten die Feldarbeiter und die Fußgänger und die Reiter auf der Landstraße und die Schiffer auf dem ansehnlichen Strome die Kugel in der Luft entdeckt, sie machten einander darauf aufmerksam.
Ihr Staunen war nicht allzu groß, von besonderer Bestürzung war gar nichts zu bemerken.
Die Chinesen haben noch niemals Aeronautik, wohl aber schon seit uralten Zeiten eine besondere Art von Feuerwerkerei betrieben. Dass Alt und Jung so gern Drachen steigen lässt, ist ja bekannt. Es sei hierbei erwähnt, dass die Chinesen diesen bei uns nur kindlichen Sport des Drachensteigens sehr interessant zu gestalten wissen, was schließlich auch bei uns einmal nachgeahmt werden kann, dann kann es auch bei uns ein wirklicher Sport werden.
Sie befestigen an den Drachen scharfe Messerchen, oben und an den seitlichen Ecken. Nun geht es zum Turnier. Die aufgestiegenen Drachen werden so gelenkt, dass sie einander zu nahe kommen, einer muss den andern zu »zerfleischen« suchen, und wer die tödliche Wunde bekommen hat, dieser Drache kann sich eben nicht mehr in der Luft halten, er stürzt herab.
Es ist wirklich höchst interessant, solche Einzel- und Massenkämpfe in der Luft zu beobachten, wie man es in der Nähe jeder chinesischen Stadt und Ansiedlung kann. Merkwürdig, dass wir das noch nicht nachgeahmt haben.
Ferner verstanden die Chinesen zusammengefaltete Papiere in die Luft zu schleudern, wohl auch durch Pulverkraft, durch Raketen, aber auch mit Pusterohr oder Bogen, hoch in der Luft faltet sich das Papier auseinander und schwebt in abenteuerlichen Gestalten, meist von Drachen und anderen Tieren, langsam wieder herab. Oder es wird auch mit heißer Luft gearbeitet. Man lässt volle Lindwürmer und andere Tiere emporsteigen, oder auch Kugeln, dann aber von riesenhaften Dimensionen, nur dass sich kein Mensch daran hängt. Die Ballons sind immer nur von dünnem Papier.
Also die große Kugel dort oben konnte die Chinesen nicht weiter irritieren. Sie lassen noch ganz andere Papierballons aufsteigen. Dazu müssen sie als Gegengewicht auch etwas dranhängen. Es hat manchmal die Gestalt eines ganzen Hauses oder Tempels.
600 Meter!
Das heißt, das war die absolute Höhe, die das Barometer angab.
In Wirklichkeit schwebte die Gondel kaum noch 100 Meter über dem Erdboden.
Es musste also doch wohl ein Hochplateau sein, über dem sie sich befanden.
Jetzt wurden die Menschen dort unten doch unruhig, sie begannen zu laufen, der Ballon war ihnen doch nicht mehr ganz geheuer.
Der Prinz ließ eines der Rollfenster herab, er atmete milde Frühlingsluft.
Er suchte in seinem chinesischen Wortschatz.
»Wo sind wir hier? Was ist das dort für eine Stadt?«, schrie er hinab.
Gehört konnte er wohl werden.
Ein Feldarbeiter ließ sein Ochsengespann im Stich, auch andere Menschlein raunten davon.
Dort auf der Landstraße hielt ein Reiter im bunten Kostüm, beugte den Sonnenschirm und den Zuckerhut mit dem breiten Rande weit zurück, um besser hinaufsehen zu können.
Der schien also keine Furcht zu kennen.
»Was ist das dort für eine Stadt?«, schrie der Prinz nochmals durch die trichterförmig zusammengelegten Hände.
»Seid Ihr Anglisi?«, schrie der Mann zurück, gleich so ziemlich das Richtige vermutend und nun seinen englischen Wortschatz zu Hilfe nehmend.
»Ja, wir sind Engländer. Was ist das dort für eine Stadt?!«
»Singin.«
»Wo liegt die, was für eine Provinz?«
»Provinz Kukunor.«
Immer noch ein Name, den der Prinz noch nie gehört hatte.
Ehe er auf der Karte nachsah, hatte die Lady eine wichtige Entdeckung gemacht.
»Das große Grüne dort im Norden, das ist ja gar kein Feld, das ist ein großer See mit grünem Wasser!«
Ja, jetzt erkannte es der Prinz auch. Das war für die Orientierung sehr wichtig.
»Was ist das für ein See dort im Norden?!«
»Der Kukunor! 37 Grad nördliche Breite, 100 Grad östlich von Greenwich.«
Hallo, das war ja ein äußerst gebildeter Chinese! Denn einen Zopf hatte er hinten baumeln.
Nun, man befand sich eben in einer Gegend, die noch ganz unter europäischem Einflusse stand.
Der Prinz prüfte die Karte.
Er suchte nach einem großen See, allerdings eigentlich ganz wo anders, zufällig las er den Namen Kukunor, dann auch Singin.
Und er erstarrte fast vor Schreck.
Die Breitengradangaben hätten es ihm eigentlich schon sagen können.
»Mitten im Herzen Chinas!«
Da kein Gas mehr ausgelassen wurde, stieg der Ballon jetzt unter den warmen Sonnenstrahlen schnell wieder.
»Wahrhaftig, mitten im Herzen Chinas! Deshalb scheint auch die Sonne, wie mir schon aufgefallen ist, hier ihren höchsten Stand schon erreicht zu haben, während es nach meiner Uhr erst um zehn ist.«
»Wie weit sind wir denn von Nepal entfernt?«
Es wurde auf der Karte gemessen.
»Rund 1800 Kilometer!«
Auch die Kosakin konnte im Kopfe schnell etwas Derartiges berechnen.
»In 14 Stunden hätten wir 1800 Kilometer gemacht?! Das ist doch nicht gut möglich!«
»Und warum nicht? Wir haben uns dort oben ständig in einem Sturm, in einem Orkan befunden, der uns immer nach Osten getrieben hat.«
»Wie fix ist denn so ein Sturm?«
»Es sind schon Geschwindigkeiten bis zu 50 Meter in der Sekunde gemessen worden. Das ist freilich ein furchtbarer Orkan. 1800 Kilometer in 14 Stunden? Das wären — rund 37 Meter in der Sekunde. Ein netter Sturm, aber auch nichts weiter. Kinder, wir sind mitten im Herzen Chinas!«
Man musste sich mit dieser Tatsache abfinden.
Der Chinese dort unten, der auch im Herzen Chinas so gebildet war — und warum nicht, es konnte ja ein Handelsherr sein, der vielleicht schon oft in Europa gewesen war — hatte ja sogar die Breiten- und Längengrade angegeben, und alles stimmte.
»Was nun?«
»Weiter segeln!«, entschied die Lady. »Immer dorthin, wohin uns der Wind treibt.«
Es würde auch nicht viel anderes übrig bleiben. Der Vergleich eines Freiballons mit einem Segelschiff ist doch nicht ganz zutreffend. Ein Ballon kann niemals eine andere Richtung einschlagen, als die der Wind nimmt, von einem Ankreuzen gar nicht zu sprechen. Es fehlt der andere Widerstand, wie beim Segelschiff das Wasser, in den ein Steuer eintauchen könnte.
Hier unten hatte Windstille geherrscht. Wie der Ballon durch die Ausdehnung der Wärme von selbst wieder stieg, nahm er eine nordöstliche Richtung an.
So kam er von selbst bis auf etwa tausend Meter, dann wollte er wieder sinken.
Der Prinz wollte Coronium zuströmen lassen.
Da aber zeigte es sich, dass die Sache doch noch nicht ganz in Ordnung war oder dass er sie nicht zu handhaben verstand.
Er hatte den Ballon wohl schon mehrmals steigen lassen, aber doch nur versuchsweise unbedeutende Höhen, sonst war er sich nur sicher gewesen, ihn fallen lassen zu können. Das hatte ihm genügt.
Nun aber, da er von dieser seiner Erfahrung ausgiebigen Gebrauch gemacht hatte, den Ballon bis ziemlich dicht über die Erde gebracht hatte, von wo er dann allein gestiegen war, konnte er ihn nicht wieder höher bringen.
Der Prinz hatte den Hebel angedreht, der das Coronium zuströmen ließ, aber ein Erfolg davon war nicht zu merken.
Nachdem sich der Ballon in den höheren Luftschichten abgekühlt hatte, begann er wieder zu sinken.
»Was ist das?!«
»Ein richtiger Backofen!«, jubelte Lady Lilly.
Sie hatte den vollen Tisch näher untersucht und diese Einrichtung darin gefunden.
Sie hatte von den Konserven eine Mahlzeit bereiten wollen, sie fand auch einige Blechkisten voll Mehl, und nun wurde gleich eine Bäckerei daraus. Das tat sie so gern, es war ihre Leidenschaft — weil die Kosakin so etwas sonst eben niemals tat. Alles andere war ihr jetzt ganz Nebensache.
Jetzt ließ sich auch oben die Falltür öffnen, der Prinz erklomm die Steigeisen an der Wand und betrat die Plattform.
Weshalb der Gasentwickler nicht funktionierte, konnte er nicht ermitteln.
Und der Ballon sank rapid.
»Das sieht bald aus, als ob das Ventil undicht wäre, als ob das Gas entwiche.«
Er erklomm den Ballon an dem Netzwerk — eine gefährliche Kletterei. Aber es war alles dazu eingerichtet, nur dem Anschein nach war es gefährlich.
Er konnte dieses Ventil oben überhaupt nicht finden, die Schnur verlief sich in einem unkontrollierbaren Gewirr von Stricken, konnte also nicht verfolgt werden.
Man sollte den Ballon ja auch von innen erwärmen können. Aber wie das gemacht wurde, wusste der Prinz noch weniger.
Und der Ballon sank weiter.
»Wir werden zu einer Landung gezwungen!«
»Dann suchen Sie sich nur nicht gerade dort das Wasser aus«, sagte Lady Lilly.
So sah es in der Tat bald aus, als ob das eintreten würde.
Der Ballon trieb direkt auf den See zu, nach wenigen Minuten befand er sich über dem Wasser, und das in einer Höhe von kaum 50 Metern.
Und er sank unaufhaltsam!
»Dort ist eine kleine Insel, auf der müssen wir landen!«
»Ehe wir die erreicht haben, liegen wir schon im Wasser.«
»Haben wir nichts Überflüssiges über Bord zu werfen?«
»Mich!«, war Lady Lillys prompte Antwort.
Alles lachte.
Tragisch wurde die Situation also durchaus nicht genommen.
»Wir lassen einfach Wasser aus.«
Es geschah. Wie die beiden Tanks, unter den Kojen befindlich, jeder eine halbe Tonne fassend, also einen halben Kubikmeter, geleert werden konnten, das hatte man ja schon in der Flucht erfahren.
Hier drin brauchte nur ein Hahn gedreht zu werden, dann lief das Wasser nach draußen ab.
Beide Hähne wurden gleichzeitig gedreht, um die Balance der Gondel nicht zu sehr zu verändern.
Es half, sofort stieg der Ballon wieder empor, immer noch direkt auf jene kleine Insel zuschwebend.
»Aber auf der können wir nicht landen.«
»Weshalb nicht?«
»Sie wird ganz von einem Gebäude eingenommen.«
So war es, beim Näherkommen erkannte man es.
Das Inselchen mochte 50 Meter lang und 40 breit sein und wurde fast ganz von einem hohen Gebäude bestanden. Nur dicht am Wasser entlang zog sich ein schmales Ufer mit Bäumen und Blumenbeeten hin.
Es war die einzige Insel, so weit man blicken konnte.
»Wir müssen doch landen, es bleibt nichts anderes übrig, oder wir fallen ins Wasser. Das Dach des Hauses ist ganz flach, so landen wir auf diesem.«
»Wird es die so gewichtige Gondel auch tragen?«
»Das werden wir schon sehen, wenn wir nur erst dort sind. Wenn wir nur auch so weiter treiben und vorher nicht tiefer sinken.«
Es sollte glücken. Der Ballon hielt seine direkte Richtung auf die Insel ein und war schon bedeutend höher als das Haus.
»Was mag das für ein viereckiger Steinbaukasten sein?«
»Wir werden es erfahren. Sieht aus wie eine Kaserne. Hat aber sehr wenig Fenster. Und dort liegen Boote, die Menschlein sind entsetzt, sie erwarten schon unseren Besuch, der ihnen nicht angenehm ist. Jetzt kommt's darauf an.«
Der Abfluss des Wassers war bereits abgestellt, die Gondel würde noch 20 Meter hoch über das Haus hinwegschweben.
Als der Ballon eben den Dachrand passierte, zog der Prinz mit aller Kraft die Ventilschnur, alles Gas musste entweichen.
Und der Ballon gehorchte denn auch sofort, er fiel schnell herab, doch rechtzeitig schloss das Ventil wieder, der Absturz mäßigte sich, und als der Boden der Gondel das flache Dach sanft berührte, öffnete der Prinz zum zweiten Male das Ventil, so weit es die Schnur zuließ. Der Ballon flog noch ein wenig weiter, dann ging er vollends herab, legte oder setzte sich selbst auf das Dach nieder, sich noch stark breitdrückend, sodass er wie ein unten abgeschnittenes Ei aussah, dicht neben der Gondel.
Die Länge der Verbindungsstricke hatte dieses Manöver erlaubt. Es war schon danach eingerichtet, dass sich der Ballon auf diese Weise neben der Gondel niedersetzen und auch ganz niederlegen konnte.
»Das war ein tadellos ausgeführtes Manöver, Sie erhalten von mir hiermit das Luftschifferpatent!«, lobte die Lady, immer noch an ihrem Kochherd herumhantierend. Jetzt konnten sie sorglos durch die Tür treten, die sich ebenfalls wieder öffnen ließ.
Erst vergewisserte sich der Prinz, dass der Ballon wirklich ganz fest lag, es hätte noch ein ganz anderer Wind wehen können, dann schritt er nach dem Rande des Daches, natürlich nicht ohne an seinen Revolver zu denken, auch die zurückbleibende Lady zur Vorsicht auffordernd.
Da erst sah er, was von der Mitte des Daches aus noch nicht möglich gewesen war, dass sich das halbe Dutzend eigentümlich geformte Boote, an die venezianischen Gondeln erinnernd, aber vorn als Schmuck phantastische Drachenköpfe tragend, bereits auf dem Wege nach dem Ufer befand, das etwa 400 Meter entfernt war.
Sie waren mit Chinesen dicht gefüllt, von denen sehr viele ein priesterähnliches Kostüm trugen und die alle durcheinander schnatterten, einen Heidenspektakel machten, sich offenbar in größter Angst befanden.
Der Prinz kehrte zurück, und jetzt konnte man die Boote auch von der Mitte des Daches aus sehen. Das ganze Ufer des Sees, so weit es zu überblicken, war mit vielen Villen bestanden, natürlich in chinesischem Stile, von reizenden Gärten umgeben, und deren Bewohner hatten sich schon am Ufer versammelt oder drängten mehr noch der Landungsstelle der Boote zu, um zu hören, was die Ankommenden ihnen verkünden würden.
»Es scheinen der Mehrzahl nach Priester gewesen zu sein, die vor uns von der Insel geflohen sind, und so viel ich aus ihrem Schreien gehört habe, glauben sie, der Gottseibeiuns sei ausnahmsweise vom Himmel herabgekommen.«
»Priester? Sollte das hier ein Tempel sein? Das sieht gar nicht wie eine chinesische Pagode aus.«
»Weshalb nicht?«
»Dieses flache Dach? Wo sind denn die charakteristischen Glockentürmchen?«
»Die sind nicht unbedingt nötig. Es gibt Pagoden, chinesische Tempel, die ganz anders aussehen, als wie wir sie unbedingt wiedergeben müssen. Es kommt ja ganz auf die Religion und Sekte an, der sie angehören.
Dort scheint übrigens eine Falltür zu sein.«
So war es. Gar nicht weit entfernt von der Gondel befand sich auf dem Dache, wie aber auch noch an anderen Stellen, eine viereckige Erhöhung, eine große Glastafel war eingelassen, die sich aber auch mit leichter Mühe als Fenster öffnen ließ, sich in Angeln drehend.
Während durch das Milchglasfenster noch nichts zusehen gewesen war, blickte der Prinz jetzt in eine weite Halle, mit schönen Teppichen belegt und behangen, und dann vor allen Dingen an den Wänden allüberall chinesische Götzen in allen Größen, von den kleinsten an bis zu den riesigsten Figuren, mehr als zehn Meter hoch, dabei noch in sitzender Stellung, meist sich vor Lachen den dicken Wanst haltend, aus Porzellan, Holz und Erz.
»Richtig, ein Tempel, der Pagode genannt wird, wie aber auch die darin befindlichen Götzenbilder heißen. Das ganze Priestervolk scheint vor uns geflüchtet zu sein. Nun, wir werden ja sehen.«
Weiter kümmerte sich der Prinz nicht um das Innere dieses Tempels, wohl aber stellte er Fred an, hier am offenen Fenster zu bleiben und das Innere im Auge zu behalten, Deasy sollte dasselbe mit der Oberfläche des Daches tun, während sich Lady Lilly mit der Fertigstellung des Frühstücks beschäftigte, was auch wirklich sehr nötig war, denn seit gestern Nachmittag hatten sie noch nichts gegessen.
Der Prinz ging an eine Untersuchung des Ballons, weshalb die Gaszufuhr nicht funktionieren wollte.
Das Frühstück war fertig, der Tee und die gewärmten Konserven und eine Art Fladen, auf der einen Seite noch ganz teigig, auf der anderen ganz verbrannt, was Lady Lilly stolz ihr selbstgebackenes Brot nannte — von Hefe oder Sauerteig schien sie keine Ahnung zu haben — wurden auf dem Dache der Gondel eingenommen, die Apparate gaben Tisch und Stühle ab, und der Prinz hatte den Fehler noch nicht gefunden.
Was daraus werden sollte, wenn dieser Fehler nicht gefunden wurde, wenn man nicht wieder per Ballon von hier fort konnte, davon wurde nicht gesprochen.
Da löste sich dort vom Ufer ein Boot ab, drei Männer saßen drin, von denen zwei ruderten, ihr Ziel war offenbar die Insel.
Der Prinz stieg von der Gondel herab, nahm seinen Stutzen mit und begab sich an den Rand des Daches, um das Boot im Auge zu behalten.
Es fuhr wirklich nach der Insel, machte an der Anlegestelle fest. Der Prinz glaubte zu bemerken, wie die beiden Ruderer vor Angst zitterten. Durch ihr ganzes Wesen drückten sie es wenigstens aus.
Der dritte, wohl ein sehr alter Chinese, erstieg eine außen angebrachte Treppe und betrat das Dach.
Der Prinz war hingegangen, um ihn gleich zu empfangen, und es zeigte sich, dass er doch ziemlich geläufig Chinesisch sprach.
»Was wollt Ihr weißen Teufel hier?«, fing der Alte an, ohne besondere Furcht zu zeigen.
Alle Europäer sind für die Chinesen weiße Teufel, man muss sich daran gewöhnen, es ohne Beleidigung hören zu können.
»Wir sind gezwungen worden, hier mit unserem Ballon zu landen.«
»Ja, ich weiß, was ein Luftballon ist. Ihr seid auf dem Dache einer heiligen Pagode. Macht, dass Ihr fortkommt!«
»Sobald wir können, werden wir wieder aufsteigen.«
»Nein, sofort.«
»Jetzt können wir noch nicht.«
»Ihr habt keine heiße Luft mehr?«
»Nein, sie ist uns ausgegangen.«
»So heizt wieder.«
»Das geht nicht so schnell.«
»Weißt Du, weshalb ich komme?«
»Nun?«
»Weil ich es gut mit Euch meine.«
»Das glaube ich schon, aber willst Du Dich nicht näher erklären?«
»Ich fürchte Euch nicht, ich bin ein alter Mann, stehe schon mit einem Fuße im Grabe, kann morgen schon tot sein.«
»Das hoffe ich nicht.«
»Wenn Ihr mich also morden wollt — ich fürchte Euch nicht.«
Der Chinese, der vor Altersschwäche mit dem Kopfe wackelte, wollte ausdrücken, woher er den Mut dazu nehme, hier den Feind aufzusuchen.
»Du meinst, die anderen sind uns nicht so günstig gesinnt wie Du?«
»So ist es.«
»Du willst uns also warnen.«
»Ja.«
»Wovor?«
»Die Soldaten aus Singin sind schon bestellt, sie werden gleich angerückt kommen.«
»Sie mögen kommen.«
»Jeder hat einen Bogen und eine Masse Pfeile. Sie werden Euch beschießen.«
»Dort vom Ufer aus bis hierher?«
»Sie haben auch einige Flinten.«
»Flinten? Vogelflinten?«
»Solche wie Ihr.«
»Wie viele denn?«
»Sieben — oder sogar acht.«
Der Prinz kannte die chinesischen Verhältnisse. Er sprach dann noch darüber zu seinen Gefährten.
»Sie haben auch Pulver.«
»Ach was!«
»Mau kann mit den Flinten auch richtig schießen.«
»Sonst hat eine Flinte auch keinen Zweck.«
»Wir haben auch eine Kanone.«
»Wirklich?«
»Eine richtige Kanone. Dort kommt sie schont.«
Richtig, dort kam eine Herde Menschen anmarschiert oder vielmehr eben wie eine Herde Gänse durcheinander, die eine recht ansehnliche Kanone zogen, im Gegensatz zu unseren Feldgeschützen sogar ein riesenhaftes Ding.
Die Männer trugen eine Art Schlafröcke, waren, wie der Prinz unterscheiden konnte, mit einem mörderlichen Säbel und mit Pfeil und Bogen bewaffnet, einige trugen auch ein Gewehr.
Das waren also Soldaten.
Die chinesischen Soldaten, die wir kennen, sehen allerdings anders aus, die sind ganz modern nach europäischem Muster uniformiert und ausgerüstet.
Aber das gilt nicht für das Innere Chinas, oder man braucht sich nur einige Meilen von der Küste und von den großen Städten zu entfernen, dann sind es noch dieselben »Soldaten« wie sie vor tausend Jahren ausgesehen haben.
Woher das kommt, das soll also später gesagt werden.
»Sie schießen ein Loch in den Ballon, dass die Luft ausströmt, ob heiß oder kalt, und dann schießen sie Euch tot.«
»Alter Mann, der Du es wirklich gut mit uns zu meinen scheinst. Ich will Dir etwas anderes sagen. Deine Augen scheinen ja noch gut zu sein. Siehst Du dort am Ufer den kleinen weißen Hund laufen?«
Der Alte blickte nach der bezeichneten Richtung.
»Ich sehe ihn. Ich sehe ihn deutlicher als Dich. Ich sehe besser weit als nah.«
Der Prinz hob seinen Stutzen, klappte ein größeres Visier aus.
»Pass auf, ich schieße den Hund tot.«
»Du bist verrückt!«, lächelte der Alte.
Der Prinz zielte und drückte ab.
Wie der Schuss krachte, brach der kleine weiße Hund, der spielend herumgelaufen war, zusammen, blieb liegen.
»Fahre zurück zu Deinen Gefährten und sage ihnen, dass ich diesen kleinen Hund durch den Kopf geschossen habe.
Und ich sage ihnen, dass ich jeden Mann, der eine Flinte auf uns abfeuert oder der sich an der Kanone zu schaffen macht, ebenso durch den Kopf schießen werde.
Mit Pfeil und Bogen mögen sie nach uns schießen, so viel sie wollen, aber wer eine Feuerwaffe gegen uns gebraucht oder wer auch nur die Kanone anrührt, der ist ein Mann des Todes!
Und dasselbe gilt für jeden, der sich uns in einem Boote oder schwimmend nähert.
Geh, guter Alter, sage das Deinen Gefährten und den Soldaten und ihrem Offizier.«
Der Alte wackelte heftiger denn je mit dem Kopfe und ging, hätte bald die Treppe verfehlt und wäre vom Dache herabgepurzelt, gelangte aber glücklich ins Boot und ans Ufer zurück.
Der Prinz war zur Gondel zurückgegangen und teilte mit, was er gehört und gesagt.
»Das sind Soldaten? Die in den Schlafröcken? Die haben noch Bogen und Pfeile und prahlen mit sieben oder acht Gewehren? Heute noch?«
Der Prinz konnte Aufschluss geben.
Was wir vom modernisierten China zu sehen bekommen, ist doch nur eine ganz äußerliche Dekoration.
Nur wenige Meilen ins Innere hinein, dann ist alles wie vor tausend Jahren.
Wer dort wirklich ein brauchbares Gewehr besitzt, dem wird es einfach weggenommen, das muss wieder zur Dekoration in den Küstenstädten dienen.
Dafür haben diese Chinesen aber auch einen Vorteil.
Nur wenige Meilen ins Innere hinein, da wissen sie nichts davon dass China mit Japan Krieg geführt hat und gedemütigt worden ist, da weiß man nichts von der Einnahme Pekings durch die europäischen verbündeten Truppen.
Oder man hat dem Volke doch etwas ganz anderes erzählt. Immer nur von den Siegen der Chinesen. Unsere Marinesoldaten haben solche Blätter mitgebracht, auf denen die Heldentaten der chinesischen Soldaten so bunt wie möglich illustriert waren, wie sie die Japaner und die »weißen Teufel« in die Pfanne gehauen haben.
Wer etwas anderes berichten wollte, der würde einen Kopf kürzer gemacht. Aber es würde ihm auch gar nicht geglaubt. Anders kann es für die himmlischen Söhne des Reiches der Mitte ja gar nicht sein.
Man sah, wie der Alte, als er gelandet war, eifrig gestikulierend zu den anderen sprach, wie eingehend das tote weiße Hündchen betrachtet wurde, aber einen Zweck hatte diese Warnung nicht gehabt, der Alte ermahnte vergebens.
Die Soldaten traten am Ufer an, spannten ihre Bogen und sandten Pfeile ab.
Keine hundert Meter weit, dann fielen diese ins Wasser. Aber das verdross die Soldaten nicht, sie schossen Salve aus Salve nach der Insel ab. Chinesische Beharrlichkeit.
Da krachte ein Schuss, andere folgten, aber sicher nicht mehr als sechs.
Auch die Kugeln erreichten die Insel nicht, man sah sie noch in großer Entfernung davor ins Wasser schlagen.
»Feuersteingewehre der allerältesten Art tragen kaum 300 Meter weit«, sagte der Prinz. »Ich muss ihnen eine Lektion erteilen, muss mein Wort halten. Aber töten will ich keinen, werde immer nur den linken Arm zerschmettern. Schade — ich hätte auch voraussagen sollen, dass ich nur den linken Vorderfuß des Hündchens zerschmettern wollte. Aber schon das arme Tier tat mir leid, deshalb tötete ich es lieber gleich. Dafür werde ich gleich vieren durch den linken Arm schießen oder womöglich immer genau die linke Schulter treffen. Zwei von den Flintenbrüdern und zwei, die sich da noch an der Kanone zu schaffen machen. Diese Übereinstimmung wird dann doch wohl etwas wirken.«
Er stellte wieder das große Visier hoch, viermal kurz hintereinander krachte sein repetierender Stutzen.
Der Erfolg war ja nicht zu sehen, nur die Erregung, die sich der Menge dort bemächtigte, welche Erregung immer größer wurde.
»Sie überzeugen sich, dass immer die linke Schulter an derselben Stelle getroffen ist!«, sagte der Prinz. »Sie behaupten, dass Sie auf diese Entfernung hin, die doch wenigstens 400 Meter beträgt, immer die linke Schulter und sogar genau an derselben Stelle getroffen haben?«, meinte die Lady.
»Ja, das darf ich behaupten.«
»Das klingt kaum glaublich, oder Sie sind eben ein gottbegnadeter Kunstschütze.«
»Bah, da habe ich von Flammenauge noch ganz andere Schüsse gesehen!«, ließ sich Fred verächtlich vernehmen.
Aber einschüchtern ließen sich diese wackeren chinesischen Soldaten durch die ihnen erteilte Lektion doch noch nicht.
Plötzlich ein furchtbarer Krach, mit dem Donner zugleich dort ein wahres Feuermeer — die Kanone hatte gesprochen.
Existieren tat sie freilich nicht mehr. Vielleicht ein Dutzend Menschen ebenfalls nicht mehr.
Sie mochte nicht oft abgefeuert worden sein, und das hier war ihr letztes Wort gewesen.
Sie war dabei explodiert, daher auch das wahrhafte Feuermeer, und mit ihren Trümmern flogen auch menschliche Gliedmaßen in der Luft herum.
Aber schoss das uralte Ding wirklich so gut oder war es ein Zufall gewesen?
Dort in dem Ballon, gerade in der Mitte, befand sich ein Loch von wenigstens 30 Zentimeter Durchmesser, und hinten war die Kugel natürlich wieder herausgegangen.
Mister Lyttons Behauptung blieb bestehen.
Von der die Zwischenfütterung bildenden Fettmasse quoll nichts heraus, deren Ränder, welche eine so große Entfernung doch nicht überspringen konnten, erstarrten sofort zu einer talgähnlichen Masse.
Wohl aber quoll die Luft heraus.
Der aufrecht sitzende Ballon sank rapid zusammen, bis die Hülle nur noch einen formlosen Haufen bildete.
»So, da haben wir die Bescherung«, meinte der Prinz trocken, den letzten Schluck aus seiner Teetasse nehmend und sich den noch kauenden Mund wischend. ».Jetzt haben die keine Kanone und wir keinen Ballon mehr. Denn das Häufchen Unglück dort kann man doch keinen Luftballon mehr nennen. Nun wollen wir mal sehen, ob ich von Mister Lytton die Pflasterei auch richtig gelernt habe. Vielleicht funktioniert bei dem neuen Ballon auch die Gasgeschichte wieder. Erst aber werde ich doch noch auf einige linke Schulterblätter einen Stammbuchvers schreiben. Vielleicht sehen sie dann doch ein, dass ich ebenso gut durch ihre Köpfe schießen kann. Die Rindszungen in den Büchsen scheinen übrigens während der zwei Jahre noch einen extrafeinen Geschmack angenommen zu haben.«
Er schnalzte noch mit der Zunge, als er zweimal seinen Stutzen knallen ließ.
»So, das ist besorgt. Sie laufen wieder wie die Karnickel durcheinander. Also nun an die Arbeit.«
Sie machten sich gemeinschaftlich daran, die Löcher freizulegen, dass der Pflasterdoktor gut daran konnte.
Erst von innen ein Stück gefirnisste Seide mit flüssigem Kautschuk darauf gekittet, dasselbe dann von außen.
»Wenn die Sache stimmt, ist der Schaden bereits repariert.«
»Jetzt soll sich die Fettmasse wieder ausdehnen?«, fragte Lady Lilly.
»Ja. Sobald die Fettmasse, wenn sie sich von ihrem Schreck der Erstarrung etwas erholt hat, gewissermaßen eine Laufbahn findet, so kraucht sie darüber hinweg, bis sie eben wieder zusammengeflossen ist. Und tatsächlich, jetzt fühlt sich der Lappen schon ganz anders an, ich kann ihn nicht mehr so leicht eindrücken, da hat sich bereits etwas dahinter gesetzt. Eine ganz famose Erfindung das. Nun müssen wir aber erst sehen, ob die Sache auch wirklich luftdicht schließt. Und wenn wir weiter solches Glück haben, dann geht jetzt auch die Luftpumpe nicht mehr.«
Aber sie ging, sie ließ sich anstellen, und bald zeigte es sich, dass auch die beiden zugepflasterten Löcher dicht hielten.
»Nun müssen wir also drei Stunden warten, bis das Ding wieder das geworden ist, was man einen Luftballon nennt. Wirklich mit Luft gefüllt. Ob sich dann auch das unbedingt nötige Gas einpumpen lässt, ohne das es immer noch kein ganz richtiger Luftballon ist, das müssen wir abwarten.«
»Und ich werde inzwischen für den Nachmittagskaffee einen Kuchen backen«, sagte Lady Lilly. »Ich habe auch Zucker und Rosinen und andere Zutaten gefunden.«
»Hm. Könnten Sie mit dem schönen Mehl nicht irgend etwas anderes Nützliches anfangen?«, brummte der Prinz nachdenklich. »Vielleicht — vielleicht — einmal Tapeten damit ankleistern? Warum immer gerade Brot und Kuchen backen?«
»Na, hat Ihnen mein Brot etwa nicht geschmeckt?«, erklang es pikiert zurück.
»Oooh jaaa. Ich kaue jetzt noch daran. Mich wundert nur, dass Sie selbst davon gar nichts gegessen haben.«
»Ich?«, erklang es jetzt in ganz anderem Tone als vorhin. »Ich werde mich schön hüten, von diesem Luderzeug auch nur zu kosten. Das waren ja nur angebrannte Mehlklunkern. Aber jetzt weiß ich, wie's gemacht werden muss, ein Kuchen wird gebacken!«
Sie verschwand im Innern der Gondel.
Der Prinz beobachtete, wie der Ballon schwoll, und suchte nach dem Fehler, weshalb das Coroniumgas nicht hatte einströmen wollen. Denn der Gasentwickler selbst schien zu funktionieren.
So vergingen zwei Stunden, der Ballon hatte seine Kugelgestalt fast wieder angenommen.
Die Chinesen hatten ihre Schießerei eingestellt, standen am Ufer und starrten nach der Insel.
»Ach, jetzt habe ich's!«, rief da der Prinz. »Ich habe einfach immer den Lufthahn nicht richtig abgestellt!
Wohl die Luftzufuhr abgestellt, aber dann ist noch eine weitere Drehung nötig, um in dem Schlauche, den Luft wie Gas benutzen, auch den Weg für das Coronium freizugeben! Mylady, wir können wieder fliegen!«
»Und hier ist mein Kuchen!«
Freudestrahlend kam die Lady aus der Gondel.
»Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?«
Ja, da musste der Prinz wohl staunen über das, was er da zu sehen bekam.
Die Lady hatte zwischen ihren beiden Händen einen ansehnlichen weißen Kloß, eine Kugel, einen Viertelmeter im Durchmesser, reichlich mit Rosinen gespickt.
Diese Kugel zog sie auseinander, da wurde eine lange Wurst daraus. Dann schob sie die Wurst wieder zusammen, und da war die Kugel wieder hergestellt. Und so schob sie zwischen ihren Händen das Ding immer hin und her, einmal Riesenkloß, einmal lange Wurst.
»Na, wissen Sie, was das ist?«
»Das ist eine Harmonika!«, entschied der Prinz.
»Nein, das ist ein Kuchen.«
»Dann ist's ein Harmonikakuchen.«
»Fassen Sie mal hier das Ende.«
Es war gerade wieder eine Wurst, der Prinz packte das eine Ende der weichen, aber zähen Masse, die auch nicht an den Fingern klebte, die Lady fasste das andere Ende der Wurst und rannte plötzlich über das Dach, ziemlich weit.
Und die Wurst rannte mit.
Das heißt, sie ließ sich zu einem dünnen Stricke ausziehen.
Aber nicht nur das, sondern wie die Lady dann ihr Ende losließ, schrumpfte dieser dünne Strick ziemlich schnell wieder zusammen, auf dem Dache kriechend, nach dem Prinzen zu, sich dabei natürlich immer mehr verdickend, bis der Prinz wieder die Kugel in der Hand hatte.
Freudestrahlender denn zuvor kam die Lady zurückgerannt.
»Haben Sie so etwas von einem Kuchen schon einmal gesehen?«
»Nee.«
»Da staunen Sie wohl.«
»Ich bin einfach baff.«
»Soll ich Ihnen das Rezept dazu verraten?«
»Bitte.«
»Ich will nicht stolz sein, ich bin bescheiden wie immer.
Es ist die alte Geschichte, alle großen Erfindungen werden nur so durch Zufall gemacht.
Ich wollte also einen Kuchen backen, einen gewöhnlichen Kuchen, soliden Butterkuchen.
Ich nahm Mehl her, knetete Butter hinein und tat den nötigen Zucker dazu.
Da, wie ich so weit war, entdeckte ich einige Flaschen, die ich untersuchte, und ich fand guten Rum darin.
Gut, dann wurde aus dem einfachen Butterkuchen ein englischer Plumpudding, Rosinen hatte ich ja auch.
Also ich tat auch den nötigen Rum dazu.
Da, wie ich einmal kostete, merkte ich, dass etwas nicht in Ordnung war.
Richtig, ich hatte eine falsche Buttel erwischt.
Das war gar kein Rum, sondern das war solcher flüssiger Kautschuk.
Und dann weiter merkte ich, dass die große Büchse gar keine Butter enthielt, sondern das war etwas ganz anderes. Wahrscheinlich jene dehnbare und sich zusammenziehende Fettmasse.
Und dann gewahrte ich, dass in dem Fasse kein Mehl war, sondern gemahlener Gips.
Schließlich gestehe ich auch noch, dass ich anstatt Zucker Salz genommen habe.
Aber die Rosinen sind ganz, ganz echt.
Nun handelt es sich bloß noch um eines. Das hier ist doch erst der Teig. Soll ich nun auch noch den Kuchen in den Ofen schieben und backen?«
Der Prinz brachte es fertig, seine Selbstbeherrschung zu behalten.
»Nee, liebe Lilly, lieber nicht. Sonst könnte der Kuchen auch noch wie die Kanone dort explodieren und uns auch ohne Luftballon ganz freihändig mit in die Lüfte fliegen lassen.«
Der Ballon richtete sich vollends auf, die Gaszufuhr funktionierte, er begann zu schweben, spannte sich über der Gondel dieser vor. Die Lady zeigte, dass sie auch anderes im Kopfe hatte.
»Wie ist es mit dem ausgelassenen Wasser? Wollen wir das nicht ersetzen?«
»Beide Tanks sind noch halb voll, ich habe mich schon davon überzeugt. Das Heraufschaffen des Wassers in Eimern hat bei der Höhe dieses Hauses doch seine Schwierigkeiten, ich denke, wir gehen dann direkt zum Wasserspiegel hinab, probieren gleich, wie weit wir den Ballon in unserer Gewalt haben. Vorläufig genügt ja dieser Wasservorrat.«
Sie stiegen empor, freilich sich kaum seewärts bewegend, es herrschte fast Windstille.
Erst nach einer Viertelstunde hatten sie das Dach und die Insel hinter sich. Um die Chinesen dort am Ufer kümmerten sie sich gar nicht mehr.
Jetzt ließ der Prinz den Ballon wieder fallen, bis der Boden der Gondel fast das Wasser berührte.
Ein Schlauch wurde hinabgelassen, der mit den beiden Tanks verbunden war, welche nämlich, wie man aber erst jetzt bemerkte, durch eine Röhre in Kommunikation standen, sodass sie gar nicht einzeln geleert und gefüllt werden konnten, sodass sich also auch das Gleichgewicht der Gondel dadurch nicht veränderte.
Die Füllung geschah genau so wie damals in der Schlucht aus dem Bache. Die Rotationspumpe saugte das Wasser an und gab es in die Tanks ab, ohne sich selbst zu füllen.
Natürlich musste entsprechend immer etwas Coroniumgas in den Ballon nachströmen, was jetzt wieder tadellos funktionierte.
Zu ergründen war nur noch, wie man den Ballon innen heizen konnte, um die Auftriebskraft durch Ausdehnen der Luft und des Gases zu steigern, was man ja aber schließlich gar nicht anzuwenden brauchte.
Der Ballon stieg wieder.
Bei tausend Meter Höhe herrschte noch immer fast Windstille. Vielleicht, dass man ganz sanft nach Norden getrieben wurde, was man in solcher Höhe, wenn man die Erde betrachtete, eben kaum noch kontrollieren konnte.
»Wissen Sie, Lilly, woran ich denke?«
»Mehr noch als an Mister Lytton an die Unglücklichen, für deren Rettung dieser Ballon eigentlich bestimmt war.«
Ja, das waren auch des Prinzen Gedanken gewesen, wahrscheinlich schon immer.
Aber man musste sich solcher Gedanken eben entschlagen.
Nach Nepal zurückkehren?
Eine Windrichtung aufzusuchen, die ihn nach Westen trieb, das getraute sich der Prinz mit solch einem Ballon, den er so nach Belieben fallen und bis in die höchsten Höhen steigen lassen konnte, wohl fertig zu bringen, aber nun gerade nach Nepal, und gar direkt bis in das Tal von Gandak — das hielt er für ausgeschlossen.
»Da — was hat das Kind?«
Deasy hatte gerade einen der vielen Schränke untersucht, die noch längst nicht alle untersucht waren, weil man eben immer etwas anderes vorgehabt, hatte sich plötzlich gesetzt und war im Kauern eingeschlafen.
Die Lady hatte es zufällig beobachtet.
Schnell ging der Prinz hin, ergriff ihre linke, sensitive Hand.
»Was ist Dir, Deasy?«
»Noch höher gehen — bis 2300 Meter.«
»Gott sei Dank, der Rapport ist wieder hergestellt, wir werden von einem Wissenden geleitet!«, durfte der Prinz mit Recht schon jetzt erleichtert aufatmen.
Dann konzentrierte er schnell wieder seine Gedanken auf das Kind, suchte sich mit ihm eins zu fühlen.
»Was weht in dieser Höhe für ein Wind?«
»Nach Nordnordost.«
»Dorthin sollen wir fliegen?«
»Ja.«
»Wer sagt Dir das?«
»Mister Lytton.«
»Du stehst jetzt mit ihm in Rapport? Er beeinflusst Dich?«
»Ja.«
»Hat er uns sonst noch etwas zu sagen?«
»Nein — ja.«
»Was?«
»Ich soll mich niemals in gefährlichen Stellungen und Lagen befinden.«
»Wie meinst Du das?«
»Zum Beispiel keine Leiter besteigen, mich nicht einmal auf einen Stuhl stellen, mich nicht zu weit über ein Geländer beugen.«
»Weshalb nicht?«
»Weil mich Mister Lytton jeden Augenblick in Trance fallen lassen kann, um Dir eine neue Mitteilung zugehen zu lassen.«
»Ich verstehe. Hat uns Mister Lytton sonst noch etwas zu sagen?«
»Nein. In ungefähr 2300 Meter absolute Höhe gehen.«
»Kannst Du jetzt mit Mister Lytton sprechen? Kannst Du ihm etwas mitteilen?«
»Nein.«
»Probiere es, Deasy, bitte.«
Das Kind bewegte sich unruhig, presste die Lippen zusammen, schien sich anzustrengen.
»Ich — kann nicht.«
Der Prinz wollte es mit einem direkten Befehl versuchen.
»Frage ihn einmal, wie ich es anstellen muss, um den Ballon innen zu erwärmen.«
Deasys reizendes Gesicht nahm einen schmerzlichleidenden Ausdruck an.
»Ich — kann nicht!«, erklang es dann wiederum.
Weiter wollte es der Prinz nicht probieren, es ging eben nicht.
»Soll ich Dich jetzt wecken?«
»Ich erwache von allein.«
Der Prinz brauchte nur ihre Hand loszulassen, so schlug sie die Augen auf, schaute verwundert um sich.
Sie wusste nicht, dass sie in Trance gelegen, was sie gesprochen hatte.
Es wurde ihr gesagt, worüber sie ganz glücklich war, und dann vor allen Dingen, dass sie immer daran denken solle, keine Stellungen und Lagen einzunehmen, in denen sie verunglücken könne, wenn sie plötzlich einschliefe.
Dem Ballon wurde Coroniumgas zugeführt, noch ehe er jene Höhe erreicht hatte, wurde schon konstatiert, wie er sich immer schneller nach Nordnordost bewegte, wenn man wohl auch nicht gerade von einem Sturme sprechen konnte.
Dann wurde er immer möglichst genau in der Höhe von 2300 Metern gehalten.
Der Prinz kümmerte sich nicht viel um die Landschaft dort unten, er konnte auch kaum noch etwas sehen, die Augen fielen ihm immer zu.
Er musste sich zur Koje legen, war er doch nun seit bald 36 Stunden ohne Schlaf.
Noch einmal seinen beiden erwachsenen Begleitern die Führung des Ballons und mehr noch die kleine Deasy aufs Gewissen gebunden, und er legte sich nieder, war sofort eingeschlafen.
Er träumte von einer Schlacht, in der Geschützdonner die Hauptrolle spielte, bis ihn ein schmetterndes Krachen erwachen ließ.
»Batterie haaaalt!«, schrie er, noch im letzten Augebblick das Kommando über eine Batterie übernehmend.
»Was ist los?«, lachte die Lady.
Und doch, die Schlacht war in vollem Gange.
Es war Nacht, die Gondel durch Gasglühlicht erhellt, mehr noch aber wurde sie von draußen erleuchtet.
Dort unten zuckten ununterbrochen die Blitze hin und her, ein schmetternder Krach folgte dem anderen, in weiterer Entfernung donnerndes und murrendes Rollen.
Der zweite Blick war nach Uhr und Barometer, die jetzt beide zusammen an der Wand hingen. Eine andere Uhr als des Prinzen Chronometer war nicht vorhanden, er hatte ein Doppelwerk, zeigte sowohl Greenwicher wie Ortszeit von Nepal an, mit dem entsprechenden Unterschied.
Nach Nepaler Zeit war es jetzt gleich elf, das Barometer zeigte fast 5000 Meter Höhe an.
»Sie sind höher gestiegen?«
»Ja.«
»Wann?«
»Schon vor drei Stunden.«
»Um über das Gewitter zu kommen?«
»Nein, da war von Gewitterbildung noch gar nichts zu merken.«
»Sondern?«
»Gegen acht fiel Deasy wieder in Trance.«
»Aaah!«
»Mister Lyrton teilte uns mit, bis auf 5000 Meter hoch zu gehen, wir kämen bald in ein Gewitter.«
Der Prinz hatte nicht umsonst so ausführlich gefragt.
Also wurde der Ballon von Mister Lytton durch geistige Augen immer beobachtet, sie wurden vor drohenden Gefahren rechtzeitig gewarnt.
Das zu wissen war natürlich von größter Wichtigkeit.
»Hat Mister Lytton sonst noch etwas gesagt?«
»Gar nichts weiter.«
»Nicht dass er uns noch andere Mitteilungen zugehen lassen wird?«
»5000 Meter hoch gehen! Gar nichts weiter.«
Deasy schlief.
»Onkel!«, erklang es da leise aus ihrer Koje.
Der Prinz begab sich hin.
»Was willst Du, mein Kind?«
Er glaubte doch, sie sei erwacht. Aber sie lag noch immer mit geschlossenen Augen und ruhig atmend da.
Er ergriff ihre linke Hand.
»Landen!«, wurde da sofort geflüstert.
»Wir sollen landen?«
»Ja.«
»Wer sagt es?«
»Mister Lytton.«
»Jetzt sofort sollen wir landen?«
»Ja.«
»Durch das Gewitter gehen?«
»Ja. Erst schnell bis auf tausend Meter hinab. Dann fünfhundert Meter langsamer, den Ballon in der Gewalt behalten. Bei 326 Meter des Barometers stößt der Boden der Gondel auf festen Boden.«
Exakter hätten die Bestimmungen nicht sein können, aber der Prinz wollte noch mehr hören, nur dass er schon die Ventilschnur gezogen hatte.
»Kann uns das Gewitter nicht gefährlich werden? Kann kein Blitz in Ballon oder Gondel einschlagen? Sind wir gegen diese Gefahr isoliert?«
»Ja.«
»Das sagt Dir Mister Lytton?«
»Nein.«
»Woher weißt Du das sonst?«
»Sonst würde er uns nicht durch das Gewitter schicken.«
Da konnte Deasy allerdings logischer geurteilt haben als der Prinz. In diesem Zustande wusste sie ja, was sie sprach, nur nicht hinterher.
»Hat Mister Lytton sonst etwas gesagt?«
»Nein.«
»Wo wir uns befinden, wo wir landen werden?«
»Er hat nichts weiter gesagt.«
Sie wiederholte dieselben Angaben noch einmal Wort für Wort.
Der Prinz ließ ihre Hand los, sie wachte aber nicht auf, drehte sich nur um und schlief weiter.
Der fallende Ballon kam in die schwarzen Wolken, wurde von den zuckenden Blitzen wie umspielt.
Ein unbeschreiblich schöner, grausiger Anblick.
Bei 2000 Meter hatte der Ballon diese schwarzen Wolken über sich, merkwürdigerweise aber zuckte jetzt selten ein Blitz auf.
Vielleicht auch, dass der Ballon schnell aus dem Bereiche dieses Gewitters getrieben wurde.
Und dann hatte der Prinz an anderes zu denken.
Es fiel ihm auf, dass der Ballon immer wieder steigen wollte, wie er auch das Ventil zog.
Zwar gehorchte er, aber doch nur langsam, nicht so wie es des Prinzen Meinung nach eigentlich sein musste.
Er schrieb es den atmosphärischen Einflüssen zu, es war auch sehr schwül, das Gas mochte sich plötzlich sehr ausdehnen.
Und schließlich gehorchte der Ballon auch viel besser, fiel sehr schnell, bis er tausend Meter erreicht hatte, dann wurde die Ventilklappe weniger geöffnet, und gehorsam senkte sich der Ballon denn auch langsamer.
Jetzt blickte der Prinz um und unter sich.
Nichts als pechschwarze Nacht, unter sich kein Lichtschein, über sich kein Blitz mehr. Auch regnen tat es nicht. Die Windstärke konnte ja nicht konstatiert werden. Wenn ein Scheinwerfer vorhanden, so war dieser noch nicht gefunden worden.
Langsamer und langsamer ging es hinab.
Genau als das Barometer 326 Meter anzeigte, stieß die Gondel auf. Genauer hätte es wirklich nicht sein können.
Ein Ruck an der Ventilschnur, auch das letzte Coronium musste entweichen, dann auch noch Luft ausgelassen und der Ballon legte sich neben der Gondel am Boden nieder.
So musste wenigstens angenommen werden. Das aus der Gondel strahlende Licht genügte nicht, um das erkennen zu lassen.
Der Prinz nahm eine vorhandene Lampe, die aber keinen Blendstrahl ausschickte, öffnete die Tür und trat vorsichtig ins Freie.
Ein schwacher, warmer Südwind wehte. Am Himmel war kein Stern zu sehen. Die Lampe beleuchtete im kleinen Umkreis flachen Sandboden, auf dem spärliches, etwas nasses Gras gedieh.
Der Ballon lag gut, wurde aber durch mehr Auslassen von Luft noch etwas niedergedrückt.
»So, nun müssen wir warten, was uns der junge Tag zeigen wird. Oder bis Mister Lytton eine neue Order schickt. Ich bleibe jetzt wach, ich habe ausgeschlafen. Und Sie, Mylady?«
»Ich bin ganz und gar nicht müde, königliche Hoheit«, wurde die Förmlichkeit, derer sie sich wegen des Kindes bemühten, nachgeahmt.
»Dann möchte ich Sie bitten, mir eine Tasse Tee zu kochen. Ich würde es ja gern selbst tun, aber ich möchte Ihrer Leidenschaft nicht vorgreifen.«
»Sollen Sie haben. Vielleicht auch etwas Gebäck dazu?«
»O ja, aber — kein frischbackenes. Ich kann frischbackenes Brot und Kuchen absolut nicht vertragen. Bei mir muss das Gebäck immer schon zwei Jahre in Büchsen gelegen haben.«
»Ich weiß schon, worauf Sie anspielen. Ja, Biskuits in Büchsen sind auch wirklich in schwerer Menge vorhanden.«
»Was ist denn aus Ihrem Harmonikakuchen geworden?«
»Mit dem habe ich heute Nachmittag, als Sie schliefen, gelotet.«
»Gelotet?«
»Ja, ich wollte einmal seine Ausdehnungsfähigkeit prüfen, ließ ihn nach und nach aus dem Fenster heraus.
Er dehnte sich tatsächlich bis zur Dünne eines Zwirnsfadens aus, erreichte den Boden. Vielleicht wäre er noch dünner geworden, aber da war unten ein Chinese, der fing den Zwirnsfaden und hat ihn aufgefressen.«
»Den Zwirnsfaden, diesen Teig aus Gips, Kautschuk und anderen höllischen Substanzen?«, lachte der Prinz.
»Ach, was so ein richtiger Chinese ist, der frisst noch etwas ganz anderes. Ich sah tatsächlich, wie er den Bindfaden in den Mund steckte und zu kauen anfing. Dann riss er mir oben an der Hand ab. Der Chinese kaut vielleicht jetzt noch an der tausend Meter langen Schnur, oder sie hat sich von allein in seinen Magen hineingezogen.«
So plauderten die beiden, während die Lady Vorbereitungen zum Teekochen traf.
Jetzt hielt sie den Kochtopf unter den Hahn, der an dem Wassertank sehr tief unten angebracht war, dass man gerade noch solch ein flaches Gefäß daruntersetzen konnte.
»Da fließt kein Wasser heraus.«
»Sie haben den Hahn nicht richtig aufgedreht.«
»Doch. Das kenne ich nun schon. Da ist kein Wasser mehr drin. Und hier?«
Bei dem anderen Tank war es ebenso. Die Kommunikationsröhre zwischen den beiden Tanks konnte wohl geschlossen werden, was aber jetzt nicht der Fall gewesen war.
»Die Tanks sind leer! Haben Sie denn so viel Gas verbraucht?«
»Ich? Ich habe den Ballon doch nur einmal bis zu 5000 Meter steigen, dann ihn immer fallen lassen, und in den paar Stunden können sich doch überhaupt die tausend Liter Wasser nicht in Coronium oder Wasserstoffgas verwandelt haben!«
»Aber die Tanks sind leer!«
Der Prinz begab sich mit der Lampe hinaus. Draußen waren die Hähne ganz unten angebracht, sodass die Tanks, eventuell jeder für sich, vollständig abgelassen werden konnten. Die beiden Hähne waren in Vertiefungen gelagert, so dass sie durch ein Anstoßen der Gondel nicht beschädigt oder gar abgebrochen werden konnten. Mit etwas verstörtem Gesicht kam der Prinz wieder herein.
