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ROBERT KRAFT

DAS ZWEITE GESICHT

ODER DIE VERFOLGUNG RUND UM DIE ERDE

BAND 2

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RGL e-Book Cover
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Ex Libris

Das zweite Gesicht
oder Die Verfolgung rund um die Erde
.
Heidenau-Nord:
Mitteldeutsche Verlagsanstalt G.m.b.H. o.J. [1919],
Kapitel 32—58 (Lieferungen 12 teilweise bis 23 teilweise

Überarbeitete Neuauflage
4 Bände in neuer deutschen Rechtschreibung
Verlag Dieter von Reeken, Lüneburg, 2022

Diese E-Buchausgabe: Roy Glashan's Library, 2025
Fassung vom: 2025-04-08

Erstellt von Matthias Kaether und Roy Glashan

Textquelle: Verlag Dieter von Reeken
(Mit freundlicher Genehmigung des Verlegers)

Abbildungsnachweis:
Braatz, Thomas (Archiv): Einbandrückseite
Hertting, Georg: Illustrationen im Text
Mitteldeutsche Verlagsanstalt G.m.b.H., Heidenau-Nord: S.2, 455

Korrektur:
Mike Neider, Ellen Radszat und Dieter von Reeken

Herausgeber und Verlag der DvR-Buchreihe:
Dieter von Reeken, Brüder-Grimm-Straße 10, 21337 Lüneburg
www.dieter-von-reeken.de

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"Das zweite Gesicht," Band 2, Verlag Dieter von Reeken, 2020


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INHALTSVERZEICHNIS

— • —

32. Kapitel
In Sultan Saladins Reich!

Originalseiten 705, 721 — 756

Verdammt, Schwarzbach, was fällt Ihnen ein, was haben Sie da getan!«, stieß der Prinz grimmig hervor, obgleich er sonst nicht fluchte. Der junge Mann war ganz fassungslos.

Wie er dazu gekommen, plötzlich die Gestalt zu packen, das hätte er jetzt nicht mehr sagen können.

Und nun hatte er plötzlich die kleine Deasy in Fleisch und Blut zwischen seinen Händen!

Das hätte er natürlich am allerwenigsten erwartet.

Dabei kam ihm auch jetzt und später nicht etwa der Gedanke, dass hier ein Schwindel oder ein Betrug vorliegen könnte.

Das war eben etwas ganz Ungeheuerliches, das über alle Begriffe ging.

»Deasy!«

»Natürlich ist sie's! Das habe ich von vornherein gewusst, so wie sie es jetzt einleitete! Sie hat sich der Transfiguration bedient! Was hätten wir noch alles erleben können! Nun ist's vorbei.«

»Wir können doch fortfahren...«

»Nein! Ich habe bereits den Schwur abgelegt, dieses Kind niemals wieder zu solchen spiritistischen Sachen zu benutzen! Nun ist sie erwacht, nun...«

»Aber, sie ist ja noch gar nicht erwacht.«

Nein, allerdings nicht.

Hier geschah einmal die Ausnahme, dass das Medium durch solch einen Eingriff nicht aus der Trance erwachte, nicht furchtbar erschrak und gar, wie es meist bei zarteren Personen geschieht, in lebensgefährliche Krämpfe fiel.

Ganz ruhig stand Deasy da, noch mit geschlossenen Augen, auch dem Gesicht war kein Schreck anzumerken.

Sie befand sich noch in Trance, hatte ja auch noch die Haarlocke in der Hand.

Aber sie blieb nicht stehen, schritt der nach dem Korridor führenden Türe zu, öffnete diese.

»Wo willst Du hin, Deasy?!«

Keine Antwort. Während sie doch sonst immer ganz eilig jede Frage beantwortete. Es war eben doch ein ganz anderer Zustand, in dem sie sich jetzt befand, man konnte an ein Nachtwandeln denken.

Sie betrat den Korridor, ging ihn entlang — die beiden folgten ihr nach, sie nicht mehr anrufend.

Die erleuchtete Treppe hinab, aus dem Erdgeschoss in den Keller, der Prinz leuchtete mit seiner elektrischen Taschenlampe, für sich und seinen Begleiter, das Kind schien kein Licht zu bedürfen.

Immer tiefer auf Treppen hinab, bis der unterste Gang erreicht war, in dem das Automobil stand — der ehemalige unterirdische Flusslauf.

Deasy wandte sich nach rechts. Wenn man den Gang nach dieser Richtung verfolgte, so sollte man das rote Meer erreichen, in das dieser unterirdische Fluss einst gemündet war, durch einen Nebentunnel auch das Mittelländische Meer.

Aber so weit war man noch nicht, kaum hundert Schritte konnte man nach dieser Richtung tun, so war der Tunnel mit Schutt ausgefüllt, mit dessen Abräumen die Cowboys noch beschäftigt waren. Doch jetzt sah man nicht dort ihre Lampen, es war ja schon Abend.

So weit ging Deasy gar nicht, nur bis zur Hälfte, dann blieb sie stehen, tastete mit der freien Hand an der rechten Wand, und plötzlich setzte sich diese in Bewegung, ein großes Stück Mauerwerk von wenigstens zwei Meter Dicke trat zurück, wie eine Tür sich jedenfalls in Zapfen drehend. Übrigens, wie man später konstatierte, kein künstliches Mauerwerk, sondern natürliche Steinwand, nur ausgeschnitten und so vorzüglich eingepasst, dass man auch nicht die geringste Fuge wahrnahm.

Mit solchen geheimen Felsentüren, die sich in steinernen Zapfen drehen, hat die altmaurische Baukunst ja überhaupt etwas losgehabt! Solche Türen kann man heute besonders noch in der Alhambra bei Granada bewundern. Noch nach Jahrhunderten funktionieren sie tadellos, und die Einpassung ist so sorgfältig ausgeführt, dass man vermuten darf, dass es dort noch viele solcher geheimen Felsentüren mit verborgenen Räumen gibt, die wir bisher eben noch nicht gefunden haben. Die Lagerung in den steinernen Zapfen ist eben so einfach wie genial ausgedacht, man muss es gesehen haben, um es glauben zu können, dass sich derartige ungeheure Gewichte ganz lautlos und leicht drehen können, steinerne Zapfen in steinernen Lagern. Dasselbe gilt von dem Mechanismus. Das Gegengewicht ist immer Wasser. In der Nähe befindet sich eine Quelle, oder das Wasser wird auch von weit her geleitet, es ergießt sich in ein hochangebrachtes Bassin, das beim Lösen des Mechanismus nach unten geht und so die Tür aufzieht. Unten entleert sich das Bassin von selbst und kann beim Schließen der Tür ganz leicht wieder in seinen Schienen hochgezogen werden. Nun muss man warten, bis das Bassin wieder vollgelaufen ist. Im Übrigen kann man diese Sache nicht weiter beschreiben.

Die beiden Männer blickten in einen Gang, dessen Wände mit herrlichem Mosaik, in Weiß und Gold gehalten, geschmückt waren, der Boden mit einem kostbaren Teppichläufer bedeckt. Erleuchtet wurde er von einer großen Lampe, die gleich hier am Eingange an der Decke hing, dort hinten sah man eine zweite brennen.

»Gefunden!«, flüsterte der Prinz. »Das irdische Paradies, die unterirdische Alhambra Ägyptens — ich habe den Eingang gefunden!«

Ja, er hatte gewusst, dass sich so etwas, eine Welt für sich, unter seinem Kloster befand.

Der rätselhafte Mann, in dessen Dienste er sich gestellt, hatte ihm davon erzählt, er selbst war Oberhaupt der geheimen Sekte, die hier unten ihre regelmäßigen Zusammenkünfte hielt, und der Prinz hatte eingeführt werden sollen.

Aber dieser Mann, der sich Almansor nannte, glaubte an ein Fatum, an das orientalische Kismet, an eine unwiderrufliche Bestimmung eines jeden Menschen und eines jeden Ereignisses und jeder Tat, vorgeschrieben durch den Lauf der Gestirne, und danach war bei dieser religiösen Sekte alles eingerichtet.

»Ich könnte Dich auf demselben Wege, den wir alle benutzen, in dieses unser unterirdisches Reich einführen, in das Reich des Sultans Saladin, aber ich darf es nicht — Du musst einen anderen Weg dazu finden. So wollen es die Sterne. Durch das hellsehende Kind, das Dir das Schicksal zugeführt hat, musst Du Dir diesen Weg selbst suchen.«

So hatte jener Almansor zum Prinzen gesagt, als er das letzte Mal mit ihm persönlich gesprochen.

Aber mit der Wünschelrute war da nichts zu machen. Wenn ein Hohlraum gesucht werden sollte, so schlug die Rute in des Kindes Hand eben auf jeden Hohlraum an. Und solcher Hohlräume gab es in diesem ehemaligen, jetzt trockenen Flussbett noch massenhaft, wie man sich bereits überzeugt hatte. Von dem früheren Menschengeschlecht, das diesen unterirdischen Tunnel benutzt, mochten sie vermauert worden sein, oder es waren natürliche Kammern in dem sonst festen Gestein, isolierte Höhlen.

Wo sollte das hinführen, wenn man überall gebrochen hätte, wo die Wünschelrute einen Hohlraum anzeigte. Man wäre auf blind endende Höhlen gestoßen, hätte sich eine kolossale Arbeit ganz umsonst gemacht.

Der Prinz hatte eine Idee gehabt, wie er das hellsehende Kind auf andere Weise dazu bringen wollte, vielleicht, dass es ihm den geheimen Eingang zu diesem unterirdischen Reiche anzeigte.

Wir haben ihn selbst sagen hören, dass er heute mit dem Kinde ganz besondere Experimente hatte anstellen wollen.

Es war alles ganz anders gekommen und hatte schließlich doch zum gesuchten Ziele geführt.

Erst hatte der Prinz einmal durch die Wünschelrute nach Edward Scotts Verbleib forschen wollen, die Rute hatte versagt, aber durch Scotts Kinderlocke war Deasy wieder ein mal in Trance gefallen, in einen noch tieferen Zustand des Somnambulismus, es war eine regelrechte spiritistische Sitzung daraus geworden, und schließlich hatte das Kind die beiden Männer hierher geführt.

Es war gefunden worden, was der Prinz gesucht hatte, nur auf ganz, ganz andere Weise!

»Schwarzbach, hier darf ich Sie nicht mit hereinnehmen, es geht nicht, ich habe nicht die Erlaubnis dazu.«

»Wie Sie befehlen, Hoheit.«

»Begeben Sie sich mit dem Kinde wieder hinauf.«

Der Prinz nahm Deasy die Locke aus der linken Hand.

Mit einem leisen Seufzer öffnete sie die Augen, blickte verwundert um sich und in den so prächtig aussehenden Korridor.

»Wo bin ich denn?!«

»Du wirst alles später erfahren, mein Kind. Vorläufig hast Du Deine Aufgabe erfüllt. Also begeben Sie sich wieder hinauf, Herr Leutnant.«

»Nur noch eine Frage.«

»Nun?«

»Sie wollen hier eindringen?«

»Ja.«

»Dass Sie aber auch wieder heraus können!«

»Weshalb soll ich das nicht können?«

»Dass sich die Türe nicht hinter Ihnen schließt, und Sie können sie dann nicht wieder öffnen.«

»Ohne Sorge. Hier unten sind Menschen, die mich sogar erwarten. Alles andere erkläre ich Ihnen später. Jetzt muss ich erst einmal allein hineingehen.«

Schwarzbach entfernte sich mit dem Kinde.

Der Prinz betrachtete zunächst die drehbare Felsentür. Von dem Mechanismus war außen auch jetzt nicht das Geringste zu bemerken, und er hatte vergessen, ihn sich von dem Kinde noch einmal zeigen zu lassen, vorausgesetzt, dass dieses ihn auch im wachen Zustande gefunden hätte, Diese Vergesslichkeit, wenn es eine solche wirklich war, schadete auch nichts, der Prinz wusste schon, dass ihm der Mechanismus dann von anderer Seite gezeigt würde, so dass er diese Tür immer benutzen konnte.

Auch innen war nichts von einem Riegel oder sonst etwas zu sehen. Ganz leicht ließ sich die kolossale Wand zurückdrehen, ohne Schnappen schloss sie, und vorläufig hatte der Prinz keine Möglichkeit, sie wieder zu öffnen.

Er durchschritt den Gang, der ihn unter das Innere des Mokattan-Gebirges führen musste, bog um eine Ecke und gelangte schließlich auf Wegen, die nicht weiter zu beschreiben sind, in eine weite Halle, in welcher manches irdische Menschenkind außer sich vor Staunen geraten wäre, und zwar umso mehr, je gebildeter es war, und zwar in der Astronomie bewandert.

Die Halle war kuppelförmig gehalten, vollständig kreisrund, also eine halbe Hohlkugel, und nun zeigte sich auf dem weißen Grunde der ganze Sternenhimmel.

Jedes Sternbild war mit größeren und kleineren goldenen Punkten vorhanden, alles genau so stehend, wie es jetzt draußen am nächtlichen Himmel in Wirklichkeit stand, dort über den Horizont erhob sich soeben der halbe Mond.

Nur dass hier der Himmel nicht schwarz, sondern weiß war. Sonst aber zeigten auch hier die größeren Sterne ihr unruhiges Flackern.

Wir können dies alles nicht beschreiben, sondern nur sagen, dass auch der Prinz außer sich war vor Staunen über diesen Anblick.

Eine künstliche Wiedergabe des nächtlichen Sternhimmels, wie ihn kein modernes astronomisches Lehrinstitut besitzt!

Und dass es sich hier um wissenschaftliche Zwecke handelte, bewiesen die Apparate, die hier und da aufgestellt waren.

Allerdings eine Wissenschaft besonderer Art, die heute auch nicht mehr als solche anerkannt wird. Eigentliche Fernrohre und Teleskope waren es natürlich nicht, sondern meist Instrumente für Winkelmessungen. Es wurden hier Berechnungen für Zwecke der Astrologie angestellt, der Sterndeutekunst.

Das bewies besonders der in der Mitte stehende Tisch, in Felder eingeteilt, um das Horoskop stellen zu können.

Diese Andeutung muss genügen, weiter kann das hier nicht ausgeführt werden. Wer sich dafür interessiert, wie das von jeher gemacht wurde und noch heute von modernen Astrologen gemacht wird, die besonders in England und Amerika nach Tausenden zählen, der lese Kiesewetters »Geschichte des Okkultismus«. Da ist alles ausführlich beschrieben.

Nur das sei hier noch bemerkt, dass die Araber wie in Chemie und Mathematik auch in der Astronomie unsere Lehrmeister gewesen sind. Den Schlussstein bilden die Berechnungen der Alphonsinischen Tafeln, so genannt, weil sie im 13. Jahrhundert unter Alphons X., König von Kastilien, ausgeführt wurden, von mehr als hundert arabischen Astronomen und Mathematikern innerhalb von ungefähr zwanzig Jahren unter Leitung des Oberrabiners Isaak ben Said zu Toledo. Eine Arbeit, von der wir uns gar keinen Begriff mehr machen können. Jedenfalls aber ist mit diesen Alphonsinischen Tafeln unsere ganze Astronomie erst begründet worden. Ohne diese eingehenden Berechnungen der Umlaufszeiten aller uns bekannten Sterne wäre kein Kepler und kein Newton möglich gewesen, ohne diese mathematischen Tafeln könnte heute kein Dampfer seinen Weg so genau über den Ozean finden. Das ist alles arabische Arbeit!

Aber nicht nur, dass hier der ganze nächtliche Sternenhimmel bis ins Kleinste getreulich nachgebildet war, zum Beispiel — um nur eines besonders zu erwähnen — auch die Milchstraße bis in ihre allerfeinsten Verzweigungen!

Schon nach wenigen Minuten, während welcher der Prinz die Sterne betrachtet hatte, ohne schon an die Wand zu gehen, erkannte er, dass sie sich auch wirklich bewegten! Zuerst war es ihm am Mond, dann an der Venus aufgefallen!

Ja, dieser ganze Fixsternhimmel bewegte sich vorschriftsmäßig von Osten nach Westen — welche Himmelsrichtung der astronomisch gebildete Prinz nach der Stellung des Mondes bestimmen konnte, oder alles wäre eben falsch gewesen — während dieser wie die Planeten ihren eigenen Lauf zwischen den Sternbildern hindurch nehmen!

Wie war das möglich?

Jetzt erst begab sich der Prinz nach der Wand, hatte, nachdem er in die Mitte des Raumes getreten war, dagegen zwanzig Schritte zu tun, so dass also die ganze halbkugelförmige Halle einen Durchmesser von etwa dreißig Metern hatte und im Mittelpunkte genau so hoch war.

Es war gerade das Sternbild des Orion, vor dem er dann stand, mit dem Beteigeuze, einem Stern erster Ordnung, nach seinem gewissenhaftesten Beobachter so benannt, dann weiter mit dem etwas kleineren Bellatrix,

Keine Barriere trennte ihn von der Wand, er konnte die Sterne berühren, den einen so groß wie ein Taler, den anderen wie ein Markstück.

Nein, diese goldenen funkelnden Sterne waren nicht in die weiße Steinwand eingelassen! Mindestens war keine Fuge zu sehen und zu fühlen. Es waren mehr wie Lichtbilder, die auf der weißen Wand erschienen.

Nun, mochte das arrangiert sein, wie es wollte, jedenfalls war es der ganze nördliche Sternenhimmel, der sich über einen künstlichen Horizont bewegte, mit natürlicher Regelmäßigkeit.

Es lag hier eben irgend eine wunderbare Erfindung vor, schließlich aber nicht wunderbarer als etwa unsere Kinematografie und ihre Wiedergabe.

Nachdem der Prinz sich an diesem Anblick sattsam geweidet hatte, ohne vorläufig astronomische Berechnungen anzustellen, beschloss er, erst einmal weiterzugehen.

Der einmündende Gang hatte auf der gegenüberliegen Seite seine Fortsetzung. Beide Öffnungen konnten durch etwas gebogene Türen, die sich also der Kugelform anpassten, geschlossen werden, und erst nachdem dies geschehen war, zeigten sich auf ihr die Sterne — doch also ein sicheres Zeichen, dass es sich nur um Lichtbilder handeln konnte, deren Erzeugung dem Prinzen freilich noch ein Rätsel war.

Nur wenige Schritte erst hatte er in jenem anderen Gange gemacht, als er an eine nach oben führende, schmale Treppe kam, wieder von einer Lampe erhellt.

Er erstieg sie, immer schmaler wurde die Treppe, bis ein sehr korpulenter Mann sie nicht mehr hätte passieren können, und dann sah der Prinz etwas über sich, was er sich zunächst gar nicht erklären konnte.

Wir wollen das Ganze in anderer Weise beschreiben. Es war eine Halle von ungefähr vierzig Meter Durchmesser, vollkommen kugelförmig gehalten.

Nur durch das Treppenloch von unten war ihr Betreten möglich.

Diese ganze ungeheure Hohlkugel war mit einem eisernen Gerüst ausgefüllt. Überall Treppen, Leitern und Galerien, die an den Wänden herumführten.

Nun aber diese Kugelwand!

Sie zeigte die ganze Erde, alle Erdteile mit den dazwischen befindlichen Meeren.

Also ein ungeheurer Globus! Von mehr als vierzig Meter Durchmesser! Nur dass die Konturen der Erdteile nicht oben auf die Kugel, sondern innerhalb derselben aufgetragen waren. Was ja schließlich auch ganz dasselbe bleibt, zumal bei solch einem Durchmesser, wo die Biegung kaum noch ins Auge fällt, wenigstens nicht beim Betrachten einer kleineren Strecke.

Nun war dies alles aber nicht nur aufgemalt, sondern plastisch aufgetragen, die Gebirge waren wirklich erhöht, und wenn dies etwas übertrieben geschehen war, so war dies nur ganz in Ordnung, so wird dies auch bei größeren Globen gemacht, welche die Erhöhungen in Wirklichkeit wiedergeben sollen. Denn schließlich ist ja auch der Himalaja auf dem größten Globus noch ein Stecknadelkopf, das muss stark vergrößert werden, oder diese ganze plastische Wiedergabe hat gar keinen Zweck.

Dort, wo unten der Treppentunnel einmündete, war der Südpol. Gegenüber an der Decke musste sich also natürlich der Nordpol befinden. Aber die beiden durften sich nicht lotrecht gegenüber liegen. Legt man rechtwinklig zur Erdachse durch unseren Planeten eine Ebene, so stimmt diese ja nicht mit dem Äquator überein, sondern bildet mit ihm einen Winkel, welchen man die Schiefe der Ekliptik nennt und der dreiundzwanzig Grad siebenundzwanzig Minuten beträgt. Durch diesen Neigungswinkel, mit dem die Erde um die Sonne rotiert, kommt der Wechsel der Jahreszeiten zustande.

Auch diese Schiefe der Ekliptik war hier getreulich nachgeahmt worden, wie es ja auch beim kleinsten Globus geschieht. Und dann ferner war hier auch die Sonne markiert, als rote Scheibe, die hinter der Wand stand, welche durchsichtig zu sein schien.

Der Prinz war in dem Eisengerüst höher gestiegen, befand sich jetzt in der Mitte desselben auf einer kleinen Plattform und sah so diese Sonne genau über Quito stehen, der Hauptstadt von der südamerikanischen Republik Ecuador, welche Stadt direkt auf dem Äquator liegt.

Also wäre dort jetzt nach Ortszeit genau Mittagszeit gewesen, Punkt zwölf Uhr. Und das stimmte auch in Wirklichkeit. In Quito in Südamerika musste es jetzt mittags fast Punkt zwölf Uhr sein.

Natürlich gilt diese Mittagszeit für den ganzen Längengrad, den die Sonne zur Zeit passiert.

Aber hierbei blieb es nicht.

Diese Innenwand der Hohlkugel stand nicht still, sie rotierte!

Alles drehte sich, wie bei einiger Betrachtung deutlich erkennbar, von Westen nach Osten. Am deutlichsten war dies an der Schattengrenze erkennbar, welche die Sonne erzeugte. Es brauchte kein wirklicher Feuerball, überhaupt kein Licht zu sein, jedenfalls aber war die Grenze doch markiert, wo auf der Erde jetzt Tag und wo Nacht war. Obgleich auch die im Schatten befindliche Hälfte der Kugel erleuchtet war, eben weil die ganze Wand transparent, etwas durchsichtig war und von hinten erleuchtet wurde.

Aber die Seite, die jetzt von der Sonne beschienen wurde, war doch noch ganz anders erleuchtet als die entgegengesetzte.

Da man jetzt Dezember hatte, war der Südpol bis zum Polarkreis voll beleuchtet, der Nordpol lag im Schatten, hatte ständige Nacht.

Das Meer blau, ebenso alle Landseen und Ströme und Flüsse, die Wälder dunkelgrün, Grasflächen hellgrün, Steppen noch heller, bis reines Gelb die Wüste anzeigte, mit ewigem Eis bedeckte Gegenden und Gebirge weiß, und so hatte alles seine eigene Farbe, wie sie die Natur gab.

Und nun diese Genauigkeit — wie sie bei solchen Dimensionen eines Globus auch recht wohl möglich war.

Betrug der Durchmesser der Hohlkugel vierzig Meter. so war das Verhältnis, wie man sich leicht berechnen konnte, wie 1 zu 300 000.

Dieses Verhältnis kann aber keine sogenannte Spezialkarte mehr haben. Das geht schon mehr auf die Generalstabskarte zu, wenigstens ist es ungefähr das Verhältnis, wie man sie den Umgegenden von großen Städten gibt, also schon topografisch.

Wenn eine Stadt ein Areal von zehn Quadratkilometern bedeckt, was gar keine so sehr große ist, so nahm sie auf dieser Karte einen Quadratzentimeter ein, da können schon die durchkreuzenden Hauptstraßen angegeben werden, was hier auch tatsächlich der Fall war.

Jedes Dorf war angegeben! Und zwar nicht nur mit Punkt oder Kreis, sondern mit kleinen Vierecken, die Häuser bezeichnend!

Und das für die ganze Erde!

Die Namen fehlten allerdings. Das hätte doch auch nur störend gewirkt.

Der Prinz kam aus dem Staunen nicht heraus, und er staunte nur immer mehr, je länger er auf den verschiedenen Etagen des Gerüstes im Kreise herum wanderte.

Mit welcher Gewissenhaftigkeit hier gearbeitet worden war, konnte er am besten beim Betrachten seiner Heimat beurteilen, in deren Umgegend er jeden Baum kannte. Jeder einzelne Baum war natürlich nicht angegeben, auch nicht jedes Bauernhaus, wohl aber fast jedes größere Gehöft. Selbst ein in jener sonst ganz ebenen Gegend isolierter Hügel, von so geringer Erhöhung, dass er dort im Volksmunde spottweise »Promenadenwarze« genannt wurde, weil sonntags alles hinaus promenierte, war als deutliche Erhebung angegeben, also wirklich plastisch hervortretend. Wälder, Felder und Wiesen — alles stimmte! Der kleine Bach — er schlängelte sich als blauer Faden um die »Promenadenwarze« herum, bis er sich in den größeren See ergoss, richtig in die »Zipfelmütze« hinein, wie die langgestreckte Ausbuchtung hieß.

Und so war es allüberall, wohin der Prinz auch den Blick wendete, und manche wilde, sonst noch ganz unbekannte Gegend auf der Erde kannte er, wo er dieselbe Genauigkeit konstatieren konnte.

Und nun das Alpenpanorama in voller Plastik!

»Wunderbar, wunderbar! Hier drin könnte ich die ganze Zeit meines Lebens verweilen!«


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Der Prinz wandte sich jäh um und erblickte nun einen
jungen schönen Mann im eleganten Gehrockanzug.


»Das würdest Du doch einmal überdrüssig bekommen, Freund!«, erklang eine sonore Stimme.

Jäh fuhr der Prinz herum.

Vor ihm auf der Galerie stand ein junger, schöner Mann im eleganten, nur sehr eng anliegenden schwarzen Gehrockanzug, und zu diesem schon mehr trikotähnlichen, wenn auch sonst modernen Kostüm gehörte auch der rote Fez. Es ist der sogenannte griechische Gehrock, den die Orientalen mit Vorliebe tragen, wenn sie sich nun einmal europäisch kleiden wollen.

Almansor!

Er kam dem Prinzen nicht allzu unerwartet.

»Wer hat dies alles gefertigt?!«, war seine erste Frage.

»Die Mitglieder unserer geheimen Verbrüderung — die Saladinen.«

Es war kein unbekannter Name mehr, den der Prinz da zu hören bekam — jetzt dachte er auch an etwas ganz Anderes.

Er stand gerade vor Südamerika, vor Brasilien.

Was. wissen wir, wie es im Innern Brasiliens aussieht? Gar nichts.

Das Gebiet des Amazonenstromes mit seinen Nebenflüssen umfasst ungefähr 120 000 geografische Quadratmeilen. Das ist ein Gebiet, mehr als zehnmal so groß wie Deutschland, bedeckt mit undurchdringlichem Urwald.

Man schätzt die Nebenflüsse, welche größer sind als der Rhein, auf 200, und hiervon sind ungefähr fünfundzwanzig größer als der Mississippi.

Von diesen 200 Nebenflüssen sind bis heute erst dreizehn richtig erforscht, ihr Lauf ist geografisch aufgenommen.

Alles andere von diesem ungeheuren Waldgebiet ist uns terra incognita — vollkommen unbekanntes Land! Noch viel, viel unbekannter als das Innere Australiens, das doch wenigstens schon durchquert worden ist, durch das eine Telegrafenleitung geht. Wenn man auch noch nicht weiß, was sich einige Kilometer links und einige Kilometer rechts von dieser Telegrafenleitung befindet. Selbst einige Gebirge, die man erblickt und bereits in die Karten eingetragen hatte, haben sich später als Täuschungen durch Wolkengebilde herausgestellt.

Von dem Innern dieses Waldgebietes Brasiliens ist uns aber nicht einmal so viel bekannt, ob es da überhaupt irgendwelche Bodenerhebungen gibt.

Und hier auf dieser Globuskarte waren in diesem Waldgebiet nicht nur ungeheure Gebirge plastisch eingetragen, sondern auch ansehnliche Städte waren markiert.

»Was sind das für Städte, die in dem unbekanntem Innern Brasiliens liegen sollen?!«

»Siehst Du nicht, dass die Umrisse dieser Städte scharf gezackt sind?«

»Ich sehe es.«

»Das bedeutet, dass diese Städte in Ruinen liegen.«

»Ja, aber was für Ruinenstädte sind denn das?«

»Die letzten Andenken an ausgestorbene Völker, auf höchster Kultur stehend, die hier einst gehaust haben.«

»Woher wollt Ihr denn aber das wissen, dass es dort solche Ruinenstädte gibt?«

»Wir wissen es.«

»Brüder von Euch haben dieses Waldgebiet bereist und erforscht?«

»Ja. Ohne selbst dort gewesen zu sein.«

»Wie denn sonst?«

»Auf geistige Weise. Durch Aussenden des Astralleibes. Lass Dir das vorläufig genügen. Eine ausführliche Erklärung bekommst Du später. Jetzt wollte ich Dich abholen, um Dir etwas Anderes zu zeigen. Du wirst alte Bekannte finden.«

Der Prinz folgte seinem Führer, der mit ihm Arabisch gesprochen hatte — daher das vertrauliche Du — sie stiegen die Leiterchen und Treppchen in dem Gerüst wieder herab, gelangten durch den Südpol auf die Haupttreppe zurück, aber bald öffnete Almansor eine verborgene Seitentür, sie kamen in einen anderen Gang, traten in eine weite Halle, und wieder hatte der Prinz einen wundersamen Anblick, der ihn anfangs ganz außer Fassung brachte.

Er war durch die Tür auf eine Galerie gelangt und blickte hinab in den prächtig geschmückten Saal, an dessen Wänden und Decke wieder das weiße und goldene Mosaik vorherrschte.

Von weißem Samt oder Atlas, reich mit goldenen Stickereien verziert, waren auch die Diwans, Polster und Kissen, welche dort unten verstreut waren, und auf diesen lagen und saßen Gestalten, die dem Prinzen allerdings nicht unbekannt waren und die eben sein grenzenloses Staunen hervorriefen.

Es waren keine anderen Gestalten, als die ihm damals der Haui in den Rauchwolken hatte erscheinen lassen, deren Hauptperson ihm auch vorhin noch einmal durch das mediumistisch veranlagte Kind vor Augen gerückt worden war, nur dass es sich hier um wirkliche Menschen in Fleisch und Blut handelte!

Es waren alle die Sarazenen, die er damals gesehen, teils wirklich als Ritter gepanzert, aber nach altorientalischer Weise, oder sie machten durch ihre Kostüme und Waffen doch einen kriegerischen Eindruck, und dann noch viele Weiber, die meisten jung und schön, unverschleiert, alle herrlich geschmückt. Von der Decke herab hingen einige Lampen, mit wohlduftendem Öl gespeist, und deren Licht brach sich in den schimmernden Rüstungen von Gold und Silber und in den buntfarbigen Edelsteinen mit unvergleichlicher Pracht.

Menschen aus Fleisch und Blut?

Wenige Sekunden genügten, dann musste der Prinz auf einen anderen Gedanken kommen.

So regungslos verhält sich auch wenige Sekunden keine Gesellschaft von lebenden Menschen wie die dort unten!

Nichts regte sich!

1 Im Original heißt es »Richter«.

Wie jeder lag oder saß oder auf seinen untergeschlagenen Füßen hockte, so verharrte er in vollkommener Erstarrung.

Der erste gepanzerte Sarazene, der damals an dem Prinzen als Nebelgestalt vorbeigeschritten war, vor ihm ehrerbietig grüßend sein krummes Schwert senkend, hatte die Hand an seinen langen, schwarzen Vollbart gelegt, um ihn zu streichen, und mitten in dieser Bewegung musste er zur Statue erstarrt sein, und das galt von allen anderen.

Oder es waren eben ganz einfach künstliche Figuren.

»Alle die Gestalten, die mir damals erschienen sind!«, flüsterte der Prinz.

»Du sagst es!«, entgegnete Almansor, der sich etwas hinter ihm hielt.

»Aber das sind doch keine lebenden Menschen!«

»Doch, das sind sie!«

»Was?!«

»Wie ich sage. Wofür hältst Du sie denn sonst?«

»Für künstlich nachgeahmte Figuren.«

»Könnte denn dann ihr Geist Dir erschienen sein?«

»Gib mir eine Erklärung für dieses Rätsel, Almansor!«

»Siehst Du dort unten die magische Tafel?«

Der Prinz hatte sie schon längst gesehen, es war auffallend genug.

Mitten in dem Saale stand ein Tischchen, um welches herum sich die Gestalten gelagert hatten.

Soweit es der Prinz jetzt beurteilen konnte, war die Tischplatte mit kleinen Quadraten bedeckt, deren jedes eine Zahl trug, und diese Zahlen waren in besonderer Weise geordnet.

Deutlicher konnte der Prinz jetzt nichts erkennen, die Zahlen waren auch für seine Falkenaugen zu klein, er hätte ein Fernglas benutzen müssen.

Aber die Bedeutung dieses Tischchens mit den Zahlentafeln konnte sich der philosophisch gebildete und auch in die alte Magie theoretisch etwas eingeweihte Mann doch sofort erklären.

Der Leser hat hoffentlich schon von der altjüdischen Kabbala gehört. Sonst freilich ist da schwer etwas zu erklären. Es ist eine Sammlung von Büchern, die sich mit der Magie beschäftigen, mit Beschwören von Geistern und Toten, mit der Enthüllung der Zukunft, mit Anfertigen von Amuletten und dergleichen mehr.

Das ist aber durchaus nicht lächerlich zu nehmen, sondern das Studium der Kabbala ist eine Wissenschaft, die auch noch an unseren Universitäten getrieben wird, anschließend an den Talmud, denn außer solchem Teufelszeug enthalten diese Bücher auch die tiefsinnigsten Weisheiten, es gehört überhaupt mit zum Studium der hebräischen und der ganzen altorientalischen Literatur.

Besonders das Buch Sohar beschäftigt sich mit dem Geheimnis, mit der Magie der Zahlen und gibt Vorschriften, wie danach solche magische oder kabbalistische Tafeln, auch einfach »Siegel« genannt, angefertigt werden.

Inwiefern solche Zahlentafeln besondere Wirkungen hervorrufen sollen, das ist für unser materialistisches Zeitalter ja nun freilich ganz unverständlich — die Herstellung geschieht unter besonderen Formeln, die Tafeln werden aus ganz besonderen Steinen und Hölzern geschnitten — hier kann nur ein Beispiel für solch eine kabbalistische Tafel angeführt werden.

Wenn man ein Quadrat horizontal und vertikal mit je zwei Linien durchzieht, in gleichmäßigem Abstande, so entstehen doch neun Quadrate.

Nun schreibe man in die oberste Quadratreihe von links nach rechts die Zahlen 2, 7 und 6.

In die zweite Reihe die Zahlen 9, 5 und 1.

In die unterste Reihe die Zahlen 4, 3 und 8.

Das sind also die Zahlen 1 bis 9, alle uns bekannten mit Ausnahme der 0, die hierbei eben nicht mitzählt.

Nun kann man die Reihen addieren wie man will, von links nach rechts oder von oben nach unten oder kreuz und quer, immer kommt als Summe 15 heraus.

Dieses Zahlenquadrat ist das so genannte »,Siegel Salomos«, enthält nach der Kabbala alle Eigenschaften Gottes und beschwört die Erzengel, wenn man die weiteren Formeln dazu kennt, wozu freilich. wie bei der Astrologie die höchsten mathematischen Kenntnisse nötig sind.

»Durch diese magische Tafel sind sie alle in Starrkrampf versetzt!«, fuhr Almansor fort. »Du kennst sie doch?«

»Der kleine, schlanke Mann dort, der dort allein sitzt, das ist Sultan Saladin?!«

»Du sagst es. Und der große Bärtige in dem Schuppenpanzer, das ist sein berühmter Großwesir Esraneddin, dem Sultan Saladin nicht zum Wenigsten seine Macht verdankte. Es sind alle seine Feldherren und sein ganzer Hofstaat mit Frauen und Töchtern, die Du hier versammelt siehst.«

Aber Almanso hatte dabei gelächelt, als er dies gesagt.

Doch seiner Stimme war davon nichts anzumerken gewesen, und er stand eben etwas hinter dem Prinzen.

»Sultan Saladin, der vor mehr als achthundert Jahren gelebt hat?!«, flüsterte dieser, nun erst recht erregt werdend.

»Ja.«

»Und er und alle diese Menschen, sie leben noch?!«

»Ja. Weißt Du denn nicht, dass Sultan Saladin mit all seinen Getreuen nur schläft und dass er dereinst erwachen wird, um sein Volk von der Fremdherrschaft zu befreien und zur alten Sarazenenherrlichkeit zurückzuführen?«

Diese alte Sage vom arabischen Kaiser Barbarossa ist schon erwähnt worden, und Prinz Joachim kannte sie.

Aber um daran wirklich glauben zu können, das war doch etwas ganz Anderes.

»Es ist nicht möglich!«

»Es ist möglich! Diese magische Tafel braucht nur zerbrochen zu werden, und alle diese Helden erwachen zu vollem Leben und — —«

Almansor brach ab, trat vor, neben den Prinzen, deutete mit der Hand nach unten, und feierlich erklang es:

»Diese Saladinen wirst Du, christlicher Emir, zum Kampfe gegen die abtrünnigen Schlüsselbrüder anführen, mit ihnen wirst Du sie vernichten! Hierzu hat Dich das Schicksal bestimmt!«

Dann aber, dem Prinzen die Hand auf die Schulter legend, fing Almansor wieder zu lächeln an.

»Nein, Emir, ich will Dich nicht mehr in Täuschung lassen, Du hast ganz recht. Jener Sultan Saladin, der vor achthundert Jahren die christlichen Kreuzritter bekämpfte, ist das nicht mehr. Und trotzdem kennst Du ihn und die meisten vom jenen Personen recht gut.«

»Wie, ich soll sie kennen?!«

»Gewiss. Stelle Dir mal diesen Sultan Saladin in moderner ägyptischer oder türkischer Generalsuniform vor, und den bärtigen, schuppengepanzerten Großwesir Esraneddin im schwarzen Gehrockanzug...«

»Prinz Marazzim!«, rief da der andere. »Bei Gott, er ist es! Jetzt erkenne ich ihn! Und der Bankier Omar Safga...«

Wie Schuppen war es dem Prinzen plötzlich von den Augen gefallen. Ja, nun erkannte er die meisten von ihnen dort unten.

Einige hatte er als Offiziere und Würdenträger am Hofe des Vizekönigs kennen gelernt, dem er nicht nur ein einziges Mal einen Besuch abgestattet hatte, gerade mit jenem Prinzen Marazzim, einem Sohne des Padischahs, stand er sich auf Du und Du, hatte auch die beiden Schwestern, die jetzt dort unten saßen, unverschleiert gesehen, hatte mit ihnen geplaudert, und in den meisten der anderen erkannte er jetzt arabische Gelehrte, Künstler und den Geldmarkt beherrschende Großkaufleute aus Kairo. — — —

Almansor gab eine Erklärung.

Zum Teil war es dem Prinzen schon bekannt.

In Ägypten und im ganzen Orient besteht eine Geheimgesellschaft. Am besten ist sie mit unseren Freimaurern zu vergleichen. Nur dass sie hauptsächlich politische Zwecke verfolgt: die Befreiung der Mohammedaner von der fremden, christlichen Herrschaft, weshalb sich die Mitglieder mit Zugrundlegung jener Volkssage Saladinis nennen.

Dies ist den europäischen Regierungen und überhaupt in der Öffentlichkeit sehr wohl bekannt, aber zu machen ist dagegen nichts, es handelt sich überhaupt um ein höchst lobenswertes Bestreben. Denn diese Befreiung der mohammedanischen Orientalen vom fremden Joche soll nicht etwa durch die blutige Tat geschehen, sondern durch eine gesunde Volkserziehung.

Die Mitglieder der Saladina, wie der Orden heißt, bestehen aus Staatsmännern, Offizieren, Gelehrten, Künstlern und Großkaufleuten. Sie wollen ihrem Volke die verloren gegangene Selbstständigkeit zurückgeben. Die Orientalen haben eigene Universitäten und Krankenhäuser, großartig angelegt. Aber die lehrenden Professoren und Chefärzte sind immer Engländer oder Franzosen oder Deutsche. England muss hierbei zuerst, Deutschland zuletzt genannt werden. An der Spitze des ganzen ägyptischen Heerwesens stehen — merkwürdiger Weise — österreichische Offiziere, nur in der Türkei war es ein Deutscher, Freiherr von der Goltz. Orientalische Arbeiter bauen ungeheure Brücken und Eisenbahnen und Kanäle und verwandeln Wüsten in fruchtbares Land, aber die Oberleitung haben englische und amerikanische Ingenieure, während die ägyptische Regierung diese wieder durch deutsche Ingenieure kontrollieren lässt. Und der ganze Handel und Geldmarkt befindet sich vollends in europäischen Händen. Die Orientalen arbeiten und arbeiten — die Frucht davon aber heimst Europa ein.

Das ist es, was die Saladinis beseitigen wollen. Sie machen dasselbe, was schon die Japaner getan haben. Sie lassen ihre besten Jünglinge an europäischen Hochschulen studieren, stecken sie in europäische Regimenter, um dann die Professorenstühle und Offiziersstellen und alle anderen leitenden Posten durch eigene Kräfte besetzen zu können. Die orientalischen Großkaufleute legen ihr Kapital zusammen, um den europäischen Gesellschaften Konkurrenz zu machen.

Vor allen Dingen aber haben die Saladinis jetzt den hohen Wert des Sports erkannt.

Wir können hier keine Abhandlung über den ethischen und kulturellen Wert des Sports geben.

So viel aber ist gewiss, dass die kulturelle Entwicklung eines Volkes immer Hand in Hand mit der des Sportes, der Leibesübungen aller Art geht. So war es schon im grauen Altertum bei den Griechen und Römern, als dort Kunst und Wissenschaft und Macht und Handel auf der höchsten Stufe standen, blühten auch die Olympischen Spiele, die Sieger genossen königliche Ehren — und genau so ist es noch heute!

England steht an der Spitze der Weltmacht und dort wird auch am leidenschaftlichsten der Sport getrieben.

Schon aber fängt Nordamerika an, England in industrieller und kommerzieller Hinsicht zu überflügeln, und richtig werden alle Rekorde in Sportleistungen jeglicher Art jetzt von Nordamerikanern aufgestellt. Mächtig rückt Deutschland vor, nachdem hier noch vor fünfzig Jahren das Turnen polizeilich verboten war. Bei den Völkern dagegen, welche zweifellos dem Untergange geweiht sind — Spanier, Portugiesen, Griechen — da hört man nichts von Sport.

Es fehlt noch vollständig an jedem Versuch, dieses merkwürdige Hand-in-Hand-Gehen von Sportleistungen und kultureller Macht zu ergründen. Vor allen Dingen ist die Frage zu lösen, ob immer erst die Entwicklung des Sportes kommt oder erst die Zunahme der Volksmacht.

Ganz zweifellos hängt es von der Sportfreudigkeit ab. Erst kommt die leibliche Leistungsfähigkeit, dann die geistige — dann entwickelt sich die nationale Macht von ganz allein.

Wenn jetzt die Schweden und Norweger im Sport so mächtig vorwärtsgehen, sich bei allen den Wettspielen Preise holen, so kann mit Sicherheit für ganz Skandinavien auch eine machtvolle Blüte in Handel und Industrie prophezeit werden. Die Folgezeit wird es lehren. Diese Prophezeiung ist umso sicherer, als bereits schwedische und norwegische Dichter — wieder das merkwürdige Zusammentreffen — mit an der Spitze der Literatur stehen.

Die Orientalen kennen keinen Sport. Früher freilich war das anders. Da standen die ritterlichen Leibesübungen im höchsten Ansehen. Das ist vorbei. Selbst die Falkenjagden sind aufgegeben worden. Heute ist es das höchste Glück des Orientalen, auf dem Hosenboden zu sitzen, eine Pfeife oder Zigarette zu rauchen und Tänzerinnen zuzusehen.

Diese Saladinis hier waren dabei, den Volksgeschmack zu ändern, indem sie mit gutem Beispiel vorangingen.

Die Seele dieser neuen Bewegung war für Ägypten oder vielleicht für den ganzen Orient der Bankier Omar Safga, hier in der Loge den Namen Esraneddin führend, die Rolle des Großwesirs vom Sultan Saladin spielend, der im gewöhnlichen Leben Prinz Marazzim hieß und General der ägyptischen Armee war.

Einmal hatte Omar Safga mit ausschließlich orientalischem Gelde eine Aktienbank gegründet, die allein imstande war — die Ottomanische Bank kommt bei Spekulationen nicht in Betracht — dem englischen und französischen Kapital die Waagschale zu halten, und immer besser florierten die Unternehmungen, besonders in der Küstenschifffahrt waren die Engländer schon ganz zurückgedrängt worden.

Hauptsächlich aber betätigte sich dieser arabische Bankier, ein fabelhaft rastloser Mensch, als Sportsman.

Er war der einzige Orientale im ganzen Orient, der einen eigenen Rennstall unterhielt, der seine Pferde auf allen Rennplätzen der Welt laufen ließ und manchen Preis einheimste. Was das zu bedeuten hat, versteht eben nur der Sportsman.

Dabei aber betätigte er sich praktisch. Selbst reiten konnte der herkulisch gebaute Mann seine Rennpferde nicht, dazu war er zu schwer. Aber er ließ arabische Jünglinge zu Jockeys trainieren, das tat er selbst. Er hatte sich zum Ringkämpfer ausgebildet und es fertig gebracht, den amerikanischen Meisterschaftsringer Walsey zu werfen, als der eine Tournee durch Ägypten machte. Auch einen berühmten englischen Boxer hatte er besiegt. Er hatte einen arabischen Ruderverein gegründet, eine Fecht- und Schwimmschule, nahm selbst jeden Nachmittag die arabischen Jungen draußen am Nil an die Angel. Er hatte einen militärischen Jugendbund ins Leben gerufen, machte mit den Kindern tagelange Märsche durchs die Wüste, mit Orientalen, die sonst nicht einmal ein Spazierengehen kennen! Ja, er hatte es sogar, das schier Ungeheuerliche, fertig gebracht, einige arabische Turnvereine zu bilden, in denen jeden Abend an Barren und Reck geschwungen wurde. Man muss nur wissen, was das bedeutet, wenn arabische und türkische Handwerker und Angestellte nach Feierabend in eine Turnhalle gehen, um zu verstehen, dass dies geradezu etwas Ungeheuerliches ist!

Und alle, die hier versammelt waren, unterstützten ihn dabei. Auch einige Prinzessinnen des königlichen Hauses wie erwachsene Töchter und junge Frauen von Kaufleuten und Gelehrten, die sich der weiblichen Sportpflege im Volke annahmen, wenn dies im mohammedanischen Orient auch hinter verschlossenen Türen stattfinden musste. Aber da gab es ummauerte Plätze genug, und da den mohammedanischen Frauen das Reiten in der Öffentlichkeit erlaubt ist, stand ihnen zu Pferde die ganze Wüste offen.

Besonders die englische Regierung und alle die europäischen Kaufleute, die im Orient interessiert waren, betrachteten diese neue Bewegung mit größter Sorge. Gerade dieses Aufleben des Sportes! Eben weil es erfahrene Männer, meist sportliebende Engländer waren! Dass jetzt so viele orientalische Jünglinge ins Ausland gehen, um auf Universitäten und technischen Hochschulen zu studieren und militärische Kenntnisse zu sammeln, das ist Nebensache. Der Aufschwung des orientalischen Unternehmungsgeistes in Geschäftssachen, das Anwachsen des Kapitals beunruhigt diese Herren auch wenig, diese Gefahr wollen sie mit vereinten Kräften schon wieder beseitigen. Aber dieses frische Sportsleben, das ist es, was diesen Herren die größten Kopfschmerzen bereitet. Eben, muss noch einmal gesagt werden, weil es meist sportskundige, erfahrene Engländer sind, deren Existenz durch eine selbstständige orientalische Macht in Frage gestellt wird.

Wenn man nur ein Mittel wüsste, diese Orientalen wieder dazu zu bringen, dass sie sich nach getaner Arbeit wieder auf den Hosenboden kauern und ein Zigarettchen rauchen, ab und zu auch ein Pfeifchen Opium oder Haschisch! — — —

Dies alles war dem Prinzen bekannt.

Neu war ihm eigentlich nur, dass die Saladinis hier im unterirdischen Innern des Mokattam-Gebirges zusammenkamen, solche eingerichtete Räumlichkeiten besaßen, dicht unter seinem Kloster.

Die Loge oder der Orden Saladina besaß doch in Kairo ein palastähnliches Klubhaus. Und dann natürlich wunderte er sich über noch manches Andere.

»Ja, wozu sind die denn in Starrkrampf versetzt worden?!«

»Das wirst Du gleich sehen.«

Einige Diener kamen, meist Neger, ließen an dünnen Ketten die Lampen herab, füllten Öl nach und putzten den Docht, andere schlugen eine Art von Pult auf.

Die Diener waren wieder gegangen.

Regungslos lagen und saßen die sarazenischen Ritter und ihre Damen da.

Da kam ein alter, weißbärtiger Mann herein, eine majestätische Erscheinung, in einem Talar aus weißem Atlas, ein dickes Buch in den Händen, trat hinter das Rednerpult, legte das Buch darauf, schlug es auf und begann mit lauter Stimme zu lesen.

Die beiden Männer dort oben hatte er gesehen, hatte einmal hinauf geblickt, beobachtete sie aber nicht weiter.

Was er las, verstand der Prinz nicht, es war eine ihm ganz fremde Sprache, er konnte sich auch gar kein Urteil bilden.

»Was ist das für eine Sprache?«


Illustration

»Unsere Geheimsprache, deren sich aber schon die Assassinen bedient haben.«

»Und was liest er vor?«

»Du ahnst es nicht?«

»Nein.«

»Märchen. Es ist einfach ein Märchenerzähler.«

»Aber warum sind die Zuhörer dazu in Starrkrampf versetzt worden?«

»Was weißt Du von den Assassinen? Bitte, berichte mir. Ich muss erst wissen, wie viel Du darüber weißt.«

Nun, da konnte Prinz Joachim berichten. Er brauchte, wie ihm Almansor noch berichtete, seine Stimme nicht besonders zu dämpfen, der Vorleser und die Zuhörer wurden dadurch nicht gestört.

Um die Mitte des 11. Jahrhunderts lebte in Syrien am Hofe Malek Schahs ein Mann namens Hassan als hoher Staatsbeamter; er machte politische Umtriebe und musste fliehen.

Er wandte sich nach Ägypten. Hier existierte bereits eine geheime Sekte, die sich »Megalis el Hiemit« nannte, Haus der Weisheit, welche auch nichts weiter als die Wissenschaften pflegte, hauptsächlich natürlich die Magie. Ihr Ursprung lässt sich nicht mehr erforschen.

In diese Sekte trat Hassan ein, schwang sich schnell zum Oberhaupt empor, nun aber den unbedingten Gehorsam, den die Mitglieder der Sekte dem Scheik el Dschebel, dem Alten vom Berge, wie sich Hassan jetzt nannte, geschworen hatten, für politische Zwecke benutzend.

Um diese Fedawihs, die Vollstrecker seiner Befehle, vollends sich ganz bedingungslos seinem Willen zu unterwerfen, gebrauchte er ein ganz raffiniertes Mittel.

Er wählte unter den Jünglingen die mutigsten, feurigsten aus und sagte zu ihnen:

»Ich besitze den Schlüssel zum Paradies, mit ihm kann ich auch jedem irdischen Menschen den siebenten Himmel aufschießen. Ihr glaubt es nicht? Hier trinkt diesen Zaubertrank.«

Die Jünglinge tranken ihn und Hassan brachte sie an einen vorbereiteten Ort, wo die Jünglinge drei Tage lang alle Freuden des Paradieses durchkosteten.

Dann bekamen sie einen neuen Betäubungstrank, und erwachten sie wieder, so waren sie eben wieder am alten Orte.

»Nun zweifelt Ihr wohl nicht mehr daran. Nun geht hin und erfüllt meine Befehle, sterbt für mich, und Ihr kommt auf ewig in dieses Paradies, in welches ich Euch nur einmal für drei Tage versetzt hatte.«

Man muss die ausführliche Geschichte gelesen haben, um glauben zu können, was dieser Hassan hierdurch für eine Macht erreichte, was die Assassinen einst für eine Rolle gespielt haben.

Nicht nur, dass diese Jünglinge in der Schlacht den Heldentod suchten, sondern jeder Gegner der Assassinen war überhaupt des Todes. Die Feinde hatten niemals mehr Anführer. Sie alle fielen durch Meuchelmord. Und das wurde immer präziser und summarischer ausgeführt. Am 14. Juli des Jahres 1108 sind, wie wir genau überliefert bekommen haben, zwischen Persien und Marokko nicht weniger als achtundsiebzig Fürsten, Sultane, Emire, Paschas, Scheiks und andere Oberhäupter unter den Dolchen der Fedawihs gefallen! Also alle an ein und dem selben Tage! Natürlich war das von langer Hand vorbereitet worden, im Laufe von vielen Jahren. Jeder der Jünglinge hatte sich doch erst bei dem betreffenden Herrscher oder Feldherrn eine Stelle, sogar einen Vertrauensposten erringen müssen, sonst wäre solche ein gleichzeitiger Meuchelmord auf einer Strecke von einigen hundert Meilen ja gar nicht möglich gewesen.

Hassan hatte einen Beweis seiner Macht gegeben. Er war unumschränkter Herr des ganzen Orients. Dabei aber begnügte er sich wohlweislich damit, persönlich nur über seine Sekte, die jetzt allerdings aus 60 000 Mitgliedern bestand, zu gebieten, sonst den anderen Fürsten seine Befehle nur zu diktieren.

Doch lange dauerte diese Macht der Assassinen nicht. Hassan hatte zwar noch einige Nachfolger, unter diesen ging es aber schnell bergab, die Assassinen verschwandet so schnell wieder wie sie aufgetaucht waren. Hauptschuld war daran, dass Hassans Nachfolger vom Mohammedanismus abschwenkten und zu den alten Göttern zurückkehren wollten.

»Da Du selbst der Alte vom Berge gewesen bist, weißt Du das ja am allerbesten!«, schloss der Prinz seinen Bericht.

»Glaubst Du, dass es angebracht war, jene achtundsiebzig Fürsten und Oberhäupter meuchlings zu töten?«, fragte Almansor.

»Möglich.«

»Oder man kann seinen Charakter auch innerhalb so vieler Jahrhunderte, innerhalb vieler Lebensläufe wohl ändern.«

»Auch möglich. Jetzt jedenfalls, wie ich Dich kennen gelernt habe, traue ich Dir keinen Meuchelmord mehr zu. Und diese Saladinen hier sind nun auch noch Deine Anhänger?«

»O nein.«

»Nicht?!«

»Die Schlüsselbrüder sind die jetzigen Assassinen, und durch diese Saladinen werde ich sie vernichten, und Du wirst sie im Kampfe dabei anführen. So hat es das Schicksal bestimmt.«

»Das hast Du diesen Saladinen bereits offenbart?«

»Ja, und sie haben sich mir ebenso anvertraut wie Du Dich mir.«

»Was sind das nun hier für unterirdische Räumlichkeiten? Wer hat sie angelegt?«

»Ich. Hier in diesem unterirdischen Palaste wurden jene Jünglinge ins Paradies versetzt. Noch einen zweiten solchen geheimen Felsenbau hatte ich angelegt — Du kennst ihn — dort im Geistergebirge — derselbe befindet sich jetzt in den Händen der Schlüsselbrüder, von diesem hier aber wissen sie nichts.«

»Und da hast Du nun diesen unterirdischen Palast hier den Saladinis zur Verfügung gestellt?«

»Ja. Jetzt halten sie hier ihre geheimen Zusammenkünfte ab, in der Tracht ihres Ordens, schon seit vielen Jahren.«

»Wie gelangen sie hierher?«

»Durch einen unterirdischen Tunnel, der von ihrem Klubhaus hierher führt. Existiert hatte dieser Tunnel schon immer, er war nur verschüttet, musste erneuert werden.«

»Nun bist Du mir aber noch immer die Antwort auf meine Frage schuldig, weshalb diese Saladinen in Starrkrampf versetzt werden, wenn sie sich Märchen erzählen lassen wollen.«

»Dazu muss ich erst Dich noch etwas fragen. Also ich schickte die Jünglinge, die ich erwählte, drei Tage ins Paradies. Wie habe ich dies wohl gemacht?«

»In früheren Zeiten nahm man an, dass Hassan irgendwo eben ein irdisches Paradies angelegt habe, so eingerichtet, wie der Koran das himmlische beschreibt, mit schwarzäugigen Huris und was sonst noch alles dazu gehört. Die Jünglinge wurden durch einen Trank betäubt und so hineingebracht, ebenso auch wieder herausgebracht. Aber schon längst haben unsere Geschichtsforscher diese Annahme fallen lassen.«

»Weshalb?«

»Weil die Jünglinge doch immer bei dem Bewusstsein geblieben wären, sich noch auf der Erde zu befinden, eben an solch einem künstlich eingerichteten Orte. Da lässt sich das Unterscheidungsvermögen des Menschen doch nicht so leicht täuschen.«

»Nun, und was glaubt man jetzt?«

»Dass die Jünglinge einen Hanftrank bekommen haben, Haschisch, dadurch sind sie in eine Art Hypnose versetzt worden, in der ihnen alle die Erlebnisse im Paradiese nur suggeriert worden sind. Und das stimmt auch insofern, als die Geschichtsforschung ergeben hat, dass zu Hassans Zeiten der betäubende Hanf erst in Gebrauch gekommen ist, vorher hat man diese seine Eigenschaft noch gar nicht gekannt, und so wird das Wort Assassinen jetzt auch nicht von Hassan, sondern durch eine Umbildung von Haschisch abgeleitet. Haschischin oder Assasin, die Hanftrinker.«

»So ist es gewesen, ich betäubte die Jünglinge durch Haschisch, sie kamen dadurch in jenen Zustand, den Ihr heute Hypnose nennt, und in diesem Schlafe wurde ihnen alles, was sie im siebenten Himmel erleben sollten, nur eingeflüstert, und da wirkt die Einbildungskraft so, dass sie dann den Traum von Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden können. Und dasselbe ist jetzt dort unten bei den Saladinis der Fall. Nur dass ich dazu keinen Hanftrank mehr verwende, der auf die Dauer schädliche Nachwirkungen hinterlässt. Ich verstehe jetzt eine Kunst, um auf andere Weise dieselbe Hypnose hervorzurufen. Durch jene magische Tafel, die Du dort unten siehst. Alle diese Männer und Frauen liegen in tiefster Hypnose und glauben das wirklich zu erleben, was ihnen der Märchenerzähler vorliest.«

Der Prinz blickte hinab auf die regungslosen Gestalten und etwas wie Enttäuschung spiegelte sich in seinen männlichen, edlen Zügen wider.

»Wie, diese tüchtigen Männer, wie ich viele von ihnen als solche kennen gelernt habe, sie lassen sich nebst ihren Frauen und Töchtern im Traume den siebenten Himmel vorgaukeln, schwelgen in den sinnlichsten Genüssen?!«

»Nein. Kriegstrompeten schmettern in ihren Ohren. Es ist die Schilderung der Schlacht von Sankora, die ihnen der Dais vorliest, und sie selbst machten sie mit.«

Das verdüsterte Gesicht des Prinzen hellte sich schnell wieder auf.

»Das ist allerdings etwas Anderes, das lasse ich mir eher gefallen. Ja, aber warum werden sie dann erst in Hypnose versetzt?«

»Weil sie alles persönlich miterleben sollen und wollen.«

»Das können sie doch auch beim bloßen Zuhören.«

»Kannst Du das, Emir? Ich kann es nicht. Nun gut, ich verstehe. Aber hier liegt eben etwas ganz, ganz Anderes vor. Bist Du noch nicht hypnotisiert worden und hast Dir so etwas suggerieren lassen?«

»Ich habe mehrmals versucht, mich hypnotisieren zu lassen, aber es ist nie gelungen, ich bin nicht empfänglich dafür.«

»So hast Du Deinen richtigen Willensmeister noch nicht gefunden. Hierbei handelt es sich überhaupt um eine ganz andere Art von Hypnose, von der Ihr Abendländer noch gar nichts wisst. Und außerdem ist in Eurem Zustande, den Ihr erzeugen könnt, solche eine scharfe Suggestion gar nicht möglich, und dann erwacht Ihr erinnerungslos, was Ihr noch nicht ändern könnt. Willst Du Dich einmal von mir hypnotisieren lassen?«

»Meinetwegen«, lächelte der Prinz, wenn auch etwas unsicher.

Der modern gekleidete Araber griff in die Brusttasche des schwarzen Gehrockes, brachte einen schwarzen Stab zum Vorschein, nicht anderes aussehend wie ein Federhalter. Nur dass der schwarze Grund — was ja aber auch bei jedem Federhalter der Fall sein kann — mit weißen Zeichen besetzt war, und an dem einen Ende befand sich ein silberner Ring, der wieder schwarze Punkte enthielt.

An diesem Ringe drehte Almansor sorgfältig.

»So. Der magische Bann ist eingestellt. Du siehst, dass der Stab hier an diesem Ende eine kleine Stahlspitze hat. Mit dieser stichst Du Dich. Irgendwohin. In die Hand oder in den Arm. Verletzen kannst Du Dich nicht, es ist ja nur eine ganz winzige Spitze. Wenn Du nur einen Schmerz empfindest, das genügt. Aber glaube nicht, dass Dir irgend etwas Schädliches ins Blut gespritzt wird. Die Sache wirkt ganz anders, magisch, und ist absolut unschädlich. Die Erklärung gebe ich Dir nachher. Ich bleibe bei Dir.«

Der Prinz hatte den Stab genommen, zögert noch, den Stich auszuführen.

»Ich falle sofort in Hypnose?«

»Sofort.«

»Muss ich mich nicht dazu setzen?«

»Ist nicht nötig.«

»Wie lange dauert dieser Zustand?«

»Nur einen einzigen Augenblick.«

»Wie?!«

»Nur so lange, als Du den Schmerz empfindest. Es ist nur ein Augenblickstraum. Stich nur zu.«

»Und was werde ich in diesem einzigen Augenblicke erleben? Wohin werde ich versetzt?«

»Das wirst Du ja sehen. In eine fremde Welt. Aber ich bleibe bei Dir, Du kannst mich weiter fragen.«

Der Prinz gab sein Zögern auf, stach sich mit der Spitze in den Daumenballen der linken Hand.

Ein jäher, aber nicht etwa heftiger Schmerz durchzuckte sein Gehirn, er verlor das Bewusstsein.

— • —

33. Kapitel
Auf einem fremden Planeten

Originalseiten 756 — 806

Doch es konnte nur ein einziger Moment gewesen sein, im nächsten war er schon wieder bei vollem Bewusstsein, konnte sich auch ganz klar erinnern, dass er soeben noch auf der Galerie gestanden und unter sich die regungslosen Gestalten gesehen hatte.

Von alledem war nun freilich nichts mehr vorhanden.

Der Prinz befand sich im Freien, stand im Schatten eines indischen Mangobaumes, von dessen mächtigen Zweigen die reifen Früchte herabhingen, und vor ihm breitete sich eine gelbe, ganz vegetationslose Sandwüste aus, auf welche die hochgehende Sonne herabbrannte.

Das war so der erste Eindruck, den er von der neuen Situation empfing. Dann beschäftigte er sich mit sich selbst, und da ward sein Staunen nur noch größer.

Er hatte ein Sportkostüm getragen, noch ziemlich neu, war dem vorangehenden Kinde ohne Kopfbedeckung gefolgt.

Jetzt war er so gekleidet, wie wir ihn als Flammenauge am Anfange der Erzählung dem Leser vorgeführt haben.

Nur Hosen und Jagdhemd aus fein gegerbtem Leder, aber von tausend Strapazen mitgenommen, an den Füßen indianische Mokassins, jetzt aber statt der fuchsfeuerrot gewordenen Igelmütze auf dem Kopfe einen breitrandigen Sombrero aus Leder.

Sonst aber das Jagdhemd wiederum vorn auf der Brust offen und die ledernen Ärmel bis weit über die Ellenbogen hochgekrempelt. Ein Jäger der Wildnis, der es sich so bequem wie möglich macht, der natürlich nichts von Kragen und Schlips weiß.

Und am Gürtel der mächtige Revolver im Futteral, in der Scheide das Jagdmesser, dann noch ein Beutel mit allen Utensilien, die solch ein Hinterwäldler braucht, die wasserdichte Büchse mit Salz nicht zu vergessen, der Gürtel selbst mit Patronen gespickt, und schließlich noch über der rechten Schulter am Riemen hängend der kurze Doppelstutzen schweizerischen Fabrikates.

»Na, nun bleibt mir aber doch der Verstand stehen!«, murmelte der Prinz, eine landläufige Redensart gebrauchend.

Ja, dieses alte Jagdkostüm, an das sich aus verschiedenen Gründen seine liebsten Erinnerungen knüpften, hatte er noch in einem Koffer, oben im... na, nicht oben, aber jedenfalls in seiner Garderobekammer des ägyptischen Klosters. Auch diesen verwetterten Lederhut, der ihm noch viel lieber war als die Igelkappe, den er nur damals bei seiner letzten amerikanischen Tournee zufällig nicht hatte aufsetzen können. Man weiß doch, wie echte Jäger, Gebirgskraxler und dergleichen Geister ihre... Lumpen lieben. Denn Lumpen müssen es erst geworden sein, eher fängt die Liebe nicht an. Was natürlich einen sehr tiefen psychologischen Hintergrund hat.

Noch einmal betrachtete sich der Prinz aufmerksam, besonders den linken Ärmel des Jagdhemdes.

Das hatte dort kurz nach jenem Abenteuer im amerikanischen Felsengebirge einen tüchtigen Riss abbekommen, der Prinz hatte ihn mit eigener Hand zugenäht

Jawohl, das stimmte ebenfalls alles, das war auch der eigentümliche Schlussknoten.

»Merkwürdig, merkwürdig!«

»Prinz, wenn Sie hier etwas erleben und sich dabei amüsieren wollen, dann müssen Sie solche Grübeleien unterlassen!«, erklang es da hinter ihm.

Hinter dem dicken Stamme des Mangobaumes war Almansor hervorgetreten, noch ganz derselbe, im schwarzen Gehrockanzug mit rotem Fez, nur dass er jetzt englisch sprach.

»Aber einige Erklärungen werden Sie mir doch geben.«

»Die sollen Sie erhalten. Nur ist es besser, wenn Sie fragen.«

»Ich stehe jetzt in Wirklichkeit noch dort unten auf der Galerie und steche mich mit dem Dinge in die linke Hand?«

»Ja.«

»Dies alles hier träume ich nur?«

»Ja.«

Der Prinz machte eine Bewegung, als wolle er sich an die Nase greifen — er führte aber die Bewegung nicht ganz aus.

»Gut, ich will es glauben. Wenn ich es auch nicht fassen kann.«

»Sie können nicht einmal das Wesen Ihrer gewöhnlichen Träume erfassen.«

»Stimmt. Aber dass die meisten Träume, und wenn sie sich manchmal auch sehr, sehr lang ausdehnen, nur einen einzigen Moment währen, davon bin ich einmal überzeugt worden.«

Und so ist es auch. Wenn man im Traume etwa eine ganze Reise um die Erde macht, zuletzt steigt man auf einen Turm, springt oder stürzt herab, und wenn man mit zerschmetterten Gliedern die Augen aufschlägt, so liegt man neben seinem Bett am Boden — so hat man die ganze Weltreise nur in dem einzigen Augenblick geträumt, in dem man aus dem Bett gefallen ist. Man hat Mittel gefunden, um dies auch konstatieren zu können. Mag diese Andeutung genügen.

»Und darf ich erfahren, wo ich mich hier nun befinde?«

»Was meinen Sie wohl?«

»Nun — um mit ganz großen Kreisen zu beginnen — zunächst doch wohl noch auf unserer Erde.«

»Nein.«

»Was, nicht mehr auf unserer Erde?! Wo denn sonst?!«

»Auf einem fremden Planeten.«

Das hatte der Prinz nun freilich nicht erwartet.

»Und was für ein Planet ist das?«

»Der in Wirklichkeit gar nicht existiert, den man sich aber wohl vorstellen kann. Hierüber will ich Ihnen nähere Erklärungen geben. Setzen wir uns dazu etwas.«

Sie ließen sich beide in dem weichen Grase nieder.

»Die Phantasie ist frei!«, begann Almansor. »Wir, die wir uns mit so etwas befassen, haben in unserer Phantasie nach vorheriger Vereinbarung einen Planeten geschaffen, der sich wie die Erde innerhalb eines Jahres um die Sonne dreht, sonst allerdings in anderer Weise, vorüber ich nachher sprechen werde.

Die Entfernung von der Sonne spielt dabei keine Rolle. Nehmen Sie an, es sei dieselbe wie die der Erde von der Sonne.

Selbstverständlich hat er eine kugelförmige Gestalt, die Abplattung ist dabei weggelassen worden.

Es ist ein außerordentlich kleiner Planet. Sein Durchmesser beträgt genau zehn Kilometer. Der höchste Berg hat eine Höhe von 400 Metern.

Nehmen Sie einen Globus von einem Meter Durchmesser an, so müsste dieser Berg in demselben Verhältnis darauf durchs eine Erhebung von vier Zentimetern ausgedrückt werden. Hierdurch verliert der Globus doch noch nicht seine Kugelgestalt.

Die Oberfläche dieses kleinen Planeten enthält nun alles, was unsere Erde besitzt: Meere, Erdteile, Inseln, Binnenseen, Ströme und Flüsse, Wälder, Steppen, Wüsten und so weiter.

Aber nicht etwa, dass die Oberfläche unserer Erde in verkleinertem Maßgabe wiedergegeben ist.

Es ist ein durchaus selbstständiger Planet, nur alles für den Menschen angepasst.

Ob Sie darauf Städte oder überhaupt Menschen oder ganz andere Geschöpfe finden, das bleibt Ihrem Entdeckungsgeiste überlassen.

Nur das kann ich Ihnen zu Ihrer Beruhigung gleich mitteilen, dass wir Giftschlangen, Skorpione, Moskitos und andere Tierchen, die dem Menschen das Leben verbittern und manches Jägerparadies ganz illusorisch machen, wohlweislich in unser Programm nicht mit aufgenommen haben.

Einen regelmäßigen Wechsel zwischen Tag und Nacht gibt es nicht.

Denn dieser Planet rotiert zwar um die Sonne, aber nicht um sich selbst.

Wir befinden uns hier am Sonnenpol, wie wir diese Gegend nennen wollen.

Also diesen Punkt, eine Wüste, hat der Planet der Sonne immer direkt zugekehrt.

Über dem entgegengesetzten Punkt auf der anderen Seite steht immer der Vollmond. Ein Vollmond, wollen wir sagen. Also ein Himmelskörper, der wohl Licht ausstrahlt, aber keine Wärme. Wir haben ihm die scheinbare Größe und das Aussehen unseres Mondes gegeben. Nur dass er sich scheinbar nicht bewegt.

Also während hier ständig die Sonne brennt, herrscht auf der anderen Seite des Planeten ständig Kälte, bittere Kälte. Machen Sie sich auf Temperaturen von dreißig Grad unter Null gefasst. Wie Sie sich dagegen schützen, sich warme Kleidung verschaffen, das ist Ihre Sache.

Da der Planet einen Durchmesser von zehn Kilometer hat, so beträgt der Umfang der Kugel, wenn man die Erhebungen noch hinzurechnet, rund zweiunddreißig Kilometer.

Also sind Sie hier von jenem Mondpol sechzehn Kilometer entfernt. Können ihn, wenn Sie einen guten, direkten Weg zu finden wissen, in zwei bis drei Stunden Marschierens erreichen.

Während dieser Zeit machen Sie auf diesem Wege alle Phasen zwischen den sonnendurchglühten Tropen und der Polargegend mit ewigem Eis und Schnee durch. Natürlich dazu immer auch die angepasste Vegetation und Tierwelt... wollten Sie etwas sagen?«

Der Prinz hatte eine Bewegung gemacht.

»Das ist ja die herrlichste Idylle, eine Art Robinsonade, an die ich bisher nicht einmal zu träumen gewagt habe! Nur eine Frage taucht mir da gleich noch auf.«

»Unterbrechen Sie mich mit Fragen, so oft Sie wollen.«

»Auf solch einem winzigen Planeten herrschen doch auch ganz andere Gesetze in Bezug der Anziehungskraft, der Schwere.«

»Das, mein lieber Freund«, lächelte Almansor, »können wir in unserer schöpfenden Phantasie doch ganz arrangieren wie wir wollen.«

»Na ja freilich! Sie haben also das Register auf Erdschwere gezogen.«

»So ist es. Ebenso haben wir keine Wolkenbildung, keinen Regen für notwendig erachtet. Die Atmosphäre ist ständig mit Wasserdampf gesättigt, die an sich schon für die üppigste Vegetation genügt, in der Nacht außerdem reichlicher Taufall, der Tau dringt in die Erde und kommt als Quellen wieder hervor, so geht das Wasser auch auf diesem kleinen Planeten seinen Kreislauf.

Sterne gibt es nicht. Auch nicht auf der anderen Seite im Reiche der ewigen Nacht, aber immer durch den Vollmond erleuchtet. Was brauchen Sie Sterne, wenn Sie sonst gesund sind. Unser kleiner Planet könnte doch einmal mit einem anderen Himmelskörper kollidieren, und so haben wir diese Dinger lieber gleich ganz vom Himmel gestrichen.

Statt dieser Sterne haben wir andere Einrichtungen getroffen hier auf unserem Planeten, der für uns doch die Hauptsache ist.

Wir sind nicht so verschwenderisch gewesen, nur die Oberfläche für den Menschen bewohnbar zu machen und das Innere mit Feuer auszufüllen, als Schutz nur eine dünne Erdkruste darüberziehend.

Bedürfen wir eigene Erdwärme, so wird ganz einfach geheizt. Wie wir das machen, das brauchen Sie nicht zu wissen.

Jedenfalls also können Sie auch ins Innere der Erde dringen, so weit Sie wollen — bis Sie auf der anderen Seite des Planeten wieder herauskommen.

Und nicht etwa, dass Sie nötig haben, mit der Schaufel ein Loch von zehn Kilometer Tiefe zu graben.

Solche Gänge sind bereits vorhanden. Sie müssen sie nur zu finden wissen.

Und fürchten Sie nicht, wenn Sie eine Treppe hinabsteigen, die durch den Mittelpunkt der Erde nach der anderen Seite führt, dass Sie dort unten nun etwa mit den Füßen zuerst wieder zum Vorschein kommen...«

»Wie haben Sie denn das zu vermeiden gewusst?!«, lachte der Prinz.

»Da befindet sich im Mittelpunkte der Erde einfach eine Drehvorrichtung, die Sie wieder in die vorschriftsmäßige Lage bringt, und das geschieht ganz automatisch, davon merken Sie gar nichts. Und überhaupt, machen Sie sich nur keine Sorge wegen solcher Kleinigkeiten, ich will Sie auch sonst nicht weiter einweihen, Sie sollen doch Überraschungen erleben.«

Der Prinz stand schnell auf.

»Ja, wenn Sie mir sonst nichts weiter mitzuteilen haben — ich kann es kaum erwarten, meine erste Expedition anzutreten, da bin ich doch... was ist denn das für ein Ring?!«

Der Prinz trug keine Ringe, und erst jetzt bemerkte er, dass er am Zeigefinger der linken Hand einen weißen Ring hatte, wohl aus Elfenbein, mit schwarzen Punkten und Hieroglyphen bedeckt.

»Das ist ein magischer Ring. Sobald Sie ihn vom Finger ziehen, ist der Traum beendet. Sie haben es also immer in der Hand, den Traum abzubrechen. Von selbst geschieht das, wenn Sie Ihren Tod finden. Denn das kann schließlich doch einmal geschehen, das kann ich nicht ändern. Sie stürzen etwa auf einer Gebirgstour ab, zerschmettern unten Ihren Kopf — da ist der Traum aus! Doch würden Sie wohl schon unterwegs vor Schreck erwachen. Und so überhaupt stets, wenn Sie einmal außerordentlich erschrecken. Aber so schreckhaft sind Sie ja doch nicht, Prinz, dass Sie wegen jeder Kleinigkeit aus Ihrem Traume erwachen. Und sonst also, wenn Ihnen einmal etwas recht Unangenehmes passiert oder Sie haben überhaupt den Wunsch, den Traum zu unterbrechen, so brauchen Sie nur den Ring vom Finger zu ziehen — Sie sind erwacht.«

»Und dann stehe ich auf der Galerie?«

»Jawohl.«

»Habe mich eben erst mit der Nadel in die Hand gestochen?«

»Gewiss. Es ist ja nur ein Augenblickstraum.«

Der Prinz konnte nur den Kopf schütteln. Weitere Fragen in dieser Beziehung stellte er nicht, es waren ganz andere.

»Und wenn ich den Traum nun fortsetzen will?«

»So stechen Sie sich einfach wieder mit der magischen Nadel.«

»Und dann findet der Traum seine Fortsetzung?«

»Ja. Er setzt genau an derselben Stelle wieder ein, wo Sie ihn unterbrochen haben. Aber das können Sie auch nach Belieben ändern. Denn sonst hätte solch eine Unterbrechung, ausgeführt zu dem Zweck, um einer Gefahr oder sonstigen Unannehmlichkeit zu entgehen, ja gar keinen Zweck.

Wie Sie das machen, um Ihren Traum nach Belieben zu regeln, oder um ihm doch einen neuen Anfang zu geben, das werde ich Ihnen später sagen. Dazu bedarf es gewisser Vorbereitungen. Jetzt wollen Sie, bitte, den Ring nicht unnötiger Weise vom Finger ziehen.«

Auch Almansor hatte sich aus dem Grase erhoben.

»Haben Sie sonst noch Fragen?«

»Sie arrangieren den Inhalt meines Traumes?«

»Nein. Sie träumen ganz selbstständig, handeln ganz nach eigenem Ermessen. Auf die Bedeutung des dabei ebenfalls in Frage kommenden Kismets, der unerbittlichen Schicksalsbestimmung, wollen wir uns nicht weiter einlassen.«

»Sie bleiben bei mir?«

»Wie Sie wünschen. Es ist Ihnen doch lieber, wenn Sie allein sind.«

»Offen gestanden — ja, ich möchte Sie sogar bitten, mich keinen anderen Menschen treffen zu lassen. Ich möchte auf einem echten Robinsonsplaneten sein.«

»Wenn Sie einem Menschen begegnen, so soll es für Sie doch eine große Überraschung bedeuten!«, lächelte Almansor. »Aber Sie können doch einmal mich zu sprechen wünschen. In diesem Falle brauchen Sie nur den magischen Ring einmal umzudrehen, mit der Absicht, mich zu sprechen, und ich werde sofort zur Stelle sein. Geschieht die Umdrehung zufällig, ohne Absicht, dann wirkt das Mittel nicht.«

»Gut. Ich trete meine erste Forschungsexpedition jetzt an!«

»So verschwinde ich. Soll ich wirklich verschwinden?«

»Wie meinen Sie das?«

»Soll ich Ihnen eine Gaukelei vormachen? Plötzlich in nichts zerfließen? Oder mich in einen Vogel verwandeln und davonfliegen?«

»Hm!«, brummte der Prinz, nachdenklich den Araber betrachtend. »Sie können sich verwandeln, in was Sie wollen?«

»In was ich will — und was Sie wollen.«

»Nicht nur dass Sie eine Tiergestalt annehmen.«

»Wie Sie bestimmen. Soll ich hier als Quelle aus dem Boden springen?«

»Als Quelle. Nee. Was soll ich mit einer Quelle anfangen. Ich habe keinen Durst. Aber... Hm. Wissen Sie, da wäre mir am liebsten, wenn Sie sich jetzt in eine recht hübsche Portion Schweinsknochen mit Sauerkraut und Klößen verwandelten.«

Der junge Araber, der ja schon einigen Sinn für Humor bewiesen hatte, lachte aus vollem Halse. Er hatte die auf deutsch gesagten Worte verstanden, kannte dieses Gericht, das z. B. bei den Franzosen als Nationalspeise der Deutschen gilt, für einige Gegenden Deutschlands ja auch gar nicht so mit Unrecht.

»Gewiss, kann ich. Im Traume ist doch alles möglich.«

»Na ja freilich — im Traume. Werde ich denn auch von diesen Schweinsknochen satt? Ich fühle nämlich einen ganz grimmigen Hunger.«

»Sie werden satt davon, seien Sie versichert, wenn ich die Portion nur groß genug machte. Also soll ich?«

»Nein, lieber nicht. Ich möchte nicht daran erinnert werden, dass alles nur ein Traum ist. Bitte, verschonen Sie mich auch sonst mit Gaukeleien und Wundern.«

»Wie Sie bestimmen. Also ich verschwinde auf ganz natürliche Weise, indem ich hier hinter den Baum trete, und wenn Sie mich einmal brauchen, so werde ich Ihnen auch auf möglichst natürliche Weise wieder erscheinen. Amüsieren Sie sich gut, mein Prinz.«

Almansor ging hinter den dicken Stamm des Mangobaumes, er tauchte nicht wieder auf.

Der Prinz betrachtete die im Grase befindlichen Spuren, folgte denen Almansors hinter den Baum — der Mann war nicht mehr zu erblicken, und die Spuren hörten plötzlich auf.

Das war ja allerdings nicht ganz natürlich — oder Almansor hätte einen hohen Luftsprung machen müssen, um die untersten Zweige des Baumes zu ergreifen und sich hinaufzuschwingen — der Prinz kümmerte sich nicht weiter darum.

Er nahm die Büchse, die ihm bisher am Riemen über der Schulter gehangen hatte, unter den Arm und schritt in die Wüste hinein.

Es war nicht ein einsamer Mangobaum, der hier stand. Die Wüste wurde von einem Urwald begrenzt, ganz scharf. Hier standen Bäume aller Art, wie man sie im tropischen Indien, Afrika und Amerika findet — ein Unterschied ist da auch gar nicht so leicht zu machen, das ist nur nach und nach zu spezialisieren — darunter entsprechendes Buschwerk und Gras, und dann begann plötzlich mit scharfer Grenze der sandige, steile Boden, die Wüste.

Auch diese scharfgezogene Grenze hatte gar nichts Unnatürliches an sich. Das kann man oft genug finden, Boden von höchster Fruchtbarkeit und direkt daran öde Wüste. Das braucht doch nur von der Bodenbeschaffenheit abzuhängen.

So war das. hier auf dieser Seite. Dort weiter nach rechts schien die Wüste langsam in eine Steppe über zu gehen, dort hinten wurde die Wüste von einem nackten Felsengebirge begrenzt, das weiter nach links sich zu bewalden begann.

Also der Prinz schritt in die Wüste hinein, auf das Gebirge zu, dessen Entfernung unmöglich taxiert werden konnte.

Doch nicht lange, vielleicht nur zehn Minuten, so trat ihm ein Hindernis in den Weg — ein in der Wüste höchst angenehmes Hindernis.

Eine Flussrinne! Und zwar wirklich mit Wasser gefüllt, mit kristallklarem Wasser! Das mit einiger Strömung von rechts nach links floss. Denn mit Himmelsrichtungen durfte man hier ja nicht kommen.

Die ungefähr vier Meter breite Flussrinne war leicht zu erreichen, nur eine kleine Böschung war hinabzuklettern. Süßes Wasser, wie sich der Prinz gleich überzeugte. Wenn auch nicht etwa gezuckert. Und dass dieser Fluss an seinen Ufern Vegetation erzeugte, das war in solch einer Wüste durchaus nicht nötig. Ganz abgesehen davon, dass man dies in seiner Phantasie ja alles arrangieren kann wie man will. Woran der Prinz jetzt aber nicht denken wollte.

Das Wasser war eigentlich viel kühler, als es bei solch tropischer Temperatur der Luft hätte sein dürfen, zumal da hier ja Tag und Nacht die unverrückbare Sonne vom wolkenlosen Himmel herabbrannte.

Nun, da entsprang dieser Fluss wahrscheinlich dort dem Gebirge als frische Quelle, das konnte ja gleich untersucht werden.

Was kam denn dort geschwommen?

Ein Boot!

»Sehr aufmerksam arrangiert.« lobte der Prinz. »Das ist viel bequemer, als wenn ich erst einen hohen Baumstamm umarbeiten muss, und wenn ich durchaus das Bedürfnis habe, als Robinson von vorn anzufangen, so kann ich mir diesen Spaß ja noch immer machen. Ob mir das Boot sonst noch etwas bringt?«

Langsam trieb das Boot mit der Strömung heran, sich etwas auf der anderen Seite haltend.

»Hm, wenn ich nun einmal ein Boot bekommen soll, dann könnte es eigentlich auch...«

Der Prinz fiel insofern aus der Rolle, wurde sich inkonsequent, als er dem Boote pfiff, wie man einem Hunde pfeift.

Das Boot hingegen blieb der Wirklichkeit getreu, indem es sich nicht durchs Pfeifen und durch keinen anderen Befehl herbeilocken ließ, sondern drüben auf der anderen Seite verharrte und so vorbeigetrieben wäre.

Nun, da ging der lederne Mann einfach ins Wasser, hielt mit der einen Hand seine Büchse hoch — dem Revolver schadete ein Bad so wenig wie den Patronen, und der Stutzen hätte es natürlich auch vertragen, es war nur dann wegen des Putzens — und hatte mit einem einzigen Stoße das jenseitige Ufer erreicht, hielt das Boot an und konnte es besteigen.

Es war ein modernes Lederboot für Sportzwecke — Kanu wird es nach seinem indianischen Namen bezeichnet — nicht ganz drei Meter lang, am Boden neben der Bank lagen zwei Schaufelruder, die zusammengesteckt werden konnten und so ein sogenanntes Paddelruder ergaben, dann noch zwei zusammengerollte Decken, ein Lasso, ein Sattel mit vollkommenem Zaumzeug, auch ein Paar Sporen nicht zu vergessen, und dann noch ein gefüllter Patronenkasten, und in alledem erkannte der Prinz sein Eigentum.

»Sehr aufmerksam, sehr aufmerksam!«, lobte er. »Nach dieser Fürsorge also scheint es hier viel zu schießen zu geben, obgleich man doch wissen wird, dass ich nicht gleich alles totschießen muss, was mir übern Weg läuft, und dann scheint es hier auch Pferde zu geben, man lädt mich ein, mir eins zu haschen und zwischen meine Beine zu klemmen. Wohl, das kann besorgt werden. Und was sind das hier für Hebel?«

In der Mitte des Bootes zwischen den beiden Bänken, von jeder aus mit ausgestrecktem Arm leicht zu erreichen, stand ein Kasten, aus dem einige Handgriffe hervorsahen, in Schlitzen bewegbar, die zum Teil auch eine Gradeinteilung hatten, mit Zahlen versehen.

Eine kleine Ahnung hatte der Prinz schon, was das bedeuten sollte, wozu auch kein besonderer Scharfsinn gehörte.

Und richtig, kaum hatte er den einen Hebel, auf Null stehend, etwas nach vorn geschoben, als sich das Boot auch schon von selbst nach derselben Richtung in Bewegung setzte. Den Hebel zurückgeschoben, über die Null hinaus, und die Fahrt wurde schnell gebremst bis sie sich in die entgegengesetzte Richtung verwandelte, wenn man den Hebel eben nicht rechtzeitig auf Null eingestellt hatte.

Nun hatte der Prinz bald heraus, dass der eine Hebel diese Regulierung der Fahrtgeschwindigkeit sehr langsam besorgte, der andere durch eine größere Übertragung viel schneller, der Skala nach müsste die Geschwindigkeit bis auf acht Knoten in der Stunde gebracht werden können, das sind rund fünfzehn Kilometer, während der dritte Hebel als Steuer diente, und zwar konnte das Boot auf der Stelle um sich selbst gedreht werden.

Zunächst blickte der Prinz einmal hinten und vorn und seitwärts über den Rand des Boots hinab. Aber so kristallklar das Wasser auch war, da war weder etwas von einer Schraube oder einem sonstigen Triebmittel noch von einem Steuer zu sehen.

Befand sich dies alles vielleicht unten am Boden?

»Mir ganz gleichgültig«, sagte sich der Prinz, »die Hauptsache ist, dass der Kasten läuft und sich lenken lässt. Wenn ich übrigens hier zu erfinden gehabt hätte, dann hätte ich auch gleich noch zwei andere Hebel angebracht: einen, durch den man Räder hervorzaubert, so dass man auch auf dem Lande spazieren fahren kann, und einen, durch den man den Kahn und die Kutsche in eine Luftgondel verwandeln kann. Das haben die Erfinder und Erbauer vergessen. Es ist eben alles unvollkommen in der Welt.«

Der Prinz lachte über sich selbst ob seiner Unzufriedenheit, benutzte aber nun auch gleich das Boot, um weiterzukommen, jedoch nicht die geheimnisvolle Triebkraft wirken lassend, sondern zum einfachen Schaufelruder greifend, das Wasser hinter das Fahrzeug drückend, was ihm also mehr Spaß machte, als ein Motorboot zu steuern.

Bald hatte er das Felsengebirge erreicht, das jäh aus der ebenen Wüste emporstieg. Ein furchtbar wildes, zerrissenes Gebirge von den bizarrsten Formen.

Aussteigen tat der Prinz nicht, er hielt sich nirgends auf, so verlockend auch manche Schlucht und Höhle zur näheren Untersuchung aussah. Dass man darin auch etwas Besonderes finden würde, das war ja ganz zweifellos, oder die phantastischen Schöpfer hätten doch gar nicht erst so etwas zu schaffen brauchen, aber der Prinz wollte diesen Miniaturplaneten, seinen eigenen Planeten, erst einmal im großen Ganzen kennen lernen.

Der Fluss durchbrach das ganze Gebirge, das ungefähr einen Kilometer breit war, empfing einige aus Seitenschluchten hervorkommende Nebenflüsse, die sich ebenso wie die direkt aus dem Gestein hervorbrechenden Quellen durch eine außerordentliche Kälte auszeichneten.

Wie war dies möglich in diesem Gebirge, in dem die Sonne fürchterlich brannte, und das ununterbrochen Tag und Nacht?

Nun, der Prinz hatte bereits eine Erklärung hierfür gefunden, auch mit seinen eigenen Augen.

Es war vorhin kein Irrtum von ihm gewesen, als er, das Gebirge noch von Weitem erblickend, das Weiße dort oben für Schnee und Eis gehalten hatte.

Waren diese Berggipfel auch nur 400 Meter hoch, sie waren doch schon mit ewigem Schnee und Eis bedeckt. Hier auf diesem winzigen Planeten hatten eben 400 Meter schon eine ungeheure Höhe zu bedeuten, nach diesem Verhältnis war auch alles andere geregelt worden.

Nach Passieren des Gebirges trat der Fluss wieder in den Urwald. Ein echter Urwald, wie man ihn am schönsten wohl auf Java findet, indem hier meist das undurchdringliche Unterholz fehlt, er ist auf festem, nicht sumpfigem Boden mehr parkähnlich, und so war alles auch hier beschaffen.

Noch hoch oben in den Gipfeln der Riesenbäume trieben Schlingpflanzen, die aber nicht Weg und Aussicht versperrten, ihre herrlichen Blüten, die ganze Atmosphäre mit ihrem Dufte erfüllend, prachtvolle Schmetterlinge, zum Teil von Riesengröße, gaukelten umher, auch Bienen gewahrte der Prinz, in den Zweigen tummelten sich schnatternde Affen, Schwärme von Papageien und anderen Vögeln flogen hin und her, dort trabte eine Herde Wasserschweine, dort nahm ein Tapir, so groß wie ein stattlicher Esel, ein Bad.

Ob es da nicht auch Raubtiere geben musste, die dafür sorgten, dass sich diese pflanzenfressende Tierwelt nicht ins Ungeheure vermehrte? Nun, wenn hier die menschliche Phantasie frei geschaffen und die Möglichkeit hatte, ihre Gebilde in feste Formen zu gießen, dann waren solche Hilfsmittel nicht nötig, der Vermehrung und Verminderung der Tier- und Pflanzenwelt konnten ganz andere Wege vorgeschrieben werden.

Der Urwald ging in eine blumige Prärie über. Der Prinz erblickte Antilopen aller Art, Zebras und Strauße, welche nämlich immer ein üppiges Weideland der dürren Steppe oder gar der Wüste vorziehen.

Bemerkenswert war, dass alle diese Tiere vor dem Menschen in seinem Boote flohen, was dem Prinzen nur sehr recht war. Denn einem Jäger kann es nicht gerade sehr angenehm sein, in ein Paradies versetzt zu werden, in dem ihm die wilden Tiere aus der Hand fressen, überhaupt keinem Menschen, der nicht als Vegetarier leben und kein Schlächter werden will.

Nach und nach nahm die tropische Savanne mehr den Charakter der Steppe an. Statt der Antilopen zeigten sich als Hauptsache mehr Hirsche und Rehe. Der Fluss mündete in einen ansehnlichen See oder kam vielmehr aus diesem heraus, dessen Ufer mit Eichen, Buchen und Birken bestanden waren, und in dem Schilfe wimmelte es von Gänsen und Enten, statt der Flamingos standen dort im niedrigen Wasser Reiher und ab und zu auch ein Storch.

Die gemäßigte Zone hatte begonnen, was sich auch schon in der kühleren Temperatur bemerkbar machte.

Wo stand die Sonne? Natürlich jetzt immer hinter dem Prinzen, und zwar in einer Höhe, die etwa der vierten Nachmittagsstunde im deutschen Hochsommer entsprach.

Woher kommt denn eigentlich die größere und geringere Kraft der Sonnenwärme? Das hängt nicht etwa von der verschiedenen Entfernung der Erde von der Sonne ab. Die Erde betreibt ja um die Sonne keine kreisrunde Bahn, sondern eine längliche Ellipse, und wenn sich die Erde auch am weitesten von der Sonne befindet, so kann die betreffende Seite der Erde doch gerade ihren heißesten Sommer haben.

Der Unterschied in der Temperatur hängt einzig und allein von dem Einfallswinkel ab, in dem die Sonnenstrahlen auf die Erde treffen.

Der See hatte sowohl Zu- wie Abflüsse, der Prinz benutzte, ohne die einmal hingeschlagene Richtung zu ändern, einen der letzteren, fuhr also jetzt stromabwärts, und nach einer weiteren halben Stunde sah er, hinter sich blickend, die Sonne eben noch über dem Horizonte stehen.

Jetzt befand er sich in einem Nadelwalde, in dem es schon ganz empfindlich kalt war, und wenn er sich nicht irrte, so zeigten die Bäume dort hinten schon einen weißen Überzug von Raufrost.

Und dort am Ufer des Flusses eine Hütte, ein aus rohen Baumstämmen aufgeführtes Blockhaus!

»Hier finde ich unbedingt wärmere Kleidung, oder die ganze Sache ist falsch arrangiert!«, sagte sich der Prinz, als er beilegte, sein Boot befestigte und ausstieg.

Es war die Hinterwäldlerwohnung eines Jägers, mit allem versehen, was dieser brauchte, um sowohl einen heißen Sommer wie einen strengen Winter durchzumachen, nur dass es sich hierbei nicht um den Wechsel von Jahreszeiten handelte, sondern um die Richtung, die man einschlug, um sich die Temperaturunterschiede ganz nach Belieben zu wählen.

Also waren richtig, wie der Prinz gleich vermutet hatte, auch Pelzsachen vorhanden, wohlgeordnet an der Wand hängend, genau wie nach Maß für den hünenhaft gebauten Prinzen gefertigt.

Natürlich wäre es verfehlt gewesen, ihm hier ganz neue und womöglich hochmoderne und elegante Pelzkostüme darzubieten, frisch aus dem Modemagazin oder Sportausrüstungsgeschäft.

Das war doch auf solch einem fremden Planern, der im Weltenraum herumschwabbelte, nicht gut möglich. Der Prinz sollte eben annehmen, dass hier noch ein anderer Mensch hauste, der sich bereits als Jäger auch wohnlich hübsch eingerichtet hatte und gegenwärtig nicht zu Hause war.

Danach war auch alles andere im Innern der Blockhütte beschaffen. Da hingen von der Decke geräucherte Hirschkeulen und Speckseiten herab, die eine Wand war ganz mit Jagd- und Angelgerätschaften bedeckt, und die aus Fellen bestehende Lagerstätte machte ganz den Eindruck, als ob sie noch vor Kurzem benutzt worden wäre.

Der Prinz wählte einen mittleren Pelzanzug, schon stark gebraucht, aber wohlerhalten.

»Also«, sagte er, und zwar mit lauter Stimme, während er die Pelzsachen anlegte, gleich über sein Lederkostüm, »ich nehme an, dass der Besitzer dieser Hütte vor Kurzem seinen Tod gefunden hat...«

»Weshalb nehmt Ihr denn das an, Prinz?«

Durch die offen stehende Tür war eine hohe Gestalt getreten, ebenfalls in Pelze gehüllt.

Es war ein noch junger Mann, das Gesicht mit den offenen, kühnen Zügen rot wie ein gebrannter Ziegelstein, unter der starken Nase ein blondes, kaum sichtbares Bärtchen, die blauen Augen scharf wie geschliffener Stahl. Unbedingt ein Germane, wahrscheinlich ein Norweger — so ein echter Norweger, den man unter allen Nationen mit am leichtesten heraus erkennt, weil er sich eben am unvermischtesten erhalten hat.

Der Prinz war grenzenlos überrascht. Er hatte sich eben in den Glauben verrannt, dass diese Blockhütte mit ihrem ganzen Inhalt nur seinetwegen hierher »gezaubert« worden sei, sonst keinem Menschen zu begegnen, und wenn doch, dass dies dann ein ganz besonderes Wesen sein würde. An solch einen Hinterwäldler hatte er mit keinem Gedanken gedacht.

Dieser benahm sich auch recht merkwürdig. Oder aber auch wie ein echter Hinterwäldler im Wilden Westen Amerikas, der in seiner Einsamkeit ein vollständiger Nevermindman geworden war, sich durch nichts außer Fassung und aus seinen Gewohnheiten bringen lässt.

Mit drei großen Schritten war der junge Mann eingetreten, nur einen einzigen Blick auf den Prinzen werfend, stand sofort vor der Wand, nahm dort von einem Regal eine Schale, goss aus einer Steinflasche Wasser hinein, schlug mit einem Stück Seife Schaum, nahm von demselben Regal ein Rasiermesser, zog es an einem Streichriemen ab, seifte sich ein und begann sich zu rasieren, und dies alles, während der Prinz noch auf dem Baumstumpf saß, der einen Stuhl vertrat, einen der großen Pelzstiefel in der Hand.

»Geniert Euch nicht, Prinz, vollendet nur Eure Toilette und dann langt zu, wenn Ihr Hunger habt!«, sagte der junge Mann jetzt, sich wie schon vorher des Deutschen bedienend, während er an seinem Kinn herumschabte.

»Darf ich fragen, wer Ihr seid?«

»Ihr dürft alles, was Euch gut dünkt. Ob ich auf Eure Fragen antworte, das ist ja freilich eine andere Sache. Ihr müsst nämlich wissen, dass ich sehr rücksichtslos bin, und wenn ich Euch nicht duze, so geschieht das nur deshalb, um Euch mir drei Schritte vom Leibe zu halten!«

Ja, sehr rücksichtslos sah dieses verwetterte, ziegelrote Gesicht auch aus. Obgleich sich darin auch ebenso viel Adel und Geist und Gutmütigkeit ausprägte. Jedenfalls aber ein junger Mann, der wusste, was er wollte und immer gleich direkt auf sein vorgenommenes Ziel losging

»Wer ich bin?«, fuhr er fort, den Schaum von dem Messer an der Schale abstreifend. »Wenn jeder Mensch unbedingt einen Namen haben muss, so nennt mich Norge.«

Der Norweger nennt sein Land und sich selbst Norge. Es ist der Name eines sagenhaften Königs.

»Ihr seid Norweger?«

»Ja.«

»Ihr wohnt hier ständig auf diesem Planeten?«

»Auf dem Gnom, ja.«

»Gnom heißt dieser Planet?«

»So habe ich ihn getauft, und ich hoffe, dass Ihr damit einverstanden seid. Mars, Jupiter, Merkur — da ist bei diesem winzigen Dinge der Name Gnom wohl ganz angebracht.«

»Ihr lebt aber nur geistig darauf.«

»Genauso wie Ihr.«

»Also sozusagen mit Eurem astralen Körper.«

»Nicht nur sozusagen, sondern das ist wirklich so.«

»Und wo ist Euer physischer Leib?«

»Der liegt jetzt in Christiana in einer elenden Dachkammer auf einer Holzpritsche.«

Der Prinz konnte nur den Kopf schütteln.

»Ihr habt mich hier erwartet?«, fragte er dann weiter.

»Ja.«

»Wer hat Euch über mich berichtet?«

»Almansor.«

»Wann?«

»Jetzt in diesem Augebblick.«

»Wie ist das möglich?«

»Prinz, fragt nicht so. Ihr versteht das jetzt noch nicht. Weil es in Wirklichkeit überhaupt keine Vergangenheit und keine Zukunft gibt, also überhaupt gar keine Zeit, sondern immer nur ein einziges Jetzt. Versteht Ihr das?«

»Das ist die indische Vedenphilosophie, für das Abendland am besten bearbeitet von Schopenhauer.«

»Aber begreift Ihr, wie das zu verstehen ist? Seid ehrlich.«

»Nein, ich verstehe es nicht.«

»So fragt hierüber jetzt auch nicht weiter. Wir unterhalten uns später darüber, wenn Ihr so weit seid. Stellt jetzt andere Fragen.«

»Kann ich dann, wenn es in Wirklichkeit gar keine Zeit gibt, fragen, wie lange Ihr schon auf diesem Planeten haust?«

»Das könnt Ihr. Denn für Menschen, die an den irdischen Leib gebunden sind, existiert eine Zeit, wenn das auch nur auf Täuschung beruht. Nun, etliche hundert Jahre mögen herauskommen.«

1 Oslo, die heutige Hauptstadt Norwegens, hieß bin 1924 Christiania.

»Einige hundert Jahre?! Das ist eine gar lange Zeit!«

»Nicht im Reiche der Phantasie.«

»Was seid Ihr in Eurem irdischen Leben?«

»Ein Privatgelehrter in Christiania, ein kleines, altes, verrunzeltes Männchen, das kümmerlich von einer Jahresrente von kaum 400 Mark zwischen seinen Büchern in einer Dachkammer lebt.«

Der Prinz wusste ja nun, was hier vorlag, er befand sich im Reiche des Geistes, auf einer anderen Ebene als der irdischen, auf welcher der Mensch im normalen Bewusstsein für gewöhnlich lebt — aber es war begreiflich, dass er immer wieder staunen musste, über das, was er da zu hören bekam.

»Ihr versetzt Euch ab und zu in die norwegische Dachammer zurück?«

»Gewiss. Um zur Abwechslung wieder als fast siebzigjähriger Greis meinen Studien zu leben.«

»Und kommt ab und zu als junger, kraftstrotzender Mann hierher?«

»So oft ich will.«

»Wie lange treibt Ihr das schon?«

»Im irdischen Leben etwa drei Jahre, hier also schätze ich die Zeit schon auf einige hundert Jahre.«

»Ich sehe keinen Ring an Eurem Finger.«

»Was für einen Ring? Doch gut, ich verstehe Euch. Ich bedarf keines solchen Mittels, um mich sofort wieder auf die irdische Ebene zu versetzen. Mein einfacher Wille dazu genügt. Doch so weit seid Ihr eben noch nicht.«

»Und wie versetzt Ihr Euch auf diesen Planeten, in das Reich des Traumes?«

»Da habe ich wiederum nicht solch ein Hilfsmittel wie Ihr nötig. Ich brauche mich mit keiner magischen Nadel zu stechen, keine andere Prozedur vorzunehmen. Auch hierbei genügt mein einfacher, freilich sehr fester Wille.«

»Wer hat Euch das gelehrt?«

»Ich mir selbst. Wenn ich auch zugebe, dass ich durch Andere erst darauf gekommen bin. Dann waren meine Lehrmeister besonders Porphyros, Platinus, Jamblichus und Pilo von Alexandrien.«

Es waren dem klassisch gebildeten Prinzen wohlbekannte Namen. Wir werden später darauf zurückkommen.

»Aber«, fuhr der junge Mann, sich immer weiter rasierend, fort, »der Hauptsache nach ist es doch meine eigene Erfindung, wie ich meinen Astralleib vom irdischen Körper befreit habe.«

»Darf ich erfahren, wie Ihr das gemacht habt?«

»Durch ein besonderes körperliches und geistiges Training. Weiter fragt jetzt nicht, Ihr könnt es noch gar nicht verstehen, später werde ich es Euch näher erklären. Als ich dann so weit war, traf ich auf der Astralebene mit den Mitgliedern jener geistigen Gesellschaft zusammen, deren Oberhaupt der Alte vom Berge ist, der sich jetzt Almansor nennt. Ich habe mich dieser Gesellschaft angeschlossen, ich benutze diesen von allen zusammen durch geistige Kräfte erschaffenen Planeten, zu dem auch Euch der Zutritt erlaubt worden ist, und ich war damit einverstanden, mit Euch hier zusammenzutreffen. Und wenn's Euch nicht passt, braucht Ihr's nur zu sagen, dann könnt Ihr sofort wieder allein sein. Na?«

Nicht etwa grob und unhöflich, sondern nur frei und offen oder höchstens etwas derb hatte es Norge gesagt, jetzt einmal nach dem Prinzen blickend.

»Vorläufig ist mir Eure Gesellschaft höchst angenehm.«

»Das ›vorläufig‹ gefällt mir an Euch. Dann werden wir uns auch schon vertragen. Also dann seid Ihr doch auch damit einverstanden, dass ich Euch etwas auf diesem Planeten Gnom herumführe und Euch verschiedene Merkwürdigkeiten zeige.«

»Sicher.«

»Also bis es Euch nicht mehr passt, und dasselbe gilt von mir. Nur immer frei heraus! Alle die höflichen Schwächen haben wir auf der Erde gelassen. Jetzt vollendet Eure Toilette, es ist ganz recht, zieht Euch warm an, wir machen einen Abstecher nach dem eisigen Mondpol, und dann esst, wenn Ihr Hunger habt. Oder wenn Ihr noch zehn Minuten wartet, können wir auch zusammen essen. Wenn Ihr was Warmes halben wollt, dort unter den Kohlen muss noch Feuer glühen. Auch Kaffee und Tee findet Ihr und noch Anderes mehr, Ihr müsst nur suchen. Ich nehme jetzt mein gewöhnliches Bad.«

Norge hatte seine Rasiererei beendet, entnahm einer plumpen Truhe, die er selbst gefertigt zu haben schien, ein großes, zusammengelegtes, grobes, aber sauberes Badelaken, das er freilich nicht selbst hergestellt haben konnte, begab sich hinaus und begann sich am Ufer des Flusses zu entkleiden.

Ein Fenster fehlte in der Blockhütte, aber der Prinz konnte ihn durch die offen gebliebene Tür sehen, dann trat er auch selbst hinaus.

Unter der abgeschälten Pelzkleidung kam ein athletisch gebauter Körper zum Vorschein, so ziegelrot wie das Gesicht.

Kaum war das letzte Kleidungsstück gefallen, als der junge Mann von der hohen Wurzel eines Baumes, der dicht am Ufer stand, einen Kopfsprung ins Wasser machte.


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Von dessen Kälte hatte sich der Prinz schon vorhin überzeugt. Höchstens zehn Grad Celsius. Das darf man für Badezwecke eine eisige Kälte nennen, und ebenso temperiert mochte die Luft sein.

In diesem kalten Wasser plätscherte und schwamm jetzt der Norweger herum, mit der Gewandtheit eines Seehundes, manchmal auch wie ein Walfisch pustend.

Also ob das nun Traum war oder nicht — der Prinz, so abgehärtet er auch sonst war, hätte herzlich wenig Lust gehabt, es jenem nachzutun, in das eiskalte Wasser zu springen, noch dazu wie jener gleich aus den warmen Pelzsachen kommend. Das wäre ihm auch im Traume höchst unangenehm gewesen, da hätte er sich wahrscheinlich einen tüchtigen Traumschnupfen und Traumkatarrh zugezogen.

Schnell hatte der Prinz die Pelzsachen angelegt und war hinausgetreten.

Da, nach vielleicht fünf Minuten Aufenthalt im Wasser, kam Norge wieder heraus, jetzt erst recht am ganzen Körper rot wie ein gekochter Krebs, und besonders als er sich mit dem Laken abrieb, verriet er, dass dieser Traum durchaus nichts an Realität vermissen ließ, denn er klapperte sichtbar und auch hörbar mit den Zähnen.

»Nun sagt mal bloß«, fing der Prinz zu lachen an, »gebt Ihr zu, dass dies alles nur ein Traum ist?«

»Ja, wir beide befinden uns in einem Zustande, den die Menschen Traum nennen.«

»Aber Ihr friert wirklich.«

»Wie ein junger Hund im Winter.«

»Wozu macht Ihr das eigentlich?«

»Nur weil's gesund ist. Das ist mein tägliches zweites Bad. Das erste nehme ich in lauem Wasser mit Hilfe von Seife, das zweite hier oder in anderem Wasser mit ähnlicher Temperatur, und beim dritten hacke ich das Eis auf.«

»Hat denn diese Abhärtung im Traume...«

»Auf der astralen oder geistigen Ebene, sagen Sie lieber!«, klapperte der menschliche Rotgekochte mit den Zähnen, dabei immer aus Leibeskräften reibend.

»Hat denn diese Abhärtung aus der geistigen Astralebene auch eine günstige Gesundheitswirkung auf Euren irdischen Körper?«

»Ganz gewiss!«

»Auf den Körper, der jetzt in Christiania auf der Pritsche liegt?«

»Jawohl.«

»Der schon siebzig Jahre alt ist?«

»Sechsundsechzig Jahre.«

»Der wird hierdurch auch gegen eine zukünftige Erkältung abgehärtet?«

»Ganz gewiss!«

»Und wenn Ihr hier im Traume oder auf der Astralebene athletische Übungen treibt, so bekommt dieser irdische Körper hierdurch ebenfalls kräftige Muskeln?«

»Ganz gewiss!«

»Mann, das verstehe ich nicht!«

»Das glaube ich Euch. Das werdet Ihr erst später verstehen lernen, wenn Ihr so weit seid.«

»Ihr sagtet aber doch vorhin selbst, dass Ihr im wirklichen Leben ein alter, kleiner, verhutzelter Mann wäret.«

»Bin ich auch.«

»Nun, wo bleiben denn dann dort die Muskeln, die Ihr Euch hier durch körperliche Übungen verschaffen wollt?«

»Die werden mir erst im nächsten Leben angeboren.«

»Ah, Ihr glaubt also an eine Wiedergeburt!«

»Ihr nicht? Dann seid Ihr darüber auch nicht zu belehren. Diese Überzeugung muss bei jedem Menschen durch eigenes Nachdenken kommen, und das kommt dann blitzähnlich als Offenbarung.«

»Also es gibt eine Seelenwanderung.«

»Nicht Seelenwanderung. Das ist ein ganz falscher Ausdruck. Die Seele wandert nicht aus einem Körper in den anderen, etwa gar in einen Tierkörper, sondern jeder Mensch wird immer wieder als Mensch geboren und erntet die Früchte seiner Bemühungen für alles Gute und Böse, was er im früheren Leben getan hat.«

Norge hatte sich wieder in seine Pelzkleidung gehüllt, ging in das Blockhaus zurück.

Auf der erhöhten Feuerstelle an der Wand, auch mit einem Abzuge überdeckt, lag halbverkohltes Holz.

Der Prinz hatte vorhin geglaubt, dass dies alles nur seinetwegen so arrangiert worden sei, um den Eindruck der Natürlichkeit zu erwecken.

Jetzt zeigte es sich, dass unter der Asche wirklich noch Feuer glühte, Norge blies es zu hellen Flammen an, legte Holz nach, setzte einen Topf mit Wasser an.

»Wollt Ihr Tee oder Kaffee?«

»Mir ganz gleichgültig.«

»Ich trinke um diese Zeit Kaffee.«

Er schnitt große Scheiben von Rauchfleisch und Speck ab, legte sie ohne Weiteres auf den primitiven Tisch, braute den Kaffee, wozu er schon gemahlenes Pulver hatte, aber auch Zucker, füllte zwei Blechtöpfe, setzte sich und zog sein Jagdmesser.

»Nun folgt meinem Beispiele, wenn Ihr Hunger habt.«

Ja, den hatte der Prinz schon gehabt, ehe er diesen Planeten betrat, hatte ihn schon mehrmals übergangen. Zuerst, als er die Experimente mit Deasy angestellt, er war ihr gefolgt und in Saladins Reich geraten, er hatte einen wahren Wolfshunger verspürt, als er auf diesem Planeten erwacht war, hatte ihn über die ersten Eindrücke vergessen, die ihm die Expedition geboten, der Hunger war wieder gekommen, als er hier diese Vorräte an der Decke hatte hängen sehen, da war der fremde Mann eingetreten — nun aber ließ sich sein Magen nicht mehr hinhalten, der Prinz schob wie ein Eskimo lange Streifen Fleisch und Speck in den Mund und kaute auf beiden Backen, schluckte auch manchmal, ohne erst gekaut zu haben.

Aber was er auch für einen Appetit entwickelte — sein neuer Freund schien ihm hierin doch über zu sein, der musste noch länger gefastet haben.

Himmel, was dieser Mann schlingen konnte!

»Darf ich noch einige weitere Fragen stellen?«

»Ihr dürft.«

»Dass ich Euch nicht beim Essen störe.«

»Wenn Ihr mich stört, werde ich es Euch schon sagen.«

»Ihr könnt Euch hier auf der Astralebene jedes beliebige Aussehen geben?«

»Ich kann es, aber Zweck hätte es nicht.«

»Inwiefern keinen Zweck?«

»Auf der körperlichen Ebene bilde ich mich geistig aus, auf dieser geistigen Ebene entwickle ich meine körperlichen Fähigkeiten.

Es braucht dies nicht immer so gehalten zu werden, das kann auch umgekehrt gehandhabt oder zusammen verschmolzen werden, das kann jeder Mensch machen wie er will, vorausgesetzt natürlich, dass er sich so weit entwickelt hat, um die Astralebene betreten zu können. Auch Ihr könnt es noch nicht, Ihr müsst noch durch andere Kraft darauf versetzt werden.

Gesetzt nun den Fall, was übrigens auch wirklich so ist — ich bin in meinem irdischen Leben ein sehr schwächlicher Mensch.

Es ist mir möglich, mir hier auf der Astralebene — oder meinetwegen im Traume, den ich nach Belieben kontrollieren kann — irgend eine Gestalt zu geben. Ich will ein Athlet, ein Herkules sein.

Gut, ich bin hier beim Erwachen auf der Astralebene ein schlangengleicher Herkules.

Aber dies hat für mich auf der irdischen Ebene keinen Vorteil.

Ich werde beim Erwachen auf der irdischen Ebene immer wieder jener schwächliche, gebrechliche Mensch sein, werde als solcher auch immer wieder geboren.

Bilde ich dagegen auch auf der Astralebene meine körperlichen Fähigkeiten aus, meine Kraft und Gewandtheit, so werde ich diese erworbenen körperlichen Fähigkeiten auch mit nach der irdischen Ebene hinüberbringen, und wenn ich auch in diesem Leben davon noch keinen Vorteile haben werde, so doch ganz bestimmt im nächsten Leben, indem dann diese körperlichen Fähigkeiten mir gleich angeboren werden. Versteht Ihr, wie das gemeint ist?«

Immer wieder konnte der Prinz nur den Kopf schütteln.

So etwas hatte er noch niemals gehört oder gelesen.

Und doch, so halb und halb verstand er.

»Oder«, fuhr der junge Norweger fort, »ich kann das entgegengesetzte Beispiel anführen, dadurch wird die Sache viel klarer.

Wenn ich auf der irdischen Ebene meine geistigen Fähigkeiten entwickle, so werde ich diese auch mit hier auf diese geistige Ebene bringen.

Oder glaubt Ihr etwa, wenn man im irdischen Leben ein Dummkopf ist, man wird auf dieser geistigen Ebene plötzlich ein Genie?

Nein, wer im gewöhnlichen Leben nur Blech im Kopfe hat, bei dem klingt es, wenn hier auf der Astralebene sein Kopf geschüttelt wird, auch immer nur nach Blech.«

In der Tat, dieses Beispiel war noch viel plausibler!

Und nun sei hierbei gleich noch eines erwähnt:

Das, was hier nur angedeutet werden kann, das ist die echte Magie, mit welcher sich zuerst schriftlich jene Männer beschäftigt haben, deren Namen vorhin angeführt worden sind.

Das ist auch das Ziel aller derjenigen Männer, die wir heute Okkultisten nennen, die also Magie treiben.

Nicht etwa »Zauberei« und »Hexerei« und dergleichen, sondern das Befreien des geistigen Ichs vom körperlichen Ich, das ist das A und das O der ganzen sogenannten Magie.

Und es ist nicht etwa Unmögliches, was hier geschildert wird.

Es gibt Menschen genug — wenn sie auch nur einen ganz geringen Bruchteil der Menschheit ausmachen, zu zählen sind sie doch nicht — welche sehr oft diese geistige Astralebene betreten, meist ohne davon zu wissen.

Das sind die Dichter und Künstler und Erfinder — überhaupt alle Genies, die etwas können, was andere Menschen nicht können, und die überhaupt gar nicht wissen, woher sie das bekommen, was sie produzieren.

Der Komponist verlässt im Geiste die irdische Ebene und hört auf jener anderen Daseinsebene, welche die Okkultisten die astrale nennen, jene Melodien, die kein Vogel singt und die auf der irdischen Ebene überhaupt gar nicht existieren. Er nimmt sie beim Erwachen mit in das leibliche Dasein hinüber.

Während dieser Periode ist er für die irdische Ebene tot, auch wenn er dabei im Zimmer hin und her läuft. Er fühlt nicht, wenn ihn eine Biene sticht, er fühlt auch die heftigsten Zahnschmerzen nicht. Wer hiervon nichts weiß, kann es natürlich auch nicht fassen.

Dieses Versetzen in das Reich der Phantasie, wie man diese Astralebene ja wohl auch nennen kann — allerdings eine höchst reelle Welt — geschieht also meist oder zuerst ganz unbewusst, so je nach Stimmung.

Kommt dann die Erkenntnis, dass das Betreten dieser zweiten, astralen, idealen Welt jederzeit mit vollem Bewusstsein möglich ist, dann entsagt der Betreffende meist völlig der irdischen Welt, er bringt nicht mehr zu Papier, was er dort drüben schaut und hört, er lebt nur noch dem eigenen Genusse und sucht nur noch Schüler, um ihnen denselben Weg zu zeigen, der zum eigentlichen Leben führt, in dem es keinen Wechsel mehr gibt, und das ist überhaupt der ganze Zweck des menschlichen Daseins.

Mehr als solche Andeutungen können hier nicht gemacht werden — — —

Was auf dem Tische gestanden hatte, war so ziemlich vertilgt.

»Seid Ihr gesättigt, Prinz?«

»Vollkommen. Ich hoffe, dass ich nun auch gesättigt erwachen werde.«

»Nein, da verlangt Ihr zu viel!«, lachte Norge. »Habt Ihr hungrig die irdische Welt verlassen, so erwacht Ihr auch wieder hungrig in ihr. Aber das müsst Ihr richtig verstehen. Es sind zwei völlig selbstständige Welten für sich. Jetzt seid Ihr auf der Astralebene gesättigt. Erwacht Ihr auf der irdischen, so ist Euer Magen wieder leer. Versetzt Ihr Euch in diese Welt zurück, so ist er wieder gefüllt. Anderseits könnt Ihr auch in dieser astralen Welt verhungern, und wenn Ihr auch in der irdischen Welt in den verschiedenen Zwischenpausen noch so viel esst. Verstanden?«

»Ich verstehe, so wunderbar mir dies auch alles dünkt. Wenn ich nun aber auf der irdischen Ebene eine Zwischenpause von vielen Tagen mache, sind dann diese Tage auch hier auf dieser astralen Ebene verflossen?«

»Nein. Wo Ihr aufhört, da knüpft sich dann die Fortsetzung daran, und wenn auch viele Jahre dazwischen liegen. So ist das wenigstens noch für Euch, bis Ihr imstande seid, die Zeit zu kontrollieren, was Ihr eben jetzt noch nicht vermögt. Es wird Euch später erklärt werden, wie Ihr das machen könnt.«

Der Prinz hatte noch immer eine Einwendung zu machen, die auch sehr nahe lag.

»Gesetzt aber nun den Fall, wir trennen uns jetzt. Treffen wir wieder zusammen, so sind für mich nur fünf Minuten vergangen, für Euch aber fünf Jahre. Wie wollen wir da betreffs der Zeit wieder in Harmonie kommen?«

»Es ist möglich, verlasst Euch darauf. Einfach weil im Traume überhaupt gar nichts unmöglich ist. Wie das geschieht, werdet Ihr später sehen, die Erfahrung wird es Euch lehren. Lasst Euch das jetzt genügen.«

Während dieses Gespräches hatte Norge die Reste der Mahlzeit weggeräumt, vergaß auch nicht, die roh gehobelte Tischplatte mit einem nassen Lappen zu säubern.

»Habt Ihr Euch dies alles selbst gefertigt?«

»Alles von Grund auf. Meine Werkstätte befindet sich anderswo. Aber die habe ich auch erst sozusagen aus nichts geschaffen. Ich habe hier als perfekter Robinson angefangen.«

»Da fällt mir wiederum eine Frage ein.«

»Fragt so oft Ihr wollt.«

»Wenn Ihr nun etwas bedürft, was Ihr Euch nicht selbst fertigen könnt...«

»Das gilt schon von meiner Büchse und den Patronen. Nein, so weit geht die Sache allerdings nicht. Das habe ich gefunden, wie ja auch Robinson später das Wrack eines Schiffes ausgenommen hat.«

»Und wenn Ihr nun so etwas bedürft, so braucht Ihr es nur zu wünschen, und Ihr findet es an der bestimmten Stelle oder habt es auch gleich in der Hand?«

»Ja, aber dieser Wunsch muss schon auf der irdischen Ebene genau formuliert werden, dann findet man ihn beim Erwachen auf der Astralebene erfüllt. Eine Zauberei gibt es sonst auf diesem astralen Planeten nicht.«

»Almansor wollte mir etwas vorzaubern, sich in irgend etwas verwandeln.«

»Das konnte der, wir können es nicht — und wenn wir es können, so dürfen wir es doch nicht. Hier auf dem Gnom geht alles ganz reell zu. Seid Ihr fertig? Dann kommt.«

Sie verließen die Blockhütte, Norge stieg ohne Weiteres in des Prinzen Boot, in das er auch bereits seine langläufige Doppelbüchse gelegt hatte. Ein eigenes Boot des Hüttenbewohners war hier auch nicht zu sehen.

Er benutzte nicht das Ruder, sondern drehte einen Hebel und ließ das Boot langsam laufen.

»Ihr kennt dieses Boot also schon!«, nahm der Prinz wieder das Wort.

»Na und ob, es ist ja mein eigenes.«

»Es kam mir vorhin gerade recht gelegen den Wüstenfluss herabgeschwommen.«

»Ja, einem Gaste gegenüber ist man doch immer höflich.«

»Es hätte mich wohl auch ohne mein Zutun zu Euch geführt.«

»Prinz, wollt Ihr nun endlich solche Kalkulationen unterlassen?«, erklang es etwas scharf. »Ich versichere Euch: Ihr handelt auch auf dieser Traumebene ganz nach freiem Willen!«

Ja, der Prinz beschloss, nicht mehr solchen Grübeleien nachzuhängen.

Nur noch eine kurze Strecke diesen schmalen Fluss hinab, dann mündete er in einen viel breiteren, in den Norge nach rechts einbog.

»Das ist der Jörmungandr!«, erklärte er.

»Jörmungandr?«, wiederholte der Prinz verwundert

»Kennt Ihr diesen Namen nicht?«

»Doch. So hieß die sogenannte Midgardschlange, die sich nach der germanischen Mythologie um die ganze Erde, Midgard genannt, spannte. Es ist darunter ein großes Wasser zu verstehen, das Weltmeer, oder eben ein mächtiger Strom, der nach Ansicht der alten Germanen die ganze Erde, nach Ihrer Meinung natürlich eine platte Scheibe, umfloss.«

»Richtig. Und wir haben hier diesen Strom Jörmungandr oder Midgardschlange genannt, weil er ebenfalls diesen unseren Planeten umfließt, gerade in der Mitte, ihn in zwei gleiche Hälften teilend, nämlich insofern, als er genau auf derjenigen Linie fließt, auf der man immer gleichzeitig sowohl die Sonne wie den Mond erblickt. Ihr werdet es gleich sehen.«

Die beiden Ufer des ungefähr zehn Meter breiten Flusses, für die Verhältnisse dieses winzigen Planeten schon ein Strom zu nennen, waren dicht mit Nadelbäumen bestanden, die einen Durchblick nicht gestatteten, plötzlich aber hörte auf beiden Seiten der Wald auf, machte einer dürftigen Steppe Platz, und der Prinz erblickte rechts über dem Horizont die halbe Scheibe der Sonne, links die halbe Scheibe des Vollmondes.

»Dass diese beiden Himmelskörper für unseren kleinen Planeten unverrückbar stehen, wisst Ihr ja!«, fuhr Norge fort. »Natürlich waren die Geister, die diesen Planeten in ihrer Imagination geschaffen haben, nicht so pedantisch, allen Flussläufen eine schnurgerade Richtung zu geben. Nur bei diesem Jörmungandr ist dies der Fall, und dann noch bei zwei anderen Flüssen, welche von Pol zu Pol fließen, also vom Sonnenpol zum Mondpol und wieder zurück. Hat Euch Almansor schon eine Karte dieses Planeten gegeben?«

»Nein.«

»Wollt Ihr sie haben?«

»O ja, solch eine Orientierungskarte muss sehr angenehm sein.«

Norge zog unter seinem Pelz eine Ledertasche hervor, entnahm ihr ein Pergament und entfaltete es.

Es war eine Weltkarte dieses kleinen Planeten in Mercatorprojektion.

Wenn man sich die äußere, bemalte Fläche eines Erdglobus aus Gummi vorstellt, man löst diese Gummihaut ab, schneidet sie gleichmäßig in zwei Hälften und zieht beide auseinander, bis jede Hälfte ein Quadrat ergibt, fügt diese beiden Quadrate an den durchschnittenen Seiten aneinander, so hat man eine Weltkarte in Mercatorprojektion, nach ihrem Erfinder so genannt.

Bei unserer Erde geschieht dieses Durchschneiden meist auf dem nullten Meridian, der über Greenwich geht, so dass man also die östliche und die westliche Erdhalbkugel trennt und wieder zusammenlegt.

Natürlich kann solch eine Weltkarte nicht den richtigen Verhältnissen entsprechen, oder doch nur für den Äquator. Die Gegenden am Nordpol und Südpol sind ungeheuer auseinandergezogen.

Aber es gibt eben kein anderes Mittel, um die Oberfläche einer Kugel zu quadratieren und die beiden Hälften auf einer einzigen Karte zu vereinigen. Wer es kann, der soll dieses Problem nur lösen.

Die dem Prinzen gezeigte Karte war für diesen winzigen Planeten sehr groß zu nennen, in den verschiedensten Farben gehalten, offenbar ganz genau ausgeführt.

»Hier ist der Schnitt auf diesem Flusse ausgeführt!«, erläuterte Norge, das Boot ganz langsam laufen lassend. »Hier oben befindet sich der Sonnenpol, hier unten der Mondpol, also entsprechen nur die Gegenden dicht an diesem Flusse Jörmungandr den wirklichen Verhältnissen. Findet Ihr Euch zurecht?«

»Vollkommen. Namen fehlen?«

»Die sind nicht angegeben.«

»Was sind das für zwei Flüsse, die so schnurgerade von Pol zu Pol laufen?«

2 Im Original steht » a u s einander«.

»Eben jene beiden, von denen ich Euch schon gesagt habe. Der eine heißt Gürtel, eben weil er gleichfalls den ganzen Planeten umspannt, der andere hat den klassischen Namen Styx bekommen.«

»Und wo befinden wir uns jetzt?«

»Hier.«

Norge deutete mit der Fingerspitze auf die Karte.

»Also gleich am Styx.«

»Ja.«

»Was sind das für Bäume, die besonders eingetragen sind?«

»Das sind besondere Merkmale, um sich über den Weg zu orientieren.«

»Und diese Punkte?«

»Das sind Felsen, für welche dasselbe gilt.«

»Und diese Kreuze?«

»Gefährliche Stellen.«

»Inwiefern gefährlich?«

»Stromschnellen, Wasserfälle und dergleichen. Wenn Ihr im Boote schlaft und Ihr stürzt da hinab, dann seid Ihr tot.«

»Und erwache auf der irdischen Ebene.«

»Selbstverständlich. Ihr müsst dann Eure magische Nadel wieder gebrauchen, um Euch wieder hierher zurückzuversetzen.«

»Dann bin ich aber wieder lebendig.«

»Neugeboren, und dass Ihr dann die gefährliche Stelle hinter Euch habt, das müsst Ihr Euch eben schon vorher auf der irdischen Ebene in Gedanken zurecht legen.«

»Ich verstehe.«

»Hier ist auch solch ein einzelner Baum eingetragen. dicht an der Mündung des Styx in diesen Jörmungandr.«

»Welchen Fluss wir gleich erreichen und zur Fahrt nach dem kalten Mondpol benutzen. Dort steht der Baum schon.«

Der Prinz hob die Augen von der Karte auf und — — erschrak doch fast!

Nämlich über die Mächtigkeit und besonders über die Höhe des Baumes, der dort am Ufer stand, der sich bisher seinen Blicken entzogen haben musste.

Es war eine sogenannte araukanische Fichte, die eine Höhe von — wollen wir gleich angeben — ungefähr 120 Metern hatte, die also noch den Ulmer Dom überragte. Der untere Durchmesser des Stammes betrug mehr als sechs Meter.

Solche riesenhafte Bäume gibt es wirklich auf unserer Erde, sie stehen noch, wenn sie auch einer früheren Erdperiode angehören mögen, denn man schätzt ihr Alter auf mehrere tausend Jahre.

In Kalifornien, in der Sierra Nevada an der Quelle des Calaveras, haben sich noch gegen neunzig solcher Riesenbäume erhalten. Durch besonders günstigen Stand, durch Felsenwände vor Sturm geschützt, haben sie die Jahrtausende überdauert, bilden eine der größten Sehenswürdigkeiten Amerikas. Nur einige sind umgestürzt, darunter auch der größte von ihnen, dessen Dimensionen wir hier wiedergegeben haben, der sogenannte »Vater des Waldes«.

Der Prinz bejahte die Frage, ob er diese kalifornischen Riesenbäume kenne, sie selbst gesehen habe.

»Es ist der Vater des Waldes, den wir hier rekonstruiert haben. Wir hätten ihm ja noch ganz andere Dimensionen geben können, uns war bei Erschaffung dieses Planeten ja überhaupt gar nichts unmöglich, aber wir wollten die irdischen Verhältnisse nicht in der Phantasie übertreffen. Deshalb haben wir auch nicht einen Apfel- oder sonstigen Fruchtbaum gewählt, sondern gleichfalls eine arakaunische Fichte. Nur dass wir den Vater des Waldes hier wieder eingepflanzt haben, während er in Kalifornien ohne Wurzeln am Boden liegt.«

»Der Vater des Waldes ist hohl!«, sagte der Prinz.

»Dieser hier gleichfalls, und innen führt eine Treppe hinauf bis zum Gipfel, so wie man auch in der ›Braut von Kalifornien‹ innen eine Treppe geschaffen hat, welcher Baum aber nur fünfundachtzig Meter hoch ist. Ihr könnt hinaufsteigen, habt von oben eine herrliche Rundschau. Macht das aber später allein, jetzt wollen wir unsere Fahrt fortsetzen.«

Das Boot bog in den Styx ein, der zuerst durch eine mit spärlichem, heuähnlichem Grase bewachsene Prärie führte.

Da sah der Prinz in der Ferne eine große Herde Büffel weiden.

»Sind das nicht amerikanische Bisons?!«

»Amerikanische Bisons!«, bestätigte sein Begleiter. »Auch mit solchen haben wir unseren Planeten bevölkert. Außerdem aber auch mit asiatischen und afrikanischen Büffelarten, nur die ganz gefährlichen wie die Kaffernbüffel sind vermieden worden. Im Übrigen müsst Ihr die Tier- und Pflanzenwelt hier selbst studieren, das würde für eine Erklärung viel zu weit führen.«

Vor allen Dingen musste der Prinz jetzt an seine Cowboys denken. Das wäre ja für die etwas gewesen, nicht nur für die indianischen Mitglieder. Auch in jenem Gebiet von Arizona hatte es keine Büffel mehr gegeben.

»Ist es nicht möglich, dass ich eine andere Person mit mir auf diesen Planeten nehme?«

»Gewiss ist das möglich.«

»Auf welche Weise?«

»Einfach indem Ihr die betreffende Person mit der magischen Nadel stecht.«

»Dann befindet sie sich sofort auf diesem Planeten?«

»Nein, sofort noch nicht. Zunächst fällt sie in Starrkrampf, ohne einen Traum zu haben.«

»Wann wird er im Traum hierher versetzt?«

»Wenn auch Ihr Euch mit der magischen Nadel gestochen habt. Sobald Ihr hier zum Bewusstsein erwacht, ist das auch mit der anderen Person der Fall. Oder so viel Ihr Personen mitnehmen wollt.«

»Und jeder träumt für sich?«

»Ganz selbstständig für sich. Ihr seid auch gar nicht imstande, ihre Träume zu regeln.«

»Und wann erwachen sie wieder?«

»Sobald Ihr selbst erwacht. Wenn Ihr also hier auf der Astralebene Euren Elfenbeinring abstreift oder im Traume mit dem Tode abfahrt...«

»Es ist dann bei den anderen ebenfalls nur ein Augenblickstraum gewesen?«

»Selbstverständlich.«

»Wenn ich sie nun aber längere Zeit in dem Starrkrampfe lasse, ehe ich mich selbst auf die Astralebene versetze?«

»Nun dann schlafen sie eben erst längere Zeit, träumen das alles nur im letzten Augenblicke, wie wahrscheinlich überhaupt jeder Traum im letzten Moment des Erwachens entsteht und sich abspielt.«

»Und auch die anderen können sich dann auf alles entsinnen, was sie geträumt haben?«

»Genau so wie Ihr.«

Eine neue Perspektive eröffnete sich dem Prinzen! Bald aber hätte er die Hauptsache vergessen.

»Ja, da muss ich aber solch eine magische Nadel immer besitzen.«

»Nun, Ihr habt doch eine.«

»Doch nicht für immer.«

»Almansor hat sie Euch doch gegeben.«

»Nur einmal in die Hand zur einmaligen Benutzung.«

»Hat er nicht gesagt, dass sie Euch gehört?«

»Kein Wort.«

»So viel ich weiß, soll sie in Eurem Besitz bleiben, damit Ihr sie immer anwenden könnt, so oft Ihr beliebt. Das soll die erste Belohnung sein, die Ihr für die Dienste erhaltet, die Ihr dem Alten vom Berge schon geleistet habt. Denn etwas weiß ich auch davon.«

»Vortrefflich, vortrefflich! Dann hätte ich Lust, mich erst einmal auf die irdische Ebene zurückzuversetzen, um meine Leute zu holen. Das wäre so etwas für die!«

»Das könnt Ihr. Mich findet Ihr dann aber nicht mehr vor.«

»Weshalb nicht?«

»Weil ich mich eben unterdessen aus dem Staube machen würde.«

»Und warum das?«

»Ich habe meine Gründe dafür!«

»Nun, da wollen wir unsere Fahrt erst einmal fortsetzen. So leicht verzichte ich nicht auf Eure angenehme Gesellschaft.«

Es kam wieder Wald. Hier aber waren die Nadelbäume wie überzuckert, die Zweige bogen sich unter der Schneelast.

»Ist das wirklicher Schnee?«

»Nicht eigentlich Schnee. Hier schneit und regnet es niemals. Mit solchen Geschichten hätten wir zu viel Arbeit. Es ist Reif.«

»Er taut nie ab?«

»Nie.«

»Aber dann muss sich der Reif doch immer mehr anhäufen, und auch diese Nadelblätter müssen atmen, was sie unter der Schneedecke nicht gut können.«

»Mann, das können wir in diesem Reiche des Geistes doch alles arrangieren wie wir wollen! Wohl soll ja alles hier ganz natürlich zugehen, es sollen dieselben Verhältnisse wie auf der Erde sein, aber das ist doch alles nur im Effekt erreichbar. Wir haben hier eben die verschiedensten Gegenden eingerichtet. Solche, in denen die Vegetation von der Sonne ewig verbrannt ist, und solche, in denen sie in ewigem Frühling prangt. Ewig insofern, bis unser Machtspruch dies alles mit einem Schlage ändert. Versteht Ihr denn nur gar nicht?«

O ja, der Prinz verstand. Er musste nur solche Fragen unterdrücken.

Hinter diesem Walde mündete der Styx wieder in einen großen See, in dem den Prinzen ein überraschender Anblick erwartete.

In dem See trieben Eisberge, mächtige Gebilde von den bizarrsten Formen.

»Sie entstehen aus dem Gletschergebirge, das wir bald erreichen werden, dort hinten seht Ihr es sich schon erheben. Von dort lösen sie sich ab.«

»Und treiben nun für immer so auf diesem See herum?«

»Für immer? Ob es immer dieselben sind, meint Ihr? O nein, so pedantisch sind wir nicht. Wir wollen doch immer neue Formen sehen. Ich sagte doch auch schon, dass sie sich ständig neu bilden und sich von den Gletschern ablösen.«

»Wo kommen sie aber dann zuletzt hin?«

»Sie werden von der Strömung in einen heißen See getrieben, wo sie sich bald in Wohlgefallen auflösen.«

»Wo ist dieser heiße See?«

»Schon weit hinter uns. Den müsst Ihr selbst aufsuchen. So kann ich Euch nicht führen, da würde ich niemals fertig, und wenn ich auch einige hundert Jahre lang den Mentor spielen würde.«

Ganz langsam trieb das Boot zwischen den Eisbergen dahin. Der Prinz konnte sich nicht sattsehen an diesem herrlichen Anblick. Und nun dazu noch diese ganze Szenerie übergossen vom Licht des Vollmondes, der dort über dem Eisgebirge stand.

Denn die Sonne war schon längst nicht mehr zu sehen, es herrschte ewige Nacht, nur eben erhellt vom unverrückbaren Vollmonde.

»Kein Polarlicht?«

»Na selbstverständlich! Das werden die Schöpfer dieser Geisterwelt doch nicht vergessen haben! Aber so auf Euer Kommando kommt es nicht, da müsst Ihr hübsch warten.«

Der Prinz blickte über den Bootsrand hinab.

In dem kristallklaren Wasser, so tief es auch sein mochte, blickte er bis auf den Grund hinab, sah Fische aller Art schwimmen, auch einige mächtige Lachse.

»Jawohl, wenn Ihr ein Freund von der Fischerei seid, hier könnt Ihr Euch mit Angel und Harpune amüsieren. Die beste Gelegenheit dazu ist am Niagara, da wimmelt es besonders von Lachsen.«

»Das ist ein Wasserfall?«

»Jawohl, und zwar noch viel gewaltiger als der Niagarafall der Erde. Im Sonnenlande haben wir auch einen Sambesifall, immer noch ungeheuerlicher. Auf der Karte findet Ihr das deutlich bezeichnet. Wir haben solche Namen von der Erde gewählt, um nicht erst neue Namen erfinden zu müssen.«

»Was spritzen dort hinten für Wasserstrahlen hoch?«

»Nun, was mag das wohl sein?«

»Doch nicht etwa... Walfische?!«

»Doch nicht etwa? Na, selbstverständlich sind es Walfische!«

»Wie, auch Walfische hier?!«

»Warum denn nicht? Ihr könnt hier eine Walfischjagd veranstalten. Zu jagen ist alles erlaubt. Auch Tiger und Löwen.«

»Tiger und Löwen?!«

»Glaubt Ihr, die wären hier vergessen worden? Es gibt doch Sportsleute, die an solchen aufregenden Jagden Gefallen finden. Dazu gehöre auch ich.«

»Almansor sagte mir, gefährliche Raubtiere fehlten.«

»Ja, auf der Oberfläche dieses Planeten. Aber hat Almansor Euch nicht gesagt, dass dieser ganze Planet auch hohl ist?«

»Und da gibt es im Innern auch Gegenden, wo Tiger und Löwen zu jagen sind ?!«, staunte der Prinz immer mehr.

»Ihr findet noch etwas ganz Anderes, was Eure Phantasie gar nicht ausdenken kann, Ihr müsst nur danach suchen.«

Der Prinz glaubte sich nun schon vollständig orientiert zu haben und hörte doch immer wieder etwas ganz Neues.

»Da habe ich doch noch eine Frage.«

»Stellt sie.«

»Wenn sich nun Andere, die ich nicht kenne, auf diesen Planeten versetzen und ihr Wesen treiben, ihren Vergnügungen nachgehen — treffe ich mit diesen zusammen?«

»Wenn Ihr es nicht wünscht — nein, das ist nicht nötig.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Prinz, Ihr seid eben noch nicht richtig im Bilde! Dieser Planet ist doch nur im Geiste geschaffen. Aber das musste, zumal Viele dabei mitwirkten, mündlich und sogar auch schriftlich geschehen. Alles, was man für die Dauer wünschte, wurde schriftlich und durch Zeichnung festgehalten.

Also es ist ganz einfach eine geschriebene Erzählung. Nun kann man doch solch eine Erzählung setzen und drucken lassen. Man kann doch davon so viele Abzüge, so viele Bücher machen lassen wie man will. Nun erhält jeder gewissermaßen sein eigenes Buch, es können unter Umständen Millionen von Exemplaren verteilt werden, jeder macht darin seine eigenen Randbemerkungen, dieser geistige Planet hier ist vieltausendfach vorhanden!«

Der Norweger brauchte gar nicht weiter zu erklären.

Ja, nun verstand der Prinz erst richtig, wie die ganze Sache arrangiert worden war! Es konnten sich also so viele Menschen auf diesem Planeten herumtreiben wie sie wollten, sie kamen einander niemals ins Gehege — wenn sie nicht wollten, wenn sie es nicht vorher ausgemacht hatten! Wenn hier einer etwas schuf, etwas baute, oder einen Baum abhackte — für einen anderen brauchte dies alles, wenn er nicht wollte, gar nicht zu existieren.

Es ist wohl deutlich genug erklärt, wie dies zu verstehen ist.

»Da da da da da...«, rief Norge, den Arm ausstreckend.

Schon krachte und donnerte es.

Zwei mächtige Eisberge hatten sich einander genähert, immer schneller und schneller, bis sie zusammengeprallt waren.

Der eine, der schon stark übergehangen hatte, war dabei vollständig in Trümmer gegangen.

»Seht, so etwas gibt es hier auch, da ist gar keine künstliche Mache dabei; wenn wir dazwischen gekommen wären, wäre es mit unserem Leben auf diesem Planeten vorläufig beendet gewesen, und die Gefahr ist noch nicht vorüber... Achtung!«

Der See war spiegelglatt gewesen.

Aber die Katastrophe dieser beiden Eisberge musste das ändern.

Dort, wo der eine Eisberg in Trümmer gesunken, brauste und kochte das Wasser, jetzt kam die erste Woge herangerollt, eine ganz mächtige Woge.

Zu entrinnen war ihr gar nicht mehr, schnell drehte der Norweger das Boot, um ihr mit der Spitze zu begegnen und sie unter sich wegrollen zu lassen.

Aber obgleich dieser Mann den Steuerhebel doch wohl zu bedienen wusste, sollte es ihm nicht gelingen.

Das kleine, schlanke Boot wurde noch etwas von der Seite gefasst, wurde in die Höhe geschleudert und kenterte.

Davon aber merkte der Prinz eigentlich gar nichts. Mit einem Male schlug das eiskalte Wasser über seinem Kopfe zusammen.

Und da plötzlich sah sich der Prinz auf der Galerie stehen, dort unten lagen und saßen regungslos die sarazenischen Ritter mit ihren Damen, der Priester im weißen Atlastalar las ihnen aus seinem Buche vor, und vor dem Prinzen, der in der rechten Hand den schwarzen Nadelstab hatte, die Spitze dicht am Ballen der linken Hand, stand der schwarzgekleidete Almansor!

»Nun, mein Prinz, wie war's?«

Mit grenzenlosem Staunen blickte der Gefragte sich um, an seine Kleider hinab, wischte sich über das Gesicht, konnte aber nichts von Wasser bemerken.

»Was ist mit mir geschehen?«

»Du bist eben durch das kalte Wasserbad erwacht. Ich habe es ja gleich gesagt, dass Du auch durch einen großen Schreck erwachen kannst.«


Illustration

»Da, da, da!«, rief Norge, den Arm ausstreckend und auf zwei
sich einander blitzschnell nähernde Eisberge deutend.


»Wie lange habe ich hier gestanden?«

»Du fragst noch? Der ganze Traum, der für Dich vielleicht vier Stunden währte, hat nur einen einzigen Moment gedauert. Willst Du Dich noch einmal mit der Nadel stechen?« —

Wir lassen die beiden allein.

— • —

34. Kapitel
Die tote Indianerin und der heilige Skarabäus

Originalseiten 806 — 843

Die ganze Nordküste Ägyptens ist flach und sandig, wird aber in einiger Entfernung von einem felsigen Höhenzuge begleitet. Es ist eben nur Dünensand, der sich vorgelagert hat und den Küstenstreifen immer mehr verbreitert, nur dort, wo das Ufer ganz besonders vor dem Wellenschlag gesichert ist, tritt das Felsgestein bis dicht ans Meer heran.

Solch eine felsige Bucht war es, welcher die schneeweiße, schlankgebaute Dampfjacht, ein wahres Schmuckkästchen, hinten den Namen »Sonnenstrahl« tragend, zusteuerte.

Auf der niedrigen Kommandobrücke stand Kapitän Falkenburg, der aber nicht das Kommando führte, wie auch Steuermann Spintsch keinen Dienst ging.

Es waren eben auf dieser Luxusjacht des Prinzen Joachim zwei Kapitäne und noch mehr Offiziere, wie es wohl überhaupt selten einen Dampfer gibt, auf dem nicht ein Kapitän als Offizier und Steuerleute als Matrosen fahren. Sie haben ihr Examen gemacht, müssen aber warten, bis eine entsprechende Stelle für sie frei wird.

Kapitän Haff war es, der diesmal die Jacht von Triest hierher geführt hatte.

Die Herren machten eine geografische Ortsbestimmung nach der Sonne.

»Fertig!«

Jeder berechnete das letzte Resultat für sich selbst, alle stimmten überein.

Es war die richtige Bucht, der sie zusteuerten.

»Ob der Prinz schon da ist?«

»Wir müssen das Signal geben.«

Am hinteren Mast kletterten einige Flaggen hoch.

Aufmerksam wurde die noch weit entfernte Küste durch Fernrohre beobachtet.

Da tauchte auf einem Felsen eine weißgekleidete Gestalt auf, winkte, schlug mit dem ausgestreckten Arme Striche und Kreuze durch die Luft.

»Strich Strich Kreuz Strich — es stimmt, es ist der Prinz!«

»Und wenn es nun Zollwächter sind, die zufällig das richtige Gegenzeichen gegeben haben?«

Dieser letztere Frager war niemand anders als Baron von Walten. Und dort an Deck stand Fred und musterte das Land, in welchem er sich nun noch ganz anders tummeln können sollte als in der Umgegend des siebenbürgischen Schlosses.

»Ach, hier gibt es keine Zollwächter!«, wurde der Baron beruhigt.

»Warum denn nicht?«

»In solcher Nähe von Alexandrien wird kein Salz an Land geschmuggelt.«

»Die Gegend ist doch aber wie geschaffen dazu.«

»Eben weil sie gar so günstig ist, bleiben die Schmuggler ihr fern.«

In dieser Versicherung lag eine Ungereimtheit, die aber doch schließlich zu begreifen ist, der Baron war beruhigt.

Und übrigens war es gar nicht so schlimm, wenn sie dennoch von Zollwächtern erwischt wurden.

»Na, da wollen wir sehen, wie weit wir heran können.«

Es wurde gelotet. Nicht mehr sehr weit, dann wurde der Grund immer flacher. In die Bucht selbst konnte die Jacht nicht einfahren.

Die Matrosen machten den Kutter klar, ließen ihn zu Wasser. Die sechs Mann, die als Passagiere darin Platz nahmen, haben wir schon in Gesellschaft des Prinzen gesehen. Nur Jochen Puttfarken und der Matrose Hein waren bei ihm zurückgeblieben, die anderen hatten sich nach Triest begeben, um mit der eigenen Jacht die Erwarteten abzuholen.

Also waren es noch Baron Walten und Fred, die in dem Boote Platz nahmen, um sich von Matrosen, die das Boot dann wieder zurückbrachten, an Land rudern zu lassen. Jeder hatte einiges Gepäck bei sich. Und dann wurde in den Kutter noch ein sargähnlicher Kasten hinabgelassen.

Abschied war schon genommen worden, fort ging es.

Die Dünung war mäßig, in der Bucht selbst fehlte sie gänzlich. Sonst wäre sie eben gleichfalls völlig versandet gewesen, während die Felsen bis dicht ans Wasser traten.

An einer günstigen Landungsstelle legte das Boot bei. Die weiße Beduinengestalt hatte man noch mehrmals winken sehen, auch andere hatten sich zu ihr gesellt, dann beim Näherkommen hatten Felsen ihren Anblick entzogen.

Die Koffer und Kleidersäcke wurden an Land gebracht, mit besonderer Vorsicht die große, lange Kiste.

Es war eine kleine Schlucht, die am Wasser mündete. Höher als zwanzig Meter waren diese Felsen ja nicht, aber hier am Wasser machte das doch schon den Eindruck eines stattlichen Gebirges, denn das ist doch schon die Höhe eines vierstöckigen Hauses.

Da, wie alles an Land gebracht worden, die Jachtmatrosen mit dem Boote schon die Rückfahrt angetreten hatten, kam hinter einem Felsen eine weiße Beduinengestalt hervor, andere folgten ihm.

»Good morning, Gentlemen! Was bringen Sie denn da Schönes?«

Ach Du großer Schreck!

Das war der Prinz nicht, keiner von denen, die hier die Jacht erwarten wollten.

Der erste Beduine, ein baumlanger Kerl, hatte das Kopftuch zurückgeschlagen, ein schwarzbraunes, von Narben ganz zersetztes Gesicht zeigte sich. Aber solch einen blonden Schnurrbart hat kein Beduine.

Und außerdem hatte der lachende Mund das Englische in österreichischem Dialekt gesagt. Der Mann konnte eben den Österreicher nicht verleugnen. Und dass die Anführer dieser Zollkarawanen, die auf Salzschmuggler fahnden, fast durchweg Österreicher sind, ehemalige Offiziere, ist schon einmal ausführlich gesagt worden.

»Zollwächter!«, riefen Baron Walten und Kapitän Falkenburg gleichzeitig, das deutsche Wort gebrauchend.

»Deutsche? Na da machen's mal halt auf..«

Alles andere war dem Zolloffizier jetzt ganz gleichgültig. Nur dass er die Gelegenheit benutzte, um sich einmal wieder in seiner Muttersprache unterhalten zu können.

Es ist ja erlaubt, irgendwo an der Küste zu landen. Nur darf man keine zollpflichtigen Waren an Land bringen. Wenn nicht Not vorliegt, Schiffbruch oder etwas Ähnliches, was doch hier nicht der Fall sein konnte.

Der Zolloffizier untersuchte das Gepäck, und fand er etwas Zollpflichtiges, das noch nicht frei gemacht worden, so beschlagnahmte er es, die beteiligten Personen verhaftete er kraft seines Amtes und lieferte sie der nächsten Behörde aus.

Alles andere ging ihn nichts an. Er brauchte gar nicht nach einem Namen zu fragen. Fand er Widerstand, konnte er den letzten Mann niedermachen.

Dass es sich hier nicht um einfache Salzschmuggler handelte, das wusste er ja gleich. Salz wird in anderer Weise an Land geschmuggelt, und auch nicht, dass der große Transport erst nachfolgen sollte. Da bringt man nicht erst seine Koffer an Land. Oder es müssten ganz blutige Neulinge gewesen sein.

Aber nach Ägypten kann auch noch anderes gepascht werden, was unter Umständen in einem hohlen Spazierstock Platz hat: Diamanten. Oder diese Koffer und Säcke hier enthielten vielleicht Spitzen, auf denen allein ein Zoll von mehr als 100 000 Franken lastete.

»Da machen's halt auf!«, lachte der junge, baumlange Mann. Er war in heiterster Laune. In dem schwarzbraunen, zerfetzten Gesicht schimmerten die schönen Zähne wie weiße Perlen. Seine Begleiter waren entweder Neger oder Europäer, das arabische Element fehlte ganz, aus einem Grunde, der schon früher erörtert wurde. Jedenfalls aber durchweg Kerls, mit denen schlecht Kirschen essen war, und ihre vorzüglichen Gewehre und Revolver hielten sie schon schussbereit.

»Machen S' halt auf.«

»Ich versichere Ihnen auf mein Ehrenwort...«

»Machen S' halt auf.«

Es ging so zu wie in einem englischen Zollhafen am Kanal. Diese englischen Zollbeamten sind von großartiger Liebenswürdigkeit. Aber dabei fix! Wehe, wer den Schlüssel zum Koffer nicht gleich findet! Sofort ist Hammer und Meißel zur Stelle, mit einer fabelhaften Schnelligkeit ist auch das solideste, künstlichste Schloss aufgebrochen! Dann nur einen einzigen Blick in den Koffer hinein, einen Blick in die Augen des Besitzers, und auf den Koffer wird mit Kreide das erlösende Kreuz gemalt.

»Aufmachen!«, entschied Falkenburg, der die Sache am besten kannte.

Die Koffer und Kleidersäcke wurden geöffnet.

»Schütten S' halt aus.«

Es geschah.

In solch einem Falle, wenn eine Jacht ein Boot an einsamer Küste landet, muss doch etwas gründlicher untersucht werden, und die Leute des Zolloffiziers, deren immer mehr hinzukamen, wühlten in den Kleidern und anderen Sachen, sie im Sande verstreuend.

Nichts Verzollbares wurde gefunden! Niemand hatte auch nur mehr Tabak bei sich, als die Maximalgrenze erlaubt.

Der Offizier blickte ruhig zu.

Nur einmal zeigte er Teilnahme.

Ein Ingenieur hatte als einziger ein Bündel Virginiazigarren in seinem Koffer, und bei deren Anblick leuchteten die blauen Augen in dem braunschwarzen Gesicht auf. Aber nicht, dass sie zollpflichtig gewesen wären. So viele waren es nicht.

»Und nun die Kist' da.«

»Da ist nichts Zollpflichtiges drin.«

»Machen S' halt auf.«

»Es ist eine Mumie drin, die nicht verzollt zu werden braucht.«

»Machen S' halt auf.«

Schon kamen unter den Beduinenburnussen Meißel und Hammer zum Vorschein, was eben zum Handwerk auch dieser Wüstenzollbeamten gehörte, aber auch die Matrosen waren mit diesen Instrumenten versehen, auf einen Wink Falkenburgs kamen sie jenen zuvor.

In der sargähnlichen Kiste lag ein junges, schönes Weib von rotbrauner Hautfarbe, phantastisch angezogen und geschmückt, etwas gar zu phantastisch — ungefähr so wie die Indianerinnen auf den Bildern der Zigarrenkistendeckel. Auch die bunte Federkrone fehlte nicht.

Unbeweglich mit geschlossenen Augen lag sie da. Wenn es eine Mumie war, so war sie doch nicht vertrocknet. Wie in voller Lebensfrische lag sie da.

Der Offizier schüttelte den Kopf, als er nachdenklich auf die tote Indianerin herabblickte.

»Hm. I hob schon viel Teifelszeig erlebt, wie man den Zoll hintergehen will — i hob ein Krokodil festgenommen, das mit Tabak ausgestopft war — i hob hundert Flaschen angehalten, in jeder war ein Frosch oder eine Eidechse eingesetzt, und der Spiritus sollte doch nur g'soffen werden — aber'n indianische Mumie, dös is mir neu.«


Illustration

Er bückte sich, betastete den Körper, drückte die Finger hinein. Alles fühlte sich weich, wie bei einer lebenden Person an.

»Trennen S' auf.«

»Was soll ich auftrennen?«

»Die Naht.«

»Was für eine Naht?«

»Nu womit der Balg zugenäht is.«

»Sie meinen, die Mumie ist mit etwas Zollpflichtigem ausgestopft?«

»Trennen S' halt auf.«

»Es ist aber keine Naht vorhanden.«

»Dann schneiden S' den Balg halt auf.«

»Geehrter Herr«, wollte es jetzt Baron Walten auf eine andere Weise versuchen, »wundern Sie sich nicht, dass wir hier heimlich eine indianische Mumie an Land bringen?«

»Ja, sehr merkwürdig!«, ging der Offizier glücklicher Weise wirklich drauf ein.

»Darf ich Ihnen eine Erklärung geben?«

»Geben S'.«

»Jene Jacht dort gehört dem Prinzen Joachim...«

»Weiß ich.«

»Woher wissen Sie das?.«

»Sonnenstrahl — kenne ich.«

»Sie kennen den Prinzen Joachim?!«

»Sehr gut. Wenn's auch nicht grad mei Freind is.«

»Er befindet sich jetzt in Kairo.«

»Weiß ich.«

»In seiner Begleitung sind einige Cowboys und Indianer...«

»Weiß ich.«

»Unter den letzteren ist der schwarze Bär, ein Siouxhäuptling...«

»Weiß ich.«

»Dies hier ist die junge Frau dieses Siouxhäuptlings!«

»Die? So. Hm. Wird nicht mehr viel Freid dran haben.«

Die Zuhörer mussten lächeln. Es war gar zu trocken herausgekommen. Und dabei schielten die blauen Augen in dem zerfetzten Negergesicht nach dem Bündel Virginiazigarren.

»Sie ist tot.«

»Merk ich.«

»Er hat sie einbalsamiert.«

»Hat er recht getan.«

»Der Siouxhäuptling wird aller Wahrscheinlichkeit nach in Ägypten bleiben. Deshalb hat er seine tote Frau, die er über alles geliebt, mitgenommen. Als Mumie. Bei der Einschiffung in New York ist ein Versehen passiert. Der Kasten mit der Mumie kam auf ein anderes Schiff, das nach Triest ging. Der schwarze Bär war trostlos. Nun haben wir sie von Triest abgeholt und hierher gebracht.«

»So.«

»Ihnen kommt das sehr merkwürdig vor.«

»Ja, sehr merkwürdig.«

»Dass wir die Leiche nicht über Alexandrien nach Kairo bringen.«

»Ja. Das ist ein viel näherer Weg als hier durch die Wüste.«

»Leichen können in Ägypten zollfrei eingeführt werden.«

»Können sie.«

»Aber der Kasten hätte doch auf der Zollstation geöffnet werden müssen.«

»Natürlich.«

»Und hätte man dort nicht denselben Verdacht gehabt wie Sie? Würde man die Mumie nicht ganz gründlich untersucht haben, ob in ihrem Innern nicht etwas Zollpflichtiges verborgen sei?«

»Effendi Morrin? Das ist nämlich der Zollvorsteher in Alexandrien. Der wäre ihr mit der Nase in...«

Der österreichische Offizier gebrauchte einen Ausdruck, der zumal bei den Matrosen ein schallendes Gelächter hervorrief, besonders weil es so trocken und überzeugend herausgekommen war.

»Also der hätte die Mumie doch auch aufgeschnitten.«

»Sicher.«

»Nun sehen Sie. Und diese Mumie ist dein Siouxhäuptling ein Heiligtum. Er darf nicht wissen, dass sie von fremder Hand berührt worden ist. Es wäre ihm schon schrecklich, Zeuge sein zu müssen, wenn fremde Augen sie betrachten. Und nun gar die Zolluntersuchung in Alexandrien! Aber hierher wollte er sie haben, oder er wäre nicht in Ägypten geblieben. Deshalb haben wir die Mumie auf so umständliche Weise mit großen Kosten auf eigenem Schiffe hierher gebracht, wollten sie tatsächlich paschen. Wenn sie auch nicht zollpflichtig ist. Prinz Joachim ist der Mann, der die Gefühle solch eines Indianers zu würdigen weiß. Verstehen Sie?«

»Aberrr ja. Machen S' halt die Kist wieder zu.«

Es war ein feiner Mann, den man hier in der Wüste als Zollbeamten getroffen hatte. Er hätte ebenso gut in Dover oder Calais Zollinspektor sein können.

Er wechselte mit seinen Leuten einige Worte, dann wandte er sich wieder dem Baron Walten zu, der den Sprecher gemacht hatte, sicher mit äußerstem Geschick.

»Bitteee, mit wem hob i die Ehr?«

»Baron von Walten.«

»Danke. Bringt das Boot vom Schiff noch andere Sachen an Land?«

»Nein.«

»Auf Ihr Ehrenwort nicht?«,

»Auf mein Ehrenwort nicht.«

»Gilt dieses Ehrenwort auch im Namen des Prinzen Joachim?«

»Es gilt.«

»Danke. Dann kann ich Ihnen jetzt auch sagen, dass ich gleich weiter muss. Hatte hier nur einmal Rat gehalten. Hob die Ehr. Servus.«

Und der baumlange österreichische Beduine legte grüßend die Hand an sein Kopftuch und wandte sich, um mit Riesenschritten in die Schlucht hineinzugehen. Hinter den Felsen sahen einige Kamelsköpfe hervor.

»Bitte noch ein Wort!«, rief ihm Baron Walten[1] nach.

[1] Im Original steht »Salten« statt »Walten«.

»Aberrr ja.«

»Darf ich nicht den Namen des ägyptischen Zollbeamten erfahren, der uns hier in der Wüste so freundlich entgegengekommen ist?«

»Aberrr ja. Jetzt Begglar Beg, Leutnant der Zolltruppe — früher Rittmeister Eugen Edler von Strehlenau. Servus!«

Und wieder drehte er sich schnell um und stürmte davon. Betroffen standen sie alle da.

Edler... ein österreichischer Adelstitel, wird nicht mehr verliehen, so wenig wie der Adel »Ritter«.

Die Edlen von Strehlenau — einst ein berühmtes Geschlecht.

Der Name ist eng verknüpft mit den Türkenkriegen, mit der Belagerung Wiens.

Es ist ausgestorben.

Die letzten Träger dieses Namens sind verschollen. In Amerika oder sonst wo.

Deutsche Landsknechte!

Was aber die Zurückgebliebenen besonders so bestürzt gemacht hatte, das war das Mienenspiel gewesen, das sie alle gesehen, und auch auf den prosaischsten Matrosen hatte es Eindruck gemacht.

Wie sich dieses negerartige Gesicht mit dem blonden Schnurrbart, bei allen den Narben und Spuren von furchtbaren Strapazen doch so heiter, ewig lachend, sich plötzlich, wie der letzte Name genannt wurde, so schmerzhaft verzogen hatte.

Da ging er hin, der Edle von Strehlenau, um in der ägyptischen Wüste auf Salzschmuggler zu fahnden.

Aber der Rückzug sollte immer noch einmal unterbrochen werden.

Ingenieur Hartung war es, der sich zuerst aufraffte, schnell das Bündel Virginiazigarren ergriff und jenem nacheilte.

»Sie, geehrter Herr — darf ich Ihnen hier ein paar Virginias anbieten?«

»Abberrr jaaa!«

Und jetzt war es wieder das lachende Gesicht, sogar ganz von Seligkeit verklärt, als das Dutzend Virginia genommen und unter den Burnus gesteckt wurde.

Und jetzt war das Eis gebrochen, der Edle genierte sich nicht etwa.

»Habens nich auch a bissel Tabak für meine Leut?«

»Abberrr ja!«, erklang es lachend zurück, die anderen Beduinen kamen nochmals zurück, darunter also auch gar viele Europäer, man verteilte unter ihnen fast den ganzen Tabak und die Zigarren.

Doch der Leutnant hatte es nicht umsonst angenommen.

Er zog aus der Brust an einem Lederriemen einen haselnussgroßen Stein hervor, gab ihn dem Ingenieur.

»Gestatten S', dass i mi revanchier. Da haben S' an Skarabäus, aber nen echten! I hob ihm einem Beduinen abgenommen, der mir mit'm Messer ins Gesicht hackte, wofür ihm mein Dolch das Blut für immer aus den Wangen trieb. 'S ist 'n echter Skarabäus! Servus!«

Es war die letzte Unterbrechung gewesen. Bald darauf, als man die Felsen erstiegen hatte, sah man die Zollwächter, die Schmugglerjäger auf ihren schlanken Rennkamelen schon in weiter, weiter Ferne durch die Wüste jagen, dem Südosten zu.

Jetzt zunächst betrachtete man die Gabe des Leutnants.

Also ein Skarabäus.

Das ist ein lateinisches Wort und heißt »Käfer«. Im Besonderen wird darunter der Ateuchus sacer verstanden, der »heilige Pillendreher«, der wieder zur Gattung der Mistkäfer gehört.

Es ist ein Käfer von vier Zentimeter Länge, kommt häufig in Nordafrika vor, er fertigt aus Mist von Säugetieren eine Kugel von etwa fünf Zentimeter Durchmesser, in die das Weibchen ein Ei legt. Die Larve entwickelt sich nun in dieser Kugel.

Den alten Ägyptern war dieser Mistkäfer heilig, er war ihnen das Symbol des Sonnengottes, der Schöpfungskraft. Sie verewigten sein Bildnis allüberall, alle Tempelwände sind mit Skarabäen bedeckt, dann fertigten sie auch Steine, die den Käfer ungefähr wiedergaben, meist nur durch Andeutung der Rückenschilder, versahen ihn mit Zaubersprüchen und dergleichen und trugen ihn als Talisman.

Nun stimmt es ja allerdings, dass man solche Skarabäen, aus den edelsten Steinen oder aus ganz gewöhnlichem Muschelkalk geschnitten, früher in Ägypten in zahllosen Mengen gefunden hat.

Als aber in Europa und Amerika das Interesse für ägyptische Altertümer erwachte, war die Nachfrage von Sammlern nach solchen Skarabäen bald so groß, dass es keine mehr gab, dass da künstliche Nachhilfe geschaffen werden musste.

Heute existiert bei London eine große Fabrik, die alles herstellt, was Forschungs- und Vergnügungsreisende in fremden Weltteilen sammeln, dort werden sowohl Skalpe hergestellt wie Kriegskeulen von den Südseeinseln, an denen noch das Blut des erschlagenen Feindes klebt, angebrannte Menschenknochen von Kannibalenschmäusen, für Ägypten Mumien und steinerne Götzenbilder, besonders auch solche Skarabäen, mit denen dann die Käufer angeschmiert werden. Übrigens gibt es auch in Hamburg solch eine ethnologische Raritätenfabrik.

Und hiermit setzt nun das für uns vorläufig noch unergründliche Geheimnis ein.

Wenn man einen echten Skarabäus hat, so ist es einem geschickten Steinschneider doch sehr leicht, ihn aus derselben Gesteinsart ganz genau nachzuahmen, bis zum kleinsten Pünktchen.

Wie soll man denn da echt von unecht unterscheiden können, das heißt ob die Arbeit von den alten Ägyptern stammt oder neueren Datums ist.

Und doch, es gibt ein Mittel, um es unterscheiden zu können.

Man braucht nur zu einem Kopten zu gehen.

Die Kopten sind die letzten Nachkommen der alten Ägypter, sehen diesen in den charakteristischen Gesichtszügen, wie sie auf Steintafeln abgebildet sind, auch noch ganz ähnlich.

Man schätzt ihre Zahl auf rund 300 000. Sie werden von den echten Arabern maßlos verachtet, und das mit Recht, denn es sind die schmutzigsten, treulosesten Gesellen, und das ist für uns Abendländer umso unangenehmer, weil die Kopten sämtlich Christen sind. Sie haben allerdings ihre eigene Religion von ganz rohen Formen, sind aber doch immerhin Christen. Von den anderen Arabern zeichnen sie sich sonst nur dadurch aus, dass sie ein blaues Hemd tragen. Sie verrichten die niedrigsten Arbeiten, haben viele Klöster, die bekanntesten liegen im Tale der Natronseen, in denen die Mönche in Zellen eingemauert wie die Tiere leben, auch ihre Bischöfe, zwölf Stück, genieren sich nicht, öffentlich auf der Straße zu betteln und die Gurkenschalen aus dem Kehricht zu lesen.

Wenn man nun einen Skarabäus hat, und man will wissen, ob er echt ist oder nicht, braucht man nur irgend einen Kopten auf der Straße zu fragen. Der einfache Mann zwar kann es nicht unterscheiden, aber er interessiert sich sofort und führt einen zu einem seiner Priester, gleich zum Bischof oder gar zum Patriarchen.

Und dieser Priester kann sofort sagen, ob der Stein von den alten Ägyptern geschnitten oder eine Nachahmung neueren Datums ist.

Woran er das unterscheidet, weiß man nicht, es ist ein unergründliches Rätsel.

Ja, womit will er denn überhaupt seine Behauptung begründen?

Jetzt erst kommt das Merkwürdige!

Der Koptenpriester fragt den Fremden, ob der Skarabäus ihm feil ist. Vorausgesetzt, dass er eben echt ist. Wobei es vollständig gleichgültig ist, ob ein Smaragd oder gewöhnlicher Kalkstein. Den nachgeahmten Skarabäus beachtet er gar nicht, und wenn es der herrlichste Edelstein ist.

Er selbst freilich will ihn nicht kaufen. Die Koptenmönche haben kein Geld, dürfen keines haben. Der Priester sagt, er wisse einen Käufer.

Ob nun der Fremde darauf eingeht oder nicht, jedenfalls findet sich bei ihm bald ein geheimnisvoller Mann ein — meist ein Inder — der auf den Skarabäus zu bieten anfängt. Und da werden Summen geboten, die ins Fabelhafte gehen.

Wir müssen außerhalb des Romans einen Fall herausgreifen, der die Sache glaubhafter macht.

Im Jahre 1882 kam ein reicher englischer Kaufmann nach Ägypten und erstand von einem armen Araber einen kleinen Skarabäus aus rotem Porphyr für drei Schillinge.

Er wurde von seinen Freunden ausgelacht, für das wertlose Ding, eine ganz plumpe Nachahmung, so viel bezahlt zu haben.

Ein befragter Koptenpriester erklärte ihn jedoch für echt und geriet außerdem bei der Untersuchung in ganz auffallende Erregung, bot dem Fremden für das Ding eine heilige Schrift und seine Frau und zwei Töchter an.

Hierauf ging der Engländer nicht ein. Einige Stunden später wurde er in seinem Hotel von einem schmierigen Juden besucht, der für diesen Skarabäus immer mehr bot, bis zu 75 000 Franken! Das heißt im Laufe mehrerer Tage, der Jude kam immer wieder.

Dann kam er nicht mehr. Und am anderen Morgen wurde der Engländer ermordet in seinem Hotelzimmer aufgefunden. Beraubt war er nicht worden, nur der rote Skarabäus fehlte.

Man hat den Mörder nicht entdeckt, auch jener Jude, sonst eine stadtbekannte Persönlichkeit, war seitdem verschwunden, der Fall ist nie aufgeklärt worden.

Jener Koptenpriester starb auf der Folter — im Gefängnis der Eingeborenen — ohne etwas gestanden zu haben.

Und so ist das alles noch heute.

Es scheint, als ob die sachverständigen Koptenpriester geradezu die Verpflichtung hätten, jeden Skarabäus zu prüfen, ob er echt oder unecht ist und in diesem Falle einmal die lautere Wahrheit zu sagen.

Und dass sie sich hierin tatsächlich nie irren, das hat man durch Versuche erfahren, indem man ihnen die geschicktesten Imitationen vorlegte, die sie sofort als solche erkannten.

Und immer noch findet sich heute, wenn jemand einen echten Skarabäus hat, alsbald ein geheimnisvoller Fremder ein — meist aber ein Inder, kein Jude — der für das Ding hohe Summen bietet. 75 000 Franken allerdings nicht, aber bis in die Tausende geht es doch.

Wozu nun diese Preise für solche Steinfiguren? Und wer hat überhaupt solches Interesse daran?

Man hat in den Wohnungen und Klöstern der Kopten oft genug polizeilich gesucht und niemals einen Skarabäus gefunden.

Gehen sie nach Indien? Wozu denn nur?

Man weiß es nicht. Es ist ein unergründliches Geheimnis.

Kurz nach jenem Mordfall erschien in Bombay eine englische Broschüre, von einem Inder verfasst, welcher dieses Geheimnis lüften zu können glaubte.

Wer die Kunst und hauptsächlich die dazu nötigen Zauberformeln kenne, der vermöchte mit diesen heiligen Skarabäen die wunderbarsten magischen Zaubereien auszuführen.

Na selbstverständlich! Das war nichts Neues.

Interessant in der Broschüre war nur eines.

Wenn es Personen gibt, die für solche Skarabäen das größte Interesse haben, jede Summe für solch ein Ding zahlen, warum gehen die dann nicht nach Europa und Amerika, wo Sammler Tausende zusammengetragen haben, und lassen sie dort stehlen, soweit sie nicht noch zu kaufen sind?

Weil, hieß es in jener Broschüre, der Skarabäus sofort seine magische Kraft verliert, wenn er den heimatlichen Boden Ägyptens verlassen hat, sie bei seiner Rückkehr auch nicht wiederbekommt.

Das war die einzige vernünftige Spekulation in dieser Broschüre. Denn tatsächlich hatte man sich schon gewundert, dass bei den Sammlern sonst keine Nachfrage war, keine aus den Museen gestohlen wurden. So einfach diese Vermutung auch war, war man doch nicht darauf gekommen — — —

Hierüber hatte Baron Walten berichtet, während der zurückgelassene Skarabäus an der Lederschnur besichtigt wurde.

Auch einige Andere wussten von der ganzen Sache, aber am besten war doch Baron Walten darüber orientiert, vielleicht hatte er auch in jener Zauberbibliothek des siebenbürgischen Schlosses darüber gelesen, wenn er auch nichts Absonderliches erzählte.

Dieser Skarabäus hier war also ungefähr so groß wie eine Walnuss, aus einem gewöhnlichen grauen Steine, wahrscheinlich Grauwacke, der Käfer war ganz plump nachgeahmt, fast nur durch die Flügeldecken angedeutet, hatte unten am Leib einige eingeritzte Männerchen, in denen man zur Notdurft alte Ägypter erkannte, oben drauf Hieroglyphen. Wenn es nicht nur Sterne und Kreuzchen waren.

»Ob das vielleicht eine künstliche Masse ist, innen ist ein Edelstein, dass diese echten Skarabäen so hoch bezahlt werden?«

Nein, nein, nein!

So schlau sind schon viele Menschen gewesen, um diesen Gedanken zu haben.

Man hat manchen echten Skarabäus, für den ein geheimnisvoller Fremder fabelhafte Summen bot, in lauter Scheiben zersägt, ohne jemals etwas zu finden.

»Der Beamte wird doch gewusst haben, was mancher Skarabäus für einen Wert hat.«

»Gewiss, der wird auch schon einmal einen Kopten gefragt haben.«

»Da kann ihm solch ein Koptenpriester oder ein geheimnisvoller Jude oder Inder nicht viel dafür geboten haben, wenn er ihn für ein Dutzend Virginias weggibt.«

»Einem geschenkten Gaul guckt man nicht ins Maul!«, sagte Ingenieur Hartung und steckte den Stein samt Lederschnur in die Tasche. Ihn als Talisman um den Hals zu hängen, dazu hätte er sich geniert.

Diese Vorgänge waren natürlich auf der Jacht mit der größten Besorgnis beobachtet worden, schon war Kapitän Haff, ohne erst die Rückkehr des Kutters abzuwarten, der ihm ja auch nichts berichten konnte, mit einem anderen Boote unterwegs.

Er konnte über das Vorkommnis beruhigt werden Hübsch war es ja freilich nicht gewesen, dass man sich von den Zollwächtern hatte irre führen lassen, keine genaueren Signale gefordert hatte. Man war eben in dem festen Glauben gewesen, es könne niemand anders als der Prinz und seine Leute sein, für den Wüstenritt als Beduinen gekleidet, die dort gewinkt hatten, und das Gegenzeichen hatte ja auch gestimmt.

Nun wird der aufmerksame Leser sicher eine Frage aufwerfen.

Die kleine Deasy stand doch mit Fred in telepathischer Verbindung, sie konnten sich jeder Zeit unterhalten, Deasy konnte durch ein Klingelzeichen immer anrufen.

Weshalb hatten sich denn die beiden Parteien diesmal nicht so verständigt? Dann hätten die auf der Jacht doch gewusst, ob der Prinz schon hier war oder wann er kommen würde.

Dass dies nicht geschehen war, dafür lag natürlich ein triftiger Grund vor.

Gestern Abend um acht war, überhaupt wie immer zu dieser Zeit, alle vier Stunden mit Ausnahme der Nacht die gewöhnliche Verbindung hergestellt worden.

Da hatte an Bord der Jacht, noch in voller Fahrt befindlich, der Psychograf, der schon einmal beschrieben wurde, gesagt, dass der Prinz mit seinen Leuten gleich aufbrechen würde zum nächtlichen Ritte, morgen Mittag, also heute, würde er mit den Cowboys an dieser ausgemachten Bucht sein. Aber Deasy konnte nicht mitkommen. Sie war unpässlich geworden. Nicht schlimm, eine kleine Erkältung, ein leichtes Schnupfenfieber — aber den weiten Ritt konnte sie nicht mitmachen.

»Morgen früh um acht rufe ich Dich wieder an. Gute Nacht, mein lieber Fred. Schluss.«

Das war also der Grund, weshalb man sich jetzt nicht mit dem Prinzen verständigen konnte.

Er war bereits unterwegs und Deasy nicht bei ihm, und so sehr das Kind auch an »Onkel Joachim« hing, mit diesem konnte sie sich nicht in Verbindung setzen, so dass auf diese Weise etwa eine Art von Zwischenstation geschaffen worden wäre. Einzig und allein mit Fred war dieser telepathische Verkehr möglich. Weil sie eben für den Knaben die allerstärkste Sympathie besaß. Was schon der Fall gewesen, noch ehe sie ihn persönlich gekannt hatte, ehe er ihr Spielgefährte geworden. Weil Sympathie eben ganz unkontrollierbar ist.

Über diesen telepathischen Verkehr muss noch einmal gesprochen werden, obgleich es schon gesagt worden ist.

Also Deasy konnte mit Fred jederzeit in geistigen Verkehr treten, konnte zum Beispiel ein Glöckchen ertönen lassen oder einen Perpendikel anhalten — viel Kraftanstrengung durfte dazu nicht erforderlich sein — aber immer war dazu unbedingt notwendig, dass Fred auf den betreffenden Gegenstand fest blickte.

Also war diese Art von Anruf aus der Ferne ganz problematisch. Man konnte doch nicht verlangen, dass der Junge immer dasaß und starr auf den Perpendikel oder auf eine Klingel blickte. Falls es dem kleinen Mädchen einmal einfiel, ihn anzurufen.

Also es musste wohl oder übel dabei bleiben, dass man eine bestimmte Stunde und Minute ausmachte, in der man sich gegenseitig verständigte. Das war früh um acht, mittags um zwölf, nachmittags um vier und abends um acht.

Bei dieser Verständigung konnte allerdings auch irgend eine andere beliebige Zeit bis zur Minute ausgemacht werden, da der Psychograf zu schreiben anfing. Anders aber war es nicht möglich. Ebenso bestand keine Möglichkeit, dass Fred seine kleine Freundin durch Gedankenübertragung auf sich aufmerksam machte. —

Diese Vorgänge hier an Land hatten sich in der achten Morgenstunde abgespielt.

Jetzt war es noch nicht ganz halb acht.

Also noch eine halbe Stunde musste man warten, bis sich Fred mit Deasy in Verbindung setzen konnte, und dann vermochte diese auch nicht etwa Auskunft darüber zu geben, wo sich der Prinz jetzt befand. So weit ging ihr Hellsehen nicht. Weil sie eben auf das ursprüngliche Mittel, dass sie die betreffende Person, von der sie etwas »Lebendiges« in die Hand nahm, im Geiste sah, nicht mehr reagierte. Diese Gabe hatte sie eben verloren, um dafür ganz andere zu gewinnen, wie zum Beispiel die der Wünschelrute, die aber hierbei natürlich nichts nützte.

Ingenieur Hartung hatte gerade den Skarabäus mit jener Bemerkung, dass man einem geschenkten Gaule nicht ins Maul sehe, in die Rocktasche gesteckt, eben war Kapitän Haff im Boote gekommen, man berichtete ihm noch.

»Was ist denn das?!«, ließ sich da Ingenieur Hartung vernehmen, in einem Tone, dass sofort alles nach ihm blickte.

Man sah, wie er in die rechte Rocktasche griff, mit einem recht verdutzten Gesicht.

Und plötzlich, wie er noch die rechte Hand in der Rocktasche hatte, wurde dieses verdutzte Gesicht schon mehr verstört, erschrocken, und so zog er schnell den Skarabäus an der Lederschnur hervor und schleuderte ihn wie mit Abscheu von sich.

»Alle guten Geister!«, erklang es ebenso erschrocken, wahrhaft entsetzt.

»Was ist denn los?!«, wurde gelacht.

»Das Vieh ist lebendig geworden!«

»Was für ein Vieh? Doch nicht etwa das steinerne Ding?«

»Jawohl! Fängt der steinerne Käfer in meiner Tasche plötzlich zu krabbeln an!«

»Sie scherzen, Hartung!«

»Na, meine Herren, ich will Ihnen hier doch nichts aufbinden! Ich stecke das Ding in die Tasche, behalte es noch einen Moment drin, weil ich gerade an etwas denke... plötzlich fängt der Käfer zu krabbeln an, wird lebendig.«

»Sie haben sich getäuscht, wie soll denn das möglich sein!«

»Wie soll ich mich denn da getäuscht haben?«

Hartung selbst hob den noch im Sande liegenden Skarabäus wieder auf.

Von einem Lebendigsein war natürlich nichts zu bemerken. Es sei nochmals betont, dass es nur ein ovaler, dicker Stein war, die Käferform nur durch die abgesetzten Flügeldecken bezeichnet, also keine Spur von Füßen oder Fühlern.

»Und mir war es doch gerade, als hätte ich in meiner Hand die Beine krabbeln gefühlt!«

Hartung steckte den Stein wieder in die Tasche und... riss ihn sofort wiederum heraus, ihn aber diesmal nicht gleich fortschleudernd.

»Ja natürlich, der Käfer wird in meiner Hand sofort lebendig!«

»Ist doch nicht möglich!«

Zum dritten Male ließ ihn Hartung in der Tasche verschwinden, ohne die Hand gleich wieder zum Vorschein zu bringen, nur dass er ein noch verdutzteres Gesicht als zuvor machte.

»Wahrhaftig, meine Herren, der Stein ist lebendig, ich fühle ganz deutlich Beine, sie krabbeln in meiner Hand... i das soll der Teufel aushalten!«

Mit diesen Worten zog er wiederum seine Hand hervor und schleuderte den Stein gleich von sich.

Jetzt war es Baron Walten, der ihn aufhob.

Nachdem er ihn genug betrachtet, steckte er ihn in seine Jackentasche und... auch er zog ihn schleunigst wieder heraus und warf ihn gleich von sich.

»Da soll man wohl nicht erschrecken! Der Skarabäus lebt wirklich!«

Der dritte war Falkenburg, aber der fand durch Zufall heraus, dass man den Stein gar nicht erst in die Tasche zu stecken brauchte, um dieses Phänomen zu erleben.

Es genügte schon, den walnussgroßen Stein in die Hand zu nehmen und die Finger völlig darum zu schließen, dann war es nicht anders, als ob aus dem Leibe Beine und Fühler herauswüchsen, die in der Handfläche krabbelten.

Im Übrigen war die Empfindung gar nicht zu beschreiben.

Und doch, Ingenieur Hartung fand, als er selbst dieses Experiment machte, den Stein nur in die geschlossene Hand nahm, einen treffenden Vergleich.

»Das ist nicht anders, als ob von dem Stein ein galvanischer Strom ausging, genau so prickelt es.«

Ja, jetzt gaben das auch die anderen zu. Es war wie das Prickeln eines elektrischen Stromes. Das Empfinden, als ob man Beine fühle, war ein Irrtum, eine Einbildung gewesen. Weil man eben immer an einen Käfer gedacht hatte.

Aufgeklärt wurde die Sache dadurch natürlich nicht, vielleicht nur noch viel rätselhafter.

Besonders dadurch, weil der elektrische Strom sofort aufhörte, wenn man die Hand so weit öffnete, dass man den Stein sehen konnte. Auch der kleinste Schlitz zwischen den Fingern genügte, um den elektrischen Strom zu unterbrechen. Die Hand musste vollkommen geschlossen sein, dann fing das Prickeln wieder an.

Anders aber war es, wenn man den Stein in die Tasche steckte. Dann brauchte man nur einen Finger darauf zu halten, so empfand man auch schon wieder das elektrische Prickeln.

Also es war nicht anders, als ob der Skarabäus unbeobachtet im Finstern sein müsse, nur dann konnte er seine geheimnisvolle Wirkung ausüben.

Ob der Zollleutnant schon diese merkwürdige Eigenschaft an dem Steine entdeckt gehabt hatte? Doch ganz sicher nicht!

Erst hier war der Spuk losgegangen.

Jetzt nahm auch Fred den Stein einmal in die Hand, und zwar überhaupt zum ersten Male. Schon vorhin hatte er mehr Interesse für die großen Felsen gehabt, um darin herumzuklettern, als für das antike Ding.

Jetzt aber ging der Spuk erst richtig los!

Eigentlich konnte Fred den Skarabäus gar nicht in die Hand nehmen. Der Stein wurde bei Berührung des Knaben vollkommen lebendig, oder es war nicht anders, als ob sich der Stein in Quecksilber verwandele, das man doch nicht fassen kann, nur dass es eben der Stein blieb, auch nicht wie eine Quecksilberkugel rollte, sondern er hüpfte auf des Knaben Hand hin und her, und er hüpfte auch auf dem Sande herum, wenn Fred nur die Lederschnur fasste, dann sprang der steinerne Käfer auf dem sandigen Boden geradezu wie ein Frosch herum, nur dass er dabei manchmal auf den Rücken fiel, aber auch in dieser Lage sofort wieder emporschnellte, und erst recht zappelte er heftig, wenn ihn Fred an der Lederschnur frei in der Luft hängen ließ.

Da freilich musste ihm wie allen den Männern gleich ein Gedanke kommen.

»Das ist Deasy, sie meldet sich!«

Noch nie war ja so etwas passiert, aber dieser Gedanke lag eben gar zu nahe.

Und richtig, kaum hatte Baron Walten den Psychografen aus der Brusttasche gezogen, als der Stein, als habe er nun seine Pflicht getan, auch gleich sein lebendiges Wesen einstellte, sich auch in Freds Hand wieder in den toten Stein verwandelte, keine galvanische Elektrizität mehr von sich gab.

Dieser Psychograf ist schon beschrieben worden. Er konnte zusammengeklappt und bequem in der Brusttasche getragen werden. Auf der runden Scheibe waren also die Buchstaben des Alphabets geschrieben, außerdem noch die gebräuchlichsten Worte wie ja und nein, ein Verstandenzeichen und Ähnliches mehr.

In die Mitte wurde ein Stiftchen gesteckt, auf dieses ein ganz leichter, ausbalancierter Holzzeiger gelegt, und wenn die Sache einmal eingeleitet war, so brauchte Fred nur auf den Zeiger zu blicken, dann drehte sich dieser durch Deasys Gedankenkraft, bis das Kopfende den betreffenden Buchstaben erreicht hatte, dort tippte der Zeiger nieder, und hierbei erkannte man auch ganz deutlich, dass dabei eine magnetische Kraft im Spiele war. Sonst wäre das Kopfende doch auch gar nicht heruntergezogen worden. Natürlich kein gewöhnlicher Magnetismus, sondern eben sogenannter tierischer Magnetismus, Lebensmagnetismus, der nicht nur an Eisen und reines Nickel gebunden ist. Dieses Drehen ging außerordentlich schnell, wunderbar war die Sicherheit, mit welcher der Holzzeiger plötzlich stehen blieb und auf den betreffenden Buchstaben niedertippte.

Auf dieser Seite hier wurde dann das, was man zu sagen wünschte, geschrieben. Das konnte Fred tun oder auch jemand anders. Nötig war nur immer, dass Fred auf das Geschriebene blickte. Dann las die kleine Hellseherin eben mit des Knaben Augen. Hierbei brauchte Fred auch nicht wieder auf den Apparat zu blicken, es genügte schon, wenn er ihn berührte, dann drehte sich der Zeiger von selbst wieder und berührte das Verstandenzeichen. Also Deasy hatte in der Ferne gelesen, nun wollte sie wieder sprechen.

So geschah es auch jetzt.

»Deasy?«, schrieb Walten unter Freds Blicken auf seinen Notizblock nieder.

Am praktischsten wäre eine elfenbeinerne Platte gewesen, dann hätte die Schrift immer wieder weggewischt werden können. Aber das erlaubte der Prinz nicht, im Gegenteil, alle diese Blätter mussten aufgehoben werden, auch Deasys angezeigte Fragen oder Antworten mussten aufgeschrieben werden. Dieser ganze Depeschenwechsel wurde eben sorgfältig kontrolliert.

Das Verstandenzeichen wurde gegeben, dann tippte der Zeiger weiter, so schnell, wie ein flüchtiger Bleistift gerade schreiben konnte, man musste gut aufpassen, bei aller Exaktheit des Niedertippens.

»Wer waren die fremden Männer?«

Also Deasy hatte sich durch Freds Haarlocke in Trance versetzen lassen, außerhalb der gewöhnlichen Zeit, hatte mit Freds Augen alle die Vorgänge beobachtet.

»Zollbeamte. All right.«

Das Kind war besorgt gewesen, jetzt musste es beruhigt sein, oder derjenige, der das Hellsehen leitete.

»Wer leitet?«

»Jochen.«

Mit dem tat sie es am liebsten, es war eben ihr spezieller Freund.

»Wie geht es Dir, Deasy?«

»Ganz gut.«

»Deasy gut geschlafen, wieder ganz gesund. Jochen!«, meldete dieser jetzt.

»Prinz fort?«

»Gestern Abend um neun. Etwas Wichtiges mitzuteilen?«

»Nein. Wir erwarten den Prinzen jede Minute.«

Das mit dem lebendig gewordenen Steine durfte jetzt noch nicht als »Wichtiges« bezeichnet werden, jetzt ging es erst »dienstlich« zu.

»Was ist das für ein Stein?«, fuhr es jetzt aber im fernen Kairo von allein fort.

»Ein Skarabäus.«

»Was ist das?«

»Ein Käfer von Stein, bei den alten Ägyptern heilig.«

»Von wem?«

»Von den Zollbeamten.«

»Lebt der Stein?«

Merkwürdige Frage! Aber nicht bei diesem Kinde. Ach, was man da manchmal für Fragen bekam!

»Nein. Toter Stein.«

»Er lebt! Ich selbst bin der Käfer.«

Gar keine Verwunderung über diese Erklärung. Dass Deasy beim Hellsehen oder überhaupt in diesem Zustand mit irgend einer Person oder auch Gegenstand seelisch und sogar körperlich wie verschmolz, das kam ja fortwährend vor.

Und besonders Baron Walten hatte ja schon seine Erfahrungen gemacht, er verstand zu fragen.

»Du kannst ihn lebendig machen?«

»Ja.«

»Du fühlst für diesen steinernen Käfer ein ganz besonderes Interesse?«

»Ja. Aber erst seit Fred ihn gesehen.«

»Du weißt nicht, was es sonst mit diesem Skarabäus für eine Bewandtnis hat?«

»Nein. Nur mir sehr wichtig. Fred soll ihn um den Hals hängen, den Stein auf der bloßen Brust tragen.«

Fred schickte sich an, die Lederschnur über den Kopf zu legen.

Da wurde der Stein schon wieder lebendig, auch der Zeiger drehte sich.

»Jetzt noch nicht! Will erst mit dem Stein etwas machen.«

»Was?«

»Noch mehr lebendig.«

Also das Kind fühlte, dass es mit dem Skarabäus noch weitere Experimente machen könne.

Da mischte sich erst Kapitän Falkenburg ein.

»Wir müssen zuerst die Kiste in den Schatten tragen, sie darf nicht in der Sonne stehen bleiben. Wenn jetzt der Prinz käme, gäb's ein Donnerwetter. Kann die Sache nicht so lange unterbrochen werden?«

Deasy wurde benachrichtigt und war damit einverstanden, eine Pause eintreten zu lassen.

Sollte der Mumienkasten, dessen Deckel nach dem Öffnen nur leicht wieder zugenagelt worden war, in den Schatten gestellt werden, so musste er, wie die Sonne jetzt stand, in die Schlucht hineingetragen werden.

Erst jetzt bemerkte man, dass diese Schlucht sehr reich an Höhlen war, in eine solche wurde der Kasten hineingesetzt. Inzwischen hatte man auch die zerstreuten Sachen wieder in die Koffer und Kleidersäcke eingepackt, sie kamen gleichfalls in die Höhle hinein. Eine Bewachung derselben war nicht nötig, sie lag gleich am Anfang der Schlucht, man konnte sie auch von hier immer im Auge haben.

Während dies die Leute besorgt hatten, war Kapitän Falkenburg mit einem Matrosen den Felsen hinaufgeklettert, hatte einen bequemen Aufstieg gefunden. Der Höhenzug war ja kaum einen halben Kilometer breit, von diesem Felsen aus konnte man ihn überblicken, hatte also freie Aussicht in die Wüste, außerdem sah man auch direkt hinab auf den Strand — so blieb der Matrose gleich hier als Posten, um die Ankunft des Prinzen zu verkünden, Kapitän Falkenburg kehrte zurück.

Die Unterhaltung wurde wieder aufgenommen.

»Liest Du mit, Deasy?«

»Ja.«

»Du willst uns mit dem Skarabäus etwas vormachen?«

»Ja. Die Lederschnur abmachen.«

Es geschah. Nur ein Knoten brauchte aufgeknüpft zu werden.

»Habt Ihr zwei leere Schachteln mit Deckeln, in die der Stein hineingeht?«

Die waren vorhanden. Eine Blechschachtel mit englischem Tabak, der herausgenommen wurde, und der hölzerne Schutzkasten von Kapitän Falkenburgs Taschenchronometer, also eine Kastenuhr, wie früher solche zum Beispiel auch die preußischen Eisenbahnbeamten geliefert bekamen.

Weiter gab der Psychograf Anweisung, wie der Skarabäus in den Holzkasten gelegt werden sollte, den Baron Walten in die Hand nehmen musste, während Fred die Blechbüchse halten sollte, die Deckel geschlossen, was besonders betont wurde.

»Ist der Stein noch drin, Onkel?«

»Ganz gewiss.«

»Klappere einmal.«

Jawohl, der Stein klapperte in dem Holzkasten.

Mit einem Male aber klapperte der Stein nicht mehr in dem geschüttelten Holzkasten!

Außerdem wurde die Schachtel plötzlich viel leichter.

»Jetzt öffne den Deckel.«

Der Skarabäus war aus dem Holzkasten verschwunden!

»Wo ist der denn hin?«, staunte der Baron.

»Hier!«, sagte Fred, seine leer gewesene Blechbüchse schüttelnd, in der es jetzt klapperte, und der Stein war denn auch darin.

Das Staunen war natürlich grenzenlos.

Es war ein sogenannter spiritistischer, also geistiger Apport mit vorangehender Dematerialisation gewesen.

Wir werden später eine Erklärung für dieses Phänomen zu geben versuchen, eine ganz natürliche, wie es etwas Übernatürliches ja überhaupt nicht gibt.

Die exaktesten Experimente bezüglich solcher Dematerialisationen mit Übertragung hat der Leipziger Astronom Professor Zöllner angestellt und sie in seinen »Wissenschaftlichen Abhandlungen« geschildert und erläutert.

Jetzt soll darüber nur so viel gesagt werden, dass wir bereits ein technisches Verkehrsmittel benutzen, das eigentlich noch viel, viel wunderbarer ist als solch ein sogenannter spiritistischer Apport: Das ist die elektrische Fernfotografie, die bereits auch ohne Draht erfolgen kann.

Wenn man die Sache von der richtigen Seite aus betrachtet, dann ist solch ein spiritistischer Apport gegen diese Fernfotografie eine Kinderspielerei.

Und hätte vielleicht noch vor fünfzig Jahren jemand der Welt diese elektrische Fernfotografie vorgemacht, so wäre das ebenfalls als etwas »Übernatürliches« betrachtet worden, und vor 200 oder 300 Jahren wäre der Betreffende ganz sicher als Hexenmeister, mit dem Teufel im Bunde, auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.

Diese Männer und Herren hier nahmen es, wie es ihnen geboten wurde. Dass sie darüber staunten, war selbstverständlich. Auch solche Ausrufe kamen genug vor wie: »Das ist Zauberei!« Aber das war nicht so gemeint, das waren nur gebräuchliche Redensarten. Sie wussten, dass es ein mediumistisch veranlagtes Kind war, das aus der Ferne wirkte, dessen Fähigkeiten aller menschlichen Berechnungen spotteten.

Dasselbe Experiment wurde noch mehrmals wiederholt, auf Deasys eigenes Verlangen, ohne Variation, immer genau dasselbe.

Baron Walten musste den Skarabäus in seinen Holzkasten tun, nach einiger Zeit war der Stein in die Blechbüchse hinüber gewandert, die immer Fred in der Hand halten musste.

»Kann ich den Skarabäus nicht auch einfach in der Tasche behalten? Kannst Du ihn nicht aus meiner Tasche in Freds Kasten wandern lassen?«

Nein. Deasy ließ den Psychografen ausdrücklich betonen, dass sie das nicht könne.

Kurze Zeit darauf brachte sie es dennoch fertig, forderte von ganz allein dazu auf.

Sie übte eben! Sie lernte erst. Sie vervollkommnete sich immer mehr. Nur dass dies auf diesem rein geistigen Gebiet viel schneller geht als auf jedem anderen. Oder es geht überhaupt gar nicht.

Das ist etwas, was man bei allen spiritistischen Medien findet, die schon einige Erfahrung gemacht haben mit den Menschen und besorgt sind, sie könnten als Betrüger entlarvt werden, wenn auch ganz ohne ihr Verschulden. Sie sagen immer, sie könnten eine ihnen gestellte Aufgabe nicht lösen, und mit einem Male bringen sie es dennoch fertig. In der Zwischenzeit üben sie. Denn wenn sie erst eine Zusage geben, und dann gelingt es ihnen nicht, so suchen sie dasselbe durch betrügerische Manipulationen zu erreichen, ohne ihren eigenen, bewussten Willen.

»Kann nicht jemand anders den Holzkasten halten?«

»Nein.«

»Nur ich?«

»Nur Du, Onkel.«

»Weshalb nur ich?«

»Weiß nicht. Vergrabt den Stein im Sande.«

Es geschah. Die Stelle bezeichnete ein kleines Häufchen.

»Ebnet den Sand.«

Auch dies wurde ausgeführt. Falkenburg legte an diese Stelle sein Taschenmesser.

»Das Messer weg! Kein Zeichen machen!«

Man musste gehorchen. Nur durch festes Hinblicken behielt man diese Stelle im Auge, was auch nicht verboten wurde.

Gleich darauf klapperte es in Freds Blechkasten.

Aber der Skarabäus befand sich nicht darin, es hatte auch nur ein einziges Mal geklappert, dann nicht mehr, obgleich Fred die Büchse schüttelte.

»Fred, greif in Deine linke Joppentasche.«

Der Skarabäus befand sich wirklich in dieser Tasche!

Es war natürlich derselbe, was sollte es denn für ein anderer sein, dort brauchte man auch gar nicht nachzugraben. Obgleich man es tat.

»Legt den Stein an den Boden und häuft Sand darüber.«

Es geschah. Jetzt verlangte das Kind also gerade dass ein Sandhaufen darüber entstand. Weil es eben nun schon wusste, dass es das beabsichtigte Experiment wirklich ausführen könne.

Weiter befahl der Psychograf, dass Fred die Lederschnur in seine Blechbüchse lege, natürlich dann wie immer den Deckel schließe.

Da sah man, wie mit einem Male das Sandhäufchen zusammensank.

Der Skarabäus war darunter verschwunden!

Er befand sich in Freds Blechbüchse, und zwar war die Lederschnur durch das hinten angebrachte Loch gezogen und außerdem die beiden Enden der Schnur mit einem Knoten zusammengeknüpft!

Und so fuhr Deasy fort.

Immer komplizierter wurden die Experimente. Aber Vorschriften ließ sie sich nicht machen. Oder aber sie verneinte erst, um das Verlangte später, wenn man es am wenigsten erwartete, dennoch auszuführen, jedoch immer in ganz anderer, noch überraschenderer Weise.

Nur bei zweierlei beharrte sie standhaft.

Schon längst konnten auch Andere als Baron Walten den Skarabäus nehmen. Aber immer musste er in einer Umhüllung sein, die ihn auch nicht fühlen ließen — also ihn etwa in ein Tuch zu wickeln, das gab es nicht — und zweitens konnte nur Fred derjenige sein, zu dem der Skarabäus wanderte.

Dabei blieb Deasy, jetzt und für immer.

Hierfür gab es eine Erklärung. Wo die Depesche aufgegeben wurde — um wieder an die drahtlose Telegrafie zu denken — das war dabei ganz gleichgültig. Aber nur Fred, für den sie eben die meiste Sympathie hegte, war die Empfangsstation. Anderswo konnte die Depesche gar nicht empfangen werden. Um sinnbildlich zu sprechen. Fred war eben für dieses Medium wieder ein Zwischenmedium.

So vergingen wenigstens zwei Stunden, das Kind wollte nicht abbrechen, erfand immer wieder etwas Neues, als plötzlich aus einer seitlichen Schlucht ein Dutzend Reiter zu Pferde auftauchten, einige ledige Reitkamele mit einigem Gepäck führend.

Aber keine Beduinen! Der Prinz mit seinen auserwählten Cowboys, die auch jetzt noch nicht für den Wüstenritt den Beduinenburnus trugen.

Der oben postierte Matrose hatte ihre Ankunft nicht melden können. Sie waren immer dicht am nördlichen Rande des Höhenzuges hingeritten, zuletzt auch durch Schluchten, bis sie hier ins Freie kamen.

Sie schwangen sich aus dem Sattel, der Prinz schüttelte seinem Freunde Walten und dem Jungen und den anderen Hauptpersonen herzlich die Hand.

»Alles in Ordnung!«

»Ihr unterhaltet Euch mit Deasy?«

»Schon seit zwei Stunden. Denke Dir, was uns das Kind jetzt wieder ganz Neues vorgemacht hat!«

Mit kurzen Worten wurde der Prinz eingeweiht, wozu natürlich auch die fatale Sache mit den Zollbeamten mitgeteilt werden musste. Der Prinz verlor darüber kein Wort weiter, dass jene sich hatten täuschen lassen.

»Deasy will uns immer noch mehr Experimente mit dem Skarabäus vormachen, und es wird immer wunderbarer.«

»Gleich. Du hast mir noch gar nichts von der indianischen Mumie gesagt.«

»Na, alles in Ordnung, habe ich doch sofort gemeldet.«

»Wo ist sie denn?«

»Wir haben den Kasten in eine Höhle gesetzt.«

»Ich will sie mir doch wenigstens erst einmal ansehen, wie Ihr die herausgeputzt habt, dann haben wir noch Zeit genug, uns von dem Kinde Kunststückchen vormachen zu lassen.«

Der Prinz wurde nach jener Höhle geführt.

Man hob den Deckel ab.

»Ist der denn vorhin gar nicht wieder zugenagelt worden?«, fragte Baron Walten da schon mehr noch verwundert als missbilligend; denn er selbst hatte doch gesehen, wie vorhin wenigstens einige Nägel wieder eingetrieben worden waren.

Jetzt aber hatte der Deckel nur ganz lose darauf gelegen.

Und das hatte seinen guten Grund.

Die einbalsamierte Indianerin lag nicht mehr darin, der Sarg war leer!

— • —

35. Kapitel
Die Teppichkarawane

Originalseiten 833, 843 — 867

In sprachlosem Schreck standen die Männer da. Es war natürlich niemand anders als Mistress Isabel Allan gewesen, die auf diese Weise nach Ä gypten hatte überführt werden sollen.

Baron Walten kannte ein Mittel, das, ins Blut gespritzt, einen Menschen für lange Zeit in Starrkrampf versetzte, und dann war die scheinbare Tote zur Indianerin herausgeputzt worden.

Wie das alles ausgedacht und arrangiert worden, das war ja ganz vortrefflich gewesen — aber dass die tote und einbalsamierte junge Frau des Siouxhäuptlings hier unvermutet wieder zum Leben erwachte und das Weite suchte, das hatte freilich nicht im Programm gestanden.

»Sie ist zu sich gekommen und geflohen!«

»Zerstampft die Spuren nicht!«, rief der Prinz sofort.

Aber das war schwierig, eine Spur von ihr zu finden, wenigstens den Anfang.

Der Boden dieser Höhle war mit feinem Sande bedeckt, in diesem aber waren doch schon die Leute, die alles hereingetragen hatten, genug herumgetrampelt, und dann weiter gingen durch diese sandige Schlucht auch die Spuren der Kamele der Zollwächter, welche auch zu Fuß hier hin und her gelaufen waren.

Aber man sollte nicht weiter zu suchen brauchen, es brauchte auch nicht bedauert zu werden, dass jetzt nicht Deasy mit ihrer Wünschelrute anwesend war.

»Hallo, hallo!«, machte sich oben auf den Felsen der Matrose bemerkbar.

»Was gibt es?!«, rief man hinauf.

»Dort unten durch die Wüste läuft eine Gestalt, ein Weib — ich will blind werden, wenn das nicht unsere indianische Mumie ist!«

Das genügte! Nur die Richtung brauchte der Matrose noch anzudeuten.

Dann saß der Prinz schon wieder auf seinem Rosse und jagte durch die Schluchten, den Kamelspuren der Zolltruppe folgend, die doch ganz sicher den nächsten Weg gewählt hatte, der in die freie Wüste führte.

Ohne dass er sie aufgefordert hatte, folgten ihm auch seine Cowboys nach, bis auf einen, der nicht schnell genug sein Pferd erwischt hatte, Fred war ihm zuvorgekommen, hatte sich schnell in den Sattel geschwungen und galoppierte mit in die Schlucht hinein.

Es war ja seine liebe Mutter, die er lebendig wieder fangen sollte — was freilich nicht ernsthaft zu nehmen ist. Der Junge hatte der Mistress Allan gegenüber immer seine Pflicht getan, war ein guter Sohn gewesen — aber dass er sie wirklich als seine Mutter liebte, das war von ihm nicht zu verlangen. Jetzt wollte er nur mit bei der Partie sein, seinen ersten Wüstenritt machen.

Als der Prinz aus der Schlucht herauskam, geriet er in neue Verlegenheit.

Vor ihm lag die freie Wüste, aus welcher der felsige Höhenzug direkt emporstieg, aber von dem flüchtigen Weibe war nichts zu sehen, obgleich es vielleicht noch gar nicht so weit entfernt zu sein brauchte.

Denn die Wüste war nicht so eben, wie sie zuerst den Eindruck machte, besonders für Unerfahrene. Wie schon einmal gesagt wurde, ziehen sich durch die Wüste immer Sandwellen hin, vom Winde zusammengetragen, und so gering sie auch sein mögen, genügen sie doch meist, um auch einen aufrecht stehenden Menschen verschwinden zu lassen.

Also der Prinz sah nichts. Auch nicht mehr den Posten oben auf dem Felsen, von dem hatte er sich jetzt schon viel zu weit entfernt.

Die Spuren der Zollwächter gingen rechts an dem Gebirge hin, andere waren nicht zu sehen, also folgte der Prinz kurzerhand diesen, sorgsam darauf achtend, ob er nicht zwischen den Kamelhufen auch den Abdruck eines kleinen Menschenfußes sehen würde.

Hierbei wurde er von seinen Leuten unterstützt, die ihn während der kleinen Verzögerung, die er am Ausgange der Schlucht gemacht, eingeholt hatten.

»Womit sind ihre Füße bekleidet gewesen?«

»Mit indianischen Mokassins!«, konnte wenigstens Fred berichten, der einzige, der von den anderen mitgekommen.

»Vorwärts, diesen Kamelen nach, und auf den Abdruck eines Mokassins geachtet!«

In Karriere ging es die Felsen entlang.

»Ein Reiter!«

»Dort noch mehr!«

So erklang es alsbald.

Die Felswand war etwas mehr in die Wüste hineingetreten, und als man den Bogen beschrieben, sah man da einige Männer zu Pferde halten, in gewissen Abständen voneinander, und überhaupt in einer Weise verteilt, dass man sofort auf Vorposten schließen musste, die zweifellos ein Lager zu bewachen hatten.

Doch was waren denn das für Reiter?

Beduinen waren es nicht, indem man diese doch nicht anders als in Beduinenkostümen, in weißen oder grauen oder braunen Burnussen kennt.

Zuerst glaubte der Prinz nicht anders, als er habe einige von jenen Saladinen vor sich, die einmal in ihren altertümlichen Ordenskostümen, also in ihren sarazenischen Ritterkostümen, einen Ausflug in die Wüste gemacht hätten.


Illustration

Denn auch diese Reiter hier, drei oder vier, obgleich man dort hinter den Sandwellen noch andere Köpfe auftauchen sah, waren in schimmernde Schuppenrüstungen gehüllt!

Außerdem aber bemerkte der Prinz, dass jeder Reiter an seiner Lanze ein grünes Fähnchen flattern hatte, und er war erfahren genug, um gleich zu wissen, was das zu bedeuten, wen er hier vor sich hatte.

Schließlich sprengte jetzt auch noch aus einer Seitenschlucht ein ebensolcher schuppengepanzerter Ritter hervor, durch einen ganz besonders phantastischen Helm ausgezeichnet, zügelte dicht vor dem Prinzen sein herrliches Ross und schwang drohend seine Lanze, an der gleichfalls ein grünes Fähnchen flatterte, während die Beduinen sonst gar keine Fähnchen an ihren Lanzen kennen.

»Zurück, Karihaddsch, zurück, zurück!«, erklang es herrisch und drohend.

Der Prinz hatte sein Pferd zurückgerissen. Sonst wäre er mit jenem Reiter, den Gesichtszügen nach ein echter Wüstenaraber, zusammengeprallt oder wäre direkt in dessen Lanze gerannt. So plötzlich war er aufgetaucht.

Eine Karihaddsch — der Prinz hatte es also schon vorher gewusst, gleich bei Anblick dieser gepanzerten Reiter mit den grünen Fähnchen.

Eine Teppichkarawane!

Es ist ja wohl bekannt, was bei den Mohammedanern der Teppich für eine Rolle spielt. Nicht nur als Möbel und Zierde für das Haus. Vor allen Dingen hat jeder gläubige Muselmann seinen eigenen kleinen Gebetsteppich, auf dem er zu den vorgeschriebenen Stunden niederkniet, und je mehr er darauf herumrutscht und mit bloßen Füßen darauf herumtrampelt, also je älter und je mehr abgenutzt der Teppich wird, desto leuchtender werden seine Farben. Dieses Färben der Wolle ist auch so eine Kunst, die wir den Orientalen trotz all unserer technischem und chemischen Fortschritte noch nicht haben nachahmen können. Deshalb die enormen Preise, die in Europa und Amerika von Liebhabern für solche orientalische Teppiche gezahlt werden, speziell für die kleinen Gebetsteppiche, weil diese eben am meisten strapaziert werden und dadurch tatsächlich immer farbenprächtiger werden.

Dann aber gibt es auch große, mächtige, kolossale Teppiche, welche den Boden der Moscheen bedecken, mit denen auch die Wände behangen werden. Einen anderen Schmuck gibt es in den mohammedanischen Moscheen nicht.

Diese Moscheenteppiche sind das Allerheiligste des Heiligen. Man kennt noch keinen solchen größeren Teppich, der aus einer Moschee heraus in den Besitz einer Privatperson oder eines Museums gekommen wäre. Es werden ja manchmal welche vernichtet, eine Moschee kann doch abbrennen, aber entwendet ist noch keiner worden. Von einem Verkauf natürlich gar nicht zu sprechen.

Die Anschaffung eines neuen Moscheenteppichs, auf Arabisch Kari, geschieht auf besondere Weise.

Es ist ausgeschlossen, dass die Parochie, wie wir sagen würden, etwa beschließt, für ihre Moschee einmal einen neuen Teppich anzuschaffen, ihn innerhalb des Distriktes anfertigen zu lassen.

Es muss stets ein Geschenk von einer anderen Gemeinde sein, und je weiter diese entfernt ist, desto heiliger wird der Teppich, desto mehr Segen bringt er dann der betreffenden Moschee.

Also irgend ein Sultan oder Kalif oder sonst ein Machthaber, wenn es auch nur der Scheik von einer kleinen Beduinenbande ist, beschließt, eine ferne Moschee mit einem neuen Teppich zu beglücken. Die Entfernung spielt dabei absolut keine Rolle. Die ganze mohammedanische Welt kommt dabei in Betracht. Arabische, persische und indische Kaufleute sorgen ja dafür, dass die mohammedanische Welt immer in gegenseitiger Berührung bleibt, das heißt in Kenntnis voneinander. Eine berühmte Moschee in Kalkutta ist den Beduinen im Innern Afrikas so gut bekannt wie den Mohammedanern in Kalkutta ein Heiligtum im Innern Afrikas. Und je weiter der Weg, desto heiliger eben wird der Teppich. Die große Moschee in Petersburg besitzt einen Teppich aus Oran, innerhalb von fast zwei Jahren dorthin gebracht. Denn natürlich immer per Karawane. Eisenbahn und Dampfschiff gibt's da nicht etwa! Das würde doch den Teppich entweihen.

Die Herstellung solch eines Teppichs spottet fast jeder Beschreibung. Schon die Vorbereitungen sind ganz enorm.

Zuerst werden die schönsten Schafe ausgesucht, aber nicht etwa diejenigen, welche die Wolle für den Teppich liefern sollen, sondern zunächst die Eltern für die zukünftigen Schäfchen, schon diese Mütter müssen zuerst Jungfrauen sein, werden ganz besonders gefüttert und behandelt, bis dann ein Schäfchen zur Welt kommt, und wie dieses nun erst behandelt wird, ehe es seine erste Wolle hergeben muss!

So etwas können wir ja nun allerdings nicht nachmachen, da verzinst sich kein angelegtes Kapital, und es ist recht wohl möglich, dass durch solche besondere Behandlung der Schafe und schon der Muttertiere auch eine ganz andere Wolle erzeugt wird.

Und nun das Färben! Schon die Herstellung der Farben! Das sind Geheimnisse, in die noch kein Europäer geblickt hat.

Ist nun nach vielen, vielen Jahren die farbige Wolle so weit fertig, so werden im ganzen Lande die schönsten Mädchen ausgesucht, aber noch Kinder, für sehr große Teppiche manchmal einige Hundert, welche den Teppich knüpfen müssen, natürlich unter strengstem Verschlusse, hinter den Mauern einer Moschee.

Ist der Teppich fertig, so sind aus den kleinen Mädchen inzwischen Jungfrauen geworden.

Nun wird die Karihaddsch zusammengestellt.

Der Koran gibt hierfür keine Vorschriften, damals gab es eben noch keine Moscheen mit heiligen Teppichen, die ehernen Vorschriften für diese Teppichkarawanen haben sich erst so nach und nach herausgebildet.

Es darf dabei nichts sein, was von Giauren, von Christen stammt — oder eigentlich Hunden, nämlich Christenhunden — aber auch sonst nichts, was die Mitglieder der Karawane sich nicht selbst fertigen können, also überhaupt nichts Modernes.

Es soll alles so sein, wie es zu des Propheten Zeiten gewesen ist.

Also man holt die alten Rüstungen der Sarazenen wieder hervor, die in jeder Ortschaft als heilige Antiquitäten aufbewahrt werden. Von Gewehren ist natürlich gar keine Rede. Als Schusswaffen sind nur Pfeil und Bogen erlaubt. Ja, bei der Karihaddsch darf nicht einmal geraucht werden, was bei diesen Arabern doch gewiss etwas zu bedeuten hat. Aber zu des Propheten Zeiten hat es eben noch keinen Tabak gegeben.

So zieht die Karihaddsch mit ihrem Teppich durch die Wüsten. Alle Ortschaften und selbst die Oasen werden vermieden. Das heißt, man lagert nicht innerhalb der Oasen, sondern in beträchtlicher Entfernung von ihnen, Wasser und alles, was man sonst braucht, muss umständlich herbeigeschafft werden. Dem heiligen Teppich darf sich kein Fremder in Sichtweite nähern. Oder in Bogenschussweite, heißt es.

Und nun noch etwas ganz Merkwürdiges:

Jeder Fremde, der sich der Teppichkarawane bis auf Bogenschussweite nähert, wird von den Karihaddschins zum Zweikampfe auf Tod und Leben herausgefordert!

So war es schon vor anderthalb tausend Jahren, und genau so ist es noch heute!

Also nicht, dass man über den Fremden, welche der Karawane zufällig begegnet, gleich herfällt, ihn nieder macht, sondern eher im Gegenteil, man lässt sich erst mit ihm ein und fordert ihn zum Zweikampf heraus.

Der Grund ist ja einfach genug.

Es geht eben um die Ehre des heiligen Teppichs, dazu ist wieder die alte Ritterlichkeit hervorgeholt worden. Solche Zweikämpfe werden freilich nur selten stattfinden.

Wer sich hierauf einließe, Mohammedaner oder Christ, und er bliebe Sieger, machte seinen Gegner kampfunfähig oder tötete ihn, der hätte absolut keinen Vorteil davon, für den Besiegten oder Gefallenen tritt immer wieder ein anderer Karihaddschin ein. Sie alle müssten erst für den Teppich fallen, dann erst gehörte er dem Sieger.

Wer der Karawane also zufällig begegnet, und er hat keine Lust, sich in einen Zweikampf auf Tod und Leben einzulassen, der muss schleunigst machen, dass er außer Bogenschussweite kommt, denn sonst freilich bekommt er Prügel, eine Bastonade auf die nackten Fußsohlen, dann lässt man ihn liegen.

Die europäischen Mächte, die in Ägypten und überhaupt im ganzen Orient herrschen, sind dagegen ganz machtlos.

Was sollen sie denn auch hierbei weiter eingreifen. Man muss eben solch einer Teppichkarawane ausweichen. Sie selbst geht ja allen bewohnten Gegenden aus dem Wege.

Anderseits freilich wäre für die fremden Regierungen Grund genug vorhanden, sich mit diesen Teppichkarawanen zu beschäftigen. Denn diese Regierungen sind doch überein gekommen, keine Sklaverei zu dulden, den Sklavenhandel in jeder Weise zu bekämpfen.

Und diese Karihaddschas sind ganz regelrechte Sklavenkarawanen!

Jene kleinen, ausgesucht schönen Mädchen, welche den Teppich knüpfen mussten, sind also während dieser Arbeit zu Jungfrauen herangewachsen. Und sie sämtlich begleiten den Teppich und werden in der fernen Stadt öffentlich verauktioniert, jede folgt ihrem Käufer in seinen Harem, als Gattin oder ganz einfach als seine Sklavin!

Das ist allgemein bekannt, es geschieht ja auch ganz öffentlich und hiergegen ist absolut nichts zu machen.

Der Orientale ist politisch sehr duldsam, willig bezahlt er immer wieder die neuen Steuern, die ihm aufgebürdet werden — aber in Sachen der Religion hört jede Gemütlichkeit auf. Wehe, wenn der religiöse Fanatismus erwacht!

England hat es in Indien erlebt, was es heißt, die religiösen Ansichten der Orientalen nicht ganz genau zu kennen und gegen sie zu verstoßen. Im Jahre 1857, als der furchtbare Aufstand losbrach. Den eingeborenen Soldaten war ein neues Gewehr geliefert worden, die Enfieldbüchse, die Schutzkapsel musste damals von der Patrone noch mit den Zähnen abgebissen werden, und diese Patronen waren mit einer Mischung von Schweineschmalz und Ochsentalg eingefettet. Das Schwein aber ist den Mohammedanern ein Gräuel, und den Buddhisten und Brahmanisten ist das Rind heilig. Die eingeborenen Treppen weigerten sich, die Patronen zu benutzen. Vergebens baten die englischen Offiziere um Aufhebung des Befehles. Nun mussten die eingeborenen Soldaten wegen Insubordination betraft werden. Da brach der Aufstand los, dessen Niederwerfen innerhalb zweier Jahre England 600 Millionen Mark gekostet und fast an den Abgrund des Ruins gebracht hat.

Wohl war dieser Aufstand schon vorbereitet gewesen, aber dass plötzlich die sämtlichen eingeborenen Truppen meuterten, 720 000 Mann, daran waren nur die Enfield-Patronen schuld gewesen, also eine Verletzung der religiösen Ansichten.

So etwas wird ja England nicht wieder machen!

Im September 1889 fand bei der Oase Baskih eine Übung der englischen Artillerie statt. Der Schreiber dieses wohnte ihr als Zuschauer bei. Da nahte eine Teppichkarawane. Diese weicht also wohl auch der kleinsten Ortschaft aus, auch einem Lager in der Wüste, nicht aber anderen Menschen, die sich bewegen können. Diese werden von den Karihaddschins eben zum Kampfe herausgefordert, wenn sie nicht ausweichen wollen. Und die Engländer brachen die Übung sofort ab, zogen sich mit ihren Kanonen respektvoll zurück, um die kleine Beduinenkarawane vorüberzulassen! Das sagt wohl genug.

Und wie will man denn wegen dieses Mädchenhandels überhaupt vorgehen?

Die Eltern der Kinder sind damit einverstanden gewesen, die Jungfrauen selbst schätzen es sich zur höchsten Ehre, mit dem Teppich zu ziehen und verkauft zu werden. Es ist die höchste Ehre aller Verwandten. Die Eltern haben auch gar keinen Vorteil davon, es ist vielmehr eine große Entsagung, ein hochedles Motiv liegt vor. Denn sonst wird bei den Mohammedanern doch die Tochter an den Gatten verkauft, dieser muss für sie zahlen. Zwar werden hier die Mädchen ebenfalls verkauft, aber das gelöste Geld gehört der Moschee, welcher der Teppich geschenkt wird!

Also gegen diese Art von Mädchenhandel ist absolut nichts zu machen.

Dies alles war dem Prinzen bekannt.

Er erwartete, dass er zum Zweikampf herausgefordert wurde, wenn er sich mit seinen Begleitern nicht sofort zurückzog.

Übrigens sah der schuppengepanzerte Araber nicht so drohend aus, wie sein Anruf geklungen hatte und wie er die Lanze schwang.

Die edlen Gesichtszüge des schon älteren Mannes hatten einen für einen Orientalen ausnahmsweise gutmütigen Ausdruck.

»Wir ziehen uns sofort zurück, wenn Du uns eine Frage beantwortet hast.«

»Was für eine Frage?«, ging der Araber auch gleich darauf ein.

»Hast Du hier ein fremdes Weib laufen sehen?«

»Ein junges Weib, gekleidet, wie hier kein anderes Weib geht, mit einer bunten Federkrone auf dem Haupte!«, kam der Araber noch mehr entgegen.

»Ja. Sie ist eine der unsrigen.«

»Sie ist vom Karischeik aufgenommen worden.«

Es war also geschehen, das Schlimmste, was der Prinz schon gefürchtet hatte.

Mistress Allan, nach ihrem Erwachen jedenfalls ganz kopflos, gar nicht wissend, wo sie sich befand, war einfach durch die Schluchten in die Wüste hineingelaufen, hatte sich zu der Teppichkarawane verirrt, war von ihr aufgenommen worden.

Dass sie eine Christin war — falls sie dies gleich angab — hatte dabei gar nichts zu bedeuten. Es ist ja schon wiederholt gesagt worden, dass bei den Mohammedanern das Weib überhaupt gar keine Seele hat, ihre Religion daher auch gar keine Rolle spielt.

»Sie gehört zu uns.«

»Sie hat sich in den Schutz des Karischeiks gestellt.«

»Was hat sie gesagt?«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie den Schutz des Karischeiks angefleht hat.«

»Wie heißt der Karischeik?«

»Du bist wahnsinnig, aber deswegen nicht toglo wie dieses Weib, dass Du so etwas fragst. Willst Du nicht auch noch wissen, woher wir kommen und wohin wir ziehen?«

Denn das sind alles Dinge, die man von einer Karihaddsch nicht erfährt. Wenn es überhaupt möglich ist, ein Mitglied anzusprechen. Dieser alte Araber hier war von äußerster Liebenswürdigkeit, dass er sich mit einem Fremden, ob nun Christ oder Araber, in solch ein Gespräch einließ. Es war sogar ganz merkwürdig, dass er es tat, denn eigentlich verletzte er seine Pflicht.

»Toglo ist das Weib?«

»Ja, Allah hat ihr den Verstand verdunkelt.«

»Eben deswegen muss sie zurück zu uns. Sie ist mit umnachtetem Verstande von uns geflohen. Ich will den Karischeik sprechen.«

Jetzt fing der alte Araber sogar zu lachen an.

»Ich habe es Dir schon einmal gesagt: Du bist zwar nicht toglo, wohl aber toll, dass Du solche Begehren hast.«

Das Lachen verstummte, und jetzt wurde das gutmütige Gesicht doch ein ganz anderes.

»Und nun zurück, warne ich Dich zum letzten Male. Die Karihaddsch kommt! Zurück, verschwindet dort hinter den Felsen, oder Ihr seid alle des Todes!«

Hinter den Felsen hervor kam ein prächtig gepanzerter Reiter, der eine große grüne Fahne trug — grün ist die heilige Farbe des Propheten — ihm nach folgten andere Reiter, zum Teil ebenfalls gepanzert, andere trugen Beduinenburnusse, konnten ja allerdings darunter immer noch gepanzert sein, und diesen nach folgten zunächst Lastkamele.

Der Prinz kannte alle Verhältnisse zu gut, um nicht zu wissen, was hier zuerst geschehen musste.


Illustration

Mit Erstaunen beobachteten der Prinz und seine Begleitung von
ihrem Standort aus den Vorbeimarsch der Teppichkarawane.


Erst wollte er einmal die ganze Karawane vorbeiziehen sehen, um ihre Stärke kennen zu lernen, ehe er einen weiteren Entschluss fasste.

Übrigens war es sehr merkwürdig, dass sie um diese Zeit, kurz vor Mittag, ihr Lager, oder aber, falls sie überhaupt noch gar nicht gelagert hatten, dieses Lager nicht zwischen den Felswänden aufschlugen. Sie mochten sich in solch einem Talkessel nicht recht sicher fühlen. Obgleich es noch niemals vorgekommen ist, dass eine Teppichkarawane von Wüstenräubern angegriffen wurde. Bei so etwas Heiligem tritt eben jede Habgier zurück, von mohammedanischen Kirchenräubern wird man wohl noch nie gehört haben. Das ist ja auch der Grund, weshalb die Karihaddschins nicht einmal Gewehre bei sich zu führen brauchen, keine andere Sicherheitswache mitzunehmen.

Also der Prinz begab sich mit seinen Leuten hinter einen Felsenvorsprung. Waren sie auch noch in Bogenschussweite, so zeigten sie doch durch dieses Zurückziehen, dass sie der heiligen Karawane ausweichen wollten, und das genügte.

Es waren weit mehr als hundert Kamele, welche aus der Schlucht herauskamen. Alle bepackt, aber nicht mit der ganzen Last, denn auf jedem saß noch eine verhüllte Gestalt, in schwarzen Gewändern, also schon dadurch gleich als Weib gekennzeichnet. Das waren die Ehrenjungfrauen, die den Teppich begleiteten und am Bestimmungsorte verkauft wurden.

Dann gegen zwanzig Reiter zu Pferde, vielleicht die Hälfte davon gepanzert, und vielleicht fünfzig Mann zu Fuß, hauptsächlich die Kamele führend. Die große Wurst, die von einem Dutzend Männer getragen wurde, war natürlich der Teppich.

Die Karawane entfernte sich höchstens einen halben Kilometer von den Felswänden, dann machte sie Halt, die Kamele wurden abgeladen, man schlug Zelte auf.

Dabei erkannte der erfahrene Prinz ganz deutlich, dass die Zelte und alles andere, was zum Lager gehörte, nur provisorisch auf die Kamele gepackt gewesen waren, dass also die Karawane wirklich schon kurz vorher zweifellos dort in einer Schlucht gelagert hatte, dass das Lager wieder abgebrochen worden war und jetzt in die Wüste verlegt wurde. Als Grund genügte schon die Annahme, dass man zwischen den Felswänden die Mittagshitze noch mehr empfunden hatte als in der freien Wüste.

Während dies beobachtet wurde, gesellten sich zu den Cowboys die anderen, die mit dem Schiffe Gekommenen, auf den mitgebrachten Kamelen.

Schnell weihte sie der Prinz in alles ein, besonders über das Wesen solch einer Teppichkarawane.

»Die Mistress Allan ist aufgenommen worden, sie wird jetzt auch auf ihr Verlangen nicht wieder freigegeben.«

Das war die Quintessenz, was der Prinz berichten konnte.

»Und was ist dann ihr Los?«

»Sie wird einfach mit verkauft, kommt mit in einen Harem, als Weib eines Arabers oder als seine Sklavin.«

»Das ist doch nicht statthaft!«

»Wer will es verwehren? An wen sollen wir uns wenden? Hier versagt uns jedes europäische Konsulat seine Hilfe. Ich kenne diese Geschichte. Keine Regierung will damit etwas zu tun haben.«

»Was spracht Ihr da von Zweikämpfen, zu denen diese Kerls jeden herausfordern?«

Don Juan, der alte mexikanische Stierkämpfer war es gewesen, der diese Frage gestellt hatte.

»Ich habe es vorhin doch ausführlich geschildert.«

»Und wenn wir nun alle diese Araber im Zweikampfe besiegen?«

»Wenn sie alle tot sind oder sich sonst nicht mehr regen können, unsere Gefangenen sind, dann gehört der Teppich uns, und alle die Weiber desgleichen.«

»By Jove, dann kämpfen wir doch mit diesen gelben Halunken.«

So und ähnlich erklang es gleichzeitig in der Runde.

Die Cowboys waren es gewesen, die es gerufen hatten. Sie hatten sich das Gehörte nur erst zurecht legen müssen, ehe sie auf diesen ihnen sonst ganz selbstverständlichen Gedanken gekommen waren.

Vielleicht nur die vier Indianer, außer dem Siouxhäuptling und dem Penchuenchen noch zwei andere, hatten es nicht gerufen, aber deren Augen sagten genau dasselbe.

Und ob der Prinz nicht ebenfalls schon denselben Gedanken gehabt hatte?

»Still, da kommt eine Deputation! Vielleicht werden wir schon zum Zweikampfe herausgefordert.«

»Und Ihr nehmt die Herausforderung doch an?!«

»Das wird sich finden. Erst wollen wir die einmal reden lassen.«

Es waren drei Reiter, die das Lager verlassen hatten und sich jener Gruppe näherten. Zwei von ihnen in Schuppenrüstung, der dritte trug einen weißen Burnus.

Sie nahmen sich Zeit, einige Minuten musste man noch warten.

»Was macht denn Kapitän Haff?«, fragte der Prinz unterdessen.

»Er war noch an Land, wollte noch warten, ob Sie ihm noch etwas zu sagen hätten!«, erklärte Falkenburg.

»Reite zurück, Franz, sage dem Kapitän, er soll sich an Bord begeben, aber mit der Jacht in Signalweite liegen bleiben, bis ich ihm sagen lasse, er könne abfahren«

Der Matrose schwenkte sein Kamel herum, als hätte er Zeit seines Lebens im Kamelsattel gesessen, und trabte in die Schlucht hinein.

Die drei Reiter waren herangekommen, zügelten nur wenige Schritte vor jenen ihre edlen Rosse. Die beiden Ritter waren mit Schwert und Lanze bewaffnet, auf dem Rücken trugen sie Bogen und Pfeilköcher, und zumal bei solch altertümlicher Bewaffnung gehörte doch ziemlicher Mut dazu, sich einer starken Reitertruppe, die mit Gewehren und Revolvern ausgerüstet war, so weit zu nähern.

»Wer seid Ihr, was macht Ihr hier?«, fragte der im Burnus, der keine Waffen zeigte, ein schon älterer Araber.

»Wir haben einen Ritt an die einsame Küste gemacht!«, entgegnete der Prinz. »Bist Du der Scheik dieser Karihaddsch?«

»Ich bin es, Jussuf ben Laman, Scheik der Ardis!«, entgegnete der Alte, der also selbst seinen Namen nennen durfte, was nur den anderen verboten war, wie diese eben überhaupt über nichts sprechen durften, was die heilige Karawane betraf.

Der Scheik sollte bald noch viel mehr Auskünfte geben.

Außerdem hatte der Prinz auch schon bei dem vorigen Sprecher einen besonderen arabischen Dialekt herausgehört, was sich jetzt bei diesem Manne hier wiederholte.

»Wohnen die Ardis nicht in Tripolis?«

»Du sagst es, wir kommen von Tripolis. Was ist das nun für ein Weib, das bei uns Zuflucht gesucht hat?«

»Sie gehört zu uns, ist von uns entflohen.«

Der Alte musterte scharf die ganze Truppe.

»Bist Du der Scheik dieser Leute?«

»Ja, ich bin ihr Anführer.«

»Ich sehe bei Dir ganz fremde Männer, wie ich solche noch nie erblickt.«

»Hast Du schon von Merikans gehört?«

»Ich habe. Sie wohnen nach Sonnenuntergang in einem Lande, das durch das große Meer von uns getrennt ist.«

»Dies hier sind solche Merikans.«

»Es gibt dort weiße und rote Menschen.«

»Du siehst beide Farben hier vor Dir.«

»Auch jenes Weib hat eine rote Haut, aber wir glauben, das ist nur gefärbt.«

O weh! Es wurde immer schwieriger, sich mit diesen Arabern zu verständigen!

»Was hat das Weib gesagt?«, versuchte der Prinz zu forschen.

»Wir glauben, sie ist von Sinnen. Sie weiß gar nicht, wo sie sich befindet.«

»Ja, sie ist ohne unser Wissen aus einem tiefen Schlafe erwacht, und während dieses Schlafes ist sie über das Meer gebracht worden.«

»Ihr habt sie künstlich in diesen Schlaf versetzt?«

Der Prinz hielt es für das Beste, diese Frage zu bejahen.

»Wir mussten es tun, wir...«

»Das geht mich nichts an!«, wurde er sofort unterbrochen. »Das fremde Weib ist zu uns gekommen, als wir vorhin dort zwischen den Felsen lagerten, erst schwatzte es in einer Sprache, die niemand von uns verstand, die wir aber für die Sprache der Anglisis hielten. dann redete es Französisch, was mehrere von uns verstanden.«

»Und was sagte sie?«

»Sie würde von Feinden gefangen gehalten, sie sei entflohen, sie bat uns um Schutz.«

»Und was tatest Du?«

»Ich konnte überhaupt nichts Anderes tun, als was mir die Gesetze der Karihaddsch vorschreiben. Die Wächter hatten sie durchgelassen, sie zu mir gebracht. Denn es war ein Weib, kein Mann. Und wer das Lager der Karihaddsch betritt, darf es nicht wieder verlassen, muss mit der Karihaddsch ziehen.«

»Und was ist ihr Los? Sei offen, Scheik!«

»Sie wird in Khartum als Sklavin verkauft.«

»Khartum ist Euer Ziel?«

»Ja. Der Teppich ist für die Moschee el Manallah bestimmt.«

Khartum liegt hoch oben oder vielmehr tief unten in Oberägypten, in Kordofan, war mehr als 300 geografische Meilen von hier entfernt, nur in der Luftlinie, die vielen und zum Teil ungeheuren Bogen des Nils, dem die Karawane doch natürlich folgte, nicht mitgerechnet!

Die Manallah-Moschee ist einer der heiligsten Wallfahrtsorte in Ägypten.

»Sie ist eine Christin, eine Witwe, ist Mutter.«

»Ich weiß es. Aber das Weib, welches sich absichtlich oder zufällig der Karihaddsch beigesellt und aufgenommen wird, ist die Sklavin derselben und muss als solche am Ziele zu Ehren des Teppichs verkauft werden, und wenn es auch die Tochter des Padischahs wäre. Es geht nicht anders.«

Der Scheik bedauerte offenbar, dass er das Weib aufgenommen hatte, immer mehr drückte es sich in seiner Sprechweise aus, und jetzt sagte er es ganz direkt:

»Es tut mir leid, dass es so gekommen ist. Hätte ich das gewusst, was ich jetzt weiß, so würde ich das Weib nicht aufgenommen haben. Noch war zuerst Zeit dazu, es zurückzuweisen.«

»Weshalb tut es Dir leid?«

»Weil ich Dich kenne.«

»Wie, Du kennst mich?!«

»Du bist in Deiner Heimat ein mächtiger Mann, ein Emir, und Du bist als gerechter Mann bekannt.«

»Wer hat Dir von mir erzählt?«

»Ein Karwanbaschi, der uns als Führer dient. Er hat Dich und Deine Leute erkannt.«

Vielleicht einer jener Salzschmuggler und Wüstenräuber, mit denen sie im Kampfe gelegen und der trotz alledem nichts Schlechtes von ihnen erzählen konnte, der unterdessen von dem Prinzen nur noch Besseres erfahren hatte.

»Und jetzt«, fuhr der Scheik fort, »hat das Weib auch Dich gesehen, und dann den Jüngling dort, und sie sagt, es sei ihr Sohn. Ist er es?«

»Es ist ihr Sohn.«

»Und das Weib ist nicht so sinnlos, wie wir erst annahmen. Jetzt will sie zu Euch, zu Dir und ihrem Sohne. Aber nun kann ich sie nicht mehr fortlassen.«

»Gibt es denn kein Mittel, edler Scheik, dass Du sie uns auslieferst?«

»Nein. Aber wiederbekommen kannst Du sie doch.«

»Auf welche Weise?«

»Einfach indem Du mit uns nach Khartum ziehst und sie kaufst, den höchsten Preis bietest.«

Der Prinz überlegte, nicht merkend, wie seine Cowboys ungeduldig wurden.

»Oder ich kann noch ein Übriges tun, was mir eigentlich gar nicht erlaubt ist!«, fuhr der Scheik fort. »Denn ich kenne Dich, ich habe viel Gutes und Schönes von Dir gehört und möchte Dir gern behilflich sein. Ich will in Khartum einen Vertrauensmann bestimmen, der für Dich auf sie bietet, und auf der Rückreise bringe ich sie Dir nach Kairo, Du ersetzest das Kaufgeld.«

Zweifellos meinte es der Scheik ganz ehrlich. Er bedauerte von ganzem Herzen dieses Vorkommnis. Wie sehr er seinerseits dem Prinzen traute, das bewies er auch dadurch, dass er mit seinen beiden Begleitern so sorglos zu der bewaffneten Truppe gekommen war, ohne erst ein Friedenszeichen zu schwingen. Jetzt wurde dieses sein Verhalten erklärt.

»Was schwatzt der Kerl da eigentlich?«, rief jetzt der alte Stierkämpfer ungeduldig.

Es waren ja vielleicht nur Kapitän Falkenburg und Ingenieur Hartung, die diese arabisch geführte Unterhaltung verstanden hatten.

Kurz verdolmetschte der Prinz.

»Ich denke, solche Teppichmenschen fordern jeden zum Zweikampfe heraus, und wenn man sie besiegt, gehört einem der Teppich und alle die Mädels!«, sagte immer noch Don Juan, fast ein Greis schon, der aber noch ganz und gar zu dieser Cowboybande passte.

»Es ist wenigstens eine uralte Sitte, dieser Scheik hier aber scheint sehr tolerant zu sein und möchte solche Zweikämpfe vermeiden, was er schließlich machen kann. Er ist der Allmächtige.«

»Was sagt Dein Mann?«, fragte der Scheik.

»Würden Deine Leute mit uns kämpfen?«

Da plötzlich flammten die Augen der beiden gepanzerten Beduinen, die bisher finster und fast regungslos im Sattel gesessen, feurig auf, ihre Pferde bäumten sich unter einem unwillkürlichen Schenkeldruck — das ruhige Gesicht des alten Scheiks aber nahm ebenso plötzlich einen missmutigen Ausdruck an.

»Du kennst die Gesetze einer Karihaddsch, Emir. Ich wollte solche unnütze Zweikämpfe vermeiden. Ich hatte geschworen — und es ist überhaupt meine Pflicht — mein Bestes zu tun, um die mir anvertrauten Krieger heil hin und her zu führen, aber... hüte Dich, Emir, diese heiligen Krieger zum Zweikampf herauszufordern!«

»Nicht ich bin es, sondern meine Leute sind es, die den Zweikampf fordern!«, entgegnete der Prinz.

Denn er wusste schon, dass es ganz unmöglich war, seine weißen und roten Cowboys jetzt noch von solch einem Zweikampf zurückzuhalten. Die brannten danach, diese Gelegenheit zu benutzen, um sich einmal mit solchen Beduinen zu messen — Amerika gegen Afrika! Es galt ja auch noch den Tod ihrer Kameraden zu rächen, wobei es auf die Personen, auf die Gegner gar nicht ankam, wenn es nur Beduinen, Araber waren.

»Wenn Du darauf bestehst — Du kannst es haben.«

»Ich bestehe darauf.«

»Wollt Ihr für den Teppich kämpfen?«

»Was sind die Bedingungen in diesem Falle?«

»Dann müsste der letzte von uns fallen, ehe er Euch gehört, und die Jungfrauen dazu.«

»Nur um jenes Weib soll es gehen.«

»Dann habe ich besondere Bestimmungen zu machen.«

»Und was sind das für welche?«

»Wie viele seid Ihr?«

Es waren dreizehn Cowboys und der Prinz, dazu noch acht, welche vom Schiff gekommen waren, darunter auch Fred.

Denn dass dieser, an Gestalt schon ziemlich ein Jüngling, sich nicht ausschließen konnte, das war ganz selbstverständlich. Oder man wäre doch nicht unter Beduinen gewesen. Höchstens ein Krüppel wäre ausgeschlossen worden. Sonst aber — entweder, oder — das wusste der Prinz!

»So werden sich Euch zweiundzwanzig Mann gegenüber stellen.«

»Immer ein Zweikampf Mann gegen Mann?«

»Du sagst es.«

»Wer bestimmt die Gegner?«

»Das Los, die schwarze Bohne.«

»Was für Waffen?«

»Schwert, Streitaxt, Streitkolben, Bogen und Pfeil und alles Andere, was jeder will — nur Feuerwaffen nicht. Du scheinst doch die Gesetze der Karihaddsch zu kennen.«

»Ich kenne sie. Und wer bestimmt diese Waffen?«

»Jeder wählt die seinen. Die schwarze Bohne entscheidet, welche gebraucht werden.«

»Wie wird gekämpft — zu Pferd oder zu Fuß?«

Der Scheik musterte die fremden Pferde, die sich von der Seereise zwar längst erholt hatten, aber im Vergleich zu den prächtigen Wüstenrossen doch noch immer einen geradezu kläglichen Eindruck machten, und er konnte ein mitleidiges Lächeln nicht unterdrücken.

»Wohl nur zu Fuß.«

»Weshalb nicht auch zu Pferde?«

»Wie Du bestimmst!«, musste er jetzt sagen.

»Auch hierüber soll das Los entscheiden?«

»Gewiss.«

»Und was ist das Los des Besiegten?«

»Der Tod!«, war die einfache Antwort.

»Wenn wir ihn aber nur kampfunfähig machen?«

»So tötet Ihr ihn.«

»Das tun wir aber nicht.«

»So ist er Euer Sklave, oder lasst ihn in der Wüste verschmachten. Was kümmert das uns?«

»Und die Sieger?«

»Kämpfen immer wieder gegeneinander, wie sie das Los zusammen bestimmt.«

»Und was ist das Ende des ganzen Kampfes?«

»Dem letzten Überlebenden gehört das Weib, entweder Eurer oder unserer Partei.«

»Wo soll der Kampf stattfinden?«

»Dort in jenem Talkessel.«

Der Scheik hatte nach der Schlucht gedeutet, aus der die Karawane herausgekommen.

»Wann soll es beginnen?«

»In einer Stunde. Ist es Dir recht?«

Der Prinz blickte nach seiner Uhr, die Araber nach ihren Schatten. Es war gleich Mittag.

»Einverstanden! Ist sonst noch etwas auszumachen?«

»Ich wüsste nicht. Du gestattest doch, dass die unbeteiligten Männer und die Jungfrauen zuschauen?«

»Gewiss, warum nicht.«

»So können wir gehen?«

»In einer Stunde sehen wir uns wieder.«

Die drei Reiter wandten sich und jagten jetzt in voller Karriere zurück.

— • —

36. Kapitel
Die Zweikämpfe und wodurch sie unterbrochen werden

Originalseiten 867 — 901

Das erste war, dass der Prinz sein Tüchlein zog, um die großen Tropfen abzuwischen, die ihm auf der Stirn perlten. »Ich konnte nicht anders«, sagte er leise, ohne ein »Gott helfe mir, amen«, hinzuzusetzen.

Er blickte dabei nach Fred.

Die Cowboys nahmen die Sache ganz gleichmütig auf, das heißt sie zwangen sich dazu, darin waren auch die Blassgesichter so halb und halb Indianer. Es wäre unpassend für wahre Männer gewesen, seiner triumphierenden Freude jetzt Ausdruck zu geben.

Und so verhielten sich nun auch die früheren Begleiter des Prinzen, seine ursprüngliche Schiffsmannschaft, wenigstens lauter Seeleute.

Anders Fred. Der nun bald vierzehnjährige Junge, aber für sein Alter ungemein groß und kräftig entwickelt, warf, im Sattel seines dürren Präriegaules sitzend, jauchzend seine Büchse in die Luft und fing sie wieder auf.

Es sagte dem Prinzen genug, musste ihn beruhigen, alle etwaigen Selbstvorwürfe vernichten.

Er hatte nicht anders handeln können. Es war rein unmöglich gewesen, diesen Knaben auszuschließen, der noch immer das Hinterwäldlerblut in den Adern hatte. Die Schulbildung, die er unterdessen genossen, hatte daran nichts ändern können.

Der Prinz hätte ihn vielleicht zuvor an Bord oder irgendwo anders hin schicken können.

Der Junge hätte ihn später nicht mehr angesehen, hätte ihn fernerhin gehasst!

Und dasselbe galt überhaupt von allen, die hier anwesend waren, ohne jede Ausnahme.

»Na, Jungens, meine Herren — da wollen wir uns gleich auf den Kampfplatz begeben und uns dort erst noch durch einen kleinen Imbiss stärken.

Zuvor möchte ich aber doch noch ein ernstes Wort sagen.

Wenn die auch als Führer einen jener Karwanbaschis haben, die uns schon kennen lernten, und der Mann hat von uns erzählt, so haben die ja gar keine Ahnung, was die für Gegner bekommen werden, zu Fuß wie auf unseren elenden Gäulen.

Hinwiederum dürfen wir auch nicht diese arabischen Gegner unterschätzen.

Gerade mit diesen Begleitern einer Karihaddsch hat es ja seine eigene Bewandtnis.

Ich habe Euch vorhin erzählt, wie solch ein Teppich in vielen Jahren gefertigt wird, was hierzu erst für Vorbereitungen nötig sind.

Wie aber die Schafe und die Teppichknüpferinnen ausgewählt werden, so werden auch die Männer, welche die Karawane begleiten, sorgsam ausgesucht und in langen Jahren für diesen Wüstenzug vorbereitet.

Die besten Jünglinge und jungen Männer müssen sich unausgesetzt in Waffen aller Art üben.

Es wird eben die mittelalterliche Ritterzeit wieder hervorgeholt, es sollen alte Sarazenen sein, und als solche werden sie ausgebildet, um eben solche Zweikämpfe bestehen zu können.

Ich kenne Euch ja, ich brauche um Euch keine Sorge zu haben, aber aufmerksam muss ich Euch hierauf doch machen.

Dass die ersten, welche das Los bestimmt, die Sache nicht etwa gar zu sehr auf die leichte Achsel nehmen.

Mehr habe ich Euch nicht zu sagen.«

Der Zug setzte sich an der Felswand entlang in Bewegung. Auch der nach dem Schiffe abgeschickte Matrose war schon längst wieder zurückgekommen.

Um die Jacht über diesen neuen Fall zu benachrichtigen, dazu war nun noch Zeit genug.

»Aber ich möchte mit Ihnen noch einmal sprechen, Prinz«, sagte Falkenburg leise, sein Kamel an das Pferd des Prinzen drängend.

»Was?«

»Ich habe ja keine Sorge für die unsrigen. Wenn man da überhaupt so etwas wie Sorge haben darf, nachdem man sich nun einmal einverstanden erklärt hat.

Auch von dem kleinen Fred glaube ich schon, dass er seinen Mann stehen wird.

Aber der da, Ihr spezieller Freund?«

Dabei hatte Falkenburg eine Kopfbewegung nach dem Kamel gemacht, auf dem Baron Walten saß.

Und das war nun freilich kein besonders heldenhafter Anblick. Wie das kleine, hagere Männchen, die große Hornbrille auf der Nase, mit seinem nichtssagenden, sogar etwas stupiden Gesicht auf dem gewaltigen Tiere hockte.

Aber der Prinz hatte nur ein Lächeln für diesem besorgten Gedanken.

»Mein lieber Falkenburg. Da sieht man wieder einmal, wie man sich irren kann, wenn man einen Menschen nur nach seinem Äußeren beurteilen will.

Allerdings gebe ich zu, dass hier einmal eine ganz gewaltige Ausnahme vorliegt.

So hat die Natur einen Menschenkenner noch selten getäuscht.

Ich habe Ihnen über meinen Freund Walten bisher nichts anderes erzählt, als dass er der kundigste Irrenarzt und auch noch in manch anderer Hinsicht eine Leuchte der Wissenschaft ist.

Über das andere zu sprechen, darüber hatte ich bisher noch keine Ursache.

So erfahren Sie jetzt, dass dieses spiebrige Männchen in unserem akademischen Turnverein der Vorturner gewesen ist, und zwar ein Turner, der wahrscheinlich alle Meisterschaftstitel der Welt erhalten könnte, wenn es seine ungeheure Bescheidenheit erlaubte, sich an solchen öffentlichen Wettkämpfen zu beteiligen, und dasselbe gilt von seiner Fechtkunst. Den möchte ich sehen, der dem Baron Walten auf Säbel, Degen, Florett oder Rapier stand hält, und schließlich erwähne ich noch, dass dieser vor Bescheidenheit ersterbende Jüngling den Teufel im Leibe hat, es muss nur einmal drauf ankommen.

Also, mein lieber Falkenburg, das ist gerade derjenige, um den Sie die geringste Sorge zu haben brauchen.«

So hatte der Prinz lächelnd gesprochen, und nun ist es auch erklärt, wie der kleine, so schwächlich und sogar krankhaft aussehende Assistenzarzt, dem Professor Smart riet, doch etwas Sport zu treiben, aus dem Fenster der ersten Etage auf das Straßenpflaster hinabspringen konnte, so wie ein anderer vom Stuhle aufsteht.

Sie waren in die Schlucht eingebogen, und da erlebten sie auch schon die Überraschung.

Die enge Schlucht führte fast sofort in einen kreisrunden Kessel von ungefähr 100 Meter Durchmesser, an den sonst glatten Felswänden zogen sich in fünffacher Reihe, immer drei Meter übereinander, Galerien entlang, zu denen Treppen hinaufführten.

Also ein antiker Zirkus, dessen Form schon die Natur angegeben hatte, die Menschenhand hatte nur noch nachgeholfen!

Die alten Araber, die Mauren, haben trotz ihrer Baukunst und ihrer früheren Liebe zu Sport und körperlichen Übungen niemals solche Zirkusse angelegt. Wohl aber die Römer und wahrscheinlich auch die Karthager überall dort, wo sie Kolonien gründeten.

Wer weiß, wie viele solcher Zirkusse es noch gibt, von denen die Welt vielleicht niemals etwas erfahren wird.

Nun war es zweifellos, dass auch hier in der Nähe einst eine blühende, jedenfalls eine große Stadt gestanden hatte, deren Ruinen unter dem Sande den Schlaf der Ewigkeit schlummerten.

Die Spuren in dem feinen Sande, der den Boden bedeckte, verrieten, dass die Karawane hier schon gelagert hatte, mit aufgeschlagenen Zelten.

Wie man später erfuhr, war hier beschlossen worden, eine längere Rast zu halten, bis morgen früh, und da war es begreiflich, dass die Karawane diesen so leicht erkenntlichen Zirkus verlassen hatte, um das Lager weiter in die Wüste hinaus zu schieben.

Die Araber lieben nicht solche Erinnerungen aus alter, entschwundener Zeit. Sie glauben an Geister, die in der Nacht lebendig werden. Also am Tage machen sie sich nicht viel daraus, durch solche alte Ruinen und Baulichkeiten zu streifen, aber in der Nacht wollen sie nichts davon wissen. Der Muselmann muss seine Seele vor Geistern bewahren.

Die Angekommenen stiegen auf den Treppen zu den Galerien empor. Überall ging es noch tief in den Felsen hinein.

Aber zur näheren Untersuchung hatte man jetzt keine Zeit.

Sie lagerten im Hintergrunde der Arena, wo aber wieder eine Schlucht hinausführte, die auch sofort ein Cowboy benutzte, um dem Kapitän Haff eine Depesche des Prinzen zu bringen.

Sie aßen und tranken und fütterten die Tiere, wenn auch die Pferde nicht allzu reichlich. Müde fühlte sich nach der letzten Wüstenreise niemand, denn nicht etwa, dass sie die ganze Nacht geritten wären. So weit war Kairo nicht entfernt. Sie hatten in der Wüste eine ausgiebige Nachtruhe gehalten, die Pferde waren noch fähig, ihre ganze Kraft zu entwickeln, die Menschen erst recht.

Da kamen sie schon, mehr als die Hälfte der Männer, die man vorhin bei der Karawane gezählt hatte, erstiegen, soweit sie zu Fuß gekommen, die Treppen, und dasselbe taten die mehr als hundert Weiber, sämtliche, und nahmen auf den Steinbänken der untersten Galerie Platz.

War auch Isabel unter ihnen? Man konnte es nicht wissen. Auch sie konnte solch einen weiten, schwarzen Kaftan tragen und darunter vielleicht ja die Hände gebunden haben, und zwischen den Weibern befanden sich auch Männer.

Und wenn sie etwa noch einen Knebel im Mund hatte, so konnte sie sich ja auch nicht durch Rufe bemerkbar machen. Oder sie war vielleicht im Lager geblieben, denn den kostbaren Teppich hatte man natürlich nicht allein gelassen.

Als die Zuschauer sich oben gruppiert hatten, hatten unten die Kämpfer schon die letzten Bestimmungen getroffen.

Zweiundzwanzig Beduinen waren es, die, jeder neben seinem Pferde stehend, ihre Burnusse ablegten, unter denen sie nur die übliche kurze Hose trugen, der Oberkörper war bereits nackt, und man konnte es der Gegenpartei nicht verdenken, wenn sie die besten Kämpfer ausgesucht hatte, was sich auch schon in den sehnigen, wenn nicht athletischen Gliedern ausdrückte.

Unterdessen brachten andere eine Menge oder fast Unmenge von Schwertern, Streitäxten, Kriegskeulen und anderen mittelalterlichen Waffen herbei, unter denen dann auch die amerikanischen Gegner aussuchen konnten, vorausgesetzt, dass das Los nicht anders bestimmte.

Das erste Los wurde gezogen, eine schwarze Bohne unter einundzwanzig weißen. Wie es geschah, wollen wir nicht weiter schildern. Jedenfalls ging es ganz ehrlich zu.

Das Schicksal verteilte gleich im Anfang sehr ungerecht, aber zugunsten Amerikas.

Ein schlanker, schmächtiger Jüngling war bestimmt, gegen den Cowboy Sam zu kämpfen, ein bärenstarker Kerl von riesenhaften Umrissen.

Sam wurde ganz verlegen, als er den gelben Knaben musterte.

»Was soll ich denn mit dem? Den mag man dort dem Jungen überlassen, dem Fred.«

Er hatte wohl vergessen, dass jetzt erst das Los denjenigen zu bestimmen hatte, der die Waffen zu wählen hatte, und das konnten ja Bogen und Pfeil sein.

»Bala!«, sagte der arabische Jüngling.

Im Augenblick wusste auch der Prinz nicht, obgleich er doch das Arabische wie seine Muttersprache beherrschte, was das sei, Bala.

Obgleich es doch für jeden, der in der Geografie und in der Altertumsgeschichte bewandert ist, so nahe liegt.

Die Inselgruppe der Balearen haben den alten Römern und Karthagern immer die besten Schleuderer geliefert. In ihrer Sprache hieß die Schleuder Bala, Balearen sind die Schleuderinseln.

Der braune Jüngling zeigte sie, die Waffe, mit der David den Goliath erschlug — ein schmiegsamer Hanfgurt von nicht ganz einem Meter Länge, an den Enden Ledergriffe, in der Mitte eine Art Höhlung aus festem Leder zur Aufnahme des Geschosses.

Solche Schleudern waren noch mehrere vorhanden, Sam konnte auswählen, desgleichen die runden Steine, die ihm präsentiert wurden, von Haselnussgröße bis zu Billardkugeln, ganz nach Belieben.

Es war ein böses Omen, dass der Jüngling die Schleuder gewählt hatte — David gegen Goliath, und wer war der Sieger? — Und noch böser war es, dass der riesenhafte Sam jetzt so ein dummes Gesicht machte und sich in den Haaren kratzte, als er die Ledergurte betrachtete.

»Was soll ich denn mit so einem Dinge machen?«

Er hatte gar keine Ahnung, wie eine Schleuder zu handhaben war!

Aber das half nun alles nichts — vorwärts!

So lange der Jüngling Schritte abmaß und Striche im Sande zog, konnte Sam probieren, länger nicht. Er vermochte keinerlei Stein abzuschleudern, wie ihn der Prinz auch instruierte. Der es zuerst selber nicht fertig brachte.

Zwei Striche waren im Sande gezogen, zwanzig Schritte voneinander entfernt.

Auf der einen Seite stand der Araber, auf der anderen der Cowboy — so konnten sie sich nach Belieben gegenseitig bombardieren, nur die Striche durften sie nicht überschreiten.

»Wer so stürzt, dass er mit einer Hand den Boden berührt, ist besiegt!«, erklärte der Scheik. »Einverstanden?«

Der Prinz verdolmetschte es dem Cowboy.

»Weshalb soll man denn stürzen?«, murmelte der ganz kopfscheu, jetzt die Steine betrachtend, die ihm gegeben worden.

Es half nichts, er musste hinter seinen Strich treten, er sollte sein Bestes versuchen.

Der Prinz ahnte schon Schlimmes. Aber es sollte noch fürchterlicher kommen, als er gefürchtet hatte.

Der riesenhafte Cowboy fingerte noch immer an dem Gurt herum, als der braune David schon seine Schleuder blitzschnell im Kreise rotieren ließ.

»Sam, nimm Dich in acht, Du...«

Eine etwaige Warnung des Prinzen kam zu spät.

Der arabische Jüngling ließ die eine Lederschlinge los, der Gurt schnellte in die Länge, etwas Weißes sauste durch die Luft, wohin der Stein flog, war nicht mehr zu sehen — aber im nächsten Moment griff sich der Cowboy gegen die Stirn, taumelte, griff mit beiden Händen um sich, stürzte zu Boden...


Illustration

Nicht etwa, dass er tot war. Er wäre wahrscheinlich schnell wieder aufgesprungen.

Aber noch schneller war der arabische Jüngling.

Mit einem Triumphgeschrei sprang er mit langen Sätzen herbei, riss den Dolch aus dem Gürtel und stieß ihn dem Cowboy ins Herz!

Das war viel, viel schneller geschehen, als hier geschildert werden konnte.

Zu Statuen erstarrt standen die Amerikaner da, auf ihren Kameraden blickend, der nur noch einmal gezuckt hatte, um dann seine Seele auszuhauchen.

Oben aber auf der Galerie tobten die Zuschauer. Ruhig waren die Weiber überhaupt nie gewesen. Verschleiert waren sie wohl, sonst aber machten sie von der Freiheit, die man den mohammedanischen Weibern auf der Reise erlaubt, wobei auch alle Liebschaften und die späteren Heiraten zustande kommen, den ausgiebigsten Gebrauch.

Schon immer war dort oben auf der Galerie ein Schwatzen und eine Unruhe gewesen, und jetzt ging das quiekende Jauchzen und Händeklatschen ob des Sieges ihres afrikanischen Bruders über den »Merikani« los.

Ja, der Jüngling hatte ganz ehrlich gesiegt, und dass er dem Gestürzten den Dolch ins Herz stieß, das war vorher ebenfalls abgemacht gewesen.

Also die Cowboys blieben still. Gleichmütig trugen sie ihren toten Kameraden davon.

Der nächste von ihnen war Gilli der Gaucho, den das Los erwählte. Also ein Cowboy der argentinischen Pampas, ein dürrer Gesell, nur aus Knochen und Sehnen bestehend, und diesmal konnte der die Waffen bestimmen.

Obgleich man von vornherein gewusst hatte, was er wählen würde, war doch eine große Überraschung dabei, deren man sich aber eben erst nachträglich bewusst wurde.

Vorhin der arabische Jüngling hatte »Bala« gesagt, ein auch für den Prinzen zuerst ganz fremdes Wort, weil er es noch nicht gehört und nicht an die Balearen gedacht hatte, bis er die altertümliche Schleuder gesehen.

»Bola!«, sagte jetzt der argentinische Gaucho.

Was dem nordamerikanischen Cowboy das Lasso ist, das ist dem südamerikanischen Gaucho die Bola.

Es gibt davon zwei Arten. Die eine besteht aus drei Holzkugeln von der Größe von Billardbällen, jede ist an einem meterlangen. Riemen befestigt, die in der eigentlichen Wurfleine zusammenlaufen. Der Gaucho nimmt die eine Kugel in die Hand, lässt die beiden anderen um den Kopf wirbeln und schleudert alle drei nach dem Tiere, das er fangen will. Die drei Kugeln verschlingen sich um die Hörner des Rindes, um das Hinterbein des Pferdes, ohne das Tier zu verletzen.

Die zweite Art der Bola, die eigentliche, während jene dreifache speziell Bolariata genannt wird, besteht nur aus einer einzigen, kleineren Kugel aus Eisen oder Blei, ist nur an einem kurzen Riemen befestigt, der beim Abschleudern des Geschosses natürlich freigegeben wird. Es ist also ein eigentliches Schleudergeschoss.

Das spanische Wort »bola« bedeutet nun allerdings nichts anderes als »Kugel«. Aber es ist doch ganz merkwürdig, dass die altertümliche Gurtschleuder »bala« hieß, die spanisch-amerikanische Kugelschleuder »bola«.

Und weiter war das Merkwürdige dabei, dass das Schicksal als zweiten Mann, der die Waffen zu bestimmen hatte, einen Gaucho wählte, der ganz selbstverständlich eine Wurfschleuder gebrauchen wollte. Nachdem schon der erste Gang durch eine Schleuder entschieden worden war.

Der arabische Gegner, den das Los wählte, war ein starker Mann. Er wollte von der Bola, die ihm der Gaucho bot, der noch einige solcher Riemenkugeln am Gürtel hängen hatte, nichts wissen, wollte sich einer Gurtschleuder bedienen.

Aber der Scheik selbst erklärte sich hiermit nicht einverstanden. Ganz gleiche Waffen! Also wohl oder übel musste der Araber solch eine Bola nehmen, mit der er jetzt gerade so viel oder wenig anzufangen wusste wie vorhin der Cowboy mit der Gurtschleuder.

»Zu Fuß oder zu Pferd?«

»Zu Fuß!«, entschied der Gaucho, der sonst unnötigerweise keinen Schritt zu Fuß machte, wenn er sich dabei eines Pferdes bedienen konnte.

»Die Striche mögen nur gezogen bleiben, wir stellen uns wieder dahinter.«

Beide hatten ihre Plätze eingenommen. Der Araber schlenkerte den Kugelriemen herum und schwatzte.

»Was schnattert der Kerl?«, fragte Gilli.

»Er weiß nicht, wie er das Ding handhaben soll!«, verdolmetschte der Prinz.

»Das werde ich ihm gleich vormachen.«

Und der Gaucho machte es ihm vor.

Viel rücksichtsvolle Belehrung kann man von solch einem argentinischen Rinder- und Pferdehirten freilich nicht verlangen.

Er wirbelte die Kugel aus Hartblei, so groß wie eine normale Kastanie, um den Kopf herum.

»Dies für Sam!«

Mit diesem Rufe ließ er den Riemen seiner Hand entfahren.

Wieder traf das Schleudergeschoss den Gegner mitten zwischen die Augen, wieder griff der mit beiden Händen in die Luft und stürzte nieder.

Diesmal aber eilte der Sieger nicht hin, um dem Gestürzten den Stahl ins Herz zu stoßen.

Ruhig blieb der Gaucho stehen, er war sich des Erfolgs sicher.

Die Araber eilten hin zu ihrem Kameraden und betrachteten staunend und mehr noch mit Grausen diesen Erfolg des Wurfgeschosses, einfach mit der Hand geschleudert.

Die kastaniengroße Kugel aus Hartblei hatte sich breitgedrückt wie ein Taler, saß noch zwischen den Augen, hatte den ganzen Schädel zerschmettert, gespalten, so wie eine reife Kokosnuss von einem derben Hammerschlage zertrümmert wird.

Der Tod musste augenblicklich eingetreten sein.

Diese Araber betrugen sich ganz anders als die Amerikaner.

Vorhin hatten sie über den Sieg des Ihrigen wie oben die Weiber gejubelt, jetzt lamentierten sie ebenso wie die Weiber auf der Galerie.

Der dritte auf amerikanischer Seite war Don Juan der Toreador, und wieder hatte er die Waffe zu bestimmen.

»Gar keine Waffe! Wir beide sitzen zu Pferd, und wer den andern aus dem Sattel wirft, ohne ihn dabei anzufassen, dass er den Boden berührt, der hat gesiegt, kann ihn töten.«

»Ohne ihn dabei anzufassen?«, fragte der Prinz.

»Jawohl, ohne den Gegner nur mit der Fingerspitze zu berühren.«

»Wie denn das?«

»Das werdet Ihr schon sehen!«, lachte der alte Mexikaner.

Es wurde dem Scheik verdolmetscht, der stellte dieselben verwunderten Fragen wie der Prinz.

»Wer den Gegner vom Pferde wirft, ohne ihn dabei angefasst zu haben, so dass er den Boden berührt, der hat gesiegt!«, beharrte der Stierkämpfer.

»Mit Pfeil und Bogen ihn herabschießen?«

»Ohne jede Waffe!«

Weiter wollte Don Juan nichts sagen, und wer von den Cowboys wusste, was ihr Kamerad vorhatte, verriet es doch nicht. Der Prinz selbst kam nicht gleich darauf.

Nun, die Bedingungen waren ausgemacht, der erwählte Araber bestieg sein edles Ross, der Mexikaner seinen dürren Gaul.

»Na nun mal los! Wer den anderen herabwirft, ohne ihn dabei anzufassen!«

Die Beduinen sind nicht etwa besonders gute Reiter. Das heißt, sie leisten nicht das, was andere Reitervölker leisten können. Das Beduinenpferd hat ja die vorzüglichsten Eigenschaften, ist sehr schnell und ausdauernd, springt gut und klettert wie eine Gämse, folgt seinem Herrn wie ein Hund nach — das ist es ja aber gerade, weswegen der Beduine gar keine Gelegenheit hat, sich zu einem besonders geschickten Reiter auszubilden, der es etwa mit einem Cowboy oder einem Tataren oder Kosaken aufnehmen kann. Er braucht seine Pferde gar nicht erst zuzureiten, braucht sich nicht erst mit Wildlingen herumzubalgen. Dem jungen Beduinenrosse ist durch mehr als tausendjährige Kultur alles das, was man von ihm verlangt, schon in Fleisch und Blut übergegangen, willig lässt es sich für den ersten Ritt sofort zäumen und satteln, lässt den Reiter aufsteigen, das bisschen Dressur ist ihm dann sofort beigebracht. Natürlich ist er mit seinem Pferd verwachsen, aber das einzige, was man so an Kunststückchen sieht, ist, dass er es mitten in voller Karriere anhalten kann. Wozu auch nicht allzu viel gehört, da der Beduine wie alle wilden und halbwilden Völker auf Vorderhand reitet, während alle Europäer wie ihre Kavallerie — mit Ausnahme der amerikanischen — auf Hinterhand reiten, das heißt die Hinterbeine des Pferdes werden mehr unter den Leib gebracht, diese müssen die Last des Reiters abstützen, wodurch Pferd und Reiter auch ein besseres Aussehen bekommen. Wir sehen bei uns nur die Jockeys auf Vorderhand reiten.

Obgleich also der Beduine ein geborener Reiter ist, der sich nur im Sattel wohl fühlt — »auf dem Rücken der Pferde liegt das Paradies der Erde« — wird er doch in der eigentlichen Reitkunst von jedem europäischen Kavalleristen übertroffen, der vor seiner Dienstzeit noch gar kein Pferd bestiegen hat, in einigen Wochen oder Monaten vom Unteroffizier erst eingedrillt worden ist. Mit einem etwas störrischen Gaule weiß der Beduine gar nichts anzufangen, er kommt vielleicht gar nicht in den Sattel.

Übrigens sollte dieser Beduine hier gar nicht seine Reitkunst zu beweisen brauchen.

Der alte Mexikaner ritt auf seinem dürren Gaule in ganz engem Kreise nur immer um ihn herum, immer schneller und schneller, und der Beduine ließ sein edles Ross sich nur immer drehen, jenen beobachtend und dabei natürlich überlegend, wie der ihn wohl aus dem Sattel bringen wollte, ohne ihn dabei auch nur zu berühren.

Plötzlich machte Don Juan dasselbe Manöver, worin sich die Wüstenreiter auszeichnen. Mit einem Ruck stand plötzlich sein Gaul, die Vorderhufe tief im Sande vergrabend, und im nächsten Moment hatte es der Mexikaner auch noch zurückgeworfen.

Diese Bewegung hatte der Beduine nicht mitmachen können, weil er eben darauf nicht vorbereitet gewesen war.

So war der Stierfechter direkt hinter ihn gekommen, und mit einer blitzschnellen Bewegung, die man mit den Augen kaum verfolgen konnte, bückte er sich, packte den langen Schweif des Wüstenrosses, hatte ihn aber auch gleichzeitig zwischen den Hinterbeinen durchgesteckt, ein gewaltiger Ruck, und Ross und Reiter lagen am Boden.

Das Pferd wälzte sich und sprang sofort wieder auf, der Araber aber blieb liegen.

Gleichgültig, ob er von dem Pferde, das sich direkt über ihn weggewälzt hatte, so gequetscht worden war, dass er überhaupt nicht wieder aufstehen konnte.

Mit Gedankenschnelle war der alte Mexikaner aus dem Sattel und stieß ihm die Manschetta, das lange spanische Messer, das er am Gürtel hängen gehabt, ins Herz.

Schweigen herrschte auf der Galerie und hier unten in der Arena, alles war wie gelähmt.

Sie hatten etwas gesehen, was sie noch nicht gesehen, nicht für möglich gehalten hätten.

Und es sollte nicht zur Aussprache kommen, ob dies auch reglementmäßig gewesen war, der Mexikaner den Gegner wirklich nicht berührt hatte.

Diese Zweikämpfe sollten nicht fortgesetzt werden, es sollte etwas ganz anderes kommen.

Plötzlich entstand dort oben auf der Galerie eine Bewegung, überall schrien gellend die Weiber, desgleichen aber auch die unter ihnen verteilten Männer.

Man wusste erst gar nicht, was dort oben eigentlich los war.

Es musste ein Handgemenge stattfinden.

»Mahehhh, maheeehh!«, erklang es immer wieder gellend. »Hilfe, Hilfe!«

Da erkannte man endlich die Ursache.

Dort oben waren fremde Männer, ebenfalls in Beduinenburnusse gehüllt, sie schleppten die Weiber davon, die sie in aller Schnelligkeit packen konnten, und gegen deren männliche Beschützer wüteten sie mit Dolchen und kurzen Schwertern.

»Wüstenräuber — sie haben uns überfallen!«

Es war klar genug.

Aber doch nicht so klar, dass man gegen die Räuber vorgehen konnte.

Sechs Treppen waren vorhanden, aber diese konnten nicht erklommen werden, denn auf diesen drängten sich jetzt die Flüchtenden herab, besonders die Weiber.

Und da tauchten jetzt auch auf den oberen Galerien weiße Beduinengestalten auf, mit Gewehren bewaffnet, sie schossen unter die in der Arena Befindlichen.

»In die Wüste, in die Wüste, ins Lager!«

Aber es sollte nicht möglich sein, das Freie zu gewinnen.

Die ersten Araber, welche der Schlucht zueilten, die in die Wüste führte, wurden durch eine Salve zu Boden gestreckt, und man wusste gar nicht, wo diese abgefeuert worden war.

Da prallten die Nachfolgenden zurück, wandten sich der anderen Schlucht zu, die tiefer in das Gebirge hineinführte, nach der Richtung, wo sich die Küste befand.

Hier wieder dasselbe, die ersten wurden durch Schüsse zu Boden gestreckt, dazwischen aber wurde auch immer mitten unter die Menge gefeuert, einer der Karihaddschins nach dem andern sank tödlich getroffen oder schwer verwundet zu Boden. Die nur leicht Angeschossenen rannten natürlich weiter herum — ganz zwecklos.

»Hierher, hierher!«, schrie der Prinz.

Wo vor diesem mörderischen Feuer Schutz finden, das war natürlich sein erster Gedanke gewesen.

Da man an so etwas ja mit keinem Gedanken gedacht, hatte man sich vorher doch auch gar nicht nach solch einem Schutze umgesehen.

Einen anderen Ausweg als jene beiden Schluchten gab es in dem Kessel nicht, auch keine Nische, keine Kammer, keine Höhle in den unten ganz glatten Felswänden.

Wer wusste, wie einst in diesem ungedeckten Riesenzirkus die Vorstellungen arrangiert worden waren?

Vielleicht gab es ja auch hier unten geheime Felsentüren, aber die waren nicht zu sehen, und man konnte doch nicht jetzt nach ihnen suchen.

Dagegen hing auf der hinteren Seite die untere Galerie, die ja jedenfalls schon von der Natur geschaffen worden war, der Meißel hatte nur nachgeholfen, sehr weit über, und hier hatten die Amerikaner von vornherein ihren Standpunkt genommen, wo sie am besten vor der hochstehenden Sonne geschützt waren, wenn auch überall die untere Galerie Schatten spendete, so lange die Sonne so hoch stand.

Aber anderswo war man nicht vor den Kugeln geschützt, die von der unteren Galerie von allen Seiten abgefeuert wurden, nur hier an dieser einzigen Stelle war das der Fall.

Also die Amerikaner hatten ihren Standort gar nicht zu verändern brauchen, und Don Juan war sofort zu seinen Gefährten zurückgeeilt, als die Knallerei losging.

Die Araber dagegen hatten bisher noch gar keinen Schutz gesucht, sie wollten nur das Freie gewinnen, vor allen Dingen hinaus in die Wüste, in ihr Lager, zu ihrem heiligen Teppich, und nur das Salvenfeuer, das die ersten immer niederstreckte, hatte sie zurückgetrieben.

Jetzt erst eilten sie dorthin, wo die Amerikaner standen, ihre Rosse mitnehmend, desgleichen die Weiber und anderen Männer, welche die Treppen herabstürzten oder gleich herabsprangen, was freilich bei einer Höhe von fünf Metern etwas zu bedeuten hatte, jetzt drängten sich alle unter diesem großen Vorsprunge zusammen und waren vorläufig vor den Kugeln der rätselhaften Gegner geschützt.

Jetzt krachte des Prinzen kurze Doppelbüchse — der erste Schuss, der auf dieser Seite abgegeben wurde!

In dem fürchterlichen Tohuwabohu, das dort oben auf der Galerie herrschte, war ja gar nichts zu unterscheiden.

Ein allgemeines Ringen und Morden von Männern, die es auf die zeternden Weiber abgesehen hatten. Aber es waren ja hier wie da Männer in Beduinenburnussen, man konnte die Gegner ja gar nicht von einander unterscheiden! Nach dieser unteren Galerie durfte nicht geschossen werden.

Des Prinzen Büchsenkugel hatte einen Kopf durchlöchert, der auf der nächst höheren Galerie neben einem Gewehrlauf über die steinerne Brüstung gesehen hatte.

Noch einmal knallte sein Stutzen, jetzt richteten auch die Cowboys und alle anderen ihre Gewehre nach dort oben, wo sich die einzelnen Schützen zeigten — aber niemand kam mehr zum Schuss, plötzlich war dort oben alles wie ausgestorben.

Die letzten Weiber drängten sich auf den Treppen herab oder sprangen gleich von der Brüstung herunter, desgleichen die männlichen Araber, die unter ihnen verteilt gewesen waren — dann wurde es still.

Kein Schuss krachte mehr, niemand mehr zeigte sich auf den Galerien.

Dies alles hatte vielleicht nur fünf Minuten gewährt, man war noch gar nicht recht zur Besinnung gekommen.

Den Boden der Arena bedeckten wenigstens zwanzig Tote oder Schwerverwundete, den Sand mit ihrem Blute rötend, auch einige der edlen Wüstenrosse streckten alle viere von sich oder wälzten sich in ihren Schmerzen oder hinkten herum, und was von Menschen noch laufen konnte, das rannte jetzt nach der schützenden Galerieverdachung.

Unter diesen stand auch der alte Scheik, den linken Arm schlaff herabhängend. In der Schulter saß eine Kugel. Er wusste nichts davon. Er stand da, als ob er träume, konnte das fast Unmögliche nicht fassen.

Plötzlich aber kam Leben in ihn.

»Der Teppich, der heilige Teppich!«, heulte er auf und stürzte davon, der in die Wüste führenden Schlucht zu. Und alle Beduinen ihm nach.

Die Sorge um den heiligen Teppich, der doch nur unter schwacher Bedeckung zurückgelassen worden war, überwog jedes andere Bedenken, jetzt, nachdem sie nach dem Fürchterlichen einigermaßen wieder zur Besinnung gekommen waren.

Und sie alle erreichten jene Schlucht, verschwanden darin zu Pferde oder zu Fuß, wie sie davongestürzt waren.

Kein Schuss war mehr gefallen, während sie die Arena durcheilt hatten, kein Feind hinderte sie mehr daran, den Kessel zu verlassen, so wie es vorhin der Fall gewesen war.

»Vorwärts, jetzt hinauf auf die Galerie!«, rief der Prinz.

Nur einer konnte sich nicht anschließen, der Cowboy Jack, dem, zu weit nach vorn stehend, eine Kugel das rechte Schienbein zerschmettert hatte.

Er blieb bei den Pferden zurück, so wie die ungefähr fünfzig Weiber, die sich im Hintergrunde an der Felswand zusammendrängten.

Mehr als hundert waren es ursprünglich sicher gewesen, jetzt befanden sich hier unten also kaum noch die Hälfte.

Die anderen waren eben von den Räubern davon geschleppt worden, wohin, das musste erst ausgekundschaftet werden. Wenn man nicht annehmen wollte, dass die Fehlenden dort oben in ihrem Blute lagen.

Die Cowboys stürmten die nächste Treppe hinauf. Es war mehr Leichtsinn, eine Sorglosigkeit zu nennen als Tollkühnheit. Dass die durch die Arena eilenden Araber nicht mehr beschossen worden waren, bot ihnen keine Garantie, dass sie jetzt nicht von einem wohlgezielten Salvenfeuer empfangen wurden, das den letztem Mann niederstreckte. Anderseits musste es eben riskiert werden, es war der Krieg.

Doch kein Schuss fiel, kein Gegner zeigte sich. Die untere Galerie war wie ausgestorben. Und zwar im buchstäblichen Sinne des Wortes. Überall lagen Leichen von Beduinen in ihrem Blute, viele von Messerstichen ganz zerfetzt, und wer vielleicht doch noch gelebt hatte, der hatte zuletzt noch den Stahl ins Herz bekommen.

Die Überfallenen hatten sich und die Weiber tapfer verteidigt, mancher hatte noch den blutigen Dolch in der Faust. Waren auch Leichen der Gegner dazwischen? Man konnte es nicht so ohne Weiteres konstatieren, konnte die beiden Parteien ja nicht voneinander unterscheiden. Auf beiden Seiten hatte man weiße und braune Burnusse gesehen.

Aber die Vermutung lag nahe, dass die Räuber ihre toten und schwerverwundeten Kameraden mitgenommen hatten.

Diese Vermutung wurde zur Gewissheit, als der Prinz die Treppe zur nächsthöheren Galerie erstieg und an der betreffenden Stelle den Mann nicht fand, nach dem er geschossen. Denn den hatte er mitten zwischen die Augen getroffen, das wusste er bestimmt, oder er wollte sich niemals wieder auf seinen Stutzen verlassen.

Wie waren die Mordgesellen und Mädchenräuber auf die Galerie gekommen, und wohin waren sie wieder verschwunden?

Man brauchte nur die blutigen Spuren zu verfolgen, die in die Gänge hinein liefen, welche also hier und da auf die Galerien mündeten.

Mit brennenden Taschenlampen drang man ein, fand den ganzen Felsen ringsherum siebartig durchlöchert oder richtiger wie einen Ameisenhaufen.

Die Blutspuren führten immer tiefer hinein, bis sie in jedem Gange plötzlich irgendwo aufhörten. Dann stand man immer vor einer nackten Wand.

Also geheime Felsentüren!

Besonders Ingenieur Hartung strengte an solch einer Stelle seinen ganzen Scharfsinn an, um den Mechanismus zu finden, der die fugenlose Tür öffnete, wenn er diesen Scharfsinn auch mehr in seine tastenden Finger verlegte.

»Geben Sie sich keine Mühe, auf diese Weise, nur durch Probieren, werden Sie den Mechanismus nicht finden!«, sagte da der nähertretende Prinz.

»Weshalb nicht?«

»Weil ich weiß, wer die Räuber gewesen sind.«

»Sie wissen es?!«

»Ja. Ich habe etwas gefunden. Einer hat etwas verloren.«

»Was?«

Der Prinz zeigte einen Dolch. In dem schwarzen Ebenholzgriff war ein kleiner goldener Schlüssel eingelegt.

»Schlüsselbrüder!«, rief der Ingenieur überrascht.

»Ssst! Nicht so laut! Andere Ohren brauchen nicht zu hören, was wir wissen. Ja, Schlüsselbrüder. Wie sich die Assassinen jetzt nennen.«

»Sie haben auch noch hier einen unterirdischen Tunnel?«

»Zweifellos. Wie soll es anders sein. Und wenn wir nicht annehmen wollen, dass sie von vornherein beabsichtigt haben, diese Teppichkarawane hier zu überfallen, so haben sie eben diese günstige Gelegenheit zufällig erspäht und sie sich nicht entgehen lassen, um auf billige Weise in Besitz von schönen Jungfrauen zu kommen, und vielleicht haben sie es auch noch auf den kostbaren Teppich selbst...«

Ein heulendes Schreien von Stimmen, das draußen erscholl, unterbrach den Prinzen.

Die meisten der Beduinen kamen wieder in den Talkessel herein, an der Spitze der Scheik, der sich mit der Hand des gesunden Armes das spärliche Haar raufte, heulend und wimmernd und schreiend, und so lamentiere jeder für sich in seiner eigenen Tonart.

»Wehe, wehe, der heilige Teppich ist weg!«

Das war der Inhalt aller der Lamentationen.

Man wurde wirklich an eine Herde blökender Schafe und brüllender Kälber erinnert, die durchaus in den brennenden Stall zurück wollen. Dieser Vergleich war auch sonst ganz treffend, insofern als die Geschädigten sich jetzt wieder hier hereindrängten, wo sie sich zuerst verbrannt hatten.

Der Prinz begab sich schnell hinab. Nur mit größter Mühe konnte er von dem Scheik und anderen etwas erfahren; besser wäre es gewesen, er hätte sich gleich in das ausgestorbene Beduinenlager hinaus begeben, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen, wie er es dann tat.

Das Lager war unter Bewachung von ungefähr zwanzig Mann gelassen worden. Das genügte ja vollständig. Nahte eine Gefahr, so konnten die Gefährten aus der nahen Schlucht ja sofort geholt werden.

Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, so lange hatten die drei Zweikämpfe mit ihren Vorbereitungen in Anspruch genommen, als die davongegangenen Karihaddschins, also zweiundzwanzig Duellanten und gegen dreißig Mann Zuschauer, im Dauerlaufe aus dieser Schlucht wieder herauskamen, alle zu Fuß.

Weshalb rannten sie so? Weshalb hatten die Reiter ihre Pferde zurückgelassen?

Nun, man würde es ja sofort erfahren.

Aber die im Lager Zurückgebliebenen bekamen keine Auskunft zu hören, sondern nur etwas durch Dolche und kurze Schwerter zu fühlen.

Es waren eben nicht die Karihaddschin, sondern ganz fremde Menschen, nicht einmal lauter Araber. Der eine hatte einen blonden Schnurrbart gehabt.

Doch wie hatte man das vorher unterscheiden sollen?

Es ist eine verteufelte Geschichte mit diesen Beduinenburnussen, deren Kapuze man jederzeit, wenn nur die Sonne ein bisschen blendet, so bequem als Maske benutzen kann.

Als man erkannte, dass es ganz fremde Männer waren, hatten deren Dolche und Schwerter schon ihre Arbeit verrichtet. Die neugierigen Wächter hatten auch so hübsch zusammen gestanden.

Gerade als in dem Zirkus die ersten Schüsse krachten, waren die Räuber schon wieder abgerückt, in dieselbe Schlucht hinein, aus der sie gekommen, welche also alle die anderen benutzt hatten, die also in jenen Zirkus hineinführte, was natürlich wegen der späteren Verfolgung von größter Bedeutung war, nur leider in negativem Sinne.

Die Riesenwurst von fünfzehn Meter Länge, den Teppich, der auch ebenso breit war, also ein ganz kolossales Ding, hatten die Räuber mitgenommen, dergleichen einige besonders schöne Panzer und Rüstungen und Schwerter und andere altertümliche Waffen, und schließlich noch das fremde Weib, das sich in leichter, aber sicherer Fesselung in einem Zelte befunden hatte.

»Pferde und Hedjins konnten sie nicht mitnehmen, die Tiere gingen nicht durch die Tür, welche sie benutzen mussten. So hörte ich zwei Räuber auf Arabisch sagen. Die anderen redeten eine Sprache, die ich nicht verstand.« —

So hatte dem Scheik mit röchelnder Stimme einer der Wächter berichtet, bei dem der Dolch nicht ordentlich das Herz getroffen hatte. Jetzt aber war er auch schon stumm.

Dies alles hatte nun wieder der Prinz vom Scheik erfahren, mit größter Mühe.

»Wehe, wehe, der heilige Teppich ist uns geraubt!«

Der Prinz besichtigte mit einigen Begleitern das abgemordete Lager. Spuren waren also nicht zu verfolgen. Die Räuber hatten eben denselben Weg wie die Karihaddschins und die anderen benutzt, der Sandboden der Schlucht und weiter der Weg durch die Wüste bis zum Lager war ja so wie so ganz zertrampelt.

Wo waren nun diese Räuber herausgekommen und wieder verschwunden?

Nun, da befand sich eben auch in dieser Schlucht solch eine geheime Felsentür, nur zu niedrig, um Pferde oder gar Kamele auch nur mit geknickten Knien durchrutschen zu lassen.

Also während man da drin im Zirkus sich duelliert, gejubelt und lamentiert hatte, war hier in dichter Nähe der Überfall ausgeführt worden.

Man hatte nicht daran gedacht, in dieser Schlucht Wachen zu lassen, sonst wäre so etwas nicht möglich gewesen.

Jedenfalls war es ein unerhört freches Stückchen gewesen — oder aber auch ein unerhört kühnes.

Die Räuber hätten ja in dem Talkessel auch noch alle anderen Männer zusammenschießen oder sie verhungern lassen können, doch sie schienen es eilig gehabt zu haben — sie hatten sich mit der reichlichen Hälfte der jungen Weiber, die sie so in aller Schnelligkeit weggeschleppt, genügen lassen.

Der reine Raub der Sabinerinnen!

Und dazu noch der kostbare Teppich! Der auch ohne seinen ideellen, heiligen Wert einige hunderttausend Franken repräsentierte. —

Als der Prinz in den Felsenkessel zurückkehrte, hatte sich der Scheik unterdessen ausgeheult, war ganz gebrochen, kauerte am Boden und stierte vor sich hin, war aber in diesem Zustande doch leichter zum Sprechen zu bringen als vorhin.

»Was waren das wohl für Räuber?«

»Was weiß ich?«

»Schiiten?«

Schiiten und Sunniten — in diese beiden großem Hauptpartien spaltet sich der ganze Mohammedanismus. Weil der Prophet ohne männliche Nachkommen gestorben ist. Jede Partei erkennt einen andern für seinen Nachfolger an. Wer das gewesen ist, braucht hier nicht erörtert zu werden. Der Schiismus beherrscht besonders Persien.

Ja, sie hassen einander glühend, die Schiiten und Sunniten. Wo sie zusammenstoßen, wie an der kurdistanischen Grenze, da ist fortwährend Mord und Totschlag.

Aber einen heiligen Teppich, der einer Moschee geweiht ist, in der Allah und der Prophet Mohammed verehrt wird, entwendet keine Partei der anderen, so weit geht die Feindschaft denn doch nicht.

Das wusste der Prinz. Er wollte dem Scheik nur einmal auf den Zahn fühlen.

»Keine Schiiten.«

»Franken?«

»Was kümmert's mich.«

»Du musst doch nachforschen!«

»Wozu?«

»Na, um den Teppich wieder zu bekommen!«

»Ich habe ihn verloren. Wehe, wehe!«

»Ist der Teppich denn entweiht? Kann er nicht wieder geheiligt werden?«

»Er kann es. Aber ich darf die Räuber nicht verfolgen.«

Auch das wusste der Prinz.

Die Karihaddschins hatten sich den ihnen anvertrauten Teppich entwenden lassen, gleichgültig, ob durch List oder Gewalt.

Diese Karawanenmitglieder hier durften nicht einmal mehr den Spuren der Räuber folgen.

Weil sie überhaupt gar nicht mehr zu den lebenden Menschen gehörten.

Sie hatten nur noch an ihrer Schande zu tragen und diese abzubüßen als bettelnde Derwische.

Jetzt mussten sie sofort in ihre Heimat zurückkehren, unterwegs jedem ihnen Begegnenden ihre Schande erzählen.

Wer nun von dem Raube hörte, der konnte sich aufmachen und die Räuber verfolgen.

Bekam er den Teppich wieder, so konnte dieser auch wieder geweiht und von Neuem nach seinem Ziel gesandt werden.

Aber an dem Schicksal der nunmehrigen Bettelmönche wurde dadurch nichts geändert. Nicht einmal Selbstmord konnten sie begehen. Dann kamen sie nicht einmal direkt in die Dschehenna, in die Hölle, sondern mussten noch so lange, als nach dem Schicksalsspruche sonst ihr Leben gewährt hätte, als Hyänen umherirren und Leichen ausscharren. Durch genügende Buße können die Dschehennins, die wegen eines Religionsfrevels die Hölle verwirkt, schließlich aber dennoch ins Paradies kommen. —

Der Prinz stellte solche Fragen nur, um sich bestätigen zu lassen, dass er sich nicht irrte.

»Wo ist Deine Heimat?«

»In Tripolis.«

»Tripolis ist groß.«

»In Reibat.«

»Reibat — das kenne ich auf der Karte und dem Hörensagen nach. Welche Moschee hat über Dich zu bestimmen?«

»Die Moschee el Neddira.«

»Du bleibst in Tripolis?«

»Das weiß ich nicht.«

»Aber in jener Moschee kann ich erfahren, wo Du weilst?«

»Immer.«

»Das gilt auch für alle die anderen?«

»Für alle.«

»Nun wohl — wenn ich nun die Räuber aufspürte und ihnen den Teppich wieder abjagte?«

»Dann gehört er Dir. Wärest Du ein Moslem, so würdest Du den Teppich nach Khartum an sein Bestimmungsziel bringen, hättest auf Erden die höchste Ehre, und nach dem Tode wartete Deiner das siebente Paradies.«

»Und was tue ich als Christ?«

»Du verkaufst den Teppich.«

Von einer anderen Seite schien dieser Scheik die Christen noch nicht kennen gelernt zu haben.

»Würdest Du ihn mir abkaufen, wenn ich ihn Dir brächte?«

»Ich bin fernerhin ein armer Derwisch, der von Almosen lebt. Und wenn ich auch das Geld zusammenbrächte, so dürfte ich ihn doch nicht kaufen. An dem heiligen Kari darf kein Geld kleben.«

»Wenn nun aber der Mohammedaner, der den Teppich den Räubern abgejagt hat, ihn Dir schenkt?«

»Das tut kein Moslem.«

»Weshalb nicht?«

»Er wird doch nicht seine irdische Ehre und seine ewige Seligkeit verschenken.«

»Gesetzt aber nun den Fall, er täte es — was dann?«

Sehnsüchtig blickten die stier gewordenen Augen des Alten in die Ferne.

»Dann könnte ich meine Ehre wieder herstellen.«

»Die Moschee würde Dich zum zweiten Male mit dem Teppich, nachdem er wieder geweiht worden, abschicken?«

»Ja.«

»Auch alle die anderen würden an der Karihaddsch wieder teilnehmen?«

»Alle, die noch leben, und wo sie auch wären, man würde sie zu finden wissen und herbeiholen. Aber, Emir, weshalb marterst Du mich mit solchen Märchen, die nie Wirklichkeit werden können?«

»Bringst Du nun auch die Jungfrauen in ihre Heimat zurück?«, fuhr der Prinz zunächst mit Fragen fort.

»Ja, die hier übrig geblieben sind.«

»Was ist ihr Los?« — »Die Schande.« — »Inwiefern?«

»Sie bleiben bei ihren Eltern und Verwandten und müssen die niedrigsten Dienste tun.«

»Sie werden nicht geheiratet?«

»Nie! Welcher Moslem wird sich mit so einer beschmutzen. Nicht einmal in die Sklaverei dürfen sie verkauft werden, denn sie sollen ihre Schande fühlen, und das ist zu Hause am meisten der Fall!«

»Was können diese armen Mädchen dafür, dass Euch Männern der Teppich geraubt wurde?«

»Was können wir Männer dafür?«, lautete die Gegenfrage. »Durch Dich ist er verloren gegangen! Wärest Du uns nicht in den Weg getreten, hätten wir nicht das Lager verlassen, um hier in dieser Schlucht mit Euch zu kämpfen. Aber fühlst Du Dich etwa schuldig? Nein. Oder Du wärest ein Narr. Kismet! Niemand entgeht seinem Schicksale! Diese Weiber waren dazu bestimmt, mit uns zu leiden. Wie Allah will.«

»Wenn aber nun der Teppich zurückgebracht und Dir geschenkt wird?«

»So werden dieselben Weiber ihn wiederum nach Khartum begleiten.«

»Und wenn nun inzwischen viele Jahre verstrichen wären, diese Jungfrauen alt und verblüht sind?«

»Sie würden mitziehen.«

»,Um in Khartum verkauft zu werden?«

»Gewiss.«

»Wer soll alte Weiber kaufen?«

»Das verstehst Du nicht, Effendi, wenn Du so fragst. Wohl werden für die Karihaddsch nur die schönsten jungen .Mädchen auserwählt, um die Beschenkten zu erfreuen, weil Jugend und Schönheit doch nun einmal angenehmer sind als Alter und Hässlichkeit. Aber jeder Moslem wird glücklich sein, auch das älteste, hässlichste Weib in seinen Harem aufzunehmen, wenn es nur einen heiligen Teppich geknüpft und begleitet hat. Der Segen Allahs ruht auf seinem Hause.«

So sprach der alte Scheik. Nichts Neues für den Prinzen.

Nun aber spreche man nicht mehr von einem frivolen, schändlichen Mädchenhandel, der im Orient bei diesen Teppichkarawanen heimlich getrieben würde, wie es nämlich manchmal unsere Zeitungen tun. Ganz abgesehen davon, dass der Erlös für die verauktionierten Mädchen ja gar nicht ihren Bringern oder Eltern zufällt. Das Geld gehört ja auch mit der Moschee, für welche der Teppich bestimmt ist. Es sind eben Berichte von Schreibern, welche die wirklichen Verhältnisse gar nicht kennen.

»Und wenn nun auch die geraubten Mädchen zurückgebracht würden?«

»Für sie gilt dasselbe.«

»Sie dürften entehrt sein.«

»Eine Karihaddschina kann nicht entehrt werden.«

Jetzt war der Prinz über alles orientiert, falls es noch nötig gewesen wäre.

»Nun, Scheik, dann fasse Mut! Ich kann Dir Hoffnung machen. Und Du sollst einmal die Christen von einer besseren Seite kennen lernen. Ich glaube bestimmt, dass ich den Teppich den Räubern wieder abnehmen kann, und dann werde ich ihn Dir in Tripolis wieder zustellen, werde ihn Dir schenken.«

Hoffnungsvoll strahlten die gebrochenen Augen des Alten auf.

»Wie, Du weißt, wer die Räuber gewesen sind?!«

»Ich hoffe, ihre Spur verfolgen zu können.«

Weitere Auskunft brauchte der Prinz nicht zu geben. Plötzlich sank der am Boden hockende Scheik noch mehr zusammen, fiel nach hinten über.

Jetzt erst sah der Prinz, wie das Blut an der linken Schulter durch den Burnus drang.

Er entblößte den Oberkörper des Bewusstlosen, erkannte nur eine Fleischwunde und holte vom Lagerplatz seinen Verbandskasten.

Auf dem Lagerplatze war unterdessen auch schon das zerschmetterte Schienbein des Cowboys in Behandlung genommen worden, von Baron Walten, der doch nicht nur mit irrsinnigen Menschen umzugehen wusste.

Die beiden entfernten gemeinschaftlich die stecken gebliebene Kugel aus der Schulter, legten einen Verband an, der Scheik war inzwischen noch nicht zum Bewusstsein gekommen, und dann sollte ihn der Prinz nicht so bald wiedersehen.

— • —

37. Kapitel
In Gefangenschaft der Schlüsselbrüder

Originalseiten 901 — 937

Die Cowboys und die anderen Leute des Prinzen stöberten unterdessen in den Gängen des Felsens herum, vergeblich nach einer geheimen Tür suchend, welche die Räuber benutzt haben konnten.