»Jetzt weiß ich, weshalb vorhin der Ballon immer steigen und nicht fallen wollte, wie ich auch Gas ausließ! Draußen hat sich der Hahn des einen Tanks geöffnet, aus allen beiden ist alles Wasser geflossen! Daher immer der Auftrieb, bis sich eben das Wasser erschöpft hatte.«
»Der Hahn sich geöffnet? Wie ist das möglich?«
»Ich weiß es nicht. Aber es ist Tatsache, der Hahn stand offen.«
»So hätten wir jetzt kein Wasser mehr?«
»Vielleicht oben noch im Gasentwickler, von dem Mister Lytton sagte, dass er ganz reines Wasser enthält. Es wird selbsttätig durch eine Vorrichtung aus den Tanks empor gesaugt, dass es immer eine bestimmte Höhe einhält. Wenn Sie mir also eine Tasse Tee kochen wollen, so müssen Sie schon solches Wasser nehmen. Anderes ist hier wohl nicht mehr vorhanden.«
Er begab sich auf die Plattform, die Lady ging gleich mit.
Der Gasentwickler hatte außen ein Wasserstandsglas.
Es war nichts mehr darin.
Sie schraubten oben einen Deckel ab, man konnte mit der Hand hineingreifen.
Es war kein Tropfen Wasser mehr zu fühlen.
Dabei brauchte der Prinz nicht diesen letzten Tropfen Wasser zur Gasentwicklung verbraucht zu haben. Dieser Kasten stand eben unten mit den Wassertanks in Kommunikation, wurde selbsttätig gespeist, um den Wasserspiegel auf eine bestimmte Höhe zu halten. Das ging so lange, als sich unten nur noch ein wenig Wasser befand. Gab es aber in den Tanks kein Wasser mehr, dann musste auch der Gasentwickler leer sein, oder die Kommunikationsröhre war abzustellen, dann musste man oben immer Wasser nachgießen.
Dass der Apparat zuletzt kein Gas mehr entwickelte, davon hatte der Prinz nichts merken können, weil er zuletzt den Ballon ja nur immer hatte sinken lassen.
»Schöne Geschichte das!«
»Wir werden schon in der Nähe Wasser finden!«, tröstete Lilly.
»Das wollen wir stark hoffen. Sonst können wir ja gar nicht wieder aufsteigen. Abgesehen davon, dass wir keinen Tropfen Trinkwasser mehr haben.«
»Wir trinken einstweilen Schnaps. Dort in dem Schranke ist eine ganze Batterie von Schnapsflaschen, Rum und Arrak und dergleichen.«
»Schnaps? Mit Schnaps kann man doch nicht seinen Durst löschen.«
»Weshalb nicht? Ich kann's ganz gut.«
»Ja, Sie!«, lachte der Prinz. »Ich bin aber doch kein Russe. Ist nicht kohlensaures Wasser oder Limonade oder so etwas vorhanden?«
»Nein.«
»Auch kein Wein?«
»Ich habe bisher nur gegen drei Dutzend Schnapsflaschen gefunden. Ob man mit Schnaps auch den Ballon treiben könnte?«
»Wie denn das?«
»Nun, ich bin auch einmal mit Kognak Automobil gefahren.«
»Wie meinen Sie das?«
»Es war in Amerika, im Staate Arkansas. Ich machte eine Reise im Automobil, hatte einen Spiritusmotor. Mir ging der Spiritus aus, zumal mein Chauffeur immer davon trank, wenn er auch denaturiert war.
Eine ganz einsame Gegend. Gerade erreichte ich noch eine Farm. Nein, Brennspiritus war nicht vorhanden, wohl aber ein Fässchen reiner Sprit, fast absoluter Alkohol. Der Farmer hatte sich Kognak machen wollen, hatte die Kognakessenz auch schon zugegeben.
Nun, ich kaufte ihm das ganze Fässchen ab, der Liter zu zwei Dollars, und bin zwei Tage lang mit achtundneunzigprozentigem Kognak spazieren gefahren. Mein Chauffeur starb dann am Delirium. Ich fahre überhaupt kein Automobil mit Spiritusmotor mehr, ich habe böse Erfahrungen gemacht.«
»Ja, so etwas ist wohl bei einem Motor möglich«, lachte der Prinz, »hier handelt es sich aber doch um etwas ganz anderes.«
»Ich dächte, die Sache läge hier sogar günstiger. Bei solch einem Motor darf der Spiritus nicht viel verdünnt sein. Hier ist es aber doch gerade gut, wenn recht viel Wasser drin ist.«
»Sie mögen recht haben. Wir wollen doch gleich einmal probieren, ob sich aus dem Wassergehalt des Schnapses Gas entwickeln lässt.«
Er holte aus dem Schranke die Experimentierflasche hervor.
»Ach, hier ist ja auch noch etwas Wasser drin!«
»Da koche ich Ihnen gleich davon eine Tasse Tee!«
»Nein, nein«, wehrte aber der Prinz ab, »es ist das letzte Wasser, das wir besitzen — kaum ein Viertelliter — wer weiß, wozu wir es in letzter Not gebrauchen können.«
Die Lady machte etwas große Augen.
»Sie denken doch nicht an so etwas, dass wir hier verdursten müssen?«
»Ich denke nur etwas mehr als Sie an die Zukunft, nichts weiter.«
Die Flasche wurde geleert, das Wasser in einem anderen Gefäß sorgsam aufbewahrt.
Dann füllte der Prinz die Flasche zur Hälfte mit fünfzigprozentigem Arrak.
Der eintauchende Metallstreifen zeigte keine Spur von Gasentwicklung.
»Also die Spirituosen kämen nicht in Betracht. Das war ja auch nur so eine Idee von Ihnen. Wir müssen eben den Tag abwarten, ob der uns in der Nähe Wasser zeigt.«
Bald begann der Tag zu grauen.
Er zeigte eine ganz ebene Sandfläche, aber nicht eigentlich eine Wüste, sondern mit Gras bestanden, allerdings sehr spärlich.
Eine echt asiatische Steppe dürftigster Art.
»Der Richtung nach, in der wir geflogen sind, befinden wir uns in der Wüste Gobi. So sieht die aus. Es ist mehr eine Steppe. In ihrer Wasserlosigkeit eine ganz richtige Wüste. Und ganz nackte Sandflächen von riesenhafter Ausdehnung kommen darin auch genug vor.«
Er untersuchte draußen noch einmal eingehend den Wasserhahn.
»Die untere Schraube hat sich gelockert, der Kegel sitzt sehr lose. Er mag doch nicht so ganz richtig geschlossen gewesen sein, er hat etwas getropft, durch den Wasserdruck ist der Kegel immer weiter herumgeschoben worden, bis alles Wasser ausfließen konnte. Das darf natürlich nicht wieder vorkommen. Das erschüttert aber auch sehr meinen Glauben daran, dass uns Mister Lytton immer beobachtet.«
»Inwiefern?«
»Nun, dann hätte er doch bemerkt, dass draußen das Wasser auslief, und er hatte ja durch Deasy das Mittel, um uns darauf aufmerksam zu machen.«
»Oder er hatte einen Grund, uns das Wasser zu nehmen, er selbst hat den Hahn geöffnet.«
»Dann käme Fernwirkung in Betracht. Daran glaube ich in diesem Falle nicht. Sonst hätte uns Lytton auch schon in ganz anderer Weise behilflich sein können.«
»Onkel!«, wurde da leise in der Koje gerufen, in der Deasy lag.
Sie schlief noch immer, streckte aber dem Nähertretenden schon das linke Händchen entgegen.
Der Prinz nahm es.
»Was hast Du mir zu sagen, mein Kind?«
»Sofort wieder aufsteigen, erst 1500 Meter hoch gehen.«
»Da haben wir die Bescherung!«, seufzte der Prinz. »Lytton beobachtet wohl den Ballon, kümmert sich aber nur um die Fliegerei, um das Steigen und Fallen und Landen, sonst um nichts weiter. Wir können nicht mehr aufsteigen, Deasy.«
»Weshalb nicht?«
»Wir haben kein Wasser mehr, um Gas zu entwickeln.«
»Wie kommt das?«, fragte sie wiederum ganz aus eigener Initiative.
»Die Tanks sind ausgelaufen. Hiervon weiß Mister Lytton also nichts?«
»Sofort wieder aufsteigen, erst 1500 Meter hoch gehen. Weiter sagt er nichts.«
»Stehst Du jetzt noch mit ihm in Verbindung?«
»Ja — nein — ja — nein —«
Sie konnte es selbst nicht ausdrücken, wie der Rapport zustande kam.
»Kannst Du nicht mit ihm sprechen?«
»Nein, er nur zu mir.«
»Wir können seinem Befehle nicht nachkommen, wir können kein Gas entwickeln.«
»Ich kann es ihm nicht mitteilen, und er weiß wohl nichts davon.«
»Sonst hat er Dir nichts weiter zu sagen?«
»Nein.«
Er ließ das Händchen los, diesmal wachte Deasy sofort auf und kletterte aus der Koje.
Man zog sich beim Schlafen doch lieber nicht aus.
Noch ehe dem Kinde mitgeteilt wurde, wie die Sache lag, schlug sich der Prinz plötzlich vor die Stirn.
»Ach, jetzt weiß ich, wie wir immer erfahren können, welche Höhe wir aufsuchen müssen, um eine bestimmte Windrichtung aufzufinden, wenn eine solche, wie wir wünschen, in der Atmosphäre überhaupt vorhanden ist!«
»Nun, wie denn?«, fragte die Lady.
»Wir geben Deasy einfach die Wünschelrute in die Hand und fragen etwa: Wo weht jetzt Wind aus Süden?
Sie wird, wenn über der Erde überhaupt nicht gerade Südwind ist, mit der Rute nach oben deuten. Vorausgesetzt natürlich, dass in der Atmosphäre irgendwo Südwind weht oder doch so ungefähr, das lässt sich alles einrichten.
Nun steigen wir empor, und das so lange, wie Deasys Wünschelrute nach oben deutet. Bis wir eben die gewünschte Windströmung ausgefunden haben. Ist das nichts ganz einfach? Dass mir erst jetzt diese allereinfachste Sache einfallen muss!«
»Ja, wir können aber doch nicht mehr aufsteigen, wir haben kein Wasser, um Gas zu entwickeln.«
»Natürlich, diese Erkenntnis kommt mir etwas zu spät. Mir fiel es nur ein, weil ich gerade daran dachte, um des Kindes Wünschelrutenkraft zum Aufsuchen von Wasser zu benutzen.
Denn so schlimm ist ja unsere Lage gar nicht. Auch wenn wir hier kein Wasser sehen, so brauchen wir ja nur das Kind zu fragen.
Die Wünschelrute wird angeben, ob sich Wasser in erreichbarer Tiefe unter der Erde befindet oder wohin wir uns zu wenden haben, um oberirdisches zu finden.
Ob wir dieses erreichen, ehe wir verschmachtet sind, das ist ja freilich eine andere Sache.
Aber immerhin, wir haben doch ein Mittel in der Hand, um das uns jeder Wüstenreisende beneiden würde.
Also befragen wir erst einmal die Wünschelrute wegen des Wassers.«
Der Prinz schloss seinen Koffer auf.
Der Matrose, der ihm persönliche Dienste verrichtete, hatte ihn vor der Abreise gepackt, nach des Prinzen Anweisungen, so weit sie noch nötig waren, aber nicht in seiner Gegenwart.
So hatte dieser Matrose unbegreiflicher Weise seines Herrn Fernrohr und den Sextanten einzupacken vergessen, nicht aber Deasys Wünschelrute, einen trockenen Haselnusszweig, mit dem sie am liebsten operierte, weil der in ihrer Hand eben am stärksten anschlug, am leichtesten auf alles reagierte — weil sie sich eben am meisten gerade an diese Wünschelrute gewöhnt hatte.
Deasy bekam sie in die Hand, sie begaben sich hinaus.
Eine weitere Einleitung war gar nicht nötig — wenigstens zunächst nicht.
»Ist hier Wasser unter der Erde, Deasy?«
Das Steppengras war also nass von Tau, der Sandboden selbst war feucht.
Nun hätte die Wünschelrute also doch gleich auf diese Feuchtigkeit, auf diese direkten Wassertropfen schlagen können.
Aber so etwas geschah niemals, mit Ausnahme, es wurde direkt verlangt.
Diese ganze Sache ist eben, wie immer wieder betont werden muss, rein psychologisch.
Man hatte dem Kinde nun erklärt, dass die Tanks ausgelaufen seien, dass man Wasser brauche.
Was sollten da diese Tautropfen helfen!
Das wusste Deasy, infolgedessen würde die Rute auch niemals auf solche Tautropfen oder gar wegen des feuchten Sandbodens anschlagen.
Die Rute würde auch nicht reagieren, wenn sich Grundwasser in gar zu großer Tiefe befand.
Hundert oder auch nur fünfzig Meter konnte man natürlich nicht graben, das alles wusste eben das Kind, man hatte ja schon so viele derartige Experimente gemacht, danach richtete sich das Kind nun, seelisch, ganz unbewusst.
Nein, die Rute schlug nicht an.
Dann konnte man dies aber auch weiter spezialisieren.
»Befindet sich noch über hundert Meter Grundwasser in der Erde?«
Die Wünschelrute reagierte nicht.
Hätte sie jetzt aber angeschlagen, so hätte man bis auf den Viertelmeter konstatieren können, wie tief man graben musste, um auf Wasser zu stoßen, man brauchte nur immer zu fragen.
Also Grundwasser kam überhaupt nicht mehr in Betracht.
»In welcher Richtung befindet sich dann das nächste Wasser?«
Die Rute wollte nicht zeigen, lose hing sie in Deasys Händen herab.
Das war nun allerdings etwas ganz Merkwürdiges.
Denn irgendwo befand sich doch Wasser am nächsten, fließendes oder stehendes oder Grundwasser, ein Brunnen, wo, das war ganz gleichgültig, dabei kam die ganze Erde in Betracht.
Die Entfernung konnte man dann durch Fragen ermitteln, die Rute würde immer nicken oder eben stillstehen, und war das Wasser sehr nahe, so würde das Kind wie mit Gewalt von der Rute hingezogen werden, schlug es eine andere Richtung ein, würde sich die Rute aus den Händen winden, konnte sogar zerbrechen.
Aber die Rute sagte überhaupt gar nichts.
»Fühlst Du Dich jetzt nicht recht geeignet zu dem Experiment, Deasy?«
»Nein, nicht sehr!«, wurde zögernd zugegeben.
Dann musste sie in Trance versetzt werden, dann wurde sie noch viel sensitiver.
Der Prinz brauchte nur ihren linken Arm zu berühren und seinen Willen daraufhin zu konzentrieren, so schloss Deasy die Augen, atmete schwerer, schlief.
Dabei aber konnte sie aufrecht stehen, konnte gehen, sah alles mit geistigen Augen. Eben ein ganz anderer Schlaf als der natürliche, der eine Folge der Ermüdung ist.
»Ist hier unter uns Grundwasser?«
Die Rute schlug nicht an.
»In welcher Richtung befindet sich dann das nächste erreichbare Wasser?«
Die Rute wollte sich in den Händchen noch immer nicht rühren.
Nun allerdings wurde die Sache ganz seltsam!
Der Prinz nahm sein Taschenmesser, vergrub es hinter Deasys Rücken im Sande.
»Deasy, ich habe mein Taschenmesser vergraben. Willst Du es suchen?«
Deasy aber blieb unbeweglich stehen, so unbeweglich wie die Rute in ihrer Hand war.
»Hörst Du mich sprechen, Deasy?«
»Ja, Onkel.«
»Weißt Du, was ich Dich soeben gefragt habe?«
»Ich soll Wasser anschlagen und dann Dein Messer suchen.«
»Wie kommt es, dass die Rute gar nicht reagiert?«
»Ich — weiß nicht!«, erklang es weinerlich.
Denn wenn einmal etwas fehlschlug, was ja vorkommen konnte, allerdings fast immer durch die eigene Schuld der Experimenteure, das griff das Kind stets sehr an, es wurde unglücklich darüber.
»Ja, ich weiß!«, setzte sie aber gleich hinzu.
»Nun, wie kommt das denn?«
»Die Rute schlägt nicht mehr an.«
»Niemals mehr?!«
»Doch. Aber jetzt nicht.«
»Weshalb denn nicht?«
»Ein stärkerer Wille als der Deine beeinflusst mich, Onkel.«
»Mister Lytton?!«
»Ja. Ich stehe jetzt ganz unter seinem Willen, da kann ich nichts anderes machen, ich muss nur immer auf seine Anweisungen warten.«
»Ach Du großer Jammer!«, seufzte der Prinz, alles Weitere nun gleich wissend. »Dessen Wille ist starrer als der meine, oder er besitzt eben ein Mittel, um jeden anderen Willen aufzuheben, nur sein Einfluss gilt noch — also vorläufig schlägt die Wünschelrute nicht mehr in ihrer Hand an! Ist es nicht so, Deasy?«
»Ja, so ist es.«
»Und Du kannst Dich nicht mit ihm verständigen?«
»Nein. Jetzt aber spricht Mister Lytton wieder mit mir.«
»Was sagt er?«
»Er wird ungeduldig, er fragt, weshalb wir denn nicht aufsteigen.«
»Kannst Du ihm denn antworten?«
»Nein.«
»Ja, was fragt er denn da erst.«
»Jetzt wiederholt er dringend: Sofort aufsteigen und erst auf eintausendfünfhundert Meter hoch gehen.«
Es war also nur so eine Frage gewesen, wie man sie wohl stellt, ohne eine Antwort zu erwarten, auch wenn diese überhaupt gar nicht möglich ist.
Der Prinz zog seinen Notizblock, schrieb mit Bleistift sehr deutlich darauf:
»Die Tanks sind ausgelaufen, wir haben kein Wasser, können nicht aufsteigen.«
Dann suchte er einen sehr sandigen, grasfreien Platz aus, schrieb dasselbe noch viel größer in den Sand mit Riesenbuchstaben, legte auch das Papier hin, beschwerte es mit einem Stein.
Vorläufig kam noch keine Antwort.
Deasy wurde aus ihrer Trance geweckt. Als sie von dem negativen Erfolg ihrer Wünschelrute hörte, nahm sie es sich diesmal weniger zu Herzen. Weil sie sich eben ganz schuldlos fühlte, ein anderer hatte ihr die Möglichkeit genommen, ihren Freunden aus der Not zu helfen.
Es wurde heller, der Himmel war wolkenlos geworden, die Sonne ging auf.
Ein herrlicher Morgen! Die mehr gelben als grünen, ganz starren und sogar dornigen Grashalme, die so verdorrt aussahen, erschlossen Millionen von bunten Blüten, welche die Luft mit köstlichem, würzigem Wohlgeruch erfüllten.
Aber unsere Luftschiffer konnten die Schönheit dieses Morgens in der Wüste Gobi nicht recht genießen. Sie wünschten, sie hätten alle diese Millionen und Billionen Tautropfen, die wie Perlen glänzten, zusammen in ihren Tanks gehabt. Dann hätten sie wenigstens zum Frühstück etwas trinken können.
Von der Plattform der Gondel bot sich nur dasselbe Bild. Der Prinz erklomm den Ballon, der noch immer eine Höhe von mehr als zehn Metern hatte. Auch von dort oben dasselbe. Nichts als die blumige Steppe, so weit das Auge reichte, keine Erhöhung, keine Hütte, kein Rauch — und kein Wasserspiegel.
Unterdessen versuchten die Lady und die Kinder, mit kleinen Gefäßen die Tautropfen aufzusammeln. Es war so eine Idee gewesen. Bald sahen sie ein, dass sie zusammen nach einer Stunde noch keine halbe Tasse voll haben würden.
Dann probierten sie es mit einem dünnen Tuch, schleiften es hin und her. Aber so aufsaugfähig dieses Tuch auch war, es ließ sich kein Tropfen heraus pressen.
Außerdem verdunsteten die Tautropfen schnell. So niedrig die Sonne auch noch stand, begann sie doch schon zu brennen.
»Wir müssen sehen«, sagte der Prinz, als er wieder herabgestiegen war, »ob sich unter dem großen Proviantvorrat nicht Flüssigkeiten befinden, aus denen wir Coronium entwickeln können.«
»Ochsenschwanzsuppe und Heidelbeerkompott!«, scherzte die Lady.
»Und warum nicht!«, entgegnete der Prinz ernst. »Das sind Flüssigkeiten, mögen sie auch noch so dick sein — sie enthalten beträchtliche Mengen Wasser. Vielleicht, dass sich Coronium oder Wasserstoffgas daraus entwickeln lässt. Und haben wir genug davon, so können wir vielleicht emporsteigen, und aus größerer Höhe werden wir vielleicht eine Wasserfläche sehen, eine Oase, einen Brunnen, um den Menschen lagern, eine Karawane. Wir probieren es, und sei es auch nur der Wissenschaft halber.«
Eine Dose mit Ochsenschwanzsuppe wurde geöffnet, der Inhalt durch ein Tuch in die Experimentierflasche laufen gelassen.
Und tatsächlich, der Metallstreifen entwickelte an beiden Enden lebhaft Bläschen. An der einen Röhre konnte das Gas entzündet werden, vor der anderen kam ein glimmender Holzspan zum lebhaften Brennen — Wasserstoff und Sauerstoff.
Auch mit einer Dose ziemlich dünnflüssigen Heidelbeerkompotts wurde der Versuch gemacht, und wieder entwickelten sich die Gasblasen.
Aber dies nun im Großen ausführen zu wollen, um den Ballon mit dem nötigen Coronium oder Wasserstoffgas zu füllen, daran war nicht zu denken. Das heißt, es wäre keine humoristische Phantasie, wenn solche mehr oder weniger flüssige Sachen in genügender Menge vorhanden gewesen wären. Aber das war eben nicht der Fall. Gegen den festen Proviant kamen solche Suppen und eingemachte Früchte und dergleichen gar nicht in Betracht. Von Wichtigkeit waren sie eher, um sich vor Durst zu schützen. Freilich würden sie, wenn man auf sie allein angewiesen war, kaum einen Tag reichen, dann forderte der Körper andere Wassermengen, das konnte sich der Prinz schon jetzt berechnen, wie er den Proviantvorrat näher kontrollierte.
Er beschäftigte sich noch etwas mit der Heidelbeersauce in der Experimentierflasche. Ein kleiner Zusatz von Rum genügte schon, um der Gasentwicklung Einhalt zu tun. Vielleicht fünf Prozent Alkohol durfte darin sein, mehr nicht, dann zerlegte das wunderbare Metall das Wasser, mochte es sonst auch noch so viele fremde Bestandteile enthalten, nicht mehr.
So stellte der Prinz nur der Wissenschaft halber fest.
Aber auch dann noch betrachtete er die schwarzblaurote Tunke in der Experimentierflasche mit recht tiefsinnigen Augen. Wie wär's mit Blut aus ihren Körpern?
»Einen halben Liter kann der Mensch entbehren«, murmelte er, »dann tritt noch nicht der Tod ein, er erholt sich wieder. In seinem ganzen Körper hat der normale Mensch etwa — —«
»Dort kommt ein Kamelreiter — noch andere Menschen tauchen auf!«, rief da Fred.
Sie kamen von Westen her, vielleicht drei Dutzend Menschen, alle zu Fuß, nur einer auf einem Dromedar geritten. Oder dieses konnte auch nur bepackt sein und geführt werden.
»Jetzt sind wir gerettet!«, sagte der Prinz sofort
»Sie meinen, dass sie genügend Wasser mitführen und es uns abgeben werden, so viel wir brauchen?«, fragte die Lady.
»Nein, wir sind auch gerettet, das heißt, wir können weiterfliegen, auch wenn sie selbst kein Wasser haben.«
»Wie denn das?!«
»Bitte — ich bedauere schon, gleich von einer Rettung gesprochen zu haben. Es war voreilig von mir. Aber ich habe so eine Idee. Sie werden sehen. Bitte jetzt nicht weiter fragen.«
Ehe man die Männer deutlich erkennen konnte, machten sie Halt, hielten natürlich angesichts der großen Kugel dort, neben der ein für sie auch recht ansehnliches Haus stand, einen Kriegsrat ab.
Dann löste sich einer ab, kam schnellen Schrittes heran, und da er fast zehn Minuten brauchte, war er etwa einen Kilometer entfernt gewesen.
Es war ein Bewohner der Gobi oder Schamo. Jeder Stamm hat seinen Namen, aber einen Gesamtnamen für sie hat man nicht. Es sind Mongolen. Sie leben als Nomaden von Schaf- und Ziegenzucht, dienen den von Peking nach Kiachta ziehenden Karawanen als Schutz gegen ihre eigenen Stammesgenossen, sind also selbst ebenso gut Räuber. Pferde haben sie noch seltener als das zweihöckrige Kamel, fälschlicherweise Dromedar genannt. Das arabische, einhöckrige Kamel ist das echte Dromedar.
Das hier war eben ein richtiger Mongole, die Backenknochen unmäßig hervortretend, die Schlitzaugen verschwindend, die Nase wie eingeschlagen, das Maul nahm die ganze untere Gesichtshälfte in Anspruch. Alles noch ganz anders als beim Durchschnittschinesen.
Er war in Schafsfelle gekleidet, starrend vor Fett und Dreck, bewaffnet mit Pfeil und Bogen, hatte im Gürtel aber auch eine alte Pistole stecken.
Ganz furchtlos kam er näher. Oder vielmehr dreist. Der ganze Kerl war das Symbol der Frechheit.
»Good morning, Gentlemen und Ladys.«
»Good morning, Gentlemen und Ladys!«, sagte der von
Fett und Schmutz starrende Mongole in bestem Englisch.
Hallo! Das hatte man in der Wüste Gobi nicht erwartet, am allerwenigsten von diesem Kerl.
»Ich weiß, was das ist.«
»Nun?«
»Ein Luftballon, mit dem man in der Luft fahren kann.«
»Woher weißt Du das? Woher sprichst Du Englisch?«
»O, ich war in Amerika, zur Weltausstellung in St. Louis.«
»Ach so! Bei solch einer Völkerschau, da hatte man auch solche Mongolen hier aus der Wüste Gobi geholt, die dann immer kontraktmäßig in ihre Heimat zurückbefördert werden müssen.«
Aber hier sollte der Fall doch noch etwas anders liegen.
»Ja«, erklang es in eitlem Stolze weiter, »und dann habe ich auch eine Schule besucht, ich sollte Missionar werden.«
»Natürlich — das hatte nur noch gefehlt.«
»Und dann war ich auch in SingSing, im New Yorker Zuchthaus, weil ich gestohlen hatte. Ja!«
Die Zuhörer lachten lieber nicht. Der Kerl war gar zu stolz auf sein Zuchthaus. Er hätte es übel nehmen können, vielleicht gar geglaubt, man zweifle daran.
»Also Missionar sind Sie dann nicht mehr geworden?«
»Nein. Ich wollte zurück in die Schamo. Denn gibt es ein schöneres Land als die Schamo?«
»Nein, es gibt kein schöneres Land auf der Erde als diese Steppe und Wüste.«
»Ist der Hammeltalg irgendwo fetter als hier?«
»Sicher nicht.«
»Aber schreiben und lesen habe ich auf der Schule doch gelernt — ja, ich kann lesen und schreiben.«
Und dabei blickte er auf das, was dort groß in den Sand geschrieben war, und das Papier war für solche Wüstenaugen auch noch deutlich genug zu lesen.
Zu spät dachte der Prinz daran, dass er das hätte vermeiden sollen.
Aber wer hätte das gedacht, und nun war es eben nicht mehr zu ändern.
Über das abstoßend hässliche Gesicht ging ein schlaues und mehr noch tückisches Lächeln.
»Also Euer Luftballon kann nicht mehr fliegen, weil Ihr kein Wasser habt. Ja, ich weiß, dass man dazu Wasser haben muss — das weiß ich, ich war in der Missionarschule, ja.«
Natürlich hatte er nur etwas von Wasserstoff gehört, weiter ging seine Kenntnis nicht, aber das genügte gerade, um diese Luftschiffer in die fatalste Lage zu bringen.
Der Kerl würde mit seiner Bande ihre Notlage doch gründlich ausnutzen.
»Könnt Ihr uns Wasser gehen?«
»Wir haben selbst keinen Tropfen Wasser mehr, weil wir — o ja, wir haben viel, viel Wasser!«, verbesserte er sich schnell.
Natürlich entsprach die erste Aussage der Wahrheit.
Die Bande mochte schon lange unterwegs sein, hatte aber wohl noch keinen Durst gelitten, war jedenfalls sehr nahe an einem Brunnen oder sonstigen Trinkstätte. Da hatten sie ihr letztes Wasser schnell noch verbraucht.
»Ist hier ein Brunnen oder Fluss in der Nähe?«
»Nein, da musst Du noch viele, viele Tage reisen, ehe Du an den nächsten Brunnen kommst.«
Also natürlich wiederum gelogen.
»Willst Du Wasser von uns haben?«
»Ja. Wie viel könnt Ihr uns abgeben?«, ging der Prinz scheinbar darauf ein.
»Habt Ihr Whisky oder Wudki?«, erklang es jetzt lauernd.
»Ja, etwas.«
»Und wir haben etwas Wasser.«
»Nun, wir haben ziemlich viel Whisky.«
»Und wir haben ziemlich viel Wasser.«
»Das soll wohl heißen, Ihr gebt uns so viel Wasser wie wir Euch Whisky.«
»So ist es.«
»Das ist aber ein sehr ungleicher Tausch. Der Whisky ist doch viel, viel mehr wert als Wasser.«
»Nicht in der Schamo. Lass mich Deinen Whisky erst kosten.«
Der Prinz ging in die Gondel und kam gleich wieder mit einem kleinen Wasserglas, das zur Hälfte mit Rum gefüllt war.
Der Mongole goss das flüssige Feuer wie Wasser hinter und schnalzte mit der Zunge.
»Das ist Rum!«, konnte der in Amerika geschulte Sachverständige gleich erklären. »Habt Ihr mehr von solchem Rum?«
»Sehr viel. Willst Du uns die doppelte Menge Wasser dafür geben?«
»Wir wollen.«
Der Prinz ging wieder in die Gondel, blieb diesmal etwas länger drin, brachte einen Krug heraus, etwa drei Liter fassend, ganz mit Rum gefüllt.
Freudestrahlend nahm ihn der Kerl in Empfang.
»Habt Ihr nicht noch mehr?«, fragte er aber gleich, obgleich diese Leute sonst nicht an die Zukunft denken
»Wir haben noch mehr. Erst aber bringe diesen Krug mit Wasser gefüllt zurück und dann noch die doppelte Menge, vielleicht in einem Schlauche, dann erhältst Du den Krug und den Schlauch zum zweiten Male mit Rum gefüllt, Du bringst uns wieder die doppelte Menge Wasser, und so immer fort, so lange unser Vorrat an Rum und anderen Spirituosen reicht. Hast Du mich verstanden?«
»Ich habe Dich verstanden. Du glaubst wohl, wir wollen Dich betrügen?«
»Ganz und gar nicht. Nun lauf.«
Der Mann lief denn auch, rannte wirklich, brauchte nicht wieder so weit zurück, denn seine Gefährten waren unterdessen bedeutend näher gekommen, wenn sie sich auch außer Schussweite hielten. Wenigstens ihrer Meinung nach.
»Was Sie da getan haben und beabsichtigen, das verstehe ich nicht recht!«, sagte Lady Lionel.
»Sie werden es bald merken. Denn dass der Erfolg nicht ausbleibt, daran zweifle ich nun nicht mehr.
Die Bande dort hat selbst keinen Tropfen Wasser.
Das hat der Mann selbst verraten, gerade dadurch, dass er es gleich widerrufen wollte, dann das Gegenteil behauptete.
Durst leiden sie natürlich nicht, sonst hätte der uns doch gleich nach Wasser gefragt, nicht nach Schnaps.
Sie werden gar nicht weit von einer Wasserstation sein, die nur von hier aus noch nicht zu sehen ist.
Aber es ist gar nicht daran zu denken, dass die uns dorthin führen oder auch nur die Richtung angeben werden, wo Wasser zu finden ist.
Leider hat der Mann dort gelesen, dass wir kein Wasser mehr haben und in dem Ballon nicht aufsteigen können. Dieser Mann kennt eben zufällig die betreffenden Verhältnisse, er kennt nun unsere Notlage.
Selbstverständlich werden sie diese nach bester Möglichkeit ausnutzen.
Selbst wenn sie Wasser hätten, würden sie uns solches niemals geben.
Sie lassen uns einfach hier verschmachten.
Denn die wollen doch nicht nur unseren Branntwein, sondern auch unsere Waffen, die Ballonhülle, dieses Häuschen — sie wollen überhaupt alles.
Wollen wir die Gondel verlassen, uns auf die Wassersuche machen, so können wir doch nicht viel mitnehmen, sie würden uns unterwegs angreifen, vielleicht wollen sie auch schon in der Nacht einen Sturm versuchen, um uns zu überwältigen.«
Der Prinz schwieg, als hätte er alles genügend erklärt.
»Ja, was beabsichtigen Sie nun eigentlich?«, fragte die Lady. »Weshalb haben Sie erst den Krug Rum mitgegeben?«
»Ich habe Laudanum beigemischt.«
.»Ah!«, erklang es nun schon verständnisvoll.
»Ich habe in meinem Koffer für alle Fälle eine Flasche Laudanum.
Sie wissen doch, was das ist?
Ein alkoholischer oder besser noch ätherischer Auszug des Opiums.
Wirkt noch viel, viel intensiver als das Opium für sich allein.
Was ich da hineingegeben habe, das genügt vollkommen, um alle zu betäuben, jeder braucht nur ein Gläschen voll zu trinken.
Misstrauisch können sie nicht werden, falls sie mit Opium schon Bescheid wissen, was bei diesen Mongolen doch zweifellos der Fall ist, denn der Rum verdeckt den Geschmack des Opiums und speziell des Laudanums vollkommen.
Dieses Laudanum hat aber auch noch eine andere Eigenschaft, weshalb man es eben so gern verwendet, weshalb es besonders in Amerika unter den Rothäuten schon eine so traurige Rolle gespielt hat.
Die betäubende Eigenschaft des Laudanums äußert sich nicht sogleich. Man mag so viel Rum trinken, wie man will — die Wirkung ist keine andere als wie sie der Alkohol eben sonst ausübt.
Die Wirkung des Laudanums tritt erst in ungefähr fünf bis höchstens zehn Minuten ein, nachdem man den ersten kräftigen Schluck getrunken hat.
Da sinkt man plötzlich um, ist besinnungslos. Mit einem Schlage tritt es ein — —«
»Da, jetzt trinkt der Kerl aus dem Kruge!«, rief Fred.
»Er mag es nur tun. Seine Genossen erreicht er schon noch, und ehe er umfällt, haben die anderen auch schon getrunken, deswegen brauchen wir keine Sorge zu haben. Nein, er trinkt übrigens nicht aus dem Kruge, er hat nur einmal eingehend hineingeblickt. Würde er schon unterwegs trinken, so würden ihn seine Kameraden wahrscheinlich verprügeln. So, nun ist er dort, da wird der Krug schon in Empfang genommen — der erste will trinken, er wird daran gehindert — jeder hat den üblichen Teebecher bei sich, jeder lässt sich seinen Becher füllen — es wird redlich geteilt — so ist es recht. In spätestens zehn Minuten werden wir die allgemeine Wirkung sehen.«
»Ja, aber ich verstehe immer noch nicht, weshalb Sie die Kerls betäuben, was Sie darin für eine Rettung für uns sehen, wenn Sie annehmen, dass die selbst kein Wasser haben!«, sagte Lady Lionel.
»Ich werde es Ihnen dann gleich demonstrieren, wenn es nur erst so weit ist.«
Es dauerte nur wenige Minuten, so setzte sich einer nach dem anderen hin, wenn sie nicht schon saßen, und dann streckten sie sich der Länge nach aus.
Diese Regelmäßigkeit war wirklich ganz auffallend.
»So, fünf Minuten sind vergangen, bis ich hinkomme vergehen weitere fünf Minuten.
Warten Sie hier auf mich. Eine Gefahr droht mir nicht. Ich bin meiner Sache ganz sicher. Abstinenzler, die den Schnaps verachten, gibt es unter diesen Mongolen nicht, selbst wenn es Mohammedaner wären.
Der Prophet hat glücklicherweise den Schnaps zu verbieten vergessen, weil er ihn eben noch nicht kannte — ebenso das Bier, welche Vergesslichkeit ja von den braven Moslems auch reichlich ausgenutzt wird.«
Der Prinz begab sich hin, nicht lange dauerte es, so kam er zurück, das beladene Dromedar am Halfter führend, ein sehr stattliches Tier.
Es war an den Füßen so gekoppelt, dass es eben nur schreiten, nicht traben konnte. Es ist dies weniger eine Vorsichtsmaßregel, die man anwendet, um das Kamel am Fliehen zu hindern — es kommt selten einmal vor, dass ein Kamel das Weite sucht — sondern eine Bequemlichkeit, man kann es leichter zum Niederknien zwingen, was es nicht immer freiwillig auf Kommando tut, besonders nicht, wenn es durstig und hungrig ist.
»Alles ist so, wie ich mir dachte. Wasserschläuche und Kalebassen waren leer, ganz trocken. Jetzt schlafen sämtliche den Schlaf der Gerechten, sie schnarchen fürchterlich und werden nicht so bald wieder erwachen.«
»Und was wollen Sie mit dem Dromedar?«
»Das ist unsere Rettung.«
»Dieses Kamel?! Das soll wohl die Gondel ziehen?«
»Dazu reichte seine Kraft nicht aus. Wohl aber wird es uns in die Lüfte tragen.«
»Sie scherzen!«
»Ich scherze nicht. Deasy, geh einstweilen in die Gondel. Ich habe diesen beiden etwas zu sagen, was Du besser nicht hörst, dann auch etwas nicht siehst. Du wirst Dir schon die Zeit zu vertreiben wissen.«
Willig ging das Kind sofort in die Gondel, der Prinz machte die Wände undurchsichtig, Deasy sollte es dabei lassen, er kam wieder heraus, schloss die Tür.
»Ja, durch dieses Dromedar werden wir wieder aufsteigen. können.
Durch sein Blut.
Der erwachsene Mensch hat vier bis fünf Liter Blut in seinen Adern, die man ihm richtig abzapfen kann — solch ein großes Tier wird doch wohl fünfmal so viel Blut haben, zwanzig bis fünfundzwanzig Liter.
Das Blut des Kamels ist überhaupt sehr dünnflüssig, gerinnt sehr schwer, wahrscheinlich infolge seines starken Salzgehaltes, und dass Salz die Zersetzung des Wassers nicht verhindert, habe ich schon vorhin an der sehr gesalzenen Ochsenschwanzsuppe gemerkt.
Wie viel wir Gas aus diesem Blute entwickeln können, darüber will ich Ihnen jetzt nichts vorrechnen, in der Praxis kommt es doch ganz anders als nach der Theorie.
Der Hauptbestandteil des Blutes ist ja aber doch nur Wasser.
Der kleine Gasentwickler dort oben fasst überhaupt nur fünfzehn Liter, und Mister Lytton hatte mir erklärt, dass dies für den Ballon vollkommen genügt, um die Gondel, so wie sie jetzt ist, emporzuheben, bis zur größten erreichbare Höhe.
Gasverlust kann bei diesem Ballon gänzlich vermieden werden, und ich glaube, ich habe inzwischen die Vorrichtung entdeckt, wie man das Innere des Ballons erwärmen kann, sodass eine noch viel größere Tragfähigkeit herauskommt.
Und aus größerer Höhe werden wir schon eine Wassergelegenheit sehen, die wir erreichen können, selbst wenn wir nicht direkt daran zu landen vermögen.
Nun wollen wir ans Werk gehen.«
Das Dromedar wurde abgeladen, die Pakete enthielten Reis, jedenfalls durch Raub erbeutete Ware, wurde mit Stricken, die zur Genüge vorhanden waren, aufrecht an eine Seitenwand der mehr als drei Meter hohen Gondel befestigt.
Weder die Lady noch Fred dachten an einen Widerspruch, wenn sie auch das Tier bemitleiden mochten. Es galt, Menschenleben zu retten.
Und hatte der Prinz offenbar nicht schon an Menschenblut gedacht, ob solches nicht zu benutzen sei — auch sein eigenes?
Er sagte nichts davon, es war nicht nötig.
Die erforderlichen Gefäße wurden zurechtgestellt, der Prinz zog sein ärztliches Besteck aus der Tasche.
»Ich öffne ihm eine Ader am Hinterfuß.«
»Wollen wir es nicht zuvor töten?«, fragte die Lady etwas gedrückt.
»Nein, lassen wir es doch so langsam verbluten, es ist der sanfteste Tod.«
Die Ader wurde am linken Hinterfuß geöffnet, das hervorschießende Blut sprang in das untergehaltene Gefäß.
Das Tier war bei dem Schnitt etwas zusammengezuckt, sonst schien es gar nichts davon zu merken. Es fraß gierig den ihm auf einer Kiste vorgeschütteten Reis.
Die erste Probe wurde in der Experimentierflasche vorgenommen. Das Blut, das noch nicht gerinnen wollte, entwickelte an dem Metallstreifen lebhaft Bläschen.
Dann kam der erste Eimer oben in den Gasentwickler. Doch wurde der Hahn so gestellt, dass der Wasserstoff und auch der erzeugte Sauerstoff als Knallgas den Motor in Betrieb setzen musste.
Und der Motor begann denn auch zu arbeiten, sobald die elektromagnetische Zündung funktioniert hatte, er trieb die Rotationspumpe.
»Es geht alles, wie ich mir gedacht hatte, was aber eigentlich auch ganz selbstverständlich war.«
Der Ballon begann wieder zu schwellen, erst nur durch atmosphärische Luft.
Unterdessen wurde ein Eimer Blut nach dem anderen in den verschließbaren Hilfstrichter gegossen, bis das Wasserstandsglas den normalen Stand anzeigte.
Erst beim dritten abgezapften Eimer Blut zeigte das Dromedar Schwäche, konnte nicht mehr richtig aufrecht stehen, es hing nur noch in den Stricken, fraß aber nach wie vor noch gierig den Reis.
»So möchte ich auch dereinst sterben!«, meinte die Kosakin. »Aufgehangen — sich langsam verbluten — und dabei mit bestem Appetit frühstücken.«
Als der Ballon seine nötige Rundung hatte, wurde der Gasentwickler angestellt. Er funktionierte, es war bald zu bemerken, der Ballon begann zu schweben, spannte sich über die Gondel.
Wie man wieder nach dem Dromedar sah, war dieses bereits verendet, mindestens bewusstlos, es wurde nur noch von den Stricken aufrecht gehalten.
Noch zwei Eimer Blut kamen herauf, die für die Heizung des Ofens oder überhaupt für den inneren Gasentwickler verwendet werden sollten.
Dann wurden die Stricke gelöst, das Tier stürzte zu Boden, der Prinz öffnete ihm noch die Hauptschlagader am Halse, ohne dass sich noch Blut zeigte.
»Können wir nicht ein Stück Fleisch mitnehmen?«, fragte die Lady.
»O ja, das können wir.«
Kamelfleisch schmeckt auch ganz gut. Seit einiger Zeit kommt es aus Algerien auf den Pariser Markt. Wenn es auch nur Modesache ist. So gut wie Ochsenfleisch ist es denn doch nicht und weit teuerer als das zäheste Kuhfleisch.
Der Prinz hatte das Tier angebrochen und ein gutes Rippenstück herausgeschnitten.
Dann war es Zeit, sich in die Gondel zu begeben, wollte man die Gasentwicklung nicht einstweilen abstellen.
Jetzt schraubte der Prinz ein Stück Gasrohr, welches er vorhin gefunden hatte, mitten auf den Ofentisch. Dass das sehr kleine Loch dort in der Mitte mit einem Gewinde versehen war, auf welches dieses Rohr aufzuschrauben war, das war nämlich die Hauptentdeckung gewesen, die er gemacht hatte.
Weiter ließ sich dieses starre Rohr durch einen dicken Schlauch mit dem Ballon verbinden, wozu eine besondere Öffnung mit Ventil vorhanden war, und dass dies alles so zusammenpasste, das war es eben, was ihn auf diesen Gedanken gebracht hatte.
Dann setzte er den Ofen in Betrieb, der ebenfalls mit Blut versehen worden war, brannte die Knallgasflamme an, benutzte die Vorrichtung, welche diese Flamme durch die Mitte in das Rohr schlagen ließ.
Die Folge war, dass sich der Ballon mit der Gondel weit eher erhob, als es nach der Menge des Coroniums, das sich bis jetzt entwickelt hatte, sonst geschehen wäre.
Die Stichflamme, die sich ungemein verlängern ließ, schlug eben bis in den Ballon hinein, wenn auch nicht direkt, dort drin war immer noch ein Schlauch oder ein ganzes System von Schläuchen, aus einer unverbrennbaren Masse, vielleicht aus Asbest gesponnen, so erhitzten sich im Ballon die atmosphärische Luft und das Coronium, diese dehnten sich aus, ihre Steigkraft wurde noch ganz bedeutend vergrößert.
Schnell schwebte der Ballon in die Höhe, nahm immer mehr eine östliche Richtung ein. Wie gewünscht worden war, wollte der Prinz bis eintausendfünfhundert Meter hoch gehen.
»Dort — was ist das für ein grüner Streifen?«, rief die Lady schon vorher.
Ein Blick des Prinzen genügte, so weit die Entfernung auch noch sein mochte.
»Das ist die grüne Ufereinfassung eines Flusslaufes!«
»Wir gehen dort nieder?«
»Selbstverständlich. Die Wasserfrage geht vor den Befehlen unseres Dirigenten. Wir werden darauf zugetrieben, können den Flusslauf gar nicht verfehlen, es geht von Norden nach Süden, oder umgekehrt, wir müssen ihn passieren. Meine Kunst besteht nun darin, den Ballon so dicht wie möglich am Wasser landen zu lassen. Na, und wenn wir das Wasser einige hundert Schritte schleppen müssen, das schadet auch nichts.«
Schon ließ der Prinz den Ballon wieder etwas sinken, nur dadurch, dass er die heizende Flamme verkleinerte, Luft und Gase sich also wieder etwas abkühlten und daher zusammenzogen. Ein Verlust von Coronium konnte dadurch vollkommen vermieden werden.
Nach einer Viertelstunde erkannte man die Pappeln und Weiden, sah den Wasserspiegel des Flusses, von einem breiten Uferrande mit saftigem Grün begleitet. Menschen waren nicht zu erblicken.
Der Ballon senkte sich immer mehr durch Erkalten, und wie die Gondel aufstieß, brauchte nur noch ein klein wenig Coronium ausgelassen zu werden, dann lag auch der Ballon fest, und zwar ganz dicht am Flussufer, zwischen zwei Pappeln.
Nur die ersten Eimer wurden geschöpft, um die Apparate von dem Blute zu reinigen. Dann pumpte das Sauggebläse die Tanks voll, was in wenigen Minuten geschehen war, und wieder stieg der Ballon in die Höhe, nach Osten zu.
»Deasy ist plötzlich eingeschlafen!«
Der Prinz ergriff ihre linke Hand.
»Was hast Du uns zu sagen, Kind?«
»Mister Lytton bittet um Verzeihung. Er hat zu spät bemerkt, dass die Tanks ausgelaufen waren, dass wir kein Wasser hatten, dass wir also seiner Aufforderung nicht nachkommen konnten.«
»Es wird ihm Verzeihung gewährt.«
»Er hat es erst gelesen.«
»Aha, also diese Art Verständigung ist möglich.«
»Ja. Du sollst ihm fernerhin alles, was Du ihm zu sagen und zu fragen hast, aufschreiben. Nur auf ein Stück Papier. Am besten aber ist es, Du versetzest mich in Trance, nimmst meine linke Hand und blickst fest auf das, was Du geschrieben hast. Dann kann er es am leichtesten lesen. Sonst fällt es ihm sehr schwer.«
»Es wird geschehen.«
»Das kannst Du bei Tag oder Nacht machen, zu jeder Zeit. Dadurch, dass ich in Trance liege und Du Deinen Willen konzentrierst, wird er auch aus dem festesten Schlafe geweckt.«
»Ich hoffe, seinen Schlaf nicht allzu oft stören zu müssen.«
»Dann hat er Dir gleich noch etwas anderes mitzuteilen.«
»Nun?«
»Der Fall mit dem Helios hat sich erledigt.«
»Wieso? Die Besatzung hat sich selbst aus ihrer fatalen Lage befreien können?«
»Nein. Alle, welche die Katastrophe überlebt hatten, haben doch noch ihren Tod gefunden. Sie sind der Kälte erlegen, alle erfroren.«
»O weh!«
»Also wir sollen uns keine Sorge mehr machen, dass wir zu spät kämen.«
»Durch die Flucht des Ballons sind diese armem Männer eben doch noch Opfer des Todes geworden.«
»Nein. Sie waren bereits tot, erfroren, als der Ballon dort in Nepal zum ersten Male gefüllt wurde. Das hatte Mister Lytton nur noch nicht gewusst, er hat es erst nachträglich erfahren.«
»Na, das ist wenigstens ein Trost für uns, so schuldlos wir auch an dem Unglück überhaupt wären.«
»Trotzdem möchtest Du noch die Unglücksstelle aufsuchen.«
»Gewiss, wie Mister Lytton wünscht. Wo ist die denn?«
»Darüber möchtet Ihr nicht fragen, es muss Euch unbekannt bleiben.«
»Gut, es wird nicht weiter gefragt.«
»Mister Lytton weiß, dass Du keinen Sextanten hast, also kannst Du auch gar keine geografische Ortsbestimmung machen.«
»Nein, kann ich nicht.«
»Der Ort liegt im Himalajagebirge, das darfst Du erfahren.«
»Also es geht zurück nach Nepal.«
»Nach dem Himalajagebirge. Ob wir schon wissen, dass oben die Decke der Gondel hohl ist.«
»Nein, das ist uns noch nicht bekannt. Soll ich ihm das aufschreiben, dass er es lesen kann?«
»Es ist nicht nötig. Mister Lytton sagt, dass wir in diesem Hohlraum Werkzeug und warme Pelzkleidung finden werden. Hineinzugelangen ist seitlich durch die Füllung der Falltür.«
Dass diese Decke sehr dick war, hatte der Prinz schon gemerkt, aber nicht gerade an solch einen Hohlraum gedacht, der zum Aufbewahren von Gegenständen diente.
Darüber, dass diese ganze Decke ja trotzdem völlig durchsichtig war, brauchte er sich nicht mehr zu wundern.
Wie das zustande kommen konnte, war ihm ja schon auf dem Helios erklärt worden. Alles, was sich zwischen zwei solchen lichtdurchlässigen Platten befand, wurde ebenfalls für das menschliche Auge unsichtbar. Nur dass hier die Unsichtbarkeit im Ganzen und Großen fehlte.
Also die ganze Gondel selbst konnte nicht unsichtbar gemacht werden, so weit war man damals noch nicht gewesen.
»Mister Lytton hat mir noch etwas anderes zu sagen.«
»Nun?«
.»Jetzt weiß er, dass er durch seinen Willenseinfluss auf mich meine Gabe für die Wünschelrute aufgehoben hat. Das hat er nicht gewusst, dass dies stattfinden wird, er hat es erst nachträglich gemerkt, beobachtet. Auch hierfür bittet er um Entschuldigung. Er wird mich nach wie vor beeinflussen, aber auch Euch werde ich mit der Wünschelrute und allem nach wie vor zu Diensten stehen.«
»Dann ist es ja gut. Obgleich ich Dich nicht zu oft für so etwas brauchen werde. Nur wenn es unbedingt sein muss. Sonst noch etwas?«
»Wie Du den Ballon innen heizen kannst, wüsstest Du ja nun auch.
Andere Erklärungen hat er Dir vorläufig nicht zu geben. Jetzt möchtest Du zweitausendzweihundert Meter hoch gehen.«
Deasy erwachte.
Schnee- und eisbedeckte Berggipfel, unübersehbare Gletscher — das war der Anblick, der sich den Luftschiffern zwei Tage später bot. Zu dem Wege, den sie auf der Herfahrt in vierzehn Stunden gemacht, hatten sie zurück dreimal so lange gebraucht. Die Windverhältnisse waren eben nicht so günstig gewesen, sie hatten nicht wieder solch einen Sturm oder Orkan nach westlicher Richtung benutzen können.
Sie befanden sich wieder in Nepal, über dem mächtigsten Gebirgsstocke des Himalajas. Das hatte ihnen Mister Lytton gesagt, mehr nicht.
Das Tal von Gandak hatten sie nicht erblickt, solche Beobachtungen waren aus der Höhe, in der sie sich immer halten mussten, überhaupt gar nicht möglich.
Jetzt zeigte das Barometer noch etwas mehr als sechstausend Meter an, dabei aber waren sie nur wenige hundert Meter über dem Boden. Wenn man da von so etwas wie »Boden« sprechen durfte. Allüberall Bergspitzen, fürchterlich zerrissene Halden, und dann blickte man wieder in unergründliche Tiefen.
Und dann wieder wurde ein vergletscherter Berg passiert, zu dem man hoch, hoch hinaufblicken musste. Denn gerade in diesem Teile Nepals liegen ja die drei mächtigsten Bergriesen, der Gaurisankar oder Mount Everest, der Kantschindschanga und der Dhawalagiri, mit 8840, mit 8588 und mit 8176 Metern.
Außerdem aber gibt es, immer in Nepal, nicht weniger als 18 Berggipfel mit über 7600 Metern, 40 mit über 7000, und 120 mit über 6100 Metern!
So viele sind wenigstens bisher gezählt und gemessen worden.
Hut ab vor den Männern, die sich solch einer Beschäftigung unterziehen, wenn es der Menschheit auch weiter keinen Nutzen bringt. Aber soll uns, den Herren der Erde, diese Erde denn fremd bleiben?
Der höchste Pass, der über das Himalajagebirge geht, von Menschen und ganzen Karawanen benutzt wird, der IbiGaminPass zwischen Tibet und Garhwal, erreicht 6240 Meter Höhe, der niedrigste, der BaraLatscha, immer noch 4890 Meter.
Zum Vergleiche diene, dass der höchste Gipfel in den Alpen, der des Montblanc, eine Höhe von 4810 Metern hat. Die höchste Winterwohnung in den Alpen, das Kloster von Sankt Bernhardt, liegt 2472 Meter hoch.
Im Himalaja beginnt die Grenze des ewigen Schnees im Durchschnitt bei 5000 Meter. Der Getreidebau, hauptsächlich Gerste, geht auf indischer Seite bis auf 3700, auf tibetanischer Seite gar bis 4600 Meter hinauf.
Obgleich doch auf der nördlichen Seite. Doch das hängt mit den warmen Winden zusammen, die im Sommer aus dem Innern Asiens kommen. Bis zu 5300 Meter gibt es dort auch noch Weiden.
Aber dies alles gilt nicht für die Umgebung von solchen Bergriesen. Der eisige Hauch, der von diesen ständig ausgeht, die ungeheuren Gletscher, im Sommer das kalte Schmelzwasser, drücken da die Temperatur auch im heißesten Sommer weit, weit herab.
Bei 5000 Meter Höhe war hier alles Eis und Schnee und das würde auch im heißesten Sommer so bleiben, keine zwerghaft verkrüppelte Birke, kein Grashalm würde sichtbar werden.
Denn in einer Höhe von 6000 Metern schwebte der Ballon bereits in einem Tale, das eben von solchen ungeheuren Bergriesen umgeben war.
»Dort unten liegen die Trümmer des Helios!«, sagte der Prinz.
»Sie sind nicht zu sehen?«
»Nein, zu sehen sind sie nicht und werden vielleicht niemals wieder zum Vorschein kommen.
Aber Deasy hat mir vorhin in Trance die Stelle deutlich genug beschrieben, dass ich sie sofort erkenne.
Das Luftschiff ist nicht beim Landen zu hart aufgeschlagen, wie mir Mister Lytton sagte — vielleicht hat er es damals selbst nicht besser gewusst — sondern es ist ganz anders gekommen.
Der Helios lag ganz wohlbehalten und sicher, aber doch wohl nicht an der richtigen Stelle, wohin er dirigiert werden sollte. Er war in der Nacht durch seine Leichtigkeit abgetrieben worden, ohne dass dies gemerkt wurde, man glaubte, an der richtigen, sicheren Stelle zu liegen.
Aber er lag an der allergefährlichsten.
An einer sehr schrägen, an einem mit hohem Schnee bedeckten Bergabhange.
Durch die Wärme, welche das geheizte Luftschiff ausstrahlte, oder vielleicht schon durch die Erschütterung kam der Schnee ins Rutschen, donnerte als Lawine nieder.
Als das Donnern begann, konnten einige noch, so wie sie gingen und standen, ins Freie flüchten.
Das Luftschiff ist vollkommen zusammengedrückt worden, mit ihnen alle, die sich noch darin befanden, die meisten.
Die wenigen Überlebenden also hatten nichts als das nackte Leben gerettet. Oder doch nur das, was sie auf dem Leibe trugen, und das war keine warme Kleidung gewesen.
So haben sie den Abstieg versucht, es blieb ihnen nichts anderes übrig.
Sie erreichten wohl noch tiefere Gegenden, in denen sie wenigstens mit Flechten und Wurzeln ihren Hunger stillen konnten, dann aber, wahrscheinlich gerade zu der Zeit, als wir mit dem Ballon aufsteigen wollten, sind sie in einem Schneesturm sämtlich ums Leben gekommen.«
»Und was sollen wir nun hier?«, fragte Lady Lionel.
Sie hatte geschlafen, als vorhin Mister Lytton durch das Kind nähere Instruktionen gegeben.
»Uns in den Schneeberg hineingraben, bis zu den Trümmern des Helios durch.«
»Ist das nicht gefährlich?«
»Mister Lytton glaubt es nicht. Der ganze Schneehügel ist unterdessen zu einer kompakten Masse zusammengefroren. Wir werden mehr mit Hacke und Pickel zu arbeiten haben als mit der Schaufel. So glaubt wenigstens Mister Lytton. Wir müssen die Sache selbst prüfen. Dünkt sie uns zu gefährlich oder haben wir sonst keine Lust zu der schweren Arbeit, so sollen wir es einfach bleiben lassen. Er nimmt es uns nicht etwa übel, das hat er ausdrücklich betont. Er denkt nur, es macht uns selber Spaß, hier im Wonnemonat Mai die schneeschippenden Eskimos zu spielen, und das nicht etwa am Nordpol, sondern noch in tropischen Zonen. Nachrutsche finden aber nicht mehr statt, das wusste er bestimmt. Aller Schnee ist herabgekommen, was nicht gerade so kleben blieb, und es hat bisher weder geregnet noch geschneit.«
»Und was sollen wir nun im Innern des Schneehaufens?«
»Etwas aus den Trümmern des Luftschiffes herausholen, es wenigstens versuchen.«
»Was ist das?«
»Das wird uns die Wünschelrute sagen, in Deasys Hand von Mister Lytton dirigiert. Oder wie er das nun sonst machen wird. Weiter aber wollte er jetzt noch nichts sagen. Falls es uns überhaupt gar nicht gelingt, die Trümmer des Luftschiffes zu erreichen. Dann brauchen wir von dem ganzen Geheimnis auch gar nichts zu wissen. Was man nicht weiß, macht einem auch in einem Schneehaufen nicht heiß.«
»Was ist das dort unten in dem Schnee für ein schwarzer Fleck?«
»Das ist kein Fleck, wie sich gnädigste Mylady auszudrücken belieben, sondern das ist eine Fläche von einigen Quadratkilometern.
Dort entspringen dem Gebirge einige heiße Quellen, die den Boden auf weite Entfernung hin gründlich heizen, bis auch sie gefrieren.
Es ist auch ein ganzer Abhang, der unterirdisch ebenso geheizt wird, dass also kein Schnee darauf liegen bleiben kann.
Von diesem hohen Abhange sieht man von hier aus nur nichts durch die perspektivische Verkürzung; da auch er aus schwarzem Felsen besteht, verschmilzt er mit der schwarzen Fläche.
Das ist die Stelle, wo der Helios hat landen wollen.
Er hat sie verpasst, ist gegenüber an den Schneeabhang gekommen, ohne es in der finsteren Nacht zu merken.
Diese schneefreie Stelle sollen auch wir aufsuchen, damit wir nicht etwa anfrieren und dann nicht wieder los können, dort werden der Ballon und die Gondel nicht durch neue Schneeniederschläge beschwert, er schmilzt sofort, und dann können wir den Ballon auch, falls wir länger hier bleiben, in einer warmen Höhle bergen und uns selbst dazu.
Nun aber klar zur Landung!
Wir befinden uns gerade über dieser schwarzen Stelle dicht neben der Felswand, wo die warmen Höhlen sind.
Das können wir nämlich vom Ballon aus doch besser beurteilen, als es dem Mister Lytton mit seinen geistigen Augen auf so weite Entfernung hin möglich ist.«
Der Ballon senkte sich schnell.
Zuletzt noch etwas westwärts getrieben, hörte das bald auf, er kam eben in den Windschutz der umgebenden Berge, fiel zuletzt ganz senkrecht hinab.
Der Boden wurde berührt, und als sich der Ballon neben die Gondel gesetzt hatte, sah man, dass man sich dicht an einer steilen Felswand befand, direkt vor einer geräumigen Höhle.
»Wieder einmal mehr Glück als Verstand gehabt!«, suchte der bescheidene Prinz sein geschicktes Landungsmanöver zu verkleinern. »Besser hätten wir es ja gar nicht treffen können.«
Aus der Höhle floss ein Bach hervor, über das ziemlich ebene Plateau hinweg, in einiger Entfernung sah man, wie er sich mit einer dünnen Eiskruste überzog, die schnell immer dicker wurde, bis er sich unter dem Schnee verlor.
Während das draußen angebrachte Thermometer in der Hohe von 6000 Meter 18 Grad Celsius Kälte gezeigt hatte, stieg es jetzt schnell bis auf 6 Grad Wärme.
»Diese Wärmezunahme kann ich begreifen«, sagte die Lady, »wenn das eben ein warmer oder gar heißer Bach ist. Aber wie kommt es, dass wir damals in 8000 Meter Höhe mehr als 60 Grad Kälte hatten und hier in 6000 Meter Höhe nur 18 Grad, wo wir doch so nahe dem ewigen Eise sind.«
»Eben weil wir diesem ewigen Eise und Schnee so nahe waren, daher kam das.«
»Ich verstehe nicht.«
»Nun, Schnee und Eis sind eben gar nicht so kalt. Ihre Temperatur kann zwar unter 0 Grad sinken, aber dann sind bald Grenzen gezogen. Der Schnee kann unter Umständen selbst eine Wärmequelle bedeuten. Bedenken Sie doch, dass die junge Saat im Spätwinter erfriert, wenn sie nicht mit Schnee bedeckt ist. Der Schnee hält sie warm.«
Ja, jetzt verstand die Lady.
»Aber was sagen Sie denn zu unserem Barometer?«
Dieses Barometer befand sich zwar im Innern der Gondel, stand aber durch ein Rohr mit der äußeren Atmosphäre in Verbindung. Denn die Wände der Gondel schlossen ja vollkommen hermetisch, also änderte sich in ihr der Luftdruck nicht, solange man kein Fenster öffnete.
Vorhin hatte das Barometer 6000 Meter angezeigt, war beim Fallen des Ballons langsam gesunken, als die Lady zuletzt darauf geblickt, noch vor der Landung, hatte der Zeiger auf ungefähr 5800 gestanden.
Und jetzt plötzlich gab er nur noch 420 Meter an! Er musste zuletzt geradezu im Kreise herumgeschwirrt sein.
»Wie ist denn das möglich? Ist denn das Ding kaputt?«
»Nein, das Barometer zeigt ganz richtig den Luftdruck an. Freilich nicht mehr die wahre Höhe, in der wir uns befinden.
5500 Meter hoch sind wir sicher immer noch.
Woher das nun kommt, dass das Barometer jetzt bloß noch 420 Meter anzeigt?
Das macht der heiße Bach hier.
Dieses heiße Wasser verdunstet doch außerordentlich schnell, gerade in dieser außerordentlich dünnen Atmosphäre.
Dieselbe Dünnheit bewirkt auch, dass man nichts von Wasserdampf sieht.
Trotzdem ist hier über dem Boden die ganze Atmosphäre vollkommen mit Wasserdampf gesättigt.
Infolgedessen ist die Luft auch sehr dick, wie ich mich ausdrücken will, es herrscht also ein viel, viel größerer Atmosphärendruck, als er nach der wirklichen Höhe eigentlich sein musste. Verstehen Sie, wie das gemeint ist?«
Ja, wenigstens so ungefähr verstand die Lady, mehr konnte man ja auch von ihr nicht verlangen.
»Und wissen Sie, was dieser starke Atmosphärendruck in solcher Höhe noch für eine angenehme Folge für uns hat?«
»Nun?«
»Wir bleiben von der Soroche verschont.«
»Soroche? Was ist denn das?«
»Die Bergkrankheit. Mir kam gerade dieser spanische Name in den Mund, weil sie am häufigsten in Cerro de Pasco vorkommt, wo auch ich sie fürchterlich durchgemacht habe.
Cerro de Pasco, eine Silberminenstadt in Peru bei Lima in den Kordilleren, ist die am höchsten liegende, ständig bewohnte Ortschaft der Erde. 4300 Meter über dem Meeresspiegel. Sie hat nicht weniger als 14 000 Einwohner. Außerdem die lasterhafteste Stadt der Erde. Na, was sich dort für ein Gesindel zusammengefunden hat, außerhalb aller Gerichtsbarkeit stehend!
Die Bergkrankheit kennen Sie wohl, haben wenigstens davon gehört. Durch den geringen Atmosphärendruck werden die Glieder schwer wie Blei, man bekommt keine Luft, dabei der Druck von innen, die Augen wollen einem aus dem Kopfe treten, es flimmert einem vor den Augen, man bekommt Ohnmachtsanfälle.
Das ist aber noch längst nicht die Soroche. Die Bergkrankheit bleibt immer, weil das eben nur die Folgen der großen Höhe, des niedrigen Atmosphärendrucks ist. Aber die Soroche ist eine wirkliche Krankheit, der jeder Fremde unterliegt, bis er sie überwunden hat.
Sie ist der Seekrankheit entsprechend, nur doppelt und dreifach stärker. Man würgt und würgt, möchte sterben und kann nicht. So geht das manchmal eine Woche lang, dann gesundet man, bekommt sie nicht wieder. Wenn nicht zu lange Perioden dazwischen eintreten, das heißt, wenn man inzwischen sich nicht zu lange wieder in größeren Tiefen aufgehalten hat. Die einfache Bergkrankheit dagegen bleibt immer bestehen, also man wird immer seine Glieder schwer wie Blei fühlen, manchmal Nasenbluten bekommen und dergleichen.
Von der Soroche können wir vollkommen verschont bleiben, wenn wir nicht gar zu weite Ausflüge von hier machen. Sobald wir solch einen Anfall kommen fühlen, begeben wir uns wieder hierher, wo durch den Wasserdampf ein so starker Atmosphärendruck herrscht. Ist der Anfall vorüber, geht es mit frischen Kräften hinaus. Gestorben ist übrigens noch niemand an der Soroche, so wenig wie an der Seekrankheit. Aber schrecklicher ist sie doch als die tollste Seekrankheit.«
»In diesem Falle könnten wir uns doch auch in das Innere der Gondel begeben, das doch den Atmosphärendruckwechsel nicht mitmacht, weil die Wände hermetisch schließen«, meinte die Lady.
»Sie vergessen wohl, dass dies doch nur so lange gilt, als man die Wände auch wirklich geschlossen hält.
Sobald man einmal ein Fenster geöffnet hat, auch nur die schmalste Spalte, entweicht die Luft hinaus, der Druck innen gleicht sich mit dem draußen aus. Und dann lässt sich hier drin keine dichtere Atmosphäre wieder herstellen. Die Luftpumpe würde nicht mehr saugen. Deshalb habe ich ja so darauf gehalten, dass, wenn wir uns in größerer Höhe befinden, nichts geöffnet wurde. Auch wenn es draußen gar nicht so sehr kalt war. Nun wollen wir ins Freie gehen, können es unbesorgt tun.«
Sie traten hinaus.
Wie die Atmosphäre mit Feuchtigkeit vollkommen gesättigt war, das war deutlich zu fühlen.
Trotzdem schlug sich auf ihren Kleidern keine Feuchtigkeit nieder, nirgends war etwas von Nässe zu bemerken.
Das machte die enorme Höhe, die ungemeine Dünne der umgebenden Atmosphäre, die schnell alles wieder verdunsten ließ, nach oben absaugte.
Außerdem herrschte eine wahre Backofentemperatur, obgleich das richtiggehende Thermometer doch nur 6 Grad Wärme anzeigte.
Es lag hier dasselbe vor wie in der winterlichen Schneehütte der Eskimos. Obgleich darin nichts weiter als eine große Tranlampe brennt, herrscht in dieser Schneehütte doch immer eine richtige Backofentemperatur. Scheinbar! In Wirklichkeit ist sie immer noch unter Null. Sonst würden ja die Schneewände schmelzen. Woher dies kommt, ist zu erklären, kann hier aber nicht ausgeführt werden. Es hängt eben mit der kalten Umgebung zusammen, daraus entsteht dann eine physiologische Wechselwirkung.
Sie betraten die sehr geräumige Höhle, in der ein ansehnliches Häuschen Platz gefunden hätte.
Aus dem Hintergrunde kam der Bach hervor, hier fast noch kochend heiß.
Das Thermometer zeigte in Brusthöhe 30 Grad Wärme, und dennoch fanden sie es hier drin nicht heißer als draußen. Immer aus demselben Grunde. Das war hier eben etwas ganz anderes, als wenn man bei uns aus freier Winterkälte in eine warme Stube tritt. Da herrscht immer der gleiche Atmosphärendruck, hier aber wechselte er durch die Verdunstung des Wassers. Trotzdem waren die Wände nicht im Geringsten beschlagen, der Boden nicht feucht.
»Wenn wir länger hier bleiben, so werden wir hier drin unser Winterquartier aufschlagen, vielleicht auch die Ballonhülle hereinschaffen, wobei wir ihn gar nicht zu tragen brauchen. Wir geben etwas Coronium zu, machen ihn leicht wie einen Gummiball und stoßen ihn so vor uns her. Nun wollen wir aber gleich an die Aufgabe gehen, weshalb wir hierher geschickt worden sind.«
Die in dem Deckenhohlraum vorgefundenen Pelzsachen, sechs vollständige Kostüme, waren schon zurechtgelegt worden, darunter ein sehr kleines, wie für Deasy bestimmt.
Ferner hatte man in dieser niedrigen Kammer auch einige Snydergewehre und Revolver mit sehr viel Munition gefunden, außerdem Äxte, Sägen, Spaten, Hacken, Schaufeln und dergleichen Handwerkszeug, schließlich auch Schneeschuhe und sogar Schlittschuhe.
Sie wappneten sich mit den Pelzen, nahmen Hacke und Spaten über die Schulter und machten sich auf den Weg. Deasy war nur mit der Haselnussrute ausgerüstet, die sofort die Richtung angab, die sie einzuschlagen hatten. Der Ballon konnte ohne Aufsicht zurückgelassen werden, darüber hatte Lytton nicht erst etwas zu sagen brauchen.
Je mehr sie sich der Grenze näherten, wo die schwarze Fläche sich mit Eis und Schnee zu bedecken begann, desto kälter wurde es, und diese Kälte wurde bei der ungemein dünnen Atmosphäre nur umso mehr empfunden.
Es war gut, dass zu jedem Pelzkostüm auch ein besonderer Fuchsschwanz gehörte, den sie in den Mund nahmen, durch den sie atmeten, sonst hätten sie die eisige Luft überhaupt gar nicht einatmen können. Sonst steckten sie ja warm genug. Zuerst bedeckte sich ihr Kostüm, als sie aus der feuchten Atmosphäre kamen, mit einem weißen Reif, der aber schnell wieder verdampfte.
Höchst unangenehm war nur die bleierne Schwere, die sie bald in allen Gliedern fühlten, die ihnen jeden Schritt zur Anstrengung machte.
Mit Schnee- und Schlittschuhlaufen ist es also in solcher Höhe nichts, es sei denn, es geht immer bergab.
So erreichten sie das, was sie von oben aus einigen hundert Metern Höhe für einen kleinen Schneehügel angesehen hatten.
Hier unten erwies es sich als ein gewaltiger Schneeberg, der sich vor einem sehr schrägen, himmelhohen Abhang auftürmte.
Die Haselnussrute in Deasys unförmlichen Fausthandschuhen, luftdicht zugeschnürt, bezeichnete die Stelle, wo der Anfang zum Tunnel gemacht werden sollte.
Der Prinz nahm die Hacke von der Schulter und hackte frisch drauf los, Fred warf die Eisstücke mit dem Spaten seitwärts.
Zuerst ging es sehr, sehr schwer. Es war nicht anders, als ob man auf Granit hacke oder auf Glas, so sprangen die Stücke auch ab, dabei aber gab der Stahl auf dem Eis einen ganz eigentümlich metallischen Klang.
Aber als diese äußere Eiskruste erst einmal durchbrochen war, ging es schon besser, bald konnte man auch mit dem Spaten abstechen.
Langsam genug freilich ging es immer noch.
»Ginge es nicht schneller, wenn wir mit einem Schlauche Wasserstoffgas hierher leiteten und mit einer Flamme den Schnee schmelzten, gleich mit einer Knallgasflamme?«, meinte die Lady.
»Nein, es würde nicht schneller gehen, Hacken und Spaten schaffen doch besser. Darüber habe ich mich mit Lytton bereits ausgesprochen, während Sie zu schlafen geruhten.«
»Wie tief müssen wir denn graben, ehe wir das Luftschiff erreichen?«
»Mister Lytton schätzt es auf wenigstens zwanzig Meter.«
»O jeh, o jeh, wie lange soll denn diese Arbeit dauern?!«
»Na, Mylady, Sie haben sich doch nicht etwa schon überarbeitet?«
Durch die Fuchsschwänze wurde gelacht.
Die Lady hatte nämlich noch gar keine Hand gerührt.
»Warten Sie nur, wenn ich erst zu schaufeln anfange, wie dann der Schnee wegfliegt!«
Aber eine dritte Person konnte vorläufig überhaupt gar nicht ankommen.
»Wird die Sache später nicht gefährlich?«, fragte sie weiter. »Kann der Tunnel nicht einstürzen?«
»Nein, wenn wir ihn danach graben. Wir müssen oben ein Bogengewölbe anlegen, oder besser, gleich so graben, dass im Durchschnitt eine dreieckige Form entsteht. So sehr spitz wird das Dreieck sowieso nicht. Dann bilden die schrägen Wände zugleich abstützende, durchlaufende Säulen. Und dann müssen wir uns Zeit nehmen, dürfen nicht gar zu schnell graben, auch wenn es möglich ist.
Der lose Schnee muss durch die eindringende atmosphärische Kälte immer wieder fest gefrieren.«
Ja, bei solchen Vorsichtsmaßregeln konnte der Tunnel allerdings nicht so leicht einstürzen, das war gleich einzusehen.
»Und wie befördern wir den Schnee heraus, wenn er nicht mehr so einfach mit der Schippe hinauszuwerfen ist?«
»Mit einem Schlitten.«
»Den wir uns zimmern?«
»Der schon vorhanden ist.«
»Wo denn?«
»Wir setzen einfach auf zwei Schneeschuhe eine Kiste. Und dann noch eines, besonders für Euch Kinder; wer Zeichen von Übelkeit merkt, der sagt es sofort. Dass Du Dich nicht etwa mannhaft bezwingen willst, Fred! Das ist dann der Anfang der bösen Bergkrankheit, der Soroche. Dann gehst Du sofort in die Gondel. Dort wirst Du Dich schnell erholen, die Übelkeit schwindet, und Du kannst dann mit frischen Kräften wieder anfangen. So wird die Soroche zwar nicht ein für allemal überwunden, aber sie kommt auch nicht richtig zum Ausbruch. Hast Du sie aber erst einmal wirklich, dann wirst Du sie unter acht Tagen nicht wieder los, und so lange können wir hier nicht warten.«
Die Arbeit wurde fortgesetzt. Lady Lionel fertigte unterdessen den Kastenschlitten, was sie sehr geschickt machte. Eindringen in den Tunnel konnte ja überhaupt nur einer, das war der Prinz, Fred schaufelte, was aber Deasy auch mitmachen wollte.
Nach vier Stunden war der Prinz einen Meter tief eingedrungen und hatte, wie man leicht berechnen konnte, ungefähr vier Kubikmeter herausbefördert. Denn der Tunnel bildete ja im Durchschnitt ein Dreieck von mehr als zwei Meter Höhe und sehr breiter Basis.
Das war denn auch die tüchtige Leistung eines professionellen Erdarbeiters, in der Stunde einen Kubikmeter losen Sand zwei bis drei Meter weit schaufeln. Wer das nämlich nicht weiß, der kann sich bei Abschätzung solch einer Arbeit furchtbar verkalkulieren.
Dann würden sie also bei zwölfstündiger Arbeitszeit, zumal sie sich ja gegenseitig ablösen konnten, den zwanzig Meter langen Tunnel in sechs bis sieben Tagen vollendet haben.
Die gegenseitige Ablösung sollte denn auch sehr bald erfolgen.
Der ratende Arzt, der Prinz, war der erste, der plötzlich den Spaten hinwarf, sich den Bauch hielt, seitwärts schlich und den Inhalt seines Magens ausschüttete. Also es hatte nichts genützt, dass er die erstklassige Bergkrankheit in Cerres da Pasco schon einmal durchgemacht hatte, es war darüber schon zu lange Zeit verflossen. Kaum konnte er ohne Unterstützung noch nach der Gondel wanken, wo er sich aber auch sehr schnell wieder erholte, seine Arbeit fortsetzte, als wäre nichts geschehen.
Dann kam Fred daran, dann die Lady. Während Deasy ganz davon verschont blieb, obgleich sie kräftig mit schaufelte.
Also genau wie bei der Seekrankheit. Gerade die robustesten Männer werden von ihr am ehesten und heftigsten gepackt, die zartesten Frauenspersonen am wenigsten. Wenn sie nur etwas willenskräftig sind, nicht ihrer Einbildung unterliegen. Worauf dann aber noch längst nicht die richtige, schreckliche Seekrankheit entsteht. Ungefähr alle zwei Stunden wiederholte sich bei jedem, mit Ausnahme von Deasy, dieser Anfall, und so mussten sie sich eben alle zwei Stunden ablösen. Der Mensch kann sich eben nicht ungestraft in einer Höhe von mehr als fünftausend Meter aufhalten, in den Tropen, wenn nicht ein einziger Grashalm gedeiht, besonders wenn er dabei auch noch arbeiten will. Da fordert die Natur irgend ein Opfer.
Vier Tage waren verflossen, man war elf Meter tief eingedrungen. Da stieß der stechende Spaten auf einen Widerstand. Braune Haare kamen zum Vorschein, dann ein braunes Fell, eine Tatze — —. »Barras!«
Es war der schon einmal erwähnte Bär, der auf dem Helios gefangen gehalten wurde, ein ganz zahmes Tier.
Er war den fliehenden Menschen gefolgt, war von der Schneelawine noch erreicht und verschüttet worden.
»Merkwürdig, dass wir dann noch keinen Menschen gefunden haben!«, meinte die Lady.
»Können wir aber noch, dieser Bär macht eben den Anfang.«
»Das könnte uns Mister Lytton doch mitteilen, wenn er nun einmal so hellsehend ist.«
»Gut, dass er uns mit solchen Sachen verschont, die wir von ganz allein entdecken. Mich freut überhaupt sehr, dass er Deasys mediumistische Gabe so wenig wie möglich in Anspruch nimmt. Desto besser ist dieser unvermutete Fund jetzt. Sonst hätten wir uns vielleicht doch überarbeitet, hätten dem Schnee keine Zeit zum Gefrieren gelassen, der Tunnel hätte über uns einstürzen können. Denn das gibt frisches Fleisch, was doch etwas anderes ist als all dieses gepökelte oder sonst wie konserviertes Zeug. Und nun noch dazu Bärentatzen und Bärenrücken!«
Aber zum Rücken sollte es heute nicht mehr kommen, der Bär wurde heute nicht noch ausgeschaufelt.
Es war bald sechs Uhr, es dämmerte schon stark. Und die Arbeitszeit von früh sechs bis abends sechs wurde ganz genau eingehalten.
Nicht etwa, dass sie diese Schneeschaufelei und Schlittenschieberei schon überdrüssig bekommen hätten, aber mit heftiger Leidenschaft wurde sie auch nicht gerade betrieben. Und die schönsten Stunden waren dann doch des Abends in der traulichen Gondel, die ließ man sich nicht rauben.
Also der Prinz schnitt nur die beiden Vordertatzen ab, dann legte er noch den Kopf frei und trennte auch diesen vom Rumpfe.
Es ging in die Gondel, die abgezogenen Tatzen und der Kopf wanderten in den Backofen, welche Zubereitung aber doch lieber der Prinz übernahm, der Kochkunst der Lady traute er nicht mehr recht.
Sie unterhielten sich wie jeden Abend, heute kam wieder ein interessantes Thema aufs Tapet, wozu der erfrorene Bär die Veranlassung gegeben hatte.
Der Leser kennt vielleicht die phantastische Erzählung des Amerikaners Bellamy, »Rückblick aus dem Jahre 2000«. Es wird jemand hypnotisiert und vergessen, nach hundert Jahren wird er wiedergefunden und zum Leben gebracht.
Solche Erzählungen mit demselben Thema gibt es gar viele, jene ist in letzter Zeit nur am bekanntesten geworden.
Ist so etwas möglich?
Nun, die menschliche Phantasie dürfte überhaupt nichts erfinden können, was schließlich nicht auch Natur und Schöpfungskraft in Wirklichkeit fertig bringt, weil dieses Gehirn erst ein Produkt derselben Schöpfungskraft ist und wahrscheinlich auch gar nichts denken kann, was nicht irgendwie schon vorhanden ist. Das haben schon Plato und Aristoteles behauptet, und das wird wohl wieder einmal allgemeine Anerkennung finden, wie auch schon ein phantastischer Romancier wie Jules Verne bewiesen hat, dass es tatsächlich so ist.
Dass Frösche und Fische im Eise einfrieren und oftmals nach Monaten wieder lebendig werden können, das ist ja auch schon längst bekannt. Fische lässt man jetzt schon künstlich einfrieren, versendet sie weit, taut sie langsam auf, und sie leben wieder, als wäre nichts geschehen.
Das sind freilich kaltblütige Amphibien.
Aber warum soll es nicht auch bei warmblütigen Tieren gehen, wenn es nur entsprechend abgeändert wird?
Dass man erfrorene Menschen nicht gleich in ein warmes Zimmer bringt, sondern sie erst in Schnee setzt und sie so langsam auftauen lässt, das wird ja schon seit uralten Zeiten befolgt.
Aber man ist inzwischen auch noch zu einer anderen Überzeugung gekommen.
Dass man früher die Wiederbelebungsversuche bei Ertrunkenen viel zu zeitig aufgegeben hat, wurde schon einmal gesagt. Heute setzt man die künstliche Atembewegung einen ganzen Tag lang fort. Wenn es der Kerl wert ist.
Dasselbe gilt aber noch viel mehr für Erfrorene.
Der muss erst lange, lange im Schnee sitzen bleiben, dann muss dieser ganz, ganz langsam zum Schmelzen gebracht werden, womöglich tagelang auf Eiswasser halten.
Da hat man schon merkwürdige und wunderbare Resultate erlebt — und der Tote auch. Freilich ist die ganze Sache ja sehr problematisch. Bei einem Ertrunkenen geht es ja eher, aber wer soll die Verantwortung übernehmen, einen Erfrorenen tagelang im Schnee zu halten, wenn er vielleicht noch lebt und immer nur aufs Auftauen wartet, aber ehe das geschieht, hat man ihn künstlich gefrieren lassen.
Aber warum das denn nicht einmal an Tieren versuchen.
Und gerade jetzt hat ein gewisser Jérôme Fraissac, Techniker in einer Pariser Fabrik für flüssige Kohlensäure — aber ursprünglich ein ungeschulter Arbeiter — also wiederum kein zünftiger Gelehrter, wenn auch nicht gerade wieder ein Barbiergehilfe — der französischen Akademie der Wissenschaften eine Denkschrift eingereicht, in der er die Experimente beschreibt, die er mit Hunden, Katzen und Karnickeln vorgenommen hat. Er hat die Tiere im luftleeren Raume plötzlich der größten Kälte, die er durch flüssige Kohlensäure erzeugen konnte, ausgesetzt, hat sie also möglichst plötzlich erfrieren lassen, hat sie tage- und wochen- und monatelang so gehalten und hat sie dann ganz, ganz langsam wieder aufgetaut.
Die meisten Tiere sind allerdings nicht wieder erwacht. Einige aber doch! Und zwar gerade diejenigen. welche am allerlängsten gefroren waren, indem bei ihnen die Kälte dann am langsamsten wieder reduziert wurde, täglich nur ein Grad.
Was diese Versuche noch zeitigen werden, das bleibt abzuwarten.
Dann kann vielleicht noch einmal die Zeit kommen, dass sich der Mensch in seinen besten Jahren — zwischen zwanzig und siebzig, denn bekanntermaßen stirbt fast jeder Mensch in seinen besten Jahren — einfrieren lässt, vielleicht auch noch etwas einsalzen und anpökeln. Er gibt eine Anweisung mit, dass er nach hundert Jahren wieder aufgetaut wird, so im Zeitraume von drei Jahren, sieht sich die neue Weltgeschichte ein bisschen mit an, lässt sich wieder einfrieren, und das so fort, und kann dann ein recht hübsches Alter erreichen. Bis die Sonne keine Wärme mehr spendet und es auf der Erde nichts Heizbares mehr gibt, also auch kein Auftauen.
So wurde in der Gondel beim Abendbrot debattiert.
Denn humoristisch ging es dabei immer zu, mindestens musste es so enden.
»Na, da können wir ja bei diesem Bären einmal den Anfang machen, ob er sich wieder zum Leben auftauen lässt!«, meinte die Lady.
Der etwas blutige Witz wurde weidlich belacht.
Die Tatzen hatten sie schon verspeist, der Kopf schmorte noch im Ofen.
»Aber wenn wir einen erfrorenen Menschen finden, dann wollen wir den Versuch doch einmal machen!«, fuhr die Lady fort. »Nur recht, recht langsam auftauen.«
»Wie lange wollen wir da warten?«
»Bis er erwacht, bis er wieder lebendig ist.«
»So ungefähr, wie der deutsche Kaiser einmal vorschlug. Kennen Sie den Witz, den der deutsche Kaiser einmal gemacht hat?«
Der Prinz erzählte ihn.
Ein Professor — ein berühmter Chemiker, der Name tut nichts zur Sache — beschäftigt sich mit der künstlichen Herstellung von Diamanten. Es ist ihm wirklich auch schon gelungen. Freilich winzige Dingerchen, mit bloßen Augen kaum erkennbar. Darüber hält er dem deutschen Kaiser einen Vortrag. Zuerst führt er aus, wie die natürlichen Diamanten wahrscheinlich entstanden sind. Durch Verflüchtigung von Kohlenstoff durch kolossale Hitze im geschlossenen, luftleeren Raume.
Die Kristallisation war nur möglich durch ganz, ganz langsame Abkühlung, welche zweifellos viele Äonen gedauert hat.
»Wie lange haben Sie denn mit der Abkühlung gewartet, Herr Professor?«, fragt der Kaiser, während er durch das Mikroskop blickt.
»Acht Tage, Majestät.«
»Dann schlage ich vor, dass Sie das nächste Mal mit der Abkühlung acht Äonen warten, dann werden Ihre Diamanten vielleicht ein bisschen größer.«
Am nächsten Morgen Punkt sechs Uhr wurde die Arbeit wieder aufgenommen.
Zuerst der Rumpf des Bären heraus.
Da kam auch eine menschliche Hand von gelbbrauner Farbe zum Vorschein!
Ein junger Araber wurde freigelegt, fast ein Knabe noch, nur mit einem langen Hemd bekleidet.
»Den kenne ich, wenn ich auch nicht seine nähere Bekanntschaft gemacht habe!«, sagte der Prinz. »Er hieß Ali und hatte an Bord des Luftschiffes wohl nichts anderes zu tun als immer nur Messing zu putzen.«
»Na, da wollen wir bei dem nun solch einen Wiederbelebungsversuch machen!«, meinte die Lady.
Der Prinz seufzte leise.
Er sah es schon kommen.
Es ist gar nicht gut, sich mit solchen Problemen zu beschäftigen.
Dann kann man plötzlich etwas auf dem Gewissen, sich eine ungeheuere Last aufgebürdet haben, eine Schraube ohne Ende.
Wenn wirklich wieder einmal eine Leiche, die schon im Sarge gelegen hat, nur scheintot gewesen ist und noch rechtzeitig wieder erwacht, dann laufen bei den Behörden Hunderte und Tausende von Petitionen und Forderungen ein, noch nach Jahren sollen Särge wieder ausgegraben werden, ob der liebe Tote nicht vielleicht noch lebendig drin liegt.
Die Temperatur des Schnees wurde gemessen, drei Grad, der Araber wurde in eine Kiste gesetzt und mit diesem Schnee ringsum ausgefüttert.
Nun wurde ausexperimentiert, wo auf der Grenze zwischen der warmen und der kalten Zone gerade drei Grad Kälte herrschten.
Aber der Transport nach dorthin war immer noch nicht so einfach.
»Darf er denn die grimmige Kälte passieren?«, fragte die Lady. »Soll nicht wenigstens auch sein Kopf mit Schnee eingehüllt werden?«
Der Prinz selbst packte einen Haufen Schnee darauf.
»Ja, aber wenn er nun erwacht, da bekommt er doch keine Luft, da müssten wir doch wenigstens eine Röhre — —«
Der Prinz rutschte schnell mit der Kiste ab.
Nun aber ging die Geschichte erst recht los.
Hinten fing der Schnee in der Kiste zu tauen an, vorne begann er eine Eiskruste zu bilden. Herum mit dem Toten! Nun wechselte das aber wieder.
Die Maisonne kam höher, äußerte doch schon ihre Wirkung, jetzt nahm sich der Tote oben ein Wasserbad und unten fror er.
Eine Bedachung wurde aufgebaut, die aber auch nicht die nötige Wirkung ausüben wollte.
Ein Fass wurde leer gemacht, der Tote hineingequetscht, immer hin und her gerollt.
Und so ging es weiter.
Zum Tunnelbau kam man gar nicht mehr, immer mit dem toten Araber hin und her gerutscht und Karussell gedreht.
Deasy fiel in Trance, Mister Lytton fragte an, was sie denn eigentlich mit dem toten Kerl da machten.
Der Prinz schrieb es ausführlich nieder.
»Können Sie, der Sie doch mehr wissen als wir«, setzte er dann noch hinzu, »uns die Versicherung geben, dass der Mann wirklich tot ist? Dann würben wir unsere Bemühungen einstellen.«
Mister Lytton gab wohlweislich gar keine Antwort, tat, als sei der Telefondraht abgeschnitten.
So musste mit dem arabischen Jüngling wohl oder übel weiter herumgefuhrwerkt werden, man hatte ihn sich nun einmal aufs Gewissen geladen.
Der Abend brach an, jetzt saß der Tote in Eiswasser, das ein Temperatur von eben etwas über 0 Grad hatte. Hin und wieder kam es vor, dass er plötzlich wieder ganz eingefroren war.
Sollte dieser Tag nun nicht ganz zwecklos verlaufen sein, so musste das doch nun auch die Nacht fortgesetzt werden. Und in die Gondel konnte man das Fass nicht mitnehmen, das musste genau dort stehen, wo das Thermometer ein wenig über 0 Grad anzeigte, und veränderte sich die Temperatur, so musste das Fass dementsprechend gerückt werden, außerdem aber auch so, dass nach etwa zwei Stunden das Wasser sich bis auf ein Grad erwärmt hatte.
Also eine Wache gestellt! Fred war der erste, der sie übernahm, in der einen Hand das Thermometer, in der anderen sein Abendbrot, neben sich eine brennende Laterne.
In der Gondel saßen der Prinz und die Lady, Deasy schlief schon.
Eine Stunde war nach Feierabend schon vergangen, draußen war es schon stockfinster.
»O Lilly, Lilly, was haben wir uns da aufgebürdet!«, seufzte der Prinz.
»Na, was denn?«
»Wie lange sollen wir das durchsetzen.«
»Bis zur Bewusstlosigkeit. Denken Sie doch nur — wenn der Mann nach acht Millionen Jahren doch wieder lebendig wird! Wenn wir das erleben! Diese Freude für den Mann und diese Freude für uns!«
»Ich beneide Sie um den Humor, den Sie dabei noch haben — —«
Da wurde die Tür aufgerissen. Fred kam hereingestürzt.
»Er lebt, er lebt!«
Auf sprangen die beiden.
»Es ist nicht möglich!«, rief gerade die Lady.
»Er hat mit dem linken Auge geklappert!«
»Geklappert?«
»Er hat geblinzelt. Können Tote das?«
»Nein, richtige Tote können nicht mit den Augen klappern, weder mit dem linken noch mit dem rechten.«
Sie eilten hinaus.
Fred fühlte sich nicht ganz unschuldig.
Er hatte, um sich die Zeit zu vertreiben, seine Tonpfeife, die erste, die er angeraucht, einmal gereinigt und hatte dabei den Toten wieder einmal einfrieren lassen.
Wenigstens um den Hals herum, bis zu dem er im Wasser saß, hatte sich eine dünne Eiskruste gebildet.
Die starren Augen waren weit geöffnet, wie sie immer gewesen waren.
»Ich sah ihn an — da hatte er plötzlich das linke Auge geschlossen — und dann bewegte sich das Lid auf und ab — da rannte ich zu Euch.«
So behauptete Fred und blieb dabei.
Doch dieses Augenklappern wollte sich nicht wiederholen.
Der Prinz befühlte die Schläfen, zerbrach die Eiskruste, tauchte die Hände ins Wasser und befühlte die Herzgegend, den Puls am Handgelenk.
»Ein Pulsschlag ist nicht zu merken. Das ist freilich noch kein Zeichen, dass — —«
Erschrocken prallte er zurück.
Es hatte gar zu grausig ausgesehen, wie der Tote, zurückgelehnt in dem Wasserfasse sitzend, plötzlich schnell die Augen geschlossen und wieder geöffnet hatte, mehrmals hintereinander, aber nicht ein eigentliches Blinzeln, sondern volle Augenaufschläge, mit einer Schnelligkeit ausgeführt, die man sonst gar nicht fertig bringt.
»Er lebt wahrhaftig!«
Nun natürlich heraus aus dem Fasse!
Wer einmal wieder zum Leben erwacht ist, braucht nicht mehr in Eiswasser zu sitzen, in dem er doch noch erfrieren kann.
Der ganze Körper wurde sofort mit wollenen Tüchern gerieben.
»Sein Puls geht! Er hat geseufzt! Er hat geatmet!«
Nun ihn in die Gondel getragen. Jetzt herrschte darin eine Temperatur von nur vier Grad, für die immer lebendig gewesenen Menschen in dieser Region eine ganz angenehme Temperatur, und für den Wiedergeborenen eine gefährliche.
Er wurde in eine Koje gepackt und zugedeckt, konnte nur so weit warm werden, als es seine eigene Körperwärme erlaubte.
Jetzt versuchte er den Kopf zu heben, er blickte sich um, verdrehte wenigstens die Augen.
»Fen ana? Wo bin ich?«, flüsterte er.
Er sank zurück, schloss wieder die Augen, seine regelmäßigen Atemzüge verrieten, dass er gleich wieder eingeschlafen war.
Das war ganz normal, ebenso wie auch der Puls normal ging, und Nahrung brauchte er noch nicht. Während dieses Gefrorenseins ist aller Stoffwechsel unterdrückt.
Also man ließ ihn schlafen.
Die Lebensretter hatten sich wieder um den Tisch gesetzt.
»Ja, wir dürfen stolz auf diesen Erfolg sein!«, begann der Prinz. »Wir haben wirklich geradezu einen Toten zu neuem Leben erweckt. Ich selbst hätte ihn unter anderen Verhältnissen aufgegeben. Ich hätte ihn vielleicht einige Stunden mit Schnee gerieben, dann aber ihn als Leiche vergraben. Dass wir die Idee, die wir eigentlich mehr humoristisch gefasst hatten, in Wirklichkeit ausführten, beharrlich durchführten, ist mit einem herrlichen Erfolge gekrönt worden. Aber, aber — —«
»Na, was haben Sie nun wieder zu abern?«, fragte die Lady.
»Gerade sehr freudig wird dadurch der Blick in die Zukunft nicht.«
,Weshalb nicht? Was beängstigt Sie wieder?«
»Kennen Sie Mark Twain?«
»Den amerikanischen Humoristen?«
»Ja.«
»Was soll der?«
»Haben Sie ihn gelesen? Seine kleineren humoristischen Sachen?«
»Einiges.«
»Wie er an bekannte Erzählungen anknüpft, diese weiter ausspinnt.«
»Ich weiß nicht gleich, was Sie meinen.«
»Zum Beispiel die Geschichte mit dem Hunde, der das Bein gebrochen hat.«
»Ich kann mich nicht gleich entsinnen.«
Der Prinz gab sie wieder. Nebenbei bemerkt, man muss gerade diese kleineren humoristischen Erzählungen Mark Twains im englischen Urtext lesen. Dann versteht man erst, weshalb Mark Twain von den großen Zeitungen für die Zeile zwei Dollars bekam. Die bekannteste deutsche Übersetzung ist nämlich miserabel. Der Übersetzer hat die Amerikanismen und sogar die Anglikanismen, die speziellen englischen und amerikanischen Ausdrücke nicht gekannt, hat sie wörtlich übersetzt, und dadurch geht meist die ganze Pointe verloren. Man weiß gar nicht, wo da eigentlich ein Witz stecken soll. So zum Beispiel übersetzt er »underdone« wörtlich mit »ungetan«. Das soll aber so viel heißen wie »halb gebraten« oder »halb roh«. Ein »steak underdone« ist es, was wir ein englisches Beefsteak nennen, nur leicht angebraten. Und so geht das in der ganzen Übersetzung durch, die Pointe geht immer verloren.
Also Mark Twain knüpft gern an eine Zeitungsnotiz oder an eine bekannte Geschichte an und spinnt die Sache nun weiter aus, satirischhumoristisch.
Da steht etwa in der Zeitung, wie ein Kind ins Wasser gefallen ist, ein Herr springt nach, rettet es. Hoch klingt das Lied vom braven Mann! Der brave Mann ist auch noch so edel, dem armen Kind ein neues Kleid zu kaufen. Wenn nur alle Menschen so wären!
Nun spinnt Mark Twain die Fortsetzung aus.
Jetzt kommt die Mutter zu dem edlen Lebensretter und sagt, dass ihr Kind zu dem neuen Kleide auch noch ein paar neue Schuhe und einen neuen Hut braucht.
Nun wird das Mädchen aber gerade konfirmiert und braucht auch noch ein schwarzes Kleid.
Die vielen, vielen Geschwister müssen zu dieser Feierlichkeit auch neu eingekleidet werden.
Der edle Lebensretter ist dazu umso mehr verpflichtet, weil er unterdessen der Pate vom Jüngsten geworden ist. Und wenn er einmal etwas zögert, in den Geldbeutel zu greifen, so heißt es vorwurfsvoll: »Ja, weshalb haben Sie meine Tochter denn nicht ersaufen lassen«. Und so geht es fort und fort, bis der edle Lebensretter bankrott ist und sich vor Verzweiflung aufhängt.
Aber das muss man eben lesen.
Oder das allbekannte Geschichtchen, welches die Hundeklugheit charakterisieren soll.
Ein Arzt, der nicht viele Patienten hat, findet eines Tages auf der Straße einen Hund, der das Bein gebrochen hat, nimmt ihn mit nach Hause, schient das Bein, pflegt den Hund, bis er ihn gesund wieder laufen lässt.
Am nächsten Tage kommt der Hund wieder und bringt einen anderen mit, der ebenfalls das Bein gebrochen hat.
Hiermit hört das Geschichtchen auf. Es ist doch außerordentlich, wie klug so ein Hund sein kann.
Mark Twain führt diese Hundeklugheit noch weiter aus.
Der zweite Hund wird auch wieder gesund entlassen, und der ist nun auch wieder so klug, der bringt wieder einen Kameraden mit einem gebrochenen Bein angeschleppt. Das tut der erste aber natürlich auch. So sind es nun schon vier Hunde, die der gute Doktor auf dem Halse hat, daraus werden acht Hunde, dann sechzehn — und so geht das immer weiter, und die Hunde sind sogar so klug, dass sie sich mit Absicht die Beine brechen, um in dem Hause des guten Doktors einige Zeit so schön verpflegt zu werden, und wie der gute Doktor endlich das ganze Haus voll Hunde hat, draußen stehen aber auch schon einige hundert Hunde mit gebrochenen Beinen und heulen jämmerlich, wie er endlich nicht mehr mitmachen will, da fallen diese Hunde über den elenden Kerl her.
»Wenn es uns nur nicht auch so ähnlich geht!«, schloss der Prinz.
»Wie soll es uns denn gehen?«
»Wenn wir nun beim Tunnelgraben noch mehr erfrorene Menschen finden?«
»Werden alle wieder aufgetaut.«
»Und dann im Innern des Luftschiffes. Ich weiß gar nicht, aus wie viel Köpfen die ganze Besatzung bestand. Nur wenige sind entkommen. Es können ja aber auch vorher welche dazu gekommen sein. Wenn wir nun mehr als hundert erfrorene Menschen finden. Was dann?«
»Was dann? Ist es nicht unsere direkte Pflicht, unser Möglichstes zu tun, ob sie sich nicht wieder lebendig machen lassen?«
»Gewiss, aber — wie lange müssen wir uns dabei bemühen, das ist die Frage — diese Zeitperiode müssen wir unbedingt festsetzen und dann auch strikte einhalten?«
»Weshalb unbedingt? Weshalb strikte?«
»Mylady, stellen Sie sich doch nicht so! Es ist doch so einfach. Wir wollen nur annehmen, wir finden nur noch einen einzigen erfrorenen Mann. Wie lange sollen wir denn versuchen, ob er sich noch zum Leben erwecken lässt?«
»Wie lange? Nun, eben so lange, bis wir ganz, ganz genau wissen, dass er wirklich tot ist.«
»Also bis in alle Ewigkeit?«
»Bis in alle Ewigkeit? Wie kommen Sie denn auf diesen kuriosen Gedanken?«
»Aber Lilly! Wir können doch niemals, niemals konstatieren, dass der Mann wirklich tot für immer ist, wenn wir uns nun einmal in den Kopf gesetzt haben, ihn durch ganz, ganz langsames Auftauen wieder zum Leben zu bringen.«
»Nicht? Da verstehe ich nun wieder Sie nicht, Hoheit. In hundert Tagen wissen wir das doch ganz genau.«
»In hundert Tagen? Wie kommen Sie denn gerade auf diese hundert Tage?«
»So lassen Sie es sich erklären. Wenn wir das Eiswasser jeden Tag nur um einen einzigen Grad an Wärme zunehmen lassen — ist das nicht sorgfältig und gewissenhaft genug vorgegangen?«
»Allerdings. Ein Grad pro Tag wäre ja auch viel zu wenig.«
»Bleiben wir nun bei diesem einen Grad. Also in hundert Tagen wären das hundert Grad. Bei hundert Grad Celsius kocht das Wasser. Wenn wir den Toten nun einen ganzen Tag lang abkochen — glauben Sie, dass er dann noch lebendig werden wird?«
Jetzt allerdings musste der Prinz aus vollem Halse lachen. Wenn es auch gar nichts Lächerliches war, was sie da besprachen. Einmal aber hatte die Lady das so trocken hervorgebracht, es lag in ihrer ganzen Sprechweise, und dann — ja natürlich, jetzt sah der Prinz ein, wie er sich von vornherein verkalkuliert hatte.
Er hatte überhaupt etwas ganz vergessen.
Sobald der Tote einmal in Eiswasser saß, etwas über dem Gefrierpunkt, und er war eben wirklich tot, dann musste doch bald die Verwesung eintreten, und das umso schneller, je wärmer man das Wasser mit der Zeit machte.
Schnell aber wurde der Prinz wieder ernst.
»Ja und doch, wenn wir nun sehr viele Erfrorene in dem Luftschiffe finden, wir haben uns da eine fürchterliche Arbeit aufgebürdet, die nun freilich nicht zu vermeiden ist, aber —«
Deasy rief in ihrer Koje nach dem Onkel, obgleich sie schon schlief. Mister Lytton wollte den Prinzen sprechen.
»Es ist Ihnen gelungen, den Erfrorenen wieder zum Leben zu bringen. Das war ausgezeichnet von Ihnen, diese Möglichkeit hätte ich selbst nicht geglaubt. Aber Sie werden beim weiteren Tunnelbau nicht wieder auf einen Menschen stoßen. Und die zwischen den Trümmern des Luftschiffes liegen, hei denen werden Sie sich sofort überzeugen, dass sie wirklich tot sind.«
Am nächsten Morgen war Ali vernehmungsfähig, fühlte sich freilich noch sehr schwach, doch bei dem Appetit, den er entwickelte, würde er bald wieder bei Kräften sein.
Den Prinzen, Fred und Deasy kannte er ja vom Luftschiff aus, so berichtete er von der Katastrophe des Helios, allerdings nicht darüber, wo das Luftschiff unterdessen gewesen war. Hierüber war er zur Verschwiegenheit verpflichtet.
Im Übrigen war er ja auch ein ganz gewöhnlicher Diener und Arbeiter, der nicht viele Geheimnisse verraten konnte.
Die Arbeit wurde wieder aufgenommen, bald half Ali, der in ein Pelzkostüm gesteckt worden war, wacker mit.
Drei Tage später wurden die ersten Trümmer des Luftschiffes freigelegt. Der hellsehende Dirigent hatte so geführt, dass sie gerade einen Raum erreichten, der nicht zusammengedrückt worden war, von dem aus sie auch denjenigen erreichen konnten, wo sie dasjenige finden sollten, worauf es ankam.
Ein schrecklicher Anblick bot sich ihnen dar.
Unter einer eingedrückten Metallwand lagen die fürchterlich verstümmelten, oftmals ganz breitgequetschten Männer, und nicht minder grauenvoll sahen diejenigen aus, welche zuerst noch gelebt, dann aber erfroren und schon vorher erstickt waren.
Der Helios konnte ja natürlich geheizt werden. ebenso wie die zum Atmen nötige Luft selbst erzeugt wurde.
Aber gerade diese Apparate waren, wie Ali berichtete und wie man dann selbst erkannte, vollständig zertrümmert worden.
Da also mussten die Überlebenden bald erfroren sein, wenn sie nicht schon vorher erstickt waren.
Angenommen nun, sie hätten ihren Tod nur durch Erfrieren gefunden.
Kein Mensch hätte daran gedacht, an ihnen Wiederbelebungsversuche anzustellen.
In diesem Luftschiffe hausten nämlich Ratten.
Es gibt auch kein einziges Seeschiff ohne Ratten. Sie wissen sich überall einzuschmuggeln. Sobald ein Schiff vom Stapel läuft, hat es auch Ratten drin. Und da nützt es gar nichts, wie es jetzt Vorschrift ist, wenigstens in besonders rattenverseuchten Hafenstädten, die Taue, mit denen das Schiff am Kai festgemacht ist, durch gläserne oder glattpolierte Metallscheiben zu schützen. Sie schwimmen einfach hin und wissen immer ein Tau oder etwas anderes zu finden, woran sie hinaufklettern können. Und dann in dem Proviant, den das Schiff einnimmt, in den Reis- und Kaffeesäcken, in den Zwiebackfässern und so weiter, da ist immer Rattenbrut drin, die sich einstweilen mästet.