Auch der Prinz stieg eine Treppe hinauf.

Plötzlich, wie er eben die unterste Galerie betreten hatte, zuckte er wie schmerzhaft zusammen und schloss die Augen, so regungslos einige Zeit stehen bleibend.

Alles genauso wie damals, da wir ihn zum ersten Male in das Megalis el Hiemit eindringen sahen.

Der Leser weiß, was es mit diesem Zusammenzucken und Augenschließen für eine Bewandtnis hatte.

Der Prinz brauchte nicht mehr darüber zu staunen, dass es ein menschliches Wesen gab, ein Kind, das sich durch Fernwirkung mit einem andern verständigen konnte.

Jener geheimnisvolle Mann, der sich Almansor nannte, hatte ihm noch ein ganz anderes Mittel gezeigt, durch das er sich mit jedem anderen Menschen, den er einweihte, auf jede Entfernung hin unterhalten konnte ohne Psychografen und dergleichen.

Also der Prinz erhielt, wenn Almansor ihm etwas mitzuteilen hatte, einen elektrischen Schlag, um dessen Milderung der Empfänger schon einmal gebeten hatte.

Dann schloss er regelmäßig die Augen, doch wahrscheinlich nur, um das, was ihm mitgeteilt wurde, besser verstehen zu können, um seine Aufmerksamkeit besser zu konzentrieren.

Doch wie wurde ihm diese Mitteilung nun gegeben? Vernahm er die Worte nur in seinem geistigen Ohr, also eigentlich nur in seinem Gehirn?

Nein, so etwas »Übersinnliches« war dabei gar nicht nötig.

Die Mitteilung konnte ihm ja auch in weiteren elektrischen Schlägen, nur viel sanfter als der erste »Wecker«, gegeben werden, nach Art der telegrafischen Morseschrift. Kurz ein Punkt, lang ein Strich.

Der Prinz hatte ja auch damals einen Apparat bei sich gehabt, welcher zweifellos diese elektrische Unterhaltung vermittelte: die am Gürtel hängende, für andere Augen wie alles andere unsichtbare Kugel.

Mit dieser Kugel hatte auch der Prinz jenen Mann, dem er für gewisse Zeit unbedingten Gehorsam geschworen, anrufen können. Er hauchte gegen die Kugel, berührte sie wohl noch besser mit der Zungenspitze, wahrscheinlich um ihr feuchte Wärme zuzuführen, dann sprach er dagegen, und so leise er auch seine Worte sprach, sie wurden doch auf der meilenweit entfernten Empfangsstation verstanden.

Also es musste angenommen werden, dass der Prinz diesen oder einen ähnlichen Apparat immer bei sich trug.

Freilich ließ sich wohl Almansor nicht zu jeder beliebigen Zeit anrufen. Sonst hätte der Prinz dies sicher öfter getan. Er bekam hierzu immer nur Erlaubnis für eine bestimmte Zeit.

Jetzt hatte Almansor wieder einmal angerufen, der Prinz schloss zuerst die Augen — später war das nicht mehr nötig — um seine Aufmerksamkeit zu konzentrieren.

»Ja?«, flüsterte er dann, sich wie beim Telefonieren benehmend, nur eben ganz, ganz leise sprechend, nur hauchend, was aber genügte, um auch auf der anderen Seite der Erdkugel gehört zu werden. »Ja, ich höre. — Ja. — Ja. — Gut. — Ich gehorche. — Sehr interessant. —Den Kastenapparat? — Ja...«

Der Prinz, der die Augen bereits wieder geöffnet hatte, zog zwischen Hals und Weste ein dünnes Kettchen aus Stahl oder Silber hervor — wenigstens war es ein ähnlich aussehendes Metall — an diesem hing ein flacher Blechkasten.

Man musste an ein etwas langes Zigarrenetui denken.

Es sei gleich bemerkt — um schon eine Andeutung zu machen — dass der Kasten groß genug war, um jenen magischen Stab mit der Stechspitze aufnehmen zu können, der für einen Federhalter, dem er sonst glich, allerdings etwas kurz gewesen wäre.

Jetzt war es dieser Blechkasten von weißem Metall, den er wie damals mit der Zunge berührte und nun dagegen hauchte.

»Ja? Funktioniert es? Ja. — Ja. — Ich gehorche. — Ja, es ist alles drin. — Nein, es klappert auch nichts. — Alles in Watte gebettet. — Schluss.«

Der Prinz ließ den Blechkasten wieder unter dem Hemd auf der Brust verschwinden, entzündete seine Taschenlampe und drang in einen der Gänge ein.

Bald zweigte der ab, links und rechts, überall kreuzten sich die Gänge, wie in einem Labyrinth.

Aber wie er damals in dem Felsenlabyrinth des Geistergebirges um die Richtung, die er einschlagen wollte, niemals in Verlegenheit gewesen war, so auch hier nicht.

Er hatte eben seinen Führer bei sich, nicht in der Brust, wie Sokrates seinen »Dämon«, der ihm immer riet, was er tun und lassen sollte — nichts anderes als das Gewissen eines geläuterten Menschen — sondern auf der Brust.

Der Blechkasten, immer mit seinem Körper in Kontakt stehend, entweder direkt oder durch die Kette, gab ihm durch elektrische Schläge die Richtung an, sagte ihm sonst alles, was ihm mitzuteilen war.

Immer tiefer drang der Prinz in die Gänge ein. Bis er vor der nackten Felswand stehen blieb. Seine Finger begannen zu tasten, wurden durch Befehle gelenkt, mussten sich spreizen und drücken, immer wieder anders.

»So? So? Immer noch nicht richtig? Ja zum Henker, wie denn nur?!«

Ja freilich, wenn man alle zehn Finger spreizen muss, dabei die Hände verdrehen, jede Fingerspitze muss eine ganz bestimmte Stelle berühren, da lassen sich einige hundert verschiedene Kombinationen herausrechnen.

Mit einem Male aber trat ein Stück Felswand, sich auf der einen Seite drehend, heraus. Ging also nicht nach innen auf, sondern nach außen, der Prinz musste erst etwas zur Seite treten.

Dann fiel das Licht seiner Laterne in einen Gang, der sich von diesem hier durch nichts unterschied.

Der Prinz trat ein.

Und da sollte sich wieder einmal zeigen, dass der vieltausendjährige »Alte vom Berge«, der sich in diesem Leben Almansor nannte, trotz seiner vielen Wiedergeburten noch lange nicht allwissend war, noch nicht einmal in die allernächste Zukunft blicken konnte, trotz aller seiner Sterne, die er darum befragte.

Denn sonst hätte er den Prinzen nicht hier hinein geschickt, sonst hätte er wissen müssen, was seinem Schützling im nächsten Augenblick passieren sollte.

Also der Prinz war in den neuen Gang eingetreten.

Nach dem ersten einleitenden Schritte hätte es für ihn überhaupt gar keine andere Möglichkeit gegeben, er musste weiter gehen, wenigstens noch einige Schritte tun, ob er wollte oder nicht.

Denn die Felsentür ging hinter ihm von allein wieder zu, drängte ihn mit unwiderstehlicher Kraft vorwärts.

Und da war es auch schon geschehen.

Zwar hatte der Prinz vor sich noch festen Felsboden gesehen, plötzlich aber wich dieser unter seinen Füßen, der Prinz stürzte in die Tiefe.

Eine Feuererscheinung vor seinen Augen, und dann war es vorbei mit ihm. Dass er heftig mit dem Kopfe aufgeschlagen war, davon hatte er gar nichts gemerkt.

Aber als er wieder zu sich kam, merkte er es an seinem schmerzenden Kopfe. Er fühlte die mächtige Beule seitwärts an seiner Stirn, ohne erst mit den Händen zu tasten.

Lange sollte er nicht bei diesem Bewusstsein bleiben. In einem spärlichen Lichte sah er einige Männer mit arabischen Zügen, die sich über ihn beugten, an seinem Körper herumgriffen.

Soeben zog ihm einer die Kette mit dem Blechkasten über den Kopf.

»Er hat die Augen aufgeschlagen.«

»Er darf nicht erwachen!«


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Als der Prinz aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte, sah er
einige Männer mit arabischen Zügen, die sich über ihn beugten.


Dem Prinzen wurde etwas Feuchtes ins Gesicht gedrückt, ein süßlicher Geruch, und er verlor zum zweiten Male das Bewusstsein.

Als er aus dieser Ohnmacht erwachte, tat ihm der Kopf nicht mehr weh, er konnte dann auch nicht einmal mehr etwas von einer Beule an der Stirn merken, doch ein Zeichen, dass unterdessen schon längere Zeit vergangen sein musste.

Seine Umgebung hatte sich denn auch ganz geändert. Er befand sich in einem orientalisch eingerichteten, höchst luxuriösen Gemach, das von einer Ampel erleuchtet wurde, lag auf einem entsprechenden Diwan, trug Unterwäsche von feinster Seide und oben darüber einen Kaftan, oder einfach einen Schlafrock, den wir ja erst aus dem Orient haben, der aber selbst nicht so »einfach« war, sondern einen Schlafrock, wie ihn sich ein Pascha zulegen mag, der seine Untertanen gehörig ausplündert und den Raub hauptsächlich für diesen seinen Schlafrock anwendet. Ein wunderbares Prunkstück von einem Schlafrock! Nur die Perlen und Diamanten fehlten daran, an Goldstickereien dagegen war kein Mangel.

Das, was er auf dem Leibe trug, hatte der Prinz, nachdem er aufgestanden war, zuerst untersucht, nämlich deshalb, um zu sehen, ob man ihm alles das Seinige genommen habe.

Natürlich war das der Fall gewesen, er hatte nicht nur geträumt, dass ihm die Kette mit der Büchse über den Kopf gestreift worden war.

Also er hatte keine Möglichkeit mehr, mit seinem Schutzpatron zu korrespondieren.

Aber die Untersuchung seiner Gewänder hatte auch noch einen anderen Grund.

»Wem man solch einen Schlafrock anzieht, den will man nicht als Kerkersträfling behandeln oder gar an den Galgen hängen!«, sagte er sich mit gutem Humor.

Aber das galt ja auch für alles übrige, für dieses ganze Gemach, und ebenso konstatierte er jetzt, dass man ihm Haupthaar und Bart sorgsam gebürstet hatte, glücklicherweise ohne es dann noch mit wohlduftenden Ölen einzusalben.

Wirklich, alle diese Entdeckungen mussten ihn immer mehr beruhigen.

Wo befand er sich?

Zweifellos in der Gewalt der Schlüsselbrüder.

Im Geistergebirge, im Megalis el Hiemit, dem Hause der Weisheit?

Das brauchte durchaus nicht der Fall zu sein.

Wie der Prinz nun schon viel genauer wusste, erstreckte sich der Geheimbund der Schlüsselbrüder über die ganze Erde, überall hatten sie ihre wohleingerichteten Verstecke, und speziell in Ägypten nicht nur das im Geistergebirge bei der Oase Fayum.

Der Prinz sah sich weiter um.

Kein Fenster, wohl aber dort eine Tür. Sie ließ sich öffnen.

Ein kleinerer Raum mit pompöser Badeeinrichtung und Toilette, aber keiner weiteren Tür.

Der Prinz trat zurück. Dort im ersten Zimmer eine dicke Schnur, die gerade so aussah wie ein Klingelzug, und besonders sein knurrender Magen veranlasste den Prinzen, obgleich er sich sonst ganz kräftig fühlte, sie sofort zu ziehen.

Fast augenblicklich entstand in einem der Teppiche, welche nach orientalischer Art die nackten Wände verkleideten, eine Öffnung, ein Stück des quadratischen Musters klappte zurück, so groß, dass man gerade den grauhaarigen Kopf mit arabischem Gesicht sehen konnte.


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»Was befehlen Emir?«, fragte der Mann kurz, fast schroff.

»Wo bin ich hier?«

Der Alte machte ein finsteres Gesicht.

»Schweig!«

»Oho! Einen Mann, den man in solch einen goldstrotzenden Schlafrock von Samt und Seide und Atlas steckt, den schnauzt man nicht so an!«

Scherzend hatte es der Prinz gesagt, weil er sich wirklich in bester Stimmung befand, aber bei dem Araber verfehlte es nicht seine Wirkung.

»Verzeihe, Emir«, erklang es jetzt in ganz anderem, ehrerbietigem Tone, und so veränderte sich auch das mürrische Gesicht, »aber ich bin nur dazu da, um Dich zu bedienen, darf nur nach deinen Bedürfnissen fragen, Dir auf keine Frage antworten. Brauchst Du die Dienste eines Hakims?«

»Nein, eines Arztes nicht, aber die eines Kochs.«

»Du wünschest zu speisen?«

»Ja, wenn ein hungriger Wolf speisen kann.«

»Sofort, edler Emir!«, lächelte der Alte immer mehr und schloss die Klappe wieder.

»Also man weiß, dass ich ein Emir, ein Fürst bin!«, sagte sich der Prinz. »Nun, das hat man eben aus dem Inhalt meiner Brieftasche erfahren!«

Er brauchte nicht lange zu warten, als sich die Klappe wieder öffnete, der Alte schob etwas wie ein Brett herein, auf dem mehrere dampfende Schüsseln standen.

»Der edle Emir muss sich selbst bedienen.«

»O, das tue ich sehr gern.«

Wie der Prinz zufasste, war auch der Diener noch etwas behilflich, die Schüsseln nachzuschieben, dabei bemerkte der Prinz, dass dem Manne an der rechten Hand der halbe kleine Finger fehlte, außerdem bemerkte er auch, dass der Mann diese Hand recht auffällig hinhielt und dabei mit den Augen blinzelte.

Sofort verstehend, hielt der Prinz seine Hand hin, und er hatte in dieser ein zusammengefaltetes Blatt Papier.

Nun wusste er aber auch gleich, wie geheim das zu halten war, der Wächter und vielleicht er selbst konnten beobachtet werden, und er ließ die Botschaft unmerklich in die Tasche seines Schlafrocks verschwinden, um dann das Servierbrett abzuräumen, die Schüsseln und Teller auf das niedrige Tischchen setzend.

»Wie, auch Wein?!«, stellte er sich erstaunt, als ihm eine Flasche gereicht wurde, deren Etikett ihren Inhalt verriet.

Er wusste ja gut genug, dass die Schlüsselbrüder keinen Wein verschmähten, aber diese seine Kenntnis brauchte doch jener nicht zu wissen.

»O, wir sind hier ganz moderne Araber!«, schmunzelte der Alte.

»Keine Mohammedaner?«

»Du wirst es erfahren. Wenn Du mich brauchst, so klingele.«

Die Klappe schloss sich wieder. Der Prinz nahm mit untergeschlagenen Beinen am Boden vor dem niedrigen Tischchen Platz.

Die Botschaft brannte ihm in der Tasche, und wenn er auch beobachtet wurde, einmal musste er es doch riskieren.

Auch Gabel und Messer und Löffel waren vorhanden, die der Mohammedaner ja sonst nicht beim Essen kennt, und das erste war, dass der Prinz die ergriffene Gabel fallen ließ.

Er bückte sich, stieß dabei die Gabel noch mehr unter den Tisch und hatte auch schon das Papierchen in der Hand, faltete es schnell auseinander.

Es war ein sehr weiches, ganz eigentümliches Papier von weißer Farbe, darauf mit blauer Tinte einige Zeilen auf Französisch geschrieben.

Vertrauen Sie dem Diener mit dem verkrüppelten kleinen Finger. Sie sind im Megalis el Hiemit und sollen einer der Unsrigen werden. Versprechen Sie nichts, was

gegen Ihre Ehre geht. Ich befreie Sie. Ihre Leute sind wohlbehalten im Kloster

und wissen davon. Heimlich beobachtet können Sie in diesen Räumen nicht werden, nur durch Tür und Klappe, aber verschlucken Sie immer das Papier. Fatime.

»Na, dann ist ja alles gut!«, sagte sich der Prinz, sich aus seiner vorsichtigen Stellung aufrichtend.

»Also dieses Papierchen soll die Vorspeise sein, die mir meine platonische Frau Gemahlin schickt, gewissermaßen das, was dem Italiener beim Essen die Salamiwurst ist. Hm.«

Er ballte das Papier zusammen und steckte es in den Mund, fing an zu kauen.

»Hm. Schmeckt gar nicht so übel. Ungefähr wie angebrannter Mehlkleister. Besonders die blaue Tinte gibt ihm einen so pikanten Beigeschmack. Nee faktisch, das scheint essbares Papier zu sein! Das sollte auch bei uns allgemein eingeführt werden. Das wäre besonders etwas für die Diätisten. Da könnten die verhungerten Schreiberlein in der Frühstückspause die Schränke mit den ausrangierten Akten ausfressen. Na, da wollen wir einmal den zweiten Gang in Angriff nehmen.«

Der Prinz leerte eine Schüssel nach der andern, die verschiedensten Fleischgerichte mit Beilagen, und trank dazu den vorzüglichen Rotwein.

»Nach dem Appetit, den ich hier entwickele, muss ich acht Tage lang bewusstlos gewesen sein und dabei eine sehr lebhafte Verdauung gehabt haben.«

Die letzte Schüssel war geleert, Huhn mit Reis und Curry.

Der Prinz erhob sich, zog die Klingel — sofort wurde die Klappe geöffnet.

»Wünscht der Emir noch etwas zu speisen?«

»Nein, vorläufig hat das genügt.«

Er setzte die Schüsseln auf das Servierbrett, es wurde hinausgezogen.

»Hat der Emir sonst noch Wünsche?«

»Eine gute Zigarre wäre mir angenehm. Noch angenehmer gleich eine ganze Kiste. Etwas kräftig.«

»Dort in dem Sessel finden der Emir eine ganze Auswahl von Zigarren und Tabaken.«

»Ah!«

»Will der Emir einen Besuch empfangen.«

»Wen?«

»Einen Effendi.«

»Sehr angenehm.«

»Dort durch die Tür tritt er in wenigen Minuten ein.«

Die verkrüppelte Hand bezeichnete die Stelle an der Wand, wo zwei Teppiche auseinandergeschlagen werden konnten.

Eine Botschaft hatte ihm diese durch die Öffnung gestreckte Hand nicht wieder zu geben.

»Ich erwarte den Herrn. Wie ist seine Anrede? Dass ich da keinen groben Verstoß begehe.«

»Er wird sich selbst vorstellen.«

Die Klappe wurde wieder geschlossen.

Zunächst schob der Prinz an der bezeichneten Stelle den Teppich zurück, sah zwischen den nackten Steinwänden eine Holztür, die nicht einmal eine Klinke hatte.

Dann untersuchte er den betreffenden Sessel. Es war ein sogenannter »stummer Diener«, den wir aus dem Orient haben. Die orientalische Wohnungseinrichtung kennt für gewöhnlich keine Schränke, Kommoden und dergleichen Aufbewahrungsmöbel — sind diese nötig, dann ist das ganze Zimmer mit Schränken, Kommoden, Truhen usw. gefüllt — aber die niedrigen Sessel und Diwans sind immer hohl, können aufgeklappt werden und sind zum Aufbewahren von Sachen, die man immer zur Hand haben will, bestimmt. Also was wir »stummen Diener« nennen. Eine Raumverschwendung wie Stühle und Sofas, die auf einzelnen Beinen stehen, kennt der Orientale nicht.

Der aufgeklappte Sitz dieses Sessels hier zeigte eine Auswahl von Zigarrenkisten und Zigarettenschachteln und einige Pakete englischen Tabak, oben darauf lag ein Feuerzeug und des Prinzen eigene Pfeife.

»Es muss den Schlüsselbrüdern sehr daran gelegen sein, mich zu ködern. Ha, wenn die wüssten, dass ich bereits als Priestergemahl ihr allmächtiger Herr und Gebieter bin!«

Zunächst ging er hinüber, um sich die Hände zu waschen.

Priestergemahl, hatte er gesagt.

Weil er der erwählte Gatte der Priesterin der Astarte war, der Priesterin aller Priesterinnen, der allmächtigen Sultana in diesem Reiche, gegen deren Macht sogar die des Könige Ahasver verschwand.

Dann hätte er doch eigentlich Priesteringemahl sagen müssen.

Wir sagen aber auch Prinzgemahl, wenn eine regierende Königin heiratet, ohne dass ihr Gatte dadurch selbst regierungsfähig wird. Dieses Wort ist eine Inkorrektheit, besteht aber nun einmal.

Als der Prinz in das Wohnzimmer zurücktrat, blieb er betroffen auf der Schwelle stehen.

In der Mitte des Zimmers stand ein Herr im modernen Frackanzug, unter dem Arm den Chapeau claque, eine hohe, kraftvolle Gestalt, ein brünettes, ideal schönes Gesicht, nur sehr stolz und finster, wenn es jetzt auch ein unterwürfiges Lächeln hineinzulegen suchte.

Also ganz betroffen, bestürzt stand der Prinz auf der Schwelle und starrte diese imponierende Manneserscheinung von tadelloser Eleganz an.

»Himmel, dieses Gesicht! Wo habe ich das schon einmal gesehen?! Ach, der König Ahasver, kein anderer!«

Und da hatte sich in diesem Zimmer ebenfalls ein Wunder vollzogen!

Nämlich dadurch, dass der Prinz diesen Mann wiedererkannt hatte.

Das war geradezu ein unerklärliches Wunder zu nennen.

Oder die nordamerikanischen Indianer hatten dem weißen Jäger, der unter ihnen geweilt, eben nicht umsonst den Ehrennamen »Flammenauge« gegeben.

Dieser König Ahasver, wie wir ihn damals beschrieben haben, diese halb persische, halb altägyptische Priesterscheinung in dem prachtvollen, phantastischen Ornate mit der hohen Chaldäermütze, mit den langen, schwarzen Locken, mit dem mächtigen, in lauter Zöpfchen geflochtenen, viereckig geschnittenen Vollbarte — und hier dieser elegante Gentleman im Frackanzug mit Lackstiefelchen, mit kurz geschorenem Haupthaar, das Gesicht glatt rasiert — — — man möchte behaupten: Kein Mensch hätte diese beiden Persönlichkeiten identifiziert.

Prinz Joachim hatte ihn sofort wiedererkannt!

Es war ein unbegreifliches Wunder gewesen!

Das erstarrte Stutzen des Prinzen währte nur einen Moment, aber dieser genügte, dass er sich im Geiste auch noch sagen konnte: Entweder trägt König Ahasver für gewöhnlich eine Perücke und einen falschen Bart, oder er hat sich für diese unsere Begegnung erst rasiert!

Dann war das starrende Stutzen vorbei.

Und dieser einzige Moment wurde dadurch gerechtfertigt, dass er beim Eintreten da plötzlich in dem Zimmer einen fremden Mann stehen sah.

»Ich bin Eurer königlichen Hoheit alleruntertänigster Diener«, verbeugte sich der Herr, französisch sprechend, und dass er dabei verbindlich lächelte, das erforderte der damalige »gute Ton«, so wie auch wieder jetzt, wo man in illustrierten Zeitungen nur noch feixende Gesichter sieht.

»Ardschir Babek ist mein Name.«

Ein persischer Name. Und es war auch das Gesicht eines echten Persers. Hüben und drüben die Schmachtlocken über den Ohren, und es wäre ein polnischer Jude gewesen.

»Es ehrt mich!«, verbeugte sich auch der germanische Fürst im persisch-türkischen Schlafrock.

»Eure königliche Hoheit haben über mich zu befehlen.«

»So setzen wir uns, und das ›königlich‹ können Sie fernerhin fortlassen, auch nur ›Prinz‹ sagen, wenn Sie mir durchaus einen Titel geben wollen.«

»Sehr wohl, mein Prinz.«

Sie ließen sich gegenüber auf Sesseln nieder, auf denen besonders solch hochgewachsene Menschen ihre Beine einen sehr spitzen Winkel nach oben bilden lassen mussten.

»Wie ist das Befinden Eurer Hoheit?«

»Danke, ganz ausgezeichnet Sie gestatten wohl, Monsieur Ardschir Barbier...«

»Babek«, korrigierte der andere lächelnd, »doch ist nur der erste Name die Anrede.«

»Sie gestatten doch, Monsieur Ardschir, dass ich mir eine Zigarre anstecke.«

»Aber bitte sehr!«

»Dann müssen Sie aber erst noch einmal aufstehen — Sie sitzen gerade auf meinem Zigarettenetui.«

Eiligst sprang der Perser auf und klappte den Sitz hoch, der Prinz untersuchte gewissenhaft die Zigarrenkisten, nur die edelsten Sorten enthaltend.

»So, ich werde mit dieser Veguero anfangen. Bitte, nun wählen Sie.«

»Danke sehr, ich bin Nichtraucher.«

Aber mit Messerchen und Feuerzeug konnte er doch zu Hilfe kommen, auch trug er eine gewaltige Porzellanvase als Aschenbecher herbei.

Dann saßen sie sich wieder gegenüber, der Prinz qualmte behaglich.

»Ausgezeichnetes Kraut — echte Veguero mit etwas Panateln.«

»So genau können Sie die Havanna-Arten unterscheiden?«

»Kann ich. Ich dächte aber, wir kämen gleich zur Hauptsache.«

»Ganz gewiss.«

»Wo bin ich hier?«

»Darf ich beginnen, wie Sie in dem Küstengebirge den bösen Sturz hatten?«

»Auch das.«

»Sie hielten sich in jenem Küstengebirge auf, hatten Leute von Ihrer Jacht abgeholt. Nicht wahr, mein Prinz?«

»Stimmt. Woher Sie das wissen, das werde ich später fragen. Jetzt halten Sie sich nicht mit solchen Erklärungen auf.«

»Sehr wohl, mein Prinz. Sie hatten ein Renkontre mit einer Teppichkarawane, Ihre Leute maßen sich mit den Karihaddschins im Zweikampfe.«

»Stimmt.«

»Die Zweikämpfe fanden in einem Felsenkessel statt, nach dem dritten Gange wurden sie unterbrochen. Fremde Männer tauchten auf, schossen zwischen die Karihaddschins, bemächtigten sich des Teppichs und eines Teiles der die heilige Karawane begleitenden Jungfrauen.«

»In der Hauptsache stimmt alles.«

»Wissen Sie schon, wer diese Räuber gewesen sind?«

»Mohammedaner werden doch keine heilige Teppichkarawane überfallen.«

»Es waren Christen.«

»Ach was!«

»Dort oben haust schon längst eine Räuberbande, die sich meist aus Griechen zusammensetzt.«

»Na nu!«

»Wir haben hier noch nicht viel von ihr gehört, in Tripolis macht sie umso mehr von sich sprechen. Freilich ist Tripolis groß und steht ja bis auf die Hauptstadt ganz außer dem Bereiche der Post.«

»Kommen wir nun wieder auf mich zurück.«

»Sie drangen in einen Felsengang, machten einen Fehltritt und stürzten in eine Spalte hinab. Ist es nicht so?«

»Hm. Eigentlich war es etwas anders.«

»Wie sonst?«

»Nun, fahren Sie nur fort.«

»Dort unten saßen die griechischen Räuber mit ihrer Beute. Sie stürzten mitten dazwischen, schlugen mit dem Kopfe auf, wurden bewusstlos, und diese Griechen hatten ein Mittel und einen Grund, Sie in dieser Bewusstlosigkeit dauernd zu halten.

Das räuberische Gesindel, schon immer uneinig, beschloss eine Teilung der Beute, einige Parteien wollten fernerhin ihre eigenen Wege gehen.

Sie, Hoheit, wurden nebst einem halben Dutzend Weiber solch einer Bande zugesprochen, die beschloss, ihr ferneres Wirkungsfeld in das Oasengebiet der Natronseen zu verlegen. Die Gefangenen sollten so bei Gelegenheit als Sklaven respektive Sklavinnen verkauft werden.

In zwei Tagen hatte die Rotte Philippi, wie sie nach ihrem Anführer hieß, die Natronseen erreicht. Sie, mein Prinz, waren noch immer nicht zu sich gekommen.

Ich hatte gerade einen Ausflug nach den Natronseen gemacht, mit gehöriger Begleitung.

Da sahen wir in der Wüste einen Reitertrupp, der uns durch sein scheues Benehmen auffiel, uns ausweichen wollte. Wir nun gerade direkt hin.

Ich bin — das darf ich Ihnen schon jetzt verraten — ein ägyptischer Staatsbeamter, in hoher Stellung, in sehr hoher. Mehr darf ich Ihnen, verzeihen Sie, vorläufig über mich noch nicht sagen. Den Grund dieser Geheimnistuerei werde ich Eurer Hoheit dann offenbaren.

Die Reiter wollten fliehen, aber schnell hatten wir ihre sehr ermüdeten Pferde und Kamele eingeholt.

Es kam zu einem kleinen Kampfe, der jedoch gar nicht der Rede wert war.

Es war die Rotte Philippi. Sie, mein Prinz, waren noch immer bewusstlos, die jungen Weiber hatte man nicht bewusstlos machen können, diesen Räubern hier fehlte das Mittel dazu.

Diese gefangenen Weiber berichteten uns. Über Sie, von Ihrem Sturze in die Felsenspalte, tat es Philippi selbst. Wir haben ihn bei seiner Ankunft so ein bisschen aufgemuntert.

Die Wüstenräuber, des Menschenraubs überführt und geständig, wurden an Ort und Stelle sofort erschossen. Auf meinen Befehl! Ich habe das Recht dazu.

Die befreiten Mädchen sind bereits auf dem Wege nach ihrer Heimat, nach Tripolis.

Wer Sie waren, wussten die Räuber nicht.

Ich aber erkannte Sie sofort, mein Prinz. Ich kenne Sie von Kairo aus, wenn wir uns auch noch nicht persönlich begegnet sind.

Und Sie, königliche Hoheit, habe ich unter meine spezielle Obhut genommen.«

Der Sprecher schwieg.

»Glaubst Du's auch, was ich Dir da erzählt habe?«

Diese Frage tat er zwar nicht, aber das drückten seine Augen aus.

Nein, der Prinz glaubte es durchaus nicht

Warte, Du Lügenluder, dachte er. Wenn Du mir solche Märchen erzählst, dann habe ich das Recht, auch Dir etwas vorzuflunkern.

Er erkannte es sofort an dem lauernden Blicke, dass der Hauptsache nach alles erlogen war, einen so treuherzigen Ausdruck König Ahasver in Frack und weißer Weste auch seinen Augen zu geben versuchte.

Die ganze Sache mit den griechischen Räubern war natürlich Erfindung. Es waren einfach Schlüsselbrüder gewesen, welche die Teppichkarawane überfallen und von den Gefangenen wenigstens den Prinzen nach dem Megalis el Hiemit gebracht hatten, durch einen untereirdischen Tunnel oder oberirdisch durch die Wüste.

»Wo bin ich hier?«

»In Kairo.«

»Weshalb hält man mich gefangen? Denn gefangen gehalten werde ich doch.«

»Ja, ich muss es gestehen.«

»Und wozu?«

»Hören Sie mich an, mein Prinz.«

Und der Perser begann von Neuem zu sprechen.

Von einer Bewegung, die sich in der mohammedanischen Welt immer geltend mache.

Befreiung von dem europäischen Joche!

Dazu müsse erst die durch ihren Glauben an ein Kismet, an eine unerbittliche Schicksalsbestimmung, ganz entnervende mohammedanische Religion abgeschüttelt werden.

Und schon hatte sich eine feste Verbrüderung gebildet, welche die Vorbereitungen dazu leitete.

Es waren die Atheisten in der orientalischen Welt.

Sie selbst glaubten an gar nichts mehr.

Es gibt nur dieses eine Leben, nach dem Tode ist alles vorbei. und deshalb muss man sich dieses Leben so angenehm wie möglich machen.

»Und dieser geheimen Gesellschaft gehöre auch ich an, spiele darin eine leitende Rolle, wenn ich auch nicht der Erste bin!«, schloss der Perser seine Ausführungen.

»Ja, das ist alles recht schön und gut, aber weshalb hält man mich da gefangen?«

»Wir brauchen zur Verwirklichung unserer gewaltigen Pläne der Hilfe einer starken europäischen Macht.«

»Dann setzen Sie sich mit einer solchen in Verbindung und mich lassen Sie laufen.«

»Mein Prinz! Sie haben Anspruch auf einen deutschen Fürstenthron —«

»Ach, fangen Sie doch nicht hiermit an! Darauf habe ich schon längst verzichtet. Und gesetzt auch den Fall, ich hätte über die paar Quadratmeilen zu gebieten, Sie denken wohl, wenn ich kommandiere, dann kommt gleich die ganze deutsche Armee und Kriegsflotte angerückt, um Sie in Ihren Plänen zu unterstützen?«

»Was nicht in Deutschland möglich wäre, könnte aber in Russland sofort ausgeführt werden. Und Sie sind mit dem Zarenhofe mütterlicherseits verwandt, Sie selbst stehen noch heute mit dem Zarenhofe in den freundschaftlichsten Beziehungen. Ihr Wort gilt dort viel, Ihre Bitte vermöchte alles! Wir wissen es bestimmt!«

»Hm. Sie mögen recht haben. Ich will Ihnen aber in dieser Angelegenheit gleich mein letztes Wort sagen. Ich bin durch Geburt zufällig ein Prinz geworden. Meinen Ansprüchen habe ich entsagt, den Titel muss ich leider aus Familienrücksichten noch führen. Durch eigene Bemühungen bin ich Doktor der Medizin und der Philosophie geworden. Wenn ich einen Beruf ergreifen müsste, um mich zu ernähren, so würde ich praktischer Arzt werden. Wenn Ihnen also, Monsieur Ardschir, irgendwo etwas weh tut, so sagen Sie es mir, ich will Sie untersuchen; wenn Sie einen gebrochenen Knochen haben, will ich ihn schienen; oder wenn Sie den Bandwurm haben, so will ich Ihnen ein sicher wirkendes Mittel verschreiben. Und wenn Sie von einem Stärkeren verprügelt werden — mit Unrecht verprügelt werden — dann werde ich Ihnen beispringen. Na, und wenn Sie ein armer Teufel sind, dann lasse ich mich auch einmal anpumpen. Mehr aber können Sie von mir partout nicht verlangen! Und vor allen Dingen verschonen Sie mich mit solchen politischen Geschichten! Ich habe gesprochen.«

Der Perser lächelte nicht mehr.

Wohl war er gegen den Prinzen in Wort und Benehmen immer noch die Höflichkeit selbst, aber er war doch nicht mehr derselbe, die schmeichelnde Unterwürfigkeit fehlte, der eigene Stolz machte sich mehr bemerkbar.

»Sie werden es sich überlegen, Hoheit?«

»Da gibt es bei mir gar nichts zu überlegen.«

»Sie werden unseren Geheimbund näher kennen lernen.«

»Das kann ich ja, soll mich sehr interessieren.«

»Sie werden noch einer der Unsrigen werden.«

»Niemals.«

»Weshalb ist denn das von vornherein so ganz ausgeschlossen?«

»Ihre Partei huldigt also dem Atheismus?«

»Ja.«

»Und ich bin ein guter Christ. Wenn ich auch selten genug in die Kirche gehe. Vor allen Dingen ehre ich den Glauben meiner Väter, für den sie gestritten und gelitten haben. Nie würde ich meine Religion wechseln, verleugnen oder verlassen, schon aus Pietät nicht.«

Wieder trat in den schwarzen Augen der tückische, lauernde Ausdruck hervor.

»Würden Hoheit auch auf dem Scheiterhaufen und in der Folterkammer so sprechen?«

»Ja. Was andere ausgehalten haben, kann auch ich ertragen. Das ist gar keine Selbstüberschätzung. Ich weiß, dass ich es kann! Probieren Sie es.«

Der Perser lächelte wieder einmal.

»Wir denken gar nicht an so etwas. Wir sind vollkommen tolerant. So wären wir doch keine Freigeister.«

»Desto besser für mich.«

»Nur durch unser Leben, durch das, was wir Ihnen hier bieten, werden wir Sie an uns fesseln.«

»Das wird Ihnen sehr schwer fallen.«

»Solange Sie nicht der Unsrige werden, müssen Sie natürlich hier bleiben.«

»Warum das?«

»Weil wir Sie eben nicht eher gehen lassen.«

»Gut, dann verpflegen Sie mich Zeit meines Lebens als Ihren Gefangenen. Ich werde meinen Grundsätzen nicht untreu.«

»Wünschen Hoheit Gesellschaft?«

»Ist nicht nötig. Ich langweile mich nie. Brauche nicht einmal Bücher.«

»Einen Ihrer Leute, meine ich.«

»Auch nicht.«

»Sie wohnen doch in dem alten Kloster bei Mokattam?«

»Ja.«

»Da haben Sie doch auch ein Kind bei sich, ein kleines Mädchen, Deasy mit Namen?«

»Allerdings.«

»Sie sollen sehr an diesem Kinde hängen. Wollen Sie es vielleicht bei sich haben?«

Der Prinz durchschaute sofort. Er wollte den andern aber erst einmal ruhig weiter sprechen lassen.

»Was wissen Sie denn von diesem Kinde?«

»Es besitzt doch die Gabe des zweiten Gesichtes, nicht wahr? Kann in die Ferne blicken. Sogar in die Ferne wirken.«

»Woher ist Ihnen denn das bekannt?!«, stellte sich der Prinz erstaunt.

»Das ist sehr leicht zu erklären. Bei jener Räuberbande, die wir festnahmen, befand sich nämlich noch ein anderes gefangenes Weib, keine Araberin. Eine Indianerin namens Mistress lsabel Allan —«

»Aaah.«

»War es schon sehr merkwürdig, dass sie als Indianerin herausgeputzt war, so hat sie uns noch viel merkwürdigere Dinge erzählt.«

»Was für Dinge?«

»Über Sie.«

»Über mich?!«

»Jawohl. Mein Prinz, auch Sie haben nicht immer ganz korrekt gehandelt, auch Sie haben sich der Freiheitsberaubung und sogar der Kindesentführung, des Menschenraubes schuldig gemacht.«

Aha, jetzt will der mir auf diese Weise den Daumen aufs Auge drücken, dachte der Prinz.

»Liefern Sie mich den Behörden aus, die mich deshalb verfolgen, ich werde mich verantworten!«, sagte er kalt.

»O nein, mein Prinz, so war das nicht gemeint!«, fuhr der andere schnell fort. »Nur eine Inkorrektheit in den Augen der Welt, des Gesetzes, meinte ich. Wir kennen Sie, königliche Hoheit, und wir wissen ganz genau, dass Sie niemals etwas tun werden, was Sie nicht vor Ihrem eigenen Gewissen verantworten können. Der Zweck heiligt die Mittel. Dieser jesuitische Grundsatz, sonst ganz unmoralisch, hat tatsächlich auch seine guten, edlen Seiten. Nun müssen Sie ihn aber auch für uns gelten lassen. Auch wir halten Sie nur deshalb gefangen, weil wir durch Sie ein hochedles Ziel erreichen wollen, die Befreiung eines geknechteten —«

»Sprechen wir hierüber doch nicht mehr.«

»Wie Hoheit befehlen.«

»Für diese Mistress Allan interessiere ich mich aber doch. Ist sie geistig normal?«

»Vollständig.«

»Wo befindet sie sich?«

»Ebenfalls hier.«

»Auch als Gefangene?«

»Ja.«

»Was haben Sie mit ihr vor?«

»Genau dasselbe wie mit Ihnen: sie zu einer der Unsrigen zu machen.«

»Die übt aber keinen politischen Einfluss aus.«

»Aber sie hat mehr als eine Milliarde und außer deren Zinsen auch sonst noch enorme Einkünfte. Zwar verfügen wir selbst schon über ungeheure Mittel, aber eine Milliarde lassen wir uns doch nicht entgehen. Ja, wir sind Räuber, aber edle Räuber: Wir nehmen es den Reichen, um es den Armen zu geben.«

»Das ist sehr schön von Ihnen. Rauben Sie so weiter, nur lassen Sie sich dabei nicht erwischen.«

»Wir werden die Dame durch geeignete Behandlung und durch alles das, was wir hier bieten können, für unsere Zwecke zu gewinnen wissen.«

»Das wird Ihnen bei der viel leichter gelingen als bei mir.«

»Bis sie uns freiwillig ihr ganzes Vermögen vermacht.«

»Na, da renommieren Sie doch nicht erst damit, dass Sie ein Räuber sind!«

»Es läuft doch schließlich auf dasselbe hinaus.«

»Meinetwegen.«

»Die Dame hat glühende Sehnsucht nach ihrem Sohne.«

»Der gar nicht ihr Sohn ist.«

»Weiß ich. Ich kenne die Verhältnisse, es stand ja genug davon in allen Zeitungen. Aber ich glaube Ihnen mehr als jener Dame. In dieser Beziehung scheint sie doch nicht ganz geistig normal zu sein.«

»Stimmt.«

»Aber der kleine Fred erkannte sie doch selbst als seine Mutter an, und zwar erst auf Ihre Veranlassung.«

»Um dieser traurigen Geschichte ein Ende zu machen.«

»Ich verstehe. Es war nur höchst edel von Ihnen. So lassen Sie den Jungen doch auch hierher kommen.«

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»Die Freiheit dieses kerngesunden Bengels steht höher als die Einbildung dieses hysterischen Frauenzimmers.«

»Es hat hier auch alle möglichen Freiheiten, hat Wüsten und Wiesen und Wälder —«

»Geben Sie sich keine Mühe!«, unterbrach der Prinz, obgleich er sich dafür interessiert hätte, wo hier die Wiesen und Wälder herkommen sollten. »Ist Ihnen so viel daran gelegen, Mutter und Sohn wieder zu vereinen, so stecken Sie die Dame dort in mein Kloster. Hat dort auch Freiheit genug. Kann mit ihrem Sohne immer um das Klostergebäude herum rennen. Und das noch viereinhalb Jahre lang. Nämlich bis Fred achtzehn Jahre alt und nach amerikanischem Gesetze mündig ist. Dann mag er tun, was er will. Bis dahin aber halte ich ihn in meinem Gehorsam, und will die Mutter bei ihm sein, so muss sie sich mit in diesen Gewahrsam begeben. Und dabei bleibt es! Jedes weitere Wort ist zwecklos.«

»Wie Hoheit bestimmen. Doch wir waren von unserem ersten Thema abgekommen.«

»Was war das für ein Thema?«

»Wir sprachen von der kleinen Deasy.«

»Richtig.«

»Madame Allan hat mir Wunderbares über dieses Kind erzählt.«

»Das glaube ich schon.«

»Es kann nicht nur in die Ferne blicken, sondern auch in die Ferne wirken!«

»Jawohl, das kann Deasy.«

»Da möchte ich einmal mit dabei sein!«

»Und das ist es eben, weshalb Sie wünschen, dass ich das Kind hierher zu mir nehmen soll.«

»Offen gestanden: ja.«

»Daraus wird nichts! Kommen Sie mal in mein Kloster, da will ich Ihnen, wenn Sie sich gar so sehr dafür interessieren, ein paar Experimente mit dem Kinde vormachen. Natürlich muss ich selbst mit dabei sein.«

»Sie dürfen diesen Ort hier nicht verlassen.«

»Und Deasy bleibt, wo sie ist. Hierher kommt sie jedenfalls nicht.«

»Wie Hoheit bestimmen.«

Wieder hatte der Perser es mit äußerster Höflichkeit und sogar ergebungsvoll gesagt, sich dabei verneigend.

Aber der Prinz wusste schon ganz bestimmt, dass dieser Mann noch einmal mit demselben Anliegen zu ihm kommen würde, und dann würde er nicht so ergebungsvoll sein, sondern seine Forderungen mit Daumenschrauben und noch ganz anderen Marterinstrumenten unterstützen!

»Nun hätte ich bloß noch eine einzige Frage, Hoheit.«

»Bitte.«

»In Ihrem Besitz fanden die Räuber nämlich hier diesen Dolch. Und ich interessiere mich sehr für solche alte Waffen, besonders für die Eingravierungen und Insignien. Was hat wohl hier dieser eingelegte goldene Schlüssel zu bedeuten?«

Es war also der Dolch, den der Prinz gefunden hatte, den der Perser jetzt aus der Brusttasche zog und ihm präsentierte.

Der Prinz durchschaute sofort!

Er wurde geprüft, ob er nicht doch vielleicht etwas von den Schlüsselbrüdern wisse.

Obgleich er auf den Dolch herabblickte, sah er doch ganz deutlich die lauernden Augen, wie sie durchbohrend jede seiner Gesichtsmuskeln beobachteten. Oder er fühlte es. Aber unbefangen konnte der Prinz seine Augen erheben.

»Ja, Monsieur Ardschir, das tut mir leid, da fragen Sie den Unrechten.«

»Inwiefern?«

»Dieser Dolch gehört gar nicht mir.«

»Wem denn sonst? Man hat ihn doch erst bei Ihnen gefunden.«

»Aber ich selbst habe ihn damals erst gefunden, einer der Räuber muss ihn verloren haben.«

»Ach so! Und Sie wissen auch sonst nicht zufällig, was dieser goldene Schlüssel zu bedeuten hat?«

»Keine Ahnung. Ich habe mich nie mit Waffen- und Wappenkunde beschäftigt.«

Durchdringend bohrten sich die schwarzen Augen in die blauen — der Prinz hatte die Probe bestanden.

»Schade. Gestatten Hoheit, dass ich den Dolch behalte?«

»Gewiss.«

»Danke. Ich werde mich revanchieren.«

Der Dolch wurde in die Brusttasche zurückgesteckt.

Ja, der Prinz hatte die Probe bestanden. Aber er sollte noch einer andern unterworfen werden.

»Nun hat man noch etwas anderes bei Ihnen gefunden, was unsere lebhafte Neugier erregt. Was ist denn eigentlich das?«

Und die Hand, welche den Dolch in die Brusttasche gesteckt hatte, brachte aus dieser den weißen Blechkasten mit dem Kettchen zum Vorschein.

»Ja, Monsieur Ardschir, da fragen Sie mich wiederum zu viel, das weiß ich selbst nicht.«

»Sie wissen nicht, was das ist?«

»Ein flacher Blechkasten.«

»Den haben Sie wohl auch gefunden?«

»Nein, den habe ich geschenkt bekommen.«

»Von wem denn? Wann denn?«, verwandelte sich der Perser immer mehr in den gestrengen Examinator.

»Das ist eine lange Geschichte. Ich will sie so kurz wie möglich fassen.

Vor ungefähr vier Jahren hielt ich mich in Arizona, im Apachenlande auf.

Da hörte ich von den Indianern, dass im dortigen Felsengebirge ein alter Mann hause, ein Blassgesicht, wahrscheinlich irrsinnig, er wurde von den herumwohnenden Indianern als Heiliger verehrt.

Ich wünschte ihn zu sehen, wurde hingeführt, fand in einer Höhle einen alten Einsiedler.

Irrsinnig war er durchaus nicht, aber jedenfalls ein Mann, der die Welt hinter sich hatte und nichts über seine Vergangenheit verriet.

Wir sprachen über Sonne, Mond und Sterne, unterhielten uns über die tiefsinnigste Philosophie — dann ging er in den Hintergrund der Höhle, kam mit dieser Blechschachtel zurück und hing sie mir mit demselben Kettchen hier um den Hals.

Solange ich dieses Kästchen auf der Brust trage, sei ich gegen Krankheit und Gefahren geschützt, nur dürfe ich nie erforschen wollen, aus was für einer Masse der Kasten bestände und was er enthielte; sonst verliere dieser Talisman sofort seine wundertätige Kraft.«

So, setzte der Prinz noch für sich selbst hinzu, nun gehe nach Arizona und erkundige Dich, ob im Apachenlande nicht wirklich so ein alter, geheimnisvoller Einsiedler gehaust hat, ob ich ihn vor vier Jahren nicht wirklich besucht habe. Er selbst kann Dir freilich nicht versichern, dass er mir niemals solch eine Blechschachtel geschenkt hat, denn er ist unterdessen gestorben.

»Eine ganz merkwürdige Geschichte!«, meinte der Perser, den Kasten immer betrachtend und ihn manchmal schüttelnd. »Haben Sie nie versucht, ihn zu öffnen?«

»O gewiss! Gleich nachdem ich den Alten verlassen hatte, war meine Neugier stärker als mein Glaube an wundertätige Talismane. Aber das Ding geht nicht zu öffnen.«

»Haben Sie ihn nicht aufzubrechen versucht?«

»Auch das. Aber das Ding spottet überhaupt allen Bemühungen, es irgendwie zu vernichten oder auch nur seine Form zu verändern.«

»Hm, merkwürdig!«, brummte der Perser immer wieder. »Als wir den Kasten betrachteten, klemmte er sich versehentlich zwischen einer eisernen Tür, er ist doch hohl, schwimmt ganz leicht auf dem Wasser, er hätte doch von der Tür ganz breit gequetscht worden sein müssen — aber die gewaltige Tür brachte auch mit der scharfen Kante nicht einmal den geringsten Eindruck hervor.«

Der Kasten wird nicht so zufällig zwischen die eiserne Tür geraten sein, sondern Du hast ihn ganz einfach aufzuknacken versucht, dachte der Prinz, und laut sagte er:

»Nein, es ist ein uns unbekanntes, unverwüstliches Metall von den erstaunlichsten Eigenschaften. Ach, was habe ich mit dem Dinge alles angestellte Das Metall lässt sich von keinem Diamanten ritzen, wird von keiner Säure, nicht von Königswasser angegriffen, widersteht der heißesten Knallgasflamme, aus einem elektrischen Glühofen, der mehr als dreitausend Grad Hitze entwickelte, ging die Blechschachtel unverändert hervor, und ebenso widerstand sie einem Drucke von mehr als hundert Zentnern.«

»Wo haben Sie diese Versuche angestellt?«

»Kennen Sie den Professor Ruley in London?«

»Wer kennt diesen berühmten Physiker nicht!«

»In dessen Laboratorium.«

Gehe nur hin und frage den Professor Ruley, ob ich nicht vor drei Jahren in seinem Laboratorium experimentierte, seine Prüfungsmaschinen für Druck- und Zugfestigkeit benutzte.


Illustration

»Dasselbe gilt für die Kette?«

»Nein. Das ist gewöhnlicher Stahl.«

»So, so. Und hat Sie dieser Talisman denn nun auch wirklich gegen Krankheiten und Gefahren beschützt?«

»Na — krank bin ich unterdessen nicht gewesen. Verdient hatte ich's ja eigentlich; denn ich habe mir doch redliche Mühe gegeben, die Büchse zu öffnen. Ich bin ja denn auch trotz dieses Talismans unter die Räuber gefallen und hier in eine ganz fatale Situation gekommen.«

»Gestatten Hoheit, dass ich die Büchse vorläufig behalte?«

»Meinetwegen — bitte sehr!«, musste der Prinz wohl oder übel seine Erlaubnis hierzu geben, besonders um nicht weiteres Misstrauen zu erregen.

»Danke sehr. Sie bekommen sie natürlich wieder. Wir haben hier unter uns einen ganz bedeutenden Physiker, wenn er der gelehrten Welt auch unbekannt ist — der wird diesem rätselhaften Metall einmal zu Leibe rücken.«

»Hoffentlich löst er das Rätsel. Es schadet auch nichts, wenn er die Schachtel breitquetscht oder sie sonst zerstört. Ich brauche sie nicht.«

Der Perser erhob sich, der Prinz tat desgleichen, obgleich die Unterhal-tung noch etwas weiter geführt werden sollte.

»Madame Allan begehrt gar so stürmisch nach ihrem Sohne.«

»Darüber habe ich Ihnen schon meine Meinung gesagt.«

»Nun wohl, damit habe ich mich auch schon abgefunden. Die Dame soll hier so viel Zerstreuung haben, dass sie bald ihren Sohn vergessen haben wird.«

»Das sollte mich sehr freuen.«

»Ich dachte nur noch einmal an Mistress Allan, weil — — die Dame scheint Sie zu lieben. mein Prinz.«

»Das kommt mir auch bald so vor.«

»Sie hat sich mir offenbart.«

»So?«

»Hoheit haben dereinst zu ihr, als sie noch Miss Forman hieß, in näheren Beziehungen gestanden. In Rom, am italienischen Königshofe.«

»Leider. Das ist vorbei.«

»Sie hat mir auch gestanden, dass sie selbst an der Lösung des Verhältnisses schuld gewesen ist. Sie hat Sie hintergangen.«

»Diese Offenheit ist sehr lobenswert, sagt aber auch genug.«

»Nun bestürmt sie mich, ich soll sie mit Ihnen wieder aussöhnen, sie wenigstens einmal zu Ihnen lassen. Sie will die Gefangenschaft im gleichen Raume mit Ihnen teilen.«

»Bitte nicht!«, rief der Prinz, wirklich etwas erschrocken.

»Nein, es soll nicht geschehen. Ich werde vielmehr alles versuchen, dass sie gar nicht mehr an Sie denkt.«

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar dafür — Sie sollen bei Gelegenheit wirklich meine Dankbarkeit kennen lernen.«

»Sie sehen doch, wie entgegenkommend ich zu Ihnen bin.«

»Das erkenne ich an. Freilich haben Sie mich erst in solch eine Situation versetzt, dass Sie sich großmütig erweisen können.«

»Wollen Sie mir gegenüber nicht auch etwas Nachgiebigkeit zeigen?«

»Inwiefern?«

»Ich spreche noch einmal von dem Kinde, der kleinen Deasy. Wir haben ja genug Derwische und Fakire, die ebenfalls in die Ferne blicken und tatsächlich Wunder erzeugen können, aber — — es ist niemals etwas Genaues, man kann niemals etwas kontrollieren. Diese Kerls sind mit allen Hunden gehetzt, haben immer ein Wenn und Aber zur Hand, lenken die Aufmerksamkeit der Zuschauer immer von der Hauptsache ab, und dann ist das Phänomen plötzlich geschehen — — man weiß nie, ob man nicht betrogen wird. Bei jenem Kinde ist das doch etwas ganz anderes.«

»Allerdings.«

»Und eine richtige Fernwirkung habe ich überhaupt noch von keinem arabischen Derwisch und keinem indischen Yogi ausführen sehen, immer konnte man sich das vermeintliche Phänomen auch auf ganz natürliche Weise durch Taschenspielerei erklären.«

»Das ist bei Deasy ausgeschlossen.«

»In ihrer Hand soll auch die Wünschelrute anschlagen?«

Woher war das dem bekannt?!

Nun, die arabischen Handwerker konnten doch damals einige Beobachtungen gemacht haben und hatten es weitererzählt.

»Ja, die Wünschelrute reagiert auf ihren Willen.«

»Und dieses Kind soll auch ganz Erstaunliches im Beschwören von Geistern leisten können?«

»Woher wissen Sie denn das?!«, stutzte der Prinz jetzt aber wirklich.

Denn davon konnte eigentlich kein Fremder wissen! Da musste einer seiner eigenen Leute geplaudert, einen groben Vertrauensbruch begangen haben!

»Sie hatten doch einmal den Haui Muley in Ihr Kloster bestellt?«

»Ja. Er sollte Schlangen beschwören.«

»Dieser Muley — in gewissem Sinne auch ein Magier und sogar ein sehr tüchtiger und ehrlicher — hat das Kind nur gesehen und sofort erkannt, dass es dazu prädestiniert ist. Es zieht die Geister an, es kann sie beschwören, erscheinen lassen, wenn das kleine Mädchen dazu nur die richtige Anleitung erhält.«

Der Prinz war betreffs der Treue und Verschwiegenheit seiner Leute beruhigt. Auch glaubte er nicht, dass der Haui, wie er ihn kennen gelernt hatte, über die eigenen Geisterbeschwörungen gesprochen habe. Er hatte nur so eine Andeutung über die erkannten oder geahnten Fähigkeiten des Kindes gemacht, das er ja gleich für »toglo« erklärte.

»Sie glauben an Geister, Monsieur Ardschir?«

»Ja. Sie nicht?«

»Ich kann diese Frage nicht so ohne Weiteres beantworten. Sie haben es getan. Sie glauben an Geister, obgleich Sie Atheist sind?«

»Lässt sich beides nicht vereinbaren?«

»O doch. Nur als Materialist darf man sich dann nicht mehr bezeichnen.«

»Tue ich auch nicht. Ich bin Okkultist. Haben Sie sich mit Okkultismus beschäftigt?«

»Erst durch dieses Kind bin ich darauf gekommen.«

»Früher nicht?«

»Nie.«

»Sie kommen in eine Gesellschaft, in welcher eifrig Okkultismus getrieben wird, und wenn Sie sich dafür interessieren, können Ihnen die wunderbarsten Sachen vorgemacht werden.«

»Es soll mich sehr interessieren. Weshalb aber, wenn Sie im Reiche des Übersinnlichen wunderbare Phänomene erzeugen können, bedürfen Sie da noch jenes Kindes?«

»Weil unsere Phänomene auf einem ganz anderen Gebiete liegen. Näher kann ich Ihnen das jetzt nicht erklären. Durch dieses Kind würden wir jedenfalls noch ganz, ganz andere Erscheinungen zustande bringen.«

Der Prinz dachte an den Glaskasten mit dem kleinen Bären, welches wunderbare Spielzeug ja auch aus dieser Felsenwohnung stammte, und das war ja nun allerdings auch etwas ganz anderes.

»Wollen Sie also das Kind hierher kommen lassen?«

»Ich werde es mir überlegen.«

»Gut, ich werde warten. O, Hoheit, wir werden uns schon noch einigen und gemeinsame Sache machen, die besten Freunde werden.

Sie sollen staunen, was Sie in diesen unterirdischen Räumen von Kairo noch alles erleben werden.

Nun aber, mein Prinz, muss ich Sie verlassen.

Hier hinter dem Teppich, der Badestube gegenüber, ist noch eine andere Tür, sie führt in mehrere Zimmer, für Sie bestimmt, ganz modern eingerichtet, mit europäischen Möbeln, sie sind nur noch nicht ganz fertig, es wird noch eingeräumt.

Einige Stunden nehmen Sie wohl noch mit diesem einen orientalischen Zimmer fürlieb.

Die Ampel ist elektrisches Licht, hier ist die Schaltvorrichtung, hier die für den Ventilator dort oben.

Ein Diener steht immer zu Ihrer Verfügung, Sie brauchen nur zu klingeln.

Drüben in den anderen Zimmern finden Sie dann Schreibzeug und alles, was Sie sonst brauchen.

Wünschen Sie Bücher — jedes, das in Kairo zu haben ist, wird in kürzester Frist zur Stelle sein; sonst dauert es eben etwas länger.

Diese Mitteltür hier dient nur für meinen Eintritt. Ich werde mich stets anmelden lassen, und ist Ihnen mein Besuch nicht angenehm, so sagen Sie es offen.

Mein Prinz, ich habe die Ehre gehabt.«

Die allerhöflichste Verbeugung, der persische Gentleman schlug den Teppich zurück und öffnete die Tür, der Prinz blickte in einen kleinen Raum, der wahrscheinlich denselben Zweck hatte wie der kleine Nebenkäfig, den der Raubtierbändiger betritt, ehe er die Haupttür des Zwingers öffnet, damit keine Bestie entwischen kann.

— • —

38. Kapitel
Der zweite Besuch

Originalseiten 937 — 962

Wir wollen nicht die Gedanken des Prinzen zu schildern versuchen. Er kam ihnen mit einer neuen Zigarre zu Hilfe, die er sich anbrannte, ehe er sich wieder auf dem Diwan ausstreckte.

Als sie aufgeraucht war, erhob er sich, untersuchte sein Zimmer näher, fand an jener dritten Tür, nach orientalischer Sitte immer durch einen Teppich verhangen, eine Klinke, konnte sie aber nicht öffnen, drehte einmal die elektrische Ampel aus und wieder an, dann ließ er oben in der kleinen Öffnung an der Decke den Ventilator spielen, der denn auch schnell den Rauch hinausschaffte.

Nachdem der Prinz dies alles ausprobiert hatte, was doch verriet, dass er sich nicht mehr nutzlosen Grübeleien hingab, zog er die Klingelschnur, die aber wahrscheinlich ebenfalls ein elektrisches Läutewerk in Bewegung setzte. Die Orientalen wollen nur immer die modernen Erfindungen der Franken durch ihre alten Einrichtungen verdecken. So war auch die elektrische Lampe dort oben genau wie eine uralte Ampel geformt, von den Drähten durfte man ja nichts sehen, die Schaltvorrichtung hatte der Perser erst zeigen müssen, so verdeckt war sie angebracht.

Fast sofort öffnete sich die Klappe an der Wand.

Aber das war nicht mehr der alte Araber, ein anderer, jüngerer, dem sich der Prinz also nicht hätte anvertrauen dürfen.

»Was befiehlt der hochedle Emir?«

»Weißt Du, dass ich hier nebenan noch andere Zimmer bekommen soll?«

»Ich weiß es.«

»Sind sie fertig, dass ich sie beziehen kann?«

»Noch nicht.«

»Wie lange dauert es noch?«

»Höchstens noch eine Stunde. Ich habe gerade gefragt. Wenn Du befiehlst, werde ich es Dir sagen, wenn es so weit ist.«

»Ja, tue das. Welch Zeit ist es?«

»Eben zehn vorbei. Ich habe gerade die Wache angetreten.«

»Früh um zehn?«

»Nachts um zehn.«

»Kann ich nicht eine Uhr bekommen?«

»Drüben sind mehrere Uhren und Du findest auch Deine und alles andere, was Dir gehört. Soll ich es Dir holen?«

»Bitte.«

»Ich will fragen, ob ich es Dir schon geben kann.«

Der aufmerksame Diener ging, vergaß aber nicht, vorher die Klappe zu schließen.

Bald klopfte es an dieser wieder, der Prinz bekam seine Uhr und Brieftasche und alles andere ausgehändigt, was er bei sich getragen hatte, auch ein Taschenmesser, sein chirurgisches Besteck — freilich nicht seine wirklichen Waffen. Den Dolch und den Blechkasten wollte ja Monsieur Ardschir behalten.

»Du kannst die anderen Zimmer schon in einer Viertelstunde beziehen.«

»Ich danke Dir. Dann brauchst Du mich auch nicht erst zu rufen.«

Die Viertelstunde verging, und wie der Prinz die Klinke drückte, konnte er auch jene dritte Tür öffnen.

Es waren vier Räume, die er durchschritt, als Schlaf-, Wohn- und Arbeitszimmer höchst elegant eingerichtet, dazu noch ein besonderer Salon, alles schon elektrisch erleuchtet, und zwar hier ganz modern, auf dem Schreibtisch lag schon das verschiedenste Papier, das Tintenfass war gefüllt, darauf Federhalter und gespitzte Bleistifte — alles fix und fertig zur Benutzung, nur die Bücherregale brauchten noch besetzt zu werden.

Die Schränke und Kommoden dagegen fand der Prinz schon mit Garderobe und Wäsche aller Art gefüllt.

Aber gemütlich war es hier nicht. Die schönen, geschmackvollen Tapeten, jedem Zimmer für seinen besonderen Zweck angepasst, waren noch ganz feucht, alles roch nach Lack und Politur.

So zog es der Prinz vor, wieder in das orientalische Zimmer zurückzugehen, wo sich der Zigarrenqualm schon so hübsch in die Polster eingenistet hatte.

Er legte sich wieder auf den weichsten Diwan und war bald eingeschlafen. Das Licht hatte er ausgedreht

Wie lange er geschlafen hatte, wusste er nicht, als er dadurch erwachte, weil ihm war, als ob er etwas sehr Kaltes im Munde habe. Zuletzt machte er noch geträumt haben, er habe ein Stück Eis im Munde.

Das war natürlich nicht der Fall — und dennoch, er hatte noch so einen kalten Geschmack auf der Zunge! Ungefähr so, wie wenn man Pfefferminz gegessen hat, nur dass dieser Pfefferminzgeschmack selbst fehlte.

Wie der Prinz sich hierüber noch wunderte, fühlte er plötzlich einen kühlen Hauch über seine Stirn nach den Haaren zu gehen, und gleich darauf fühlte er, wie sich auf seine Haare selbst eine kleine Hand legte.

Ganz seltsam, dieses Gefühl! Nicht der geringste Druck, nur durch eine ausstrahlende Kälte fühlte der Prinz doch ganz, ganz deutlich, dass es nur eine kleine Menschenhand sein konnte, die auf seinen Haaren lag.

Und jetzt fuhr ihm diese kalte Hand über die Stirn und über das Gesicht.

Zu sehen war sie nicht, trotz der Stockfinsternis.

Denn dass es keine materielle Hand war, das wusste der Prinz; er hielt es gar nicht für nötig, erst hinzufassen.

Eine sogenannte Geisterhand hätte aber doch eigentlich leuchten sollen, gerade in dieser Stockfinsternis. Das tat sie aber eben nicht.

Ganz ruhig lag der Prinz da. Wenn er sich über etwas wunderte, so nur darüber, dass er dieses Phänomen so aufmerksam ohne jede Furcht beobachten konnte.

»Dass es Deasy ist, die sich durch ihre Astralhand anmeldet, diese Annahme wäre verfrüht!«, sagte er sich ganz ruhig. »Warten wir ab, was die Hand weiter will.«

Die kleine Hand nahm sich Zeit. Ganz, ganz langsam fuhr sie über das Gesicht hin, ohne Druck, sich nur durch ihre Kälte fühlbar machend, das aber auch ganz deutlich.

Jetzt hatten die Fingerspitzen die Lippen erreicht.

Und plötzlich fuhren diese Fingerspitzen in den Mund hinein, obgleich der Prinz den Mund geschlossen hatte. Er presste Lippen und Zähne noch fester zusammen, und trotzdem fuhr die kalte Hand hindurch, bis sie völlig in seinem Munde war.

Jetzt freilich begann dem Prinzen zu grauen, und das war begreiflich.

Aber dass er den Mund öffnete und den Kopf wendete, beförderte die unheimliche Hand noch nicht heraus. Dagegen brauchte er nur den Arm zu heben, eigentlich wohl nur den Willen dazu zu haben, die Hand aus seinem Munde zu entfernen, und sofort schlüpfte sie heraus. Nur der kalte Geschmack blieb noch für eine Weile zurück.

»Wer ist da?«, fragte der Prinz, der sein Grausen schnell überwunden hatte, mit unterdrückter Stimme.

Neben ihm an oder in der Wand erscholl ein leises Klopfen.

Es waren abwechselnd einzelne und doppelte Schläge.

Ehe der Prinz erkannte, dass hier telegrafisch gemorst wurde, war es schon beendet.

»Bist Du es, Deasy?«

Das verabredete Bejahungszeichen wurde geklopft.

Und da plötzlich geschah etwas Seltsames, was man aber gar nicht schildern kann.

Mit einem Male überkam den Prinzen eine trostlose Verzweiflung, ein grenzenloser Jammer packte ihn.

Es war alles das, was er seit vielen Stunden mannhaft zurückgedrängt hatte.

In diesem einzigen Moment schaffte sich dies alles Luft, kam in konzentrierter Weise zum Durchbruch.

Jetzt nämlich deshalb, weil sich diese verzweifelte Stimmung der einsamen Verlassenheit im nächsten Moment in eine himmlische Freudigkeit verwandelte.

»Deasy!!«

Er hatte es nur geflüstert, glaubte es aber laut gejauchzt zu haben. Doch so unvorsichtig war er nicht.

Wieder wurde in der Wand das Bejahungszeichen geklopft.

Der Prinz sagte sich, dass hier etwas Wichtiges vorliegen müsse.

»Wie geht es Dir?«, war da seine erste Frage.

»Gut, sehr gut!«, wurde in der Wand leise gemorst.

»Hast Du mir etwas Wichtiges mitzuteilen?«

»Nein.«

»Ist dort etwas passiert?«

»Nein.«

»Liegst Du in Trance?«

»Nein.«

»Was machst Du?«

»Ich spiele.«

»Mit wem denn?«

»Mit Fred und mit allen.«

»Welche Zeit ist es denn?«

»Drei Minuten vor halb zwölf.«

»Und Du schläfst noch nicht?! Wie kommt denn das?«

»Heute ist Weihnachten.«

Richtig! Damals in dem Küstengebirge hatte er noch daran gedacht, dass in vier Tagen Weihnachten sein würde, die Vorbereitungen wurden schon getroffen, um dem Kinde und Fred und auch den Cowboys zu zeigen, wie ein deutsches Weihnachten gefeiert wird.

Also vier Tage war er besinnungslos gewesen.

Während dieser letzten Stunden hatte er nicht daran gedacht. Jetzt desto mehr.

Wieder wurde sein Herz von einer himmlischen Seligkeit erfüllt — von einer kindlichen Weihnachtsfreude, von welcher der Erwachsene sonst nichts mehr weiß, wenn er unter Kindern nicht selbst wieder zum Kinde werden kann.

Deasy war bei ihm, besuchte ihn zu Weihnachten, in der heiligen Nacht!

Ob er hier in einem orientalischen Prunkzimmer auf einem weichen Diwan lag oder in einer unterirdischen Kerkerzelle auf faulendem Stroh — was hätte es für einen Unterschied ausgemacht?

Das Kind, das er über alles liebte, war bei ihm!

In dem feuchten Erdloche wäre ihm der heilig Stern der Erlösung ebenso aufgegangen wie hier.

»Du bist hier bei mir?«

»Ja.«

»Kannst Du Dich mir nicht sichtbar machen?«

»Nein.«

Der Prinz wusste bestimmt, dass sie es könne und noch machen würde. Aber er wollte nicht drängen. Man musste ihr Zeit lassen, dann machte sie es plötzlich von allein.

»Weiß Dein anderes Ich im Kloster davon, dass Dein geistiges Ich hier ist?«

»Nein, die andere Deasy weiß nichts davon.«

Also sie sprach von ihrem leiblichen Ich schon wie von einer andern Person.

»Wie kam es, dass Du mich besuchen wolltest?«

Diese Frage war wichtig, denn so etwas war ja noch gar nicht passiert, die Mediumschaft des Kindes war eben wiederum in ein ganz neues Stadium getreten, der Astralleib verließ bei wahrem Vollbewusstsein den Körper und ging auf Wanderung mit bestimmtem Ziele.

Die Antwort erfolgte ganz ausführlich, mit jener Geduld, die man immer beim Geisterklopfen findet, obgleich doch meist das ganze Alphabet geklopft wird. Und wenn man hundertmal unterbricht, hundertmal wird von Neuem alles wiederholt. Auf dieser Astralebene spielt eben die Zeit eine noch geringere Rolle als ein Gefängnis, wo sich die Sträflinge doch auch durch solches Klopfen unterhalten.

»Deasy dachte wie immer an den gefangenen Onkel Joachim, aber war trauriger denn je, weil heute Weihnachten ist. Und sie wollte sich doch nichts merken lassen, um die Freude der anderen nicht zu stören, wenn sich diese wohl auch nur so zwangen, um Deasys Freude nicht zu stören.

Zuletzt konnte ich diese Verstellung nicht mehr ertragen. Und immer stärker wurde meine Sehnsucht nach Dir. Ich wollte zu Dir, um Dich zu trösten. Und da plötzlich riss in Deasy etwas entzwei und da plötzlich war ich bei Dir.«

So hatte es in der Wand geklopft.

»Deasy im Kloster weiß also gar nicht, dass ihr geistiges Ich jetzt hier ist?«, fragte er nochmals.

»Nein — ja — nein. Jetzt ist sie plötzlich ganz glücklich. Aber warum, das weiß sie eigentlich nicht. Nein, sie weiß nicht, dass ihr Astralkörper ihren Leib verlassen hat, dass ich jetzt bei Dir bin. Und sie weiß es dennoch.«

Der Prinz verstand vollkommen. Nur mit Worten ist es nicht zu erklären.

»Tat es ihr weh, als sie den Astralleib aussandte?«

»Durchaus nicht; sonst wäre sie doch jetzt nicht so glücklich.«

»Weil Du davon sprachst, sie hätten in sich etwas wie ein Zerreißen gefühlt.«

»Ja, das tat weh. Aber es war schön.«

Der Prinz verstand. Es gibt noch eine andere Geburt als die irdisch-leibliche, es gibt sogar dreierlei Arten von Geburten.

»Weshalb fuhrst Du mir denn mit der Hand in den Mund?«

»Um Dich zu wecken.«

»Konntest Du mich nicht anders aus dem Schlafe wecken?«

»O ja!«, wurde erst nach längerer Pause wie zögernd geklopft.

»Weshalb fuhrst Du mit Deiner Hand nur gerade in meinen Mund?«, beharrte der Prinz dabei.

»Ich musste es tun.«

Merkwürdig!

Die uralten Gespensterbücher der Chinesen erzählen, dass Geister, aber nur die guten, die helfen wollen, dem Menschen, den sie aus dem Schlafe wecken oder sonst wie auf sich aufmerksam machen wollen, mit der Hand immer in den Mund fahren.

Und der mediumistisch veranlagte Italiener Sacio Cardano, ein bedeutender Gelehrter, 1445—1526, der sicher nichts von diesen altchinesischen Gespensterbüchern wusste, erzählt, er habe einen »spiritus familiaris« besessen, einen guten Hausgeist, der ihm immer, wenn er ihn aus dem Schlafe habe wecken wollen, mit der Hand in den Mund gefahren sei.

Nun reime sich das zusammen, wer da kann!

Die altindischen Yogaschriften, die dieses Phänomen ebenfalls kennen, erklären es. Es hängt immer wieder mit dem schon einmal angedeuteten »Logos« zusammen.

»Im Anfange war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.«

Diese Einleitung hat der Evangelist Joannes, wie nachzuweisen ist, den Neuplatonikern entnommen, und diese haben es von den indischen Veden.

Und das Wort wird im Munde des Menschen gebildet, und wer es richtig anzuwenden weiß, der kann selbst zum gottähnlichen Schöpfer werden. Daher auch der tiefe Sinn, der in den magischen Formeln liegt. Und wer das nicht glaubt, der hat noch nie einen gottbegeisterten Redner gehört, der alles mit sich fortreißt, der mit einem Schlage alteingewurzelte Ansichten ausrodet und neue Worte schafft — der weiß nichts von der Zaubergewalt eines Buddha, Christus, Mohammed, die selbst nichts geschrieben haben, vor deren einst gesprochenem Wort sich heute nach Jahrtausenden alle Fürsten der Erde demütig beugen müssen, ob sie wollen oder nicht. Das ist wahrer magischer Zauber!

Das auf der geistigen Ebene erwachende Kind hatte den Mund des Mannes, zu dem es sich in Liebe hingezogen fühlte, genau so aufgesucht, wie das auf der irdischen Ebene erwachende Kind, geistig schon immer dagewesen, sofort die Brust der Mutter zu finden weiß.

Mehr kann darüber hier nicht gesagt werden.

Wer das aber einmal erkannt hat, besonders dass es so etwas wie einen vernichtenden Tod überhaupt gar nicht gibt, der lebt fernerhin nur noch auf der geistigen Ebene, das irdische Leben ist ihm nur noch ein possierliches Puppenspiel. Der bringt es dann auch noch so weit, dass er selbst unter den heftigsten Schmerzen, wenn er sich am Boden krümmt, über diese Albernheit des leiblichen Ichs, von der es sich eben noch nicht zu befreien gewusst hat, noch lachen kann. »Tod, wo ist Dein Stachel, Hölle, wo ist Dein Sieg.« Wir brauchen keine indischen Veden. Es steht alles auch in unserer Bibel. —

»Du bist hier wirklich persönlich bei mir?«, fragte der Prinz aus guten Gründen immer noch einmal.

»Ich bin bei Dir!«, wurde in der Wand geklopft.

»Es ist also nicht nur Fernwirkung?«

»Ich bin bei Dir, so wie ich damals bei Onkel Edward war.«

»Damals lagst Du in Trance.«

»Jetzt nicht mehr nötig, ich bleibe für immer bei Dir.«

»Für immer?«

»Ja. Als Dein Schutzengel.«

»Droht mir denn eine Gefahhr?«

»Ja.«

»Was für eine?«

»Du wirst es erleben.«

»Du darfst es nicht sagen?«

»Nein.«

»Aber Du selbst kannst sie schon sehen?«

»Ja.«

»Du kannst in diesem Zustande in die Zukunft blicken?«

»Ja.«

»Auch in Deine eigene?«

»Nicht in meine. In Deasys Zukunft.«

Der Prinz verstand. Für das geistige Ich gibt es keinen Raum und keine Zeit, es schmilzt alles in einem einzigen Punkte zusammen, in ein »Hier« und ein »Jetzt«. Also kann es auch keine Vergangenheit und keine Zukunft geben für dieses geistige Ich.

»Du weißt, wann und welchen Todes ich sterbe werde?«

»Ja.«

»Aber Du willst es mir nicht sagen?«

»Ich darf nicht.«

»Kannst Du mir denn gar nichts aus meiner irdischen Zukunft verraten?«

»Nur Gutes.«

»Na da mal los!«

»Du wirst hier gefoltert werden.«

»Na, das ist nicht gerade etwas Gutes!«, konnte der Prinz trotzdem heiter lachen.

»Du wirst gerettet werden!«

»Das lässt sich eher hören.«

»Sorge nicht, wenn Du auf die Folterbank gelegt wirst oder was man sonst mit Dir machen will. Was für Ungeheuer Dich auch bedrohen, kein Haar soll auf Deinem Kopfe gekrümmt werden, nicht den geringsten Schmerz sollst Du empfinden.«

»Ja, solch einen Trost kann man allerdings im Voraus brauchen, dafür bin ich Dir sehr dankbar! Fatime wird mich retten?«

»Nein.«

»Weißt Du denn, wer Fatime ist?«

Denn dem Kinde wurde von alledem nichts erzählt, es sollte von so etwas verschont bleiben.

»Die Königin der Nacht. Sie will Dich befreien.«

»Woher weißt Du das?«

»Sie hat Dir vorhin geschrieben.«

Der Prinz brauchte sich nicht wiederholen zu lassen, was ihm geschrieben worden war.

»Und sie kann mich nicht befreien?«

»Sie befreit Dich, Ihr werdet wieder gefangen, Du wirst gefoltert werden.«

»Und von der Folter kann sie mich nicht retten?«

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»Selbst gefangen.«

»Was ist dann ihr Schicksal?«

»Frage nicht.«

»Bitte, Deasy, antworte mir! Wird auch Fatime wieder befreit?«

»Ja.«

»Und wer rettet mich von der Folter?«

»Ich.«

,Auf welche Weise?«, suchte der Prinz die mitteilsamer werdende Wand auszuhorchen.

»Ich bin eine Biene.«

So nahe es eigentlich auch lag, verstand der Prinz doch im Augenblicke nicht, glaubte auch, falsch buchstabiert zu haben.

»Was bist Du?«

»Eine Mücke — ein Staubkörnchen.«

Da plötzlich ging dem Prinzen die Erkenntnis auf. Er hatte etwas wie eine Vision.

Er sah auf einem Berge einen göttergleichen Helden stehen, zu seinen Füßen liegt die ganze Welt, besiegt durch das Schwert, das er gen Himmel schwingt.

»Herrgott, was bin ich, und was kann aus mir noch alles werden! Wer gleicht mir? Wer will sich mit mir messen? Mit mir, von Gottes Gnaden?«

Da fliegt ihm ein winziges Staubkörnchen ins Auge.

Und da wirft der herrliche, göttergleiche Heldenjüngling sein Schwert schnell weg und reibt sich das Auge, und reibt und reibt und flucht.

Nein, es ist nichts mit dem göttergleichen Heldentum auf dieser Erde. Da müssen erst einmal die Staubkörnchen abgeschafft werden, und die Mücken und andere Tierchen, sogar die noch unentdeckten. Und schließlich bleibt immer noch etwas übrig, was sich mit keinem Ideal und keinem Idol zusammenreimen will.

Uns bleibt ein Rest, es ist sehr peinlich.

So klein er ist, er ist nicht reinlich.

So ungefähr sagt Goethe irgendwo.

»Du verwandelst Dich in eine Biene, in eine Mücke, in ein Sandkörnchen, um mich zu retten? Du stichst den oder fliegst dem ins Auge, der mir ans Leben will?«

In der Wand erscholl ein langanhaltendes Klopfen.

Der Prinz kannte schon die Bedeutung desselben. Es drückte ein Lachen aus.

»Was lachst Du denn, Deasy?«

»Über Dich. Weil ich mich in eine Biene oder in eine Mücke oder gar in ein Sandkorn verwandeln soll, um Dir zu helfen.«

Recht so, jetzt machte sich das Kind auch noch lustig über den guten Onkel, der seinen Scharfsinn so anstrengte, um für alles eine Erklärung zu finden!

»Aber das sagtest Du doch selbst!«

»Nicht so.«

»Wie denn sonst?«

»Ganz anders. Kann es Dir nicht erklären. Du würdest mich nicht verstehen.«

Es war nur geistig aufzufassen.

»Du kannst mein Schicksal beeinflussen?«

»Ja.«

»Auch das eines jeden anderen Menschen?«

»Nein — ja — nein. Geister lenken alle Schicksale.«

Etwas, was man bei solchen Gelegenheiten immer wieder zu hören bekommt.

»Was sind das, Geister?«

»Geister sind Gedanken, und Gedanken sind Geister.«

»Jeder Gedanke, der gedacht wird, ist auf der Astralebene bereits vorhanden?«

»Ist es schon immer gewesen.«

Hierin wollte der Prinz lieber nicht weitergehen.

Außerdem wurde er in seinem Gedankengange unterbrochen.

Plötzlich fühlte er in seinem linken Auge einen momentanen, aber äußerst heftigen Schmerz. Wie ein Nadelstich. Nichts weiter als ein momentaner Nervenschmerz. Gleich war er wieder vorüber.

An der Wand erschollen wiederholte Doppelschläge, ein Zeichen, dass Deasy sprechen wollte, es war die Einleitung.

»Hast Du das gefühlt?«

»Na und wie.«

»Das war ich.«

»Weshalb hast Du das gemacht?«

»Weil ich Dich liebe.«

»Na ich danke!«, konnte der Prinz, sich das Auge haltend, obgleich es nicht mehr schmerzte, schon wieder lachen.

»So werde ich Dich schützen.«

»Du wirst meinen Peinigern Schmerzen in die Augen hexen oder sie blenden?«

»Nein, anders. Ich gebe der Waffe und der Kugel, die Dich treffen soll, eine andere Richtung.«

»Wie, auch das könntest Du?!«

»Frage nicht darnach, frage anderes.«

»Kannst Du Dich mir nicht fühlbar machen?«

»Ich habe es soeben getan.«

»Aber sehr unangenehm. Ich möchte einmal Deine Hand ergreifen, Deasy.«

»Das kannst Du nicht.«

»Du vermagst Dich nicht so körperlich fühlbar zu machen?«

»Nein. Jetzt umarme ich Dich und küsse Dich, aber Du fühlst mich nicht.«

»Aber ich fühlte doch vorhin Deine Hand auf meinem Kopfe.«

»War das angenehm?«

»Nein, nicht eben sehr. Und trotzdem, mache es noch einmal.«

»Ich kann es nicht mehr.«

»Wie kommt denn das nur? Bitte, gib mir doch eine Erklärung.«

Vergebens bat der Prinz und stellte noch einige andere Fragen, es kam keine Antwort.

»Bist Du denn noch da, Deasy?«

Keine Antwort.

Da plötzlich, wie er schon aufstehen wollte, nur um sich etwas Bewegung zu verschaffen, gewahrte der Prinz, der mit dem Kopfe ziemlich hoch lag, vor sich auf seinem Leibe einen weißen, leuchtenden Punkt.

Schnell vergrößerte er sich, erst in die Breite, dann wuchs er auch in die Höhe, bis er ungefähr die Größe einer Walnuss hatte, und zu seinem Staunen erkannte er, dass es ein Skarabäus war, und zwar von denselben Formen wie jener, den der Zolloffizier geschenkt hatte — denn die steinernen Skarabäen sind ja ganz verschieden — also ohne Beine und die dicken Fühler, die Flügeldecken nur angedeutet.

Also Deasy wollte sich, dem ersten Wunsche des Prinzen entsprechend, sichtbar machen, deshalb antwortete sie auch nicht mehr, die Kraft, die sie das Klopfen kostete, verwendete sie jetzt hierauf, und als Einleitung zur Materialisation benutzte sie den Skarabäus, für den sie sich schon so sehr interessiert hatte.

Ob das nun gewissermaßen eine ätherische Spiegelung jenes Steinkäfers war, der jetzt auf Freds Brust hing, oder ob sie dies selbst war, das hätte niemand sagen können und auch Deasy selbst nicht, sie hätte, befragt, uns mit einem »ich weiß nicht« oder mit »ja — nein — ja — nein« geantwortet.

Und jetzt begann der weißleuchtende Käfer, aber kein Licht ausstrahlend, sich zu bewegen, richtig zu laufen! Obgleich ihm keine Beine gewachsen waren; denn der heilige Pillendreher hat ja eigentlich lange, sehr kräftige Beine.

Und dennoch lief die Lichterscheinung ganz richtig, nicht dass sie nur so schwebte oder huschte oder sich schob, sondern als ob sie unter dem Leibe kleine Beine habe.

Als der Käfer des Prinzen Brust erreicht hatte, lag er wieder still.

Der Prinz wollte ihn einmal berühren. Natürlich konnte er seinen Finger in die Lichterscheinung hineintauchen, der Finger war darin zu sehen, wenn auch nicht so wie in hellem Lichte.

Nachdem der Prinz den Finger zurückgezogen hatte, fing der Käfer wieder zu laufen an.

Jetzt fiel dem Prinzen ein, seine Hand auf die Brust zu legen. Ob der Käfer darüber hinweg oder durch sie hindurch laufen würde. In welch letzterem Falle das Lichtgebilde sich doch verzerren musste.

Der leuchtende Käfer näherte sich der Hand, erreichte sie, kletterte hinauf.

Und da fühlte der Prinz einen ziemlich schweren, nasskalten Leib, fühlte kribbelnde Beine.

Erschrocken schlenkerte er die Hand, schleuderte das Ding, das jetzt durchaus kein Lichtgebilde mehr war, von sich.

Der Käfer fiel auf den teppichbelegten Boden, war im Nu in der Finsternis verschwunden.

Jetzt bedauerte der Prinz, dass er im ersten Grauen vor dem krabbelnden Dinge den Käfer fortgeschleudert hatte. Gewiss hätte der sich noch weiter entwickelt, anderes vorgemacht.

Nun, er konnte ja wiederkommen oder etwas anderes kam.

Einige Zeit verging und nichts zeigte sich, nichts passierte.

»Bist Du noch da, Deasy?«

Kein neues Klopfen erscholl.

»Du wolltest doch immer bei mir bleiben, Deasy!«, begann der Prinz wie ein ungeduldiges Kind etwas zu schmollen.

Keine Antwort.

Da aber plötzlich ein Geräusch, als wenn ein festes Tuch, ein Teppich zerrissen würde!

Und da tauchte in der Finsternis dort, wo sich die nach den anderen Zimmern befindliche Tür befand, wohin der auf dem Diwan Liegende blickte, etwas Weißes auf und verschwand schnell wieder, mehrmals hintereinander.

Es war nicht anders, als ob dort hinter dem geteilten Teppich, der die Tür verdeckte, immer ein Arm hervorgestreckt und schnell wieder zurückgezogen würde, zuletzt konnte der Prinz auch eine Hand mit Fingern unterscheiden.

Und jetzt kam etwas Rundes zum Vorschein, ein Menschenkopf, verschwand aber auch gleich wieder.

»Komm nur hervor, Deasy!«, ermunterte der Prinz.

Und richtig, sofort trat die weiße Gestalt in voller Größe hervor.

Aber nicht etwa ein Kind im kurzen Kleidchen, nicht Deasy als leuchtende Gestalt.

Sondern es war ein erwachsener Mann, in ein wallendes Gewand gehüllt, mit etwas spitz zulaufendem Vollbart und bis auf die Schultern fallenden Haaren, dazu dieses Gesicht, diese Züge!

»Edward Scott!«

Kaum war dieser Name erklungen, als die Erscheinung, eben erst hervorgetreten, schon wieder zurückzuckte, so wie man durch einen Momentverschluss einen Sonnenstrahl durch einen finsteren Raum blitzähnlich huschen lassen kann, und verschwunden war die Gestalt.

An der Wand erscholl das einleitende Klopfen.

»Deasy?«

»Hast Du ihn erkannt, Onkel?«

»Edward Scott!«

»Ja. Den aber habe ich nicht gewollt. Er hat Dich ohne mein Wissen besucht. Jetzt kommt er nicht wieder. Nun aber kommt ein anderer, den Du ebenfalls sehr gut kennst.«

Und da trat hinter dem Teppich oder eben aus der Finsternis schon wieder eine leuchtende Gestalt hervor, diesmal sofort, ohne erst Versuche zu machen, einzelne Gliedmaßen zu materialisieren.

Es war ein alter, gebückter Mann, sich auf einen Krückstock stützend, angetan mit einem altmodischen Schößenrock, mit Kniehosen, grobgewirkten Strümpfen und plumpen Schuhen, das hagere, glattrasierte Gesicht sehr faltig, die weißen Haare ebenfalls etwas lang, aber nicht bis auf die Schulter fallend.

Ja, es waren weiße Haare, obgleich doch die ganze Gestalt weiß war.

Aber es muss eben noch ein anderes Farbensehen geben als das mit dem gewöhnlichen Auge. So wie man, wenn man einige Phantasie besitzt, ja auch bei geschlossenen Augen Muster von den verschiedensten Farben erzeugen kann, die nichts an Realität einbüßen.

Über solche Farbenunterschiede bei diesen sonst ganz weißen, an sich farblosen Erscheinungen ist auch schon mehrmals gesprochen worden, schon bei jenen ersten Nebelgestalten.

Also der Prinz sah ganz deutlich, dass der alte Mann weiße Haare hatte, während der Schößenrock von dunkelgrauer Farbe war, die Hosen wie die Strümpfe schwarz, und aus der Rocktasche hing ein rotes Schnupftuch heraus.

So deutlich war alles zu unterscheiden, dass der Prinz auch gleich die große Ärmlichkeit erkannte, der graue Schößenrock war einst ebenfalls schwarz gewesen, war ganz fadenscheinig geworden.

Der Mann stand nicht regungslos da, er humpelte einige Schritte vorwärts, schwer auftretend und mit dem Krückstock stampfend, freilich ohne einen Ton hervorzubringen, und nicht nur, dass der dicke Teppich den Schall gedämpft hätte, es war eben trotzdem alles ganz geisterhaft, ganz ätherisch, er nickte dem Prinzen freundlich zu, dann zog er aus der linken Rocktasche eine Dose hervor, nahm umständlich eine Prise, dann zog er das rote Taschentuch und putzte sich noch umständlicher die Nase, die eine ansehnliche Größe hatte und auf der auch eine behaarte Warze prangte. Selbst die Härchen konnte der Prinz deutlich erkennen.

Es wurde einleitend geklopft.

»Kennst Du ihn?«

»Immanuel Kant?«

Es sind einige Porträts von Kant erhalten geblieben, ihn auch in voller Figur zeigend, besonders eine Bleistiftskizze, von einem unbekannten Künstler, ist sehr hübsch, ihn darstellend, wie er als alter Mann eine große Schüssel trägt, wahrscheinlich Erbsen und Speck enthaltend. Kant aß täglich nur ein einziges Mal, aber auch jeden Tag, den Gott werden ließ, Erbsen mit Schweinefleisch, aß sehr mäßig, aber so langsam, so gewissenhaft kauend, dass er dazu immer zwei Stunden brauchte.

Ja, so sah auch dieser Mann aus. Auch so ein hageres, verrunzeltes und verhunzeltes Gesicht, gewissermaßen die Schwielen der geistigen Arbeit zeigend, auch so eine verhunzelte Gestalt mit stark gekrümmtem Rücken, auch so gekleidet — nur dass Kant immer auf sein Zöpfchen mit Schleifchen hielt.

»Immanuel Kant?«

Das anhaltende Klopfen deutete Lachen an.

»O nein, Kant ist das nicht.«

Also nicht der wunderbare, rätselhafte Mann, der innerhalb seines achtzigjährigen Lebens niemals aus den Mauern seiner Vaterstadt Königsberg herausgekommen ist und der trotzdem, nur durch wissenschaftliche Spekulation, ganz selbstständig, eine Karte der Windströmungen an den südamerikanischen Küsten aufgestellt hat, nach der sich die Seeleute heute noch richten. Das ist auch so etwas, das alles in den Schatten stellt, was man auch sonst über »Zauberei« hören mag. Und nun lese man von demselben Kant, um den uns Deutsche alle Nationen beneiden, dessen Geist die ganze Erde umspannte und in die Geheimnisse des Himmels drang, die Abhandlung »Träume eines Geistersehers«. Dann kommt man vielleicht zur Überzeugung, dass es doch nicht so zwecklos ist, sich mit metaphysischen Dingen zu beschäftigen, das Reich der Geister zu betreten, sowie ja auch Edison offen bekennt, auf welche Weise er sich seine erfinderischen Ideen erzwingt, die ihm bereits hundert Millionen eingebracht haben.

»Er lebt noch!«, fuhr das Klopfen fort. »Auch er ist einer der größten, gewaltigsten Geister, die jetzt noch in Fleisch und Blut auf Erden wandeln, und einer der vollkommensten Menschen dazu. Dass er ab und zu eine Prise nimmt, das ist seine einzige Schwäche.«

Zunächst wunderte sich der Prinz über eines.

Er hatte schon vorhin daran gedacht.

Das, was da die Wand klopfte, war doch nicht etwa die Ausdrucksweise der kleinen, siebenjährigen Deasy!

Das war doch ein gereifter Menschengeist, ein schon hoch entwickelter, der da zu ihm sprach.

Für dieses Rätsel sollte der Prinz bald die Erklärung bekommen.

»Und ich soll ihn kennen?«

Schnell ging der Prinz alle die großen, führenden Geister durch, die noch leben — er konnte sich nicht entsinnen.

»Du kennst ihn persönlich.«

»Wie heißt er denn?«

»Peter Sybel.«

»Peter Sybel? Nein, ich kenne keinen Mann solchen Namens.«

»Du kennst ihn sogar sehr, sehr gut.«

»Woher denn nur?«

»Du hast mit ihm gesprochen, stundenlang, hast mit ihm gegessen und getrunken.«

»Nein, Deasy, da irrt sich auch einmal Dein über Raum und Zeit erhabenes Ich.«

»Er wohnt in Christiania als Privatgelehrter in einer armseligen Dachkammer —«

Da freilich fiel es dem Prinzen plötzlich wie Schuppen von den Augen.

Obgleich er ja diesen alten Mann wirklich noch nie gesehen hatte.

Aber diese Andeutung musste genügen, um vor seinen geistigen Augen gleich eine ganz andere Männergestalt entstehen zu lassen, und tatsächlich, jetzt erkannte er auch dieses Gesicht mit der starren Nase!

»Norge!!«

Der Alte war noch immer nicht fertig mit seiner Nase.

Doch kaum hatte der Prinz den Namen genannt, da zuckte auch diese Gestalt wieder wie ein Lichtstrahl hinter den Teppich zurück.

Diesmal dauerte es nicht wieder so lange, es kam zu keiner Unterhaltung mehr, da tauchte hinter dem Teppich die dritte Gestalt auf, wiederum gleich frei hervortretend.

Und diesmal war es ein Weib.

Ein junges, schönes Weib in der Vollkraft der Jahre, eine hohe, imposante, vollbusige Germaniagestalt, in wallende Gewänder gehüllt, mit offenen Haaren, und der Prinz erkannte diese schönen, edlen Züge, obgleich er dieses Weib selbst noch nie gesehen hatte, nicht in dieser Gestalt.

Das waren unverkennbar Deasys Züge!

Deasy selbst, so wie er sie sich nach zwanzig Jahren vorstellen konnte, zur vollen Reife entwickelt.

Auf den Gedanken, dass es ja vielleicht auch Deasys Mutter oder eine Verwandte sein könne, die ihr recht ähnlich sah, kam er gar nicht.

Und warum sollte das Kind nicht die Gestalt annehmen, die es nach zwanzig Jahren besitzen würde?

Die Seele bildet erst den Körper, und die Seele ist erhaben über die Zeit wie über den Raum. Nur auf der irdischen Ebene ist der von ihr erst geschaffene Leib den irdischen Gesetzen unterworfen, dem Raume und der Zeit, der Entwickelung.

»Deasy!!«

Und diesmal zuckte die Gestalt beim Nennen des Namens nicht wieder in die Nacht zurück.

»Ich bin es — Dein Schutzgeist!«, hauchte eine süße Stimme.

Und sie schwebte auf den Prinzen zu, die leuchtende, ätherische Gestalt, beugte sich über ihn — und da fühlte der Prinz zwei weiche, lebenswarme Arme, die ihn umschlangen, ein weiches, warmes Lippenpaar presste sich auf seinen Mund.

Aber der irdische Mensch vermochte dieses Phänomen, dass ein wesenloser Geist aus einer andern Welt plötzlich Fleisch und Blut ward, nicht zu ertragen.

Wie Blei legte es sich plötzlich auf des Prinzen Augen.

Nicht, dass ihn eine Ohnmacht umfing.

Er fiel in einen tiefen Schlaf.

Da konnte er weiter träumen.

Aber nicht von irdischer Liebe.

Auch der Traum hat zahllose Ebenen, auf denen sich der Geist, die Seele bewegen kann, und auf jener, auf der jetzt der Prinz weilte, weiß man nichts von dieser Liebe, die der Venus vulgaris geheiligt ist.

»Sie werden nicht freien, noch sich freien lassen, sondern sie sind wie die Engel im Himmel.«

Die Schriftgelehrten verstanden ihn nicht, und der Meister musste es später auch seinen Jüngern sagen:

»Ich hätte Euch noch viel zu sagen, aber Ihr versteht mich nicht.«

— • —

39. Kapitel
In Aladins Zaubergarten

Originalseiten 962 — 983

Am andern Morgen besichtigte der Prinz die Zimmer nebenan näher. Dass es früh um acht war, konnte er nur nach den reichlich verteilten Wand- und Stutzuhren konstatieren, deren Zifferblatt nach astronomischer Einteilung, die bisher allein von Italien akzeptiert worden ist, vierundzwanzig Stunden zeigte, auf welche allgemeine, einzig richtige Einteilung alle Uhrmacher der Welt so sehnsüchtig warten, weil dann natürlich ihr Weizen für viele Jahre hinaus blühen wird.

Denn sonst konnte der Prinz nicht erkennen, ob es Tag oder Nacht, Morgen oder Abend war. Auch diese vier Zimmer hatten keine Fenster, die frische Luft wurde durch künstliche Ventilation zugeführt.

Eben wollte der Prinz daran gehen, ein Verzeichnis der gewünschten Bücher aufzustellen, als das in dem Schreibzimmer an der Wand befindliche Telefon klingelte.

»Hier Ardschir. Wie ist Ihr Befinden, Hoheit?«

»Sehr gut.«

»Wie haben Sie die Nacht verbracht?«

»,Fest schlafend.«

»Haben Sie schon gefrühstückt?«

»Noch nicht.«

»Bestellen Sie. Sie können nun fernerhin das Telefon benutzen. Die Dienerschaft betritt Ihre Gemächer durch das Boudoir, wie wir das orientalische Zimmer nennen wollen. Wünschen Sie nur Kleinigkeiten, wozu Sie sich nicht erst durch den Eintritt eines Dieners stören lassen wollen, so können Sie noch immer die Wandklappe im Boudoir benutzen. Werden Ihre Zimmer gesäubert, so ziehen Sie sich einstweilen in das letzte zurück, bis dieses daran kommt, oder Sie nehmen während dieser Zeit vielleicht ein ungestörtes Bad. Sind Ihnen diese Anordnungen recht, Hoheit, die ich getroffen habe?«

»Ganz recht.«

»Wünschen Sie nach dem Frühstück etwas im Freien spazieren zu gehen?«

»Ja, das ist es, was ich gerade noch fragen wollte. Wenn ich gesund bleiben soll, kann ich nicht auf die Dauer das Sonnenlicht vermissen.«

»Sie können sich zu jeder Zeit im Freien ergehen. Zu jeder Zeit! Bei Tag wie bei Nacht. Nur diese eine Stunde wollen Sie sich noch gedulden, da noch einige Vorbereitungen getroffen werden. Ihr Schlafzimmer hat doch noch eine Tür.«

Ja, die war vorhanden. Der Prinz hatte sie verschlossen gefunden.

»In einer Stunde ist sie offen und bleibt es für immer. Bedienen Sie sich ihrer fernerhin nach Belieben. Mehr brauche ich nicht zu sagen. Eines Führers bedürfen Sie nicht. Nur wegen der Rückkehr, falls Sie sich verirren, was vorkommen kann. Haben Sie in Ihrem Schreibtisch schon die Klingeldose gefunden?«

»Nein, noch nicht.«

»Bitte, sehen Sie nach. Links im obersten Fach muss sie liegen.«

Der Prinz ging an den Schreibtisch und fand im bezeichneten Fache eine Art Uhr, aber ohne Zifferblatt, also eine runde, flache Büchse. Der oben hervorsehende Knopf lud ganz von selbst ein, darauf zu drücken, und als es der Prinz tat, erscholl in der Büchse ein leises Klingeln.

Er trat an das Telefon zurück.

»Ich habe die Klingeldose gefunden.«

»Wenn Sie oben auf den Knopf drücken, so klingelt es, und alsbald wird jemand kommen und nach Ihren Befehlen fragen. Das gilt aber nur für draußen im Freien, nicht für diese Innenräume.«

»Ich verstehe.«

»Falls Sie sich draußen einmal verirren oder sonst etwas bedürfen.«

»Es ist ein Garten?«

»Ja.«

»Ist denn der gar so groß, dass man sich darin verlaufen kann?«

»Sie werden es erleben. Selbst ein Jäger wie Sie, der sich sonst in jeder Wildnis zurecht findet. Sie sollen Überraschungen erleben. Haben Sie sonst noch Fragen oder Wünsche, Hoheit?«

»In was für einer Toilette begegnet man am besten diesen Überraschungen?«

»Ganz nach Ihrem Belieben! Sie können einen Frack wählen oder Ihren alten Jagdanzug. Auf die, denen Sie begegnen, brauchen Sie absolut keine Rücksicht zu nehmen.«

»Ich werde draußen Gesellschaft haben?«

»Wahrscheinlich!«, war die ausweichende Antwort.

»Nur bitte der Mistress Allan möchte ich nicht begegnen.«

»Nein, nur Ihnen angenehme Gesellschaft, dafür ist gesorgt, und wünschen Sie auch diese nicht, so gehen Sie ihr einfach aus dem Wege. Belästigt werden Sie niemals. Sonst noch etwas, Hoheit?«

»Nicht dass ich jetzt wüsste.«

»Ich stehe immer zu Ihrer Verfügung. Rufen Sie an, der sich meldende Diener setzt mich mit Ihnen in Verbindung, und wenn ich kann, komme ich auch persönlich. Schluss.«

Gleich darauf klingelte der Prinz noch einmal am Telefon, ein dienstbarer Geist meldete sich, diesmal in französischer Sprache, bei dem der Gefangene sein Frühstück bestellte.

Bald erschien der Diener mit dem Servierbrett, und der Prinz wunderte sich doch etwas, statt eines Arabers einen regelrechten Hotelkellner im Frack zu erblicken, also einen Europäer, wahrscheinlich sogar einen Deutschen, nach dem hochmütigen Gesicht und den regelrechten Bartkoteletten sogar einen Oberkellner.

»Sind Sie auch zum Schweigen verpflichtet?«, fragte der Prinz auf Deutsch.

»Ich darf antworten, soweit es mir gestattet ist, königliche Hoheit!«, lautete der auf Französisch gegebene Bescheid.

Nun ließ sich der Prinz gerade nicht mit ihm ein.

Er verzehrte das opulente Frühstück, machte Toilette, wählte unter der reichen Garderobe, die ihm zur Verfügung gestellt worden, alles wie nach Maß für ihn gefertigt, ein Sportkostüm. In seinem alten Jagdanzug hätte er sich wohler gefühlt, aber zu dem gehörten seine Waffen, ohne die hätte er sich geniert.

Als er fertig war, untersuchte er die zweite Tür des Schlafzimmers und konnte sie öffnen.

Ein elektrisch erleuchteter Korridor zeigte sich. Er durchschritt ihn, kam an eine nach oben führende Treppe und erstieg sie.

Sie führte in eine kleine Säulenhalle, in einen tempelartigen Kiosk, und der Prinz befand sich im Freien.

Es war ein paradiesischer Garten. Die herrlichsten Palmen aller Art, Feigenbäume, Granatapfelbüsche und was sonst noch alles im heißen und auch noch im gemäßigten Orient gedeiht, wie zum Beispiel der Kirschbaum — ferner ganze Rosenhaine und die herrlichsten Blumenbeete, zwischen denen sich die geharkten Kieswege schlängelten.

Das war so der erste Eindruck, den der Prinz bekam.

Solche Gärten gibt es ja in Neu-Kairo genug, nicht nur in der Umgebung.

Aber so beschaffen konnte jetzt keiner dieser Gärten sein.

Wenn in Ägypten während des Winters die Natur auch nicht erstirbt, ihren Winterschlaf hält sie doch. Frischgrünes Laub und reife Früchte gibt es zur Winterszeit nicht.

Und hier strotzten die Bäume von reifen Datteln, Feigen und Orangen, in dem saftigen Grün der Büsche glühten die Granatäpfel, dazu Kirschen und riesige Birnen, wo sich die Weinreben schwangen, da drohten sie unter der Last der Trauben mit pflaumengroßen Beeren nieder zu brechen, und zwischen den zum Pflücken einladenden Früchten trieben schon wieder neue Blüten, und dieselbe üppige Fruchtbarkeit zeigte sich allüberall.

Ein Gewächshaus? Ein Treibhaus mit künstlicher Heizung?!

Nein. Über dies alles wölbte sich der blaue Himmel, am östlichen Horizonte noch in der letzten Farbenpracht spielend, und die Morgensonne stand dort, wo sie für diese Gegend jetzt zu stehen hatte.

Doch der Prinz wunderte sich nicht. Vorhin über den befrackten Oberkellner, der ihm geschickt wurde, hatte er sich viel mehr gewundert.

Er wusste, wo er sich befand und was hier vorlag.

Er befand sich nicht in Kairo, wie ihm der König Ahasver als Monsieur Ardschir vormachen wollte, sondern im Geistergebirge, im Megalis el Hiemit, und heute Nacht hatte er darüber noch viel mehr erfahren. Er wusste, was hier alles ermöglicht werden konnte.

Aber er hatte wohl seine guten Gründe, sich ganz außer sich vor Staunen zu stellen, sich die Augen zu reiben und sich wohl auch einmal in die Ohren zu kneifen, um sicher zu sein, dies alles nicht nur zu träumen.

Dort neben der Treppe befand sich an einer der antiken Säulen ein Telefon, recht auffallend und daher recht unschön angebracht, wo die Orientalen doch sonst so etwas immer verstecken wollen, und der Prinz eilte hin und drehte die Kurbel.

»Hier Sekretär. Wer dort?«

»Prinz Joachim. Kann ich Monsieur Ardschir sprechen?«

»Ich stelle die Verbindung her. Bitte wollen Hoheit klingeln.«

»Hier Ardschir!«, erklang es da auch schon. »Sie wünschen, mein Prinz?«

»Ich begehe das Paradoxon, zu behaupten, dass ich vor Staunen sprachlos bin!«

»Weshalb, mein Prinz?«

»Entweder Sie haben mich über die Zeit, über die Dauer meiner Bewusstlosigkeit getäuscht oder über meinen Aufenthaltsort.«

»Wie meinen das Hoheit?«

»Was haben wir für einen Monat?«

»Heute ist der 25. Dezember.«

»Und wo soll ich mich befinden?«

»Direkt in Kairo.«

»Eine dieser Angaben kann nicht stimmen!«

»Weshalb nicht, mein Prinz?«

»Entweder es ist jetzt Hochsommer, Juni bis August, oder Sie haben mich in den vier Tagen nach der südlichen Hälfte unserer Erdkugel zu versetzen gewusst, etwa nach Sansibar.«

»Und warum nehmen Sie das an, mein Prinz?«, wurde immer wieder gefragt.

»Weil hier Früchte reifen und Blumen blühen, die jetzt auf diesem nördlichen Breitengrade nicht reifen und blühen können!«

»Haben sich Hoheit schon überzeugt, dass es auch natürliche Früchte und Blumen sind, keine künstlichen?«

»Gekostet habe ich die Früchte allerdings noch nicht, noch kein Blatt berührt! Wie, ich sollte mich so getäuscht haben?! Das wäre alles nur künstlich gemacht?!«

»Nein, Hoheit haben sich nicht getäuscht. Pflücken und essen Sie, es sind ganz natürliche Früchte. Und ich versichere Ihnen, dass Sie auch über die Zeit nicht getäuscht werden, Ihre Uhren gehen richtig, es ist jetzt genau vier Minuten nach neun. Können sich Hoheit nicht nach dem Stande der Sonne ungefähr über den Ort, wo Sie sich befinden, orientieren?«

»In der Tat, dann müsste ich mich nördlich vom Äquator befinden, ungefähr auf dem Wendekreis des Krebses!«

»Und so ist es auch, Sie sind wirklich in Kairo, und wir haben jetzt Ende Dezember.«

»Ja, das ist aber doch keine Erklärung! Sie bestätigen doch hiermit nur die Unmöglichkeit von alledem.«

»Sie befinden sich eben in einem orientalischen Zaubergarten.«

»Was soll das heißen, Zaubergarten?«

»Haben Hoheit keine orientalischen Märchen gelesen?«

»Wenigstens die größte Sammlung solcher Märchen, Tausend und eine Nacht.«

»Kommen darin nicht solche Zaubergärten vor?«

»Massenhaft.«

»Deren Vegetation ganz unabhängig von der Witterung, von Zeit und Ort ist, in denen man die wunderbarsten, die unmöglichsten Dinge erlebt.«

»Es sind eben Märchen.«

»Ich will Ihnen beweisen, dass diese Märchen zur Tatsache werden können. Unsere arabischen Vorfahren haben solche Zaubergärten wirklich besessen, und wir modernen Araber sind immer noch imstande, sie anzulegen und in Betrieb zu halten.«

»Und worauf beruht nun die Einrichtung dieser Zaubergärten?«

»Auf Magie.«

»Was heißt das, Magie?«

»Ich will sagen: Es ist alles nur Illusion, die jedoch durch nichts von der Wirklichkeit zu unterscheiden ist. Das darf man doch wohl Magie nennen. Diese Art von Magie beherrschen wir. Sobald Sie einer der Unsrigen sind, werden Sie vollkommen darin eingeweiht. Zuvor möchte ich noch etwas anderes erwähnen. In solchem Zaubergarten ist also überhaupt gar nichts unmöglich. Aladin brauchte nur seine Lampe anzuzünden und sofort erschien ihm ein mächtiger Geist von ungeheurer Gestalt, der ihm jeden seiner Wünsche befriedigte. Die Märchenerzähler haben in solchem Zaubergarten ihre Phantasie zur Genüge walten lassen. Oder die ehemaligen Erfinder dieser Zaubergärten, will ich lieber sagen. Aber haben Sie jemals von solch einem orientalischen Zaubergarten gehört, in dem es einen Apparat gab, durch den man sich mit meilenweit entfernten Personen unterhalten konnte?«

In der Tat, das war eine sehr feine Andeutung, und der Prinz verstand sofort.

Was haben diese Märchenerzähler nicht alles erfunden! Aber an so etwas wie an ein Telefon haben sie nicht gedacht! Solch einen Apparat hätten sie auch in ihrer kühnsten Phantasie für unmöglich gehalten. Deshalb fiel ihnen solch eine Unmöglichkeit überhaupt gar nicht ein.

Es ist eben die alte Geschichte: Es gibt reelle Naturkräfte, die der nüchterne Menschengeist in seine Dienste zwingen kann, und so entstehen Erfindungen, die alles weit hinter sich lassen, was auch die glühendste Phantasie jemals träumen kann!

Die alten Griechen erdichteten eine symbolische Sage, wie Daidalos und sein Sohn Ikaros sich Flügel verfertigen, indem sie Vogelfedern mit Wachs zusammenkleben, um ihrer Gefangenschaft zu entfliehen.

Was würden diese griechischen Märchenerzähler sagen, wenn sie heute die Menschen in Aeroplanen fliegen sähen? Sogar schon auf dem Kopfe fliegen, was nicht einmal irgend welcher Vogel kann.

Wir wollen das Wort »unmöglich« doch lieber ganz aus unserem Lexikon streichen. So wie schon Napoleon I. befahl, wenn auch in anderer Hinsicht. Als in der Schlacht bei Eylau ihm gegenüber der Marschall Ney behauptete, es sei ganz und gar unmöglich, die Batterie dort im Sturme zu nehmen.

»Unmöglich? Nennt in meiner Gegenwart niemals wieder dieses alberne Wort.« —

»Man kann hier in diesem Zaubergarten auch Geistererscheinungen erleben?«

»Haben Sie schon Ihre Klingeldose ertönen lassen?«, lautete die Gegenfrage.

»Noch nicht. Ich bin ja eben erst in dieses Reich eingetreten. Ah, dann kommt wohl kein menschlicher Diener, sondern ein Geist, der sich mir zur Verfügung stellt?!«

»Probieren Sie es nur, ich will nicht vorgreifen.«

»Also es erscheint ein Geist. Nun, Monsieur Ardschir, wenn Sie dermaßen Herr über die Geister sind, dass Sie solche auch Ihren Gästen zur Verfügung stellen können, was bedürfen Sie denn dann noch jenes mediumistisch veranlagten Kindes, um Geister zu beschwören?«

»Verstehen Sie den Unterschied nicht? Die Geister, welche dieses Kind zitieren kann, sind reelle Erscheinungen aus dem Geistreiche. Was Sie in diesen Zaubergarten sehen, ist alles nur Illusion, von uns selbst arrangiert, auch wenn Sie diese Illusion nicht von der Wirklichkeit unterscheiden können.«

»Ach so, nun verstehe ich den Unterschied. Und ich erhalte eine Erklärung, wie dies gemacht wird?«

»Sobald Sie einer der Unsrigen sind, werden Sie in alles eingeweiht.«

»Hm. Nun, wir wollen sehen.«

»Haben Sie sonst noch etwas zu fragen, Hoheit?«

»Jetzt nicht.«

»Dann Schluss. Amüsieren Sie sich gut in Aladins Zaubergarten und verzichten Sie auf alle eigenen Erklärungen.«

Es klingelte, der Prinz hing den Hörapparat wieder an den Haken.

Jetzt erst trat er richtig in den Garten, jetzt erst überzeugte er sich von der Wirklichkeit, pflückte einige Feigen und Weinbeeren und aß sie.

»Illusion? Never mind. Ich nehme alles, wie es mir geboten wird.«

Er erging sich weiter in dem immer schöner werdenden Garten, in dem es auch nicht an Schmetterlingen und Käfern und Singvögeln aller Art fehlte, soweit sie hier vorkommen durften.

Ein Mensch war nicht zu sehen, auch noch keine Mauer, die den Garten umzäunt hätte.

Ehe der Prinz an diese Untersuchung ging, wie weit sich der Garten erstrecke, wobei er schon auf eine Überraschung gefasst war, und ehe er daran dachte, einmal die Klingeldose zu benutzen, die nun schon eine ganz andere Bedeutung bekommen hatte, wurde seine Aufmerksamkeit von einem kleinen Pavillon gefesselt, der sich dort auf einem freien Rundteil zwischen Blumenbeeten erhob.

»Wenn hier alles auf Zauberei zugeschnitten ist, so dürfte doch wohl auch dieser Pavillon seinen dementsprechenden Zweck haben!«, sagte er sich.

Er begab sich hin, umschritt das Häuschen erst einmal. Also nichts weiter als ein kleiner, aus Stein ausgeführter Pavillon oder Kiosk, ein Quadrat von etwa sechs Meter Seitenlänge bildend, ein wenig niedriger, sehr schön in maurischem Stile gehalten, mit reichen Steinverzierungen, nur dass er abweichend von maurischer Architektur und Art auf drei Seiten je ein Fenster hatte, an der vierten eine Tür.

Durch die klaren Fensterscheiben blickend, sah der Prinz einen luxuriös eingerichteten orientalischen Raum und, die Hauptsache, in der Mitte einen Diwan stehen, auf dem ein junges Weib lag, eine Orientalin im farbigen Kostüm, mit Pluderhosen und Leibchen und was sonst noch alles dazu gehört, so bunt und phantastisch wie möglich — eine jener bezaubernd schönen Orientalinnen, wie man sie eigentlich als Glanzpunkt nur im Wachsfigurenkabinett zu sehen bekommt, also Gesicht, Brust und Arme nur aus Wachs modelliert, und hat man noch ein Übriges getan, so muss sie auch noch atmend den schönen Busen heben und senken und vielleicht gar noch manchmal die schwarzbewimperten Augen öffnen und wieder schließen und dazu wie erstaunt mit dem Kopfe wackeln.

Solch eine Gestalt lag hier auf dem Diwan. Also einfach ein bezauberndes Weib; wenn es so eins nur wirklich auf Erden gebe.

Und auch ihr Busen hob und senkte sich; aber die Augen aufschlagen und den Kopf bewegen tat sie nicht.

Wachs oder wirkliches Fleisch und Blut?

»Na, das können wir ja einmal untersuchen!«, dachte der Prinz.

Eine Tür war also vorhanden.

Unterdessen aber hatte der Prinz schon durch ein anderes Fenster geblickt, immer dasselbe sehend, nur immer von einer anderen Seite.

Jetzt kam er an das letzte, dritte Fenster.

»Au weh, die lebt wirklich!«

Die Gestalt hatte ihren vollen, wie aus gelbem Elfenbein gemeißelten Arm, von vielen goldenen Ringen umspannt, gehoben, um sich mit der feinen Hand über das blauschwarze, ebenso reich geschmückte Haar zu fahren.

Das hätte schließlich die Bewegung eines Automaten sein können.


Illustration

Aber wie sie dabei auch etwas ihre Lage verändert hatte, wie sie ihrem ganzen Körper eine andere Stellung gab, das schloss allen mechanischen Betrieb aus. Das war ein lebendes Weib aus Fleisch und Blut!

Doch weshalb hatte denn da der Prinz jene Worte wahrhaft bestürzt hervorgestoßen?

Nun, weil es eben ein junges Weib war, dessen überirdische Schönheit und Liebreiz man gar nicht schildern kann.

Weil dieser Mann, unser Prinz Joachim, kein Lüstling war, kein Don Juan, überhaupt keinen Charakter hatte, dem solch ein Abenteuer entsprach.

Dazu war er zu viel Gentleman, war er zu feinfühlig veranlagt.

Es hätte kein so bezauberndes, überirdisch schönes Weib zu sein brauchen. Es widersprach ihm, hier durch ein Fenster in einen geschlossenen Raum zu blicken, in dem ein junges Weib, oder es hätte vielleicht auch älter sein können, schlafend lag, doch jedenfalls in der Meinung, ganz unbeobachtet zu sein.

Erschrocken war der Prinz vom Fenster zurückgetreten.

»Das wäre etwas für Leutnant Schwarzbach und vielleicht auch für Kapitän Falkenburg und für noch manch anderen, aber für mich ist das nichts!«

Doch schnell hatte er sich von seiner undefinierbarem Verlegenheit erholt und er lachte über sich selbst.

»Ich bin ja närrisch! Wenn die hier liegt und schläft, so ist das alles doch erst für mich arrangiert, und jedenfalls bin ich dazu bestimmt, die schöne Schlafende zu wecken und mir von ihr etwas vorzaubern zu lassen.«

So sagte er sich ganz mit Recht und trat wieder ans Fenster. Sie lag noch mit geschlossenen Augen da, wie sie sich zuletzt gelegt hatte.

»Na, treten wir ein. Ich kann ja erst anklopfen und das Herein abwarten.«

Er ging um die Ecke herum nach der Tür; aber entweder vergaß er es oder er hatte seine Gründe, doch nicht erst anzuklopfen.

Die Klinke ließ sich niederdrücken, die Tür sich öffnen.

Da freilich war die Überraschung groß.

Von den Teppichen und Polstern und der sonstigen Einrichtung war nichts zu sehen, nichts von einer schönen oder einer anderen Orientalin.

Es war ein ganz leerer, nackter Raum, in den der Prinz erst blickte und dann auch trat.

Die Fenster waren noch vorhanden, die Scheiben aber hier drinnen undurchsichtig, von Milchglas, jedoch das Tageslicht außerordentlich hell durchlassend.

Wie war das möglich?

Nun, der Prinz hatte hier in diesem fabelhaften Reiche schon etwas Ähnliches gesehen, hatte es sogar mit in sein Kloster genommen.

Jenes Spielzeug, den Glaskasten mit dem kleinen Bären, den ihm Fatime für Deasy mitgegeben hatte.

Es lag hier doch jedenfalls wenigstens etwas Ähnliches vor.

Der Prinz hatte dem Kinde gegenüber auch schon eine Andeutung gemacht, worauf das Lebendigwerden des Bären wohl beruhte.

Kinematografie. Freilich eine ganz besondere Art der Kinematografie, von der die andere Welt noch nichts wusste. Die lebenden Bilder wurden auf irgend eine Weise allein in den Glasscheiben erzeugt, ohne reflektierende Lichtstrahlen und dergleichen.

Aber hatte der Prinz nicht auch durch das gegenüber liegende Fenster hindurch sehen können, so dass er also auch jenseits des Häuschens in den Garten geblickt hatte?

Er ging wieder hinaus.

Durch die Tür, die er hatte offen stehen lassen, sah er natürlich immer wieder nur in den nackten Raum hinein.

Als er aber um die Ecke gebogen war und wieder vor einem Fenster stand, da sah er durch dieses richtig wieder die ganze orientalische Einrichtung, und auf dem in der Mitte stehenden Diwan lag die junge Türkin wie zuvor, wie zuletzt, also nicht mehr ganz so wie zu allererst.

Zunächst blickte der Prinz an ihr vorbei durch das gegenüberliegende Fenster.

Richtig, da sah er jenseits in den Garten hinein.

Er zog sein Taschentuch, befestigte es an dem niedrigen Ast eines Baumes, ging um das Häuschen herum — jawohl, durch die beiden Fenster hindurch konnte er dort drüben sein Taschentuch hängen sehen.

Und da drin lag natürlich die Türkin, die er jetzt von der anderen Seite aus sah.

Diese Durchsichtigkeit der beiden Fenster von außen war eigentlich sehr, sehr merkwürdig. Das reimte sich nicht mit dem zusammen, wie er sich diese Art von Kinematografie vorstellte.

Doch der Prinz wollte hierüber nicht weiter nachgrübeln.

Da, wie er noch an jenem Fenster stand, schlug die schöne Schläferin die langbewimperten Augenlider auf, erhob sich langsam aus ihrer liegenden Stellung, bis sie auf dem Diwan saß, erblickte den am Fenster Stehenden, nickte ihm lächelnd zu und winkte ihm sogar, näher zu treten.

»Sehr hübsch gemacht, wirklich sehr hübsch!«, konnte sich jetzt der Prinz mit Ruhe sagen. »Aber für einen Jüngling mit etwas heißem Blute wäre das nichts. Der würde ja durch diese Gaukelei nicht schlecht veralbert. Dann müsste auch noch dafür gesorgt werden, dass er beim Eintritt in den leeren Raum zur Abkühlung gleich einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf bekäme.«

Also der Prinz kümmerte sich nicht weiter darum, wie ihn die schöne Sirene lockte und was sie sonst weiter tat, ging wieder um die Ecke, sah durch die Tür natürlich wieder nichts, hatte aber beim Eintreten auch keine kalte Dusche nötig.

Jetzt erst bemerkte er, dass hier immer die Milchglasfenster in Türen eingelassen waren, alle drei, was von draußen nicht zu sehen war, schon deshalb nicht, weil die Wände ja nach orientalischer Sitte bis auf die eigentlichen Fenster mit Teppichen verkleidet gewesen waren.

Jede der Glastüren besaß eine Klinke, der Prinz öffnete zunächst diejenige, welche sich dem Eingange gegenüber befand.

Selbstverständlich musste diese Glastür wieder ins Freie führen, in den Garten hinein.

Wie aber der Prinz diese Glastür geöffnet hatte, stand er da und starrte.

»Das ist ganz reelle Hexerei!!«

Er blickte nämlich nicht in den Garten, sondern in eine weite Halle, zum größten Teil mit einem Wasserbassin ausgefüllt, sonst alles von jener Pracht, besonders durch farbige Mosaiken, wie wir sie in den türkischen Bädern von Konstantinopel, uns noch näher auch in Budapest bewundern können. Denn zu den türkischen Heißluftbädern gehört auch immer solch eine Schwimmhalle, in deren kaltem Wasserbassin man sich zuletzt abkühlt. Allerdings ist das Wasser immer so flach, dass man überall stehen kann, auch fehlen die Sprungbretter.

Und in diese Schwimmhalle, wie wir sie nennen wollen, konnte der Prinz nicht nur blicken, sondern auch eintreten, konnte rings um das Bassin herumgehen, brauchte für die Länge 38 Schritte, für die Breite 25 Schritte.

Ja, wie war das nun möglich?!

Das Häuschen bedeckte doch nur ein Quadrat von sechs Meter Seitenlänge, war ringsherum von Blumenbeeten umgeben! Außerdem war es höchstens fünf Meter hoch, und diese Halle hier mindestens zehn Meter!

»Schlafe ich? Träume ich dies alles nur? Liege ich vielleicht in meinem Zimmer und bin auch mit so einer Art magischer Nadel gestochen worden, dass ich dies alles nur in meiner Einbildung erlebe? Ach, mache ich mir doch keine Kopfschmerzen darüber. Wirklich sehr hübsch hier. Solche Zauberei lasse ich mir gefallen. Bei dieser Bauart erspart man sehr viel an Grund und Boden, an Grundsteuern, Brandkasse und so weiter.«

So dachte der Prinz, während er um das Bassin herummarschierte. An den Wänden Auskleidezellen, aber nicht so primitiv wie bei uns, wo das Meublement gewöhnlich nur in einer Bank besteht, Kamm und Bürste und Spiegel nicht immer vorhanden sind, sondern die wahren Boudoirs. Ab und zu wurden sie durch ein lichtspendendes Fenster mit Milchglasscheiben unterbrochen, hin und wieder auch eine Tür.

Eine solche öffnete der Prinz.

Aber nicht, dass er nun gleich in die heißen Baderäume kam.

Diese Tür hier führte erst in einen Korridor.

Doch was war das?

Kaum hatte er die Tür hinter sich wieder geschlossen, als ein lautes Lärmen von Weiberstimmen erscholl, ein fröhliches Jauchzen und Lachen und Kreischen, dazwischen auch ein Wasserplätschern.

Ahnungsvoll tat der Prinz einige Schritte, bis er eines der Fenster erreichte.

Richtig, die Scheiben waren nur innen wie von Milchglas gewesen, von hier draußen konnte man wieder durchsehen, der Prinz blickte in die Schwimmhalle.

Es war noch dieselbe, jetzt aber nicht mehr menschenleer. Einige Dutzend junge Weiber plätscherten in dem Bassin herum oder trieben auf der trockenen Galerie ihre Spielereien, junge Weiber von allen Hautfarben, vom tiefsten Schwarz an über Braun und Gelb hinweg bis zum schneeigsten Weiß, letztere auch mit blonden Haaren, also wahrscheinlich Christensklavinnen, und nur wenige von ihnen benutzten als einzige Bekleidung gerade ein Badelaken.

Die spielenden und sich neckenden Mädels machten einen Heidenspektakel.

»Sehr hübsch!«, sagte der Prinz wiederum, nachdem er, die Arme über der Brust verschränkt, was doch immer etwas die Gemütsverfassung ausdrückt, gewissermaßen eine ablehnende Haltung, einige Zeit dieses Schauspiel betrachtet hatte. »Aber für einen heißen Jüngling ist das noch weniger etwas als vorhin die schlafende und dann winkende Haremsdame in dem Pavillon. Der würde hier ja nicht schlecht veralbert; denn das ist hier doch dieselbe Geschichte.«

Gewiss. Als er die Türe öffnete, verstummte sofort das Lärmen, es war wieder die menschenleere Schwimmhalle, das eben noch so aufgeregte Wasser war glatt wie ein Spiegel.

Der Prinz zog die Klingeldose aus der Tasche und betrachtete sie nachdenklich.

»Verirrt habe ich mich zwar noch nicht, aber weshalb soll ich nicht einmal einen dienstbaren Geist zitieren, um Aufklärung von ihm zu verlangen?«

Er drückte auf den Knopf, im Innern ertönte das leise, schnarrende Klingeln.

»Was befiehlst Du Deinem Diener, mächtiger Emir?«, erklang hinter ihm sofort eine quäkende Fistelstimme.

Überrascht drehte sich der Prinz um.

Wohl war dieses plötzliche Erscheinen etwas unnatürlich, aber ein Geist war es nicht, sondern ein Mensch, den der Prinz sogar schon kannte, wenn man davon hier auch nichts wusste, er hatte ihn sogar gleich an der quäkenden Fistelstimme erkannt, war darauf vorbereitet gewesen, den zu erblicken, der jetzt vor ihm stand.

Es war ein sehr kleiner Mann, fast ein Zwerg, bucklig, mit überaus hässlichem Gesicht, der sehr dicke unförmige Kopf noch immer durch einen mächtigem Turban vergrößert.

Der Zwerg, der damals zum Moloch, in den Zwinger des Riesenebers hinabgestiegen war! Nur dass er jetzt keine rote Schärpe und keinen roten Turban trug, wodurch er als Halbpriester erkenntlich, sondern dass er ganz in weiße Beduinengewänder gehüllt war.

Die langen Arme mit den spindeldürren Krallenfingern über der Brust verschränkend, verbeugte er sich tief.

Der Prinz dachte natürlich nicht daran, hier eine alte Bekanntschaft, die ja auch nur auf seiner Seite beruhte, zu erneuern.

»Wer bist Du?«

»Ein Geist, dem befohlen worden ist, Dir zu dienen.«

»Du siehst als Geist recht menschlich aus.«

»Meine eigentliche Gestalt würdest Du nicht ertragen können, so wählte ich die eines Menschen.«

»Könntest Du Dich mir da aber nicht etwas gefälliger zeigen?«

Der kleine, hässliche Mann zog eine unbeschreibliche Grimasse, Hass und beleidigte Eitelkeit drückten sich darin ans, während seine Äuglein zu dem hochgewachsenen Prinzen hinaufblitzten.

Aber er wusste sich zu beherrschen.

»Gefalle ich Dir nicht?«, fragte er demütig.

»Nicht eben sehr.«

»Soll ich mich Dir in einer anderen Gestalt zeigen?«

»Tue es.«

Und nun geschah etwas ganz, ganz Unerwartetes. Der Prinz bedurfte auch später noch längere Zeit, ehe er sich diesen Vorfall zusammenreimen konnte.

Es sei dabei gleich verraten, dass es nämlich ein unvorhergesehener Vorfall war, der nicht in das Programm passte, auch nicht in dasjenige, welches von denen aufgestellt worden war, die alle diese Illusionen erst arrangierten.

Plötzlich fing das kleine Männchen furchtbar zu schreien an, breitete beide Arme aus und drehte sich wie ein Kreisel um sich selbst.

Und in demselben Augenblick verschwand auch schon die ganze Schwimmhalle mit dem Wasserbassin und allem anderen, der Prinz befand sich plötzlich im Freien, aber nicht etwa in dem paradiesischen Garten, sondern er stand auf dem sandigen Boden eines nackten Felsenkessels, eingerahmt von natürlichen Felsenmauern.

Der geistige Mechanismus der ganzen Illusion, auf irgend eine Weise hervorgebracht, hatte eben plötzlich versagt, der Prinz war in die nackte Wirklichkeit zurückversetzt worden.

Nur er selbst war von alledem noch übrig geblieben — und dann der Zwerg.

Der stand aber jetzt nicht mehr am Boden, sondern schwebte frei in der Luft, und nicht nur das, sondern er flog schnell immer höher, dabei sich immer wie ein Kreisel um sich selbst drehend, nicht anders, als ob er von einem Wirbelsturm empor gerissen würde.

»Hilfe, Hilfe, Hilfe!«, schrie und zeterte er dabei aus Leibeskräften.

Und mit einem Male war er mitten in der Luft spurlos verschwunden!

Nur sein Hilfeschreien erklang noch, bis auch dieses plötzlich verstummte.

Halb betäubt stand der Prinz da.

Alles andere hätte er erwartet, nur das nicht!

Er war darauf vorbereitet gewesen, dass der Zwerg die ungeheuerlichsten Gestalten annahm, aber dieses plötzliche Verschwinden der ganzen Illusion, bis aus den Zwerg, der im Kreise sich drehend nach oben sauste und plötzlich spurlos verschwand, dabei immer um Hilfe schreiend, das ging ihm sozusagen über die Hutschnur, über alle seine Fassungskraft.

— • —

40. Kapitel
Unter der Folter

Originalseiten 961, 983 — 997

Wohl nur wenige Sekunden, dann wurde der Prinz aus seiner halben Betäubung gerissen. »Hierher, Hoheit, hierher, schnell, schnell, retten Sie sich oder Sie sind verloren!«

So erklang jetzt eine Stimme, dem Prinzen schon zur Genüge bekannt.

Dort in einem rohen Felsentore, nur ein Höhleneingang, stand Monsieur Ardschir und winkte wie ein Wahnsinniger.

Der Prinz ließ diese Aufforderung, sich in Sicherheit zu bringen, nicht zum zweiten Male an sich ergehen. Wer wusste denn, was im nächsten Augenblick noch Ungeheuerliches passieren konnte. Vielleicht war schon ein Erdbeben im Gange, das im nächsten Moment alle diese Felsen über ihn zusammenstürzen ließ.

Also der Prinz rannte in großen Sprüngen über die Sandfläche dem Felsentore zu, und als er Monsieur Ardschir erreicht, gebärdete der sich noch immer ganz außer sich.

»Fort, fort, in die Felsen hinein.«

Der Prinz eilte mit ihm, wenn nicht rennend, so doch schnellsten Schrittes, durch denselben Gang, den er vorhin passiert hatte, auch wieder eine Treppe hinab, nur dass er jetzt eben nicht mehr aus dem paradiesischen Garten kam, sondern aus einem öden Felsenkessel.

Die Tür auf, und es hätte nur noch gefehlt, dass Monsieur Ardschir ihn mit Gewalt hineingestoßen hätte, so eilig hatte er es, hinter dem Prinzen die Tür — ein ganz gewaltiges Ding — wieder zu schließen, geräuschvoll einen starken Riegel vorzuschieben.

So, nun war der Prinz wieder in seinen Zimmern, nun konnte er darüber grübeln, was hier eigentlich geschehen war. Seinen Begleiter danach zu fragen, dazu hatte er gar keine Zeit gehabt.

Er sollte nicht lange mit seinen Gedanken allein bleiben.

»Wo sind Sie, Prinz?«, erklang da schon wieder Monsieur Ardschirs Stimme, aber sehr gedämpft.

Der Prinz befand sich in dem Schreibzimmer, das an das Boudoir grenzte, in diesem erscholl die Stimme, aber die Tür war geschlossen.

»Ich bin im Schreibzimmer.«

»Kommen Sie herüber ins Boudoir!«

Hallo! Das klang ja ganz anders als sonst!

Der Prinz ging hinüber.

Die Wandklappe war geöffnet, das Gesicht von Monsieur Ardschir zeigte sich, und das sah auch ganz anders aus als sonst.

Jetzt war der stolze, finstere, drohende König Ahasver viel deutlicher zu erkennen, wenn auch immer noch der geflochtene Bart und alle die anderen chaldäisch-persisch-altägyptischen Attribute fehlten.

»Haben Sie es sich überlegt?«, erlang es herrisch wie zuvor.

»Was denn?«

»Ob Sie das Kind hierher kommen lassen wollen.«

»Nein.«

»Was nein? Wollen Sie das Kind herkommen lassen oder nicht?«

»Nein, ich will es nicht herkommen lassen.«

»Weshalb nicht?«

»Weil ich es nicht für gut befinde, weil ich einfach nicht will.«

»So! Nun setzen Sie sich sofort hin und schreiben Sie an den Kapitän Falkenburg, der jetzt doch wieder das Oberkommando in Ihrem vermaledeiten Kloster hat. — Geben Sie Deasy dem Überbringer dieses mit, ich möchte sie bei mir haben, es droht ihr und mir durchaus keine Gefahr; Sie können auch selbst mitkommen. — Oder so ähnlich. Auf die Form kommt es nicht an. Und dann Ihre Unterschrift. Und dann vor allen Dingen Ihr geheimes Zeichen, dass dieses Schreiben auch wirklich von Ihnen stammt, nicht gefälscht worden ist, und dass daher Ihr Befehl auch sofort ausgeführt wird. Vorwärts, schreiben Sie!«

Ruhig stand der Prinz da.

Ein ironisches Lächeln umspielte seinen Mund.

»Sie haben es wohl schon mit solch einem gefälschten Schreiben versucht, um das Kind hierher zu bekommen? Meine Handschrift nachgeahmt?«

»Jawohl, jawohl, jawohl!«, wurde mit immer größerer Ungeduld ganz offen bekannt. »Und nun schreiben Sie!«

Aber der Prinz ließ sich nicht aus seiner Ruhe bringen.

»Nein, ich schreibe nicht.«

»Sie schreiben! Und wenn Sie das geheime Zeichen nicht hinzufügen, Deasy also nicht hierher kommt, dann —«

»Nun, was dann?«

»Dann wird als erster Sawotak gefoltert, und Sie werden zusehen.«

»Sawotak?«, stutzte der Prinz.

Oder wir wollen annehmen, dass er alles schon wusste, was hinter den Kulissen passiert war, und dass er seine guten Gründe hatte, solch ein Stutzen und Erschrecken nur zu heucheln.

Sawotak heißt in der Sprache der westkanadischen Eingeborenen die Edeltanne, und diesen Namen führte ein junger Schwarzfuß-Indianer, der mit zu der Truppe des Prinzen gehörte, der bisher nur noch nicht besonders erwähnt zu werden brauchte.

»Er ist heute Nacht in den Straßen Kairos aufgegriffen worden, befindet sich in unserer Gewalt.«

»Den wollen Sie foltern?!«

»Und Sie werden Zeuge davon sein.«

»Ja, weshalb denn nur das?!«

»Sie können noch fragen? Um Sie zur Nachgiebigkeit zu zwingen. Sie werden doch nicht den martervollen Tod eines Ihrer treuen Gefährten auf Ihr Gewissen laden wollen. Schreiben Sie den Brief, und wenn Sie es nicht tun, wenn das Kind in spätestens drei Stunden nicht hier ist — dann werden Sie zusehen, wie man Ihres Starrsinns wegen dem jungen Indianer langsam Knochen für Knochen im lebendigen Leibe zerbricht.«

Ein keiner Ruck zuckte durch den Körper des Prinzen, es war gewesen, als wollte er wild auffahren, vielleicht auch einen Sprung machen, um durch die Öffnung zu greifen und jenen zu packen — aber er tat es nicht, und es wäre ihm auch nicht gelungen, die Entfernung war zu groß und jener war sicher auf seiner Hut.

Statt dessen brach der Prinz in ein spöttisches Lachen aus.

»Was lachen Sie denn da?«, wurde dann auch gefragt.

»Sie sind wohl noch nicht in Amerika gewesen?«

»Nein.«

»Haben noch keinen nordamerikanischen Indianer, so eine echte Rothaut, kennen gelernt?«

»Persönlich noch nicht. Aber ich weiß schon, was Sie meinen, so weit kenne ich diese Indianer doch, habe schon genug von ihnen gehört, auch wie sie am Marterpfahl mit Gleichmut sterben, nur noch Spottlieder auf ihre Feinde und Peiniger singen. Ja, ich glaube schon, dass auch dieser Sawotak alle Torturen über sich ergehen lassen wird, ohne einen Schmerzenslaut von sich zu geben, ohne mit einer Wimper zu zucken, aber ich weiß auch, dass —«

»Gar nichts wissen Sie, sonst würden Sie mich nicht vor solch eine Alternative stellen! Sie wissen nicht, dass ich wegen dieses Indianers, um ihn zu retten, gar nicht nachgeben darf! Niemals!«

»Weshalb denn nicht?«

»Das verstehen Sie eben nicht! Das kann ich Ihnen auch gar nicht begreiflich machen, weil Sie ein Perser, ein Orientale sind, und jener ein Indianer! Was meinen Sie denn wohl, was daraus würde, wenn dieser Schwarzfuß dann später erfährt, dass ich seinetwegen nachgegeben habe, dass ich das Kind in Ihre Gefangenschaft ausgeliefert habe, um ihm, dem stolzen Indianer, das Leben zu retten, um ihn vor Schmerzen zu bewahren?! Ins Gesicht speien würde er mir! Nur deshalb würde er mich nicht zur Rechenschaft ziehen, für die Schmach, die ich ihm angetan habe, weil solch ein altes Weib, wie ich bin, einem Krieger wie ihm überhaupt gar keine Schmach antun kann! Verstehen Sie das? Nein, das können Sie ja gar nicht verstehen.«

Draußen der Monsieur Ardschir zuckte die Achseln, soweit das durch die kleine Öffnung zu sehen war.

»Es bleibt dabei. Ich brauche das mediumistisch veranlagte Kind. Es muss mir durch sein zweites Gesicht etwas offenbaren, was keinen Aufschub erduldet —«

»Diese Gabe des zweiten Gesichtes hat aber das Kind zum größten Teile verloren —«

»Reden Sie nicht! Ich weiß, wie es damit beschaffen ist! Das Kind braucht nur in andere, erfahrenere Hände zu kommen, und es wird etwas leisten, wovon Sie noch gar keine Ahnung haben.. Und nun genug! Ich gebe Ihnen zehn Minuten Zeit. Das genügt, dass Sie das Schreiben aufsetzen können. Tun Sie es nicht, so wird erst Sawotak gefoltert und dann — — Sie selbst!«

Die Klappe wurde geschlossen.

Der Prinz ging wieder in das Arbeitszimmer hinüber, aber nicht, um sich an den Schreibtisch zu setzen.

Mit großen Schritten ging er auf und ab, nach einem Entschlusse ringend, nach einem Auswege suchend.

Er sollte nicht lange damit zubringen.

Ein leichtes Geräusch in dem benachbarten Boudoir, zu dem er die Tür aufgelassen hatte, und hereingehuscht kam ein Weib, die Königin der Nacht, wie immer ganz schwarz gekleidet, nur dass jetzt die goldenen Schlüsselchen fehlten.

Sie befand sich in furchtbarster Aufregung.

»Fort, fort — hier ist etwas Ungeheuerliches passiert — ein Mächtigerer ist über uns gekommen, hat sich in unsere Geheimnisse eingemischt — offenbar wollte er Dich selbst durch die Luft entführen, um Dich zu retten, aber er hat versehentlich einen falschen, Deinen Begleiter, den Zwerg gefasst — und nun braucht man das hellsehende Kind, um zu erfahren, wer jener rätselhafte Mann ist, wo er sich jetzt befindet — und wie ich Dich kenne, wirst Du doch niemals das Kind herausgeben — fort, fort, Du bist verloren, wenn uns die Flucht nicht gelingt — jetzt ist es noch Zeit —«

Ganz außer sich, ganz von Sinnen, packte das Weib den Prinzen einfach am Arme, um ihn mit sich fortzuziehen.

Der Prinz dachte an jene Prophezeiung, wonach es diesem Weibe nicht gelingen sollte, ihn zu befreien, ihn vor der Folter zu retten, aber er brauchte hiervon nicht erst zu sprechen, wenn es überhaupt einen Zweck gehabt hätte.

Da wurde, obgleich die zehn Minuten noch längst nicht vergangen waren, schon die andere Tür aufgerissen. ein halbes Dutzend schwarze Gestalten stürmte herein, herkulisch gebaute Neger, nur mit einer kurzen Hose bekleidet, schon ihren grimmigen, tierischen, jetzt hohnlachenden Gesichtszügen nach die reinen Henkersknechte, und gleichzeitig tauchte auf der anderen Seite, also im Boudoir, Monsieur Ardschir auf, hinter ihm ebensolche Negergestalten, die sich sofort hervordrängten.


Illustration

Kurz entschlossen packte der Prinz zwei seiner Angreifer beim Halse
und schmetterte sie mit den Köpfen zusammen, dass es krachte.


»Ha, Fatime! Packt die Verräterin und den Mann!«

Mit einem johlenden Brüllen, weil es eben ihre Lust war, hier einmal ihre ganze Brutalität entwickeln zu können, stürzten sich die schwarzen Angreifer von zwei Seiten auf die beiden und packten mit ihren herkulischen Fäusten zu.

Der Prinz wusste, dass es hier kein Entkommen gab.

Aber er hatte keine Lust, sich von diesen menschlichen Bestien so einfach überwältigen zu lassen, er wollte tun, was noch zu tun war; wollte ihnen, wie man so sagt, erst noch eins auswischen.

Hoch sauste der schwere amerikanische Schreibstuhl in seinen Händen durch die Luft, zweimal schmetterte er auf einen schwarzen Wollschädel nieder, zwei der Neger brachen zusammen, um niemals wieder aufzustehen, dann sauste der Stuhl als Wurfgeschoss gegen Monsieur Ardschir, leider musste der Prinz konstatieren — und er wunderte sich dann später, mit welcher Ruhe er es konstatiert hatte — dass das Geschoss Zweck und Ziel verfehlte, indem vor den Perser gerade ein Neger gesprungen war, der von dem Stuhle gegen die Brust getroffen wurde und ebenfalls zusammenbrach — und dann packte der Prinz zwei andere Neger beim Halse und schmetterte sie mit den Köpfen zusammen, dass es krachte, als ob irdene Töpfe sprangen — dann aber wurde der Prinz selbst von hinten gepackt, im Nu waren seine Arme mit Stricken am Körper festgeschnürt, nur noch einen furchtbaren Stoß mit dem rechten Knie konnte er in den Leib eines vor ihm stehenden Negers ausführen, und auch seine Füße waren gefesselt.

Genau die Hälfte seiner Angreifer hatte er unschädlich gemacht, in noch nicht einer halben Minute.

Vier von den Negern lagen mit zerschmettertem Schädel am Boden, zwei andere wälzten sich wimmernd in ihren Schmerzen.

Etwas bestürzt stand Monsieur Ardschir da. Das hatte er wohl nicht erwartet.

Erst das Schreien des Weibes, dessen Vater er sich als König Ahasver nannte, brachte ihn wieder zu sich.

Sie war sofort gefasst worden, hatte aber doch noch einen Dolch aus dem Busen gezogen, freilich ohne ihn benutzen zu können.

So stand sie jetzt da, den Dolch in der Hand, die am Gelenk festgehalten wurde, wie auch noch ein anderer Neger sie gepackt hielt.

»Wehe, wer mich anrührt!! Seid Ihr denn wahnsinnig, erkennt Ihr mich denn nicht, mich, Eure Sultana, die heilige Priesterin der Astarte?!«

Da brach der Perser in ein höllisches Lachen aus.

»Nein, Fatime, gib Dir keine Mühe! Diese Neger hier wissen nichts von Deiner Eigenschaft als Sultana und Hohepriesterin, diese menschlichen Bestien habe ich mir hier im Geheimen selbst gezogen, die gehören gar nicht zu unserer Gesellschaft.«

Da brach sie zusammen und gab jeden weiteren Widerstand auf.

Sie hatte also noch gar nicht gewusst, dass es hier in dieser Felsenbehausung noch andere Menschen gab, die sich um keine heiligen Gesetze kümmerten.

»Fort mit ihr! Wir sprechen uns dann weiter, Fatime.«

Zwei Neger schleppten sie hinaus.

Monsieur Ardschir trat näher an den Prinzen heran, der von den letzten vier Negern gehalten wurde, die ihn mit immer mehr Stricken umwickelten.

»Nach dem, was hier geschehen ist, frage ich Sie nicht erst noch, ob Sie jetzt bereit sind, das Schreiben aufzusetzen. Das Kind bekomme ich natürlich dennoch hierher, jetzt aber mache ich es viel kürzer. Ich kann Ihnen selbst eine Tortur oder doch wenigstens eine Verstümmelung nicht ersparen. Tragt ihn hinaus.«

Der Prinz, der mit gefesselten Füßen ja selbst nicht gehen konnte, wurde umgelegt und von den vier Negern hinausgetragen, Monsieur Ardschir ging voraus, durch das Boudoir hindurch.

Nur ein kurzer Transport durch einige Gänge und der Prinz sah sich in einer Felsenkammer, in deren Wände Ketten und Ringe eingelassen waren und in der verschiedene Apparate von ganz verdächtigem Aussehen standen, die herumliegenden Peitschen und Bambusstöcke gar nicht zu erwähnen.

Noch zwei andere solcher schwarzer Henkersknechte befanden sich darin, und dann vor allen Dingen sah der Prinz dort an der Wand auf einer Bank den Schwarzfuß-Indianer sitzen, mit Ketten festgeschlossen.

Es war noch ein Jüngling, der kaum als Indianer zu erkennen war, das nur wenig gebräunte Gesicht zeigte angenehme, wenn nicht schöne Züge, keine scharfe Adlernase, nur etwas stolz gebogen, keine Skalplocke, sondern das nur etwas lange, tiefschwarze Haar regelrecht gescheitelt, und dazu nun trug er ein ganz modernes Sportkostüm, in welchem er sich heute Nacht in den Straßen Kairos ergangen hatte.

Man hätte ihn für einen eleganten Italiener gehalten.

Der Prinz freilich kannte diesen Jüngling besser, das war ein ganz waschechter Indianer, vor allen Dingen auch dem Charakter nach.

Und dass er jetzt so ganz teilnahmslos dasaß, seinen Leidensgefährten mit keinem Blicke würdigte, das war kein Gebrochensein, wie es vielleicht ein Italiener hier in der Folterkammer gezeigt hätte, eine Ergebung in das unvermeidliche Schicksal, sondern das war auch so echt indianisch.