Und auf dem Schiffe selbst ist ihnen gar nicht beizukommen. Die laufenden Maschinenteile triefen von Öl. Es wird immer eimerweise nachgegossen. Das muss doch irgendwohin ablaufen. Es sickert in den Kielraum hinab. Wie es dort aussieht, diese Schmiere! Und dort unten ist der unauffindbare Schlupfwinkel der Ratten, die schon allein von diesem Schmieröl dick und fett werden. Es ist gar nicht möglich, sie dort unten zu vergiften.
So hatte auch dieses Luftschiff seine Ratten bekommen. Es hatte nicht umsonst auf Ägyptens Boden gelegen, diesem Paradiese der Ratten. Nur die Fidschiinseln sind noch rattenverseuchter.
Ob die Ratten nicht ebenfalls erstickt waren, wenn die Luftzufuhr fehlte?
Nun, die Ratten brauchen nicht so viel Luft. Die fühlen sich bekanntermaßen am allerwohlsten an Orten, wo sich der Mensch die Nase zuhält, um lieber freiwillig zu ersticken, ehe er solche Luft einatmet.
Und selbst der Schnee ringsum enthielt ja genug absorbierten Sauerstoff, der nach und nach wieder abgegeben wurde, weil er sich lieber mit Kohlensäure sättigte.
Also für diese Ratten war wegen der Luft schon gesorgt. Und noch weniger waren sie erfroren wie die Menschen, die nicht mehr zu ihren warmen Sachen hatten kommen können.
Und die Ratten nicht mehr zu den Proviantkammern. Die waren zusammengequetscht, durch Metalltrümmer verrammelt.
Da hatten sich die gefräßigen Nager an die Menschen gemacht, deren Fleisch in dieser Kälte nie verwesen konnte.
Genug!
Hier brauchten keine Wiederbelebungsversuche gemacht zu werden.
Die Wünschelrute zeigte den weiteren Weg an, ohne dass Deasy in Trance gefallen war.
Sie mussten zwischen Trümmern durchkriechen, dann kamen sie in die Kapitänskajüte, auch noch ziemlich gut erhalten.
Der Kapitän lag am Boden, auch schon stark von Ratten angegangen.
Die Rute klopfte auf seinen Körper, dort, wo sich eine Hosentasche befand.
Sie enthielt ein Schlüsselbund.
Es wurde mit ausgebreiteten Schlüsseln hingelegt, denn wozu dies alles, das war ja dem Prinzen sofort klar, da brauchte er keine weiteren Instruktionen durch den Mund Deasys, die eben auch von Mister Lytton so viel wie möglich mit solchen unnatürlichen Trancezuständen verschont wurde.
Die Rute bezeichnete einen Schlüssel, führte weiter nach einem Panzerschrank, schlug gegen ein Fach, und als auch dieses geöffnet worden war, auf drei ziemlich dicke Bücher, die übereinander lagen.
Jetzt wollte der Prinz doch einmal fragen, er schrieb es auf, blickte auf das Papier und berührte dabei Deasys linken Arm.
»Diese drei Bücher sind es, die wir mitnehmen sollen?«
In Deasys Händen wurde die Rute hin- und hergeschüttelt.
»Etwas anders ist noch zu finden?«
Wieder verneinte die Rute durch Schütteln.
»Was denn sonst? Wollen Sie durch die Rute weiter dirigieren.«
Da aber schlug die Rute doch wieder auf die drei übereinander liegenden Bücher an.
Manch anderer wäre vielleicht in Verlegenheit gekommen.
Die Rute bezeichnete die drei Bücher als dasjenige, was gefunden werden sollte, dann aber verneinte sie eine solche Frage wieder.
Doch des Prinzen Scharfsinn ahnte gleich das Richtige.
»Vielleicht von diesen drei Büchern nur eines oder zwei?«, schrieb er auf.
Jetzt nickte die Rute in Deasys Händen lebhaft.
Und erst jetzt dachte man daran, dass die Rute beim zweiten Male nicht oben auf die Bücher geschlagen hatte, sondern seitwärts dagegen, also bereits ein oder zwei Bücher bezeichnet hatte.
Der Prinz holte die drei Bücher heraus und legte sie nebeneinander auf den Tisch.
»Welches von diesen — —«
Noch ehe er die Frage aufgeschrieben hatte, schlug schon die Rute auf das rechte, welches in der Schublade zu unterst gelegen hatte.
»Dieses Buch hier soll ich mitnehmen?«
Die Rute verneinte wiederum.
»Soll ich das Buch aufschlagen und blättern?«
Wieder hatte der Prinz das Richtige erraten, doch schon tat dies die Rute selbst. Ob Deasy nun gewollt hätte oder nicht, die Rute schob sich unter den ledernen Einbauddeckel, schlug ihn herum und so ein Pergamentblatt nach dem anderen, mit Hieroglyphen bedeckt.
Etwas schwierig ging es doch, der Prinz nahm der Rute diese Arbeit ab, und da sie gleich still ward, war sie also hiermit einverstanden, schaute ruhig zu.
Jetzt kam ein loses Blatt, das zwischen den Seiten lag, ebenfalls mit Hieroglyphen beschrieben.
Sofort schlug die Rute heftig darauf.
»Dieses einzelne Blatt?«
Ja
»Ich soll es mitnehmen?«
Ja.
»Ist es sehr geheim?«
Ja.
»Kann ich darauf blicken? Das heißt: Kann die Geheimschrift so leicht entziffert werden?«
Nein.
»Kann ich es zusammenfalten, wie es schon ein mal gebrochen gewesen ist?«
Ja.
Der Prinz faltete das Pergament zusammen und barg es unter seinem Pelz.
Es war schade, dass in diesem Augenblick niemand den jungen Araber beobachtete, der dieser Szene beiwohnte.
Wenigstens in seinen Augen wäre etwas ganz Besondert zu lesen gewesen, eine wahre Gier, so sehr er sich sonst auch beherrschte. In seinen Blicken gelang ihm das nicht.
»Ist sonst noch etwas mitzunehmen?«
Nein.
»Sollen wir das Luftschiff gleich wieder verlassen?«
Ja.
Sie begaben sich durch den Schneetunnel zurück.
Kaum waren sie ins Freie getreten, als Deasy die Rute fallen ließ und zu taumeln begann.
Da das Kind nicht mehr aus den Augen gelassen wurde, fing man sie sofort auf und setzte sie bequem hin. Sonst wäre sie gestürzt.
Es war dies also ein ganz anderer Trancezustand, in den Deasy von Mister Lytton durch Fernwirkung versetzt wurde. Denn wenn der Prinz sie in Trance brachte, schloss sie nur die Augen, sonst blieb sie stehen, konnte auch gehen.
»Mister Lytton will eine Erklärung geben!«, begann sie leise zu sprechen.
»Er konnte mir dies alles vorher gar nicht in Trance instruieren, weil er selbst von alledem noch nichts wusste.
Um das Pergament finden zu können, musste er selbst sich erst in Trance versetzen, dann aber vermag er mich nicht zu beeinflussen, wenigstens nicht, wenn ich mich in Trance befinde.
Dann kann er nur meine Rute dirigieren.
Deshalb dies sein etwas seltsames Vorgehen. Ob Dir diese Erklärung genügt, Onkel?«
»Diese Erklärung wäre gar nicht nötig gewesen!«, schrieb der Prinz auf seinen Notizblock. »Haben Sie mir durch das Kind sonst noch etwas mitzuteilen?«
»Die Sache ist hier erledigt!«, fuhr Deasy sogleich zu sprechen fort. »Mister Lytton dankt Dir und uns allen, wir würden seine Dankbarkeit auch noch kennen lernen. Um die Leichen sollen wir uns nicht weiter kümmern, sie nicht begraben.
Man könnte sie anderwärts doch auch nicht davor schützen, dass sie unter der Erde von Würmern aufgezehrt würden.
Es wäre Mister Lytton aus gewissen Gründen sogar unangenehm, wenn wir uns weiter mit diesen Leichen beschäftigten, denn wir würden wahrscheinlich noch besondere Entdeckungen machen, die ihm eben unangenehm sind — —«
»Halte einen Augenblick ein, Deasy!«, bat der Prinz und er schrieb:
»Wir gehen nicht wieder in das Luftschiff zurück. Erledigt. — Nun fahre fort, Deasy, wenn Mister Lytton uns noch mehr zu sagen hat.«
»Wir können diese Gegend hier also verlassen. Ob wir uns mit unseren Gefährten wieder vereinigen wollen.«
»Wo befinden sich diese?«, schrieb der Prinz nieder.
»Auf der Eisenbahn?«
»Was, auf der Eisenbahn?!«, sagte der Prinz für sich selbst überrascht, und dann schrieb er nieder: »Wohin fahren Sie?«
»Nach Kalkutta. Mister Lytton selbst begleitet sie. Von Kalkutta aus werden sie per Schiff nach Amerika gebracht, wahrscheinlich über Panama nach Texas, wo sie eine Aufgabe zu lösen haben. Vorausgesetzt, dass Du, Onkel, damit einverstanden bist. Die Leute selbst sind es.«
»Ich habe zu gehorchen, und ich gehorche gern!«, schrieb der Prinz.
»Aber in Kalkutta ist erst längerer Aufenthalt zu nehmen. Und wenn Du wieder zu Deinen Leuten stoßen willst, so müsste natürlich zuvor der Ballon geborgen werden. Das sei aber gegenwärtig eine umständliche Sache, der betreffende Ort läge ganz anderswo. Nach einiger Zeit dagegen könne uns der Ballon von anderer Seite abgenommen werden, wo wir uns auch befänden. Ob wir inzwischen eine Reise im Ballon machen wollten.«
Ehe der Prinz eine Antwort gab, blickte er die Lady an.
»Da muss ich erst Sie hören, Mylady!«
»Ich komme überall mit hin, selbstverständlich!«, entgegnete diese.
»Ja!«, schrieb der Prinz.
»Ob wir ein bestimmtes Ziel hätten.«
»Nein. Wohin uns der Wind treibt.«
»Ob wir uns dann Mister Lyttons Führung anvertrauen wollen.«
»Ja, wie immer!«
»So können wir also aufsteigen. Aber nicht vor morgen früh. Erst morgen früh kann Mister Lytton die Beobachtung und Führung des Ballons wieder übernehmen.«
»Also morgen früh.«
.»Ob wir sonst noch etwas zu fragen haben.«
»Ali?«, schrieb der Bleistift lakonisch.
»Den sollen wir mitnehmen, aber er wird bald abgesetzt.«
»Wo?«, fragte da der junge Araber, der diese englische Unterhaltung verstand.
Der Prinz schrieb seine Frage nieder.
»Mister Lytton erklärt sehr energisch, dass Ali hiernach gar nicht zu fragen habe!«, sagte Deasy selbst sehr energisch, und der Jüngling knickte demütig etwas zusammen.
»Ob wir sonst noch etwas zu fragen hätten.«
»Nein.«
»Dann wünscht Mister Lytton für heute gute Nacht. Schluss.«
Der Prinz ließ Deasys linke Hand los — dass diese mit einem dicken Fausthandschuh bekleidet war, tat nichts zur Sache — und sie erwachte, bekam zu hören, was sie gesprochen hatte.
Sie begaben sich nach der Gondel, trafen Vorbereitungen zur Abendmahlzeit, die Zeit dazu war da.
Während sie aßen, immer noch von dem Bärenfleisch, besprachen sie dies und das. Also morgen früh! Weitere Arbeit hatten sie nicht. Der Ballon war nicht in der Höhle geborgen, er saß noch immer aufrecht neben der Gondel.
Nach dem Abendessen wurde wie immer ein steifer Grog gebraut.
»Was heißt das eigentlich, Grog?«, fragte Fred.
Über irgend etwas unterhalten musste man sich doch.
Und der Junge hatte recht. Man sollte nie ein fremdes oder fremdartiges Wort gebrauchen, dessen Ursprung man nicht zu erforschen sucht.
Wenn man Punsch trinkt, so sollte man wissen, was dieses Wort bedeutet. Es ist das indische Pundsch oder wohl auch Pandsch und heißt fünf. Pandschab heißt Fünfland. Hierbei meint man die fünf Ingredienzien, die zu diesem Getränke nötig sind: Wasser, Tee, Zucker, Zitrone und Rum oder Arrak.
Woher aber nun die Worte Zitrone und Rum und Arrak kommen, davon wollen wir lieber nicht anfangen, sonst wird man nämlich nie fertig.
Also Fred hatte wegen Grog gefragt.
Sie kam etwas spät, diese Frage, aber immer noch rechtzeitig genug.
Der Prinz konnte eine Erklärung geben.
Aber er gab eine andere, als wie man sie heute im neuesten Konversationslexikon liest.
»Grog, ein Getränk aus Rum, Kognak oder Arrak mit heißem Wasser und Zucker. In Großbritannien wurde es 1740 durch den Admiral Vernon unter der Schiffsmannschaft eingeführt, um den Genuss des reinen Branntweins zu verdrängen. Der Admiral, welcher gewöhnlich einen Rock aus Grogam (Stoff aus starker Seide und Kamelgarn) trug, wurde von seiner Mannschaft Old Grog genannt, wonach auch das Getränk benannt wurde.«
So sagt das Konversationslexikon.
Nun kommt aber das Wort Grog als Getränk in der englischen Literatur schon im 16. Jahrhundert vor, kann also mit dem Rock jenes Admirals nichts zu tun haben.
Die Entstehung dieses Wortes Grog ist denn auch gefunden worden — ein sehr hübsches Geschichtchen, das des Humors nicht entbehrt.
Mit Richard III., gestorben 1485, erlosch das englische Königshaus der Plantagenets. Jetzt kam mit Heinrich VIII. das Geschlecht der Tudors auf den Thron.
Das ging ohne innere Kämpfe nicht ab, zumal noch ein naher Verwandter von Richard vorhanden war, Edward, der Graf von Warwick.
Den ließ Heinrich 1499 enthaupten, und nun schien Ruhe zu sein.
Da trat ein Abenteurer auf, der behauptete, ein natürlicher Sohn dieses Grafen von Warwick zu sein, machte Ansprüche auf den Thron, nannte sich, von Größenwahn befallen, gleich Georg, Rex Omnium Germanorum. Das ist Lateinisch und heißt: König aller Germanen.
Er hatte kein Glück, musste nach Portugal fliehen. Dort starb er. Einige Anhänger, die ihm gefolgt waren, wollten die Sache immer noch nicht aufgeben oder dem König aller Germanen eine besondere letzte Ehre erweisen.
Die Leiche sollte nach England überführt werden, wurde in ein Fass mit Spiritus gesetzt und heimlich mitgenommen.
Das Schiff ging von Lissabon ab. Die Matrosen bekamen keinen Schnaps. Da witterten sie im Laderaum ein Fass aus, das nach Spiritus duftete. An diesem Fasse standen die Buchstaben G. R. O. G. Aber daraus machten sie sich nichts. Sie bohrten dass Fass an, der Spiritus hatte einen ganz fatalen, widerwärtigen Beigeschmack. Um diesen zu verdecken, setzten sie heißes Wasser und Zucker zu.
Und dann kam heraus, dass die Matrosen den Spiritus getrunken hatten, in den die Leiche eingesetzt gewesen war. Die Geschichte wurde bekannt, und es bürgerte sich immer mehr ein, wenn man Rum oder Arrak oder einfachen Spiritus oder Branntwein mit heißem Wasser und Zucker mischte, dieses Getränk Grog zu nennen — Georg Rex Omnium Germanorum.
So hatte der Prinz erzählt, und da war der Grog fertig.
Auch Fred bekam sein mannhaftes Glas, Deasy natürlich nicht, und Ali war als Mohammedaner glaubensfest genug, um aus des Propheten Vergesslichkeit keinen Nutzen zu ziehen. Er verschmähte auch alle Spirituosen.
Doch tat es seinem Seelenheil keinen Schaden, eine Rumflasche anzufassen, bei der Bereitung des teuflischen Getränks mit zu helfen. Er wollte überhaupt immer bedienen.
Die Lady Lionel mit ihrer ausgepichten Kosakenkehle konnte das kochend heiße Zeug gleich trinken. Der Prinz und Fred mussten noch warten und pusten. Dann schlürften auch sie.
So verging einige Zeit.
Die Lady hielt ihr leeres Glas hin, um es sich von Ali noch einmal füllen zu lassen.
Noch ehe dies geschehen war, setzte sie plötzlich ihr Glas hin.
»Was ist denn mit mir los? Mir wird plötzlich ganz taumlich.«
Sie sagte es, legte die gekreuzten Arme auf den Tisch und den Kopf darauf.
Der bestürzte Prinz beschäftigte sich mit ihr. Konnte denn das die Bergkrankheit sein? Das Barometer zeigte in der Gondel den üblichen starken Druck an, man befand sich scheinbar in einer Höhe von nur etwas über 400 Meter.
Außerdem war die Lady bereits eingeschlafen, und das gibt es bei der Bergkrankheit nicht, noch weniger bei der Soroche. Man kann wohl einmal ohnmächtig werden, aber dann ist der Puls- und Herzschlag kaum merklich, sonst wird man gerade von Schlaflosigkeit gequält, und die Lady lag in einem ganz normalen Schlafe.
»Jetzt fängt es bei mir auch an!«, sagte da Fred und konnte sich kaum noch nach seiner Koje schleppen.
Und da merkte auch der Prinz, wie ihm plötzlich der Kopf ganz benommen wurde, eine Betäubung überkam ihn.
»Was ist denn das? Da möchte man doch fast an Laudanum — —«
Da sah er den Blick des jungen Arabers, der in der offenen Tür stand, fast wie zu einem Sprunge bereit.
Und da ging dem Prinzen auch sofort die Erkenntnis auf.
»Schurke, Du hast dem Grog Laudanum beigemischt!«
Er wollte hinspringen, um Ali zu packen, aber der wischte wie eine Katze zur Tür hinaus, der Prinz hörte noch ein Hohnlachen, dann stürzte er schwer zu Boden.
Als er wieder erwachte, schmerzte ihm sehr der Kopf, aber sicher ohne äußere Verletzung, er kannte dieses Brummen schon — eine Nachwirkung des Laudanums, des Opiums. Doch konnte er dabei ganz klar beobachten und denken.
Er saß auf einem Stuhl, an Händen und Füßen gebunden, noch weiter mit Stricken an den Stuhl befestigt und dieser wohl selbst an der Wand.
Auf dem kleinen Sofa lag die Lady, ebenfalls so mit Stricken umwunden; sie schien noch zu schlafen.
Auch aus der Koje, in die Fred hineingetaumelt war, hingen Stricke heraus, die noch besonders in den Löchern oder Durchbrechungen der Metallwände befestigt waren.
Vor Deasys Koje waren die grünen Vorhänge zugezogen.
An dem Tisch saß Ali und studierte das Pergament, das er dem Prinzen also schon abgenommen hatte.
Er war der einzige, der nicht mehr das Pelzkostüm trug, er hatte einen Sportanzug aus Freds Koffer angelegt, der ihm ganz vorzüglich passte. Doch auch in diesem modernen Kostüm erkannte man immer noch gleich den Araber.
Der Prinz wiederholte seine letzten Worte, mit denen ihn die Besinnung verlassen hatte.
»Schurke, Du hast dem Grog Laudanum beigemischt!«
Ali ließ sich in seinem Studium des Pergamentes nicht im Geringsten stören, er blickte gar nicht nach ihm hin, und da verzichtete der Prinz auf weitere Vorwürfe.
Er vergewisserte sich lieber der Situation.
Die Gaslampe an der Decke brannte nicht mehr, durch die Wände schien volles Tageslicht.
Also hatte er die ganze Nacht durchgeschlafen.
Aber — alle Wetter — was war denn das?!
Auch die Decke war durchsichtig, und über sich sah der Prinz den vollgeschwellten Ballon, an dem die Gondel hing!
Da musste der nächste Blick nach dem Barometer sein.
Fast 7000 Meter!
Ali hatte den Ballon aufsteigen lassen!
Konnte er ihn denn bedienen?
Er war in nichts eingeweiht worden, hatte keine besonderen Kenntnisse all dieser Vorrichtungen gezeigt, niemals gefragt.
Kannte der Diener des wunderbaren Luftschiffes auch die Eigentümlichkeiten dieses Ballons?
Gleichgültig — er hatte den Ballon vollends gefüllt und tragfähig gemacht, er war aufgestiegen, hatte eine Höhe von 7000 Metern aufgesucht!
Unter sich sah der Prinz Weiß und Grün und Gelb, mehr war aus dieser Höhe nicht zu unterscheiden, dazwischen schoben sich auch Wolken, die immer mehr an Menge und Dichtigkeit zunahmen. Bald würde eine graue Wolkenwand den letzten Blick nach unten verdecken.
Ein herzhaftes Gähnen unterbrach die lautlose Stille.
»Guten Morgen, meine Herrschaften!«, erklang es von dem Sofa her. »Na, das ist ja eine schöe Bescherung! Prinz, kennen Sie das Geschichtchen, wie der kleine Fritz seine Weihnachtsbescherung beschreiben soll? Der Lehrer gibt den Kindern über die Weihnachtsferien den ersten Aufsatz auf, mit dem Thema: Die Bescherung. Er fügt noch hinzu, dass sie die Bescherung recht schön beschreiben sollen. Dem kommt Fritzchen denn auch nach. Sein Aufsatz lautete folgendermaßen: Drei Tage vor Weihnachten hatten wir großen Besuch. Lauter Onkels und Tanten kamen. Am Abend gab es sehr viel zu essen und zu trinken. Ich durfte alles mitessen, auch Hummermayonnaise. Hinterher gab es eingemachte Erdbeeren mit Schlagsahne, wovon ich sehr viel aß. Onkel Ferdinand hatte mir eine große Tafel Schokolade mitgebracht, die ich aufaß. Und Tante Rosalie hatte mir zwei Lebkuchen mitgebracht, die ich auch aufessen tat. Und dann ließ mich Onkel Anton von seinem Bier trinken. Und dann musste ich meine Milch trinken. Und dann bekam ich Bauchkneipen. Und dann wurde ich müde und schlief ein. Als mir meine Mama die Hosen auszog, erwachte ich wieder. Und da sagte Mama: Na, das ist ja eine schöne Bescherung!«
Wohl lachte der Prinz, aber mehr über die unverwüstliche Laune dieses Weibes, das sich aus nichts etwas zu machen schien.
Auch Ali hatte den Kopf erhoben und gelauscht.
»Endlich ausgeschlafen, Mylady?«
»Ja, ich habe ganz ausgezeichnet geschlafen.«
»Keine Kopfschmerzen?«
»Weshalb denn? Nicht die geringsten. Ist das Frühstück bald fertig?«
Der junge Araber stand auf, trat vor das Sofa.
»Nun, Mylady, wir kennen uns ja schon!«, begann er jetzt mit höhnischem Lächeln.
»O ja, seit drei Tagen. Weshalb machen Sie denn dazu so eine grinsende Visage?«
»Wir kennen uns auch schon länger.«
»Ach natürlich! Von Bord des Luftschiffes her. Sie putzten immer meine Türklinke und dann auch meine Stiefel.«
»An Bord jenes Luftschiffes haben wir uns nie gesehen.«
»Nicht?! Sie sind doch Ali der Messingputzer.«
»Nein, der bin ich nicht.«
»Das haben Sie uns doch selbst gesagt.«
»Da sprach ich aus guten Gründen die Unwahrheit. Dass ich dieser Ali sein soll, das habe ich erst aus Ihren Unterhaltungen erlauscht, als ich noch in dem Wasserfasse saß.«
»Sie wären überhaupt gar nicht an Bord des Helios gewesen?!«
»Nein.«
»Ja, wer sind Sie denn da sonst?«
»O, Mylady, wir kennen uns sehr, sehr gut. Soll ich Ihrem Gedächtnis etwas zu Hilfe kommen? Können Sie sich nicht mehr auf Ihren ehemaligen Sekretär entsinnen, der sich Percy Macdonald nannte?«
Da freilich riss die Lady weit die Augen auf, und der Prinz gleichfalls.
Und das hatte ihnen nun auch schon anderes sagen müssen.
»Wie, Sie wären — —?!«
»Nun?«
»Doch nicht etwa gar der Jesuitenpater Domingo Lazare?!«
»Ich bin es!«, nickte der junge Araber höhnisch lächelnd.
Sie glaubten es ihm ganz einfach, sie hatten ja schon Wunderbares genug erlebt, wussten, wie das gemacht werden konnte.
»Sie haben sich in den Leib des erfrorenen Arabers versetzt?«, fragte der Prinz jetzt ganz sachgemäß.
»Ja.«
»Als Señor Lazare sind Sie tot?«
»Ja, wieder einmal. Hat Ihnen Mister Lytton durch das Kind hiervon nichts erzählt?«
»Nein.«
»Nicht, wie er mich gejagt hat?«
»Gar nichts über Sie.«
»Ja, Mister Lytton, den ich noch viel besser kenne als Sie, hatte es auf mich abgesehen, hauptsächlich deshalb ist er wohl nach Nepal gekommen.
Ja, es hat vor einigen Tagen dort im Tale von Gandak eine wilde Jagd gegeben, der grüne Mann hinter mir her.
Und ich gestehe, dass dieser Mister Lytton mir über war, mit dem konnte ich mich nicht messen.
Da sehen Sie wieder einmal, wie bescheiden und aufrichtig ich bin, hähähä.
Er fing mich, überwältigte mich, wollte mir die Möglichkeit nehmen, Selbstmord zu begehen.
Aber das konnte er denn doch nicht, da war ich schneller.
Ehe er mir die Zunge festbinden konnte, hatte ich sie schon verschluckt, war ich schon erstickt.
In dem Käfig, den er jetzt nach Kalkutta transportiert, sitzt Señor Domingo Lazare wieder einmal als Leiche, und wenn diese begraben oder verbrannt wird — mich soll es nicht genieren, hihihi.«
Auch als dieser junge Araber kicherte er gern, rieb sich die Hände und tippte die Fingerspitzen zusammen.
Was Ali während jener drei Tage freilich nicht getan hatte.
»Und da haben Sie sich in den Körper des erfrorenen Arabers versetzt? War dieser da schon wirklich tot? Geschah dies überhaupt mit Ihrer Absicht? Wollten Sie sich uns auf diese Weise nähern?«
Aber Señor Lazare hatte keine Lust, hierüber Auskunft zu geben.
»Mit Ihnen, Hoheit, spreche ich später. Jetzt habe ich es mit Lady Lionel zu tun.«
Er wandte sich wieder dieser zu.
»Mylady, was Sie mir damals gesagt haben, hat seine Richtigkeit.
Ich bin Ihnen untreu, an Ihnen zum Verräter geworden — da sehen Sie schon wieder meine Aufrichtigkeit, hihihi — indem ich Ihnen damals die vier Pergamente entwendete.
Die Strafe folgte auf dem Fuße.
Als ich zuerst von den Cowboys in den Ameisenhaufen eingegraben wurde, oder daneben, wirkte Ihr Mittel noch, keine Ameise ging mich an, sie ergriffen vor mir die Flucht.
Weil Sie damals eben noch gar nicht wussten, dass ich Ihnen die Pergamente entwendet hatte.
Sobald Sie dies aber erfahren haben mussten, ging der Jammer auch los.
Erst biss mich ein sonst ganz zahmes, schüchternes Hündchen ins Bein, dann stürzte sich ein blutdürstiger Wespenschwarm auf mich, und so ist das immer weiter gegangen.
Immer zog ich alles Ungeziefer, ob es nun fliegt oder auf sechs oder vier Beinen oder direkt am Boden kriecht, an, als wäre ich ein Magnet.
Ich konnte mein Leben vor den kleinen und großen Bestien nur dadurch erhalten, weil ich glücklicher Weise ein Automobil erbeutet hatte, in dem ich mich hermetisch abschließen konnte.
Als dieses aber nicht mehr laufen wollte, war ich an Ort und Stelle gebannt, und als Radscha Tippu Hatur es gar ohne mein Wissen einmal auseinander nahm, wir es nicht wieder zusammen brachten, war ich für all dieses kleine und große Ungeziefer so gut wie vogelfrei.
Denn in dem Palaste des Radschas gab es keine Felsenkammer, in der ich mich wenigstens vor den kleinen Insekten schützen konnte, sie wussten doch einzudringen und mich zu finden und zu peinigen.
Ich hätte mich geradezu in einen Glaskasten oder überhaupt in einen hermetisch schließenden Kasten mit künstlicher Luftzufuhr setzen müssen, aber so etwas ist nicht leicht zu schaffen, und solche eine Gefangenschaft halte ich nicht lange aus, auch in keinem Hause, wenn ich auch noch so viel Bewegungsfreiheit habe.
So empfand ich es fast als ein Glück, als mich Mister Lytton aufstöberte, mich hinausjagte und mir noch weiter folgte, bis er mich endlich hatte und mir nicht viel anderes übrig blieb, als Selbstmord zu begehen.
So war dieser Jammer doch endlich beendet.
Ich hatte mich übrigens schon vorbereitet, und so erwachte ich in einem anderen Körper.
Ob ich dabei eine bestimmte Absicht gehabt habe, in Ihre Nähe zu kommen, das ist meine Sache.
Oder nehmen Sie nur an, dass dabei die Affinität, die Wahlverwandtschaft, die Kraft des Wunsches eine Rolle gespielt hat.
Dort in dem Schnee war ich ganz sicher vor allen Angriffen von Schmarotzern und Bestien aufgehoben, und ganz in der Nähe war wieder solch ein Fahrzeug, in dem ich mich hermetisch verschließen konnte — Ihr Luftballon, hihihi.
Dies war das erste, was ich erwähnen wollte.
Sie, Mylady, haben nicht nur den Schutz von mir genommen, sondern mich auch noch geradezu mit einem Fluche belastet.
Ich besitze das Rezept zu Ihren geheimnisvollen Tabletten, ich bezweifle gar nicht, dass es das ganz richtige Rezept ist — aber wenn ich es ausführe, so wirkt die Geschichte eben nicht.
Und genau so ist es mit dem zweiten Rezepte, um unedle Metalle in Gold zu verwandeln.
Ich war dabei, wie Sie Quecksilber in Gold verwandelten.
Ich hatte dieses Stängelchen Gold bis zuletzt bei mir, und es hat sich nicht verändert.
Ich habe nach dem Rezept den roten Löwen ausgearbeitet, und ich konnte tatsächlich ebenfalls Quecksilber in Gold verwandeln.
Aber dieses Gold hielt nicht lange aus.
Bald verwandelte es sich in ein käseartiges Amalgam.
Und das ist immer wieder passiert, so oft ich dieses Experiment ausgeführt habe, später auch mit Blei und sogar Eisen.
Auch das verwandelte sich in gediegenes Gold, zuletzt aber wurde doch wieder so ein Käsestoff daraus, dessen Zusammensetzung ich überhaupt gar nicht ergründen kann.
Und genau dasselbe gilt auch von dem dritten und vierten Rezepte.
Immer gelang mir die Ausführung, zuletzt aber zerfloss mir alles wieder unter den Händen.
Hierbei ist also ein Geheimnis, das Sie mir noch mitzuteilen haben.
Bleiben wir bei dem zweiten Rezepte.
Gold ist nämlich dasjenige, was für mich die meiste Anziehungskraft hat, das schöne, rote, gleißende Gold, hihihi.
Also, Mylady, Sie werden mir zuerst sagen, wie mir die Goldmacherei richtig gelingt.«
»Da können Sie lange warten!«, lachte die Lady.
»Nein, da werde ich gar nicht lange warten. Sehen Sie dort draußen den Galgen?«
Ja, unterdessen hatte ihn auch der Prinz bemerkt. Aus der Diele war ein hölzerner oder vielleicht hohler Metallbalken entfernt und oben auf dem Dach der Gondel befestigt worden, sodass er noch ein beträchtliches Stück über das Dach der Gondel hinausragte.
An dem äußersten Ende dieses Balkens hing ein Flaschenzug, der mit zur Ausrüstung gehörte, den man bei solch einem Ballon doch sehr oft brauchen kann.
»Ja, ich sehe das Ding, was Sie einen Galgen nennen!«, entgegnete die Lady. »Es sollte mich sehr freuen, wenn Sie daran hingen, Sie gehören überhaupt dran.«
»Nein, da kommt jemand anders dran. Nicht wahr, Sie lieben doch den Prinzen Joachim? Sie gedenken doch auch dereinst selbst eine königliche Hoheit zu werden? Nun, wollen wir erst einmal sehen, wo wir uns befinden.«
Er hatte schon öfters nach dem Barometer geblickt, was die beiden nicht weiter beachtet hatten.
Erst jetzt bemerkten sie, dass der Ballon unterdessen ständig gefallen war, aus 7000 Meter bis fast auf 3000, der Ballon hatte auch schon die Wolkenschicht passiert oder hatte sie hinter sich.
Unten erblickte man jetzt schon viel deutlicher das Terrain, es sah trostlos genug aus, eine furchtbar zerrissene Steinebene, mit Felsblöcken dicht besät.
»Wissen Sie, wo wir sind? Das ist das Hochplateau von Tibet. Aber 2000 Meter befinden wir uns sicher noch darüber. Eine stattliche Höhe, 2000 Meter, nicht? Wer da hinabpurzelt, der hat keinen ganzen Knochen mehr. Und wie viel Grad sind draußen? Sieh da, schon acht Grad Wärme! Ja, dieses Plateau strahlt die Sonnenhitze tüchtig zurück. Also können wir ruhig das Fenster aufmachen.«
Er tat es, ließ dasjenige herab, vor dem der Flaschenzug baumelte, ergriff den herabhängenden Strick mit dem Haken, zog tüchtig nach, bis der Haken weit in die Gondel hineinreichte, zog auch das andere Ende nach und befestigte es am Fenster.
»So. Ich halte mich gar nicht weiter mit der Vorrede auf. Was ich beabsichtige, werden Sie gleich sehen.«
Jetzt ging er zu dem Prinzen, löste die Stricke, das heißt diejenigen, die ihn an den Stuhl fesselten.
Tun konnte ihm der Prinz nichts, nicht nur die Hände, sondern die ganzen Arme waren übereinander gebunden, vorn auf der Brust. Höchstens mit den Zähnen hätte er ihm beikommen können, aber da sah sich dieser Mann schon vor.
Wenn er als der schmächtige arabische Jüngling auch nicht mehr seine alte Kraft besaß, nicht mehr die körperlichen Fähigkeiten des Jesuitenpaters — den geistigen Verstand und alle Erfahrungen hatte er auch mit in diesen Körper hinübergenommen.
Nun befestigte er den Haken am Gürtel des Prinzen, hinten am Rücken, ging an das Fenster und zog am anderen Ende des Flaschenzugs.
Es kam dem Prinzen zu unvermutet, auch waren ihm durch die lange Fesselung die Beine schon ganz gelähmt, er verlor auf seinen gefesselten Füßen gleich die Balance, stürzte, berührte aber nicht mehr mit dem Leibe vollständig den Boden, dazu war der Flaschenzug schon zu sehr angezogen, das Seil zu kurz.
So wurde er schnell nach dem Fenster gezogen, er schwebte in die Höhe, auch seine Füße verloren den Boden, der Körper wurde von Señor Lazare etwas gedreht, und der Prinz schwebte zum Fenster hinaus, hing an dem Seile frei in der Luft, mindestens 2000 Meter über dem Erdboden.
»Ungeheuer!«, knirschte die Lady, sich auf dem Sofa windend, aber nicht viele Bewegungen ausführen könnend.
»O, warten Sie nur, wir sind noch nicht fertig, es kommt noch besser. Aber immerhin, Sie können sich unterdessen überlegen, ob Sie mir willig Auskunft geben wollen oder nicht. Ich will Ihnen nur noch zeigen, wie ich einen festen Termin zu geben weiß.«
Er zog aus einem Fache eine rote Schnur, die man auch schon kannte und die mit zur Ausrüstung der Gondel gehörte — eine Zündschnur.
Er nahm ein Messer und schnitt ein Stück ab Als er das Messer auf den Tisch legte, tat er dies nur zur Hälfte, das Messer verlor die Balance und fiel auf den Boden — er ließ es liegen.
»Dieses Ende hier wird wohl ungefähr zehn Minuten lang glimmen, nicht wahr? Ich habe es nämlich vorhin schon ausprobiert.«
Mit diesen Worten hielt er die angeschnittene Schnur in beiden Händen vor sich hin, die eine Seite dicht am Ende gefasst, das andere Ende aber noch etwas herabhängen lassend.
Ja, was er dort straff spannte, würde ungefähr zehn Minuten lang glimmen.
Jetzt drehte er am Ofen den Hahn, der eine kleine, spitze Flamme hervorschlagen ließ, nicht gerade eine sehr heiße Stichflamme, nur so für den gewöhnlichen Gebrauch.
An dieser Flamme entzündete er das eine Ende der Schnur, ging hin ans Fenster, bog sich hinaus und knüpfte das andere Ende, das er vorhin hatte herabhängen lassen, ziemlich dicht über dem Haken, an dem der Prinz hing, an das Halteseil, und zwar mit einem sehr dicken Knoten, sodass die herabhängende Schnur mit dem glimmenden Ende das Seil nicht berührte.
Der Wind spielte dabei keine Rolle. Der Ballon bewegte sich genau so schnell wie der Wind selbst, sodass also Windstille zu herrschen schien. Aber wahrscheinlich war in dieser Region wirklich Windstille.
»Also, Mylady«, wandte sich der arabische Jüngling mit dem Patergehirn wieder aus dem Fenster zurück, »Sie wissen doch, worum es sich hier handelt. In zehn Minuten hat das glimmende Feuer den Knoten erreicht, der besteht selbst aus mit Salpeter getränkter Zündschnur, er wird ringsum brennen und natürlich auch das Seil durchbrennen. Und dann purzelt Ihr geliebter Prinz eben hinab.
Also nur zehn Minuten dauert die Geschichte!
Da will ich nicht erst noch viel zu Ihnen sprechen.
Überlegen Sie sich, ob Sie mir als erstes die Sache erklären wollen, wie das nach dem Rezept hergestellte Gold auch wirklich Gold bleibt.
Na nun vorwärts! Jetzt haben Sie bloß noch neun Minuten Zeit!«
Unterdessen blickte der Prinz, am Rücken aufgehangen, schon seit drei Minuten hinab in die fürchterliche Tiefe.
Der Körper des Prinzen schwebte zum Fenster hinaus und
hing etwa 2000 Meter über dem Erdboden frei in der Luft.
Er sah sich verloren.
Selbstverständlich würde die Lady das Geheimnis offenbaren, alles, alles, ohne jeden Hintergedanken, um den Geliebten zu retten, aber — was nützte das.
Wenn dieser Teufel wusste, was er wissen wollte, und wenn er sich überzeugt hatte, dass alles der Wahrheit entsprach, dann opferte er sie alle doch.
Jetzt oder später — ganz gleichgültig.
Natürlich auch die Lady würde beseitigt.
Vielleicht auch Fred konnte als nun überflüssig beiseite geschoben werden. Was brauchte der Pater noch die Milliarde der Mistress Allan, wenn er selbst Gold in jeder Menge machen konnte. Vielleicht das Kind verschonte er, um dessen hellsehende Gabe zu benutzen.
Für Deasy wäre es natürlich auch besser gewesen, sie wäre gleich in den Tod gegangen als in die Hände dieses Ungeheuers zu fallen.
So sagte sich der Prinz und blickte ganz gelassen in die grausige Tiefe hinab.
Ihm selbst bereitete sie kein Grausen.
Es konnte eben nicht geändert werden und — ehe er dort unten aufschlug, war er wahrscheinlich schon tot, mindestens wusste er nichts mehr von sich, fühlte nicht das Aufschmettern.
»Na nun vorwärts, acht Minuten nur noch!«
Der Prinz wandte den Kopf, konnte gerade durch das Fenster blicken, übersah die ganze Szene.
»Gib nicht nach, Lilly! Wir sind ja doch des Todes, so oder so.«
»Ich weiß es, aber — —«
Mit heiserer Stimme hatte sie es gesagt.
Und da geschah es.
Man hatte eigentlich nicht gesehen, dass sie sich besonders angestrengt.
Aber ihre ganze Lage auf dem Rücken war ja danach beschaffen, dass sie für diesen Zweck alle Muskeln anspannen konnte.
Ein Krach, und Lady Lionel sprang von dem Sofa auf.
Nicht, dass sie die Stricke durchrissen. hätte, das war wohl kaum möglich.
Aber das Gestell dieses Sofas bestand aus Holz und sie hatte hüben und drüben die Leisten abgerissen, die eine Verzierung mit Zwischenräumen bildeten, durch welche die Stricke geführt worden waren. Durch Anspannen der Brust und des ganzen Oberkörpers hatte sie diese nach oben gebrochen.
Und als sie nun aufrecht stand, mussten diese jetzt ganz locker gewordenen Stricke von selbst von ihrem Körper abgleiten.
An Händen und Füßen war sie ja immer noch gefesselt, genau in derselben Weise wie der Prinz.
Während ihrer Bewusstlosigkeit waren ihr die Arme über der Brust zusammengelegt und vollständig zusammengeschnürt worden, auch über die Hände und Finger hinweg liefen die Hanfstricke.
Immerhin — das gelbbraune Gesicht des jungen Arabers war plötzlich aschgrau geworden. Dass die sich von dem Sofa befreien konnte, das hätte er niemals erwartet.
Doch schnell hatte er sich wieder gefasst, er versuchte es mit Hohn.
»Geben Sie sich doch keine Mühe, Mylady, Sie sind ja doch gefesselt und wehrlos!«
Dabei tastete er an und in seinen Taschen herum.
Es war sofort offenbar, dass er keine Waffe bei sich hatte.
Seine Augen irrten umher.
Dort drüben an der Wand hingen die Gewehre und Revolver, dort blieben seine Augen haften.
Schnell wollte er hinspringen.
Aber noch schneller sprang die Lady.
Mit einem Satze ihrer zusammengefesselten Füße stand sie vor diesen Waffen.
Und nun dieses Gesicht, diese Augen!
Der Pater zog es vor, beim ersten Schritte wieder stehen zu bleiben. Nur den Ansatz zu dem beabsichtigten Sprunge hatte er gemacht.
»Mylady, nehmen Sie doch Vernunft an, Sie können mir doch gar nichts tun!«, kam es unsicher über die blass gewordenen Lippen.
Wie das junge Weib so regungslos und stumm dastand, mit diesem Gesicht, mit diesen Augen — es war fürchterlich.
Und seine Augen irrten weiter umher.
Da blieben sie auf dem großen, spitzen Messer haften, das dort gerade in der Mitte des Raumes neben dem Ofen am Boden lag.
»Mylady, ich will Ihnen etwas sagen. Wenn Sie vernünftig sind, dann — —«
Er hatte nur ihre Aufmerksamkeit ablenken wollen, hatte auch nicht mehr nach diesem Messer geblickt.
Plötzlich brach er ab, duckte sich erst im Sprunge, um sofort das Messer zu ergreifen.
Aber gleichzeitig war auch die Lady gesprungen, wie ein einbeiniges Känguru.
Die zusammengebundenen Füße musste sie dabei ja sowieso heben, sie hob sie noch in besonderer Weise, setzte den Doppelfuß auf die Brust des Arabers, gerade wie dieser wieder den Boden berührte und gebückt das Messer beim Griff erfassen wollte, ein Stoß — und der arabische Jüngling wurde gegen die jenseitige Wand geschleudert, dass es krachte.
Sofort schnellte er wieder empor, zitternd vor Wut.
»Teufelsweib, ich will Dich doch — —«
Weiter kam er nicht, auch zu keiner Tat.
Er war gerade unterhalb des offenen Fensters, vor dem der Prinz hing, an die Wand geschleudert worden, er hatte sich ja in sehr gebückter Stellung befunden.
Jetzt also stand er aufrecht vor diesem offenen Fenster, das ziemlich niedrig war, das heißt, der untere Rand nicht sehr hoch über dem Boden.
Zwischen ihm und der Lady befand sich jetzt der Tischofen.
Da machte die Lady als einbeiniges Känguru schon wieder einen Satz.
Es sah aus, als wolle sie auf den Tisch springen.
Aber dies geschah nicht.
Sie zog den doppelten Fuß dabei sehr hoch an, fast bis an die Brust, der weite, mächtige, schier unglaubliche Satz brachte sie gleich über den ganzen Tisch weg, der von normaler Höhe war, sie sauste mit angezogenen Füßen weiter durch die Luft, auf den Araber zu, jetzt schnellte sie die Füße nach vorn, ein furchtbarer Stoß, er traf des Arabers Brust, dieser schlug hinten über, zum Fenster hinaus!
Mitten in diesem Salto mortale griff er wild mit den Händen um sich, es sah fast aus, als ob er den Hals des Prinzen packen würde, aber es geschah nicht, möglich wäre es wohl gewesen, aber sie hatten daneben gegriffen, und dann war es zu spät — ein gellender, entsetzlicher Schrei, und sich immer umschlagend sauste der Körper hinab in die furchtbare Tiefe!
Direkt unter dem Prinzen. Doch dort unten aufschlagen sah er ihn nicht, dazu war die Höhe zu groß. Er sah ihn kleiner und kleiner werden, schneller und immer schneller, bis der wirbelnde Körper seinen Augen als Pünktchen entschwand.
Die Lady war nach ihrem erstaunlichen Sprunge gleich wieder auf die Füße gekommen. Es war ein richtiger Kängurusprung gewesen. Denn so springt das Känguru, besonders das Riesenkänguru, wenn es in die Enge getrieben wird, wenn es sein Junges verteidigt. Dann kann das große Känguru, es braucht gar nicht so riesenhaft zu sein, dem Menschen furchtbar werden. Es springt in die Höhe, schnellt den mit einer großen, scharfen Mittelzehe bewehrten Fuß nach vorn, und springt der Gegner nicht rechtzeitig zur Seite, was aber blitzschnell geschehen muss, so reißt ihm diese Zehe den Hals und die Brust und den ganzen Leib auf. Und dann fällt das Känguru natürlich nicht auf den Rücken, sondern es steht sofort wieder, und so viele Gegner vorhanden sind, so oft springt es, blitzschnell hintereinander, und sie alle können mit durchrissener Schlagader und mit heraushängenden Eingeweiden daliegen.
So hatte die Lady auch gleich wieder auf ihren zusammengebundenen Füßen gestanden.
Erst hinterher brach sie zusammen vor seelischer Aufregung.
Oder es hatte doch ausgesehen, als wenn sie zusammenbrechen wolle.
Im Nu hatte sie sich wieder aufgerafft.
Die Arbeit war ja erst halb getan.
Dort hing noch der Geliebte, die Zündschnur glimmte, hatte nur noch die Hälfte aufzuzehren, höchstens fünf Minuten noch.
Die Lady stand am Fenster
Sie konnte ja nicht helfen, keinen Finger rühren, und das Seil des Flaschenzuges mit den Zähnen packen, das hatte keinen Zweck.
Auf den Flaschenzug kam es gar nicht an.
Dort die glimmende Schnur musste gelöscht oder entfernt werden.
Aber wie sollte das geschehen?
Dort hinaus konnte das schwer gefesselte Weib natürlich nicht, um die Schnur mit den Zähnen zu entfernen.
Mit einem Satze stand sie vor Freds Koje.
»Fred, kannst Du mich befreien? Mit den Zähnen meine Banden aufknüpfen?«
Nein, das war nicht möglich. Fred konnte sich gar nicht rühren.
Und auch Deasy war gebunden.
Die Lady machte sich mit fieberhafter Hast daran, die Stricke an Freds Koje mit den Zähnen aufzuknüpfen.
Nach den ersten Sekunden sah sie ein, dass dies nicht ging.
Oder sie hätte mindestens eine Stunde gebraucht. Und dort fraß das glimmende Feuer die Zündschnur immer weiter auf.
Das Messer!
Sie kniete nieder, warf sich auf den Boden, packte den Griff mit den Zähnen, legte es noch einmal hin und packte es anders, sprang auf und begann mit der Klinge über die Stricke zu fahren, die sich um ihre Hände und Arme wanden.
Aber das ist leichter gesagt als getan, auf diese Weise einen starken Hanfstrick zu durchscheiden. Oder es muss geübt werden, und diese Übung besaß die Lady nicht.
Schnell sah sie ein, dass sie da eine halbe Stunde »fummeln« konnte, und sie hätte auch noch nicht die äußerste Windung durchschnitten.
Sie ließ das Messer aus den Zähnen fallen.
Dort das glimmende Feuer hatte fast schon den Knoten erreicht.
»Allbarmherziger Gott, gib mir ein Mittel, dass ich meine Banden durch — —«
Da fiel ihr Blick auf die kleine, spitze Flamme, die dort aus dem Ofen hervorschlug.
»Gerettet, gerettet — wenn ich nicht zu spät komme!«
Hingesprungen, die Flamme dort lecken lassen, wo es am angebrachtesten war, die Stricke zuerst zu durchsengen.
Und das waren die Hände. Denn an diesen fingen die Windungen an und hörten sie auf.
Die Arme waren mit Pelzwerk bekleidet, die Hände waren unbedeckt.
Und die Lady gab ihre rechte Hand, die oben auf lag, der spitzen, sehr heißen Flamme preis.
Diese Schamanin hatte schon einmal bewiesen, dass ihr kein Feuer und keine Glut etwas anhaben konnte.
Aber bei allen diesen magischen Experimenten gibt es ein eisernes Gesetz, so etwas muss schon vorher durch Willenskonzentrierung vorbereitet werden, geschieht dies nicht, so nützen alle magischen Fähigkeiten nichts.
Es war einmal vom Verfasser persönlich von einem arabischen Derwisch erzählt worden, der sich eine Zigarette drehte und schon vorher eine glühende Kohle zurechtgelegt hatte, auf seinem nackten Bein. Die Kohle brannte sich ins Fleisch ein, ein Streichen darüber, und die Wunde war verschwunden.
Aber dieser selbe Derwisch verbrannte sich dann mit einem Streichholz den Finger, und diese Brandblase vermochte er nicht wieder zu beseitigen.
Er konnte auch aus einem Topf mit kochendem Wasser keinen Stein herausholen, den jemand anders ohne seinen Willen hineingeworfen hatte. Er musste ihn selber hineinwerfen, oder er musste einen anderen erst dazu auffordern, den Stein in das kochende Wasser zu werfen, dann konnte er langsam hineingreifen und den Stein herausholen, ohne sich zu verbrühen. Zu beiden Experimenten aber brauchte er lange Vorbereitungen, wobei ihn niemand beobachten durfte. Er hypnotisierte sich erst selbst.
Und die Schamanin hatte jetzt keine Zeit zu solchem Vorbereitungen. Vorausgesetzt, dass ihr solch ein Kunststück überhaupt möglich gewesen wäre, in diesem Falle, wenn sie aus ihren magischen Fähigkeiten einen persönlichen Nutzen ziehen wollte. Denn das scheint das A und O der ganzen Magie zu sein.
Also die Stichflamme brannte auf die äußerste Strickumwindung der rechten Hand, dort wo sich die Knoten befanden, dicht davor.
Es qualmte, es roch nach verbranntem Hanf.
Gleichzeitig aber roch es auch nach verbranntem Fleisch. Stärker und immer stärker.
Und dann war der Strick an dieser Stelle durchgebrannt.
Jetzt konnte der ganze Strick mit Hilfe der Zähne gleich von dem ganzen Arm abgestreift werden, mit fieberhafter Hast geschah es.
Und dann waren der Arm und die rechte Hand frei, sie konnte jetzt den anderen Knoten aufknüpfen, um auch die linke Hand zu befreien.
Aber war die rechte Hand auch hierzu fähig?
Eine furchtbare Brandwunde auf dem Rücken dieser Hand! Bis auf die Knochen war das Fleisch durchgebrannt!
Aber sie löste auch den anderen Knoten, auch die linke Hand war frei, die Füße brauchten es nicht zu sein, die Lady sprang hin ans Fenster, sprang in den Rahmen, hielt mit der linken Hand fest, beugte sich hinaus und drückte mit der rechten, so fürchterlich verbrannten Hand, die glimmende Schnur aus.
Gerade hatte sich auch der Knoten in Brand gesetzt, nun aber fiel dieser unschädlich herab, und das Seil war kaum ein wenig angesengt.
»Gerettet, gerettet!«, jauchzte die Lady.
Sie sprang herab, nahm das Messer, an das sie vorhin beim Befreien der linken Hand nicht gedacht hatte — sehr leicht begreiflich — durchschnitt die Stricke an ihren Füßen, wieder ans Fenster, den Flaschenzug nachgegeben, den etwas herabschwebenden Prinzen bei den Füßen gefasst, was eben noch möglich war, und ihn durch noch mehr Nachlassen des Seiles hereingeschwungen, ihm die Fesseln durchschnitten.
Und dann lagen sich die beiden in den Armen. Das Weitere wollen wir nicht schildern, wir können es nicht.
Sie saßen um den Tisch, alle vier, und nahmen das Frühstück ein. Es war noch gar nicht lange Zeit vergangen, aber war nicht anders, als wäre gar nichts geschehen.
Die Lady hatte um ihre rechte Hand einen kunstvoll geschlungenen Verband.
Und des Prinzen sonst so gesundes, volles Gesicht war plötzlich recht eingefallen.
»Onkel, Du hast doch weiße Haare an den Schläfen, die hattest Du doch gestern noch nicht?«, sagte da die kleine Deasy.
Etwas unwirsch strich sich der Prinz über die eine Schläfe.
»So? Ja, das kommt eben mit dem Alter, und das kommt manchmal ganz plötzlich über Nacht. Na lass nur, mein Kind.«
Deasy gehorchte, machte als Zeichen ihres Gehorsams eine Verbeugung, so hätte wenigstens ein Fremder urteilen müssen, sonst tat sie ja so etwas nie — jetzt aber verbeugte sie sich, tiefer und tiefer neigte sie sich, auf ihrem Klappstuhle sitzend, wirklich tiefer und tiefer neigte sie sich mit dem Kopfe auf den Tisch nieder, hätte ihre Nase beinahe in die Tassen mit heißem Tee gesteckt.