Und was hatte er denn da auf der linken Wange?

Eine lange, dicke Schwiele, ganz blau aufgelaufen.

Hatte man ihn mit der Peitsche ins Gesicht geschlagen? Mit Absicht, als er schon gefangen gewesen war?!

Dann durfte dieser indianische Jüngling nun freilich nicht wieder freigelassen werden!

Monsieur Ardschir, der bisher immer französisch gesprochen hatte, was auch die Neger verstanden zu haben schienen, bediente sich jetzt des Englischen, als er sich an den Indianer wandte.

»Mister Sawotak! Durch einen für Sie sehr günstigen Umstand entgehen Sie der Folter, die ursprünglich für Sie geplant gewesen war.

Sie werden jetzt sofort auf einem Aeroplan nach Ihrem Kloster gebracht.

Dort sagen Sie, dass die kleine Deasy sofort den Aeroplan besteigen soll, um hierher geführt zu werden.

Geht sie nicht freiwillig mit oder wird sie daran gehindert, so wird der hier gefangene Prinz gefoltert, so lange, bis er unter den schrecklichsten Qualen sein Leben ausgehaucht hat. Was wir aber sehr, sehr zu verlangsamen verstehen.

Erst werden ihm die Finger gebrochen, dann die Arme, dann kommen von unten an die Füße und Beine daran, und so weiter, und so weiter.

Und damit die dort wissen, dass dies nicht nur eine leere Drohung ist, werden Sie gleich das linke Ohr des Prinzen mitnehmen.

Sehen Sie zu, wie ich es ihm hier abschneide.«

Ein Wink und die schwarzen Henkersknechte hoben den Prinzen auf eine hohe Pritsche, schnallten ihn dort noch besonders fest, so dass auch der Kopf ganz unbeweglich war.

Monsieur Ardschir ging an einen Wandschrank, entnahm ihm einen Kasten, der geöffnet Verbandzeug zeigte, und ein langes blitzendes Messer.

»Will der Ernst machen?«, dachte der Prinz. »Dann, mein Schutzgeist, erscheine, es wird die höchste Zeit!«

Der Perser trat mit dem Messer heran.

»Also passen Sie auf, Mister Sawotak — Englisch verstehen Sie ja — glauben Sie nicht etwa, dass dies nur Gaukelei ist, ich schneide das linke Ohr ab —«

Über das Gesicht des Prinzen huschte das blitzende Messer, er fühlte, wie Finger sein linkes Ohr anfassten, gleich darauf ein brennender Schnitt, ein furchtbares Stechen im Gehirn — das linke Ohr war ihm abgeschnitten worden!

Und das war nicht etwa eine Gaukelei oder sonstige Sinnestäuschung gewesen.

Dem Prinzen war das linke Ohr dicht an der Wurzel abgeschnitten worden.

Das Blut floss in Strömen, doch schon legte ein Neger sehr geschickt einen Verband an, ein Mittel musste das Blut schnell stillen.

»So, Mister Sawotak, kanadische Edeltanne — hier ist das Ohr Ihres Herrn, Seiner königlichen Hoheit —ich packe es hübsch in Watte ein, lege es in dieses elegante Kästchen und stecke es in Ihre Tasche. Verlieren Sie es nicht; doch die Tasche Ihres Sportanzuges lässt sich ja zuknöpfen.

Und nun melden Sie, was Sie gesehen haben. Und ist das Kind nicht innerhalb von zwei Stunden hier, was sehr wohl möglich ist, wird der Prinz weiter gefoltert!

Sie werden doch nun wohl erkennen, dass ich Ernst mache; man schneidet doch nicht umsonst einem Menschen das Ohr ab.

Aber ich kann nicht anders — ich brauche das hellsehende Kind unbedingt.

Also nun vorwärts!«

Sawotak wurde, da er nicht von selbst aufstand, von zwei Negern in die Höhe gerissen, die ihm die Ketten ablösten, aber nicht eher, als bis sie ihm vorher die Hände auf dem Rücken gebunden hatten.

Jetzt im Stehen sah man erst, dass dieser indianische Jüngling seinen Namen mit Recht verdiente. Er war gewachsen wie eine Edeltanne.

Sein schönes, nur durch die Schwiele etwas entstelltes Gesicht, natürlich doch ziemlich gebräunt, war ganz aschgrau geworden.

Aber sonst war es die Ruhe selbst, so wie er auch der blutigen Prozedur zugeschaut hatte.

»Nun vorwärts, oben wartet der Aeroplan, der Führer ist schon —«

Erschrocken brach Monsieur Ardschir ab.

Und zu diesem Erschrecken hatte er auch allen Grund.

Plötzlich ein donnerndes Rollen, ganz unbeschreiblich, aber jedenfalls in einer Weise, dass die Felswände erbebten, man sah sie förmlich zittern, der Steinboden wankte, und gleichzeitig wurden alle die Holzböcke und anderen Möbel, Marterapparate, durcheinander geschoben, wenn sie nicht gar umstürzten.

»Fullah el Fullah!«, schrien die Neger. »Ein Erdbeben, ein Erdbeben!«

Ägypten wäre nicht zum ersten Male von einem Erdbeben heimgesucht worden.

Dort herum ist alles vulkanischer Boden, so wenig die Gegend auch danach aussieht.

Man denke nur an das furchtbare Erdbeben, das im Jahre 1855 in Syrien alle Städte verwüstete, bei dem mehr als 100 000 Menschen ums Leben kamen, und hat sich solch eine Katastrophe seitdem auch nicht wiederholt, Erdstöße kommen doch dort alljährlich vor, und die machen sich natürlich auch in Ägypten und manchmal in ganz Nordafrika bemerkbar.

Jedenfalls wussten diese Neger sofort, was dieses Donnern und unterirdische Rollen zu bedeuten hatte, die Möbel hätten gar nicht so durcheinander geworfen zu werden brauchen, sie mochten schon einmal ein Erdbeben aus erster Hand erlebt haben, und von Entsetzen gepackt stürzten sie davon, zur Tür hinaus.

Monsieur Ardschir war nicht minder erschrocken, aber er zögerte noch mit der Flucht.

Da löste sich von der Decke ein großer hölzerner Kasten ab, der gerade über ihm hing, wohl auch irgend ein Marterinstrument, schmetterte auf seinen Kopf — schwer getroffen stürzte der Perser zu Boden.

Und in demselben Augenblick fühlte der Prinz an seinem Leibe unsichtbare Hände, die ihm schnell die Riemen und Fesseln lösten.

»Fort, schnell fort, kein Augenblick ist zu verlieren, wir können das Getöse nicht wiederholen!«, flüsterte ihm dabei eine wohlbekannte Stimme in das rechte Ohr.

Der Prinz war frei, er sprang auf.

Da sah er, dass auch der Indianer wie von unsichtbaren Händen fortgerissen wurde, ob er wollte oder nicht, nur dass man ihm noch nicht die Arme befreit hatte.

Und auch der Prinz wurde fortgezogen, fortgerissen, nicht nur von einem einzigen unsichtbaren Händepaar, in den Korridor hinaus, nach einer Fensteröffnung hin.

Vor ihm war schon Sawotak dorthin geschleppt worden, er wurde emporgehoben, und der Prinz sah ihn durch das Fenster verschwinden, nicht anders, als ob er zum Fenster hinausgeworfen würde.

Gleich darauf befand sich auch der Prinz auf dem breiten Fenstersimse, er blickte in eine gähnende Tiefe, und dennoch wurde er von hinten noch immer geschoben — aber als er glaubte, er solle in diese Tiefe springen oder gestürzt werden, merkte er schon einen Widerstand, der ihm erklärte, wie hier die Flucht bewerkstelligt wurde.

— • —

41. Kapitel
Auf zur Rache!

Originalseiten 998 — 1013

Am anderen Tage saß der Prinz in seinem Wohnzimmer des Klosters, sah sehr angegriffen aus, hatte einen dicken Verband um den Kopf und duftete ganz nach Jodoform.

Der Matrose Hein meldete ihm Herrn Leutnant Schwarzbach.

»Gut, ich wollte ihn gerade sprechen.«

Der junge Mann trat ein.

»Hatten Sie ein Anliegen, Herr Leutnant, das Sie erst erledigen wollen?«

»Ich komme als Gesandter der ganzen Truppe.«

»Als Gesandter?!«

»Die sämtlichen Cowboys wollten Sie sprechen. Dann einigten sie sich dahin, den alten Lord Armstrong als Parlamentär abzuschicken. Ich erfuhr davon, sie offenbarten sich mir, und ich brachte sie endlich so weit, dass sie mich als Sprecher abschickten; denn der alte Lord ist ein grober Patron, obgleich immer noch der Höflichste von allen. Und ich möchte Sie doch, Prinz, mit solchen Unannehmlichkeiten verschonen, zumal Sie krank sind.«

»Was ist denn passiert?!«

»Unter der Bande ist eine regelrechte Verschwörung im Gange.«

»Eine Verschwörung?!«

»Na, wenigstens so etwas Ähnliches. Gar so schlimm ist es nicht; keine Meuterei mit direkter Gehorsamsverweigerung.

Die Sache ist folgende:

Bei jenem nächtlichen Kampfe, als uns die Karwanbaschis in der Wüste belagerten, ist der Cowboy O'Fail von ihnen erschossen worden — na, das geschah eben im Kampfe — aber unseren Old Padd haben sie ermordet, erst gemartert, scheußlich verstümmelt.

Wir hatten damals Gelegenheit, die Spuren der Bluthunde zu verfolgen, wenn ihre Spuren durch den Flugsand auch verwischt wurden; durch die Wünschelrute des Kindes.

Hoheit wollten sich hierauf nicht einlassen, und die Cowboys waren auch ganz damit einverstanden, denn die Benutzung solch einer Zauberrute ist nichts für diese Leute.

Hoheit sprachen damals die Vermutung aus, dass diese Wüstenräuber und Salzpascher mit zu der geheimen Gesellschaft gehörten, welche in dem Gebirge bei der Oase Fayum hausen. Hat sich diese Vermutung bestätigt?«

»Jawohl!«, entgegnete der Prinz. »Es war überhaupt nicht nur eine Vermutung, sondern ich wusste es ganz bestimmt, sobald ich unter ihnen jenen Lazare erkannte. Und nun kann ich mitteilen, dass jene Karwanbaschis, die es damals auf uns abgesehen hatten, jetzt mit zu den direkten Mitgliedern des geheimen Ordens gehören.«

»Sie wollen damit doch nicht sagen, dass sie die Felsenwohnungen dort gar nicht mehr verlassen sollen?«

»So ist es!«, bestätigte der Prinz. »Eben wegen jener Vorfälle, weil ich den Señor Lazare erkannte, sind sie für immer der anderen Welt entrückt worden. Ich weiß es bestimmt, habe es aus erster Quelle erfahren.«

»Also wäre Old Padds Mörder dort in dem Gebirge zu suchen.«

»Gewiss. Wie ich gesagt habe.«

»Nun, Hoheit, und jetzt ist das auch noch mit Sawotak passiert. Der Indianer ist auf der nächtlichen Straße durch eine Übermacht überwältigt worden, man hat ihn gebunden und schmählich behandelt, er ist mit Fäusten und sogar mit einer Peitsche geschlagen worden, er wird ein Andenken davon wohl für immer im Gesicht behalten.

Sie wissen doch selber, Hoheit, was das für diesen Indianer zu bedeuten hat.

Diese Schmach muss abgewaschen werden, und das nicht nur so einfach mit Blut.

Und nun also ist auch noch die qualvolle Ermordung von Old Padd zu rächen.

Old Padd hat überhaupt zwei Freunde gehabt, mit denen er Blut getrunken, den schwarzen Bären und den jungen Lord Armstrong, das Rächen seiner Ermordung ist deren spezielle Ehrensache, aber daran nehmen auch andere Cowboys, weiße wie rote, als Kameraden teil.

Kurz und gut, ich soll Sie fragen, Prinz, ob Sie bereit sind, die Cowboys durch den unterirdischen Gang nach jener Felsenwohnung zu führen, dass dort die Rächer ihr Werk tun können.«

»Nein, hierzu bin ich nicht bereit!«, entgegnete der Prinz sofort.

»Darf ich fragen, warum nicht? Ich muss fragen denn ich muss eine Antwort bringen.«

»Die Rache wird noch in furchtbarer Weise ausgeführt, diese ganze Sekte soll noch vernichtet werden, aber ich selbst stehe unter dem Befehle eines Höheren, habe ihm unbedingten Gehorsam geschworen, das geht nun nicht mehr zu ändern, und dieser Mann gibt mir noch nicht die Erlaubnis, mit Gewalt in jenes geheime Felsenreich einzudringen.«

»Wann geschieht dies?«

»Das weiß ich nicht.«

»In den nächsten Tagen?«

»O nein, einige Monate vergehen sicher noch, vielleicht auch noch einige Jahre.«

»Nun, Prinz, Sie können doch nicht verlangen, dass der Schwarzfuß-Indianer noch einige Monate oder auch nur einige Wochen oder selbst Tage wartet, bis er die ihm angetane Schmach rächt.«

»Allerdings nicht, das verlange ich auch nicht.«

»Die Cowboys sind unter sich einig geworden, Sawotaks Sache zu ihrer eigenen zu machen und nun auch gleich den Old Padd zu rächen, die Schmach Sawotaks hat nun dem Fasse den Boden ausgeschlagen, sie lassen sich jetzt nicht mehr zurückhalten. Natürlich wollen sie dabei immer noch ihren Verpflichtungen Ihnen gegenüber nachkommen.

Sie, mein Prinz, schrieben mir damals nach Arizona, ob ich Ihnen ein Dutzend weiße und rote Cowboys nach Ägypten schicken könnte, tüchtige Kerls, zu dem und dem Zwecke, wie Sie ganz ausführlich schilderten. Also als Wächter eines Kindes und überhaupt Ihres ganzen Hausstandes, Männer, die sich nicht scheuten, auch einmal mit Hacke und Schaufel zu arbeiten.

Ich telegrafierte Ihnen zurück, dass wir alle, 27 Köpfe stark, die Wilde Farm, die Sie uns großmütig als Gemeingut geschenkt hatten, aus besonderen Gründen verlassen wollten, ob wir alle kommen sollten.

Sie depeschierten ein Ja.

Wir kamen.

Sie offenbarten sich uns, weihten uns in alle Ihre Geheimnisse ein, und wir schworen, dass diese Ihre Geheimnisse unsere eigenen sein sollten.

Nun also ist es so gekommen, und die Leute lassen sich mit ihren Rachegelüsten nicht mehr zurückhalten.

Wir sind jetzt noch 23 Männer, oder vielmehr Köpfe, denn auch die beiden Cowgirls zählen dazu. Drei von den ursprünglich 27 sind mit dem Tode abgegangen, Jack liegt mit seinem gebrochenen Beine in Schienen, zählt auch nicht mehr als voll mit.

Sie hatten nur ein Dutzend Männer verlangt.

Wegen des Überschusses ist gar nicht weiter gesprochen worden.

Bestimmen Sie nun die zwölf Männer oder Personen — denn Ihre Wahl kann sich ja auch auf die beiden Cowgirls erstrecken — welche hier bleiben sollen.

Die anderen neun machen sich sofort zur Rache auf. Unter diesen allerdings auch Lord Charles und der schwarze Bär, die zur Rache verpflichtet sind. Über diese hätten Sie also nicht zu bestimmen. Und dann selbstverständlich geht auch Sawotak mit, der seine eigene Sache auszufechten hat.

Also, Hoheit, bitte, bestimmen Sie, wer hier bleiben soll und wer gehen kann.«

Zwischen des Prinzen flammenden Augen war eine kleine Falte getreten; doch sonst war ihm nichts von Unmut anzumerken.

»Wie wollen die Rächer nun vorgehen?«

»Erlauben Sie ihnen, dass sie durch den unterirdischen Tunnel in das Felsenreich eindringen?«


Illustration

»Auf keinen Fall!«, erklang es aufs Bestimmteste, wenn auch ohne Heftigkeit »Das gehört unbedingt mit zur Wahrung meiner Geheimnisse.«

»Wie Sie bestimmen.«

»Abgesehen davon, dass sie auf diese Weise gar nichts erreichen könnten. Sie kämen in ein ihnen ganz fremdes Gebiet, in ein unergründliches Labyrinth, in dem sie rettungslos verloren wären.«

»Diese Möglichkeit käme dabei nicht in Betracht, wie keine irgendwelche andere Gefahr. Der Frevel muss gerächt werden, und dazu wird der kürzeste Weg gewählt, und wenn er durch die Hölle führte. Aber da Sie es verbieten, den unterirdischen Tunnel zu benutzen, so ist diese Sache erledigt, denn noch etwas höher als die heilige Blutrache steht das Gelübde des Gehorsams.«

»Wie gedenken die Leute sonst ihr Vorhaben auszuführen? Ist darüber schon gesprochen worden?«

»Ja. Sie begeben sich nach dem Birket el Kerun, um dort zu jagen, halten sich in der Nähe des Geistergebirges auf, in dem die Mörder und Übeltäter hausen.«

»Ja, glauben Sie denn, die werden aus ihrem Versteck herauskommen?«

»Meinen Sie nicht, dass sie sich irgendwie herauslocken lassen, dass sie auf die fremden Jäger Jagd machen werden?«

»Niemals. Die Beni Suefs werden die Cowboys wohl zur Verantwortung ziehen, wenn sie dort jagen, aber die Schlüsselbrüder kommen niemals heraus; sie dürfen es gar nicht.«

»Auch nicht, wenn wir als Lockmittel eine Anzahl hübscher Weiber mitnehmen, auf die es ja die Schlüsselbrüder ganz besonders abgesehen haben?«

»Auch nicht. Die Schlüsselbrüder bewegen sich wohl manchmal in den Straßen Kairos, aber dort außerhalb ihrer Felsenwohnungen dürfen sie sich niemals zeigen. Diese Weiber werden Ihnen höchstens ebenfalls von den Beni Suefs abgenommen.«

»Gehören diese Beduinen, die Beni Suefs, nicht ebenfalls zu den Schlüsselbrüdern?«

»Nur so halb. Es sind nur die Beschützer, die Wächter des dort in den Felsen verborgenen Geheimnisses. Eingeweiht sind die durchaus nicht. Sie hoffen nur, dereinst in das irdische Paradies aufgenommen zu werden, dafür eben leisten sie solche Dienste. Und was wollen Sie denn überhaupt mit diesen Beni Suefs? Das ihnen etwa bekannte Geheimnis entreißen? Dadurch verraten Sie ja, dass Sie überhaupt etwas von diesem Geheimnis wissen. Und das dürfen Sie nicht und kein anderer Cowboy, das haben mir alle bei ihrem Manneswort geschworen.«

»Aber, Prinz, Sie sehen doch ein, dass diese Leute ihre Rachegelüste befriedigen müssen.«

»Ja, das erkenne ich an. Ich respektiere diesen indianischen Charakter und den aller dieser urwüchsigen Hinterwäldler. Aber gesetzt nun auch den Fall, Sie erfänden ein Mittel, um einige Schlüsselbrüder herauszulocken und sich ihrer zu bemächtigen, müssen denn das gerade die richtigen sein, denen die Rache zu gelten hat?«

»Freilich, in Betracht kämen ja nur jener Señor Lazare, der den armen Old Padd noch bei lebendigem Leibe so scheußlich verstümmelt hat, die anderen, die Karwanbaschis, waren damit nach des Advokaten Aussage ja gar nicht einverstanden, der eine hat den Qualen des Gemarterten ja auch durch einen mitleidigen Dolchstich ein Ende gemacht, und für Sawotak kommen der Hauptsache nach nur zwei oder drei Neger in Betracht, die ihn geschlagen haben. Aber so genau können es die Cowboys nicht nehmen. Sie müssen sich überhaupt an die Schlüsselbrüder halten, sie müssen eben tun, was irgendwie zu machen ist.«

»Und ferner«, fuhr der Prinz fort, »wissen Sie doch auch, haben es selbst erlebt, dass die Schlüsselbrüder sofort Selbstmord begehen, sobald sie in Gefangenschaft geraten, und da hilft kein Binden. Sie verschlucken ihre Zunge, wenn sie sich nicht die Pulsader aufbeißen können.«

»Freilich«, musste Schwarzbach wiederum bestätigen, »das wissen wir alles, aber die Hauptsache bleibt bestehen: Die Bluträcher müssen eben tun, was irgendwie in ihren Kräften steht. Also, Hoheit, die Cowboys schicken mich auch als einen Bittenden ab, ob Sie nicht irgend ein Mittel wissen, wie wir die Übeltäter oder auch andere der Schlüsselbrüder aus ihrem Versteck herauslocken können oder wie eine entsprechende Rache, die diesen Leuten nun einmal eine heilige Verpflichtung ist, auszuführen wäre?«

»Ja, solch ein Mittel weiß ich.«

»Wie, Sie wissen eins?«, stutzte der Leutnant etwas, aus guten Gründen.

»Ich werde den Betreffenden Gelegenheit geben, dass sie ihre Rache ausüben können. Ich wollte Sie vorhin eben rufen lassen, um Ihnen dies mitzuteilen, dass Sie es allen Leuten verkünden sollen; denn deren Wünsche sind mir doch nicht etwa fremd.«

»Wie, Sie wussten es, das wollten Sie tun, und da lassen Sie mich erst so lange sprechen?«

»Nur um einmal richtig zu erfahren, wie das die Leute eigentlich ausführen wollten!«, lächelte der Prinz. »Auf diese Weise geht es also nicht, da kommen die Rächer niemals zum Ziele.«

»Auf welche Weise sonst?«

»Hören Sie mich an. Setzen Sie sich erst, denn ich habe einige längere Ausführungen zu machen.

Sie wissen, wie ich Ihnen schon mitgeteilt habe, dass die Schlüsselbrüder, wie sich diese modernen Assassinen jetzt nennen, über die ganze Erde verbreitet sind.

Überall haben sie ihre geheimen Verstecke, wo sie ihre Orgien unter Götzendienst feiern, mit welcher Religion sie dereinst die ganze Welt beglücken wollen.

Hier in Ägypten, und zwar in jenem Geistergebirge, ist nur der Zentralsitz, von dem aus alle die anderen sogenannten Kolonien dirigiert werden.

Jener geheimnisvolle Mann, der ›Alte vom Berge‹, der ursprüngliche Stifter der Sekte der Assassinen, der zu sein er wenigstens behauptet, der sich jetzt Almansor nennt, will diese teuflische Mördersekte ausrotten, hält aber die Zeit noch nicht für gekommen oder er glaubt an eine alte Prophezeiung.

Nach dieser darf er nicht einmal in die Verstecke der Schlüsselbrüder eindringen, muss sich dazu, wenn es einmal nötig, anderer Personen bedienen, wozu er gegenwärtig mich auserwählt hat.

Sonst aber ist er über alles, was unter diesen Schlüsselbrüdern vor sich geht, vollständig eingeweiht und wird immer auf dem Laufenden erhalten.

So soll auch jetzt wieder eine große Verschiebung erfolgen. Die Kolonien tauschen sich gegenseitig aus; weil die Schlüsselbrüder auch einmal eine Veränderung haben wollen.

In drei Tagen nun wird aus dem Geistergebirge. eine große Karawane abgehen, deren Ziel Indien ist, wo die betreffenden Schlüsselbrüder vorläufig bleiben werden.

Für mich ist das von ganz besonderer Bedeutung.

Sie wissen, dass ich damals dem Scheik der Karihaddsch versprochen oder doch die größte Hoffnung gemacht habe, ihm seinen geraubten Teppich wieder zu beschaffen.

Es war etwas leichtsinnig von mir gesagt worden.

Denn wie die Sache bisher lag, konnte ich, wenn ich auch als vorgeblicher Priestergemahl mich in der Felsenbehausung frei bewegen kann, den Teppich doch nicht wieder entführen. Er ist gar zu gut aufgehoben und das Riesending ist doch etwas gar zu gewichtig.

Nur jene geraubten Weiber werden im Geistergebirge bleiben, die werde ich von dort noch befreien, das ist auch viel leichter zu machen, der Teppich aber geht mit nach Indien.

So werde ich mich seiner bei diesem Transporte bemächtigen.

Das war bei mir schon ausgemachte Sache, wozu allerdings auch nötig war, dass ich hierzu von Almansor die Erlaubnis bekam, was denn auch geschehen ist. Der hat mir von alledem ja überhaupt erst berichtet.

Und bei dieser Karawane befindet sich auch Señor Lazare, auf des es Old Padds Bluträcher doch hauptsächlich abgesehen haben.

Und ferner gehen mit dieser Karawane, wie mir Almansor bestimmt versichert hat, auch alle die schwarzen Henkersknechte des Königs Ahasver alias Monsieur Ardschir mit — doch davon wissen Sie ja kaum etwas — kurz und gut, auch diejenigen sind dabei, welche dem Sawotak die Schmach angetan haben. Da kann er nun sein Mütchen an ihnen kühlen, und das gestatte ich ihm gern.

Wollen Sie nun, Herr Leutnant, dies den Cowboys mitteilen, und ich hoffe doch, dass sie dann damit einverstanden sind, noch drei Tage sich zu gedulden.«

»Ich werde es tun, und in diesem Falle werden sie schon noch so lange warten!«, entgegnete Schwarzbach. »Also wir werden die Karawane überfallen?«

»Ja, aber in ganz anderer Weise, als Sie es sich jetzt wohl vorstellen.

Der Teppich ist für diese Schlüsselbrüder ja nicht weiter heilig, also braucht er nicht, wie es sonst bei den Karihaddsch der Fall ist, nur über Land nach seinem Ziele gebracht zu werden. Sie bedienen sich zum Transporte eines Schiffes, eines Dampfers, der sogar dieser geheimen Gesellschaft gehört, wenn er auch sonst als ein gewöhnlicher Handelsdampfer arbeitet.

Zuerst freilich muss der Teppich nach der Küste gebracht werden, und zwar ist die des Roten Meeres dazu bestimmt worden.

Diesen Weg aber legt die Karawane unterirdisch zurück.

Denn Sie wissen doch, dass diese unterirdischen Flussläufe, jetzt zum Teil ausgetrocknet, sowohl nach der Küste des Mittelländischen wie des Roten Meeres gehen.

Der Dampfer wartet im Roten Meere an einer einsamen Bucht, in die solch ein unterirdischer Fluss einst gemündet hat. Jetzt liegt die Mündungsstelle hoch über dem Wasser, das eben früher einmal viel höher gestanden haben muss, die Ausgangsstelle liegt aber so hoch versteckt, dass sie wohl niemals ein Mensch, der nicht eingeweiht wird, finden dürfte.

Die Karawane wird zu dem unterirdischen Marsche wohl zwei Tage brauchen.

Während dieses Marsches haben wir keine Gelegenheit, sie zu überfallen.

Auch lassen wir sie alle sich erst ruhig einschiffen; denn sonst könnte uns doch jemand entgehen, und das darf unter keinen Umständen geschehen.

Das Schiff wird mit Mann und Maus vernichtet! Sollten sich andere Menschen darauf befinden, die den Tod nicht verdient haben, die dann aber nur Gefangene der Schlüsselbrüder sein könnten, so werden diese zuvor entfernt.

Die Schlüsselbrüder selbst aber, zu denen auch die ganze Besatzung des unter türkischer Flagge gehenden Dampfers gehört, werden so vertilgt, wie man Schlangen und Ungeziefer zertritt; anderes sind sie nicht wert.

Und vorher werden also auch Señor Lazare und die betreffenden Neger vom Dampfer entfernt. Haben Sie sonst noch etwas zu fragen, Leutnant?«

»Wir werden selbst mit bei dieser Vernichtung des Dampfers sein?«

»Ja. Das heißt, nur die Hälfte der Cowboys bleibt zur Bewachung des Klosters hier; sonst aber begleiten mich auch die meisten meiner eigenen Leute und ebenso Deasy, denn es könnte sein, dass ich jetzt das Gebiet meiner Tätigkeit anderswohin verlegen muss, worüber ich aber erst noch Order bekomme, so dass es auch noch gar keinen Zweck hat, jetzt weiter darüber zu sprechen, was geschehen soll, falls ich nicht sobald wieder hierher komme.«

»Die Vernichtung des Dampfers geschieht vom Luftschiff aus?«

»Luftschiff? Was wissen Sie denn von einem Luftschiffe?!«

»Nun, Sie und Sawotak sind doch aus Ihrem Gefängnis im Geistergebirge durch ein Luftschiff befreit worden.«

»Woher wissen Sie denn das?«

»Sawotak hat davon erzählt. Nicht so von selbst, aber wir fragten ihn doch, und da sprach er von einem Luftschiffe, das vor dem Fenster gelegen hat. In das kam er hinein, sonst wäre er doch in die Tiefe gestürzt.«

»Der Schwarzfuß-Indianer hat von einem Luftschiffe gesprochen?!«, vergewisserte sich der Prinz immer noch einmal. »Was weiß dieser kanadische Jäger denn von einem Luftschiffe?«

»O, der ist nicht so ungebildet und unerfahren, der hat schon große Luftschiffe gesehen, und nicht nur in illustrierten Zeitungen. Der hat sich sofort zusammenreimen können, dass er in ein Luftschiff stieg, wenn es auch nicht zu erblicken war. Aber dass es hier eine geheime Kunst gibt, durch die man Menschen, also doch wohl auch Gegenstände, unsichtbar machen kann, das wusste er doch ebenfalls schon. Na, und wie kamen Sie denn plötzlich auf das Dach unseres Klosters? Durch Zauberei hierher geflogen konnten Sie doch nicht sein, an solch eine Zauberei glauben wir nicht. Sie haben mit dem Indianer irgend ein unsichtbares Luftfahrzeug benutzt.«

»Na ja, es ist ein Luftschiff, das von außen lichtdurchlässig, also ganz einfach für das menschliche Auge unsichtbar gemacht werden kann!«, gab jetzt der Prinz zu.

»Und also mit diesem Luftschiffe wird gegen jenen Dampfer vorgegangen?«

»Diese Frage gehört eigentlich nicht zur Sache, aber ich will sie Ihnen offenbaren, Sie können auch den Cowboys gleich darüber berichten, es ist mir erlaubt.

Nein, mit diesem Luftschiffe operieren wir nicht gegen den Dampfer.

Dieses Geheimnis muss strikt bewahrt werden, das ist der strengste Befehl Almansors.

Denn schließlich könnte doch einer jener Schlüsselbrüder dem Tode entgehen und dann darüber berichten, selbst wenn er es gar nicht zu sehen bekommen hätte. Andere Menschen aber könnten doch vielleicht aus alledem Folgerungen ziehen, ein unsichtbares Luftschiff ahnen.

Alles dies muss vermieden werden, so will es nun einmal Almansor.

Wir benutzen zur Vernichtung des türkischen Dampfers eine Jacht. Nicht die meine, aber eine noch bedeutend größere als mein ›Sonnenstrahl‹. Auch sie gehört dem Almansor, gilt aber als das Eigentum eines indischen Radschas. Dem Aussehen nach eine Luxusjacht, in Wirklichkeit stark gepanzert und armiert, ein vollkommenes Kriegsschiff.«

»Und wo begeben wir uns an Bord?«

»Im Roten Meere.«

»Das ist sehr unbestimmt.«

»Mitten auf dem Meere. Dazu benutzen wir allerdings erst das Luftschiff.«

»Ach so. Wenn dieser Almansor alles unsichtbar machen kann, sogar ein großes Luftschiff, dann muss er doch auch solch ein richtiges Schiff unsichtbar machen können.«

»Der Theorie nach wäre es möglich.«

»Wenn dieser Almansor solche wunderbare Erfindungen besitzt, dann könnte er sich doch einfach zum Diktator der ganzen Erde aufschwingen.«

»Könnte er.«

»Was braucht er denn da diese Saladinen, um das mohammedanische Volk zu einer Weltmacht zu machen?«

»Die brauchte er nicht dazu. Aber Almansor selbst hat gar nicht solche ehrgeizige Pläne, er hat eigentlich überhaupt gar nichts mit den Saladinen zu tun.«

»Nicht?!«

»Nein. Er unterstützt nur die Bestrebungen der Saladinen, so weit er es für gut befindet, aber sonst will er sie nur dazu benutzen, um mit ihrer Hilfe die Schlüsselbrüder in Ägypten auszurotten. Sonst ist Almansor ganz neutral, hegt keine irgendwelche politischen Pläne, mischt sich in nichts ein. Doch Sie schweifen ab. Haben Sie sonst noch Fragen?«

»Wie wird nun der türkische Dampfer vernichtet?«

»So wie es wohl jedes andere Kriegsschiff ausführen würde; er wird in den Grund geschossen oder gerammt.«

»Und wie werden vorher die drei Männer, auf die wir es abgesehen haben, in Sicherheit gebracht?«

»Das werden Sie sehen. Das weiß ich jetzt selbst noch nicht.«

»Nun ist die Sache aber doch die, dass diese Schlüsselbrüder doch sofort Selbstmord begehen, sobald sie in Gefangenschaft geraten.«

»Um diesen Selbstmord zu verhindern, dazu gibt es ein Mittel.«

»Was für eins?«

»Ich weiß es, darf aber darüber noch nicht sprechen. Nun teilen Sie dies alles den Cowboys mit, ob sie unter solchen Bedingungen und Aussichten noch drei Tage warten wollen. Es sind natürlich die größten Geheimnisse, die ich Ihnen hiermit anvertraut habe.«

Schwarzbach ging.

Und der Prinz zog aus der Brusttasche den flachen Blechkasten hervor und hauchte dagegen, um mit Almansor zu sprechen.

Dieser Apparat befand sich also wieder in seinem Besitze.

— • —

42. Kapitel
Die Prüfungen des Priestergemahls

Originalseiten 1013 — 1039

Gib mir Rechenschaft, Fatime!« Es war der König Ahasver mit seinem langen, geflochtenen Bart und in dem chaldäischen Ornat, der dies zu der Königin der Nacht sagte.

Aber diese stand durchaus nicht wie jemand vor ihm, der einem andern Rechenschaft zu geben schuldig ist.

Hochaufgerichtet hielt sie stolz seinen finsteren Blick aus. »Was willst Du von mir?!«

»Weshalb hast Du den Gefangenen befreien wollen? Und es ist nicht das erste Mal, dass Du solches Interesse für den fremden Prinzen gezeigt hast. Als uns damals Bruder Lazarus die Botschaft zusandte, der Prinz lagere mit seinen Leuten in der Wüste, auch das hellsehende Kind sei bei ihm, jetzt sei die beste Gelegenheit, ihm dieses abzunehmen, er, Lazarus, habe ihn schon mit Karwanbaschis, die zu uns gehörten, umzingelt, er bedürfe nur noch einer kräftigen Hilfe von uns — da warst Du es, die diese Botschaft in Empfang nahm, ich war leider nicht zugegen, und anstatt nun die Hilfe sofort abzuschicken, hast Du den Befehl gegeben, die Belagerung aufzuheben, den Prinzen und seine Leute in Frieden ziehen zu lassen. Was soll man hiervon denken, Fatime?«

»Ich handelte nur nach unseren Gesetzen. Kein Schlüsselbruder darf die Felsenburg verlassen.«

»A bah! Die Hilfsmannschaft wäre selbstverständlich über Kairo gegangen. Von dort aus ist alles erlaubt. Das weißt Du selbst am allerbesten. Und weshalb hast Du denn nun den hier gefangenen Prinzen befreien wollen?«

»Nun gut, so erfahre es: Weil ich ihn kenne.«

»Du kennst ihn?! Woher?«

»Aus Paris. Und ich habe ihn einst geliebt.«

»Und das gestehst Du erst jetzt?!«

»Über so etwas spricht man nicht, wenn es nicht unbedingt nötig ist. So, meine Erklärung hast Du. Nun aber verlange ich eine von Dir, König Ahasver! Wer sind die Neger, die Du da in abgesonderten Räumen für Deine eigenen Zwecke hältst?«

Der stolze Mann wurde von der größten Verlegenheit befallen, so sehr er sie auch zu verbergen suchte.

Hier wurde also der Spieß umgedreht.

»Bitte, lass das, Fatime!«, erklang es jetzt ganz anders. »Du hast eben gemerkt, dass auch ich hier meine eigenen Geheimnisse habe, ebenso wie Du die Deinen.«

»Wie konntest Du wagen, diese Neger auf mich, die Priesterin der Astarte, zu hetzen, dass sie mich mit Fäusten packten?!«

»Weil sie noch gar nichts von solch einer Priesterin der Astarte wissen, Dich noch niemals gesehen haben.«

»Umso schlimmer! Wie ist es möglich, dass es hier solche Leute gibt?«

»Bitte, Fatime, lass diese Angelegenheit. Ich bereue den Vorfall, diese Neger sind bereits für immer verschwunden, so etwas wird sich nie wiederholen.«

»Nun gut, dann aber mische Dich auch nie wieder in meine Privatverhältnisse.«

»Ich werde es nie wieder tun. Nur, Fatime, über die Flucht des Prinzen und des Indianers müssen wir noch sprechen. Unsere eigene Sicherheit erfordert es. Wohin sind diese beiden verschwunden?«

Mit scheinbarem Interesse ging das junge Weib hierauf sofort ein.

»Ja, das ist auch mir ein Rätsel.«

»Du hast damit also nichts zu tun gehabt?«

»Ich? Ja, ich habe den Prinzen vor der Folter schützen, ihn befreien wollen. Aber das wäre auf ganz natürlichem Wege geschehen. Ich hätte ihn verkleidet und durch den unterirdischen Tunnel nach Kairo geschickt, mit einer Vollmacht von mir, sodass er gegen jede Untersuchung geschützt gewesen wäre. Das wurde verhindert. Wie er sonst entkommen ist, das weiß ich nicht.«

»Auch alle seine Sachen sind verschwunden, seine Waffen, die rätselhafte Blechbüchse, sein Jagdanzug — alles.«

»Es ist mir unerklärlich.«

»Wir müssen einen Verräter unter uns haben, der dies alles schon vorher entwendet hat.«

»Dass wir hier einen Verräter unter uns hätten, das ist dasjenige, was ich am allerwenigsten glauben kann.«

»So gib mir eine andere Erklärung.«

»Das kann ich nicht. Wo ist denn nur Oka, der Zwerg, geblieben?«

»Mit dessen Verschwinden fing eben das Rätsel an. Er befand sich mit dem Prinzen im Illusionsgarten. Plötzlich versagte die Kraft, und in demselben Augenblicke wurde Oka wie von einem Wirbelsturm in die Höhe gerissen, drehte sich dabei wie ein Kreisel in der Luft, laut um Hilfe schreiend, bis er mit einem Male verschwunden war.«

»Verschwunden?«

»Spurlos verschwunden.«

»Der Wirbelsturm hat ihn so hoch in die Höhe gerissen?«

»Es war gar kein Wirbelsturm, sonst hätte doch auch der Sand am Boden mit in die Höhe gerissen werden müssen, was nicht der Fall war.«

»Oka ist auch nicht wieder gefunden worden, tot oder lebendig?«

»Nein.«

»Ja, wie ist denn das möglich?!«

Monsieur Ardschir als König Ahasver strich sich sinnend den langen geflochtenen Bart, dem niemand ansehen konnte, dass es ein künstlicher war. Auch bei gründlichster Betrachtung glaubte man, jedes einzelne Härchen müsse in der Haut wurzeln.

»Ich wollte das hellsehende Kind benutzen, um eine Erklärung hierfür zu finden, und ich hätte dies Kind schon zu benutzen verstanden, in ganz anderer Weise, als es jene Narren vermögen.

Unterdessen aber ist mir selbst eine Erklärung für alle diese Phänomene gekommen.

Ja, es gibt eine ganz natürliche Erklärung dafür. Wenn es auch immer noch auf übersinnlichen Tatsachen beruht; denn es gibt nichts Übernatürliches, also nichts Unnatürliches, wohl aber Übersinnliches genug, was wir also mit unseren Sinnen nicht wahrnehmen können.

Eben deshalb aber kann ich Dir diese Erklärung jetzt nicht geben.

Später einmal, wenn ich Dich darüber erst näher eingeweiht habe.

Jetzt lass Dir nur eins gesagt sein, es gibt einen Mann auf dieser Erde, der mehr kann als alle anderen Menschen zusammen, und dieser Mann muss das größte Interesse daran haben, sich der Person des Prinzen zu bemächtigen, wodurch er auch das hellsehende Kind bekommt.

So hat er den Prinzen schon aus dem Illusionsgarten entführen wollen, hat aber versehentlich den Zwerg erwischt, was ihm wohl passieren konnte, denn schließlich ist auch er nur ein Mensch.

So hat er den Prinzen dann nachträglich noch geholt —«

»Der Alte vom Berge?!«, stieß das Weib hastig hervor.

»O nein, wo denkst Du hin!«, lachte jener verächtlich oder auch belustigt. »Der wagt sich nicht hier in unser Gebiet und sich gar in unser Treiben einzumischen, dafür ist gesorgt!

Nein, es ist ein anderer, mit dem wir auf bestem Fuße stehen, unser Freund und Beschützer —«

»Wenn er aber Schlüsselbrüder und unsere Gefangenen auf diese Art entführt, so ist das nicht gerade ein Zeichen der Freundschaft.«

»Das verstehst Du nicht, Kind. Und es ist dennoch so. Er hat es mir auch einst gesagt oder doch angedeutet, dass er sich einmal auf diese Weise in unsere Verhältnisse einmischen wird, uns eine unangenehme Überraschung bereitend.

Ja, jetzt verstehe ich die dunklen Worte dieses Mannes, der immer in Rätseln spricht, der selbst ein lebendiges Rätsel ist.«

Ahasver nahm die Hand vom Barte und richtete den Kopf wieder hoch.

»Ja, Fatime, diese Angelegenheit ist für uns erledigt. Ich weiß, wer den Zwerg und den Prinzen entführt hat, und ich weiß auch, dass der Prinz und das Kind nun nicht mehr für uns in Betracht kommen, dass wir aber auch wegen dieser Entführung ohne jede Sorge sein können.

Das Rätsel ist also bereits gelöst, ich werde Dir später alles ausführlich erklären.

Nun aber etwas anderes, Fatime.

Wo ist denn Dein Gemahl?«

»Was geht das Dich an?«, war die trotzige Gegenfrage.

»Er lässt sich recht wenig sehen.«

»Kann er das nicht halten, wie er will?«

»Gewiss, gewiss. Aber, Fatime, willst Du mir denn nicht endlich sagen, wer es ist, auf den Deine Wahl gefallen ist?«

Mit einer schmeichelnden Stimme, die zu dieser finsteren, grimmigen Gestalt durchaus nicht passen wollte, hatte es Ahasver gefragt.

Da aber funkelten wie damals die Augen des schönen Weibes furchtbar auf.

»Wehe Dir, wenn Du solch eine Frage zu stellen wagst! Weißt Du nicht, was darauf steht, wenn jemand die Person des Priestergemahls ergründen will?!«

»Nun, nun«, beschwichtigte der andere schnell, »ich dachte, nach dem, was jetzt zwischen uns vorgekommen ist —«

»Gar nichts ist zwischen uns vorgekommen, nicht einen Zoll sind wir einander näher gerückt! Wage nicht, zum dritten Male diese Frage zu stellen, oder der König Ahasver wird erfahren, dass die Priesterin der Astarte noch hoch über ihm steht, und Du sollst keine Zeit mehr haben, als Ankläger gegen mich aufzutreten!«

Wie damals, so verneigte sich auch jetzt Ahasver wieder demütig vor dem Weibe, das er seine Tochter nannte.

»Wie Du bestimmst, verzeihe mir.«

Dann aber, wie er sich wieder aufrichtete, war er doch nicht mehr der Demütige, etwas wie boshafte Schadenfreude malte sich in seinen Zügen wider.

»Nun wohl, Fatime, Du hast Dir Deinen Gemahl ganz nach freiem Ermessen wählen können, und selbstverständlich hat bei Dir die Liebe entschieden. Aber ich dächte, Du hast bei Deiner Wahl eine recht unglückliche Zeit angesetzt.«

»Inwiefern eine unglückliche Zeit?«

»Weil erst wenige Wochen vergangen sind, dass Du Deinen Gemahl gewählt hast, und weißt Du, was übermorgen für ein Tag ist?«

»Der erste Remunan, das Hochzeitsfest der Astarte.«

»Und das siehst Du so gleichgültig?«

»Weshalb nicht?«

»Weißt Du denn nicht, was dieser Tag für Deine junge Ehe zu bedeuten hat?«

»Soll ich das als Oberpriesterin der Astarte nicht am besten wissen? An diesem Tage hat der Priestergemahl zu beweisen, dass er seines Ranges würdig ist, wenn die Mehrzahl der Schlüsselbrüder im Megalis el Hiemit es fordert.«

»Und die Mehrzahl fordert es!«

Ahasver glaubte seinen Trumpf ausgespielt zu haben.

Aber es brachte auf Fatime keinen besonderen Eindruck hervor.

»Es ist abgestimmt worden, dass der Priestergemahl sich der Prüfung zu unterwerfen hat?«

»Ja, heute früh, und die Mehrzahl ist dafür. Die Oberpriester werden Dir nachher den Beschluss überbringen.«

»Das ist wohl Dein Werk gewesen, Ahasver, wie?«

»Ich habe nichts angeregt, erkundige Dich, wie Du willst. Der Beschluss ist fast einstimmig angenommen worden. Die Neugierde ist eben eine allgemeine, zu wissen, wer Dein Erwählter eigentlich ist.

Also Du kennst die Bestimmungen, Fatime.. Aber ich bin verpflichtet, sie Dir zu wiederholen, wie es nachher auch noch die Oberpriester tun werden.

Die Oberpriesterin hat das Recht, sich irgend einen Gemahl zu erwählen, gleichgültig, ob es der edelste Emir oder der armseligste Sklave ist.

Nur wird vorausgesetzt, dass eine Oberpriesterin der Astarte auch den vortrefflichsten Mann zum Gemahl wählen wird.

Bis zum ersten Remunan wird das nicht nachgeprüft, der Priestergemahl allein darf verhüllten Antlitzes gehen, niemand darf nachforschen, wer er ist.

Aber am ersten Remunan kann, wenn das Volk es will, die Prüfung erfolgen, ob er wirklich der Trefflichste aller Schlüsselbrüder ist.

Auf dreierlei wird er geprüft: auf seine Körperkraft und Gewandtheit, das heißt, ob er der Trefflichste aller Krieger ist; auf seine Geisteskraft und auf seine magischen Fähigkeiten.

Das erste beweist er durch einen Schwertkampf; das zweite durch eine Schachpartie; das dritte durch eine magische Gaukelei.

Für jeden Kampf wählt das Volk einen Gegner durch Stimmenmehrheit.

Die Reihenfolge der Wettkämpfe wird durch das Los bestimmt.

Wer unter diesen dreien siegt, ist für das nächste Jahr bis zum Hochzeitsfest der Astarte der Priestergemahl, und die Sultana hat ihn als solchen anzunehmen, denn sie hatte ja einen Gemahl haben wollen, und mit dem trefflichsten Manne muss sie wohl zufrieden sein.

Siegen zwei oder gar alle drei Gegner, so entscheidet wiederum das Los, wer unter ihnen Prinzgemahl wird.

Der Besiegte hat sich sofort zu töten.

Und dasselbe gilt natürlich auch von dem bisherigen Priestergemahl.

So fordert es das Gesetz des Megalis el Hiemit. Kennst Du diese Bestimmungen? Antworte sachgemäß. Ich muss Dich jetzt so fragen.«

»Ich kenne sie.«

»Unterwirfst Du Dich diesem Gesetz?«

»Ja.«

»So habe ich selbst dem nichts mehr hinzuzufügen. Übermorgen wird sich der Priestergemahl mit diesen drei Gegnern messen.«

»Sind die Gegner schon bestimmt?«

»Ja.«

»Darf ich ihre Namen erfahren?«

»Das ist kein Geheimnis. Im Schwertkampfe wird ihm Nadir gegenübertreten.«

»Nadir der Gladiator, das ist ganz selbstverständlich. Und im Schachturnier natürlich der alte Hassan.«

»Du sagst es.«

»Der eignet sich nicht gerade zum Priestergemahl!«, lächelte das schöne, üppige Weib spöttisch.

»Du hast ihn für ein Jahr anzunehmen, und vielleicht irrst Du Dich doch, der alte Hassan prahlt wohl nicht umsonst immer mit seiner Rüstigkeit.«

»Und wer ist der Magier?«

»Ein indischer Yogi. Du kennst ihn noch nicht. Er ist neu aus einer indischen Kolonie gekommen, er leistet in feiner Kunst Erstaunliches, Fabelhaftes, was man selbst in diesem Hause noch nie gesehen hat, und das will in Sachen der magischen Illusionen doch gewiss etwas heißen.«

»Du willst mir wohl Bange machen, Ahasver, dass ich den von mir selbst erwählten Gemahl verliere?«, lächelte jene wiederum spöttisch.

»Ich wünsche Dir, meine Tochter, dass er die Proben besteht, damit er Dir erhalten bleibt. Glauben tue ich es allerdings nicht. Übermorgen werden wir erfahren, auf wen die Wahl meiner schönen Tochter, der Sultana aller Schlüsselbrüder, gefallen ist.«

»Und wenn er nun krank ist?«

Der Perser stutzte zurück.

»Ha, fange nicht so an!«

»Was ist dann? Antworte.«

»Dann müssen die Kämpfe eben verschoben werden. Aber nicht etwa bis zum nächsten Liebesfest der Astarte. Das Volk wird einen Termin bestimmen.«

»Er wird übermorgen erscheinen, verlasse Dich darauf.«

*

Der Tag war gekommen.

Der große Zirkus, in dem wir einst die seltsamen, grauenvollen Todesspiele beobachtet haben, war bis auf den letzten Platz gefüllt.

Wieder saß die Sultana als Königin der Nacht auf ihrem bevorzugten Throne, neben ihr und zu ihren Füßen die schönsten Jünglinge und Jungfrauen.

Jetzt schritt ein rotgekleideter Priester in die Mitte und verkündete mit Stentorstimme, dass das Los entschieden habe, welchem Gegner der Priestergemahl zuerst gegenübertreten müsse.

Auf Hassan ben Hulla war es gefallen, den Meister des Schachspiels.

Schon wurde ein niedriges Tischchen gebracht und in die Mitte der Manege gesetzt, ein gewöhnliches Schachbrett darauf gelegt, die elfenbeinernen Figuren aufgestellt und zwei Kissen für die Spieler zurecht gerückt.

Auf anderen im Kreise höher aufgebauten Sitzen nahmen einige vornehmere Schlüsselbrüder Platz, das übrige Publikum, das auf den Steinbänken des Theaters saß, würde von dem Schachturnier gar nichts zu sehen bekommen, nur den Knalleffekt der Entscheidung, der mit dem Selbstmorde des Besiegten enden musste; hier sofort im Zirkus selbst.

Ein alter, grauköpfiger Araber kam herein und wurde von dem tausendköpfigen Publikum mit einem Gemurmel des Beifalls begrüßt.

Mag das uralte Schachspiel auch indischen Ursprungs sein — oder chinesischen — so ist es doch am meisten von den Arabern gepflegt worden, die erobernden Sarazenen brachten es nach Spanien, von dort aus verbreitete es sich durch Europa.

Heute wird das Schachspiel wohl nicht mehr von den Arabern so leidenschaftlich betrieben. Natürlich wird es in den gebildeten Kreisen noch gespielt, auch in den unteren Schichten sieht man manchmal noch zwei über die Figuren gebeugt sitzen, aber von bedeutenden arabischen Schachspielern hört man nichts mehr. Der letzte arabische Meister war wohl Stamma, freilich auch ein ganz großer, der Vater der Probleme, am Anfang des 18. Jahrhunderts, und zwar ein echter Araber, wenn auch in Paris geboren.

Aber die heutigen Araber wissen noch, dass sie die eigentlichen Begründer des Schachspiels als analytische mathematische Wissenschaft sind, und darauf sind sie stolz.

Deshalb also hatte Beifall den wenigstens unter den Schlüsselbrüdern berühmten Schachmeister begrüßt, wenn es auch etwas mehr als nur ein Murmeln hätte sein können.

Der Alte verneigte sich tief vor dem Throne der Sultana und nahm auf dem ihm bezeichneten Kissen Platz.

Da wurde ein roter Vorhang zurückgeschlagen, der einen Eingang in der untersten Steinstufe verdeckte, und herein kam mit stolzem Gange der Priestergemahl, wie immer in seinem schwarzen Atlastalar, der mit goldenen Schlüsselchen übersät war, also ganz entsprechend seiner Gemahlin dort oben, nur dass auch sein Gesicht und sein ganzer Kopf mit solch einer schwarzgoldenen Maske verhüllt war.

Man hatte die hohe Gestalt unterdessen ja wiederholt durch die Gänge schreiten und auch dort oben neben seiner Gemahlin sitzen sehen, wenn hier oder anderswo die verschiedensten Vorstellungen gegeben wurden, aber allzu häufig sah man ihn doch nicht.

Er wurde ohne jede Förmlichkeit empfangen, niemand stand auf und verneigte sich, weil das eben bei solch einer öffentlichen Vorstellung nicht Sitte war, vielmehr befleißigter sich alles, um die lautlose Stille ja durch kein Geräusch zu unterbrechen.

Auch der Priestergemahl nahm auf seinem schwarzgoldenen Kissen Platz, ein Unparteiischer ließ losen, wer die anziehenden weißen Figuren bekam, und das Spiel begann.

Also das Publikum dort oben hatte gar nichts davon, auch von der untersten Stufe aus war von den Figuren nichts zu unterscheiden, man musste auf das Ende warten, wo einer von den beiden Spielern mit Selbstmord abging.

Da konnte man ja nun freilich unter Umständen lange warten. Wenn, wie hier, jeder Spieler jeden Zug beliebig lange überlegen darf, dann kann solch ein Spiel ja tagelang dauern, eigentlich sogar bis in alle Ewigkeit hinausgezogen werden.

Doch die beiden Spieler dort unten machten recht häufig eine Armbewegung. Besonders der alte Hassan beantwortete den Zug des Gegners immer sehr schnell, was ja nun freilich nicht zugunsten des Priestergemahls sprach, der durch seine Langsamkeit bewies, wie er sich anstrengte.

Und überhaupt, wenn er nicht ebenfalls ein Meister dieses Spiels war, dann konnte er sich doch nicht mit dem alten Hassan messen!

Neugierig blickte man nach der Sultana.

Doch der war nichts anzumerken.

Die war weiß und ruhig wie immer, wie ein Marmorbild.

So verging eine halbe Stunde. In dieser Zeit haben sich auch bei mittelmäßigen Spielern die Figuren noch nicht einmal entwickelt, das Mittelspiel hat noch nicht begonnen.

Da wurden unten die bevorzugten Zuschauer unruhig, sie steckten die Köpfe zusammen.

Und eine Viertelstunde später erhob sich der alte Hassan langsam, nicht anders, als ob er dem besiegten Priestergemahl das Feld überlasse, sich an seiner Niederlage nicht weiden wolle, zog langsam einen Dolch unter dem Kaftan hervor, eine streichende Bewegung über den Hals und blutüberströmt brach der alte Mann zusammen; er hatte sich vorschriftsmäßig die Kehle durchschnitten.

Kein Zeichen des Beifalls, während der Priestergemahl sich entfernte. Diese Schachspiel hatte nicht interessiert, und das Publikum war andere blutigere Szenen gewöhnt. Oder vielleicht war es auch verboten, dem Priestergemahl, dem mächtigsten, heiligsten Manne in diesem Reiche, irgendwelchen Beifall zu zollen.

Der Tote war hinausgeschafft worden, die blutige Manege wurde gesäubert, und der leitende Priester verkündete, dass das zweite Los auf den indischen Yogi Suspanda gefallen sei, mit dem sich der Priestergemahl in magischen Fähigkeiten zu messen habe.

Kein halb oder ganz nackter, abgezehrter Fakir kam Herein, sondern ein reichgeschmückter, junger, schöner Inder im priesterähnlichen, schneeweißen Gewande, um den Kopf einen goldenen Reifen.

Das große Publikum kannte ihn noch nicht, er war erst ganz neu von Indien hierher versetzt worden, er hatte erst vor den höchsten Schlüsselbrüdern experimentiert, sollte ganz Erstaunliches leisten, und so sah man ihm auf den Galerien mit Neugier entgegen, gerade deshalb, weil es äußerst schwer war, diesem mit magischen Gaukeleien aller Art übersättigtem Publikum etwas Neues zu bieten.

Die Enttäuschung war schon groß, als er auf dem weißen Boden durch schwarzen Sand einen Kreis ziehen ließ, den er durch geheimnisvolle Zeremonien weihte.

Also nichts anderes, als was man sonst zu sehen bekommt, auf allen Straßen der orientalischen Städte.

Wer das Reich der Illusion beherrscht, dem ist innerhalb dieses Kreises überhaupt alles möglich. Der Magier macht sich ein Phantasiegebilde mit laufender Handlung, und durch Gedankenübertragung lässt er die Zuschauer, die sich innerhalb des Kreises befinden, diese seine Phantasiegebilde in scheinbarer Wirklichkeit sehen.

Man muss in Indien gewesen sein, um glauben zu können — nicht dass so etwas möglich ist, sondern wie schnell man jedes Interesse an solchen Gaukeleien verliert.

Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann auch Abendländer in Europa solche Kunststückchen ausführen werden können. Mit den hypnotischen Vorstellungen ist hiermit der Anfang gemacht worden. Vor fünfzig Jahren hat man in der großen Öffentlichkeit von der ganzen Hypnotik noch gar nichts gewusst, dann wurde sie bezweifelt und verspottet, dann, als auch Männer der Wissenschaft sie als Tatsache anerkennen mussten, wurde sie in öffentlichen Vorstellungen immer missbraucht, bis solche Vorstellungen von der Polizei verboten wurden.

Das sind die Geburtswehen einer jeden großen Wahrheit.

Die Orientalen haben schon seit Jahrtausenden die Hypnotik kultiviert. Und man muss doch annehmen, dass es nicht nur die eine Art, sondern dass es die verschiedensten Arten von Hypnotik gibt; oder jede Logik hört auf. Die kennen also eine Art von Hypnotik, von der wir noch gar nichts wissen. In dieser haben sie sich geübt. Aber das war Kastengeheimnis.

Doch schon wird dieses durchbrochen, schon kommen ab und zu orientalische »Adepten« zu uns, die in öffentlichen Vorstellungen Sachen vormachen, bei denen man an wirkliche Zauberei glauben möchte. So wie jene indische Familie, die jetzt Europa bereist, sie durchstechen alle Gliedmaßen, bringen sich an den verschiedensten Körperteilen tiefe, blutende Wunden bei, fahren mit der Hand darüber und von der Wunde ist keine Spur mehr zu sehen. Daneben stehen die europäischen Ärzte, untersuchen und fotografieren, schütteln die Köpfe und — schweigen sich aus.

Also innerhalb dieses gezogenen Kreises war dem Magier überhaupt gar nichts unmöglich. Es war schon schlimm genug, dass er erst einen Kreis gezogen, einen solchen nötig hatte. Dann beherrschte er mit seiner Gedankenwelt nicht einmal den ganzen Raum, soweit er geschlossen war. Und die außerhalb dieses Kreises befindlichen Zuschauer, also das ganze Publikum, würde dann ja auch gar nichts zu sehen kommen.

Aber es sollte etwas anders kommen. In einer Hinsicht ganz uninteressant, in anderer wieder ganz phänomenal. Man muss sich nur in diese orientalischen Gaukeleien hinein zu versetzen wissen.

Zwei Magier wollten gegenseitig ihre Illusionskraft prüfen, und dazu reichte es noch lange nicht aus, dass sie sich gegenseitig Illusionen vormachten.

Der Priestergemahl erschien wieder, er sprach mit den leitenden Schlüsselbrüdern und dem Gegner, begab sich hinein in den Kreis, in dem der andere schon stand.

Einige Minuten standen sie sich ruhig gegenüber, dann hob der Inder die Hand, der Schwarz-Goldene verließ den Kreis wieder.

Nichts weiter. Aber man sah deutlich, wie bestürzt der Inder war.

Der Priestergemahl ging wieder zurück in den Kreis, gab fast sofort ein Zeichen, und jetzt wollte der indische Magier den Kreis verlassen.

Er konnte nicht. Man sah deutlich, wie er sich anstrengte. Es war nicht anders, als wenn er gegen eine unsichtbare Mauer stieße, die er vergebens durch Stemmen mit den Armen und dem ganzen Körper umzuwerfen versuchte.

Der Magier ging zurück, sammelte sich, versuchte es von Neuem — vergebens, er konnte den ihm gezogenen Bann nicht durchbrechen.

Und jetzt trat der Schwarz-Goldene auch noch aus dem Kreise heraus, und dem indischen Magier gelang es doch noch immer nicht, die unsichtbare Mauer zu überwinden.

Da hatte der Inder genug, er wollte sich nicht weiter blamieren, es hatte auch keinen Zweck mehr, innerhalb des Kreises noch andere Illusionen vorzaubern zu wollen, die der andere aber durch seine Gedankenkraft verhinderte, während der Inder die Illusionen, die Phantasiegebilde des Gegners nicht zerstören konnte — er riss seinen Dolch hervor und machte sich den üblichen Schnitt durch die Kehle.

Immer noch herrschte das tiefste Schweigen in der weiten Halle.

Aller Augen wanderten zwischen der Sultana und dem Schwarz-Goldenen hin und her.

Wer war dieser verkappte Mann, der Hassan den Schachspieler und diesen indischen Magier besiegen konnte, der doch sicher einer der stärksten Phantasiehelden gewesen war?

Denn dieses orientalische Publikum wusste eben die ganze Sache zu würdigen. Da waren keine weiteren Gaukeleien nötig gewesen, mit denen sich die beiden zu übertreffen gesucht hätten.

Der indische Adept gab sich besiegt, hatte Selbstmord begangen und das genügte!

Wieder hatte sich der Prinzgemahl einstweilen entfernt, während die Arena vom Blute gesäubert und für das Folgende hergerichtet wurde.

Und dann begann das Publikum vor Jubel zu toben.

Nur darum, weil jetzt der beste Schwertfechter der Schlüsselbrüder die Arena betrat, Nadir der Gladiator, wie er von den Gebildeten getauft worden, welcher Name allgemein akzeptiert worden war.

Die arabische Sprache ist wohl die wortreichste von allen. Der arabische Lexikograf Firuzabadi ben Jakob zählt in seinem Wörterbuche »al kamus«, der Ozean, für das Wort Löwe 500 verschiedene Namen auf, für Wasser 700, und das sind nicht etwa Umschreibungen» sondern vollständig selbstständige Wörter.

Für das Wort »Schwert« sind aber gar tausend verschiedene Namen angeführt!

Und das ist nämlich der allersicherste Beweis, in welcher Gunst in früheren Zeiten, als die feine Schriftsprache die allgemeine Umgangssprache gewesen ist, bis kurz nach Mohammeds Zeiten, das Schwert bei den Arabern gestanden hat, wie leidenschaftlich sie den Fechtsport betrieben haben.

Heute ist davon nichts mehr übrig geblieben als die Erinnerung, ausgedrückt im vulgären Arabisch durch etwa zwei Dutzend verschiedene Worte für das Schwert — leere Worte.

Gerade aber eben deshalb jubelte das arabische Publikum so grenzenlos dem Manne zu, der noch immer aufs eifrigste die Fechtkunst betrieb, sich darin zum Meister ausgebildet hatte.

Und die Erscheinung dieses Mannes war denn auch eine ganz imposante.

Ein richtiger Riese, vielleicht zwei Meter zwanzig, mit strotzenden Muskeln, und dabei dennoch gewachsen wie eine Königstanne und gewandt wie ein Panther, geschmeidig wie eine Schlange, was man bei jeder Bewegung erkannte, zumal er nackt bis auf den Schurz war. Nur das Gesicht des noch jungen Mannes war nicht besonders einnehmend. Obgleich von gelber Hautfarbe, hatte er doch die Physiognomie eines Negers, eine sehr breitgedrückte Nase und schwulstige Lippen.

Mit Riesenschritten kam er hereingestürmt, ein ungeheures Schwert schwingend, gleich einige Beweise seiner Kunstfertigkeit gebend, indem er das Schwert im schnellen Gehen bis fast zur Decke der sehr hohen Halle schleuderte und es im Gehen am Griffe wieder auffing, dann es um seinen Kopf quirlend, mit einer Schnelligkeit, dass man nur noch eine weiße, blitzende Scheibe sah, dann es wieder zwischen seinen Beinen hindurch hoch in die Luft schleuderte, über den Kopf weg, und es diesmal vorn an der Spitze auffangend, was alles ja nicht zur eigentlichen Fechtkunst gehört, aber doch immerhin einen Beweis gab, wie gewandt der Mann war und wie er das Schwert beherrschte.

»Heil dem neuen Priestergemahl!«

So erklang es schon tausendstimmig. Man betrachtete den vergötterten Schwertjüngling bereits als Nachfolger des jetzigen Priestergemahls, und man blickte nach der Sultana, was die wohl sagte beim Anblick dieses herrlichen Riesen, den sie doch hätte gleich wählen können, wenn sie nun einmal einen Mann haben wollte.

Und der zukünftige Gatte der zukünftigen Witwe verbeugte sich graziös vor der Sultana, fletschte lächelnd die Zähne, und dann ließ er wieder das Schwert zwischen seinen Beinen herumquirlen.

Wirklich großartig war dabei nur das Muskelspiel des herkulischen und doch so geschmeidigen Riesen.

Da trat der Priestergemahl durch seine für ihn bestimmte Tür.

Seinen schwarz-goldenen Talar hatte er abgelegt, war ganz in ein braunes Trikot gehüllt, auch mit solchen Handschuhen bekleidet, nur über den Kopf hatte er eine Art von schwarzer Kapuze gestülpt, deren vorderer Teil bis tief zur Brust reichte.

Auch dieser Priestergemahl hatte eine hohe Gestalt, das Hünenhafte hatte man schon immer unter dem Talar vermutet, aber doch nicht solch einen athletischen Körperbau mit Ausbildung auch der kleinsten Muskel, wie man jetzt erkennen konnte.

Gegen jenen Riesen war er freilich immer noch ein Zwerg zu nennen, und gegen dessen ungeheure Muskulatur kam die seine gar nicht in Betracht.

Auch der Priestergemahl brachte schon sein Schwert mit, ein ansehnliches Ding, aber eben wieder nicht zu vergleichen mit dem, das der dort schwang.

Vielleicht, dass erst Vorbereitungen getroffen werden sollten.

Aber Nadir der Gladiator ließ es nicht erst hierzu kommen, entweder er wusste nichts von solchem Komment oder er hatte es überhaupt sehr eilig, der neue Gemahl der Sultana zu werden, konnte es nicht abwarten — kurz und gut, der Riese Goliath war gleich darauf losgestürzt, um zur Abwechslung einmal dem kleinen David den Kopf abzuhacken.

Zuerst versuchte er es eigentlich mit dem Kopfspalten, und mit dem ersten Schlage, zu dem er gewaltig ausholte, schien er den ganzen Mann gleich in zwei Teile spalten zu wollen.

Glücklicherweise war es dem anderen nicht gar zu überraschend gekommen, dieser plötzliche Angriff, er konnte sein Schwert gerade noch hochwerfen, mit der genügenden Kraft, um den Stahl des Riesen abprallen zu lassen.

Der Riese ließ sich durch den ersten fehlgegangenen Versuch nicht gleich entmutigen, er fuhr fort, auf den Gegner einzuhauen, ließ blitzschnell eine Prim nach der anderen auf ihn herabregnen, auch einmal etwas mehr von der linken und rechten Seite aus, welche Hiebe man dann Terzen nennt, Steilterzen, solange sie nicht zu sehr von der Seite kommen — freilich nur mit dem Erfolge, dass seine Klinge immer an der des Gegners abprallte.

Als Nadir der Gladiator nun endlich einsah, dass es mit dieser Hauerei nicht richtig gehen wollte, veränderte er seine Taktik, wollte den kleinen David in den Bauch stechen.

Aber David wollte sich auch das nicht gefallen lassen, er wehrte die Stiche immer mit seinem Säbel ab.

Ganz so gemütlich, wie es hier geschildert wird, ging es nun freilich nicht zu. Es war vielmehr eine ganz mörderliche Hauerei und Stecherei, die Plempen rasselten nur so aneinander, dass die Funken stoben. Nur dass noch kein Blut geflossen war.

Bis der Riese Goliath mit einem Male nicht mehr hauen und stechen konnte, weil er kein Schwert mehr hatte.

Ob es ihm David nun aus der Hand gewunden oder geschlagen oder was er sonst für einen Kniff gebraucht hatte — kurz und gut, plötzlich flog des Riesen Schwert in weitem Bogen durch die Luft, und es hätte gar nicht viel gefehlt, so wäre es im Bauche eines sehr dicken Priesters stecken geblieben; glücklicherweise fiel es neben ihm harmlos zu Boden.

Mit ganz verdutztem Gesicht stand der waffenlose Riese da.

Jetzt hätte es der Priestergemahl sehr bequem gehabt, sich seines Nachfolgers zu entledigen, er hätte nur zuzustechen brauchen.

Aber er tat es nicht gleich, und ehe er es dann ausführen konnte, brüllte der Riese plötzlich wie ein angeschossener Ochse auf und stürzte sich auf David, packte ihn mit beiden Händen am Halse, um ihn zu erdrosseln, wenn es ihm nicht gelang, ihm gleich das Genick zu brechen.

Das ist eine höchst unangenehme Situation. Wenn einen ein Gegner so gepackt hält, an der Gurgel oder auch sonst wo, so nahestehend, dass man nichts weiter machen kann, als ebenfalls nach dem Halse zu packen. Nun kommt es eigentlich nur noch darauf an, wer am längsten die Luft anhalten kann; wer zuerst erstickt, der hat verloren.

Aber hierfür gibt es ein Mittel, um solch einen Gegner sofort abzuschütteln, ein Mittel, welches besonders die Seeleute gut kennen; in der kaiserlich deutschen Marine wird der Kniff ganz systematisch eingeübt.

Unten am Halse dicht über dem Schildknorpel des Brustbeines liegt die sogenannte Schilddrüse, ein hufeisenförmiges, dunkelbraunes Organ, reich mit Äderchen durchzogen. Unsere Ärzte wissen noch nicht, was diese sogenannte Schilddrüse im Körper für einen Zweck erfüllt. Sie wissen nur, dass Idioten eine verkümmerte Schilddrüse haben. Erkrankungen dieser Drüse ziehen Kropfbildung nach sich mit geistiger Störung, man wird immer — — dämlicher; gebessert wird dieser Zustand durch Fütterung mit fremder, tierischer Schilddrüse, Kälbern oder Hammeln entnommen — man spricht wirklich von Schilddrüsenfütterung — und außerdem ist dies auch das wirksamste Mittel gegen Fettsucht. Mehr ist unseren Ärzten und Physiologen über dieses Organ noch nicht bekannt.

Unsere blauen Jungen von der Marine aber wissen umso besser, wozu die Schilddrüse da ist. Wenn einen ein Gegner gepackt hat, in einer Weise und so nahe stehend, dass ihm sonst nicht beizukommen ist, man kann sich nicht befreien, dann braucht man nur die Fingerspitze auf diese Stelle des Halses zu setzen, wo die Schilddrüse sitzt, braucht nur ein wenig zu drücken und dazu den Finger etwas zu drehen, da lässt der Gegner augenblicklich los, sackt gleich zusammen.

Aber dieser Kniff muss gelernt werden, es kommt ganz genau auf die richtige Stelle an, und dann liegt der Hauptwitz in der Fingerdrehung! Und das wird tatsächlich in der Marine eingeübt. Ums Jahr 1890 gab Oberbootsmann Kühlewetter auf dem Artillerieschulschiff »Mars« den Rekruten darin richtige Instruktionsstunde, Universitätsvorlesungen mit praktischen Übungen — freilich privatim.

Vielleicht war der Priestergemahl bei diesem alten Oberbootsmann — Gott habe ihn selig — in die Schule gegangen. Jedenfalls kannte er diesen famosen Kniff und verstand ihn anzuwenden. Auch ein sechsfach gesteifter Vatermörder schützt davor nicht, da fährt man einfach oben durch, aber dieser arabische Gladiator war ja nur bekleidet mit der Andeutung eines Badehöschens.

Und kaum hatte der Priestergemahl den Finger angesetzt und die regelrechte Drehung gemacht, als der andere schleunigst den gepackten Hals losließ und auch gleich in die Knie sackte.

Es ist ein unbeschreibliches, ein niederträchtiges Schmerzgefühl. Aber böse Folgen hat es nicht, nicht etwa, dass einem die Luft ausgeht, man hat nur augenblicklich den Gegner abgeschüttelt, muss schon auf einen neuen Angriff vorbereitet sein.

Und der Riese schnellte denn auch gleich wieder empor, um den anderen, der ihn so schrecklich blamiert, zum zweiten Male zu packen, ihm doch noch das Genick zu brechen.

Aber zum zweiten Male ließ sich der Priestergemahl nicht packen, oder er war derjenige, der diesmal schneller zugriff, auch er hatte sein Schwert fallen lassen und umschlang den Gegner, packte ihn bei den Hüften, hob den Riesen, der bei solcher Mächtigkeit sicher seine zwei Zentner wog, hoch in die Höhe, bis über den Kopf empor, und schmetterte ihn zu Boden, dass der Sand dabei keine weiche Unterlage weiter bedeuten konnte.


Illustration

Der Prinzgemahl ließ sein Schwert fallen, packte den Riesen bei den
Hüften, hob ihn hoch empor und schmetterte ihn dann zu Boden.


Wie ein geprellter Frosch lag der Riese da, auf dem Rücken, alle viere von sich streckend. Wenn ihm nichts gebrochen worden, so war ihm doch Hören und Sehen vergangen.

Doch da schnellte er schon wieder empor, stürzte dorthin, wo sein Schwert lag und raffte es auf.

Schnell hatte auch der Priestergemahl das seine aufgehoben und setzte sich in Fechterpositur, um den Zweikampf von Neuem aufzunehmen.

Doch es sollte nicht mehr dazu kommen.

Nadir der Gladiator hatte gemerkt, wen er vor sich hatte, verzichtete auf die Sultana und gab sich für besiegt.

Aber er verhöhnte alle Gesetze der Schlüsselbruder, schnitt sich nicht die Kehle durch, vielleicht weil er kein Messer hatte und er sich erst eins hätte geben lassen müssen.

Er machte es genau so wie der König Saul, als er die Schlacht verloren sah. Er warf sich mit gestrecktem Oberkörper vorwärts nieder, dazu das lange Schwert in der geeigneten Lage haltend, den Griff nach unten und die Spitze nach oben, so stürzte er sich nieder, und als der Schwertgriff gegen den Boden stieß, kam die Spitze hinten zu seinem Rücken heraus, der breite Stahl hatte die Lunge und vielleicht auch etwas das Herz durchbohrt — und das hatte er mit einer Geschicklichkeit ausgeführt, als hätte er es sich sorgfältig eingeübt.

Jetzt brach unter dem Publikum der Tumult los. Was sie brüllten und johlten und jauchzten, war nicht zu verstehen. Jedenfalls aber Lobpreisungen für den siegreichen, unüberwindlichen Priestergemahl der Astarte.

Der wartete das Ende dieser Ovationen nicht ab, verbeugte sich nicht — er verschwand durch seine Tür, und auch die Sultana hatte schnell ihren Platz verlassen.

*

In den schwarz-goldenen Gemächern der Sultana, dem Allerheiligsten in diesem Reiche, trafen die beiden zusammen.

Gerade als die Königin der Nacht eintrat, nahm ihr Gatte im braunen Trikot die schwarze Kapuze ab.

Natürlich war es das vollbärtige Gesicht des Prinzen Joachim, das zum Vorschein kam, um den Kopf unter das Kinn hinweg ein schmales, weißes Band, das über dem linken Ohre einen dicken Verband festhielt.

— • —

43. Kapitel
Der Helios

Originalseiten 1039 — 1054

»Vorsicht, Platz da, zurücktreten!« So erklang es am andern Morgen in aller Frühe auf dem Klosterhofe, der weit über hundert Meter lang und breit war.

Alle Cowboys und anderen Leute befanden sich darauf, zum Teil in marschmäßiger Ausrüstung, neben sich einiges Gepäck, mit gesattelten Pferden und auch einigen Kamelen.

Alle wichen nach jenem Ruf des Prinzen von einer gewissen Strecke zurück, die er näher mit der Hand bezeichnete.

Zuvor war ein leises, heulendes Pfeifen erklungen, wie von einer Dampfsirene hoch aus den Lüften kommend.

Jetzt ein Zischen, aber schon viel näher klingend.

Alle standen regungslos da, nach jener bezeichneten Richtung blickend, im Gesicht den Ausdruck der gespanntesten Erwartung, ohne dass doch irgend etwas zu sehen war.

Da rannte über den Sand, der diesen Teil des Klosterhofes noch bedeckte, während die andere Hälfte, durch welche der Bach ging, schon in Gartenland verwandelt worden war, ein großer Hund.

Er hatte dort hinten in dem Mauerwinkel in der Sonne gelegen und wollte sich jetzt zu den Menschen gesellen.

»Zurück, Pluto — oder hierher, schnell hierher!«, rief der Prinz.

Der kluge Bluthund, der jedes solcher Worte verstand, konnte sich diese beiden entgegengesetzten Befehle natürlich nicht zusammenreimen und blieb nun gerade stehen, seinen Herrn anblickend.

»Hierher, schnell hierher, Pluto!«

Jetzt wollte der Hund hinspringen, da aber geschah es schon.

Plötzlich wurde der große Hund wie von einer unsichtbaren Kraft festgehalten und niedergedrückt, immer tiefer, bis sein Leib den Boden berührte, laut auf heulte der Hund.

»Halt, halt, halt!!!«, schrie auch der Prinz und andere taten dergleichen. »Zermalmt meinen Pluto nicht, ein Hund ist darunter!«

Da konnte sich der Hund wieder aufrichten, erst wenigstens so weit, dass er zu kriechen vermochte, dann vollständig, und mit eingekniffenem Schwanze jagte er davon. Und dann konnte man weiter etwas Merkwürdiges beobachten.

Plötzlich entstand in dem Sande ein langer Strich, dadurch, dass der Sand eingedrückt wurde, der Strich ging fast über den ganzen Klosterhof, und an seinen Enden gingen im rechten Winkel wieder solche Striche ab, die aber bedeutend kürzer waren und dann wieder durch einen langen Strich vereinigt wurden — kurz, es war nicht anders, als hätte sich ein ungeheures Brett in den Sand niedergelegt, sich etwa zwei Zentimeter tief eindrückend, alle Unebenheiten natürlich beseitigend.

Wenn man gemessen hätte, so hätte man gefunden, dass dieses Brett oder der Gegenstand, der sich da eindrückte, genau achtzig Meter lang und sechzehn Meter breit war.

Außer diesem Eindruck im Sande war absolut nichts weiter zu sehen.

Da aber entstand in der Mitte des vorderen, langen Striches dicht über dem weißen Sande ein schwarzer Schatten von ungefähr vier Meter Breite, erst selbst nur ein Strich, doch schnell zog er sich nach oben in die Länge, erst sah man ein Paar menschliche Füße, dann kamen die Knie, die Beine folgten nach, ein ganzer Mensch zeigte sich, ein Mann in einem blauen Monteuranzug — doch das war nur die eine Gestalt, auf die man unwillkürlich seine Aufmerksamkeit gerichtet hatte, sonst blickte man in einen Raum, der Türen und eine Wendeltreppe und andere Vorrichtungen zeigte, zwischen denen sich noch andere solch blaugekleidete Männer, meist mit orientalischen Gesichtern, bewegten.

»Vorwärts, halten wir unseren Einzug!«, rief der Prinz.

Sie zogen ein, mehr als die Hälfte der Cowboys und sonstigen Bewohner des Klosters, ihre Pferde und auch die Kamele mit sich führend, die Tür hatte sich weit oder vielmehr hoch genug geöffnet, um auch die letzteren durchzulassen, und im Hintergrunde dieses ersten Raumes ging wieder solch eine Tür hoch, nach Art einer Rolljalousie, dann, als auch das Gepäck nachbefördert worden war, rollte die erste Tür wieder herab, das heißt der Raum, den man zuerst hatte entstehen sehen, verschwand nach und nach wieder, bis nichts weiter als die Sandfläche zu erblicken war, dann ein leises Heulen, und nach einiger Zeit begannen die Zurückgebliebenen den Sand des Klosterhofes zu harken — —

In einem komfortabel eingerichteten Zimmer saß der Prinz, ihm gegenüber Ingenieur Hartung.

»Dass Sie sich in einem Luftschiff befinden, wissen Sie, und schon seit einigen Tagen war unter den Leuten bekannt geworden, dass solch ein unsichtbares Luftschiff existieren muss, dessen sich Almansor bedient.

Ich habe solchen Äußerungen niemals zu widersprechen brauchen, durfte ihre Richtigkeit aber auch nicht weiter bestätigen — erst jetzt bin ich dazu ermächtigt, weitere Erklärungen über dieses Luftschiff zu geben, und zwar soll ich sie zuerst Ihnen mitteilen, Herr Ingenieur, Sie sollen dann die anderen Leute darüber instruieren, fachgemäße und neugierige Fragen beantworten, wozu Sie sich als technisch und physikalisch gebildeter Ingenieur auch am besten eignen.

Der Name dieses Luftschiffes ist Helios. Das war, wie Sie wohl wissen, der ursprüngliche Name des griechischen Sonnengottes.

Es bildet seiner Form nach einen regelmäßigen Kasten von achtzig Meter Länge, sechzehn Meter Breite und fünfzehn Meter Höhe.

Diese Höhe ist der Hauptsache nach in vier Etagen geteilt. Manchmal aber liegen auch fünf und noch mehr Räume übereinander, das sind dann meist Utensilienkammern, oder sie enthalten Proviant und Trinkwasser, es sind also Tanks, und dann gibt es auch wieder hohe Säle und ganz durchlaufende Schächte, wie zum Beispiel den Maschinenraum.

Dann kommt zu dieser Höhe noch ein Aufbau hinzu, sieben Meter hoch, der als spitzer Winkel das Oberdeck überspannt, um atmosphärische Niederschläge, Regen und besonders belastenden Schnee leicht abgleiten zu lassen.

Dieser spitze Aufbau funktioniert ebenfalls nach Art einer Rolljalousie, bei schönem Wetter ist er herabgelassen, man kann sich auf dem Oberdeck, so glatt wie unten der Boden, also im Freien ergehen.

Der Helios ist aus Platten von einer Metalllegierung gebaut, die der Hauptsache nach aus Aluminium und Kalium besteht. Es mögen noch andere Metalle und überhaupt Elemente hinzukommen, was ich aber selbst noch nicht weiß.

Dass der Mann, dem dieses Luftschiff gehört, das Geheimnis kennt, jeden Gegenstand, wozu man doch schließlich auch jedes tierische Wesen rechnen kann, lichtdurchlässig, also scheinbar unsichtbar zu machen, wissen Sie ja.

Diese Eigenschaft ist an dieses besondere Metall gebunden.

Also dass das ganze Luftschiff unsichtbar ist und mit ihm alles, was sich darin befindet, das heißt so weit man es von außen betrachtet, darüber werden Sie sich also nicht mehr wundern.

Dieses eigenartige Metall besitzt aber auch noch eine andere Eigenschaft.

Seine Schwere kann verstärkt und vermindert werden, ersteres vorläufig bis zum spezifischen Gewicht von fast 25, sodass es schwerer wird als Gold, letzteres bis zur absoluten Gewichtslosigkeit.

Wie das ermöglicht wird?

Da müssten wir erst einmal die Frage beantworten, was Schwere überhaupt ist.

Aber das können wir nicht.

Wir wissen nicht, weshalb die Erde und überhaupt jeder größere Körper jeden kleineren anzieht.

Die neueste Theorie der Wissenschaft nimmt an, dass es sich dabei um zentripetale Äthererscheinungen handelt, die jeden Körper durchdringen, und der Widerstand, den die Ätherwellen dabei finden, das ist es, was wir Schwere oder Gewicht nennen, und je mehr Widerstand die betreffende Substanz dieser Durchdringung entgegensetzt, desto schwerer wird sie.

Ein Gas ist also deshalb leichter als die Luft, weil es die zentripetalen Ätherwellen leichter durchlässt als die atmosphärische Luft.

Eine andere Theorie haben auch jene genialen Geister noch nicht gefunden, die dies alles hier in die Welt gesetzt haben.

Wohl aber haben sie ein Mittel entdeckt, um durch elektrische Ströme die Schwere dieses Aluminium-Kalium-Metalls nach Belieben zu verändern, also vom spezifischen Gewicht 25 bis zur absoluten Gewichtslosigkeit.

Und alles nun, was von diesem Metall eingeschlossen wird, unterliegt denselben Veränderungen, das heißt der Erde gegenüber, was Sie doch wohl sofort verstehen.

Wenn Sie 70 Kilo wiegen, so werden Sie innerhalb dieser Planken immer so viel wiegen, auch wenn das ganze Luftschiff selbst kein Kilogramm schwer ist. Und nimmt dieses sein normal Gewicht an oder wird dasselbe verzehnfacht, so werden Sie dadurch nicht schwerer, was natürlich für jeden Gegenstand gilt.

Die Fortbewegung des Schiffes erfolgt durch komprimierte Luft.

Außen münden überall Röhren, vorn und hinten und oben und unten, in diese wird Luft unter starkem Druck getrieben, durch deren Widerstand an der atmosphärischen Luft erfolgt also die Fortbewegung in beliebiger Richtung.

Der Theorie nach oder vielmehr der Ansicht eines in physikalischen Sachen ganz ungebildeten Laien nach müsste dann ja zur Fortbewegung eine ganz geringe Kraft genügen.

Das Luftschiff wird einfach ganz oder fast gewichtslos gemacht, dann genügte ja schon ein Hauch nach unten, um es nach oben zu treiben, und so müsste es auch vorwärts getrieben werden können.

So würde wahrscheinlich ein Laie urteilen.

Sie, Herr Ingenieur, wissen das natürlich besser.

Die völlige Gewichtslosigkeit darf überhaupt niemals eingeschaltet werden. Wenn das Schiff so auf dem Boden läge, genügte ja der leiseste Windhauch, um es wie eine Feder fortzutreiben, und hoch in der Luft ist das natürlich noch viel mehr der Fall, da genügt sogar meistenteils die normale Schwere nicht, um es gegen Luftströmungen widerstandsfähig zu machen, es muss noch künstlich beschwert werden, sonst treibt es einfach davon, und da könnte man durch die Röhren blasen wie man wollte.

Es wäre dasselbe, als wenn man eine Lokomotive aus Holz oder aus Aluminium bauen wollte und man verlangte von ihr, sie solle sich auf sehr glatten Schienen, etwa mit Eis überzogen, fortbewegen. Und wenn man sie auch mit tausend Pferdekräften ausstattete, die Räder würden sich doch nur ohnmächtig auf den Schienen drehen, ohne das Fahrzeug selbst vorwärts zu bringen. Es fehlt das nötige Eigengewicht für die nötige Reibung.

Doch das wissen Sie als Ingenieur ja am allerbesten.

Also wenn das Luftschiff gegen einen starken Sturm vorwärts kommen soll, so muss seine Schwere und daher auch die treibende Kraft eine ganz bedeutende sein.

Wie nun diese Kraft erzeugt wird, welche die Luft durch die Röhren presst, das will ich Ihnen gleich an der Maschine selbst zeigen. Bitte, folgen Sie mir.«

Sie traten durch eine seitwärts gehende Schiebetür auf einen zwei Meter breiten Korridor und kamen nach kurzem Gange in einen Schacht von 15 Meter Länge, der also von oben nach unten durch das ganze Schiff ging.

Die Hauptsache in diesem Schachte waren zwei quadratische Blöcke, jeder genau von einem Meter Seitenlänge, die sich in Schienen auf und ab bewegten, unten vom Boden bis hinauf zur Decke, mit außerordentlicher Geschwindigkeit in entgegengesetzter Richtung, also wenn der eine hinabsauste, ging der andere hinauf.

Diese abwechselnde Bewegung wurde in einer nicht weiter zu beschreibenden Weise auf einen Balancier übertragen, der wieder eine horizontale Stange hin und her trieb, die durch eine Wand ging, hinter welcher sich also der weitere Teil der Maschine befand, das Pumpwerk für die Luft.

Am auffallendsten war dabei das Farbenspiel der beiden quadratischen Blöcke.

Der abwärtsgehende war stets schwarz gefärbt. In dem Augenblick aber, da er unten aufschlug, allerdings ganz unhörbar, färbte er sich im Nu schneeweiß. Und weiß sauste er auch nach oben. Sobald er aber seinen höchsten Stand erreicht hatte, färbte er sich wieder tiefschwarz.

So ging das immer auf und ab, schwarz hinunter und weiß hinauf.

»Das ist die Kraftmaschine!«, erklärte der Prinz.

»Der schwarze Block geht durch sein eigenes Gewicht hinab. Unten berührt er einen Kontakt, die Elektrizität, die ihm erst seine Schwere mitteilt, wird ihm entzogen, er wird absolut gewichtslos hinaufgezogen. Oben berührt der weißgewordene Block einen anderen Kontakt, die Elektrizität strömt ihm wieder zu, wodurch er sich schwarz färbt, als schwerer Block saust er wieder hinab.

Jeder Block ist genau einen Kubikmeter groß. Wäre es ein Kasten aus dünnem Holz, mit Wasser gefüllt, so wöge es also 1000 Kilogramm, und da er in der Sekunde drei Meter hinabgeht, würde diese Maschine also 3000 Kilogramm-Meter leisten oder 400 Pferdekräfte entwickeln.

Nun kann aber diese Substanz beliebig schwer gemacht werden. Diese Blöcke hier allerdings nur bis zum spezifischen Gewicht 20. Ist dieser Strom eingeschaltet, so würde diese Maschine also 8000 Pferdekräfte entwickeln.

Hier ist ein Apparat, an dem man dies ablesen kann. Auf was für eine Schwere ist jetzt eingestellt? Auf 5. Also leistet die Maschine gegenwärtig 2000 Pferdekräfte.

Noch will ich sagen, dass die Beschleunigung des Falles dabei nicht in Betracht kommt, der Fall ist ein ganz gleichmäßiger, er wird etwas gebremst, einfach dadurch, dass der aufwärts gehende Block nicht in einem einzigen Moment absolut gewichtslos wird.«

Ja, ganz einfach!

Staunend und sogar mit einer gewissen misstrauischen Furcht betrachtete der Ingenieur die so ganz einfache Maschine.

Es sah nämlich ganz ungeheuerlich aus, wie die beiden Riesenblöcke in drei Sekunden die 15 Meter große Strecke auf und ab durchrasten.

»Dann ist hier doch das Problem des Perpetuum mobile gelöst.«

»Nein, das ist es nicht. Jene Elektrizität ist dazu nötig. Eine ganz besondere Art von Elektrizität, von der die andere Welt noch nichts weiß; so wie man die galvanische Elektrizität erst viel später entdeckte, nachdem die Reibungselektrizität schon längst bekannt war. Allerdings ist zur Erzeugung dieser Elektrizität, welche die Schwere und Gewichtslosigkeit abwechselnd erzeugt, nur ein kleines Maschinchen nötig, nur eine halbe Pferdekraft, aber die muss doch erst vorhanden sein, sonst bleibt die Karre stehen.

Die Sache ist nur die, dass hier die Möglichkeit vorhanden ist, eine gegebene Kraft bis ins Endlose zu verstärken.

Theoretisch! In Wirklichkeit sind Grenzen gezogen, schon durch das in Betracht kommende Metall. Ich habe von einer Aluminium-Kalium-Legierung gesprochen. Die Hauptsache aber ist dabei ein anderes Metall, und das soll so selten und kostbar sein, dass diese Art von unbeschränkter Kraftentwickelung für die große Menschheit niemals in Betracht kommen kann.«

»Und welche Schnelligkeit gibt nun diese Maschine dem Luftschiff?«

»Bis zu 200 Kilometer in der Stunde

»Ungeheuer!!«

»Ich kann das nicht finden. Wir haben auch schon Aeroplane, die diese Schnelligkeit entwickeln, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, dass dies auch unsere Luftschiffe können.«

Ein Arbeiter betrat die Galerie, welche etagenweise um den ganzen Schacht herumlief, und obgleich die Schienen von Öl trieften, goss er noch ganze Eimer von neuem Öl in besondere Trichter, von wo es sich wieder auf den Schienen verteilte.

»Wer ist es nun, der diese wunderbaren Erfindungen gemacht hat? Jener Almansor?«

»Ja und nein. Er gehört nur mit zu einer Gesellschaft von Männern, die sich mit solchen Erfindungen beschäftigen, in denen sie der anderen Welt um Jahrhunderte oder vielleicht auch Jahrtausende vorausgeeilt sind, wie sie selbst schon ein vieltausendjähriges Leben hinter sich haben wollen. Nicht durch Unsterblichkeit, sondern durch fortwährende Wiedergeburt, wobei sie aber im Tode nicht die Erinnerung an ihre früheren Lebensläufe und alles, was sie konnten und wussten, verloren haben, sondern das alles bei jeder Wiedergeburt wieder mitbringen. Etwas, was ich selbst noch nicht begreife.

Im Übrigen darf ich jetzt auch noch gar nicht über diese geheime Gesellschaft sprechen, so viel mir bisher darüber mitgeteilt worden ist. Also bitte, fragen Sie vorläufig nicht weiter darüber.

Die anderen Maschinenanlagen besehen Sie sich selbst, da brauchen Sie meine Erklärungen nicht. Jetzt begeben wir uns in mein Zimmer zurück.«

Auf dem Korridore machte der Prinz seinen Begleiter noch darauf aufmerksam, dass jede Tür oben ein Schild besaß, ohne Aufschrift, aber verschieden gefärbt, entweder schwarz oder weiß.

»Dieser Farbenunterschied hat hier aber nichts mit dem Gewicht zu tun. Alle Türen mit weißen Schildern können wir öffnen, die betreffenden Räume betreten. Die mit schwarzen Schildern hingegen sind uns verschlossen, selbst wenn wir sie öffnen könnten. Verstehen Sie? Hierüber sind auch unsere Leute gleich instruiert worden, dass da kein Versehen passiert. Das ganze Schiff steht zu unserer Verfügung, wir können überall hingehen, alles untersuchen — nur in den Räumen, deren Türen ein schwarzes Schild zeigen, haben wir nichts zu suchen. Es sind ihrer wenig genug. Die anderen Erklärungen gebe ich Ihnen in dem Zimmer, das zu meinen Wohnräumen gehört, wie auch Sie noch eine ganze Zimmerflucht angewiesen bekommen werden.«

Sie hatten dieses Zimmer wieder betreten, das kein Fenster hatte und durch elektrisches Licht erhellt wurde.

»Hier an der Seitenwand finden Sie in jedem Zimmer immer ein Schränkchen, das Hebel und Ventilräder enthält.

Ihre Anordnung ist sehr übersichtlich, man kann sich nicht so leicht irren, wenn man die Sache einmal weiß.

Hier sind die Drehgriffe für das elektrische Licht, hier die für die Ventilation.

Diese Stifte hier bedienen das Telefon, welches das Schränkchen zugleich ist, mit den Verbindungen werden Sie sich schnell vertraut machen.

Nun wollen Sie aber doch auch einmal zum Fenster hinaussehen. Da drehen Sie einfach hier diesen Hebel.«

Der Prinz hatte es getan, und plötzlich war die ganze Wand, welche das Luftschiff nach außen hin begrenzte, völlig durchsichtig, wie vom reinsten Glase, soweit eben nicht Möbel daran standen oder sonstige Gegenstände daran hingen.

Man erblickte nichts weiter als das blaue Meer — obgleich das Rote genannt — mit einigen Inselchen darin.

»Ist dies schon das Rote Meer?!«

»Ja. Schon? Wir befinden uns bereits seit einer Stunde unterwegs, haben schnellste Fahrt gehabt, und das Meer ist von Kairo nur 120 Kilometer entfernt. Aber ich glaube nicht, dass wir uns schon direkt über dem Meere befinden.

Ja, diese Fenstervorrichtung hat den Nachteil, dass man nicht direkt hinabblicken kann, weil man sich eben nicht hinauslehnen kann, es geht nicht zu öffnen.

Nun möchte man aber doch auch einmal sehen, was sich direkt unter einem befindet, wie da die Gegend beschaffen ist.

Zu diesem Zwecke brauchen Sie nur hier diesem Hebel zu drehen.«

Plötzlich war der ganze Boden des Zimmers, der aus einer schwarzen, zwar festen, aber doch merkwürdig weichen Masse bestand, sodass man wie auf einem Teppich zu gehen glaubte, vollkommen durchsichtig geworden.

Man erblickte aus der Vogelperspektive ein felsiges Gebirge, das sich in der Wüste an der Meeresküste hinzog, manchmal noch einen Sandstreifen freilassend, manchmal nackt und steil bis an das Wasser herantretend, von wilden Schluchten durchzogen.

Dort mitten in der nackten Öde aber auch ein grünes Plätzchen, eine kleine Oase, und das Luftschiff befand sich in einer Höhe, dass man die Menschen und auch noch die Schafe und Hunde ziemlich deutlich erkennen konnte, obgleich man sich noch nicht direkt darüber befand.

Die Schnelligkeit, mit welcher das Luftschiff über das Gebirge flog, ihm folgend, war jetzt eine mäßige, soweit man das beurteilen konnte.

Zuerst machte sich in Hartung der technische Ingenieur geltend.

»Liegt denn dieser Raum direkt über dem Boden des Luftschiffes?«

»Nein. Wir befinden uns in der dritten Etage. Das haben Sie doch auch in dem Maschinenschacht gesehen, dass wir uns ziemlich in der Mitte der Höhe befinden, und wir haben doch weder Treppe noch Fahrstuhl benutzt.«

»Und hier darunter liegen noch andere geschlossene Zimmer?«

»Gewiss.«

»Ja, wie kann man denn da hier durch den Boden nach der Erde blicken, ohne diese anderen Zimmer zu sehen?!«

»Einfach weil alles das, was zwischen dieser durchsichtig gemachten Decke und dem Schiffsboden liegt, ebenfalls völlig durchsichtig, lichtdurchlässig, also unsichtbar für unser Auge wird. Das wäre ja auch eine nette Geschichte, wenn das anders wäre! Dann könnte ja einer den andern jederzeit beobachten, und wenn man auch ein noch so gutes Gewissen hat, so wäre das doch nicht angenehm.«

»Ist es möglich, dennoch durch die Schiffswände aus einem Zimmer ins andere zu blicken?«

»Ja, möglich ist es, aber seien Sie versichert, dass alle Leute dieses Schiffes, vom Kapitän an bis zum letzten Schiffsjungen, so etwas niemals tun werden. Ein heimliches Beobachten und Belauschen gibt es hier nicht.«

Nun erst genoss der Ingenieur den wundervollen Anblick, den man aus dieser Vogelperspektive unter sich hatte.

»Was ist das für ein Gebirge?«

»Dieser Teil hier heißt Dschebel Derrageh. Die kleine Oase dort vorn ist der Bir Abu. Bir heißt immer Brunnen. Es soll hier überhaupt viele Quellen geben, die allerdings so wenig Wasser haben, dass sie nur für einen einzigen Menschen ausreichen. Nur gesammeltes Tauwasser. Immerhin, durch solche Tauquellen zeichnet sich dieses Gebirge aus, und dieser Dschebel Derrageh ist denn auch die gelobte Wüste gewesen, in der einst Tausende von Anachoreten, christliche Einsiedler, gehaust haben.«

»Sehen wir schon unser Ziel?«

»Das weiß ich selbst nicht.«

»Dort unten läuft ein Mensch! Sehen Sie ihn? Dort in der krummen Schlucht!«

Es war in der Tat etwas Auffallendes, hier in diesem öden Gebirge einen Fußwanderer zu sehen.

Der Ingenieur meinte aber überhaupt nur die winzige Beduinenfigur, wie sie so hübsch in der Schlucht einher trippelte.

»Das wird ein —«

Der Prinz brach ab. Ein schnarrendes Klingeln war erklungen. Er zog aus der Westentasche eine uhrähnliche Dose.

»Ich bitte um Verzeihung, wenn ich in Ihrer Gegenwart ein heimliches, das heißt ein für Sie unhörbares Gespräch führe.. Dieses kleine drahtlose Telefon setzt mich direkt mit dem Kapitän des Luftschiffes in Verbindung, dem Sie dann noch vorgestellt werden. Übrigens ist es Almansor, der mich zu sprechen wünscht, der befindet sich nämlich ebenfalls an Bord.«

Der Prinz führte die Dose an das gesunde Ohr, dessen dünner Streifen, der sich darüber schlang, wohl das Hören nicht hinderte, obgleich sonst gar nichts zu hören war, tippte erst mehrmals auf den hervorstehenden Stift, morste telegrafisch.

Und immer größeres Staunen drückten seine Züge aus, während er dabei auf den durchsichtigen Boden blickte, also auf das Gebirge nieder.

»Alle Wetter!«, sagte er dann. »Solch ein merkwürdiger Zufall! Ich kann es Ihnen mitteilen, es ist kein Geheimnis, wir sind alle beteiligt daran. Wissen Sie, wer das ist, der da unten in der Schlucht läuft?«

»Wie soll ich es wissen?«

»Einer von den Männern, auf die es diese unsere Luftexpedition abgesehen hat.«

»Einer von den Negern?«

»Nein. Kein anderer als Señor Domingo Lazare. So behauptet wenigstens Almansor, der ein ganz besonderes Fernrohr auf den einsamen Fußwanderer gerichtet hatte und ihn erkannt haben will. Und nun wollen wir den Herrn auch etwas weiter beobachten, weshalb er sich von der unterirdischen Karawane getrennt hat und weshalb er sich, wie Almansor behauptet, immer so scheu umsehen soll!«

— • —

44. Kapitel
Das Geheimnis der Hölle

Originalseiten 1055 — 1096

Wir versetzen uns tief unter die Erde. Lampen und Fackeln übergossen mit düsterem Lichte die mehr als hundert Männer, welche durch den unterirdischen, wasserlosen Flusslauf zogen.

Die Hauptsache bildete wohl die Riesenwurst von 15 Meter Länge, die von einem Dutzend kräftiger arabischer Arbeiter getragen wurde — ihren kurzen Kitteln nach Arbeiter — der der Karihaddsch geraubte Teppich, doch waren auch die besser, nur zum Teil als Beduinen gekleideten Männer alle bepackt, sie trugen ihren Proviant und Wasservorrat für mehrere Tagereisen, vielleicht ja auch sonst noch andere Sachen, nur bei einigen an der Spitze gehenden Männer war dies nicht der Fall, die sich auch durch Waffen auszeichneten.

Ein Signal auf einem Büffelhorn und der lange Zug hielt. Es wurden Vorbereitungen zu einem Lager getroffen, und zwar wurden auch einige richtige Lagerbetten von Decken und Fellen hergestellt, also sollte wohl einige Stunden geschlafen werden.

Die mehr zusammengekommenen Männer kauerten sich nieder und sprachen ihrem Proviantbeutel und der Wasserflasche zu, die aus einem größeren Schlauche gefüllt wurde. Dann streckten sie sich auf ihren kleinen Teppichen aus.

War es bei dieser orientalischen, sonst so geschwätzigen Gesellschaft schon immer sehr schweigsam zugegangen, weil es war, als ob diese nackten Felswände tief unter der Erde keine menschlichen Laute duldeten, so herrschte jetzt bald die Stille des Todes.

Die Fackeln waren gelöscht worden, nur hier und da brannte noch eine Lampe, einige Wächter schritten auf und ab. Doch kam es vor, dass auch andere manchmal noch ihre Plätze wechselten, einen Freund aufsuchten, um mit ihm flüsternde Worte zu tauschen.

Auch einer der Teppichträger, die sich zu dieser schweren Arbeit wohl nicht freiwillig meldeten, zumal sie so selten abgewechselt wurden, hatte seinen Platz noch einmal verlassen, war seitwärts in einen Nebentunnel getreten, wie der unterirdische Flusslauf solche wiederholt zeigte.

Gleich darauf tat dasselbe einer von den vornehmen Schlüsselbrüdern, die sich besonders gelagert hatten, für welche die weichen Lagerstätten aufgeschlagen worden waren, ein Beduine von kleiner Gestalt.

Auch er ging langsam jenem Gange zu, den jener aufgesucht hatte. Auffallend war dies also durchaus nicht.

»Bist Du es, Mächtiger?«, wurde er flüsternd empfangen.

»Ich bin es.«

»Oben graut bald der Tag und wir haben nur noch vier Stunden zu marschieren.«

»Ich weiß es, Maffa.«

»Bei dieser letzten Rast muss es geschehen.«

»Es wird geschehen.«

»Vor einer Stunde kamen wir unter dem Brunnenloche vorbei, von dem ich erzählte.«

»Ich habe es gesehen.«

»Gesehen?! Wie willst Du es gesehen haben, da es über uns ganz schwarz war?«

»Habe ich Dir nicht schon einmal bewiesen, Maffa, dass ich auch im Finstern so gut sehen kann wie am lichten Tage?«

»Du hast recht, Mächtiger, daran dachte ich nicht. Durch dieses Brunnenloch müssen wir hinauf.«

»Ja, ich sah auch die Sprossen einer kupfernen Leiter.«

»Du siehst wie eine Eule. Also bei dieser Rast!«

»Es wird besorgt. Das Trinkwasser der Mächtigen ist bereits gemischt, auch der Gesandte hat schon von dem Schlaftrunk genommen, der erst nach zwei Stunden wirkt.«

»Ist Deine Zange scharf?«

»Sie würde auch eine diamantene Kette zerschneiden.«

»Aber töte ihn nicht, den Geweihten!«

»Weshalb ihn töten, wenn er schon schlafen wird wie ein Toter? Sonst noch etwas, Maffa?«

»Aber wie sollen wir uns nun von hier fortschleichen, ohne dass wir sofort verfolgt werden?«

»Es muss eben riskiert werden. Übrigens ist das nicht gar so schwer, das Licht der Lampen reicht nicht weit, wir sind gleich in der Finsternis verschwunden. Wenn Du es nicht ungeschickt machst, an mir soll es nicht liegen, wenn wir gesehen werden.«

»Ich werde auf Dich achten.«

»Tue es. Also dies war unsere letzte Unterredung.«

Sie trennten sich, erst ging der »Mächtige« zurück, etwas später der Sklave, der er unter den Schlüsselbrüdern war.

Bald lag alles in tiefem Schlafe, auch die wenigen Wächter saßen regungslos, wenn sie nicht selbst schliefen. Es gab hier unten ja auch gar nichts zu bewachen, vor keiner Gefahr zu warnen.

So vergingen fast zwei Stunden.

Der kleine Beduine wälzte sich auf die Seite.

Dann noch einmal, nach derselben Richtung. So war er dicht an einen andern Schläfer herangekommen, der neben ihm lag, ihm die Brust zukehrend.

Und die Hand des kleinen Beduinen kam unter dem Burnus zum Vorschein und tastete auf dieser Brust, und dabei hob er etwas den Kopf, wahre Fuchsaugen lugten dabei vorsichtig umher, wie es überhaupt ein schlaues Fuchsgesicht war.

Aber er konnte unbesorgt sein, in diesem spärlichen Lichte, das sehr weit entfernt stehende Öllampen spendeten, musste man in dichtester Nähe sein, um hier etwas unterscheiden zu können.

Die tastende Hand ging tiefer in den Brustausschnitt des schlafenden Mannes hinein, zog sich zurück unter den eigenen Burnus und kam mit einem Messerchen wieder zum Vorschein.

Und jetzt tauchte dieses Messerchen in den Burnusausschnitt des Schlafenden hinein und begann zu schneiden, doch sicher in den Untergewändern.

Wieder zog sich die Hand zurück, das Messerchen wurde mit einer kleinen Zange vertauscht, die wiederum in den Busen des Schlafenden schlüpfte.

Zwei leise Knipse, und es war geschehen. Als die Hand wieder zum Vorschein kam, hielt sie außer der Zange noch ein ziemlich umfangreiches, aber flaches Paket, aus dem die zwei kurzen Enden eines Stahlkettchens hervorsahen.

Es verschwand unter dem Burnus des kleinen Beduinen.

Noch einige Minuten, dann erhob sich dieser und ging schlaftrunkenen Schrittes nach jener Richtung, von wo die Karawane gekommen war.

Alles schlief, nur die am Boden hockenden Wächter blinzelten mit den Augen.

Sie kannten diesen Mann mit dem schlauen Fuchsgesicht und dem immer so gütigen Lächeln, den Bruder Lazarus, er war einer von den »Mächtigen«, von den eingeweihten Schlüsselbrüdern. Zwar hielten sie es nicht für nötig, als Wächter größere Aufmerksamkeit zu heucheln, schnell die Augen aufzureißen, dachten aber auch nicht daran, ihn zu fragen, wohin er denn ginge. Weit entfernte er sich ja doch nicht von dem Lagerplatz.

Señor Lazare, wie wir ihn nun gleich nennen wollen, stieg über die Schlafenden hinweg oder ging zwischen ihnen hindurch, nach wenigen Schritten schon konnte er in der Finsternis gar nicht mehr gesehen werden.

Niemand schloss sich ihm an, niemand folgte ihm nach, wie er vielleicht erwartet hatte.

Da aber sahen seine Augen, für welche, wie wir wissen, die schwärzeste Finsternis kein Hindernis war, schon eine Gestalt, die sich vom Boden erhob, sie erkannten auch sofort den Mann.

Es war Maffa, der Sklave, der sich schon vorher in die Finsternis zurückgezogen hatte, um den anderen hier zu erwarten.

Lazare fasste seine Hand und sie eilten weiter in den Gang hinein. Auch der jetzt so gut wie blinde Araber konnte sich nicht stoßen, über keinen Stein stolpern, sein Führer sah rechtzeitig jedes Hindernis und wich ihm aus.

Es war ein wirkliches Rennen, das eine halbe Stunde währte: bis Lazare den Lauf hemmte und stehen blieb.

»Hier ist der Brunnenschacht.«

Es war das erste Wort zwischen den beiden gewesen.

»Ich habe kein Wasser mitnehmen können.«

Vor Anstrengung keuchend, hatte es der Araber kaum hervorgebracht, obgleich es ein junger, schlanker, kräftiger Mann war. Dem alten Jesuitenpater dagegen war nichts von diesem schnellen halbstündigen Rennen anzumerken.

»Ich habe genug bei mir und der Weg zum Bir kann nach Deiner Beschreibung nicht weit sein.«

»Hast Du das Geheimnis der Hölle?«

»Du bist ein Narr, wenn Du so fragst und das erst jetzt!«, kicherte der Pater. »Nun stelle Dich stramm hin, hierher.«

Wie ein professioneller Zirkusakrobat kletterte oder vielmehr voltigierte das alte Männchen auf die Schultern des andern.

Mochte das alte, kleine, dürre, ganz ausgetrocknete Männchen auch noch nicht einmal einen Zentner wiegen, es gehört doch dazu entweder die Kraft eines Riesen oder eben eine ganz besondere artistische Ausbildung, um solch eine Last, einen stehenden Menschen, plötzlich auf seinen Schultern tragen zu können.

Dieser Araber hier hätte es sicher nicht fertig gebracht. Ehe er aber die Last richtig fühlte und zusammenknicken konnte, hatten Lazares nach oben gestreckte Hände schon einen Halt ergriffen, die Sprossen einer Leiter, und so seinen Körper entlastet.

»Nun klettere an mir herauf!«, rief er seinem Begleiter zu.

Es machte dem Manne, der kein Turner war, so gewandt er sonst auch sein mochte, zuerst große Schwierigkeiten, bis er auch die Beine um die menschliche Kletterstange schlingen konnte — dann hatte auch er die untersten Sprossen einer Leiter erreicht, nun ging es leicht, er kletterte über den andern hinweg, wonach aber Lazare dasselbe tat, sodass er doch wieder der obere wurde.

Hinauf ging es, wohl zehn Minuten lang, was bei dieser Leiter, die gar kein Hindernis bot, doch mindestens eine Höhe oder Tiefe von 200 Meter zu bedeuten hatte.

Dann hatte Lazare als erster das Freie erreicht.

Auch dieses Mannes Augen hatten bis zuletzt über sich keinen Lichtschimmer bemerken können, und trotzdem graute schon der Tag, der östliche Horizont hatte sich schon blutrot gefärbt.

Das machte: Der Brunnenschacht mündete in einer Höhle, die wohl sehr geräumig war, aber nur einen ganz engen Eingang hatte.

Ein ummauerter Rand und einiges andere bewies, dass hier einst eine regelrechte Brunnenstube gewesen war, aber mit solchen Untersuchungen hielt sich der Jesuitenpater jetzt nicht auf.

Er kroch durch die niedrige Öffnung, spähte vorsichtig hinaus und trat ins Freie.

Der Araber war ihm nachgekrochen.

Es war eine öde Felsenschlucht, jetzt schon vom hellen Tageslicht erfüllt.

»Das Geheimnis der Hölle, wir haben es, wir sind die mächtigsten Zauberer der Erde!«, jubelte er mit unterdrückter Stimme.

»Und Deine Seligkeit?«, fragte der Pater gelassen noch immer nach allen Seiten spähend.

»Bah, es gibt weder Paradies noch Dschehenna!«, spottete der andere. »Wenn der Mensch tot ist, dann wird er begraben, dann ist alles vorbei, deshalb muss er dieses Leben genießen.«

Es war das Resultat der Lehren dieser Schlüsselbrüder, sie hatten von diesem mohammedanischen Sklaven, der sich auch sonst ihrer Kontrolle zu entziehen gewusst, nur die Früchte ihrer eigenen Bemühungen geerntet.

»Du glaubst nicht an die Dschehenna, an eine Hölle? Aber Du sprichst doch von einem Geheimnis der Hölle.«

»Ja, wenn es eine Hölle gebe, dann muss das Rezept in dieser gebraut worden sein.«

»Und Du glaubst, dass ein Mensch zaubern, solche Wunder wirken kann?«

»Ich weiß, dass es Menschen gibt, die mehr können als andere Menschen, und der größte Zauberer ist ein Merikani und heißt Edison. Der kann sogar toten Gummi sprechen und tote Bilder lebendig machen.«

Dieser ungebildete Araber, der von Edison gehört — und wo in der Welt kannte man nicht diesen Namen — hatte ganz recht.

»Nun aber öffne das Geheimnis!«, drängte er jetzt.

Doch der Jesuitenpater ließ sich nicht aus seiner gemächlichen Ruhe bringen.

»Du sprachst von einer Geheimschrift. Wenn wir sie nur auch enträtseln können.«

»Der Schlüssel der Geheimschrift ist dabei, ich weiß es! Nun aber schnell, dann müssen wir fliehen!«

»Fliehen? Ich denke, es ist ganz ausgeschlossen, dass uns jemand verfolgt, weil niemand den unterirdischen Tunnel verlassen darf.«

»Wohl, aber kann sich nicht jemand ebenso wenig um die Verbote kehren wie ich? Wo hast Du die Kapsel?«

»Es ist keine Kapsel, sondern — — was ist das dort?«

Der Araber blickte nach der bezeichneten Richtung. In demselben Moment stieß ihm Lazare von hinten mit der andern Hand einen Dolch ins Genick.

Der Stoß hätte wohl gar nicht mit so großer Kraft geführt zu werden brauchen, vielleicht hätte der winzigste Stich genügt, ein furchtbares Gift musste wirken, welches das Leben augenblicklich erlöschen ließ, wie es zum Beispiel Blausäure tut, das nur mit dem warmen Blute in Berührung zu kommen braucht, um im Moment das ganze Blut im Körper bis in die entferntesten, feinsten Äderchen zu einer breiartigen Masse erstarren zu lassen, und da hört das Leben natürlich sofort auf. Wie vom Blitz getroffen war der Mann zusammengebrochen.


Illustration

Hohnlächelnd betrachtete Lazare sein Opfer, dessen Tod er nicht erst zu konstatieren brauchte, er kannte die Wirksamkeit dieses Giftes.

»Du jämmerlicher Narr!

Du hattest zufällig von einem Geheimnis erfahren, wolltest Dich in Besitz desselben bringen, um es selbst zu benutzen.

Aber Du warst zu feig zur Ausführung des Raubes, trautest Dir die Tat nicht zu.

Oder Du gehörtest eben zu jenen erbärmlichen Herdenmenschen, die unbedingt einen Mitwisser ihrer Geheimnisse haben müssen, oder das Herz wird ihnen abgedrückt.

So kamst Du zu mir, der ich Dir einmal das Leben gerettet hatte und Dich dann hinterher immer noch an das Marterkreuz hätte bringen können, weil ich hinter Deine losen Streiche gekommen war.

Du vertrautest Dich mir an, ich sollte den Raub ausführen, dann wolltest Du das erbeutete Geheimnis mit mir teilen.

Hahahaha!

Konntest Du Dir denn nicht denken, dass ich Dich dann gleich beiseite schaffen würde?

Oder sehe ich denn nur wirklich so vertrauenswürdig aus?

Nein, es gibt doch gar zu dumme Menschen!

Ich hätte Dich gleich unten in dem Flusslaufe lassen können, aber ich hielt es doch für besser, Dich mit heraufklettern zu lassen, falls ich Dich doch vielleicht noch gebraucht hätte.

Es ist nicht der Fall — geh, verschwinde, Du Narr!«

An derselben Stelle, da er zusammengebrochen, verscharrte ihn der Mörder im Sande, in wenigen Minuten war es geschehen, nur mit Hilfe der Hände.

Der Morgenwind strich durch die Schlucht und so schwach er auch war, genügte er doch, um den überaus feinen Flugsand schnell zu ebnen. Allerdings blieb eine Erhöhung, aber solche gab es hier überall, während hinwiederum die Leiche nur durch einen starken Sturm hätte freigelegt werden können, den es aber in diesem Schluchtengebiet gar nicht gab. Und dann wäre in einigen Tagen auch nur eine vertrocknete, ganz unkenntliche Mumie zum Vorschein gekommen, die aber auch nicht lange offen gelegen hätte, dafür hätten Geier, Hyänen und Füchse gesorgt.

Trotzdem hatte der in so etwas wohl schon sehr erfahrene Pater erst die Taschen wie auch den Schalgürtel und den Turban untersucht. Es war wenig, was er darin gefunden hatte, belanglose Kleinigkeiten, die er in einiger Entfernung von der Leiche ebenfalls im Sand verscharrte.

Jetzt zog Lazare seine Beute unter dem Burnus hervor, das Paket, untersuchte es gleich hier an Ort und Stelle. Schon bei dem Morde hatte er nicht beobachtet werden können. Er befand sich wohl im Freien, aber unter einer stark überhängenden Felswand, und auch die gegenüberliegende hatte keine Höhlen, keine Löcher, also konnten ihn fremde Augen gar nicht beobachten.

Das flache Paket war in Leinwand eingenäht, sein Messer schlitzte sie auf, dann kam eine Umhüllung von einem Gummistoff, der ebenso entfernt wurde, und ein Kasten kam zum Vorschein, der offenbar von gehärtetem Stahlblech war.

Die Fuge der Decke des Deckels war zu erkennen, auf jeder Seite befanden sich zwei Ringe, wieder durch kleine Stahlringe miteinander verbunden, von denen die Kette ausging, mit der das Paket auf dem nackten Leibe des Trägers befestigt gewesen war, von welcher Kette jetzt also nur noch kurze Endchen herabhingen.

Außerdem war um den ganzen Kasten noch Draht gewickelt, dessen Enden mit Bleiplomben verschlossen waren, die eingedrückt einen Schlüssel zeigten, sodass der Kasten nicht geöffnet werden konnte, ohne diese Plomben zu zerreißen, wenn nicht der Draht selbst zerschnitten werden sollte.

Noch einmal benutzte Lazare seine kleine Zange, sie zerschnitt die gehärteten Stahlringe wie gewöhnlichen Draht, wie ein Messer einen Bindfaden, so zerschnitt er auch gleich die Drahtumhüllung, und der Deckel konnte abgehoben werden.

Die Blechschachtel enthielt die verschiedensten Gegenstände, die immer erst aus einer sorgfältigen Umhüllung gewickelt werden mussten.

Zuerst kam eine kleine Spritze zum Vorschein, so ein ärztliches Instrument, vielleicht eine Morphiumspritze. Dann einige Schachteln, meist aus hartem Olivenholz, mit Salben gefüllt. Ein Kristallfläschchen mit einer grünen Flüssigkeit. Und dann ein graues Pergament, das auseinandergefaltet werden konnte, mit roten Zeichen beschrieben.

Zeichen, keine Buchstaben, wenigstens nicht solche, die der in fremden, zumal orientalischen Sprachen bewanderte Jesuitenpater, der ehemalige Missionar, der sich in allen Ländern herumgetrieben hatte, kannte.

Man sah es ihnen überhaupt gleich an, dass es ganz willkürlich erfundene Zeichen waren.

Also eine Geheimschrift.

Aber da in der Büchse lag noch ein anderes, kleines Pergamentzettelchen. In einer Reihe das arabische Alphabet, dahinter immer die fremden Zeichen geordnet.

Der Schlüssel für die Geheimschrift!

Und der Jesuitenpater begann zu entziffern.

Immer schneller und besser ging es.

Und immer mehr nahm sein Fuchsgesicht den Ausdruck der größten Spannung an, immer mehr funkelten seine Augen auf.

»Wunderbar, wunderbar! Wenn es Wahrheit wäre! Ja, dann könnte man hier von wahrem Zauber sprechen, und der Besitzer des Geheimnisses würde zum mächtigsten Zauberer der Erde! Aber auch das gilt, dass es wirklich ein Geheimnis der Hölle wäre!«

Er legte sich hin, streckte sich auf dem Sande aus, um bequemer lesen zu können.

»Fabelhaft, schier ungeheuerlich!«, murmelte er immer wieder.

Er machte eine Pause im Lesen und blickte dorthin, wo er die Leiche verscharrt hatte.

»Wenn es wahr wäre!«, murmelte er nochmals. »Die Mistress Allan habe ich wohl für immer verloren; dann kann mich auch das hellsehende Kind nicht mehr reizen.

Und die Geheimnisse der Schlüsselbrüder haben mich enttäuscht, ich wurde ernüchtert, sobald sie mir unverhüllt gezeigt wurden. Alberner Hokuspokus, nichts weiter.

Aber hier, hier — das wäre ein Ersatz für alles das, was ich unfreiwillig verloren und freiwillig aufgegeben habe!

Das Unmöglichste wäre ermöglicht, was ich nie zu träumen gewagt hatte.

Ja, das wäre etwas für meine abenteuerlustige Natur!

Wenn es wahr wäre!

Doch ich brauche ja nur den Versuch zu machen.

Mit wem?

Schade, dass ich den Araber dort gleich —«

Er erhob sich, begab sich hin nach jener kleinen Erhebung, er brauchte nur zwei Fuß tief in den Sand zu graben und die Leiche wurde aufgedeckt.

Er tastete mit zitternden Händen — zitternd nur vor Aufregung, was aber immerhin bei diesem eisernen Manne doch etwas zu bedeuten hatte.

»Nein, der ist tot. Da brauche ich mich nicht erst weiter zu überzeugen. Ich kenne doch mein Gift. Schade. Nun, da muss ich mir eben jemand anders suchen.«

Er ging wieder auf seinen alten Platz zurück, legte sich hin und las weiter.

Dass er von den Schlüsselbrüdern, die dort unten lagerten, keine Verfolgung zu befürchten hatte, wusste er wohl am allerbesten, sonst hätte er doch nicht so sorglos hier dicht an diesem Brunnenschachte verweilt.

Wieder nahm sein Gesicht den Ausdruck der größten Spannung an, gepaart mit freudigem Erstaunen.

»Haaah, hier ist ja auch das Rezept zu dem wirksamen Mittel angegeben, nicht nur, dass eine Portion von dem Höllenelixier zur Probe beigefügt ist.

Und lauter gute arabische Namen.

Freilich muss man Chemie auch in arabischer Sprache und auf arabische Weise studiert haben, sonst dürfte die Übersetzung schwer fallen.

Ein Glück, dass ich's getan habe.

Und was ist das?«

Die hier angeführten Ingredienzien und Chemikalien und Pflanzensäfte und was sonst noch dazu gehört, das ist ja alles ganz leicht zu beschaffen!

Überall in der Welt erhältlich, wo sich eine Apotheke oder nur ein besseres Drogengeschäft befindet, man braucht nicht erst selbst botanisieren zu gehen, einer seltenen Pflanze nachzuspüren.

Freilich, diese Mischung — wer hätte das gedacht!

Ja, dann allerdings müsste der Verschluss dieser Büchse sonst noch ganz anders gesichert sein.

Jeder einigermaßen erfahrene Chemiker kann dies alles ja nachmachen und benutzen.

Wenn — an der ganzen Geschichte überhaupt etwas Wahres ist.

Die Sache kommt mir gar zu einfach vor.«

Er las weiter, bis zu Ende, und immer öfter schüttelte er den Kopf; die Spannung in seinen Gesichtszügen konnte nicht mehr übertroffen werden.

»Wunderbar, wunderbar Immer fabelhafter wird es, was hier gesprochen wird. Nicht nur an fremde Menschen soll man seine Seele binden können, sondern auch an —«

Ein heiserer Schrei erklang über ihm.

Über die Schlucht in beträchtlicher Höhe strich ein großer Geier.

Blitzschnell zog der Pater unter seinem Burnus einen Revolver hervor, richtete ihn nach dem Vogel — und senkte die Waffe wieder.

»Nein, man darf ja das betreffende Lebewesen nicht auf gewöhnliche Weise töten, es nicht einmal ernstlich verletzen, oder man hat die Folgen am eigenen Leibe zu tragen. Ist denn überhaupt die Spritze in Ordnung?«

Der hintere Teil der kleinen Morphiumspritze, wie wir sie gleich nennen wollen, ließ sich abschrauben, eine feine Nadel kam zum Vorschein. Auch diese konnte samt dem Teile, in dem sie festsaß, abgeschraubt werden, in der kleinen Höhlung zeigte sich eine dünnflüssige, braune Masse.

»Alles in tadelloser Ordnung, und das Höllenmittel verändert sich nie, wie hier versichert wird, und eintrocknen kann es nicht, weil es mit Glyzerin angerührt ist.«

Er schraubte die Spritze wieder zusammen, packte alles, auch das Pergament, wieder in die Blechbüchse und barg diese unter dem Burnus.

Noch einige Zeit lag er gedankenvoll, dann blickte er wieder um sich.

Nichts Lebendiges war zu sehen.

Doch, dort im Sande baute eine Wüstenspinne ihr kunstvolles Werk auf.

Sie ist so groß wie unsere Kreuzspinne, ähnelt auch sonst dieser, nur ist sie nicht so dick, spinnt keine Netze, sondern führt etwas Entsprechendes, eine Falle für andere Insekten, im Sande aus. Um den Tunnel, der nach ihrem unterirdischen Neste führt, wozu sie die Sandkörnchen mit ihrem Speichel zusammenkittet, oder wahrscheinlicher mit der Feuchtigkeit aus ihrer Afterdrüse, baut sie einen Wall, der nur eine einzige Öffnung als Zugang hat, um diesen wieder einen Wall, eine Mauer, dann eine dritte, und so immer weiter, und ein Zwischenraum ist mit dem anderen immer durch einen Zugang verbunden, der aber immer nach einer anderen Seite liegt, und je weiter nach außen, desto größer ist der Zugang.

Kurz, sie baut ein vollständiges Labyrinth. Ein anderes Insekt, irgend ein kleiner Sandkäfer, betritt ahnungslos den ersten, sehr breiten Eingang, geht in den nächsten hinein, und so immer weiter, findet den Ausweg nicht wieder, verirrt sich darin eben wie in einem Labyrinth. Von Zeit zu Zeit sucht dann die Spinne die Höfe nach lebenden Opfern ab.

Man braucht kein Zoologe und besonderer Naturbewunderer zu sein, um diese Wüstenspinne stundenlang bei ihrer Arbeit beobachten zu können, wie sie Sandkörnchen an Sandkörnchen fügt und zusammenkittet, bis ganz regelrechte Mauern mit völlig glatten Wänden entstehen.

Wer lehrte diese Kunst der Spinne? Rätselhaft, wunderbar! Die Ameisen bauen, die Bienen bauen, die Biber bauen — aber die Kunstfertigkeit dieser Wüstenspinne stellt doch alles in den Schatten; oder es mag daher kommen, weil man sie so deutlich bei ihrer Arbeit beobachten kann.

Auch der Jesuitenpater beobachtete sie.

Aber mit ganz besonderen Gedanken.

»Nein, nicht solch eine Spinne, nicht solch ein Insekt. Hüte Dich, Deine Seele einem Tiere einzuverleiben, das Dir zu fern liegt, so lange Du noch keine Erfahrungen gesammelt hast; Du könntest Furchtbares erleben. So sagt Rabbi ben Jehosel.«

Zum ersten Male hatte er einen Namen genannt, der doch wahrscheinlich in der Geheimschrift vorkam, vielleicht der Verfasser, der dieses Rezept mitteilte.

Dann sprang er auf.

»Nach Bir Abu! Dort finde ich Menschen! Und treffe ich schon unterwegs auf einen, er soll mir verfallen sein, mir zum Experimente dienen!«

Schnellen Schrittes wanderte er durch diese Hauptschlucht, immer in die Nebengänge spähend.

So verging ungefähr eine Viertelstunde.

Kein Mensch war zu sehen.

Da aber lief quer über die Schlucht ein Fuchs, der es nicht eben eilig hatte. Diese Wüstenfüchse schätzen den Menschen nicht sehr hoch als Feind ein, es wird ihnen eben wenig oder gar nicht nachgestellt.

Schnell bückte sich der Pater, hob einen faustgroßen Stein auf und schleuderte ihn nach dem Tiere.

Der Fuchs wurde am Kopfe getroffen, brach sofort zusammen und streckte alle viere von sich.

War es ein Zufall, dass ihn der Pater auf diese Entfernung von wenigstens dreißig Schritten gerade am Kopfe getroffen hatte?

Es hatte gar nicht danach ausgesehen. Er hatte mit ganz eigentümlicher Armbewegung geworfen und zwar auch mit außerordentlicher Kraft.

Schnell hingeeilt. Regungslos lag der braune, stattlich geschwänzte Fuchs da. Eine Verletzung des Kopfes war nicht zu bemerken.

Dennoch tot?

Da schnellte der Fuchs, der nur betäubt gewesen, wieder auf und wollte das Weite suchen.

Aber schon kniete der kleine Beduine auf ihm, in einer geschickten Weise, dass das Raubtier gar keinen Gebrauch von seinem tüchtigen Gebiss machen konnte, gerade sein Kopf wurde tief und fest in den Sand gedrückt, und schon hatte der Pater die Blechbüchse gezogen, ihr die Spritze entnommen, hinten den Teil aufgeschraubt, ein leiser Stich mit der Nadel in den Ohrlappen und augenblicklich verstummte das Fauchen des Fuchses, er gab jeden Widerstand auf und lag wieder regungslos da.

Der Pater erhob sich.

»Das Mittel wirkt! Nur hiervon wollte ich mich einmal überzeugen. Nur hiervon? Himmel und Hölle, nein, ich kann es nicht erwarten, das Experiment zu erproben, und es braucht ja nicht gerade ein Mensch zu sein, und ein Fuchs ist doch etwas anderes als eine Spinne.«

Er blickte um sich und musterte die nackten Felswände.

»Hier ist nicht der Ort dazu, um das Experiment auszuführen, aber ich werde schon etwas finden.«

Er packte den Fuchs beim Genick und setzte seinen Weg fort.

Eine Seitenschlucht, in der die Felswände recht zerrissen aussahen, lud ihn zum Betreten ein.

Und bald hatte er gefunden, was er suchte: eine Höhle, die aber in einiger Höhe lag, zu der er auch hinaufklettern konnte.

Er tat es. Es war eine gar beschwerliche Klettertour, eines Gemsjägers würdig, aber sie gelang.

Es war eine geräumige, nackte Höhle, in die er sich mit dem letzten Ruck schwang.

Wie er zurück und unter sich blickte, sah er, dass feine Spuren im Sande bereits verlöscht waren; denn der Morgenwind blies hier ganz tüchtig, und der Sand war überaus fein, rann wieder zusammen wie dünner Schlamm.

Wieder musste die kleine Spritze arbeiten, jetzt aber mit dem vorderen Teile, wirklich als Spritze. Er setzte die feine Spitze dem Fuchs vorn an die Herzgegend, aber nur ganz wenig ins Fleisch bohrend, und gab dem Tiere eine volle Injektion.

Der Fuchs zuckte zusammen — also er war noch gar nicht tot gewesen, dann aber lag er wieder ganz still.

Die Spritze wurde aus dem Kristallfläschchen neu gefüllt, und tief atmete der Pater aus, mit einem geradezu furchtbaren Gesichtsausdruck, als er die Spitze gegen die Pulsader seines linken Armes setzte.

»Ich riskiere viel — das Experiment kann misslingen — ich muss alles auf guten Glauben hinnehmen — wenn ich es nicht erst an jemand anders probiere — vielleicht verlässt meine Seele den Körper für immer — und dennoch bin ich nicht tot — dann irrt meine Seele ruhelos im Weltenraume umher — und der Körper verwest nicht — kein Wurm frisst mich, kein Insekt geht den toten und dennoch lebendigen Körper an — aber ich kann es nicht erwarten — ich muss es riskieren — es ist ja auch nur für eine Stunde — nur für wenige Minuten, wenn ich will — — aah!«

Er hatte die feine Spitze unter die Haut gestochen und das Instrument zusammengedrückt.

Man hätte meinen sollen, nach diesen seinen einleitenden Worten nun eine große Veränderung an ihm zu bemerken, aber es war durchaus nicht der Fall; er sagte es selbst.

»Ein ganz behagliches Gefühl, nichts weiter.«

Aber das hatte er ohne jede Enttäuschung gesagt. Er wusste selbst, so hatte es wenigstens auf dem Pergament gestanden, dass jetzt noch nichts geschehen würde. Diese Einspritzung war erst die Vorbereitung gewesen, die Hauptsache kam noch, wobei er sich dann aber nicht erst so lange aufhielt.

Jetzt zog er unter dem Burnus jenes Messerchen hervor, nicht zu verwechseln mit seinem Dolche, klappte es auf und stach mit der Spitze in die Salbe einer der Holzbüchsen, und wir wollen gleich verraten, dass es wieder eine andere Salbe war als die, welche sich im hinteren Teile der Spritze befand, durch welche er den Fuchs betäubt hatte.

Als er sich überzeugt hatte, dass an der Spitze des Messerchens etwas von der braunen Lymphe, wie wir die Salbe gleich nennen wollen, hängen geblieben war, packte er die Utensilien wieder in die Blechbüchse, nur das Messerchen, ja auch sein eigenes, ließ er draußen, legte es auf den Boden hin, verließ die Höhle wieder und kletterte hinab.

Nach einiger Umschau wählte er eine Stelle, wo die nahe Felswand wiederum weit überhing. Hier vergrub er die Blechbüchse im Sande, ging eine gute Anzahl Schritte weiter und verscharrte auch seine eigenen Sachen, den Inhalt seiner Taschen, wie den Dolch und Revolver, seine Brieftasche und anderes mehr.

Was er beabsichtigte, ist wohl ziemlich klar, und er sprach es selbst aus, wenn es auch kein anderer Mensch gehört hatte.

»So. Nun mag es der Zufall nur wollen, dass man mich dort oben in der Höhle findet. Man findet eben einen Leichnam. Vergräbt man diesen im Sande oder sonst wo, so hätte das nicht viel zu sagen, wenn man mich nur nicht gar zu tief vergräbt oder einen eventuellen Sarg nicht gar zu fest zunagelt, dann würde ich mich schon wieder zu befreien wissen.

Zögert man mit meinem Begräbnisse, so würde man sich höchstens wundern, dass die Leiche nicht verwest, und vielleicht auch, dass sie von absolut keinem Insekt und keinem anderen Tiere angegangen wird. Auch die verhungerte Hyäne und der gierigste Geier schreckt vor dieser Leiche zurück.

So heißt es wenigstens in jener Schrift. Eigentlich müsste ich dies alles erst an einem anderen Lebewesen ausprobieren, aber dazu ist hier keine Gelegenheit und ich habe keine Zeit, keine Geduld, ich muss die Wahrheit dieses ungeheuerlichen und doch so herrlichen Geheimnisses gleich an mir selbst ausprobieren.

Das Schlimmste, was mir widerfahren könnte, wäre, dass man meinen Körper verstümmelte.

Nun, wäre die Verstümmelung gar zu arg, ohne meinen Tod herbeizuführen, dann müsste ich eben diesem meinem lebendigen Leichnam für immer Valet sagen, was ich gar nicht so sehr bedauern würde.

Wenn man aber die vermeintliche Leiche nun ganz vernichtet, sie verbrennt?

Ja, dann freilich ist es mit dem Señor Domingo Lazare für immer vorbei, dann gehört er mit zu den regelrechten Toten.

Und das ist es eben, was ich hierbei riskiere. Ich müsste meinen Körper erst irgendwo in Sicherheit bringen.

Aber das kann ich nicht erwarten.

Und außerdem kann ich ja jederzeit in meinen Körper zurückkehren, schon in der nächsten Minute, wenn ich will.

So versichert wenigstens der Rabbi ben Jehosel.

Und ob seine Angaben stimmen, ob dies alles nicht nur ein märchenhafter Schwindel ist, das will und muss ich jetzt probieren!

Also der schleichende Fuchs, wie meine Feinde mich einst bewundernd tauften, wird sich jetzt in einen regelrechten Fuchs verwandeln und aller Wahrscheinlichkeit erst einmal seiner Frau Füchsin und vielleicht auch der Familie einen Besuch abstatten. Hahaha!

Wenn dies alles wirklich möglich ist, das wäre doch das Märchenhafteste, was ein Mensch, ein Magier erleben könnte.

Schlüsselbrüder, wo bleibt dagegen Euer Hokuspokus, für den ich einst meine Seligkeit, als ich Narr noch an so etwas glaubte, opfern wollte.«

Unter diesem Selbstgespräch war Lazare wieder hinauf in die Höhle geklettert.

Dort lag regungslos der Fuchs, dort das Messerchen.


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Er nahm es, kauerte sich nieder, starr auf das leblose Tier blickend.

»Kochim olam jigdal maasch, mismorim schemot schel schedim — so lautet die hebräische Zauberformel, die man dabei sprechen soll, um das Wunder zu bewirken.

Dem besonderen Jargon nach ist es das Hebräisch der Kabbala, dem Buche Jezira entnommen, wenn sie auch nicht darin steht, denn dieses Kabbala kenne ich ja zur Genüge, wenn ich auch niemals Erfolg mit diesem Hokuspokus gehabt habe.

Natürlich ist es nur eine leere Formel, nur dazu dienend, um der Gedankenkonzentration zu Hilfe zu kommen.

Denn auf den festen Willen kommt es dabei doch einzig und allein an.

Immerhin, ich will sie aussprechen, die Kraft des Logos ist nicht zu unterschätzen.«

Und er setzte die Spitze des Messerchens, mit der Lymphe imprägniert, ebenfalls dorthin, wo er sich schon die Einspritzung gegeben hatte.

»Kochim olam jigdal maasch, mismorim schemot schel schedim!«

Mit diesen leise gesprochenen Worten, die Augen starr auf den Fuchs gerichtet, hatte er sich das linke Handgelenk blutig geritzt.

»Kochim olam jig — —«

Doch plötzlich verdrehte er die Augen ganz nach oben, bis man nur noch das Weiße sah, er schloss die Augen und sank mit einem Seufzer zurück, sodass er mit dem Rücken an der Felswand lehnte, das Messerchen entfiel seiner Hand. —

Die Minuten vergingen.

Dort lag regungslos der Fuchs, dort hockte regungslos der Beduine.

Eine viertel, eine halbe Stunde verging.

Nichts änderte sich an der Situation.

Der Mensch und das Tier — beide regten sich nicht.

Doch da tauchte am Eingang der Höhle von unten her ein bärtiges Gesicht auf, eine Hand mit einem Revolver wurde erhoben.

»Keinen Widerstand, Señor Lazare, oder Ihr seid ein Mann des Todes!«

Der Bedrohte rührte sich nicht.

Noch ein kurzes Beobachten und Prinz Joachim schwang sich vollends herein.

Er begab sich hin, erst mit der nötigen Vorsicht, dann untersuchte er ohne weitere Umstände den regungslosen Beduinen, öffnete den Burnus vorn und legte das Ohr auf die Herzgegend.

»Tot! Aller Mutmaßung nach tot!«

Er hob das Messerchen auf, betrachtete es und begab sich nach dem Eingang der Höhle.

Das sieht fast aus, als hätte Señor Lazare Selbstmord begangen, was aber doch wieder nicht anzunehmen ist; da steckt irgend eine Teufelei dahinter.«

Mit gewöhnlicher Stimme hatte er es ins Freie hinaus gesagt, dabei aber den vermutlichen Selbstmörder nicht aus den Augen lassend, den entsicherten Revolver in der Hand.

Die Höhle verdunkelte sich, ein Schatten, ein Etwas entstand vor dem Eingang, die Höhle bekam gewissermaßen als Fortsetzung einen neuen, wohnlich eingerichteten Raum.

Es war eben das unsichtbare Luftschiff, das vor der Höhle lag, die Schlucht erlaubte es, dass es hier anlegte, und es war die an sich unsichtbare Rolljalousie, die in die Höhe ging, wodurch nun aber alles dahinter Liegende sichtbar wurde.

Aus einem wohnlich eingerichteten Zimmer, das aber auch an ein Laboratorium erinnerte, trat ein junger Araber im griechischen Gehrock mit rotem Fez — — Almansor.

Auch er untersuchte den regungslosen Mann und konnte nur die Aussage des Prinzen bestätigen.

»Er scheint tot zu sein.«

»Hier, das Messerchen lag neben ihm am Boden, mit dem er sich das linke Handgelenk blutig geritzt hat.«

»Was klebt hier vorn dran?«

»Wahrscheinlich Gift.«

»Selbstmord? Weshalb hat er da erst die Karawane verlassen?«

»Und weshalb hat er den Fuchs mit einem Steinwurf getötet und hierher getragen?«

»Und weshalb hat er noch einmal die Höhle verlassen?«

Also dies alles war von dem Luftschiff aus beobachtet worden. Nur nicht, was er in der Höhle und unter der überhangenden Felswand getan hatte, das hatte sich eben den Blicken entzogen.

Schon untersuchte der Prinz die Kleidung, die Tasche.

»Wo sind denn dem seine Waffen? Der ist doch nicht ohne Waffen gewesen. Der hat ja überhaupt gar nichts mehr bei sich als eine Kürbisflasche mit Wasser.

Wo hat er das andere gelassen?«

»Das hat er vergraben.«

»Das ist anzunehmen. Warum hat er es vergraben?«

»Deasy wird die Stelle aufspüren und vielleicht damit das Rätsel lösen.«

Sie begaben sich in das Luftschiff zurück, die beiden Leichen gleich mitnehmend.

Das Luftschiff schwebte nicht frei, sondern ruhte bereits auf dem Boden. Man war eben aus einer der oberen Etagen, nicht einmal aus der allerobersten, in die Höhle gedrungen.

Deasy wurde vorgenommen.

»Du kennst doch den Señor Lazare, leider nur zu gut. Er ist zwar tot, aber das hat ja bei Deiner Wünschelrute nichts zu sagen. Er hat die Höhle, in welche Du dann zuerst kommen wirst, vor seinem Tode noch einmal verlassen und zweifellos etwas vergraben, seine eigenen Sachen. Willst Du, Deasy, Deine Gedanken auf Señor Lazare konzentrieren und versuchen, ob Du mit der Wünschelrute seine Spur verfolgen kannst?«

So sprach der Prinz, und willig nahm das Kind die Haselnussrute, die jetzt gewöhnlich angewendet wurde, zur Hand.

Sie wurde sofort nach einer bestimmten Richtung gelenkt, und als Deasy dieser nachging, auch mit Benutzung zweier Treppen, wurde sie in den Raum geführt, in dem die Leiche aufgebahrt lag, obgleich Deasy hiervon gar nichts gewusst hatte.

Weiter führte die Rute in die Höhle hinein und zeigte die Stelle an, auf der Lazare gesessen hatte. Dann wollte die Rute zwischen Felswand und Luftschiff hinab. Aber es war nicht nötig, dass das Luftschiff erst seine Lage veränderte. Deasy lenkte ihre Gedanken ab, wünschte, dass die Rute nicht mehr schlüge, und sie tat es nicht mehr, der rätselhafte Zug hörte auf.

Draußen auf dem sandigen Boden vor dem Luftschiffe wurde das Suchen wieder aufgenommen.

Ein Wunsch von dem Kinde, des betreffenden Mannes Spur zu finden, und die Rute zeigte die Richtung an, wo dieser zu suchen war, und dann tippte sie auf jeden Fußtritt, den Lazare hinterlassen haben musste, wenn jetzt auch nichts mehr davon zu sehen war.

Nun freilich konnte die Rute auch den Weg zurück verfolgen, den Lazare erst hergekommen war, wenigstens wäre ein Irrtum möglich gewesen, wenn auch das Kind seine Gedanken darauf konzentrierte, das zu suchen, was der Mann vergraben hatte. Aber vielleicht hatte er gar nichts vergraben!

Doch der Versuch gelang vollkommen. Die Rute führte nach der überhängenden Felswand hin, unter dieser eine kleine Strecke hinweg und schlug an einer bestimmten Stelle mit Heftigkeit auf den Sand.

»Hier hat er etwas vergraben!«

Der Sand wurde weggeschaufelt, in geringer Tiefe kamen nacheinander ein Revolver, ein Dolchmesser in Scheide, eine Uhr, eine Brieftasche und mehrere Kleinigkeiten zum Vorschein, wie man sie in der Tasche trägt.

Die Brieftasche enthielt einen amerikanischen Pass für Mister Domingo Lazare und andere Papiere, aber durchaus nichts Belastendes.

»Weshalb hat er diese seine Sachen hier vergraben?«

»Die Rute zieht mich wieder zurück!«, rief Deasy.

In der Tat, so war es. Die Rute wollte wieder zurück, ließ sich nicht halten.

Nun hatte Lazare ja auch wirklich zuerst die fremde Blechbüchse vergraben und dann erst seine eigenen Sachen, war also noch eine Strecke weiter gegangen, also hatte die Rute schon über diese erste Stelle hinweggeführt, ohne anzuschlagen, erst jetzt wollte sie das Versäumte nachholen.

Die ganz Sache mit der Wünschelrute war eben unkontrollierbar, oder aber das Kind hatte eben erst an dieses Mannes persönliches Eigentum gedacht.

Doch von alledem wussten die mitwirkenden Männer ja vorläufig noch gar nichts.

Man folgte dem Kinde zurück, die Rute schlug zum zweiten Male heftig auf den Boden.

Auch hier wurde im Sande gegraben, die flache Blechbüchse kam zum Vorschein, an der noch die zerschnittenen Drähte mit den unversehrten Plomben hingen.

»Das Siegel der Schlüsselbrüder, hier ist der Gegenstand, dessentwegen er die unterirdische Karawane verlassen hat, er hat einen Raub begangen!«, erklang es sofort.

Almansor war es, der den Deckel abnahm.

»Vorsicht, dass nicht eine Teufelei dahinter steckt!«, warnte der Prinz.

»Mir täte sie nichts, für mich haben die Sterne vorläufig noch kein Unheil bestimmt!«, lautete die kühle Antwort Almansors, die von dem Prinzen mit einem skeptischen Achselzucken hingenommen wurde.

Der Araber entnahm der Büchse, die denn richtig auch nicht explodiert war, nacheinander die kleine Spritze, das Fläschchen und die verschiedenen Holzbüchsen, alle jetzt nicht mehr eingewickelt, dann das Pergament, das eingefaltet auch den kleinen Pergamentstreifen enthielt.

»Eine Geheimschrift, hier ist gleich der Schlüssel dazu.«

Oberflächlich begann der junge Araber gleich hier an Ort und Stelle zu entziffern, aber schon nahm sein schönes Gesicht einen erstaunten Ausdruck an.

»Was ist denn das? Die Transmutationslehren des Rabbi ben Jehosel? Kenne ich nicht. Ja, Hebräisch kommt heraus. Ich werde die Geheimschrift mit Ruhe übersetzen; mein Sekretär, ein vorzüglicher Hebräist, wird mir dabei behilflich sein. Und Sie, mein Prinz, haben wohl die Güte, unterdessen mit des Kindes Hilfe die Spuren des Paters zurück zu verfolgen, bis wo er den unterirdischen Wasserlauf verlassen hat. Dazu muss er doch wohl einen senkrechten Schacht benutzt haben.

In diesen dringen Sie ein und folgen der Karawane der Schlüsselbrüder, bis Sie diese aus der Ferne bemerken.

Dann kehren Sie um und berichten mir.

Natürlich mit der nötigen Vorsicht, aber ich kann Ihnen schon sagen, dass Ihnen oder einem Ihrer Leute dabei nichts Schlimmes bevorsteht.

Also Sie nehmen Ihre eigenen Leute mit, wie viel Sie wollen, wählen Sie aus.

Dass meine Leute das Luftschiff nicht verlassen dürfen, mit keinem Schritte, das wissen Sie ja. Das ist ja eben der Grund, weshalb ich Ihre Leute auf dieser Luftexpedition, die sich noch sehr weit ausdehnen kann, mitgenommen habe.

Also bitte, wollen Sie sich gleich auf den Weg machen. Ich übersetze unterdessen die Geheimschrift und lasse vielleicht auch gleich die Flüssigkeit und Salben chemisch analysieren.«

Während dieser Worte hatte Almansor das umfangreiche Pergament zusammengefaltet und eingesteckt, und er verschwand in dem Luftschiff.