»Sie fällt in Trance!«
Noch rechtzeitig wurde ihr Näschen daran gehindert, in der heißen Teetasse zu verschwinden.
»Was hast Du uns zu sagen, Deasy?«
»Mister Lytton meldet sich. Er hat alles beobachtet. Aber es war ihm nicht möglich, einzugreifen oder sich nur mit mir in Verbindung zu setzen.
Das hätte ja auch gar nichts genützt.
Natürlich hat er auch nicht geahnt, dass im Körper dieses aufgetauchten Arabers die Seele des Señor Lazare — —«
»Halt!«, unterbrach der Prinz das sprechende Kind. »Ich will nichts weiter hören, erst muss ich dem Mister Lytton etwas mitteilen.«
»Tue es.«
Der Prinz hatte seinen Schreibblock schon zurechtgelegt.
»Mister Lytton!«, schrieb er, und zwar ausnahmsweise sehr groß. »Dieser Señor Lazare ist für uns erledigt!«
»Ja, er ist tot«, sprach jetzt das Kind wie mit Mister Lyttons Munde, »er ist selbstverständlich total zerschmettert, und so hatte er keine Gelegenheit, sich wieder zu reinkarnieren — jetzt ist dieses menschliche Ungeheuer tot für immer.«
»Wir haben ausgemacht, nicht mehr über ihn zu sprechen.«
»Ah so. Ich werde nicht stören. Nun gestatten Sie noch, dass ich der Lady meine Bewunderung ausspreche.«
»Lady Lionel dankt Ihnen!«, schrieb der Prinz deren Worte auf.
»Haben Sie jetzt ein besonderes Ziel im Auge?«
»Nein.«
»Wollen Sie sich immer noch meiner Führung anvertrauen?«
»Ja. Es hat sich unterdessen gar nichts an unserem Entschlusse geändert.«
»Ohne dass ich selbst Ihnen ein Ziel angebe.«
»Ist nicht nötig.«
»Dann möchte ich Sie nur noch um eines bitten. Nämlich manchmal meiner Aufforderung zu folgen, die Wände der Gondel undurchsichtig zu machen und sich nicht auf die Plattform zu begeben, um hinabzublicken, ohne mich nach dem Warum zu fragen.«
»Weshalb? Dieses erste Mal möchte ich doch das Warum hören.«
»Um Ihnen viel Schmerz und Kummer zu ersparen. Nehmen Sie an, Sie fliegen nicht allzu hoch über das Meer hin. Da sehen Sie ein Schiff untergehen, mit vielen Hunderten von Passagieren. Und Sie haben keine Möglichkeit, den dem Tode Verfallenen beizustehen, weil der Wind Ihren Ballon anderswohin treibt.
Aber selbst angenommen, Sie hätten die Möglichkeit, sich gerade auf das sinkende Schiff, das keine Boote mehr hat, von Haifischen umgeben ist, niederzulassen. Aber es sind Hunderte von Menschen, die von Ihnen Rettung erhoffen. Sie können doch nicht alle die Hunderte mit in die Gondel nehmen. Vielleicht nur zehn. Unter Umständen, wenn Sie besondere Last mit sich führen, vielleicht auch schon gerettete Menschen, nur zwei oder drei. Wie sollen Sie denn da Ihre Auswahl treffen? Oder wenn Sie überhaupt gar keinen mitnehmen können?
Sie müssen also ruhig zusehen, wie alle die Menschen dort unten in den Haifischrachen verschwinden?«
»Ich verstehe Sie, Sie haben recht!«, schrieb der Prinz zurück.
»Also Sie werden, wenn ich Sie dazu auffordere, die Gondelwände undurchsichtig machen und sich nicht auf das Dach begeben.«
»Wir versprechen es Ihnen. Nur halten Sie uns nicht für feige, dass wir nicht Menschen von Tod und aus Gefahr retten würden, wenn es irgendwie möglich ist.«
»O, Hoheit, wie können Sie so sprechen!«, sagte das Kind in vorwurfsvollem Tone; zum ersten Male fühlte es sich mit Mister Lytton verschmolzen, sprach wie mit dessen eigenem Munde. »Es ist sogar das Gegenteil der Fall. Ich will und soll mich Ihnen jetzt näher offenbaren, denn auch ich erhalte meine Instruktionen.
Ich gehöre in unserer geheimen Loge zu jener Sektion, deren Aufgabe es ist, die ganze Erdoberfläche daraufhin zu beobachten, wo sich Menschenleben in Gefahr befinden. Denen eilen wir zu Hilfe, vorausgesetzt, dass es noch rechtzeitig möglich ist.
Und noch mehr vorausgesetzt, dass diese Menschen es auch wirklich wert sind, gerettet zu werden.
Was nämlich nicht immer und sogar sehr selten der Fall ist.
Dazu müssen wir natürlich unterscheiden können, ob sie es wert sind oder nicht.
Und das können wir. Das heißt diejenigen können es, die noch hoch, hoch über uns stehen, die schon den Rang eines Meisters einnehmen.
Es sind schon mehrere solcher Fahrzeuge ständig unterwegs, die sich dieser Aufgabe widmen.
Auch dieser verloren gegangene Luftballon sollte wieder in diesen Dienst gestellt werden.
Ich war zum Führer der ›Corona‹ bestellt, aber ich muss gestehen, dass ich mir diese Führerschaft verscherzt habe, sie ist mir wieder entzogen worden.
Nicht nur deshalb, weil ich den Ballon durch meine Ungeschicklichkeit habe entfliehen und nur mit Ihnen aufsteigen lassen, ohne selbst dabei zu sein. Die Führerschaft ist mir aus anderen Gründen, wegen anderer Vergehen entzogen worden, über die ich aber nicht zu sprechen brauche.
Als Geselle unserer Loge, der Sie, mein Prinz, vorläufig erst sind, können Sie eigentlich solch ein Fahrzeug noch nicht führen, oder vielmehr, Sie dürfen nach unseren Gesetzen noch nicht dazu verpflichtet werden, sich solch einem Dienste zu unterziehen. So weit sind Sie noch nicht.
Das heißt Ihrem Range nach nicht.
Wohl aber schon Ihren Fähigkeiten nach.
Man darf Ihnen deswegen aber noch nichts befehlen, sondern muss Sie erst fragen, ob Sie wollen oder nicht.
Also ich soll Sie hiermit fragen, ob Sie gewillt sind, sich in den Dienst dieser Rettungsarbeit zu stellen. Ich bitte um Antwort.«
»Ja, ich will!«, schrieb der Prinz einfach nieder, aber sein Bleistift zitterte dabei etwas — vor freudiger Aufregung seines Führers.
Denn was ihm da eröffnet wurde, das war ja nun allerdings etwas ganz Großartiges!
»Gut. Aber diese Erklärung genügt noch nicht.
Sie müssen auch noch etwas anderes erfahren.
Die Führerschaft des Ballons für diese Zwecke erfordert auch noch andere Pflichten, die von jenen unzertrennlich sind, was nun auch nicht mehr geändert werden kann.
Oder Sie machen mit dem Ballon nichts weiter als eine Spazierfahrt, um sich die Zeit zu vertreiben.
Die Gerechtigkeit fordert, dass es neben der Belohnung auch eine Bestrafung gibt.
Sie sind gewillt, Prinz, einen Menschen aufzusuchen, der vielleicht in den glücklichsten Familienverhältnissen lebt, der diese verdient zu haben scheint, auch in Ihren Augen, Sie selbst halten ihn für einen tadellosen Ehrenmann — sind Sie gewillt, auf unseren Befehl hin diesen Mann seinem glücklichen Leben zu entreißen, ihn an einen Ort der Strafe zu bringen oder ihn gar sofort zu töten, ohne nach dem Warum zu fragen?«
Das war nun freilich etwas, was der Prinz nicht erwartet hatte!
Er schloss die Augen, um besser überlegen zu können, ob er so etwas auf sich nehmen dürfe, sah aber bald ein, dass er so keinen Entschluss finden konnte.
»Da muss ich jetzt doch erst noch Verschiedenes fragen!«, schrieb er nieder.
»Fragen Sie. Jetzt ist es Ihnen noch erlaubt.«
»Ist denn da kein Irrtum möglich? Dass der Betreffende den Tod oder sonst eine Strafe gar nicht verdient hat?«
»Nein, da ist bei uns kein Irrtum möglich.«
»Ich habe früher unter der Führung jenes Almansors gestanden. Er hat oft genug bewiesen, dass er sich irren kann.«
»Almansor wird auch niemals behauptet haben, dass er sich nicht irren könne.«
»Das hat er allerdings nie behauptet. Aber warum ließ man ihn da Irrtümer begehen, wenn es in dieser Loge Menschen gibt, die sich in so etwas nie irren können?«
»Es war dies mit Almansor eine eigentümliche Sache. Man ließ ihn Irrtümer begehen, um ihm zu beweisen, dass er sich irren konnte. Weil er doch einmal glaubte, schon so weit zu sein, dass er nicht mehr irren könne. Verstehen Sie, wie das gemeint ist?«
»Ja, ich verstehe. Also bei denen, unter deren Führung ich jetzt komme, ist jeder solcher Irrtum ausgeschlossen?«
»Jeder!«
»Ich glaube Ihrer Versicherung. Ja, ich gehorche.«
»Also Sie werden irgend einen Menschen töten, wenn wir es Ihnen befehlen, so ungerecht es Ihnen auch selbst erscheint, ohne nach dem Warum zu fragen?«
»Ich werde gehorchen.«
»Dieser Ihr Entschluss gilt?«
»Er gilt.«
»Gut, angenommen. Im Namen unserer Loge, die mich dazu bevollmächtigt hat. Nun kann ich Ihnen zum Trost auch gleich sagen, dass Sie mit solch ganz peniblen Aufträgen verschont bleiben sollen. Wird Ihnen einmal befohlen, einen Menschen seiner Bestrafung zuzuführen oder ihn gar sofort zu töten, so sollen Sie es entweder mit eigenen Augen schauen oder er selbst soll Ihnen gestehen, was für ein vollendeter Bösewicht er ist.
Im Übrigen sollen Sie hauptsächlich Menschenleben retten, die es verdient haben.
So treten Sie also dieses Ihr neues Amt an, es wird Sie sehr befriedigen und sehr schnell weiter befördern.
Haben Sie sonst noch etwas zu fragen?«
»In dieser Sache nicht.«
»In anderer?«
»Sie wissen doch, dass jener Mensch, dessen Namen wir gar nicht mehr aussprechen wollen, das Pergament nicht mit in die Tiefe genommen hat. Er hatte es gelesen, es lag dann noch auf dem Ofentisch.«
»Ich weiß es.«
»Ich habe es wieder in die Tasche gesteckt.«
»Behalten Sie es bei sich, an Ihrem Körper, bis es einmal von Ihnen abgefordert wird. Sollten Sie es einmal verlieren ohne Ihre besondere Schuld, so wie es jetzt beinahe geschehen wäre, so werden Sie nicht dafür verantwortlich gemacht. Sonst noch etwas?«
»Nicht dass ich jetzt wüsste.«
»So habe ich Ihnen noch etwas mitzuteilen. Es ist wohl nicht gerade sehr angenehm, dass Deasy manchmal ganz plötzlich in Trance fällt, hinstürzen kann, ohne dass einer von Ihnen die geringste Ahnung hat.«
»Allerdings nicht. Vorhin zum Beispiel wäre sie bald mit der Nase in die heiße Teetasse gefallen, hätte sich arg verbrennen können.«
»Ich weiß es. Dem wird jetzt Abhilfe geschafft. Ich stand mit Ihnen einige Zeit nicht in Verbindung, weil diese Sache eben unter uns beraten wurde, ich sprach mit meinem eigenen Führer.
Öffnen Sie die mittlere Schublade in dem kleinen Wandschranke.«
Es geschah.
»Sehen Sie die kleine Klingel oder Schelle, die hinten am Boden der Lade liegt?«
Sie war bald gefunden. Mehr eine Schelle als Klingel aus Metall, oben mit einem Ring versehen. Einen Ton gab sie nicht von sich, wie man sie auch schüttelte.
»Hängen Sie diese Schelle frei in der Gondel auf, an der Decke. Bevor ich fernerhin das Kind in Trance fallen lasse, wird diese Schelle ein Klingelzeichen von sich geben. Und Deasy fällt auch erst dann in Trance, wenn Sie oder jemand anders, der hierzu die Berechtigung hat, ihre linke Hand ergreift. So ist fernerhin jeder Unglücksfall ausgeschlossen.«
»Ich mache Sie aber darauf aufmerksam, dass in der Schelle nichts zu sein scheint, was einen Ton erzeugen könnte.«
Statt weiterer Erklärung gab die Schelle in des Prinzen Hand plötzlich einen schnarrenden Ton von sich.
»Hören Sie? Das Schnarren kommt daher, weil Sie die Schelle festhalten, die Metallwand sich nicht schwingen kann.
Hängen Sie die Schelle frei auf, dann wird sie hell klingeln.
Oder Sie oder jemand anders von Ihnen oder Deasy selbst kann diese Klingel bei sich tragen, was besonders gilt, wenn Sie die Gondel einmal verlassen. Das Zeichen wird immer rechtzeitig gegeben.
Sonst noch etwas? Nichts?
So lassen Sie sich jetzt eine längere Geschichte erzählen.
Damit Sie ungefähr wissen, für welches große Rettungswerk Sie bestimmt sind, weshalb Sie in das Herz von Afrika geführt werden, wenn Sie auch bis dahin unterwegs noch einige andere Aufgaben lösen sollen.
Deasy ist fähig, noch eine halbe Stunde zu sprechen, das weiß ich, es bedeutet für sie in diesem Zustande gar keine Anstrengung.
Also hören Sie mich durch den Mund des Kindes an.«
Und Deasy begann zu erzählen.
Wir geben das, was sie berichtete, in anderer Weise wieder, verlassen vorläufig unsere Luftschiffer.
Fünfzehn Kilometer südöstlich von Hamburg liegt in den Vierlanden ein Städtchen mit 13 000 Einwohnern, aber mehr eine Villenkolonie zu nennen.
Der ländliche Sommersitz von reichen Hamburger Kaufleuten und pensionierten Beamten, die es sich leisten können, die Sehnsucht aller zukünftigen Rentiers.
Im Sommer muss man dort hinaus gehen. Diese Villen, diese Gärten!
Jetzt war es Winter, die Nacht schon angebrochen.
Ein wilder Sturm rüttelte die Bäume, ohne die festgefrorene Schneelast abschütteln zu können.
Er umtobte auch die kleine, aber reizende Villa in dem großen Garten, nur freilich eben im Frühling oder Sommer zu besehen, in die wir uns versetzen wollen.
Die ganze Einrichtung des Zimmers verriet gleich, dass hier jemand wohnte, der die Welt bereist hatte, wenn es nicht ein alter Seemann war.
Nicht gerade eine Kajüte, wie sie sich die alten pensionierten oder begüterten Kapitäne so gern in ihren Wohnungen einrichten, statt der großen, viereckigen Fenster müssen es kleine, runde Bullaugen sein, die spärliches Licht einlassen, mit herumklappbaren Stühlen und dergleichen mehr, was zu einer Kajüte gehört.
Solch eine Kajüte war in dieser Villa allerdings auch vorfanden, aber so schiffsmäßig war dieses Wohnzimmer, in das wir uns versetzen, denn doch nicht eingerichtet.
Und doch — die Bilder an den Wänden ausschließlich Seestücke darstellend, oder Schiffe, die noch jetzt die See befuhren, wenn sie nicht ins alte Eisen geworfen oder als Feuerholz verbraucht waren oder auf dem Meeresboden ruhten, die verschiedensten Waffen von wilden Völkern, als Wandschmuck zusammengesetzt, unter Glasglocken wundersame Korallengebilde und ähnliches mehr — gewiss, es war die Wohnung eines alten Seemannes.
Dort hing er ja auch selbst an der Wand, der alte Kapitän Nielsen, das verwetterte Gesicht von einem weißen Barte wie von einer Krause eingerahmt, und man wartete nur immer darauf, dass dieses Bild auf beiden Backen seinen Tabak zu kauen anfing.
An der Nähmaschine saß eine junge Dame. Nein, ein junges Mädchen. Sie sah bei aller Anmut so ungemein bescheiden aus, zumal in dem schwarzen Kleide, das sich so auffallend hervorhob in dem Gewoge weißer Wäsche, das sie umgab, an der sie nähte.
Agnes war das einzige Kind des alten Kapitäns Nielsen — gewesen. Seit vierzehn Tagen trauerte sie um ihren Vater.
Und dennoch, jetzt nähte sie an ihrer Hochzeitsausstattung. An ihrer linken Hand blitzte der Verlobungsring.
Vor noch nicht ganz einem Jahre hatte sie ihn kennen gelernt, den jungen Gelehrten, Naturwissenschaftler, speziell Botaniker, der als solcher schon zwei Forschungsreisen mitgemacht hatte, eine nach Afrika und eine nach Australien, Doktor Richard Raimund.
Das erste Mal hatten sie im Theater nebeneinander gesessen, und dann nach der Vorstellung waren sie im Ratskeller ganz, ganz zufällig wieder zusammengetroffen, an demselben Tische. Natürlich der Vater mit.
Und der alte Nielsen hatte dem jungen Herrn, den er als seinen Nachbar aus der Oper wiedererkannte, offen seine Meinung gesagt, dass sie in dem Fliegenden Holländer zwar sehr schön gesungen hätten, aber seemännisch sei es in dem Dinge durchaus nicht zugegangen, der Steuermann hätte bei seiner Singerei ja niemals getanzt, und die Matrosen hätten beim Brassenanziehen ja nicht gesungen, und da war noch vieles mehr, was dem alten Kapitän nicht gefallen hatte — und dann hatte er die ganze Zeche bezahlt, sechs Flaschen Höllensteiner, und Agnes hatte natürlich nur genippt.
»Das wäre einmal einer, den ich mir als Schwiegersohn wünschte!«, hatte dann zu Hause der alte Kapitän in seiner offenen, derben Weise zu seiner Tochter gesagt. »Ich habe doch mein Möglichstes getan, ihm die Zunge zu lösen, mir selbst ist der schwere Wein etwas in den Kopf gestiegen, aber der blieb der Gentleman, der er im Anfang gewesen war, und am meisten imponiert mir, dass er niemals von seinem Gemüse angefangen hat.«
Denn für den alten Nielsen gab es nur zweierlei Arten von Pflanzen; solche, die man essen kann, und solche, die man nicht essen kann. Und seine Lieblingsblume war der Spargel — mit Butter, aber ohne geröstete Semmel.
»Mädel, wenn Du nur nicht gar so schüchtern und zimperlich wärst!«
Das immer etwas blasse Gesicht des wirklich schönen oder mehr liebreizenden Mädchens hatte sich mit einem tiefen Rot übergossen.
Ja, sie war sehr, sehr schüchtern. Sie hatte es von der Mutter. Sie ging ganz im Haushalt auf. Zwei Freundinnen, mit denen sie sich gegenseitig besuchte — das war ihre ganze Geselligkeit. Mit dem Vater einmal ins Theater — nichts weiter. Sie brauchte nichts mehr vom sogenannten Leben. Das Haus und der Garten waren ihre Welt, in der sie sich zufrieden, wenn nicht glücklich fühlte. In jeder Gesellschaft fühlte sie sich unglücklich. Gut nur, dass auch der alte Kapitän keine Gesellschaften mehr liebte, an so etwas wie Reisen gar nicht mehr dachte. Sie hatte nicht einmal die Tanzstunde besucht, konnte bei gesunden Füßen gar nicht tanzen — das charakterisiert das junge Mädchen wohl am besten
Aber gar so jung war sie nicht mehr. Fünfundzwanzig. Freilich sah sie aus wie kaum zwanzig.
Es hatte ihr nicht an Freiern gefehlt, dem einzigen Kinde des sehr vermögenden Kapitäns, der sein eigenes Schiff gefahren hatte, der bei aller Behaglichkeit doch viel einfacher lebte, als es seine Mittel gestatteten.
Viermal schon war um ihre Hand geworben worden.
Und viermal hatte es der Vater als das größte Glück gepriesen, dass seine Tochter einen Korb erteilt hatte.
Alle vier Freier waren nämlich nicht in Hamburg ansässig gewesen, hätten auch ihren Wohnsitz nicht hierher verlegen können, ihr Geschäft oder Beruf erlaubte es nicht.
Und der alte Kapitän hätte es nicht fertig gebracht, sich von seinem einzigen, sehr spät geborenen Kinde zu trennen, ebenso wenig aber auch von diesem Hause, in dem er nun seit bald dreißig Jahren wohnte, in dem er sich wenigstens immer bei seiner Familie erholt hatte, wenn er von seinen Reisen zurückgekehrt, in dem er sich aber schon seit mehr als zehn Jahren wirklich zur Ruhe gesetzt hatte.
Er hätte es nicht übers Herz gebracht.
Wusste das die Tochter? Hatte sie deshalb vielleicht den Freier immer zurückgewiesen, wenn ihr Herz anders gesprochen? Hatte sie der Vaterliebe schon ein oder mehrere Opfer gebracht?
Wir brauchen es nicht zu wissen.
»Mädel, wenn Du nur nicht gar zu schüchtern und zimperlich wärest! Da hast Du nun heute den ganzen Abend kein Sterbenswörtchen gesagt, hast immer dagesessen, als wenn Dir die Mäuse die Butter vom Brote gefressen hätten. Und das war doch wirklich so ein netter junger Mann. Du hast doch gemerkt, wie ich ihm auf den Zahn fühlte. Doktor Richard Raimund heißt er, ist Botaniker und Forschungsreisender, hat keine Eltern mehr, gar keinen Anhang, scheint ziemliches Geld zu haben.
Wenigsten hat er nicht nötig, irgend eine Stelle anzunehmen, die ihm nicht behagt.
Erst vor Kurzem hat er den Direktorposten des Botanischen Gartens von einer großen Stadt dort unten in Bayern angeboten bekommen, Anfangsgehalt 6000 Mark — denke mal an — aber er hat Aussicht auf eine Assistentenstelle hier im Hamburger Botanischen Museum, wo sie das Gemüse zwischen Löschblätter legen und aufkleben, und das ist ihm lieber, weil hier doch aus aller Welt die seltensten Pflanzen zusammenkommen, und er hat das trockene Gemüse nun einmal lieber als das frische, was noch in der Erde wächst — kurz, er hat auf den Direktorposten verzichtet und wartet, bis hier eine Assistentenstelle frei wird. Obgleich er dann noch jahrelang umsonst arbeiten muss. Er kann sich's eben leisten.
Unterdessen ordnet und beschreibt er hier das getrocknete Gemüse, das er von seiner letzten Australienreise mitgebracht hat.
Sieh, Agnes, das wäre doch eigentlich was für uns beide!
Aber natürlich wenn er Dir ganz gleichgültig ist.
Ich habe ihn nach seiner Wohnung gefragt, er weiß meine.
Aber einladen kann ich ihn nicht. Ich habe keinen Grund dazu. Da würde ich mich genieren. Eben weil ich einen Hintergedanken dabei habe.«
So hatte der alte Nielsen gesprochen.
Und Agnes war noch tiefer errötet.
Nicht etwa, dass ihr Zartgefühl verletzt wurde, sie kannte doch ihren Vater.
Dieser alte Hamburger sprach genau das, was er dachte. Und der wollte auch mit seinen innersten Gedanken niemanden kränken. Einmal jemandem eine Maulschelle geben, der sie verdiente, ja — aber jemanden kränken, das gab's bei dem nicht.
Und doch — erröten musste die schüchterne Agnes natürlich, wenn sie so etwas zu hören bekam.
Oder ob sie vielleicht aus einem anderen Grunde so purpurrot wurde?
Der alte, gute Vater!
Er hat nie erfahren, dass seine schüchterne Tochter ihrem Nachbarn in der Oper erst zugeflüstert hatte, natürlich erst auf seine fragende Andeutung hin, dass sie und ihr Vater heute nach der Vorstellung in den Ratskeller gingen, wie gewöhnlich dort in der Mitte links sitzen würden. Niemals erfuhr der gute Vater, dass, als die beiden einmal allein gewesen waren, sein schüchternes Töchterchen gestanden hatte, es sei noch frei, und — er solle in den nächsten Tagen nur vorsprechen.
Und nach zwei Tagen kam er denn auch, Doktor Richard Raimund, im schwarzen Gehrock und dunkelgestreifter Hose, mit Zylinder. Aber nicht etwa mit Chapeau claque. Den kann man in den Berliner Blumensälen unter den Arm klemmen, aber nicht bei einer Visite, zumal nicht im stolzen Hamburg.
So und so.
»Ja, Herr, wie kommen Sie denn nur dazu! Sie kennen meine Tochter doch gar nicht.«
»Ich habe drei Stunden in der Oper neben ihr und dann noch vier Stunden im Ratskeller ihr gegenüber gesessen. Das genügt mir. Ich habe zwei Tage lang überlegt und mich geprüft. Ich liebe Ihr Fräulein Tochter.«
»Wissen Sie denn, ob sie nich schon een annern hat?«
»Mein Herz sagt mir, dass dies nicht der Fall ist!«, log der junge Mann, und er sollte dieser Lüge auch nie überführt werden.
»Ja, Herr Doktor — Sie sind ein ganz netter Mensch — ich hätte nichts dagegen — aber meine Tochter — ich will mit ihr sprechen — aber ich kann Ihnen keine Hoffnung machen.«
Er ging, kam nach kaum fünf Minuten wieder herein, ganz unwirsch.
»Ich habe mal mit meinem Dampfer direkt auf einer Landstraße gelegen. An der Küste von Chile. Eine Sturmflut hatte mich hinaufgeschleudert, der Dampfer lag direkt quer über der Landstraße. Acht große Dampfer spannten sich vor und schleppten mich wieder ins Wasser. Und da richtet sich der alte Kasten wieder auf und setzt mit eigener Kraft seine Reise nach Iquique fort, als wenn gar nichts geschehen wäre. Wenn ich nicht Zeugen genug hätte — das würde mir niemand glauben. Aber was ich soeben mit meiner Tochter erlebt habe, das möchte ich bald selber nicht glauben. See könn se krägen!«
Die Verlobung wurde sehr bald gefeiert, aber Hochzeit sollte erst in einem Jahre sein.
Denn in einem Jahre wurde die Assistentenstelle am Botanischen Museum frei, die Doktor Raimund antreten konnte. Und dem alten Kapitän war es doch sehr lieb, einen Schwiegersohn zu haben, der sich in fester Stellung befand. Darauf hielt er doch etwas. Oder es lag überhaupt noch etwas ganz anderes vor. Er war ein alter Hamburger. Und das Botanische Museum ist eine städtische Anstalt. Wer die Verhältnisse nicht kennt, der weiß es nicht, was in dieser alten Patrizierstadt der letzte Assistent für eine gesellschaftliche Rolle spielt. Das steht eben einzig in der Welt da. Nur die mittelalterlichen Einrichtungen an den englischen Universitäten Oxford und Cambridge lassen sich damit vergleichen.
Es war eine glückliche Brautzeit. Sie waren jeden Tag zusammen. Natürlich nicht etwa, dass der Verlobte gleich in die Villa des zukünftigen Schwiegervaters gezogen wäre. Aber er kam zum Mittagessen, und wenn er nicht gleich da blieb, so kam er am Abend wieder.
Sie sollte nicht lange dauern, diese glückliche Brautzeit.
In aller Welt, so weit sie von Zeitungen beherrscht wird, verbreitete sich eine Kunde.
Die belgische Regierung bereitete eine Expedition vor zur Erforschung des LeopoldII.Sees.
Betrachten wir die Karte von ÄquatorialAfrika.
Die Hauptmasse dieses inneren Afrikas wird gebildet vom belgischen Kongostaat.
Dieser wird zum Teil begrenzt und noch mehr durchflossen vom Kongo, nach dem brasilianischen Amazonas der größte Strom der Erde.
Etwas unterhalb des Äquators sehen wir östlich vom Kongo, ganz dicht daneben liegend, einen großen See. Es ist der TumbaSee.
75 Kilometer südlich von diesem entfernt liegt wieder ein See, noch größer als jener, von einer ganz zerfetzten Gestalt, nach allen Seiten hin erstrecken sich lange Zipfel und als Name ist eingetragen Leopold-II. See.[4]
[4] Heutiger Name: Mai-Ndombe-See (franz.: Lac Mai-Ndombe).
Es gibt nämlich im mittleren Afrika, aber auf deutschem Gebiet, zwischen dem Tanganjika- und Njassasee[5], auch einen einfachen Leopoldsee, der schon vorher diesen Namen führte; aber als nun [6] jenen See im Kongostaat entdeckte, nannte er ihn zu Ehren des belgischen Königs, der ja überhaupt den ganzen Kongostaat von der Regierung gepachtet hatte, Leopold-II.-See, und diese Bezeichnung ist nun leider auch von den Geografen akzeptiert worden.
[5] Heutiger Name: Malawisee.
[6] Heutiger Name: Rukwasee.
Wir nennen ihn fernerhin, die Zwei weglassend, einfach Leopoldsee, uns um den in Deutsch-Ostafrika nicht kümmernd.
Diese Zwei müssen wir nur noch einmal benutzen, wenn wir auffordern, im neuesten Konversationslexikon nachzuschlagen.
Da lesen wir, nachdem seine Lage »ungefähr« beschrieben worden ist:
»Stanley hat ihn, wie den im Norden nahe gelegenen Tumbasee, 1882 entdeckt, doch blieben alle späteren Vorstöße zu seiner Erforschung erfolglos.«
Nun, lieber Leser, betrachte noch einmal die Karte, und dann staune unter Erwägung folgender Umstände:
Bis zu den Stanley-Fällen ist der Kongo zu jeder Jahresszeit auch für recht ansehnliche Dampfer vollkommen schiffbar.
Noch vor den Stanley-Fällen führt ein Seitenarm von nur 25 Kilometer Länge in den Tumbasee hinein. Auch dieser ist noch bequem mit Dampfern zu befahren. Es ist nur deshalb dort gar kein Verkehr, weil aus dem ringsumgebenden Urwald nichts zu holen ist.
Aber man kann doch ganz bequem sein südliches Ufer erreichen, und von dort aus sind es nach dem Leopoldsee 75 Kilometer, eine Strecke, die man mit der Eisenbahn für 2 Mark 50 in einer Stunde durchfährt
Und alles, was man bisher versucht hat, den von Stanley entdeckten, befahrenen und topografisch sehr gut aufgenommenen See wieder aufzufinden, ist bisher erfolglos gewesen!
Dazu muss man wissen, dass innerhalb dieser dreißig Jahre, seit seiner Entdeckung bis heute, dieser Versuch von nicht weniger als achtzehn großen, wohlausgerüsteten Forschungsexpeditionen gemacht worden ist, der kleineren gar nicht zu gedenken. Und keine einzige hat den Leopoldsee erreichen können!
Wie ist das möglich? Ja, das ist eben Afrika!
Es klingt ja schon eigentümlich genug, wenn man hört, heute noch, dass die Bevölkerung des belgischen Kongostaates auf vierzehn bis dreißig Millionen Menschen geschätzt wird. Da soll man doch lieber gleich offen sagen, wir wissen es nicht! Vielleicht sind es auch nur fünf Millionen, vielleicht fünfzig. Wir wissen von diesem Gebiete, das rund zwei und eine viertel Million Quadratkilometer umfasst, überhaupt so gut wie gar nichts! Wir kennen einige Flüsse, deren Ufer zum Teil besiedelt sind, und dann hört unsere Kenntnis auf!
Also wer Afrikaforscher werden möchte, aber er ist noch zu jung, der braucht sich nicht zu grämen, es bliebe ihm später nichts mehr zu entdecken übrig. Es werden noch viele Menschenalter vergehen — und dann wird es in Afrika wohl noch immer weiße Stellen genug geben, Terra incognita, unbekanntes, unerforschtes Land.
Wie ist denn nun aber Stanley auf diesen See gekommen und wieder heraus?
Ja, das war eben Stanley!
Ein Kerl, wie er als Forschungsreisender wohl nicht so bald zum zweiten Male wiederkommen wird.
Natürlich hat es nicht an Behauptungen gefehlt, dass dort überhaupt gar kein See ist, dass Stanley den nur in seiner Phantasie geschaffen, dass er geflunkert hat.
Aber diese Behauptungen waren nur schwach, wurden nicht allgemein. Stanley hatte schon vor zehn Jahren bewiesen, was er leisten konnte, hatte sich schon einmal vor solchen Verleumdungen glänzend gerechtfertigt.
Im Jahre 1869 weilt der bis dahin ganz unbekannte Journalist als Berichterstatter des New Yorker Herald auf dem Kriegsschauplatze in Spanien. Er wird zurück nach New York beordert. Der Besitzer dieser Zeitung, Gordon Bennett, legt ihm die phantastische Frage vor, ob er es für möglich hält, den seit vielen Jahren irgendwo im Innern Afrikas verschollenen Livingstone aufzufinden, lebend oder tot.
Stanley bejaht kurzerhand — die Unterredung fand mitten in der Nacht statt, Gordon Bennett hatte schon geschlafen und blieb dabei im Bett liegen — er bekommt ein Scheckbuch und reist ab nach Sansibar.
Und Stanley stöberte den alten Livingstone wirklich auf, am Tanganjikasee!
Die Welt hat es ihm damals nicht geglaubt. Stanley wurde ganz öffentlich der Aufschneiderei, der Lüge bezichtigt.
Denn die Welt konnte nicht fassen, weshalb ein alter, kranker, von allen Mitteln entblößter Mann — Livingstone — darauf verzichtet, von seinem Retter mitgenommen zu werden, weil er hofft, seine einmal begonnene Arbeit, die Vermessung des Tanganjikas, doch noch vollenden zu können.
Besonders von den wissenschaftlichen Geografen wurde damals Stanley aufs Heftigste angegriffen. Wenn man nicht vorzog, ihn totzuschweigen. Dieser ganz unbekannte Stanley, der Sohn eines armen Bauern, im Armenhause erzogen, Schiffsjunge gewesen, Matrose, Arbeiter, dann Handlungsdiener, hinter dem Ladentisch Heringe verkaufend, dann unter die Zeitungsschreiber gehend — was wollte der denn in Afrika als Forschungsreisender, sich wissenschaftlich gebärdend, geografische Messungen machend!
Nun, dieser ehemalige Matrose und Heringsbändiger hat sich glänzend gerechtfertigt! Er brachte Livingstones Tagebücher mit! Mit Beobachtungen und Berechnungen, die nun bald, da die Wege nun einmal ausgekundschaftet waren, wie seine eigenen als Tatsachen nachgeprüft werden konnten!
Wenn man seine eigenen Berichte liest, bekommt man noch nicht ein richtiges Bild von diesem Manne.
Man muss jemanden sprechen, der ihn auf einer seiner Fahrten begleitet hat, als Diener, als Arbeiter.
Da bekommt man etwas zu hören!
Dieser Stanley war ein — furchtbarer Mensch!
Nicht etwa ein grausamer Wüterich — gerade das Gegenteil.
Immer auf das Wohl seiner Leute bedacht, nie eine Misshandlung, keine harten Strafen, immer leutselig, dem Kranken seinen letzten Trunk gebend, einem Schwachen das Gepäck abnehmend und es selbst tragend.
Aber anderseits wieder von einer so kolossalen Energie, die nur der verstehen kann, der die Verhältnisse kennt oder sich hineinzuversetzen versteht.
Stanley hat seine Leute nie überangestrengt, hat ihnen vielmehr zahllose Rasttage gegönnt, die eigentlich gar nicht nötig waren.
Und gerade dadurch hat er sich so furchtbar gemacht, dass sein Name noch heute in allen Gegenden Afrikas, durch die er kam, nur mit Zittern und Zagen genannt wird, dass man mit seinem Namen die kleinen Kinder schreckt.
Für solch eine Expedition müssen natürlich zum Transportieren des Gepäcks eingeborene Träger angeworben werden.
Die Hälfte von diesen kneifen wieder aus, gleich in den ersten Tagen, aber auch während des ganzen Marsches entflieht immer einmal einer.
Teils wollen sie nur die Anzahlung erbeuten, in Tuchstoff und dergleichen bestehend, ohne Arbeit dafür zu leisten, oder sie bekommen Heimweh, oder sie haben sich zu viel zugetraut, sie haben die Marschiererei eben satt, sie wollen nicht mehr mitmachen, suchen das Weite. Glücklicherweise immer, ohne das Gepäck mitzunehmen. Deshalb eben ja kneifen sie aus. Allerdings ist das für den Expeditionsleiter kein Vorteil, es fehlt ihm dann ja an Trägern, dieses zurückgelassene Gepäck weiter zu transportieren, er muss es zurücklassen.
Wenn nun bei Stanley jemand auskniff, so ließ er sofort die ganze Karawane Halt machen, manchmal viele Tage lang, er setzte mit den schnellsten seiner Getreuen dem Flüchtling nach und ruhte nicht eher, als bis er ihn hatte, tot oder lebendig!
Und wenn solch ein Flüchtling von anderen Negern oder in einem Dorfe in Schutz genommen wurde und man lieferte ihm den ungetreuen Mann nicht aus, so kam es regelmäßig zum Kampf, zum Krieg!
Stanley hat lieber die Hälfte seiner ganzen Leute geopfert, ehe er duldete, dass der Flüchtling irgendwo in Sicherheit blieb.
Und hatte er nun den Flüchtling lebendig wieder, so bestrafte er ihn nicht, wohl aber musste er den ganzen Marsch weiter mitmachen, in Ketten, oder doch im Nackenjoch!
Von Anfang bis zu Ende den ganzen Marsch angeschlossen! Zwei Jahre lang quer durch Afrika! Er hat solche mit nach der Westküste gebracht, die er schon an der Ostküste eingespannt hatte!
Keine Gnade, keine Verzeihung, auch nicht bei der besten Führung!
»Ihr habt einmal Euer Wort gebrochen, Ihr werdet mir auch zum zweiten Male untreu werden! Ihr kommt nicht wieder heraus aus den Ketten!«
Um nun aber nicht angeschuldigt zu werden, seine Leute als Sklaven behandelt und benutzt zu haben, brauchten diese Gefangenen nichts mehr zu tragen, keine andere Arbeit mehr zu leisten, was ja auch im Joch noch sehr gut möglich gewesen wäre, ja gerade diese Gefangenen wurden sehr gut behandelt. Stanley selbst hungerte und durstete lieber, ehe er diesen Jochgängern etwas abgehen ließ.
Aber mit mussten sie!
Man muss nur richtig bedenken, was hierzu für eine ungeheure Energie gehört, um das durchsetzen, um sich konsequent zu bleiben, um nichts durchgehen zu lassen.
Aber er hat dieses Mittel auch nur auf seinen beiden ersten Expeditionen anwenden müssen, später hatte er es gar nicht mehr nötig. Man sollte doch meinen, er hätte dann später gar keine Träger mehr bekommen. Aber gerade das Gegenteil war der Fall. Wenn der »Schreckliche« warb, dann drängten sich die Träger herbei. Nur freilich eben war es die Elite dieser eingeborenen Trägerbande. Es war die größte Ehre, mit dem schrecklichen Stanley marschieren zu dürfen. Sie bezeichneten gleich diejenigen, denen nicht recht zu trauen war, ob sie nicht doch vielleicht unterwegs auskneifen könnten, oder die sich vielleicht hinwarfen und lieber den Raubtieren zum Opfer fielen, ehe sie das Gepäck weiter trugen.
Das sind solche Sachen, über die Stanley in seinen Tagebüchern und Berichten nur ganz kurze, kaum zu verstehende Andeutungen macht. »Die Karawane rastete fünf Tage, weil ich einem Flüchtling nachsetzte, der bei Ulileuten Schutz gefunden hatte.« Das sagt gar nichts.
Der Schreiber dieses hat hierüber einen englischen Diener und einen alten Neger erzählen hören, die beide Stanley quer durch Afrika begleitet hatten, lange Zeit hat er mit ihnen verkehrt, in Sydenham bei London, wo Stanley damals als Gast der Kaiserin Eugenie zur Sommerfrische weilte, Abend für Abend waren die beiden im Public House, in der Bierwirtschaft, und da bekam man eben etwas zu hören.
Nebenbei bemerkt, der Schreiber dieses hat auch einmal einen Matrosen gesprochen, der mit Fridtjof Nansen die Nordpolexpedition mitgemacht hat, als er sich mit seiner »Fram« einfrieren ließ.
Da bekam man auch Verschiedenes zu hören, was in keinem Buche zu lesen ist.
Wie Nansen einmal, nahe am Nordpol, in dem Eisklumpen eingefroren, den Proviant nachzählt, vermisst er eine Flasche Bier.
Was der nun wegen dieser Pulle Bier für einen Spektakel gemacht hat! Wie er die ganze Mannschaft hat dafür büßen lassen! Jedes zweite Wort von ihm war die gestohlene Flasche Bier. Er kam nicht darüber hinaus. Deshalb wurden die bisher reichlichen Rationen auf das vorgeschriebene Minimalmaß verkürzt, deshalb gab es fernerhin zu den Mehlklößen keine Pflaumen mehr. Nansen hat es der ganzen Mannschaft nachgetragen, bis er dann das Schiff verließ, um die Überlandroute mit wenigen Begleitern im Schlitten anzutreten.
»Bei Gott, niemand hatte die Buttel Bier gestohlen! Das war bei uns ganz und gar ausgeschlossen! Er hat sich einfach beim Einpacken verzählt. Aber wegen dieser Buttel Bier würde ich niemals wieder mit Nansen fahren, nicht um alles Geld der Welt!«
Freilich, das sind eben solche Charaktere, die alles erreichen, was sie sich vorgenommen haben, die das Menschenunmöglichste leisten. Es gehört mit dazu, bis zur Flasche Bier.
Und mit solchen Leuten hat Stanley etwas vollbracht, was vor ihm und nach ihm trotz aller Bemühungen noch niemandem gelungen ist; er hat von Osten her den Leopoldsee erreicht, hat ihn kreuz und quer befahren und ihn sehr sorgfältig vermessen und hat dann nach Norden durch die Urwaldsümpfe auch wieder den Ausweg gefunden.
Und nun wollte die belgische Regierung noch einmal versuchen, ob dieser sagenhaft gewordene See nicht doch wieder aufzufinden war.
Wie die Expedition vorbereitet ward, dadurch wurde sie in der ganzen gebildeten Welt zum Tagesgespräch.
Es ging um die nationale Ehre.
Gerade dadurch, weil die belgische Regierung diese Expedition ganz international machen wollte.
Alle in Betracht kommenden Koryphäen der Wissenschaft wurden gefragt, ob sie sich daran beteiligen wollten, nicht umsonst, König Leopold griff tief in den Säckel, in seinen eigenen oder in den des Staates.
Einer nach dem anderen wurde gewonnen. Für jedes Spezialfach mehrere. Führer der Expedition wurde der australische Forschungsreisende, selbst ein Australier, Robertson. Der konnte natürlich keinen Doppelgänger haben. Wohl aber einen Stellvertreter, und das war ein französischer Afrikaforscher. Auch die Zoologen waren schon gefunden, ein amerikanischer, ein belgischer und ein englischer. Und der belgische hatte diese Ehre wirklich verdient, es gab absolut keine nationale Bevorzugung. Als Kartografen auch schon drei, ein französischer und ein russischer Vermessungsingenieur und ein deutscher Offizier vom Generalstab. Von Botanikern war erst einer angeworben, Professor Juarez Amalquero aus Rio de Janeiro, der berühmte Durchforscher des Amazonenstromgebietes. Aber da gab es noch viele andere unbesetzte Stellen. Deutschland schien dabei recht schlecht abschneiden zu wollen.
Sechs Wochen hatte die glückliche Brautzeit der schönen Agnes Nielsen gewährt.
Da kam Doktor Raimund einmal etwas aufgeregt zum Mittagessen.
»Vater, ich bin von der belgischen Regierung angefragt worden, ob ich die LeopoldExpedition als Botaniker mitmachen will. Nicht etwa als zweiter oder dritter, unter Professor Amalquero, sondern alle Mitglieder sind völlig gleich berechtigt.«
Auch hier war fast jeden Tag über diese LeopoldExpedition gesprochen worden.
Aber daran, dass Doktor Raimund solch einen Auftrag erhalten könnte, hatte niemand auch nur im Entferntesten gedacht.
»Ob ich es annehme?«, setzte Richard noch mit einem Blick auf die Braut hinzu.
Der alte Nielsen sprang trotz seines Bauches auf, dass der Stuhl umfiel.
»Junge, Junge, Junge! Du kannst noch fragen?! Nun, natürlich gehst Du mit!«
Richard selbst hatte es für ganz selbstverständlich gehalten.
Vielen aber dürfte es doch nicht so ganz selbstverständlich erscheinen, dass sich jemand verlobt und, ehe er heiratet, noch einmal einen Abstecher ins Innerste von Afrika macht, in die Urwaldsümpfe hinein, in denen schon so manche Expedition spurlos verschwunden war.
Nun wollen wir die Sache einmal mit anderen Augen betrachten.
Da war einmal ein schwedischer Ingenieur namens Salomon Andrée, der hatte, nachdem er schon mehrere, aber ganz harmlose Ballonfahrten mitgemacht, die Idee gefasst, ob es nicht möglich sei, den Nordpol in einem Luftballon zu erreichen, der dadurch etwas lenkbar gemacht wurde, dass ein langes Seil immer auf dem Boden nachschleppte.
Am 11. Juli l897 stieg er mit zwei Begleitern auf, man hat niemals wieder etwas von ihnen gehört.
Dieser Andrée war nämlich ebenfalls verlobt.
Nach Kullenbergh, der diesem verwegenen Abenteurer ein biografisches Denkmal gesetzt hat, war es sogar ein sehr, sehr glückliches, sich innig liebendes Paar, die Braut und der Bräutigam.
Und Andrée hat den Entschluss doch nicht so von heute zu morgen gefasst, sondern was waren dazu für Vorbereitungen nötig, und wie lange hat er erst auf der Däneninsel gewartet, ehe er bei günstigem Winde den Aufstieg unternahm!
Das ist ja nun allerdings das stärkste Stückchen, was als Beispiel heranzuziehen ist, wie sich ein Mensch aus Familienverhältnissen gar nichts macht, wenn er irgend ein Ziel erreichen will, ohne dazu direkt gezwungen zu sein. Verlobt sein, sich in einen Freiballon zu setzen, um nach dem Nordpol zu fliegen, und dann noch zu hoffen, dereinst eine Familie zu gründen — na, das ist ein bisschen viel Optimismus!
Aber man sieht doch, was es für Charaktere gibt. Andrées Braut gehörte auch mit dazu. Die Eltern ebenfalls. Die haben diesem wissenschaftlichen Abenteurer nicht viel abgeraten.
Und nun braucht man gar nicht an alle die heutigen Aeronauten zu denken, in lenkbaren Luftschiffen und Aeroplanen, die jeden Tag zehnmal das Genick brechen können und die sich doch auch hin und wieder verloben, sondern man denke an die vielen, vielen Tausende von Seeleuten, die verheiratet sind, also auch einmal verlobt gewesen sind, wenn sie es mit der Heiraterei nicht gerade sehr eilig hatten. Und das sind sehr oft die solidesten, bedachtsamsten Männer, die kein Stück Brot abschneiden, ohne, wenn sie den Brotlaib an die Brust stemmen, sich zu sagen, wenn ich nicht aufpasse, kann ich mich in den Finger schneiden.
Diese Männer, und alle anderen dazu, deren Beruf sie auf weite Reisen und in Gefahren führt, nehmen Abschied von ihren Lieben, ohne an die Möglichkeit eines Nichtwiedersehens zu denken, dasselbe gilt auch für die Zuhausebleibenden, und eigentlich gilt das überhaupt für alle Menschen.
Niemand weiß, ob er abends wieder nach Hause kommt. Überall kann er überfahren oder von einem herabfallenden Blumentopf getötet werden. Was sollte daraus werden, wenn alle die, die sich verloben, auf Bitten ihrer Braut jeder Todesgefahr aus dem Wege gehen wollten. Dann müssten sie sich bis zur Hochzeit ins Bett legen und wären auch noch nicht sicher vor dem Knochenmann.
Also der alte Kapitän Nielsen wie auch Doktor Raimund fanden es ganz selbstverständlich, dass letzterer das ehrenvolle Angebot annahm und die LeopoldExpedition mitmachte. Auf ein Jahr war sie berechnet, höchstens, und dann natürlich wurde gleich Hochzeit gefeiert.
Und Agnes?
Die wurde gar nicht gefragt.
Und das mit Recht nicht.
Sie war eine Schifferstochter, hatte als Kind den Vater, schon verwitwet, den einzigen Menschen, den sie liebte, oft genug in die unsichere Ferne ziehen lassen.
Ob sie sich während seiner Abwesenheit sorgende Gedanken gemacht hatte, das war ja eine andere Frage, aber davon merken lassen hatte sie niemals etwas. Sie war eine Schifferstochter.
Es war ja auch noch etwas anderes dabei, weshalb der junge Gelehrte dieses Angebot gar nicht abschlagen konnte. Oder er wäre ein Narr und ein feiger Schwächling gewesen. Denn hier bot ihm ein Schicksal die Hand zum Aufstieg nach oben.
In einem humoristischen Blatte stand einmal ein Witz. Ein Astronom hat einen neuen Kometen entdeckt.
»Nu sagen Se mal, Herr Professor«, sagt da so ein Kommerzienrat mit krummer Nase in einer Gesellschaft zu ihm, »was bringt Ihnen denn so'n Komet eejentlich ein.«
Das sollte also ein Witz sein.
Nun, so ein neuer Komet bringt seinem Entdecker sehr, sehr viel ein!
Es gibt auf der Erde staatliche und private Sternwarten mit reichen Mitteln genug, und die legen auf solch einen Kometenentdecker, wenn er noch zu haben ist, sofort Beschlag, sie überbieten sich, um ihn an ihr Fernrohr zu fesseln. Weil er ein tüchtiger Astronom ist, der einen Beweis von seinem Können gegeben hat.
Denn das ist jetzt nicht mehr so einfach, einen neuen Kometen zu entdecken. Oder man könnte ebenso gut blindlings in den Wald hineinschießen, in der Hoffnung, doch einmal ein Wild zur Strecke zu bringen. Wer auf die Kometenpürsche gehen will, der muss Nacht für Nacht am Fernrohr sitzen, lange, lange Zeit, manchmal jahrelang, er muss die Mikrometerschraube drehen und auch für die Entfernung das Rohr immer wieder anders einstellen, muss alle die Nebelfleckchen auflösen, und dabei rollt immer der planimetrische Registrierstreifen ab, jede Nacht einige hundert Meter lang, und der muss dann am Tage Zoll für Zoll nachgeprüft werden.
Ist es aber einem Astronomen gelungen, einen neuen Kometen aufzutreiben, so hat er, der bisher vielleicht ein armer Schlucker war, plötzlich eine sorgenfreie, manchmal hochbezahlte Stelle, in der er nun sein wissenschaftliches Steckenpferd bis an sein Lebensende reiten kann. Abgesehen davon, dass man seinen Namen nennen wird, so lange es Menschen gibt, die von der Erde aus die Sterne beobachten.
Was für Doktor Richard Raimund dieses Angebot der belgischen Regierung zu bedeuten hatte, sollte er in wenigen Tagen erleben.
Das Hamburger Botanische Museum teilte ihm mit, dass er auf die Assistentenstelle nicht mehr zu rechnen brauche. Jetzt gerade würde die Stelle des zweiten Direktors frei, er nahm wegen Krankheit seinen Abschied, es sei nicht üblich, den ersten Assistent nachrücken zu lassen, und so würde dieser Posten des zweiten Direktors bis zu seiner Rückkehr von der Expedition offen gehalten werden.
Dann brauchte der erste, ein sehr alter Herr, nur zu sterben, und Doktor Raimund folgte ihm nach, natürlich schon mit dem Professorentitel.
Und was das in der freien, sich selbst regierenden Hansestadt Hamburg zu bedeuten hat, in der Senatoren und Stadtverordnete die Rolle von Fürsten spielen, das ist schon einmal gesagt worden.
Der Tag kam, an dem sie Abschied nahmen.
Die beiden stellten einander nicht die Frage: »Wirst Du mir auch treu bleiben?«
Es steckt doch ein bisschen Gemeinheit hinter dieser Frage, die man schon tausendfach gelesen hat.
Aber eben, weil sie stereotyp ist, ganz gedankenlos gestellt wird, ist sie verzeihlich. Doch die beiden fragten nicht so.
»Junge, sieh Dich etwas vor, mach keine Jagden mit, wenn's nicht unbedingt nötig ist«, sagte dagegen der alte Nielsen.
Das Schiff ging ab von Antwerpen. Der erste Brief beschrieb die Vorstellung zwischen den Expeditionsmitgliedern.
Vier Wochen später kam der zweite Brief, aus Boma an der Mündung des Kongos.
Ausgezeichnete Reise gehabt, unter der internationalen Gesellschaft die denkbar herzlichste Kameradschaft. Einzelheiten, humoristisch geschildert.
»Ich denke Tag und Nacht an Dich.«
Ja, das ist etwas, was man seiner Braut ständig versichern kann. Aber nicht, dass man ihr treu ist. An Bord des Schiffes, und dann unter Negern oder auch anderswo.
Das Seeschiff war mit einem Flussdampfer gewechselt worden.
4 Im Originaltext heißt es hier »Niggern«. Diese Bezeichnung, die auch schon zu Beginn
des 19. Jahrhunderts als bewusst herabsetzend galt, ist hier und später durch das sei
nerzeit nicht als herabsetzend gemeinte Wort »Neger« ersetzt worden.
Und wieder vier Wochen später gleich mehrere Briefe und Postkarten, die Stromreise beschreibend, einige Abenteuer auf der Jagd und bei anderen Gelegenheiten beschreibend.