Er hatte ja äußerst höflich gesprochen, aber es war doch ein Befehl gewesen.

Der Prinz gehorchte ihm. Er entfernte sich mit einigen Cowboys, sie folgten der schlagenden Wünschelrute des Kindes.

*

Nach noch nicht ganz zwei Stunden kehrte die Abteilung zurück.

Von dem Luftschiffe war natürlich nichts zu sehen, hier wurde keine Tür unnütz aufgelassen, aber auch von einem Abdrucke im Sande war nichts zu bemerken.

Und dennoch, sobald sich der Prinz weit genug genähert hatte, ging eine Rolljalousie in die Höhe.

»Der Mastra erwartet den Emir!«, meldete ein arabischer Diener.

Mastra ist der Meister. So wurde Almansor hier genannt. Das arabische Wort braucht nicht dem lateinischen Magister entlehnt worden zu sein, woraus dann Maestro, Maître, Mister wurde. Es ist alles ein und dieselbe Wurzel des Sanskrits, der Mutter aller Sprachen.

Der Prinz wurde in einen Raum geführt, welcher der Hauptsache nach einen großen und einen kleineren Käfig aus starken Eisenstäben enthielt. In dem ersteren lag die Leiche des Paters, in dem letzteren die des Fuchses. Dann befanden sich außer dem Meister noch zwei arabische Männer in dem Gemach, Waffen in den Gürteln, und außerdem noch ein russischer Windhund und ein mächtiger brauner Bär, dessen Heimat wohl ebenfalls Russland war.

Die beiden Tiere, welche der Prinz schon kannte, benahmen sich recht seltsam, ganz anders als sonst, schienen sich verkriechen zu wollen, und da es hierzu nichts Geeignetes gab, drückten sie sich in Winkel, der Bär brummte ärgerlich oder auch furchtsam, und der Hund, der sonst die Spur jedes Löwen und Tigers aufnehmen sollte, winselte gar vor Angst.

»Nun, mein Prinz?«

Dieser war furchtbar erschüttert, wenn es auch jetzt erst zum Ausbruch kam.

»Ich habe Schreckliches zu melden!

Ja, wir haben die Karawane der Schlüsselbrüder dort unten gesehen.

133 Mann haben wir gezählt, haben jeden berühren können.

Alles tot, alles tot!

Und zwar zweifellos vergiftet.

Der Tod muss plötzlich, aber unter schrecklichen Schmerzen eingetreten sein. Mit furchtbar verzerrten Gesichtern in ganz unnatürlichen, gekrümmten Stellungen lagen sie alle da.«

Es machte auf den jungen Araber entweder sehr wenig Eindruck oder er wusste sich zu beherrschen.

»Es ist das Werk dieses Mannes gewesen!«, sagte er mit einer leichten Handbewegung nach dem großen Käfig, in dem die menschliche Leiche lag. »Nach dem Pergament, das er geraubt hat, habe ich nun schon solch eine Botschaft erwartet.

Also Ihren Leuten ist die Rache entgangen.

Jetzt haben wir nur noch den türkischen Dampfer zu vernichten, auf dem sich auch nur Schlüsselbrüder befinden, aber das hat nun noch Zeit.

Haben Sie gleich den Teppich mitgebracht?«

»Noch nicht. Darüber wollte ich erst Ihre Anordnung hören.«

»Er soll dann geholt werden, er gehört also Ihnen, tun Sie damit nach Belieben. Und nun hier die Übersetzung der Geheimschrift, deretwegen dieser Jesuitenpater den Massenmord begangen hat.«

Almansor gab dem Prinzen ein Papier, es enthielt die Übersetzung in französischer Sprache.

Nur sei gleich bemerkt, die Angabe des Rezeptes, wie die verschiedenen Salben und sonstigen Mittel zu bereiten waren, war dabei weggelassen worden.

Der Prinz las und las, viele Stellen wiederholt, und immer erstaunter schüttelte er den Kopf, dabei manchmal misstrauische Blicke nach den beiden Käfigen werfend.

»Das ist ja gar nicht möglich!«, rief er dann.

»Es ist so!«, nickte aber gelassen Almansor.

»Alles, was Sie da lesen, beruht auf Tatsache.

Mir ist es nichts Neues.

Jetzt ist mir der Verfasser des Schreibens, dieser Rabbi ben Jehosel, auch nicht mehr unbekannt.

Ich kannte ihn seinerzeit nur unter anderem Namen.

Er hat mir persönlich das Experiment mehrmals vorgemacht, hat seine Seele in fremde Menschen und auch Tierleiber gesandt, die er vorher töten musste, auf die hier beschriebene Art und Weise, und ich selbst habe es mehrmals getan.

Nur dass dieses Geheimnis im Besitz der Schlüsselbrüder sich befindet, das ist mir ganz neu.

Aber aus gewissen, ganz sicheren Kennzeichen nehme ich an, dass die Büchse, welche es barg, bisher von noch niemandem geöffnet worden ist, so dass auch niemand anders dieses höllische Geheimnis kennt, und dafür sei Allah gelobt.

Es muss aber doch jemand eine Ahnung gehabt haben, dass es solch eine Magie gibt, dass das Rezept sich in dieser Büchse befindet, sie sollte zur Untersuchung nach dem Megalis el Hiemit in Indien geschickt werden — o, mir ist das alles ganz klar, doch kann ich es Ihnen jetzt nicht weiter mitteilen — dieser Jesuitenpater hat davon erfahren und hat die Büchse gestohlen. Und er hat hier sofort das Experiment ausführen wollen, hat es getan.

Er hat sich in einen Fuchs verwandeln wollen, den er, wie wir sahen, durch einen Steinwurf betäubte.

Er hat die Mittel angewandt, alles stimmt, wir haben die beiden Körper bereits daraufhin untersucht.

Señor Lazare darf für tot gelten. Jeder Arzt würde seinen Tod konstatieren. Er ist überhaupt wirklich tot. In seinem Blute lässt sich Blausäure nachweisen, es ist allerdings nicht nur zu einer breiartigen, sondern zu einer festen Masse erstarrt.

Diese minimale Menge Blausäure ist aber nicht daran schuld, dass die Leiche von allen Tieren verschmäht wird. Selbst der gierige Belakäfer geht das Fleisch nicht an, wie wir bereits konstatiert haben. Man könnte die Leiche in einen Ameisenhaufen vergraben, und nach Jahren noch würde man sie unverändert wieder herausholen. Diese beiden Tiere hier, der Bär und der Hund, wittern das ihnen Unerträgliche sogar schon von Weitem, wie Sie selbst sehen.

Der Fuchs ist zwar mit derselben Flüssigkeit imprägniert, aber zuvor mit einem andern Gifte geimpft worden, welches das erste Mittel zum Teil wieder aufhebt.

Auch der Fuchs ist tot, hat aber noch normales Blut in seinen Adern.

Nun allerdings steht in dem Rezepte angegeben, die Transmutation der Seele soll, wenn alles genau eingehalten wird, augenblicklich geschehen. Es sind jetzt aber schon mehr als zwei Stunden vergangen und der Fuchs zeigt noch kein Leben.

Das mag daher kommen, weil die Mittel doch etwas veraltet sind und — — doch da sehen Sie selbst!«

Der Körper des Fuchses in dem Käfig zeigte Zuckungen, und gar nicht lange, so erhob sich das Tier, taumelte, blickte scheu um sich, bis es sich mit einem Male der Situation bewusst wurde. Wütende Sprünge gegen die Gitterstäbe, dann ein Sträuben der Haare, wildes Fauchen nach den Menschen und noch mehr nach dem Hunde und dem Bären.

Mit wahrem Entsetzen betrachtete der Prinz das sich so gebärdende Tier.

»Das ist — das ist — der Jesuitenpater — seine Seele in dem Leibe dieses Fuchses?!«, flüsterte er.

»Er ist es.«

»Um Gottes willen, wie kann so etwas —«

»Nein, er ist es nicht!«, erklang es da in ganz anderem Tone als vorhin.

1 Im Original steht hier »Stelle« statt »Seele«.

Betroffen starrte der Prinz den Sprecher an.

»Wie, es wäre nicht der Fall?!«

»Nein. Dieses Rezept geht gar nicht auszuführen. Señor Lazare ist tot, und der Fuchs war nur scheintot, nur betäubt. Er ist eben wieder zu sich gekommen. Der Rabbi ben Jehosel hat wieder einmal betrogen, wie es immer seine Art gewesen ist.«

Noch bestürzter blickte der Prinz den jungen Araber an, der jetzt auch zu lächeln begann.

»Ja, Mann, warum erzählen Sie selbst mir dann solche Märchen?!«

Almansor lächelte noch immer, jetzt aber wurde es ein triumphierendes Lächeln von furchtbarem Hohne, und so erklang jetzt auch seine Stimme:

»Weil dennoch alles wahr ist!

Aber dieser Rabbi hat nicht umsonst jeden gewarnt, dieses Experiment zu versuchen, und mit den fürchterlichsten Strafen des Himmels und der Hölle gedroht, dem der es wagt!

Das Rezept ist falsch gegeben!

Die Hauptsache fehlt!

Ich kenne es besser!

Jetzt irrt dieses Mannes Seele im Weltall umher, und er sucht einen frischen Leichnam, dessen er sich bemächtigt, um fernerhin als Vampir sein höllisches Dasein zu fristen!

Verstehen Sie nun, wie dieser Mann für seinen Frevel bestraft worden ist?«

Nein, der Prinz verstand ganz und gar nicht, und er sprach es aus.

»Der Pater hat mit diesem Fuchse oder überhaupt mit einem Tiere nur erst einmal einen Versuch machen wollen, besonders weil er überhaupt keinen Menschen für das Experiment zur Stelle hatte hier in der Wüste.

Nun stellen Sie sich vor, das Experiment mit dem Fuchse sei ihm gelungen.

Was würde er nun weiter tun?

Über kurz oder lang würde er einen Menschen wählen, dessen Person und Verhältnisse ihm gerade so recht gefielen.

Er tötet diesen Mann, versetzt seine Seele in dessen Körper, spielt nun die Rolle jenes fremden Mannes.

Können Sie sich die Folgen hiervon vorstellen?«

»Da müssten sich in der Tat ganz ungeheure Verwicklungen daraus ergeben!«, entgegnete der Prinz, ohne sich weiter hierauf einzulassen. »Nun ist ihm also das Experiment nicht gelungen, er hat das Rezept falsch angewendet. Jetzt muss seine Seele körperlos im Weltall umherirren?«

»Nein, das nicht. Sie schlüpft sogar im Augenblick, da sie den eigenen Körper verlassen hat, in einen fremden Leib, und zwar aller Wahrscheinlichkeit nach in einen menschlichen.«

»Dann ist das aber doch ganz genau dieselbe Geschichte.«

»Nein, das ist sie durchaus nicht. Jetzt kann der Pater den fremden Körper nicht nach Belieben auswählen.«

»Sondern?«

»Die Wiederverkörperung geschieht ganz unbewusst, vielleicht nach Gesetzen einer gewissen Affinität, von der wir uns aber keine Vorstellung machen können. Jedenfalls also kann er sich den fremden Körper nicht mehr nach Belieben auswählen.«

»Hm, ein Unterschied ist schon dabei, ich verstehe nur nicht, was dabei so furchtbar sein soll.«

»Nun, der Betreffende darf doch nicht irgendwelchen natürlichen Todes gestorben sein.«

»Nicht?«

»Der Tod tritt doch nur dann ein, wenn der Körper nicht mehr lebensfähig ist.«

»Eigentlich ja.«

»Wenn also jemand an irgend einer Krankheit gestorben ist oder er ist tödlich überfahren worden oder sonst wie verunglückt, dessen Körper kann die Seele des Paters natürlich nicht wieder lebendig machen.«

»Was für einen Toten denn sonst?«

»Wissen Sie, was für ein Selbstmord den Buddhisten einzig und allein erlaubt ist, von einigen Sekten sogar als ein verdienstliches Werk gefordert wird?«

»Der Selbstmord durch Verhungern.«

»Ja. Diese Art Selbstmord ist kein Frevel, kann sogar unter Umständen Nirvana sichern. Hiermit ist natürlich ein tieferer Sinn verknüpft. Der Tod durch Verhungern ist gar kein richtiger Tod, es ist nur ein langsames Verlöschen des Lebens.«

»Also in den Körper eines Menschen, der langsam verhungert ist, kann die Seele des Paters fahren, diesen Körper wieder lebendig machen?«

»So ist es.«

»Dann wünsche ich ihm beim Wiedererwachen guten Appetit.«

»Es gibt aber noch eine andere Art von Selbstmord, der den Buddhisten erlaubt ist, weil er nicht als richtige Todesart aufgefasst wird.«

»Das Verschlucken der Zunge.«

»Sie sagen es. Oder überhaupt das Ersticken. Also, da kann ich Ihnen versichern, die Seele des Paters fährt in den Körper eines Menschen, welcher entweder durch Verhungern oder Ersticken seinen Tod gefunden hat. Vielleicht kommt auch noch das Verbluten in Betracht.«

»Und wenn nun nicht gerade solch eine Seele[2] frei ist?«

[2] Im Original steht hier »Stelle« statt »Seele«.

»Man hat berechnet, dass auf der Erde täglich rund hunderttausend Menschen sterben. In jeder Sekunde einer. Nur dass es nicht so sekundenweise geht. Da sind auch immer einige Erstickte dabei. Zumal zum Erstickungstod ja auch der des Ertrinkens gehört. Sonst muss die Seele eben so lange warten, bis sie einen geeigneten Leichnam findet.«

»Es ist gleichgültig, wo auf der Erde sich der Tod zugetragen hat?«

»Ganz gleichgültig. Für die Seele gibt es keine Raumbegriffe. Nur dass sie an diese Erde gebunden ist. Sonst aber kann sie in ein und demselben Momente an allen Punkten der Erde gleichzeitig sein — etwas, was wir mit unserem normalen Bewusstsein nicht zu begreifen vermögen.«

»Und wie lange hält sich denn nun die fremde Seele in dem Leichnam auf?«

»Bis dieser in Verwesung übergeht.«

»Wenn er aber nun einbalsamiert wird?«

»Sie haben recht. Ich habe mich falsch ausgedrückt. Bis der astrale Tod eintritt. So muss es heißen, Denn es finden beim Tode immer zwei Vorgänge statt. Erst löst sich die Seele mit einem Ruck von der Materie, dann langsam nach und nach der astrale, der geistige Leib. Wie lange das dauert, das ist ganz verschieden. Am schnellsten geht es beim Verbrennen. Sonst durch die Verwesung, durch die Zersetzung der organischen Materie. Beim Einbalsamieren kann es jahrelang dauern. Schließlich aber lässt sich der Astralkörper doch nicht mehr von der toten Materie halten. Und es ist nämlich eigentlich der Astralkörper, der ätherische Leib, dessen sich die fremde Seele bemächtigt. Hat sich aber der Ätherleib abgelöst, so muss auch die fremde Seele ihn wieder verlassen.«

»Und was tut sie dann?«

»Dann sucht sie sich einen anderen frischen Leichnam, der verhungert, erstickt oder verblutet ist, bis sie auch diesen wieder verlassen muss.«

»Und wie lange geht dies Geschichte weiter?«

»Bis in alle Ewigkeit. Solange es auf diesem Planeten Menschen gibt, welche sterben. Oder nur eine Möglichkeit gibt es, dass die Seelenwanderung aufhört.«

»Was für eine Möglichkeit?«

»Dass die Seele selbst diese Möglichkeit erkennt. Dass sie in ihren ursprünglichen Körper zurückfährt, welche Erkenntnis aber nicht so einfach ist.«

»Ist sie sich denn sonst immer ihres Zustandes bewusst, dass sie in einem fremden Leichnam steckt?«

»Immer. Sie weiß, dass sie noch lebt, aber an einen Toten gebunden ist. Also sie befindet sich ganz in dem Zustande eines Scheintoten, auch im Sarge unter der Erde wartet sie mit Entsetzen auf den Augenblick, da sich der Astralleib endlich ablöst, so lange weiß sie, wie ihr materieller Körper von Würmern zerfressen wird, und mit Grausen malt sie sich schon aus, wie sie dann immer weiter aus einem Leichnam in den andern wandern muss, bei vollem Bewusstsein immer wieder dasselbe durchlebend.«

»Alle Wetter, das ist ja ein netter Zustand!«, flüsterte der Prinz, scheu nach dem in dem Käfig liegenden Körper blickend. »Ja, da hatten Sie allerdings recht, als Sie vorhin von einer furchtbaren Strafe für einen furchtbaren Frevel sprachen. So wenig der Kerl auch Mitleid verdient — da tut er mir doch fast leid. Da möchte ich ihn doch lieber lebendig den Cowboys ausliefern, dass sie ihre Rachegelüste an ihm befriedigen. Gibt es denn gar kein Mittel, um seine Seele möglichst bald in seinen eigenen Körper zurückzuzwingen?«

»Doch, ein solches Mittel gibt es, ich kenne es und werde es anwenden. Erst aber muss ich einmal das hellsehende Kind vornehmen. Es wird nicht lange dauern.«

Almansor verließ den Raum.

Es war nicht das erste Mal, dass er sich mit dem Kinde allein beschäftigte, mit ihm ohne Zeugen Experimente anstellte, ohne dann von diesen zu berichten, und das in Trance liegende Kind wusste ja selbst hinterher nichts davon.

Das aber wusste der Prinz, dass dem Charakter dieses Arabers unbedingt zu trauen war, sonst hätte er so etwas ja niemals geduldet. Dann hätte sein Schwur des unbedingten Gehorsams keine Geltung mehr gehabt.

Der Prinz stand vor den Käfigen, betrachtete den regungslosen Pater und den noch immer sich rasend gebärdenden Fuchs.

Doch nur wenige Minuten, so kam Almansor zurück.

Der junge Araber, sonst die würdevolle Ruhe selbst, konnte seine große Aufregung kaum bemeistern.

»Sie ist eingetreten, noch eine andere Möglichkeit, so fern liegend, dass ich sie vorhin gar nicht erwähnt habe! Der Pater lebt!«

»Er lebt?!«

»Er wandelt wieder als lebendiger Mensch auf der Erde!«

»Wie ist nun wieder das möglich?«

»Seine Seele hat sich eines Toten bemächtigt, mit dem sofort Wiederbelebungsversuche angestellt worden sind, die nun auch von Erfolg gekrönt wurden.

Wäre es ein normaler Leichnam gewesen, so wäre dieser Fall nicht eingetreten. Der betreffende Mensch muss wirklich tot gewesen sein, sonst hätte die wandernde Seele nicht von dem Astralleib Besitz ergreifen können.

Wie der Fall nun aber einmal liegt, hat die Seele des Paters auch noch die Kraft gehabt, dem toten Körper wieder volles Leben zu gebe!«

»Und was für ein Mensch ist das nun?«

»Das kann ich noch nicht sagen. Alle Einzelheiten fehlen noch.

Aber das eine habe ich durch das hellsehende Kind schon mit vollster Gewissheit konstatieren können:

Señor Lazare ist wider zu vollem Leben erwacht — lebt in Fleisch und Blut eines anderen Menschen!«

— • —

45. Kapitel
»Wer bin ich?«

Originalseiten 1089, 1096 — 1114

»Dort schwimmt ein Mensch!« Einige Passagiere hatten ihn zuerst gesehen. Der Kapitän befand sich auf der Kommandobrücke, sein Blick folgte den ausgestreckten Händen, und der Signalapparat klingelte, die Schraube stoppte und ging langsam rückwärts, Ruderkommandos erschollen.

Ein Boot brauchte nicht ausgesetzt zu werden, die See war nur mäßig bewegt, man musste den Menschen, ob nun tot oder lebendig, direkt an Bord befördern können.

»Der ist tot!«

Natürlich, er hat ja immer den Kopf unterm Wasser!«

»Aber er schwimmt doch mit den Armen.«

»Da ist nur die Wellenbewegung.«

»Dann muss die Leiche schon alt sein, sonst kommt sie doch nicht wieder hoch.«

»Sinken denn auch sehr dicke Menschen gleich unter, wenn sie ertrinken?«

»Ich stelle mir das Ertrinken schrecklich vor — ich wenigstens möchte es nicht.«

»So schwimmt keine aufgeblähte Leiche auf dem Wasser!«

»Ob sie schon stinkt?«

»Sie wird von etwas getragen.«

»Ja, sie trägt eine Korkweste, jetzt erkenne ich's!«

»Es ist ein Mann, er trägt Manschetten.«

»Feste oder lose, Cuffs?«

»Emil, gib mir mal schnell den Operngucker her!«

So und ähnlich erklang es unter einigen hundert Passagieren, die sich auf den verschiedenen Decks auf Backbord zusammendrängten.

Die Leiche war längsseits gekommen.

Die Lage im Wasser mit dem Gesicht nach unten brauchte überhaupt keine unnatürliche zu sein, wenn sie wohl auch dadurch bedingt wurde, dass die Korkweste, nichts weiter als ein breiter Gürtel aus einzelnen Korkplatten, falsch angelegt worden war oder sich auf den Rücken verschoben hatte.

Sonst sah man noch, dass der Oberkörper mit einem schwarzen Jackett bekleidet war, das einen Samtkragen hatte, also wahrscheinlich ein sogenannter Smokinganzug, der weiße Kragen war ja nur noch ein weicher Lappen, denn manchmal kamen die Arme hoch, schwarz mit weißen Manschetten, und wenn durch die Wellenbewegung der Kopf auftauchte, sah man flachsblonde Locken.

Dass der Tote einen eleganten Smokinganzug trug, machte auf die Kajütenpassagiere einen ganz besonderen Eindruck, denn demnach gehörte der doch zu ihrer Gesellschaftsklasse, jedenfalls war es etwas anderes, als wenn da irgend ein Kerl in ordinärer Tracht mit Arbeitspfoten ersoffen wäre, und zumal wurde bewundert, von Damen wie von Herren, dass die ziemlich langen Locken immer noch in tadelloser Ordnung waren.

»Wie ist das nur möglich?«

»Das sind eben echte Locken.«

»Oder ob es ein Kräuselwasser gibt, wo die Locken nicht gleich aufgehen, auch wenn man tagelang mit dem Kopfe unter Wasser liegt?«

»Probieren Sie es doch einmal, Fräulein!«

»Jetzt habb'ch de Beene gesehn! Er hat Lackschuhe und rote Schtrimpe an!«

»Seidne?!«

»Was er wohl für ein Gesicht haben mag?«

»Ach der Ärmste! Vielleicht ist er verheiratet, hat Frau und Kinder zu Hause und findet hier einen so elendiglichen Tod!«

»Na und noch dazu im Wasser, im Januar, bei so 'ner Hundekälte!«

Aber so kalt war es gar nicht. Es war ein sehr gelinder Winter und man befand sich noch dazu im warmen Golfstrom.

Ein Matrose wurde hinabgelassen, befestigte im Wasser den Leichnam an einem zweiten Seile.

»Stinkt er schon!«, rief ein Herr hinab, der es schon immer mit dem »Stinken« zu tun gehabt hatte.

».He rükt wie ne tote Auster, dee in de Vanniljesauße gefallen is!«, lautete die etwas unbestimmte Antwort des Matrosen, die sich dann aber als der Wahrheit entsprechend beweisen sollte.

Natürlich wurde auch lebhaft die Frage erörtert, wie denn der Mann hier mitten im Atlantischen Ozean ins Wasser gekommen war.

Nun, da sagte die Korkweste schon genug.

Eben eine Schiffskatastrophe. Wahrscheinlich war das Schiff im Nebel von einem anderen angerannt und zum Sinken gebracht worden. Stürmisch war es in letzter Zeit nicht gewesen, wohl aber immer sehr neblig. Die Kajütenpassagiere hatten sich in Gesellschaftstoilette befunden, hatten nur noch Zeit gehabt, Korkwesten anzulegen, vielleicht nicht einmal mehr ein Boot erreichen können.

»Hiv up!«

Erst wurde der Matrose in die Höhe gezogen, dann folgte der Leichnam nach.

»Meine Herrschaften«, sagte der Kapitän, »wer nicht ganz starke Nerven hat, wolle sich zurückziehen. Der Schiffsarzt muss die Leiche untersuchen, sobald sie das Deck berührt, und wir können auf einen unangenehmen Anblick gefasst sein.«

Nur wenige Passagiere entfernten sich. Alle andere bemäntelten ihre Neugier mit Teilnahme, während natürlich die Hauptsache die Wollust des Grausens war.

Die Leiche lag an Deck auf dem Rücken.

Nein, einen unangenehmen Anblick bot sie durchaus nicht.

Es war ein noch junger Mann, durch seine Bartlosigkeit vielleicht jünger aussehend als er in Wirklichkeit war, mit einem klassischen, ideal schönen Antlitz. Der wahrhaftige Apoll, auch so gewachsen, mehr als mittelgroß, schlank und kräftig, was man besonders an dem sehnigen Halse und an den muskulösen Händen erkenne konnte, so fein und wohlgepflegt diese auch sonst waren.

Der schwarze Smokinganzug, die Lackschuhe und roten Seidenstrümpfe bestätigten sich.

An der linken Hand funkelte ein herrlicher Brillant und noch ein einfacher Goldreif, der lose Schlips wurde von einer Nadel zusammengehalten, das kleine Hufeisen wurde aus Smaragden, Rubinen und Saphiren gebildet.

Von einer Verwesung war nichts zu bemerken. Die Leiche roch nach frischem Seewasser und nach einem Vanilleparfüm.

Der Schiffsarzt riss die geblümte Weste und das Oberhemd auf und legte das Ohr auf die Herzgegend.

»Ich muss den Tod konstatieren«, lautete dann sein Urteil. »Ja aber — die Leiche ist noch ganz frisch — meines Erachtens nach muss der Tod erst vor ganz Kurzem eingetreten sein — ich muss Wiederbelebungsversuche machen, und sollten sie auch stundenlang währen.«

Zunächst fassten zwei kräftige Matrosen den Mann bei den Füßen und hoben ihn so hoch, dass der Kopf nach unten hing.

Aus Mund und Nase floss reichlich Wasser.

Dann, als diese Entleerung noch durch besondere Manipulationen unterstützt worden war, machten sich die beiden Lazarettgehilfen des großen Passagierdampfers abwechselnd an die künstlichen Atembewegungen.

Die Arme wurden bei den Ellenbogen gefasst und immer hin und her bewegt, weit über den Kopf zurückgeschlagen und wieder auf den Leib gepresst, sodass die Brust die Bewegungen ausführen musste, die sie beim Atmen macht.

Dazu noch andere Manipulationen, auch komprimierter Sauerstoff wurde eingeblasen und wieder ausgepumpt.

Dabei war kein einziger Augenblick zu verlieren, der Mann durfte nicht erst fortgetragen werden, um ihn besser zu betten, und will man ganz nach seinem Gewissen handeln, so muss das mindestens drei Stunden lang ununterbrochen fortgesetzt werden, ehe man jede Hoffnung aufgeben darf.


Illustration

Die Leiche des aus dem Meere Aufgefischten lag an
Deck auf dem Rücken. Der Schiffsarzt riss die Weste
und das Hemd auf, um seine Untersuchung anzustellen.


In der Tat, der Tod des Ertrinkens ist etwas ganz Besonderes, man merkt es immer mehr, durch Beharrlichkeit in der künstlichen Atmung hat man schon Wunder erlebt. Zehnstündige Atembewegungen haben Tote wieder lebendig gemacht.

Ab und zu hielt der Arzt einen Spiegel über den gewaltsam geöffneten Mund, machte andere Beobachtungen.

»Bei Gott, der Mann lebt noch!«, rief er jetzt.

Es war nicht nur, dass sich der Spiegel etwas beschlagen hatte. Das konnte ja auch durch die künstlich herausgepresste Luft geschehen sein. Der Arzt glaubt es noch aus anderen Anzeichen zu erkennen.

Die beiden Lazarettgehilfen pumpten aus Leibeskräften, Einreibungen mit Kampfer und Salmiakgeist, Nieswurz in die Nase geblasen.

»Ach, der ist tot!«, hieß es unter den Passagieren.

Da nieste der Tote herzhaft.

»Prost!«, sagte ein Matrose.

»Er lebt, er lebt, er lebt!«, jubelten jetzt die Passagiere.

»Nee, he is rut!«

Der »Tote« kam außerordentlich schnell zu sich.

Noch ein Niesen, und mit einem Male sprang er auf die Füße.

Wahrhaft furchtbar entsetzt war der Ausdruck der blauen Augen, wie sie die Umstehenden anstarrten.

»Wer bin ich??«

Er hatte es auf Englisch hervorgestoßen.

Die Frage war an sich schon merkwürdig genug.

Er hätte doch zuerst fragen sollen, wo er denn sei.

Aber in solchen Situationen werden die Worte nicht so abgewogen.

»Wer sind Sie?«, fragte jetzt auch der Kapitän, und bei dem war diese erste Frage begreiflich.

Der junge Mann starrte auch den Kapitän wie ein Gespenst an, dann blickte er an sich selbst herab, und statt des Entsetzens malte sich jetzt ein immer größeres Staunen in seinen schönen Zügen wieder.

»Ich bin — ich bin — ich bin doch kein Fuchs worden?!«

Schon wurden heimliche Zeichen gemacht und leise Bemerkungen gewechselt, dass es im Kopfe dieses jungen Mannes wohl nicht ganz richtig sein könne.

Der Arzt trat auf ihn zu, fasste ihn beim Arm.

»Wie fühlen Sie sich?«

»Gut — ganz gut —«, erklang es nur etwas stammelnd.

»Nicht sehr schwach?«

»Nein — o nein!«

»Können Sie allein gehen?«

»Ja — ach ja!«

Der Arzt führte ihn am Arm davon, ins Lazarett, in dem sich kein Kranker befand und wo dem Mann doch ganz andere Bequemlichkeiten und Hilfeleistungen geboten werden konnten als selbst in einer Salonkabine.

Die geübten Hände der beiden Lazarettgehilfen entkleideten ihn, zogen ihm ein Hemd an und legten ihn sofort in das beste Hängebett.

Jedem anderen war der Zutritt verboten. Nur der Kapitän war gleich mitgekommen, und der hatte auch an dieser Stelle doch noch mehr Macht als der Schiffsarzt, er musste unbedingt einige Fragen tun, und wenn es auch den Tod des vorläufig Geretteten bedeutet hätte.

Denn hierbei handelt es sich noch um etwas anderes als um das Leben eines einzigen Menschen.

Es lag doch ein Schiffbruch vor, der Dampfer musste weite Bogen fahren, um das Meer nach Booten und schwimmenden Menschen und Leichen abzusuchen, das kostete Zeit, und wenn irgendwo Zeit Geld ist, so gilt das für solch einen Dampfer.

»Wer sind Sie?«

Immer noch starrte der junge Mann den Frager an, aber doch nicht mehr so entsetzt wie zuerst.

»Ich bin — ich — weiß nicht!«

»Haben Sie Schiffbruch erlitten?«

»Ich — weiß nicht!«

»Er hat das Gedächtnis verloren!«, sagte der Schiffsarzt.

Der Kapitän winkte ihm zu schweigen. Er musste im Logbuch protokollieren, wenn auch nur, dass der Aufgefischte die Erinnerung verloren habe.

»Wie heißt das Schiff?«

»Ich — weiß nicht!«

»Es war doch ein Dampfer?«

»Ich — weiß nicht!«

»Hatte er einen oder zwei — oder noch mehr Schornsteine?«

»Ich — weiß nicht!«

»Welchen Hafen hat das Schiff verlassen? Von wo sind Sie abgefahren?«

»Ich — weiß wirklich nicht!«, erklang es dann immer wieder.

Dann aber fing der junge Mann zu lachen an, wenn es auch sehr gequält klang.

»Das ist ja zu komisch, dass ich mich so auf gar nichts mehr besinnen kann!«

»Wie lange haben Sie denn im Wasser gelegen? Sind Sie mit Bewusstsein geschwommen? Stundenlang?«

»Im Wasser habe ich geschwommen?!«, lautete die erstaunte Gegenfrage.

»Auch davon wissen Sie gar nichts?«

»Nein.«

Der Kapitän erhob sich.

»Dann habe ich vorläufig nichts mehr zu fragen. Herr Doktor, nun versuchen Sie, aus dem Mann etwas herauszubringen. In seinen Taschen ist nichts gefunden worden. Protokollieren Sie, wenn Sie noch etwas finden. Ich muss auf die Brücke.«

Der Kapitän ging.

»Wie fühlen Sie sich?«, fing der Schiffsarzt jetzt wieder an.

Eigentlich ganz gut.«

»Haben Sie Appetit?«

»Nein, ganz und gar nicht.«

»Durst?«

»Auch nicht. Also ich bin aus dem Wasser gezogen worden? Wann denn nur? Was ist denn das hier für ein Dampfer?«

»Wollen Sie mir nicht erst noch einige Fragen beantworten?«

»Gewiss.«

»Sind Sie Engländer?«

»Ich — weiß nicht.«

»Sprechen Sie deutsch?«

Einiges Zögern auf diese deutsch gestellte Frage.

»No!«, erklang es dann.

»Sprechen Sie französisch?«

»No!«

Verstanden hatte er natürlich diese landläufigen Fragen.

»Ist denn nichts in meinen Sachen gefunden worden, was mich legitimieren könnte?«, fragte er dann selbst.

Nein, gar nichts. Nur zwei Taschentücher, von denen das eine stark nach Vanille roch, was sich dem ganzen Anzuge mitgeteilt hatte, und dieser intensive Geruch, zumal wenn er gar von Vanilleäther ausgeht, lässt sich nicht so leicht auswaschen, am wenigsten von Salzwasser.

Dieses eine Taschentuch hatte ein Monogramm, L. M., das war aber nach den Spitzen zweifellos ein Damentaschentuch.

Das andere hatte kein Monogramm, so wenig wie das feine Oberhemd und die sonstige Unterwäsche.

Sonst war in der Westentasche nur noch eine brillantenbesetzte Uhr mit kurzer goldener Kette gefunden worden, sonst absolut nichts weiter.

Auch die Uhr zeigte innen keine Initialen, kein Monogramm, nichts — nur eine Fabriknummer, und das war allerdings von Wichtigkeit, wenn man sonst nicht heraus bekam, wer der Mann war. Solch eine brillantenbesetzte Uhr ist doch keine Kleinigkeit, da spielte die Fabriknummer schon eine Rolle.

Zunächst wollte es der Arzt natürlich noch auf andere Weise probieren.

»Erweckt das Monogramm in diesem Taschentuche eine Erinnerung in Ihnen?«

Nur kopfschüttelnd wurde es betrachtet.

»Riechen Sie einmal kräftig daran? Taucht bei dem Vanillegeruch nicht das Bild einer Dame in Ihnen auf?«

Es war von dem Arzte ganz gut gemeint, aber nützen tat es nichts.

»Ist vielleicht innen in den Ringen etwas graviert?«

Erstaunt, als sähe er sie zum ersten Male, betrachtete der Mann die beiden Ringe, den Solitär und den schlichten Goldreif.

»Sind denn das meine Ringe?!«

»Gewiss, Sie haben sie an den Fingern gehabt, als Sie aufgefischt worden sind. Der Goldreif an der linken Hand sieht doch aus wie ein Verlobungsring.«

»Ja, das sieht so aus!«, erlang es zögernd.

»Sind Sie verlobt?«

»Ich — weiß nichts davon.«

»Wollen Sie die Ringe einmal abziehen, ob innen etwas graviert ist.«

Sie ließen sich schwer abstreifen, aber es ging zuletzt.

Nein, da war innen nichts graviert, oder innen wieder nur Goldstempel und Karatangabe.

»Auch diese Busennadel erweckt in Ihnen keine Erinnerung?«

Auch nicht.

Dann wollte der Arzt nur noch einen Versuch machen. Er streifte den Hemdsärmel des Mannes bis zur Schulter hoch.

Dort, wo man gewöhnlich geimpft wird, zeigten sich einige blaue Punkte und Striche und kleine Kreise, zu einer symmetrischen Figur geordnet.

»Was bedeutet diese Tätowierung?«

»Weiß ich nicht. Ich glaube sie jetzt zum ersten Male zu sehen.«

»Gehören Sie einem Verbande an, einer Loge?«

»Weiß ich nicht.«

»Kennen Sie den?«

Schnell hielt ihm der Arzt einen großen Spiegel vor Es war das letzte Mittel, um die Erinnerung zu erwecken.

Aufmerksam betrachtete der Mann sein schönes Gesicht im Spiegel, etwas wie freudiges Staunen prägte sich darin aus.


Illustration

»Das bin ich?!«, erklang es ebenso.

»Kennen Sie den?«, drängte der Arzt.

»Ja — nein — ja — nein — mir ist, als ob ich mich schon einmal so im Spiegel gesehen hätte — nein, es ist doch nicht der Fall.«

Nun war des Arztes Weisheit erschöpft.

»Schreiben Sie hier doch einmal Ihren Namen!«, sagte einer der Lazarettgehilfen, ihm schnell einen Bogen Papier mit Unterlage vorlegend und ihm auch gleich einen Bleistift in die Hand drückend.

Diese List war sehr klug, um eine mechanische Reflexbewegung auszulösen, aber sie gelang nicht.

Der Mann wusste nicht, was er schreiben sollte, nicht den seiner Heimat, nichts.

»Herr Doktor, ich fühle mich doch sehr schwach, jetzt merke ich es.«

»So schlafen Sie, und dann wird Ihr Erinnerungsvermögen wohl wieder intakt sein.«

»Erst aber möchte ich wissen, auf was für einem Schiffe ich mich befinde.«

»Auf dem deutschen Passagierdampfer ›Albert‹, von Hamburg unterwegs nach New Orleans, jetzt ungefähr auf er Hälfte der Strecke.«

»Und ich bin aufgefischt worden?«

»Als ein Toter.«

Der Arzt schilderte es näher.

»Hatte die Korkweste kein Schiffssignum?«

»Auch nicht.«

»Sind noch andere Schiffbrüchige tot oder lebendig aufgefischt worden?«

»Noch nicht. Es wird noch danach gesucht. Lange können wir uns dabei freilich nicht aufhalten. Man ist doch auch den anderen Passagieren Rücksichten schuldig, deren Angehörige auch wieder außer sich werden, wenn der Dampfer nur einen Tag als überfällig gemeldet wird.«

»Natürlich, natürlich.«

Draußen traf der Arzt mit dem Kapitän zusammen, einem deutschen Seebären.

»Na, was macht der Vanillenonkel mit den roten Seidenstrümpfchen? Weiß er nun, wer er ist?«

»Hat noch keine Ahnung.«

»Das wundert mich nicht. Wenn ich in solch eine Vanillenparfümatmosphäre gesteckt würde, ich würde auch das Bewusstsein und mein ganzes Verstehstemich verlieren. Desinfizieren oder verbrennen Sie nur gleich seine Sachen, der verstänkert ja mein ganzes Schiff.«

*

Drinnen lag der Gerettete mit geschlossenen Augen im Bett.

Aber er schlief nicht.

»Señor — Domingo — Lazare«, dachte er mit sprechender Langsamkeit, »ehemaliger Jesuitenpater.

Ich bin es.

Oder vielmehr ich war es.

Das Experiment mit der Seelenwanderung ist anders ausgefallen, als ich gedacht hatte.

Aber so ganz unerwartet kommt mir die Sache doch nicht.

Ich wusste von dem Rezepte schon mehr, als der Verräter Jaffa ahnte.

Ich habe ja auch gleich gesagt, was ich da Gewagtes riskiere.

Es scheint besser abgelaufen zu sein, als es hätte geschehen können.

Also ein Fuchs bin ich nicht geworden, sondern ein Mensch.

Ein Mann, der zweifellos Schiffbruch erlitten hat und trotz der Korkweste ertrunken ist.

In demselben Moment ist dort in Ägypten meine Seele abgefahren und hat sich, unabhängig von jeder Entfernung, dieses Leichnams bemächtigt.

Dabei habe ich ein ganz verteufeltes Glück gehabt.

Denn ich weiß schon, dass es mir dabei hätte sehr, sehr traurig — entsetzlich hätte ergehen können.

Das erste Glück besteht darin, dass dieser tote Man aufgefischt wurde, ehe er in Verwesung überging — wonach meine Seele auch gar nicht mehr in ihm gewesen wäre — und dass die Wiederbelebungsversuche angestellt wurden.

Denn ohne diese, von allein wäre ich nicht wieder zum vollen Bewusstsein erwacht.

Ganz verloren hatte ich es ja überhaupt nie. Es war scheußlich genug, wie ich da mit dem Kopf nach unten in dem Salzwasser schwamm, tot und dennoch lebendig. Ich danke, so etwas möchte ich ja nicht zum zweiten Male durchmachen!

Sonst aber habe ich also verteufeltes Glück gehabt.

Und der zweite Glücksfall besteht nun darin, dass ich doch aller Wahrscheinlichkeit nach eine ganz vortreffliche Person für meine Wiedergeburt gewählt habe, allerdings ganz ohne mein Zutun.

Wer ich in diesem zweiten Leben bin, weiß ich ohne fremde Belehrung freilich nicht.

Die Okkultisten haben, wie ich jetzt deutlich merke, ganz recht, wenn sie das Gehirn nur ein Instrument nennen, auf welchem die Seele spielt.

Ich habe das Klavier meines Vorgängers in tadellosem Zustande übernommen, kann aber darauf nur meine eigenen Melodien spielen. Die Notenblätter, die er benutzt hat, fehlen mir.

Ich weiß und kann noch alles, was ich früher gewusst, gedacht, gekannt, gelernt habe. Ich kann zu Beispiel noch Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch und eine Menge anderer Sprachen, brauche nur den Mund zu öffnen, um in ihnen fließend parlieren zu können.

Das hat mein Vorgänger jedenfalls nicht gekonnt, oder er musste zufällig auch solch ein Sprachengenie wie ich gewesen sein.

Dessen geistige Fähigkeiten habe ich nicht mit übernommen, sondern nur seine körperlichen.

Und damit kann ich ja nun sehr, sehr zufrieden sein.

Ich fühle mich durchaus gesund.

Ich fühle, wie frische Lebenskraft durch alle mein Adern rinnt.

Ich bin groß und schön gewachsen.

Ich habe schwellende Muskeln.

Und ich habe mein Gesicht im Spiegel gesehen.

Ein ideal schönes Gesicht.

Diese Züge, diese Augen können mich Menschenkenner nicht betrügen.

Ja, ich bin ein hoch ideal veranlagter Jüngling, eine reine Engelsnatur in einem athletischen Manneskörper.

Natürlich galt dieser ideale Engelscharakter nur für deinen Vorgänger.

Ich habe nur sein ideales Aussehen übernommen, jetzt steckt in diesem schönen Engel der leibhaftige Teufel, hihihi.«

So kicherte Señor Lazare in Gedanken, und er hätte sich so gern die Hände gerieben, wie er auch schon immer das Bedürfnis gehabt hatte, während dieses seines Selbstgesprächs nach alter, gewohnter Weise die Fingerspitzen zusammenzutippen.

Er tat es wegen des neben dem Bette sitzenden Lazarettgehilfen nicht, er stellte sich schlafend, um mit seinen Gedanken allein sein zu können.

Aber er musste sich Gewalt antun, um diese beliebten Hand- und Fingerbewegungen nicht auszuführen.

Also doch ein sicheres Zeichen, dass er dem Geist und Charakter nach noch ganz der alte geblieben wäre, was Señor Lazare nämlich mit Befriedigung konstatierte. Denn nun auch dem Charakter nach ein idealer, unschuldsvoller Jüngling geworden zu sein, das wäre für ihn durchaus nichts gewesen.

»Und es ist ein mit irdischen Gütern gesegneter Jüngling!«, fuhr Lazare in seinem Selbstgespräche fort, nachdem er sich in Gedanken ausgekichert hatte.

»Man möchte annehmen, dass er aus den höchsten Adelskreisen stammt, denn er hat echt aristokratische Züge. Aber darauf will ich lieber nichts geben. Ich habe einmal einen englischen Ziegelträger gesehen, der seinem edlen Gesicht nach mindestens ein verkappter Lord aus einem Urururadelsgeschlecht sein musste, und es war doch nur ein Ziegelträger, und schon seine Urgroßeltern waren arme Arbeiter gewesen.

Keinesfalls aber ist dieser Jüngling ein Arbeiter gewesen.

Wer solch einen Solitär am Finger und solch eine Schlipsnadel trägt, das ist kein armer Schlucker, selbst wenn er nichts weiter besäße, diese Pretiosen nur geschenkt bekommen hätte.

Wer solch ein Gesicht und solch eine Figur besitzt, der braucht eben um sein Fortkommen nicht zu sorgen.

Er braucht nur die Hände auszustrecken, und alles fliegt ihm zu. Einem schönen Manne noch viel, viel mehr als einem schönen Weibsbilde.

Und dieser herrliche Jüngling ist trotz allem Idealismus kein Mucker gewesen.

Nach seinem Anzuge verkehrte er in vornehmer oder doch eleganter Gesellschaft.

Er trug ein parfümiertes Damentaschentuch bei sich.

Das lässt schon tief blicken und ist mit allem Idealismus und aller Engelsreinheit recht wohl zu vereinen.

Gerade solche Jünglinge fangen am leichtesten Feuer. Und dann scheint der Goldreif doch ein Verlobungsring zu sein.

Also er ist außerdem verlobt.

Mit wem?

Hat seine Braut auch den Tod in den Wellen gefunden?

Oder lebt sie noch?

Wer ist sie?

Wer ist er?

Ha, Señor Domingo Lazare, das ist ja nun gerade so etwas für Dich, für Deine rastlose Abenteuerlust!

Dies alles so nach und nach auszuspüren, seinen Scharfsinn anzustrengen, ein Hindernis nach dem andern zu überwinden, Abenteuer über Abenteuer erleben!

Fahre wohl, Megalis el Hiemit, Du Haus der Weisheit kannst mich mit Deinen Geheimnissen und Lüsten nicht mehr reizen!

Fahre wohl, Señora Allan, und Du, hellsehendes Kind! Ich brauche Euch nicht mehr, mir steht jetzt Angenehmeres bevor!

Und wenn ich doch vielleicht Geld brauchen sollte, um mein neues Leben zu befestigen — nun, ich weiß, wo ich solches holen kann.

Denn so töricht, mein zusammengescharrtes Geld und meine sonstige Beute einer Bank anzuvertrauen, war ich niemals.

Ja, es ist geradezu gewesen, als ob ich dies alles schon geahnt hätte, hihi-hihi.«

Und nun musste er sich doch einmal die Hände reiben, unter der Bettdecke, drehte sich herum und fiel nun wirklich in Schlaf.

Aber so leicht und angenehm, wie er es sich träumte, sollte für ihn das neue Leben in fremder Hülle denn doch nicht werden.

— • —

46. Kapitel
Der Doppelgänger

Originalseiten 1114 — 1127

Als er erwachte, befand sich im Lazarett wieder der Arzt. »Nun, Sir, wie haben Sie geschlafen?« Lazare, sofort bei voller Besinnung, hielt es für angebracht, ein recht betrübtes Gesicht zu machen. Etwas Melancholie steht solch einem schönen, idealen Jüngling überhaupt immer gut, das hatte er sich bereits gesagt.

»Danke, Herr Doktor, geschlafen habe ich sehr gut, ich fühle mich ganz wohl, habe jetzt Appetit, aber — ich bin tief, tief unglücklich!«

»Weshalb?«

»Sie fragen noch?«

»Sie können sich noch immer nicht erinnern?«

»Auf nichts, auf gar nichts!«

»Das ist freilich fatal. Aber die Erinnerung wird Ihnen schon wiederkommen, nur den Mut nicht verlieren.«

»Ach, Herr Doktor, ich habe doch sicher Angehörige, ich trage einen Verlobungsring — —«

»Ja, aber nur nicht jetzt sich solchen trüben Gedanken hingeben! Danken Sie Gott, dass Sie gerettet worden sind.«

»Sind denn noch andere Schiffbrüchige oder sonst etwas gefunden worden?«

»Nein, gar nichts. Wir haben zwei Stunden vergebens große Bogen gefahren und das Meer abgesucht.«

»Wie lange habe ich geschlafen?«

»Ungefähr vier Stunden. Also Sie haben Appetit?«

»Sogar ganz tüchtigen Hunger.«

»Das freut mich. Es findet gleich das Diner statt. Werden Sie in der ersten Kajüte daran teilnehmen?«

»Ach, Herr Doktor, lieber nicht! Ich fürchte die allgemeine Neugier — —«

»Ja, ich verstehe Sie. Sie werden eine Salonkabine angewiesen bekommen, und es wird Ihnen darin das Essen so lange allein serviert werden wie Sie wünschen. So hat bereits der Herr Kapitän angeordnet, der Sie vorläufig als seinen Gast betrachtet. Nun ist aber doch möglich, dass jemand an Bord Sie kennt. Und es ist Ihnen doch nur wünschenswert, dass recht bald Ihre Personalien festgestellt werden. Würden Sie nicht einmal nach dem Diner einen Rundgang durch die Kajüten und selbst durchs Zwischendeck unternehmen? Sie schließen sich dem gewöhnlichen Rundgange an, den der Kapitän mit dem Zahlmeister und dem Schiffsarzte täglich zweimal macht, wobei die Passagiere ihre etwaigen Wünsche und Beschwerden anzubringen haben.«

»Haben mich nicht schon alle Passagiere gesehen? Als ich zum Bewusstsein kam, war ich doch dicht umringt.«

»O nein, durchaus nicht alle. Außerdem haben wir in Dover gegen vierzig englische Herren und Damen an Bord genommen, eine geschlossene Gesellschaft, die vorhin, als man sich mit Ihnen beschäftigte, gerade ein Meeting abhielten und sich durch das Vorkommnis nicht stören ließen.

Sie sind doch jedenfalls ein Engländer, ein Amerikaner. Ich habe allen Grund, Sie für einen englischen Aristokraten zu halten. Sie sind in England vielleicht ein populärer Mann. Man kennt Ihre markanten Züge aus illustrierten Zeitungen. Ich würde es an Ihrer Stelle doch einmal versuchen.«

»Gewiss, ich bin gern bereit, mich Ihrem Rundgange anzuschließen.«

»Ich werde mir erlauben, Sie nach dem Diner abzuholen. Wenn es nicht der Zahlmeister tut, der sich Ihnen als ersten Kajütenpassagier noch vorzustellen hat. Sind Sie fähig, das Bett zu verlassen?«

»Ich fühle mich vollkommen kräftig.«

»So ziehe ich mich zurück. Sie finden hier bereits Wäsche und einen Anzug, der Ihnen passen wird. Der Ihre wird aufgebügelt. Alles Weitere, was Sie bedürfen, finden Sie in Ihrer Kabine. Wenn Sie Toilette gemacht haben, wollen Sie klingeln, ein Steward wird Sie führen. Vorläufig empfehle ich mich Ihnen, Sir.«

Nachdem sich der Arzt entfernt hatte, sprang Señor Lazare, wie wir ihn natürlich noch weiter nennen müssen, als elastischer Jüngling aus dem Bett.

Dort lagen für ihn Wäsche und ein elegantes, aber bequemes Kostüm, alles passte ihm wie angegossen, auch das leichte Schuhwerk. Schlipsnadel und Uhr hatte man besonders gelegt.

Als er mit Hilfe der Waschvorrichtung seine Toilette beendet hatte, klingelte er. Ein Steward erschien.

Es war eine Salonkabine, die dem Unbekannten angewiesen wurde, bestehend aus Schlafzimmer, Speisezimmer, Salon, Toilette mit Bad. Preis für die vierzehntägige Fahrt von Hamburg nach New Orleans zweitausend Mark. Für den Benutzer des zweiten Bettes die Hälfte. Was aber unter den Ankündigungen neben den Türen nicht mit angegeben war.

Da stand nur, wie Klingeln und Telefon zu benutzen waren. Wie die Damen die elektrische Brennschere zu handhaben hatten. Barbier- und Friseuranruf Nummer vier. Beschwerden sind beim ersten Zahlmeister anzubringen, Anruf Nummer eins. Das Rauchen unter Deck ist nicht gestattet. Arzt und Medikamente kostenlos.

Und dann mit ganz besonderer Betonung: Alle Kabinentüren, jede mit Sicherheitsschloss, sind immer unter eigenem Verschluss zu halten. Die Passagiere werden dringend ersucht, Gelder und Wertsachen dem Zahlmeister zur Aufbewahrung zu geben, gegen volle Haftung. Sonst lehnt die Reederei jede Haftung für abhanden gekommene Sachen ab.

Im Speisezimmer fing bereits das Servieren des Diners an, des Mittagsmahls, wie immer um vier Uhr, auch in den Speisesälen der Kajüten.

Señor Lazare zählte acht Gänge, ohne Suppe, verschiedene appetitreizende Vorspeisen und einen noch verschiedeneren Nachtisch. Eine Schüssel immer raffinierter als die andere.

Am meisten aber staunte der alte Jesuitenpater über den Appetit, den er als idealer Jüngling entwickelte. Als Jesuitenpater war er ein sehr mäßiger Esser gewesen — jetzt hätte er gern geschlungen, wenn die beiden servierenden Stewards nicht immer hin und her gegangen wären. Und nicht etwa, dass er einen Wolfshunger gehabt hätte. Durchaus nicht. Nur einen normalen Appetit.

Wie ihn ein normaler Mensch hat, wenn er erst gut gespeist hat, ehe er ertrinkt, und dann vier Stunden schläft. Aber es war geradezu fabelhaft, was er vertilgen konnte.

»Ich habe von dem edlen Jüngling einen sehr großen und ganz ausgezeichnet funktionierenden Magen geerbt. Auch meine Zähne, von denen der letzte Rest schon sehr wacklig wurde, arbeiten in vollständiger Zahl wieder wie die Mühlsteine. Das freut mich. Ich habe die Vielfresser früher verachtet, aber mit Unrecht. Jetzt als idealer Jüngling sehe ich es ein. Sie haben ganz recht: Ein guter Magen und etwas Gutes zu essen dazu, nicht zu wenig — es gibt nichts Besseres in der Welt. Solche Gefräßigkeit und Idealismus reimen sich zwar schlecht zusammen, aber — es ist besser, als wenn mir der Jüngling einen Magenkrebs hinterlassen hätte. Ja, mein Lieber, geben Sie mir noch einmal von dem Krebsragout.«

Nachdem Señor Lazare zum Schluss zum zweite Male die Platte mit ausgerechnet zwanzigerlei Käsesorten bestellt hatte, war er endlich gesättigt.

»Ist dem Herrn jetzt der Besuch des ersten Zahlmeisters angenehm?«

»Ja, ich bitte.«

Er kam, der Generalgewaltige, fast im gleichen Rang mit dem Kapitän stehend. Nur in ganz, ganz anderer Hinsicht. Für alles Interne verantwortlich. Auf englischen Dampfern als »Purser« eine unnahbare Majestät, auf deutschen der liebenswürdige Hotelier.

Ein solcher war auch dieser, natürlich auch sonst ein feingebildeter Mann, der seine teilnehmenden Fragen zu stellen wusste.

»Es wird in New Orleans den Behörden ein leichtes sein, Ihre Personalien zu ermitteln, oder einem Privatdetektivinstitut, wenn Sie das vorziehen. O, da brauchen Sie auch gar keinen Kredit, die verschiedenen Institute werden sich um die Ehre streiten, diesen merkwürdigen Fall aufzuklären, das ist doch nur die beste Reklame für die. Doch jedenfalls ist Ihnen bis dahin die Erinnerung zurückgekehrt. Ist der Herr jetzt bereit, mit uns die Runde anzutreten? Sie werden dabei mit keinem einzigen Worte belästigt. Nur ansehen müssen Sie sich natürlich lassen.«

»Ich bin bereit.«

»Dann, bitte, gleich noch eins — haben Sie vielleicht Geld und Wertsachen zum Aufbewahren zu geben?«

»Sie wissen doch, dass ich gar nichts bei mir habe!«, lächelte der junge Mann.

»Es ist meine Pflicht, zu fragen. Außerdem sind doch Ihre Ringe, Uhr und Busennadel Wertsachen.«

»Solche Sachen behält man aber doch bei sich.«

»Gewiss Wie gesagt, es ist meine Pflicht, diese Frage zu stellen. Haben Sie also etwas zur Aufbewahrung zu geben?«

»Nein.«

»Dann, bitte, wollen Sie gleich diesen Revers unterschreiben.«

Der Zettel enthielt dasselbe wie dort an der Wand, der Unterschriebene hatte davon Kenntnis genommen, hatte also nichts zum Aufheben zu geben.

»Ja, was für einen Namen soll ich nun schreiben?«, lächelte der Erinnerungslose, als ihm der Tintenbleistift gegeben wurde.

»Ach richtig! Nun — ein Kreuz malen, damit wollen wir nicht anfangen — Sie unterschreiben mit der Fabriknummer Ihrer Uhr, es ist ja nur eine Formalität — oder halt! — Sie sollen doch eine Tätowierung am Arm haben — wäre es Ihnen peinlich, wenn diese Tätowierung hier abgezeichnet würde? Das wäre ja dann die beste Signierung für Ihre Person.«

»Das ist mir durchaus nicht peinlich, diese Tätowierung wird ja doch wohl am stärksten bei Recherchierung meiner Personalien benutzt!«, entgegnete Lazare und hatte schon das Jackett ausgezogen und den Hemdsärmel hochgekrempelt.

Sehr geschickt malte der Zahlmeister die Punkte und Striche und Kreuze und Kreise ab, gab die ganze Figur in verkleinertem Maßstabe auf dem Zettel wieder.

Da fiel dem Pater etwas ein.

Teufel, wenn nun mein Vorgänger etwas auf dem Gewissen und Kerbholz hat, wofür er gebrandmarkt worden ist?!«

So dachte er erschrocken.

Da aber war es schon geschehen, und ebenso schnell hatte Lazare den aufsteigenden Verdacht wieder verworfen, er brauchte nur in den Spiegel zu sehen.

Nein, solche ideale Züge und solche ehrliche Augen logen nicht, oder es gab überhaupt keine Ehrlichkeit mehr in der Welt.

Nun noch die Fabriknummer der Uhr darunter, ein Vermerk des Zahlmeisters, und die Sache war erledigt.

»Danke. Bitte wollen Sie mir nun folgen. Wir treffen mit dem Kapitän und Schiffsarzt zusammen.«

Sie traten auf den Korridor. Draußen schloss der Zahlmeister die Tür ab, gab den komplizierten Sicherheitsschlüssel mit Zuhaltungen dem Passagier.

»Diesen Schlüssel nehmen Sie an sich. Vergessen Sie niemals, die Tür hinter sich zu schließen. Welche das ist, ist gleichgültig. Durch eine elektrische Patentübertragung werden gleichzeitig alle anderen Türen Ihrer Kabinen geschlossen.«

»Sind denn auf diesem Schiffe schon so schwere Einbrüche vorgekommen, dass solche umständliche Sicherheitsvorkehrungen nötig sind?«

»O nein, nicht bei uns, bei keinem Schiffe unserer Reederei. Es ist aber nun einmal Sitte und sogar Gesetz geworden, dass dies so gehandhabt wird. Besonders Amerikaner haben schon schwere Umstände gemacht, wenn ihnen einmal etwas abhanden gekommen ist, und die Reederei muss sich gegen fremde Schuld schützen. Dort warten der Kapitän und der Doktor schon.«

Sie schlossen sich ihnen zum gemeinschaftlichen Rundgange an, der täglich zweimal durch das ganze Schiff führt. Die Passagiere sollen eben täglich zweimal Gelegenheit haben, Wünsche und Beschwerden diesen drei Hauptpersonen vorzutragen. Die Kajütenpassagiere können das schließlich ja immer, nicht aber doch die Zwischendeckler, und deshalb eben diese offiziellen Rundgänge, die im Logbuch eingetragen werden müssen.

In den Salons der beiden Kajüten unterstützten die eleganten Passagiere die schwere Arbeit des Verdauens durch Unterhaltung, um dann wieder um neun Uhr für das »Souper«, die Abendmahlzeit, kampfbereit zu sein.

Alle waren anwesend, niemand fehlte. Natürlich waren sie schon vorbereitet.

Die vier Herren schritten durch die Salons. Heute hatte niemand etwas vorzutragen, aller Augen waren mit und ohne Gläser auf den Begleiter gerichtet, auf den geheimnisvollen Unbekannten, der rekognosziert werden sollte.

Bewundernde Blicke auf den wirklich ideal schönen jungen Mann, leise ausgetauschte Bemerkungen aber kennen tat ihn niemand.

Das wussten die Führer bereits, als sie auch den weiten Saal verlassen hatten.

»Nun wollen wir es noch im Zwischendeck versuchen.«

»Im Zwischendeck?!«

»Weshalb nicht? Der Zufall kann es wollen, da Sie gerade dort erkannt werden, vielleicht von einen ehemaligen Diener, der gar nicht der Ihre gewesen zu sein braucht. Gerade solche Leute kommen weit herum.«

Sie stiegen hinab in das Infernum des Vorderdecks. Übrigens ist es heute gar nicht mehr so schlimm. Wenigstens nicht auf deutschen Passagierschiffen. Und besonders von dem Essen, das diese Zwischendeckler bekommen, wissen an Land die meisten Menschen selbst der besser gestellten, gebildeten Klassen nichts. Es ist Matrosenkost, und der Matrose blickt in den Restaurationen mitleidig auf die Teller der zu Mittag Speisenden.

Die Zwischendeckler hatten sich zur Fütterung aufgestellt, hüben die Männer und drüben die Frauen und Kinder, zur Empfangnahme des Abendbrotes, hier schon um sechs Uhr, bestehend aus Tee, Frischbrot und Butter, Zucker und kondensierter Milch, heute noch dazu Hering und vortrefflichen Zwieback, alles in beliebiger Menge. Außerdem hatte fast jeder vom Mittag her noch einen großen Klumpen Fleisch übrig behalten. Wenn nicht, so hatte er eben nicht genug gefordert. Das Fleisch ist auf diesen Schiffen ja billiger als Brot. Das Pfund bestes Fleisch kostet in den argentinischen Häfen noch nicht einmal einen Groschen, es kommt in die Gefrierräume, die Schiffe tauschen es gegenseitig aus, im Hamburger Freihafen ohne Zollerhebung. Und so ist es mit allen Lebensmitteln, in denen sich erst Dutzende von Zwischenhändlern die Finger versilbern. Das Pfund Kaffee kostet in Santos 35 Pfennige.

Auch diese Zwischendeckler waren schon instruiert und musterten den zum Leben Wiedererwachten ohne Namen und Erinnerung.

Hier ging es natürlich etwas anders zu als dort in den Salons. Wenn auch mancher von diesen schäbigen Gestalten mehr Geld in der Tasche haben mochte als so ein eleganter Kajütenpassagier.

»Nee, den kenne ich nicht.«

So hieß es in den verschiedensten Sprachen.

Da plötzlich stutzte Señor Lazare.

Sein Blick war auf einen Mann gefallen, der dort wie alle anderen mit Blechbecher und Blechnapf in Reih und Glied stand.

Es war ein alter polnischer oder russischer Jude, wie er im Buche steht.

Sicher einer jener russischen Getreidehändler, wie man sie auf diesen Schiffen zur Genüge kennt.

Erst fangen sie mit dem Getreide- und Mehlhandel zwischen Russland und England an, gehen dann aber, wenn sie Englisch gelernt haben, meist zum einträglichen Geschäft mit Amerika über, hauptsächlich mit New Orleans für das Mississippigetreide.

Sie haben in Anweisungen und Kreditbriefen Hunderttausende in der Tasche, aber ihrem schmierigen Kaftan und dem Käppi und den Schmachtlocken bleiben sie treu, fahren natürlich auch nur Zwischendeck, lieber noch im Viehraum, wenn's nur erlaubt wäre. Dreimal täglich arbeiten sie mit dem Gebetsriemen, und dabei stehlen sie, wo es nur etwas zu stehlen gibt, sie müssen stehlen, lassen sich dafür gern verprügeln. Sie heben jede Stecknadel auf, sie sammeln Zigarrenstummel und ausgespuckten Kautabak, trocknen ihn und drehen sich damit von Zeitungspapier ein Zigarettchen. Sie verhungern vor Geiz.

Ist aber ein Glaubensgenosse in Not, dann wird sofort der Geldbeutel geöffnet, sie unterstützen ihn in jeder Weise, helfen ihm weiter, ohne Zinsen.

Fürwahr, ein Menschenbeobachter, der abseits der großen Masse steht und seine »lieben Nächsten« mit etwas besonderen Augen beobachtet, der muss dieses infame Gesindel in gewisser Hinsicht auch noch bewundern!

Solch ein Jude im schmierigen, fettstrotzenden Kaftan war auch das hier.


Illustration

Eine kleine, elende, ausgemergelte Gestalt, hüben und drüben unter dem Käppi die schwarzen, aber schon graumelierten Locken heraus, das gelbe, hagere Gesicht, halb einem verhungerten Fuchse, halb einem gierigen Geier angehörend, von einem ebensolchen Vollbarte überwuchert.

Auch er hatte seine schwarzen, funkelnden Augen auf den namenlosen Mann gerichtet, der als Schauobjekt herumgeführt wurde, und das listige Schmunzeln gehörte nun einmal zu diesem Gesicht.

Und wie vom Donner gerührt stand Señor Lazare da. Himmel, wo hatte er dieses Gesicht schon gesehen?

Nun, da brauchte er nicht lange zu grübeln.

Er brauchte sich nur die Hängelocken und den Vollbart wegzudenken, dann hatte er sein eigenes Gesicht vor sich, so wie er es noch heute früh gesehen, wenn er in den Spiegel geblickt.

Ganz genau dasselbe schlaue Fuchsgesicht mit dem Geierschnabel als Nase, dasselbe halb listige, halb wohlwollende Lächeln, auch die kleine, ausgemergelte Gestalt war ja dieselbe, hier nur alles in russisch-jüdischer Kaftanausgabe.

Der Kapitän hatte bemerkt, wie der Unbekannte den Juden wie ein Gespenst anstarrte.

»Kennen Sie den Juden?«, fragte er »Steigt eine Erinnerung in Ihnen auf?«

Lazare glaubte eine Gefahr für sich zu sehen, wenn er sich so benahm. Kurz entschlossen trat er auf den Juden zu.

»Wer sind Sie?«

Das listige Lächeln machte einem erschrockenen Ausdruck Platz, demütig knickte der Kaftanträger zusammen.

»Nu, wer werd ich ßain? Ich bin ä armer Jied.«

Er hatte es Englisch gesagt, aber gemauschelt wurde doch.

»Kennen Sie mich?«

»Nain, Herr, ich hab nix die Ehre ßu kennen Eier graußmächtige Gnaden.«

»Ich muss Sie doch schon einmal gesehen haben!«

»Werd ich ßu würdigen wissen de hohe Ehr, wenn Eier graußmächtige Gnaden mich armen Jied schon mal gesehen haben, aber ich waiß nix davon.«

»Wie heißen Sie?«

»Nu, wie werd ich haißen? Werd ich haißen Domingo Lazare.«

Der herrliche Jüngling, der dies hörte, bekam doch gleich durch den ganzen Körper einen Hexenschuss. Wenn er sich auch nicht das Geringste davon merken ließ.

»Wie heißen Sie?«, fragte er nochmals ganz ruhig. als habe er den Namen nicht richtig verstanden oder als ob er beim Klange dieses Namens über eine Erinnerung nachgrübele.

»Domingo Lazare aus Kiew, bitte Eier Gnaden.«

Und der Jude brachte unter seinem Kaftan einen entsetzlich schmutzigen Papierlappen zum Vorschein, der sich dann als Auslandspass entpuppte. Obgleich man den für Amerika gar nicht nötig hat.

Señor Lazare, wie wir ihn zum Unterschied von dem Juden nach wie vor nennen wollen, hatte ihn genommen.

Es stimmte. Domingo Lazare, gebürtig aus Kiew. Getreidehändler.

Der Pass war von der Behörde in Kiew ausgestellt und mehrmals von den russischen Konsulaten in London, New York, Philadelphia und New Orleans beglaubigt worden.

»Ist Domingo nicht ein spanischer Name?«, fragte Señor Lazare, nur interessiert, nichts weiter. »Wie kommen Sie denn zu dem?«

»Wail meine Eltern gewesen sind spanische Jieden, die ausgewandert sind nach Russland, wovon ich aber nix mehr waiß. Da haben sie mir noch gegeben den spanischen Namen.«

»So so.«

Ruhig gab der junge Mann den Pass zurück.

Dass der Jude jetzt wieder so listig zu lächeln begann, behagte ihm freilich gar nicht. Es wurde ihm überhaupt immer unbehaglicher zumute.

»Sie kennen mich also nicht? Haben mich noch nie gesehen?«

»Der Gott mainer Väter soll mer Steine wachsen lassen im Bauch und aus meinem Grabe heraus maine Zunge un daneben de Augen, wenn ich nix spreche die Wahrheit, dass ich nix waiß, schon gesehen ßu haben Eier Gnaden, was doch ßain muss ä graußmächtiger Mann, was ma uix so laicht wieder vergisst.«

»Mir war, als stiege beim Anblick dieses Mannes eine Erinnerung in mir empor!«, wandte sich Señor Lazare an den Kapitän.

»Möglich, dass Sie ihn schon einmal gesehen haben«, entgegnete dieser, und dann erhob er seine Stimme:

»Kennt sonst jemand diesen Herrn, hat ihn schon einmal jemand gesehen?«

Überall nur ein Kopfschütteln.

»Also nicht. Hat jemand von Euch einen Wunsch der eine Beschwerde vorzubringen?«

Wieder keine Antwort.

Die vier Herren wandten sich dem Ausgange zu.

Der alte Jude fühlte sich verpflichtet, noch einen Abschiedsgruß nachzurufen.

»Drrr graußmächtige Gott schenke Eier Gnaden langes Leben — sollst De errsticken im aigenen Fett![3]«

[3] Die vorstehende und nachfolgende klischeebeladene Schilderung eines sogenannten »Ostjuden« reiht sich ein in die bei manchen populären schriftstellern des 19. Jahrhunderts verbreitete Praxis. So schilderte z. B. Jules Verne in seinem Roman Hector Servadac (1877; dt. EA 1878 als Reise durch die Sonnenwelt) den Juden Hakhabut unter Verwendung zahlreicher antijüdischer Klischees. Offenbar haben solche Schilderungen beim angesprochenen Publikum keinen Anstoß erregt, sind vielleicht sogar erwartet und gutgeheißen worden...

— • —

47. Kapitel
Das Instrument auf dem ein Fremder spielt

Originalseiten 1128 — 1158

Señor Lazare befand sich wieder in seinem elektrisch erleuchteten Salon. In was für einer Aufregung er sich befand, hätte ihm kein heimlicher Beobachter angemerkt. Denn er war dem Charakter nach doch immer noch der alte Jesuitenpater, in allen Erdzonen ausgeröstet und durchgekältet. Jetzt hatte er, um angestrengt nachdenken zu können, wieder das größte Bedürfnis, die Fingerspitzen zusammenzutippen, aber er tat es nicht, weil er eben immer bewusst war, in einer fremden Hülle zu stecken.

War das ein Zufall?

Dass der alte Jude bis auf Kopfhaar und Bart ihm so überraschend ähnlich sah, wie ein Ei dem anderen, und dass er auch noch Domingo Lazare hieß?

Dass er sich gerade hier an Bord befand?

Nein, an solch einen Zufall konnte der Pater nicht glauben.

Er wusste einfach nicht, was er von alledem denken sollte.

Er ahnte nur, dass sich hier irgend etwas Ungeheuerliches für ihn vorbereitete.

»Well, ich bin damit einverstanden, wenn es nur recht interessant, recht abenteuerlich ist.«

Das waren die Schlussgedanken dieses merkwürdigen Mannes, eines Napoleoncharakters in Jesuitenausgabe.

Ob nicht auch eine gute Dosis Abenteuerlust dabei ist, die manchen frommen Mann dazu treibt, als Missionar unter die Heiden zu gehen, um den größten Anfechtungen, Strapazen und vielleicht auch Martern zu trotzen? Wir wollen es nicht weiter erwägen. Aber es dürfte schon so sein. Es ist manchmal viel, viel schwerer, zu Hause eine Familie durchzubringen, es sind damit oftmals viel größere seelische und sogar auch körperliche Leiden verbunden, als sich draußen in den Wildnissen mit Heiden herumzubalgen.

Der Pater brach plötzlich alle seine Grübeleien ab.

Ein natürlicher Trieb machte sich bei ihm bemerkbar, der stärker war als alles andere.

Er fühlte sich sehr durstig.

Hatte er denn überhaupt hier an Bord schon etwas getrunken?

Der Pater war ein Freund von einem guten Tropfen. Vorhin die Mahlzeit war ihm ohne jedes Getränk serviert worden, der Steward hatte nicht deswegen gefragt, hatte stillschweigend eine entsprechende Bestellung erwartet, die nicht gekommen war.

Durst hatte der Pater wohl nicht gehabt, aber wie war es möglich gewesen, dass er nicht an ein Glas Wein gedacht hatte?

Nun, der Jüngling, sein Vorgänger, war vielleicht Abstinenzler gewesen, und das machte sich doch auch noch bei dem Nachfolger seiner Körperhülle bemerkbar.

Jetzt aber hatte der Pater keine Lust, auch darin seinem Vorgänger nachzufolgen, etwa seinen Durst dort mit der Füllung der Wasserflasche zu befriedigen.

Er klingelte dem Steward, dieser kam.

»Was haben Sie für Weine?«

Der dienstbare Geist hatte die umfangreiche Weinkarte gleich einstecken, der namenlose Passagier, der vorläufig noch gar keine Aussicht hatte, Fahrt und Beköstigung in bar zu bezahlen, wählte eine Flasche Château Lafitte zu fünfzehn Mark oder vier Dollar. Schiffspreise!

»Wünschen der Herr Wasser dazu?«

Ja, für alle Fälle eine Flasche Apollinaris, schließlich auch nichts weiter als Wasser mit eingepresster Kohlensäure, aber für den schönen Namen auf diesem Dampfer drei Mark fünfzig kostend.

Dieser Pater wusste, was leben heißt.

»Und bringen Sie mir gleich noch zwei oder drei gute Zigarren mit, natürlich echte.«

Dass Señor Lazare rauchte, haben wir früher schon gesehen. Und jetzt plötzlich fühlte er starken Appetit nach einer Zigarre.

Der Steward brachte das Gewünschte, entkorkte die Flasche erst hier, öffnete die Apollinaris, während Señor Lazare schon ein Glas Wein einschenkte.

Jetzt konnte er doch nicht ein Schmunzeln unterdrücken, als er das Glas an die Lippen oder erst an die Nase führte. Der Schlossabzug von Lafitte duftete gar zu lieblich.

Und dann sprudelte er den ersten Schluck mit Entsetzen von sich, spuckte immer noch hinterher.

»Verflucht, das ist ja Schwefelsäure!«

»Herr, das ist der edelste Château Lafitte!«, rief der Steward, der ein paar Tropfen abbekommen hatte, erschrocken.

»Nein, das ist die reine Schwefelsäure!«

Und nicht etwa, dass er das nur so gesagt hatte, wie man wohl einmal einen recht schlechten, sauren Wein mit Schwefelsäure vergleicht, sondern er glaubte wirklich seinen Mund und Gaumen und Zunge von einer starken Säure verbrannt, er spuckte noch immer.

Was ist denn das nur?! Kosten Sie doch mal, wenn Sie's wagen!«

Aus dem Glase des Passagiers zu trinken wagte der Steward nicht, er schenkte sich aber, nochmals dazu aufgefordert, etwas in das Wasserglas, kostete und schnalzte mit der Zunge.

»Wohl etwas feurig — und dennoch mild wie Öl!«, lautete dann das Urteil des Stewards, der mit seiner Sippschaft ja manche zerbrochene Flasche auf die Havarieunkosten schrieb, deren Inhalt vorher in seinen und seiner Genossen Magen gelaufen war.

»Dann liegt's an meinem Glase! Da ist irgend etwas Scharfes drin gewesen!«

»Nicht möglich! Das Glas war ganz sauber.«

»Nicht möglich, wenn ich's behaupte?!«, sagte der Passagier scharf. »Jetzt kosten Sie einmal hier aus meinem Glase, ich fordere es von Ihnen!«

Diesem Befehle musste der Steward nachkommen.

»Der Wein ist doch ganz gut — sehr gut!«, lautete dann aber auch sein aus diesem Glase geschöpftes Urteil.

Jetzt griff der Pater nach dem Wasserglase und fing auch hier nach dem ersten Schlückchen gleich zu sprudeln und zu spucken an.

»Pfui Teufel, was ist denn das nur für ein Gesöff, das brennt doch wie Höllenstein!«, rief er wirklich ganz entsetzt, als habe er sich den Mund tatsächlich verbrannt.

»Ich kann nichts an dem Weine aussetzen!«, wurde der Steward, doch kein so gewöhnlicher Restaurationskellner, jetzt sehr kühl.

»Na, was haben Sie denn da für einen eigentümlichen Gaumen, wohl den eines Kamels, das die härtesten und spitzesten Dornen frisst, dass Sie das nicht bemerken?!«

Es war immer der Pater, der sprach. Gleichgültig ob vielleicht sein Vorgänger, in dessen Körperhülle er steckte, jähzornig gewesen war und solche Ausdrücke gebraucht hatte.

Señor Lazare kannte ja eigentlich solch eine Heftigkeit sonst gar nicht, und wenn er ähnliche Ausdrücke vielleicht auch manchmal im Stillen dachte, so sprach er sie doch niemals aus.

Er hatte sich eben tatsächlich den Mund und den ganzen Gaumen fürchterlich verbrannt, mit einer ätzenden Säure, es muss wiederholt werden. Über den Schreck hatte er ganz die Besinnung und daher seinen gewöhnlichem Charakter verloren.

»Gestatten Sie, dass ich den ersten Zahlmeister rufe!«, sagte der Steward kühl wie zuvor, wartete nicht erst die Erlaubnis dazu ab, klingelte und sprach schon am Telefon.

Der erste Zahlmeister war überraschend schnell zur Stelle.

Der Fall wurde ihm vorgetragen. Er trank aus einem besonderen Glase, er trank gewissenhaft aus den beiden anderen.

»Der Wein ist tadellos!«, lautete dann sein Urteil.

»Das begreife ich nicht«, murmelte Señor Lazare, dessen Heftigkeit verraucht war, »mir brennt er richtig wie Höllenstein im Munde.«

Er kostete nochmals, vermochte aber keinen Tropfen hinter zu schlucken, musste gleich wieder sprudeln und spucken.

»Das ist nicht etwa so ein Getue von mir!«

»Ich glaube es Ihnen schon. Sind Sie vielleicht kein Rotweintrinker gewesen? Ich habe Personen kennen gelernt, die den Tanningeschmack absolut nicht vertragen konnten.«

»Ich... weiß es nicht!«, sagte Señor Lazare noch rechtzeitig, als er schon hatte sagen wollen, dass er sonst nur Rotwein trinke.

»Versuchen wir es einmal mit Weißwein.«

Die Flasche Rheinwein kam, ein hochfeiner Wein.

Señor Lazare glaubte jetzt erst recht, extra gepfefferte Schwefelsäure in den Mund zu bekommen, rote rauchende.

Aber er machte das Experiment weiter, verdünnte den Wein, goss nur ein wenig in ein großes Glas Wasser — da konnte er die Mischung wohl trinken, wenn er auch schon den höchst unangenehmen Geschmack empfand — aber hinterher glaubte er, in seinem Magen bräche ein feuerspeiender Vulkan aus. Er krümmte sich wirklich vor brennenden Schmerzen im Leibe.

Ehe er sich ausgekrümmt hatte, kam der herbeigerufene Arzt, der aber nicht mehr zu helfen brauchte, die Schmerzen gingen schnell vorüber.

»Sie sind nicht nur Abstinenzler, sondern Sie haben auch einen eigentümlichen Widerwillen gegen Alkohol!«, meinte dann der Arzt. »Er bereitet Ihnen geradezu Schmerzen, ich habe einige Personen kennen gelernt, bei denen das der Fall war, zumal bei — bei... sonst sehr kräftigen Personen findet man das häufig.«

... zumal bei notorischen Säufern, die irgendwie von der Alkoholsucht kuriert worden sind, hatte er sagen wollen, es aber noch glücklich unterdrückt. Bei denen dann allerdings auch der verdünnteste Alkohol später wie Feuer im Magen brennt. Manchmal oder sogar meistenteils freilich auch nicht.

Die drei Untersuchungsrichter entfernten sich, Señor Lazare war mit seiner Flasche Apollinaris allein. Den Höllenwein hatte der Steward gleich wieder mitnehmen müssen. Er war ganz kopfscheu geworden.

»Was für einen seltsamen Geschmack hat dieser Mann gehabt? Und kann mir das nicht jetzt ganz gleichgültig sein? Kann ich auf seinem Instrumente nicht Melodien spielen, welche ich will?«

Er meinte also, wie schon einmal, das Gehirn, dessen sich nach dem Glauben der Okkultisten, der er war, die Seele wie eines Instrumentes bedient, um darauf Gedanken zu erzeugen.

»Denn auch der Geschmack«, fuhr Lazare in seinem Selbstgespräch fort, »ist doch nur eine Art von Gedankenerzeugung, ein Nervenreiz, immer wieder erst durch die Seele auf das Gehirn hervorgebracht. Mein Vorgänger zeigt zwar einen außerordentlich starken Appetit, den ich früher nicht besessen, aber das ist wieder etwas ganz anderes, das hängt mit der Beschaffenheit seines Magens zusammen, den ich mit übernommen habe. Ich gehöre zu den wenigen Menschen, die keinen Kaviar essen können, ich verabscheue das traurige Zeug, es wäre doch seltsam, wenn auch jener denselben Widerwillen gehabt hätte, und bei mir besteht er noch, ich brauche es gar nicht zu versuchen, mir graut davor, ich brauche nur daran zu denken. Wie kommt es nun, dass ich jetzt keinen Wein trinken kann?«

Er spülte das letzte Brennen mit Apollinaris und anderem Wasser hinter.

Als es ihm endlich gelungen war, wollte er sich eine Zigarre anbrennen, tat es auch.

Aber wieder sollte ihm dieser Genuss verleidet werden. Er sah der Zigarre gleich an, dass es eine echte Havanna war, er roch den feinen Duft, aber schon nach den ersten Zügen wäre es ihm bald ergangen wie einem Schulbuben, der die ersten Rauchstudien macht, es wurde ihm ganz übel, und nicht nur das, sondern der Rauch bereitete ihm direkte Schmerzen im Kehlkopf.

»O jemineh, was ist das für ein herrlicher Jüngling gewesen, in dessen Leib da meine Seele gekrochen ist?«, wehklagte er. »Auch auf eine Zigarre muss ich verzichten? Ja, wie ist das aber möglich? Kann ich mit meinem Geschmack nicht machen, was ich will?«

Nein, er konnte es eben nicht, er konnte die Zigarre nicht weiter rauchen, es war ihm einfach nicht möglich, selbst wenn sie ihm Genuss bereitet hätte, was aber gar nicht der Fall war.

Dann fiel ihm wieder der Jude aus Kiew mit seinem eigenen Namen ein.

Ehe er aber zu einem Entschlusse kam, wie er den Mann einmal unter vier Augen sprechen konnte, was gar nicht so einfach war, hierher in seinen Salon konnte er den insektenreichen Juden nicht zitieren, fühlte er sich plötzlich recht müde.

Es war ihm nicht anders, als ob ihm die Augen zufallen wollten.

»Was ist das nun wieder, diese plötzlich eintretende Müdigkeit, von der ich sonst gar nichts weiß? Der Schluck Wein, der versehentlich in meinen Magen geraten und mir solche infame Schmerzen bereitet hat? War die Zigarre mit einem Betäubungsmittel imprägniert?«

Ehe er diesen Gedanken noch richtig ausgedacht, hatte er sich schon instinktiv auf den Diwan ausgestreckt und war auch sofort eingeschlafen.

Als er erwachte, fühlte er sich wieder ganz wohl.

Sein erster Blick fiel auf die elektrische Wanduhr, die jeden Mittag, hauptsächlich wegen der Mahlzeiten, nach Ortszeit reguliert wurde.

Es war gleich halb neun, danach hatte er zwei Stunden geschlafen.

Wie er sich erhob, flatterte von seiner Brust herab etwas Weißes an den Boden.

Es war ein Bogen Papier, mit einer schnörkligen Handschrift bedeckt; die auf englisch mit Tinte geschriebenen Worte lauteten:


Was fällt Ihnen ein, alkoholische Getränke genießen und rauchen zu wollen?

Glauben Sie, durch Ihre Rettung aus Todesgefahr habe sich an unserem Verhältnis irgend etwas geändert? Wir sind es doch erst gewesen, die Ihre Rettung ermöglicht haben, sonst wären Sie jetzt ein toter Mann und Futter für die Fische. Wir >verbieten Ihnen, mit Domingo Lazare zu sprechen. Sie kennen ihn nicht. Weitere Instruktionen werden folgen. Auf Befehl!


So lauteten die Zeilen, und darunter war eine verschlungene Figur gemalt, die ungefähr einer Schlange glich, die sich in den Schwanz biss, in der Mitte dieses Kreises ein Totenkopf, zu dessen Kennzeichnung ja nur wenige Striche genügen.

Wer hatte ihm dieses Schreiben während des Schlafes auf die Brust gelegt?

Die Türen konnten durch Drücken auf einen elektrischen Knopf von innen sämtlich geschlossen werden. Señor Lazare hatte es nicht getan.

Das Papier war von jener Sorte, die dort auf den Schreibtisch lag, aber keiner der Briefbogen mit Schiffsstempel.

Das war das erste, was der Pater konstatierte.

Doch dies war schließlich Nebensache.

»Mein Vorgänger scheint einer geheimen Gesellschaft angehört zu haben, der er unbedingten Gehorsam schuldig war.

Hierauf dürfte auch die Tätowierung am linken Oberarm deuten.

Zweifellos gehört auch der Jude mit meinem Namen der Gesellschaft an.

Der aber wird wohl nicht hier hereingekommen sein, um mir den Zettel auf die Brust zu legen.

Es wird ein Steward gewesen sein, der dann natürlich gleichfalls Mitglied ist.

Meine Erinnerungslosigkeit hält man nur für eine erkünstelte Sache.

Von der Seelenwanderung des Señor Domingo Lazare weiß man natürlich nichts, davon sprechen ja auch hier diese Zeilen.

Oder weiß man doch davon?

Denn wie zum Teufel kann denn sonst dieser Jude meinen Namen führen?

Ja, wie ist denn das aber arrangiert worden, dass das alles zusammen klappt?«

Das war das Resümee des Paters.

Vor allen Dingen aber war er entschlossen, dem Verbote zu trotzen.

Der Wunsch, zu erfahren, wer er sei, wie das alles zusammenhing, das war stärker als jede Vorsicht, und das konnte ihm doch wohl am ersten jener Jude sagen. Wenigstens wusste er keinen zweiten, an den er sich wenden solle.

Er klingelte dem Steward.

»Wissen Sie, dass ich vorhin im Zwischendeck mit einem Juden namens Domingo Lazare gesprochen habe?«

»Ich habe davon zu hören bekommen, Herr.«

»Kennen Sie den Mann?«

»Er ist nicht unbekannt. Dieses Schiff, den ›Albert‹, hat er noch nicht benutzt, aber es sind einige Leute hier, einige Matrosen und auch ein Bootsmann, die früher auf dem ›Wilhelm‹ gefahren sind, derselben Reederei gehörend, und auf dem ›Wilhelm‹ ist dieser russische Getreidehändler schon zweimal nach New Orleans gefahren.«

»Sonst wissen Sie nichts von ihm?«

»Nein, Herr, gar nichts weiter.«

»Sie haben doch erfahren, dass ich glaube, diesen alten Juden schon einmal gesehen zu haben «

»Ja, Herr, es wurde darüber gesprochen«, war die ehrliche Antwort.

»Ich möchte den Mann doch noch einmal sprechen, unter vier Augen. Wollen Sie es bewirken, dass er einmal zu mir kommt. Gleich jetzt.«

Der Steward sah sich in dem höchst luxuriösen Salon um. »Hier wollen Sie ihn empfangen...?«, erklang es zögernd.

»Nicht gerade in diesem Salon — es kann irgend ein anderer Raum sein, ohne Möbel — ganz nackt — ich weiß schon warum.«

»Vielleicht im Badezimmer, wenn der Herr damit einverstanden ist.«

»Gewiss! Das bleibt sich ja ganz gleichgültig!«

»Ich werde es besorgen.«

Señor Lazare glaubte bestimmt annehmen zu dürfen, dass sein Doppelgänger nicht kommen würde. Eben weil er mit zu jener geheimen Gesellschaft gehörte, von der das Verbot ausging.

Aber er kam trotzdem.

»Der Jude befindet sich bereits in Ihrem Badezimmer, in dem es nichts zu stehlen gibt!«, meldete der Steward sehr bald.

Señor Lazare begab sich hinüber in das schon erleuchtete Badezimmer, der alte Jude war die gedrückte Demütigkeit selber.

»Sie kennen mich doch!«

»Drr Gott mainer Väter soll mich auffressen lassen von die Würmer bei lebendgem Laibe, wenn ich Eier Gnaden schon mal gesehen hab!«

»Geben Sie doch die Verstellung auf!«

»Ich bin ä armer Jied un waiß nix von Verstellung.«

»Wir gehören doch ein und derselben geheimen Verbrüderung an.«

Verständnislos starrte Señor Lazares früheres Ebenbild den Herrn an.

»Bin ich denn meschugge, dass Eier Gnaden sprechen von Verbrüderung mit mir armen Jied?«

»Ich habe tatsächlich die Erinnerung an meine Person, an mein bisheriges Leben verloren.«

Es hatte keinen Zweck.

Der alte Jude verriet nicht durch das geringste Zeichen, durch kein Zucken der Augenlider, dass er irgend welches Verständnis für alles dies habe.

Señor Lazare entließ seinen Doppelgänger, schon bereuend, dass er von einer geheimen Gesellschaft gesprochen habe.

Doch Kopfschmerzen machte er sich hierüber weiter nicht.

Er verzehrte die ihm servierte Abendmahlzeit, wiederum so überaus gewählt und reichlich, mit dem besten Appetit, dachte jetzt allerdings sehnsüchtig an ein Glas Wein, bestellte aber lieber keinen, begnügte sich mit Wasser, er hatte von dem ersten Versuche noch genug, und dann konstatierte er, dass sein Vorgänger auch ein Virtuose im Schlafen gewesen sein musste.

Obgleich er doch vorhin erst zwei Stunden geschlafen hatte, fühlte er sich jetzt schon wieder müde, während er in seinem früheren Leben an permanenter Schlaflosigkeit gelitten hatte.

Als er erwachte, war es sieben Uhr, er hatte also neun Stunden des tiefsten Schlafes hinter sich.

Und auf der seidenen Decke seines Balancierbettes lag wiederum ein Bogen Papier mit derselben schnörkligen Handschrift:


Sie wollen uns also wieder einmal trotzen.

Diesmal erheucheln Sie eine Gedächtnisschwäche, als wüssten Sie gar nicht, wer Sie seien. Sie tun sogar, als wüssten Sie nicht, dass Sie die Schreiben sofort zu vernichten haben.

Aber mit solcher Gedächtnisschwäche dürfen Sie uns nicht kommen. Sie haben sich schon dadurch verraten, dass Sie den Lazare so gut kennen. Und dass Sie den nun trotz unseres ausdrücklichen Verbotes dennoch aushorchen wollten, das übersteigt alle Grenzen der Unverschämtheit!

Sie werden heute Mittag Punkt zwölf Uhr hierfür Ihre gewöhnliche Strafe bekommen, die Sie ja kennen.

Wenn Sie uns nun fernerhin nicht gehorchen und bei Ihrer vorgeblichen Gedächtnisschwäche bleiben, dann machen Sie sich auf noch etwas ganz anderes gefasst.


So lautete das Schreiben, und darunter wieder die sich in den Schwanz beißende Schlange, einen Totenschädel umringend.

Señor Lazare starrte und starrte das Blatt Papier an. Es wurde dadurch nichts daran geändert.

Er erhob sich, untersuchte sämtliche Kabinentüren.

Sie alle waren geschlossen, er hatte gestern Abend die elektrische Zuriegelung wirken lassen.

Also hatte der betreffende Steward, oder wer es sonst war, einen Nachschlüssel benutzt.

Heute Mittag Punkt zwölf Uhr sollte er für seine Subordination die gewöhnliche, ihm also bekannte Strafe erhalten.

Die Folge davon war, dass er das erste Frühstück vergaß.

Als er aber gegen neun Uhr telefonisch gefragt wurde, ob er nicht sein erstes Frühstück wünsche, fühlte er solchen Hunger, dass er es doch nachbestellte.

Aber schmecken wollte es ihm nicht, und das zweite Frühstück, das um elf Uhr serviert wurde, der »Lunch«, wieder aus mehreren warmen Gängen bestehend, bestellte er gleich direkt ab.

Der Appetit war ihm vergangen.

Er verließ seine Kabinen nicht.

Der große Zeiger näherte sich der zwölf, der kleine stand schon darauf.

Es war Punkt zwölf Uhr, und es ereignete sich nichts.

Es wurde um eins, um zwei, um drei und niemand hatte sich gemeldet, nichts war passiert.

»Es ist alles nur Humbug!«, sagte sich Señor Lazare und ließ sich das Diner wieder ausgezeichnet schmecken.

Die beiden Schreiben hatte er noch immer nicht vernichtet, hielt es jetzt auch nicht mehr für nötig.

Er schien aber doch die Gewohnheit seines Vorgängers angenommen zu haben, der jedes Mal um diese Zeit, nach dem englischen Dinner, sein Schläfchen gemacht hatte. Er wurde wieder sehr müde, legte sich auf den Diwan, schlief ein.

Diesmal hatte er nur eine halbe Stunde geschlafen.

Und wieder lag auf seiner Brust ein beschriebener Zettel.


Wir haben Sie noch einmal vor Ihrer Strafe verschont, in der Erwartung, dass Sie uns nun keinen Widerstand mehr leisten werden.

Jetzt werfen Sie sofort Ihre beiden Ringe, Busennadel und Uhr samt Kette durch Ihr Kabinenfenster ins Meer. Diese Sachen könnten sonst in New Orleans an Ihnen zum Verräter werden.

Dann nehmen Sie ein Bad, ohne Ihre Kabinentüren verschlossen zu haben, und nach dem Bade schlagen Sie Lärm, Sie hätten Ihre Wertsachen nebenan in der Schlafkabine auf den Tisch gelegt, während Ihres Bades wären sie Ihnen von dort gestohlen worden. Auf Befehl!


Darunter das gewöhnliche Signum.

Außerdem aber auch noch an einer Ecke ein Fingerabdruck von Tinte, so schwach, dass man die Hautriefen erkennen konnte.

Und was war das?

Señor Lazares Mittelfinger, Zeigefinger und Daumen der rechten Hand zeigten Tintenspuren!

Und diese hatte er vor dem Schlafengehen nicht gehabt, er hatte nicht geschrieben, keinen Federhalter in die Hand genommen!

Er konnte nur staunen, bis er zu einem Schlusse kam, der ihn aber nicht zu beruhigen vermochte:

»Das habe ich selbst geschrieben!

Ich bin während des Schlafens unbewusst aufgestanden, habe mich dort an den Schreibtisch gesetzt und diese Zeilen geschrieben.

Ich bin ein Nacht- oder Schlafwandler geworden! Mein Vorgänger ist einer gewesen, nun habe ich auch diese Erbschaft mit übernommen, wenn dies auch nicht in meine Theorie passt, dass das Gehirn mit dem ganzen Nervensystem nur ein totes Instrument ist, auf dem die Seele spielt.

Ist es aber richtig, dass ich jetzt nachtwandlerisch veranlagt bin, dann erklärt es sich auch, dass ich mit einer mir ganz fremden Handschrift schreibe.

Jedenfalls mit der meines Vorgängers.«

Ja, diese Erklärung war jedenfalls ganz richtig.

Zumal er sich schnell überzeugte, dass einer der Federhalter dort, der recht handbereit lag, mit Tinte stark besudelt war, und dann vor allen Dingen, dass es wirklich sein eigener Fingerabdruck war, den er auf dem Papier zurückgelassen hatte.

Beruhigen konnte ihn diese »Erklärung« natürlich nicht.

Weshalb schrieb er diese merkwürdigen Befehle und Warnungen und Drohungen nieder?

Veranlasste ihn hierzu die Seele seines toten Vorgängers, der krankhaft veranlagt gewesen war, sich mit solchen Hirngespinsten herumgeplagt hatte?

Oder wer sonst?

Die Annahme des ersteren Falles war wohl das Richtige, wobei man ja nicht gerade an eine Fernwirkung aus dem Schattenreiche zu glauben brauchte.

Das Instrument, welches Señor Lazare in der alten Wohnung mit übernommen hatte, das Gehirn, war eben doch nicht so ganz selbstständig unter seinen eigenen Händen geworden, es spielte noch immer die alten Töne.

Also eine krankhafte Veranlagung seines Vorgängers, der sich mit solchen Hirngespinsten herumgeplagt hatte.

Wie gesagt, beruhigen konnte das Señor Lazare ja nicht, nun fiel es ihm aber erst recht nicht ein, dem Befehle nachzukommen und die Sachen über Bord zu werfen.

Dazu war er überhaupt viel zu habgierig. Der Diamantring allein repräsentierte ein ansehnliches Vermögen, nicht minder kostbar waren die brillantbesetzte Uhr und die in allen Farben funkelnde Busennadel.

»Weiter fehlte ja nichts, als wegen solcher Hirngespinste diese Pretiosen ins Meer zu werfen! Wie aber entledige ich mich nun dieser krankhaften Neigung zum Nachtwandeln? Und ob es überhaupt so ist, ob ich mich nicht irre?«

Mit solchen Grübeleien ging der Rest des Nachmittags hin, der Pater speiste zur Nacht und traf sein Vorbereitungen zur genauen Prüfung, ob an der Sache wirklich etwas war oder nicht.

Er verschloss die Kabinentüren und brachte an jeder ein geheimes Zeichen an, woraus er sofort gemerkt haben würde, falls sie von draußen geöffnet worden wäre.

Dann zählte er die auf dem Schreibtisch liegenden Papierbogen und ordnete sie in besonderer Weise, brachte ebenfalls geheime Merkmale an.

Von dem Nachtisch hatte er etwas Fruchtsaft zurückbehalten. Mit dieser klebrigen, nicht so leicht eintrocknenden Flüssigkeit rieb er die beiden vorhandenen Federhalter ein, desgleichen brachte er davon etwas auf den Polsterstuhl, der vor dem Schreibtisch festgeschraubt war, außerdem befestigte er auch noch auf diesem Polsterstuhl eine tüchtige Nadel, mit der Spitze nach oben.

»Wenn ich mich auf diese Nadel setze, werde ich wohl erwachen.«

So brachte er noch verschiedene andere Erkennungszeichen an, falls er selbst dies alles ausführte, wusch sich und legte sich zu Bett, auch noch seine linke Hand mit besonderen Knoten an das Bettgeländer bindend.

Er schlief ein und erwachte erst, als der Morgen zum Kabinenfenster hereingraute, was gegen sieben Uhr der Fall war.

Richtig, seine linke Hand war von dem Stricke befreit!

Und da lag abermals ein beschriebener Zettel auf der Bettdecke!

Ehe er aber die neue Mitteilung las, musste er sich vergewissern, ob er sie nicht selbst geschrieben habe, das war ihm jetzt das Wichtigste.

Jawohl, seine Finger waren ganz klebrig!

Außerdem auch sein Bett in der Mitte, dort, wo er gelegen hatte.

Das sagte schon genug!

Also er hatte wirklich dort auf dem Stuhle gesessen.

Wie war es nun mit der Nadel?

Die lag auf dem Boden. Er hatte sie vorher aus dem Stuhlpolster gezogen, ehe er sich darauf gesetzt, entweder auch im nachtwandelnden Zustande der schmerzvollen Gefahr bewusst, die er sich selbst arrangiert hatte, oder eben die Nadel bemerkend.

Und schließlich fehlte, nun ganz selbstverständlich, von dem Stapel auch ein Papierbogen.

Und was hatte er nun selbst geschrieben, immer wieder mit jener schnörkligen Handschrift, die ihm sonst ganz fremd war?


Also Sie beharren bei Ihrem Ungehorsam!

Sie haben die Pretiosen nicht ins Meer geworfen, haben es noch nicht einmal für nötig befunden, unsere Schreiben zu vernichten.

Sie simulieren Ihre Gedächtnisschwäche so weit, dass Sie jetzt tun, als wüssten Sie nicht, dass Sie selbst es sind, der diese Mitteilungen im somnambulen Zustande schreibt, natürlich erst auf unsere Veranlassung.

Wohl, wir werden einmal den Sporn an Ihr Gedächtnis setzen. Jetzt entgehen Sie Ihrer Strafe nicht mehr.

Die erste werden Sie heute früh Punkt acht Uhr erhalten. Folgen Sie dann nicht gleich unseren Befehlen, lassen also die Pretiosen verschwinden und tun weiter, wie wir Ihnen geboten haben, so erwarten Sie die nächste Strafe Punkt zehn Uhr heute Morgen, also zwei Stunden später.

Und zwar noch eine ganz, ganz andere Strafe, die fürchterlich für Sie werden soll. Auf Befehl.


Und darunter die Schlange mit dem Totenkopf.

Und dann noch einige Abdrücke von Sirupsfingern.

Der Pater lachte bitter auf.

Die Drohungen verachtete er.

Er wusste ja ganz genau, was hier vorlag, nun war jeder Zweifel gelöst.

Ein trotz aller körperlichen Gesundheit somnambul veranlagter junger Mensch, der sich mit Hirngespinsten herumquält, sich mit Wollust ins eigene Fleisch schneidet. Denn das brauchen nicht nur hysterische Mädchen und Frauen zu sein, die so etwas tun, das kommt bei den robustesten Männern vor, die eben nur so gesund erscheinen. Im Grunde genommen ist ihr Nervensystem dennoch schon zerstört, die Katastrophe schiebt sich nur noch hinaus.

Und der Pater war der Erbe dieses hysterischen Kerls geworden.

.Wie nun sich hiervon wieder befreien?

Zurück in seinen alten Leib, der, wenn sonst nichts schief gegangen war, jetzt noch in der Höhle des Küstengebirges der arabischen Wüste lag?

Dazu musste er wieder Selbstmord begehen.

Aber das war nicht so einfach.

Erstens hatte der Pater nun schon bemerkt, dass die Sache nicht so klappte, wie jener verfluchte Rabbi in seinem höllischen Rezepte angegeben hatte.

Und dann genügte es nicht, dass er sich einfach vom Leben zum Tode beförderte — dann wäre er eben tot gewesen — das musste in ganz besonderer Weise geschehen, dazu brauchte er die verschiedensten Ingredienzien, die zwar in jeder Stadt, sicher aber nicht hier an Bord zu haben waren, mochte die Schiffsapotheke auch noch so gut eingerichtet sein.

»Na, frühstücken wir erst einmal.«

Er bestellte es telefonisch, es wurde ihm gebracht, Tee, verschiedene Brotarten, Butter, Honig, Marmeladen und dergleichen. An Deck wurde während des ganzen Vormittags, wie das Programm angab, auch noch Bouillon mit Pastetchen und belegten Brötchen serviert, in den Tropen Fruchteis mit Waffeln, man konnte dies alles aber auch in die Gesellschaftszimmer oder in die eigene Kabine beordern.

Nach einer halben Stunde war das Frühstück beendet.

Der große Zeiger der elektrischen Wanduhr sprang minutenweise auf die zwölf zu, in zwei Sprüngen hatte er sie erreicht, Señor Lazare beobachtete.

Nun bloß noch ein einziger Sprung, und diese letzte Minute war auch schon stark angerissen.

»Jetzt fehlte nur, dass der Jüngling durch seine hysterische Einbildungskraft auch noch wirklich...«

Sprung!

In demselben Augenblick fühlte Señor Lazare einen schneidenden Schmerz im Gehirn, er ging ihm durchs ganze Rückenmark, von dort durch Leib und Brust, in einer Weise, dass er sich gleich zu Boden warf, sich vor Schmerzen krümmend, winselnd und brüllend.

»Help me, help me!«

Der Steward musste gleich in der Nähe gewesen sein, er kam hereingestürzt, ihm nach der Zahlmeister, der Arzt wurde gerufen.

Am Boden krümmte sich der namenlose Passagier in noch namenloseren Schmerzen wie ein Wurm, winselnd und brüllend.

Es war mit ihm nichts anzufangen. Man wagt ihn nicht anzufassen, er schrie nur umso wahnsinniger.

Wenn man genau die Zeit beobachtet hätte, so würde man konstatiert haben, dass der Anfall genau eine Minute währte.

Dann plötzlich verstummte das Brüllen, nur noch ein leises Winseln, dann stand der Mann auf, mit schmerzverzerrten Zügen und großen Schweißtropfen auf der Stirn.

»Es ist vorbei!«, sagte er tief aufatmend, sogar wie mit glücklicher Zufriedenheit.

»Um Gottes willen, was war denn das?!«

»Ich... weiß es nicht.«

So viel Besinnung hatte er doch noch behalten, nichts zu verraten.

»Haben Sie denn solche Anfälle öfters?«

»Wie soll ich denn das wissen? Die Erinnerung ist mir dadurch noch nicht zurückgekehrt. Es waren furchtbare Schmerzen im Leibe. Ich glaube, die Orangenmarmelade ist vergiftet. Sie hatte auch einen so merkwürdigen Geschmack.«

Das hätte er zu seiner Entschuldigung, um für seine Schmerzen irgend einen Grund zu finden, nun freilich nicht anführen sollen.

»Was, die Marmelade wäre vergiftet!«, schrie der Zahlmeister.

Man bedenke nur, was es heißt, wenn so etwas auf einem Passagierschiffe vorkäme! Die ganze Reederei könnte ruiniert werden.

Der Zahlmeister gleich mit der verdächtigen Marmelade hinaus, der Steward nahm alles andere mit.

Der Arzt wollte sich noch mit dem Patienten beschäftigen, der aber jagte ihn selbst hinaus.

»Lassen Sie mich — ich fühle mich wieder ganz wohl — nur allein will ich sein, nur allein sein!«

Auch der Arzt entfernte sich, hinter ihm verschloss Señor Lazare die Tür, um wieder ächzend auf das Sofa zu sinken, sich die Schweißtropfen von der Stirn zu wischen.

»Das möchte ich nicht zum zweiten Male durchmachen, solche Schmerzen! Und wenn es auch nur auf hysterischer Einbildung beruht — Teufel noch einmal — in zwei Stunden soll's wieder kommen, und noch ganz anders...«

Das erste war, dass er in die Brusttasche griff, die drei Schreiben hervorzog, sie in kleine Stückchen zerriss und zum geöffneten Kabinenfenster hinausflattern ließ.

Und dann ließ er ohne weiteres Besinnen die beiden Ringe, die Busennadel und die Uhr nachfolgen, immer zum Fenster hinaus ins Meer hinein!

»So, es ist geschehen — Himmel und Hölle — und wenn auch alles nur auf meiner eigenen Einbildung beruht — jetzt passiert mir so etwas nicht wieder... was ist denn das?!«

Wieder überkam ihn plötzlich eine bleierne Müdigkeit.

Diesmal aber sollte er nicht wieder einschlafen.

Er kam in einen Zustand, von dem er sich gar keine Rechenschaft geben konnte.

Es war nicht anders, als ob er mit offenen Augen träume, wie eine fremde Macht zwang es ihn, aufzustehen und sich nach dem Schreibtisch zu begeben, sich zu setzen, einen Bogen Papier zurechtzurücken, nach der Feder zu greifen und sie ins Tintenfass zu tauchen, und ob er wollte oder nicht, er musste schreiben!

Dabei aber war er doch noch so bei Besinnung, da er selbst mit Staunen beobachtete, wie unter seiner sich auf dem Papier bewegenden Feder, die er manchmal eintauchte, eine ihm ganz fremde Handschrift entstand. Das heißt dieselbe schnörklige und krause, die schon die anderen Mitteilungen gezeigt hatten.


Jetzt sind wir zufrieden mit Ihnen.


Einem rätselhaften Zuge nachgebend, musste der Schreiber eine neue Zeile anfangen.


Dass wir nicht mit uns spaßen lassen, haben Sie ja nun wohl gemerkt.

Wir könnten Sie aus jeder Entfernung auch so beeinflussen, dass Sie ausführen müssen, was wir wollen, aber Sie sollen uns ganz freiwillig gehorchen lernen, wie Sie uns überhaupt geschworen haben, sonst können Sie niemals ein wirkliches Mitglied unserer geheimen Loge werden.

Also jetzt nehmen Sie sofort ein Bad, lassen dabei Ihre Korridortüren offen, und dann behaupten Sie, man hätte Ihnen Ihre Pretiosen gestohlen.

Weitere Instruktionen werden Ihnen zugehen.

Verlassen Sie sich darauf, Sie sind in unserem Schutze so sicher wie nirgends in der Welt aufgehoben, und die wunderbarsten Herrlichkeiten, von denen Sie sich noch gar nichts träumen lassen können, warten Ihrer noch.

Nur seien Sie uns unbedingt gehorsam.

Geben Sie doch endlich Ihren fortwährenden, törichten Widerstand auf.

Auf Befehl!


Und nach diesen in eigentümlich krauser Handschrift geschriebenen Worten musste der Pater, ob er wollte oder nicht, die Feder darunter ansetzen und eine Schlange malen, die sich in den Schwanz biss, und in diesen Ring hinein einen Totenkopf, nur mit wenigen Strichen, aber gerade deshalb so geschickt, wie es Señor Lazare sonst gar nicht fertig gebracht hätte.

Zwar hatte er dies alles beobachtet, staunend, sich aber dabei doch in einer Art Traumzustand befindend, was er nur erst richtig bemerkte, als er, wieder einem unwiderstehlichen Zuge folgend, den Federhalter fortgelegt hatte.

Da erst wachte er auf, kam zum richtigen Bewusstsein.

Und nun natürlich staunte er nur umso mehr, wie er die vor ihm liegende Schrift betrachtete. Welchem Staunen sich aber auch etwas Furcht und sogar Entsetzen beimischte.

Doch währte das nicht lange. Dann sprang er auf, um einige Gänge durch den Salon zu machen.

»Gut! Jetzt weiß ich, woran ich bin, und werde mich dreinschicken!

Ich bin das Mitglied irgend einer geheimen Gesellschaft oder einer Loge, wie sie sich nennt, bin ihr zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet, sonst aber noch nicht weiter in ihre Mysterien eingeweiht.

Auf irgend eine Art, jedenfalls aber ist dabei hypnotische Kraft im Spiele, werde ich aus der Ferne beeinflusst.

Man kann mich auch beobachten, aber von meiner eigentlichen Person und von meiner Seelenwanderung weiß man dort noch nichts.

Gut, ich werde fernerhin ganz gehorsam sein.

Wer weiß, was mir da noch für Überraschungen bevorstehen.

Ein besseres Abenteuer kann ich mir ja gar nicht wünschen.

Und bin ich dieses Spieles überdrüssig, so werde ich immer Mittel und Wege wissen, mich dieser geheimnisvollen Macht wieder zu entziehen.«

So sagte sich plötzlich ganz vergnügt der Pater, natürlich nur in Gedanken, und das auch nur blitzähnlich, dann wusste er durch seine geschulte Energie auch schnell wieder diese Gedanken in seinem Gehirn auszuwischen.

Das erste war, dass er auch dieses neue Schreiben vernichtete, diesmal verbrannte und die Asche zum Fenster hinausstreute.

Dann bereitete er ein Bad, brauchte niemanden erst zu rufen, ließ das Wasser selbst ein, alles andere war vorhanden.

Eine halbe Stunde später wurde heftig von dieser Salonkabine aus geklingelt. Der zugeteilte Steward kam angestürzt.

Nur halb angekleidet stand der namenlose Passagier in seinem Schlafzimmer, gebärdete sich ganz außer sich.

»Wo sind meine Pretiosen!«

»Was für Pretiosen?«

»Die ich hierher auf den Tisch gehegt hatte, als ich ein Bad nehmen wollte. Meine Ringe, meine Schlipsnadel, meine Uhr!«

»Sie sind weg?«

»Sie sind gestohlen worden!«

Dem Steward gab es gleich einen Ruck, er wurde wieder kalt wie Eis.

»Der Herr haben ein Bad genommen?«

»Ja, wie ich sage!«

»Haben der Herr denn innen die Ausgangstüren verschlossen gehabt?«

»Nein. Wer denkt denn immer an so etwas!«

Der Steward rief telefonisch den Zahlmeister, genau dieselbe Szene wiederholte sich.

»Ja, Herr«, sagte der Zahlmeister dann, »wenn Sie ein Bad nehmen und Sie legen Ihre Sachen hier in ein anderes Zimmer und Sie verschließen die Türen nicht — wir sind nicht verantwortlich dafür, wenn Ihnen etwas wegkommt.«

»Ich verlange meine Wertsachen von Ihnen zurück.«

»Reichen Sie Ihre Beschwerde und Forderung bei der Vertretung der Reederei in New Orleans ein, ich versichere Ihnen aber von vornherein, dass es ganz aussichtslos ist Sie kannten die Statuten, haben sie gelesen und unterschrieben, wenn auch nicht mit Ihrem Namen. Wir sind für nichts verantwortlich.«

Der Zahlmeister ging, statt seiner erschien sehr bald der Kapitän, und das hatte etwas zu bedeuten, wenn der die Kabine eines Passagiers betrat, noch dazu unangemeldet.

Der an sich schon sehr gebräunte Mann sah denn auch rot wie ein Puterhahn aus.

»Nun hört aber die Gemütlichkeit auf!

Erst kommen Sie zu mir als Toter an Bord und werden wieder lebendig!

Dann wissen Sie nicht, wer Sie sind und wie Sie heißen!

Dann nennen Sie meinen edlen Château Lafitte gemeine Schwefelsäure!

Dann sagen Sie, unsere Marmelade wäre vergiftet!

Und jetzt behaupten Sie auch noch, Ihnen wären Ihre Sachen gestohlen worden.

Wissen Sie, was Sie sind?

Ich kann Sie für keinen unglücklichen, bedauernswerten Menschen halten, der tatsächlich alle Erinnerung verloren hat.

Sie spielen hier irgend eine abgefeimte Komödie, wozu Sie einen ganz bestimmten Grund haben.

Denn wahnsinnig sind Sie gewiss nicht.

Weshalb haben Sie vorhin Ihre Uhr und die anderen Sachen über Bord geworfen?«

Señor Lazare erstarrte vor Schreck.

»Was, ich...«

»Jawohl, Sie! Zwei meiner Matrosen standen vorhin an der Bordwand und blickten hinab. Da sahen sie, wie durch ein Bullauge erst Papierschnitzel geflogen kamen, dann eine goldene Uhr an kurzer Kette, dann noch andere glitzernde Dingerchen, darunter jedenfalls ein Ring.

Die beiden Matrosen wunderten sich darüber, erzählten es anderen, dass da ein Passagier Schmucksachen über Bord geworfen haben müsse, machten aber noch keine Meldung davon, bis sich jetzt die Kunde verbreitete, einem Passagiere, Ihnen, dem namenlosen Ertrunkenen, wären Uhr und Kette und Busennadel gestohlen worden.

Da machten sie Meldung.

Jawohl, eben aus einem der Bullaugen, die zu Ihren Kabinen gehören, waren die Sachen geflogen gekommen.

Sie haben sie selbst über Bord geworfen.

Weshalb haben Sie das getan?

Weshalb behaupten Sie nun, die Sachen wären Ihnen gestohlen worden?«

Durchdringend ruhten die scharfen Augen des Kapitäns auf dem schönen Jüngling.

Dieser hielt es mit schneller Geistesgegenwart für das Beste, an seinem Kopfe herumzutasten, mit entsprechenden Worten.

»O, mein Kopf — mein armer Kopf — wie der schmerzt — wie es da drinnen brennt!«

Der Kapitän sagte nichts weiter, ging gleich wieder.

»Ei verflucht, das hat nur noch gefehlt!«, dachte jetzt Señor Lazare mit wahrem Entsetzen. »Ich bin doch früher nicht so unvorsichtig gewesen? Aber konnte ich ahnen, dass da oben zwei Kerls stehen und alles beobachten müssen?«

Er blieb nicht lange allein, der Kapitän kam gleich wieder, mit ihm der Arzt, die beiden Lazarettgehilfen und außerdem noch zwei handfeste Matrosen.

»Ob Sie vielleicht einen besonderen Grund gehabt haben, sich Ihrer kostbaren Sachen zu entledigen, das habe ich nicht zu untersuchen, das ist die Sache von anderen!«, sagte der Kapitän. »Ich aber muss dafür sorgen, dass Sie nicht noch anderen Unfug anrichten, etwa das Schiff anbrennen, ob Sie nun bei normalem Verstande sind oder nicht. Es tut mir leid, aber ich kann nicht anders handeln.«

Schon fassten die beiden Lazarettgehilfen zu, die Matrosen standen als Reserve da.

»Ich bin nicht wahnsinnig, ich bin nicht wahnsinnig!«, schrie der Jüngling, indem er wusste, wie er sich hierbei zu benehmen hatte, wenn er sich auch nicht eben sehr wehrte.

»Haben Sie vielleicht gleich ein Geständnis abzulegen, weshalb Sie die Sachen über Bord geworfen haben?«

»Ich weiß von nichts, ich weiß von nichts, die Sachen sind verschwunden!«

»Dann machen Sie die weitere Reise in der Tobzelle mit.«

Señor Lazare wurde abgeführt, er sträubte sich nicht mehr, bat nur um Erbarmen.

Das Wort »Tobzelle« musste ja auch böse Ahnungen auslösen.

Aber es war nur so ein üblicher Ausdruck gewesen.

Es war ein heller Raum, in den er gebracht wurde, Boden und Wände dick gepolstert, das Bett zeigte keine scharfen Kanten und Ecken, auch hier war alles gepolstert, Decken und Überzüge konnten vom Insassen nicht abgenommen werden, damit er sich mit Hilfe von Tüchern etwa aufhing, auch Vorrichtungen zum Festschnallen waren vorhanden, am Fenster keine Schraube, an der man sich hätte stoßen können — ja nun allerdings eine sogenannte Tobzelle, aber sonst doch ein sehr freundlicher Raum.

Der Festgenommene wurde von kundigen Händen entkleidet und in einen Anzug aus weicher Baumwolle gesteckt, wie in einen Sack, indem nämlich die Ärmel an den Gelenken und unten die Hosen durch eine besondere Vorrichtung, dass sie ohne fremde Hilfe nicht geöffnet werden konnten, geschlossen wurden, sodass er sich selbst nicht ausziehen konnte, und die weiche Baumwolle erwies sich als einfach unzerreißbar.

Wozu dies alles? Nun, damit der Tobsüchtige eben nichts ausziehen und Jacke oder Hose etwa als Strick zu selbstmörderischen Zwecken benutzen konnte.

Dann noch weiche Pantoffeln an die nackten Füße, nichts weiter.

»Er kann die Pantoffeln doch nicht etwa verschlucken?«

»Ach wo, die gehen doch gar nicht in den Mund, sie sind unzerreißbar, und auch die schärfsten Zähne können sie nicht zerbeißen.«

So hieß es noch, und hinter dem »Tobsüchtigen« schloss sich vorläufig die gepolsterte Tür, an der vergebens jemand sich den Schädel einzurennen versucht hätte.

— • —

48. Kapitel
Das neue Engagement

Originalseiten 1153, 1158 — 1177

Fünf Tage hatte Señor Lazare noch in dieser Polsterzelle zu verbringen, ehe New Orleans erreicht wurde. Natürlich wurde er aufs Beste verpflegt, erhielt aber kein Messer, keine Gabel, nicht einmal einen Löffel in die Hand, den er hätte verschlucken können, die Speisen waren danach beschaffen, dass er sie mit den Händen verzehren konnte, er wurde gebadet und gewaschen und rasiert und gekämmt, durfte aber keinen Augenblick ohne Aufsicht allein in der Badewanne sitzen.

Sonst war er ja allein in seiner Zelle.

Aber vergebens wartete er darauf, dass er wieder einmal in einen Schlaf versetzt würde, der doch jedenfalls ein künstlicher, durch Fernwirkung erzeugter war.

Es geschah nicht. Deshalb nicht, weil er ja keine Möglichkeit hatte, etwas niederzuschreiben?

Gab es da nicht auch eine andere, telepathische Fernwirkung? Konnten ihm dabei die gewünschten Gedanken nicht auch im Traume erzeugt werden?

Señor Lazare dachte dabei natürlich an jenes hellsehende Kind.

Wie dem aber auch sei — es geschah nichts, er bekam keine Mitteilung aus einer ihm noch unbekannten Welt, kein anderes Zeichen.

Manchmal dachte Señor Lazare lebhaft an seine alte Körperhülle.

Ob die noch immer dort in der Höhle des Küstengebirges am Roten Meere lag?

Von Verwesung, Insektenfraß und allen anderen Tieren sollte sie nach jenen Angaben geschützt sein, nur Menschen konnten sie entfernen und zerstören.

Gab es eine Möglichkeit, dass er seine Seele wieder in den alten Körper zurückversetzte?

Nein, sie war nicht vorhanden, und... er traute jenem Rezepte des Rabbis auch nicht mehr recht, so Wunderbares er auch sonst damit erlebt hatte. Jedenfalls aber war es doch nicht so gekommen, wie es hatte geschehen sollen.

Und außerdem konnte er hier seine Seele von diesem neuen Körper gar nicht wieder lösen.

Er hätte sich höchstens die Pulsadern aufbeißen können, aber dass auch ein langsames Verbluten in Frage kam, davon hatte in jenen Ausführungen gar nichts gestanden.

Entweder ein gewisses Mittel musste angewendet werden, welches das Blut zum Erstarren brachte, oder der Tod des Erstickens.

Der alte Jesuitenpater gehörte zu denjenigen Menschen, denen es beigebracht worden war, wie man seine Zunge verschlucken kann.

Dazu muss deren Spitze erst ganz weit hinten an den Gaumen, an die Öffnung der Luftröhre gelegt werden, und das will gelernt sein, nach besonderer Anweisung und durch lange Übung.

Der Pater versuchte es einmal.

Er brachte es gar nicht mehr fertig.

Die Zunge des Jünglings, in dessen Körper seine Seele jetzt wohnte, war hierzu nicht trainiert.

Und da half jetzt keine Übung mehr, das kann nur, wie gesagt, unter Hilfe eines Gurus, eines asketischen Lehrers, gelernt und überhaupt ausgeübt werden — eine schreckliche Prozedur!

Nun, Señor Lazare dachte auch gar nicht an solch einen Selbstmord.

Im Gegenteil, er freute sich schon darauf, wie sich dieses Abenteuer nun weiter entwickeln würde. Das war gerade so etwas nach seinem Geschmack!

In der letzten Mitteilung waren Andeutungen gemacht worden, dass in New Orleans die Pretiosen ihm Schwierigkeiten machen könnten.

War der so ideal aussehende Jüngling doch vielleicht ein Verbrecher gewesen?

Hatte er diese Pretiosen gestohlen, geraubt, deshalb vielleicht einen Mord begangen?

Es konnte ja auch in bewusstlosem, hypnotischem Zustande geschehen sein.

Der Pater machte sich hierüber absolut keine Sorgen.

»Jene geheimnisvolle Loge hat mir versichert, dass ich in ihrem Schutze gut aufgehoben bin, ich glaube es, und wenn es nicht der Fall wäre — nun, ich weiß mir schon allein weiter zu helfen. Ganz famos, solch ein Abenteuerchen, hihihi!«

Aber er hütete sich, laut zu kichern und sich dabei die Hände zu reiben. — — —

Es war am fünften Tage dieser Zellenhaft.

Das Heulen der Pfeifen und Sirenen dieses Dampfers und anderer wurde immer häufiger.

Durch das runde Fenster konnte der »Tobsüchtige« nichts sehen, es enthielt eine Milchglasscheibe, und seit gestern Abend war diese geschlossen.

»Jawohl, wir nähern uns dem Ziele, in zwei bis drei Stunden sind wir im Hafen von New Orleans!«, entgegnete der befragte Lazarettgehilfe, der ihm die Mahlzeit brachte, aber nie allein kam, immer in Gesellschaft seines Genossen oder von sogar zwei Matrosen, wenn nicht auch noch der Arzt dabei war.

»Was wird denn nun mit mir geschehen?«

Zum ersten Male hatte der Inhaftierte diese Frage gestellt. Mochte man nur glauben, dass er dies bisher unter seiner Würde gehalten habe.

Señor Lazare hatte auch wirklich Lust, ganz aufs Geratewohl in die Zukunft, in dieses neue Abenteuer zu gehen, er hielt es aber doch für besser, einmal sich so neugierig oder richtiger besorgt zu stellen.

»Ich weiß es wirklich nicht, Herr.«

Nach der Mahlzeit kam der Arzt, freilich auch nicht allein, wie immer die Freundlichkeit selbst.

»Nun, geehrter Herr, hat es Ihnen geschmeckt?«

»Danke, sehr gut. Wir nähern uns New Orleans?«

»Ja, wir liegen schon auf Reede, aber ohne zu ankern, warten nur höhere Flut ab, in einer Stunde sind wir im Hafen.«

»Und was wird dann mit mir geschehen?«

»Ich weiß es nicht. Auf Ehre nicht. Hierüber hat nur der Kapitän Anordnungen zu treffen, und der hat mir noch nichts davon gesagt.«

Der Pater sollte es denn auch nicht eher zu erfahren bekommen, als bis es in die Praxis ausgeführt wurde.

Vielleicht noch eine Stunde verging, dann erzitterten die Schiffsplanken wieder, also die Schraube setzte sich wieder in Bewegung, das Lärmen draußen ward immer stärker, dann lag der Dampfer wieder still, an Deck trampelten die Schritte hin und her.

Jetzt begann das Sorgen und Hasten der Passagiere um ihr Gepäck, auch schien schon gelöscht, die Fracht ausgeladen zu werden. Oder erst kamen die Postsachen daran.

Wieder vergingen zwei Stunden, draußen war es schon längst Nacht, wenn auch vielleicht erst sechs Uhr, aber man befand sich ja im Januar, und New Orleans, wenn es auch keinen Schnee kennt, liegt doch immerhin noch auf nördlicher Breite.

In der Polsterzelle war schon längst an der Decke die Glühbirne aufgeflammt, welche die ganze Nacht hindurch brannte.

Da endlich öffnete sich die Tür.

Der Kapitän trat ein, der Arzt, und außerdem noch ein fremder Herr und einige Männer, nicht zur Schiffsbesatzung gehörend.

»Alle Formalitäten sind erledigt, nun nehmen Sie ihn mir ab, ich habe nichts mehr mit dem namenlosen Manne zu tun!«, sagte der Kapitän. »Den Anzug schicken Sie mir morgen wieder zu, um die mir verursachten Kosten brauchen Sie sich nicht zu kümmern, darum wird an anderer Stelle debattiert.«

»Ist er gefährlich?«, fragte der fremde Herr, ehe er näher trat.

»Ich habe Ihnen alles schon gesagt, was ich über ihn zu sagen hatte. Er hat keinen Mordanschlag gemacht, nicht gebissen und gekratzt. Mehr weiß ich nicht.«

Trotzdem wurde Señor Lazare als »Tobsüchtiger« behandelt, wurde von den Männern mit kundigen Griffen gepackt, bekam einen dicken Mantel an, Strümpfe und warme Schuhe, wurde wie ein Kind behandelt, aber wie ein Gefangener hinausgeführt.

Hinaus an Deck, über die Landungsbrücke, auf dem Quai stand ein zweispänniger Wagen, die Tür auf, Lazare hineingeschoben oder von kräftigen Armen mehr eingehoben, und er saß zwischen zwei Männern, die ihn sofort einhenkelten, mit Armen, die ihn wie in einen Schraubstock spannten.


Illustration

Die Tür des zweispännigen Wagens wurde aufgerissen
und Lazare von kräftigen Armen hineingeschoben.


»Famos!«, dachte der Pater mit Seelenruhe. »Jetzt geht's in eine Irrenanstalt oder zumindest in ein Sanatorium. Famos!«

Da wurde die Tür noch einmal geöffnet, auch der Herr stieg ein, setzte sich ihm gegenüber.

Er hatte die Tür nicht gleich hinter sich zugemacht.

Und da sah Señor Lazare dort auf dem Quai im Scheine einer Gaslaterne sein Ebenbild stehen, seinen Doppelgänger, nur im schmierigen Kaftan mit schwarzen, graumelierten Locken und ebensolchem Vollbarte, den alten Juden!

Er hatte in seiner Zelle oftmals an ihn gedacht. absolut mit ihm nichts anzufangen gewusst.

Und nickte ihm der listig grinsende Jude jetzt nicht zu?

Mehr bekam Lazare nicht zu sehen, die Wagentür, deren Fenster mit blauen Gardinen verhangen waren, wurde geschlossen.

Und auch weitere Gedanken konnte sich der Pater nicht über dieses Zunicken machen.

Denn in demselben Augenblick, da die Tür zuklinkte, bekam er etwas über den Kopf gestülpt, ein süßlicher Geruch, und sofort verließ ihn das Bewusstsein.

*

Als Señor Lazare wieder zu sich kam, saß er in einem bequemen Lehnstuhle, der ungefähr in der Mitte eines recht seltsamen Gemaches stand.

Eigentlich war es nichts weiter, als dass Boden, Wände und Decke mit rotem Samt ausgeschlagen waren. Aber da dieser Raum sonst nichts weiter enthielt keine Möbel und gar nichts, so durfte der Pater dies wohl recht merkwürdig nennen.

Und dann allerdings die Beleuchtung! Auch Fenster waren also nicht vorhanden, so wenig wie eine Tür — überdies glaubte der Pater ja, nur kurze Zeit bewusstlos gewesen zu sein, dass es jetzt also Nacht sei — aber da war ihm gegenüber in der Wand in einiger Höhe eine kleine Nische, in dieser stand ein weißer Totenschädel, dessen Augen aus elektrischen Glühbirnen bestanden, diese sorgten für Beleuchtung.

Und dann direkt ihm gegenüber noch ein Lehnstuhl, in dem ein alter Herr saß, ein Gentleman im tadellosen Gesellschaftsanzug, das eckige Gesicht glattrasiert, wie überhaupt alles an ihm ganz eckig war. So ein echter Yankee-Gentleman, wenn er in die Jahre kommt.

Er betrachtete den ihm Gegenübersitzenden, rieb sich mit den knöchernen Fingern der eckigen Hand das weit hervorspringende, eckige Kinn und legte die eckigen Knie übereinander.

»Nun, mein lieber Percy, sind Sie wieder bei vollem Bewusstsein?«, fing er dann sein Englisch durch die Nase an.

»Das bin ich eigentlich.«

»Eigentlich, was soll das heißen?«

»Sie nannten mich soeben Percy.«

»Nun ja.«

»Ich weiß nicht, dass ich so heiße.«

Eine kleine Veränderung in den grauen Augen, aber in den hageren, eckigen Zügen zuckte kein Muskel.

»So, hm. Sie bleiben also bei Ihrer Gedächtnisschwäche.«

»Es ist keine Gedächtnisschwäche, sondern eine völlige Erinnerungslosigkeit, und da ist nichts Gemachtes dabei, ich habe mich niemals verstellt.«

»Sie sich niemals verstellt, Sie professioneller Schauspieler?«

Schauspieler? In der Tat, so sah der Pater auch aus, wie ein idealer Liebhaber für die Heldenrollen, jetzt erst fiel es ihm ein. Er verstand nicht viel vom Theater.

»Bin ich ein Schauspieler gewesen? Mir ist nichts davon bewusst. Herr, Sie haben mir einmal an Bord fürchterliche Schmerzen bereitet. Wie Sie das gemacht haben, ist mir ganz rätselhaft. Ich möchte sie nicht noch einmal empfinden. Aber das kann ich Ihnen sagen: Martern Sie mich, wie Sie wollen, peitschen Sie mich bis aufs Blut, rösten Sie mich an langsamem Feuer, reißen Sie mir das Fleisch stückweise vom Körper... ich kann nicht sagen, wer ich früher gewesen bin. Meine Erinnerung ist mir entschwunden, bis zu dem Augenblick, da ich an Bord jenes Dampfers wieder zum Leben zurückgerufen worden bin.«

Das Gehörte schien doch großen Eindruck auf den alten Herrn zu machen, wenn er auch äußerlich kalt wie Eis blieb.

»So, hm. Man möchte Ihnen fast Glauben schenken. Das würde allerdings alles ganz gewaltig ändern.«

»Glauben Sie mir, ich flehe Sie an! Ich möchte solche Schmerzen nicht noch einmal durchkosten.«

Und der Pater ließ durch seine athletischen Glieder ein Zittern rinnen, was er gar nicht so sehr zu erkünsteln brauchte.

Es waren fürchterliche Schmerzen gewesen, wie etwa bei einem Nierenkolikanfall, den der Pater einmal gehabt, noch viel schrecklicher, er dachte mit Entsetzen daran zurück.

»Ja, Sie sind nie ein Held im Ertragen von Schmerzen gewesen.«

»Eben deshalb flehe ich Sie an, mir Glauben zu schenken — meine völlige Erinnerungslosigkeit ist nicht vorgetäuscht!«

»So, hm. Sie wissen nicht, dass Sie sich vorher auf einer Jacht befunden haben?«

»Nein.«

»Wissen nicht, wie der Jachtbesitzer hieß?«

»Nein.«

»Sie kennen auch mich nicht?«

Der alte Herr beugte sich vor.

»Sie können sich nicht erinnern, mich schon einmal gesehen zu haben?«

»Nein, wirklich nicht.«

»Wie ich Sie mit der Hundepeitsche dressiert habe?!«

»Ich weiß nichts davon, ich kenne Sie nicht, sehe Sie hier zum ersten Male.«

»So, hm.«

Der alte Herr lehnte sich in seinen Stuhl zurück.

»Das wäre allerdings ein merkwürdiger Fall von Gedächtnisverlust, das gäbe der Sache ein ganz neues Ansehen. Sie haben aber doch den alten Juden gleich wiedererkannt, den Domingo Lazare.«

»Nein, ich kannte ihn nicht. Es war mir allerdings, als ob ich ihn schon einmal gesehen hätte. Wie ein Blitz der Erinnerung zuckte es mir durch den Kopf.«

»Hm, sehr merkwürdig, sehr merkwürdig.«

»Eben doch einmal eine Rückwirkung der Erinnerung.«

»Und bei meinem Anblick haben Sie keine?«

»Nein, nicht die geringste.«

»Hm, sehr merkwürdig, sehr merkwürdig!«, wurde nochmals gebrummt. »Nämlich gerade bei diesem Juden ist es ganz ausgeschlossen, dass Sie ihn schon einmal gesehen haben.«

Au!, dachte der Pater erschrocken.

Aber als Menschenkenner sah er jenem auch gleich an, dass er diesem Falle weiter keine Bedeutung zumaß.

»Ja, dann war das eben eine merkwürdige Verwechslung!«, fuhr der Pater gleich fort. »Übrigens kannte ich den Juden ja auch gar nicht, der Name Domingo Lazare aus Kiew war mir völlig fremd, und der Mann selbst wurde mir immer fremder, je länger ich ihn ansah, kein solcher Zuck einer vermeintlichen Erinnerung wollte mir wieder kommen.«

»Und trotzdem wollten Sie ihn noch einmal sprechen.«

»Ja natürlich. Ich fand, als ich vom Schlafe erwacht war, einen Zettel ganz merkwürdigen Inhalts auf meiner Brust liegen. Da musste ich doch unwillkürlich an den Juden denken, der mich auch noch so listig angelächelt hatte. Vielleicht konnte der mir darüber Aufklärung geben.«

»Gut, ich verstehe. Was dachten Sie denn nun, als Ihnen nach und nach solche geschriebene Mitteilungen und Befehle und Drohungen zugingen?«

»Ja, Herr, was sollte ich dabei denken«, meinte der achselzuckend. »Ich habe es mir eben so nach und nach zusammengereimt.«

»Dass Sie das Mitglied einer geheimen Gesellschaft sind.«

»Das wurde ja einmal direkt gesagt.«

»Und auch da stieg keine Erinnerung in Ihnen auf?«

»Nicht die geringste.«

»Was wissen Sie nun eigentlich noch von sich selbst?«

»Gar nichts mehr.«

»Wie heißt der König von England?«

Das war eine sehr geschickte Prüfungsfrage. An Bord des Dampfers hatte man nicht an ein solches Examen gedacht.

Ja, das wusste der junge Mann alles noch, nur nichts mehr von seiner eigenen Person.

»Was ist Ihr sehnsüchtigster Wunsch?«

»Mein Wunsch?«

»Ihre heißeste Sehnsucht.«

»Zu erfahren, wer ich bin und was das für eine Gesellschaft ist, der ich angehören soll, die solch einen geheimnisvollen Einfluss auf mich ausüben kann.«

»Was ist das für Leder?«

Der alte Herr hatte eine Brieftasche hervorgezogen, gelb und wie aus kleinen, unregelmäßigen Quadersteinen zusammengefügt.

»Offenbar Krokodilsleder.«

»Richtig. Und mir ist von Wichtigkeit, dass Sie dies erkennen, ich muss wissen, wie es mit Ihnen beschaffen ist. Und wer ist das?«

Er hatte der Tasche eine Fotografie entnommen. Sie stellte ein engelhaftes schönes Mädchen dar, Brustbild, anscheinend im einfachen Hauskleide.

»Ich kenne sie nicht.«

»Nicht Ihre Braut?«

»Also ich bin wirklich verlobt?!«

»Sie wissen es nicht?!«

»Keine Ahnung.«

Er war dabei von den grauen Augen aufs Schärfste beobachtet worden, aber da brauchte sich der Pater gar nicht wegen einer Verstellung anzustrengen.

»Das ist doch das Mädchen, das wir Ihnen als Lohn für Ihre Bemühungen versprochen haben.«

»Ich weiß nichts davon.«

»Und wer ist das — wer das — wer das?«

Es ging noch weiter. Die Brieftasche barg eine ganze Bildergalerie, lauter Fotografien, die schönsten Weiber in den verschiedensten Kostümen darstellend.

»Ich weiß es nicht.«

»Mit denen sind Sie doch sehr intim.«

»Intim?«

»Das sind doch alles Ihre Frauen oder Bräute.«

Jetzt musste der Pater doch wirklich lachen, und es war ganz gerechtfertigt.

»Hallo, bin ich denn solch ein Don Juan gewesen?«

»Na, deswegen stehen Sie doch eben in unseren Diensten, und mit Ihrer Götterfigur und Ihrem Adonisgesicht haben Sie bei den Weibern doch grenzenloses Glück. Erwacht in Ihnen auch hierdurch noch keine Erinnerung?«

»Absolut nicht.«

»Auch mit einem Manne will ich es einmal versuchen. Kennen Sie den?«

Jetzt freilich musste sich der Pater beherrschen, dass er nicht zusammenzuckte.

Prinz Joachim!

»Ich kenne ihn nicht.«

»Und wer ist das?«

Das hellsehende Kind — die kleine Deasy!

»Ich habe dieses Kind noch nie gesehen.«

»Das mag schon stimmen, aber diese Fotografien habe ich Ihnen oft genug gezeigt.«

»Ich erinnere mich nicht.«

»Auch die nicht?«

Jetzt war es die Königin der Nacht in schwarzem Schlüsselkostüme, auf diesem Bilde sogar von Schlangen umwunden, die ihm gezeigt wurde.

Señor Lazare wusste kaum noch, was er davon denken sollte.

»Ich kenne sie nicht.«

»Also auch den nicht.«

Der König Ahasver mit geflochtenem Barte in seinem vollen Chaldäer-Kostüme!

Überraschen konnte das den Pater nun freilich nicht mehr.

»Nein, mir gänzlich unbekannt.«

»Sie wissen also auch gar nichts mehr, was ich Ihnen tagelang von dem Megalis el Hiemit erzählt habe?«

»Megalis el Hiemit?«, wiederholte der Pater verwundert, während in seinem Innern eine immer größere Spannung eintrat. »Nein, gar nichts.«

»Dann war alles umsonst. Noch einmal von vorn anzufangen, dazu ist jetzt keine Zeit mehr, und darauf zu warten, ob Ihnen die Erinnerung zurückkehrt, das ist eine zu unsichere Sache. Vielleicht aber können Sie gleich mit einer anderen Mission betraut werden, die allerdings noch weniger Aufschub duldet als die Sache mit dem Prinzen und dem Megalis el Hiemit, zu der Sie aber nicht erst so lange Vorbereitungen brauchen.

Wie fühlen Sie sich eigentlich?«

Während dieser Worte des anderen hatte der Pater zum ersten Male an sich selbst herabgeblickt.

Vielleicht dass er noch denselben sackähnlichen Anzug trug, nicht aber mehr den dicken Mantel, sondern einen sehr eleganten Schlafrock, an den Füßen auch ganz andere Morgenschuhe.

»Ich fühle mich ganz wohl und... alle Wetter, was ist denn das?!«

Der Pater hatte beim Erwachen die Arme auf den Armlehnen des tiefen Stuhles liegen gehabt, und so saß er jetzt noch da, hatte sich unterdessen noch gar nicht gerührt. Diese Unterhaltung war ja Schlag auf Schlag gegangen.

Jetzt zum ersten Male hatte der Pater seine Stellung verändern wollen.

Er konnte es nicht.

Nur seine Füße und Beine vermochte er zu bewegen, nicht aber seine Arme und Hände, er konnte sich nicht vom Stuhle erheben, nicht darauf herumrutschen.

Es war nicht anders, als wenn er darauf festgenagelt oder festgeklebt wäre, und dasselbe galt von seinen Armen und Händen auf den Lehnen, an welchen Vergleich mit einem Festkleben er jetzt freilich nicht dachte.

»Was ist das?! Ich bin gelähmt!«

»Nein, es hat nichts zu sagen.«

»Ich bin gelähmt, ich kann meine Arme nicht heben!«

»Sie sind nur festgebannt. Ich musste doch damit rechnen, dass Sie auch mir gegenüber den wilden Mann spielen wollten, etwa gar einen Tobsuchtsanfall erheucheln. Wie ich sehe, ist diese Vorsicht nicht nötig. Sie sind von dem Banne befreit.«

Mit einem Male konnte der Pater seine Arme von den Lehnen ablösen, hätte auch aufstehen können.

Er musste an die Tätowierung an seinem Arme denken, und es war auch sehr wohl möglich, dass durch dieses eingeimpfte Zeichen solch ein mächtiger, geheimnisvoller Einfluss auf ihn ausgeübt wurde.

Dass der alte Herr irgend etwas gemacht hätte, ehe er den Bann löste, davon hatte der Pater nichts gemerkt, er hatte es einfach ausgesprochen, und es war sofort geschehen.

»Also sonst fühlen Sie sich ganz wohl?«

»Ich habe mich während der sieben Tage an Bord immer bei bester Gesundheit befunden, und das gilt noch jetzt.«

»Haben Sie noch Ihre alte Kraft?«

»Ich fühle mich durchaus kräftig.«

»Können Sie noch immer zwei Zentner stemmen?«

»Zwei Zentner? Das ist viel! Habe ich denn das gekonnt?«

»Ich habe Sie doch zum Athleten ausbilden lassen.«

»Davon ist mir eben leider nichts mehr bewusst, und an Bord hatte ich keine Gelegenheit zu solchen Kraftstückchen, am wenigsten während der letzten fünf Tage in der Polsterzelle.«

»Ich werde Sie dann daraufhin prüfen, bei Ihrer neuen Mission hängt sehr viel davon ab, dass Sie so etwas können. Haben Sie noch Ihre sichere Hand und Ihr sicheres Auge?«

»Sicher inwiefern?«

»Sie wurden zum Kunstschützen ausgebildet und zum unvergleichlichen Fechter mit den verschiedensten Hieb- und Stichwaffen.«

»Wie gesagt, ich hatte an Bord keine Gelegenheit, mich auf solche Fähigkeiten zu prüfen.«

»So werde ich es dann tun. Sprechen Sie denn noch Französisch und Deutsch?«

»Ja, das kann ich noch, das darf ich versichern.«

Der alte Herr stellte einige Fragen in diesen Sprachen, der Pater konnte antworten.

»Haben Sie auch nicht Ihr Arabisch vergessen?«

Gewiss, das konnte der Pater.

Was aber für ein Zufall, dass es auch jener Jüngling hatte lernen müssen!

Doch natürlich, wenn er in die Geheimnisse des Megalis el Hiemit hatte eindringen sollen! Welche Bestimmung freilich schon der allergrößte Zufall war.

»Haben Sie, was ja möglich sein kann, da Sie doch auch anderer Namen wie der von Potentaten erinnern, schon von einer Lady Lilly Lionel gehört?«, war dann die nächste Frage.

»Nein.«

»Es ist eine geborene Russin, vielleicht aber auch Zigeunerin, man weiß nicht, woher sie gekommen ist, als sie auftauchte. Sie heiratete den alten Lord Lionel, brachte nach dessen Tod sein riesiges Vermögen schleunigst durch mit Tollheiten aller Art.

Sie lebte dann lange Zeit in England auf einer verfallenen Farm, das einzige, was ihr noch geblieben war, mehr in einem Schutthaufen als in einem Hause, ganz abgeschieden von aller Welt, nur mit einem alten Diener zusammen, der ihr treu geblieben, arm wie eine Kirchenmaus, baute selbst ihre Kartoffeln und Rüben, mehr hatte sie nicht.

Bis ihr auch noch diese Farm gepfändet wurde.

Ein halbes Jahr war sie verschwunden.

Dann tauchte sie wieder auf und hatte wieder Geld, das sie mit vollen Händen ausstreute. Sie schien über unermessliche Schätze zu gebieten.

Bis es wieder alle war und sie wegen Schulden wieder gepfändet wurde.

Und dann plötzlich hatte sie wieder Geld und Gold schaufelweise. Sie gab es nämlich tatsächlich mit Schaufeln aus.

Das verrückteste Weib, das wohl jemals von der Sonne beschienen wurde.

Bis dieses Geld auch wieder alle war.

Und dann erschien sie wiederum mit ganzen Säcken voll Gold und Goldbarren.

Und so geht das nun schon seit vier Jahren.

Sie taucht plötzlich irgendwo auf der Erde auf, ist zuerst bettelarm, und zwar lebt sie zuerst wirklich als Bettlerin, als zigeunerhafte Landstreicherin, lässt sich mit Vorliebe einsperren, mit einem Male hat sie Geld im Überfluss, gibt es mit vollen Händen aus, bis sie nichts mehr hat, macht Schulden, die sie niemals bezahlt, allerdings prellt sie nur Wucherer und andere, die es verdienen, ihr Geld zu verlieren, und dann verschwindet sie wieder.

Und so geht das immer weiter.

Wir wollen nun wissen, woher sie das Geld oder die Schätze bekommt.

Es sind meist Schätze ganz besonderer Art, worüber Sie nachher noch ausführlich berichtet werden sollen.

Man möchte annehmen, dass es vergrabene Schätze wären, die sie irgendwie zu finden weiß, aber wir sind schon zu einem anderen Schlusse gekommen.

Alles, was wir bisher versucht haben, hinter das Geheimnis der verrückten Lady zu kommen, ist missglückt.

Die lässt sich mit Wollust mit glühenden Zangen zwicken, und wenn sie etwas gesteht, so narrt sie immer nur, um dann wie Dunst zwischen den Händen ihrer Peiniger zu zerrinnen.

Wenn das auch nicht ganz wörtlich zu nehmen ist, aber etwas ist schließlich doch daran.

Dieses Weib ist auch noch im Besitz eines ganz besonderen Geheimnisses, worüber Sie dann genauer orientiert werden, soweit wir selbst davon etwas wissen.

Auch auf Liebe reagiert sie nicht.

Und trotzdem wollten wir es hiermit noch einmal versuchen, hatten hierzu den Rynard ausersehen, dass er sich ihr noch einmal nähere.

Kennen Sie den, den Rynard?

Auch nicht?

Der bezaubernde Rynard, dieser Teufel, kommt aus besonderen Gründen hierfür nicht mehr in Betracht.

Und da Sie nun nicht mehr in Sachen des Megalis el Hiemit wirken können, die Zeit ist nun schon zu kurz geworden, werden wir Sie jetzt einmal auf dieses Weib hetzen.

Statt eines schönen Teufels einen herrlichen, engelhaften Jüngling, der aber auch den Helden markieren kann.

Nun sollen Sie es noch einmal versuchen, ob es Ihnen nicht gelingt, diese Höllenlady in Liebesnetze zu verstricken, um so ihr das Geheimnis zu entlocken.

Aber, wie gesagt, es handelt sich dabei nicht nur um die Quelle ihrer Gelder und Schätze, sondern auch um...«

Der Sprecher brach ab, machte eine Pause, rieb sich das eckige Kinn.

»Wissen Sie, was ein Skarabäus ist?«, fragte er dann.

»Skarabäus? Heißen nicht so die kleinen Steine, Nachbildungen von Käfern, die man manchmal in Ägypten findet, die von den alten Ägyptern für heilig gehalten wurden?«

»Ja.«

Weiter ließ sich der alte Herr hierüber nicht aus, noch immer rieb er sich sinnend das Kinn.

»Haben Sie schon von einem Rabbi ben Jehosel gehört?«, fragte er dann plötzlich.

Wieder musste sich der Pater beherrschen.

Dann verneinte er.