Die Schreiben waren immer in verschiedenen Stationen aufgegeben, aber von Boma aus mit einem Postdampfer summarisch befördert worden.
Dann vergingen fünf Wochen, ehe wieder ein Brief kam, von der letzten Stromstation.
»Nun werdet Ihr längere Zeit nichts mehr von mir hören, jetzt geht es in den Tumbasee hinein. Natürlich werden wir einmal eine Post absenden, aber ein Termin lässt sich da nicht angeben.«
Schon zwei Wochen später war der Brief da. Das heißt, er war vor vier Wochen geschrieben worden.
Und nun noch etwas ganz Außerordentliches. Agnes, werde nicht stolz! Wir
sind in einen noch unbekannten Zufluss des Tumbasees gedrungen und haben
einen grandiosen Wasserfall entdeckt. Wie sollte er genannt werden? Alle Expe
ditionsmitglieder zogen das Los, wer darüber zu entscheiden habe. Und ich
Glückspilz musste den einzigen Treffer ziehen! Agnes, Du bist verewigt! Wenn
unsere Karte, so Gott will, erscheint, wird darauf der Agnesfall verzeichnet sein.
Nun aber werdet Ihr wirklich nicht so bald mehr etwas von mir hören, jetzt
geht es durch die Sümpfe nach Süden, um das Dunkel über dem sagenhaften
Leopoldsee zu lüften.
Und diesmal blieb es bestehen.
Ein halbes Jahr verging, und man hatte nichts wieder von der LeopoldExpedition gehört.
Natürlich auch nicht in Antwerpen und Brüssel. Das wäre den Anverwandten der Expeditionsmitglieder sofort zutelegrafiert worden, noch eher als den Zeitungen gemeldet.
Aber Sorgen machte man sich nicht.
Auf dieses halbe Jahr des Stillschweigens hatte man gerechnet. Auf noch längere Zeit. Die Expedition sollte doch nicht nur hinfahren und gleich wieder zurück, sondern alles gründlich erforschen, kartografisch vermessen. Und sie hatten eben keine Gelegenheit, einen Boten mit der Post abzuschicken. Oder ein solcher war verunglückt.
Nein, Sorgen machten sich die Interessierten durchaus nicht. Nicht wegen des Verbleibens der ganzen Expedition.
Wegen der Einzelnen, das war ja etwas anderes.
Aber für die Villa Nielsen galt auch das nicht.
Glaube, Liebe, Hoffnung.
Auch ein bisschen Aberglaube schadet gar nichts.
Agnes arbeitete fleißig an ihrer Ausstattung. Sie hatte ja nichts weiter zu tun.
Und auch aus einem besonderen Grunde nähte und stickte sie so emsig.
Aus dem Rahmen an der Wand schaute ihr dabei eine junge Frau zu.
So liebreizend und auch so schüchtern blickend wie Agnes.
Ihre Mutter.
Sie trug ein sonderbares Kostüm und einen noch auffallenderen Kopfschmuck.
Sie war eine Schwarzwälderin gewesen.
Und im ganzen Schwarzwald ist ein Aberglaube — nein, ein schöner Glaube verbreitet.
Wenn sich ein Mann in Gefahr begibt, und ein weibliches Wesen, das ihn liebt, näht während dieser Zeit etwas für ihn, dabei liebevoll an ihn denkend — so lange kann ihm nichts passieren.
Die so jung verstorbene Mutter hatte dem Kinde oft davon erzählt und auch einen Beweis angeführt, dass dem wirklich so ist.
Welches Geschichtchen freilich das Motto hatte: Kinder, betet, der Vater geht stehlen.
In dem Dorfe, in dem sie ihre erste Jugend verbracht, hatte ein alter Wildschütz gelebt. So lange sich die ältesten Leute entsinnen konnten, hatte der Kerl niemals gearbeitet, immer nur gewilddiebt. Er hätte wohl hundertmal erschossen werden können, tausend Jahre Zuchthaus wären ihm sicher gewesen — aber nein, der Lumich konnte niemals erwischt werden, er wurde nicht erkannt, nicht überführt, alle Förster und Heger schossen immer nur Löcher in die Luft, und wenn der Verfolgte auch von den höchsten Felsen abstürzte, der stand unten wieder auf und lief weiter.
Das machte nämlich, er hatte zu Hause eine brave Frau und auch einige brave, gottesfürchtige Töchter, die egal für ihn nähten, die zerrissenen Hosen flickten, Strümpfe strickten und stopften und dergleichen mehr — und infolgedessen starb der alte Joseph als tadelloser Ehrenmann in seinem Bett eines seligen Todes an Altersschwäche.
So hatte die Mutter der kleinen Agnes oft genug erzählt, wenn auch in anderer Weise.
Und an so etwas musste sie wohl oft denken, denn sie selbst übte diese Praxis aus.
Solange ihr Mann draußen gewesen war, hatte Frau Kapitän Nielsen für ihn genäht. Oder eine ähnliche Arbeit verrichtet. Denn gar so viel Unterzeug konnte er gar nicht verbrauchen, wie seine Frau hätte nähen können, und allzu geflickte Sachen trug er nicht. Dasselbe galt auch für die Strümpfe. Auch bestand Frau Nielsens Hauptfertigkeit und Leidenschaft im Sticken von Hausschuhen. Und Papa Nielsen freute sich immer so sehr, wenn er wieder nach Hause kam und neue Hausschuhe vorfand, gleich einige Paare.
Als Frau Nielsen starb, verfügte Kapitän Nielsen über achtundsiebzig Paar gestickte Hausschuhe.
Das ist ein bisschen viel, aber — hatte es nicht geholfen?
Dem sechzigjährigen Mann fehlte noch heute kein Zahn. Sogar vom üblichen Zipperlein war er als Kapitän verschont geblieben. Dass ihn manchmal die linke große Zehe etwas juckte, das war alles, und das bedeutete für ihn sogar stets etwas Gutes, wie wir gleich hören werden.
Das ist hier humoristisch erzählt worden.
Der nähenden Braut war natürlich nicht humoristisch zumute.
Aber sollte sie nicht an so etwas denken, während sie da saß und nähte und stickte und die Mutter schaute ihr aus dem Rahmen dabei zu?
Es waren ja nicht ihres Verlobten Sachen, an denen sie arbeitete.
Es war ihre eigene Ausstattung.
Aber war es nicht schließlich dasselbe?
Ja, und das Monogramm, das sie überall einstickte, A. R., Agnes Raimund, war es nicht auch der Name des Geliebten?
»Agnes, in vierzehn Tagen bekommen wir etwas von Richard zu hören. Mir juckt wieder die linke große Zehe. Und allemal, wenn die mir juckt, bekomme ich in vierzehn Tagen was Gutes zu erfahren. Pass auf, Agnes, ob ich's nicht erlebe.«
So sprach der alte Nielsen beim Frühstück, aß einen pfundschweren Spickaal auf, und wie er den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte, war er tot. Ein Schlagfluss.
Noch vor dem Begräbnis war eine Tante in das Haus gekommen, eine Stiefschwester des Vaters, nicht viel älter als Agnes, eine junge, kinderlose Witwe, um darin vorläufig zu bleiben. Früher hätte sie keinen längeren Besuch gemacht. Die junge, lebenslustige Witwe, die es sich leisten konnte, musste immer unterwegs sein. Jetzt aber stand die welterfahrene Dame der verwaisten Nichte wacker bei, würde sie nicht eher wieder verlassen, als bis die neuen Verhältnisse geregelt worden waren.
Die vierzehn Tage seit dem Tode des Vaters waren vergangen.
Aber nicht etwa, dass Agnes an die juckende Zehe gedacht hätte. Mit keinem Gedanken, jetzt nicht und später nicht.
Sie harrte täglich und stündlich und überhaupt immer auf eine Nachricht von Richard oder aus Brüssel, aber sie wusste ihre ruhelose Sehnsucht zu verbergen, schaute nicht nach dem Briefträger aus, passte zur bestimmten Stunde nicht auf, ob er am Gartentor stehen bleiben und die Klingel ziehen würde oder nicht, und Tante Martha war verständnisvoll genug, sie nicht mit Fragen und Vermutungen zu peinigen. Denn diese lebenskluge junge Frau durchschaute ihre Nichte ja doch, wusste, wie es in deren Innerem aussah.
So war der Winterabend gekommen, mit dem wir einleiteten.
Der Sturm tobte um das Haus in allen Tonarten.
Das blasse Mädchen ließ die Nähmaschine ruhen, sandte einen Blick zur Mutter empor und griff zum Stickrahmen.
Ein Stuhl und alles verriet, dass noch eine zweite Person an der Brautausstattung arbeitete.
Eben Tante Martha. Aber die war mehr fürs Zerstören als fürs Schöpfen. Sie konnte vorgezeichnete Linien mit der Schere nachschneiden und Heftfaden ausrupfen — weiter hatte sie es in der Schneiderei nicht gebracht.
Jetzt befand sie sich im erleuchteten Nebenzimmer, dessen Tür offen stand.
Jetzt schlug sie auf dem Klavier einige Akkorde an.
»Soll ich Dir etwas vorspielen, meine Agnes?«, erklang ihre kräftige, aber angenehme Stimme
»Ja, bitte, liebe Tante.«
»Was möchtest Du hören?«
»Was Du willst.«
»Da, hörst Du, wie der Sturm wieder heult? Das ist schrecklich. Warte, ich weiß etwas, was zu diesem nächtlichen Sturmesheulen passt.«
Und das Klavier erklang unter ihren kunstfertigen Fingern.
Ja, das passte!
Eine melancholische und doch so wilde Weise, ganz unheimlich!
Und jäh hob Agnes den Kopf und lauschte.
Was war das?
Ja, sie kannte das Stück!
Die Ouvertüre zu der Szene, wie Senta in der Hütte am Spinnrad sitzt, draußen heult der Sturm, die Blitze zucken und die Donner krachen und rollen, und da tritt er auf und ein, der unheimliche Gast, der fliegende Holländer —
Und da durchzuckte Agnes noch eine andere Erkenntnis.
O Wunder!
Aber erst jetzt fiel es ihr ein.
Genau heute vor einem Jahre war es gewesen, da sie in der Oper gesessen hatte.
Ja, sogar die Stunden- und vielleicht die Minutenzeit stimmte!
Als diese unheimliche, wilde und doch so melancholische Melodie das erste Auftreten des fliegenden Holländers begleitet hatte, gerade da hatte der fremde Herr an ihrer Seite — die Liebe ist bei solchen Gelegenheiten nicht wählerisch — sie leise gefragt, ob eine Annäherung erlaubt sei. Ein offenes Ja oder Nein. Er sehe es ihr an, dass er solch eine Frage an sie richten dürfe. Wenn nein, so sei dies sein erstes und sein letztes Wort zu ihr gewesen.
Und das sonst so schüchterne Mädchen hatte einen furchtbaren Donnerschlag mit nachfolgendem Rollen dazu benutzt, um ihm ganz deutlich zu sagen: »Ja! Nach der Vorstellung im Ratskeller, in der Mitte links.«
Merkwürdiger Zufall!
Draußen das Heulen des Sturmes und hier diese Melodie aus dem »Fliegenden Holländer«.
Genau nach einem Jahre zur selben Stunde.
Nun fehlte zu dem Toben und Heulen des Sturmes bloß noch das —
Die Klavierspielerin brach jäh ab.
»Hörst Du es, Agnes?«
Ja, sie hatte es gehört. Auch gesehen. Donnermurren und vor den unverhangenen Fenstern schwache Lichtscheine.
»Das ist doch stark!«, ließ sich Tante Martha wieder vernehmen. »Ein Gewitter in kalter Februarnacht! Na, es kann schon einmal vorkommen. Hui, wie der Sturm wieder pfeift. Da schon wieder Blitz und Donnerrollen, es scheint näher zu kommen. Nun fehlt bloß noch der fliegende Holländer selbst. Wohl, laden wir ihn ein!«
Und sie spielte weiter, dort wo sie abgebrochen war, unverzagt mit voller Kraft einsetzend.
Da aber ein greller Missakkord, dem nichts weiter folgte.
Ein schmetternder Krach, ein ganzes Feuermeer, auch die Stuben erflammen lassend.
»Beim wilden Störtebeker, das hat einschlagen!«
Mit diesem Rufe stand sie im Türrahmen.
Eine hohe, imposante Walkürengestalt.
Auch ihren stolzem, energischen Gesichtszügen nach, die aber doch auch den heiteren Charakter verrieten, war die nicht so leicht einzuschüchtern.
Freilich bei solch einem unvermuteten, krachenden Blitzschlag.
Doch gleich wurde ihre Sorge auf etwas anderes gelenkt.
»Um Gott, Agnes, was ist Dir?«
Ja, deren Aussehen war besorgniserregend, musste erschrecken, und auch ihre Stellung war eine so merkwürdige.
Sie hatte sich vom Stuhle erhoben, stand aber halb geduckt da, das Gesicht schneeweiß, die Augen unnatürlich weit geöffnet, und so starrte sie durch das Fenster.
Die Villa hatte keinen Vorgarten, sie lag direkt an der Straße.
Diese wurde wohl durch Gasflammen erhellt, aber auf der anderen Seite der breiten, mit alten Kastanienbäumen besetzten Straße war es sehr, sehr finster, gerade weil direkt vor dieser Villa hier ein Gasglühlicht brannte, so wurde das Auge geblendet, jenseits der Straße herrschte die schwärzeste Finsternis.
»Ich habe ihn gesehen!«, flüsterten die ganz blass gewordenen Lippen, die sonst so rot und frisch waren.
»Wen?«
»Er ist gekommen!«
»Wer denn nur?«
»Der fliegende Holländer!«
»Ach geh, Agnes!«
»Ich habe ihn gesehen! Ich blickte gerade durch das Fenster, als der Blitz zuckte. Er hat dort in die Kastanienallee geschlagen, ohne zu zünden.
Ich habe ganz deutlich gesehen, wie die feurige Schlange an dem Stamme herabzuckte.
Und dort im Hintergrunde vor Presbers Hause stand er, von blendendem Lichte begossen, der fliegende Holländer!
Eine hohe Gestalt, der Sturm schlug den langen Wettermantel auseinander, ich sah ein Schifferwams, bis an den Leib reichende Wasserstiefel, einen breitrandigen Südwester — und unter diesem ein Männergesicht schön wie ein Dämon und blass wie der Tod — es war der fliegende Holländer!«
»Ach geh, Agnes«, sagte Frau Burg nochmals, »Du hast geträumt! Weil ich Dir das aus dem ›Fliegenden Holländer‹ vorspielte, weil das alles gerade so passte zu dem Sturmesheulen, weil ich nun auch noch sagte, jetzt fehle der fliegende Holländer bloß noch selbst, da hast Du ihn nun in Deiner Einbildung gesehen.
Oder, na ja, dort drüben mag ein Schiffer stehen, der so gekleidet ist, wie Du ihn beschreibst — aber der fliegende Holländer, der nicht sterben kann, ist es sicher nicht. Also der Blitz hat wirklich dort drüben in die Kastanie geschlagen? Na das ist ja famos!
Dann kann uns nichts mehr passieren, denn zwei Blitze werden doch nicht gleich hintereinander auf ein und dieselbe Stelle einschlagen, einen Abstand von einigen hundert Metern werden sie doch wenigstens einhalten.«
Mit diesen Worten hatte Frau Martha Burg vor den beiden Fenstern die Vorhänge zugezogen.
Das entsetzte Mädchen hatte sich schnell wieder beruhigt.
»Aber merkwürdig, wie deutlich ich den Mann gesehen habe in dem Lichte des Blitzes, und mir war, als ob ich ihn lange, lange hätte betrachten können.«
»Das ist gar nicht so merkwürdig oder doch zu erklären«, belehrte sie die Tante.
»Das ist eine Täuschung des Auges.
Warst Du nicht einmal in so einem physikalischen Vortrag?
Da wird auch gezeigt, wie man die Zeitdauer eines elektrischen Funkens berechnen kann.
In einem finsteren Raume dreht sich ein Speichenrad mit rasender Geschwindigkeit.
Man lässt einen elektrischen Funken aufzucken, der das ganze Zimmer erhellt.
Und obgleich der doch nur kaum eine tausendstel Sekunde währt, sieht man doch das Rad sich ganz, ganz langsam drehen, man sieht jede einzelne Speiche, kann sie zählen.
Auf diese Weise wird auch die Zeitdauer des Momentverschlusses einer fotografischen Kamera berechnet und —«
Etwas erschrocken brach Frau Burg, die ihre Nichte durch solche Plauderei ablenken wollte, ab.
Die sehr laute Hausglocke war ertönt.
»Wer kann das sein? Der Briefträger?
Nein, der ist schon vorüber.
Na, wir werden ja gleich sehen.«
Sie öffneten nicht die Korridortür, um es schneller zu erfahren.
Das gab es in diesem Hause nicht, dazu war Dienstpersonal vorhanden, dem nicht vorgegriffen wurde.
Jetzt eine fremde Männerstimme, dazwischen eine ihnen wohlbekannte.
Und jetzt ein sich nähernder Schritt, trotz des weichen Korridorteppichs stampfend, aber eigentlich viel zu langsam stampfend für einen natürlichen Gang. Ihnen ebenfalls wohlbekannt.
Ein Klopfen, und ohne das Herein abzuwarten, durfte er eintreten, der alte Bertram, das Faktotum des Hauses.
Er war ein halbes Menschenalter der Bootsmann von Kapitän Nielsen gewesen, bis ihm eine brechende Trosse das rechte Bein abgeschlagen hatte. Er trug einen hölzernen Stelzfuß, von einem künstlichen, mehr natürlich aussehenden Ersatz wollte er nichts wissen, auf diesen Stelzfuß war er stolz, weil er mit absichtlicher Aufopferung seines Beines seinem Herrn das Leben gerettet hatte.
Es war ein Kerl ganz von Eisen, der sonst noch ganz rüstige Alte.
Nur seit vierzehn Tagen war sein wetterhartes Gesicht plötzlich recht eingefallen.
Und jetzt war es ganz unwirsch.
»Da ist ein Mann. Ick gläuw, 's ist der fliegende Holländer!«
Ein unterdrückter Schrei aus Agnes' Munde.
»Habe ich es nicht gesagt! Und er kommt zu uns!«
Die Tante machte eine energische Handbewegung.
»Red keinen Unsinn, Bertram!«
»Genau so sieht er aus. Er hat's auch schon im Namen, dass er bis in alle Ewigkeit verdammt ist.«
»Im Namen?«
»Vandammen tut er heißen.«
»Ein ganz gewöhnlicher Name im wasserreichen, eingedeichten Holland. Von den Dämmen.«
»Ja eben, es ist ein Holländer, und dass er der fliegende ist, hat er auch in den Augen.«
»In den Augen?«
»Mit dem rechten blickte er mich an und mit dem linken sah er zur Decke. Und dann sah er mich mit dem Linken an und mit dem rechten blickte er auf seine Stiefelspitzen. Er kann jedes Auge drehen wie er will.«
»Sehr bedauerlich. Ja, was will er denn nur?«
»Fräulein Agnes Nielsen sprechen. Sogar den Vornamen hat er gesagt. Er kommt aus Afrika, vom Kongo.«
Agnes musste sich schnell setzen, presste die Hand aufs Herz.
»Von Richard!«, flüsterte sie.
»Herein mit ihm!«, entschied die energische Tante schnell. »Oder halt — ist es eine gute Kunde, die er bringt?«
»Er sagt gar nichts weiter. Er käme vom Kongo und wolle Fräulein Agnes Nielsen sprechen. Aber das sage ich Ihnen gleich: Traut dem Manne nicht. Der sieht gar nicht danach aus.«
»Herein mit ihm! Wir empfangen ihn hier.«
Und er trat ein.
Ja, Agnes hatte in dem momentanen Flammenschein ganz, ganz richtig gesehen, wir können die Beschreibung nur wiederholen.
Eine sehr große, schlanke, aber breitschultrige Männergestalt, der nur lose übergehangene Wettermantel aus grobem Stoff, der Firnisüberzug schon stark abgeschabt, zeigte darunter das abgetragene Schifferwams, eine schwarze, enganliegende Wolljacke, die Hosen verschwanden ganz in ziemlich neuen Seestiefeln, bis an den Leib heraufgezogen, auf dem Kopfe einen sehr breitrandigem, etwas heruntergeklappten Südwester.
Und nun unter diesem ein ganz auffallendes Gesicht. Das man nicht wieder vergaß, wenn man es einmal gesehen hatte.
Von einer geradezu dämonischen Schönheit. Dazu gehörte auch die starke Abgelebtheit der hageren Züge. Hohläugig und hohlwangig und dennoch schön. Eine unheimliche Schönheit. Manches Weib, wenn nicht die meisten Weiber, sofort berückend — ein reines Wesen freilich wurde entsetzt zurückgestoßen. Vor den wilden, zügellosen Leidenschaften, die in diesem Manne tobten, wenn sie jetzt auch ruhten, seinem eisernen Willen gehorchend.
Dieses Gesicht war furchtbar blass, ganz farblos. Wenigstens im Scheine des weißen Gasglühlichtes, welches das Zimmer erfüllte. Bei Tageslicht mochte es gelb sein, wachsfarbig. Offenbar hatte dieser Mann das gelbe Fieber durchgemacht, das nicht umsonst diesen Namen führt, hatte es glücklich überstanden, war immun geworden. Das heißt, er konnte nicht zum zweiten Male vom gelben Fieber befallen werden. Man kann aber diese mörderliche Krankheit schon einmal durchgemacht haben, ist wieder vollständig genesen, bekommt wieder ein gesundes, frisches Aussehen — dann jedoch kann man zum zweiten Male davon befallen werden. Anders ist es, wenn die gelbe Hautfarbe zurückbleibt. Dann ist man immun geworden, gegen weitere Ansteckung geschützt. Merkwürdig ist, dass man dann aber auch von der heißesten Sonne nicht mehr gebrannt wird. Es hängt eben mit einer Blutveränderung zusammen, die dann immer bestehen bleibt. Der Stoffwechsel wird ein anderer. So liegt ja auch die schwarze Farbe des Negers, sowie überhaupt aller sogenannten farbigen Völker, nicht eigentlich, wie man früher angenommen hat, im Hautgewebe, sondern in der besonderen Zusammensetzung des Blutes, das ja nun freilich diese Haut bildet. Aber ein schwarzer Neger bleicht doch nicht etwa aus, wenn er sich immer im Zimmer aufhält. Die Bildung der dunklen Haut geschieht von innen heraus.
Mag diese Beschreibung genügen. Wir sprechen mit Absicht nicht von einem Barte.
Dass sich die tiefliegenden oder mehr hohlliegenden Augen, von dunklen Ringen umgeben, unabhängig von einander bewegen konnten, davon war jetzt nichts zu bemerken.
Vielleicht dass jedes einzeln die beiden Damen betrachtete, aber diese standen dicht zusammen.
Dagegen war deutlich zu erkennen, dass das rechte Auge dunkelblau, das linke hellgrau war, was aber nun auch wieder dem Blick und dem ganzen Gesicht einen ungemein faszinierenden Ausdruck gab.
Er schien durchaus nicht linkisch zu sein, wenn er auch nicht den Hut abnahm.
Aber es gibt Situationen, bei denen es gar nicht darauf ankommt, ob man den Hut abnimmt oder auf dem Kopfe behält, bei denen man so etwas gar nicht erwähnen dürfte.
Ganz ungezwungen stand er da, die linke Hand, ungemein kräftig, von Adern und Sehnen starrend, aber doch von keiner schweren Arbeit zeugend, sogar wohlgepflegt, sogar eine sehr schöne Hand, herabhängend und zwanglos etwas den Rand des Wettermantels gefasst haltend, die rechte Hand etwas vorstreckend.
Man musste an einen erstklassigen Schauspieler denken, der gestern als weltgewandter Salonlöwe aufgetreten ist, heute ist ihm die Rolle eines armen, rauen Schiffers zugefallen, aber immer als Hauptrolle, nicht als Statist.
»Ich sehe zwei Damen in tiefer Trauer«, sagte eine tiefe, wohllautende Stimme in sehr langsamem Tone. »Sie können doch nicht schon wissen —«
Er machte eine kleine Kunstpause.
.»Was können wir noch nicht wissen?«, fragte Frau Burg schnell. »Sprechen Sie es frank heraus!«
Agnes aber war stöhnend auf einen Stuhl gesunken.
»Die Dame hat schwache Nerven —«
»Nein, das hat sie nicht, ich kenne sie besser! Und jetzt ist sie schon vorbereitet, sie braucht es nicht zum zweiten Male zu werden. Es ist Fräulein Agnes Nielsen, die Sie sprechen wollten. Sie kommen vom Kongo? Haben Sie etwas über die LeopoldExpedition zu berichten? Über Doktor Richard Raimund? Es ist der Bräutigam dieser Dame, meiner Nichte. Sprechen Sie!«
»Richard — ist — tot!«, hauchte das junge Mädchen, die starren Augen auf den Mann geheftet.
Und der Mann hob langsam die rechte Hand, nahm langsam den Südwester ab und senkte langsam das Haupt.
Es war also kein einfacher Schiffer. So hätte kein einfacher Schiffer gemimt. Es war sogar eine ganz theatralische Geste gewesen.
»Tot!«, schrie Agnes auf.
»Von einem verwundeten Büffel angenommen«, sagte die tiefe, langsame Stimme. »Die Brust wurde ihm eingedrückt, ehe er befreit werden konnte — er starb in meinen Armen — leicht und schmerzlos.«
Ein Seufzer — Frau Burg stand schon bereit, um die Nichte zu halten, dass sie nicht vom Stuhle glitt.
Sie hatte es kommen sehen — aber es war nicht zu vermeiden gewesen — so oder so.
Klingeln, Laufen, Rennen, ein Stuben- und ein Dienstmädchen, dazu noch eine dicke Köchin, die erst recht heulte, ein einarmiger Hausbursche, der zum nahen Arzt geschickt wurde, weil es kein Telefon gab — dann wurde die Ohnmächtige gleich auf dem Stuhle mit vereinten Kräften hinausgetragen, um ins Bett gebracht zu werden.
Frau Martha Burg dirigierte wie eine Kommandeuse.
»Ich komme wieder«, sagte der Fremde, als auch sie sich dem allgemeinen Zuge durch die Tür anschließen wollte.
Die wandte sich.
»Nein, bitte, bleiben Sie! Ich möchte gleich noch alles hören.«
Der Fremde war allein in dem Zimmer.
Tief atmete seine hochgewölbte Brust auf.
»Verdammt, dass gerade ich diesen heiklen Auftrag bekam! Wenn sie mir nur wenigstens einen anderen Namen gegeben hätten als dieses höllische Vandammen, ich muss denen ja geradezu wie der fliegende Holländer vorkommen!«
Jetzt zeigte sich seine krankhafte, aber manchmal recht nützliche Veranlagung.
Sein rechtes, dunkelblaues Auge war auf die offen gebliebene Tür geheftet, das linke, hellgraue musterte unterdessen den Damenschreibtisch, auf dem es ziemlich wild aussah, viele beschriebene Briefe waren darüber verstreut.
Aber es war kein Schielen. Er konnte jedes Auge ganz selbstständig für sich bewegen.
Da beugte er sich etwas vor, um einen offen daliegenden Brief besser lesen zu können, das andere Auge fixierte noch schärfer die Tür.
Nur wenige Zeilen.
An Frau Martha verwitwete Burg, Hochwohlgeboren.
Ob sie dem Unterzeichneten nicht wieder eine Auswahl Diamanten zusenden könne. Er habe wieder starken Bedarf, besonders an recht großen.
»Diamantenhändlerin ist die?«
Ja, das war sie. Nebenbei.
Ihr Gatte war Juwelier gewesen, hatte dann, als er krankheitshalber das offene Geschäft verkaufen musste, nebenbei etwas Diamantenhandel betrieben.
Er hatte dabei immer seine Frau zu Rate gezogen.
Vielleicht hatte er sie deshalb nur geheiratet.
Das Beurteilen und Abschätzen von Diamanten und anderen Edelsteinen ist ja eine eigentümliche Sache.
Mancher Juwelier kann's nicht, lernt es nie, und ein anderer braucht nur einmal hineingesehen zu haben in dieses Geschäft und er kann's, er irrt sich nie.
So ist bei diesem Geschäft sehr viel Geld zu verdienen — aber auch sehr schnell sehr viel Geld los zu werden.
Frau Martha Burg war im Taxieren von Edelsteinen ein geborenes Genie, und die junge Witwe reiste nicht zum Vergnügen und aus rastloser Zerstreuungssucht aus einem Bad ins andere, besonders immer zwischen Ostende und Monte Carlo hin und her.
Dort möchte man manchmal sehr gern einen oder gleich alle Diamanten und Rubine und Smaragde, die man an den Fingern und in den Ohren oder sonst wo trägt, in bares Geld verwandeln. Ach, und was da in diesen Spielhöllen von den betreffenden Händlern, die sich meist von ganz allein melden, für Schundpreise geboten werden!
Wer das Glück hatte, darauf aufmerksam gemacht zu werden, und es handelte sich um ein Objekt nicht unter 3000 Mark, brauchte nur an einen Hamburger Rechtsanwalt zu telegrafieren — Burg, Monte Carlo, Hotel Paris — und in spätestens vierundzwanzig Stunden war sie zur Stelle, gleichgültig wo in Deutschland, Frankreich oder Italien sie sich auch gerade befand. Dabei kam es ihr auch gar nicht darauf an, wenn das Geschäft die lange Fahrt erster Klasse einmal nicht lohnte. Dann wusste sie schon andere Geschäfte zu machen.
Man kannte sie. Sie ließ nicht mit sich feilschen, bot aber auch gleich mindestens dreimal so viel wie der lauteste Diamantenjude.
Und diese kannten sie natürlich ebenfalls, hassten sie aus grundehrlichem Herzen, hätten ihr gar so gern das Handwerk gelegt. Aber, aber —
Es ist nicht so leicht, so nebenbei mit Diamanten zu handeln. Dazu genügt die Erfahrung und das nötige Geld noch nicht. Diese internationalen Diamantenschacherer bilden doch — ganz selbstverständlich — auch so eine »schwarze Bande«, die fest zusammenhält, so wie die Wenigen, die bei den Auktionen alles erstehen, niemand anders zum Bieten kommen lassen. Und wer nicht zu ihnen gehört, was aber nicht so einfach ist, dem haben sie doch bald das Geschäft verekelt.
Auch mit Madame Burg hatten sie es tun wollen. Diese schutzlose Witwe — was wollte die denn machen.
Aber gerade bei der waren sie einmal an die Unrechte gekommen.
Die schutzlose Witwe hatte einmal solch einen Diamantenschacherer mit der Hundepeitsche windelweich karbatscht, und dann war der Verprügelte auf ihre Klage hin vom Gericht auch noch dazu verurteilt worden, ihr wegen Geschäftsschädigung 5000 Franken und wegen böswilliger Verleumdung 1000 Franken in die Armenkasse zu zahlen.
Das hatte genügt. Seitdem ging diese ganze internationale Bande — Wucherer und Halsabschneider, weiter sind es nichts — der imposanten Dame mit dem sanften Namen Martha scheu aus dem Wege.
Sie hatte es nicht nötig, diesen Diamantenhandel. Ihr Gatte hatte ihr ein sehr großes Vermögen hinterlassen. Aber sie musste arbeiten, musste reisen, am liebsten schlief sie im Eisenbahncoupé.
Mit ihrem Stiefbruder, dem Kapitän Nielsen, hatte sie sich sehr gut gestanden. Aber sie hatte ihn alle Jubeljahre nur einmal sprungweise besucht. Zu so etwas hatte sie keine Zeit.
Aber als nun ihr Stiefbruder gestorben, da war sie unaufgefordert sofort herbeigeeilt, um der unerfahrenen Nichte mit Rat und Tat beizustehen, und sie war bereit, ein halbes Jahr und noch länger in dem verwaistem Hause zu bleiben.
Dies spricht wohl am besten für ihren Charakter.
Von alledem wusste der Fremde ja nichts.
Er hatte nur jene wenigen Zeilen gelesen.
»Eine Diamantenhändlerin ist die? Das passte ja famos!«
Jetzt kam wohl der Arzt.
Und bald trat sie wieder ein, die imposante Dame.
Sie hauchte einmal auf ihr Taschentuch, drückte es gegen die Augen, und dann war ihr nicht mehr viel anzumerken.
»Es ist nichts weiter. Kein Nervenschock. Bitte nehmen Sie Platz, Herr van — wie war gleich der werte Name?«
»Vandammen. In einem Wort geschrieben. Ist das holländische ›van‹ überhaupt schon kein Adelsprädikat, so bei meinem Namen erst recht nicht.«
»Bitte nehmen Sie Platz, Herr Vandammen.«
Wie er sich setzte, das verriet dem kundigen Auge wiederum gleich den salongewandten Mann, der in einer sehr abstrapazierten Schifferkleidung steckte. So tragen sich die Lotsen.
»Darf ich Ihnen etwas anbieten?«
»Ich danke, nein.«
»Wenigstens ein Glas Wein? Wir haben einen vorzüglichen Port.«
»Ich trinke gar nicht.«
»Nicht? Temperenzler? Wohl, Ansichten. Nun, bitte, wollen Sie ausführlich erzählen.«
Ohne Weiteres begann er.
»Es ist vor acht bis zehn Wochen gewesen.
Weshalb ich den Termin so schwer bestimmen kann, werde ich dann sagen.
Ich habe lange genug meinen Kopf anstrengen müssen, um mir nur diese acht bis zehn Wochen ausrechnen zu können.
Ich jagte am Okwahalasee, den sie den Leopoldsee nennen.
Mehr noch war ich zurzeit auf der Fährte eines Schwarzen, der mir mein Kanu gestohlen hatte.
Ich hatte als einzige Waffe nur noch mein Jagdmesser bei mir.
Da hörte ich in der Urwaldstille einen Schuss fallen.
Ich ging dem Schalle nach, erreichte eine große Blöße und sah, wie auf dieser ein Mann, ein weißer Jäger, von einem am Kopfe blutenden Büffel gehetzt wurde.
Und da kann man, wenn das Tier schon so nahe ist, nicht zum zweiten Male zum Schuss kommen.
Abgesehen davon, dass er im zweiten Laufe nur Vogelschrot hatte.
So hatte er denn ganz richtig das Gewehr fallen lassen, um schneller rennen zu können.
Aber einen schützenden Baum vermochte er nicht mehr zu erreichen.
Er schlug wohl Haken, aber ich erkannte gleich den Unerfahrenen.
Ich sprang hin, hob sein Gewehr auf, rief ihm zu, auch seinen Patronengürtel fallen zu lassen, aber er hörte oder verstand mich nicht.
Ich tat mein Möglichstes, um das wütende Tier von ihm abzulenken, aber es war schon zu spät.
Es erreichte ihn, nahm ihn auf die Hörner und schleuderte ihn hoch.
Dabei platzte sein Gürtel, er fiel mir vor die Füße.
Ich eine Kugelpatrone heraus, den Lauf geladen.
Ein Augenschuss brachte den Büffel sofort zur Strecke.
Da aber hatte er den Mann bereits zu Brei zerstampft. Doch nein. Ich musste nur erst so glauben.
Der Mann hatte gerade auf sehr weichem Boden gelegen, war tief eingetreten worden.
Ich beschäftigte mich mit ihm.
Äußerlich keine Verletzungen, aber freilich — Blut vor dem Munde.
Er war besinnungslos. Ich fand Papiere bei ihm.
Doktor Richard Raimund, Hamburg.
Weiter musste ich schnell erkennen, dass er zu einer LeopoldseeExpedition gehörte.
Ich wusste nichts von einer solchen, hatte noch kein Anzeichen bemerkt, dass sich noch andere weiße Menschen in der Nähe aufhielten.
Ich selbst hatte einige Wunden, und wie ich sie hier verbinden konnte, das genügte nicht.
Ich musste schleunigst nach meiner Jagdhütte, die allerdings ziemlich weit entfernt war.
Und den Mann konnte ich doch nicht hier liegen lassen.
Ich trug ihn hin.
Erst am anderen Tage kam er wieder zum Bewusstsein.
Er sagte, er fühle keine Schmerzen. Aber zu transportieren war er nicht. Sobald man ihn aufheben wollte, schrie er laut. Dagegen betone ich nochmals, wenn er ganz ruhig lag, war er ganz schmerzensfrei. So versicherte er, und es war ihm zu glauben.
Ich betone dies zu Ihrer Beruhigung.
Außerdem war ich selbst gar nicht marschfähig, hätte keine Hilfe herbeiholen können.
Ich pflegte ihn, so gut ich konnte.
Am dritten oder vierten Tage — bei so etwas vergisst man sehr leicht die Tage zu zählen — bekam er einen Blutsturz.
Er brachte eigentlich keine große Veränderung bei ihm hervor, aber er behauptete, jetzt sei es vorbei mit ihm, er fühle seinen Tod kommen.
Er habe zu schreiben. An die Expedition und — nach Hamburg.
Ob ich nun freilich den Expeditionsdampfer dann auffinden würde, das war ja sehr die Frage, zumal noch einige Zeit vergehen würde, ehe meine eigenen Wunden geheilt sein würden.
Nun hatte ich aber dem Doktor bereits gesagt, dass ich gedächte, demnächst selbst nach Europa zu gehen und zwar sehr wahrscheinlich nach Bremen oder Hamburg.
Ans welchem Grunde, das werde ich Ihnen später berichten.
Also betrachtete mich Doktor Raimund von vornherein als persönlichen Überbringer des Briefes an seine Lieben.
Papier und Schreibzeug hatte er bei sich.
Mit noch ziemlich fester Hand schrieb er ihn.
Der Büffel nahm den Naturforscher auf die
Hörner und schleuderte ihn hoch in die Luft.
Eine halbe Stunde darauf wieder ein Blutsturz, er verschied sanft —
Ich begrub ihn —«
Der Erzähler machte eine Pause. Und Frau Martha Burg war nicht etwa so ein eisernes Weib. Sie war furchtbar erschüttert.
»Und der Brief?«, flüsterte sie jetzt.
»Bitte, gestatten Sie mir erst, dass ich noch etwas anderes berichte. Nun muss das Schreckliche gleich ganz von meinem Herzen.«
»Schreckliches? Noch Schrecklicheres?«
»Vielleicht nicht für Sie.
Wie lange ich brauchte, bis ich wieder so weit war, dass ich den Marsch antreten konnte — ein Kanu besaß ich ja nicht mehr — weiß ich nicht.
Ich erreichte den Tumbasee, umging ihn zu Fuß.
Und da eines Tages sah ich plötzlich vor mir einen Dampfer.
Leopold II. las ich an seinem Heck — er war es.
Aber wo sah ich ihn, in welcher Lage!
Es war der Mschanirofall, der dort erbrauste — derselbe, den mir Dr. Raimund so genau beschrieben, mit glücklichem Lächeln erzählend, dass er zu Ehren seiner Braut jetzt der Agnesfall heiße.
Ein fürchterlicher Wasserfall!
Der Dampfer hatte sich ihm damals stromauf genähert, jetzt aber kam die Expedition aus dem Leopoldsee, war stromab gefahren, sie wussten nicht, dass sie sich auf demselben Gewässer befanden, dass sie diesen Fall vor sich hatten.
Und als sie es erkannten, da war es schon zu spät.
Fürchterlich keuchte der Raddampfer gegen die immer reißender werdende Strömung an.
Vielleicht wäre es ihm doch noch gelungen, sie zu überwältigen.
Da aber brach ein Rad.
Und ich sehe noch, wie der Dampfer sich dreht.
Und ich sehe noch, wie einige Menschen über Bord springen, ganz sinnloser Weise, aber sie glauben eben, sich so retten zu können.
Und ich höre noch das vielstimmige Schreien der Verzweiflung.
Und der Dampfer tanzt weiter und weiter und — wirbelt hinab in die tosenden Strudel zwischen die Riffe und Klippen —«
Wieder machte der Erzähler eine Pause.
Und er verstand zu erzählen.
Besonders das letzte, mit welcher Anschaulichkeit er das geschildert hatte! Und zwar ohne jede Geste! Nur durch Stimme und Tonfall.
Weit hatte die Zuhörerin die an sich schon auffallend großen, sehr schönen Augen geöffnet.
»Und?«, hauchte sie. »Konnten sie sich doch noch retten? Durch Schwimmen?«
»O, Madame! Der Mschaniro ist kein Sambesifall. Nicht einmal ein Niagarafall. Aber es ist eben der Mschaniro. Dieses Wort heißt so viel wie Vernichtung. Wenn Sie ihn sehen würden — diese kochenden Strudel — diese Klippen — diese Riffe — da bleibt kein Brett ganz, es wird in lauter Späne und in Mehl zermalmt. Nein, der Mschaniro gibt nichts wieder heraus. Alles, alles tot, verschwunden für immer.«
»O mein Gott!«
Und die großen Augen schlossen sich, die eine Hand legte sich darüber.
Die Vernichtung dieser ganzen Expedition erschütterte sie weit mehr als die zuerst vernommene Kunde von dem Tod dessen, der ihr viel näher stand.
Da war der Schmerz, hauptsächlich wegen ihrer armen Nichte, vielleicht gar zu groß gewesen.
Oder da hatte sie sich eben nicht werfen lassen dürfen, um ihrer Nichte beistehen zu können.
Jetzt aber wurde sie ganz überwältigt, sie schien fast zusammenbrechen zu wollen.
Doch bald raffte sie sich wieder auf, nahm die Hand von den Augen und streckte sie aus.
»Und der Brief?«
Er kam unter dem Wams zum Vorschein.
Ein zusammengefaltetes Blatt Papier, arg, arg mitgenommen, aber doch dasselbe Papier, wie es Dr. Raimund als Taschenbriefformat bei sich gehabt hatte, mit seiner violetten Tinte beschrieben.
Die Schriftzüge waren ja etwas unsicher, aber doch sofort als die seinen erkenntlich.
Herr Kapitän Nielsen, der Sie mir wie ein Vater waren!
Meine liebe, liebe, arme Agnes!
Lasst Euch von dem Überbringer dieses, Michael Vandammen, alles erzählen. Nur eines will ich noch hinzusetzen, was er Euch wahrscheinlich verschweigen wird. Weil er zu bescheiden ist. Dieser Mann hat das Möglichste getan, um mich zu retten. Immer wieder hat er sich zwischen mich und den Büffel geworfen, um ihn von mir abzulenken. Er ist ihm mit dem bloßen Messer zu Leibe gegangen. Er selbst hat dabei fürchterliche Wunden davongetragen. Und trotzdem, selbst ganz zerfleischt, von Blutverlust erschöpft, ganz notdürftig verbunden, hat er mich doch meilenweit auf dem Rücken getragen bis zu seiner Hütte.
Und dort hat er mich tagelang gepflegt, wie nur eine Mutter ihr Kind pflegen kann. Obgleich er selbst sich vor Schwäche kaum auf den Füßen halten konnte, von Schmerzen gequält, immer im Kampfe mit dem Wundfieber! Bitte, tut das an ihm, was ich an ihm getan hätte. Vergeltet es ihm durch Eure Dankbarkeit —
Lebt wohl, Ihr meine Lieben! Ich fühle meinen Tod kommen. Trauert nicht viel um mich. Ich habe keine Schmerzen gehabt. Ich werde auch einen sanften Tod haben. Gott wird mir ein gnädiger Richter sein.
Euer Richard.
Frau Burg musste den Brief schon längst gelesen haben.
Sie starrte noch immer auf das Blatt, lange, lange Zeit.
Dann faltete sie es langsam zusammen und legte es auf den Tisch.
Und dann folgte eine stumme Pantomime.
Eine ganz seltsame Pantomime.
Sie wäre nur theatralisch wiederzugeben. Vorher aber, ehe sie geschildert wird, sei noch etwas nachträglich erwähnt.
Während der Holländer erzählte, hatte er seine Augen immer fest auf das Gesicht der Zuhörerin geheftet gehabt.
Frau Burg hingegen war seinen Augen immer ausgewichen, hatte überall anderswohin gesehen, nur nicht in sein Gesicht.
Obgleich diese junge Witwe sicher kein böses Gewissen hatte.
Sie hatte einfach gemerkt, dass ihr Gegenüber seine beiden Augen doch nicht richtig zusammenhalten konnte, wenn sie auch auf sie gerichtet waren, es war ihr fatal, dieses Gebrechen beobachten zu müssen — da hatte sie mehr aus Zartgefühl immer ihre Augen umherschweifen lassen, als sei das so ihre Gewohnheit.
Und dann ferner, diese Diamantenhändlerin trug gar keinen Schmuck, auch keinen Ring an ihren schönen Händen, gar nichts.
Um ihren Hals schlang sich eine schwarze, ganz einfache Schnur, vorn auf der Brust herablaufend und seitwärts verschwindend.
Jetzt, nachdem sie den Brief weggelegt hatte, griff sie an dieser Schnur entlang, zog daran, und seitlich aus ihrem schwarzen Kleide, wo man aber gar keine Tasche vermutete, kam eine langstielige Lorgnette zum Vorschein.
Sie ließ die Gläser herausspringen, brachte sie vor ihre Augen.
Und so musterte sie den ihr gegenübersitzenden Mann, nur sein Gesicht, ihm immer fest in die Augen blickend.
Lange, lange Zeit.
Und darin eben lag das ganz, ganz Seltsame.
Es gehört überhaupt schon etwas dazu, extra eine Brille oder einen Klemmer oder eine Lorgnette vor die Augen zu bringen und einen fremden Menschen, der einem gegenübersitzt, wortlos anzustarren, und dies nun auch noch ausgeführt von einer jungen, eleganten Dame.
Und das Merkwürdige lag nun auch besonders noch darin, dass sie seinen Augen während seiner viertelstündigen Erzählung ständig ausgewichen war, und jetzt plötzlich holte sie das Versäumte so gründlich nach, starrte ihm unverwandt direkt in die Augen.
Wie lange sie das tat, das hätte niemand taxieren können, der dabei nicht die Uhr mit dem Sekundenzeiger beobachtete.
Denn es gibt Situationen, bei denen man die Zeitdauer gar nicht abzuschätzen vermag.
So zum Beispiel wenn man den Atem anhält, womöglich unter Wasser, beim Tauchen, wenn man nach unten schwimmt, um den Grund zu erreichen, ohne dabei die Sekunden zu zählen.
Da soll dann einmal jemand sagen, wenn er nach Luft schnappend wieder auftaucht, ob er zehn Sekunden oder hundert Sekunden unter Wasser gewesen ist. Das heißt, wenn er dabei an etwas anderes gedacht hat.
Bei diesem Tauchen weiß man aber doch wenigstens, dass man es länger als eine Minute schwerlich aushalten kann.
Bei diesem unverwandten Anstarren hier war das aber noch etwas ganz, ganz anderes.
Der so fixierte Mann hätte dann sicher nicht sagen können, ob das nur zehn Sekunden oder zehn Minute gedauert hätte.
Doch für ihn gab es überhaupt gar keine Zeit mehr, für ihn war die Ewigkeit angebrochen — die unfassbare Ewigkeit, von der sich nur der ungefähr eine Vorstellung machen kann, der einmal plötzlich das Bewusstsein verloren hat, im nächsten Augenblick erwacht er wieder mit ganz klarer Besinnung, und dann kann er es unmöglich glauben, dass er einige Stunden ohnmächtig dagelegen hat. Denn für ihn ist es einerseits nur ein einziger Moment gewesen, anderseits aber eine Ewigkeit von unbegrenzter Zeitdauer.
Und nun drehte sich die ganze Sache auch noch in anderer Weise herum. Jetzt war es der Holländer, der seine Augen wandern ließ, weil er denen der Dame ausweichen wollte.
Aber nun wie er das machte!
Erst schickte er sein linkes Auge auf Reisen, nur mit dem rechten den so fest auf ihn gerichteten Blick aushaltend.
Aber diesem rechten Auge wurde es zu viel, es konnte den starren Blick nicht ertragen, und so benutzte er lieber das linke, dafür das rechte im Zimmer herumwandern lassend.
Aber auch das linke Auge war nicht geeignet dazu, mit dem rechten wollte er es nicht erst wieder versuchen, und so wanderten jetzt beide herum, immer durch das ganze Zimmer, von einer Wand zur andern, sie betrachteten den Deckenstuck und das Teppichmuster, aber immer gleichzeitig, das heißt jedes Auge für sich, unabhängig vom andern.
Und nun auch sonst die schreckliche Verlegenheit, die sich dieses Mannes bemächtigte.
Zuerst wurde er nur etwas unruhig.
Dann begann er auf seinem Stuhle zu rutschen.
Dann wusste er nicht mehr, wo er seine Hände hin tun sollte, er fingerte an seinen Taschen herum.
Dann machte er dasselbe auch mit den Füßen, konnte sie nicht ruhig halten, wusste nicht, wohin er sie setzen sollte.
Dann fing er förmlich zu zappeln an.
Und schließlich wand er sich auf seinem Stuhle wie ein Wurm.
Und dabei traten auf seiner hohen, wächsernen Stirn immer dickere Schweißtropfen hervor. Obgleich es gar nicht so warm im Zimmer war.
Dieser seiner schrecklichen Verlegenheit war er sich bewusst, wollte aber doch nichts davon wissen.
Er suchte nach einem Entschuldigungsgrund, wollte diese schreckliche Verlegenheit bemänteln, und so fing er zu schwatzen an.
»O, Madame, es ist mir so fatal — dieser Brief — ich habe ihn doch natürlich gelesen — ja, es ist ja wahr — aber — ich habe doch nur getan, was ich tun musste — nur meine Pflicht und Schuldigkeit — aber — es ist mir fatal — am liebsten hätte ich den Brief gar nicht abgegeben — aber das musste ich doch — seine letzten Zeilen — ich konnte doch auch nichts daran ändern — das wäre doch gleich aufgefallen — überhaupt, das geht doch gar nicht — aber was Dr. Raimund da über mich sagt — es ist mir so schrecklich fatal — ich bin eben nicht so — ich bin ein guter Kerl, weiter nichts — und ich konnte es aushalten — aber nun hier so in alle Himmel erhoben zu werden — es ist mir entsetzlich fatal —«
»Sie sind ein edler Mensch, Mijnheer Vandammen.«
Mit diesen Worten nahm Frau Burg die Gläser von den Augen, klappte sie ein und ließ die Lorgnette wieder verschwinden.
Und sofort war die seltsame Schwäche vorüber, sofort hatte sich der Mann vollkommen wieder in seiner Gewalt, konnte jetzt auch den Blick der unbewaffneten Augen ganz ruhig aushalten.
Also wie lange das gewährt hatte, konnte er unmöglich beurteilen.
Nicht, wie lange er so geschwatzt hatte.
Nur davon war er fest überzeugt, dass er einen ganz plausiblen Grund hervorgebracht hatte, um seine schreckliche Verlegenheit zu bemänteln.
Von den dicken Schweißtropfen, die noch auf seiner Stirn standen, schien er nichts zu wissen. Sonst hätte er doch wohl einmal ein Taschentuch oder den Jackenärmel oder nur die Hand benutzt, um sie zu entfernen.
»Sie sind ein edler Mensch, Mijnheer Vandammen.«
»Ich habe nur getan, was ich tun konnte und musste, was meine Pflicht und Schuldigkeit war.«
»Sie werden unsere Dankbarkeit kennen lernen.«
»Bitte, Madame —«
»Ja, wir wollen nicht mit Worten darüber sprechen. Also Sie sind sehr schlimm verwundet worden?«
»Ich kam mit den Hörnern des Büffels mehrmals in Berührung.«
»So sehr, sehr schlimm verwundet worden?«
Er streifte den gestrickten elastischen Ärmel des Linken Armes bis etwas über den Ellbogen auf, auch gleich mit das Hemd, wenn er eins anhatte.
Es war ein breiter, von Muskeln, Sehnen und Adern starrender, aber noch immer schön geformter Arm, der zum Vorschein kam, wie aus gelbem Marmor gemeißelt oder wie aus Messing gegossen.
An der Seite zog sich, dicht über dem Handgelenk beginnend, eine tiefe, rote Narbe hin, bis über den Ellbogen hinauf, so weit er eben den Ärmel zurückgestreift hatte.
Allerdings eine furchtbare Narbe!
Man konnte in die Furche den ganzen Finger legen.
Die Wunde schien gut geheilt zu sein, aber als Narbe machte sie doch einen ganz frischen Eindruck.
»Bis hierher«, sagte er, die rechte Hand auf die linke Schulter legend.
»O weh, o weh!«, flüsterte Frau Burg wahrhaft entsetzt.
»Und hier ebenso, vielleicht noch schlimmer.«
Er strich sich am linken Bein vom Knie bis zur Hüfte hinauf.
»O weh, o weh! Sie armer, bedauernswerter Mann! Was müssen Sie ausgestanden haben! Und da konnten Sie den Mann auch noch tragen?«
»Es musste sein. Dort konnten wir nicht liegen bleiben. Er nicht und ich nicht. Ich hatte etwas bei mir, um mich zu verbinden, konnte wenigstens das Blut stillen, und dann ging es los.«
»Meilenweit?«
»Na, wenigstens acht Stunden musste ich marschieren. Die Ruhepausen abgerechnet.«
»Und das brachten Sie noch fertig?«
»Marschieren, sagte ich. Ich selbst konnte mich kaum noch schleppen.«
»O, was sind Sie für ein herrlicher —«
»Bitte, Madame —«
»Ist denn keine Steifheit zurückgeblieben?«
»Glücklicherweise nicht. Gehinkt habe ich ja allerdings lange genug, auch den Arm konnte ich wochenlang gar nicht bewegen, aber es hat sich alles wieder gemacht.«
»Gott sei Dank!«
Frau Burg griff wieder nach dem Briefe, aber sie nahm ihn nicht, um ihn nochmals zu lesen, sie spielte nur so mit dem auf dem Tische liegenden Papier, in Gedanken versunken.
Dann zog sie die Hand schnell zurück und blickte wieder ihr Gegenüber an, und der Fremde brauchte seine Augen nicht mehr wandern zu lassen.