»Das glaube ich Ihnen, dass Sie von dem nichts gehört haben. Und doch, es konnte sein... na, lassen wir das jetzt, Sie werden noch viel genauer instruiert. Es könnte nämlich sein, dass die Lady mit diesem Rabbi in Verbindung steht, schon ein Geheimnis von ihm besitzt, das aber noch nicht für einen Erfolg genügt, dass sie ihn nun in aller Welt sucht, um auch noch das andere... na, hiervon also nachher mehr, wir müssen dazu Schriftstücke in der Bibliothek benutzen. Wo, glauben Sie denn, befinden Sie sich hier eigentlich?«

»Jedenfalls doch in New Orleans!«

In dem hageren Gesicht zuckte es, es sah aus, als wolle der alte Herr in ein Lachen ausbrechen, doch war dieses eiserne Gesicht gar nicht fähig für so etwas.

»In New Orleans? Ach, Du lieber Gott! Sie sind schon auf der anderen Hälfte der Erdkugel.«

»Ist nicht möglich! In Südamerika?!«

»In Indien.«

»In Westindien?!«

»In Ostindien, in Bombay.«

»Ist doch nicht möglich!«

»Weshalb denn nicht? Wissen Sie denn, wie lange wir Sie bewusstlos gehalten haben? Und was wissen Sie denn überhaupt, was uns alles möglich ist. Nun kommen Sie mit in die Bibliothek.«

— • —

49. Kapitel
Lady Lilly Lionel

Originalseiten 1177 — 1205

»Ist Lady Lionel zu sprechen?« Der Hotelportier in der Loge des glänzenden Vestibüls las gerade etwas, blickte langsam auf, um nachlässig von oben herab den Frager zu mustern.

Es waren heute früh schon ein paar Dutzend da gewesen, die nach der Lady Lionel gefragt und die er alle so abgefertigt hatte.

Denn es waren doch nichts weiter als Bettler gewesen, wenn auch manchmal sehr elegant gekleidete und sogar wirklich vornehme. Aber alle hatten es doch nur auf die verschwenderische Freigebigkeit der Lady abgesehen gehabt.

Als er aber diesen Frager hier sah, zu dem er übrigens nicht herab, sondern hinauf blicken musste, änderte er schnell sein Benehmen.

Wir brauchen den Frager nicht zu beschreiben. Es war der blondgelockte, göttergleiche Jüngling, in dem jetzt die Seele des Jesuitenpaters steckte.

»Sie wünschen, Sir?«

»Percy Macdonald ist mein Name.«

»Mylady empfängt keinen Besuch.«

»Ich werde aber von ihr erwartet.«

»Erwartet?«

»Ich werde von der Atkins'schen Agentur geschickt, ich soll mich als Sekretär vorstellen.«

»O, mein Herr, warum haben Sie das nicht gleich gesagt!«, beeilte sich jetzt der Portier zu rufen. »Verzeihen Sie nur, Sie wurden erst morgen erwartet.«

Auf ein Klingeln kam ein Kellner oder ein anderer dienstbarer Geist, natürlich immer ein tadelloser Gentleman, und nahm den Herrn ins Schlepptau.

Eine Treppe hinauf, eine Tür geöffnet.

»Der bestellte Sekretär, Mylady!«

Die Tür schloss sich wieder.

Es war einer der teuersten Salons in der Beletage, in dem es aber fürchterlich aussah.

Wohl alles aufs Prächtigste eingerichtet, alles ganz neu, aber alle die Möbel mit einer wahren Systematik durcheinander gerückt, durcheinander geworfen. Zwei Stühle lagen direkt übereinander, dort reckte ein kostbarer Mahagonitisch seine vier Beine in die Luft, und nun dazwischen Orangenschalen und zertretene Datteln und Feigen, leere Konservenbüchsen, ihr Inhalt zum Teil auf dem prächtigen Teppich verschüttet, die eine Fenstergardine samt Portiere total verbrannt, nur noch ein paar verkohlte Fetzen hingen herab — und so war es überall. Man musste nur suchen, um überall eine neue Unordnung und Verwüstung zu erkennen.

Es war nicht anders, als ob Vandalen hier gehaust hätten, oder doch eine Rotte wilder Buben, denen beim Spielen alles erlaubt gewesen war, und dabei hatte Lady Lionel diesen Prunksalon erst gestern Nachmittag bezogen, und da war natürlich alles in tadelloser Ordnung gewesen.

Die Lady selbst lag neben dem Schlafsofa am Boden auf dem Felle eines Königstigers.

Es war eine kleine, zierliche Gestalt, das brünette Gesicht, von schwarzen, halblangen, wilden Locken umrahmt, nichts weniger als schön, vielleicht sogar hässlich zu nennen, aber doch höchst interessant. Die Züge sehr scharf, nicht nur eine Stulpnase, sondern auch ziemlich breit gedrückt, der Mund nicht groß, aber aufgeworfene Lippen. Am schönsten waren die wie schwarze Heidelbeeren funkelnden Augen, so ungemein fröhlich und verschmitzt, die verrieten gleich, was ihre Besitzerin für einen Schalk im Nacken hatte. Sie mochte gar nicht mehr so sehr jung sein, aber sicher nicht über dreißig, und sah noch viel jugendlicher aus.

Eine geborene Russin?

In der Körperhülle des neuen Sekretärs steckte die Seele des Jesuitenpaters, der die ganze Welt gesehen und die Menschen zu beurteilen verstand, und der erkannte sofort noch etwas ganz anderes.

In deren Adern rann unverfälschtes Kosakenblut!

Das war so ein echtes Kosakenmädel, das sich nur wohl fühlt, wenn es in der Steppe das Ross tummeln kann, und das auch noch als verheiratete Frau mit vielen Kindern immer noch das tolle, wilde Kosakenmädel bleibt, solange es die Knochen und die Verhältnisse irgendwie zulassen!

Was sie auf dem Leibe trug, konnte man kaum eine Bekleidung nennen. Sie hatte sich in eine rote, gemusterte Decke gehüllt, ganz eingewickelt, so wie sich die Hindufrauen in ihre zehn Meter lange »Ailla« wickeln, indem sie das eine Ende zwischen eine Tür klemmen und sich immer im Kreise drehen, und diese rote Decke hatte offenbar erst dort auf dem Tische gelegen, der jetzt die Beine gen Himmel reckte, und es war sehr die Frage, ob sie darunter noch etwas anderes trug, an den zierlichen Füßchen und den drallen Waden war davon wenigstens nichts zu merken.


Illustration

So lag sie auf dem Tigerfell, selbst so geschmeidig wie ein Panther, halb auf der Seite, den schwarzen Lockenkopf in die eine Hand gestützt, und aß Grissins, kirschenähnliche Früchte, und spuckte oder schnellte die glatten Steine zwischen den Fingern immer nach dem alten Gladstone, Englands größtem Premierminister, dem englischen Bismarck, dessen Marmorbüste dort oben an der Wand auf einer Konsole stand, spuckte und schnippste mit einer ganz erstaunlichen Sicherheit, meist traf sie die Nase, den ganzen Kopf verfehlte sie niemals, der alte Gladstone aus weißem Marmor sah schon aus, als hätte er die roten Frieseln bekommen.

»Der bestellte Sekretär, Mylady!«

So hatte der dienstbare Geist gemeldet und war wieder entschwunden, die Türe von draußen zumachend.

Die am Boden Liegende wandte dem Eingetretenen den Rücken zu und hielt es nicht für nötig, sich umzudrehen, fuhr ruhig fort, die Kirschen zu essen, die direkt auf dem Tigerfelle lagen, und den alten Gladstone mit Kernen zu bombardieren.

»Wer ist da?«

Es war eine sehr hohe, aber angenehme Stimme.

»Der von der Atkins'schen Agentur geschickte Sekretär, der sich der Lady vorstellen soll.«

»Ein Sekretär? Ich habe keinen Sekretär bestellt. Ich habe von Atkins einen Hund haben wollen.«

Eine Pause trat ein. Nur nicht im Kirschenessen und Kernschnipsen. Jetzt wusste auch der weltgewandte Pater nicht, was er hierzu sagen sollte,

»Sind Sie ein Hund?«

»Ich bin ein Mensch, Mylady.«

»Ein Mensch? Da bilden Sie sich wohl auch noch was drauf ein? Der Mensch ist das miserabelste Geschöpf, das auf Gottes Erdboden herumläuft. Dagegen nehmen Sie einen Hund an, einen vor die Karre gespannten Zughund. Von früh bis abends muss er den schweren Wagen ziehen, er hat einen mitleidslosen Herrn, der ihn nicht vor Kälte und Nässe schützt, ihn liegen lässt, wie er liegt, der ihn halb verhungern lässt, ihn noch dazu wegen jeder Kleinigkeit prügelt — auch ohne jeden Grund — es stände dem Hund frei, wegzulaufen... tut es etwa der Hund? Nein, er leckt seinem grausamen Herrn auch noch dankbar die Hand, die ihm für die schwere Arbeit ein Stück hartes Brot hinwirft, er wedelt freudig mit dem Schwanze, ist außer sich vor Jubel, wenn sein Blutpeiniger nach längerer Abwesenheit wieder nach Hause kommt. Findet man eine solche Treue etwa unter Menschen?«

»Ich werde Mylady beweisen, dass es auch unter den Menschen solche treue Charaktere gibt.«

Jäh wandte sich die Lady herum, lag mit einem Ruck auf der anderen Seite, und hierbei war das Pantherähnliche ganz zum Vorschein gekommen.

»Aah«, erklang es überrascht, aber doch zugleich spöttisch, »das ist ja ein verdammt schöner Kerl, den mir der Atkins da geschickt hat! Sie sind ja der reine Apollo von Belvedere! Sie sollen mich wieder mal verführen, um aus mir herauszulocken, wo ich immer das viele Geld herbekomme, wie, eh?«

Darauf war nun freilich schwer etwas zu erwidern.

Anderseits brauchte man solch einer burschikosen Dame gegenüber auch weiter kein Blatt vor den Mund zu nehmen.

»Einen Sekretär?«, fuhr sie da schon wieder fort. »Ein Sekretär muss wohl schreiben, ich habe nichts zu schreiben. Nur angekommene Briefe zu verbrennen. Einen Diener will ich haben. Oder auch einen Kameraden. Mein treuer Hund ist mir gestorben. Nun will ich einen anderen haben, einmal einen zweibeinigen. Ja, einen treuen Hund auf zwei Beinen soll mir Atkins zuschicken. So habe ich mich auf der Agentur tatsächlich ausgedrückt. Also Sie sind geschickt worden. Gut, nun gehören Sie mir, ich bin Ihre Herrin. Ihr Preis ist in Gestalt der Vermittlungsprovision bezahlt worden. Wollen Sie etwas sagen? Sie sehen so aus. Na, dann heraus damit! Zweibeinige Hunde können ja sprechen. Leider.«

»Darf ich für meine Dienste nicht auch etwas beanspruchen?«, lächelte der Apollo.

»Was gibt es dabei zu feixen? Natürlich bekommen Sie etwas dafür. Futter und zum Schlafen eine Decke. Und zwar gutes Futter und eine warme Decke. Solange ich das geben kann. Aber wenn Sie hungern und frieren, werde auch ich hungern und frieren. Verstanden?«

»Ich habe verstanden.«

»Wirklich? Dann dürfen Sie also auch nicht...?«

Sie machte eine Kunstpause.

»Nach einem Gehalte fragen.«

»Richtig! Sondern?«

»Wenn ich Geld bedarf, weil ich nun einmal ein Mensch bin, brauche ich es nur Ihnen zu sagen, und solange Mylady etwas haben, werde auch ich etwas haben.«

»Gut, sehr gut!«, lobte die Lady den menschlichen Hund. »Sie übertreffen noch meinen seligen Hektor an schneller Auffassungsgabe. Atkins scheint mir gerade den richtigen zugeschickt zu haben. Wie heißen Sie?«

»Percy Macdonald.«

»Also einfach Percy. Dieser Name ist das einzige, was ich von Ihrer Person wissen will. Nichts weiter! Kein Wort von Ihrer Vergangenheit! Einen Hund fragt man nicht nach seiner Vergangenheit. Wenn Sie ein einziges Mal von Ihrem früheren Leben anfangen, von Ihren persönlichen Verhältnissen, was Sie früher getrieben haben, und so weiter, jage ich Sie sofort zum Teufel. Verstanden?«

»Sehr wohl, Mylady.«

.Haben Sie Gepäck mitgebracht?«

»Nein, Mylady.«

»Weiter fehlte auch nichts.«

Der junge Mann war natürlich zur Genüge instruiert worden, nicht nur von jener Agentur, auf der er wirklich gewesen war.

»Hunde, die ihren Besitzer wechseln, bringen kein Gepäck mit, höchstens eine Decke und einen Maulkorb, das können Sie behalten, und wenn Sie eine Steuermarke brauchen und keine haben, werde ich die für Sie bezahlen. Ich bin Ihre Herrin. Haben Sie ein bisschen Tabak bei sich?«

Es war etwas unlogisch, zu verlangen, dass der Hund Tabak bei sich haben sollte, aber so genau kam das dabei nicht drauf an.

»Nur Zigarren.«

»Her damit!«

Percy präsentierte ihr ein Zigarrenetui, sie wählte sich die schwärzeste Giftnudel, aber nicht, um sie als Zigarre zu benutzen, sondern sie zerbrach und zermürbelte sie zwischen den Händen. Dann brachte sie unter dem Tigerfell eine schwarzgerauchte Kalkpfeife zum Vorschein, aber nur noch einen kurzen Stummel, stopfte den Kopf mit den Blättern.

Bei diesen Bewegungen konnte man das Spiel ihrer nackten Arme beobachten und — musste es bewundern.

Es war also eine kleine, zierliche Figur, soweit man das unter der roten Tischdecke, in die sie sich eingewickelt hatte, beurteilen konnte. Von den drallen Waden war schon gesprochen worden, ebenso auch von den zierlichen Füßchen, zu denen auch die feinen Gelenke gehörten — die feinen »Fesseln«, sagt der Pferdejockey, seine Technik auch auf Menschen und besonders auf Weiber übertragend.

Dasselbe galt nun auch von den braunen, sammetartigen Armen. Sehr voll und daher dennoch schlank, die Unterarme ungemein breit, aber in den Gelenken immer ganz schmal, dazu passend die kleine fleischige und dennoch so zierliche Kinderhand, und nun außerdem diese schönen, wie von Künstlerhand gedrechselten Arme von Muskeln geradezu starrend!

»Feuer!«

Dieses Kommando wäre gar nicht nötig gewesen, der »Hund« hatte auch Streichhölzer bei sich und hatte bereits eines angerissen.

Ohne ihre Stellung zu verändern, den Kopf auf Hand und Arm gestützt, ließ sie sich Feuer geben, paffte mächtig. Die schwarzen Blätter der Zigarre mussten in der kurzen Pfeife furchtbar schwer schmecken und wirken, aber mit Behagen blies sie den dicken Rauch durch die breiten Nasenlöcher, verschluckte den Rauch sogar, inhalierte ihn nicht in die Lunge, sondern schluckte ihn in den Magen hinab. Eben ein echtes Kosakenmädel, dem schon als Baby zur Beruhigung von der Mutter ab und zu die qualmende Pfeife in den Mund gesteckt wird.

»Wenn Sie rauchen wollen, brauchen Sie nicht etwa zu fragen. Nur nicht solche Umständlichkeiten! Sonst passen wir nicht zusammen! Ich jage Sie gleich wieder zum Teufel oder verkaufe Sie an einen anderen Herrn.«

Gut, Percy brannte sich eine Zigarre an. Jetzt also konnte der Jüngling rauchen, auch er blies den Qualm mit Hochgenuss durch die Nase.

»Wenn Sie sich setzen oder legen wollen, dann setzen oder legen Sie sich hin. Wohin Sie wollen. Nur nicht direkt auf mich! Aber sonst nur keine Umständlichkeiten! Das hasse ich! Einladungen gibt's bei mir nicht!«

O, das hatte der Pater bereits gewusst. Der war als Percy Macdonald instruiert worden. Er hatte nur noch nicht daran gedacht, Platz zu nehmen, und übrigens war es ganz gut, sich erst etwas auffordern zu lassen, er durfte doch nicht merken lassen, wie vorzüglich man ihn schon instruiert hatte.

Also auch er legte sich auf das mächtige Tigerfell nieder, streckte sich aus, natürlich in einiger Entfernung von seiner Herrin.

»Recht so! Ihre Nase brauchen Sie natürlich nicht unter meine Kittel zu schieben, Sie laufen doch auf zwei Beinen herum.«

Die beiden blickten sich einander an und pafften.

Lange sollte der menschliche Hund aber nicht so liegen bleiben können, er hatte eine höchst launische oder doch quecksilberne Herrin bekommen.

»Nein, ich will von Ihrer Person nichts weiter wissen als Ihren Namen!«, nahm sie wieder das Wort.

»Von Ihren Personalien, meine ich.

Von Ihrer sonstigen Person, von dem, was Sie können und was Sie nicht können, von Ihren Fähigkeiten, das ist ja etwas ganz anderes. Können Sie reiten?«

Das war natürlich die erste Frage der Kosakin gewesen.

»Ja, Mylady!«

»Richtig reiten?«, erklang es zweifelnd.

»Ich glaube, Mylady, ein sehr guter Reiter zu sein.«

»Ich werde Sie daraufhin prüfen, wenn wir erst ein Pferd haben. Können Sie Pferde stehlen?«

»Ich bin noch nicht in die Lage gekommen, ein Pferd zu stehlen«, lächelte der junge Mann.

»Was gibt es denn da zu lachen? Das ist manchmal gar nicht so leicht, ein Pferd zu stehlen, wenn man nicht den ersten besten Gaul nehmen will. Auch das will gelernt sein. Ich werde es Sie später lehren. Ich verlange später von Ihnen, dass Sie mir jederzeit ein Pferd verschaffen. Natürlich vorausgesetzt, dass eines irgendwo in der Nähe ist. Unmögliches verlange ich niemals von Ihnen. Aber ich kaufe niemals ein Pferd, ich reite prinzipiell nur gestohlene Pferde. Können Sie schießen?«

»Jawohl, Mylady.«

»Auch treffen?«

»Wollen mich Mylady prüfen?«

Und schon brachte Percy aus seiner hinteren Hosentasche einen ansehnlichen Revolver zum Vorschein.

Also er war ja instruiert worden. Aber er fand sich auch sonst überraschend schnell in seine Rolle.

Denn wirklich, schon schaute sich die Lady hier im Salon nach einem geeigneten Ziele um.

»Sehen Sie dort die gelbe Briefmarke an der Wand kleben?«

»Ich sehe sie.«

»Los!«

Gewiss, die gelbe Briefmarke sah der Pater. Aber sie klebte nicht eigentlich an der Wand, sondern an einem großen Wandspiegel, ziemlich in der Mitte. Doch hierauf machte der Pater die Dame nicht erst aufmerksam, er hob, so wie er lag, den Revolver, und in demselben Augenblicke krachte auch schon der Schuss.

Die Briefmarke war verschwunden — der kostbare Wandspiegel aber auch!

Denn was da in dem Rahmen noch von strahlenförmigen Glassplittern vorhanden war, das konnte man doch keinen Spiegel mehr nennen.

Durch eine Fensterscheibe zwar geht eine Kugel meist glatt durch, erzeugt nur ein kleines Loch, aber bei einem Spiegel ist das etwas anderes, da kommt die Rückwirkung in Betracht, da zersplittert alles.

»Getroffen, ausgezeichnet getroffen!«, lobte die Lady, sogar etwas jubelnd. »Ich habe ganz deutlich gesehen, wie die Kugel direkt auf die Briefmarke schlug!«

Hatte sie das wirklich sehen können?

Es gehörte viel dazu!

Dann aber legitimierte sie sich auch als echte Kosakin!

Die Kosaken gehören vom ethnografischen Standpunkte aus nicht zu den Mongolen, andere aber, die ganz einfach nach dem Aussehen urteilen, möchten sie doch gern zu den Mongolen zählen. Mindestens müssen sie doch viel mongolisches Blut in ihren Adern haben.

Und die Mongolen haben in gewisser Hinsicht ganz besondere Augen, besitzen eine Fähigkeit, die anderen Rassen ganz abgeht. Man hat durch Zufall mehrmals bei Chinesen konstatiert, dass sie abgeschossene Gewehrkugeln fliegen sehen, sie sehen sie aufschlagen, unter Bedingungen, bei denen es sonst ganz ausgeschlossen ist, dass ein anderer Mensch diese Beobachtung machen konnte.

Der Engländer Powel Snyder ist wohl der einzige, der über diese Eigenschaft der mongolischen Augen genaue Untersuchungen angestellt hat, er hat ein dickes Buch darüber geschrieben, kommt dabei auch zu der Ansicht, dass die mongolischen Schlitzaugen durch ihre schräge Stellung eine ganz andere Perspektive erzeugen, die Ferne schiebt sich übereinander, sodass die chinesischen Maler und Zeichner nicht deshalb alles übereinander setzen, was sich in Wirklichkeit hintereinander befindet, weil sie in ihrer Kunst in den Kinderschuhen stecken, weil sie es nicht anders auszudrücken vermögen, sondern weil sie es in Wirklichkeit so sehen. Ein ganz gewaltiger Unterschied in der perspektivischen Auffassung, von der wir anders sehenden Menschen uns gar keine Vorstellung machen können.

Kam nach dem donnernden Schuss kein Hotelpersonal hereingestürzt?

Nein, man war hier von diesem angenehmen Hotelgast wohl schon noch an ganz anderen Spektakel gewöhnt worden.

Übrigens hatte der Pater vorhin auch gesehen, dass auf dem Korridor einige Feuerwehrleute postiert waren, und dass sie hier in diesem Salon auch schon einmal gespritzt hatten, verrieten deutlich die Wasserspuren, auch oben an der Decke und der Gardinenstange.

»Können Sie kochen?«, war jetzt die nächste Frage der Dame.

»Ja, ich kann kochen.«

»Auch Tee?«

»Ei gewiss.«

»Kochen Sie mir eine Portion Tee.«

Percy erhob sich, sah sich um.

»Was suchen Sie?«

»Eine Gelegenheit, um Tee kochen zu können.«

»Dort liegt eine Büchse Tee, dort ist eine Karaffe mit Wasser, das kochen Sie dort in der leeren Konservenbüchse.«

»Das sehe ich alles, nun fehlt bloß noch ein Ofen mit Feuerungsmaterial. Oder haben Mylady einen Spirituskocher?«

»Was soll ich haben? Einen Spirituskocher? Sie sind wohl verrückt? Ich werde mich mit solchem Zeuge herumschleppen hier in Indien, wo es überall Holz genug gibt. Dort liegt ein Beil. Zerhacken Sie einen Stuhl oder sonst etwas. Die Feuerstelle machen Sie da auf dem umgedrehten Tisch, an den Beinen können Sie gleich recht gut den Kessel aufhängen, so etwas wie Draht werden Sie schon finden. Übrigens möchte ich Ihnen da nicht erst immer Instruktionen geben, sonst hat mir Atkins eben den Unrechten geschickt.«

Gut, diese Andeutungen genügten, sie sollten nicht mehr nötig sein. Freilich musste man bei diesem exzentrischen Dämchen immer neue Überraschungen erwarten.

Also Percy, wie er nun einmal hieß, nahm das kleine Handbeil und zerhackte einen eleganten Polsterstuhl in entsprechende Stücke; die Innenpolsterung bestand aus Seegras, das ganz vorzüglich brannte. Bald flackerte in der Mitte des umgedrehten Salontisches ein ansehnliches Feuer, schon knatterte lustig das Mahagoniholz.

Leere Konservenbüchsen gab es genug, ihr Inhalt musste gleich so verzehrt worden sein, wenn es die Dame immer so hielt, das Feuer gleich am Boden des Wohnzimmers zu machen, indem noch keine solche Feuerstelle zu sehen war. Oben an der Gardinenstange mit Hilfe der brennenden Portiere würde sie sich doch wohl keine Mockturtlesuppe und junge Schoten gewärmt haben, aber eine reine Konservenbüchse gab es nicht.

»Hier in dieser war Spargel —«

»Schon recht. Nehmen Sie die nur. Eine Zweipfunddose? Also ein Liter. Das ist die Hauptsache. Ach, Sie dachten wohl, Sie sollten das Ding erst reinmachen? Mensch, halten Sie sich doch nicht mit solchen Kleinigkeiten auf! Wir werden noch oft genug glücklich sein, aus den scheußlichsten Wassertümpeln unseren Durst löschen zu können.«

Gut. Percy füllte die Büchse aus der Karaffe mit Wasser, sie nicht erst ausspülend, dazu war das Wasser zu knapp, sie nur tüchtig ausschlenkernd, dann sah er sich nach etwas um, womit er den Kessel zwischen den Tischbeinen über dem Feuer aufhängen konnte.

Schnell hatte er gefunden, was er suchte. Die elektrische Licht- und Klingelleitung! Kann man sich etwas Praktischeres denken, um einen Kochtopf aufzuhängen? Mit grüner Seide brauchen die Kupferdrähte gar nicht umsponnen zu sein.

Percy löste die Drähte von der Wand, riss sie ab, erst die der Klingelleitung, sie hätten für seinen Zweck genügt, er annektierte aber auch noch die stärkeren Drähte für das Licht, nur zur Prüfung.

»Ob sie etwas sagt?«, dachte er dabei.

Nein, sie sagte nichts, weder Tadel noch Lob, beobachtete ihn nur mit Interesse, dabei immer wie ein Schornstein paffend.

Die Konservenbüchse wurde geschickt mit einer Schlinge befestigt, der Draht kreuz und quer zwischen den Tischbeinen ausgespannt, sodass der Kessel gerade über das Feuer kam. Die grüne Seide schwelte natürlich sehr bald ab, was aber dem Teewasser nichts weiter schadete.

»Ich bin mit Ihnen sehr zufrieden«, lobte die neue Herrin jetzt doch einmal. »Sie stellen sich sehr geschickt an. Hier haben Sie ein Zuckerchen.«

Und sie griff wieder unter das Tigerfell, brachte eine englische Fünfpfundnote zum Vorschein, hielt sie jenem hin.

Percy nahm sie, faltete oder knitterte sie zusammen und ließ sie ohne Weiteres in seiner Westentasche verschwinden.

Und er hatte mit seinem Verhalten wiederum das Richtige getroffen.

»Dass Sie sich nicht dafür bedanken, gefällt mir wiederum sehr an Ihnen.«

Es klopfte; ein Kellner geleitete einen Postmann herein, der einen ansehnlichen Stapel Briefe brachte, für Lady Lilly Lionel bestimmt.

»Ich nehme doch nichts an!«, wurden die beiden angeherrscht.

»Es ist ein anderer Postmann als heute früh, er muss es selbst hören«, entschuldigte sich der Kellner.

»Ich nehme keine Briefe an.«

»Es sind vier eingeschriebene dabei«, sagte der eingeborene Briefträger, also ein Inder, aber ein regelrrechter Beamter.

»Mir gleichgültig. Ich will sie nicht erst sehen.«

»Hier ist eine Postanweisung über 28 Pfund 15 Pence von —«

»Still! Keinen Namen!«

,Mylady verweigern auch die Annahme des Geldes?«

»Na selbstverständlich! Mir hat niemand Geld zu schicken.«

Der eingeborene Beamte machte eine entsprechende Bemerkung auf das Formular — Annahme verweigert.

Die Lady hatte wieder unter das Tigerfell gegriffen und ein Goldstück zum Vorschein gebracht, einen Sovereign, 20 Schilling.

»Können Sie den mit dem Munde auffangen?«

Schon riss der Kuli sein ansehnliches Maul auf.

»Wenn Sie es können, gehört er Ihnen, sonst nicht.«

Sie warf das Goldstück sehr geschickt, ebenso geschickt wurde es mit dem Munde aufgeschnappt.

»Hinaus!«

Durch die geöffnete Tür sah jetzt Percy draußen zwei Feuerwehrleute stehen, die Spritzen schussbereit in das Zimmer gerichtet, in dem ja auch schon ein tüchtiger Qualm herrschte, der nur durch eine zerbrochene Fensterscheibe etwas Abzug fand. Freilich verursachte der Kalkstummel der Kosakin wohl ebenso viel Qualm wie das offene Holzfeuer.

»Ist eine Frage gestattet?«

»Immer zu. Bei mir ist überhaupt alles gestattet. Nur angreifen lasse ich mich nicht.«

»Wenn Sie das Geld, das Ihnen zugeschickt wurde, nicht annehmen wollen, könnten Sie es da nicht einer wohltätigen Anstalt überweisen?«

Es war natürlich nur die Habgier des Paters, die er auch mit in seine fremde Körperhülle übernommen hatte, die ihn zu dieser Frage veranlasste.

»Nee«, erklang es lakonisch. Oder vielmehr »nau«, wie der gewöhnliche Engländer das »no« ausspricht, möglichst breit.

»Sie sind nicht für Unterstützung der Armen und anderen Hilfsbedürftigen?«

»Nau. Nun fragen Sie aber in dieser Beziehung nicht weiter, sonst müsste ich Ihnen einen stundenlangen Vortrag halten. Oder nur das eine will ich Ihnen noch sagen. Wer hungert und hat nichts, der soll sich das Nötige stehlen. Das ist meine Ansicht von der Sache. Schluss!«

Aber den Pater ließen die 28 Pfund 15 Pence noch nicht in Ruhe; er musste es doch noch einmal wagen.

»Oder hätten Sie da das Geld nicht dem Briefträger schenken können?«

»Ja, ich hätte es getan, wenn er nicht so hündisch gewesen wäre, das Goldstück mit dem Munde aufzufangen.«

Der Pater stutzte ob dieser Erklärung.

Das ließ allerdings tief blicken!

Sie hatte ihn selbst einen Hund genannt, vorher erklärend, was für ein edles Tier der Hund sei, hatte das aber doch in ganz besonderer Weise gemeint. Einen Menschen mit speichelleckendem Hundecharakter verachtete sie. Da musste der Pater allerdings vorsichtig sein. Seine Frage war doch sehr gut gewesen.

Das Wasser kochte. Percy nahm die Teebüchse. Übrigens ein chinesischer Tee, von dem, wie das Etikett sagte, das Pfund 20 Schillinge kostete. Es gibt aber noch viel teureren Tee. Beim Tee gibt es im Preise ja ebenso wenig eine Grenze wie beim Kaviar. Die besten Sorten werden gar nicht ausgeführt, kommen nur an den Kaiserhof, sind für Geld überhaupt gar nicht zu haben.

»Wünschen Sie den Tee stark?«

»Machen Sie das, wie Sie wollen. Ist er mir aber zu schwach oder zu stark, kriegen Sie ihn an den Kopf.«

Trotz dieser angenehmen Aussicht nahm Percy eine gute Hand voll, machte ihn ziemlich stark. Anders würde ihn diese Kosakin wohl nicht gewohnt sein.

Dann, als er die Teeblätter in das kochende Wasser geschüttet, nahm er die Konservenbüchse schnell vom Feuer mit allen Drähten, fasste diese kunstgerecht zusammen und schleuderte den Kessel durch die Luft im Kreise herum, sodass er also an den Drähten einen vertikalen Kreis beschrieb.

So sieht man es die Russen machen, wenigstens die russischen Bauern, so machen es alle Hinterwäldler und Buschmänner in Amerika und Australien, auch wenn sie Kaffee kochen. Durch die Zentrifugalkraft kann, wenn es schnell und geschickt gemacht wird, kein Wasser herausfließen und die Teeblätter oder der gepulverte Kaffee wird durch dieselbe Schleuderkraft fest gegen den Boden gedrückt, bleibt dort auch fest sitzen, steigt nicht wieder nach oben. Es ist aber nicht zu empfehlen, dieses Experiment im Zimmer zu machen. Sonst kann der Kessel einmal als Bombe zum Fenster hinausfliegen, und dann muss man auch aufpassen, dass niemand in der Nähe ist, der den Kessel sonst auf den Kopf bekommen kann.

»Bravo! Waren Sie in Russland?«

»Nein, aber in Amerika und Australien.«

Weiter wollte die Lady nichts wissen.

»Geben Sie mir dort die Blumenvase her oder den Aschenbecher.«

Trinkgefäße waren also zur Genüge vorhanden, und auch Percy war so klug, nicht erst zu fragen, auch er füllte sich gleich eine kleine Blumenvase mit dem Getränk für sich selbst.

Aber eines konnte er seiner Herrin doch nicht nachmachen.

Wohl fasste sie den heißen Porzellanaschenbecher mit einem Tuche an, um sich die Finger nicht zu verbrennen, aber ihr Mund und ihre Zunge kannten solche Schwäche nicht. Sie trank den kochend heißen Tee mit vollen Zügen, als wäre er lauwarm. Eben eine Kosakenkehle.

»Der Tee ist gut. So machen Sie ihn immer. Auf ein bisschen mehr oder weniger kommt es mir nicht dabei an, so penibel bin ich nicht. Wollen Sie etwas essen? Bestellen Sie. Was Sie wollen. Sie können es sich auch in der Küche braten oder kochen lassen. Nur für mich selbst muss das immer unter meinen eigenen Augen geschehen. Nehmen Sie Zucker zum Tee? Bestellen Sie. Ich brauche keinen. Trinken Sie ihn mit Milch? Nicht? Sonst würde ich Ihnen empfehlen, dann später eine milchende Stute zu stehlen. Kennen Sie den ewigen Juden?«

Es war ein merkwürdiger Sprung, vom Tee und Zucker und einer milchenden Stute auf den ewigen Juden! Sie machte aber wahrscheinlich noch ganz andere Sprünge.

»Sie meinen den Juden, der dem Heiland, als er sein Kreuz nach Golgatha trug, eine Ruhepause auf seiner Hausbank verweigerte und nun dafür zur Strafe der Sage nach für alle Ewigkeit oder doch bis zum jüngsten Gericht rastlos in der Welt umherwandern muss?«

»Den meine ich, es gibt keinen anderen ewigen Juden. Was wissen Sie von dem?«

»Nicht viel mehr, als ich jetzt berichtete. Dann habe ich einen Roman von Eugène Sue gelesen, in dem dieser ewige Jude mit die Hauptrolle spielt. Der galante Franzose hat ihm als Gesellschafterin auch noch eine ewige Jüdin beigegeben.«

»Wissen Sie, wie diese Sage sich so nach und nach herangebildet hat?«

Die Lady berichtete. Percy hatte sich mit seiner dampfenden Blumenvase bereits wieder neben sie gelagert.

»Es gibt zweierlei Lesarten dieser Sage. Die eine ist Ihnen also bekannt.

Nach dieser war es ein Schuster namens Ahasver, der dem Heiland auf seinem Wege nach Golgatha nicht erlaubte, einmal auf der Bank vor seiner Haustür auszuruhen, worauf Christus zu ihm sprach: »Ich werde ruhen, Du aber sollst wandern, bis ich wiederkomme.«

Nach der anderen Lesart war es der jüdische Turmhüter oder Kriegsknecht Malchus oder Kartaphilus, der im Vorraume des Hohenpriesters den Heiland mit Faustschlägen misshandelte, der nun deswegen bis zum jüngsten Gericht rastlos wandern muss, womit er nur deshalb begnadigt wurde, nicht gleich in die ewige Hölle fuhr, weil er diese seine Tat hinterher bitter bereute. Eigentlich ist es ja schon bitter genug, dass auch Petrus seinen Herrn verleugnete, was ihm nur deshalb zu verzeihen ist, weil er eben ein Mensch war, kein Hund.

Nun muss aber diese Sage doch irgendwie erst einmal entstanden sein.

So weit sich die Quellen verfolgen lassen, erzählt zum ersten Male von dieser Geschichte der englische Chronist von Vendower, und der will es wieder von einem armenischen Erzbischof namens Matthäus Paisiensis haben, der im Jahre 1228 in England war und erzählte, jener Ahasver lebe noch in Armenien als Einsiedler, er habe ihn selbst gesprochen.

Dann folgen noch viele solche Berichte, von denen die interessantesten in einem Büchlein enthalten sind, erschienen am Ende des 15. Jahrhunderts in Leyden. Der Bischof von Schleswig, Paul von Eitzen, will im Jahre 1542 in seiner Kirche zu Hamburg während der Predigt einen alten Juden gesehen haben, der sich sehr auffällig betrug, seufzte und stöhnte, ihn dann auch gesprochen haben, und da hat der Alte gestanden, dass er jener Schuster Ahasverus sei, hat alles ausführlich erzählt. Auch wie er alle hundert Jahre immer an dem Tage des Fluches in eine schwere Krankheit fiele, die ein ganzes Jahr währe. Oder in diesem Jahre sei er überhaupt tot, da rekonstruiere sich immer sein Körper wieder, sodass er wieder für 99 weitere Jahre aushalten könne.

Das sind die beiden Berichte, die sich mit dem ewigen Juden als mit einer historischen Tatsache beschäftigen. Hm.«

Mit gespitzten Ohren hatte der Pater zugehört. Diese Dame musste doch einen ganz besonderen Grund haben, dass sie sich hierüber so genau orientiert hatte.

»Glauben Sie, dass so etwas möglich ist?«

»Nein.«

»Dass jemand ein hohes Alter erreicht und sich irgendwie immer verjugendlicht?«

»Nein, so etwas kann ich nicht glauben.«

»Oder dass jemand richtig stirbt, aber seine Seele in den Körper eines anderen toten Menschen wandern lässt, sodass dieser wieder lebendig wird?«

Der Pater spitzte seine Ohren noch mehr, ja er wusste kaum noch, was er hiervon denken sollte, dass die jetzt von so etwas anfing!

Denn hierüber etwas aus seiner Herrin herauszubringen, hatte er nicht etwa Instruktionen bekommen.

»Wie meinen Mylady das? Seelenwanderung?«

»Nein, nicht eigentlich Seelenwanderung, sondern — doch lassen wir das. Sie würden mich gar nicht verstehen. Vielleicht ein andermal erkläre ich mich näher. Haben Sie zufällig einmal — es könnte ja vielleicht doch sein — etwas von einem Rabbi ben Jehosel gehört?«

Über diesen war Percy Macdonald ja instruiert worden, aber natürlich verneinte er jetzt die Frage.

Wieder blickte die Lady ganz tiefsinnig in ihren Aschenbecher.

»Wenn ich diesen Kerl nur einmal erwischen könnte!«

»Es ist ein jüdischer Rabbiner, den Sie suchen?«

»Den ich suche? Hm. Ja und nein, wie man's nimmt. Haben Sie schon etwas von der Kabbala gehört?«

»Ist das nicht eine altjüdische Geheimlehre?«

,Ja. Was wissen Sie sonst davon?«

»Gar nichts weiter.«

»Also Hebräisch können Sie nicht.«

»O nein.«

»Auch nicht Arabisch?«

Das also hatte auch der Jüngling für einen besonderen Zweck erlernen müssen. Hier aber durfte er nichts davon wissen.

»Von Chemie verstehen Sie auch nichts?«

»Nein, gar nichts«, gestand der junge Mann als Percy Macdonald und log es als akademisch hochgebildeter Jesuitenpater, der in allen Wissenschaften sattelfest war.

»Glauben Sie, dass es hellsehende Menschen gibt?«, war dann die nächste Frage.

»Hellsehende? Wie meinen das Mylady? In die Zukunft schauende?«

»Ich meine — haben Sie zufällig von dem amerikanischen Kinde gehört, einem kleinen Mädchen, das die Gabe des zweiten Gesichtes besitzt?«

»Ich weiß nicht, wen Mylady meinen.«

»Deasy heißt das kleine Mädchen wohl, es stand einmal viel davon in den Zeitungen.«

»Ich erinnere mich wirklich nicht —«

»Never mind«, wurde er schnell unterbrochen, »ich will aufbrechen. Klingeln Sie mal dem Hotelier oder sonst einem Kerl, dem ich bezahlen kann.«

Der geklingelte Kellner rief den Geschäftsführer herbei. Die Lady hatte sich noch nicht aus ihrer Lage erhoben.

»Ich hatte Ihnen fünftausend Pfund Sterling zum Aufheben gegeben.«

»Sehr wohl, Mylady.«

»Die Einrichtung dieses Salons und des benachbarten Schlafzimmers hatte ich Ihnen mit tausend Pfund abgekauft.«

»Sehr wohl, Mylady.«

»Wobei Sie natürlich mindestens die Hälfte des Anschaffungspreises zu viel gefordert haben.«

Der englische Geschäftsführer sagte zwar diesmal kein »Sehr wohl!«, aber auch kein »O nein!«, er dienerte und lächelte nur.

»Also hätte ich jetzt noch viertausend Pfund bei Ihnen stehen.«

»Sehr wohl, Mylady.«

»Ich will das Hotel verlassen. Was bin ich sonst noch schuldig?«

»Ich werde sofort die Rechnung —«

»Ist nicht nötig. Beträgt das, was ich noch schuldig bin, viertausend Pfund?«

Der Geschäftsführer machte ein sehr verdutztes Gesicht. Es kamen eigentlich nur noch das Pfund Tee und einige Büchsen Konserven hinzu, die sie sich vom Hotel hatte liefern lassen, fünf Pfund, wenn es sehr, sehr hoch berechnet wurde.

»O nein, Mylady, es sind ja nur —«

»Gut! Verteilen Sie also den Rest an das in Betracht kommende Personal als Trinkgeld. Fort!«

Der Geschäftsführer ging, wahrscheinlich schon überlegend, wie viel er von den rund viertausend Pfund, 80 000 Mark, die er einfach als Trinkgeld verschenkte, in die eigene Tasche fließen lassen konnte.

Es war ja eigentlich ein starkes Stückchen, 80 000 Mark einfach als »Trinkgeld« zu verschenken, aber vorkommen kann so etwas alle Tage. Werden an den grünen Tischen, und nicht nur an denen von Monte Carlo, in mancher Nacht von einer Hand nicht noch ganz andere Summen verspielt? Wird nicht um manchen weißen Hals ein Schmuck von noch ganz anderem Werte gelegt? Dem Hasardspiele und der Verschwendungsmanie sind überhaupt gar keine Grenzen gezogen. Aber es können auch noch andere Motive in Betracht kommen. Man muss nur das Wort »Trinkgeld« weglassen. Hat nicht der heilige Franziskus, als er noch ein lebensfroher Jüngling war, eines Tages sein ganzes, sehr bedeutendes Vermögen verschenkt? Haben das nicht noch viele andere Männer getan, die sich der Kirche widmen wollten? Hat nicht Baruch Spinoza auf die große väterliche Erbschaft verzichtet, weil er in seiner Dachkammer ein »freier Mann bleiben« wollte?

Und es war eben die Lady Lilly Lionel gewesen, die dies getan hatte! Sie wollte wieder einmal nichts haben, da hatte sie einfach alles von sich geworfen.

Der Pater freilich mit seinem habgierigen Charakter stand da wie ein verhungerter Hund an der Kette, dem der vorgehaltene Knochen wieder entzogen wird.

Aber jetzt konnte er nichts mehr dagegen tun, um sich noch einen Anteil an der Beute zu sichern, das wusste er. Er musste für später besser aufpassen, ohne sich eine Blöße zu geben.

»Holen Sie mir meinen Mantel von drüben.«

In dem benachbarten Schlafzimmer von höchster Eleganz sah es ebenfalls wild genug aus. Alles durcheinander geworfen, obgleich sie offenbar das Bett gar nicht benutzt hatte.

Auf diesem lag ein langer Kaftan aus blauem Atlas, innen mit Marder- oder Zobelpelz gefüttert, außen reich mit weißem Hermelin verbrämt.

Ein Kaftan haben wir gesagt. Nicht einfach ein Pelzmantel, weil man da entweder an regelrechte Ärmel denkt oder an einen »Theatermantel« ohne jede Ärmel. Hier war das halb und halb arrangiert, die Arme wurden durch Öffnungen gesteckt und dann immer noch durch einen besonderen Überwurf verdeckt. Kirgisenmantel wird solch ein Ding in der Modenwelt genannt. Kirgisen und Kosaken tragen solche Kostüme mit Vorliebe, auch zu Pferde.

Was mochte dieser noch ganz neue Pelz gekostet haben? Auch bei Pelzsachen gibt es ja kaum eine Grenze. Ein einziger Silberfuchs ist heute nicht mehr unter 20 000 Mark im Einkauf aus erster Hand zu haben, vier bis sechs Füchse gehören zu einem richtigen Pelzkostüm, und der Kürschner will doch auch etwas daran verdienen. Pelzmäntel für 250 000 Mark, für eine Viertelmillion — in den Berliner Schaufenstern bekommt man sie nicht zu sehen, da kann Deutschland noch nicht mit, wohl aber in London, Paris, New York, Petersburg — und die allerseltensten und kostbarsten Exemplare kommen schließlich doch immer nach China!

Das hier war kein Silberfuchs. Es war »nur« Zobel und Hermelin. Aber auch dieser Kirgisenmantel repräsentierte ein Vermögen, von dessen Zinsen jemand recht behaglich hätte leben können.

Als Percy wieder den Salon betrat, war seine Herrin schon aufgestanden.

Ja, es war eine sehr kleine Figur, auch für ein Weib, wenn auch nicht etwa zwerghaft klein.

»Geben Sie her, legen Sie mir den Mantel um.«

Sie war noch immer in die rote Tischdecke eingehüllt.

Da, wie der Pater hinter sie trat, um ihr den Mantel umzulegen, merkte er noch rechtzeitig, dass sie, Vorbereitungen treffend, um die rote Hülle fallen zu lassen, ihn auch hinter ihrem Rücken beobachten konnte und das auch wirklich tat.


Illustration

In dem Salon war noch ein anderer Wandspiegel vorhanden, diesem hatte sich die Lady zugewandt, in diesem beobachtete sie ganz zweifellos das Gesicht des hinter ihr Stehenden.

Da war der Pater, in dessen Adern jetzt heißes Jünglingsblut floss, natürlich sehr vorsichtig. Dezent hielt er den Mantel ausgebreitet, bereit, ihn über die Schultern zu legen, sobald die Hülle fiel. Unter dem Mantel selbst konnte dies nicht gut geschehen, weil sie erst die Arme durch die Öffnungen stecken musste.

Es geschah, die rote Hülle fiel. Und nicht etwa, dass der Pater direkt wegblickte — sonst hätte er nur verraten, wie er wusste, dass er im Spiegel beobachtet wurde.

Wie ganz selbstverständlich blickte er herab und er sah einen vollen Nacken, so schön und edel gewölbt, wie den einer typischen Römerin, braun und wie Atlas glänzend, und dann kam ein schwarzer Trikotstoff.

Mehr sah der Pater nicht, dann war sie in den Pelzmantel eingehüllt, aber es hatte genügt.

Nicht, dass sie ein eigentliches Trikot tragen konnte. Unter einem solchen versteht man etwas anderes. Das muss doch auch unten die Beine bedecken, meist sogar auch die Füße, ersetzt gleich die Strümpfe. Sondern sie hatte einfach ein Badekostüm aus schwarzem Trikotstoff an, ganz eng anliegend.

»Heben Sie das Fell auf, dort an dem Zipfel.«

Percy gehorchte. Er sah ein Beutelchen und eine alte, schmierige Brieftasche.

»Nehmen Sie das an sich, stecken Sie es ein.«

Das Lederbeutelchen war für seine Größe oder vielmehr Kleinheit sehr, sehr schwer.

»Es enthält Goldstücke, die Brieftasche Papiergeld, sehr viel. Nach menschlichen Begriffen. Sie sind mein Kassierer, ich will nichts mit Geld zu tun haben.«

Also es war doch nicht der Fall, wie der Pater geglaubt hatte, um irgend eine Erklärung zu finden, dass sie alles Geld verschenkt hatte, um wieder einmal bettelarm zu sein und als Landstreicherin zu leben.

»Stecken Sie das Geld gut ein! Lassen Sie es sich nicht stehlen! Und wenn Sie selbst mir mit der Kasse durchbrennen, dann werde ich Sie überall wieder zu finden wissen und Sie bestrafen. Nehmen Sie das übel, dass ich an so etwas denke? Dann passen Sie nicht zu mir. Verschenken tun Sie nichts davon, das besorge allein ich. Ist das Geld alle, dann sagen Sie es mir, ich kann überall neues beschaffen. Nun kommen Sie, jetzt treten wir unsere Reise an.«

— • —

Kapitel 50.
Die neue Medea

Originalseiten 1205 — 1229

Es war eine der glänzendsten Hauptstraßen Bombays, die Greenstreet, die nach Elpinstone-Circle führt, auf die sie einige Minuten später aus dem Hotelportal traten.

Jetzt kurz vor Mittag war sie sehr belebt.

Die kleine Frauengestalt in dem blauen Atlasmantel mit weißem Hermelin, unter dem man gerade noch die nackten Füßchen sah, ohne Kopfbedeckung, fiel durchaus nicht auf.

Denn man befand sich in Bombay.

Ach, von was für Gestalten und Trachten wimmelte es da noch auf der Straße!

Ach, da liefen noch so viele Russen und Kirgisen und Tscherkessen und auch Juden in Pelzen herum, trotz der indischen Mittagsglut, sie trennen sich nun einmal nicht von ihren kostbaren oder schmierigen Pelzen, die übrigens ebenso gut vor der Hitze wie vor der Kälte schützen können, und dann wieder eingeborene Digambaras, eine Sekte der Dschainisten, denen ihre Religion jegliches Kleidungsstück verbietet, sie dürfen nur »mit dem Luftraum bekleidet« sein, nur in den großen Städten mit europäischer Kultur schreibt ihnen die englische Polizei wegen der Schamverletzung eine kleine Verhängung vor, es ist nicht einmal ein winziger Schurz zu nennen, nur eine kleine Schachtel, ein Feigenblatt erfüllte seinen Zweck besser, und schon draußen vor der Stadt lassen Männlein und Weiblein auch wieder diese Schachtel weg, und diese braunen Männer, die hier splitterfasernackt herumspazieren, waren nicht etwa Bettler, sondern gerade die Digambaras sind durchweg die reichsten Kaufleute und die größten Plantagenbesitzer — und dann wieder Reiter in goldenen Harnischen oder sonst in den denkbar phantastischsten Kostümen. —

Es ist der reine Maskenball, den man in den Straßen Bombays von früh bis abends und die ganze Nacht hindurch bewundern kann.

Nein, da fiel die kleine Gestalt in dem blauen Hermelinpelze mit den wilden Locken und den nackten Füßen durchaus nicht auf!

Sie gingen zu Fuß nach dem Bahnhofe, hatten es gar nicht weit.

Bombay!

Ach, wie wird es doch meist von denen unterschätzt, die es nicht selbst gesehen haben.

Es hat ja auch noch nicht ganz eine Million Einwohner, und was kann man denn überhaupt von solch einer indischen Hafenstadt verlangen.

Bombays Victoriabahnhof ist der größte der Welt!

Allerdings gewesen. Jetzt ist er an Ausdehnung vom Leipziger Bahnhof übertroffen worden.

Ja, man muss nur bedenken, dass hier in Bombay der Aus- und Eingangspunkt aller Waren eines Riesenreiches von mehr als 200 Millionen Einwohnern ist! Und nicht nur für diese, sondern überhaupt für das ganze südliche Asien, sogar China mit inbegriffen!

Und als nun die Engländer, die ihre Reichtümer doch hauptsächlich ihrem Indien verdanken, diesen Bahnhof ausführten, vollendet 1897, da haben sie es sich auch etwas kosten lassen.

Der Frankfurter Bahnhof, seiner Zeit ein Weltwunder, kostete 5 Millionen Mark. Der Bahnhof von Bombay verschlang genau das Doppelte.

Es ist aber auch ein schier märchenhafter Prachtbau geworden. Natürlich der Umrahmung von orientalischen Palästen und Moscheen angepasst, also selbst in orientalischem Stile gehalten, was wieder für eine nüchterne europäische Großstadt nicht passen würde.

Jedenfalls aber ein Bauwerk, das man selbst gesehen haben muss, um solch eine architektonische Pracht glauben zu können. Abbildungen können ja nur einen leisen Begriff davon geben. —

Die beiden waren durch ein Seitenpförtchen in die herrliche Haupthalle eingetreten. Die Lady Lionel schien hier ganz zu Hause zu sein, aber nicht nur das, sie wurde auch schon erwartet.

Alsbald drängte sich durch die geschäftige oder bummelnde Menge ein indischer Beamter, der auf seinen Ärmeln alle Flaggen eingestickt zeigte, deren Sprache er beherrschte, also ein Dolmetscher, zugleich aber auch sonst zum Führen von Fremden da, und machte vor der Pelzträgerin eine tiefe Reverenz.

»Willst Du mir folgen, o Herrin, in zehn Minuten geht Dein Zug ab.«

Da er es ohne Weiteres auf Hindustanisch gesagt hatte, musste er wohl schon wissen, dass die Dame diese durch ganz Indien verbreitete Umgangssprache verstand, sonst hätte er es ebenso gut Englisch oder Französisch oder Deutsch sagen können.

Also auch Hindustanisch verstand sie?

Das hatte der Pater noch gar nicht gewusst. Er wusste über seine neue Herrin überhaupt nicht viel mehr, als was wir damals den alten Herrn über sie sagen hörten.

Sie folgten dem Führer, der sie in eine Abgangshalle geleitete.

Da stand ein Zug mit schon qualmender Lokomotive, an der die ungeheuren Räder auffielen, nur aus durchgehenden Wagen erster und zweiter Klasse zusammengesetzt, eine Tafel legitimierte ihn: Expresszug Bombay-Benares-Kalkutta in 22 Stunden!

Ein Schaffner eilte auf den Wink des Führers herbei, schloss mit besonderem Schlüssel eine Waggontür erster Klasse auf, an der schon verschiedene Passagiere vergebens geklinkt hatten, schloss sie hinter den beiden wieder zu.

Der Pater hatte auch in diese fremde Körperhülle seine Fähigkeit mit herübergenommen, im Finsteren sehen zu können, an solch einen schnellen Wechsel von Licht und Dunkelheit mussten sich aber seine Augen doch erst gewöhnen.

Denn in dem schwülen, stickigen Raume herrschte mehr als Dämmerung, kaum war zu erkennen, dass vor den Fenstern die grünen, sehr dicken Vorhänge zugezogen waren, die außerordentlich dicht schlossen, kaum einen Lichtstrahl von draußen eindringen ließen.

Doch da flammte schon an der Decke das elektrische Licht auf, von der Lady angedreht, in blendendster Helligkeit, noch nicht zur gedämpften Ampel angestellt, der man sogar die verschiedensten Farben geben konnte durch mechanisches Vorschieben von Gläsern.

Es war ein äußerst luxuriöses Coupé, und seinen Einrichtungen nach, um für die Bequemlichkeit des Reisenden zu sorgen, das wahre Kabinett der Geheimnisse; man musste nur suchen, um immer ein neues Geheimfach oder einen neuen Knopf zu entdecken, der ein neues Wunder hervorbrachte, wenn man nicht darin gleich eingeweiht wurde.

Die Wagen der amerikanischen Pacific-Züge bieten dem Reisenden viel, sehr viel! Vor allen Dingen sind sie so vorzüglich gefedert und haben solch ausgezeichnete Betten oder sonstige Schlafgelegenheiten, dass man nach achttägiger ununterbrochener Fahrt den Wagen in San Francisco so frisch verlässt, wie man ihn in New York bestiegen hat. Aber diese Pacific-Züge haben, wie alle im republikanischen Amerika, ganz im Gegensatz zu Frankreich, wo sogar die elektrischen Straßenbahnen meist zwei Klassen haben, um Plebs von Aristokratie zu trennen — nur eine einzige Klasse, da muss größerer Komfort überhaupt ausgeschlossen sein. Nur die angehängten Wagen der Pullman'schen Gesellschaft bieten den höchsten Luxus. Aber mit den erstklassigen Wagen der englischindischen Luxusexpresszüge lassen die sich immer noch nicht vergleichen! In ihrem Kaiserreiche Indien zeigen die Engländer einmal, was sie in dieser Hinsicht leisten können, wenn sie nur wollen. Sie haben aber auch Abnehmer für solche Plätze und ganze Wagen, und dann ist es eben für die hohen Staatsbeamten, die sich den vornehmen, prachtliebenden Indern doch repräsentieren müssen.

Jetzt waren es grüne, weiche Samtpolster, welche die Bänke und die beiden Arm- und Schaukelstühle bedeckten. Sie konnten mit einem Ruck in härtere, kühlere Lederpolster verwandelt werden und diese wieder durch einen anderen Griff in üppige Betten, wozu alles Erforderliche aus verborgenen Wandschränken herausquoll. Zwei Ventilatoren an der Decke sorgten, wenn sie angestellt wurden, für Kühlung. Während der Fahrt brauchten sie sich aber nicht zu drehen, da waren in der Decke Windtüten vorhanden, durch die eben der Wind hereinblies.

War es aber draußen gar zu heiß, sodass der einblasende Wind keine Erfrischung mehr brachte, so konnte auch das abgestellt werden, wie diese Einrichtung überhaupt nur wegen Abzuges von Rauch und verbrauchter Luft vorhanden war.

Denn da gab es noch besondere Hähne zur Regulierung der Temperatur.

So wie bei uns, kalt — warm.

Nur schade, dass das Funktionieren dieser Hebelvorrichtung bei uns nur eine ganz einseitige ist. Wir können das Coupé im Winter wohl warm machen, aber im Sommer doch nicht etwa kühl, indem wir den Hebel auf »kalt« stellen.

Hier war es gerade umgekehrt. Jedes Coupé besaß seine eigene Kühlanlage. Mäßig — kalt — sehr kalt. Wurde bei letzterer Hebelstellung die Kühlschlange unter den Sitzen mit Wasser übergossen — was freilich nicht erlaubt war — so gefror dieses augenblicklich, und diese Kälte teilte sich natürlich dem ganzen Raume mit.

Dies alles ging von der Lokomotive aus, wie hinter dem Speisewagen auch ein besonderer Eiswagen lief, der sich sein Eis selbst erzeugte; ja, jedes Coupé besaß seinen eigenen Eisschrank, auch seinen eigenen Duschraum, sowohl mit heißem Wasser wie eiskaltem, usw.

Solche kühle Annehmlichkeiten sind ja in Indien freilich auch sehr angebracht. Noch vor 20 Jahren war eine Fahrt von Bombay nach Kalkutta eine fürchterliche Tortur, auch in erster Klasse, und in dritter Klasse ist das noch heute der Fall, auch nur für eine Fahrt von einigen Stunden, man kann dabei wirklich wahnsinnig werden. Es ist schon oft genug vorgekommen, dass jemand die Glut nicht mehr ertrug und aus dem Zuge sprang, verunglückte.

Weiter sah der Pater auf den ersten Blick, dass die Lady doch nicht so ohne Gepäck war. Was sie mitnehmen wollte, hatte sie eben schon vorher in dieses für sie separierte Coupé bringen lassen.

Allerdings keine Koffer und Hutschachteln und dergleichen. Wohl aber lagen auf den Netzen und in hierfür bestimmten Schränken eine große Anzahl von Konservenbüchsen und auch Flaschen, also ein Zeichen, dass sie nicht Küche und Speisewagen benutzen wollte, sie hatte sich selbst verproviantiert und zwar wohl für eine sehr lange Fahrt, vielleicht bis nach Kalkutta, ferner lagen da ein Paar gewaltige Kanonenstiefel, nur mit sehr kleinen Füßen, dafür aber mit noch gewaltigeren Sporen, weiter eine elegante Doppelbüchse; ein Gürtel war mit Patronen gespickt — nun hörte das »Gepäck« allerdings auf! In der Hauptsache bestand es doch nur aus Konservenbüchsen und Schnapsflaschen.

»Na da setzen Sie sich doch.«

Sie hatte sich bereits auf einem der Polster lang ausgestreckt.

Ihr Begleiter gehorchte, setzte sich ihr gegenüber.

»Es bleibt dabei, dass ich nichts über Ihre Person und Ihr früheres Leben wissen will. Einfach weil mich das gar nicht interessiert. Einiges habe ich über Sie ja schon in der Atkins'schen Gesindeagentur vernommen, und wenn ich mir etwas von Ihnen bestätigen lasse, so tue ich es nur in Ihrem eigenen Interesse. Denn ich bin im Grunde sehr rücksichtsvoll. Sie sind schon früher einmal in Bombay gewesen?«

»Ja.«

»Als Turnlehrer in der Pledman'schen Schule für schwedische Heilgymnastik?«

Der Pater konnte als Percy Macdonald ruhig bejahen, diese Schule der Gymnastik existierte schon längst nicht mehr.

»Wie lange?«

»Etwas über ein Jahr — vierzehn Monate.«

»Und dann sind Sie in England gewesen?«

»Ja.«

»Was haben Sie da getrieben?«

»Privatisiert. Ich wollte mich selbstständig machen, solch eine Schule für schwedische Heilgymnastik gründen, fand aber in London und überhaupt in England schon zu viel Konkurrenz vor, hörte, dass Pledman in Bombay eingegangen sei, beschloss hier solch eine Schule aufzumachen.«

»Warum ist daraus nichts geworden?«

»Mein Kompagnon, den ich gefunden, der Geldmann, hat mich schmählich im Stich gelassen.«

»Deshalb sahen Sie sich nach einer anderen Stelle um?«

»Ich musste es tun, meine Mittel waren sehr beschränkt. Ich wandte mich an die Agentur von Atkins und wurde zu Ihnen als Sekretär empfohlen.«

»Als Sekretär?«

»Ja. Obgleich allerdings, wie ich weiß, die Hauptsache auf gymnastische und athletische Ausbildung gelegt wurde.«

»Und auf bedingungslose Hundetreue«, ergänzte die Lady.

»Treue wird selbstverständlich verlangt, deren dürfte sich wohl jeder Bewerber rühmen. Mich bevorzugte die Agentur unter einigen Dutzend Bewerbern um die ausgeschriebene Stellung wegen meiner gymnastischen Ausbildung.«

»Haben Sie während Ihres Hierseins Hindustanisch gelernt?«

»Ja. Ich hatte es schon vorher durch Privatunterricht gelernt, weil ich glaubte, auch viel mit Indern zusammenzukommen, was allerdings gar nicht der Fall gewesen ist.«

»Können Sie es noch heute?«

»Jawohl!«

»Perfekt?«

»Ganz perfekt.«

Sie glaubte es ihm, stellte nicht erst Fragen in Hindustanisch, sie sprachen weiter Englisch zusammen.

»Was haben Sie sonst von Indien gesehen?«

»Gar nichts.«

»Sie sind während der vierzehn Monate nicht aus Bombay herausgekommen?«

»Nur in die nähere Umgegend, nicht weiter als zehn englische Meilen.«

»Das ist sehr bedauerlich. Nämlich deshalb, weil Sie auch während dieser unserer Reise nichts von Indien zu sehen bekommen werden.«

»Nicht? Weshalb denn nicht?«

»Ich will Ihnen sagen, wie Sie sich zu verhalten haben.

Tun und lassen Sie hier in diesem Coupé was Sie wollen. Nur mich dürfen Sie nicht stören.

Sonst aber machen Sie es finster oder stellen das blaue oder rote Licht an, singen Sie oder blasen Sie Posaune, wenn Sie eine bei sich haben, oder verschaffen Sie sich eine, schießen Sie nach Belieben mit Kanonen — kann mich alles gar nicht stören.

Nur die Fenstergardinen dürfen Sie nicht öffnen!

Auch nicht die kleinste Spalte, um einmal hinauszublicken«

Auch nicht die Türen, nicht die zum Durchgangskorridor führende.

Nur die nach dem Duschraum, in dem Sie sich nach Belieben duschen können, dort sind die Fenster aus Milchglas, die andere Tür sowieso geschlossen.

Sie dürfen dieses Coupé also nicht verlassen, keinen Blick hinaus tun, wofür ich natürlich meine triftigen Gründe habe, die ich Ihnen aber nicht offenbare.

Oder meinetwegen halten Sie mich für spleenig, für total verrückt. Vielleicht werden Sie später einmal einsehen, dass ich's nicht bin.

Wenn Sie essen oder etwas trinken wollen, so rufen Sie den Kellner, bestellen Sie nach Belieben, lassen Sie sich hier servieren — Sie selbst aber verlassen das Coupé nicht, blicken nicht hinaus! Verstanden?«

»Sehr wohl, Mylady.«

»Gut. Das war der erste Teil. Als so ein Gymnastiker können Sie doch natürlich auch sehr gut schwimmen.«

»O ja, Mylady«, bejahte Percy auch diese merkwürdige Zwischenfrage.

»Auch springen? Kopfüber ins Wasser hinein?«

»Jawohl, ich könnte mich als Kunstspringer vom Sprungbrett ins Wasser produzieren.«

»Wir verlassen den Zug nämlich, ohne dass er hält, springen dabei ins Wasser.«

»Ah so!«

»In finsterer Nacht, morgen früh gegen drei Uhr. Wenn wir in einer etwas gemäßigteren Fahrt eine Brücke passieren.«

»Ich verstehe.«

»Es ist Neumond, da ist also der Mond schon längst untergegangen, und da dürfte auch bedeckter Himmel sein. Also es wird wahrscheinlich Stockfinsternis herrschen. Werden Sie bereit sein, mir nachzuspringen, wenn ich aus der geöffneten Coupétür einen Kopfsturz in die schwarze Finsternis hinaus mache?«

»Ich werde nachspringen!«

»Lieber wäre es mir, wenn Sie zuerst sprängen.«

»Ich werde zuerst springen.«

»Wirklich?«

Die schwarzen Heidelbeeren funkelten ihn durchbohrend an, aber dabei immer mit einem schelmischen Ausdruck.

»Ich kann es Ihnen schon jetzt auf Ehrenwort zusichern.«

»Gut. So können Sie jetzt auch gleich noch etwas mehr über unser Ziel erfahren. Obgleich ich Sie sonst nicht in meine Geheimnisse einweihen werde. Kennen Sie Gaur?«

Der Pater kannte es recht wohl, als Percy Macdonald aber verneinte er die Frage.

»Auch Lakhnauti genannt.«

»Nein, ich habe noch nie davon gehört.«

»Es war einst die Hauptstadt von Bengalen, jetzt in Trümmern liegend —«

»Ach richtig, jetzt entsinne ich mich«, stellte sich der andere erstaunt, »jawohl, Lakhnauti, die ungeheuere Ruinenstadt in Bengalien — jawohl, gehört habe ich schon davon.«

»So ist es. Eine ungeheuere Ruinenstadt. Sie bedeckt viele englische Quadratmeilen. Von ihrer Entstehung und Blütezeit und Verfall weiß man merkwürdigerweise absolut gar nichts, obgleich dies alles gar nicht so in sagenhafte Zeit zurückgehen kann, denn außer brahmanischen und buddhistischen Bauten sind auch sehr viele mohammedanische Moscheen vorhanden. Haben Sie von den Mundaris oder Kolariern gehört?«

»Ist das nicht ein großes Volk?«

»Ja. Welches dort in jener Gegend haust. Haben Sie sich auch mit der indischen Religion beschäftigt?«

»Etwas, um nicht grobe Verstöße gegen die Sitten der Brahmanisten und Buddhisten und Mohammedaner zu begehen.«

»Wissen Sie, dass es außer den drei von Ihnen genannten Religionen in Indien noch andere gibt?«

»Jawohl, das weiß ich.«

»Wie viele?«

»Das allerdings weiß ich nicht.«

»Da wären Sie auch der allererste und allereinzigste Mensch, der das wüsste. Es gibt in Indien so viele selbständige Religionen und von jeder einzelnen wieder so viele abzweigende Sekten als Sterne am Himmel stehen, sie sind also einfach unzählbar, und durch das Gefitze der Götter und Geister und Dämonen weiß sich nun vollends kein Mensch durchzufinden. Indem nämlich jedes einzelne Dorf seine eigenen Götter und bösen und guten Geister hat, und zwar jedes einzelne Dorf immer gleich legionenweise.«

Die Lady sprach die Wahrheit, sie war sehr orientiert. Also wollen auch wir hierüber gar nicht weiter anfangen.

»Auch die Mundaris haben zahllose Götter und immer noch mehr Dämonen, die sie Bongas nennen. Außerdem glauben sie an Seelenwanderung.«

»Natürlich, diesen Glauben haben alle indischen Religionen gemeinsam, mit Ausnahme der mohammedanischen, die ja aber auch keine indische zu nennen ist, so viele Inder ihr auch angehören mögen.«

»Ja, aber die Mundaris glauben nicht nur an eine Seelenwanderung nach dem Tode.«

»Sondern?«

»Dass sie ihre Seelen auch schon bei Lebzeiten in Tiere schicken, sich also einfach in Tiere verwandeln können, aber auch in andere Menschen, vorausgesetzt, dass sie erst getötet werden.«

Wieder spitzte der Pater die Ohren.

»Wie wollen sie denn das machen?«, fragte er dann mit ungläubigem Staunen.

»Mit Hilfe der Bongas, der beschworenen Geister. Am leichtesten gelingt dem Baiga, dem Dämonenbeschwörer, dem Priester und Hexenmeister, das Verwandeln in einen Tiger, weil der dort eben das herrschende Tier ist, weil sie in dieser Verwandlung eben die meiste Übung haben. Das klingt unglaublich, nicht wahr?«

»Na ja, natürlich, das ist eben nur ein Aberglaube.«

»Es ist Tatsache, dass es in dieser Ruinenstadt und Umgegend manchmal von Königstigern geradezu wimmelt, wenn aber ein Jäger hinkommt — natürlich ein europäischer, der auch niemals eingeborene Treiber oder nur Begleiter bekommt, nicht für alles Geld der Welt — dann ist keine Spur mehr von einem Tiger zu sehen. Oder eben nur noch die Spuren. Aber kein Tiger selbst mehr.«

»Die haben eben ihre sicheren Schlupfwinkel.«

»Nein, die Mundaris können sich wirklich in Tiger verwandeln!«

Mit dem größten Nachdruck hatte es die Lady gesagt, ihr Gegenüber immer fest ansehend.

»Wie wollen Sie das behaupten?«

»Weil ich selbst schon in dieser Ruinenstadt gewesen bin.«

»Und?«

»Weil sich vor meinen eigenen Augen solch ein Baiga in einen Königstiger verwandelt hat.«

»Ist nicht möglich!«

»Wie ich sage.«

»Sie waren hypnotisiert oder sonst wie in einem betäubten Zustande.«

Sie lachte verächtlich.

»Ich hypnotisiert oder betäubt? So was gibt's bei mir ja nicht.«

»Ja, wie soll man sich denn sonst so etwas erklären können?«

»Eben Zauberei. Und ich habe einen Mann kennen gelernt, aber nicht hier in Indien, sondern in einer europäischen Hauptstadt, der sich vor meinen Augen gleichfalls in die verschiedensten Tiere und auch in andere Menschen verwandelte, die er vorher freilich erst töten oder doch in Starrkrampf versetzen musste.«

Dabei ruhten die schwarzen Augen so durchbohrend auf dem Pater, und zwar diesmal nicht so schelmisch wie sonst, dass dem ganz schwül zumute wurde.

Himmel, die weiß oder ahnt doch nicht etwa, dass ich —

Doch schnell hatte er diesen Gedanken wieder verworfen. Eben ein ganz merkwürdiges Zusammentreffen, nichts weiter.

»Darf ich fragen, wer dieser Mann war? Auch so ein indischer Zauberer?«

»Nein, ein ganz moderner Europäer. Allerdings nicht der Rasse nach. Ein jüdischer Herr.«

»Doch nicht jener Rabbi?«

»Der Rabbi Jehosel, der sich selbst den ewigen Juden nennt, der aber nicht der Schuster Ahasverus, sondern der Kriegsknecht Malchus gewesen sein will.«

»Und er hat sich vor Ihren Augen wirklich in Tiere verwandelt?«

»Er tat es, und er hat mir auch das Rezept dazu gegeben.«

»Das Rezept dazu?«

»Wie man es macht.«

»Dann können Sie es also auch.«

»Ich vermag es nicht auszuführen.«

»Weshalb nicht?«

»Weil mir der Schlüssel dazu fehlt.«

»Es ist also in einer Geheimschrift geschrieben?«

»Ja und nein. Es erfordert chemische Kenntnisse, die ich nicht besitze.«

»So wenden Sie sich doch an einen erfahrenen Chemiker.«

»Ich werde mich hüten! Dort in der Ruinenstadt hoffe ich den Rabbi wiederzufinden, dort wird er mir den Schlüssel geben, wie er mir versprochen hat.«

»Er hat es Ihnen versprochen?«

»Schweigen Sie!«, steckte jetzt die Lady einmal die Herrin gegen ihren Sklaven heraus.

Der Zug war schon längst in voller Fahrt. Wann er sich in Bewegung gesetzt, davon hatte der Pater gar nichts gemerkt.

»Also Sie werden mir heute Nacht vorausspringen«, begann sie bald wieder.

»Ich werde es tun.«

»Gut, diese einfache Bestätigung gefällt mir. Dass Sie nicht erst mit Ihrer Courage prahlen. Der Sprung ist an sich ganz ungefährlich. Es ist eine hölzerne Brücke, die in ziemlich langsamer Fahrt passiert werden muss, sie befindet sich jetzt nach der Regenzeit kaum zwei Meter über dem Wasser, dieses ist sehr breit und tief. Der Zug fährt dicht am Rande; es ist kein besonders weiter Sprung nötig, den Kopf voran und die Hände schützend vorgehalten, wir können auf kein Hindernis springen. Und doch, es wäre möglich.«

»Auf ein Hindernis zu springen?«

»Ja. Welcher Art könnte dieses Hindernis sein?«

»Nun?«

»Sagen Sie es. Ich will es von Ihnen hören.«

Der Pater grübelte nach, dachte an treibende Baumstämme, wollte es aussprechen — da zuckte er erschrocken zusammen.

»Doch nicht etwa Krokodile?«

»Erraten. Der Bhagirathi, wie jener Nebenfluss des Ganges heißt, wimmelt von Krokodilen, und diese Tiere gehen gerade des Nachts auf Fischfang und Raub aus, sind gerade des Nachts am lebhaftesten und am kühnsten im Angriff.«

Da freilich hatte der Pater allen Grund zum Erschrecken. Er hatte gerade einmal mit Gangeskrokodilen, die wegen der Schonung, die sie als heilige Tiere von den Eingeborenen genießen, am frechsten sind, ein gefährliches Abenteuer bestanden, das ihm um ein Haar das Leben gekostet hätte.

Die Lady hatte seinen Schreck bemerkt.

»Jetzt fürchten Sie sich wohl, werden den Sprung nicht mehr mitmachen?«

»O weh, das ist freilich eine böse Sache!«

»Nicht für uns. Uns können diese Tiere nichts tun.«

»Weshalb nicht?«

»Weil ich ein Mittel weiß. um sie von uns abzuhalten.«

»Was für ein Mittel?«

»Heißen Sie mit einem anderen Vornamen vielleicht Jason?«

Es war wieder einmal eine ihrer merkwürdigen Zwischenfragen gewesen.

»Jason? Nein.«

»Wissen Sie, wer Jason gewesen ist?«

»Ein Held der altgriechischen Sage, der Anführer der Argonanten, welche auszogen, um das goldene Vlies zu suchen.«

»Hat er das goldene Vlies gefunden?«

»Gefunden und erhalten.«

»Durch eigene List oder Kraft?«

»Nein. Durch die Hilfe der Medea.«

»Wer war das, Medea?«

»Eine mächtige Zauberin.«

Die Lady hatte sich aufgerichtet, kreuzte die Arme über der Brust, so blickte sie ihr Gegenüber mit ihren funkelnden Augen starr an.

»Die Medea bin ich!«

Der Pater wusste nicht gleich, was er dazu sagen sollte.

»Auch Sie sind eine Zauberin?«, lächelte er.

»Die Medea bin ich!«, wiederholte sie. »Tatsächlich, ich heiße Medea. Der Name Lilly wurde mir erst später gegeben, als ich in England in andere Kreise kam.

Meine Mutter war die Tochter eines Hetmans, eines Kosakenhäuptlings, eines mächtigen Kosakenfürsten. Obgleich sie als freies Kind der Steppe aufwuchs, genoss sie dann doch in Moskau die beste Erziehung.

Und mein Vater? Das war ein tungusischer Schamane.

Wissen Sie, was das ist, ein Schamane?«

»Der Schamanismus ist eine Abart des Buddhismus, am meisten verbreitet unter den nordsibirischen Völkern, aber auch in Tibet und China. Ihre Priester werden speziell Schamanen genannt, es sind Zauberer und Totenbeschwörer.«

»Sie sagen es. Als Zauberer ebenso berühmt wie berüchtigt. Ein solcher war mein Vater. Allerdings ein geborener Tunguse, aber nicht in ein elendes Jurtendorf gebannt. Er wurde ein Wanderprediger, hat ganz Asien vom höchsten Norden bis hinab nach den malaiischen Inseln bereist. Dann lernte er meine Mutter kennen, deren Vater er von einer schrecklichen Krankheit heilte, wenn er nicht schon einen Toten wieder lebendig machte, und heiratete sie. Ich bin das einzige Kind aus dieser Ehe. Meine Mutter, die von der Zauberkraft ihres Gatten überzeugt worden war, nannte mich Medea. Und ich habe denn auch die Zauberkünste meines Vaters erlernt.

»Also Sie können zaubern«, lächelte der Pater, obgleich es ihm gar nicht so humoristisch zumute war.

Vor allen Dingen dachte er immer noch an die Krokodile, denen er auf den Kopf springen sollte, wenn nicht gleich in den Rachen hinein.

»Sie glauben es nicht? Ich werde Ihnen später Beweise bringen, oder auch gleich jetzt.«

Unter dem Mantel schlüpfte ihre Hand hervor, sie hielt etwas Graues, wie ein Stück Pappe, ungefähr zwei Zentimeter im Quadrat; darauf sah der Pater mit roter Farbe Hieroglyphen gemalt.

»Nehmen Sie das, essen und verschlucken Sie es.«

Der Pater nahm es, zögerte aber noch, aus guten Gründen.

Wer wusste denn, was diese moderne Medea, diese Schamanentochter, ihm eingeben wollte.

»Sie fürchten sich? Sie denken, weil ich Medea heiße? Ja, die Medea war ein scheußliches Weib. Um ein Zaubertränklein zu bereiten, hat sie sogar ihre eigenen Kinder geschlachtet und gekocht. Aber so bin ich nicht.

Ich bin eine andere Medea. Essen Sie die Oblate ruhig, sie ist aus ganz harmlosen Ingredienzen zusammengesetzt.«

»Und was für eine Wirkung erzeugt sie?«

»Das darf ich Ihnen erst hinterher sagen. Sonst verliert sie ihre Zauberkraft. Essen Sie!«

Kurzerhand steckte der Pater, von dem man in dieser fremden Körperhülle von anderer Seite noch ganz andere Gehorsamsbeweise verlangte, die Oblate in den Mund, kaute und schluckte.

Das erst sehr harte Zeug wurde schnell weicher, schmeckte stark nach Fisch, nach Stockfisch, löste sich auch in solche Fasern auf.

»Haben Sie verschluckt?«

»Ich habe.«

»Fühlen Sie etwas Besonderes?«

»Gar nichts.«

»Das freut mich. Das ist nämlich ein Beweis, dass Sie frei von Einbildungen sind. Und jetzt sind Sie geschützt gegen jedes Tier. Kein Tiger fällt Sie mehr an, keine Mücke wird Sie mehr stechen. Also wird Ihnen auch kein Krokodil etwas tun. Und sprängen Sie ihm direkt in den Rachen, es würde sich hüten, die Zähne zusammenzuschlagen.«

»Das wäre allerdings vortrefflich!«

»Sie glauben es nicht? Machen wir gleich einen Versuch. Einen Tiger oder ein Krokodil habe ich allerdings nicht bei mir. Wohl aber etwas anderes. Und dieses Mittel hat auch noch eine andere Eigenschaft. Es schützt auch gegen Schlangengift. Eine Schlange würde Sie ja überhaupt nicht beißen. Aber sie tut es auf meinen Befehl, oder indem ich den Bann einstweilen aufhebe —«

Entsetzt wich der Pater zurück.

Sie hatte unter ihrem Mantel eine Schlange zum Vorschein gebracht, sofort als Kobra erkenntlich, als die furchtbare Brillenschlange, zwar nur einen halben Meter lang, aber immerhin doch schon eine ganz stattliche Schlange.

Die Lady hatte sie dicht hinter dem Kopfe gepackt, aber noch immer konnte das Tier den charakteristischen Schild aufblasen, ein Zeichen der Wut, wie sie auch mit funkelnden Augen furchtbar zischte und wütend ihr Hinterteil um den Arm wickelte.

»Sie brauchen sich nicht zu fürchten, sehen Sie her —«

Die Lady streckte den linken Arm vollends unter dem Mantel hervor, näherte ihm mit der anderen Hand die Schlange, und sofort biss diese wütend hinein, allerdings gleich wieder loslassend, im freien Zustande wäre sie von selbst gleich wieder zurückgeschnellt, wie diese Art Schlangen ja nur blitzähnlich beißen, dann die Wirkung beobachtend.

Der entsetzte Pater sah dicht über dem Handgelenk des nackten, braunen, so überaus fein geformten und doch muskelstarken Armes die winzigen Nadelstiche, die schon etwas zu bluten begannen.

Und ehe er es hindern konnte, da hielt sie den Schlangenkopf auch schon an seine Hand, die auf dem Knie lag, und da fühlte auch er schon die haarscharfen Nadelstiche.

»Um Gottes willen!«, schrie der Pater auf.

»Ohne Sorge, es geschieht Ihnen nichts!«, lachte die moderne Medea. »Wie fühlen Sie sich?«

Der Pater fühlte, wie ihm schon das Blut gerann, in den Wangen hatte er auch wirklich keines mehr.

»Ich — ich — ich — werde ganz schwach —«

»Dann sind Sie doch nicht frei von Einbildungen. Denn weiter ist es nichts. Das Gift kann Ihnen nicht im Mindesten schaden, nicht die geringste Schwäche hervorrufen.«

In der Tat, der Pater brauchte nur seine Energie anzustrengen, so war die Schwäche überwunden. Während das sonst nicht so einfach ist. Nach allen Zeugen, die schon einmal von einer Brillenschlange gebissen worden sind und noch etwas davon erzählen konnten, tritt die Schwäche augenblicklich ein, nimmt immer zu, dazu die größte Übelkeit — und nach zwei bis höchstens fünf Minuten tritt unter den furchtbarsten Gliederschmerzen der Tod ein.

»Ja — ich glaube wirklich — ich erhole mich wieder — oder es hat mir überhaupt nichts geschadet —«

»Das hat es auch nicht! Nun könnten Sie aber glauben, ich hätte der Kobra die Giftzähne ausgerissen oder die Giftdrüsen ausgequetscht, oder sie hätte vorher schon so viel gebissen, nicht nur mich, dass ihr Gift nicht mehr wirksam ist, sie überhaupt keines in den Drüsen hat.

Dass das aber nicht so ist, werde ich Ihnen gleich beweisen.«

Himmel noch einmal!

Was die alles unter ihrem Pelzmantel hatte!

Allerdings keinen Tiger, kein Krokodil, aber eine Brillenschlange war schon genug, und jetzt brachte sie darunter eine weiße Ratte von ansehnlicher Größe zum Vorschein.

Sie hatte das Tier beim Genick gepackt, setzte es ruf die Polsterung, die Ratte wollte sofort davonhuschen, aber schon hatte die Lady die Schlange ebenfalls auf die Bank gelegt, im Nu hatte sich diese von ihrem Arm losgewickelt, schoss der Ratte nach, biss sie in den Hinterschenkel, gleich wieder zurückzuckend.

Aber auch die weiße Ratte konnte nicht weiter, blieb im Moment des Bisses stehen, ein Zittern ging durch ihren ganzen Körper, am heftigsten schlenkerte sie das gebissene Bein, legte sich hin, oder fiel mehr auf die Seite, wurde ruhig, nochmals ein heftiges Zittern, und sie war tot. Bei solchen kleinen Tieren geht es ja viel schneller, da währt es höchstens eine halbe Minute.

Die Lady hatte die Schlange wieder beim Halse gepackt, aber nicht eben hastig, hatte dabei wieder einen Biss abbekommen, ließ sie unter dem Mantel verschwinden.

»Wollen Sie sich überzeugen, dass die Ratte tot ist?«

»Nein, danke, es ist nicht nötig, ich glaube es schon«, flüsterte der Pater, starr dorthin blickend, wo sie die Kobra unter dem Mantel geborgen hatte.

»Sie könnte jetzt noch einige Menschen töten, sie hat schon lange nicht mehr gebissen, ihre Giftdrüsen müssen gestrotzt voll sein.«

»Ja — ja — ich glaube schon — aber beißt sie Sie denn nicht unter dem Mantel?«

»Das kann sie nicht, dafür ist gesorgt. Ich werde mich doch nicht egal beißen lassen. Wer mich freilich ohne meinen Willen anrühren würde, der hätte sofort ihre Giftzähne in seiner Hand, der lebte in einigen Minuten nicht mehr.«

»Schrecklich, schrecklich — darauf ist sie dressiert?«

»Ja und nein. Es ist noch etwas anderes dabei. Also, mein lieber Freund, Sie verstehen mich doch wohl. Es beißt Sie überhaupt keine Schlange mehr. Durch mein Zaubermittel sind Sie davor geschützt. Ich hatte diesen Bann gegenwärtig nur einmal aufgehoben, um Ihnen zu beweisen, dass dieses Mittel in anderer Weise sogar gegen den Biss der Kobra schützt.«


Illustration

Ehe der entsetzte Pater es hindern konnte, hielt
die Lady den Schlangenkopf an seine Hand, und da
fühlte er auch schon die haarscharfen Nadelstiche.


»Sie können den Zauberbann also auch aufheben?«

Die Lady machte ein furchtbar ernstes Gesicht, als sie den Finger gegen ihn erhob, und mit ebenso erhobener Stimme erklang es:

»Wehe Ihnen, wenn Sie einmal untreu werden!

Ich bin eine Medea, die Tochter eines Schamanen, selbst eine Schamanin!

Ja, durch dieses Zaubermittel wird Sie kein Tier mehr angehen, scheu wird sich jeder Tiger und jedes andere Raubtier vor Ihnen zurückziehen, keine Schlange wird Sie beißen, keine Mücke stechen!

So lange ich will!

Wenn ich aber anders will, dann wird dieses selbe Zaubermittel auch anders wirken, gerade das Entgegengesetzte verursachen!

Dann bilden Sie geradezu einen lockenden Köder für jedes Tier!

Befinden Sie sich in einer Gegend, wo sich viele Tiger und Panther aufhalten — sie werden Sie zu finden wissen!

Durchschwimmen Sie ein Gewässer, in dem sich nur ein einziges Krokodil aufhält — es wird von Ihnen wie von einem Magneten angezogen, um Sie zu zermalmen!

Sie werden alle Schlangen der ganzen Umgebung auf sich ziehen!

Schwärme von Moskitos werden sich auf Sie stürzen und Ihnen noch bei lebendigem Leibe alles Blut aus dem Körper zapfen!

Legionen von Ameisen werden Sie überwältigen und Ihnen bei lebendigem Leibe die Eingeweide ausfressen!

Genug! Ich habe gesprochen!

Wehe, wenn Sie an mir einmal zum treulosen Verräter werden sollten!«

Sie warf die tote Ratte von der Bank herab, dass sie gleich unter den gegenüber befindlichen Sitz geschleudert wurde, streckte sich wieder auf dem Polster aus und schloss die Augen.

— • —

51. Kapitel
Das goldene Vlies

Originalseiten 1229 — 1238

Der Pater hatte schon vorhin einmal daran gedacht, von der Erlaubnis Gebrauch zu machen und sich ungeniert ein ausgiebiges Mittagsmahl zu bestellen.

Der Magen seines Vorgängers hatte ihn mit daran erinnert, dass er heute sehr zeitig gefrühstückt und seitdem nicht wieder gegessen hatte.

Jetzt aber war ihm der Appetit vergangen.

Er starrte immer noch dorthin, wo unter dem blauen Samtmantel vorhin die Kobra verschwunden war.

Wenn es auch nicht nur diese Brillenschlange war, mit der sich seine Gedanken beschäftigten.

Und so verging der ganze Nachmittag.

Alle ein bis zwei Stunden hielt der Zug einmal für eine halbe Minute, die Station wurde ausgerufen, dann brauste er weiter.

Der Pater kümmerte sich nicht darum, und die Lady schlief ruhig weiter.

Er beobachtete, wie sich unter dem blauen Atlas und dem weißen Hermelin der volle Busen gleichmäßig hob und senkte, er betrachtete das braune Gesicht, das jetzt im roten Scheine der Ampel ihm immer liebreizender dünkte, trotz der platten Nase und der etwas dicken, sogar aufgeworfenen Lippen — ja, liebreizend wohl, aber ihn selbst konnte diese Dame nicht mehr reizen.

Er hatte genug davon, was er zu sehen und zu hören bekommen hatte.

Ja, und doch, er hatte von seinen Vorgesetzten, die ebenfalls auf ihn eine furchtbare Macht ausübten, den Befehl erhalten, gegen diese Lady in Liebe vorzugehen.

Aber dazu war noch viel Zeit, so eilig hatte er es nicht.

Als um acht Uhr abends eine schrille Glocke zum Nachtessen rief, hielt er es aber doch nicht mehr aus.

Er klingelte dem Kellner, ließ sich das Menü hier drin auf einem heruntergeklappten Tischchen servieren, vergaß auch nicht eine Flasche Wein zu bestellen, dann hinterher auch noch eine halbe Flasche Champagner.

Nach dem Wohlbehagen, mit dem er ihn schlürfte, konnte ihm der Wein jetzt nicht mehr wie Schwefelsäure im Halse brennen, was damals natürlich irgend eine besondere Ursache gehabt hatte, wahrscheinlich die Wirkung eines posthypnotischen Befehles gewesen war. Denn so etwas ist möglich.

»Du sollst fernerhin einen Widerwillen gegen alle alkoholischen Getränke haben, sie werden Dir wie Schwefelsäure und Höllenstein im Munde brennen!«

Dieses Experiment gelingt bei für Hypnose veranlagten Menschen in den meisten Fällen.

Es fragt sich nur, wie lange der posthypnotische Befehl nach dem Erwachen anhält.

Dauernd kann man auf diese Weise einen Trunkenbold jedenfalls nicht kurieren.

Zahlreiche Versuche, die man besonders in Amerika hiermit angestellt hat, sind sämtlich gescheitert.

Die Trunkenbolde schienen zwar erst geheilt, bald aber bekamen sie wieder Appetit, und dann holten sie das Versäumte regelmäßig schnellstens wieder nach.

Es ist also überhaupt gar keine Heilung, es ist eine gewaltsame Unterdrückung, die sich dann später rächt, und das umso mehr, weil die Unterdrückung durch einen fremden Willen erfolgt ist, wodurch die eigene Willenskraft nur immer mehr geschwächt wird.

Die Lady schlief nach wie vor, der Pater hütete sich, sie zu wecken. Erstens wollte sie ja überhaupt niemals gestört sein, und zweitens wegen der verdammten Brillenschlange unterm Mantel.

Als der Steward den Nachtisch brachte, präsentierte er auch gleich die Rechnung, auf welcher durch gedruckten Vermerk der Passagier nicht höflichst gebeten, sondern ihm nach englischer Weise sehr kurz befohlen wurde, sofort zu berappen.

Der Pater tat es aus dem Beutelchen mit Goldstücken. Dann, als der Steward gegangen, visitierte er auch gleich einmal die ihm anvertraute Brieftasche.

Sie enthielt nur Papiergeld, die kleinsten und die größten Noten, welche die Bank of England ausgibt.

Die kleine Banknote beträgt fünf Pfund, das sind 100 Mark — wann aber bekommt man in England so eine einmal zu sehen? Die größte hört dafür erst mit tausend auf, 20 000 Mark. Oder ganz genau kommen noch 400 Mark hinzu.

Auf der einen Seite der Tasche steckten 18 Fünfpfundnoten drin, auf der anderen Seite zählte der Pater 32 Tausendpfundnoten.

Mit Hochachtung blickte er auf die Schläferin, die weit mehr als eine halbe Million mit sich herumschleppte, sie ihm anvertraut hatte.

Wo hatte sie dieses Geld her?

Oder machte sie diese Banknoten selber?

Es ist verteufelt schwer nachzumachen, das englische Papiergeld, so einfach die weißen, seidenpapierdünnen Blättchen auch aussehen, noch viel schwerer nachzumachen als die deutschen. Man wird wohl überhaupt noch nie von einer Fälschung englischen Papiergeldes gehört haben. Liegt bei uns der Schutz im Wasserdruck und in den dem Papiere beigemischten Fasern — welches Patent die deutsche Regierung übrigens auch erst einem Engländer abgekauft hat — so liegt es bei den englischen Banknoten im Papiere selbst. Das ganz dünne Papier verursacht beim Zusammenbrechen und schon beim Anfassen und Biegen ein ganz eigentümliches knistern, das durch nichts nachzuahmen ist.

Der Pater steckte die Brieftasche wieder ein, lehnte sich in die Ecke zurück und war bald entschlummert.

Ein Geräusch weckte ihn. Die Lady hatte sich erhoben.

»Warum haben Sie sich nicht das Bett gemacht? Meinetwegen brauchen Sie sich nicht zu genieren.«

»Ich habe gar nicht daran gedacht.«

»Wie Sie wollen. Ich habe Durst. Was haben Sie da?«

Auf dem Tischchen stand noch die Flasche Wein mit noch einem guten Rest drin.

»Es ist weißer Burgunder.«

Sie schnitt eine unbeschreibliche Grimasse.

»Soll ich Ihnen Wasser oder Tee oder sonst etwas bestellen?«

»Danke, ich bin selbst versehen.«

Sie nahm aus dem Schranke eine der dickbauchigen Flaschen.

Das Etikett sagte, dass es alter Jamaikarum war. Für die englischen Kolonien muss auch der Alkoholgehalt angegeben sein. 75 Prozent Tralles. Wie es sich für echten Rum auch gehört.

Der Pater beeilte sich, seinen Nickfänger zu ziehen, an dem sich ein Korkzieher befand, schon aber hatte sie unter ihrem Mantel ein langes Dolchmesser hervorgebracht und mit einem Hieb der Flasche den Hals abgeschlagen, so wie man eine Möhre köpft.

Und sofort den scharfen Glasrand an die Lippen gesetzt und mit vollen Zügen getrunken, immer weiter getrunken, immer mehr musste sie sich dabei zurückbiegen.

Als sie endlich tiefaufatmend absetzte, war in der Literflasche nicht mehr ganz die Hälfte drin, und dass es wirklich Rum war, echter Jamaikarum, das konnte man doch gleich riechen.

Und der Pater konnte nur staunen.

Trank die zur Löschung des Durstes einen halben Liter fünfundsiebzigprozentigen Rum, so wie ein anderer Mensch bei großem Durst ein Gläschen Bier hinterkippt.

Na, eben eine Kosakenkehle!

Denn Kosaken bringen so etwas schon fertig, das stimmt. Und Mississippischiffer. Das sind die Virtuosen im Saufen.

Ob es ihr nichts schadete, der Alkohol nicht seine Wirkung äußerte?

Nein, es war ihr nichts anzumerken, jetzt nicht und später nicht.

»Ich biete Ihnen nichts an. Wenn Sie trinken wollen — dort liegen die Flaschen. Nur lassen Sie mir noch was drin. Welche Zeit ist es?«

Es war gleich um eins, also nach Mitternacht.

»Dann haben wir noch reichlich zwei Stunden Zeit. Wir haben schon 25 Minuten Verspätung.«

Woher wusste sie das? Der Pater konnte es sich nicht erklären, zumal sie doch immer geschlafen hatte, und er sollte es auch nicht erfahren.

Jetzt nahm sie eine der Blechdosen, öffnete sie gleichfalls mit dem starken Dolchmesser. Die Zweipfunddose enthielt Rindszungen, die sie zu verzehren begann, gleich aus der Hand, aber doch mit Anstand, freilich auch nicht eher aufhörend, als bis die zwei Pfund verschwunden waren. Doch ebenfalls eine ganz erstaunliche Leistung.

»Also Jason wollte mit den Argonauten das goldene Vlies holen«, fing sie während dieser Beschäftigung an. »Was war das eigentlich, das goldene Vlies? Wissen Sie das?«

Ja, der Pater durfte sich auch in dieser fremden Körperhülle für einen Mann mit sehr guter Bildung ausgeben.

»Theophane, die Tochter des Pisaltes, wurde von dem Meeresgotte Poseidon nach der Insel Krinissa entführt und in ein Schaf verwandelt, Poseidon selbst nahm die Gestalt eines Widders an, und dieser Ehe entsprang — verzeihen Sie, aber so lautet eben die Sage — gleichfalls ein Widder, der aber ein goldenes Fell besaß.

Nun war da ein edler Mann namens Phrixos, der stahl diesen kostbaren Widder, der Hammel war auch noch so klug, liebenswürdig und stark, um seinen neuen Eigentümer auf dem Rücken übers Meer zu tragen. Übrigens ging auch die Schwester von Phrixos mit, die Helle, die aber unterwegs ertrank, wonach jener Meeresteil noch heute Hellespont heißt.

Phrixos aber landete glücklich auf der Insel Kolchis. Er muss ein besonderer Gemütsmensch gewesen sein, denn er schlachtete nun gleich das arme Tier und nagelte das goldene Fell in einem dem Ares geweihten Haine an eine Eiche, dem Kriegsgott zu Ehren, der dieses einzige Vlies denn auch durch einen fürchterlichen, schlaflosen Drachen bewachen ließ.

Es ist nicht recht einzusehen, weshalb denn Phrixos das goldene Fell nicht anderswie verwertet hat — doch wie dem auch sei, die Geschichte wurde bekannt, und Jason erhielt eines schönen Tages von seinem Onkel Pelias, dem König von Jalkos, den Auftrag, dieses goldene Vlies zu holen.

Jason war damit einverstanden, warb zu der abenteuerlichen Fahrt die Argonauten an —«

,Gut«, unterbrach die Lady den Erzähler, »Jason löste also seine Aufgabe, wenn auch nur durch die Zauberkraft der Medea. Wo ist denn dann das goldene Vlies geblieben?«

»Das hat Jason mitgenommen.«

»Ja, was ist denn aber zuletzt aus dem goldenen Vlies geworden.«

»Das — das — das — weiß ich nicht«, musste der Pater gestehen.

»Das hat dann Medea mitgenommen.«

»So?«

»Sie wissen doch, dass Jason mit der Medea zehn Jahre lang in sehr glücklicher Ehe lebte, bis er ihrer überdrüssig wurde und die Glauke zum Weibe nahm. Die Medea rächte sich, indem sie Jasons Kinder tötete, die freilich auch ihre eigenen waren, und außerdem nahm sie auch das goldene Vlies mit.«

»So? Das habe ich noch nicht gewusst.«

»Und wo ist das goldene Vlies jetzt?«

»Ja, wenn ich das wüsste!«

»Ich bin die Medea. Ich besitze das goldene Vlies.«

»Ach!«

Tat der halbe Liter Rum doch seine Wirkung?

An ihren Augen war absolut nichts davon zu bemerken.

»Wissen Sie denn, was dieses goldene Vlies zu bedeuten hat?«

»Was soll es bedeuten? Es war eben das goldene Fell eines Hammels.«

»Kann es denn einen Widder mit goldenem Fell geben?«

»Ach, die Sagen erzählen noch vielerlei, was nicht möglich ist, deshalb ist es ja eben eine Sage.«

»Sie irren. Jede Sage enthält symbolisch versteckt eine Tatsache. Das goldene Vlies ist ein Pergament gewesen, also aus der Haut eines Widders hergestellt, auf das ein Rezept geschrieben war, wie man Gold machen kann.«

In der Tat, so legen die neueren mythologischen Forscher diese Sage aus.

Denn, wie gesagt, ein tiefsinniger Kern muss in jeder Sage stecken, oder sie wird zum reinen Märchen.

Aber mit Märchenerzählen haben sich die alten Griechen nicht beschäftigt.

Das fängt schon mit dem Herkules am Scheidewege an, womit symbolisch doch ein äußerst tiefer Sinn verbunden ist.

Und so ist es mit jeder mythischen Sage.

Ein Hammel, der goldene Wolle hat, das ist ein Unsinn. Macht man aber daraus eine einfache Tierhaut, auf die das Rezept geschrieben war, wie Gold künstlich darzustellen ist, so gewinnt alles gleich einen glaubhaften Sinn. Selbst wenn wiederum die ganze Goldmacherkunst und Alchemie ein Unsinn wäre. Worüber aber nun wieder gerade unsere modernen Chemiker schon anders denken. Die Umwandlung der Metalle und überhaupt der Elemente, hält man bereits allgemein für möglich, es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann dieses Problem gelöst sein wird. Ob wir dies billiger machen können, als uns die Natur die Elemente fertig bietet, das ist freilich eine andere Frage. Vielleicht aber ist es doch der Fall. Es gibt gar zu glaubwürdige Berichte, in Akten protokolliert, von den ehrenhaftesten Männern unterzeichnet, wonach hin und wieder jemand Quecksilber oder Blei oder ein anderes Metall in Gold verwandelt hat, wobei jeder Betrug ausgeschlossen war.

Der Pater starrte die Sprecherin an.

»Sie können Gold künstlich herstellen?«, flüsterte er.

»Ja. Das ist die Quelle meiner Reichtümer, die ich ab und zu zeige. Ich verkaufe ab und zu gemachtes Gold, habe meine Abnehmer dafür. Oder das ist auch nicht nötig. Ich verkaufe nur winzige Quantitäten des Elixiers, das gewöhnliches Blei in gediegenes Gold verwandelt. Sie glauben es nicht? Ich werde Ihnen das Experiment später einmal vormachen. Dann werde ich Ihnen aber auch gleichzeitig den Beweis liefern, dass Sie es mir nicht nachmachen und mir mein Geheimnis überhaupt nicht rauben können.«

Sie sprach es, wickelte sich fester in ihren Pelz und streckte sich wieder auf dem Polster aus, schien wieder zu schlafen.

— • —

Kapitel 52
Durch Wasser und Feuer

Originalseiten 1238 — 1257

Der Pater konnte nicht mehr schlafen. Er blickte auf die rätselhafte Medea herab und sann und sann. Die Zeit verging — er merkte nichts davon, nichts von den gerufenen Stationen.

Bis er aus seinen Träumen erwachte und die Uhr zog, Schon drei Uhr vorüber!

Und sie schlief noch!

Der Zug sollte 25 Minuten Verspätung haben, hatte sie gesagt, aber woher wollte sie das wissen, und konnte die Verspätung nicht eingeholt worden sein, wenn auch nur durch kürzeren Aufenthalt in Benares und anderem großen Stationen?

Es wurde vier Uhr, in einer Stunde wurde es hell, und sie schlief noch immer, und er wagte sie nicht zu wecken.

Doch da richtete sie sich plötzlich empor.

»Welche Zeit ist es?«

»Genau sechs Minuten nach vier.«

»Dann geht Ihre Uhr zwei Minuten vor. Wir haben noch mehr Verspätung hinzubekommen, in 22 Stunden kann es der Schnellzug eben doch nicht schaffen, niemals. Doch jetzt müssen wir uns zum Sprunge vorbereiten.«

Sie zog auf der Seite, auf der das Fenster direkt ins Freie ging — auf der anderen Seite war der Durchgangskorridor — die Vorhänge zurück.

Auch der Pater saß dicht an diesem Fenster, es wurde auch noch geöffnet, aber trotzdem sah er nichts weiter als pechschwarze Finsternis, von keinem Stern erhellt. Denn jetzt versagten auch seine Augen, so schnell ging das überhaupt nicht, stets musste er sich erst an die Finsternis gewöhnen, ehe er sehen konnte.

»Ja, wir müssen uns fertig machen.

Kaum noch fünf Minuten, dann müssen wir springen.

Ich habe mir die Sache nun anders überlegt.

Ich werde doch lieber vorausspringen.

Also Sie springen mir sofort nach, sofort!

Nur nicht gleichzeitig mit mir.

Sobald ich verschwunden bin, heben auch Sie die Hände über den Kopf und jumpen mir nach.

Fährt der Zug über die Holzbrücke auch etwas langsamer, so sind Sie mir dann doch schon weit voraus, dass Sie mir nicht auf den Kopf springen.

Also etwas seitwärts, mehr aber noch vorwärts springen!

Ein Brückengeländer gibt es nicht, der Zug fährt dicht am Rand. Sie können unmöglich aufschlagen.

Dann im Wasser mache ich mich sofort bemerkbar, dirigiere Sie, übernehme die Führung.

Weit zu schwimmen haben wir dann nicht mehr, nur noch einige Minuten.

Die Coupétür lassen Sie natürlich offen, die schlägt von allein zu.

Mitzunehmen haben Sie doch nichts weiter.

Also sind Sie bereit?«

»Ich bin bereit«, sagte Percy, der schon aufgestanden war.

Sie öffnete die Coupétür.

Auch durch diese weite Öffnung war nichts anderes zu sehen als schwärzeste Finsternis. Der erleuchtete Zug übte gar keinen Einfluss aus.

Jetzt aber bekam das Fahren auf den Schienen anderen Ton, es klang hohler, polternder.

»Das ist die Brücke! Vorwärts, mir nach!«

Und mit diesen Worten ließ sie ihren blauen Hermelinmantel fallen, der Pater sah ein schwarzes, eng anliegendes Badekostüm und einen braunen, wie Samt schimmernden Nacken, ebensolche Arme wurden hochgehoben — da schoss sie schon kopfüber zum Coupé hinaus.

»Ja, lassen Sie denn Ihren Mantel und alles andere hier so einfach zurück?«

Das sagte aber der Pater nicht, es schoss ihm staunend nur blitzähnlich durch den Kopf, wie die Lady plötzlich verschwunden war und zu seinen Füßen der blaue Atlasmantel mit der Pelzfütterung lag, und dort oben noch das Paar bespornte Stulpenstiefel und die zierliche Doppelbüchse und der Patronengürtel und was sich sonst noch dort oben befand.

Im nächsten Moment presste der Pater die Zähne zusammen, die Hände hoch, und auch er sauste mit einem Hechtsprunge hinaus und hinab.

Es war kein tiefer Sprung. Aber der Zug fuhr doch immerhin noch schnell, das Beharrungsvermögen in der Bewegung kam in Betracht, mit gewaltiger Kraft schoss der Pater ins Wasser hinein.

Aber er verstand zu springen, hatte die Hände geschickt genug über den Kopf gehalten — das Wasser wurde wie von einem Pfeile geteilt, der Anprall auf den Kopf ganz bedeutend abgeschwächt.

Tief schoss er unter das Wasser, ganz lauwarm.

Da griffen seine vorgestreckten Hände auf etwas Hartes, Schuppenartiges mit kleinen Ecken.

»Alle guten Geister — ein Krokodil!«

Mit einem Ruck umgedreht, den Kopf nach oben, jetzt hatte er den Widerstand unter seinen Füßen, ein kräftiger Tritt — er hatte das Krokodil zum Abstoßen nach oben benutzt, aber recht wohl noch bemerkt, wie das Krokodil gleichzeitig davon geschossen war, so weit sich so etwas im Moment eben kontrollieren lässt.

Pustend tauchte der Pater wieder auf.

Dort eine Riesenschlange mit Hunderten von glühenden Augen, sich schnell entfernend, jetzt furchtbar fauchend — der erleuchtete Schnellzug!

Jetzt plätscherte es hinter ihm.

»Percy!«

»Hier!«

»Wie geht's, mein Jason?«

»Fein, fein, Frau Medea!«, konnte der Pater schon wieder lachen.

Ja, wirklich, es überkam ihn plötzlich eine teufelsmäßig lustige Laune. Galgenhumor, das war nicht der richtige Ausdruck dafür.

»Schwimmen Sie los, dorthin, wo Sie noch den Zug sehen.«

Er schwamm los, aber schon war sie an seiner Seite, so weit es die Bewegungen erlaubten.

»Ich bin gerade auf eine Schildkröte gehuppt.«

»Und ich auf ein Krokodil.«

»Direkt mit dem Kopfe?«

»Nur mit den Händen berührte ich es, und es war tief unter Wasser.«

»Ach so, na dann ging's.«

Jetzt hatten sie im Schwimmen gleichen Takt, ihre Hände berührten sich manchmal, und die lustige Teufelslaune des Paters hielt an, nahm noch immer zu.

»Frau Medea!«

»Na?«

»Kennen Sie Shakespeare?«

»Was zum Henker wollen Sie jetzt mit Shakespeare?«, wurde pustend gelacht.

»In ›Richard III.‹ — erster Aufzug, zweite Szene — kennen Sie die?«

»Mann, Sie wollen mir wohl hier im Wasser des Ganges zwischen den Krokodilen englische Literaturgeschichte geben?«, wurde nach wie vor gelacht.

»Richard, der Herzog von Gloucester, hat den Prinzen von Wales ermordet, den Gatten der Anna. Er begegnet dem Leichenzuge, begleitet von der Witwe; er hält ihn an, und am Sarge des von ihm Ermordeten wirbt er um die Hand der Witwe — und erhält sie. Und wie sagt nur Richard, wie er wieder allein ist?«

»Na, wie sagt er?«

»Ward je in solcher Laun' ein Weib gefreit?

Ward je in solcher Laun' ein Weib genommen?

Mylady, ich liebe Sie — Medea, ich liebe Dich!«

Und während der Pater mit den Füßen trat, packte er mit beiden Händen den vollen Arm der Schwimmerin.

Und diese lachte, lachte und lachte!

»Mensch, sind Sie denn nur toll geworden, mir hier im Ganges zwischen den Krokodilen eine Liebeserklärung zu machen?«

»Ich kann nicht anders — Sie haben es mir angetan!«

»Hatten Sie denn hierzu nicht bald zwanzig Stunden Zeit in dem gepolsterten Coupé? Hahahahaha, Sie ja ein Original allererster Güte!«

»Erhören Sie mich!«

»Jetzt lassen Sie mich los, oder ich titsche Sie unter und ersäufe Sie wie eine Ratte!«

»Dann nehme ich Dich mit mir, ich kann ohne Dich nicht mehr leben!«

Und er packte ihre beiden Arme, legte die seinen schon um ihren Hals.

Wer weiß, was noch daraus geworden wäre.

Aber es sollte anders kommen.

Plötzlich in ganz dichter Nähe ein furchtbares Brüllen, es dröhnte dem Pater direkt in das Ohr, er fühlte den heißen Atem, roch die Raubtieratmosphäre; seine Hand fühlte das glatte Fell eines massigen Körpers.

Da freilich löste er schleunigst die liebevolle Umschlingung, legte sich auf den Rücken und gab dem Ungeheuer einen kräftigen Tritt, nur um sich selbst fortzustoßen, um nicht auch nur versehentlich von einer Klaue des schwimmenden Tieres aufgeschlitzt zu werden.

»Das war ein Tiger, der über den Strom schwimmt«, erklärte die Lady noch überflüssigerweise.

Falls es der Pater noch nicht selbst wusste, dass es hier Tiger gab, so erfuhr er es jetzt.

Dieses Brüllen hier war nur die Einleitung gewesen, das Signal zum Beginn des Konzerts — plötzlich mochten es hundert Königstiger sein, die ihre Stimmen vereinten, dazwischen noch andere, unbeschreibliche Töne, ein Heulen und Quieken und Grunzen, als habe sich eine reichbesetzte Menagerie zum nächtlichen Konzert vereinigt.

Jetzt plötzlich eine Pause.

»Vorwärts, vorwärts, mir nach!«, rief die Lady.

Der Pater hielt sich nicht mehr auf, er schwamm ihr nach, ohne sie sehen zu können, aber schon die Wasserbewegung zeigte ihm die Richtung an.

Immer noch einmal das höllische Konzert mit abgerissenen Pausen dazwischen.

»Sind Sie hinter mir?«, erklang es in einer solchen.

»Ich bin's.«

»Wir sind am Ufer. Fühlen Sie den Baumstamm?«

Der Pater sah ihn sogar schon, freilich nur verschwommen.

»Klettern Sie mit mir, ich halte mich immer dicht an Ihrer Seite!«

Es war eine böse, eine unbeschreibliche Klettertour, halb über liegende Baumstämme hinweg, halb durch Wasser, und wenn auch Gebüsch und Dornen fehlten, so fühlte der Pater doch und hörte es sogar am Reißen, wie sein eleganter Sportanzug dabei in Trümmer ging, das linke Hosenbein fehlte ihm bereits gänzlich, und jetzt sagte der rechte Jackenärmel Valet.

Doch lange währte diese schreckliche Kletterei nicht, sie bot auch keine unangenehmen Überraschungen, wie jetzt auch das Raubtierkonzert verstummt war, nur ein Schnauben unterbrach manchmal noch die Stille, wahrscheinlich von einem Rhinozeros herrührend.

»Hier haben wir unser erstes Ziel erreicht.«

Ja, der Pater hatte wieder festen, wenn auch noch immer weichen Boden unter seinen Füßen, wahrscheinlich feinen Sand. Sehen konnten seine Augen absolut nichts, wiederum herrschte die schwärzeste Finsternis um ihn, während es sich vorhin etwas aufzuhellen begonnen hatte.

»Sie sind in einer Grotte. Warten Sie hier auf mich. Sie können sich ruhig hinlegen, bis ich wiederkomme, ich bleibe nicht lange.«

Seine Hand wurde losgelassen, der Pater fühlte sich allein, auch betreffs seines Hosenbeines und Jackenärmels, und wer wusste, was sonst noch alles flöten gegangen war. Dass ihm die Reisemütze fehlte, merkte er jetzt noch nicht einmal.

Jedenfalls aber befand er sich in unglücklichster Stimmung.

»Verdammt, hätte ich mit meiner Liebeserklärung nur noch etwas gewartet! War ich denn nur ganz und gar des Teufels? Wie wird sie es auffassen? Und wo befinde ich mich hier?«

Jedenfalls in einer niedrigen Breitenlage, in der es noch keinen Dämmerungsübergang zwischen Tag und Nacht gibt.

Denn wie mit einem Schlage wurde es ganz hell.

Der Pater sah sich in einer geräumigen Höhle, durch deren weiten Eingang das Licht des jungen Tages drang.

Vor diesem Eingange, aber noch etwas tiefer, häuften sich angetriebene Baumstämme auf, über die er geklettert war, und dahinter breitete sich das dunkle, träge fließende Wasser des Stromes aus, also eines Seitenarmes des Ganges — Nebenfluss wäre eine falsche Bezeichnung, der Bhagirathi ist nur eine Abzweigung, auf der so gebildeten Insel liegt die Ruinenstadt Gaur — dort in beträchtlicher Entfernung war die niedrige Holzbrücke mit den Schienensträngen.

Soeben teilte ein Krokodil mit einem ungeheuer langen, schnabelförmigen Kopfe, an einen Storchschnabel erinnernd — eben ein Gavial, ein echtes Gangeskrokodil, im Hindustanischen Mhamohatti genannt, Menschenfresser — die Fluten, in dem weit aufgerissenen, mit fürchterlichen Zähnen gespickten Schnabelrachen ein jämmerlich quiekendes Wasserschwein, und jetzt tauchte daneben aus den Fluten der Kopf eines Rhinozeros auf, durch einen Wulst von Wasserpflanzen noch ungeheuerlicher gemacht, riss gähnend sein furchtbares Maul noch schrecklicher auf als nebenan das Krokodil. —

Der Pater dachte an seine Schwimmpartie, und er hatte genug an diesem Anblick, wandte sich lieber der Betrachtung der Grotte zu.

Eine natürliche Höhle mochte es ja sein, auch der feine Sand, der den Boden bedeckte, mochte aus dem Flusse in der Überschwemmung hereingetragen worden sein, aber sonst hatten hier Menschenhände tüchtig geholfen.

Die Wände waren mit viereckigen, buntfarbigen Steinfliesen bedeckt.

Also befand sich der Pater bereits in der Ruinenstadt, wenigstens am Anfange derselben, hatte nur hier keine Aussicht nach ihr selbst. Jenseits des breiten Wassers war nur Urwald zu sehen.

So sagte sich der Pater noch, dass er schon in der Ruinenstadt war, keinen weiten Marsch mehr zu machen hatte, als plötzlich im Hintergrunde der Grotte ein aus Steinfliesen zusammengesetztes Viereck als Tür zurückging, die Lady Lionel trat heraus, die moderne Medea.


Illustration

»Hilf Himmel, wie sehen Sie aus!«, lachte sie.

So dachte auch der Pater in Bezug auf jene, nur nicht lachend, sondern in grenzenlosem Staunen, obgleich er den Anblick doch schon gewohnt sein musste.

Sie trug nämlich wiederum einen Kirgisenmantel aus blauem Atlas mit weißem Hermelinbesatz, an einer zurückgeschlagenen Ecke sah man innen das braune Zobelfutter.

Wiederum solch einen Kirgisenmantel?

Den sie hier vorrätig gehabt hatte?

Der Jüngling, der Percy Macdonald hieß, musste ganz ausgezeichnete Augen gehabt haben, besaß sie noch immer, und sie wurden von dieses Jesuitenpaters Geist gelenkt und benutzt.

Señor Lazare hatte Verschiedenes gesehen, was anderen wahrscheinlich gar nicht aufgefallen wäre.

An dem Kirgisenmantel, den die Lady im Coupé getragen, war oben an dem weißen Hermelinbesatz eine dunklere, etwas gelbe Stelle gewesen und ganz unten am Saum in dem blauen Atlas ein kleines Brandloch, winzig klein, aber doch erkennbar, besonders für die Augen dieses Paters.

Und dieser Kirgisenmantel hier hatte oben an dem weißen Hermelinbesatz gleichfalls eine dunklere, etwas gelbe Stelle und unten am blauen Atlassaume ebenfalls ein kleines Brandloch.

Es war ganz einfach derselbe Pelzmantel!

Wie war sie zu dem wieder gekommen?

Hatte ihn ihr jemand nachgeworfen, ins Wasser hinein?

Der Mantel war vollkommen trocken.

Ihn auf trockenes Land nachgeworfen?

Der Pater war höchstens fünf Minuten allein gewesen.

Und so lange brauchte der schnellste Läufer, um die Eisenbahnbrücke zu erreichen. Zurück konnte er dieser Zeit aber nicht wieder sein.

Es war ein vollkommenes Rätsel, wie sie jetzt diesen Mantel schon wieder umhaben konnte!

Außerdem trug sie jetzt auch die russischen Stulpenstiefel, es waren zweifellos dieselben, die im Coupé auf dem Netze gelegen hatten, auch das erkannte sofort das Argusauge des Paters, besonders an dem kleinen Rostfleck an einem der Rädersporen.

»Wie ist denn das möglich? Wie kommen Sie denn zu Ihrem Kirgisenmantel?«

»Das lassen Sie meine Sache sein. Sie wissen doch ich bin eine Medea, die etwas mehr kann als andere Menschen. Na, mein lieber Freund, wollen Sie jetzt den Kursus in der englischen Literaturgeschichte fortsetzen?«

Da vergaß der Pater schnell den Kirgisenmantel.

Besonders weil sie bei ihren Worten eine aus Rhinozeroshaut geflochtene Hundepeitsche durch die Luft pfeifen ließ.

»O Mylady —«

Doch der edle Heldenjüngling brauchte keine Angst zu haben.

Sie hatte nur aus Spielerei die furchtbare Hunde- oder Reitpeitsche einmal pfeifen lassen, ihr Gesichtsausdruck war schelmischer denn je.

»Ich verzeihe Ihnen. Das Bad war schuld daran, das Wasser war so warm. Aber so etwas kommt nicht wieder vor, nicht wahr?«

»Nein, Mylady, aber —«

»Gut. Ich habe Ihr Wort. Oder wollen Sie erst noch einmal eine kalte Dusche nehmen? Gleich hier in der Nähe ist ein kleiner Wasserfall mit eiskaltem Wasser.«

»Es ist nicht nötig, Mylady, aber —«

»Es wird nämlich gleich noch viel heißer werden, dass Sie mir nicht etwa direkt in Flammen aufgehen, wenn wir durchs Feuer marschieren.«

»Durchs Feuer?«, interessierte sich der Pater jetzt vor allen Dingen hierfür.

»Jawohl, durchs Feuer. Mein treuer Ritter muss mir durch Wasser und Feuer folgen. Wir sind am Anfange der Ruinenstadt, wollen in ihre Mitte, und bis dahin ist es ein äußerst beschwerlicher Weg, wir müssen geradezu meilenweite Umwege machen. Es gibt einen viel kürzeren, freilich einen sehr abnormen. Wir müssen direkt durchs Feuer. Na, folgen Sie mir nur ruhig, ich bin doch Medea, die Zauberhexe, ich gebiete sowohl den Wasser- wie den Feuersalamandern. Kommen Sie mit.«

Sie traten durch die Tür, die sich hinter ihnen schloss, Medea, wie wir sie nun gleich nennen wollen, ergriff eine brennende Lampe, die in einer Nische stand.

Sie beleuchtete nackte Felswände, dann eine Treppe, immer tiefer stiegen die beiden hinab.

Je tiefer man in die Erde dringt, desto wärmer wird es, nachdem man bei 20 bis 25 Meter Tiefe die sehr kühle Normaltemperatur überschritten hat. Alle 30 bis 35 Meter nimmt dann die Temperatur um einen Grad Celsius zu, sodass im Bohrloche bei Paruschowitz in Schlesien, extra für diese Versuche angelegt, 2000 Meter tief, eine Temperatur von 70 Grad herrscht.

So tief stiegen die beiden hier nicht hinab, keine hundert Meter, aber die Wärme nahm noch in ganz anderer Weise zu.

Fast bei jeder Treppenstufe fühlte der Pater die Hitze sich vermehren, bald konnte er es kaum noch aushalten, schon triefte er am ganzen Körper, er glaubte glühendes Blei einzuatmen.

Er hatte nur noch nichts gesagt, um nicht noch einmal den Spott der übermütigen Kosakin herauszufordern.

Endlich aber, als der Weg in die Tiefe noch immer nicht aufhören wollte, und als es immer und immer heißer wurde, konnte er nicht mehr an sich halten, Entsetzen bemächtigte sich seiner.

»Um Gottes willen, was ist das? Wo führen Sie mich hin? Woher diese furchtbare Hitze?«

»Wir befinden uns einfach in einem Vulkan.«

»In einem Vulkan? Hier im Tieflande von Bengalien, wo es doch gar keine Gebirge gibt?«

»Aber der Boden ist dennoch vulkanisch. Eines schönen Tages kann das bisherige Tiefland Bengalien ein Hochplateau mit den schönsten Bergen sein, mit feuersprühenden. Da tritt freilich noch zuvor eine fürchterliche Katastrophe ein, da schwappt der Ganges über und fließt zurück, dann wird England nichts mehr von seinem Indien wissen wollen.«

»Ja aber, Mylady, ich halte es vor Hitze faktisch kaum noch aus. Können Sie denn diese Glut ertragen?«

»Ich wohl. Sie nicht? Oder jetzt?«

Bei diesen Worten ergriff sie seine Hand.

*

Es ist dies ein Roman. Es sei außerhalb seines Rahmens etwas erzählt.

Im Jahre 1901 war vom Norddeutschen Lloyd wie alljährlich eine Reise um die Erde arrangiert worden.

In Colombo auf Ceylon sollten die Passagiere diesmal ein außerordentliches Glück haben.

Es werden ihnen in Indien ja immer Gauklervorstellungen gegeben, aber meist sind die Herrschaften davon sehr enttäuscht, die Fakire oder Derwische müssen dazu erst engagiert werden, und das ist eben nicht das Richtige, so etwas muss der Zufall mit sich bringen.

Nun fand damals in der Nähe von Colombo gerade ein großes Volksfest statt, zu dem auch ein berühmter buddhistischer Wanderprediger sein Erscheinen zugesagt hatte, und zum Beweise seiner Heiligkeit wollte er die Feuerprobe bestehen, seine Unverbrennbarkeit zeigen.

Der eingeborene Festarrangeur machte den Herrschaften erst Schwierigkeiten, christliche Europäer dürften nicht zusehen, aber der schon eingetroffene Priester gelbst gestattete es, auch dass fotografiert würde.

Am Abend wurde ein großes Loch in die Erde gegraben, mit besonderen Luftzugskanälen, Holz hineingeworfen, dieses angebrannt, große flache Steine daraufgelegt, wieder brennendes Holz darauf, und nun dieses Feuer die ganze Nacht hindurch mit Macht unterhalten.

Am anderen Morgen wurden die Steinplatten mit großen Zangen herausgeholt, glühend bis zum Schmelzen, und so geordnet, dass sie eine Laufbahn von ungefähr 15 Meter Länge und zwei Meter Breite bildeten.

Der Priester kam sofort aus dem nahen Wald heraus, nackt bis auf den Schurz, singend und tanzend, betrat mit seinen nackten Füßen die glühenden Steinplatten, die auch jeden grünen Ast sofort in Flammen aufgehen ließen, schritt mehrmals hin und her.

»Komm mit!«, sagte er dann zu einem der Herren.

Der hütete sich natürlich, die anderen auch, zumal die Stiefel ausgezogen werden sollten.

Einige Eingeborene machten es vor. Der Zauberer ergriff sie bei der Hand, führte sie über die glühenden Steine.

»Quais, quais — gut, gut!«, sagten die braunen Burschen, an deren Sohlen vergeblich nach Brandblasen gesucht wurde.

Brandblasen! Ein dann darauf geworfener Stiefel verkohlte sofort, aber auch die Ledersohle verbrannte noch mit hellen Flammen.

Schließlich wagten es doch einige der Herren, auch zwei Damen, darunter eine sehr bekannte Berliner Konzertsängerin.

Von Hitze keine Spur, sogar ein kühles Gefühl unter den nackten Fußsohlen!

Der Bericht hierüber ist erschienen in einem der ersten Hefte der Zeitschrift »Ueber Land und Meer«, Jahrgang 1902, die Namen der Herren und Damen sind genannt, darunter sehr bekannte, mit vielen Illustrationen, Fotografien nach der Natur! —

Wie gesagt, es ist ein Zufall, wenn eine geschlossene Gesellschaft so etwas einmal zu sehen bekommt.

Ach, was dagegen kann ein armer Handwerksbursche berichten, der im Orient gepilgert ist!

Der Schreiber dieses hat mehr als ein Dutzend Mal Beweise von solcher Unverbrennbarkeit zu sehen bekommen, und noch ganz andere als diesen hier.

Denn das hier war mit priesterlichem Hokuspokus verbunden, dadurch wird die Sache interessanter, imposanter. Da gibt es ganz einfache Fälle, die aber so etwas weit, weit übertreffen!

Am Feuer sitzt ein alter Araber, er greift hinein, holt eine glühende Holzkohle heraus, legt sie sich auf die nackte Wade, langt in sein Täschchen, nimmt Zigarettenpapier und Tabak, dreht sich ganz, ganz bedächtig eine Zigarette.

Unterdessen brennt sich die glühende Kohle in sein Fleisch ein, es qualmt und stinkt, schon sieht man die fürchterliche Wunde.

Der Alte nimmt die Kohle aus der Wunde, brennt seine Zigarette an, wirft die Kohle ins Feuer zurück, legt die Hand über die entsetzliche Wunde, reibt darauf — und es ist nichts mehr davon zu sehen!

Kann man denn so etwas erzählen?

Nicht einmal am Biertisch, wenn man sich nicht auslachen lassen will. Noch mehr muss man sich hüten, so etwas niederschreiben und drucken zu lassen.

Nein, da müssen erst Professoren und Doktoren und andere Männer mit Namen kommen, die so etwas der staunenden Welt erzählen, denen wird es geglaubt.

*

Die Medea hatte des Paters Hand ergriffen, und da plötzlich merkte dieser nichts mehr von der sichtbaren Hitze; wie ein kühler Panzer legte es sich plötzlich um seinen ganzen Körper, nur dass keine Schwere fühlbar war, auch der Atem war wieder ganz kühl geworden, und ganz deutlich merkte er, dass diese angenehme Kühle durch die Hand seiner Begleiterin auf ihn überströmte.

Dieser ehemalige jesuitische Missionsinspektor war auch lange Zeit und wiederholt in Indien gewesen, kreuz und quer hatte er dieses Land der Wunder durchreist, manchen Einblick hatte er in das Wesen und Treiben der religiösen Sekten und Kasten gewonnen, die sonst für den fremden Europäer wie auch für den eingeborenen Laien mit einem undurchdringlichen Schleier verhüllt sind.

Nein, für diesen Jesuitenpater war es nichts besonders Neues, was er da erlebte. Wenn er es sich auch selbst nicht erklären konnte, dieses Wunder.

»Sie sind eine Yogina!«

»Ich bin eine Schamanin.«

»Es ist dasselbe! Sie können die Wirkung des Feuers aufheben!«

»Wie Sie wohl merken. Weiter!«

Noch tiefer ging es Hand in Hand hinab. Aber von einer zunehmenden Hitze merkte der Pater nichts mehr.

Und doch, er fühlte, dass etwas Fremdartiges in der Atmosphäre war, jetzt roch er auch den Schwefel, ohne dass ihn dieser belästigte, und jetzt sah er auch die Rauchwollen, die ihn umschwebten.

Die Treppe war zu Ende; es ging wieder durch einen horizontalen Gang, und immer dichter wurden die Rauchwolken, aber jetzt färbten sie sich rot und immer röter, sie selbst strahlten das Licht aus, während das Lämpchen schon längst nutzlos geworden war.

Und jetzt sah der Pater die Quelle dieses roten Lichtes.

Zu ihren Füßen floss der mehr als 20 Meter breite Strom einer roten Masse, über deren Wesen kein Zweifel sein konnte. Erstens dieser Geruch, und dann zuckten ja überall blaue Flammen empor, an manchen Stellen meterhoch, während es wieder schwarze Stellen gab, und zwar waren diese überall zusammenhängend. Die Hauptsache aber war doch der rote Strom. Es war wie ein schwarzes Spitzentuch, unter dem rotes Blut fließt.

Vielleicht am unheimlichsten war dabei die Todesstille, die hier herrschte.

»Ein Strom glühender Lava«, sagte die Medea mit ihrer gewöhnlichen Stimme, aber der Pater glaubte ein Donnern zu hören.

Er hatte es gewusst — was hätte es auch anders sein sollen.

»Was meinen Sie, was geschehen würde, wenn ich Sie jetzt losließe?«

»Um Gottes willen nicht!«, schrie der Pater auch gleich noch mit der anderen Hand die ihre packend und wirklich auch gleich noch mehr angenehme Kühle von ihr ausströmen fühlend.

»Sie wären sofort ein Häufchen Asche.«

»Ich glaube es, ich weiß es!«

Sie ging näher, ihn mit sich ziehend, den sanften, aber furchtbar zerrissenen Abhang hinab, bis sie dicht an der roten Flut stand, tauchte ihren Stiesel hinein, bückte sich, tauchte die Hand hinein, schöpfte von der roten Masse, goss sie lachend über den Kopf ihres Begleiters.

Ein glühender Regen ergoss sich über den Pater, aber nur durch die Farbe als glühend erkennbar, von einer Glut selbst merkte er nicht das Geringste. Die Tropfen waren sogar direkt kühl.

Er selbst tauchte nach kurzem Zögern seine Hand in die rote Flut, auch sie war ganz kühl.

Aber das Taschentuch, dass er hineinwarf, verschwand augenblicklich mit einer Flammenerscheinung, und nicht anders erging es einem Bleistift.

»Haben Sie noch so etwas Ähnliches?«

»Ja, einen zweiten Bleistift.«

»Machen Sie es noch einmal, aber tauchen Sie ihn erst nur hinein, ihn dabei noch haltend.«

Der Pater tat es. Solange er den Bleistift in der Hand hielt, blieb dieser unversehrt. Zog er ihn aus der Lava, so bildete sich daran schnell ein langer Schlackenzapfen. In dem Augenblick aber, da er ihn aus der Hand ließ, ging der Bleistift in Flammen auf.

»Dass es Yogis gibt, denen Feuersglut nichts anhaben kann, das weiß ich, und auch, dass sie diese Feuerbeständigkeit auf andere übertragen können, auch auf Gegenstände. Aber wie kommt es, dass ich noch atmen kann?«

»Weshalb sollen Sie nicht?«

»In dieser Atmosphäre kann es doch gar keinen Sauerstoff mehr geben, er muss bis zum letzten Rest verbrannt sein!«

»Es ist auch kein Sauerstoff, den Sie atmen — es ist Prana. Wissen Sie, was das ist, Prana?«

»Dieses Wort des Sanskrits bedeutet so viel wie Weltgeist, Weltseele.«

»Sie sagen es. Prana ist nichts und Prana ist alles. Prana ist nicht das Urelement selbst, sondern Prana macht alles erst zu dem, was es ist. Wer das Prana beherrscht, beherrscht auch alle Elemente, kann etwas in das andere verwandeln. Sie atmen jetzt Prana. Nennen Sie es meinetwegen Sauerstoff. Dieses Prana verwandelt auch die furchtbare Glut in angenehme Kühle. Weil ich es will! Kraft meines Willens! Mehr weiß ich selbst nicht. Nun kommen Sie.«

Sie überschritten die schwarze, zerrissene Decke, die wie ein zerfetztes Bettlerkleid den königlichen Purpur bedeckte.

Dann stiegen sie wieder eine Treppe empor, und zwar viel höher hinauf, als wie sie vorhin hinabgestiegen waren

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53. Kapitel
Der Herr der Kozzibozzis

Originalseiten 1257 — 1295

»So, nun warten Sie hier, bis ich Sie wieder abhole oder jemand anders schicke und Sie holen lasse. Ich lasse Sie gerade hier warten, damit Sie sich aus der Vogelperspektive etwas über Ihre neue Heimat orientieren können, die Sie nämlich nicht so bald wieder verlassen werden.«

So sprach die Medea und ging wieder zur Tür hinaus.

Die Betäubung ob des Geschauten und Erlebten war erst hinterher über den Pater gekommen, nachdem er den Lavastrom überschritten hatte.

Er wusste nur, dass er eine Treppe sehr lange empor gestiegen war, sonst nichts weiter. Es war ihm dunkel, als ob er noch durch andere Räume gekommen war, bestimmt konnte er es nicht behaupten. Jetzt befand er sich in einem nackten Raume, durch dessen scheibenlose Fensteröffnungen die goldene Morgensonne schien.

Ein herrliches Bild bot sich ihm nach allen Seiten.

Denn es war ein rundes Turmzimmer, in dem er sich befand, nach allen Seiten mit Fenstern versehen.

Gaur, die Ruinenstadt!

Wohin der Pater blickte, sah er etwas anderes.

Der Hauptsache nach aber doch eine orientalische Stadt, die in Trümmern lag, alles schon mit üppiger Vegetation überwuchert und dennoch die einstigen Gebäude erkennen lassend.

Also einfach unbeschreiblich, wir wollen den Versuch einer Schilderung nicht erst machen.

Der Pater sollte auch nicht lange Umschau halten können.

Eben war er in der Betrachtung des gewaltigen Kuppelbaus einer Moschee versunken, auf deren Dach schon ein mächtiger Affenbrotbaum gedieh, dessen Wurzeln so manche Platte schon gehoben hatte; der Pater beobachtete das Treiben der zahllosen Affen in den Zweigen dieses Baobabs, während unten auf der Straße soeben eine stattliche Herde Elefanten vorüberzog, die Grasbüschel ausreißend und in den Rachen steckend, als er schon gestört wurde.

»Heh, Landsmann, wie geht's?«

Der Pater drehte sich um — vor ihm stand eine abenteuerliche Gestalt.

Es war nicht gerade ein sehr kleiner Mann, er ging dem hochgewachsenen Jüngling aber doch nur bis zur Schulter, dafür aber eine ungemein breitschultrige Figur, fast ein Viereck bildend.

Bekleidet war er mit hohen Stulpenstiefeln, in denen weite Lederhosen steckten, eine blaue Bluse, auf dem Kopfe eine alte Pelzmütze, unter der lange Haare von fast allen Farben hervorquollen. Weiß, Grau, Schwarz, Braun, Rot und Blond waren wenigstens ganz bestimmt vertreten, jede Farbe für sich in einzelnen Haarsträhnen, und nun dieses Gesicht, welches dieses lange Haargemisch wie mit dem Messer abgeschnitten einrahmten, so viereckig wie der ganze Kerl, diese plumpe Nase, diese aufgeworfenen Lippen des ansehnlichen Maules, die vergnügten Schlitzaugen. —

Nein, der durfte diesen Jüngling keinen Landsmann nennen.

Wohl aber durfte es Lady Lilly Lionel diesem gegenüber tun.

Denn wenn das kein echter Kosak war, dann gab's überhaupt keine Kosaken mehr.

Die Arme in die Hüften gestemmt, in der einen knöchernen, schmutzigen Faust eine lederne Knute, so stand der Kerl breitbeinig da, das Urbild einer gemütlichen Bärenkraft, die man nur nicht zum Zorn reizen durfte.

»Sprechen Du Deutsch?«

»Ja, ich spreche Deutsch. Aber wir können uns auch Englisch oder Französisch oder Hindustanisch unterhalten, wenn Dir das Deutsche schwer fällt?«

»Mir? Hoho, Landsmann, ich sprechen Deitsch noch besser wie Russisch.«

Na dann musste der ja ein gutes Russisch sprechen!

Das konnte auch der Pater, nicht aber als Percy Macdonald, das stand nicht im Programm.

»Du sein der Mann, den mir Mütterchen mitgebracht haben?«

»Welches Mütterchen? Die Lady Lilly Lionel?«

»Ja, aber Lady Medea Lionel.«

»Dir mitgebracht?«

»Du sollen mir helfen.«

»Was denn?«

»Du nachher sehn. Du heißen Percy?«

»Ja, so heiße ich.«

»Haben Du schon gestühfrückt?«

»Gefrühstückt, meinst Du wohl?«, lachte der Pater, gleich eine sehr angenehme Empfindung verspürend, darüber alles andere vergessend.

»Ja, gestühfrückt, meinen ich«, beharrte der Kosak.

»Nein, ich habe noch nicht gestühfrückt.«

»Dann kommen mit, immer erst stühfrücken.«

Es ging die Turmtreppe hinab, dann in einen Raum, durch den der Pater vorhin ganz sicher nicht gekommen war. Es war eine sehr weite Halle, einst durch Täfelung sehr schön geschmückt gewesen, jetzt freilich schon arg zerfallen, und im Übrigen sah es darin wie in einer riesigen Rumpelkammer aus.

Überall lagen Haufen von alten Kleidern und Stiefeln, standen alle möglichen und unmöglichen Möbel und Gerätschaften herum, deren Zweck sich nicht so leicht erklären ließ, alte Waffen und dergleichen — kurz, die große Niederlage eines Lumpensammlers, der auch etwa in Altertümern und Raritäten macht.

Obgleich es offene Fenster genug gab, war der ganze Raum doch voll Rauch, denn auch hier wurde gleich am offenen Holzfeuer gekocht, wenn auch nicht so wie in dem Hotel zu Bombay, wie es die Lady Lionel hielt.

Jedenfalls aber war der Ofen nur ein Aufbau von losen Steinen an der Wand, darauf brannte ein offenes Feuer, darüber war ein Schirm, mit einem Rohr verbunden, das einfach zum Fenster hinausgelegt war, und eben wegen dieser Einfachheit funktionierte die Vorrichtung nicht, der Rauch zog nicht ab.

Über dem Holzfeuer hing ein gewaltiger Eisenkessel, in dem es brodelte.

Gerade wie der Kosak den Kessel abnehmen wollte, kam ein nackter Inder herein, der aber viel Negerartiges an sich hatte, von tiefschwarzer Hautfarbe und auch mit afrikanischer Gesichtsbildung, im Übrigen sehr schön und kräftig gewachsen — ein Munda.

Der Pater war zwar noch nicht in dieser Ruinenstadt gewesen, aber die Mundas kannte er.

Der Mann brachte einen Stockfisch mit, der auch in Indien bereitet wird, wenn auch nicht aus Kabeljau, eben aus anderen Meeres- und auch Süßwasserfischen, die auch so an der Luft getrocknet werden, also schließlich doch regelrechte Stockfische.


Illustration

Höchst ehrerbietig überreichte der Inder dem Kosaken den großen, flachen Stockfisch, es hätte nur noch gefehlt, dass er dabei niedergekniet wäre.

War es ein Beitrag zu dem Frühstück, sollte er noch gekocht werden? Dann ward es allerdings höchste Zeit. Denn was ein richtiger Stockfisch ist, auch ein indischer, der muss, ehe er für Zähne und Magen eines Europäers erträglich wird, vorher acht Tage gewässert oder vielmehr aufgeweicht werden.

Doch nein, dieser ansehnliche Stockfisch hatte einen ganz anderen Zweck.

Der Kosak hielt ihn vor seine Augen, der Pater blickte ihm über die Schulter, und da sah er, dass der graue Fisch mit schwarzer Tinte beschrieben war. Lesen konnte es der Pater allerdings nicht. Es schienen russische Buchstaben zu sein, aber Russisch war es nicht.

Ein merkwürdiges Verfahren, einen Stockfisch als Briefbogen zu benutzen!

Der Kosak hatte, immer die Lippen bewegend, sein Lesen beendet.

»Sweine...und!«

Mit hoher Fistelstimme, die er sonst nicht hatte, wie der Pater auch noch nicht bemerkt, dass er das H nicht hätte aussprechen können, hatte es der Kosak geschrien.

Aber damit noch nicht genug.

Quatsch, patsch, quatsch!, ging es. Und er hatte dem Inder den Stockfisch ein paarmal kräftig um die Ohren geschlagen.

Der Munda nahm die Stockfischohrfeige mit einer dankbaren Verbeugung hin und ging, und der Kosak haute doch wirklich jetzt noch den seltsamen Schreibebrief zum Frühstück in den brodelnden Kessel hinein.

»Was hat der arme Kerl denn verbrochen?«

»Hat Kozzibozzi nix Futter geben, ist Kozzibozzi tot.«

Der Pater fragte jetzt nicht, wer das sei, Kozzibozzi, doch wahrscheinlich der Name eines Haustieres — er beobachtete die Vorkehrungen zum Frühstück.

Sie waren einfach genug. Ein roh gezimmerter Tisch und eben solche Stühle waren vorhanden, der Kosak hob den schweren Kessel mit Riesenkraft auf den Tisch.

»Nun setzen und essen tun«, sagte der Kosak, zog sein langes Messer und begann die in der Suppe schwimmenden Fleischstücke und sonstigen Sachen herauszufischen, auch gleich mit der Hand hineingreifend.

Der Pater, solche naturwüchsige Fütterungen schon gewöhnt, folgte seinem Beispiele, nur dass er nicht mit der Hand in die kochend heiße Brühe langte, das brachte er gar nicht fertig.

Es war ein Ragout von allen möglichen Sachen, reichlich gewürzt mit Zwiebeln und Knoblauch, ganz delikat schmeckend. Gleich zum Anfang brachte das Messer des Paters hintereinander ein Schweinsohr, einen großen Eidechsenschwanz und eine Affenhand zum Vorschein.

Und nicht etwa, dass sich der Pater ekelte. Er war Heidenmissionar gewesen. Und Eidechsenschwänze sind gerade den wohlhabenden Europäern in Indien die größte Leckerei, auch in Südamerika, wie bei uns die Froschschenkel, dort gibt es aber Eidechsen, von deren einer die größte Familie zwei Tage lang isst, und bei Affenbraten darf man nur nicht an unsere Abstammung nach Darwin denken. Hochachtung genießt der affenessende Europäer bei den Eingeborenen freilich nicht. Aber da dürfte man wegen der Mohammedaner ja auch kein Schweinefleisch und wegen der Buddhisten nicht einmal Rindfleisch essen.

»Wie heißt Du denn?«, begann der Pater die Unterhaltung.

»Yermak.«

»Das ist ein berühmter Name.«

»Ja, ich sein berühmte Mann.«

Das hatte der Pater nun zwar nicht gemeint, er hatte an Yermak den Räuber gedacht, der mit seinen Kosakenhorden erst ganz Sibirien für Russland erobert hat, aber er wollte seinen Wirt nicht erst belehren.

»Du bist immer hier?«

»Immer.«

Der Pater hatte dieses gelbbraune, sehr schmutzige Gesicht scharf genug gemustert. Es hatte einen ebenso gutmütigen wie pfiffigen wie auch unsäglich dummen Ausdruck — er glaubte ruhig weiter fragen zu können. Es wurde ihm nicht übel genommen.

»Was machst Du denn hier?«

»Ich sein Herr der Kozzibozzis.«

»Was sind denn das, Kozzibozzis?«

»Das sein — das sein —«, eine große Zwiebel auf das Messer gespießt, blickte er tiefsinnig vor sich hin, »das sein eben Kozzibozzis.«

»Was macht Ihr denn mit diesen Kozzibozzis?«

»Nun — nu — mit den Kozzibozzis kozzeln und bozzeln wir.«

Der Pater gab es auf, auf diese Weise das Wesen der Kozzibozzis zu ergründen.

»Kennst Du Lady Lionel schon lange?«

Da plötzlich verwandelte sich das gutmütige Gesicht, es nahm einen drohenden, grimmigen Ausdruck an, so blickten auch die blauen Augen, und heftig wurde die furchtbare Karbatsche auf den Tisch geschlagen.

»He, Landsmann, Du willst mich wohl aushorchen, was?«

Da wagte der Pater nicht mehr zu fragen.

Mit diesem kleinen Manne war nicht gut Kirschen essen.

Nicht dass er ihn persönlich gefürchtet hätte — aber er befand sich hier in einem fremden Hause, er wusste nicht, wer alles auf einen Ruf herbeigeeilt kam — er wollte sich lieber fügen.

Natürlich würde er sich bei der Lady beschweren, solch eine Behandlung ließ er sich nicht gefallen.

Schweigend verlief die Mahlzeit. Aber der Kosak hatte schon längst sein gutmütiges Aussehen wieder, wenn er nicht sprach, so kam das nur daher, weil er keine Zeit dazu hatte, weil er eine ungemeine Gefräßigkeit entwickelte.

»Du sein satt?«

»Schon längst. Kann ich die Lady sprechen?«

»Ja, aber erst Du neue Sachen kriegen müssen.«

Gut, hiermit war der Pater einverstanden. Dass er freilich gleich hier in dieser Lumpenkammer ausstaffiert werden sollte, das hatte er nicht gedacht.

Der Kosak wühlte in den Kleiderhaufen und wählte ein Hemd, ein Paar Hosen, einen blauen Kittel, ein Paar derbe Schuhe und anderes mehr, alles noch ganz gut, aber durchaus nicht neu und noch weniger sauber.

»Hier, ziehen an, das Dir passen tun.«

Der Pater stutzte.

»Sage mal — ich soll Dein Gehilfe sein? Sagtest Du das vorhin nicht?«

»Ja. Du mir helfen sollen.«

»Was soll ich Dir denn helfen?«

»Für die Kozzibozzis.«

»Deshalb hat die Lady mich mit hierher gebracht, dass ich Dir helfen soll?«

»Nu ja. Zieh an!«, wurde der Kosak wieder sehr kurz.

Dem überaus schlauen, mit allen Hunden gehetzten Pater ging eine Ahnung auf.

So wie er die Lady bisher kennen gelernt hatte, hielt er es für ganz ausgeschlossen, dass er mit ihrem Willen solche unsaubere Lumpen anzog und dass er der Diener solch eines Kosaken wurde.

Hier lag ganz einfach eine Verwechslung vor.

Die Lady wusste gar nichts von alledem.

Der Kosak hielt ihn für einen anderen.

Gut, nun wollte der Pater aber gerade mitmachen.

Vielleicht dass er dadurch hier Geheimnisse erfuhr, die ihm sonst verborgen geblieben wären.

Also der Pater entledigte sich der wenigen Fetzen, die er noch auf dem Leibe hatte und zog dafür die andern Sachen an, die man übrigens nicht als Lumpen bezeichnen durfte.

Natürlich vergaß er auch nicht, den Inhalt seinem Taschen umzuwechseln.

»He, Landsmann, was sein das für Pistol?«

»Das ist mein Revolver.«

»Nix da — Pistol nix gut.«

Der Pater ließ sich den Revolver aus der Hand nehmen, der Kosak untersuchte ihn mit kundigen Griffen, sicherte ihn wieder und steckte ihn in die eigene Hosentasche.

»Haben Du noch mehr Patron?«

Er annektierte auch die Schachtel mit Patronen.

»Und was sein das?«

»Meine Brieftasche.«

»Zeigen.«

»Es ist Geld drin, welches der Lady gehört.«

»Zeigen — zeigen.«

Er betrachtete die Banknoten, jede einzelne.

»Das sein Pampier.«

»Das ist Papiergeld.«

»Rubel gut, Rupie gut, Dollar gut, englisch Pfund gut — Pampier nix gut.«

Mit diesen Worten warf er die sämtlichen Banknoten, mehr als 600 900 Mark, einfach in das Feuer, neben dem er stand.

Vergebens stürzte der Pater vor, entschlossen, sich die Hände zu verbrennen — die dünnen Blättchen waren im Nu in Flammen aufgegangen.

»Mensch, was hast Du getan! Du hast mehr als 30 000 Pfund Sterling verbrannt!«

»Sterling? Es sein Pampier. Pampier nix gut«, war die unerschütterliche Antwort.

»Die Lady hatte mir das Geld anvertraut, sie wird Dich zur Rechenschaft ziehn!«

»Du glauben, ich nix wissen, was ich tun kann?«, erklang es verächtlich.

Da verstummte der Pater.

Ja, dieser Mann wusste sicher, was er zu tun und zu lassen hatte.

Und wenn diese neue Medea aus Blei Gold machen konnte, dann freilich hatten auch 30 000 Pfund nicht viel für sie zu bedeuten, das Papiergeld war nur zur Sicherheit für alle Eventualitäten der Reise gewesen.

Und dass wirklich etwas daran sein musste, das verriet auch, wie gleichgültig der Kosak den goldenen Inhalt des Beutelchens untersuchte, während auf solch einen Mann die Goldstücke doch sonst einen ganz anderen Eindruck hätten machen müssen, und das Beutelchen dem Pater zurückgab.

»Das Du behalten können. Nur nix Pampier.«

Infolgedessen musste der Pater denn auch sein Notizbuch hergeben, in dem aber noch nichts weiter stand als die Adresse der Lady Lionel in Bombay, und trotzdem ließ der Kosak auch dieses Notizbuch sofort ins Feuer wandern.