»Nur eins ist mir ganz unklar.«
»Bitte?«
»Sie müssen mir etwas erklären.«
»Gewiss, wenn ich kann.«
»Wie haben Sie denn nun die Reise bis hierher zurückgelegt?«
»Von Urranga aus mit einem Flussdampfer den Kongo hinab und dann weiter von Boma aus mit einem deutschen Dampfer nach Hamburg.«
»Urranga ist doch die Stromstation, von wo aus es in den Tombasee hineingeht?«
»Jawohl.«
»Ja aber — ich verstehe nicht — Sie haben doch natürlich den Untergang der Expedition gleich gemeldet. Das ist doch natürlich von Boma aus, das Kabelstation ist, in alle Welt telegrafiert worden, mindestens sofort nach Brüssel, das müsste doch schon längst allgemein bekannt sein, in allen Zeitungen stehen — abgesehen davon, dass wir als Verwandte eines Expeditionsmitgliedes von der belgischen Regierung sofort benachrichtigt würden, mitten in der Nacht.«
»Nein, ich habe dies eben nicht sofort gemeldet.«
»Weshalb denn nicht?«
»Madame, wollen Sie sich in meine Lage, in meinen Zustand zu versetzen versuchen.
Als ich meine Hütte verließ, waren meine Wunden durchaus noch nicht geheilt.
Wie lange ich gebraucht habe, bis ich Urranga erreichte, weiß ich nicht.
Ich schleppte mich durch den Urwald, ohne selbst etwas von mir zu wissen.
Vom Wundfieber geschüttelt.
Nach Hamburg, nach Hamburg!
Weiter dachte ich nichts.
Nicht gerade, dass ich es so eilig hatte, den mir anvertrauten Brief abzugeben, sondern das wurde bei mir eben zur fixen Idee.
Nach Hamburg, nach Hamburg!
Und es war gut, dass ich von dieser fixen Idee so ganz und gar beherrscht wurde.
Denn als ich Urranga endlich erreichte, war ich überhaupt ganz und gar fertig.
Jetzt gesellte sich auch noch das schwerste Nervenfieber hinzu.
Nach Hamburg, nach Hamburg!
Weiter konnte ich nichts mehr phantasieren.
Das verstand man aber. Und einiges Geld hatte ich bei mir.
Man packte mich auf einen stromabwärts gehenden Dampfer.
Von der ganzen Stromfahrt weiß ich nichts.
Aber auf dem Dampfer war ein Deutscher, der zufällig auch nach Hamburg gehen wollte, der nahm sich meiner an und hat mir später alles erzählt. Nämlich auf dem Seedampfer, den er dann ebenfalls benutzte.
Wir kamen in Boma an, ich immer noch ohne Besinnung im Nervenfieber nur phantasierend.
Nach Hamburg, nach Hamburg!
Gut, der Herr nahm mich mit auf den Dampfer, der direkt nach Hamburg ging. Der ›Beowulf‹, Kapitän Kranz.
Ein Frachtdampfer, der aber wie jeder andere auch Passagiere mitnimmt.
Jener Herr, August Niemeyer, ein Koprahändler, und ich, wir waren diesmal die einzigen.
Das Geld zur Überfahrt hatte ich noch bei mir, sonst aber hätte der vortreffliche Herr auch sicher für mich bezahlt.
An Bord des Dampfers kam ich nun langsam wieder zu mir.
Jetzt berichtete ich. Allgemeines Entsetzen.
Die ganze LeopoldExpedition vernichtet.
Ja, aber, Madame — der Dampfer ging direkt nach Hamburg.
Deshalb einen andern Hafen anlaufen, um das zu melden?
So viel ich davon weiß, kostet das Anlaufen eines jeden Hafens viel, sehr viel Geld, Lotsengebühren, Ankergebühren, Leuchtturmgebühren und dergleichen mehr.
Nun hätte der Dampfer die Mitteilung ja einem andern Schiffe signalisieren können, das diese Meldung im nächsten Hafen auf- oder überhaupt weitergab.
Tja, Madame!
Bedenken Sie nur die ganzen Verhältnisse!
Ich war als Halb- oder Ganzverrückter an Bord gekommen — wer sagte denn, dass ich nicht noch immer ein Verrückter sei, der nur einmal eine helle Stunde hatte, aber auch jetzt noch nur etwas zusammenphantasiere?
Der Dr. Raimund hatte mir auch noch einen Brief an seine Expedition mitgeben wollen, falls ich den Dampfer auffände, war aber nicht mehr fähig gewesen, ihn zu schreiben.
Und der Brief, den ich da vorwies, an Kapitän Nielsen und an eine Agnes gerichtet, unterzeichnet von einem Richard? Der sagte doch gar nichts.
Nun kam aber auch noch etwas anderes hinzu.
Der Kapitän Kranz, ein alter Herr, ist nämlich mit so etwas schon einmal gründlich hereingefallen.
Es ist doch wohl ums Jahr 1888 gewesen, als aus politischen Gründen ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich auf des Messers Schneide lag.
Jeden Tag konnte die Kriegserklärung kommen.
Kapitän Kranz kreuzte damals in der Südsee.
Im letzten Hafen hatte er natürlich auch von diesem Kriegsdrohen gehört.
Da kam, als er schon wieder eine Woche auf hoher See war, ein englischer Dampfer, der ihm signalisierte: Krieg zwischen Deutschland und Frankreich ausgebrochen, große Schlacht bei Nancy, französische Truppen vollständig geschlagen!
Na, dieser Jubel auf dem deutschen Dampfer!
Kapitän Kranz gab diese Meldung natürlich an jedes andere Schiff, dem er begegnete, weiter.
Bis er im nächsten Hafen, der Kabelstation war, erfuhr, dass gar nichts daran war.
Der englische Dampfer war ja auch erst düpiert worden, aber der hatte die Meldung nicht viel weiter gegeben, nur gerade dem deutschen ›Beowulf‹, und der hatte nun ein Dutzend Schiffe damit beglückt.
Es schadete ja nichts weiter, böse Folgen hatte es nicht etwa, aber — der arme Kapitän Kranz ist ja nicht schlecht veralbert worden, er ärgert sich heute noch darüber.
›Nein, Mann‹, sagte er zu mir, ›das mache ich nicht zum zweiten Male. Ich glaube Ihnen, aber da müssten Sie mir von dem Untergange der LeopoldExpedition tatsächliche Beweise bringen, eher gebe ich diese halbamtliche Meldung nicht von mir. Nun können Sie auch noch warten, bis wir in Hamburg sind.‹
Und so geschah es. Wir haben Antwerpen passiert, aber Kapitän Kranz hat nichts durch Signale gemeldet.«
Der Erzähler schwieg.
Aufmerksam hatte Frau Burg zugehört.
»Ja freilich — wenn es so gewesen ist — bedauernswerter Mann, was haben Sie Schweres durchgemacht!«
»Es ist hinter mir.«
»Ja, und wie wurde es nun weiter?«
»Heute Abend gegen sieben liefen wir in Hamburg ein. Ich wäre schon gern in Cuxhaven an Land gegangen, aber es gab keine Möglichkeit.
Dann bin ich, was wohl das Richtigste war, sofort zum belgischen Konsul gegangen. In seine Privatwohnung, und habe ihm alles berichtet.
Der glaubte mir, schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
Und dann fuhr ich mit dem nächstem Vorortzuge hierher, um den Brief —«
Es hatte geklingelt.
Bald erschien der alte Bertram.
»Eine Regierungsdepesche aus Brüssel.«
Sie war noch an den Kapitän Nielsen gerichtet und lautete:
Der königlich belgische Konsul in Hamburg drahtet uns, ein vom Kongo gekom
mener Jäger habe ihm vom Untergang der LeopoldExpedition berichtet. Ohne
jede Gewähr. Das Kolonialministerium.
Ja, da hatte man's schon!
Was der Holländer da berichtet hatte, war die Wahrheit gewesen.
Wenn Frau Burg überhaupt je daran gezweifelt hatte.
Eben faltete sie das Telegramm, das sie laut vorgelesen hatte, wieder zusammen, als sie zum Tode erschrocken vom Stuhle emporfuhr.
Vor ihr noch aber war der Holländer so vom Stuhle geschnellt und hatte dabei auch noch einen gellenden Schrei ausgestoßen, sich mit beiden Händen ins Gesicht fahrend.
Die Schweißperlen auf seiner Stirn waren noch nicht verdunstet, einige hatten sich vereint und waren als großer Tropfen ihm über die Backe gelaufen.
Man musste doch wenigstens annehmen, dass er hierüber so furchtbar erschrocken war, über diesen nassen Tropfen, denn warum fuhr er sich denn gleich ins Gesicht und fing an zu wischen.
Frau Burg konnte natürlich hiervon nichts gleich wissen.
»Um Gott, was haben Sie denn?«
An allen Gliedern zitternd stand der Holländer da, sich im Gesicht herumwischend.
Doch kaum hatte er die Ursache des nassen Tropfens erkannt, der ihm über die Backe gelaufen war, als er sich mit einem sichtbaren Rucke auch schon wieder vollkommen in der Gewalt hatte.
»Ich bitte um Verzeihung, Madame, wenn ich Sie erschreckt habe.
Ich habe durch die seelische Erregung, in der ich mich befinde, stark transpiriert, ein Tropfen lief herab und — ich muss Ihnen eine Erklärung geben.
Es hängt immer wieder mit dieser unserer Sache hier zusammen, die mich hierher geführt hat.
Ich sah den Raddampfer den Wasserfall tanzend herabsausen.
Mein Entsetzen war natürlich furchtbar.
Ich befand mich also oben in der Höhe.
Ich eilte hinab, Hals über Kopf stürzend, um zu retten, wenn ich etwas retten konnte.
Es war ja ganz aussichtslos, aber — wie man in solchen Augenblicken eben handelt.
Und wahrhaftig, wie ich unten bei den Strudel anlangte, sah ich einen Menschen treiben, der noch lebte, der die Arme hob!
Ich sprang über das Wasser von Stein zu Stein.
Im nächsten Augenblick verschwand der Mann zwischen den Riffen, um nicht wieder aufzutauchen.
Und in demselben Augenblick wurde ich von einem kalten Sprühregen überschüttet.
Es war ja ganz harmlos, aber — mir war es, als ob mich plötzlich eine kalte Faust im Nacken packe, und sie griff weiter bis in mein Herz hinein.
Nun erwähne ich noch, dass ich während des bisherigen Marsches durch den Urwald zwar schon immer vom Wundfieber gemartert worden war, aber von dem, was man Nervenfieber nennt, hatte ich noch nichts gemerkt.
Allerdings müsste man überhaupt sagen können, was das eigentlich ist, Nervenfieber.
Kurz und gut, seit diesem Vorfall kam ich in einen ganz anderen Zustand.
Ich wusste überhaupt gar nichts mehr von mir. Ich weiß nicht, wie ich Urranga erreicht und wie ich die Stromfahrt gemacht habe und wie ich dann auf den Seedampfer kam.
Dann erst erlangte ich also mein richtiges Bewusstsein wieder.
Und da machte ich, als ich mich schon wieder ganz gesund fühlte, eine eigentümliche Entdeckung.
Es war mir fürchterlich, wenn die See überdammte und ich bespritzt wurde.
Stets fühlte ich mich dann an den Wasserfall zurückversetzt, ich sah den Menschen treiben, wie er die Arme gegen mich hob, und stets fühlte ich dann wieder die eiskalte Faust in meinem Nacken und dann in mein Herz greifen.
Und das war immer und immer wieder der Fall, sobald ich unvermutet von einem Spritzer getroffen wurde.
Aus dem Regen machte ich mir absolut nichts, nur dieses unvermutete Bespritzen konnte ich nicht vertragen.
Stets schrie ich laut auf vor Entsetzen.
Dasselbe war der Fall, als ich einmal beim Deckwaschen von einem nassen Sprühregen getroffen wurde.
Ich kann dieses Bespritzen nicht mehr vertragen.
Es ist noch eine nachgebliebene Nervenschwäche.
Stets bin ich sofort wieder an dem Wasserfall, sehe den Menschen in den tosenden Wirbeln verschwinden und fühle die kalte Faust im Genick und am Herzen.
Und so war es nun auch jetzt, als mir der Schweißtropfen von der Stirn herab über die Wange lief. Dieser einzige Tropfen genügte schon, um den Anfall hervorzurufen.
Aus richtigem Regen hingegen mache ich mir gar nichts.«
Es war ganz plausibel, was der Holländer da vorgebracht hatte.
Dann teilte er fernerhin den Widerwillen aller Hunde und noch vieler Tierarten, auch der Vögel, gegen eine gewisse Sache.
Diese hier gemeinten Tiere baden sich sehr gern, lassen sich vom Menschen baden — das lässt sich auch der Papagei ganz gern gefallen — sie machen sich nichts aus dem Regen, aber jedes andere Bespritzen mit Wasser ist ihnen ein Gräuel!
Jeder Neufundländer und Pudel, der doch sonst so das Wasser liebt, geht fernerhin jeder Gießkanne scheu aus dem Wege, wenn er mit ihr schon einmal eine Dusche bekommen hat.
»Ja, ich verstehe«, bemitleidete Fran Burg. »Ach, Sie bedauernswerter Mann! Bitte, wollen Sie sich einen Augenblick gedulden, ich will nur einmal sehen, wie es mit meiner Nichte steht, ob sie schläft. Ich komme sofort zurück. Inzwischen beruhigen Sie sich wohl wieder.«
Sie ging, nahm Richards Schreiben mit.
Falls der Holländer wirklich noch eine Beruhigung nötig hatte, so suchte er diese auf recht seltsame Weise.
Kaum war die Dame hinaus, als er sich umwandte, der offen gebliebenen Tür den Rücken zu, seine wollene Weste hochschob und in den Brustschlitz des Hemdes griff, sich unter diesem mit der Hand etwas zu schaffen machte.
Er schien mit der Hand etwas herauszuholen, was er in die Hosentasche steckte. Dann brachte er seine Kleidung wieder in Ordnung und setzte sich wieder.
Frau Burg ging gar nicht an das Bett ihrer Nichte.
Die wusste sie schlafend unter der Bewachung einer sicheren weiblichen Dienstperson.
Wenn Agnes erwachte oder sonst irgend etwas passierte, dann wäre die Tante sofort benachrichtigt worden. Sie war in ein anderes Zimmer gegangen, in ihr eigenes, das schon erleuchtet war.
Hier klingelte sie.
Als der alte Bertram kam, las sie noch einmal Richards Brief, faltete ihn jetzt schnell wieder zusammen, steckte ihn in den Busen und setzte sich an den Schreibtisch, nahm Feder und ein Stück Papier.
»Dass es nicht einmal ein Telefon in diesem Hause gibt!«, sagte sie, während sie einige Worte auf das Papier warf.
»Kapitän Nielsen liebte so einen Klingelkasten nicht.«
»Das sind aber doch vorsintflutliche Verhältnisse!«
»Frau Burg haben in den vierzehn Tagen schon genug darüber geschimpft.«
»Habe ich? Dann ist's gut Dann ist die Sache erledigt. Bis zum nächsten Male, wenn ich wieder ein Telefon brauche.«
Sie löschte das Geschriebene ab und las es halblaut vor:
»Vigilanz, Hamburg. Brauche sofort guten Fotografen. Blitzlichtaufnahme. Burg. 278.«
»So, das genügt. Eins — zwei — drei — vier — fünf — sechs — sieben — acht. Halt! Blitzlichtaufnahme hat mehr als 15 Buchstaben. Also neun Worte. Na, zehn können's ja sein, da schenke ich der Post wieder einen Fünfer.
Hier, mein lieber Bertram, schicke Wilm mit diesem Telegramm sofort auf die Post. Natürlich schon Nachtschalter. Mich wundert nur, dass Ihr in Euerm Kaff auch Nachtdienst habt. Hier sind die fünf Groschen.«
Bertram humpelte hinaus.
Frau Burg begab sich in das erste Zimmer zurück.
»Meine Nichte schläft sanft«, sagte sie ganz der Wahrheit entsprechend.
»Ja, Mijnheer, nun müssen dem armen Mädchen noch einmal alle diese Einzelheiten erzählt werden.
Das werde ich selbst besorgen. Morgen, oder, wenn sie erwacht und darauf besteht, auch heute Nacht noch.
Dann wird sie natürlich auch Sie sehen und sprechen wollen. Aber heute Abend geht das nicht mehr.
Gar so sehr darf sie nicht aufgeregt werden.
Haben Sie Zeit? Können Sie morgen wiederkommen?«
»Ja, das kann ich, ich habe Zeit.«
»Dann, Mijnheer, ehe Sie uns verlassen, erst noch eine andere Frage.
Nicht, ob Sie jetzt noch eine Erfrischung zu sich nehmen wollen.
Wenn Sie hungrig und durstig sind, so sagen Sie es einfach.
Wir sind doch so nahe zusammengerückt worden und Sie werden sich doch nicht etwa genieren.
Aber Sie sind doch jedenfalls fremd in Hamburg.
Sind soeben erst mit einem Dampfer aus Afrika angekommen.
Sie haben jedenfalls noch keine Wohnung.
Ja, und ich hörte so etwas heraus, als ob Sie nicht überflüssig mit Geld versehen wären.
Sie sprachen mehrmals davon, dass Sie den Fahrpreis noch selbst bezahlen konnten, so viel hätten Sie noch gehabt.
Also nun sprechen Sie einmal frei heraus, bitte. Ich bin eine Hamburgerin, bei uns gibt's keine langen Umschweife.«
»Ja, Madame, ich hätte eine große Bitte.«
»Na, dann mal los.«
»Zunächst muss ich gestehen, dass ich vorhin eine grobe Indiskretion begangen habe.«
»Grobe Indiskretion?«, wurde allerdings etwas gestutzt.
»Nicht wahr, ich habe die Ehre, mit Frau Burg zu sprechen? Ich hörte vorhin Ihren Namen nennen.«
»Ja, die bin ich.«
»Als ich vorhin einmal stand, blickte ich zufällig dort auf den Schreibtisch, ein Brief lag offen da, es waren nur zwei Zeilen, die überfliegt man doch schnell, wenn man sie auch gar nicht zu lesen beabsichtigt. — Sie handeln mit Diamanten?«
»Ach so, die Anfrage dort! Ja, ich bin Diamantenhändlerin. Wollen Sie welche kaufen?«
»Sie scherzen —«
»Verzeihung. Sie kommen aus Afrika. Haben Sie Diamanten zu verkaufen? Mijnheer, vertrauen Sie sich mir an, ich kann Ihnen Referenzen angeben, dass niemand höhere Preise zahlt als ich!«
»Auch ungeschliffne, rohe?«
»Ja, auch die. Das ist sogar eine Spezialität von mir, wenigstens insofern, als ich da ein besonderes, für den Verkäufer sehr angenehmes Geschäftsprinzip habe.«
Der Holländer griff in die Hosentasche, brachte einen weißen Stein von der Größe einer recht ansehnlichen Erbse zum Vorschein, der ziemlich blitzte.
Auch die rohen Diamanten, wie sie gefunden werden, zeigen ja alle schon regelmäßige Kristallform, können schon ziemliches Feuer haben. Die Kunst des Diamantenschleifens ist ja noch gar nicht alt, früher wurden sie gleich so gefasst, vorher nur poliert, und aus dieser Zeit sind doch noch sehr schöne Steine erhalten.
Frau Burg nahm den Stein.
»Das ist ein gelber Stein, der hat für mich keinen besonderen Wert,« sagte sie sofort.
»Ein gelber Stein?«, erklang es verwundert und auch etwas misstrauisch. »Der ist doch rein weiß!«
»Für Sie, nicht für mich. Für keinen Kenner. Der ist sogar sehr gelb.«
Jetzt erst hielt sie ihn gegen das Gaslicht.
»Ja, der ist sehr gelb.
Mit gelben Steinen befasse ich mich gar nicht.
Aber nicht etwa, dass dieser Stein wertlos sei, sondern die gelben Steine gehören einer anderen — Region an, will ich sagen, der ich keine Konkurrenz mache.
Wenn Sie an die richtige Quelle kommen, wird Ihnen auch dieser gelbe Stein sehr gut bezahlt.
Aber nicht in Nordeuropa, auch nicht in Paris.
Da müssen Sie sich direkt nach Triest wenden. Triest handelt nach China.
Die Chinesen wollen nur gelbe Diamanten haben.
Aber nur rohe.
Die Chinesen spalten von solch einem kugelförmigen Steine nur zwei Seiten ab und geben dem Mittelstück Tafelschliff, in einer Weise, die wir gar nicht fertig bringen, während die Chinesen wieder unseren Brillantschliff nicht nachahmen können.
Nein, mit gelben Diamanten befasse ich mich nicht.
Das heißt, so würde ich sprechen, wenn Sie als ganz Fremder mir diesen Diamanten vorlegen würden.
Bei Ihnen ist das ja jetzt etwas anderes.
Ich werde, wenn Sie wollen, diesen Stein nach Triest vermitteln.
Haben Sie noch andere? Zeigen Sie doch erst einmal.«
Der Holländer griff wieder in die Hosentasche, brachte einen bedeutend größeren Stein zum Vorschein, wie eine kleine Haselnuss. der aber viel grauer aussah und nicht so blitzte.
»Aaah!«, machte aber schon Frau Burg, noch ehe sie ihn gegen das Licht hielt.
»Ja, das ist etwas ganz anderes! Das ist ein weißer, scheinbar ein wasserheller!«
»Was würden Sie mir für den geben?«
»Lassen Sie mich ihn genauer taxieren.«
Sie zog aus der unsichtbaren Kleidertasche, in der schon die Lorgnette steckte, einen ziemlich umfangreichen Kasten, klappte den Deckel auf, man sah eine kleine Waage und Gewichte und anderes, erst klemmte sie so ein langes Vergrößerungsglas, wie es die Uhrmacher haben, ins Auge, betrachtete den Stein von allen Seiten, auch gegen das Licht, dann legte sie ihn auf die feine Goldwaage, aber ohne die feinsten Gewichtchen aus Platin zu gebrauchen.
»Ja. Ich will Ihnen tausend Mark dafür geben.«
Fast sah es aus, als ob der Holländer hätte vom Stuhle aufspringen wollen.
»Was, tausend Mark?«, rief er ganz bestürzt.
»Was dachten Sie? Viel weniger?«
»,Mehr, mehr!«
»,Na, wie viel dachten Sie denn ungefähr?«
»Mindestens zehntausend Mark!«
Ruhig legte die schöne, junonische Frau den Stein auf den Tisch und kreuzte die Arme über dem vollen Busen.
»Sie irren sich, geehrter Herr.
Sie kennen die Verhältnisse nicht.
Sie werden wohl in der ganzen Welt keinen einzigen Menschen finden, der Ihnen für diesen rohen Diamanten wie ich tausend Mark bietet, sofort bar auf den Tisch zu zahlen.
Oder es ist ein Narr. Oder irgendwie verblendet.
Die meisten werden Ihnen kaum fünfhundert Mark bieten.
Immer vorausgesetzt, dass Sie das Geld sofort haben wollen.
Ich weiß doch gar nicht, ob dieser Stein keine Blasen enthält!
Es ist ein Risiko von mir, wenn ich Ihnen tausend Mark zahle!
Etwas anderes ist es, wenn Sie morgen Abend wiederkommen.
Bis dahin lasse ich ihn auf zwei oder noch mehr Seiten anschleifen, dass er wirklich durchsichtig wird, und dann will ich Ihnen sagen, ob ich mein erstes Angebot von tausend Mark aufrecht halte, oder ob ich Ihnen vielleicht zwanzigtausend Mark dafür biete.«
»Aaah, zwanzigtausend Mark, das ist freilich etwas anderes!«
»Vielleicht auch noch mehr. Das kommt ganz darauf an, wie er sich, wenn er blasenrein und sprungfrei ist, zum Schleifen eignet.
Mijnheer, ich verdiene gern Geld, aber ich will doch nichts an Ihnen verdienen. Nicht einen einzigen Pfennig.
Übermorgen früh — es ist jetzt schon zu spät, um noch hinzugehen — will ich Ihnen sagen, was dieser rohe Diamant wert ist, das wird Ihnen sofort bezahlt, unter Umständen können es auch fünfundzwanzigtausend Mark werden, dann erst verkaufe ich ihn an die kulanteste Schleiferei in Amsterdam oder an so eine Genossenschaft, und was daran verdient wird, das sollen Sie auch noch bekommen. Nur die gar nicht beträchtlichen Kosten des Anschleifens werden Ihnen natürlich abgezogen, sonst aber nichts weiter.
Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Ich werde doch an Ihnen, der Sie so gehandelt haben, nichts verdienen wollen, ich würde mich doch noch nach tausend Jahren im Grabe wie ein Wurm winden.
Also vertrauen Sie sich mir an. Haben Sie noch mehr Steine?«
Jetzt brachte der Holländer aus seiner Hosentasche eine ganze Handvoll zum Vorschein und fügte immer noch einige hinzu.
Die meisten waren ja nicht so groß wie der letzte, nur wie die Erbse, daraus lassen sich dann solche schleifen, die im Geschäft in einfacher Goldfassung, wenn sie schönes Feuer haben, 200 bis 500 Mark kosten, dann aber gab es auch Stücke bis zur ansehnlichen Haselnussgröße darunter, und da kann ja nun der Wert des geschliffenen Diamanten ins Ungemessene wachsen. Im Allgemeinen, nur um einen Anhalt zu geben, multipliziert man die Anzahl der Karate mit sich selbst und dann mit 500 Mark. Das gilt aber nur bis zu 20 Karat, dann wächst der Wert in noch ganz anderer Weise, und das gilt überhaupt nur für die reinweißen, wasserhellen Steine.
Diese gelten zwar für die schönsten, wertvollsten Diamanten, aber nur bei den gewöhnlichen Sterblichen. Es gibt auch grüne, rote und blaue Diamanten, schlechtweg Phantasiesteine genannt, und deren Wert wächst erst recht ins Ungemessene. Man bekommt sie nur nie im Schaufenster zu sehen, weil solche Phantasiesteine sofort noch vor dem Schliff an die Krösusse des Menschengeschlechts verkauft werden.
Der Holländer hatte sie auf den Tisch gelegt.
Frau Burg betrachtete sie, ohne einen zur Hand zu nehmen, aber ihre Überraschung war groß.
»Aaaah! Mijnheer, Sie sind ein reicher Mann!
Die meisten sind weiß, zum Brillantschliff geeignet, aber auch viele Phantasiesteine sind darunter, besonders rosenrote, die allerkostbarsten.
Auch der allergrößte Halsabschneider unter uns, der jede Unerfahrenheit und jede Not nach besten Kräften ausnutzt, würde Sie instandsetzen, dass Sie fernerhin behaglich von Ihren Zinsen leben könnten.
Bei mir ist das ja etwas anderes, Sie werden durch meine Vermittlung ganz andere Summen ausgezahlt erhalten. Ja, aber nun, Mijnheer —«
Das junonische Weib lehnte sich auf dem Stuhle zurück, kreuzte die Arme über dem vollen Busen und blickte den Holländer wieder an.
»Mit dem Diamantenhandel ist es eine eigentümliche Sache. Diamanten sind keine Rosinen.
Wir Diamantenhändler stehen mit einem Fuße immer im Zuchthaus.
Nicht nur wegen Hehlerei, sondern unter Umständen auch wegen Verdachtes der Mitwissenschaft eines Verbrechens —«
»Madame, sehe ich aus wie ein Verbrecher?«
Jetzt konnte der Holländer den Blick der großen Augen ganz ruhig aushalten.
»Ich sage nur, was ich sagen muss. Ich muss wissen, woher diese rohen Diamanten stammen.«
»Aus Afrika.«
»Das genügt mir noch längst nicht. Wie in Brasilien und Indien allgemein, so gibt es auch in Afrika Gegenden genug, wo gar nicht auf Diamanten geschürft werden darf. Staatseigentum oder Privatbesitz, Regal.«
»Diese Diamanten gehören gar nicht mir.«
»Sondern?«
»Dem König von Makalli.«
»Kenne ich nicht.«
»Aber vom LeopoldII.Seedistrikt haben Sie doch schon gehört.«
Ja, das hatte Frau Burg. Seitdem sie sich in diesem Hause befand. Vor vierzehn Tagen hatte sie auch noch nichts davon gewusst.
Aber in diesen vierzehn Tagen war ja nun genug über die Gegend gesprochen worden, in der Richard weilte, die größte Karte davon hing an der Wand, die Augen der Braut ruhten oft genug darauf.
Man hat den belgischen Kongostaat auf der Karte durch einige senkrechte und waagerechte Linien in Felder geteilt, Distrikte, und diesen Namen gegeben.
Das längliche Rechteck, das sich rechts vom LeopoldII.See befindet, diesen aber mit dem linken Zipfel noch einschließend, mehr als 700 Kilometer lang und 150 breit, also größer als ganz Bayern, hat man, nur immer so umständlich wie möglich, LeopoldII.Seedistrikt genannt.
Auf der Karte hat man diese Gegend ganz weiß gelassen, dasselbe gilt für den darüber liegenden, noch viel, viel größeren Äquatordistrikt. Nur einige blaue Flusslinien schlängeln sich durch. Aber auf genauen, ehrlichen Karten sind diese auch nur punktiert angegeben. Also nur eine Andeutung. Die Schlängelei beruht nur auf Vermutung, auf Phantasie. Im Übrigen alles, alles ganz unbekannt. Wie leicht sind da drin himmelhohe Gebirge. Man weiß nichts davon. Wohl werden diese Gegenden von Handelskarawanen durchquert, aber den Negern und Arabern darf man nichts glauben; wenn die von einem Berge erzählen, so weiß man nie, ob sie einen Termitenhaufen oder einen Chimborasso meinen, und die nehmen keinen Fremden mit, und gerade deshalb, um die andere Welt in Unkenntnis über diese Gebiete zu lassen, lügen sie prinzipiell. Sie beschreiben ganz genau einen Fluss, wo gar keiner ist, eine wasserreiche Gegend schildern sie als Wüste, eine Wüste bepflanzen sie mit Bäumen, und so immer weiter.
»Diese Gegend heißt bei uns das Makalliland, und über die Makallis herrscht der König Mira. Auf dessen Diamantenfeldern sind diese Steine gefunden worden, und er hat mich beauftragt, sie in Europa zu verkaufen.«
»So«, erklang es trocken.
»Meine Dame, Sie möchten doch wohl erfahren, wer ich eigentlich bin.«
»Ja.«
Wenn der Holländer jetzt zögernd sprach, so geschah das sicher nicht aus Verlegenheit, sondern weil er wirklich nicht gleich wusste, wie er sich ausdrücken sollte.
»Ich bin ein — Nichts — ein Jäger — ein Abenteurer — wirklich ein Nichts. Und anderseits bin ich — der Minister — die rechte Hand — der Vertrauensmann einer Majestät, die sich für den mächtigsten Herrscher auf Erden hält.«
So hatte der Holländer gesprochen.
Da war er nicht der einzige, der solch eine Stellung einnahm.
Wir wollen hierbei eines Mannes gedenken, der einst eine ganz ähnliche Rolle spielte.
Eines Mannes, der einst vor noch gar nicht so langen Jahren als Held in aller Munde war, den man aber bald vergessen hat.
Des Obersten Schiel, der sich im Anfange des Burenkrieges gegen England so auszeichnete, der aber bald wieder verschwand. Eine Granate zerschmetterte ihm beide Beine, und dann — ist er wahrscheinlich gestorben.
Schnell hat man ihn vergessen. Das ist der Lauf der Welt.
Aber ein schönes, stolzes Wort, das dieser Mann einmal geprägt hat, sollte man nicht so bald vergessen.
Ein deutscher Offizier, der als Oberst seinen ehrenvollen Abschied nahm, nach Afrika ging, ins Kaffernland, um seiner Jagdlust zu frönen, das Vertrauen des Königs Dinizulu gewann, dessen Minister und Generalfeldmarschall er zuletzt wurde.
Dieser Dinizulu war ein tüchtiger Kerl, hat den Engländern viele Jahre schwer zu schaffen gemacht, von seiner Besiegung gar keine Rede.
Als der südafrikanische Krieg ausbrach, blieb der Zulukönig, anfangs wenigstens, neutral, weil er die Buren ebenso grimmig hasste wie die Engländer.
Cecil Rhodes wollte die nicht zu unterschätzende Waffenmacht der Zulukaffern für Englands Sache gewinnen.
Mit Dinizulu konnte er nicht persönlich verhandeln, dieser schickte seinen ersten Minister und Feldherrn als Bevollmächtigen, den Oberst Schiel.
Die beiden trafen in Basenga zusammen. Berichtet hat über die Sache der englische Colonel Haman, der als Engländer also doch sicher ganz unparteiisch berichtet hat. Oberst Schiel konnte nur sagen, dass König Dinizulu neutral bleiben wollte. Er selbst hätte aus guten Gründen lieber gegen die Buren gefochten, während Dinizulu, wenn er doch noch mitmachte, was dann ja auch geschehen ist, für die Buren Partei ergriffen hatte.
Daraufhin versuchte Cecil Rhodes diesen Mann, der von der afrikanischen Kriegstaktik mehr verstand als alle englischen Generale zusammen, wenigstens persönlich für sich zu gewinnen. Er fragte Schiel, wie er sich denn überhaupt in den Dienst solch eines schwarzen Häuptlings stellen könne.
»Ich stehe aber nun einmal in seinen Diensten, ich bin ihm verpflichtet.«
»Ach, solch einem Neger ist man zu gar nichts verpflichtet!«
Da richtete sich Oberst Schiel auf und sagte:
»Ich halte meinem Herrn die Treue, die ich ihm gelobte, auch wenn er eine schwarze Haut hat.«
Dieses Wort wenigstens sollte man nicht vergessen! —
»Darf ich erfahren, wie Sie zu diesem Posten gekommen sind?«, fragte Frau Burg jetzt weiter.
»Bitte sehr. Mein Vater war ein holländischer Boer ein sogenannter Trekboer, ein Zugbauer. Er musste mit seinen Herden immer wandern, weil — es ihm eben im Blute lag.
So ist er immer nach Norden gezogen, bis er im Laufe von vielen, vielen Jahren endlich ins Makalliland kam.
Immer von seiner Frau und seinem Gesinde begleitet, meist Farbigen, aber auch Weiße waren darunter, wie ich auch noch Geschwister hatte.
Er leistete dem König Noma, dem Vater des jetzigen, sehr große Dienste im Kampfe gegen einen aufrührerischen Häuptling, wurde dessen Freund und Berater.
Wohl wäre er wieder weitergewandert, aber er starb.
Der ganze Treck löste sich auf, meine Mutter blieb mit ihren Kindern in der Residenz des Königs.
Ich war damals zehn Jahre alt und wurde der bevorzugte Gespiele des zukünftigen Königs.
Und dabei ist es geblieben.
Ich darf mich wirklich den Freund, Minister und ersten Feldherrn des jetzigen Königs Mira vom Makalliland nennen.«
»Sie sind doch schon mehrmals in Europa gewesen?«, fragte Frau Burg.
»Noch nie. Ich bin noch niemals aus dem Makalliland herausgekommen.«
»Ist denn das ein so zivilisiertes Land und Volk?«
»Sie würden die Makallis Wilde nennen. Sie wohnen in armseligen Lehmhütten, nur der König in einem großem, steinernen Hause.«
»Halten sich Weiße in dem Lande auf?«
»Nicht ein einziger. Ausgenommen diejenigen vier, die mit zu dem Treck gehörten, die noch leben, darunter ich.«
»Aber es kommen viele Karawanen mit weißen Reisenden durch.«
»Karawanen wohl, aber nicht ein einziger fremder Weißer. Er würde nicht hereingelassen oder nicht wieder herausgelassen. Das Makalliland ist ein
5 »Boer/en« (»Bur/en« gesprochen, eingedeutscht als »Bure/n«) ist die niederländisch
afrikaanse Bezeichnung für »Bauer/n«. ganz weltabgeschlossenes Reich, wie — wie — wie mit einer chinesischen Mauer umgeben.«
»Ja, wie ist denn da das möglich?«
»Was möglich bitte?«
»Sie verraten doch — es ist dies keine Beleidigung wenn ich das sage, im Gegenteil — Sie verraten doch eine ganz bedeutende Bildung. Sie sprechen sogar von einer chinesischen Mauer. Sie wissen sich gewandt auszudrücken, sich auch so zu benehmen. Sie sind ein Gentleman.«
»Das habe ich einfach von meiner Mutter. Sie lebt jetzt noch und ist, wie ich schon sagte, eine geborene Deutsche.
Mehr wissen wir kaum von ihr.
Sie mag irgend einen Grund haben, nicht über ihre Herkunft zu sprechen.
Jedenfalls aber muss sie eine hochgebildete Dame aus guter Familie gewesen sein, die meinem Vater in die Wildnis folgte, und zwar aus Liebe.
Als Treckburin hat sie niemals gepasst. Aber mit meinem Vater hat sie das glücklichste Leben geführt, und uns Kindern war sie die beste Mutter. Wie jetzt noch mir. Alle meine Geschwister sind tot.
Sie hat mich Schreiben und Lesen gelehrt, letzteres allerdings nur aus der Bibel, die in mehreren Exemplaren vorhanden war und noch ist, in deutscher und anderer Sprache, und besonders als Kind hat sie mir ununterbrochen erzählt, wie es draußen in der anderen Welt aussieht. Schließlich tut sie das heute noch, sobald ich nur bei ihr bin.
Daher kommen meine Kenntnisse, die Sie aber wohl zu hoch bewerten.
Holländisch lernte ich als Kind ja selbstverständlich, von meiner Mutter Deutsch, und von zwei Engländern deren Sprache.«
Frau Burg schüttelte doch etwas den Kopf.
»Was ist Ihnen noch unverständlich, bitte?«
»Trotz alledem, was Sie auch gehört haben, müssen Sie sich doch hier wie in einer ganz fremden Welt fühlen, als wären Sie plötzlich auf den Mond versetzt.«
»Sind Sie schon in Afrika gewesen, Madame?«
»Nein.«
»Sie sind noch nie aus Europa herausgekommen?«
»Nein.«
»Sie kennen also Afrika nur vom Hörensagen, aus Beschreibungen?«
»Ja.«
»Nun, Madame, wenn Sie nach Afrika kämen, würden Sie sich plötzlich wie auf den Mond versetzt fühlen?«
Der Mann hatte recht, ganz recht, Frau Burg musste es ihm bestätigen.
»Ja und dennoch«, begann sie dann aber doch wieder, »mögen Sie auch noch so viel von alledem gehört haben, wie es in solch einer Stadt aussieht — aber zum Beispiel solch eine Zimmereinrichtung wie diese muss Ihnen doch ganz ganz fremd sein.«
Das schöne Gesicht des Holländers schnitt eine eigentümliche Grimasse.
Offenbar hatte er lächeln wollen, war aber keines Lächelns fähig.
»Diesmal, Madame, sind Sie diejenige, welche die Verhältnisse nicht kennt, so wie ich nicht den Diamantenhandel.
Mein Vater soll nicht einer der reichsten Treckburen gewesen sein, nur ein mittlerer.
Aber mehr als ein halbes Hundert gewaltiger Wagen ging im Zuge, jeder mit mindestens acht Ochsen bespannt, mancher mit zwanzig, dazu noch eine getriebene Rinderherde, deren Mindestbestand dreitausend Stück war, dazu wohl zehntausend Schafe.
Ich sprach von einem Gesinde.
Es war ein ganz ansehnliches Kriegsheer, davon die Hälfte zu Pferde.
Ja, mein Vater nannte sich stolz einen Treckburen.
In Wirklichkeit fühlte er sich als König und war tatsächlich ein solcher.
Meine Mutter war eine Königin.
Wenn sie auch als erste früh aufstehen musste, im Treck noch vor zwei Uhr nachts, um für die Familie Kaffee zu kochen.
Alles wie zu Abrahams Zeiten.
Viele dieser Wagen waren als Wohnungen eingerichtet, vollständig möbliert.
Ich sehe hier Möbel, die einen sehr alten Eindruck machen und dennoch ganz gut erhalten sind, also doch jedenfalls sehr teuer gewesen sind.
Aber das muss ich sagen, dass sich diese Möbel mit den unsrigen, die noch heute im Palast des Königs stehen, von uns benutzt werden, an Gediegenheit nicht messen können.
Denn wenn so ein Treckbure sich einmal solch eine neue Möbeleinrichtung anschaffen muss, weil er keine geerbt hat oder ihm die bisherige verloren gegangen ist, so rechnet er gleich mit vielen Menschenaltern.
So bin ich auch nicht gewohnt, mit den Fingern oder nur mit dem Messer zu essen, sondern mit schweren silbernen Bestecken, und meine Mutter hat mich gelehrt, die Gabel zu führen.«
Es war etwas protzig gewesen, aber doch in bescheidenem Tone gesagt worden.
»Ja dann allerdings«, sagte Frau Burg, »dann bitte ich um Entschuldigung.«
»In anderen Sachen freilich«, fuhr der Holländer fort, »bin ich vollständig unerfahren, da haben Sie recht. Wie viel zum Beispiel kostet dort die Wanduhr?«
Es war eine einfache, aber gediegene Uhr, die er meinte.
»Na — vielleicht fünfzig Mark.«
»Fünfzig Mark? Tatsache? Wenn ich sie kaufen wollte und Sie forderten fünftausend Mark, und ich hätte das Geld — ich würde sofort die fünftausend Mark bezahlen, würde denken, einen recht billigen Kauf gemacht zu haben.«
»Wie ist denn das möglich?«
»Nun, weil ich eben nur Karawanenpreise kenne.«
»Sind denn die so außerordentlich hoch?«
»Ja natürlich. Diese arabischen Händler wollen bei ihren furchtbaren Strapazen und ihrem Risiko doch auch sehr viel verdienen.
Und alles, was unterwegs verloren geht, muss doch auf das andere geschlagen werden.
Und was geht da alles unterwegs verloren! Durch Nässe, beim Passieren der angeschwollenen Flüsse, durch Termiten, durch räuberische Überfälle, und jedes Mal, wenn ein Träger flieht, ohne seinen Pack mitzunehmen, ist dieser doch verloren, er kann nicht mitgenommen werden.
Ich würde jene Wanduhr dort für 5000 Mark ganz billig finden.
Als ich von Hamburg hierher fuhr, hatte ich fünfzig Pfennige dafür zu bezahlen.
Wenn der Mann hundert Mark gefordert hätte, ich hätte sie willig bezahlt.«
»Ja, ich verstehe Sie!«, sagte Fran Burg.
»Und deshalb eben bin ich nach Hamburg geschickt worden.«
»Weshalb? Wieso?«
»Wir wissen doch recht gut, dass in Europa alles viel billiger zu haben ist. So bin ich also geschickt worden, um alles einzukaufen, was wir brauchen und wünschen, Waffen, Tuchstoffe und dergleichen mehr. Unter anderem auch für meine Mutter ein Klavier.«
Frau Burg begann sich wirklich immer mehr dafür zu interessieren.
»Ein Klavier?«
»Sie hat früher einmal eins gehabt, noch im Treckwagen. Aber das ist schon längst, längst von den Holzwürmern in Staub verwandelt worden.
Sie hat sich schon immer wieder ein Klavier gewünscht. Die arabischen Händler bringen ja eigentlich alles heran, was man fordert. Aber an so etwas wie ein Klavier gehen sie doch nicht. Das ist zu schwer zu transportieren. Auch wenn man es schließlich auseinandernehmen kann. Aber dann wieder das Zusammensetzen!
So bin ich also nach Europa geschickt worden, um dies alles zu besorgen.
Meine Mutter war es, die gerade Hamburg oder Bremen vorschlug.
Ich sollte den Wasserweg benutzen, den sonst keine Karawane kennt.
Ich erhielt einiges englisches Geld mit, das wir uns von arabischen Händlern hatten geben lassen.
Sonst gibt es ja dort kein Geld.
Wohl Gold, aber das ist immer noch zu schwer zu transportieren.
So bekam ich Diamanten mit, die ich in Europa verkaufen sollte.
Nur vier Makallis begleiteten mich, aber schon mit dem Auftrage, vor Urranga wieder umzukehren. Von dort aus sollte ich die Reise lieber ganz allein machen.
Während ich eines Nachts allein auf Anstand saß, wurde unser Lager von feindlichen Trareras überfallen, meine vier Begleiter wurden niedergemacht.
Ich entkam und setzte meine Reise allein fort.
Dann wurde mir mein Kanu mit meinen Waffen gestohlen.
Alles Weitere wissen Sie ja.
Nun muss ich sehen, wie viel ich für meine Diamanten bekomme, danach wird sich richten, was ich einkaufen kann.
Ich stutzte so, als Sie mir für den Stein dort nur tausend Mark boten, weil die arabischen Händler uns für diesen auch 25 Pfund Sterling oder entsprechenden Wert gegeben hätten.
Denn ich glaubte doch, direkt in Europa würden wir das Zehnfache dafür bekommen.
Doch das hat sich ja nun erledigt, es ist wirklich so, wie wir gedacht hatten, wenigstens wenn man an den richtigen, ehrlichen Käufer kommt.
Dann fahre ich mit meiner Fracht zurück nach Boma, miete oder kaufe einen eigenen kleinen Stromdampfer, so viel Geld muss mir noch bleiben, von Urranga aus erreiche ich wieder meine Heimat.«
»Gibt es dort viele solche Diamanten?«, fragte Frau Burg.
»Massenhaft. Wenn ich auch nicht gerade sagen will, dass die Kinder damit spielen.«
»Sie verkaufen sie nur an die Karawanen?«
»Nur an gewisse arabische Händler.«
»Weshalb sind Sie denn nicht schon vorher auf den Gedanken gekommen, mit den Steinen direkt nach Europa zu gehen, Ihre Waren auch direkt von dort zu beziehen?«
»Das ist nicht so einfach, Madame, wie Sie wohl denken. Die Idee dazu war wohl schon immer vorhanden, aber viele Jahre lang ist beraten worden, ehe sie versuchsweise ausgeführt wurde.«
»Ist der Weg so gefährlich?«
»Sehr, sehr. Er führt durch viele feindliche Gebiete. Und da nützt auch keine starke Kriegsmacht. So wenig Leute wie möglich, desto besser kommt man durch. Wenn ich dann selbst einen Dampfer habe, so ist das ja etwas anderes.«
»Würden Sie mich mitnehmen?«
»Aber gewiss, mit dem größten Vergnügen!«, rief der Holländer freudig.
»Würde man mir dort auch Diamanten verkaufen?«
»Sicher! Selbstverständlich! Und natürlich viel, viel billiger, als wie Sie hier kaufen. Wenn Sie nur etwas mehr geben als die Araber, das genügt schon.«
»Lässt man mich denn da aber auch wieder zum Lande heraus?«
»Dafür würde ich sorgen. Da müssten Sie meinem Worte trauen.«
»Ich werde es mir überlegen, darüber sprechen wir noch einmal. Wollen Sie mir nun also diese Diamanten zu den gegebenen Bedingungen bis übermorgen früh überlassen?«
»Ja, Madame.«
»Wie viele sind es?«
»Das - weiß ich nicht.«
»Wie, das wissen Sie nicht? Ah so, es ist nur ein Teil von denen, die Sie bei sich haben. Sie haben diese ohne Zählen hervorgezogen.«
»So ist es. Und um die anderen —«
»Lassen Sie nur, ich weiß schon. Gehen Sie nur mit den anderen zu einem Diamantenhändler, jeder Juwelier kauft ja Steine, auch solche rohen, merken Sie sich das Angebot, und dann kommen Sie zu mir, ob ich Ihnen nicht ein ganz anderes mache. Auf wie viel Stück schätzen Sie die hier liegenden Steine? Es ist nur einmal so eine Frage.«
Wie die Steine so zusammen auf dem Tische lagen, dicht nebeneinander, allerdings nicht übereinander, war das sehr, sehr schwer zu bestimmen.
»Vielleicht — 20 Stück?«
»Ich sage — 45 bis 50. Zählen wir sie.«
Sie hatte vorher die Steine nicht weiter angesehen, jetzt zählte sie.
»47. Da sehen Sie, wie ganz genau ich taxiert habe und wie sich jemand irren kann, der hierin nicht geübt ist.«
Sie zog aus der Tasche eine ganze Masse kleiner Beutel aus Schweinsblase, oben mit einer Schnur durchzogen, wählte einen aus, zählte die Diamanten hinein und ließ alles wieder in der Tasche verschwinden.
»So. Ich will nicht viel weiter davon sagen, dass Sie mir doch Vertrauen schenken. Nun brauchen Sie doch jedenfalls Geld.«
»Ja, etwas wäre mir lieb. Ich habe gerade noch vier Mark. Kapitän Kranz wechselte mein englisches Geld in deutsches um.«
»Dass Sie dort in der Wildnis nicht viel bares Geld haben, kann ich begreifen. Aber wenn dort auch Gold gefunden wird, hatten Sie sich nicht mit solchem versehen?«
»Jawohl. Der hohle Kolben meiner Doppelbüchse war damit gefüllt, aber die ist mir gestohlen worden. Anderes hatte ich nicht bei mir. Sonst lasse ich mir nichts so leicht stehlen, aber das war etwas ganz anderes, und ich hätte den Dieb auch schon wiederbekommen, wenn nicht jenes Ereignis dazwischen getreten wäre. Anderes Gold hatte ich nicht bei mir, nur noch die Diamanten und das wenige Geld, an meinem Leibe verborgen.«
»Mit wie viel Geld kann ich Ihnen jetzt dienen? Bis zu 20 000 Mark kann ich Ihnen jetzt vorstrecken.«
»O — nur für den Lebensunterhalt der nächsten Tage, bis unser Geschäft abgeschlossen ist.«
»Hm. Ich möchte Ihnen auch gar nicht so viel Geld geben. Denn wenn Sie auch nicht der Mann sind, der sich etwas abnehmen lässt — Sie kommen aus der Wildnis — und hier sind Sie in Hamburg. Wir wollen die Sache anders arrangieren. Vertrauen Sie einer erfahrenen Frau. Haben Sie schon eine Wohnung?«
»Ich bin ja vom Schiff direkt hierher gekommen, war nur noch einmal beim belgischen Konsul.«
»Der Kapitän oder jener Herr Niemeyer hätte Ihnen doch vielleicht eine Wohnung anweisen können.«
»Kapitän Kranz sagte mir nur, ich könne vorläufig an Bord wohnen bleiben. Aber das ist sehr umständlich, das Schiff liegt in einem Hafen, nach dem ich auch erst wieder mit einem kleinen Dampfer zu fahren habe.«
»In welchem Hafen?«
»Im AfrikaKai.«
»Ja, das ist allerdings umständlich. Haben Sie noch Sachen an Bord?«
»Ja, und die muss ich mir noch holen.«
»Was denn für Sachen?«
»Nun, meine Jagdkleidung.«
»Woher haben Sie eigentlich diese hier?«
»Von dem Lotsen, der vor Cuxhaven an Bord kam. Ein anderer Anzug hätte mir auch gar nicht gepasst, auf dem Schiffe war niemand so groß wie ich. Und dann noch meine Büchse — oder vielmehr die von Doktor Raimund.«
»Aaah, die haben Sie mitgebracht?«
»Ja selbstverständlich, die hatte ich doch mitgenommen, auch seinen Patronengürtel.«
»Das Gewehr und diesen Gürtel werden Sie doch uns überlassen.«
»Gewiss doch, es ist ja gar nicht mein Eigentum.«
»Und uns wird es ein teures Andenken sein. Würden Sie gleich hier in diesem Städtchen bleiben? Allerdings in diesem Hause — das ist nicht gut möglich. Aber es ist ein gutes Hotel hier, auch ein billigeres Gasthaus, wenn Sie wollen.«
»Ich würde vorziehen, gleich direkt in Hamburg zu wohnen, ich möchte mir schon etwas die zukünftigen Waren ansehen, oder doch die Schaufenster, dass ich mich so nach und nach einrichte.«
»Wohl, so schlage ich Ihnen folgendes vor: Sie nehmen Quartier in einem Hotel, dessen Besitzer ich gut kenne. Ein kleines, aber solides, komfortables Hotel, nahe dem Bahnhof, auf dem Sie aussteigen, nahe dem Hafen, nahe großen Geschäftsstraßen — Sie haben alles in der Nähe.
Ich gebe Ihnen ein paar Zeilen für Herrn Klemm mit. So heißt der Hotelbesitzer, den ich sehr gut kenne. Vertrauen Sie sich ihm an. Fordern Sie von ihm, was Sie brauchen. Auch Geld. Sie brauchen aber doch zunächst einen Anzug, Wäsche und dergleichen. Er wird Ihnen mit Rat und Tat behilflich sein. Denn Sie müssen sich doch wohl erst etwas zurechtfinden. Wollen Sie einen Mann mithaben, so kommt einer mit. Wenn nicht, dann nicht. Unter Vormundschaft stehen Sie nicht etwa. Herr Klemm ist selbst ein alter Seemann gewesen, war dann Schiffsmakler — Sie können ihn also auch wegen des späteren Warentransports fragen. Das heißt immer, wenn Sie wollen. Haben Sie an Bord des Dampfers über Ihr Vorhaben gesprochen?«
»Mit keinem Wort. Ich hatte es auch nicht nötig, man hielt mich doch bis zuletzt für geistig nicht ganz normal.«
»Über Ihre Diamanten?«
»Das erst recht nicht.«
»Ich rate Ihnen, dabei zu bleiben. Hamburg ist Hamburg, in jeder Straße lauern Dutzende von Bauernfängern. Jawohl, von Burenfängern. Und ein Bure sind Sie eben doch. Wenn Sie zu einem Juwelier gehen, so ist das ja etwas ganz anderes. Also ich schreibe Ihnen die Anweisung.«
Sie stand auf und ging an den Schreibtisch, setzte sich, jenem den Rücken zudrehend, legte Papier zurecht.
Vorher noch aber hatte sie einen kleinen Spiegel zurechtgestellt, so, dass sie den Holländer darin beobachten konnte.
Es wäre nicht nötig gewesen. Der saß ruhig da, ließ nur jedes seiner Augen für sich im Zimmer umherwandern.
Dann kratzte die Feder über das Papier, und dann klimperte Geld.
»So. Hier haben Sie das Briefchen im offenen Kuvert, Sie können es selbst lesen, und hier haben Sie vorläufig 86 Mark, alles, was ich einzeln gerade bei mir habe.«
Sie zählte einige Gold- und Silberstücke auf, er steckte sie mit einer leichten Verneigung ein.
»Sie haben wohl die Güte, mir darüber eine Quittung auszustellen. Es ist ja eigentlich gar nicht nötig, aber — ich bin nun einmal daran gewöhnt, mir alles quittieren zu lassen. Bei Ihren Diamanten. ist das ja etwas ganz anderes, da quittiere ich Ihnen nicht, das ist Vertrauenssache. Also bitte.«
Schon hatte sie ihm Papier und Feder vorgelegt.
»Sehr gern. Nur — ich weiß ungefähr, was man unter einer Quittung versteht, aber ich habe noch nie eine ausgestellt.«
»Ich werde Ihnen diktieren.«
»Bitte sehr.«
Die sonst so geschäftskundige Frau diktierte eine recht umständliche Quittung, fast die ganze Seite des großen Bogens wurde ausgefüllt. Abgesehen davon, dass sie das doch eigentlich hätte vorschreiben können.
Mit deutschen, markigen Buchslaben schrieb der Holländer nach, gewandt, fehlerlos.
Mit deutschen, markigen Buchstaben schrieb der
Holländer nach, was Frau Burg ihm diktierte.
»Nun bloß noch Ihren Namen darunter. So, ich danke. Also nur wegen der Ordnung, oder eine Gewohnheit von mir.
Wann geht nun der nächste Zug nach Hamburg? In 25 Minuten. Da haben Sie noch reichlich Zeit. Wollen Sie einen Mann zur Begleitung mithaben? Nach dem Bahnhof? Oder gleich bis nach Hamburg?«
»O nein, es ist nicht nötig, ich habe mich doch auch allein hergefunden.«
»Wie Sie wollen. Nun wegen Ihres Wiederkommens. Morgen Vormittag noch nicht. Ich muss doch erst Fräulein Nielsen vorbereiten, und dann habe ich ja auch nach der Diamantschleiferei zu gehen. Können Sie morgen Mittag um eins hier sein?«
»Ich werde hier sein.«
»Allerdings — ich sage es ganz offen — nicht zum Mittagessen. Das nehmen wir erst um vier Uhr ein. Und es ist doch noch die Frage, wie Fräulein Nielsen den Herrn, der ihr die Nachricht vom Tode ihres Bräutigams bringt, aufnehmen wird.«
»Ich bin um eins hier.«
»Mijnheer, ich danke Ihnen.«
Sie hatte sich erhoben und geklingelt. Bertram kam.
»Leben Sie wohl, Mijnheer, morgen auf Wiedersehen, und da erst werden Sie den richtigen Dank erhalten.«
Sie reichte ihm zum Abschied die Hand.
Fast wäre sie erschrocken zurückgefahren. Nämlich ob der eiskalten Hand, die sie in der ihren zu fühlen bekam.
Dann war er draußen, die Korridortür fiel ins Schloss.
Frau Burg stand mitten im Zimmer. »Der fliegende Holländer!«, flüsterte sie. »Auch ich erlag erst diesem abergläubischen Eindruck.
Die ganze Einleitung zu diesem Besuche, die Ouvertüre, das Sturmesheulen, Blitz und Donner, Agnes' Vision und Behauptung, dort draußen den fliegenden Holländer gesehen zu haben, und dann kam er wirklich selbst, der Mann mit dem ganz eigentümlichen Gesicht, der die ewige Verdammnis förmlich in den Zügen trägt, mir diesen schrecklichen Augen, in diesem altertümlichen Schifferkostüm — ja, auch ich stand ganz unter dem Banne, den fliegenden Holländer vor mir zu haben, der nicht leben und nicht sterben kann, der schon auf Erden die ewige Verdammnis fühlen muss.
Anfangs! Fast nur im ersten Augenblick, da ich ihn sah, erlag ich einem sonst mir ganz unbekannten, abergläubischen Gefühl.
Dieses Gefühl verschwand sehr bald wieder.
Je länger ich mich mit ihm unterhielt, desto mehr verwandelte sich der unheimliche Gast vor meinen Augen in einen ganz simplen Menschen, der nichts weiter Interessantes an sich hat als einen außergewöhnlichen Lebenslauf, der sonst wegen seiner anormalen Augen und seiner Nervenschwäche nur zu bedauern ist.
Als er sich jetzt verabschiedete, war ich in Sorge um ihn, dass der biedere Hinterwäldler Bauernfängern in die Hände fallen könnte, und das umso mehr, weil er wirklich nichts anderes ist als ein Bauer, der sich nur einige Bildung und Manieren angeeignet hat.
Da gab er mir die Hand.
Zum ersten Male berührte ich ihn.
Hu, diese eiskalte Hand, in diesem warmen Zimmer, und obgleich ihm noch etwas Schweiß auf der Stirn stand!
Ein wahres Entsetzen packte mich, als ich diese eiskalte Hand berührte, es ging mir gleich bis ans Herz, noch jetzt liegt es mir in allen Gliedern!
Und da plötzlich stand wieder der leibhaftige Satan als fliegender Holländer vor mir, ein lebendiger Leichnam!
Mit dem nach Afrika gehen! In dem seine Wildnis hinein! Und wenn ich wüsste, dass ich dort die Diamanten in Säcke schaufeln könnte — lieber würde ich mich doch lebendig begraben lassen!«
Sie fuhr sich über die Stirn, und das energische Weib hatte diese Gedanken an einen fliegenden Holländer weggewischt, er war wieder nur der Mensch, der die Kunde von dem Untergange der LeopoldExpedition und speziell von dem Tode Richards in dieses Haus gebracht hatte.
»Ja, es hatte alles Hand und Fuß, was der erzählte, alles, alles! Nirgends die geringste Lücke! Wie ich ihm auch auf den Zahn fühlte, was ich ihm auch für Fallen stellte. Wenn nur nicht der —«
Wir wollen nicht hören, was sie weiter zu sich selbst sagte, wir wollen auch nicht beobachten, was sie dann in der nächsten Viertelstunde tat.
Da schellte wieder die Klingel, wieder ein nächtlicher Besuch.
Denn jetzt war es kein Abend mehr, sondern schon nachts zehn Uhr. Der Sturm draußen hatte sich vollständig gelegt.
Bertram machte eine Meldung, ein junger, elegant gekleideter Herr, der seinen Pelz draußen schon abgelegt hatte, mit sympathischen, offenen, aber ebenso klugen wie sehr energischen Gesichtszügen trat ein.
»Ah, Herr Assessor, Sie selbst!«, rief Frau Burg mit freudiger Überraschung.
Wenigstens Referendar war Oskar Hammer gewesen.
Nach seinem Staatsexamen hatte er die kriminalistische Laufbahn betreten, war aber nicht recht vorwärts gekommen, seiner Meinung nach war er ungerechtfertigter Weise mehrmals übersprungen worden, und so hatte er eine kleine Erbschaft und eine günstige Gelegenheit benutzt, um aus dem Staatsdienst zu scheiden.
Er war als Kompagnon in ein schon bestehendes, gut florierendes Hamburger Privatdetektivinstitut eingetreten, das sich des besten Rufes erfreute.
Eine leitende Stellung nahm er darin nicht ein, höchstens als juristischer Beirat, er hatte freiwillig darauf verzichtet, er wollte praktisch auswärts tätig sein, übernahm die kniffligsten Fälle, und ein Heidenvergnügen machte es ihm, wenn er einmal, was auch schon oft genug passiert war, der wohllöblichen Polizei zuvorkommen konnte.
Auch Frau Burg als Diamantenhändlerin, die, wie sie gesagt hatte, immer mit einem Fuße im Zuchthause stand — wenn das wohl auch nicht gar so schlimm war — hatte dieses Institut schon häufig benutzt, nicht nur als Auskunftsbüro, auch dort wusste man immer ihre jeweilige Adresse.
»Das freut mich, dass Sie selbst kommen, Herr Assessor!«
»Ja, wenn Frau Burg ruft, und wenn ich sie erreichen kann!«, entgegnete der junge Mann, einen kleinen Kasten auf den Tisch setzend. »Aber bitte — ich bin kein Assessor — nur ein Hammer.«
»Können Sie denn auch fotografieren, Herr Hammer?«
»Na, dann hätte ich wohl etwas anderes werden sollen als Detektiv, wenn ich nicht fotografieren könnte«, lächelte der Gefragte, »und was man noch nicht kann, das lernt man eben.«
»Es handelt sich um das Fotografieren eines Schriftstückes«, kam Frau Burg nun gleich zur Sache.
»Wird gemacht.«
»Dieses hier.«
Sie zog aus der Tasche Richards Brief.
Hammer nahm ihn.
»Alle drei Seiten. Oder wenigstens zwei Aufnahmen müssen Sie machen. Die erste, und dann gleichzeitig die zweite und dritte.«
Da machte der junge Mann plötzlich große Augen.
Es war ja gar nicht anders möglich, als dass er die so deutlich geschriebenen Zeilen nur beim Ansehen hatte überfliegen müssen. Er wollte sich beherrschen, er durfte ja eigentlich nicht wissen, was darin stand, es konnte ja ein Geheimnis sein.
»Lesen Sie ihn nur ruhig, morgen weiß es ja doch die ganze Welt.«
»Um Gott, Doktor Raimund ist tot?«
»Na, meine arme Nichte, Fräulein Nielsen, seine Braut! Vor zierzehn Tagen erst der Vater gestorben! Aber nicht nur das — die ganze LeopoldExpedition ist mit Mann und Maus vernichtet worden!«
»Es ist doch nicht möglich!«, flüsterte der junge Detektiv, der sich jetzt keinen Zwang aufzuerlegen brauchte, entsetzt.
Möglichst kurz berichtete ihm Frau Burg die Hauptsache.
»Schrecklich, schrecklich! Der junge Mann, der dies alles beobachtet hat, der sich so des Herrn Doktor Raimund angenommen hat, ist soeben erst hier bei Ihnen gewesen?«
»Vor kaum einer Viertelstunde hat er mich verlassen!«
»Es ist ein Jäger, ein Bure?«
»Ja.«
»Also ein Holländer.«
»Jawohl.«
»Trug er vielleicht einen Wettermantel, darunter so einen Schifferanzug, wie man in Hamburg hauptsächlich die Lotsen gehen sieht, mit sehr hohen Wasserstiefeln, einem Südwester?«
»Jawohl.«
»Dann habe ich ihn vorhin auf dem Bahnhofe stehen sehen. Ich dachte doch, es wäre der fliegende Holländer, der wieder einmal spuken wollte. Es zog sehr auf dem Perron, ein Windstoß trieb ihm den Mantel auseinander — genau wie der fliegende Holländer, wie man ihn sich immer vorstellt! Auch das schöne, aber eigentlich recht abstoßende Gesicht war dem fliegenden Holländer ganz entsprechend.«
»Ganz richtig. Wir alle haben auch gleich an den fliegenden Holländer denken müssen. Wie er im Buche steht. Nur lange unterhalten darf man sich nicht mit ihm. Dann entpuppt er sich immer mehr als ein ganz simpler Mensch. Wenn es auch eine ganz abenteuerliche Existenz ist.«
Aber von dem Königreiche Makalli und dem ersten Minister und Generalfeldmarschall hatte Frau Burg nichts erzählt, dazu war jetzt keine Zeit. Nur von einem afrikanischen Jäger, der sich hierher begeben hatte, um den Untergang der LeopoldExpedition zu melden, diesen letzten Brief des unglücklichen Bräutigams persönlich zu überbringen.
Inzwischen war der junge Detektiv auch nicht untätig gewesen, er hatte schon seinen fotografischen Apparat in Ordnung gebracht.
»Ich bin bereit, Frau Burg.«
»Ja, dann ans Geschäft. Nun richten Sie sich nur weiter ein, um dieses Schreiben zu fotografieren, ich kann Ihnen dabei nicht viel helfen.«
»Sehen wir erst, wie es mit der Dunkelheit steht, ob es für eine Blitzlichtaufnahme, die jetzt natürlich auch nur in Frage kommen kann, auch finster genug ist.«
Die sehr dichten Fenstervorhänge wurden noch besser zugezogen, das Gaslicht ausgedreht.
Nur noch einige kleine Lücken, durch welche draußen die Straßenlaterne hereinblitzte, und es war stockfinster in dem Zimmer. Die Vorhänge waren eben aus ganz lichtundurchlässigem Stoff.
Der Detektiv brannte das Gaslicht wieder an, glättete den Brief sorgfältig, baute ihn auf, befestigte die kleine Kamera, die auch gleich in der Hand benutzt werden konnte, auf einem zusammenklappbaren Stativ, fixierte den zu fotografierenden Brief, aber nur mit dem sogenannten Sucher, schob hin und her, und dann brachte er noch den Apparat für das Magnesiumlicht in Ordnung.
»So, es ist alles fertig. Die nächsten Aufnahmen gehen schneller. Jetzt mache ich es wieder finster.«
Es herrschte Stockfinsternis.
Einige wenige Sekunden, und dann flammte ein intensiv weißes Blitzlicht auf.
Und fast gleichzeitig stieß Frau Burg einen Schrei aus.
»Was ist denn los?«, fragte der Fotograf, selbst etwas erschrocken. »Worüber sind Sie denn so erschrocken? Über den Magnesiumblitz?«
»Der fliegende Holländer!«, stieß Frau Burg hervor, und es klang keuchend.
»Was, der fliegende Holländer?«
»Ich habe ihn gesehen! Dort hinter dem Tische stand er, hinter dem Briefe! Mit einem schrecklich höhnischen Gesicht! Ganz deutlich habe ich ihn gesehen!«
»Ach, das ist ja nicht möglich!«
In der Hand des Detektivs leuchtete eine rote Lampe auf, deren Strahlen der lichtempfindlichen fotografischen Platte nichts schadeten, überdies hatte er das Okular schon wieder geschlossen.
»Na, wo ist denn der Kerl? Das war nur eine Einbildung von Ihnen, Frau Burg.«
»Ja, natürlich«, konnte diese schon wieder lächeln. »Ich dachte gerade an den fliegenden Holländer, wie ich dorthin starrte, wo sich der Brief befindet, und wie das Licht nun so plötzlich aufzuckte, glaubte ich den Mann wirklich dort stehen zu sehen. Aber wie deutlich doch solch eine Vision sein kann!«
»Ja, so etwas kann's geben. So entstehen die meisten Spukgeschichten, die als Tatsachen dann mit ganz ehrlichem Gewissen beschworen werden. Nun wollen wir einmal sehen, wie die erste Aufnahme ausgefallen ist. Ich könnte auch das Gas wieder anbrennen, in diesem Apparat fixiert sich das Negativ sofort von selbst, aber das rote Licht genügt ja auch schon.«
Er nahm die Platte heraus, hielt sie gegen die Lampe, blickte hindurch.
Erst ein ganz verdutztes Gesicht, und dann stieß er einen Ruf der Überraschung, wenn nicht des Schreckens aus.
»Alle Wetter! Da steht der Mann wirklich! Sehen Sie, Frau Burg! Da steht der fliegende Holländer wirklich hinter dem Briefe!«, Frau Burg blickte durch.
Und jetzt wusste sie wirklich nicht mehr, was sie sagen sollte.
Auf der Platte war hinter dem Briefe der fliegende Holländer zu sehen, jener Mann, der sich Vandammen nannte.
Mit fliegendem Mantel stand er da, mit einem überaus höhnischen Gesicht.
Die ganze Gestalt natürlich weiß, ganz geisterhaft, das Gesicht hingegen schwarz, oder doch dunkel. So wie vor ihm das weiße Papier schwarz war, die schwarzen Schriftzüge hingegen weiß. Weil es sich eben um ein Negativ handelte.
»Nun bleibt mir aber der Verstand stehen!«, flüsterte Frau Burg.
Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie sich scheu im Zimmer um.
Dazu nun noch das rote, schwache Licht in der sonst stockfinsteren Stube — es war wirklich ganz unheimlich.
»Jetzt weiß ich nicht mehr, was ich davon denken soll!«
Da brach Herr Hammer in ein herzliches Lachen aus.
»Verzeihen Sie, Frau Burg, dass ich Sie düpiert habe!
Ich weiß, dass Sie so etwas nicht übel nehmen, sonst hätte ich es nicht gesagt.
Übrigens habe ich den Scherz gar nicht gewollt, es handelt sich vielmehr um eine grobe Ungeschicklichkeit von mir. Als ich nämlich den fliegenden Holländer vorhin auf dem Perron stehen sah, habe ich ihn in einem günstigen Moment heimlich geknipst.
Gerade wie sein Mantel so recht flog, und zufällig schnitt er gerade so eine Grimasse.
Nun habe ich geglaubt, ich hätte die Platte durch den Mechanismus umgewechselt, habe es wahrscheinlich auch getan, aber ich habe sie vorhin aus Versehen nochmals umgewechselt, die alte Platte ist wieder eingerutscht, und so habe ich diese eben jetzt benutzt. So kommt es, dass auf der Platte hier der Brief und dahinter oder mehr durchgehend auch der fliegende Holländer zu sehen ist.
Das ist die ganz einfache Erklärung.
Da sehen Sie aber, geehrte Frau Burg, wie leicht ein Spuk entstehen kann, der selbst dem Fotografenapparat standhält, was dann die ehrbarsten Leute beschwören können.«
Schon konnte Frau Burg wieder lachen, wenn es auch noch etwas unsicher klang.
»Das soll mir eine Lehre gewesen sein, dass ich mich nicht so leicht wieder vor einem Aberglauben beuge.«
Die Aufnahme wurde noch einmal gemacht, dann kam die innere Doppelseite des Briefes daran.
Beide Aufnahmen waren tadellos gelungen.
»So, nun wollen Sie auch noch diese hier fotografieren.«
Es war die von Vandammen ausgestellte Quittung.
»Na, und nun auch noch diesen Brief. Es sind zwar noch einige andere solcher Schreiben von Dr. Raimund vorhanden, aber gerade jetzt nach seinem Tode dürfte meine Nichte vielleicht keinen mehr aus ihren Händen lassen.«
Es war also einer der Briefe von Dr. Raimund, die er bei bester Gesundheit geschickt hatte.
»Bis wann kann ich nun von jedem Schriftstück ein halbes Dutzend Kopien haben?«
»Morgen früh mit der ersten Post werden Sie sie haben.«
»Machen Sie das selbst?«
»Das ist doch Vertrauenssache, nicht wahr?«
»Allerdings.«
»Das nahm ich von vornherein an, also werde ich es auch selbst machen.«
»Da müssen Sie ja die ganze Nacht arbeiten!«
»Das ist — verzeihen Sie — meine Sache«, war die Antwort, wie sie diese energische, junge Witwe auch liebte. »Und wenn nicht ich, so müsste doch ein anderer die Arbeit in der Nacht verrichten. Ich tue es selbst. Nun gestatten Sie mir aber eine Frage. Handelt es sich hierbei um eine Schriftvergleichung?«
»Ja.«
»Etwa, ob diese drei Schriftstücke von ein und derselben Hand stammen?«
»Wenigstens zwei von ihnen, oder auch alle drei.«
»Ich empfehle mich Ihnen als Schriftexperten.«
»Wie, das können Sie auch?«
»Das wäre ja schlimm, wenn ich als so ein Privatdetektiv, der nicht nur für Schema F eingerichtet ist, nichts von Grafologie verstände. Aber ich habe mich tatsächlich tüchtig darin eingefuchst.«
»Dann betrachten Sie einmal diese drei Schriftstücke genauer. Finden Sie eine Übereinstimmung oder eine Nichtübereinstimmung in der Hand?«
Der Detektiv betrachtete sie wohl, aber gar nicht so genau, richtete sich gleich wieder empor.
»Eben weil ich glaube, ein tüchtiger Schriftsachverständiger zu sein, bin ich da mit meinem Urteil sehr zurückhaltend. Das muss ganz, ganz genau geprüft werden, mit starker Vergrößerung durch den Projektionsapparat. Denn da kommt es manchmal auf ein winziges, aber immer wiederkehrendes Häkchen an. Da sind die genauesten Winkelmessungen nötig. Nein, ein so schnelles Urteil gebe ich prinzipiell nicht ab.«
»Diese Vorsichtigkeit gefällt mir von Ihnen. Bis wann können Sie diese Untersuchung gemacht haben?«
»Entweder mein Gutachten liegt morgen früh den Kopien bei — oder eben nicht. Dann bin ich eben noch nicht fertig. Und bis wann ich fertig bin, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich werde mich aber sofort an die Arbeit machen.«
»Müssen Sie diese Briefe da im Original mitnehmen?«
»Das ist nicht nötig, ich habe doch die Kopien. Eine von jedem behalte ich zurück.«
»Sie müssen aber doch erst die Positive entwickeln.«
»Das geht schnell. Während ich entwickele, kann ich schon die ersten Vorbereitungen zum Vergleich an den Negativen anstellen.«
»Nun gut. Ich habe Ihnen aber auch noch einen anderen Auftrag zu erteilen. Setzen wir uns.«
Das Gaslicht brannte wieder, sie setzten sich.
»Herr Hammer, Sie gefallen mir immer besser«, fing Frau Burg zunächst an.
Der junge Mann verneigte sich.
»Das kann ich von Ihnen nicht sagen«, entgegnete er dann.
»Was?«, lachte die junge, schöne Witwe in ehrlichem Staunen ob solcher Grobheit.
»Nein. Denn wenn Sie mir immer besser gefielen, Frau Burg, dann müsste es doch einmal eine Zeit gegeben haben, wo Sie mir weniger gut gefallen hätten. Und das ist eben nie der Fall gewesen.«
»Ah so! Das haben Sie wieder einmal sehr fein gesagt, Herr Assessor! Sie sind ein Schwerenöter! Nun aber wollen wir ernstlich reden. Ich habe noch einen ganz kniffligen Auftrag für Sie.«
»Soll mich sehr freuen.«
»Eine Beobachtung, ein Auskundschaften.«
»Nichts tue ich lieber als das. Vorausgesetzt, dass mir solch ein Auftrag von einer Person wie von Ihnen erteilt wird.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wenn sich etwa ein Mann von seiner Frau gern scheiden lassen möchte — oder eine Frau von ihrem Manne — aber es fehlt vorläufig jeder Grund — und ich soll nun auf Schritt und Tritt nachschleichen — dafür bin ich nicht zu haben.«
»Selbstverständlich nicht, ich kenne Sie, wie die Vigilanz doch überhaupt für ihre Solidität bekannt ist. Sie kennen doch das Hotel Klemm am Bahnhof.«
»In dem auch Sie manchmal absteigen, Sie haben ja schon von dort aus uns angerufen. Gewiss.«
»In diesem wird voraussichtlich ein Herr Vandammen Quartier nehmen.«
»Das ist also unser fliegender Holländer?«
»Ja. Ich möchte, dass Sie diesen Mann beobachten.«
»Nach welcher Hinsicht?«
»Ob er ein wirklicher afrikanischer Hinterwäldler ist, ob nach seinem ganzen Auftreten das, was ich Ihnen jetzt berichten werde, auf Tatsachen beruhen kann oder nicht.«
Und jetzt berichtete Frau Burg ganz ausführlich, was wir natürlich nicht wiederholen werden.
»Er soll daraufhin beobachtet werden«, sagte der Detektiv, nachdem er alles gehört hatte, die Erzählung manchmal durch kluge Fragen unterbrechend. »Müssen Sie sonst noch etwas wissen?«
»Vorläufig nicht mehr. Werden Sie das selbst übernehmen?«
»Ei gewiss!«
»Haben Sie gerade nichts anderes vor?«
»Und wenn es der Fall wäre, ich würde alles andere liegen lassen. Denn erstens ist das der interessanteste Fall, der mir je vorgekommen, und zweitens —«
Der junge Mann verneigte sich nur vor der schönen Witwe.
»Sssst, keine Komplimente! Dazu ist die Sache zu ernst. Also Sie selbst übernehmen es. Das ist mir lieb. Nun aber hat der Holländer Sie auf dem Bahnhofe vielleicht schon gesehen. Das hätte ja schließlich nichts zu sagen, warum sollen Sie nicht einmal hier herausfahren, aber er könnte doch einen Verdacht bekommen —«
»Ohne Sorge, er soll mich nicht wiedererkennen.«
»Sie werden sich verkleiden?«
»Ganz unkenntlich. Ich nehme auch eine andere Maske an.«
»Mit falschem Bart und Perücke?«
»Jawohl.«
»Ist denn das eigentlich erlaubt? Es ist eine Frage, die mir gerade einfällt. Kann eigentlich jeder mit einem falschen Barte herumlaufen?«
»Nein, eigentlich nicht. Eine Perücke zu tragen, um einen kahlen Schädel zu verbergen, das ist erlaubt. Aber Hilfsmittel zu gebrauchen, um sich ein anderes Aussehen zu geben, das ist nicht erlaubt, das wird bestraft. Ebenso wie man doch auch keine Maske tragen darf.«
»Dürfen Sie es denn?«
»Ja. Ich gehöre zu den sehr, sehr wenigen Privatdetektiven, welche hierzu die polizeiliche Erlaubnis haben. Dazu ist mir eben sehr nützlich gewesen, dass ich früher im kriminalistischen Staatsdienst gestanden und einen regelrechten Abschied in allen Ehren mit dem besten Zeugnisse genommen habe. Als Kriminalassistent musste ich mich ja oft genug verkleiden und falsche Bärte tragen, und was ich früher tun musste, ist mir jetzt auch als Privatdetektiv erlaubt worden, für ganz Deutschland.«
»Nun, da lassen Sie sich nur nicht von einem der beiden von einander unabhängigen Augen unter einer falschen Maske erkennen.«
»Dann wäre dieser Holländer der erste, dem das gelänge.«
»Dann hätte ich gleich noch etwas anderes mit Ihnen zu besprechen.«
»Bitte?«
»In Afrika wissen Sie wohl keinen Bescheid?«
»Nun, es ist Ihnen doch bekannt, dass ich mich nach Kamerun gemeldet hatte. Ich hatte auch die erste Anwartschaft auf den Assessorposten. Aber als mir nun der Döskopp da vorgezogen wurde, der mit Ach und Krach sein Examen gemacht hatte, der aber ein ›von‹ vor seinem Namen hatte, und weil sein Vater — na, Sie wissen ja! Da hatte ich die Nase voll, da habe ich gleich meine ganze Karriere aufgegeben.«
»Ja, aber sonst kennen Sie die Verhältnisse doch nicht.«
»Nun, ich habe mich in den zwei Jahren, da ich gewartet habe, und auch schon vorher, tüchtig darauf vorbereitet! Ich habe tüchtig geochst! Ich kann die Duallasprache. Ich kann auch die im ganzen Westen bis tief ins Innere hinein verbreitete Bantusprache, beherrsche sie vollkommen. Ich kann auch die allgemein verbreitete Trommelsprache. Wissen Sie, was das heißt?«
Er trommelte mit den Fingern auf dem Tisch.
»Was heißt es?«
»Das sage ich Ihnen nicht. Sie könnten es mir übel nehmen. Oder lernen Sie erst mal die Trommelsprache.«
Sie machte lächelnd eine abwehrende Handbewegung, konnte sich ja etwas denken.
Aber kein Gedanke daran, dass dieser junge Mann eine Annäherung versucht hätte. Er wusste, dass er sich solche kleine Freiheiten erlauben durfte, und er tat es.
»Ja, aber Theorie und Praxis ist doch etwas ganz anderes. Wenn Sie hinüberkommen würden —«
»Na, ich bin doch schon drüben gewesen.«
»Was, Sie waren schon einmal in Afrika?«
»In Kamerun, gewiss. Ich habe einmal die Gerichtsferien, die ich mir verlängern ließ, dazu benutzt, um einmal hinüberzurutschen. Vornehm im Zwischendeck. Natürlich nicht als Herr Referendar Hammer, sondern als der in Kamerun Stelle suchen wollende Schreiber Schulze. Das konnte ich als Gerichtsreferendar doch leicht arrangieren. Eigentlich hätte man mir auch das Fahrgeld und die sonstigen Spesen vergüten können. Denn ich habe im Zwischendeck richtig einen ganz infamen, schon lange steckbrieflich verfolgten Hochstapler geklappt. Aber da war in der ersten Kajüte ein Staatsanwalt, der hat mir die ganze Sache natürlich schleunigst abgenommen, ich hatte wieder einmal das Nachsehen. Aber in Kamerun habe ich mich in den vier Wochen gründlich umgeschaut. Die Eingeborenen wenigstens verstehe ich zu behandeln.«
»Dann wären Sie vielleicht mein Mann!«
»Bitte?«
»Kamerun ist schließlich doch gar nicht so weit vom Kongostaat entfernt.«
»Wie man's nimmt. Aber wenn Sie meinen, dass, wer Kamerun kennt, wenn auch nur etwas, auch im Kongostaat mit den Verhältnissen fertig wird, da haben Sie allerdings recht.
Vor allen Dingen wird auch im ganzen Kongostaat die Bantusprache gesprochen. Die Bantus waren dort einst das herrschende Volk.«
»Ich beabsichtige nämlich, jemanden dort an den Leopoldsee zu schicken.«
»Das habe ich mir nun schon gedacht«, sagte Hammer, aber erst jetzt nahm sein Gesicht einen ganz verklärten Ausdruck an. »Ach, wenn ich in solch einer Mission einmal nach Afrika könnte! So recht mitten hinein in die Wildnis! Denn ein gut Teil Abenteuerlust steckt in mir. Deshalb eben bin ich auch Detektiv geworden. Und möchte das auch in der Wildnis bleiben. Nicht nur so mit der Büchse auf die Eidechsenjagd gehen.«
»Nun, da werden wir noch einmal darüber sprechen.«
»Ach, Frau Burg, was machen Sie mir da für eine köstliche Hoffnung!«
»Was würde das wohl kosten? Denn eine ganze Millionärin bin ich noch nicht.«
»O, das würde gar nicht so schlimm sein. Ich fahre immer wieder Zwischendeck.«
»Eine ganze Expedition könnte ich natürlich nicht ausrüsten.«
»Ich gehe auch ganz allein, wohin Sie mich schicken. Aber ich kann mich doch auch der nächsten Expedition anschließen.«
»Welcher nächsten Expedition?«
»Da wird doch bald eine andere Expedition nachgeschickt, um nachzuforschen, ob die Angaben dieses Jägers auch stimmen, ob nicht vielleicht noch Überlebende zu retten sind.«
Frau Burg schlug sich vor die Stirn. »Ach richtig, Sie haben recht! Daran hatte ich wirklich noch gar nicht gedacht!«
»Dieser Expedition müsste ich mich eben anschließen. Das würde die Kosten ja ganz bedeutend verringern. Vorausgesetzt müsste freilich werden, dass ich meine Dispositionsfreiheit behalte.«
»Und vielleicht würde auch Vandammen diese Expedition zur Rückkehr benutzen.«
»Vielleicht — vielleicht auch nicht. Darüber lässt sich jetzt doch noch gar nichts sagen, und solche Vermutungen haben gar keinen Zweck, trüben nur das Urteil für später. Verzeihen Sie, wenn ich so offen bin.«
»Sollte Vandammen eine andere Gelegenheit benutzen, so müssten Sie sich ihm anschließen.«
»Auch das wird sich ja finden.«
»Aber angebracht ist es, schon vornherein zu beschließen, dass Sie sein Vertrauen zu gewinnen suchen.«
»Ja, das werde ich allerdings tun.«
Eine dünne Glocke schellte. Frau Burg stand schnell auf.
»Meine Nichte ist erwacht. Ich muss zu ihr. Und Sie müssen ja arbeiten, ich habe Sie schon lange genug aufgehalten. Also morgen früh erwarte ich bestimmt die Kopien.«
»Sie erhalten sie auf alle Fälle, über mein Gutachten kann ich noch nichts sagen. Auf Wiedersehen, geehrte Frau Burg.« — — —
Es schien, als ob die arme reiche Witwe heute Nacht keine Ruhe bekommen sollte.
Agnes war aus tiefem Schlafe erwacht, in den die erste Ohnmacht übergegangen war, sie wollte die Tante sprechen.
»Ist er noch da?«, fragte die müde Stimme.
»Er ist schon lange fort.«
»Was hat er sonst noch gesagt?«
Jetzt musste die arme Tante noch einmal alles erzählen.
Doch nur das, was Agnes wissen musste. Über die Diamanten und über den König Mira von Makalli brauchte sie vorläufig noch nichts zu hören.
Dagegen berichtete Frau Burg auch gleich über den Untergang der ganzen Expedition.
Agnes hörte auffallend ruhig alles mit an. Aber etwas Unnatürliches war doch nicht dabei.
Sie hatte den ersten furchtbaren Schmerz eben bereits überwunden, größer konnte er nun nicht mehr werden. Jetzt erst, als Frau Burg merkte, dass ihre Nichte seelisch so beschaffen war, gab sie ihr auch des Verlobten letzten Brief zu lesen.
Ruhig las ihn das Mädchen, küsste ihn, faltete ihn ruhig zusammen und legte ihn auf das Bett.
»Nun weiß ich, was ich zu tun habe«, sagte sie ebenso ruhig.
»Was denn?«, fragte Frau Burg, gleich etwas misstrauisch werdend, eben wegen dieser ruhigen Worte, die aber doch so bestimmt gesagt worden waren.
»Ich muss an sein Grab.«
»Kind!«
»Ich werde sein Grab aufsuchen!«
»Kind, Du willst nach Afrika?«
»Ich werde an seinem Grabe beten und, wenn es irgendwie möglich ist, seine irdischen Reste nach hier überführen.
Kein Wort weiter, Tante! Es ist zwecklos. Du wirst mich in meinem Entschluss nicht irre machen.
Es wird doch bald eine neue Expedition nachgeschickt werden, ob nicht vielleicht doch noch Überlebende zu retten sind — der werde ich mich anschließen.«
Im Augenblick dachte die Taute hauptsächlich daran, dass ihre sanfte, schüchterne, so ganz und gar unpraktische Nichte sofort das ins Auge gefasst hatte, woran sie, die geschäftskundige Frau, nicht gleich gedacht hatte: an jene zweite, nachzuschickende Expedition.
Das imponierte ihr äußerst.
Und dann war sie klug genug, einzusehen, dass jetzt jeder Widerspruch wirklich ganz zwecklos sei, er würde das Mädchen nur noch mehr reizen, bei seinem Willen zu bleiben.
»Wir werden darüber später sprechen.«
»Ja natürlich, darüber muss gesprochen werden. Morgen Mittag um eins kommt Herr Vandammen wieder? Ich werde mit ihm darüber sprechen.« — — —
Die erste Morgenpost brachte die tadellosen Kopien der fotografischen Schriftstücke, aber kein Gutachten.
Ein beiliegender Brief von Hammer sagte, dass er noch dabei sei und dass der Holländer im Hotel Quartier genommen habe. Nichts weiter.
Agnes schlief noch, als Frau Burg, fertig zum Ausgehen, den alten Bertram vornahm
»Ich fahre nach Hamburg. Halb eins bin ich zurück. Sollte sich in Fräulein Nielsens Zustand etwas verschlimmern, so holst Du natürlich sofort den Arzt. Er wird wahrscheinlich überhaupt vorsprechen. Und nun die Hauptsache: Sollte der Holländer schon vor halb eins kommen, so tust Du Dein Möglichstes, dass Fräulein Nielsen nichts davon erfährt, Du schickst ihn wieder weg, er möchte erst um eins kommen. Die beiden sollen ohne mich nicht zusammen sprechen. Ist es aber unvermeidlich, so musst wenigstens Du dabei sein. Verstanden, Bertram?«
Der alte Bootsmann hatte verstanden und würde seine Sache schon machen.
Frau Burg fuhr in die Stadt, ihr erster Gang war zu einem vereidigten Gerichtsexperten, dessen Sprechstunden sie aus dem Adressbuch ersehen hatte. Früh von 8 bis 9, nachmittags von 3 bis 4. Sonst war der Beamte eben auf dem Gericht oder anderswo beschäftigt.
Es war halb neun, der alte Herr schon zum Ausgehen angezogen.
»Können hier diese drei Schriften, fotografische Wiedergaben, von ein und derselben Hand herrühren oder nicht?«
Der alte Herr betrachtete die beiden Briefe und die Quittung, nahm auch einmal die Lupe zu Hilfe.
»Diese beiden Briefe hier sind von ein und derselben Hand geschrieben. Wohl ist die eine Schrift etwas unsicherer, aber es ist doch genau dieselbe. Diese Quittung hier hat mit den anderen beiden Schriften gar nichts gemeinsam. Doch ich will noch einmal genauer untersuchen.«
Er verließ das Ziemer, kam nach kaum fünf Minuten zurück.
»Mein erstes Urteil bleibt bestehen.«
Er wiederholte es noch einmal.
Frau Burg steckte die Kopien wieder ein.
»Was bin ich schuldig?«
»Zwanzig Mark.«
Fran Burg berappte, nahm einen Wagen, fuhr eine gute Strecke, hielt vor einem alten Hause und erkletterte vier Treppen bis unter den Dachstuhl.
»Gottlieb Bohnsack, Grafologe«, stand auf einer schmutzigen Visitenkarte an der Tür, an der sie die Klingel zog.
Außerdem aber war noch eine große Pappe befestigt, auf der sehr groß und sehr schön geschrieben stand: Nostradamus.
Hier wohnte also der geheimnisvolle Prophet Nostradamus, der manchmal in kleinen Blättchen annoncierte, dass er aus eingeschickten Handschriften jeden Charakter beurteilen und daraus auch die Zukunft des Betreffenden enthüllen konnte. Für fünf Groschen respektive eine Mark.
Herr Gottlieb BohnsackNostradamus schien keine glänzenden Geschäfte zu machen.
Ein noch junger, aber schon greisenhaft aussehender, ganz abgezehrter Mann im zerfetzten Schlafrock, und so sah es auch in der Dachstube aus, eine literarische Rumpelkammer.
Er kannte die eintretende Dame bereits, sein verhungertes Gesicht erstrahlte.
»Ich war schon einmal bei Ihnen, Sie haben mir schon einmal einen Beweis von Ihrem außerordentlichen Können gegeben. Hier sehen Sie diese drei Schriften. Stammen diese von ein und derselben Hand oder nicht?«
Herr Gottlieb Nostradamus nahm von einem Stuhle ein Waschbecken mit schmutzigem Wasser und wischte mit einem entsetzlichen Handtuch den Seifenschaum ab, damit sich die Dame setzen konnte, nahm von dem Küchentisch, der zum Schreiben diente, eine zwischen Schriftstücken aller Art liegende Pflaumenmusbemme — oder in Hamburg Stulle — legte sie einstweilen, bis er weitere Ordnung geschaffen hatte, auf den zweiten Stuhl, dann vergaß er sie, setzte sich auf das Pflaumenmus und machte sich an die Arbeit.
»Dazu brauche ich eine Stunde Zeit«, lautete dann sein Urteil.
»Kann ich in einer Stunde wiederkommen?«
»Ja, bitte.«
»Sind Sie dann aber auch wirklich fertig?«
»Ganz bestimmt. Jetzt möchte ich mein Urteil noch nicht abgeben.«
»Also in einer Stunde bin ich wieder hier. Lassen Sie sich Ihr Frühstück gut schmecken, Herr Bohnsack.«
»Danke sehr, Frau Burg.«
Jetzt fuhr sie nach der Diamantenschleiferei, und nach etwa einer Stunde erklomm sie zum zweiten Male die vier Treppen.
Nostradamus war noch immer mit den Kopien beschäftigt, war aber nun auch gerade fertig.
Er gab genau dasselbe Urteil ab wie der vereidigte Gerichtsexperte, ganz genau dasselbe, so dass wir es nicht zu wiederholen brauchen.
»Ihr Urteil könnte sich niemals ändern, auch wenn Sie noch gründlicher untersuchen?«
»Niemals. Es ist so, wie ich sage, ein Irrtum ist gänzlich ausgeschlossen.«
»Was bin ich schuldig?«
»Wenn ich um drei Mark bitten darf.«
Frau Burg gab ein Fünfmarkstück und verweigerte ein Wechseln, was Herr Nostradamus auch beim besten Willen nicht hätte tun können.
Seine Augen waren suchend umhergeirrt, aber die ihm fehlenden zwei Mark konnten wohl nicht daran schuld sein, denn auch als er sich immer wieder für die ganzen fünf Mark bedankte, irrten seine Augen noch immer umher.
»Sie suchen wohl etwas?«, fragte die freie Hamburgerin.
»Ja — meine Musstulle — ich habe sie schon immer gesucht — in Gedanken gegessen habe ich sie sicher noch nicht, sonst wäre mir jetzt anders zumute — ich weiß gar nicht — wo kann ich die nur hingelegt haben?«
»Na da schreiben Sie doch mal ein paar Zeilen auf — Sie werden doch aus Ihrer eigenen Handschrift Ihre Zukunft beurteilen können — wo Sie Ihre Musstulle hingelegt haben.«
»Ach lassen Sie doch — das ist ja alles Mumpitz«, lächelte er verlegen.
»Na dann will ich's Ihnen sagen: Hinten an Ihrem Schlafrock klebt sie. Adieu und guten Appetit.«
Herr Nostradamus griff, fasste und führte das wiedergefundene Kleinod heißhungrig zum Munde — und dann setzte er eine Annonce für fünf Mark auf, in der er der Welt ankündigte, dass er — eine ganz neue Idee — aus jeder Handschrift beurteilen könne, welche Nummer der Betreffende in der Lotterie spielen müsse, um das große Los zu gewinnen. Oder doch so um die Drehe herum.
Jetzt begab sich Frau Burg nach der Vigilanz, fragte nach Herrn Hammer und wurde empfangen.
»Soeben ist meine Untersuchung beendet, acht ganze Stunden habe ich daran ununterbrochen gearbeitet.«
»Nun?«
Hammer ging an eine große Wandtafel, nahm ein Stück Kreide, begann zu malen und einen Vortrag zu halten.
Einen jener Vorträge, wie ihn damals im DreyfusProzess der berühmteste französische Grafologe vor Gericht drei Stunden lang gehalten hat, ganz genau explizierend, dass nur Dreyfus den betreffenden Brief geschrieben haben könne.
In dem Gerichtssaale waren doch gewiss scharfsinnige Köpfe, aber auch diese mussten dann gestehen, von dem dreistündigen Vortrage absolut gar nichts verstanden zu haben.
Und außerdem hatte sich, wie sich dann herausstellte, der gute Mann geirrt.
Frau Burg hörte keine drei Stunden mit zu, nicht einmal drei Minuten.
»Das Resultat will ich hören, Ihr Urteil, nichts weiter!«
»Nun gut. Den letzten Brief, den Dr. Raimund vor seinem Tode geschrieben hat, den — soll er nur geschrieben haben!
Das behaupte ich unter der Voraussetzung, dass er hier diesen Brief in Boma wirklich selbst geschrieben hat.
Diese zwei Briefe stammen von zwei verschiedenen Händen her!
Dieser letzte, gefälschte Brief ist mit äußerster Geschicklichkeit nachgeahmt worden!
Gerade dadurch, dass man die Schriftzüge unsicher, etwas zittrig gemacht hat. Wie man das bei einem im Sterben liegenden Manne erwarten kann.«
Frau Burg war aufgesprungen, etwas außer sich.
»Meine Ahnung!«, rief sie. »Nein, meine Gewissheit! Der Abschiedsbrief ist gefälscht! Ich habe es sofort erkannt!«
»Sie haben es sofort erkannt?«
»Sofort! Noch ehe ich ihn mit einem der früheren Briefe verglich.«
»Noch ehe Sie ihn mit den anderen Schreiben von Dr. Raimund verglichen?«, wiederholte der Detektiv immer wieder.
»Ja. Ich hatte nur einen Blick darauf geworfen, und da sagte ich mir sofort: Den hat nicht Richard geschrieben, den hat jemand anders geschrieben, hat die Handschrift nur nachgeahmt!«
»Das ist nicht möglich.«
»Was ist nicht möglich?«
»Ich habe dazu acht ganze Stunden gebraucht, erst in der fünften Stunde gewahrte ich durch riesenhafte Vergrößerung etwas, was meinen Argwohn erregte, aber noch drei weitere Stunden gebrauchte ich —«
»Und ich habe dazu einen einzigen Blick gebraucht!«
»Ihr Argwohn entstand durch die Unsicherheit und Zittrigkeit der Buchstaben, denn tatsächlich ist es ja eine andere Schrift —«
»Nein, eben nicht! Durch diese Unsicherheit ließ ich mich ganz und gar nicht beeinflussen! Die Hand des Sterbenden zog ich sofort in Betracht. Ich erkannte sofort, dass es überhaupt eine fremde Handschrift war, nicht die von Dr. Raimund, dass hier eine absichtliche Fälschung vorlag.«
»Aber Frau Burg — allen Respekt vor Ihnen — aber so etwas gibt es ja gar nicht — durch einen einzigen Blick —«
»So etwas gäbe es nicht? Warten Sie, ich will Ihnen gleich ein anderes Experiment vormachen.«
Auf dem Schreibtische stand ein Glas, mehr als bis zur Hälfte mit kleinen Schrotkörnern gefüllt, um die Schreibfedern hineinzustecken. So eine alte Mode. Fran Burg nahm das Glas, schüttete eine gute Portion der Schrotkörner in ihre hohle Hand, schlug sie auf den Tisch, dass keines rollen konnte und keines über dem anderen lag.
»Wie viele Schrotkörner sind das? Na schnell.«
Der Detektiv war hingetreten.
»Ja, wie soll man das gleich sagen können?«
»Schätzen Sie.«
»Hundert.«
»Nur hundert?«
»Noch keine hundert.«
»Und ich sage — zweihundertzwanzig bis zweihundertdreißig. Nun zählen Sie.«
Der Detektiv unterzog sich der Arbeit.
Nachdem er die Hundert überschritten hatte, wurde sein Gesicht immer verblüffter, und immer noch mehr, je mehr er sich den letzten Schrotkörnern näherte.
»Zweihundertvierundzwanzig! Wahrhaftig! Das ja fabelhaft! Das grenzt an Zauberei! Wie machen Sie das?«
»Da mache ich gar nichts dabei. Ich werfe einen Blick hin und kann ungefähr die richtige Anzahl angeben.
Wenn ich dabei wirklich irgend etwas Besonderes im Kopfe mache, so weiß ich doch nichts davon. Und ich habe mich nicht etwa darin geübt. Ja, gemacht habe ich das zwar oft genug, aber mich nie drin geübt. Ich konnte das schon als kleines Kind, sobald ich nur etwas von Zahlen wusste. Wenn ich eine große Schafherde sah, die Tiere mochten noch so durcheinanderlaufen — ich brauchte nur hinzusehen, nur ein Blick, dann gab ich die Zahl an — und wurde der Schäfer gefragt, so stimmte es immer bis auf wenige Stück.«
»Das ist ja fabelhaft!«
»Und so kann ich auch Handschriften unterscheiden. In diese Verlegenheit, solche beurteilen zu müssen, bin ich ja noch nicht viel gekommen. Manchmal aber doch. Mich kann niemand mit einer Handschrift täuschen. Ich habe doch schon Tausende von verschiedenen Schriften gesehen, und ich habe sie alle noch im Kopfe. Und da mag jemand seine Schrift noch so gut verstellen, wenn sie zu den Tausenden gehört, die ich schon einmal gesehen, vor vielen, vielen Jahren, das heißt wenn sie von derselben Hand geschrieben ist, dann erkenne ich sie auch sofort wieder. Und dabei habe ich eigentlich gar kein so gutes Auge. Ich bin etwas kurzsichtig, und wenn ich einmal schieße, schieße ich egal daneben.«
»Kann ich da nicht gleich einmal ein Experiment mit Ihnen vornehmen in Bezug auf anonyme Briefe, ob Sie den Schreiber herausfinden?«
»Aber schnell, wir haben noch anderes zu tun!«
Der Detektiv entnahm einem der Kästen, welche eine ganze Wand von unten bis oben bedeckten, einen Pack Briefe, suchte schnell einige aus, 15 Stück, ordnete sie auf dem Tisch, in drei Reihen zu je fünf.
»Dies hier ist der anonyme Schmähbrief, dessen Schreiber wir ausfindig machen sollten. Wir verschafften uns Handschreiben von den betreffenden Personen, die als Täter in Betracht kommen konnten. Ich bemerke gleich, dass wir den Täter entdeckt haben, sein zweites Schreiben, das wir ihm ablockten, befindet sich hier mit darunter. Aber alle Kunst der Grafologie hat in diesem Falle versagt, unsere eigene wie auch die anderer, die wir zu Rate zogen. Der Täter ist dann in anderer Weise ermittelt worden, er hat sich zufällig selbst verraten.
Welche Hand hat nun sowohl diesen anonymen Brief hier sowie einen der vierzehn anderen geschrieben?«
Frau Burg betrachtete prüfend den bezeichneten anonymen Schmähbrief, dann blickte sie flüchtig über die anderen Schreiben und tippte sofort auf eines.
»Dieses hier. Die beiden Handschriften stammen von ein und derselben Hand.«
Der Detektiv: »Stimmt, stimmt! Ja, mein Gott, Frau Burg, wenn Sie solch eine wunderbare Gabe besitzen — weshalb kommen Sie denn da erst zu mir, dass ich die beiden Handschriften vergleichen soll?«
»Weil ich mich doch auch einmal irren kann. Denn die Gewissheit, dass ich mich nicht irren könnte, habe ich nie. Also Sie sind zur Überzeugung gekommen, dass die beiden Briefe nicht von derselben Hand herrühren?«
»Ja! Die beiden Briefe, die von Dr. Raimund geschrieben sein sollen. stammen von zwei verschiedenen Händen. Und da kommt nicht etwa die linke und die rechte Hand in Betracht! Der ganze Unterschied liegt immer nur im Charakter. Dieser letzte Brief hier ist von einer anderen Person geschrieben als dieser.«
»So, nachdem ich dieses Ihr Urteil habe, zweifele ich auch nicht mehr an meinem eigenen. Also dieser Herr Vandammen hat uns belogen! Dass er mit Dr. Raimund zusammen gewesen ist, daran ist ja gar kein Zweifel. Er kennt die Verhältnisse, spricht von dem Agnesfall, hat ja auch seine Büchse und Patronentasche mitgebracht. So behauptet er wenigstens, und ich glaube es schon, das wird sich ja bald konstatieren lassen, dies alles wird schon stimmen.
Aber das stimmt nicht, dass Dr. Raimund diesen seinen letzten Brief geschrieben hat, wobei Vandammen zugegen gewesen sein will.
Dieser Brief ist von jemand anders geschrieben worden, der Dr. Raimunds Handschrift aufs Täuschendste nachgemacht hat, dabei aber auch in Betracht ziehend, dass der Schreiber ganz erschöpft, dem Tode nahe sein sollte. Deshalb die Buchstaben etwas unsicher und sogar zittrig malend.
Wer nun hat diesen Brief gefälscht? Das muss jetzt unsere erste Frage sein.«
»Ist diese Quittung hier von dem Holländer selbst geschrieben worden?«, fragte Hammer.
»Ja, vor meinen Augen.«
»Das ist aber wieder eine ganz andere Schrift, ein ganz anderer Charakter. Wer diese Quittung geschrieben hat, hat nicht etwa dort jene Fälschung begangen.«
»Stimmt! Das ist sofort auch meine Überzeugung gewesen.
Nein, Vandammen selbst hat diesen vorgeblich letzten Brief Dr. Raimunds nicht geschrieben.
Das ist es hauptsächlich, was mich zunächst so pikiert. Ein anderer hat diesen Brief gefälscht.
Also hat dieser Vandammen noch einen Komplizen.
Zwei Menschen bilden schon eine Gesellschaft, mit der wir es zu tun haben.
Und weshalb nun diese Fälschung?
Besteht da nicht die Möglichkeit, dass Dr. Raimund überhaupt gar nicht tot ist?«
Wir wollen die beiden nicht weiter belauschen. Sie sprachen noch gar lange zusammen, alle Mögicheiten erwägend, bis Frau Burg nach der Uhr sah.
»Schon halb zwölf! Da wird es Zeit, dass ich noch den Zug bekomme.
Weiter haben wir jetzt nichts zu besprechen. Sie übernehmen also die Beobachtung des Holländers.«
Sie selbst fuhr erst nach Hotel Klemm. Wenn sich Vandammen Zeit genommen hatte, war er noch im Hotel, sonst musste sie ihn auf dem Bahnhofe treffen.
»Herr Vandammen ist nicht anwesend«, sagte der Hotelier.
»Er ist heute in aller Frühe noch einmal beim belgischen Konsul gewesen, ich selbst habe es ihm geraten.
Der belgische Konsul nun hat ihn bestimmt, dass er heute mit dem Zweiuhrzug nach Brüssel fährt, um an Ort und Stelle über den Untergang der LeopoldExpedition zu berichten.«
»Und wo ist er jetzt?«, fragte Frau Burg, gleich unangenehm berührt.
»Er sollte doch um eins bei Ihnen sein. Durch die Brüsseler Reise wäre ihm aber das nicht mehr möglich. So ist er schon mit dem ZehnuhrZug zu Ihnen hinausgefahren, um seine Abschiedsvisite zu machen.«
Ein jäher Schreck durchzuckte die junge Witwe.
Aber eine unheilvolle Ahnung war es nicht.
Sie hatte dem alten Bertram ja ihre Instruktionen gegeben, und sie wusste, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Entweder er ließ den Holländer gar nicht vor, oder, falls Agnes ihn schon durch das Fenster kommen gesehen oder vielleicht selbst die Tür öffnete, was auch einmal vorkommen konnte, so würde der alte Bertram die beiden doch auf keinen Fall allein lassen.
So dachte Frau Burg beruhigt, als sie sich nach dem Bahnhofe begab.
Aber es sollte alles ganz anders kommen.
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