»Nun kommen mit, wir viel arbeiten müssen.«

Es ging einen Korridor entlang, der hier und da eine schwere, eisenbeschlagene Tür zeigte, eine solche öffnete der Kosak mit einem großen Schlüssel, den er aus der Tasche zog; sie traten ein.

Staunend sah sich der Pater um.

Der weite Raum war ein Mittelding zwischen einem Konfektionsladen und wiederum einer Trödelbude. Oder es sah eben aus wie bei einem Altkleiderhändler, bei dem Ordnung herrscht. Dann aber auch wieder wie in einem Geschäft, das Maskenballkostüme verleiht.

Wohlgeordnet hingen die Kleider an Stellagen und direkt an den Wänden.

Es war an Garderobesachen und Kostümen alles, alles vorhanden, was man sich nur irgend denken kann.

Die elegantesten Gesellschafts- und Straßenanzüge; für die Damen die modernsten Pariser Toiletten bis zum Arbeitsanzug eines Kohlentrimmers und einer Bauernmagd, für alle Weltgegenden berechnet, denn eine thüringische Bauernmagd trägt sich doch schon wieder ganz anders als eine pommersche oder gar als eine holländische oder nordamerikanische, wozu nun aber noch alle die zahllosen Kostüme und Trachten der ganzen Erde kamen.

Zahllos insofern, als man diese Kostüme hier nicht so ohne Weiteres zählen konnte.

Sie sind aber auch in Wirklichkeit unzählbar, die sämtlichen Nationaltrachten der Erde.

Es muss ja sehr interessant sein, ein Museum für solche Trachten anzulegen, aber vollzählig kann es niemals werden. Da ist es doch noch leichter, eine vollständige Briefmarkensammlung anzulegen.

Man bedenke doch nur: die verschiedenen Trachten in den Alpen, in Bayern; wenn man für jede Gegend, die doch immer ihr Charakteristikum in der Tracht hat, einen Mann und eine Frau und ein Kind im Arbeits-, Ausgeh- und Sonntagsanzug vorstellen wollte. Da kämen schon einige tausend Puppen zusammen! Ganz sicher! Nun kann man aber doch ein Land wie Bayern auf der Weltkarte mit einer Fingerspitze verdecken.

Also so großartig konnte diese Sammlung hier ja nicht sein.

Aber immerhin, wohin das Auge schaute, gewahrte es ein anderes Kostüm, das eines englischen Salongigerls sowohl wie das eines indischen Parsen und nun alles, was dazwischen liegt, auch in Bezug auf Frauentrachten. Stiefel oder überhaupt Fußbekleidungen wie Kopfbedeckungen dabei nicht zu vergessen.

Jeder einzelne Gegenstand trug einen Zettel, der mit einer Zahl und einem Buchstaben versehen war.

»Nun wollen wir anfangen«, sagte der Kosak, nachdem er die Tür hinter sich verschlossen hatte, wie auch die Fenster stark vergittert waren.

Klopfpeitschen und Kleiderbürsten waren zur Genüge vorhanden, der Pater musste sich bewaffnen, einen schwarzen Frackanzug, Nummer 478, nehmen, dem Kosaken in einen kleinen Nebenraum folgen, der nichts weiter enthielt als ein Gerüst mit Kleiderhaken, die Tür wurde zugemacht, aber nicht verschlossen, sein neuer Herr zeigte ihm, wie man Bürste und Klopfer handhabt.

»Und dann nehmen Du den näksten Anzug und sofort die Reih. Ich schließen Dich jetzt ein. Wenn ich wiederkommen und Du hast machen gut, kriegen Du einen Snaps. Und wenn Du machen nix gut, kriegen Du eine in die Snauz.«

Sprach's und ging und schloss draußen die Haupttür zu. Der zur »Kammer« abkommandierte Soldat — denn lebhaft musste man an so etwas denken, besonders durch dieses Einsperren, obgleich es doch ein Ehrenposten ist, denn um zur »Kammer« kommandiert zu werden, dazu gehört sehr gute Führung — machte sich an die Arbeit, klopfte und bürstete.

Aber lange nicht. Nur diesen einen Frackanzug säuberte er tadellos, hing ihn an seinen Platz zurück, aber den zweiten, einen braunen Gehrockanzug, nahm er nicht ab. Wenigstens hielt er erst einmal eingehend Umschau.

Dass hier tatsächlich ein Irrtum vorlag, der Kosak ihn für einen anderen hielt, das war ihm ja nun ganz klar geworden, und eben deshalb wollte er sich Zeit nehmen.

Die Lady hatte ihn doch nicht etwa engagiert, damit er hier Kleider ausklopfen sollte.

Was hatte es nun mit diesen Sachen für eine Bewandtnis?

Der Pater wurde nicht klug daraus.

Anderseits konnte es ja auch sehr einfach sein.

Ach, was wird in der Welt nicht alles gesammelt!

Weshalb sollte hier nicht ein spleeniger Engländer hausen, der sich eine Sammlung von Garderoben aller Nationen angelegt hatte?

Auch einige Schränke waren vorhanden.

Der Pater öffnete sie.

Sie enthielten Wäsche aller Art, vom feinsten Oberhemd an bis zum einfachen Unterkleid des Chinesen, der dieses aber niemals waschen lässt, nicht eher ablegt, als bis es am Leibe in Trümmer fällt. Und dazu Handschuhe aller Art und Strümpfe und Taschentücher und was man sonst noch zur Garderobe rechnet, nicht aber an den Garderobehalter hängt oder darunter stellt.

Da, wie der Pater in den unteren Teil des Schrankes blickte, bemerkte er plötzlich zwischen zwei hohen Stapeln von Hemden, die nicht dicht nebeneinander aufgeschichtet waren, einen hellen Lichtschein.

Wie ein Blitz war es in der dunkeln Spalte aufgezuckt.

Was war das gewesen?

Eine ganz rätselhafte Lichterscheinung!

Der musste der Pater auf den Grund gehen.

Wurde er von dem Kosaken oder sonst jemand überrascht, so wusste er eine Entschuldigung.

Er hätte, würde er sagen, in diesem Schranke eine Ratte rumoren gehört, da hatte er den Schrank geöffnet und eine Lichterscheinung gesehen, was Letzteres ja auch der Tatsache entsprach, er habe an ein glimmendes Feuer gedacht.

Das konnte nun freilich nicht der Fall sein, es war nur wie ein Blitz gewesen.

Also er räumte den einen Hemdenstapel beiseite, um die Hinterwand näher betrachten zu können.

Da noch einmal die seltsame Blitzerscheinung!

Nun aber wusste der Pater schon, was hier vorlag.

In der Hinterwand des Schrankes war hier unten eine Spalte; hinter dem Schrank selbst flammte momentan Licht auf.

Wie aber konnte das von hier aus bemerkt werden?

Der Schrank stand doch dicht an der Wand!

Konnte man nun beobachten, wenn dahinter Licht gemacht wurde, so musste die Hinterwand des Schrankes diesen Raum hier direkt von einem anderen trennen, es war eben keine gemauerte Wand mehr dazwischen!

Das war doch ganz logisch. Und das eben war es, was den Pater reizte, einmal mehr in den Schrank hineinzukriechen und sein Auge an diesen Holzriss zu legen.

Aber es sollte noch anders kommen.

Als er den Wäschestapel fortgeräumt hatte, bemerkte er, dass es kein unregelmäßiger Riss in der Bretterwand war, sondern eine gerade Fuge, die sich als Viereck fortsetzte.

Und außerdem nun noch Scharniere oder kleine Angeln.

Also eine regelrechte Tür!

Und der Pater brauchte nur etwas derb dagegen zu drücken, so ließ sie sich nach außen öffnen.

Ein ebenso wundersamer wie schauerlicher Anblick bot sich ihm dar.

Es war ein großer, sehr langgestreckter Raum, ganz mit hölzernen Pritschen angefüllt, aber in geordneter Weise, eine stand neben der anderen, das Kopfende immer an der Wand, und auf jeder dieser schmalen Pritschen lag ein Mensch.

Eine Leiche!

Es war eine Leichenkammer!

Das erkannte der Pater sofort.

Regungslos lagen sie alle da, manchmal in recht unnatürlichen Stellungen, wenn auch nur insofern, als einer oder der andere den Arm oder das Bein von der Pritsche tief herabhängen hatte. Das kann doch auch kein schlafender Mensch auf die Dauer aushalten.

Und nun außerdem alle in ein langes, weißes Hemd gekleidet — eben eine Leichenkammer!

Und was nun für Tote!

Die Rassen aller Weltteile hatten sich hier ein Rendezvous gegeben. Männer und Frauen und Kinder in allen Farbenschattierungen vom tiefsten Schwarz des Zulukaffers bis zur schneeigen Weiße der Kaukasierin.

Nur dass sie alle das gleiche Leichenhemd trugen, das war das einzige Gemeinschaftliche an ihnen.

Und dass sie alle mit weit geöffneten, starren, gläsernen Todesaugen dalagen.

Über jedem Kopfende befand sich an der Wand eine Nummer, die auch vorn auf das entsprechende Leichenhemd gewirkt oder mit schwarzer Farbe gemalt war.

Diese Nummern gingen nicht der Reihe nach. Der Pater, wenn er den Kopf durch die Öffnung steckte, konnte sämtliche Leichen respektive Pritschen sehen, er zählte an allen vier Wänden zusammen 82, da war aber auch eine Nummer 258 vorhanden.

Nicht alle Pritschen waren besetzt, fünf von ihnen waren leer.

Außerdem hing noch unter jeder Nummer an der Wand eine Schiefertafel, die offenbar beschrieben war.

Wenigstens konnte der Pater gekritzelte Zeichen erkennen. Sonst versagten hier auch seine Argusaugen, dazu war die Entfernung doch zu groß, die Schrift zu klein, und die Tafeln neben sich konnte er nicht richtig sehen, da musste er hervorkriechen.

Und der Pater war entschlossen, es zu tun.

Er musste wissen, was auf diesen Tafeln stand.

Und ferner musste er ergründen, woher die Lichtblitze kamen.

An der gegenüberliegenden Wand befanden sich drei große Fenster, durch welche die Morgensonne schien, zum Teil direkt auf die Leichen fallend, ohne dadurch den Eindruck des Schauerlichen zu verwischen.

Nun zuckten aber außerdem immer über die Leichen Lichtstrahlen hin und her, und das konnte nicht direkt von der Sonne herstammen. Denn vor den Fenstern war nichts, was die Sonnenstrahlen manchmal unterbrechen konnte, wie etwa vom Winde bewegte Baumzweige, und außerdem fielen die zuckenden Lichtstrahlen manchmal auch auf Leichen, die direkt im Schatten lagen.

Es musste sich also über dem Pater etwas an der Wand befinden, was diese Sonnenstrahlen reflektierte, doch jedenfalls ein Spiegel, aber es war ganz merkwürdig, wie die Lichtstrahlen immer hin und her wanderten, und das war es also, was die Neugier oder auch Wissbegierde des Paters mächtig erregte, das musste er ergründen, und dazu genügte noch nicht, dass er den Kopf und den Oberleib so weit wie möglich hervorreckte, ohne den Schrank selbst zu verlassen.

Ein lebender Mensch befand sich natürlich nicht in dem Raume; sonst hätte er hier doch nicht so sorglos beobachtet.

Die beiden gegenüberliegenden Türen waren geschlossen.

Der Pater verließ sein Versteck, kroch hinten zum Schranke heraus.

Jener Raum lag tiefer als dieser hier, sodass sich auch noch die Pritschen unter ihm befanden.

Auf derjenigen direkt unter ihm, auf die er beim Heraussteigen treten musste, lag ein junges, schönes Weib mit aschblonden Haaren, man musste gleich an eine echte Angelsächsin denken. Ein wunderbarer Teint, weiß wie frischgefallener Schnee, an dem schlanken Halse war jedes Äderchen zu erkennen — unverkennbar so eine echte, aristokratische Angelsächsin, auch den stolzen Gesichtszügen und der feinen Nase nach, wie man sie in England so oft bewundern kann.

Die starren, gläsernen Augen stierten direkt zu dem Pater empor, ein furchtbarer Anblick. Der aber kannte kein Grausen, er kroch mit dem Oberkörper hervor, musste, um sich abzustützen, seine Arme über die Leiche ausbreiten und sich tief herabsenken, dass sein Gesicht fast deren Brust berührte — dann, als er die Beine nachgezogen hatte, richtete er sich auf und stieg von der Pritsche herab.

»Wenn ich nun hier ertappt werde?«

Nur ein einziges Mal war ihm dieser Gedanke durch den Kopf geschossen.

Seine Neugier war stärker als jedes sorgende Bedenken — und er würde sich schon zu rechtfertigen wissen.

Ja, jede Schiefertafel war beschrieben, die Schrift wurde, wie deutlich zu bemerken, manchmal weggewischt und mit dem Griffel erneuert. Also es wurden darauf Notizen gemacht.

Es waren dieselben, den russischen ähnliche Buchstaben, die der Pater auf dem Stockfisch gesehen hatte. Also er konnte sie nicht entziffern.

Und die Ursache der hin und her zuckenden Lichtstrahlen?

An der Wand, aus der er herausgekrochen, befand sich hoch oben ein etwas schräg gestellter, runder Spiegel von mehr als einem Meter Durchmesser, wieder aus lauter strahlenförmigen Spiegeln zusammengesetzt, oder facettenartig geschliffen, so wie die Spiegel auf den Leuchttürmen beim sogenannten Blinkfeuer gehalten sind, und auch dieser hier drehte sich langsam im Kreise; die Sonne spiegelte sich in ihm, daher das Hin- und Herhuschen der reflektierten Strahlen.

Was hatte dieser sich drehende Spiegel für einen Zweck?

Zunächst musterte der Pater die Leichen näher, fasste sie ohne Scheu an.

Vollkommen beweglich, wie jede Leiche ist, nachdem die Todesstarre vorüber. Von Verwesung oder irgend welchem Geruch gar keine Spur.

Dann machte der Pater, dieser Menschenkenner, noch eine besondere Beobachtung.

Alle diese Toten, ob nun jung oder alt, ob schwarz oder braun oder rot oder gelb oder weiß, hatten ausgeprägte Verbrecherphysiognomien.

Freilich gehörte das Auge und die Erfahrung dieses Paters dazu, um das gleich beurteilen zu können.

Es gab ja Gestalten genug darunter, an deren Gesichtszügen das auch jeder andere gleich erkannt hätte.

Dem rothaarigen Kerl dort mit der von Narben entstellten Visage, der jetzt so ruhig im Leichenhemd auf der Pritsche lag, hätte wohl niemand lebendig im einsamen Walde begegnen mögen, und das halbwüchsige Mädchen dort trug auch schon den Stempel aller verbrecherischen Laster auf der Stirn.

Aber da gab es doch auch noch andere Gestalten und Physiognomien.

Da war ein anderes, vielleicht zehnjähriges Mädchen, hold und unschuldig wie ein Engel, und ein magerer Mann musste die durchgeistigte Vornehmheit selbst sein, wie das auch von der aschblonden Dame mit den aristokratischen Zügen galt.

Aber dieser Pater hatte da eben seine Erfahrungen in Menschenstudien gemacht, der dachte anders.

»Dem Kinde da würde ich keine zehn Cents anvertrauen, das ist einst die reine Rabennatur gewesen, musste stehlen, weil es nicht anders konnte. Und der vornehme Gentleman dort? O weh, das ist der wahrhaftige Satan gewesen, mir noch weit über. Alles voll Lug und Trug und Tücke. Na, und diese blonde Angelsächsin! So stelle ich mir die Tofana vor, die vielhundertfältige Giftmischerin, nur in italienischer, schwarzhaariger Ausgabe. Das ist ja eine feine Gesellschaft, die sich in dieser Leichenkammer zusammengefunden —«

Erschrocken brach er ab.

Eine der Türen hatte sich geöffnet.

Oder sie war noch dabei, sich zu öffnen, ganz langsam, aber so geräuschlos, dass der Pater nichts davon gemerkt hätte, wenn er zufällig nicht gerade hingesehen.

Das Schranktürchen in der Wand hatte er vorhin wieder zugemacht, ehe er von der Pritsche herabgestiegen war. Ein Schloss oder Riegel befand sich nicht daran, wohl aber als Handhabe ein Knopf.

Es war seine Absicht gewesen, durch diese Öffnung sofort wieder zu verschwinden, wenn irgend ein Geräusch verriet, dass eine der großen, schweren Türen geöffnet wurde, und da hätte der Pater seine eidechsenartige Gewandtheit gezeigt, die er auch in diesem fremden, übrigens selbst athletischen und aalglatten Körper besaß.

Aber so, wie es nun gekommen, war es zu spät dazu, wenn der Pater den auch noch nicht sah, der von draußen langsam die Tür öffnete.

Wie ein Blitz verschwand er unter einer der Pritschen, drückte sich hinten an die Wand, wo er nur gesehen werden konnte, wenn sich jemand bückte, während er selbst die Tür nicht aus den Augen ließ.

Ein Mann trat ein, ein gelbhäutiger, bezopfter Mann, ein Chinese.

Aber nicht in chinesischem Kostüm, sondern im weißen Leichenhemd.

Vorn auf der Brust hatte er eine Nummer — 127.

Er schloss hinter sich die Tür.

Aber nun wie er das tat, mit ganz unbeschreiblichen Bewegungen, wie ein Automat — nein, wie ein lebender Leichnam.

Auf was für einen anderen Gedanken sollte man auch bei diesem Leichenhemd kommen.

Und so wandelte er auch durch den Raum.

Wie ein Leichnam, dem irgend eine Kraft für einige Zeit wieder Leben eingeflößt hatte.

Besonders auch in den starren Augen und auch der Haltung des ganzen Kopfes lag es, das Unheimliche, das Grausige.

Wie er den Blick immer starr geradeaus ins Leere gerichtet hatte, wie er den Kopf ruckweise nach der Richtung wendete, nach der er wollte.

Dasselbe aber galt auch für das Gehen.

Wie er die Füße setzte, so ruckweise — wie ein Automat, dessen mechanisches Werk aufgezogen ist.

Oder eben wie eine Leiche, die von fremder Kraft aufrecht gehalten und bewegt wird.

Oder vielleicht auch wie eine Marionette.

So schritt der Chinese durch den Raum, schien zwei- oder dreimal die Richtung zu verfehlen, veränderte sie, ohne direkt umzukehren, schritt dorthin, wo eine leere Pritsche stand, darüber die Nummer 127, also seine eigene, kletterte auf die Pritsche, unbehilflich, mit den schlenkernden Beinen erst einige Male abrutschend, wie eben eine Marionette, eine Puppe, die durch Fäden nicht richtig dirigiert werden kann, fiel schwer auf die Brust, richtete sich ruckweise wieder empor, drehte sich mit einem Ruck auf den Rücken herum, streckte sich aus, ein Arm fiel herab — und nun lag er still da.

Auch dieses hartgesottenen Paters hatte sich ein Grausen bemächtigt.

Ja, wenn es ein Automat oder eine von Fäden dirigierte Marionette gewesen wäre!

Aber es waren eben keine Fäden vorhanden.

Es war eine menschliche Leiche, so wie alle die anderen Gestalten dort!

Erst nach einiger Zeit wagte sich der Pater unter seiner Pritsche hervor.

Er begab sich hin zu jenem Chinesen, und es gehörte doch wirtlich Mut dazu, um ihn zu befühlen.

Ja, es war eine Leiche.

So kann doch nicht etwa ein menschlicher Körper als Puppe nachgeahmt werden. Es stand dem Pater ja frei, auch unterhalb des weißen Leichenhemdes zu untersuchen.

Was sollte der Pater hiervon denken?

Nun, eine kleine Ahnung ging ihm doch schon auf.

Die Lady hatte ja schon starke Andeutungen gemacht, wen sie hier zu finden hoffte, und daraus konnte sich der Pater noch manches andere erklären.

Freilich, im Grunde genommen war ihm dies alles hier doch fremdartig genug.

Und wieder schrak er zusammen oder hielt doch mitten in der Bewegung inne, obgleich nichts anderes geschehen war, als dass nur plötzlich der drehende Spiegel stillgestanden war.

Infolgedessen hatte auch plötzlich das zuckende Hin- und Herhuschen der Lichtstrahlen aufgehört, und das musste sofort auffallen.

Nun hätten doch eigentlich die aus dem Facettenspiegel kommenden Lichtstrahlen überall verteilt sein müssen. Aber das war eben nicht der Fall. Ein einziger intensiver Lichtstrahl fiel direkt auf das weiße Gesicht eines älteren, kahlköpfigen Mannes mit schwarzem, wenn auch schon graumeliertem Schnurrbart, sonst war er glattrasiert, und da plötzlich ging ein Zucken durch den Körper dieser Leiche; sie richtete sich auf, mit ebensolchen marionettenhaften Bewegungen, stieg von der Pritsche herab, begann zu gehen, immer noch so marionettenhaft wie vorhin der Chinese.

Der runde Spiegel aber mit seinen tausend Facetten fing sich wieder zu drehen an, seine Lichtstrahlen über alle die Leichen verstreuend. Diesmal hatte der Pater nicht daran gedacht, sich zu verstecken.

Der lebendig gewordene Tote hatte seine gläsernen Augen beim Aufstehen direkt auf ihn gerichtet gehabt, und da musste man sofort merken, dass sie den fremden Menschen überhaupt gar nicht sahen. Es war und blieb eben eine Leiche, die nur irgendwie bewegt werden konnte.

So wandelte der Tote nach der Tür.

Jetzt aber bemerkte der Pater, dass auf dem Kopfe des Mannes immer ein besonderer Lichtstrahl ruhte, wie er sich auch fortbewegte. Obgleich dabei die anderen Lichtstrahlen immer spielten. Aber ein besonders starker war doch immer auf den Kopf des Mannes geheftet. Möglich, dass dies schon vorhin bei dem Chinesen der Fall gewesen war, der Pater hatte es nur nicht beachtet.

Der wandelnde Leichnam hatte jene Tür erreicht, er klinkte sie auf, öffnete sie, trat hindurch in den Nebenraum.

Und der Pater ihm nach!

Mochte nun kommen, was da wollte — der Pater folgte ihm!

Es war ebenfalls ein Kleidermagazin, aber längst nicht so groß wie jenes andere und auch ganz anders eingerichtet, nicht so museen- oder maskenballartig wie jenes.

Es waren ganz gleichmäßige Arbeitsanzüge, die an Wänden und Stellagen hingen, Hosen aus grauer, grober Leinwand und blaue Kittel, wie der Kosak einen trug, wie auch der Pater einen hatte anziehen müssen, nur alle von verschiedenen Größen, desgleichen grobe Baumwollhemden, darunter standen derbe Lederschuhe und über jedem zusammengehörenden Anzug war eine Tafel mit Nummer angebracht.

Außerdem war noch eine Waschtoilette vorhanden, die, wie alles verriet, besonders das lange, rollbare Handtuch, stark gebraucht wurde.

Vor allen Dingen aber machte der Pater eine ganz besondere Beobachtung.

Auch hier war oben an der Wand ein großer Facettenspiegel angebracht, der sich langsam drehte, die durch das Fenster hereinfallenden Sonnenstrahlen reflektierend.

Sonst aber war es ein ganz anderer Spiegel.

Einmal bestanden die Facetten aus den verschiedenfarbigsten Gläsern, alle Farben des Regenbogens waren vertreten, und zweitens zerstreuten sich diese nicht, sondern flossen alle in einen einzigen Strahl zusammen.

Wer den physikalischen Vorgang kennt, weiß, dass die Farben des Regenbogens vereint weißes Licht ergeben. Das weiße Licht der Sonne wird doch durch ein Prisma erst in die farbigen Strahlen des Regenbogens zerlegt.

Also es war ein weißer Lichtstrahl, der von dem farbigen Spiegel ausging, wozu nun freilich, um das zu ermöglichen, zumal sich der Spiegel drehte, eine ganz raffiniert ausgedachte Vorrichtung gehören musste.

Und nicht nur das, sondern dieser Strahl wurde auch auf irgend eine Weise gelenkt.

Erst, so hatte es dem Pater wenigstens gedünkt, hatte dieser Strahl als weißer Fleck auf dem Boden gelegen. Aber sofort, als der tote Mann — denn als solcher musste er trotz aller Beweglichkeit gelten — eingetreten war, hatte er sich auf ihn gerichtet, ihn wie in Empfang genommen, hatte sofort sein Gesicht getroffen, und hierbei blieb es auch.

Der weiße Strahl folgte dem Manne überall nach, und wenn er nicht direkt ins Gesicht fiel, so traf er doch immer den unbedeckten Kopf.

Und kaum war der Mann beim Eintreten oder schon beim Weiteröffnen der Tür von dem Strahle getroffen worden, als seine Bewegungen ganz andere wurden. Das halb Schlappe, halb Ruckweise hörte auf, sie wurden viel zusammenhängender, viel natürlicher.

Aber der Pater brauchte keine Sorge zu haben, dass der Mann nun völlig lebendig und ihn sehen, ihn erkennen würde.

Als der Mann sich umdrehte, um die Tür wieder zuzumachen, waren die Augen einmal direkt auf den Pater gerichtet, aber sehen taten sie ihn nicht, das war sofort erkennbar, und es waren und blieben überhaupt die gläsernen, todesstarren Augen.

Jetzt ging der Mann dorthin, wo über einem Anzuge die Nummer 71 stand, dieselbe, die er mit schwarzer Farbe auf seinem Leichenhemd trug, und er schlüpfte aus diesem Leichenhemd, ließ es fallen, zog das grobe, baumwollene Hemd an, die Hosen, den Kittel, die Schuhe.

Dabei also war der weiße Lichtstrahl immer auf seinen Kopf geheftet, im Gesicht oder auf den Hinterschädel, wie der Mann sich auch bewegte und bückte.

Sonst war nichts Auffälliges zu bemerken gewesen.

Nur eine Merkwürdigkeit war den scharf beobachtenden Augen des Paters nicht entgangen.

Nämlich dass der Mann das Leichenhemd hatte fallen lassen und dass er auch das baumwollene Hemd nicht über den Kopf streifte, sondern von unten hineinfuhr, mit den Beinen zuerst hineinstieg, wie man sonst doch wohl kein Hemd anzieht.

Und da geschah noch etwas ganz Außergewöhnliches, Unheimliches.

Das Anziehen der Schuhe war noch nicht daran gekommen, und der Pater hatte noch nicht daran gedacht, den immer folgenden Lichtstrahl dadurch einmal von dem Menschenkopfe fernzuhalten, dass er davor trat, was allerdings auch nicht so leicht zu machen war, da der Strahl ja aus bedeutender Höhe kam. Er hätte schon irgend einen größeren Gegenstand dazu hoch halten müssen.

Da bückte sich der Mann nach den Stiefeln. Und der Pater stand gerade so, dass er den ebenfalls sofort tiefergehenden Strahl mit seinem eigenen Körper auffangen musste.

In demselben Augenblicke, da der Kopf des Mannes nicht mehr von dem Lichtstrahl getroffen wurde, brrach dieser wie ein leerer Sack zusammen und blieb so liegen.

Im ersten Moment wusste der Pater gar nicht den Grund für dieses Zusammensacken.

Da plötzlich fühlte er in seinem Rücken eine ganz bedeutende Wärme, aber nicht nur das, sondern auch ein ganz eigentümliches Prickeln, so etwa wie es ein galvanischer Strom ausübt, und wie er sich erschrocken umwandte, sah er den intensiv weißen Strahl auf seiner Brust ruhen, hier ebenfalls sofort die intensive Wärme und das Prickeln erzeugend; jetzt trat der Pater schnell zur Seite, und da senkte sich der Strahl auch schon von selbst herab, traf den Hinterkopf des Mannes, und alsbald erhob sich dieser wieder und fuhr fort, die Schuhe zu fassen und anzuziehen.

Wenn es noch irgend eines Beweises bedurft hätte, dass dieser Leichnam sein scheinbares Leben dem aus dem Spiegel kommenden Lichtstrahle zu verdanken hatte, so war er hiermit erbracht.

Und dieser Lichtstrahl äußerte zugleich eine galvanisch-elektrische Wirkung.

Wer hätte da nicht an den abgehäuteten Frosch gedacht, den Luigi Galvani zu irgend einem Zweck auf ein eisernes Gitter gespießt hatte, zufällig berührte er ihn mit einem kupfernen Gegenstande, und plötzlich fing der tote Frosch sich zu bewegen an, zuckte und spreizte die Schenkel. Was eben zur Entdeckung jener Elektrizität führte, die wir heute die galvanische nennen.

Und dieser Lichtstrahl hier ging aus einem rotierenden Spiegel, der aus den verschiedenfarbigsten Gläsern zusammengesetzt war!

Woher kam nun die ganz besondere Eigenschaft dieses Strahls? Auf welche Weise machte er den Leichnam so gut wie lebendig? Wie wurde die Marionette aus Knochen, Fleisch und vielleicht auch Blut so genau dirigiert?

Der Pater sah ein, dass er selbst diese Fragen niemals beantworten konnte, dass er ganz vergeblich über die Lösung nachgrübeln würde.

Der Mann hatte seine Arbeitstoilette beendet und wandte sich der zweiten, jener ersten gegenüberliegenden Tür zu.

Auf diesem Gange fiel es dem Pater ein, noch einmal den Lichtstrahl von ihm abzulenken, aber ohne vorgehaltenen Gegenstand, nur dadurch, dass er beide Hände wie ein Schirm zusammengelegt hoch hielt.

Es war dadurch nicht möglich, den ziemlich breiten Strahl vollkommen aufzufangen, etwas wurde der Mann doch noch beschienen.

Aber einen Erfolg hatte es doch. Kaum fühlte der Pater die Wärme und das Prickeln des elektrischen Stromes in seinen Händen und durch den ganzen Körper gehen, als der Mann sofort auch ganz andere Bewegungen machte, viel schlapper und unsicherer, viel mehr noch als in der großen Leichenkammer, er taumelte nur noch, es war ein ständiges Bemühen, das völlige Stürzen zu verhindern.

Die Hände zurückgezogen, den Strahl freigegeben, und sofort wurden es wieder natürliche Bewegungen. Also der Pater hatte einen Teil der künstlichen Lebenskraft entzogen.

Jetzt trat ihm der Pater direkt in den Weg. Der Mann stieß gegen ihn, beschrieb dann einen Bogen um ihn herum, um nach der Tür zu gelangen.

Der Pater trat zur Seite, hielt ihm ein Bein vor. Der Mann stieß wiederum dagegen, hob das Bein und stieg über das Hindernis.

Weitere Experimente machte der Pater nicht. Er wurde doch nicht klug daraus, wie diese Marionette dirigiert wurde.

Der Mann hatte die Tür geöffnet. Señor Lazare, wie wir ihn zur Abwechslung auch nennen können, blickte in ein chemisches Laboratorium oder vielmehr in eine kleine chemische Fabrik, in welcher Chemikalien hergestellt wurden.

Unter zwei Destillieröfen mit weitverzweigtem Röhrensystem brannte Feuer, die überdampfenden Flüssigkeiten wurden in Kühlvorlagen aufgefangen, Glühöfen waren in Betrieb, eine Pulver- und Reibmaschine, große Filtrierapparate und ähnliche Vorrichtungen mehr.

Erst hatte der Pater nicht eintreten, sich erschrocken verbergen wollen, denn diese Apparate wurden von einem halben Dutzend Männern bedient. Bald aber erkannte er, dass sie nicht nur eben solche grobe Arbeitssachen trugen, sondern auch solche lebende Leichname waren, dirigiert von den Strahlen eines an der Wand sich drehenden Spiegels.

So trat der Pater doch noch ein, selbst mit der Befürchtung, hier auch einen wirklichen Menschen anzutreffen. Dann wäre es eben zur Aussprache oder zu irgend einer Katastrophe gekommen.

Aber es war nicht der Fall, es blieb bei den lebenden Leichnamen, denen sich der Neuangekommene als siebenter beigesellte.

Sie feuerten die Öfen, bedienten die Apparate, trugen die Chemikalien hin und her, schütteten nach und zapften ab, jeder immer einen Lichtstrahl an seinem Kopfe.

Zusammenstoßen taten sie niemals, sie wichen sich gegenseitig aus, wohl aber kamen andere Versehen vor, so ganz deutlich zeigend, dass es doch nur mechanische Automaten waren, Marionetten, aber drahtlose.

Der eine zum Beispiel hatte die Aufgabe, aus einem großen Bottich mit einem Holzeimer zu schöpfen, die Flüssigkeit durch den ganzen Raum zu tragen und sie in einen anderen Bottich zu gießen.

Er tat dies mit der Regelmäßigkeit eben eines künstlichen Automaten, eine Bewegung war genau wie die andere.

Da aber passierte ein Versehen. Der Mann musste die Holzeimer immer wechseln. Und da, wie er den zweiten ergreifen wollte, griff er daneben, merkte aber nichts davon, er tat, als ob er den Eimer noch oder schon in der Hand habe, tauchte den vermeintlichen Eimer in den Bottich, trug ihn hinüber und goss ihn in den anderen Bottich aus, also immer imaginär, ohne etwas in der Hand zu haben, ging zurück, setzte ihn hin, nun aber griff er auch beim zweiten Eimer daneben, wiederholte sein zweckloses Bemühen, und so schien das fortgehen zu wollen.

Der Pater hatte schon einmal daran gedacht, und jetzt wurde er ganz lebhaft daran erinnert, nämlich an Goethes Gedicht »Der Zauberlehrling«.

»Hat der alte Hexenmeister sich doch einmal wegbegeben —«

Also der Zauberlehrling ist allein, will einmal auf eigene Faust Gebrauch von seiner erlernten Kunst machen, er nimmt einen alten Besen her, befiehlt ihm, Wasser herbeizutragen, um ein Bad zu bereiten, spricht seine Zauberformel, und der Besen wird lebendig, nimmt den Eimer und schleppt Wasser herbei.

Wie das Bad fertig ist, die Wanne gefüllt, kann der Lehrling den Gegenzauber nicht aussprechen, der Besen schleppt immer weiter Wasser.

Der in Verzweiflung geratende Lehrling nimmt eine Axt und spaltet den Besen.

Da werden zwei Wasserträger daraus, die immer herbeischleppen:


Und sie laufen! Nass und nässer
Wird's im Saal und auf den Stufen.
Welch entsetzliches Gewässer!
Herr und Meister, hör mich rufen!

Der Meister kommt, und er kann den Zauber augenblicklich aufheben, woran er eine philosophische Mahnung knüpft:


In die Ecke,
Besen, Besen,
Seid's gewesen!
Denn als Geister
Ruft Euch nur zu diesem Zwecke,
Erst hervor der alte Meister.


Ja, an dieses Gedicht müsste der Pater lebhaft denken. Wenn hier auch gerade das Gegenteil stattfand: Der durch eine Zauberkraft lebendig gewordene Leichnam schöpfte nicht zu viel, sondern zu wenig, überhaupt gar nicht mehr, aber da aus jenem zweiten Bottich ein Filtrierapparat gespeist wurde, dem nichts mehr zufloss, konnte auch hier eine Gefahr drohen.

Wohl hatte der Arbeiter immer noch den weißen Strahl am Kopfe, wohl führte er noch die richtigen Bewegungen aus, aber durch irgend ein Versehen war der Mechanismus in Unordnung gekommen, er führte seine Bewegungen ganz zwecklos aus, die Hauptsache fehlte dabei, der Eimer, der gefüllt und geleert werden sollte.

Doch auch hierfür war Hilfe geschaffen.

Einer der Männer, ein Neger, arbeitete nicht direkt mit, er ging immer hin und her. Wohl ein Aufseher, aber doch immer noch ein mechanischer Automat. Den Pater zum Beispiel sah er nicht.

Wohl aber bemerkte er die vorgekommene Unordnung. Wenn auch nicht mit seinen eigenen Augen. Hier lag eben irgend eine geheimnisvolle Direktion vor, die der Pater durchaus nicht begreifen konnte.

Jedenfalls aber ging dieser schwarze Aufseher alsbald hin, gab dem Arbeiter den Eimer in die Hand, und diese einmalige Korrektur genügte, nun griff der Mann nicht mehr daneben.

Nachdem der Pater einige Zeit diesen seltsamen Betrieb beobachtet hatte, öffnete er die jenseitige Tür.

Sie führte in einen Raum mit Chemikalien, in Kisten und Fässern und großen Flaschen aufgestapelt, dann kam ein leerer Korridor — und dann hörte der Pater Stimmen.

Aber was für Stimmen!

Von Menschen herrührend, und dennoch keine menschlichen Stimmen.

Unbeschreiblich!

Und dennoch, der Pater wusste sofort, was es für Stimmen waren.

Mehr können wir vorläufig nicht sagen.

Und der Pater öffnete auch die Tür, hinter welcher diese merkwürdigen Stimmen erklangen.

Eine Kaffee- oder Teegesellschaft!

Um einen reichgedeckten Tisch saßen ein Dutzend Herren und Damen in großer Gesellschaftstoilette, die Herren zum Teil auch in glänzenden Uniformen, tranken Tee, Kaffee und Kakao, aßen Gebäck und naschten Konfekt, bedienten sich zwanglos gegenseitig.

Wiederum lebende Leichname!

Wiederum an der Wand ein sich drehender, farbiger Spiegel, der jedem einen weißen Strahl auf Stirn oder Schläfe oder Hinterkopf erteilte.

Und hier konstatierte der Pater einmal, dass es sich gar nicht um reflektierte Sonnenstrahlen handelte.

Denn der zuführende Korridor hatte eine Ecke gemacht, hier schien die Sonne gar nicht durch die Fenster.

Und trotzdem sandte der Spiegel Strahlen aus.

Allerdings konnten es immer noch Sonnenstrahlen sein. Sie bekamen vielleicht durch einen zweiten Reflexspiegel eine andere Richtung, wurden dennoch hierher gelenkt.

Doch das war schließlich Nebensache.

Also die lebenden Leichname wurden durch diese Strahlen dirigiert, aber wer dies besorgte, hatte im Marionettenspiel noch nicht die nötige Übung, es kamen fortwährend die komischsten Versehen vor.

Erstens die unnatürlichen, ruckweisen Bewegungen, aber nicht nur das, sondern häufig passierte es, dass jemand mit der Zange statt in die Zuckerdose in die Milchkanne fuhr, oder es wollte jemand einschenken und goss aus der Kanne immer gemütlich daneben, oder es fand jemand mit dem Löffelchen mit Torte den Mund nicht, stocherte immer daneben herum, ja es konnte sogar vorkommen, dass der Betreffende, wenn er gerade den Kopf gewendet hatte, die Torte ins Ohr hineinpfropfte.

Also richtig und natürlich war die Sache durchaus nicht. Ein sehr ungeschicktes Marionettenspiel. Obgleich anderseits ja vielleicht die größte Geschicklichkeit dazu gehörte, um diese Marionetten aus Knochen und Fleisch nur so weit zu dirigieren.

Und dabei sprachen sie auch!

In allen möglichen Sprachen.

Aber nun wie, mit welchen Lauten, mit welchen Mundbewegungen!

Es hat schon wiederholt sprechende Automaten gegeben.

Am Ende des vorigen Jahrhunderts war einer im Londoner Royal Aquarium ausgestellt, von einem gewissen Louis Kempele verfertigt, doch wahrscheinlich wieder ein Nürnberger, der das Vollkommenste seiner Art sein sollte.

Der Kerl sprach vollständig, antwortete auf jede Frage, auf Englisch, Deutsch, Französisch, Lateinisch, Italienisch usw., worauf es ja auch gar nicht ankommt.

Die Hauptsache war ein Kasten mit Blasebalg, mit einer Unmenge von Klappen und Ventilen, die durch eine Tastatur dirigiert wurden. Der Automat bewegte eigentlich nur den Mund.

Freilich wie der Kerl nun sprach!

Ein Taubstummer, dem durch Mund- und Zungenstellung und Auspumpen der Luft das Sprechen künstlich beigebracht wird, war der reine Demosthenes dagegen.

Wenn man sich einen Klapperstorch vorstellt, der wie ein Papagei sprechen kann — so ungefähr klang es. Immer ein Klappern, Rasseln und Schnarren, und dazwischen Töne wie von Kindertrompetchen. Am besten klang das Französisch, wohl wegen der Nasallaute, die gelangen sehr gut.

Und so ähnlich war es auch hier. Um ein A hervorzubringen, rissen die Herren und Damen samt und sonders den Mund sperrangelweit auf, und auch sonst war es immer ein schreckliches Klappern mit den Kinnladen, um doch nur Laute wie auf einem Kindertrompetchen hervorzubringen, und gerade weil ein bärtiger Riese, dem man sonst einen Bärenbass zutraute, genau so sprach wie das zarteste Dämchen, bewies, dass es nur ein künstliches, durch fremde Kraft hervorgerufenes Sprechen war.

Und auch sonst zeigte sich die mangelhafte Direktion.

Sie redeten alle möglichen Sprachen durcheinander, antworteten schon, während sie noch gefragt wurden, redeten den linken Nachbar an, während sie zweifellos den rechten meinten — was alles zwar auch bei einer richtigen Kaffeegesellschaft passieren kann, besonders das gleichzeitige Sprechen, aber hier war es doch etwas gar zu übertrieben, also ganz unnatürlich.

Jetzt aber trat plötzlich eine allgemeine Stille ein.

Bei solch einem Kaffeekränzchen auch etwas ganz Unnatürliches, dass alle wie auf Kommando abbrechen, mitten im Satze, im Worte.

Eine alte, sehr korpulente Dame in prachtvollem Spitzenkleide, welche die Honneurs zu machen schien, die also wohl die Gastgeberin vorstellen sollte, erhob sich ungelenk und ruckweise, stemmte die linke Hand auf einen Sahnegießer, die rechte auf ihr Tellerchen mit Schaumtorte und begann mit ihrer quäkenden Stimme auf Französisch.

»Meine Herren und Damen, ich habe die Ehre, Ihnen einen neuen Leichnam vorzustellen, der um Aufnahme in unser Totenkränzchen gebeten hat.«

Die Flügeltüren sprangen auf, zwei reich livrierte Diener zeigten sich, aber ebenfalls, wie sofort ersichtlich, lebende Leichen.

Aller Gesichter wandten sich der Tür zu und auch spannende Neugier konnte in diesen fahlen Totenzügen hervorgebracht werden. Nur konnte es passieren, dass jemand zuerst den Kopf viel zu weit herumdrehte, bis ins Genick, was dann wieder korrigiert werden musste.

Und er kam herein, der angemeldete neue Leichnam, der an dem Totenkränzchen teilnehmen wollte.

Und unser Pater fühlte plötzlich, wie er sich selbst in einen Leichnam verwandelte, wie ihm das Blut in den Adern erstarrte.

Es war ein kleiner, dürrer, alter Mann, der hereinkam, im patenten Frackanzug mit schneeweißer Weste.

»Señor Domingo Lazare!«, stellte die Hausdame mit entsprechender Handbewegung vor.

Ja, er war es!

Der Pater, der bereits vor Entsetzen zurückgetaumelt war, musste sein eigenes Ich doch am besten kennen.

Er war es, und wenn er jetzt auch eigentlich im Beduinenkostüm in einer Höhle des ägyptischen Küstengebirges am Roten Meere hocken musste, neben sich einen toten Fuchs!

Er hockte eben nicht mehr dort!

Er war als lebender Leichnam im Frackanzug hier eingetreten!

Und wenn es noch irgend einen Zweifel gab für den entsetzten Pater, so sollte auch dieser gleich behoben werden.

Auf den Lackschuhen tänzelnd, nach allen Seiten hin zierliche Verbeugungen machend, war das Frackmännlein hereingekommen.

»Hihihi, hähähä«, fing er jetzt zu kichern und zu meckern an, dabei seine Hände reibend, dazwischen auch schnell einmal die Fingerspitzen zusammentippend.

Der eigentliche Señor Lazare erstarrte noch mehr vor Entsetzen, er fühlte wirklich schon, wie der kalte Tod ihm durch die Glieder schlich.


Illustration

Der eigentliche Señor Lazare erstarrte beim
Anblick seines eigenen Ichs vor Entsetzen und
ein Grausen schlich ihm durch die Glieder.


»Hihihi, hähähä — meine geliebten toten Mitschwestern und —«

Da versagte der Mechanismus.

Plötzlich klappte das Männlein wie ein Sack zusammen, stürzte dem wirklich lebenden Pater direkt vor die Füße, reckte weit die Zunge aus dem offenstehenden Munde heraus — ein schrecklicher Anblick.

Der Pater war seiner Sinne nicht mehr mächtig.

Flucht, Flucht! Nur fort von hier, um das Entsetzliche nicht mehr sehen zu müssen.

So sah er gar nicht, wie auch alle die anderen plötzlich nicht mehr mitmachten, auf ihren Stühlen wie die Lappen zusammenfielen oder gleich herunterstürzten.

Der entsetzte Pater wandte sich zur Flucht.

— • —

54. Kapitel
Die Pergamente

Originalseiten 1295 — 1315

Da erklang ein silbernes Lachen. Durch die Tür, die offen geblieben war, kam die Lady Lionel hereingesprungen, noch in ihrem blauen Kirgisenmantel mit Stulpenstiefeln.

Der Pater sah sie doch noch, und nun brachte er etwas fertig, was ihm wohl kein anderer Mensch so leicht nachgemacht hätte.

Im Nu hatte er sich vollkommen wieder in seiner Gewalt! Und wenn er doch noch Schreck und Entsetzen zeigte, so gehörte das nun einmal zur Situation, aber es war nur noch äußerlich.

Und so konnte er sich jetzt auch sofort mit Ruhe sagen, dass diese Überraschung von lebenden Menschen für ihn keine üblen Folgen haben konnte, denn es war die Lady Lionel, und sie war sogar mit heiterem Lachen hereingesprungen gekommen, und zwar lachte sie doch nur über ihn.

Übrigens war und blieb sie auch allein.

»Na, Percy — edler Jason — was sagen Sie denn nun zu dieser Zauberei?«

»Es ist schauerlich! Meine Sinne wagen kaum daran zu glauben!«

»Sie haben sich aber alles ganz hübsch ruhig angesehen.«

»Sie wissen es —?«

»Wir haben Sie doch natürlich immer im Spiegel beobachtet, von da an, wie Sie hinten aus dem Schrank krochen.«

Der Pater hatte es gewusst, es wenigstens geahnt. Es war ja auch fast selbstverständlich. Die menschlichen Puppen wurden doch durch die Spiegel dirigiert, mussten in diesen auch beobachtet werden — da war doch auch er selbst darin gesehen worden.

Ja, er hatte immer hieran gedacht — hatte es aber eben riskiert, seine Beobachtungen fortzusetzen.

»Mylady, geben Sie mir eine Erklärung!«, stellte sich Percy nach wie vor außer sich.

»Ich kann es selbst nicht. Na ja, ungefähr — aber den Kern dieser Hexerei verstehe ich selbst nicht. Doch kommen Sie, wir können hier nicht bleiben, es ist etwas an der Maschinerie in Unordnung geraten, deshalb sind alle Puppen zusammengepurzelt, und um sie wieder gebrauchsfähig zu machen, wird der Spiegel hier gleich eine Atmosphäre erzeugen, in der alles wirklich Lebende sofort verbrennen würde, wählend es diesen Leichnamen nichts schadet. Es ist auch eine ganz besondere Glut oder mehr eine besondere Art von Elektrizität.«

Sie öffnete eine dritte Tür, die wieder auf einen Korridor führte: sie schritten diesen entlang, dann eine Treppe hinab.

»Armer Mann!«, bedauerte auf diesem Wege die Lady ihren Begleiter lachend. »Sie sind von meinem Yermak für den Hilfsarbeiter gehalten worden, den ich ihm mitzubringen versprochen hatte, woraus aber nichts geworden ist. Hat der Sie in solche Lumpen gesteckt und verlangt, Sie sollten Kleider ausklopfen und Stiefel einschmieren, hahaha!«

»Ich ahnte gleich, dass hier eine Verwechslung vorlag, fügte mich aber in die mir zugeteilte Rolle.«

Sie wurde ernst.

»Hören Sie mal, da wäre Ihnen auch nicht viel anderes übrig geblieben, und danken Sie Gott, dass Yermak nicht zurückgekommen ist und nachgespürt hat, wo Sie geblieben waren. Wenn der Sie auf Ihren unerlaubten Schleichwegen und bei seinen Kozzibozzis ertappt hätte, da wäre es Ihnen ja traurig ergangen, der trägt seine Knute nicht umsonst! Na, nun natürlich ist er aufgeklärt, solch ein Irrtum wird nicht wieder passieren.«

»Was sind denn das nur, die Kozzibozzis?«

»So werden hier diese Leichname genannt, es ist ein Ausdruck der Mundasprache, der sonst nicht zu übersetzen ist.«

»Ja, was hat es denn nun aber mit diesen Leichnamen oder Kozzibozzis für eine Bewandtnis?«

»Ich werde Ihnen gleich eine Erklärung geben, so weit ich kann. Erst will ich Ihnen mal Ihre zukünftige Wohnung zeigen, ein elegantes Garçonlogis, wie es sich ein Junggeselle nicht besser wünschen kann. Hier sind wir schon.«

Sie hatte eine Tür geöffnet, beide traten ein.

Ein Arbeitszimmer mit Schreibtisch, ein Wohn- und ein Schlafzimmer, alles ganz modern und aufs Eleganteste eingerichtet.

Es war parterre, durch die Fenster, die mit dichten Läden geschlossen werden konnten, blickte man direkt in einen tropischen, herrlichen Garten, der allerdings sehr verwildert war.

»Das ist hier Ihr Heim. Hier in diesem Schreibzimmer werden Sie für mich arbeiten.

Denn was ich früher zu Ihnen gesagt habe, bedarf einer großen Korrektur.

Ich habe Sie damals ausgelacht, als Sie sagten, die Atkins'sche Agentur schicke Sie mir als Sekretär zu. ›Was, Sekretär? Ich habe nichts zu schreiben, ich brauche keinen Sekretär!‹

Sie wissen doch, wie ich bin.

Sie sollen tatsächlich für mich schreiben, Abschriften fertigen.

Was das für welche sind, darüber sprechen wir später.

Jetzt will ich zu Ihrer Beruhigung nur sagen, dass Sie sich dabei nicht etwa ein Bein auszureißen brauchen.

Sie sind ganz und gar Ihr freier Herr, arbeiten nur, wenn es Ihnen passt, sonst können Sie herumbummeln, wo Sie wollen.

Wo Sie nicht hineindürfen, da können Sie auch die Türen nicht öffnen, dafür ist gesorgt.

Und — ich denke gerade daran — wenn Sie hier in den Garten wollen — es ist von hier aus ein etwas umständlicher Weg bis nach der eigentlichen Haustür — da springen Sie also ganz einfach zum Fenster hinaus. Hier lebt überhaupt jeder ganz frei nach seinem Geschmack, mit Ausnahme der Sklaven, die müssen feste ran, sonst bekommen sie die Knute.

Zu diesen gehören Sie aber doch nicht.«

Sie brachte unter ihrem Kirgisenmantel eine lange, schwarze Zigarre zum Vorschein, biss die Spitze ab und ließ sich Feuer geben.

»Danke. Wenn Sie eine Zigarre haben wollen, müssen Sie danach suchen. Ebenso nach Essen und Trinken. Finden werden Sie alles, und dann können Sie es auch ruhig nehmen. Also natürlich auch Wäsche und Garderobe, und finden Sie im Stalle einen Reitelefanten und Sie vermögen die Kette zu lösen, so können Sie sich darauf setzen und nach Belieben spazieren reiten. Der Sklave, der die Sicherheitskette schlecht befestigt hat, bekommt dann dafür die Karbatsche, Sie nicht.

Wo wir nun hier sind?

In der Ruinenstadt Gaur

Und speziell in dem Residenzschlosse des Maharadschas, der einst hier herrschte.

Und jetzt herrscht darin ein Hexenmeister.

Seinen Namen und etwas über seine Person werden Sie noch nicht erfahren, da müssen Sie sich erst würdig bewiesen haben, um in alle Geheimnisse eingeweiht zu werden. Sie werden ihn auch nicht so bald persönlich zu sehen bekommen, oder Sie werden ihn verkennen.

Es ist tatsächlich ein Hexenmeister, ein Meister der Hexen, indem er nämlich seine Zauberkünste, wenn auch alles ganz natürlich zugeht, da es etwas Unnatürliches gar nicht gibt, mit Hilfe von besonders trainierten Weibern zustandebringt, die man in früheren Zeiten Hexen genannt haben würde.

Mendazziradscha wird er hier genannt, was eben dasselbe ist wie Hexenmeister oder Hexenfürst.

Nur das kann ich Ihnen noch verraten, dass er nicht identisch mit jenem ewigen Juden ist, der sich jetzt Rabbi ben Jehosel nennt, von dem ich zu Ihnen ja schon einmal gesprochen habe.

Wohl befindet sich der jetzt hier, ich habe ihn bereits gesprochen — wohl hat er zu alledem seinen Senf dazugegeben — aber jener Mendazziradscha ist dieser Rabbi Jehosel nicht.

Was es nun mit den sogenannten Kozzibozzis für eine Bewandtnis hat?

Ja, mein lieber Mann, da weiß ich kaum, wo ich da anfangen soll.

Das sind einst Menschen gewesen, die nicht wert waren, dass sie von Gottes Sonne beschienen wurden.

Verbrecher und ähnliches Gesindel.

Obgleich sie manchmal noch gar kein Verbrechen direkt verübt hatten.

Aber jedenfalls fähig dazu, verbrecherisch veranlagt.

Und eine Giftschlange tötet man doch, auch wenn sie noch nicht gebissen hat.

Und dieser Mendazziradscha hat es sich zur Aufgabe gesetzt, die Erde von solchen menschlichen Raubtieren und Giftschlangen zu säubern.

So weit er darf.

Es sind ihm dabei Schranken gezogen.

Denn sonst würde ja die Erde zum reinen Paradies, und auch das darf nicht sein.

Denn auch das Böse muss vorhanden sein, damit es dem Guten dient.

Hin und wieder aber macht dieser Hexenmeister doch einmal solch einem verbrecherischen Individuum den Garaus.

Dabei verfolgt er auch etwas selbstsüchtige Zwecke, nämlich insoweit, als er diese Menschen dann zu magischen Experimenten benutzt.

Er tötet sie.

Ja, die Kozzibozzis sind tot.

Und sie sind dennoch nicht tot!

Denn es gibt ein Mittelding zwischen Tod und Leben.

Wobei Sie aber nicht an Scheintod oder Starrkrampf denken dürfen.

Es gibt noch einen ganz anderen Zustand, den ich Ihnen aber nicht erklären kann, weil mir hierfür die Worte fehlen.

Also nehmen Sie nur ruhig an, diese Kozzibozzis seien wirklich tot, mausetot.

Nun ist es möglich, dass sich eine andere Menschenseele in solch einen Kozzibozzi versetzt, von solch einem Leichnam Besitz ergreift, wozu sich der Betreffende freilich erst selbst in solch einen scheinbar oder wirklich toten Zustand versetzen muss.

Hierüber habe ich schon einmal zu Ihnen gesprochen, und mehr kann ich jetzt davon auch nicht sagen, es werden Ihnen später entsprechende Experimente vorgemacht werden, oder Sie selbst können sich, wenn Sie den Mut dazu haben, in einen anderen Menschen, Mann oder Frau, oder auch in irgend ein Tier verwandeln.

Das wäre die eine Sache mit den Kozzibozzis.

Nun ist aber noch etwas anderes hinzugekommen.

Vor noch gar nicht so langer Zeit hat man hier eine Entdeckung gemacht.

Nämlich dass es möglich ist, diese Kozzibozzis auch noch auf andere Weise wieder zum Leben zu bringen.

Was nun allerdings ein ganz scheinbares, künstliches ist, durch eine besondere Art von elektrischen Lichtstrahlen.

Mehr kann ich hierüber nicht sagen, mehr weiß ich selbst nicht.

Es ist eine besondere Art von Licht und es ist eine besondere Art von Elektrizität.

Durch einen komplizierten Spiegelapparat können diese echt menschlichen Marionetten in ihren Bewegungen sogar gelenkt werden.

Sie haben es selbst gesehen, wie das gemacht wird.

Dies alles ist aber erst im Entstehen begriffen.

Sie haben gesehen, wie unbehilflich die Bewegungen noch sind, wie sie manchmal umpurzeln.

Man hofft, diese Erfindung noch so weit zu vervollkommnen, dass man diese scheinbar lebenden Leichen auch hinausschicken kann, wohin man will, dass sie sogar sprechen können — aber da muss noch viel experimentiert und geübt werden, vorläufig steckt das Ganze eben noch in den Kinderschuhen.

Haben Sie sonst etwas zu fragen?«

»Ja, ich habe eine Frage.«

»Nun?«

»Es könnte doch einmal sein, dass man solch einen Kozzibozzi bei Lebzeiten gekannt hat.«

»Natürlich. Haben Sie einen erkannt?«

»Wer war der letzte, der kleine Herr im Frackanzug, der zuletzt eintrat?«

»Das weiß ich nicht. Kennen Sie ihn?«

»Mich dünkt so, als ob ich das kleine Männchen schon einmal gesehen hätte. Ich glaube, in — London. Er wurde ja auch vorgestellt — als Señor Domingo Lazare — dieses Namens entsinne ich mich allerdings nicht — aber — mir ist doch so, als ob ich den Herrn schon einmal gesehen hätte.«

»Möglich. Wie gesagt, ich kenne ihn nicht. Ich werde mich aber erkundigen, wer der Mann gewesen ist. Sonst noch etwas?«

»Wie werden denn nun diese Kozzibozzis tot oder noch lebendig hierher gebracht?«

»Hören Sie, das sind Fragen, die hier die internen Angelegenheiten betreffen, die darf ich Ihnen nicht beantworten! Vorausgesetzt überhaupt, dass ich es könnte. Sonst noch etwas?«

»Ja, da fällt mir etwas ein, was unsere eignen Angelegenheiten anbetrifft.«

»Und das wäre?«

»Sie hatten mir Ihre Brieftasche anvertraut.«

»Ja.«

»Ich hatte ihren Inhalt gezählt — es waren mehr als 30 000 Pfund Sterling drin.«

»Und Yermak hat sie ins Feuer geworfen.«

»Sie wissen es schon?«

»Er hat es mir selbst erzählt. Wenigstens dass er Sie visitiert und pflichtgetreu alles Papier verbrannt hat, und da konnte ich mir alles Übrige gleich denken. Macht nix. Die englische Regierung kann mir nur danken, dass so viele Schuldscheine in Flammen aufgegangen sind.«

»Freilich, wer Gold machen kann —«

»Na ja, eben.«

»Mylady wollten mir doch eine Probe Ihrer Goldmacherkunst geben.«

»Können Sie haben.«

»Darf ich fragen wann?«

»Jetzt sofort und gleich hier. Ihr Vorgänger, der hier gehaust hat, ist nämlich ein Adept gewesen, hat hier nebenan sein chemisches Laboratorium gehabt, und soviel ich weiß, ist alles noch vorhanden und in Ordnung.«

Sie brauchte denn auch nur die zweite Tür des Schreibzimmers, das am Ende der Zimmerflucht lag, zu öffnen, und ein kleines, aber wohleingerichtetes Laboratorium zeigte sich, wie es die moderne Wissenschaft verlangt.

Hier befanden sich an den Fenstern eiserne Läden, sie waren geschlossen, erst drang nur das spärliche Licht durch die Tür herein, aber gleich flammte unter der Hand der Lady elektrisches Licht auf, jetzt erst war alles richtig zu sehen.

Und wie ward da dem Pater, als er mit kundigem Blick die Chemikalienschränke überflog, deren Gläser und Büchsen natürlich immer ein Etikett trugen.

Ein kleiner Schrank enthielt sämtliche Ingredienzien, welches jene geheime Rezept, das Rezept der Hölle, angegeben hatte, sämtliche, und die Mischungsverhältnisse hatte der Pater noch ganz genau im Kopfe!

Wie gesagt, in jeder großen Stadt oder überhaupt in jeder Drogerie, mindestens in jeder Apotheke, wären diese Substanzen zu haben gewesen.

Aber sie hier im Herzen Indiens in dieser Ruinenstadt vorzufinden, das hatte der Pater freilich nicht zu hoffen gewagt!

Natürlich ließ er sich von seiner freudigen Überraschung nichts merken, er hatte auch nur einen einzigen Blick hingeworfen.

Die Lady schaute sich um.

»Ja, alles vorhanden — wo ist Quecksilber?«

Das war nun gerade nicht zu sehen.

»Never mind. Sie könnten auch glauben, ich hätte das Quecksilber erst präpariert. Das aber werden Sie doch nicht von dem Quecksilber in diesem Thermometer glauben.«

An der Wand hing ein Thermometer, sie nahm es ab. Es zeigte 28 Grad Celsius an, welche Temperatur jetzt auch im Schatten herrschen würde. Der Pater hauchte auf die Kugel, und das Quecksilber stieg noch immer. Also es war ganz reines Quecksilber, jede fremde Beimischung hindert oder vermindert doch stark diese Ausdehnungsfähigkeit.

»Ich glaube überhaupt nicht, dass Sie mich täuschen wollen.«

»Gut. So nehme ich dieses Quecksilber hier.«

Ohne Weiteres zerbrach sie die Röhre, mit einem Hammer auch gleich die Kugel und fing das herauslaufende Quecksilber geschickt in einer Reibschale auf.


Illustration

Dann suchte sie einen kleinen Schmelztiegel aus Porzellan aus, reinigte ihn etwas, das heißt wischte den Staub aus, setzte ihn auf das Dreieck eines Stativs, den Bunsenbrenner darunter und brannte ihn an.

Also auch Gas war vorhanden.

Noch ehe sich das Quecksilber hatte viel erwärmen können, brachte sie unter ihrem Universalmantel eine kleine Holzbüchse zum Vorschein, die ein rotes Pulver enthielt, nahm davon eine ganz kleine Prise und warf es auf das Quecksilber.

»So, nun müssen wir warten, bis das Quecksilber kocht.

Unter anderen Verhältnissen würde ich das natürlich nicht machen. Sie wissen doch, wie giftig Quecksilberdämpfe sind.

Dieses Pulver aber verhindert ein Verdampfen. Sobald das Quecksilber — da geht es schon los!«

Plötzlich färbte sich das Quecksilber purpurrot, wallte unter einer grünen Flamme hoch auf, sank wieder zusammen, immer heller werdend.

Die Lady nahm eine Zange, die sie schon zurechtgelegt hatte, fasste den kleinen Tiegel und goss seinen Inhalt auf der glatten Tischplatte zu einem goldgelben Stängelchen aus.

Schon nach wenigen Sekunden konnte sie es anfassen und dem Pater geben.

»Da, nehmen Sie und lassen Sie es später einmal von einem unparteiischen Chemiker oder Goldarbeiter untersuchen, ob es nicht chemisch reines Gold ist.«

Mit respektvollem Staunen betrachtete der Pater das Stängelchen, konnte nicht verhindern, dass dabei seine Hand vor Erregung, nämlich vor Gier, zitterte.

»Und wie viel Pulver gebrauchen Sie hierzu?«, flüsterte er.

»Eine verschwindend kleine Menge. Ein Teil des Pulvers verwandelt l00 000 Teile jeden anderen Metalls in reines Gold. Ich habe nach Belieben genommen. Zu viel schadet nichts.«

»Ist nicht möglich!«

»Nun, glauben Sie's immer noch nicht?«

»Sagten Sie nicht, auch Blei könnten Sie in Gold verwandeln?«

»Kann ich auch. Nur ist das Verfahren etwas umständlicher, noch mehr bei Eisen. Beim Quecksilber ist es am einfachsten, da geht es so schnell, wie Sie jetzt gesehen haben.«

»Und worauf beruht nun die wirksame Kraft dieses Pulvers?«

»Es zieht die Moleküle, wahrscheinlich sogar schon die Atome zusammen, verdichtet also die ganze Masse. Denn das spezifische Gewicht muss natürlich verändert werden, ebenso natürlich auch das Volumen. Dem Volumen nach ist das jetzt nicht mehr so viel Gold, als es Quecksilber war. Wohl aber ist noch dasselbe Gewicht vorhanden. Ein andermal wollen wir dasselbe Experiment mit Blei und Eisen oder mit einem sonstigen Metall und mit der chemischen Waage machen.«

»Ja, aber aus was für Substanzen ist es zusammengesetzt, wie wird es zubereitet?«

»Ja, mein lieber Freund, da freilich fragen Sie mich zu viel, das wird nicht verraten!«, lachte die Lady

»Und doch«, fuhr sie wieder ernst werdend fort, »ich könnte es Ihnen ganz ruhig sagen. Es ist nämlich im Grunde genommen ganz einfach. Es ist nur ein Witz dabei, auf den freilich niemand von selbst kommt, bis es ihm gesagt wird. Und wenn ich es Ihnen sagte, so wären Sie doch noch immer nicht imstande, das Pulver nachzumachen. Sie könnten das Geheimnis auch nicht verraten.«

»Auch nicht verraten?«

»Nein. Sie könnten keinem Menschen Mitteilung davon machen.«

»Weshalb nicht?«

»Dabei, mein lieber Freund, ist wiederum ein Geheimnis, diesmal aber ein echt magisches Geheimnis. Sie sind einfach nicht imstande, das Experiment nachzumachen oder das Rezept einem anderen mitzuteilen, weder mündlich noch schriftlich, noch auf sonst irgend eine Weise. Fragen Sie nicht weiter, ich antworte nicht mehr. Und ich will Sie lieber gar nicht erst in Versuchung bringen, an mir zum Verräter zu werden — ich teile Ihnen das Rezept nicht mit. Nun kommen Sie, ich will Ihnen Ihre Arbeit gleich anweisen, wenn Sie auch nicht etwa sofort zu beginnen brauchen.«

Die Lady drehte Licht und Gas aus, sie begaben sich in das Schreibzimmer zurück.

Hier zog die moderne Medea unter ihrem wahrhaftigen Zaubermantel einige steife, gelbe Blätter hervor — Pergamentpapiere.

Wie sie dieselben jetzt hielt, konnte der Pater zunächst nur erkennen, dass sie beschrieben waren.

»Die schreiben Sie mir zunächst ab.

Das heißt, Sie stellen mir Kopien davon her.

Denn mit dem einfachen Abschreiben ist es nicht getan, das können Sie zuerst gar nicht.

Es ist eine Geheimschrift, eine künstliche, an die Sie sich erst nach und nach gewöhnen müssen.

Also Sie pausen dieselben durch.

Heften Sie das Blatt hier auf den Tisch, gleichzeitig das Pauspapier darüber, und malen Sie langsam Zeichen für Zeichen aufs Sorgfältigste nach.

Was Sie dazu brauchen, finden Sie alles hier in der Schublade.

Werden Sie das können?«

Jetzt hielt sie ihm das eine Blatt hin.

Und der Pater musste sich mit aller Gewalt beherrschen.

Er erkannte dieselbe Geheimschrift, in welcher jenes »Rezept der Hölle« abgefasst worden war.

Und dieser vorzügliche Kopf hatte jenes Pergament nur ein einziges Mal aufmerksam zu lesen brauchen, um die Geheimschrift und ihren Schlüssel für immer im Gedächtnis zu haben.

So konnte er auch diese Geheimschrift ganz fließend entziffern — oder vielmehr entchiffern — wobei wiederum Arabisch herauskam.

Die ersten Worte darüber waren groß geschrieben, und diese lauteten in der Übersetzung: Das goldene Vlies.

Und er brauchte nur einige Zeilen weiter zu lesen und aus der Mitte herauszugreifen, und er war sich seiner Sache sicher.

Es war das Rezept, unedle Metalle in Gold zu verwandeln.

Ja, er wusste seine furchtbare Aufregung zu bemeistern.

Nur mit geschäftlichem Interesse beugte er sich über das Pergament.

»O ja, das werde ich ganz genau durchpausen können.«

»So ganz genau kommt es nicht darauf an. Jedes einzelne Zeichen ist markant genug, dass es von anderen leicht unterschieden werden kann. Immerhin ist Sorgfalt erwünscht.«

»Sie werden mit mir zufrieden sein, Mylady. Nur ein Bedenken habe ich.«

»Was für eins?«

»Das sind doch sehr wertvolle Schriften.«

»Gewiss — unersetzlich.«

»Also hier in diesem Zimmer soll ich sie durchpausen?«

»Ja.«

»Da scheint mir die Lage dieses Zimmers recht ungeeignet dazu zu sein.«

»Weshalb?«

»Ich müsste immer bei Licht, bei geschlossenen Fensterläden arbeiten.«

»Weshalb, muss ich da nochmals fragen?«

»Es ist ein Parterrezimmer. Vielleicht können die Blätter entwendet werden.«

»Hier gibt es niemand, der etwas stiehlt.«

»Ich denke gar nicht an Menschen. Ich sehe dort draußen auf den Bäumen Affen herumklettern.«

»Es sind den Mundas heilige Tiere, die allerdings gerade dadurch sehr frech geworden sind. Aber in die Fenster gehen sie nicht. Das ist ganz und gar ausgeschlossen. Was meinen Sie denn wohl, sonst würden diese Affen doch überhaupt alles aus den Zimmern holen. was nicht niet- und nagelfest ist, und nicht nur aus dem Parterre, sondern auch oben aus der fünften Etage, die kommen an dem Schnörkelwerk doch überall in die Höhe.

Nein, mein lieber Freund, Ihre Bedenken sind ganz unbegründet.

Arbeiten Sie nur ruhig bei offenem Fenster. Sie können es auch bei Ihrer Abwesenheit offen lassen.

Natürlich verlange ich, dass Sie, wenn Sie aufhören, Ihre Arbeit im Schreibtisch verschließen.

Aber sonst können Sie ruhig einmal aufstehen und dem Tische den Rücken wenden, auch einmal hinausgehen — von Ihrem Tische kommt nichts weg.

Und selbst wenn jemand diese Pergamente entwendete — für mich hätte es keinen Nachteil und für den Dieb keinen Vorteil.

Diese Pergamente sind bereits Abschriften, es würde mich nur einige Zeit kosten, die Originale nochmals zu erhalten, nichts weiter.

Und dem Dieb würden die Rezepte gar nichts nützen

Denn Rezepte sind es.

Aber mit ihnen ist dasselbe magische Geheimnis verknüpft, von dem ich schon zu Ihnen gesprochen habe.

Der Dieb wäre vielleicht imstande, die Rezepte auszuführen, aber niemals die betreffenden Mittel zu benutzen, auch das Rezept keinem anderen mitzuteilen.

Es kann überhaupt gar kein Verrat begangen werden.

Hiermit lassen Sie sich genügen, arbeiten Sie nur ruhig, wie und wann Sie Lust dazu haben.

Sonst gehen Sie nur Ihrem Amüsement nach. Jagen Sie gern?«

»O ja«, bestätigte der Sekretär, der er nun doch geworden.

Sollte solch ein gymnastisch ausgebildeter Sportjüngling nicht gern jagen.

»Es fällt mir gerade ein, weil dort der Munda vorübergeht, der die Waffen und Munition unter sich hat.

An den wenden Sie sich, wenn Sie einen Schießprügel haben wollen.

Sie können aber auch irgend einen anderen Mann deswegen fragen, Sie bekommen alles, können sich im Stall Pferde aussuchen.

Zu schießen ist alles erlaubt, was da kreucht und fleucht, nur Affen nicht.

Mein Yermak schießt zwar welche, weil er sie mit Vorliebe isst, aber der weiß die wild lebenden Affen von den zahmen, die ganz besonders heilig sind, zu unterscheiden, was Sie noch nicht können, und wegen seiner Affenfresserei wird er ja auch von den hiesigen Eingeborenen gründlich verachtet.

Und dann dürfen Sie keine Geier schießen.

Es sind nicht nur viele Mohammedaner, sondern auch Parsen hier, die hier auch ihren eigenen Turm des Schweigens haben.

Sie wissen wohl — ihre Begräbnisstelle.

Den Mohammedanern ist der Geier ja nicht direkt heilig, sie ehren ihn nur als billigsten und gewissenhaftesten Sanitätspolizisten, weil er allen Unrat entfernt.

Den Parsen hingegen ist der Geier ein heiliger Vogel, weil er ihre Toten frisst, die sie weder beerdigen noch verbrennen dürfen, nicht einmal als Fraß der Krokodile ins Wasser werfen. Die Elemente dürfen durch Leichen nicht verunreinigt werden, nur der Geier darf sie fressen, sonst auch kein anderes Tier, deshalb eben legen die Parsen ihre Toten zwischen Mauern nieder, in einem Turme, der oben offen ist.

Dort hinten ist der Turm des ewigen Schweigens, Sie können sich ihn einmal ansehen, freilich nur von draußen.

Und sonst können Sie wohl eine zahme Kuh von einem wilden Büffel unterscheiden.

»Haben Sie sonst noch etwas zu fragen?«

»Ja, da allerdings fällt mir etwas ganz Besonderes ein.«

»Nun?«

»Sie haben schon so viel davon gesprochen — kann es hier nicht Tiere geben, in denen eine Menschenseele steckt?«

»Ja, es ist ganz richtig, dass Sie daran denken. Das ist möglich. Aber das macht nichts, schießen Sie nur los. Es werden solche Experimente tatsächlich häufig gemacht — Menschen nehmen Tiergestalt an — aber das geschieht nur mit Erlaubnis von der höchsten Stelle aus und unter besonderer Kontrolle, mit der nötigen Vorsicht.

Wer imstande ist, das Experiment selbst auszuführen, und er riskiert es, treibt sich als Tier herum, der muss auch die eventuellen Folgen tragen.

Übrigens wäre es gar nicht so schlimm, wenn sie solch ein Tier einmal schössen.

Beim Tode geht die Seele sofort in den eigentlichen Körper zurück, der Betreffende kann sich auch schon vorher vom Tierkörper wieder befreien, bei einer Verwundung oder überhaupt zu jeder Zeit.

Oder er ist eben nicht eingeweiht und hat dann auch die bösesten Folgen seines Leichtsinns zu tragen.

Und wenn Sie einmal einen Tiger sehen — ei, dem brennen Sie eins auf!

Wenn Sie ihn töten, dann bekommen Sie noch extra eine Prämie!

Denn das ist dann solch ein höllischer Munda, ein Baiga, ein Zauberkünstler, der Tigergestalt angenommen hat, um seinen tierischen Gelüsten zu frönen.

Und der kennt auch trotz aller seiner Künste das Geheimnis nicht, wie er seine Seele sofort wieder befreien kann, wenn der als Tiger — in ein anderes Tier kann er sich gar nicht verwandeln — getötet wird, dann ist seine Seele auch wirklich zur Hölle gefahren.

Der muss die Rückverwandlung wieder unter schrecklichen Zeremonien vornehmen, sonst geht es nicht.«

Der Sekretär schüttelte immer wieder den Kopf.

»Es ist kaum glaublich, was ich da zu hören bekomme!«

»Sie glauben es immer noch nicht?«

»O doch, ich glaube schon, dass Sie die Wahrheit sprechen, aber — man vermag so etwas doch schwer zu fassen. Sie sagten, jeder Tiger, den ich sehe, wäre ganz bestimmt solch ein verwandelter Mensch?«

»Ganz bestimmt. Wirkliche Tiger gibt es hier gar nicht mehr. Dafür eben haben die Zauberer der Mundas gesorgt.«

»Heute Nacht schwamm doch einer neben uns durch den Strom.«

»Es war ein Baiga, der sich in einen Tiger verwandelt hatte.«

»Wir hörten noch zahllose Tiger brüllen.«

»Nicht zahllose, aber doch sehr viele. Es waren Menschen in Tigergestalt. Hier gibt es gar keinen Tiger mehr.«

»Ja, aber diese Zauberer müssen doch erst Tiger haben, in deren Hülle sie fahren können!«

»Aber das brauchen doch keine lebendigen zu sein. Auch die haben ihre Kozzibozzis — eben einbalsamierte Tiger.«

»Können sie denn nur Tigergestalt annehmen?«

»Nur diese.«

»Keine andere?«

»Nein.«

»Weshalb denn nur nicht?«

»Darauf sind die Zauberer eben nicht geeicht. Es ist doch genau dieselbe Geschichte wie mit dem germanischen und russischen Werwolf. Dass jemand eine andere Gestalt als die eines Wolfes angenommen hat, etwa die eines Ochsen oder eines Wildschweins oder etwa einer Eule, davon werden Sie wohl niemals etwas gehört haben. Immer nur ist es der Wolf, in den sich die Teufelsbrüder verwandeln können. Und verlassen Sie sich nur darauf, dass hinter dem Werwolf eine Tatsache steckt. Und bei den Indern spielt dieselbe Rolle der Tiger.«

»Und wenn man solch einen Tiger tötet?«

»Dann ist sowohl der betreffende Mensch wie auch der Tiger wirklich tot. Zum zweiten Male können ihn diese Mundas nicht wieder lebendig machen. Das erste Mal haben sie ihn überhaupt gar nicht getötet, sondern nur in eine besondere Art von Starrkrampf versetzt. Also wenn Sie einen Tiger sehen, dann töten Sie ihn nur. Gut ist es ja, wenn Sie Ihre Beute gleich mitbringen, aber unbedingt nötig ist es nicht. Ich muss jetzt gehen.

Haben Sie sonst noch einen Wunsch?«

Der Herr Sekretär, dieser ideal schöne Jüngling, änderte seinen Ton, suchte es auch in die Augen zu legen.

»O Mylady, Sie sind so unsagbar gütig gegen mich!«

Er hielt ihr zwar nicht direkt die Hand hin, aber zuckte doch schon so, um ihre Hand herbeizulocken und diese dann schnellstens an seine Lippen zu führen.

Er wollte also noch einmal einen Annäherungsversuch machen, es war seine ihm vorgeschriebene Pflicht.

Aber die Kosakin schien anderes Blut in den Adern zu haben, sie ging nicht darauf ein, obgleich sie nicht etwa kühl und abweisend wurde.

»Ich bin gegen jeden Menschen freundlich, wenn er es verdient. Wenn Sie ein Bad nehmen wollen — dort um die Ecke ist eine eiskalte Dusche. Falls Sie sich abkühlen müssen.«

— • —

55. Kapitel
Die Rache des Schicksals

Originalseiten 1315 — 1340

Der schöne Jüngling war allein, er biss sich auf die Lippen — und dann war er wieder der Pater, der sich ob dieses Nadelstiches eines Weibes nicht die Locken raufte.

Also sein eigener Körper hier!

Wie war der aus der Höhle des ägyptischen Küstengebirges hierher gekommen?

Und was war das an Bord jenes Dampfers für ein alter Jude gewesen, der ihm bis auf den Vollbart so überaus ähnlich gesehen und sogar auch Domingo Lazare geheißen hatte?

Wie reimte sich das alles zusammen?

So war es schon immer durch den Kopf des Paters gegangen, während er mit der Lady gesprochen hatte.

Jetzt aber, da seine Gedanken nicht mehr abgelenkt wurden, sagte er sich mit klarem Bewusstsein, dass er solche Fragen doch nur ganz zwecklos stelle, weil er selbst sie niemals beantworten konnte, und seiner Willenskraft gelang es, solche grübelnde Fragen sofort aus seinem Gehirn zu streichen, um dafür seine Gedanken auf eine näherliegende Hauptsache konzentrieren zu können. Und wer so etwas fertig bringt, der ist Herrscher der Welt.

Auf dem Schreibtisch lagen die Pergamente — vier Stück.

Er setzte sich und begann die Geheimschrift fließend zu lesen, die erste, die er schon begonnen hatte, »das goldene Vlies«.

Und eine immer größere Aufregung bemächtigte sich seiner.

»Das ist ja ganz einfach!

Freilich, ein Witz ist dabei, wie die Lady sagte, den muss man kennen.

Auch Blei? Sogar Eisen? Überhaupt jedes andere Metall?

Hier folgen genau die Rezepte, mit allen Anleitungen für die Transmutationen —«

Mit fieberhafter Hast las er weiter, dann schloss er die Augen, sah aber vor ihnen nur ein Meer von flüssigem Gold.

Und es gehörte ihm!

Bis ein ausgezeichneter Gedanke in ihm auftauchte, der ihn wieder etwas ernüchterte.

»Niemand soll diese Tinktur nachmachen können?

Hier ist doch alles ganz genau beschrieben.

Und warum denn nicht?

Habe ich die Transmutation mit Quecksilber nicht mit eigenen Augen gesehen?

Weshalb soll nicht auch ich es fertig bringen, wenn ich die Vorschriften genau befolge?

Nun, ich werde ja sehen.«

Mit ruhiger Hand griff er nach dem zweiten Pergament.

Dieses kannte er schon.

Es war nichts anderes als dasselbe, was er dort im ägyptischen Küstengebirge gelesen hatte, das »Geheimnis der Hölle«, Wort für Wort wurde hier alles wiederholt.

Dann aber erweiterten sich seine Augen wieder.

Diese Geheimschrift hier hatte noch eine Fortsetzung, die bei jener gefehlt.

Es wurden noch neue Vorschriften gegeben, ergänzende Bemerkungen gemacht.

Und da plötzlich wusste der Pater, weshalb ihm das Experiment nur zur Hälfte geglückt war.

Weshalb seine Seele nicht in den vor ihm liegenden präparierten Fuchs, auf den er seine Absicht konzentriert hatte, gefahren war, sondern in einen ganz fremden menschlichen Körper?

Hier war es deutlich ausgedrückt, so wie Almansor damals davon gesprochen hatte.

Nun aber wusste der Pater, wie es gehandhabt werden musste, um die Seele ganz nach Belieben zu lenken.

Er hätte das Experiment sofort machen können.

Vorausgesetzt, dass —

Schnell stand er auf, schloss die Pergamente in die Schublade und ging hinüber in das Laboratorium.

Die Lady hatte die Tür nicht verschlossen, der Schlüssel stak und gleich überzeugte sich der Pater, dass es ein einfacher Schlüssel war, den er auch durch einen Dietrich, durch jeden gebogenen Nagel ersetzen konnte.

Hinter sich machte er die Tür zu, drehte das elektrische Licht an.

Ja, dort in dem kleinen Schranke waren die Chemikalien vollzählig vorhanden, die er zu der Mischung brauchte.

Nur hiervon hatte er sich noch einmal überzeugen wollen, vorhin hatte er gar nicht gewagt, so lange hinzusehen, sein böses Gewissen drängte ihm einen Verdacht auf. Aber waren die Gläser und Büchsen denn auch gefüllt? Konnten sie nicht leer sein?

Er öffnete die Glastür.

Jede Büchse hatte noch reichlichen Inhalt.

Und was enthielt der Kasten dort unten, den ihm bisher die untere Holzfüllung der Tür entzogen hatte?

Kleine Büchsen mit verschiedenfarbigen Salben, Fläschchen mit Flüssigkeiten, eine kleine Morphiumspritze — es war alles vorhanden, der Pater konnte sich viel Mühe sparen.

Er begab sich wieder hinüber, nahm das dritte Pergament vor.

Und wieder erweiterten sich seine Augen. Je mehr er las.

»›Das Geheimnis der Medea!‹

Das erste, mit dem sie sich mir als Zauberin legitimierte!

Wie man sich gegen Raubtiere und giftigen Schlangenbiss schützt!

Dem darin vorkommenden Zauberspruche schreibe ich keine Kraft zu, das ist nur leerer Hokuspokus.

Ebenso wenig glaube ich daran, dass sie allein durch ihren Willen die Wirkung wieder aufheben kann, wovon hier überhaupt gar nichts geschrieben steht.

Das war nur eine durch Vorsicht gebotene Drohung, um mich einzuschüchtern.

Allein auf die Zusammensetzung der Tabletten oder in welcher Form man das Mittel nun nimmt, kommt es an.

Und auch diese Ingredienzien sind ganz leicht zu beschaffen.«

Er griff nach dem vierten und letzten Pergament.

Und dieses machte einen Eindruck auf ihn, was alles Vorhergehende noch weit übertraf.

»Nein, das ist nun etwas, was ich nimmermehr für möglich halte!

Wer das ausführen kann, der könnte sich nicht nur als Herrscher der Erde, sondern gleich als einen Gott betrachten!«

Er las und übersetzte die Geheimschrift noch einmal.

»Ja und doch, das Rezept dazu ist ja hier klipp und klar gegeben, es ist nicht schwieriger ausführbar als die drei anderen, und von deren Möglichkeit habe ich mich ja schon überzeugen lassen müssen.«

Er verfiel in tiefes Sinnen, um dann in seinem Selbstgespräch fortzufahren, das er natürlich nur in seinen Gedanken hielt.

»Was nützen diese Geheimnisse mir?

Ich stehe in fremden Diensten, bin verpflichtet, sie meinen Auftraggebern so schnell wie möglich mitzuteilen.

Jene geheime Loge besitzt — mir selbst noch ein vollkommenes Rätsel — ein Mittel, um mich in einen somnambulen Zustand zu versetzen, in welchem man sich mit mir auf telepathischem Wege unterhalten kann, so ungefähr wie es das somnambule Kind mit gewissen Personen kann, wenn auch wieder auf ganz andere Weise.

Dies kann zwar jederzeit geschehen, aber es geschieht nur, wenn ich vollkommen unbeobachtet bin.

Woher die das wissen, wann ich allein und unbeobachtet bin, ist mir nicht bekannt. Sie selbst werden mich aus der Ferne wohl nicht sehen können.

Wahrscheinlich kommt dabei mein eigenes Gefühl in Betracht.

Wenn ich nicht allein bin oder mich beobachtet glaube, so gelingt es eben gar nicht, mich in jenen Schlafzustand zu versetzen.

Anderseits ist es mir unmöglich, mich dagegen zu wehren.

Bisher bin ich noch nicht wieder eingeschläfert worden. In dem Eisenbahncoupé war ich nicht allein, und wenn die Lady auch immer schlief, so hätte sie doch jeden Augenblick erwachen und mich überraschen können.

Allein war ich nur vorhin in der Kleiderkammer. Aber da fehlte es mir an Papier und Schreibzeug, und geschrieben muss dabei unbedingt werden, eine andere Verständigung gibt es zwischen uns nicht.

Jetzt ist hier alles dazu vorhanden. Ich bin fest überzeugt, ich brauchte hier nur die Fensterläden zu schließen, sofort würde ich in jenen eigentümlichen Zustand fallen, ich müsste zu Papier und Feder oder Bleistift greifen, ob ich nun wollte oder nicht, wie ich mich auch dagegen wehren würde.

Ich würde gefragt werden, was ich bisher in meinen Spionagediensten für Erfolg gehabt habe.

Und ich müsste in diesem halb oder sogar ganz bewusstlosen, mindestens völlig willenlosen Zustande alle diese Geheimnisse offenbaren.

Teufel noch einmal, weiter fehlte doch nichts, ich werde mich hüten —«

Der Pater brach in seinem Gedankengange erschrocken ab und lauschte.

Obgleich die Stimme bereits erklungen war.

»Soll ich jetzt aufhören, Onkel?«

So war es draußen erklungen, von einer hellen Kinderstimme, auf Englisch.

Himmel, was war das für eine Kinderstimme gewesen?

Die musste er doch kennen!

Der Pater stand auf und beugte sich zum Fenster hinaus.

Und da sah er es schon — das kleine, blondlockige Mädchen im Strapazierkleidchen.

Die kleine Deasy!

Sie schritt durch den verwilderten Garten, ließ vor sich auf den Boden die Wünschelrute tippen.

Und dort der hünenhafte, vollbärtige Mann im ledernen Jagdkostüm!

»Himmel und Hölle, Prinz Joachim und das Kind, sie sind hier und —«

Und dort auch die dem Pater so wohlbekannten Cowboygestalten, weiße und rote!

Und da plötzlich wusste der Pater, auf welche Weise sein ureigener Körper aus der Höhle des ägyptischen Wüstengebirges hierher gekommen war!

Diese hatten ihn gefunden und ihn hierher gebracht!

Über das Wie zerbrach sich der Pater jetzt nicht den Kopf.

Der sonst so eiserne Mann hatte überhaupt plötzlich ganz den Kopf verloren.

Er sah nur noch, dass dort auch die Lady war, die mit den Cowboys bereits ganz intim verkehrte, und schnell setzte er sich wieder an den Tisch und beugte sich tief über die Pergamente.

Weniger deshalb, um sein Gesicht nicht sehen zu lassen, als um selbst nichts mehr zu sehen.

Dass er sich in einer anderen Körperhülle befand, wusste er ja, aber sonst hatte er eben plötzlich ganz den Kopf verloren, konnte seine Gedanken noch nicht ordnen, um dieses Rätsel zu ergründen, wie die hierher gekommen waren.

Wie lange er so auf das Pergament niedergestiert hatte, wusste er nicht.

Nur dessen war er sich bewusst, dass er dabei eine ganz eigentümliche Empfindung hatte, einer merkwürdigen Sinnestäuschung unterlag.

Es waren keilschriftartige Hieroglyphen, auf die er niederstarrte, die Striche, die mit kleinen Querstrichen versehen waren, manchmal oben einen Kopf und unten einen Schwanz.

Und plötzlich wurden diese Hieroglyphen lebendig!

Und plötzlich waren es Ameisen, die geschäftig durcheinander krochen.

Der Pater wunderte sich selbst, wie deutlich er diese großen, dicken, schwarzen Ameisen sah, wie natürlich sie auf dem gelben Pergament herumkrochen.

Er wunderte sich über seine eigene Sinnestäuschung und konnte sich trotzdem ihrer nicht erwehren.

Immer sah er die Ameisen mit hastiger Geschäftigkeit durcheinander kriechen, obgleich er doch wusste, dass es nur geschriebene Hieroglyphen waren.

»Howgh!«

Da plötzlich standen die Ameisen still und waren wieder geschriebene Keilschriftzeichen.

Der Pater blickte auf.

Er sah ein dunkelbraunes oder schon mehr kupferrotes Gesicht, das einem alten melancholischen Weibe anzugehören schien, das sich in Karnevalslaune mit einem Kopfputze von bunten Federn geschmückt hatte.

Aber der Pater kannte dieses melancholische, kupferrote Altweibergesicht, kannte es im Allgemeinen aus den Wildnissen Amerikas und kannte es im Besonderen aus Ägypten, dort hatte er es wirklich schon gesehen, in der Hauptstadt wie in den angrenzenden Wüsten.

»Der schwarze Bär!«, entschlüpfte es ihm in seiner Überraschung.

Das melancholische Altweibergesicht des Siouxhäuptlings hatte — ganz auffallend für diesen leidenschaftslosen Indianer — von vornherein einen erstaunten Ausdruck gezeigt, plötzlich aber nahm es den einer furchtbaren Wildheit an.

Ein kurzer, gellender Schrei, und plötzlich hatte sich der rote Krieger durch das Fenster geschwungen, stand auf dem Schreibtisch, stand daneben, hatte einen Tomahawk in der nervigen Faust hochgeschwungen, er sauste herab, traf mit der stumpfen Seite des Paters Stirn —

Ein Feuerstrom entfuhr seinen Augen, und er hatte das Bewusstsein verloren —

Als der Pater wieder die Augen aufschlug, schmerzte ihm zwar noch sehr der Kopf, aber er war sofort bei klarer Besinnung.


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Er lag unter einem Baume im Grase auf dem Rücken, an Händen und Füßen schmerzhaft gefesselt, sah eine Gruppe weißer und roter Cowboys um sich stehen, während andere daneben eifrig schaufelten, in den dort mehr sandigen Boden ein Loch gruben.

»He, Du Scheusal, bist Du endlich erwacht?«

Der junge Lord Armstrong war es gewesen, der dies gesagt hatte, dabei dem Gefangenen einen derben Fußtritt versetzend, während ihm ein anderer der amerikanischen Jäger verächtlich den Tabakssaft ins Gesicht spuckte.

»Leute, Ihr verkennt mich —«

Ein rohes, aber sicher gerechtfertigtes Lachen erscholl ringsherum.

»Ha, Dich verkennen!«

»Du kannst Dich wohl nicht mehr entsinnen, mein schönes Püppchen, wie Du die Frau von dem schwarzen Bären, dem Siouxhäuptling da, die Wasserlilie, vergewaltigt und abgeschlachtet hast? Zweimal schon bist Du aalglatte Schlange uns entkommen, das eine Mal gelang Dir selber die Flucht und das zweite Mal wurdest Du von der Miliz befreit, diesmal aber hat Dein Stündlein geschlagen.«

»Na, nun vorwärts, ehe der Prinz kommt, der könnte uns einen Strich durch die Rechnung machen.«

»Er sollte es nur wagen, hier hätte seine Macht ein Ende!«

»Besser aber ist besser, er braucht's gar nicht zu erfahren.«

»Er kann sich dann ja die Knöchelchen zusammenlesen.«

»Ist das Loch tief genug?«

»Da geht er schon bis zum Halse hinein, ein Hügel wäre gar nicht mehr nötig.«

»Dann vorwärts, hinein mit dem Hund!«

Der Pater wurde von kräftigen Fäusten in die Höhe gehoben.

Die Frau des schwarzen Bären abgeschlachtet?

Er wusste natürlich nichts davon.

Das hatte eben sein Vorgänger getan, in dessen Hülle er steckte.

Aber er kam gar nicht dazu, sich zu rechtfertigen, wenn das überhaupt irgend einen Zweck gehabt hätte.

Er sah nur dort den großen Sandhaufen, auf dem es von schwarzen Tierchen wimmelte.

Ein Ameisenhügel, ausgeführt von einer indischen Ameisenart, welche gleich »die gefräßige« heißt, weil ihre Gefräßigkeit keine Grenzen kennt.

Soeben wälzte sich eine schwarze, lebendige Kugel heran. Ihren Kern bildete ein gelbes Eichhörnchen, aber über und über bedeckt mit schwarzen Ameisen, es lebte noch, wehrte sich mit aller Kraft, jedoch ganz vergeblich.

Jedes einzelne Haar ward zu einem Tau, an dem Hunderte der kleinen Insekten zogen, Myriaden von anderen schienen von hinten richtig zu schieben, mit schier fabelhafter Schnelligkeit näherte sich die Kugel oder doch Walze dem Hügel — jetzt fing das Tier zu schreien an, ein durchdringendes, entsetzliches Quieken — da aber war der aus Sand und kleinen Holzteilen aufgebaute Hügel schon erreicht, mit unheimlicher Geschwindigkeit wurde das Tier eingegraben, versenkt, noch bei vollem Leben, obgleich ihm, wie jetzt der Pater sah, schon die Augen ausgefressen waren.

Und weiter sah er das tiefe Loch, das dicht neben dem Ameisenhügel ausgeworfen war, dorthin trug man ihn jetzt, und da konnte er nicht mehr im Unklaren sein, was man mit ihm vorhatte.

»Erbarmen, Erbarmen, ich bin unschuldig!«, heulte er auf.

»Gebt ihm eins aufs Maul!«, hieß es.

»Knebelt ihn lieber, er könnte uns durch sein Schreien den Spaß noch verderben.«

Ohne dass er noch einmal hingelegt wurde, bekam er ein Tuch in den Mund gepfropft, und diese Männer wussten die fest zusammengepressten Zähne im Nu aufzubrechen, ein anderes, flach zusammengelegtes Tuch ward ihm davorgebunden.

»Da können ihm aber die Ameisen nicht in den Mund kriechen.«

»Aber immer noch durch die Nasenlöcher, und durch die Ohren und Augen wissen sie sich auch schnell genug Zugang zu den Kaldaunen zu verschaffen.«

Hinein mit ihm in das Loch, mit den Füßen voran!

Es ging ihm doch nur bis zur Hälfte der Brust, dafür aber entstand mit der ausgeworfenen Erde eine Erhöhung um ihn herum, und ein halbes Dutzend Spaten waren geschäftig.

In wenigen Minuten war es geschehen, nur der schöne Lockenkopf des Jünglings ragte aus dem Sandhaufen hervor.

Kein Wort des Einwandes oder auch nur des Mitleides war gefallen. Dieser Mensch mochte schon sein Schicksal verdient haben.

»So, nun wollen wir zusehen, wie die niedlichen Tierchen ins Innere zu dringen wissen, um ihn bei lebendigem Leibe aufzufressen.«

»Ihn von innen heraus a u s fressen!«, wurde korrigiert.

»Schade, dass er nicht schreien kann.«

»Nein, das darf nicht sein, es könnte jemand hören, der Prinz könnte davon erfahren — und der würde uns sicher alles verderben.«

»Er sollte es nur wagen!«

»Es ist doch besser so.«

Sie lagerten sich im Kreise und brannten ihre Pfeifen an, um mit Behagen dem nun kommenden Schauspiel. zuzusehen.

Nur den Platz zwischen dem Ameisenhügel und dem Menschenkopfe hatten sie wohlweislich frei gelassen.

Vorläufig hatten die gefräßigen Ameisen noch nicht die ihnen ausgelieferte Beute gewittert, vorläufig waren sie alle noch mit dem Vergraben des Eichhörnchens beschäftigt.

Doch jetzt zeigten sich schon Kundschafter, welche gegen den neuen Hügel, der in ihrer Nähe entstanden war, vorrückten, aber immer auf halbem Wege umkehrten.

»Wollen wir nicht eine Witterung geben, vielleicht etwas Blut?«

»Ist nicht nötig, die kommen schon von selbst, sobald sie nur das Eichhörnchen in Sicherheit haben.«

Da ertönte in der Ferne ein gellender Pfiff, dem ein eigentümliches Trillern folgte.

Alles fuhr halb empor.

»Teufel, das war das Signal des Prinzen, wir sollen kommen!«

»Er mag nur rufen, wir kommen nicht.«

Noch einmal der gellende Pfiff, dem ein viel längeres Trillern folgte.

»Das Notsignal, dem müssen wir gehorchen!«

»Zum Henker, was gibt's da, dass der uns jetzt in unserm besten Vergnügen stören muss?«

»Das hilft nun alles nichts, wir müssen folgen!«

Mit Verwünschungen sprangen sie vollends auf und ergriffen ihre Waffen, einige auch die Schaufeln.

»Halt, die Schaufeln nicht, sonst könnte der Lunte merken!«

Sie eilten davon.

Nur der schwarze Bär zögerte noch.

»Vorwärts, Bär, Du musst mit, das war das Notsignal — da noch einmal —«

Sie stürmten davon, und jetzt schloss sich auch der Siouxhäuptling ihnen an.

Señor Lazare war allein — mit den Ameisen!

Solch einer Situation war er nicht gewachsen, er konnte sich nicht frei machen von dem Entsetzen, das seinen Herzschlag stocken ließ.

Und jetzt hatten die Ameisen ihre Arbeit vollendet, jetzt kamen sie in hellen Scharen auf ihn losgerückt.

»Allmächtiger Gott im Himmel, habe nur noch diesmal Erbarmen mit mir, und ich will fernerhin nur noch Dir dienen und Deinen Namen loben!«

So stöhnte der Bösewicht, wieder einmal das Bedürfnis nach Frömmigkeit fühlend.

Die erste Sektion hatte den Sandhügel erklommen, seinen Kopf erreicht.

Er sah, wie die schwarzen Tierchen ihre Fühler ausstreckten, um ihn zu betasten.

Plötzlich aber machten alle kehrt, ihre Fühler betasteten diejenigen der folgenden Sektion, und auch diese drehten schleunigst um, sie sämtlich, der ganze Zug, um in auffallender Hast, sozusagen Hals über Kopf, nach dem Neste zurückzueilen.

Und da freilich fiel es dem Pater wie Schuppen von den Augen.

»Gerettet!«, jubelte es in seinem Innern auf. »Der schützende Talisman der Medea — ach, ich Narr, wie konnte ich das vergessen!«

Hatte er das vergessen, so dachte er jetzt natürlich auch nicht daran, sein soeben abgelegtes Gelübde zu halten. Dachte er überhaupt noch einmal daran, so doch nur mit Spott und Hohn über sich selbst.

Gerettet war er freilich noch nicht.

Vorläufig steckte er noch bis an den Hals im sandigen Boden, an Händen und Füßen gefesselt, und auch ohne das hätte er sich selbst nicht befreien können, einen Knebel im Munde, sodass er nicht um Hilfe rufen konnte.

Und wenn nun die Cowboys zurückkehrten und merkten, dass die Ameisen diese Beute verschmähten? Dann sannen die eben eine andere Art von Rache aus. Denn diese Menschen von seiner Unschuld zu überzeugen, darauf verzichtete der Pater von vornherein. Oder er hätte noch etwas ganz anderes gestehen müssen.

Wir schildern die nachfolgenden Stunden in möglichster Kürze.

Es mochte in der elften Stunde gewesen sein, als der Pater eingegraben worden war.

Die Ameisen kümmerten sich nicht mehr um ihn.

Ein Schwarm Moskitos fiel in diese Gegend. Da aber merkte der Pater wiederum die Wirksamkeit des Talismans der Medea.

Die blutgierigen Mücken hatten den menschlichen Kopf sofort gewittert, in Legionen stürzten sie über ihn her, aber nur, um förmlich zurückzuprallen, und ob diese Mücken nun auch solch eine Sprache wie die Ameisen haben oder wie sie sich sonst verständigten — kurz, der Pater wurde überhaupt von keiner Mücke belästigt, keine nahte sich ihm auch nur.

Eine schillernde Schlange glitt zwischen den beiden Sandhaufen hindurch, blieb liegen. Sofort schickten die Ameisen ein ansehnliches Kriegsheer ab. Kaum bemerkte die Schlange die schwarzen Tierchen, als sie sofort zurückschnellte, ihr Heil in der Flucht suchend.

Sie wollte den Weg über den anderen Hügel nehmen, fuhr aber mit allen Zeichen des Entsetzens vor dem menschlichen Kopfe zurück und entfloh nach einer anderen Richtung.

Hinter dem Pater ertönte ein heiseres Röcheln, und dann tauchte die Ursache davon seitwärts von ihm auf — ein Wolf!

Der indische Wolf ist etwas kleiner als sein europäischer und nordasiatischer Vetter, steht ihm aber nicht an Gefährlichkeit nach. Zumal die indischen Wölfe ausschließlich in Rudeln jagen, abgesonderte gibt es gar nicht, und trotz des Wildreichtums in Indien finden sie gar nicht so häufig Aas, an dem sie ihren unersättlichen Heißhunger stillen können, weil es da eben wieder zahllose andere Tiere gibt, die sofort reine Wirtschaft machen, und dann natürlich auch stärkere Raubtiere, die es auch auf jedes gefallene Wild abgesehen haben.

Dies hier aber war einmal ein einzelner Wolf, nämlich weil er nicht mit dem Rudel jagen konnte, weil er stark hinkte, weil er einen verkrüppelten Hinterfuß hatte.

Infolge der Schwierigkeit, sich Nahrung zu verschaffen, war das Vieh denn auch schrecklich abgemagert.

Dieser Wolf hätte niemals den aus dem Erdboden hervorsehenden Menschenkopf ohne Acht gelassen, ob der nun noch lebte oder nicht, er hätte sich auch mit den geringsten Fleischfetzen begnügt.

Plötzlich aber, Witterung bahnend, prallte auch er zurück und floh heulend davon.

Dann tauchte ein riesiges Krokodil auf.

Es kam aus dem Wasser, welches in gar nicht so weiter Entfernung zwischen den Bäumen dahinfloss.

Dieses Krokodil, das sich mit weit aufgerissenem Rachen den heißen Sonnenstrahlen aussetzte, konnte den Pater nicht mehr beunruhigen.

Aber jenes Wasser war es, das ihm die größte Qual verursachte.

Wie gesagt, wir haben einzelne Vorgänge während vieler Stunden geschildert.

Dem Stande der Sonne nach mochte es jetzt gegen fünf Uhr nachmittags sein.

Also schon sechs Stunden war der Pater hier eingegraben!

Er war wohl unter dem Baume wieder zu sich gekommen, aber die Stelle, wo er eingegraben worden, hatte schon zur Mittagszeit außerhalb des Schattenbereiches der Zweige gelegen, und zwar nach Osten hin, also schon seit sechs Stunden hatte ihm die fürchterliche Sonnenglut direkt auf den unbedeckten Kopf gebrannt, und diese Glut wollte sich auch am späten Nachmittag nicht mildern.

Schon seit vielen Stunden wurde der Pater von einem fürchterlichen Durst gemartert. Jetzt glaubte er sich bereits dem Verschmachtungstode nahe.

Wir haben dieses Nahen des langsamen Verschmachtungstodes nicht weiter geschildert, weil so etwas überhaupt gar nicht zu schildern geht.

Er hatte schon die krampfhaftesten Versuche gemacht, den Knebel mit der Zunge herauszustoßen, obgleich das ja wegen der vorgelegten Bandage ganz unmöglich war — aber was versucht der Mensch in seiner Qual nicht — jetzt war er hierzu gar nicht mehr fähig.

Und wenn es ihm wirklich gelungen wäre, ob sein Hilferufen gehört worden wäre?

Denn geschrien hätte er, auch wenn nur die Cowboys gekommen wären, um ihn neuen, anderen Martern auszusetzen. Aber vorher nur einmal trinken, trinken, trinken!

Niemand kam, niemand war auch nur von Weitem zu sehen, wie der Pater auch verzweifelt den Kopf drehte, keine menschliche Stimme zu hören.

Nur jene Signalpfiffe hatten einmal bisher getönt.

Der Pater wusste ja auch gar nicht, wie weit er während seiner Betäubung von der menschlichen Ansiedlung fortgetragen worden war, und der Prinz konnte sich ja selbst nur in der Nähe befunden haben.

Und jetzt in seiner Qual fing der Bösewicht zum zweiten Male zu beten an.

»Barmherziger Gott im Himmel, schicke mir einen Menschen, schicke mir einen Engel, der mir zu trinken gibt, und ich will —«

Er kam nicht in die Verlegenheit, zum zweiten Male ein Gelübde abzulegen, um es dann brechen zu müssen.

Da tauchte dort zwischen den Bäumen eine schwarze Gestalt auf!

Und nicht lange dauerte es, so hatte der Pater sie erkannt.

Sich selber!

Seinen ureigenen Körper, der jetzt hier als »Kozzibozzi« benutzt wurde.

Nennen wir diesen Mann nun zum Unterschied Señor Lazare, während der in die Erde Eingegrabene nach wie vor der Pater bleibt.

Jener, also der Señor Lazare, trug noch immer den schwarzen Frackanzug und weiße Weste, auch weiße Handschuhe und außerdem jetzt noch einen schwarzen Zylinder.

Er bewegte sich jetzt ganz natürlich, in anderer Hinsicht aber doch sehr auffällig.

Er sprang hin und her, naschte hier und da von den Früchten und Beeren, die auf Bäumen und an Sträuchern und am Boden gediehen, klatschte in die Hände, tippte die Fingerspitzen zusammen und lachte und kicherte dazu.

Wie konnte sich dieser »Kozzibozzi« jetzt so natürlich bewegen?

Wurde er nicht nur von einem Lichtstrahl als Marionette gelenkt, sondern hatte jetzt eine fremde Seele von ihm Besitz ergriffen?

Doch solche Fragen stellte der Pater jetzt nicht, auch nicht, wie jener zum Beispiel durch das Kichern und Fingertippen ihn so kopieren konnte, und weshalb er so wunderlich hin und her sprang — sondern wie er, der Pater, sich bemerkbar machen könne, dass jener dort Wasser schöpfte und ihm zu trinken gab, das war jetzt die einzige Frage, die ihn beherrschte.

Ihn ganz zu befreien, auszugraben, das kam erst in zweiter Linie in Betracht.

Nur trinken, trinken, trinken!

Noch einmal die verzweifeltesten Versuche, den Knebel aus dem Munde zu stoßen.

Und siehe da! War das volle, fleischige Gesicht des schönen Jünglings in diesen Stunden der Qual vielleicht schon so abgemagert?

Plötzlich rutschte die haltende Binde von ganz allein herab, übers Kinn, und nun konnte der Pater mit leichter Mühe das zusammengeballte Tuch aus dem Munde stoßen.

»Hilfe! Hierher! Ich verschmachte!«

Seine Stimme röchelte weniger, als man hätte annehmen sollen, klang ganz laut und deutlich.

Und das schwarze Männchen hörte den Ruf, kam näher, aber wiederum in ganz seltsamer Weise, mit tänzelnden Schritten, wie der Pater niemals gegangen war, sogar richtig tanzend, im Polkatakt, nur dabei sich nicht drehend.

Und doch, jetzt drehte er sich auch einige Male herum. Dann aber hatte er den Eingegrabenen erreicht.

Es war kein besonderes Grausen, mit dem der Pater seine eigene Gestalt betrachtete. Der qualvolle Durst überwog alles andere.

»Geben Sie mir zu trinken, ich verschmachte, dort ist Wasser!«

Aber das Männlein hatte es nicht so eilig, neugierig betrachtete es den menschlichen Kopf.

»Hihihihi, was ist denn das für ein Ding? Das ist doch ein Kopf? Hihihihi!«

Der Pater hätte in den Augen, die auf ihn herabblickten, in seinen eigenen, etwas Besonderes erkennen können, aber er kümmerte sich nicht darum.

»Wasser, geben Sie mir Wasser, dort fließt welches!«

»Was, der Kopf kann ja sprechen! Hihihihi, wie ist denn das möglich?«

Da merkte der Pater, dass er doch etwas darauf eingehen musste.

»Ich bin eingegraben worden.«

»Eingegraben worden? Von wem denn?«

»Von den Cowboys.«

»Von den Cowboys? Warum denn?«

»Sie haben mich verkannt, ich bin unschuldig an der mir zur Last gelegten Tat.«

»Was denn für eine Tat?«

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht!«

»I, das müssen Sie doch wissen, hihihi!«

»Ich erzähle Ihnen dann alles, nur geben Sie mir erst Wasser, Wasser!«

»Wer sind Sie denn?«

»Der Sekretär der Lady Lionel.«

»Lady Lionel? Wer ist denn das?«

»So geben Sie mir doch erst nur Wasser, Wasser! Dann erzähle ich Ihnen alles!«

»Wasser? Woher soll ich denn das nehmen?«

»Dort fließt ja welches!«

Der Kopf hatte genickt, und das schwarze Männlein drehte sich um, drehte sich gleich wieder zurück.

»Wie soll ich denn das Wasser holen? Ich habe doch nichts dazu.«

»Nehmen Sie doch Ihren Zylinder!«

»Meinen Zylinder? In dem soll ich Wasser schöpfen? Sie sind wohl närrisch geworden? In meinem schönen, neuen, glänzenden Zylinder Wasser schöpfen? I, weiter fehlte doch nichts, hihihi! So ein schöner, glänzender Zlinder!«

Und dabei hatte er ihn vom Kopfe genommen, bürstete und streichelte ihn zärtlich, küsste ihn sogar.

Da merkte der Pater, was hier vorlag. Sein eigenes Ich, wenigstens soweit es den Körper betraf, war selbst närrisch, einfach verrückt, irrsinnig.

Aber was sollte er tun?

»Wasser, ich flehe Sie an, geben Sie mir Wasser, ich verschmachte!«

»Tut das weh?«

»Holen Sie jemand anders!«

»Ich? Nee. Ich geh spazieren. Hihihihi!«

Dem Pater traten vor Verzweiflung die Tränen in die Augen.

»Also Wasser wollen Sie haben?«, fing da das Männchen von selber wieder an.

»Ja, Wasser, Wasser!«

»Gut, Sie sollen Wasser haben, schönes Wasserchen, gleich, gleich — schönes Wasserchen —«

Und der Irrsinnige bückte sich und streichele zärtlich den Lockenkopf.

»Ei, was Sie für schöne Locken haben — jawohl, jawohl, schönes Wasserchen — ich hole es gleich — für einen schönen Lockenkopf —«

Nun aber ging er wirklich nach dem Flusse, von dessen Ufer das Krokodil schon längst verschwunden war, nahm seinen Zylinder ab, schöpfte wirklich damit und brachte ihn gefüllt zurück.

Der Pater nahm alle Flüche zurück, mit denen er schon sein eigenes Ich zur Hölle gewünscht hatte.

»Also Durst haben Sie? Furchtbaren Durst? Hier haben Sie Wasserchen, schönes Wasserchen.«

Mit diesen Worten setzte das schwarze Männchen den bis an den Rand gefüllten Zylinderhut vor den Menschenkopf an den Boden hin, zwei Hände breit von ihm entfernt.

»Na, trinken Sie doch, immer trinken Sie — schönes Wasserchen.«

»Ich kann es ja nicht erreichen, nicht selbst nehmen!«

»Weshalb denn nicht?«

»Weil doch meine Hände mit eingegraben sind!«

»Weshalb sind denn auch die Hände mit eingegraben worden?«

»Mensch, so führen Sie mir doch nur den Hut an den Mund, ich verdurste!«, fing der Pater jetzt wirklich zu weinen an.

»Ich? Hihihihi, ich werde mich hüten! So ein schöner Lockenkopf, der darf doch kein Wasser trinken — Wasser aus dem Flusse, mit Fröschen und Eidechsen und Blutegeln und Krokodilen drin — ei nein, so ein schöner Lockenkopf darf doch nur Wein trinken, schönen Wein — so ein schöner Lockenkopf — tut das weh?«

Und er zog den Pater ganz empfindlich an den Haaren.

»Bitte, bitte, geben Sie mir zu trinken!«, jammerte der Pater.

»Ob das weh tut, frage ich, wie, he?«, wurde er angeherrscht und noch energischer an den Haaren gerissen.

»Ja, ja, es tut weh!«, heulte der Gemarterte. »Aber geben Sie mir doch nur den Hut mit Wasser, dass ich trinken kann!«

Das Männchen ließ ab von den Haaren und griff in die Seitentasche.

»So, also es tut weh, hihihihi! Na, da sollen Sie auch eine Zigarre kriegen, damit Sie sehen, dass ich nicht so bin.«

Und er zog eine Zigarre hervor, ein Taschenmesser, schnitt bedächtig die Spitze ab, auch Streichhölzer hatte er bei sich, brannte die Zigarre an und paffte mit Wohlbehagen.

Unterdessen hatte der Pater immer weiter vergebens um Wasser gewinselt.

»Wasser? Nee. Das ist nichts für so einen schönen Lockenkopf. Aber hier — rauchen können Sie.«

Und er hielt ihm die Zigarre hin, wollte sie ihm in den Mund stecken.

Aber der Pater mit seinem ausgedörrten Munde wollte nicht rauchen.

»Wasser, bitte, bitte, geben Sie mir Wasser!«

»Sie wollen nicht? Na, dann rauchen Sie so — so —«

Furchtbar brüllte der Pater auf. Das Männchen hatte ihm die Zigarre verkehrt in den Mund gesteckt, mit dem glühenden Ende.

»Na, was schreien Sie denn, hihihihi? Das tut wohl weh? Na, da rauchen Sie noch einmal, immer noch einmal, hihihiln!«

Und immer wieder stieß er ihm das glühende Ende in den Mund hinein, und dann drückte er es auch gegen Nase und Stirn und Wangen.

Der Pater sah sein Ende gekommen.

Wenn er überhaupt noch an etwas dachte.

Er brüllte und brüllte.

Und es blieb nicht bei der glühenden Zigarre.

Jetzt nahm das schwarze Männchen dazu auch noch sein Messer.

»Tut das weh, wenn ich Ihnen die Nase abschneide? Wollen doch mal sehen, erlauben Sie gütigst, dass ich Ihnen die Nase abschneide — hihihihi.«

Er schnitt sie nicht gleich ab, sondern schnitt erst hinein, dann spaltete er sie, zuletzt schnitt er sie ganz ab.

Und dann kamen die Ohren daran.

Und dann packte er mit beiden Fäusten zu und riss die Locken mit den Wurzeln aus.

Es ging auch noch weiter.

Wir aber wollen es nicht mehr schildern.

Der Pater wusste nichts mehr davon.

Schon längst hatte ihn eine wohltätige Ohnmacht umfangen.

Eine wohltätige? Er lag im Sterben!

Einmal durch den ganz bedeutenden Blutverlust, und dann überhaupt durch die verschiedensten Qualen, die ihm sein Peiniger beigebracht, von denen wir aber nur die unschuldigsten geschildert haben.

Denn der Pater hatte bereits auch keine Zunge mehr im Munde — genug!

»Tut das weh? Oder das? Oder das? Hihihihi.«

Endlich ließ das schwarze Männlein von seinem Opfer ab, es gefiel ihm nicht mehr, weil der Menschenkopf nicht mehr schrie, kein Lebenszeichen mehr von sich gab.

»Nun will ich meinen Hut — ach, das schöne Wasser, hihihi.«

Es war ein Wahnsinniger. Er wollte seinen Hut wieder haben, kam aber nicht darauf, das Wasser einfach auszugießen, oder er wusste es eben nicht anders, als das Wasser müsse wieder in den Fluss hinein.

Also er hob den Zylinder mit beiden Händen an der Krempe auf und schritt wieder dem Flusse zu, aber nicht so einfach gehend, sondern dabei hin und her tänzelnd.

So erreichte er das Flussufer.

Da strauchelte er, stürzte, schlug heftig mit dem Kopf auf eine Baumwurzel, rollte herum, fiel mit dem Oberkörper ins Wasser, tauchte mit dem ganzen Kopfe unter, ohne sich aus dieser Lage zu befreien, ohne sich zu rühren.

Und da, nur wenige Schritte voneinander entfernt, verließen gleichzeitig zwei Seelen die irdischen Körper.

— • —

56. Kapitel
Wieder entwischt!

Originalseiten 1340 — 1363

»Wunderbar, wunderbar, das ist ja die richtige Zauberei!«, rief die Lady Lionel immer wieder. Prinz Joachim führte ihr in dem Palastgarten die kleine Deasy mit der Wünschelrute vor, indem sie die verschiedensten Gegenstände aufsuchte, die versteckt wurden, oder Menschen selbst.

Sie hatten sich bereits heute Morgen in aller Frühe kennen gelernt, ein vornehmer Hindu hatte sie einander vorgestellt.

Dann waren sie zusammen zu den Kozzibozzis gegangen. Markata, wie der vornehme Hindu hieß, hatte ihnen die neueste Errungenschaft in diesem geheimnisvollen Reiche gezeigt, nämlich wie man diese »Kozzibozzis« jetzt durch eine besondere Art von Lichtstrahlen scheinbar lebendig machen und sie auch wie die Marionetten dirigieren konnte.

Dann war die ganze Gesellschaft wieder auseinander gekommen, die Lady hatte sich mit ihrem Sekretär beschäftigt, bis sie in dem Garten wieder den Prinzen getroffen hatte. Zu einer Unterhaltung war bisher noch gar keine Gelegenheit gewesen.

»Also Sie sind der berühmte Prinz Joachim!«, fing die kleine, zierliche Dame in dem blauen Kirgisenmantel ohne Weiteres an.

»Berühmt?«, lächelte jener.

»Na, ich habe schon genug von Ihnen gehört Haben Sie nicht eine Zigarre für mich?«

Da konnte der Prinz wohl erst recht lächeln. Es war auch gleich so herausgekommen, dass man wohl darüber lächeln musste.

Nun wusste der welterfahrene Prinz aber auch ganz bestimmt, was für ein Charakter in dem blauen Kirgisenmantel steckte, falls diese knabenhafttrotzigen Züge doch vielleicht gelogen hätten, und die ihm über die Lady Lionel bereits berichtet, erst hier, hatten ebenfalls die Wahrheit erzählt.

Ja, der Prinz konnte dienen, er zog sein Zigarrenetui und die Lady griff hinein, nachdem sie ihren schwarzen, noch qualmenden Stummel fortgeworfen hatte.

Sie bekam auch Feuer und paffte.

»Sie haben schon viel über mich gehört, Mylady?«, lächelte er noch immer. »Hoffentlich doch Gutes.«

»Besseres — paff, paff — als diese Zigarre ist.«

»Oho, das ist eine echte Havanna!«

»Möglich, aber mir viel zu leicht. Wie lange sind Sie schon hier?«

»Seit zwei Tagen.«

»Die Kerls da, das sind Ihre Leute?«

»Jawohl, Mylady.«

»Sind das echte Indianer?«

»So echt wie diese Havanna.«

»Aber hoffentlich nicht so schwach. Sie kommen aus Ägypten?«

»Darf ich fragen, woher Sie das wissen?«

»Nein, das dürfen Sie nicht fragen — oder fragen können Sie wohl, aber antworten tue ich nicht darauf.«

Also der Prinz wusste nun, wen er vor sich hatte, und da gab es überhaupt gar kein Übelnehmen. Es lag schon in der ganzen Sprechweise.

»Was wollen Sie eigentlich hier?«, klang es weiter in diesem selben Tone.

»Daraufhin muss ich erwidern, dass ich in dieser Beziehung auch meine Geheimnisse habe.«

»Sie wollen's nicht sagen? Na, da nicht! Da brauchen Sie nicht erst so lange Umschweife zu machen. Aber ich weiß doch, dass Sie sich lange Zeit mit Ihrer Cowboybande in Ägypten aufgehalten haben, da ein altes Kloster bewohnten, das hat sogar in allen Zeitungen gestanden.«

»Das glaube ich gern.«

»Haben Sie auch das hellsehende Kind mit?«

»Dort kommt Deasy.«

Die beiden, die sich noch nicht gesehen hatten, waren gleich ein Herz und eine Seele.

»Ach das reizende, reizende Kind!«

Das klang aber ganz, ganz anders, als man so etwas sonst bei solchen Gelegenheiten aus Frauenmunde hört, und ganz auffallend war es, mit welcher Herzlichkeit sich die kleine Deasy, sonst ein sehr menschenscheues oder weltfremdes Kind, gleich der fremden Dame anschloss.

Natürlich hätte die Lady gern gleich eine Probe von der hellsehenden Gabe des Kindes gehabt.

Da aber zeigte es sich, wie feinfühlig diese Kosakin im Grunde genommen doch war.

Der Prinz brauchte nur eine kleine Andeutung zu machen, dass es jetzt dem Kinde selbst nicht sehr angenehm wäre, sich in Trance versetzen zu lassen, und sie wehrte ganz energisch ab.

»Nein, nein, dann nicht, dann ja nicht! Dann ein andermal, wenn es dem Kinde gerade passt.«

»Aber die Wünschelrute kann Ihnen Deasy gleich einmal vorführen.«

»Die Wünschelrute?«

»Wissen Sie nicht, was das ist?«

»O doch. Wie, auch diese Gabe besitzt das Kind?«

Derartige Experimente wurden sofort gemacht. Deasy suchte versteckte Gegenstände; die Lady versteckte sich selbst und staunte immer mehr.

Diese Versuche hatten sie in einen anderen Teil des großen Gartens geführt, in dem man sich verlaufen konnte, und nicht nur deshalb, weil er jetzt verwildert war, und während dieser Zeit hatte der Siouxhäuptling den Sekretär der Lady erkannt, niedergeschlagen und entführt, die anderen Cowboys, die alle von dem Fall wussten, waren schnell verständigt worden und hatten sich im gemeinsamen Racheakt zusammengefunden.

Der Prinz und die Lady ließen sich noch immer Experimente mit der Wünschelrute vormachen.

»Da können Sie ja vergrabene Schätze suchen!«

»Ja, das können wir.«

»Der Spur jedes Verbrechers folgen!«

»Auch das.«

Da erscholl ein Geheul, aber aus einer menschlichen Kehle kommend.

Sie befanden sich noch immer in der Nähe der Palastmauern, nicht allzu sehr verfallen, und in der zweiten Etage sah man einen Mann an dem stark vergitterten Fenster stehen und an den Eisenstäben rütteln.

Nur dieser konnte das tierische Geheul ausstoßen.

»Was ist das? Was hat der?«, fragte der Prinz.

»Das kann ich Ihnen sagen — ich bin nämlich nicht das erste Mal hier — das ist ein Opfer der Wissenschaft, ein Opfer seines Forschungsdranges. Mister Wesley, ein genialer Chemiker, der hier —«

Die Lady brach wie zögernd ab.

»Ja, nun weiß ich nicht, ob, ich Sie in das Geheimnis einweihen darf.«

»Tun Sie das ja nicht, wenn Ihnen Schweigen auferlegt worden ist.«

»Oder sollten Sie es nicht selbst schon kennen?«

»Da müsste ich erst wissen, um was für ein Geheimnis es sich denn handelt.«

»Sie haben doch schon die sogenannten Kozzibozzis gesehen, und die würde man Ihnen doch gar nicht gezeigt, nicht die Vorstellung vorhin gegeben haben, wenn Sie nicht schon eingeweiht wären. Was wissen Sie von diesen Kozzibozzis? Mir gegenüber können Sie da ganz offen sprechen, ich bin vollkommen in dieses Geheimnis eingeweiht.«

»Das sind Leichname, die aber noch nicht ganz tot sind, und doch wieder etwas ganz anderes als Scheintote —«

»Und?«

»Sie werden durch elektrische Lichtstrahlen scheinbar lebendig gemacht, also in Bewegung gesetzt.«

»Ja, das erklärte uns ja der führende Hindu selber. Aber können sie nicht noch auf eine andere Weise lebendig gemacht werden?«

»Gewiss.«

»Nun? Sprechen Sie nur ganz offen, ich weiß nämlich alles.«

»Indem ein anderer Mensch seine Seele aussendet und von solch einem Leichnam Besitz ergreift.«

»Ah, also Sie sind ebenfalls vollkommen eingeweiht!«

»Jawohl, obgleich wir nicht im Mindesten geahnt haben, hier gleich massenhaft solche lebende Leichname vorzufinden.«

»Nicht? Weshalb kommen Sie denn dann sonst hierher?«

»Bitte, darüber wollen wir vielleicht später sprechen, erst wollen wir doch einmal bei jenem Unglücklichen dort oben bleiben, der jetzt schon wieder so schrecklich schreit.«

So war es in der Tat, aber diesmal wurde der Mann vom Fenster fortgerissen, und bald verstummte auch sein Schreien.

»Also ein englischer Chemiker, der ganz hervorragend an jener neuen Erfindung mit den elektrischen Lichtstrahlen beteiligt war?«

»Aber auch schon vorher hatte er sich mit der Geschichte befasst, die Experimente am eigenen Leibe erprobt, sich — also Sie wissen ja, worum es sich handelt — sich in fremde Menschen und sogar in Tiere verwandelt.

Aber die Natur lässt ihrer nicht spotten.

Denn etwas Natürliches, Unschuldiges ist das doch nicht etwa.

Wenn auch nicht direkt schädlich, wenn man es sozusagen mit Maßen genießt, so rächt es sich doch fürchterlich, wenn es gar zu häufig gebraucht wird.

Es ist eben genau so wie mit dem Opium oder schon wie mit dem Alkohol.

Also der Mann ist durch die vielen Versuche ganz einfach irrsinnig geworden.

Seine einzige Sehnsucht ist die, wieder das Mittel zu bekommen, durch das er sich in einen anderen Menschen oder gar in ein blutgieriges Raubtier verwandeln kann, was ihm natürlich versagt wird, und dann manchmal hält er sich für einen fremden Menschen oder gar für irgend eine Bestie.

Das ist die Sache. Deshalb brüllt der so dort oben. Vielleicht hält er sich jetzt wieder für einen Tiger oder einen Wolf.«

Bedauernd oder auch mit etwas Grausen blickte der Prinz nach dem vergitterten Fenster hinauf, sagte aber hierzu nichts weiter.

Sie gingen zurück, kamen an den offenen Fenstern der Parterrezimmer vorüber, in denen der Pater Quartier genommen hatte.

»Hier drin hat einst der unglückliche Mister Wesley gehaust, hatte nebenan auch sein eigenes Laboratorium. Jetzt wohnt darin mein Sekretär, den Sie ja kennen.«

»Den ich kenne? Ihren Sekretär?«

»Sie haben ihn doch gesehen.«

»Wo denn?«

»Nun, in den Spiegeln, das war doch der Mann, der in den Leichenkammern auf Spionage ausging.«

»Ach so, das war Ihr Sekretär! Das hatte ich nicht gewusst.«

»Ja, dass er so auf eigene Faust auf Entdeckungsreisen ausging, das wird ihm hier nicht weiter übel genommen, aber —«

Sie blickte durch das Fenster in das Schreibzimmer und sah die vier Pergamente auf dem Schreibtische liegen, aber keinen Sekretär.

»Wo sind Sie, Mister Macdonald?«, rief sie mehrmals, immer lauter, aber sie erhielt keine Antwort.

»Hm, ich hatte ihm gesagt, dass er nicht so ängstlich zu sein brauche. Aber dass er die Schriften nun so offen liegen lässt, am offenen Fenster, und einfach hinausgeht, so war das eigentlich nicht gemeint. Na, es war wohl meine eigene Schuld.«

Sie voltigierte wie eine Akrobatin durch das Fenster hinein, gleich über den Schreibtisch weg, öffnete die Tür, rief den Sekretär, ohne eine Antwort zu bekommen, zog die Schublade des Schreibtisches auf, legte die Pergamente hinein und voltigierte wieder heraus.

»Hui. Sollte der gleich von der Erlaubnis Gebrauch gemacht haben, auf die Jagd zu gehen, ohne die Pergamente zu verschließen? Das wäre allerdings sehr leichtsinnig, so war das von mir nicht gemeint gewesen. Da werde ich ihn erst noch einmal vornehmen. Ja aber, wo ist der Kerl? Halt, da fällt mir etwas ein. Wollen Sie einmal durch die Wünschelrute des Kindes seine Spur verfolgen lassen?«

»Nein, Mylady, das geht wahrhaftig nicht!«, bedauerte der Prinz.

»Weshalb denn nicht? Sie haben doch vorhin immer meine Spur und Ihre eigene und auch einmal die eines Cowboys verfolgen lassen, wenn wir uns versteckt hatten.«

»Das war etwas ganz anderes. Wir hatten das vorher ausgemacht.«

»Ach, das muss vorher ausgemacht werden, sonst versagt die Wünschelrute?«

»Nein, es ist anders. Ich will Ihnen reinen Wein einschenken, sonst könnten Sie glauben, ich wolle Ihnen aus einem anderen Grunde nicht behilflich sein, und ich weiß jetzt, dass ich mich Ihnen anvertrauen darf, Sie sind doch viel eingeweihter in diese Geheimnisse hier als ich. Wir sind nämlich extra deswegen hierher gekommen, um die Spur solch eines Kozzibozzis zu verfolgen, das heißt von einem der uns entwischt ist. Verstehen Sie?«

»Nein, durchaus nicht.«

»Sie haben doch den kleinen Mann in dem schwarzen Frackanzug gesehen, der zuletzt in die Teegesellschaft eingeführt wurde, bis plötzlich der Mechanismus versagte.«

»Ja gewiss.«

»Kennen Sie ihn?«

»Nein. Irgend ein Kozzibozzi.«

»Durchaus nicht. Den haben wir erst hierher gebracht.

Weshalb wir ihn hier in die Leichenkammer ablieferten, verstehe ich selber nicht, bei uns, meine ich, wäre er viel sicherer aufgehoben, aber ich stehe unter dem Kommando eines anderen, habe da gar nichts hineinzureden.

Das ist ein ehemaliger Jesuitenpater, jetzt nichts anderes mehr als ein Abenteurer, ein Verbrecher, und der hat — wie nennen Sie eigentlich das Mittel, um die Seelenwanderung zu bewerkstelligen?«

»Das Geheimnis der Hölle. Das heißt, das Rezept dazu.«

»Ah, also Sie auch!«

»Na, wenn Sie die Geschichte kennen, so haben wir doch jedenfalls genau dasselbe Rezept gelesen.«

»Sehr leicht möglich. Also dieser ehemalige Pater ist hinter dieses Geheimnis gekommen, hat es mit blutiger Verbrechertat geraubt, sogar durch fürchterlichen Massenmord, und hat die Verwandlung sofort ausgeführt.

Aber nicht hier in Indien, sondern in Afrika, in Ägypten.

Und das Experiment ist ihm nicht ganz geglückt. Er konnte seine Seele nicht nach Belieben in einen anderen Leib dirigieren.

Doch wie dem auch sei — ich erzähle Ihnen später einmal ausführlich davon — seine Seele hat dennoch von einem anderen Leibe Besitz ergriffen.

Dies sagte uns das hellsehende Kind, durch die Wünschelrute, welche die Richtung angab, wo der Pater jetzt in einem fremden Körper weiterlebt.

Wir haben allen Grund, diesen verruchten Bösewicht dingfest und für immer unschädlich zu machen.

Und die Rute des Kindes wies nach Indien, hierher nach der Ruinenstadt Gaur.

Die hellsehende Gabe versagte in diesem Falle, aber nicht die Wünschelrute.

So sind wir hierher nach Gaur gekommen.

Nun stehe ich aber, wie ich schon sagte, unter dem Befehl eines anderen.

Und das ist ein sehr, sehr seltsamer Mensch.

Ein arabischer Adept. Mehr kann ich vorläufig nicht sagen.

Ich glaube aber sicher, Sie wissen, was solch ein Adept ist und was für seltsame Käuze man darunter findet.

Kurz und gut, dieser Adept hat verboten, hier an Ort und Stelle weitere Nachforschungen mit der Wünschelrute nach dem Verbleiben dieses Mannes anzustellen.

Hier ist er ganz gewiss, aber in welcher Gestalt — vollkommen unbekannt!

Und es darf nicht weiter mit der Wünschelrute nachgeprüft werden!

Vorläufig nicht!

Und damit der Mann nicht etwa zufällig gefunden wird, dürfen auch nicht andere Spuren mit der Rute verfolgt werden.

Was ich Ihnen da zeigte, wie das Kind Ihre und meine und des Cowboys Spuren suchte, das war wieder etwas ganz anderes.

Aber sonst darf vorläufig keine Spur mehr aufgesucht werden —«

»Ich verstehe, ich verstehe schon«, unterbrach die Lady den Prinzen in seinen erklärenden Entschuldigungen. »Heißt der Adept, dem Sie gehorchen müssen, vielleicht Almansor und nennt sich den Scheik el Dschebel, den Alten vom Berge?«

»Wie, Sie kennen ihn?«, rief der Prinz in hellem Staunen.

»Na und wie!«, lachte die Kosakin. »Und überhaupt, nun ist mir schon längst klar, zu welcher geheimen Verbindung Sie gehören.«

»Und Sie gehören wohl auch dazu?«

»Nein, ich nicht.«

»Woher aber wissen Sie da —«

»Auch mich hat man einmal dazu ködern wollen.«

»Als Schülerin?«

»Als Meisterin.«

»Wie, gleich als Meisterin?«

Sie lachte, als sie fortfuhr, also konnte von Stolz dabei wohl nicht die Rede sein, und ihre Ausdrucksweise war ja dann auch danach, immer so burschikos wie möglich.

»Jawohl, gleich als Meisterin.

Sogar gleich als eine der allerersten, als Kebira et Hiemit, als Fürstin der Weisheit.

Denn mir kann man ja da drin nicht viel vormachen.

Im Gegenteil, die könnten noch sehr von mir lernen, und das war es ja eben, weshalb sie mich zum Eintritt bewegen wollten.

Wissen Sie denn, wer und was ich bin?

Ich bin eine Schamanin, eine echte Schamanin!

Mein Vater war einer der ersten aller Schamanen, und er hat mich in alle seine Künste eingeweiht, wozu freilich, um sie ausführen zu können, eine angeborene Veranlagung gehört.

Und die besitze ich eben.

Auch ich kann in die Ferne und in die Zukunft blicken und meinen Astralkörper aussenden.

Aber ich tu's nicht mehr.

Es ist Mumpitz, es kommt nichts Gescheites dabei heraus.

Ich treibe nicht mehr den ehernen Popanz auf der Trommel herum.

Ich bekomme dabei die Schreikrämpfe oder die Lachkrämpfe.

Ich muss dazu zwei Liter Rum trinken, besser noch absoluten Alkohol, und wenn auch meine Nerven aus Klavierdraht sind, das ist doch ein bisschen zu viel für mich.

Nein, diese Dschebelverbrüderung ist nichts für mich.

Doch nicht etwa, dass ich verächtlich von ihr spreche. Ganz im Gegenteil.

Wer da drin ist, nur als allergeringster Schüler, der ist gut aufgehoben.

Nur für mich ist es nichts.

Die Allererste konnte ich doch nicht gleich werden, einen hätte ich doch noch über mir gehabt, dem ich unbedingt gehorchen musste, und das kann ich nicht.

Ich muss frei sein, grenzenlos frei.

Was haben Sie?«

Der Prinz war zusammengezuckt und schloss die Augen.

»Aha, Sie werden angerufen. Kenne ich alles. Na, da holen Sie nur Ihre Dose hervor und sprechen dagegen, vor mir brauchen Sie sich nicht zu genieren.«

Richtig, der Prinz zog denn auch gleich eine kleine, uhrähnliche Dose hervor und hauchte dagegen.

»Sehen Sie, so ein Ding sollte ich auch immer bei mir tragen. Weiter aber fehlte doch nichts, dass mich jeder Hansnarr jederzeit stören und anrufen kann, mir einen elektrischen Schlag durch den Körper schicken, und was ich nicht jederzeit wegwerfen kann, trage ich überhaupt nicht bei mir.«

Der Prinz steckte die Dose wieder ein.

»Almansor, den Sie also kennen, ladet Sie ein, Sie möchten mir folgen.«

»Gut, ich komme mit, frage nicht erst, wohin.«

»Gestatten Sie, ich muss erst die Cowboys rufen.«

Er ließ eine Hornpfeife ertönen, nach einiger Zei noch einmal, ein längeres Trillern hinzufügend.

Da kamen die Cowboys bald angestürmt, aber man sah ihnen gleich an, dass sie nicht gern dem Rufe gefolgt waren.

»Was gibt's?«

»Das werdet Ihr gleich sehen. Alle mit!« Sie gingen um den Palast herum, durch einen langen Vorweg und traten in einen mächtigen Hofraum, in dem nichts davon zu sehen war, dass hier ein Luftschiff lag.

*

Die Stunden vergingen.

Verlassen lag der Garten da, alles schien wie ausgestorben zu sein. Auch die heiligen Affen verträumten die heißesten Stunden in den schattigen Zweigen der Bäume.

Da dort oben in der zweiten Etage ertönte ein Schrei, dem bald noch andere lärmende Menschenstimmen folgten.

Ein Inder, hierzu angestellt, hatte die Zelle des irrsinnigen Engländers betreten, um ihm seinen Nachmittagstee zu bringen.

Da hatte Mister Wesley, ein ausgedörrtes Skelett, in kniender Lage an dem vergitterten Fenster gehangen — tot.

Er hatte seinen seelischen Qualen ein freiwilliges Ende bereitet, hatte seine Hose ausgezogen und als Strick benutzt.

Vielleicht hatte man mit Absicht keine weiteren Vorkehrungen getroffen, um ihm solch eine Möglichkeit zu nehmen. Es war das Allerbeste für den unglücklichen Menschen gewesen, dass er Selbstmord begangen hatte.

Die Leiche wurde aufgehoben und davongetragen, irgendwo aufgebahrt bis zur baldigen Beerdigung.

Aber nicht in der schon stark besetzten Leichenkammer wurde sie aufgebahrt.

Denn das waren ja gar keine richtigen Leichen, das waren »Kozzibozzis«.

Und die Leichenkammer, in die wir uns jetzt versetzen, war auch nicht diejenige, welche der Pater, aus dem Schranke kommend, zuerst betrat, in der die Kozzibozzis auf den Pritschen in Leichenhemden lagen.

Sondern es war ein anderer Raum, in der die ganze Teegesellschaft lag, noch in voller Toilette, andere Marionetten aus Fleisch, Knochen und vielleicht auch aus Blut dazu.

Darunter auch der Pater, den das Luftschiff mit hierher gebracht und den Almansor aus irgend einem Grunde hier abgeliefert hatte, damit er an dem Marionettenspiele, von elektrischen Lichtstrahlen gelenkt, mit teilnehme.

Auch er lag auf seiner Pritsche, noch in dem schwarzen Frackanzug, neben sich den Chapeau claque.

Doch da plötzlich kam Leben in die regungslose Gestalt.

Ein Seufzer zitterte von den schmalen, blassen Lippen, und sie richtete sich auf.

Mit verstörten Augen blickte das Männlein um sich, dann aber ein fröhliches Kichern, und es sprang auf.

»Ei, der schöne Hut!«

Es war das erste gewesen. Das Ding aufgeklappt und aufgesetzt.

Es war ein irrsinniger Geist, der von dem Körper des ehemaligen Paters Besitz ergriffen hatte, wir brauchen sein Treiben nicht zu begründen.

Im Übrigen aber benahm er sich gar nicht so irrsinnig. Wenigstens wusste er schon, was er vorhatte und was er ausführte.

Er ging nach der Tür, sie ließ sich öffnen.

Durch einige Korridore und eine Treppe schritt er hinab, niemand begegnete ihm, kein Mensch war zu sehen.

Jetzt öffnete er wieder eine Tür, und er befand sich im Schreibzimmer des neuen Sekretärs.

Das Laboratorium nebenan war sein Ziel, der kleine Wandschrank.

Nur auf den untenstehenden Kasten hatte er es abgesehen, der alles barg, um das sich ständig seine irrenden Gedanken gedreht hatten, wodurch sein Geist erst zerrüttet worden war.

Der aus einer Anstalt entwichene Alkoholiker wird wohl zuerst nach Schnaps suchen, oder es kann auch Brennspiritus sein, der Opiumraucher nach einem Pfeifchen, der Morphiumsüchtige nach einer kleinen Spritze und was dazu gehört.

Der Körper des unglücklichen Engländers war so mit der Höllensubstanz durchtränkt gewesen, dass sie noch immer ihre Wirkung tat, seine durch den Tod frei gewordene Seele musste sich erst nochmals an einen irdischen Körper, der zur Aufnahme fähig, binden, und unbewusst hatte sie dazu den des Paters gewählt.

Und nun war sein erster Gang hierher, nun griff er zuerst nach denjenigen Instrumenten und Mitteln, durch die er sich neue Genüsse verschaffen konnte, und es war gleichfalls eine kleine Morphiumspritze, wozu dann noch Holzbüchsen mit verschiedenen Salben und ein gefülltes Fläschchen kamen.

Als er dies alles in den Taschen geborgen hatte, kicherte er fröhlich und listig vor sich hin, und ob er nun wollte oder nicht, er wurde von einer geheimnisvollen Macht dazu gedrängt, sich dabei die Hände zu reiben und die Fingerspitzen zusammenzutippen.

Er begab sich in das Schreibzimmer zurück, wollte zur Tür hinaus, besann sich noch einmal, drehte um und öffnete die Schublade des Schreibtisches.

Weit zog er sie heraus, griff noch tiefer nach hinten, und sein erst ängstlicher Gesichtsausdruck verwandelte sich in ein Schmunzeln, als er eine Handvoll Zigarren zum Vorschein brachte, dann auch eine Schachtel Streichhölzer.

Es waren seine eigenen Zigarren, die er hier zurückgelassen hatte, er war noch gar nicht so lange als Wahnsinniger interniert gewesen, wahrscheinlich hatte er aus besonderen Gründen nicht rauchen dürfen, und nun entsann er sich trotz seiner Geistesverwirrung dieser zurückgelassenen Zigarren wieder, mochte ja auch immer daran gedacht haben.

Kichernd steckte er sie ein.

»So, nun kann ich spazieren gehen, hihihihi.«

Ehe er die Schublade wieder schloss, fiel sein Blick auf die vier gelben Pergamente.

Der Irrsinnige mochte gar nicht wissen, weshalb er sie nahm und zusammengeballt in die Brusttasche des Frackes steckte — er tat es eben, es war doch sein Schreibtisch, was sich darin befand, gehörte ihm.

Nun zur Tür hinaus, einen langen Korridor entlang, aus dem Hause getreten und durch den Garten spaziert, schon jetzt vor Vergnügen tänzelnd, von keinem Menschen gesehen werdend.

Wir wissen, wohin er ging und was er tat, vom Irrsinn dazu angeregt, vielleicht auch von einer geheimen Neigung zur Grausamkeit, die ihn früher nur beherrscht hatte.

*

Sie waren in den Garten zurückgekehrt, nach stundenlanger Abwesenheit.

»So«, sagte der Prinz, »der Bann ist aufgehoben, Almansor hat die Erlaubnis gegeben. Nun, Deasy, gebrauche daraufhin Deine Rute. Also konzentriere Deine Gedanken auf den Pater, auf Señor Lazare, aber natürlich nicht auf den, der jetzt im Frackanzug dort drin auf der Peitsche liegt. Du weißt am besten, an was Du zu denken hast, Instruktionen kann ich Dir da gar nicht geben.«

Alle umstanden das Kind, das jetzt seine Rute in beide Hände nahm, mit gespanntester Aufmerksamkeit die Vorgänge beobachtend.

Es war ja auch ein eigenartiger Fall, der jetzt endlich seine Lösung finden sollte.

Der Pater befand sich in fremder Gestalt hier in dieser Ruinenstadt, wahrscheinlich sogar in diesem Palast, das wussten sie alle nun seit zwei Tagen aufs Bestimmteste, oder man durfte auf die ganze Sehergabe des Kindes nichts mehr geben — mehr aber wussten sie nicht.

Der rätselhafte Almansor, dieser Geheimniskrämer, der sein ganzes Tun und Lassen von den Sternen abhängig machte, hatte den strikten Befehl gegeben, nicht weiter zu forschen, und dem musste unbedingt gehorcht werden.

Jetzt aber hatte er diesen Befehl aufgehoben, die Erlaubnis dazu gegeben. Draußen im Garten sollte das Experiment vorgenommen werden, Deasy sollte sich dabei unter einen ganz bestimmten Baum stellen. Almansor selbst aber hatte es gar nicht für nötig befunden, selbst mitzugehen. Er verließ das Luftschiff überhaupt nie mehr, wollte noch nie hier gewesen sein und konnte dennoch den betreffenden Baum so genau beschreiben.

Die Rute in des Kindes Händen zeigte sofort eine bestimmte Richtung an, bog sich mit Macht, wenn sie festgehalten wurde.

Sie zeigte nach dem Palaste hin. Deasy folgte dem geheimen, unwiderstehlichen Zuge, alles ging mit ihr, die meisten der Cowboys und der alten Begleiter des Prinzen, auch Lady Lionel.

Die Rute ging, ohne den Boden berührt zu haben, direkt in ein offenes Parterrefenster hinein.

»Was, hier wohnt ja mein Sekretär!«, rief die Lady. »Der wird es doch nicht etwa sein?«

»Wer ist denn das, Ihr Sekretär?«, fragte der Prinz.

»Percy Macdonald heißt er, er ist ein Lehrer für schwedische Gymnastik.«

»Wie lange kennen Sie ihn denn schon?«

»Seit zwei Tagen, oder noch nicht einmal. Erst gestern früh habe ich ihn in Bombay engagiert.«

»Und was hat er denn früher getrieben?«

»Das weiß ich nicht, danach habe ich ihn nicht gefragt.«

»Nun lassen wir, es kann ja doch ein anderer sein, wir werden schon sehen.«

Die Rute hatte gewissermaßen nur einmal in das Zimmer hineingeblickt, zog sich gleich wieder zurück, ging auf den Boden nieder und begann zu tippen, das Kind förmlich oder auch ganz richtig mit sich ziehend.

»Jetzt verfolgt sie die Spuren!«

»Da möchte man doch fast glauben, dass es mein Sekretär ist, der den Weg aus dem Fenster genommen hat!«, rief die Lady.

»Wir werden ja sehen.«

Es ging durch den Garten und weiter hinaus, über eine verfallene Mauer hinweg.

Die Cowboys waren von allem Anfange an, als die Rute sich nur jenem Fenster genähert hatte, unruhig gewesen, hatten leise Worte oder mehr noch Blicke gewechselt.

Das heißt, es gehörte ein sehr, sehr scharfes Auge dazu, um diese Unruhe und den Gedankenaustausch dieser braunen und roten Gesellen zu bemerken! Der Prinz hatte seine Augen nur auf die kleine Rutengängerin gerichtet.

»Was ist denn das?«

Sie hatten den Ameisenhügel erreicht, und aus dem Sandhaufen daneben ragte ein Menschenkopf empor, blutig, verstümmelt, schrecklich anzusehen, wie wir es nicht weiter schildern wollen.

»Mein Sekretär, er ist es, ich erkenne ihn an den Locken!«, rief die Lady Lilly außer sich.

»Eingegraben!«, flüsterte der Prinz, entsetzt den schrecklichen Kopf betrachtend. »Ein Racheakt! Wer hat das getan?«

»Wir«, sagte ganz ruhig der alte Lord Armstrong.

»Wir alle zusammen.«

»Ihr? Weshalb?«

Sie wurde erzählt, die schauerliche Freveltat, die dieser herrliche Jüngling vor etwa zwei Jahren im fernen Amerika begangen hatte, im Staate Arizona, an der jungen Frau dieses Siouxhäuptlings.

»Und denkt nicht etwa, dass wir uns geirrt haben! Das ist er gewesen, der Hund, den wir hier wiedergefunden haben!«

Der Prinz hatte sich unterdessen von dem Tode des Mannes überzeugt, so weit dies allein am Kopfe möglich war.

»Und Ihr habt ihn so schrecklich verstümmelt?«, erklang es drohend.

»Nee, das haben wir nicht. Wir haben ihn nur für die Ameisen eingegraben, aber die scheinen nicht drangegangen zu sein, die ekeln sich vor solch einem räudigen Hunde.«

»Wer hat ihn denn so verstümmelt?«

»Wissen wir nicht, wir sind's nicht gewesen.«

»Die Rute schlägt immer noch an!«, rief da Deasy.

Aller Augen folgten der Richtung, welche jetzt die sich gewaltsam biegende Rute anzeigte.

Da sah man dort am Flussufer ein paar schwarze Dinger liegen, die man erst für gestürzte Baumstämme von mäßigem Umfange halten musste.

»Da sind doch Stiefel dran!«, erklang es aber alsbald.

»Das sind ein Paar menschliche Beine mit schwarzen Hosen!«

Und da wurden diese schwarzen Hosenbeine auch schon lebendig, zappelten erst etwas, dann richteten sie sich mit einem Sprunge empor, und da sah man auch den Oberkörper, der zu diesen Beinen gehörte.

»Der Pater, unser Pater!«, erklang es in grenzenlosem Staunen.

»Der Kozzibozzi!«

»Wie kommt denn der hierher?«

»Wird der denn von Lichtstrahlen gelenkt?«

Der Pater, wie wir ihn nun wieder nennen können, oder Señor Lazare, sprudelte und spuckte mächtig, sein Kopf triefte von Wasser.

Plötzlich aber, noch ehe jemand daran gedacht hatte, hinzuspringen, denn das Staunen war noch gar zu groß, richtete er sich mit einem Ruck empor, starrte nach der Menschengruppe, einige Augenblicke teilte sich dieses Erstarren dem ganzen Körper mit — dann aber wandte er sich plötzlich und jagte davon, am Flussufer entlang, seinen Zylinder im Stich lassend.

»Hallo was hat denn das zu bedeuten?«

Der Prinz war es, dem zuerst die Erkenntnis des ganzen Sachverhaltes erwachte, wenigstens so ahnungsvoll.

»Ihm nach, es ist wirklich Señor Lazare, er ist wieder lebendig geworden, er hat sich zurückverwandelt!«

So schrie der Prinz und jagte dem Flüchtling nach, gefolgt von der ganzen Bande.

»Nicht schießen, nicht schießen, fangt ihn lebendig, macht die Lassos bereit!«


Illustration

»Nicht schießen, fangt ihn lebendig, macht die
Lassos bereit!«, schrie der Prinz und die Schar
der Verfolger stürmte nun hinter Señor Lazare her.


Aber die Lassos sollten nicht benutzt werden können.

Es wurde ein allgemeiner Wettlauf daraus, in dem jeder seine besten Kräfte einsetzte.

Schnell zog sich die Reihe der Verfolger auseinander. Besonders war es Savotak, der schlanke Schwarzfußindianer, der sich gleich an die Spitze setzte, diese behielt und sich immer weiter von dem zweiten entfernte.

Aber noch überholt wurde er von dem Prinzen, der hier einmal bewies, dass sich auch im Schnelllauf keiner mit ihm messen konnte.

Schnell ließ er auch den Schwarzfußindianer hinter sich. Und dennoch, den Pater vermochte er nicht einzuholen.

Mit kolossalen Sätzen, die man dieser kleinen, dürren, schwächlichen Gestalt nimmermehr zugetraut hätte, jagte das schwarze Männlein dahin, immer am Flussufer entlang.

Wenn auf ihn nicht geschossen wurde, so hätte er nicht nötig gehabt, sein Heil in etwas anderem als in der Schnelligkeit seiner Füße zu suchen.

Da beschrieb der Fluss einen scharfen Bogen, und der Flüchtling machte ihn nicht mit, sondern so wie damals in Venedig, als er sich den zugreifenden Händen wie ein glatter Aal entwunden hatte, machte er auch hier einen Hechtsprung in das schwarze Wasser hinein.

»Achtung, wo er wieder auftaucht!«

»Verteilt Euch!«

»Einige schon hinüber ans andere Ufer!«

Aber der Pater tauchte nicht wieder auf.

»Den hat ein Krokodil in Empfang genommen!«

»Nein, das würde sich vor ihm ekeln, der lebt sicher noch, aber das ist so seine Art und Weise, sich in eine Wasserratte zu verwandeln.«

So und anders erklang es.

Und da plötzlich, sobald der letzte Strich der Sonnenscheibe unter den Horizont gesunken war, brach die finstere Nacht an, ohne jede Dämmerung, und der Pater war nicht wieder gesehen worden.

Jetzt erst dachte man daran, Hunde herbeizuholen und mit ihrer Hilfe unter Fackelschein nach Spuren zu suchen.

Denn irgendwo musste Señor Lazare doch wieder das Ufer betreten haben.

Es sollte alles vergebens sein.

— • —

57. Kapitel
Im Tigerschlosse

Originalseiten 1363 — 1406

In seinen schäbigsten Jagdanzug gehüllt, die Hemdärmel des ledernen Hemdes fast bis zu den Achseln hochgekrempelt, die kurze Doppelbüchse umgehängt, ritt Prinz Joachim auf einem dürren Schimmel durch die Ruinenstadt der aufgehenden Sonne entgegen.

Erst hatte er ein recht mürrisches Gesicht aufgesetzt gehabt, doch bald hellte es sich auf, bis es vor Vergnügen strahlte, während er links und rechts die überwucherten Bauten betrachtete.

»Wie mir Almansor den Befehl gab, die Art und Weise«, brummte er in seinen Vollbart, »das passte mir ja gar nicht. Aber habe ich einmal A gesagt, muss ich auch B sagen, und jetzt sehe ich ein, dass es recht hübsch ist, wenn ich einmal von dieser Gesellschaft isoliert werde, so ganz allein auf Abenteuer ausgehe.

Ganz allein?

Almansor sprach von einer Begleiterin, die ich bald bekommen würde.

Das ist ja nun auch nicht gerade wieder nach meinem Geschmack, lieber möchte ich ganz solo sein, oder es müsste denn etwas ganz Extraordinäres sein, so etwa wie die —«

Ein gellender Schrei erklang hinter ihm, dem ein langanhaltendes Jodeln folgte.

Sicher einer jener Jagdrufe, wie sie die Jäger und Männer der Wildnis, besonders in Amerika, haben, jeder seinen eigenen, es ist gewissermaßen ihre Visitenkarte, die sie auf weite Entfernung hin abgeben, und wer einen Jagdruf unrechtmäßig gebraucht, ihn nachäfft, der bekommt es mit seinem Besitzer zu tun.

Der Prinz hatte seinen Gaul pariert, blickte zurück, sah niemanden.

»Was war denn das für ein Jagdruf? Ja, es war der von Clarence, es war ihr Kuihoh. Aber seit wann jodelt die denn hinterher so wie ein Tiroler Deandl?«

Da tauchte zwischen den herumliegenden Steinquadern, noch in weiter Entfernung, ein galoppierender Rappe auf, im Sattel eine gelbe Gestalt, verschwand wieder, tauchte wieder auf, wurde abermals unsichtbar.


Illustration

»Ja, es ist die Clarence. Ich konnte sie nicht richtig erkennen, aber ihr Rappe war es, und wer sollte anders auf ihrem Nachtschatten sitzen. Was, die Clarence soll sich mir doch nicht etwa anschließen? Ein ganz gutes Mädel, aber — in gewisser Hinsicht gefällt sie mir gar nicht. Die möchte ich mal nicht zur Frau haben. Und das hätte mir Almansor dann gleich sagen können. Da hätte ich bei dieser Begleiterin abgewinkt.«

Das schwarze Pferd tauchte wieder auf, jetzt war es für längere Zeit zu sehen, also auch die im Sattel sitzende Gestalt.

Schwarze Locken flatterten.

»Nein, die Clarence ist's nicht! Die ist blond. Also die Leonore. Wie kommt die auf den Nachtschatten ihrer Schwester? Denn bei den Gäulen hört doch jede Geschwisterliebe auf. Die Leonore? Hm, die passte mir eigentlich noch weniger als die Clarence, auch ein ganz gutes, braves Mädel, aber noch mehr — sapristi, das ist ja die Lady Lionel!«

Jetzt hatte er sie erkannt.

Er war nur, seitdem er sie gesehen, immer den blauen Kirgisenmantel mit dem weißen Hermelinbesatz gewohnt gewesen, während die hier offenbar in gelbes Leder gekleidet war. Denn ein anderer gelber Stoff hält bei solchen Ritten in derartigen Wildnissen nicht lange.

»Jawohl, es ist die Lady. Ja, wie kommt denn die aber auf Clarences Nachtschatten?«

Sie kam herangebraust, um selbst die Erklärung zu bringen, zuletzt über einen hohen Stein setzend, dann ihren schwarzen Hengst parierend, der so klapperdürr war und auch sonst so elend aussah und doch so wundervoll gesprungen war.

Ja, es war die Lady Lionel in Jagdhemd und kurzem, geteiltem Lederrock, natürlich nach Männerart im Sattel sitzend, die russischen Stulpenstiefel mit den mächtigen Radsporen bis zum letzten Ende zeigend, am Sattelknopf die zierliche, elegante Doppelbüchse, dieselbe, die sie vorgestern in dem Coupé zurückgelassen hatte, wovon der Prinz freilich nichts wusste, sodass er sich jetzt auch nicht den Kopf darüber zu zerbrechen brauchte, wie sie zu der Waffe wieder gekommen war.

»Guten Morgen, kaiserlichkönigliche Hoheit!«

»Guten Morgen, Mylady. Müssen Sie mich denn schon wieder verspotten?«

»Schon wieder? Habe ich es denn überhaupt schon einmal getan?«

»Gestern Abend.«

»Ach, weil Sie das kleine Männchen nicht einholen konnten? Ja, was der aber auch lief, hätte man das dem zugetraut? Wo reiten Sie hin?«

»Ich mache einen Morgenspazierritt.«

»Ich auch. Darf ich Sie begleiten?«

»Das soll ich Ihnen wohl eventuell abschlagen?«, lachte der Prinz.

»Mir gegenüber dürften Sie das ruhig, wenn Sie allein sein wollten.«

»Das weiß ich, deshalb eben habe ich das erst gesagt.«

Sie setzten ihren Ritt nebeneinander in gemäßigtem Gange fort. Die Lady musterte den Schimmel ihres Nachbars bis sie in ein helles Lachen ausbrach.

»Ihr Gaul hat ja gar keinen Schwanz!«

»Den hat Silberwolke auf der Seefahrt von Amerika nach Ägypten verloren, wahrscheinlich wirklich durch Seekrankheit, und der Pinsel will nicht wieder wachsen, da sind die letzten Haare auch gleich noch abgeschnitten worden. Wie kommen Sie zu Nachtschatten, zu dem Rappen der Miss Clarence, wenn ich fragen darf? Die lässt doch sonst niemand anders ihren Gaul besteigen.«

»Sie hat ihn mir geschenkt.«

»Ist doch nicht möglich!«

»Zweifeln Sie an meiner Wahrheitsliebe? Sehe ich aus wie eine Pferdediebin?«

»Das nicht, aber —«

»Sie dürfen recht wohl zweifeln. Ich lüge oft genug und Pferdemausen ist mein Lieblingssport. Aber in diesem Falle spreche ich einmal die Wahrheit. Miss Clarence hat mir ihren Gaul geschenkt und ihre Schwester, die Miss Leonore, mir ihr ledernes Jagdkostüm. Weshalb? Weil bei mir eine halbe Stunde genügte, um die beiden Cowgirls um den Finger zu wickeln. Und ich brauche das beste Pferd, das sich mit Ihrer Silberwolke messen kann, weil ich Sie bis nach Kalkutta und noch weiter begleiten will.«

Der Schimmel des Prinzen machte vor Überraschung seines Herrn einen kleinen Seitensprung.

»Wie, Sie wissen —?«

»Ich weiß es.«

»Dann kann Ihnen das nur Almansor selbst gesagt haben!«

»Er hat es.«

»Wann?«

»Vorhin, als ich Sie abreiten sah.«

»Er hat es Ihnen von selbst gesagt?«

»Nein. Als Sie fortritten, Sie noch in Sicht waren, begegnete ich dem Araber, fragte ihn, wohin Sie ritten, bestand darauf, dass er mir die ungeschminkte Wahrheit sagen sollte, schaute ihm fest ins Auge und — er gestand, dass wir Sie nicht so bald wiedersehen würden. Vielleicht ginge es um die ganze Erde.«

»Ja, aber wie kamen Sie dazu —?«

»Nehmen Sie an, dass es eine Ahnung war, die mich plötzlich veranlasste, den Araber so scharf vorzunehmen. Da bin ich gleich ins Luftschiff gegangen, um mir ein Pferd zu leihen, freilich für einen Ritt um die Erde ein kurioses Ding — ich bat die Miss Clarence um das ihre, es ist doch das beste, wie ich gleich erkannt hatte — sie hat es mir gleich geschenkt. Also nehmen Sie mich mit?«

»Almansor hat mir streng befohlen, den Ritt allein zu machen.«

»Aber mir hat er nichts zu befehlen, und ich kann doch hinreiten, wohin ich will. Nehmen Sie mich mit?«

»Und wenn ich Sie nun zurückweise?«

»Das tun Sie niemals.«

»Weshalb denn nicht?«, lächelte der Prinz, freilich etwas unsicher.

»Weil Sie mich gar zu gern haben.«

Schnell wandte der Prinz das Gesicht, das sich plötzlich noch dunkler gefärbt hatte, nach der Seite, um angelegentlich eine maurische Moschee zu betrachten.

»Ich kann doch eine Dame nicht zurückweisen, die sich mir als Begleiterin anbietet«, sagte er dann.

»Na also!«, lachte die übermütige Kosakin. »Und wenn Sie mich auch zurückwiesen — mich werden Sie nicht wieder los. Die Medea hat ihren Jason verloren, nun sollen Sie der Nachfolger sein. Doch sprechen wir ernsthaft. Wohin werden Sie eigentlich geschickt? Was sollen Sie?«

»Ich weiß es nicht. Mehr kann ich nicht sagen. Heute Nacht ließ mich Almansor plötzlich wecken, ich musste zu ihm kommen, wir hatten eine stundenlange Unterredung zusammen, aber es wurde dabei nichts weiter gesprochen als über meine Stellung in der geheimen Verbrüderung. Es wurde mir feierlichst offenbart, dass ich nun meine Lehrlingszeit hinter mir habe. Um aber als richtiges Mitglied in der Gesellschaft aufgenommen zu werden, hätte ich erst mein Gesellenstück zu machen. Dieses besteht darin, dass ich mich dorthin begebe, wohin mich Almansor dirigiert. Um die ganze Erde? Davon hat er mir nichts gesagt. Nicht einmal, dass es bis nach Kalkutta geht. Nur die Richtung nach dorthin soll ich nehmen. Jeden Augenblick kann ich eine ganz andere Order bekommen. Und dass ich nun allen diesen mir zugehenden Ordern gehorche, das soll meine Gesellenprüfung sein. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Gut. Darf ich sonst noch neugierige Fragen stellen?«

»Sie dürfen es, und ich darf antworten. Almansor selbst hat mir heute Nacht gesagt, dass ich vor Ihnen keine Geheimnisse zu haben brauche.«

»Sie sollen unterwegs Aufgaben lösen?«

»Jedenfalls. Aber gesagt ist mir davon nichts worden. Ich habe einfach zu gehorchen.«

»Werden Sie vielleicht von dem unsichtbaren Luftschiffe immer begleitet?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe faktisch keine Ahnung.«

»Stehen Sie mit Almansor immer in Verbindung?«

»Ja. Aber ganz einseitig. Nur er kann mit mir sprechen, sonst könnte er mir ja keine Orders zugehen lassen. Aber ich kann ihn nicht anrufen. Ich habe mein drahtloses Telefon abgeben müssen. Jetzt habe ich nur noch ein Ding auf dem Leibe, durch welches er mir durch kleine elektrische Schläge seine Mitteilungen zumorst, es ist sogar ohne dieses kleine Instrument möglich, dann fühle ich die Zuckungen in den Augen und auch an den Trommelfellen. Aber, wie gesagt, ich selbst kann ihn nicht mehr anrufen. Also er wird auch nie etwas fragen, ich kann nicht antworten. Ich habe einfach seine Befehle in Empfang zu nehmen und zu gehorchen, oder ich falle durchs Gesellenexamen.«

»Demnach muss Almansor Sie doch immer beobachten können.«

»Jedenfalls.«

»Wie macht er das?«

»Das werde ich erst später erfahren, sogar erst als Meister. Sie sind doch übrigens selbst eingeweiht.«

»Nicht in solchen Kram. Ich habe es ja damals abgelehnt, in die Verbindung zu treten. Na, da wollen wir mal sehen. Also Sie nehmen mich doch mit?«

»Na und ob, Mylady!«, lachte jetzt der Prinz.

»Sehen Sie da den krummen Baum?«, rief die Lady, wieder einmal gleich auf ein ganz anderes Thema springend. »Sieht der nicht gerade aus wie ein Mops, der schön macht? Sagen Sie mal, Prinz, haben Sie sich eigentlich heute früh schon gewaschen? Sie haben einen mächtigen schwarzen Strich über dem linken Auge.«

So plauderten sie harmlos wie die Kinder zusammen und die Mauern der Ruinenstadt schallten wider von ihrem fröhlichen Lachen.

Die Straße, eine ganz richtige Straße, an beiden Seiten von Gebäuden besetzt, nur dass alles von üppiger Vegetation überwuchert war, endete blind. Ein gewaltiger Steinbau im altindischen Stile versperrte den Weg.

»Wo geht's nun nach Kalkutta, links oder rechts?«, sagte die Lady.

»So genau kommt das nicht drauf an, wenn wir nur die Richtung ungefähr einhalten.«

»Die Richtung? Ungefähr? Bitte sehr. Das ist aber ein gewaltiger Unterschied. Rechts kommen wir nach dem malaiischen Archipel hinunter, links nach Sibirien hinauf.«

»So war das nicht gemeint«, lachte der Prinz. »Wir werden doch eine Seitenstraße finden, die wieder die alte Richtung —«

Er brach plötzlich ab.

»Das war die erste Order gewesen!«, sagte er einige Sekunden später.

»Sie haben elektrische Prügel bekommen?«

»Ja.«

»Und die Order lautete?«

»Immer direkt geradeaus!«

»Ja, wie denn da?«

»Das frage ich auch.«

So weit das Auge die Mauer verfolgen konnte, war nichts von einem Tor oder einer Tür zu sehen, unten nicht einmal etwas von einem Fenster, durch das man hätte klettern können. Die Fenster fingen erst oben in der ersten oder gar in der zweiten Etage an.

»Da hinauf können wir aber nicht mit unseren Pferden springen, nicht einmal zu Fuß hinaufklettern. Ihr Berater hätte auch sagen sollen, wie wir durch die Mauern kommen sollen.«

»Vielleicht eine geheime Tür?«

»Na, dann hätte er doch auch gleich —«

»Halt, da ist ja eine Treppe«

So war es. Solche außen angebrachte Treppen sind in Indien auch noch in der modernen Architektonik beliebt, man findet sie aber auch in Spanien und Italien, sogar an Kirchtürmen.

Es war eine sehr breite Treppe, die von unten an bis hinauf zu der Fensteretage führte, dann auch noch weiter ging.

Aber es hatte wirklich ein sehr scharfes Auge dazu gehört, dieses hatte erst nach solch einer Möglichkeit suchen müssen, um sie zu sehen.

Denn so gut gefugt die mächtigen Quadersteine auch waren, es hatten doch überall Gräser und Schlingpflanzen Fuß gefasst, alles war grün überwuchert, auch diese Treppe, und diese klebte nun nicht so draußen an der Mauer, sondern war eingelassen, was man aber auch nicht gleich merkte, weil überhaupt der ganze nischenartige Stil in Betracht kam.

»Geradeaus führt diese Treppe aber auch nicht, wir müssen doch erst nach rechts«, meinte die Lady.

»Na, so wörtlich ist das nicht zu nehmen. Wir probieren jedenfalls, ob wir die Treppe hinaufreiten können. Beliebt es meinem Kontrolleur nicht, dann kann er ja einen Gegenbefehl geben.«

Der Prinz lenkte sein Pferd an den Absatz, ja, es war möglich, wenigstens hier unten, so weit es sich übersehen ließ, und der Gaul begann die Klettertour, vorsichtig jede bewachsene Stelle untersuchend, ehe er den Huf fest aufsetzte, aber auch sehr geschickt und mutig. Die Lady folgte nach.

»Treppen bin ich schon mehrmals hinaufgeritten«, sagte sie, »aber immer nur im Innern der Häuser, oder auch freie Verandatreppen, Passgänge und dergleichen. Aber so draußen an einem Hause in die Höhe zu reiten, das ist mir etwas Neues.«

Der Prinz hatte die Höhe der Fenster erreicht, konnte auch gar nicht weiter, denn von hier an fehlten in der Treppe zu viele Stufen. Die sehr starken Wurzeln eines nur niedrigen Busches hatten sie ausgehoben und hinab geworfen.

Das Fenster, an welchem die Treppe mündete, war mehr als Tür zu bezeichnen, es ging bis an die letzte Stufe und bis an den Boden des Saales, in den man blickte.

Ein herrlicher Saal mit künstlerischer Architektonik, jede Säule ein Kunstwerk der Bildhauerei, mit reichem Mosaik, aber natürlich alles total zerfallen oder doch verwildert. Staub und Pflanzenreste hatten schon eine dicke Humusschicht gebildet, auf der alles gedieh, was nicht der direkten Sonnenstrahlen bedarf und sich mit Feuchtigkeit der Atmosphäre begnügt.

Der Prinz lenkte sein Pferd hinein.

»O ja, es macht Spaß«, sagte er zu seiner Begleiterin, »so im Saale der zweiten Etage eines tausendjährigen orientalischen Palastes spazieren zu reiten, besonders wenn man unter dem Schutze eines Menschen steht, der schon mehr götterähnliche Eigenschaften besitzt, der einen aus der Ferne beobachten und vielleicht auch ein bisschen in der Zukunft lesen kann und der infolgedessen seinen erklärten Schützling vor jeder drohenden Gefahr rechtzeitig warnen kann. Denn wenn dies nicht der Fall wäre, dann würde ich hier nicht so gemütlich spazieren reiten.«

»Was würden Sie denn sonst tun?«

»Dann würde ich absteigen, meinen Gaul an einen sicheren Ort bringen und erst einmal diese Räumlichkeiten, die ich weiter passieren will, auskundschaften, und zwar meistenteils auf dem Bauche rutschend, jede Deckung benutzend, den Revolver entsichert und das Gewehr im Anschlag.«

»Ja, weshalb denn das?«

»Mylady haben sich wohl nicht viel mit Spuren beschäftigt?«

»Ich muss gestehen, dass ich in der Fährtenkunde keine große Erfahrung besitze, so viel ich auch gejagt und direkt in Wildnissen gelebt habe. Ich habe keinen Lehrmeister gehabt und bin eine zu sorglose Natur, um jede Fährte als Gefahr zu betrachten und unter die Lupe zu nehmen.«

»So sehen Sie hier also nicht die Spuren?«

Nein, die Lady sah nichts auf dem Boden, der mit Moos und kurzem Unkraut und spärlichem Grase besonderer Art bedeckt war, entweder ganz dunkel oder sehr hell, niemals ein richtiges Grün, obgleich der Prinz direkt auf einige Stellen deutete.

»Was für Spuren?«

»Von Menschen mit nackten Füßen, und außerdem drei große Tiger, Königstiger, die hin und her gelaufen sind — und dort die Spur noch eines vierten, bedeutend kleiner, aber kein Panther oder dergleichen, sondern immer noch ein echter Königstiger, nur ein sehr junger noch.«

Die Kosakin hatte zunächst nur für eines Interesse, an eine Gefahr dachte sie dabei wohl gar nicht.

»Gut, ich glaube, dass Sie die Spuren sehen. Ich glaube, dass Sie die Spur eines jungen Königstigers von der eines Panthers unterscheiden können. Aber weshalb sprechen Sie so bestimmt von drei großen Tigern? Es braucht doch nur einer gewesen zu sein, der hier hin und her gelaufen ist?«

»Nein, es waren ihrer drei, wozu also noch der junge hinzukommt. Die drei ersten ähneln sich wohl ihrer Größe nach, aber sonst sind sie von einander total verschieden. Wodurch? Da müssen wir absteigen, Sie müssen niederknien und das Gesicht dicht an den Boden legen, besser gleich sich selbst hinlegen, und ich muss Ihnen einen Vortrag halten, der, wenn er genau sein soll, mehrere Stunden währen dürfte.«

»Lassen wir das jetzt. Ich glaube Ihnen und staune nur, dass Sie dies alles aus mehr als zwei Meter Höhe vom Pferde herab so genau beurteilen können, während ich, die ich doch auch sehr, sehr gute Augen habe, davon absolut gar nichts sehe. Können Sie auch erkennen, wie alt diese Spuren sind?«

»Ich glaube ganz bestimmt versichern zu können, dass sie erst heute Nacht entstanden sind. Die frischesten, meine ich. Es sind auch noch alte vorhanden, massenhaft, die aber für mich nicht mehr in Betracht kommen. Sowohl die Menschen wie die letzten vier Tiger sind erst heute Nacht hier herumgelaufen, teils gemächlich, teils mit wilden Sätzen, ja, sie können sich vielleicht erst vor uns zurückgezogen haben. Dort ist ein halbgeknickter Grashalm, der sich eben erst wieder aufzurichten sucht.«

»So, also Tiger!«, sagte die Lady in ganz besonderem Tone. »Und hier soll es gar keine Tiger mehr geben. Dann wären es also Baigas, Zauberer der Mundas, die sich und ihre besonderen Günstlinge oder zahlungskräftige Kunden in Tiger verwandeln können.«

»So heißt es.«

»Sagt Ihnen Ihr Ratgeber nichts dazu?«

»Ja, soeben tut er es.«

»Und was sagt er?«

»Einen Augenblick — Sie können doch Deutsch sprechen?«

»Serrr gut, noch guter als mein Muttersprak, Russik, wo sich schon wieder verlernt etwas.«

»Also wir sollen Deutsch sprechen«, lächelte der Prinz.

Denn es war zu komisch über die roten Lippen gekommen. Weiter aber wollen wir dieses ihr Deutsch nicht wiedergeben.

»Können wir machen. Weshalb?«

»Aus demselben Grunde, weshalb ich Sie jetzt bitte, nicht nach oben an die Wände und an die Decke zu blicken.«

»Wir werden wohl beobachtet?«

»Jawohl, von Tigeraugen, und einige Tigerohren könnten auch Englisch verstehen.«

»Parbleu! Das wird ja interessant!«

»Warten Sie — Almansor spricht noch immer mit mir. Doch nein, Sie brauchen nicht zu warten, können dabei immer ruhig mit mir sprechen, ich kann dazwischen auch antworten, muss mich nur erst wieder etwas an diese eigentümliche Telegrafiererei gewöhnen. Können Sie gut schießen?«

»Und treffen. Ich glaube doch.«

»Wir sollen nach allem schießen, was ein buntes Fell hat. Ebenso aber auch nichts verschonen, was hier drin auf zwei Beinen herumläuft. Denn es sind nur Mundas von der schlimmsten Sorte, die sich gegenwärtig zwischen diesen Mauern aufhalten.«

»Ich werde es tun, obgleich ich noch auf keinen Menschen geschossen habe.«

»Dann sind Sie beneidenswert, dann möchte ich fast, dass Sie nicht in die Lage —«

»Ich war nur einmal genötigt, drei Kerls zu erdolchen, die mich überfallen hatten.«

»So. Na, dann können Sie es ja auch einmal mit der Schießerei probieren. Also es wird hier voraussichtlich eine Tigerjagd arrangiert werden. Vorläufig aber sind es gegen zwei Dutzend Tiger, die sich jetzt verabreden, wie sie am besten uns Menschlein jagen können.«

»Tun sie?«

»Der Kriegsrat ist sogar schon beendet, die Sache tritt in Aktion. Jetzt schleichen schon — aber blicken Sie sich nicht überrascht um! — zwei Tiger draußen auf dem Sims entlang, um uns den Rückweg nach der Treppe abzuschneiden, um sich auf uns zu stürzen, wenn wir heraustreten würden.«

»Das alles sagt Ihnen Ihr Berater?«

»Nicht alles. Nur dass draußen auf dem Sims zwei Tiger schleichen, jetzt liegen sie bereits auf der Treppe vor dem Fenster auf der Lauer, und was beabsichtigen sie denn sonst anderes, als uns zu überfallen.«

»Das muss sehr hübsch sein, solch einen hell- und fernsehenden Berater zu haben.«

»O ja, es ist ganz hübsch.«

»Hat er das schon öfters mit Ihnen getan?«

»Ja, schon manchmal. So gründlich allerdings noch nie.«

So unterhielten sich die beiden ganz gemütlich, während sie ihre Pferde langsam in dem Saale herumlaufen ließen, um sich alles mit Muße zu betrachten. Nur dass sie sich möglichst zusammenhielten.

»Mich wundert nur, dass die Pferde so ruhig bleiben, obgleich sie die Raubtiere doch sicher wittern. Auch nicht das geringste Zittern.«

»Weil es indianische Pferde sind, welche den teilnahmslosen Gleichmut ihrer roten Herren besitzen. Freilich nicht von Natur aus. Und das ist Ihnen auch weniger durch geeignete Erziehung als vielmehr durch Knüppel und Peitsche beigebracht worden.«

»Das ist erstaunlich!«

»Nicht erstaunlicher als dass Miss Clarence Ihnen ihren Nachtschatten geschenkt hat. Dass sich Leutnant Schwarzbach von seiner Silberwolke trennte, damit ich das beste Pferd bekam, ist schon eher begreiflich, aber für mich kaum, wie das Cowgirl Ihnen ihren Nachtschatten auch nur leihen konnte. Halt — es tippt! Wir sollen nicht so plaudern, als wenn wir in einem Parkettsalon wären, sondern etwas mehr Interesse für die Tigerspuren zeigen.«

»Das sagt Almansor? Hören Sie, da lasse ich mir gar keine Vorschriften machen!«

»Wir sollen die Spur des kleinen Tigers verfolgen.«

»Ich sehe ja gar keine, was soll ich denn da Interesse für solches Viehzeug haben.«

»Bitte, fügen Sie sich mir«, erklang es ernst. »Es sind mehr als zwei Dutzend Tiger, die um uns herumschleichen, und nicht nur Tiger mit natürlichem Blutdurst, sondern — nun, Sie wissen! Auf jeden Fall aber wird das nicht nur eine gefährliche Tigerjagd, sondern wahrscheinlich ein furchtbarer Kampf Auge in Auge, vielleicht Brust an Brust! Ich bin dazu bestimmt worden, diesen Teufelsbrüdern hier für immer den Garaus zu machen. Zwar versichert mir Almansor, dass wir beide unverletzt aus diesem Kampfe hervorgehen werden, und dieser Mann kann wirklich in die Zukunft blicken, er hat mir Beweise genug davon gegeben —«

»Aber jedes Mal, wenn es wirklich auf etwas Wichtiges ankommt, weiß er gar nischt«, fiel ihm die Kosakin sorglos wie immer ins Wort. »Habe ich mit diesem Araber alles selbst schon erlebt! Sie vielleicht auch?«

Der Prinz blieb die Antwort schuldig. Aber er dachte lebhaft an die Falltür in der Höhle, vor der ihn der Araber, wenn er wirklich in die Zukunft blicken konnte, auch hätte warnen können, wonach ihm nicht das Ohr abgeschnitten worden wäre, das nur durch die Hilfe eines geschickten Arztes glücklich wieder angewachsen war.

»Nein, nein«, fuhr die Lady in ihrer Weise fort, »meinetwegen brauchen Sie keine Sorge zu haben, ich kann unmöglich zwischen Tigerklauen und Tigerzähnen enden.«

»Woher wissen Sie das so genau?«

»Weil mir zwei Zigeunerinnen, die ihre Sache aus dem ff verstanden — und zwar ganz unabhängig voneinander, nicht etwa, dass sie sich verabredet hatten, das war ganz ausgeschlossen — prophezeit haben, dass ich einmal gehenkt werde.«

»Gehenkt?«

»Jawohl. An einem regelrechten Galgen aufgebaumelt.«

»Weshalb denn das?«

»Weil ich's verdient haben soll. Und ich hätte es überhaupt schon längst verdient wegen Pferdediebstahls. Bisher bin ich nur noch nicht erwischt worden. Einmal aber werde ich doch geklappt, und dann komme ich an einen Galgen.«

»Und wann soll das geschehen?«, musste der Prinz schon wieder lachen.

»Zu meinem 25. Lebensjahre. Genauer konnten die braunen Hexen, noch viel brauner als ich, den Termin aus meinen Handlinien nicht bestimmen.«

»Und wie lange haben Sie bis dahin noch Zeit?«

Die Kosakin, deren Pferd gerade stand, ließ die Zügel los, um die Hände in die Hüften zu stemmen, und dementsprechend blickte sie den Prinzen an und sprach sie.

»Ei, sieh mal einer an! Also auf diese Weise wollen Sie mein Alter erfahren! Wissen Sie nicht, dass sich das nicht schickt, bei einer Dame? Fragen Sie mal so 'ne lausige Tungusin nach ihrem Alter, wie die Ihnen die Hundeknute um die Ohren haut!«

Sie gab ihre herausfordernde Stellung auf und ergriff wieder die Zügel.

»Aber auch deshalb brauchen Sie sich meinetwegen keine Sorge zu machen. Ja, an den Galgen komme ich allerdings. Es wird gar nicht mehr so lange dauern. Aber es wird mich weiter nicht genieren. Ich werde von Freundeshand noch rechtzeitig abgeschnitten und wieder zum Leben gebracht. Ich sterbe dereinst in einem seidenen Bette auf Eiderdaunen, im Alter von 95 Jahren 5 Monaten 18 Tagen und 14 Stunden, also doch wohl an Altersschwäche, aber sonst bei voller Gesundheit, schlafe ein, und wenn ich aufwache, bin ich tot. So haben mir die beiden Zigeunerinnen prophezeit und ich glaube ihnen, oder verdammt sollen sie sein, wenn's nicht eintrifft. Aber Prinz, ich denke, Sie müssen Ihrem Almansor unbedingt gehorchen?«

»Muss ich auch«, lachte jener noch ob des Gehörten.

»Na, was sitzen Sie denn da auf Ihrem Klepper und lachen? Sie sollen doch die Spur des kleinen Tigerkindes verfolgen.«

Der Prinz tat es. Sie führte durch eine Tür in einen anderen Saal, in dem es ebenso aussah, und ging weiter nach einer Tür.

Da aber, als sie diesen Saal eben erst betreten hatten, erscholl ein jämmerliches Schreien. Man musste sofort an ein kleines Kind denken.

»Wir werden gelockt, werden auch gleich eine Blutspur finden, der wir folgen sollen.«

»Woher wissen Sie das?«

»Almansor sagt es mir natürlich.«

»Natürlich? Gut, ich werde nicht mehr so fragen. Ein Tiger ahmt dieses Schreien eines kleinen Menschenkindes nach?«

»Ja.«

»Kann er denn das?«

»Gewiss. Bringen Sie einmal einem gefangenen Tiger oder Löwen einen schnellen Schmerz bei, ich habe es gehört, als solch einem Tiere der Schwanz eingeklemmt wurde, um ihn zu operieren — ob es nicht Töne wie ein kleines Menschenkind hervorbringen kann. Und was die natürlichen Tiere im Affekt tun, können diese menschlichen Tiere auch mit Willkür erzeugen.«

»Solche in Tiere verwandelte Menschen können auch sprechen?«

»O nein, das können sie nicht. Sie verstehen wohl die menschliche Sprache, so weit sie ihnen bekannt ist, aber sprechen können sie nicht mit menschlichen Lauten. Dazu gehört doch ein ganz anderer Kehlkopf. So wenig wie sie ihre Pranken als Hände gebrauchen können.«

»Haben Sie sich schon einmal in ein Tier verwandelt?«

»Nein.«

»Wohl Ihnen. Das kann nämlich zur Manie werden. Mister Wesley ist ein unglückseliger Beweis dafür gewesen. Auch nicht in einen anderen Menschen?«

»Auch nicht. Ich hatte Lust dazu, aber Almansor erlaubte es nicht.«

»Da ist er sehr klug. Und eine Blutspur wird erzeugt?«

»Ein Tiger schleift eine frisch blutende Beute, einen Ichneumon, um uns durch diese Spur in einen Hinterhalt zu locken. So sagt Almansor.«

»Also so menschenverständig können diese Tiger doch handeln?«

»Gewiss.«

»Das muss sehr interessant sein, sie dabei zu beobachten.«

»Vorläufig beobachten sie uns. Mylady, es ist etwas gefährlich, Sie als Begleiterin zu haben.«

»Wieso?«

»Sie haben immer für alles andere Interesse, nur nicht für das, worauf es ankommt. Wir müssen uns jetzt doch darüber unterhalten, was da so schreit.«

»Na ja, das können wir doch auch tun, die Tiger verstehen doch kein Deutsch.«

»Aber wir dürfen doch nicht so gemütlich plaudern!«

»Himmeldonnerwetter, heiliges Kanonenrohr, da schreit doch ein Baby!«, fing das übermütige Weib jetzt aber zu schreien an.

Das klägliche Kindergewimmer hatte denn auch immerfortgewährt, und die beiden waren ja nicht stehen geblieben, sondern während ihrer Unterhaltung durch den Saal geritten, und dass sie das nicht im Galopp taten, sondern mit der nötigen Vorsicht, das war ganz selbstverständlich, und so blickten sie auch immer um sich, nach den verschiedenen Türen.

Also wer sie beobachtete, der kam gar nicht auf den Gedanken, dass sie sich in heiterem oder doch sorglosem Tone immer über andere Sachen unterhielten, wenn er nur kein Deutsch verstand.

»Von dort kommt es!«

Sie lenkten ihre Pferde dem weiten Tore zu, aus dem das Schreien und Wimmern direkt herauskam, auch für das ungeübteste Ohr bemerkbar, und da sahen sie auch schon gleich hinter der Tür die blutige Spur beginnen.

Wer wäre ihr nicht gefolgt, um sich von der Ursache des jämmerlichen Schreiens zu überzeugen, wenn er nur den nötigen Mut dazu besaß.

»Allein würde ich es nicht tun, das ist ja ganz schauerlich!«, gestand die Lady mit lobenswerter Offenheit, obgleich die doch sicher das Herz auf dem rechten Fleck hatte.

Wieder ein Saal, und dann führte die blutige Spur in einen Treppengang, das heißt auch eine weite Halle, von der aus überall breite, steinerne Treppen auf und ab gingen, wie das Treppenhaus in einem großen öffentlichen Gebäude.

»Da, da, da, da, da —!«

Mit mächtigen Sätzen sauste ein Tiger solch eine Treppe herab, vielleicht 20 Schritte von den beiden entfernt, sich jedenfalls der Gefahr bewusst, wollte sich schleunigst ihren Blicken entziehen.

Die Lady hatte ihn zufällig zuerst gesehen, den Prinzen erst auf das ganz geräuschlos springende Tier aufmerksam gemacht.

Gleichzeitig riss sie ihre Büchse hoch, aber so schnell sie auch war, der erst später hinsehende Prinz war doch noch schneller, im Nu krachte sein Doppelstutzen, noch ehe er den Kolben an die Wange gebracht, und der Tiger konnte die Stufen nicht mehr halten, überschlug sich, ein furchtbares Brüllen, und einen letzten Seitensprung machend, stürzte er neben der Treppe, die nicht einmal durch eine Geländerstange geschützt war, in die Tiefe hinab.


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»Getroffen, tödlich getroffen, die Kugel ging gerade ins linke Ohr und muss das Gehirn durchbohrt haben!«, staunte die Kosakin mehr als dass sie es jubelte. »Sie wollen doch nicht etwa behaupten, dass Sie das immer so können, einen fliehenden Tiger oder sonst ein Tier im vollen Sprunge mitten durch den Kopf zu schießen, seitwärts etwa gar direkt ins Ohr hinein, ohne dass sie auch nur das Gewehr an die Wange bringen, nur durch einen Hüftenschuss!«

»Und Sie wollen doch nicht etwa behaupten, dass Sie es gesehen hätten, dass die Kugel gerade ins Ohr drang?«, versetzte der Prinz.

Es sollte jetzt deswegen zu keiner weiteren Aussprache kommen.

Die blutige Spur führte die Treppe hinab.

Aber der Prinz folgte nicht weiter, riss plötzlich sein Pferd zurück.

»Halt, wieder eine Depesche! Wenn wir diese Treppe hinabreiten, sind wir verloren! Der Hinterhalt ist bereits gestellt. Aus einer Überdachung an versteckter Stelle kauern und lauern acht Tiger, um sich auf uns zu stürzen, wenn wir darunter hinwegreiten!«

»Gleich acht? Das ist ein bisschen viel. Solch eine Gemeinschaft kennen die Tiger im Freien sonst nicht. Und was schlägt Ihr famoser Berater sonst vor?«

»Hier diese Treppe hinauf! Schnell, schnell, in vollem Galopp mit drei Kreuzen, es ist eine Gelegenheit, ein Tiger befindet sich in einer Sackgasse —«

Und schon hatte er seine Silberwolke herumgerissen und jagte eine andere Treppe hinauf, Nachtschatten mit der Kosakin folgte.

Man sieht ja im Zirkus oft genug, wie Reiter nicht nur Rampen, sondern auch richtige Treppen in vollem Galopp hinaufjagen.

Als ob solche Reiterkunststückchen nicht in Wirklichkeit ausgeführt würden, für einen praktischen Zweck, wenn es einmal drauf ankommt!

Als im Jahre 1896 bei einem Manöver im sächsischen Elbgelände Leutnant Graf von Arnim, um als Depeschenreiter einer Patrouille zu entgehen, mit seinem Pferde die Rutschbahn eines Steinbruches hinabschusselte, direkt in den Strom hinein, da erklärte dann Zirkusdirektor Busch bei Besichtigung dieser Stelle, dass er keinen Zirkusreiter in der Welt kenne, der das nachzumachen wage.

Also sie ritten die steinerne Treppe mit normalen Stufen mit drei Kreuzen hinauf, wie der Kavallerieausdruck, der Ausdruck für die höchste Galoppschnelligkeit, lautet.

Mit derselben Schnelligkeit jagte der Prinz weiter einen Korridor entlang.

»Achtung! Wir finden einen Tiger, der nicht weiter kann! Ich überlasse Ihnen den ersten Schuss!«

Er parierte sein Pferd dicht vor einer Tür, sprang ab, die Lady tat desgleichen, die Büchse schussfertig.

Es war ein kleinerer Raum, nur mit dieser einzigen Zugangstür, die Außenwand durch sehr viele Säulen unterbrochen. Also kein eigentliches Fenster, sondern man konnte die ganze Wand als ein einziges Fenster betrachten, in dem aber eine Säule neben der anderen stand, eine von Säulen verbarrikadierte Veranda, Loggia oder ein Balkon, altindische Architektonik.

Diese Säulen standen so dicht wie ein Gitterwerk nebeneinander, dass sich auch der mächtige Tiger nicht durchzwängen konnte, der sich in diesem Raume befand.

Was hätte wohl ein in der Freiheit überraschter Tiger, der keinen Ausgang mehr sah, weil in der schmalen und niedrigen Tür Menschen standen, getan?

Erst wäre er vielleicht doch noch einmal gegen die Zwischenräume des steinernen Gitters gesprungen, in der Hoffnung, sich durchzwängen zu können. Dann hätte er sich jedenfalls zum Sprunge geduckt, auf die Menschen los, die ihm den Weg versperrten.

Im Übrigen ist da schwer zu sagen, wie sich ein Tiger oder ein anderes Raubtier benimmt, wenn es sich in die Enge getrieben sieht, ohne schon verwundet zu sein. Auch diese Tiere haben doch ganz verschiedenen Charakter, in jeder Art, darauf kommt es an.

Jedenfalls aber hätte sich ein fremder Tiger nicht so benommen, wie es dieser hier tat.

Sofort, als er die beiden Menschen erblickte, mit auf ihn gerichteten Gewehren, den Kolben an der Wange, machte er »kedu«.

Wenn bei uns ein Hund wohlerzogen und gebildet sein soll, dann muss er mindestens Pfötchen geben und »schön machen« können. Was natürlich Geschmackssache eines jeden Hundebesitzers ist, aber im Allgemeinen ist es doch so. Mit Pfotegeben und Schönmachen fängt die Hundebildung erst an. Das sind aber doch nun nicht etwa Bewegungen, die im Hundecharakter tief eingewurzelt sind, und daher ist das auch in aller Welt verschieden. Der Chinese, äußerlich so wohlerzogen und überaus höflich, dezent, im Grunde genommen aber durchaus zynisch, moralisch durch und durch faul, alles Obszöne heimlich liebend, verlangt von seinem »gebildeten« Hunde, dass er auf Kommando dem fremden Besuche das Hinterteil zukehrt. Und der Inder lässt seinen Hund »kedu« machen. Er muss zunächst auf den Hinterfüßen stehen bleiben, sich auf die Vorderpfoten niederlassen, diese kreuzweise zusammenlegend, und noch den Kopf darauf. Dann, wenn weiter kommandiert wird, muss er auch noch die Hinterfüße einknicken und diese zuletzt auch noch weit von sich strecken. Also wie es der Inder selbst vor vornehmen Personen macht. Er verbeugt sich stehend mit gekreuzten Armen, um noch mehr Ehrfurcht zu bezeugen, kniet er nieder, und vor ganz hohen Personen legt er sich dabei platt an den Boden nieder.

Und was für Hunde gilt, das sucht man doch auch anderen vierfüßigen Tieren beizubringen, die dressurfähig sind.

Und so tat es denn auch dieser gewaltige Königstiger hier, als er in der engen Tür die beiden Menschen mit angeschlagenen Gewehren stehen und keinen weiteren Ausgang sah.

Er wusste, dass er nicht mehr verschwinden konnte, und loszuspringen, dazu war er zu feig — da probierte er es mit »kedu«.

Er duckte sich vorn, kreuzte die Vorderpfoten und legte den Kopf darauf, dann knickte er auf den Hinterfüßen zusammen und streckte diese zuletzt ganz aus.

So lag er da und blickte ergebungsvoll wie ein armer Sünder zu den beiden Menschen empor.

»Tut mir nichts, ich tu Euch auch nichts. Ich bin nicht etwa ein wilder Tiger, wie Ihr denkt — o nein, ich bin ein ganz zahmer, ich kann doch »kedu« machen, ich gehöre in eine Menagerie, geh hier nur ein bisschen spazieren.«

Das sagte der Tiger natürlich nicht, aber man glaubte es doch geradezu aus dem gutmütigen Murren herauszuhören, das er dabei vernehmen ließ, und noch mehr lag es in dem Armesünderblick, wie er zu den beiden hinaufschielte.

Aber diese Verstellung nützte ihm nichts.

»Keine Schonung!«, rief der Prinz. »Es ist ein menschliches Ungeheuer, selbst ein Menschenfresser!«

Da sah der Tiger mit menschlichem Gehör ein, dass er sich doch lieber gleich zum Sprunge hätte ducken sollen, er suchte es schnell nachzuholen — da aber krachte schon die elegante Doppelbüchse[4], und der beste Ansatz hätte dem Tiger nichts genützt, er hätte nicht mehr abspringen können, auch der Prinz brauchte nicht in Sicherung zu stehen.

[4] Im Original steht »Madenbüchse«.

Die Spitzkugel war ihm durch das rechte Auge ins Gehirn gedrungen, nur ein stöhnender Laut, und das gelb und schwarz gestreifte Ungeheuer blieb liegen, wie es lag, wälzte sich nicht erst auf die Seite.

»Bleiben Sie auf dem Korridor, ich möchte den Mageninhalt untersuchen, Almansor selbst fordert mich dazu auf.«

Die vor den Pferden stehende Lady blickte nicht mehr in den Raum. Dort am Ende des Korridors, wo die Sonne auf dem Boden lag, huschten Schatten hin und her, keine Gestalten, sondern wirklich nur Schatten, die aber doch erst von beweglichen Körpern herrühren mussten, das fesselte ihre ganze Aufmerksamkeit, dabei aber musste sie doch auch die andere Seite des Korridors im Auge behalten, und so hatte sie keine Zeit, dem Prinzen bei seiner Beschäftigung zuzusehen.

Bald trat auch er heraus, steckte das schon wieder gesäuberte Jagdmesser zurück in die Scheide.

»Die Überreste eines kleinen Kindes«, sagte er lakonisch.

»Grässlich!«

»Mylady, ich muss mit Ihnen sprechen.«

»Los!«

»Während ich das Tier aufschnitt, hat mit mir immer Almansor gesprochen. Sie wissen doch, dass ich diesem Manne unbedingten Gehorsam gelobt habe — für eine gewisse Zeit, über deren Länge ich nicht sprechen darf.«

»Na ja. Und?«

»Wenn Sie meine Begleiterin bleiben wollen, muss ich Ihnen doch noch Verschiedenes mitteilen, auch Ihnen ein Gelübde abnehmen, und dazu habe ich, damit Sie mich recht verstehen, eine längere Einleitung zu machen. Almansor befiehlt mir direkt, dies zu tun, ohne mir die Worte vorzuschreiben.«

»Schießen Sie los!«

»Der Spanier hat ein Sprichwort, ein etwas langes: Ein Nagel kann ein Hufeisen retten; ein Hufeisen kann ein Pferd retten; ein Pferd kann einen Mann retten, und dieser Mann kann vielleicht ein Königreich, kann sein Vaterland retten! Kennen Sie dieses spanische Sprichwort?«

»Nein.«

»Wissen Sie, was es bedeutet?«

»Na ja, natürlich. Kleine Ursachen, große Wirkungen. Gewiss, wenn man es so nimmt, die Reihe der Ursachen so verfolgt, dann hat man es einem einzigen Nagel zu verdanken, dass das Vaterland gerettet worden ist. Freilich kommt dann auch noch derjenige Mann in Betracht, der diesen Hufnagel erst geschmiedet hat, und zuvor der Eisenpuddler, der aus dem Erz das Eisen gewonnen hat, und zuvor noch der Bergmann, der das Erz aus der Erde geholt hat — und so geht das immer weiter.«

»Gewiss. Wenn man diese Reihe nur zurückverfolgen könnte!«

»Ja, wenn man das nur könnte!«

»Almansor versichert, dass er es kann. Glauben Sie das?«

»Hm. Dass dieser Araber mehr kann, als mancher Mensch, weiß ich ja, aber —«

»Aber ich habe ihm zu gehorchen, und das Beste ist daher für mich, wenn ich unbedingt an seine Seher- und Prophetengabe glaube, damit ich mich nicht selbst immer einen Narren schelten muss.«

»Nun gut. Und?«

»Gesetzt nun den Fall, wir fingen hier einen ausgemachten Bösewicht, so ungefähr wie den Señor Lazare oder solch einen menschenfressenden Munda, wir hätten die Pflicht, dieses Ungeheuer sofort zu töten, da gibt mir Almansor den Befehl: Halt, verschone den Mann, befreie ihn aus seiner verzweifelten Lage — in der er sich auch noch befinden soll — pflege ihn, wenn er verwundet ist, und dann lass ihn laufen, gib ihm auch noch alles, was er zu seinem weiteren Fortkommen bedarf, gib ihm Dein Gewehr und Dein eigenes Pferd — würden Sie dasselbe tun, wenn ich Sie dazu auffordere?«

»Hm. Das ist allerdings viel verlangt.«

»Ja. Aber bedenken Sie, dass die christliche Religion oder vielmehr Philosophie immer wieder betont, wie alles Böse schließlich dem Guten dienen muss, dasselbe sagt die indische, auch die stoische Philosophie. Nehmen Sie an — um irgend ein Beispiel herauszugreifen — ein Mann will über eine Brücke eine Schlucht passieren, dieser Mann ist vom Schicksal dazu bestimmt, dereinst für die ganze Menschheit noch zum größten Segen zu werden — aber die Brücke ist nicht intakt, ist von Bubenhand angesägt — dieser Mann würde mit der Brücke in die Tiefe stürzen und zerschmettern — da kommt zufällig jener Bösewicht, den wir laufen gelassen haben, er passiert zuerst diese Brücke, stürzt hinab — nun ist jener Mann gerettet. Es wäre nicht der Fall gewesen, er hätte seinen Tod gefunden, all sein Segen für die ganze Menschheit wäre verloren gegangen, wenn wir damals nicht den Bösewicht hätten laufen lassen, wenn ich ihm nicht mein Pferd gegeben hätte. Verstehen Sie?«

»Wohl verstehe ich, wenn man aber so etwas nur voraussehen könnte!«

»Wenn Sie so sprechen, müsste ich ja wieder von vorn anfangen. Ich glaube eben, dass jener Almansor auf diese Weise in die Zukunft schauen kann.«

»Wohlan, so werde auch ich Ihnen gehorchen!«

»Auch wenn ich die widersinnigsten und sinnlosesten Befehle erhalte?«

»Ich gehorche Ihnen — da ist doch weiter gar nichts hinzuzufügen. Wenn ich nur bei Ihnen bleiben kann «

Es war ein sehr freies Bekenntnis, und wie nun die schwarzen Augen dabei den Prinzen anblickten!

»Wenn Sie nur bei mir bleiben können?«, wiederholte dieser. »Ja, wenn aber nun Almansor fordert, dass ich Sie oder Sie mich verlassen sollen?«

»Sie verlassen?«, stutzte die Lady. »Ja, dann hat die ganze Gehorcherei doch gar keinen Zweck!«

»O doch. Es kann ja nur eine zeitweilige Trennung sein.«

»Wer garantiert hierfür?«

»Ich — indem ich jenem Manne vertraue! Ich will es Ihnen sagen, Almansor hat es mir soeben offenbart und er erlaubt mir, es auch Ihnen mitzuteilen. Wir beide sind vom Schicksal dazu bestimmt, diesen Señor Lazare, wohl das größte Ungeheuer, das von der Sonne beschienen wird, wenn auch seine Scheußlichkeit noch gar nicht so zum Vorschein gekommen sein mag, für immer unschädlich zu machen.

Aber das kann nur auf großen Umwegen geschehen und nicht eher, als bis er den guten Zweck, den er durch seine Bosheit unbeabsichtigt liefern muss, erfüllt hat.

Zeitweilige Trennungen zwischen uns beiden sind manchmal nötig, aber wir werden immer wieder vereint, bis wir zusammen unser Ziel erreicht haben werden.«

»Wenn es so ist, so will ich Ihnen auch hierin gehorchen.«

»Geben Sie mir Ihre Hand darauf, Mylady.«

Sie wurde gegeben und die des Prinzen dermaßen gedrückt, dass mancher kräftige Mann den Druck nicht ausgehalten hätte, ohne wenigstens laut aufzuschreien.

Der Prinz schnallte seinen Patronengürtel, den er noch besonders über der Brust trug, ab und hing ihn wie seine Büchse über den Sattelknopf.

»Tun Sie desgleichen, Mylady.«

»Weshalb?«

»Diese Frage nach dem Warum müssen Sie sich abgewöhnen. Ich weiß es doch selbst nicht. Almansor hat es mir befohlen, ohne mir eine Erklärung zu geben. Sie haben auch noch einen Revolver bei sich?«

»Ja.«

»Den dürfen Sie behalten, so wie ich den meinen, geladen und noch weiter zwölf Patronen, überhaupt nur das Gewehr mit reichlicher Munition soll bei den Pferden zurückbleiben.«

»Bei den Pferden zurück?«

»Ja. Nehmen Sie Abschied von Ihrem Nachtschatten, den Sie eben erst geschenkt bekommen haben. Wir sollen unsere Weiterreise zu Fuß fortsetzen.

Mylady, fragen Sie nicht nach dem Warum! Es ist mir ein Rätsel, ein sinnloser Befehl, wie Ihnen. Erst gibt mir Almansor Befehl, ich soll mir das beste Pferd aussuchen, ich bitte den Leutnant Schwarzbach um seine Silberwolke, er vertraut sie mir an.

Und ich bin noch keine Stunde geritten, so befiehlt mir Almansor, ich soll dieses Tier, welches trotz seines unschönen Aussehens kaum seinesgleichen hat, einfach den Tigern ausliefern.

Denn um etwas anderes handelt es sich nicht.

Ich darf das Pferd nicht erst wieder hinaus ins Freie bringen und ihm mit einigen gewissen Worten den Rücken klopfen, worauf es schnellstens zu seinem Herrn zurückeilen würde, das heißt dorthin, wo es ihn zuletzt verlassen hatte, und natürlich findet es den Weg, es würde durch seine feine Witterung auch jedem Raubtiere zu entgehen wissen — nein, ich muss es hier in diesem Schlosse freigeben und auch das nicht einmal, ich muss ihm sogar befehlen, hier stehen zu bleiben und auf mich zu warten, obgleich ich weiß, dass ich gar nicht wieder hierher zurückkommen werde. Und Sie sollen desgleichen tun.«

Starr blickte die Kosakin den Sprecher an.

»Das ist ein starkes Stückchen!«

»Ich werde gehorchen, und Sie haben mir gegenüber das Gleiche versprochen.«

»Ich gehorche, aber die Tiere sind verloren, wenn wir sie hier stehen lassen. An beiden Enden des Korridors schleichen Tiger.«

,Ich weiß es.«

»Wo gehen wir hin?«

»Zu Fuß weiter, wohin, ist mir noch unbekannt, ich werde geführt, bekomme aber wie immer erst im letzten Augenblick die nötige Order.«

»Werden die Pferde denn auch hier ruhig stehen bleiben, wenn Tiger in diesen Korridor selbst kommen?«

»Nein, dann fliehen sie natürlich nach der anderen Seite, oder es wären künstliche Automaten, keine richtigen Tiere.«

»Sie laufen auf der anderen Seite den Tigern in den Rachen.«

»Ich kann es nicht ändern.«

»Und ich habe nichts mehr dagegen einzuwenden, so wenig ich dies alles auch begreifen kann.«

Mit diesen letzten Worten hatte auch die Lady ihre Doppelbüchse und eine Patronentasche an den Sattelknopf gehängt.

Der Prinz sprach zu beiden Pferden einige fremdartige Worte, wahrscheinlich ein indianischer Dialekt, klopfte ihren Hals und Rücken, und dann wandte er sich nach rechts mit einem Gesicht, das ausdrückte, wie trübselig ihm zumute war, und nicht viel anders folgte ihm die Lady.

»Hier herein!«

Der Korridor hatte noch andere Türen, und die zweitnächste betrat der Prinz.

Es war ein nicht sehr großer Raum, in dem sich an der einen Wand ein viereckiges Loch von Meterhöhe befand, dessen Zweck einem Sachkundigen sehr bald klar werden musste.

Hier in dieser Etage und speziell auf diesem Korridor des Schlosses waren die Wirtschaftsräume gewesen, das hier war eine Räucherkammer mit einem Räucherschornstein.

Denn die alten Inder haben das Fleisch natürlich auch schon geräuchert, welche Kunst sogar jedes wilde Volk versteht. Buddha starb, wie historische Zeitgenossen berichten, anders als wie die Legende, an einer Portion geräucherten Schweinefleisches, das verdorben gewesen war.

»Diesen Rauchfang sollen wir erklimmen.«

Der Prinz ging mit gutem Beispiele voran. Der Schornstein war zum Ersteigen eingerichtet, eine kupferne Leiter führte hinauf. Von Ruß war nichts mehr zu bemerken, freilich auch nichts mehr von Schinken oder Würsten und dergleichen.

Übrigens hatte dieser Räucherschornstein eine besondere Einrichtung. Das hier war nur der Feuerungskanal. Vielleicht sechs Meter ging es hoch, dann erst kam die eigentliche Räucherkammer, ein ziemlich weiter Raum, der auch ein kleines Fenster hatte, das mit einer starken Kupferplatte, in Angeln drehbar, dicht verschlossen werden konnte, ebenso wie dieser Feuerungskanal und weiter oben der Abzug durch eine Klappe.

Und was für ein Anblick bot sich den beiden nun hier dar!

An den Wänden waren überall starke Haken eingeschlagen und an diesen hing wirklich Fleisch.

Aber keine Schinken und Würste, auch keine ganzen Schweine oder andere Tiere, sondern Menschen!

Mehr schwarze als dunkelbraune Menschen, obgleich Inder, Mundas, 26 Stück, und zwar 17 Männer, 6 Weiber, alte und junge, und 3 halbwüchsige Kinder.

Sie hingen sämtlich so, dass ihre Füße noch den Boden berührten. Mit ausgestreckten Füßen wäre es ihnen überhaupt gar nicht möglich gewesen, den Tod zu finden, und zwar den Erstickungstod, denn ein Brechen der Halswirbel konnte hierbei nicht so leicht eintreten. Sie hatten sich zweifellos selbst aufgehängt, indem sie die Beine angezogen hatten und durch die Last ihres Körpers hatte sich die um den Hals gelegte Schlinge zusammengezogen, die Luftröhre zusammenschnürend.

Ist denn so etwas möglich?

Nun, man liest doch oft genug, dass sich jemand an der Türklinke oder sonst wo in kniender Stellung erhängt hat. Also muss es doch wohl gehen.

Und wozu hatten sie das getan?

Lieber Leser, der Mensch ist nur zu sehr zu schrecklichen Abirrungen geneigt.

Man denke nur an die Zeit der Hexenprozesse.

Zum Glück bekommt der Laie hierüber nur ganz Oberflächliches zu hören.

Die Bücher, welche das ganze Hexenwesen behandeln und die geführten Prozesse mit Aktenstücken belegen, sind meist in lateinischer Sprache geschrieben, sie sind sehr selten, die Bibliotheken geben sie nur an Fachleute heraus, die beweisen können, dass sie sich ernstlich und wissenschaftlich damit beschäftigen, und dasselbe gilt natürlich für alle Übersetzungen. Veröffentlicht dürfte so etwas auch gar nicht mehr werden.

Denn es ist Schreckliches, Entsetzliches, was man da zu lesen bekommt! Und nicht etwa nur, wie die »vermeintlichen« Hexen gefoltert worden sind. Denn diesem ganzen Wesen lag schon etwas Reelles zu Grunde, wenn die Weiber auch nicht wirklich auf dem Besen durch die Luft nach dem Blocksberge geritten sind. Das war alles nur imaginär, visionär. Aber das musste doch erst durch besondere Mittel erzeugt werden! Und nun durch was für Mittel! Diese Rezepte, die man da liest, um die Salben zu kochen! Schrecklich!

Und dieses Hexenwesen ist doch nicht etwa die einzige Art der Verirrungen des menschlichen Geistes gewesen, wodurch er, sachlich ausgedrückt, die Grenze des normalen Bewusstseinzustandes durchbrechen will, um sich übersinnliche Genüsse zu verschaffen, was auch erlaubter ist, wenn er sich dazu nur nicht unerlaubter, frevelhafter Mittel bedient. Alle unsere Kunst, Theater, Musik usw. läuft schließlich auf ganz dasselbe hinaus, bis zur Ekstase des asketischen Schwärmers.

Im 16. Jahrhundert, soweit es sich zurückverfolgen lässt, entstand zuerst in Paris in vornehmen Kreisen die Manie, sich selbst aufzuhängen oder sich von einem anderen aufhängen zu lassen, der aufpassen musste, dass er den Hängenden rechtzeitig abschnitt, ehe der Erstickungstod wirklich eintrat.

Noch am Anfang des 19. Jahrhunderts ist in London ein großer Prozess deswegen geführt worden, in einem aristokratischen Klub war dieser Unfug auch noch betrieben worden.

Weshalb hängten die sich auf?

Ja, die haben es schon gewusst, weshalb sie es taten!

Auch hierüber existiert eine ganze wissenschaftliche Literatur, die dieses Thema behandelt, aber der Name, den diese Art von Manie erhalten hat, soll lieber gar nicht erst genannt werden.

Auch diese Manie ist wieder erloschen.

Aber glaubt man denn etwa, so etwas gebe es heute nicht mehr?

In der Geschichte der Menschheit wie in der ganzen Welt ändert sich überhaupt gar nichts!

Für gewöhnliche Augen ist das nur nicht erkennbar.

Die Laufbahn aller Geschehnisse und Geistesanschauungen besteht in einer Spirale, der Sprungfeder einer Matratze vergleichbar, auf dieser läuft die ganze Weltgeschichte ständig herum, immer etwas höher kommend, aber immer doch dieselben Zonen passieren müssend.

Heute gibt es im großen Ganzen kein Hexenwesen mehr, es wird keine solche Sudelkocherei mehr betrieben, von einzelnen Fällen in Hinterrussland abgesehen, heute gibt es keine Klubs mehr, deren Mitglieder sich gegenseitig aufhängen, um die Freuden des siebenten Paradieses durchzukosten, aber — heute gibt es dafür Opium und Morphium.

Und das ist nämlich ganz genau dasselbe!

Wir haben die Orientalen so gut wie unterjocht, es sind doch nur noch unsere Sklaven, die für uns arbeiten müssen, die wir bis aufs Blut aussaugen. Und die Orientalen haben sich mit dem Extrakt des Mohns gerächt, den sie uns schenkten!

Wieder hat die Geschichte in Paris, in Frankreich angefangen!

Die Berichte werden nur von oben unterdrückt, wie auch schon in französischen Offizierskreisen das Opiumrauchen um sich gegriffen hat.

Und dasselbe gilt für England.

Und ach, was mag auch in Deutschland für Opium geraucht und Morphium gespritzt werden! Ab und zu verirrt sich solch eine Mitteilung in die Öffentlichkeit — oder man tut zufällig einen Blick hinter die Kulissen — man mag es nicht glauben, man findet bei der großen Allgemeinheit auch keinen Glauben — und doch ist es so! Opium und Morphium spielen heute genau dieselbe Rolle wie früher die Hexensalben und die zeitweilige Strangulation — — —

Die 26 Menschen hingen an roten Stricken, an denen in Abständen kurze blaue Bänder befestigt waren, auf denen wieder mit roter Farbe seltsame Figuren gemalt waren, und in der Mitte des kreisrunden Raumes war eine Feuerstelle angebracht, auf der noch Holzkohlen glimmten, darüber hing ein Kessel mit einer noch schwach dampfenden Flüssigkeit, und herum lagen die verschiedensten, absonderlichsten Gegenstände.

Der ganze Apparat, den ein Medizinmann oder Hexenmeister zu seinem Hokuspokus braucht — mag diese Andeutung genügen, was es für absonderliche Gegenstände waren. Die Beschreibung eines jeden einzelnen würde viel zu weit führen.

Die blau angelaufene Zunge weit aus dem Munde heraus, die Augen hervorgequollen, die Gesichter ganz verzerrt — so hingen die 26 Menschen da, halb stehend, halb kniend, einen schrecklichen Anblick bietend.

Brauchte die Lady noch die Erklärung, welche der Prinz gab?

»Das sind die 26 Mundas, deren Seelen jetzt in den Körpern von Tigern stecken, die sich hier im Schlosse herumtreiben, schon die ganze Nacht auf Beute ausgegangen sind, auch Menschen überfallen, zerrissen und gefressen haben.«

Die Lady sagte nichts.

Es war eine Russin, eine Kosakin, eine Schamanin.

Kann es so etwas wirklich geben?

Für sie war es nichts Neues, höchstens die Art der — »Aufmachung«.

Ach, wenn man die alten Schriften liest, die sich mit so etwas befassen, die diese Vorgänge beglaubigenden Akten!

Weshalb kommt denn so etwas heute nicht mehr vor? Nicht »bei uns« muss man freilich hinzusetzen.

Professor Kiesewetter, erst vor einigen Jahren gestorben, wohl der gründlichste Forscher in der Geschichte des Okkultismus, spricht es aus. Allerdings schwer verständlich. Es ist eben ein Gelehrter, der spricht, er kann sich nicht anders ausdrücken. Für den aber, der sich hineinlebt, ist es auch ganz klipp und klar:

Die Geheimwissenschaften, Seite 715:

Dafür, dass die Theurgie nur das Mittel zum Zweck der auf intelligente kosmische Lebewesen einwirkenden telenergisch und umgekehrt telepathischen Tätigkeit des Menschengeistes ist, spricht der Umstand, dass der theurgische Ritus in der ältesten Zeit am einfachsten war und umso komplizierter wurde, je weniger eindrucksfähig die Natur des Menschen sich gestaltete. Deshalb gilt der jeweilige theurgische Ritus auch nur für die jeweilige Weltanschauung, und so würde z.B. heute wohl auch der komplizierteste theurgische Ritus nur in den seltensten Fällen von Wirkung sein, weil ein moderner Theurg nicht an die Wirkung der gebrauchten magischen Formen glaubt und auf so manches damals mit heiligem Grauen angestaunte Beiwerk mit verächtlichem Lächeln herabsehen würde.

Das ist es!

Das ist eine vollkommene Erklärung!

Es kommt allein auf den Glauben an!

Oder hätte etwa ein Edison einer Wachswalze Sprache verleihen und tote Bilder lebendig machen können, wenn er nicht den Glauben an solch eine Möglichkeit besessen hätte?

Und die deutschen Zeitungsausschnitte sind noch vorhanden, worin dieser amerikanische Humbug verhöhnt und verspottet wurde! Man solle doch unsere aufgeklärte Zeit mit solchen albernen Märchen verschonen!

So ist es! —

»Diese beiden haben wir bereits als Tiger getötet.«

Es war ein alter Mann und ein junges Weib, die sich von den anderen dadurch unterschieden, dass sie nicht die Zunge heraushängen, sondern Mund und Zähne, wie man deutlich sah, fest zusammengepresst hatten.

»Die sind für immer tot?«

»Ja.«

»Dann sollten sie aber als Gehenkte doch gerade die Zunge heraushängen.«

»Das geschieht nicht sofort, tritt erst nachträglich in. Im Übrigen weiß ich nur, dass diese anderen 24 Menschen noch leben oder sich doch in einem Zustand zwischen Tod und Leben befinden, jedenfalls aber als lebendige Tiger draußen herumschweifen. Und nun schnell, vielleicht dass wir noch unsere Pferde vor ihnen retten können! Folgen Sie meinem Beispiel!«

Er zog sein Jagdmesser und schnitt einen der roten Stricke nach dem anderen durch. Lady Lionel war ihm dabei behilflich.

Wie Säcke oder eben als leblose Massen fielen die Abgeschnittenen herab. Merkwürdig war die einzige Bewegung, die sie noch ausführten, dass sie die Zunge schnell zurückzogen und den Mund schlossen.

»Jetzt sind die tot?«

»Tot für immer. Durch das Durchschneiden der magischen Stricke ist der Zauber unterbrochen, ihnen zum Verderben. Gleichzeitig stürzen draußen die Tiger nieder, tot für immer. Fragen Sie mich nicht, wie das möglich ist, wie das kommt. Ich kann Ihnen nichts anderes sagen, als was mir Almansor soeben und teils schon vorhin gesagt hat. Wir haben die Erde von 26 Scheusalen befreit. Zuerst scheint Almansor nicht gewusst zu haben, dass wir hier die ganze Bande zusammenfinden, in ihren irdischen Leibern, denn erst sprach er von einem Massenkampfe. Er hat diesen Ort eben erst später gesehen und mich noch rechtzeitig hierher geführt.«

»Waren denn die Gehenkten ganz ohne Aufsicht? Ist kein lebendiger Mensch, vielleicht der leitende Hexenmeister, zurückgeblieben?«

»Ja, so war es, aber der Mann hat uns kommen hören und ist rechtzeitig geflohen, nach oben aufs Dach hinauf. Wir haben ihn nicht zu fürchten, versichert Almansor, sollen freilich auch nicht seine Verfolgung aufnehmen.«

»Dann wollen wir wieder nach unseren Pferden sehen.«

»Halt! Nein. Almansor befiehlt mir, ebenfalls den Weg nach oben aufs Dach zu nehmen, Sie möchten mir folgen.«

»Ich bin bereit. Sonst ist hier nichts weiter auszuführen?«

»Was sonst noch?«

»Etwa den Topf dort umstoßen, der ja, so viel ich von solchen Sachen weiß, eine schöne Nudelsuppe enthalten mag.«

»Almansor sagt mir nichts davon. Hinauf auf das Dach.«

Sie stiegen weiter die aus starkem Kupferdraht bestehende Leiter hinauf, welche frei durch den Raum von unten nach oben lief, in den oberen Schacht hinein, erreichten durch diesen Abzugskanal bald das flache Dach, mit reichlicher Vegetation bedeckt, schon mit mächtigen Bäumen.

Der Prinz sagte nicht mehr, ob er durch fremde Signale dirigiert wurde oder nicht, er führte und die Lady folgte, ohne noch zu fragen.

Sie tat es auch nicht, als der Prinz jetzt im Gehen seinen Revolver zog, nur dass sie auch ohne Aufforderung diesem Beispiele folgte.

Der Revolver in des Prinzen Hand krachte, und hinter einem gestürzten Baumstamme sprang ein nackter, schwarzer Mann empor, schlug die Arme hoch und brach wieder zusammen, um nicht wieder aufzustehen. Die Revolverkugel hatte seine Stirn durchbohrt.

»Wieder einen für immer unschädlich gemacht, der nur deshalb nicht als Tiger umherschweift, weil er keinen Tigerleib dazu hat!«

»So haben sie nur 26 solcher Leiber?«

»Ich weiß es nicht.«

Sie näherten sich langsam der verfallenen Balustrade, welche das flache Dach umsäumte, auf dem einst, vielleicht schon damals als Garten verwendet, indische Haremsschöne gelustwandelt hatten.

Da lauschte die Lady.

»Ist das nicht Hufschlag?«

»Ja, ich höre ihn auch, und zwar einen doppelten, von zwei Pferden, und — er kommt mir recht bekannt vor — Himmel, das sind doch unsere eigenen Pferde!«

Sie standen an der Balustrade und blickten hinab in die grünen Straßen der Ruinenstadt.

Zu sehen waren die Pferde nicht, der Prinz glaubte nur an dem Hufschlag, der vorhin auf hartem Boden geklappert hatte, übrigens mit unbeschlagenen Hufen, ihre eigenen Pferde herausgehört zu haben.

Jetzt hörte man wiederum den doppelten Hufschlag.

»Gewiss, das ist der Galopp von Nachtschatten und Silberwolke, jetzt kann ich mich nicht mehr täuschen!«

»Also sie haben sich selbst in Sicherheit gebracht, einen Ausweg gefunden!«

»Nein, nein, die sind nicht reiterlos. Nachtschatten wenigstens nicht, das höre ich sofort, der wird von festen Schenkeln gelenkt!«

»Was, das wollen Sie — da sind sie — und Sie haben recht —!«

Der Prinz erstarrte wie die Kosakin.

Dort durch die Straße jagten die beiden Pferde hin, aber nur das weiße war ledig, auf dem Rappen saß eine ebenso schwarze Männergestalt — aber kein Eingeborener, man sah auch die weiße Weste, so unsauber sie sonst auch sein mochte — Señor Lazare, immer noch in seinem schwarzen Frackanzug!

»Der Pater — Señor Lazare!«, riefen die beiden wie aus einem Munde.

Des Prinzen Hand mit dem Revolver hob sich — schnell senkte er sie wieder — die Entfernung war für einen Revolverschuss überhaupt viel zu groß, und er hatte auch bereits ein Signal bekommen.

Der Pater, den ledigen Schimmel am Zügel, hatte den Ruf gehört, er wandte sich im Sattel, sah die beiden dort oben stehen, erkannte sie, und hohnlachend schwang er in der anderen Hand des Prinzen Doppelbüchse.

Dann war er hinter einem Hause verschwunden, nur noch einmal hörte man ein höhnisches, meckerndes Lachen.

»Er hat unsere Pferde und Gewehre entführt!«, heulte Lady Lionel in wahrer Verzweiflung förmlich auf.

»Gut so, gut so, recht so!«

»Was, das nennen Sie —«

Sie brach ab.

Sie hatte den Prinzen angeblickt, und da musste sie wohl stutzen.

Der Prinz hatte plötzlich ein ganz anderes Gesicht bekommen, mit ganz seltsamen Augen blickte er in die Ferne, und in ebenso seltsamem Tone, wie man sehr wohl von einem Propheten erwartet, erklang es:

»Almansor, mein Berater, hat mir nichts zu melden.

Von allein kommt plötzlich etwas wie eine Vision über mich!

Mylady, wir hätten bald unsere Pferde und Gewehre verloren, so oder so, auf irgend eine Weise!

Ich weiß es bestimmt! Dieser Bösewicht aber ist vom Schicksal dazu bestimmt, uns vor diesem Verlust zu bewahren, unsere Pferde und Waffen und Munition in Sicherheit zu bringen, damit er sie später, wenn wir sie brauchen, wieder ausliefern kann!

Natürlich ohne seinen Willen.

So ist's, ich weiß es bestimmt!«

— • —

58. Kapitel
Die Riesengranate

Originalseiten 1406 — 1452

Schon seit zwei Stunden hatten die beiden die Ruinenstadt hinter sich, und der Prinz führte einen Weg, der zu Pferde überhaupt gar nicht zu benutzen war.

Es war ein alter Knüppelweg, der durch den Urwald ging, früher vielleicht einmal zwei Dörfer miteinander verbunden hatte.

Also man hatte hier einmal die gangbarsten Strecken ausgekundschaftet, vielleicht auch hinderliche Stämme gefällt und dann junge Stämme dicht nebeneinander gelegt, sodass dieser Weg auch von Reitern und den indischen Ochsenwagen mit ihren vollen Rädern hatte benützt werden können.

Aber das war früher einmal gewesen! Jetzt lagen diese Knüppel kreuz und quer. Ein Fußgänger konnte sie noch durch fortwährendes Klettern passieren, aber nimmermehr ein Pferd, kein Maultier, es hätte sich bei jedem Schritte den Fuß brechen können oder wäre mit dem Hufe festgeklemmt.

Und dennoch war dieser Weg das einzige Mittel, um in den Urwald zu dringen. Nebenher konnte man nicht etwa gehen. Man muss nur wissen, wie es in solch einem indischen Urwalde aussieht. Zumal hier noch alles Morast war.

Also der Prinz hätte gar nicht daran gedacht, diesen Weg zu Pferde einzuschlagen, freilich auch nicht zu Fuß.

Aber es war ja gar nicht sein eigener Wille, er wurde selbst erst von einem anderen geführt, und dieser hatte ihm befohlen, diesen Knüppelweg zu wählen, der gleich hinter den letzten Ruinen begonnen hatte.

»Nun bin ich bloß gespannt, wo uns diese grässliche Kletterei noch hinführt«, sagte die Lady nach einer halben Stunde.

»Ja, ich bin selber gespannt.«

»Almansor sagt Ihnen nichts?«

»Kein Wort.«

»Er sollte wenigstens sagen, wie lange dieses Vergnügen dauert.«

»Nur Mut, dort wird es schon licht! Das ist eine Landstraße.«

Ja, es war eine Landstraße, die sie bald erreichten, die den Knüppelweg kreuzte.

Sie sind ganz ausgezeichnet, die ostindischen Landstraßen! Angelegt worden sind sie natürlich von den einheimischen Fürsten, die doch auf jede Weise den Karawanenhandel zu fördern suchten, dazu hatten sie ja auch Sklaven genug, die sie nichts weiter als täglich zwei Hände voll Reis kosteten, und heute sorgen die Engländer dafür, dass diese Landstraßen in tadelloser Ordnung bleiben, wegen der Truppentransporte. Es sind Militärstraßen. Denn wenn wieder einmal ein Aufstand ausbricht, reißen die Eingeborenen doch zuerst die Schienenstränge der Eisenbahnen auf.

Außerdem aber werden diese durch ganz Indien kreuz und quer gehenden Landstraßen ja immer noch von zahlreichen Pilger- und Handelskarawanen benutzt. Und da ist es noch heute so wie vor Tausenden von Jahren: Jede Karawane hat die Pflicht, die von ihr begangene Straße selbst in Ordnung zu halten. Jedes Grashälmchen, dessen Wurzeln die Schotterung lockern könnte, muss ausgerissen werden! Jedes vom Regen gewaschene Löchelchen muss sorgsam mit Steinchen ausgefüllt werden, sogar zementiert, die Karawane ist verpflichtet, extra für diesen Zweck Wasser und Zement mit sich zu führen. Hinter jeder Karawane geht englische Gendarmerie her, für jeden Grashalm und jede Unebenheit hat die Karawane eine gewisse Strafe zu zahlen.

So kommt es, dass man von Bombay nach Kalkutta und auch sonst kreuz und quer durch ganz Vorderindien per Rad wie auf einer asphaltierten Bahn fahren kann. Zu raten ist es freilich niemandem. Da kommen noch andere Hindernisse in Betracht, ganz abgesehen von Raubtieren.

»Vorwärts, vorwärts, wir werden zur höchsten Eile gedrängt!«, rief der Prinz.

»Na, ich dächte, wir wären schon immer Hals über Kopf geklettert, schneller können wir doch gar nicht sein. Sie haben schon immer wie ein Wahnsinniger geführt.«

»Ja, eben weil wir schon immer alle unsere Kräfte aufboten, habe ich noch nichts davon gesagt, dass Almansor uns schon immer zur höchsten Eile gedrängt hat.«

»Was ist denn nur los, dass wir so eilen sollen?«

»Ich denke, das werden wir dort auf der Landstraße erfahren.«

Sie war erreicht.

»Ach je, ach je«, tat die Lady ganz kläglich, was aber im Widerspruch mit ihrem übermütigen Gesicht stand, »nun setzt sich der Knüppelweg auch noch auf der anderen Seite fort, nun geht die Geschichte weiter, und wie es nun dort drüben erst aussieht.«

»Nein, hier ist die Geschichte zu Ende. Hier sollen wir warten.«

»Auf was warten? Bis etwas käme und uns mitnähme?«

»Ich weiß es nicht. Halt, dort unten naht sich tatsächlich etwas!«

Wie eine weiße Linie zog sich die Landstraße schnurgerade durch den dunklen Urwald, so weit das Auge reichte.

Aber dort unten rechts tauchte ein schwarzer Punkt auf, der sich merklich schnell vergrößerte.

»Das ist ein Automobil!«, rief die Lady nach einiger Beobachtung. »Das Ding muss äußerst schnell fahren, das kann nur ein Automobil sein!«

»Ja, ich halte es auch dafür. Ich sehe auch schon die nachfolgende Staubwolke und — jetzt habe ich meine Order bekommen!«

»Was für eine?«

»Ah, das ist ja höchst interessant!«

»Ja, was denn nur?«

»Nun sage ich's gerade nicht, weil Sie so neugierig sind, nun sollen Sie bis zur Ausführung warten.«

»Ungeheuer! Na warten Sie, ich werde mich einmal revanchieren! Sollen wir das Auto vielleicht aufhalten, uns seiner bemächtigen, ausplündern?«

»Erraten!«

»Ach, machen Sie keine Scherze!«

»Sie werden es sehen. Meine Order lautet tatsächlich so.«

»Aufhalten?«

»Jawohl.«

»Ja, aber wie denn?«

»Das weiß ich selbst noch nicht.«

Mit außerordentlicher Schnelligkeit, wenigstens 60 Kilometer in der Stunde machend, sauste das Auto heran. Plötzlich aber mäßigte es seine Geschwindigkeit, immer mehr und mehr, bis es ganz langsam an den beiden vorüberfuhr.

Ein Automobil?

Ja, das war es.

Aber ein ganz außergewöhnlicher, seltsamer Typ.

Es sah gerade aus wie eine Granate, ungefähr sechs Meter lang, die auf vier Rädern ruhte, wozu noch ein fünftes unten in der Mitte kam.

Jawohl, ganz wie eine riesige, schwarze Granate, also vorn ganz spitz zulaufend und hinten zur Fläche abgeplattet, und einer Granate umso mehr gleichend, als das Ding ein geschlossenes Ganzes bildete, also ohne Fenster und dergleichen.

Nur dass diese Granate unten, wo sie auf den fünf Rädern ruhte, abgeplattet und seitwärts etwas eingedrückt war.

Im Übrigen durfte man dieses Automobil nicht gar zu seltsam finden.

Denn man befand sich in Indien.

Wir im alten Europa sehen in unseren Städten und auf unseren Landstraßen doch immer nur ein und dieselben Automobile, nur dadurch verschieden, ob sie zur Beförderung von Personen oder von Lasten dienen, und dann etwa noch gewöhnliche Automobildroschken, Rennautomobile und dergleichen.

Sonst ist es aber doch immer ein und derselbe Typ. Besonders auch die Räder mit den Pneumatiks sind immer ein und dieselben.

Wirklich merkwürdige Automobile aber sieht man in Amerika, Afrika, Australien, Indien. Ach, was da getüftelt, konstruiert, gebaut und probiert wird, um ein Fahrzeug zu schaffen, das für die Beschaffenheit der Gegend geeignet ist. Um mit ihm durch Wüsten oder doch über Sandstrecken fahren zu können, durch Busch und Urwald, um hinderliche Bäume gleich absägen oder absplittern zu können, durch Sümpfe und Gewässer.

Da kann man merkwürdige Automobilarten sehen und merkwürdige Räder.

Diese kolossale Granate hier war eigentlich gar nichts Neues. Auch nicht die vollen Räder, die keine Pneumatiks hatten.

Was will man denn im indischen oder in einem anderen Urwald, überhaupt in den Tropen, mit Pneumatiks, mit einem Luftschlauche? Da liegen manchmal die Dornen wie die Fußangeln massenhaft, da wäre bald keine Luft mehr drin.

Also die Riesengranate war immer langsamer und langsamer gefahren, bis sie wenige Schritte hinter den beiden stillstand.

Und ohne Weiteres sprang der Prinz hin und begann an der hinteren Fläche herumzutasten, dort wo bei der Granate der Zünder sitzt, wo hier aber absolut nichts zu sehen war.

»Wo, wo? Ich kann nichts fühlen —«

»Was suchen Sie?«

»Na, die Klinke, den Mechanismus, der die Tür öffnet — kommt etwas hinter uns?«

»Ja, ja, ich sehe eine neue Staubwolke, es ist ein anderes Automobil, das noch ganz anders heranrast!«

»Und ich kann hier nichts finden. Was treibt denn Almansor immer zur höchsten Eile an? Er soll doch lieber deutlicher erklären —«

Der Prinz suchte vergebens nach dem Mechanismus.

Und das Automobil raste heran, ein Rennautomobil, einen Schnellzug weit hinter sich lassend.

Jetzt sah man schon die Insassen, vier Personen, sie winkten und schrien und schwangen Gewehre, jetzt jagte es in voller Fahrt heran, dass man einen Zusammenstoß befürchten musste.

Da stand es plötzlich, mit wenigen Metern gebremst, zwei Männer sprangen heraus, der eine in indischem Kostüm, der andere im weißen Tropenanzug, sie durchrannten die letzten Schritte zu Fuß, auf die Riesengranate zu. In diesem Augenblick klappte in der kreisrunden oder doch ovalen Hinterwand eine viereckige Tür auf, gleichzeitig klappten zwei Fußtritte herab.

»Schnell hinein, schnell hinein!«, rief der Prinz, schob oder warf sogar die Lady mit einem Griff ins Innere, sprang nach, drehte sich um und hielt den beiden, die in voller Karriere angerannt kamen, den Revolver entgegen.


Illustration

»Schnell, schnell hinein!«, rief der Prinz und schob die Lady
mit raschem Griff in das Innere des sonderbaren Automobils.


»Dieses Automobil gehört mir! Wer es zu betreten oder auch nur anzurühren wagt, ist des Todes!«

Also der eine war ein Inder, in bunte, kostbare Seide gekleidet, aber nicht in lange Gewänder, sondern die engen, anliegenden Beinkleider tragend mit den bunten Schnabelschuhen, an dem Turban funkelte eine prachtvolle Agraffe, ebenso mit Edelsteinen ausgelegt waren die Griffe der Dolche und Pistolen im Gürtel — ein älterer Mann, das schwarzbärtige Gesicht mit schon einigen grauen Haaren durchaus nicht sympathisch, unbändiger Stolz und wilde Grausamkeit prägte sich darin aus, und jetzt kam noch die Wut der Enttäuschung hinzu.

Der andere war unverkennbar ein Engländer, noch jung, das aristokratische Gesicht verriet eine eiserne Willenskraft, sogleich aber auch eine versteckte Brutalität, die vor nichts zurückschreckte.

Vor dem mit solchen Worten vorgehaltenen Revolver freilich prallte er wie sein indischer Begleiter zurück.

»Das ist unser Automobil!«

»Das ist nicht wahr.«

»Herr, wer sind Sie, wie können Sie wagen —«

»Wer ich bin, geht Sie nichts an, ich will auch nicht wissen, wer Sie sind —«

»Ich bin der Maharadscha von Nepal!«, rief der herkulische Inder.

»Sehr angenehm, Majestät, aber wir sind hier in Bengalen.«

»Das ist mein Automobil, es ist mir führerlos durchgebrannt!«

»Dass es führerlos durchgebrannt ist, mag stimmen. aber nicht, dass es Ihnen gehört. Es ist ein herrenloses Automobil, ich weiß es, und wer es zuerst betritt und zu behaupten versteht, dem gehört es, und ich habe es zuerst betreten und behaupte es, es ist mein Eigentum.«

»Bei Kali und Shiva, Du Hund sollst —«

In seiner Wut achtete der Inder nicht den auf ihn angeschlagenen Revolver, er riss eine Pistole aus dem Gürtel, die sich aber ebenfalls als eine sechsschüssige Waffe erwies, die Inder müssen nur, wie die meisten Orientalen, wie schon einmal ausführlich erwähnt, die Erfindungen der verhassten Europäer in ihren alten Sachen nachahmen.

Er kam nicht dazu, die Pistole auch nur zu heben.

Des Prinzen Revolver krachte, und verdutzt starrte der Inder auf seine Hand, in der er keine Pistole mehr hielt, die lag dort mit beschädigtem Lauf am Straßenrand, während er an seiner Hand eine blutige Schmarre hatte. Gleichzeitig fasste der Prinz einen Handgriff und warf die Tür zu.

»So!«, sagte er gelassen. »Nur einen Beweis wollte ich geben, dass wir nicht mit uns spaßen lassen und dass mir auch kein Maharadscha imponieren kann. Jetzt sind wir in Sicherheit, Almansor sagt es mir und ich glaube es ihm, die dort draußen können uns hier drin gar nichts wollen.«

Erst jetzt blickte er sich um. Vorläufig hatte er noch nicht gewusst, ob er sich in einem nackten Raume oder in einer komfortabel eingerichteten Kutsche befand.

Es war ein Zimmerchen von zwei Meter Länge und derselben Breite, an den Längsseiten rotgepolsterte Bänke, unten voll, sodass sie also sicher einen Inhalt hatten, denn hier wurde zweifellos äußerst mit jedem Kubikzoll Raum gespart, und so gab es noch andere Möbel und Vorrichtungen, denen man gleich ansah, dass sie verwandlungsfähig waren, man musste nur erst die nötigen Handgriffe ausprobieren.

Das galt vor allen Dingen auch von der Decke, die so niedrig war, dass ein zwei Meter hoher Mann fast mit dem Kopfe anstieß, da aber die Granate drei Meter hoch war, wenn auch in runder Form, so musste auch dort oben sich noch etwas Besonderes befinden. Vielleicht die Maschinerie.

Und außerdem waren dort oben Ventilräder und Hebelgriffe angebracht, was auch von der Scheidewand galt.

Für Licht sorgte eine elektrische Glühlampe, schon brennend, sonst hätten sich die beiden ja im Finstern befunden.

Der Prinz öffnete die Tür in der Scheidewand, offenbar aus einem Metall, wie das ganze Automobil.

Wieder ein ebenso großes Zimmerchen mit ganz genau derselben Einrichtung.

Nun aber müsste noch ein dritter Raum kommen, der freilich sehr wenig Platz bieten konnte, denn hier hatte die Granate ja ihre Spitze.

In diesem Raume, in dem sich ein Mann kaum umdrehen konnte, vermutete der Prinz die Steuervorrichtung.

Aber dem war nicht so.

Das Käfterchen[5], erst mit normaler Höhe und Breite beginnend und dann nach hinten oder eigentlich nach vorn, also spitz zulaufend, enthielt Handwerkszeug der verschiedensten Art, Äxte und Beile und Sägen und dergleichen, sogar ein gewaltiger Schmiedehammer und ein Amboss waren vorhanden, und außerdem Gewehre und andere Schusswaffen verschiedener Systeme, und es war erstaunlich, was dieses kleine Käfterchen alles enthielt, so geschickt war alles an den Wänden geordnet oder sonst wie »seefest« aufgebaut, kein Kubikzoll Raum ging verloren, ohne dass man doch erst hätte auspacken müssen, um einen Gegenstand hinten zu ergreifen.

[5] Mitteldeutsche Bezeichnung für ein Kämmerchen.

»Was hat es denn nun mit diesem Automobil für eine Bewandtnis?«, fragte die Lady, die ihm immer gefolgt war.

Der Prinz drehte sich ihr zu.

»Jetzt kann ich es Ihnen sagen. Während ich nämlich hier untersucht habe, hat Almansor mir nähere Erklärungen gegeben.

Denn vorher lautete die Order nur dahin, dass ich von dem stillhaltenden Automobil die hintere Tür öffnen sollte, mit Ihnen hineinspringen und es gegen alle Menschen, die darauf Anspruch machten, verteidigen sollte, eventuell mit blutiger Gewalt, denn hierzu hätte ich das Recht, als Generalbevollmächtigter seines eigentlichen Besitzers, Almansors.

Also, wie mir Almansor nun weiter mitteilt, es gehört ihm.

Das heißt der Verbrüderung, deren Altmeister er ist, in der auch ich als Mitglied aufgenommen werde, wenn ich meine Gesellenprüfung bestanden habe, wenigstens mit der Zensur ›genügend‹.

Es ist ein Panzerautomobil mit den vorzüglichsten Eigenschaften, nur dass es nicht durch die Luft fliegen kann.

Es ist hier in Indien gebaut worden, in einer geheimen Werkstatt, gar nicht weit von hier, ist dort auch immer stationiert gewesen, hat noch keine Fahrt gemacht.

Mit diesem Panzerautomobil ist nun ein Verrat begangen worden.

Ein Mitglied der geheimen Gesellschaft wurde abtrünnig, wollte diese fahrende Festung, winzig klein, aber einfach uneinnehmbar, dem Maharadscha Bahadur von Nepal in die Hände spielen, natürlich gegen einen entsprechenden Preis.

Den Maharadscha Bahadur haben Sie schon kennen gelernt, er hat sich selbst vorgestellt, und der andere war Mister Ogly, der Verräter.

Drei Kilometer von hier, dort, wo der Wald unseren Blicken einen stattlichen Hügelzug verdeckt, in dessen Felsenmassen sich die geheime Werkstatt befindet, erfolgte die Übergabe, oder sollte doch erfolgen.

Es war noch ein anderer Mann mitgekommen, der Chauffeur, und das war kein Verräter. Er sollte dann beseitigt werden.

Der merkte Lunte und gab im letzten Augenblick, als die ganze indische Gesellschaft einsteigen wollte, Volldampf, wenn das Automobil auch mit Elektrizität getrieben wird.

Die Riesengranate raste davon. Aber der Chauffeur hatte die hintere Tür noch nicht geschlossen, er stand noch an der offenen Tür, und durch den furchtbaren Ruck wurde er herausgeschleudert.

So ging die Granate ohne Führer davon.

Die Landstraße war schnurgerade und die Steuerung nur auf den ersten Anzug eingestellt.

Nach drei Kilometern Fahrt hatte das Automobil die gestattete Kraft verbraucht, es blieb stehen.

Der Maharadscha war mit einem Rennautomobil gekommen, wenn auch begleitet von einer großen Reiterkavalkade.

Natürlich wurde das Rennautomobil benutzt, um dem Flüchtling nachzusetzen.

Aber wir waren eher zur Stelle und nahmen von ihr Besitz, freilich auch erst im letzten Augenblick.

Mehr habe ich Ihnen nicht zu sagen, denn mehr hat mir Almansor vorläufig nicht mitgeteilt.«

»Und was sollen wir nun mit dieser Panzergranate anfangen?«, fragte die Lady.

»Wie ich gesagt habe, sie gegen jeden anderen Menschen behaupten, weiter hat mir Almansor nichts mitgeteilt, und auch jetzt schweigt der elektrische Apparat.

Nun, ist das Ding nicht sehr hübsch?«

»Vortrefflich, wir müssen es nur erst näher kennen lernen.«

»Das werden wir schon; denn wenn wir es behaupten sollen, können wir es doch nicht sobald wieder verlassen. Aber sagen Sie, Mylady — wenn wir nun jetzt noch unsere Pferde hätten?«

»Die könnten wir allerdings nicht mit hier hereinbringen, die hätten wir draußen lassen oder auf das Automobil verzichten müssen.«

»Also wären Sie denen dort draußen in die Hände gefallen. Ich glaube, Mylady, es war sehr gut, dass Señor Lazare uns die Pferde entführte, besonders weil ich der festen Überzeugung bin, dass er sie uns ohne seinen Willen wieder ausliefert, gerade wenn wir sie am besten brauchen können, und das wird wohl auch von unseren Gewehren gelten, denn sonst hätte der allwissende Almansor doch nicht zugelassen, dass der uns so bestahl.«

»Ja, ja, ich sehe ein, dass der Araber alles sehr gut arrangiert hat, wenn ich ihn auch nicht gerade für allwissend halte. Wie kommen wir nun fort? Wo ist die Steuerung? Dass wir nicht die falschen Hebel drehen und direkt in des Teufels Küche fahren, so etwa eine Sprengmine in Tätigkeit setzen und in die Luft fliegen.«

»Ohne Sorge, Mylady! Almansor hat mir, was ich noch verschwieg, auch noch gesagt, dass er mir den Befehl zum Fortfahren geben würde, vorläufig soll ich hier halten. In die Steuerung und in alles andere würde ich mich wohl schnell hineinfinden.

Und da hat er recht. Ich sehe hier nämlich dieselben Ventile und Hebel wie in dem Luftschiff, wenn auch ganz anders arrangiert. Aber sonst sind es dieselben, dieselben Farben mit denselben Buchstaben und Nummern.

Die Steuerung scheint von beiden Räumen aus möglich zu sein.

Also drehe ich hier einmal den blauen Hebel B 4.«

Er tat es, sofort entfärbten sich die schwarzen Wände, wurden vollkommen durchsichtig, soweit sie nicht mit Möbeln besetzt waren, was aber eben möglichst vermieden worden war.

»Genau wie auf dem Luftschiffe! Dort haben Sie ja diese Einrichtung erklärt bekommen.«

»Und wir können von draußen nicht gesehen werden?«

»So wenig wie in dem Luftschiffe, wenn dessen Wände durchsichtig gemacht werden.«

Draußen stand das Rennautomobil, der Maharadscha sprach mit dem Engländer eifrig.

»Man hört sie nicht sprechen, keinen einzigen Ton.«

»Weil der rote Hebel C 2 auf schallsicher steht.

Drehen wir ihn herum — jetzt wirken die Wände als Membranen, aber nur nach einer Seite — wir hören die draußen sprechen, aber die nicht uns hier drin, was jedoch auch noch abgeändert werden könnte.«

Die beiden redeten laut genug, aber in einem indischen Dialekt oder sonst in einer Sprache, die weder die Russin noch der Prinz verstanden.

»Dort taucht eine Staubwolke auf!«

»Das sind die berittenen Begleiter des Maharadschas.«

Schnell brauste die Kavalkade heran, gegen fünfzig Reiter auf herrlichen Rossen, samt und sonders riesige, herkulische Gestalten mit auffallend großen Vollbärten, schwarz oder braun, überaus sorgsam gepflegt. Männer mit schönen, edlen Zügen, aber immer etwas darin wie von furchtbarer Wildheit, die kühnen Augen auch beim heitersten Lachen immer drohend funkelnd, in bunte Seide gekleidet, aber darunter sah man blitzende Schuppenpanzer, bewaffnet mit Dolchen und Pistolen, mit krummem Schwert und kurzem Karabiner, und dann vor allen Dingen mit einer gewaltigen Lanze — — es waren Gorkhas, die Elite der Radschputen, auf deutsch »Königssöhne«, der Einwohner von Nepal, wo sich jeder Schuster einen Königssohn nennt, und das waren Gorkhas, Mitglieder der vornehmsten Kaste der Radschputen, Krieger, der Stolz und zugleich der Schmerz Englands, weil in ganz Vorderindien allein das feste Fürstentum Nepal sich noch nicht vor Englands Macht gebeugt und sich wohl auch niemals beugen wird, dank dieser Gorkhas, obgleich sie im englischindischen Heere Kriegsdienste tun, aber eben ganz freiwillig, gegen hohen Sold, worüber später noch mehr gesprochen werden soll.

Nur eines sei hier gleich noch bemerkt: Als im Jahre 1900 in Peking die europäischen Gesandtschaften von den Boxern belagert und fortwährend gestürmt wurden, als die verbündeten Truppen in dem furchtbaren neuntägigen Gewaltmarsch zu Hilfe eilten, die deutschen Marinetruppen immer an der Spitze, die aber zuletzt von englisch-indischen Reitern überholt wurden, die als erste durch eine unterirdische Wasserleitung in die Stadt drangen und die ersten Chinesen auf ihre Lanzen nahmen — das sind solche Gorkhas gewesen.

Am bewundernswertesten aber bleibt es, mit welcher Schnelligkeit England seine indische Elitegarde nach China gebracht hat.

Ferner möchte gleich noch erwähnt werden, nicht umsonst, dass diese Gorkhas sich ihre Waffen in Katmandu, der Hauptstadt von Nepal, selbst verfertigen, auch ihre ausgezeichneten Gewehre, mit den primitivsten Hilfsmitteln, und zwar aus einem Stahle, der an Güte noch den japanischen übertrifft, und ebenso stellen sie ein Schießpulver her, mit dessen Wirksamkeit sich keines der uns bekannten Arten messen kann. Aber keine einheimische Waffe und kein Pulver darf über die Grenzen Nepals gehen. Dieses Stahl- und Pulvergeheimnis ist auch so ein Schmerz Englands.

Jetzt kam der Engländer heran und donnerte mit der Faust gegen die Panzerplatten.

»Aufgemacht.«

»Fällt uns gar nicht ein.«

»Wer sind Sie?«

»Das geht Sie gar nichts an, Sie haben kein Recht, mich zu fragen.«

»Sie sind ein Straßenräuber!«

»Kein solcher Räuber wie Sie, Mister Ogly.«

»Sie kennen mich?«

»Zur Ehre gereicht mir diese Bekanntschaft nicht.«

»Dieses Automobil ist Eigentum des Maharadschas Bahadur von Nepal!«

»Das soll er erst einmal beweisen.«

»Der Maharadscha ist Gast des Gouverneurs von Bengalen und hat einen besonderen Schutzbrief des Vizekönigs!«

»Das ist mir ganz gleichgültig.«

»Sie wollen das Automobil nicht verlassen?«

»Nein doch.«

»Wie? Öffnen Sie wenigstens einmal die Tür, man kann Sie ja gar nicht verstehen.«

»Nein, auf diese plumpe List falle ich nicht herein«, lachte der Prinz, »die Tür bleibt geschlossen, Sie verstehen mich ebenso gut wie ich Sie.«

»Sie können ja die Steuerung gar nicht handhaben! Können nicht fortfahren.«

»Dann bleibe ich eben hier stehen.«

»Sie hätten nicht einmal die Tür öffnen können, die war nur angelehnt.«

»Jawohl, ganz richtig.«

»Sie kommen nicht von hier fort!«

»Das werden wir ja sehen.«

»Und wehe, wenn Sie eine Schießscharte zu öffnen wagen!«

In der Tat, solche waren in den Wänden überall angebracht, nur die Klappen brauchten geöffnet zu werden.

Unterdessen waren die Gorkhas nicht untätig gewesen. Die meisten von ihnen waren abgestiegen, ein Teil von diesen hatte die Riesengranate umringt, aber noch in einiger Entfernung davon, und hatten ihre Karabiner darauf im Anschlag gerichtet.

Also es war gar nicht so einfach, jetzt aus dem Automobil herauszuschießen, dazu musste doch erst eine Schießscharte geöffnet werden, darauf warteten jene nur, und diese Gorkhas sind durchweg die ausgezeichnetsten Schützen, und sie haben doppelläufige Karabiner, deren einer Lauf tatsächlich immer mit einer Schrotpatrone geladen ist.

Und jetzt kamen einige angesprungen, die schon auf dem Knüppelwege die längsten Stämme ausgesucht hatten, und schoben diese zwischen die Räder.

Denn wenn die Räder auch voll waren, so hatten sie in den Scheiben doch in größeren Abständen runde Löcher, sowohl zur Verminderung des Gewichtes, wie vielleicht nur zur Zierde.

Waren zwei Räder auf diese Weise durch einen Knüppel miteinander verbunden, so konnten sie sich natürlich nur so weit drehen, bis die Knüppel fest lagen. So werden auf abschüssigem Wege alle Wagen gebremst, die keine Vorrichtung zum Anschleifen haben, man steckt einfach einen jungen Baumstamm oder einen langen Knüppel durch die Speichen zweier Räder.

Dies alles konnten die beiden umso besser beobachten, weil auch der Boden, der wie auf dem Luftschiffe aus einer schwarzen, merkwürdig weichen Masse bestand, sodass man wie auf einem dicken Teppich ging, vollkommen durchsichtig geworden war.

»Almansor hat wieder zu mir gesprochen!«, wandte sich der Prinz wieder au seine Gefährtin, da der Engländer die Unterhaltung aufgab. »Erst jetzt teilt er mir mit, dass dieser Mister Ogly den Verrat zwar begangen hat, also dieses Automobil dem Maharadscha von Nepal ausliefern wollte, dass er aber sonst die Eigenschaften des Gefährts gar nicht weiter kennt; denn sonst würde er wissen, dass es ganz zwecklos ist, zwischen die Räder Baumknüppel zu stecken.

Er weiß nur, dass es ein gepanzertes Automobil ist, und zwar mit einer besonderen Panzerung, aus einem besonderen Metall oder einer sonstigen Substanz, und dass das Automobil durch Elektrizität getrieben wird, die eine unerschöpfliche Quelle hat und ohne weitere Maschinerie durch direkte Übertragung eine ganz bedeutende Kraft entwickelt, also auch eine bedeutende Schnelligkeit.

Aber sonst weiß er nichts. Er glaubt nicht daran, dass es, ohne Anlauf nehmen zu können, diese dicken Knüppel durchbrechen kann, zumal die Ränder der Löcher nicht etwa scharf sind.

Übrigens sagt mir Almansor, dass wir die Möglichkeiten hätten, auch ohne Schießscharten direkt hinauszuschießen, vergisst aber zu erklären, wie man das machen muss, und ich kann ja nicht fragen.«

»Wann sollen wir denn nun losfahren?«, fragte die Lady.

»Noch nicht. Almansor wird mir den Befehl dazu geben. Er scheint einen Grund zu haben, uns noch einige Zeit warten zu lassen. Übrigens ist dieser Grund sichtbar genug. Unter dem Wagen stecken noch zwei Männer, damit beschäftigt, uns festzunageln. Wenn wir jetzt losführen, würden denen die Splitter mächtig um die Köpfe fliegen, sie vielleicht töten. Und Almansor ist ein guter Kerl und weiß auch von mir, dass ich ebenfalls nicht gern einen Menschen unnötig töte oder ihm auch nur wehe tu. Und diese Gorkhas kann ich jetzt eigentlich noch nicht als unsere Feinde bezeichnen, die nach unserem Leben trachten, sie führen nur die Befehle ihres Herrn aus, ohne sich dabei viel Böses zu denken, wenn sie hier Knüppel zwischen die Speichen stecken.«

Es war geschehen. Jedes Rad hatte sechs Löcher, und immer je zwei Löcher waren durch sechs Knüppel miteinander verbunden.

Die beiden letzten Gorkhas waren wieder hervorgekrochen.

»Ergebt Euch!«, rief der Engländer. »Ihr könnt nicht mehr fort, und wenn Ihr auch noch so viel Proviant habt, einmal hungern wir Euch doch aus!«

Der Prinz blieb die Antwort schuldig, er sprach nur zu seiner Gefährtin.

»So, Almansor gibt das Signal zur Abfahrt. Das weiße Ventilrad A 1 soll ich langsam nach rechts drehen. Das habe ich mir gleich gedacht, so war es auch auf dem Luftschiff.«

Er griff nach diesem Rade, wobei es sich gleich zeigte, dass es sich an einer Stange aus der Decke heraus- und herabziehen ließ. Das war bei den meisten Ventilen und Hebeln der Fall, die zur Steuerung dienten, sodass man also nicht immer stehen und bis zur Decke hinauflangen musste, man konnte sich dabei bequem hinsetzen, in diesem wie in jenem Raume, in beiden waren die gleichen Vorrichtungen vorhanden.

Die Riesengranate ruckte.

Sie wurde also von zwölf Knüppeln festgehalten, und der dünnste von diesen hatte immer noch mindestens zehn Zentimeter im Durchmesser. Aber die Löcher in den Rädern waren groß genug, um auch die doppelte Stärke durchzulassen, und solche Knüppel gab es denn auch.

Welches Automobil hätte wohl solch eine Kraft leisten können, diese zwölf Knüppel aus eisenhartem Teakholz auf diese Weise zu zerbrechen, zumal auch ohne jeden Anlauf? Es war überhaupt ganz ausgeschlossen, höchstens alle Räder und wahrscheinlich auch das ganze Automobil wäre sofort in Trümmer gegangen.

Hier bei dieser Riesengranate war es anders. Die zwölf Knüppel zerbrachen, als ob es Strohhalme gewesen wären.

Splitter flogen nicht weiter herum, denn der Prinz hatte auf Geheiß das Gefährt ganz langsam angehen lassen.

Die Gorkhas brachen in ein Wutgeheul aus. Nur darum. weil sie ihre Arbeit umsonst getan hatten, weil sie den Willen ihres Herrn nicht erfüllt sahen.

Gerade dieser aber zeigte ebenso wie der Engländer keine Wut, keinen Zorn, keine Enttäuschung, sondern sie brachen vielmehr in Rufe des Erstaunens aus.

Eben weil dieser Mister Ogly die Eigenschaften dieses Automobils selbst nicht weiter kannte, also auch dem Maharadscha davon nichts hatte berichten können.

Diese Riesengranate hatte sich nur frei gemacht, dann blieb sie gleich wieder stehen.

Der Prinz knüpfte mit dem Maharadscha wieder eine Unterhaltung an.

Wir brauchen nicht immer zu erwähnen, dass er die Worte, die er jetzt und bei Gelegenheit sprach, erst von anderer Seite aus eingeflößt bekam. Sie wurden ihm durch elektrisches Morsen, das er im ganzen Körper empfand, vorgesprochen.

»Maharadscha Bahadur von Nepal, hörst Du mich sprechen?«

»Was willst Du?«

»Nein, ich frage Dich vielmehr, was Du willst; nämlich was Du mir geben willst, wenn ich Dir dieses Panzerautomobil ausliefere?«

»Es gehört überhaupt mir!«

»Lüge nicht. Du brauchst nicht aufzufahren, Du weißt am besten, und alle diese Deine Leute wissen ebenfalls, dass Du jetzt einmal gelogen hast. Dieses Panzerautomobil gehört nicht Dir, es ist überhaupt herrenlos, da ich aber der erste gewesen bin, der davon Besitz ergriffen hat, so gehört es jetzt mir! Was willst Du mir nun dafür geben, wenn ich es Dir ausliefere?«

»Fordere einen Preis!«

»Das Rezept zu Eurem Stahl und zu Eurem Schießpulver.«

Der Engländer brach sofort in ein Hohnlachen aus, nur um seine Wut zu bemeistern.

Denn genau dasselbe hatte er für seinen Verrat gefordert.

Vielleicht im Interesse seines Vaterlandes, vielleicht auch nur für seinen Vorteil, was sich aber auch beides zusammen verbinden ließ.

»Und noch etwas anderes verlange ich dazu!«, fuhr der Prinz fort.

»Was sonst noch?«

»Die schwarze Truhe, die allein in dem kleinen Gewölbe Deiner Schatzkammer zu Katmandu steht — diese Truhe samt Inhalt.«

Furchtbar wild fuhr der herkulische Mann empor, dabei aber hatte sich sein tiefbraunes Antlitz ganz entfärbt.

»Was weißt Du von dieser Truhe?!«

»Diese Truhe samt Inhalt verlange ich, dann liefere ich Dir dieses Panzerautomobil samt Inhalt aus. Natürlich verlange ich auch vollkommene Amnestie für mich und meine Begleiterin.«

»Das kann Dir nur Radscha Maradda selbst verraten haben!«

»Nimm es an.«

»Er hat Dir den Inhalt der schwarzen Truhe offenbart?!«

»Ich verlange das Rezept zu dem Stahl, wie zu dem Pulver und außerdem noch diese schwarze Truhe samt Inhalt, und dieses Panzerautomobil gehört Dir.«

»Nimmermehr!«

»Du gehst nicht auf den Vorschlag ein?!«

»Nimmermehr!«

»Dann bekommst Du dieses Panzerautomobil nicht.«

»Und sei es auch mit Platten gepanzert, die in der Hölle selbst gefertigt worden sind«, fuhr der Maharadscha auf, »und wenn es auch die Mauern von Katmandu durchbrechen könnte — ich bekomme es doch noch!«

»Versuche es.«

»Ich folge Euch, wohin Ihr auch flieht.«

»Wir fliehen nicht, Du sollst die beste Gelegenheit haben, uns immer zu begleiten und Dich von der Vortrefflichkeit dieser fahrenden Festung zu überzeugen.«

»Wo fahrt Ihr hin?«, wurde sehr naiv gefragt.

»Nach Katmandu!«

»Was, nach Katmandu?!«

»Direkt in den Sitzungssaal deines Palastes hinein! Dort werde ich Dir nochmals die Frage vorlegen, ob Du in den Tausch willigst. Und nun folge mir mit Deinen Leuten.«

Der Prinz drehte das Rad und die Riesengranate setzte sich in Bewegung, nicht eben schnell.

Ein Nachstarren, ein Kommando, die abgesessenen Gorkhas schwangen sich wieder auf ihre Rosse, der Maharadscha und der Engländer sprangen in das Rennautomobil und die ganze Kavalkade folgte.

»So«, sagte der Prinz, »nun geht die Reise los, bis nach Katmandu.«

»Ist es Tatsache, Sie wollen nach der Hauptstadt von Nepal?!«

»Ja. Ich sagte natürlich nur, was mir Almansor durch elektrisches Morsen vorsprach oder mir wenigstens durch Stichworte angab.«

»Bis in den Palast des Maharadschas hinein?«

»Sogar bis in den Sitzungssaal hinein. So musste ich sagen, so wollte es Almansor, und der wird schon dafür sorgen, dass ich mein Wort auch halten kann.«

»Was ist das mit der schwarzen Truhe?«

»Ich weiß es nicht.«

»Kennen Sie den Radscha Maradda?«

»Ich habe keine Ahnung, wer das ist.«

»Und die sollen uns immer begleiten?«

»Ja, wenn sie wollen. Wir sollen so langsam fahren, dass sie uns immer folgen können, auch die Reiter. Also wenn die Pferde Ruhe bedürfen, müssen auch wir halten.«

»Wozu das?«

»Damit der Maharadscha unterwegs Gelegenheit hat, die Vortrefflichkeit dieser Riesengranate ganz genau kennen zu lernen. Ich soll sie ihm bei jeder Gelegenheit in Freiheit dressiert vorführen; wozu ich nun freilich erst Almansors Instruktionen bedarf. Er wird mich doch erst in die verschiedenen Handgriffe einweihen müssen; solange er das nicht tut, wollen wir uns selbst etwas umschauen, vor allen Dingen auch nach Proviant und etwas Trinkbarem, ich habe es sehr nötig.«

Sie taten es. Wie die schmalen Polsterbänke in sehr breite Betten verwandelt werden konnten, das hatten sie bald herausgefunden. Das dazu gehörende Bettzeug befand sich natürlich in den Kistenbänken selbst, füllte diese aber nur zur Hälfte, die andere Hälfte war immer mit Konserven aller Art gefüllt.

»Auch Schweizerkäse!«, jubelte Lady Lionel. »Den ich so gern esse!«

»Schweizerkäse im Bette?«

»In luftdichten Büchsen.«

»Ach so, ich dachte — — ja, Schweizerkäse kann man kalt essen, aber Spargel und Schoten und Schnittbohnen?«

»Ach hier dieses Schränkchen! Das ist offenbar ein Ofen!«

»Ist auch was da, um ihn zu heizen?«

»Ich habe mich schon verbrannt!«

»Dann ist er gut.«

»Man braucht hier nur die Hebel zu drehen, dann verbrennt man sich die Finger.«

»Sich die Finger verbrennen dürfen Sie, aber nicht das, was ich essen soll, falls Sie die Kocherei übernehmen wollen.«

»Sie denken wohl, ich kann nicht kochen?!«

»Ich will's mal auf einen Versuch ankommen lassen.«

»Der Ofen ist elektrisch.«

»Das ist mir ganz egal. Wenn ich nur erst Wasser gefunden hätte. So, jetzt haben wir den Segen Gottes als eine Pfütze am Boden. Nun suchen Sie erst mal nach einem Schwabber oder Scheuerlappen.«

Der Prinz hatte einen an der Zwischenwand befindlichen Hahn aufgedreht, ein tüchtiger Strom war herausgeschossen gekommen, ehe er hatte abstellen können.

Sofort lag Mylady auf den Knien, titschte den Finger in die Pfütze und leckte ihn ab.

»Das ist Wein!«

»Ja, das habe ich schon gerochen — das ist französischer Weißwein, wahrscheinlich weißer Bordeaux — da habe ich eine feine Nase.«

Es wurde auch ein Hahn für Wasser gefunden. Die Reservoire befanden sich entweder unter dem Boden oder unter dem gewölbten Dache. Dass diese Doppeldecks dennoch durchsichtig sein konnten, alles durchsichtig machend, was sich zwischen ihnen befand, diese Möglichkeit wurde schon bei der Beschreibung des Luftschiffes detailliert.

Das Wasser war wie der Weißwein eiskalt, wie auch in dem ganzen Automobil eine angenehme Kühle herrschte, obgleich doch auf die schwarze Granate die indische Mittagssonne herabbrannte.

»Und hier Arrak!«, jubelte die Lady. »Feinster Arrak de Goa, sechzigprozentiger, aus echtem Toddy[6] gebrannt! Und hier überhaupt Schnäpse aller Art massenhaft!«

[6] Palmwein.

»Bitte, Mylady, wollen Sie die Schnapsflaschen erst mal aus den Fingern lassen, Sie sind eine geborene Russin mit Kosakenblut und — Sie könnten sich überhaupt auch mal ein bisschen um die Führung der Karre kümmern, dass wir nicht einmal im Straßengraben landen.«

Denn das hatte der Prinz während seiner Untersuchungen natürlich nicht außer acht gelassen.

Die Gorkhas hielten sich immer dicht dahinter, brauchten ihre Pferde nur in einem schlanken Trabe zu halten und waren des Winkes ihres Herrn gewärtig, der in seinem Rennautomobil die Riesengranate oftmals überholte, um sie dann wieder vorüberzulassen.

»So soll es bis nach Katmandu gehen?«, fragte Lilly.

»Jawohl, wenn nichts dazwischen kommt. Und natürlich werden wir manchmal auch Beweise von unserer Schnelligkeit geben.«

»Wie weit ist Katmandu von hier entfernt?«

»In der Luftlinie, wie mir Almansor bereits mitgeteilt hat, ziemlich genau 250 englische Meilen oder 400 Kilometer. Auf den Straßen ist es natürlich viel weiter. Diese vorzüglichen Pferde, die uns immer folgen sollen, können die Strecke ohne Überanstrengung in zehn Tagen zurücklegen, dazwischen auch noch einen Rasttag machen.«

»Und nun wird der Maharadscha uns auch so ohne Weiteres bis nach Katmandu folgen, alles andere, was er vorhatte, deshalb aufgeben?«

»Nicht so ohne Weiteres. Er ist überhaupt auf der Heimreise begriffen gewesen, hat unterwegs nur noch dieses Panzerautomobil mitnehmen wollen, deshalb einen kleinen Abstecher gemacht.

Um in seine Heimat zurückzugelangen, könnte er die Hälfte der Strecke per Eisenbahn machen. Aber dieser Maharadscha gehört zu denjenigen Orientalen, welche alle Erfindungen der Abendländer verachten. Er wird niemals auf einer Eisenbahn fahren, was ihn allerdings nicht hindert, sich solch eine fahrende Panzerfestung anschaffen zu wollen und auch ein ihm eben erst geschenktes Rennautomobil zu benutzen. Oder seine Verachtung gegen die Eisenbahn hat vielleicht auch einen anderen Grund, denselben, weshalb auch viele reiche und vornehme Leute bei uns das Automobil auch bei weiten, anstrengenden Reisen der Eisenbahn vorziehen: Er will sich nicht an die vorgeschriebenen Schienenstränge binden.

Jedenfalls aber wäre er auch seinen Gorkhas nicht vorausgefahren, und nun wird er uns immer begleiten, es liegt nur an uns, dass wir ihm nicht ausreißen. Hört dort die Landstraße nicht auf?«

Ja, sie hörte auf. Der Urwald hatte bereits einer Steppe Platz gemacht, deren Vegetation immer dürftiger wurde, weil der Boden immer sandiger ward, bis er sich in regelrechte Wüste verwandelte.

In einer solchen hört natürlich jede Landstraße auf, sie braucht gar nicht so groß zu sein, nur eine Strecke mit feinem Sand, durch keinen natürlichen Windfang geschützt. Da wird jede Landstraße natürlich bald mit Flugsand zugedeckt, jeder Sturm kann Sandhaufen bilden, die durch Menschenkraft gar nicht wieder abzutragen sind.

Für die Karawanen hatte das nichts weiter zu sagen, die zogen eben einmal einige Stunden durch die Wüste, bis sie wieder auf die geschützte Fortsetzung der Straße stießen.

Anders aber bei Automobilen.

Diese Sandstrecke von nur acht Kilometer Breite genügte, um diese ganze viele Meilen lange vorzügliche Landstraße, die zwei große Städte miteinander verband, für den ganzen Automobilverkehr illusorisch zu machen.

Was tiefer, feiner Sand zu bedeuten hat, das weiß doch jeder Radfahrer; wie man da schon bei einigen Metern zu würgen hat, und bei einem Automobil von vielen Zentnern Gewicht hört es vollends auf.

Ein Automobil zu konstruieren, das auf feinem, tiefem Sande fahren kann, also durch Wüsten und über größere Sandflächen, ist vorläufig noch ein ungelöstes Problem. Ach, was probieren da die Engländer besonders in Ägypten! Was sieht man da fortwährend für Dinger, die in die Wüste hinausfahren, und dann werden sie mit Pferden, Ochsen, Kamelen und auch mit requirierten Elefanten zurückgezogen, wenn man sie nicht als hoffnungslos im Sande stecken lässt!

Es scheint ja so einfach zu sein. Die Räder müssen eben genügend verbreitert werden, bis zu vollkommenen Walzen.

Aber es geht nicht. Das Gewicht des Automobils, so sehr es auch reduziert werden mag, ist und bleibt immer zu groß. Der mächtigste Elefant kann seine Füße immer wieder herausziehen, dem Automobil fehlt der Auftrieb nach oben, es würgt sich nur immer tiefer in den Sand hinein.

Natürlich können Automobile Sandflächen und schließlich auch jede Wüste durchqueren, sonst wären doch nicht solche Weltreisen möglich, wie sie immer häufiger gemacht werden. Dann muss das Automobil eben Bretter bei sich haben, die immer vor die Räder gelegt werden, dann geht es, Schritt für Schritt, Brett für Brett.

Aber das ist doch nicht das, wovon man träumt, von einem Wüstenautomobil, das von Oase zu Oase eilt und die flüchtenden Beduinen verfolgt. Ein Amerikaner hatte einmal eines gefunden, das sich als sehr brauchbar erwies, es sollte sogar vollkommen sein, das Problem war gelöst — es wurde auch in Kinos gezeigt — das steckt aber auch bereits für immer im Triebsande des Llano Estacado in Texas fest.

Auch die Riesengranate begann schon furchtbar zu würgen, obgleich die eigentliche Sandstrecke noch gar nicht angefangen hatte; es zeigte sich hier und da immer noch Graswuchs.

In dem viel, viel leichteren Rennautomobil, das noch ganz gut fahren konnte, wurde mit Frohlocken beobachtet, wie die breiten Räder des Vorgängers immer tiefer einsanken, wie sie immer langsamer vorwärts kamen.

»Das blaue Ventilrad B 7 soll ich langsam nach links drehen«, sagte der Prinz, suchend nach der Decke blickend.

Er fand es, er drehte es.

Da hörten die mächtigen Räder auf, so tief in den Sand zu sinken, immer flacher wurden die Spuren. Mit größerer Schnelligkeit denn zuvor eilte die Riesengranate davon.

In dem nachfolgenden Automobil rief dieser Vorgang natürlich die größte Bestürzung hervor, und das umso mehr, weil der Renner jetzt trotz seiner relativen Leichtigkeit selbst in dem Sande zu würgen begann.

Also die Annahme, die Granate habe festeren Boden gewonnen, war verfrüht gewesen.

»Wie ist das möglich?«, staunte auch die Lady.

»Das müssen Sie doch selbst wissen, nachdem Ihnen das ganze Luftschiff gezeigt worden ist.«

»Auch dieses Automobil kann gewichtslos gemacht werden?«

»Ja.«

»Dann müsste es doch auch fliegen können!«

»Nein, das kann es nicht. Dazu fehlten zunächst die Auspuffrohre für die komprimierte Luft. Und überhaupt ist es gar nicht danach eingerichtet. Als diese Panzergranate gebaut wurde, hatte man noch nicht die Erfahrungen, die man beim Bau des Luftschiffes verwendete, das noch ganz jungen Datums ist. Also lassen wir uns nur damit begnügen, dass man diese Riesengranate so leicht machen kann, dass sie auch über den feinsten, tiefsten Sand fahren und auch über jeden Sumpf schusseln kann.«

»Dem Mister Ogly ist auch von dieser Eigenschaft nichts bekannt?«

»Auch nicht. Das merken Sie doch gleich seinem Staunen und seiner Bestürzung an, noch mehr als dem Maharadscha. Der weiß von nichts anderem als einer besonderen Metallpanzerung und einer besonderen elektrischen Kraft mit direkter Übertragung, ein Problem, das auch noch einmal allgemein gelöst werden wird, so wie man jetzt auch schon bei der Turbine die Kraft des Wasserdampfes direkt ausnutzt, gar keine komplizierte Maschinerie mehr nötig hat.«

Jetzt war das Rennautomobil vollkommen stecken geblieben, konnte auch nicht zurück.

Der Maharadscha war außer sich vor Wut, denn die Enttäuschung war größer als das Staunen, er hatte doch erwartet, dass gerade die kolossale Panzergranate zuerst stecken bleiben würde; darauf hatte er doch jedenfalls mit dem Engländer zusammen schon einen Plan gegründet, wenn der wohl auch nur im Aushungern der Insassen bestand.

Sinnlos vor Wut, wie gerade solche Orientalen, die sonst die größte Ruhe heucheln, oftmals sind, feuerte er eine Pistole mit sechs Schüssen nach der Granate ab, man hörte die Kugeln und auch die groben Schrotkörner auf den Platten klatschen. Das gehackte Blei ist nun einmal eine Spezialität der Gorkhas — nebst ihren mächtigen Lanzen, von denen später noch gesprochen werden soll. Die Reiter mussten absteigen, um das Automobil vorwärts oder rückwärts über den Sand zu bringen, was diesen fünfzig herkulischen Männern wohl auch möglich gewesen wäre. Dass ein Pferd so viel an Kraft leistet wie fünf Männer, ist eine sehr problematische Theorie.

Aber es sollte nicht dazu kommen, dass die fünfzig Gorkhas schoben und sich an vorhandenen Stricken davor spannten, wozu sie ja außerdem auch noch ihre gewaltigen Rosse zur Verfügung hatten.

Da kam schon die Riesengranate zurück, und jetzt schoben sich hinten zwei kurze Eisenstangen mit großen Ringen hervor. Auf welche Weise, wo die Stangen und besonders die Ringe vorher gewesen waren, das hatte man nicht unterscheiden können.

»Wollt Ihr Euch anspannen und ziehen lassen?«, erscholl es aus dem Innern heraus.

Es wurde angenommen, ohne Beschämung, die Neugierde, wie die Riesengranate diese Arbeit bewältigen würde, war stärker als jedes andere Gefühl.

Das Rennautomobil wurde mit Stricken befestigt, und die Granate zog es mit Leichtigkeit fort, auch durch den feinsten und tiefsten Sand, wie tief sich die sehr schmalen Räder des Renners auch eingruben.

So groß war der Widerstand, dass einmal sämtliche Stricke rissen, sie mussten geflickt und erneuert und verdoppelt werden.

»O Wunder über Wunder, und dieses Wunder von einem Automobil gehört mir!«, jubelte jetzt der Maharadscha.

»Das ist ein unverbesserlicher Optimist«, meinte der Prinz trocken.

Die acht Kilometer breite Sandstrecke wurde überwunden, es kam wieder Steppe mit festem Boden.

»Werft die Stricke los!«, erklang es aus dem Innern der Granate.

»Sie bleiben dran!«, befahl der Maharadscha.

»Wollt Ihr sie verlieren?«

»Wehe, wenn sich eine Hand zeigt, die sie ablösen oder durchschneiden will!«

Da, ein brandiger Geruch, und die Stricke fielen von den Ringen ab, an dieser Stelle total verkohlt, abgesengt.

»Durch elektrische Hitze!«, rief der Engländer.

Natürlich — aber wohin die beiden Stangen mit den sehr großen Ringen beim Zurückziehen spurlos verschwanden, das war wiederum nicht zu sehen.

Ein breiter Fluss kreuzte die Steppe, eine Brücke führte hinüber, aus Holz, nur aus Bambusrohren zusammengebunden, wohl aber gerade deshalb fähig, auch das schwerbepackteste Kamel und jeden Elefanten mit mehreren Reitern und Gepäck zu tragen, trotz allen Schwankens.

Da würde das so leicht aussehende Ding wohl auch ein Automobil darüber lassen.

Aber auch diese Riesengranate? Wie viel wog sie wohl? Ja, wenigstens zehnmal so viel wie ein normales Automobil. Wenn man dabei an Panzerplatten dachte. Seine Führer zeigten in diesem Falle nicht, wie es sein Gewicht vermindern konnte, wenn es überhaupt gar so schwer war, es sollte gleich eine andere Fähigkeit demonstriert werden.

Die Riesengranate verließ die Straße, fuhr die sanfte Böschung hinab, direkt hinein in das Wasser.


Illustration

Sie tauchte nur ein klein wenig ein, die Räder bis zur Hälfte.

»Die Räder haben Schaufeln bekommen!«

So war es. Die erst ganz glatten Räder waren plötzlich stark gerieft, hatten richtige Schaufeln bekommen, so peitschten sie das Wasser auf.

Es war ein äußerst reißender Fluss, aber mit Leichtigkeit fuhr die Granate direkt gegen die Strömung an.

Dann eine Wendung, sie strebte dem anderen Ufer zu, ohne irgendwie abgetrieben zu werden.

Dieses jenseitige Ufer war im Gegensatz zum diesseitigen sehr steil, und die Granate suchte sich gerade die allersteilste Stelle aus.

Kein anderes Fahrzeug hätte da hinauf kommen können, das war ganz ausgeschlossen.

Diese Panzergranate kletterte spielend leicht hinauf. Freilich auch nur mit Hilfe einer besonderen Vorrichtung.

Sobald die vorderen Räder aus dem Wasser kamen, waren die Schaufelklappen verschwunden, statt ihrer sah man ziemlich große Stacheln hervorragen, sie bohrten sich in den festen Boden ein, auch die hinteren Räder zeigten dann solche Stacheln, auf diese Weise gelang das Emporklimmen, und dann waren die Stacheln wieder verschwunden.

Es wäre an sich keine neue Erfindung gewesen. Das Berg- und Wüstenautomobil des Amerikaners Nelson konnte ebenfalls mit solchen Stacheln versehen werden. Aber sie mussten bei Bedarf immer erst einzeln in die Räder eingesetzt werden. Hier funktionierte die Sache ganz anders.

Diese Manöver zu Wasser und zu Lande waren nahe genug ausgeführt worden, dass man die Verwandlungen auch immer in dem Rennautomobil, das langsam über die Brücke fuhr, hatte deutlich beobachten können.

»Wussten Sie denn gar nicht, dass diese Granate auch so schwimmen und so klettern kann, dass ihre Räder die verschiedensten Einrichtungen besitzen?«, wandte sich der Maharadscha auf Englisch an Mister Ogly.

»Nein, davon war mir nichts bekannt!«, entgegnete dieser in ehrlichem Staunen.

»Außer den beiden Rezepten noch hunderttausend Rupien extra für Sie, wenn Sie mir die fahrende Festung verschaffen!«

»Ich werde sie Ihnen übergeben, nur wegen der Geldprämie werden wir uns wohl noch einig.«

Ja, die Entfernung war nicht so groß, dass man nicht hätte alles sehen können.

Aber auch hören?

Die beiden hatten sogar ziemlich leise gesprochen. Und dennoch war in der Riesengranate jedes Wort deutlich zu verstehen gewesen.

Die Panzerplatten waren eben ganz vorzügliche Membranen, das ganze Fahrzeug war gewissermaßen ein großes Hörrohr.

Die Riesengranate hatte sich wieder auf die Straße begeben, und das Rennautomobil kam schnell heran, jetzt erhob der Maharadscha seine Stimme:

»Hören Sie mich sprechen?«

»Ich höre Sie.«

»Ist es Ihr Ernst, Sie wollen bis in die Hauptstadt meines Reiches fahren?«

»Ja.«

»Es ist Ihre Absicht, dass wir immer zusammen bleiben?«

»Ja.«

»Sie wollen mir unterwegs weitere Proben geben, was die Panzergranate zu leisten vermag?«

»Ja.«

»Wollen Sie mir das nicht gleich in Kürze erklären?«

»Nein. Immer nur von Fall zu Fall durch Beweise erläutern.«

»Welche Schnelligkeit kann die Granate entwickeln?«

»Theoretisch eine unbeschränkt große.«

»Und in der Praxis?«

»Das ist noch gar nicht ausprobiert. Jedenfalls aber eine größere als jedes andere Fahrzeug irgend welcher Art, wobei ich nicht einmal die schnellsten Aeroplane ausschließen will.«

»Der Kraftbetrieb erfolgt durch Elektrizität?«

»Ja.«

»Woher nehmen Sie diese Elektrizität?«

»Das werden Sie erfahren, wenn ich Ihnen gegen die schwarze Truhe diese Granate ausliefere.«

»Daran ist niemals zu denken!«, rief der Inder, schon wieder zornig werdend, womit er aber wohl nur eine andere Empfindung bemänteln wollte.

»So werden Sie es auch niemals erfahren.«

»Wer sind Sie eigentlich?«

»Das brauchen Sie nicht zu wissen.«

»Wie kamen Sie gerade dorthin auf die Landstraße, um das uns durchgebrannte Automobil abzufangen?«

»Auf solche Fragen antworte ich nicht.«

»Sie lagen dort überhaupt schon auf der Lauer, um sich der Panzergranate zu bemächtigen!«

»Nehmen Sie an, dass es so gewesen sei.«

»Sie hätten sich des Automobils also auch auf andere Weise bemächtigt, auch wenn ich mich mit meinen Leuten schon darin befunden hätte?«

»Wie gesagt, nehmen Sie nur an, dass es so sei.«

»Herr, in wessen Diensten stehen Sie und Ihre Begleiterin eigentlich?«

»Auf solche Fragen antworte ich nicht. Aber Sie werden alles erfahren, wenn Sie mir gegen diese Granate die schwarze Truhe ausliefern.«

»Sprechen Sie nicht mehr darüber!«

»Wie Sie wünschen. Also erst im großen Sitzungssaale Ihres Palastes zu Katmandu werde ich wieder davon beginnen.«

Der Maharadscha wechselte mit dem Führer der Gorkhas hinter sich einige leise Worte — freilich niemals leise genug für die Insassen der Panzergranate. Doch war es diesmal ohne weitere Bedeutung gewesen.

»Wissen Sie denn«, begann dann jener wieder mit lauter Stimme gegen das vorausfahrende Panzerautomobil sprechend, »ob ich mich jetzt auch direkt nach Katmandu begebe?«

»Ich weiß es nicht bestimmt, ich glaube es nur.«

»Wenn ich nun ein ganz anderes Ziel vorhabe?«

»So werden wir uns eben in Katmandu wiedersehen.«

»Sie fahren direkt hin?«

»Das kommt auf Sie an.«

»Inwiefern auf mich?«

»Nun, ich will mich nicht gerade als Begleiter aufdrängen, wenn Sie noch geheime Wege vorhaben.«

»Keine geheimen Wege. Wenn ich aber nun doch einen Umweg machen will?«

»Wenn Sie erlauben, begleite ich Sie.«

»Gewiss, das können und sollen Sie. Ich meine es überhaupt anders. Ich meine, Sie wollen sich mit Absicht immer bei mir aufhalten, damit ich die Granate immer vor Augen habe?«

»Jawohl, so ist es. Obgleich ich nicht etwa aufdringlich sein will.«

»Also Sie werden nicht einmal schnell vorausfahren, so schnell, dass ich Ihnen auch nicht mit diesem Rennautomobil folgen kann?«

»Nein, das liegt nicht in unserer Absicht.«

»Nun aber kann ich nicht meine Gorkhas auf fremdem Gebiete allein zurücklassen.«

»Brauchen Sie ja auch nicht.«

»Sie werden nie schneller fahren als die Pferde laufen können?«

,Sie sehen ja, dass wir gar nicht schneller fahren.«

»Aber die Pferde bedürfen Ruhe.«

»So mögen sie doch ruhen.«

»Sie sind schon seit heute früh unterwegs — wenn wir jetzt eine längere Mittagsrast machen, werden auch Sie bei uns verweilen?«

»Gewiss doch. Wir werden uns niemals Ihren Blicken entziehen, es sei denn, Sie wünschen es selbst, so werden wir uns in größerer Entfernung vor oder hinter Ihnen halten.«

»Und das gilt bis nach Katmandu?«

»Jawohl, bis in den Sitzungssaal Ihres Palastes hinein.«

»Das ist es, was ich von Ihnen nur habe hören wollen!«

»Das hätten Sie aber schon längst aus meinen Erklärungen heraushören können.«

»Wir nähern uns jetzt einem Dorf, in dem wir Mittagsrast halten wollen. Also Sie werden während dieser Zeit bei uns bleiben?«

»Jawohl, ganz gewiss.«

»Gut, ich danke Ihnen.«

Der Maharadscha brach das Gespräch ab.

»Dass der jetzt plötzlich so höflich geworden ist«, wandte sich die Lady an den Prinzen, »dahinter steckt doch sicher eine List, der hat doch irgend etwas vor, was er während dieser Mittagspause vorbereitet.«

»Das ist allerdings sehr leicht möglich.«

»Kann denn Almansor diese Leute auch aus der Ferne beobachten oder gar belauschen, und wenn sie auch noch so leise miteinander flüstern?«

»Ich weiß es nicht. Es wäre dabei vielleicht an das hellsehende Kind zu denken, dessen wundersame Gaben dieser Araber jedenfalls noch ganz anders auszunutzen versteht, ohne dass er mich darin einweiht. Kann er es, so wird er mich schon beizeiten warnen. Im Übrigen wollen wir selbst unsere Augen und Ohren, erstere durch dieses vorzügliche Fernglas hier, letztere durch die Membranplatten unterstützt, immer gut offen halten.« Bald war das Dorf erreicht, nicht in der Steppe liegend, die nur Hirten hätte ernähren können, sondern zwischen kilometerweiten Feldern, durch natürliche und künstliche Bewässerung zur höchsten Fruchtbarkeit gebracht, umgeben von ganzen Hainen der herrlichsten Frucht- und Schattenbäume.

Trotzdem war es nur ein Ackerbaudorf, europäische Plantagenbesitzer und reiche Hindus fehlten, es war ein Gemeinwesen, jede Familie wohnte schlecht und recht in ihrer mit Palmblättern gedeckten Bambushütte, einer arbeitete für alle und alle für einen, nur der Sidillah, der Dorfvorstand, der Regierung verantwortlich, bewohnte ein größeres, sehr schönes zweistöckiges Haus, aus Holz gebaut, ein sogenannter Bungalow, welcher aber der Hauptsache nach zur Aufnahme von vornehmen Gästen dienen musste, wie die angrenzenden langgestreckten Schuppen als Karawanserei.

Es war nicht nötig, dass sich ein Radscha oder gar ein Maharadscha vorstellte. Der Anblick der bekannten Gestalten der Gorkhas genügte. Oder es hätten überhaupt nur fremde Reiter von solchem Aussehen zu sein brauchen. Aber schließlich waren Gorkhas doch etwas Besonderes.

Die armen Inder, sich wenigstens arm fühlend, krochen wie ihr Sidillah im demütigsten Respekt. Der alte Despotismus ist in Indien nicht auszurotten, dafür sorgen ja schon auch die Engländer. Aber das ist dort nichts Erzwungenes, es werden dabei keine Fäuste heimlich geballt, sondern dem Orientalen ist diese demütige Unterwürfigkeit vor allem Vornehmen und Höherstehenden eben angeboren, sie kriechen wirklich mit der größten Freudigkeit auf dem Bauche. Wenigstens dem einheimischen Vornehmen gegenüber, bei dem Fremden ist es ja freilich etwas anderes.

Die Riesengranate war wie das Rennautomobil vor den Bungalow gefahren, dort lag der greise Sidillah auf dem Bauche und schwor bei allen Göttern, dass Indien erst das Paradies der Erde geworden sei, seitdem der vornehme Fremde, der Mächtigste aller Mächtigen — obgleich er den Maharadscha gar nicht kannte — darin geboren worden, stellte ihm und seinen Leuten das ganze Dorf samt allem Vieh, Weibern und Kindern zur Verfügung.

Vorläufig begnügten sich die Gorkhas mit einigen Hammeln, die sofort geschlachtet und nebst großen Kupferkesseln mit Reis über die Feuer gehängt wurden. Für alles das würde es dann nicht einmal ein Wort des Dankes geben, was aber auch gar nicht erwartet wurde.

»Hören Sie mich sprechen?«, wandte sich der Maharadscha wieder gegen die Riesengranate.

»Ja, ich höre Sie.«

»Wollen Sie sich mit Ihrer Begleiterin nicht ins Freie begeben?«

»Nein, lieber nicht!«, erklang es im Innern mit unterdrücktem Lachen.

»Sie misstrauen mir?«

»Ja natürlich, dazu habe ich doch wohl auch allen Grund.«

»Wenn ich Ihnen aber nun für eine gewisse Zeit auf mein Ehrenwort die Garantie gebe, dass Sie in das Fahrzeug unbelästigt zurückkehren können, dass während dieser Zeit nichts von mir und nichts von einer anderen Seite aus gegen das Automobil unternommen wird.«

»Weshalb ist Ihnen denn so viel daran gelegen, dass ich die Granate verlassen soll?«

»Ich möchte Sie persönlich kennen lernen, ich möchte vertraut mit Ihnen werden, was so nicht möglich ist, Sie sollen mir das Innere der Granate zeigen und erläutern.«

»Eine Minute der Besprechung mit meiner Begleiterin, o Maharadscha.«

Aber der Prinz hielt mit der Lady gar keine Beratung ab, sondern er hoffte auf eine Instruktion von Almansor, und er erhielt eine solche tatsächlich alsbald.

»Nein, wir verlassen das Automobil nicht!«, lautete nach noch nicht einer Minute der Bescheid

»Weshalb nicht?«

»Weil wir nicht wollen.«

»,Sie misstrauen meinem Wort?!«

»Ganz und gar nicht, edler Fürst. Aber wir sind eben entschlossen, das Automobil nicht eher zu verlassen, als bis wir Ihr Wort haben, dass Sie uns dafür die schwarze Truhe eintauschen. Die Rezepte für den Stahl und das Pulver kommen dabei weniger in Betracht, die können Sie auch behalten.«

»Auch Sie haben Ihre Instruktionen?«

»Ja.«

»Von wem?«

»Das bleibt unser Geheimnis.«

»Sie stehen doch natürlich in den Diensten derer, die dieses Automobil erst erbaut haben?«

»Nehmen Sie es an. Obgleich dies nicht ganz stimmt.«

»Wollen Sie mir eine Besichtigung des Automobil gestatten?«

»Nein.«

»Auch das ist Ihnen strikte verboten?«

»Ich lasse mich nicht darauf ein, ob es mir verboten ist oder nicht — ich, ich will es nicht!«

»Sie öffnen auch keine Tür, damit ich Sie einmal näher sehen kann?«

»Auch nicht.«

Der Maharadscha wandte sich ab und ging in den Bungalow hinein.

»Jetzt ist es endlich entdeckt, woher wir die frische Luft bekommen!«, sagte Lady Lionel.

Zufällig in einer Ecke stehend, hatte sie auf ihrem Kopfe einen kühlen Luftzug verspürt; denn die beiden hatten schon wiederholt darüber gesprochen und Untersuchungen angestellt, wie und woher denn der verbrauchte Sauerstoff ersetzt würde, doch eines der wichtigsten Probleme in dieser Panzergranate, die hermetisch geschlossen zu sein schien.

Das Rätsel war gelöst aber nur um einem noch größeren Platz zu machen.


Illustration

Man konnte ja ganz genau mit der Hand die Stelle an der Ecke konstatieren, wo der Luftstrom herauskam, aber nur durch das Gefühl, zu sehen war dort weder ein Rohr, noch eine Öffnung, noch sonst etwas. Der Luftstrom schien direkt aus der schwarzen Wand selbst hervorzukommen.

»Desto besser«, meinte die Lady leichthin, »ein Rohr kann sich einmal verstopfen, eine volle Wand nicht mehr.«

»Ja, wo geht aber nun die überschüssige Luft hin, wie wird die ausgeatmete Kohlensäure entfernt, die uns schon nach einer halben Stunde den Aufenthalt in diesen engen Räumen unmöglich machen würde?«

»Das ist mir ganz gleichgültig. Angenehmer wäre es mir, zu erfahren, wie wir dort so eine gebraten Hammelkeule und eine gute Portion Reis hereinbekämen. Das ist doch etwas anderes als solches präserviertes Zeug.«

»Wir dürfen die Tür unter keinen Umständen öffnen.«

»Dann ist diese Panzergranate eben doch nicht vollkommen, wenn wir nicht einmal —«

»Halt, in dieser Hinsicht ist sie dennoch vollkommen!«, lachte der Prinz. »Soeben habe ich eine neue Erklärung bekommen. Wünschen Sie eine schon angebratene oder eine noch ganz frische Hammelkeule?«

»Eine noch rohe, das Selbstzubereiten macht mir Spaß, ich möchte sie überhaupt lieber kochen, und dazu ein paar Dutzend Zwiebeln, die ich hier ebenfalls vermisse, während sie dort haufenweise am Boden liegen.«

»Sie sollen alles sofort haben.«

Der Prinz setzte das Fahrzeug langsam in Bewegung, dorthin, wo ein ganzer Hammel geschlachtet und ausgeweidet und schon gevierteilt am Boden lag, sonst aber noch unbenutzt.

Die Riesengranate fuhr direkt darüber, blieb stehen, der Prinz drehte weiter an den Hebeln an der Decke, hieß die Lady zurücktreten, und alsbald entstand in dem Boden des Automobils eine sehr lange Öffnung, meterbreit und durch die ganze Kammer gehend.

Aber nicht nur, dass eine Falltür herabgeklappt war, sondern, wie bei dem durchsichtigen Boden ganz deutlich zu sehen, hier funktionierte eine ganz andere Einrichtung, unterhalb des Fahrzeugs war ein Kasten mit ganz neuen Seitenwänden entstanden, nur dass er unten und oben offen war, unten gerade den Boden berührend, er war lang genug, um auch den größten Menschen aus liegender Stellung in dieser Weise ins Automobil zu bringen, geschützt gegen jeden Feind der Außenwelt.

Jetzt lag also in diesem Sicherheitskasten der geschlachtete Hammel. Eine Keule und ein gutes Rippenstück wurde herauf- und hereingeholt, ein Hebeldruck und der Kasten klappte wieder herauf, der Boden des Fahrzeugs war wieder geschlossen.

Auf diese Weise wurde auch, das Automobil brauchte nur hin und darüber zu fahren, Proviant aus den Reissäcken und eine gute Portion Zwiebeln eingenommen.

Besonders war es Mister Ogly, der, an einem Fenster des Bungalows stehend, diese Vorgänge scharf beobachtet hatte.

Die Lady machte sich sofort als Köchin an dem elektrischen Ofen zu schaffen.

»Töpfe sind da, Wasser auch, nun fehlt bloß noch Salz.«

Sie untersuchte die Kästen, die an den Zwischenwänden angebracht waren. Es gab hier eben so viel zu untersuchen, dass dies alles durchaus noch nicht ergründet war.

»Was ist das hier für ein Heft?«

Es war eine vollständige Beschreibung der ganzen Riesengranate, in englischer Sprache gehalten, was sie alles enthielt, wie man alles funktionieren lassen konnte, alles durch Zeichnungen und Pläne erläutert.

»Ein kurioser Kauz, dieser Almansor!«, sagte der Prinz, als er das Heft nahm. »Gerade jetzt teilt er mir mit, dass ich dort in jenem Kasten diese erklärende Broschüre finden würde. Vorher aber hätte ich sie noch nicht benutzen dürfen, die Zeit sei noch nicht gekommen gewesen. Der macht sich eben ganz abhängig von der Stellung der Sterne oder wie er diese Schicksalsbestimmungen nun sonst zusammenklügelt.«

Während die Lady kochte, vertiefte er sich in die Broschüre, gab manchmal seiner Überraschung Ausdruck, teilte den Grund der Lady mit, ließ die neu entdeckte Einrichtung gleich funktionieren, soweit sich die Granate dabei nicht fortzubewegen brauchte, was wir jetzt aber nicht weiter anführen wollen.

Nach einer Stunde war das Mittagsmahl fertig, der Prinz konnte es aufrichtig loben, wenn es durch die vielen Zwiebeln in der Reisbouillon auch etwas »russisch« schmeckte.

Und wieder eine Stunde später gab der Maharadscha den Befehl zum Aufbruch, die Riesengranate bildete diesmal und überhaupt von jetzt an für immer das Ende des Zuges.

— • —

ENDE


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